Seit Jahrtausenden hatten die Menschen die Stimme der Stadt gehört und sich an sie gewöhnt. Solange die Stadt sprach, l...
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Seit Jahrtausenden hatten die Menschen die Stimme der Stadt gehört und sich an sie gewöhnt. Solange die Stadt sprach, lebte sie. Ihr Verstummen würde bedeuten, daß die Stadt stirbt. Der Sand der Wüste würde sie wie mit einem Leichentuch überziehen, und mit der Stadt die Menschen, die darin lebten. Davor hatte Convar Angst. Waren die Angreifer aus dem Weltall zurückgekehrt wie damals vor undenklich langer Zeit, als der Himmel voll war von seltsam geformten Flugmaschinen. Aber das war noch vor Anfang der Geschichtsschreibung gewesen, die zu einer Zeit begonnen hatte, als der Raumflughafen der Stadt schon unter dem Sand begraben war.
In Arthur C. Clarkes Roman hat die Entwicklung der Menschheit den Zustand der Vollendung erreicht. Ist sie damit auch gleichzeitig am Ende? VERGESSENE ZUKUNFT schildert das Abenteuer eines jungen Mannes, der über alle Hindernisse und Tabus hinweg der Menschheit einen Weg aus der Stagnation zu öffnen versucht.
In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 44 Science-Fiction-Romane Poul Anderson: Feind aus dem All (2990) Die fremden Sterne (3047) Fredric Brown: Sternfieber (2925) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2927) Im Reich der Giganten (2937) C. C. MacApp: Söldner einer toten Welt (2968) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Andre Norton: Geheimnis des Dschungel-Planeten (3013) H. Beam Piper: Null-ABC (2888) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Der Stich der Wespe (2965) So gut wie tot (3007) Vergangenheit mal 2 (3055) James H. Schmitz: Dämonenbrut (3022) Das Psi-Spiel (3061) Richard S. Shaver: Zauberbann der Venus (2944) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) L. Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit (2931) Der Turm von Zanid (2952) Der Raub von Zeï (2977) Die Rettung von Zeï (3000) Thalia – Gefangene des Olymp (3038) Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Wilson Tucker: Die letzten der Unsterblichen (2959) Die Unheilbaren (2981) Geheimwaffe Mensch (3030) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882)
Ullstein Buch Nr. 3103 im Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: »Against the Fall of Night« Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Simon
Umschlagillustration: Fawcett/Podwil Copyright © 1953 by Arthur C. Clarke Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 13103 4
Arthur C. Clarke
Vergessene Zukunft SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Prolog Die Stimme der City war über Generationen hinweg gleich gewesen. Tag und Nacht, Jahrhundert nach Jahrhundert. Myriaden von Menschen hatten nie etwas anderes gehört. Wenn die Stimme verstummte, war die City tot, und der Sand der Wüste würde die breiten Straßen von Diaspar verwehen. Selbst hier oben, eine halbe Meile über dem Grundniveau, schrie die plötzliche Stille auf, und Convar lief auf den Balkon. Weit unter ihm funktionierten die Gleitbänder zwischen den hohen Gebäuden noch, aber die Menschen schwiegen. Tausende und Abertausende von Gesichtern sahen an den kolorierten Metallklippen hoch in den Himmel hinauf. Convar wagte kaum zu atmen. Furcht kroch in seine Seele. Waren nach all diesen Zeiten die Invasoren doch zur Erde zurückgekommen? Doch dann starrte auch er in den Himmel und sah etwas, was er nie für möglich gehalten hätte. Erst nach Minuten holte er seinen kleinen Sohn. Alwin hatte zuerst Angst. Die hochaufsteigenden Spitzen der City, die unzähligen Menschen in den Straßenschluchten, das war seine Welt, aber das Gebilde am Himmel war ihm fremd. Es war riesig und schien feste Gestalt zu ha-
ben, doch der ruhelose Wind veränderte seine Konturen dauernd. Alwin wußte, daß der Himmel einmal voll war von seltsamen Formen. Aus dem All waren damals auch große Schiffe gekommen und hatten sich mit ihren fremden Schätzen auf den Hafen von Diaspar herabgelassen. Aber das war über eine halbe Milliarde von Jahren her: vor Anfang der Geschichte, die begonnen hatte, als der Hafen unter dem Sand begraben lag. Convars Stimme war traurig. »Schau sie dir gut an, Alwin«, sagte er. »Ich habe noch nie eine gesehen, und früher war der Himmel der Erde voll davon.« Und so beobachtete die gesamte Bevölkerung von Diaspar, wie die Wolke langsam aus dem Blickfeld glitt und von der heißen, trockenen Luft der endlosen Wüste aufgefressen wurde.
Das Gefängnis von Diaspar Der Unterricht war zu Ende. Das monotone Surren des Hypnons brach ab, die Maschine flackerte noch einmal, dann löste sie sich auf. Alwin starrte in das Nichts. Seine Gedanken wanderten durch die Jahrhunderte zur Gegenwart zurück. »Das sind die ältesten Dokumente, die existieren«, sagte Jeserac. »Sie zeigen die Erde vor dem Einfall der Invasoren. Nur wenige Menschen haben sie gesehen.« Langsam drehte sich das Kind zu seinem Erzieher um. Es hatte etwas im Blick, das dem alten Mann nicht gefiel, und schon bereute Jeserac den etwas gewagten Schritt. Wie um sein Gewissen zu beruhigen, sprach er doppelt so schnell. »Du weißt, daß wir nie über gewesene Zeiten sprechen«, sagte er. »Ich habe dir die Dokumente nur gezeigt, weil du so gebettelt hast. Du darfst jetzt nicht unzufrieden sein. Solange wir glücklich sind, ist es doch völlig egal, welche Fläche wir auf dieser Erde bewohnen. Die Menschen, die du eben hast sehen können, hatten mehr Platz als wir, aber sie waren nicht im entferntesten so zufrieden.« Alwin bezweifelte das. Heute schwappte die Wüste gegen die Ränder der Insel, die Diaspar hieß, und früher? Die Bilder zogen wieder an Alwin vorbei.
Unüberschaubare Flächen tiefblauen Wassers, Wellen, die gegen goldene Küsten rollten. Tiefe Wälder und endlose Prärien und seltsame Tiere, die sich mit den Menschen die Natur geteilt hatten. Das gab es alles nicht mehr. Die Ozeane waren graue Salzwüsten geworden, die Grünflächen waren vom Sand verschüttet. Von Pol zu Pol nur ausgetrocknete Einöde, in der die Lichter Diaspars glühten. Nur noch die Sterne zeugten von einer Welt vor der Verwüstung. »Jeserac«, sagte Alwin schließlich. »Ich war einmal auf dem Turm von Loranne und habe die Wüste gesehen. Sie war schwarz, denn es war schon dunkel, aber der Himmel war voll von glühenden Punkten. Ich habe sie lange beobachtet, aber sie haben sich nicht bewegt. Das waren Sterne, oder?« Jeserac erschrak. Die Neugierde des Jungen war gefährlich. »Ja«, sagte er. »Wieso?« »Wir sind doch früher dort gewesen, oder?« »Ja.« »Und warum gehen wir heute nicht mehr zu den Sternen? Wer waren eigentlich die Invasoren?« Jeserac stand auf. »Das genügt für heute, Alwin«, sagte er. »Wenn du einmal größer bist, dann erzähle ich dir mehr darüber. Vorläufig wollen wir es dabei belassen. Du weißt sowieso schon zuviel.«
Alwin stellte die Frage nie wieder: als er größer war, hatte er es nicht mehr nötig – die Antwort war klar. Außerdem gab es in Diaspar so viel, was die Gedanken täuschte, daß Alwin monatelang die Sehnsucht vergaß, die nur er zu spüren schien. Diaspar war eine Welt für sich. Hier hatte der Mensch seine Schätze aus der Ruine der Vergangenheit zusammengetragen. Jede ehemalige Stadt hatte Diaspar etwas gegeben, denn schon vor dem Einfall der Invasoren war der Name der City in der Welt, die der Mensch verloren hatte, bekannt gewesen. Alles Wissen und alle Kunstfertigkeit der goldenen Zeiten war für den Bau von Diaspar eingesetzt worden. Und als dann das Paradies zu Ende gegangen war, da hatten geniale Menschen die City der neuen Zeit angepaßt und ihr die Maschinen gegeben, die sie unsterblich gemacht hatten. Bei allem, was vielleicht in Vergessenheit geraten war, lebte Diaspar und trug die Nachkommen des Menschen sicher durch den Strom der Zeit. Sie waren so zufrieden wie jede Rasse, die die Welt gekannt hatte, und sie waren auf ihre Weise glücklich. Sie verbrachten ihr langes Leben inmitten einer Pracht, die nie übertroffen worden war, denn die Bemühungen von Millionen von Jahrhunderten waren dem Ruhm Diaspars gewidmet gewesen. Das war Alwins Welt, eine Welt, die langsam, aber
stetig in eine friedliche Dekadenz abgesunken war. Dessen war sich Alwin aber noch nicht bewußt. Für ihn war die Gegenwart so voll von Wundern, daß er darüber die Vergangenheit vergaß. Die Musik war es gewesen, die ihn als erstes fasziniert hatte. Er hatte mit vielen Instrumenten experimentiert, aber diese älteste aller Künste war mittlerweile so komplex, daß der Junge Tausende von Jahren gebraucht hätte, um all ihre Geheimnisse zu ergründen. Alwin hatte es aufgegeben. Hören hatte er gelernt, aber kreativ sein konnte er nicht. Eine Zeitlang war der Gedanken-Konverter seine ganze Seligkeit. Er ließ auf seinem Bildschirm zahllose Anordnungen von Formen und Farben entstehen, meistens Kopien alter Meister. Je mehr er sich damit beschäftigte, desto zufälliger entstanden Bilder von Traumlandschaften, die an die vergangene Welt der Dämmerung erinnerten; an die Dokumente, die ihm Jeserac gezeigt hatte. Und so züngelte die schwelende Flamme seiner Unzufriedenheit langsam in sein Bewußtsein hinein, und er empfand oft eine Ruhelosigkeit, die er sich nicht erklären konnte. Durch die Monate und Jahre wuchs diese Ruhelosigkeit, und es kam der Tag, an dem ihm die Freuden, die Diaspar bot, nicht mehr genügten. Sein Horizont weitete sich, und der Gedanke, daß er ein Leben lang in die Mauern Diaspars eingeschlossen sein sollte,
wurde ihm zur Qual. Gleichzeitig jedoch wußte er, daß es keine Alternativen gab, denn Wüste bedeckte die ganze Erde. Ein paar Mal hatte er sie schon gesehen, die Wüste, kannte aber niemand, der wie er den Drang »nach Draußen« besaß, geschweige denn ihn befriedigt hatte. Die Angst der Menschen vor dem Draußen konnte er nicht verstehen. Für ihn barg es nicht Schrecken, sondern nur Geheimnis. Wenn ihn Diaspar langweilte, dann lockte ihn das Draußen. So auch jetzt. Die Gleitbänder glitzerten vor Leben und Farben. Die Menschen gingen ihren Beschäftigungen nach. Sie lächelten Alwin zu, der auf dem Weg zur ZentralSektion war. Früher hatte es ihm geschmeichelt, daß ihn ganz Diaspar kannte, aber inzwischen erfüllte ihn auch das nicht mehr mit Freude. Auf dem Expreß-Kanal angekommen, wurde er durch das Herz der Stadt hinaus zum Rand getragen. Kaum noch Menschen, als das Band auf der langen, buntgefärbten Plattform zum Stillstand kam. Die Gleitbänder waren so sehr ein Teil seines täglichen Lebens, daß sich Alwin kein anderes Transportmittel vorstellen konnte. Ein Städteplaner der Alten Welt hätte den Verstand verloren, wenn er zu begreifen versucht hätte, wie eine kompakte Straße mit hundert Stundenkilometern gleiten konnte, wenn
beide Enden starr verankert waren. Im Moment noch nahm Alwin die Technik seiner Umwelt genauso unkritisch hin wie seine Mitmenschen. Dieser Teil der City war wie ausgestorben. Obwohl sich die Einwohnerzahl von Diaspar seit Jahrtausenden nicht verändert hatte, hatten die einzelnen Familien die Angewohnheit, in regelmäßigen Abständen umzuziehen. Eines Tages würde die Flut des Lebens die Menschen wieder in dieses Viertel spülen, das seit hunderttausend Jahren verlassen war. Hinter der Plattform eine hohe Mauer, von hellerleuchteten Tunnels durchbrochen. Alwin ging ohne zu zögern in einen hinein, wurde sofort von dem Peristaltik-Feld ergriffen und vorwärts gesogen, während er sich zufrieden zurücklehnte und seine Umgebung betrachtete. Daß er sich in einem Schacht weit unter dem Erdboden befand, war vergessen. Auch hier waren unzählige Künstler tätig gewesen. Über Alwin schien sich das tiefblaue Gewölbe für alle Winde des Himmels aufzutun. Ringsherum die Türme der City in strahlendem Sonnenschein. Die City, wie sie früher einmal gewesen war. Die meisten Gebäude hatten Ähnlichkeit mit denen von heute, was den Reiz des Andersartigen auf seltsam detaillierte Weise erhöhte. Alwin wäre an bestimmten Punkten gerne eine Weile geblieben, hatte aber bisher noch nicht heraus-
gefunden, wie man den Weg durch den Schacht verlangsamen konnte. Nur allzu früh wurde er in einem ellipsenförmigen Raum abgesetzt, der nur aus Fenstern zu bestehen schien. Der Blick in blumenübersäte Gärten war überwältigend. Es gab noch Grünanlagen in Diaspar, aber diese Fülle hatte nur in den Vorstellungen der Künstler existiert, die sie erschaffen hatten. In der Welt von heute konnten solche Pflanzen nicht mehr existieren. Alwin trat durch eines der Fenster, und die Illusion war zerstört. Er befand sich in einer kreisrunden Passage, die sich steil nach oben wand. Der Boden unter seinen Füßen kroch langsam voran. Er machte ein paar Schritte, bis die Geschwindigkeit so groß war, daß jede weitere Anstrengung Verschwendung gewesen wäre. Nach etwa hundert Metern hatte sich der Korridor durch einen rechten Winkel gewunden, was aber nur die Logik wußte. Der Körper glaubte, einer Geraden zu folgen. Ein Gefühl von Angst oder Unsicherheit kam in Alwin nicht auf: ein Versagen des Polarisationsfeldes war undenkbar. Der Korridor wand sich schließlich wieder nach unten, das Gleiten des Bodens wurde langsamer und kam in einer langen Spiegelhalle zum Stillstand. Alwin wußte, daß er fast auf der höchsten Etage des Turms von Loranne angekommen war.
Alwin blieb eine Weile, denn die Faszination dieses Raums war unvorstellbar. In ganz Diaspar gab es nichts dergleichen. Der feinfühligen Raffinesse der Künstler war es gelungen, den Betrachter in die Landschaft, die er sah, hineinzuholen. Alwin konnte sich nur schwer losreißen. Trotzdem war er fünf Minuten später in einem kleinen, kahlen Raum, durch den ein warmer Wind wehte. Der Raum gehörte zum Ventilationssystem des Turms. Die Luft, die ständig in Bewegung war, entwich durch die vielen kleinen Öffnungen in den Wänden. Und durch diese Öffnungen konnte man das Draußen sehen. Vielleicht war es nicht Absicht, aber Diaspar war so konstruiert, daß man nirgends nach draußen blicken konnte. Die Randtürme der City bildeten eine Art Umgrenzungswall, der dem feindlichen Draußen den Rücken kehrte, was von den Bewohnern nur begrüßt wurde, denn niemand sprach von der Welt, in der das kleine Universum lag. Niemand verschwendete auch nur einen Gedanken darauf. Fast zweitausend Meter unter Alwin nahm die Sonne gerade Abschied von der Wüste. Die fast horizontalen Strahlen zeichneten ein bizarres Bild an die Ostwand des kleinen Raums, und Alwins eigener Schatten lauerte riesig hinter ihm. Alwin legte eine Hand zum Schutz gegen das Gleißen über die Augen
und sah auf das Land hinunter, in das seit Menschengedenken niemand den Fuß gesetzt hatte. Zu sehen gab es wenig: nur die langen Schatten der Sanddünen und im Westen am Horizont eine niedrige Kette von kahlen Hügeln, hinter denen die Sonne verschwand. Seltsam, der Gedanke, daß unter Millionen von noch lebenden Menschen nur er den Anblick kannte. Kein Zwielicht. Mit dem Untergang der Sonne fegte die Nacht wie ein Wind über die Wüste und schleuderte die Sterne in den Himmel. Im Süden flakkerte eine seltsame Konstellation, die Alwin schon früher Rätsel aufgegeben hatte: ein Kreis von sechs farbigen Sternen mit einem einzigen silberweißen Giganten in der Mitte. Kaum ein anderer Stern besaß dieselbe Glut, denn die großen Sonnen, die einmal im Stolz der Jugend gebrannt hatten, rasten ihrem Tod entgegen. Lange Zeit kniete Alwin vor einer der Öffnungen und beobachtete die Sterne. Hier in der flackernden Finsternis, hoch über Diaspar, schienen seine Gedanken überklar zu sein. Erschreckende Löcher gähnten noch in seinem Wissen, aber das Geheimnis der City begann sich langsam zu offenbaren. Die menschliche Rasse hatte sich geändert – er jedoch nicht. Die Neugier und den Wissensdurst, die ihn von seinen Mitmenschen unterschieden, hatten
einmal alle Erdenbewohnern geteilt. Irgendwann, in weit entfernten Zeiten, mußte etwas geschehen sein, was die Menschheit völlig verändert hatte. Die unerklärten Anspielungen auf die Invasoren – lag hier die Antwort? Es war Zeit, zurückzukehren. Als Alwin aufstand, kam ihm plötzlich ein nie gedachter Gedanke. Die Ventilationsöffnung war fast waagrecht und vielleicht drei bis vier Meter lang. Alwin hatte immer gedacht, daß sie mit der Außenmauer endete, aber das war lediglich eine Annahme. Warum sollte sich nicht – etwa aus Sicherheitsgründen – eine Art Gesims unter der Öffnung befinden? Sich jetzt zu vergewissern, dazu war es zu spät. Aber morgen ... Jeserac anlügen zu müssen, tat Alwin leid, aber der alte Mann hatte kein Verständnis für die wunderlichen Einfälle des Knaben und sollte sich keine unnötigen Sorgen machen. Was er eigentlich zu entdecken hoffte, wußte Alwin nicht, aber die Abenteuerlust trieb ihn vorwärts. Durch den Ventilationskanal zu kriechen, war kein Problem. Der Gedanke, daß am Ende der Öffnung die Mauer jäh fast zweitausend Meter abfiel, schreckte Alwin nicht, denn der Mensch hatte jegliches Schwindelgefühl und jede Höhenangst verloren.
Doch die Mauer fiel nicht jäh ab. Ungefähr einen Meter unter der Öffnung befand sich ein breiter, terrassenartiger Vorsprung, der wie ein großes Band an der Außenwand des Turms entlanglief. Alwin kletterte ins Freie. Das Blut raste ihm durch die Adern. Vor ihm lagen die unendlichen Weiten der Wüste, durch nichts eingeschlossen und begrenzt. Über ihm bohrte sich die Spitze des Turms in den Himmel. Die anschließenden Gebäude erstreckten sich nach Norden und Süden. Ein Wall von Titanen. Der Turm von Loranne, stellte Alwin zu seinem Erstaunen fest, war nicht der einzige Bau mit Ventilationsöffnungen. Einen Moment lang stand Alwin unbeweglich da und trank die maßlose Landschaft in sich hinein, dann machte er sich daran, den Vorsprung zu untersuchen. Er war an die sieben Meter breit. Kein Geländer, keine Schutzmauer. Alwin beugte sich über den Rand und sah furchtlos in die Tiefe. Die Wüste lag weit unter ihm. Hier bestand keine Möglichkeit hinabzukommen. Doch an einem Ende der Terrasse führte eine Treppe nach unten, wahrscheinlich auf einen zweiten Mauervorsprung. Die Stufen waren in die Außenwand des Turms eingeschnitten, und Alwin fragte sich, ob sie vielleicht doch bis ganz hinunter führten.
Allein der Gedanke war so umwerfend, daß er nicht an die Folgen dachte, die ein Abstieg von fast zweitausend Meter rein physisch mit sich bringen würde. Aber die Treppe endete nach knappen dreißig Metern, durch einen Felsvorsprung blockiert, der mit den Stufen verwachsen zu sein schien. Es ging kein Weg daran vorbei: das war das Ende. Alwin stand bitter enttäuscht davor. Und dann sah er plötzlich die Inschrift. Archaische Lettern, aber er konnte sie entziffern. Dreimal las er den Satz, dann setzte er sich auf die letzte Stufe, und sein Blick schweifte über das Land unter ihm. Das unerreichbare Land. ES GIBT EINEN BESSEREN WEG. GRÜSSE DEN ARCHIVAR VON MIR. ALAINE VON LYNDAR
Anfang der Suche Rorden, der Archivar, ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken. Er hatte die Stimme, die durch die Informations-Maschine gekommen war, sofort erkannt. Drei Sekunden später hielt er die Personalienkarte des Jungen in der Hand. Laut Jeserac war die Arbeit des Archivars recht undurchsichtiger Natur, und Alwin hatte deshalb damit gerechnet, den Archivar im Herzen eines enormen Karteikartensystems vorzufinden. Außerdem hatte er sich den Mann maueralt vorgestellt, aber nichts dergleichen. Rorden war weder alt noch jung und saß in einem relativ kleinen Raum mit vielleicht zwölf Maschinen. Außer ein paar Schriftstükken auf dem Schreibtisch nirgends Akten oder dergleichen. »Alaine von Lyndar?« fragte Rorden, nachdem er Alwin begrüßt hatte. »Nie gehört. Aber das werden wir gleich haben.« Der Archivar drückte auf eine Reihe von Tasten, eines der Synthetisier-Felder glühte auf, und ein Papierstreifen glitt aus einem Schlitz. »Alaine scheint einer meiner Vorgänger gewesen zu sein«, sagte Rorden. »Allerdings vor sehr, sehr langer Zeit. Ich bilde mir ein, alle Archivare der letz-
ten Million von Jahren zu kennen, also muß er vorher im Amt gewesen sein. Das ist wohl auch der Grund, warum nur noch sein Name verzeichnet ist. Keinerlei weitere Angaben. Wo ist diese Inschrift?« »Am Turm von Loranne«, sagte Alwin nach kurzem Zögern. Rorden versuchte es noch einmal, aber kein Aufleuchten, kein Papierstreifen. »Was machst du da?« fragte Alwin. »Wo sind denn deine ganzen Dokumente?« Der Archivar lachte. »Das erstaunt die Leute immer wieder. Die Unmengen von Informationen, die wir brauchen, in schriftlicher Form zu speichern, wäre unmöglich. Alles ist elektronisch und wird nach einem gewissen Zeitablauf gelöscht. Zumindest dann, wenn kein besonderer Grund zur weiteren Aufbewahrung vorliegt. Wenn Alaine eine Nachricht für seine Nachwelt hinterlassen hat, werden wir das bald herausgefunden haben.« »Und wie?« »Diese Frage kann dir niemand auf der Welt beantworten. Ich weiß lediglich, daß diese Maschine ein Assoziator ist. Wenn man ihr eine gewisse Tatsachengruppe einfüttert, durchsucht sie das komplette menschliche Wissen, bis die Korrelation hergestellt ist.« »Dauert das nicht wahnsinnig lang?«
»Manchmal schon. Ich habe schon bis zu zwanzig Jahren auf eine Antwort warten müssen. Möchtest du dich nicht einstweilen setzen?« Alwin kannte niemand, der auch nur im entfernten so gewesen wäre wie der Archivar. Er mochte den Mann mit der ernsten Stimme und den lustigen Fältchen an den Augen auf Anhieb. Er hatte es satt, immer darauf hingewiesen zu werden, daß er noch ein Kind war, und freute sich, endlich einmal wie ein Erwachsener behandelt zu werden. Das Synthetisier-Feld glühte wieder auf und Rorden las den Papierstreifen. Es mußte eine lange Nachricht sein, denn er brauchte einige Minuten. Dann setzte er sich und sah seinen Besucher mit seltsam besorgtem Blick an. »Und?« fragte Alwin neugierig. »Warum willst du Diaspar verlassen?« fragte Rorden. Jeserac oder seinem Vater gegenüber hätte Alwin sofort versucht, sich mit Halbwahrheiten herauszureden, aber dieser Mann, den er erst seit einem Moment kannte, flößte ihm vollstes Vertrauen ein. »Ich weiß es selbst nicht so recht«, sagte er. »Ich sehne mich schon immer danach. Daß außerhalb von Diaspar bloß Wüste ist, weiß ich – aber ich will trotzdem hinaus.« Der Blick des Archivars war in weite Fernen gerich-
tet. Den Ausdruck auf Rordens Gesicht verstand Alwin nicht. Er war seltsam traurig. Daß Rorden im Moment die schlimmste Krise seines Lebens mitmachte, hätte ihm kein Mensch angesehen. Viertausend Jahre arbeitete er nun schon im Archiv und hatte bisher ein ruhiges, zufriedenes Leben geführt. Und jetzt kam dieser Junge, scheuchte die Geister eines Zeitalters auf, das seit Millionen von Jahren tot war, und drohte, sein seelisches Gleichgewicht ins Wanken zu bringen. Ein paar Worte hätten genügt, um die Abenteuerlust des Knaben zu zerstören, aber Rorden wußte, daß er es nicht auf die leichte Schulter nehmen konnte. Auch ohne die Nachricht von Alaine hätte es sein Gewissen nicht zugelassen. »Alwin«, sagte er. »Ich weiß, daß du dir über vieles deine Gedanken machst. Am meisten beschäftigt dich die Frage, warum wir jetzt hier auf kleinem Raum in Diaspar leben, wenn doch einmal die ganze Erde für uns zu klein und zu eng gewesen ist.« Alwin nickte. »Siehst du«, fuhr Rorden fort, »auch ich kann dir auf diese Frage keine erschöpfende Antwort geben. Mach kein so enttäuschtes Gesicht. Ich bin ja noch längst nicht fertig. Es hat mit dem Kampf des Menschen gegen die Invasoren angefangen – ganz gleich, wer diese auch gewesen sein mögen. Davor hat der
Mensch das Reich der Sterne durchforscht, ist aber durch Kriege, von denen wir uns keine Vorstellung machen können, zur Erde zurückgetrieben worden. Vielleicht ist diese Niederlage der Grund, warum sich sein Charakter verändert hat und er sich damit begnügt, den Rest seiner Existenz auf der Erde zu verbringen. Vielleicht haben ihm aber auch die Invasoren versprochen, ihn in Ruhe zu lassen, wenn er sich auf seinen Planeten beschränkt. Wir wissen es nicht. Wir wissen lediglich, daß er angefangen hat, eine höchst zentralisierte Kultur zu entwickeln, deren Krone Diaspar ist. Anfangs gab es viele große Städte, aber Diaspar hat sie schließlich alle absorbiert, denn irgendeine Kraft hat die Menschen zusammengetrieben. Wenige wissen um diese Kraft, aber alle haben wir Angst vor dem Draußen und sehnen uns nach Bekanntem und Verstandenem. Diese unsere Angst mag irrational sein und ihren Ursprung in der Geschichte haben, aber sie ist der stärkste beziehungsweise ausgeprägteste Wesenszug in uns.« »Und warum fühle ich dann nicht so?« fragte Alwin. »Willst du damit sagen, daß die Idee, Diaspar zu verlassen, dich nicht mit Angst und Schrecken erfüllt?« »Ja.«
Der Archivar nickte. »Mich schon. Ich kann deinen Wunsch zwar nicht teilen – Diaspar zu verlassen, meine ich –, aber ich respektiere ihn. Ich hätte mich vielleicht sogar dazu hinreißen lassen, dir dabei zu helfen, aber jetzt habe ich Alaines Nachricht gelesen und denke anders.« »Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie sie lautet.« Rorden lachte. »Das werde ich erst tun, wenn du ein gutes Stück älter bist. Einstweilen nur folgendes: Alaine hat vorausgesehen, daß Menschen wie du geboren werden. Er hat gewußt, daß es Menschen geben wird, die Diaspar verlassen wollen, und hat Vorkehrungen getroffen, ihnen zu helfen. Ganz gleich, auf welchem Weg du versucht haben würdest, aus der City zu gelangen, du wärst auf einen Hinweis gestoßen, der dich zum Archivar geführt hätte. In der richtigen Annahme, daß der Archivar dann seine Maschinen befragen würde, hat Alaine eine Nachricht hinterlassen, die unter den Millionen und Abermillionen von Dokumenten sicher begraben ist. Sie kann nur dann zum Vorschein kommen, wenn der Assoziator gewillt ist, nach ihr zu suchen. Alaine bittet den jeweiligen Archivar, jedem, der wißbegierig ist, zu helfen, auch wenn es ihm widerstrebt. Alaine war der Meinung, daß der Mensch immer dekadenter wird, und wollte denen helfen, die in der Lage sind,
die Menschheit zu regenerieren. Kannst du mir folgen?« Alwin nickte. »Ich kann nur hoffen, daß er sich getäuscht hat«, fuhr Rorden fort. »Ich glaube nicht, daß der Mensch dekadent ist – er ist nur verändert. Du natürlich wirst Alaines Auffassung teilen, aber hüte dich davor, Anderssein für etwas Besonderes zu halten. Wir sind glücklich, und wenn wir etwas verloren haben sollten, dann sind wir uns dessen wenigstens nicht bewußt. Das wichtigste in Alaines Nachricht ist vorläufig, daß es drei Möglichkeiten gibt, Diaspar zu verlassen. Wohin sie führen und wie sie zu finden sind, das erwähnt er nicht, allerdings macht er sehr obskure Andeutungen, über die ich erst noch nachdenken muß. Aber selbst dann, wenn das stimmt, was er sagt, bist du noch viel zu jung, um die City zu verlassen. Ich werde morgen mit deiner Familie sprechen. Nein – keine Angst, ich verrate dich nicht. Laß mich jetzt allein, ich muß überlegen.« Die Dankbarkeit des Jungen war Rorden fast peinlich. Als Alwin gegangen war, saß er da und fragte sich, ob er richtig gehandelt hatte. Kein Zweifel, der Junge war ein Atavismus – er besaß Eigenschaften einer längst ausgestorbenen Gattung von Mensch. Alle fünf bis sechs Generationen tauchte
plötzlich einer auf, der seinen Urahnen ähnelte. Als außerhalb seiner Zeit geboren, hatte so ein Mensch wenig Einfluß auf die friedvoll verträumte Welt von Diaspar. Der stetige, langsame Schwund menschlichen Willens konnte von einem einzigen Individuum nicht mehr aufgehalten werden, ganz gleich, welche Genialität dahinter steckte. Nach ein paar Jahrhunderten von Ruhelosigkeit hatten die Abweichler ihr Schicksal akzeptiert und aufgehört, dagegen anzugehen, geschweige denn dagegen anzukämpfen. Wenn Alwin seine Lage begriff, würde dann auch ihm klar werden, daß seine einzige Hoffnung auf Glück in der Anpassung an seine Welt lag? Rorden fragte sich, ob er den Jungen nicht doch hätte entmutigen sollen. Aber dazu war es bereits zu spät: Alaine hatte dafür gesorgt. Dieser Alaine mußte ein bemerkenswerter Mensch gewesen sein, wahrscheinlich selbst ein atavistischer Typ. Wieviele von seinen Nachfolgern hatten durch die Zeiten hindurch seine Nachricht gelesen und waren zu einer Entscheidung gezwungen gewesen? Aber auch darüber mußte es Dokumente geben. Rorden stand auf und stellte systematisch Frage nach Frage, bis jede Maschine auf voller Kapazität lief. Milliarden und Abermilliarden von Fakten rasten durch die Prüfzellen. Jetzt hieß es nur noch warten ...
In den folgenden Jahren sollte sich Alwin oft über das Glück wundern, das ihm beschieden war. Wenn der Archivar kein so freundlicher Mensch gewesen wäre, alles wäre anders gekommen. Aber Rorden war selbst nicht frei von Neugierde. Er allerdings sehnte sich lediglich danach, verlorengegangenes Wissen auszugraben: in Anwendung gebracht hätte er es nie, denn er teilte die Angst seiner Mitmenschen vor dem Draußen, die Angst, die Alwin so fremd und unbegreiflich war. So eng ihre Freundschaft auch wurde, diese Schranke lag immer zwischen ihnen. Alwins Leben hatte sich nach außen hin kaum geändert. Er wurde weiterhin von Jeserac unterrichtet und lernte alles, was man wissen mußte, um in Diaspar leben zu können. Jeserac war ein verantwortungsbewußter und gleichzeitig sehr gelassener Erzieher. So viele Jahrhunderte lagen vor ihm, wozu also Eile? Daß sich Alwin mit Rorden angefreundet hatte, erfüllte ihn mit Freude. Der Archivar war eine Respektsperson in Diaspar, denn nur er hatte Zugang zum gesamten Wissen der Vergangenheit. Wie unermeßlich weit gestreut und trotzdem beschränkt dieses Wissen war, wurde Alwin immer bewußter. Trotz des selbsttätigen Kontrollsystems, das alle nicht mehr benötigten Dokumente löschte, waren noch Hunderte von Trillionen Fakten gespeichert. Ob die Maschinen in ihrem Fassungsvermögen
limitiert waren, wußte Rorden nicht: dieses Detail war mit dem Geheimnis ihrer Wirkungsweise verlorengegangen. Die Assoziatoren waren Quellen endlosen Staunens für Alwin, der Stunden damit verbrachte, Fragen zu stellen. Es amüsierte ihn, zum Beispiel, zu erfahren, daß Menschen, deren Namen mit einem S begann, die Tendenz hatten, in den Osten der City zu ziehen, was allerdings statistisch von keinerlei Bedeutung sei, wie die Maschine betonte. Alwin erfuhr eine ganze Reihe von gleichermaßen nutzlosen Informationen, mit denen er seine Freunde beeindruckte. Gleichzeitig lernte er unter Rordens Anleitung alles, was man vom Zeitalter der Dämmerung wußte, denn der Archivar hatte darauf bestanden, daß er sich alles nur erdenkliche Wissen aneignen müsse, bevor er sich an sein Abenteuer wagte. Alwin hatte die Notwendigkeit dieser Bedingung eingesehen, wenn er sich auch ab und zu dagegen auflehnte. Eines Tages war er allein im Archiv. Rorden machte einen seiner seltenen Besuche im AdministrationsZentrum. Die Versuchung war groß, und Alwin konnte ihr nicht widerstehen. Er befahl den Assoziatoren, Alaines Nachricht herauszusuchen. Als Rorden zurückkam, war Alwin einem Zusammenbruch nahe. Sämtliche Maschinen waren wie gelähmt. Zur großen Erleichterung des Jungen lachte
Rorden bloß, drückte auf ein paar Knöpfe, und der Schaden war behoben. »Ich hoffe, daß dir das eine Lehre ist, Alwin«, sagte er mit plötzlich sehr ernstem Gesicht. »Ich habe damit gerechnet und alle Stromkreise blockiert, die diesen Fragenbereich steuern.« Alwin versuchte nie wieder, sich in verbotene Gebiete einzuschleichen.
