denise
Band 174 (1987 19 2)
Cyndi Richards
VERLIEBT IN EINEN
COWBOY
Ebook Version 1.0
Januar 2003
Scan, Korrektu...
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denise
Band 174 (1987 19 2)
Cyndi Richards
VERLIEBT IN EINEN
COWBOY
Ebook Version 1.0
Januar 2003
Scan, Korrektur und Layout
by
Barbarella
Beschreibung: Mit dem Umzug von San Francisco in die ländliche Kleinstadt Winston Valley beginnt für Joanne ein völlig neues Leben und der Start ist nicht leicht! Boutiquen, Kino, Theater oder Disco gibt's für sie nicht mehr, statt dessen muß sie sich auf der von den Großeltern geerbten Ranch ganz schön abrackern. Doch Joanne ist nicht der Typ, der jammert - höchstens mal bei den langen Telefongesprächen mit Angie in San Francisco. Und dann kommt der „Großstadtpflanze" Joanne der Zufall zu Hilfe. Ein wildes, scheues Pferd reagiert bei ihr überraschend sanft, was sich wie ein Lauffeuer herumspricht und Joanne eine Riesenchance bietet. . .
Impressum: DENISE erscheint 14täglich in der CORA VERLAG GmbH, Kochstraße 50, 1000
Berlin 61 Telefon 030/25913875/3876, FS 018 42 57 axsp
Redaktion und Verlag: Kaiser-Wilhelm-Straße 6,
2000 Hamburg 36, Telefon 040/347 (1), FS 0212151 cora
Geschäftsführung: Hans Sommer
Redaktionsleitung: Claus Weckelmann (verantwortlich für den Inhalt), Ilse Bröhl
(Stellvertretung)
Lektorat/Textredaktion: Ilse Bröhl (Leitung), Christa Reinecke
Produktionsredaktion: Peter Knabe (Leitung), Christine Boness, Ruth Schmitt,
Nicola Bohne (Ass.) Grafik: Udo Künitz
Foto: M. DRAB, © Cora Verlag Herstellung: Stephan Swiersy
Vertrieb: KORALLE VERLAG GmbH & Co., Vertriebs-KG, Hamburg
Vertriebsleitung: Kay E. Sattelmair
Anzeigen: top special Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Anzeigenleitung: Werner
Pannes
Anzeigen nach jeweils gültiger Anzeigenpreisliste © 1984 by Cyndi Richards
Unter dem Originaltitel: „Love Is Where You Find It" erschienen bei Ballantine
Books, New York
Übersetzung: Susanne Hartmann
Deutsche Erstausgabe in der Reihe DENISE Band 174 (192),
1987 by CORA VERLAG GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten einschließlich des Rechtes der ganzen oder teilweisen
Reproduktion in jeder Art und Form. DENISE-Romane dürfen nicht verliehen oder
zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit
ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte
Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung.
Satz: Neef, Wittingen
Druck: Elsnerdruck, Berlin
Printed in Western Germany
Weitere Reihen im Cora Verlag:
JULIA, ROMANA, BIANCA, BACCARA, NATALIE, TIFFANY,
LOVE AFFAIR, MYSTERY
1. KAPITEL Joanne Miller stand vor dem großen Spiegel an der Innenseite ihrer Zimmertür. Das meergrüne Strickkleid betonte ihre gute Figur, und außerdem paßte die Farbe hervorragend zu ihrer hellen Haut. Trotzdem - das Kleid konnte sie noch nicht anziehen. Für Strickmode waren diese kalifornischen Herbsttage zu mild. Im November würde das Kleid genau richtig sein. Sie zog es wieder aus und legte es auf ihr Bett. Dort hatte sie sieben verschiedene Outfits zur Auswahl bereitgelegt. Trotzdem ging sie jetzt noch einmal an den Kleiderschrank und musterte ihre übrigen Klamotten. Schließlich entschied sie sich für das weiße T-Shirt-Kleid mit Dreiviertelärmeln und einer riesigen aufgesetzten Tasche über der rechten Hüfte. Sie würde das Kleid mit drei Plastikarmreifen - zwei rote und ein weißer - und einer weißen Strumpfhose mit roter Naht noch ein bißchen aufmöbeln. Und wenn sie dazu ihre weißen Ballerina-Pumps anzog, war sie perfekt gestylt. Für den Schulbeginn nach den Ferien machte sich Joanne immer besonders schick. Und hier hatte sie auch noch ihren ersten Auftritt als neue Schülerin. Da mußte man schließlich Eindruck machen! Mißmutig sah sie in den Spiegel. War das überhaupt noch wichtig? Sie wollte hier doch gar nicht lange leben. Noch immer verstand sie nicht, warum sie nicht bei ihrer Tante Joan in San Francisco wohnen durfte. Dann hätte sie ihre letzten beiden Schuljahre auf der Baldwin High School abschließen können, wo sie fast alle Schüler kannte. Natürlich war sie traurig, daß Grandpa gestorben war. Sie würde ihn ebenso vermissen wie alle anderen in der Familie. Hatte sie sich auf der Beerdigung etwa nicht die Augen aus dem Kopf geheult? Aber trotzdem, mußte ihr Vater Hals über
Kopf Bauer werden, nur weil er die Ranch seines Vaters geerbt hatte? Larry Miller, jetzt ein erfolgreicher Werbemanager, war auf dieser Ranch aufgewachsen. Sie lag fünf Meilen westlich von Markville, einer Kleinstadt in den Bergen von Kalifornien, nicht weit von der Grenze zu Oregon. Larry Miller hatte die High School von Markville mit Auszeichnung abgeschlossen und ein Stipendium für die Universität erhalten. Das war seine Eintrittskarte zu einer erstklassigen Berufsausbildung und einem völlig neuen Lebensstil. Die Ranch war für ihn schließlich nur noch ein Urlaubsort gewesen, wo er mit seiner Familie die Ferien verbrachte. Warum also hatte er sein Erbe nicht einfach verkauft oder die 600 Hektar große Ranch einem Pächter anvertraut, der sie für ihn führte? Viele Leute hatten sich diese Frage gestellt. Auch seine Frau Melanie, die an der Stanford-Universität ihr Diplom als Krankenschwester gemacht hatte und ebenfalls beruflich erfolgreich war. Joanne wußte nur, daß sie plötzlich zu einem harten und arbeitsreichen Leben auf dem Land in der Nähe einer kleinen Provinzstadt verdammt war. Ihr Vater war der einzige in der Familie, der mit diesem plötzlichen Schlußstrich unter ihr bisheriges Leben zufrieden war. Aber allen war klar, daß die ganze Familie - ob nun freiwillig oder nicht - als Team zusammenarbeiten mußte, um einen einigermaßen vernünftigen Lebensstandard aufrechterhalten zu können. Natürlich hatte Joanne bei Besuchen auf der Ranch die Tiere von Grandpa gesehen. Aber damals hatte sie keine Ahnung gehabt, wieviel Arbeit der Viehbestand machte. Sie hörte ein leises Kichern vor ihrem Fenster. Die Vorhänge waren nur einen Spalt breit offen, aber das reichte ihrem
achtjährigen Bruder und seinem Freund. Die beiden versuchten, sie bei ihrer Klamottenanprobe zu beobachten. Die Fenster des wuchtigen, alten Herrenhauses lagen ziemlich hoch, so daß sich die Jungen an den hölzernen Fensterbrettern hochziehen mußten. Jetzt brach das Fensterbrett unter Clarence, dem pummeligen Nachbarsjungen, zusammen. Rücklings krachte er auf den Boden. Joanne rannte zum Fenster und blickte hinaus. Als sie sah, wie Clarence sich, krebsrot im Gesicht, mit beiden Händen das Hinterteil rieb, mußte sie lachen. „Gerade wollte ich euch sagen, daß ihr von diesem Fenster weggehen sollt. Hört auf, Joanne nachzuspionieren", schimpfte jetzt ihre Mutter. „Bist du noch heil, Clarence?" fragte sie dann etwas freundlicher. Mißmutig nickte der Kleine. Mrs. Miller war aus dem Haus gekommen, um den Rasensprenger umzustellen. „Clarence, du läufst jetzt besser nach Hause. Und du, Bobby, du gehst ins Haus und nimmst ein Bad." Joannes Mutter war fünfundvierzig Jahre alt, sah mit ihrer zierlichen Figur und dem roten Pagenkopf aber jünger aus. Joannes kleiner Bruder jammerte und maulte. Aber er gehorchte seiner Mutter und verabredete sich mit Clarence am nächsten Morgen für den Schulbus. Joanne stand im Morgengrauen auf. Trotzdem hatten sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater schon mehrere Male den Kopf in ihr Zimmer gesteckt, um sie an den ersten Schultag zu erinnern. Als ob sie das vergessen würde! Auf dem Weg ins Badezimmer hörte sie ihre Eltern in der Küche reden. „Na, Farmer Larry, wirst du es heute schaffen, dein Rapsfeld zu mähen?" fragte ihre Mutter. Ihr Vater lachte gutgelaunt.
„Aber mal im Ernst, Larry. An das Leben hier draußen muß man sich wirklich erst gewöhnen. Wir wohnen hier so ruhig und . . . abgeschieden." „Ich weiß, Liebling. Aber das ist doch gerade das Schöne. Als Kind war das abgeschiedene Leben auf dieser Ranch selbstverständlich für mich. In Joannes Alter wurde ich dann unruhig. Ich wollte hinaus in die große, weite Welt und sehen, wie das Leben dort ist. Nun, ich habe meine Erfahrungen in der Großstadt gemacht. Konkurrenzkampf, Intrigen, Hektik, Streß ich habe bekommen, was ich gesucht hatte. Diese Ranch hier ist das wahre Leben. Hier gehören wir hin. Hast du noch eine Tasse Kaffee für mich?" So, wir gehören also hier hin? dachte Joanne wütend. Das ist deine Meinung, Dad. Der Rest der Familie denkt vielleicht ganz anders darüber. Sie band ihr kastanienbraunes, schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und ging in die Küche. Das ganze Haus duftete nach frisch gefiltertem Kaffee, gebratenem Frühstücksspeck und geröstetem Toast. Trotz der verlockenden Gerüche drehte sich Joanne fast der Magen um. Sie setzte sich und schenkte sich ein halbes Glas Milch ein. „Wie viele Eier ißt du?" fragte ihre Mutter. „Danke, keins", erwiderte Joanne und nahm eine Scheibe Toast. Ihre Eltern warfen sich einen verständnisvollen Blick zu: Angst vor dem ersten Tag in der neuen Schule. Ihr Vater versuchte, ihr zu helfen: „Das wird alles nicht so schlimm, wie du denkst. Wenn du wüßtest, wie vernünftig die Leute hier in Markville sind! Ich kenne den Direktor der Schule und die halbe Lehrerschaft seit vielen Jahren." Joanne hätte ihm gern klargemacht, daß sie keine Angst vor den Lehrern, sondern vor den Mitschülern hatte, sagte aber nichts. Ihr Vater hätte sie sowieso nicht verstanden.
Sie würde weder Lehrer noch Schüler leiden können. Davon war sie überzeugt. Wenn sie doch jetzt nur in der Stadt sein könnte! Dann würde sie zusammen mit ihrer besten Freundin Angela Perry zur Schule laufen. Joanne seufzte. Sobald dieser grauenvolle Tag zu Ende war, würde sie Angie einen Brief schreiben. Sie würde ihr erzählen, wie schrecklich hier alles war. Angie würde sie verstehen. „Ich gehe wohl besser unser kleines Goldstück wecken, damit er nicht den Bus verpaßt", sagte Mrs. Miller. „Und dann muß ich zusehen, daß ich mich in meine Tracht werfe. Ich leite heute als Ersatz für die zuständige Oberschwester die Entbindungsstation." Melanie Miller hatte sich im Krankenhaus etwas außerhalb von Markville beworben und Glück gehabt. Die Oberschwester für die Gesamtleitung des Krankenhauses war gerade in Pension gegangen, und niemand war für diesen Posten qualifiziert genug. Mrs. Miller hatte zufällig im richtigen Moment gefragt, ob sie dort arbeiten könnte. Ihre Empfeh lungsschreiben und Zeugnisse hatten natürlich wesentlich geholfen. Sie verdiente lange nicht so viel wie in einem Großstadtkrankenhaus, aber sie war zufrieden. „Joanne, sei so lieb und räum das Geschirr in die Spülmaschine, bevor du aus dem Haus gehst. Oh, und nimm ein Hähnchen aus der Tiefkühltruhe, für das Abendessen." Ihre Mutter rannte aus der Küche, um Bobby zu wecken. Mr. Miller blieb am Küchentisch sitzen, um aufzupassen, daß Joanne und Bobby pünktlich aus dem Haus kamen. Erst wenn alle weg waren, würde er an seine Arbeit auf der Ranch gehen.
2. KAPITEL Die Bushaltestelle lag eine halbe Meile vom Haus entfernt. In dem kleinen Unterstand warteten schon zwei andere Schüler. Es waren die Delaney-Söhne, der zehnjährige Jimmy und sein älterer Bruder Ted. Sie wohnten auf der Nachbarranch und mußten noch weiter laufen als die Millers. Die beiden Jungen stellten sich Joanne und ihrem Bruder vor. Ted war wie Joanne im dritten Jahr an der High School, sah aber wie ein Erstkläßler aus, mit seiner schmächtigen Figur. Die beiden Jüngeren plapperten munter drauflos; während Joanne und Ted kaum ein Wort wechselten. Als der Bus kam, und Bobby und Jimmy abfuhren, wurde das Schweigen zwischen Joanne und Ted nervenaufreibend. Joanne setzte sich schließlich auf die kleine Bank im Unterstand und starrte die Landstraße hinunter. ,Magst du Country- und Westernmusik?" erkundigte sich Ted, der ebenfalls nach dem Bus Ausschau hielt. Er war so schüchtern, daß er seine neue Nachbarin nicht einmal anblicken mochte. Joanne dachte gerade an Angie. Was sie jetzt wohl tat? Wahrscheinlich schlief sie noch, die Glückliche. „Wie? Oh, ich habe mir diese Art Musik eigentlich noch nie richtig angehört", antwortete sie. Tatsächlich fand sie den näselnden Country-Sound widerlich. Aber das wollte sie nicht so direkt sagen. Sie mußte sich schließlich nicht gleich beim ersten Kennenlernen mit diesen Einheimischen zerstreiten. „Ich mag Eddie Rabbit und Dolly Parton am liebsten", meinte Ted und schielte vorsichtig zu Joanne hinüber. Der große, gelbe Schulbus fuhr heran. Joanne atmete erleichtert auf.
Ted Delaney spielte den Gentleman und ließ sie zuerst einsteigen. Der Bus war halb leer, was Joanne noch nervöser machte. Sie nahm gleich den Sitz hinter dem Fahrer, während Ted sich irgendwo weiter hinten hinsetzte. Sie sah sich nicht ein einziges Mal nach ihm um. Als der Bus schließlich vor der Schule ankam, war er proppevoll. Ein Mädchen im ersten Jahr hatte sich auf den Platz neben ihr gesetzt. Sie hatten sich unterhalten und dabei beide ihre Nervosität ein bißchen vergessen. In der Mittagspause saß Joanne allein auf einer Steinbank vor dem Verwaltungsgebäude der Schule. Sie kam sich in ihrem schicken Kleid und den flachen, italienischen Pumps wie eine Ausländerin vor. Angie und sie hatten das Kleid gemeinsam ausgesucht. Und natürlich hatten sie dabei die Baldwin High School in San Francisco im Kopf gehabt. Die meisten Mädchen hier in der Markville High School trugen Westernklamotten - Jeans, karierte Wollblusen, schwere Lederstiefel und Cowboyhüte mit Schmuckbändern aus Leder. Zwar entdeckte sie auch ein paar Röcke und Kleider, aber die waren so altmodisch, daß die Mädchen damit wie die Frauen in einer Westernserie aussahen. Joanne starrte auf das Mosaik aus glänzenden blauen Steinen im Ziegelpflaster des Schulhofes. Das Mosaik zeigte einen springenden Panther und war wirklich ein Kunstwerk. Der Panther war das Symbol der Schule und vor allem der FootballMannschaft von Markville High. Joanne aß ihren Apfel und wanderte dann zu ihrem Spind, wo sie ihren Stundenplan studierte. Sie überhörte die Klingel und merkte nicht, daß die Schüler in die Klassen zurückströmten. Eine Gruppe Jungen zog an ihr vorbei, und einer von ihnen heulte wie ein Wolf. Joanne wurde rot, und die Jungen lachten grölend.
Sie wünschte, sie hätte sie gar nicht beachtet und vertiefte sich wieder in ihren Stundenplan. Einige der vorbeihetzenden Schüler starrten sie an, weil sie als einzige ruhig stehenblieb. Als ein paar Minuten totale Stille um sie herum herrschte, wurde sie aufmerksam. Sie sah auf ihre Uhr und zuckte zusammen. „Oh, nein! Zwanzig vor eins! Ich komme zu spät zu Geschichte!" Joanne rannte verzweifelt durch die Korridore. Wo war nur dieser blöde Klassenraum, in dem Geschichte stattfinden sollte? Plötzlich tauchte ein breitschultriger Typ vor ihr auf, der die Stufen zum Sekretariat hinuntergestürzt kam. Der Zusammenstoß war so heftig, daß ihre Mappe und alle Bücher auf den Boden klatschten. Der Hut des Jungen lag mit der Öffnung nach oben auf dem Boden, wie der Hut eines Bettlers, der auf Almosen wartete. Joanne hatte sich nicht weh getan, war aber total erschrocken. Der große Typ klopfte seinen Hut ab und musterte sie von Kopf bis Fuß. Er hatte wundervolle braune Augen. Schließlich schnauzte er sie an: „He, hast du keine Augen im Kopf? Guck doch hin, wo du langläufst! Mein armer Hut!" Dabei grinste er auch noch unverschämt. „Vergiß deinen blöden Hut. Du hast meine Mappe runtergerissen, und in meinem Geschichtsbuch fehlt jetzt eine Seite! Du bist doch wie ein Elefant im Porzellanladen hier reingeplatzt. Ich gehe hier nichtsahnend lang und . . ." Sie brach ab und wurde rot, weil er lachte. „Ich wette, du bist unsere neue Nachbarin", stellte er gutgelaunt fest. „Muß ja wohl so sein, wenn man diesen Großstadtplunder betrachtet, den du trägst. Wie heißt du?" „Joanne Miller", stieß sie widerwillig hervor. „Jason Farley. Uns gehört die Ranch mit den HerefordRindern gegenüber der Delaney-Ranch. Aber ich kann unsere nette Unterhaltung leider nicht fortsetzen. Ich muß ins
Sekretariat und diesen Umschlag für meine Schwester abgeben." Er seufzte. „Stephanie würde ihren Kopf vergessen, wenn er nicht festsäße. Und du kommst besser mit. Ich weiß zwar nicht, wie das in der Großstadt ist, aber hier brauchst du einen Erlaubnisschein, wenn du nach Unterrichtsbeginn noch in die Klasse willst." Jetzt war sie wirklich sauer auf ihn. Offenbar wollte er andeuten, daß sie verantwortungslos war und ihr Zuspätkommen nicht ernst nahm, nur weil sie aus der Großstadt stammte. Eigentlich wollte sie ihm wegen seiner unmöglichen Vorurteile gründlich den Kopf waschen. Aber als sie zu ihm aufsah, verschlug es ihr die Sprache. Sie war 1,72 Meter groß und reichte ihm gerade eben bis an die Schultern. Jungen, die so viel größer waren als sie, hatte sie bisher kaum getroffen. Jason Farley war außerdem breitschultrig und kräftig. Genauso hatte sie sich immer den Kapitän einer Football-Mannschaft vorgestellt. Er drehte sich um und steuerte auf das Sekretariat zu. Dabei streifte er leicht ihren Arm. Immer noch ein bißchen durcheinander, folgte Joanne ihm schweigend. Im Sekretariat begann Jason sofort, mit der Schulsekretärin und den anderen fünf Schreibdamen herumzuschäkern. Offensichtlich kannten die Frauen ihn und mochten ihn gern. Jason legte den Umschlag auf den Tisch und erklärte: „Stephanie ist heute morgen aus dem Haus gerannt und hat das hier auf dem Eßtisch liegenlassen. Wirklich jammerschade, daß sie nicht ebenso gewissenhaft wie ihr Bruder ist." Dieses Eigenlob löste bei allen Anwesenden wahre Lachkrämpfe aus. Joanne fand die allgemeine Heiterkeit zwar ganz nett, war aber mehr mit ihrem Zuspätkommen beschäftigt. Sie hatte langsam wirklich Angst, daß sie Ärger bekommen würde.
„Und ich dachte, wir wären dich im letzten Jahr endgültig losgeworden. Hast du nicht gesagt, du hättest erst einmal die Nase voll von der Schule?" witzelte die Sekretärin. Jason lehnte sich auf den Tisch und blickte schicksalsergeben an die Decke. „Mir blutet eben das Herz, wenn ich an meine verlorene Jugend und die gute alte Markville High School denke." Joanne war überrascht und erleichtert, als er plötzlich sagte: „Dies hier ist meine Nachbarin, Johnny Miller. . „Nein, Joanne", protestierte sie, aber er sprach einfach weiter. „Sie wollte gerade in ihre Klasse, da habe ich sie aufgehalten. Es ist meine Schuld, daß sie zu spät kommt. Also geben Sie ihr einen Schein, in Ordnung?" Er zwinkerte der Sekretärin zu und ging zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal um und erklärte: „Ich muß auf die Ranch zurück. Wir erwarten ein paar Vieheinkäufer aus Texas, die Zuchtbullen kaufen wollen." Die Schulsekretärin war sehr nett. Sie gab Joanne den Schein und wünschte ihr eine schöne Zeit in Markville. Joanne bedankte sich und machte sich erneut auf den Weg zum Westflügel des Schulgebäudes. In den Klassenräumen, an denen sie vorbeikam, hielten die Lehrer schon ihren Unterricht ab. Ihr wurde fast schlecht bei dem Gedanken, jetzt in die fremde Klasse gehen zu müssen. Die Schüler würden sie sicher mit Blicken durchbohren. Sie fand den richtigen Raum und atmete noch einmal tief durch, als sie ein Auto hupen hörte. Sie drehte sich um. Auf dem Parkplatz der Schule stand ein roter Lieferwagen, an den ein Pferdetransporter in derselben Farbe gekoppelt war. Jason Farley lehnte aus dem Fenster und schwenkte lächelnd seinen Hut. Joannes Herz schlug schneller, als sie winkte und zurücklächelte. Er hatte sich die Schuld für ihr Zuspätkommen
gegeben und sie damit im Sekretariat gerettet. Warum hatte er das getan? Sie rief sich zur Ordnung. Sie mußte endlich in den Unterrichtsraum gehen und diesen gutaussehenden Cowboy vergessen. Oder zumindest versuchen, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen. Joanne kam nicht mehr dazu, den Brief an Angie zu schreiben. Sie hatte eine Menge Hausaufgaben zu machen. Als sie gerade halb damit durch war, rief ihre Mutter an und sagte, sie würde später kommen. Joanne sollte schon das Hähnchen in den Ofen schieben und die Kartoffeln aufsetzen. „Eben gerade, kurz vor Feierabend, hatten wir hier eine tolle Überraschung, Joanne! Drillinge! Zum ersten Mal in dieser Gegend!" Joanne war allein im Haus. Bobby mußte seinem Vater unbedingt von seinem ersten Schultag in Markville berichten und war hinaus zum Rapsfeld gelaufen. Sein Vater hörte ihm zu und ließ ihn dann bei der Feldarbeit helfen. So lehrte er seinen Sohn ganz nebenbei, ein guter Rancher und Farmer zu werden. Bobby ließ sich begeistern und zeigte bereits Anzeichen dafür, daß er sich an das neue Leben der Familie gewöhnt hatte. Manchmal, wenn er auf den Feldern spielte, konnte man ihn Luftsprünge machen sehen und hörte sein lautes Freudengeschrei. Er hatte sämtliche städtischen Manieren abgelegt und erkundete mit Feuereifer die Natur. Das brachte ihn allerdings manchmal in Schwierigkeiten. Letzten Sonntag zum Beispiel. Da war er einer Stinktiermutter zu ihrem Bau gefolgt. Joanne beneidete ihren Bruder um seine Anpassungsfähigkeit und Begeisterung. Dabei hatte auch er vor Wut getobt, als er erfuhr, daß die Familie aufs Land ziehen würde.
„Ich kann mich jedenfalls nicht an dieses langweilige Provinzleben gewöhnen", sagte sie laut zu sich selbst. Ihr Ärger über den Umzug steigerte sich eher noch. Aber immerhin wollte Tante Joan, die Schwester ihrer Mutter, versuchen, ihre Eltern doch noch umzustimmen. Joanne hatte deshalb die Hoffnung nicht aufgegeben, nach San Francisco nach Hause! - zurückkehren zu können. Und das hoffentlich bald! Um halb neun abends schüttete Joanne ihr Lieblingsbadesalz mit Fliederduft in die altmodische Badewanne und drehte den Wasserhahn auf. Sie hörte das Telefon klingeln. Ihr Vater nahm ab und rief dann nach ihr. Erstaunt ging sie hinunter. Wer um alles in der Welt sollte sie hier anrufen? Auf dem Weg in die Küche begegnete ihr ihre Mutter. „Angie ist am Apparat, Joanne. Wie nett von ihr, dich hier anzurufen, nicht wahr? Das ist immerhin ein teures Ferngespräch." Joanne bat ihre Mutter, das Badewasser abzustellen und rannte schnell zum Telefon. Oh, tat das gut, Angies Stimme zu hören! „Joanne, dieser Tag heute war einfach traumhaft", seufzte Angie. „Wir haben da einen Französischlehrer. . . ooh la la!" Joanne hatte völlig vergessen, daß sie und Angie sich für einen Französischkurs eingetragen hatten. Aber jetzt war sie ja in Markville, und an der neuen Schule konnte man als einzige Fremdsprache nur Spanisch wählen. „Französisch ist eine irrsinnig romantische Sprache", schwärmte Angie. „Ganz egal, was man sagt - alles klingt so sexy." Angies vertrautes Kichern ließ Joanne erst richtig ihr Heimweh spüren.
Ihr wurde plötzlich bewußt, wie weit weg Angie und alle anderen Freunde jetzt waren. „Schreib mir doch auf Französisch, Joanne. Dann können wir uns gegenseitig verbessern. Paß auf, wir sind schon bald perfekt. Du hast doch in Markville auch Französisch, oder?" „Nein, sie bieten hier nur Spanisch an. Es ist schließlich nur eine Kleinstadtschule", erwiderte Joanne niedergeschlagen. Angies Stimme klang mitleidig. „Aber ganz so schlimm war doch der erste Schultag nicht, oder? Hast du schon irgendwelche netten Typen entdeckt? Was für Klamotten tragen die Mädchen da unten bei dir?" Sie ratterte ihre Fragen so schnell herunter, das Joanne lachen mußte. Angie War ein temperamentvolles, fröhliches Mädchen, das sich nie unterkriegen ließ. „Ich hatte ja keine Ahnung, was da auf mich zukommt. Fast alle Schülerinnen tragen Jeans und Cordhosen. Und nicht etwa Designer-Jeans, sondern diese häßlichen, dicken Dinger, die man vielleicht noch gerade bei der Gartenarbeit trägt. Ich glaube, einige von den Mädchen müssen vor und nach der Schule auf der Ranch mitarbeiten. Aber man kann sich schließlich umziehen, oder? Ich habe jedenfalls vor, meine Arbeitsklamotten und Schulklamotten zu trennen." Joanne mußte plötzlich lachen. „Übrigens, ich habe da einen Typen kennengelernt, der sogar offen an meinem Aufzug herumgemäkelt hat. Du weißt schon, dieses rot-weiße Kleid, das wir bei, Magnin's' gekauft haben. Er meinte, es wäre,Großstadtplunder'." Angie quietschte vor Vergnügen. Als Joanne dann auch noch von dem Zusammenstoß mit Jason Farley berichtete, erstickte sie fast vor Lachen. „Sieht er etwa so aus wie John Travolta in ,Großstadtcowboy'?" fragte sie begeistert.
„Nicht ganz. Dunkle Haare und wundervolle braune Augen hat er tatsächlich. Er ist aber viel größer und kräftiger. Ein echter Cowboy, nicht so ein Großstadttyp, der sich nur als Cowboy verkleidet." „Hmmmmn, da könnten sich ja durchaus interessante Möglichkeiten ergeben", schnurrte Angie entzückt. Joanne rollte die Augen. Wenn irgendwo ein Junge in Erscheinung trat, dann sah Angie darin grundsätzlich einen möglichen Freund für sie. Joanne selbst war im Umgang mit Jungen eher schüchtern und hatte noch nie einen festen Freund gehabt. „Das möchte ich bezweifeln. Der ist durch und durch vom Land. Und du kennst mich doch - eine waschechte Großstadtpflanze." „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg", witzelte Angie. „Und er will bestimmt, darauf wette ich." Joanne wurde rot und wechselte das Thema. „Was hast du denn heute angehabt?" „Roter Blazer, graue Flanellhose, Wildlederpumps. Hier ist es morgens schon recht kühl. Alle fanden mich todschick." Angie erzählte dann noch den neuesten Klatsch aus der Schule. Joanne hörte begeistert zu, aber schließlich meinte Angie, sie müßte das Gespräch beenden. „Ich habe wahrscheinlich inzwischen mein ganzes Taschengeld verbraucht, aber das war es wert", seufzte sie. „Ich grüße die ganze Clique von dir. Halt durch! Vielleicht stößt du ja mal wieder mit diesem Travolta-Verschnitt zusammen. Mann, muß das ein Typ sein!" Joanne war ihrer Freundin unheimlich dankbar für den Anruf. Nachdem sie aufgelegt hatte, fühlte sie sich längst nicht mehr so einsam und verlassen. Lächelnd ging Joanne zurück zum Badezimmer, um das Wasser wieder anzustellen.
3. KAPITEL Mehrere Wochen waren vergangen. Angie hatte nur zweimal geschrieben. Joanne hatte sich inzwischen an den Alltag auf der Ranch gewöhnt. Aber sich an eine Sache gewöhnen und eine Sache mögen sind zwei verschiedene Dinge. Ihr Tagesablauf war jetzt genau festgeschrieben: Aufstehen vor Morgengrauen, Arbeitsjeans, Bluse, Anorak und dicke Cowboystiefel anziehen und mit ihrem Bruder zusammen die Tiere füttern und Ställe ausmisten. Bobby, dieser kleine Verräter, war jetzt so weit verkommen, daß er in der Vorfreude auf die Rancharbeit buchstäblich aus dem Bett sprang. Während der Rest der Familie draußen arbeitete, bereitete Mrs. Miller ein herzhaftes Frühstück. Sie und ihr Mann nutzten die gemeinsame Mahlzeit, um sich zu unterhalten, bevor Mrs. Miller ins Krankenhaus fuhr. Nach der Arbeit zogen Joanne und Bobby sich um, frühstückten und rannten zur Bushaltestelle. Die Millers waren inzwischen ein eingespieltes Team. Alle arbeiteten zusammen und halfen sich gegenseitig. Allein das war schon ein kleines Wunder. Joanne stand in der Futterkammer des riesigen Viehstalls und schaufelte die süßlich riechende Melasse-GetreideMischung in mehrere Eimer. Die Eimer würde sie dann in die Futtertröge der drei Milchkühe schütten. Sie dachte zurück an den Herbst des vergangenen Jahres. Zu der Zeit war ihr Vater noch ein erfolgreicher Manager gewesen, immer in Hektik, immer auf irgendeiner geschäftlichen Konferenz, immer im harten Konkurrenzkampf um neue Werbeverträge. Ein Magengeschwür war dabei herausgekommen. Mrs. Miller, damals ein angesehenes Mitglied der Vereinigung amerikanischer Krankenschwestern, hielt
Vorlesungen für Schwestern in der Ausbildung und öffentliche Vorträge. Außerdem hatte sie ohne Bezahlung in Altenheimen gearbeitet und Impfungen geleitet. Schließlich war auch ihr Leben fast nur noch beruflicher Streß gewesen. Der kleine Bobby hatte die meiste Zeit seines jungen Lebens in der Gesellschaft von Babysittern verbracht. Joanne hatte sich bei ihren Freundinnen und deren Eltern einen Familienersatz gesucht. Deshalb vermißte sie ihre Freundinnen jetzt auch so sehr. Eigentlich waren sie gar keine Familie mehr gewesen. Jeder hatte sein eigenes Leben geführt. Ihre Eltern hatten sich kaum noch gesehen. Sie hatten sich ohnehin nichts mehr zu sagen gehabt. Die Spannungen in der Ehe ihrer Eltern waren schließlich so stark geworden, daß Joanne die Scheidung fast erwartet hatte. Sie gestand es sich ungern ein, aber für ihre Eltern war der Umzug vielleicht die beste Lösung gewesen. Seit sie hier wohnten, lächelten sich die beiden oft an und scherzten sogar miteinander. In den vergangenen Jahren hatte sie so etwas nie erlebt. Für ihre Eltern schien das Leben auf der Ranch fast so etwas wie zweite Flitterwochen zu bedeuten. Und sie selbst? Wie lange würde sie das trostlose Dasein hier noch aushalten können? Keine Partys, keine Disco und keine Freunde mehr. Oh, sicher, in Markville war immer etwas los. Aber alle Veranstaltungen hatten etwas mit Viehzucht oder Landwirtschaft zu tun. Sie waren für Mitglieder von Farmerverbänden, für Jugendliche im staatlichen Förderkreis junger Rancher oder Viehhändlervereinigungen. Joanne hatte ganz andere Interessen. Sie verbrachte ihre knappe Freizeit in der Stadtbücherei oder ging ins Kino - allein. Sie seufzte. Warum fand sie hier keine Freundinnen? Nun, die Jugendlichen hier waren total anders als sie. Und irgendwie fühlte sie sich immer unbehaglich in ihrer Gegenwart.
