Vampirwelt
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 153 von Jason Dark, erschienen am 28.12.1993, Titelbild: Oliviero Berni ...
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Vampirwelt
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 153 von Jason Dark, erschienen am 28.12.1993, Titelbild: Oliviero Berni
Will Mallmann alias Dracula II hatte es geschafft. Luzifer selbst hatte Pate gestanden, als er sein neues Reich gründete, die Vampirwelt. Eine kalte tödliche Dimension, ein Hort des Bösen, in das Mallmann Menschen lockte. Auch mich holte er. Mein Blut sollte sein Trank werden. Ich konnte mich nicht wehren und sah mich ihm und seiner Helferin Assunga gegenüber. Mir wurde klar, daß meine Chancen nie zuvor geringer gewesen waren...
»Tommy!« Der angesprochene Moderator Tom Hayer schaute hoch, als er die Stimme hörte. »Was gibt’s denn?« »Zwanzig Sekunden! Hast du noch einen Wunsch?« Durch die Scheibe sah Tom die drei grinsenden Gesichter. Es waren seine Kollegen. Der Regisseur der Sendung, der Tontechniker und dessen Assistent. »Keinen.« Sie wollten ihn aufziehen, das war klar. Tom Hayer starrte den roten Mikrofonkopf an, der wie ein eingefrorener Blutstropfen auf der Halterung stand. »Doch, ich habe noch einen Wunsch«, korrigierte er sich, während er auf die Studiouhr schaute. »Raus damit!« »Ihr könnt mich mal alle kreuzweise…« Die nächsten Worte mußte er verschlucken, da genau in diesem Moment das Rotlicht aufleuchtete. Er war gleich auf Sendung. Hayer rückte den Kopfhörer in die richtige Position und wollte seine Hörer begrüßen. Wie jeden Tag. Ein lockerer Spruch wurde erwartet. Diesmal blieb er Tom im Hals stecken, denn der Moderator erlebte ein nie gekanntes Grauen! *** Wie mehrere Blitzschläge zugleich trafen ihn die Schmerzen. Sie waren nicht zu kontrollieren, sie wuchteten von verschiedenen Seiten in seinen Kopf, und sie waren so schlimm, daß er sie nicht mal beschreiben konnte. Für einen Augenblick saß er da wie erstarrt. Als wäre er auf dem Sitz festgefroren. Er hatte den Mund weit aufgerissen, die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Er konnte auch keinen Atem mehr holen, die Starre und die Schmerzen verhinderten es. Sie zerrissen seinen Kopf. Sie töteten alles ab. Sie zwangen ihn zu einer Reaktion. Seine drei Kollegen beobachteten ihn genau. Sie hatten noch nicht richtig mitbekommen, was sich da abspielte. In den folgenden Sekunden sollten sie es merken. Die Schreie waren nicht nur furchtbar. Selbst ein Mensch mit Phantasie hätte sie kaum beschreiben können. Es waren Urlaute, wilde, schreckliche Signale, übertourig und schrill, und sie liefen über den Sender. Zumindest so lange, bis der Regisseur eingriff und den Sendeverlauf änderte. Er spielte Musik ein. Seine Kollegen waren bleich wie gestrichene Kirchenwände, während Tom Hayer noch immer in dem Studio saß und gellend schrie. Plötzlich schüttelte er den Kopf. Der Kopfhörer rutschte ihm bis auf die Schulter und blieb dort hängen. Sein Mund stand weit offen. Speichel lief
über die Unterlippe an der rechten Seite entlang und rann als glänzender Faden über Kinn und Hals. Seine Schreie waren noch immer zu hören, nur klangen sie jetzt nicht mehr so abgehackt, sondern wie eine Sirene. Das Schlimmste aber folgte noch. Blut spritzte plötzlich aus den Ohren, verteilte sich im Studio und klatschte gegen die schallbestückten Wände, auf deren beigen Untergrund dicke Flecken zurückblieben. Blut schoß auch aus dem Mund des jungen Mannes. Blut rann auch aus der Nase, es sickerte aus den Ohren, während der Schrei zu einem Wimmern geworden war, das nur allmählich verklang. Als der Regisseur die Studiotür aufriß, achtete er nicht auf das Blut, nur auf den Mann, der sehr langsam zur Seite kippte. Gerade langsam genug, um ihn auffangen zu können, bevor er hart zu Boden schlug. Tom lag in den Armen des anderen. »Einen Arzt, verdammt!« schrie der Regisseur. Er zitterte. Er holte stoßweise Luft, und er wußte nicht einmal, ob er einen Toten festhielt. So etwas hatte er noch nie erlebt, das würde er auch nicht mehr erleben. Er konnte sich keinen Reim auf die Geschichte machen. Schließlich war Tom Hayer völlig in Ordnung gewesen. Jetzt das. Inzwischen hatten sich mehrere Personen versammelt. Der Chef vom Dienst drängte sich in das Studio. Er sah das Blut, er starrte blicklos auf die beiden jungen Männer und konnte nur immer wieder den Kopf schütteln. Wie auch die anderen begriff er nichts, gar nichts… *** Manchmal gibt es Zufälle im Leben, die begreift man nicht. Ich bin ein Mensch, der im Prinzip nicht an den Zufall glaubt, ihn aber auch nicht ausschließt. Natürlich war ich nicht intelligent genug, um den Zufall berechnen zu können, so etwas gibt es ja auch, aber in diesem Fall sah ich ihn schon mehr als Bestimmung an. Aber ich will der Reihe nach erzählen. Es war mal wieder Sommer, ein kühler Sommer mit viel Regen. Heiß war es dagegen im Frühjahr gewesen. Die Menschen sehnten sich nach Sonne. Immer wieder schielten sie gen Himmel oder hörten den Wetterbericht ab, in der Hoffnung, daß man ihnen mehr Sonne versprach. Es gab solche Tage. Zwischendurch heiterte es immer wieder auf, wenn auch nur für wenige Stunden. Diese Zeit mußte genutzt werden. Besonders von den Gartenfreunden, dazu zählten auch die Conollys. Hin und wieder bekamen sie Lust, ein Gartenfest zu veranstalten. Das wurde immer
groß geplant. Sheila gab sich da viel Mühe bei den Vorbereitungen, in diesem verregneten Juli aber mußte jeder improvisieren, auch sie. Und so konnten die Einladungen nur sehr kurzfristig erfolgen. Da die kleinen Feste immer etwas länger dauerten, war das Wochenende ideal. Und an einem derartigen Freitag, wo eigentlich alles paßte, wollten die Conollys zuschlagen. Jane Collins und Sarah Goldwyn hatten keine Zeit. Sie waren für einige Tage weggefahren. Die Horror-Oma wollte Verwandte besuchen, die irgendwo in der Nähe von Bristol lebten, und hatte Jane gebeten, sie dorthin zu fahren. Wer blieb? Suko, Glenda Perkins und ich. Ein freies Weekend. Auch das gab es bei uns. Eine dämonenlose Zeit zumindest für einige Tage, wo sich die Gedanken dann nicht um den Schrecken drehten, den diese Geschöpfe verbreiteten. Bill und Sheila, beide Freunde der Feste, wollten es bei der geringen Personenzahl nicht bewenden lassen. Sie hatten zusätzlich Nachbarn eingeladen, die allerdings erst gegen Abend eintreffen wollten, da sie am Nachmittag keine Zeit hatten. Im Gegensatz zu Suko und mir. Schon am Mittag waren wir aus dem Büro geschlichen, hatten uns umgezogen – der leichte Bieranzug war Vorschrift – und hatten uns anschließend auf den Weg zu den Conollys gemacht. Suko, der nichts trinken wollte, fuhr. Ich wußte um die Qualität der Bowlen, die Sheila immer perfekt zubereitete, da konnte ich einfach nicht widerstehen, und ein kühles Bier tat bei diesem Wetter ebenfalls besonders gut. Beide waren wir bester Laune, als wir bei den Conollys eintrafen – und fanden Glenda Perkins bereits dort. Ein herrliches Wetter war wie aus dem Nichts entstanden. Über uns schwebte der blaue Himmel. Es war kaum vorstellbar, daß er einmal so dicke Regenwolken gezeigt hatte. Das hier war ein Sommertag zum Sündigen. Und so ähnlich sah Glenda auch aus. Sie trug ein luftiges rotes Kleidchen mit weißen Punkten. Der Rocksaum schwang wie eine Glocke über ihren Knien. »Na?« fragte sie zur Begrüßung und schwenkte ihr Glas, in dem sich die Bowle befand. »Ohhh«, sagte ich nur. »Wieso ohhh?« »Du siehst ja super aus.« Glenda knurrte mich an. »Wer das so sagt wie du, John Sinclair, dem kann ich einfach kein Wort glauben. Ich kenne dich einfach zu lange. Du hast es mal wieder übertrieben.« »Habe ich das?« fragte ich Suko. »Nein…«
»Komm, ihr beide steckt unter einer Decke. Und den da«, sie deutete auf Bill, der zwei Krüge mit frisch gezapften Pils trug, »kannst du gleich dazustecken. Als einzige Unterstützung habe ich Sheila…« »Wo ist sie denn?« fragte ich. »In der Küche«, sagte Bill. Er reichte mir ein Glas. »Zuerst einmal ein kräftiges Cheers. Ich freue mich, daß es noch geklappt hat.« Suko trank ebenfalls ein Bier. Es sollte das erste und auch das letzte für ihn sein. Glenda schaute uns lächelnd zu, wie wir tranken. Ihre Augen strahlten dabei, auch sie freute sich auf den Abend, der sicherlich lustig und unterhaltsam werden würde, denn der Wettergott hatte versprochen, keinen Regen zu schicken. Der sollte erst wieder am Samstag auf das Land niederrieseln. Ich stellte das Glas zur Seite und nickte Bill zu. »Du hast dich ja mächtig in Unkosten gestürzt«, sagte ich. »Aber immer.« »Und deine Frau ist nicht hier.« »Sie wartet auf dich in der Küche.« »Dann werde ich sie besuchen.« »Wo steckt denn Johnny?« fragte Suko. »Unser Sohn ist unterwegs.« Bill hob die Schultern. »Schließlich sind Ferien. Er und ein Freund haben sich eine preiswerte Bahnkarte gekauft, mit der sie kreuz und quer durch Europa reisen können. Vielleicht läuft er jetzt in Frankreich, Germany oder Italien herum. Ich habe keine Ahnung. Der letzte Anruf erreichte uns aus Brüssel.« »Hat er denn Nadine inzwischen vergessen?« »Nein, Suko, das nicht. Aber er hat sich daran gewöhnt, daß sie nicht mehr zur Familie gehört. Wie wir alle eben, aber das weißt du ja selbst.« Ich hatte nur mehr die letzten Reste des Gesprächs mitbekommen, weil ich mich bereits auf dem Weg zur Küche befand, in der ich Sheila erschreckte, denn sie hatte der Tür den Rücken zugedreht. Als sie mein Bellen hörte, fuhr sie aus ihrer gebückten Haltung und dann herum. Ich lächelte sie an. »Du, John!« »Wer sonst?« Sie legte ihre Hand aufs Herz. »Das hätte ich mir auch denken können. Wer anders kann schon auf diese Art und Weise bei uns hereinschneien?« Ich ging auf sie zu. Wir küßten uns auf die Wangen. »Toll, daß du gekommen bist.« »Ein Sommerfest bei euch muß ich wohl mitmachen.« »Das meine ich auch.« Sheila war noch damit beschäftigt gewesen, einige Salate herzurichten. Vor ihrem Kleid mit dem Blumenmuster hatte sie eine Schürze
gebunden, und als ich meine Blicke über all die Leckereien hinweggleiten ließ, da lief mir das Wasser im Mund zusammen. Es war einfach ein Genuß, denn ich wußte ja, welch gute Köchin Sheila war. »Wann ist es denn soweit?« »Du mußt dich noch gedulden, John.« Ich bettelte auf raffinierte Art und Weise. »Schließlich habe ich am Mittag nichts gegessen.« Sheila schmunzelte und nickte mir zu. »Okay, ja, du bekommst, was du willst.« Aus dem Kühlschrank holte sie einen Teller, auf dem kleine Rollmöpse lagen. Gerade für einen Bissen gut genug. »Iß!« »Toll, danke.« Da man bekanntlich auf einem Fuß nicht stehen kann, nahm ich zwei. Ich kehrte zu den anderen zurück, wo Glenda sofort anfing zu sticheln. »Frag ihn doch mal, Bill, was er so lange in der Küche gemacht hat.« »Soll ich?« Suko gab die Antwort. »Gegessen. Er kaut noch immer.« Das stimmte. Ich schluckte den letzten Bissen runter und hob die Schultern. »Sheila hat eben ein Herz für einsame Junggesellen. Sie kann sie nicht leiden sehen.« »Zumindest nicht, wenn sie hungrig sind.« »Fisch will schwimmen«, sagte Bill. »Dann brauche ich noch ein Bier.« »Ich hole es dir.« »Laß mal, das mache ich selbst.« Ich zapfe gern. Das kleine Faß stand auf einem Tisch, und ich schaute zu, wie das herrliche Pils in den Krug strömte. Der Garten der Conollys war nicht sehr groß, doch für die Gartenfeste war er gerade richtig. Sie waren immer etwas Besonderes. Wenn es dämmerte, würde Bill die Lichterketten einschalten, die dann den Garten illuminierten. Ich merkte, wie die Spannung des Tages von mir abfiel. Das war wie eine zweite Haut, die man abstreift. Diese Umgebung tat einfach gut, sie war für die Seele wie eine besonders intensive Streicheleinheit. Ich dachte daran, daß ich meine freien Wochenende oft in meiner Wohnung verbrachte, und mir fiel ein, daß ich mich dort eigentlich nie so richtig entspannen konnte. Da war diese Umgebung schon etwas anderes, und als die Krönung sah ich das Pils an, das so wunderbar schaumig den Becher füllte und einen sehr festen >Feldwebel< bekam. Mit dem gefüllten Glas näherte ich mich der Sitzgruppe, wo Glenda, Bill und Suko bereits ihre Plätze gefunden hatten. Auch Sheila kam, lachte und begrüßte Suko. »Bleibst du jetzt bei uns?« fragte Bill. »Ja.« Sie ließ sich nieder. Ich saß für mein Leben gern an einem Sommertag unter Bäumen. Sonnenschirme lehnte ich ab. Das war nichts Natürliches, ebensowenig wie die oft vor und hinter den Lokalen aufgestellten Plastikstühle, auf
denen man nur festklebte, im Gegensatz zu diesen hier, die aus Holz bestanden. Es war gemütlich, im Kreis der Freunde zu sitzen, und ich konnte die Seele baumeln lassen. Bill hatte ein Radio mitgenommen. Es stand etwas abseits. Die Musik störte nicht, sie war nicht zu schrill, sondern melodiös, bildete den idealen Background. Wir sprachen über viele Themen, im Nu waren dreißig Minuten vorbei. Auch mein Glas war leer. Ich schaute traurig den Schaumresten nach, die an den Innenwänden nach unten liefen. »Ein leeres Glas ist wie eine Suppe ohne Salz«, bemerkte ich. »Schon verstanden«, sagte Bill. »Ich hole was zu trinken.« Sheila hob ebenfalls ihr Glas. »Und mich solltest du auch nicht vergessen.« »Sehr zu Diensten, Madam.« Wir mußten lachen, schauten Bill nach und entspannten uns wieder. Ich streckte die Beine aus, den Kopf hatte ich zurückgelegt, die Augen nur mehr halb geöffnet. Über mir schwamm die Welt in grünen und goldgelben Tönen. Es hatte sich ein Teppich gebildet, der wie ein Fleckenmuster wirkte. Eine wunderbare Welt für sich, ein Kleinod, das ich richtig genießen wollte. Es blieb beim Vorsatz. Meine wunderbare Ruhe wurde radikal gestört, denn wir alle hörten den furchtbaren Schrei… *** Das war wie der Schlag mit einem Hammer, der uns getroffen hatte. Wir wurden aus unserer Lethargie gerissen, und ich war der erste, der in die Höhe schnellte. Vorbei war es mit der Ruhe, mit dem Ausruhen. Brutal und radikal hatte mich die Wirklichkeit zurückgeholt. Für einen Moment stand ich etwas benommen vor meinem Stuhl, schaute mich um, weil ich sehen wollte, wer den Schrei ausgestoßen hatte. Keiner von uns. Bill stand an der Zapfanlage in gebückter Haltung und wirkte wie eingefroren. Sheila hatte die Hand vor ihr Gesicht gepreßt, und nur die großen Augen waren zu sehen. Glenda schaute starr ins Leere, während Suko ebenfalls vor dem Sitzmöbel stand. »Das war keiner von uns«, flüsterte er. »Wer dann?« »Im Radio, John!«
Ich schaute auf den viereckigen Kasten, der in diesem Moment schwieg. Der Schrei war verklungen, sein Echo allerdings wetterte jetzt noch in meinen Ohren nach, und den anderen erging es sicherlich nicht anders. Dieser schreckliche Laut hatte unsere Stimmung radikal zerrissen, wir kamen nicht mehr zurecht und erschraken abermals, als wir die Musik hörten, die plötzlich aus den beiden Lautsprechern drang. Sie beruhigte nicht, sie war aufputschend, denn Michael Jackson sang seinen »Thriller«. Bill war zurückgekommen. Er stellte die gefüllten Gläser wieder hin und schaute uns der Reihe nach an. Wir schwiegen. Da er Suko und mich aber kannte und auch unsere Blicke gut zu orten wußte, wiegelte er sofort ab. »Der Schrei geht uns nichts an. Der ist aus dem Radio gedrungen. Er war nicht im Garten.« »Stimmt.« Ich nickte. »Deshalb sollten wir uns die Stimmung aber nicht verderben lassen.« Sheila rieb mit den Handflächen über ihre nackten Arme, die eine Gänsehaut bekommen hatten. »Ihr könnt sagen, was ihr wollt. Dieser Schrei war so schrecklich echt, und ich sehe auch kein Motiv für ihn. Der klang urplötzlich auf, da war zuvor keine Ansage, und ich sage euch, daß er echt gewesen ist und kein Spaß dahintersteckt.« Sie nickte heftig. »Kein Spaß.« »Wer sollte denn geschrien haben?« fragte ich. Sie hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, wirklich nicht. Vielleicht der Moderator?« »Einfach so?« »Ja, Bill.« »Glaube ich nicht«, sagte Glenda. »Wenn jemand so schreit, dann wird er von irrsinnigen Schmerzen gequält, dann muß er völlig von der Rolle sein, denke ich.« Sie schaute mich an. »Was sagst du denn dazu, John? Laß hören!« Ich hob die Schultern. »Nichts?« »Im Prinzip gebe ich dir recht, Glenda. Allerdings will mir auch kein Motiv in den Sinn.« »Und mir auch nicht«, fügte Bill hinzu. Wir waren ratlos. Das Baumeln meiner Seele war vorbei. Der Schrei hatte das Fest gestört. Es gab für uns einfach kein Motiv, und ich konnte mir auch keine Radiosendung am Nachmittag vorstellen, in der ein derartiger Schrei zum Programm gehörte. Wenn, dann war so etwas mehr für den Abend, wo hin und wieder gruselige Hörspiele gesendet wurden. Sheila hob die Arme und ließ sie wieder fallen. Ihre Hände klatschten auf die Oberschenkel. »Wir sollten uns das nicht so zu Herzen nehmen«,
sagte sie. »Das muß ein Versehen gewesen sein. Vielleicht hat sich auch jemand einen Spaß erlaubt.« »Wer macht denn so was?« fragte Bill. »Keine Ahnung.« »Bist du auch der Meinung, daß es ein Spaß gewesen ist, John?« Ich blickte den Reporter an. »Los, deine ehrliche Meinung!« »Er klang sehr echt.« »Also kein Spaß.« »Nein.« Sheila regte sich etwas auf. »Jetzt sag nicht, daß du uns verläßt und zu diesem Sender fahren willst.« Ich hob beide Hände. »Nein, um Himmels willen. Ich habe mich auf den Tag hier gefreut.« »Das meine ich auch.« Glenda Perkins klatschte in die Hände. »Wenn einer von euch jetzt noch ein Trauergesicht zieht und ich dann merke, daß er dabei über dieses Geräusch nachdenkt, werfe ich ihn eigenhändig in den Pool.« »O ja!« rief Bill. »Springst du hinterher?« »Was willst du denn mit Glenda im Pool?« fragte Sheila. »Da würde mir schon was einfallen.« »Ha, ha, das glaube ich.« Um es kurz zu machen. Es wurde noch ein schöner Nachmittag, dem ein noch schönerer Abend folgte. Wir amüsierten uns köstlich, und irgendwann gegen drei Uhr morgens verließen wir die Conollys. Glenda und ich waren leicht angeheitert. Suko hatte sein Versprechen gehalten und sich an alkoholfreie Getränke gehalten. Als wir neben dem BMW standen, lehnte sich Glenda an mich und strich mit der flachen Hand über meine Brust. »Mal ehrlich, John, ich will nicht, daß Suko extra noch bei mir vorbeifährt.« »Klar«, sagte ich grinsend, »mein Bett ist breit genug.« Sie küßte mich. »Das habe ich auch gemeint, John…« *** Die Ärzte hatten getan, was sie konnten, um das Leben des Tommy Hayer zu retten. Sie hatten es geschafft, aber sie standen dennoch vor einem Rätsel. Er hatte geblutet, das Blut war ihm aus den Augen, der Nase und den Ohren geströmt, er hätte verletzt sein müssen, er war auch verletzt, aber anders, als sie es kannten. Er war verletzt und trotzdem in Ordnung. Er hatte geblutet, er war in eine furchtbare Lage hineingeraten, sein Schmerz mußte höllisch gewesen sein, doch mit seinem Kopf war nichts passiert. Kein Gerät zeigte bei irgendwelchen Messungen Abweichungen. Bei ihm lief alles völlig
normal. Die Hirnströme hatten die gleiche Stärke wie immer. Es war einfach nicht zu fassen, und unter den Ärzten herrschte Ratlosigkeit. Sie hatten den Patienten in ein Einzelzimmer gelegt und hielten ihn über die Monitore unter Kontrolle. Dem jungen Mann ging es gut. Er hatte den Blutverlust überstanden, er konnte normal denken und reden, was das Rätsel noch mehr vergrößerte. Nichts war in seinem Kopf geplatzt, keine Ader, es hatte kein Blutgerinsel gegeben, und je mehr die Fachleute darüber sprachen, um so stärker wunderten sie sich. Zweimal am Tag war Visite. Zwischendurch kamen die Krankenschwestern und schauten nach Tom. Ihm ging es gut, er aß, er trank, er wollte weg von den Apparaten, aber da waren die Fachleute anderer Meinung. Nach der letzten abendlichen Visite ließen sie ihn wieder allein, und Tom Hayer starrte zum Fenster, das noch im hellen Licht der Sommersonne lag. Natürlich dachte auch er über sein Schicksal nach. Immer wieder überlegte er, wie so etwas hatte möglich sein können. Urplötzlich war dieser irrsinnige Schmerz über ihn gekommen, hatte ihn gelähmt, ihn dann bewußtlos gemacht, und er war schließlich erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Zwischendurch hatte es eine Zeit der Leere gegeben, dachte er zunächst, aber so leer war die Zeit nun doch nicht gewesen. Je größer der Zwischenraum wurde, um so mehr konnte er sich mit dieser Zeitspanne beschäftigen. Sie war doch nicht so leer gewesen, wie er jetzt eingestehen mußte. Da hatte es etwas gegeben, über das er einfach intensiver nachdenken mußte. Ein Erlebnis? Tom war froh, allein gelassen zu werden. Er hatte sich vorgenommen, an diesem Abend einen Rückblick zu halten, und er wollte über gewisse Dinge nachdenken. Da war etwas gewesen… eine andere Welt… Erinnerungslappen durchfluteten ihn… Düsternis… nur Düsternis… oder…? Nein, er sah etwas. Tief aus seinem Gedächtnis stieg einiges an die Oberfläche und formierte sich zu einem Bild. Tommy Hayer erlebte genau die Welt, die er bisher vergraben hatte. Dieses Stück, das sich zwischen dem Eintreten der Bewußtlosigkeit und dem Erwachen wie ein Film in ihn festgefressen hatte und nur allmählich klarer wurde. Die ersten Bilder erschienen. Sie waren erschreckend… *** Tommy Hayers Erinnerungen
Losgelöst von seinem Körper und trotzdem noch in ihm vorhanden, schwebte er durch eine Welt, die ihm bisher noch nicht begegnet war. Eine Welt der Schwärze, des Grauens, der unheimlichen Gestalten und der bedrückenden Düsternis. Sie war da, sie war belebt, aber sie war nicht die, in der er sich wohl fühlte. Sie war so kalt! Nicht körperlich kühl, sondern mehr seelisch. Sie drückte sich um seine Seele zusammen, sie sorgte dafür, daß er kaum Luft bekam und wenn, dann strömte diese Kälte auch in seinen Körper, um über die Seele einen Ring zu legen. Er war woanders, ganz woanders. Er wanderte durch eine tiefe Schwärze, die weit über ihm einen grauen Schimmer bekommen hatte. Dort sah er einen hellen Streifen, der bis zum Horizont hin abfiel, und in diesem Streifen bewegten sich dunkle, große Vögel. Tommy wußte nicht, wer oder was diese Vögel waren. Es konnten Geier sein, vielleicht auch Adler, aber sie gaben ihm trotzdem Mut, denn ihre Existenz deutete auf ein Leben hin. Demnach war diese Welt nicht tot, es gab da etwas, mit dem er noch nicht zurechtkam. Ein Ziel hatte Tommy nicht. Wohin er seine Schritte auch setzte, es blieb einzig und allein die Dunkelheit übrig. Nach rechts, nach links, nach vorn oder hinten, nur die tiefe Schwärze. Also ging er dorthin, wo sich der graue Schimmer abzeichnete. Er schaute nicht auf einen Weg, denn es gab keinen. Schwarze Erde, nicht eben, hin und wieder ansteigend, dann wieder abfallend, in einer Welt, in der kein Lichtschein Hoffnung gab. Genau diese Hoffnungslosigkeit war es, die ihn so müde und deprimiert machte. Das tiefe Gefühl des Verlassenseins, das Fallen in den unendlichen Schacht. Ziellos durch eine jenseits- und totenähnliche Dunkelheit zu streifen. Seltsamerweise funktionierte sein Gehirn. Er konnte nachdenken, er konnte sich etwas vorstellen, er konnte auch Rückblenden halten und sich an sein normales Leben erinnern. Dort war einiges nicht mehr in Ordnung. Der Job hatte ihm immer Spaß gemacht, in diesem Zustand aber widerte er ihn plötzlich an, und Tommy fühlte eine seltsame Sehnsucht, die ihn ausgerechnet in diese Welt hineinzog. Er wollte mehr über sie wissen. Sie war ihm plötzlich vertrauter als die, aus der er stammte. Deshalb ging er auch weiter. Immer in der Hoffnung, auf ein Ziel zu treffen, denn irgendwo wußte er auch, daß diese Welt nicht nur leer war. Daß sie gelenkt und gesteuert wurde, doch von welchen Wesen das abhing, konnte er nicht sagen. Seltsamerweise rechnete er nicht damit, auf Menschen zu treffen. Sie wären ihm auch nicht willkommen gewesen. Er wollte sich den
Geschöpfen stellen, die hier ihr Zuhause hatten. Dunklen Mächten, finsteren Gestalten, die auf das aus waren, was er hin und wieder roch. Ein tiefer, ein strenger und auch ein leicht süßlicher und ebenfalls kalter Geruch. Blut! Ja, das war es. Altes, stockiges Blut, das in irgendwelchen Tümpeln schwappte oder einfach gegen Felsen und Wände geklatscht war. Er holte Luft und roch es wieder, deshalb wollte er wissen, wo er diese Blutseen fand. Es gab für ihn nichts zu entdecken. Der etwas grauere Streifen blieb, und er rückte auch nicht näher, denn die Finsternis machte jede Entfernungsschätzung zunichte. Hinzu kam die Stille. Sie war so dicht wie Watte. Tommy wollte es genau wissen und blieb stehen. Er hob das rechte Bein an und drückte den Fuß zurück. Mit der Hacke schlug er gegen den Boden, um dem Echo zu lauschen. Es gab keines. Schon der erste Laut wurde von der Stille einfach verschluckt. Hayer wunderte sich nicht. Er nahm es hin und setzte seinen Weg fort. Die Dunkelheit begleitete ihn auch weiterhin, das Frösteln auf dem Körper blieb ebenfalls, aber dieses dichte Schwarz löste sich allmählich auf, und zum erstenmal seit dem Eintauchen in diese Welt konnte er gewisse Umrisse wahrnehmen. Schräg vor ihm waren sie zu sehen. Tommy Hayer blieb stehen. Er zwinkerte mit den Augen, das Bild wurde nicht deutlicher. Es blieb nur die Möglichkeit für ihn, näher an das Ziel heranzugehen. Das tat er auch. Es war kein Einzelstück, kein Haus, kein Gebäude, kein Versteck, sondern ein schauriger Platz, auf dem Gegenstände standen, die Angst machen konnten. Särge – gleich mehrere, die sich auf der Erde verteilten. Sehr schief und mal zur Seite hin geneigt oder nach vorn und rücklings. Alt und zerrissen, mit schief aufliegenden Deckeln. Sie waren nicht alles. Tommy sah auch die Grabplatten, die aus dem Steinboden hervorschauten. Tommy zögerte, marschierte über die weiche Graberde. Wenn er nach unten schaute, sah er die von den Schuhen aufgewühlte Erde. Er wußte den Grund nicht, weshalb er diesem Friedhof entgegenschritt. Es war der plötzliche Drang und auch das unbestimmte Wissen, etwas zu entdecken. Dabei hatte er sich als Kind vor Friedhöfen immer gefürchtet und hatte stets einen großen Bogen geschlagen, um nur nicht zu nahe an ein Grab heranzukommen. Das lag alles zurück. Dieser düstere Friedhof hier zog ihn an wie ein Magnet das Eisen.