Das Grab von Yarlan Zey Drei ganze Jahre lang wurde der Sinn und Zweck ihrer Welt nur am Rande erwähnt. Doch Alwin hatte Geduld. Er wußte inzwischen, daß er nur durch Wissen seinem Ziel näherkommen konnte. Und dann, eines Tages – sie waren gerade damit beschäftigt, zwei unstimmige Landkarten der Alten Welt zu vergleichen – erweckte der Hauptassoziator ihre Aufmerksamkeit. Rorden sprang auf und kam mit einem langen Papierstreifen zurück. Er überflog ihn schnell, dann sah er Alwin an, und ein Lächeln spielte in seinen Augen. »Bald werden wir wissen, ob der erste Weg noch offen ist«, sagte er ruhig. Alwin sprang von seinem Stuhl auf. »Wo ist der Zugang?« fragte er. Rorden lachte und drückte ihn auf den Sitz zurück. »Ich habe dich nicht aus schierer Bosheit so lange warten lassen«, sagte er. »Außerdem warst du noch zu jung, um Diaspar verlassen zu können. Aber das sind alles bloß sekundäre Gründe. Als du mich damals aufgesucht hast, wollte ich erst einmal in Erfahrung bringen, ob nach Alaine jemand versucht hat, die City zu verlassen. Irgendwie sagte mir mein Gefühl, daß du nicht der erste bist, und mein Gefühl hat
mich nicht betrogen. Eine ganze Reihe von Menschen hat es versucht. Der letzte vor fünfzehn Millionen Jahren. Alle haben sie peinlichst darauf geachtet, uns keine Anhaltspunkte zu hinterlassen, was auf Alaines Einfluß zurückzuführen ist. Er betont in seiner Nachricht, daß nur diejenigen den Weg finden dürfen, die ihn selbst suchen. Deshalb habe ich viele Sackgassen abtasten müssen. Ich wußte, daß das Geheimnis sorgfältigst versteckt ist – aber trotzdem gefunden werden kann. Vor ungefähr einem Jahr habe ich mich auf die Transportmöglichkeiten konzentriert. Mir erschien es unerläßlich, daß Diaspar Verbindungswege mit der restlichen Welt gehabt haben muß. Die Tatsache, daß der Hafen seit Urzeiten von der Wüste begraben ist, schließt nicht aus, daß es andere Transportmittel gegeben haben kann. Gleich anfangs mußte ich feststellen, daß die Assoziatoren auf direkte Fragen keine Antwort gaben. Alaine muß die dazugehörigen Stromkreise geblockt haben, so wie ich es vor ein paar Jahren zu deinem Segen getan hatte. Leider ist es mir nicht gelungen, Alaines Sperre zu brechen, also mußte ich indirekte Methoden wählen. Wenn es je ein Transportsystem außerhalb von Diaspar gegeben hat, dann sind heute zumindest keine Spuren mehr davon vorhanden. Daraus ergibt sich folgender Schluß: Wenn es existiert hat, wurde seine
Existenz absichtlich verschleiert. Ich habe deshalb den Assoziatoren befohlen, alle größeren städteplanerischen Unternehmungen seit Bestehen jeglicher Dokumentation zu untersuchen. Hier habe ich einen Report über die Konstruktion des Zentral-Parks – dem Alaine persönlich eine Anmerkung hinzugefügt hat. Sobald die Maschine auf seinen Namen gestoßen war, wußte sie, daß damit die Sache dem Ziel sehr nahe war, und hat mich gerufen.« Rorden warf einen Blick auf den Papierstreifen, ehe er fortfuhr. »Wir haben es immer als gegeben hingenommen, daß alle Gleitbänder im Zentral-Park zusammenlaufen, beziehungsweise von ihm ausgehen. In diesem Report jedoch steht, daß der Park erst nach der Gründung der Stadt angelegt wurde. Und zwar Millionen von Jahren später. Das heißt, daß die Gleitbänder einmal woanders zusammengelaufen sind.« »An einem Lufthafen vielleicht?« »Nein. Städte zu überfliegen war nie erlaubt, außer in sehr alten Zeiten, vor dem Bau von Gleitbändern. So alt ist unsere City nun auch wieder nicht. Hör zu, ich lese dir Alaines Anmerkung vor: ›Als die Wüste den Hafen von Diaspar unter sich begraben hatte, wurde das Notsystem in Betrieb gesetzt, das man für den Fall gebaut hatte. Da es jedoch seit der Migration praktisch unbenutzt geblieben war, wurde es von Yarlan Zey, dem Erbauer des Zentral-Parks, wieder stillgelegt.‹«
»Das sagt mir leider reichlich wenig.« Die Offenheit des Jungen war manchmal verblüffend und Rorden lächelte. »Du hast dich zu sehr daran gewöhnt, die Assoziatoren für dich denken zu lassen«, sagte er. »Wie alles, was Alaine seiner Nachwelt hinterlassen hat, ist auch diese Anmerkung stark verschlüsselt, damit nicht die falschen Menschen davon erfahren. Ich finde, daß sie eine Menge sagt. Ist dir Yarlan Zey kein Begriff?« »Sprichst du von dem Monument?« »Ja. Es steht genau im Mittelpunkt des Parks. Wenn du die Gleitbänder verlängerst, treffen sie sich in dem Monument – was möglicherweise früher der Fall gewesen ist.« Alwin sprang auf. »Komm!« rief er. »Wir müssen uns vergewissern.« Aber Rorden schüttelte den Kopf. »Du hast das Grab von Yarlan Zey schon dutzende Male gesehen und nie etwas Außergewöhnliches bemerkt. Bevor wir einfach hinlaufen, ist es doch besser, wir befragen die Maschinen etwas genauer.« Alwin mußte dem Archivar recht geben. Während sie warteten, las er den Report, den einer der Assoziatoren bereits ausgestoßen hatte. »Rorden?« fragte er schließlich und sah von dem Papierstreifen auf. »Was meint Alaine mit Migration!« »Dieser Terminus taucht oft in sehr alten Doku-
menten auf«, sagte Rorden. »Er bezieht sich auf die Zeit, in der die übrigen Städte zerfielen und die gesamte menschliche Rasse gen Diaspar wanderte.« »Dann muß das Notsystem in diese Städte führen.« »Richtig.« Alwin überlegte eine ganze Weile. »Wenn wir das System finden«, sagte er schließlich, »heißt das, daß es in Städte führt, die nicht mehr existieren? Also zu Ruinen?« »Wahrscheinlich nicht einmal das«, sagte Rorden. »Als die Städte verlassen wurden, wurden die Maschinen abgestellt, und die Wüste wird alles aufgefressen haben.« Doch Alwin ließ sich nicht so schnell entmutigen. »Das müßt Alaine doch gewußt haben«, sagte er. Rorden zuckte mit den Schultern. »Wir stellen nur Vermutungen an«, sagte er, »und der Assoziator hat im Moment keine Information für uns. Es kann Stunden dauern, aber bis heute abend müßten wir eigentlich alle Fakten vorliegen haben, denn das Gebiet ist ja wirklich eng begrenzt. Vielleicht gehen wir doch einstweilen hin.« In der City waren sämtliche Lichtfilter heruntergelassen. Die Sonne stach vom Himmel. Alwin hatte den Weg schon x-mal gemacht, fühlte sich aber trotzdem wie auf einer Entdeckungsreise.
Am Ende der Gleitbahn, die sie durch die City getragen hatte, bückte er sich und untersuchte die Oberfläche. Zum erstenmal in seinem Leben empfand er das Wunder dieser Konstruktion. Das Gleitband war am Ende total bewegungslos und keine hundert Meter weiter kam es schneller auf ihn zugeströmt, als ein Mensch gehen konnte. Rorden beobachtete ihn, legte die Gedanken des Jungen aber falsch aus. »Als der Park angelegt wurde«, sagte er, »mußten sie meiner Meinung nach das letzte Stück der Bahnen entfernen. Hier wirst du nichts finden.« »Das war auch gar nicht meine Absicht«, sagte Alwin. »Ich frage mich im Moment, wie die Gleitbänder funktionieren.« Rorden war erstaunt. Ihm war nie der Gedanke gekommen, sich diese Frage zu stellen. Seit der Mensch in Städten lebte, hatte er die Vielzahl von Annehmlichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, als selbstverständliche Gegebenheit hingenommen. Die totale Automatik wurde nicht einmal mehr bewußt erfaßt. »Mach dir doch darüber keine Gedanken«, sagte er. »Ich kann dir viel größere Rätsel aufgeben. Überlege bloß einmal, woher zum Beispiel meine Maschinen ihre Information bekommen.« Damit war für Rorden das Problem der Gleitbänder abgetan. Der größte Triumph menschlicher Erfin-
dung, die langen Jahrhunderte von Forschung und Wissenschaft, die zur Herstellung von Anisotropischen Körpern geführt hatte, bedeuteten ihm nichts. Er wußte, daß ungleiche Reaktionsweisen auf gleiche Einflüsse entstehen konnten, und das genügte ihm. Der Park hatte einen Durchmesser von fast fünf Kilometern. Da alle Wege gewunden waren, waren die Entfernungen, die man zurücklegen mußte, beträchtlich. Als er noch jünger gewesen war, hatte Alwin einen großen Teil seiner Zeit zwischen den Bäumen und Pflanzen dieser ausgedehntesten unbesiedelten Fläche in der City verbracht. Er hatte überall herumgetollt, aber in späteren Jahren war der Charme der Anlage für ihn verlorengegangen. Jetzt wußte er, warum: er hatte die alten Dokumente gesehen und wußte, daß der Park lediglich ein blasser Schatten der Schönheit war, die von der Welt gewichen war. Viele Menschen ergingen sich in den Alleen altersloser Bäume und saßen auf dem immer grünen Zwerggras, das nie geschnitten zu werden brauchte. Nach einer Weile waren Rorden und Alwin es müde, ständig gegrüßt zu werden und wieder grüßen zu müssen, denn Alwin kannte jeder, und den Archivar kannten fast alle. Sie verließen die Alleen und gingen über schmalere Seitenwege, die von den Baumkronen überwachsen waren. Stellenweise konnte man die großen Türme der City nicht einmal mehr sehen, und
Alwin glaubte, in der Welt zu sein, von der er so oft träumte. Das Grab von Yarlan Zey war das einzige Gebäude im Park. Eine Reihe von Ewigen Bäumen säumte den Weg ein, der den flachen Hügel hinaufführte und vor den rosa Säulen endete, die im Licht der Sonne leuchteten. Der Rundbau war zum Himmel hin offen. Sein Boden war mit großen Quadraten von synthetischem Naturstein gepflastert, einem Material, das keine Spur von Abnützung zeigte. Alwin und Rorden gingen langsam durch den hallenartigen Bau, bis sie vor der Statue Yarlan Zeys standen. Der Erbauer des Zentral-Parks saß auf einem Sokkel und hatte den Blick gesenkt, als studiere er einen Konstruktionsplan auf seinen Knien. Auf dem Gesicht lag der seltsam undefinierbare Ausdruck, der die Welt durch Generationen hindurch in Erstaunen versetzt hatte. Man sprach von einer Laune des Künstlers, der das Standbild gemacht hatte, oder auch davon, daß Yarlan Zey über ein Geheimnis lächle, das nur er kannte. Jetzt wußte Alwin, daß der Volksmund recht hatte. Rorden stand so bewegungslos vor der Statue, als sehe er sie zum erstenmal in seinem Leben. Schließlich ging er ein paar Schritte zurück und untersuchte die großen Fliesen.
»Was machst du denn da?« fragte Alwin. »Ich lasse mich von der Logik und der Intuition lenken«, sagte Rorden. Mehr sagte er nicht, und Alwin wandte sich wieder dem Standbild zu. Erst als er ein leises Klicken hinter sich hörte, drehte er sich um und sah, wie Rorden mit einem seltsamen Lächeln auf dem Gesicht langsam in den Boden sank. »Ich glaube, ich weiß auch, wie es umgekehrt zu machen ist«, sagte er, bevor er ganz verschwand. »Wenn ich nicht wieder heraufkomme, mußt du mich mit einem Schwerkraft-Polarisator herausziehen. Aber ich denke, es wird nicht nötig sein.« Die letzten Worte waren bereits gedämpft. Alwin war mit einem Satz neben dem Loch und sah, daß sein Freund schon viele Meter unter der Oberfläche war. Der Schacht wurde immer tiefer und Rorden war bald nur noch als Punkt zu erkennen. Dann jedoch begann das weit entfernte Rechteck zu Alwins Erleichterung wieder heller zu werden, der Schacht verkürzte sich, und kurz darauf stand Rorden wieder neben ihm. Eine ganze Weile lang herrschte tiefes Schweigen. Dann lächelte Rorden und begann zu sprechen. »Die Logik«, sagte er, »kann Wunder vollbringen, wenn sie sich an etwas Konkretem festhalten kann. Dieser Rundbau ist in seiner Konstruktion so einfach,
daß er nichts verbergen kann. Der einzig mögliche Geheimgang muß durch den Boden führen. Ich war überzeugt davon, daß sein Zugang irgendwie markiert ist, also habe ich gesucht und die Platte entdeckt, die sich von den anderen unterscheidet.« Alwin bückte sich und untersuchte den Boden. »Aber dieses Quadrat ist ganz genau so wie alle anderen«, sagte er. Rorden legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter und drehte ihn zu der Statue um. Plötzlich nickte Alwin. »Das ist also das Geheimnis von Yarlan Zey«, sagte er leise. Die Augen des Standbildes starrten auf den Boden zu seinen Füßen. Kein Zweifel. Alwin machte einen Schritt zur Seite und stellte fest, daß Yarlan Zey nicht mehr in seine Richtung sah. »Wer nicht ausdrücklich danach sucht, merkt das nie«, sagte Rorden. »Und selbst dann bleibt es für den normalen Betrachter ohne Bedeutung. Ich bin mir selbst ziemlich komisch vorgekommen, wie ich da auf der Fliese stand und die einzelnen Kombinationen von Kontrollgedanken ausprobiert habe. Zum Glück scheinen die Wirkungskreise eine recht weit gestreute Toleranz zu haben. Der Code-Gedanke lautet Alaine von Lyndar. Ich habe es erst mit Yarlan Zey versucht, aber das hat nicht geklappt – ich hätte es mir ja auch denken können. Bei einem so naheliegen-
den Gedanken würden zu viele Menschen die Maschine rein zufällig in Bewegung setzen.« »Das klingt alles sehr einfach«, sagte Alwin, »aber ich glaube, ich wäre in tausend Jahren nicht dahinter gekommen. Arbeiten so Assoziatoren?« Rorden lachte. »Vielleicht«, sagte er. »Manchmal habe ich die Antwort schneller als sie, aber sie finden eben immer die richtige Antwort.« Er überlegte einen Moment. »Wir müssen den Schacht offen lassen – es bleibt uns nichts anderes übrig. Aber niemand wird hineinfallen.« Während sie in den Boden sanken, wurde das Himmelsquadrat immer kleiner. Der Schacht, der mindestens dreihundert Meter tief zu sein schien, war von einer Phosphoreszenz erleuchtet, die direkt mit den Wänden verbunden war. Sie waren völlig glatt und ließen nirgends Gleitspuren erkennen. Die Tür am Ende des Schachts öffnete sich automatisch, als sie darauf zugingen. Ein paar Schritte führten sie durch einen kurzen Korridor – dann standen sie in einem kuppelartigen Gewölbe, dessen geschwungene Wände sich in graziösen Bogen hundert Meter über ihren Köpfen vereinten. Die Säule in der Mitte schien zu schlank zu sein, um das Gewicht der Kuppel tragen zu können. Alwin merkte schon nach einem Moment, daß sie
nicht zur Konstruktion des Gewölbes gehörte, sondern erst sehr viel später dazugekommen war. Rorden war zu demselben Schluß gekommen. »Diese Säule«, sagte er, »wurde aufgestellt, um den Schacht zu bilden, durch den wir herabgekommen sind. Wir haben uns hinsichtlich der Gleitbänder nicht getäuscht – sie führten einmal alle hierher.« Alwin hatte die stollenartigen Tunnel bemerkt, die in die Wände des Gewölbes gegraben waren, wußte aber nicht, wozu sie dienten. Sie führten in sanften Kurven nach oben. Als Alwin die graue Oberfläche sah, wußte er plötzlich Bescheid: Hier, tief unter dem Herzen der Stadt, lief das phantastische Transportsystem Diaspars zusammen. Die Ausläufer der Gleitbänder allerdings standen still, das Material, das ihnen Bewegung gab, war erstarrt. Alwin ging auf den nächsten Tunnel zu. Er hatte kaum ein paar Schritte gemacht, als sich der Boden unter seinen Füßen änderte. Er wurde transparent. Noch drei Schritte, und er schien im Nichts zu schweben, ohne sichtbaren Untergrund. Er blieb stehen und starrte nach unten. »Rorden!« rief er. »Sieh dir das an!« Sie waren fassungslos. Nur schwach sichtbar lag zu ihren Füßen in unendlicher Tiefe eine riesige Landkarte – ein Netz von Linien, das in einem Punkt unter dem Mittelschacht verknotet war. Zuerst wirkte es
wie ein Labyrinth, nach einer Weile jedoch konnte Alwin die Hauptadern erkennen. Wie gewöhnlich hatte Rorden bereits seinen Schluß gezogen, als Alwin gerade mit der Analyse beginnen wollte. »Der Fußboden muß einmal ganz transparent gewesen sein«, sagte er. »Als das Gewölbe versiegelt und der Schacht gebaut wurde, müssen die Ingenieure mit irgendeiner Spezialmethode das Zentrum undurchsichtig gemacht haben. Weißt du, was das ist, Alwin?« »Ich glaube schon«, sagte der Junge. »Es ist eine Karte des Transportsystems. Die kleinen Kreise müssen die anderen Städte der Erde sein. Es stehen sogar Namen daneben, aber ich kann sie nicht lesen.« »Es hat bestimmt irgendeine Möglichkeit gegeben, die Karte zu beleuchten«, sagte Rorden, und sein Blick glitt an den Wänden des Gewölbes entlang. »Dachte ich es mir doch!« rief er einen Moment später. »Siehst du, wie diese strahlenförmigen Linien auf die kleinen Tunnels zulaufen?« Alwin hatte bereits bemerkt, daß außer den Ausläufern der Gleitbänder auch kleinere Schächte in die Wand des Gewölbes geschnitten waren. Diese kleineren Schächte gingen nicht nach oben, sondern nach unten. »Es war ein sehr beeindruckendes System«, fuhr
Rorden fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Man kann mit Hilfe der Gleitbänder nach unten kommen, dann wählt man den Ort, den man besuchen will und folgt dann der entsprechenden Linie auf der Landkarte.« »Und dann?« fragte Alwin. Rorden ließ sich nicht auf Vermutungen ein. »Mir fehlt es an ausreichender Information«, sagte er. »Wenn ich doch die Namen der Städte lesen könnte!« Alwin ging um die Mittelsäule herum. »Rorden!« rief er nach einem Moment. »Komm hierher.« Auf der anderen Seite lag die zweite Hälfte der Landkarte. Die Enden des feinen Netzes gingen auf die Sternpunkte des Kompasses zu. Eine der Adern war hier hell erleuchtet. Sie schien mit dem Rest des Systems nicht in Verbindung zu stehen und deutete wie ein glühender Pfeil auf einen der kleinen, in die Tiefe gehenden Tunnel. Die Linie endete in einem Kreis goldenen Lichts. Daneben stand in deutlichen Lettern das Wort LYS. Lange Zeit starrten Rorden und Alwin auf das schweigende Symbol hinunter. Für den Archivar bedeutete es lediglich einen weiteren Fragenkomplex an seine Maschinen, für den Jungen jedoch grenzenlose Versprechungen. Er versetzte sich in Zeiten, in denen
der Transport durch die Lüfte lahmgelegt worden war, die einzelnen Städte der Erde aber noch miteinander in Verbindung standen. Er dachte an die unzähligen Millionen von Jahren, in denen es ein geschäftiges Hin und Her gegeben hatte, bis nach und nach alle Städte auf der Landkarte erloschen waren – nur eine nicht. Wie lange mochte sie noch geglüht haben, bis schließlich Yarlan Zey die Gleitbänder versiegelt und Diaspar von der Außenwelt abgeschlossen hatte? Das war Hunderte von Millionen Jahre her. Damals hatte auch Lys zwangsläufig den Kontakt mit Diaspar verloren. Die Stadt konnte unmöglich überlebt haben. Die Landkarte war heute bedeutungslos. Rorden unterbrach Alwin in seinen Träumereien. Er machte plötzlich einen nervösen, fast gereizten Eindruck. »Wir müssen zurück«, sagte er. »Ich finde, wir sollten es dabei belassen.« Alwin widersprach nicht. Seine Neugier wollte ihn vorwärts treiben, aber er sah ein, daß es klüger war, den nächsten Schritt erst gründlich vorzubereiten. Obwohl es ihm widerstrebte, ging er mit Rorden zu dem Schacht zurück. Bei jedem Schritt wurde der Boden unter seinen Füßen dichter, und das ferne Glühen aus der Tiefe verschwand.
Der Weg im Erdinnern Jetzt, nachdem der Weg offen vor ihm lag, war Alwin die Idee, die gewohnte Welt zu verlassen, seltsam unheimlich. Er mußte feststellen, daß ihm die Ängste, die er an anderen kritisiert hatte, doch nicht so fremd waren. Rorden hatte mehrmals versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber er hatte nicht aus eigener Überzeugung argumentiert, und Alwin hatte es gespürt. An eine akute Gefahr dachten jedoch beide nicht. Seit Millionen von Jahren war der Mensch in keinster Weise bedroht worden, und Alwin konnte sich nicht vorstellen, daß Menschen – selbst wenn es noch welche gab – anders sein konnten als die, die in Diaspar lebten. Daß er gegen seinen Willen irgendwo festgehalten werden könnte, war für ihn undenkbar. Schlimmstenfalls würde seine Entdeckungsreise in die Außenwelt nichts bringen. Drei Tage später standen sie wieder in dem verlassenen Gewölbe. Unter ihren Füßen zeigte der glühende Pfeil immer noch nach Lys. Sie waren bereit, ihm zu folgen. Als sie in den Tunnel eintraten, spürten sie die bekannte Zugkraft des Peristaltikfeldes und wurden einen Moment später mühelos in die Tiefe gezogen. Die
Reise dauerte knapp eine halbe Minute und brachte sie in einen langen, schmalen Raum, der die Form eines der Länge nach durchgeschnittenen Zylinders hatte. An seinem Ende führten zwei schwach beleuchtete Tunnel ins Unbestimmte. Menschen fast jeder Zivilisation seit dem Zeitalter der Dämmerung hätten diese Umgebung völlig normal gefunden: Alwin und Rorden jedoch fühlten sich bereits in einer anderen Welt. Der Zweck der langen, stromlinienförmigen Maschine, die wie ein Projektil vor einem der Tunnel lag, war offensichtlich, doch das Staunen blieb. Die obere Hälfte war transparent und Alwin und Rorden sahen die Reihe bequemer Sitze dahinter. Einen Zugang schien es nicht zu geben. Die Maschine schwebte ungefähr dreißig Zentimeter über einer einzigen Metallschiene, die sich im Dunkel des Tunnels verlor. Im zweiten Tunnel befand sich ebenfalls eine Metallschiene, aber kein Projektil. Alwin wußte, daß dieses Tunnel für den Rücktransport aus Lys diente. »Also«, sagte Rorden und wischte sich nervös über die Stirn. »Bist du so weit?« Alwin nickte. »Wenn du doch mitkommen würdest. Ich –« Alwin sprach den Satz nicht zu Ende. Rorden war der einzige echte Freund, den er besaß, aber die Sperren, die alle Menschen von Diaspar umgaben, trenn-
ten sie in diesem Moment mehr denn je. »Ich bin spätestens in sechs Stunden wieder zurück«, versprach Alwin. Sein Mund war seltsam trocken. »Du brauchst nicht auf mich zu warten. Wenn ich früh genug zurück bin, nehme ich Verbindung mit dir auf. Irgendwo muß es hier doch einen Kommunikator geben.« Alwin tat so, als sei alles völlig normal. Er schrak jedoch zusammen, als sich die Außenwand der Maschine plötzlich vor ihm auftat und das luxuriös ausgestattete Innere vor seinen Augen lag. »Die Maschine zu handhaben, wird nicht weiter schwierig sein«, sagte Rorden mit gequetschter Stimme. »Du hast ja gesehen, wie sie meinen Gedanken vernommen hat. Steig lieber schnell ein. Vielleicht ist eine Zeitbeschränkung eingebaut.« Alwin tat es und legte seine Tasche auf den nächsten Sitz. Er drehte sich zu Rorden um und sah ihn an. Gespanntes Schweigen. Jeder schien darauf zu warten, daß der andere etwas sagte. Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen, denn mit einem kaum hörbaren Surren glitten die Wände der Maschine zu. Als Rorden die Hand hob und winken wollte, glitt der lange Zylinder bereits nach vorn. Schon nach Sekunden war die Geschwindigkeit atemberaubend. Langsam ließ sich Rorden in das Gewölbe mit der Mittelsäule zurücktragen. Das Sonnenlicht strömte
durch den offenen Schacht, als er wieder in die Höhe glitt. Als er vor der Statue Yarlan Zeys auftauchte, fand er sich plötzlich von einer Gruppe von erstaunten Menschen umgeben. »Kein Grund zur Sorge«, sagte er ernst. »Alle zweibis dreitausend Jahre muß nachgesehen werden. Reine Routine. Das Fundament der City hat sich seit dem Bau des Parks nicht um ein Mikron verschoben.« Damit ließ Rorden die Leute stehen, die sich bereits wieder zerstreuten und keinen weiteren Gedanken mehr auf den Vorfall verschwendeten. Alwin lehnte sich in dem bequemen Sitz zurück und ließ den Blick durch das Innere der Maschine schweifen. Jetzt erst sah er das Indikatorenpult an der Vorderseite des Transportkörpers. Rote Lettern leuchteten auf: LYS 35 Minuten Während er hinsah, rutschte die Fünf nach unten weg und wurde von einer Vier ersetzt. Da Alwin keine Ahnung hatte, mit welcher Geschwindigkeit sich die Maschine fortbewegte, war er froh, wenigstens zu wissen, wie lange die Reise dauern sollte. Die Wände des Tunnels waren gleichbleibend grau. Die kaum
spürbare Vibration hätte Alwin nicht gemerkt, wenn er nicht darauf geachtet hätte. Diaspar mußte bereits viele Kilometer hinter ihm liegen. Über ihm mußte die Wüste sein. Die Wüste mit ihren Sanddünen. Vielleicht raste er im Augenblick bereits unter der flachen Hügelkette hindurch, die er als Kind vom Turm von Loranne aus gesehen hatte. Wie fast ständig während der letzten Tage wandten sich seine Gedanken Lys zu. Wenn die Stadt nicht mehr existierte, dann würde ihn die Maschine doch nicht hintragen, oder? Wie sah Lys aus? In Alwins Vorstellung war es eine kleinere Version von Diaspar. Plötzlich fand eine deutliche Änderung in der Vibration der Maschine statt. Die Geschwindigkeit wurde geringer. Die Zeit mußte schneller vergangen sein, als Alwin geglaubt hatte. Er warf einen Blick auf den Indikator. LYS 23 Minuten Mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend preßte Alwin das Gesicht an die Seitenwand der Maschine. Immer noch das eintönige Grau, von Zeit zu Zeit jedoch eine Art Markierung, die wie ein Geschoß an seinem Blickfeld vorbeisauste.
Dann wichen die Wände des Tunnels plötzlich zurück, und die Maschine raste mit großer Geschwindigkeit durch einen riesigen Leerraum. Den Kopf an die transparente Seitenwand der Maschine gepreßt, sah Alwin unter sich ein kompliziertes Netz von Metallschienen liegen, die sich kreuzten und verzweigten und in einem Labyrinth von Tunnels zu beiden Seiten verschwanden. Über ihm ergoß eine Reihe von künstlichen Sonnen ihr Licht in den Raum, in dem gigantische Transportmaschinen gelagert zu sein schienen. Das Licht war so hart und gleißend, daß die Augen sich dagegen wehrten. Der Raum schien nicht für Menschen konstruiert worden zu sein, sondern lediglich für die riesigen Maschinen, die bewegungslos über ihren Führungsschienen schwebten. Von einer Sekunde zur anderen war der Leerraum weit hinter Alwin, und er begriff wohl zum erstenmal die Bedeutung der großen, halb verdunkelten Landkarte unter Diaspar. Die Wunder der Welt waren viel unermeßlicher, als er sich je erträumt hatte. Wieder ein Blick auf den Indikator. Immer noch dreiundzwanzig Minuten. Die Maschine hatte nicht einmal sechzig Sekunden gebraucht, um den unfaßbar großen Raum zu durchqueren. Die Geschwindigkeit nahm wieder zu, die Kraft der Bewegung war aber kaum zu spüren.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Vibration wieder änderte. LYS 1 Minute Es war die längste Minute, die Alwin je hatte durchstehen müssen. Die Maschine fuhr immer langsamer, um endlich ganz stehenzubleiben. Lautlos glitt der Zylinder aus dem Tunnel in ein Gewölbe, das eine genaue Wiedergabe der Konstruktion unter Diaspar war. Im ersten Moment war Alwin so aufgeregt, daß er nichts klar erkennen konnte. Seine Gedanken überstürzten sich in einem heillosen Durcheinander. Er war nicht einmal in der Lage, die Gelegenheit wahrzunehmen und auszusteigen. Die Außenwand der Maschine öffnete und schloß sich mehrmals. Alwin warf einen hilflosen Blick auf den Indikator. DIASPAR 35 Minuten Alwin atmete erleichtert auf und verließ die Maschine.
