Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 41
Verdammte des Dschungels von Hugh Walker
Seit der Stunde, da Arric der Rote s...
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Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 41
Verdammte des Dschungels von Hugh Walker
Seit der Stunde, da Arric der Rote seinen schändlichen Verrat beging und das Tor zwischen Dragons und Danilas Welt für immer verschloß, sind der Atlanter und sein Gefährte Ubali zu Gefangenen einer wilden und bizarren Umgebung geworden. Um sich behaupten zu können, müssen sie um ihr Leben kämpfen – und zwar jeder für sich, denn sie sind getrennt worden. Beide Männer haben wenig Hoffnung, ihre eigene Welt jemals wiederzusehen – dennoch geben sie nicht auf! So hat Dragon, der neue Träger eines der Augen Vestas, ein gefährliches Erbe übernommen und eine Mission, die ihn auf abenteuerlichen Wegen nach Merlane und zu den »Höhlen des Erdgeists«, nach Askaloth und schließlich in das »Land des Nebels« führte. Und dort gelang ihm, was noch kein Sterblicher vor ihm jemals fertigbrachte: Der Atlanter kämpfte sich durch zu Aerulas Gipfelreich und versicherte sich der Unterstützung des Luftgeists. Anschließend will Dragon den Versuch unternehmen, mit Aerula-thane, der treuen Wanderwolke, die Insel des Namenlosen zu erreichen und Vesta, den einstigen Herrn der Elemente, zu befreien, auf daß dieser das drohende Chaos abwende, das Akkeron, der andere Träger von Vestas Auge, auf Danilas Welt zu entfesseln beginnt. Doch wie ergeht es inzwischen Ubali, dem Freund und Kampfgefährten des Königs von Myra …? Er ist gegenwärtig dazu verurteilt, in der Gestalt eines Panthers zu leben. Zusammen mit Thamai, seiner ebenholzfarbenen Geliebten, ist er auf dem langen Marsch zum Reich des Lebensgeists. Der Pfad, den der Panther und das Mädchen beschreiten, führt zu den VERDAMMTEN DES DSCHUNGELS …
Die Hauptpersonen des Romans: Ubali und Thamai - Ein schwarzer Panther und ein Mädchen auf dem Wege zum Inneren Reich des Lebensgeists. Marlea - Eine Verwandelte. Karuam - Ein Mann, der Vitu die Treue hält. Baril - Herr der Todesgärten.
1. Zehn Tage. Zehn Tage durch Dschungel und Savanne – immer nach Westen, der untergehenden Sonne nach. Zehn Tage, die ein Märchen hätten sein können und ein böser Traum waren. Und dennoch … Es war gut, wenigstens solcher Art am Leben zu sein, Thamais Hand zu fühlen, die Wärme ihres Körpers, wenn sie sich nachts an mein Fell schmiegte; oder ihre Stimme zu hören, den Schritt ihrer bloßen Füße; sie anzusehen, ihre Nacktheit, die Geschmeidigkeit, mit der sie sich bewegte – als wäre sie nicht weniger Katze als der schwarze, mächtige Leib, in dem ich gefangen war. Es besaß auch Vorteile, gewiß. Ubali, der Panther, war ein Gegner, mit dem keine der Dschungelbestien Streit suchte. Vielleicht wäre unsere Wanderschaft gefahrvoller gewesen, hätte ich meine menschliche Gestalt besessen. Aber, bei den Göttern, ich sehnte mich nach meiner alten Haut. Die Nächte mit Thamai wären nicht so still gewesen, so voll sehnsüchtiger Gedanken. Seit wir aus dem Dorf der Thaimoa aufgebrochen waren, um nach Vitus Innerem Reich zu suchen, das mir Erlösung verhieß, hatte sich nichts Nennenswertes ereignet. Obwohl Thamai gut mit Dolch und Blasrohr umzugehen wußte, übernahm ich die Jagd. Sie briet das Fleisch, und wenn mir anfangs der Duft auch die Lefzen wäßrig machte, so änderte sich das bald. Die Raubtierinstinkte überwogen schließlich wieder, wie schon einmal. Der Geruch des
frischgerissenen Wildes war des Panthers Vorliebe. Warum wir nach Westen zogen, hätte ich nicht zu sagen vermocht. Etwas trieb uns dahin. Vitus leitende Hand vielleicht, hoffte ich. Manchmal, besonders in den schlaflosen Nächten, hatte ich Angst. Nicht eine Angst, die aus dem Herzen kam, sondern eine, die in den Gedanken lauerte – in jenem unsichtbaren Teil, der von Ubali noch übrig war. Die Instinkte des Panthers traten immer stärker in den Vordergrund, und ich ertappte mich immer öfter dabei, daß ich mein Gedächtnis überprüfte. Es war mir, als gingen Erinnerungen verloren. Mit jedem Tag wurde der Augenblick wichtiger. Das Jetzt! Die Vergangenheit als Ubali, die Zukunft, sie wurden bedeutungsloser. Ich wurde freier. Ich nahm ihre Witterung auf, bevor Thamai noch etwas merkte. Ich hielt an und reckte die Nase hoch. Meine Flanken zitterten – nicht vor Schwäche, sondern in instinktiver Erwartung. »Ubali, was hast du?« fragte Thamai und legte ihre Hand an meinen Hals, während sie wachsam in die Richtung sah, in die ich mit schmalen Augen starrte. Es war mir immer angenehm, wenn sie mich berührte. Sie wußte es auch, und sie geizte nicht mit liebevollen Berührungen. Doch in diesem Augenblick war es etwas Fremdes, Störendes. Unwillig schüttelte ich ihre Hand ab. Sie sah mich erstaunt an, aber ich beachtete sie gar nicht. Der aufregende Geruch war sehr nah. Ein weinender Ton kam aus meinem Rachen. Aber er war nicht traurig, ganz im Gegenteil. Ein Pantherweibchen befand sich nicht weit vor uns. Thamai und ich sahen den gefleckten Körper gleichzeitig. Ich hörte wie sie scharf die Luft einsog und nach dem Blasrohr nestelte. »Nein«, brüllte ich und schnellte vor, um zwischen sie und meine Artgenossin zu gelangen. Mir war nicht klar, ob mich Thamai verstand. Es blieb keine Zeit, darauf zu achten. Das hohe Savannengras teilte sich vor mir, und wir starrten uns in die halbgeschlossenen Augen – reglos, abschätzend. Ihr gefleckter Kopf
war von beeindruckender Schönheit, und ich war froh, daß wir von einer Art waren und uns nicht feindlich gegenüberstanden. Aber das waren meine, Ubalis, Gedanken. Mein Körper reagierte nicht auf die Schönheit, sondern auf instinktivere Reize; auf den Geruch und die Lockungen, die er barg. Ihre gelben Augen mit den zu Punkten geschrumpften Pupillen wandten sich Thamai zu. Es lag keine Hast in dieser Bewegung. Auch keine Drohung. Aber ich spürte dennoch, daß es damit noch nicht abgetan war. Ich war sehr dankbar, daß meine Pantherinstinkte noch nicht so weit überwogen, daß die Triebe mich meine menschliche Natur vergessen ließen. So sehr das Blut in dem schwarzen Leib der gefleckten Schwester entgegenwallte, so sehr ich eine seltsame Freiheit zu spüren vermeinte, so sehr spürte ich gleichzeitig den Zwang. Ich mußte dagegen ankämpfen. Thamai war meine Liebe. Ich mochte die Gestalt dieses schwarzen Panthers besitzen, aber ich war immer noch Ubali. Ich beherrschte diesen Körper, die Muskeln, die Kräfte und Instinkte. Aber das Weibchen vor mir wurde frei von dem getrieben, was meinem Verstand zusetzte, was ihn in diesem Augenblick Mühe zu überwinden kostete. Die Instinkte des Raubtiers. Für sie war Thamai eine Beute. Ich glaubte in ihrem Blick fast so etwas wie Erstaunen zu sehen – wohl darüber, daß ich die Beute noch nicht gerissen hatte. Und ich wußte, daß sie sie reißen würde, wenn ich nur ein Auge von ihr ließ. Thamai war in Gefahr. Und ich nicht minder. Die Anwesenheit des Weibchens machte es mir zunehmend schwerer, mich auf mich zu besinnen, denn die Wünsche in meinem Blut wurden wilder. Aber nichts geschah. Der wunderschöne gefleckte Kopf wandte sich ab, und der Körper verschwand mit einer geschmeidigen Bewegung im hohen Gras. Wie unter einem Bann starrte ich auf die leere Stelle, auf die Halme, die im Wind schaukelten. Thamais Hand ließ mich in die Wirklichkeit zurückfinden. Noch immer war mir ihre Berührung merklich unangenehm, aber ich schüttelte sie nicht ab.
»Sie war echt, Ubali«, flüsterte Thamai. Ich wollte nicken, aber der Pantherleib war es nicht gewohnt zu nicken. Vielleicht konnte er es auch gar nicht. Statt dessen wurde ein Schütteln des Kopfes daraus. Ein wenig furchtsam ließ mich Thamai los. Sie spürte offenbar, daß mich die Anwesenheit dieser Artgenossin verändert hatte. Mich selbst peinigten in diesem Augenblick zwei Dinge – ein sehnsüchtiges Gefühl, nicht aus dem Herzen, sondern aus dem Körper, das mich drängte, hinterherzulaufen; und gleichzeitig die Angst, daß die tierischen Triebe mich ganz beherrschen könnten. Thamai hatte recht. Es gab keinen Zweifel, das Tier war echt gewesen. Vitus Mal, der kennzeichnende weiße Fleck im Fell, der die Verwandelten von den Tieren unterschied, war nicht zu sehen gewesen. Schließlich setzten wir unseren Weg fort, und eine Ungewisse Angst ließ mich nicht mehr los. Nicht vor dem Weibchen, das da draußen irgendwo auf den rechten Augenblick wartete. Sondern vor mir. Vor den Veränderungen, die ich noch so wenig verstand. Am Nachmittag bemerkten wir eine der Wanderwolken am Himmel. Die Hoffnung, es könnte vielleicht Waramau sein, zerschlug sich, je näher die Wolke kam. Sie war sehr viel größer als Waramau. Allein daß sie gegen den Wind kreuzte, sagte mir, daß es sich um keine gewöhnliche Wolke handelte. Ich versuchte trotzdem, zu rufen, in der Hoffnung, daß sie mich hörte und verstand, aber das Gebrüll erschreckte nur Thamai. Enttäuscht starrte ich in den Himmel, obwohl das grelle Licht mich halb blind machte. Dann erkannte ich, daß die Wolke jemanden trug. Auch Thamai hatte die einsame Gestalt auf der gewaltigen Wolke erblickt. Zwar hatten sie und ihr Volk bereits von mir und den beiden einstigen Luftpiraten, Masco und Vallie, davon vernommen, daß es Wolken gab, auf denen man reiten konnte.
Dennoch starrte sie atemlos in den Himmel, als sähe sie etwas ganz Unglaubliches. Die Gestalt beugte sich weit über den Rand der Wolke. Sie schien uns entdeckt zu haben. Ihre Umrisse kamen mir mit einemmal sehr bekannt vor. Es war Dragon, der dort oben flog – ich war ihm so nah, und es gab nichts, womit ich mich bemerkbar hätte machen können. Die Chancen, daß er sich für ein so ungewöhnliches Gespann wie ein Mädchen und einen Panther interessierte, waren gut. Einen Augenblick dachte ich, daß er herabkommen würde, aber es war nur der Wind, der die Wolke schwanken ließ. Nein, er hatte nicht die Absicht, uns aus der Nähe zu betrachten. Die Enttäuschung war schmerzlich. Was auch immer sein Ziel war, er schien es eilig zu haben. Gleichzeitig war ich den Göttern auch ein wenig dankbar, daß es zu keinem Treffen von Angesicht zu Angesicht kam. Selbst wenn Thamai ihm erklärt hätte, wer ich war, so hätte ich mich meinem König doch nicht verständlich machen können. Solcherart wäre ich ihm nicht von Nutzen gewesen. Es gab für mich nur ein Ziel: Ich mußte meinen Körper wieder zurückgewinnen. Ich mußte wieder Ubali sein – nicht nur innerlich. Wir setzten unseren Weg fort. Mehrmals blickten wir uns um, bis die Wolke am Horizont verschwunden war. Erst dann kam wieder Ruhe über mich. Ob ich den König oder meine Welt je wieder sah, war jetzt nicht von Bedeutung. Ich mußte Geduld haben. Ganz abgesehen davon, daß ich augenblicklich gar nicht in der Lage war, zu fluchen oder zu schwören. * Während des ganzen weiteren Weges bis zum Abend beschäftigte mich die Begegnung. Das lenkte mich stark von den unmittelbaren Dingen ab, von den Gefahren und von meiner Pantherfreundin. So kam es, daß Thamai diesmal unser Abendessen erlegte. Zweimal entdeckte sie auch, daß uns der gefleckte Körper folgte. Ein Gutes
hatte die Sache aber: die Ablenkung schwächte auch das Tierhafte in mir, und ich wurde wieder mehr ich selbst. Thamai entging meine äußere Teilnahmslosigkeit nicht. Sie deutete sie als Trauer über mein Los und versuchte, mich zu trösten. Sie hatte ihren festen Glauben an Vitu. Wir lagerten auf einem felsigen Hügelkamm, auf zwei Seiten von Felswänden geschützt. Das schien mir im Hinblick auf unseren fleckigen Verfolger ratsam. Im Augenblick sah ich in dem Weibchen nur ein Raubtier, das aus mehreren Gründen hinter uns her war, aber das mochte sich ändern. Ich begann wieder wachsamer zu werden und auf der Hut zu sein. Wir aßen schweigend, ich etwas abseits vom Feuer. So sehr mir die Wärme behagte, die es ausstrahlte, so sehr haßte ich den Glanz, der in der Nacht blind machte. Aber das war eine Empfindung des Panthers, nicht meine. Es fiel mir schon auf, daß ich nicht immer mich, Ubali, meinte, wenn ich an mich dachte. Die Empfindungen verflossen immer mehr. Ich war von dem Körper nicht zu trennen. Manchmal verglich ich mich mit einem Reiter, der auf einem Pferd saß – nur daß ich zudem auch das Pferd war und es von innen her lenkte. * Im Morgengrauen erwachte ich durch wimmernde Laute. Die Luft war still – ungewöhnlich still. Ich dachte sofort, daß unsere gefleckte Verfolgerin nicht weit sein könne, aber ich vermochte ihren Geruch nicht zu entdecken. Die wimmernden Laute kamen von Thamai, die sich unruhig auf ihrem Lager hin und her wälzte. Plötzlich stieß sie kurze Schreie aus und krümmte sich. Sie hatte die Augen geschlossen. Offenbar träumte sie. Und, bei den Göttern, es mußte ein recht lebhafter Traum sein. Ich schubste sie mit meiner Nase vorsichtig am Hals. Aber das half nicht viel. Plötzlich setzte sie sich mit einem Ruck auf. Sie hatte die Augen
offen. Im gleichen Augenblick fuhr ich mit einem grollenden Laut herum. Ich hatte die Witterung. Keine zehn Schritt hob sich der Körper des Tieres gegen den helleren Himmel ab. Ich duckte mich zum Sprung. »Nein« flüsterte Thamai und legte ihre Hand beruhigend auf meinen Nacken. »Nein, Ubali. Wir … haben uns geirrt. Sie ist kein Tier. Sie ist eine Verwandelte. Ich bin ganz sicher. Der Traum hat es mir gesagt …« Nur widerwillig beruhigte ich mich. Etwas stimmte nicht. Es war nicht auszuschließen, daß Thamai in dem Traum etwas gesehen hatte, aber warum trug die Verwandelte nicht wie ich Vitus Zeichen, den weißen Fleck an Kopf und Nacken? Das hatte alle Verwandelten gekennzeichnet, die ich bisher gesehen hatte; alle vom Volk der Thaimoa, schränkte ich ein. Vielleicht war es von Volk zu Volk verschieden. Nicht ganz überzeugend, aber immerhin möglich. »Ich bin ganz sicher, Ubali«, wiederholte Thamai, als spürte sie die Spannung in mir. Dann winkte sie dem Tier zu. »Komm her. Hab keine Angst.« Das erschien mir sehr unvorsichtig, denn es war Nacht, und die Nacht verbarg vieles, was das Licht des Tages enthüllte, selbst wenn Katzen gute Nachtjäger sind. Das Weibchen bewegte sich – vorsichtig. Es kam ein paar Schritte näher, und in mir spannte sich erneut alles zum Sprung. Thamai zitterte ein wenig. Wieder wallte das Verlangen in meinem Körper hoch. Es drohte alles andere auszulöschen. Ich wehrte mich dagegen, und erneut erfüllte mich Furcht darüber, daß mein Geist so wenig Gewalt über die Triebe hatte. Die Paarungszeit schien kurz bevorzustehen. »Komm«, wiederholte Thamai, ohne zu ahnen, was sie damit heraufbeschwor. Plötzlich aber wandte sich das Weibchen ab und verschwand in der Dunkelheit. »Sie hat Angst«, flüsterte Thamai. »Sie hat große Angst.«
Ich war nicht ihrer Meinung, aber ich konnte mich nicht verständlich machen. Das Weibchen kam nicht mehr, aber wir taten dennoch kein Auge zu. Noch in der Dämmerung machten wir uns auf den Weg. Mehrmals nahm ich seine Witterung auf. Es blieb in unserer Nähe. Ich hatte das Gefühl, daß es uns wissen lassen wollte, daß es hier war. Vielleicht ein menschlicher Zug, vielleicht auch nicht. Ich war jedenfalls wenig erfreut darüber. Die Witterung versetzte mich jedesmal in Aufregung. Wenn sie eine Verwandelte war, dann litt sie wohl unter ähnlichen Empfindungen. Vielleicht war sie deshalb Thamais Aufforderung nicht gefolgt. Und angenommen, sie war wirklich eine Verwandelte und hatte vor etwas Angst. Welche Hilfe mochte sie sich von zwei einsamen Wanderern erhoffen, die zudem hier fremd waren? Thamai schien überzeugt, aus Gründen, die ich nicht ganz verstand, und die sie mir auch nicht erklären konnte oder wollte. So blieb ich mißtrauisch. * Den ganzen Morgen folgte uns das Pantherweibchen in sicherer Entfernung. Der Wind blies in östlicher Richtung, dadurch vermochte ich sie nicht zu wittern. Daß ich sie nur mit den Augen wahrnahm, beeindruckte meinen Pantherkörper nicht. Ich hatte mich die ganze Zeit über in der Gewalt und war sehr froh darüber. Dennoch erfüllte mich unsere ausdauernde Freundin mit Unbehagen. Thamai hatte bald Hunger, und auch ich hatte nichts gegen einen saftigen Happen einzuwenden, deshalb begannen wir uns am Mittag nach einem Lagerplatz umzusehen. Die heiße Mittagszeit ist eindeutig nicht die regsamste Zeit für eine Raubkatze. Ich fühlte mich eher schläfrig. Thamai machte Feuer und aß einen Teil der halbgaren Vorräte. Ich kaute lustlos daran herum. Es war weder für Ubali noch für den
Panther eine befriedigende Mahlzeit. Aber ich aß, weil es vielleicht schwierig sein würde, am Abend zu jagen. Ich wollte Thamai nicht aus den Augen lassen, solange das Weibchen in der Nähe war. Es würde früher oder später auch auf Jagd gehen müssen, und wenn es nach mir ging, würde Thamai nicht seine Beute werden. Während unserer Mittagsrast beobachtete uns das Weibchen unverwandt. Als wir weiterzogen, folgte es uns wieder. Das ging so den ganzen Nachmittag. Das Gelände wurde ebener, das Savannengras saftiger und höher. Büsche waren nun häufiger, und gelegentlich gab es sogar Bäume mit breiten flachen Kronen. Am Horizont waren ferne Hügel, auf die wir zuhielten. Der Wind schlug um und blies bald mit jener Stetigkeit nach Westen, die ich schon in den ersten Tagen in dieser Welt auf dem Rücken Waramaus kennengelernt hatte. Er brachte auch Witterung unserer Verfolgerin, aber nur kurz, denn gleich darauf überholte sie uns und blieb fortan vor uns. Als der Abend dämmerte, begann mir der Magen zu knurren; daran änderte auch die Mittagsmahlzeit nichts. Die Vorräte waren zwar nicht unverderblich, aber sie würden für Thamai noch zwei Tage reichen, wenn ich nicht mitaß, wozu ich ohnehin keine große Lust verspürte. Thamai deutete meine Unruhe richtig. Sie wußte, daß es an der Zeit war, zu jagen. Sie wußte auch, daß ihre Pfeile zwar für das Weibchen tödlich sein mochten, aber nicht rasch genug töteten. Und mit meinem Schwert vermochte sie nicht sehr gut umzugehen. Ich hatte gesehen, wie Raubkatzen einen Menschen mit einem einzigen Prankenhieb töteten oder so verletzten, daß sie hilflos waren. Das waren bärenstarke Krieger meines Volkes gewesen. Thamai aber war ein graziles Mädchen. Dennoch schien sie keine Angst zu haben. Irgend etwas überzeugte sie, daß von der Bestie keine Gefahr drohte. »Wir werden jagen, Ubali«, sagte sie bestimmt. »Du brauchst keine Angst um mich zu haben. Du wirst sehen. Diese Verwandelte ist vielleicht nicht unser Freund, aber sie braucht uns. Sie trägt nicht
Vitus Zeichen, aber bestimmt kam der Traum von der Göttin, und ihr oberstes Gesetz ist, alles Leben zu achten. Komm, laß uns jagen.« Ich knurrte zustimmend und beschloß, sie trotz allem nicht aus den Augen zu lassen. Vitu hatte sicherlich viele Wege, die Menschen zu leiten, die an sie glaubten, aber ihre Wege schienen mir nicht gerade die einer allmächtigen Gottheit. Wenn je der Spruch: »Hilf dir selbst, wenn du willst, daß dir die Götter helfen« zutraf, dann auf Vitu. Gewiß, sie vermochte mit Hilfe des Wassers Wunden zu heilen und neues Leben zu geben, wenn auch in Gestalt eines Tieres. Aber statt die Thaimoa mit mächtigen Mitteln vor den Piraten zu schützen, hatte sie mich zu ihrem Werkzeug gemacht. Ich war ihr ein williges und gutes Werkzeug gewesen. Aber ich hätte versagen können. Was dann? Ich erinnerte mich nur zu gut an den Kampf – und wie knapp der Sieg errungen worden war. Ich zweifelte nicht, daß Vitu ihre Hand über ihre Priesterin hielt und wohl auch über mich. Aber das bedeutete nicht, daß nicht etwas schiefgehen konnte. Dann war da noch ein Gedanke, der mich gelegentlich befiel: daß Vitu noch einen Dienst von mir erwartete; daß ich mir sozusagen meine menschliche Gestalt verdienen sollte. Offenbar besaßen wir Menschen von der Erde ein paar Eigenschaften, die uns für diese Welt und ihre Bewohner – und sogar für ihre Götter – recht wertvoll machte. Wenigstens war das der Schluß, den ich nach allem Erlebten zog. Wie sollte es sonst sein, daß gerade ich das Innere Reich der Lebensgöttin suchen mußte, um meine Gestalt wiederzugewinnen, wenn ein Sprung in den Lebensteich genügt hätte? Oder stellte ich mir das alles zu einfach vor? Thamai unterbrach meine grübelnden Gedanken. Sie deutete nach Nordwesten auf eine kleine Herde antilopenartiger Tiere, die ruhig grasten. Der Wind stand günstig. Sie würden uns erst wittern, wenn wir schon nah genug waren, daß Thamais Blasrohrpfeile tödlich sein würden. Diesmal war ich nicht gewillt, hinter der Beute herzujagen. Es hätte bedeutet, Thamai alleinzulassen – wenn auch nur für wenige Augenblicke.