„He, paß auf, Joanne!" schrie Bobby plötzlich. Die massige Kuh, eine Kreuzung zwischen Holstein- und Guernseyrasse, hätte Joanne fast mit ihrem bulligen Kopf umgestoßen. In Gedanken versunken, hatte Joanne den Bolzen des Pfostens nicht richtig geschlossen, an den die Kuh gebunden war. Die gute alte Quilty hatte ihren Kopf befreien können. Dabei meinte Quilty das gar' nicht böse. Sie war nur furchtbar verfressen und wollte an die zwei Eimer Futter herankommen, die für die beiden anderen Kühe bestimmt waren. Quilty war die einzige der drei Kühe, die gemolken wurde. Die Milch, die sie gab, reichte für den Hausgebrauch und als Mischflüssigkeit für das Schweinefutter. Die anderen beiden Kühe, reinrassige Holsteiner, dienten als Nahrungsquelle für die Kälber. Jede von ihnen gab jeweils vier Kälbchen Milch. Wenn die Kleinen getrunken hatten, wurden die Kühe zurück auf die Wiese neben dem Stall geführt. Joanne und Bobby mußten das Säugen beaufsichtigen, weil manchmal eines der Kälber vergaß, wo sein Stammplatz am Euter der Kuh war. Dann gab es immer großes Geschrei, weil ja die andere Zitze besetzt war. Joanne und Bobby mußten einspringen und das Kälbchen zum Trinken führen. Aber meistens waren die Tiere lammfromm und leicht an den Arbeitsplan zu gewöhnen. Auf der Ranch waren auch noch Rinder, die ständig im Freien gehalten wurden. Mr. Miller wollte groß in die Rinderzucht einsteigen. Als Startkapital für seine Herde hatte er fünfundzwanzig Kühe und Kälber gekauft. Auf den Kauf eines Zuchtbullen konnte er vorerst verzichten, weil die meisten Kühe trächtig waren. Die Tiere waren oben in den Bergen aufgezogen worden und daher wild und unruhig. Außerdem waren sie daran gewöhnt, von Cowboys zusammengetrieben zu werden. Die Herde zu Fuß beisammen zu halten, war äußerst schwierig, aber die Millers hatten kein Pferd. Larry plante, sich ein oder zwei
Pferde anzuschaffen.- Er wollte Bobby das Reiten beibringen, damit ihm der Junge beim Viehtreiben helfen konnte. Joanne hatte ihrem Vater gesagt, daß sie keine Pferde mochte (tatsächlich hatte sie Angst vor ihnen), und Larry wollte sie nicht zwingen, reiten zu lernen. Auch Mrs. Miller machte sich nichts aus Pferden. Ihr Mann hielt die Abneigung seiner Tochter deshalb für eine erbliche Marotte und ließ die Sache auf sich beruhen. Die Arbeit war jetzt fast erledigt. Nur die Hühner mußten noch gefüttert werden. Bobby machte Joanne auf ein schwarz weiß geflecktes Pferd aufmerksam, das über das Weideland hinter den Ställen auf sie zugaloppierte. „Sieh mal, Joanne. Das Pferd kommt direkt auf uns zugerast." Joannes grüne Augen weiteten sich vor Schreck. Das Pferd näherte sich ihnen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Es raste genau auf den Zaun der Koppel zu, hinter dem sie stand. Würde das Tier rechtzeitig stoppen oder einfach über den Zaun preschen und die Kälbchen verletzen? Ihr Beschützerinstinkt ließ Joanne auf den Zaun klettern. Sie fuchtelte mit den Armen und brüllte: „Halt! Hau ab!" Das Pferd, ein großer, kräftiger Hengst, kam direkt vor ihr zum Stehen. Erde und Gras spritzten hoch, als es so plötzlich bremste. Mit bebenden Nüstern und schnaubend stand es da. „Hau ab!" schrie Joanne und fuchtelte mit der Hand. Der Hengst wich ein Stück zurück und blieb dann regungslos stehen. Joanne war vor Aufregung vom Zaun gesprungen und hatte das riesige Tier direkt vor sich. Jetzt plötzlich erinnerte sie sich daran, daß sie ja eigentlich Angst vor Pferden hatte. Sie fing an zu schwitzen. Wie konnte sie sich am besten in Sicherheit bringen? Hatte nicht mal jemand gesagt, daß Pferde die Angst von Menschen spüren, ja sogar riechen konnten? Sie mußte so tun, als ob sie völlig gelassen wäre.. Sie atmete tief durch und blieb ruhig stehen.
Der Hengst kam zu ihr und beschnupperte behutsam ihre vor Angst steifen Hände. Das kitzelte unangenehm, aber sie rührte sich nicht. Das Pferd wieherte leise und rieb seine schweißbedeckte Stirn an ihrem Arm. „Joanne, er mag dich. Ist er nicht schön? Wem er wohl gehört?" Bobby kletterte auf den Zaun. Er wollte sich mit dem Hengst anfreunden, aber daraus wurde nichts. Das schwarz-weiß gescheckte Pferd wich zurück und legte warnend die Ohren an. „Ruhig, Junge, ich will dich doch nur streicheln!" Bobby streckte die Hand aus. Der Hengst machte einen Satz vorwärts und schnappte zu. Seine Zähne verfehlten nur knapp die kleinen Finger des Jungen. Joanne war so erschrocken, daß sie nicht einmal schreien konnte. „Laß uns ins Haus gehen und Dad Bescheid sagen", murmelte sie zitternd. „Vielleicht bringt uns dieses Pferd noch um, wenn wir hier stehenbleiben." Bobby sprang zurück in die Koppel. In dem Moment, als er nicht mehr in Joannes Nähe war, beruhigte sich der Hengst sofort. Er kam zurück zu ihr und beschnupperte zärtlich ihre Hüfte. „Mensch, er mag nur dich und mich nicht. Wie kommt das?" wunderte sich Bobby. Joanne verstand es auch nicht. Aber sie mußte an ihre Katze denken, die sie in San Francisco gehabt hatte. Ausgerechnet den Gästen, die keine Katzen mochten, war Saki immer auf den Schoß geklettert. Sie schien ein teuflisches Vergnügen darin zu finden, gerade die Leute zu nerven, die sie abwiesen. Vielleicht war dieser Hengst genauso. Sie mußte allerdings zugeben, daß er wunderschön war. Schlank und hochbeinig, mit ungewöhnlich großen, braunen Augen, die von einem weißen Rand umrahmt waren.
Offensichtlich wollte ihr der Hengst nichts tun. Also stieg sie langsam über den Zaun und ging zu ihrem Bruder. Als die beiden auf das Haus zuliefen, wurde das Pferd unruhig. Es wieherte und rannte am Zaun der Koppel auf und ab, als ob es Joanne bitten wollte, zu ihm zurückzukehren. Wegen dieses Vorfalls verpaßten Joanne und Bobby ihren Bus. Ihr Vater fuhr sie in die Stadt. Auf der Fahrt zur Schule erklärte Mr. Miller: „Ich rufe nachher mal Dale Delaney an. Vielleicht weiß er ja, wem dieses arme Wildpferd gehört. Der Hengst ist ein außergewöhnlich schönes Tier, aber ganz offensichtlich haßt er Männer. Bestimmt muß er an den Beinen gefesselt werden, bevor wir ihn abtransportieren können." Er lächelte seine Tochter an. „Siehst du jetzt, wie unwiderstehlich du auf Männer wirkst? Sogar ein wilder Hengst wird in deinen Händen zu Wachs, Joanne. Das nennt man wohl das gewisse Etwas haben." Alle drei lachten. Sie hielten vor Bobbys Schule. „Bobby, denk daran, was deine Mutter dir gesagt hat - spiel nicht den Zappelphilipp und rede nicht während des Unterrichts. Warte damit bis zur Pause, okay? Wir wollen nicht noch einmal von deinem Lehrer in die Schule bestellt werden. Abgemacht?" Bobby schüttelte die ausgestreckte Hand seines Vaters. „Abgemacht, Dad." „Okay, Sportsmann, dann lauf." Der kleine Junge rannte zum Fußgängerüberweg, drehte sich aber noch einmal um und brüllte: „Darf ich heute nachmittag den Traktor fahren, Dad?" „Mal sehen", rief Mr. Miller und zwinkerte seinem Sohn zu. Das war für Bobby so gut wie ein Ja. Begeistert rannte er über die Straße zur Schule hinüber. Mr. Miller fuhr zurück auf die Landstraße, die zur Markville High School führte. Plötzlich scherte ein ausländischer Kleinwagen zur Seite. Mr. Miller mußte so Hart bremsen, daß
der Lieferwagen sich um die eigene Achse drehte und auf die Gegenfahrbahn schleuderte. Die Vorderräder des Wagens rutschte in den Straßengraben, der unglücklicherweise voll Wasser stand. Der Fahrer des anderen Wagens raste davon und überließ seine Opfer ihrem Schicksal. „Bist du in Ordnung, Joanne?“ Fragte Mr. Miller seine Tochter. Zitternd nickte sie. „Ich habe mir nur ein wenig den Kopf gestoßen. Wir hätten dabei draufgehen können ! Dieser rücksichtslose Bauerntölpel!" Ihr Vater lachte. Sie hatte dieselbe aufbrausende wie ihre Mutter. „Idioten am Steuer finden sich auch in der Großstadt. Joanne." “Trotzdem!" Sie hörten ein Auto herankommen und bremsen. Direkt neben ihnen hielt ein glänzender roter Lieferwagen. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter. „He, was ist denn hier passiert?" erkundigte er sich. Es war Jason Farley. Joanne lehnte sich zurück und versuchte, sich hinter ihrem Vater zu verstecken. Ihr Herz hämmerte, und sie konnte kaum noch atmen. Sie hatte Jason Farley einige Male vor der Schule gesehen, wenn er seine Schwester Stephanie hinbrachte. Aber seit ihrem Zusammenstoß vor über einem Monat hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen. Warum machte allein der Klang seiner Stimme sie so nervös? Ihr Vater erklärte Jason, wie sie in diese mißliche Lage geraten waren. Jason, der sich fast den Hals verrenkte, um einen Blick von Joanne zu erhaschen, lachte: „Kein Wunder,
Mr. Miller. Schließlich haben Sie Ihre Tochter dabei. Ich sage Ihnen, sie ist ein Ein-Personen Sprengtrupp. Überall muß sie ihre Zerstörungswut auslassen." Mr. Miller lächelte etwas verwirrt. Joanne wurde feuerrot. Ihr Vater erkannte, daß das offenbar eine Anspielung auf eine frühere Begegnung zwischen Joanne und dem Sohn seines alten Freundes Bill Farley gewesen war, und zwinkerte Jason freundlich zu. „Ich habe zwar ein Seil im Wagen und würde Sie ja gern herauszie hen, aber ich hole wohl doch besser den Abschleppdienst. Sie sitzen ziemlich tief drin." „Ich will Ihnen keine Umstände machen", wehrte Mr. Miller ab. Jason zuckte die Achseln. „Wozu sind Nachbarn da?" Diesmal trug er ein bunt kariertes Wollhemd mit glänzenden, schwarzen Druckknöpfen und seinen eindrucksvollen Cowboyhut. Er sah wieder unverschämt gut aus. Grinsend blickte er zu Joanne hinüber und schlug vor: „Wahrscheinlich bin ich lebensmüde, aber ich könnte Hurricane Johnny mitnehmen und vor der Schule absetzen. Danach fahre ich bei der Abschleppfirma vorbei und schicke Ihnen einen Wagen. Schließlich weiß ich doch, was für ein schlechtes Gewissen ihre Tochter hätte, wenn sie den Hauswirtschaftsunterricht versäumen würde." Mr. Miller war einverstanden und bedankte sich. Joanne wußte nicht so recht, was sie davon halten sollte. Ihr war klar, daß alle Mädchen dieser Gegend sie beneiden würden, wenn sie jetzt zu Jason in den Wagen stieg. Aber sie hatte keine Zeit, über solche Dinge nachzudenken. Sie kam ohnehin schon zu spät und wollte sich nicht noch mehr verspäten. Hauswirtschaftslehre war zwar nicht gerade ihr Lieblingsfach, trotzdem lernte sie eine Menge nützlicher Dinge dabei. Plötzlich stutzte sie. Woher wußte Jason eigentlich, welche Fächer sie hatte, und wann?
4. KAPITEL Jason steuerte schweigend den Wagen, während Joanne sich das Innere des Lieferwagens ansah. Das Armaturenbrett glänzte, und die rote Plüschauslegeware war wie neu. Ein paar Arbeitshandschuhe aus Leder, ein Stapel Arbeitsklamotten aus der Reinigung und zwei Heugabeln lagen säuberlich geordnet in einem großen Plastikkasten auf der Ladefläche. Sogar der Aschenbecher war blitzsauber. An einem der Radioknöpfe hing ein Duftsäckchen, dem frischer Fichtennadelduft entströmte. Der ganze Wagen roch irgendwie gut. Nicht nur nach Fichte, sondern auch nach der frisch gereinigten Kleidung und nach Jasons Rasierwasser, einem angenehm herben Duft. „Geht ihr in den Cow Palace? Die Veranstaltung ist ja jetzt bald, schon in ein paar Wochen." Der Cow Palace. Joanne hatte noch gar nicht darüber nachgedacht. Dabei hätte sie wissen sollen, daß die Rancher hier alle dorthin fahren würden. Zu dieser großen nationalen Viehausstellung, Pferdeausstellung und Rodeo-Show kamen ja Rancher aus ganz Amerika nach San Francisco. „Ich, äh ... ich weiß noch nicht. Wohl eher nicht", antwortete sie unsicher. Sie war bestimmt schon tausendmal an dem riesigen Cow Palace vorbeigefahren, aber sie hatte den Gebäudekomplex nur ein einziges Mal betreten. Das war, als Bobby drei Jahre alt geworden war, und die Millers den Zirkus besucht hatten. Sie erinnerte sich noch gut an dieses aufregende Erlebnis. Vor ein paar Jahren war der gigantische Bau renoviert worden. Er bestand jetzt aus einer riesigen Messehalle und mehreren Nebengebäuden und Ausstellungsflächen im Freien. Dort fanden Sportveranstaltungen, Tagungen und Rockkonzerte statt. Und natürlich die jährliche Viehausstellung
und Auktion mit den Rodeos und Reitturnieren. Es war die größte Ausstellung dieser Art in Amerika. „Der Cow Palace ist für uns Rancher das wichtigste Ereignis des Jahres", erklärte Jason. „Wir wollen auch in diesem Jahr unsere Rinder dort vorführen. Dort kann man mit Vieheinkäufern aus der ganzen Welt zusammentreffen. Im letzten Jahr hat Dad einen unserer Zuchtbullen für den Rekordpreis von 25.000 Dollar an einen Viehzüchter aus Japan verkauft." Joanne hatte keine Ahnung gehabt, welche Summen in der Viehzucht erzielt wurden. Sie wußte nicht, was sie dazu sagen sollte, deshalb schwieg sie unsicher. Jason klappte die Sonnenschutzblende herunter. An der Seite klebte das Foto eines hübschen, blonden Mädchens in Westernklamotten. „Das ist Debbie Beckworth. Sie stammt aus der Gegend hier und hat sich im Cow Palace-Reitturnier schon öfter sehr gut geschlagen. Dieses Jahr will sie den Titel der Miß Grand National gewinnen. Sie wird wohl gegen etwa zwanzig Konkurrentinnen kämpfen müssen - alles erstklassige Reiterinnen. Aber Debbie wird siegen, verlaß dich darauf." Joanne starrte auf das Foto und kam sich im Vergleich mit diesem Mädchen plötzlich unfähig und minderwertig vor. Offensichtlich bewunderte Jason diese Debbie. Vielleicht war er sogar verliebt in sie? „Du bist ja aus San Francisco", fuhr Jason fort. „Sicher hast du den Kampf um den Grand National-Preis schon öfter gesehen als ich." „Nein, ich war erst ein einziges Mal im Cow Palace", gestand Joanne und hatte fast das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen. „Damals fand dort zur gleichen Zeit mit dem Grand National-Turnier ein Zirkus statt, den wir besucht haben." Jason musterte ihren topmodischen Aufzug. Sie trug einen teuren Overall nach Art der Fallschirmspringeranzüge, mit eng
zulaufenden Hosenbeinen und einem Haufen überflüssiger Reißverschlüsse, die als Schmuck dienten. Er schüttelte fassungslos den Kopf und lachte. „Daß du ein waschechter Großstadtfreak bist, ist wirklich nicht zu übersehen. Wahrscheinlich verschwende ich nur meine Zeit, wenn ich mit dir über den Cow Palace rede. Ich nehme an, ich langweile dich sogar damit." Joanne war fasziniert gewesen von seinem Bericht über den Verkauf des Zuchtbullen. Aber seine spöttischen Bemerkungen brachten sie in Rage. Sie war stolz auf ihren guten Geschmack in Modefragen. Ihre Mutter und Tante Joan hatten ihr den richtigen gesellschaftlichen Schliff verpaßt. Wenn dieser ungehobelte Klotz neben ihr nur die Spur einer Ahnung hätte, würde er ihr Komplimente machen, statt sie auf diese plumpe Art zu beleidigen. Sie sagte kein Wort mehr und starrte stur geradeaus. Erleichtert erkannte sie schließlich am Ende der Straße das Schulgebäude. Jason stoppte den Wagen, und Joanne wandte sich zu ihm: „Vielen Dank fürs Mitnehmen und für deine Hilfe", bedankte sie sich kühl, öffnete die Wagentür und sprang hinaus. Sie mußte jetzt erst einmal ins Sekretariat und ihr Zuspätkommen erklären. Jason kurbelte das Fenster der Beifahrertür herunter, die sie gerade hinter sich zugeknallt hatte. „Soll ich im Sekretariat wieder meinen Einfluß für dich geltend machen?" „Ich komme sehr gut allein klar, Mr. Farley", frauchte sie. Jason grinste und tippte an seinen Hut. „Nenn mich doch Jason, kleine Johnny. Alle meine Freunde nennen mich so." Er brauste davon. Kochend vor Wut stand Joanne auf der Straße. „Kleine Johnny", wiederholte sie. „Ein hoffnungsloser Schwachkopf ist das." Aber sie mußte gegen ihren Willen lächeln.
Als Joanne und Bobby an diesem Nachmittag der Schule nach Hause kamen, standen drei Lieferwagen und ein großer Pferdetransporter neben den Stallungen. Vom Weideland hinter der Koppel hörten sie Wiehern und das Trampeln mehrerer galoppierender Pferde. Joanne und Bobby rannten dorthin o am Morgen der fremde Hengst aufgetaucht war. Mr. Miller stand am Zaun der Koppel und beobachtete Dale Delaney, Bill Farley und einen seiner Cowboys, die zu Pferde den schwarz-weiß gescheckten Hengst jagten. Joanne und Bobby stellten sich neben ihren Vater. Jedesmal, wenn die drei Reiter in die Nähe des Schecken kamen, überlistete er sie wieder. Er drehte sich blitzschnell um und rannte in die entgegengesetzte Richtung, oder er galoppierte auf seine Jäger zu und düste dann haarscharf an ihnen vorbei. Die verärgerten Reiter verpaßten ihn mit ihren Lassos immer wieder. „Wie lange geht das schon so, Dad?" wollte Joanne wissen. „Seit etwa anderthalb Stunden. Ich hatte vorher schon selbst versucht, ihn einzufangen. Habe ihn sogar mit einem Eimer Futter gelockt. Aber nichts zu machen! Ich mußte schließlich Hilfe holen. Ach ja, der Hengst gehört übrigens Ted. Delaney hat ihn als Reitpferd für seinen Sohn gekauft. Junge, wenn das nicht zum Totlachen ist!" Joanne beobachtete die Fluchtversuche des Schecken. Er war so schnell, daß die anderen Pferde ihn nicht einholen konnten. Obwohl sie eigentlich keinen Sinn für Pferde hatte, spürte sie jetzt Mitleid mit diesem rassigen Hengst. Sie fühlte sich sogar auf merkwürdige Art mit ihm verbunden. Er hatte einen unbezähmbaren Freiheitsdrang, das spürte sie. Seine Bewegungen waren geschmeidig und elegant. Sie hatte noch nie ein so unglaublich schönes Tier gesehen. Würde sie wohl auch dieses herrliche Gefühl absoluter Freiheit verspüren,
wenn sie den Hengst einmal reiten könnte? Sie versuchte sich vorzustellen, auf seinem Rücken über die offenen Felder zu galoppieren. „Ich wette, Joanne könnte ihn einfangen", sagte Bobby zu seinem Vater. „Er mag Joanne." Mr. Miller sah erst Bobby und dann Joanne an. Nachdenklich zupfte er an seinem kleinen Oberlippenbart. „Bobby hat vielleicht recht. Willst du es mal versuchen, Joanne? Dieser Hengst ist wohl tatsächlich nicht bösartig. Er läuft einfach nur vor jedem Mann davon." Ihr Vater schien die Idee wirklich gut zu finden. Bobby rief begeistert: „Los, Jcanne, versuch es doch mal!" Joanne überlegte. Normalerweise wäre sie vor Angst davongelaufen, als so etwas zu machen. Aber ihr Vater und Bobby sahen sie erwartungsvoll an, und dies hier war schließlich ein besonderes Pferd. „Okay", sagte sie schließlich, „aber wie soll ich das machen?" Mr. Miller gab ihr einen Strick mit einer Schlinge an einem Ende. „Wenn du vor ihm stehst, dann legst du ihm den Strick um den Hals und führst ein Ende durch die Schlinge. Und dann ziehst du langsam zusammen. Den Rest erledigen wir." Joanne nahm den kurzen Strick. „Paß auf deine Hosen und Schuhe auf! Für so ein Unternehmen bist du vielleicht nicht ganz passend angezogen", warnte ihr Vater. „Das ist doch unwichtig, Dad. Jetzt ist keine Zeit, um sich noch umzuziehen." Sie kletterte über den Zaun der Koppel und lief auf das Weideland hinaus. Zum Glück war der Boden wenigstens trocken. Trotzdem wackelte sie auf ihren hohen Absätzen ziemlich unsicher durch das Gras. Der Anlaß der ganzen Jagd stand genau in der Mitte der 16 Hektar großen Weide. Der Hengst beobachtete die drei Cowboys, die sich ihm vom äußersten Ende her näherten. Dann
drehte er sich zu Joanne um. Er stellte wachsam die Ohren auf und schien zu überlegen, ob er wirklich Joanne vor sich sah. Dann kam er langsam näher. Joanne wollte ihn rufen, aber sie brachte vor Nervosität nur ein leises Krächzen zustande. „Komm her, Junge", flüsterte sie. Hoffentlich hatte ihr Vater recht damit, daß der Hengst im Grunde gutmütig war. Er konnte ohne Mühe einfach über sie hinwegtrampeln. Dann würde von ihr nicht viel übrigbleiben. Ich muß ja verrückt geworden sein, mich hier hinzustellen, dachte sie. Aber jetzt war es zu spät. Das Pferd hatte sie gehört und kam in vollem Galopp auf sie zu. Und sie hatte solche Angst, daß sie weder schreien noch weglaufen konnte. Ein paar Meter vor ihr blieb der Schecke stehen und beäugte sie vorsichtig. Die drei Reiter näherten sich langsam von hinten. Der schwarz-weiß gescheckte Hengst stieg auf die Hinterbeine und schlug mit den mächtigen Vorderhufen aus. Dann stampfte er schnaubend auf dem Boden herum. Joanne fing an zu zittern. Ihr war kalt vor Entsetzen. Vergeblich suchten ihre Augen nach einem Fluchtweg. Aber sie würde sich sowieso nicht rühren können. Sie war vor Angst buchstäblich gelähmt. Jetzt schritt der Schecke ruhig auf sie zu. Er wieherte leise und blickte sie unverwandt an. Die drei Männer hinter ihm hatten in etwa fünfzehn Meter Entfernung ihre Pferde angehalten. Ihre Ängste um Joanne waren völlig unnötig. Der Hengst wirkte wie verwandelt. Er benahm sich nicht mehr wie ein Wildpferd, sondern eher wie ein niedliches Hundebaby. Er schnupperte zart an Joannes Händen, und als sie ihm den Hals tätschelte, lehnte er seinen riesigen Kopf an ihre Schulter.
Mr. Delaney nahm seinen Hut ab und kratzte sich fassungslos am Kopf. „Ich kann das nicht glauben. Ich sehe da zwar etwas, aber ich schwöre euch, das gibt es einfach nicht!" Jason Farleys Vater versicherte seinem Nachbarn, daß seine Augen völlig in Ordnung wären. Er selbst hatte schließlich das gleiche Bild vor sich. Mr. Miller brüllte von der Koppel her: „Der Strick, Joanne! Leg ihm den Strick um!" Der Hengst wehrte sich nicht gegen den Strick. Sie zog das eine Ende durch die Schlinge und zog zu. Sie hatte ja keine Ahnung, wie man ein Pferd führte. Deshalb zog sie ruckartig am Strick. Der Hengst warf den Kopf zurück. Sie entschuldigte sich bei ihm. Er schien es ihr nicht übelzunehmen, denn als sie einfach losging, trottete er brav neben ihr her. Den Strick brauchte sie nur locker in der Hand zu halten. Seite an Seite gingen Joanne und der Schecke auf die Koppel zu. Als das Pferd Mr. Miller und Bobby dort stehen sah, wurde es wieder unruhig: ,,Rede mit ihm, Joanne", sagte ihr Vater. „Wir müssen ihn irgendwie in den Stall schaffen." „Ganz ruhig, Junge. Alles ist in bester Ordnung", murmelte sie und tätschelte den Hals des Hengstes. „Niemand will dir etwas tun." Der Hengst starrte mit seinen seltsam aussehenden, weiß umrandeten Augen wachsam auf Joannes Vater und Bobby. Als beide versuchten, in seine Nähe zu kommen, legte er die Ohren wieder zurück. „Du mußt ihn in den Stall führen, Joanne. Ich hätte keine Chance", erklärte Mr. Miller. Sie führte den Hengst in eine der unbenutzten, staubigen Pferdeboxen in einer der Ecken des großen Viehstalls. Er ging ohne den geringsten Widerstand hinein. Sie schloß die untere
Tür, so daß er bis zur Brust frei war und sich hinauslehnen konnte. Dann blieb sie noch einen Moment bei ihm stehen. Die drei Männer, Mr. Miller und Bobby versammelten sich in sicherer Entfernung hinter Joanne und dem Hengst. Alle waren einer Meinung: So etwas hatte es wirklich noch nie gegeben. Ein Mädchen aus der Großstadt konnte einfach so ein Wildpferd zähmen, mit dem nicht einmal erfahrene Cowboys fertig wurden. Niemand hatte eine Erklärung dafür. Bill Farley zum Beispiel, war ein ehemaliger Rodeoreiter. Und trotzdem hatte er diesen Hengst nicht bändigen können. Mr. Miller lud die drei gescheiterten Jäger zu einem Drink ins Haus ein. Er bot Dale Delaney an, das Pferd seines Sohnes bis zum Wochenende in seinem Stall zu lassen. Dann würden sie mit vereinten Kräften versuchen, den Hengst in einem Pferdetransporter zur Delaney-Ranch zu schaffen. Joanne und Bobby standen noch immer vor der Pferdebox. Bobby schob sich langsam an den Hengst heran. Aber immer, wenn der Junge versuchte, den Schecken zu streicheln., schnappte das Pferd nach ihm. Nach einiger Zeit konnte Bobby aber wenigstens neben seiner Schwester stehen und mit ihr reden, ohne daß der Hengst unruhig wurde. „ Joanne, ich habe gehört, wie Mr. Delaney Dad erzählt hat, daß Ted mit dem Pferd überhaupt nicht umgehen kann, und auch niemand sonst mit ihm klarkommt. Er hat bis jetzt jeden abgeworfen. Sogar Mr. Farley. Und der hat früher Wildpferde zugeritten." Joanne streichelte das weiße Dreieck auf der Stirn des Hengstes und konnte kaum glauben, was Bobby da erzählte. Ihr neuer Freund hatte den Kopf an ihre Schulter gelegt und zufrieden die Augen geschlossen. Er war am Hals und an den Flanken mit Schweiß bedeckt. Aber die bedauernswerten Pferde, die ihn gejagt hatten, sahen noch viel schlimmer aus.
Plötzlich leuchteten Bobbys Augen auf. „Joanne, ich habe eine tolle Idee. Ted kann ihn nicht reiten, und sonst auch niemand. Deshalb ist dieser Hengst wahrscheinlich nicht viel wert. Vielleicht hat Dad genug Geld, um ihn für dich zu kaufen." Seine Schwester starrte ihn an. Bobbys niedliches Sommersprossengesicht glühte förmlich vor Begeisterung. Seit wann war Bobby so selbstlos? Es sah ihm gar nicht ähnlich, in dieser Weise an andere zu denken. Aber Bobby war mit seinen tollen Einfällen auch noch nicht am Ende. „Und, Joanne, wenn Dad dir dieses Pferd kauft, dann kann ich sagen, ich muß auch eins haben. Ich werde ihm erklären, es wäre ungerecht, wenn ich nicht mein Pony bekäme. Clarence hat gesagt, sein Vetter will eins verkaufen. Das Tier soll bockig sein, aber ich werde schon mit ihm fertig. Wenn es mich abwerfen will, haue ich ihm eine runter. So." Bobby ließ seine kleinen Fäuste schwungvoll durch die Luft sausen. Joanne lachte. Der Hengst schreckte auf, und sie wandte sich ihm zu: „Wollen wir das so machen, Kamerad? Würdest du gern hier bleiben? Platz genug haben wir ja." Der Hengst nickte mit dem Kopf und wieherte. Joanne und Bobby lachten. Ohne daß es ihr bewußt war, lachte Joanne zum ersten Mal, seit sie San Francisco verlassen hatte, richtig fröhlich. Zusammen mit Bobby ging sie zurück ins Haus.
5. KAPITEL In San Francisco waren immer alle schönen oder auch traurigen Ereignisse in der Familie eine reine Privatangelegenheit gewesen. Ein paar enge Freunde hatten sich mitgefreut oder ihre Anteilnahme bekundet. Aber die Anonymität des Großstadtlebens ließ die Menschen meistens mit ihren Sorgen und Freuden allein. Und in Joannes Nachbarschaft und Freundeskreis hatte jeder das Privatleben des anderen respektiert. Im Winston Valley war das ganz anders. Hier verbreiteten,sich Neuigkeiten wie ein Lauffeuer. In Markville und den umliegenden Ortschaften waren Geheimnisse nicht üblich. Joanne bekam das gleich am folgenden Tag zu spüren. Ted und Jimmy Delaney überfielen sie schon an der Bushaltestelle mit tausend Fragen. Jimmy ließ sich von Bobby einen wilden Bericht auftischen. Ted nahm Joanne ins Kreuzverhör. Er wollte wissen, wie sie das Tier gebändigt hatte. Joanne konnte sich das ja selbst nicht erklären und sagte deshalb kaum etwas dazu. Dennoch war sie jetzt eine Heldin. Ted wußte schließlich, daß Cochise unbezähmbar war. Nicht einmal sein Vater war ja mit dem Hengst fertig geworden. Im Schulbus nickten ihr alle zu und sagten: „Hallo, Joanne, wie geht's?" Bis zu diesem Tag hatten die meisten sie einfach nicht beachtet. Joanne war auch bewußt für sich geblieben. Sie hatte sich immer an einen Fensterplatz gesetzt, weil sie dann so tun konnte, als wolle sie lieber die Landschaft bewundern, als sich zu unterhalten. In der Schule war sie plötzlich eine Berühmtheit. Schüler, die sie früher nur geärgert hatten, liefen ihr jetzt nach und wollten ihre Geschichte hören. Joanne bemühte sich, den
Vorfall herunterzuspielen. Sie wünschte ernsthaft, das Ganze wäre nie passiert. Als sie in der Pause vor ihrem Spind stand, steuerte eine enge Freundin von Stephanie Farley auf sie zu, die immer in wahnsinnig exklusiven Westernklamotten herumlief. ,Joanne, ich habe da ein Problem mit meiner Stute. Jedesmal, wenn ich meinen Fuß in den Steigbügel setze, dreht sie den Kopf und will nach mir schnappen. Meistens verpaßt sie mich zwar, aber das ist doch eine schlechte Angewohnheit. Wie kann ich ihr das bloß wieder abgewöhnen?" Joanne sah Jill Hawkins, die Tochter eines der reichsten Bürger im Winston Valley, ungläubig an. Ihr Vater besaß drei Sägewerke. Du meine Güte! dachte sie. Jetzt soll ich auch noch ihre Probleme lösen! „Bitte, Joanne. Alle denken, ich habe mit Pferden den totalen Durchblick, aber in dieser Sache brauche ich wirklich Hilfe. Ich möchte mit der Stute schon bald bei Reitshows und Turnieren mitmachen. Und ich will ein paar Bänder und Pokale gewinnen, damit Dad stolz auf mich sein kann." Joanne hatte gehört, daß Jason Farley mal mit Jill ausgegangen war. Deshalb hatte sie schon vermutet, daß sie eine gute Reiterin war. „Mag ja sein, aber ich bin keine Expertin, ich habe einfach nur. . ." Jill, die kurze Zeit ihr Mißtrauen gegen die Neue` fallengelassen hatte, nahm wieder eine feindselige Haltung ein. „Du glaubst wohl, du bist dir zu schade für uns hier, was, Frisco?" Diese voreilige und auch völlig falsche Vermutung machte Joanne zunächst sprachlos. „Jill, wenn ich wüßte, wie es anzufangen ist, würde ich dir gern helfen", stammelte sie dann. „Die Sache ist nämlich die, daß ich noch nie zuvor mit Pferden. . ."