Das Land von Lys Daß die Reise in die Geschichte der Menschheit so reibungslos und glatt verlaufen würde, hätte niemand geglaubt. Nicht einmal Alwin selbst. Als er nach einem Weg suchte, der ihn aus dem Gewölbe führen würde, stieß er auf das erste Anzeichen, das ein Beweis der völlig anderen Zivilisation war: Am Ende des langgestreckten Gewölbes führte eine Art Gang zu einer Treppe. Eine Aneinanderreihung von einzelnen Stufen war in Diaspar undenkbar. Maschinen hatten etwas gegen Treppen, und deshalb hatte man in Diaspar jeden Höhenunterschied durch Rampen oder sanft ansteigende Korridore ausgeglichen. War es möglich, daß man in Lys keine Maschinen kannte? Der Gedanke war so absurd, daß Alwin ihn sofort fallenließ. Die Treppe hatte nur wenige Stufen und führte zu einem Durchgang, der von selbst aufglitt. Als sich die beiden Flügel hinter Alwin wieder schlossen, befand er sich in einem kubischen Raum, der keinen weiteren Ausgang zu haben schien. Leicht verwirrt untersuchte Alwin die Wände. Während er noch damit beschäftigt war, öffneten sich die beiden Flügel wieder, und Alwin verließ den Raum. Mittlerweile befand er
sich in einem Durchgang, der leicht anstieg und in einem torbogenähnlichen Halbkreis endete, durch den der Himmel zu sehen war. Alwin mußte zu seinem Erstaunen feststellen, daß er um Hunderte von Metern in die Höhe gehoben worden war, ohne die leiseste Bewegung gespürt zu haben. Gespannt lief er dem Sonnenlicht entgegen. Nach einem Moment stand er am Rand eines Hügels und glaubte, plötzlich wieder im Zentral-Park von Diaspar zu sein. Wenn jedoch diese riesige Fläche, die sein Auge kaum erfassen konnte, ein Park war, dann stimmten alle Maße, die bisher für ihn gültig gewesen waren, nicht mehr. Die Stadt, die er zu erforschen gehofft hatte, war nirgends zu sehen. So weit das Auge reichte nur Wälder und saftige Grünflächen. Alwin hob den Blick zum Horizont. Über den Wipfeln der Bäume umarmte ein großer Halbkreis aus Stein die Welt. Die Zacken, die in den Himmel ragten, waren höher und majestätischer als die Türme Diaspars. Alwin brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte: Diese Giganten waren nicht von Menschenhand erbaut. Die Zeit hatte nicht alles bezwungen. Die Erde besaß noch Gebirge. Stolze, unverrückbare Berge. Alwin stand lange im Schlund des Tunnels und starrte in die seltsame, neue Welt. Nirgends eine Spur
von menschlichen Wesen. Die Straße jedoch, die den Hügel hinunterführte, war gut erhalten. Alwin beschloß, ihr zu folgen. Am Fuß des Hügels verschwand die Straße zwischen hohen Bäumen, die mit ihren breiten Kronen die Sonne fast ganz bedeckten. Als Alwin in ihren Schatten eintrat, schlugen ihm seltsam angenehme Gerüche und wohlklingende Geräusche entgegen. Das Rauschen von Blättern war ihm nicht fremd, aber dazu kamen tausend kleine Laute und Stimmen, mit denen seine Vorstellung nichts anfangen konnte. Unbekannte Gerüche hüllten ihn ein, Düfte, die sogar der Erinnerung seiner Rasse verloren gegangen waren. Die Wärme, die Vielfalt von Farben und die Anwesenheit von Tausenden von unsichtbaren Lebewesen – er konnte kaum fassen, wie ihm geschah. Plötzlich trat er aus dem Schatten der Bäume und stand vor einer großen Wasserfläche, auf der kleine Landstücke schwammen. Ein See mit Inseln. Nie in seinem Leben hatte Alwin eine so verschwenderische Masse der kostbaren Flüssigkeit gesehen. Er ging zum Rand des Sees und ließ das warme Wasser durch die Finger laufen. Der große silberne Fisch, der plötzlich durch die Unterwasserpflanzen schwebte, war das erste tierische Lebewesen, das er je gesehen hatte. Der Fisch stand im Nichts, seine Flossen flatterten kaum merk-
bar. Irgendwie kam Alwin diese Erscheinung seltsam bekannt vor. Dann kam ihm endlich die Erinnerung an die Dokumente, die ihm Jeserac gezeigt hatte, als er noch klein gewesen war. Er wußte, wo er diese graziöse Form schon gesehen hatte, und die Logik sagte ihm, daß die Ähnlichkeit nur zufällig sein konnte. Doch die Logik täuschte sich. Durch die Jahrhunderte hindurch hatten sich die Künstler von der Schönheit der großen Schiffe inspirieren lassen, die einmal von Welt zu Welt gefahren waren. Vor Urzeiten mußte es demnach Handwerker gegeben haben, die nicht mit Metall gearbeitet hatten, sondern mit der kostbarsten Materie, die es gab – Fleisch, Blut und Knochen. Diese Handwerker und ihre Zeit waren längst in Vergessenheit geraten, aber eines ihrer Kunstwerke hatte auf wundervolle Weise die Zerstörung der Kontinente überlebt. Alwin riß sich schließlich vom Bann des Sees los und ging auf der gewundenen Straße weiter. Der Wald schloß ihn wieder ein, aber nur für ein kurzes Stück. Dann traf die Straße auf eine Lichtung, die vielleicht tausend Meter lang und doppelt so breit war. Jetzt wußte Alwin, warum er bisher kein Zeichen menschlichen Lebens gesehen hatte. Die Lichtung stand voll von niedrigen, einstöckigen Gebäuden, deren sanfte Pastellfarben dem Auge
wohl taten. Die meisten waren von klarer, einfacher Form, einige aber waren mit Säulen und Reliefs verziert und schienen aus einer Zeit zu stammen, wo man noch Spitzbogen baute. Als Alwin auf die Siedlung zuging, war er von allem so überwältigt, daß seltsame, ihm völlig unbekannte Ströme durch seinen Körper zu fließen schienen. Herzklopfen als Zeichen der Aufregung kannte er, aber diese anderen physischen Erscheinungen waren ihm fremd. Nichts Gewohntes mehr: selbst die Luft roch hier anders. Die großen Menschen mit den goldenen Haaren, die zwischen den Gebäuden zu sehen waren, hatten mit den Einwohnern von Diaspar nichts gemein. Alwin hatte die Siedlung fast erreicht, als eine Gruppe von Männern ihm entgegenkam. Das Blut klopfte ihm in den Schläfen. Er blieb stehen und wartete. Die Männer schienen über seine Anwesenheit nicht sonderlich erstaunt zu sein. Warum – das sollte Alwin sofort erfahren. Der Sprecher der Gruppe streckte ihm auf altmodische Weise die Hand entgegen. Früher, das wußte Alwin, war Händeschütteln eine Geste der Freundschaft. »Wir hielten es für das Beste, dich hier draußen zu empfangen«, sagte er. »Unsere Welt unterscheidet sich doch sehr von deiner. Wenn ein Besucher auf
dem Weg vom Terminus zu unserer Siedlung zunächst einmal allein ist, kann er sich schneller – akklimatisieren.« Alwin schüttelte dem Mann die Hand, war aber im ersten Moment so erstaunt, daß er nicht gleich antworten konnte. »Ihr habt also gewußt, daß ich komme?« fragte er, als er sich einigermaßen gefaßt hatte. »Wir wissen es immer, wenn ein Transporter sich in Bewegung setzt«, sagte der Mann. »Wir haben allerdings nicht mit einem so jungen Gast gerechnet. Wie hast du den Weg gefunden?« »Wir sollten unsere Neugierde zügeln, Gerane«, sagte ein anderer Mann. »Seranis wartet doch.« Der Mann, der Gerane hieß, nickte, und die Männer begleiteten Alwin in die Siedlung. Alwin betrachtete sich die Gesichter. Sie waren freundlich und intelligent. Keine Spur von der Langeweile, der geistigen Trägheit und der gleichgültigen Blässe, die so bezeichnend war für die Bewohner von Diaspar. Diese Menschen schienen all das zu besitzen, was seine Mitmenschen verloren zu haben schienen. Wenn sie lächelten, diese fremden Lebewesen, dann sah man eine Reihe von Elfenbeinzähnen – jene Perlen, die der Mensch im Verlauf seiner Evolution verloren, neu gewonnen und wieder verloren hatte. Die Bewohner der Siedlung sahen Alwin und seine
Begleiter neugierig an. Vor allem die vielen Kinder – was für Alwin der endgültige Beweis war, wie fremd diese Welt war und wie weit entfernt von seiner, die Unsterblichkeit besaß. Vor einem Gebäude genau in der Mitte der Siedlung blieben die Männer stehen. Auf dem runden Turm daneben wehte ein Stück grüner Stoff im Wind. Gerane führte Alwin in das Gebäude. Die anderen blieben draußen. Drinnen war es ruhig und kühl. Das Licht der Sonne drang durch die halb durchsichtigen Wände und umhüllte alles mit einem friedlichen Glühen. Der Fußboden war glatt und hart, mit feinem Mosaik verziert. An den Wänden Malereien von Waldszenen und Abbildungen, mit denen Alwin nichts verbinden konnte, die aber sehr angenehm zu betrachten waren. In eine Wand eingelassen ein Visiphon-Empfänger, dessen Bildschirm in den buntesten Streifen flimmerte. Wieder befiel Alwin großes Erstaunen. Damit hatte er am allerwenigsten gerechnet. Gerane stieg mit Alwin eine kleine Rundtreppe hinauf, die auf das flache Dach des Gebäudes führte. Von hier aus konnte Alwin die ganze Siedlung überblicken, die aus ungefähr hundert Gebäuden bestand. In der Ferne machte der Wald weiten Wiesen Platz, auf denen Tiere standen, die Alwin nirgends einordnen konnte. Seine Kenntnisse in Zoologie waren zu schwach.
Im Schatten, den der Turm auf die Dachterrasse warf, saßen zwei Menschen an einem Tisch und betrachteten ihn. Als sie aufstanden, um ihn zu begrüßen, erkannte Alwin in der einen Person eine stattliche, sehr schöne Frau mit goldenem Haar, durch das sich silberne Fäden zogen. Die Frau mußte Seranis sein. Als er ihr in die Augen sah, spürte er sich von ähnlicher Weisheit und Erfahrung umgeben wie bei seinem Zusammensein mit Rorden. Neben ihr ein Knabe, vielleicht etwas älter als er selbst. Daß Seranis seine Mutter war, sah Alwin auf den ersten Blick. Die klar geschnittenen Züge waren die gleichen, die Augen des Jungen hatten allerdings nur Freundlichkeit im Ausdruck und noch nichts von der fast beängstigenden Weisheit. Auch hatte er nicht goldenes, sondern schwarzes Haar, aber die Ähnlichkeit war trotzdem überzeugend. Da Alwin recht hilflos dastand und nicht wußte, wie er sich verhalten sollte, drehte er sich zu seinem Begleiter um, aber Gerane war bereits wieder verschwunden. Doch dann lächelte Seranis, und Alwins Nervosität war wie weggewischt. »Willkommen in Lys«, sagte sie. »Ich bin Seranis, und das ist mein Sohn Theon. Er wird eines Tages meinen Platz einnehmen. Du bist der jüngste von allen bisherigen Besuchern aus Diaspar. Erzähl mir, wie du den Weg gefunden hast.«
Zögernd zuerst und dann mit wachsendem Zutrauen berichtete Alwin, wie es zu seiner Reise nach Lys gekommen war. Theon hörte ihm mit großen Augen zu, und sein Blick hing förmlich an Alwins Lippen. Diaspar mußte für ihn so fremd sein, wie Lys es für Alwin gewesen war. Aber Seranis schien alles, was Alwin sagte, bereits zu wissen. Als er geendet hatte, herrschte einen Moment Schweigen. Dann sah ihn Seranis an, und ihr Gesicht blieb ruhig und ausgeglichen wie bisher. »Warum bist du nach Lys gekommen?« fragte sie. »Weil ich die Welt kennenlernen möchte«, sagte Alwin. »Man hat immer behauptet – jeder in Diaspar tut das –, daß außerhalb der City alles Wüste ist, aber ich wollte mich selbst davon überzeugen.« Der Blick der schönen Frau war voll Güte, aber in ihrer Stimme lag ein trauriger Ton. »War das der einzige Grund?« fragte sie. Alwin zögerte. Als er antwortete, sprach nicht der Abenteurer aus ihm, sondern der Knabe, der dem Kindsein noch nicht lange entsprungen war. »Nein«, sagte er. »Das war nicht der einzige Grund, aber ich habe es bis eben nicht gewußt. Ich war einsam.« »Einsam? In Diaspar?« »Ja«, sagte Alwin. »Ich bin nämlich das einzige Kind, das in siebentausend Jahren zur Welt gekommen ist.«
Die gütigen Augen sahen ihn immer noch an. Sie drangen in die tiefsten Tiefen seines Inneren ein, und Alwin war plötzlich überzeugt davon, daß Seranis seine Gedanken lesen konnte. Er hatte diesen Gedanken noch nicht recht zu Ende gedacht, als auch schon ein erstauntes Lächeln über das Gesicht der schönen Frau huschte, und er wußte, daß er richtig vermutet hatte. Einmal hatten sowohl Menschen als auch Maschinen dieses Talent besessen. Die Maschinen, die sich nie änderten, konnten immer noch die Befehle ihrer Besitzer lesen, aber der Mensch in Diaspar hatte die Gabe, die er seinen mechanischen Sklaven geschenkt hatte, verloren. Seranis brach in seine Gedanken ein. »Wenn du Leben suchst«, sagte sie, »dann bist du am Ziel. Hinter unseren Bergen beginnt die Wüste, und in ihr gibt es nichts mehr.« Es war seltsam, daß Alwin, der bisher alle Behauptungen angezweifelt hatte, dieser Frau widerstandslos glaubte. Er empfand nur Traurigkeit. Traurigkeit darüber, daß das, was man ihn gelehrt hatte, also doch stimmte. »Erzähl mir bitte von Lys«, sagte er. »Warum seid ihr schon so lange von Diaspar abgeschnitten, wenn ihr doch alles über uns wißt?« Seranis lächelte bei der Frage. »Das ist nicht mit ein paar Worten zu beantwor-
ten«, sagte sie, »aber ich werde es versuchen. Die Menschen von Diaspar verbringen ihr Leben innerhalb der Mauern ihrer City, und das seit unzähligen Generationen. Im Verlauf dieser unzähligen Generationen hat sich die Meinung gebildet, daß der Mensch für ein Leben in der City geboren ist, aber das stimmt nicht, Alwin. Diese Ansicht ist falsch. Seit die Maschinen uns die absolute Freiheit geschenkt haben, existiert eine Rivalität zwischen zwei Arten von Zivilisation. Im Zeitalter der Dämmerung gab es Tausende von Städten, aber der größte Teil der Menschheit lebte in Siedlungen wie unserer hier. Wir haben keine Unterlagen über die Gründung von Lys, aber wir wissen, daß schon unsere frühesten Vorfahren ein Leben in der Stadt verabscheut haben. Sie wollten nichts damit zu tun haben. Trotz der Transportmöglichkeiten, mit deren Hilfe man das ganze Universum besuchen konnte, lebten sie relativ abgeschlossen und entwickelten eine eigene Kultur. Diese Kultur war die höchstentwickelte, die die Menschheit je gekannt hat. Durch die Jahrhunderte hindurch ging jeder seinen eigenen Weg, und die Kluft zwischen Lys und den Städten wurde immer größer. Sie wurde nur in schweren Krisensituationen überbrückt. Als der Mond zum Beispiel aus dem Himmel auf die Erde fiel, wurde seine rechtzeitige Zerstörung von Lys ge-
plant und ausgeführt. Auch in der Verteidigung der Erde gegen die Invasoren hat Lys in der Schlacht von Shalmirane eine entscheidende Rolle gespielt. Dieses grauenvolle Massaker hat die Menschheit erschöpft. Eine Stadt nach der anderen starb dahin, und die Wüste rollte über sie hinweg. Mit dem rapiden Abfall der Bevölkerungszahl begann die Migration, und Diaspar wurde zur größten und letzten aller Städte. Die meisten dieser Veränderungen haben uns unberührt gelassen. Aber auch wir hatten unseren Kampf durchzustehen: den Kampf gegen die Wüste. Die natürliche Schranke unserer Berge reichte nicht aus, und es dauerte Tausende von Jahren, bis wir unser Land gegen den erstickenden Sand abgesichert hatten. Tief unter Lys liegen Maschinen, die uns Wasser geben, solange die Erde existiert, denn die alten Ozeane gibt es noch. Sie sind viele Kilometer tief im Erdinnern eingeschlossen. Das ist in kurzen Zügen unsere Geschichte. Selbst im Zeitalter der Dämmerung hatten wir mit den Städten wenig zu tun, obwohl ihre Bewohner oft in unser Land kamen. Wir haben sie nie daran gehindert, denn viele unserer großen Männer kamen von Draußen. Als die Städte jedoch dahinstarben, wollten wir mit ihrem Zerfall nichts zu tun haben. Als der LuftTransport lahmgelegt wurde, gab es nur noch einen
Zugang zu Lys – über das Transport-System von Diaspar. Vor vierhundert Millionen Jahren wurde auch dieses System in gegenseitigem Einvernehmen versiegelt. Wir aber erinnern uns noch an Diaspar und können nicht verstehen, warum ihr uns vergessen habt.« Seranis lächelte. Es war ein leicht ironisches Lächeln. »Diaspar hat uns erstaunt«, fuhr sie fort. »Wir haben damit gerechnet, daß es dem Schicksal nicht entgeht, das auch die anderen Städte hatten erleiden müssen. Aber Diaspar hat es zu einer stabilen Kultur gebracht, die möglicherweise so lange andauert, wie die Erde existiert. Wir bewundern diese Kultur nicht, aber wir freuen uns, daß diejenigen, die dem Zerfall entkommen wollten, ihr Ziel erreicht haben. Mehr Menschen aus Diaspar, als du vielleicht glaubst, haben die Reise zu uns gemacht, und es waren immer sehr außergewöhnliche Persönlichkeiten.« Alwin wunderte sich über die Überzeugung, mit der Seranis sprach. Ihre Meinung über Diaspar freute ihn nicht. Irgendwo schlug eine große Glocke. Ihr Klang rollte durch die Stille. Sechsmal schlug sie an, und als der sechste Schlag verklungen war, zog die Nacht am östlichen Horizont herauf. »Ich muß zurück«, sagte Alwin. »Rorden wartet auf mich.«
Der letzte Niagara Seranis sah ihn lange und sehr nachdenklich an. Dann stand sie auf und ging zu der Rundtreppe. »Bitte, warte einen Moment«, sagte sie. »Ich muß etwas erledigen, und Theon wird dir viele Fragen stellen wollen.« Damit war die schöne Frau verschwunden, und Alwin konnte eine ganze Weile keinen eigenen Gedanken fassen, denn Theon überschüttete ihn mit Fragen. Der Jüngling hatte natürlich schon von Diaspar gehört und Dokumente gesehen, die die City von ihrer beeindruckendsten Seite zeigten, konnte sich aber nicht vorstellen, wie die Menschen dort lebten. Viele der Fragen rangen Alwin ein Lächeln ab – zumindest, bis er sich bewußt wurde, daß sein Unwissen hinsichtlich Lys viel größer war. Seranis war gut zehn Minuten weg. Als sie zurückkam, war ihr Gesicht ausdruckslos. »Wir haben über dich gesprochen«, sagte sie, ohne zu erklären, wer mit wir gemeint war. »Wenn du nach Diaspar zurückkehrst, wird die ganze City von uns erfahren. Ganz gleich, welche Versprechungen du uns hinterläßt, das Geheimnis kann nicht gewahrt bleiben.« Ein Gefühl von Panik beschlich Alwin. Seranis
mußte seine Gedanken gelesen haben, denn ihre nächsten Worte waren beruhigender. »Wir wollen dich nicht gegen deinen Willen hier festhalten«, fuhr sie fort. »Wenn du nach Diaspar zurückkehrst, müssen wir dir jede Erinnerung an Lys nehmen.« Sie überlegte kurz. »Wir waren noch nie vor diese Situation gestellt, denn deine Vorgänger sind alle zu uns gekommen, weil sie es in ihrer Welt nicht aushielten und in Lys bleiben wollten.« Jetzt überlegte Alwin. »Aber, was macht es denn aus, wenn Diaspar von euch erfährt?« fragte er schließlich. »Es wäre doch für beide nur von Vorteil.« Seranis runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Da sind wir aber nicht einer Meinung, mein Junge«, sagte sie. »Wenn die Tore erst wieder geöffnet sind, dann werden wir von sensationssuchenden und neugierigen Touristen überschwemmt, und daran haben wir nicht das geringste Interesse. Bisher haben uns nur die besten deines Volks gefunden.« Alwin fühlte sich immer weniger wohl in seiner Haut. Daß Seranis recht hatte, mußte er entschieden anzweifeln. »Das stimmt nicht«, sagte er daher. »Kaum einer von uns würde Diaspar verlassen wollen. Niemand wird euch belästigen. Davon bin ich überzeugt.« »Die Entscheidung liegt nicht allein in meiner
Hand – ich meine, was deine Rückkehr anbelangt.« Seranis lächelte. »Der Ältestenrat tritt in drei Tagen zusammen, und da werde ich ihm das Problem vorlegen. Bis dahin bleibst du als mein persönlicher Gast bei uns, und Theon wird dir unser Land zeigen.« »Vielen Dank«, sagte Alwin. »Nichts würde ich lieber tun, aber Rorden wartet auf mich. Er weiß, wo ich bin, und wenn ich nicht zurückkomme, unternimmt er etwas.« »Diesen Punkt haben wir besonders gründlich besprochen«, sagte sie. »Es wird im Moment noch an dem Problem gearbeitet. Hoffen wir, daß wir Erfolg haben.« Alwin ärgerte sich, daß er an so naheliegende Dinge nicht gedacht hatte. Er wußte, daß die Architekten der Vergangenheit für die Ewigkeit gebaut hatten – seine Reise nach Lys war der beste Beweis dafür. Als sich der vielfarbige Nebel auf dem Bildschirm des Visiphons auflöste und plötzlich Rordens Raum zu sehen war, schrak Alwin zusammen. Der Archivar sah von seinem Schreibtisch auf. »Du bist aber früh dran, Alwin«, sagte er, und sein Gesicht hellte sich auf. »Ich habe noch nicht mit dir gerechnet, aber mir fällt ein Stein vom Herzen. Soll ich dir entgegenkommen?« Alwin war so betreten, daß er nicht wußte, was er tun sollte. Seranis nahm ihm die Entscheidung ab
und trat nach vorn. Als Rorden die schöne Frau sah, wurden seine Augen groß, und er lehnte sich nach vorn. Eine rein automatische Reaktion, die der Mensch noch nicht verloren hatte, obwohl er sich schon Millionen von Jahren des Visiphons bediente. Seranis legte Alwin eine Hand auf die Schulter und begann zu sprechen. Als sie geendet hatte, schwieg Rorden eine ganze Weile. »Ich werde mein Bestes tun«, sagte er schließlich. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder wird Alwin unter Hypnose nach Diaspar zurückgeschickt, oder er kommt überhaupt nicht wieder. Ich glaube jedoch, euch versprechen zu können, daß Diaspar euch weiterhin ignoriert – auch wenn es von eurer Existenz erfährt.« »Wir werden diesen Gedanken berücksichtigen«, sagte Seranis etwas spitz. »Und wie steht es eigentlich mit mir?« fragte Rorden mit einem Lächeln. »Ich weiß jetzt ja genau so viel wie Alwin.« »Alwin ist noch ein Knabe«, sagte Seranis, »aber du verwaltest ein Amt, das so alt ist wie Diaspar selbst. Das ist nicht das erstemal, daß Lys mit dem Archivar spricht. Noch nie hat einer deiner Vorgänger unser Geheimnis verraten.« Rorden nahm die Bemerkung kommentarlos hin.
»Wie lange wollt ihr Alwin behalten?« fragte er bloß. »Maximal fünf Tage. Der Ältestenrat tritt in drei Tagen zusammen.« »Gut: dann wird Alwin die nächsten fünf Tage angeblich damit beschäftigt sein, mit mir ein historisches Problem zu lösen. Das war schon öfter der Fall. Wenn sich sein Erzieher Jeserac bei mir meldet, müssen wir eben so tun, als seien wir nicht da.« Alwin lachte. »Der arme Jeserac!« sagte er. »Von allem erfährt er immer bloß die Hälfte.« »Da täuschst du dich aber«, sagte Rorden, und sein Ton war leicht vorwurfsvoll. »Ich kann nur hoffen, daß es keinen Ärger gibt. Die fünf Tage dürfen allerdings nicht überschritten werden.« Als das Bild verschwunden war, saß Rorden noch eine ganze Weile da und stierte nachdenklich vor sich hin. Er hatte immer den Verdacht gehegt, daß das Welt-Kommunikations-System noch funktionierte, aber der Mensch hatte vergessen, wie man es in Betrieb setzte, und war nicht in der Lage, die Billionen von Schaltkreisen und Relais zu überprüfen und daraus bindende Schlüsse zu ziehen. Vielleicht würde einmal der Tag kommen, wo auch sein Empfänger sich nicht mehr einschalten, es keinen Archivar mehr
geben würde, der einem unbekannten Anrufer antwortete ... Die Angst kroch in ihm hoch. Die Unfaßbarkeit dessen, was eben geschehen war, wurde ihm langsam immer bewußter. Bis jetzt hatte Rorden keinen Gedanken darauf verschwendet, welche Folgen das Unternehmen haben konnte. Seine eigenen historischen Interessen und seine Zuneigung zu dem Knaben waren Motiv genug gewesen für das, was er getan hatte. Daß so etwas passieren konnte, hätte er sich nicht einmal träumen lassen. Trotz der Jahrhunderte, die zwischen ihm und Alwin lagen, war der Wille des Jungen immer stärker gewesen als seiner. Etwas dagegen zu unternehmen, dazu war es jetzt zu spät: er konnte den Lauf der Dinge nicht mehr beeinflussen. »Brauchen wir denn das alles?« fragte Alwin. »Wir sind doch bloß zwei bis drei Tage unterwegs und haben einen Synthetisator dabei.« »Wir brauchen es wahrscheinlich nicht«, sagte Theon und lud die letzten Container auf den kleinen Wagen. »Dir kommt diese Sitte vielleicht komisch vor, aber Nahrungsmittel, die sozusagen eine Gaumenfreude sind, haben wir nie synthetisiert. Ganz abgesehen davon beobachten wir gern, wie sie wachsen. Hinzu kommt, daß wir möglicherweise auf ande-
re Menschen stoßen und dann verlangt es die Höflichkeit, daß wir Essen austauschen. Fast jeder Distrikt hat seine Spezialität. Airlee ist bekannt für seine Pfirsiche. Deshalb habe ich so viele eingeladen. Wir beide allein könnten sie nie aufessen.« Alwin warf in seinem Übermut seinen halb aufgegessenen Pfirsich auf Theon, aber der Jüngling sprang schnell zur Seite und die Frucht kullerte über den Boden. Im selben Moment ein irisierendes Flackern und das schwache Sirren unsichtbarer Flügel. Krif landete auf der Frucht und trank ihren Saft. Krif war Alwin immer noch nicht ganz geheuer. Es war für ihn schwer zu verstehen, daß das große Insekt, das kam, wenn es gerufen wurde und kleine Befehle ausführen konnte, ohne Gehirn sein konnte. Für Alwin war das Leben automatisch mit Intelligenz verbunden. Es waren zwei synonyme Begriffe. Wenn Krif in Ruhestellung war, dann lagen seine sechs durchsichtigen Flügel zusammengefaltet an seinem Leib, der wie ein juwelenbesetztes Zepter durch sie hindurchglitzerte. Diese Insektenart war einmal die hochentwickeltste und schönste gewesen, die die Welt gekannt hatte – die späteste und vielleicht letzte aller Kreaturen, die der Mensch zu seinem Gefährten gemacht hatte. Lys war voll von dererlei Überraschungen. Alwin kam aus dem Staunen nicht heraus. Allein das unauf-
fällige Transportsystem! Der kleine Wagen, den Theon eben beladen hatte, schien nach demselben Prinzip zu funktionieren wie die Maschine, die ihn nach Lys gebracht hatte. Auf einer Art Luftkissen schwebend, bewegte er sich ungefähr zwei Handbreit über dem Boden. Schienen waren nirgends zu sehen, Theon hatte ihm jedoch erklärt, daß sich die Wagen nur auf bestimmten, vorgezeichneten Bahnen fortbewegen konnten. Alle Bevölkerungs-Zentren waren auf diese Weise miteinander verbunden. Die entlegenen Stellen des Landes konnten allerdings nur zu Fuß erreicht werden, was Alwin geradezu erschütternd fand, Theon jedoch erfreulich. Theon hatte die Expedition allem Anschein nach schon lange im Sinn gehabt. Naturgeschichte schien sein Hobby zu sein – Krif war lediglich das spektakulärste seiner unzähligen Haustiere. Er hoffte, in den unbewohnten südlichen Regionen von Lys neue Arten von Insekten zu finden. Alwin war begeistert gewesen, als er von dem Vorhaben gehört hatte. Er freute sich darauf, mehr von diesem wundervollen Land zu sehen. Wenn Theons Interessen auch auf einem völlig anderen Gebiet lagen, so empfand Alwin doch eine Art von Verwandtschaft mit dem Jüngling. Nicht einmal das Zusammensein mit Rorden hatte Alwin dasselbe angenehme Gefühl vermitteln können.
Theon beabsichtigte, mit der kleinen Maschine so weit nach Süden zu reisen, wie es ging, dann würden sie zu Fuß weitergehen müssen. Da Alwin nicht die blasseste Ahnung hatte, was das bedeutete, hatte er auch nichts dagegen. Die Reise quer durch Lys war für Alwin ein unwirklicher Traum. Lautlos wie ein Geist glitt die Maschine über Ebenen und durch Wälder. Ihre Geschwindigkeit war vielleicht zwölfmal so schnell wie der Gang des Menschen. Das reichte aus, denn in Lys hatte es niemand eilig. Sie kamen durch eine ganze Reihe von Siedlungen. Manche waren größer als Airlee, aber alle waren sie nach demselben Muster gebaut. Die Bewohner allerdings unterschieden sich in ihrem Äußeren und in ihrer Kleidung. Die Zivilisation von Lys bestand aus Hunderten von verschiedenen Kulturen, wobei jede ein besonderes Talent ihr eigen nannte. Theon hielt die Maschine ein paar Mal an, um sich mit Menschen zu unterhalten, aber die Pausen waren bloß kurz, und es war noch vor Mittag, als die Maschine am Fuße eines bewaldeten Berges anhielt. »Von hier aus gehen wir zu Fuß«, sagte Theon gutgelaunt und holte die Ausrüstung aus dem Wagen. »Weiter führt die Spur nicht.« Während er sich die Schulterriemen überstreifte, die ihn zu einem Last-Transporter machten, sah Al-
win mit gemischten Gefühlen an der Felsmasse hoch, die vor ihnen lag. »Der Weg drum herum ist lang, was?« fragte er. »Wir gehen nicht drum herum«, sagte Alwin. »Ich möchte noch vor Einbruch der Dunkelheit den Gipfel erreichen.« Alwin schwieg. Genau das hatte er befürchtet. »Von hier aus«, sagte Theon laut, denn er mußte das Donnern des Wasserfalls übertönen, »kannst du ganz Lys überblicken.« Alwin glaubte es ihm. Im Norden endlose Meilen Wald, hier und dort durch Lichtungen und Felder und Hunderte von Flüssen durchbrochen. Irgendwo in diesem ausgedehnten Panorama versteckt lag Airlee. Alwin bildete sich ein, den großen See entdeckt zu haben, mußte dann aber feststellen, daß ihn seine Augen betrogen hatten. Noch weiter im Norden Wälder, die wie ein grüngesprenkelter Teppich in der Landschaft lagen und von Hügelketten eingesäumt waren. Und dahinter, am Horizont, das Gebirge, das Lys vor der Wüste schützte. Im Osten und Westen war die Landschaft etwas anders, im Süden jedoch schien das Gebirge zum Greifen nahe zu sein. Alwin sah die Berge klar und deutlich und mußte feststellen, daß sie noch viel höher waren als die Erhebung, auf der sie standen.
Das Beeindruckendste aber war der Wasserfall. Aus der Wand des Berges strömte ein breites Wasserband, fiel weit über das Tal hinaus auf die Felsen, die mindestens dreihundert Meter darunter lagen. Dort löste es sich in eine Wolke von Sprühregen auf, der in die Höhe stieg, um dann wieder herabzusinken. Das dröhnende Donnern wurde von den Spalten des Bergs aufgenommen und in vielfachem Echo wieder zurückgeworfen. Und in der Luft über dem Wasserfall wölbte sich zitternd der einzige Regenbogen, den die Erde noch besaß. Die beiden Jünglinge standen lange am Rand der Klippe und betrachteten den Wasserfall und das verlorene Land dahinter. Es schien leer und menschenlos. Theon beantwortete die unausgesprochen Frage seines Freundes. »Früher war ganz Lys bewohnt«, sagte er. »Aber das ist schon sehr lange her. Heute gibt es hier nur noch Tiere.« Tatsächlich nirgends eine Spur menschlichen Lebens – keine sauber ausgeschlagenen Lichtungen und in ihre Ufer gezwungene Flüsse. Nur ein Anzeichen, daß einmal Menschen hier gehaust hatten: ein paar Meilen entfernt eine Ruine, die wie ein mahnender Finger aus dem Dach des Waldes ragte.
Der Krater-Mensch Alwin wachte mitten in der Nacht auf. Irgendein flüsterndes Geräusch schien sich in seine Gedanken geschlichen zu haben. Er setzte sich auf und versuchte, die absolute Finsternis zu durchdringen. Er schloß die Augen und hielt die Luft an. Nur das Donnern des Wasserfalls und das stetige Rascheln in den Baumkronen, die voll von unsichtbarem Leben zu sein schienen. Nichts zu sehen. Das Licht der Sterne war zu schwach, ihr Schein erreichte das Land nicht, das über hundert Meter unter ihnen lag. Alwin hörte, wie sich neben ihm sein Freund auf die andere Seite rollte. »Was ist denn los?« fragte er mit schläfriger Stimme. »Ich habe mir eingebildet, etwas gehört zu haben«, sagte Alwin. »Was?« »Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht habe ich geträumt.« Stille, während die beiden Knaben in die Dunkelheit stierten. Plötzlich packte Theon den Freund am Arm. »Da!« flüsterte er.
Weit in der Ferne, im Süden, glühte ein Lichtpunkt. Ein Stern konnte es nicht sein, denn sein Schein stand zu tief am Horizont. Er war weiß glänzend, mit violettem Rand, wurde immer strahlender und intensiver, bis er dem Auge weh tat. Dann riß es ihn plötzlich in einer Explosion auseinander, und der Rand der Welt schien von Blitzen gespickt zu sein. Für den Bruchteil einer Sekunde waren die Berge und das weite Land, das sie bewachten, in ein gleißendes Feuer getaucht. Jahrhunderte später, wie es dem Jungen schien, kam das Echo der Explosion über die nächtliche Landschaft zurückgerollt, und in den Wäldern unter ihnen begann sich ein rastloser Wind zu regen, der aber ebenso schnell, wie er aufgekommen war, wieder erstarb. Ein Stern nach dem anderen kehrte in die Kuppel des Himmels zurück. Zum erstenmal in seinem Leben empfand Alwin die Angst vor dem Unbekannten, die der Fluch seiner Vorfahren gewesen war. Das erstickende Gefühl war so seltsam, daß er ihm anfangs gar keinen Namen geben konnte. In dem Moment jedoch, wo er es einordnen konnte, war es auch schon wieder verschwunden, und Alwin war wieder er selbst. »Was war denn das?« fragte er mit flüsternder Stimme. Theon schwieg, und Alwin wiederholte seine Frage.