Während wir uns heranpirschten, bemerkten wir die Gefleckte vor uns. Auch unsere Freundin war hungrig. Und sie würde rascher an der Beute sein als wir. Ich fluchte innerlich und konnte einen knurrenden Laut nicht unterdrücken. In diesem Augenblick erwachte die Herde aus ihrer beschaulichen Ruhe. Die Köpfe reckten sich hoch. Die Tiere witterten uns, denn im nächsten Augenblick fegten sie durch das kniehohe Präriegras, und es wäre mühselig gewesen, ihnen jetzt zu folgen. Obwohl das Jagdfieber mich ergriff, und mein knurrender Magen mich hinterherhetzen wollte, hielt ich mich im Zaum. Thamai deutete plötzlich aufgeregt auf die fliehende Herde. Ein langgestreckter Körper schnellte plötzlich zwischen die dahin jagenden Tiere und riß eines zu Boden, während die Herde die Richtung änderte und hinter einer Bodenwelle verschwand. Mit einem Schulterzucken schlang Thamai das Rohr wieder um den Rücken. »Sie hatte mehr Glück«, stellte sie fest. Vielleicht hängen wir sie ab, dachte ich, und schlug ein rascheres Tempo ein. Sie würde eine Weile mit ihrer Beute beschäftigt sein. »Du möchtest, daß sie unsere Spur verliert, nicht wahr, Ubali?« keuchte Thamai nach einer Weile. Ich gab einen grollenden Ton von mir, den sie als Zustimmung zu deuten wußte. »Es ist nicht richtig, mein Liebster.« Ich hielt an. »Ich möchte nicht, daß wir weglaufen«, sagte sie bittend und beugte sich zu mir und legte die Arme um meinen Hals. »Du möchtest mir soviel sagen und kannst es nicht«, sagte sie traurig. »Auch sie will uns etwas mitteilen und kann es nicht. Warum können wir nicht versuchen, sie zu verstehen?« Ich schüttelte unwillig den Kopf und fuhr plötzlich fauchend herum. Das Weibchen stand hinter uns. Es hatte die blutige Beute im Rachen und starrte uns unverwandt an. Auch Thamai war erschrocken über dieses unvermutete
Auftauchen, aber sie hatte sich rasch in der Gewalt. »Still«, warnte sie und strich mir flüchtig über den Kopf. Das Weibchen ließ die tote Gazelle ins Gras gleiten und zog sich mit einem versöhnlich klingenden Grollen ein paar Schritte zurück. »Sie will es uns anbieten«, flüsterte Thamai überrascht. Das ist nur eine Falle! schrien meine Gedanken, während Thamai auf die Beute zuzuschreiten begann. Aber das Weibchen legte sich ins Gras und beobachtete sie nur zufrieden. Ich ließ die beiden nicht aus den Augen. Verwundert sah ich zu, wie Thamai die Gazelle erreichte. Sie sagte etwas zu der Gefleckten, das ich nicht genau hören konnte, aber ich hatte das Gefühl, daß sie sich bedankte. Das Weibchen grollte noch einmal kurz und sah dann ruhig zu, wie das Mädchen sich an der Beute zu schaffen machte. Es war offensichtlich, daß sie nicht angreifen wollte. Ich entspannte mich ein wenig. Thamai schien recht zu haben. Es war eine Verwandelte. Kein Raubtier würde sich solcherart von seiner Beute trennen – wenigstens nicht, bevor es satt war. Thamai winkte mir zu. »Komm, Ubali. Wir werden hier lagern. Wir sind alle hungrig.« Zögernd kam ich näher. Die Raubkatze rührte sich nicht, auch nicht, als ich mich an dem Fleisch zu schaffen machte, das aufregend frisch roch. Thamai hatte einige Stücke für sich herausgeschnitten und das Tier geteilt. Einen Teil brachte sie dem wartenden Weibchen, das sich sofort darüber hermachte. Wir lagerten eine Weile friedlich, während Thamai ihr Fleisch briet und abwechselnd zu uns sprach. Ich hegte bald keinen Zweifel mehr, daß wir tatsächlich eine Verwandelte vor uns hatten. Sie benahm sich ebenso merkwürdig in ihrem Raubtierkörper wie ich, und sie bewies mehrmals deutlich genug, daß sie verstand, was Thamai sagte. Als Thamai sie fragte, woher sie käme, wandte sie den Kopf nach Süden, begleitet von einem grollenden Ton – dem gleichen, den ich von mir gab, wenn ich Thamai zustimmte. Seltsamerweise blieb ich völlig ruhig. Der Panther sah nicht mehr das Weibchen. Die Triebe schlummerten, als hätte mich die
Erkenntnis, daß diese fleckige Katze auch nur ein verwandelter Mensch war, das Tier in mir zum Schweigen gebracht. Das Gefühl, das überwog, war Neugier. Der Lagerplatz eignete sich nicht für die Nacht. Außerdem war noch ein gutes Stück bis zum Einbruch der Dunkelheit. Deshalb drängte ich Thamai zum Aufbruch. Sie begriff, was ich wollte. Aber auch unsere unbekannte Freundin war sofort zum Aufbruch bereit. Es sah ganz so aus, als ob wir uns für die Mahlzeit eine ständige Begleiterin eingehandelt hätten. Sie sprang auf und lief ein paar Schritte in südlicher Richtung. Dann hielt sie an und blickte zu uns zurück. Mit einem knurrenden Laut lief sie erneut einige Schritte und hielt wieder an. »Sie will, das wir ihr folgen«, meinte Thamai. Das Gefühl hatte ich auch. Thamai ging ein Stück hinterher und hielt an, als sie sah, daß ich noch unschlüssig stand. »Tun wir es nicht?« fragte sie. »Es erscheint mir wie ein Wink Vitus.« Ich grollte zustimmend. Warum auch nicht? Es war gleich, wohin wir zogen, und jeder Wink mochte uns nützlich sein. Zudem waren wir unserer neuen Gefährtin etwas schuldig. Ich war sicher, daß Thamai es so sah. * Wir folgen der Gefleckten, bis wir lange nach Anbruch der Dunkelheit den Wald erreichten. Thamai war müde, und ich nahm sie auf den Rücken. Ich scheute davor zurück, den Dschungel nachts zu betreten. Die erschöpfte Thamai schien mir auf der offenen Savanne sicherer, als da drin, wo hinter jedem Busch, an jedem Ast tödliche Gefahren lauern mochten. Aber die Verwandelte ließ uns nicht lagern. Sie schubste Thamai voran und begegnete meinen Drohungen mit solch wildem Gebaren, daß ich nachgab – nicht aus Angst vor ihr, sondern weil
ich dachte, daß vielleicht ein wichtiger Grund vorhanden war, daß wir nicht hierblieben. Es mochte Gefahren geben, von denen wir nichts wußten. Unsere Führerin war mir seit Anbruch der Nacht sehr unruhig vorgekommen. Andererseits machte sie den Eindruck, als ob sie das Gebiet genau kenne und ein bestimmtes Ziel vor Augen habe. Der Dschungel war von vielerlei nächtlichem Leben erfüllt, und das beruhigte mich ein wenig. Es hätte auch eine dieser von fleischvertilgenden Pflanzen beherrschten Waldungen sein können, wie ich sie auf dieser Welt schon einmal erlebt hatte. Damals war ich auf bestem Wege gewesen, zu einer Pflanze zu werden. Die Erinnerung ließ mich schaudern. Der Weg durch das Dickicht war mühsam. Bald begann der Weg auch noch anzusteigen. Dann wurde das Dickicht dürftiger. Man sah den Himmel zwischen den Baumkronen. Wir bewegten uns in felsigem Gelände weiter aufwärts. Keuchend erreichten wir einen Felsenvorsprung, der wie der Bug eines Schiffes aus dem bewaldeten Hang hinausragte. Der Himmel über uns war klar. Der Wind strich angenehm kühlend über uns. Die drückende Luft des Dschungels was fortgeweht. Vor uns fiel das Gelände in ein schwarzes Meer von Baumwipfeln ab, in dem in der Finsternis nichts mehr zu unterscheiden war. Aber etwas weiter voraus, tief unten im Grund des Tales flackerten mehrere Lichter. Es konnten keine offenen Feuer sein, dazu brannten sie zu ruhig. »Ein Dorf. Es muß ein Dorf sein«, meinte Thamai. Ja, das war möglich. Es war zu erwarten, daß es Menschen hier gab, wenn es Verwandelte gab. Zu ihnen wollte sie uns also führen. Im Augenblick allerdings machte unsere Führerin keinerlei Anstalten zum Abstieg. Statt dessen zeigte sie uns eine Höhle, die in den Fels führte. Bis auf einige Vögel, die kreischend das Weite suchten, hatte sie keine Bewohner und erwies sich als ausgezeichneter Lagerplatz für die Nacht. Diesmal hätte ich mich
ernsthaft geweigert, weiterzulaufen. Es war gar nicht notwendig. Die Verwandelte hatte sich bereits in einer Ecke der Höhle niedergelassen und beobachtete uns zufrieden, während wir uns ebenfalls einen bequemen Schlafplatz suchten. Thamai sank müde gegen mich und schlief augenblicklich ein. Ich lag noch eine Weile wach – ein angeborenes Mißtrauen. Als die Verwandelte schlief, sank ich ebenfalls in Schlummer. Fast augenblicklich begannen die Träume.
2. Ein Gesicht tauchte aus der Dunkelheit empor. Noch bevor ich es genau erkennen konnte, spürte ich Angst. Es war nicht meine Angst. Irgend jemandes Angst. Ich hatte gleichzeitig das Gefühl, daß es nicht mein Traum war, sondern daß ich an einem fremden Traum teilhatte. Das Gesicht war dunkelhäutig, schmal, mit stechenden Augen und mit einem Kinn, das Kraft des Willens und der Gefühle verriet. Es löste Haß in mir aus, und ich wußte nicht, ob es mein Haß war oder der des anderen, denn das Gesicht und sein unerbittlicher Ausdruck waren auch mir zutiefst zuwider. Dann verschwand das Gesicht und wurde zu einem ganzen Mann. Er stand in einem Gewölbe. Dunkle Mauern aus Stein umgaben einen altarartigen Aufbau und einen Thron, vor dem er stand. Er trug eine Krone aus bunten Federn auf dem Kopf, die seine ohnehin große Gestalt noch höher erscheinen ließ. Ein langer, schimmernder Mantel hing um seine Schultern und reichte bis zum Boden. Er hielt die Arme ausgestreckt – beschwörend. In seinen kalten Augen war Triumph. Dann sah ich, was er mit seinem Blick sehen mußte, und mir stockte der Atem. Ein Mädchen kauerte auf Händen und Knien am Boden. Zwei fast nackte Männer hielten sie an Ketten zwischen sich. Sie waren an einem schweren eisernen Ring um ihren Hals befestigt. Ihr nackter Körper war mit Striemen übersät, als wäre sie ausgepeitscht worden. Ein Blick stumpfer Ergebenheit war in ihren Augen. Ihr bedauernswerter Zustand täuschte aber nicht darüber hinweg, daß sie sehr schön war und daß noch nicht alles in ihr zerbrochen war – trotz der Qualen und Erniedrigungen. Auch die Gestalt im schimmernden Mantel, ein Priester, wenn ich das Bild richtig verstand, hatte es erkannt. Wie Klauen krümmten sich seine Finger und griffen nach etwas.
Ich hörte keinen Laut, aber ich sah, wie seine Lippen Worte formten, wie sein Gesicht sich zu einer beschwörenden Fratze verzerrte, in der alle Dämonie seines grausamen Herzens offenbar wurde. Im nächsten Augenblick fuhren seine Hände auf das Mädchen zu, und ein Strahl silberner Flüssigkeit zuckte auf ihren knienden Körper hinab und übergoß ihn. Ihr Lippen öffneten sich zum Schrei, und es war mir, als spürte ich die Qual selbst. Gleich darauf krümmte sie sich, und während sie es tat, verformte sich ihr Körper, wurde gelblich, fleckig … Wurde zu einem Tier, als wäre Vitus Hand im Spiel; als käme sie aus dem Lebensteich. Eine Raubkatze hing an der Kette und gebärdete sich in ungestümer Wildheit, als wäre der schwelende Funke des Widerstands in dem Mädchen in diesem neuen Körper zur offenen Flamme geworden. Ein Dutzend Männer eilten herbei und zerrten das Tier zum Altar, wo sie es anketteten. Der Traum verblaßte. Aber was mich bis tief in den Schlaf verfolgte, war das höhnische Gesicht des Priesters. Ich würde es nie wieder vergessen. Noch einmal kamen Bilder in meinen Schlaf. Wieder ein Gesicht, eines, in dem Furcht und Schmerz standen und ein stummes Flehen zu den Göttern. Es war das eines jungen Mannes von ebenso dunkler Hautfarbe. Über all diesen Gefühlen aber war Entschlossenheit. Sie zeigte sich auch in der geballten Faust, deren Finger sich um den Griff eines gekrümmten Dolches schlossen, so fest, daß eine lange Narbe quer über den Handrücken weißlich schimmerte. Aber es lag keine Absicht zu töten in seinen Augen, nur die Enschlossenheit, zu kämpfen. Er stand im Innern des Tempels – allein. Gequält starrte er auf das angekettete Tier, das ihm entgegenzulaufen versuchte. Er sah sich um, dann lief er zum Altar, ließ sich neben der Katze zu Boden, umarmte sie halb unter Tränen, während sich das Tier an ihn schmiegte. Hastig begann er, mit dem Dolch am Verschluß des eisernen Halsringes zu arbeiten. Immer wieder warf er wachsame
Blicke zum Tempeleingang, in dessen Licht die Gestalten zweier Wachen zu erkennen waren. Plötzlich hielt er den Ring in Händen. Der Traum war lautlos, aber das Eisen der Ketten mußte geklirrt haben, denn die Wachen liefen in den Tempelraum. Der junge Mann warf den Dolch, und eine der Wachen fiel, während die zweite in dem Dämmerlicht zu spät erkannte, daß die Raubkatze frei war. Er ging unter ihr zu Boden, bevor er seinen Speer einsetzen konnte. Es folgten flüchtige Eindrücke, zu rasch, um sie zu erfassen. Dann der Dschungel, und schließlich ein Gefühl solch bitteren Schmerzes, daß ich davon aufwachte. Thamai saß starr aufgerichtet neben mir, die Augen weit geöffnet. Ihr Körper zuckte. Erschrocken kam ich auf die Beine. Mit einem erstickten Laut schlang sie die Arme um mich. »Mein Liebster … ich hatte einen Traum, einen schrecklichen Traum. Die Verwandelte … sie ist in der Gewalt eines Teufels …« Schluchzend und stockend begann sie mir den Traum zu erzählen, den ich eben selbst gehabt hatte. Da ahnte ich, daß es nicht nur ein Traum war, sondern eine Botschaft. Der Priester erinnerte mich an Ukandar. Auch er schien einen Weg gefunden zu haben, Vitus Kräfte für sich zu mißbrauchen. In diesem Augenblick glaubte ich zu erkennen, wozu mich Vitu ausersehen hatte – die Menschen dieser Welt zu befreien von Scharlatanen, die in seinem Namen Unrecht taten. Ein gerechtes Ziel. Und der Zorn, den ich für diesen Priester fühlte, war nicht minder gerecht. Fast gleichzeitig starrten wir in die dunkle Ecke, in der die Verwandelte sich schlafen gelegt hatte, und gleich darauf wich unser Mitgefühl und machte großem Erstaunen Platz. Die Ecke war leer. Sie hatte uns verlassen. Wir hasteten zum Höhleneingang. Die Dämmerung kroch bereits über den östlichen Himmel und hüllte die bewaldeten Anhöhen in Grau, während das Tal noch in tiefer Finsternis lag. Auch die Lichter im Dorf brannten nicht mehr.
Nichts regte sich. Es gab keinen Zweifel, unsere Führerin hatte uns verlassen. Es blieb nichts zu tun, als bis zum Morgen zu warten und dann einen Weg hinab in das Dorf zu suchen. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Zu sehr grübelten wir über den seltsamen Traum nach. Zu stark waren manche der Bilder in unseren Gedanken. Thamai saß fröstelnd, aber mit geballten Fäusten gegen mich gelehnt. Schließlich sagte sie: »Wenn wir in das Dorf hinabgehen und diesen Tempel finden, und den Priester – was können wir dann tun?« Das war die Frage, die mich auch am meisten beschäftigte.
3. Anfangs war der Weg mühsam durch immer dichter werdenden Wald, aber bald stießen wir auf Pfade. Sie waren nicht die einzigen Zeichen menschlicher Bewohner. Wir kamen an einem Totenbaum vorbei, in dessen weiten Ästen in Häute eingenähte Tote hingen. Auch in meiner Heimat gab es Stämme, die einen ähnlichen Brauch hatten, darum war ich nicht so entsetzt darüber wie Thamai. Für sie mußte es wahrhaftig etwas Unglaubliches sein. Sie sah hier die deutlichen Zeichen des Todes. Diese sichtbare Endgültigkeit mußte sie tief erschrecken, denn in ihrem Volk hatte es den endgültigen Tod nie gegeben. Den Tod ja, aber danach Wiedergeburt in Gestalt eines Tieres, oder wie in ihrem Fall, da sie eine Vitu-peri, eine vom Lebensgeist Begünstigte war, unverändert als Mensch. Ukandars Tod und der Tod der Piraten waren etwas Gewaltsames gewesen, und etwas, das auf Vitus Geheiß geschehen war. Aber hier stand sie zum erstenmal vor der Selbstverständlichkeit des Todes – vor einem Friedhof. Die Pfade wurden bald breiter, so daß wir bequem vorwärtskamen. Dann öffnete sich überraschend eine weite Lichtung vor uns, und wir sahen die Mauer. Sie war gewaltig – aus großen Blöcken gefügt, die man von den Hügeln herabgeschafft haben mußte. Sie hatte gut die Höhe von drei oder vier Männern. Der Pfad mündete auf die Lichtung und führte deutlich ausgetreten auf ein kleines Tor in der Mauer zu. Während wir auf das Tor zuschritten, hoffte ich, daß die Bewohner dieses wehrhaften Dorfes nicht so abweisend wie die Mauern waren. Thamai schien ihre Zweifel zu haben. »Ob sie uns einlassen, Ubali?« fragte sie. Mich beschäftigte bereits die nächste Frage, nämlich, ob sie uns auch wieder herauslassen würden? Irgendwie hatte ich das Gefühl, in einen Käfig zu gehen. Aber vorerst rührte sich nichts. Wir erreichten das Tor
unangefochten, und Thamai schlug den großen, eisernen Ring, der wie eine Schlange geschmiedet war, gegen das harte Holz. Es gab einen dumpfen Ton, und gleich darauf erschien eine Gestalt oben auf der Mauer, gegen den hellen Himmel nur schlecht wahrzunehmen. Nicht zu übersehen war allerdings der große Bogen, der schußbereit in den Händen des Mannes ruhte. »Wer seid ihr? Was wollt ihr?« Es klang nicht gar so unfreundlich. Es schien ihn zu beeindrucken, daß das Mädchen einen Panther bei sich führte. »Ist der schwarze Teufel gefährlich?« »Nein«, erwiderte Thamai ruhig, dabei fiel mir auf, daß die Sprache des anderen ein wenig kehliger klang, aber sie kaum von der unterschied, wie ich sie bisher zu hören bekommen hatte. »Er ist zahm.« Sie streichelte mich, um es ihm zu beweisen. Während ich hochstarrte, fiel ihm offenbar Vitus Mal an meinen Kopf auf, und das beeindruckte ihn noch mehr. Fast eifrig sagte er: »Wartet. Ich werde euch öffnen. Ihr müßt müde und hungrig sein.« »Ja, wir kommen von weit her«, erwiderte Thamai. Gleich darauf erklangen Schritte hinter dem Tor. Ketten rasselten. Ein Riegel schob sich knirschend zur Seite. Mehrere Stimmen murmelten undeutlich. Dann schwang das Tor nach außen auf, und mehrere Männer starrten uns neugierig, aber wachsam entgegen. Sie trugen alle eine Art Lederwams bis unter die Achseln, das aussah, als bestände es aus einem einzigen Lederstreifen, der um den Oberkörper gewickelt war. Es mochte wohl manchem Schwertstreich standhalten. Um die Mitte kleidete sie ein kurzer Rock aus geschmeidigerer Tierhaut. An den Füßen hatten sie Sandalen. Zwei hielten Lanzen in den Händen, die übrigen vier fast mannhohe Bogen. Alle blicken fasziniert auf mich, daß mir fast die Kopfhaut prickelte. »Wahrhaftig«, sagte einer. »Ein Bote des Lebensgeists. So hat Karuam nicht geträumt, sondern die Wahrheit erblickt …« »Es mag das Ende Barils bedeuten«, entfuhr es einem anderen. »Laßt ihr uns nicht ein?« fragte Thamai.
Da traten sie hastig zur Seite, und wir schritten durch das Tor. Dahinter befand sich kein Dorf, sondern eine Stadt; keine Stadt wie Myra, mit ihren Villen und weitverstreuten Häusern und Palästen, sondern ein dichtgedrängtes Chaos von steinernen Bauten, mit Terrassen, Höfen und kantigen Türmen. Alles war aus Stein, aus fugenlos gefügten Blöcken. Selbst, der Boden war gepflastert, und es mutete mich seltsam an, daß ein Volk, das den Lebensgeist verehrte, in diesem leblosen Steinhaufen hausen sollte. Thamai kam aus dem Staunen nicht heraus. Die äußerliche Primitivität, in der ihr Volk lebte, bot wenig Vergleiche für das hier an. Es war alles neu für sie. »Habt ihr vor, zu bleiben?« fragte einer der Wachen, während das Tor hinter uns wieder geschlossen wurde. »Vielleicht«, erwiderte Thamai und riß sich mühsam von der Betrachtung der Steingebäude los, die jenseits eines breiten, dunklen Gewässers aufzustreben begannen, glatt, und doch in der Höhe von Stiegen, Leitern und zahllosen Fensteröffnungen unterbrochen. »Ich sehe, Teguar gefällt dir«, meinte der Mann lächelnd. »Es gibt nichts im Lande ringsum, das dieser Stadt gleicht.« Er gab seinen Männern ein Zeichen. Vier bezogen wieder Posten an und auf der Mauer. Einer kam mit ihm. Sie führten uns auf eine Brücke zu, die das Gewässer umspannte. Von hier aus konnte ich sehen, daß die Mauer einen unregelmäßigen Bogen machte und wohl die ganze Stadt umspannte. Der Dschungel außerhalb wirkte fern. Es war, als befänden wir uns in einer anderen Welt. Auf der Brücke wandte sich der Anführer plötzlich an Thamai. »Ihr habt mir noch nicht gesagt, was ihr hier sucht?« »Es ist Vitus Wille, daß wir hier sind«, antwortete Thamai kryptisch. »Vitu?« fragte der Mann. »Ihr nennt ihn den Lebensgeist«, erwiderte Thamai. Der Anführer warf seinem Begleiter einen vielsagenden Blick zu. »Wir müssen sie zu Karuam bringen, Borgin.« Der andere schüttelte den Kopf. »Das wird Baril nicht gefallen.
Und es mag uns den Kopf kosten, Meris. Barils Priester haben tausend Augen. Sie wissen längst, daß wichtiger Besuch hier ist. Das weiße Zeichen des Lebensgeists auf diesem schwarzen Körper ist selbst auf dem höchsten Turm noch deutlich zu erkennen. Nein, Meris, das können wir nicht wagen. Es wäre nichts gewonnen, nur Karuam hätte ein paar seiner Vertrauten verloren.« Tatsächlich, als ich die steinernen Wände beobachtete, sah ich in vielen der Fensteröffnungen Gesichter. Unsere Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. »Wir dürfen diese Chance nicht verlieren«, erwiderte Meris. »Was es auch kosten mag. Baril mag vielleicht davor zurückscheuen, sich an einem Boten des Lebensgeists zu vergreifen, so wie er nicht Hand an Karuam zu legen wagt, aber er wird mit allen Mitteln verhindern, daß der Priester mit ihnen zusammentrifft. Geh und hol ihn. Dann mag es wie ein zufälliges Treffen auf der Gasse aussehen.« Borgin nickte und eilte auf eine Leiter zu, die gut zwei Mann hoch zur ersten Etage der Stadt führte. Während ich ihm nachstarrte, wie er hochkletterte, sagte Meris: »Wir wollen langsam folgen. Barils Männer werden ebenfalls bereits unterwegs sein …« Wir setzten uns über die Brücke in Bewegung. »Wer ist dieser Baril?« fragte Thamai. »Der oberste Priester der Lebensgeister. Er hat die Macht in der Stadt …« »Lebensgeister?« unterbrach ihn Thamai erstaunt. »Gibt es denn mehrere?« Meris zuckte die Schultern. »Das behauptet er, und er wird nicht müde, es auch zu beweisen.« »Beweisen? Wie?« »Ihr werdet es erleben«, versprach Meris. »Und ich fürchte, er wird auch euch auf eine Art für seine Beweisführung verwenden.« »So werden wir uns weigern«, meinte Thamai fest. »Ich fürchte, das wird euch nicht gelingen«, erklärte Meris betrübt. »Ihr meint«, begann Thamai stockend, »wir sind Gefangene?«
»Niemand verläßt Teguar ohne das Einverständnis des obersten Priesters, oder ohne seinen Befehl. Aber habt keine Furcht. Ihr habt Verbündete …« »Diesen Karuam?« »Ja. Er ist ein Priester des einzig wahren Lebensgeists …« »Wie ich seine Priesterin bin«, unterbrach ihn Thamai fest. »Mag es euch gemeinsam gelingen, Baril in seine Schranken zu weisen. Viele werden eure Freunde sein. Aber es ist nicht gut, es offen zu zeigen. Selbst Gedanken bleiben Baril nicht immer verborgen. Er hat mächtige Verbündete, und er scheut nicht davor zurück, sich ihrer zu bedienen. Leben bedeutet ihm nichts – auch wenn er sich Priester der Lebensgeister nennt. Aber nun kommt. Wir können die Leiter nicht benützen. Eurem schwarzen Begleiter würde es schwerfallen, hochzuklettern. Es ist gut, weil es uns Zeit gewinnt. Ihr nanntet mir noch nicht eure Namen.« »Ich bin Thamai«, erklärte das Mädchen. »Vitus Priesterin, und ich habe viele Leben hinter mir.« »Ihr seid sehr schön«, sagte Meris. »Es muß die Schönheit all dieser Leben sein, die nun in Euch ist.« Thamai errötete. Rasch fuhr sie fort: »Dies ist Ubali, ein Mann aus einer anderen Welt. Wir sind auf dem Weg …« Meris unterbrach sie rasch: »Es gibt viele hier, die wissen, was euch in unsere Stadt führte. Unser Ruf ist gehört worden. Der Lebensgeist schweigt nicht länger zu dem, was in seinem Namen geschieht. Laßt Baril nicht im unklaren darüber, daß ihr die Werkzeuge des Lebensgeists seid – und daß seine Macht hinter euren Worten steht. Sie steht doch hinter euren Worten?« Die Frage klang so ängstlich und bittend, so verzweifelt, daß Thamais Herz wohl einen großen Sprung tat, denn sie sagte mit zitternder Stimme: »Ja, sie steht hinter unseren Worten.« Der Mann nickte, und seine Augen leuchteten. Seine Fäuste waren geballt in einem stummen Triumph. Ich aber fluchte innerlich. Meine geliebte Thamai! Wozu hatte sie sich hinreißen lassen. Zu Hause in ihrem Dorf, oder am Lebensteich,
da mochte Vitu uns nahe sein, da mochten ihre Kräfte fühlbar sein. Aber hier – weitab von allem Vertrauten … Sah sie, oder er (hier schien Vitu eine männliche Gottheit zu sein) uns hier? Wachte er hier über uns? Half er uns, zu seinem Inneren Reich zu gelangen, oder mußten wir uns selbst helfen? Nur eines wußte ich sicher: Priester und Medizinmänner starben wie andere Sterbliche auch, ohne daß die Macht ihrer Götter und Geister ihnen viel genützt hätte. In meiner Welt wenigstens. Und hier, in Danilas Welt? Gewiß, die Götter waren mächtiger und ihre Günstlinge genossen so göttliche Dinge wie Unsterblichkeit. Aber die Geschicke schienen letztendlich doch in der Hand der Sterblichen, der Menschen zu liegen, in ihren Schwertern und ihren Taten. Ich hatte das Gefühl, daß wir hier in ein Hornissennest getreten waren – oder in eine Schlangengrube – und daß Vitu mit uns bangte. Kein gerade beruhigendes Gefühl. Thamai schien zuversichtlicher zu sein. Ich fühlte es daran, wie ruhig ihre Hand auf meinem Nacken ruhte. Oder hielt sie sich nur an mir fest? * Wir schritten die Mauer entlang, und immer mehr Gesichter erschienen in den dunklen Öffnungen. Zu unserer Linken erstreckte sich das dunkle Gewässer wie ein langgezogener Teich. Seine Ufer waren ebenfalls mit Steinen ausgelegt, die steil abfielen. Ein Schwimmer würde keine Möglichkeiten finden, ohne fremde Hilfe aus dem Wasser zu klettern. Er wäre verloren. Mir dämmerte, daß dies wohl kein natürliches Gewässer war, sondern künstlich angelegt, um Angreifer abzuhalten. Immer mehr erschien mir die ganze Stadt wie eine gewaltige Festung, und ich fragte mich, was die Bewohner in dieser Wildnis so sehr fürchteten, daß sie Hindernisse aus Stein und Wasser um ihre Stadt errichteten. Wir hatten während des ganzen Weges hierher nichts bemerkt, das
gefährlich genug war, diesen Aufwand zu rechtfertigen. Andererseits hatten wir keine Ahnung, was sich südlich der Stadt befand. Das Meer sicherlich irgendwo, – aber dazwischen mochten andere Stämme leben, die kriegerisch waren. Die Luftpiraten, dachte ich, hätten hier leichtes Spiel gehabt. Aber sie waren wohl nie so weit in den Süden vorgestoßen. Sie schienen überhaupt dem Dschungel weitgehend gemieden zu haben, bevor der König sie ihrer Wolken beraubte. Wir erreichten schließlich einen breiteren Platz, der einerseits in ein gewaltiges Tor in der äußeren Mauer mündete, aber auch in ein nicht minder großes in der Stadt selbst. Breitere Brücken führten hier über das Wasser. Sie waren aus Holz und konnten offenbar hochgeklappt werden. Sie waren das einzige aus Holz, das ich bisher entdeckt hatte. Die Tore in der Mauer standen offen. Eine breite gepflasterte Straße führte hinaus in den Dschungel. Auf großen Karren wurden Getreide und Früchte in die Stadt geschafft. Überall standen Wachtposten in ihrem charakteristischen Lederwams, mit den langen Bogen. Auch die Stadttore selbst standen offen. Breite Treppen führten hinauf auf eine höhere Etage. Die Karren wurden nicht von Zugtieren gezogen, sondern von Menschen. Mir war auch sofort klar, daß sie in dieser Steinansammlung nicht viele Möglichkeiten hatten, Tiere zu halten. Zugtiere wie Pferde oder Rinder hätten die steilen Treppen niemals erklimmen können. Ein breiter Streifen in der Mitte der Stiegen führte als steile Straße nach oben. Hier wurden die Wagen an langen Stricken nach oben gezogen. Es war ein erstaunlicher Anblick. Sicherlich wäre es einfacher gewesen, die Lasten in kleinen Teilen von den Menschen nach oben tragen zu lassen. Es ging sehr langsam, und ich fragte mich, wie viele oben an den Stricken standen und zogen. Ein wenig verwunderte mich, daß Männer und Frauen, die die Wagen bis an die Stiegen gebracht hatten, nun gemächlich nebenher schritten, und statt mitzuschieben, lediglich darauf achteten, daß die Ladung festsaß.