Noch etwas Seltsames und Unerklärliches geschah. Die Dunkelheit wich etwas. Sie schuf einem kalten Grau Platz, das auch Umrisse erkennen ließ. So sah er im Hintergrund ein schiefes, sehr altes und düsteres Haus, das ihn an eine kleine Burg erinnerte. Es begrenzte den Friedhof an der Rückseite und war von sperrigem Kleingehölz umstanden, dessen Geäst kein einziges Blatt aufwies. Wieder nahm die Kälte in seinem Innern zu, als er den Kopf senkte und sogar erschrak. Tommy Hayer hatte nicht mitbekommen, wie nahe er bereits einem der Särge gekommen war. Seine Fußspitzen waren nur eine Fingerbreite entfernt. Er schaute auf den Deckel, der schief auf dem Unterteil lag. Das alte Holz roch feucht und auch modrig. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn durch die Ritzen zwischen den beiden Teilen zischender Dampf gedrungen wäre, um ihn zu umgeben wie stinkende Pestwolken. Hier war eben alles anders als in der normalen Welt. Hier lebten die Toten weiter, zumindest war das für Tommy vorstellbar. Hier wurden die Träume wahr, die oft genug von den Grufties geträumt wurden, die sich nach der Schwärze und auch nach der Welt der Toten sehnten. Hayer bückte sich. Der Sarg zog ihn auch weiterhin an. Er umfaßte mit beiden Händen den Deckel – und zerrte ihn hoch. Sein Gesicht verzog sich. Das Entsetzen ließ ihn einfrieren, denn in dem Sarg lag eine furchtbare Gestalt. Ein halbes Skelett, dessen Kopf noch mit grauen Hautfetzen bedeckt war, die sich besonders um den Bereich des Mundes herum konzentriert hatten und dort von einer dicken, klebrigen Flüssigkeit bedeckt waren. Blut… Der Deckel rutschte Tommy aus der Hand. Ein Zittern durchlief ihn, und er sah zu, wie sich die Gestalt plötzlich bewegte und den mit Staub und Spinnweben bedeckten rechten Knochenarm anhob. Tommy würgte. Er taumelte zur Seite. Dann schaute er zurück. Die Gestalt saß im Sarg und schnappte nach ihm, zum Glück ohne Erfolg. Tommy wollteweg. Er drehte sich auf der Stelle und lief weiter. Dabei hatte er den Eindruck, als würde der Boden unter seinen Füßen zittern, was nicht von ihm stammte, sondern aus dem Boden direkt hervorkam. Er lebte hier… Tommy wollte weg. Er keuchte, er schlug einen Bogen, bis er den Schatten des Hauses dicht vor sich sah. Stoppen konnte er nicht mehr und prallte vor die dunkle, schwarze Mauer, auf der ein feuchter Schleim lag, durch den seine Hände wischten. Es dauerte seine Zeit, bis er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Sein Blick glitt zurück zum Ort des Schreckens. Auf dem Friedhof hatte sich äußerlich nicht viel verändert. Trotzdem war er zu einem
anderen Platz geworden, denn in ihm steckte plötzlich ein unheimliches Leben, das sich aus der Tiefe bemerkbar machte. Grollen und Knarren, leises Fauchen, als wären dort zahlreiche Tiere erwacht. Irgendwann würden sie ihn erwischen. Dicht an der Hauswand bewegte er sich weiter. Er sah die Fenster wie düstere, viereckige Totenlöcher, hinter die sich kein Lichtstrahl verirrt hatte. Dieses Haus war so unheimlich, daß es nur das Grauen zusammenhielt. Ein Ort des wahren Schreckens, in dem Alpträume Gestalt angenommen hatten und blutgierige Monstren auf frische Beute lauerten. Er fiel in eine Nische hinein, streckte die Arme vor und geriet an eine Tür, die nicht verschlossen war. Als er sie aufstieß, kratzte sie über den Boden und jaulte in den Angeln, als Tommy die Finsternis eines Flurs aufnahm. Lange blieb die Dunkelheit nicht. Weiter vor ihm entdeckte er einen hellen Fleck. Licht? Es gab ihm keine Hoffnung, nicht in dieser unheimlichen Welt. Da konnte das Licht einfach nichts Gutes bedeuten, aber er ging trotzdem darauf zu. Wie es im Innern dieses Hauses aussah, nahm er nicht wahr. Es war einfach vorhanden, er hatte auch keinen Blick dafür, und die Umrisse im Innern schienen sich auch ständig zu verändern. Das alles ging ihm durch den Kopf, als er sich ausschließlich auf das kalte und sehr fahle Licht konzentrierte. Es erinnerte ihn an den Schein des Mondes, nur schien er in dieser fremden Welt nicht. Das Licht sank zusammen. Es wurde jedoch nicht völlig dunkel, und Tommy war so dicht wie eben möglich an den schwachen Lichtschleier herangetreten. Eine Scheibe oder ein anderer durchsichtiger Gegenstand versperrten ihm den Weg. Er hob die Arme an, spreizte die Hände und preßte sie gegen das Glas der Scheibe. Dann brachte er seinen Kopf sehr dicht heran, denn er hatte etwas gesehen. Hinter der Scheibe hielt sich jemand auf. Versteckt in einem Raum und umflort von einem kalten Lichtschleier. Er sah zwei Personen. Sie wandten ihm ihre Rücken zu, trotzdem unterschied er den Mann und die Frau. Beide waren ungewöhnlich gekleidet. Sie trugen Umhänge und wirkten wie Mönche. Die Frau drehte sich zuerst um. Ihr Haar schimmerte heller, ohne hell zu sein. Rötliche Reflexe hatten sich zwischen den Strähnen gebildet. Die Haut war bleich, die Augen blickten düster. Es war eine schöne Frau, das sah Tommy wohl, doch ihr Lächeln war bissig und ohne eine Spur von Wärme. Sie starrte ihn nur an.
Tommy wollte weg, allein, er schaffte es nicht. Der magische Bann dieser Person war stärker, er hielt ihn auf der Stelle, und er mußte auch mit ansehen, wie sich der sitzende Mann langsam auf seinem Stuhl drehte. Während dieser Bewegung spürte Tommy, daß er in diesem Fall vor einer neuen und vielleicht sogar entscheidenden Entdeckung stand, denn diese Person strahlte etwas aus, das er nicht beschreiben konnte, das ihm jedoch Angst bereitete. Tommy sah das Gesicht. Schwarze Haare, eine bleiche Haut, sehr dunkle Augen, eine gebogene Nase und darüber eine ungewöhnlich hohe, ebenfalls bleiche Stirn. Sie interessierte ihn am meisten, denn genau auf ihr passierte etwas. Es kam ihm vor, als hätte ein unsichtbarer Maler seinen Pinsel geschwungen, um aus einer anderen Welt hervor etwas in einer blutroten Schrift auf die Stirn zu zeichnen. Es entwickelte sich zu einem Buchstaben. Ein großes D! Unheimlich rätselhaft, auch blutig leuchtend. Ein Fanal und zugleich ein Sigill des Schreckens. Eine Botschaft, die eine Steigerung erfuhr, als die Gestalt ihren Mund öffnete. Tommy sah zwei nadelspitze, leicht gekrümmte Vampirzähne aus dem Oberkiefer hervorwachsen. Gleichzeitig entdeckte er auf den Augen die feinen Blutäderchen, sah, wie die Frau von ihrem Schemel hochschoß, den Oberkörper nach vorn schleuderte, gegen die Trennscheibe schlug und sie zerstörte. Er hörte den irren Schrei, sah das schreckliche Gesicht und erwartete die Splitter wie Messerspitzen in seinem Gesicht. Tommy warf sich zurück… *** Nein, er konnte es nicht, denn unter ihm befand sich das Bett. Er hatte sich nur in das Kopfkissen hineingepreßt und war in dem Augenblick erwacht, als er geglaubt hatte, von einem Splitterregen Übergossen zu werden. Die schreckliche Erinnerung war vorbei. Die Realität hatte ihn wieder, das Bett, das Zimmer, auch die von ihm so gehaßten Apparaturen. Es war nur ein Traum gewesen oder die Erinnerung an einen schlimmen Alptraum. Tommy hatte zuerst den Eindruck, in einer Pfütze zu liegen, dabei war er verschwitzt. Laken, Decke und Kissen unter dem Kopf fühlten sich klamm an. Alles verschwamm jetzt vor seinen Augen. Gewaltige Wellenberge trieben auf ihn zu, rissen ihn hoch, schleuderten ihn wieder zurück. Sein Zustand glich einer Achterbahnfahrt über das kochende
Meer, umsegelt von düsteren Wolken, in denen sich die Zimmerdecke einfach aufgelöst hatte. Er wischte über sein Gesicht. Der erste Versuch, sich aufzusetzen, scheiterte, er fiel wieder zurück, startete einen zweiten Anlauf und stemmte sich dabei mit den Händen ab. Jetzt klappte es besser. Er saß, blieb auch in der Halfung und holte zunächst einige Male tief Luft, damit er im Kopf wieder klar wurde und der Schwindel verschwand. Eine ungewöhnliche Kälte spürte er in sich, und die kannte er aus seiner Erinnerung. Es war die gleiche Kälte, die er in der anderen Welt erlebt hatte, die von der Dunkelheit und blutgierigen Monstren beherrscht wurde. Tommy schauderte zusammen und ließ sich wieder zurücksinken. Noch immer glaubte er daran, die schlechte, mit dem Geruch des Blutes geschwängerte Luft einzuatmen, und er spürte den Metallgeschmack auch auf der Zunge. Immer mehr kam er zu der Überzeugung, daß dies kein normaler Traum und auch keine normale Rückbesinnung gewesen war. Er hatte sich so gefürchtet, und dieser Traum hatte ihn auch so mitgenommen wie nichts zuvor. Er hatte den Eindruck gehabt, selbst in dieser Welt zu sein, möglicherweise mit seinem Astralkörper. Daran hatte er nie glauben wollen. In seinen Sendungen hatte er mal Interviewpartner aus der Esoterikszene gehabt und sich über deren Antworten leicht amüsiert gezeigt. War mit ihm jetzt etwas Ähnliches geschehen? Konnte er nur eine Antwort finden, wenn er diesen ungewöhnlichen Weg ging? Zudem hatte er den Eindruck, verfolgt zu werden. Er sah und hörte nichts, es blieb nur dieses Gefühl, aus dem Nichts heraus beobachtet zu werden. Wieder sitzend, drehte er den Kopf. Es war noch hell im Zimmer. Er sah den Schrank, das Tischchen mit den beiden Stühlen, auch die Tür zur Toilette, und die Apparate, an die er angeschlossen war und die seine Bewegungsfreiheit eingrenzten, erinnerten ihn an futuristische Gebilde aus dem SF-Film. Er spürte, daß seine Augenlider schwer geworden waren, die Müdigkeit hatte sich ebenfalls in ihm hochgedrängt, doch er würde nicht schlafen können. Diese Erinnerung, die mit den gräßlichen und unerklärlichen Schmerzen im Studio begonnen hatte, machte ihm zu schwer zu schaffen und drängte die Müdigkeit immer weiter zurück. Es würde noch etwas passieren, davon ging er einfach aus, ohne konkrete Beweise zu haben. Diese Zeit war äußerlich ruhig, er hörte kaum Geräusche, nur im Innern verspürte er einen irrsinnigen Drang. Zudem fehlte ihm der Kontakt zur Außenwelt. Er brauchte den Sender, das Studio, die Hektik kurz vor den Live-Sen-dungen, er wollte die
Kollegen sehen, insgesamt sehnte er sich nach Ablenkung. Nur die würde die Schrecken allmählich verblassen lassen. Als es an die Tür klopfte, drehte er den Kopf. Es konnte nicht die Schwester sein, denn sie klopfte anders. Auch das Zögern nach dem Geräusch deutete auf einen Besucher hin, und als sich die Tür öffnete, da sah er das grinsende Gesicht seines Freundes und Kollegen René Pulger, der die letzte Sendung als Regisseur betreut hatte. Tommy Hayer freute sich. Er holte tief Luft. Er wünschte sich, gut drauf zu sein, denn René sollte nicht merken, was erst kurz hinter ihm lag. Er winkte mit einer Flasche, hatte sie, den Arm und den Kopf durch den Türspalt gestreckt und schaute sich um. »Du kannst ruhig kommen, Rene.« »Niemand in der Nähe?« »Nur ich.« Pulger huschte ins Zimmer. Und ebenso leise huschte er auf das Bett zu, staunte die Apparate an, schüttelte den Kopf, bevor er einen Stuhl heranzog und sich neben das Bett setzte. »Mann«, sagte er, »Mann…« »Wieso?« »Du siehst ja wieder gut aus.« »Ich fühlte mich auch besser.« Pulger strich durch sein langes, blondes Haar. Er war sehr groß, ganz im Gegensatz zu Tommy Hayer, einem jungen Mann mit dunklen, kurzen Haaren und einem runden Gesicht, in dem besonders die lustigen Augen auffielen. »Also das habe ich dir mal mitgebracht. Ist ein Superstoff, echter, sehr alter schottischer Whisky aus einer kleinen Privatbrauerei.« Er kratzte sich verlegen am Kopf. »Ich soll dir auch von den anderen Grüße bestellen.« »Danke, grüße sie zurück.« Pulger stellte die Flasche auf den Beistelltisch. »Na ja«, sagte er etwas verlegen. »Und wie ist es sonst?« »Beschissen!« »Ja?« »Schau dich doch mal um. Ich bin hier an das Zeug angeschlossen und komme mir vor wie ein Roboter oder ein Versuchskaninchen. Ich weiß auch nicht, was die Weißkittel alles mit mir anstellen, aber ich bin fit, ich fühle mich gut.« Pulger staunte ihn an. Er hatte auf der Nase einen leichten Sonnenbrand. »Das hat uns alle gewundert. Wir haben ja angerufen, und die Kapazitäten erklärten, daß sie vor einem Rätsel stehen.« Er tippte gegen seinen Kopf. »Da ist wirklich nichts zurückgeblieben?« »Nein.« »Du hast geblutet wie ein… wie ein…«
»Ich weiß, aber es war nichts mehr. Etwas knallte in meinem Schädel, ich spürte plötzlich einen rasenden Schmerz, dann war es vorbei. Ich erwachte hier und fühlte mich seltsamerweise gut, kann ich dir sagen, ehrlich.« »Ja, ja, das glaube ich dir.« »Bis auf eines, Rene.« »Was denn?« Tommy holte tief Luft. Er schaute an seinem Besucher vorbei auf die geschlossene Tür. »Ich hatte einen Traum und weiß nicht einmal, ob es ein Traum gewesen ist oder die Aufbereitung einer Erinnerung an das, was ich wirklich, aber nicht direkt körperlich erlebt habe. Verstehst du das, Rene?« »Nein.« Die Antwort klang entschieden. »Muß ich das denn alles verstehen?« »Eigentlich nicht. Es kam auch so plötzlich über mich wie dieser Schrei, mein Junge.« Pulger legte die Hände zusammen. »Willst du davon erzählen? Hast du Bock, darüber zu sprechen?« »Eigentlich schon.« »Dann los!« »Aber nicht lachen!« Der Regisseur hob die rechte Hand. »Versprochen. Mir ist danach auch nicht zumute.« »Dann hör zu.« Tommy Hayer kramte in seiner Erinnerung, und er brauchte nicht lange zu suchen. Sehr schnell fielen ihm die Einzelheiten ein, die er seinem Freund und Kollegen haargenau berichtete. Pulger sagte wirklich nichts. Er staunte nur, er schluckte, die blassen Wangen kriegten Farbe. Manchmal rollte er auch mit den Augen. Einmal wischte er sich den Mund ab, dann wieder hob er die Schultern, aber er stellte nicht eine Zwischenfrage. »Ja, und dann bin ich wieder wach geworden.« »Wann war das?« »Kurz vor deinem Besuch.« »Klar, da ist die Erinnerung noch frisch.« »Das kannst du wohl laut sagen, René. Nun ja, ich muß damit leben.« Pulger schaute zu Boden. Seine Stirn hatte er in Falten gelegt. »Jetzt willst du bestimmt von mir wissen, was ich davon halte, nicht?« »Das wäre toll.« »Ich bin von den Socken. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich glaube schon, daß diese Träume etwas zu bedeuten haben.« »Es war nur ein Traum und nicht einmal das, sondern mehr ein tiefer Rückblick in die Erinnerung. An das, was ich während meiner Zeit der Bewußtlosigkeit erlebt habe.«
»Okay, einverstanden, Tommy. Weißt du auch, wie mir das vorkommt?« »Nein.« »Wie ein Besuch in einer fremden Welt, die nicht sichtbar ist, sondern hinter der unsrigen liegt. Metaphysisch erklärt.« »He, he!« Tommy gab sich erstaunt. »Das ist aber ein Ding, so etwas von dir zu hören.« »Wieso?« Tommy grinste. »Nun ja, wir kennen uns lange, aber daß du so denkst, das habe ich nicht gewußt.« »Stimmt aber.« »Du kennst dich aus?« »Nein, das nicht. Es wäre toll, wenn ich mich auskennen würde, aber ich bin noch längst nicht soweit. Ich habe mal angefangen mit einer gewissen Stimmenforschung, was du ja auch kennen solltest.« »Die aus dem Jenseits?« »Ja.« »Dann glaubst du an eine Geisterwelt.« Pulger wiegte den Kopf. »Sagen wir so, ich schließe sie zumindest nicht aus.« Tommy schwieg. Sein Gesicht sprach Bände. In dem Ausdruck wechselten sich Glaube und Unglaube ab. Er atmete ein, dann wieder aus, hob die Schultern und meinte: »Sprich weiter.« »Ich? Du bist an der Reihe.« »Verdammt, ich habe dir alles erzählt.« »Ja, die Erinnerung.« »Meinst du denn, daß ich – es klingt ja verrückt – in eine Welt entführt worden bin, die dir nicht ganz unbekannt ist? Aus der du die Stimmen gehört hast?« »Weiß ich nicht.« »Tolle Antwort.« Pulger hob die Schultern. »Ich habe mich nicht so intensiv mit den Dingen beschäftigt.« »Kannst du mir denn keinen Rat geben?« »Willst du das denn?« »Stell dich nicht so an. Hätte ich dich sonst gefragt?« René Pulger schaute zum Fenster, als er anfing zu sprechen, denn er wollte Tommy dabei nicht in die Augen sehen. »Weißt du, ich bin kein großer Kenner der Szene, aber ich kann dir sagen, daß es hier in London einen Mann gibt, der sich mit Phänomenen beschäftigt, die unerklärlich sind.« »Hör auf, René, da gibt es doch viele.« »Die meine ich aber nicht. Keine Hellseher und Frauen, die aus dem Kaffeesatz lesen oder so, nein, da sind andere Dinge mit im Spiel. Dieser Mann heißt John Sinclair.«
»Müßte ich den kennen?« »Nicht unbedingt. Er ist Polizist.« Tommy verdrehte die Augen. »Auch das noch.« Pulger strich mit beiden Händen sein Haar zurück. »Laß mich mal ausreden, Junge. Polizist ist nicht gleich Polizist. Dieser Sinclair arbeitet bei Scotland Yard. Man nennt ihn auch den Geisterjäger, zwar ein komischer Begriff seit Ghostbusters, aber wie ich weiß, hat er wirklich Ahnung von den Dingen.« »Schön, alles okay. Gesetzt den Fall, er kommt zu mir. Was soll er denn hier?« »Du mußt mit ihm reden.« »Mehr nicht?« »Zunächst mal.« Tommy schlug die Hände zusammen. »Was soll ich ihm denn alles sagen, zum Teufel!« »Was du erlebt hast.« Hayer mußte lachen. Er verschluckte sich dabei und hustete. »Nein, René, nein, das ist nicht drin. Ich will mich nicht lächerlich machen, hörst du?« Ernst schaute Pulger seinen Freund an. »Lächerlich, sagst du? War dein Blutsturz auch lächerlich?« »Bestimmt nicht.« »Da hast du es.« Der Regisseur beugte sich über seinen Kollegen. »Daran ist nichts lächerlich, alter Junge. Es muß ein Motiv dafür geben. Man spritzt nicht einfach Blut aus, wird in ein Krankenhaus geschafft und stellt die Ärzte vor die Rätsel ihres Lebens. Du hast selbst gesagt, daß sie nichts haben finden können.« »Das stimmt schon.« »Dann laß es Sinclair versuchen. Wenn du willst, kann ich mich mit ihm in Verbindung setzen.« Tommy Hayer überlegte. Er wußte nicht, ob er sich, falls er zustimmte, nicht lächerlich machte. René hatte zwar ernsthaft und viel gesprochen, aber nachvollziehen konnte er es auf keinen Fall. Wie sollte ihm ein normaler Mensch helfen können? Ein Polizist, der eigentlich andere Aufgaben hatte, als sich mit irgendwelchen Geistern herumzuschlagen, die möglicherweise nicht existierten und nur in der Einbildung vorhanden waren. Ja, das konnte es sein. Er hatte sich alles nur eingebildet, dieser Sinclair würde ihn auslachen, und für den plötzlichen Blutsturz würden die Ärzte später auch eine Erklärung finden, wenn sie ihn noch genauer untersuchten. »Hast du dich entschieden, Tommy?« »Nein.« Pulger verdrehte die Augen. »Verdammt noch mal, das solltest du aber.«
»Du erwartest, daß ich zustimme?« Pulger tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und ließ die Fingerkuppe dort. Bei der Antwort drehte er sie. »Ich erwarte von dir erst einmal gar nichts. Du sollst nur überlegen und dann deine richtigen Entscheidungen treffen.« »Welche ist denn richtig?« »Weiß ich nicht. Ich habe dir nur einen Rat geben können, nicht mehr und nicht weniger.« »Aber du wärst für Sinclair.« »Auf jeden Fall.« Tommy atmete stöhnend. »Und du meinst nicht, daß ich mich vor diesem Typ lächerlich mache?« »Überhaupt nicht. Ich werde ja zuvor mit ihm reden und ihm schon das Richtige sagen.« Tommy war wieder unsicher geworden. Schließlich hob er die Schultern. »Was heißt das?« fragte Pulger. »Mach einfach das, was du für richtig hältst. Ich werde mich raushalten. Ist das okay?« »Nein.« »Sondern?« Pulger stand auf. »Okay«, sagte er, »manche Menschen muß man eben zu ihrem Glück zwingen.« »Und du meinst, daß ich zu dieser Gruppe gehöre?« »Bestimmt.« »Dann gibst du ihm Bescheid?« »Ja.« »Wann wird er hier sein?« Der Regisseur hob die Schultern. »Das kann ich dir nicht sagen. Ich denke, daß er, falls er sich in London aufhält, wohl morgen mit dir sprechen wird.« »Gut, tu, was du nicht lassen kannst.« »Und laß es dir gutgehen«, sagte Pulger, bevor er sich zur Tür wandte und gehen wollte. Fast wäre ihm die Tür noch gegen den Kopf gestoßen, denn beide Männer hatten das Klopfen überhört. Die Krankenschwester betrat das Zimmer. Es war eine zierliche Chinesin, aber ihre Stimme klang wie die einer strengen Internatsleiterin. Sie sprach auch ein akzentfreies Englisch. Sofort fuhr sie Pulger an, während sie zu ihm hochschaute wie zu einem Turm: »Was tun Sie denn hier, Mister?« »Ich habe nur einen Krankenbesuch gemacht.« Sie funkelte ihn an. »Das sehe ich. Zu unseren Patienten gehören Sie nicht. Beim nächstenmal melden Sie sich an.« »Sehr wohl, Madam, immer zu Diensten. Tschau, Tommy, und laß dich nicht unterkriegen.« »Keine Sorge, ich weiß mich zu wehren.«
»Aber nicht gegen mich«, erklärte die Krankenschwester, die auf das Bett zueilte und mit sicherem Griff die Flasche Whisky konfiszierte, ohne auf Tommys bedauernden Blick zu achten. »Die werden Sie geschlossen zurückbekommen, wenn Sie das Krankenhaus verlassen.« »Hoffentlich.« »Hier ist noch nichts weggekommen, Mister Hayer«, entgegnete die Schwester, bevor sie damit begann, die Apparate zu kontrollieren. Tommy Hayer ergab sich in sein Schicksal. Was blieb ihm auch anderes übrig? *** Dämmerung, der die Nacht folgte. Eine grauschwarze Finsternis legte sich wie ein gewaltiger Schattenkelch über die Stadt und trieb die Wärme des Tages in das Reich des Vergessens. Nicht alle Menschen fanden in dieser Nacht Schlaf, es gab viele, die sich ruhe- und rastlos in ihren Betten wälzten und einfach keinen Schlaf mehr finden konnten. Es mochte auch am Wetter liegen, denn die Hitze war von einer dumpfen Schwüle abgelöst worden. Ein Gewitter lag in der Luft. Noch aber zuckte kein Blitz über den Himmel, und auch in der Ferne war kein grollender Donner zu hören. Das Leben pulsierte nur in bestimmten Stadtteilen, in den Kneipen, Bars und Shops. Nicht im Krankenhaus, das ebenfalls unter einer bleiernen Stille lag. Sie drückte, sie war so, als würde die Nacht den Atem anhalten, um ihn später um so stärker wieder auszupusten. Auch Tommy fand keinen Schlaf. Zu viele Gedanken huschten durch seinen Kopf, und er dachte auch daran, daß er an diesem Abend noch Glück gehabt hatte. Nachdem die Schwester alles kontrolliert hatte, war der Oberarzt erschienen. Auch er hatte nachgeschaut und sich zufrieden gezeigt, was gewisse Ergebnisse anging. Jedenfalls waren die Apparaturen ausgeschaltet worden, und selbst am Tropf hing er nicht mehr. Tommy hatte den Weißkittel nach dem Datum seiner Entlassung gefragt und nur ein Schulterheben geerntet. Dann hatte der Arzt etwas von einer Abschlußuntersuchung gemurmelt, die ein Spezialist durchführen sollte, der extra aus Glasgow anreisen würde. »Aber ich muß wieder zum Sender.« »Sie müssen gar nichts«, hatte der Arzt geantwortet und war gegangen. »Doch, ich muß sterben. Irgendwann und hoffentlich nicht so schnell«, hatte Tommy noch gemurmelt, bevor man ihn allein ließ. Allein und schlaflos. Das wiederum ärgerte ihn, und es ärgerte ihn auch, im Bett zu bleiben. Er wollte nicht, er fühlte sich nicht nur gut, sondern gesund, und er würde die ersten Schritte wagen.
