KLEINE
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DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR -UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
ALEXANDER L. SUDER
GIUSEPPE VERDI ...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR -UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
ALEXANDER L. SUDER
GIUSEPPE VERDI DER GROSSE MEISTER DER OPER
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU-MÜNCHEN•INNSBRUCK•BASEL
„Viva VERDI!" — Um das Jahr 1860 hallte dieser Ruf durch das nördliche und mittlere Italien; er galt nicht nur dem gefeierten Künstler, er war darüber hinaus zum politischen Kampfruf der Italiener geworden. Im Namen „Verdi" verbarg sich nämlich das Schlagwort der Patrioten „Viva Vittorio Emanuele, Re D'Italia!" Graf Cavour und seine Mitstreiter erstrebten das vereinigte Königreich Italien unter dem Zepter König Viktor Emanuels — als Preis für den langjährigen Freiheitskampf gegen die österreichische Herrschaft auf italienischem Boden. Endgültig sollte damit auch die jahrhundertealte italienische Kleinstaaterei beseitigt werden — und Verdi verlieh als Schöpfer patriotisch empfundener Opernszenen der vaterländischen Begeisterung musikalischen Ausdruck. Aber schon viel früher, fast zwanzig Jahre vorher, war sein Ruhm auf den Wogen politischer Leidenschaften weithin getragen worden: Der Gefangenenchor in seiner Oper „Nabuccodonosor" mit der heute noch berühmten Melodie war als Demonstration für das geknechtete italienische Volk verstanden worden. „Nabucco" war die erste Station auf dem Wege zum großen Erfolg, mit einem Schlage hatte der kaum Dreißigjährige in Italien Beliebtheit gewonnen, hatte die Hoffnung erweckt, daß das Dreigestirn Rossini, Bellini und Donizetti einen ebenbürtigen Nachfolger finden und daß die italienische Operntradition von würdigen Händen weitergetragen werde.
Der kleine Organist Doch dieser Aufstieg zum bekannten Künstler wurde Verdi nicht leicht gemacht. Er war ein Bauernsohn, seine Wiege stand in der fruchtbaren Provinz Parma, im Ort Le Roncole unweit des Städtchens Busseto. Vater Carlo Verdi betrieb eine kleine Schenke, verkaufte allerlei „Gemischtwaren" und widmete sich nebenbei der Landwirtschaft. So wuchs der am 10. Oktober 1813 geborene Knabe in einer ländlich-dörflichen Umgebung auf. Schon früh scheinen durchziehende Musikanten musikalische Anregungen gegeben zu haben, aber auch der Orgelklang nahm den Kleinen gefangen: Während 2
des Ministrantendienstes lauschte Verdi einmal hingerissen de M -fc" und vergaß dabei die notwendigen Handreichungen. Ein derber Stoß des Geistlichen entriß ihn der Versunkenheit, vor Schreck fiel der Siebenjährige in Krämpfe — und so zeitigte das erste deutliche Zeichen seiner Musikalität ein unerfreuliches Erlebnis, das Verdi auch im hohen Alter nicht vergaß. Seine ausgeprägte Neigung zur Musik bewog 1821 die Eltern, ein altes, schon etwas gebrechliches Spinett für Giuseppe zu erwerben, das fortan die Übungen und Phantasien des Jungen zu ertragen hatte. Unterricht bekam er vom Organisten des Dorfes, dem betagten Luigi Baistrocchi, und schon nach ziemlich kurzer Zeit beherrschte er das Klavier- und Orgelspiel so weit, daß er gelegentlich seinen Lehrer im Kirchendienst vertreten konnte. Baistrocchi vermochte ihn bald nichts Neues mehr zu lehren, und so traf es sich günstig, daß Vater Verdi gute geschäftliche Beziehungen zu einem gewissen Antonio Barezzi hatte. Antonio Barezzi in Busseto war nicht nur Likörfabrikant und Handelsherr, der Carlo Verdi mit Waren belieferte, sondern auch in dem traditionsreichen Städtchen ein einflußreicher Mann in allen Fragen der Musikpflege. Er gehörte zu der liebenswürdigsten Gattung der „Verrückten" — er galt als ein „Musiknarr", er war ein begeisterter und sehr begabter Dilettant. Darüber hinaus stand er der „Philharmonischen Gesellschaft" seiner Stadt vor, einem mehrere Jahrhunderte alten Orchesterverein, der bei allen festlichen und feierlichen Anlässen musizierte, ja sogar eigene Konzerte gab. Busseto hatte auch eine Musikschule, selbstverständlich interessierte sich Barezzi lebhaft für diese Einrichtung, kam doch von dort der Orchesternachwuchs. Leiter jener Schule, Domkapellmeister und Organist und zugleich Dirigent des Orchesters war Barezzis angesehener Freund Ferdinando Provesi. Der zehnjährige Verdi durfte auf Empfehlung Barezzis das Gymnasium in Busseto besuchen; bald konnte er schon die Eltern finanziell etwas entlasten: Mit elf Jahren wurde Verdi Organist in Le Roncole und wanderte jeden Sonn- und Feiertag mehrere Kilometer von Busseto nach seinem Heimatdorf zum Orgeldienst — für das grandiose Gehalt von 36 Lire pro Jahr! Jedenfalls lernte er durch das praktische Musizieren immer mehr dazu. Den eigentlichen Grundstock zur Beherrschung des Handwerks legte indessen Provesi, der 3
sich seinem so reich begabten Schüler mit Freuden widmete. Aber auch in der Schule tat sich Giuseppe hervor — bald stritten sich Kanonikus Seletti, der Gymnasiallehrer, und Provesi um den zukünftigen Beruf des Knaben. Eine Orgel-Improvisation vor Selettis Ohren brachte die Entscheidung: Der Domherr gab es auf, den zukünftigen Musiker zum geistlichen Stande zu veranlassen. Nach vierjährigem Studium der Musiktheorie und eifrigem Klavierüben fängt Verdi auch an zu komponieren. Er hat das Glück, seine ersten Stücke sofort hören zu können, da ihn Provesi zu den Orchesterproben heranzieht; der Schüler wird in lebendiger Praxis mit dem Klangkörper vertraut. Er darf schon die Bearbeitung fremder Werke für das Orchester übernehmen, und mit fünfzehn Jahren liefert er sein „Gesellenstück". Rossini hatte bekanntlich für den „Barbier von Sevilla" keine eigene Ouvertüre geschrieben, sondern die eines älteren Werkes verwendet. Verdi nun überrascht die Bussetaner und auch seinen Lehrer mit einer heimlich komponierten neuen Ouvertüre, die mit großem Beifall aufgenommen wird. Eine fruchtbare Zeit des Komponierens und Probierens, des Lernens und Lesens beginnt, die auch durch seine jetzt günstige Lage beeinflußt wird: Barezzi, anfangs nur teilnahmsvoller Berater, entwickelt sich immer stärker zum ausgesprochenen Wohltäter und väterlichen Freund, er nimmt den Jungen in sein Haus auf und läßt seine freie und gebildete Persönlichkeit auf ihn wirken. Allmählich rückt die endgültige Entscheidung für den beruflichen Werdegang heran. Zunächst zerschlägt sich die Aussicht, eine Organistenstelle in der Umgebung zu erhalten; Barezzi ist aber auch der Überzeugung, daß der vielversprechende junge Musiker zu Größerem geboren ist als zu bescheidenem und doch zermürbendem Dienst in der Provinz. Er überredet Vater Carlo, seinen Sohn nach Mailand zur Vollendung der Ausbildung zu schicken und stellt sogar Mittel für diesen Zweck in Aussicht. Es gibt in Busseto einen Fonds mit dem schönen Namen „Monte di Pietä e di Abbondanza" („Berg des Mitleids und des Überflusses"), der für künstlerisch oder wissenschaftlich begabte Knaben der Stadt bestimmt ist und nun, dank Barezzis Vermittlung und Bürgschaft, Verdi zugute kommt. Im Frühjahr 1832 bricht Giuseppe nach Mailand auf, um in einer neuen Welt sein Glück zu versuchen. 4
[n diesem Hause in Le Roncole bei Busseto wurde Verdi am 10. Oktober 1813 geboren. Er ist der Sohn des Bauern, Kramladen- und Schenkenbesitzers Carlo Verdi. 5