»Ich versuche, mich daran zu erinnern«, sagte Theon. Wieder Schweigen. Endlich sprach Theon. »Das muß Shalmirane gewesen sein«, sagte er. »Shalmirane? Existiert das denn noch?« »Ich hatte es fast vergessen«, sagte Theon, »aber jetzt steigt es wieder aus meinem Gedächtnis auf. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, daß die Festung hier in diesen Bergen versteckt ist. Natürlich ist sie seit Jahrtausenden zerstört und nur noch Ruinen sind übrig, aber angeblich lebt noch jemand hier.« Shalmirane! Für die beiden Jünglinge, die in ihrer Rasse, ihrer Kultur und ihrer Geschichte so weit voneinander entfernt waren, bedeutete allein der Name Zauberhaftes. In der langen, endlosen Schilderung über das Entstehen und den Zerfall der Erde gab es kein größeres Epos als das, das von der Verteidigung Shalmiranes gegen die Invasoren erzählte, die das Universum erobert hatten. Plötzlich kam Theons Stimme wieder aus der Dunkelheit. »Die Menschen, die hier im Süden leben, könnten uns bestimmt mehr darüber sagen. Wir fragen sie auf dem Rückweg.« Alwin hörte die Worte des Freundes kaum, er war zu tief in seine eigenen Gedanken versunken. Die Ge-
schichte, die ihm Rorden vor langer Zeit erzählt hatte, wurde wieder in ihm wach. Die Schlacht von Shalmirane fiel in die Anfänge der Geschichtsschreibung beziehungsweise in die Anfänge der Aufzeichnung von Dokumenten. Sie war das Ende legendärer Jahrhunderte von Verteidigung und der Beginn des langen, aber stetigen Untergangs der Menschheit. In Shalmirane lag für Alwin die Antwort auf die Probleme, die ihn so viele Jahre lang gequält hatten. Die Berge waren jedoch weit weg. Theon mußte dieselben Kräfte besitzen wie seine Mutter, denn er nahm Alwins Gedanken auf. »Wenn wir bei Anbruch des Tages aufbrechen«, sagte er, »könnten wir die Festung erreicht haben, wenn sich die Nacht aufs Land senkt. Ich war noch nie dort, aber ich glaube, daß ich den Weg finden kann.« Alwin überlegte. Er war müde und abgespannt, seine Füße schmerzten, die Muskeln in seinen Beinen waren auf ihm völlig fremde Weise verkrampft. Physische Anstrengung hatte er bisher nicht gekannt, aber die Versuchung war groß. Vielleicht bot sich nie wieder eine solche Gelegenheit. Vielleicht war diese Explosion auch ein Hilferuf gewesen. Ein Signal, daß sich jemand in Not befand. Unter dem schwindenden Schein der Sterne kämpfte Alwin mit seinen Gedanken und kam
schließlich zu einem Entschluß. Nichts hatte sich geändert: die Berge bewachten wieder das schlafende Land, aber ein Wendepunkt in der Geschichte war gekommen und die menschliche Rasse ging einer seltsamen neuen Zukunft entgegen. Die Sonne war gerade über den Ostwall von Lys geklettert, als sie den Rand des Waldes erreichten. Hier war die Natur ganz in sich selbst zurückgekehrt. Selbst Theon schien unter den gigantischen Bäumen verloren zu sein, die das Sonnenlicht verdunkelten und Schattentümpel auf den Dschungelboden warfen. Zum Glück floß der Fluß, der aus dem Wasserfall gespeist wurde, nach Süden, und sie konnten seinem Lauf folgen, der sich erbarmungslos durch das Gewucher von Pflanzen fraß. Theon mußte pausenlos auf Krif aufpassen, der ausgelassen in der Wildnis der Natur verschwand und furchtlos über den sprudelnden Wassern schwebte. Selbst Alwin, dem ja alles neu und unbekannt war, spürte, daß dieser Wald mehr Faszination hatte als die kultivierten Baumbestände im nördlichen Teil des Landes. Kaum ein Baum glich dem anderen. Die vielen Abarten, die die Jahrhunderte geschaffen hatten, waren nicht zu beschreiben. Einige schienen sogar so viele Mutationen durchgemacht zu haben, daß sie ihre ursprüngliche Form wieder erreicht hatten. Andere
wieder stammten offensichtlich nicht aus der Fauna der Erde und waren nicht einmal einem der bekannten Sonnensysteme zuzuschreiben. Wie Wächter erhoben sich über die weniger hohen Pflanzen Mammutbäume, deren weitverzweigte Stämme sich bis über hundert Meter in den Himmel erhoben. Man hatte sie einmal zu den ältesten Dingen der Erde gezählt. Sie waren älter als der Mensch. Der Fluß wurde immer breiter. Stellenweise weiteten sich seine Ufer zu kleinen Seen, in denen winzige Inseln verankert waren. Die Inseln waren voll von Insekten, leuchtend gefärbten Kreaturen, die ziellos über die Wellen tanzten, um sich dann auf dem nächsten Stückchen Land niederzulassen. Einmal entschwebte Krif und gesellte sich zu seinen fremden Vettern – Theons Rufe blieben ungehört. Krif verschwand in einer Wolke von silbrigen Flügeln, und aufgeregtes, ärgerliches Summen drang zu den Knaben herüber. Einen Moment später zerstob die Wolke, und Krif kam so schnell über das Wasser geschossen, daß das Auge seinem Flug kaum folgen konnte. Anschließend blieb er brav an Theons Seite und ließ das Streunen sein. Gegen Abend sahen sie hin und wieder die Berge. Der Fluß, der ihnen ein so treuer Führer gewesen war, floß träge dahin, als sei auch er am Ende seiner Reise angelangt. Daß sie bis zum Einbruch der Dun-
kelheit die Berge nicht erreicht haben würden, war den Knaben inzwischen klar: noch lange vor Sonnenuntergang war es in dem Wald so finster geworden, daß sie sich nicht weiterwagen konnten. Die großen Bäume waren von Schatten umgeben, ein kalter Wind fegte durch die Blätter. Alwin und Theon ließen sich unter einem Giganten nieder, dessen höchste Zweige noch in den goldenen Schein der Sonne getaucht waren. Als die Sonne schließlich hinter den Horizont gesunken war, tanzte nur noch die Erinnerung an ihr Licht auf den Wassern des Flusses. Die beiden Knaben lagen in der immer dichter werdenden Düsternis und dachten an alles, was sie erlebt hatten. Kurz bevor er einschlief, dachte Alwin noch daran, wer wohl zuletzt hierhergekommen war und wie lange das her sein mochte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie den Wald endlich hinter sich hatten und am Fuß der Berge standen, die Lys einsäumten. Vor ihnen stiegen die Felswände steil auf. Der Fluß war an seinem Ende angekommen und verschwand mit demselben Donnern in der Erde, mit dem er an seinem Ursprung aus ihr herausgebrochen war. Theon stand lange schweigend da und sah um sich. Schließlich deutete er auf eine Spalte in dem Stein.
»Da müssen wir durch«, sagte er. »Nur so kommen wir nach Shalmirane.« Alwin sah ihn erstaunt an. »Woher weißt du das?« fragte er. »Du hast doch gesagt, daß du noch nie hier gewesen bist.« »Das stimmt.« »Woher weißt du es dann?« Theon runzelte die Stirn und überlegte. »Das kann ich dir nicht sagen – ich habe bisher nie darüber nachgedacht. Es muß eine Art Instinkt sein. Wohin wir gehen, wir wissen immer den Weg.« Alwin konnte nicht recht glauben, daß es stimmte, und folgte Theon mit beträchtlichem Mißtrauen. Sie hatten die Felsspalte bald durchquert und sahen plötzlich ein seltsames Plateau mit sanft abfallenden Rändern vor sich liegen. Nach kurzem Zögern ging Theon weiter. Alwin folgte ihm, von Zweifeln geplagt. Als sie fast oben angekommen waren, änderte sich der Boden unter ihren Füßen von einem Schritt zum anderen. Unten, am Fuß des Hügels, war er porös und vulkanisch gewesen. Schlackenartige Haufen hatten den Knaben zum Teil den Weg versperrt. Jetzt war die Oberfläche plötzlich wie Glas, hart und rutschig, als sei der Fels einmal flüssig gewesen wie Wasser. Sie hatten die oberste Kante des Plateaus fast er-
reicht. Noch ein paar Schritte, und die Knaben trauten ihren Augen nicht. Das, was sie für ein Plateau gehalten hatten, war eine riesige Schüssel, die vielleicht fünfzehnhundert Meter tief war und einen Durchmesser von mindestens fünftausend Metern hatte. Direkt vor ihnen fiel der Boden jäh ab. Obwohl die Sonne direkt über dem unfaßbar großen Erdloch stand, war in seiner Tiefe nur Schwärze. Aus was für einem Material der Krater bestand, wußten die Knaben nicht. Sie sahen lediglich, daß es so düster war wie der Fels einer Welt, die nie eine Sonne gekannt hatte. Aber dem nicht genug: unter ihnen lief eine breite Metallrampe um den ganzen Krater herum. Unzählige Jahrtausende hatten ihm den Glanz genommen, aber es zeigte nicht die geringste Spur von Korrosionserscheinungen. Als sich ihre Augen an die unirdische Szenerie gewöhnt hatten, stellten Alwin und Theon fest, daß der Grund der Schüssel nicht so solide war, wie sie anfangs geglaubt hatten. Immer wieder flackerten kleine Explosionen an den pechschwarzen Rändern auf. Wie die Reflektion von Sternenlicht auf bewegter See verglühten sie ebenso schnell, wie sie geboren worden waren. »Es ist wundervoll!« rief Alwin. »Aber was ist es bloß?« »Es sieht wie eine Art Reflektor aus«, sagte Theon.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein so schwarzes Material etwas reflektieren kann«, sagte Alwin. »Vergiß nicht, daß es bloß für unsere Augen schwarz ist«, sagte Theon. »Wir wissen ja nicht, welche Energiestrahlungen sie benutzt haben.« »Aber das ist doch bestimmt noch nicht alles«, sagte Alwin. »Wo ist die Festung?« Theon deutete auf den flachen Grund des Kraters, wo etwas lag, das Alwin für einen Gesteinshaufen gehalten hatte. Nach genauerem Hinsehen jedoch mußte er feststellen, daß die Steinbrocken nach einem bestimmten System angeordnet zu sein schienen. Ja, es waren die Ruinen von Gebäuden, die einmal mächtig gewesen sein mußten. Die Zeit hatte sie zerstört. Die ersten zweihundert bis dreihundert Meter waren die Wände des Kraters so steil, daß sich die Knaben nicht aufrecht halten konnten, sondern auf allen Vieren in die Tiefe klettern mußten, doch dann erreichten sie wegsamere Regionen und kamen ohne größere Anstrengung weiter. Der Grund des Kraters war mit einer dünnen Erdschicht bedeckt, die die Winde von Lys durch die Jahrtausende hierhergetragen haben mußten. Etwa vierhundert Meter entfernt waren titanische Steinquader aufeinander geschichtet und erinnerten an ein um ein Vielfaches vergrößertes Kinderspiel aus
Klötzen. Hier war noch ein Stück eines massiven Walls sichtbar, dort markierten zwei mit Reliefs geschmückte Obeliske den ehemals prunkvollen Eingang. Alles war von Moos und Kletterpflanzen überwuchert. Sogar ein paar knorrige kleine Bäume wuchsen aus dem Gestein. Im Gesang des Windes lag ehrfürchtige Verhaltenheit. Und so kamen Alwin und Theon zu den Ruinen von Shalmirane. Wenn die Legende die Wahrheit sprach, war an diesen Mauern, die allem standzuhalten schienen, eine Welt entflammt, in ihren Fugen erschüttert und total zerstört worden. Diese friedvollen Himmel, die jetzt gütig die Landschaft überspannten, hatten einmal geglüht im Feuer der zerrissenen Sonnen, und die Randgebirge von Lys mußten gezittert und gebebt haben unter der wahnsinnigen Verzweiflung ihrer Beherrscher. Shalmirane war nie besiegt worden, aber die Festung war letztlich doch gefallen – eingenommen und zerstört durch den geduldigen, stetigen Fraß von haardünnen Wurzelarmen und Generationen von Würmern, die sich in die Zeit gebohrt hatten. Von seiner Majestät überwältigt, gingen die beiden Knaben auf das kolossale Wrack zu. Sie kamen in ein Gebiet tiefster Schatten und traten in einen Canyon ein, der die Steinwände auseinandergerissen hatte.
Vor ihnen lag ein großes Amphitheater, voll von langgestreckten Hügeln, unter denen Maschinen begraben sein mußten. Einmal mußte das riesige Rund mit einem Dach bedeckt gewesen sein, aber es war schon lange in sich zusammengebrochen. Irgendwo in diesem Chaos der Zerstörung mußte noch Leben existieren. Die Ruine schien nur oberflächlich zu sein. Der Hauptteil der Festung mußte tief im Innern der Erde liegen, dem Griff der Zeit entzogen. »Wenn die Sonne den höchsten Stand erreicht hat«, sagte Theon, »müssen wir zurück. Ich schlage vor, wir trennen uns, dann sparen wir Zeit. Ich übernehme die Ostseite, und du bleibst gleich hier. Rufe mich, wenn du etwas Interessantes findest – aber geh nicht zu weit weg.« So trennten sich die Knaben, und Alwin begann, über die langgestreckten Hügel zu klettern. Fast in der Mitte des Rundes stieß er plötzlich auf eine kreisförmige Fläche von zehn bis fünfzehn Meter Durchmesser. Sie mußte einmal mit Zweigen und Gestrüpp bedeckt gewesen sein, das jedoch in der fast unerträglichen Hitze verkohlt und zu Asche zerfallen war. In der Mitte des Kreises stand ein Dreifuß, der eine Metallschüssel trug, die eine Nachbildung oder wenigstens ein Symbol des Kraters zu sein schien. Sie war in der Höhe und im Seitenwinkel verstellbar, und in
ihrer Mitte befand sich eine Spirale aus einem durchsichtigen Material. Unter der Metallschüssel war eine schwarze Dose angebracht, aus der ein Kabel über den Boden lief. Daß diese Maschine eine Lichtquelle sein mußte, war Alwin klar, und er machte sich daran, dem Kabel zu folgen, was nicht einfach war, denn es verschwand in Erdspalten, um dann an völlig unerwarteten Stellen wieder aus dem Boden aufzutauchen. Schließlich verlor er es aus den Augen und rief nach Theons Hilfe. Alwin hockte unter einem Felsüberhang, als plötzlich ein Schatten das Licht verschluckte, das ihn eben noch umgeben hatte. Alwin lief aus der höhlenähnlichen Vertiefung und wollte seinem Freund erklären, warum er ihn gerufen hatte, als ihm die Worte auf den Lippen erstarben. Vor ihm hing ein großes Auge in der Luft, das von einem Satelliten-System kleinerer Augen umgeben war. Zumindest war das Alwins erster Eindruck. Dann jedoch merkte er, daß er vor einer Maschine stand, die ihn betrachtete. Alwin zwang sich, ruhig zu bleiben. Ein Leben lang hatte er Maschinen Befehle gegeben, und wenn er auch noch nie eine solche gesehen hatte, so mußte sie doch wenigstens Intelligenz besitzen. »Rücklauf!« sagte er. Nichts passierte.
»Leerlauf!« Nichts. »Volle Kapazität!« Keine Reaktion. »Zeitzerrer ... Vorlauf ... Auflösung.« Keiner der konventionellen Steuergedanken brachte auch nur die leiseste Wirkung. Die Maschine blieb auf sture Weise inaktiv. Alwin machte einen Schritt nach vorn, und die Augen zogen sich im gleichen Abstand zurück. Ihr Sehwinkel schien limitiert zu sein, denn sie prallte dabei gegen Theon, der in dem Moment dazukam. Mit fast menschlichem Entsetzen machte die Maschine einen Satz in die Luft. »Komm wieder herunter!« rief Theon. »Wir tun dir nichts.« Es kam eine Antwort, aber nicht der leidenschaftslose, kristallklare Klang einer Maschine war zu hören, sondern die Stimme eines sehr alten und sehr müden Mannes. »Wer seid ihr? Was macht ihr in Shalmirane?« »Ich heiße Theon«, sagte der junge Mann aus Lys höflich, »und das ist mein Freund Alwin. Wir erforschen den Süden des Landes.« Kurze Pause. Als die Stimme wieder ertönte, war der Anflug von Verdrießlichkeit und Ärger nicht zu überhören.
»Warum könnt ihr mich nicht in Frieden lassen? Habe ich nicht oft genug darum gebeten, daß man mir meine Ruhe läßt?« Theon, sonst immer freundlich und gutgelaunt, warf arrogant den Kopf in den Nacken. »Wir kommen aus Airlee«, sagte er, »und wissen nicht, was es mit Shalmirane auf sich hat.« »Und außerdem«, fügte Alwin hinzu, »haben wir dein Signal gesehen und geglaubt, daß du vielleicht Hilfe brauchst.« Es war seltsam, den Seufzer eines Menschen aus der kalten Unpersönlichkeit der Maschine kommen zu hören. »Über eine Million von Malen habe ich jetzt schon Signale ausgeschickt, und was habe ich damit erreicht? Immer dasselbe. Man befragt mich bloß. Aber ich sehe ein, daß ihr mir nichts Böses wollt. Kommt, folgt mir.« Die Maschine schwebte über die Gesteinshaufen hinweg und blieb schließlich über der dunklen Öffnung im zerstörten Wall des Amphitheaters stehen. Im Schatten der Höhle bewegte sich etwas, und kurz darauf trat eine menschliche Gestalt in das Licht der Sonne heraus. Alwin hatte noch nie einen physisch alten Menschen gesehen. Sein Kopf war kahl, aber dichtes weißes Haar be-
deckte sein Kinn. Ein Umhang aus gewobenem Glas war über seine Schultern geworfen, und neben ihm schwebten zwei weitere von den seltsamen, vieläugigen Maschinen.
Die Geschichte von Shalmirane Kurzes Schweigen und gegenseitiges Betrachten. Dann sprach der alte Mann, und die drei Maschinen gaben seine Stimme wieder, bis sie plötzlich abgeschaltet wurden. »Ihr seid also aus dem Norden, und die Menschen dort haben Shalmirane schon vergessen.« »Nein!« rief Theon schnell. »Wir haben Shalmirane nicht vergessen. Wir wußten bloß nicht, daß jemand hier lebt, und erst recht nicht, daß du nicht gestört zu werden wünschst.« Der alte Mann sagte nichts darauf. Den Knaben tat es fast weh, zusehen zu müssen, wie langsam sich der alte Mann bewegte. Er schleppte sich durch ein Tor und verschwand. Die drei Maschinen folgten ihm lautlos. Alwin und Theon sahen sich erstaunt an. Was sollte das bedeuten? War für den alten Mann damit die Unterredung zu Ende? Sie wollten gerade beraten, was sie tun sollten, als eine der Maschinen zurückkam. »Worauf wartet ihr denn noch? Los, kommt!« Damit verschwand sie wieder. Alwin zuckte mit den Schultern. »Das scheint eine Art Einladung gewesen zu sein«,
sagte er. »Der alte Mann scheint etwas unfreundlich zu sein, aber er betrachtet uns offensichtlich nicht als Feinde.« Nach dem Tor kam eine Treppe, die ein paar Meter in die Tiefe führte. Sie endete in einem kleinen, runden Raum, von dem mehrere Gänge abgingen. Bis auf einen waren sie jedoch mit Steinen verschüttet. Der eine Gang führte in einen großen, unglaublich unordentlichen Raum, in dem die seltsamsten Gegenstände herumstanden. In einer Ecke standen die üblichen, zu jedem Haushalt gehörenden Maschinen – Synthetisierer, Destruktoren, Säuberungsapparate und dergleichen, alles Dinge, die normalerweise in die Wände oder in den Boden eingelassen sind. Daneben ein ganzer Stoß von Kästen mit Gedankenspeichern und Transkriptoren. Fast bis zur Decke reichte der Stapel. Mindestens ein Dutzend Perpetuum-Feuer waren über den Raum verteilt, und es war unerträglich heiß. Von den Strahlen angezogen, flog Krif auf die nächste der Metallkugeln zu, legte die Flügel an und schlief ein. Es dauerte einen Moment, bis die Knaben den alten Mann und seine Maschinen in einer Art Nische entdeckten, in der ein Tisch stand und drei bequeme Liegen. Die eine war alt, die anderen beiden nagelneu. Plötzlich flackerte die Warnlampe des Synthetisierfeldes über dem Tisch auf, und der alte Mann machte
eine einladende Geste. Alwin und Theon bedankten sich höflich und kosteten die Speisen und Getränke, die automatisch aufgetaucht waren. Alwin stellte fest, daß ihn die Abwechslung freute. Die Produkte aus Theons tragbarem Synthetisierer waren ihm schon langsam langweilig geworden. Sie aßen schweigend und warfen dem alten Mann immer wieder einen verstohlenen Blick zu. Der alte Mann war in Gedanken versunken und schien seine Gäste völlig vergessen zu haben. Sie hatten jedoch den letzten Bissen kaum hinuntergeschluckt, als er aufsah und anfing, die Knaben auszufragen. Als Alwin erklärte, daß er nicht aus Lys, sondern aus Diaspar stamme, war der alte Mann nicht im geringsten erstaunt. Theon tat sein Bestes, alle Fragen korrekt zu beantworten. Für jemand, der Besuch zu verabscheuen schien, reagierte der alte Mann seltsam: er war geradezu begierig, von der Außenwelt zu erfahren. Vielleicht hatte er sich anfangs nur verstellt. Schließlich verfiel er wieder in Schweigen. Die Knaben warteten geduldig, was ihnen nicht leicht fiel, denn der alte Mann hatte von sich und Shalmirane noch rein gar nichts erzählt. Das Lichtsignal war immer noch ein Rätsel, doch sie wagten nicht, danach zu fragen. Also saßen sie da, schwiegen ebenfalls und ließen den Blick durch den seltsamen Raum wandern.
Schließlich nahm sich Alwin ein Herz. »Wir müssen bald wieder aufbrechen«, sagte er. Der alte Mann hob den Kopf, aber sein Blick war in weite Fernen gerichtet. Dann fing er endlich an zu sprechen. Seine müde, unbeschreiblich alte Stimme war erst so leise, daß die Knaben ihn kaum verstehen konnten. Der alte Mann schien sich dessen bewußt zu sein, denn plötzlich fungierten die drei Maschinen wieder als Verstärker. Vieles von dem, was er ihnen erzählte, verstanden sie nicht. Manchmal gebrauchte er auch Worte, die sie nicht kannten, und schien ganze Sätze zu sprechen, die vor langer Zeit von jemand anders aufgeschrieben worden waren. Der Grundzug seiner Geschichte war jedoch klar, und Alwin sah sich in Zeiten versetzt, von denen er als Kind geträumt hatte. Wie so viele andere begann die Geschichte im Chaos des Übergangs-Zeitalters. Die Invasoren waren verschwunden, aber die Welt war noch voll Wunden. Damals tauchte in Lys der Mann auf, der später als der »Meister« bekannt wurde. Drei seltsame Maschinen begleiteten ihn. Sie waren seine Diener, besaßen aber eigene Intelligenz. Woher er kam, erfuhr niemand, denn der Mann verriet dieses Geheimnis nie. Man war schließlich überzeugt davon, er stamme aus dem All und habe es auf wundersame Weise geschafft, die Blockade der Invasoren zu durchbrechen.
Daß irgendwo zwischen den Sternen noch Inseln menschlichen Lebens vorhanden seien, die von der Flutwelle des Kriegs verschont geblieben waren, hielt man für möglich. Der Meister und seine Maschinen besaßen Kräfte, die die Welt verloren hatte, und es sammelten sich Menschen um ihn, denen er viel Weises lehrte. Seine Persönlichkeit muß ausnehmend stark gewesen sein, und Alwin hatte eine vage Vorstellung von der Anziehungskraft, die er auf andere ausgeübt haben mußte. Tausende waren aus den sterbenden Städten geflohen und nach Lys gekommen, um nach den Jahren des Umbruchs Ruhe und Frieden zu finden. Hier in den Wäldern, die von den Bergen beschützt wurden, fanden die Menschen bei den Worten des Meisters wieder zu sich. Ihre Seelen erholten sich von der langen Pein. Als sein langes Leben dem Ende entgegenging, bat der Meister seine Freunde, sie sollten ihn unter den freien Himmel tragen, damit er die Sterne sehen könne. Mit schnell schwindender Kraft wartete er auf den höchsten Stand der Sieben Sonnen. Als er starb, löste sich plötzlich seine Zunge, und er sprach von Dingen, die er ein Leben lang als Geheimnis gehütet hatte. In seiner Agonie sagte er, daß die »Großen«, die die Welt verlassen hatten, eines Tages zurückkommen würden, und bat seine Freunde, sie zu begrüßen.
Dann verließen ihn die Sinne, und er nahm seine Umgebung nicht mehr wahr. Bevor er jedoch seine Seele aushauchte, sagte er noch einen Satz, der allen durch die Jahrhunderte hindurch ein Rätsel bleiben sollte. Es ist wundervoll, die bunten Schatten auf den Planeten Ewigen Lichts zu betrachten. Mit dem Tod des Meisters war die Religion der Großen geboren. Eine ganze Anzahl seiner Bewunderer fielen ab, aber viele blieben seinen Lehren treu. Anfangs glaubten sie, daß die Großen bald zur Erde zurückkehren würden, aber die Hoffnung schwand mit den Jahrhunderten dahin. Doch die Brüderlichkeit blieb, neue Anhänger kamen aus den umliegenden Ländern dazu, und langsam festigte sich die Kraft und die Macht des Glaubens, der schließlich den ganzen Südteil von Lys beherrschte. Alwin konnte der Erzählung des alten Mannes nur schwer folgen. Die Worte, die er gebrauchte, waren zum Teil so seltsam, daß der Knabe zwischen Wahrheit und Legende oft nicht unterscheiden konnte. Zerrbilder von Generationen fanatischer Menschen zogen an ihm vorbei, von Menschen, die auf ein Ereignis warteten, von dem niemand eine Vorstellung hatte. Die Großen kamen nie zur Erde zurück. Langsam nahm die Macht des neuen Glaubens ab, und die Be-
wohner von Lys trieben die letzten Anhänger in die Berge, bis diese in Shalmirane Zuflucht suchten. Die wenigen, die sich nicht von ihrer Religion hatten abbringen lassen, schworen, auf die Rückkehr der Großen zu warten, auch wenn es eine Ewigkeit dauern würde. Wie man der Zeit trotzen konnte, hatte der Mensch schon vor Millionen von Jahren gelernt, also blieben einige der Gläubigen in Shalmirane und hielten Wache, während sich der Rest in den traumlosen Schlaf schwebenden Lebens versenkte. Trotzdem wurde die Anzahl der Gläubigen immer kleiner, denn wenn einer der Wachenden starb, wurde ein Schlafender geweckt, um ihn zu ersetzen. Aus den Worten ihres dahingehenden Meisters schlossen seine Anhänger, daß die Großen auf den Planeten der Sieben Sonnen lebten, und in späteren Jahren wurden Versuche unternommen, Signale ins All zu senden. Schon vor langer Zeit waren die Signale zu einem sinnentleerten Ritual geworden, und damit näherte sich die Geschichte ihrem Ende. Bald würden nur noch die drei Maschinen in Shalmirane übrig sein und die Gebeine von Menschen bewachen, die vor Jahrtausenden aus einem Grund nach Shalmirane gekommen waren, den nur sie verstanden. Die dünne Stimme erstarb, und Alwins Gedanken kehrten in die Welt zurück, die er kannte. Mehr denn je quälte ihn seine Unwissenheit. Für kurze Zeit hatte
ein Bruchteil der Vergangenheit aufgeleuchtet, dann hatte sich wieder Dunkelheit über alles gelegt. Die Geschichte der Welt war wie ein Knäuel von einzelnen Fäden, die ohne Verbindung waren und von denen niemand zu wissen schien, welche bedeutsam waren und welche nicht. Die phantastische Erzählung von dem Meister und den Großen, die so lange erwartet worden waren, war vielleicht auch bloß eine der unzähligen Legenden, die sich aus dem Zeitalter der Dämmerung in die Vergangenheit gerettet hatten. Aber die drei Maschinen? Alwin hatte noch nie Geräte dieser Art gesehen. Wie gern hätte Alwin die Geschichte als Fabel abgetan, die nur auf ihrer Selbsttäuschung aufgebaut war. »Und die Maschinen?« fragte er plötzlich. »Man hat sie doch sicher befragt. Wenn sie mit dem Meister zur Erde gekommen und mit Intelligenz ausgestattet sind, dann kennen sie doch bestimmt das Geheimnis ihres ehemaligen Meisters.« Der alte Mann lächelte. »Natürlich«, sagte er. »Aber sie verraten es nicht. Sie können es gar nicht verraten, denn der Meister hat vorgesorgt. Wir haben es unzählige Male versucht, aber ohne Erfolg.« Alwin hatte begriffen. Er mußte an die Assoziatoren in Diaspar denken. Alaine hatte schließlich auch Sper-
ren eingebaut, um sein Wissen zu bewahren. Die Sperren konnten mit der Zeit aufgelöst werden, davon war er überzeugt, und der Haupt-Assoziator in Diaspar war bestimmt mächtiger als diese kleinen RoboterSklaven. Alwin überlegte, ob wohl Rorden in der Lage war, den Maschinen ihr Geheimnis zu entlocken. Aber Rorden war weit weg und würde Diaspar nie verlassen. Plötzlich, von der einen Sekunde zur anderen, lag der Plan völlig klar vor Alwin. Nur ein sehr junger Mensch konnte daran gedacht haben, und Alwins Zutrauen zu sich selbst war plötzlich wieder voll da. Als der Entschluß einmal gefaßt war, ging er jedoch sehr vorsichtig vor. »Sind die drei Maschinen identisch?« fragte er. »Ich meine, erfüllt jede dieselbe Funktion, oder sind sie spezialisiert?« Der alte Mann sah ihn erstaunt an. »Das habe ich mir nie überlegt«, sagte er. »Wenn ich etwas brauche, frage ich die nächstbeste. Ich glaube nicht, daß ein Unterschied zwischen ihnen besteht.« »Jetzt haben sie doch kaum mehr etwas zu tun«, sagte Alwin mit völlig unschuldigem Gesicht. Theon schien nicht zu kapieren, worauf sein Freund hinaus wollte, und Alwin vermied es tunlichst, ihn anzusehen.
Der alte Mann antwortete völlig arglos. »Das stimmt«, sagte er. »Sie haben kaum mehr was zu tun, denn Shalmirane ist ja inzwischen völlig anders geworden.« Alwin hatte einen Moment Mitleid mit dem alten Mann. Doch dann fing er an zu reden wie ein Wasserfall. Anfangs schien der alte Mann nicht zu verstehen, welchen Zweck der Knabe verfolgte. Und als er langsam dahinterkam, ließ sich Alwin nicht mehr unterbrechen. Er erzählte von dem großen Wissens-Lager in Diaspar und von der Geschicklichkeit, mit der der Archivar das gespeicherte Wissen bei Bedarf aus den Konservierungs-Kammern holte – was nicht immer leicht war und außer der Geschicklichkeit oft auch Zeit erforderte. Gut, die drei Maschinen des Meisters hatten ihr Geheimnis bisher nicht preisgegeben und alle Fragen waren erfolglos an ihnen abgeprallt, aber Rorden gegenüber waren sie vielleicht machtlos und mußten sprechen. Diese einmalige Chance nicht wahrzunehmen, wäre Wahnsinn, denn sie würde sich nie wieder bieten. Mit geröteten Wangen beendete Alwin seinen Redefluß. »Leih mir eine der Maschinen«, sagte er. »Du brauchst sie ja nicht alle. Befiehl dieser einen Maschine, daß sie mir gehorchen soll, und ich nehme sie mit
nach Diaspar. Ich verspreche dir, daß du sie wieder bekommst, ob das Experiment nun glückt oder nicht.« Theon riß lediglich die Augen weit auf, während der alte Mann Alwin mit einem Ausdruck schieren Entsetzens ansah. »Das ist unmöglich!« sagte er. »Aber wieso denn?« fragte Alwin. »Denk doch nur daran, was wir vielleicht in Erfahrung bringen könnten.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das wäre gegen den Willen des Meisters«, sagte er. Alwin war enttäuscht. Enttäuscht und ungehalten. Aber er war jung und der Mann von Shalmirane uralt und müde. Alwin fing von vorn an, und sein Drängen wurde massiver. Jeden Schritt, den er gewann, nützte er aus. Theon sah in dem Freund plötzlich einen ganz anderen Menschen. So viel Persönlichkeit und Intelligenz hätte er ihm nicht zugetraut. Selbst Alwin war über sich erstaunt. Aber der Mensch aus dem Zeitalter der Dämmerung hatte keinen Widerstand gelten lassen und war nicht davor zurückgeschreckt. Seine Willenskraft und seine Entschlossenheit waren offensichtlich doch noch nicht ganz von der Erde verschwunden.
Alwin hatte sich schon als Kind gegen die einlullenden Maßnahmen gesträubt, deren Zweck es war, den Menschen an Diaspar anzupassen. Jetzt war er älter und hatte nicht die größte City der Welt zum Gegner, sondern einen alten Mann, der sich nur nach Ruhe sehnte und diese bald finden sollte.
