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Über dieses Buch Das ferne Utopolis, Hauptstadt der freien Arbeitergenossenschaft Utopien, liegt zeitlich parallel zur politischen und gesellschaftlichen Realität Europas nach dem Ersten Weltkrieg. Die Geschichte zweier klassenbewußter Seeleute, die unversehens an die Küste dieses utopischen Staates verschlagen werden, ist ein Versuch, das Science Fiction-Genre ins Politische und Agitatorische umzubiegen und für Arbeiter-Leser aufzubereiten. Illings Roman gilt als interessantes literarisches Dokument der deutschen bürgerlichen ArbeiterDichtung zwischen den beiden Weltkriegen, voll politischem und gesellschaftskritischem Engagement. Der Autor Werner Illing, 1895 in Chemnitz geboren, war zeitweilig ständiger Mitarbeiter am Feuilleton der Vossischen Zeitung, arbeitete für Funk und Film, schrieb zahlreiche Drehbücher u. a. ›Der Herr vom anderen Stern‹ (1948). Neben ›Utopolis‹ erschienen bis 1933 und nach 1945 vier weitere Romane. Er lebt heute als freier Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks in Eßlingen.
Werner Illing
Utopolis Science Fiction Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
Fischer Taschenbuch Verlag April 1974 Ungekürzte Ausgabe Umschlagillustration: Eddie Jones Umschlagtypographie: Jan Buchholz/Reni Hinsch Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main Neuausgabe des 1930 im Verlag Der Bücherkreis GmbH, Berlin, erschienenen gleichnamigen Romanes © 1974 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © 1930 Der Bücherkreis GmbH, Berlin Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany Scan by Brrazo 05/2011 ISBN 3 43601861 9
1 Als ich die Augen aufschlug, begriff ich endlich, daß ich nicht als stiller Mann zwischen Seegras und Meerdisteln umhertrieb, ein Tischlein-Deck-Dich für Krebse und Aale. Über mir war blauer Himmel. Eine frische Brise klatschte mit die nassen Kleiderfetzen an den Leib. Ich fror wie ein junger Hund. Sprang auf, um mir Bewegung zu machen. Hallo! Zehn Schritt weit lag ein armseliger Lumpenhaufen, um einen Holzbalken gewickelt. Armer Kamerad! Es ist ein verteufelter Scherz des Schicksals, einen Schiffbrüchigen, nachdem er ertrunken, an Land zu werfen. Ich trat näher. Der Tote schnarchte fürchterlich. Ich schüttelte ihn, wie einen Baum, von dem man unreife Pflaumen abschütteln will. Endlich ließ er den hölzernen Notanker fahren, tastete mit vorsichtigen Händen in den trocknen Sand, setzte sich auf, rieb sich die Augen, gähnte, blickte mich ohne Erstaunen an und brummte: »Hast du wat to essen?« Da spürte ich, daß ich an Stelle des Magens ein schwarzes leeres Loch hatte. Hein sah mit Interesse, wie ich mir die Fäuste in den hohlen Bauch drehte, seufzte und wußte Bescheid. »Los!« kommandierte er. Wir krabbelten uns zusammen hoch und erkletterten die nächste Düne. Etwa fünftausend Schritt vor uns lag an der Bucht eine Stadt von ansehnlicher Größe. 7
Hein nickte zufrieden und sagte mit der Sicherheit eines Menschen, der sich auf seine Ortskenntnis verlassen kann: »Stimmt!« Wir trotteten mühsam am Strand entlang, in der Hoffnung, noch den oder jenen unserer Kameraden auflesen zu können. Damit war es leider nichts. Unvermittelt standen wir plötzlich in einer breiten Straße. Kein Mensch ließ sich blicken. In der Ferne sausten Autos und bogen schwarmweise um die Ecken. Wir suchten nach einem Bäcker- oder Fleischerladen und hofften, durch unseren jammernswerten Aufzug eine Mahlzeit zu erbetteln. Die schönen bunten Häuser, jedes einen Straßenblock breit, zeigten uns weder Schaufenster, noch Ladeneingänge, noch Reklamen. »Junge, Junge«, Hein kratzte sich hinterm Ohr, »dat is ne stinkfeine Gegend, ne Art Uhlenhorst mit lütten Wolkenkratzern – bloß furn Sonntag –.« Er spuckte kräftig aus und meinte, wenn das ’n orntlicher seebefahrener Ort wäre, müsse sich ein Seemannsheim finden lassen. Wir schleppten uns mühsam weiter in der Hoffnung, daß die vornehmen Paläste abbröckeln und in schmale dunkle Proletarierbudiken übergehen würden, wo man versteht, wie es armen Teufeln zumute ist, denen das Salzwasser näher war als Erbsensuppe mit Speck. Es blieb aber, wie wir es angetroffen hatten, und unsre Verzweiflung wuchs. Ich schlug vor, Fensterscheiben einzuschmeißen, dann würde man sich schon um uns kümmern. Aber womit? Die Straßen waren mit Gummi gepflastert und reinlich und wir merkten auf Schritt und Tritt, daß wir nicht hineingehörten, denn die blitzblanke Sauberkeit äfft allzu nüchterne Mägen. Wie wir so in die Luft guckten, weil von dort die 8
guten Gedanken kommen, sahen wir über der Straßenkreuzung elegant geschwungene Brücken, die die flachen Dächer der Häuser miteinander verbanden. Dort oben, in sechs oder mehr Stock Höhe gingen Menschen spazieren, das war deutlich zu erkennen. Hein mißbilligte diese wunderliche Einrichtung und fand sie verdächtig, trichterte aber doch seine Hände vor dem Mund und schrie »Ahoi!«. Bevor eine Antwort herunterkam (wer weiß, hätten sie Hein gehört, da oben), schlug uns ein neuer Schrecken in die Glieder. Es jagte nämlich ein Wagen heran, völlig geräuschlos und so schnell, daß uns keine Zeit blieb, beiseite zu springen. Feierabend, dachte ich und überließ das weitere der Unfallstatistik. Aber kaum zwei Meter vor uns wich das Fahrzeug aus und hielt so rasch und sanft, als wäre es gegen einen Berg von Watte gerannt. Drei Männer in weißen Hosen und Sandalen kletterten heraus. Sie sahen aus, als hätten sie gut gefrühstückt und wollten nun zum Tennisplatz fahren, um sich Appetit für das Mittagessen zu machen. Sie bewegten sich wie Leute, die der Not den Rücken zukehren, frei und ohne Zwang. Um ihr Auto – wirklich hatte ich noch nirgendwo einen so prächtigen Wagen gesehn – witterte Millionärsgeruch, obwohl es nicht nach Benzin roch. Sie schimpften nicht etwa, weil wir ihnen den Weg verlegt hatten, sondern lachten freundlich und schüttelten uns die Hände. Was sie dabei sprachen, verstanden wir nicht, aber es klang angenehm. Ehe wir recht zum Bewußtsein kamen, hatten sie uns im Auto verstaut. Wir sausten los, ohne daß jemand das Steuerrad hielt, flitzten um Ecken, wichen andern ebenso feinen Kraftkutschen aus, niemand hupte. … Wir saßen steif und starr vor Angst, während die drei Herren, die uns zu dieser Spazierfahrt im Rekordtempo eingeladen hatten, 9
sorglos wie Kinder lächelten und sich nicht im geringsten darum kümmerten, daß die wild gewordene Maschine mit uns durchging. Hein stieß mich leise an und flüsterte mißtrauisch zwischen den Zähnen, ohne den Kopf zu drehn: »Dat gefällt mich nich, Korl – dat is ’n gemeingefährlicher Jux – keen Taifun schlägt mir in die Kaidaunen, aber dat Geschunkel in die Achterbahn bekömmt mich nich –« und er war blaß von Angesicht. 2 Wir fuhren durch ein Tor. Im Innenhof des Hauses schraubte sich die Straße wie ein ausgebohrtes Gewinde von Stockwerk zu Stockwerk. Dicht unterm Himmel hielten wir und durften aussteigen. Die Tennisspieler faßten uns unter die Arme, das hieß, wir sollten mit ihnen gehn. Heins Muskeln zuckten unter dem zerschlissenen Wollschwitzer. Ich riet ihm aber ab, schon jetzt handgreiflich zu werden, die Leute sähen nicht wie Bösewichter aus, auch mache eine allzu schnelle Faust am Kinn des Nachbarn keinen guten Eindruck. Da bezwang er sich. Das war zu unserm Vorteil. Wir traten in einen großen Speisesaal mit langen weißgedeckten Tafeln. Blumen waren zierlich zwischen den Tellern ausgestreut. Ich hatte Ähnliches in großen Hotels von außen durch die Fenster gesehn. Während wir den Ort musterten, rückten auf einem blanken Metallband inmitten des Tisches Schüsseln an, aus denen es dampfte. Wir sahen und hörten nichts mehr, die Welt hatte nur noch durch die Nasenlöcher Zutritt zu unserm Innern. Die Schüsseln machten vor uns halt und öffneten ihre silbrigen Deckel. Uns wurde schwach in den Knien, da saßen wir schon auf den Stühlen. 10
Es war uns anfangs genierlich, angesichts so sauber gekleideter Leute, die sich so bequem und wohlhabend in ihren Gebärden hielten, unsern Hunger zu stillen. Aber wir gewöhnten uns rasch, zumal noch einige Gerichte heranschwebten und uns niemand die Bissen in den Mund zählte. Die drei Leute im Tennisanzug freuten sich über unsern Appetit – später staunten sie. Wir schnallten an die drei oder viermal den Leibgurt nach. Endlich lehnten wir uns in die Sessel zurück und fühlten uns leiblich neu geboren. Den Rosinenkuchen ließen wir unversehrt. Wir gedachten ihn als Proviant an uns zu nehmen, aber die Gelegenheit war gegen uns, mindestens einer von den Dreien hatte immer ein Auge auf uns, wenn auch nur zufällig. Wir reckten und dehnten uns, wobei unversehens Hein seinen Dank für die reichliche Mahlzeit kurz, aber sehr heftig zum Ausdruck brachte. Wir erschraken peinlich, traten doch gerade in diesem Augenblick einige sehr schöne junge Frauen durch die Tür, denen dieses unbedachte Geräusch nicht entgangen war. Sie waren indessen nicht beleidigt, sondern lachten und vermieden es nur, unsre Nähe zu suchen, wie auch die drei Tennisspieler, ohne uns zu verjagen, heiter blieben und lediglich einige Schritte zurückwichen. Nachdem sie der Natur ihre Zeit gelassen hatten, schüttelten sie uns wie guten Freunden die Hände und gingen. Bezahlt hatten sie nicht, wir erwarteten mit einiger Besorgnis den Kellner. Statt dessen winkte uns eine von den Damen. Weil wir jedoch nicht glauben konnten, daß es uns gälte, drehten wir die Köpfe weg. Sie kam näher, berührte unsre Schultern mit ihren feinen Händen und redete sehr zutraulich. Obwohl wir es nicht verstanden, merkten wir doch, daß wir mit ihr 11
gehn sollten. Wir wußten keinen Grund, ihr diesen Wunsch zu verweigern, denn sie war sehr hübsch, nur etwas zu mager, meinte Hein. Wir folgten ihr in den Fahrstuhl, sausten abwärts, trabten durch einige gekachelte Gänge und kamen in einen weiten hellen Raum. In dem großen runden Wasserbecken inmitten der Halle schwammen und plantschten Männer und Frauen. Badehosen trug niemand, aber sie bewegten sich trotzdem ganz natürlich und waren sehr lustig. Sie spielten wie schöne Tiere, freuten sich an der Gewandtheit ihrer prächtig geformten Leiber. Scheele Blicke auf das Besondre, das wir verhüllen, als wäre es krank und böse, sah ich nicht. Es blieb uns jedoch vorerst nicht viel Gelegenheit, uns über andre zu wundern, da uns die Dame vor zwei Duschen führte und bedeutete, wir sollten uns ausziehn. Wir zierten uns aus Anstand. Sie glaubte aber, wir hätten sie nicht verstanden und fing ohne weiteres an, mir die Kleider zu lösen. Hein fand sich schneller in die Lage. »Denn man tau!« rief er, fuhr flink aus der alten Schale und ließ das Wasser über sich hinbrausen. Das Fräulein nickte ihm munter zu. Dann besah es uns vom Kopf bis zu den Füßen, als wollte es uns auswendig lernen. Hein meinte, es wäre an der Zeit, sich der Dame gefällig zu erweisen und piekte sie mit dem Finger in die Seite. Sie wich aus ohne Zorn, vielmehr wußte sie nicht, was Hein mit dieser Zärtlichkeit bekunden wollte – die Sitten in diesem Land waren eben sehr verschieden von den unsern, das zeigte sich immer deutlicher – raffte unsre alten Klamotten zusammen, winkte uns beruhigend zu und verschwand. Wir säuberten uns in Eile, während mir Hein seine Erfahrungen in gewissen japanischen Dampfbädern mitteilte. Sie ließen sich jedoch nicht ohne weiteres auf 12
die Verhältnisse übertragen, die wir hier angetroffen hatten. Vieles blieb rätselhaft. Wir trockneten uns über einem Fußbodengitter, aus dem warme Luft strömte und uns wohlig umhüllte. Die Dame kam zurück und trug weiße Wäsche auf den Armen, in die wir uns kleiden mußten, auch gab sie uns Sandalen aus weichem, weißem Gummi. Alles paßte wie auf Maß gemacht, und ich meinte, daß Heins Vermutungen bezüglich der kritischen Musterung unsrer bloßen Männlichkeit falsch gewesen wären. Er stimmte mir zögernd bei. Wir sahen jetzt aus, wie die Mannschaft einer Luxusjacht in den kurzärmligen, am Hals weit offenen Hemden aus feinem Zeug und den breiten Hosen. Hein befühlte den Stoff zwischen den Fingern und behauptete, er übertreffe die beste indische hausgewebte Bergwolle und er werde einen Ballen davon mitnehmen, wenn der Baas einen Vorschuß auf die Heuer herausrücken würde, denn wir hofften Schiffsarbeit zu finden. Indessen faßte uns das Fräulein an den Händen, als ob wir Kinder wären, und führte uns in den Hof, wo viele Autos von der gleichen Art standen wie das, mit dem wir in dieses gastliche Haus gekommen waren. Wir mußten eins besteigen, das Mädchen machte sich am Vordersitz zu schaffen, wo der Lenker zu sitzen pflegt, sprang aber in dem Augenblick, als der Wagen anzog, heraus, rief uns einen Gruß zu und entschwand unsren Blicken, weil das Fahrzeug in die Straße einbog und wie der Teufel abging. »Dat der Schofför vorn in der Blechschnauze bei ’n Motor eingesperrt is, dat is ’ne polizeiwidrige Menschenschinderei«, brummte Hein, »un dat beweist mich, dat hier wat nich stimmen kann mit die Freundlichkeit.« Ich mochte das nicht glauben, zumal der 13
Vorderkasten schmächtiger war als gewöhnlich und kaum ein Kind hätte aufnehmen können, freilich wußte auch ich keine Erklärung. Geheuer war uns nicht. Mir fielen Geschichten ein von verkapptem Sklavenhandel, die ab und zu durch die Zeitungen ziehen. Hein bestätigte meinen Verdacht: »Mit ’n strammet Essen geiht dat an und bi die Fremdenlegschon hört et af, und ick will ’n armstarkes Tauende fressen, wenn wir nich im Rekrutendepot vor Anker geihn un morgen Griffe kloppen.« Trotz des Wohlgefühls in unsren Mägen trübten sich unsre Gedanken. Am liebsten wären wir von Bord gegangen, aber die Maschine flitzte wie ein Pfeil durch die breiten Alleen. Gewaltsam aus dem Leben zu scheiden, war später immer noch Zeit. Wir tauchten in ein sehr hohes und stattliches Gebäude ein, kurvten etliche Schraubengänge empor und hielten vor einer offenen Säulenhalle, durch die man in der Ferne das Meer blauen sah. Schon trat ein Mann zu uns heran mit derselben freimütigen Höflichkeit, die uns alle andern bisher erwiesen hatten. Er sprach uns auf deutsch an. »Folgt mir, bitte«, sagte er langsam und mit fremdartigem Einschlag, »Joll möchte Euch sprechen.« Das überraschte uns so heftig, daß wir zu fragen vergaßen, auch ging er rasch vor uns her, öffnete ein Zimmer und schob uns über die Schwelle. »Ein wenig warten.« Er deutete auf die bequemen Stühle, lächelte und ließ uns allein. 3 Der Raum war nach einer Seite offen und ging wie es schien auf einen breiten Balkon hinaus. Ein mächtiger Schreibtisch in der Form eines Hufeisens beherrschte 14
die Mitte. Kleine Hebel, Drehknöpfe und matterleuchtete Glasplatten machten ihn fremd. Plötzlich sprach eine Stimme, ohne daß wir ahnten, woher sie kam. In einer der gläsernen Schreibunterlagen zeigte sich bunt der Kopf eines Mannes, neigte sich wie lauschend vor, als erwarte er eine Antwort, und zerfloß vor unsern Augen in hellen Nebel. Hein sah sich nach allen Seiten vorsichtig um und wischte mit dem Daumen über die Stelle, wo das Bild verschwunden war, es folgte jedoch nichts. »In den Südstaaten«, flüsterte er und trat mir zur Bekräftigung auf den Fuß, »haben sie elektrische Folterkammern …! … Da war old Kappy, ein Schauermann, schwarz von Angesicht, aber mit einem engelweißen Herzen … Sie brauchten aber ein Geständnis, wer die hundert Barrels Tran gestohlen hätte. Dat heißt, der Frachter hatte sie selbst auf die Seite gebracht, wegen die Versicherung, mußt du wissen. Als old Kappy aus der Zelle wieder rauskam, hatte er zeitlebens ’n schiefes Gesicht, dat linke Bein war außer Gang gesetzt un er hatte allens gestanden, wat er nicht begangen hatte. Später haben sie ihn gehangen, womit er zufrieden war, wat is ’n Docker mit ’n lahmes Bein, frag ich?« Er wurde noch leiser. »De Düwel mag wissen, wat for Hallunken uns hier in ihr Garn verwickeln. Dat schlimmste is, dat sie dir mit ’n büschen Strom windelweich machen wie ’n Schwabber, un wenn du sonst ’n Kerl bist, der mit Doppelzentnern Fangball spielt …« Er krampfte in ohnmächtiger Wut seine Fäuste. Man hatte uns bisher zuviel guten Willen bewiesen, während wir doch gewohnt waren, mit groben Nieten ans Elend gehämmert zu werden, sobald uns die Groschen in der Tasche ausgingen. Wären wir noch lange 15
uns überlassen geblieben, hätten wir vielleicht zu unsrer »Rettung« eine Dummheit ausgeheckt, denn Heins Befürchtungen hatten mich angesteckt. Zum Glück öffnete sich die Tür und der Mann trat ein, von dem, wie wir nach seiner ganzen Art merkten, unser weiteres Schicksal abhing. Er blieb dicht vor uns stehn und lugte uns scharf aus hellen, grauen Augen an. Ich glaube, wir gefielen ihm. »Du bist Seemann?« fragte er in gutem Deutsch Hein. Hein klappte die Hacken zusammen und meldete forsch für uns beide: »Hein un Korl, schiffbrüchig von der Dreimastbark Albatros, Heimathafen Hamborg …«; etwas weniger sicher fügte er bei »… uns’ Papiere sind versoffen, Herr Präsident, aber dat wir Hein und Korl sind, dat mögen Sie man gläuwen …« Der Mann vor uns schüttelte verwundert seinen mächtigen angegrauten Kopf, seine schmalen Lippen preßten sich einen Augenblick lang hart aufeinander und wir fürchteten, er werde uns in den Hackwolf hineinstoßen, der aus Menschenfleisch amtliche Dauerwurst macht. »Wir sind hier keine Hampelmänner«, sagte er halb finster, halb spöttisch, und ahmte Heins stramme Haltung nach … »um Ausweispapiere kümmern wir uns schon gar nicht, das laßt mal alles mit dem Albatros auf Grund gegangen sein!« Wahrscheinlich haben wir auf diese Rede nicht mit gescheiten Gesichtern gezeichnet, denn er lächelte und das flog uns wie eine gute Botschaft ins Herz. Deshalb mochte ich ihn nicht anschwindeln, als er mich fragte, was mich in die Fremde getrieben hätte. Er gehörte zu den Leuten, vor denen Unaufrichtigkeiten krank werden und krepieren. »Sie wollten mich auf zwei Jahre zum Tütenkleben abkommandieren«, sagte ich. 16
»Weshalb?« Die grauen Augen verhakten sich in mir, aber von dem Abscheu, den »gebildete Leute« vor einem Zuchthausaspiranten haben, merkte ich nichts. Ich faßte Mut: »Wegen revolutionärer Umtriebe, meinte der Staatsanwalt …« Der Mann schwieg lange, was er bei sich dachte, blieb uns hinter seiner hohen breiten Stirn verborgen. Endlich sprach er: »Der Sturm hat euch an die Küste der freien Arbeitergenossenschaft von Utopien geworfen. Wenn ihr klassenbewußte Proletarier seid, werdet ihr euch bei uns wohlfühlen. Mehr als irgendwo auf der Welt gilt bei uns gleiches Recht von Geburt an und solidarisches Handeln. Wir haben unser Haus nach unserm Willen gezimmert und ich denke, ihr werdet finden, daß sich darin gut wohnen läßt. Wir behaupten in unserm Land die unbeschränkte politische Macht. – Eine dünne Schicht von Geschäftemachern hat sich noch halten können, weil die letzte Revolution glaubte, ihnen Handelsvorrechte einräumen zu müssen, um uns vor Mangel zu schützen. Diese Zeiten liegen längst hinter uns, dennoch hält es die Mehrzahl von uns für eine unnötige Härte, ihren Besitz einzuziehen und meint, diese Leute würden allmählich im eignen Fett ersticken.« Seine Brauen schoben sich finster zusammen, es war deutlich, daß er diese Ansicht nicht teilte. So spann er wohl einige Sekunden lang eigene Gedanken fort, es schien, als habe er uns vergessen. Endlich besann er sich und kam uns einen Schritt entgegen. »Ihr müßt wählen: wenn ihr Lakaien bei den Geldleuten werden wollt, könnt ihr euch an einen der Gehröcke hängen, die ihr auf den Dachstraßen spazieren seht, sie brauchen jederzeit Speichellecker und Kammerdiener. Wenn ihr aber von unserm Schlage seid …« 17
Da unterbrach ihn Hein und sagte mit starker Stimme, als müßte er gegen den Wind anrufen: »Ick war schon im Mutterleib ’n organisierter Prolet, un wat de Korl is, da liegt et ooch in de Familie. Seinen Ollen hat der Bismarck ins Loch gestochen, weil er ’n roten Schlips getragen hat am 1. Mai …« Der Mann mit dem Namen Joll schüttelte uns herzlich die Hände: »Willkommen, Genossen!« 4 »Ihr müßt vor allem erst utopisch lernen«, hatte uns Joll geraten, als er uns entließ, »damit ihr euch frei bewegen könnt …« Ich habe mir das Lernen von fremden Sprachen stets als eine ungeheuer schwierige Sache vorgestellt, was wohl daher kam, daß man uns von Jugend auf eingeredet hatte, alles was über den Platz an der Maschine und die Mietkaserne hinausgehe, tauge nicht für ein Arbeiterhirn. In Wahrheit gehört nicht mehr Grips dazu, die Zunge und das Gedächtnis gelehrig zu machen, als den richtigen Ansatz von Hobel oder Feile zu begreifen. Ein tüchtiger Tischler oder Schlosser, der seinen Kram versteht, entwickelt mehr Intelligenz als der durchschnittlich »Gebildete«, der sich für einen Halbgott hält, weil er seine Rede mit fremden Wörtern schmücken kann und Kostproben von Geschichts- oder Kunstverständnis verteilt, die nach gegorenem Pflaumenmus schmecken. Damals hatte ich noch einen dunklen Respekt vor dieser Art und traute mir nicht zu, in Kürze im neuen Leben Wurzel zu schlagen. Es kam aber anders. Man führte uns in ein Zimmer, das wir für eine noble 18
Barbierstube hielten, und setzte uns in die verstellbaren Nickelstühle. »Mir hinten kurz raus!« sagte Hein und deutete auf seinen Haarschopf. Der Mann im weißen Mantel, der hier hantierte, wunderte sich und schüttelte den Kopf. »Nein«, meinte er freundlich auf deutsch, »durch die Ohren und Augen hinein …« Wir sprangen auf und wollten auskratzen, aber er beruhigte uns. »Ihr seid hier im Institut für Lehrschlaf«, erklärte er, »und lernt in der Hypnose die Grundlagen unsrer Sprache. Wenn ihr jeden Tag ein bis zwei Stunden zu mir kommt und in der Zwischenzeit euch lebhaft mit den Genossen unterhaltet, seid ihr in spätestens einer Woche perfekte Utopier.« Wir widerstrebten nicht länger, zumal die Art dieses Mannes wohlig einschläfernd auf uns wirkte. Halb liegend wurden uns Hörbügel an die Ohren geklemmt. Aus einem Schrank holte der Mann eine flache Scheibe, einer Fonografenplatte ähnlich, und steckte sie in einen Apparat. Über die Wand vor uns begannen Schriftzeichen zu laufen. Bevor wir noch recht was denken konnten, schliefen wir schon. Wir erwachten wie aus traumlosem, erfrischendem Schlummer. Einige Leute umstanden uns, ihre Rede klang nicht mehr fremd und als sie uns ansprachen und wie gute Freunde begrüßten, antworteten wir, als wäre das ganz natürlich, in ihrer Sprache und konnten ihnen für ihre Mühe danken. Ihr werdet verstehn, wie froh wir waren, nicht mehr stumm wie Stockfische zwischen vergnügten Menschen herumschwimmen zu müssen. Wir zogen los. Unsren neuen Freunden machte es Spaß, uns in ihre Welt einzuführen. Sie verwunderten sich, daß wir über Dinge staunten, die ihnen längst 19
selbstverständlich waren. Wir wiederum kamen uns wie Buschneger vor, die zum ersten Mal eine Stadt beziehen. Allein schon die Tatsache, daß sich das ganze Leben oben auf den Dachstraßen abspielte, daß es da Gartenanlagen und Spielplätze gab und Hallen mit versenkbaren Glaswänden, die bei starkem Wind oder Regenwetter nach Beheben geschlossen werden konnten, mutete uns märchenhaft und unwirklich an. Breite bequeme Liegestühle luden überall zum Sitzen ein, ohne daß ein dienstbarer Geist auftauchte und Benutzungsgebühr verlangte. Es war wie in einem schönen gepflegten Kurpark, nur daß Kranke, Gebrechliche und aufgeputzte Nichtstuer fehlten. Denn das wunderbarste an allem waren die Menschen, die sich Proletarier nannten und sich doch so frei und ungebeugt, so leicht, kraftvoll und sicher bewegten, wie es nur dem gegeben ist, der niemals mit der Not auf Leben und Tod ringen mußte. Aufrecht und wohlgebildet wie ihre Körper waren ihre Gedanken. Alle die tausend Listen und kleinen Betrügereien, die wir täglich anwenden müssen, um uns Geltung zu verschaffen und den Vorteil zu erjagen, ohne den wir von den Nachdrängenden zertrampelt werden, hatten hier keinen Sinn. Vielleicht waren sie keine »besseren« Menschen als wir, aber die Form des Zusammenlebens, die sich unter ihnen herausgebildet hatte, schloß böse Raubleidenschaften einfach aus und erzog sie zu geraden heiteren Wesen, denen nichts natürlicher war, als Hilfsbereitschaft und mitteilsame Freundschaft. Weshalb sie so sein konnten? Der ungeteilte Ertrag ihrer Arbeit floß ihrer Gemeinschaft zu, die Arbeitsenergien waren ökonomisch zusammengefaßt und in weit höherem Maße als bei uns ersetzte der Maschinen-Automat das Werk der Hand. Bis ins letzte durch20
dachte Technik und Rationalisierung bedrohte hier nicht die Existenz des Arbeiters, sondern steigerte sie. Die tägliche Arbeitspflicht betrug vier Stunden. Bei diesem ersten Spaziergang begegneten wir auch anderen Gestalten: Männern mit schwarzem Gehrock, den Zylinder auf dem Haupt, die Brust übersät mit klirrenden Orden und Medaillen. Sie schwitzten unter ihrer Würde und zeigten saure Mienen. Das waren die Geschäftemacher, von denen Joll gesprochen hatte. Kein Mensch kümmerte sich um sie, wenn sie steifgebügelt vorüberstelzten. Sie mochten wohl selbst fühlen, daß sie nur noch geduldet waren, so griesgrämig und verbissen schauten sie drein und verschluckten ihren Ärger, wenn sie vor den fröhlichen leichtgekleideten Genossen ausweichen mußten. Man nannte sie kurz: die Privaten. Wir wunderten uns, daß sie so feierliche Anzüge trugen und so schweren Klimperkram. Darüber belehrten uns lachend die Genossen. »Staatsgesetz!« erklärten sie. »Ihr wißt doch, wie sehr diese Herren an Titeln und sichtbaren Auszeichnungen hingen und sie benutzten, um sich über das »gemeine Volk« zu erheben. Wir verleihen sie ihnen noch viel bereitwilliger, als ihre Regierungen in früheren Zeiten. Nur knüpfen wir daran die Bedingung, daß sämtliche Orden und Ehrenzeichen ständig zu tragen und im Verkehr mit den Behörden alle Titel und Rang-Bezeichnungen zu nennen sind, bei Strafe der Enteignung des Besitzes. Der da drüben«, sie zeigten auf einen vorüberschnaufenden Specknacken, »schleppt zum Beispiel die dreipfündige Staatsmedaille für Klassenmord über dem Herzen und die fünfpfündige Ehrenkette für Presseschwindel mit dem Großkomturkreuz für fortgesetzte Steuersabotage um den Hals und 21
man kann begreifen, daß er sich dabei nicht besonders wohl fühlt. Wollen mal hören, wie er heißt.« Wir traten zu ihm und fragten nach seinem Namen. Er rollte fürchterlich die Augen, zog jedoch höflich den Hut und ächzte: »Graf Speck zu Klauburg, wirklicher geheimer Dividendenschlucker und Konjunkturschwindler, Staatskassenausplünderungsrat a. D. und Ehrenmitglied der Akademie der erfolgreichen Konkurskünste, zu dienen, meine Herren.« Wir bedankten uns und ließen ihn laufen. Hein kniff mich in den Arm. »Schade«, meinte er, »dat hier nich Willem seine flüchtigen Zelte aufgeschlagen hat. Ick würde ihm ’ne hundertpfundige Gasgranate mit Weltkriegsleichengestank unter die Neese hängen und ihn zum Professor für Fahnenflucht und Volksverrat ernennen.« 5 Am Abend bezogen wir ein großes luftiges Zimmer in einem der Gemeinschaftshäuser. Wir vermißten leider in unserer Wohnung die ersehnten Betten und glaubten schon, in Utopia lege man sich nachts auf den kalten Fußboden und decke sich mit seiner eigenen Haut zu. Einer unserer neuen Freunde, der unseren Kummer bemerkte, drückte lächelnd auf einen Knopf. Da schoben sich die getäfelten Wände auseinander und je ein blitzendes Metallbett klappte sich geräuschlos herunter. Ebenso kam eine Wascheinrichtung zum Vorschein, die man tagsüber verschwinden ließ. Wohn- und Schlafzimmer getrennt in einem Raum. Während wir uns auszogen und wuschen, meinte Hein, wenn das so weiter gehe, würde er in acht Tagen 22