Dann bemerkte ich, daß auf dem schmalen Pfad daneben ein leerer Wagen von oben herabkam. Mehrere Menschen saßen auf ihm. Sie winkten den Hinauffahrenden zu. Irgendwie wirkte alles mühelos. Ich hatte dergleichen noch nie gesehen. Auch Thamai betrachtete das Schauspiel tief beeindruckt. Sie hatte auch noch nie einen Wagen gesehen. Wir schritten auf die Stiege zu. »Nur noch wenige Tage, dann ist die Zeit der Ernte vorüber«, erklärte unser Führer. »Wärt ihr durch das große Tor gekommen, hätte Karuam vielleicht zu spät von eurer Ankunft erfahren, denn die Wachen sind Baril treu ergeben. Es gibt drei kleinere Tore, aber sie werden nur von den Jägern benutzt. Die Pfade verlieren sich bald im Dschungel. Ihr tatet gut, eines dieser Tore zu wählen. Wahrlich Vitu, wie ihr ihn nennt, ist mit euch. Er hat euch gut durch die unwegsamen Berge geführt.« Thamai gab keine Antwort, und ich begann mich zu fragen, ob die Gefleckte Vitu selbst gewesen war und uns hierhergeführt hatte. Aller Gesichter wandten sich uns zu, als wir die Stiegen hochschritten. Ich hatte keine Zeit, zu beobachten, wie sie es aufnahmen, denn aus einer Tür zu unserer Rechten, die wohl auf eine der Etagen führte, trat uns eine Gruppe von Männern entgegen. Sie erinnerten mich ein wenig an die Weisen der Berge am Ah'raht in ihren weißen, langen Gewändern und der Würde, mit der sie sich gaben. »Karuam« entfuhr es unserem Führer. »Er muß von eurer Ankunft gewußt haben. Er könnte noch nicht hier sein, wenn er die Nachricht von Borgin erhalten hätte. Erschreckt nicht, wenn es barsch klingt, was ich sage, aber ich muß den Schein wahren. Vermag der Panther zu verstehen, was ich sage?« »Ja, Ubali versteht dich.« »Verzeiht meine Frage«, sagte Meris. »Sie soll kein Zeichen eines Zweifels sein, aber in diesen bitteren Zeiten …« Er wurde unterbrochen, als die Gruppe der weißgekleideten Männer uns den weiteren Weg nach oben versperrte. »Wen bringst du da, Meris?« fragte der vorderste, ein
hochgewachsener Mann von hohem Alter. Sein zerfurchtes Gesicht musterte uns nicht unfreundlich. Sein grauweißes Haar unterstrich die Würde, die von ihm ausging. »Zwei Fremde«, erwiderte Meris kurz. »Zwei Fremde?« wiederholte der Alte spöttisch. »Es ist gut zu hören, daß der Lebensgeist und seine Zeichen noch erinnerlich sind, Kommandant.« »Macht keine Schwierigkeiten, Priester«, sagte Meris. »Baril erwartet …« »Baril«, unterbrach ihn der Alte verächtlich. »Was soll Baril wohl mit Boten des einen Gottes, den er Tag um Tag beleidigt?« Sag es mir, Kommandant.« »Es ist nicht meine Sache, Priester. Ich tue nur meine Pflicht.« »So mußt du lernen, sie besser zu tun. Diese Fremden sind auf dem Wege zu mir.« Er wandte sich zu seinen Begleitern um. »Geleitet sie zu meinem Haus.« Ein halbes Dutzend weißgekleideter Männer umringten uns. Einige hatten dolchähnliche Waffen in der Faust. Meris wich vor ihnen zurück. »Ihr werdet Euch zu verantworten haben, Priester«, entfuhr es Meris. Seine Wut klang nicht ganz echt, und ich erinnerte mich seiner Worte, wir sollten uns nicht über seine Barschheit wundern. Ringsum hatten sich einige Dutzend Bewohner angesammelt und beobachteten die Szene interessiert und mit unterschiedlichen Mienen. Vom oberen Teil der Stiege näherten sich mehrere Männer mit Lanzen. Ich hatte das Gefühl, daß es an der Zeit war, zu handeln. Auch der Priester hatte die Lanzenträger bemerkt. »Sage diesen Schergen des obersten Gotteslästerers, wenn er die Sendboten des wahren Gottes sprechen möchte, so mag er dies in meinem Hause tun – mit der nötigen Demut. Kommt.« Meris machte keine Anstalten, uns aufzuhalten. Einige der Umstehenden winkten drohend, vermutlich die Anhänger Barils. Die Wachen beschleunigten ihren Schritt die Stufen herab, und wir verschwanden durch das Seitentor.
Die Weißkutten führten uns durch schmale Gassen und Durchgänge, über kleine Höfe und Terrassen und ein Gewirr von Stiegen. In all dem bewegten sie sich sehr zielstrebig. Hier schien es sich noch nicht durchgesprochen zu haben, daß Fremde in der Stadt waren, denn die meisten der Fenster waren leer. Wo zufällig jemand herausblickte, zeigte seine Miene Erstaunen. Trotz des Sonnenlichts blieben die engen Gassen dunkel, und bis jemand erkannt hatte, daß die Priester ein Mädchen und einen Panther mit sich führten, waren wir bereits ein paar Gassen und Durchschlupfe weiter. Ich fragte mich, was diese Menschen in ihren Steinhäusern taten, was sie arbeiteten, wovon sie lebten. Einmal sahen wir Kinder auf einem der Höfe, aber sonst ging alles zu schnell, um viel zu erkennen. Einige Male hatten wir Ausblick über die Mauer auf den Dschungel. Wir hatten bald die Höhe der gewaltigen Baumkronen erreicht. In der Ferne glänzten die Felsen der Hügel in der Sonne, von denen wir gekommen waren. Aber noch immer waren wir vom ewigen Grün des Dschungels eingeschlossen. Dabei hatten wir fast die obersten Teile der Stadt erreicht. Die Mauern waren hier grünlich grau, oder von schmutzigem Braun. Es war nicht verwunderlich, daß wir beim Abstieg aus den Hügeln die Stadt gar nicht bemerkt hatten. Hätten sie die Lichter am Abend nicht verraten. Durch eine Türöffnung gelangten wir schließlich in das Innere eines Hauses. Es war düster, aber bald gewöhnten sich die Augen daran. Eine ältere Frau und ein junges Mädchen blickten uns neugierig entgegen. Eine Spur von Furcht war in ihren Blicken, aber sie schwand, als sie des weißen Mals auf meinem Kopf ansichtig wurden. Von da an war so etwas wie Ehrfurcht in ihren Augen, die mich mit Unbehagen erfüllte. Diese Menschen schienen große Erwartungen in uns zu setzen. Die einzigen Erwartungen, die ich aber je erfüllt hatte, hatte ich mit dem Schwert erfüllt. Aber selbst das war mir nun versagt. Der Priester winkte zweien seiner Männer. »Ihr bleibt hier. Es
könnte sein, daß Baril plötzlich doch den Mut findet, gewaltsam hier einzudringen. Gebt das Zeichen, wenn euch etwas verdächtig erscheint. Und ihr kommt, meine Freunde.« Wir schritten durch mehrere Räume. Sie sahen innen nicht anders aus als außen – kahle Steinmauern, unterbrochen von Fenster- und Türöffnungen. Da und dort standen Bänke und Stühle und andere Gerätschaften, die ich im Halbdunkel nur undeutlich zu erkennen vermochte. Die Türen waren alle aus schwerem Holz. Ich konnte mir vorstellen, daß der Wind hier ein und aus pfiff und es ohne Türen kaum zu ertragen wäre. Ich erinnerte mich zu gut an manche Teile des myranischen Palastes, dessen Marmor noch mehr das Gefühl von Kälte vermittelte. Ich zog es vor, in Hütten zu wohnen, und ich zog Holz dem Stein vor. Schließlich erreichten wir einen größeren Raum, dessen hohe Decke von mehreren Säulen getragen wurde. Wieder blieben zwei Männer am Eingang als Wachen zurück, während wir ins Innere schritten. Unsere Schritte klangen hohl. Staub war überall auf dem Boden und wirbelte in kleinen Wolken hoch. Ich unterdrückte nur mit Mühe einen Niesreiz. Wir durchquerten den Raum und kamen an einem Altar vorbei. Das alles schien sehr lange nicht mehr benutzt worden zu sein. Durch eine weitere Tür gelangten wir in einen kleinen Raum, der viel gemütlicher aussah. Ein Tisch mit einer runden Platte stand in der Mitte. Bänke standen rundum, deren Bretter man mit Tierhäuten überzogen hatte. Die Wände waren nicht kühl, sondern mit Tierköpfen bemalt. Es roch nach Harz von einer Reihe von Fackeln, die in einer hölzernen Halterung steckten. Außerdem besaß der Raum mehrere Fenster. Aufgerollt über jedem befanden sich Häute und Felle, mit denen die Öffnungen verschlossen werden konnten. »Hier seid ihr vorerst sicher, meine Freunde«, erklärte der Priester. »Sind wir denn in Gefahr?« fragte Thamai unsicher. »Ja, ich fürchte, das sind wir. Wir alle«, erwiderte der Priester ernst. »Aber ich verstehe es nicht. Weshalb diese … Entführung? Und
woher wußtet ihr von unser Ankunft?« Der Priester lächelte unvermittelt wie über einen gut gelungenen Streich. »Wir haben euch gerufen«, erklärte er. Wir starrten ihn beide erstaunt an. »Ihr habt uns gerufen?« wiederholte Thamai verständnislos. »Aber woher …?« »Geduldet euch bitte. Ihr sollt alles erfahren«, unterbrach er sie ernst. »Und dann frei wählen.« Vier Männer waren außer ihm hereingekommen, auch das Mädchen. Sie war sehr jung, fünfzehn Sommer vielleicht. Ein wenig erinnerte sie mich an das Mädchen im Traum. Sie trug einen knielangen Rock aus einem feinem Gewebe. Die obere Hälfte des Oberkörpers bis knapp über die Brüste bedeckte ein loses Hemd aus Leder, das mit bunten Steinen besetzt war. Das dunkelbraune Haar trug sie offen. Ihr junges Gesicht ließ bereits von künftiger Schönheit ahnen, auch wenn ihre traurige Miene es jetzt verdüsterte. Sie ließ kaum ein Auge von mir und wagte sich auch schließlich heran, als sie sah, daß ich vollkommen friedlich war. Aber gleich darauf erkannte ich, daß es nicht Furcht, sondern eine andere Scheu war, nämlich vor dem Mann in der Panthergestalt. Sie errötete, als hätte sie meine abschätzenden Blicke gespürt. Karuam bat Thamai, sich zu setzen. Die ältere Frau brachte etwas zu essen, Früchte und flache Brotfladen. Bedauernd wandte sich der Priester an mich. »Ich fürchte, Ihr werdet Euch noch ein wenig gedulden müssen, bis die Jäger mit frischem Wild zurückkommen. Ich nehme nicht an, daß Ihr mit Früchten vorliebnehmen wollt.« Ich grollte zustimmend. »Ihr habt recht«, sagte Thamai rasch. »Fürchtet nicht sein Grollen. Es ist keine Bestie in diesem schwarzen Körper, nur ein Mann, der …« Sie ließ den Satz unvollendet und senkte den Kopf. »Ich weiß, Thamai«, erwiderte der Priester. »Geschöpfe des Lebensgeists sind uns nicht fremd …« »Wir wissen auch, wie sie fühlen und denken«, unterbrach ihn das Mädchen und streichelte meinen Hals. »Ich wenigstens weiß es wie
kein anderer.« Tränen traten in ihre Augen. »Ihr müßt Orela verzeihen«, bat der Priester. »Sie hat viel Leid erlebt …« »Es ist nichts im Vergleich zu Marleas Leid«, sagte das Mädchen. Karuam legte beruhigend den Arm um ihre Schulter. »Ich weiß, Orela. Aber nun mag sich alles vielleicht zum Besseren wenden.« »Auch für Marlea?« »Wir hoffen es alle.« Er wandte sich seinen Männern zu, die abwartend standen. »Karis, Orn, ruft alle zusammen, aber so, daß niemand Verdacht schöpft. Und kein Wort über unsere Besucher. Je weniger nach außen dringt, desto sicherer sind sie. Obwohl es sicherlich bald kein Geheimnis mehr sein wird. Es mag sein, daß wir sie mit unserem Leben verteidigen müssen. Dann werden wir es tun.« Er hatte bei den letzten Worten unwillkürlich die Fäuste geballt. Die beiden Männer verschwanden mit einem Kopfnicken. Ich ging zu einem der Fenster und starrte nach unten. Die Mauern fielen steil herab. Es gab hier keinerlei Stiegen nach unten. Wir mußten uns irgendwo am Stadtrand befinden, denn ich konnte über die Mauer sehen. In der Ferne waren wieder die Hügel. »Aber nun hört mich an«, bat der Priester, »es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Orela hat euch die Träume gesandt, mit Hilfe ihrer Zwillingsschwester Marlea, der ihr begegnet seid, und den Göttern sei gedankt, auch gefolgt seid.« »Dann war Marlea … das Pantherweibchen …?« fragte Thamai bestürzt. Der Priester nickte. »Ja, das ist Marlea. Und im Traum saht ihr, wie es geschah.« Thamai schüttelte den Kopf. »Warum trägt sie Vitus Zeichen nicht?« »Mit Vitus Zeichen meint Ihr das weiße Mal«, er nickte zu sich selbst. »Es ist lange her, daß der Name Vitu in diesen Mauern fällt. Er ist vergessen. Nur ich … ich erinnere mich an ihn … durch die Jahrhunderte. Der Lebensgeist ist verstummt vor vielen hundert Jahren. Er gewährte seinen Treuen eine Gunst, die zu einem Fluch
wurde. Und er ließ uns mit diesem Fluch allein. Aber ich will nicht klagen.« Er sah uns mit einem halben Lächeln an. »Ihr seid der Beweis, daß der Lebensgeist nicht überall verstummt ist. Mit eurer Hilfe werden wir wieder zu ihm finden.« »Ich bin Vitus Priesterin«, sagte Thamai fest. »Und dieser Mann trägt Vitus Mal. Aber überschätzt unsere Macht nicht, Priester Karuam. Auch wir sind weit ab von Vitus schützender Hand. Wir folgen seinem Ruf. Wir sind auf dem Weg zu seinem Inneren Reich, aber wir wissen nicht, wo es ist. Es mag ein langer Weg werden.« Der Priester sah sie mit glänzenden Augen an. »So seid Ihr auf dem rechten Weg, meine Schwester. Kein Zufall hat Euch hergeführt. Ich kann euch helfen, den Weg zu finden.« Das war die erste erfreuliche Nachricht, seit wir in diesem Steinhaufen angekommen waren. Thamai hielt mit ihrer Freude nicht zurück. »Wie können wir euch helfen?« »Indem ihr eine Weile bleibt – als lebendige Zeugen des Lebensgeists. Das wird Barils Macht in dieser Stadt erschüttern. Mit euch wird es uns gelingen, die Ketten zu zerbrechen, die Vitu hier der Macht berauben.« Bleiben gefiel mir gar nicht, aber ich hegte die geheime Hoffnung, daß der Priester die Wahrheit sprach und wirklich den Weg zu Vitu kannte. Das war alles Warten wert. »Wie lange ist diese Weile, Priester Karuam?« fragte Thamai direkt. »Wenige Tage, dann wird dieser Tempel des Lebensgeists wieder von altem Leben erfüllt sein, oder wir werden fliehen. Aber laßt mich euch alles erzählen, damit ihr seht, wie der Name des Lebensgeistes in Vergessenheit geraten konnte. Es war nicht Vitu, der Marlea in ein wildes Tier verwandelte, sonst trüge sie wohl ebenso wie Ubali das weiße Mal. Baril, der Priester der vielen Lebensgeister, verwandelte sie mit seinen unheiligen Künsten. Es ist nur eine von vielen Akten der Willkür, die er täglich verübt. Wer sich gegen ihn stellt, wird ein Opfer seiner selbsterfundenen Götter. Viele sind auf seiner Seite, weil sie ihn fürchten. Nur eine kleine
Schar von Männern und Frauen blieb mir treu ergeben, aber unsere Zusammenkünfte sind geheim, und unsere Pläne ohne Aussicht auf Erfolg – bis jetzt. Nun werden wir uns nicht länger verkriechen. Jetzt wird Baril mich fürchten wie nie zuvor« »Ihr meint«, warf Thamai ein, »dieser Baril verwandelte Orelas Schwester in ein Tier, nur zu seinem Vergnügen? So ist er ein Teufel, denn ohne das Zeichen mag sie jeder Jäger töten. Wir selbst hielten sie für ein Raubtier, bis ich den ersten Traum hatte.« »Ich weiß«, erklärte der Priester. »Er ist ein Teufel. Ja, er verwandelte sie zu seinem Vergnügen, wie er immer Vergnügen an Qual und Pein hat. Aber bei Marlea hatte er einen besonderen Grund. Er begehrte sie, und sie verschmähte ihn. Das war ihr großes Verbrechen. Er entführte sie, aber er wußte nichts von den Träumen, die die beiden Zwillingsschwestern miteinander verbanden. Orela schlief und fing Marleas Qualen auf, denn der Teufel ließ sie foltern, um sie gefügig zu machen. Als das auch nichts nützte, beschloß er, sie zu verwandeln und in seinen unterirdischen Kerkern, die noch niemand lebend verlassen hat, gefangenzuhalten. Aber Orela lief zu Faran, der Marlea in Liebe zugetan ist, und der Junge befreite sie aus dem Tempel. Da war sie bereits verwandelt, ihr habt es im Traum gesehen.« Thamai nickte. Auch in mir waren diese Bilder noch lebendig. Die Verwandlung, Barils grausame Züge. »Wie gelingen ihm diese Verwandlungen?« fragte Thamai. »Mit Blut«, sagte Karuam bitter. »Mit dem Blut Ermordeter. Das ist unser Fluch.« »Mit Blut? Nicht mit Vitus Wasser?« »Vitus Wasser ist längst versiegt. Einst als diese Stadt noch nicht stand, gab es hier eine Quelle. In ihr war der Lebensgeist. Mehrere Stämme zogen durch das Tal auf dem Weg nach Norden. Sie flohen vor den mörderischen Pflanzen des Dschungels, der sich immer mehr ausbreitete. Ich war der Sohn des Medizinmanns eines der Stämme. Wir lagerten an dieser Quelle, und unsere Kranken wurden geheilt, unsere Verwundeten gesund. Da blieben wir. Es
war ein großes Wunder. Wir erreichten ein Dorf. Es waren glückliehe Jahre. Eines Tages entdeckten wir, daß unsere Toten, wenn wir sie mit diesem Wasser wuschen, ihre Gestalt wandelten und als Tiere zu neuem Leben erwachten, mit diesem weißen Mal auf dem Kopf. Mein Vater hatte das Geheimnis entdeckt, und er wurde zum Hüter der Quelle. Es war sein großer Zauber, und er war sehr angesehen. Dann geschah eines Tages, daß eine giftige Schlange mich biß, und daß ich starb. Mein Vater brachte mich zum Teich und legte mich in das Wasser. Er blieb die ganze Nacht und betete zu den alten Göttern, die wir damals hatten. Da geschah es, daß ich im Wasser erwachte und eine Vision hatte. Auch mein Vater hatte sie. Der Lebensgeist sprach zu uns. Er gewährte mir ein neues Leben, und sprach vom Wert des Lebens für alle Geschöpfe, und daß wir es immer achten müßten, dann wäre es uns allen für immer gewährt. Ich sei dazu auserwählt, es zu verkünden. So wurde ich der erste Priester Vitus, denn ich erwachte nicht als Tier zu neuem Leben, sondern wieder als Mensch, als Junge, in meiner eigenen Gestalt. Das Wunder war groß, und niemand bezweifelte, daß ich in hoher Gunst des Lebensgeists stand. Wir bauten einen Tempel, in dem wir ihm danken konnten und zu ihm beten, und manchmal sprach er zu uns allen. Schließlich kam der Augenblick, als der erste der Verwandelten in seinem Tierkörper starb. Auch seinen Körper übergaben wir dem Lebenswasser, und Vitu gewährte ihm ein neues Leben als der Mann, der er einst gewesen war. Da wußten wir, daß wir unsterblich waren, und nichts war uns heiliger als das Leben. Aber es blieb nicht so. Kunde von dieser Quelle drang zu anderen Stämmen. Sie kamen scharenweise. Oft war ihre Absicht kriegerisch, und wir mußten unser Leben verteidigen. So begannen wir, Straßen in den Dschungel zu schlagen bis in die Berge, die ihr am Horizont seht. Von dort brachten wir Steine herab und bauten eine Stadt. Sie wurde immer mächtiger und zu einem einzigen großen Tempel, in dessen tiefsten Eingeweiden die Quelle des Lebensgeistes floß –
verborgen und abgeschnitten von allem, wofür sie floß: vom Leben. Es war, als schirmten die steinernen Mauern ihren Einfluß von den Menschen ab, denn die Kämpfe wurden immer erbitterter. Eines Tages wurde Vitu des Blutvergießens müde, und die Quelle versiegte. Aber seinen treuesten Diener gewährte der schwindende Lebensgeist eine letzte Gunst. Er gab ihrem Blut die magische Kraft, zu heilen und zu verwandeln. Es war ein Geheimnis, und wir hüteten es gut. Ein Dutzend solcher Priester waren wir. Im Traum sahen wir einen gewaltigen Garten, und in ihm Frieden, wie er uns nie vergönnt gewesen war, und Wunder, wie wir sie nie gesehen hatten, und wir wußten, daß es Vitus Garten war, Vitus Reich. Einst, das schworen wir, würden wir dorthin gehen. Aber das Paradies blieb unerreichbar. Die Stadt – sie trug nun den Namen Teguar – wurde von Piraten erobert, die von unserer Unsterblichkeit vernommen und einen Weg durch den Dschungel der wilden Pflanzen gefunden hatten. Es war eine blutige Schlacht. Sie besaßen Waffen, wie wir sie nie zuvor gesehen hatten. Sie warfen Feuer, daß selbst die steinernen Wände brannten und uns mit ihrem Rauch erstickten. Sie zogen im Triumph in die Stadt und fanden sich um den Schatz der Unsterblichkeit betrogen. Ein fürchterliches Schlachten und Foltern begann. Sie ersannen größere Qualen, als das Fleisch sie zu ertragen vermag. Solcherart gelangten sie an das Geheimnis des Blutes. Die Eroberer ließen fast alle Gefangenen töten. Sie sammelten das Blut in großen, steinernen Wannen, und der Geruch von Tod und Fäulnis erfüllte den Dschungel. Sie warfen ihre Verwundeten und Toten in diese Wannen und ließen sie im Blut schwimmen. Es war ein unbeschreiblicher Anblick, und ich war froh, daß Vitu diesen Ort verlassen hatte. Er hätte die Menschen hassen müssen für alle Ewigkeit. Auch unser magisches Blut floß schließlich und vermischte sich mit dem der anderen. Es wurde dünn, und die Kraft schwach. Es weckte einige der Toten und machte sie zu gräßlichen Ungeheuern,
die auf ihre Gefährten losgingen …« »Zu Parias«, murmelte Thamai. Ihr Gesicht war blaß. Auch mich erfüllte die Erzählung des Priesters mit Grauen. Er hörte nicht, was Thamai murmelte. Er war zu versunken in der Erinnerung. »Die Verwundeten wurden geheilt, aber sie litten furchtbare Qualen, die kein Ende nahmen, so daß sich die meisten selbst den Tod gaben. Panik befiel viele der Eroberer, und sie flohen. Das war nicht die Unsterblichkeit, die sie gesucht hatten. Es war grauenvoll. Und dann erwachte ich von den Toten – unversehrt, ohne die Wunden, ohne Narben, kraftvoll, als hätte ich mich nie zu Tode geblutet. Sie wagten nicht mehr, Hand an mich zu legen. Viele bekehrten sich an diesem Tag zu Vitus Lehre von der Achtung vor dem Leben, die ich verkündete. Es war ein neuer Beginn. Für die meisten von uns ist dieser Teil der Geschichte nur Legende, jahrhundertealte Legende. Nur ich weiß, daß das alles geschehen ist. Ich war Vitu ein guter Priester in den folgenden Jahrhunderten. Ich starb oft, um mein Blut zu geben, und damit Heilung und neues Leben zu spenden. Aber ich konnte mit meinem Blut nicht einem ganzen Volk die Unsterblichkeit geben. Ich wurde des Sterbens müde und des Wiedergeborenwerdens. Vitu war fort, die Quelle blieb versiegt, und ich fühlte mich allein. Wenn noch magisches Blut floß in anderen Menschen, dann war es dünn und schwach geworden und verhalf nur noch vereinzelt zu wundersamer Heilung. Nur selten gab ich neues Leben, weil ich selbst zweifelte, ob es recht war. Ich war der einzige, der in menschlicher Gestalt wiedergeboren wurde, und es gab Zeiten, da mir selbst das nicht mehr wünschenswert erschien. Wie sehr dünkte es mich ein Frevel, meine Brüder als Tiere wiedererstehen zu lassen. Eine Anmaßung. Wir hatten alle vergessen, wofür meine Macht stand. Vitu war eine Legende geworden und ich zu einem Medizinmann, dem die Götter