Einige Minuten wartete er noch ab, bis er sich hinsetzte. Langsam, vorsichtig, immer auf seinen Kopf achtend, ob dort irgendwelche Schmerzen zurückkehrten, doch er spürte nichts, abgesehen von einer leichten Kreislaufschwäche. Es ging ihm besser, als er selbst gedacht hatte. Wenig später stand er vor seinem Bett, rechnete immer damit, zu schwach zu sein, um gehen zu können, das aber war auch nicht der Fall. Er konnte die ersten Schritte in Richtung Tür machen, ohne daß ihn der Schwindel hätte taumeln lassen. Es klappte sehr gut. Tommy ging zur Toilette, wusch anschließend seine Hände und sah sich selbst im Spiegel. Er war mit sich zufrieden, denn wie ein Kranker sah er keinesfalls aus. Zwar ein wenig blaß um die Nase herum, aber das ließ sich noch ertragen. Am Waschbecken stützte er sich ab und entdeckte den Bademantel am Haken hängend. Er gehörte zum Inventar des Krankenhauses und war frisch gewaschen. Tommy Hayer streifte ihn über. Auf seinem runden Jungengesicht erschien ein spitzbübisches Lächeln, als er daran dachte, welcher Plan sich in seinem Kopf festgesetzt hatte. Ein kleiner Spaziergang durch das Krankenhaus würde ihm sicherlich nicht schaden. Er schnürte den Gürtel des Mantels zu, straffte noch einmal die Schultern und verließ den kleinen Raum. Wieder zurück im normalen Zimmer, blieb er wie angewurzelt stehen. Urplötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Jemand mußte sich in seiner Nähe aufhalten, allerdings eine Person, die er nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ein Geist? Verrückt, dachte er, es gibt keine Geister. Renes Erzählungen haben dich verwirrt. Das Gefühl wollte einfach nicht verschwinden. Als er zwei Schritte nach vorn ging, da war ihm, als würde eine weiche, schattenhafte Hand über seine Schulter streichen und sogar einen leichten Druck ausüben. Er zuckte zusammen, drehte sich so schnell wie möglich, doch da war nichts. Ein leeres Zimmer, alles andere hatte er sich eingebildet. Tatsächlich? Tommy wischte über die Stirn, auf der kalter Schweiß lag. Den Traum oder die traumatische Erinnerung an die Zeit seiner Bewußtlosigkeit, hatte er sich die auch eingebildet? Daran wollte er nicht glauben. Diese Erlebnisse waren derartig intensiv gewesen, daß man sie einfach nicht hatte träumen können. Das mußte ein reines Nachvollziehen gewesen sein. Noch einmal schaute er nach, schaltete sogar die Deckenleuchte ein, ohne eine Spur zu finden. Ich bin überreizt, ich bilde mir alles ein, ich muß mal etwas anderes sehen. Ich muß raus aus dem Krankenzimmer.
Das setzte sich wie eine ätzende Säure in seinem Hirn fest. Er wollte nicht mehr bleiben. Der Gang draußen würde ihn – so kahl er auch war – auf andere Gedanken bringen. Vorsichtig öffnete er die Tür. Es war sein Glück, daß das Zimmer am Ende des breiten Gangs lag. Er brauchte nur wenige Schritte nach rechts zu gehen, um sein Ende zu erreichen und einzutauchen in einen Flur, wo sich auch die beiden unterschiedlich großen Fahrstühle befanden. Auf diesem Flur hielten sich des öfteren die Kranken auf, die ihre Betten verlassen konnten. Da saßen sie, schauten in die Glotze, unterhielten sich oder spielten Karten. Der Flur war leer und abgedunkelt. So leise wie möglich trat er aus dem Zimmer. Links befand sich das Schwesternzimmer. Auch von dort war nichts zu hören. Bestimmt war die Nachtschwester damit beschäftigt, einen Roman zu lesen. Zusätzlich war sie noch erkältet, denn ihr kaum gebremstes Niesen ließ ihn erschrecken. Tommy ging schnell weiter. Er atmete erst auf, als er den Quergang erreicht hatte. Er war leer wie sein Gehaltskonto. Auch hier brannte nur die Notbeleuchtung. Sie streute weder kaltes noch warmes Licht, sondern einen weichen, blassen Schein, der kaum den Boden erreichte und sich knapp über ihm verlor. Was tagsüber normal erschien, wirkte bei diesem Licht etwas unheimlich und gespensterhaft. Wie die Türen der beiden Fahrstühle, die aussahen, als führten sie in ein geheimnisvolles Geisterreich, in dem der alte Friedhof und das ebenso alte Haus gelegen hatten. Vor und direkt zwischen den Türen blieb Tommy stehen. Er lauschte auf jedes Geräusch und fragte sich, warum er das überhaupt tat. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten, aber in seinem Magen hatte sich ein schon ekelhafter Druck ausgebreitet, der seine Atmung beeinträchtigte. Zudem fing er an zu frieren. Das Frösteln rann von seinem Nacken an abwärts. Sein innerer Zustand glich mehr einem aufgewühlten See, und bis zum Hals hin spürte er das stockige Gefühl. Er ging weiter. Große Fenster ließen bei Tageslicht den Blick nach draußen zu. In der Nacht aber war alles dunkel, eine schwarze, eine schlammige Welt, in der die normalen Lichter wie weit entfernte Sterne wirkten, die irgendwo im All schwebten. Wieder überkam ihn der Eindruck, nicht mehr allein zu sein. Umgeben von schattenhaften Gestalten, die unsichtbar durch den Gang flössen und auch ihn erreichten. Dicht vor dem Fenster blieb er stehen und schaute gegen die Scheibe. Darin sah er sich selbst, aber er konnte auch den Fleck sehen, der hinter ihm lag.
Der Gang, der leere Gang, der – er wollte es nicht wahrhaben und spürte sein Herz hart klopfen – nicht mehr leer war. Da stand jemand. Keine Schwester, auch kein Arzt, sicherlich kein Besucher, sondern eine Gestalt, die nicht hierher in das Krankenhaus gehörte. Er drehte sich um. Er tat es wie unter Zwang. Dann konnte er sie besser sehen. Es war eine Frau. Tommy kannte sie. Er hatte sie schon einmal gesehen. Nicht hier, nicht hier im Krankenhaus und auch nicht im Studio, sondern in einer anderen Phase, möglicherweise sogar in einer anderen Dimension. In seinen Träumen. Es war die Frau aus dem unheimlichen Haus! *** Und es gab noch jemand, der in dieser Nacht nicht schlafen konnte, obwohl er es versucht hatte, doch es gab gewisse Dinge, die seinen Schlaf störten. Der Mann konnte sie auch konkretisieren, ohne dabei zu konkret werden zu können. Er nannte sie Strömungen… Gefährliche Strömungen, die nie permanent auftraten, sondern immer nur dann erschienen, wenn sich bestimmte Ereignisse ankündigten, die ihn direkt betrafen. Der Mann hieß Barry F. Bracht! Er war ein normaler Mensch, zumindest was über neunzig Prozent seines Lebens anging. Tagsüber arbeitete er in einem großen Verlag, in der Nacht schlief er. Es gab aber auch Nächte, in denen er keinen Schlaf finden konnte. So wie in dieser. Als die Dunkelheit über das Land gefallen war, hatte er das Bett verlassen und sich angezogen. Er war bis an das Fenster getreten und schaute schräg in den Himmel. Dort sah er ihn. Einen großen, weißgelben Fleck; es war der Mond. Ein Auge, nicht ganz rund, noch etwas deformiert, aber mit einer strahlenden Kraft versehen, die Barry F. Bracht unruhig machte. Er stand am Fenster und empfing eine Botschaft, die er leider nicht identifizieren konnte. Sie war noch zu schwammig, zu weit weg, doch als Ergebnis stand schon eines fest. Es näherte sich eine Gefahr! Barry F. Bracht, der Mann mit den braunen Haaren und den ebenfalls braunen Augen, die gar nicht zu seinem markanten Gesicht passen wollten, weil sie es viel sanfter machten, überlegte. Er wußte auch, daß er etwas Besonderes war, denn das Schicksal hatte ihm eine
Doppelexistenz zugeteilt. Tagsüber war er ein normaler Mensch und Lektor, in manchen Nächten aber kam es wie ein gewaltiger Strom über ihn. Da wurde er von anderen Kräften regelrecht Übergossen, die so stark waren, daß er nicht mehr wachbleiben konnte, in einen tiefen Schlaf fiel, der ihn dann zu seiner zweiten Existenz brachte. Da wurde Barry F. Bracht zu Zebuion, dem Schattenkrieger, dem träumenden Kämpfer. War es soweit? Barry wußte es nicht. Er stand auch weiterhin am Fenster, bis er sich durch die Scheibe gestört fühlte, den Griff drehte und das Fenster aufzog. Es war kaum kühler geworden, dafür schwüler. Die Luft drang wie ein Dampfhammer gegen ihn, und im ersten Augenblick raubte sie ihm regelrecht den Atem. Barry F. mußte sich erst umstellen. Er preßte die Handfläche gegen seine Stirn und spürte das Zucken hinter der Haut, wobei er sich fragte, ob es normal war. Das Atmen fiel ihm schwer. Der Druck nahm zu und gleichzeitig auch die Müdigkeit. Sein Bett war nicht weit von ihm entfernt. Er brauchte nur wenige Schritte zurückzulegen, doch diesmal kam ihm die Distanz meilenweit vor. Als er das Bett endlich erreicht hatte, kippte er nach hinten weg. Die Stille war wie Blei, das gegen seinen Kopf drückte. Er drehte ihn nach links. Noch immer stand das Fenster offen, er schaute hinaus und sah den Mond. Ein beinahe runder Ball, der in sein Zimmer schaute, als wollte er mit seinem fahl silbrigen Licht eine Botschaft verbreiten. Es legte sich auch auf die Augen des Mannes, dessen Lider schwer wurden und schon nach kurzer Zeit zufielen. Barry F. Bracht schlief ein. Und er träumte… *** Tommy Hayer bewegte sich nicht! Alles, was ich jetzt tue, ist verkehrt, dachte er, deshalb verließ er seinen Platz um keinen Zentimeter. Die Frau starrte ihn an. Sie stand da, sie war keine Halluzination, obwohl sie in ihrem langen Mantel mehr wie ein Gespenst wirkte. Tommy Hayer sah sie jetzt viel besser als in seinem Rückerinnerungs-Traum. Das Haar schimmerte in dunklen Tönen, durch die sich ein rötlicher Schimmer geschwungen hatte. Hinzu kam das Gesicht, das mehr im Schatten lag, aber von seiner Schönheit etwas ahnen ließ. Die Person lächelte wissend. Für den Patienten war sie noch immer namenlos, nur fühlte er sich plötzlich von ihr angezogen. Es hätte ihm
nichts ausgemacht, auf die Person zuzugehen und sie in die Arme zu schließen. Das wiederum traute er sich nicht, auch dann nicht, als sie ihren Mantel bewegte und ihn an der linken Seite aufklappte. Der Mantel war schwarz, das Futter dagegen gelb. Seine helle Farbe verwunderte Tom. Darüber nachdenken aber wollte er nicht. »Komm zu mir…« Die Stimme war ein Wispern. Geheimnisvoll, rätselhaft, aber auch faszinierend. Soll ich, soll ich nicht? Tommy überlegte, wobei er sich in seinem Innern schon entschieden hatte. Er bewegte sich auf die Fremde zu. Nein, sie kam ihm seltsamerweise nicht so fremd vor, irgendwo war sie ihm vertraut. Dieses Lächeln konnte nur einladend sein, es holte ihn einfach weiter, und Tommy hatte nie zuvor ein weibliches Wesen so nett und gleichzeitig geheimnisvoll lächeln gesehen, die Mona Lisa einmal ausgenommen. Nach dem vierten Schritt bewegte sich die geheimnisvolle Frau wieder und öffnete ihren Mantel. Es war eine Willkommensgeste. Sie sah aus, als wollte sie mit dem Kleidungsstück und zugleich mit ihren Armen Tommy umschlingen. »Kommst du…?« Er nickte. Die Unbekannte war zufrieden. Er sah es trotz des dämmrigen Lichts am Ausdruck der Augen. Und es überraschte ihn, daß er den Mut fand, ihr eine Frage zu stellen. »Wer bist du? Hast du einen Namen? Du bist mir vertraut, aber ich weiß nicht, wie du heißt.« »Assunga, Tommy, du kannst mich Assunga nennen.« Hayer stoppte. Er hatte mit vielen Namen gerechnet, auch schon versucht, ihr einen zu geben, der vielleicht passen konnte, aber auf Assunga wäre er nie und nimmer gekommen. »Er ist so toll«, murmelte er. »Dieser Name ist einfach wundervoll und einmalig. Ich… ich… habe ihn nie zuvor gehört.« »Du wirst ihn noch öfter hören.« »Wann und wo?« »In unserer neuen Welt.« Tommy runzelte die Stirn. Er hatte die Worte nicht begriffen. »Neue Welt?« wiederholte er. »Ist es etwa Amerika, was du meinst?« »Bestimmt nicht.« »Bitte, was…?« »Keine Fragen jetzt«, sagte sie und bewegte die beiden Seiten ihres Mantels. »Tritt dicht an mich heran. Ich werde dich umschlingen und dir zeigen, wohin die Reise geht. Du darfst dich glücklich schätzen, als erster den Kontakt bekommen zu haben. Erinnere dich daran, wie wir uns bei dir gemeldet haben.«
Er hätte sich erinnern müssen. An den Schrecken, an den einfach irren Schmerz im Studio. Immer noch war er ihm unbegreiflich, nur dachte er diesmal nicht darüber nach. Weg damit. Die Frau war wichtiger. Sie mochte ihn, sie… Tommy ging den nächsten Schritt. Irgendwo im Hintergrund schlug eine Tür mit dumpf klingendem Knall zu. Darauf achtete der Moderator nicht, auch nicht auf die schnellen Schritte, die sich in seine Richtung bewegten. »Komm her! Schneller! Komm schon!« Ungeduld schwang in dem Befehl der rätselhaften Frau mit. Tommy ging auch schneller. Jetzt brauchte er nur mehr einen großen Schritt zu machen, um sich von ihr umfangen zu lassen. »Mister Hayer, was soll das denn?« Die scharfe Stimme klang wie das Bellen eines Hundes. Nicht nur Tommy schrak zusammen. Die seltsame Frau reagierte und fuhr herum. In der Bewegung noch öffnete sie den Mund. Für einen Moment sah der Mann die beiden spitzen Vampirzähne, die aus dem Oberkiefer lugten. Einen Lidschlag später schlug die Frau den Mantel wieder zusammen. Ein fauchender Laut wehte durch die Luft, und plötzlich gab es Assunga nicht mehr. Sie war weg! Tommy Hayer stand fassungslos auf seinem Platz. Er bekam den Mund nicht mehr zu. Seine Augen glichen Kugeln, und kaum anders sah die chinesische Krankenschwester aus. Sie konnte nicht fassen, was sie mit ihren eigenen Augen gesehen hatte. Für einen Moment wirkte sie wie ein Denkmal, dann streckte sie ihren linken Arm aus, um sich an der Wand abzustützen. Sonst wäre sie noch gefallen. »Mister Hayer…?« »Ja…« »Hören Sie, ich… ich will eigentlich nichts sagen.« Die rauhe Stimme war zu einem Flüstern geworden, »aber hat da nicht noch jemand gestanden? Eine Frau…?« Er nickte. Die Schwester erbleichte noch stärker. »Und wo ist diese Person jetzt?« Tommy blieb stehen. Er hob die Schultern. Dann schaute er sich um und bewegte seinen Kopf sehr langsam. »Ich weiß es nicht mehr«, flüsterte er. »Ich kann es Ihnen nicht sagen… sie ist weg. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst.« »Ja, das sehe ich auch so.« »Das kann doch niemand, nicht wahr?« »Stimmt.« Die Krankenschwester holte tief Luft. Sie schwankte etwas. Ihr Mund zuckte, ohne daß sie ein Wort sagte. »Ja, es ist alles so komisch. Ich bin
verzweifelt. Ich habe nichts, gar nichts… ich… muß es eigentlich dem Oberarzt melden.« Sie sprach schnell, leise und brachte die Sätze nicht in den richtigen Zusammenhang. »Tun Sie es nicht.« Die Schwester senkte den Kopf. »Ja, Mister Hayer, es ist wohl besser, wenn ich stumm bleibe.« Sie nickte sich selbst zu. »Es ist wohl besser«, wiederholte sie. »Sonst werde ich noch verrückt, drehe durch, und man wird mich wegschaffen.« »Das glaube ich auch.« »Was soll ich denn sonst tun?« »Vergessen Sie es.« »Das kann ich nicht.« »Dann schweigen Sie nur darüber.« Die Schwester hob den Kopf an. Die sonst so glatte Haut der Stirn zeigte ein Muster aus Falten. »Ich denke, das ist der beste Rat, den man geben kann, Mister Hayer, ja, das denke ich. Wir können es so machen, wir müssen es so tun. Gute Nacht.« Sie drehte sich um und ging davon wie eine Schlafwandlerin. Auch Tommy Hayer fühlte sich nicht besser. Er wollte nicht länger im Flur bleiben. Mit tappenden Schritten bewegte er sich auf die Tür seines Zimmers zu, noch immer mit nahezu blicklosen Augen. Obwohl Tommy schon rätselhafte Erlebnisse hinter sich hatte, konnte er diese Begegnung nicht verkraften und noch weniger einordnen. Aber er wußte instinktiv, daß etwas in sein Leben getreten war, das mit dem normalen Verstand nicht zu begreifen war. Eine andere Welt hatte sich ihm gegenüber geöffnet, eine gefährliche Welt. Er öffnete und schlich in den Raum. Das Licht der kleinen Lampe schimmerte weich, aber es beruhigte ihn nicht. Die Kraft war dabei, ihn zu verlassen. Er stand körperlich zumindest dicht vor dem Ende und war deshalb froh, das Bett vor sich auftauchen zu sehen. Setzen, legen, aufstöhnen. Tommy lag auf dem Rücken. Er starrte die Decke an und hoffte, Schlaf zu finden. Doch wer Angst hat, kann nicht schlafen, und Tommy hatte Angst. Was würde ihm die Zukunft bringen? *** Ich gehe nicht gern in Krankenhäuser, aber manchmal läßt es sich eben nicht vermeiden. Das Gespräch mit einem gewissen René Pulger hatte mich in diese Lage gebracht. Ich hatte eigentlich vorgehabt, ihn wieder wegzuschicken, wenn er nicht bei der ersten Kontaktaufnahme direkt auf den Punkt gekommen wäre. Es ging um den Schrei!