Jill Hawkins drehte sich auf dem Absatz um und ließ sie einfach stehen. Joanne hatte gerade beichten wollen, daß sie noch nie mit Pferden zu tun gehabt ja, daß sie noch nicht einmal auf einem Karussellpferd gesessen hatte. Aber wenn Jill und diese anderen reichen Snobs sie für eingebildet hielten - sollten sie doch! Jill war zu ihrer Clique hinübergestürmt. Bestimmt erzählte sie jetzt irgendwelche Gemeinheiten. Eins war allerdings klar: Jill würde vor ihren Freundinnen nie zugeben, daß sie Joanne um Rat gefragt hatte. Das ließ ihre Hochnäsigkeit gar nicht zu. Auf jeden Fall würde sie aber den Vorfall so hinbiegen, daß Joanne als die einzig Schuldige dastand. Jill würde bestimmt dafür sorgen, daß Joanne von jetzt an wieder geschnitten wurde. Joanne hatte schon viele Jill Hawkins kennengelernt. In San Francisco wimmelte es von ihnen. Angie Perry und sie hatten diese aufgeblasenen Puten immer kleinkriegen können. Aber Markville war nicht der Kampfplatz, an den sie gewöhnt war. Außerdem fehlte ihr Angies moralische Unterstützung. Obwohl sie in der Großstadt aufgewachsen war, dachten alle im Winston Valley, daß Joanne reiten könne. Da sie Larry Millers Tochter war, hielt man es für selbstverständlich. Das war Joanne an diesem Tag in der Schule zum ersten Mal klar geworden. Dunkel erinnerte sie sich daran, daß ihr Vater und Grandpa früher immer zusammen ausgeritten waren. Für beide schien es die natürlichste Sache der Welt gewesen zu sein. Auch ihre Großmutter war eine Pferdenärrin gewesen. Aber sie. Wenn sie doch nur wieder in der Baldwin High School in San Francico seie. Sie wollte nur noch weg von diesen neugierigen Blick und lästigen Fragen. Joanne hatte das Gefühl, daß diese furchtbare Woche nie enden würde. Sie hielt es kaum noch aus, immer wieder
erklären zu müssen, daß sie von Pferden nichts verstand. Immerhin verschaffte ihr das ganze Theater ein paar neue Bekanntschaften mit Leuten, die plötzlich ihre Freundschaft suchten. Mißtrauisch geworden, ließ sie jedoch kaum jemanden an sich heran. Drei Tage würde der Hengst auf der Miller-Ranch zu Gast sein. Joanne verbrachte jede freie Minute bei ihm im Stall. Sie hing plötzlich an diesem Pferd, obwohl Cochise ja dafür verantwortlich war, daß sie in Markville jetzt plötzlich einen Ruf wie Donnerhall hatte. Am Freitag Nachmittag stand Joanne wieder einmal vor der Box und plauderte mit Cochise. „Cochise, dieser Name paßt nicht zu dir. Ich muß mir unbedingt einen schöneren Namen für dich ausdenken." Bobby kam in den Stall gestürzt. „Sei vorsichtig, Bobby. Du weißt doch, wie nervös Cochise immer ist. Übrigens, kannst du mir nicht helfen, einen anderen Namen für ihn zu finden?" „Das geht uns gar nichts an. Wir dürfen ihn nicht umtaufen", protestierte Bobby. „Er gehört doch Ted Delaney. Aber du hast recht, ich mag seinen Namen auch nicht." Bobby grinste. „Ich habe zu Dad gesagt, er soll dir den Hengst kaufen. Aber er will nicht. Er meint, wenn du wirklich reiten lernen willst, dann sollst du ein gutmütiges Pferd bekommen. Ist dir klar, was das heißt? Er will dir so einen Schrottgaul kaufen, den sonst niemand mehr haben will." Joanne wollte nicht irgendein Pferd haben. Sie wollte Cochise. Natürlich hatte sie keine Ahnung vom Reiten oder von der Pflege eines Pferdes. Aber sie war fest entschlossen, all das zu lernen. Dieser Hengst hier würde ihre Ungeschicklichkeit geduldig ertragen. Sie wußte das einfach. Jetzt mußte sie nur noch ihren Vater davon überzeugen. Bei ihrem Vorsatz, reiten zu lernen, spielte natürlich auch diese
grauenvolle letzte Woche in der Schule eine Rolle. Sie mußte den Mädchen in Markville zeigen, daß sie es mit ihnen aufnehmen konnte. Und vor allem wollte sie Jason Farley beweisen, daß sie keineswegs nur eine verwöhnte ManagerTochter aus der High Society San Franciscos war. Joanne hatte geplant, nach dem Abendessen mit ihren Eltern über Cochise zu reden. Aber ihr Vater ging sofort nach dem Essen in sein Arbeitszimmer, um die Bücher der Ranch zu prüfen. Und ihre Mutter verzog sich ins Badezimmer. Sie liebte es, sich um diese Zeit ein heißes Schaumbad zu genehmigen und ihre Kitschromane dabei zu lesen. Joanne seufzte. Sie würde die Unterhaltung aufschieben müssen. Das Telefon klingelte. Bobby nahm ab. „Ja. Sie ist da. Wer ist dort? Oh. Ich hole sie. Joanne!!!" Er brüllte ihren Namen so laut ins Telefon, daß dem bedauernswerten Anrufer das Trommelfell platzen mußte. Bobby gab seiner Schwester den Hörer. „Ist irgendein Typ. Ein Mr. Farley, glaube ich." „Hallo, könnte ich Joanne Miller sprechen?" fragte eine tiefe, männliche Stimme. „Am Apparat." Sie hatte Bill Farleys Stimme ganz anders in Erinnerung. „Hier ist Jason, kleine Johnny." Jason. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Ihr Herz flatterte schon wieder. Sie hoffte nur, daß sie nicht irgendeinen Blödsinn von sich geben würde, in ihrer Nervosität. „Wie ich höre, zähmst du jetzt Wildpferde. Deshalb rufe ich auch an. Würdest du bitte deinem Vater sagen, daß Dale Delaney morgen nicht kommen kann? Er fährt heute abend noch weg, weil er mit einem Rodeoveranstalter über den Verkauf von Cochise verhandeln will.", sagte Jason ruhig.
Joanne blieb die Luft weg. Sie hatte noch nicht einmal mit ihrem Vater gesprochen, und sollte den Hengst schon wieder verlieren? „Hallo, bist du noch da?" fragte Jason. „Ja. Hm ... bist du sicher, daß er Cochise an diesen Rodeofritzen verkaufen wird?" Jasons Stimme klang gleichgültig. ,;Klar. Der Gaul taugt doch sonst zu nichts. Er kann höchstens noch als Hühnerfutter verarbeitet werden, aber er ist erst vier Jahre alt und ein starker Kämpfer. Jeder Rodeoveranstalter würde ihn gern kaufen. Der Gaul wird Massen von Cowboys abwerfen. Ich weiß das. Ich habe das Biest selbst in Aktion gesehen." Joanne war entsetzt. Wie konnte man ihren Cochise als Rodeopferd mißbrauchen! Bestimmt würde er mit der Zeit seinen unbezähmbaren Freiheitsdrang verlieren und ein resigniertes, willenloses Tier werden. „Wenn ich doch nur. . ." setzte sie völlig verzweifelt an. „Was sagst du?" „Ach, nichts. Ich sage meinem Vater Bescheid." „Leg noch nicht auf! Hast du Sonntag Nachmittag schon etwas vor?" Joannes Herz fing an zu hämmern. Wollte er sie etwa um eine Verabredung bitten? „Ich ... ich glaube nicht." „Ich dachte, Wir könnten zusammen ausreiten. Dad will nämlich, daß ich unsere Zäune überprüfe und zur Bergkette im Norden reite, um unser Wasserreservoir zu kontrollieren. Und wenn du dich anständig benimmst, lade ich dich hinterher sogar zu Hamburger und Cola ein." Sie hätte so gern ja gesagt! Aber reiten? Du meine Güte, sie konnte doch gar nicht reiten! Er würde sofort merken, was mit ihr los war. Nein, sie mußte erst reiten lernen. Danach konnte sie seine Einladung annehmen. Aber wie sollte sie sich jetzt aus der Affäre ziehen, ohne ihn zu kränken?
„Tut mir leid, Jason, aber mir fällt gerade ein . . . " Ihre Gedanken rasten. Sie mußte ihm jetzt irgendeine vernünftige Ausrede vorsetzen. „Ich muß unbedingt diese Näharbeit für Hauswirtschaftslehre fertig machen. Montag muß ich sie abgeben ... Und dann muß ich noch eine Hausarbeit in Geschichte schreiben. Ich habe das schon so lange vor mir hergeschoben." Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen, und Joanne stand Todesqualen aus. Wenn er nun fragte, warum sie diese Arbeiten nicht gleich morgen erledigte? Merkte er, daß sie Notlügen auftischte? Nun, eigentlich log sie gar nicht. Diese Hausaufgaben müßte sie wirklich machen. Und wenn sie gute Noten dafür bekommen wollte, würde sie beide Tage brauchen. „Dann vielleicht ein anderes Mal", meinte Jason. Er hörte sich ziemlich enttäuscht an. Was für ein Schlamassel, dachte Joanne. Aber was hätte sie sonst tun können? „Danke für deine Einladung, Jason." Er verabschiedete sich, und sie legte auf. Joanne war den Tränen nahe, als ihr Vater in die Küche kam, um sich noch eine Tasse Kaffee zu holen. „Na, warum lächelst du denn so glückstrahlend", witzelte er, sah sie aber besorgt an. Joanne wich seinem Blick aus. „Das war Jason Farley. Ich soll dir etwas bestellen. Mr. Delaney hat vor . . . " Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückdrängen und heulte los. „He, was ist denn los?" fragte ihr Vater und stellte seine Kaffeetasse ab. Aus Joanne brach der ganze Frust der vergangenen Wochen heraus. „Oh, Dad! Mr. Delaney wird Cochise an einen Rodeoveranstalter verkaufen, und ich möchte ihn so gern haben! Oh, bitte, Dad, ich werde schon lernen, ihn zu reiten. Du kannst mir das doch beibringen. Alle in der Schule halten
mich für eine prima Reiterin, weil ich Cochise gebändigt habe. Ein Mädchen hat mich sogar um Rat gefragt wegen ihrer Stute - mich!! Kannst du dir das vorstellen, Dad? Und ich wollte ihr erklären ... Sie hat mir vorgeworfen, ich wäre eingebildet ... Oh, alles ist einfach ... Alles ist total verfahren." Sie schluchzte, als ob der Weltuntergang bevorstände. Mrs. Miller hatte nicht alles mitbekommen, was Joanne erzählt hatte. Sie ging zu ihrer Tochter und umarmte sie. „Joanne, dieses Pferd ist ein gefährliches Biest, und du wirst es nie schaffen... " Bobby hatte solches Mitleid mit seiner Schwester, daß er auch schon fast losheulte. „Mom, sie schafft das. Sie kann mit Cochise fertig werden. Joanne kann alles. Warum können wir ihn nicht kaufen? Warum nicht?" Mr. Miller versuchte, seinen Sohn zu beruhigen. „Ich weiß ja, daß Joanne den Hengst streicheln darf, und er ihr gehorchen würde. Aber ein Pferd streicheln und mit ihm sprechen ist nicht dasselbe wie reiten. Besonders nicht für Joanne, die noch nie geritten ist. Wenn Dale den Schecken fortgeschafft hat, und sie noch immer reiten lernen will, dann kaufen wir ihr ein gutmütiges, zahmes Pferd zum üben." „Oh nein!" brüllte Joanne. „Du und Mom, ihr versteht mich einfach nicht! Hier geht es um viel mehr als um irgendein Pferd! Ich hasse diese Ranch, Dad. Warum mußtest du uns von zu Hause wegzerren, uns alles nehmen, was wir gern hatten! Und alles nur wegen dieser Schnapsidee von dir! Und warum mußte dieser blöde Gaul ausgerechnet über unseren Zaun springen und mein Leben durcheinanderbringen! Oh, wenn ich doch nur wieder zu Hause in San Francisco wäre!" Heulend rannte sie in ihr Zimmer. „ Joanne!" rief ihre Mutter, die ihre Tochter noch nie so außer sich erlebt hatte. Sie wollte Joanne nachlaufen, aber Mr. Miller hielt sie zurück.
„Laß sie in Ruhe, Melanie. Ich kann sie verstehen."
„Aber sie war einfach unverschämt, Larry. Für,das, was sie
dir an den Kopf geworfen hat, gibt es keine Entschuldigung... " Ihr Mann legte ihr einen Finger auf die Lippen und lächelte. Als in der Küche wieder Ruhe eingekehrt war, meldete sich Bobby zu Wort: „Dad, ich hasse die Ranch nicht." Mr. Miller strich dem Jungen über das Haar. „Das freut mich, mein Sohn." „Also, Männer", erklärte Mrs. Miller. „Ich wollte gerade Schokoladenkekse backen. Wollt ihr auch welche?"
6. KAPITEL Es war schon fast hell draußen. Joanne hatte den Wecker nicht gehört. Für ihre Pflichten auf der Ranch war sie schon viel zu spät dran. Sie rieb ihre vom Weinen noch immer geschwollenen Augen. Als sie am vergangenen Abend in ihr Zimmer gerannt war, hatte sie Trost gesucht, indem sie Angie ihr Herz ausschüttete, aber als sie den Brief noch einmal durchgelesen hatte, war er ihr wie eine Müllhalde von Problemen vorgekommen. Sie hatte ihn zerrissen. „Joanne, bist du wach?" Ihre Mutter klopfte leise an die Zimmertür. „Ich stehe sofort auf, Mom. Ich wollte wirklich nicht verschlafen." Ihre Mutter kam ins Zimmer und setzte sich zu Joanne auf die Kante des riesigen, altmodischen Doppelbettes. „Reg dich nicht auf. Bobby und dein Vater erledigen deine Arbeit mit. Du hast eine Erholung verdient. Ich habe gar nicht darauf geachtet, wie hart du in den vergangenen Wochen arbeiten mußtest. Und bis gestern abend war mir auch nicht bewußt, wie schwer dir unser Umzug hierher aufs Land gefallen sein muß. Warum bist du mit deinen Problemen nicht zu mir gekommen? Wir hätten doch über alles reden können." Joanne heulte wieder los. „Oh, Mom!” Ihre Mutter nahm sie in die Arme. „Schon gut. Hör jetzt auf zu weinen. Ich habe dir etwas zu sagen." Joanne stopfte sich das Kopfkissen in den Rücken und nahm eine Handvoll Kleenex-Tücher. „Zwei Dinge", begann ihre Mutter. „Erstens, du weißt ja, wie sehr Tante Joan dich mag. Sie hat mir damals beim Umzug gesagt, daß sie dich gern bei ihr aufgenommen hätte. Sie wollte, daß du bei ihr wohnst und weiter auf die Baldwin High School gehst."
„Tante Joan?" Joanne war total überrascht. Ihre Mutter hatte ihr das nie erzählt. Warum hatte sie ihr nicht die Wahl überlassen, wo sie leben wollte? „Moment, ich bin noch nicht fertig. Ich habe damals meiner Schwester gesagt, ich müßte mir das noch überlegen. Joanne, in deinem Leben hat es noch nie eine wirkliche Herausforderung gegeben. Ich wollte mal sehen, wie du mit diesem Umzug fertig wirst. Und außerdem brauchten wir deine Hilfe. Du weißt ja inzwischen auch, wieviel Arbeit die Ranch macht." „Bedeutet das, daß ich zurück nach San Francisco darf?" „Also ... dein Vater weiß überhaupt nichts davon. Versuch doch mal, ihn zu verstehen. Er hatte gehofft, daß du die Ranch ebenso lieben würdest wie er. Deine Vorfahren haben sich hier angesiedelt und schwer um dieses Land gekämpft. Sie mußten hart arbeiten, um die Ranch zu dem zu machen, was sie heute ist. Und ich glaube, daß Dad davon geträumt hat, daß du das Rancherleben im Blut hast und dich hier richtig zu Hause fühlen würdest." Ihre Mutter seufzte. „Aber du schlägst wohl doch mehr nach mir, Joanne. Die Lincolns sind seit Ge nerationen in der Stadt zu Hause." Mrs. Miller blickte durchs Fenster auf das grüne Weideland. „Willst du etwas Komisches hören, Joanne? Ich war davon überzeugt, daß ich das Leben auf dieser Ranch hassen würde. Allein die Arbeit, und mein Job dazu, und keine Theater und Ausstellungen, und dann dieser Dorftratsch. Aber ich hasse das alles überhaupt nicht mehr. Ich fühle mich hier zu Hause. Das Leben ist ruhig und friedlich. Und als Ehefrau deines Vaters werde ich auch überall freundlich aufgenommen und respektierst." Mrs. Miller zögerte einen Moment, ehe sie weitersprach. „Vielleicht sind die Menschen hier nicht so gebildet wie wir, und auch nicht so fein. Aber sie sind anständig und hilfsbereit.
Du solltest nur mal einen Tag im Krankenhaus verbringen, dann würdest du verstehen, wovon ich rede. Ganze Sippen erscheinen da, um Verwandte zu besuchen. Nachbarn übernehmen für die Zeit des Krankenhausaufenthalts die Rancharbeit. In der Großstadt ist so etwas doch äußerst selten." Ihre Mutter hörte, sich an wie jemand, der zum wahren Glauben bekehrt worden war, dachte Joanne. Nun, sie selbst war nicht so leicht vom Segen des Landlebens zu überzeugen. „Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis, ganz im Vertrauen", fuhr Mrs. Miller fort. „Du tust so, als ob du nie davon gehört hättest, okay?" Joanne nickte. „Dein Vater und ich hatten gestern abend noch eine ziemlich hitzige Diskussion über diesen Hengst. Aus mir unerfindlichen Gründen ist Dad auf deiner Seite. Ich frage mich wirklich, ob ihr alle beide übergeschnappt seid. Na, egal. Jedenfalls ist dein Vater zum Telefon gegangen und hat Mr. Delaney aus dem Bett geholt. Er hat ihn gebeten, seine Reise zu diesem Rodeoveranstalter bis heute mittag zu verschieben. Frag mich nicht, was er im Schilde führt. Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Und denk daran - dein Vater wußte nichts von Tante Joans Angebot. Das ist also kein Trick von ihm, um dich hier festzuhalten." Joanne sprang aus dem Bett. „Oh, Mom, ich muß mich anziehen. Dad braucht mich doch, um mit Cochise fertigzuwerden." Sie ging zum Kleiderschrank und holte ihre alten Arbeitsklamotten heraus. „Sei bitte vorsichtig mit diesem wilden Viech. Ständig male ich mir aus, wie du mit zerschmetterten Knochen in die Notaufnahme eingeliefert wirst, während ich dort Dienst habe. Du weißt, wie ich mich vor Pferden fürchte." Joanne griff nach ihrem Hemd. „Mom, ich weiß auch nicht, warum, aber Cochise hat meine Meinung über Pferde
vollkommen umgekrempelt. Übrigens, dieser blöde Name, wir müssen ihn umtaufen." Sie war plötzlich überglücklich. „Ich hatte immer furchtbare Angst vor Pferden. Findest du es nicht erstaunlich, wie die Dinge sich ändern können?" Mrs. Miller lächelte ihre hübsche Tochter an. Joanne war nicht mehr ihr kleines Mädchen. Sie wurde langsam zu einer jungen Frau mit eigenen Anschauungen und Erfahrungen. Und obwohl Joanne selbst das noch nicht gemerkt hatte, begannen Markville und die Ranch, sie zu beeinflussen. Joanne entschuldigte sich bei ihrem Vater für ihren Wutanfall, allerdings nicht dafür, daß sie über den Umzug anders dachte als er. Er nahm ihre Entschuldigung an, und die Vorfälle vom vergangenen Abend wurden nicht mehr erwähnt. Die Millers genossen gemeinsam das reichhaltige Frühstück mit Waffeln, Bratwürstchen, Milch und Obst. Um neun Uhr war die Küche wieder blitzsauber, und Mr. Miller forderte Joanne auf, mit ihm nach draußen zu kommen. Er wollte ihr etwas zeigen, und Mrs. Miller und Bobby sollten auch mitkommen. Alle Millers gingen hinüber in den großen Stall. Cochise wieherte, um Joanne zu sich zu locken, aber sie ignorierte ihn erstmal. An der Rückseite des Stalls, zwischen der Futterkammer und den Boxen für das Vieh, gab es einen Raum. Dieser Raum war bis jetzt immer verschlossen und mit einem Vorhängeschloß gesichert gewesen. Joanne hatte vermutet, daß es sich um Grandpas alte Rumpelkammer handelte. Mr. Miller zog einen Schlüssel aus der Hosentasche. „Dieser Raum wurde für deine Großmutter eingebaut. Mein Vater hat ihn noch vor meiner Geburt für seine Frau eingerichtet. Nach Grandmas Tod verschloß er den Raum. Er ist nur manchmal heimlich darin gewesen, um sauberzumachen. Während du in der letzten Woche in der Schule warst, habe ich die Spinnweben entfernt und einige Dinge repariert, und jetzt . . . " Er entfernte das Vorhängeschloß und übergab Joanne den
Schlüssel. „Der Raum gehört jetzt dir, Joanne . . . von deiner Großmutter, die auch Joanne hieß. Sie war die beste Reiterin des Winston Valley. Von heute an ist dies dein Zeughaus. Du wirst es brauchen, jetzt, wo du dieses verrückte Rennpferd da hinten besitzt." Joanne fiel ihrem Vater um den Hals. Bobby fragte: „Was ist ein Zeughaus?" „Ein Raum, in dem Reiter ihre Ausrüstung aufbewahren, mein Sohn. Wie Sättel, Zügel, Halfter und andere Dinge, die mit Pferden zu tun haben." Mrs. Miller war an der Tür stehengeblieben und beobachtete, wie ihre Tochter die Sattelkammer betrat. Mrs. Miller hatte ihre Schwiegermutter nur ein einziges Mal kurz kennengelernt. Das war noch vor ihrer Hochzeit gewesen. Grandma Joanne war dann an Krebs gestorben, und hatte die Hochzeit ihres einzigen Sohnes nicht mehr miterlebt. In einer Ecke des Raumes stand eine Vitrine voll mit bunten Bändern, Pokalen, Silberschalen und einer großen goldenen Schale. Mr. Miller hatte alles erst kürzlich geputzt. An einer Seite standen zwei handgearbeitete Sattelhalter aus Holz mit eingebauten Schubfächern für Bürsten und Kämme zum Striegeln. Grandpa Miller hatte das alles angefertigt. Mr. Miller erklärte Joanne, warum ihre Großmutter zwei Sättel benutzt hatte. Der schlichte braune Sattel war für den täglichen Gebrauch bestimmt. Der andere war handgearbeitet, hatte ein ins Leder eingestanztes Rosenmuster, und Silberbeschläge am Horn und an den Satteltaschen. Er wurde nur für besondere Anlässe, zum Beispiel Paraden, Turniere oder Reitshows benutzt. „Dies alles gehört jetzt dir, Joanne." Joanne kam sich vor wie in einer Schatzkammer. Sie war total überwältigt. Ihr Vater hatte ihr erzählt, daß seine Mutter eine Pferdenärrin gewesen war, und sie kannte ihre Großmutter
von Familienfotos. Aber sie hatte nicht geahnt, daß diese Sammlung unschätzbarer Erinnerungsstücke existierte. Ihr Großvater war immer traurig geworden, wenn sie ihn nach Grandma Joanne gefragt hatte. „Du siehst genauso aus wie sie", hatte er wehmütig gesagt. „Wenn du bei mir bist, habe ich irgendwie das Gefühl, sie ist wieder da." Wahrscheinlich hatte Grandpa deshalb stets Tränen in den Augen gehabt, wenn sie ihn zum Abschied umarmt hatte. Er mußte seine Frau sehr geliebt haben! Bobby schmollte. „Die Glückliche. Sie bekommt das alles nur für sich allein." Joanne ging noch immer verzückt durch den Raum, berührte die schöne Reitausrüstung und bewunderte die Pokale. Ihr Vater nahm Bobby mit nach draußen. „Hör zu, Sportsmann. Grandma hat gewollt, daß Joanne ihr Zeughaus bekommt. Hast du gesehen, daß in beiden Sätteln der Name Joanne eingestanzt ist? Kennst du außer deiner Schwester jemanden, der Joanne heißt?" Er legte Bobby den Arm um die Schultern. „He, sieh mich an. Freu dich für deine Schwester. Und jetzt komm mit. Ich zeige dir, wo wir beiden Männer unser eigenes Zeughaus bauen." „Oh, toll!" rief Bobby strahlend. Bobby und sein Vater gingen durch den großen Stall und machten Pläne. Ihr Zeughaus sollte hinter der Koppel am äußersten Ende der Stallungen errichtet werden. Mr. Miller versprach seinem Sohn, daß ihr Zeughaus schon bald in Gebrauch genommen werden konnte, weil sie am Montag Pferde kaufen würden. „Klasse, Dad. Ich kann es kaum noch abwarten!" Bobby war begeistert. In diesem Moment wieherte der Hengst laut und hämmerte mit den Hufen gegen die Tür seiner Box. Joanne wurde
aufmerksam und rannte zu ihm. Sie mußte lächeln. Wie verwöhnt er schon war! Ihre Eltern und Bobby folgten ihr und schauten zu, wie sie liebevoll den Hals von Cochise tätschelte. Der Hengst schnaubte zufrieden und rieb seinen Kopf an ihrer Schulter. „Das muß wohl Liebe sein", bemerkte ihr Vater grinsend. „Ich verstehe das nicht", meinte Mrs. Miller. „Ich traue ja kaum meinen Augen. Meine Tochter, eine Pferdenärrin und ein Cowgirl. Für mich bleibt das ein Rätsel, schwer zu lösen wie ein Puzzle." „Das ist es, Mom! Der neue Name für Cochise: Puzzle!" Bobby ging zu Joanne hinüber, und der Hengst scheute vor der plötzlichen Bewegung des Jungen. „Cochise sieht tatsächlich wie ein Rätsel aus. Wie ein Kreuzworträtsel mit den schwarzweißen Flecken im Fell. Die Art, wie er sich benimmt, und wie du dich plötzlich um ein Pferd anstellst - das alles ist ein Rätsel. Klar, er wird von nun an Puzzle heißen!" Bobby strahlte vor Stolz, und alle lachten zustimmend. Mr. Miller bat seine Frau und Bobby, schon vorauszugehen, weil er noch mit Joanne über Puzzle reden müßte. Mrs. Miller spürte, daß Bobby sich ein bißchen zurückgesetzt fühlte. „Warum rufst du nicht Clarence an und lädst ihn zu uns ein?" schlug sie ihrem Sohn vor. „Er darf heute nacht bei uns schlafen." Bobby war getröstet und ging mit seiner Mutter ins Haus. Mr. Miller nahm ein Halfter von einem der Haken in Joannes Zeughaus. „Und nun, mein Mädchen, bekommst du deine erste Unterrichtsstunde." Er wandte sich dem Hengst zu. „Und was dich betrifft, Puzzle - wir werden ja sehen, ob Joanne recht behält, und du wirklich das einzig richtige Pferd für sie bist."
Mr. Miller war in Markville sehr beliebt. Er wußte, wie man mit den Leuten reden mußte und hatte für jedermann ein freundliches Lächeln. Deshalb war er auch in seinem ehemaligen Beruf als Werbemanager so erfolgreich gewesen. Wie sein Großvater und sein Vater war auch er großzügig und stets hilfsbereit. Er half seinen Nachbarn, ohne eine Ge genleistung dafür zu erwarten. Dale Delaney hatte sich an die Großzügigkeit der Millers erinnert, als Mr. Miller ihn an diesem Morgen noch vor dem Frühstück anrief und fragte, ob er den Schecken kaufen könnte. Aus alter, nachbarschaftlicher Freundschaft hatte Dale sofort ja gesagt, obwohl es für ihn auf jeden Fall einen finanziellen Verlust bedeutete. Mr. Miller hatte zwar angeboten, ihm denselben Preis zu zahlen, den der Rodeoveranstalter für Puzzle gezahlt hätte, aber das wollte Dale gar nicht. „Nein, nein, Larry", hatte er gesagt. „Dieser Hengst gehört Joanne. Das ist doch völlig klar. Ich habe noch nie gesehen, daß ein Tier eine solche Zuneigung zu einem Menschen faßt. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Ich berechne dir für den Hengst einfach eine Tonne von diesem guten Heu, was du gerade in deiner Scheune gestapelt hast." „Zwei Tonnen", hatte Mr. Miller geantwortet. „Und Dale. . . danke!"
7. KAPITEL Joanne widmete das ganze Wochenende ausschließlich Puzzle. Ihr Vater brachte ihr das Reiten bei. Er überwachte geduldig jede ihrer Bewegungen, bis sie kapiert hatte, worauf es ankam. Sie lernte erstaunlich schnell. In der ersten Reitstunde ließ ihr Vater sie ohne Sattel reiten. Er half ihr hinauf und führte Puzzle langsam in der Koppel hinter dem Stall umher. Puzzle bekam nur ein Halfter um, und Joanne hielt sich an seiner Mähne fest. Wie herrlich aufregend das war! Sie war begeistert. Puzzle schritt leichtfüßig und dennoch kraftvoll aus. „Aber ein Schritt nach dem anderen", hatte ihr Vater ihren Übermut gebremst. In der nächsten Woche würde er ihr zeigen, wie man mit Sattel reitet, die Zügel richtig hält und einen guten Sitz bekommt. Er wollte ihr helfen, eine wirklich perfekte Reiterin zu werden, für den Fall, daß sie eines Tages Lust bekam, wie ihre Großmutter Wettkämpfe und Reitshows mitzumachen. Am Sonntag mittag saßen die Millers und Clarence beim Essen, als das Telefon klingelte. Mr. Miller nahm ab. „Einen Augenblick, Ted. Sie ist sofort mit Essen fertig", sagte er und legte den Hörer auf den leeren Küchenstuhl. Joanne wischte sich mit der Serviette die Hände ab und ging ans Telefon. „Hallo, Joanne. Ich wollte nur mal fragen, wie du mit Cochise zurechtkommst", sagte Ted Delaney. „Er heißt jetzt Puzzle, Ted. Und er fühlt sich pudelwohl bei uns." Sie sagte nichts davon, daß sie ihn immer noch nicht richtig geritten hatte und im Grunde gerade ihre ersten Reitstunden nahm. Warum seine schönen Vorstellungen zerstören?
Ted stammelte ein paar Minuten herum, bis er mit seinem Anliegen herausrückte: Er wollte sie besuchen. Joanne überlegte. Eigentlich war es ihr unangenehm, daß jemand ihr bei ihren ersten Reitversuchen zuschaute. Und außerdem wäre Puzzle bestimmt nicht erfreut, seinen ehemaligen Besitzer zu sehen. Aber andererseits wollte sie Ted auf keinen Fall kränken. Er war von Anfang an nett zu ihr gewesen, und er war für sie inzwischen fast wie ein kleiner Bruder geworden. Und das, obwohl sie gleich alt waren. „Weißt du was, Ted? Ich komme zu dir, einverstanden? Heute nachmittag so gegen drei?" „Warum nicht früher?" wollte er wissen. „Weil ich erst noch meine Hausaufgabe in Hauswirtschaftslehre machen muß", erklärte sie. „Okay. Jimmy läßt fragen, ob du Bobby mitbringst." „Tut mir leid, Bobby hat Besuch. Ich komme allein." Die Ankündigung von Joannes Besuch machte Ted dermaßen nervös, daß er nur noch herumstotterte. Joanne amüsierte sich über ihn und lächelte noch, als sie schon aufgelegt hatte. „Schon wieder eine Eroberung?" witzelte ihr Vater. „Aber Dad! Ted ist doch noch ein Kind. Aber vielleicht ist es an der Zeit, daß ich unsere Nachbarn ein bißchen besser kennenlerne." Ihre Eltern tauschten überraschte Blicke aus. Bobby und Clarence kicherten. Das Haus der Delaneys war kleiner und moderner als das der Millers. Die Außenwände waren mit Naturholz verkleidet, und so fügte sich das Haus wunderbar in die Landschaft des Winston Valiey ein. Als Joanne in dem Chrysler Cordoba ihrer Mutter vorfuhr* 1 , spähte eine rundliche Frau mit Brille aus 1
In den USA kann man schon mit 16 Jahren den Führerschein machen.
dem Küchenfenster. Ted kam sofort aus dem Haus gestürzt und begrüßte sie auf der gepflasterten Auffahrt. Hinter dem Haus lagen die Stallungen und die riesige Scheune. Von dort waren die Geräusche aufgeregt herumtrampelnder Rinder zu hören. Joanne wunderte sich, was dort wohl vorging. „Dad kümmert sich heute um einige neu gekaufte Ochsen", erklärte Ted. „Sie bekommen unser Brandzeichen." „Mußt du nicht helfen?" Er blickte verlegen auf seine Turnschuhe. „Bei der Rancharbeit wäre ich wohl keine große Hilfe für Dad. Jimmy ist dabei. Die Farleys helfen auch. Das bißchen an Hilfe, das ich anzubieten hätte, brauchen sie sowieso nicht." Die Farleys? Oh, nein. Wenn Jason sie hier sehen würde! Sie sollte doch genau jetzt mit ihm ausreiten, und hatte abgelehnt. Joanne versuchte, ihre Panik vor Ted zu verbergen. „Laß uns hineingehen, Joanne. Mom hat gerade einen Schokoladenkuchen gebacken." Sie folgte ihm die Stufen zur Haustür hinauf. Blumentöpfe mit Geranien säumten die Steinstufen. „Ist Jason Farley auch dort hinten bei deinem Vater?" „Der hat heute nachmittag wahrscheinlich eine heiße Verabredung. Nun sag bloß nicht, daß du auch noch auf diesen Romeo hereinfällst." Zum Glück sah Ted sie nicht an, als er das sagte. Er öffnete die massive Holztür, die ins Wohnzimmer führte. „Oh, ich kenne Jason doch kaum. Ich frage nur, weil du gesagt hast, daß die Farleys deinem Vater helfen, und . . ." Ted lachte. „Du weißt hier im Tal noch nicht so gut Bescheid, oder? Hier in der Gegend wimmelt es von Farleys. Und sie sind auch noch alle irgendwie miteinander verwandt.