zu faul sein, sich noch einen Hosenknopf selber zuzumachen. Er stemmte zwanzigmal den massiven Tisch, der zwischen den Fenstern stand, um sich auszuarbeiten, fiel dann in die Kissen und atmete sofort im Schlaf wie ein gewaltiger Blasebalg. Ich löschte das Licht und schaute hinaus auf das Meer. Boote mit bunten Lampen schwankten auf der glitzernden Fläche. Fröhlicher Gesang tönte herauf. Im Süden und Norden der Bucht strebten wie Lichtsäulen riesige Scheinwerferstrahlen gegen den Himmel und erleuchteten die Dunstschicht der dünnen Wolkendecke. Über dem Zentralhaus der Genossenschaft brannte eine riesige rote Fackel, deren Schein über die ganze Stadt flog. Dieses gewaltige Wahrzeichen leuchtete noch in meine Träume hinein. Am nächsten Morgen waren wir uns selbst überlassen. Nachdem wir im Lehrschlaf unsere Kenntnisse mühelos erweitert hatten, burrirrlelten wir durch die Hafenanlagen, die Hein fachmännisch und höchst anerkennend beurteilte. »Dat is allens wunderscheun«, meinte er, »aber wat fehlt, dat sind lütte Kneipen, wo man sich von ’t Zukieken erholen kann.« Als wir einigen schmucken Mädels begegneten, lud er sie zu einem kleinen Amüsemang ein, aber sie lachten bloß und gingen weiter. Er kaute kräftige Worte zwischen den Zähnen, die zum Glück niemand verstand. Seine Laune war überhaupt nicht die beste. »Wir hatten im Genossenschaftshaus um Arbeit angesprochen. Das hat Zeit, Jungens, hatte man uns gesagt, ruht euch aus, schaut euch im Land um. Die Genossenschaft sorgt für alles, was ihr braucht. Ihr könnt auch Privatgeld kriegen, wenn ihr mal den Pfeffersäcken 23
einen Besuch abstatten wollt. Nur bitten wir euch, ihre Schnapsdestillen zu meiden … Werdet schon selbst darauf kommen, daß man den Goldonkels am besten aus dem Wege bleibt, sie gehören in eine andere Welt, die uns nichts angeht.« Hein hatte draußen gebrummt, umsonst, auf Staatskosten lebten nur die feinen Leute, er würde lieber ’ne tüchtige Heuer verdienen und alles mit einem Mal auf den Kopp hau’n und so was wie St. Pauli hätte er hier noch nicht bemerkt und Vorschriften ließe er sich schon gar nicht machen. Wir hatten uns deshalb ein bißchen verzankt. So gingen wir nebeneinander her, ohne eben viel zu reden, und kamen in ein anderes Stadtviertel, das unregelmäßig gebaut und europäisch war. Ich wollte umkehren, hier begann die Siedlung der Privaten, und das kannte ich. Aber Hein pfiff sich eins und wurde munter. Vor einem niedrigen Laden, durch dessen Scheiben ein Bartisch mit Flaschen in allen Formen und Farben schimmerte, blieb er wie hypnotisiert stehn. Ich ahnte das Verhängnis. Weder gute noch böse Worte halfen. Hein schob mich energisch beiseite, stieß die Tür auf, trat wuchtig ein und forderte einen »Drink«. Der Bürger hinter dem Bartisch verstand nicht und geriet sichtlich in Verlegenheit. Kurz entschlossen ergriff Hein eine der Flaschen und tat einen kräftigen, prüfenden Schluck. »Gut!« sagte er zufrieden und trank weiter. Der Bürger erhob Zetergeschrei. Von der Straße liefen Genossen und Private herbei. Die Arbeiter waren starr vor Staunen, dann versuchte einer Hein die Flasche vom Mund zu reißen. Ha, da kam Leben in die Bude. Hein begann sich wohlzufühlen. Er zerschmiß mit 24
der leeren Bottel ein Fenster, streifte sich im Nu die Ärmel auf und ging wie ein wütender Bulle auf die Leute los. Er boxte, als wollte er die Weltmeisterschaft gewinnen. Stühle flogen, Haarbüschel sausten durch die Finger. Einige Gehröcke wurden verstaucht. Ordenssterne klirrten über den Boden. Allein die Männer von Utopia waren stärker, als der brave Hein gerechnet hatte, und bald lag er reglos in der Schraube von acht festen Fäusten. Jetzt stecken sie uns ins Loch, dachte ich. Der schöne Traum hat ein Ende. Sie schleppten Hein, der nur mit den Augen gefährlich rollen konnte, in die Zentrale. Ein älterer Genosse hörte ihren Bericht. Hein, jetzt freigegeben, stand halb trotzig, halb verlegen vor ihm. Der Utopier schaute ihn lange ruhig an, sagte dann: »Armer Kerl, du hast deinen Lebtag noch nie eine sorgenlose Stunde gehabt, kannst mit dir selber nicht umgehen, wenn dich mal keiner hetzt, mußt die Freiheit des Proletariers erst lernen.« Hein senkte beschämt den Kopf. »Willst du mit den Fischern auf See?« »Topp«, sagte Hein und schüttelte dem Alten kräftig die Hand, »’n Kerl wie ich taugt nicht zum Spazierengehn.« Die Genossen lächelten. 6 Hein hatte nun seinen Dienst, blieb tagelang auf See. Wenn er zurückkam, brachte er frische Salzluft und gute Laune mit. Seine Kameraden gefielen ihm, waren derbe, fröhliche Gesellen. Er vergaß seine Rauflust, packte nur zu, wenn es praktische Arbeit galt. Ich dagegen beherzigte den Rat der Genossen, mir 25
die Einrichtungen ihres Landes anzuschauen, bevor ich eine Tätigkeit wählen wollte. Zunächst fuhr ich hinaus in die Kindersiedlung. Sie umfaßte einen gewaltigen Landkomplex. Die Gebäude, nur einstöckig, rings von breiten überdachten Terrassen umlaufen, lagen weit verstreut im Park- und Wiesengelände. In jedem Haus waren ungefähr hundert Buben und Mädel untergebracht. Im ersten Stock lagen die luftigen Schlafsäle und Wohnräume, im Erdgeschoß die Werkstätten, Schulräume, ein Weiheraum. Elektrische Küche, Speicher, Wasch- und Baderäume im Keller. Solange es das Wetter einigermaßen erlaubte, spielte sich alles Leben im Freien ab. In den schwülen Sommernächten zog die ganze Kolonie mit Hängematten in die benachbarten Wälder und schlief dort. Ich wanderte von Haus zu Haus und merkte kaum, wie der Tag verging. Gegen Abend kam ich auf eine sanfte Anhöhe. Die Vorsteherin des weißen Hauses, das dort zwischen immergrünen Bäumen wie auf einer Insel lag, bewillkommnete mich herzlich. Sie war ein schönes Mädchen von etwa 24 Jahren. Wir setzten uns vor die Terrasse auf eine Bank und genossen den Ausblick auf das ferne Meer, über das die letzten Strahlen der Sonne liefen. Vor uns, auf den Wiesen, tollten die Buben und Mädel nackt und unbekümmert. Sie kamen zu uns heraufgesprungen und baten uns, ein Fangespiel mitzumachen. Ich kratzte mich bedenklich hinterm Ohr. Aber schon war die Genossin aufgestanden, hatte ihren Rock abgestreift, gab mir lachend einen Klaps auf die Schulter und lief davon. Ich erinnerte mich plötzlich, vor 20 Jahren ein be26
rühmter Indianerhäuptling gewesen zu sein, wofür mir mein Vater häufig genug die Hosen straffgezogen hatte. Mit echtem Siouxgeheul sprang ich auf und setzte der hellen, schlanken Gestalt nach. Die Kinder rannten mit, schrien und feuerten uns an. Leider sah ich bald ein, daß der große Häuptling seine Künste überschätzt hatte. Die schöne Verfolgte neckte mich, versteckte sich hinter Bäumen, schlug die gefährlichsten Haken, entwischte immer wieder wie der Wind. Schließlich, als ich wie ein gefoppter Jagdhund japste, ließ sie sich freiwillig fangen. Die Kinder jubelten und verspotteten meinen kurzen Atem. Inzwischen waren die Sterne aufgegangen und ich dachte mit Wehmut an den weiten Rückmarsch. Die Genossin rief die Kinder zusammen und sprach mit ihnen: »Wollen wir dem Genossen Karl« – sie hatte sich meinen fremdländischen Namen gut gemerkt – »Asylrecht gewähren?« »Ja«, schrien alle, »er soll bei uns bleiben und uns morgen von den Genossen in Europa erzählen!« Ein Fünfzehnjähriger, der wohl die Hausverwaltung führte, trat vor und meinte sachlich: »Wir haben in den Schlafsälen alle Betten belegt, du mußt Karl mit in dein Zimmer nehmen, Genossin.« Sie nickte zustimmend. »Gewiß, das zweite Bett bei mir steht frei, komm!« Mir wurde heiß und kalt und ich wäre plötzlich herzlich gerne nach der Stadt zurückgetrabt. Aber weshalb denn? Ich gab mir einen Ruck. Endlich frei werden von der Schamlosigkeit, den Körper wie ein aussätziges Geschwür zu verbergen. Endlich sich seiner wohlgeratenen Glieder freuen dürfen. Erst hier spürte ich, wie weit ich schon vermuckert war. Ich schlug freudig ein und gelobte mir im stillen, 27
den ganzen Plunder einer verlogenen Unmoral gründlich zu vergessen. Wir gingen in das Haus. Lange Tische wurden auf die Terrassen herausgeschoben, dort aßen wir. Lieder wurden gesungen. Zart girrende Instrumente summten in die Nacht hinaus. Von einem Nachbarhaus kamen Burschen und Mädel zu Besuch. Sie hatten in ihrer Werkstatt in monatelanger Arbeit eine Verbesserung an der automatischen Weichenstellung herausgetüftelt und berichteten nun voller Erfinderstolz von den Vorzügen ihres Systems. Die Debatte wurde von unseren Jungens sachkundig geführt. Als man sich in einigen technischen Fragen an mich wandte, konnte ich leider nur mit den Schultern zucken. Ich war froh, als meine Zimmerkameradin die Sitzung aufhob. Lange lag ich wach und lauschte auf die ruhigen, tiefen Atemzüge der Schläferin neben mir. »Jana« war sie von den Kindern gerufen worden. »Jana – Jana« flüsterte ich vor mich hin. Und ich pries unseren Schiffbruch als ein glückliches Verhängnis. 7 Ich blieb etliche Tage in der Kindersiedlung. Wir durchstreiften gemeinsam den riesigen Park, badeten im Meer, trieben Laufsport am Strand, kletterten im Felsgebiet der Berge. Häufig übernachteten wir im Freien und ließen uns von dem nächstgelegenen Siedlungshaus verpflegen. Unsere schöne Führerin und Kameradin wuchs mir immer mehr ans Herz. Da ich ihr offenbar auch nicht 28
gleichgültig war, wälzte ich schüchterne Heiratsgedanken, wagte mich aber nicht damit heraus. Die Utopier dachten in allen Stücken anders als wir. Ich wollte nicht ausgelacht werden. Zum Glück fehlte es nicht an Ablenkung. Die Jugendgenossen fragten mir die Seele aus dem Leib. Sie wollten von mir, als Augenzeugen, bis in die geringsten Kleinigkeiten wissen, wie es jenseits von Utopien in der Welt aussehe. Besonders ausgiebig mußte ich vom großen Weltkrieg erzählen. Des Staunens und Wunderns war kein Ende. Vor allem wollten sie nicht glauben, daß die Proletarier der verschiedenen Nationen, die sich der Internationale zugelobt hatten, einander als Feinde totgeschossen und -gestochen hatten. »Wie dumm, wie dumm!« schrie ein zehnjähriger Knirps und schlug einen Purzelbaum auf der Wiese. »Wie dumm!« riefen die anderen im Chor und schüttelten verwundert die Köpfe. Ich antwortete verärgert, man dürfe den gewaltsamen Tod von Millionen Menschenbrüdern nicht mit so leichtfertigen Worten abtun. Jana fiel mir in die Rede: »Warum nicht?« sagte sie. »Die Genossen in Europa und Amerika kannten die Verlogenheit der kapitalistischen Presse und ließen sich doch von ihr zum Massenmord begeistern. Sie wußten, daß die Herstellung von Granaten, Minen, Gasen durch einen Weltrüstungsstreik augenblicklich hätte unterbunden werden können, streikten aber nicht. Wir nennen dergleichen dumm und haben kein Mitleid mit Leuten, die durch ihre eigene Torheit umkommen.« Ich versuchte, nun wenigstens durch den Veitstanz der Milliarden und Billionen aus der Inflationszeit meinen Zuhörern zu imponieren. Da kam ich aber schön an. 29
»Kennen wir!« riefen sie durcheinander und forderten lachend Jana auf, mir die Geschichte von Ludo Stinkes zu erzählen. »Ludo Stinkes«, hub sie an, »war Besitzer von Bergwerken, großen Industrie Werkstätten und der einflußreichste Bankier von Utopia. Sein Lieblingsplan war, das ganze Verkehrsnetz des Landes, Eisenbahnen und Schiffahrt, in seine Hände zu bekommen. So gewaltig nun aber auch seine Mittel waren, wußte er doch, daß sie nicht ausreichten, den großen Nationalbesitz an sich zu bringen. Er entwertete daher durch viele Kniffe und bestochene Politiker das Geld, ramschte zusammen, was erreichbar war, und bezahlte mit wertlosen Scheinen. Die Arbeitergenossenschaft, der es bis dahin nicht viel besser gegangen war als bei euch, erkannte den günstigen Augenblick. Sie ließ sofort ihre sämtlichen Druckmaschinen Banknoten drucken. Tag und Nacht. Wochenlang konnten die Zeitungen nicht erscheinen. Durch zuverlässige Mittelsmänner, die sich den Anschein von zunftmäßigen Kapitalisten gaben, kaufte sie alle Wasserkräfte des Landes und die ganze Meeresküste an. In den größten Werkzeugfabriken wurden Streiks provoziert und scheinbare Zerstörungen angerichtet. Die Aktien fielen gewaltig, und wir kauften die Mehrheit für einen Pappenstiel. Im Höhepunkt der Bewegung wurde plötzlich Generalstreik der Eisenbahner verkündet und am gleichen Tage entwaffnete das gesamte Proletariat die Polizeitruppe. Die sofort gebildete Arbeiter-Regierung übernahm den Schutz der Nationalgüter und erklärte die bisherige Verwaltung für unmündig. Die Spitzen der alten Behörden wurden, soweit sie sich widerspenstig zeigten, als unartige Kinder in Erziehungsheime geschickt, wo 30
sie praktischen Unterricht in Gemeinschaftsarbeit erhielten. Es war eine rechte Freude, den Herren Sekretären, Räten und Anwälten des Unrechts zuzusehen, wenn sie im Takte Straßen pflasterten oder unter kräftigem »Zugleich!« Balken trimmten. Die Genossenschaft aber war im Besitz der Produktionskräfte. Wir bauten die ungeheuren Fernkraftwerke, die die Gewalt des Meeres und der Ströme in Elektrizität umsetzten, und haben das Monopol der Energie. Stinkes floh auf seiner Jacht noch rechtzeitig nach Europa, in der Hoffnung, dort Dümmere als uns zu finden.« »Das walte Gott!« vollendete ich nachdenklich. Ich beteiligte mich am Unterricht, hatte aber wenig Gewinn davon, weil mir alle Unterlagen fehlten. Selbst wenn ich, wie es bei den Kindern geschah, im Lehrschlaf die Grundelemente gelernt hätte, so fielen doch alle Zwischenglieder aus, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern, die einen breiten Raum einnahmen. Überhaupt wunderte ich mich, daß die Jungens und Mädels geradezu eine Leidenschaft für Mathematik entwickelten. Von dieser hatte ich bisher meine eigene Ansicht. Als ich ein halbwüchsiger Bursche war, kam manchmal der Hermann von Doktors aus dem ersten Stock zu uns runter in die Kellerwohnung. Ich mußte ihm auf Vaters Hobelbank ein Gestell für seine Steinsammlung oder was ähnliches zusammenpfuschen. Er saß dann neben mir, paßte auf, wie ich Vaters Hobel stumpf schob, und schimpfte sich mal gehörig aus. »Was du auf dem Gymnasium lernst, Karl«, belehrte er mich mit fuchtelnden Armen, »das ist alles Quatsch. Vater sagt’s auch. Aber wenn du mal ’n Rechtsanwalt 31
werden willst, so wie mein Alter einer ist, da mußt du dich eben durchpauken. Mit den Sprachen … na ja, das gehört eben zur Bildung, weißt du, damit kannste Eindruck schinden. Aber die Mathese, das ist der größte Bockmist, den es auf der Welt gibt.« Er kritzelte mir mit dem breiten Zimmermannsblei allerlei Buchstaben, Klammern und spitze Tüten auf ein frisch abgezogenes Brettchen und fragte mich, ob ich mir was dabei denken könne? Ich gab ihm recht. »Klar, Hermann, das ist Bockmist«, sagte ich aus innerster Überzeugung und freute mich, daß ihn diese deutliche Zustimmung tröstete. Der Genosse Ingenieur, der wöchentlich einige Male in die Jugendsiedlung kam, um die theoretischpraktischen Diskussionen zu leiten, belehrte mich eines anderen. »Von den praktischen Forderungen der Technik her«, sagte er, »die jeden von uns beschäftigen, weil sie ein Element unserer Freiheit sind, dringen wir zu den Grundbegriffen der Chemie und Physik vor. Dazu gehört vor allem Mathematik. Sie stellt die Verbindung dort wieder her, wo unvollkommene Einsicht das Naturwirken in zwei Hälften geteilt hat. Hast du einmal durchdacht, Karl, wie wichtig es für die Arbeiterschaft ist, die Technik unseres Zeitalters mit allen, auch den theoretischen Voraussetzungen, zu beherrschen? Sie ist das Nervensystem des Gemeinschaftskörpers. Durch sie leben wir alle in der gleichen Gegenwart. Bei euch aber leben die Menschen nur äußerlich im gleichen Augenblick. Ihr Denken spaltet sie in viele Jahrhunderte. Leibeigenschaft, Gespensterfurcht und Aberglaube verdunkeln noch viele Köpfe, Raffgier, Herrschsucht und Landsknechtsroheit nehmen andere für gutes Recht. Gewiß finden sich auch 32
freiere Geister, die über den persönlichen Vorteil hinausdenken. Die halten sich dann für einzigartig, einsam und gehen an der Hochmutskrankheit zugrunde. Selbst in der organisierten Arbeiterschaft sind genug, die sich für viel gescheiter halten als die anderen und nur so tun, als wollten sie sich’s nicht merken lassen. Wenn ein solcher Führer wird, nicht wahr, ist er auch schon ein kleiner Alleinherrscher, der Respekt und guten Glauben verlangt. … Der gute Glaube ist der Tod des Sozialismus, so hat uns Joll gelehrt. Wie die Erde und die Welt eingerichtet ist, welche Kräfte sie uns schenkt, damit der Körper nicht mehr ermüden muß, wo ihn die Maschine ersetzen kann, das geht jeden von uns an. Wir lernen es in unseren Jugendgemeinschaften fast im Spiel.« »Ihr lernt es, weil niemand euch dazu zwingt«, sagte ich. Mir war, als spiegelten sich in dem klaren Gesicht des Mannes eigene Gedanken, zu denen ich früher keinen Mut gehabt hatte. Jana, die zugehört hatte, sprach sie für mich aus: »Die Freiheit, die alle bindet, duldet keinen Zwang, da hast du recht. Aber jeder, der in ihr aufwächst, will ihren Raum erweitern und dient so dem Gemeinsamen.« Mit Jana kam ich in diesen Tagen nicht über herzliche Kameradschaft hinaus. Ich wagte nicht, ein ernstes Wort zu sprechen, denn ich fühlte, daß meine Begriffe vom Zusammenleben – auch in der Liebe – wahrscheinlich immer noch zu europäisch waren, um recht verstanden zu werden. 8 Ich ertrug die stille Reinheit des Kinderparadieses nicht langer und zog wieder in die Stadt zurück, in der 33
Absicht, meinen Liebeskummer in Vergnügungen oder Arbeit zu ersticken. Im Quartier traf ich Hein, der einige Tage Urlaub hatte, denn der Bedarf an Fischen war gedeckt und man fing nicht mehr, als man brauchte. Der große Kerl fiel mir um den Hals und freute sich mächtig, mich wiederzusehen. Er merkte gleich, daß bei mir etwas nicht stimmte. Ich verschwieg ihm mannhaft mein Leid und ärgerte mich, als er ahnungsvoll durch die Zähne pfiff. »Mensch, du hängst ja die Flügel wie ’n angeschossener Enterich«, meinte er. »Komm, heute abend wollen wir mal ’n ordentliches Ding drehn. Soll doch mit ’m Deibel zugehen, wenn’s hier nich so was wie St. Pauli und die Reeperbahn gibt. Erst fallen wir mal in ’n Kientopp rin. Ich hab ’ne mächtige Sehnsucht nach ’m Drama mit ’ner Portion Liebe drin …« Na schon. Ein Wort für Kino hatten wir nicht gelernt. Wir erklärten also mühsam einem Genossen, was wir suchten. Richtig, so was hatte es früher gegeben, vor dreißig oder mehr Jahren. »Jetzt machen wir das anders«, sagte er stolz und führte uns in eine gewaltige Arena, in der schon Tausende von Menschen in bequemen Sesseln warteten. Der Raum war gegen den Nachthimmel offen, konnte aber im Winter oder bei Regen durch riesige Faltwände, die jetzt unterirdisch versenkt waren, geschlossen werden. Die Lampen verlöschten. Dafür erstrahlte die leere Mitte des Raumes in Tageshelle. Gewaltige Eisenkonstruktionen und Maschinen fügten sich zur Fabrikhalle, in der sich plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, Menschen bewegten und sprachen. Obwohl wir ziemlich am Rand des Theaters saßen, verstanden wir jedes Wort, ohne daß die Spieler sich anzustrengen schienen. 34
»Das müssen ja Riesenkerle sein«, sagte Hein. »Wir sitzen unsere dreißig Meter von ihnen weg, dabei sind sie so groß, als stünden sie neben uns.« Er grübelte jedoch nicht lange nach und war ganz Spannung. Mein Nachbar erklärte mir leise, das Ganze beruhe auf einer plastischen Lichtspiegelung. Die Vorstellung gehe soeben 1000 Kilometer von hier in der Hauptstadt Utopolis vor sich und werde drahtlos an alle Theater Utopiens telegraphiert. Ebenso würden die Worte übertragen und durch Lautsprecher über den ganzen Raum in natürlichem Redeton verbreitet. Die Übertragung war in Farbe und Ton so vollkommen, daß ich geschworen hätte, lebendige Menschen vor mir zu sehen. Das Stück selbst gab einen Ausschnitt aus der revolutionären Geschichte der Arbeiter-Genossenschaft. Schauplatz des Spiels war ein Eisenwalzwerk. Rotglühende Eisenblöcke werden von schweißtriefenden Männern auf niedrigen Karren an die Walzen herangebracht. »Wie sich die armen Hunde damals schinden mußten«, sagte eine Genossin vor mir. Der Unternehmer im weißen Sommeranzug steht dabei und schimpft über die Saumseligkeit der Arbeiter. Einer der Schmiede tritt auf den Unternehmer zu, während die anderen sich auf die langen Greifzangen stützen, und bittet ihn um eine Lohnzulage. Es sei unmöglich, mehr zu leisten, wenn man kaum den größten Hunger stillen könne. Der Unternehmer brüllt den Mann an, er sei entlassen, er dulde keine Aufwiegler. … Der mächtige Schmied tut einen Schritt gegen den zornroten Mann in der weißen Kapitänsmütze, nicht 35
drohend, sondern als wolle er eindringlicher seine Forderung begründen. Der Unternehmer schlägt ihm die Faust ins Gesicht, reißt zwei Revolver aus den Taschen und kreischt: »Hände hoch!« Der Getroffene taumelt rückwärts, rutscht und stürzt auf den glühenden Eisenblock, der ihn gräßlich verbrennt. Die Kameraden müssen seiner grausamen Qual mit erhobenen Händen untätig zusehen, denn zwei Feuerrohre drohen zwölffachen Tod. »Dieser Schmied war ein Vorfahre von Joll«, belehrte mich mein Nachbar. Leidenschaftliche Streikversammlungen folgen. Kämpfe gegen das Militär, das die Eisenwerke besetzt hält, fordern Proletarierblut. Die Villa des Unternehmers geht in Flammen auf. Ein Teil des Militärs tritt auf die Seite der Revolutionäre. Der Kampf ist gewonnen. Über den gewaltigen Eisenhallen des Werkes flattert im Sturm die riesige rote Fahne. Die Zuschauer jubelten ihr zu, sprangen von ihren Sitzen, und brausend erscholl im Massengesang die Internationale. Nach einer Pause kam »Das Leben in der alten Welt«. Der Genosse neben mir erklärte, daß als Frachtdampfer maskierte Schiffe der Utopier ständig unterwegs waren, um mit feinsten Aufnahmeapparaten die Vorgänge auf den alten Kontinenten zu kontrollieren und als Anschauungsunterricht nach Utopien zu telegraphieren. Plötzlich erschien in leibhaftiger Große im schönsten Sonnenschein die Einfahrt in den Hamburger Hafen. Langsam näherten wir uns den Landungsbrücken. Hein war aufgesprungen und röchelte, keines Wortes mächtig, wie ein verwundeter Stier. Da war ja auch seine geliebte Reeperbahn. Matrosen 36
schlenderten, ihre Mädchen am Arm, und verschwanden in den kleinen Kellerkneipen. Um die Ecke eines Seitengäßchens bog ein hübsches, dralles, aufgeputztes Frauenzimmer. Da krachte unter Heins Fäusten die Barriere zusammen. Er brüllte: »Hallo, Kathrin! Hier ist Hein!« Sie kehrte sich nicht an den Zuruf, winkte sich einen Heizer, der an der Laterne lehnte, heran und drückte sich an seine Schulter. In Heins Faust sah ich plötzlich ein Messer blitzen. Wie besessen schreiend, sprang, flog er über die Sitzreihen hinunter zur Mitte, stach nach den schimmernden Lichtschemen, schlug um sich und brach ohnmächtig zusammen. Man trug den Bewußtlosen hinaus. 9 Das Erlebnis in der Lichtspiel-Arena hatte Heins Gemüt umdüstert. Er stellte tiefsinnige Betrachtungen über die Treulosigkeit der Weiber an und schwur seinem Nebenbuhler fürchterliche Rache. Überhaupt fühlte er sich seit dieser Sache nicht mehr recht geheuer in Utopien. Er verwirrte Schein und Wirklichkeit, und das Wesen jener großartigen technischen Fata morgana wollte ihm nicht einleuchten. Wir machten einen Spaziergang am Strand in der Gegend, wo wir uns als Schiffbrüchige gefunden hatten. Hein seufzte, daß sich die kleinen Strandpfützen kräuselten, und wünschte sich, mit den versunkenen Kameraden als Seegespenst in der Kajüte des Wracks »Meine Tante – deine Tante« zu spielen. Über solchen Gesprächen wären wir beinahe über einen Körper gestolpert, der, halb in den Sand eingegraben, vor uns lag. Ein hübsches Köpfchen hob sich 37
und blickte uns mit schlaftrunkenen Augen an. Dann kam Leben in die Gestalt. Sie sprang elastisch auf. Eine junge Frau in paradiesischer Unschuld. Ihre Körperformen waren Heins ungetreuer Kathrin nicht unähnlich. Hein riß die Augen auf, sprang drei Schritt zurück, wehrte sich mit grotesken Handbewegungen gegen die Erscheinung und schrie: »Wieder so ’n verdammter Licht- und Luftquark!« Die junge Frau und ich mußten herzlich über sein Entsetzen lachen. Das wirkte offenbar so natürlich, daß der arme Teufel wieder Mut gewann, sich langsam näher schlich und mit zwei Fingern die Schultern der Schönen berührte, noch in Furcht, ins gespenstische Nichts zu greifen. Das war nicht der Fall. Hein begann aufzutauen und grinste sachkundig. Ohne Zweifel, das war Fleisch und Blut. Er überzeugte sich umständlich von dieser Tatsache, und die Frau lachte noch immer mit einem dunklen Schimmer in der Stimme. Die Sonne brannte heiß und aus den nahen Gärten duftete es stark herüber. Hein winkte mir hinter seinem Rücken einen dringlichen Abschied und sagte so obenhin: »Ich komme vielleicht erst morgen nach Hause, ängstige dich nicht, mein Junge.« Nun, ich ängstigte mich keineswegs, machte einen Kratzfuß, der leider nicht bemerkt wurde, und ging, mir eins pfeifend, langsam in die Stadt zurück. Die Sache mit den geheimnisvoll von selbst lenkenden Autos fiel mir wieder ein, als ich einige leer an einem Parkplatz stehen sah. Ich wußte, daß sie der Arbeitergenossenschaft gehörten und daß jeder sie nach Belieben benutzen durfte. Aber wie man mit ihnen umgehen 38
mußte, davon hatte ich keine Ahnung. Ich bestieg eins und besah mir den Mechanismus. An Stelle des Lenkrads fand ich eine Metallplatte, in die sehr fein und deutlich der Stadtplan eingeätzt war. Darüber einen nadelscharfen Zeiger. Kaum hatte ich diesen ein wenig verschoben, fuhr der Wagen an und jagte durch Straßen, die ich noch nicht kannte. Ebenso plötzlich hielt er. Ich erholte mich von meinem Schrecken und begriff, daß die Nadelspitze den Ort auf der Karte bezeichnete, an dem ich mich jetzt befand. Ich rückte sie an einen Punkt der Hafengegend, schon rollten wir und bogen nach wenig Minuten in die Seepromenade ein. Die Sache machte mir großen Spaß. Den ganzen Nachmittag fuhr ich kreuz und quer und war glücklich wie ein Junge, der ein großartiges Spielzeug gefunden hat. Das Wunderbarste daran war, daß der Wagen anderen Fahrzeugen auswich, vor belebten Kreuzungen plötzlich Halt machte, andere Autos passieren ließ und sich so benahm, als hätte er sämtliche nur denkbare Verkehrsvorschriften auswendig gelernt. Abends im Quartier fragte ich meinen Nachbarn. »Das ist doch ganz einfach!« erklärte er. »Jeder Wagen hat vorn ein kleines Prismenauge, das auf lichtempfindliche elektrische Zellen wirkt. Auch an den Straßenecken kannst du diese elektrischen Augen sehen, sie sind unauffällig in die Hauswände eingelassen. Das sind gewissermaßen die Verkehrspolizisten. Durch wechselnde Spiegelreflexe regulieren diese mechanischen Augen Geschwindigkeiten und Lenkung.« Er würzte seine Erklärung mit fremdklingenden Fachausdrücken, die ich nicht verstand. Jedenfalls schien mir diese Einrichtung zwar einfach in der Wirkung, aber höchst kompliziert und geistreich in der Erfindung. »Außerhalb der Stadt kannst du natürlich die me39
chanische Zieleinstellung nicht brauchen. Du mußt dann die Metallplatte herunterklappen und wie in alten Zeiten das Lenkrad zur Hand nehmen. Aber«, so schloß er geringschätzig, »wer fährt schon heutzutage über Land … man fliegt, das ist doch viel bequemer.« 10 Der erstaunlichen Höhe der Technik angemessen, erwartete ich in Utopien gesteigerte Rekordsucht der Menschen. Ein Genosse, den ich hierüber befragte, belehrte mich anders. Bei einer Lichtbildvorführung aus der »alten Welt« sahen wir einem Automobilrennen an der Küste von Florida zu. Am Ziel erschien plötzlich ein Riesenplakat mit der Nachricht, daß der Wagen Nr. 26 den Stunden-Weltrekord um 17,365 Kilometer verbessert habe. Die amerikanischen Zuschauer gebärdeten sich wie rasend, warfen die Arme in die Luft, sangen Hymnen, brüllten ihre Cheers. Die Lautsprecher heulten wie Schiffssirenen. Ich gestehe, daß die Begeisterung auch mich mitriß. Ich vergaß, eine farbenprächtige Spiegelung vor mir zu haben, fuchtelte mit den Armen und beneidete die Männer, die den Sieger auf ihren Armen durch die tosende Menge tragen durften. Da merkte ich plötzlich, daß meine Nachbarn um mich herum über mich lachten. Ich besann mich auf die Wirklichkeit, setzte mich beschämt in meinen Sessel und bemerkte nun, daß dieses Ereignis, welches in Amerika die Volksleidenschaft entfesselte, auf die Utopier gar keinen Eindruck gemacht hatte. Mein Nebenmann zur Linken las mir die Gedanken vom erstaunten Gesicht ab. »Diesen Rummel«, sagte er, »haben wir längst hin40