Maestro dt Musica In Mailand ereignet sich eine musikhistorische Blamage. Verdi, einige Jahre später gefeierter Opernkomponist, wird vom Konservatorium der lombardischen Hauptstadt abgewiesen! Gewiß, er hat das übliche Alter der Schüler um einige Jahre überschritten, dazu gilt er infolge seiner Herkunft aus dem Herzogtum Parma als Fremder, auch spielt er sicher nicht schulmäßig-mustergültig Klavier — alle diese Erklärungen aber können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Prüfungskommission gegenüber einer genialen Begabung versagt; zumindest, sollte man annehmen, müßten den Professoren die eingereichten Kompositionen Verdis aufgefallen sein. Professor Alessandro Rolla, einst Lehrmeister Paganinis und ein Studiengefährte Provesis, teilt die Entscheidung dem hofFnungsfreudigen jungen Mann mit: „Denken Sie nicht mehr ans Konservatorium, sondern suchen Sie sich einen Lehrer in der Stadt, ich rate Ihnen zu Lavigna oder zu Negri." Verdi sucht aus der jäh verdüsterten Situation das Beste zu machen — Lavigna nimmt ihn als Schüler an, und für die nächsten drei Jahre holt sich äer junge Verdi den letzten Schliff im Rüstzeug des Komponisten. Er schreibt unentwegt Fugen und Kanons nach strengen Regeln des Kontrapunkts, er beschäftigt sich intensiv mit Symphonien, mit Chor- und Kammermusik, mit den besten deutschen und italienischen Werken, die er erreichen kann. Besonders die dramatische Musik von Zeitgenossen und Vorgängern (z. B. Mozarts „Don Giovanni") wird unter Anleitung Lavignas eingehend durchgearbeitet; denn für einen italienischen Musiker der damaligen Zeit bleibt es selbstverständlich das höchste Ziel, auf dem Felde der Oper zu glänzen. Bald darf Verdi sein Können auch in Mailand erweisen, mit Haydns „Schöpfung" debütiert er als Dirigent, und sogar Meyerbeer- und Rossini-Opern leitet er schon. Allmählich gewinnt er sich eine treue Freundesschar, die ihn nach Kräften fördert. Inzwischen ist in seiner Vaterstadt ein musikalischer Kleinkrieg entbrannt. Ferdinando Provesi ist 1833 gestorben, und die Frage seiner Nachfolge erhitzt die Gemüter. Für Verdis Freunde, Barezzi an der Spitze, gibt es gar keine Diskussion: Nach Abschluß der Studien soll Giuseppe das Amt Provesis mit allen kirchlichen und 6
weltlichen Verpflichtungen übernehmen. Gegen diese Absicht nehmen kirchliche Kreise heftig Stellung, denn der junge Mann, im liberalen Geist Barezzis erzogen, soll nicht sehr fromm und kirchengläubig sein. Nach spannungsreichen Auseinandersetzungen, wobei sogar die Polizei in Aktion treten mußte, gelangt man zu einer salomonischen Entscheidung. Der Wirkungsbereich wird auf zwei Männer verteilt, ein Organist und Domkapellmeister wird bestellt, während Verdi im März 1836 sein Amt als „Maestro di Musica" antritt. Er übernimmt die Verpflichtung zum Unterricht an der Musikschule (Klavier, Orgel, Gesang, Theorie) und zur Leitung der Philharmoniker gegen ein Jahresgehalt von 657 Lire. Endlich kann er auch den Wunsch seines Herzens verwirklichen: Am 4. Mai heiratet er die seit langem verehrte Margherita Barezzi; sein Wohltäter wird nun auch sein Schwiegervater. Und am Ende des Jahres ist die erste Oper bereits vollendet: „Oberto". Zunächst fühlt sich Verdi in Busseto sehr wohl, seine Ehe ist glücklich, bald hat er auch zwei Kinder. Aber schon folgt das Leid —• sein Töchterchen stirbt.
Erste Erfolge an der Mailänder „Scala" Umso mehr entwickelt sich sein beruflicher Ehrgeiz. Er drängt aus den kleinstädtischen Verhältnissen heraus, er will „Oberto" aufgeführt sehen. Anfang 1839 beendet er seine Tätigkeit im Städtchen, zieht nach Mailand und kann nach Überwindung mancher Hindernisse und Schwierigkeiten am 17. November 1839 seine erste eigene Opernaufführung im traditionsreichen Scala-Theater erleben. Der „Oberto" ist kein überragender Erfolg, das Textbuch ist zu schwach, aber die Öffentlichkeit wird auf den jungen Komponisten aufmerksam, der in einigen Nummern der Oper schon eine eigene Handschrift verrät, in der Hauptsache sich allerdings im Stile Rossinis und Bellinis bewegt. Für Verdi bedeutet „Oberto" eine wichtige Station, denn außer der künstlerischen Wirkung sind auch die materiellen Folgen beachtlich: Bartolomeo Merelli, der Impresario der Scala — das war damals Theaterdirektor und Manager in einer Person —, bietet ihm einen ausgezeichneten Vertrag, der drei weitere Opern innerhalb weniger Monate vorsieht und ein respektables Honorar in Aussicht stellt. 7
Doch Verdis persönliches Leben wird von einer schweren Krise getroffen — sein zweites Kind stirbt, und einige Monate später verliert er auch seine geliebte Frau Margherita durch eine heimtückische Gehirnhautentzündung. Er ist nun völlig allein, das Familienglück hat sich für ihn binnen kurzer Zeit in tiefste Trauer verwandelt. „Und in dieser gräßlichen Seelenqual mußte ich eine komische Oper schreiben!" sagt Verdi in seinen Lebenserinnerungen. Er vollendet die Oper („II finto Stanislao" — „Der falsche Stanislaus"), aber sie ist nicht inspiriert, sie kann keinen Erfolg haben. Verdi zieht sich nach dem Durchfall der Oper erst recht zurück und verzweifelt fast an der Kunst und an seinem Talent. Merelli gibt den Glauben an seinen Schützling indessen nicht auf, zwar entläßt er ihn großzügig aus dem Vertrag, aber unentwegt versucht er, den Musiker zu neuem Komponieren anzuregen. Nur mit List gelingt es und durch Zufall; denn Verdis musikalische Phantasie entzündet sich an einem einzigen Vers eines neuen Textbuches, „Va pensiero, sull' ali Dorate" („Flieg, Gedanke, auf goldnen Schwingen", heute mit „Teure Heimat, ich seh' dich wieder" übersetzt) — es ist „Nabucco". Der Gefangenenchor entfacht Stürme der Begeisterung. Die Melodie mit dem auf die politische Gegenwart bezogenen Text wird zur Volksmelodie; noch 1901 wird die riesige Menschenmenge, die dfjn toten Verdi begleitet, diesen Gesang anstimmen. Mit einem Schlage hat Verdi „furore" gemacht, hat einen vollständigen Sieg davongetragen. An der Aufführung haben die beiden unermüdlichen Fürsprecher des Werkes, der Bariton Ronconi und die Sängerin Giuseppina Strepponi großen Anteil. Giuseppina sollte die spätere Lebensgefährtin Verdis werden, vorerst setzt sie nur ihre starke künstlerische Persönlichkeit für den jungen Maestro ein, dessen Musik sie besonders schätzt. Im „Nabucco" begegnen wir auch zum erstenmal wesentlichen Eigentümlichkeiten des Verdi-Stils: einer hinreißenden Rhythmik, die in ihrer fast aggressiven Art in der damaligen Musik etwas Neues ist, und der dramatischen Melodik, die der Komponist noch zur höchsten Meisterschaft entwickeln wird. Der breite Erfolg des „Nabucco" sichert Verdi die notwendige materielle Grundlage, zudem muß er nicht die Gunst von Verlegern und Operndirektoren erbitten, sie kommen bereits zu ihm und 8
An der Orgel der Dorfkirche von Le P.oncole debütiert Verdi 1824 als Organist — er ist gerade elf Jahre alt.
machen Angebote. Verdi ist nicht kleinlich und fordert von Merelli. für sein nächstes Werk „Die Lombarden" 8000 Lire. Sie werden bewilligt, und nach fast einjähriger Arbeit geht die Oper 1843 mit einem Riesenerfolg an der Scala in Szene. Und noch ein drittes Stück festigt den Ruhm Verdis in Italien: „Ernani", nach dem Drama Victor Hugos für Venedig geschrieben. Allen drei genannten Werken sind wirkungsvolle, patriotisch aufrüttelnde Chöre eigen, die die Vaterlandsliebe der unterdrückten Italiener aufs stärkste ansprechen und damit einen Erfolg fast garantieren. Vor allem vermag diese Begeisterung erhebliche Schwächen der Textgestaltung zu überbrükken, die heute einer Wiederbelebung im Wege stehen.