Der Meister des Roboters Der Abend lag schon über dem Land, als der kleine Wagen den riesigen Wald passiert hatte und in die Schneise glitt, in der Airlee lag. Die beiden Knaben hatten während der ganzen Reise gestritten und eben Frieden geschlossen. Zu einer Prügelei war es deshalb nicht gekommen, weil die Kräfte so schlecht verteilt waren. Theon hatte bloß Krif zur Unterstützung, während Alwin die argusäugige Maschine hätte einsetzen können. Mit Schimpfworten hatte Theon allerdings nicht gespart. Einen unsensiblen Dickschädel hatte er Alwin genannt und gemeint, daß er sich schämen müsse. Aber Alwin hatte nur gelacht und mit seinem neuen Spielzeug gespielt. Wie die Umschaltung vor sich gegangen war, wußte er nicht, aber er war inzwischen der einzige, der mit dem Roboter umgehen und ihm Befehle erteilen konnte. Er konnte durch seine Stimme sprechen und durch seine Augen sehen. Der Roboter gehorchte ihm und nur ihm allein. Seranis wartete auf die Knaben in einem Raum, der keine Decke zu haben schien; Alwin wußte jedoch, daß sich darüber noch ein Stockwerk befand. Die schöne Frau machte einen besorgten Eindruck. Be-
sorgt und vor allem so unsicher, wie Theon seine Mutter noch selten erlebt hatte. Bisher hatte Alwin seine weitere Zukunft total vergessen, aber jetzt richtete sich die Tatsache, daß er bald eine Entscheidung würde treffen müssen, wie eine Mauer vor ihm auf. Irgendwie, hatte er geglaubt, würde der Ältestenrat schon zu einem Entschluß kommen, aber jetzt wurde ihm plötzlich klar, daß dieser Entschluß im Gegensatz zu seinen Wünschen stehen konnte. Seranis' Stimme klang besorgt, als sie zu sprechen begann. Sie machte viele Pausen, und Alwin schloß daraus, daß sie sich die Worte schon mehrmals vorgesagt hatte. »Alwin«, sagte sie, »viele Dinge habe ich dir bisher noch nicht erzählt, aber du mußt sie wissen, um uns verstehen zu können. Einen Grund für die Spaltung unserer beiden Rassen kennst du: die Angst vor den Invasoren, dieser dunkle Schatten in den Tiefen des menschlichen Geistes, hat bewirkt, daß sich dein Volk von der Welt abgewandt und sich in die eigenen Träume vergraben hat. Bei uns hier in Lys ist diese Angst nie so groß gewesen, obwohl sich die Schlacht auf unserem Grund und Boden abgespielt hat. Unsere Maßnahmen waren mehr als begründet, und was wir unternahmen, unternahmen wir mit offenen Augen.
Schon vor Urzeiten hat der Mensch sich nach Unsterblichkeit gesehnt und sie schließlich auch erlangt. Vergessen wurde dabei allerdings, daß eine Welt, die den Tod verbaut, gleichzeitig das Gebären verbieten muß. Die Möglichkeit, das Leben ins Unendliche zu verlängern, brachte dem Menschen Befriedigung, seiner Rasse jedoch Stagnation. Du hast mir erzählt, daß du das einzige Kind bist, das in Diaspar in einem Zeitabschnitt von siebentausend Jahren geboren wurde. Daß hier bei uns in Airlee überall Kinder herumlaufen, hast du gesehen. Schon vor Jahrtausenden haben wir unsere Unsterblichkeit geopfert, Diaspar jedoch lebt immer noch in seinem falschen Traum. Das ist der Grund, warum unsere Wege sich getrennt haben und vor allem, warum wir uns nicht mehr begegnen dürfen.« Alwin hatte wohl geahnt, was ihm Seranis enthüllen würde, trotzdem traf ihn ihre Rede schwer. Sollten seine Pläne dahinschwinden, ehe er auch nur annähernd seinen Wissensdurst gestillt hatte? Der Knabe hörte der schönen Frau zu, aber gleichzeitig war er mit seiner Rückkehr nach Diaspar beschäftigt und versuchte, sich jeden Widerstand vorzustellen, den man ihm in den Weg legen konnte. Seranis machte wirklich einen sehr unglücklichen Eindruck. Ihre Stimme klang fast flehentlich, und Alwin wußte, daß ihre Worte nicht nur ihm, sondern
auch ihrem Sohn Theon galten. Theon sah der Mutter direkt ins Gesicht. Sein Blick war vorwurfsvoll, aber gleichzeitig auch besorgt. »Wir haben nicht das geringste Interesse daran, dich gegen deinen Willen hier in Lys festzuhalten«, sagte die schöne Frau, »aber du mußt verstehen, was es bedeutet, wenn unsere Völker sich vermischen. Zwischen unseren Kulturen liegt eine unüberbrückbare Kluft. Sie ist mindestens so breit und tief wie die, die einstmals die Erde von ihren planetarischen Kolonien trennte. Überlege dir nur folgendes, Alwin: du und Theon, ihr seid jetzt fast im selben Alter – er und ich werden jedoch schon Jahrhunderte tot sein, wenn du immer noch ein Knabe bist.« Es war so still in dem Raum, daß Alwin den Schrei seltsamer, unbekannter Kreaturen in den Wäldern rings um Airlee hören konnte. Als er sprach, war seine Stimme nur noch ein Flüstern. »Und was soll ich jetzt tun?« fragte er. »Wie versprochen habe ich deinen Fall dem Ältestenrat vorgelegt«, sagte Seranis, »aber das Gesetz kann nicht geändert werden. Du kannst gern hier bleiben und einer von uns werden, oder du kannst nach Diaspar zurückkehren. Wenn du dich dazu entschließt, müssen wir die Erinnerung an Lys aus deinem Gedächtnis löschen. Außerdem muß dir der
Wunsch genommen werden, je wieder hierher kommen zu wollen.« »Und Rorden? Er weiß immer noch, daß es Lys gibt, selbst wenn ich mich nicht daran erinnern kann.« »Wir haben uns inzwischen sehr oft mit Rorden unterhalten. Er ist ein ausnehmend kluger und gescheiter Mann und hat unsere Lebensphilosophie voll und ganz eingesehen. Er respektiert unsere Weisheit.« In diesem schwarzen Moment glaubte Alwin, daß sich die ganze Welt gegen ihn gewandt hatte. Obwohl viel Wahrheit in den Worten der schönen Frau steckte, wollte er es nicht einsehen: er sah bloß seinen zerstörten Plan vor sich, das Ende seiner Suche nach Wissen, die zu seinem Lebensinhalt geworden war. Seranis mußte seine Gedanken gelesen haben. »Ich werde dich jetzt eine Zeitlang allein lassen«, sagte sie. »Vergiß bitte nicht, ganz gleich, wie du dich entscheidest, ein Zurück gibt es nicht.« Theon wollte mit ihr gehen, aber Alwin hielt ihn zurück. Der Knabe sah zögernd zu seiner Mutter auf. Die schöne Frau legte ihm eine Hand auf die Schulter und nickte. Dann schloß sich die Tür leise hinter ihr, und Alwin wußte, daß sie erst wieder aufgehen würde, wenn seine Entscheidung gefallen war. Alwin wartete, bis er seine Gedanken, die wild durcheinandergingen, wieder unter Kontrolle hatte.
»Theon«, sagte er dann, »du hilfst mir doch, oder?« Der Knabe nickte bloß. »Dann sage mir folgendes – wenn ich versuchen würde zu fliehen, wie würden dann deine Leute mich aufhalten wollen?« »Ganz einfach. Wenn du versuchen würdest zu fliehen, würde meine Mutter die Kontrolle über deine Gedanken übernehmen. Und später, wenn du dann einer von uns bist, wirst du sowieso nicht mehr nach Diaspar zurückkehren wollen.« »Ich verstehe. Kannst du mir sagen, ob meine Gedanken im Moment überwacht werden?« Theon war die Frage peinlich, aber sein Protest war für Alwin Antwort genug. »Das darf ich dir nicht sagen, Alwin.« »Du sagst es mir aber trotzdem, oder?« Die beiden Knaben sahen sich schweigend an. Dann lächelte Theon schließlich. »Ich kann deine Gedanken nicht lesen, Alwin«, sagte er. »Ganz gleich, was du im Sinn hast, sobald du dein Vorhaben in die Tat umzusetzen versuchst, übernimmt meine Mutter den Fluß deiner Gedanken. Sie wird dich nicht außer Kontrolle lassen, bis alles geregelt ist.« »Das weiß ich selber«, sagte Alwin. »Ich will wissen, ob sie im Moment in meine Gedanken eingeschaltet ist.«
Theon zögerte. »Nein, im Moment nicht«, sagte er endlich. »Ich glaube, sie läßt dich absichtlich in Ruhe, um deine Gedanken nicht zu beeinflussen.« Mehr brauchte Alwin nicht zu wissen. Zum erstenmal wagte er es daher, sich in Gedanken mit dem einzigen Weg zu befassen, der hoffnungsvoll zu sein schien. Eine der beiden Möglichkeiten, die ihm Seranis angeboten hatte, einfach zu akzeptieren, kam für Alwin nicht in Frage. Selbst wenn es nicht um seine eigene Existenz gegangen wäre, hätte er sich mit allen Mitteln einer Macht widersetzt, die seinen eigenen Willen auszuschalten versuchte. Bald würde Seranis zurück sein. Solange sie in diesem Raum waren, konnte er nichts unternehmen, und wenn sie wieder draußen im Freien waren, dann würde die schöne Frau seine Unternehmungen kontrollieren und nach ihrem Gutdünken steuern. Ganz abgesehen davon würden Wächter aufgestellt sein, die alles beobachteten, was er unternehmen sollte. Wie sollte er die Freiheit erreichen? Sehr vorsichtig und genau verfolgte er die einzige Möglichkeit, die ihn nach Diaspar zurückbringen würde, ohne seine persönlichen Wünsche zu zerstören. Theon machte ihn sofort darauf aufmerksam, als sich Seranis dem Raum näherte, und Alwin lenkte
seine Gedanken sofort in harmlose Bahnen. Seine Denkungsweise zu verstehen, war für die schöne Frau von Anfang an nicht leicht gewesen. Jetzt jedoch hatte Seranis das Gefühl, von einem sehr entfernten Punkt im All auf eine Welt herabzublicken, die von fast undurchdringlichen Wolken verhangen war. Manchmal glaubte sie einen Riß in dem Schleier zu entdecken und hatte für einen kurzen Moment die Möglichkeit, auf das zu blicken, was darunter lag. Daß Alwin etwas vor ihr zu verbergen suchte, war ihr klar, sie wußte lediglich nicht, was. Sie vergrub sich schnell in das Denken ihres Sohnes, aber Theon wußte nichts von den Plänen seines neugewonnenen Freundes. Seranis dachte an die Vorsichtsmaßnahmen, die sie getroffen hatte: wie jemand, der vor einer körperlichen Anstrengung zur Prüfung erst einmal jeden einzelnen Muskel anspannt, durchlief sie schnell die Zwangs-Manöver, die sie möglicherweise würde anwenden müssen. Aber nichts schien darauf hinzuweisen, daß sie zu so drastischen Methoden würde greifen müssen. Sie blieb in der Tür stehen und lächelte Alwin entgegen. »Nun?« fragte sie. »Hast du dich entschlossen?« Alwin zögerte nicht mit seiner Antwort. »Ja«, sagte er. »Ich möchte nach Diaspar zurückkehren.«
»Schade«, sagte die schöne Frau. »Theon wird dich sehr vermissen. Aber vielleicht ist es am besten so. Lys ist nicht deine Welt, und du mußt auch an die Menschen zu Hause denken, die dir lieb und wert sind.« Mit einer Geste vollsten Vertrauens trat sie zur Seite und ließ Alwin durch die Tür gehen. »Die Spezialisten, die dein Gedächtnis bearbeiten und deine Erinnerung an Lys auslöschen werden, warten auf dich. Wir haben damit gerechnet, daß du dich für Diaspar und gegen uns entscheidest.« Alwin war froh, daß Seranis ihn in die Richtung lenkte, die er zu gehen wünschte. Sie drehte sich nicht um, denn sie war überzeugt davon, daß er gegen ihren Willen nicht ankam. Sollte er doch versuchen zu fliehen, er würde schon sehen, wie weit er kam. Sie hatten das Haus verlassen, als Alwin stehenblieb und sich zu seinem Freund umdrehte. »Leb wohl, Theon«, sagte er und streckte dem Knaben die Hand zum Abschied entgegen. »Vielen Dank für alles, was du für mich getan hast. Eines Tages werde ich zurückkommen.« Auch Seranis war stehengeblieben und beobachtete ihn. Alwin lächelte sie an und maß gleichzeitig die sieben Meter ab, die zwischen ihm und der schönen Frau lagen.
»Ich weiß, daß du gegen deinen persönlichen Willen handelst«, sagte er, »und ich mache dir keinen Vorwurf daraus. Auch ich bin nicht sonderlich froh über das, was ich zu tun gezwungen bin.« Die letzte Bemerkung war eine glatte Lüge, was Alwin jedoch nicht bedauerte. Im Gegenteil. Die Sache fing an, ihn köstlich zu amüsieren. Er sah schnell um sich. Niemand in der Nähe. Seranis stand immer noch auf demselben Fleck. Die schöne Frau ließ keinen Blick von ihm und versuchte offensichtlich, sich in seine Gedanken zu bohren. Um auch nicht die leiseste Spur seines Plans in sein Denken einzulassen, sprach Alwin schnell weiter. »Ich bin der Überzeugung, daß du Unrecht hast«, sagte er und war sich dabei seiner intellektuellen Arroganz so wenig bewußt, daß sich Seranis ein Lächeln nicht verkneifen konnte. »Lys und Diaspar von einander getrennt zu halten, ist ein grober Fehler. Eines Tages werden sich die beiden Völker dringend brauchen, und deshalb gehe ich mit allem, was ich weiß, nach Hause – und du wirst mich nicht davon abhalten können.« Alwin wartete nicht eine Sekunde länger, und das war auch richtig so. Seranis machte nicht die geringste Bewegung, aber Alwin fühlte, wie sein Körper die eigene Kontrolle total verlor. Die Macht, die seinen eigenen Willen weggefegt hatte, war viel größer, als
er geglaubt hatte. Viele versteckte Denk-Systeme mußten der schönen Frau zu Hilfe gekommen sein. Völlig willenlos ging Alwin zum Zentrum der Siedlung zurück, und einen grauenvollen Moment lang dachte der Knabe, daß sein Plan fehlgeschlagen war. Doch dann plötzlich ein Aufflackern von Stahl und Kristall, und die Metallarme umschlossen seinen Körper. Der Boden schien unter Alwins Körper wegzurutschen, und er sah im letzten Moment noch das erstaunte und etwas dümmliche Gesicht seines Freundes Theon. Der Roboter trug ihn davon. Er schwebte gut vier Meter über dem Boden, und seine Geschwindigkeit war von menschlichen Beinen nicht zu überbieten. Seranis hatte im Bruchteil einer Sekunde verstanden, daß sie überlistet worden war, und schaltete den Befehl ab, der Alwin gezwungen hatte, sich gegen die Metallarme des Roboters zu wehren. Die schöne Frau fühlte sich jedoch noch nicht ganz geschlagen, und es geschah das, was Alwin gefürchtet hatte. Zwei völlig gegenteilige Willenskräfte kämpften in Alwins Denken gegeneinander. Die eine flehte den Roboter an, ihn abzusetzen und ihn der Welt von Lys zurückzugeben, während die andere – Alwins Willenskraft – atemlos abwartete und versuchte, sich nicht zu verausgaben. Alwin hatte von Anfang an gewußt, auf welches
Spiel er sich einließ: er hatte nicht beurteilen können, ob die Maschine so komplexe Befehle, wie er sie ihr eingegeben hatte, auch durchführen konnte. Unter keinen Umständen, hatte er dem Roboter gesagt, durfte dieser weitere Kommandos von ihm empfangen und ausführen – zumindest nicht, bis sie sicher in Diaspar waren. Das waren die Anordnungen gewesen. Wenn sie beachtet wurden, konnten von menschlicher Seite keine Widerstände eingeschaltet werden. Der Roboter zögerte nicht eine Sekunde. Unbeirrt verfolgte er den Weg, den Alwin ihm eingegeben hatte. Ein Teil im Innern des Knaben flehte immer noch, abgesetzt zu werden, aber Alwin wußte, daß er in Sicherheit war. Schon nach relativ kurzer Zeit wußte es auch die schöne Frau und gab den Kampf auf. Alwin spürte es, denn der Zwist in seinem Körper war vorbei, in sein Denken kam endlich wieder Ruhe.
Das Duplikat »Du siehst also«, schloß Alwin seine lange Rede, »daß er meine Befehle ausführt, ganz gleich, wie kompliziert sie sind. Aber sobald ich ihn nach seinem Ursprung frage, wird er stur und gibt keine Antwort.« Der Roboter hing bewegungslos über dem HauptAssoziator und seine Kristall-Linsen glitzerten in dem silbernen Licht wie Juwelen. Rorden hatte in seinem langen Leben viele Roboter gesehen, aber noch nie einen, der der vieläugigen Maschine ähnelte, die Alwin mitgebracht hatte. Der Archivar war fest davon überzeugt, daß er nicht von menschlicher Hand konstruiert sein konnte. Daß die Persönlichkeit des Meisters die Jahrhunderte überlebt hatte, war bei derart ewigen Dienern durchaus möglich. Alwins Rückkehr hatte so viele Probleme mit sich gebracht, daß Rorden kaum daran zu denken wagte. Selbst für ihn war es nicht leicht gewesen, die Existenz von Lys zu akzeptieren. Wie jedoch Diaspar darauf reagieren würde, war nicht vorauszusagen. Rorden konnte nur hoffen, daß die unvorstellbare Trägheit, die die ganze City beherrschte, den größten Teil des Schocks abfangen würde. Möglicherweise würden Jahre vergehen, bis alle Bewohner von Diaspar begriffen hatten, daß sie nicht die einzigen Be-
wohner der Erde waren. Wenn jedoch Alwin seinen Kopf durchsetzen würde, dann würde alles viel schneller gehen. Es gab Momente, in denen Rorden bedauerte, daß der Plan der schönen Frau von Lys fehlgeschlagen war. Es wäre alles so viel einfacher gewesen. Das Problem war überwältigend, und zum zweiten Male in seinem Leben wußte Rorden nicht, welchen Weg er einschlagen sollte. Hinzu kam, daß man nie wissen konnte, wie oft einen Alwin noch in ein solches Dilemma bringen konnte. Bei dem Gedanken stahl sich ein bitteres Lächeln auf Rordens Gesicht. Es war letztlich völlig egal: der Knabe würde ja doch tun was er wollte. Bisher kannten nur an die zwölf Menschen – Alwins Familie ausgeschlossen – die Wahrheit. Seine Eltern, mit denen er mittlerweile herzlich wenig gemein hatte und die er oft wochenlang nicht sah, schienen immer noch der Meinung zu sein, daß er lediglich die Außenmauern der City verlassen hatte. Jeserac war der einzige, der entsetzt gewesen war und sich so heftig mit Rorden gestritten hatte, daß die beiden Männer nicht mehr miteinander sprachen. Alwin, der den Streit schon lange hatte kommen sehen, konnte sich vorstellen, was der eine dem anderen vorgeworfen hatte, aber zu seiner großen Enttäuschung erfuhr er von beiden keine Einzelheiten über die Auseinandersetzung.
Irgendwann würde sich Alwin damit befassen müssen, Diaspar über die Wahrheit aufzuklären, aber im Moment hatte er keine Zeit dazu. Der Roboter nahm ihn voll in Anspruch. Er hatte das Gefühl – und Rorden war inzwischen einer Meinung mit ihm –, daß er in Shalmirane nur einen Bruchteil dessen erfahren hatte, was wirklich gewesen war. Anfangs war Rorden skeptisch gewesen und hatte geglaubt, daß die Großen nichts anderes waren als eine weitere der unzähligen religiösen Mythen, die die Welt von damals gekannt hatte. Nur der Roboter kannte die Wahrheit, aber er hatte den Fragen von Millionen von Jahrhunderten widerstanden und war auch jetzt nicht zu erweichen. »Die Hauptschwierigkeit besteht darin«, sagte Rorden, »daß es in unserer Welt keine Ingenieure mehr gibt.« Alwin sah den Archivar fragend an. Sein ständiges Beisammensein mit Rorden hatte sein Vokabular angereichert, aber es schien immer noch Tausende von archaischen Wörtern zu geben, die ihm fremd waren. »Ein Ingenieur«, erklärte daher Rorden, »war ein Mann, der Maschinen erfand oder konstruierte. Wir können uns eine Welt ohne Roboter nicht vorstellen, aber jede existierende Maschine ist irgendwann einmal entworfen und konstruiert worden, und bis es die Meister-Roboter gab, mußten sie von Menschen
gewartet und bedient werden. Sobald sich die Maschinen jedoch um sich selbst kümmern konnten, brauchte man keine Ingenieure mehr. Meine These stützt sich natürlich hauptsächlich auf Vermutungen, aber ich glaube trotzdem, daß ich mich nicht täusche. Jede Maschine, die wir besitzen, existiert seit dem Beginn unserer Geschichte. Vorher jedoch hat es bestimmt auch schon eine ganze Reihe von Maschinen gegeben, von denen wir nur nichts Genaues wissen, weil sie mittlerweile verschwunden sind.« »Flugkörper und Raumschiffe zum Beispiel«, sagte Alwin. »Richtig«, entgegnete Rorden. »Und auch die großen Kommunikatoren, die jeden Stern erreichen konnten. All diese Maschinen sind nicht mehr vorhanden, weil sie nicht mehr gebraucht werden.« Alwin schüttelte den Kopf. »Ich bin trotzdem der Meinung«, sagte er, »daß das Verschwinden der Raumschiffe nicht so simpel erklärt werden kann. Aber zu unserem Roboter zurück – meinst du, ein Meister-Roboter könnte uns helfen? Ich habe noch nie einen gesehen und weiß nicht viel über sie.« »Uns helfen? Wie denn?« »Das weiß ich selbst nicht«, sagte Alwin. »Vielleicht indem er meinen Roboter zwingt, alle meine Befehle auszuführen. Sie sind doch in der Lage, normale
Roboter zu reparieren, und ich halte diese Sache für eine Art Reparatur.« Rorden lächelte. Die Idee war so arglos, daß sie einen Erfolg praktisch auszuschließen schien. Da aber diese Art von historischem Recherchieren im Moment die einzige Möglichkeit zu sein schien, die etwas Licht in das Dunkel bringen konnte, erklärte sich Rorden dazu bereit. Er ging auf den Assoziator zu, über dem Alwins Roboter schwebte, und betrachtete ihn möglichst gleichgültig. Als er anfing, der Maschine fast automatisch die entsprechenden Fragen einzugeben, kam ihm plötzlich ein Gedanke, der so widersinnig war, daß er in schallendes Gelächter ausbrach. Alwin sah seinen Freund erstaunt an. »Alwin«, sagte Rorden, der kaum ein Wort herausbrachte, »ich fürchte, unser Wissen über Maschinen ist jämmerlich gering. Wir müssen noch viel lernen.« Er strich über den glatten Metallkörper der Maschine. »Sie haben keine menschlichen Gefühle, weißt du«, fuhr er fort. »Wozu flüstern wir also?« Diese Welt, das wußte Alwin, war nicht für den Menschen geschaffen. Im Schein der trichromatischen Lichter, die so berauschend waren, daß sie dem Auge weh taten, schien sich die langen, breiten Korridore in die Unendlichkeit zu erstrecken. Alle Roboter von
Diaspar mußten diesen Weg am Ende ihres geduldigen Lebens gehen, doch in einer Million von Jahren hatte kein menschlicher Fuß ihn betreten. Die Karte der Untergrund-City ausfindig zu machen, dieser Stadt der Maschinen, ohne die Diaspar nicht existieren konnte, war nicht schwierig gewesen. Nach ein paar hundert Metern mündete der Gang in einen runden Raum von mindestens anderthalb Kilometer Durchmesser. Seine Decke wurde von großen Pfeilern getragen, auf denen auch das unvorstellbare Gewicht des Antriebs-Zentrums ruhen mußte. Wenn die Karten nicht logen, hielten hier in diesem Raum die Meister-Roboter, die größten aller Maschinen, Wache über Diaspar. Gut, der Raum war da, und er war größer, als Alwin sich ihn vorgestellt hatte, aber wo waren die Maschinen? Fassungslos starrte der Knabe auf das Panorama, das unter ihm lag. Der Gang endete hoch oben in der Wand des höhlenartigen Rundbaus, der sicherlich der einzige von dieser Größe war. Zu beiden Seiten liefen lange Rampen nach unten. Hunderte von hellerleuchteten weißen Konstruktionen standen über den Boden verstreut, und Alwin glaubte im ersten Moment, auf eine unterirdische Stadt hinabzusehen. Der Anblick war so lebendig, daß er ihn lange nicht vergessen sollte. Nichts von dem, was er erwartet hatte. Nirgends das wohlbekannte Glänzen von
Metall, das seit Beginn der Zeit für den Menschen identisch war mit seinen Sklaven. Das war das Ende einer Evolution, die fast so lange gedauert hatte, wie die des Menschen selbst. Ihr Anfang war in den Nebelschleiern des Zeitalters der Dämmerung verfangen, also in einer Zeit, in der die Menschheit gelernt hatte, Energie zu benutzen und laute Maschinen durch die Welt zu schicken. Dampf, Wasser, Wind – all diese Kräfte hatte man eine Zeitlang ausgenutzt und dann wieder verbannt. Eine andere Art von Energie hatte den Antrieb für alles Leben übernommen, doch auch diese Energie war als veraltet abgetan worden und mit ihr die Maschinen, die von ihr gespeist worden waren. Sehr langsam, über Millionen von Jahren hinweg, war die ideale Maschine entwickelt worden – diejenige, die erst nur ein Traum, dann greifbare Hoffnung und schließlich Wirklichkeit geworden war. Die Maschine, die kein bewegliches Teil mehr besaß. Und hier zeigte sich der letzte und höchste Ausdruck dieses Ideals. Über tausend Millionen Jahre hatte der Mensch zu seiner Verwirklichung gebraucht, und in der Stunde seines Triumphs hatte er ihm den Rücken gekehrt. Der Roboter, den sie suchten, war nicht so groß wie viele seiner Kollegen. Trotzdem fühlten sich Alwin
und Rorden wie Zwerge, als sie neben ihm standen. Die fünf übereinandergelagerten Schichten mit ihren schwungvollen Querlinien ließen an ein lauerndes Tier denken, und Alwin konnte sich nicht vorstellen, daß sein Roboter und diese Maschine etwas gemein haben könnten. Einen Meter über dem Sockel verlief ein breites, transparentes Band über die ganze Front der Konstruktion. Alwin drückte die Stirn gegen das seltsam warme Material und sah in das Innere der Maschine. Zuerst war alles bloß verschwommen, doch dann löste sich das Grau in Tausende von Lichtpunkten auf, die im Nichts zu hängen schienen. Sie waren dreidimensional angeordnet und für Alwin so unbegreiflich und ihr System so undurchschaubar, wie einstmals der Himmelskörper für den Menschen. Rorden war neben Alwin getreten, und zusammen starrten sie in das lauernde Monster. Obwohl sie mehrere Minuten verharrten und nicht einmal den Blick von den Lichtpunkten ließen, konnten sie in der ganzen Zeit nicht die geringste Veränderung beobachten. Die farbigen Punkte blieben an Ort und Stelle, und ihr Schein war von gleichgleibender Intensität. »Verstehst du das?« fragte Alwin schließlich den Freund. »Wenn wir in unser eigenes Gehirn blicken könnten«, sagte der Archivar, »würden wir genauso hilflos
sein. Die Roboter machen einen bewegungslosen Eindruck, weil wir ihre Gedanken nicht sehen können.« Alwin ließ den Blick über die lange Reihe von Titanen schweifen, und zum erstenmal kam eine Spur von Verständnis in ihm auf. Sein Leben lang hatte er das Wunder der Synthetisierer für selbstverständlich gehalten. Jahrhundert nach Jahrhundert produzierten sie in einem endlosen Strom alles, was die City brauchte. Tausende von Malen hatte Alwin zugesehen, wie sie erschufen, und hatte nie daran gedacht, daß irgendwo der Prototyp dessen existieren mußte, was er auf die Welt hatte kommen sehen. So, wie der Geist eines Menschen eine Weile bei einem Gedanken verharren konnte, genauso konnten diese gigantischen Gehirne die kompliziertesten Ideen erfassen und bis in alle Ewigkeit behalten. Die Schemata aller einmal erschaffenen Dinge waren in diesen Gedächtniskammern eingefroren, und nur der Gedanke eines Menschen war nötig, um sie zu Wirklichkeit zu machen. Seit der erste Höhlenbewohner aus Stein Pfeilspitzen und Handwerkszeug hergestellt hatte, hatte sich die Menschheit Stunde um Stunde weiterentwickelt und die Welt verändert. »Jetzt stehen wir vor dem Problem«, sagte Rorden in Alwins beschauliche Gedanken hinein, »wie wir
mit dieser Konstruktion Verbindung aufnehmen können. Direktes Wissen über den Menschen besitzt sie nicht, daher können wir auch nicht auf so etwas wie ein Bewußtsein einwirken. Wenn ich recht informiert bin, muß irgendwo ein Interpret sein. Ein Interpret ist eine Maschine, die menschliche Befehle in eine Sprache übersetzt, die die Maschine versteht. Diese Interpreten waren einstmals Roboter von reiner Intelligenz, die kaum ein Gedächtnis besaßen. Hier stehen wir vor dem genauen Gegenteil. Diese Maschine besteht hauptsächlich aus Gedächtnis und ist mit einer sehr geringen Intelligenz ausgestattet.« Alwin überlegte einen Moment, dann deutete er auf seinen eigenen Roboter. »Warum versuchen wir es nicht mit ihm?« fragte er. »Er ist sehr gehorsam und wird es nicht wagen, unsere Befehle nicht durchzuführen. Daß der Meister ihm für die im Moment gegebene Situation eine Sperre eingebaut hat, glaube ich nicht, denn er hat sich wohl kaum vorstellen können, daß so eine Situation eintreten wird.« Rorden lachte. »Wohl kaum«, sagte er. »Nachdem es aber eine Maschine gibt, die speziell für den Zweck gebaut ist, sollten wir sie benutzen, findest du nicht auch?« Der Interpret war eine kleine, hufeisenförmige Konstruktion, deren Bildschirm sofort aufleuchtete, als sie
näher kamen. Von all den Maschinen in dem riesigen Raum war sie die einzige, die auf Menschen reagierte. NENNEN SIE IHR PROBLEM BITTE NUR KLARE GEDANKEN Alwin begann mit seinem Bericht. Obwohl er schon unzählige Male mittels Sprache oder Gedanken mit Robotern verhandelt hatte, hatte er jetzt plötzlich das Gefühl, mit etwas zu sprechen, das mehr war als bloß eine Maschine. So leblos diese Kreatur auch sein mochte, ihre Intelligenz war weitaus größer als seine eigene. Ein seltsamer Gedanke, der ihn jedoch nicht bedrückte, denn was war die Intelligenz, wenn sie völlig eigenständig war? Seine Worte verhallten, und die Stille des überwältigenden Raums hüllte sie wieder ein. Zuerst nur wirre Linien auf dem Bildschirm, dann formte sich die Schrift. REPARATUR UNMÖGLICH TYP UNBEKANNT Als sich Alwin gerade mit enttäuschtem Gesicht seinem Freund zuwenden wollte, erschien eine zweite Mitteilung auf dem Bildschirm.
DUPLIKAT FERTIG BITTE ÜBERPRÜFEN UND ABZEICHNEN Im selben Moment leuchtete über dem breiten, querlaufenden Band ein rotes Licht auf, und Rorden stieß einen erstaunten Ausruf aus. Alwin drehte sich um und sah in die Richtung, in die sein Freund deutete. Sein Roboter, den er vor dem Meister-Roboter hatte stehen lassen, hatte sich nicht von der Stelle bewegt, aber neben ihm schwebte sein genaues Ebenbild. »Ich habe gesehen, wie es passiert ist«, sagte Rorden. »Es hatte den Anschein, als würde er sich nach allen Seiten hin ausdehnen und in eine Vielfalt von Bildern auflösen. Die Bilder verschwanden aber eines nach dem anderen, bis nur noch diese beiden Maschinen übrig blieben. Der rechte von den beiden Robotern ist das Original.«
Der Kontrollrat Langsam fing Alwin an zu begreifen, was passiert sein mußte. Sein Roboter konnte nicht gezwungen werden, die Befehle zu mißachten, die ihm vor so langer Zeit eingegeben worden waren, aber sein Duplikat wirkte genau wie er, besaß jedoch die nachträglich angebrachte Sperre, die die Beantwortung eines gewissen Fragenkomplexes ausschaltete, nicht. So reizvoll es auch gewesen wäre, Alwin konnte es sich im Moment nicht leisten, Gedanken darauf zu verschwenden, welche Kräfte wohl dieses wundersame Geschehen möglich gemacht hatten. Die beiden Roboter reagierten simultan, als Alwin sie zu sich rief. Rorden zuliebe sprach er seine Befehle laut aus und stellte schließlich eine der Fragen, auf die er bisher nie eine Antwort bekommen hatte. »Kann mir einer von euch sagen, wie der Meister nach Shalmirane gelangt ist?« Rorden hätte etwas darum gegeben, wenn er die lautlose Antwort hätte empfangen können, aber wie immer spürte er nicht die geringste Reaktion. Diesmal jedoch brauchte er über diese Tatsache nicht unglücklich zu sein, denn das zufriedene Lächeln auf Alwins Gesicht sagte ihm genug. Der Knabe sah ihn triumphierend an.