ter uns. So lange man Maschinen auf gut Glück baut und sich von ihren Leistungen überraschen läßt, mag es Sinn haben, sie zum Wettkampf zu stellen. Sie werden ebenso überzüchtet wie Rennpferde oder Rekordläufer. All dies gehört zum Luxus des kapitalistischen Zeitalters. Reklame, käufliche Sensation, im Hintergrund strahlt in Glorie die Fabrikmarke … In der klassenlosen Gesellschaft, die wir nahezu erreicht haben, vergeudet man natürlich keine Mittel für einmalige Leistungen, die den Ehrgeiz eines einzelnen befriedigen. Unsere Werkstätten verlassen nur hochwertige Gebrauchstypen, die nicht für den Konkurrenzkampf frisiert zu werden brauchen. Ebenso haben wir keine Freude daran, Menschen in ein mechanisches Training hineinzuhetzen, das sie befähigt, um den Bruchteil von Sekunden schneller ein Ziel zu erreichen als andere, die ihre Zeit noch für andere Zwecke nutzen. Daher ist bei uns der ›Professional‹ als Sportsmann längst ausgestorben.« Ich wandte ein, daß ein Leben ohne Sensationen, ohne die spielerische Freude am Zufall auf die Dauer unerträglich langweilig werden müßte. Der Utopier gab das ohne weiteres zu. »Du wirst bereits festgestellt haben«, meinte er, »daß in unserer Presse Sport und Spiel einen wesentlichen Raum einnehmen. Nur beurteilen wir diese Leistungen anders als ihr.« Wir besuchten am nächsten Tag ein Wettspiel, das unserem Fußball ähnlich ist. Die Tribünen waren zum Brechen voll besetzt, der leidenschaftliche Anteil der Zuschauer gewaltig. Freilich gab es häufig Beifall, wo ich nichts Besonderes bemerkt hatte, während man kalt blieb, wenn meiner Meinung nach ein tüchtiger Effekt erzielt worden war. Allmählich kam ich dahinter, daß man sich nur für die vollendete Schönheit der körperli41
chen Bewegung interessierte und jede Gewaltsamkeit, die zur Verzerrung der Gebärde führte, verabscheute. Man forderte vom Zusammenspiel jeder Mannschaft äußerste Disziplin, man wollte das geistige Element einer Gemeinschaftswirkung spüren. So erschien das Ganze mehr wie ein Tanz in freien Rhythmen, die von den Kombinationen des Spiels bestimmt wurden, als eine Rekordhetze nach Punkten. Die Wertung der Spieler geschah entsprechend. Es war durchaus möglich, daß einer Mannschaft, die im einzelnen wie im ganzen diesen Ansprüchen genügt hatte, der Sieg zugesprochen wurde, auch wenn sie weniger »Tore geschossen« hatte als die andere. Nach dem Spiel projizierten lichtplastische Scheinwerfer einzelne Teile des Kampfes noch einmal im Zeitlupenstil, damit die Preisrichter vor jedem Irrtum geschützt wären. Jede krampfhaft fanatisierte Geste bekam einen Strafpunkt und wurde ausgezischt, während besonders schöne Bewegungen, die volle Harmonie zwischen seelischer Spannung und körperlichem Ausdruck bewiesen, durch lebhaften Beifall ausgezeichnet wurden. Ich dachte an die beliebten Photographien unserer Rekordleute im Endspurt, die mehr dämonische Fratzen als menschliche Antlitze zeigen, und ging nachdenklich nach Hause. 11 Am nächsten Morgen weckte mich eine unangenehme Nachricht. Eine Stimme rief mich durch den Lautsprecher in unserem Quartier an und sagte, mein Freund Hein müsse sich soeben vor dem Volksgericht verantworten und wünsche meine Gegenwart. 42
Was, zum Teufel, mochte der rabiate Kerl wieder angestellt haben? Ich eilte in das bezeichnete Gebäude. An den Seiten einer langen Tafel saßen je sechs Genossen. Ein dreizehnter hatte am oberen Ende den Vorsitz. Hein, als Angeklagter, saß an der Schmalseite des Tisches gegenüber. Er sprang erleichtert auf, als er mich erblickte, drückte mir die Hand, daß die Knochen knackten, und raunte mir auf Deutsch zu: »Mensch, die haben ’n kompletten Vogel.« Ich rückte mir einen Stuhl neben ihn. Der Vorsitzende Genosse begann sogleich, mich zu belehren. »Genosse Hein«, sagte er ernst, »hat gegen das oberste Gesetz der freien Arbeitergenossenschaft Utopiens verstoßen …« »Quatsch nich, Krause«, murmelte Hein, nur mir verständlich. »… gegen das Gesetz von der unbedingten Gleichachtung unter Genossen! Hein hat sich vor zwei Tagen nach freier gegenseitiger Wahl mit einer Genossin verbunden …« »Schickes Weib!« meinte Hein und schnippte mir den Finger unter die Nase. »Er zog in ihr Quartier. Gestern gegen Abend schickte sich die Genossin an, auszugehen, weil sie Bedürfnis nach einem Spaziergang hatte. Hein stellte sich in die Tür und verhinderte sie, das Zimmer zu verlassen. …« Hein haute mit der Faust auf den Tisch: »Denkt ihr vielleicht, ich laß mich von ’m Frauenzimmer auf ’n Wagen laden? Ha, da kennt ihr Hein schlecht. Weibsbilder haben zu parieren, sonst …« Er illustrierte den Rest des Satzes durch eine imponierende Luftohrfeige. Die Genossen sprangen entrüstet auf. Ich beruhigte 43
sie mit Mühe und erzählte ihnen ein langes Kapitel über die Lebensgewohnheiten zwischen Mann und Weib in der alten Welt. Ich mußte allerdings zugeben, daß diese Art von Tyrannei zwar in der Ehe üblich, beim sogenannten Verhältnis jedoch nicht unbedingt herkömmlich sei. Im übrigen würde sich bei uns kein Mensch darum kümmern, wenn der eine Teil eines Liebesgespannes dem anderen einen Spaziergang verbieten wollte. Die sechs Genossen zu meiner Rechten, die offenbar als Verteidiger Heins fungierten, wiesen auf seine Unkenntnis der utopischen Sitten hin. Die sechs gegenüber, als Schützer der Gemeinschaft, machten dagegen geltend, er habe sich bei seiner Ankunft als Sozialist ausgegeben, und sie könnten sich nicht denken, daß sich irgendwo in der Welt jemand diesen Ehrennamen zulegen dürfe, der nicht die volle Willensfreiheit des Nebenmenschen anerkenne, soweit nicht Interessen der Gemeinschaft angetastet werden. Auch ich bekam meinen Hieb. In der gemeinwirtschaftlichen Gesellschaft, die keinen Einzelbesitz kennt, sei die Ehe mit ihrer Zwangstreue längst abgeschafft. Sie erziehe zur Verlogenheit im Handeln und Denken. Es sei völlig ins Belieben zweier Menschen gestellt, sich flüchtig oder für lange Zeit zu verbinden. Und gewiß seien auf dieser Grundlage Kameradschaften, die ein ganzes Leben hindurch dauerten, häufiger als glückliche Ehen in der alten Welt. »Aber die Kinder?« warf ich schüchtern ein. »Sind das heiligste Besitztum der Gemeinschaft«, antwortete ein alter Genosse. »Sie werden in den schönsten Jugendhäusern erzogen und bilden sich innerhalb ihrer Gemeinschaft heran. Die Mütter können die Neugeborenen bis zu zwei Jahren in den Säuglings44
Pflegestätten selbst aufziehen. Später dürfen sie sich wochenlang in der Kindersiedlung aufhalten. Ebenso die Väter. Es gibt viele Eltern, die regelmäßig ihre Ferien – zwei Monate im Jahr – in den Kinderparks verbringen. Freilich haben sie keine bestimmende Gewalt über die Kinder und gelten als gleichgeordnete Gefährten.« Da wußte ich ja nun über den Punkt, der mich so sehr beschäftigte, Bescheid und kannte meinen Weg. Völlige Verzeihung für Hein konnte ich nicht erlangen. Nach langer Debatte einigten sich die Dreizehn einstimmig auf Verbannung aus der Gemeinschaft auf eine Woche. Hein schüttelte betrübt den Kopf. Er verstand sein Vergehen nicht. »Acht Tage bei Vater Philipp«, seufzte er, gab sich einen Ruck und tröstete sich selbst mit der Bemerkung: »Na, ’s is ja nich das erste Mal. Und wenn du ’n utopisches Schnitzel mit Pfifferlingen ißt, alter Junge, dann denk ’n bißchen an deinen ollen Hein, der bei Wasser und Brot Tüten klebt.« »Darf ich Hein in seiner Zelle besuchen?« fragte ich. »Zelle? – Wir kennen das Wort nicht«, sagten die Genossen und erhoben sich. 12 An einem Mittwoch war Hein der Exekutive übergeben worden. Am Sonntag fragte mich der Genosse Joll, ob ich ihn auf der Inspektionsreise begleiten wolle. Als Vorsitzender des Rates war er zugleich Chef des Gefangenenwesens, wie man sich bei uns ausgedrückt hätte. In Utopia hieß er »Freund der Einsamen«. Voll Freude willigte ich ein. 45
Ich nahm an seiner Seite in dem kleinen Flugzeug Platz, das er selbst steuerte. Der Propellerantrieb erfolgte elektrisch. Winzige Kraftspeicher spendeten genug Strom, um den Apparat Tausende von Meilen weit zu treiben. Die Flügel liefen schmal im spitzen Winkel am Rumpf entlang. Die Maschine glich einer Schwalbe, die im Pfeilflug herabschießt. In rasender Geschwindigkeit stürmten wir davon, glitten über der Küste entlang, die wie ein helles Band unter uns abrollte, und nahmen dann Kurs auf das freie Meer. Kleine Inseln tauchten vor uns auf. Wir stießen auf sie nieder. Kurz vor dem Erdboden, der uns entgegenzustürzen schien, drehte sich die Propellerachse im Winkel nach oben. Die Fahrt verlangsamte sich augenblicklich. Fast senkrecht und ohne Auslauf setzten wir behutsam auf. »Hier kannst du deinen Robinson umarmen«, meinte Joll lächelnd, wahrend wir die Kabine verließen. Und richtig trat schon aus einer Baumgruppe Hein auf uns zu. Er freute sich gewaltig, uns zu sehen. »Ich will euch nicht stören, Jungens«, sagte Joll. »Ist alles in Ordnung? Hast du Wünsche, Hein?« Hein überfiel plötzlich wieder der Drillfimmel. Mit zackiger Stimme meldete er: »Auf Insel 23 alles in Ordnung. …« und ich merkte ihm an, daß er im letzten Augenblick die Bekräftigungsformel: »… Herr Feldwebel!« mühsam verschluckte. »Na, schön!« lenkte Joll ab. »Ich besuche jetzt der Reihe nach meine anderen Einsiedler, viele sind’s ja nicht – und hole dich dann wieder ab, Karl.« Winkte und blitzte schon mit seiner Schwalbe davon. Hein ermunterte sich. »Mensch«, sagte er und grinste übers ganze Gesicht, »kannste mir nich ’n paar Tage Zulage verschaffen? …« 46
Dann zeigte er mir sein »Gefängnis«. Die Insel hatte ungefähr die Ausdehnung einer Gehstunde. Ein tropischer Garten mit wundervollen Blüten und köstlichen Früchten. Auf kleiner Anhöhe stand ebenerdig das Haus. Bequemer Wohnraum mit breiten Fenstern gegen drei Himmelsrichtungen, anstoßend eine kleine elektrische Küche, ein Vorratsraum mit Lebensmitteln aller Art. Gegen die Schattenseite eine Art Veranda mit Handwerksgerät. Da standen eine Hobelbank und verschiedene Apparate zur Metallbearbeitung; eine komplizierte Schalttafel für elektrische Versuche blinkte von der Wand. Rohmaterial, das man bearbeiten wollte, Holz, Metall oder was sonst erhielt man auf Wunsch geliefert. Jeden zweiten Tag landete ein Flugboot des Kontrolldienstes, der jede Bestellung genau ausführte. Wie uns später Joll erzählte, verdankte der Staat diesen »Robinson-Inseln«, wie er scherzhaft sagte, wertvolle Erfindungen. Die Verbannten wetteiferten im stillen, ihre Einsamkeit für die Gesamtheit zu nutzen. Auch kam es nicht selten vor, daß Genossen, die sich auf eine wissenschaftliche Arbeit sammeln wollten, freiwilligen Aufenthalt auf den Inseln suchten. Der Wohnraum enthielt eine kleine Bibliothek, an der mich Hein geringschätzig vorbeiführte. Bücher verachtete er als mannesunwürdig. Dagegen zeigte er mir mit Stolz seine Arbeit in der Werkstatt. Kunstvoll montierte er in einer Flasche einen Dreimastschoner mit voller Takelage. Die einzelnen Teile wurden mit Pinzetten durch den engen Flaschenhals geschoben und im Innern durch kleine Fadenzüge aufgerichtet. Wenn man Heins Pranken betrachtete und daneben das zierliche Figurenwerk sah, mußte man staunen. Aber nach geistiger Sammlung auf die Idee der Gemeinschaftsarbeit roch diese Beschäftigung natürlich nicht. 47
Ich fragte vorsichtig, für wen er diesen Flaschenzauber herrichte. Stolz tippte Hein auf die Stelle, wo hinter der Glaswand in wellenschlagendem und meergrün bemaltem Glaserkitt der Bug des Schiffleins eingebettet war. Da stand in winzigen Buchstaben der Name des Schoners, »Katharina«, und darunter, kaum noch mit bloßem Auge erkennbar, »Hamburg«. Armer Hein, dachte ich, deine Kathrin wird noch manchen braven Seebären glücklich machen, bevor du ihr diesen Beweis deiner Anhänglichkeit verschämt in die Hände schieben kannst. Und dann wird sie das Ding am nächsten Vormittag im Raritätenladen von Bormann & Co. für fünf Mark versilbern, wo es ein Herr mit dicker Brieftasche für 20 Mark kauft, um seinen Lieben ein »charakteristisches Andenken« aus Hamburg heimzubringen. Wir setzten uns auf eine Bank unter einer Palmengruppe und plauderten. Ich schüttete Hein mein Herz in bezug auf Jana aus, daß ich sie liebte und das Gefühl hätte, auch von ihr geliebt zu werden – daß mir dennoch das rechte Wort nicht über die Lippen wolle. Hein hatte mir aufmerksam zugehört, während er einen Faden mit Pech verrieb. »Karl«, meinte er bedächtig, »wir sind Saukerls – und die Leute hier im Lande sind schon so was Ähnliches wie – nun – (er sah unsicher an mir vorbei) wie – Menschen, verstehst mich?« Ich verstand ihn. »In den paar Tagen«, fuhr er schwerfällig fort, »habe ich so über das und jenes nachgedacht. Mit vier Jahren half ich Vatern beim Fische-Ausnehmen. Da ging die Schinderei los. Geld verdienen – sonst verhungerst du. In der Schule haben sie einem christliche Barmherzigkeit mit dem Rohrstock eingebläut, beim Militär haben 48
sie von Kaiser und Vaterland gelogen. Das war schon zum ekeln. Und dann bist du drauf gekommen; wer die größte Fresse hat und sich um kein’ andern kümmert, der kommt durch, der schafft’s. Und siehst du, so wird man eben ’n roher Hund, säuft, nimmt die Mädels nich anders wie ’n Stück Priem und kommt sich als ’n Kerl vor, wenn man ’n andern paar Backzähne einhaut.« Er spuckte aus und schwieg. Joll kehrte zurück. Er ließ die Maschine am Strand, kam herauf und setzte sich zu uns. Aus seinem Gespräch klang Sorge. »Manche unserer Geldleute zeigen über den ordengeschmückten Westen plötzlich stillvergnügte Gesichter«, sagte er, »sie haben irgend eine Schurkerei vor und ich kann sie nicht fassen, weil sie mir die Beweise schuldig bleiben.« Ich meinte, ob es nicht möglich wäre, durch geschickte taktische Verhandlungen ihre Absichten aufzuspüren. Dieses Wort bereute ich, denn Joll wurde so böse, wie ich ihn später nie wieder gesehen habe. »Taktische Manöver sind Lügenspiele«, rief er, »man setzt Unwahrhaftigkeit ins Feld und gewinnt Betrug. So lange wir den geschickten Taktikern den Vorrang vor einfach denkenden und unbeugsamen Männern am Verhandlungstisch ließen, verloren wir elegant und lächelnd einen Posten nach dem anderen. Diese Zeiten sind zum Glück längst vorbei.« Er legte mir vertraulich die Hand auf die Schulter, zum Zeichen, daß er das Allgemeine und nicht mich persönlich treffen wollte. Damit verzog sich das Gewitter. Ich sprach meine Absicht aus, Utopolis, die Hauptstadt des Arbeiterstaates, kennenzulernen. Joll stimmte mir zu. »Mach die Augen auf, Karl«, sagte er ernst. »Vielleicht kannst du uns einen Dienst erweisen. – 49
Hoffentlich«, fuhr er leichteren Tones fort, »plagen mich bloß Hirngespinste …« Wir verabschiedeten uns von Hein und sausten ab. Es dämmerte stark. Weit übers Meer leuchtete uns das rote Fanal der Hafenstadt Futura entgegen, die mir so rasch zur zweiten und besseren Heimat geworden war. Als wir über die gewaltigen, hellstrahlenden Häuserblocks dahinrasten, schien es mir unmöglich, daß eine dunkle Macht diesen Wunderbau bedrohen könnte. In leichten Spiralen ließen wir uns auf das Dach der Zentrale niedergleiten. 13 Die Andeutungen von Joll beunruhigten mich mehr, als ich mir zugestehen wollte. Ich beobachtete schärfer als zuvor, was um mich vorging, konnte aber keine Veränderung wahrnehmen. Bevor ich mich nach Utopolis aufmachte, wollte ich noch Jana sehen und sprechen. Wenn ich an sie dachte, würgte mich eine dunkle Angst, als könnte ich sie verlieren, obwohl ich sie doch noch gar nicht gewonnen hatte. Schon am nächsten Morgen nach dem Besuch bei Hein zog ich in das Jugendlager. Ich fand alles unverändert und wurde mit Freudengeheul begrüßt. Man schleppte mich in den Unterrichtssaal. Dort, so hieß es, hielte der Genosse Noris vom Zentralrat einen Vortrag über die Verfassung der freien Arbeitergenossenschaft. Er verbrachte seinen Urlaub bei den Jugendgenossen, um ihnen Gelegenheit zu geben, über die politischen Arbeiten des Rates zu diskutieren. Er begrüßte mich freundlich und meinte scherzhaft, 50
es könne mir nicht schaden, etwas aus der Praxis zu hören. Ich bejahte eifrig. Meine Augen aber suchten Jana. Sie saß inmitten der Kinder, selbst fast kindlich, und sammelte ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Wechselgespräch, das sich rasch und unbefangen zwischen »Lehrer und Schülern« entwickelte. (Ich merkte bald, daß dieser Ausdruck hier nicht am Platze war. Ein Erfahrener sprach mit weniger Erfahrenen, stets bereit, sich von der naiven Meinung der Jüngeren belehren zu lassen, wenn sie einen gesunden Kern enthielt.) Jana nickte mir nur flüchtig zu. – Und das schien mir etwas wenig. Alle Staatseinrichtungen, die die Arbeitergenossenschaft selbst betrafen – und von denen Noris sprach, fanden ungeteilt den Beifall der jugendlichen Hörer. Man hatte im vergangenen Jahr die allgemeine Pflichtarbeit auf vier Stunden am Tag herabsetzen können. Die Arbeitspflicht begann mit dem fünfundzwanzigsten Jahr und endete mit dem fünfzigsten. Der Staat sorgte für Wohnung, Speise und Kleidung, und zwar reichlich. Die Hauptproduktionsmittel waren in den Händen der Arbeiterunion …. Hier hakten die Jungen ein. In verschiedenem Zusammenhang tauchte immer wieder die Frage auf: Warum hatte die Arbeiterschaft bei der letzten und entscheidenden Revolution nicht alle Produktionsmittel an sich gebracht und den Stand der Kapitalherren vollkommen vernichtet? Wie kam es, daß dieser Stand, obwohl politisch entwertet und der Verwaltung des Arbeiterstaates unterstellt (und von ihm lächerlich gemacht), immer noch sein Leben fristen durfte und nicht einfach eingezogen wurde? Noris antwortete auf diese Fragen, die ihm sichtlich unangenehm waren, historisch. 51
Die Arbeiterschaft, so führte er aus, habe damals noch nicht über genügend geschulte Kräfte verfügt, um die Handelsbeziehungen und Fabrikationsmethoden der Kapitalisten sofort zu übernehmen. Man habe mit ihnen paktieren müssen, um das Proletariat vor Hunger und Arbeitslosigkeit zu schützen. So wäre man gezwungen gewesen, ihnen gewisse Besitzvorrechte weiterhin einzuräumen, habe sie aber von der Staatsverwaltung ausgeschlossen. Das sahen die Jungen, wenn auch widerwillig, ein. Inzwischen aber hätte sich der Arbeiterstaat gefestigt und stelle eigene Leute an die verantwortlichen Stellen. Jetzt sei es an der Zeit, diese Vorrechte vollends abzubauen und den Besitzleuten anheimzustellen, entweder Mitglieder der Genossenschaft zu werden oder rechtlos das Land zu verlassen. Auch Jana sprach diese Ansicht aus. Das gefiel mir. Noris fühlte sich in die Enge getrieben. Wie ja bekannt sei, stehe er und die Mehrheit des Zentralrates auf dem Standpunkt, daß die historische Entwicklung die kleine Gruppe der Privatkapitalisten von selbst zerreiben werde. Man könne nicht einfach durch Federstrich die Verfassung beliebig ändern. Er könne sich nun einmal nicht zu der Ansicht von Joll und seinen Anhängern bekehren, daß der revolutionäre Ausnahmezustand so lange dauere, als überhaupt nur noch ein einziges Privatvorrecht bestehe. Die Jugend bekannte sich unverhohlen zur radikalen Gruppe. Noris schied von uns ohne Groll, aber bekümmerten Herzens. Man merkte ihm an, er hätte so gern überzeugen wollen, aber das junge Geschlecht verstand ihn nicht mehr, und das schmerzte ihn. Jana trat jetzt zu mir heran. Ich fühlte den kräftigen Druck ihrer kleinen, energischen Hand. 52
Wir gingen über die Wiese nach dem Wäldchen zu. Niemand störte uns. Die Jungen hatten in ihrem feinen Kindergefühl gemerkt, daß wir allein sein wollten. Wir tauschten unsere Ansichten über die Rede von Noris aus. Ich teilte Jana die Befürchtungen Jolls mit. Sie hörte aufmerksam zu. Als ich von der Aufgabe sprach, die mir Joll vielleicht zuschieben würde, sah sie mich einen Augenblick von der Seite an. Es kam mir vor, als sei sie stolz auf mich. Jedenfalls nickte sie ernst und riet mir, sofort nach Utopolis aufzubrechen. Mit solchen Gesprächen hatten wir das Wäldchen durchquert und standen nun am Abhang des Hügels. In der Ferne schimmerte das Meer auf. Jana kehrte mir jetzt das Gesicht zu. Ich las einen leisen, doch guten Spott in ihren Augen. Dann sagte sie, ohne einen Übergang zu suchen: »Ich habe mir einige Bücher kommen lassen, die von den Lebensgewohnheiten der Menschen in der alten Welt handeln …« Ich fühlte, daß ich rot wurde, und ärgerte mich darüber. Jana lächelte und sprach weiter: »Wenn wir in Europa wären, Karl, dann würdest du mich – heiraten wollen, nicht wahr?« Das war denn doch … die Landschaft begann um mich zu tanzen, und ich suchte nach einem festen Halt. Ich fand ihn an Janas schmalen Schultern. Hier hilft nur blitzblanke Ehrlichkeit, ging es mir durch den Kopf. Ich hielt Jana an beiden Armen fest vor mich und sagte möglichst frisch: »Ja, Jana, das würde ich gerne wollen. …« Aber die Stimme versagte fast vor Aufregung. Jana lauschte ganz andächtig und sprach dann langsam (aber die unterdrückte Schelmerei entging mir nicht): »Gewiß, Karl. Wenn ich ein europäisches Pack53
eselweibchen wäre, ein braves Haushaltungsmaschinchen – dann würde ich dich vom Fleck weg heiraten!« Gab mir einen Nasenstüber, lachte hell auf und lief davon. Ich nach. Diesmal hätte ich jeden KurzstreckenWeltmeister über den Haufen gerannt. Den Hügel hinab, krach! durch die Büsche, über die Wurzeln der Buchen hinweg, halsbrecherisch. Sie schrie und jauchzte im Laufen. Das war sportlich natürlich verkehrt. Es verkürzt den Atem. Noch einen Löwensprung und sie lag in meinen Armen. Ich küßte sie keuchend, und sie blieb mir in dieser Debatte keine Antwort schuldig. »Hast du mich lieb, kleine Jana?« – Sie machte sich von mir los, schaute mich komisch-ernsthaft an, schüttelte die Haarsträhnen aus der Stirn und sagte aufatmend, sachlich: »Ich glaube schon, Karl. Kann man das wissen? Wie weiß man das?« »Man spürt es.« Ich deutete in romantischer Regung auf das Herz. Sie ahmte mir diese Bewegung nach und sagte naiv: »Es klopft. – Ist das Liebe? Aber es klopft doch auch sonst?« Was sollte ich erwidern? Ich küßte sie und dann gingen wir Hand in Hand zurück nach dem Haus. An diesem Abend wurde ich der glücklichste Mensch. 14 Bevor ich mich nach Utopolis aufmachte, ging ich zu Joll, um ihn um Ausweise zu bitten. Zunächst verstand er mich gar nicht. »Du bist überall zu Hause, kannst an jeder Sitzung teilnehmen und hast freien Zutritt zu jedem Raum der Verwaltungsbehörde«, erklärte er mir. »Der Mechanismus der Organisation darf nicht einge54
kapselt werden und im Unsichtbaren spielen, sonst werden Geheimkabinette und nebelhafte Sonderkommissionen daraus.« Ich hätte gern bestimmte Aufträge gewünscht. Joll lächelte: »Die Nase am Wind und die Augen zwei Meilen voraus … das ist alles.« Im übrigen empfahl er mich an den Genossen Tirwa im Zentralrat von Utopolis. Die schnellste Verbindung zwischen Futura und Utopolis stellte die Magnetbahn her. Sie übersprang die reichlichen tausend Kilometer in genau einer Stunde, während die größeren Passagier-Flugzeuge mit verschiedenen Zwischenlandungen immerhin zwei brauchten. Ein Stahlband, nicht viel breiter als eine Schiene, war gewissermaßen die Richtschnur für den riesigen, tropfenförmigen Metallkörper, in den der Waggon eingebaut war. Dieser silbrig glänzende Fischkörper hatte eine Art Kiel, d. h. einen Fußbalken, der in der Ruhe auf der Schiene auflag, in der Bewegung aber ungefähr um Handbreite über ihr schwebte. Unter der Stahlschiene und im Gleitbalken lagen Magnetspulen, wie man mir erklärte, die eine abstoßende Wirkung hervorbrachten. Kreisel hielten das Gefährt stabil. Der Antrieb erfolgte ebenfalls elektromagnetisch. Für die Mitglieder der Genossenschaft war die Fahrt frei. Man stieg ein wie bei uns in die Straßenbahn. Für die Privaten galten hohe Tarife. Aber sie boykottierten allgemein das Verkehrsnetz des Staates und benutzten eigene Flugzeuge. Man kontrollierte demnach überhaupt nicht. Auf ein Gongzeichen schlossen sich die Türen des Wagens automatisch. Wir setzten uns in den bequemen Sesseln zurecht und sausten schon ohne jede Erschütterung, wie in einem Schlitten, der auf lockerem Schnee fährt, davon. 55
Ohne Rücksicht auf landschaftliche Hindernisse folgte das Stahlband der genauen Luftlinie. Schmale Pfeiler spannten es in Riesenbögen hoch über Täler und Hügel hinweg. Ganz atemlos vor Staunen war ich. Ich glaubte, die Erde drehte sich unter uns. Als wir gar auf eine dunkle Wolke zuschossen, aus der Feuer blitzte, packte mich die Angst an der Gurgel. Mein Nachbar legte freundschaftlich seine Hand auf meinen Arm. »Unsere Eisengruben«, sagte er. »Alles zentralisiert natürlich, Hochöfen, Stahlveredelung, Walzwerke. …« Er lächelte: »Noch so ’n bißchen Spuk von gestern. Die meisten sind schon stillgelegt.« Ich faßte mich und schaute hinunter. Eine flache Schüssel wurde unter uns weggezogen, deren Boden mit schwarzgrauem Staub bedeckt war, in den Kinderhände kleine Grübchen gedrückt hatten. So sah ich das Eisengebiet, so rasend und in so großer Höhe setzten wir darüber hin. Qualm und Flamme, Zeichen der Arbeit am Erz, flaggten nur über einem kleinen Teil des weiten Tals. Ungeheure Werkanlagen, Krane, Türme, Schornsteine schienen tot zu sein, ausgestorben, beinahe gespenstisch. Bevor ich fragen konnte, stürzte alles hinter den Horizont. »Die Zeit des Eisens ist vorüber«, sagte der Genosse an meiner Seite. »Denk’ dir mal die Kilometerspannungen der Magnetbahnschienen in Stahl konstruiert, oder etwa unseren Turm …« »Welchen Turm?« fragte ich. »Ungeduldige Leute seid ihr, wirst schon sehn.« Er lachte und zeigte ins Ungewisse. »Unsere Technik beruht auf Leichtmetallen, die durch elektrische Energie abgespalten werden. Ruß und Schlacke, die ganze 56
Dreckerei und das Elend der Kumpels liegt hinter uns. Leichter als Holz, härter und elastischer als Stahl, das war das Ziel für unsre Genossen in den Versuchsabteilungen.« Er deutete hinaus. »Statt aller Theorie … da hast du ihn vor dir!« Durch die gebogene Stirnscheibe des Waggons sah ich weit voraus einen weißlich schimmernden See, aus dem ein Lichtstrahl gegen den blauen Himmel auffuhr. Diese märchenhafte Täuschung wich nach wenig Sekunden einer noch märchenhafteren Wirklichkeit. Der helle Spiegel des Sees verwandelte sich in eine riesenhafte Stadt und der Lichtstrahl in einen Turm, dessen ungeheure Höhe mich beinahe erschreckte. Je näher wir an ihn heranstürmten, desto gewaltiger wuchs er empor, aber auch am Fundament in die Breite. »Hundert Stockwerke«, erklärte mein Nachbar nicht ohne Stolz, aus Leichtmetall und biegbarem Glas. Ein Erdbeben könnte ihn vielleicht umwerfen, aber zerbrechen würde er ebensowenig wie ein Getreidehalm, den der Wind gegen den Boden drückt. Ehe ich recht zur Besinnung kam, dämpfte sich die rasende Fahrt in ein sanftes Gleiten. Hoch über den Häusern flogen wir in den Turm hinein und hielten in einer Halle, von der sternförmig Magnetbahnschienen nach allen Richtungen liefen. »Utopolis!« sagte mein Reisekamerad und reichte mir zum Abschied die Hand. Wir hatten einen halben Kontinent durchquert und nicht Zeit gehabt, unsere Unterhaltung zu Ende zu führen. Wieviel mühsamer ist doch die Reise von Berlin nach Jüterbog. Glückliches Utopien!