Jasons Vater, Bill, ist da draußen, ein Onkel und mehrere Vettern von ihm." Joanne war erleichtert. Sie sah sich um. Das Wohnzimmer war mit modernen skandinavischen Möbeln eingerichtet. Es roch verlockend nach frisch gebackenem Kuchen. Mrs. Delaney, eine freundliche, mollige Frau, freute sich, Joanne kennenzulernen. Sie erzählte ihr, daß Larry Miller sie früher in der Schule immer an den Zöpfen gezogen hatte. Joanne konnte sich nur schwer vorstellen, wie Mrs. Delaney und ihr Vater als Kinder ausgesehen hatten, aber sie fand die Geschichte sehr lustig. Kurze Zeit später brachte Mrs. Delaney ein Tablett mit Kuchen und zwei großen Gläsern Milch ins Wohnzimmer. „Ich laß euch beide jetzt allein. Ihr habt euch sicher eine Menge zu erzählen. Ich gehe nach draußen. Ich will Dale fragen, wann er sein Abendessen haben möchte." „ Ted, kannst du mir irgend etwas über Puzzle erzählen? Wo er herstammt, und wer sein früher Besitzer war? Er haßt offensichtlich alle Männer, und ich möchte wissen, warum." Sie biß in den selbstgebackenen Kuchen und schloß verzückt die Augen. Der Geschmack war einmalig. „Mom hat auf der letzten Viehausstellung des Landkreises einen Preis für diesen Kuchen bekommen. Wir sind richtig stolz auf sie", bemerkte Ted. Er biß in den Kuchen und trank einen Schluck Milch. Dann wandte er sich Joanne zu. „Dad könnte dir sicher mehr sagen. Ich weiß nur, daß Puzzles Mutter eine wilde Mustangstute aus Nevada ist, und sein Vater ein Rennpferd mit einer langen Ahnentafel. Er war im Besitz einer Frau, und wohl an andere Menschen gar nicht gewöhnt. Diese Frau hat dann ihre Ranch verkauft, und der Viehbestand wurde versteigert. Dad war dort, um Vieh zu kaufen, und hat diesen Hengst gesehen. Er hatte dann die
wahnwitzige Idee, ich würde ein prima Cowboy werden, wenn ich nur ein tolles Pferd hätte." Ted lehnte sich vor und blickte zur Küchentür hinüber, als ob er sichergehen wollte, daß sie allein waren. Dann fuhr er fort: „Um die Wahrheit zu sagen - ich mag keine Pferde. Sie machen mir Angst. Und die Viecher merken das. Ich werde grundsätzlich abgeworfen oder falle von selbst herunter. Aus mir wird nie ein Cowboy. Ich glaube, ich bin einfach nur ... ein Versager." Armer Ted. Sie konnte durchaus nachfühlen, wie er sich in Gegenwart von Pferden fühlte. Ihr war das ja vor Puzzles Auftauchen ebenso gegangen. Aber das konnte sie jetzt nicht mehr zugeben. Sie hätte Ted gern irgendwie aufgerichtet, damit er eine bessere Meinung von sich bekam. Aber wie? „ Ted, du hast doch viele gute Eigenschaften. Du bist einer der intelligentesten Jungen von Markville. Wenn man alle Prüfungen mit Auszeichnung besteht, ist man kein Versager. Ich weiß, daß man dafür hart arbeiten und Ehrgeiz besitzen muß." „Ich meinte, ich bin in den Augen meines Vates ein Versager", sagte Ted niedergeschlagen. Er sah sie durch seine dicke Hornbrille traurig an. Er war nicht viel größer als sie. Joanne hatte gehört, daß er als Kleinkind eine schlimme Krankheit hatte, durch die er einige Jahre gehbehindert gewesen war. Er war ein blasser Typ mit feinen, zarten Händen. Die Hände eines Musikers oder Künstlers, dachte sie. Wie kräftig und stark waren dagegen die Hände ihres Vaters oder Jasons. Wenn sie doch jetzt hier mit Jason zusammensäße! Dann könnte sie ihn endlich besser kennenlernen. Ob er wohl gerade mit einem anderen Mädchen verabredet war? Mit Jill Hawkins vielleicht? Oder mit dieser Schönheitskönigin auf dem Foto in
seinem Lieferwagen? Diese Überlegungen taten ihr weh, und sie verstand nicht, warum sie das so beschäftigte. „ Ted, das Wichtigste ist, daß du selbst überzeugt bist, kein Versager zu sein. Jeder Mensch hat seine eigenen Begabungen. Du kannst nicht davon ausgehen, was andere von dir erwarten. Und du kannst es nicht allen recht machen. Geh deinen eigenen Weg." Ted fühlte sich nicht getröstet. „Dann müßte ich wenigstens wissen, wozu ich begabt bin. Wenn ich überhaupt irgendeine Begabung habe." Sie hörten, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Mrs. Delaney steckte ihren Kopf durch die Wohnzimmertür. „Kann ich euch noch zwei Stück Kuchen bringen? Oder etwas anderes?" Joanne lehnte ab und lobte die Backkünste ihrer Gastgeberin in den höchsten Tönen. „Ich gebe dir etwas von dem Kuchen mit - für die ganze Familie. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, liebt Larry alles, was Schokolade enthält." Joanne lachte. Das stimmte. Ihr Vater war eine schokoladensüchtige Naschkatze. „Kannst du bleiben und mit uns zu Abend essen, Joanne?" fragte Mrs. Delaney. „Wir würden uns alle sehr freuen." Joanne sah auf ihre Armbanduhr. „Oh, du meine Güte, nein. Vielen Dank, aber ich muß gleich gehen. Die Arbeit auf der Ranch wartet." „Nun lauf nicht gleich davon. Und du bist uns jederzeit willkommen." Mrs. Delaney lächelte ihr zu und ging wieder in die Küche zurück. „Joanne, erzähl mir was von deiner alten Schule in San Francisco", forderte Ted sie auf. Joanne seufzte. Offensichtlich würde es noch eine Weile dauern, bis sie wieder zu Hause war. Joanne war mit der Rohfassung ihrer Hausarbeit fertig und hatte danach ein Bad genommen. Jetzt stand sie vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie am nächsten Morgen
anziehen sollte. Sie legte sich die Klamotten immer schon am Abend vorher zurecht. Das sparte morgens Zeit. Sie sah in den Spiegel. Wie sie wohl in den Sachen aussehen würde, die Jill Hawkins trug? Jill hatte nicht diese billigen Arbeitsklamotten an, wie die meisten Einwohner von Markville. Sie trug wirklich Westernmode, wie sie in erstklassigen Boutiquen in der Großstadt angeboten wurde. Aber das war schließlich auch eine Frage des Geldbeutels. Ihre Eltern hatten jetzt nicht mehr so viel Geld zur Verfügung, wie früher in San Francisco. Deshalb war auch Joannes Taschengeld um die Hälfte gekürzt worden. Vor zwei Tagen hatte sie zufällig ein Gespräch ihrer Eltern mitgehört. Sie mußten sogar ihre Ersparnisse angreifen, um das Dach der Scheune reparieren zu können. „Joanne! Telefon!" rief ihre Mutter. Joanne rannte in die Küche und nahm den Hörer. Sie freute sich, als sie Angies Stimme hörte. Ihre Freundin kicherte schuldbewußt. „Ich weiß, ich habe nicht geschrieben. Aber ich bin eben so ein bequemer Typ. Also betrachte diesen Anr uf einfach als Antwort auf deinen Brief. Das bedeutet natürlich, daß du mir jetzt einen Brief schuldest." Dieses raffinierte Biest. Angie war einfach herrlich. Jetzt plapperte sie los wie ein Wasserfall. Zuerst war die Schule an der Reihe. Und danach fo lgte ein feuerwerksartiger Redeschwall über sämtliche Freundinnen und Bekannte. Nach zehn Minuten ging ihr langsam die Puste aus. „Und was läuft bei dir so?" fragte sie. „Du hast in deinen Briefen nicht ein einziges Mal diesen Cowboy erwähnt!" „Über Jason Farley gibt es nichts zu berichten." Joanne dämpfte ihre Stimme, als sie seinen Namen aussprach. Aber ihre Eltern und Bobby konnten nicht mithören. Sie saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher.
„Jason Farley", hänselte Angie. „Ein richtiger Wildwestname. Liebt er die Frauen genauso innig wie sein Pferd?" „Scheint so. Eine seiner Miezen ist die Tochter des reichsten Mannes der Gegend. Und seine andere Flamme wird im Cow Palace um den Titel der,Miß Grand National' kämpfen." Angie war begeistert. „Hmm, wirklich beeindruckend. Sag mal, ich lese ja selten Zeitung, aber ist diese Schönheitskönigin unseres Cowboys zufällig eine phantastisch aussehende Blondine? Makelloser Teint, lange Wimpern, große Augen? Na, du weißt schon - eben all der Kram, den ich bei Mädchen so hasse, weil ich nicht damit beglückt worden bin." „Ich habe nur ein Foto gesehen. Aber hört sich an, als ob sie das sein könnte. Wie hast du ... !" „Ich habe heute morgen die Sonntagszeitung durchgeblättert und zufällig das Bild einer Rodeokönigin im Cow Palace entdeckt. Warte mal eine Sekunde, ich hole die Zeitung." Joanne wartete und fragte sich, ob wohl tatsächlich eine richtig große Story über Debbie in der Zeitung stand. Sie hatte die Mädchen in der Schule über Debbie reden hören. Die Kommentare schwankten zwischen Bewunderung und Neid. Angie kam zurück an den Apparat. „Ich habe den Artikel gefunden. Hör zu: Das Mädchen aus dem Winston Valley. Das ist die Überschrift. Und dann: Miß Deborah Beckworth aus der kleinen Stadt Markville im äußersten Norden Kaliforniens ist unsere neue Rodeo-Königin. Sie hat ihren High SchoolAbschluß in . . ." Joanne hörte nicht mehr zu. Sie hatte plötzlich ein sehr unangenehmes Bild vor Augen. Sie stellte sie vor, wie Jason Debbie zu ihrem Sieg gratulierte. Und wie er durch ihre Schönheit und Reitkünste so überwältigt war, daß er sonst niemanden mehr wahrnahm. Auch Joanne nicht, die in der
Menge der Gratulanten stand und nur eine von vielen war, die die Heldin von Markville begrüßen wollten. „Hallo, Joanne ... Joanne!" rief Angie. „Tut mir leid. Was ist?" „Mom und Dad haben die Zeitung von vorn bis hinten durch. Ich schicke dir einfach den ganzen Artikel zu, ja? Laß uns nicht kostbare Telefonzeit mit dieser gutaussehenden Nervensäge vergeuden. Ist das die, die Jason kennt?" Joanne seufzte. „Ja. Kein Zweifel mehr möglich." Angie versuchte, ihr Mut zu machen. „He, du siehst genauso toll aus wie die. Der einzige Unterschied ist, daß du keinen Cowboyhut und keinen Ledergürtel mit Riesenschnalle trägst." Joanne rief sich das Foto in Erinnerung. Dann versuchte sie sich vorzustellen, wie sie selbst in Westernmode aussähe. Nein, ihr würde das nie so gut stehen. Und sie würde sich in dem Zeug auch gar nicht Wohlfühlen. Angie wechselte das Thema. „He, Frau Professor, du machst doch deinen High School-Abschluß pünktlich nach dem vierten Jahr, oder? Ich rechne noch immer fest damit, daß wir beide zusammen an die Stanford-Universität gehen." Joanne seufzte gelangweilt. Sie nahm sich einen Apfel aus der großen Glasschale auf dem Küchentisch, in der auch Apfelsinen, Bananen und Weintrauben lagen. Schule war nie ein Problem für sie gewesen. Ihr war immer alles so zugefallen. Etwas anderes konnte sie sich auch nicht vorstellen. Sie biß in ihren Apfel und sagte lässig: „Sicher, die Schule hier ist kein Problem. So anspruchslos, daß man sich langweilt. Und mach dir keine Sorgen. Wir beide studieren in Stanford. Darauf kannst du zählen." „Bravo! Das hört sich wieder wie die gute alte Joanne an. Ich muß gleich auflegen. Hast ,du noch irgendwelche umwerfenden Neuigkeiten für mich?"
„Du wirst es nicht glauben, Angie, aber ich habe jetzt ein Pferd." Ihre Freundin klopfte mit den Fingern auf den Hörer. „Wir müssen eine Störung in der Leitung haben. Ich höre so komische Sachen." „Ich habe jetzt ein eigenes Pferd, P-F-E-R D", wiederholte Joanne. „Schon wieder. Ich höre dauernd so unglaubliche Dinge. Das Mädchen mit der Angst vor Pferden hat plötzlich ein Pferd?" Joanne kicherte. „Ganz richtig. Das ist aber eine lange Geschichte. Ich setze mich sofort nach unserem Gespräch hin und schreibe dir alles über Puzzle." „Puzzle! Also, mir ist das wirklich ein Rätsel. Du, Mom zeigt schon diskret auf die Uhr. Mit anderen Worten: Ich habe inzwischen nicht nur mein Taschengeld für diese Woche vertelefoniert, sondern wahrscheinlich auch noch das für nächste Woche. Aber das war es wert. Oh, Joanne, wie ich dich vermisse." Sie machte eine Pause, um Luft zu holen. „Joanne? Vielleicht kannst du ja mal für ein Wochenende zu uns kommen. Vielleicht schon bald? Frag deine Eltern. Für Mom und Dad bist du doch wie eine zweite Tochter, das weißt du. Mom läßt dich herzlich grüßen. Ich muß jetzt Schluß machen. Bis bald!" Joanne schluckte schwer. Wie gern sie Angie und Mr. und Mrs. Perry Wiedersehen würde. Angies Eltern würden sie gern bei sich haben. Das wußte sie. Widerwillig verabschiedete sie sich von Angie. Sie legte den Hörer auf und wollte zurück in ihr Zimmer. Da kam Mrs. Miller in die Küche. „Du vermißt Angie sehr, nicht wahr?" fragte sie. Joanne kniff die Lippen zusammen, um nicht loszuheulen. Mrs. Miller legte ihrer Tochter den Arm um die Schultern. „Mal sehen. Vielleicht können wir ein Wochenende in San Francisco für dich organisieren. Wir könnten beide an einem
Freitag hinunterfahren und dann am Sonntag zurückkommen. Dein Vater und Bobby würden diese kurze Zeit wohl mal allein zurechtkommen. Ich könnte beide Nächte bei Tante Joan schlafen. Du müßtest wohl wenigstens Freitagnacht bei ihr bleiben - du weißt, wie sie sich über deinen Besuch freuen wird. Aber die Nacht von Samstag auf Sonntag könntest du doch bei Angie schlafen." Joanne lächelte wieder. „Du bist großartig, Mom." „Du auch, Schatz." Ihre Mutter küßte sie flüchtig auf die Wange. Joanne rannte in ihr Zimmer. „Mom, ich schreibe jetzt an Angie und erzähle ihr die ganze Geschichte mit Puzzle." Mrs. Miller blickte ihrer Tochter lächelnd nach.
8. KAPITEL Alles war fest geplant. Joanne und ihre Mutter würden am Freitag vor Halloween nach San Francisco fahren. Bobby veranstaltete zuerst ein Riesengeschrei, weil er nicht mitdurfte. Aber als Clarence ihn dann für Freitag zu einer HalloweenParty einlud, hatte er sich beruhigt. Seit Joanne Puzzle hatte, waren ihre Tage bis zur letzten Minute ausgefüllt. Hausaufgaben und die Arbeit auf der Ranch mußten natürlich weiterlaufen. Aber danach ging sie jetzt fast täglich in die Stadtbücherei und lieh sich alle verfügbaren Bücher über Pferde und Reiten aus. Zu Hause schmökerte sie die Bücher durch und diskutierte die praktischen Fragen dann mit ihrem Vater. Sie konnte inzwischen mit dem bequemen Gebrauchssattel, der ursprünglich für ihre Großmutter nach Maß angefertigt worden war, schon sehr gut reiten. Da die Steigbügel dieses Sattels genau die richtige Länge hatten, mußte ihre Großmutter genauso groß wie sie gewesen sein. Puzzle hatte sich gegen den Sattel nicht gesträubt. Zunächst ritt Joanne weiter nur in der Koppel, aber Puzzle war so lammfromm und fügsam, daß Mr. Miller vorschlug, mit ihm ins freie Feld zu reiten. Er wollte sehen, wie Puzzle sich verhalten würde, wenn er freie Bahn hatte. Joanne übergab ihrem Vater die Zügel und trat beiseite. Mr. Miller bekam jedoch nicht einmal einen Fuß in den Steigbügel. Puzzle bäumte sich sofort auf und schlug trotzig mit den Hufen nach ihm. Joanne mußte den Hengst beruhigen. Widerwillig gab ihr Vater zu: „Dieses Pferd ist wirklich nur für dich geeignet, Joanne." Nach dem Abendessen setzten sich die Millers gemütlich ins Wohnzimmer. Bobby und seine Mutter lösten ein
Kreuzworträtsel, Mr. Miller las Zeitung und Joanne hatte ein Buch über die verschiedenen Pferderassen vor der Nase. „Hier steht ein toller Bericht über die Farleys und ihre Erfolge als Rinderzüchter drin", meinte Mr. Miller. Er las laut aus dem Zeitungsartikel vor: „Auch in diesem Jahr wird bei der Ausstellung im Cow Palace wie immer der Preis für die besten Hereford-Rinder der USA vergeben. Man erwartet allgemein, daß wieder die Farleys diese Auszeichnung erhalten werden." Mr. Miller lachte. „Vielleicht ein etwas voreiliger Schluß." Als der Name des Cow Palaces fiel, horchte Joanne auf. Sie klappte ihr Buch zu und ging zu ihrem Vater hinüber. Die Zeitung hatte Bill und Jason Farley eine ganze Doppelseite gewidmet. Zum Bericht gehörten auch eine ganze Reihe von Fotos. Eines zeigte Bill und Jason bei der Rancharbeit. Auf einem anderen Foto führten die beiden Männer ihre preisgekrönten Zuchtbullen bei einer ViehzüchterTagung vor. Zwei Aufnahmen zeigten Jason als Kind: Auf dem einen saß er als Zweijähriger im Arm seines Vater auf dem Pferd, das andere zeigte ihn, als stolzen Preisträger des staatlichen Förderkreises für Nachwuchs-Rancher, auf der jährlichen Viehausstellung des Winston Valley. Da mußte er etwa so alt wie Bobby gewesen sein. Nach den Fotos zu urteilen, war Jason ein niedliches Kind gewesen. Und heute war er ein gutaussehender junger Mann. Joanne starrte unverwandt auf eines der Fotos, auf dem Jason neben seinem Pferd stehend abgebildet war. Er sah genauso toll aus wie die Männer in der Marlboro-Reklame - nur ohne Zigarette. Joanne nahm sich vor, sich den Artikel herauszureißen, sobald ihr Vater die Zeitung in der Vorhalle abgelegt hatte. Zu dem Bericht gehörte auch ein Schnappschuß von Stephanie Farley beim Reiten.
„Dad, warum galoppiert sie mit ihrem Pferd so scharf an der Tanne vorbei?" „Das Foto wurde beim Tonnenreiten gemacht. Das ist eine Pferdesportart, die zum Westernreiten gehört, und gleichzeitig der einzige Rodeo-Wettbewerb, bei dem Frauen mitmachen. Wie ich gehört habe, soll Stephanie sehr gut sein. Sie will beim Tonnenreiten im Cow Palace mitkämpfen, sagt man. Das wird wohl in diesem Jahr eine reine Familienangelegenheit. Die Farleys scheinen den Cow Palace in Besitz nehmen zu wollen." Bei dem Stichwort Cow Palace mußte Mr. Miller natürlich an Bobbys und Joannes Großmutter denken. Sie war im Cow Palace immer besonders gern aufgetreten. Dort hatte sie einige ihrer bedeutendsten Preise gewonnen. Mr. Miller erinnerte sich an vergangene Zeiten im Cow Palace. Damals traten dort während der Ausstellung Berühmtheiten auf - Namen, die Joanne und Bobby zum Teil noch nie gehört hatten. Wie zum Beispiel Roy Rogers, Dale Robertson, Monty Montana, Doc und Festus aus der Fernsehserie, ‚Rauchende Colts' und Lorne Greene aus ,Bonanza'. Joanne versuchte, sich die riesige Manege der Reithalle des Cow Palace vorzustellen, wenn dort die Turniere und Rodeos stattfanden. Und sie würde ja am Wochenende mit ihrer Mutter in San Francisco sein. Sie wünschte plötzlich, sie könnte bei ihrem Besuch auch in den Cow Palace gehen. Aber so kurzfristig bekam man bestimmt keine Karten mehr. Außerdem stand ihr Programm ja fest, und sie wollte auch wirklich gern zu Angie. Nun, vielleicht im nächsten Jahr. Bis dahin würde sie selbst schon gut reiten und sich dort nicht mehr als Außenseiterin fühlen. Joanne lächelte. War das überhaupt noch Joanne Miller, die solche Überlegungen anstellte? Die waschechte Großstädterin, die tobend vor Wut gegen den Umzug auf die Ranch protestiert
hatte? Vielleicht war sie doch mehr Larry Millers Tochter, als sie geahnt hatte. Rita Conner war das Mädchen, das damals an Joannes erstem Schultag neben ihr im Bus gesessen hatte. Sie war im ersten Jahr an der High School. Neben Ted war Rita der einzige Mensch in Markville, der vom ersten Tag an nett zu ihr gewesen war. Rita und sie waren jetzt ziemlich oft zusammen. Allerdings nur dann, wenn Joanne Kontakt suchte. Sie konnte manchmal eigenbrötlerisch sein und wollte dann in Ruhe gelassen werden. Rita verstand und akzeptierte das, denn sie konnte sich auch gut alleine beschäftigen und war nicht darauf angewiesen, oft Gesellschaft zu haben. An diesem Tag war Joanne zu einem Gespräch aufgelegt. Im Schulbus, auf der Fahrt nach Markville, erkundigte Rita sich nach Puzzle. Bisher hatte Joanne mit niemandem - außer ihren Eltern und Ted - über Puzzle gesprochen. „Er kann Männer nicht ausstehen", erklärte sie. „Deshalb bin ich ganz allein für seine Pflege verantwortlich. Aber das ist mir sogar sehr recht." Rita wirkte in ihren derben Westernklamotten wie ein Junge. Sie war immer ungeschminkt und trug ihr langes, schwarzes Haar zu einem altmodischen Zopf geflochten. Dabei war sie eigentlich sehr hübsch. Joanne hatte schon oft gedacht, wie attraktiv Rita aussehen könnte, wenn sie nur ein bißchen Make up auflegen würde. Aber Joanne war nicht der Typ, der unaufgefordert einen solchen Ratschlag gegeben hätte. „Ich würde Puzzle gern mal sehen", sagte Rita jetzt. „Vielleicht können wir irgendwann zusammen ausreiten. Ich habe ein liebes, gutmütiges Pferd." Ja, vielleicht", wich Joanne aus. Rita lächelte. Sie war klug genug, um Joanne nicht zu drängen. Obwohl sie zwei Jahre jünger war, wirkte sie erstaunlich reif und vernünftig.
Joannes Freundinnen in San Francisco waren jetzt entweder im dritten oder vierten Jahr an der High School oder schon mit der Schule fertig. In ihrer alten Baldwin High School herrschte ein ungeschriebenes Gesetz: Man gab sich nicht mit Schülern der unteren Jahrgänge ab. Eine Ausnahme wurde manchmal bei Geschwistern von Klassenkameraden gemacht. Aber diese ‚Kleinen' wurden nur geduldet und nicht richtig in die Clique aufgenommen. Hier in Markville war das anders. Joanne führte das auf die nachbarschaftliche Einstellung zurück, auf eine Art ,jeder kennt-jeden'-Zustand. Sie konnte sich nur schwer an diese Anteilnahme und diesen betont freundschaftlichen Umgang der Menschen miteinander gewöhnen. Dauernd winkten ihr irgendwelche Leute zu oder sprachen sie auf der Straße an. Dabei kannte sie die meisten kaum. In der Großstadt wäre ein solches Verhalten einfach unmöglich. In den Straßen von San Francisco konnte es sogar gefährlich sein, einfach jemanden anzuquatschen. „Ich freue mich so riesig auf dieses Wochenende", schaltete Rita sich in ihre Gedanken ein. „Wir fahren in den Cow Palace. Mein Bruder Conrad reitet dort. Zum ersten Mal wird meine Familie ihm zusehen. Meinen Eltern paßt Conrads Art zu leben nicht. Und sie wollten ihm das klarmachen, indem sie nie ein Rodeo besucht haben, bei dem er geritten ist. Aber inzwischen sind sie wohl etwas schwankend geworden. Conrad ist jetzt zwanzig, und er hat bewiesen, daß man als Rodeoreiter gutes Geld verdienen kann." Joanne hatte immer angenommen, daß Rita ein Einzelkind war. Sie versuchte, sich Conrad vorzustellen. Aber Rita zog schon ein Foto aus ihrer Brieftasche. Er hatte die gleichen dunklen Haare wie seine Schwester und sah ziemlich gut aus. Aber ein Foto sagte natürlich nicht viel. Joanne wußte, daß man Aufnahmen retuschieren konnte. Vielleicht war dieser Conrad in Wirklichkeit gar nicht so toll.
„Du müßtest ihn mal reiten sehen, Joanne. Ich habe ihn auf bockenden Pferden und auf Bullen erlebt. Er hat ein Gefühl und eine Sicherheit, als ob er für das Rodeo geboren wäre. Selbst ganz erfahrene Rodeoreiter bewundern seinen Stil. Oh, wir sind da." Der Bus kam vor dem Parkplatz der Schule zum Stehen. „Meine Mutter und ich fahren über das Wochenende nach San Francisco. Wir besuchen meine Tante", berichtete Joanne. He, ist ja prima. Solltest du zufällig am Samstagabend in den Cow Palace gehen - wir sitzen im Block C, genau über den Logen. Denk daran, C wie Conrad Conner. Er hat uns die Karten besorgt. Bis später, Joanne." Rita stand auf und reihte sich in die Schlange im Mittelgang ein. Zwei ältere Mädchen drängelten von hinten. „He, aufhören mit der Schubserei, ja?" schnauzte Rita sie an. Sie hob drohend die Faust, und die beiden Mädchen entschuldigten sich. Joanne blieb sitzen, bis alle anderen den Bus verlassen hatten. Dann nahm sie ihre Bücher und die beiden mit Maschine geschriebenen Hausarbeiten und stieg in Ruhe aus dem Bus. Morgen war endlich Freitag. Sie würde sich kaum auf den Unterricht konzentrieren können. Sie dachte nur noch an das Wochenende in San Francisco. Heimlich wünschte sie, daß sie irgendwie die Möglichkeit bekommen würde, in den Cow Palace zu gehen. Joanne und ihre Mutter fuhren um zwei Uhr mittags ab. Joanne hatte die letzten beiden Schulstunden freibekommen. Sie würde den Unterrichtsstoff zu Hause aufarbeiten. Als sie die Autobahn in Richtung Süden fuhren, fühlte sich Joanne irgendwie verunsichert. In ihr fand so eine Art Tauziehen statt. Bestimmt würde sie Puzzle vermissen. Sie lächelte. Ihr armer Vater und Bobby würden dem wütenden Hengst das Heu wahrscheinlich aus sicherer Entfernung zuwerfen müssen.
Und dann würde sie sicher auch das einsame Tal rund um Markville vermissen. Die Schönheit und die Ruhe dieser Gegend waren einmalig. Natürlich war sie gegen den Umzug gewesen. Aber in den letzten Wochen hatte ihre Abneigung merklich nachgelassen. Vielleicht, weil sie jetzt mehr über ihrErbe wußte, über die Ranch und über ihre Großeltern. Sie fürchtete sogar, daß sie dabei war, sich hoffnungslos in das Winston Valley zu verlieben - und in einige seiner Bewohner. Aber auf der anderen Seite kehrte sie nach Hause zurück. Würde San Francisco nicht immer ihre Heimat bleiben? Ihre Mutter machte sie auf die Landschaft aufmerksam. Die Autobahn führte durch eine atemberaubend schöne Gegend. Der Herbst hatte die Bäume und Sträucher in ein leuchtendes Farbenmeer getaucht. Die Blätter strahlten in gelb, rostbraun, orange, rot und gold. Die Fahrbahn und die Berghänge sahen aus, als ob sie in Flammen ständen. Joanne fand den Herbst schön und traurig zugleich. Die Bäume schienen sich noch einmal besonders anzustrengen, bevor sie starben. Jetzt prägten sie sich mit ihren leuchtenden Farben den Menschen ein letztesmal ein, bevor der Winter sie entkleiden würde. Und gerade, wenn die kahlen Bäume besonders deprimierend wirkten, dann erlöste sie die erste Frühlingssonne. Joanne konnte sich nichts Schöneres denken als einen Waldspaziergang im Frühling, wenn nach einem warmen Regenschauer die Knospen aufsprangen. „Tante Joan und ich machen morgen einen Einkaufsbummel, während du bei Angie bist", verkündete Mrs. Miller. „Und danach will ich mit ihr auf Fisherman's Wharf zu Mittag essen." „Wie die Touristen?" spottete Joanne.
„Genau so." Mrs. Miller fand das ebenso lustig wie ihre Tochter. „Weißt du eigentlich, wie lange wir nicht mehr dort waren? Jahre ist das her. Und ... es klingt vielleicht verrückt, aber ich fange an, mich in San Francisco wirklich wie eine Touristin zu fühlen. Ich werde wohl schon zu einer echten Landpomeranze." „Aber wirklich, Mom!" kicherte Joanne. Beide mußten schließlich so lachen, daß Mrs. Miller Angst hatte, das Auto zu Schrott zu fahren. Die Strecke nach San Francisco war ziemlich anstrengend. Joanne bot ihrer Mutter an, sie am Steuer abzulösen, aber Mrs. Miller lehnte ab. „Auf der Rückfahrt kannst du einen Teil der Strecke fahren. So eine Tour kann uns doch nicht umhauen!" Sie hielten an einer Raststätte, um schnell etwas zu essen und zu tanken. Dann fuhren sie weiter. Die flache Landschaft des Sacramento Valley begann Joanne zu langweilen. Schließlich krabbelte sie nach hinten auf den Rücksitz und machte ein Nickerchen. Sie wachte vom Geräusch des dichten Autobahnverkehrs auf - alle vier Fahrbahnen waren jetzt hoffnungslos verstopft. Sie näherten sich dem Industriegebiet San Franciscos. Bald würde die Ausfahrt kommen, die zur Brücke über die Bucht führte, von da an war es nicht mehr weit bis zu Tante Joan. Die vertrauten Geräusche der Großstadt machten Joanne ganz kribbelig. Morgen würde sie Angie wiedersehen. Und auch ein paar andere aus ihrer früheren Clique. Gehörte sie noch dazu? „Sieh mal, Joanne. Da wird gerade eine neue SchrottSkulptur aufgestellt." Mrs. Miller zeigte auf den schmalen Streifen Land kurz vor der Auffahrt auf die Oakland-San Francisco Bay Bridge. Der sumpfige Landstreifen war seit zwei Jahrzehnten ein Ausstellungsgelände für Künstler und
solche, die es werden wollten. Dort wurden moderne Skulpturen aus Schrott oder Abfall errichtet. Viele von ihnen sahen ausgesprochen merkwürdig aus. ,,Das ist ein hölzerner Hai mit orangefarbenen Zähnen und gelben Augen", versuchte Joanne das merkwürdige Gestell zu erklären. Die zwei Möchtegernkünstler hatten bei ihrer Arbeit mit einem starken Wind zu kämpfen. „Da sind die Seemöwen, Mom. Ich konnte mich kaum noch an sie erinnern." Joanne beobachtete die Vögel, die sich silbern vor der untergehenden Sonne abzeichneten. Sie fuhren über die lange Brücke. Die Wolkenkratzer, Treasure Island, Alcatraz - San Francisco tauchte vor ihnen auf. Jetzt, beim Wiedersehen, war der Anblick der Großstadt an der Bucht wundervoll. Früher hatte Joanne das alles als selbstverständlich hingenommen. Ihr fiel nur ein Genuß ein, der mit diesem Anblick vergleichbar war: das Verschlingen einer Riesen-Pizza mit viel Käse nach einer langen und öden Schlankheitskur.
9. KAPITEL Sie erreichten die Pacific Heights, und Joanne hätte jubeln können vor Freude. Schließlich hielten sie vor dem Haus von Tante Joan. Der Familienstammsitz der Lincolns war ein vornehmes, schönes Haus mit zwei Stockwerken und einem mit weißen Steinen gepflasterten Hof davor. Ein paar Beete mit Sträuchern waren geschickt zwischen den Steinen angelegt. Mrs. Millers ältere Schwester hatte das Haus vor einigen Jahren geerbt, als ihre Eltern während einer Reise auf die Bahamas tödlich verunglückt waren. Joan Lincoln war überzeugt, zwei linke Hände zu haben. Zumindest bei allen Dingen, die mit Haushalt oder Gartenarbeit zu tun hatten. Sie hatte daher als erstes den Rasen vor dem Haus entfernen lassen. Sogar die Grünflächen im hinteren Garten ließ sie verschwinden. Der Garten bestand jetzt nur noch aus einem gepflasterten, überdachten Hof, der mit einigen großen Blumenkübeln geschmückt war. Tante Joan nannte das,Rationalisierung der Gartenarbeit'. Jetzt begrüßte sie ihre Schwester und Joanne an der Haustür. Sie war ziemlich groß und sehr schlank. Ihr farbenprächtiger Kaftan sah todschick aus und brachte ihre tolle Figur zur Geltung. „Hallo, ihr Lieben!" rief sie strahlend und führte ihre Schwester und ihre Nichte in die geräumige Wohnküche. „Ihr müßt ja fast verhungert sein. Ich habe uns einen gebratenen Puter gekauft. Und dort stehen Salat, Bohnen und frisches Weißbrot. Alles aus dem Delikatessengeschäft. Ihr könnt also ruhig zugreifen." Sie lachten alle. Tante Joan hatte noch nie ein Geheimnis aus ihren nicht vorhandenen hausfraulichen Fertigkeiten gemacht. „Ich bringe unsere Sachen nach oben, und ihr beide deckt inzwischen den Tisch. Einverstanden?" schlug Joanne vor.
„Eine gute Idee", stimmte ihre Tante zu. Sie sah Mrs. Miller überhaupt nicht ähnlich, aber die Schwestern sprachen im gleichen Tonfall und lachte beide auf die gleiche Art. Joanne mußte zweimal laufen. Sie trug zuerst die Reisetasche nach oben und holte dann die Kleider und Mäntel die lose im Kofferraum gelegen hatte. Im oberen Stockwerk gab es drei Schlafzimmer. Joanne wußte bereits, wie alles geregelt war: Ihre Mutter würde wieder in ihr altes Kinderzimmer ziehen, das neben dem Gästezimmer lag. Joanne würde das Zimmer am Ende des Flurs nehmen. Es ging zur Straße, und man konnte die ganze Stadt überblicken, wenn man dort oben am Fenster stand. Tante Joans Schlafzimmer war im Erdgeschoß, direkt neben ihrem Atelier. Joan Lincolns Unterschrift war so etwas wie ein Markenzeichen. Sie war eine äußerst erfolgreiche Werbegraphikerin. Als Mr. MilIer noch in der Werbebranche tätig gewesen war, hatten er und seine Schwägerin zusammengearbeitet. Joanne kam nicht dazu, das leckere Essen auch nur anzurühren. Sie wollte gerade loslegen, als das Telefon klingelte. „Oh, Joanne, nimm du ab. Das ist bestimmt wieder Angie. Dieses Mädchen hat schon dreimal angerufen." Tante Joan hatte recht. „Hallo und fröhliche Halloween", brüllte Angie durchs Telefon. „Mann, bin ich froh, daß du tatsächlich kommen konntest. Wie früh kannst du morgen aufstehen und fertig sein? Ich dachte an sieben Uhr, okay? Ich werde wohl kaum die Augen offenhalten können, aber du bist das Frühaufstehen ja gewohnt, wegen der Arbeit auf der Ranch. Stimmt doch, oder? Und ich. . ." „Ich bin um sieben fertig", stimmte Joanne schnell zu, bevor Angies Redeschwall weiterging.