»Der Meister will es .. •" „Mitreißende dramatische Situationen" sind für Verdi das Lebenselexier seines Opernschaffens, daher interessiert ihn die Folgerichtigkeit im Aufbau eines Textbuches vorerst weniger. Eine Handlung mag noch so unwahrscheinlich sein, selbst auf dem Theater — es ist für ihn belanglos, wenn nur leidenschaftliche oder rührende Szenen und Gefühlsausbrüche gegeben sind, die nach Musik verlangen und dem Komponisten Gelegenheit bieten, seine Empfindungsstärke und melodisch-rhythmische Kraft in musikalische Formen zu gießen. Nur von diesem Standpunkt aus verstehen wir, warum Verdi so manches Libretto (wörtlich „Büchlein") vertont hat, dessen Sinngehalt von einem wirklich befriedigenden Bühnengeschehen weit entfernt ist — wenigstens für die deutsche Einstellung zur Oper. Verdi schätzt diejenigen Poeten besonders hoch, die ihm in der Textgestaltung ganz willfährig sind, F. M. Piave etwa, dessen Ergebenheit in einem einzigen Satz zum Ausdruck kommt: „Der Meister will es, und das genügt mir". Die Suche nach neuen Stoffen wird für den Meister zu einer ständigen Sorge. Er hat sich im Laufe der Zeit zu einem gründlichen Kenner älterer und zeitgenössischer Literatur entwickelt und hat oft genug von sich aus den Textdichtern das Thema vorgeschlagen. Gerade im Umgang mit den Librettisten zeigt sich, daß Verdi keineswegs eine leicht zu behandelnde Persönlichkeit ist. Unbeirrt verfolgt er seine künstlerischen Ziele, unnachgiebig hart bleibt er 10
Notenhandschrift Verdis zu den „Sechs Romanzen", als er noch Maestro di Musica in seiner Vaterstadt ist. Die „Romanzen" erscheinen als erstes seiner Werke im Druck bei Canti in Mailand 1838. 11
in der Sache, die er einmal für richtig befunden hat. Die unbestechliche Sachlichkeit, seine wohltuende Klarheit im Denken und Fühlen ist überhaupt eine hervorstechende Charaktereigenschaft, die so vielen anderen Künstlern der Zeit mangelt. Verdi ist sich seines Könnens und seines Ruhmes wohl bewußt, aber nie verläßt ihn die aufrichtige Bescheidenheit seines Wesens; jegliche persönliche Effekthascherei ist ihm verhaßt, er duldet keine Legendenbildung um seine Person, ist aber doch' sorgsam darauf bedacht, daß ihm weder im Künstlerischen noch im Materiellen Schaden zugefügt wird. Italienisches Wesen, die „Italianitä", der romanische Sinn für die Form, prägen in gleicher Weise sein Künstler- wie sein Menschentum. Verdi wird in Italien sehr bald zur populären Erscheinung, und es bleibt erstaunlich, daß er nach so kurzer Zeit die Bühnen als anerkannter Nachfolger des großen italienischen Dreigestirns Rossini, Bellini, Donizetti beherrscht. Die Tradition des italienischen Operntheaters ist also nicht tot, Verdi fühlt in sich nicht nur die Kraft, sondern auch die Verpflichtung, an dieser nationalen Kunst weiterzubauen. In rascher Folge entsteht Werk auf Werk, zunächst eine Reihe von Stücken, die dem Meister selbst nach einigen Jahren schon nicht mehr sehr nahestehen. Es ist dies eine Folge der Verträge, die ihn an festgelegte Termine binden — fast mutet er sich zuviel zu, zumal er immer wieder unter gesundheitlichen Störungen leidet. Sein Magen und ein hartnäckiges Halsleiden machen ihm jahrzehntelang schwer zu schaffen, notwendige Kuren und Aufenthalte in klimatisch günstiger Lage unterbrechen oft seine Arbeit. Eine düstere Oper aus der Zeit des alten Venedig, „Die beiden Foscari", wird schon Ende 1844 in Rom mit großem Erfolg aus der Taufe gehoben, kann sich aber nicht dauernd auf den Spielplänen halten, auch die „Giovanna d'Arco" („Jungfrau von Orleans") nach Schiller erringt keinen bleibenden Platz auf der Bühne. Die schlechte Darbietung in der Scala führt übrigens zum Bruch mit Merelli, da der Impresario an den musikalischen und szenischen Mitteln zugunsten der Star-Sänger spart — und dadurch natürlich die Empörung Verdis hervorruft. Der Maestro wacht nämlich mit peinlicher Gewissenhaftigkeit über eine tadellose Aufführung und kümmert sich auch 12
um die scheinbaren Kleinigkeiten auf der Bühne, um in jedem Fall die größte Wirkung zu erzielen. Jedes Werk hat er für die Gegebenheiten des jeweiligen Theaters geschrieben, das ihm den Auftrag erteilt hat, jede Rolle ist für den längst vorherbestimmten Sänger mit seinen besonderen stimmlichen Vorzügen und Eigentümlichkeiten geschaffen, so daß ihn eine notwendig gewordene Umbesetzung einer Rolle oft zum Umschreiben ganzer Partien zwingt. Verdi arbeitet sozusagen nach Maß, in engstem Kontakt mit den Ausführenden und ist dann auch bei den Proben, die er gewissenhaft bis ins Letzte durchführt, unerbittlich: „Der Meister will es. . ." Dieses Komponieren unmittelbar für die Praxis zeigt ihn in der lebendigen Operntradition seines Landes und steht im Gegensatz zu seinem großen Zeitgenossen und Rivalen, Richard Wagner. Während dieser in gewaltigen Visionen ein Kunstwerk nach seinen eigenen Gedanken und Vorstellungen schafft, von einem Idealbild ausgeht und Aufführungsschwierigkeiten kaum berücksichtigt, stellt Verdi ohne weiteres die Arbeit an einer Oper ein, wenn er nicht die Sänger seiner Wahl für die erste Inszenierung bekommen kann. Verdi beweist mit dieser Haltung, wie sehr in Italien die Oper mitten im Leben steht. Ein Theaterabend in Italien ist nicht „weltanschaulich" befrachtet wie bei uns, man genießt im Süden den Glanz und Wohllaut der Stimmen; oft genug ist in italienischen Opern der Stoff nur Vorwand für die Kehlfertigkeit und für den Triumph der Primadonna. Mit dieser Einstellung jedoch sollte Verdi bald brechen, im Laufe der Jahre wird ihm die dramatische Gestaltung eines Textbuches immer wichtiger. Vor allem aber ist ihm die Willkür der Ausführenden ein Dorn im Auge: Jahrhundertelang galt die Regel, daß ein Sänger nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht habe, die Melodie einer Komposition mit eigenen Verzierungen im virtuosen Sinne zu „verschönern". Verdi besteht nun darauf, daß seine Gesangspartien genau so erklingen sollen, wie er sie notiert hat; diese Einschränkung improvisatorischer Freiheit kostet natürlich harte Kämpfe. In einem Brief an seinen Verleger Ricordi schreibt der Meister (1847) ausdrücklich: „Es bleibt verboten, in der Partitur irgend etwas einzufügen oder zu streichen . .., bei Strafe von eintausend Franken .. ." 13