»Das Original ist stur wie immer«, sagte er, »aber das Duplikat ist zur Aussage bereit.« »Wir sollten trotzdem warten, bis wir zu Hause sind«, sagte Rorden, der immer an das nächstliegendste dachte. »Wenn wir mit unserem Verhör beginnen, sind wir auf die Hilfe der Assoziatoren angewiesen, sonst verstehen wir von allem nicht ein Drittel.« Trotz seiner Ungeduld mußte Alwin einsehen, daß Rorden wieder einmal recht hatte. Als er sich anschicken wollte zu gehen, lächelte Rorden. »Hast du nicht etwas vergessen?« fragte er. Die rote Warnlampe des Interpreten schicke immer noch Lichtimpulse aus und die Schrift auf dem Bildschirm stand noch. BITTE ÜBERPRÜFEN UND ABZEICHNEN Alwin ging zu der Maschine zurück und überprüfte das Aktionsfeld über dem die Warnlampe angebracht war. In seiner Mitte befand sich eine Art Fenster, das aus einer fast unsichtbaren Substanz bestand und einen Stift an die Oberfläche beförderte. Die Spitze des Stifts ruhte auf einem plattgewalzten weißen Material, das schon mehrere Signaturen und Daten verzeichnete. Die letzte stammte von vor 50 000 Jahren. Der Mann, der hier unterschrieben hatte, war Präsident des Kontrollrats gewesen. Darüber waren nur
noch zwei Namen leserlich, aber sie bedeuteten Alwin nichts. Auch Rorden hatte sie nie gehört, was nicht weiter erstaunlich war, denn sie waren vor 2375 Millionen Jahren auf das weiße Material gesetzt worden. Alwin sah keinen Sinn in dem Ritual, aber die Denkweise der Geister zu verstehen, die diesen Raum gebaut hatten, war eben ein Ding der Unmöglichkeit. Mit einem Gefühl von Unwirklichkeit ergriff Alwin den Stift und begann, seinen Namen zu schreiben. Nachdem er das Datum dazugesetzt hatte, ließ er den Stift wieder los, dieser verschwand, und die Warnlampe erlosch. Während Alwin wegging, fragte er sich, was wohl die anderen hier gesucht haben mochten. In einigen tausend Millionen Jahren würden wiederum andere ihren Namen schreiben müssen und sich fragen, wer wohl Alwin von Loronai gewesen sein mochte. Oder etwa nicht? Würde sein Name zu einem Begriff werden, der niemand mehr fremd war? Dererlei Gedanken waren im Moment bezeichnend für den Geisteszustand des Knaben, der allerdings nicht so ungeschickt war, derartige Überlegungen mit seinem Freund Rorden zu besprechen. Am Schlund des Korridors angekommen, sahen sie zurück und empfanden die Illusion noch stärker als vorher. Unter ihnen schien eine tote Stadt seltsamer
weißer Bauten zu liegen, eine City, die durch das gleißende Licht ausgebleicht war, das man nicht für das menschliche Auge erschaffen hatte. So tot diese City war, sie würde Diaspar überleben, das wußte Alwin. Ihre Maschinen würden sich nie von den Gedanken abwenden, die ihnen große Geister eingegeben hatten. Auf dem Rückweg sprachen Alwin und Rorden kaum ein Wort. Die Straßen Diaspars waren in ein Sonnenlicht getaucht, das nach der Lichtflut der Maschinen-City blaß und vergänglich wirkte. Sowohl der Knabe als auch der reife Mann waren mit ihren Gedanken beschäftigt und sahen nichts von der Schönheit der großen Türme, die an ihnen vorbeiglitten. Alwin konnte es kaum fassen, wie zielstrebig alles auf diesen Moment zugeströmt war. Er wußte nur zu gut, daß sich jeder Mensch sein eigenes Schicksal baute und einzig und allein für seine Zukunft verantwortlich war, aber seit er Rorden kennengelernt hatte, schien sich trotzdem alles rein automatisch ergeben zu haben. Erst Alaines Vermächtnis, dann Lys und Shalmirane. Natürlich hätte Alwin in jedem Stadium einen Schritt zur Seite machen und die Augen verschließen können, aber etwas hatte ihn weitergetrieben. Der Gedanke, daß ihn das Schicksal bevor-
zugte, war schmeichelhaft, aber Alwin war ein zu fanatischer Rationalist, um sich Sand in die Augen streuen zu lassen. Jeder normale Mensch hätte den Weg finden können, den seine Füße gegangen waren, und in vergangenen Jahrhunderten hatte es bestimmt Menschen gegeben, die es versucht hatten. Er war lediglich der erste, dem das Glück beschieden war. Das Glück? Es schien sich plötzlich von ihm abgewandt zu haben, als sie durch Rordens Tür traten. Mit geduldig gefalteten Händen wartete im Archiv ein Mann auf sie, den Alwin noch nie gesehen hatte. Auch die seltsame Kleidung, die er trug, war dem Knaben fremd. Als Alwin sah, wie sein Freund blaß wurde, erschrak er. Plötzlich wußte er, wer der Fremde war. Der Mann stand auf und machte eine steife, formelle Verbeugung. Wortlos überreichte er Rorden einen kurzen Zylinder. Der Archivar nahm ihn genauso wortlos entgegen und brach das Siegel. Die Tatsache, daß eine handgeschriebene Nachricht von höchster Seltenheit war, machte den Moment noch beeindruckender. Als Rorden das Pergament gelesen, wieder zusammengerollt und dem Mann zurückgegeben hatte, verbeugte auch er sich, was dem Knaben ein Lächeln abrang. Rorden schien sich schnell wieder gefaßt zu haben,
denn seine Stimme ließ nicht das leiseste Zittern erkennen. »Der Kontrollrat will uns sprechen, Alwin«, sagte er. »Ich fürchte, wir hätten uns von selbst an ihn wenden sollen.« Das war Alwin längst klar, aber der kritische Moment war früher gekommen, als er erwartet hatte. Alwin hatte keine Angst vor dem Kontrollrat, empfand aber den Zwischenfall als lästig. Unwillkürlich streifte sein Blick die beiden Roboter. »Die wirst du hier lassen müssen«, sagte Rorden sofort und in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Alwin gehorchte. Er sah den Boten an. »Ich bin bereit«, sagt er ruhig. Auf dem Weg zum Sitz des Kontrollrats fiel kein Wort. Ohne den Gedanken weiter verfolgt zu haben, hatte sich Alwin immer eingebildet, daß der Kontrollrat nur noch dem Namen nach existierte. Jetzt allerdings sollte er eines Besseren belehrt werden, was ihn nicht in Panikstimmung versetzte, sondern nur insofern ärgerte, als er völlig unvorbereitet war. Man ließ sie nur ein paar Minuten im Vorraum warten und Alwin fragte sich in der kurzen Zeit, warum seine Knie so sonderbar weich waren, wenn er doch keine Angst hatte. Dann gingen plötzlich die breiten Türen auf, und Rorden und er traten auf die
zwanzig Männer zu, die im Halbrund um den berühmten Tisch saßen. Der Präsident begrüßte Rorden und den Knaben mit freundlicher Stimme, während Alwin die einzelnen Gesichter betrachtete und plötzlich wußte, warum Rorden blaß geworden war. Doch sein Selbstvertrauen war schnell wiederhergestellt: Rorden, dachte er, ist eben doch ein Feigling. Der Knabe tat dem Archivar damit nicht unrecht, denn Mut hatte noch nie zu Rordens Qualitäten gehört, und seine Sorge betraf sowohl seine Position als Archivar als auch die eigene Person. Noch nie in der Geschichte war einer seiner Vorgänger des Amtes enthoben worden, und Rorden hatte nicht die geringste Lust, die Ausnahme von der Regel zu werden. Alwin stand noch keine zwei Minuten vor dem Kontrollrat, als sein Vorhaben bereits nicht mehr galt. Seine auf dem Weg so schnell, aber gründlich vorbereitete Rede war vergessen: die höflichen, wohlgeformten Sätze lösten sich in Nichts auf. Statt dessen gab ihm ein sehr trügerischer Ersatz Mut – nämlich sein überaus stark entwickelter Sinn für alles Lächerliche. Noch nie hatte Alwin besonders feierliche Momente ernst nehmen können. Mochte der Kontrollrat nur alle tausend Jahre zusammentreten, mochte er über das Wohl und Wehe von Diaspar entscheiden, was hier vor ihm saß, waren müde alte Männer.
Alwin kannte Jeserac nur zu gut. Wieso sollten die anderen neunzehn anders sein als er? Fast abfälliges Mitleid stieg plötzlich in Alwin auf, und er mußte an Seranis' Worte denken. Schon vor Jahrtausenden, hatte die schöne Frau gesagt, haben wir unsere Unsterblichkeit geopfert. Diaspar jedoch lebt immer noch in seinem falschen Traum. Alwin glaubte in dem Moment verstanden zu haben, was Seranis gemeint hatte. Und als er, vom Präsidenten aufgefordert, begann, seine Reise nach Lys zu beschreiben, war er daher plötzlich der unfertige Knabe, der durch reinen Zufall etwas entdeckt hatte, dem er selbst wenig Wichtigkeit beimaß. Daß er einen bestimmten Plan verfolgt hatte, verschwieg er. Er tat so, als habe ihn lediglich die Neugier aus der City getrieben. Er betonte, daß natürlich jeder auf den Weg hätte stoßen können, ließ aber gleichzeitig durchblicken, daß er eigentlich erwartete, für seine Schlauheit gelobt zu werden. Shalmirane und die Roboter erwähnte er nicht mit einem Wort. Der Kontrollrat schien Alwins Geschichte zu schlucken und zeigte sich sogar recht beeindruckt, aber Jeserac machte ein Gesicht, als sei er zwar erleichtert, glaube dem Knaben aber kein Wort. Und Rorden wagte Alwin nicht anzusehen. Als er geendet hatte, folgte Stille. Der Kontrollrat überlegte.
Schließlich sprach wieder der Präsident. »Wir sind uns einig«, sagte er, »daß du mit bestem Wissen und Gewissen gehandelt hast. Trotzdem hast du eine Situation heraufbeschworen, die äußerst schwierig für uns ist. Bist du ganz sicher, daß du durch reinen Zufall auf deine Entdeckung gestoßen und von niemand beeinflußt worden bist?« Sein Blick wanderte zu Rorden und blieb gedankenverloren auf ihm hängen. Die Versuchung war groß, aber Alwin erlag ihr nicht. Zumindest nicht ganz. »Das möchte ich nicht sagen«, antwortete er. Interesse flackerte plötzlich auf den gleichgültigen Gesichtern der alten Männer auf, und Rorden trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Alwin bedachte seine Zuhörer mit einem unschuldigen Lächeln. »Ich verdanke viel meinem Erzieher«, sagte er. Sofort waren alle Augen auf Jeserac gerichtet, der rot wurde bis unter die Haarwurzeln und etwas sagen wollte, es aber dann doch nicht tat. Es folgte peinliche Stille. »Vielen Dank«, sagte der Präsident schließlich. »Du wirst gebeten, hierzubleiben, bis wir beraten haben, was zu tun ist.« Rorden schickte einen Stoßseufzer der Erleichterung zur Decke – und das war das letzte, was Alwin
für eine Weile hörte, denn ein Schallschleier senkte sich auf ihn herab. Er konnte den Kontrollrat zwar sehen und beobachten, wie die Männer heftig diskutierten, aber nicht ein Laut drang an sein Ohr. Anfangs war das Schauspiel amüsant, aber mit der Zeit wurde es langweilig, und Alwin war froh, als sich der Schleier wieder lüftete. »Wir sind zu dem Schluß gekommen«, sagte der Präsident, »daß wir es hier mit unglücklichen Zufällen zu tun haben, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann. Wir sind allerdings der Meinung, daß uns der Archivar früher hätte verständigen sollen. Wie dem auch sei, wir sind froh, daß wir durch den Zwischenfall von gefährlichen Umständen erfahren haben und nun die nötigen Schritte unternehmen können. Um das Transport-System werden wir uns kümmern, während der Archivar –« der Präsident deutete auf Rorden – »Lys aus den Dokumenten auslöschen wird.« Jeder war zufrieden. Das Problem war gelöst, und niemand hatte Schaden genommen. Selbst Rorden war erleichtert, wenn ihm Alwin auch leid tat. Alles hätte viel schlimmer ausgehen können, vor allem, wenn – Eine Stimme, die er noch nie gehört zu haben glaubte, durchschnitt seinen Gedankengang und ließ die alten Männer in ihren Sitzen erstarren. Das selbst-
zufriedene Lächeln war in Sekundenschnelle von allen Gesichtern gewischt. »Und warum, wenn ich mir die Frage erlauben darf, will der Kontrollrat den Weg nach Lys verschütten?« Es dauerte seine Zeit, denn alles sträubte sich in ihm dagegen, bis Rorden vor sich selber zugab, daß Alwin die Frage gestellt hatte. Die Tatsache, daß Alwin den Kontrollrat hatte übertölpeln können, hatte ihm nur einen Moment Befriedigung verliehen. Bei der abschließenden Rede des Präsidenten jedoch war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Trotz seiner Schlauheit sollten alle seine Pläne zunichte gemacht werden. Die Situation war schlimmer als in Lys, und diesmal hatte er keinen Roboter, der ihn retten konnte. Wenn Alwin je eine Spur von Ehrfurcht vor diesen Männern besessen hatte, die angeblich Diaspar regierten, dann war sie plötzlich wie weggeblasen. Der Knabe hatte die echten Diktatoren der City gesehen und in ihrer versunkenen Welt mit ihnen gesprochen. Die Maschinen entschieden über das Schicksal von Diaspar, nicht diese zwanzig alten Männern. In seiner Wut und seiner Arroganz verwarf Alwin daher jede Verstellung, und der Kontrollrat suchte vergebens nach dem arglosen Knaben, der eben noch zu ihm gesprochen hatte. »Warum der Weg nach Lys verschüttet werden soll, will ich wissen.«
Alwins Stimme klang gebieterisch. Es dauerte seine Zeit, bis sich der Präsident von seinem Schrecken erholt und dazu entschlossen hatte, den Ton des Knaben zu ignorieren. »Das ist eine rein politische Angelegenheit, die hier nicht diskutiert werden kann«, sagte er ausweichend. »Diaspar kann es sich nicht leisten, sich von anderen Kulturen infizieren zu lassen.« »Tatsächlich?« sagte Alwin. »In Lys habe ich ähnliches zu hören bekommen. Lys ist viel größer als Diaspar, und seine Kultur ist unserer alles andere als unterlegen. Lys hat immer von Diaspar gewußt, sich aber nicht zu erkennen gegeben, um eine Infizierung zu vermeiden. Für mich liegt es klar auf der Hand, daß sowohl Diaspar als auch Lys einen groben Fehler begehen.« Alwin sah vom einen zum anderen, aber nicht eines der zwanzig Gesichter zeigte auch nur eine Spur von Verständnis für seine Worte. Alwins Verachtung für den Kontrollrat wuchs und wurde uferlos. »Unsere Vorfahren«, fuhr er fort, »haben ein Imperium errichtet, das bis zu den Sternen reichte. Der Mensch besaß die Freiheit, sich zwischen Welten zu bewegen. Seine Willensentscheidung war in nichts eingeschränkt. Und seine Nachkommen? Sie wagen sich nicht aus den Mauern ihrer Stadt. Und warum wagen sie sich nicht aus den Mauern
ihrer Stadt? Weil sie Angst haben. Angst vor etwas, das zu Beginn der Geschichte passiert ist. In Lys habe ich die Wahrheit erfahren. Geahnt habe ich sie schon lange vorher. Müssen wir uns immer wie Memmen in Diaspar verstecken und so tun, als existiere außer uns nichts – nur weil uns die Invasoren vor einer halben Milliarde Jahren auf die Erde zurückgetrieben haben?« Alwin hatte den Finger in die Wunde gelegt, deren Schmerz er nie empfunden hatte. Sollten sie mit ihrer Angst doch anfangen, was sie wollten, er wenigstens hatte einmal die Wahrheit ausgesprochen. Sein Ärger verflog, und er war wieder er selbst. »Kann ich jetzt gehen?« fragte er den Präsidenten. Nicht ein Wort fiel. Mit einem Nicken wurde Alwin entlassen. Die großen Türen öffneten sich und glitten lautlos hinter seinem Rücken zu. Erst dann brach der Sturm los. Als sich der erste Redeschwall gelegt hatte, wandte sich der Präsident an Jeserac. »Wir sollten als erstes deine Meinung hören«, sagte er. Jeserac überlegte. »Meiner Meinung nach«, sagte er nach einer Weile, »verlieren wir im Moment den größten Geist, den Diaspar je besessen hat.« »Was soll das heißen?«
»Ist das nicht allen klar? Der junge Alwin ist jetzt schon auf dem Weg zum Grab von Yarlan Zey. Nein, ich halte es nicht für gut, wenn wir uns einschalten. Ich werde ihn sehr vermissen, wenn er sich auch nie viel aus mir gemacht hat. Für ihn hat letztlich immer nur ein Mensch gezählt: er selbst, Alwin von Loronai.«
Das Schiff Als auch Rorden endlich vom Kontrollrat entlassen worden war und eine volle Stunde später nach Hause kam, traute er seinen Augen nicht. Alles hatte er erwartet, aber nicht eine Nachricht mit dem folgenden Text: Erwarte dich umgehend im Turm von Loranne. Rorden las den Satz mehrmals, dann machte er auf dem Absatz kehrt und schloß die Tür wieder hinter sich zu. Obwohl er sich damals vor Jahren geschworen hatte, nie wieder hierherzukommen, war er zwanzig Minuten später in dem Raum mit den VentilationsLöchern. Nirgends eine Spur von Alwin. Als er jedoch seinen Namen rief, bekam er sofort Antwort. »Ich bin draußen auf dem Mauervorsprung. Du mußt durch den Zentralschacht kriechen, da geht es am leichtesten.« Rorden zögerte. Er hatte ein seltsames Gefühl in der Magengrube. Einen Moment später jedoch stand er neben Alwin, die schützenden Mauern der City im Rücken und vor sich die endlose Wüste. Sie sahen sich eine Weile schweigend an. »Ich hoffe, du hast meinetwegen keinen Ärger gehabt«, sagte Alwin schließlich. Rorden hatte sich vorgenommen gehabt, dem Kna-
ben ordentlich die Meinung zu sagen – falls er ihn je wiedersehen sollte. Jetzt allerdings sah er alles schon wieder in einem völlig anderen Licht. »Nein«, sagte er. »Der Kontrollrat war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß man mich kaum mehr beachtet hat.« Er lachte. »Als ich ging, hat Jeserac gerade eine glühende Verteidigungsrede gehalten. Vielleicht habe ich den Mann doch unterschätzt.« »Mir tut er leid, der arme Jeserac.« »Zugegeben, du hast ihn nicht sonderlich geschont, aber irgendwie scheint er die Situation zu genießen. Du hast nicht ganz zu Unrecht mit dem Finger auf ihn gezeigt, denn schließlich war er der erste, der dich mit den alten Dokumenten vertraut gemacht hat. Er hat dir die Welt von ehedem gezeigt, und sein Gewissen ist nicht ganz rein.« Zum erstenmal lächelte Alwin wieder. »Seltsam«, sagte er. »Bis mein Temperament mit mir durchgegangen ist, habe ich eigentlich nie richtig begriffen, worauf ich hinaus will. Ob es ihnen paßt oder nicht, ich werde die Mauer zwischen Lys und Diaspar niederreißen. Aber das hat Zeit. Es ist nicht mehr so wichtig.« Rorden erschrak. »Was willst du damit sagen?« fragte er, denn jetzt erst war ihm aufgefallen, daß nur ein Roboter bei Alwin war. »Wo ist der andere?«
Alwin deutete über die Wüste, und der Archivar sah in weiter Ferne das Licht der Sonne auf einem Metallkörper leuchten. »Wir haben gewartet, bis du da bist«, sagte Alwin. »Ich bin vom Sitz des Kontrollrats direkt zu meinen Robotern gegangen, denn ich wollte vermeiden, daß man sie mir nimmt, bevor ich von ihnen alles erfahren habe, was ich wissen will. Es hat nicht sehr lange gedauert, denn sie sind nicht sonderlich intelligent und wissen weniger, als ich gehofft hatte. Aber das Geheimnis des Meisters habe ich erfahren.« Er deutete auf den fast unsichtbaren kleinen Roboter am Horizont. »Paß auf!« Der glänzende Punkt erhob sich weit über die Wüste und blieb in einer Höhe von ungefähr dreihundert Meter stehen. Dann bildete sich plötzlich eine Sandwolke und stieg in den Himmel auf. Nichts ist schlimmer als Bewegung ohne Ursache, aber Rorden empfand nicht einmal mehr Angst, als er sah, wie die großen Sanddünen zur Seite rannen. Im Innern der Erde schien ein Gigant aus dem Schlaf zu erwachen. Das Donnern berstenden Bodens und auseinanderspringender Felsen drang an Rordens Ohr. Und plötzlich schoß ein Sandgeysir an die hundert Meter in die Höhe. Langsam fiel der Sand in die klaffende Erdwunde zurück. Alwin und Rorden starrten in den Himmel,
in dem bis vor kurzem nur der Roboter zu sehen gewesen war. Jetzt schwebte ihm ein großer Körper entgegen, der die Form eines Raumschiffes aus der Zeit vor Beginn der Geschichte hatte. Als es den Roboter erreicht hatte, änderte es den Kurs, beschrieb einen weiten Bogen und kam auf Alwin und Rorden zu. »Ich weiß immer noch nicht, wer der Meister gewesen ist«, sagte Alwin schnell, denn die Zeit drängte. »Auch nicht, warum er auf die Erde gekommen ist. Er scheint heimlich gelandet zu sein und sein Schiff an einem sicheren Ort versteckt zu haben, nämlich im Hafen von Diaspar, der jetzt vom Sand verschüttet ist und schon damals verlassen gewesen sein muß. Es ist möglich, daß der Meister eine Zeitlang in Diaspar gelebt hat und erst dann nach Shalmirane gegangen ist. Der Weg muß damals noch offen gewesen sein. Das Schiff hat er auf alle Fälle nie wieder gebraucht und es ruhte seitdem unter dem Sand der Wüste.« Das Schiff, von dem Roboter ferngesteuert, war mittlerweile sehr nahe. Es war ungefähr dreißig Meter lang und lief an beiden Enden spitz zu. Sehr vorsichtig flog es an den Mauervorsprung heran und blieb wenige Handbreit davor ruhig in der Luft hängen. Rorden war ein paar Schritt zurückgetreten, denn die Angst hatte ihn wieder überfallen. Für ihn war
das Schiff ein Symbol des Terrors und der Mysterien, die das Universum in sich barg. Ein Symbol dessen, was den Menschen so lange in Angst und Schrecken versetzt und schließlich in seiner Willensentscheidung total gelähmt hatte. Alwin wußte, welche Gedanken seinen Freund quälten, und verstand zum erstenmal, daß es Kräfte im Denken des Menschen gab, die er nicht beeinflussen konnte. Der Kontrollrat verdiente nicht, verachtet zu werden. Nur Mitleid konnte Alwin mit ihm haben. Lautlos glitt das Schiff davon. Seltsam: zum zweitenmal in seinem Leben hatte Rorden zu dem Knaben Lebewohl gesagt, dabei kannte die kleine, abgeschlossene Welt von Diaspar doch nichts als Abschied, und dieser reichte bis in die Ewigkeit hinein. Das Schiff war nur noch ein dunkler Fleck am Himmel, kurz darauf war es überhaupt nicht mehr zu sehen. Nur noch das Grollen der Luft, die Meile für Meile in den Tunnel zurückfiel, den der Flugkörper in die Atmosphäre gegraben hatte. Als auch das letzte Echo über der Wüste erstorben war, stand Rorden immer noch unbeweglich da. Ob er diesen Knaben je richtig verstehen würde? Alwin würde nie erwachsen werden: für ihn war das Uni-
versum eine Art Puzzle-Spiel, in dem er das gefunden hatte, was die Menschheit und ihre Zivilisation ein für allemal zerstören konnte. Aber ganz gleich, wie es ausging, für Alwin blieb alles ein Spiel. Die Sonne war hinter den Horizont gerutscht, und ein kühler Wind fegte über die Wüste. Rorden blieb und wartete. Er kämpfte gegen seine Ängste und sah zum erstenmal in seinem Leben die Sterne. Die Druckschleuse schloß sich hinter Alwin. Nicht einmal in Diaspar hatte der Knabe einen derartigen Luxus gesehen und fragte sich, wozu? Sollte die Reise von einer Welt zur anderen so lange dauern, daß man darauf angewiesen war? Keinerlei Kontrollgeräte. In der vorderen Wand ein großes Oval aus durchsichtigem Material, davor drei niedrige Liegen. Im Hauptteil der Kabine zwei Tische und eine ganze Reihe von äußerst bequem aussehenden Sesseln. Dann noch eine ganze Anzahl von Gegenständen, deren Sinn und Zweck Alwin nicht kannte. Alwin streckte sich auf einer der Liegen aus. Wo waren eigentlich seine Roboter? Zu seinem großen Erstaunen entdeckte er sie unter der in einem Halbrund gebogenen Decke der Kabine. Sie hatten sich mit einer solchen Selbstverständlichkeit an den für sie bestimmten Platz begeben, daß Alwin sofort wußte,
welche Funktion sie früher gehabt hatten. Sie waren die Interpreten, ohne die ein nicht dafür geschulter Mensch die Maschine nicht bedienen konnte. Sie hatten den Meister zur Erde gebracht und waren ihm dann als seine Diener nach Lys gefolgt. Und jetzt hatten sie ihre ursprünglichen Pflichten wieder übernommen. Zum Versuch gab ihnen Alwin einen Befehl, und das Oval leuchtete auf. Eine Sekunde später erschien darauf der Turm von Loranne, seltsam verkürzt und auf der Seite liegend. Bei weiteren Versuchen sah Alwin den Himmel, die City und weite Wüstenflächen. Die Bilder waren gestochen scharf, aber alle irgendwie unwirklich und leicht verzerrt. Als Alwin alles ausprobiert hatte, was ihn interessierte, war er startbereit. Bringt mich nach Lys! Ein relativ einfacher Befehl, aber woher das Schiff wissen sollte, wo Lys lag, war Alwin ein Rätsel. Wußte ja nicht einmal er, welche Richtung einzuschlagen war. Das Schiff jedoch schoß bereits mit atemberaubender Geschwindigkeit durch den Himmel. Alwin zuckte nur mit den Schultern und akzeptierte dankbar, was er nicht verstehen konnte. Die Bilder, die über das Oval rasten, waren schwer zu definieren, aber viele Meilen von Wüstenland mußten pro Minute unter dem Bauch des Schiffs hin-
durchlaufen. Unweit der City war die Farbe des Bodens plötzlich zu einem stumpfen Grau geworden, und Alwin wußte, daß er sich über dem Bett eines versunkenen Ozeans befand. Diaspar mußte also einmal in der Nähe eines Meeres gelegen haben, das jedoch versiegt war, bevor die gigantischen Bauten entstanden. Hunderte von Meilen später stieg die Oberfläche der Erde an, und die Wüste war wieder da. Einmal hielt Alwin das Schiff über einem seltsamen Gewirr von Linien an, die schwach durch den Sand schimmerten. Nach einem Moment hatte er begriffen: die Grundmauern einer versunkenen Stadt. Alwin verharrte nicht lang vor dem traurigen Bild. Der Gedanke, daß Milliarden von Menschen keine anderen Spuren hinterlassen hatten, als diese Furchen im Sand, deprimierte ihn. Der sanfte Schwung des Horizonts brach endlich auf, und Berge kamen zum Vorschein. Die Maschine verringerte die Geschwindigkeit und senkte sich stetig zur Erde hinab. Plötzlich lag Lys unter Alwin. Die Wälder und endlosen Flüsse formten ein Bild von so unvergleichbarer Schönheit, daß Alwin sich kaum von dem Anblick trennen konnte. Im Osten war das Land in Schatten getaucht, und die großen Seen schwammen wie Tümpel der Nacht in der Landschaft. Im Westen da-
gegen tanzten die Strahlen der untergehenden Sonne auf den Wassern. Sie zersprangen in einem Regen von Lichtpunkten und ließen Farben erglühen, wie Alwin sie noch nie gesehen hatte. Airlee zu finden war nicht einfach, womit Alwin gerechnet hatte. Irgendwie freute es ihn, daß selbst die Roboter ihre Grenzen hatten und nicht allmächtig waren. Nach einigen Versuchen brachte Alwin das Schiff sicher zur Erde. Es landete auf dem Hügel, von dem aus er bei seinem ersten Besuch ganz Lys hatte überblicken können. Die Maschine zu steuern war nicht sonderlich schwer: er brauchte bloß einen Wunsch zu äußern, und die Roboter kümmerten sich um die Details. Gefährliche oder unmöglich auszuführende Anordnungen ignorierten sie wahrscheinlich – das nahm Alwin zumindest an. Die Probe aufs Exempel zu machen, war ihm allerdings zu riskant. Alwin war sich ziemlich sicher, daß seine Ankunft nicht beobachtet worden war. Dieser Punkt war wichtig, denn es stand ihm der Sinn nicht nach einem zweiten Willenskampf mit Seranis. Wie er vorgehen wollte, lag noch nicht fest, er wußte lediglich, daß er versuchen mußte, freundschaftliche Beziehungen zu den Bewohnern von Lys herzustellen. Die Entdeckung, daß der Original-Roboter seine Befehle nicht mehr ausführte, war ein Schock für Alwin. Obwohl der Knabe ihn mehrmals aufgefordert
hatte, aus seiner Halterung unter der Decke des Schiffs zu ihm herunterzukommen, blieb die Maschine bewegungslos und sah ihn bloß starr aus den vielen Augen an. Zum Glück gehorchte wenigstens das Duplikat aufs Wort. Alwin überlegte und hatte schon nach kurzer Zeit die Erklärung: die Roboter waren nicht sonderlich intelligent, und die Ereignisse der letzten Stunde mußten sehr anstrengend gewesen sein. Das Original hatte zusehen müssen, wie die Anordnungen des Meisters zunichte gemacht worden waren – Anordnungen, denen es Millionen von Jahren treu gewesen war – und jetzt war es am Ende. Alwin kam nicht auf die Idee, sich Vorwürfe zu machen, er bedauerte es aber, daß er nicht mehrere Duplikate hatte anfertigen lassen, denn das Original hatte offensichtlich den Verstand verloren. Auf dem Weg nach Airlee begegnete Alwin niemand. In dem Schiff zu sitzen, während sein Blick mühelos über die bekannte Landschaft strich, war ein seltsames und völlig neues Gefühl. Daß er sogar das Rauschen der Blätter im Wald hören konnte, freute ihn besonders. Trotzdem konnte er sich nicht völlig mit dem Roboter identifizieren, und die Anstrengung, ihn zu steuern, war beträchtlich. Es war schon fast dunkel, als er Airlee endlich erreichte. Die kleinen Gebäude schwebten im Schein ih-
res eigenen Lichts. Alwin hielt sich im Schatten und war beinahe an Seranis' Haus angekommen, als er entdeckt wurde. Um ihn herum plötzlich ein wütendes Summen, seine Sicht verschwamm im aufgeregten Schlagen von silbrig durchsichtigen Flügeln. Unwillkürlich machte Alwin ein paar Schritte zurück, doch dann erkannte er seinen Angreifer. Krif haßte alles, was fliegen konnte und keine Flügel dazu brauchte. Da Alwin die schöne, aber recht stupide Kreatur nicht verletzen wollte, blieb er stehen und ließ die Schläge auf sich herabregnen. Obwohl er fast zweitausend Meter entfernt bequem in einem Sessel saß, zog er unwillkürlich den Kopf ein und war froh, als Theon endlich auftauchte.
Die Krise Krif ließ sofort von Alwin ab und setzte sich in gebührendem Abstand ins Gras. Theon betrachtete den Roboter von oben bis unten, dann lächelte er. »Ich freue mich, daß du zurückgekommen bist«, sagte er. »Oder bist du immer noch in Diaspar?« Wie schon so oft war Alwin neidisch auf den Freund, dessen Geist um so vieles schneller war als sein eigener. »Nein«, sagte er und war erstaunt, wie klar der Roboter seine Stimme wiedergab. »Ich bin ganz in deiner Nähe, bleibe aber vorerst einmal, wo ich bin.« Theon lachte. »Das kann ich verstehen«, sagte er. »Meine Mutter hat dir zwar vergeben, aber der Ältestenrat noch nicht. Er berät im Moment. Ich bin weggeschickt worden.« »Worum geht es denn?« »Ich soll es nicht wissen, aber man hat mir tausend Fragen gestellt. Vor allem über dich. Außerdem mußte ich berichten, wie es in Shalmirane gewesen ist.« »Das macht nichts«, sagte Alwin. »Inzwischen ist unheimlich viel passiert. Ich möchte übrigens mit eurem Ältestenrat reden.« »Alle sind nicht da – das versteht sich von selbst. Aber drei beschäftigen sich nur noch mit dir.«
Alwin lächelte. Langsam wunderte es ihn nicht mehr. Wo er auftrat, schien er Bestürzung zu hinterlassen. Der Luxus und der Schutz des Schiffs gaben Alwin ein nie gekanntes Gefühl von Selbstsicherheit. Überzeugt davon, daß er die Situation beherrschte, folgte er Theon in das Haus seiner Mutter. Die Tür des Sitzungssaales war abgeschlossen, und es dauerte seine Zeit, bis Theon Einlaß bekam. Die Tür glitt auf, und Alwin lenkte seinen Roboter schnell in den großen Raum. Als er auf den Ältestenrat zuging, erstarrten die Mitglieder in ihren Sesseln. Über das Gesicht der schönen Frau allerdings huschte ein Lächeln. »Guten Abend«, sagte Alwin höflich. »Ich habe mich nun doch entschlossen, zurückzukommen.« Das allgemeine Erstaunen war groß. Das jüngste der Mitglieder erholte sich am schnellsten von dem unerwarteten Auftreten Alwins. »Wie bist du hierhergekommen?« fragte der Mann, der nicht älter sein konnte als Seranis, aber schon weißes Haar hatte. Alwin hielt es für angebracht, zu lügen. Vielleicht hatte man das Transport-System tatsächlich schon blockiert. »Wie das letzte Mal«, sagte er.