Angie redete und redete. Mrs. Miller bekam Mitleid mit ihrer Tochter und reichte ihr eine Scheibe Weißbrot mit Butter, um wenigstens die schlimmsten Hungerqualen zu mildern. Schließlich waren Mrs. Miller und ihre Schwester mit dem Essen fertig und tranken Kaffee. Sie genossen den Nachtisch: Käsekuchen mit Kirschfüllung. Joanne beobachtete sie heißhungrig. Aber trotzdem hörte sie gespannt Angies Wortschwall zu. Sie wußte so viele interessante Neuigkeiten zu berichten. „Wenn du Lust hast, können wir morgen abend zu einer Geburtstagsparty gehen", schlug ihre Freundin gerade vor. Als Joanne hörte, wer ihre Gastgeberin sein würde - eine Großstadtausgabe von Jill Hawkins - verging ihr das Lachen. „Ich kann es eigentlich kaum erwarten, diese Party zu verpassen", stöhnte sie. „Nun", fuhr Angie unbeeindruckt fort, „wir können auch ins Kino gehen und danach Pizza essen. Oder ... du läßt dich überraschen. Ich habe da nämlich still und heimlich etwas organisiert." Joanne entschied sich für die Überraschung, obwohl sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, was Angie wieder ausgeheckt hatte. „Vielleicht gefällt dir unsere Überraschung nicht", meinte Angie. „Aber ... doch, ich glaube, du freust dich darüber. Auf jeden Fall können wir drei sogar etwas dabei lernen." „Drei? Wer geht denn noch mit? Was ist das für eine Überraschung, Angie?" „Wirst du schon sehen. Morgen nachmittag um fünf sagen wir dir, worum es geht. Ach ja, zieh Cordhosen an, oder Jeans. Designer-Jeans, nicht so einfache Klamotten." Joanne war zwar begeistert, aber auch ein bißchen verstimmt. Angie und ein Geheimnis? Das war einfach unglaublich. Angie hatte noch nie etwas für sich behalten
können. Früher hatte sie sogar ausgeplaudert, was Joanne zum Geburtstag bekommen sollte. Alles, was man Angie unter dem Siegel strengster Vertraulichkeit erzählte, verbreitete sich wie eine Lautsprecherdurchsage in der ganzen Stadt. Und plötzlich war sie verschwiegen wie ein Grab? Ob Angie endlich erwachsen wurde? Aber nein, das hier war eine Art Spiel für sie. Und sie würde fast umkommen vor Spannung. Bestimmt litt sie noch mehr als Joanne in all ihrer Neugier. Auf jeden Fall würde die Überraschung toll sein. Davon war Joanne überzeugt. Endlich konnte sie zu Abend essen. Ihre Mutter und Tante Joan saßen noch am Tisch und machten Pläne für das gemeinsame Wochenende. Sie berichtete ihnen von Angies Vorschlag. „Angie sagt, wir können bei der Überraschung etwas lernen", erzählte sie. „Hm, vielleicht irgendeine Veranstaltung in einer der Unis", meinte Tante Joan. „Möglich. Schließlich wollen Angie und ich in zwei Jahren auf die Stanford-Universität. Vielleicht will sie uns schon mal vorführen, wie wir uns als zukünftige Gelehrte benehmen müssen. Hmm, Tante Joan, das Essen ist köstlich." Tante Joan lächelte und sah ihre Schwester an. „Melanie, ich glaube, ich behalte sie einfach hier." Joanne dachte darüber nach. Dann würde sie in diesem schönen Haus leben. Ihre Freundinnen wohnten alle in der Umgebung. Dreimal die Woche kam eine Putzfrau ins Haus. Kaufhäuser, Theater, Discos waren in der Nähe. Sie würde hier ein bequemes und unabhängiges Leben führen. Aber wollte sie das? Noch vor zwei Monaten hätte ihr Entschluß innerhalb einer Sekunde festgestanden. Aber jetzt? Sie bemerkte den ängstlichen Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter und lächelte sie an. „Tante Joan, ich bin immer noch
Mamas Liebling, das heißt, ich hänge wohl noch ziemlich an ihrem Rockzipfel. Aber ich komme immer gern zu Besuch. Mom wird mich sicher ab und zu an dich ausleihen." Tante Joan lachte. „Also los, ab ins Wohnzimmer mit euch", befahl sie. „Ich räume den Tisch ab und stecke das Geschirr in die Spülmaschine, und dann komme ich auch." Joanne wachte wie jeden Tag vor Morgengrauen auf. Sie hatte sehr gut geschlafen. Gerade wollte sie aus dem Bett springen, als ihr einfiel, daß sie ja bei Tante Joan war. Wohlig streckte sie sich noch einmal unter den glatten Laken aus. Sie brauchte nicht erst aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen, um zu wissen, daß Morgennebel die Riesenstadt einhüllte. Sie fühlte, daß der milde, graue Dunst da war. Erst gegen Mittag würde er sich vollständig aufgelöst haben. Sie blickte auf die Leuchtanzeige des kleinen Digitalweckers auf dem Nachttisch. Sie konnte noch eine halbe Stunde liegenbleiben. Jason Farleys gutaussehendes Gesicht tauchte vor ihren Augen auf, als sie sich noch einmal einkuschelte. In ihrem Traum hielt er sie in seinen Armen und schaute ihr tief in die Augen. „Du bist schön, kleine Johnny", flüsterte er, und ihr wurde ganz heiß. Er beugte sich zu ihr hinunter. Aber da tauchte plötzlich eine Frauenhand hinter seinem Rücken auf und zog ihn von ihr fort. Die Hand gehörte Debbie, der schönsten Rodeoreiterin im Land. Joanne wachte auf. Sie fühlte sich plötzlich gar nicht mehr ausgeschlafen, sondern wie gerädert, traurig und verletzt. Angie und Joanne saßen mit den anderen Mädchen aus der Clique im Garten der Perrys. Ein riesiger, grün-blauer Sonnenschirm schützte sie vor der strahlenden Herbstsonne. Joanne hatte das Gefühl, nach mehreren Monaten Pause das erste Mal wieder eine dieser Gummiserien im Fernsehen eingeschaltet zu haben: Alles war noch beim alten.
Marcia jammerte wie in alten Zeiten über ihre Akne und hoffte noch immer, endlich mit Nägelkauen aufhören zu können. Juliana fand sich noch immer furchtbar schön und quasselte nur über ihren neuesten Schwarm. Wie üblich überprüfte sie alle fünf. Minuten ihr Make-up im Taschenspiegel. Vera klagte noch immer über ihre Gewichtsprobleme und fiel dabei hemmungslos über alles Eßbare her, das auf dem Tisch stand. Zwei Mädchen hatten nicht kommen können. Die eine war zum Skilaufen in die Berge gefahren. Die andere besuchte ihren Vater und ihre neue Stiefmutter in Südkalifornien. Angeblich hatten sich ihre Eltern wegen dieser Frau scheiden lassen. Und Mona Tysinger würde erst später kommen. „Sie muß noch etwas erledigen", hatte Angie nur vage angedeutet. Nach einem vierstündigen Neuigkeitenaustausch im Garten ging die Sitzung im Wohnzimmer weiter. Mr. und Mrs. Perry waren nicht zu Hause, so daß sich die Mädchen ohne Hemmungen aussprechen konnten. Sie landeten schließlich wieder beim Thema Nummer eins: Jungen. Vera beklagte sich bitter darüber, daß nie ein Junge mit ihr ausgehen wollte. „Wenn ich endlich mal abnehmen würde ... vielleicht wäre dann alles anders. Ich überlege ernsthaft, ob ich nicht mal in dieses berühmte Sanatorium in der Nähe von Washington gehen soll." Während sie davon sprach, stopfte sie sich mit Schokolade voll, ohne auch nur eine Sekunde die Finger aus der Bonbonniere zu nehmen. Juliana plapperte unaufhörlich dasselbe: Ihr einziges Thema war die Segeltour mit dem Sohn eines prominenten Industriellen. „Es war einfach phantastisch. Er hat Muskeln, das könnt ihr euch ja gar nicht vorstellen. Ihr hättet ihn sehen sollen, wie er die Segel und Taue und diesen ganzen Kram auf dem Schiff bedient hat. Ich habe gar nichts getan, nur dagesessen und seinen phantastischen Körper bewundert. Und dann, als wir im Fairmont-Hotel zu Abend gegessen haben. . ."
Joanne kam dieses monotone Geplapper so unecht, so künstlich vor. Früher war ihr das nie aufgefallen. Eigentlich redete Juliana immer dasselbe: Alle Jungen waren verrückt nach ihr, sie könnte jeden haben, weil sie ein Mädchen von der absoluten Spitzenklasse wäre. Das wiederholte sich wie eine Schallplatte. Natürlich hatte Joanne sich das früher auch schon anhören müssen. Aber sie fand jetzt, daß Juliana noch unerträglicher geworden war. Und dieses Geschwätz langweilte sie plötzlich tödlich. Während Juliana weiter über ihre Auftritte in der Gesellschaft von San Francisco berichtete, wanderte Joanne in Gedanken zurück auf die Ranch. Ob Puzzle zulassen würde, daß ihr Vater ihn anfaßte? Mit viel Geduld und Liebe würde sie ihm den Haß auf Männer sicher mit der Zeit abgewöhnen können. Er würde lernen, daß er Menschen vertrauen konnte. Wie sehr sie ihn vermißte! „Bei dir da oben in der Provinz laufen wohl keine tollen Typen rum, oder, Joanne?" fragte Marcia, die wie üblich an ihren Fingernägeln knabberte. Angie stieß Joanne an. „Was hast du gesagt, Marcia?" Joanne hatte nur noch ihren Namen mitgekriegt. „Erzähl uns was über die Männer im Winston Valley. Wir sterben schon vor Neugier", quietschte Vera. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Das Leben auf einer Ranch besteht vor allem aus harter Arbeit. Die Jungen dort sind fast alle Cowboys." „Ich will etwas über diesen Jason hören. Diesen Typen, der wie John Travolta aussieht", drängte Juliana. Joanne sah zu Angie. Wieviel hatte sie ausgeplaudert? Und hatte sie die Geschichte vielleicht auch noch kräftig ausgeschmückt? Warum nicht gleich eine Anzeige in die Zeitung setzen, dachte sie.
„Jason Farley sieht gar nicht aus wie John Travolta", stellte sie schließlich fest. „Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt tanzen kann. Aber er ist ein gerissener Geschäftsmann. Und er kann sich Respekt verschaffen. Der wird mit jeder Situation fertig. „Oooh, wie toll", kreischte Juliana. „Erzähl uns noch mehr." Alle Mädchen hingen wie gebannt an Joannes Lippen, während sie ihnen erzählte, was sie über Jason wußte. Schließlich berichtete sie ihren Freundinnen auch noch von Jasons Einladung, mit ihr auszureiten. Und warum sie hatte ablehnen müssen. Daraufhin prasselten die guten Ratschläge nur so auf sie herunter. „Nimm Reitstunden!" „Sei ehrlich zu ihm und laß ihn dir das Reiten beibringen. Männer mögen hilflose Frauen - keine dämlichen Trampel, denk daran! - aber eben ein bißchen hilflos!" „Werde erst einmal ein richtiges Cowgirl. Und dann schlägst du ihn mit seinen eigenen Waffen. Dann wird er dich bewundern müssen!" Und dann platzte Julianas Vorschlag in die hilfsbereite Runde: „Zieh wieder hierher nach San Francisco. Ich mach dich mal mit ein paar richtigen Männern bekannt. Du kannst meine Verflossenen übernehmen." Alle verstummten. Joanne sah Juliana fest an. „Vielen dank, aber ich suche mir meine Freunde schon selbst aus. Und wenn ich mir einen schnappe, dann wird das auf keinen Fall der abgelegte Liebhaber irgendeines anderen Mädchens sein." „Eins zu null für dich", schnurrte Juliana und zog die Krallen ein. Mrs. Perry kam nach Hause. „Guten Tag, meine Damen", rief sie fröhlich in die Runde. Die Mädchen begrüßten sie und redeten dann weiter. Jetzt waren Schule und Klamotten an der Reihe. Mrs. Perry zog sich in ihr Schlafzimmer zurück und schloß die Tür hinter sich.
Nach einer weiteren Stunde bugsierte Angie die Mädchen zur Haustür. Sie erklärte ihnen, daß Joanne und sie etwas ganz Besonderes vorhätten, und sie ihnen am Montag in der Schule alles erzählen würde. Trotzdem maulten die drei etwas. Sie hätten so gern gewußt, was Joanne und Angie planten. Bevor sie sich notgedrungen verabschiedeten, wünschten sie Joanne alles Gute und versprachen, zu schreiben. Joanne und Angie standen noch in der Diele, als es klingelte. Mona Tysinger stand vor der Haustür. Mona trug ein hellblaues T-Shirt-Kleid, das gut zu ihren weißblonden Haaren paßte. Sie hatte sehr helle Haut und war ziemlich mager. Ihr Make-up bestand aus langen, falschen Wimpern und großzügig aufgetragenem, dunklem Rouge. Besonders attraktiv war sie eigentlich nicht. Monas größter Vorzug waren ihr Reichtum und ihre gesellschaftliche Stellung. Wann immer Mona Tysinger irgend etwas haben wollte, be kam sie es. Egal, was es war. Manchmal war das ganz angenehm, weil auch ihre Freundinnen davon profitierten. Ihr würde Joanne später für diesen Abend danken. „Hast du ihr schon was gesagt?" fragte Mona Angie. Joanne sah die beiden an. Offensichtlich war hier eine Verschwörung im Gang. „Es ist erst viertel vor fünf, und ich hatte fünf gesagt. Aber die Spannung bringt mich noch um." Angie glühte förmlich vor Erwartung. „Hast du die Karten?" „Hier sind sie", sagte Mona und überreichte Joanne eine kleine Karte. Auf der Karte stand: Eine Person - Cow Palace - 1. November - Abendvorstellung. Joanne starrte mit offenem Mund auf die Eintrittskarte. Sie konnte es kaum fassen. „Mona und ich haben beschlossen, uns selbst ein Bild von dieser reitenden Schönheit zu machen", erklärte Angie. „Wir wollen deine Rivalin mal unter die Lupe nehmen."
„Genau", bestätigte Mona. „Wenn man eine Schlacht gewinnen will, muß man als ersten Schritt etwas über seinen Gegner herausbekommen. Und dies ist so etwas wie Krieg - ein Liebeskrieg. Und im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt." „Aber wie habt ihr ... ?" Joanne war völlig verwirrt. „Mein Onkel Marcus hat eine Loge dicht an der Manege. Wir sind jedes Jahr im Cow Palace. Du hast wohl nicht gewußt, daß die Tysingers auch Pferde züchten, Joanne?"
10. KAPITEL Joanne hatte bei Tante Joan angerufen und ihrer Mutter von Angies Überraschung erzählt. Sie mußte das einfach loswerden, sonst wäre sie geplatzt. Die beiden Schwestern hatten eine solche Einkaufsorgie hinter sich, daß sie ihre wunden Füße kaum noch bewegen mochten. Sie freuten sich mit Joanne und wünschten ihr viel Spaß. „Sei bitte um zwölf Uhr morgen mittag fertig. Ich bringe deine Sachen mit und hole dich ab. Ich will nur schnell die Perrys begrüßen, dann fahren wir los", sagte Mrs. Miller noch. Joanne hatte zwei Outfits mit zu Angie genommen. Sie ließ Angie und Mona entscheiden, welche Klamotten sie anziehen sollte. Zunächst verlangten ihre beiden Modeberaterinnen, daß sie ihnen beide Möglichkeiten vorführte. Der eine setzte sich aus grauen Cordhosen, roter Bluse und grauem Blazer zusammen. Der andere bestand aus Calvin-Klein-Jeans, hellgrünem T-Shirt, blauem Blazer und einem Schal mit giftgrünen und blauen Streifen. Mona und Angie entschieden sich für die Jeans. Angie fand den Aufzug besonders schick, weil er zu Joannes grünen Augen paßte. Mona schlug vor, das T-Shirt gegen Angies teure hellgrüne Seidenbluse auszutauschen, weil das ein raffinierter Kontrast zu den Jeans wäre. Angie wählte für sich eine sportliche Kombination: Braune Hosen und karierte Wollbluse. Keins der Mädchen nahm einen Mantel mit. Dieses Jahr war der Herbst in San Francisco ungewöhnlich trocken und warm. Sie fuhren in Monas schwarzem Mercedes zum Cow Palace. Während Mona in rasantem Tempo durch die Straßen kurvte, unterhielt sie sich mit Angie. Joanne war schweigsam. Sie dachte an den Abend, der vor ihr lag.
Mona und Angie redeten über die Clique und über Freunde. Angie schwankte im Moment zwischen Typen in ihrem Alter und dem neuen Französischlehrer. Sie wünschte nur, er wäre zwanzig Jahre jünger und unverheiratet. Mona erlebte gerade ein heißes Abenteuer mit einem Medizinstudenten von der Harvard-Universität. Joanne bestaunte die vertrauten Straßen wie eine begeisterte Touristin. Früher war sie hier immer gleichgültig durchgefahren. Sie erreichten die Geneva Avenue und fuhren in das riesige Parkhaus neben dem Cow Palace. Joanne hatte inzwischen Magenschmerzen vor Aufregung. Auf dem Weg vom Parkhaus hinüber zu den Eingängen spielte Mona die Fremdenführerin. Sie erklärte Angie und Joanne die Geschichte und den Zweck des Cow Palace. Sie gingen in die Haupthalle mit der größten Manege des Palace. Joanne studierte erst einmal die Kleidung der anderen Besucher. In den Städten waren zur Zeit modisch verbrämte Cowboy-Klamotten der letzte Schrei. Das wurde auch hier deutlich. Die meisten Zuschauer trugen Hosen und Röcke im Westernstil, schwere Lederstiefel und Cowboyhüte. Man sah aber auch ganz normalen City-Look, Jeans und T-Shirts. Eine Frau trug ein bodenlanges Abendkleid und einen Nerzmantel. In Bezug auf Klamotten war im Cow Palace wohl so ziemlich alles erlaubt. „Wir sind zu früh", stellte Mona fest. „Ich führe euch noch ein bißchen herum und zeige euch alles. Danach haben wir immer noch genug Zeit, um uns in den Läden auszutoben." Angie beobachtete die noch immer schweigsame Joanne. Schließlich flüsterte sie Mona zu: „Bin ich froh, daß mir die Idee mit dem Cow Palace gekommen ist. Sieh dir bloß mal Joanne an. Wie ein Kind vor dem Weihnachtsbaum." Sie gingen einen breiten Gang entlang. An den Seiten reihten sich Schmuckgeschäfte, Boutiquen für Westernmode und
Läden für Reitausrüstungen aneinander. Überall waren Messestände, vor denen Vertreter der großen Gestüte über Pferdezucht informierten. Dabei rühmte sich jeder, das beste Gestüt zu vertreten. Joanne kamen diese ganzen konkurrierenden Anschauungen über Pferdezucht wie die verschiedenen Heilslehren von religiösen Sekten vor. Hier wie dort versuchten Anhänger einer bestimmten Richtung, neue Schüler zu gewinnen. Trotzdem hörte sie sich alle Meinungen an und nahm einen ganzen Packen kostenloser Prospekte mit. Angie und Mona unterhielten sich auf der anderen Seite mit einem Ehepaar, das nach Art der Dressurreiter in weiße Reithosen und Reiterkappe gekleidet war. Joanne wanderte hinüber in die große Wandelhalle. Dort standen die Vitrinen mit den Preisen und Pokalen des Cow Palace. Ausgestellt waren die Hauptpreise für die Sieger der einzelnen Wettbewerbe: Ein kostbar verzierter Sattel für den Sieger des Rodeos und silberne Schalen, Gürtelschnallen und Pokale. Viele Preise sahen so aus wie die, die im Zeughaus ihrer Großmutter standen. Es gab auch eine Messe für Pferdetransporter. Gerissene Verkäufer führten die neuesten Modelle vor und versuchten, mögliche Käufer zu beschwatzen. Der Geruch von Popcorn, Hamburgern und Hot Dogs durchzog die Halle. Außerdem roch es nach den Sägespänen und der schwarzen, feinen Erde, die den Boden der Gänge bedeckten. Angie und Mona hatten sich Joanne wieder angeschlossen. Die drei schlenderten den Gang entlang, der nach draußen zum Messegelände für die Viehauktionen führte. „Ob dein Jason wohl auch hier ist, Joanne?" fragte Mona. „Vielleicht ist er dort hinten, auf dem Messegelände für die Viehauktionen." Sie zeigte auf eine lange Reihe von Ställen und Gehegen.
Allein der Gedanke daran, Jason hier zu treffen, ließ Joannes Herz flattern. Er wäre sicher total überrascht, sie hier zu sehen! Sie näherten sich dem Teil des riesigen Messegeländes, wo die Rinderausstellung stattfand. Aber alle Gehege und Ställe waren leer. Die Tiere waren schon weggebracht worden, und die Aufräumungsarbeiten hatten begonnen. „Mensch, hier ist ja nichts mehr los. Nur noch Abfall und iiih, paßt bloß auf, wo ihr hintretet", rief Angie. Mona rümpfte angewidert die Nase. „Ich gehe lieber rüber zu den Pferdeställen, um Onkel Marcus und meine Cousine zu begrüßen." Ungeduldig kommandierte sie: „Los, kommt mit. Diesen Supercowboy könnt ihr später noch suchen!" „Grüß deinen Onkel und deine Cousine von mir. Ich seh euch dann nachher in der Loge. Die Nummer steht ja auf meiner Eintrittskarte", gab Joanne kühl zurück. Angie spürte die wachsende Spannung zwischen Joanne und Mona, wußte aber nicht, was sie tun sollte. „Du meine Güte, Joanne! Man könnte ja fast meinen, daß du eine, eine ... was weiß ich ... geworden bist." Mona suchte verzweifelt nach der passenden Beleidigung. „Eine dämliche Kuh aus der hintersten Provinz, wolltest du sagen?" half Joanne ihr. Mona spielte nun die überlegene Dame. Ihr arroganter Gesichtsausdruck machte sie nicht eben hübscher. „Ich habe gedacht, dieser Abend könnte eine nette, kleine Abwechslung werden. Aber nun ja. Meinst du :nicht, daß du dein Hinterwäldler-Gehabe etwas übertreibst, meine liebe Joanne?" Angie sah die Katastrophe auf sich zurollen, fühlte sich aber völlig hilflos. Der Streit schien nicht mehr aufzuhalten zu sein. Joannes Wut war unübersehbar. Angie zuckte zusammen, als Joanne zu einer Antwort ansetzte:
„Mona Tysinger, du stehst mir bis obenhin. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Du meinst wohl, du kannst die Menschen kaufen und wieder abschieben, wie du Lust hast. Deine Freundinnen mußt du anscheinend wie Marionetten herumkommandieren. Aber jetzt kannst du mal etwas dazulernen: Joanne Miller ist nicht käuflich und herumkommandieren läßt sie sich schon gar nicht. Ein Bauerntrampel? Eine Provinznudel?" Joanne lachte selbstbewußt. „Ganz richtig, Mona. Aber lieber bin ich eine Landpomeranze als so eine eiskalte, arrogante Zicke wie du!" „Bitte, hört auf", flehte Angie. „Die Leute fangen schon an, herüberzustarren." „Ich bin bei den Pferdeställen. Versuche bitte, in einer halben Stunde dort zu sein. Das heißt, wenn es nicht zuviel verlangt ist, daß du dich bei Onkel Marcus für seine Großzügigkeit bedankst!" Mona stolzierte davon. Joanne blieb stehen. Angie rannte Mona nach und redete mit ihr. Beide drehten Joanne den Rücken zu. „Der hast du es aber gegeben, kleine Johnny!" Joanne drehte sich um. Jason stand direkt hinter ihr. Als sie in sein freundliches Gesicht blickte, verrauchte ihr Zorn sofort. „Schade, daß du unsere preisgekrönten Zuchtbullen nicht gesehen hast", bemerkte er. „Wir haben sie schon wieder nach Hause gebracht. Für uns war es eine gute Ausstellung, wenn auch nicht ganz so erfolgreich wie im letzten Jahr." „Wir haben den Bericht über deine Familie in der Zeitung gelesen. Herzlichen Glückwunsch zum Preisgewinn. Ich bin wirklich beeindruckt." Angie kam zurück. Begeistert strahlte sie den gutaussehenden Jason an. Dann klopfte sie Joanne aufmunternd auf die Schulter. „Ich bleibe bei dir, Joanne. Mona ist wirklich
eine eingebildete Pute." Zu Jason gewandt, stellte sie sich vor: „Ich bin Angela Perry. Joanne und ich sind zusammen zur Schule gegangen, und ich bin ihre beste Freundin." Jason schüttelte ihr die Hand. „Hallo, Joannes beste Freundin. Ich bin Jason Farley." „Klar, weiß ich doch", tönte Angie. Joanne wurde rot. „Wenn du Zeit hast, Joanne, zeige ich dir die Bullen für das Rodeo", schlug Jason vor. Angie antwortete, bevor Joanne auch nur den Mund aufmachen konnte. „Oh, wir haben Zeit. Hört sich ja wahnsinnig interessant an." Jason lachte und nahm die beiden Mädchen am Arm. Angie zwinkerte Joanne verstohlen zu. Auf dem Weg zu den Gehegen für die Bullen plapperte Angie wieder einmal wie ein Wasserfall. Sie erzählte Jason alles über Joanne. Unermüdlich pries sie Joannes Vorzüge. Ihre Freundin hörte dem Werbefeldzug für sie entnervt zu. Geduldig lauschte Jason dem Redeschwall. Von Zeit zu Zeit blickte er auf den peinlich berührten Gegenstand des Lobgesangs neben sich. Und dann grinste er jedesmal. Sie stiegen eine Treppe hoch auf einen hölzernen Laufsteg, der um die Gehege für die Bullen und Pferde der Rodeoshow herumführte. Von dort oben konnte man alle Gehege überblicken. Vier Cowboys wählten gerade einige Pferde für das Rodeo der Abendvorstellung aus. Die drei blieben in der Mitte des Laufstegs stehen und sahen auf die breiten Rücken der Bullen hinunter. „Na, Joanne, willst du nicht mal einen davon reiten?" witzelte Jason. Joanne wurde fast übel bei dem Gedanken. Die Bullen sahen von oben noch riesiger aus. Sie hatten eine furchterregende Kraft und Wildheit. „Hast du das schon mal versucht?" fragte Angie ihn.
„Beim Bullenreiten ist der Klügere dem Mutigen voraus. Anders gesagt: Ich bin lieber ein lebender Feigling als ein toter Held." Joanne lehnte sich über das Geländer, um die Rodeopferde im Gehege links von ihnen besser sehen zu können. Plötzlich rutschte sie mit einem Fuß durch die Öffnung zwischen Geländer und Holzboden. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als sie nach unten fiel. Mit einer Hand umklammerte sie noch das Geländer, aber ihre Füße hingen jetzt gefährlich nähe über den Bullen. Die Tiere wurden aufmerksam und schnaubten nervös. „Oh, nein, Joanne!" schrie Angie und schlug die Hände vor das Gesicht. Jason reagierte sofort und packte Joannes Arme. Einer der Bullen war bereits zum Angriff übergegangen. Er spießte mit den Hörnern jedoch nur Luft auf. Jason hatte Joanne zurück auf den Holzsteg gezogen. „Mein Gott, die Viecher hätten mich umbringen können", japste Joanne entsetzt, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. „Laßt uns bloß hier verschwinden!" Schnell verließen die drei den Laufsteg. Die Bullen waren durch den Zwischenfall unruhig geworden und brüllten gereizt. Der Vorfall hatte sie für das Rodeo so richtig in Stimmung gebracht. Joanne, Angie und Jason gingen ein Stück bis zu den leeren Viehgehegen und setzten sich auf einen Zaun. „Du mußt mich nicht gleich beim Wort nehmen, Joanne!" Jason grinste und legte einen Arm um ihre Schulter. „Wollen wir das Bullenreiten nicht lieber den Rodeo-Stars überlassen?" Alle drei lachten erleichtert. Jason sah auf seine Armbanduhr. „Ich würde ja gern noch bei euch bleiben, aber ich muß Stephanie mit ihrem Pferd helfen. Vergeßt nicht, sie ordentlich anzufeuern, wenn sie um die Tonnen reitet!" „Natürlich", versprach Joanne.
„Ich würde euch gern noch zu einer Cola einladen, aber . . ." Er stand auf. „Ihr wißt ja, wie die Zeit vergeht, wenn man bei den Pferden ist. War nett, dich kennenzulernen", wandte er sich an Angie. Er nahm seinen Cowboyhut ab, klopfte den Schmutz herunter und drückte ihn wieder in seine ursprüngliche Form zurück. Der Hut hatte ziemlich gelitten, als Jason Joanne durch die Öffnung auf den Holzsteg zurückgezogen hatte. „Ich möchte nur mal wissen, was du immer gegen meine Hüte hast, Joanne." Er lachte und blickte sie mit seinen dunklen Augen liebevoll an. „Ich ruf dich an, wenn wir wieder zu Hause sind. Viel Spaß heute abend." Joanne winkte ihm nach. Sie war ein bißchen traurig, daß ihr Zusammentreffen so kurz gewesen war. „Nein, wirklich, ein toller Typ!" schwärmte Angie verzückt. Es wurde dunkel. Die ersten Sterne glitzerten am Himmel. Der noch immer warme Wind, der von der Bucht herüberwehte, trug den Duft von Eukalyptusbäumen auf das Messegelände. Joanne war durch die Begegnung mit Jason und durch den schönen Herbstabend besänftigt. Deshalb schlug sie vor, nach Marcus Tysinger zu suchen. „Ich möchte mich bei ihm für die Eintrittskarte bedanken und mir seine Pferde ansehen." „Bravo!" rief Angie. „Die Klügere gibt nach. Und wenn Mona zu zickig wird - ich habe Geld für ein Taxi nach Hause dabei." Joanne lachte. „Vielleicht brauchen wir das Geld wirklich noch." Die Abendvorstellung in der großen Halle des Cow Palace hatte begonnen. Joanne erlebte die Show wie einen schönen Traum. Der erste Teil bestand aus einem Springturnier. Fasziniert beobachtete Joanne, wie mühelos die Pferde über die Hürden sprangen. Das Publikum klatschte begeistert, wenn ein Reiter den Parcours fehlerlos schaffte.
Der nächste Programmpunkt war das Kälberzusammentreiben. Joanne bewunderte die Pferde, die ohne Zügel, nur auf Kommando, die Kälbchen zusammentrieben. Danach ritten farbenprächtig kostümierte Männer und Frauen auf Arabern in die Halle ein. In den Pausen zwischen den einzelnen Wettbewerben wurden die Zuschauer von dem berühmten Rodeo-Clown Wilbur Plaugher unterhalten. Joanne blickte zu Mona hinüber. Zum Glück hatte Angie den Platz zwischen den beiden. Joanne hatte versucht, einzulenken. Aber Mona war noch immer eingeschnappt. Deshalb hatten weder Angie noch Joanne erzählt, daß sie Jason getroffen hatten. Mona unterhielt sich mit ihrem Onkel über Pferde. Mr. Tysingers Pferd, geritten von seiner ältesten Tochter, gehörte zu den Favoriten des letzten Wettbewerbs. Zunächst würden jedoch noch die Wettkämpfe der Arbeitspferde und Zuchtpferde ausgetragen werden. Joanne hatte Durst und wollte die Gelegenheit nutzen, eine Pause einzulegen. Sie sagte Angie, was sie vorhatte. „Gute Idee", stimmte Angie zu. „Ich bin schon fast am Verhungern. Ich werde mir so eine kleine Tortilla kaufen." Mona hatte mitgehört. „Bringt ihr mir eine Limo mit?" Sie reichte Angie eine Zehn-Dollar-Note. „Kommt ja gar nicht in Frage. Ich bezahle natürlich", wies Angie das Geld zurück. „Mr. Tysinger, darf ich Sie zu einer Cola einladen?" „Aber gern, junge Dame", erwiderte der grauhaarige Herr im Nadelstreifenanzug. „Nur, ein GrapefruitSaft mit Eis wäre mir lieber." Angie und Joanne schoben sich auf den nächsten Gang zu, der in die Wandelhalle führte. Die Zuschauer lachten wieder dröhnend. Die Mädchen blieben stehen und schauten dem Clown mit seinem Pudel zu. Ein Schuß knallte. Der Hund
stellte sich tot, dann sprang er wieder auf und hüpfte seinem Herrn in die Arme. Plötzlich wurde das Licht in der Halle gedämpft. In dem Schummerlicht verlor Joanne die Orientie rung. Sie tastete sich einfach an der Umrandungsmauer der Manege entlang, verpaßte aber trotzdem den Ausgang zur Wandelhalle. Ziellos tapste sie an der Mauer weiter um die Manege herum. Angie lief hinter ihr her. Als das Licht wieder anging, waren sie im Block C gelandet. „C wie Conrad Conner", sagte Joanne laut. „Wer?" wollte Angie wissen. „Joanne!" schrie irgend jemand. „Kennst du das Mädchen dort oben?" fragte Angie. Sie zeigte auf eine wild winkende Person etwa acht Reihen über ihnen auf der Tribüne. Joanne erkannte Rita Conner. „Los, wir gehen hoch auf die Tribüne", schlug sie vor. Angie folgte ihr bereitwillig. In dem schmalen Gang zwischen den Sitzreihen hockte ein Cowboy mit Stiefeln und Sporen vor Rita und redete leise mit ihr. „Joanne, das ist mein Bruder Conrad", stellte Rita ihn stolz vor. Conrad tippte an seinen weißen Cowboyhut. Joanne machte Rita und ihren Bruder mit Angie bekannt. Mr. und Mrs. Conner saßen eine Reihe höher und bekamen mit, daß Joanne die Tochter von Larry Miller war. Daraufhin beugten sie sich herunter, und die allgemeine Begrüßung nahm kein Ende. Verärgerte Zuschauer zischten laut„ Ruhe!" „Wir machen uns wohl besser wieder auf den Weg", bemerkte Joanne. „Bis dann, Rita." Der gutaussehende Cowboy stand auf und folgte ihnen. „Ich komme mit nach unten. Muß mir die Kehle anfeuchten." Joanne fand ihn nicht ganz so toll wie auf dem Foto, das Rita ihr gezeigt hatte. Er hatte ein paar Narben im Gesicht, und das
schwarze Haar war nicht gerade schick geschnitten. Trotzdem, er besaß so einen gewissen, männlichen Charme. Angie sprang jedenfalls sofort darauf an. Gemeinsam schlenderten die drei zu den Buden und Ständen, wo man Getränke und Snacks kaufen konnte. Conrad erzählte Angie, wie sehr er auf einen guten Ritt hoffte. „Davon wird abhängen, ob' ich ins Finale der diesjährigen Rodeos in Oklahoma City komme. Im Moment steht das noch auf der Kippe. Ich bin gerade unter den Plätzen, die sich für das Finale qualifizieren." Angie verstand ja nichts von Rodeos und konnte sich unter einem Rodeo-Finale nicht viel vorstellen. Trotzdem strahlte sie ihn an und sagte: „Ich wünsche dir, daß du es heute abend schaffst, Conrad." „Danke, Süße", antwortete er lässig. Sie standen jetzt in der großen Wandelhalle. Conrad legte eine Hand auf Joannes Schulter und strich über den Stoff ihrer Jacke. „He, was ist denn da passiert? Du hast dir deine schicke Jacke eingerissen." Genau in diesem Moment sah Jason zu ihnen herüber. Er hatte sich an einer der Buden einen Drink geholt. Joanne wurde rot. Jasons Gesichtsausdruck sagte ihr, daß er Conrads Hand auf ihrer Schulter völlig mißverstanden hatte. Er drehte sich um und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, in die andere Richtung. Joanne wäre am liebsten nachgerannt, um die Situation zu erklären, aber das war natürlich unmöglich. Conrad amüsierte sich gerade über sie, weil sie den Bullenreitern Konkurrenz hatte machen wollen. Typisch die geschwätzige Angie, dachte Joanne ärgerlich. Sie hatte ihm natürlich von der Pleite bei den Gehegen erzählt. Joanne bestand darauf, die Erfrischungen zu besorgen. Das war wohl die einzige Möglichkeit, den Sticheleien der beiden zu entkommen. „Wartet hier auf mich", bat sie und ging dann zu einem der Stände.