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15 Die Hausburgen in Utopolis waren größer und lagen weiter auseinander als in der Hafenstadt Futura. Jede einzelne war rings von einem breiten Streifen Parkland umgeben. Auf den flachen Dächern, wie ich es schon kannte, gefielen mir wieder die schönen Gartenanlagen und Spielplätze. Morgens und abends sprühten Regenverteiler über allen Grünflächen. An heißen Tagen warf man die Kleider ab und trieb nackt zwischen den Fontänen Rasenspiele. Auf dem laufenden Band der Gehsteige, über die hohen Brücken hinweg, die von Dach zu Dach spannten, durchquerte ich in kurzer Zeit weite Gebiete der Stadt. Wer konnte da ermüden? Kein Rauch aus Schornsteinen verqualmte die Lungen, die fauchenden Auspuffrohre der Benzinfahrzeuge, die unsere Großstädte vergiften, gehörten hier längst ins finstre Mittelalter. Die Metallhäuser mit den breiten Terrassen und den automatisch verschiebbaren Wänden, die im Sommer auch nachts geöffnet blieben, wenn ihre Bewohner es wollten, waren wie große, lächelnde Gesichter, die von heiteren Gedanken belebt werden. Wo ich mich eben befand, nahm ich an den Mahlzeiten teil oder an den Hausversammlungen. Niemand fragte mich, ob ich »dazu gehörte«, niemand bewachte den Zugang zu Bibliotheken und Sportsälen. Auf den Untergrund-Schnellbahnen fuhr ich nach der Stadt der Arbeit, die im Westen von Utopolis, fast 100 Kilometer entfernt, in zehn Minuten zu erreichen war. Ich streifte durch die riesigen Montagehallen des Fahrzeugbaus, durch die Werkstätten der Metallbauvorbereitung, durch die hellen Säle der Spinnereien und Webereien und traf nur selten einen Menschen. Es 58
war, als sei hier die Welt der Maschinen selbständig geworden und nur in den Schalträumen berühre sich der menschliche Wille mit der mechanischen Energie. Eine Bäckerei, die den Brotbedarf für die ganze Millionenstadt lieferte, wurde von drei Genossen geleitet und kontrolliert. Von dem Augenblick, da sich die Rüssel der Elevatoren in die Getreideschiffe senkten, die im Kanalhafen der Bäckerei anlegten, schafften die Automaten der Arbeit ohne Eingriff der Hand, bis die Brotschnitten in kleinen Körben auf den Speisetafeln erschienen. Die unterirdischen Transportzüge koppelten selbsttätig je einen Waggon vor dem Lagerkeller jeder Hausburg ab, Greifer entluden die Brote auf laufendes Band, Maschinen schnitten sie auf und sortierten sie in die Körbe. Der Fahrstuhl hißte sie in den Speiseraum. »Bei diesem Betrieb«, sagte ich zu einem Genossen, der mich durch eine automatische Glasbläserei führte, »begreife ich nicht, daß auf jedes Mitglied der Genossenschaft vier Arbeitsstunden entfallen. Für Millionen, scheint mir, bleibt überhaupt nichts zu tun übrig.« »Du siehst hier nur die Ergebnisse der Konstruktionen, die bis ins Letzte durchdacht und praktisch erprobt sind«, erklärte er. »Bis man zu ihnen kommt, das erfordert mehr Kopf- und Handarbeit, als du ahnst.« Auf dem Lagerplan der Arbeitsstadt bezeichnete er mir einen großen Komplex von Gebäuden, die ich noch nicht besucht hatte. Ich fuhr hinaus nach den Versuchswerkstätten. Da war Leben! Große technische Büros mit gewaltigen Zeichentischen, aus denen man unmittelbar in weite Hallen trat, in denen Werkzeugmaschinen aller Art ihre Dienste anboten. Hier kannte man noch Schraubstock und Feile und den Zugriff der Hand. 59
Der Konstrukteur und kühne Planer unterschied sich hier nicht vom Arbeiter, der den Fräshobel einstellte. Keiner hatte vor dem anderen »Bildung« voraus oder ein Privatinteresse, das ihn zwang, Abstand zu halten, damit das Vorrecht der Kaste gewahrt bleibe. Die unterschiedlosen Voraussetzungen der Ausbildung für alle schufen ganz andere Formen des Zusammenwirkens. In Werkversammlungen wurden die technischen Ziele der betreffenden Versuchsabteilung durchgesprochen. Genossen, die sich im konstruktiven Entwerfen besonders bewährt hatten, erläuterten ihre Ideen an großen Projektionsbildern und gaben die mathematischen Unterlagen, die jeder verstand. Natürlich durfte auch jeder andere einen eigenen Plan zur Diskussion stellen. Häufig genug überraschten ganz junge Genossen, die eben erst in die Abteilung eingetreten waren, durch kühne und treffende Lösungen. An den Werkversammlungen nahmen Abordnungen aus den jugendlichen Lehrgemeinschaften teil. Sie verarbeiteten dann in ihren Heimen die Ergebnisse der Aussprache. Auf diese Weise durchdrangen Theorie und Praxis einander. Ich durchwanderte die riesigen Hallen der Produktionsabteilungen, in denen die Maschinenautomaten für die Serienfabrikation eingerichtet wurden. Weder geistige noch körperliche Energie wurde hier an modische Massenware vergeudet, die bei uns mit dem Hintergedanken erzeugt wird, daß sie möglichst bald veralte und den Bedarf künstlich auftreibe. Sehr beliebt war die Arbeit in Landwirtschaft und Gärtnerei. In breitem Gürtel um die Stadt zogen sich die Anbauflächen der Genossenschaftsgüter. Unter dem Einfluß von elektrischen Kurzwellenstrahlern, die sich über die Äcker verteilten, und künstlichem Regen, 60
den man durch elektrisches Spaltungsverfahren aus der Luft zog, so oft man ihn brauchte, erzielte man zweiund dreifache Ernten. Hier wie überall verrichtete den Kuhdienst die Maschine. Noch monatelang könnte ich euch von den Wundern in und um Utopolis erzählen, aber ich denke, ihr wollt weiterhören, was ich in Jolls Auftrag unternahm. Gleich nach der Ankunft hatte ich mich bei Tirwa gemeldet. Er wohnte im Turm, wo alle Verwaltungskörper des Landes und der Stadt zentralisiert waren. Tirwa war ein ernster Mann, der nicht mehr Worte machte, als unbedingt nötig. Er reichte mir die Hand und nannte mich beim Namen, bevor ich noch den Mund öffnen konnte. Ich stotterte nur: »Joll hat dir wohl mitgeteilt, daß ich …« Tirwa schüttelte den Kopf. »Habe seit Tagen nicht mit Joll gesprochen.« Meine Bestürzung amüsierte ihn. Er ließ mich ein bißchen zappeln. »Hier«, sagte er endlich und klopfte mit der Hand auf eine Milchglasscheibe neben seinem Arbeitsplatz, »da habe ich dich gesehen und gehört, als du Joll gegenübersaßest. RaumFerntelegraphie mit Geräuschübertragung … Joll hatte mich durch die Zentrale anschließen lassen.« Unheimlich. Bespitzelte man mich? Doch fiel mir rechtzeitig ein, daß es Spitzelei nur geben kann, wo Mißtrauen und Feindschaft zwischen den Menschen herrschen. Tirwa in das Gespräch einzuschließen, war ökonomisch, es ersparte Joll, dieselbe Sache zweimal zu sagen, und gar noch ein »Stimmungsbild« von mir zu entwerfen. Geheimnisse gab es nicht innerhalb der Genossenschaft. »Komm übermorgen nach der Sitzung des Zentralrates wieder zu mir, dann gibt’s für dich zu tun.« Da61
mit verabschiedete mich Tirwa. Er trug mir noch auf, die Privatstadt zu meiden. Ich unterdrückte verschiedene Fragen und ging. Den Stadtteil, der den Privaten überlassen war, hatte ich von einer der oberen Terrassen des Turms, auf der die Fernflugzeuge landeten, weit draußen nach Norden, zu schon liegen sehen. Er war unregelmäßig gebaut, verschachtelt und wirkte gegen die übersichtliche Arbeiterstadt wie ein Trümmerfeld. Ich sehnte mich nicht danach, ihn kennenzulernen. Nach zwei Tagen war ich zur Stelle. Die öffentliche Sitzung des Zentralrats tagte in der Turmhalle, die fünfzigtausend Menschen Sitzraum bot. Wie in der Arena, wo Hein eine Luftspiegelung erdolchen wollte, so waren auch hier Lautsprecher unsichtbar verteilt. Auf je hundert Sitzplätze entfiel ein Rednerpult mit Schallverstärker. Fernschreiber meldeten dem Versammlungsleiter die Namen der Debatter und photographierten sie automatisch und in Nummernfolge auf ein laufendes Band. Da es als ungeschriebenes Gesetz galt, nur in die Debatte einzugreifen, wenn wesentlich Neues gesagt werden sollte, verliefen diese Massenversammlungen meist kürzer und ruhiger als bei uns in der alten Welt. In normalen Zeiten wurden die monatlichen Versammlungen nur von wenigen Tausenden besucht. Man konnte ja die Berichte bequemer im Hausradio anhören. Diesmal waren mehr als die Hälfte der Plätze besetzt. Der Rechenschaftsbericht bewegte sich zum großen Teil in statistischen Zahlen und Wortabkürzungen, von denen ich wenig verstand. Er wurde schweigend aufgenommen. Die Debatte überging ihn. Der Wirtschaftsapparat funktionierte, das wußte man. 62
Die Anfragen schienen mir geringfügig, da sie aber, wie auch die Antworten des Zentralrates, mit wachsendem Anteil der Masse hingenommen wurden, wobei sich Zustimmung oder Ablehnung gruppenweise stark ausprägte, mußten sich hinter den harmlosen Redewendungen tiefere Bedeutungen verbergen, die ich nicht kannte. Von Sektion 38 fragte ein Mann: »Sind die Erdbebenmesser des geographischen Instituts noch im Kellergeschoß des Turmes untergebracht? Verzeichnen sie auch kleine Erschütterungen in der Nähe?« »Sehr gut!« unterstützten einige hundert Kehlen diese Anfrage. Der Zentralrat wußte darüber nicht Bescheid, versprach aber, das Gutachten der verantwortlichen Genossen einzuholen. »Wird Zeit!« rief eine helle Stimme. Ein anderer wollte wissen, wann der Urlaub des Genossen Noris ablaufe. Bevor die Antwort kam, rief eine Gruppe im Takt dagegen: »Joll soll kommen – Joll soll kommen!« Dieser Ruf wurde mit Begeisterung aufgenommen. Immer mehr fielen in den Rhythmus ein. Und schließlich dröhnte es von vielen tausend Zungen im Gleichtakt: »Joll soll kommen!« Die Gegenrufer waren in der Minderzahl. Ein Mann am Tisch des Zentralrates sprang erregt auf und schrie in sein Mikrophon, daß die Lautsprecher wie eine Orgel den Massenlärm überbrüllten: »In sieben Monaten könnt ihr Joll wieder wählen, jetzt ist Noris der Kopf im Zentralrat; Genosse Noris bricht morgen seinen Urlaub ab.« »Sieben Monate«, sagte neben mir ein eisgrauer Arbeiter leise vor sich hin, »sieben Monate … zu spät …« Der Tumult war ziemlich groß und für Utopien besonders ungewöhnlich. 63
Dabei fiel mir auf, daß von den Privaten nicht gesprochen wurde. Tirwa wartete schon auf mich und zog mich in sein Zimmer. »Nun, was meinst du?« fragte er in seiner trockenen Art. Er wartete aber zum Glück keine Antwort ab, es mochte ihm wohl eingefallen sein, daß ich eine Meinung nicht haben konnte. »Es ist ganz klar«, sagte er, »die Privaten müssen jetzt etwas unternehmen. Unsere Eigenproduktion ist vollkommen geschlossen, es gibt keine Geschäfte mehr zu vermitteln zwischen der kapitalistischen Außenwelt und der Genossenschaft. Die Zeiten sind vorüber, da wir den Herren Extrawürste braten mußten, damit sie uns tausend Ballen schlechter Hemdenstoffe anschoben. Sie leben nur noch von Schleichhandel und Schmugglergeschäften mit anderen Staaten. Natürlich verdienen sie auch damit genug Geld, aber es ist doch allerlei Risiko im Spiel. Daran sind sie nicht gewöhnt. Früher war das doch viel schöner: wenn die Konjunktur schlecht war, ließ man sich von der Staatskasse das Doppelte des normalen Gewinns auszahlen; der Arbeiter mußte bluten.« Tirwa schloß die Augen, als wollte er die Bilder der Vergangenheit recht scharf und von innen her schauen. »Ja, es ist so weit«, murmelte er für sich und ich hörte aus dem Ton eine gewisse Hilflosigkeit. »Die anderen Genossen scheinen nichts zu fürchten«, sagte ich nach einer Weile, »sonst hätte man sich doch in der Sitzung mit den Privaten befaßt …« »Hat man auch, ausschließlich sogar«, entgegnete Tirwa. »Aber man vermeidet Namen und direkte Hinweise. Wenn der Profitteufel marschieren will, schickt er Spitzel und Spione als Quartiermacher voraus. Unter uns geht das Gerücht um, sie wollten sich unterirdisch 64
an den Turm heranbohren, um ihn zu sprengen. Daher die Anfragen nach den Erschütterungsmessern. Ich selber glaube nicht daran. Die Burschen sind viel raffinierter. Was nutzt es ihnen denn, wenn der Turm fällt? Im selben Augenblick würde sie die Wut der Arbeiterschaft zerstampfen. Was sie planen, ist bestimmt viel gefährlicher als ein Feuerwerk mit Knalleffekten, darauf kannst du dich verlassen. Die Verfassung, an der Noris hängt, gibt uns kein Recht, einzuschreiten, so lange wir nicht Bestimmtes wissen. Äußerlich ist ja alles in schönster Ordnung! …« Ich dachte an den Massenruf nach Joll. Er würde zupacken, jetzt schon, ohne sich auf das Gezeter der Pfeffersäcke einzulassen. Er war ja überhaupt der geschworene Feind dieser Mischpolitik, wie er es nannte. »Und nun zu dir«, sagte Tirwa, legte beide Hände auf meine Schulter, blickte mir forschend in die Augen und nickte befriedigt. »Du sollst mal auf einige Zeit Privater werden, bei den Privaten wohnen und dich an sie heranschlängeln – verstehst du, vielleicht hörst oder siehst du was … Die Bande zwingt uns ihre Methoden auf.« Ich erschrak. »Warum gerade ich?« sagte ich ziemlich kleinlaut. Tirwa lächelte. »Nimm’s mir nicht übel, Karl. Dein Gesicht hat einen verdammt europäischen Anstrich. Es sieht ein bißchen nach Hamster und goldgieriger Elster aus … Wenn wir dich richtig eingekleidet haben, wirst du ein famoser Dividenden-Onkel sein.« Er begütigte mich gleich. »Wir wissen ja, daß du das innerlich überwunden hast, aber die Fassade läßt nicht so rasch verwittern, was viele Geschlechter in sie eingekerbt haben. – Auf morgen früh also …« und er brachte mich zur Tür. 65
Draußen stand ich verblüfft wie ein Kind, dem der Klapperstorch davonfliegt. 16 Tirwa hatte alles vorzüglich vorbereitet. Ich empfing den üblichen Gehrock und eine Reihe von Orden (die schwersten ersparte man mir). Nachdem ich alles angelegt hatte und mich im großen Spiegel besah, stimmte ich in die Heiterkeit der anderen ein. Ich gab mir ein mürrisches und hochnäsiges Ansehen und war nun wirklich ein tadelloser »Privater«. Tirwa rieb sich vergnügt die Hände. Ich empfing einen ordnungsmäßigen Ausweis, der auf den Namen Raubgraf Zak zu Gummiklau lautete, und führte den Titel Sklavenschreck. Die Ausdrucksweise der Privaten lernte ich in viertelstündlichem Lehrschlaf. Das zahlreiche Geschlecht der »Gummiklaus« besaß an der Ostküste von Utopien Vorrechte auf Kautschukhandel. Sie verfrachteten ihre Ware über einige Geheimdepots an der Küste von Chile nach den amerikanischen Nordstaaten. »Als ›Gummiklau‹ hast du den Vorteil, viel über die alte Welt reden zu können«, belehrte mich Tirwa. »Außerdem ist dieses Geschlecht als besonders ruppig bekannt – etwa wie eure ostpreußischen Krautjunker. Du fällst also nicht aus der Rolle, wenn du Fragen, auf die du keine Antwort weißt, mit einer Grobheit abtust.« Ich erfuhr noch Einzelheiten über das Gebaren der Kautschukhändler. Auf einem Film führte man mir meine »Besitzungen« vor. So lernte ich die besonderen Lebensbedingungen an der Ostküste kennen. Die Organisation der Genossenschaft war dort am wenigsten 66
ausgebaut und die Privaten genossen mehr Freiheiten als in den übrigen Verwaltungsgebieten. Zweck meines Aufenthaltes in Utopolis war Vergnügung. Die Ostküste besaß keine Großstädte. Ich erhielt ein eigenes Flugzeug. Der Genosse Flugzeugführer, der das Gefährt lenkte, wurde in eine Gummiklausche Livree gesteckt. Meine Brieftasche strotzte von Privatgeld. »Nur nicht durch Sparsamkeit auffallen!« war die oberste Mahnung, die mir Tirwa mit auf den Weg gab. Wir starteten nach Mitternacht, flogen weit nach Osten und hielten dann Kurs auf Utopolis-Privat. Am frühen Vormittag landeten wir auf dem Dach des Eden-Hotels. Ein Portier riß den Schlag der Kabine auf und salutierte stramm. Der Manager des Hotels eilte herbei, warf einen Blick auf die Livree meines »Dieners«, den ich Bob nannte, und fragte höflich: »Ich habe die Ehre, einen der Herren Grafen Zak …« »Blöde Frage!« fuhr ich ihn an, »wohl Dreck in den Augen, was?« Er lächelte verständnisvoll-verbindlich, verbeugte sich tief und bat, mir meine »Appartements« zeigen zu dürfen. Man wies mir drei Räume an, die mit nutzlosen Kostbarkeiten überladen waren. Ein Schlafzimmer, über dessen dreischläfrigem Bett ein goldener Himmel mir Alpdrücken verursachte, einen Salon, der in Seide, Kristall und Gold rauschte, ein riesiger Baderaum mit den unglaublichsten Apparaten, deren Zweck ich nie ergründete. Das marmorgetäfelte Schwimmbassin machte mir allerdings Vergnügen. Bob wurde in einem einfachen, sauberen Dienerzimmer untergebracht. Ich hätte gern mit ihm getauscht. 67
Die Hauptstraßen von »U-Privat«, durch die ich meinen ersten Spaziergang machte, hätten ebenso gut in New York, Berlin oder London liegen können. Läden, mit allerlei Luxuskram vollgestopft, wechselten mit Kneipen, Bars und Cafés ab. Schreiende Reklamen verwirrten mich. Wahrhaftig, solches Theater wegen Rasierklingen oder Strumpfbandgürteln war ich nicht mehr gewöhnt. Ich wunderte mich, daß mir das früher nicht komisch erschienen war. Und gar abends! Gelbe, rote, blaue Lichter zappelten, rotierten und zuckten in Krämpfen über ganze Häuserfronten hin, zu dem einzigen Zweck, daß man seinen Schnaps dort an der Ecke und nicht gegenüber bei der Konkurrenz trank. In den Straßen der Millionäre herrschte dagegen die sogenannte vornehme Ruhe. Ihre Paläste versuchten einander an stillosem Prunk zu übertrumpfen. Die Garageneinfahrt eines der gewaltigen Betonklötze war eine genaue Nachbildung vom Hauptportal des Kölner Doms. Eine andere Villa schmückten vergoldete Zwiebelkuppeln. Sie sah aus wie eine russische Kirche ohne Unterleib. Es gab eine getreue Nachbildung des Dogenpalastes in Venedig. Den Vogel schoß ein mächtiges Bauwerk ab, das im Unterteil einem ungeheuren griechischen Tempel glich. Die riesenschäftigen Marmorsäulen trugen jedoch das vielgliederige Dach einer chinesischen Pagode. Daneben hielten sich andere Villen in kühlen Zweckmäßigkeitsformen reserviert zurück. Überall spürte man den Drang, die kostbarsten Kulturwerke der alten Welt zu kopieren. Aber man verstand nicht, daß sie ohne Geschichte und eingeborene Landschaft sinnlos waren. Diese Straßen hinterließen den Eindruck eines Antiquitätenladens, der Kulturgüter als Ramschware verhandelt. 68
Ein einziges Gebäude erinnerte an die Wohnburgen der Arbeiterstadt. Es strebte in ähnlicher Terrassenform auf, vermied jeden ungemäßen Schmuck und lag weit von der Straße zurückgesetzt in einem parkartigen Garten. Wie der Stumpf einer Pyramide hob es sich aus dem lebendigen Grün, denn die Mauerseite, die es dem Beschauer hinbot, war glatt und stumm, ohne Fenster und Türen. Später erfuhr ich, daß hier der hundertjährige Morgon wohnte. Er war der einzige, der unter den Arbeitern eine gewisse Popularität genoß. Bereits vor der großen Revolution kümmerte er sich in seinen Eisenwerken um soziale Fürsorge. Er ließ Kranken- und Altersheime bauen. Während der Umwälzung stellte er sich sofort auf den Boden der Tatsachen, trat seine Industrien »freiwillig« an den Staat ab und verhandelte kollegial mit den Räten. Ja, es ging sogar das Gerücht um, er habe damals geäußert, wenn er nicht schon so alt wäre, würde er als tätiges Mitglied in die Genossenschaft eintreten; er freue sich der neuen Zeit. Seit vielen Jahren lebte er still in seiner Burg in »UPrivat«. Man hatte nie Schwierigkeiten von ihm zu erwarten, und wenn er sich, wie es für jeden Privaten Pflicht war, zur vierteljährlichen Musterung im Turm meldete – mehr schon ein klapperndes Gespenst, als ein Mensch –, empfing ihn der Zentralrat freundlich wie einen guten, alten Papa. Man verschonte ihn auch mit »schweren« Ordensauszeichnungen und wohlklingenden Titeln. – Ein Kolossalbau auf freiem Platz zog mich an. Über der goldenen Riesenkuppel leuchtete ein ungeheures Kreuz. Eine Kirche offenbar. An Gigantisches schon gewöhnt, überraschten mich 69
hier dennoch Formen, die in gar keinem Verhältnis mehr zu menschlichem Maß standen. Durch die Tore hätten drei hochgeschraubte Feuerwehrleitern nebeneinander ohne Schaden fahren können. Dir könnt euch denken, wie ich erstaunte, als ich in gewaltiger Höhe über dem Sims der Portale in mannshohen Goldbuchstaben die Inschrift las: Dieser Tempel Gottes ist eine genaue Nachbildung von St. Peter zu Rom in doppelter Größe! Die Privatleute glaubten wohl, daß ihr Gott die himmlischen Dividenden nach der Masse seines irdischen Besitzes verteilte. Die Altäre und Heiligenbilder im Innern verschwammen zu riesenhaften und bedeutungslosen Farbflecken. Zwischen den Pfeilern ragten erleuchtete Glastafeln, über die fortwährend Zahlen und Buchstaben hinliefen. Vor ihnen standen in kleinen Gruppen Private und notierten sich diese Zeichen in ihre Merkbücher. Ich fand es sonderbar, daß sie so gewissenhaft die Gesangbuchverse für das ganze nächste Jahr nachschrieben. Später wußte ich, daß über die schimmernden Tafeln die Börsenkurse der ganzen Welt promenierten. Die Privaten verstanden es, Erbauung und Geschäft zu verbinden. Aus der Kuppel tönte plötzlich ein liebliches Orgelvorspiel. Als es schwieg, rief eine weiche, wohlklingende Stimme herab: »Wenn du dich nach dem Paradiese sehnst, so besuche heute abend das neueste Varieteprogramm in der Alhambra.« Da wußte ich ja nun Bescheid. 70
Ich winkte mir ein Auto und fuhr ins Hotel zurück, um mich am Nachmittag für den Abend auszuschlafen. 17 In der Alhambra ging es ungefähr so zu, wie bei uns in sogenannten Gesellschaftsfilmen. Sektlogen, ein Tanzparkett aus poliertem, von unten her durchleuchtetem Rosenquarz, ein Nigger-Orchester von mindestens hundert Köpfen. Auf der Bühne spielten sich in zauberhaften Lichteffekten (und das hatten sie heraus, die Utopier) revueartige Szenen ab. Nackte Mädchen herrschten vor, aber auch geschminkte Jünglinge stellten schwüle Akte. Dieser tolle und lautlose Lustbetrieb, der sich in funkelnden Lichtwellen badete, schien indessen keinen Eindruck mehr zu machen. Nur flüchtig wandte sich hie und da ein Kopf nach der Bühne. Beifall war nicht Sitte. Ich glaubte manchmal, unter kolorierten Gespenstern zu sitzen. Die Herren trugen Frack. Die mehrpfündigen Orden lagen neben ihnen auf kleinen, samtüberzogenen Tischen. Wenn Polizeikontrolle nahte, ertönte ein Sirenenschrei und man hängte sich die schweren Vögel eiligst um den Hals. Die Damen … na, ich danke. Violett geschminkte Gesichter ohne Augenbrauen, brandrot gemalte Lippen, die Ekel und Langeweile an den Winkeln herabzogen. Nackte, nie befriedigte Lüsternheit machte ihre Züge gemein und roh. Was kann hinter diesen eitlen Stirnen wohnen, als wilde Ichsucht, Grausamkeit und zügellose Begierde, sagte ich mir voll Schauder. Die wenigen Kleiderfetzen dienten lediglich dazu, die Reize dieser Schaufensterpuppen herauszustreichen. Sie waren mit Brillanten und Perlen übersät. Die neueste Mode forderte, über der linken Brust71
warze einen nußgroßen Rubin zu tragen, der unmittelbar über der Haut festsaß. Zu diesem Zweck mußte ein Geflecht von Platindrähten in die Haut einwachsen. Wie man mir versicherte, eine äußerst schmerzhafte Operation. Dafür erweckten die stattlicheren Damen der Gesellschaft den Eindruck von SchnellzugsLokomotiven mit Spitzkühler und roter Signallaterne. Von diesen Einzelheiten abgesehen, hielt sich der Verkehr etwa in den Grenzen einer »mondänen« Vergnügungsstätte der alten Welt. Man trank Sekt und schwere, eisgekühlte Liköre, unterhielt sich gedämpft und tanzte, als müsse man einer lästigen, aber unumgänglichen Pflicht genügen. Mehr als das interessierten mich die Kellner, Manager und erotischen Spaßmacher auf der Bühne, überhaupt die ganze Dienerschaft dieser korrumpierten, dekadenten Welt. Wie war es möglich, sich in die Abhängigkeit von launenhaften und perversen Menschen zu begeben, die sich anmaßten, Herren der Welt zu sein, wenn man in der Organisation der Werktätigen frei und von allen gleichgeachtet sorgenlos und heitermenschlich sein Dasein erfüllen konnte? In diesem Punkt fielen wieder die Ansichten von Joll und Noris und den Gruppen, die hinter ihnen standen, auseinander. Noris war der Meinung, es gebe ausgesprochene Lakaienseelen, die man nie zu Gemeinschaftsmenschen erziehen könne. Sie gediehen nur unter der Knute eines herrischen Willens. Sie fühlten sich nur wohl, wenn sie die vergiftete Luft von kupplerischen Salons atmen dürften. Sie litten an der Sucht, sich zu erniedrigen, wie an einer unheilbaren Krankheit. Joll bestritt nicht, daß in manchen Menschen der Trieb, sich sklavisch unterzuordnen, mächtig sei. Dann 72
müsse man aber neue Methoden suchen, um sie von diesem Mangel an Mut zu sich selbst zu befreien. Sei das nicht möglich, so wäre es immer noch besser, diese entarteten Typen in der Gemeinschaft der Freien zugrunde gehen zu lassen, als sie den Privaten auszuliefern. Den Privaten alle Hilfskräfte zu entziehen, war eine seiner dringendsten Forderungen. »Dann verrecken sie im eigenen Dreck«, pflegte er zu sagen, wenn ihn die Verachtung überkam. Die Privaten bezahlten ihre Lakaien gut und ließen sie an ihrem Luxus scheinbar teilnehmen. Sie hofften, sich auf diese Weise eine Schutzgarde gegen die Arbeiter zu erhalten. Die Lakaien hatten sich unter dem Protektorat der Kapitalisten in der »Brigade Wehrhart« organisiert. Sie behaupteten, ein Turnverein zu sein und trugen im Knopfloch ein Abzeichen in Form eines umgestülpten Rasierbeckens. Die Brigade war von Staats wegen verboten. Man wußte, daß sie im stillen weiterbestand, kümmerte sich aber wenig darum, weil die Zahl der Lakaien gegenüber den Arbeitern viel zu gering war, um ernsthaft überwacht werden zu müssen. Weit wichtiger, als diese Kinderspielvereinigung, die das Gedächtnis an die militärischen Dienstgrade der alten Welt weiterpflegte (der Kellner, der mich bediente, wurde vom Piccolo »Herr Oberst« angeredet …), war eine Organisation der Privaten, die sich harmlos »Handelsklub« nannte. Die Statuten des Handelsklubs unterstellten privatgeschäftliche und unterhaltende Ziele. Der Zentralrat, der sie genehmigt hatte, fand nichts an ihnen auszusetzen. Man wußte jedoch, daß diesem Handelsklub hochpolitische Bedeutung zukam. Nur wenige und nur die reichsten Geschlechter der Privaten gehörten ihm an. Über die geheimen Besprechungen 73
des Präsidiums gelangten niemals deutliche Meldungen an die Öffentlichkeit. Man wußte nicht einmal, wo sie stattfanden. Im Klubhaus selbst begnügte man sich mit belanglosen Sitzungen, deren Verlauf genau den Statuten entsprach. Ein Mitglied der Genossenschaft war jahrelang Haushofmeister im Klub gewesen, ohne jemals auch nur eine verfängliche Redensart gehört zu haben. Vertrauenswürdiges Mitglied des Klubs zu werden, war für mich ganz ausgeschlossen. Jeder kannte jeden. Ein Gesuch um Aufnahme hätte peinlichste Nachforschung nach meiner »feudalen« Abstammung zur Folge gehabt. Und selbst, wenn man mich in das Klubhaus eingelassen hätte, wäre ich niemals dem engeren Kreis nahegekommen. Anderseits wurde mir immer klarer, daß ich nur in einer geheimen Sitzung des Präsidiums Dinge erfahren konnte, die meinen Auftrag angingen. Die breite Masse der Privaten wußte ebensowenig wie ich, was in der Luft lag. Nur, daß überhaupt etwas vorging, das beschäftigte alle Gemüter. Ich setzte mich in der Alhambra zu zwei älteren Herren, die, gleich mir unbeweibt, dem Treiben zuschauten. Der Sitte gemäß stellte ich mich vor: »Graf Zak!« Die beiden nannten höflich ihre Namen, die ich nicht verstand und wir saßen uns lange stumm gegenüber. Der Ältere hatte etliche Pfund Eisen neben sich auf dem Ordenstischchen liegen. Ich bemerkte, wie er mich neidisch betrachtete. Schließlich lösten mehrere große Schnäpse, die er geläufig hinter die Binde goß, seine Zunge. »Noch wenig dekoriert!« ächzte er mich ironisch an. 74
Ich war froh, endlich ins Gespräch zu kommen. Auf seinen Ton eingehend, sagte ich nachlässig: »Wir sind an der Ostküste Gottseidank weit vom Schuß.« »Ja, ja – Sie haben’s gut.« Damit verfiel er wieder in stummes Brüten. Jetzt ermunterte sich der andere, klemmte sein Monokel fester und sagte: »Kenne einen Ihrer Vettern – den Egon Zak. Wo steckt er denn jetzt, der alte Bursche?« »Spritztour nach New York, incognito!« antwortete ich forsch. »Nicht möglich, Graf.« Der andere ließ erstaunt sein Monokel fallen. »Sprach gestern mit ihm im Radio. Will mich morgen aufsuchen.« Ich versteckte mich hinter Grobheit: »Warum fragen Sie, wenn Sie’s besser wissen? Kümmere mich wenig um Verwandtschaft, Möglich, daß ich mich irre …« Der Ton war um eine Schattierung der Angst zu schroff gewesen. Mein Gegenüber sprang blaß auf. Der Alte kicherte: »Mit den Zaks ist nicht gut Kirschen essen. Das weiß man.« In diesem Augenblick rettete mich der Sirenenruf vor einem peinlichen Zwischenfall. Die eisernen Plaketten klirrten rasch über die Frackaufschläge. Die Damen hüllten sich in kostbare Pelzmäntel. Auf der Bühne wurde es so dunkel, daß man die exerzierenden Amazonen und Epheben kaum erkennen konnte. Eine Polizeipatrouille von drei Mann mit roter Kokarde und roter Binde am Arm schritt langsam durch die Tischreihen. Nachdem sie sich entfernt hatte, wandte sich der Alte 75
an uns beide: »Meine Herren, Einigkeit ist unsere oberste Pflicht. Das sollten Sie den Roten abgucken. Ich hoffe, daß Sie sich wieder vertragen.« Ich spielte den derben Biedermann, bot dem Monokel die Rechte und sagte treuherzig, wenngleich etwas barsch: »War nicht bös gemeint. Man wird rauh im Osten …« Der Gekränkte reichte mir kühl seine Hand, verbeugte sich förmlich: »Danke, das genügt mir.« Ich wollte nun mit dem Alten mein Garn spinnen. »Höchste Zeit überhaupt«, sagte ich und blickte in mein Glas, »daß sich das Blättchen wieder wendet. – Diese rote Schweinerei ist nicht mehr zu ertragen. – Na, so ’n leises Morgengrauen spürt man schon, wenn man von der Ostklitsche nach »U-Privat« kommt, wie? Lange kann’s nicht mehr dauern …« Der Alte zuckte mit den Schultern. Das Monokel vertiefte sich in den Rückenausschnitt einer Dame. Ich kam keinen Schritt vorwärts. Am nächsten Vormittag schnappte ich in der Kirche vor den Börsenpfeilern Bruchstücke eines Gesprächs auf, das zwar belanglos schien, aber seine Hintergründe haben mochte. Ich merkte es an dem schurkischen Lächeln, das die eckigen Gesichtszüge der Flüsternden auf Augenblicke verklärte. Der Eine: »Ich weiß nicht mehr, wie ich’s schaffen soll. Lasse vierundzwanzig Stunden in Schichten durcharbeiten …« Der Andere: »Der Schnapskonsum in »Privat« müßte doch ungefähr gleichbleiben, denke ich.« Der Eine: »Natürlich. Wer soll denn fünf Millionen Flaschen Mumm-Extra trinken, bitte Sie.« Der Andere: »Fünf Mill… Donnerwetter. Wer ist denn der Auftraggeber?« 76
Der Eine (flüsternd, ich mußte es mehr erraten, als ich es hören konnte): »Handelsklub!« Beide grinsten verständnisinnig. Der Andere: »Na, dann feste los. Übrigens hat auch Damenkonfektion ungeheure Aufträge …« Damit entfernten sich die beiden. – Im Hotel gab ich an, einen Tag in Geschäften zu verreisen. Ich flog mit Bob am Abend ostwärts und landete in tiefer Nacht am Turm. Der engere Zentralrat war noch beisammen. Noris leitete die Sitzung. Er sah blaß und übernächtig aus. Die Stimmung war auffällig gedrückt. Ich berichtete, daß ich im Grunde nichts zu berichten wüßte. Man wunderte sich darüber kaum. Das Gespräch, das ich belauscht hatte, wurde protokolliert. Die meisten neigten der Auffassung von Noris zu, daß »Flasche Schnaps« und »Damenkonfektion« Decknamen für Waffen seien. Tirwa widersprach. Es sei Unsinn, anzunehmen, daß die Privaten einen bewaffneten Putsch im Lande versuchen würden. »Das wäre Selbstmord, Genossen. Sie bringen samt ihrer Lakaienbrigade nicht den zwanzigsten Teil der Truppen auf, die wir ihnen sofort entgegenstellen können. Mit offener Gewalt ist gegen uns nichts auszurichten. Das wissen sie ganz genau.« Eine andere Deutung für die Decknamen fand jedoch Tirwa ebensowenig. Noris trug mir auf, mich weiter umzusehen. Er überreichte mir eine goldene Taschenuhr. Ich drehte das Ding verlegen in den Händen. Noris lächelte: »Nein Karl, wir beehren unsere Getreuen nicht mit gravierten Chronometern. Die glänzende Schale ist eine Kapitalisten-Attrappe, weiter nichts. Wenn du den Aufziehknopf drehst, wird im 77
Innern ein winziger Radioalarmapparat in Gang gesetzt, dessen Ruf unsere Polizeistation hört. Er wird dort von einem Peilempfänger aufgenommen. Man weiß augenblicklich, auf den Meter genau, wo du dich in »U-Privat« befindest. Fünf Minuten später melden sich hundert unserer Polizeigenossen bei dir. Sobald du das Geringste bemerkst, weißt du, was du zu tun hast.« Er ahmte die Geste des Uhraufziehens nach. »Ich werde vor Gewalt nicht mehr zurückschrecken!« »Bravo Noris« riefen alle Mitglieder des Rates. Er erschrak beinahe über diese Zustimmung. »Leider fehlt uns jeder Anlaß, den Ausnahmezustand zu verkünden«, schränkte er hastig seine mutige Rede ein. Tirwa blickte finster vor sich hin. Dann erfuhr ich, weshalb der Rat noch so spät in der Nacht zusammensaß und weshalb alle Gesichter so umdüstert schienen. An diesem Tage hatten sich in einer Wohnburg Dinge ereignet, so sinnlos und töricht, so unvorstellbar im Rahmen dieser Gemeinschaft, daß ich die Bestürzung begriff, obwohl bei uns kein Hahn danach gekräht hätte. Eine Genossin hatte einer andern heimlich ein Kleid entwendet und es in ihrem Bett versteckt. Nicht zum Scherz. Denn als man es fand, schrie sie wütend, sie hätte die Bettelei satt. Wenn man nicht die Zimmer und Schränke verschließen könne, brauche man sich auch nicht zu wundern, wenn mal was wegkäme … Ganz unfaßlich; jeder erhielt in den reichlich ausgestatteten Magazinen ohne Kontrolle, was er brauchte und kein Mensch konnte einsehen, was bei Allgemeinbesitz verschließbare Türen und Schränke nützen soll78
ten. Wenn jemand in seinem Raum ungestört sein wollte, schob er ein blaues Schildchen über die äußere Türklinke. Dann verschonte ihn die Umgebung mit Besuchen. Aber Schlüssel …? Und der andere Fall betraf zwei Genossen, die sich im Magazin Schuhe holen wollten und schimpften, weil es keine mit Lackkappen gäbe. Die Lager enthielten ausgezeichnete weiche Kalbslederschuhe in schmucken Formen. Aber Lackschuhe hielt man für Firlefanz. Noch nie war es dem eitelsten Genossen eingefallen, solche Luxustrittchen zu verlangen. Immerhin fand ich es übertrieben, daß sich der Zentralrat so ernsthaft mit diesen Vorgängen befaßte. Noch mehr erstaunte ich, als ich plötzlich Jolls Stimme vernahm, ohne ihn zu sehn. Noris hatte ihn aufgefordert, an der Sitzung durch Fernempfang teilzunehmen. Da saß er also in Futura, und sah und hörte genau, was hier im Rat vorging. Sicher war ihm auch mein Eintritt nicht entgangen und er wußte schon, daß ich nichts herausgekriegt hatte. Ich spürte mein Herz klopfen. »Es gibt keine vernünftige Erklärung für diese Dinge«, erklang Jolls Stimme hart, »was aber unvernünftig ist, hat seinen Ursprung im Kapitalismus. Vielleicht versuchen es die Privaten durch geheime Agenten mit Hypnose. Man soll erforschen, ob das möglich ist.« »Das kann bei dem einen oder anderen gelingen«, antwortete Noris, »aber nicht bei Millionen. Es wäre ein lächerliches Experiment.« Joll schwieg. Die anderen wußten auch nichts vorzubringen. Noris hob die Sitzung ohne Ergebnis auf.