Das Erstaunen wuchs. »Ohne Schwierigkeiten?« fragte der Mann mit den weißen Haaren. »Nicht die geringsten«, sagte Alwin. »Ich bin aus eigenem Willen zurückgekommen, halte mich aber nach den Erfahrungen vom letzten Mal noch zurück. Wenn ich mich dazu entschließen sollte, in eigener Gestalt vor euch zu erscheinen, garantiert ihr mir dann, daß ich mich frei bewegen kann?« Es folgte Stille. Offensichtlich wurden Gedanken ausgetauscht. Schließlich ergriff Seranis das Wort. »Wir sehen keinen Grund, dich in der Bewegungsfreiheit einzuschränken«, sagte sie, »denn Diaspar weiß bestimmt bereits alles über uns.« Die Stimme der schönen Frau klang vorwurfsvoll, und Alwin wurde rot. »Ja«, sagte er. »Diaspar weiß alles über euch, aber man will nichts mit euch zu tun haben, weil man Angst hat, sich an eurer niedrigen Kultur zu infizieren.« Die beleidigten Gesichter der drei Mitglieder amüsierten Alwin. Selbst Seranis wurde rot. Wenn es Alwin gelingen sollte, Diaspar und Lys genügend gegeneinander aufzuhetzen, war damit sein Problem halb gelöst. Ohne sich dessen bewußt zu sein, erlernte Alwin die längst vergessene Kunst, Politik zu machen.
»Ich möchte nicht gern die ganze Nacht hier draußen bleiben«, fuhr er fort. »Habe ich das Versprechen?« »Ja«, sagte Seranis und lächelte. »Wir werden nicht mehr versuchen, auf dich einzuwirken.« Alwin wartete, bis der Roboter zurück war. Mit großer Achtsamkeit gab er ihm seine Anordnungen ein und ließ sie von der Maschine wiederholen. Dann verließ er das Schiff. Nur ein leises Flüstern in der Luft, sonst kein Laut. Kurz darauf verdunkelte ein großer schwarzer Schatten das Licht der Sterne, dann war das Schiff verschwunden. Erst als es weg war, sah Alwin seinen Fehler ein. Er hatte nicht daran gedacht, daß die Sinne des Roboters von seinen sehr verschieden waren. Die Nacht war pechschwarz, und Alwin hatte größte Mühe, den Weg durch den dichten Wald zu finden. Als er endlich die Lichter von Airlee durch die Bäume schimmern sah, brauchte er sie nicht mehr, denn der Pfad unter seinen Füßen war plötzlich zu einer Spur blauen Glühens geworden. Das Moos leuchtete, und seine Fußspuren hinterließen dunkle Flecke. Alwin bückte sich und riß ein Büschel Moos aus dem Boden. Es leuchtete eine Weile in seiner Hand, dann verglimmte es langsam. Theon wartete vor dem Haus auf ihn, und Alwin wurde den drei Mitgliedern des Ältestenrats zum zweitenmal vorgestellt.
Während Alwin sich etwas erfrischte, wurde kaum gesprochen. Wahrscheinlich tauschte man wieder Gedanken aus. Alwin bemühte sich, sein Gehirn so leer wie möglich zu halten. Als er dann bereit war, begann er zu sprechen und hielt eine Rede wie noch nie. Sein Thema war Diaspar. Er schilderte die City, wie er sie zuletzt gesehen hatte, an den Busen der Wüste geschmiegt, mit Türmen, die wie gefangengenommene Regenbogen vor dem Himmel glühten. Er sprach von der Schatzkammer, in der alle Erinnerungen ruhten, von den Balladen, in denen Poeten ferner Zeiten die traumhafte Schönheit der City besungen hatten, von den Kunstwerken, die es in anderen Welten nie gegeben hatte, und von den Wundern, die Diaspar hatte entstehen lassen. Auch erwähnte er Loronai, dessen Namen er trug, und fragte seine Zuhörer, ob sie wirklich glaubten, daß seine Musik das letzte Klangbild war, das der Mensch von der Erde zu den Sternen geschickt hatte. Alwin wurde nicht ein einziges Mal unterbrochen. Als er geendet hatte, war es schon sehr spät, und der Junge war erschöpft wie noch nie zuvor. Als die beiden Knaben kurz nach Sonnenaufgang die Siedlung verließen, war Alwin immer noch müde. Sie waren nicht die einzigen, die schon auf den Beinen waren. Am See überholten sie die drei Mitglieder
des Ältestenrats. Man begrüßte sich formell und abweisend. Alwin wußte nur zu gut, was das Ziel der Männer war, und fand, daß er ihnen die unnötige Mühe ersparen konnte. »Ich fürchte, ich habe mich gestern abend nicht sehr deutlich ausgedrückt«, sagte er. »Ich bin nicht über die alte Route nach Lys gekommen, wodurch sich der Versuch, sie zu blockieren, als nichtig erweist.« Auf den drei Gesichtern eine Mischung aus Erleichterung und Verwirrung. »Wie bist du dann nach Lys gekommen?« fragte der Mann mit den weißen Haaren. Alwin deutete bloß in den Himmel. So schnell, daß das Auge der Bewegung kaum folgen konnte, flog eine Nadel silbernen Lichts in weitem Bogen über das Gebirge und zog einen weißglühenden Streifen hinter sich her. Siebentausend Meter über Lys blieb sie stehen und schickte eine Welle grollenden Donners zur Erde. Dann sank sie langsam herab, wurde immer größer und landete schließlich auf dem Hügel. Das phantastische Schauspiel hatte Alwin genauso beeindruckt wie die anderen. So schnell sie konnten, rannten sie zu dem Schiff. Niemand brachte einen Laut aus der Kehle. Als Alwin mit Theon in der Tür des großen Schiffes
stand und auf die Männer heruntersah, fiel immer noch kein Wort. Der Knabe hätte etwas darum gegeben, wenn er die Gedanken der Männer hätte lesen können, aber nicht einmal ihr Gesichtsausdruck verriet, was in ihrem Innern vor sich ging. »Ich muß in Shalmirane etwas erledigen«, sagte Alwin. »Richtet Seranis bitte aus, daß wir bis Mittag zurück sind.« Die drei Männer sahen dem Schiff nach, bis es im Süden verschwunden war. Der Mann mit den weißen Haaren zuckte schließlich mit den Schultern. »Ihr, die ihr viel älter seid«, sagte er, »habt euch immer gegen jede Art von Veränderung gewehrt, und bis jetzt habt ihr es geschafft. Der Wendepunkt scheint jedoch gekommen zu sein, und niemand kann etwas dagegen unternehmen. Lys und Diaspar sind am Ende ihrer Ära, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als das Beste aus der Zukunft zu machen.« Eine ganze Weile herrschte Schweigen, dann sprach ein anderer. »Ich verstehe nichts von Archäologie«, sagte er, und seine Stimme klang sehr versonnen, »aber das war kein normaler Flieger. Meint ihr, es könnte ein –« »Ein Raumschiff gewesen sein?« fiel ihm der Dritte ins Wort. »Wenn ja, dann stecken wir bereits mitten in der Krise.« Er überlegte. »Das totale Verschwinden von Flugkörpern und Raumschiffen«, fuhr er schließ-
lich fort, »ist eines der größten Rätsel, die uns das Interregnum aufgegeben hat. Diese Maschine kann beides gewesen sein, also nehmen wir das Schlimmste an. Der Knabe darf unter keinen Umständen die Erde verlassen, sonst laufen wir Gefahr, daß die Invasoren wieder auf uns aufmerksam werden und zurückkommen, was das Ende wäre.« »Diese Maschine ist aus Diaspar gekommen«, sagte der Mann mit den weißen Haaren nach Minuten brütenden Schweigens. »Jemand muß dort Bescheid wissen. Ich schlage vor, daß wir mit unseren Brüdern Kontakt aufnehmen. Hoffen wir, daß sie sich herablassen, mit uns zu sprechen.« Und so kam es, daß die Saat, die Alwin ausgestreut hatte, früher zu sprießen begann, als er zu hoffen gewagt hatte. Die Berge schwammen noch in den Schatten, als sie Shalmirane erreichten. Aus der Höhe sah die Mulde mit den Ruinen der Festung wie eine kleine Schüssel aus. Als Alwin das Schiff sicher zur Erde gebracht hatte, konnten die Knaben nirgends eine Spur von dem alten Mann und seinen Maschinen entdecken. Sie riefen seinen Namen, um ihn nicht zu erschrekken, falls er schlief. Der alte Mann schlief tatsächlich in dem Raum mit
den vielen Geräten. Er hatte die Hände auf der Brust gefaltet, aber seine Augen waren geöffnet und starrten an die Decke. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln: Der Tod war nicht als Feind zu ihm gekommen.
Außerhalb des Systems Die beiden Roboter waren bei ihm. Sie schwebten reglos über ihm. Als Alwin näherkommen wollte, streckten sie die metallenen Fangarme aus, und der Knabe blieb stehen. Ein eisiger Wind streifte sein Herz. Zum erstenmal in seinem Leben sah er in das marmorne Gesicht des Todes und wußte, daß ein Teil seiner Kindheit für immer von ihm genommen war. Das war also das Ende jener seltsamen Brüderlichkeit, die es in der Welt vielleicht nie wieder geben würde. Der Geist dieser Menschen war vielleicht das Opfer einer Irreführung gewesen, aber ihr Leben hatten sie bestimmt nicht umsonst gelebt. Wie durch ein Wunder hatten sie das Wissen um gewisse Dinge durch die Zeiten hindurch bewahrt und gerettet, und jetzt konnte ihr Orden den Weg gehen, den so viele Glaubensgemeinschaften gegangen waren. Sie ließen ihn in seinem Grab zwischen den Bergen. Bis zum Ende aller Zeiten würde ihn hier niemand stören. Die Maschinen, die ihm ein Leben lang gedient hatten, würden seinen toten Körper bewachen und auf Befehle warten, die sie nie mehr bekommen sollten. Schweigend gingen die beiden Knaben zu dem Schiff zurück und stiegen in den Himmel auf. Alwin
war so in Gedanken versunken, daß er der Maschine keine Anordnungen gab. Er kam erst dann wieder einigermaßen zu sich, als sie schon so weit oben waren, daß sie den ganzen Erdball unter sich liegen sahen. Lys war nur noch ein dunkler Schatten in dem endlosen Orange der Wüste, und Diaspar wirkte mit seinen glitzernden Lichtpunkten wie ein im Sand verlorengegangener Opal. Und so sah Theon zum erstenmal die City, aus der Alwin stammte. Die Knaben sahen lange zu, wie der Erdball sich unter ihnen drehte und stolz seine Pole zeigte. »Theon«, sagte Alwin nach sehr langem Schweigen. »Glaubst du, daß ich richtig handle?« Die Frage erstaunte Theon, der noch nichts von den Zweifeln wußte, die seinen Freund quälten. Auch war sie nicht leicht zu beantworten, denn wie Rorden spürte Theon, daß sich sein Charakter veränderte. Er hatte das Gefühl, von einer unbekannten Macht überflutet zu werden und in das Nichts einzutauchen, das Alwin auf seinem Weg durch das Leben hinter sich zurückließ. »Ja, ich glaube schon«, sagte Theon schließlich. »Unsere beiden Völker leben schon viel zu lange getrennt.« Aber Alwin war nach wie vor beunruhigt. »Ich habe ein sehr schwerwiegendes Problem miß-
achtet«, sagte er, »und das macht mir die größten Sorgen. Ich meine den Unterschied in der Lebensdauer.« »Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht«, sagte Theon. »Meiner Meinung nach wird sich das Problem jedoch von selbst lösen, wenn unsere Völker sich vermischen. Wir können nicht beide recht haben. Es muß zu einem Kompromiß kommen.« In einem Kompromiß lag tatsächlich die einzige Hoffnung, aber die Übergangszeit würde grausam sein. Die Frage des Alters schien Alwin letztlich zweitrangig zu sein. Das wichtigste schien ihm, daß die beiden Rassen es fertig brachten, zu einer gemeinsamen Zivilisation und Kultur zu kommen, wo das Glück des Individuums nicht mehr an erster Stelle stand. Die Menschheit mußte mehr sein als bloß der Hintergrund zum Leben des einzelnen. Für seine eigene Person war Alwin durchaus bereit, die Traurigkeit in Kauf zu nehmen, die die Veränderung mit sich bringen würde. Er sprach mit Theon nie wieder über dieses Thema. »Als ich Diaspar das erstemal verließ«, sagte er nach einer Weile, »wußte ich nicht, was ich eigentlich suche. Lys hat mich damals begeistert, aber inzwischen ist die Erde für mich so klein geworden und unwichtig. Jede Entdeckung, die ich gemacht habe,
hat neue und viel größere Fragen aufgeworfen. Ich werde nicht zur Ruhe kommen, bis ich nicht weiß, wer der Meister gewesen und warum er zur Erde heruntergekommen ist. Und wenn ich das weiß, dann werde ich wahrscheinlich wissen wollen, wer die Großen sind und wer die Invasoren ... Es wird nie enden.« Theon hatte den Freund nie so nachdenklich gesehen und wollte seinen Gedankengang nicht stören, daher schwieg er. »Der Roboter hat mir gesagt«, fuhr Alwin fort, »daß dieses Schiff nur einen halben Tag bis zu den Sieben Sonnen braucht. Meinst du, wir sollen es wagen?« »Und meinst du, ich könnte dich davon abhalten?« fragte Theon dagegen. Alwin lächelte. »Das ist keine Antwort«, sagte er. »Selbst wenn es stimmt. Wir wissen nicht, was uns im All erwartet. Die Invasoren haben das Universum vielleicht längst verlassen, aber es kann ja andere Intelligenzen geben, die den Menschen feindlich gesinnt sind.« »Wieso denn?« fragte Theon. »Durch die Jahrtausende hindurch haben sich die Philosophen mit diesem Problem beschäftigt. Ich bin der festen Überzeugung, daß eine wirklich intelligente Rasse so etwas wie Feindseligkeit überhaupt nicht kennt.«
»Und die Invasoren?« Theon deutete auf die Wüste unter ihnen. »Wir hatten einst ein Imperium«, sagte er. »Was sollen sie denn heute von uns noch wollen. Sie können uns doch nichts mehr wegnehmen.« Alwin war erstaunt. »Denken alle in Lys so?« fragte er. »Nein«, sagte Theon. »Nur eine Minderheit. Der Durchschnitt macht sich keine derartigen Gedanken. Wenn die Invasoren die Erde hätten total zerstören wollen, dann hätten sie das längst getan. Nur wenige Menschen, wie meine Mutter zum Beispiel, haben noch Angst vor ihnen.« »Das ist in Diaspar ganz anders«, sagte Alwin. »Die Menschen dort sind durchweg feige. Schade, daß deine Mutter so denkt. Glaubst du, sie hat etwas dagegen, wenn du mitkommst?« »Hundertprozentig«, sagte Theon prompt. »Sie wird wissen, was wir vorhaben«, sagte Alwin, »denn von dem Schiff hat man ihr längst erzählt. Wir müssen nach Airlee zurück.« »Nein«, sagte Theon. »Dann ist alles verloren. Ich habe eine bessere Idee.« In der kleinen Siedlung, in der sie landeten und die nur an die fünfzig Kilometer von Airlee entfernt war, hatte Theon viele Freunde. Sie lag am Rande eines Sees, in
dem viele schalenartige Gegenstände schwammen, deren Zweck Alwin fremd war. Trotzdem fand er es lustig, wie anmutig sie das Wasser durchschnitten. Alwin wartete im Schiff, während Theon mit seinen Freunden verhandelte. Nach wenigen Minuten war er bereits wieder zurück. »Man richtet es meiner Mutter in ein paar Minuten aus«, sagte er. »Ich habe nicht genau angegeben, wohin wir wollen, aber sie wird es sich denken können. Ich habe übrigens eine Neuigkeit, die dich interessieren wird.« »Nämlich?« »Der Ältestenrat will Kontakt mit Diaspar aufnehmen.« »Was?« »Kontakt mit Diaspar.« »Und weswegen?« »Wahrscheinlich um herauszubekommen, wie man dich daran hindern kann, die Erde zu verlassen. Deshalb war ich so schnell wieder hier.« Alwin lächelte. »Du glaubst also, daß die Angst das geschafft hat, woran die Logik und alle Überredungskunst gescheitert sind?« »Das ist anzunehmen.« Was auch immer der Grund sein mochte, Alwin war zufrieden. Diaspar und Lys hatten beide viel zu
lange reagiert, aber endlich schienen die Ereignisse dem Höhepunkt zuzusteuern. Daß dieser Höhepunkt für ihn persönlich unangenehme Konsequenzen haben konnte, war Alwin egal. Sie hatten bereits wieder eine beachtliche Höhe erreicht, als Alwin dem Roboter die letzten Instruktionen gab. Nachdem Alwin geendet hatte, trat eine Pause ein, in der der Roboter Kontrollvorrichtungen und Wirkungskreise zu überprüfen schien, die seit geologischen Zeiten nicht mehr benutzt worden waren. Dann plötzlich ein singendes Geräusch. Alwin sah erstaunt auf. Noch nie hatte er eine Maschine einen Laut von sich geben hören. Das Geräusch stieg von Oktave zu Oktave und war schließlich für das menschliche Ohr nicht mehr wahrzunehmen. Von einer Veränderung irgendwelcher Art oder einer Bewegung war nicht zu spüren, doch von der einen Sekunde zur anderen schwirrten auf einmal Sterne über das Oval. Die Erde tauchte auf, rollte vorbei und erschien wieder, aber unter einem anderen Blickwinkel. Das Schiff tanzte wie eine Kompaßnadel, die den Norden suchte, im All. Die Himmel drehten sich in alle Richtungen, bis das Schiff schließlich zur Ruhe kam und direkten Kurs auf die Sterne nahm. Der große Kreis der Sieben Sonnen tauchte in seiner ganzen Farbigkeit auf dem Oval auf. Ein kleiner
Teil der Erde war noch zu sehen, eine schmale Sichel, die im Schein der untergehenden Sonne golden leuchtete. Alwin saß da, die Hände an seinen Sitz geklammert, und wartete, während die Sekunden in die Ewigkeit rannen. Kein Geräusch, nur ein plötzliches Erzittern, und die Erde war verschwunden, wie von einer gigantischen Hand weggewischt. Jetzt waren die Knaben allein im All. Allein mit den Sternen und einer seltsam geschrumpften Sonne. Als das Schiff wieder erzitterte, war auch die Sonne verschwunden, und nur noch Sterne krochen langsam durch das Dunkel. Alwin blickte zurück, sah aber nichts. Auch die Himmel waren von der Hemisphäre der Nacht verschluckt. Sogar die Sterne tauchten in sie ein und verglühten wie Funken, die ins Wasser fielen. Das Schiff bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die weit größer war als die des Lichts, und Alwin wußte, daß sie sich nicht mehr in dem bekannten System von Sonne und Erde befanden. Als das dritte Erzittern kam, blieb Alwin fast das Herz stehen. Das Bild auf dem Oval war verzerrt, und für einen Moment schien nichts mehr Bezug zueinander zu haben. Alwin spürte im Innern seines Körpers ein Zerren, die er sich nicht erklären konnte. Sie bewirkte, daß er durch den dünnen Film der Ge-
genwart Bruchteile von Veränderungen sah, die im All stattfanden. Im selben Moment ein Aufheulen, von dem das ganze Schiff geschüttelt wurde und das in Alwins Ohren wie ein Protest klang. Dann war alles vorbei, und die plötzliche Stille schien zu brüllen. Die mächtigen Triebwerke des Schiffs hatten ihre Arbeit getan und wurden bis zum Ende der Reise nicht mehr gebraucht. Die Sterne leuchteten blauweiß auf und verglühten in einem Violett, das fast schwarz war. Die Sieben Sonnen allerdings waren wie durch ein Wunder der Natur oder die Magie der Technik nach wie vor sichtbar. Das Schiff bohrte sich durch einen Tunnel der Finsternis, Raum und Zeit gab es nicht mehr. Bald mußten sie das Herz der Galaxis erreichen und dahinter in das noch größere Nichts eintauchen. Weder Alwin noch Theon waren in der Lage, das Unfaßliche auch nur annähernd zu verstehen. Die großen Sagen, die von der Erforschung des Alls erzählten, hatten den Begriff Universum total verändert, aber selbst jetzt, Millionen von Jahrhunderten später, waren die alten Traditionen noch nicht ganz tot. Die Legende erzählte, daß es nur ein Schiff gegeben hatte, das den gesamten Kosmos zwischen Aufgang und Untergang der Sonne umsegelt hatte. Die Billionen von Kilometer zwischen den Sternen wurden zum unbedeutenden Faktor, gemessen an den Geschwin-
digkeiten, die eine solche Reise erforderte. Für Alwin jedoch war das Unternehmen kaum bedeutender und wahrscheinlich weniger gefährlich als seine Reise nach Lys. Es war Theon, der den Gedanken, dem die Knaben nachhingen, aussprach, als das Licht der Sieben Sonnen stärker wurde. »Alwin«, sagte er. »Diese Formation kann nicht von der Natur geschaffen sein.« Alwin nickte. »Das denke ich seit Jahren«, sagte er. »Trotzdem scheint es unglaublich.« »Das System als solches ist vielleicht nicht vom Menschen gebaut worden«, sagte Theon, »aber es muß von einer Intelligenz erdacht worden sein. Die Natur kann keinen so perfekten, makellosen Kreis von Sternen in das Nichts gesetzt haben, von den verschiedenen Farben und der absoluten Intensität ihrer Ausstrahlung ganz zu schweigen. Im sichtbaren Universum gibt es nichts, was man mit der Zentral-Sonne gleichsetzen könnte.« »Und aus welchem Grund soll man die Sieben Sonnen konstruiert haben?« »Mir fallen viele Gründe dafür ein. Vielleicht sollen die Sieben Sonnen ein Signal sein. Eine Art Leuchtfeuer für ein fremdes Schiff, das in das Universum eintritt und nicht weiß, wo Leben zu finden ist. Oder
vielleicht sind die Sieben Sonnen das Zentrum. Das Zentrum der Galaktischen Administration. Oder – und das scheint mir die richtige Erklärung zu sein – sie sind einfach das größte Kunstwerk, das je erschaffen worden ist. Aber warum Vermutungen anstellen? Bald wissen wir die Wahrheit.«
Vanamonde Also warteten sie, in ihre Träume versunken, während Stunde um Stunde verging und der seltsame Tunnel, durch den sie reisten, vom Licht der sechs Außensterne erfüllt wurde. Schließlich versanken auch sie im Dunkel, und vor den Knaben lag nur noch die Zentral-Sonne. Von Minute zu Minute wurde ihr perlweißes Licht, das sie von den anderen Sternen unterschied, stärker, und sie war bald kein Punkt mehr, sondern eine Scheibe. Die Scheibe fing an zu wachsen, und plötzlich ertönte ein feiner Glokkenton. Im selben Moment heulten die Triebwerke zu neuem Leben auf, und die Sterne waren wieder zu sehen. Das Schiff war in das All zurückgekehrt, es war zurückgesunken in das Universum von Sonnen und Planeten, in die natürliche Welt, in der sich nichts schneller bewegen konnte als das Licht. Sie befanden sich im System der Sieben Sonnen, deren perfekte Symmetrie immer klarer wurde. Alwin wußte plötzlich, daß Theon recht behalten sollte. Die Natur, die die Sterne achtlos über den Himmel geworfen hatte, konnte dieses System nicht erschaffen haben. Die perlmuttartige Leuchtkraft der Zentral-Sonne
war den Knaben wenige Minuten später klar. Der große Stern war von einer Gasschicht umgeben, die seine Ausstrahlung weicher erscheinen ließ und ihr die charakteristische Farbe gab. Alwin fragte sich, wohin der Roboter sie zu bringen gedachte. Folgte er seiner Erinnerung, oder empfing er von außen Signale, die ihn steuerten? Alwin hatte das Endziel völlig der Maschine überlassen, deren Entscheidung nach kurzem klar wurde. Das Schiff nahm Kurs auf einen blassen Lichtpunkt, der im Schein der Zentral-Sonne erst nur schwach zu sehen war. Die Reise näherte sich dem Ende. Der Planet war nur noch ein paar Millionen Kilometer entfernt. In seiner Sphäre vielfarbigen Lichts konnte auf seiner Oberfläche keine Dunkelheit herrschen, und Alwin mußte an die Worte des alten Mannes denken: Es ist wundervoll, die bunten Schatten auf dem Planeten Ewigen Lichts zu betrachten. Inzwischen waren sie so nahe an den Planeten herangekommen, daß sie durch den Schleier der Atmosphäre Kontinente und Ozeane sehen konnten. Etwas allerdings war sonderbar: die Aufteilung von Land und Wasser war von erschreckender Regelmäßigkeit. Nicht die Natur hatte die Oberfläche des Planeten eingeteilt, sondern dieselben Kräfte, die das gesamte System erschaffen haben mußten.
»Das sind ja gar keine Meere«, rief Theon plötzlich. »Schau, siehst du die Markierungen?« Erst als sie noch ein gutes Stück näher an den Planeten herangekommen waren, merkte Alwin, was sein Freund gemeint hatte. Er sah die feinen Bänder und Linien am Rande der Kontinente und erschrak. Über der Wüste hatte sich ihm ein ähnliches Bild geboten. Alwin wußte plötzlich, daß sie die Reise umsonst gemacht hatten. »Dieser Planet ist genauso ausgetrocknet wie die Erde«, sagte er traurig. »Er besitzt keine Meere mehr. Seine Wasser sind versiegt. Die Linien, die du da siehst, sind die Ränder der Salzwüsten, die übriggeblieben sind.« »Das hätten sie nie zugelassen«, sagte Theon. »Wir sind also doch zu spät gekommen.« Die Enttäuschung seines Freundes war so groß, daß Alwin nichts mehr zu sagen wagte und stumm auf die große Welt vor ihnen starrte. Langsam drehte sich der Planet unter ihrem Schiff, und seine Oberfläche schien ihnen höflich entgegenzukommen, um sie zu begrüßen. Schließlich entdeckten die Knaben die ehemaligen Gebäude, jetzt kleine weiße Versteinerungen. Diese Welt war einst das Zentrum des Universums gewesen. Jetzt war alles still. Die Luft war leer und
auf dem Boden nirgends eine Spur von Leben. Trotzdem glitt das Schiff weiterhin über das Meer von Stein, das an manchen Stellen dem Himmel zu trotzen schien, denn es warf Wellen auf, die Wolkenformationen glichen. Als ob der Roboter endlich das letzte Detail aus seinem Gedächtnis hatte ausgraben können, setzte das Schiff endlich auf. Alwin traute seinen Augen nicht: es war auf einer schneeweißen Säule gelandet, die mitten in einem marmornen Amphitheater stand. Der Knabe wartete einen Moment, aber nichts rührte sich, bis er dem Roboter befahl, das Schiff neben den Sockel der Säule zu dirigieren. Bis zum letzten Moment hatte Alwin gehofft, doch noch eine Spur von Leben auf dem Planeten zu finden, aber diese Hoffnung schwand, als er mit Theon das Schiff verließ. Nie zuvor, nicht einmal in Shalmirane, hatte ihn so absolute Stille umgeben. Nicht einmal das Seufzen eines letzten Windes. Warum der Roboter sie hierhergebracht hatte, wußte Alwin nicht, aber diese Frage war jetzt unerheblich geworden. Die weiße Säule war vielleicht zwanzigmal so groß wie ein Durchschnittsmensch, ihr Metallsockel erhob sich bloß einige Meter über dem Boden. Ihre glatte Oberfläche ließ keinerlei Schluß zu. Daß sie einmal der Mittelpunkt gewesen war, von dem alle astronomischen Messungen aus-
gegangen waren, konnten die Knaben nur annehmen. Gewißheit würden sie nie bekommen. Alwin war am Ende seiner Suche. Daß es sinnlos war, die anderen sechs Welten der Sieben Sonnen zu besuchen, wußte er. Selbst wenn es noch Intelligenz im Universum gab, wo sollte er sie jetzt vermuten? Er hatte gesehen, mit welcher Willkür die Sterne über die Himmel verstreut waren, und wußte, daß die Zeit nicht ausreichte, überall nachzuforschen. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl von Einsamkeit und Nichtigkeit, das überwältigend war. Von einer Sekunde zur anderen verstand er die Angst Diaspars vor dem Universum. Er begriff, was seine Mitmenschen veranlaßt hatte, sich in den Mikrokosmos ihrer City zu verkriechen. So schwer es ihm fiel, er mußte sich eingestehen, daß sie recht hatten. Alwin drehte sich in seiner Seelennot zu Theon um, aber sein Freund stand wie versteinert da, die Hände ineinander verkrampft, und stierte ins Leere. »Was hast du denn?« fragte Alwin erschrocken. »Da kommt etwas«, sagte Theon, ohne den Blick von dem Nichts abzuwenden. »Komm, gehen wir ins Schiff zurück. Das ist besser.« Die Galaxie hatte sich viele Male um die eigene Achse gedreht, seit zum erstenmal das Wissen um sich selbst in Vanamonde aufgestiegen war. An die ersten Äonen und die
Kreaturen, die sich damals um ihn gekümmert hatten, erinnerte er sich kaum – aber das Gefühl der Einsamkeit war ihm geblieben, das er empfunden hatte, als sie verschwunden waren und ihn allein inmitten der Gestirne zurückgelassen hatten. Seither war er durch die Jahrtausende von Sonne zu Sonne gewandert, und seine Macht hatte sich langsam entwickelt und war gewachsen. Einmal hatte er davon geträumt, diejenigen, die bei seiner Geburt dabei gewesen waren, wieder gefunden zu haben, und der Traum war zwar verblaßt, aber nie ganz erstorben. Auf zahllosen Welten hatte er die Ruinen entdeckt, die das Leben hinterlassen hatte, aber auf Intelligenz war er nicht ein einziges Mal gestoßen. Die Schwarze Sonne hatte er voll Grauen fluchtartig verlassen. Aber das Universum war unermeßlich, und seine Suche hatte gerade erst begonnen. So weit er auch zeitlich und räumlich entfernt war, der große Kraftausbruch aus dem Herzen der Galaxis lockte Vanamonde über die Lichtjahre hinweg. Er hatte mit der Strahlung der Sterne nicht das geringste zu tun und war in seinem Bewußtsein so plötzlich aufgetaucht wie ein Meteor an einem wolkenlosen Himmel. Er ging darauf zu, auf den letzten Moment seiner Existenz, die sich von ihm löste wie die tote Gesetzmäßigkeit der Vergangenheit. Er kannte diesen Ort, denn er war schon einmal hier gewesen. Damals war er ohne Leben gewesen, aber jetzt war er von Intelligenz geschwängert. Die langgestreckte
metallene Form am Fuß der Säule kannte er nicht, wie ihm alle Dinge der physischen Welt fremd waren. Die Aura der Kraft, die ihn durch das Universum gezogen hatte, hing ihm immer noch an, aber das interessierte ihn mittlerweile nicht mehr. Behutsam, mit der übersensiblen Nervosität eines wilden Tiers, das immer auf dem Sprung ist, tastete er sich zu den zwei fremden Seelen vor, die er plötzlich entdeckt hatte. Und dann wußte er plötzlich, daß seine lange Suche nicht umsonst gewesen war. Sie hatte ihr Ende gefunden.