gut gesinnt waren. Ich war wieder am Anfang, und es gab Augenblicke, da verfluchte ich meine Unsterblichkeit und mein Blut. Die Menschen, die lebten und liebten und starben, erschienen mir freier. Es schien alles so sinnlos. Der Traum vom Paradies fing an, aus meinem Gedächtnis zu schwinden. Er bedeutete nichts mehr. Ich wollte nur noch sterben. Das war für mich der einzige wirkliche Frieden. Die alten Götter wurden wieder wach in uns, obwohl sie blutiger und lebensfeindlicher waren und nie ein sichtbares Zeichen ihrer Macht oder ihrer Existenz gegeben hatten. Für die Menschen von Teguar hatte auch Vitu nie existiert. Er war nur Legende. Es gab keine Zeugen mehr außer mir. Nun schien auch die Zeit für neuen Streit und neuen Hader gekommen. Baril wurde unser Anführer, als das alte Oberhaupt starb. Er wurde es nicht auf rechtmäßigem Wege, und es mag wohl stimmen, was manche sagen, nämlich daß er beim Tod seines Vorgängers die Hand im Spiele hatte, denn alles geschah für ihn im rechten Augenblick. Er wollte Macht, und kein Preis war ihm zu hoch. Und er ging klug zu Werke. Er scharte eine Gruppe junger Männer um sich, die seinen Ambitionen gewogen waren, weil er ihnen wohl große Versprechungen machte. Er unternahm ausgedehnte Jagdzüge, und er kehrte immer mit Neuigkeiten zurück. Er sprach von Geistern, die er gefunden habe, von Lebensgeistern, die er gefunden habe, und die zu den Menschen sprächen und nicht stumm waren wie die alten Götter. Er brachte seltsame Pflanzen mit, deren Blätter und Stiele nach dem Vorübergehenden schlugen, weil sie sich von Fleisch nährte; teuflische Blumen, deren Sporen giftig waren und Menschen in den Wahnsinn trieben; Gewächse, deren Ausdünstungen unbegreifliche Visionen erzeugten. Die Botschafter der Lebensgeister nannte Baril sie, und die Menschen in Teguar waren reif für neue Wunder. Er errichtete einen neuen Tempel, ernannte sich zum Obersten Priester und begann, die alten Legenden für ungültig zu erklären. Ein großer Teil des
gleichgültig gewordenen Volkes folgte ihm. Die Festlichkeiten in seinem Tempel waren wahrlich beeindruckend, aber nur wenige sahen das Böse, Verderbenbringende in diesen rauschartigen Orgien. Sie merkten nicht, daß sie Sklaven wurden, nicht nur Barils, sondern auch der Pflanzen. Barils Macht wuchs rasch. Er begann, die Stadt mit seiner Leibwache zu tyrannisieren. Wer sich ihm widersetzte, wurde gezwungen, an den Tempelfesten teilzunehmen, immer häufiger in Form von Gottesurteilen, wie Baril es nannte. Er stellte die hilfslosen Opfer den hungrigen Pflanzen gegenüber, und wenn sie bereit waren, betäubt von den Ausdünstungen und drauf und dran, sich zwischen die tödlichen Blätter zu stürzen, dann pries er das als Beweis der Macht seiner Geister. Wer sich dann noch immer nicht beugte, der wurde hineingestoßen in den hungrigen Schlund. Zu spät erkannte ich, daß ich nicht länger zusehen durfte. Aber ich sah plötzlich wieder einen Sinn in meinem Dasein als Priester eines verlorenen Gottes. Ich besaß immer noch seine Macht, und ich mußte beweisen, daß es eine gute Macht war, eine, die keine Sinne betäubte, und die man nicht zu fürchten brauchte, weil sie das Leben bejahte. Ich begab mich zu einem ihrer Feste und versuchte ihnen klarzumachen, daß es keine Götter, sondern Teufel sein mußten, die Leben und Blut forderten, und daß Baril nur durch seine Teufelsblumen Macht über sie hätte. Ich beschwor sie, daß es nur einen wirklichen Lebensgeist gäbe, daß ich der Beweis seiner Existenz sei, und daß wir zu einem Paradies aufbrechen müßten, das uns verheißen sei. Ich war nicht sehr erfolgreich. Ich hatte es auch nicht erwartet. Aber ich brachte Baril dazu, daß er einen entscheidenden Fehler machte. Er hatte bisher nicht gewagt, sich an mir zu vergreifen, obwohl ich sein wichtigster Gegner war – denn er fürchtete mich; mich und meine Macht, von der er nicht sicher wußte, ob ich sie besaß oder nicht. Aber nun ließ er sich hinreißen. Noch in derselben Nacht veranstaltete er einen großen Zauber. Schrecklich aussehende Ungeheuer kamen über die Stadt. Er
kündigte sie eindringlich genug an – als Sendboten seiner Geister, die den Frevel sühnen würden, den ich begangen hatte. Die Menschen verkrochen sich in ihren Häusern, und nie war die Furcht je so groß in ihren Herzen gewesen. Sie erkannten nicht, daß es keine Ungeheuer aus Fleisch und Blut waren, sondern nur Visionen. Den ganzen Abend waren Schleierwolken von Sporen aus den unteren Gewölben der Stadt aufgestiegen und hatten die Luft mit ihrem betäubenden Duft geschwängert. Während aber die ganze Stadt sich in panischer Angst verkroch, schickte Baril seine Schergen, die mich niedermachten. Um Mitternacht war der Spuk vorbei, und die Kunde von meinem Tod bereits in aller Munde. Meine Leiche wurde aufbewahrt, als Mahnmal. Solches würde mit jedem geschehen, der gegen die Lebensgeister frevelte. In diesen Stunden muß Baril sich wohl ganz als der Sieger gefühlt haben. Aber er war auch vorsichtig genug, keine Möglichkeit ungenutzt zu lassen. Es war die Legende von dem magischen Blut, die ihm wohl im Kopf herumspukte, denn er sammelte einen Großteil meines Blutes und verbarg es in seinem Tempel. Aber ich konnte nicht sterben. Vor vielen Zeugen erhob ich mich von meiner Bahre und pries den einzigen wirklichen Lebensgeist. Es war ein schwerer Schlag für Baril, und er begegnete ihm mit immer heftigeren Angriffen seiner visionären Bestien auf die Stadt, bis die Menschen in ihrer Verzweiflung zu ihm zurückliefen, denn ich konnte ihnen keinen Schutz geben, ich konnte ihnen nicht begreiflich machen, daß diese Bilder nicht wirklich waren. Es gab Augenblicke, da wurde ich selbst von Furcht und Zweifel hin und her gerissen und kauerte verzweifelt in einer Ecke in Vitus Tempel, unfähig, die Panik zu bezwingen, die mich zu übermannen drohte. Nur wenige Getreue blieben bei mir in diesen Tagen. Wir verbarrikadierten uns, aber Baril war kein Narr, noch einmal zu versuchen, was nicht gelingen konnte. Es reichte ihm durchaus, daß meine Macht gebrochen war. Und er hatte inzwischen auch herausgefunden, daß sich mit dem Blut ein paar Wunder
vollbringen ließen. Daher änderte er seine Taktik. Er verleibte den Lebensgeist in die Galerie seiner anderen Lebensgeister ein. Damit das kostbare Blut ihm nicht vertrocknete, vermischte er es mit Säften seiner Pflanzen. Er bewies, daß nun auch Vitus Macht in seinen Händen war. Er erweckte nicht nur Tote wieder zu Tieren, es gelang ihm sogar, Lebende in Tiere zu verwandeln. Sie alle trugen nicht Vitus Zeichen. Und nie gelang es ihm, einem der Verwandelten wieder menschliche Gestalt zu geben. Nur für wenige gab es Zweifel an seinem Status als Oberpriester aller Lebensgeister. Er selbst sorgte dafür, daß die Zweifler verschwanden. Irgendwo in den unteren Gewölben der Stadt, so heißt es, enden sie alle. Wir sind nicht blind und nicht taub, und manchmal ist es, als ob die steinernen Wände weinten – nachts wenn es still ist. Wir haben oft versucht, einen Weg in diese Gewölbe zu finden, aber selbst ich, der ich half, diese Stadt zu bauen, habe alle ihre inneren Wege vergessen. Selbst die Kammer, in der einst die Quelle floß, habe ich nicht wiedergefunden. Es mag sein, daß Baril Mauern verändern ließ. Baril machte auch andere Versuche, von denen nur wenige wissen. Was ihm mit Verwandelten nicht gelang, gelang ihm mit Tieren. Er vermochte ihnen menschliche Gestalt zu geben. Sie blieben ohne Geist, und sie gebärdeten sich wie Tiere, aber sie hatten Menschengestalt.« Der Priester hielt einen Augenblick inne. Er war sehr erregt. Dieselbe Erregung stand in allen Gesichtern im Raum. Und mir fiel im Augenblick ein Erlebnis ein, das ich selbst an einem von Vitus Teichen hatte – ein Erlebnis mit einer Schlange, die durch das Wasser in ein wunderschönes Mädchen verwandelt wurde und doch dabei nichts weiter als eine Schlange blieb. Karuam fuhr fort: »So liegen die Dinge heute. Vitu, dessen Namen Baril nicht einmal weiß, ist zu einem von vielen teuflischen Gottheiten geworden. Seine Macht wird mißbraucht, und seine Lehre von der Achtung vor dem Leben mit Füßen getreten. Und ich habe keine Macht, ihn herbeizurufen, um die Beweiskraft zu
erlangen, die ich brauche. Nur der Traum vom Paradies ist stärker geworden. Wir werden hier gefangengehalten. Aber wenn es uns gelänge, die Stadt zu verlassen, ich würde den Weg in dieses Paradies finden, und wenn der Weg durch das Reich von Barils Geistern selbst führen würde …!« Er schwieg erneut. Mir war noch immer nicht ganz klar, was er sich wirklich von uns erwartete. Uns war Vitu ebenso fern wie ihm, wie Thamai richtig gesagt hatte. Und unsere menschlichen Kräfte würden gegen Baril nicht viel ausrichten können, wenn die ganze Stadt auf seiner Seite stand. Ich verstand irgendwie, daß es für diesen Priester eine Befreiung von Zweifeln war, die sich vielleicht im Laufe der Jahre in ihm eingenistet hatten. Für ihn jedenfalls waren wir ein Beweis dafür, daß draußen in der Welt Vitu noch lebendig war. Hoffte er, daß auch die übrigen hier uns wichtig genug nahmen, Baril den Rücken zu kehren? Es wäre verrückt gewesen, das zu glauben. Ich hatte mehr das Gefühl, daß wir nun ebenso wie Karuam und seine paar Getreuen in der Falle saßen. Aber vielleicht brachten wir einiges in Rollen. Das mochte Karuam hoffen. Und das mochte Baril fürchten.
4.
Uns blieb wenig Zeit, über die Geschichte des Priesters nachzudenken. Zwei von Karuams Männern stürmten in den Raum. »Baril ist auf dem Weg hierher!« rief einer. »Allein?« fragte Karuam. »Nein. Einige Dutzend seiner Helfer sind bei ihm. Sie meinen es verdammt ernst.« Ich hatte recht. Baril fürchtete unsere Anwesenheit genug. Er brachte alles selbst ins Rollen. »So können wir sie nicht aufhalten«, meinte der Priester. Er begann, den Tisch zur Seite zu rücken. Darunter wurde ein lockerer Stein mit einem Ring sichtbar. Zu dritt zerrten sie daran, bis der schwere Stein aus der Öffnung glitt. Darunter war es vollkommen schwarz. »Vorwärts, es ist nur so tief, daß ein Mann aufrecht stehen kann. Nehmt die Fackeln. Ihr auch, Thamai. Orela, du nimmst den anderen Weg aus dem Tempel. Geh zu Faran. Dort bist du sicher. Und ihr warnt Orn und die anderen davor, daß sie nicht zum Versammlungsort kommen. Berichtet, was geschehen ist, und haltet euch bereit. Es mag sein, daß unsere Stunde gekommen ist.« Die Männer nickten. Zwei entzündeten die Fackeln und stiegen hinab. Thamai folgte. Dann ich. Zum Schluß der Priester. Die anderen schlossen den Stein über uns. Es gab ein hohles Knirschen, dann standen wir allein in einer kleinen Felsenkammer. »Wir haben diesen Weg lange nicht mehr benützt. Er führt in die Eingeweide der Stadt. Kommt. Wir müssen nun Zeit gewinnen, damit die Gerüchte über euch durch die ganze Stadt gehen. Unsicherheit ist es, was wir brauchen. Es gibt viele Ausgänge aus diesem Labyrinth. Baril kennt nicht alle. Mit euch an meiner Seite werde ich erneut Vitus Wort verkünden. Ihr Thamai, werdet auch sprechen. Vielleicht gelingt es uns, die Menge gegen Barils
Teufelsgötter aufzubringen …« »Und wenn das nicht gelingt?« wandte Thamai ein. »Dann können wir nur hoffen, daß die Verwirrung groß genug ist, daß uns wenigstens die Flucht in den Dschungel gelingt.« Ja, dachte ich. Das sollten wir gleich ins Auge fassen. Das war der einzige vernünftige Gedanke. Ich hatte das dringende Bedürfnis, aus diesem Steingefängnis zu verschwinden. Es war feucht und kalt, und ich fühlte mich eingeengt wie in einem Käfig. Es war wohl das Raubtier in mir, das so empfand. Wir kletterten durch eine Menge leerer Kammern, durch schmale Öffnungen, über Leitern, die ich mit meinen Tatzen nur mühsam schaffte, obwohl ich von Natur aus gut zum Klettern ausgerüstet war – auf Bäumen wenigstens! Es ging stetig aufwärts. Offenbar hatten wir längst noch nicht den Gipfel erreicht gehabt. Dann kam der Augenblick, da wieder Tageslicht durch Maueröffnungen fiel. Die Sonne stand tief im Westen. Es mußte später Nachmittag sein. Voller Unbehagen dachte ich an die Nacht in diesem gigantischen Bauwerk, wo jeder unbedachte Schritt in tödlicher Tiefe führen konnte. Wir waren ganz von Karuam und seinen Männern abhängig, und es gefiel mir gar nicht. Ich konnte nicht erkennen, was Thamai dachte, aber ihr Gesicht war verschlossen. Wie ich war sie mit der Entwicklung der Dinge nicht besonders zufrieden. Aber ihre Bindung an Vitu war stärker als meine, und sie mochte es als ihre Aufgabe erachten, hier zu helfen – um jeden Preis. Ich fluchte innerlich. Wenn ich nur aus diesem Katzenkörper hätte heraus können und ein Schwert in die Hand nehmen, und klettern mit Händen und Füßen – und reden …! Wir betraten eine Plattform, die von einer zinnenartigen Mauer umgeben war. »Dies ist einer der höchsten Punkte der Stadt«, erklärte Karuam. Vorsichtig starrten wir in die Tiefe. Wir sahen auf Höfe, Terrassen, Häuser, Gassen. Tief unter uns war die Hauptstiege, in deren Mitte die Wagen auf und ab gezogen wurden. Viele Menschen standen in
den Gassen. Mehrere Trupps von lanzenbewaffneten Männern marschierten durch die Gassen. »Sie suchen nach uns«, brummte Karuam. »Aber hier sind wir vorerst sicher. Sie wissen nicht, daß wir den Weg zum Haus des Himmels kennen. Nur wenige wagen sich hinauf, denn es sind große Risse in den Mauern. Sie scheuen davor zurück, es zu betreten. Lieber warten sie darauf, daß es ihnen eines Tages über den Köpfen zusammenfällt. Vielleicht wird es ein wenig Verstand in ihren sturen Schädeln wachklopfen.« Nach einem Augenblick, als er sich beruhigt hatte, fuhr er fort: »Seht euch gut um. Es mag euch von Nutzen sein, wenn wir einander verlieren, und ihr euch allein zurechtfinden müßt. Die Kammern im Innern führen immer zu irgendeiner Außenmauer. Aber nicht alle haben Öffnungen, und nicht alle münden auf betretbare Terrassen oder gar Gassen. Ihr müßt sehr vorsichtig sein. Weiter unten ist es gefahrloser, aber dahin gelangt man meist nur aus den Häusern und über die äußeren Stiegen und Leitern. Die inneren Wege hat Baril fast alle verschließen lassen. Es ist sein Reich dort unten.« Wir sahen uns um. Es war ein imposanter Anblick, selbst für mich, der ich Paläste und Königshäuser in Myra und Urgor betreten hatte. Nichts glich dem hier. »Sind das Flügel?« fragte Thamai, und ich folgte mit dem Blick ihrer ausgestreckten Hand. An einem kleinen Rad, das aus der Mauer ragte, waren vier riesige Flügel in der Form eines Kreuzes befestigt, die sich langsam drehten. Der Wind schien sie zu bewegen. »Ja«, erklärte Karuam, »auf ihre Art sind es Flügel. Die Kraft des Windes bringt sie zum Drehen, und das Rad wiederum zieht das Seil, an dem die Wagen hängen. So werden die Wagen ohne viel Mühe den steilen Weg hochgezogen. An dem Rad allerdings geschieht dies nicht mehr mit Seilen, sondern mit Ketten. Wir hatten, bevor wir in dieses Tal kamen, mehr Metalle. Daß die Erzgruben leer waren, war einer der Gründe, warum wir nach Norden zogen. Hier machten wir nur spärliche Funde, gerade
genug, um das Notwendigste zu schmieden.« »Wir kannten nie Metall, bevor die Piraten kamen«, murmelte Thamai. »So seid auch ihr von Piraten überfallen worden?« fragte der Priester überrascht. »Ja, aber sie kamen nicht mit Schiffen. Sie kamen aus der Wüste, und es wurde berichtet, daß sie auf Wolken ritten …« »Die wandernden Wolken«, entfuhr es Karuam. »Es gibt sie also. Ich hörte Baril davon berichten, aber ich glaubte kein Wort. Es ist so wenig Wahrheit in seinen Worten. Er habe mit Wolken gekämpft, die Gras fraßen und mit Felsen nach ihm warfen. Es ist noch nicht lange her. Aber da sie auch nur Geschöpfe der Lebensgeister sind und damit dem obersten Priester Untertan, besiegte er sie und bestrafte sie für ihren Widerstand. So wenigstens drückte er sich aus. Niemand in der Stadt bekam aber je eine solche Wolke zu Gesicht.« Ich fragte mich, ob Baril wirklich eine Wanderwolke gefunden hatte. Wenn ja, dann war ihm offenbar kein großer Erfolg beschieden gewesen. Wahrscheinlich hatte er sie mit Feuer in die Flucht geschlagen. Ich erinnerte mich gut genug daran, wie empfindlich Waramau auf Feuer angesprochen hatte. »Skortsch« war der Aufschrei ihrer Gedanken gewesen, was soviel wie Tod bedeutete. Aber Baril schien seine Wolke jedenfalls nicht bezwungen zu haben, sonst hätte er sich die Gelegenheit nicht entgegen lassen, auf ihr zur Stadt zu reiten und sie hier vor aller Augen als sein Götterschiff zu halten. Sein Ansehen wäre bei diesen einfachen Menschen wohl gewaltig gewesen, ganz abgesehen von seiner Macht. Ich dachte, wie großartig es sein mußte, mit Thamai auf Waramaus Rücken über diese endlosen Dschungel und Savannen zu fliegen. Aber ich verdrängte solche Gedanken rasch. Es war kein guter Augenblick, zu träumen. *
Wir warteten bis zum Sonnenuntergang. Dann erschien einer von Karuams Männern und brachte die Nachricht, daß Baril die Suche eingestellt habe und in seinem Tempel Vorbereitungen treffe. »Welche Art von Vorbereitungen konntet ihr nicht feststellen?« fragte Karuam besorgt. »Nein. Überall sind Wachen. Nur seine Vertrauten kommen an ihn heran. Es sieht nicht gut aus …« »Wissen unsere Anhänger Bescheid?« »Ja, sie sind bereit.« Karuam nickte. »Gut, dann werden wir handeln.« »Was habt Ihr vor?« fragte Thamai. »Wollt Ihr jetzt hinuntergehen und zu den Menschen sprechen? Wenn das alles stimmt, was Ihr gesagt habt, dann werden sie Euch gar nicht reden lassen! Barils Männer werden uns erschlagen …« »Das dauert eine Weile. Jetzt ist der Augenblick günstig, denn der Priester ist in seinem Tempel. Wir werden am anderen Ende der Stadt beginnen. Er wird eine Weile brauchen, bis er dort ist …« »Aber sagtet Ihr nicht, er hätte seine Anhänger überall?« wandte Thamai ein. »Das stimmt. Aber nicht alle sind ihm treu, viele fürchten ihn nur. Sie werden uns anhören, wenigstens solange keine Gefahr besteht. Und unsere eigenen Männer werden immer zur Stelle sein und ein kleiner Schutzwall zwischen uns und den anderen sein, denn sie wissen ja, wo wir auftauchen.« Das klang ganz gut, wenn mir auch noch nicht klar war, was er den Leuten Überwältigendes sagen wolle, das sie ihre Furcht vergessen lassen könnte. Außerdem war ich nicht so sicher, daß Baril nicht etwas Ähnliches erwartete und seine Vorkehrungen getroffen hatte. Der Dümmste schien er nicht zu sein, sonst hätte er es gar nicht erst so weit gebracht. Ich hatte ein äußerst unbehagliches Gefühl. Es schien mir besser, die Chance zu nutzen, solange Baril in seinem Tempel war, und zu
fliehen. Einen dieser Erntewagen die Stiegen hinabpoltern zu lassen, mußte genügend Verwirrung stiften, wenn man zudem die Ladung noch in Brand steckte. Mit dem zweiten Wagen konnte man dann versuchen, durchzubrechen. Und wenn wir erst draußen im Dschungel waren … Ich beschloß es mir vorzumerken, wenn es auch schwer werden würde, mich den Leuten verständlich zu machen. Wir verließen unseren luftigen Ausguck. Etwa zwanzig Männer erwarteten den Priester mit entschlossenen Gesichtern. Nur drei oder vier trugen das kennzeichnende weiße Gewand, die anderen waren unauffällig in Fell- und Lederwämser gekleidet und bewaffnet. Ein halbes Dutzend hatten Lanzen, die übrigen nur grobgeschmiedete Dolche. Es war ein armseliger Haufen, der mein Unbehagen nicht minderte. Nur ihre Entschlossenheit war wirklich beeindruckend. Wieder erinnerten sie mich an die Weisen vom Ah'rath, die Söhne von Atlantis. Wir eilten durch eine Reihe von Kammern und Gängen, und langsam gewöhnte ich mich an den Gestank von Moder und schaler Luft. Es roch noch nach etwas, an das ich eine vage Erinnerung hatte – süßlich. Ich kämpfte gegen ein kurzes Schwindelgefühl an. Die anderen schienen nichts zu merken. Ich besaß wohl eine feinere Nase. Vielleicht war es auch nur das ständige Auf und Ab in diesen modrigen Gängen, das mir zusetzte. Endlich kamen wir ins Freie. Durch ein Haustor gelangten wir in eine Gasse, in der einige Menschen standen, als ob sie lauschten. Es war ein seltsamer Anblick. Karuams Männer strömten auf die Straße und verteilten sich. Es ging sehr rasch. Kaum jemand hatte noch unser Auftauchen wahrgenommen. Eine ungewöhnliche Ruhe herrschte, als brächte die Abenddämmerung Schweigen über den Dschungel und die Stadt. Dann hörten wir von tief unten gedämpfes Donnern und gleich darauf Schreie. Karuam, der die Arme ausgebreitet hatte und zu sprechen anheben wollte, erstarrte in dieser Bewegung. Auch alle anderen
lauschten und sie schienen zu wissen, was das alles bedeutete. Ihre Starre schien von Entsetzen hervorgerufen. Ich hetzte vorwärts zwischen den reglosen Gestalten, auf eine Mauer zu, über die man in die Tiefe sehen mußte. Jemand rief hinter mir, aber ich beachtete es nicht. Von der Mauer bot sich ein unbeschreiblicher Anblick. Aus den unteren Stockwerken der Stadt wogten dichte grüne, blaue, weiße Wolken hoch, quollen auseinander und erfüllten die Luft mit Flimmern. Sie glitten an den Mauern hoch, wogten über die Häuser und Gassen, wurden dünner und durchsichtiger. Aber schon erfüllte neuer Donner die Abendluft. Es klang, als platzten riesige prall gefüllte Weinschläuche. Mit einem Rauschen stiegen neue Wolken hoch. Unter dem Schleier, der bereits über den unteren Teilen der Stadt lag, sah ich die Menschen durch die Gassen rennen und taumeln, als stolperten sie blind dahin. Langsam stiegen die Wolken weiter hoch, und ein betäubender Duft kam mit ihnen – so süßlich, wie ich es bereits in den Gängen gerochen hatte. Meine Raubtiernase hatte mich nicht getäuscht. Da war Barils Antwort. Wenn mich nicht alles täuschte, war das der Blütenstaub von den Pflanzen, die Baril in seinen Gewölben hielt. Ich konnte mir gut vorstellen, welcher Art diese Gewächse waren. Der Duft erinnerte mich an die mörderischen Pflanzen im Dschungel des Baumvolkes, aus dem ich nur mit Mühe wieder entkommen war – und dann bereits mehr Pflanze als Mensch. Baril gab uns keine Chance, zu reden. Er schickte die grauenvollen Visionen, von denen Karuam gesprochen hatte, und sie waren überzeugender als alles, war wir über Vitus berichten konnten. Im nächsten Augenblick erwachte die Welt um mich aus ihrem Schock. Die Menschen begannen schreiend zu laufen und verschwanden in ihren Häusern, aber ich konnte mir nicht denken, daß ihnen das Schutz vor der betäubenden Wirkung des Staubes geben konnte.