Den wiederum hatte ich während der Gartenfete gehört und konnte auch noch Zeugen aufführen. Von Pulger wußte ich, daß die Ärzte vor einem Rätsel standen, denn der Moderator, Tommy Hayer, hatte nur Blut verloren. Weitere Verletzungen hatte er keine. Da standen die Mediziner vor einem Rätsel. Sie würden natürlich versuchen, eine Lösung zu finden, an die ich wiederum nicht glaubte. So etwas sah einfach anders aus. Man kam sicherlich nicht mit Wissenschaftlichen Methoden weiter, es mußte etwas anderes dahinterstecken. Das sagte mir einfach mein Gefühl. Nun gehöre ich zu den Menschen, die auf ihre Gefühle hören. Da sowieso kein anderer Fall vorlag, nahm ich mir die Zeit für einen Krankenbesuch. Daß ich kommen würde, wußte Tommy Hayer, und ich würde ihn mit meinem Besuch kaum überraschen. Ich fragte mich an der Anmeldung durch, stieg dann Treppen und erreichte den Flur, in dem sich auch das Zimmer des Moderators befand. Eine Putzfrau schaute mich sehr böse an, als ich über den frisch gewischten Boden ging. Ich entschuldigte mich dafür, sie brummte etwas und machte weiter. Auf der Station war es ansonsten ruhig. Groß anmelden wollte ich mich nicht und hatte Glück, daß ich den Gang nicht erst bis zu seinem Ende durchlaufen mußte. Das Zimmer fand ich schnell, klopfte an und wartete das laut gesprochene »Come in« ab. Hayer drehte mir den Rücken zu. Er trug einen Bademantel, der ihm bis zu den Füßen reichte. Sein Blick glitt durch das Fenster nach draußen, wo er den bedeckten Himmel beobachtete. Als ich die Tür schloß, drehte er sich um. Ein blasser junger Mann mit Ringen unter den Augen schaute mich an. »Sie sind Mister Sinclair?« »Ja.« »Ich bin Tom Hayer.« Er kam mir entgegen und reichte mir die Schweißhand. »Bitte nehmen Sie sich einen Stuhl, ich werde mich auf das Bett setzen.« Er lächelte etwas scheu und strich sein Haar zurück, das sich sofort wieder in die Höhe stellte. »Rene Pulger hat mir geraten, mit Ihnen zu sprechen, Mister Sinclair, und ich möchte Sie vorab bitten, mich nicht auszulachen.« »Das werde ich auch nicht.« »Danke.« »Wie geht es Ihrem Kopf?« Er schüttelte ihn und lächelte dabei. »Kein taubes Gefühl, keine Schmerzen, ich bin okay, Mister Sinclair. Ich bin verdammt noch mal okay und werde jetzt ohne weiteres wieder meinen Job aufnehmen und ins Studio gehen. Nur würde ich es von der Psyche her nicht schaffen, weil einfach zu viel auf mich eingestürmt ist.«
»Verstehe.« »Wo soll ich anfangen?« »Am besten von vorn.« »Im Studio, als ich…?« »Genau.« Er suchte nach Worten, fand die richtigen nicht und blieb allgemein. »Ich kann es noch immer nicht begreifen.« Er schloß die Augen und erinnerte sich. »Dieser Schmerz war einfach furchtbar. Er jagte durch meinen Kopf, als wollte er ihn zerstören. Blut quoll hervor. Ich wurde bewußtlos, erwachte hier im Krankenzimmer, aber in der Zwischenzeit hatte ich ein traumatisches Erlebnis, an das ich mich erst später wieder erinnerte.« Diese Worte waren die Einleitung zu einem Bericht gewesen, der nun folgte. Ich hörte ihm mit wachsender Spannung zu. Glücklicherweise konnte Tommy Hayer plastisch erzählen. Er schien diesen Traum noch einmal zu durchleben und gab mir einen detaillierten Bericht. Ich hörte voll innerer Spannung zu, und es rann mir eiskalt den Rücken hinab, als er vom Friedhof und auch von dem Haus in dieser anderen Welt oder Dimension erzählte. »Was taten Sie?« »Ich floh in das Haus.« »Fanden Sie dort jemand vor?« »Eine Frau und einen Mann.« Hayer überlegte und kam schließlich auf den Mann zu sprechen, weil er ihn bei der ersten Begegnung einfach zu stark beeindruckt hatte. Er beschrieb ihn genau, und meine Sinne schalteten auf Alarm, der letztendlich wie ein Wecker durch meinen Kopf schrillte, als er das blutrote D auf der Stirn des dunkelhaarigen Mannes erwähnte. »Wie bitte?« fragte ich. »Ja, es war ein D, Mister Sinclair. Es entstand urplötzlich, und ich kann es mir nicht erklären.« »Aber ich.« »Tatsächlich?« Er blickte mich staunend an. »Wieso sind Sie denn…?« Ich winkte mit beiden Händen ab. »Lassen Sie es mich erklären, wobei ich nicht zu sehr in die Tiefe greifen will. Das D auf der Stirn ist eine Abkürzung und steht für Dracula.« Tommy Hayer schloß die Augen. Bestimmt rasten seine Gedanken, und sicherlich konnte er sich keinen Reim auf meine Antwort machen. Sehr leise wiederholte er den Namen, schüttelte dann den Kopf und sprach von einem Buch, das Bram Stoker geschrieben hatte. Er warf auch noch die neue Verfilmung mit ein, erntete bei mir allerdings Kopf schütteln und verlor schließlich den Faden. »Dracula II nennt er sich.« »Der Nachfolger.«
»Ja, eigentlich heißt er Will Mallmann, war früher einmal so etwas wie ein Kollege von mir, aber das liegt lange zurück. Bleiben wir bei Dracula II. Sie haben ihn also in Ihrem Traum gesehen?« »Das kann ich beschwören. Und ich habe auch zuvor niemals mit ihm zu tun gehabt. Ich habe nicht an ihn gedacht. Ich bin doch kein Mensch, der an Vampire glaubt!« erklärte er schon leicht entrüstet. »Nein, das kann niemand von mir verlangen.« »Sie sind aber eines Besseren belehrt worden.« »Was soll ich machen, Mister. Sinclair? Ich kann dieses traumatische Erlebnis ja nicht wegradieren und ebenfalls nicht die Szene im Studio. Nein, das ist schon wahr.« »Sie sind aber wieder aus dieser Welt weggekommen?« »Ja.« »Wie denn?« »Ich erwachte plötzlich. Der Traum oder die Erinnerung lagen hinter mir.« »Kehrte er noch einmal zurück?« wollte ich wissen. »Nein, nicht, zum Glück nicht. Mir aber passierte etwas anderes. Ich habe doch von der Frau gesprochen, die bei diesem Vampir war. Sie tauchte in der letzten Nacht hier auf.« »Nicht im Traum?« »Nein, sie war echt. Sie hat sogar mit mir gesprochen und mir ihren Namen genannt.« »Soll ich Ihnen den sagen?« »Bitte.« »Assunga!« Hayer sagte nichts. An seiner Reaktion erkannte ich, daß ich voll ins Schwarze getroffen hatte. Er nickte. »Stimmt, Mister Sinclair, stimmt haargenau. Woher wissen Sie das?« »Ich kenne mich etwas aus. Zudem ist Assunga nie sehr weit von Dracula II entfernt.« Tommy lauschte meinen Worten nach und versuchte, sie zu verarbeiten. »Ja, dann hat René recht behalten. Sie kennen sich aus. Sie sind wirklich ein besonderer Polizist.« Er hob in einer verlegenen Geste die Schultern. »Nur bringt mir das nichts.« »Da wäre ich mir nicht so sicher.« »Wieso?« »Vergessen Sie mal Ihren Traum, Mister Hayer, und kommen Sie auf das nächtliche Erlebnis mit dieser Vampirhexe Assunga zurück.« »Was ist sie?« »Eine Vampirhexe.« Tommy schauderte. Derartige Begriffe aus dem Mund eines Polizisten zu hören, war ihm neu. »Dann scheine ich ja noch einmal immenses Glück gehabt zu haben.«
»Das denke ich auch.« Ich deutete auf die Zimmertür. »Ihnen ist Assunga im Flur begegnet?« »Richtig.« »Und Sie verspürten keine direkte Furcht?« »Nein.« »Was dann?« »Neugierde, Spannung, auch eine gewisse Sehnsucht, denn sie war bereit, zu mir zu kommen und mich zu umarmen. Ich wollte ebenfalls hin, sie faszinierte mich eben. Das hätte alles geklappt, wäre nicht die Krankenschwester gekommen.« »Sehr gut, Mister Hayer.« »Wieso ist das gut?« »Das werde ich Ihnen gleich sagen. Ich bin der Ansicht, daß Assunga Ihretwegen erschienen ist. Sie hat ihre neue Welt verlassen, um Sie zu holen.« »Warum das denn?« »Keine Ahnung, noch nicht. Möglicherweise sind Sie als eine Restperson ausgesucht worden. Vielleicht wollten beide feststellen, wie ein Mensch in dieser Welt reagiert.« »Die müssen doch einen Grund gehabt haben, Mister Sinclair.« »Davon gehe ich aus.« »Welchen denn?« »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ich höre zum erstenmal von dieser Welt.« Dies war nicht gelogen. In der letzten Zeit hatten sich Mallmann und Assunga ziemlich rar gemacht. Ich hatte sie natürlich auch nicht vermißt, mich jedoch darüber gewundert, daß sie sich zurückgezogen hatten. Ich kannte das große Ziel des Will Mallmann. Er wollte ein gewaltiges. Vampirreich auf der Erde errichten und sich selbst zum Kaiser aufschwingen. Wahrscheinlich hatte er in unserer normalen Welt kein entsprechendes Versteck gefunden, von dem aus er dieses Reich hätte regieren können und hatte sich deshalb zu diesem Rückzug in eine andere Dimension entschlossen, möglicherweise in eine Parallelwelt, die von Schattenwesen, wie er eines war, bevölkert wurde. So lautete meine Theorie. Einen Beweis dafür hatte ich nicht. Und ich hatte auch diese Vampirwelt nicht betreten, ich mußte mich da schon auf Tommy Hayers Erinnerungsvermögen verlassen. Bisher hatte er die Welt in seinem Traum erlebt, und dies sehr plastisch, wie ich erfahren hatte. Ob dieses Reich allerdings real war und einer Überprüfung standhielt, konnte ich nicht sagen. Beinahe bittend schaute er mir in die Augen. »Mister Sinclair, wo liegt die Lösung?« »Bei Ihnen.« »Wieso?« »Jemand will etwas von Ihnen.«
»Und was, bitte sehr?« Ich hob die Schultern. »Das kann ich Ihnen noch nicht sagen, Mister Hayer. Für mich sind Sie jedoch der springende Punkt. Um Sie herum wird sich alles drehen.« Er schwieg, überlegte und sagte dann: »Sie machen mir richtig Angst, Mister Sinclair.« »Nein, nein, so dürfen Sie das nicht sehen. Sie müssen allerdings froh darüber sein, daß Ihr Kollege die richtige Entscheidung getroffen hat. Das hier ist ein Fall für mich.« »Ja, ja«, murmelte er, »jetzt, wo Sie es mir gesagt haben, glaube ich es selbst.« »Deshalb müssen wir handeln.« Er zuckte leicht zusammen und rutschte auf seinem Bett zurück. »Haben Sie wirklich wir gesagt?« »Und es auch so gemeint, Mister Hayer.« »Das verstehe ich nicht…« »Darf ich es Ihnen erklären?« fragte ich lächelnd und wartete sein Einverständnis erst gar nicht ab. »Die Dinge liegen doch so. Ich jage Dracula II und auch diese Vampirhexe Assunga. Bisher habe ich es nicht geschafft, beide auszuschalten. Sie sind mir immer wieder entwischt, zuletzt in eine andere Welt, die ich einmal Vampirwelt nennen möchte. Aus dieser Welt heraus müssen sie Kontakt zu Ihnen aufgenommen haben, als Beweis führe ich Ihre Schmerzen an. Dabei blieb es nicht. Es ging weiter, und Sie erlebten Dinge, die Ihr Bewußtsein nicht mitbekam, sondern nur das Unterbewußtsein während der Zeit Ihrer Bewußtlosigkeit. Im Traum erinnerten sie sich daran, gelangten in diese Welt, aus der eine Person hervorstieg, um Sie zu entführen. Ein glücklicher Zufall verhinderte dies, aber jetzt sind wir am Drücker. Ich glaube nicht, daß die andere Seite aufgeben wird.« Hayer senkte den Kopf. Er bewegte seine Hände nervös und wischte mit den Handflächen über den Hosenstoff. »Nun ja, ich weiß nicht, aber es kann schon sein.« »Sicher.« »Was soll ich tun?« flüsterte er. »Nichts.« Er zuckte zusammen. »Was haben Sie da gesagt? Nichts tun? Mich kurzerhand in mein Schicksal ergeben?« »So ist es.« »Dann bin ich verloren.« Mein Lachen irritierte ihn. Ich brach es schnell ab. »Nein, Sie sind nicht verloren, Mister Hayer.« »Bitte, das müssen Sie mir erklären.« »Gern.« Ich lächelte. »Wenn Sie wieder kontaktiert werden, sind Sie nicht mehr allein. Denn da bin ich bei Ihnen. Betrachten Sie mich von nun an als Ihren Leibwächter.«
Tommy Hayer bewies, daß er Humor hatte. »Nur schade, daß ich nicht Whitney Houston bin.« Er wurde schnell wieder ernst. »Wie haben Sie sich das denn vorgestellt? Wollen Sie hier an meinem Bett ausharren und Händchen halten?« »Überhaupt nicht. Ich möchte Sie fragen, ob Sie überhaupt noch hier im Krankenhaus bleiben müssen.« »Meinetwegen nicht. Ich fühle mich top. Da müssen Sie schon die Weißkittel fragen.« »Das werde ich auch.« Er konnte es noch immer nicht fassen. »Tatsächlich?« Tommy stand auf. »Das wäre natürlich stark.« »Warten Sie hier.« »Ja – oder soll ich nicht lieber mitgehen.« Er schielte zum Fenster. »Falls mal jemand kommt.« »Okay, dann begleiten Sie mich.« »Ich ziehe mich nur rasch an.« Seine Sachen hingen im Schrank. Als er die hervornahm und die Kleidungsstücke anschaute, verzog er die Mundwinkel. »Blut«, murmelte er. »Alles eingetrocknet. Damit kann ich mich nicht sehen lassen.« »Wir fahren zu Ihnen nach Hause. Dort können Sie sich dann umziehen.« Hayer löste die Schlinge des Gürtels. »Wissen Sie denn schon, wie es weitergeht?« »Leider nein.« »Sie hoffen, daß sich die andere Seite zeigt.« »Ja.« »Ich kann mir schönere Lockvögel vorstellen als ausgerechnet mich, Mister Sinclair.« »Das ist eben Schicksal. Wenn alles überstanden ist, werden Sie Stoff für eine ganze Sendung haben.« Tommy stieg in die Hosen. »Denken Sie denn, daß mir das auch nur ein Hörer glaubt?« »Nein.« »Eben. Ich würde fliegen.« Er nahm noch seine Jacke mit und schaute auf den großen, dunklen Fleck. Danach verließen wir das Zimmer. Der Oberarzt stand noch nicht zur Verfügung. Wir mußten auf ihn warten. Als er schließlich kam, schaute er mich ebenso böse an wie seinen Patienten. »Was soll das?« Ich wies mich aus, was den kleinen Mann mit der Halbglatze nicht beeindruckte. »Na und?« »Ich möchte Mister Hayer mitnehmen.« »Jetzt sofort?« »Ja.«
»Das geht nicht.« »Nennen Sie mir den Grund.« Er begann mit seinen langen Ausführungen über irgendwelche Untersuchungen, die er noch mit Tommy Hayer anstellen wollte. Für mich waren das Ausflüchte, und ich fragte dazwischen, ob der Patient nicht als Versuchskaninchen benutzt werden sollte. Da regte sich der Weißkittel noch mehr auf. »Was erlauben Sie sich? Wo denken Sie hin, Sie… Sie…« »Ich gehe dann auf eigene Gefahr, Doktor.« »Ja, ja, gehen Sie. Aber Sie werden mir das unterschreiben, Mister Hayer.« »Alles, was Sie wollen.« Im Büro wurde die Erklärung vorbereitet. Eine junge Lernschwester mußte tippen. Sie hörte gern Radio und bat Tommy um ein Autogramm, das sie auch bekam. Zuletzt mußten noch zwei Unterschriften geleistet werden, dann konnten wir gehen. Vor dem Haus auf dem betonierten Vorplatz atmete Tommy tief durch. Er riß die Augen auf und warf die Arme hoch. »Das ist der süße Duft der Freiheit«, erklärte er. »Einfach wunderbar.« Er strahlte mich an. »Danke, daß Sie mich aus diesem Bau herausgeholt haben.« Ich hob die Schultern. »Okay, gern geschehen, aber noch ist nichts entschieden.« »Ja«, murmelte er und senkte den Kopf. »Leider…« *** Tommy Hayer lebte in einer kleinen Pension, weil er eine eigene Wohnung nicht gefunden hatte und er mit der Wirtin ins Handeln gekommen war. Sie hatte ihm einen guten Preis gemacht, der auch das Frühstück einschloß, für einen Junggesellen ideal. Zudem war die Frau stolz, einen Mann vom Radio beherbergen zu können, was sie ihren Freundinnen schon mehr als einmal erzählt hatte, wie ich von Hayer wußte. Ich lernte die Wirtin auch kennen. Sie war schon älter, sehr rundlich und hatte etwas Mütterliches an sich. Sofort schloß sie ihren Mieter in die Arme und beschwerte sich, ihn so lange nicht mehr gesehen zu haben. Auch den Schrei hatte sie mitbekommen und ihn als furchtbar empfunden. »Darf ich jetzt auf mein Zimmer?« »Aber sicher dürfen Sie das, Tommy.« Wir stiegen die Treppe hoch. An der Wand klebte eine ziemlich vergilbte Tapete mit kleinen Blümchen, die auf dem Untergrund kaum noch zu erkennen waren. »Sie ist ja lieb, aber manchmal geht sie mir auf die Nerven.« Vor einer schlichten Holztür waren wir stehengeblieben. Tommy holte den
Schlüssel aus der Tasche. »Nur gut, daß sie das Blut auf meiner Kleidung nicht entdeckt hat. Dann hätte sie Zustände bekommen.« »Wohnen hier noch weitere Gäste für länger?« »Ich bin der einzige.« Das Zimmer roch muffig. Klar, die Luft war angestanden. Der Raum brauchte einen frischen Schwall, und Tommy öffnete sofort das Fenster. Zum Zimmer gehörte ein Bad, in dem er verschwand. Zuvor hatte er frische Kleidung aus dem eintürigen Schrank geholt. Er deutete auf ein Regal mit Flaschen darauf. »Wenn Sie etwas trinken wollen, Mister Sinclair, bedienen Sie sich bitte.« »Danke, nicht jetzt.« »Dann bis gleich. Ich muß mich mal abschrubben.« »Tun Sie das.« Er verschwand nach nebenan. Ich ließ mich in einem alten Sessel nieder und lauschte wenig später dem Rauschen der Dusche. Meine Gedanken drehten sich dabei um den seltsamen Fall. Fast zufällig war ich auf eine Spur gestoßen, die mich möglicherweise in Will Mallmanns und Assungas Nähe brachte. Sicher war das nicht. Wenn sie es tatsächlich geschafft hatten, sich in eine andere Welt zu flüchten, war es sehr schwer für mich, dorthin zu gelangen. Sicherlich würden sie auch versuchen, aus ihrem Versteck hervor in die Geschicke unserer Welt einzugreifen und die Menschen niederzumachen. Bisher wußte praktisch nur ich als Außenstehender davon. Das sollte nicht so bleiben. Ein Telefon stand in der Nähe, und ich rief Suko im Büro an. ‘ »Meine Güte, wo bleibst du denn? Wir wollten dich schon als verschollen melden.« »Nicht nötig, ich bin da.« »Und wo steckst du?« »Nicht mehr im Krankenhaus, sondern in einer kleinen Pension im Mayfair.« »Aha.« »Es kann Ärger geben.« »Tatsächlich?« »Ja, Suko. Ob du es glaubst oder nicht, die Spur weist zu Mallmann und Assunga.« Mein Freund pfiff durch die Zähne. »Mist, das darf doch nicht wahr sein! Das kann ich nicht glauben.« . »Doch, es stimmt.« »Dann laß mal hören.« Ich informierte ihn in kurzen Sätzen. Suko war wie elektrisiert und erklärte mir, daß er alles glauben würde, was mit Mallmann und Assunga in Verbindung gebracht wurde. »Nur möchte ich gern eine Möglichkeit finden, um in diese Welt hineinzukommen.« »Freiwillig?«
»Wenn es geht, ja.« »Hast du einen Plan?« fragte Suko. »Noch nicht. Ich verlasse mich auf Tommy Hayer, denn er kann in diesem Fall der Lockvogel sein. Für Mallmann und Assunga ist er so etwas wie ein Versuchskaninchen .« »Dann gib acht, daß du nicht mit in die Falle hineingerätst.« »Keine Sorge, ich halte die Augen offen.« »Okay, ich höre wieder von dir.« Als ich auflegte, war auch Tommy mit seiner Dusche fertig. Zumindest hörte ich sie nicht mehr. Er stieß die Tür auf, betrat das Zimmer und trocknete dabei noch sein nasses Haar ab. Frische Kleidung hatte er ebenfalls angezogen. Eine blaue Jeans und ein weißes Sweatshirt mit bunter Weltkugel auf der Brust. »Wie fühlen Sie sich?« »Wie neu geboren, Mister Sinclair.« »Das freut mich.« »Danke, aber es hat unser Problem leider nicht gelöst.« Er ließ sich auf einem Stuhl nieder, spreizte die Beine und ließ seine Arme durchhängen. »Es ist ein Hammer, Mister Sinclair, ein mir unerklärliches Phänomen. Vorhin in der Dusche habe ich noch darüber nachgedacht, warum es ausgerechnet mich erwischt hat. Eine Antwort konnte ich mir nicht geben. War das Schicksal, Zufall – oder was?« »Möglicherweise beides.« »Wie kann denn so etwas geschehen, was mir passiert ist?« »Tja«, sagte ich. »Eine genaue Antwort kann ich Ihnen nicht geben. Die sind eben aus einer anderen Welt hervor kontaktiert worden, Mister Hayer.« »Darauf könnte ich beinahe stolz sein, wie?« Er grinste säuerlich, was bewies, daß er es nicht war. »Aber dem ist nicht so. Da hat jemand etwas mit mir vor, sonst wäre ich auch nicht von dieser verdammten Frau im langen Mantel besucht worden, die plötzlich verschwand, als hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst.« »Da haben Sie gar nicht mal so unrecht.« »Moment – wie? In Luft aufgelöst?« »Ja.« »Das ist doch nicht möglich.« »Doch, sie kann es, und es hängt mit ihrem Mantel zusammen, der magische Kräfte besitzt.« Er wollte mehr wissen, das las ich an seinem Gesicht ab, doch ihm alles genau zu erklären, hätte keinen Sinn gehabt, weil es einfach zu viel Zeit verschlungen hätte. Er sah es ein und meinte: »Es hat wohl keinen Sinn, wenn ich mir darüber Gedanken mache. Ich würde nur die Übersicht verlieren.« Er lächelte. »Jetzt hocken wir hier, und ich denke darüber nach, was es nicht alles gibt. Es ist kaum zu fassen. Vor einigen Tagen stand ich noch
mit den Beinen auf dem Boden. Jetzt komme ich mir vor, als hätte man mich in eine fremde Welt hineingestoßen, obwohl es noch immer dieselbe ist. Was habe ich mich über Menschen amüsiert, die bestimmten Vorstellungen nachhingen oder an sie glaubten. Jetzt gehöre ich selbst dazu. Man hat mich in den Pool hineingestoßen, wobei ich nicht einmal weiß, ob ich schwimmen kann oder nicht.« Er fragte mich direkt. »Was meinen Sie, Mister Sinclair, werden wir aus dieser Sache herauskommen?« »Das ist schwer.« »Und klingt für mich nicht beruhigend.« Ich sprach davon, daß es keinen Sinn hatte, wenn wir uns etwas vormachten. »Wissen Sie, Mister Hayer, diese Gestalten sind schrecklich. Sie gehören zu denen, die an der Spitze stehen, die gewisse Regeln setzen, die etwas wollen und ihre Pläne auch durchsetzen, und zwar rücksichtslos. Sie haben das Pech gehabt, ausgerechnet einem schrecklichen Vampir zu begegnen und auch einer Vampirhexe. Beide haben sich verbündet, beide sind tödlich…« »Aber ich lebe.« »Sicher.« »Warum?« Ich hob die Schultern, um anzuzeigen, daß ich ratlos war. »Vielleicht deshalb, weil sie ihnen auf eine besondere Art und Weise begegnet sind, Mister Hayer.« »Muß ich das verstehen?« Ich lächelte. »Ich begreife es auch nicht. Ich denke nur darüber nach, daß sie etwas versuchen und sich noch in diesem Stadium befinden. Sie haben sich für einen neuen Weg entschlossen und stehen erst am Anfang. Ich denke, daß sie probieren.« »Deshalb meine Schmerzen?« »Auch. Sie suchen den Kontakt mit Menschen. Sie befinden sich in ihrer Welt, von der sie ja nicht direkt geträumt, sondern sich praktisch rückerinnert haben. Es ist ihre Vampirwelt. Dort haben sie die Sicherheit gefunden, die sie brauchen.« »Eine Basis?« »Sehr gut, ja.« Tommy Hayer überlegte. Er war ratlos, denn zu einem Resultat kam er nicht. Auf seinem Gesicht zeichnete sich eine Gänsehaut ab. Er spürte, daß das Grauen tief saß und auch gleichzeitig die Furcht vor der Zukunft. »Warten, nicht wahr?« Ich nickte. »Worauf? Auf den Tod?«
»Das hoffe ich nicht, Mister Hayer. Ich denke vielmehr, daß sich unsere Freunde noch einmal melden werden. Wir sind jedenfalls darauf vorbereitet.« Er wollte lächeln, es mißlang ihm. Er wollte auch aufstehen, wie ich seiner Bewegung entnahm, auch das gelang nicht. Tommy blieb sitzen, die Stirn in Falten gelegt, er sah aus, als würde er über ein Problem nachdenken. »Haben Sie etwas? Ist Ihnen nicht gut?« »Das weiß ich auch nicht.« Hayer runzelte die Stirn. Wie schon so oft wollte er über sein Haar streichen, aber seine Hand blieb auf halbem Wege hängen. Für einen Moment pausierte er, dann traf die Hand die Stirn. Und ich sah die beiden dünnen Blutfäden, die aus den Nasenlöchern rannen… *** Barry F. Bracht erwachte und hatte das Gefühl, auf weicher Graberde zu liegen. Dabei war es nur die Matratze des Bettes, die er unter sich spürte, aber er tastete sie genau ab, um sich zu vergewissern. Erst dann war er zufrieden. Bracht lag auf dem Rücken. Er war in Schweiß gebadet. Es lag nicht nur am schwülen Wetter, sondern auch an der vergangenen Nacht und natürlich an seinen Träumen. Der Mond war verschwunden. Das Grau der Morgendämmerung lag wie ein schmutziger Schatten über der Stadt. Barry hörte die Außengeräusche. Sie drangen ungewöhnlich klar an seine Ohren. Die Welt kam ihm nicht mehr normal vor, sondern mehr als eine Zwischenstation zwischen der Realität und seinen Träumen. Diese waren schlimm gewesen. Sie hatten ihn wieder in seine zweite Existenz hineingepreßt. Er war zu Zebuion, dem Schattenkrieger, geworden, und er war dabei durch eine düstere, angsterfüllte Welt geschwebt, in der das Grauen Gestalt angenommen hatte. Diese Welt war ihm fremd gewesen. Er hatte sie in keiner seiner Träume bisher gesehen, nicht vergleichbar mit dem Reich des Traumdämons Jericho, nein, sie kam ihm zu real vor, als wäre sie in einer fernen Dimension extra aufgebaut worden. Sie hatte ihn erschreckt. Auch jetzt, als Barry F. Bracht, dachte er wieder über sie nach. Über die Gräber, die Särge, das alte schiefe Haus, über die mächtigen Vögel und über diese schlimme, kalte Finsternis, die wie ein eisiger Schlamm in dieser Welt lag. Barry F. wußte genau, daß er derartige Träume keinesfalls unterschätzen durfte. Sie waren wichtig, er mußte sie als Indikatoren
ansehen, als einen Hinweis des Schicksals für kommende Ereignisse, in die er hineingezogen wurde. Der Mann lag ruhig auf dem Rücken. Nur seine Gedanken tobten, rasten, spielten verrückt. Sie veranstalteten einen Wirbel, der ihn schon quälte, und er wollte auf keinen Fall seinen Traum vergessen. Er würde ihm nachspüren, er würde sich mit Bekannten zusammensetzen, denn er wußte genau, daß es der Anfang gewesen war. Dieser Traum würde Folgen haben. Für ihn, für andere, möglicherweise für zahlreiche Menschen, die in diesen Höllensog hineingerieten. Sehr schwerfällig drehte sich Barry F. Bracht zur Seite und stand auf. Er mußte seinen Atem unter Kontrolle bekommen und ruhiger werden. Dies hoffte er, am Fenster zu erreichen, auf das er sich mit schleppenden Schritten zubewegte. Er blieb dort stehen, drückte seinen Oberkörper vor und lehnte sich hinaus. Der vergangene Tag war zwar wolkenverhangen gewesen, aber auch sehr schwül. Und der neue schien es ebenfalls zu werden. Da gab es eine nahtlose Ablösung. Schon jetzt kam ihm die Luft dick und seifig vor. Der Mond hatte sich zurückgezogen. Barry mußte schon genau hinschauen, um die blasse Scheibe zu entdecken. Sie schwamm im Grau der Morgendämmerung. Der Blick aus dem Fenster zeigte ihm Häuser, Dächer, einen Hof, dahinter die Straße. Noch eingepackt in einer stumpfen Stille, die in den folgenden Minuten sehr bald durchbrochen werden würde, wenn der morgendliche Verkehr begann. Diese Geräusche würden Barry F. Bracht wieder an den Beruf erinnern, dem er nachging. Er mußte in den Verlag, aber das wiederum wollte er nicht. Nein, dieser Tag mußte einfach anders ablaufen als normal. Es lag an der Nacht und seinen Träumen. Barry schätzte sie als richtungsweisend für die nähere Zukunft ein, die er allein nicht bewältigen wollte. Es bahnte sich etwas an. Nicht grundlos war er als Zebuion in dieser fremden Welt umhergewandert. Barry schloß das Fenster nicht ganz. Er kippte es. Dann ging er ins Bad. Die Dusche tat seinem verschwitzten Körper gut. Da konnte er auch über gewisse Dinge nachdenken, sich etwas vornehmen, aber er schaffte es diesmal nicht, irgendwelche Pläne zu machen. Zu stark noch hatte ihn dieser gewaltige Traum beeinflußt. Als Lektor Barry F. Bracht war er ein sehr friedlicher Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Anders als Zebuion. Da verwandelte er sich in den Fighter, den Kämpfer, da wütete er gegen die schrecklichen Gestalten, so jedenfalls sah es in der Regel aus. Diesmal hatte er es nicht getan.