Angie und Conrad würden sehr gut ohne sie auskommen. Das war offensichtlich. Sie drehte sich noch einmal um. Angie plapperte und gestikulierte mit wippenden Locken. Irgendwie war es zum Totlachen. Angie war von Conrad ebenso hingerissen, wie sie selbst von Jason. Keine von ihnen hätte das früher für möglich gehalten. Zwei Großstadtmädchen stehen plötzlich auf Cowboys. Joanne versuchte, in dem Gedränge irgendwo Jason zu entdecken. Sie lief in die Richtung, in die er verschwunden war. Im letzten Gang vor der Halle mit den Tribünenplätzen sah sie ihn schließlich. Aber er war nicht allein. Debbie Beckworth stand neben ihm. Sie war tatsächlich eine Schönheit. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug aus Samt im Westernstil und einen dunkelblauen Cowboyhut. Joanne schob sich etwas näher an Jason und Debbie heran. Debbie trug eine Schärpe mit der Aufschrift: Miß Grand National. Als sie aus Jasons Glas trank, war Joanne völlig niedergeschmettert. Das war ja genau wie in ihrem Alptraum von heute morgen. Nur war dies hier Wirklichkeit. Joanne wollte gerade unauffällig den Rückzug antreten, als Jason zufällig in ihre Richtung sah. Er winkte, kam mit Debbie auf sie zu und machte die beiden Mädchen miteinander bekannt. Debbie lächelte Joanne strahlend an. Und dieses Lächeln war aufrichtig und wirklich nett gemeint. Obwohl Joanne eifersüchtig war, mochte sie Debbie sofort. Ihre bildhübsche Rivalin war kleiner und zierlicher als sie. Sie wirkte sehr weiblich und elegant. Joanne bekam fast Komplexe angesichts solcher Vollkommenheit. „Ich habe dir ja gleich gesagt, daß Debbie gewinnt, Joanne", verkündete Jason stolz. „Ich wußte es einfach." Er drückte Debbie kurz an sich.
„Joanne, halte mich bitte nicht für unhöflich, aber ich muß mein Pferd satteln", entschuldigte sich Debbie und lief davon. Nun standen sich Jason und Joanne allein gegenüber. Und beide litten unter ihrer gegenseitigen Eifersucht, die durch nichts weiter als Einbildung und voreilige Schlüsse begründet war. „Ich, äh, habe zufällig gesehen, daß du Conrad getroffen hast", bemerkte Jason schließlich. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Joanne hatte sich entschieden. Jetzt sollte er doch denken, was er wollte! „Ja, er hat sich Gedanken darüber gemacht . . ." Sie brach ab. Beinahe hätte sie ihm tatsächlich erzählt, daß Conrad sich über ihre zerrissene Jacke gewundert hatte! „Er hat sich Geanken darüber gemacht, ob er wohl in die Endrunde in Oklahoma City kommt." Jason blickte mißmutig auf seine Stiefel. „Er hat sich als Rodeoreiter ganz vielversprechend entwickelt. Zur Überraschung aller, muß man wohl sagen." Der laute Beifall des Publikums schallte aus der Halle. Das erinnerte Joanne an die Getränke, die sie noch holen mußte. „Ich muß mich beeilen. Ich will das Rodeo nicht verpassen. Wenn man zwei der Teilnehmer persönlich kennt, ist das Ganze ja noch viel spannender." „Das glaube ich gern", stieß Jason grimmig hervor. Joanne hatte Angst, daß Angie schon nach ihr suchen könnte. Die Erfrischungen würde sie jetzt allerdings problemlos bekommen, weil die Schlangen an den Ständen schon viel kürzer geworden waren. Sie verabschiedete sich von Jason und raste los. Am Eingang zur Halle traf sie Angie wieder. Conrad war nicht mehr bei ihr. „Mann, gar nicht so einfach, den GrapefruitSaft für Mr. Tysinger zu bekommen", schwindelte Joanne. „Ich mußte schließlich in die Bar gehen."
„Macht doch nichts", meinte Angie. „Aber jetzt laß uns wieder reingehen." Auf dem Weg zur Loge nahm Angie die Mini-Tortilla und ihre Cola vom Tablett, das Joanne trug, und fing an zu essen. „Willst du von der Tortilla mal abbeißen?" fragte sie großzügig. „Nein, danke. Dann rieche ich drei Tage nach Knoblauch. He, wo hast du deinen weißen Schal gelassen?" Angie lächelte verzückt. „Conrad hat ihn ausgeliehen. Als Glücksbringer!" Joanne verdrehte die Augen. „Was für ein romantischer Abend", seufzte sie. „Wirklich, kaum noch zum Aushalten!"
11. KAPITEL Marcus Tysingers Wallach stahl allen anderen Pferden die Schau. Das Pferd war wirklich eine Augenweide. Mühelos brachte es den Parcours hinter sich, wobei es die mäßig hohen Hürden fast noch im Schritt bewältigen konnte. Joanne bewunderte besonders das Zusammenwirken von Pferd und Reiterin. Der Wallach war ein lebhaftes, aber gefügiges Tier und reagierte auf jede Bewegung der Zügel. Im Publikum war es mucksmäuschenstill geworden, man hörte nur das Keuchen und Stampfen des Pferdes. Erst als der Sprecher verkündete: „92 Punkte!" klatschten die Zuschauer wie verrückt. Mr. Tysinger ging über den ausgerollten roten Teppich in die Mitte der Manege. Dort nahm er den Preis entgegen und posierte mit seiner Tochter und dem Pferd für die Fotografen. Danach begleitete er sein Pferd hinaus. Stolz trug er den Pokal und den Siegerkranz. Mona beugte sich herüber und flüsterte: „Ein sogenannter Experte hat Onkel Marcus weismachen wollen, daß dieses Pferd nichts taugt und nie im Leben etwas gewinnen würde. Aber Onkel Marcus versteht eben was von Pferden." „Völlig klar", stimmte Angie zu. „Dein Onkel ist eben ein Fachmann", brachte Joanne fairerweise hervor. In der Manege wurden jetzt die Hürden beiseite geräumt, um Platz für den Auftritt der ,Miß Grand National` zu schaffen. Während der Vorbereitungen wurden Rodeos abgehalten. Joanne hatte eigentlich gedacht, daß man die Rodeos und die Spring- und Dressurturniere getrennt abhalten würde. Sie sah in ihr Programmheft. Jetzt fanden Rodeos statt, die nicht für die Endrunde gewertet wurden, also Show kämpfe. Nach weiteren
Springturnieren und dem Tonnenreiten würde dann das eigentliche Rodeo den Abend beschließen. Angie umklammerte nervös Joannes Arm. „Da kommt Conrad, zum Mustangreiten ohne Sattel." Mona hatte das mitbekommen und wollte wissen, wer Conrad sei. „Oh, nur wieder einer dieser Bauerntölpel aus dem Winston Valley, gab Joanne freundlich Auskunft. Mona lehnte sich wieder in ihren Sitz zurück und blickte starr nach vorn. Sie war mittlerweile überzeugt, die einzig Normale von den dreien zu sein. Conrad Conner mußte als erster in die Manege. Er hatte ein besonders bockiges Pferd zugeteilt bekommen. Es machte einen Satz nach vorn, drehte sich dann um sich selbst und bäumte sich auf. Dabei wieherte es laut vor Wut über den Cowboy, der ihm seine Sporen in die Flanken trieb und auf seinem Rücken festzukleben schien. Der Ritt war schnell vorbei. Aber Conrads Eleganz als Reiter war wirklich eindrucksvoll. Angie war wie hypnotisiert vor Bewunderung. Ein Mann auf einem Reitpferd ritt an die Seite des wilden Mustangs. Conrad wechselte zu ihm hinüber. „Da ist mein Schal, Joanne!" rief Angie. „Er trägt ihn tatsächlich!" Als die anderen Teilnehmer ihre Ritte beendet hatten, wurde durchgesagt, daß Conrad der Sieger dieser Runde war. Wenn er morgen abend ähnlich gut abschneiden würde, könnte ihn kaum noch ein anderer Reiter schlagen. Angela Perry war vollkommen überwältigt. Sie hatte bereits vergessen, daß Conrad auch noch das Bullenreiten mitmachen würde. Für sie war der Abend gelaufen, der Rest des Programms interessierte sie nicht mehr. Aber Joanne zuliebe blieb sie sitzen.
Mona langweilte sich bei diesen - wie sie sagte - „primitiven Cowboyspielchen". Sie wollte zu den Pferdeställen gehen und informierte Angie und Joanne, daß sie sie am Schluß der Show treffen würde. „Ich kann mir das einfach nicht ansehen", stöhnte sie gereizt. „Diese idiotischen Cowboys, die versuchen, auf den Bullen Selbstmord zu begehen - Schwachsinn nenne ich das." „Oh, Joanne. Mir fällt gerade ein, daß wir ja Stephanie anfeuern wollten", quietschte Angie aufgeregt. Bei dieser Antwort schüttelte Mona fassungslos den Kopf und ergriff die Flucht. Während der kurzen Pause gab der Ansager einen Lebenslauf von Debbie Beckworth. Gleich darauf gingen die Lichter aus. Das Orchester spielte einen flotten Marsch. Und dann ritt Debbie im Spotlight in die Manege. Sie galoppierte auf ihrem prächtigen Pferd mehrere Runden. „Hier ist sie, Leute", kreischte der Ansager. „Unsere Miß Grand National!" Debbie ist auch noch eine perfekte Reiterin, dachte Joanne und verlor den letzten Rest Zuversicht. Angie schwieg betreten. Ihr dämmerte jetzt, was für eine Rivalin Joanne da vor sich hatte. Nach Debbies Auftritt begann das Tonnenreiten der Damen. Von dieser Sportart war Joanne fasziniert. Sie studierte jede Bewegung der Pferde und beobachtete ganz genau, wie die Frauen ihre Pferde zügelten, wenn sie scharf an den Tonnen vorbeigaloppierten. Joanne wunderte sich, daß die Tonnen nicht umkippten. Sie dachte an Puzzle und daran, wie geschmeidig und wendig er war. „Ich wette, mit Puzzle könnte ich das auch", sagte sie zu Angie. „Aber Joanne! Um das zu machen, muß man jahrelang trainieren. Und gefährlich ist diese Sportart auch. Warum versuchst du dich nicht erst einmal bei leichteren Wettkämpfen?"
„Das ist doch gerade das Faszinierende dabei. Die Herausforderung reizt mich. Jetzt verstehe ich plötzlich, warum die Frauen da unten so viel riskieren." Ihr fiel ein, daß zu Hause in der Scheune mehrere alte Tonnen herumstanden. „Du, Angie, das mit dem Trainieren ist kein Problem. Ich könnte zu Hause. . . " „Psst!" unterbrach Angie sie. „Stephanie Farley wird angesagt. Mal sehen, ob Jasons Schwester als Reiterin etwas taugt." Der Ansager lobte den Mut der jungen Schülerin. Stephanie wäre zum ersten Mal im Cow Palace dabei und träte hier gegen viel ältere und erfahrenere Reiterinnen an. Und trotzdem würde sie bereits ganz oben in der Rangliste der Tonnenreiterinnen stehen. Stephanie und ihr Pferd schossen wie eine Kanonenkugel in die Halle. Stephanie ließ ihr Pferd im Galopp in den Parcours gehen. Angie und Joanne saßen gespannt auf der Kante ihrer Sitze. In dieser Runde wurde um die schnellste Zeit gekämpft. Stephanies Pferd war blitzschnell. Die erste Tonne umrundete sie in Bruchteilen von Sekunden. Das Pferd galoppierte auf die zweite Tonne zu und wollte dieses Hindernis genauso scharf schneiden. Aber irgend etwas ging schief. Das Pferd verlor das Gleichgewicht und stürzte. Stephanie wurde unter dem schweren Pferdekörper begraben. Die Zuschauer schrien entsetzt auf. Joanne starrte erschrocken auf Pferd und Reiterin in der Manege. Das Pferd versuchte aufzustehen, legte sich aber immer wieder hin. Zwei Cowboys rannten in die Bahn und zogen Stephanie unter dem Pferdekörper hervor. Dann kam ein Tierarzt hinzu, um sich um das Pferd zu kümmern. Nach ein paar Minuten war auch Jason zur Stelle und führte das Pferd seiner Schwester hinaus. Der Ansager informierte das
Publikum, daß das Pferd ein verstauchtes Bein habe, aber zum Glück nichts gebrochen sei. Als Joanne nun auch noch Jason in der Manege sah, gingen ihr vollends die Nerven durch. Sie brach fast in Tränen aus. Der Ansager sprach inzwischen davon, daß Rodeo eine Sportart für Kämpfernaturen sei, die zu hohem Einsatz und Risiko bereit sein müßten. „Heute abend ist Stephanies einziger Lohn euer Applaus, Leute." Das Publikum klatschte mitfühlend und aufmunternd für Stephanie. „Arme Stephanie", meinte Angie. „Hoffentlich ist sie nicht allzu schlimm verletzt." „Pferd und Reiterin geht es gut, meine Damen und Herren", gab der Ansager jetzt bekannt. „Aber wie uns mitgeteilt wurde, werden sie die Endausscheidung morgen abend nicht mitmachen können. Und jetzt, aus Lodi, Kalifornien. . . " Joanne hockte noch immer wie erstarrt auf ihrem Sitz. Sie bekam kaum mit, wie das Rennen weiterging. In der Pause nach dem Tonnenreiten der Damen trat wieder der Rodeo-Clown Wilbur Plaugher auf. Angie stieß Joanne an. „Paß jetzt auf! Gleich kommt Conrad. Oh, ich bin so furchtbar nervös. Ich kann es kaum aushalten!" Beim nun folgenden Bullenreiten mußten die Cowboys volle acht Sekunden auf dem Rücken des Bullen bleiben, ohne den Bullen mit mehr als einer Hand zu berühren oder abgeworfen zu werden. Conrad war aber nicht als erster dran. Joanne und Angie starben fast vor Spannung, während sie auf seinen Auftritt warteten. Immer, wenn der Cowboy, der an der Reihe war, schließlich abgeworfen wurde - nach acht Sekunden ließen sich die Männer freiwillig abwerfen - waren sofort als Clowns verkleidete Cowboys zur Stelle. Sie lenkten die wütenden Bullen ab, bis sich der Reiter in Sicherheit gebracht hatte. Wenn sich ein Reiter verletzt hatte, wurde er von Kameraden hinausgetragen.
Endlich kündigte der Ansager Conrad Conner an. „Und als letzten Reiter haben wir jetzt einen jungen Cowboy aus Markville. Er hat in kürzester Zeit eine erstaunliche Karriere als Rodeo-Reiter gemacht. Scheint an der guten Luft dort oben in den Bergen Kaliforniens zu liegen, daß diese jungen Männer so mutig sind. Das Los hat Conrad Conner einen besonders fetten Bullen beschert. Er muß den Bullen reiten, der vorhin versucht hat, die Nummer fünf aufzuspießen. Wird es Conrad Conner überhaupt gelingen, auf diesem Brocken Dynamit bis in die Manege zu kommen? Leute, seht euch diese Explosion an!" Mit einem lauten Krachen und Dröhnen schossen Bulle und Reiter aus der Haltebox. Angie war schneeweiß im Gesicht vor Angst. Joanne war bei dem Anblick des tobenden Bullen wie gelähmt vor Entsetzen. Das Tier schnaubte, kreiste, bäumte sich auf. Der massige Bulle war erstaunlich beweglich. Conrad hielt sich die vollen acht Sekunden oben. Dann ließ er das Halfter los und wurde abgeworfen. Elegant landete er auf den Füßen. Der Bulle raste schnaubend auf ihn zu. Aber Wilbur Plaugher rannte hinter das Tier und zog den Bullen am Schwanz. Mr. Dynamit ließ von Conrad ab und wollte nun den Clown auf die Hörner nehmen. Aber dann sah der Bulle das Tor, das aus der Manege hinausführte. Er trampelte darauf zu und ließ die Clowns, das lärmende Publikum und den verhaßten Cowboy einfach stehen. Es war fast Mitternacht. Mona, Angie und Joanne saßen an einem Tisch und blickten auf eine lange Reihe von Kegelbahnen hinunter. Die Mädchen hatten noch etwas essen wollen, und die Kegelbahn lag in der Nähe des Cow Palace. Joanne war ziemlich schweigsam. Die Aufregungen des Abends saßen ihr noch in den Knochen. Angie bestritt die Unterhaltung fast allein. Sie erzählte Mona von ihrem Zusammentreffen mit Jason, und wie er Joanne gerettet hatte.
Und dann mußte sie natürlich über Conrad und ihren Schal berichten. Conrad würde ihr den Schal persönlich zurück bringen, sobald er das Finale in Oklahoma City gewonnen hatte. „Ich trau ja wohl meinen Ohren nicht', stöhnte Mona schließlich entnervt. „Ihr beide schnappt wegen ein paar Cowboys total über! Primitive Kuhtreiber, mehr sind sie doch nicht!" Sie rümpfte bei diesem Wort angewidert die Nase. „Wo die Liebe hinfällt. . . " bemerkte Angie verträumt. „Mag ja alles stimmen. Aber ich finde, man kann schon ein bißchen aufpassen, wo man über sie stolpert", gab Mona zurück. Joanne rührte gelangweilt mit dem Strohhalm in ihrer Kirschlimo herum und starrte blicklos auf das erst halb verzehrte Käsesandwich vor ihr. Mona und Angie hatten sich Hamburger und Pommes frites bestellt und bereits alles heißhungrig verschlungen. Irgendein Kegler unter ihnen warf alle Neune, und lauter Jubel übertönte das mo notone Klacken der umfallenden Kegel. Dann waren wieder nur das Aufschlagen der Kugeln auf der Bahn, die umfallenden Kegel und das Geräusch der automatischen Wiederaufstellanlage zu hören. Irgendwie wirkte das alles trotz des Lärms beruhigend. Mona hatte sich wieder einen ihrer vielleicht gut gemeinten, aber, dennoch unverschämten Vorschläge für Joanne ausgedacht. „Joanne, viel hast du heute abend wirklich nicht gesagt. Von dir haben wir nur zu hören gekriegt, wie toll dieser Cowboy ist, wie das Leben auf einer Ranch ist und wie fasziniert du vom Westernreiten bist. Warum versuchst du es nicht lieber mit richtigem Springreiten oder Dressurreiten? Das ist doch viel eleganter und nicht so furchtbar primitiv. Onkel Marcus würde dir sicher einen guten Reitlehrer besorgen."
Joanne hatte keine Lust, sich mit Mona noch einmal zu streiten. Eine Abfuhr hätte sie mehr als verdient. Aber auch dazu war Joanne nicht in der richtigen Stimmung. Sie wollte nur noch eins: zurück zu den Perrys, ein paar Stunden Schlaf und dann nach Hause auf die Ranch. „Ich bin dir ja so dankbar für deine Bemühungen, Mona", erwiderte sie zuckersüß. „Aber im Moment wäre das sowieso nicht zu machen. Und ganz besonders möchte ich mich bei dir bei dir auch, Angie - für den tollen Abend bedanken. Ihr beide habt das großartig geplant. Furchtbar nett von euch. Und dein Onkel Marcus ist super, Mona." Mona war baff. Sie sagte kein Wort mehr. „Wir sollten nach Hause fahren", schlug Angie schließlich vor. „Ich bin total erledigt und brauche jetzt meinen Schönheitsschlaf." Weder Joanne noch Mona widersprachen. Angie bezahlte die Rechnung. Die Fahrt zum Haus der Perrys verlief ziemlich still. Bis auf Angies unvermeidliches Geplapper, natürlich. Mrs. Miller saß am Steuer des Chrysler. Joanne blickte auf die vorbeirasenden Gebäude und dachte über den Abend im Cow Palace nach. Ihre Mutter schwärmte von ihrem Einkaufsbummel mit Tante Joan am Pier 39 und am Ghiradelli Square. Joanne bekam nicht alles mit, aber sie war froh, daß ihre Mutter so viel redete. Sie hätte ungern selbst etwas gesagt. Irgendwie war sie deprimiert. Dichte, graue Wolken hingen über San Francisco. An diesem Sonntagmittag wirkte die riesige Stadt ruhig, und die Straßen waren ziemlich leer. Eine Straßenbahn klingelte. Joanne blickte ihr sehnsüchtig hinterher. Wie oft war sie damit gefahren. Eine lange Zeit würde vergehen, bis sie einmal wieder in eine Straßenbahn einsteigen konnte. Sie dachte an all die Sehenswürdigkeiten San Franciscos, die sie vermissen würde: Die wunderschönen alten Häuser mit den
Erkerfenstern, Chinatown, die Straßenmusiker und Straßenverkäufer. Die Stadt bei Nacht, wenn sie aus ihrem Zimmer bei Tante Joan auf die Lichter hinabsah, Ausflüge im Golden Gate Park, an den Pazifik und die frische Seeluft, die vom Meer herüberwehte. Und natürlich an all ihre Freunde, die ihr fehlen würden. Mit der Zeit würde sie sich von ihnen entfremden. Nur Angie blieb ganz sicher ihre Freundin. Was sollte sie schließlich ohne jemanden wie Angie anfangen? In ihre Gedanken versunken, merkte Joanne nicht, daß ihre Muter mit ihr sprach. Jetzt wiederholte Mrs. Miller etwas lauter: „Erzähl mir, wie der Abend im Cow Palace war." Joanne gab ihre Eindrücke wieder. Sie berichtete von Jason und Stephanie Farley, von Conrad und von Angies beginnender Freundschaft mit Ritas Bruder. Den Vorfall auf dem Laufsteg über den Bullengehegen und ihr Zusammentreffen mit Debbie Beckworth ließ sie vorsichtshalber aus. Absichtlich vermied sie, irgend etwas Negatives zu erzählen. Trotzdem war sie den Tränen nahe und konnte sich das selbst nicht erklären. War das vielleicht das Erwachsenwerden? Auf jeden Fall hatte sie plötzlich das Gefühl, daß sich alles verändert hatte - auch sie selbst. Sie ließen die Vororte San Franciscos jetzt hinter sich und fuhren auf die Autobahn Richtung Norden. „Warum schläfst du nicht ein bißchen, Joanne?" schlug Mrs. Miller vor. „Ich wecke dich, wenn wir tanken und essen gehen wollen. Dann bist du ausgeruht, wenn du mich am Steuer ablöst." Joanne hatte bei Angie gut geschlafen. Trotzdem war sie noch müde. Sie krabbelte nach hinten und rollte sich auf dem Rücksitz zusammen. Dort lag eine Steppdecke, die immer mitfuhr, wenn die Millers auf Reisen gingen. Sie zog sich die Decke über den Kopf und ließ sich vom Summen des Motors einlullen.
12. KAPITEL Am Montag in der Schule war der Cow Palace das einzige Thema. Alle sprachen über Stephanie Farleys Unfall, und man war sich einig, daß nur der Sturz sie den Sieg beim Tonnenreiten gekostet hatte. Rita Conner wurde respektvoll angestarrt. Schließlich hatte ihr Bruder mit seinem Rekordsieg beim Bullenreiten das Winston Valley im ganzen Land bekannt gemacht. Joanne sah ihre Mitschüler mittlerweile mit ganz anderen Augen. Jetzt konnte sie sich viel besser mit den anderen unterhalten, besonders mit denen, die selbst ein Pferd hatten. Rita wollte mit Joanne allein zu Mittag essen. Sie machte sich nichts aus den Scharen von Mädchen, die urplötzlich mit ihr befreundet sein wollten. Diese Gänse liefen ihr doch nur wegen Conrad hinterher. Sie wollten sogar Conrads Adresse von ihr haben. „Verzieht euch!" fauchte Rita drei Mädchen aus der zweiten Klasse an, die ihr und Joanne bis in die Schulcafeteria gefolgt waren. „Joanne, ich glaube, Conrad hat sich hochgradig in deine Freundin Angie verknallt. Meine Eltern mögen Angie auch, obwohl sie sie ja nur kurz getroffen haben." Joanne lächelte. „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Als Conrad das Bullenreiten gewonnen hat, quetschte Angie mir fast den Arm ab vor Begeisterung. Und wahrscheinlich weiß inzwischen die ganze Welt, daß Conrad ihren Schal getragen hat." Sie kicherten beide, während sie sich ihre Erlebnisse und Eindrücke vom vergangenen Wochenende erzählten. „Hat Puzzle dich sehr vermißt?" fragte Rita, obwohl sie die Antwort schon kannte. Joanne mußte so lachen, daß sie fast an ihrem Kirschkuchen erstickte. „Mein armer Vater! Er mußte Puzzle das Heu buchstäblich zuwerfen. Puzzle hat ihn nicht mal bis an die Box
herangelassen. Wirklich verrückt, so etwas. Eigentlich hatte ich gehofft, daß sich Dad und Puzzle während meiner Abwesenheit anfreunden. Oh, ja, natürlich hat mich Puzzle vermißt. Ich ihn auch, und wie! Hast du eigentlich schon mal bei einem Tonnenrennen mitgemacht, Rita?" „Ein paarmal schon. Aber meistens waren das reine ShowKämpfe. Meine Spezialität ist eigentlich der Pferdeslalom und nicht das Tonnenreiten. Warum?" Joanne lächelte verschmitzt. „Ich habe gedacht, ich könnte mich mit Puzzle beim Tonnenreiten versuchen." „Mensch, das wäre phantastisch. Wir könnten zusammen trainieren. In drei Wochen ist eine Reitveranstaltung in der Reithalle der Circle-Ranch. Bis dahin könntest du soweit sein." Rita machte eine Pause. „Das heißt, wenn du das willst", fügte sie dann vorsichtig hinzu. Joanne schlug vor, daß Rita die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag auf der Miller-Ranch übernachten sollte. „Dann kannst du mir helfen, die Tonnen aufzustellen. Wir hätten den ganzen Nachmittag und Abend zur Verfügung. Und die folgenden beiden Wochenenden könnten wir dann trainieren." „Ich ruf dich an und sag dir Bescheid, ob ich darf", erwiderte Rita. „Ich muß natürlich auch erst noch meine Eltern fragen. Aber ich gehe einfach mal davon aus, daß wir beide grünes Licht bekommen. Laß uns optimistisch sein." „Da gibt es allerdings ein Problem ... Das könnte die ganze Sache platzen lassen." Joanne sah Rita überrascht an, während sie die Tabletts übereinander stellte. Gleich war die Pause zu Ende. „Meine Noten sind das Problem, Joanne. Dad hat mit Stubenarrest gedroht, wenn ich nicht bald bessere Zensuren
nach Hause bringe. In Englisch und Geschichte hänge ich am schlimmsten durch." Joanne lächelte aufmunternd. „Man soll sich ja nicht selbst loben, aber ich bin in beiden Fächern ziemlich gut. Paß auf, ich mache dir einen Vorschlag. Ich gebe dir Nachhilfe in Englisch und Geschichte, und du machst meinen Trainer für die Reitshow. Einverstanden?" „Abgemacht, Partner." Gleich am nächsten Tag zogen sich Rita und Joanne während der Mittagspause auf eine einsame Bank im hintersten Winkel des Schulhofes zurück. Sie hatten sich Brote mitgebracht, um Zeit zu sparen. Joanne war eine gute Lehrerin. Geduldig erklärte sie immer wieder die Grammatikregeln. Dann fragte sie Rita ab und gab ihr Beispielsätze zum Üben. Die Mittagspause am Mittwoch lief nach dem gleichen Muster ab. Joanne drillte Rita mit Geduld und Beharrlichkeit. Und sie machte ihrer Freundin Mut. „Du kannst am Freitag ohne weiteres eine Eins oder Zwei schreiben. Nichts spricht dagegen. Du beherrschst doch alles wie am Schnürchen." Rita war ihr sehr dankbar. „Joanne, bis jetzt hat sich nie jemand richtig Zeit für meine Schulprobleme genommen. Du bringst mir sogar noch Spaß am Lernen bei." „Ich habe einfach nur Glück. Ich habe.eben ein Gedächtnis wie ein Computer. Und für mich ist die Schule von Anfang an ein Kinderspiel gewesen. Ein Spiel, bei dem ich gern die Beste bin. Bei Angie ist das genauso. Wir beide wollen zusammen auf die Stanford-Universität gehen." Rita schloß ihr Geschichtsbuch. „Ich habe Kopfschmerzen. Irgendwie ist es sehr anstrengend, sein Gehirn auf einmal so vollzustopfen." Aus den Augenwinkeln nahm Joanne ein heranfahrendes Auto wahr. Sie drehte sich um. Stephanie Farley kletterte gerade aus Jasons Lieferwagen, noch ziemlich stark humpelnd. Sie kam zu ihnen herüber und erzählte, daß sie
eben beim Arzt gewesen sei. Wenigstens durfte sie jetzt wieder in die Schule. Joanne behielt unauffällig den Lieferwagen im Auge. Rita und Joanne boten Stephanie an, ihre Bücher zu tragen und sie ins Sekretariat zu begleiten. „Rita, du kannst mir helfen. Joanne, Jason möchte dich kurz sprechen." Stephanie zwinkerte Joanne zu. „Ich seh dich dann später." Joannes Herz hämmerte. Jason sah zu ihr herüber. Rita und Stephanie machten sich auf den Weg zum Sekretariat. Jason winkte Joanne zu. Einige Mitschülerinnen bekamen das wohl mit und tuschelten. „Hallo, Jason!" riefen mehrere Mädchen. Sie hofften wohl, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Eine unverschämte Schülerin aus der vierten Klasse ging sogar zum Lieferwagen und sprach Jason an. Als Joanne bei ihnen ankam, schob er das Mädchen einfach beiseite und erklärte, daß er mit Joanne allein reden wolle. „Komm her, Schätzchen", wandte er sich Joanne zu. Joannes Atem ging schneller, als sie an seinen Wagen trat. Sie war ihm noch nie zuvor so nah gewesen. „Ich wollte dich eigentlich anrufen", meinte er. „Aber dann dachte ich, ich versuche, dich hier zu erwischen." Er holte unter seiner Jacke auf dem Beifahrersitz eine langstielige rote Rose hervor. „Für dich." Als Joanne die Rose entgegennahm, berührten sich ihre Hände. Jason legte eine Hand über ihre und streichelte sie. „Joanne, ich ... ich fand es einfach phantastisch, mit dir zusammen im Cow Palace. Und deine Freundin Angie ist super. Sie ist eine ulkige Nudel." „Ja, das ist sie wirklich." Joanne konnte kaum noch atmen. Die Klingel ertönte, und die Schüler strömten zurück in ihre Klassen. „Du mußt wohl langsam los. Hast du Lust, mir mir heute abend ein Kalb bei einem Rancher abzuliefern? Ich
würde dich so gegen sieben abholen und dich um neun wieder nach Hause bringen." „Oh, Jason, ich kann nicht. Rita Conner übernachtet heute bei uns. Wir haben furchtbar viel Hausaufgaben, und ich will mit Puzzle trainieren..." Sein Blick verriet ihr, daß er von dieser zweiten Abfuhr wirklich getroffen war. Er ließ ihre Hand los und startete ohne ein Wort den Wagen. „ Jason, Freitag abend hätte ich Zeit." Gespannt wartete sie auf seine Reaktion. Erschien ihm dieses Angebot vielleicht aufdringlich? Er fand seine gute Laune schlagartig wieder. „Okay, also am Freitag ins Kino?" „Ja. Ich freue mich darauf." Sie strahlte ihn an. Jason strich mit einer Hand zärtlich über Joannes Lippen. „Tschüs, Johnny, bis Freitag. Geh jetzt. Du mußt in die Klasse." Joanne war so aufgeregt, daß sie richtig zappelig war. Am liebsten hätte sie drei Runden um den Schulhof gedreht, um sich irgendwie abzureagieren. Natürlich kam sie zu spät. Der Lehrer zum Glück auch, so daß er nichts bemerkte. Später saß sie verträumt auf ihrem Platz und drückte die Rose an ihre Wange. Die anderen Mädchen starrten sie neidisch an. Joanne dachte nur noch an Freitag. Ihre erste richtige Verabredung! Was sollte sie bloß anziehen? Als Rita und Joanne die Miller-Ranch erreichten, fielen sie als erstes über den Kühlschrank her. Dann begannen sie sofort, ihre Hausaufgaben zu machen. Für eine kurze, herrliche Zeit war im Haus alles totenstill, bis Bobby den Fernseher einschaltete. Joanne mußte zu ihm ins Wohnzimmer, weil er
wieder viel zu nah vor dem Bildschirm hockte, und die Lautstärke ohrenbetäubend war. Bobby nervte die beiden Mädchen noch öfter. Ständig durchlöcherte er sie mit Fragen: „Was macht ihr da?", „Rita, magst du Froschschenkel?", „Spielt ihr mit mir Dame?". Trotzdem wurden Rita und Joanne mit ihren Hausaufgaben schnell fertig. Rita bot an, Joanne bei der Rancharbeit zu helfen. Gerade, als sie das Haus verlassen wollten, rief Mrs. Miller an. „Joanne, ich werde hier noch aufgehalten. Wir haben gerade eine Personalversammlung. Im Kühlschrank steht ein Auflauf. Schieb ihn bei 200 Grad in den Backofen. Und stell das Gemüse in dem kleinen Römertopf einfach dazu. Dann brauchst du nur noch den Salat zu machen. Ist Rita da?" „Ja, Mom. Wir wollten gerade die Arbeit in den Ställen erledigen und danach Puzzle versorgen. Rita hat auch ein Pferd. Was? Nein, ich habe Dad noch gar nicht gesehen. Warte mal, hier liegt ein Zettel. Er schreibt: Bin mit dem Heu bei Dale Delaney. Wenn ich nicht pünktlich da bin, braucht ihr das Essen nicht warmzuhalten. Also, wenn Dad und du nicht bis halb sieben hier seid, fangen wir schon mit Essen an, ja? Okay, tschüs!" Rita half Joanne, den Kopfsalat zu putzen und die Tomaten zu schneiden. Joanne deckte schon den Tisch und kochte noch schnell einen Vanillepudding zum Nachtisch. Eine Viertelstunde später gingen sie zu den Ställen hinüber. Bobby kam mit. „Dad holt Freitag abend mein Pferd. Hat Joanne dir das schon erzählt, Rita?" „Hab ich vergessen", gab Joanne zu. Bobby hüpfte neben Rita her. „Das Pferd ist ganz toll, ein großer, prächtiger Hengst. Er heißt Jake, und er mag mich gut leiden. Er ist genauso groß wie Puzzle. Oder sogar so groß wie dein Pferd. Wetten?"