»Ubali!« Der Staub begann über die Mauer zu quellen und über die Gasse vor mir zu rollen, wie das Dornengestrüpp, das der Wind während des Sommers durch die trockenen Strafen meines Heimatdorfes trieb. »Ubali!« Thamais Stimme schreckte mich auf. Einen Augenblick lang fühlte ich mich kraftlos, als hätte er Anblick des Unheils meine Sinne gelähmt. Dann gehorchten meine Beine. Ich hetzte zurück zu dem Haus, in dem Thamai und der Priester in der bereits halb geschlossenen Tür winkten. Als die Tür hinter mir zuschlug, wagte ich erst wieder zu atmen. Alles vor meinen Augen tanzte, und der süßliche Geruch verfolgte mich. »Wir haben verloren«, hörte ich den Priester flüstern. »Für heute haben wir verloren.« Während wir in der Dunkelheit hinter einem Fackelträger herhasteten, fragte ich mich, ob Karuam tatsächlich erwartete, nach dieser Nacht die verängstigten Menschen umzustimmen und vielleicht noch weitere solche Nächte auf sich zu nehmen. Der Priester war ein Träumer, ein Narr. Und wenn ich der Sprache mächtig gewesen wäre, hätte ich es ihm gesagt. Gleichzeitig fragte ich mich, warum die Menschen sich nur in ihren Häusern verkrochen und nicht in diese inneren Gänge, die doch viel eher Schutz vor dem betäubenden Staub bieten mußten. Kannten nur wenige die Eingänge wie Karuam? Oder waren sie abergläubisch? Oder fürchteten sie Barils Geschöpfe, die sie in der ewigen Dunkelheit wähnten? Es gab auch noch eine andere Erklärung dafür: Diese Gänge waren ebenso Barils Reich, wie Karuam sie benutzte. Dann würden entweder Barils Helfer in der Dunkelheit auf uns lauern oder in Kürze diese Gänge ebenso voll Staub sein wie die Luft außerhalb. Karuams Hast bestätigte meine Überlegungen. »Nach oben!« rief er, und wir kletterten den Weg zurück, den wir
gekommen waren. Die Gesichter der Männer waren bleich. Ich merkte als erster, daß wir es nicht mehr schaffen würden. Der Staub war bereits in den Gängen und mußte uns in wenigen Augenblicken erreicht haben, daß auch die anderen es merkten. Je mehr wir liefen und keuchten, desto mehr würden wir einatmen. Wir brauchten einen Platz, wo wir uns möglichst still und reglos verhalten konnten, bis der Zauber vorüber war. Ich begann zurückzubleiben und regelmäßiger zu atmen. Noch spürte ich keine Wirkung außer einem leichten Schwindel. Ich grollte warnend. Thamai hielt inne, als sie mich hörte. Dem Priester hinter mir blieb auch nichts anderes übrig. Sie wandten sich um und sahen mich schnüffelnd stehen. Das brachte sie auf den richtigen Gedanken. Sie schnüffelten ebenfalls, und nun war es bereits deutlich zu riechen. Mehr noch, die Fackeln begannen zu knistern, als die kleinen Teilchen in die Flammen flogen. Ich grollte erneut und begab mich in eine Ecke des Raumes, wo ich mich niederlegte. Der Priester schien zu begreifen, was ich wollte. »Ich verstehe, Ubali. Aber nicht hier. Hier bleibt es tagelang. Rasch. Haltet euch Tücher vor den Mund!« Der Ruf wurde weitergegeben. Die Fackeln knisterten lauter. Thamai kam zu mir. Sie hielt ein zweites Stück weißen Gewebes in der Hand und band es mir vorsichtig vor den Rachen. Es würde nicht viel nützen, denn das Gewebe war grob, aber es war besser als nichts. Der weitere Weg wurde zu einem Alptraum. Meist hatte ich das Gefühl, daß mir die Sinne schwanden. Ich stolperte mehr als ich ging, obwohl ich zu schweben glaubte. Auch Thamai vor mir torkelte, als käme sie um Mitternacht aus einer Taverne. Die Fackeln vor mir tanzten und zuckten auf und nieder und machten den Weg noch unwirklicher. Gespenstische Schatten huschten über die Wände, und immer häufiger begannen wir uns nach ihnen umzusehen, als drohte von ihnen Gefahr.
Aber es war nur der Schein der Fackeln, der uns das vorgaukelte. Es wurde immer schwerer, die Wirklichkeit zu erkennen. Plötzlich schrie einer weit vorne auf. Es war ein schriller Schrei, nicht von Qual geprägt, sondern von Entsetzen. Schließlich brach er abrupt ab, als hätte jemand den Mann zum Schweigen gebracht. Thamais Hand klammerte sich an meinen Hals. Sie drängte sich an mich und blieb fortan an meiner Seite. Ich spürte ihr Zittern. Ich spürte ihr Entsetzen auch am verweifelten Griff, mit der sich ihre Fäuste in mein Fell klammerten. Ich versuchte ein beruhigendes Grollen, aber durch das Tuch kam es gedämpft und seltsam unheimlich, so daß sich alle nach uns umwandten, Grauen in ihren weißen Gesichtern. Lange würden wir es nicht mehr durchhalten. Trotz des Tuches fühlte sich meine Nase trocken und verstopft an, und ein ekelerregender Schleim steckte in meiner Kehle. »Wir sind da«, keuchte der Priester endlich. Die Männer vor ihm saßen und lagen bereits auf dem Boden vor uns. »Hier verschwindet das meiste nach draußen. Haltet euch möglichst dicht am Boden.« Er sank zusammen. »Löscht die Fackeln. Und keinen Laut, damit sie uns nicht finden.« Während die prasselnden Fackeln gelöscht wurden, suchten Thamai und ich uns einen Platz am anderen Ende des Raumes. Durch eine große Fensteröffnung fiel das letzte Licht der Dämmerung. Graue Schleier wogten vor den ersten Sternen. Ein deutlicher Luftzug herrschte zwischen Eingang und Fenster. Der Priester hatte recht. Das meiste würde durchwehen, und wir bekamen verhältnismäßig wenig ab, wenn wir uns in die Ecken des Raumes verkrochen. Aber wir hatten schon zuviel geschluckt. Es war schwer, noch vernünftig zu denken. Das Gefühl der Unwirklichkeit wurde immer stärker. Nur Thamais Körper, der sich an mich klammerte, sagte mir noch, daß ich nicht allein in dieser Endlosigkeit hing. Dann sah ich sie kommen und begann zu schreien …
*
Wenn ich etwas in meinem Leben wahrhaftig aus ganzem Herzen fürchtete und haßte, dann waren es die großen schwarzen Spinnen meiner Heimat, deren Netze fast unsichtbar im Dschungel hingen, und in denen sich nicht nur Insekten, sondern auch kleinere Tiere fingen. Diese Spinnen töteten nicht das Opfer mit einem Gift, sondern fraßen es bei lebendigem Leib, während es in den unzerreißbaren Fäden des Netzes hing. Die Arigai im Süden Shi buts hielten solche Spinnen und verwendeten die klebrigen Fäden zum Bau ihrer Hütten. Sie fütterten sie mit Tieren, aber auch mit ihren Gefangenen. Ich war Zeuge einer solchen Hinrichtung gewesen. Ich hatte diese grauenvolle Erinnerung aus meinem Gedächtnis verbannt, aber nun war sie lebendiger denn je. Denn durch die Fensteröffnungen kamen sie mit ihren emsigen sechs Beinen, die Augen wie glühende Bälle auf mich gerichtet. Sie krabbelten übereinander, einige über den Boden, andere quer durch die Luft, und ihre Kiefer klickten. In panischem Entsetiren versuchte ich aufzuspringen. Aber ich konnte es nicht. Dann sah ich die Fäden, an denen ich ausgestreckt hing, an denen ich klebte. So sehr ich mich auch wand, ich vermochte nicht loszukommen. Sie krabbelten über mich, ihre schwarzen Münder kamen herab, rissen mein Fleisch auf. Mein Schreien brachte mich zur Besinnung. * Ich schrie nicht, ich brüllte. Nicht Ubali, sondern der Panther. Und ich war nicht der einzige, der brüllte. Um mich war die Luft erfüllt von Schreien und kämpfenden Gestalten. Es brauchte einen Augenblick, bis ich wenigstens so weit zu mir fand, daß ich auf die Beine kam. Viel war in der Finsternis nicht zu unterscheiden.
Schwache Lichter huschten irgendwo im Hintergrund vorüber. Ein Überfall! durchzuckte es mich. Meine Seite schmerzte, aber nicht von den Bissen der Spinnen, denn sie waren nur Illusion gewesen, sondern von einer Lanze, die mir jemand in den Leib zu rennen versucht hatte. Es war nur ein halber Erfolg gewesen. Ich schüttelte sie ab. Ich spürte, daß Blut aus der Wunde floß, aber der Schmerz machte mich mit jedem Augenblick wacher und wütender. In der Dunkelheit schrie Thamai neben mir auf. Ich spürte, wie sie hochgerissen wurde und schnappte nach ihren Bedrängern. Einen bekam ich am Arm zu fassen. Ich zermalmte ihn mit einem Biß, und der Mann stürzte schreiend in die Finsternis. Ekel erfüllte mich beim Geschmack des menschlichen Fleisches. Ich sprang hinterher, um Thamai zu finden, stieß gegen eine Gestalt und wagte nicht zuzubeißen, aus Angst, einen der eigenen Männer zu erwischen. Plötzlich schoben sich mehrere Fackeln durch den Eingang, und eine barsche Stimme rief: »Habt ihr sie?« »Nur das Mädchen«, antwortete jemand, während ich schwankend um mich blickte. »Sie genügt! Laßt keinen am Leben!« »Thamai!« wollte ich rufen, aber es war nur ein Grollen. Gestalten mit glänzenden Masken vorm Gesicht drangen auf mich ein, und ich wußte, sie waren Barils Schergen. Ich hegte keinen Zweifel, zu wem diese befehlende Stimme gehört hatte. Mit einem wütenden Brüllen sprang ich den Männern entgegen. Um mich wehrten sich Karuams Männer verzweifelt. Es war der erste Kampf, den ich in meiner Panthergestalt gegen Menschen zu führen hatte, und niemals mehr später hatte ich Töten so sehr verabscheut wie in diesen Augenblicken, da ich meine Gegner mit Krallen und Zähnen zerfleischte. Irgendwo hinter dieser Mauer von Feinden schleppten sie Thamai fort, hinab in die Gewölbe Barils. Marleas Bild huschte durch meinen Geist und verdoppelte meine Wut. In den Klauen dieses Teufels durfte Thamai kein Ende finden. In der Tür war ein fester Wall aus Leibern. Sie schrien, als ich sie
ansprang und mördersiche Ernte hielt, aber sie wichen nicht. Neue Männer schoben die Toten wie einen Schild nach vorn, bohrten ihre Lanzen und Dolche durch sie hindurch in meinen Körper, bis ich fiel und mich nicht mehr zu regen vermochte. Dann stürmten sie über mich hinweg in den Raum, und der Kampflärm um mich verlöschte. Ich dachte an Thamai. Und die verhaßte Stimme Barils. Ein Leben noch, dachte ich – bettelte ich, raste ich in meinem verblutenden Körper. Nur ein Leben …
5. Zu meiner Verwunderung erwachte ich. Hatte Vitu mich gehört? Hier, weitab von seinem Reich? Dunkelheit war um mich. Nur in einiger Entfernung sah ich einen fahlen Lichtschimmer. Ich spürte keine Schmerzen. Das bestärkte mich darin, daß es ein neues Leben war, nicht nur ein Erwachen aus einer Bewußtlosigkeit. Ich war allein. Ich unterdrückte den Drang, aufzustehen. Was mochte geschehen sein? Hatten Barils Männer mich mitgenommen? Befand ich mich in einem der Gewölbe? Oder hatten sie mich liegen gelassen? Beides paßte nicht ins Bild. Woher hatte ich mein neues Leben? War irgend etwas Entscheidendes geschehen in den Stunden nach dem Kampf? Oder … und der Gedanke erfüllte mich mit Schauder … hatte Barils teuflischer Zauber mich wiedererweckt? Ich lauschte. Um mich war nur Stille. Ein wenig des süßlichen Geruchs des Blütenstaubs war noch in der Luft, aber es verursachte kein Schwindelgefühl mehr. Alle meine Sinne sagten mir nach einem atemlosen Augenblick, daß niemand in meiner unmittelbaren Umgebung war. Vorsichtig stemmte ich mich hoch. Und erstarrte in der Bewegung. Einen Herzschlag lang erfüllten mich Zweifel und die Furcht, dies könnte eine Illusion sein, aber dann betasteten meine Hände meine Arme, meine Beine, mein Gesicht. Ich war wieder ich – Ubali. In meiner ureigensten Gestalt. Ich mag oft den Göttern gedankt haben, aber wohl nie so intensiv wie in diesem Augenblick. Ich war wieder ein Mensch. Mit zitternden Fingern fuhr ich durch
mein Haar, krallte meine Finger hinein und genoß das Gefühl. Aber nicht lange, dann wanderten meine Gedanken zu Thamai, und Furcht überfiel mich. Lautlos erhob ich mich. Schwankend stand ich in der Finsternis. Ich hatte Mühe, zu stehen, als erinnerte sich mein Geist zu deutlich an das Leben auf vier Beinen. Aber nach einer Weile kam das alte Gefühl wieder. Ich ließ die Wand los und tastete an meine Mitte. Natürlich war ich vollkommen nackt. Und ebenso natürlich war ich unbewaffnet. Ersteres störte mich nicht, letzteres gefiel mir gar nicht. Ich mußte feststellen, wo ich mich befand. Vorsichtig tastete ich mich auf den Lichtschimmer zu. Bald erkannte ich, daß das Licht aus einer Seitenkammer fiel. Eine Stimme kam von dort. Sie murmelte etwas, aber ich verstand sie nicht. Ich kannte sie jedoch, obwohl mir nicht gleich einfiel, zu wem sie gehörte. Ein leises Grollen eines Raubtiers und ein wimmernder Laut eines anderen Tieres antwortete dem Murmeln. Verwundert hielt ich an und lauschte. »Ihr müßt Geduld haben, Brüder«, sagte die Stimme wieder leise. »Seht zu, daß ihr aus der Stadt kommt, wie Marlea, und bleibt zusammen. Gebt aufeinander acht. Es gibt nun nur noch einen Weg. Wir müssen zu Vitus Reich. Mit Ubalis Hilfe wird es mir gelingen, zu fliehen. Wartet auf uns. Alles Leid war nicht umsonst, wenn ich mein Ziel erreiche.« Wieder antworteten Tierlaute, hoffnungsvoller diesmal, wie mir schien. Ich wußte nun auch, wessen Stimme es war, und brauchte nicht länger leise zu sein. Erfreut eilte ich in den Raum. »Bei den Göttern, Karuam …!« Das Wort blieb mit im Hals stecken. Karuam saß bleich inmitten einer größeren Anzahl von Tieren, einige von ihnen große Menschenaffen, zwei Löwen und eine Reihe kleinerer Katzen, etwas abseits ein gewaltiger Adler. Alle trugen Vitus Mal auf dem Kopf.
»Ah, Ubali, du bist glücklicher gewesen als meine Freunde. Und ich bin sehr froh darüber«, sagte der Priester mit einem halben Lächeln. »Glücklicher?« wiederholte ich. »Stimmt. Aber vegiß nicht, Priester, daß ich das Leben, das sie nun führen, schon kenne. Es hat gewiß seine Reize, und es ist besser als der Tod. Wovon es aber erfüllt ist, ist die Hoffnung, eines Tages wieder eine Sprache und Hände zu haben.« Die Versammlung geriet ein wenig in Aufruhr bei meinen Worten – in zustimmenden Aufruhr. Wie sehr ich mit ihnen fühlte! »Aber jetzt ist mehr zu tun, als hoffen und hadern. Wir haben einen Kampf begonnen und eine Runde verloren«, fuhr ich fort. »Es war noch nicht die letzte Runde. Jeder Körper ist gut zum Kämpfen, das weiß ich aus eigener Erfahrung.« Die Laute der Anwesenden schienen mir Zustimmung auszudrücken. »Vielleicht werdet ihr eines Tages wieder einen menschlichen Körper haben. Aber er muß erkämpft werden. Ihr werdet an unserer Seite bleiben. Wir brauchen eure Hilfe. Es hat sich nichts geändert außer der Gestalt eures Körpers. Es ist derselbe Haß, die gleiche Liebe und der gleiche Glaube in euren Herzen. Eure Krallen und Zähne sind bessere Waffen als Lanzen und Dolche.« Ich krümmte meine Finger. »In unseren Händen und Klauen liegt unser Geschick.« Das beeindruckte sie offensichtlich tief. »Wahrlich«, sagte der Priester, »du mußt mehr als ein Mensch dieser Welt sein. Es ist Feuer in deinem Geist und Glut in deinem Herzen, wie ich sie noch niemals sah. Es gibt keinen besseren Streiter für Vitu diesseits und jenseits der Meere.« »Ich weiß nicht, was es ist, das du so außergewöhnlich findest, Priester«, entgegnete ich, »denn ich wehre mich nur meiner Haut wie andere auch. Aber mit einem hast du recht – ich bin nicht von deiner Welt, und ich werde erst wieder Ruhe finden, wenn ich in meine zurückgekehrt bin. Aber nun erzähle, was geschehen ist, seit
dem so wenig erfolgreichen Kampf. Und vor allem, wo ist Thamai?« Traurig erwiderte Karuam. »Sie haben sie mitgenommen, Ubali.« »Lebend?« »Ja, lebend. Aber …« »Was aber?« entfuhr es mir. Er zögerte. Dann sah er mich unsicher an. »Ein wenig fürchte ich das Feuer in dir«, sagte er stockend. Ich schüttelte den Kopf. »Diese Hände haben noch nie einen Freund geschlagen. Der Zorn macht mich nicht blind. Hab keine Furcht vor mir, Priester!« »So muß ich dir eine böse Nachricht geben, Freund. Ich sehe keinen Grund, warum Baril das Mädchen am Leben lassen sollte. Wie ich ihn kenne, hat er einen bestimmten Zweck damit verfolgt. Ich könnte mir denken, daß er herausbekommen will, was Besonderes an euch beiden ist …« Er hielt stockend inne, als ich hörbar mit den Zähnen knirschte. »Warum sie? Warum nicht mich?« »Es war wohl leichter, des Mädchens habhaft zu werden. Außerdem rechnet er sicher damit, daß nun etwas zu ihrer Befreiung geschieht. Seine Fallen werden bereit sein. Er ließ alle meine Männer töten, nur bei mir gaben sie sich keine besondere Mühe. Er wußte, daß es nichts nützt, mich zu töten. Außerdem ist er jetzt in einer Lage, da er es sich erlauben kann, ein wenig mit uns zu spielen.« »Denkt er«, knurrte ich. Der Priester nickte: »Er rechnet nicht mit ihnen«, fuhr er fort, »denn er weiß nicht, daß ich sie wiedererwecken kann. Ich habe es seit hundert Jahren nicht mehr getan. Es ist immer mit Qualen und Schwäche verbunden, denn ich brauche dafür mehr …« »Wie machst du es, Karuam?« unterbrach ich ihn. »Mit meinem Blut, so wie es die Legende berichtet. Ich füge mir Wunden zu … hier …« Er hob die Arme. »Sie sind kaum mehr zu sehen, denn mein Blut heilt auch mich. Dann wasche ich sie damit. Es ist, als würden sie im
Wasser Vitus baden.« »Das hast du auch mit mir getan?« Er nickte. »Aber deine Verwandlung verwundert mich, mein Freund. Denn du warst nicht tot, auch nicht lebensgefährlich verletzt. Du hattest nur viel Blut verloren. Du lebtest, und ich wusch nur deine Wunden …« Noch immer verwundert schüttelte er den Kopf. »Ich bin jedenfalls recht froh darüber, und ich muß dir danken.« »Ich bin froh, dir begegnet zu sein. Du stehst in hoher Gunst des Lebensgeists.« »Genug geschwätzt«, lenkte ich ein. »Bist du kräftig genug zu gehen, nach all dem Blut, das du gegeben hast?« »O ja.« Er erhob sich rasch. »Wieviel Zeit ist vergangen?« »Die ganze Nacht …« »Die ganze Nacht?« entfuhr es mir. »Dieser Teufel hatte die ganze Nacht Zeit, mit ihr …? Wohin hat er sie gebracht?« »In seinen Tempel … ich bin ziemlich sicher …« »Nicht in diese Gewölbe, von denen du gesprochen hast?« wandte ich ein. Er nickte nach einem Augenblick. »Es wäre möglich. Aber dann sehe ich keine Möglichkeit, sie zu finden …« »Wir werden sehen. Und wenn ich jeden Stein dieser Stadt mit eigenen Händen abtragen muß, ich werde sie finden! Erinnere dich! Du warst dabei, als diese Stadt aufgebaut wurde. Du mußt diese Gänge von allen am besten kennen.« »Aber das ist Hunderte von Jahren her, Ubali …!« »Ich weiß, aber versuche dich wenigstens zu erinnern. Hier, nimm den Dolch. Du kannst einen Plan in den Stein ritzen. Stück um Stück, das mag helfen. Und es ist nicht nur Thamais wegen. Wenn es stimmt, daß Baril seine Kerker dort unten hat, dann haben wir eine kleine Armee von Helfern, die vielleicht alle ein wenig schwach bei Kräften sind, aber die Gelegenheit begrüßen werden, ihren Schindern an die Kehle zu springen. Das ist ein Eisen, das wir ins
Feuer legen sollten.« Ich mußte lächeln, als er mich verständnislos ansah. »Eine alte Redeweise meines Volkes, Priester. Wer viele Eisen im Feuer hat, der wird sicher eines schmieden. Aber nun zu dir, mein gefiederter Freund.« Ich wandte mich an den Adler. »Du bist der erste, der uns helfen kann. Weißt du welcher deiner Männer es ist?« fragte ich den Priester. Der Vogel gab ein Krächzen von sich, das mich an das Wort Orn erinnerte, und tatsächlich sagte Karuam: »Es ist Orn. Was hast du vor?« »Es wird wenig Aufsehen erregen, wenn er unauffällig zum Tempel hinabfliegt. So lange niemand seinen Kopf und das Mal aus der Nähe sieht, wird auch niemand Verdacht schöpfen. Vielleicht kann er feststellen, ob Thamai im Tempel ist.« »Wenn sie ihn abschießen …?« »So können wir nichts für ihn tun«, sagte ich hart. »Der Tod lauert auf alle von uns. Aber dies ist kein Leben für uns. Wir müssen es uns erst erobern, erkämpfen. Unser Geschick hängt nun an jedem einzelnen von uns. Bist du bereit?« Der Adler krächzte und schlug mit den Flügeln. »Orn!« rief ich ihn zurück, als er vom Fenstersims abheben wollte. »Ich weiß, daß es schwer ist, sich verständlich zu machen, weil der Körper nicht gehorcht, wie man möchte. Das Krächzen scheint dir leichtzufallen. Kannst du es zweimal hintereinander?« Er krächzte zweimal. Ich nickte. »Gut. Einmal krächzen bedeutet ja, zweimal nein. Wirst du es dir merken?« Er krächzte einmal. Dann hob er ab. Das Fliegen schien nicht ganz einfach zu sein, aber schließlich siegten die Reflexe des Vogelkörpers über seinen neuen Bewohner, und der Adler glitt mit ausgebreiteten Schwingen hinab. Soweit ich es sehen konnte, beachtete ihn niemand. Ich wandte mich vom Fenster ab. Nun konnten wir nur noch warten. Ich versuchte, nicht an Thamai zu denken und einen klaren Kopf zu behalten.