Er hatte geträumt. Er war durch die Welt geeilt, er war zu Zebuion geworden, aber er hatte es nicht geschafft, sich auf die Feinde zu stürzen. Er hatte sie nur beobachten können, aber nicht länger, weil er sehr genau die starke Gefahr gespürt hatte, die vor allen Dingen von dieser seltsamen Frau ausgegangen war. Mit ihr kam er nicht zurecht. Barry kannte sie nicht, er konnte sich nur auf sein Gespür verlassen, aber diese Frau war mörderisch und rücksichtslos. Und sie mußte Kräfte und Waffen besitzen, die selbst einem Zebuion überlegen waren. Barry überlegte hin und her. Er fand keine Lösung. Wußte einfach nicht, wozu er sie zählen sollte. Bracht drehte die Dusche ab. Noch immer bewegte er sich ziemlich matt. Seine Bewegungen, mit denen er nach dem breiten Badetuch griff und sich dann darin einwickelte, wirkten zeitverzögert, als wäre er nicht richtig bei der Sache und stünde neben sich selbst. Er trocknete sich ab, zog Unterwäsche an und ging in das Schlafzimmer zurück, wo er frische Kleidung aus dem Schrank nahm. Es war nicht seine Zeit, um aufzustehen, er gehörte mehr zu den Langschläfern. An diesem Tag jedoch blieb er auf den Beinen. In seiner kleinen Wohnung war es sehr still. Nur seine Geräusche hörte er. In der Küche klapperte das Geschirr, als er es auf den Tisch stellte. Mittlerweile hatte er die Kaffeemaschine eingeschaltet, und die braune Brühe lief in die Kanne. Es war auch schon fünf Uhr geworden, und die Morgendämmerung hatte sich weiter ausgebreitet. Ihr Tuch zeigte einige helle Hecken, die wie blasse Löcher wirkten. Die Stille war längst nicht mehr so bedrückend. Zahlreiche Geräusche drangen zu ihm hoch. Durch das offene Küchenfenster wehte ein etwas frischerer Wind. Barry F. Bracht schenkte die erste Tasse voll und ärgerte sich darüber, daß seine Hände zitterten. Am Tisch blieb er hocken, trank den Kaffee in langsamen Schlucken, während er mit seinen braunen Augen ins Leere starrte. Am Nackenhaar spürte er noch die Nässe des Wassers, und nur allmählich fand er wieder zu sich selbst zurück. Er lächelte, als er das Zwitschern der Vögel hörte, die den neuen Tag begrüßten, und ihm fiel ein, daß er dieses Geräusch in der anderen Welt vermißt hatte. Da war es nur schattig, düster und kalt gewesen. Selbst das wenige Licht hatte dort einen gespenstischen Schein gehabt. Bei jedem Schluck hinterließ der Kaffee eine heiße Spur in seiner Kehle, er möbelte ihn auf, so daß Barry F. seine Gedanken nicht nur sammeln, sondern sie auch in eine bestimmte Richtung lenken konnte. Der Traum war nicht grundlos über ihn gekommen. Er mußte ihn als Hinweis des Schicksals betrachten, was er auch tat. Natürlich drängten sich Fragen auf, und die erste stellte er sich selbst mit Flüsterstimme. »Wo liegt die Welt?« Barry F. wußte die Antwort nicht. Im Nirgendwo, innerhalb der gewaltigen Dämonenreiche, die ebenfalls existierten. Es war nicht das Jenseits, die Welt der toten Seelen, dies auf keinen Fall, aber es war
eine Konzentration des Schreckens, der Finsternis, des Bösen an sich, und er hatte zwei Personen in diesem windschiefen Haus nahe des Friedhofs gesehen. Eine Frau und den Mann. Die Gefährlichkeit der Frau war ihm nicht verborgen geblieben, doch wer war der Mann? Barry F. hatte von ihm nur den Rücken gesehen und etwas von dessen Aura gespürt, in der sich kein Funken Wärme befand. Es war die Totenkälte gewesen, und Barry F. schauderte noch im Nachhinein zusammen. Er fror dabei und schenkte sich hastig einen neuen Kaffee ein. Hunger hatte er keinen. Er würde erst später etwas zu sich nehmen, wenn überhaupt. Wichtig war der Plan und die Einsicht, daß er allein nichts unternehmen konnte. Er mußte John Sinclair informieren. Nicht aus Spaß, sondern weil er das Gefühl hatte, daß genau er Interesse an diesem Fall zeigen würde. Schließlich kannten sie sich schon länger und waren bisher gute Partner gewesen. In der kleinen Küche tickte die Uhr. Dieses Geräusch kannte Bracht, er hörte es schon gar nicht mehr, er kam damit zurecht. An diesem Morgen war es anders! Barry zuckte zusammen. Seine Hände lösten sich von der Tasse. Er bewegte unruhig die Augen, weil ihn irgendwas gestört hatte. Er stand auf und blieb starr stehen. Er schaute nach rechts, denn dort lag die schmale Tür, und über ihr hing die Uhr an der Wand. Sie tickte nicht mehr. Das war es, was ihn störte. Barry war auf den Zeitmesser immer stolz gewesen, denn eine schlichte Küchenuhr an die Wand zu hängen, wäre einem Mann wie ihm zu profan gewesen. Es war schon das Oberteil einer antiken nicht sehr kompakten Standuhr, und das Werk war von ihm stets so gepflegt worden, daß er die Uhr nie zur Reparatur hatte bringen müssen. Jetzt lief sie nicht mehr. Aberglaube hin – Aberglaube her, aber Barry F. fiel ein Satz ein, den er von seiner Großmutter her kannte. Die hatte stets behauptet, daß immer dann, wenn eine Uhr nicht mehr lief, jemand stirbt. Daran erinnerte sich Barry, und der Gedanke schoß wie ein siedender Strom in ihm hoch. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, starrte das matt blinkende Zifferblatt an, ohne allerdings einen Grund für den Stillstand herausfinden zu können.
Eine andere Kraft! dachte er, obwohl es durchaus normal war, daß eine Uhr mal stehenblieb. Sekunden vergingen, die Uhr rührte sich nicht. Überhaupt war es in seiner Umgebung totenstill. Selbst vor dem Haus waren die Geräusche verstummt. Etwas wehte durch den Raum. Ein Hauch, er spürte ihn auf seinem Gesicht, und unter der Uhr bewegte sich die Küchentür. Jemand stieß sie auf. Sehr langsam schwang sie nach innen. Ein Geräusch war nicht zu hören, die Angeln waren gut geölt, aber auch Barry F. Bracht konnte nichts tun. Er wartete. Auf was eigentlich? Kälte drang in die Küche. Sie war ihm bekannt. In seinen Träumen hatte er sie erlebt, und sie war nicht vergleichbar mit der Kälte, die der Winter brachte. Und plötzlich sah er die Frau. Sie stand auf der Schwelle, sie lächelte ihn an, ihr Haar schimmerte rötlichbraun, sie lächelte ihn an, und sie hatte dabei auch ihre Oberlippe zurückgezogen. Zwei lange Zähne schimmerten wie gelblich angemalte Pfeile – Vampirzähne. »Da bist du ja«, sagte sie im Flüsterton. »Ich habe dich in einer anderen Gestalt gespürt. Ich mag es nicht, wenn Fremde unsere Welt erreichen. Aber jetzt bin ich hier.« Barry F. Bracht wunderte sich, daß er trotz allem eine Frage stellen konnte. »Was willst du?« Sie hob den rechten Arm und streckte ihn vor. Beinahe wie in einem Film bewegte sie sich. Die Spitze des Fingers wies auf die Brust des Barry F. Bracht. »Ich will dein Blut!« *** Und Blut rann auch aus der Nase des Mannes, der mir gegenübersaß und es wohl noch nicht bemerkt hatte, weil er nach wie vor seine Hand gegen Stirn und Augen preßte. Auch ich beobachtete irgendwie fasziniert diesen Vorgang, obwohl ich eigentlich hätte aufspringen oder ihn zumindest davon in Kenntnis setzen mußte, daß er blutete. Ich tat es nicht. Hatte er Schmerzen? Einen Schrei hörte ich nicht, selbst der Atem war nicht zu verstehen. Er blieb still. Die beiden dünnen Blutfäden hatten mittlerweile den Rand der Oberlippe erreicht und flössen darüber hinweg. Alles geschah sehr, sehr langsam und schien von Tommy auch nicht zur Kenntnis genommen zu werden. Seine Lippen wurden wie von zwei Hosenträgern bedeckt, die nicht
endeten, sondern jetzt die Haut auf dem Kinn erreichten. Von dort aus würden sie ihren Weg weiterfinden, den Hals entlanglaufen, dann… Er nahm die Hand von der Stirn weg. Ich starrte ihn an. Tommy saß da wie versteinert. Er hatte die Augen verdreht, und zum erstenmal zuckten seine Lippen. Dann öffnete er den Mund. Im Studio hatte er schrecklich geschrien, ich hatte diesen Schrei im Radio gehört, und erlebte ihn nun live. Er brüllte. Den Oberkörper hatte er zurückgedrückt. Sein Mund erinnerte mich an eine verdrehte Öffnung, und aus der Nase strömte noch mehr Blut hervor. Ich war längst aufgesprungen und zu ihm gelaufen. Die Hände hatte Tommy zu Fäusten geballt und sie auf die Lehnen des Sessels gepreßt. Mit den Füßen scheuerte er über den Boden und schabte dort den Teppich blank. Sein Oberkörper schlug aus wie ein Pendel. Einmal nach rechts, dann wieder nach links. Zuckungen schüttelten den Körper durch. Er schrie nicht mehr laut, Tommy wimmerte, als ich mich über ihn beugte und beide Hände auf seine Schultern legte. Er sackte noch in seiner sitzenden Haltung zusammen und wurde unter meinem Griff schlaff. Ich hatte schon ein Taschentuch hervorgeholt und reichte es ihm. Er nahm es nicht wahr. So säuberte ich den unteren Teil seines Gesichts und stellte fest, daß glücklicherweise kein Blut mehr nachfloß. Es war riskant, ihn allein zu lassen. Ich tat es trotzdem und besorgte ein Glas Wasser. Als ich zurückkehrte, saß er noch immer in der gleichen Position. Nur hatte er den Kopf etwas gedreht und schaute dorthin, wo er zahlreiche LP’s und Kompakt Disks in einem deckenhohen Regal verstaut hatte. »Sie müssen trinken.« Zum Glück hatte er mich verstanden. Mit beiden Händen umfaßte er das Glas. Er brachte den Rand an seine zitternden Lippen und nahm das Wasser in kleinen Schlucken zu sich. Sein Hals bewegte sich, als er schluckte. Ich suchte sein Gesicht ab, zum Glück quoll kein frisches Blut aus irgendeiner Pore. Als das Glas leer war, nahm ich es wieder entgegen und stellte es zur Seite. Ich war auch froh, daß Tommy tief durchatmete. Meine Frage, nicht sehr originell, folgte automatisch. »Wie fühlen Sie sich, Tommy?« Er schwieg und preßte die Handflächen gegen die Wangen. »Bitte…« »Es war wieder da«, flüsterte er. »Das Grauen und die Schmerzen haben mich erreicht. Sie tobten in meinem Kopf. Ich… ich… habe es nicht gesehen…« »Was, bitte?«
»Das Blut.« »Ja, sie bluteten aus der Nase.« Er deutete ein Nicken an. »Warum?« fragte er, »warum gerade ich? Was ist da los?« »Ich weiß es noch nicht. Aber was haben Sie in dieser Zeit erlebt? Konnten Sie wieder in diese andere Welt hineinschauen?« Er wartete einen Moment mit der Antwort. »Nein, diesmal nicht, Mister Sinclair.« »Aber Sie haben trotzdem geblutet.« »Ja.« »Keine Stimmen?« »Nein.« »Keine Gefühle für…« »Nichts, gar nichts. Nur die Schmerzen.« Er wischte seine Hände ab, obwohl sie sauber waren. Dann bewegte er sich im Sessel sitzend und schaute sich dabei um, als würde er in einer fremden Wohnung sitzen. »Stimmt etwas nicht?« fragte ich. »Ja… glaube schon.« »Können Sie sich genauer ausdrücken?« Ich schwieg, er traf allerdings Anstalten, sich aus dem Sessel zu erheben. Ich wollte ihm dabei nicht im Wege stehen und ging zur Seite, so daß er Platz bekam. Mit tappenden und sehr kleinen Schritten fing er damit an, das Zimmer zu durchwandern. Er ging auf das Regal zu, als wollte er eine LP aus dem Fach holen, drehte sich dann, kam wieder zurück, blickte mir ins Gesicht, und ich wartete auf eine Bemerkung. Tommy Hayer schwieg. Bevor ich noch eine Frage stellen konnte, hatte er sich schon wieder gedreht. Diesmal nach links, denn dort befand sich die Tür, die nicht ganz geschlossen war. Er blieb vor der Tür stehen. Mir fiel sein Zögern auf, denn er hatte den Anschein erweckt, sie öffnen zu wollen. Das tat er nicht. Zwar zielte seine Hand auf die Klinke, nur faßte er nicht zu. »Tommy…?« Ich bekam wieder keine Antwort. Deshalb ging ich zu ihm und stellte mich dicht hinter ihn. Ich streckte den rechten Arm aus, um an Tommy vorbeizugreifen. Plötzlich handelte er und umschloß mit seinen Fingern mein Handgelenk. »Nicht!« »Warum nicht? Was haben Sie?« »Sie dürfen nicht in den Flur.« »Er ist doch leer!« »Niemals, Mister Sinclair. Ich spüre, daß es dort lauert. Es hat sich festgesetzt. Es ist gekommen, um mich zu holen…«
»Darf ich fragen, von wem Sie sprechen?« »Von dem Bösen aus der anderen Welt.« »Hat es einen Namen?« »Es ist der Traum…« »Die Frau?« Er hob die Schultern. »Der Mann?« Sein Griff um meine Hand lockerte sich. Ich nahm die Chance wahr und schob ihn zur Seite. Ein leiser Schrei begleitete mich, als ich die Tür aufzog. Vor mir lag der schmale Flur, in dem neben einer Garderobe auch noch die kleine Kommode ihren Platz gefunden hatte. Alles hatte seine Ordnung. Eine Jacke hing über einem Bügel, ich sah eine Mütze mit breitem Schirm, der einen Haken als Halt diente, ich sah den dunklen Teppich auf dem Boden, mir fiel eigentlich alles auf, aber trotz dieser Normalität war da noch etwas anderes. Ich konnte es nicht erklären, nur fühlen. Es hatte sich zwischen den Wänden festgesetzt. Es war der Gruß aus einer anderen Welt, der wie eine Hinterlassenschaft wirkte. Ein Erbe…? Wenn ja, dann mußten Mallmann oder Assunga möglicherweise in der Nähe gewesen sein. Ich wollte die Probe aufs Exempel machen und holte mein Kreuz hervor. Tommy sah es nicht, er war hinter mir zurückgeblieben. Da ich durch den Hur schlich, hörte ich seine keuchenden Atemzüge. Das Kreuz strahlte seinen matten Glanz aus, und es lag auch nicht mehr so kühl in meiner Hand. Eine leichte Wärmeströmung hatte es überschattet. Also war jemand in der Nähe gewesen. Aber wer? Ich ging weiter. Mal schaute ich das Kreuz an, mal suchte ich die Umgebung ab. Nichts. Es war nur der leichte Kältestrom vorhanden, der einen Schauer auf meinem Rücken hinterließ. Ich drehte mich um. Hinter mir war… Da hörte ich den Schrei – und das Lachen! Geschrien hatte Tommy Hayer, gelacht hatte eine Frau. Ich ahnte, wer sie war, aber ich sah es zwei Sekunden später, als ich die Zimmertür hart auframmte. Assunga war da. Und sie stand mit ausgebreitetem Mantel wie eine Rachegöttin vor dem geduckten Tommy Hayer… ***
Barry F. Bracht sah die Zähne, er sah das schöne Gesicht, das jedoch den Ausdruck der kalten Schönheit aufwies, und er sah das Fieber in den Augen der Frau, die nur äußerlich eine war, tatsächlich jedoch zu den Geschöpfen der Nacht gehörte. Er hatte sie als Zebuion auf seiner Traumreise gesehen und schon zu dieser Zeit ihren schrecklichen Einfluß genau mitbekommen. Er war keinesfalls schwächer geworden. Sie war gekommen, sie hatte ihre Stärke mitgebracht, und sie wollte nicht nur ihn, sondern was noch schlimmer war, auch sein Blut. Zwischen ihr und Barry befand sich der Küchentisch. Keine Waffe, mit der sich ein Vampir stoppen ließ. Hinter Barry zeichnete sich das Fenster ab. Er hatte den Vorhang noch geschlossen, so daß die Helligkeit des anbrechenden Morgens kaum dagegenfiel, obwohl das Fenster in Richtung Osten zeigte. »Wir kennen uns«, sagte sie. »Aber in der Nacht hast du anders ausgesehen, gefährlicher. Ich bin da zu spät gekommen, sonst hätte ich dich geholt. Jetzt aber bin ich richtig. Ich werde dich mitnehmen. Ich werde dich zu einem Diener in unserer Welt machen.« »Wo liegt sie denn?« »Im kalten Totenreich.« Es war eine Antwort, mit der Barry F. Bracht nicht viel anfangen konnte. Es lag irgendwo, es war nicht zu messen, er kannte Reiche aus seinen Träumen, aber er hätte dem Erwachten nie sagen können, wo sie sich verteilten. Intensiv wünschte er sich die Verwandlung. Wäre er jetzt Zebuion gewesen, hätte er der Blutsaugerin zeigen können, was in ihm steckt. Dann hätte er sie niedergemacht, so aber mußte er sich als Mensch gegen sie erwehren. Noch griff sie nicht an. Sie schaute sich um, ohne den Kopf zu drehen. Nur ihre Augen bewegten sich wie dunkle Kugeln. Vielleicht wollte sie erforschen, ob es einen Fluchtweg für den Menschen gab, der aber war nicht vorhanden. Eine geschlossene Tür, ein ebenfalls geschlossenes Fenster, die Falle war dicht. Assunga nickte. »Du kommst hier nicht weg!« erklärte sie. »Ich werde dich nehmen!« Da handelte Barry F. Bracht. Er hatte seine Angst urplötzlich überwunden, packte den Tisch, wuchtete ihn hoch und schleuderte ihn gegen die Blutsaugerin. Assunga wich nicht einmal aus. Sie lachte sogar und riß die Arme hoch, weil sie das Möbelstück abwehren wollte. Deshalb konnte sie auch nicht sehen, wie Barry herumwirbelte und plötzlich das viereckige Fenster vor sich sah.
Er sprang darauf zu. Mit der rechten Hand zerrte er den Vorhang zur Seite, und was dann geschah, kam ihm vor wie eine grelle Lichtexplosion. Er stand voll in der frisch aufgegangenen Sonne, die ihre kräftigen Morgenstrahlen gegen die Scheibe schickte, sie durchbrach und das Zimmer mit dem Licht ausfüllte. Zuviel Licht, selbst für Assunga. Als der Tisch wieder zu Boden polterte, zerrte Bracht das Fenster auf. Es war keine ideale Fluchtmöglichkeit, wenn er sprang, aber er würde zumindest auf einem Vordach landen und nicht so sehr Gefahr laufen, sich die Beine zu brechen. Ein Blick zurück. Assunga stand noch in der Küche. Nur schrie sie jetzt, schützte sich mit hochgerissenen Armen gegen den für sie zu grellen Lichteinfall und wäre vielleicht vergangen und zu Staub zerfallen, wenn sie nicht den Mantel getragen hätte. Zuerst riß sie ihn auf. Dann klappte sie ihn zusammen. Und damit war sie weg! Barry F. Bracht stand auf der Stelle und traute seinen Augen nicht. Innerhalb einer kaum meßbaren Zeit hatte sich die unheimliche Person verflüchtigt. Nur die Sonne schickte ihre Strahlen genau gegen die Stelle, wo sie gestanden hatte, und Bracht sah die Staubkörner in der Helligkeit funkeln. Sonst nichts mehr. Er ging zurück, den ersten Schritt, den zweiten. Bis er die Kante der Fensterbank an seinem Rücken spürte. Dann erst blieb er stehen, wischte über seine Augen und wünschte sich schon bald, daß die Person wieder erschien. Sie blieb verschwunden. Von einer Rückkehr konnte er nur träumen oder alpträumen. Der durch die Luft gewirbelte Tisch hatte auch die beiden Küchenstühle zu Boden geschleudert. Das Gluckern der Kaffeemaschine hörte sich an wie das blubbernde Gelächter eines auf der Platte hockenden Geistes, der wie ein Schleimer aus dem Film Ghostbusters wirkte. Barry F. Bracht hob den Tisch auf. Er stellte ihn wieder in die alte Position. Das gleiche geschah mit den Stühlen. Das alles tat er wie in einer tiefen Trance. Sein Blick war dabei starr und leer. Er fühlte sich als Fremder zwischen den eigenen vier Wänden und mußte dieses Erlebnis erst verkraften. Daß er so nervös reagierte, bewies ihm wieder einmal die Existenz der beiden Seelen in seinem Körper. Als Schattenkämpfer Zebuion hätte er den Kampf mit dieser Person aufgenommen und ihn sicherlich auch gewonnen.