,Paß auf, Sportsmann", unterbrach ihn seine Schwester. „Hol Quilty und die anderen Kühe von der Weide. Wenn du brav bist, lassen wir dich beim Aufstellen der Tonnen und Stücke helfen. Und wenn du sehr brav bis, übt Rita vielleicht am Wochenende mit dir. Mir haben Dad und Mom schon erlaubt, mit Puzzle zu trainieren. Aber dir geben sie sicher auch die Erlaubnis." Der kleine Junge riß verzückt die Augen auf. „Kann ich dann auch Pokale gewinnen? So wie Großmutter Joanne?" „Wenn du wirklich gut bist, sicher." „Toll. Ich werde auch ganz brav sein." Rita hatte ihren Spaß mit Joannes kleinem Bruder. Conrad war sechs Jahre älter als sie und war stets seine eigenen Wege gegangen. Rita war sich immer wie ein Einzelkind vorgekommen. Besonders, nachdem Conrad vor zwei Jahren die Ranch verlassen hatte, um Rodeo-Reiter zu werden. Die Rancharbeit wurde im Rekordtempo erledigt. Und dann schloß Joanne für Rita ihr Zeughaus auf. Rita war ganz aus dem Häuschen. Begeistert flitzte sie von Vitrine zu Vitrine und bewunderte die Pokale. „Mann, meine Eltern haben mir zwar erzählt, daß deine Großmutter eine phantastische Reiterin war und sogar mit dem Lasso umgehen konnte. Aber ich wußte nicht, daß sie Turniere und Rodeos mitgemacht hat. Mensch, sieh dir bloß diese Pokale an ... der Champion Trail Horse, der High Point, der Appaloosa und all die anderen. Nicht zu fassen ... hier steht der, Santa Barbara National Horse-Pokal, und die ,Flower Show' hat sie auch mitgemacht." Rita war hingerissen. „Und die Bänder, die sie gewonnen hat. Das sind ja Hunderte! Und den Ochsenkopf-Preis des Cow Palace hat sie auch gewonnen. Und hier ist die ,Garcia'-Münze. Die höchste Reitsport-Auszeichnung überhaupt!"
Bobby stürmte herein. „Joanne! Du mußt Puzzle füttern. Er führt sich wie ein Verrückter auf und hat versucht, auf mich loszugehen. Dabei wollte ich ihn nur mal streicheln. Aber verdammt, er muß immer gleich so grob werden." „Du weißt doch, wie er ist. Laß ihn in Frieden. Wir kommen ja gleich." „Du mußt dir unbedingt die Ausstellung auf der Circle-Ranch ansehen", sagte Rita. „Die Pokale und Bänder dort sind alle neueren Datums. Aber so schön wie diese hier sind sie nicht. Und so viele haben sie auch nicht. Ich habe Gerüchte gehört, wonach Mr. Hawkins einige der Preise für Jill gekauft' haben soll. Du verstehst, was ich meine? Da soll Bestechung von Preisrichtern im Spiel gewesen sein." Joanne war nicht besonders überrascht. Sie hielt das durchaus für möglich. „Gehört die Reithalle, wo wir antreten werden, den Hawkins'?" „Ja. Die einzige überdachte Reithalle hier in der Gegend. Aber du brauchst keine Angst zu haben, daß Jill mogelt. Bei den Veranstaltungen, die ihr Vater organisiert, macht sie nie mit. Meistens stolziert sie nur in ihren maßgeschneiderten Westernklamotten und teuren Lederstiefeln von Cassidy zwischen den Teilnehmern herum." „Wer ist Cassidy?" Rita sah sie ungläubig an. „Du bist in San Francisco geboren und weißt nicht, wer Cassidy ist? Das ist der Topladen für Westernklamotten, in der Market Street. Aber die meisten Leute hier in der Gegend machen sich nichts aus diesen Modefetzen. So eine Protzerei ist hier überflüssig. Wenn man bei einer Parade oder einem richtigen Turnier mitmacht, ist das was anderes. Da braucht man die teuren Sachen vielleicht. Aber das geht dann auch ziemlich ins Geld. Wo ist denn nun dieses schwarz-weiße Wildpferd, von dem ich schon so viel gehört habe."
Puzzle war nett zu Rita. Vielleicht spürte er ihren Pferdeverstand. Höchstwahrscheinlich mochte er sie aber vor allem deshalb, weil sie eine Frau war. Während Joanne Puzzle striegelte, unterhielten sich die beiden Mädchen weiter. Joanne versuchte, möglichst gleichgültig auszusehen, als sie fragte: „Kennst du eigentlich Debbie Beckworth?" „Natürlich. Sie war mit Conrad in einer Klasse. Warum?" „Ach, nur so." „War sie nicht super, wie sie im Spotlight um die Manege geritten ist? Sie ist doch wirklich bildhübsch, nicht wahr? Mann, ich gäbe alles dafür, so wie sie auszusehen. Wenn man sich überlegt, daß sie früher auch nur ein einfaches Cowgirl war, genau wie ich. Und jetzt ist sie plötzlich berühmt." Joanne kämmte jetzt Puzzles Schweif. Der Hengst stand vollkommen still. Er schien die Fürsorge seiner Herrin zu genießen und sah richtig zufrieden aus. „Sag mal, wenn Debbie und Conrad in einer Klasse waren, dann muß sie ja älter als Jason Farley sein, oder?" „Ja, zwei oder drei Jahre." „Oh." „ Joanne, du Glückliche. Du hast ja eine wunderschöne Rose von Jason bekommen. Alle Mädchen sind fast geplatzt vor Neid." Joanne lächelte. „Du etwa auch?" witzelte sie. „Ich? Blödsinn. Ich mag Pferde. Jungen interessieren mich nicht. Und außerdem, selbst wenn ein Junge sich um mich bemühen würde - bevor ich nicht sechzehn bin, darf ich sowieso keine Verabredungen haben." Rita schwieg eine Weile. „Es wird bald dunkel. Ich zeig dir vor dem Abendessen noch schnell, wie du die Tonnen richtig aufstellen mußt. Einverstanden?"
„Sicher. Prima. Ich bin auch fertig." Joanne klopfte Puzzle liebevoll auf den Hals, und er wieherte. „Ich komme bald zurück, Junge." Puzzle widmete sich wieder seinem Heu. Rita kam plötzlich ein Verdacht. „Übrigens, Joanne, Debbie steht zu Jason wie eine Schwester zu ihrem Bruder. Das ist schon seit ihrer Kindheit so." Joanne hoffte, daß Rita recht hatte. „Ich mag Debbie. Sie ist wirklich eine Persönlichkeit." Und sie meinte das ganz ehrlich. Die Versammlung des Krankenhauspersonals ging ihrem Ende zu. Der Verwaltungsdirektor forderte das Personal auf, sowohl den Patienten als auch der Öffentlichkeit gegenüber freundlich und pflichtbewußt aufzutreten. Mrs. Miller sah einen Krankenwagen auf das Krankenhaus zufahren. Vielleicht wurde sie noch gebraucht. Aber sie wußte ja, daß Joanne die Ranch und den Haushalt gut allein versorgen konnte. Mit quietschenden Bremsen stoppte der Krankenwagen vor dem Portal. Die Sanitäter öffneten die Tür und rollten den Patienten heraus. Dieser Anblick würde für sie niemals nur Routine werden, dachte Mrs. Miller. Sie warf einen Blick auf die Trage. Plötzlich hatte sie das Gefühl, daß ihr das Blut in den Adern gefror. „Larry!" schrie sie. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam, beugte sich einer der Krankenhausärzte über sie. Sie lag noch immer auf dem Boden in der Halle. Er hatte ihr Riechsalz unter die Nase gehalten. „Oh, Joe, als ich Larry dort so liegen sah, bin ich einfach ... Wissen Sie schon, was mit ihm los ist? Wo ist er?" Mrs. Miller wollte aufstehen, aber der Arzt hielt sie davon ab. „Er ist noch in der Notaufnahme, Melanie. Sie tun, was sie können. Sobald Sie sich beruhigt haben, gehen wir zusammen
hin und sehen ihn uns an. Jetzt ruhen Sie sich noch ein bißchen aus. Ich kann Ihnen ein Beruhigungsmittel geben, wenn Sie wollen." „Nein, ich bin gleich wieder in Ordnung." Sie atmete ein paarmal tief durch und ging dann auf Dr. Steiners Arm gestützt zur Notaufnahme. Larry war noch halb benommen. Von einer Kopfwunde war sein Haar blutig, und er hatte beide Arme gebrochen. Eine Krankenschwester war dabei, die Wunden zu versorgen. Ein Arzt stellte Larry Fragen. „Setzen Sie sich in den Besucherraum, Melanie", bat Dr. Steiner. „Ich informiere Sie in ein paar Minuten." Er winkte eine Krankenschwester heran, die Mrs. Miller begleiten sollte. Auf dem Korridor kam ihr Dale Delaney entgegengerannt. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, Melanie. Ich habe bei dir angerufen. Joanne sagte, daß du noch im Krankenhaus bist. Mach dir keine Sorgen. Ich habe Joanne nichts von dem Unfall gesagt. Das machst du wohl besser selbst." „Was ist passiert, Dale?" „Wir waren oben auf dem Heuboden in meiner Scheune und haben Heu gestapelt. Ich habe keine Lüftung in der Scheune. Irgendwie wurde es da oben richtig stickig. Larry hat über Schwindel geklagt. Ich habe ihm gesagt, ich würde allein weitermachen, er solle sich hinsetzen. Und dann stand er plötzlich am Rand der Luke, wo die Leiter ist. Ich wollte ihn noch warnen, nicht zurückzutreten. Aber er fiel plötzlich wie ein Stein nach unten, mit dem Kopf zuerst, und schlug auf dem Zementboden auf." Mrs. Miller sah entsetzt aus. Sie sagte nichts. Dale ließ den Kopf hängen. „Mir tut das so furchtbar leid, Melanie. Wenn ich irgend etwas tun kann, ruf mich an. Bitte, versprichst du mir das?" „Danke, Dale." Mrs. Miller nickte.
Dale starrte auf den Boden und drehte nervös seinen Cowboyhut in den Händen. „Ich würde ja hier mir dir warten, Melanie. Die Sache ist nur die, zwei meiner Kühe kalben gerade. Ted ist zu zimperlich für so etwas. Nellie ... nun, äh ... sie hat Angst vor Kühen und Pferden. . ." Mrs. Miller lächelte. „Nun hör schon auf, dich zu entschuldigen, Dale. Ich danke dir, daß du den Krankenwagen gerufen hast. Und daß du gekommen bist." Sie fing nun doch an zu weinen. Dale zog ein Taschentuch heraus und schneuzte sich laut, um seine Rührung zu verbergen. Dann versuchte er, Mrs. Miller zu trösten. „He, ich bin mit diesem Burschen da drin zusammen groß geworden. Larry ist eine Kämpfernatur. Der kommt fix wieder auf die Beine. Und jetzt mach dir keine Sorgen. Wir kommen bald wieder vorbei." Er klopfte Mrs. Miller aufmunternd auf die Schulter und ging. Dr. Steiner kam aus dem Krankenzimmer. Er gab ihr einen kurzen Bericht über den Zustand ihres Mannes. Mr. Miller hatte sich beide Unterarme und beide Handgelenke gebrochen. Über die Schwere der Kopfverletzung war er noch im unklaren. Er würde zunächst einmal im Krankenhaus bleiben müssen, sie würden ihn einige Tage beobachten. Aber es bestand Hoffnung, daß sich die Kopfverletzung als einfache Gehirnerschütterung erweisen würde. „Ich fahre jetzt nach Hause, und dann komme ich wieder und bleibe bei meinem Mann", erklärte Mrs. Miller. „Aber wir haben alles unter Kontrolle. . ." „Streiten Sie jetzt nicht mit mir, Joe. Sie wissen doch, wie dickköpfig ich sein kann." Dr. Steiner lachte. „Na gut. Aber wenn Larry nach Hause darf, nehmen Sie ein paar Tage bezahlten Urlaub. Befehl des Arztes."
Mrs. Miller lächelte Dr. Steiner an. Er konnte manchmal jähzornig sein, aber er war ein netter Kerl. Sie würde jetzt mit dem Arzt reden, der ihren Mann betreute. Dann würde sie nach Hause fahren. Wie sie Joanne und Bobby die ganze Sache beibringen sollte, wußte sie allerdings noch nicht.
13. KAPITEL Mr. Millers Unfall krempelte das Leben auf der Ranch völlig um. Für Joanne und Bobby brach ziemliche Hektik aus. Die beiden strichen die Koppelzäune fertig, mit denen ihr Vater begonnen hatte. Zusammen erledigten sie alle zusätzlichen Arbeiten auf der Ranch, die sie bewältigen konnten. Denn ihre normalen, täglichen Aufgaben wie Ställe ausmisten, Vieh füttern und Puzzle versorgen, gingen ja weiter. Mrs. Miller war die meiste Zeit im Krankenhaus. Jede Minute, die sie vor, während und nach ihren Dienststunden erübrigen konnte, saß sie am Bett ihres Mannes. Mr. Miller war gereizt und mürrisch, weil er zum Stilliegen verurteilt war. Mrs. Miller nahm die Mahlzeiten bei ihrem Mann ein und kam praktisch nur noch zum Schlafen nach Hause. Mr. Miller würde eine lange Reihe von Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Die Ärzte wollten ihn nicht entlassen, bis die Ursache des Schwindelgefühls festgestellt war, das zu seinem Sturz geführt hatte. Am Donnerstag abend rief Jason an. „Ich habe vom Unfall deines Vaters gehört. Tut mir furchtbar leid, Joanne." „Gut, daß du anrufst, Jason. Ich kann unsere Verabredung morgen wirklich nicht einhalten." Man hörte ihr die Enttäuschung an. Jason blieb gelassen. „Klar, weiß ich doch. Du mußt auf deinen kleinen Bruder aufpassen. Und deshalb nehmen wir ihn mit. In Markville läuft ein Walt Disney-Film. Da kann er mit rein. Der Film wird uns allen gefallen." Joanne hatte nicht einmal die Zeit,: sich seinen Vorschlag zu überlegen, geschweige denn, zu widersprechen. Jason fügte noch schnell hinzu: „Seid um sechs Uhr fertig. Wir gehen Pizza essen und danach ins Kino. Tschüs." Und schon hatte er einfach aufgelegt.
Joanne starrte mit offenem Mund auf den Hörer in ihrer Hand. Bobby kam in die Küche. „Was ist los? Schlechte Nachrichten? Ist was mit Dad?" „Was? Nein. Im Gegenteil. Gute Nachrichten. Richtig toll!" Joanne legte den Hörer auf die Gabel, schnappte sich ihren kleinen Bruder und tanzte mit ihm durch die Küche. Bobby ließ sich von ihrer Stimmung anstecken. „Joanne, warum freuen wir uns eigentlich so?" wollte Bobby schließlich wissen. „Weil wir beide eine Verabredung mit Jason Farley haben. Er lädt uns zur Pizza ein. Und danach gehen wir in einen Walt Disney-Film. Das bedeutet aber auch, daß wir vorher die ganze Arbeit auf der Ranch erledigen müssen. Und du mußt mir morgen nach der Schule beim Hausputz helfen." Bobby sah bestürzt und ratlos zu ihr auf. „Joanne, wer ist Jason Farley?" Joanne hatte einfach keine Zeit gefunden, ihrer Mutter gegenüber Jasons Einladung zu erwähnen. Die vorausgegangenen zwei Tage waren zu hektisch gewesen, um in Ruhe über etwas zu reden. Sie hatte am Telefon ein paarmal kurz mit ihrem Vater gesprochen, aber wegen der ganzen Arbeit auf der Ranch war sie noch nicht einmal bei ihm im Krankenhaus gewesen. Sie wußte, daß Mr. Miller Jason gut leiden konnte. Er hätte bestimmt nichts einzuwenden. Aber ihre Mutter hatte ihn noch nicht kennengelernt. Am Donnerstag abend blieb Joanne auf, um mit ihr über die Verabredung zu reden. Mrs. Miller kam um elf Uhr nach Hause. Sie wunderte sich, daß Joanne noch wach war. „Ich muß mit dir reden, Mom. Bobby schläft tief und fest. In den Ställen und im Haushalt ist alles in Ordnung."
Mrs. Miller umarmte ihre Tochter. „Ich weiß, Liebling. Ich bin ja so stolz auf euch, daß ich heulen könnte." Tatsächlich fing sie an, verdächtig zu schniefen. „Nun fang nicht damit an, Mom. Du bist müde, und ich auch. Das heulende Elend nützt uns jetzt gar nichts." „Laß uns in die Küche gehen. Ich mache uns einen Toast und heiße Schokolade", schlug Mrs. Miller vor. Sie streifte ihre Schuhe ab und zog die Jacke aus. Dann holte sie eine Schürze aus dem Schrank und band sie über ihre weiße Tracht. „Wie geht es Dad?" erkundigte Joanne sich. Ihre Mutter lachte. „Er ist fast schon wieder streitlustig. Er flucht, daß er völlig nutzlos ist. Morgen darf er schon mal aufstehen und ein bißchen herumlaufen, vorausgesetzt, das EEG und die Messung der Hirnströme ergeben nichts Negatives. Und diese Gipsverbände! Das mußt du dir ansehen. Er würde ein Doppelbett ausfüllen. Nur die Fingerspitzen gucken raus, und wo kein Gipsverband ist, sind Pflaster. Jetzt, wo das Schlimmste überstanden ist, muß man das wirklich komisch finden." Sie kicherten, als Mrs. Miller die wackeligen, unbeholfenen Bewegungen ihres Mannes nachmachte. Joanne fand den Zeitpunkt günstig, um endlich auf Jason zu sprechen zu kommen. „Mom, Dad und du, ihr habt immer gesagt, daß ich mit sechzehn anfangen dürfte, Verabredungen mit Jungen zu haben. Erinnerst du dich?" Ja, Joanne." Mrs. Miller rührte die Schokolade in die heiße Milch auf dem Herd. „Also. . . ich habe morgen abend eine Verabredung. Und wir wollen Bobby mitnehmen." „Ted?" fragte ihre Mutter belustigt.
„Mom! Ted ist doch nur ein Kind ... ein Freund, meine ich. Ich rede von Jason Farley. Dad kennt ihn. Jason hat uns geholfen, als wir an dem Morgen neulich in den Graben gerutscht sind und. . . " „Liebes, jeder hier im Tal kennt die Farleys, und Jason ist überall sehr beliebt. Ich habe ja gar nichts dagegen. Aber sei bitte bis Mitternacht zu Hause. Nein, früher. Wegen Bobby. Wir können aber doch auch einen Babysitter für Bobby besorgen." „Kommt ja gar nicht in Frage, Mom. Jason selbst hat vorgeschlagen, daß wir Bobby mitnehmen. Ich rechne ihm das hoch an. Außerdem hat Bobby eine Belohnung verdient, nachdem er so hart gearbeitet hat. Welches Kind in seinem Alter würde sich schon derartig zusammennehmen und helfen und rackern? Er macht sogar mehr, als ich verlange, und er beklagt sich nie." Mrs. Miller lächelte liebevoll. „Du hast völlig recht. Und du bist ein Schatz. Wenn ich doch nur einen Weg wüßte, sein Pferd auf die Ranch zu holen. Dad wollte es morgen mit dem alten Viehtransporter herbringen. Aber wir beide können diese altertümliche Kiste ja nicht fahren." Joanne dachte an Jasons Pferdetransporter. „Wir schaffen Bobbys Pferd auf die Ranch, Mom. Verlaß dich darauf." Ted fuhr nach der Schule mit dem Fahrrad hinüber zur Miller-Ranch. Durch die Scheibe der Haustür sah er, wie Bobby mit einem Staubsauger den Teppich in der Vorhalle bearbeitete. Joanne war im hinteren Teil des Hauses und legte Wäsche zusammen. Sie hörte die Klingel und rannte zur Haustür. Ihre Schürze trug bereits Spuren des wilden Hausputzes, den sie und Bobby veranstalteten, und sie hatte Lockenwickler im Haar.
„Bin ich hier richtig bei der Reinigungsfirma Miller?" fragte Ted fröhlich. Joanne lachte und ließ ihn herein. „Ich dachte, ich schau mal vorbei. Wollte fragen, ob ich helfen kann. Gibt es irgend etwas für mich zu tun?" Bobby hatte inzwischen den Staubsauger abgestellt und Teds letzten Satz mitbekommen. „Ja, ich habe Arbeit für dich. Trag den Mülleimer nach draußen. Siehst du den Stapel Matten neben der Tür? Nimm sie mit nach draußen und schüttel sie aus." Ted rückte unentschlossen seine Brille zurecht und sah zu Joanne. Sie zuckte die Achseln. „Du hast doch gehört, was der General gesagt hat. Wenn du uns helfen willst, dann tu, was er befiehlt." Ted rollte seine Hemdsärmel hoch und erledigte die beiden Aufgaben. Joanne holte eine weitere Ladung Wäsche aus der Waschmaschine. Bobby wischte Staub. „Bobby, wenn du das Möbelspray benutzt, nicht auf den Fernseher zielen und nicht auf die Fensterscheiben! Und vergiß nicht, die Dose vor Gebrauch zu schütteln. Oh, und nimm nicht zuviel von dem Zeug." Bobby verdrehte die Augen. „Ich weiß!" Ted stand ein paar Minuten untätig herum. Joanne ließ ihn wählen: entweder Fußböden fegen oder Fensterscheiben und Spiegel putzen. „Ich fege", entschied er sich. „Okay, ich fange in der Zwischenzeit mit den Küchenfenstern an. Dann können wir uns unterhalten, während du die Küche, den Flur und die Vorhalle ausfegst." Ted nahm den Besen und fegte behutsam die Linoleumböden. „Ich versuche, den Staub nicht aufzuwirbeln", erklärte er seine zaghaften Bemühungen. „Ich bin. gegen Staub
allergisch und will keine unnötigen Reizungen auslösen. Übrigens, meine Eltern wollen heute abend deinen Vater im Krankenhaus besuchen. Mom wird ihm ihre selbstgebackenen Kekse mitnehmen." „Wie nett von ihnen. Er freut sich bestimmt über Besuch." Joanne polierte heftig an den Fensterscheiben über der Spüle herum. „Gehst du auch ins Krankenhaus?" erkundigte Ted sich. „Heute abend nicht." „Wir haben etwas anderes vor!" schrie Bobby triumphierend aus dem Wohnzimmer, wo er auf Horchposten gestanden hatte. Er kam in die Küche. „Ich bin fertig mit Staubwischen. Muß nur noch das Möbelspray wegstellen. Was soll ich danach tun?" „Geh doch schon in die Ställe und fang an, das Vieh zu füttern. Ich komme in einer halben Stunde nach und versorge Puzzle." Bobby blickte unschlüssig erst seine Schwester und dann Ted an. „Ich werde Ted schon auf Trab halten. Er kommt dann mit mir nach. Mach dir keine Sorgen, wir sind ganz bestimmt rechtzeitig fertig." Ted hatte das Ausfegen beendet. Er schob den kleinen Haufen Staub auf eine Schaufel und leerte sie draußen in die Mülltonne. Danach trottete er hinter Joanne her, die von Zimmer zu Zimmer ging und die Fensterscheiben putzte. Joanne wußte, daß er früher oder später doch fragen würde, also erklärte sie: „Bobby und ich gehen heute abend ins Kino." „Können Jimmy und ich mitkommen?" fragte Ted eifrig. „Ich kann wahrscheinlich das Auto haben." Joanne blickte in sein erwartungsvolles Gesicht. Er sah furchtbar blaß aus. Aber er hatte auch eine schlimme Grippe
hinter sich. Heute war er das erste Mal wieder in der Schule gewesen. „Tut mir leid, aber heute abend geht es nicht. Jason Farley holt uns ab." Ted fingerte nervös an seiner Brille herum. Joanne ging ins Wohnzimmer hinüber. Ted folgte ihr auf den Fersen. Als sie plötzlich stehenblieb, um die Buntglasscheiben des Wohnzimmerschranks zu putzen, wäre er fast in sie hineingeprallt. Er machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. „Ich habe es ja gleich gewußt. Ich wußte sofort, daß dieser Cowboy- Playboy mir zuvorkommen würde. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht schnell genug." Joahne verbiß sich nur mühsam das Lachen. „Ich bin hier gleich fertig. Dann wollen wir mal sehen, wie Bobby da draußen zurechtkommt. Und ich will dir den völlig verwandelten Cochise zeigen, seit einiger Zeit auch unter dem Namen Puzzle bekannt. Aber ich nehme an, du wirst ihn aus sicherer Entfernung betrachten müssen." Ted sah auf seine Uhr. „Es ist halb fünf. Wann soll denn der Superliebhaber hier erscheinen?" „Jason kommt um sechs. Besser, wir beeilen uns." Seufzend brachte Joanne den Fensterreiniger und das Wischpapier weg. „Endlich! Vielen Dank, Ted. Durch deine Hilfe sind wir noch schneller fertig geworden." Ted rieb sich nervös die Hände. „Joanne, wenn ich dich nun zuerst gefragt hätte ... wärst du mit mir ausgegangen?" Joanne blieb an der Hintertür stehen. Sie überlegte krampfhaft. Ihre Antwort sollte ihn nicht kränken. ,;Ted, ich mag dich wirklich gern. Du bist ein unheimlich netter Kerl, aber ich sehe in dir einfach nicht den. . . "
„Oh, klar. Schon kapiert. Dieses Macho-Gehabe ist sicher genau das Richtige. Für dich kommen Muskeln vor Gehirn und guter Kinderstube. Na, du kannst wohl nicht anders. Aber sei bloß vorsichtig, Jason ist ein ganz gerissener Verführer!" Joanne konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen. Ted in der Rolle des Beschützers! Ihr Vater hatte aus Eifersucht einmal genauso reagiert. Mrs. Miller hatte damals mit einem sehr netten und anständigen Arzt zusammengearbeitet. Ihr Vater hatte schlicht behauptet, daß der Mann ein Wüstling im Schafspelz sei. „Ein Gentleman beschützt eine Dame vor allen Männern - nur nicht vor sich selbst", hatte er gesagt. Sie blickte Ted an. „Ich passe schon auf mich auf", versicherte sie. „Im Kino lasse ich Bobby zwischen uns sitzen." Sie mußte Ted nun doch ein bißchen auf den Arm nehmen. „Gute Idee", stimmte Ted ganz ernsthaft zu. Joanne verbiß sich das Lachen. Rasch liefen sie zu den Ställen hinüber, um die restliche Arbeit zu erledigen und um Ted nicht länger ins . Gesicht sehen zu müssen, denn jetzt mußte sie doch laut lachen.
14. KAPITEL Der Abend mit Jason hätte nicht schöner sein können. Joanne hatte sich für ihr Sweatshirt-Kleid mit den großen schwarzen und weißen Karos entschieden. Darüber trug sie einen schwarzen Leinenblazer. Die schwarzen, italienischen Pumps aus weichem Leder rundeten das Bild perfekt ab. Jason musterte sie anerkennend, als sie ihm die Tür öffnete. In dem kleinen Kino entdeckte sie viele bekannte Gesichter. Jill Hawkins war auch da. Während Cinderella' lief, knutschte sie mit einem Jungen aus der Schule. „Joanne, sind die beiden ein Liebespaar?" fragte Bobby laut. Die Zuschauer um sie herum lachten. „Ja, Bobby", flüsterte Joanne schnell. Jason zog sie zu sich heran und küßte sie zart auf die Wange. Joanne hatte das Gefühl, zu schweben. Und wie gut Jason mit dem kleinen Bobby umgehen konnte! Sie hatte manchmal das Gefühl, daß Bobby und sie Jason schon ihr ganzes Leben lang kannten. Überhaupt fühlte sie sich jetzt in Markville richtig zu Hause. Überall, wo Jason, Bobby und sie hinkamen, fragten die Leute nach Mr. Miller und wünschten ihm gute Besserung. Diese aufrichtige Anteilnahme gab Joanne ein Gefühl der Geborgenheit und des Dazugehörens, wie sie es früher nie gekannt hatte. Jetzt im Kino, wie vorhin im Lieferwagen und in der Pizzeria, saß Bobby nicht zwischen Jason und ihr. Sie lächelte, als ihr Teds Warnung wieder einfiel. Die meiste Zeit hatte Jason den Arm um sie gelegt oder hielt ihre Hand. Sie waren auf dem Weg nach Hause. Die aufregenden Erlebnisse des Abends hatten Bobby geschafft. Er hatte den Kopf in Joannes Schoß gelegt und schlief tief und fest.
Liebevoll sah sie ihn an und strich ihm über das Haar. Joanne beneidete ihren kleinen Bruder ein wenig um seine Naturlocken. Sie mußte bei ihrem glatten, schweren Haaren immer künstlich nachhelfen, wenn sie eine schicke Mähne ha ben wollte. Jason steuerte mit einer Hand. Den anderen Arm hatte er um Joanne gelegt. „Unser Anstandswauwau ist wohl in den Streik getreten!" Joanne antwortete nicht. Sie genoß den Zauber dieses Abends, und alles erschien ihr wie ein schöner Traum. Hier im Wagen neben Jason zu sitzen, seinen Blick zu spüren, der ihr Herz schneller schlagen ließ ... Sie wollte jede Minute dieses Zusammenseins auskosten. Sie hielten vor dem Haus. Joanne bemerkte, daß ihre Mutter zu Hause war. Als sie auf den Zufahrtsweg zur Miller-Ranch eingebogen waren, war es ein paar Minuten nach elf gewesen. „Bevor wir aussteigen und hineingehen", bemerkte Jason und umarmte sie, „sag Pfirsich." Joanne starrte ihn ungläubig an und kicherte über einen solchen Unsinn. Und das ausgerechnet dann, wenn sie auf seinen ersten Kuß wartete! „Was Pfirsich ... ?" Und da spürte sie seine Lippen auf den ihren. Eine prickelnde Wärme durchdrang ihren ganzen Körper. Sie legte ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte sich noch enger an ihn. Ihr Herz klopfte wie verrückt, und sie spürte seinen Herzschlag. Jason küßte ihre Wange und ihren Hals. Sein Atem ging schneller. „Johnny, ich hätte nie für möglich gehalten, daß mir ein Mädchen einmal so viel bedeuten könnte wie du", flüsterte er. „Nicht einmal bei Debbie?" Er richtete sich auf, hielt sie aber noch in seinen Armen. „Debbie? Wie kommst du denn auf die Idee? Wir sind seit ewigen Zeiten befreundet, aber ... nicht so, zwischen uns ist nie etwas gelaufen. Wahrscheinlich zeigt Debbie inzwischen schon
jedem ihren protzigen Verlobungsring. Sie hat nämlich einen Rancher aus Merced kennengelernt und ist sofort aus den Schuhen gekippt. Er ist Witwer. Eine kleine Tochter hat er auch, aber Debbie hat sich nun mal in ihn verknallt." Sie schwiegen eine Weile. Dann zog er sie wieder eng an sich. Für einen zweiten Kuß. Bobby wachte auf und rieb sich die Augen. „Sind wir zu Hause?" „Ja", erwiderte Joanne und wurde rot. „Soll ich dich ins Haus tragen?" fragte Jason. Bobby war empört. „Ich kann allein gehen!" Die drei stiegen aus. Joanne sah durch das Fenster ihre Mutter vor dem Fernseher sitzen, noch in ihrer Schwesterntracht. An der Haustür wandte Joanne sich an Jason: „Komm mit rein, wenn du noch einen Moment Zeit hast. Ich möchte dich meiner Mutter vorstellen." ,Danke für den prima Abend, Jason", erklärte Bobby. „Und dafür, daß du uns so viel spendiert hast." Er gab seiner Mutter noch einen Kuß, dann wankte er ins Bett. Joanne machte ihre Mutter mit Jason bekannt. Er nahm seinen Hut ab. „Madam, ich hätte sie glatt für Joannes Schwester gehalten", sagte er zu Mrs. Miller. Das genügte. Mrs. Miller war sofort begeistert von ihm. „Seid ihr hungrig?" fragte sie. „Wir haben Pizza, Popcorn und Eis in Massen gegessen, und ich bin noch immer satt", lehnte Jason ab. „Trotzdem vielen Dank." „Ich möchte auch nichts, Mom." Jason erkundigte sich nach Joannes Vater. Mrs. Miller erklärte, daß sie erst nach den Untersuchungen in der nächsten Woche Genaueres wissen würden. Sie könnten nur warten und
hoffen. „Natürlich macht er sich Sorgen wegen der Ranch und..." „Ich werde ihn morgen besuchen", unterbrach Jason sie. „Mr. Miller macht sich Gedanken wegen der Heuernte. Dale und ich haben uns schon abgesprochen. Sonntag müßte das Feld gemäht werden. Ich bin mit Sonnenaufgang hier und erledige das. Dale übernimmt die Reparatur der Ballenpresse. Wenn die Heuballen getrocknet sind, werden Dale und ich alle in Ihrer Scheune stapeln, Mrs. Miller." Jason lächelte zuversichtlich. „Wir können euch beide aber nicht sofort bezahlen", warf Melanie verlegen ein. „Wegen der Krankenhauskosten ist im Moment. . .“ „Bitte, Madam, beleidigen Sie Dale und mich nicht. Im Winston Valley ist Nachbarschaftshilfe ein ungeschriebenes Gesetz ... ohne Bezahlung, versteht sich. Das heißt, ein herzhaftes Essen wird nicht abgelehnt. Ein Mann muß sehen, daß er bei Kräften bleibt." Mrs. Miller fing fast an zu weinen vor Dankbarkeit. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. „Ach, Joanne, Angie hat angerufen. Sie meldet sich morgen mittag wieder." Sie gähnte verstohlen. „Ich geh schlafen. Vielen, vielen Dank, Jason." „Mach ich doch gern", meinte er. „Kannst du mich zum Wagen bringen, Joanne? Ich habe Angst allein im Dunklen." Mrs. Miller lächelte verständnisvoll und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Joanne und Jason standen neben dem Lieferwagen. Er legte seine Arme um ihre Taille. „Jason, ihr seid so furchtbar nett, du und Mr. Delaney. Großartig, daß ihr uns helfen wollt. Wir haben uns immer noch nicht an diese Hilfsbereitschaft hier gewöhnt."
Er gab ihr einen Kuß auf die Stirn. „Langsam solltest du anfangen, dich daran zu gewöhnen. Und nächste Woche reiten wir zusammen aus." „Oh, Jason, dabei fällt mir ein . . ." Sie erzählte ihm von dem Problem mit Bobbys neuem Pferd. „Morgen treiben wir den ganzen Tag Vieh zusammen, Und ich will zu deinem Vater ins Krankenhaus. Vielleicht kann ich kurz vorm Dunkelwerden hinfahren und das Pferd holen. Aber sag Bobby lieber noch nichts. Auf jeden Fall ist Jake auf der Ranch, wenn der Junge Sonntag morgen aufsteht." Joanne erzählte ihm, daß sie mit Rita für die Reitsportveranstaltung auf der Circle - Ranch trainieren wolle. Sie war natürlich noch nicht gut genug für ein richtiges Turnier. Aber bei dieser Mischung aus Spiel und sportlichem Wettkampf würde sie gern mal einen Versuch wagen. Jason runzelte die Stirn. „Rita müßte den ganzen Weg reiten. Ihre Eltern haben keinen Pferdetransporter. Sag ihr, daß ich sie und ihr Pferd abhole, nachdem ich dich und deinen schwarz weißen Trotzkopf hier eingeladen habe." Er lachte, als sie ihren geliebten Puzzle verteidigte. „Stephanie und ich werden dich anfeuern. Sie kann noch nicht wieder mitmachen, aber sie kommt sicher als Zuschauerin." „Oh, Jason, ich habe mich neulich im Cow Palace ja so furchtbar erschrocken, als Stephanie den Unfall hatte." Jason streichelte ihre Hand. „Wir waren wohl alle ziemlich geschockt. Ich war nur froh, daß Mom und Dad nicht zugeschaut haben. Mom ist sowieso dagegen, daß Stephanie Tonnenreiten macht. Aber Unfälle können überall passieren." Joanne nickte. „Zum Beispiel in der Schule. Wie an meinem ersten Schultag hier, als ich mit dir zusammengestoßen bin." „Und du meinen schönen Hut verprügelt hast."