Karuam hatte begonnen, Striche in den Boden zu ritzen, langsam erst, dann immer rascher. Er schien meinen Blick zu fühlen, denn er sah auf und sagte lächelnd: »Ich fange an, mich zu besinnen. Es mag nicht alles stimmen, aber wenn es die Wege noch gibt, werde ich sie wiederfinden. Ich fürchte nur, Baril wird manches verändert haben … Tore verschlossen, neue Mauern errichtet …« »Wir werden sie niederreißen, oder einen anderen Weg finden.«
6.
Eine gute Stunde später kam Orn zurück. Wir schraken zusammen, als er durch das Fenster geschwirrt kam und seine mächtigen Schwingen faltete. »Ist Thamai im Tempel?« Er krächzte zweimal. Also nein. Ich wollte sichergehen. »Du irrst dich nicht?« Erneut zweimal. Nein, er irrte sich nicht. »Hast du erfahren können, wo sie ist?« Wieder zweimal. »Und Baril, ist er im Tempel?« Zweimal. »Hast du ihn anderswo gesehen?« Nein. »Sind Barils Wachen auf den Gassen?« Einmal. »Viele?« Ja. »Hast du sonst etwas gesehen, was für uns wichtig ist?« Ja. Verdammt, was nun? Ich konnte ihn den ganzen Morgen fragen und nicht auf das richtige stoßen. Aber der Priester schien eine Idee zu haben. »Wo hast du es gesehen, Orn? Im Tempel?« Ein Krächzen. Es klang fast erleichtert. »Wird ein Tempelfest vorbereitet?« Ja. »Das bedeutet nichts Gutes, Ubali. Wir dürfen keinen Augenblick mehr vergeuden. Wenn er Thamai bis jetzt noch nichts angetan hat, dann wird er es bestimmt zum Fest tun, um zu beweisen, daß seine Lebensgeister über Vitu triumphieren.«
*
Der Weg nach unten in diesen modrigen Kammern schien endlos. Wir hatten Fackeln mit, aber nur eine entzündet, da wir nicht wußten, wie lange sie reichen mußten. Auch wollten wir nicht die Aufmerksamkeit möglicher Wachtrupps auf uns lenken. Wir blieben oft stehen und lauschten. Bisher hatte es keine Schwierigkeiten gegeben. Unsere verwandelten Begleiter folgten uns lautlos in der Dunkelheit. Einmal vernahmen wir Stimmen. Ich schlug vor, sie zu umgehen, aber der Priester meinte, daß sie wahrscheinlich ein Tor bewachten, das uns schneller zum Ziel führen mochte. Es genügte auch, wenn es uns in die Nähe des Oberscharlatans brachte. Wenn ich seinen Hals erst zwischen den Fingern hatte, war alles weitere recht einfach. Mit einem der Löwen an meiner Seite schlich ich mich an die Stelle heran. Da Karuam mit der Fackel zurückblieb, mußten wir uns ein gutes Stück durch völlige Dunkelheit tasten, ehe wir einen Lichtschimmer vor uns bemerkten. Vorsichtig spähten wir in den Seitengang und sahen zwei Männer vor einer Holztür stehen. Eine Fackel hing neben ihnen in einer Mauernische. Die beiden unterhielten sich. Sie waren ziemlich jung. Beide trugen das Lederstreifenwams, das wir schon bei den Torwachen bemerkt hatten. Zwei Lanzen lehnten nicht weit von ihnen. Die Männer schienen keine Gefahr zu erwarten. Sie benahmen sich sehr sorglos. »Nicht töten«, flüsterte ich meinem Begleiter zu, der zustimmend die Mähne schüttelte. »Leise«, flüsterte ich erneut. Lautlos schritten wir auf sie zu. Sie bemerkten uns erst, als es bereits zu spät war. Bevor sie die Lanzen erreichen konnten, waren wir über ihnen. Sie waren keine Kämpfer. Mein Gegner ging unter dem ersten
Schlag zu Boden, und ich wandte mich rasch dem Löwen zu, da es mir für ein Raubtier schwierg schien, einen Gegner außer Gefecht zu setzen, ohne ihn zu töten und ohne dabei selbst ein Messer in den Bauch zu kriegen. Aber dann klopfte ich ihm anerkennend auf die Schulter. Er hatte den Mann einfach überrannt und ihm den Rachen an die Kehle gesetzt. Mit dem linken Vorderfuß stand er auf dem Unterarm des Jungen, mit dem er offensichtlich nach dem Messer greifen wollte. Der Junge lag still und wagte sich nicht zu regen. Ich nahm ihm das Messer ab, dann bat ich meinen Begleiter, ihn loszulassen. »Bleib liegen und sei still«, warnte ich ihn. »Ein Laut ist dein letzter Laut!« Er nickte mit blassem Gesicht und rührte sich nicht, während ich ihn mit Teilen seiner Kleidung verschnürte und knebelte. Das gleiche tat ich mit dem anderen, der erst zu sich kam, als ich bereits mit ihm fertig war. Sie blieben ruhig liegen und beobachteten uns eher neugierig als wütend. Offenbar waren sie dankbar, daß sie so gut wegkamen. Es mochte auch sein, daß Vitus Mal auf dem großen Schädel des Löwen sie beeindruckte. »Jetzt wollen wir uns ansehen, was dahinter ist«, brummte ich und legte das Ohr an die Tür. Erst war nichts zu hören, doch dann vernahm ich hallende Geräusche. »Es muß ein größerer Raum sein«, murmelte ich. Vorsichtig versuchte ich die Tür zu öffnen. Sie ging nach innen auf. Vor mir ragte ein steinerner Aufbau hoch. Der Altar, den ich im Traum gesehen hatte; der Altar, vor dem das Mädchen Marlea von Baril in eine Raubkatze verwandelt worden war. Das Bild hatte sich mir tief eingeprägt. Es gab keinen Zweifel. Niemand schien in der Nähe zu sein. Vielleicht war dies der Eingang, durch den auch Faran gekommen war, um die Verwandelte zu befreien. Ich schloß die Tür hinter mir und huschte in das düstere Innere.
Einige Fackeln brannten vor dem Altar. Durch die fernen Eingänge fiel Sonnenlicht. Ich bemerkte einige Männer, die Gefäße mit Räucherwerk vor dem Altar aufbauten. Baril war nicht da. Das erfüllte mich mit neuem Unbehagen und quälenden Gedanken an Thamai. Rasch zog ich mich zurück. Ich gab dem Löwen Anweisung, auf die beiden Gefangenen zu achten, dann lief ich zu Karuam und den anderen zurück. Hastig berichtete ich ihm, was wir entdeckt hatten. Er nickte nachdenklich.. »Was meinst du, Priester, finden wir nicht den einfachsten Weg zu den Gewölben von diesem Tempel aus?« »Sicher«, stimmte Karuam zu. »Aber es ist auch der gefährlichste.« »Einfach wird keiner«, hielt ich ihm entgegen. »Du hast recht, Ubali. Es wäre ein großer Zeitgewinn. Aber ich weiß nicht, ob ich mich in dem Tempel zurechtfinde. Ich war nur einmal darin. Aber ich weiß, daß es kein neues Gebäude ist, sondern aus der Umgestaltung mehrerer Häuser entstand … hm …« Er legte nachdenklich die Finger ans Kinn. »Doch … wenn ich einen Augenblick Zeit habe …« »Dafür kann ich nicht bürgen«, dämpfte ich seinen Eifer. »Aber wir müssen es trotzdem wagen. Und jetzt ist der beste Zeitpunkt. Ich sah nur wenige Männer im Tempel. Mit ihnen werden wir rasch genug fertig, wenn es zum Kampf kommt. In dem Fall dürfen sie allerdings keine Gelegenheit haben, zu schreien.« Der Priester nickte entschlossen. »Gut, dann vorwärts!« befahl ich und eilte voran. An der Tür hatte sich nichts verändert. Die beiden Gefangenen lagen noch immer reglos vor dem sitzenden Löwen. »Was tun wir mit ihnen?« fragte Karuam. »Wir nehmen sie mit«, erklärte ich. Er schüttelte bedenklich den Kopf. »Das ist gefährlich.« »Das sagst du nun schon seit Stunden zu allem und jedem.«, knurrte ich verärgert. »Zaudern bringt uns auch nicht weiter. Und hierlassen können wir sie nicht. Sie würden uns bald verraten. So
bleibt nur, sie zu töten oder mitzunehmen. Nun, wie ist deine Wahl, Priester?« »Wir nehmen sie natürlich mit«, stimmte er verärgert zu. Grinsend wandte ich mich der Tür zu. Es war noch immer sehr still dahinter. Langsam öffnete ich sie einen Spalt. In der Nähe des Altars schien alles ruhig. Ich öffnete sie weit genug und schob den Priester durch. »Sieh es dir an, Karuam.« Während der Priester sich umsah, löste ich den beiden Gefangenen die Fußfesseln und schärfte ihnen ein, still zu sein und keinen Fluchtversuch zu machen, wenn ihnen ihr Leben lieb war. Gleich darauf erschien der Priester wieder in der Tür. »Wie ich dachte«, flüsterte er aufgeregt, »der Hinterausgang, der in die Gewölbe führen könnte, ist auf der anderen Seite, halb hinter dem Altar. Mit einigem Glück können wir ihn erreichen, ohne daß uns jemand entdeckt. Aber möglicherweise stehen auch hinter dieser Tür Wachen. »Das müssen wir riskieren, Priester. Wir werden mit ihnen fertig.« »Dann rasch, um Vitus willen!« drängte der Priester. »Ich glaube, daß jeden Augenblick die Scharen in den Tempel strömen werden. Die Vorbereitungen für das Fest sind so gut wie abgeschlossen.« Ich nickte und öffnete die Tür. »Vorwärts, Priester.« Ich schob den Zögernden durch. »Jetzt ihr!« Ich winkte den Verwandelten. »Und flieht nicht, wenn sie uns entdecken«, zischte ich ihnen zu. »Kämpft!« Ich wartete, bis sie durch waren, dann winkte ich den beiden Gefangenen. »Bedenkt, ich bin hinter euch.« Sie nickten hastig. Wir huschten in den Tempel. Der Priester und die Vierbeiner hatten bereits die Rückseite des Altars erreicht. Wir schlossen auf. Nun begann der riskante Teil. »Behalte unsere Freunde im Auge«, flüsterte ich Karuam zu. »Wenn ich winke, zögert nicht.« Er nickte. Ich nahm einen der Dolche aus meinem Gürtel. Ein halbes Dutzend weitere steckten dort. Sie hatten Karuams Männer gehört.
Aber in ihrer augenblicklichen Gestalt konnten sie wenig damit anfangen. Dann schritt ich langsam über das freie Stück, das man vom Eingang her gut übersehen konnte. Vier Männer bemerkte ich in der Nähe des Eingangs. Sie waren noch immer mit den Räucherschalen beschäftigt. Sie blickten nicht auf. Stimmengemurmel drang von draußen herein. Eine größere Anzahl von Menschen schien vor dem Tempel versammelt. Unangefochten erreichte ich die Tür. Ich lauschte einen Augenblick. Dahinter war alles still. Rasch öffnete ich und schlüpfte hinaus. Ich stand zwischen drei überraschten Männern. Sie starrten mich unsicher an. Für einen Feind hielten sie mich nicht unbedingt, da ich aus dem Tempel kam, und es unwahrscheinlich war, daß ein Feind von dort kam. Aber sie kannten mich nicht. Niemand außer Karuam und den beiden Wachen am anderen Eingang hatten mich bisher als Ubali gesehen. Was tun? Kämpfen, wenn es sich vermeiden ließ? Wenn ich sie unter dem Vorwand eines Befehls von Baril in den Tempel schickte, entdeckten sie wahrscheinlich den Priester und die Verwandelten. »Führt mich zum Oberpriester!« befahl ich barsch. »Rasch, es ist wichtig!« Die drei sahen sich an. »Wer bist du? Ich habe dich noch nie gesehen«, sagte einer. »Was hat es dich zu kümmern, Narr!« wies ich ihn zurecht. »Es droht Gefahr, und es gilt keinen Augenblick zu vergeuden. Sag mir deinen Namen, damit ich Baril …« »Nein, hab Nachsicht!« entfuhr es dem Mann. Er war bleich geworden. Er nickte den beiden anderen zu. »Bringt den Mann hinab.« Die zwei wandten sich wortlos um und schritten vor mir her einen kurzen Gang entlang und eine endlos scheinende Treppe hinab. Ich wartete, bis ich mich weit genug von der Tür entfernt glaubte, dann sprang ich auf die beiden zu und schlug ihre Köpfe zusammen. Einer gab einen ächzenden Laut von sich. Dann waren sie still. Ich
hob die Fackel auf, damit sie nicht verlöschte. Ich zögerte kurz, aber dann dachte ich, daß sie lange genug schlafen würden, bis wir vorbeikamen. Mit der Fackel in der Hand machte ich mich auf den Rückweg. Der Mann an der Tür sah mir verwundert entgegen. Ich gab seiner Verwunderung keine weitere Nahrung, bis ich ihn erreicht hatte. Dann hatte ich meine Hände an seinem Hals, bevor er noch zu der Frage kam, die ihm auf der Zunge lag. Er zappelte kurz, dann war Ruhe. Vorsichtig öffnete ich die Tür und schrak zurück. Sie strömten bereits in den Tempel. Es war unmöglich, ungesehen an die Tür zu gelangen. Ich öffnete noch einmal vorsichtig einen Spalt. Karuams Gesicht war mir zugewandt. Er schien verzweifelt auf mein Zeichen zu warten, um loszustürmen. Es war nun die einzige Chance. Sie konnten weder vor noch zurück, ohne entdeckt zu werden. Und früher oder später würde man sie auch dort entdecken, wo sie sich jetzt befanden. Entschlossen nickte ich dem Priester zu. Bei mir war alles klar. Wenn sie rasch liefen, mochten sie durch sein, bevor eine der Wachen handelte. Wir konnten die Tür verriegeln. Das verschaffte uns einen ausreichenden Vorsprung. Aber es mußte rasch geschehen, bevor die beiden Betäubten aufwachten und Hilfe herbeiholten. Ich winkte noch einmal und sah sie aufspringen. Mit angehaltenem Atem starrte ich auf die Menge. Einige sahen auf, als sie die Bewegung bemerkten. Dann stieß einer einen Ruf aus, und die Wachen wirbelten herum. Sie hoben die Lanzen, als die ersten der Verwandelten die Tür erreichten. Karuam, der die Gefangenen vor sich hertrieb, konnte es nicht mehr schaffen. Fluchend wollte ich herausstürzen, da brach einer der Löwen aus und lief den heranstürmenden Wachen entgegen. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Die Menschen wichen angstvoll zurück. Der Löwe brüllte und setzte zum Angriff an.
Einen Augenblick schien es, als würden selbst die Wachen den Mut verlieren. Aber dann sahen Sie ein, daß Flucht wenig half. Sie warfen ihre Lanzen, und zwei erwischten den hellen Katzenkörper mitten im Sprung und durchbohrten ihn. Ich biß die Zähne zusammen. Wir konnten ihm nicht mehr helfen. Aber sein Opfer würde nicht umsonst sein. Ich schob den Priester und die Gefangenen durch die Tür und schloß sie, als die Wachen erneut ihre Lanzen warfen. Wir spürten, wie sie sich in die Tür bohrten. Gleich darauf folgte wütendes Getrommel an den Bohlen. Aber die Tür hielt. Sie würden eine Weile brauchen, um sie aufzubrechen. »Rasch«, zischte ich. »Hier entlang. Den nehmen wir auch mit.« Ich führte sie die Treppe hinab. Die beiden Wachen lagen noch an ihrem Platz, aber sie begannen sich bereits zu regen. Wir fesselten alle drei und schlugen sie leicht ins Gesicht, bis sie zu sich kamen. Sie starrten uns wütend an, schienen sich aber in ihr Schicksal zu fügen. Wir nahmen sie in die Mitte und eilten weiter. Geraume Weile hörten wir noch das Trommeln an der Tür und hofften, daß es unbemerkt blieb. Niemand begegnete uns. Aber da die beiden Wachen mich nach unten bringen wollten, mußte wohl Baril irgendwo hier sein. Ich ließ anhalten. »Irgendwo hier unten muß Baril sein« flüsterte ich. »Wir werden unseren Freunden auf den Zahn fühlen. Bring die Fackel näher.« Ich hielt einem der Gefangenen das Messer an die Kehle. »Wenn du einen Laut von dir gibst, werde ich dich töten«, erklärte ich. Er nickte hastig. Ich nahm ihm den Knebel ab. Er biß die Zähne zusammen. »Wo ist Baril, der Oberpriester?« fragte ich ihn. Als er schwieg, ruckte ich das Messer schmerzhaft und preßte gleichzeitig die Hand auf seinen Mund, um seinen Aufschrei zu ersticken. Es war nur eine Fleischwunde, aber sie vermittelte ihm den Eindruck, daß ich nicht spaßte. »Hör zu«, knurrte ich. »Wir hegen keinen Funken Liebe für die Helfer des Oberpriesters. Ich töte
dich, wenn du den Mund nicht aufmachst. Und ich bin sicher, dein Tod wird deine Freunde hier genügend beeindrucken, daß sie reden werden. Nun, wie ist es?« »Ich … ich sage es …«, keuchte er, und ich ließ mit dem Druck an seiner Kehle ein wenig nach. »Also?« »Er … er ist unten … in seinen Kammern …« »Weißt du den Weg dorthin?« Er zögerte einen langen Augenblick, dann nickte er zustimmend. »Ja, Herr …« Ich ließ ihn los. »Gut. So wirst du vorangehen. Aber hüte dich. Dein Leben ist völlig wertlos, denn deine Freunde können jederzeit deine Stelle einnehmen!« »J-ja,Herr.« Ich knebelte ihn wieder und schritt dicht hinter ihm. Es ging abwärts. Ich wußte, daß mich jeder Schritt näher an Thamai brachte. Ich wußte auch, daß ich jeden ohne Zögern töten würde, der sich mir in den Weg stellte. * Weiter unten bemerkten wir die Töne. Sie schienen aus den Mauern zu kommen. Es klang wie Wimmern und Klagen und Heulen, aber schwach, als lägen Berge aus Stein zwischen uns und der Höhle, in der diese Qualen erlitten wurden. Ich zog dem Gefangenen erneut den Knebel aus dem Mund. »Sag mir, was das ist?« »Ich … ich weiß es nicht, Herr«, stammelte der Mann. »Hast du es noch nie gehört?« »Doch. Immer vor den Festen erklingt es. Es wird so laut, daß es im Tempel zu hören ist. Es heißt, es seien die Verdammten in den Gärten der Geister. So wird es allen Ungläubigen ergehen …« »Narr!« entfuhr es mir. »Weißt du, woher es kommt?« »Ja, Herr. Aus den Kammern des Oberpriesters. Aber durch sie
gelangt man in die Gärten der Geister.« »Warst du schon einmal dort?« »Nein«, entfuhr es ihm entsetzt. »Niemand kehrt von dort zurück. Es ist der Ort ewiger Verdammnis …!« Ich schüttelte den Kopf. Dann wandte ich mich an die anderen Gefangenen. »Hat einer von euch dem noch etwas hinzuzufügen?« Sie verneinten hastig. »Wie weit ist es noch bis zu diesen Kammern?« »Nicht mehr weit, Herr.« »Dann vorwärts.« Die klagenden Töne wurden lauter, füllten die Gänge und Räume. Nur mit Mühe konnte ich ein Schaudern unterdrücken. Es wurde immer unerträglicher. Selbst den Gefangenen stand das Grauen im Gesicht geschrieben. Tränen der Wut und Hilflosigkeit kamen in meine Augen bei dem Gedanken, Thamai könnte nur einen Bruchteil dieser Qualen erleiden. Unser unfreiwilliger Führer begann sich plötzlich heftig zu gebärden, so daß ich ihm den Knebel abnahm. »Was hast du?« »Weiter dürfen wir nicht hinab, Herr.« Seine Stimme klang bittend. »In der nächsten Kammer ist ein Gong. Man muß ihn schlagen und warten.« »Das mag sein«, erwiderte ich nicht ohne Spott. »Aber da es kein freundschaftlicher Besuch ist, den wir deinem Priester abstatten wollen, werden wir darauf verzichten, unser Kommen anzukündigen.« Furcht war in den Augen des Mannes. »Dann werden die Wächter über uns kommen …!« »Die Wächter?« wiederholte ich fragend. »Wer sind sie?« »Ich habe sie noch nicht gesehen, und den Lebensgeistern sei Dank dafür. Wen sie in den verbotenen Gängen antreffen, den bringen sie in die Gärten.« »Wenn du noch nie einen gesehen hast, und wenn noch nie einer aus den Gärten zurückgekommen ist, woher willst du dann wissen,
daß es das alles wirklich gibt?« »Wir … wir wissen es …!« Auch die anderen Gefangenen nickten heftig mit den Köpfen. Ich schüttelte meinen. »Ich kann mir schon denken, was sie überzeugt«, meinte Karuam. »Es ist für Baril nicht schwer, diesen furchtsamen Narren solch abschreckende Gedanken in die hohlen Köpfe zu pflanzen. Zu rasch käme sonst wohl auch jemand hinter die Teufeleien, die er hier unten treibt.« »Ja«, erwiderte ich, »und ich habe große Lust, mir diese Wächter und Gärten anzusehen. Und ich habe das Gefühl, daß einige dieser armen Teufel, die da unten die Hölle erleben, noch zu helfen ist. Vorwärts!« »Herr!« rief der Gefangene entsetzt. »Nehmt uns nicht mit in euer Verderben! Laßt uns hier … wir werden es euch danken!« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Euch müssen die Augen geöffnet werden. Und bei allen diesen unheiligen Geistern, ich werde sie euch öffnen!« Ich schob ihm den Knebel in den Mund und trieb den Mann an. Mit weitaufgerissenen Augen stolperte er vorwärts. Wir schritten langsamer voran und hielten oft an, um zu lauschen, obwohl in dem Klagen nicht mehr viel zu hören war. Man hörte jetzt auch bereits einzelne schreiende Stimmen heraus, langgezogene, quälende Schreie, die mich schaudern machten. »Es muß wahrhaftig die ewige Verdammnis sein«, murmelte der Priester gepreßt. »Sie wird ein Ende haben.« Ich sagte es mehr zu mir selbst. Ich schwor es mir. * Wir waren so völlig betäubt von dem ununterbrochenen Schreien, das nun bereits sehr nah zu sein schien, daß wir die drohende Gestalt erst im letzten Augenblick bemerkten. Der erste Angriff ging
so rasch vor sich, daß ich kein klares Bild von unserem Gegner bekam. Das einzige, das ich deutlich sah, waren zwei im Feuerschein blitzende Augen. Die Gestalt wich vor der Fackel zurück, schlug aber mit etwas nach uns, das wie eine Peitsche knallte und sich um den Körper meines Gefangenen schlang. Während dieser lautlos zu Boden gerissen wurde, hieb ich mit dem Dolch nach dem peitschenähnlichen Etwas und schnitt es auf den zweiten Hieb durch. Dann lagen wir einen Augenblick keuchend. Unser Gegner war verschwunden. Karuam entzündete eine weitere Fackel, aber das kurze Stück Korridor war leer. Undeutlich hörte ich die wimmernden Laute des Gefangenen und entfernte den Knebel. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Ein grüner, fingerdicker Riemen hielt seinen Körper noch immer umklammert. Ich säbelte ihn mit dem Dolch durch, und zwei armlange Stücke fielen zuckend auf den Steinboden. Von Ekel erfüllt, stieß ich sie mit dem Fuß zur Seite, wo sie nach einem Augenblick stillagen – leblos. Ich überwand mich und hob ein Stück auf. Ein grüner Saft quoll aus der Schnittfläche. Es war ein Stiel oder Blatt einer Pflanze. Einer wilden Pflanze. Solcherart also waren Barils Wächter. Ich schauderte. »Pflanzen«, sagte ich zu Karuam. »Ich habe ihresgleichen schon einmal erlebt. Ich sah einen Dschungel dieser fleischfressenden Ungeheuer weit im Osten …« »Es gibt auch einen im Süden, wenige Tagesmärsche von hier. Diese Pflanzen waren der Grund, warum unsere Stämme nach Norden wanderten und sich hier niederließen«, erklärte Karuam. »Er bedient sich also nicht nur ihres Blütenstaubs. Aber allein den Mengen des Staubes nach zu schließen, muß er sehr viele dieser Pflanzen in die Stadt geschafft haben. Vielleicht vermehrten sie sich selbst. Und ich habe so eine Ahnung, was diese Gärten der Geister sind.« Wir starrten in den Korridor vor uns. »Aber sie sind keine Götter und keine Geister«, stellte ich fest. »Nur Pflanzenbestien, mit denen
Baril diese Stadt beherrscht. Sie sind so verwundbar wie wir. Wie ist es?« wandte ich mich an die Gefangenen und winkte Karuam, ihnen die Knebel abzunehmen. In dem Chaos schreiender Stimme konnten sie uns nicht verraten. »Wollt ihr in Fesseln mit uns weitergehen, oder wollt ihr um eure Haut kämpfen? Mit uns?« »Ich will kämpfen!« rief einer der Jungen. »Binde ihn los. Karuam und gib ihm seine Lanze. »Ich will auch kämpfen«, sagte der zweite. Ich nickte. »Aber seid gewarnt. Ihr kämpft mit uns. Sie werden euch zerreißen, wenn ihr ein falsches Spiel versucht.« Ich deutete auf die Verwandelten. Die beiden Jungen nickten bleich. Da schlossen sich auch die übrigen drei an. Sie waren verzweifelt. Die Bilder und Befehle, die Baril ihnen bei seinen Tempelfesten eingegeben hatte, steckten tief in ihnen, tiefer als in den beiden Jungen. Und es würde nicht leicht sein, sie davon zu befreien. In gewisser Weise waren sie blind der Wirklichkeit gegenüber, und sie mochten die erstbeste Gelegenheit benutzen, über uns herzufallen. Aber vielleicht erkannten sie früh genug, daß die Pflanzen keinen Unterschied zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen machten. Ich mußte das Risiko eingehen. Ich ahnte, daß nun jeder Kämpfer zählte, denn Baril würde es uns nicht leicht machen, in sein innerstes Reich einzudringen. * Die Gesichter der Männer waren blaß. Sie hätten am liebsten die Waffen fortgeworfen und wären gelaufen. Mit jeder Kammer, die wir durchquerten, schien ihnen der Frevel deutlicher zu werden, den sie begingen, indem sie hier eindrangen. Pflanzen ließen sich vorerst keine blicken, obwohl wir jeden Augenblick darauf gefaßt waren, das peitschende Knallen zu hören. Dann ließ uns ein Schrei von hinten herumfahren. Einer der Jungen krümmte sich auf dem Boden, halb gefesselt von mehreren
Stielen. Wir sprangen ihm zu Hilfe, hackten mit Dolchen und Lanzen gegen eine Wand von Pflanzenarmen, die nach uns schlugen. Aber mehr als die Dolche und Lanzen richteten die Fackeln aus. So kostbar unsere Fackelvorräte auch waren, nun zögerten wir nicht länger. Wir entzündeten sie nacheinander und warfen sie in die zuckenden, peitschenden Arme, die sich in der Glut des Feuers krümmten. Plötzlich fing das ganze Gebilde vor uns Feuer. Ein Kreischen erklang, das fast an menschliche Pein erinnerte, dann taumelte die Pflanze zurück und brach zusammen. Wir starrten gelähmt, wie sich das brennende Ding herumdrehte, nun ohne seine Arme, und uns eine beinah menschliche Gestalt enthüllte. »Ihr Götter!« flüsterte einer der Männer. Das Wesen öffnete einen mundartigen Schlitz in einem Gesicht, in dem nur die Augen wie große Blüten sichtbar waren, und stieß erneut einen qualvollen Schrei aus, bevor es sich krümmte und in den Flammen starb. »Das sind keine wilden Pflanzen, Karuam«, sagte ich leise. »Das waren einmal Menschen. Eure Brüder. Es ist Barils Werk! Beginnt ihr langsam zu sehen, wie blind ihr wart?« Es blieb keine Zeit für eine Antwort. Vor uns öffnete sich ein Teil der Mauer wie eine Tür, und eine Gestalt trat in den Korridor, die ich unter tausend anderen erkannt hätte: Baril! Er starrte uns entgegen, offenbar geblendet von dem Feuer, das noch immer neue Nahrung am Kadaver des toten Geschöpfes fand. Ich ließ ihm keine Zeit, sich an das Licht zu gewöhnen und einen Trick zu versuchen. Ich warf den Dolch. Er erkannte es zu spät. Er zuckte zurück, aber nicht abwehrend, sondern unter der Wucht des Messers in seiner Kehle. Er fiel mit einem gurgelnden Schrei. Die anderen standen erstarrt. Sie begriffen es nicht sofort. Ein
betäubender Duft kam durch die offene Tür. Es war zu leicht gegangen, dachte ich verwirrt. Aber nun war der Weg frei zu Thamai. Ich stolperte vorwärts, bückte mich nach Baril und sah, daß er tot war. »Der Weg ist frei«, murmelte ich, halb von Übelkeit gewürgt von dem Gestank, der aus dem Innern der düsteren Kammer drang. Ich wartete nicht auf die anderen. Die Schreie der Pein kamen von da drinnen, und ich hatte nur einen Wunsch – sie zu beenden.