Erfolge und Mißerfolge Die Verträge werden zur lästigen und oft unerfreulichen Fessel für Verdi. Die Theater, die nicht durch Staatszuschüsse wirtschaftlich gesichert sind, brauchen immer wieder neue zugkräftige Stücke; was liegt näher, als sich an den jungen, vielversprechenden Stern an Italiens Opernhimmel zu wenden? Der Meister greift zu und gerät gelegentlich in Zeitnot. Er weiß wohl, daß es manchmal nicht Bosheit oder schlechte Laune des Impresario ist, wenn dieser auf genaues Einhalten der Vereinbarungen drängt. Er weiß auch wohl, daß seine Forderungen keineswegs bescheiden sind; und deshalb muß er auch die Theater zufriedenstellen. Mit Neapel hat er einen besonders langen Streit, der Impresario hat andere Vorstellungen als Verdi, die einheimischen Meister Mercadante und Pacini zählen zu den berühmtesten Opernkomponisten der Zeit, die hochmusikalische und verwöhnte Bevölkerung der Stadt mißfällt dem Norditaliener Verdi durch Neugier und Zudringlichkeit — kurz, Neapel ist kein gutes Pflaster für ihn. Zudem schlägt seine neue Oper „Alzira" nicht ein; dafür wird im nächsten Jahr „Attila" in Venedig zu einem starken Erfolg. Wieder hat Verdi politische Motive in dem Werk zu Worte kommen lassen: Als der Gegenspieler Attillas, Ezio, dem Hunnenkönig zuruft: „Nimm du den Erdkreis hin, doch bleib' Italien mir!" ist die vaterländische Begeisterung im Opernhaus entfacht und erregt ruft das Publikum „Italia a noi!" — „Italien für uns!" Weit mehr schätzt er selbst sein nächstes Werk, „Macbeth", zu dem ihn Shakespeares Schauspiel angeregt hat. Mit größter Sorgfalt schreibt er die Oper nieder, genau schwebt ihm dabei die Bühnendarstellung vor und ganz zeitgemäß erscheint uns die Forderung, die er in einem Brief an den Impresario Lanari niederlegt: „Es ist mir leid, daß der Sänger des Banco nicht auch den Geist geben will. Warum das? Die Sänger müssen zum Singen und zum Spielen engagiert sein, und es ist nachgerade Zeit, mit derlei Gewohnheitsunfug aufzuräumen . . . " Mit dieser Oper betritt Verdi Neuland. Vor allem bedeutet der grausig-düstere Stoff in der nordisch-kühlen Umwelt für Italien ein großes Wagnis. Auch zeigt sich eine stärkere Hinneigung zur dramatischen Funktion in der Musik. Die Singstimme herrscht zwar noch 14
immer — und wird in allen Opern Verdis ohne Einschränkung herrschen! —, aber die Gesangslinien passen sich stärker der Situation an, d. h. die einzelnen Personen behalten auch in den Ensembles ihren voneinander verschiedenen, deutlich geprägten Ausdruckscharakter. So nimmt es nicht wunder, daß „Macbeth" bei der Uraufführung am 14. März 1847 in Florenz zunächst zwar heftig applaudiert wird, aber doch nicht das volle Verständnis des Publikums findet; im Ausland dagegen, besonders in England, wird die Oper ein Erfolg, obwohl von dem Shakespeare-Stück nur noch ein dürftiges Handlungsgerüst übriggeblieben ist. Verdi reist im Juni 1847 mit seinem Schüler, Freund und Faktotum Emanuele Muzio nach London. Im Reisegepäck befindet sich schon wieder eine neue Partitur: „Die Räuber" („I Masnadieri"). Die beiden großen Londoner Theater „Covent Garden" und „Her Majesty's Theatre" wetteifern mit Verdi-Aufführungen. Covent Garden bringt „Macbeth", während sich die Konkurrenz das neue Werk gesichert hat und mit einer glänzenden Besetzung, an der Spitze die „schwedische Nachtigall" Jenny Lind, aufwarten kann. Die Galavorstellung — sogar die Königin ist anwesend — wird gesellschaftlich zu einem Fest — allein die Publikumsbegeisterung ist nicht allzu groß, die Presse urteilt zurückhaltend. Tatsächlich vermag Verdis zweite Oper nach dem Schiller-Drama nicht ganz die Höbe des „Macbeth" zu halten, offenbar fehlt dem Meister die nötige Ruhe zum Schaffen. Rückblickend hat Verdi selbst die Jahre bis zum „Rigoletto" als seine „Galeerenjahre" bezeichnet. Sein Assistent Muzio berichtet, daß der Meister in dieser Zeit oftmals vom frühesten Morgen an bis zum späten Abend schrieb und dabei nur Kaffee zu sich nahm. Bei der raschen Folge neuer Opern konnte es natürlich nicht ausbleiben, daß gelegentlich Mißerfolge zu verzeichnen waren. Inzwischen ereignen sich große Umwälzungen in der Politik: Im Februar 1848 wird Paris, dann fast ganz Mitteleuropa vom Revolutionsfieber ergriffen. Die allgemeine Bewegung gewinnt in Italien besonders an Boden, blutige Kämpfe erschüttern das Land — aber noch ist die Zeit für Italiens Einigung nicht reif. Dem Patrioten Verdi geht das Schicksal seiner Heimat sehr nahe, es drängt ihn, als Künstler am Freiheitskampf mitzuarbeiten. Sein Textdichter aus Neapel, Cammarano, führt das Libretto „Die Schlacht von Legnano" 15
aus, ständig vom Meister genau angeleitet. In geschichtlichem Gewände — 1176 schlug der lombardische Städtebund in seinem Ringen um Freiheit den Widersacher Friedrich Barbarossa — wird der Kampf gegen die deutsche bzw. österreichische Vorherrschaft verherrlicht, und vor allem begeistern die Chöre wieder das Publikum. Die Uraufführung im Argentina-Theater zu Rom, im Januar 1849, gestaltet sich zu einem Triumph ohnegleichen für Verdi; der Ehrentitel „Maestro della rivoluzione Italiana" kennzeichnet deutlich, wie dankbar die Italiener ihrem Meister waren, der als Künstler mit seinem Volk fühlte. Aber nicht nur politische Geschehnisse ziehen Verdi in Mitleidenschaft, auch sein persönliches Leben erfährt eine durchgreifende Wendung. Nach dem Tode seiner Frau Margherita 1840 hat der Meister ein ziemlich unstetes Leben geführt; er ist häufig auf Reisen, vielfach betreut er in den verschiedenen Städten seine Opern-Inszenierungen. Nach seinem Aufenthalt in London, das ihn stark beeindruckt, aber durch sein Klima nicht zuträglich ist, lebt er längere Zeit in Paris, Und hier trifft er Giuseppina Strepponi wieder — vor einigen Jahren hilfreiche Fürsprecherin seiner Werke, nun eine Frau, die ihrer künstlerischen Laufbahn entsagt hat. Mit dreißig Jahren schon begann ihre ausgezeichnete Stimme nachzulassen, und deprimiert zog sich die feinfühlige und kluge Frau von der Bühne zurück. Verdi, zwar von seinen Erfolgen als Komponist verwöhnt und materiell hinreichend gesichert, bedrückt die menschliche Einsamkeit. In Paris verbindet sich nun beider Geschick zu einem Lebensbund voller H a r monie. Giuseppina versteht es in ihrer fraulichen Art, um den Meister wieder eine Atmosphäre häuslicher Geborgenheit zu schaffen, die seiner schöpferischen Tätigkeit besonders entspricht. Zunächst lebt das Paar in Paris, aber bald begibt sich Verdi wegen der verschiedenen Opernpläne nach Italien — und hier verwirklicht er einen lange gehegten Wunsch: In der Nähe von Busseto erwirbt er das Landgut Sant' Agata, das er im Laufe der Zeit zu einem herrschaftlichen Besitz ausdehnt. In diese ländliche Stille zieht sich der Komponist immer nach dem turbulenten Theaterbetrieb zurück, um ungestört arbeiten zu können und um sich zu erholen. Noch hat er indessen keine Muße für eine beschauliche Lebensweise, noch bedrängen ihn seine Theaterverpflichtungen. Die nächste 16
In Sant' Agata wird aller städtischer Trubel abgeschüttelt — hier ist Verdi ein Landmann, der wie jeder andere um günstiges Wetter bangt. Er gilt als strenger, doch patriarchalischer Herr. 17
Oper greift wieder auf Schiller zurück: „Kabale und Liebe", mit dem italienischen Titel „Luisa Miller". Das Drama wird von Cammarano zu einem Operntext zurechtgeschnitten, wieder bleibt nur das Gerüst der Handlung übrig. Aber Verdi bewegt sich in diesem Werk weiter auf seinen ganz eigenen Stil zu, der die alten Formen der vierteiligen Arie und der Ensembles zwar beibehält, aber doch mit ganz neuem dramatischem Leben erfüllt. Die musikalische Charakterisierung der Gesangslinien wird stärker vom Ausdruck bestimmt. Einen ganz besonderen Effekt stellt das Gesangsquartett ohne Orchesterbegleitung im zweiten Akt dar; die Luisa selbst gemahnt schon teilweise an Gilda und Violetta — lyrische Stimmen mit leichtem Koloratur-Einschlag —, während die Rolle des Vater Miller jenen Typus von väterlichem Charakterbariton verkörpert, wie er schon in früheren Opern gelegentlich hervortrat und seine deutlichste Ausprägung in Rigoletto und Vater Germont finden wird.