Die beiden Sitzungen Wie unvorstellbar, dachte Rorden, wäre das noch vor ein paar Jahren gewesen. Obwohl er nach wie vor in Ungnade stand, war niemand auf die Idee gekommen, ihn auszuschließen. Seine Anwesenheit war unerläßlich. Neben die sechs Besucher, die dem Kontrollrat gegenübersaßen, hatte man die Experten plaziert, von denen einer Rorden war. Er konnte also die Gesichter der Besucher schlecht sehen, aber die des Kontrollrats, und das war Aufklärung genug. Daß Alwin recht gehabt hatte, daran zweifelte niemand mehr. Die Delegierten von Lys konnten fast zweimal so schnell denken wie die besten Köpfe von Diaspar. Dazu kam, daß sie anpassungsfähig waren wie selten jemand, was wohl eine Auswirkung ihrer telepathischen Fähigkeiten war. Nach Rordens Meinung war noch kein sonderlicher Fortschritt erzielt worden. Wie auch? Alwin hatte eine Reise ins All unternommen, und daran war nun einmal nichts mehr zu ändern. Der Kontrollrat, der Lys immer noch nicht ganz akzeptiert hatte, schien nicht verstehen zu können, was in Wirklichkeit geschehen war. Die alten Männer hatten Angst, und die Besucher aus Lys offensichtlich auch. In Rorden war eine sonderbare Veränderung vor-
gegangen: seine Angst war zwar noch da, aber er sah ihr mittlerweile ins Auge. Alwins Dreistigkeit – oder war es Mut? – hatten ihm neue Horizonte eröffnet. Die Aufforderung des Präsidenten, seine Meinung kundzutun, riß Rorden aus seinen Gedanken. »Meiner Meinung nach«, sagte er, »ist es reiner Zufall, daß die angegebene Situation erst jetzt aufgetreten ist. Wir konnten sie nicht verhindern, denn die Ereignisse, die dazu führten, waren bereits zu weit vorangetrieben. Mit der Vergangenheit zu hadern ist sinnlos. Wir haben beide Fehler gemacht, sowohl Lys als auch Diaspar. Wenn Alwin auf die Erde zurückkehrt, kann man versuchen, ihn daran zu hindern, neue Eskapaden zu unternehmen. Ich zweifle daran, daß es gelingen wird, denn er wird viel neues Wissen mitbringen. Wenn sich die Befürchtungen der hier Anwesenden als begründet erweisen, kann nichts dagegen getan werden. Die Erde ist so hilflos, wie sie es Millionen von Jahrhunderten lang war.« Rorden schaltete eine Pause ein und sah von einem zum anderen. Seine Einleitung hatte keinem Freude bereitet, aber das hatte er auch nicht erwartet. »Ich sehe trotzdem keinen Grund zur Panik«, fuhr der Archivar fort. »Die Erde ist in keiner größeren Gefahr als eh und je. Warum sollen zwei Knaben in einem Schiff den Zorn der Invasoren neu auflodern lassen? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben,
daß die Invasoren unsere Welt schon vor Jahrhunderten hätten zerstören können.« Der Kontrollrat war entsetzt, doch zwei der Besucher schienen Rordens Meinung zu sein, denn sie nickten nachdenklich mit den Köpfen. »Sagt nicht die Legende«, schaltete sich der Präsident ein, »daß eine Abmachung zwischen den Invasoren und den Menschen besteht? Die Erde soll verschont bleiben, wenn der Mensch das All nicht mehr betritt. Jetzt frage ich die Anwesenden: ist dieses Versprechen nicht gebrochen worden?« »Der Meinung bin ich auch einmal gewesen«, sagte Rorden, der es recht ungehörig fand, mitten in seiner Rede unterbrochen zu werden. »Wir haben vieles einfach hingenommen, ohne uns weitere Fragen zu stellen. Meine Maschinen wissen nichts von Legenden. Für sie existiert nur die Wahrheit. Es gibt keinerlei historische Aufzeichnungen, die von einer Abmachung zwischen den Invasoren und den Menschen sprechen. Ich bin der festen Überzeugung, daß ein so wichtiges Ereignis verzeichnet wäre, wenn es tatsächlich stattgefunden hätte. Ich darf darauf hinweisen, daß das Archiv voll ist von weitaus unwichtigeren Dokumenten.« Selbst Rorden kam es sonderbar vor, daß er Alwins Ideen verteidigte. Bisher hatte er sich dem Knaben gegenüber doch immer als der geborene Skeptiker
gezeigt. Einer der Träume Alwins war bereits Wirklichkeit geworden: die Beziehungen zwischen Lys und Diaspar. Wo der Knabe jetzt wohl sein mochte? Alwin hatte nichts gehört und nichts gesehen. »Was war denn los?« fragte er Theon, als sich die Druckschleuse des Schiffs hinter ihm geschlossen hatte. »Ich weiß es selbst nicht«, sagte Theon. »Es war schrecklich. Ich glaube, er beobachtet uns immer noch.« »Sollen wir weg von hier?« »Nein. Ich hatte erst Angst, aber inzwischen glaube ich, daß er uns nichts tun will. Er ist bloß interessiert an uns.« Alwin wollte gerade eine weitere Frage stellen, als er von einem Gefühl überwältigt wurde, das er sich nicht erklären konnte. Noch nie zuvor hatte er etwas Ähnliches empfunden. Ein warmes, leicht prickelndes Glühen flutete durch seinen ganzen Körper. Es dauerte nur ein paar Sekunden, und als es wieder abgeklungen war, war er nicht mehr Alwin von Loronai. Etwas teilte seine Gedanken und deckte sich zum Teil mit ihnen. Hinzu kam, daß er sich in Theon und seine Denkweise versetzen konnte, was zwar seltsam war, aber durchaus nicht unangenehm. Alwin hatte in dem Moment die erste Ahnung dessen, was es be-
deutete, telepathische Fähigkeiten zu besitzen. Also ein Talent, das seine Rasse hatte verkümmern lassen, so daß es nur noch auf Maschinen anwendbar war. Gegen Seranis hatte Alwin sich damals gewehrt, aber die Intelligenz, die sich eben auf ihn herabgelassen hatte, war freundlicher Natur, das spürte er. Der Knabe setzte sich nicht zur Wehr, sondern ließ es mit einem Gefühl der Genugtuung geschehen, daß eine Intelligenz, die unendlich viel größer war als seine eigene, seinen Geist durchforschte. Vanamonde wußte sofort, daß der eine Geist viel zugänglicher war als der andere. Beide hielten seine Gegenwart für ein Wunder, was Vanamonde erstaunte. Daß sie vergessen haben sollten, war schwer vorstellbar. Vergeßlichkeit war, wie die Moral, ein Begriff, der außerhalb seines Verstehens lag. Sich gegenseitig zu verständigen war nicht einfach: viele der Gedankenbilder in ihren Vorstellungen waren so seltsam und absonderlich, daß er nichts damit anfangen konnte. Was ihn außerdem erstaunte und bis zu einem gewissen Grad erschreckte war die Tatsache, daß immer wieder Angstströme auftauchten, deren Ursache die Invasoren waren. Die Angstströme erinnerten ihn an das, was er empfunden hatte, als die Schwarze Sonne zum erstenmal in das Feld seines Wissens eingedrungen war. Aber die Schwarze Sonne war ihnen kein Begriff.
Jetzt nahmen ihre eigenen Fragen plötzlich Form in seinem Denken an. »Was bist du?« »Ich bin Vanamonde«, antwortete er. Es entstand eine Pause. Ihre Denkvorgänge waren erstaunlich schleppend. Sie wiederholten die Frage. Sie hatten seine Antwort also nicht verstanden. Seltsam, waren es doch Gebilde ihresgleichen, die ihm den Namen als Erinnerung an seine Geburt gegeben hatten. Von diesen Erinnerungen gab es nur wenige, und alle konzentrierten sich auf einen bestimmten Punkt in der Zeit, sie waren aber alle kristallklar. Wieder kletterten ihre winzigen Gedanken in sein Ichbewußtsein. »Wer sind die Großen? Bist du einer von ihnen?« Das wußte er nicht, was sie ihm nicht glaubten. Ihre Enttäuschung war groß und durchlief das ganze Labyrinth, das ihre Geister von seinem trennte. Aber sie waren geduldig, und er half ihnen gern, denn sie verfolgten dasselbe Ziel wie er. Außerdem genoß er das Gefühl des Wirseins. Alwin war von der lautlosen Unterhaltung überwältigt. Die Gedankenwellen, die auf ihn einstürzten, schlugen wie eine Springflut über ihm zusammen. Als Theon erschöpft war, brach er den Kontakt ab und wandte sich an seinen Freund. »Alwin«, sagte er mit schwacher Stimme, »etwas
sehr Sonderbares geht hier vor sich. Ich verstehe es nicht.« Alwin war noch verlorener als der Knabe von Lys, der plötzlich auflachte. »Du hast wohl gedacht, ich weiß mehr?« fragte er. »Nein, Alwin, leider nicht. Ich kann diesen Vanamonde nirgends einordnen. Er scheint eine Kreatur von unbegrenztem Wissen zu sein, scheint aber nur wenig Intelligenz zu besitzen. Ich halte es für möglich, daß der Geist dieser Kreatur von unserem so verschieden ist, daß wir ihn eben nicht verstehen, aber diese Erklärung finde ich nicht befriedigend.« »Aber hast du wenigstens etwas von dieser Kreatur erfahren?« fragte Alwin. »Nicht viel«, sagte Theon, und seine Gedanken schienen weit weg zu sein. »Diese Stadt hier ist von vielen Rassen erbaut worden, unsere eigene inbegriffen. Die Kreatur kann mir Fakten liefern, scheint ihre Bedeutung aber nicht zu verstehen. Meiner Meinung nach ist Vanamonde vergangenheitsbewußt, kann die Vergangenheit aber nicht interpretieren. Alles, was je geschehen ist, scheint ungeordnet in seinem Gedächtnis gespeichert zu liegen.« Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Etwas können wir natürlich tun«, fügte er hinzu. »Wir nehmen Vanamonde mit zur Erde zurück, damit sich unsere Philosophen ein Bild von ihm machen können.«
»Meinst du, das ist nicht gefährlich?« »Absolut nicht«, sagte Theon. »Vanamonde ist doch eine sehr gutmütige, ja sogar gutartige Kreatur. Ich würde sie fast als anhänglich bezeichnen.« Alwin mußte plötzlich an Krif denken.
Die schwarze Sonne Sie landeten gegen Mittag in Airlee. Ob Vanamonde bei ihnen war, konnte Alwin nicht mit Sicherheit sagen, er konnte es nur hoffen. Während der Reise jedenfalls hatte sich die Kreatur nicht ein einziges Mal bemerkbar gemacht. Alwin schickte das Schiff in die Welt zurück, zu der es gehörte. Wenn er es brauchte, konnte er es ja rufen. Seranis wartete bereits auf sie. Sie sah die Knaben eine Weile schweigend an, dann wandte sie sich an Alwin. »Du machst unser Leben ganz schön kompliziert«, sagte sie. Nicht der geringste Vorwurf lag in ihrer Stimme. Im Gegenteil. Alwin glaubte eine Spur von Anerkennung herauszuhören und wußte sofort, worauf sie sich bezog. »Dann ist Vanamonde also schon da?« fragte er. »Ja, schon seit Stunden. Wir haben von Vanamonde mehr gelernt über unsere Geschichte, als vorstellbar ist.« Alwin beneidete die Bewohner von Lys: die Leichtigkeit, mit der sie sich in andersdenkende Systeme versetzen konnten, war ein großes Talent, das er noch zu erwerben hoffte.
»Habt ihr herausbekommen, was Vanamonde ist?« fragte er. »Ja, natürlich«, sagte Seranis. »Das war nicht weiter schwierig. Vanamondes Ursprung ist uns allerdings noch ein Rätsel. Wir wissen jedoch, daß Vanamonde nur aus Denkvorgängen besteht und ein geradezu unbegrenztes Wissen besitzt. Er ist allerdings im wahrsten Sinn des Worts kindlich.« »Natürlich!« rief Theon. »Das hätte ich mir denken können.« Alwin kannte sich langsam überhaupt nicht mehr aus. Seranis sah es ihm an und erklärte ihm, was sie gemeint hatte. »Siehst du, Alwin«, sagte sie gütig, »Vanamonde besitzt zwar ein kolossales Wissen und besteht nur aus Denkströmen, er ist aber unreif und noch nicht voll entwickelt. Vanamondes Intelligenz ist weitaus kleiner als die eines Durchschnittsmenschen, obwohl sich seine Denkvorgänge mit rasender Geschwindigkeit abwickeln und seine Lernfähigkeit erstaunlich ist. Außerdem besitzt er Kräfte, die wir noch nicht recht verstehen. Die ganze Vergangenheit, seit dem Urbeginn aller Zeiten, scheint offen und ständig greifbar in seinem Wissensspeicher zu liegen, was einer der Beweise zu sein scheint, wie Vanamonde die Spur zur Erde verfolgen konnte.« Jetzt erst wurde es Alwin voll klar, wie vernünftig
und klug Theons Vorschlag gewesen war, Vanamonde mit nach Lys zu nehmen. »Glaubst du«, fragte er Seranis, »daß Vanamonde erst vor kurzem geboren worden ist?« »An seiner Zeitrechnung gemessen – ja. Sein wirkliches Alter ist sehr groß, allerdings ist er jünger als der Mensch. Das Phantastische ist, daß er sich nicht davon abbringen läßt, von uns geschaffen worden zu sein.« »Und was geschieht jetzt mit Vanamonde?« fragte Theon. »Die Historiker von Grevarn haben ihn übernommen. Sie versuchen, die Hauptzüge der Vergangenheit aufzuzeichnen, was allerdings Jahre in Anspruch nehmen wird. Vanamonde kann die Vergangenheit bis ins letzte Detail schildern, aber er versteht die Zusammenhänge nicht, und deshalb ist die Aufgabe, die die Historiker übernommen haben, sehr schwer.« »Wenn doch Rorden hier wäre«, sagte Alwin, und plötzlich kam ihm eine Idee. »Ich gehe nach Diaspar«, rief er, »und hole ihn! Und Jeserac auch.« Calitrax, der geachtetste und höchstgestellte Historiker von Lys, holte Alwin, Jeserac und Rorden von der kleinen Transportmaschine ab, die sie von Airlee nach Grevarn gebracht hatte. Rorden schwirrte jetzt schon der Kopf. Alwin hatte
während der Reise pausenlos auf ihn eingeredet, und der Archivar war jetzt zwar auf dem laufenden, aber er hatte ja auch die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten. Calitrax war ein großer Mann mit leicht hängenden Schultern. Es war Rorden ein Rätsel, wie der Historiker ohne die Hilfe von Assoziatoren in so kurzer Zeit so viel dazugelernt haben konnte. Auf die Idee, daß gerade das Fehlen von Maschinen der Grund dafür war, daß sich die Menschen von Lys ihr Gedächtnis bewahrt hatten, kam Rorden nicht. Sie gingen zusammen durch die schmalen Straßen von Grevarn, die Rorden lächerlich primitiv und eng vorkamen. Calitrax machte einen etwas geistesabwesenden Eindruck. Er schien in Gedanken immer noch mit Vanamonde beschäftigt zu sein. »Ist die Zeitrechnung schon abgeschlossen?« fragte Rorden, der sich etwas vernachlässigt vorkam. »Und stimmen die einzelnen Daten überein?« »Ja«, sagte der Historiker. »Es blieb uns nichts anderes übrig, als auf die astronomische Methode zurückzugreifen, aber wir haben es geschafft. Die Hauptepochen stehen. Bis zum Zeitalter der Dämmerung ist alles klar und belegt.« »Und die Invasoren? Ist dieser dunkle Punkt geklärt?« »Nein«, sagte Calitrax. »Wir haben einen einzigen
Versuch unternommen, mußten jedoch schnell einsehen, daß es hoffnungslos ist. Man kann nicht nach einer total isolierten Periode suchen. Wir haben uns vielmehr daran gemacht, an den Ursprung der Geschichte zurückzugehen und wollen uns nun der Reihe nach gleichlaufende Ereignisse vornehmen, sie miteinander in Zusammenhang bringen und die sich daraus ergebenden logischen Schlüsse ziehen. Die fehlenden Details werden sich somit von selbst ergeben. Wenn Vanamonde doch nur das interpretieren könnte, was vor seinem geistigen Auge erscheint! Aber er kann es eben nicht, und so müssen wir uns durch Massen irrelevanten Materials wühlen.« »Es wäre interessant zu wissen, was er von der ganzen Angelegenheit denkt«, sagte Rorden. »Sie muß ihm recht verwirrend vorkommen.« »Das glaube ich auch. Aber er ist sehr willig und hilfsbereit. Meiner Meinung nach ist er sogar glücklich – wenn man das Wort in seinem Zusammenhang gebrauchen kann. Theon ist übrigens auch überzeugt davon, und er und Vanamonde stehen sich sehr nahe.« Ein Mann war zu ihnen getreten, und Calitrax legte ihm einen Arm um die Schultern. »Das ist Bensor«, stellte er vor. »Er hat die letzten zehn Millionen Jahre Geschichte übernommen.«
Der Sitzungssaal des Kontrollrats hatte sich seit Alwins letztem Besuch kaum verändert. Allerdings waren zwei Plätze an dem berühmten Tisch leer. Einer davon gehörte Jeserac, der noch in Lys weilte, die Verhandlung aber wie jeder auf der Welt verfolgen würde. Rorden hatte wenig Lust, an ihren letzten gemeinsamen Auftritt hier zu denken, Alwin allerdings erinnerte sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln daran. Die zweideutigen Blicke, die ihn trafen, amüsierten ihn. Wenn ihr erst einmal Rordens Bericht gehört habt, dachte er, werdet ihr noch ganz andere Gesichter machen. In den letzten Monaten hatte sich die Gegenwart bis zur Unkenntlichkeit verändert, und jetzt sollten diese alten, verknöcherten Männer auch noch ihre Vergangenheit verlieren. Rorden stand auf und begann. Alwin wußte, daß in diesem Moment die Straßen von Diaspar leer waren wie noch nie. Die Gleitbänder liefen umsonst. Alles wartete gespannt darauf, daß nach 1500 Millionen Jahren – wenn Calitrax recht hatte – der Schleier der Vergangenheit wieder gelüftet wurde. Rorden gab einen kurzen Abriß der Geschichte, die bisher in Lys und Diaspar gelehrt worden war. Er
sprach von den unbekannten Völkern des Zeitalters der Dämmerung, die außer ein paar Namen und einer Handvoll Legenden nichts hinterlassen hatten. Doch selbst am Anfang, fuhr Rorden fort, habe der Mensch nach den Sternen gestrebt, und sein Wunsch, sie zu besitzen, war schließlich auch in Erfüllung gegangen. Durch Millionen von Jahren hindurch hatte er sich in der Galaxis ausgebreitet und seinem Imperium System nach System einverleibt. Und dann war plötzlich aus der totalen Finsternis jenseits des Universums der Invasor aufgetaucht und hatte ihm alles wieder aus der Hand gerissen. Sich wieder in das Sonnensystem zurückzuziehen zu müssen, war bitter gewesen für den Menschen, und er hatte Jahrhunderte dazu gebraucht. Nicht einmal die Erde selbst war verschont geblieben: die Schlachten um Shalmirane sprachen davon. Als dann alles endlich vorbei war, waren dem Menschen nur seine Erinnerungen geblieben und die Welt, auf der er geboren war. Rorden legte eine Kunstpause ein. Sein Blick traf den des Knaben, und er lächelte. »Soviel zu den Märchen, die wir geglaubt haben, seit es eine Aufzeichnung der Geschichte gibt«, fuhr er fort. »Leider muß ich die Mitteilung machen, daß unsere Aufzeichnungen falsch sind – und zwar bis in das kleinste Detail.«
Bisher hatte Rorden ab und zu einen Blick auf seine Notizen geworfen, doch ab jetzt sprach er frei. Nicht einmal die Behauptung, daß der Mensch die Sterne erreicht hatte, entsprach der Wahrheit. Sein kleines Imperium war mit der Umlaufbahn Persephones zu Ende, denn das interstellare All bot ihm eine Schranke, die er mit den ihm zur Verfügung stehenden Kräften nicht durchbrechen konnte. Seine gesamte Zivilisation drängte sich um die Sonne und war noch sehr jung, als die Sterne zu ihm kamen. Der Schlag war unermeßlich. Trotz seines Versagens hatte der Mensch nie daran gezweifelt, die Tiefen des Alls eines Tages zu beherrschen. Außerdem hatte er sich eingebildet, daß eventuelle Lebewesen im All ihm nie gleichgestellt sein könnten. Er mußte erfahren, daß beide Vermutungen völlig falsch waren: auf den Sternen gab es Geister, denen er nicht das Wasser reichen konnte. Jahrhundertelang, erst in Raumschiffen anderer Rassen und dann in Eigenkonstruktionen, die auf geborgtem Wissen beruhten, durchforschte der Mensch die Galaxis. Überall stieß er auf Kulturen, die er zwar verstand, neben denen seine eigene jedoch verblaßte. Der Schock war grausam, aber er bewirkte das Entstehen einer neuen Rasse. Trauriger und um vieles weiser als vorher kehrte der Mensch in sein Sonnensystem zurück und brütete über dem Wissen, das er
erlangt hatte. Langsam akzeptierte er die Tatsache, daß er weder allwissend noch allmächtig war und entwickelte einen Plan, der ihm Hoffnung für die Zukunft gab. Einmal waren die Naturwissenschaften das größte Interesse des Menschen gewesen. Jetzt wandte er sich mit aller Kraft der Genetik und dem Studium von Geist und Seele zu. Mit allen Mitteln trieb er sich an die Grenzen seiner Evolution. Das große Experiment hatte die Energien des Menschen für Millionen von Jahren aufgebraucht, hatte ihm jedoch seinen größten Sieg eingebracht. Er hatte die Krankheit und die Seuche verbannt, er konnte Leben, so lange es ihm beliebte und hatte die größte aller Kräfte erworben: die Telepathie. Er war also bereit, wieder ins All vorzustoßen, diesmal aus eigenen Kräften. Als Gleichgestellter konnte er den Lebewesen der Stern begegnen, von denen er sich einst entsetzt abgewandt hatte. Er konnte teilhaben am Geschehen im Universum. Der Mensch tat es. Aus diesem Zeitalter, wahrscheinlich dem umfassendsten in der Geschichte, stammen die Legenden, die das Imperium besingen. Es war ein Imperium vieler Rassen gewesen, aber das war durch das Drama seines Endes in Vergessenheit geraten. Das Imperium hatte mindestens eine Billion Jahre
bestanden. Es hatte viele Krisen gekannt, vielleicht sogar Kriege, aber sie waren in dem Drang, gemeinsam zur Reife zu gelangen, unwesentlich gewesen. »Wir können stolz sein«, fuhr Rorden fort, »daß unsere Vorfahren eine so entscheidende Rolle in der Entwicklung gespielt haben. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Kultur haben sie nichts von ihrer Initiative verloren. Ab jetzt berufen wir uns auf Mutmaßungen, die uns die Logik erlaubt anzustellen, und nicht so sehr auf Tatsachen. Wir behaupten, daß die Experimente, die die Krönung des Imperiums und zugleich seinen Untergang zur Folge hatten, vom Menschen inspiriert wurden. Inspiriert und gesteuert. Die Philosophie, die zu diesen Experimenten veranlaßt hat, erlaube ich mir kurz zu erklären. Der Kontakt mit anderen Spezies hatte dem Menschen bewiesen, wie sehr das Weltbild einer Rasse von seiner physischen Konstitution abhängt. Von seiner physischen Konstitution und den Sinnesorganen, mit denen der Körper ausgestattet ist. In langen Diskussionen kam man schließlich zu dem gemeinsamen Schluß, daß nur ein Geist, der frei war von physischen Beschränkungen, ein wahres Bild des Universums erlangen kann. Dieselbe Idee übrigens trifft man in vielen der alten Religionen wieder, die in der körperlichen Vergeistigung das Ziel der Evolution des Individuums sehen.
Als Folge der Erfahrungen, die der Mensch durch seine eigene Regeneration gemacht hatte, schlug er vor, daß man versuchen sollte, einen solchen Geist zu konstruieren. Die Intelligenzen im All fühlten sich natürlich gefordert, wenn nicht zum Teil sogar bedroht, doch nach jahrhundertelangen Debatten wurde der Vorschlag einstimmig angenommen. Sämtliche Rassen der Galaxis machten sich gemeinsam an die Arbeit. Eine halbe Billion Jahre dauerte es, bis aus dem Traum Wirklichkeit wurde. Zivilisationen entstanden und fielen wieder in sich zusammen, aber das große Ziel überdauerte alles. Eines Tages erfahren wir vielleicht die ganze Tragweite dieser größten Bemühung aller Zeiten. Heute jedoch wissen wir lediglich, daß ihr Ende so chaotisch war, daß fast die gesamte Galaxis in sich zusammenbrach. Vanamondes Geist weigert sich, in diese Epoche einzutauchen. Ein gewisser Zeitraum ist total abgeblockt, wahrscheinlich durch seine eigenen Ängste. Am Anfang sehen wir noch das Imperium auf dem Gipfel seiner Blütezeit, und dann, ein paar tausend Jahre später, ist es zerstört, und die Sterne sind verblaßt. Über der Galaxis hängt ein Angstschleier, und die Angst trägt einen Namen: Irrsinn. Was in den paar tausend Jahren passiert sein muß, ist leicht zu erraten. Der reine Geist war erschaffen,
aber er war entweder irrsinnig oder – was auf Grund unserer Quellen eher anzunehmen ist – feindselig. Jahrhunderte lang raste er durch das Universum und richtete Verheerungen an, bis er endlich von unbekannten Mächten gebannt werden konnte. Welche Waffe das Imperium in seiner höchsten Not zur Anwendung brachte, wissen wir nicht, wir wissen jedoch, daß sie die Quelle der Legende ist, die die Invasoren erfunden hat. Dazu werde ich mich aber später noch äußern. Der Irrsinnige Geist jedoch konnte nicht zerstört werden, weil er unsterblich ist. Er wurde an den Rand der Galaxis gejagt und dort eingekerkert. Wie, das entzieht sich unserer Kenntnis. Sein Gefängnis jedenfalls ist ein künstlicher Stern, der Schwarze Sonne genannt wurde. Der Irrsinnige Geist befindet sich noch immer auf der Schwarzen Sonne, und erst wenn sie vergeht, wird er wieder frei sein.«
Renaissance In dem Sitzungssaal hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so still war es. Die Mitglieder des Kontrollrats saßen steif auf ihren Stühlen und starrten Rorden wie in Trance an. Selbst Alwin, der die Geschichte von Rorden bereits kannte, war aufgeregt und ganz in dem Drama gefangen, das hier vor allen aufgerollt wurde. Die letzten Tage des Imperiums beschrieb Rorden mit noch ruhigerer Stimme. »Die Galaxis war also verwüstet, aber die Reserven des Imperiums waren unglaublich groß und sein Wille ungebrochen. Mit einem Mut, von dem wir uns keine Vorstellung machen können, wurde das Experiment von neuem aufgenommen, und man suchte nach dem Fehler, der unterlaufen war. Diesmal war der Fleiß von Erfolg gekrönt. Die neue Rasse, die erschaffen war, war mit einem Intellekt ausgestattet, der alle Vorstellungen übertraf, aber sie war infantil. Wir wissen nicht, ob dieser Infantilismus von den Vätern der neuen Rasse beabsichtigt war, aber wir dürfen zumindest annehmen, daß sie sich dieser unvermeidlichen Nebenerscheinung bewußt waren. Millionen von Jahren waren nötig, bis die Reife eintrat, und der Prozeß konnte nicht
beschleunigt werden. Vanamonde war eine der ersten dieser Neuschöpfungen. In der Galaxis muß es noch weitere geben, aber wir bezweifeln, daß viele hergestellt wurden, denn Vanamonde ist nie auf einen Artgenossen gestoßen. Der pure Geist ist die größte Schöpfung galaktischer Zivilisation, und der Mensch hat eine große, wenn nicht dominierende Rolle bei ihrer Entwicklung gespielt. Wenn ich keinen direkten Bezug zur Erde genommen, das heißt, sie nicht einmal erwähnt habe, dann deshalb, weil sie ein viel zu dünner Faden im Gewebe der Geschichte ist. Von ihren unternehmungslustigsten Bewohnern stets zu früh verlassen, wurde sie immer mehr zu einem recht konservativen Planeten und wandte sich zum Schluß sogar gegen die Wissenschaftler, die an Vanamonde und seinesgleichen arbeiteten. Das Werk des Imperiums war also abgeschlossen. Der Mensch ließ den Blick über die Sterne schweifen, die dafür hatten bezahlen müssen, und faßte den Entschluß, der nahe lag: er überließ das Universum Vanamonde. Die Entscheidung fiel insofern nicht schwer, denn das Imperium hatte inzwischen Kontakt mit einer sehr großen und sehr seltsamen Zivilisation aufgenommen, die weit außerhalb des Kosmos lebte. Diese Zivilisation, scheint es, hatte das Schwergewicht auf
die physische Entwicklung ihrer Rasse gelegt und war der Meinung, daß der Intellekt nicht das Maß aller Dinge sei. Mit Sicherheit wissen wir allerdings nur, daß sich unsere Vorfahren und ihre Neuschöpfungen auf die Reise gemacht haben, um diese Zivilisation zu besuchen. Ihre Route läßt sich leider nicht verfolgen, denn Vanamondes Denkvorgänge sind auf die Galaxis beschränkt. Durch seinen Geist haben wir lediglich den Beginn des großen Abenteuers nachvollziehen können. Kehren wir nun zum Menschen zurück, der das Universum verließ, um sich wieder in sein eigenes Sonnensystem zu begeben. Seine Geschichte, die verglichen mit dem großen Geschehen so unwesentlich ist, müssen wir erst noch genau studieren. Einstweilen sei nur folgendes gesagt: die einzelnen Rassen verfielen in eine Dekadenz, die ihnen zum Schaden wurde. Sie wurden unbeweglich und schwerfällig. Im Zeitalter des Übergangs – das übrigens Millionen Jahre dauerte – ging jegliches Interesse für die eigene Geschichte verloren oder wurde absichtlich zerstört. Das letztere ist anzunehmen: der Mensch verfiel in abergläubische Barbarei. Nur Lys und Diaspar haben die Zeit der zerstörerischen Dekadenz überlebt – Diaspar dank der Perfektion seiner Maschinen, und Lys wegen seiner Abgeschiedenheit und vor allem wegen der außergewöhn-
lichen Denkfähigkeit seiner Menschen. Beide Kulturen jedoch litten weiterhin unter der Angst und den Mythen, die sie geerbt hatten. Beides braucht uns nicht länger zu quälen. Wie wir jetzt entdeckt haben, hat es durch die Jahrhunderte hindurch Menschen gegeben, die sich dagegen aufgelehnt und die Verbindung zwischen Lys und Diaspar aufrechterhalten haben. Endlich können die letzten Barrieren zur Seite geschoben werden. Unsere Völker können sich vereinen und gemeinsam der Zukunft entgegengehen – was sie auch immer bringen mag.« Der Park hatte sich sehr verändert, und nicht zu seinem Vorteil. Wenn jedoch die Erdhaufen erst einmal abtransportiert waren, dann hatte sich die Maßnahme bestimmt gelohnt. Das Grab von Yarlan Zey stand mittlerweile am Rand eines breiten Schachts, in dessen Tiefe eine beachtliche Anzahl von Robotern arbeitete. In ein paar Wochen sollte der Weg nach Lys für alle frei sein. »Weißt du eigentlich schon, daß Jeserac in Lys bleiben will?« fragte Alwin, als sie an der riesigen Baustelle vorbeigingen. »Ausgerechnet er!« »Das wundert mich nicht«, sagte Rorden. »Er gehörte schon immer zu den beschaulichen Menschen.« Alwin, Theon und der Archivar gingen den Hügel
hinauf, auf dem jetzt statt der Grabstätte das Schiff des Knaben zur Schau gestellt war. »Das«, sagte Rorden und deutete darauf, »ist das größte Mysterium von allem. Wer war der Meister? Woher hatte er dieses Schiff und seine drei Roboter?« »Die Frage läßt mir auch keine Ruhe«, sagte Theon. »Wir wissen, daß er von den Sieben Sonnen gekommen ist, wo die Kultur auf dem höchsten Stand gewesen sein kann, als die Erde den tiefsten Punkt in ihrer Zivilisation erreicht hatte. Das Schiff stammt bestimmt noch aus Zeiten, in denen das Imperium mächtig war. Ich glaube, daß der Meister vor seinen eigenen Leute geflohen ist. Vielleicht fand man seine Ideen nicht tragbar. Er war ein Philosoph, das steht fest, und empfand unsere Vorfahren als freundlich, aber zu abergläubisch. Er hat versucht, sie zu erziehen, aber seine Lehren wurden falsch verstanden und im Laufe der Zeit entstellt wiedergegeben. Die Großen waren auch nichts anderes als Menschen ihrer Zeit, nämlich der Zeit des Imperiums. Nur hatten sie nicht die Erde verlassen, sondern das Universum, was die Menschen unserer Zeit nicht verstanden oder verstehen wollten.« »Auf alle Fälle haben wir ihm viel zu verdanken«, sagte Rorden, als sie in das Schiff stiegen. »Ohne ihn wären wir nie so weit gekommen, wie wir heute sind. Die Vergangenheit wäre immer noch Lüge für uns. Wir hätten die Wahrheit nie erfahren.«
»Davon bin ich nicht überzeugt«, sagte Alwin. »Irgendwann wäre Vanamonde aufgetaucht und hätte uns entdeckt.« Schon nach kurzer Zeit war die City nur noch ein unbedeutender Punkt in der Wüste, und die nördliche Halbkugel der Erde löste sich vom Himmel. Das Zwielicht tauchte alles in eine besänftigende Weichheit. Die Sterne leuchteten, als wäre ihnen nie etwas geschehen. Rorden war überwältigt, denn so eine Weite hatte er noch nie gesehen. Wie hatte der Mensch die Erde verkommen lassen können? Wenn einer von Alwins vielen Träumen erfüllt wurde und es tatsächlich noch Transmutations-Anlagen gab, dann würden in ein paar tausend Jahren die Meere wieder gegen die Küsten rollen. So viel versprachen die kommenden Jahre, und so viel mußte getan werden. Rorden spürte, wie der Puls der Menschheit wieder schneller und kräftiger schlug. Wenn erst einmal die Geschichtsschreibung abgeschlossen war, was noch eine lange Zeit dauern würde, dann hatte der Mensch wieder viel von dem gewonnen, was er verloren zu haben glaubte. Vieles hing natürlich von Vanamonde ab, aber in Lys war man hoffnungsvoll. Man hatte die kindliche Kreatur
lieb gewonnen und glaubte, ihren Reifeprozeß um etliche Jahrtausende beschleunigen zu können. Rorden war allerdings überzeugt davon, daß das Schicksal Vanamondes vorgezeichnet war und vom Menschen nicht beeinflußt werden konnte. Der Archivar hatte geträumt – und er glaubte an Träume –, daß es Vanamonde vorbestimmt war, sich am Ende des Universums zwischen den toten Sternen mit dem Irrsinnigen zu einem letzten Kampf zu treffen. Alwin riß Rorden aus den Gedanken. »Ich wollte bloß, daß du das auch einmal siehst«, sagte der Knabe. »Es kann Jahrhunderte dauern, bis sich wieder eine Gelegenheit bietet.« »Du willst die Erde doch nicht schon wieder verlassen?« fragte Rorden erschreckt. »Nein, denn ich glaube, ich werde hier gebraucht. Ich schicke das Schiff in die Galaxis zurück und lasse die Roboter nach dem Imperium suchen. Eines Tages werden unsere Brüder im All meine Nachricht erhalten und wissen, daß wir sie erwarten. Sie werden zurückkommen, und ich hoffe nur, daß es sich bis dahin für sie lohnt und wir ihnen Wälder und Wiesen und Berge und Meere bieten können.« Alwin verfiel in Schweigen. Er hatte sich in eine Zukunft hineingedacht, die er vielleicht nie sehen würde. Sie waren inzwischen genau über dem Pol und sahen die Sonne zur gleichen Zeit auf- und untergehen.
Alwin sollte diesen symbolischen Moment nie vergessen. In diesem Universum fiel die Nacht herab. Die Schatten streckten sich nach einem Osten, das keine Morgendämmerung mehr erleben würde. Aber anderswo waren die Sterne noch jung und das Licht des Morgens blieb. Und eines Tages würde der Mensch wieder über den Pfad gehen, dem er schon einmal gefolgt war.