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18 Ausgestattet mit meinem Alarmapparat, forderte ich vom Schicksal eine Gelegenheit, ihn zu erproben. Aber sie stellte sich nicht ein. Ich besuchte eifrig die Vergnügungslokale, verdarb mir tapfer den Magen an Wein und Schnaps, machte hier und da vorübergehende Bekanntschaften, ohne mehr zu erfahren, als wir schon wußten. In weinseliger Laune konnte es sein, daß mich einer der Goldonkels vertraulich mit dem Ellenbogen anstieß, das Glas hob und vielsagend auf »Neue Zeiten« anstieß. Das war aber schon viel und. geschah selten. Bei solchem Gefühlsausbruch unter uns »östlichen« Gummijunkern ereignete es sich einmal, daß vom Nebentisch ein Herr hastig an unseren Tisch herantrat und schneidend scharf durch die Zähne zischte: »Meine Herren, Sie wissen wohl nicht mehr, was Sie reden! – Gehen Sie nach Hause!« Ich wollte auffahren, aber mein Nachbar, der eben noch so lustig gewesen war, hielt mich ängstlich zurück, zahlte schweigend und wir gingen. Draußen flüsterte er: »Er hat natürlich ganz recht – vollkommen recht. Man ist ein toller Esel, weiß Gott.« Ich fragte, wer uns diesen Verweis erteilt habe. Mein Begleiter blickte mich sehr erstaunt und forschend an: »Kennen Sie den jungen Morgon nicht? Jeder Mensch kennt ihn, obwohl er sich äußerst selten zeigt. Er ist der Enkel des Alten und sein einziger Nachkomme, ’n knapper Fünfziger und bereits Präsident des Handelsklubs … will was heißen!« Ich antwortete, daß mir alles dies natürlich bekannt sei. Die Aufregung hätte mich so benommen, daß ich den »jungen« Morgon gar nicht richtig in mein Gehirn hineinfotografiert hätte. 80
Ziemlich frostig trennten wir uns. Ich hatte keinen vertrauenswürdigen Eindruck an diesem Abend hinterlassen und nahm mir vor, noch zurückhaltender zu sein. Zu Bett zu gehen hatte ich keine Lust, ebensowenig verlockte es mich, mir mit Musik und Likör den Kopf noch wirrer zu machen. Ich ließ mich in einem Sessel in der Hotelhalle versacken und dämmerte vor mich hin. Ein elendes Geschäft, diese Spitzelei, dachte ich, am Ende weiß man selbst nicht mehr, wer man eigentlich ist. Im Halbschlaf sah ich mich zwischen jungen Gummibäumen stehen, eine Hetzpeitsche in der Hand und schwarze Sklaven antreiben. Vielleicht bin ich wirklich der ehrenfeste Graf Zak und alles andre ist nur ein Traumgedusel, das da mit dem Turm und den Arbeitern, die freie Menschen sein wollen. Ich fühlte, wie mir eine Hand leicht über das Haar strich. Sehr wohl tat das. Eine leise Stimme flüsterte in mein Ohr: »Zakchen, kennst du mich nicht mehr?« Da wachte ich wieder auf. Von der Lehne des Sessels abwärts baumelten zwei schlanke Beine. Ich hob den Kopf und sah in zwei dunkle, feuchtglänzende Augen dicht vor mir. Das Licht hatten sie eingedreht, es war schummrig wie im Theater, bevor der Vorhang aufgeht. Wir waren ganz allein. Ihr mögt euch dabei denken, was ihr wollt, mir kam das in diesem Augenblick ganz natürlich und richtig vor, daß da ein junges und hübsches Frauenzimmer an meiner Seite saß und seinen kühlen Arm um meinen Nacken legte. »Was willst du denn von mir?« fragte ich müde und gähnte. Sie lachte herzhaft (Echos antworteten aus den dunklen Nischen), schnippte mir unter die Nase: »Aber 81
Zakchen, du bist ja ganz verbauert im letzten Jahr was ich will …? Gott, bist du komisch …« Ich lachte mit, wahrhaftig, kam mir selber komisch vor. Ich stand auf, ein bißchen schwankend, sie hing sich an meinen Arm und wir fuhren nach oben. In meinen Zimmern wurde ich bei hellerer Beleuchtung ziemlich nüchtern. Das half mir aber gar nichts. »Wie reizend«, rief meine Begleiterin, »man hat dir dasselbe Appartement gegeben wie damals. Erinnerst du dich noch …?« Sie zeigte auf ein breites Liegesofa, auf dem sich seidene Kissen türmten und warf sich mitten hinein. Ebenso flink sprang sie wieder auf, huschte ans Telefon, bestellte Sekt und allerlei Leckereien, hob alles aus dem kleinen Speisenaufzug, deckte ein Tischchen und lud mich bei mir zu Gaste. Dabei plapperte sie unaufhörlich und ich erfuhr wenigstens aus ihrem eigenen Munde, daß sie Elvira hieß. »Ich bin ja sooo froh, daß ich dich gefunden habe, Zakchen«, seufzte sie, hing sich an meinen Hals und küßte mich. »Der Raubheinrich hat mich sitzen lassen, ganz gemein. Hättest du das von ihm gedacht?« Ich schüttelte düster den Kopf. »Na siehst du. Mit der Perlenkette ist das schofle Aas durchgegangen … schenkte sie mir erst und nimmt sie dann wieder mit.« Dicke Tränen tropften auf mein gestärktes Frackhemd nieder. »Aber Elvira«, würgte ich aus trockener Kehle. Was ging mich denn der Raubheinrich an. Sie schluchzte: »Du hast mich früher doch immer Elfchen genannt, das war sooo lieb …« Puh, mir wurde der steifleinene Kragen zu eng. Ich machte ihn ab. »Nun wird’s gemütlich!« Elvira klatschte in die Hände und zog sich mit dem roten Stift die Lippen nach. Ihre Zärtlichkeit wuchs bedrohlich. Sie setzte sich auf meinen Schoß, stieß mit mir an, futterte mich 82
wie ein kleines Kind und ich hatte keine Kraft, mich zu wehren, denn ich war ja Zak von Gummiklau, und der liebte das wahrscheinlich. Mir war schon beinahe alles egal. »Zakchen«, flötete sie, »kaufst du mir ’ne Perlenkette, wenn ich recht nett zu dir bin?« … Kitzlige Sache. »Was kann so ’n Ding kosten?« warf ich hin, eine weltmännische Gebärde aus der Manschette schlenkernd. »Elfchen« rückte von mir ab und spitzte beleidigt den Mund: »Seit wann fragst du denn nach Preisen, Zak. Das bin ich von dir doch nicht gewöhnt!« Mit einem prüfenden Blick über die lackierten Fingernägel: »Kinderspiel für dich, mein Kleiner … höchstens zwanzigtausend …« Mir fiel Tirwa ein. Bloß nicht sparen wollen, hatte er gemahnt. »Wollen mal sehn, Elfchen« sagte ich gönnerhaft. Sie verlöschte das Licht bis auf zwei kleine Ampeln über dem Himmelbett. Wieviel Stunden vergangen waren, weiß ich nicht. Draußen wird es wohl schon gedämmert haben. Aber die dichten Vorhänge erhielten uns die Nacht. Ich träumte angstvollen Unsinn durcheinander. Plötzlich glaubte ich, jemand würge mich am Halse, fuhr empor Elvira kniete neben mir. »Wie hast du mich erschreckt« sagte sie leise und schaute mich mit einem sanften, schmelzenden Blick an, aber mir war, als hätte ich in der Sekunde des Erwachens in die Fratze eines bösen lauernden Tiers gesehn. »Es ist gut, daß du munter bist«, flüsterte sie und schmiegte sich an mich. »Ich kann nicht schlafen. Eins versprich mir, Zak: nimm mich mit!« Sie erhob flehend die Hände gegen mich und fing unversehens an zu weinen. Jetzt war ich wirklich wach, hatte einen kühlen Kopf und meine Gedanken sprangen nicht mehr quer. Ich 83
dachte an meine Aufgäbe. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, daß ein Spion sein Glück durch Nachtgespräche mit einer hübschen Frau machte. »Aber Kind«, sagte ich väterlich, »du weißt doch, daß das unmöglich ist. Meine Familie …« »Nein, nein, Zak«, rief sie pathetisch, »du brauchst dich nicht zu verstellen. Ich will gar nicht nach dem Osten. Ich meine, wenn die große Sache losgeht …« Jetzt mal ganz ruhig bleiben, knurrte ich mich selber an. Ich fühlte, wie sich mein Puls beschleunigte. »Weiß von keiner großen Sache« sagte ich rauh und zakisch. Elvira schüttelte sich vor Schluchzen: »Warum hast du kein Vertrauen zu mir? Ich weiß es ja, Börsenschreck vom Handelsklub hat’s mir doch selber gesagt. Mögen dann die roten Schufte sehen, wo sie bleiben.« Sie ballte ihre Fäuste und drohte nach der Ecke, wo mein Bademantel hing. »Unerhört ist das«, polterte ich, »hat dir Börsenschreck etwa auch den Termin genannt?« »O Gott, du darfst es ihm nicht wiedersagen«, wimmerte Elvira, »natürlich, alles hat er mir gesagt … Heute in sechs Wochen fliegt ihr alle ab … ich will nicht hierbleiben, will nicht zu den roten Teufeln.« Sie überschrie sich hysterisch und zerriß ihr Taschentuch. »Blödsinn ist das«, brummte ich, »fällt uns gar nicht ein, wegzufliegen. Wohin sollten wir denn auch …« Ich mußte irgendwas ins Blaue hineinreden. Elvira faßte sich, legte ihre Wange an meine und sprach ganz vernünftig. »Du brauchst mir doch nichts vorzumachen, Zak. Ich weiß, daß ihr alle in der gleichen Nacht eure Flugzeuge besteigt und hinüber nach Amerika fliegt, wo jetzt schon von euren Leuten alles vorbereitet wird, damit die Geschäfte weitergehen. Ihr 84
laßt einfach die Roten ganz unter sich, damit sie ohne eure Hilfe in den Dreck rutschen. Und dann, wenn sie richtig ausgehungert sind und nach euch winseln, daß ihr ihnen wenigstens trockenes Brot zu beißen gebt, dann kommt ihr wieder und seid die Herren …« »Du siehst also, ich weiß genau Bescheid … Aber was soll aus uns werden, die wir euch das Leben verschönert haben, wo und wann wir konnten? Sollen wir uns von den roten Hunden, wenn sie durch euren Abzug zur Tollwut gereizt sind, zerreißen lassen? Nimm mich mit, Zak!« Sie rang verzweifelt die Hände. »Nun gut, Elfchen«, sagte ich feierlich, »wenn es so weit ist, soll auch ein Plätzchen für dich in meiner Arche Noah reserviert werden.« »Ich bin dir so dankbar«, hauchte sie und küßte mir die Hand. Undeutlich sah ich im Spiegel ihr abgewandtes Gesicht. Mir schien, es lachte. Lange lag ich wach und überlegte. Später mochte ich doch wieder eingeschlafen sein. Als mich Bob gegen Mittag weckte, war Elvira verschwunden. Vielleicht hätte ich sie für eine Traumgestalt gehalten, wenn nicht das Tischchen mit den Resten unserer Mahlzeit und meine Brieftasche gewesen wären, in der zehn Tausenderscheine fehlten. Elvira hatte sich eine kleine Anzahlung auf die Perlen stibitzt. Während ich mich ankleidete und rasierte, überdachte ich mir die Geschichte. Da hätte ich ja also das Geheimnis beim Hemdzipfel. Es war zum Lachen einfach. Diese Geldsäcke bildeten sich ein, der Arbeiterstaat, der sie längst nicht mehr brauchte, müßte zu Grunde gehn, wenn sie ihre Stellungen räumten. Gewiß, es ist nicht selten, daß der Hochmut alle Grenzen der Vernunft überspringt und die Selbstüberschätzung ist von jeher ein Grundpfeiler der Kastenwelt gewesen. 85
Es fiel mir aber doch schwer, Leute wie Morgon für so dumm zu halten, wie sie nach diesem Projekt erscheinen mußten. Vielleicht steckte insofern ein realer Kern in dem Märchen, das der ehrenfeste Börsenschreck dem Mädchen aufgebunden hatte, als wirklich eine größere Anzahl mächtiger Privater das Land verlassen wollten, um durch ihren Einfluß die übrige kapitalistische Welt gegen den Arbeiterstaat zu mobilisieren. Ich kam zu keinem rechten Schluß und war gespannt, was die Genossen im Turm meinen würden. Den Nachmittag brachte ich in einem der vornehmen Cafés zu und las die »U-Privat-Presse«, die ganz harmlos schrieb, weil sie durch die Zensur des Turmes ging. Am Nebentisch saßen, nach der Ähnlichkeit zu schließen, Vater und Sohn. Der Vater schien ein besonderer Kapitalgauner zu sein, denn er trug so ziemlich alle gewichtigen Orden, die der Arbeiterstaat zu verleihen hatte. Mit plötzlichem Entschluß legte er diese Last ab und neben sich auf einen Stuhl. Das war nicht üblich, da das Café an der Straße lag. Der Alte mit dem bösartigen Geierkopf sprach erregt auf den Jungen ein. Seine energischen Handbewegungen und sein Kopfwerfen bedeuteten: »Ich habe das satt, ich lasse mir diesen Hohn nicht mehr bieten, meine Geduld ist zu Ende.« Wie gerufen betrat ein Polizeigenosse den Raum. Solidarisch versuchte man sofort seine Aufmerksamkeit von dem rebellischen Privatmann abzulenken. Ein Herr bat ihn höflich um eine Ortsauskunft, ein anderer behauptete, vor einigen Minuten hätte man auf der Straße nach Polizei rufen hören. Der Polizist ließ sich indessen nicht beirren. Er trat an den Tisch des Geierköpfigen und ersuchte ihn, so86
fort seine Orden anzulegen, wie es das Staatsgesetz fordere. Das Unerhörte geschah. Der Alte blickte höhnisch auf die rote helmartige Kappe des Ordnungsmannes und schrie: »Ich pfeife auf dieses Staatsgesetz. Ich bin kein Packesel. Häng’ dir den Dreck selber um den Hals.« Von allen Seiten sprangen Private herbei und redeten auf den Alten ein. Er solle um Gotteswillen vernünftig sein und keinen Zusammenstoß mit dem Zentralrat provozieren. Der Polizist blieb von dem Tumult unberührt. Er legte die Hand auf die Schulter des zeternden Geierkopfes, erklärte ihn für verhaftet und forderte ihn auf, ihm zu folgen. In diesem Augenblick bemerkte ich, daß der Junge einen Revolver aus der Hosentasche riß – und fast mechanisch drehte ich an der Kopfschraube meiner Alarmuhr … Zugleich sah ich, wie aus dem Helm des Polizisten haarfeine Drähte wie ein strahlenförmiger Heiligenschein hervorwuchsen. Bevor die entsetzten Umstehenden den jungen Mann hindern konnten, krachte der Schuß – und zersplitterte hinter ihm einen Spiegel. Der Polizist lächelte. Die Privaten und Lakaien, die den Vorgang miterlebt hatten, erstarrten wie gelähmt. Neben mir flüsterte jemand heiser: »Das ist der elektrische Panzer, von dem man bisher immer nur Gerüchte hörte.« Schon aber gellten draußen heulende Autosirenen. Und in der nächsten Sekunde war das Lokal von hundert roten Polizisten besetzt. Jetzt staunte der Polizeimann, der den Alten soeben ungehindert abführen wollte, denn er hatte ja nicht alarmiert. Ich stand klopfenden Herzens unter den andern Privaten und erwartete von dem Führer der Pa87
trouille, der mich, wie ich fühlte, sofort erkannt hatte, angesprochen zu werden. Doch der war geschickter. Er durchschaute sofort den Vorgang, würdigte mich keines Blickes mehr, setzte seine Signalpfeife an den Mund und so rasch, wie sie gekommen, verschwanden die Hundert wieder, den alten und den jungen Privaten in ihrer Mitte. Immerhin stellte ich zu meiner Genugtuung fest, daß mein Apparat ausgezeichnet funktionierte und daß dieser märchenhafte Aufmarsch der roten Hundertschaft ungeheuren Eindruck auf die Privaten gemacht hatte. An den Tischen wurde nur noch geflüstert und die gepflegten wohlrasierten Gesichter fältelten sich in sichtbarer Bestürzung. Während ich mich noch an meinem voreiligen Erfolg weidete, beugte sich im Vorbeigehen eine schmale Gestalt zu mir herab und sagte lässig: »Hat fabelhaft geklappt, was?« Hinter dem Monokel streifte mich ein kaltes Auge ironisch. Meine Bekanntschaft vom ersten Abend in der Alhambra. Unbehagen beschlich mich. Elvira, die Widersetzlichkeit des alten Privaten und der unsympathische Bursche, der »meinen« Vetter, den Egon Zak, so gut kannte es stimmte nicht zusammen, es blieben Widersprüche, weniger für den Verstand, als für das Gefühl. Waren wir erst im Turm, wünschte ich. Wie stets starteten wir nach Einbruch der Dunkelheit. Kurz bevor wir unseren Ostkurs aufgeben wollten, um nach Utopolis zurückzukehren, glaubte Bob eine Ungenauigkeit im Lauf des Propellers zu hören. Er drückte mir das Steuer in die Hand (die automatischen Sicherungen gestatteten keine groben Fehler) und kroch in den Akkumulatorenraum. Er kam bald zurück. Der Motor lief wieder tadellos. Eine Zuleitung 88
hatte sich gelockert gehabt. Aber Bob hielt ein Kästchen in der Hand, das nicht zu seiner Maschine gehörte. Wir zertrümmerten den Deckel mit einem Schraubenschlüssel. Eine kleine Glasröhre leuchtete im Innern, Spulen und Drähte ergaben ein sauberes metallisches Eingeweide. »Was ist das?« Bob pfiff durch die Zähne. Er wußte Bescheid. »Ein kleiner Radiosender, der mit periodischen Unterbrechungen seine Welle funkt. Wer darauf eingestellt ist, kann unsern ganzen Flugweg peilen.« Bob hantierte zwischen den Drähten. Das Glimmlicht erlosch. »Sollten sie uns auf diese Weise vom Turm aus kontrollieren?« fragte ich gekränkt. »Unsinn«, meinte Bob nachdenklich, »das hat uns jemand im Eden-Hotel zum Andenken mitgegeben. Wir sind aufgefallen. Sie trauen niemandem, den sie nicht stündlich vor Augen haben. Wir müssen dreifach vorsichtig sein.« Mir war, als trüge der blasse Mond, der sich eben über den Wolkentisch beugte, ein Monokel. 19 Tirwa hörte meinen Bericht an, ohne mich zu unterbrechen. Statt einer Antwort zog er mich am Arm in den Fahrstuhl. In der Geheimabteilung des Überwachungsdienstes beschrieb ich Elvira. Es gab da eine sehr hübsche und einfache Einrichtung, um das Bild, das ich in der Erinnerung trug, allen sichtbar zu machen. Man zeigte mir zwei Normalköpfe, den einen von vorn, den anderen von der Seite gesehen. Ich hielt sie erst für Bleistiftzeichnungen hinter Glas und Rahmen. Wenn 89
man jedoch mit einem metallenen Stift über die Platte fuhr, verschoben sich die Linien, Eisenstäubchen, die der elektromagnetischen Einwirkung des Griffels folgten. Ein zeichnerisch begabter Genosse veränderte das Gesicht nach meiner Beschreibung. »Sie hatte eine kleine, freche Stupsnase«, sagte ich; schon hatte der Normalkopf auch eine. Sie stimmte natürlich nicht, den Fehler sah ich gleich und korrigierte, so gut ich konnte, selbst. Der Zeichner half meiner ungelenken Hand nach, und wirklich hatten wir nach ein paar Minuten Elvira beisammen. Man kannte sie. Aus der Kartothek kam Bild und Bericht. Sie hieß wirklich Elvira, ihre Beziehungen reichten in die »höchsten Kreise« des Handelsklubs. Vorübergehend war sie sogar die Freundin des jungen Morgon gewesen. Ich habe vielleicht ein stolzes Gesicht gemacht: Da seht ihr, die Sache stimmt, ich hab’s herausgekriegt. Tirwa lächelte. »Deinen Grafenrock kannst du an den Nagel hängen«, meinte er trocken. »Elfchen hat bestellte Arbeit geleistet. Sie wollen uns aufs falsche Gleis schieben. Immerhin wissen wir, daß die Entscheidung in den nächsten Tagen fällig ist, sonst hätte sie dir nicht von sechs Wochen erzählt. Sie wollen, daß wir uns noch einen Monat sicher fühlen …« Ich sah ein, daß Tirwa recht hatte. Wahrscheinlich waren sie über mich und meine Ansichten längst im klaren. Zak von Gummiklau hatte es wohl an junkerlicher Anmaßung fehlen lassen. Die großherrliche Grobheit läßt sich nicht von heute auf morgen lernen. Zaks Sendung war mißlungen und ich recht niedergeschlagen. Die Lage hatte sich inzwischen kaum verändert. Das Mädchen, das das Kleid entwendet hatte, war am nächsten Tag weinend im Turm erschienen und hatte er90
klärt, es wisse nicht, wie es zu der Tat und den ungeheuerlichen Äußerungen gekommen sei. Es bedaure diese Handlungen tief, könne sich aber nicht für schuldig halten, weil es jetzt wie auch vorher, von der Unsinnigkeit des Privatbesitzes voll überzeugt sei. Ebenso konnten sich die beiden Lackschuhgenossen nicht genug über sich selbst wundern. Sie fanden jetzt die Privatkleidung genau so lächerlich wie jeder andere. Verlegen meinten sie: »Wenn wir noch im Mittelalter lebten, würden wir denken, jemand hätte uns verhext …« Eine verständliche Erklärung wußten sie weder sich selbst, noch den anderen zu geben. Die drei ließen sich freiwillig im individualpsychologischen Institut untersuchen. Auch dort fand man nichts, was in dieses dunkle Seelenabenteuer Licht bringen konnte. Indessen verlor die Öffentlichkeit das Interesse an diesen Ereignissen. Auch im Zentralrat entspannten sich die Gemüter. Ich erbat mir zwei Tage Urlaub. Meine Lebensweise als »Privater« hatten meine Nerven und den Magen angegriffen. Raus aus dem Schlamm! Ein gutes Wort von Jana und ein derber Händedruck von Hein, das fehlte mir, das würde mich wieder sauber machen. Hein fand ich in alter Verfassung. Er lebte wieder mit den Fischern zusammen. Die Genossin, die ihm acht Tage Sommerfrische verschafft hatte, war seine Gefährtin geworden. Er – ein wenig unterordnungsbedürftig – spielte den Pantoffelhelden, obwohl seine bessere Hälfte, als gute Utopierin, es gar nicht verlangte. Wir verbrachten einen schönen Abend im Gemeinschaftshaus der Fischer. Aus ihren Augen leuchtete die Ruhe des weiten Meeres. 91
Ihre Fäuste packten fest und sicher zu. Und ihre Münder sprachen nur knappe und derbsitzende Worte. Erst hier fühlte ich, wie verlogen, weichlich und klebrig die Atmosphäre von U-Privat war. Ich atmete tief und war glücklich. Von meinen Spitzelabenteuern erzählte ich einiges. Es gab nur eine Stimme: man solle die ganze Privatenbrut zum Teufel jagen und ihre Siedlungen in die Luft sprengen. Joll hätte es längst getan, aber Noris …? Und man fluchte auf ihn, obwohl man anerkannte, daß seine Absichten redlich seien. »Er wird uns in den Dreck reiten und Joll muß dann den Karren wieder herausziehen – wenn’s nicht zu spät ist!« Ich mußte an den alten Genossen denken, der neben mir in der Monatssitzung des Zentralrates dieselbe Befürchtung ausgesprochen hatte. Unter schmerzlichen Seitenblicken auf seine Freundin bot mir Hein tatkräftige Hilfe an. »Ick laß mir als Privatmann erster Klasse ausstaffieren mit die schwersten Ordens, Jungs. Wenn’s Klamauk gibt, hau’ ick den Brüdern die Eisensternchen in die Fresse, dat sie die Begräbnisglocken läuten hören.« Wenn das mal so einfach wär’ … »Dat viele Reden und Lavieren, Jungs … Schiet! Ne orntliche Backspier mang die Flossen … dat nenn’ ich ’n Fest!« Breitbeinig stand er zwischen uns und haute mit seinen Fäusten Löcher in die Luft, und weil etwas geschehen mußte, hob er sein Mädel aus, wirbelte es über unseren Köpfen und schmatzte es tüchtig ab. Nach dem Essen gab’s Musik. Kein Radiokonzert, sondern echtes Schifferklavier. »Dat mit die Technik in Ehren«, raunte mir Hein zu, »aber wat ’n richtiges Bandonium is, Mensch, da kann mir dat elektrische Gebimmel gestohlen sin …« Er begann an allen Glie92
dern zu schlottern und arbeitete, daß ihm der Schweiß von der kühn geschwungenen Nase tropfte, »’n echten Niggerstep!« behauptete er. Sein Mädel lachte Tränen, die Fischer schmunzelten. Später tanzten und sangen wir alle. Es war ein herrlicher Abend. Bevor wir uns trennten, nahm mich Hein auf die Seite. »Wat meinst du, Korl«, flüsterte er geheimnisvoll, »du kennst dich besser aus, meinst du, dat sie’t mir übelnimmt?« »Was denn, Hein?« »Ick will ihr die Flasche verehren, mit dem Schiff drin. Aber vielleicht gibt’s dann wieder ’n dolles Palaver und ick muß wieder Inselknast schieben …« Ihm lag augenblicklich nichts an Einsamkeit. »Da sei mal ohne Sorge«, beruhigte ich ihn, »du mußt aber den Namen ändern, Kathrin hat doch nun abgetakelt.« Hein knuffte mich freundschaftlich: »Wenn du mir nich verpfeifst, sag’ ich, et is ihr Name in schleswigholsteinsche Buchstaben.« Er schaute mich triumphierend an. Ich gelobte ewiges Schweigen, wir tanzten uns auf die Schultern und gingen zu Bett. Bei Jana ruhte ich mich aus. Wir zogen in ein kleines Häuschen in der Nähe ihres Jugendlagers und gehörten uns anderthalb Tage allein. Stundenlang lagen wir am Strand. Die Wellen spielten über uns hin. Wir gruben mit den Händen Muschelschalen aus. Dann gingen wir durch den lichten Palmenwald zur Felsküste, kletterten mühsam über das porige Gestein in die Brandung und tauchten nach Korallen. Eine unbestimmte Furcht trieb mich, das Glück dieser Stunden leidenschaftlich auszukosten. Am liebsten hätte ich Bäume, Meer, Berge und Himmel an mein 93
Herz gezogen. Ich umarmte Jana ungestüm. Die friedvolle Unschuld der weiten Natur war in ihr. Alles lag in meinen Händen, wenn ich Jana hielt. Mein Abenteuer mit Elvira hatte ich nicht verschwiegen. Es war mir überhaupt nicht möglich, vor Jana etwas geheimzuhalten, obwohl sie oder vielleicht gerade weil sie nie in mich drang, um mein Innerstes an die Oberfläche zu ackern. Das ist ein böser Sport der bürgerlichen Welt, sich gegenseitig die seelischen Nähte aufzutrennen, bis nur noch das billige Unterfutter von Rachlust, Neid und blasser Ichsucht übrig bleibt. »Wie schrecklich«, sagte Jana, »das Mädchen hat dich gar nicht lieb gehabt. Sicher hat es entsetzlich gelitten.« Sie war voller Mitleid und konnte sich nicht vorstellen, daß jene Frauen einen besonderen Reiz darin fanden, ihre Körper auszuspielen, um eine Perlenkette einzuhandeln oder einen Mann im Auftrag anderer Männer zu überlisten. »Im Gegenteil«, brummte ich verdrossen und von gekränkten Selbstgefühlen angenagt, »die haben sich schiefgelacht im Handelsklub, als Elvira ihren Besuch beim falschen Zak schilderte. Sie wird sehr stolz darauf sein und sich wichtig machen. So ist das.« Jana schaute mich lange an, als wäre ich etwas sehr Fremdes. »Du sprichst wie Morgon«, sagte sie traurig. Es gab einige leere Minuten zwischen uns. In der Nacht, als wir Seite an Seite lagen, ganz erlöst, bettete Jana ihren Kopf an meine Schulter. Ihre Stirn kühlte meine Wange. Sie begann leise zu singen, ein Freiheitslied: Dein Herz, Liebster, kenn ich nicht mehr, Vergiß meinen Namen, Wir sind Kameraden im roten Heer. 94
Wir stampfen zu tausend, ein Schlag, ein Schritt, Wir Kampfmaschine! Turbinen sind unsere Herzen, unsre Hirne sind Dynamit. Wir haben gesiegt. Schau auf, wer ich bin! Ein Weib und deine Geliebte. Nun will ich dich küssen, nimm du mich hin Sie umschlang mich ganz fest. Ich fühlte, es war eine Art Abschied. Am Morgen, als ich fort mußte, zurück in die Stadt, begleitete mich Jana bis an den Rand des Parks. Wir gingen schnell, Hüfte an Hüfte, mit untergefaßten Armen, und freuten uns über den Wind, der an den Kleidern zerrte. Wir waren unser gewiß, es bedurfte keiner Worte mehr. Als ich in den Wagen sprang und Jana die Hand hob, um mir zu winken, verlor ich doch plötzlich allen Mut. Warum blieb ich nicht bei ihr, was trieb mich fort? Ich brauchte nur mit Tirwa zu sprechen, er würde mich sicher nicht zurückrufen. Meine Rolle als Privatenspitzel war ausgespielt … Jana erriet meine Gedanken. Langsam wandte sie ihr Gesicht von mir. Ich fühlte, sie konnte mir alles verzeihen, nur keine Fahnenflucht in diesem Augenblick, da die Gefahr höchste Bereitschaft und Hingabe jedes einzelnen für den Bestand des Ganzen forderte. Ich rüttelte mich zusammen und rief möglichst heiter: »Bald komm ich wieder … wenn mich der Turm losläßt!« Wie konnten ihre Augen leuchten! So schön hatte ich sie noch nicht gesehen. Eine zarte Röte färbte ihre Wangen. Sie senkte den Kopf und flüsterte: »Sonst 95
komm ich in den Turm.« Ohne sich noch einmal umzuschauen, lief sie über die Wiesen davon. Die letzten Stunden des Urlaubes verbrachte ich bei Joll. Ich fand ihn anders als sonst. Unruhig ging er in seinem Zimmer auf und ab, wie ein Gefangener in der Zelle, der weiß, daß das Zuchthaus brennt. Seine Hände spielten nervös mit Papieren, die sie scheinbar ohne Wissen ihres Herrn von der Schreibplatte weghaschten. Er hörte meinen Bericht zerstreut an, unterbrach mich durch zusammenhanglose Zwischenfragen und beantwortete sie meist selbst, ohne daß ich den Sinn seiner Worte verstand. Mir war sehr unbehaglich. Von diesem Mann erhoffte sich die Mehrzahl der Genossen rasche und entscheidende Taten! Mir schien, daß er schon jetzt völlig rat- und planlos war. Plötzlich blieb er dicht vor mir stehen und faßte mich am Hemdsaum: »Wenn du nicht eine Geheimsitzung des Handelsklubs belauschen kannst, ist deine Arbeit umsonst«, sagte er fast barsch. »Übrigens traue ich der Biedermannsmaske des alten Morgon schon lange nicht. Er will nicht eher im Privathimmel seine Millionärsloge beziehen, als bis er wieder Sklaven in eigenen Erzgruben fronden sieht. Er hält sich allzu unauffällig.« »Wie soll ich in das Allerheiligste des Klubs eindringen?« fragte ich schüchtern. Joll ließ mich los und zuckte statt einer Antwort mit den Schultern. Dann setzte er sich schwerfällig an den Arbeitstisch und drückte mir ein Blatt in die Hand. »Hier, das ist das Neueste vom Kriegsschauplatz.« Der Bogen trug die Aufschrift: Täglicher Bericht der Genossenschaftsbank. Er enthielt Zahlenreihen, die mir unverständlich blieben. 96
Joll merkte es: »Gestern stieg in Utopolis das Verrechnungsgeld mit der Privatbank um mehr als vierzig Prozent über den Durchschnitt!« »Das bedeutet?« »Daß unsere Genossen sich weit über das übliche Maß bei unserer Bank Privatgeld auszahlen ließen. Die Summe selbst spielt keine Rolle, aber das Symptom.« »Das Symptom?« Er streifte mich mit einem fast mitleidigen Blick und blieb mir die Antwort schuldig. Minuten schlichen trage. Ich setzte mich auf den Rand eines Stuhls und wünschte sonstwo zu sein. Als Rekrut hatte ich mal helfen müssen, einen Tobsüchtigen in die Zwangsjacke zu stecken. An den erinnerte mich jetzt Joll. Ich fürchtete mich vor ihm. Nach langer Pause sagte er endlich und fast mit Widerwillen: »In kurzer Zeit wird mir Noris den Vorsitz im Zentralrat anbieten, weil er einsehen muß, daß sein Menschenglaube am Machtwillen der Kapitalisten gescheitert ist.« »Du wirst die Stelle annehmen?« fragte ich beklommen. Unter zusammengezogenen Brauen blitzte er mich prüfend an. Stand mit kurzem Ruck auf. Unwillkürlich erhob auch ich mich. »Gewiß«, sprach er zum Fenster hinaus. »Gewiß werde ich kommen, wenn mich die Gemeinschaft ruft. Obwohl es vielleicht vernünftiger wäre, hier zu bleiben.« Da er nicht mehr zu mir herschaute, verließ ich leise das Zimmer. Der nächste Magnetbahnwagen trug mich nach Utopolis.