Meisterschaft „Rigoletto", „Troubadour" („II Trovatore"), „La Traviata" — das sind die drei Werke, die nun seit über hundert Jahren Verdis Namen in alle Welt tragen, die heute noch mit ihren Effektstücken das Publikum begeistern, die in ihrer ungebrochenen Lebendigkeit die Stützen jedes Theaterspielplans bilden. Verdi ist in diesen Opern zu feuriger Melodik entflammt, und in mitreißendem Schwung rollt das Bühnengeschehen ab. Die vielen Werke, die der Meister vor 1850 geschrieben hat und die meist die Theaterbesucher unserer Zeit nicht ganz befriedigen können, sind dennoch nicht vergeblich geschrieben. An ihnen ist Verdi gewachsen; „Nabucco", „Macbeth", „Luisa Miller" sind wohl die wichtigsten Meilensteine auf diesem künstlerischen Weg gewesen, der in Richtung auf das musikalische Drama italienischer Prägung führt. Viele Briefe des Komponisten, vorwiegend an seine Literaten gerichtet, geben uns Aufschluß über die Vorstellungen, die Verdi von einer Oper hegt. Der „Effekt" — und damit der Erfolg — ist und bleibt das oberste Ziel, das er zu erreichen sucht, nur daß dieses Ziel mit allmählich sich wandelnden Mitteln angestrebt wird. Ursprünglich bleibt die Gefühlswelt an der Oberfläche, selten nur wachsen die handelnden Personen über den 18
Begriff „Figuren" hinaus. Im Laufe der Zeit aber erwacht in Verdi das Bedürfnis, seine Stoffe zu vertiefen, nicht nur ein Bühnenerlebnis zu vermitteln, sondern den „Figuren" pulsierendes Leben zu verleihen, die Zuschauer zu echter Anteilnahme zu zwingen. Anders ausgedrückt: Der menschlich-wahre Gehalt eines Stoffes interessiert jetzt Verdi vor allem — daß er dabei den „Effekt", die schlagkräftige Situation, nicht aufgibt, versteht sich von selbst. Seine vitale Natur und sein durch langjährige Erfahrung geschulter Theaterinstinkt sagen ihm, daß die Bühne eben nach einem bestimmten Grad von Äußerlichkeit im Ausdruck der Gefühle verlangt. Verdi trägt einen Opernstoff — wenn er ihn, wie meistens, seibst auswählen kann — ziemlich lange mit sich herum, vertieft sich völlig in die Eigenwelt dieses Dramas, so lange, bis sich eine bestimmte künstlerische Gestalt vor seinem inneren Auge formt. Bevor noch eine Note geschrieben ist, zeichnet er die szenischen Einzelheiten genau auf, der Librettist bekommt dann einen aufgegliederten Entwurf. Auch von dem Darstellungsstil besitzt Verdi eine klare Vorstellung, wie es ein Brief an Cammarano (1848) verdeutlicht: „Die Tadolini" (Primadonna in Neapel) „hat zu große Qualitäten für diese Partie! Sie werden das vielleicht für einen Widerspruch halten! Die Tadolini hat eine gute, schöne Erscheinung, und ich möchte die Lady Macbeth ungestalt und häßlich haben. Die Tadolini singt vollendet, und ich möchte haben, daß die Lady überhaupt nicht singt. Die Tadolini hat eine herrliche, helle, klare, mächtige Stimme, und ich möchte für die Lady eine rauhe, erstickte, hohle Stimme haben. Die Stimme der Tadolini hat etwas Engelhaftes, und die Stimme der Lady sollte etwas Teuflisches haben . . . " Dieser Zug zur drastischen Bühnenwirkung geht mit der Suche nach neuen, andersgearteten Stoffen Hand in Hand. Victor Hugos „Le Roi s'amuse" („Der König vergnügt sich") hat Verdi schon einmal interessiert, aber erst jetzt scheint ihm die Zeit für die Vertonung gegeben. Piave soll den Text des „Rigoletto" für Venedigs berühmtes „Fenice-Theater" verfassen; für die Spielzeit 1850/51 ist die Aufführung geplant. Der Meister macht sich schon im Jahr vorher mit dem Stoff vertraut, notiert wohl Einfälle und Skizzen zum Aufbau der Oper — da bereitet plötzlich die Zensur Schwierigkeiten. Ein Narr als zentrale Figur? Ein Fluch über ein gekröntes Haupt? Ein 19
König als Wüstling? Das ist nicht möglich, das könnte das sittliche Empfinden verletzen, könnte den Respekt gegenüber Standespersonen mindern. Der ganze Opernplan scheint zu scheitern, doch glücklicherweise findet sich in dem venezianischen Polizeidirektor Martello ein Mann, der als Verdi-Verehrer und Behördenchef eine Versöhnung der widerstreitenden Interessen zustande bringt. Außerordentlich aufschlußreich ist ein Brief Verdis, worin er dem Theatervorstand unmißverständlich seine Meinung über den Rigoletto-Text und zugleich seine künstlerische Auffassung überhaupt niederlegt: „ . . . Der Herzog ist eine Figur, die nichts zu sagen hat: Dieser Herzog muß durchaus ein Wüstling sein; sonst gibt es keine Begründung für die Angst des Triboletto" (ursprünglicher Name für Rigoletto), „daß seine Toch-' ter ihr Versteck" verlassen könnte, und das Stück wäre unmöglich. Was hätte ein solcher Herzog, im letzten Akt, in einem entlegenen Wirtshaus zu tun, allein, ohne Einladung, ohne Verabredung? Ich weiß auch nicht, warum der Sack weggekommen ist. Was konnte die Polizei der Sack angehen? H a t man Angst um die Wirkung? Darf ich da etwas sagen: Warum will man davon mehr verstehen als ich? . .. Gibt es aber keinen Sack, dann ist es nicht wahrscheinlich, daß Triboletto eine halbe Stunde lang zu der Leiche spricht, ehe ein Blitz ihm zeigt, daß es seine Tochter ist. Ich bemerke zuletzt, daß man darauf verzichtet hat, den Triboletto häßlich und lahm sein zu lassen!! Ein Lahmer, der singt? Ja, warum n i c h t . . . Kann das wirken? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich's nicht weiß, so weiß es, noch einmal, auch der nicht, der diese Änderungen vorgeschlagen hat. Ich finde es gerade prachtvoll, diesem Menschen eine besonders lächerliche Mißgestalt zu geben, ihn leidenschaftlich, liebevoll sein zu lassen. Gerade um aller dieser Dinge willen bin ich auf den Stoff verfallen, und wenn man mir seine Besonderheiten nimmt, kann ich dazu keine Musik mehr machen . . . Ich will klipp und klar aussprechen, daß ich meine Musik, ob sie nun schön oder häßlich ist, nicht einfach hinschreibe, sondern daß ich immer bemüht bin, ihr einen Charakter zu geben . . . ich kann es mit meinem Künstlergewissen nicht vereinbaren, dieses Buch zu komponieren." Diese starken Worte kennzeichnen schlaglichtartig Verdi als den genialen Dramatiker, der in seiner Art genau so revolutionär wie Wagner die Oper zu neuer Aussagekraft umformt. Liegt bei Wagner 20
der Schwerpunkt der Reform in der musikalischen Gestaltung, so benützt Verdi neue Ausdruckselemente im Stoff zu einer Umwandlung der Oper. Nicht grundlos kommen auch Gegenstimmen zu Wort, er wird Zerstörer der alten italienischen Gesangskunst, des „Belcanto", genannt — ein für uns kaum glaublicher Vorwurf. Und doch ist er im Sinne der Italiener nicht ganz ungereimt; denn bei Verdi ist die gesungene Melodie, im Gegensatz zu früher, nicht mehr Selbstzweck, sie bildet jetzt mit dem Text, mit der Handlung eine untrennbare Einheit dramatischen Ausdrucks. Die melodisch-rhythmische Kraft der musikalischen Einfälle Verdis zwingt die Sänger dazu, nicht mehr nur schöne Musik vorzutragen, sondern auf der Bühne das Geschehen mit ihrer ganzen Persönlichkeit zu erleben und eindringlich-wirksam darzustellen. Im „Rigoletto" ist dieses Ziel zum erstenmal vollkommen erreicht. Die Inspiration wetteifert mit der musikalischen Charakterisierungskunst, empfindungsreiche Arien wechseln ab mit wirkungsvollen Ensemble-Sätzen — an der Spitze das Quartett im dritten Akt, das die verschiedenen Gefühle aller Beteiligten deutlich gegeneinandersetzt und doch als großartig-einheitliches Musikstück wirkt. Das Lied des Herzogs „O wie so trügerisch" gibt übrigens der Meister dem Tenor Mirate erst in letzter Stunde bekannt, der Sänger darf es nicht vorher üben, denn mit Recht vermutet Verdi, daß sich die Melodie sonst sofort in allen Gassen und auf allen Kanälen Venedigs verbreiten würde . . . So wird „O wie so trügerisch" erst nach dem 11. März 1851, dem Tag der Uraufführung, zum „Schlager" — und ist es bis heute geblieben. Das Publikum jubelt bei der Premiere, etwas kühler verhält sich die Presse; der oft deklamatorische Stil tragen Verdi den Vorwurf des „Germanismus" ein, ein Tadel, den ein Deutscher nie begreifen wird. Für uns bedeutet „Rigoletto" die Verkörperung der italienischen Oper schlechthin, genau so wie der „Troubadour", dessen Beliebtheit fast noch etwas größer ist, obwohl das Stück, unmittelbar nach „Rigoletto" entstanden, stark unter der Wirrnis des Handlungsablaufs leidet. Verdi aber ist von dem Stoff begeistert, da er ihm wieder eine Fülle von verschiedenartigen Leidenschaften bietet; besonders reizt ihn die Gestalt der Zigeunerin Azucena in ihrer eindringlichen Kindes- und Mutterliebe. 21