7. Ich stürmte in die Kammer und hielt überrascht inne. Es sah aus wie in der Hütte eines Medizinmannes und wie in Iwas Hexenküche. Auf großen Regalen standen Tongefäße, auf die Zeichen gemalt waren. Gefäß reihte sich an Gefäß. Säcke mit Pulver standen halboffen daneben. Von der Decke hingen geschrumpfte Köpfe von Menschen und Tieren. Ein steinerner Kessel stand in der Mitte des Raumes. In ihm war eine dunkle Flüssigkeit, schwarzrot mit einem Geruch von faulendem Fleisch. Ich wußte, es war Blut. Daneben stand ein zweites Becken, über dem ein großer Affenkörper an eisernen Stäben hing. Er war tot. Sonst war der Raum leer. Die Schreie kamen aus dem Hintergrund. Ich entdeckte mehrere Türen, die ein wenig offenstanden. Aber ein Brüllen ließ mich herumfahren. Zwei der Verwandelten drängten sich durch die Tür ins Innere. Dahinter folgten die Wachen und Karuam. Die übrigen Verwandelten waren in einen verbissenen Kampf mit zwei der Pflanzenmenschen verwickelt. Sie hatten sich zwischen den Stielen verbissen, aber Blätter und Schlingen hielten ihre Krallen und Leiber umklammert. Ich zweifelte nicht, wie der Kampf ausgehen würde. »Warum kämpft ihr nicht?« brüllte ich den Männern zu. »Seht nicht zu, wie sie sterben!« Ich stieß sie vorwärts und stürzte mich selbst auf das nächste der Ungeheuer. Augenblicke später hatte ich den Verwandelten frei von den Schlingen, und rammte dem Wesen den Dolch in den Leib. Der Dolch stieß auf Widerstand, als bestünde die Haut aus Rinde, der Körper aus Holz. Dann zuckten Flammen um mich hoch, als die Männer mit den Fackeln herankamen. Eines der Ungeheuer fing Feuer und brannte sofort lichterloh. Die Flammen sprangen auf das andere über. Kreischen erfüllte den Gang. Im Hintergrund sah ich Gestalten auftauchen.
»Zurück!« brüllte ich. Wir zwängten uns durch die Tür und schlossen sie. Keuchend lauschten wir einen Augenblick, aber über den gequälten Stimmen im Hintergrund war nichts zu vernehmen. »Weiter!« Karuam hatte bereits die Türen zu den hinteren Gewölben erreicht. Ich prallte gegen ihn. Betäubt starrten wir in das riesige düstere Gewölbe. Von hier kam alle Qual, alles Grauen. Wir standen vor einer gespenstischen Welt, die sich im Hintergrund verlor. »Der Garten der Geister«, flüsterte einer hinter mir. Ein Garten, ja. Ein höllischer Garten mit tödlichen Gewächsen und unendlich langsam sterbenden Geschöpfen. »O ihr Götter!« sagte einer der Männer. Es kam wie ein Fluch von seinen Lippen. Gewaltige Pflanzen füllten das Gewölbe, mit weit geöffneten, hochgereckten Blüten und messerscharfen Blättern, die wie Zähne gegeneinanderschlugen, als wir in ihre Nähe kamen. Aber was uns vor Grauen erbeben ließ, waren nicht die Pflanzen selbst, sondern die menschlichen Gestalten, die an Ketten über ihnen hingen, hoch genug, daß die peitschenden Blätter und Stiele nur Teile von ihnen erreichen konnten, und das auch nur, wenn die Opfer nicht rasch genug waren, den hochschnellenden Stielen auszuweichen. Manche hingen apathisch, andere hielten ihre Glieder angezogen und wimmerten vor sich hin. Wieder andere starrten mit übermenschlicher Wachsamkeit in das Blattgewirr unter ihnen. Und dann gab es jene, denen Hände oder Füße fehlten. Blut tropfte aus den Stümpfen in die Blüten und wurde mit schmatzenden Geräuschen aufgenommen. Von ihnen kam das qualvolle Schreien. Einen langen Augenblick starrten wir stumm auf dieses unbegreifliche Geschehen, diese Hölle, die Baril für die Ungetreuen und Unwilligen geschaffen hatte. Als die Starre von uns wich, fielen wir mit gerechtem Zorn über diesen Todesgarten her. Wir brachten die Opfer an ihren Ketten außerhalb der Reichweite der Pflanzen. Dann legten wir Feuer an die Gewächse. Die Männer befreiten die Opfer von ihren Ketten,
während eine um die andere der Teufelsblumen in Flammen aufging. Langsam erstarben die peinvollen Schreie in diesem Gewölbe. Wer gehen oder kriechen konnte, kam mit uns und half, die Schwachen und Schwerverletzten zu tragen. Nun erfüllte ein anderes Schreien das Gewölbe, ein schrilles Kreischen, das aus den Schlünden der brennenden Pflanzen kam. Mir schauderte vor der Erbarmungslosigkeit, mit der wir nun diese Geschöpfe vernichteten, die im Grunde auch nur durch Barils Machenschaften hier waren. Aber es war über alle Maßen erleichternd, diese Hölle brennen zu sehen. Wir wichen immer weiter vor der Glut zurück und gelangten durch Türen in ein zweites Gewölbe. Dort sahen wir mit erneutem Grauen, daß die Hölle noch nicht zu Ende war. Ungeheuer, wie wir sie noch nie zuvor gesehen hatten, hingen an Ketten, oder sprangen wimmernd in Käfigen hin und her. Im Rausch des Kämpfens und Tötens stürmten wir vorwärts und hielten jäh inne. Manche von den Monstrositäten konnten sprechen, andere nur kreischen oder heulen. Manche vermochten nur klagende Töne von sich zu geben. Alle aber sahen uns mit intelligenten Augen voll stummer Qual an. Sie befanden sich in den verschiedensten Verwandlungen begriffen, manche abgeschlossen, manche eben erst begonnen, andere wuchernd in Formen, wie keine Natur sie erfinden konnte, nur die Ausgeburt einer kranken Phantasie; ein Alptraum ähnlich dem wilden Dschungel, den ich erlebt hatte, nur aus Fleisch geschaffen. Und doch war in allen noch ein Funke des Menschlichen, und eine irre Hoffnung auf Erlösung. Stumm vor Grauen machten wir uns an die Befreiung dieser hoffnungslosesten aller Kreaturen. Ihr Anblick trieb uns eine Flut von Tränen in die Augen. Feuchtigkeit tropfte von der Decke des Gewölbes wie ein steter feiner Regen. Es war eine rötliche Flüssigkeit, wie Blut, und wo sie
die Haut traf, bildeten sich brennende, rote Flecken und Blasen. Es sah aus, als würde das Fleisch jeden Augenblick zu wuchern beginnen. Panik befiel uns. Aber am Verlassen des Gewölbes hinderte uns eine Gruppe von nackten Menschen, die mit der Wildheit von Bestien auf uns losstürmten und mit Nägeln und Zähnen kämpften. Sie vermochten nicht zu sprechen, und in ihren Augen war der wache Ausdruck von Tieren, aber nicht mehr. Ein erbitterter Kampf entbrannte. Ich wußte, daß wir andere Verwandelte vor uns hatten. Tiere, die menschliche Gestalt erhalten hatten – so wie jene Schlange einst in Vitus Reich. Der Kampf währte nicht lange, und wir brachen durch. Wir waren inzwischen eine große Schar geworden, und in jedem von uns pochte ein ungeheurer Lebenswille. Und wenn nicht der Wille zu leben vorwärtstrieb, den trieb der Gedanke nach Rache. Viele kleine Kammern folgten, und jede enthielt eine kleine Hölle, eine gepeinigte Kreatur, einen Versuch eines Irrsinnigen, ein Gott sein zu wollen. Der Gedanke fraß sich in mir fest, während wir durch die Kammern und Gänge eilten. Nicht Priester wollte Baril sein, sondern ein Gott, der mit vermessener Hand hineingriff in das Leben und der in seiner blinden Arroganz nicht erkannte, daß es keine Schöpfung war, die erst zerstören mußte. * In einer Kammer schließlich fand ich ein Mädchen. Nicht daß sie das einzige Mädchen in diesem Gewölbe des Schreckens gewesen wäre, aber sie war ungewöhnlich. Ihresgleichen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sie war weiß wie Schnee, den ich im Eisland gesehen hatte. Ihr Körper mutete an wie gefrorener Rauch. Ihr Haar war so weiß wie ihr Leib und hing fast bis zum Boden. Ihre Augen waren wenig dunkler, so als fiele ein Schatten über das Weiß. Und sie waren weit
offen in namenlosem Grauen. Ein schriller, langgezogener Ton kam aus ihrem Mund. Ihr Körper hing nicht an Ketten, und dennoch war sie gefesselt – von Feuer. Flammen zuckten nach ihr aus dem Boden und von den Wänden, und sie wand sich geschmeidig zwischen ihnen. Es waren keine großen Flammen, aber selbst dieses Feuer schien ihr Todesangst zu machen. Ich sah auch gleich, warum. Eine falsche Bewegung ließ das Mädchen mit einer der Flammenzungen in Berührung kommen. Ein Teil ihre Haares flammte auf wie Zunder. Ein Schrei schriller Pein folgte. Ich sprang vor, schlug die Glut auseinander und fing das Mädchen schützend in den Armen. Sie war leicht wie eine Feder. Dann waren wir durch die Glut und aus ihrem Flammengefängnis. Als wir in Sicherheit waren, machte sie sich sanft frei. Ich betrachtete nachdenklich ihre Gesicht. Einen Augenblick dachte ich, sie wäre nur ein Tier in Menschengestalt. Sie schien der Sprache nicht mächtig. Aber sie war kein Tier. Ich sah Dankbarkeit und noch etwas in ihren Augen, das mich seltsam warm ums Herz werden ließ. Ich verstand nicht, was dieses Gefühl auslöste. Ihre Hand kam langsam hoch und streichelte meine Wange. Diese zärtliche Berührung erinnerte mich schlagartig an Thamai. Ich ließ das Mädchen los. Ich mußte Thamai finden. Ihr Götter! Ich wollte weiterstürmen, und es währte einen Augenblick, bis ich merkte, daß mich das Mädchen zurückzuhalten versuchte. Sie bemühte sich, zu reden, aber es gelang nicht. Hilflos starrte ich sie an. Menschen, Verwandelte und Verstümmelte hasteten an uns vorüber. Rauchschwaden und die Gluthitze der brennenden Gewölbe machten das Atmen schwer. Ich spürte, wie das Mädchen zitterte. Ich bedeutete ihr, den Laufenden zu folgen. Sie würden einen Weg nach draußen finden. Aber sie deutete ebenso heftig in einen seitlichen Gang, der weiter nach unten statt nach oben führte. Sie versuchte mich zu ziehen und ich folgte ihr. Sie schien etwas zu wissen, und ich hatte plötzlich ein völlig unwirkliches Gefühl, daß es wichtig war, was sie mir zeigen
wollte. Sie ließ mich los und lief seltsam schwebend in den Gang hinein. Ich hastete hinter ihr her. Sie hielt so plötzlich vor einer verschlossenen Tür, daß ich gegen sie prallte. Es gab kaum einen Widerstand. Sie flog zur Seite. Aber sie verzog keine Miene, sondern deutete nur eindringlich auf die Tür. Ich stemmte mich dagegen, fluchend über die Schwäche, die mich befiel. Die Bohlen knarrten. Beim zweiten Ansturm flog die Tür auf. Benommen vom Aufprall starrte ich auf den Wahnsinn vor mir. Ich begriff nicht sofort, was ich sah. Vielleicht weigerte sich auch nur mein Verstand und mein Herz, es wahrzunehmen. Aber als es in mein Bewußtsein sickerte, stürzte ich schreiend nach vorn, nur um nach wenigen Schritten hilflos anzuhalten. Der Boden war bedeckt mit schwarzer, fruchtbarer Erde, und mitten in ihr stand Thamai. Nein, sie stand nicht. Sie wuchs! Ihre Beine spreizten sich von den Schenkeln abwärts zu vielen Wurzeln, die in der Erde verschwanden. Ihr Körper schien nicht verletzt, aber er war tiefgrün, selbst ihr Haar. Ihr Gesicht war friedlich wie im Schlaf, ihre Augen geschlossen. Ich konnte nicht erkennen, ob sie noch lebte. Aber ich würde sie auch tot nicht hierlassen. Ich stapfte über die weiche Erde auf sie zu und nahm sie in die Arme. Sie fühlte sich hart an, als wäre ihre Haut Rinde. Sie spürte mich nicht. Vorsichtig begann ich ihre Wurzeln freizulegen. Große weiße Würmer suchten eilig Schutz vor meinen Händen. Ich kämpfte gegen den Ekel an und begann hastiger zu arbeiten. Es blieb nicht viel Zeit. Das weiße Mädchen an der Tür winkte drängend. Mit einem Ruck versuchte ich, die Wurzeln aus der Erde zu reißen, und sie kamen auch halb frei. Ein zischender Laut ließ mich herumfahren. Thamais Arm kam herab wir ein Schwert und verfehlte mich um Haaresbreite. Er war schmal und scharf wie ein
Blatt. Ihre Augen waren weit geöffnet und von einer unmenschlichen Wut erfüllt. »Thamai!« brüllte ich und umklammerte ihre gefährlichen Arme. »Thamai! Erkennst du mich nicht?« Wirklich wandelte sich ihr Blick, noch immer nicht menschlich, aber von einer Erinnerung erfüllt. »Ubali«, flüsterte sie mit pfeifender Stimme. Mit einem Ruck riß ich sie ganz aus der Erde. Wir fielen beide. Ihre Wurzeln versuchten, mich zu umfassen; erst dachte ich, um sich festzuklammern, aber dann sah ich die Wut wieder in ihren Augen und wußte, daß die Pflanze in ihr die Oberhand hatte. Wir rangen miteinander. In diesen verzweifelten Momenten erinnerte ich mich an meine Wanderung durch den Dschungel und an die Blume, die ihre Sporen wie Pfeile auf mich abgeschossen hatte. Mein Körper war immer grüner geworden, und fremde Gedanken waren mir durch den Kopf gegangen, eine Sehnsucht und ein Traum – von einer Erde, in die ich meine Wurzeln schlagen wollte. Bis ich die Gazelle tötete und das Blut trank. Da wurde ich frei von der Blume in mir. Rasch gab ich Thamai frei. Ich nahm den Dolch und zog die Schneide quer über die Brust. Ich spürte den Schmerz nicht in der Aufregung, aber ich spürte das Blut hervorquellen. Thamai sah es auch. Hunger kam in ihre Augen. Ich nahm ihren Kopf und drückte ihre Lippen an die Wunde. Sie leckte in wilder Gier. Ich schnitt erneut, tiefer. Das Blut floß rascher. Sie konnte es trinken. Die Wurzeln lösten sich von meinen Beinen. Ich preßte Thamai an mich und betete um Vitus Hilfe. Schmerz und Schwäche überschwemmten mich nach einer Weile. Ich sank zurück. »Trink, Thamai«, flüsterte ich.
Ich dachte an Karuam. Er war der einzige, der uns nun noch helfen konnte. Aber der Priester war irgendwo in dem Chaos, das sich hier gedämpft und fern anhörte. Er würde uns niemals finden. Es war das Ende, Thamai, geliebte Thamai …
8. Es gab Augenblicke, da hörte ich die Stimmen ganz in meiner Nähe. Dann verließen mich wieder die Sinne. Ich spürte keinen Schmerz, nur Schwäche, Müdigkeit, Schwere. Als wäre Eisen an meinen Gliedern. Und ich war dankbar für die Schwärze und das Vergessen. Ich träumte. »Nicht-Reiter … Gefahr …«, flüsterte eine Stimme. Ich konnte sie nur undeutlich verstehen. Nur einzelne Worte. Ich kannte die Stimme. Sie war ein Stück aus meiner Vergangenheit. So fern. »Ubali!« Wäre nur diese eiserne Schwere nicht gewesen. »Nicht-Reiter …!« Es war Waramaus Stimme. Woher rief sie nur? Waramau? Ich schlug die Augen auf, und die Stimme verstummte. Undurchdringliche Finsternis war um mich. Es machte keinen Unterschied, ob ich die Augen schloß oder öffnete. Ich lag auf dem Rücken. Langsam tastete ich um mich. Erleichtert stellte ich fest, daß ich noch meinen menschlichen Körper hatte. Langsam kam die Erinnerung zurück. Ein Geruch von Asche und erloschenem Feuer lag in der Luft. Der Boden unter mir war Erde, frische Erde. Thamai! Ich ruckte hoch und sank mit einem Stöhnen wieder zurück. Ich glaubte, mein Schädel würde zerspringen. Ihr Götter! Mir konnte gar nicht schwärzer vor Augen werden. Meine Brust und meine Arme schmerzten. Die Stille um mich war erdrückend. »Thamai«, stöhnte ich. »Thamai!« Keine Antwort. Ich tastete vorsichtig über die Schnitte, die ich mir an Armen und Brust zugefügt hatte. Sie waren verkrustet mit
getrocknetem Blut. Die hastige Bewegung schien sie allerdings wieder aufgerissen zu haben, denn meine Finger fühlten sich naß an. Aber ich blutete nicht stark. Die Wunden brannten aber mörderisch. Ich biß die Zähne zusammen und setzte mich langsam auf. Kein Zweifel, ich lebte. Aber wie! »Thamai!« rief ich erneut. Es klang wie krächzend und war auch nicht dazu angetan, mehr als einen leichten Schläfer zu wecken. Aber mit dem Schmerz und dem Ärger wurde ich zunehmend unternehmungslustiger. »Thamai!« Diesmal ließ sich der Ruf schon hören. Aber es kam keine Antwort, und mir schnürte die Angst die Kehle zu. Was war nur geschehen? Ich befand mich offenbar allein hier, und das war gar kein angenehmer Gedanke. Mit einiger Mühe kam ich auf die Beine und wartete schwankend, bis sich das Pochen in meinem Schädel legte. Schwindel erfaßte mich. Es schien unmöglich, in dieser Schwärze aufrecht auf den Beinen zu bleiben. Ich taumelte ein paar Schritte mit vorgestreckten Armen und stolperte über etwas. Ich fiel auf etwas Weiches, das schmerzlich aufstöhnte. Ich betastete den Körper unter mir, während ich mich zur Seite rollte, und hatte im nächsten Augenblick untrüglich weibliche Formen in Händen. Mein Herz machte einen Sprung. »Thamai!« rief ich und schüttelte meinen Fund heftig. Erneutes Stöhnen folgte. Es klang schon wesentlich lebensnäher. Meine Hände fanden eine dünne Schnur an Brust und Rücken. Nun zweifelte ich nicht mehr daran, daß ich Thamai vor mir hatte, denn daran war das Blasrohr befestigt gewesen. Ängstlich tastete ich nach ihren Beinen, halb zitternd in der entsetzlichen Furcht, dort noch Wurzeln zu finden. Aber ihre Beine waren so schlank und makellos und glatt wie zuvor, ihre Füße ohne pflanzliche Auswüchse.