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20 Im Turm hieß es, ich solle am nächsten Morgen wiederkommen. Noris schlafe und auch die anderen Mitglieder des Rates spannten aus. Mit Mühe gelang es mir, Tirwa aufzustöbern. Er lag auf seinem Bett und las. Als ich ihm die Hand schüttelte, gähnte er herzhaft. Ich wollte ihm von Joll erzählen, aber er winkte ab: »Weißt du, Karl, man hat in den letzten Tagen soviel Schauergeschichten gehört, an denen offenbar doch nichts dran ist Ich denke, wir sollten’s nun mal genug sein lassen, uns gegenseitig Gespensterchen an die Wand zu malen. Ist alles nicht so wichtig.« Und er gähnte wieder. »Ruh dich noch einen Tag von deinem Urlaub aus«, scherzte er. »Vielleicht gibt’s morgen wieder was zu tun.« Ich warf einen Blick auf das Buch, das neben ihm lag. »Die Liebesnächte der Königin von Navarra« stand da in spitzen, goldenen Buchstaben. Sonderbar. Ich hatte geglaubt, der ernste Tirwa lese nur Statistiken und politische Schriften. Auf den Dachstraßen herrschte sonntägliches Treiben. In einem Musikpavillon spielte eine Kapelle. Die Mädchen standen erregt im Kreise und lachten zu den Späßen, die der Paukenschläger machte. Er sprang auf sein Instrument wie ein Ziegenbock los und warf dabei die Schlegel in die Luft. Das sah allerdings sehr komisch aus. Auch ältere Genossen schauten zu und lachten über besonders groteske Verrenkungen. Ich ging weiter. Vor mir einige junge Mädchen, die buntseidene Schärpen über ihren Kleidern trugen. Sie waren stolz darauf, drehten sich kokett in den Hüften 98
und fingen mit Genugtuung neidische Blicke von anderen Frauen auf. Ich setzte mich auf eine Bank zu vier Burschen, die lebhaft diskutierten. Vielmehr waren sie einer Meinung, wie ich gleich merkte, und überboten sich nur an Kraftausdrücken, um ihre Unzufriedenheit auszulüften. »Tag für Tag vier Stunden schuften müssen, das ist auch bloß eine Ausgeburt von Bonzengehirnen«, ärgerte sich der eine. »Ich will verrecken, wenn ich das noch länger mitmache«, brauste der zweite auf. »Mein eigener Herr will ich sein und mich den Teufel um Gemeinschaftsgesetze scheren.« »Früher«, meinte der Dritte, »da war das ganz anders. Da schnürte man sein Bündel und wanderte durch die ganze Welt, wenn’s einem so paßte. Überall gab’s Geld in schweren Mengen zu verdienen, man brauchte bloß durch die Finger zu pfeifen.« »Verdammt«, schrie der Vierte und haute mit der Faust auf das Sitzbrett, »da wurde man Millionär, wenn man ’n bißchen Grütze im Kopf hatte und konnte alle anderen in den Sack stecken!« »Alles Quatsch«, ließ sich wieder der erste hören. »Den größten Spaß auf Erden hat der Soldat.« Er trommelte mit den Fingerknöcheln auf das Dach seiner Mütze, die er zwischen den Knien hielt und summte dazu eine rohe Landsknechtsweise. Mir war, als zöge man mir den Boden unter den Füßen weg. Ich hatte große Lust, auf die Jungen loszuschlagen und sie niederzubrüllen, aber ich war ganz kraftlos und brachte kein Wort aus der Kehle. Neben uns kreischte plötzlich eine Frau hysterisch auf. Eine Gruppe umringte die Rasende, die einige Privatgeldscheine in der Faust zerknitterte und dann 99
wieder wie Propagandaflugblätter durch die Luft schwenkte. Sie heulte und tobte, weil man ihr in der Genossenschaftsbank nicht mehr als den gesetzlichen Höchstbetrag an Privatgeld ausbezahlt hatte. »Was nützen mir diese Fetzen, diese Lumpen, diese lausigen Heller!« Sie zerriß die Scheine, warf sie zu Boden, zertrampelte die Schnitzel und spuckte darauf. Dann fiel sie einem jungen Genossen um den Hals und plärrte laut heraus: »Ich brauche einen Pelz – ich muß einen Pelz haben – ich kann ohne Pelz nicht leben …« Und das mitten im Sommer. Die Umstehenden, die dieser ekelerregenden Szene beigewohnt hatten, waren wohl bestürzt, aber sie sympathisierten mit der Hysterischen und schienen ihre Entrüstung über die Geldverweigerung zu teilen. Namenlose Angst packte mich. Ich rannte in den Turm zurück und verlangte dringend Tirwa zu sprechen. – Er habe strenge Anweisung gegeben, ihn unter keinen Umständen zu stören, komme wer da wolle. Ich war glücklich, ein anderes Mitglied des Zentralrats, die Genossin Sindra, zu treffen, die zum radikalen Flügel gehörte und durch ihre unzerstörbare Arbeitskraft berühmt war. Sie ließ mich ruhig ausreden, gab mir einen zärtlichen Backenstreich und sagte obenhin: »Europäisches Dickblut, mein lieber Karl. Ein bißchen Hysterie steht manchen Frauen ausgezeichnet.« – Nach einer Überlegungspause: »Man könnte überhaupt die Anschaffung von Pelzen seitens der Genossenschaft mal zur Sprache bringen. Will mir’s für die nächste Sitzung vormerken.« Damit ließ sie mich stehen. Ich stürzte in den Nachrichtensaal und ließ mich mit Joll verbinden. 100
Er hörte mich an, ohne mich zu unterbrechen und sagte ganz ruhig: »Stimmt schon. – Hat nichts zu bedeuten. Übrigens kannst du Noris von mir mitteilen, er soll sich nach C 43 richten. Nicht vergessen. Schönen Dank.« Ich war vernichtet. Auch Joll fand alles in Ordnung? Das war das Ende. Und doch – seine Stimme hatte mir vertrauter und fester geklungen als gestern. Ich grübelte. Hatte er mir nicht gesagt, daß nach seiner Meinung die Privaten im Besitz der Geheimwellenverteilung seien, die für die Räte galt. Vielleicht wollte er sie durch scheinbare Gleichgültigkeit täuschen. C 43 – C 43 – sprach ich vor mich hin wie ein Kind, das seinen Auftrag solange auf der Straße wiederholt, bis es endlich vor dem Kaufmannsladen steht. Kopfschmerzen quälten mich. Am liebsten wäre ich in meinen Kapitalistenrock geschlüpft und hätte mich in die Geldstadt eingeschlichen, um mich alkoholisch zu betäuben, dachte sogar an Elvira und das Himmelbett. Um mich abzulenken, machte ich einen Abendspaziergang auf den Dachstraßen. Aus den Häusern klang Musik und Gejohle. Plötzlich schwankten zwei Gestalten auf mich zu, grölten den Mond an und umarmten sich. Ich sah in der Hand des einen Mannes eine Flasche, entriß sie ihm und entzifferte das Etikett: »Mumm-Extra«. Die beiden fluchten, wollten sich auf mich stürzen, stolperten und wälzten sich wie Tiere am Boden. Sie waren total betrunken. 21 Frühzeitig ließ ich mich bei Noris melden. Er war ungehalten über die Störung. Ich erzählte ihm in fliegen101
den Worten, was ich gesehen hatte. Schläfrig rieb er sich die Augen: »Nun – nun – das sind wohl leichte Übertreibungen, mein Lieber. Man darf es den Leuten nicht übelnehmen, wenn sie mal lustig sind.« »Und der Schnaps?« »Schnaps hin, Schnaps her. Ich habe meinen Lebtag noch keinen getrunken, aber vielleicht ist das Zeug gar nicht so teuflisch, wie man uns früher eingeredet hat. – Geh’ nur hinunter in den Sitzungsraum« – er dehnte sich – »diese verdammten Sitzungen – ich komme gleich nach.« Die Mitglieder des Rates fanden sich höchst unpünktlich ein. Das hatte es noch nie gegeben. Tirwa, der Ernste, erheiterte eine Gruppe, die ihn umstand, mit den Späßen der »Königin von Navarra«. »Ein verfluchtes Frauenzimmer«, sagte er schnalzend und schlug sich auf die Schenkel. »Trug bloß seidene Hemden – wenn sie überhaupt was anhatte.« Die anderen wieherten. »Erst soffen die sich den Buckel voll – damals mit Burgunder. Verstehst du was davon, he? – Und dann in die Lustschaukel. Und so alle Tage. Nicht übel, was?« Und er schlug der Sindra vertraulich zwinkernd aufs Gesäß. Die kreischte lüstern auf: »Aber Tirwachen, seidene Hemden hab ich nicht.« Der Spaß war allgemein. Zuletzt kam Noris. Er setzte sich widerwillig, und auch die anderen bequemten sich auf ihre Stühle. »Genossen«, begann Noris, »mir kommt vor, unser Leben ist eine einzige Sitzung. Wir schinden uns ab, damit sich andere schöne Tage machen. Ist’s nicht so?« »Verdammt wahr!« bekräftigte Tirwa. »Ich schlage erstens vor, daß wir uns heute einen Feiertag machen und mal lustig sind; und zweitens, daß wir künftighin 102
nur wöchentlich einmal zusammenkommen. Wie? Unsere Karre läuft« – er gähnte und fuhr leichtsinnig fort – »und wenn sie nicht läuft, nun dann mögen sich andre kümmern …« Dieser Vorschlag fand begeisterte Zustimmung. Die Stühle rückten. Man wollte aufbrechen. Ich stellte mich vor die Tür und mochte wohl so drohend ausgesehen haben, daß man unwillkürlich zurückwich. »Ihr seid alle vergiftet«, brüllte ich, »ihr seid wahnsinnig! Begreift ihr nicht, was vorgeht?! Von Joll bringe ich dir den Befehl Noris, dich nach C 43 zu richten. Wie steht’s damit. Los!« Noris schrie mich an: »Befehl von Joll? – Wer hat hier zu befehlen, he? Immer dieser verdammte Joll-Joll und wieder Joll. Ich kenne ihn nicht. Er soll sich zum Teufel scheren.« Auch die anderen waren entrüstet. Nun, es war richtig, das Wort »Befehl« zu brauchen, war eine Entgleisung. Aber ich hatte keine Zeit, nach passenden Ausdrücken zu suchen. Ich versuchte es mit Güte und sprach ruhig auf die Genossen ein. Noris setzte sich plötzlich wieder an den Tisch, legte den Kopf in die Hände und fing an zu weinen, wie ein gescholtenes Kind. »Niemandem kann man’s recht machen. Alle schlagen auf einen los. Ich bin so müde – so müde.« Ich drang in Tirwa, den der Name Joll immerhin etwas ernüchtert hatte. »Was heißt C 43?« »C ist das Schlüsselwort für den geheimsten Akt des obersten Zentralrates«, sagte er verdrossen. Ich ruhte nicht, bis man dieses fast nie gebrauchte Aktenstück herbeiholte. 103
C 43 lautete: »Im Falle höchster Gefahr und wenn das Land ganz in der Hand des Feindes ist, soll der Turm durch den elektrischen Schutzpanzer gegen jede Einwirkung von außen dicht gemacht werden. Bei zerstörten Kraftwerken währt die Schutzstrahlung drei Monate. Wenn nach dieser Frist keine Änderung der Lage eingetreten ist, soll der Turm gesprengt werden.« »Wo befinden sich die Vorrichtungen, um den Schutz auszulösen?« »Das geht dich einen Dreck an«, knurrte Noris. Aber Tirwa rieb sich die Schläfe und schlug sich vor die Stirn, als wollte er sich gewaltsam ermuntern. »Joll« – lallte er mühsam – »Joll und … im Falle höchster Gefahr … Gib mir den Schlüssel … Noris. Wir müssen wir müssen …« Noris begann wieder zu weinen und zu schluchzen: »Immer ich. Ich soll alles tun. Ich will nicht mehr. Ich bin so müde …« Aber er zerrte einen kleinen Schlüsselbund aus seiner Hose und warf ihn Tirwa vor die Füße. Ich hob ihn rasch auf und nahm Tirwa am Arm. Wir gingen in den Arbeitsraum von Noris. Tirwa führte mich vor einen Stahlschrank, der in die Wand eingelassen war. Ich schloß auf. Zwei kleine Hebel glänzten mir entgegen. Unter dem einen stand: Elektroschutz. Er trug eine starke Plombe. Unter dem andern: Sprengung. Um ihn betätigen zu können, mußte ein kräftiger Eisenbügel durchgefeilt werden. Ich wollte die ungeheure Verantwortung nicht auf mich laden, und bat Tirwa, den ersten Hebel herunterzudrücken. Er legte die Hand auf die silberglänzende Kugel. Aber plötzlich verzerrten sich seine Züge, er funkelte mich wie ein tolles Tier aus bösen Augen an. Bevor ich mich besinnen konnte, stürzte er sich auf mich und 104
brüllte: »Du Teufel, du willst uns alle umbringen. Du bist an allem Schuld. Du – Spion!« Ich warf mich zur Seite. Tirwa prallte an den Schreibtisch. Eine entsetzliche Hetzjagd begann. Endlich gelang es mir, dem Rasenden einen Stuhl vor die Beine zu werfen. Er stolperte, fiel, stöhnte und konnte sich nicht mehr erheben. Aber schon hörte ich hastiges Laufen und Schreien. Die anderen kamen. Wahrscheinlich war in ihnen gleichzeitig die Wahnidee entstanden, ich sei ein Spitzel. Sie würden mich in sinnloser Wut zerfleischen. Flucht? – Es gab keinen Ausweg. Ich sprang zu dem Stahlschrank und riß mit Aufbietung aller Kräfte den Hebel herab, mochte werden, was wollte. In diesem Augenblick lief ein feines, durchdringendes Knistern durch das riesige Gebäude. Die Brücken, die den Turm mit den nächsten Wohnburgen verbanden, begannen zu glühen, flammten blau auf und zerschmolzen. Die Tür krachte. Meine Verfolger stürmten herein. Das Ende, dachte ich. Ganz in der Ferne tauchte Jana vor mir auf. Noris, an der Spitze, stutzte, als er Tirwa vor sich liegen sah, blieb stehen und hielt die andern zurück. Dann taumelte er und stützte sich schwer auf den Schreibtisch. Er wischte sich mehrmals über die Augen, als wollte er böse Traumbilder verscheuchen und fragte mich tonlos: »Was ist hier geschehen? – Was geht mit uns vor? – Was hast du getan, Genosse?« Auch die andern benahmen sich wie Erwachende. Sie lehnten blaß an den Wänden und blickten verwundert um sich. Tirwa setzte sich unter Stöhnen halb auf und sagte mit klarer Stimme: »Joll hat uns gerettet, Genossen. 105
Utopolis ist vergiftet. Und wir waren es auch. Besinnt euch! Wacht auf!« Eine Viertelstunde verging, bis sich alle erholt hatten. Wir hoben Tirwa auf, er hatte sich zum Glück nur den Fuß verstaucht, und trugen ihn in den Sitzungssaal zurück. Ich brachte jetzt noch einmal vor, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt hatte. Der Fall lag klar. Die Privaten ließen eine geheimnisvolle Strahlung auf Utopolis wirken, die die Gehirnzellen degenerierte. In dem Augenblick, als ich den elektrischen Schutzpanzer um den Turm legte, konnten diese Strahlen nicht mehr auf uns einwirken und wir wurden von der zerrüttenden Macht befreit. Aber wir waren von aller Welt abgeschnitten. Die gewaltigen Kraftfelder, die den Turm einhüllten, saugten jede Radiowelle auf. Die Brücken und Gleise der Magnetbahnen waren zerschmolzen. Flugzeuge wären im elektrischen Feld sofort verbrannt. Daß ich der gefährlichen Strahlung so ziemlich standgehalten hatte, erklärten wir uns daraus, daß mein Organismus durch mein Leben in der alten Welt gegen ihre Laster immunisiert wäre. Noris erhob sich und sprach feierlich: »Genossen, meine Gutgläubigkeit hat unsern Arbeiterstaat in ungeheure Gefahr gestürzt. Ich fühle mich nicht mehr würdig, Haupt des Zentralrates zu sein und lege den Vorsitz nieder. Wenn noch einer helfen kann, so ist es Joll. Ich trete meinen Platz an Joll ab.« Er verließ seinen Sessel und setzte sich an das Ende der Tafel. Minutenlanges Schweigen begleitete diese folgenschwere Erklärung. Dann nahm Tirwa das Wort und dankte ihm für sei106
nen Verzicht. Alle erhoben sich und reichten Noris die Hand, der marmorn, ohne zu zittern, unter uns stand. Ein Mann. Joll wurde mit den Vollmachten eines Diktators ausgestattet. Ich sollte ihm die Nachricht überbringen. Ein Flugzeug wurde startbereit gemacht. Auf dreißig Sekunden sollten die elektrischen Kraftfelder ausgeschaltet werden. In so kurzer Zeit, hofften wir, würden die mörderischen Strahlen nicht Macht über denjenigen gewinnen, der den Hebel wieder zurückschalten mußte. Diesen besonderen und verantwortungsvollen Dienst erbat sich Noris. Wer ihm jetzt in die Augen sah, zweifelte keinen Augenblick, daß er nicht unterliegen würde. Wir flogen ab. Ich hielt selbst das Steuer und überließ es dem Genossen Führer erst, als Utopolis weit hinter uns lag. Während wir noch über der Stadt schwebten, sah ich im Spiegel einen Feuerschein. Ich wandte mich um. Vor dem Turm stürzte ein Flugzeug brennend ab. Es war am elektrischen Panzer zerschmettert. Noris hatte Wort gehalten. 22 Joll umarmte mich. »Wie gehts – was ist los? – Den Panzer habt ihr noch schalten können – der Strom der Magnetbahn ist unterbrochen und wir erhalten keine Nachrichten mehr – daher weiß ich es. Wie sieht es in der Stadt aus? Wie viele Leute sind im Turm? Was beschließt der Rat?« 107
Die Unsicherheit in seinem Wesen, die mich an ihm hatte verzweifeln lassen, war wie ausgewischt. Ich begriff, daß für einen Mann seiner Art nichts unerträglicher sein kann, als einer dunklen Gefahr tatenlos ausgeliefert zu sein. Bevor ich seine Fragen beantwortete, übergab ich ihm die Vollmacht des Zentralrates. Er las sie aufmerksam durch. »Sie gehen weit. Jetzt haben sie großes Vertrauen zu mir …« Aus seinen Worten klang Bitterkeit. Ich wollte nun mündlich berichten. »Später!« Joll lief in den Nachrichtenraum, ich konnte ihm kaum folgen. Er diktierte ein Geheimtelegramm an alle Räte in Utopien, legte ihnen knapp die Lage dar, hängte die Vollmacht des Zentralrates an und fragte, ob sie vorbehaltlos der Diktatur Joll zustimmen würden. Für die Antwort setzte er zehn Minuten Bedenkzeit. Während wir warteten, entwarf ich, so gut es ging, ein Bild meiner Erlebnisse in den letzten Stunden. »Der Apparat, der diese Degenerationsstrahlen aussendet, scheint äußerst kompliziert und kostbar zu sein,« überlegte Joll, »sonst hätte man in jeder großen Siedlung einen wirken lassen. Vielleicht aber ist die Maschine stark genug, um allmählich das ganze Land zu überdecken … Das wäre freilich schlimm …« Während wir Vermutungen austauschten, liefen die Antworten der Räte aus den großen Städten und Industriezentren ein. Sie unterstellten sich ohne Ausnahme der Diktatur Joll und forderten Befehle. Joll nickte, er hatte es nicht anders erwartet. Seine erste Anweisung: Sämtliche Private sind Gefangene des Arbeiterstaates. Sie werden in Gemeinschaftshäusern untergebracht und scharf bewacht. Jeder Fluchtversuch wird mit dem Tode bestraft. Zur 108
Ausführung dieses Befehles setzte er eine Frist von zwei Stunden. Weitere Befehle folgten: Der Verkehr mit Utopolis ist eingestellt. Flugzeuge, die sich auf der Fahrt nach der Hauptstadt befinden, werden zurückgerufen … »Werden unsre erkrankten Genossen nicht am Hunger zugrunde gehen, wenn du jede Zufuhr absperrst?« wandte ich schüchtern ein. »Die Stadt ist mindestens auf zehn Tage mit Lebensmitteln versorgt«, sagte Joll. »Wenn wir in dieser Zeit den Strahler nicht vernichtet haben, ist alles vorbei.« Er ordnete sofortige Räumung der DreihundertKilometerzone um Utopolis an. Die stadtnahen Bezirke wurden angewiesen, unverzüglich in allen verfügbaren Fahrzeugen zu fliehen, ohne etwa zu versuchen, Genossenschaftsgut zu retten. Die schnellsten Flugschiffe sandte Joll nach den Jugendsiedlungen. Wir erfuhren auf diese Weise, daß die Strahlen noch nicht weit über den Stadtbereich hinausgedrungen waren. Genossen aus dem Gartengürtel berichteten, wie sie plötzlich von der Lust befallen wurden, nach Utopolis zu fahren, um sich mal einen vergnügten Tag zu machen und nur im letzten Augenblick und widerstrebend dem Befehle aus Futura nachgekommen waren. Manche hatten sich geweigert, die Wagen zu besteigen und waren in der Richtung nach dem Turm abgewandert. Sie waren verloren. Joll fragte bei den chemisch-physikalischen Versuchsabteilungen an, ob man bis zum nächsten Morgen Sprengbomben herstellen könne, die genügen würden, um U-Privat zu vernichten. Die Sprengwirkung müsse sich mehr in die Tiefe als in die Breite entwickeln, damit die Wohnburgen der Genossenschaft nicht gefährdet würden. 109
Die Werkleiter antworteten, man habe sich zwar seit Jahrzehnten nicht mehr mit der Herstellung von chemischen Mordwaffen beschäftigt, würde aber die Aufgabe lösen können. Morgen früh seien hundert solcher Bomben bereit, mit denen man zehn Stadtteile in der Ausdehnung von U-Privat vom Erdboden rasieren könne. Ich sah bereits das schaurige Ende des verbrecherischen Abenteuers der Privaten. Aber Joll war anderer Meinung. »Es ist nur ein Versuch. Aber ich zweifle, daß er gelingen wird«, sagte er kurz. Nach einer Stunde meldete die Polizeimannschaft von Futura, daß alle Privaten befehlsgemäß interniert seien. Sie hätten fürchterlich gezetert und getobt und bereits eine Beschwerdeschrift an den Zentralrat von Utopolis gerichtet. Man übergab Joll das Schreiben. Er zerriß es und warf es in den Papierkorb. An den Handelsklub von Utopolis-Privat funkte er mit starker Energie das Ultimatum: Frist bis zum nächsten Morgen 6 Uhr. Wenn sich bis dahin nicht das Präsidium des Handelsklubs, als Haupt der Verschwörung, in Futura auf Gnade und Ungnade eingefunden habe und die Zerstörung des Strahlers, unter Beibringung seiner Konstruktionspläne und wichtigsten Teile, melden könne, werde erstens U-Privat um 8 Uhr dem Erdboden gleichgemacht; zweitens über sämtliche Privaten außerhalb von Utopolis, die sich im Gewahrsam der Arbeitergenossenschaft befanden, das Standrecht verhängt. Wir erwarteten darauf keine Antwort. Und doch kam sie. Der alte Morgon meldete sich selbst. Seine Stimme hatte einen weinerlichen Greisenklang. 110
Das Präsidium des Handelsklubs, so versuchte er umständlich auseinanderzusetzen, sei auf das tiefste bestürzt. Soviel man wisse, sei Noris Leiter des Zentralrates und nicht »Herr Joll«. Man habe noch keine amtliche Mitteilung von der Verlegung der Regierung nach Futura erhalten. Man könne daher die schreckenerregende Nachricht nicht ernst nehmen und frage an, ob sich vielleicht einer der »Herren« im Nachrichtenbüro einen Scherz erlaubt habe. Wenn dies jedoch nicht der Fall sei, so müsse ein beklagenswertes Mißverständnis vorliegen. Ihm wäre nichts von einem Strahler bekannt, der auf die Bevölkerung von Utopolis einwirke. Bevor man so ungeheuerliche Anschuldigungen erhebe und Drohungen ausstoße, müsse man sich doch erst an Ort und Stelle über die Wahrheit von wilden Gerüchten unterrichten. Dann kam eine bigotte Floskel. Der Herrgott werde nicht zulassen, daß arme, unschuldige Menschen, die sich nach Kräften bemüht hätten, den neuen Machthabern gefällig zu sein, auf so grausame Art ums Leben kämen. Er berief sich auf seine Beliebtheit in Kreisen der Genossenschaft. Immer habe er wie ein Vater an seinen Arbeitern gehandelt und freue sich, daß ihre Bestrebungen schöne Früchte getrieben hätten. Um so mehr schmerze ihn diese Anschuldigung. Er lade »Herrn« Joll ein, nach Utopolis-Privat zu kommen und sich persönlich zu überzeugen, daß von Übergriffen der Kapitalklasse keine Rede sein könne. Er werde gern das Präsidium des Handelsklubs zusammenrufen und »Herrn« Joll in breiter Öffentlichkeit von der Gesetzestreue der Privatbevölkerung Zeugnis ablegen. Wenn man sich erst einmal am gemeinsamen Ver111
handlungstisch zusammengefunden habe, würden alle Schwierigkeiten bald aus der Welt geräumt sein. Vor allem aber warne er »Herrn« Joll vor übereilten Schritten, die später sein Gewissen vor Gott und den Menschen ungeheuerlich belasten würden. Er gestatte sich – meinte er zum Schluß – auf morgen vormittag 11 Uhr den Klub im Klubhaus zu versammeln und erwarte »Herrn« Joll als treuer Staatsbürger. Wenn »Herrn« Joll aber eine andere Zeit genehmer wäre, so solle er nur bestimmen. Man werde sich so weit wie möglich seinen Wünschen fügen. – »Nicht dumm«, lachte Joll. »Sie wollen mich in den Bereich ihrer segensreichen Maschine locken und mir wahrscheinlich eine Extraportion bourgeoiser Entartung verabfolgen. Dann setzen wir einen kleinen Vertrag auf, denken diese Schlauköpfe, der uns alle früheren Rechte sichert und hauen Herrn Joll übers Ohr, daß es kracht.« Wir sandten noch ein Telegramm an den Handelsklub: Einwände Morgon nichtig. Ultimatum besteht. Joll hatte den Zentralrat von Futura einberufen lassen und begab sich zur Sitzung. Ich blieb im Nachrichtenraum und ließ mich mit der Jugendsiedlung verbinden. Eine helle Jungenstimme begrüßte mich. Ich bat um Jana. Die Stimme erstaunte sich. Jana müsse doch bei mir sein. Sie sei heute früh nach Utopolis gereist, um mit mir zusammenzutreffen. Ich erstarrte. »Wann fuhr Jana in Futura ab?« »Mit dem 10 Uhr-Wagen.« Mir fiel das Mikrophon aus der Hand. Kurz vor elf hatte ich den elektrischen Mantel um den Turm gelegt. 112
Kurz vor elf mußten alle Magnetbahnwagen aus ihrer Bahn geschleudert werden, weil die Stromverbindung zerstört worden war. So dachte ich und das Herz stand mir still. Mit versagender Kraft fragte ich bei der technischen Leitung der der Magnetbahn an, ob meine Vermutung richtig sei. Man lachte mir entgegen. Die technischen Einrichtungen in Utopia scheiterten nicht an einer Zufälligkeit, die immerhin im Bereich des Möglichen läge. Bei Unterbrechung des Stromes bremsten die Wagen automatisch, setzten sich auf die Schiene und verklammerten sich dort, so daß sie nicht einmal stürzen könnten, wenn die Antriebskraft der Kreisel nachließe. »Und wie gelangten die Fahrgäste zur Erde, wenn der Wagen auf hundertmeterhoher Brücke stehen bleibt?« Der Fall hätte sich noch nicht ereignet, da die Betriebsstörungen stets nach wenig Minuten behoben worden wären. Immerhin führe jeder Waggon eine Strickleiter bei sich, so lang, als der höchste Abstand des Schienenweges von der Erde betrage. Hundert Meter an einer wehenden Strickleiter herabklettern ein wahnsinniger Gedanke. Da man die Unterbrechung natürlich sofort bemerkt hatte, konnte man mir ganz genau angeben, wo der Waggon halten mußte. Der Ingenieur rechnete. »Der Wagen steht 52 Kilometer vor Utopolis-Turm. – Die Strecke führt dort durch Ausläufer des Berggebietes. Kilometer 52 liegt etwa zwanzig Meter über der Erde. – Wir hatten schon Flugzeuge ausgeschickt, um unsere Passagiere zu bergen«, plauderte er harmlos weiter, »wenn nicht Joll verboten hätte, in der Richtung Utopolis starten zu lassen.« 113
Ich merkte ihm an, daß er von mir noch gern einige Neuigkeiten erfahren hätte, aber ihr könnt euch denken, daß mir nicht nach Unterhaltung zu Mute war. Kilometer 52 lag in der Randzone des Strahlungsbereiches. Da die Passagiere, unter ihnen Jana, der Bahnleitung noch nicht ihre Rückkehr mitgeteilt hatten, stand alles dafür, daß sie vom Strudel des Verderbens angezogen worden waren. So aussichtslos das Unternehmen schien: ich mußte Jana suchen. Ich mußte die tausend Wohnburgen und die Stadt der Privaten bis in jeden Winkel durchstöbern. Jana durfte nicht die Beute geiler, entarteter Tiermenschen werden, deren Krankheit es war, alles Reine und Edel-geformte zu besudeln. Ich sah Jana, selbst von dieser fürchterlichen Krankheit besessen, sich preisgeben. Die Kleiderfetzen hingen ihr vom Leibe. Sie schwenkte eine Schnapsflasche wie ein Siegeszeichen über der geifernden, lüsternen Meute ihrer Anbeter. Sie warf sich diesen betrunkenen, taumelnden Männern, die sie mit unflätigen Redensarten aufpeitschten, zügellos in die Arme … Ich kam halb von Sinnen bei diesen fieberischen Phantasien. Alles war mir gleich. Was ging mich Utopien an, was die Kämpfe zwischen Kapitalisten und Arbeitern? Mochten sie sehen, wie sie miteinander fertig wurden. Das war nicht meine Sache. – Aber Jana mußte ich retten. Sie war das einzige Ziel, das es für mich zu erreichen gab. Für sie wollte ich mein Leben einsetzen. Für sie wäre ich bereit gewesen, die ganze ungeheure Stadt in Flammen aufgehen zu lassen. Der innere, rasende Schmerz machte mich fast blind. Ich tastete mich über Stufen und Gänge bis zum Arbeitszimmer Jolls. Zwei Genossen von der Polizei standen davor Wache. Sie durften niemanden unange114