Cammarano vermag das Libretto zum „Troubadour" nicht mehr zu vollenden, der Tod nimmt ihm die Feder aus der Hand, und ein anderer Neapolitaner, L. E. Badare, schreibt das Stück zu Ende. Die Uraufführung in Rom, im Januar 1853, wird wieder zu einem gewaltigen Publikumserfolg, und wieder macht die Presse Einwendungen, vor allem sei die Oper zu traurig und zu grausam. Indessen gibt der Meister, der vor kurzem seine Mutter verloren hat, in einem Brief an Clarina Maffei (einer kunstverständigen Dame, der er jahrzehntelang freundschaftlich verbunden ist) kund: „ . . . aber schließlich ist doch im Leben alles Tod. Was bleibt sonst noch übrig?" Noch während der Arbeit am „Troubadour" hat sich Verdi einem neuen Werk zugewandt, der „Kameliendame" nach Alexandre Dumas (Sohn). Diese dritte Oper des neuen Stils, später „La Traviata", auch „Violetta" genannt, ist in der Stoffwahl noch kühner, noch „realistischer": Nach dem buckligen Narren und dem Zigeunerweib steht nun ein leichtfertiges Frauenzimmer im Mittelpunkt der Handlung, noch dazu ist das Geschehen nicht in längst vergangene Zeiten verlegt, sondern spielt in der Gegenwart (und ist sogar die dichterisch-freie Gestaltung eines eigenen Erlebnisses von Dumas). Bei der „Traviata" jedoch ist Verdi zunächst das Glück nicht hold: Die Oper fällt am 6. März 1853 in Venedig durch. Verdi meldet es seinem Verleger Ricordi in dürren Worten: „ . . . D i e ,Traviata' ist durchgefallen. Forschen wir nicht nach den Ursachen! So ist es nun einmal!" Aber nach kurzer Zeit setzt sich „La Traviata" wie „Troubadour" und „Rigoletto" sowohl in Italien wie auch in ganz Europa durch. Bald wird Verdi ebenso anerkannt und gefeiert sein wie einst Rossini. Eigentümlich ist, wie der Meister jeder dieser drei Partituren ein ganz bestimmtes Gepräge gegeben hat: Im „Rigoletto" findet man die schicksalhafte, tragische Verknüpfung des Geschehens in der Musik wieder, im „Troubadour" herrscht auch musikalisch das Eindringliche der ungezügelten Leidenschaften, während die „Traviata" viel gedämpfter wirkt, wie von leisem, romantischem Hauch der Melancholie überschattet. Immer wieder neue Stoffe und Opernprojekte fesseln Verdi, „König Lear" wird erneut hervorgeholt, aber der Plan scheitert endgültig daran, daß das ausersehene Theater nicht über die geeigneten Kräfte 22
verfügt. Dafür nimmt der Meister mit Giuseppina für längere Zeit Aufenthalt in Paris, um dort für die Grande Opera „Die sizilianische Vesper" zu schreiben, ein Werk, das anläßlich der Pariser Weltausstellung 1855 einen Achtungserfolg erringt, aber nicht zu den stärksten Opern zu zählen ist. Zu sehr muß Verdi sich dem gegebenen Schema der französischen fünfaktigen „Großen Oper" anpassen, zu wenig lebt er selbst mit den von Scribe vorgezeichneten, etwas formelhaften Figuren. Bald darauf entsteht „Simone Boccanegra" — eine eindrucksvolle Oper, über deren Mißerfolg in Venedig der Komponist nachhaltig betroffen ist. Dafür glückt ihm mit dem „Maskenball" wieder ein großer Wurf, der auch sofort die Begeisterung des Publikums entfacht, zumal politische Motive — Ermordung eines Fürsten (allerdings aus persönlichen Gründen) während eines Maskenfestes — in Italien wieder auf fruchtbaren Boden fallen. Es wird Krieg geben, an dessen Ende die Einigung der italienischen Fürstentümer, frei von fremder Herrschaft, stehen wird. Die Stimmung ist schon 1858 gereizt, die Zensur in Neapel macht so viele Auflagen, daß Verdi des zermürbenden und quälenden Kampfes endlich müde wird und nach mancherlei Hindernissen das Werk in Rom inszeniert — die Zensur des Kirchenstaates genehmigt doch wenigstens die Grundlinien des Stückes.
Gutsherr und Abgeordneter Alle die aufreibenden Mühen und Sorgen des Theaterbetriebs, „Boccanegras" Fiasko nun auch in Mailand, Streitigkeiten wegen Urheberrechtsfragen in Frankreich, gelegentlich Unstimmigkeiten mit seinem langjährigen Verleger Ricordi (der durch Verdi zu großem Reichtum gelangte) — die verschiedensten Gründe wirken zusammen, um bei dem Meister eine gewisse Theatermüdigkeit hervorzurufen, die Sehnsucht nach einem wenigstens zeitweise etwas geruhsamen Leben. Er zieht sich nach Sant' Agata zurück, widmet sich der Jagd und seiner Landwirtschaft, die er mustergültig ausbaut. Die Bussetaner sind stolz auf ihren Maestro, sie wählen ihn (gegen seinen Willen) als Abgeordneten in das erstmals gebildete italienische Parlament. Verdi ist ein durchaus politischer Mensch, lebhaft nimmt er Anteil an den Geschehnissen, er kümmert sich sogar um Waffen 23
für die Nationalgarde Bussetos, auch betrachtet er seine parlamentarische Tätigkeit nicht als lästige Bürde — aber letztlich weiß er genau, daß ihn sein ungeduldiges Temperament und der Vorrang der künstlerischen Interessen nicht für allzulange Zeit an die Politik fesseln wird. Immerhin legt er erst 1865 sein Mandat nieder. Die künstlerischen Interessen regen sich bereits wieder: Für St. Petersburg soll er jetzt eine neue Oper schreiben, es entsteht „Die Macht des Schicksals", die im November 1862 erfolgreich in Szene geht. Anschließend reist das Ehepaar Verdi nach Madrid, denn der Meister bereitet die spanische Erstaufführung dieses Stücks selbst vor; der spanische Stoff mit Verdis Musik findet dort großen Anklang, während etwas später der umgearbeitete „Macbeth" in Paris nicht den erwarteten Erfolg bringt. Auch die nächste Pariser Uraufführung, „Don Carlos" (1867), erringt nicht den erhofften begeisterten Beifall. Der Meister ist jetzt über fünfzig Jahre alt, die Kunst enttäuscht ihn in letzter Zeit, in Sant' Agata erlebt er als Gutsherr die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, und zudem treffen ihn persönlich schmerzliche Nachrichten: Sein Vater stirbt, wenige Monate später ist auch Antonio Barezzi, der große Freund seiner Jugend, nicht mehr. Verdis langjährigen Mitarbeiter Francesco Piave erwartet nach einem Schlaganfall jahrelanges Siechtum, der Meister unterstützt die Familie nach Kräften. Verdi glaubt in dieser Zeit, daß sein Lebenswerk im wesentlichen abgeschlossen sei. Es schmerzt ihn, daß sein „Don Carlos", stilistisch ein weiteres Vordringen in der Richtung auf die „dramatische Szene", nicht ungeteilte Anerkennung findet. Ist er schon zu alt? Oder erwartet man von ihm im Jahre 1867 eine Wiederholung der melodisch zündenden, unproblematischen Opern? In der kunstbeflissenen Jugend des nördlichen Italien der sechziger Jahre gärt es (wie übrigens gleichzeitig bei den jungrussischen Künstlern). Man beginnt, neue Ausdrucksformen in der Kunst zu suchen. Das Wort, die Situation, der logische Aufbau einer Handlung stellen nunmehr Forderungen, die eine andere musikalische Gestaltung nach sich ziehen — das alte Schema von Arien und Ensemblesätzen wird verworfen zugunsten eines viel freieren, dem Text angepaßten Komponierens. Wagners Errungenschaften bleiben dabei nicht ohne Einfluß, besonders in der Orchesterbehandlung. Als oberstes Gesetz gilt aber in 24
„II vecchio" — der alte Verdi —, von Italien als Nationalheld gefeiert. Italien nach wie vor: Die Singstimme ist das beherrschende Element einer Oper, allerdings jetzt getragen von einem wandlungsfähigen, nicht nur den Gesang dürftig begleitenden Orchester. Wortführer dieser jungen Leute sind Arrigo Boito, der mit seinem „Mefistofele" (einer Faust-Oper) seine Ideen durch die Tat beweisen will, und Franco Faccio, später ein gefeierter Dirigent. Ein weiterer berühmter Dirigent, Angelo Mariani, macht Wagners Werke in Italien populär. Der Meister muß zunächst in gewissem Gegensatz zu diesen „Reformern" stehen, schließlich kann und will er seine „Melodie-Opern" 25
nicht verleugnen. Jedoch fühlt er sich selbst noch jung genug, dazu viel zu sehr Künstler, um allen diesen neuen Gedanken völlig ablehnend gegenüberzustehen. Er hat zwar gelegentlich Worte des Spottes für die „Zukunftsmusiker" auf den Lippen und zieht oft kräftig vom Leder gegen die allmählich immer stärker werdende Wagner-Begeisterung in Italien, aber er liest Wagners Schriften und bleibt nicht unbeeindruckt von manchen Vorstellungen des großen musikalischen Revolutionärs jenseits der Alpen. Seine abfälligen Bemerkungen sind auch weniger gegen den Künstler als vielmehr gegen die kritiklose Übernahme der Ideen durch seine Landsleute gerichtet. Vor allem bekümmert ihn — besonders in späteren Jahren — das Vordringen der deutschen Symphonik und Kammermusik, da er die Pflege des Gesangs,, solistisch und im Chor, als überkommene Verpflichtung seines Landes empfindet.