Als Mensch dachte er anders, da reagierte er normal, denn es gab Gefühle wie Angst und Panik. Er lief auch Minuten später noch durch die Wohnung, schaute in jede Ecke, ohne allerdings etwas entdecken zu können. Die Vampirfrau hatte nicht eine Spur hinterlassen. In der hellen Küche fühlte er sich am sichersten. Bracht setzte sich an den Tisch und überlegte. Diese Blutsaugerin war nicht zufällig bei ihm erschienen. Sie mußte ein Motiv gehabt haben, und dieser Grund war er. Während des Schlafs hatte er die Strömungen der anderen Welt gespürt und war als Zebuion in sie eingedrungen. Das aber hatte den beiden Blutsaugern nicht gepaßt. Seine Ankunft war mehr ein Versehen gewesen, das die Blutsaugerin aus der Welt schaffen sollte. Sie war zu ihm gekommen. So weit konnte er die Tatsachen nachhalten. Nur stellte er sich die Frage, woher sie wußten, in welcher menschlichen Existenz er lebte. Sein Geheimnis hatte er nur wenigen Menschen verraten. John Sinclair wußte davon, auch Suko, dessen Kollege. Und sie hatten diese Wesen sicherlich nicht informiert. Es war etwas anderes geschehen. Barry F. Bracht hatte sich wieder einigermaßen gefangen. Der Schock war abgeklungen, und seine Gedanken bewegten sich wieder in die normalen Richtungen. Er wußte sehr genau, welch scharfe Auseinandersetzung ihm bevorstand, dieser weibliche Vampir würde zurückkehren und sich die Federn wieder holen. Dann aber mußte er gewappnet und vor allen Dingen nicht allein auf weiter Flur sein. Es gab eine Möglichkeit. John Sinclair! Er schaute auf die Armbanduhr und nahm gleichzeitig das Ticken der anderen wahr. Barry lächelte, er fühlte sich auf einmal wohler, denn das Geräusch bewies ihm, wie normal seine Welt wieder geworden war. Eines würde er nicht tun. An diesem Tag in den Verlag gehen, um dort seine acht Stunden abzusitzen. Die normale Arbeit konnte warten, das andere war wichtiger, viel wichtiger sogar… *** Assunga war zwar in diesem Fall vertreten, das wußte ich, sie aber so urplötzlich zu sehen, war auch für mich überraschend. Und dieser Zustand lähmte mich etwas. Ich hätte vielleicht meine Beretta ziehen und auf sie schießen sollen, das tat ich nicht, denn Assunga schaute mich an, und in ihren Augen funkelte die blanke Gier.
Sie galt nicht mir, sondern Tommy Hayer. Ihn wollte sie haben. Und ich wußte auch, wie dieser verdammte Vorgang ablaufen würde, denn nicht grundlos hatte sie ihren Mantel ausgebreitet. Für mich ging es nicht nur um Sekunden, die Zeit war noch knapper geworden. Glücklicherweise waren die Zimmer der Wohnung nicht sehr groß, und Tommy Hayer saß nur so von mir entfernt, daß ich ihn mit einem gewaltigen Sprang erreichen konnte. Ich stieß mich ab. Nein, es war kein Hug, auch wenn es mir so vorkam und ich – in der Luft schwebend – noch Einzelheiten mitbekam, denn Assunga drehte sich mir zu, und sie breitete die beiden Hälften ihres Mantels so weit aus wie möglich. Ich prallte gegen sie, gegen Tommy Hayer und auch gegen den Sessel, in dem er hockte. Und dann war der Schatten da. Gewaltige Schwingen, vergleichbar mit denen einer riesigen Hedermaus, kamen über mich. Sie packten zu, aber sie waren nicht so schwer wie die Flügel eines derartig monströsen Tieres. Über uns fielen die Schöße des Mantels hinweg wie ein Zeltdach. Es wurde dunkel, und mir schoß der Gedanke durch den Kopf, daß ich mich durch meine möglicherweise übereilte Aktion in eine gefährliche Lage hineinmanövriert hatte. Erst dunkel, dann völlig finster, und im nächsten Augenblick war das Zimmer leer… *** Suko hatte im Büro gewartet. Er hoffte ja, daß sich sein Freund und Kollege John melden würde. Entweder telefonisch oder daß er einfach durch die Tür kam, grüßte und erklärte, daß er den Fall schon erledigt hatte. Plötzlich drückte jemand die Bürotür auf. Nein, es war nicht John, sondern Glenda, die von der Mittagspause zurückkehrte, sich Luft zufächelte, weil es mal wieder zu schwül geworden war und sich dann über Sukos Gesichtsausdruck mokierte. »Du schaust mich an, als wäre ich völlig unpassend hier erschienen.« »Das nicht gerade.« »Aber…?« »Ich hatte John erwartet.« »Hm.« Glenda setzte sich. Sie schlug die Beine übereinander. Der kurze, weiße Rock mit den schwarzen Tupfen rutschte in die Höhe und gab viel von den gebräunten Oberschenkeln preis. Glenda trug dazu ein sommerliches schwarzes T-Shirt mit weißen Perlen als Applikation. »Wollte er denn kommen?« »Davon hat er nichts gesagt.«
Glenda bückte sich, um nachzuschauen, wieviel Kaffee schon in die Kanne gelaufen war. »Willst du auch eine Tasse?« fragte sie. »Nein, es ist mir zu heiß.« Sie richtete sich wieder auf. »Gerade bei diesem Wetter ist Kaffee ein großer Durstlöscher.« »Kann sein, aber…« Das Telefon tutete, und Glenda wollte abheben, aber Suko war schneller als sie. Errechnete mit einem Anruf seines Freundes, war aber sehr überrascht, als er die Stimme des Lektors Barry F. Bracht vernahm. »Hi, Barry, das ist eine Überraschung.« »In der Tat.« »Was kann ich für dich tun?« »Das möchte ich lieber mit dir und John unter sechs Augen besprechen.« »Sony, aber John ist nicht hier. Willst du mit mir vorliebnehmen.« »Ist mir auch recht.« »Wann bist du hier?« »Vielleicht in zwei Minuten. Ich stehe bereits unten in der Halle. Aber hast du denn Zeit?« »Für dich doch immer. Ich nehme auch an, daß es wichtig ist, wenn du hier erscheinst.« »Sehr sogar.« »Okay, dann komm. Frischen Kaffee gibt es auch.« »Bracht?« fragte Glenda, als Suko aufgelegt hatte. »Dieser Mann, der in zwei Existenzen lebt?« »Genau der.« Glenda strich über ihre Stirn. »Verflixt noch mal, was will er denn bei uns?« »Kann ich dir nicht sagen.« »Und wie klang seine Stimme? Aufgeregt, normal oder…« »Um das zu beurteilen, müßte ich ihn besser kennen. Wir werden ja sehen, was er will.« »Trinkt er einen Kaffee mit?« Suko stand schon auf der Schwelle zu seinem Büro. »Ja, du kannst zwei Tassen bringen, wenn er durchgelaufen ist.« »Er ist fertig.« »Dann nehme ich sie selbst.« Barry F. Bracht hatte nicht gelogen. Er traf sehr schnell ein, begrüßte Glenda ein wenig steif, war Suko gegenüber allerdings locker und lachte sogar, als er sich auf den Besucherstuhl fallen ließ. »Jetzt fühle ich mich wohler«, sagte er. »Warum?« »Da stehe ich nicht mehr allein.«
Suko saß ebenfalls. »Na, dann laß dir mal was einfallen, wo drückt denn der Schuh?« Barry F. trank den ersten Schluck. »Eigentlich müßte ich mir gratulieren.« »Hast du Geburtstag?« »So ähnlich. Heute in den Morgenstunden bin ich nur knapp mit dem Leben davongekommen. Eine Schwarzblüterin wollte mir unbedingt mein Blut aussaugen.« Suko schwieg. Er wußte, daß Barry F. Bracht ihm nichts vormachte und fragte mit leiser Stimme. »Wie ist es denn dazu gekommen? Und wer war diese Person?« »Assunga!« Suko schluckte. Er saß starr, ohne sich zu bewegen. »Hast du was?« »Ja, ich gratuliere dir noch einmal. Daß du ihr entwischt bist, ist schon eine große Tat.« Bracht hob die Schultern. »Manchmal braucht man eben Glück im Leben.« Suko hatte seine Zweifel. »Nur Glück?« »Weiß nicht.« Bracht trank, lobte den Kaffee und sah sehr nachdenklich aus. »Wäre es nicht am besten, wenn du mal von Beginn an berichtest?« schlug Suko vor. Barry F. Bracht kniff ein Auge zu. »Da war ich aber nicht ich, das schicke ich voraus.« »Zebuion?« »Ja.« In den folgenden Minuten erfuhr Suko von Barrys nächtlichem >Ausflug Erwachen < hatte ich ihn nicht gesehen. Für ihn befürchtete ich das Schlimmste. Zudem war ich ein Mensch, der sich wehren konnte, er aber nicht. Deshalb mußte ich damit rechnen, ihn als Geschöpf der Nacht zu sehen. War das Haus sein Versteck? Ich ging mal davon aus. Es war eine große Falle. Ich würde hineinlaufen, ich würde es bewußt tun, ich würde es… Es kam alles anders. Plötzlich hörte ich den Schrei! Nicht sehr laut oder grell, aber ich wußte sehr genau, wo er hergekommen war. Aus der Tiefe. Und ich wußte auch, wer diesen irren Schrei ausgestoßen hatte. Der Moderator Tommy Hayer… ***
Dunkelheit – klebrig und kalt. Tommy Hayer wurde von einem Kälteschauer geschüttelt. Er hatte das Gefühl, mit beiden Füßen im Eis zu stehen, denn dort war die Kälte am dichtesten. Je höher sie kroch, um so mehr schwächte sie sich ab, aber er hatte dennoch das Gefühl, sein Herz wäre von kalten Händen umklammert worden. Das Atmen fiel ihm schwer. Er saugte die Luft an. Er lag auf dem Rücken, den Mund offen, das Gesicht verzerrt. Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Nachvollziehen konnte er sie nicht, weil er einfach nicht wußte, was er denken sollte. Es war ihm unmöglich, sie in die Kanäle zu lenken, denn sein trotzdem noch funktionierender Verstand sagte ihm, daß er etwas tun mußte. Er durfte sich nicht einzig und allein auf sein Schicksal konzentrieren, sondern mußte dafür sorgen, daß er den Fortgang selbst in die Hände nahm. Hayer sah gar nichts. Schwärze. Eine Dunkelheit, wie er sie selbst in der finstersten Nacht noch nicht gesehen hatte, und er konnte sich auch nicht vorstellen, daß sie irgendwann durch den kleinsten Lichtfunken erhellt wurde. Sie war einfach gräßlich, und natürlich erinnerte er sich wieder an den schrecklichen Traum. Dies hier war kein Traum. Das war echt. Er konnte nicht aussteigen wie aus einem Zug. Er mußte bis zum bitteren Ende durchfahren. Und der Zug raste durch eine Nacht, die kein Ende hatte. Sie war grenzenlos. In seinem Hirn jedoch überschlugen sich die Gedanken. Zumindest versuchte Hayer es, darüber nachzudenken, doch für ihn war dieses Thema einfach zu komplex und zu irrational. Lebe ich? Bin ich schon tot? Befinde ich mich in einem verdammten Zwischenzustand? Nichts dergleichen stimmte. Kein Gedanke, keine Folgerung war richtig. Er war derjenige, der vom Schicksal dazu bestimmt war, in andere Bahnen geführt zu werden. Die Erinnerung kehrte nur langsam zurück. Fetzenartig. Sie setzte sich zu einem Bild zusammen, das er als letztes vor dieser bedrückenden Finsternis erlebt hatte. Das Bild seiner Wohnung, der Besuch dieser unheimlichen Frau, die in einen Mantel gehüllt war. Sie hatte ihn ausgebreitet, er war ihr in die Falle gefolgt. Der Mantel hatte sich um ihn geschlossen, aber auch um John Sinclair, und von dem Augenblick an war er in diese Finsternis hineinkatapultiert worden. Nicht allein. Sinclair war ihm gefolgt. Sehr deutlich sah er ihn vor sich, wie er sich gegen die Person geworfen hatte. Sie waren dann beide von dem Mantel
umhüllt worden, hatten also zu zweit die Reise in diese verfluchte Traumwelt mitgemacht. Und jetzt…? Er schluckte. Er dachte nach, und er kam trotz aller Panik zu dem Entschluß, daß John Sinclair auch in seiner Nähe sein mußte. Möglicherweise lag auch er in der tiefen Finsternis wie in einem mächtigen Grab. Natürlich ohne die Chance, sich aus eigener Kraft befreien zu können. Gefangen und verschollen sein. Für immer und ewig. Nicht mehr die normale Welt sehen. Keine Sonne, kein Licht, nie mehr einen blauen Himmel, nie mehr ein lachendes Gesicht. Statt dessen die böse Finsternis mit all den in ihnen verborgenen Schrecken. Trotz der Kälte waren seine Hände naß. Die Hachen klebrig, als wären sie mit Leim bestrichen worden. Das Gesicht ebenfalls, der Schweiß hatte Perlen auf der Haut hinterlassen, sie aber kamen ihm vor wie kleine Eisstücke. Noch lag er unbeweglich auf dem Rücken. Das aber sollte nicht so bleiben. Er würde in einen Zustand der Steifheit hineinversetzt werden, den er nicht wollte. Er mußte etwas tun, auch wenn er seine Umgebung nicht sah. Tommy Hayer setzte sich auf. Vom längeren Liegen war er steif geworden. Sein Hals saß zu. Wenn er jetzt hätte sprechen müssen, dann hätte er es nicht gekonnt, weil dicke Klumpen in seiner Kehle lagen, die sich sogar bis zum Magen hin ausbreiteten. Niemand hatte ihm körperlich etwas getan. Er konnte die Gelenke bewegen wie sonst auch. Es gab keine Schmerzen, keinen Muskelkater, nicht einmal im Kopf verteilte sich der Druck. Tommy kam kaum darüber hinweg, daß er sich so normal fühlte. Da mußte doch etwas passiert sein, aber das war es nicht. Man hatte ihm nichts getan. Er hob seine Arme. Die Erinnerung an seinen Traum stieg wieder in ihm hoch. Behutsam tastete er seinen Hals ab, um herauszufinden, ob sich dort kleine Wunden befanden, die durchaus von Vampirzähnen hätten stammen können. Denn hinter dem erleuchteten Fenster hatte er die Gestalt eines Blutsaugers gesehen, auch dessen gekrümmte Hauer, vor denen er sich so fürchtete. Da war nichts. Der Blutsauger hatte ihn ebenso in Ruhe gelassen wie diese unheimliche Person mit dem Mantel. Eine kalte Haut lag auf seinem Rücken. Sie verdichtete sich mit jeder Sekunde, weil er sich fragte, wie es weitergehen würde.
Allein kam er aus dieser Finsternis nicht heraus. Da war er Realist genug. Und Tom Hayer nahm sich auch vor, darüber nicht länger nachzudenken, er schob alles zur Seite, was gefährlich werden könnte, er lebte im Jetzt, obwohl ihm dieses Jetzt auch große Schwierigkeiten bereitete. Da mußte er durch. Im Traum hatte er sich Gräber, Grabsteine und auch an Särge erinnert. An die fürchterliche Gestalt, die in einer dieser Totenkisten gelegen hatte. Davon war hier nichts zu spüren. Längst hatte er trotz der Finsternis festgestellt, daß er nicht auf einer weichen Friedhofserde hockte. Der Boden unter ihm war hart, auch steinig, zudem unregelmäßig und rissig. Tom schoß eine heiße Lohe durch den Körper, als er daran dachte, daß er möglicherweise in einem gewaltigen Grab hockte, dessen Ausmaße er nicht einmal ahnte. Gab es diese Gräber? Er glaubte schon. In diesem verdammten Friedhof war eben alles möglich. Auch riesige Gräber tief unter der Erde, höhlenartig, möglicherweise mit Skeletten oder halb vermoderten Leichen gefüllt. Als er daran dachte, schüttelte es ihn gewaltig. Sich in einer derartigen Umgebung zu wissen, war unaussprechbar und auch nicht nachvollziehbar für ihn. Licht, er wollte Licht. Und er hatte Licht. Beinahe hätte er gelacht, weil er erst jetzt an die Zündhölzer in seiner Tasche dachte. Tommy wußte nicht, wo sie steckten. Er probierte die rechte, dann die linke, er fand sie tief vergraben am Ende der Tasche, und er lachte auf, als er daran dachte, daß er, ein Nichtraucher, gerade diese Dinge bei sich trug. Es war ein Reklameheft, und sämtliche Zündhölzer waren noch vorhanden. Er riß eines ab, legte eine Fingerkuppe auf die Reibfläche, damit er wußte, wo er anfangen konnte, dann zog er den Kopf durch, spürte die Reibung. Die Hamme zuckte auf, begleitet von einem leisen Zischen. Tommy hatte schon damit gerechnet, die Finsternis nicht erhellen zu können. Das traf glücklicherweise nicht zu. Die Flamme schuf eine kleine Lichtinsel, aber sie bewegte sich kaum, ein Zeichen, daß sie von keinem Luftzug berührt wurde. Er hielt sie hoch. Über ihm entstand eine kleine helle Glocke. Sie riß ein Loch in die Dunkelheit, dann spürte Tom den Schmerz an den Fingerkuppen und schleuderte das Zündholz weg. Beim zweiten Versuch hatte er sich hingestellt. Wieder zerrte er den Kopf über die Reibfläche, das Licht flackerte, und Tom hob den Arm in die Höhe. Gleichzeitig legte er den Kopf zurück, weil er erkennen wollte, was sich über ihm befand. Es war nur schwach zu erkennen, aber er glaubte trotzdem, eine Decke zu sehen. Sehr schwach nahm er die Umrisse wahr. Tom erkannte auch, daß sie nicht glatt war, sondern Risse, Einkerbungen und Wellen aufwies, die ihm wie ein versteinter
Fluß vorkamen. Die Flamme verlöschte. Viel hatte Tom nicht gesehen, das wenige jedoch hatte ausgereicht, ihm etwas Mut zu machen. Er befand sich weder in einem Grab, noch in einer Gruft. Wenn er es recht gesehen hatte, mußte er in einem Gang oder einem Tunnel gelandet sein, zumindest in einer Gegend, die tief unter der Erde lag. Tief unter der Erde, in einer Welt, die es eigentlich nicht geben durfte. Sie war vorhanden, und er mußte sich einfach damit abfinden, ob er wollte oder nicht. In seinem Kopf wirbelten jetzt die Gedanken. Obwohl er wieder in dieser pechschwarzen Finsternis stand, war die Furcht etwas gewichen. Er kam jetzt besser mit ihr zurecht. Tom wußte auch, daß er nicht von irgendwelchen Monstren belauert wurde, und die Vampire hatten sich in seiner Nähe auch nicht gezeigt. Ein Gang, ein Tunnel. Beinahe optimistisch nahm er es hin, denn ein Tunnel oder ein Gang mußten einen Anfang und ein Ende haben. Er konnte sich entscheiden, in welch eine Richtung er gehen wollte. Irgendwann mußte er dann auf ein Ziel treffen. Sehr viele Zündhölzer standen ihm nicht zur Verfügung. Er mußte also sparsam damit umgehen und immer nur eines anzünden, wenn es unbedingt nötig war. Es gab für ihn keinen Punkt, an dem er sich hätte orientieren können, also spielte es auch keine Rolle, in welch eine Richtung er sich bewegte. Tom Hayer ging einfach los. Sein Weg führte ihn ins Nichts. Er wollte nicht darüber nachdenken, obwohl die Furcht groß war, in irgendeine Falle zu rutschen. Da konnte ein Loch am Boden sein, das er nicht sah. Er konnte hineinrutschen und irgendwo landen, wo das Grauen auf ihn lauerte. Das dritte Zündholz sprühte auf. Die flackernde Flamme tanzte vor ihm her, als hätte sie zu dem dünnen Holz keine Verbindung. Er sah die Schatten auf dem Boden. Das Gestein war leicht feucht. Deshalb strahlte es auch einen gewissen Glanz ab. Schritt für Schritt ging er in diese dunkle Tiefe hinein, wobei hin und wieder auch die Wände rechts und links erschienen. Sie kamen ihm vor, als würden sie mit ihm weitergehen. Toms Schritte waren tappend, unsicher. Immer wenn das Zündholz erlosch und die Finsternis über ihm zusammenfiel, kehrte das bedrückende Gefühl der Furcht zurück. Die Dunkelheit lähmte ihn, klebte an ihm wie dicker Teer. Selbst seine Sohlen waren davon betroffen, denn die Schritte glichen einem zähen Ringen um jeden Meter. Wieder blieb er stehen. Erneut tastete er mit zitternden Händen nach einem weiteren Zündholz und riß es an.
Das Licht tanzte. Auf der Stelle drehte sich Tom herum, die kleine Hamme mit der Hand abschirmend. Wenn er einatmete, spürte er in seiner Kehle den dicken Schleim. Sein Speichel schien sich darin verwandelt zu haben. Das Herz klopfte schneller. Es gab für diese Veränderung eigentlich keinen Grund, nichts hatte sich verändert, alles war geblieben wie zuvor, und trotzdem hatte sich die Beklemmung so verstärkt, daß sie zu einer direkten Angst geworden war. Etwas hatte sich in seiner Umgebung verändert. Äußerlich war beim Flackern der Flamme nichts zu erkennen gewesen. Er verließ sich da rein auf sein Gefühl, und er glaubte nicht daran, daß er sich geirrt hatte. Es war auch logisch, vorausgesetzt, daß dieses Wort überhaupt noch in eine derartige Welt hineinpaßte. Die Gefahr oder das andere war vorhanden. Er kam sich vor, als würde sie ihn streicheln, ohne ihn zu berühren. Es war wie ein Hauch, den er mit jeder Pore seines Körpers einatmete. Licht oder lieber im Dunkeln warten? Er wußte es nicht. Er traute sich auch nicht, nach den Zündhölzern zu fassen. Tom Hayer fürchtete sich davor, etwas zu sehen, das ihn an den Rand des Todes brachte. »Komm her…« Es war die scharfe Hüsterstimme, die ihn aus der Erstarrung hervorriß. Er krümmte sich, er dachte daran, daß es nicht wahr sein konnte, daß man ihn hier in der Finsternis ansprach. Da mußte jemand auf ihn gelauert und genau gewußt haben, daß er diesen Weg gehen würde. Er hatte auch nicht herausfinden können, wem diese Stimme gehörte. Eine Frau, ein Mann? Sie hatte einfach zu neutral geklungen. Jedenfalls war es nicht John Sinclair gewesen. Ihm war kaum bewußt, daß er einen Schritt nach vorn ging. Der nächste Befehl erreichte ihn. »Bleib stehen!« Tommy Hayer gehorchte. »Gut, so ist es gut«, zischelte die Stimme. »Du weißt nicht, wer ich bin – oder?« »N… nein…« Seine Zähne klapperten beim Sprechen aufeinander. »Nimm das Zündholz!« Er kam dem Befehl nach. Diese andere Stimme war einfach schrecklich, sie beherrschte ihn, sie drang in seinen Kopf ein, sie füllte ihn aus. Wer immer dort auf ihn lauerte, er wußte sehr genau, was dieser Jemand von ihm wollte. Sein Blut? Seinen Tod? Ein Zündholz brach ihm ab. Tommy war zu nervös. Er schaffte es auch nicht, sich auf diese völlig andere Lage einzustellen, sie paßte nicht in sein Denkschema und Weltbild hinein. Er benutzte das nächste. Er hämmerte sich dabei ein, sich zusammenzureißen.
Diesmal klappte es. Es flackerte auf. Die Flamme tanzte, und Tommy brachte seine Hand näher an das sprechende Ziel heran. Er sah wieder Assunga! *** Sie hatte sich nicht verändert. Noch immer trug sie ihren Mantel. Sie hielt ihn an den Enden fest und hatte ihn ausgebreitet. Sie lächelte ihn dabei an, und sie zeigte ihre beiden Vampirzähne jetzt überdeutlich. Er sollte sehen, was mit ihr geschehen war, denn zu verstecken brauchte sie sich nicht mehr. Er wußte nicht, was er tun sollte. Es war eine Falle. Assunga war nicht erschienen, um ihm einen guten Tag zu wünschen, sie wollte etwas von ihm. Sie war hungrig nach seinem Blut. Sie würde sich daran laben und sich innerlich aufbauen. Sie brauchte Kraft, die sie nur durch den Lebenssaft der Menschen bekommen konnte. Der Schmerz biß in seine Fingerkuppen. Hastig ließ er das Zündholz fallen. Dunkelheit. Schrecklich für ihn. So tief und überhaupt nicht einsehbar. Er hatte schon längst das Gefühl für Zeit verloren, denn die existierte in dieser Welt nicht. »Ich warte auf dich…« Er atmete tief durch. Die Luft war nicht mehr die gleiche wie zuvor. Sie war anders geworden, so fettig und gleichzeitig schwammig. Er konnte sie schmecken, sie lag dick im Innern seines Mundes, und er konnte auch nicht mehr am Platz bleiben. Er ging weiter. Wie viele Schritte mußte er hinter sich bringen, um Assunga zu erreichen, die ihn erwartete und dabei ihren Mantel ausgebreitet hatte? Drei, vier oder… Da spürte er die Kälte. Tom konnte sie nicht beschreiben. Es war die Kälte des Todes, die über ihn gekommen war. Ein irrsinniges Gefühl, ein Druck aus Eis, der nicht von dieser Welt stammte. Er hatte gelesen, daß der Tod kalt sein sollte, wahrscheinlich stimmte das auch. Aber er stand hier nicht in Form eines Skeletts vor ihm, wie er oft dargestellt wurde. Es war eine Frau, nein, keine Frau, eine Untote, ein Monstrum, das in diesem Augenblick die Schwingen des Mantels über ihn schlug. Plötzlich konnte er nicht mehr. Tommy Hayer schrie wie nie zuvor in seinem Leben!