meldet einlassen. Aber sie kannten mich und wußten, daß ich eine Vertrauensperson war. Joll saß über Plänen. Er überhörte meinen Eintritt. Ich vermochte mich nicht mehr zu beherrschen. Rasch trat ich auf ihn zu und faßte ihn am Rock. Er bückte überrascht, aber nicht erschreckt auf. »Ich muß sofort nach Utopolis«, keuchte ich. »Ja«, sagte Joll einfach und wollte sich wieder über seine Papiere beugen. Ich ließ nicht locker. »Jana ist in Utopolis, sie ist ein Opfer des Wahnsinns, wenn ich sie nicht sofort befreie. Ich muß sie suchen. Gib Befehl, daß mir eine Maschine startbereit gemacht wird. Ich muß Jana suchen. Jana – Jana – hörst du?« Ich schüttelte Joll. Er schob mich weg. Stand groß und breit vor mir. Eiskalt ruhten seine Augen auf mir. Seine Stimme klang unerbittlich hart: »Nein! Du wirst Jana nicht suchen. In diesem Augenblick gibt es keine persönlichen Schicksale. Dein Flugzeug steht bereit. Du überbringst diese Dokumente Tirwa. Dann versuchst du mit allen Mitteln in das Haus von Morgon einzudringen. Dort befindet sich der Strahler. Daran zweifle ich keinen Augenblick. Du wirst ihn zerstören. Wenn es dir nicht gelingt und wir uns nicht wiedersehen sollten, so empfange durch mich den Dank der kämpfenden Genossen.« Er streckte mir die Hand hin. Ich schlug ein. Während er gesprochen hatte, zerbrach in mir der private Mensch. Der Herzschlag von Millionen Brüdern und Schwestern ging durch mich. Ich war ein Kämpfer unter Millionen Kämpfern. Persönliches Leid hatte kein Anrecht mehr an mich. Ich wußte, daß Jana 115
an meiner Stelle ohne zu schwanken ihre Liebe geopfert hätte. Vielleicht wäre sie von stiller, heimlicher Sehnsucht langsam aufgezehrt worden – dem innersten Gefühl kann niemand gebieten – aber ihre ganze Bewußtseinskraft hätte bis zum letzten Atemzug der Gemeinschaft gedient. »Wir sind Pioniere einer neuen Zeit«, sagte Joll, als habe er meine Gedanken erraten. »Wir glaubten schon ein Anrecht auf Glück und Freude zu haben. Wir waren zu voreilig mit unseren Wünschen. Wir hatten uns die Etappe schon zu gemütlich eingerichtet.« – Mir schoß eine Idee auf: »Gib mir Hein mit, Joll. Er ist bärenstark. Kann mir von Nutzen sein, wenn ich zum Einbrecher werde. – Denn anders wird mich das Haus Morgon wohl nicht empfangen wollen.« Joll bedachte sich: »Glaubst du, für ihn bürgen zu können?« fragte er. »Gewiß«, antwortete ich mit voller Überzeugung. Joll unterfertigte einen Ausweis für Hein, und ich ging. Hein war begeistert. Er trennte sich verhältnismäßig leicht von seiner schönen Freundin. »Wir werden das Ding schon drehen«, rief er übermütig und krempelte die Hemdärmel auf. Wir begaben uns zum Startplatz. Joll hatte uns eine der kleinen pfeilschnellen Maschinen zugeteilt. Futura verschwand hinter uns wie eine leuchtende Vision. 23 Wir flogen entlang der Magnetbahn. Ich erwartete gespannt den Augenblick, da wir über die Gebirgsscheide wechseln würden. Schon senkten wir uns, da erblickte 116
ich im Fernglas den ruhenden Waggon. Wir landeten neben ihm. Ich kletterte hinauf. Auf einem Sessel lag ein Zettel: »Brachen 12,30 zu Fuß nach Utopolis auf. Hoffen, Fahrzeug zu finden.« Darunter einige Unterschriften gekritzelt, wie eilig und in unbequemer Lage geschrieben. Der eine Schriftzug konnte wohl Jana heißen. Mir fiel ein, daß ich nie einen Brief von ihr erhalten hatte. Man schrieb wenig Briefe in Utopien. Ich steckte den Zettel zu mir. Der Aufenthalt hatte uns vier Minuten gekostet. Dann schossen wir auf Utopolis los. Wie ein ungeheurer glühender Fels ragte vor uns der Turm im Schein der Abendsonne. Ich hielt wieder das Steuer. Die Strahlung war inzwischen verstärkt worden. Mattigkeit befiel mich, Gleichgültigkeit. Doch registrierte ich diese Empfindungen fast wissenschaftlich und blieb Herr meines Willens. Hein schlug vor, man solle doch lieber erst mal in der Stadt landen. Er wolle sich den »Jahrmarkt« mal ansehen. Ich hörte weder auf ihn, noch auf Bob, der hinter mir fröhlich zu singen begann. Ich umkreiste den Turm und schoß die vereinbarte Signalrakete. Man gab das Gegenzeichen. Ich zählte noch fünfzehn Sekunden aus und schwang mich auf die Terrasse. Gleich darauf knisterte die Luft wieder von der eingeschalteten Kraft. Die Gefangenen im Turm hatten kaum mit meiner Rückkehr gerechnet. Auch sie hatten bemerkt, daß die fremde Gewalt immer unerbittlicher ihre Geißel über der unglücklichen Stadt schwang. Vom Turm aus beobachteten sie durch Ferngläser das ausgelassene Treiben auf den Dachpromenaden. Die Verbindungsstraßen, die von Utopolis nach U-Privat führten, wimmelten 117
von Menschen. Die einfache, helle Sommerkleidung der Genossenschaft wurde immer mehr von schwarzer »Privatkleidung« verdrängt. Offensichtlich erhielten die Arbeiter in den Läden der Geldstadt bereitwillig, was sie nur forderten. Das Gejohle der Massen und der Lärm von Straßenmusikanten drang wie das Brausen von Faschingstrubel zu den Genossen im Turm empor. Als sie unser Flugzeug am Horizont bemerkten, gaben sie uns verloren. Sie erwarteten von Sekunde zu Sekunde, daß wir unseren Kurs aufgeben und bei den Vertollten landen würden. Um so größer war die Freude, Nachricht von Joll zu erhalten. Die Schriftstücke, die ich überbrachte, enthielten alle Befehle und Kundgebungen, die bis zu meiner Abreise erlassen worden waren. An den Rand des Ultimatums hatte Joll geschrieben: »Glaube nicht, daß die Sprengung gelingt. Muß aber alles versuchen. Stellt einen Mann an den Panzerschalter. Vielleicht wollen sich Flugzeuge von uns auf den Turm retten.« Während der Nacht ließen wir unsere Scheinwerfer über die Stadt hinspielen. Vor allem leuchteten wir Morgons Burg ab. Da begab sich etwas Sonderbares. Wir fanden sie nämlich nicht. Eine dünne, aber undurchdringliche Nebelwand verhüllte sie. Der Scheinwerferstrahl fiel wie in einen Milchsee. Als der Morgen kam, verzog sich der künstliche Dunstschleier. Über Morgons Haus hatte jemand einen riesigen Vogelkäfig gestülpt. Auf dem übermannsgroßen Bild, das uns der Fernprojektor gegen die weiße Wand warf, erkannten wir ein spitz zulaufendes Metallgerippe, das in weitem Umkreis um das Gebäude aufstrebte. Schutz gegen die Bomben, erklärten die Ingenieure. Sie wur118
den sich nicht einig, ob das Gebilde elektrisch geladen sei, um die Sprengmassen bereits vor dem Aufschlag zu entzünden. Dagegen sprach, daß ein solches Kraftfeld die Wirkung des Strahlers beeinträchtigen würde. Nach dieser Rüstung schwand die letzte, bescheidene Hoffnung, daß die Weißen einen Parlamentär zu Joll schicken würden. Die Zeiger der Chronometer rückten auf Acht. Von Süden stürmten drei Geschwader zu je 20 Flugzeugen geradenwegs auf U-Privat los. Joll hatte die kleinste und schnellste Type gewählt. Man konnte hoffen, daß bei der reißenden Schnelligkeit des Anfluges die Führer den Strahlen nicht erliegen würden. Plötzlich blitzte es kurz vor der Stadt, eine Rauchfontäne schoß auf, gewaltige Steintrümmer flogen empor. Dumpfer Donner dröhnte heran. Eines der Flugzeuge hatte seine Bombe vorzeitig abgeworfen. Man begriff die Nervosität der Führer. Immerhin machte uns dieses nutzlose Feuerwerk Mut. Jetzt raste das Geschwader über den ersten Häuserblock. Jetzt – jetzt –! Wir warteten klopfenden Herzens. Da schwenkten die ersten Apparate zur Seite, begannen abzugleiten, die anderen folgten, beschrieben Kurven über der Stadt, verlangsamten den Flug, gaukelten wie Schmetterlinge in der Luft und ließen sich langsam auf Dächern und Straßen nieder. Nur einer schoß im Zickzackflug auf den Turm zu. Ich schaltete aus – und sofort wieder ein. Er war gerettet. Halb betäubt hing er in seiner Maschine. Wir hoben ihn heraus. Der war es, dessen Bombe vorzeitig gefallen war. Langsam erholte er sich. »Es ist unmöglich – unmöglich«, lallte er. 119
Während wir uns um ihn bemühten, schreckte uns ein fürchterlicher Krach aus nächster Nähe empor. Wir stürzten an die Balustrade. Eine Wohnburg der Arbeiterstadt barst auseinander. Betonblöcke glühten wie Meteore in der Feuersäule und zermalmten im Niederstürzen Menschenmassen. Eines der Flugzeuge war beim Landungsmanöver abgestürzt, wobei seine Sprengladung explodiert war. Tirwa knirschte vor Wut. »Genossen müssen Genossen morden. Und der Götzentempel da drüben« – er deutete auf den Dom, dessen goldenes Kreuz hell in der Sonne funkelte – »darf uns verspotten.« Ich brach fast zusammen unter dem eisernen Griff Heins, der mich, weil er etwas zwischen den Händen brauchte, an beiden Schultern gepackt hatte und schüttelte, als sei ich der Feind. Er war leichenblaß, Tränen liefen über seine Backen. »Klugsnaker seid ihr« – er haßte uns in diesem Augenblick und schaute wild um sich – »ick bliew keen fiw Minuten mehr hier up’n Deich und kiek, wie dat Schipp absackt … Los, Korl … Schluß gemacht mit dat Gesindel!« Wir hielten ihn nur mit Mühe zurück. In die grauenvollen Schmerzensschreie der Zerschmetterten und Zerrissenen mischte sich lustige Marschmusik … Wir suchten das Innere des Turms, wo kein Schall von außen unsere Ohren erreichen konnte. Lange saßen wir uns wie gelähmt gegenüber. Die Stirn gegen beide Fäuste gepreßt, den Blick stier auf die Tischplatte gerichtet, so grübelte Hein vor sich hin. Aber plötzlich stand er auf, wuchtig und breit, der Stuhl hinter ihm fiel um. »Ich geh’!« sagte er rauh. Er hatte recht. Wir waren nicht in den Turm gekommen, um uns aus sicherer Entfernung gräßliche Schauspiele anzusehen. Wir hatten einen Auftrag. 120
Ich erklärte, daß ich Joll versprochen hatte, mich in Morgons Haus einzuschleichen und den geheimnisvollen Strahler zu zerstören, wenn der Bombenanschlag mißlingen sollte. Es wäre jetzt so weit. »Auf diesen Plan setze ich keinen Pfifferling!« meinte Noris trocken. »Sie werden Morgons Haus wie den heiligen Gral bewachen, darauf kannst du dich verlassen.« Die anderen dachten dasselbe. Mir selbst erschien unser Vorhaben jetzt ungeheuerlich und meine Zuversicht war gering. Vielleicht trieb mich mehr die winzige Möglichkeit, Jana zu treffen, da unten im Hexenkessel, als der Glaube, etwas gegen die Privaten ausrichten zu können. Hein hatte seine gute Laune wieder, nun, da es losgehen sollte. »Wollen uns nicht unterkriegen lassen von die verdammten Strahlers«, sagte er mutig, »wollen mal auf hamborgsch mit ihnen reden, wat?« Wir verabredeten mit den Genossen geheime Zeichen, die uns gestatteten, in den Turm zurückzukehren. An den Panzerschalter wurde eine automatische Vorrichtung angebracht, die ihn von selbst nach dreißig Sekunden wieder schloß. Hein und ich ließen uns in unsere Mützen die elektrische Panzervorrichtung einbauen, die ich bei dem Polizisten gesehen hatte. Als Kleidung wählten wir eine verrückte Kombination zwischen Gehrock und Arbeiterkluft. Wir mußten jetzt, um nicht aufzufallen, den Genossen gleichen, die von der »Luxuskrankheit« befallen waren. Ein kurzer Abschied. Wir begaben uns ins Erdgeschoß und sprangen über den Elektrodenraum, sobald wir nach Chronometervergleich wußten, daß der Strom ausgeschaltet war. Wir kletterten über die klumpig ge121
schmolzenen Eisentrümmer der Brücken und landeten im Gewühl der Straße. 24 Im Menschenstrom trieben wir nach U-Privat. Zelte und Buden waren in dem breiten Anlagengürtel aufgeschlagen, der die Arbeiterstadt von der Kapitalistensiedlung trennte. Bier und Schnaps flossen in unbeschränkten Mengen. In sauberen weißen Schürzen standen handfeste Dirnen aus der Lakaienkaste hinter den Schenktischen und animierten zum Trinken. Geld war scheinbar abgeschafft. Man wurde mit allen Genüssen eines Schützenplatz-Rummels überschüttet. Hier brieten riesige Ochsen am Spieß. Wer sich herandrängte, erhielt einen dampfenden Fleischklumpen und zerriß ihn mit Fingern und Zähnen. Dort wurden weiße, dickknollige Wurzeln in lange Spiralen aufgeschnitten und reichlich mit Salz bestreut. Ihre scharfe, atzende Würze stärkte die vom Alkohol verdorbenen Magensäfte – und machte neue Lust zum Trinken. Fetttriefende Backwaren verrichteten ähnliche Dienste. In sonderbaren historischen Trachten sorgten Musikkapellen für Stimmung. Manche trugen kleine, grüne Hütchen mit weißen und braunen Federbüschen. Ihre Waden waren mit dickwollenen Strümpfen bekleidet, die weder die Füße, noch die Knie bedeckten. Sie schlugen sich manchmal wütend auf die nackten Oberschenkel, daß es klatschte, und kollerten dazu wie balzende Auerhähne. In anderen Zelten handhabten schwarzlockige Jünglinge im Frack komplizierte Instrumente. Ihre Schul122
tern zuckten wie Kolben an leerlaufenden Maschinen. Ihre Köpfe schaukelten kunstvoll gegen den Takt. Sie geigten, bliesen, zupften und trommelten in sonderbarer Angst, als fürchteten sie, eine unsichtbare Macht würde ihnen unversehens die Stühle unterm Hintern wegziehen. In diesen Zelten wurde getanzt. Die Paare hielten sich eng umschlungen, um nicht zu stürzen, denn ihre Beine zappelten nach Art der Hampelmänner und schlenkerten in den Gelenken, als wollten sie Kot von den Schuhen abschleudern. Andere watschelten, ohne die Füße zu heben. Wiederum gab es Tänze, die das Zelt erzittern ließen. Die Menschen sprangen und stampften, warfen sich gegenseitig durch die Luft und pfiffen auf zwei Fingern dazu. Da gab es Buden, in denen man Wettessen veranstaltete. Kleine Würstchen, wie Perlketten aneinandergereiht, verschwanden hastig in wamsenden Mäulern. Die Rekorde maßen nach Metern. Bier aus irdenen Krügen spülte dazwischen. Quietschen, Pfeifen und Kindertrompeten wurden reichlich verteilt. Der Lärm drohte den Himmel zu sprengen. Bunte Papier-Rosetten mit Bändern, rote Plüschäffchen und lächerliche Papp-Orden zierten die Rockaufschläge der Männer. Frauen begehrten zigeunerhafte Ohr- und Armreifen, besteckten ihre Finger mit buntgesteinten Ringen, trugen trübfunkelnden Glasschmuck vor der Brust. In Karussells kreischten die Mädchen. Vor den Schießbuden drängten sich die Burschen. Man schoß nach kopfnickenden Clowns, die wir als Karikaturen der bekannten Arbeiterführer erkannten. Wenn einer den rotgemalten Herzfleck traf, fiel der Kopf Jolls oder 123
Noris’ herab und baumelte zwischen den Füßen. Dazu erklangen Glöckchen höhnisch. Private, jetzt in eleganten Sommerkleidern und ohne Orden, standen dabei, riefen laut Beifall, wenn solch ein Schuß gelang, und ließen Schnaps anfahren. Sie klopften dem Meisterschützen jovial auf die Schulter und empfahlen ihm, der Brigade Wehrhart beizutreten. Ja, die Brigade, die war jetzt ganz auf der Höhe! Als Hauptquartier diente ihr ein gewaltiges, mit buntem Fahnentuch ausgeschlagenes Zelt. Vor dem Eingang standen rechts und links riesige Trommeln, auf denen Soldaten in Landsknechtstracht mörderischen Alarm schlugen. Zwischen ihnen schrie ein Mann in goldstrotzender Uniform: »Immer hereinspaziert, meine Herren! Der Eintritt ist frei! Hier erfreuen Sie sich am frisch-fröhlichen Soldatenleben! Hier lernen Sie den wahren Frontgeist kennen! Hier wird Ihnen kostenlos der Heldentod fürs Vaterland geboten!« »Immer rrein, meine Herrschaften!« »Die Verjüngung im Stahlbad oder Kameradschaft im Massengrab!« »Sehen Sie mich an, meine Herren, ich bin zweimal wegen Unterschlagung der Putschkasse rausgeschmissen worden und habe es doch zum Obersten gebracht. Solche Chancen bietet Ihnen nur eine erstklassige Wehrvereinigung.« »Darum: Hinein in die Brigade Wehrhart!« Und die Trommler hauten auf die Kalbfelle, daß uns die Ohren zu platzen drohten. Drinnen wurde Bier und Schnaps an langen Tischen verschenkt. Leute in Uniform setzten sich zwischen die Besucher, redeten sie mit »Kamerad« an und warben in großspurigen Worten für die Brigade. 124
Während eine Musikkapelle Märsche und Schlachten-Potpourris herunterhaute, erschienen auf der Bühne lebende Bilder, von Angehörigen der Brigade gestellt. Da gab es das Bild »Treue Kameradschaft«. Mit durchbluteter Kopfbinde liegt ein Soldat an einem Baumstumpf. Ein Offizier kniet neben ihm und gibt ihm aus seiner Feldflasche zu trinken. Dann das Bild »Heldentod fürs Vaterland«. Hintergrund ein brennendes Dorf. Die linke Hand aufs Herz gepreßt, steht ein Soldat breitbeinig mit hohlem Kreuz, als wolle er rücklings umfallen. Die Rechte streckt eine zerfetzte Fahne von sich. Die Augen verdreht der arme Mann, dessen Knie vor Anstrengung zittern, gen Himmel. Da kracht ein Kanonenschuß, und bums, fällt er wirklich und endlich um. Rasender Beifall. Oder: »Wieder daheim!« An der Brust des bärtigen Kriegers weint sein treues Eheweib Freudentränen. Er umfaßt sie mit Oberund Unterarm etwas krampfhaft, denn in der Hand hält er das blumengeschmückte Gewehr. Auf dem linken Arm sitzt sein dreijähriger Junge, der einen Papierhelm trägt. Dazu läuten Friedensglocken und krachen Böller. Als letztes Bild genossen wir: »Der innere Feind«. An der Gefängnismauer standen drei Leute in zerlumpter Genossenschaftskleidung aneinandergefesselt. Davor sechs Soldaten mit angelegtem Gewehr. Ein Offizier klatschte mit der Reitpeitsche an seine flimmernden Ledergamaschen und brüllte schneidig: »Feuer!« Die Salve rollte. Die drei Gefesselten sackten naturgetreu in sich zusammen. Diese Szene wurde so bejubelt, daß sie siebenmal wiederholt werden mußte. Die zum Tode Verurteilten schwitzten und streikten endlich, weil ihre Handknöchel 125
beim Niederfallen von den Eisenfesseln angeschabt wurden. Hein blinzelte mich verständnisvoll an. Wir bohrten uns durch das Menschengewühl nach dem Ausgang. Man mußte einzeln zwischen Tischen passieren, auf denen Werbelisten auslagen. Keiner kam hinaus, der sich nicht eingetragen hatte. Und alle schrieben mit Begeisterung ihr Todesurteil. Wir entgingen diesem Schicksal nur, indem wir grobe Besoffenheit markierten und uns zwischen trampelnden Füßen hinauswälzten. Man lachte uns nach: »Die kommen schon wieder …« Da lockte uns ein anderer großer Holzbau an, der über und über blau angestrichen war. Sternartige Glasröhren bildeten eine Leucht-Inschrift: »Hast du dich schon mit deinem Gott ausgesöhnt? – Tritt ein! In fünf Minuten bist du des ewigen Heiles sicher!« Vor dem spitztorigen Eingang standen in langen, weißen Hemden und goldlockigen Perücken geschminkte Männer, die aus silbernen Posaunen Choräle schmetterten. Je drei auf jeder Seite. An ihren Schultern wippten Flügel. Hier rettete ein feister Priester in buntbestickter Stola die Seelen, indem er mit seinem Krummstab herumstreifende Pärchen am Halse wie Gänse einfing und unter Scherzworten ins Innere trieb. »Schämt ihr euch nicht?« rief er mit listig zwinkernden Äuglein, »der sündigen Lust zu frönen, ohne euren Herrgott um tatkräftigen Beistand anzuflehen? Hier werdet ihr kostenlos in fünf Minuten ehrliche Christen und Eheleute. Das muß jeder mitgemacht haben! Das macht Spaß! Das macht Vergnügen! Hier sind zu sehen die Freuden des Paradieses und das Schlaraffenleben der Erzengel! Das bietet kein Theater und kein Kino!« 126
»Alle Stunden Abendmahl, sieben auserwählte Gänge, vom Chefkoch des Edenhotels komponiert, und den herrlichen Palästinawein. Süß und feurig!« »Nur noch drei Tage diese Sensation!« Dazwischen erteilte er Segen massenweise. Der Massenbetrieb im Innern war hervorragend organisiert. In der ersten Abteilung wurde man aus goldenen Taufbecken eilends getauft, in der zweiten vor einem pompösen Altar, von Weihrauch umschwängert, christlich getraut. Im dritten und größten Raum erfolgte unter dem Präsidium eines Priesters an weißgedeckten und mit Kristall bestellten Tafeln die Massenabfütterung. Speisen und Weine waren wirklich erstklassig. Auf kleinen Emporen sangen Knabenchöre. Auch hier gab es eine Bühne, auf der man in wechselnden Bildern die himmlischen Freuden darstellte. Engel flogen hin und wieder. Am elektrisch umflammten Himmelstor wartete Petrus auf arme Seelen. Wenn sie antworten konnten, daß sie von der utopischen Hochkirche getauft und geweiht worden seien, wurde ihnen unter Orgelspiel und Posaunentusch das Tor geöffnet, Flügelchen wuchsen ihnen und sie huschten auf zarten rosa Wölkchen fröhlich aufwärts. Wenn sie aber die Antwort schuldig bleiben mußten, donnerte sie Petrus an: »Was, ihr verdammten Roten, ihr wagt euch in meine Nähe? Fahrt zum Teufel!« Und er versetzte den Schreckbebenden wohlgezielte Fußtritte, daß sie abwärts und geradenwegs in den gräßlichen Höllenrachen rollten, der sie zwischen glühenden Reißzähnen zermalmte. Währenddessen liefen über die mattgoldenen Längswände des Speisesaales in mystischem Blaulicht Leuchtinschriften: »Selig sind die Armen …«, »Du sollst der Obrigkeit Untertan sein …«, »Frohlocke über 127
Unglück und Prüfungen, sie sichern dir einen Ehrenplatz an der Tafel Gottes.« Dieser sonderbare Tempel erfreute sich unaufhörlichen Massenandranges. Jeder wollte an den unbekannten Zeremonien teilhaben. Man fand es ungeheuer spaßhaft, verheiratet zu werden. Der ganze Zauber dieser Buntglasmystik, der schweren Würzdüfte und feierlicher Musik wirkte auf die umnebelten Sinne. Noch gab es viele, die sich dieser Art Religion wie einem launigen Spiel ergaben. Andere aber nahmen es ernster, glaubten, an etwas zu glauben, wenn sie den Weihwassertropfen an der Stirn spürten, und nannten sich überzeugte Christen, wenn sie den Fünf-MinutenTempel verlassen hatten. Der schwere Palästinawein hatte Hein in Stimmung gebracht. Er fand das bunte Treiben gar nicht so übel. Ich warnte ihn und empfahl ihm, seine elektrische Schutzmaske einzuschalten. Er war gekränkt. Ein Waschlappen sei er nicht. Er wisse trotzdem ganz genau, zu welchem Zweck wir uns in diesen Jahrmarkt gemischt hätten. Wir verließen den Rummelplatz, stiegen über Betrunkene, die auf dem Rasen schnarchten, und stöberten ohne Absicht in blühenden Bosketts frischgetraute christliche Ehepaare auf, die das Paradies auf Erden erprobten. In U-Privat war das Treiben womöglich noch ärger. Hier zogen vor allem die Verkaufshäuser die Massen an. Die Ware, die man aushändigte, sah kostbar aus, hatte aber nur geringen Wert. Ich vermutete, daß man sie in Schiffsladungen aus Europa importiert hatte. Am meisten begehrt wurden von beiden Geschlechtern Modewaren. Trotz der Sommerhitze »gingen« imitierte Pelze rasend ab. Die Männer rauften sich um Fracks, Smokings und Gehröcke. Dazu besorgte man sich 128
Lackschuhe mit grellbunten Stoffeinsätzen. Sie zwängten ihre Hälse in steife Stehkragen, daß die Gesichter blaurot anliefen, und schlangen bunte Schlipse zu dicken Knoten und Schleifen. Die Frauen bevorzugten viel zu enge Stöckelschuhe, stolperten und stürzten auf der Straße und wurden überfahren, ohne daß sich jemand um sie kümmerte. Viele begnügten sich mit grellfarbenen, kunstseidenen Hemdhosen und trugen darüber ihre Pelze. Sehr beliebt waren bei den Männern Brillen und Monokels, bei den Frauen Lorgnons, die sie an langen, unechten Perlenketten baumeln ließen oder kokett vor die Augen nahmen. Manche Frauen errafften Kopfputz aus Straußenfedern. Der war selten. Schlachten entwickelten sich. Es gab verrenkte Gliedmaßen, blutig zerkratzte Gesichter und blaugeschlagene Augen. Die Beute löste sich in schmutzige Federknäuel auf. Um karierte Seidensocken, die man nicht in entsprechenden Massen vorgesehen hatte, schlugen sich Männer tot. Die Hotels, Cafés, Bars und Varietes standen jedem offen und lieferten an Getränken und Speisen, was man nur wünschte. Hier bildete sich eine neue Lebewelt heran, die bereits auf die herabhöhnte, die an den derberen Freuden des Rummelplatzes Gefallen fanden. Die Mädchen schminkten sich, malten sich die Lippen violett und ließen sich öffentlich Rubinglasrosetten in die Haut einstechen, ohne mit der Wimper zu zucken. Kokain stand in Silberdöschen zum allgemeinen Gebrauch auf den Tischen. Man tanzte hier zügelloser als in den Zelten. Kavaliere forderten sich und trugen ihre Ehrenhändel auf den Aborten aus. 129
In der Alhambra führte man noch das gleiche Programm vor, das ich schon kannte. Aber das Publikum war ganz anders bei der Sache. Man verfolgte die Szenen aufgeregt, begleitete sie mit tollen Zurufen und Anfeuerungen und zögerte nicht, den durch Gewohnheit erschlafften »Künstlern« kraftvolle Möglichkeiten zu beweisen. Ich hatte Hein aus den Augen verloren. Besorgt schaute ich nach ihm aus. Er kam vom Büfett und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Was sie hier als Sekt verschenken«, meinte er, »ist rechter Teufelsdreck. Aber wenigstens kalt.« Und ich sah ihm an, daß er nicht nur ein Glas hinuntergekippt hatte. Überall, wo ich Mädchen in besonders ausgelassener Laune sah, glaubte ich Jana zu erkennen. Ich fühlte, wie meine Nerven durchzugehen drohten. Laß alles gehen, stürz’ dich auch in den Strudel, betäube deinen Schmerz, Rauschgifte nehmen allen Kummer von dir – hier ist Schnaps – Wein – Kokain – bediene dich, so drängte es in mir immer lockender. Ich nahm alle Kraft zusammen und schaltete meinen Elektroschutz ein. Sofort lösten sich die Beklemmungen. Ich wurde wieder zuversichtlicher und konnte aufmerksamer beobachten. Die Privaten hatten ihr Feld den genußsüchtigen Arbeitern geräumt. Wahrscheinlich hielten sie sich in ihren Villen verborgen und erwarteten den nächsten Akt des Dramas. Nur ab und zu sah ich einen mit überlegenem Lächeln durch die tobende Menge schreiten: Kontrollgänge. Man konnte aus ihren Mienen lesen, daß neue Überraschungen nicht auf sich warten lassen würden. In Heins Fäusten zuckte es gefährlich, wenn wir ih130
nen begegneten. Am liebsten wäre er ihnen an die Gurgel gesprungen. Er begnügte sich, sie »aus Versehen« anzurempeln. Das hatte er großartig heraus. Einem trillerte er den Daumen in den Bauch, daß der sich platt in den Dreck setzte und nach Luft schnappte. Hein hatte sich schon in der Menge verkrümelt, »’n ganz amüsierlicher Betrieb«, meinte er, als er wieder neben mir auftauchte. Ich war froh, als es dämmerte. »Vergiß Morgon nicht!« raunte ich Hein zu, der eben, vom Jazz angeregt, zu steppen begann. Er kniff listig die Augen zusammen: »Ick verstell’ mir bloß!« flüsterte er, aber sehr hörbar. Mir war recht flau zumute. Wenn ich an seine ehrliche Wut im Turm dachte und ihn jetzt so mordsvergnügt sah … da stimmte etwas nicht. Außerdem bildete ich mir ein, wir würden insgeheim bespitzelt, ohne Verdächtiges zu bemerken. Endlich gelang es mir, Hein aus dem Kreise seiner Bewunderer herauszulotsen und in einen Hausflur zu zerren. Er war gleich bei der Sache und ganz nüchtern. Wir berieten, wie wir uns am unauffälligsten an Morgons Burg heranschleichen könnten. Die Straßen der Millionäre waren menschenleer, man mied sie, weil es da weder Vergnügungsstätten, noch Kaufhäuser gab. Wahrscheinlich wurden sie von Detektivs überwacht. Es war also nicht einfach, heranzukommen, ohne aufzufallen. Hein überlegte angestrengt, dann schlug er vor, wir sollten uns zwei Engelsmonturen aus der Schnellkirche besorgen und dem alten Morgon als Gespenster erscheinen. Er hätte darin Übung, war’ mal in Boston ne Zeitlang Hilfsgeist in nem spiritistischen Klub gewesen. Fing auch sofort an, mit großer Kraft und Rührung einen englischen Choral zu singen. Ich war nahe daran, zu verzweifeln. »Bekümmer’ dich man nich«, sagte er 131