Triumph der „Aida" Verdi scheint Lust zu bekommen, seine Einstellung zu allen diesen Fragen in einer Oper zu dokumentieren. Die Gelegenheit bietet sich auf merkwürdigen Umwegen: Der ägyptische Vizekönig bestellt in Europa eine Festoper zur Eröffnung des Suezkanals, die Wahl fällt auf Verdi — und knapp vier Monate nach Kompositionsbeginn ist „Aida" im wesentlichen vollendet! Es ist von höchstem Interesse zu beobachten, wie der Meister mit dem Librettisten Antonio Ghislanzoni zusammenarbeitet, wie intensiv Verdi die scheinbar geringste Kleinigkeit aufs genaueste vorschreibt, wie er in schöpferischer Eingebung und zugleich klarster verstandesmäßiger Überlegung die stärkste Wirkung erzielen will. Der Musiker wird fast zum Dichterkomponisten, so exakt legt er für Ghislanzoni Gesamtaufbau, Szeneneinteilung, Gefühlshöhepunkte und weitgehend auch einzelne Sprachwendungen und Versmaße fest. Das Ergebnis entspricht der gesammelten künstlerischen Kraft: Verdi schafft mit „Aida" nicht nur einen Höhepunkt innerhalb der langen Reihe seiner Opern, sondern zugleich ein Bühnenwerk, das die französische „Große Oper" mit ihrer glänzenden Ausstattung, die italienische Gesangsoper und deutsche dramaturgische Sorgfalt in sich vereinigt. Die Uraufführung in Kairo, durch den Krieg von 1870 auf den 24. Dezember 1871 verschoben, wird zu einem internationalen Ereignis. Freilich tragen dazu die 26
gelungene exotische Klangfärbung, der festliche äußere Rahmen, die ausgezeichneten Interpreten — und nicht zuletzt die Pressereklame bei, die übrigens Verdi in der Seele verhaßt ist. Etwas wehmütig blickt er auf frühere Jahre zurück, als er ohne die geringste Unterstützung von irgendeiner Seite mit einer neuen Oper vor das Publikum trat und als Künstler die Entscheidung der Masse hinzunehmen hatte. Er betrachtete sein Wirken damals als einen offenen, ehrlichen Kampf um den Erfolg, dessen Ergebnis nicht vorauszusehen war — und bei jeder Oper erneuerte sich das gnadenlose Ringen. Wenige Wochen nach der Aufführung in Kairo wird „Aida" in Mailand zum ersten Mal gegeben, andere italienische und europäische Städte folgen, und bis heute hat das Werk nichts von seinem musikalischen Zauber, von der Eindringlichkeit der Massenwirkungen und von seiner melodisch-dramatischen Kraft verloren. Es tritt nun zutage, daß die Reform-Bestrebungen bei Verdi auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Die musikalische Charakterisierung, natürlich in den Singstimmen schon längst meisterhaft beherrscht, findet im „Aida"-Orchester eine würdige Entsprechung. Interessante Klangverbindungen voll farbigen Reizes werden mit den sparsamsten Mitteln hervorgerufen, anderseits kennt die „Aida"-Partitur prachtvoll-glänzende Höhepunkte, wozu die eigens für diese Oper im Auftrag Verdis konstruierten „Aida-Trompeten" gewichtig beitragen. Die Oper verbindet unnachahmlich jugendlich-zupackenden Schwung mit technischer Meisterschaft, Verdis „Italianita" wird in „Aida" zur europäisch-internationalen Ausdrucksform. Und man ist versucht, „Aida" einen Glücksfall in der Operngeschichte zu nennen, da das Werk ebensowohl bejubelte Schönheiten für das breite Publikum birgt, wie es den Kenner durch die Feinheit der Arbeit entzückt. Verdi inszeniert diese Oper an einigen Opernhäusern Italiens, so auch in Neapel. Dort zwingt ihn die Erkrankung einer Sängerin zu einer mehrwöchigen Pause, und Verdi, der Mann der Opernbühne, der Feind „germanischer Musik", schreibt — ein Streichquartett. Er selbst bezeichnet es als Gelegenheitswerk und er verhindert ziemlich lange die öffentliche Aufführung, ist aber doch darüber befriedigt, daß er auch auf diesem Gebiet eine meisterliche Komposition eigenen und damit italienisch-melodiösen Stils schaffen kann. In noch viel 27
stärkerem Maße dringt ein weiteres, nicht der Opernwelt zugehöriges Werk, über die Grenzen: das Requiem. Italiens größter Dichter des 19. Jahrhunderts, Alessandro Manzoni, stirbt 1873 hochbetagt. Verdi, der ihm seit früher Jugend größte Verehrung entgegenbringt, ist tief erschüttert und fühlt sich zur Komposition des Requiems gedrängt, zumal in seinem Schreibtisch schon einzelne Abschnitte der Totenmesse liegen; das „Libera me" geht auf die Zeit nach Rossinis Tod zurück, als Verdi alle bedeutenden italienischen Komponisten veranlassen wollte, an einem gemeinsamen Werk für den großen Toten mitzuarbeiten. Jetzt schreibt er allein das Requiem für Manzoni und schenkt uns damit eine der bedeutendsten Totenmessen überhaupt. Die innere Haltung dieser Musik ist nicht die gleiche, wie wir sie im nördlicheren, strengeren, kühleren Deutschland zu diesem ernsten Text erwarten. Sinnenfroher, reicher an überquellender Melodik, sicher auch von der Oper nicht allzuweit entfernt, gestaltet ihn Verdi — die Wucht der Gedanken wird unter seinen Händen zur dramatischen Bewegtheit. Der Meister genießt großes internationales Ansehen, zahllose Orden werden ihm verliehen, vielen Organisationen soll er präsidieren (das lehnt er fast immer ab) — aber innerlich ist er müde, er hat das Gefühl, der Welt genug gegeben zu haben, er sehnt sich nach Ruhe. Seit Jahren schon zieht es ihn, immer stärker, nach seinem Gut Sant' Agata. Meist weilt er dort vom Frühjahr bis zur Ernte, in dem für den Bauern wichtigsten Zeitraum. Hier gönnt er nicht nur seinen Nerven den wohltuenden Landaufenthalt, nein, hier betätigt er sich als überall zupackender Gutsherr, der sich klug der letzten Errungenschaften auf landwirtschaftlichem Gebiet bedient und die neuesten Maschinen kommen läßt; auf sein Mustergut ist er stolzer als auf seine Opern . . . Er gilt als strenger und doch patriarchalischer Herr, der zwar auf arbeitswillige Pflichterfüllung sieht, aber zugleich in sozialer Hinsicht sehr fortschrittlich und segensreich wirkt. Es wird immer eigentümlich bleiben, wie sich in der Persönlichkeit Verdis das Bauernblut als Kraftquell erweist, wie die fruchtbare Erde, die Felder und Weingärten, mit seinem Leben, mit seinem menschlichen Dasein untrennbar verknüpft sind. Die Bühne in ihrem grellen Rampenlicht, der oft schwierige Umgang mit Primadonnen und Heldentenören, mit Impresarii und Verlegern, die Auseinander28
Setzungen mit Dirigenten und Librettisten bedeuten aufregenden Kampf — in Sant' Agata wird aller städtischer Trubel abgeschüttelt, hier muß die Natur in harter körperlicher Arbeit bezwungen werden, hier kann Verdi auch seiner Leidenschaft als Bauherr frönen, hier ist er unumschränkter Herr — und gleichzeitig ganz natürlicher Mensch, ein Landmann, der wie jeder andere um günstiges Wetter bangt. Freilich, die Wintermonate verbringt er selten in Sant' Agata, einmal ist seiner Gesundheit das rauhe Klima der Po-Ebene nicht zuträglich, zum anderen sehnt sich seine Frau Giuseppina doch immer wieder nach den Städten, die geistige Anregung und abwechslungsreiche Gespräche bieten. Meist bevorzugt das Ehepaar das milde Klima Genuas, wo es in späteren Jahren in einem ehemaligen Palast des berühmten Dogen Andrea Doria wohnt. Es kann nicht ausbleiben, daß gute Freunde den Meister zu erneuter schöpferischer Tätigkeit anzuregen versuchen. Unablässig bemüht sich vor allem Giulio Ricordi (der Enkel des Gründers jenes weltbekannten Verlags), Verdi Opernstoffe und literarische Mitarbeiter „schmackhaft zu machen". Endlich gelingt es ihm, den Komponisten für den dichterisch und