*** Der Schrei hatte mich aufgeschreckt und alarmiert. Ich wußte ja, wer ihn ausgestoßen hatte. Es gab keine Möglichkeit, das mußte Tom Hayer gewesen sein. Ich hatte ihn nicht klar und hell gehört. Irgendwo in der Tiefe war er aufgeklungen. In dieser verdammten Vampirwelt war alles anders. Es gab noch eine unter der >normalennormaler< Vampir, und ich glaubte fest daran, daß ihn eine Silberkugel erlösen würde. Deshalb zog ich die Waffe. Wenn ich den Arm mit der Leuchte etwas senkte, dann verschwanden die Gestalten, als wären sie von der grauen Düsternis geschluckt
worden. Nur mehr als Schatten sah ich sie. Die drei Wölfe und Hayer zogen einen Kreis um mich, und sie zogen ihn immer enger, wobei sie dicht zusammenblieben, was meine Trefferchancen noch erhöhte. In den nächsten Sekunden war dies nicht mehr der Fall. Plötzlich lösten sich zwei der grauen Tiere von dem dritten, auf dem Hayer hockte, und dann jagten sie auf mich zu. Schattenhaft, bösartig, zum Töten entschlossen. Es ging allein um mein Leben, denn die gefährlichen Gebisse konnten mich regelrecht zerreißen. In dieser verdammten Welt paßte einfach alles. Die Blutsauger, dann die Wölfe, die Finsternis, der Friedhof, hier hatte sich Mallmann sein Reich geschaffen, vom Luzifer absegnen lassen, und hier fühlte er sich sauwohl. Von hier aus konnte er seine Angriffe starten, und ich sah mich dem ersten Angriff einer Bestie gegenüber. Sie wuchtete ihren Körper in die Höhe, sie war siegessicher, bis sie das geweihte Silbergeschoß traf. Die Befürchtung, meine Kugel würde wirkungslos bleiben, traf hier nicht zu. Sie jagte in den Körper der Bestie hinein, sie riß die Brust auf, hinterließ eine Wunde und stoppte den Angriff. Der Wolf heulte schrecklich. Er war aus dem Konzept gekommen und seinem Artgenossen in den Weg geraten. Dicht vor mir klatschten die beiden Körper zusammen. Es entstand ein Durcheinander, das ich eiskalt ausnutzte. Ich hatte mich nicht einmal bewegt und stand wie auf dem Schießplatz. Wohl zielend. Die zweite Kugel schmetterte in den Kopf des Wolfes. Sie zersprühte und zerriß ihn. Er fiel über die Reste des ersten, die zischend verdampften und sich dabei auflösten. Qualm wehte mir entgegen. Er biß in meine Nase, er war widerlich, er vernebelte mir auch die Sicht. Ich wußte ja, daß es noch einen dritten Wolf gab und natürlich Tom Hayer, den Veränderten. Der Rauch nahm mir einen Teil der Sicht. Ich mußte meinen Standort wechseln, es war leider zu spät. Jemand wuchtete sich in meinen Rücken. Ich schrie sogar auf, denn dieser Aufprall hatte mich überrascht. Ich wurde nach vorn katapultiert, ich konnte mich nicht mehr halten, landete aber nicht nur auf dem Boden, sondern auch in dem Wirrwarr von zwei vergehenden Wolfskörpern, deren jetzt gläserne Knochen unter meinem Gewicht zusammenbrachen. Jemand trat gegen meinen Kopf. Ich hatte die Bewegung glücklicherweise rechtzeitig gesehen und rollte mich aus der Gefahrenzone. Leider streifte mich der Tritt, und er war verdammt hart. Mein Ohr schien plötzlich in Flammen zu stehen, aber ich machte weiter. Der Wolf kam. Rote Augen, ein struppiges, altes, graues Fell. Ein Maul, das gierig offenstand.
Ich wollte meinen rechten Arm anheben, um zu schießen, der Druck eines Fußes nagelte ihn fest. Tommy lachte neben mir. Ich schaute nicht hin, der Wolf war wichtiger. Dieses widerliche Tier stieß sich ab. Das offene Maul zielte auf meine Kehle, und es gab für mich nur eine Abwehrmöglichkeit. Ich riß die Beine an, wartete den bestimmten Moment ab und stieß sie dann wieder nach vorn. Beide Füße erwischten den Wolfskörper. Er schüttelte sich, warf den Kopf von einer Seite zur anderen. Für einen Moment sah es so aus, als würde er auf meinen Füßen kleben, dann kippte er zur Seite, überrollte sich, und ich warf meinen Oberkörper zusammen mit dem ausgestreckten Arm nach links, um das Bein des Blutsaugers zu erwischen. Damit hatte er nicht gerechnet. Wahrscheinlich war er erstarrt gewesen in seiner eigenen Faszination, jedenfalls riß ich ihn einfach um, und der Druck von meinem Handgelenk verschwand. Hayer kippte über mich hinweg. Er landete auf dem Bauch, brüllte wütend, und für mich stand fest, daß ich keine Rücksicht auf ihn nehmen konnte. Ich mußte ihn erledigen wie jeden anderen Vampir. Ob er nun Hayer hieß oder Smith. Nur mußte ich meine Gefühle zurückschieben und nicht mehr daran denken, daß wir einmal Schicksalsgenossen gewesen waren. Tommy Hayer stemmte sich hoch. Auch ich stand breitbeinig und hatte hinter ihm meinen Platz gefunden. Er bewegte sich langsam, ich hörte ihn sogar knurren, und als er in den Liegestütz gegangen war, schüttelte er den Kopf. »Tommy!« sagte ich. Hayer stand jetzt auf seinen Beinen. Er drehte sich langsam nach links. Aus seinem Mund flössen blubbernde Geräusche, dann drückte er seinen Rücken durch und reckte den Kopf, wahrscheinlich die Augen gegen den dunklen Himmel gerichtet. Ein wenig kam er mir vor wie der unheimliche Hulk, wenn er kurz vor der Verwandlung stand. Hayer hatte sich bereits verwandelt. Ich sah ihn endlich, als er herumfuhr. Sein Gesicht war das gleiche geblieben, aber irgendwo stimmte nichts mehr bei ihm. Seine großen Augen, der offene Mund, in dem noch die beiden Vampirhauer schimmerten, und ich sah sogar die dunklen, dicken und irgendwie auch klobigen Bißstellen an seiner linken Halsseite. Wer ihn auch immer angefallen hatte, dieser Jemand hatte genau die richtige Stelle erwischt. Blut befand sich auch in seinem Gesicht. Nahe der Lippen hatte es eine Kruste gebildet, über die er hinwegleckte. Dann kam er vor.
»Tommy!« sagte ich. Meine Stimme klang verdammt heiser. Etwas steckte in meiner Kehle, das ich einfach nicht wegbekam. »Verdammt, Tom, es tut mir leid!« Das Sprechen fiel mir schwer, der Druck wurde zu einem Würgen. Ich war auch nur ein Mensch und keine Maschine. Aber ich mußte es tun! Ich konnte ihn nicht in dieser verfluchten Existenz lassen. Er würde mich immer jagen, um mein Blut zu trinken. Tom Hayer war ein noch junger Vampir. Er spürte zum erstenmal den Drang, sich zu sättigen, und in dieser verfluchten Welt zählte er zu den großen Königen. Er trat den Knochen eines Wolfes weg. Dann stampfte er vor. Er war wütend. Ich sprach ihn noch einmal an. Tom reagierte überhaupt nicht, bis auf das gefährliche Knurren, das durch die Dämmerung wehte. Ich steckte die Waffe weg und ging zwei Schritte zurück. Die Kugel wollte ich sparen. Vielleicht würde ich sie noch einmal brauchen, und zwar für mich, wenn es aussichtslos gewesen war. Bevor mich die Blutsauger in ihre Reihen aufnahmen, würde ich lieber den Freitod wählen. Ich nahm das Kreuz. Tommy sah es. Er wollte zurück. Jetzt spürte er die Gefahr, und ich sah wieder Hoffnung. Obwohl sich das Kreuz nicht erwärmt hatte, seine Funktion hatte es ebenso behalten wie die geweihten Silberkugeln. Ich warf es ihm zu. In einem Reflex riß er die Arme hoch, die Kette verfing sich an seinen Fingern, das Kreuz selbst baumelte herab. Es berührte seine Hände und hatte somit den Kontakt geschaffen. Tom Hayer schrie. Es waren fürchterliche Schreie, die in den dunklen Himmel hochjagten. Den Kopf hatte er in den Nacken gedrückt, er schüttelte ihn, sein Mund stand offen, die Schreie waren das letzte Aufbäumen in seinem kurzen Vampirleben, dann schaffte er es nicht mehr, auf seinen Beinen zu bleiben. Als er zusammenfiel, war ich bei ihm. Das Kreuz war ihm aus der Hand gefallen. Ich nahm es sofort an mich und kreiselte herum, weil ich mit einer weiteren Gefahr rechnete. Mallmann ließ sich ebensowenig blicken wie Assunga. Denn auch mit ihr mußte ich rechnen. Niemand kam. Die Leere und die Dunkelheit blieben. Keine Gestalt durchschritt die Welt des Todes, in der ich aufgeräumt hatte und mich überhaupt nicht großartig fühlte. Ich ging einige Meter zur Seite, blieb stehen und versuchte, wieder die Kontrolle über mich zu bekommen. Ich mußte nachdenken. Irgendwie ging es auch weiter. Es war ein erster Test gewesen, ich hatte ihn
bestanden, ich lebte noch. Mallmann hätte mir bestimmt nicht die Zusammenhänge erklärt, wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, daß ich irgendwann einmal verlieren würde. Mir war übel. Es lag auch an dem verdammten kalten Modergeruch, der die Vampirwelt durchschwebte. Die dunkle Luft war erfüllt davon. Schlieren schienen sie zu durchwehen und sich um meinen Körper zu krallen. Ich schüttelte den Kopf, ein trockenes Lachen drang aus meinem Mund, und ich stellte mir die Frage, wie es jetzt weitergehen sollte. Wie groß war diese Vampirwelt, in der Mallmann endlich herrschen konnte? Welche Überraschungen hielt er noch für mich bereit? Ich hatte keine Ahnung, mußte aber mit Fallen rechnen, die nicht zu sehen waren. Der Boden konnte unter meinen Füßen aufbrechen und mich verschlingen. Tunnels und Schächte warteten auf mich, wenn ich in das Unbekannte hineinschritt. Eigentlich gab es nur einen Platz, an dem ich mich relativ sicher fühlte. Auf dem Friedhof. Fast hätte ich wieder aufgelacht. Dazu war die Lage zu ernst. Mir fiel auch das Haus ein, aber das wiederum war mir zu unbekannt und auch zu verwinkelt. Da ich mich gedreht hatte, konnte ich es auch erkennen. Es stand dort wie ein Schatten, der sich nie zuvor bewegen würde. Es sah überhaupt nicht stabil aus, wie ein Gebäude, das aus Pappe errichtet und dann schwarz angestrichen worden war. Aus dieser Welt kommst du nicht weg, John! So sprach ich zu mir selbst. Nicht aus eigener Kraft, und es ist niemand da, der dir zur Seite stehen wird. Diese Vampirwelt, deren Ausmaße ich nicht kannte, war für mich zu einem gewaltigen Grab geworden, in dem ich als Lebender umherirrte und irgendwann vor Schwäche zusammenbrechen würde. Meine Schritte hatten mich in die Richtung gebracht, in der auch der Friedhof lag. Dort hatte sich nichts verändert. An seinem Rand war ich stehengeblieben. Doch – etwas war anders geworden. Die Dunkelheit lag nicht mehr so tief und schwarz über dem Gelände. Sie hatte sich etwas erhellt und war zu einem grauen Schleier geworden, der über den Grabsteinen und Särgen schwebte wie feiner Nebel. Ich betrat den düsteren Totenacker. Für mich war er so etwas wie eine Zentrale in dieser Welt. Vampire liebten Friedhöfe, mochten Särge, aber dieser hier war anders. Nicht allein deshalb, weil keine Büsche oder Bäume auf ihm wuchsen, er kam mir vor wie ein Gebrauchsgegenstand für Blutsauger. Ich stand auf der weichen Erde. Meine Augen bewegten sich. Nichts passierte. In einer bedrückenden Stille lag der Totenacker vor mir. Ich merkte, daß meine Beine müde geworden waren. Hunger und Durst
verspürte ich keinen. Aber ich wollte mich setzen. Möglichst an einem zentralen Punkt, von dem aus ich den Totenacker unter Kontrolle halten konnte und jede Bewegung entdeckte, wenn sie aufkam. Ein kantiger Grabstein, der schief aus der weichen Erde schaute, bot mir den nötigen Platz. Ich setzte mich darauf. Genau in dieser Sekunde passierte es. Vor mir gab die Erde nach. Ich hatte meine Füße auf den Boden gestemmt, der Halt war plötzlich nicht mehr da, ich rutschte nach vorn und riß noch beide Arme hoch. Auch sie verschwanden in der stockdunklen Tiefe! *** Ich hatte schreckliche Angst, irgendwo tief unter mir auf dem Boden zu landen und als Krüppel liegenzubleiben. Diese Furcht war kaum meßbar, ebenso die Zeit, in der ich sie spürte. Ich wußte nicht einmal, ob in diesem Augenblick mein Herz aufhörte zu schlagen, aber ich hatte Glück im Unglück. Der Schacht war zwar tief, aber nicht weit in die Erde hineingebaut, als daß ich mir hätte die Knochen brechen können. Dennoch prallte ich hart auf. Für einen Ungeübten wäre auch dies gefährlich gewesen, ich aber nutzte den Schwung und warf mich nach vorn. Sofort rollte ich mich wieder ab und stellte fest, daß ich mir weder etwas verstaucht noch geprellt hatte. Staub war in die Höhe gewirbelt worden. Er überfiel mich als Wolke und blieb auf meiner schweißfeuchten Haut kleben. Mit dem Rücken war ich gegen ein Hindernis geschrammt, blieb zunächst einmal liegen und atmete tief durch. Dann schaute ich in die Höhe. Die Öffnung war gut zu erkennen. Als grauer Schatten zeichnete sie sich ab. Mehr sah ich nicht, und ich merkte, wie die harte Spannung allmählich wich. Obwohl in der Dunkelheit Entfernungen schlecht zu schätzen sind, wußte ich genau, daß die Öffnung zu weit von mir entfernt lag. Ich würde ihren Rand auch durch kräftige Sprünge nicht erreichen können. Mallmann hatte mir einiges erklärt. Ich hätte wissen müssen, wie gefährlich das Gelände des Friedhofs war. Ich schaute auch weiterhin nach oben, denn ich war von einem Geräusch alarmiert worden. Dort bewegte sich jemand. Schritte? Wenn ja, dann kamen sie näher, und sehr bald entdeckte ich die Bewegung am Rand des Lochs.
Ein Gesicht erschien, Schultern, ich sah lange Haare und hörte das widerliche Lachen, das mir ausgerechnet Assunga, die Vampirhexe, entgegenschickte. Mein Blut gefror nicht, aber für die Dauer einiger Sekunden war ich doch wie erstarrt. An sie hatte ich in der letzten Zeit nicht mehr gedacht. Geschickt hatte sie sich zurückgehalten, und ihr Lachen verstummte plötzlich. Das entstehende Schweigen war wie eine Last, die sich auf mich niederlegte. Mein Körper zog sich zusammen. Ich tastete nach meiner Waffe und wußte gleich, daß es sinnlos war. Assunga sah meine Bewegungen, sie brauchte sich nur zurückzuziehen. »Laß es sein, Sinclair. Du solltest besser daran denken, was Will Mallmann dir gesagt hat.« »Ach ja?« »Es ist dein Schicksal, diese Welt. Sie wird dich fertigmachen. Du wirst in ihr nichts finden, was dir als Mensch gefallen könnte. Keine Nahrung, kein Wasser, kein gar nichts, was deine Kräfte erhalten könnte. In diesem Loch bist du gefangen, wir werden auf dich warten Sinclair. Wir haben Zeit, viel Zeit, und wir werden dann zuschlagen, wenn du nicht mal einen Arm heben kannst. Es ist die Welt des Todes, in der du als Mensch existieren kannst. Mit jedem Atemzug allerdings wird sie mehr in dich eindringen und dich schwächer machen. Es ist eben das andere, das hier die Oberhand behält. Du wirst viel schneller dahinvegetieren,als es dir lieb sein kann. Für dich gibt es kein Zurück mehr. Noch einmal, Sinclair: Wenn es dann soweit ist, werden wir erscheinen, und dein Blut wird uns beiden schmecken.« Ich holte tief Luft. Ich brauchte Energie für meine Antwort. »Hau ab!« brüllte ich. »Verdammt noch mal, hau ab…« Assunga lachte. Sie zog sich tatsächlich zurück und ließ mich allein. So verdammt allein… *** Suko und Barry F. waren in Brachts Wohnung gegangen, um dort alles vorzubereiten. Der Inspektor hatte einen sehr nachdenklichen Menschen erlebt, aber auch einen nervösen, der immer wieder durch sein dichtes braunes Haar strich, den Kopf schüttelte, sich hinsetzte, wieder aufstand und unruhige Wanderungen durch die Räume unternahm. Suko hatte Mühe, sich von dieser Nervosität nicht anstecken zu lassen. Er beobachtete nur, wobei Barry F. Bracht ihm wie ein Mensch vorkam, der noch nicht wußte, wo es langging. »Willst du dich nicht setzen?« fragte er, als es ihm einmal zu bunt wurde.
»Ja, du hast recht.« Barry blieb trotzdem stehen, eine Hand auf die Tischplatte gestützt. Er schaute zu seinem Dachfenster hin. Ebenso wie Suko wartete er auf die Dunkelheit, in der er seinen Schlaf fand, um in diesem Zustand etwas zu erleben, das mit den normalen Sinnen nicht zu begreifen war, eben seine Verwandlung. Aus Bracht sollte ein anderer werden. Zebuion, der Schattenkrieger. Eine märchenhafte, gefährliche und gleichzeitig legendenhafte Gestalt, die sich in die Träume der Menschen einmischen und sie zu einem guten Ende bringen konnte. Das war Sukos Hoffnung. Sie bestand einfach aus dem Resultat seiner Überlegungen, weil er davon ausging, daß auch die Vampirwelt so etwas wie eine gefährliche Traumsequenz war, die von den Mächten des Bösen aufgebaut worden war. Dort hineinzustoßen, diesen Weg zu finden, um in der anderen Welt nach John Sinclair zu suchen, darauf beruhte eben die Hoffnung der beiden. Aber Suko sah sie immer mehr schwinden, wenn er Brachts Verhalten genauer unter die Lupe nahm. »Was stimmt nicht, Barry?« Bracht hob die Schultern, ohne seinen Blick vom Fenster zu nehmen. »Ich weiß es nicht.« »Okay, ich möchte keine konkrete Antwort haben, aber du hast doch so etwas wie ein Gefühl.« »Sicher.« »Und was sagt dir dieses Gefühl?« Bracht hob seine breiten Schultern. »Ich kann es dir nicht genau erklären, Suko. Ich weiß es wirklich nicht, es ist noch alles zu dumpf und zu sehr im Hintergrund versteckt.« »Soll es heißen, daß du mich nicht beunruhigen willst?« »Auch.« Suko nickte, er holte dabei tief Atem und schaute auf seine Handrücken, wo sich unter der Haut die Muskelstränge abzeichneten. »Weißt du, Barry, wir beide kennen uns noch nicht sehr gut, aber ich will dir eines sagen. Ich bin verdammt hart im Nehmen. Ich habe viel durchgemacht. Es gibt wenig, was mich noch erschüttern kann. Wenn ich dich so anschaue, denke ich daran, daß du Furcht davor hast, es nicht schaffen zu können, zu versagen. Ist dem so?« »Ja.« Suko verbarg seine Enttäuschung, obwohl er mit dieser Antwort gerechnet hatte. »Warum?« »Sie ist stark.« »Zu stark?« »Ich befürchte es«, flüsterte Barry. »Was ist der Grund?« Bracht hob die Schultern. »Ich kann es dir nicht sagen, und ich möchte auch nicht, daß wir beide enttäuscht werden…«
»Deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, unterbrach Suko ihn. »Ich bin es eigentlich gewohnt, Enttäuschungen zu erleben und auch damit fertig zu werden. Was also ist der genaue Grund?« »Den kann ich dir wirklich nicht nennen. Ich befürchte, daß es keine Traumwelt ist, die man aufgebaut hat.« »Sondern?« »Etwas anderes mit einem sehr festen Gefüge. Es ist so fremd, so kalt, so abweisend…« »Woher weißt du das?« »Gute Frage«, murmelte Bracht. »Ja, woher weiß ich das? Ich habe keine Ahnung.« Der Inspektor räusperte sich. »Du weißt hoffentlich, um was es geht, Barry?« »Natürlich. John Sinclair ist verschwunden. Du hast mich eingeweiht, Mallmann wird ihn haben.« »Eben. Wie ich ihn einschätze, wird er John in seine persönliche Gewalt gebracht haben. Und das Blut des Geisterjägers zu trinken, wird ihm ein großes Vergnügen bereiten. Nun ist John Sinclair kein heuriger Hase, er weiß sich zu wehren, aber in einer Welt, die ihm nur feindlich gesonnen ist, wird er ebenfalls seine Schwierigkeiten haben.« »Das stimmt.« »Du warst doch schon einmal da, Barry. Du hast sie gesehen. Deshalb verstehe ich deine Bedenken nicht.« »Gerade weil ich sie gesehen habe, Suko.« »Sie war so schlimm?« Er hob die Schultern. »Ich kann es nicht richtig beantworten. Jedenfalls spürte ich eine Kälte, wie ich sie noch nie erlebt habe. Früher war es anders, als der Knochenmond schien, aber jetzt komme ich mir plötzlich wie auf verlorenem Posten vor, wenn du verstehst.« »So ungefähr schon«, sagte Suko leise und nickte vor sich hin. »Nun ja, wir können es nicht ändern.« »Leider nicht.« »Wobei ich doch stark hoffe, daß es bei deinen Plänen bleibt, Barry. Wenn du jetzt kneifst, fühle ich mich nicht nur im Stich gelassen, sondern auch John.« »Das ist klar.« »Willst du es trotz deiner Bedenken versuchen?« Bracht lächelte. »Sonst wären wir nicht hier. Ich wollte dir nur erklären, wie ich darüber denke. Daß du nicht enttäuscht sein sollst, wenn es nicht klappt.« »Da brauchst du keine Angst zu haben«, murmelte Suko. »Meine Gedanken drehen sich um ganz andere Dinge.« »Welche?« »Es ist die verfluchte Hilflosigkeit, die mich einfach lähmt, wenn du verstehst. Ich sitze hier in deiner Wohnung, denke und brüte vor mich
hin, weiß John in einer irrsinnigen Gefahr und bin selbst nicht in der Lage, ihm beizustehen.« Barry F. hob die Schultern. »Ja, Suko, das kann ich wohl nachvollziehen. Mir ergeht es ähnlich. Ich werde natürlich versuchen, dieser Vampirwelt einen Besuch abzustatten, obwohl ich sie als den Schrecken an sich empfinde. Sie ist so anders als die Welten, die ich bisher gekannt habe. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht und versucht, auch eine Erklärung zu finden.« Bracht hob die Schultern. »Es gibt sie nicht. Ich kann dir nur mitteilen, daß ich diese irrsinnige Kälte gespürt habe, die diese Welt kontrolliert. Eine Kälte, mit der ich nicht zurechtkam, weil sie so unerklärbar ist.« Suko nickte. »Vielleicht kann ich dir helfen, Barry.« »Du?« »Ja.« »Wieso denn?« »Ich kenne diese Kälte, mein Lieber. Sie ist auch nicht die, die wir kennen. Sie dokumentiert etwas ganz anderes, und sie läßt uns tatsächlich erstarren, wenn wir sie begriffen haben.« »Rede weiter!« forderte Bracht. »Es ist die Urkraft des Bösen«, sagte Suko mit gerade noch verständlicher Stimme. »Diejenige Kraft, die schon vorhanden war, als die Welt gerade anfing, sich zu manifestieren.« Barry nickte. »Gut und Böse, die beiden Pole, die es schon immer gab, nicht wahr?« »Ja, das stimmt.« »Und es hat einen Namen?« »Richtig, Luzifer!« Bracht schwieg. Ob vor Überraschung oder weil er einen Schock erlitten hatte, war nicht herauszufinden, jedenfalls schaute er ins Leere, und seine Lippen zuckten dabei. »Deshalb diese Kälte, ich verstehe es jetzt.« »Wir müssen einen Schritt weiter denken«, nahm Suko den Faden wieder auf. »Die Kälte ist da, weil Luzifer gewollt hat, daß die Vampirwelt entsteht. Wie Mallmann es geschafft hat, sich mit dem Urbösen zu arrangieren, das weiß ich nicht. Ich gehe einmal davon aus, daß er ihn auf seiner Seite hat und Luzifer in gewisser Hinsicht seine schützenden Hände über die Welt hält.« »Genau das habe ich gespürt«, murmelte Barry F. »Sicher.« Bracht schüttelte den Kopf. Er schwieg, und er sagte auch kein Wort, als er zum Fenster schritt und es öffnete. Bracht drehte Suko den Rücken zu, er gab auch keinen Kommentar mehr ab, er schaute hinaus und entdeckte einen Himmel, der ständig grauer wurde, weil sich das Licht des Tages zurückzog. »Ja«, sagte er, »ich denke mir, daß die Zeit reif ist.«
»Du willst dich hinlegen?« Bracht drehte sich um. »Ich muß es versuchen. Ich hoffe auf einen zweiten Besuch.« Suko räusperte sich, damit er sprechen konnte. »Hol ihn zurück, Barry. Sieh zu, daß du John aus den Klauen dieser Bestien befreien kannst. Vielleicht könnt ihr die Welt verlassen.« »Ja, natürlich. Du weißt auch, wer ich in der anderen Welt bin.« »Zebuion, der Schattenkrieger.« »Mein zweites Ich.« »Und ein Astralkörper?« Bracht wiegte den Kopf. »Ja und nein. In dieser Welt wäre ich das, in den anderen, den Traumwelten, bin ich das nicht. Da nimmt der Astralkörper eine feste Gestalt an, die sich bei der Rückkehr wieder auflöst.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist müßig, Suko, darüber zu sprechen. Ich will auch nicht nach irgendwelchen Erklärungen suchen, ich werde mich hineinwerfen.« Der Inspektor schwieg. Er saß auf seinem Stuhl und hatte die Ellbogen gegen die Tischplatte gestemmt. Dabei wußte er genau, daß er nichts tun und nur hoffen konnte. Das machte ihn fast wahnsinnig, denn so etwas war er auf keinen Fall gewohnt. Barry F. Bracht nahm auf seinem Bett Platz. Er lächelte Suko noch einmal zu. Das Fenster ließ er offen. Als er sich legte und dabei keine genau waagerechte Stellung einnahm, drehte er sich so herum, daß Suko auf Brachts Rücken blickte, Barry F. selbst aber aus dem offenen Fenster zum Himmel schauen konnte. »Viel Glück«, murmelte Suko. Diese Worte galten mehr ihm selbst, Barry antwortete nicht darauf. Nun hieß es warten und hoffen! Suko spürte den Druck im Hals. Er kam ihm vor wie zugeschnürt. Überlaut schlug sein Herz, und die Gedanken des Mannes drehten sich einzig und allein um seinen Freund und Kollegen, John Sinclair, der in dieser verfluchten Welt gefangen war und möglicherweise nicht mehr lebte. Suko wollte auf jeden Fall Klarheit darüber haben. Barry mußte ihm die Wahrheit sagen. Von ihm hörte er nichts mehr. Bracht lag auf seinem Couchbett wie ein Toter. Selbst die Atemzüge wehten nicht durch den Raum. Er schien nicht zu schlafen, sondern in eine tiefe Trance versunken zu sein. Wahrscheinlich mußte dieser Zustand bei ihm eintreten. Über diese Einzelheiten jedoch war Suko nicht so genau informiert. Er wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war und auch immer noch verging. Er saß da wie auf heißen Kohlen, die Sitzfläche schien zu brennen, und er selbst merkte, wie ihn die Nervosität überkommen hatte.