Sie lachten. Beide mußten daran denken, wie sehr sich Joanne seit damals verändert hatte. „Scheint fast eine Ewigkeit her zu sein, was?" fragte er. „Lange auf jeden Fall." „Ich bin froh, daß wir zusammengestoßen sind", erklärte Jason und zog Joanne in seine Arme. „Und jetzt sag Pfirsich, bevor ich fahren muß." Und dann gab er ihr noch einen Kuß. Joanne und Rita bereiteten das Mittagessen vor und warteten auf Angela Perrys Anruf. Beide Mädchen hatten abgetragene Jeans, Stiefel und dicke Pullover an. Es war jetzt schon ziemlich kühl draußen. „So, fertig", meinte Joanne und schraubte das MayonnaiseGlas wieder zu. „Unsere Thunfisch-Sandwiches habe ich auf gut Glück abgeschmeckt. Kartoffel-Chips und Gurken stehen auf dem Tisch. Wir können jederzeit loslegen." „Bevor wir essen, laß uns noch eben in den Karton schauen, den ich mitgebracht habe. Wir wollen mal sehen, ob du von den Sachen irgend etwas gebrauchen kannst", schlug Rita vor. Ihr Vater hatte sie frühmorgens zur Miller-Ranch gefahren. Mrs. Miller hatte an diesem Samstag Dienst. Sie hatte Bobby mitgenommen und ihn bei seinem Freund Clarence abgesetzt. „Hast du ein Glück, Rita", rief Joanne, die vor ihrem großen Spiegel stand. „Eine reiche Cousine, die einem so phantastische Klamotten überläßt, möchte ich auch mal haben." „Das Glück hält sich in Grenzen. Jedenfalls, wenn einem die Blusen auf den Schultern hin- und herrutschen, und man seine Hüften in den Hosen gar nicht wiederfindet. Ah, aber bei dir ... Du kannst einen Kartoffelsack anziehen und siehst immer noch toll aus. Ich habe gemerkt, daß du nur Klamotten im City-Look hast. Deshalb habe ich gedacht, ich biete dir die abgelegten Westernklamotten meiner Cousine an. Wo ihr doch jetzt die
Krankenhauskosten auf dem Hals habt ... Ich war nur etwas unsicher, wie du mein Angebot aufnehmen würdest." Joanne ging zum Bett hinüber, auf dem der große Karton stand. Sie zog einige Blusen heraus, die im Westernstil geschnitten waren und die typischen Schulterpassen hatten. In den meisten entdeckte sie Etiketten bekannter Geschäfte für Westernmode. Die Sachen waren nicht nur teuer gewesen, sie sahen auch teuer aus. Sie umarmte Rita. „Ich hoffe, daß die Sachen mir passen. Sie sind todschick und sehen ja wie neu aus. Bist du sicher, daß deine Cousine sie nicht doch irgendwann noch mal anziehen möchte? Ich habe noch nie abgelegte Klamotten getragen. Aber ... nun, wenn ich wie eine echte Einheimische aussehen will, muß ich das in Kauf nehmen. He, wirf mir mal die braunen Hosen rüber!" In nur fünfzehn Minuten probierte Joanne sechs Jeans, zwei Stoffhosen und zwölf Blusen sowie ein paar Westen an. Alles paßte. Die beiden Mädchen waren begeistert. „Ich seh in Westernmode gar nicht so blöd aus, wie ich gedacht habe", meinte Joanne. Rita lächelte wehmütig. „Wenn die Klamotten mir doch auch so gut passen würden. Aber vielleicht wachse ich ja noch rein. „Sicher wirst du das." Etwas später klingelte das Telefon. „Oh, schnell. Das ist Angie. Los, mach zu", rief Rita. Sie rasten in die Küche. „Rita, iß ruhig schon etwas", sagte Joanne, bevor sie den Hörer abnahm. Rita setzte sich an den Küchentisch und goß sich ein Glas Milch ein. „Hallo, Angie. Ja, wir waren alle geschockt. Aber Dad lebt, und das ist das Wichtigste." Angie sprudelte in gewohnter Weise los. „Joanne, halt dich fest!
Conrad Conner und ich gehen jetzt miteinander. So richtig fest und offiziell. Die Gürtelschnalle, die er gewonnen hat, trage ich am Riemen meiner Handtasche. Nur so lange, bis ich meinen Ledergürtel dafür habe, natürlich. Ich hab mir einen ganz exklusiven bei Cassidy bestellt. Wenn du mich jetzt sehen könntest, Joanne! Ich bin ein Cowgirl in der Großstadt geworden. Conrad wird mir Reitstunden geben. Oh, alles ist so ... ach, einfach herrlich!" Angie stoppte ihren Redeschwall kurz, um Luft zu holen, und Joanne nutzte den Moment, um auch mal etwas zu sagen. „Rita ist bei mir. Sie trainiert mich für das Tonnenreiten. Ja, Tonnenreiten. Erinnerst du dich nicht? Im Cow Palace haben wir das gesehen. Drei Tonnen werden in großen Abständen in einem Dreieck aufgestellt. Pferd und Reiter galoppieren von einem markierten Punkt aus los. Und dann muß man so schnell wie möglich um die drei Tonnen herumreiten. Puzzle schneidet die Tonnen unheimlich scharf und schnell. Wenn man alle drei Tonnen umrundet hat, muß man blitzschnell zum Zielpunkt galoppieren. Und weiß du was? Am nächsten Samstag habe ich meinen ersten Wettkampf. Rita sagt, ich bin ein Naturtalent ... Warte mal eine Sekunde." Joanne deckte die Sprechmuschel mit der Hand zu. „Rita, stell dir vor! Angie und Conrad gehen miteinander. Und Angie wird jetzt auch ein Cowgirl!" „Wahnsinn", kommentierte Rita und erstickte fast an einem Kartoffelchip. „übrigens, Angie . . . Joanne klang plötzlich etwas blasiert. „Ich habe jetzt auch meine erste Verabredung hinter mir." Rita sah interessiert von ihrem Teller auf. „Schnell, erzähl mir alles", drängte Angie.
„Es war einfach himmlisch. Ja, natürlich mit Jason! Mit wem denn sonst? Wir waren im Kino. Und später, als wir allein waren ... Er hat so eine einmalig süße Art, zu küssen." Rita beugte sich vor, um auch ja nichts zu verpassen. „Wie denn?" wollte Angie wissen. „Das verrate ich nicht, das ist unser Geheimnis. Aber auf diese Art geküßt zu werden, ist ja so phantastisch!" Angie merkte, daß sie bald auflegen mußte, und wurde ungeduldig. „Joanne, ich muß noch schnell etwas loswerden. Ich habe nämlich einen Plan. Hoffentlich sind deine Eltern einverstanden. Aber vor allem wird es davon abhängen, wieweit dein Vater bis dahin wiederhergestellt ist." „Laß hören." „Conrad will Weihnachten in Markville verbringen. Und wir wollten gern, daß ich über Neujahr zu ihm fahre. Aber Mom erlaubt nicht, daß ich bei den Conners wohne. Weil Conrad ja dort ist, und Mom die Conners noch gar nicht kennt, und so weiter. Aber - wenn ich bei euch auf der Ranch schlafen kann, dann dürfte ich Silvester mit Conrad ausgehen. Vielleicht können wir dann ja sogar zu viert losziehen. Conrad kennt Jason doch auch. Ich meine, wenn. . . " „Phantastisch, Angie. Laß uns die Daumen drücken, daß dein Plan so hinhaut. Und du weißt doch ganz genau, wie gern Mom und Dad dich hier bei uns aufnehmen. Ich rede mit ihnen und melde mich dann bei dir. Wäre das nicht ein toller Start ins neue Jahr? Sag mal, du wirst doch am 2. Januar siebzehn! Wir könnten ja deinen Geburtstag hier zusammen feiern!" „Jetzt hast du auch mal einen vernünftigen Einfall", stimmte Angie zu. „Oh je, ich glaube, ich muß aufhören. Halt die Ohren steif, ja? Und sei bloß vorsichtig, wenn du um diese Tonnen herumflitzt. Ich würde ja gern dabeisein und dich unterstützen."
„Ich weiß, Angie. Aber deine moralische Unterstützung ist genausoviel wert. Schreib mal. Du weißt schon ... du greifst dir so ein Werkzeug, mit dem man herumkritzeln kann. Kugelschreiber nennt man das. Ja, man muß das Ding von links nach rechts über das Papier bewegen." Kichernd legten sie auf. Joanne nahm ihren Teller und fing an zu essen. „Diese verrückte Angie. Wenn alles klappt, wird sie nach den Weihnachtsfeiertagen zu Besuch kommen." Rita freute sich mit ihr. „Super. Dann lerne ich sie ja auch endlich besser kennen. Beeil dich ein bißchen. Wir sollten bald wieder trainieren. Ich will mal die Zeit stoppen, wenn du mit Puzzle um die Tonnen reitest." „Und morgen stoppe ich bei dir die Zeit, wenn du den Slalom um die Stangen reitest. Nett von Jason, daß er dein Pferd mitnimmt, wenn er uns zur Circle-Ranch bringt." Sie lachte. „Wie überrascht Bobby wohl sein wird, wenn er morgen früh plötzlich Jake mit Puzzle auf der Weide stehen sieht?" Joanne wachte durch ein leises Dröhnen und Summen auf. Sie roch den herrlichen Duft frischgefilterten Kaffees. Also war ihre Mutter schon auf. Rita schlief noch. Sie hatte sich wie eine Mumie in ihre Decke eingewickelt. Joanne stand auf und ging zum Fenster. Sie zog die Vorhänge ein kleines Stück auf. Vor den Stallungen stand Jasons roter Lieferwagen mit dem Pferdeanhänger. Sie bekam schon wieder Herzklopfen. Und dann entdeckte sie Jason. Er war weit draußen auf dem Feld und mähte wie versprochen das Heu. Wie stolz sie auf ihn war! Und wie sehr sie ihn liebte! Liebe? Mit sechzehn? Sie war nicht sicher, ob ihre Beziehung so fest und dauerhaft werden würde wie die ihrer Eltern. Trotzdem
genoß sie ihre neuen Erfahrungen. Und sie hätte Stunden dort stehen und ihm bei der Arbeit zusehen können. Er war nur als winziger Punkt auf dem Mähdrescher zu erkennen. Sie blickte über die weiten Felder bis zu den Bergen. Plötzlich verstand sie, warum ihr Vater hierher, auf sein Land', hatte zurückkehren wollen, warum er sich mit der Erde hier verbunden fühlte. Und sie wußte plötzlich, daß auch sie hierher gehörte. Sie hatte aus Angst vor der Einsamkeit, vor dem Neuen und Fremden gegen etwas angekämpft, das ihr im Grunde ihres Herzens immer vertraut gewesen war. Wie oft hatte sie ihren Großvater mit seinem Traktor dort draußen gesehen, wo jetzt Jason war. Sie verstand nun, was ihrem Vater sein Erbe bedeutete. Ihre verstorbenen Großeltern waren irgendwie noch immer hier auf der Ranch. Sie hatten ihre Spuren hier hinterlassen, sie waren überall gegenwärtig: In dem Haus, in dem sie gelebt hatten, auf den Feldern, wo ihr Großvater gearbeitet hatte. Sie lebten mit dieser Ranch irgendwie weiter. Rita bewegte sich, murmelte etwas und rollte sich auf die Seite. Dann versank sie erneut in Tiefschlaf. Joanne ließ den Vorhang los, suchte sich ihre Klamotten zusammen und verließ leise das Zimmer. Als sie aus dem Badezimmer kam, sah sie ihre Mutter weinend am Küchentisch sitzen. Sie ging sofort in die Küche hinüber und legte ihr den Arm um die Schultern. „Ich muß ständig an all diese schrecklichen Krankheiten denken, die dein Vater haben könnte", schluchzte ihre Mutter. „In meinem Beruf bekommt man so viel zu sehen. Deshalb fürchte ich mich wohl so vor dem Untersuchungsergebnis. Wenn ich mir vorstelle, daß Dad vielleicht einen Gehirntumor hat, oder Epilepsie, oder noch Schlimmeres."
Joanne hielt ihre eigenen Tränen zurück. „Mom, bis jetzt wissen wir noch gar nicht, ob Dad wirklich so krank ist. Laß uns doch erst das Untersuchungsergebnis abwarten. Und wenn wir Gewißheit haben, dann müssen wir eben damit fertig werden, egal, was es ist. Tante Joan sagt immer: Lade dir nicht Probleme auf, die du noch gar nicht hast. Und genau das tust du gerade, Mom. Sich immer gleich das Schlimmste auszumalen, kann einen völlig fertig machen. Ich kenne das auch ganz gut. Und du siehst die wirklich schlimmen Dinge Tag für Tag. Da ist das verständlich." Joanne zögerte einen Moment, bevor sie entschlossen weitersprach. „Trotzdem kannst du dich jetzt nicht einfach so gehenlassen. Wie willst du Dad helfen, wenn er nach Hause kommt, und du ein Häufchen Elend bist? Er braucht dich, und Bobby und ich auch. Und keiner von uns kann es sich jetzt leisten, einfach zusammenzuklappen und Schwäche zu zeigen. Du bist hier im Moment der Boß auf der Ranch. Du mußt entscheiden und führen." „Danke, Joanne. Du hast ja recht. Okay, also halten wir die Ohren steif." Mrs. Miller lächelte mühsam und wischte sich die Tränen ab. „Ich muß ins Krankenhaus. Du machst dir selbst Frühstück, ja? Und paßt du auf, daß Jason ein herzhaftes Mittagessen bekommt? Er muß heute nachmittag beim Viehtreiben mitmachen." „Jawohl, Chef", sagte Joanne und schlug die Hacken zusammen. Mrs. Miller lachte ein bißchen, wurde aber sofort wieder ernst. „Für das Abendessen ist reichlich Kopfsalat da. Du kannst die selbstgemachte Spaghetti-Soße auftauen. Und nimm das Brot aus der Tiefkühltruhe, das ich aus San Francisco mitgebracht habe." „Klingt gut. Nicht zu kompliziert. Dann haben Rita, Bobby und ich heute mehr Zeit für die Pferde. Vielleicht backe ich heute morgen auch schnell einen Ananaskuchen. Die beiden Faulenzer schlafen ja immer noch.
Ihre Mutter sah aus dem Fenster und beobachtete Puzzle und Jake, die auf der Weide herumsprangen und sich miteinander bekannt machten. Dann entdeckte sie Jason draußen auf dem Feld. „Jason ist wirklich ein bemerkenswerter junger Mann. Er erinnert mich ein wenig an deinen Vater, als wir uns kennenlernten." „Deshalb mag Dad ihn wohl auch so gern - äh, deshalb mögen wir ihn alle so gern." Mrs. Miller lächelte vielsagend und zwinkerte ihrer Tochter zu.
15. KAPITEL Joanne, Rita und Bobby saßen eng zusammengequetscht auf dem Beifahrersitz von Jasons Lieferwagen. Sie waren auf der Fahrt zur Circle-Ranch. Das Wetter war mehr als unfreundlich. Es war ein kalter, nebliger Tag. Joanne war nur froh, daß sie in einer Reithalle antreten konnte. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto nervöser wurde sie. Jason drückte ihre Hand. „Keine Angst, du wirst eine Wucht sein. Ich habe dich beim Training beobachtet. Dieser Hengst tut alles für dich. Er wird gewinnen. Puzzle ist schnell, fügsam und sehr gut zu zügeln. Kein Pferd läßt sich besser reiten als er. Puzzle muß früher schon mal trainiert worden sein, und zwar von einem erstklassigen Trainer. Du hast seine Kenntnisse wieder aufgefrischt. Johnny, du wirst das Tonnenreiten gewinnen, ich weiß es." Rita unterstützte Jason und machte Joanna Mut. Bobby starrte schweigend aus dem Fenster. Die Millers hatten eine schwere Zeit hinter sich. Die vergangene Woche war die schlimmste gewesen, die sie je erlebt hatten, vergleichbar nur mit der Woche, in der Grandpa beerdigt worden war. Mrs. Millers Dienst im Krankenhaus war der absolute Streß gewesen. Ihr Mann hatte eine ganze Reihe von anstrengenden Untersuchungen durchstehen müssen. Joanne waren die Pflichten auf der Ranch fast über den Kopf gewachsen. Außerdem hatte sie sich auf den Wettkampf vorbereiten müssen. Und bei all der Arbeit mußte sie versuchen, sich auch noch auf die Schule zu konzentrieren. Allerdings hatte , sie Hilfe gehabt.
Die ganze Delaney-Familie war eingesprungen. Dale hatte sich um die schwere, körperliche Außenarbeit auf der Ranch gekümmert. Nellie hatte gekocht und gebacken, was ihr Herd hergab. Ted hatte mit seinem Bruder Jimmy das Essen jeden Tag zur Miller-Ranch gebracht. Jason war gekommen, so oft er konnte, und wenn er es nicht schaffte, hatte er zumindest angerufen. Joanne hätte diese Woche ohne ihn nichtdurchgestanden. Aber auch alle anderen Nachbarn hatten ständig ihre Hilfe angeboten. „Wirklich schade, daß deine Eltern nicht kommen und deinen ersten Auftritt als Reiterin miterleben können", meinte Rita. „Das ist mir ganz recht", erwiderte Joanne. „Ich bin sowieso schon so nervös. Wenn Mom und Dad unter den Zuschauern wären, würde ich wahrscheinlich erst recht alles falsch machen." Jason drückte wieder ihre Hand, und sie wurde etwas zuversichtlicher. Sie erreichten das Gatter, hinter dem das Land der CircleRanch begann. Als Jason mit dem Lieferwagen von der Straße in den Feldweg abbog, hörten sie hinten im Pferdeanhänger polternde Geräusche. Jason blickte in den Rückspiegel. „Bleib schön stehen, Puzzle! Joanne, dein wilder Hengst hat irgendwie einen Rechtsdrall. Immer wenn ich rechts abbiege, gerät er aus dem Gleichgewicht. Aber das lernt er schon noch." Rita blickte auf die Ansammlung von Pferdetransportern und Lieferwagen auf dem riesigen Hof der Ranch. Sie sah eine Menge Bekannte und Freunde und erklärte Joanne, wer sie waren und wo sie herkamen. Sie hatte irgendwie das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Keiner der anderen drei schien in der Stimmung, den Mund aufzumachen.
Dem kleinen Bobby ging die Geschichte mit seinem Vater an die Nieren. Sein hartnäckiges Schweigen hatte damit allerdings nichts zu tun. Als Jason vorhin Puzzle in den Transporter führte, hatte Bobby beinahe einen Wutanfall bekommen. Er wollte nämlich, daß Jake auch mitkam. Jason hatte dem Jungen geduldig erklärt, daß in seinem Anhänger nur Platz für Puzzle und Ritas Pferd war. Bobby hatte das nicht einsehen wollen. Schließlich hatte er gefordert, daß Jason eben zweimal fuhr und Jake nachholte. Jason hatte daraufhin die Geduld verloren, den Jungen kurzerhand hochgenommen und in den Lieferwagen gesetzt. Seitdem hatte Bobby noch kein Wort gesagt. Er saß still an der Tür und schmollte. Joanne war mit Jasons Verhalten völlig einverstanden. Bobby hatte sich wirklich schlecht benömmen und eine Abfuhr verdient. „So, dann wollen wir mal die Pferde abladen", meinte Jason. Bobby sprang aus dem Lieferwagen und starrte trotzig vor sich hin. Rita und Joanne stiegen ebenfalls aus und gingen nach hinten zum Anhänger. Jason nahm Bobby beiseite. „He, ich brauche beim Ausladen der Pferde einen Mann zum Helfen. Kann ich mit dir rechnen?" Bobby schluckte seinen Stolz hinunter. „Hm." Jason hob für die Mädchen die Sättel auf die Pferde. Dann paßte er auf, daß Rita und Joanne die Sattelgurte richtig festzogen. Jill Hawkins ritt an ihnen vorbei und flirtete mit Jason. Joanne und Rita warfen sich einen angewiderten Blick zu. Sie stiegen auf die Pferde. „Jason, hat Joanne dir schon davon erzählt? Conrad und Angie Perry gehen jetzt miteinander",verkündete Rita.
Zuerst war Jason baff. Dann war ihm seine Erleichterung anzusehen. „Ich freue mich, das zu hören. Wirklich." Er sah Joanne an. Eigentlich wollte er ihr einen Kuß geben und ihr viel Glück wünschen. Aber Puzzle schien seine Gedanken schon erraten zu haben. Als Jason neben den Hengst trat, legte Puzzle die Ohren zurück und wieherte drohend. Joanne schimpfte mit Puzzle. Aber Jason, der sich vorsichtshalber zurückzog, verteidigte den Hengst. „Ich nehme ihm das nicht übel. Er weiß eben ganz genau, daß ich ein ernstzunehmender Rivale um deine Gunst bin." Joanne und Rita trugen Westernhosen und Wollblusen. Rita hatte Joanne angeboten, ihr einen Cowboyhut zu leihen. Aber sie hatte abgelehnt. Am Mittwoch abend war sie mit Jason bei ihrem Vater im Krankenhaus gewesen. Sie hatte ihm erzählt, daß Rita ihr so viele teure Westernklamotten geschenkt hatte. „Geh mal an den Schrank über dem linken Regal mit Pokalen in deinem Zeughaus", hatte Mr. Miller gesagt. „Dort hat deine Großmutter ihre Hüte aufbewahrt. Vielleicht passen sie dir. Aber sei vorsichtig. Wenn du am Samstag gewinnst, schwillt dein Kopf vielleicht so an, daß du den Hut nicht wieder runterkriegst." Sie hatten alle gelacht - ihre Mutter, ihr Vater, Jason und Joanne. Es mußte ihm besser gehen, wenn er schon wieder seine Witze machte. Auf jeden Fall trug Joanne an diesem Tag den schwarzen Hut, den ihre Großmutter immer beim Tonnenreiten aufgehabt hatte. Er stand ihr ausgezeichnet. Jason und alle anderen überschütteten sie mit Komplimenten. Puzzle benahm sich in dem Gewühl von fremden Pferden erstaunlich manierlich. Um die vielen Männer um ihn herum kümmerte er sich einfach nicht. Joanne und Rita ritten auf das Tor der Reithalle zu. Jason und Bobby wünschten ihnen viel
Glück und gingen zu den Zuschauertribünen. Stephanie war mit ihrem Freund ebenfalls da. Die beiden hatten für Jason und Bobby Plätze in der ersten Reihe freigehalten. Diese Veranstaltung auf der Circle-Ranch lief außerhalb der regulären Wettkämpfe und Turniere im Westernreiten. Das Ganze sollte für Besucher und Teilnehmer ein vergnüglicher Tag werden. Deshalb mußten die Zuschauer auch nicht für jede Ausscheidung einzeln bezahlen. Für den Eintrittspreis von zehn Dollar konnte man sich den ganzen Tag in der Reithalle aufhalten und ansehen, was man wollte. Joanne hatte ursprünglich nur das Tonnenreiten mitmachen wollen. Aber dann schlug Rita vor: „Warum läßt du Puzzle nicht alle Wettkämpfe versuchen? Die einzelnen Ausscheidungen sind nicht schwer. Es ist doch sowieso alles nur Spaß." Joanne folgte Ritas Rat und machte alles mit: Eierlaufen, Staffellauf, Basketball - alles zu Pferde! Nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Teilnehmer amüsierten sich prächtig. Viele Reiter purzelten bei diesen Spielen von ihren scheuenden oder bockenden Pferden. Aber alle behielten gute Laune und lachten mit den Zuschauern. Schließlich kam das Slalomreiten an die Reihe. Dabei wurden Pfähle in den Boden der Bahn gesteckt. Die Teilnehmer mußten jeden Pfahl umreiten und mit der Hand berühren. Rita überredete Joanne, auch das zu versuchen. In einem Anfall von Tollkühnheit ließ Joanne Puzzle dann tatsächlich in den Parcours gehen. Sie sauste wie eine Skiläuferin mit ihm um die Pfähle herum. Für den ersten Versuch hatten die beiden eine gute Zeit und sie bekamen den Sonderpreis für den vorletzten Platz. Joanne war überglücklich. Sie hatte bis jetzt bei jedem Spiel einen Preis gewonnen. Wie erwartet, wurde Rita beim
Slalomreiten erste und erreichte mehrere andere erste Plätze. Weder sie noch Joanne hatten ihre Punkte genau gezählt. Sie machten einfach alles mit und hatten ihren Spaß. In der Pause gingen Jason und Bobby zum Erfrischungsstand- und kauften Hot Dogs, Pommes frites und Getränke für die Mädchen. Bobby hielt Ritas Siegesbänder in der Hand. Jason hatte Joannes Bänder in seine große Westentasche gestopft. Jetzt stand nur noch das Tonnenreiten auf dem Programm. Das würde das Ende der Veranstaltung im Westernreiten sein. Der letzte Teil der Veranstaltung war dem englischen Reitstil gewidmet. Ein Springreiten und ein Dressurreiten standen auf dem Programm. Rita schlug vor, die Pause für eine Besichtigung des Ausstellungsraumes der Circle- Ranch zu nutzen. Puzzle und Ritas Pferd wurden an einen Pfosten angebunden. Die beiden Pferde schienen die Verschnaufpause auch zu genießen. Alle zusammen wanderten sie durch den Ausstellungsraum. Sie besahen sich die Pokale und Bänder, die Jill Hawkins in Kalifornien, Nevada und Oregon gewonnen hatte. In diesem Raum waren alle Preise, die sie bekommen hatte, ausgestellt. Und Jill hatte schon Wettkämpfe mitgemacht, bevor sie zur Schule kam. „Kommt mal hier rüber", rief Rita. „Das müßt ihr euch ansehen." In einer Ecke war ein neuer Schrank aufgestellt worden. Die meisten Regale waren noch leer. Aber auf dem obersten Regal standen Fotos von Jill Hawkins. Sie trug weiße Reithosen, eine Tweedjacke, schwarze Reitstiefel und einen Derby-Hut und saß auf einem prächtigen Vollblut. „Jill will wohl jetzt auf zwei Hochzeiten tanzen, beim Westernreiten und beim Spring- und Dressurreiten."
Jasön konnte das bestätigen. „Ja, sie hat mir erzählt, daß sie jetzt englischen Stil reiten will. Aber unterschätze sie bloß nicht. Ganz egal, ob beim Springreiten, Dressurreiten oder Westernreiten, sie ist auf jeden Fall eine fabelhafte Reiterin." „Wofür ist das?" fragte Bobby und zeigte auf eine Gedenktafel an der Wand. Genau in diesem Moment kam Jill Hawkins herein. Sie sah exakt wie auf den Fotos aus. Jason konnte sich das Grinsen nur mühsam verkneifen. Vorhin war Jill noch als Rodeo-Königin kostümiert gewesen. Jetzt trug sie weiße, enge Reithosen mit schwarzen Schaftstiefeln und schwarzem Reitkäppi. Sie sah aus wie eine englische Lady beim Morgenritt. Der Gegensatz zu den Westernklamotten von vorhin löste bei Jason ausgesprochene Heiterkeit aus. Jill legte die Hand auf Bobbys Schulter und setzte eine Lehrerinnenmiene auf. Dann erklärte sie ihm die Regeln des Dressurreitens. Dressurreiten sei der einzige Sport, der Pferd und Reiter zu vollkommenen Sportlern mache. Bobby wollte eigentlich gar keinen Vortrag über das Dressurreiten hören. Aber er bekam ihn trotzdem. Joanne las die beeindruckende, hölzerne Gedenktafel. Die aufgesetzten Buchstaben waren aus Messing. Als erstes stand dort: Die Dressurreitervereinigung Kaliforniens verleiht Jill Hawkins Unter ihrem Namen war Jills persönliches Emblem eingraviert, ein Pferdekopf. Und darunter folgten Reihen mit aufgesetzten Messingplatten. In jede Platte war ein Sieg eingraviert. Ausgewiesen war jeweils der Name des Pferdes, die Wettkampfklasse und die Anzahl der gewonnenen Bänder. Joanne konnte mit den einzelnen Auszeichnungen nichts anfangen, fand die Tafel allerdings faszinierend.
Jason nahm ihre Hand. „Du mußt gleich zurück in die Halle. Das Tonnenreiten fängt an." „Das ist ein harter Wettkampf, Joanne. Hoffentlich kommst du damit klar", sagte Jill spitz. Joanne starrte kühl zurück. „Vielen Dank für die guten Wünsche." Sie gingen hinaus. Bevor Rita und Joanne zu ihren Pferden liefen, küßte Jason Joanne nun tatsächlich. Mitten auf dem Hof und vor Jill, die vor Eifersucht schäumte. Der Ansager nannte die acht Teilnehmer des Tonnenreitens. Außer Joanne waren alle erfahrene Reiter. Rita stand bei Bobby und Jason an der Balustrade. Das war der Moment, auf den sie alle gewartet hatten: Joanne bei ihrem ersten Wettkampf zuzuschauen - und sie siegen zu sehen. Joanne mußte als letzte antreten. Die Reiter vor ihr hatten alle gute Pferde und verstanden ihr Fach. Bis jetzt hatte ein Reiter aus Nevada die höchste Punktzahl erreicht. Joanne zitterte nun schon fast vor Nervosität. „Als nächste Reiterin kommt Joanne Miller zu uns, Enkelin der besten Reiterin des Winston Valley", kündigte der Ansager sie nun an. „Dies ist ihr erster Wettkampf, also wollen wir sie herzlich begrüßen", forderte er das Publikum auf. Der Applaus war freundlich und aufmunternd. „Okay, Junge, jetzt geht es los!" flüsterte Joanne ihrem Puzzle zu. Puzzle hörte sein Stichwort und schoß wie eine Kanonenkugel in den Parcours. Joanne hätte nie gedacht, daß er so schnell laufen könnte. Aber sie blieb im Sattel. Puzzle galoppierte in rasantem Tempo um die erste Tonne. Dann schossen die beiden quer über die Bahn zur zweiten Tonne. Nach der dritten Tonne beugte sich Joanne über Puzzles Mähne und sagte zu ihm: „Zeig es ihnen, Junge! Gib Volldampf!" Puzzle ließ sie nicht im Stich.
Sein Endspurt zur Ziellinie war atemberaubend schnell. Das Publikum brüllte vor Begeisterung. Puzzle bremste hinter der Ziellinie scharf ab und wirbelte wahre Sandstürme auf. Dann drehte er den Kopf und blickte Joanne an, als ob er sagen wollte: Na, wie hab ich das gemacht?' Joanne lobte den schwitzenden und keuchenden Puzzle, der wirklich sein Bestes gegeben hatte. Dann kam die Durchsage durch den Lautsprecher. Joanne hatte den Reiter aus Nevada um ganze zwei Sekunden geschlagen! Der donnernde Applaus trieb ihr die Freudentränen in die Augen. Sie hatte gewonnen! Sie blickte hinüber zur Seitentribüne, wo Rita, Jason und Bobby stehen mußten. Aber was sie dort bemerkte, verwirrte sie. Es sah aus, als ob zwei weiße Hockeyschläger ihr zuwinkten. Aber nein, das waren Gipsarme! Ihr Vater stand dort und fuchtelte mit seinen eingegipsten Armen in der Luft herum. Mrs. Miller neben ihm strahlte vor Stolz. Bobby hing seinem Vater am Hals. Jason und Rita strahlten ebenfalls. Sie ritt mit Puzzle an den Rand, sprang vom Pferd, zwängte sich durch das Geländer und fiel ihrem Vater um den Hals. „Dad, du darfst endlich nach Hause!" „Und das ist noch nicht alles", rief Mrs. Miller. „Er ist völlig gesund! Dieser Schwindel in Delaneys Scheune war nichts weiter als ein Absinken des Blutzuckerspiegels. Kein Gehirntumor - überhaupt gar nichts Ernstes! Und die Knochenbrüche heilen gut. Oh, Gott sei Dank." Der Ansager nahm das Mikrophon. „Schön zu sehen, daß Larry Miller aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Und nun, Joanne, wenn du bitte in die Mitte
zurückkommen würdest, dann überreichen wir dir den Pokal für den Sieg beim Tonnenreiten. Puzzle war in der Manege herumgestrolcht, solange Joanne bei ihren Eltern stand. Jetzt wieherte er laut und jagte wie ein Hund hinter ihr her. Die Zuschauer lachten. Joanne nahm die Zügel und führte ihn zur Preisverleihung. Mr. Hawkins überreichte ihr den Pokal. Aber er hielt noch einen zweiten hoch. „Du hast auch noch die höchste Gesamtpunktzahl bei den Spielen erreicht, junge Dame. Kein schlechtes Ergebnis für deinen ersten Wettkampf. Ich bin nur froh, daß meine Jill nicht gegen dich angetreten ist." Joanne nahm hoheitsvoll den schönen Pokal entgegen. Wie er sich wohl neben denen ihrer Großmutter machen würde? „Wenn doch nur ihre Großmutter sie jetzt sehen könnte", seufzte Mr. Miller. „Wer weiß? Vielleicht sieht sie ja zu", sagte seine Frau. Joanne wurde mit reichlich Applaus verabschiedet. Der Umbau für das Springreiten begann. Joanne stand mit Jason und ihren Eltern zusammen. Stephanie Farley kam dazu und gratulierte ihr und Puzzle. Sie lud Joanne zum Trainieren auf die Farley-Ranch ein. Sobald der Arzt ihr selbst das Reiten wieder erlaubte, sollte sie kommen. „Heute abend gehen wir ganz groß essen", verkündete Mr. Miller. „Wir haben wahrlich genug Gründe zum Feiern." Die Millers, Jason, Rita und die Pferde machten sich auf den Weg zum Lieferwagen und Pferdeanhänger. Jill Hawkins kam auf sie zu. „Ganz passabel, Frisco", schleuderte sie Joanne hoheitsvoll entgegen.
Aber Joanne konnte nur noch darüber lachen, während Jason sie an sich zog. Vor allen Leuten, mitten auf dem Platz. Joanne wußte, daß sie ihre große Liebe gefunden hatte. - ENDE