musikalisch hochbegabten Arrigo Boito zu interessieren, und nach langen Vorbereitungen und Überlegungen verfassen Verdi und sein neuer Librettist ein Textbuch, das nun der Meister, sehr sorgfältig und bedachtsam arbeitend, vertont: „Othello", nach Shakespeares gleichnamiger Tragödie. Oft ist Verdi vorgeworfen worden, er habe „klassische" Dichtungen zu Opernwerken „verballhornt" — aber fast immer haben die Kritiker dabei die Eigengesetzlichkeit der Oper verkannt. Nicht die „Dichtung" als geschlossene künstlerische Einheit, lediglich der Stoff, einzelne Gestalten oder bestimmte Situationen vermögen den Meister zu reizen — bis zur Umarbeitung im Sinne der italienischen Oper bleibt ihm die Dichtung nur Rohmaterial. Die Charakterisierungsfähigkeit der Musik setzt andere Akzente und schaltet in größerem Maße das Gefühl ein. Im Grunde genommen läßt sich ein gutes Libretto mit einer reinen Wort-Dichtung nicht vergleichen. Verdis „Othello" hat im Publikum heute fast stärker Wurzel geschlagen als Shakespeares Drama. Wie eindringlich sich Verdi mit Shakespeares Gestalten beschäftigt, wie plastisch er sie erlebt, wie eigentümlich und tief er die menschliche Problematik des Stoffes durchdenkt, 29
zeigt ein Brief an den befreundeten Maler Morelli, der ihm eine Zeichnung von Jago schicken soll: „.. . Aber wenn ich Schauspieler wäre und den Jago zu geben hätte, würde ich lieber eine magere, große Figur haben mit dünnen Lippen, kleinen Augen nahe der Nase wie bei den Affen, die hohe Stirn stark rückwärts geneigt, mit deutlich entwickeltem Hinterkopf; und sein Gehaben wäre das eines Zerstreuten, nonchalant, gleichgültig gegen alles, skeptisch, witzelnd; er müßte Gutes und Schlechtes leichthin sagen und mit der Miene eines Menschen, der an alles andere eher denkt als an das, was er spricht. Würde ihm jemand den Vorwurf machen: ,Aber was du da sagst, was du vorschlägst, ist doch eine Gemeinheit' — er könnte ganz gut antworten: ,Wirklich? Das hätte ich nicht geglaubt... Nun, dann sprechen wir nicht mehr davon!' Ein Kerl wie der kann alle hintergehen und bis zu einer gewissen Grenze, auch die eigene Frau. Ein kleiner, bösartiger Bursche macht sich bei allen verdächtig und hintergeht niemand . .." Dieser Jago ist die Zentralfigur des Werkes. Eine Zeitlang soll die Oper sogar „Jago" heißen, aber die Autoren bleiben dann doch bei dem Originaltitel. „Othello", seit dem 5. Februar 1887 der Weltöffentlichkeit bekannt, bedeutet ein weiteres Wachsen über den Stil des früheren und mittleren Verdi hinaus. Die Entwicklungslinie von der anspruchslosen Sing-Oper zum musikalischen Drama ist nun abgeschlossen. In faszinierender Weise vermählt sich die Musik mit dem Wort, die Singstimme mit dem selbständig geführten Orchester. Farbige Harmonik und meisterhafte Instrumentierung unterstreichen die lyrischen und dramatischen Höhepunkte. Zweifellos trägt der „Othello" am deutlichsten von allen Verdi-Opern die Spuren deutschen „Einflusses", aber Verdi ist nun längst über alles Gerede von „Wagnerismus" hinaus, er selbst war vom Tod seines deutschen „Rivalen" (1883) tief ergriffen. Verdi ist seinen Weg unbeirrbar zu Ende geschritten, die Robustheit seiner künstlerisch-menschlichen Natur hat ihn alle „Anfechtungen" neuer Kunstrichtungen mühelos überstehen lassen. Mit sicherem Instinkt hat er sich das seinen Idealen Entsprechende angeeignet, ohne sich von seinen grundlegenden Erkenntnissen abbringen zu lassen, ohne aber auch starr in der Tradition stecken zu bleiben. 30
Es wird immer staunenswert bleiben, wie der fast achtzigjährige Meister noch einmal von einem neuen Stoff angesprochen wird und erneut seine Kräfte zu schöpferischer Tätigkeit anspornt: Rascher als „Othello" wird „Falstaff" zu Papier gebracht, die letzte Krönung seines an Höhepunkten wahrhaftig nicht armen Lebenswerks. Zu Beginn wie am Ende seiner Bahn stehen „komische" Opern; „Der falsche Stanislaus" war 1840 kläglich durchgefallen, 1893 endlich sollte diese Scharte ausgewetzt werden durch „Falstaff", ein Alterswerk von so heiterer Gelassenheit und bewundernswerter Durchsichtigkeit, wie man es von dem kräftig zupackenden Gestalter starker Leidenschaften niemals erwartet hätte. Nochmals wandelt sich damit sein Stil, fast kammermusikalisch fein bietet sich die Partitur dar, mit den knappsten Mitteln werden die Figuren scharf umrissen und ebenso behutsam wie plastisch gezeichnet. Und am Schluß des Werkes steht — eine Fuge: „Tutto nel mondo e burla" — „Alles ist Spaß auf Erden". Seltsam, wie sich das Bild des Komponisten Verdi an seinem Lebensende rundet. Nicht nur, daß das melodische Feuer der Jugendzeit sich zur Sprache der Altersweisheit wandelt — das ist ein natürlicher Vorgang —, viel stärker fällt ins Gewicht, welch ungeheurer Bogen sich von den — in der Qualität noch recht bescheidenen — Anfängen seiner Laufbahn zur höchsten Meisterschaft in der Oper „Falstaff" spannt. Verdi ist darin Wagner sehr ähnlich. Der Reifeprozeß zieht sich bei beiden Meistern über Jahrzehnte hin, mit dem Alter ist immer noch ein Wachsen der schöpferischen Kraft verbunden. Beide geben in den letzten Lebensjahren auch ihrer undogmatischen Frömmigkeit künstlerischen Ausdruck, Wagner im „Parsifal", während Verdi die vier „pezzi sacri" (geistlichen Stücke) schreibt. Aber neben dieser Hinneigung zum Glauben, die in starkem Gegensatz zu seiner früheren Haltung steht, bewahrt Verdi seine Skepsis, seine unabhängige Denkweise. „Alles ist Spaß auf Erden" — dieser Satz darf als das Symbol für des Meisters überlegene, hellsichtige und doch etwas resignierte Lebensbetrachtung bezeichnet werden, dieser eine Satz bleibt von allen hochfliegenden, stürmisch-drängenden Plänen und Erwartungen der Jugendzeit übrig. Verdis Lebensbahn neigt sich dem Ende zu. Der greise Meister kann noch so manche Huldigung entgegennehmen — der Welt gegen31
über stolz, des Wertes seiner Werke sicher —, und doch bleibt er innerlich bescheiden, er fühlt sich bis zuletzt als ein Diener der Kunst. Er weiß, daß er Italiens Operntradition weitergetragen hat, und er weiß auch, daß nach ihm Komponisten kommen werden, die ihrerseits die neuen Zeitströmungen künstlerisch zu bewältigen suchen: Puccini, Leoncavallo und Mascagni haben bereits beachtliche Zeugnisse ihrer Leistungsfähigkeit gegeben. Er selbst, als Gutsherr von Sant' Agata wie als Künstler, spürt in sich die Verpflichtung zu sozialem Handeln, den Landleuten verschafft er uneigennützig Arbeit, und für die Musiker erbaut er in Mailand ein Altersheim, die „Casa di riposo", und stattet es mit einer ansehnlichen Stiftung aus. Die Ernte ist eingebracht, die reiche Ernte eines Künstlerlebens von seltener Gradlinigkeit; Früchte begnadeter Musikalität wurden den Menschen geschenkt, Italien vor allem dankt ihm dafür und verehrt ihn wie einen Nationalhelden. Als er am 27. Januar 1901 die Augen schließt — Giuseppina war ihm 1897 im Tod vorangegangen —, trauert die gesamte Kulturwelt, und Hunderttausende folgen dem Trauerzug. Im Innenhof der „Casa di riposo" ruht der größte Opernkomponist, den Italien seit Monteverdi hervorgebracht hat.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Rudolf Betz-Bavaria, Ullstein-Bilderdienst; Abb. auf der inneren Umsehlagseite: Szenenbild aus „Rigoletto" (Bayer. Staatsoper München). L u x - L e s e b o g e n 342
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