Dennoch blieb er ruhig. Er konnte nichts anderes tun. Johns Schicksal lag jetzt in den Händen des geheimnisvollen Barry F. Bracht und dessen zweiter Existenz. Irgendwann einmal konnte es Suko nicht mehr auf seinem Platz aushalten. Die Nervosität machte ihn verrückt, und sehr langsam, dabei völlig geräuschlos, erhob er sich. Er mußte hin. Er wollte Bracht zumindest beobachten, ihn anschauen, ob sich bei ihm etwas verändert hatte. Mit leisen Schritten bewegte sich Suko auf das Bett zu. Nur keinen stören, nur keinen Fehler begehen, ihn auch nicht berühren, sonst wäre er aus dem Schlaf gerissen worden. Suko blieb neben dem Bett stehen. Barry F. lag mit dem Oberkörper und natürlich auch mit dem Kopf leicht erhöht. Mit offenen Augen hätte er aus dem Fenster schauen können. Als Suko sich über seinen Kopf beugte, da sah er, daß die Augen des Mannes geschlossen waren. Ihm fiel noch etwas auf. Bracht war zwar derselbe geblieben wie vor dem Einschlafen, doch er hatte sich verändert. Er kam Suko sehr bleich vor, als hätte sich sogar seine Haut verändert. Irgend etwas mußte sich in seinem Körper abspielen, und Suko brauchte erst gar nicht lange zu raten, worum es dabei ging. Barry F. Bracht war als Mensch eingeschlafen. In seiner zweiten Gestalt jedoch hatte er sich auf die Reise in eine fremde Welt begeben. Er war zu Zebuion geworden, und dieser Kämpfer schöpfte seine Energie aus dem normalen Körper. Suko beobachtete das blasse Gesicht. Er versuchte dabei, nicht mehr auf die so dünne, durchscheinende Haut zu achten und konzentrierte sich auf die Augenlider. Sie waren geschlossen, aber das heftige Zucken entging dem Inspektor nicht. Was Zebuion erlebte, stand auch Barry F. durch. Wenn ich doch nur helfen könnte, dachte er. Wenn ich es doch nur schaffen würde… Er konnte nichts tun, nur dastehen und hoffen, und er zuckte zusammen, als aus Brachts Mund ein furchtbares Stöhnen drang… Ich war gefangen! Ich hockte in einem verfluchten Loch, aus dem es keinen Ausweg mehr gab. Ich war nicht mehr in der Lage, etwas zu unternehmen. Mit der kleinen Lampe hatte ich meine Umgebung ausgeleuchtet und festgestellt, daß von diesem Loch aus ein Stollen unter dem Friedhof her in eine weitere Tiefe führte. Schwärze total – und die Schwäche! Die verfluchten Vorhersagen Mallmanns und Assungas waren tatsächlich eingetroffen. Diese verdammte Welt war so schrecklich, daß
sie es innerhalb kürzester Zeit schaffte, mir die Kraft zu rauben. Hätte ich in einem anderen Loch als Gefangener gesessen, wäre mir dies nicht passiert, hier aber war alles anders, denn in Mallmanns Vampirwelt herrschten andere Gesetze. Es war die Luft in dieser verfluchten Höhle, die mich ebenfalls aushöhlte. Sie nahm mir die Kraft, sie machte mich fertig. Sie war so stumpf, stickig, von modrigen Einflüssen durchweht, aber gleichzeitig so unglaublich kalt und böse. Letzteres konnte ich einfach nicht greifen, ich wußte es. Ich schaffte auch keine Erklärung, ich merkte nur, daß ich immer schwächer wurde und es mir schwerfallen würde, auf die Beine zu kommen. Dabei hatte ich den Willen, aber das Fleisch war einfach zu schwach. Ich blieb auf der staubigen Erde hocken und starrte ins Leere. Dabei hielt ich mein Kreuz umfaßt wie einen Rettungsanker, aber selbst diese Berührung gab mir keinen Mut mehr. Irgendwann war ich trotzdem reif, einen Versuch zu starten. Zuerst schaute ich hoch gegen die Öffnung, die mich wie ein höhnisches Auge anblickte. Weder Mallmann noch Assunga hatten sich dort gezeigt, sie wußten ja, welches Schicksal mir bevorstand, und sie würden schon zu gegebener Zeit erscheinen. Beide Hände stemmte ich rechts und links des Körpers flach auf den Boden. Der Halt war da, mehr auch nicht. Ich mußte mich anstrengen, unheimlich stark überwinden und nahm auch beide Hände und Arme zu Hilfe, um in die Höhe zu kommen. Es klappte auch. Ich freute mich trotzdem nicht, denn die Schwäche kehrte zurück, als ich auf den Beinen stand. Es blieb nur bei einem sekundenlangen Stehen, und ich hätte heulen können, als meine Beine nachgaben und mich wieder zurück in die alte Stellung drückten. Die Vorhersage stimmte voll und ganz. Sie hatten mich geschafft. Die Vampire waren stärker, und mir kam in den Sinn, daß meine Chancen niemals zuvor geringer gewesen waren. Verdammt auch! Meine Augen brannten. Im Hals hatte sich die Trockenheit zurückgezogen. Sie lag wie ein gedrehtes Netz in der Kehle. Ich war nicht mehr in der Lage, normal zu sprechen und konnte nur mehr flüstern, wenn überhaupt. Diese Welt war der Tod in einer seiner zahlreichen Gestalten. Er hatte sich mir gegenüber sehr facettenreich genähert, und die Schwäche stieg ebenso in mir hoch wie die Wut über mich selbst. Was noch gut funktionierte, waren meine Sinne. Ich konnte hören, ich konnte auch sehen, was natürlich alles sehr begrenzt war. Das durch die Öffnung fallende Licht erreichte zwar den Boden, aber es war nicht mehr als ein schwimmender grauer Schimmer, in dem eigentlich alles verschwamm.
Zuerst hörte ich es. Vor mir, wo der Schacht begann, waren die Geräusche aufgeklungen. Widerlich, wie von einem Monster verursacht, denn dieses leise Kratzen wurde von einem Schmatzen und Schlürfen untermalt, das ich besonders gut hörte und kannte. So verhielten sich Vampire, wenn sie auf der Jagd und auf der Suche nach Blut waren. Ich starrte in das Dunkel. Meine Augenlider waren schwer geworden, sie brannten. Ich hatte den Eindruck, als hätte jemand Säure hineingeträufelt, und auch meine Atemzüge klangen überdeutlich. Sie waren sehr schwer, als hätte ich unter einer unwahrscheinlich starken Last zu leiden. Dabei wußte ich genau, daß ich etwas tun mußte, denn es ging jetzt um mein Leben. Ich bewegte meinen linken Arm. Mir war eingefallen, die Lampe hervorzuholen. In ihrem Licht würde ich erkennen können, wer sich da näherte. Eine kleine, schmale Lampe, bei der man kaum von einem Gewicht sprechen konnte. Sie kam mir schwer vor, und ich bewegte auch nur mühsam meinen Daumen auf den kleinen Schalter zu, um ihn nach vorn zu schieben. Es klappte, das Licht stach als heller Arm in die Finsternis hinein – und traf zwei Gesichter. Vampire! Alte, bösartige Blutsauger mit einer dünnen, blutbefleckten Haut, die sich scharf über ihre Knochen spannte. Das Licht hatte sie erschreckt, doch es würde sie nicht vernichten können, weil es nicht das Licht der Sonne war. Mallmann hatte sie geschickt. Sie sollten mich bewachen, denn sie trafen keinerlei Anstalten, näher an mich heranzukommen, obwohl auch sie bestimmt von einem Blutrausch gepackt worden waren. Der Haß gegen diese Schwarzblüter wühlte in mir hoch, und plötzlich kehrte so etwas wie Kraft zurück. Ich hatte noch eine Hand frei, und mit der wollte ich die Beretta ziehen. Es befanden sich noch genügend Kugeln im Magazin, ich konnte auch mal vorbeischießen, was bei meinem Zustand nicht ungewöhnlich gewesen wäre. Die Anstrengung hatte mein Gesicht zu einer Grimasse verkommen lassen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, daß es mir einmal so schwer gefallen war, die Beretta zu ziehen, doch ich schaffte es, und bekam deshalb wieder einen neuen Mutstoß. Die Lampe ließ ich fallen. Neben mir leuchtete sie weiter und schickte ihren Strahl gegen die Blutsauger, auch wenn diese nicht voll getroffen wurden. Auch beide Hände reichten kaum aus, um die Waffe in der richtigen Position zu halten. Ich mußte die Zähne zusammenbeißen, zwinkerte mit den Augen, weil mir der Schweiß hineingelaufen war. Nur mühsam
näherte sich mein Zeigefinger dem Abzug. Es fiel mir sogar schwer, ihn zu krümmen. Ich hielt mich. Ich mußte die Waffe höher richten. Unter unsäglichen Anstrengungen schaffte ich es. Dann schoß ich. Ich drückte einfach ab, schoß dreimal, dann war die Waffe plötzlich so schwer, daß ich sie nicht mehr halten konnte. Zusammen mit meinen Händen sank sie nach unten, und die Mündung stemmte sich schräg gegen den Boden. Das Magazin war leer. Ich würde mich mit der Beretta nicht mehr wehren können. Mein Kopf war nach vorn gesunken. Ich mußte ihn anheben, um zu wissen, ob sich der Erfolg eingestellt hatte. Ja, sie waren vernichtet. Die drei geweihten Silberkugeln hatten nicht nur einen Blutsauger erwischt, sondern auch den zweiten. Sie verkohlten. Ein widerlicher Gestank breitete sich von ihren allmählich verfallenden Körpern aus. Sehr alte Vampire waren sie gewesen, sie sanken zu Staub zusammen, und das leise Zerknirschen der Knochen bildete dabei die schaurige Begleitmusik. Ich schaute nicht hin. Mein Blick war gegen die eigenen Oberschenkel gerichtet. Ich machte mir auch nichts mehr vor. Einen weiteren Angriff würde ich nicht überleben können. Diese Welt hatte mich innerhalb kürzester Zeit geschafft. Das Kreuz lag zwar noch auf meiner Brust, aber es kam mir vor wie ein wertloses Stück Metall. Dann lachte die Frau. Einmal, zweimal… Dieses Lachen erwischte mich. Ich hob den Kopf an, und genau dort, wo die Reste der beiden Schwarzblüter lagen, stand die Frau, stand Assunga. »Und jetzt hole ich mir dein Blut, Sinclair…« *** Die Reise des Barry F. Bracht. Er war eingeschlafen, sein Körper lag auf der Couch neben dem Fenster, aber er war gleichzeitig zu einem anderen geworden, zu der Gestalt, die ins Reich der Fantasy hineinpaßte, in die Welt der Legenden und der Märchen. Er war zu Zebuion geworden! Zebuion, der Schattenkrieger, der überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem normalen Barry F. Bracht aufwies. Er trug dunkle Stiefel, an deren Rändern sich Schnüre aus silbrigen Perlen befanden. Die langen Hosenbeine verschwanden in den Stiefelschäften. Die Kleidung erinnerte
an frisch aufpoliertes, antikes Leder, und die kurze Jacke in Trikotform sah ebenso aus. Um seinen Körper zwischen Jacke und Hose hatte Zebuion einen silbernen Gürtel geschlungen, der mit vorstehenden Knöpfen versehen war. Ein Helm schützte den Kopf des Kämpfers. Nur vorn war er durchsichtig, und irgendwie erinnerte die Gestalt an einen Motorradfahrer. Doch etwas hob ihn von einem normalen Motorradfahrer ab. Es waren die dunklen Flügel, die auf dem Rücken wuchsen, wobei nicht zu erkennen war, ob sie mit der Kleidung oder mit dem Körper verwachsen waren. Jedenfalls gab es sie, und sie waren zudem sehr wichtig. Und da war noch etwas, auf das er sich verlassen konnte. Zwei mit Energie gefüllte Waffen, deren Strahlen für Feinde absolut tödlich waren, weil sie die Gegner verdampften. Zebuion hatte die Vampirwelt erreicht. Er hatte es zunächst kaum glauben wollen, doch er stand jetzt mitten in ihr, und auch seine Erinnerung kehrte zurück. Es war anders als beim erstenmal. Zwar sah er den Friedhof und auch das Haus, aber diesmal stand er mehr in dieser fremden Welt, weil er sie sich freiwillig ausgesucht hatte. Er hatte diese Reise gewollt, sie war ihm vergönnt gewesen, und er würde seiner Aufgabe nachkommen. Etwas aber war geblieben. Diese andere, die beklemmende und beinahe schmierige Kälte, die seinen Körper erwischt hatte. Eine Kälte, für die er auch bei seinem zweiten Versuch keine Erklärung hatte, die einfach da war, so wie es das Böse immer gegeben hatte. Er spürte den Schauer nicht auf seiner Gestalt. Der hatte sich innen festgesetzt, als Zebuion seine Schritte auf den alten Friedhof zulenkte. Beide Waffen hatte er gezogen. In seinen Händen sahen sie klobig aus. Die Finger lagen an den Abzügen. Lautlos bewegte er sich. Der Helm drehte sich mit, als er durch das Sichtvisier gegen das Haus starrte, in dem diesmal kein Licht schimmerte. Zebuion überlegte, ob er es zerstören sollte, seine Waffen hätten es geschafft, aber er ließ es bleiben, denn wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen näherte er sich dem alten Friedhof, weil er dort das Zentrum vermutete. Zebuion spürte dieses andere, das nicht zu einer Welt wie dieser hier gehörte. Er suchte nach einer Erklärung und konnte sich allenfalls denken oder darauf hoffen, daß es eine menschliche Ausstrahlung war, eben die seines Bekannten John Sinclair. Der zu Materie gewordene Astralkörper bewegte sich weiter. Er sah die düsteren Grabsteine, die er nicht berührte. Er huschte zwischen den breiten Lücken hindurch, seine Sinne waren gespannt. Er versuchte, die Gefahr zu orten.
Sie war da, doch sie war gleichzeitig auch schlau genug, um sich zurückzuhalten. In der Mitte des Friedhofs blieb die legendäre Gestalt stehen. Hinter dem Sichtschirm waren die Augen wie zwei dunkle Perlen zu erkennen. Sie drehten und bewegten sich in den Höhlen, sie schauten, sie forschten, und sie glichen irgendwo auch metallischen Spiegeln, die alles untersuchen wollten, was in dieser Welt vorhanden war. Er suchte Mallmann und Assunga. Doch am wichtigsten war ihm John Sinclair. Zebuion ging weiter. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Er streifte auch die alten Särge, die ihn im Moment nicht interessierten. Zebuion spürte nur, daß etwas in der Nähe lauerte. Die Finsternis war wie ein tiefer Schlamm. Ihm machte sie nichts aus, er würde damit fertig werden. Seine Augen glichen Sensoren, die Kleidung schützte ihn, und einen Augenblick später bewegte er seine Flügel auf dem Rücken. Zebuion schwebte über dem Friedhof hinweg. Er glitt in die Höhe, weil er aus einer bestimmten Distanz einen besseren Überblick hatte. Unter ihm lag das schaurige Gelände. Er sah es jetzt besser, scharf wie auf einem Bildschirm. Er entdeckte auch die Öffnung. Zebuion wußte nicht, was sie zu bedeuten hatte. Sie war einfach da, und sie glich einem Einstieg in die Unterwelt. Dort konnte man etwas verstecken, dort… Sein scharfes Gehör nahm eine Stimme wahr. Die einer Frau. Und sie sagte einen Satz, der Zebuion alarmierte… *** Wieder einmal stand sie vor mir, die verfluchte Vampirhexe. Und in meiner Lage war ich für sie eine leichte Beute. Ich würde ihr keinen Widerstand entgegensetzen, wenn sie über mich herfiel und das Blut aus meinen Adern saugte, um sich zu laben. Es war einfach grauenhaft, und als ebenso schlimm empfand ich in diesem Moment die Klarheit meiner Sinne. Ich wußte sehr deutlich, was mir bevorstand, aber ich konnte mich nicht wehren. Mein Blick war schließlich auf das Kreuz gerichtet. Es hatte mir immer geholfen, nur war ich in dieser Welt noch nicht dazu gekommen, es zu aktivieren. Die letzte Rettung? Tu etwas! schoß es mir durch den Kopf. Du kannst dich nicht dem Schicksal überlassen, du mußt dich wehren, denn noch hast du das Kreuz in deinem Besitz. Ich tat nichts, und das nicht etwa, weil ich es nicht konnte, ich war einfach zu schwach, um die Formel zu sprechen. Nicht einmal das erste
Wort wollte mir über die Lippen kommen, die Trümpfe lagen alle auf der Gegenseite. Die Entfernung zwischen uns stimmte noch nicht, deshalb kam Assunga näher. Wie immer trug sie ihren Mantel, und sie lächelte mich kalt an. Sogar das Schimmern ihrer Vampirzähne sah ich, und sie bewegte plötzlich den Mund wie zwei verzerrte Schläuche, als sie mich ansprach und mir erklärte, daß sie mich mitnehmen würde zu ihm, zu Will Mallmann, wo ich die beiden Bisse zur gleichen Zeit empfangen würde. Sie rechts, er links an meinem Hals. Zum Teufel! Scher dich zum Teufel! Ich konnte die Sätze nicht aussprechen und sie nur in meinen Gedanken formulieren. Alles hatte sich verändert. Ich fühlte mich so verlassen wie nie in meinem Leben, obwohl Assunga vor mir stand. Mit einer wütenden Bewegung zerstampfte sie alte, graue Vampirknochen, die sie störten. Die letzten Reste klapperten dabei. Und in dieses Geräusch mischte sich ein anderes. Direkt über mir. Ich hörte das Sausen oder Brausen, und aus der Höhe jagte eine Gestalt nach unten, mit der ich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hatte. Zebuion war da! *** Genau zwischen Assunga und mir war der Schattenkrieger gelandet. Blitzartig, wie ein fallender Stein war er aus der Höhe nach unten gebraust. Ich hatte ihn gesehen, ich nahm ihn auch jetzt noch wahr, aber ich realisierte sein Erscheinen noch nicht. In mir befand sich einfach eine zu große Leere, zudem war mein Körper geschwächt, so daß die Hilflosigkeit bei mir Pate stand. Nicht bei Zebuion. Und ebenfalls nicht bei Assunga. Ob sie ihn kannte oder nicht, das spielte wohl keine Rolle. Aber sie ahnte instinktiv, wie gefährlich ihr dieser Kämpfer werden konnte, der sich von ihrem Aussehen nicht erschrecken ließ, sondern erschienen war, um sie zu vernichten. Das wußte Assunga. Und sie reagierte. Auch Zebuion bewegte sich. Beide Handlungen liefen synchron ab, und sie hoben sich zudem auch auf. Bevor Zebuion noch seine Waffen einsetzen und Assunga durch reine Energie verdampfen konnte, hatte die Vampirhexe ihren Mantel
nicht nur geöffnet, sondern ihn ebenso schnell wieder zusammengeschlungen. Das leise Fauchen hörte ich sogar. Dann war sie weg! Verschwunden, abgetaucht. Hatte sich aufgelöst oder was immer auch geschehen war. Ich war einfach zu schwach, um vor Enttäuschung aufzuschreien. Es war mir unter großen Mühen gelungen, den Kopf zu heben. Von unten her schaute ich gegen den runden Helm der sagenumwobenen Gestalt und sah schwach hinter dem Sichtvisier das Gesicht schimmern. Lächelte er? Jedenfalls bückte er sich. Ich spürte, wie sich die Hände in meine Achselhöhlen hineinschoben. Als wäre ich leicht wie eine Feder, so hob mich Zebuion an und hielt mich mit dem rechten Arm fest, dabei hart an seine Seite gepreßt. Er würde mich nicht mehr loslassen. Selbst in dieser Enge schaffte er es, die Flügel zu bewegen. Sie flatterten hektisch hin und her, und im nächsten Augenblick stiegen wir in die Höhe wie der Raketenmann, der oft auf irgendwelchen Festen auftrat und für Überraschungen sorgte. Wir jagten hoch. Der Tunnel behinderte uns nicht. Zusammen mit Zebuion stieß ich der Freiheit entgegen. Ja, es war für mich eine Freiheit, obwohl ich mich noch in dieser fernen, kalten und unheimlichen Welt aufhielt, aber ich war dem Loch entkommen. Wir standen auf dem Friedhof. Nichts hatte sich verändert, er war auch nicht durch Zebuion zerstört worden, und der Schattenkrieger schaute sich nur kurz um. »Willst du Mallmann?« fragte ich müde. »Ja, am liebsten.« »Er ist schlau, er ist…« »Gut, dann müssen wir weg.« Wieder bewegte er seine Flügel. Ich hing in seinem Griff, als wir nicht allzu schnell in die Höhe stiegen und ich jetzt von oben auf den Friedhof schauen konnte, der seinen Schrecken auch aus der Entfernung nicht verloren hatte. Wir gewannen an Distanz. Er verkleinerte sich zusehends, und plötzlich hörte ich nur ein Fauchen. Irgend etwas schlug über uns zusammen wie ein gewaltiges Blattwerk. Es war der letzte Eindruck, den ich aus dieser Dimension mitbekam, denn mein Erwachen geschah an einer anderen Stelle. ***
Nein, das war keine Vampirwelt mehr. Es sei denn, Suko hätte seinen Weg dorthin gefunden, was auch nicht stimmte, denn alles um mich herum war so herrlich normal. Meine Zeit, meine Welt hatte mich wieder. Ich atmete sehr tief durch. Ich freute mich, es geschafft zu haben. Ich war allerdings nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sprechen, denn noch immer kam ich mir vor wie ausgelaugt. Irgendwo im Hintergrund des Raumes hörte ich ein Stöhnen. Eine Matratze bewegte sich knarrend, und ich sah eine Gestalt, die vom Bett aufstand, mit etwas müden Schritten durch den Raum wankte und sich schließlich an der Wand abstützte. Es war Barry F. Bracht! Nicht Zebuion, doch ich wußte verdammt genau, bei wem ich mich bedanken wollte. Suko stand noch immer bei mir. Die Fragen las ich in seinen Augen, aber er stellte sie nicht, denn ich streckte ihm die Hand entgegen. »Hilf mir mal hoch, Alter.« »Okay.« Ich stand wacklig, Suko mußte mich stützen, den Weg zu Barry F. Bracht fand ich trotzdem. »Sag nichts, John. Es ist schon okay.« Mir saß die Kehle zu. »Doch, verdammt, ich muß es tun. Du… du… hast es geschafft. Ich wäre sonst nicht mehr. Ich hätte mir nicht mal eine Kugel durch den Kopf schießen können.« »War es so schlimm?« fragte Suko. »Du machst dir keine Vorstellungen davon.« Ich schluckte den bitter schmeckenden Speichel, doch tief in meinem Innern war ich verdammt froh. Und das richtige Glücksgefühl würde sich später erst einstellen, das wußte ich. »Darf ich mal was fragen?« sagte Suko. »Ich bin ja leider ein Außenstehender gewesen.« »Bitte.« »Habt ihr die Vampirwelt zerstören können, John?« Ich schüttelte den Kopf. Suko wartete auf eine Erklärung, die sehr mager ausfiel. »Leider nein, sie existiert weiterhin, und wir werden wohl damit leben müssen…«
ENDE