»Vitu sei Dank«, murmelte ich erleichtert. Es war noch nicht zu spät gewesen. Das Blut hatte gewirkt. Ich setzte mich neben sie und nahm sie in die Arme. Sie war warm und weich und menschlich. * Während ich mit ihr in der Dunkelheit saß, vernahm ich das erste entfernte Geräusch seit meinem Erwachen. Und alles in mir spannte sich. Es war der peitschende Knall von einem Pflanzenstiel. Eine dieser halbmenschlichen Wächterpflanzen war unterwegs. Es klang nah und entfernt zugleich. Sie lauerte irgendwo in der Dunkelheit. Und man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Das machte diese Gewölbe zur tödlichen Falle. Ich fragte mich, wo die anderen waren. Hatten sie einen Weg ins Freie gefunden? Sicher. Sie konnten nicht alle tot sein. Und wenn sie lebten, müßte ich sie hören. Da war jedoch nichts mehr. Nur Totenstille – als ob die Stille selbst lauschte. Die einzige, die gewußt hatte, wo wir uns befanden, war das weiße Mädchen. Was war mit ihr geschehen? Sie mochte sich auch in dieser Kammer befinden. Ich versuchte, mich an das Aussehen der Kammer zu erinnern, aber da ich keine Ahnung hatte, wo ich nun lag, besaß ich keine Anhaltspunkte, um mich zurechtzufinden. Ich ließ Thamai vorsichtig zu Boden gleiten und tastete nach meinem Gürtel. Erleichtert fand ich zwei Dolche. Was hätte ich nicht für ein Schwert gegeben. Aber die Messer waren bereits ein Geschenk der Götter. Ich hob eine Handvoll Erde auf und warf sie um mich in die Dunkelheit. Dann lauschte ich mit angehaltenem Atem. Kein Geräusch kam aus meiner unmittelbaren Nähe, doch in einiger Entfernung – das Geräusch kam mit mehrfachem Echo – meldete
sich der Wächter mit zischendem Knall. Aber ich zweifelte, daß er das Geräusch der Erde vernommen haben konnte. Vielleicht befanden sich dort auch noch andere, die wie wir den Anschluß verpaßt hatten und nun in dieser Finsternis eingeschlossen waren! Ich rief ein paarmal, aber nichts außer meinem Echo antwortete. Und Thamai stöhnte erneut und begann sich zu regen. Rasch ergriff ich sie beruhigend am Arm. Sie erstarrte in meinem Griff. Sie war wach, und sie hatte Angst. »Thamai«, flüsterte ich. »Ubali«, seufzte sie erleichtert. »Oh, mein Liebster!« Wir lagen eine Weile engumschlungen, und es war gut, einen Mund und Hände zu haben und ihr sagen zu können, wie froh und glücklich ich war. Aber schließlich kam die Nüchternheit über unsere Sinne. »Wo sind wir?« flüsterte Thamai. »Noch immer unten …?« »Ja.« »Allein?« »Ich fürchte ja«, antwortete ich und zog sie fester an mich, als sie zu zittern begann. »Es war ein Alptraum, mein Liebster.« »Ja, Thamai, es war ein Alptraum. Aber nun ist er vorbei.« »Werden wir hinausfinden?« »Ich weiß es nicht.« Sie machte sich sanft frei aus meinen Armen. »Ich bin sehr froh, daß wir zusammen sind, und daß du wieder …« Sie stockte. Ihre Finger waren über meine Brust geglitten und hatten die Wunden gefunden. Sie schien sich zu erinnern. »Es war kein Traum«, flüsterte sie stockend. »Ich habe wirklich dein Blut getrunken …?« »Du mußtest, Thamai, um wieder Fleisch und Blut zu werden …« Dann war alles kein Alptraum …« sondern Wirklichkeit. Ich hatte Wurzeln … Ich wollte hier wachsen …« »Nicht du, Thamai. Etwas in dir wollte hier wachsen.«
»Aber woher wußtest du …?« »Ich war selbst schon einmal auf bestem Wege, Wurzeln zu schlagen«, erklärte ich und lächelte in der Finsternis. »Damals als ich die Gazelle tötete und nicht wußte, daß sie deine Schwester Sibile war. Erinnerst du dich?« »Ja, mein Liebster, ja.« »Da gab mir Sibiles Blut mein Leben wieder.« Ich ballte die Fäuste. »Als wir da oben in der Kammer lagen und die Spinnen durch das Fenster kamen …« »Spinnen?« wiederholte sie verwundert. »Es waren Ratten.« Ich nickte, weil ich meine Überlegung bestätigt fand. »Bei dir waren es Ratten. Für andere mögen es Schlangen oder Würmer gewesen sein. Jeder hatte seinen ganz eigenen Alptraum. Jeden bedrohte, was er am meisten fürchtete. Als dieser Scharlatan dich gefangennahm, da dachte ich … da hoffte ich, er würde dich nur als Köder benutzen, um auch meiner habhaft zu werden, oder um mich zu zwingen, seinen Zwecken dienlich zu sein. Ich ahnte nicht, daß er dich in seinem Höllengarten …« Ich brach ab, als die Erinnerung in meinem Kopf lebendig wurde. Sie ergriff meinen Arm. »Es ist nur ein verblendeter Narr, der meint, über die Götter herrschen zu können. Und wie Ukandar mißbraucht er ihre Macht, die er nur halb versteht. Er denkt, daß die Macht der Götter so stark ist wie die Macht ihrer Priester. Ich glaube, er wollte herausfinden, welche Macht ich besaß und wie mächtig Vitu ist. Deshalb brachte er mich zu dieser schrecklichen Pflanze, die eine Wolke von Pfeilen auf mich abschoß. Er beobachtete mich mehrmals, als ich mich zu verwandeln begann wie alle anderen, mit deren Leben er spielte. Und meine Hilflosigkeit erfüllte ihn immer mehr mit Triumph. Oh, er ist ein Narr …!« »Er war einer«, unterbrach ich sie. »Er wird nie wieder freveln und quälen.« »Er ist tot?« Ich nickte. »Er starb an einfachem Eisen. Es war wenig
Gottähnliches an ihm. »Du hast ihn getötet?« »Ja, Thamai. Von ihm droht keine Gefahr mehr.« Ich zog sie fest in meine Arme. »Ich bin sehr froh, daß ich dieses Mädchen fand. Ohne sie hätte ich dich vielleicht nie entdeckt …« »Ein Mädchen?« fragte sie neugierig. »Ja, ein sehr seltsames Mädchen. Sie war vollkommen weiß, selbst ihr Haar war weiß. Ich fand sie in einem Käfig aus Feuer und befreite sie. Aber ich verstehe nicht, woher sie wußte, daß ich dich suchte. Sie führte mich in diese Kammer. Sie sprach kein Wort. Ich glaube, sie konnte nicht sprechen.« »Ja, ich erinnere mich an sie. Ich habe sie in ihrem Gefängnis gesehen. Sie hatte große Angst vor dem Feuer. Baril zeigte sie mir. Er behauptete, der Luftgeist wäre in ihr, und er hätte ihn bezwungen. Sie muß sehr gelitten haben. Ich bin froh, daß du sie befreien konntest.« Ein peitschender Knall unterbrach sie. Er klang näher als der letzte, den ich vernommen hatte. »Was war das?« fragte Thamai zitternd. »Ein Wächter. Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir diese Kammer verlassen. Irgendwo müssen wir Licht finden, sonst sind wir verloren.« Sie schauderte. Ich spürte es, als sie sich an mir festklammerte, als wir uns erhoben. Eine Weile standen wir lauschend in der Finsternis. * »Nimm Erde, soviel du tragen kannst«, flüsterte ich. »Damit können wir feststellen, ob die Luft vor uns rein ist.« Ich hob selbst eine Handvoll auf und hielt den Dolch bereit in der Rechten. Mit vorgestreckten Armen schoben wir uns vorwärts. Nach wenigen Schritten erreichten wir eine Mauer. Dieser folgten wir, bis sich der Ausgang vor uns befand.
Wir horchten erneut angestrengt. Ich warf ein wenig der Erde. Nichts rührte sich. Ich hieß Thamai, sich an meinem Gürtel festzuhalten, dann tastete ich mich durch. Außerhalb der Kammer war es ebenso finster. Ich versuchte mich zu erinnern. Wir waren von links gekommen. Der kurze Gang mußte in ein mittelgroßes Gewölbe münden, nach einer oder zwei kurzen Krümmungen. Ich hielt mich links. Es war richtig. Der Gang führte leicht aufwärts. Der Brandgeruch wurde stärker. Ich hielt einmal an und warf Erde. Aber auf das Prasseln kam kein Antwortgeräusch, kein Peitschen von Stielen und Blättern. Der Korridor schien frei zu sein. Mit dem Dolcharm vorgestreckt, beschleunigte ich meine Schritte. Nach der ersten Krümmung gewahrten wir einen winzigen Lichtschimmer in einiger Entfernung. Er war wie eine Erlösung aus dieser schwarzen Endlosigkeit. Die Blindheit hatte ein Ende. Wir liefen auf den Schimmer zu und fielen schmerzhaft über Felsen, die mitten im Korridor lagen. Von da an kamen wir nur langsam voran, denn der ganze Boden war übersät mit Felsbrocken aller Größen. Ein Teil der Decke mußte eingestürzt sein. Fernes Donnern bestätigte meine Vermutung. Der Boden zitterte. Irgendwo stürzten noch immer Mauern ein. Ich nahm an, daß das Feuer und die Hitze das Fundament der Stadt beträchtlich gelockert hatten, und daß jedeszeit alles zusammenfallen konnte. Schwitzend arbeiteten wir uns an das Licht heran. Schließlich ging es nicht weiter vorwärts. Der Ausgang des Korridors war verschüttet. Nur durch kleine Lücken drang Licht. Kriechend kam ich an eine der Spalten heran und starrte hindurch. Jenseits war das Gewölbe kein Gewölbe mehr, sondern ein Trümmerfeld. Ganze Mauerteile waren nach unten gestürzt, und gähnende Öffnungen klafften nach oben. Ein steter Regen von Staub und kleinen Steinen prasselte herab. Dieser Hohlraum unter der Stadt würde nicht lange bleiben, das wußte ich. Jeden Augenblick mochte der ganze Steinkoloß einsacken, denn ein unermeßliches Gewicht ruhte auf diesen Hohlräumen. Ein Großteil der stützenden Wände war bereits eingestürzt.
Ein kleiner See von dunkler Flüssigkeit füllte den Boden des Gewölbes. Es konnte kein Wasser sein, denn es brannte. Wahrscheinlich Öl, oder die Säfte der verbrannten Pflanzen, oder eine andere der Flüssigkeiten, mit denen Baril seine Verwandlungszauber versucht hatte. Eine Gluthitze erfüllte die Luft. Es sah nicht so aus, als kämen wir hier durch. Aber wir brauchten Licht, irgend etwas, das wir als Fackel verwenden konnten. Wenn wir erst Licht hatten, konnten wir einen anderen Weg suchen. Ich begann Steine zur Seite zu räumen. Der Spalt wurde rasch größer. Ebenso die Hitze. Eine Menge Geröll polterte ins Innere des Gewölbes. Mehrere peitschende Schläge antworteten. Ich hielt inne. Sie befanden sich also da drin – mehrere offenbar. Wie sollten wir da an das lebenswichtige Feuer herankommen? Fluchend versuchte ich zu erspähen, wo sie sich befanden, aber der Spalt war noch zu klein. Ich konnte nur einen winzigen Bruchteil des Gewölbes überblicken. Ich wartete eine Weile. Keine weiteren Geräusche folgten. Erneut begann ich im Geröll zu wühlen. Dann gaben plötzlich größere Teile nach, und wir glitten mit dem Geröll auf das Feuer zu. Ich hielt Thamai an mich gepreßt. Wir schlugen unsanft auf, aber glücklicherweise waren die großen, schweren Brocken unten. Bevor wir den Staub aus Mund und Augen hatten, peitschten die Stiele ganz in unserer Nähe. Benommen hörte ich Thamai aufschreien. Als ich die Augen offen hatte, sah ich sie über mir hängen, an zwei, drei der grünen Stiele, die sich wie Schlangen um ihren Körper gewunden hatten und sie hochzogen. Gleichzeitig spürte ich einen brennenden Schmerz um meine Schultern. Etwas sauste auf mich zu und preßte mir schmerzhaft die Arme an den Leib. Dann wurde ich hochgerissen. Thamai pendelte mit angstverzerrten Zügen über mir. Mehr Stiele kamen herab und faßten uns fester. Ein Gewirr von grünen,
vielarmigen Gestalten kauerte auf einem schmalen Stück in halber Höhe des Gewölbes. Die Hitze war fast unerträglich. Ich hatte den Dolch noch immer in der Faust, aber er war nutzlos. Ich konnte die Hand nicht so weit bewegen, daß ich einen der Stiele erreichen hätte können. Es hätte auch wenig eingebracht. Nur einen Sturz in die Tiefe – in den sicheren Tod; entweder in den Flammen oder auf dem felsigen Boden. Ich konnte nur abwarten, bis sie uns hochgezogen hatten, und dann versuchen, mich freizukämpfen. Fernes Donnern steigerte sich rasch zu einem dumpfen Grollen. Die Wände bebten. Hilflos sah ich, wie sich der hohle Raum in der Decke des Gewölbes füllte, als die Wände der oberen Stockwerke durchbrachen. Majestätisch langsam brach die Decke weiter auf. Riesige Steine regneten herab. Die brennende Flüssigkeit spritzte hoch, als die ersten Steine darin versanken, und ein Regen von Feuer erfüllte das ganze Gewölbe. Kreischende Laute kamen von oben. Die Stiele rissen uns hastig hoch. Dann hingen wir hilfslos in den zahllosen Armen und starrten – mit den halb menschlichen und halb pflanzlichen Gestalten hinab in das Chaos. Das Gewölbe füllte sich mit Schutt und Mauerteilen aus den oberen Stockwerken. Die Flüssigkeit war über die Wände versprüht und brannte dort in zahllosen kleinen Feuern, auch über uns und neben uns. Auch einer der Pflanzenmenschen brannte und stürzte kreischend in die Tiefe. Staub verdeckte bald alles und drang in Nase und Augen. Hustend und würgend hingen wir auf dem schmalen Sims. Ich war plötzlich dankbar, daß diese starken Schlingen uns hielten. Der Einsturz kam ins Stocken. In der folgenden Stille war nur das Prasseln der Flammen zu vernehmen. Es war düster geworden. Die Feuer waren nicht mehr als glühende Punkte in dem dichten wirbelnden Staub. Die Wächter regten sich nicht, als fürchteten sie, jede kleinste
Bewegung würde auch den Rest des Gewölbes zum Einsturz bringen. Sie waren sechs, und in ihren dunklen Augen war Furcht. Sie schienen mir plötzlich menschlicher als während der ersten Begegnung auf dem Weg zu Barils Kammern. Vielleicht hatte der Tod des Priesters sie befreit von ihrer mörderischen Pflicht, diese Gärten der Geister zu bewachen. Sie schienen nicht vorzuhaben, uns zu töten. Dazu hätten sie uns nur in die Tiefe zu werfen brauchen. Statt dessen schien es mir mehr, als ob sie uns gerettet hätten. Denn der Korridor, aus dem wir uns gegraben hatten, war mehrere Lanzenlängen hoch verschüttet. Ich schauderte bei diesem Anblick. Wir wären nun da unten lebendig begraben. Ich musterte unauffällig meine Umgebung. Zwei der Wächter hielten mich umschlungen, während ein Teil ihrer Stiele sich an der unregelmäßigen Felswand festschlangen. Fast schien es mir, als zitterten sie. Ihre dunklen, pupillenlosen Augen stierten an die Decke, von der Staub und Schutteilchen rieselten. Ihre Münder, nicht mehr als lippenlose klaffende Spalte in einem Stück Rinde, öffneten sich, schlossen sich in hastigem Atem. Und doch empfand ich in diesem Augenblick der Hilflosigkeit ihr fremdartiges Aussehen so menschlich. »Ihr könnt mich loslassen«, sagte ich und erschrak ein wenig, als sich alle mir zuwandten. Wenigstens verstanden sie, was ich sagte. »Euer Herr ist tot«, fuhr ich fort. »Es ist keine Feindschaft mehr zwischen uns.« Fast war es mir, als nickten sie erleichtert. Vorsichtig löste einer seine Stiele, behutsam, so daß ich auf dem schmalen Sims Fuß fassen konnte. Dann ließ auch der zweite mich los. Ich war frei. »Danke«, sagte ich und hielt mich an der Wand fest. Hinter mir ließen sie Thamai aus ihren Schlingen. »Könnt ihr sprechen?« fragte ich überflüssigerweise, denn wenn sie es gekonnt hätten, hätten sie es sicher bereits getan. Sie versuchten es jedoch und brachten ein paar pfeifende Töne hervor. Ich sah, daß sie auch nicht nicken konnten, oder den Kopf
schütteln, denn Kopf und Rumpf waren ein Stück – der Stamm. »Kennt ihr einen Weg nach dräußen?« fragte ich. Ihre Stiele deuteten nach oben. Ich sah mehrere dunkle Öffnungen in der Wand. Sie waren die Mündungen von Gängen. Dort oben mußte sich eine Zwischendecke und ein Korridor befunden haben. Sie waren wohl als erste eingestürzt. Es war ein verdammt gefährlicher Weg da hinauf. Thamai starrte blaß nach oben. »Dann vorwärts«, sagte sie. »Wir dürfen nicht warten. Jeden Augenblick mag auch das einstürzen und uns begraben. Ich weiß nicht, wie ihr darüber denkt, aber selbst eine ganze Stadt als Grabstein mag mich nicht begeistern.« Wir waren einer Meinung. Der erste hatte bereits begonnen, sich vorsichtig hochzuarbeiten. Seine vielen »Arme« fanden verhältnismäßig viel Halt. Schlechter war es mit seinen wurzelartigen Füßen, mit denen er zwar ganz gut gehen konnte, aber nicht besonders gut klettern. Ich suchte mir guten Halt und schob ihn langsam hoch. Er kam ein gutes Stück voran, aber dann ging es nicht mehr weiter. Er hing auf halber Höhe, und ich sah die Panik in seinem Rindengesicht. Er stieß schrille, klagende Töne aus. »Er rutscht ab«, entfuhr es Thamai, als seine Wurzeln eine kleine Lawine auf uns herabschickten. Ein waghalsiger Sprung brachte mich mit den Fingern auf einen kleinen Vorsprung. »Schieb mich höher«, keuchte ich. Gleich darauf spürte ich nachgiebige Stiele unter meinen Füßen. Es war nicht leicht, sich auf diese zu stützen, denn sie schwankten unter meinem Gewicht. Aber ich kam hoch genug, daß ich neuen Halt fand. Einen Augenblick ruhte ich aus und bemühte mich nicht in die Tiefe zu blicken. Ich spürte die Schwäche wieder sehr deutlich. Meine Schnittwunden waren erneut aufgerissen. Ich blutete wieder. Ich befand mich fast neben dem ersten Wächter und begann ihn
wieder hochzuschieben. Einen Moment war ich sein ganzer Halt. Er hatte ein beträchtliches Gewicht, und die Wurzeln scharrten über mein Gesicht. Aber er fand neuen Halt ein Stück höher. Unter mir begann der nächste. Aufatmend sah ich, wie der vorderste seine Schlingarme in die Öffnungen schob und sich hochzog. Von da an war es leicht. Mit ihren langen Stielen waren sie in der Lage, einander hochzuziehen. Als wir oben standen, ließen neue Erschütterungen einen weiteren Teil der Decke einstürzen. Aber das Gewölbe füllte sich nicht, denn der gesamte Boden versank unter der öligen Flüssigkeit. Sie wirkte wie ein riesiger schwarzer See. Nur vereinzelte Teile seiner Oberfläche brannten noch. Die Glut hatte nachgelassen, wohl auch deshalb, weil die Hitze nach oben abziehen konnte, in die oberen Teile der Stadt. Ein unheimliches Gefühl beschlich mich, als wir auf den See hinabblickten, aus dessen dunklen Fluten Blasen aufstiegen. »Weiter«, drängte ich und rannte in den Korridor hinein. Sie schoben Thamai hinter mir her und folgten mit ihren scharrenden Wurzeln. Sie waren sehr rasch. Ebenso wie mich und Thamai trieb sie die Angst vorwärts. Langsam verklang das Donnern hinter uns, aber das Mauerwerk war von einem ständigen Beben erfüllt. * Ich dachte, der Weg nähme kein Ende. Es war nicht die Müdigkeit und die Finsternis, die mich entmutigten, sondern das immer stärker werdende Zittern der Wände. Es gab Augenblicke, da war es so stark, daß ich aufschrie, weil ich glaubte, daß sie bereits wankten und über uns zusammenstürzten. Uns war allen klar, daß diese Stadt nicht bestehen bleiben würde, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis sie alles zermalmend zusammenbrach. Und es sah nicht so aus, als würden wir aus ihren steinernen
Fängen entkommen. Tiefe Risse taten sich auf. Große Steine fielen polternd oder kamen die schrägen Gänge herabgerollt, so daß wir nur mit Mühe ausweichen konnten. Aber dann, endlich – ein Lichtschimmer voraus. Ein Licht, das langsam zu einem Stück blauen Himmels wurde. »Wir sind draußen!« brüllte ich und zerrte Thamai ins Freie. Neue Erschütterungen fegten uns fast von den Beinen. Die Wächter schoben sich mit schrillen Lauten durch die Tür. Wir standen etwa auf halber Höhe der Stadt, und was zu tun blieb, war, so rasch wie möglich nach unten zu kommen und in den Dschungel, wo die Bäume einigen Schutz vor herabfallenden Felsen boten. Mein Blick fiel auf die Hauptstiege und die Wagen. Ein Knirschen ließ mich hochblicken. Der oberste Teil der Stadt schwankte und neigte sich, erst auf uns zu, dann zurück … Und kippte nach hinten. Ich riß Thamai am Arm vorwärts und raste die engen Gassen hinab. Die Wächter waren bereits ein ganzes Stück vorn. Sie fielen und rollten mehr als sie liefen. Dabei spreizten sie ihre Stiele von sich, um den Lauf zu lenken. Wir erreichten den Rand der Stadt und starrten in die Tiefe. Thamai deutete auf eine Leiter, und wir hasteten darauf zu. Ich riskierte einen Blick auf die weitere Umgebung. Die äußere Mauer war bereits zum Teil eingefallen. Eine Schar von Menschen lief auf die Stadt zu, trotz der Gefahr. Sie winkten. Sie hatten uns offenbar entdeckt und kamen, um uns zu helfen. Da geschah etwas, das mich aufschreien ließ. Der Boden unter den laufenden Menschen erzitterte und versank unglaublich schnell. Ebenso die Mauer. Dunkles Wasser schäumte auf, sprühte hoch in mächtigen Fontänen. Die ganze Stadt kippte nach vorn auf die schreienden, versinkenden winzigen Gestalten zu. Ich sah Thamai den Halt verlieren. Ihr Körper überschlug sich,
prallte auf, schlitterte und fiel erneut. Ich brüllte auf in hilflosem Entsetzen mit jedem Mal, da ihre zierliche Gestalt aufschlug. Dann verlor ich selbst den Halt. Einen Augenblick schwebte ich ohne Gewicht zwischen riesigen Steinblöcken. Dann raste das Dach eines Hauses auf mich zu …
9. Wieder war diese Schwere auf mir, als läge ich unter der ganzen gewaltigen Stadt begraben. Aber diesmal war der Gedanke sehr beunruhigend, denn diesmal wußte ich, daß es stimmte. Die Stadt war über mir zusammengestürzt. Daß ich noch lebte, war ein Wunder. Und dann geschah noch ein Wunder: jemand rief mich! »Ubali, du warst mir ein guter und treuer Diener …« Ich kannte die Stimme. Ich hatte sie schon oft vernommen – immer wenn solch eine Last auf mir ruhte. »… bin ich unzufrieden mit dir, mein Kämpfer aus einer anderen Welt …« Vitus Stimme! Der Lebensgeist sprach zu mir! »Du hast getötet, und es hat dir Befriedigung bereitet …!« »Ich habe nur um deinetwillen getötet!« schrien meine Gedanken. »Das mag sein. Aber du hast Befriedigung gefühlt …!« »Es war im Kampf! Es ist die Genugtuung des Siegers! Nicht des Mörders …!« »Nicht nur, Ubali. Du hast auch Haß gefühlt, das Verlangen zu töten …!« »Ich bin ein Mensch«, dachte ich. »Ich weiß, Ubali. Und du hast noch viel zu lernen. Daß es viele Unterschiede gibt, nicht nur zwischen Menschen und Tieren, sondern auch zwischen den Menschen selbst. Ich will sie dich lehren, und darum gewähre ich dir ein neues Leben. Nütze es wohl!« »Ja, das will ich!« dachte ich freudig. »Bei allen Göttern, das will ich!« »So sei es!« *
Ein neues Leben! Ich war also tot gewesen. Dieser Sturz in die Tiefe hatte mich getötet. Sicher auch Thamai. Würde sie leben, wie ich? Ich hoffte es. Dann erkannte ich, was diese Last auf mir war. Wasser! Bereits während ich mit kärftigen Stößen nach oben tauchte und endlich die Oberfläche durchbrach, wußte ich, daß ich menschliche Gestalt hatte, und es erfüllte mich mit tiefer Dankbarkeit. Ich schwamm auf das Ufer zu. Diesmal war es ein weiterer Weg. Ich sah um mich. Ich befand mich in keinem Teich, sondern einem See, der dunkelgrün in der Dschungellichtung lag. Ich war auch nicht allein. Überall brach die Oberfläche auf, und Körper stießen hervor und pumpten ihre Lungen voll Luft, erfüllt von neuer Lebenskraft. Ich sah Karuam und Orn nicht weit von mir. Nur Thamai vermochte ich nicht zu entdecken, aber ich bangte nicht um sie. Wenn all diese Menschen Teguars auferstanden, manche als Tiere, manche als Menschen, dann würde auch Thamai ihr Leben erhalten. Der See befand sich an der Stelle, an der sich die Stadt befunden hatte. Teguar war in ihm versunken. Alles Alte war ausgelöscht und frei für einen neuen Beginn. Ein Wunder Vitus! Wahrlich, die Götter besaßen in dieser Welt große Macht über die Geschicke der Menschen … Dann dachte ich an die Erzählung der Priesters über Teguars Entstehen und das Versiegen von Vitus Quelle. Es mochte sein, daß das zunehmende Gewicht der Stadt sie erdrückt hatte – so als ob man einen Berg über sie errichtet hätte. Und sie floß unter der Erde weiter. All diese Jahrhunderte, bis der Boden unterhöhlt war, und die Stadt auf einem großen unterirdischen See schwamm. Ja, dachte ich, so mochte es gewesen sein. Das Wunder war vielleicht nicht so groß, aber dennoch ein Wunder.
Ich erreichte das Ufer und stieg aus den erfrischenden, belebenden Fluten und wartete auf die anderen. Karuam kam auf mich zu. Seine Augen glänzten. »Willkommen«, sagte er und breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Welt damit umfassen. »Willkommen, Thamai, in diesem neuen Leben!« Verwirrt starrte ich ihn an. »Thamai?« Er lächelte. »Es scheint mir, Ihr seid erstaunt, Priesterin? Ah, ich bin es auch, Vitu war so nah, all diese Jahre, und wir waren so blind …« Ich hörte ihn nicht. Ich blickte benommen an mir hinab – auf die Brüste, das goldene Amulett zwischen den Schenkeln, die schlanken Beine.. »Ihr Götter!« flüsterte ich. Ich war Thamai! ENDE
Von den Todesgärten Teguars, in denen Ubali den Kampf seines Lebens kämpfte, blenden wir um zu Akkeron, dem Brudermörder und Träger des anderen Auge Vestas, des Juwels der Macht. Akkeron hat Tyde, den Wassergeist, sich längst Untertan gemacht, wie die Ereignisse um Askaloth und Ekkelund bewiesen. Jetzt ist er auf dem Wege, Skortsch, den Feuergeist, zu unterjochen. Er, Akkeron, will DER FEUERTÖTER sein …
DER FEUERTÖTER so heißt auch der Titel des nächsten DragonBandes, der ebenfalls von Hugh Walker geschrieben wurde.