und fuhr sich salbungsvoll wie ein Pastor durch die Haare, »et is man bloß n Spaß …« Darauf kam ihm wirklich ein guter Einfall. Wir sollten uns stockbesoffen stellen, durch die Straßen torkeln, als hätten wir jede Richtung verloren, vor Morgons Besitzung niederfallen und scheinbar einschlafen. Vielleicht könnten wir so eine Gelegenheit ausbaldowern, in die Villa einzudringen. Wir drückten uns die Hände, wußten wir doch nicht, ob wir die nächsten Stunden überstehen würden, und mischten uns, schon in unserer Rolle schwankend und uns gegenseitig stützend, ins Gewühl. Wir waren aber noch keine zehn Schritt vorangekommen, als sich eine hübsche Dirne in Heins Arm einhing, seinen Kopf herabzog und ihn begehrlich auf die Lippen küßte. Er hob sie auf seinen Arm, riß sich von mir los, schrie: »Abgemacht – komme bald zurück!« … und verschwand im Strudel der Menge. Einen Augenblick lang sah ich noch die Beine des Mädchens zappeln, dann stand ich allein. Verfolgung war unsinnig. Die Menschenmauer, die sich vor Hein bereitwillig geteilt hatte, schob sich dicht und undurchdringlich um mich. Langsam, denn ich hatte noch Zeit, bahnte ich mir meinen Weg. 25 Die Leuchtstreifen längs der Trottoirs, die ein mildes Licht über den Fahrdamm ausgossen, endeten vor der großen Parkstraße. Sie lag in schweigender Finsternis. Die Gebäude zeichneten sich schwarz und drohend gegen den Nachthimmel ab, den blasse Röte, vom Lichtrausch der Vergnügungsstadt reflektiert, entzündete. 132
Keines der Häuser schien bewohnt zu sein. Kein Fenster zeigte sich erhellt. Wahrscheinlich hielt man sich in abgeblendeten Räumen nach der Gartenseite auf. Obwohl die Dunkelheit nahezu vollkommen war – der Mond war erst gegen Morgen zu erwarten –, taumelte ich als Betrunkener weiter, setzte mich auf den Bordstein oder lehnte mich an ein Gitter, sang leise vor mich hin, schwankte vor und zurück. Diese scheinbare Haltlosigkeit ermöglichte mir, nach allen Richtungen auszuspähen. Immer noch fühlte ich mich beobachtet, obwohl kein Mensch weit und breit zu sehen oder zu hören war. Endlich hatte ich mich bis zu Morgons Tor herangearbeitet. Ich rutschte am Pfeiler herab, saß mit ausgestreckten Beinen und vornübergeneigtem Kopf und ließ ihn im Scheinschlaf baumeln und nicken. In dieser Lage hielt ich bis nach Mitternacht aus. Ich tastete meinen Besitz nach Einbrecherwerkzeugen ab. Leider hatte ich Hein die Stahlsägen überlassen. Ich besaß nur einige Dietriche, scharfe Feilen, Drahtscheren und ein kleines Stemmeisen. Das Wichtigste waren jedenfalls die starken Handschuhe und Überschuhe aus Isoliergummi. Daß das Gitter in seinem oberen Teil elektrisch gesichert sei, hielt ich für selbstverständlich. Wer weiß, welche Teufeleien noch auf mich lauerten. Ich trug ein selbstleuchtendes Galvanometer bei mir, das mir die Nähe von elektrischen Kraftfeldern anzeigen sollte. Ab und zu huschte der bleiche Strahl eines der Turm-Scheinwerfer über mich hin, blieb an den stählernen Säulen, die in der letzten Nacht unter Nebelschutz aus dem Boden gewachsen waren, hängen und huschte dann weiter. Das sollten sie mal lieber lassen, ärgerte ich mich. Wenn mich das Licht gerade beim 133
Überklettern des Gitters erwischte, dann war Feierabend. Die lange Zeit des Wartens verging mir im Fluge. Meine Phantasie arbeitete mit Überdruck. Ich glaubte, alle Gefahren, die überhaupt nur vorstellbar waren, überdacht und in meine Rechnung eingestellt zu haben. Hein gab ich natürlich verloren. Ich mußte allein sehen, wie ich der höllischen Maschine zu Leibe rücken könnte. Vom doppelten Petersdom brummte ein dumpfer, gewaltiger Glockenschlag herüber und übertönte das ferne Brausen der Menschenmassen und Musikgeräusche. Ein Uhr. Es galt, zu handeln. Ich zog über Hände und Füße die Isolierschichten und tastete das Gitter ab. Es war nicht besonders hoch und bot einem einigermaßen gewandten Turner keine Schwierigkeiten. Meine einzige Sorge galt den Spitzen. Sie konnten so stark geladen sein, daß meine Isolierung durchschlug. Nun – dann war es eben vorbei. Vorsichtig schob ich mich zwischen den eisernen Querstäben hoch. Noch ein Blick über die Straße hin, Sie lag menschenleer wie seit Stunden. Ich griff beherzt nach den Spitzen, schwang mich empor und setzte das rechte Bein über, als sich aus dem Dunkel der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gestalt löste und in geduckten Sprüngen auf mich zueilte. Ich riß den elektrischen Revolver aus meiner Tasche, der lautlos durch seinen Strahl betäubt, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Garten ab. Durch das Gitter zischte mich der Verfolger an: »Bringst mit deinen Dummheiten noch eigene Genossen in Gefahr!« Mit schmerzenden Gliedern richtete ich mich halb auf: »Hein?« fragte ich schwach. 134
»Wer sonst?« flüsterte es zurück. »Komm schnell rüber!« sagte ich. Hein schwang sich leicht über das Gitter. Sein Gehrock schlotterte ihm dabei lächerlich um die Beine. Er kniete neben mir. »Ein blödsinniger Streich von dir!« pfiff ich ihn auf deutsch an. »Wir wollen nur utopisch reden«, flüsterte er zurück, »eine fremde Sprache würde uns sofort verraten. Bist du verwundet?« Ich streckte mich. Alle Glieder waren heil. »Also vorwärts!« Wir krochen zwischen den Stahlsäulen, durch Hecken und über Blumenbeete langsam gegen das Haus. Ich beobachtete dabei das Galvanometer. Es verriet keine Unruhe. Das wunderte mich. Hein hielt sich hinter mir. Ich war eigentlich gar nicht froh, daß er noch gekommen war. Mich fröstelte im Rücken. Endlich hatten wir die blinde Seite der Burg erreicht. Ich tastete die Wand ab. Sie fühlte sich glatt und kühl an, wie Metall. An der scharfen Kante setzte ich meine Feile an. Sie griff nicht. Ich empfand, daß Hein hinter mir grinste, und ärgerte mich. »Unsere Werkzeuge sind für die Katz!« flüsterte ich. Hein blieb stumm. Wir schlichen nun an der Querseite des Hauses entlang. Auch hier konnte ich keine Fensteröffnungen bemerken. Allerdings verhinderte die Finsternis die genaue Beobachtung. Da erschien auf dem Rasen ein schwacher Licht135
schimmer. Er mußte aus der Hinterfront des Hauses dringen. Wir bogen mit verdoppelter Vorsicht um die zweite Ecke. Gedämpfte Stimmen drangen heran. Bäuchlings krochen wir weiter. Den Revolver hielt ich zwischen den Zähnen. Auf der untersten Terrasse saßen sich in bequemen Seidensesseln zwei Männer gegenüber. Das indirekte Licht, dessen Quelle ich nicht feststellen konnte, fiel matt auf die Gestalten. Ich erkannte sofort den jungen Morgon, der uns im Café zurechtgewiesen hatte. Sein Partner war ohne Zweifel der Großvater, der alte Morgon. Unter einer leichten Sportmütze schien ein Totenkopf zu grinsen. Die lederfarbene Haut spannte sich scheinbar ohne Muskelpackung über die scharf hervortretenden Backenknochen. Die Augen, wenn dieses Gespenst überhaupt welche hatte, lagen im Schatten des Mützenschirms. Ich verstand jedes Wort der ruhig geführten Unterhaltung. Der Junge: »Dieser Joll ist zu allem fähig. Er wird uns alle vernichten, uns und die ganze Arbeitersiedlung. Möchte wissen, wer ihm die verrückte Idee eingeredet hat, wir arbeiteten mit irgendwelchen Strahlen.« Der Alte: »Und ich habe mich doch so herzlich gefreut, daß der Arbeiterstaat so prächtig gedieh. Die kleinen Schikanen, mit denen uns die Regierung beehrte, wären mit der Zeit auch verschwunden …« Der Junge: »Natürlich. Man kann ja nicht leugnen, daß irgendeine finstere Macht auf die Massen einwirkt. Es geht toll zu in der Stadt. Ich vermute – und das ist auch die Meinung der anderen Vorstandsmitglieder –, daß dieser Joll selbst eine solche Höllenmaschine er136
funden hat. Er ist eine zerstörerische Natur. Das Schicksal seines Vorfahren hat ihm offenbar den Verstand verwirrt. Er schafft jetzt einen Anlaß, um den ganzen Kontinent vernichten zu können.« Der Alte (seine sonst leblose Greisenhand zur Faust ballend): »Das wird’s sein! Du hast’s getroffen, mein Junge. (Weinerlich:) Ein Wahnsinniger darf die Kultur dieses blühenden Landes zerstören. O mein Gott, kannst du das mit ansehen? Kannst du nicht dieser verblendeten Seele die Augen öffnen? …« Dieser Ausbruch erschütterte mich, obwohl ich den Gedanken, Joll sollte dieses furchtbare Unglück beschworen haben, nicht aufkommen ließ. Da zupfte mich Hein, der seinen Kopf nicht in den Lichtbereich gewagt hatte, zog mich ein wenig herab und flüsterte mir zu: »Ich gehe in die Stadt zurück. Das hat keinen Sinn hier …« Bevor ich ihn halten konnte, war er lautlos um die Ecke verschwunden. Ich ließ ihn laufen, um noch mehr von der Unterredung aufzufangen. Der junge Morgon zündete eine Zigarette an. In diesem Augenblick verschwanden beide Gestalten, wie in Luft aufgelöst. Die Sessel standen leer … Aber schon saßen sie wieder in ihrer früheren Haltung und setzten das Gespräch fort. Grauen schlug mir ins Genick. Meinen Lebtag hatte ich nicht an Gespenster geglaubt. Dieses Verschwinden und Wiederdasein von zwei Menschen, die leibhaft vor mir saßen und sich unterhielten, das grenzte doch an Übersinnliches. In der Erregung scharrte ich mit den Füßen auf dem Kies. Die beiden Männer hatten es nicht gehört. In der größten Klemme entwickelt man manchmal 137
mehr Gescheitheit, als man sich normalerweise zutraut. Plötzlich hatte ich’s heraus: Die beiden Leute waren Lichtplastiken und redeten aus Lautsprechern, die in die Sessel eingebaut waren. Die Szene war für mich gestellt. Nur ein Kontaktfehler, der auf weniger als eine Sekunde die Vorstellung unterbrach, hatte mir die großartige Täuschung offenbart. Zugleich wurde mir klar, daß mein Begleiter nicht Hein gewesen war, obwohl er dessen Kleider getragen hatte. Dieser Mensch war schmächtiger und seine Ausdrucksweise nicht die meines schiffbrüchigen Kameraden gewesen. Man kannte mich also und meine Absichten. Die Scheingestalten sprachen im alten Sinn weiter und spannen ihren Verdacht gegen Joll fort. Niemand hatte den Kontaktfehler bemerkt. Ich konnte mich daher ohne Gefahr fortschleichen. Denn das ganze Manöver erfüllte ja nur dann seinen Zweck, wenn ich diese Neuigkeiten im Turm und außerhalb von Utopolis verbreiten würde, um Mißtrauen gegen Joll zu säen und den Verdacht von den Privaten abzulenken. Ich betrachtete mir jetzt das Haus in aller Ruhe, wenngleich vorsichtig. Der Mond erschien gerade über dem Horizont und beleuchtete fahl die metallenen Terrassen und das Schutzgestänge. Ich überzeugte mich, daß man von außen ohne Anwendung offener Gewalt niemals in diese Stahlburg eindringen könnte. Im ersten Morgengrauen schlich ich mich nach dem Turm und wurde auf mein Zeichen eingelassen.
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26 Wir berieten, ohne zu wesentlichen Entschlüssen zu kommen. Was konnten wir auch tun? Wir waren Gefangene im Turm. Am drückendsten empfanden wir, ohne Nachrichten von Joll zu sein. Daß er sich bei dem ersten, mißglückten Angriff nicht beruhigen würde, war gewiß. Es fiel mir also wiederum zu, die Bannmeile zu durchbrechen und nach Futura zu fliegen, bevor ich mich aufs neue an die Burg von Morgon heranpirschen würde. Ich gestand, zu dieser Unternehmung kein Vertrauen mehr zu haben. Man unterhielt offenbar einen besonderen Überwachungsdienst für mich, der tadellos funktionierte. Zweimal hatte man mich aus den Klauen gelassen, das dritte Mal würde man zupacken, da blieb nichts zu hoffen. Während der Beratung war ich am Tisch eingeschlafen. Man hatte mich ins Bett gebracht. Tirwa rüttelte mich wach. »Längst Mittag vorbei! – Auf! Los! Munter, mein Junge! Heute nacht mußt du wieder im Turm einflattern!« Ich aß gierig, was man mir auftrug. Bob hatte die Maschine bereits im Gang. Fürs erste übernahm ich wieder das Steuer, und wir surrten los. Kaum waren wir über der Stadt, als Bob auf Landung drang. Ich versuchte, ihm gut zuzureden, und hoffte, ihn hinzuhalten, bis wir die gefährliche Zone hinter uns hätten. Aber schon riß er mir das Steuer aus den Händen. Wir rangen. Der Apparat kippte und schoß in die Tiefe. Bob, kräftiger als ich, schleuderte mich hinter sich, fing die Maschine im letzten Augenblick und setzte glatt und schön auf einer Dachstraße 139
auf Menschen kamen schreiend und fuchtelnd auf uns zugerannt. Die Wut verdoppelte meine Kräfte. Ich hob Bob am Kragen aus, schob ihn über den Rand und ließ ihn in die zappelnden Arme gleiten. Man empfing ihn mit großem Hallo und reichte ihm, während er auf den Schultern im Triumph davongetragen wurde, eine Flasche Schnaps empor, die er gierig ansetzte. Ich riß den Motorhebel auf höchste Geschwindigkeit und stob über die erstaunte Menge hinweg nach oben. Armer Bob. Als ich den verlassenen Magnetbahnwagen unter mir erblickte, der wie ein gestrandeter Walfisch sich dunkel und glänzend von den hellen Kalkfelsen abhob, überkam mich das Weh um Jana. Im rasenden Flug versuchte ich mich zu betäuben. Über den Erzgruben, auf halbem Wege, kreisten Flieger. Ich sprach sie durch das Radiotelephon an. »Hauptquartier Joll unter dir!« kam die Antwort. Er hatte sich also um 500 Kilometer an Utopolis herangeschoben. Ich ging tiefer. Das Dach eines großen Gebäudes war von leuchtend roten Streifen eingefaßt. Dort landete ich. Die Räte waren in Jolls Zimmer versammelt, als ich eintrat. Man beriet über die Räumung weiterer Zonen bis an die Küstenränder, rechtzeitigen Abtransport von Lebensmitteldepots und Preisgabe der Industrieanlagen. Es galt, sie durch Entfernung der Automatenschaltungen außer Betrieb zu setzen und die Anlagenpläne in Sicherheit zu bringen. Nach Erledigung dieser Punkte berichtete ich. »Stimmungsbilder«, unterbrach mich ein alter Genosse, »ich denke, wir können gehn … haben keine Zeit zu verlieren.« Schweigend, mit müden Schritten, 140
verließen sie den Raum. Alle litten unter der lähmenden Hilflosigkeit ihrer Lage. »Wir haben den Schlaf abgeschafft«, sagte Joll und versuchte zu lächeln, aber die Schatten fielen tiefer um seine Augen. Er führte mich ins Kartenzimmer und zeigte mir an Hand von ringförmigen Eintragungen, wie sich die Vernichtungswellen immer weiter über das Land ausbreiteten. Ein schwacher Kreis berührte bereits unseren jetzigen Standort. »Seit heute morgen muß ich mich um die Ausführung meiner Befehle kümmern«, erklärte Joll ernst. »Die Leute klagen über Müdigkeit. Sie vergessen bald, was ihnen aufgetragen wurde. Jeder wehrt sich gegen diese Anzeichen, so gut er kann.« »Einen Beobachtungsposten, den ich um hundert Kilometer gegen Utopolis vorgeschoben hatte, mußte ich gestern abend schleunigst zurücknehmen. Der Führer rief mich dringend an: »Wenn du uns nicht sofort abholen läßt, machen wir uns nach der Stadt auf den Weg. Die Genossen meutern beinahe und ich fühle, daß ich ihnen nur noch minutenlang widerstehen kann. Dann ziehe ich mit …« »Wir erwischten die Kolonne als sie ihre Autos bestieg und mußten sie fast mit Gewalt zur Umkehr zwingen. Ich spürte selbst, wie mir Mattigkeit durch alle Glieder kroch und war froh, als unser Flugschiff beidrehen konnte.« »In sechs Tagen«, fuhr Joll fort, »stehen mir Flugschiffe zur Verfügung, die sich mit einem starken elektrischen Panzer umgeben können. Mit diesen muß es möglich sein, über U-Privat zu manöverieren.« »Wer aber gibt mir Sicherheit, daß nicht zuvor die Werften, in denen diese Maschinen gebaut werden, von der lähmenden Kraft erreicht werden? – Es ist 141
technisch unmöglich, in diesen wenigen Tagen auch noch die Kraftwerke und Fabriken mit Energiepanzern zu versehen.« »Schon morgen früh, schätze ich, müssen wir uns auf Futura zurückziehen.« Das sah trübe genug aus. »Wenn kein Wunder geschieht«, meinte ich kleinmütig, »wird Utopien in vier oder fünf Tagen seinen Anschluß an Amerika und Europa vollziehen.« Joll zog unmutig die Brauen zusammen. »Hier muß man die Wunder suchen!« Er tippte sich an die Stirn. »Ganz am Ende sind wir noch nicht. Sobald ich merke, daß die Strahlung uns bis in den Küstengürtel nachdringt und unsere Kraftwerke bedroht, lasse ich ein Geschwader von Fernlenkflugschiffen gegen Utopolis starten. Die Sprengladung jedes einzelnen wird genügen, um die Stadt an den Mond zu jagen.« »Könnte man nicht ein einziges dieser Flugschiffe ohne Besatzung auf Morgons Haus niederstürzen lassen?« Joll schüttelte den Kopf: »Auf so große Entfernung ist die absolut genaue Lenkung auf einen Punkt unmöglich. Außerdem werden die Rebellen in U-Privat mit dieser Möglichkeit rechnen und Apparate bereit halten, die die Flugrichtung verwirren. Das ist keine schwierige technische Aufgabe.« Das Ferngeschwader …, erst jetzt begriff ich allmählich. Ich sah plötzlich vor mir, wie die Wohnburg explodiert war, hörte die Todesschreie wieder in den Ohren … Diesmal sollte die ganze Stadt, mehr als eine Million Genossen! … Eine unsichtbare Hand drückte meine Kehle zusammen … Da saß dieser Joll vor mir, der es kalten Blutes ausgesprochen hatte. Sein Gesicht glich einer steinernen Maske. Wer konnte die Gedan142
ken hinter dieser Stirn erraten? Das Gespräch der schattenhaften Morgons flatterte durch mein Gedächtnis. Sie hatten recht, Joll war vom Zerstörungswahn befallen, irrsinnig. Ich fühlte, wie der Blick aus seinen grauen Augen mich lähmte, und war wie ausgelöscht vor Entsetzen. Die Zunge klebte mir am Gaumen, ich wollte reden, aber alles was ich herauskrächzte, war: »Du mußt kapitulieren, verhandeln …« Seine rechte Hand, die flach auf der Schreibplatte lag, zog sich langsam zur Faust zusammen. »Nie!« Die steinerne Maske hatte kaum die Lippen bewegt. Es verging noch eine Zeit, mir schien es wie eine stumme Ewigkeit, aber vielleicht waren es nur Sekunden. Joll stand auf und sprach ganz nüchtern in seiner sachlichen Art: »Bevor ich die Fernlenker ablasse, wende ich ein anderes Mittel an, um die erkrankten Genossen aus dem inneren Bereich der Stadt aufs Land zu locken. Du brauchst dich nicht zu sorgen!« »Ein solches Mittel gibt es?« rief ich überrascht und aus dem Gleis geworfen. »Warum hast du es nicht schon längst versucht? Warum …« »Das viele Fragen lernt ihr Europaleute noch vor dem ersten Kinderschrei. – Die Sache funktioniert nur, wenn der Habgierteufel sich ganz ins Bewußtsein unserer Genossen eingefressen hat. Damit für heute genug.« Joll gähnte und ließ sich müde in einen Sessel fallen. »Ich möchte schlafen«, sagte er matt. »So schleicht es heran.« Sprach ins Telephon: »Alle Flugschiffe klar. Material an Bord schaffen. In zwei Stunden Start nach Futura …« Lauschte. Seine Gestalt straffte sich, die alte Energie kehrte zurück. »Wie?« – schrie er in den Apparat – »wollen nicht?« – »erst ausschlafen?« – 143
»übermüdet?« – »komme sofort selbst; in zehn Minuten laufen alle Maschinen!« Er sprang auf und drückte mir hastig die Hand. »Was soll ich im Turm bestellen?« »Im Turm?« – Er sann starr und düster vor sich hin: »Joll läßt den Genossen im Turm sagen, sie fallen als Revolutionäre im Kampf. Wenn die Fernlenker kommen, sollen sie die rote Fahne einziehen. Niemand soll sagen können, daß die Fahne der Weltrevolution gesunken sei. Der Turm wird stürzen. Die Erschütterungen der Explosionen werden seine Fundamente zerreißen. Lebt wohl, Genossen!« Er lief hinaus, Befehle auf den Lippen. Ich ging ihm langsam nach. Als ich mein Flugzeug bestieg, rauschte das große Geschwader nach Westen ab. Ich drehte mein Steuer ostwärts. Sonderbare Ruhe erfüllte mich, als im Abenddunst, wie eine schlanke Fackel, hoch über dem Lichtmeer der Stadt, der Turm auf mich zuflog. 27 Man nahm Jolls Botschaft mit Schweigen auf. Es gab keinen Ausweg. Doch. Ich wußte einen. Mein Flugzeug konnte im Höchstfall vier Menschen tragen. Ich schlug vor, man solle mir jeweils drei Genossen gefesselt übergeben. Ich würde sie nach Futura bringen. Noris erwiderte: »Im Turm befinden sich noch mehr als tausend Leute. Wen willst du unter diesen aussuchen? Jeder hat den gleichen Anspruch auf Leben.« Ich blieb die Antwort schuldig. 144
Die Signallichter spielten. In der Sitzungshalle fand sich die ganze Besatzung zusammen. Die tausend Menschen verloren sich in dem riesigen Raum und machten ihn stiller und feierlicher, als wenn er unbenutzt war. Noris klärte über die Lage auf und verkündete die Absichten Jolls. Ich bemerkte keine Bewegung unter den Anwesenden. »Ich verdenke es keinem Genossen«, fuhr er fort, »wenn er den Turm verlassen will. Vielleicht entgeht er so im Wahn der Krankheit, den Joll offenbar zu seinem Rettungsversuch ausnutzen will, der Vernichtung. Ich bitte die Genossinnen und Genossen, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wollen, sich nach rechts auszusondern.« Niemand tat einen Schritt. Dagegen rief ein älterer Genosse: »Wir sind als Menschen aufgewachsen und wollen nicht als tolle Tiere untergehen. Wer Furcht vor dem letzten Augenblick hat, ist nie Revolutionär gewesen. Wir leben und sterben auf unserem Posten als freie Genossen des freien Arbeiterstaates. Es lebe die soziale Weltrevolution!« In diesen Ruf stimmten wir alle ein. Jeder ging wieder an seinen Dienst. Als wir wieder im Sitzungssaal beisammensaßen, meinte Tirwa zu Noris trocken: »Ne unnötige Theatervorstellung, mein Lieber. Glaubtest du im Ernst, einer hatte sich klaren Kopfes entschließen können, stolzes Mitglied der Brigade Wehrhart zu werden?« Noris duldete den Spott und entgegnete fast verschmitzt: »Auch das Heldentum braucht seine Ordnung.« Die Stimmung lockerte sich, und wir sprachen von unserem Untergang wie von einer heiteren Episode der 145
Weltgeschichte, die längst zurückliegt und deren bittersüße Tragik niemand mehr schmeckt. »Eben weil wir im Grunde schon tote Leute sind«, sagte Tirwa, »wünschte ich mir brennend, unsere Gehröcke noch ein kräftiges Lebenszeichen spüren zu lassen.« Wir riefen unsere Genossen Ingenieure. Die hatten sich natürlich über solche Möglichkeiten die Köpfe reichlich zerbrochen. Aber erfolglos. Unser Energiepanzer hinderte jede Kundgebung nach außen. »Dann wollen wir wenigstens nachts unsere Lichtsäule wieder strahlen lassen«, meinte Tirwa, »und sie rot färben, damit sich die Goldonkels noch ein bißchen ärgern.« Wir hatten sie, um Energie zu sparen, in den letzten Nächten eingezogen, zumal uns ja Flugzeuge nicht mehr suchten. Da uns aber nur wenige Tage zugemessen waren, brauchten wir nicht zu knausern. Dieser Vorschlag wurde unter Gelächter gebilligt. Da meldete sich ein junger Techniker zum Wort, der bisher an der Aussprache keinen Anteil genommen hatte. »Unser Elektropanzer«, führte er aus, »stellt eine ungeheure Energie dar, die uns zwar vor der Morgonstrahlung schützt, für die Genossenschaft aber nichts leistet. Wir Ingenieure sollten uns mal überlegen, ob wir dieser Energie nicht eine andere Richtung geben könnten. Ob wir sie nicht zum Beispiel auf das Haus von Morgon konzentrieren könnten. Wir würden dann zwar ebenso schutzlos sein, wie unsere Genossen in der Stadt. Vielleicht aber würde diese Energie ausreichen, um den Stahlkasten, der höchstens drei Kilometer entfernt liegt, auszuglühen, wie?« Diese Idee verblüffte uns alle. Sie leuchtete ein, wie Columbus’ Erfindung, ein Ei auf die Spitze zu stellen. 146
Aber schon begannen die Konstrukteure zu grübeln und auf der Tischplatte zu rechnen. Ohne entsprechende Werkstätten in drei oder vier Tagen die nötigen Apparate bauen … wer würde das können. Es ist unmöglich, war die Ansicht aller Fachleute. Der junge Ingenieur lächelte: »Ich halte es ja auch für unmöglich. Aber wir wollen doch gleich mal anfangen und sehen, über welches Material wir im Turm verfugen.« Damit empfahlen sich die Leute von der Technik. »Und du«, wandte sich Noris an mich, »gehst wieder in die Stadt, bist vorsichtiger als bisher, und tust der Morgonsippe Schaden, wo du kannst.« Ich ging gern. Wenn wir uns auch jetzt über die Lage hinwegspielten, so würde doch tagelanges untätiges Warten auf das Unvermeidliche eine fressende Qual werden. Lieber wollte ich mein Leben an ein verzweifeltes Wagnis hetzen. Ich gab mich dem eitlen Gedanken hin, vielleicht doch ganz allein das große Rettungswerk vollbringen zu können, und sah mich im Geiste schon als gefeierten Helden des Tages. Schämte mich dann solcher Träumereien und besann mich auf die klare Pflicht, die mir eine besondere Aufgabe zuteilte, weil ich zufällig eine besondere Eignung dazu besaß, die ja kein selbsterworbenes Verdienst war. Ich wechselte die Verkleidung. Schminkte mich greisenhaft, setzte mir eine weißhaarige Perücke auf, und ließ mir von einem geschickten Genossen eine dünne Schifferkrause kleben. So ging ich zu dem scharfsichtigen Tirwa und fragte nach »Europakarl«, wie mich die Genossen scherzhaft nannten. Tirwa schaute mich aufmerksam an, wie er stets tat, 147
wenn er jemanden anredete, und antwortete, ich müßte in meinem Zimmer sein. Mit diesem Bescheid war ich zufrieden. Bald hatte mich die Stadt wieder. 28 Der Betrieb war toller als zuvor. Aus einem der Wohnhäuser drang wüstes Geschrei. Ich trat ein. Eine Frau prügelte einen jüngeren Mann und hieb ihm ein Stangenkorsett um die Ohren. In den Türen standen Leute, guckten zu und freuten sich. »Du Lump, du willst mir ein christlich angetrauter Ehemann sein? Wenn ich dich noch mal mit dem Mädel erwisch’, hau’ ich dir die Knochen kaputt!« Klatsch, klatsch, sauste die elastische Waffe auf den Armen nieder, der vergeblich nach Worten rang. Eine Tür sprang auf. Furiengleich stürzte sich ein kräftiges, junges Weib auf die beleidigte Ehefrau und zerschmetterte einen Muschelaufsatz auf ihrem Kopf. »Mich hat er geheiratet!« kreischte die Jüngere. »Mir gehört er. Scher’ dich zum Teufel, alte Kuppelmutter!« Schon wälzten sich die beiden Frauen am Boden, rauften sich die Haare aus und zerkratzten sich wie fauchende Katzen die Gesichter. Der verprügelte Doppel-Ehemann schlich sich davon. Er wird sich jetzt wahrscheinlich eine dritte Lebensgefährtin im Paradieszelt angeloben lassen, dachte ich mir. Plötzlich entwickelte sich auch unter den Zuschauern Streit. Angesichts der kämpfenden und blutenden Amazonen, die nur noch Fistelschreie ausstießen, machte man sich gegenseitig aufmerksam, man habe es gar nicht nötig, zu lachen, man sei auch nicht besser 148
als die. Böse Worte flogen von Tür zu Tür. Und wie auf geheimen Befehl war die Prügelei allgemein. Ich benutzte die Gelegenheit, um mich in den Wohnräumen umzusehen. O schöne, reine Welt des utopischen Arbeiters, wie hatte sie sich unter dem Einfluß von Eitelkeit und Besitzgier traurig verändert! An den Wänden hingen jetzt scheußliche Öldruckbilder in blechgestanzten Rahmen, je nach Geschmack. Heidelandschaften in verschmierten Farben, schmachtende Heiligenbilder oder Aktphotographien von halbwüchsigen Mädchen. Papierblumen staubten in bunten Glasscherben. Über die eingelassenen elektrischen Uhren hatte man Pendeluhren mit gedrechselten und geschnörkelten Aufsätzen gehängt. Es gab völlig nutzlose, wackelige Ziertischchen mit Spitzendeckchen, auf denen sich Steingutmöpse ausruhten. Besonders findige Köpfe hatten Papiergirlanden über die Zimmerdecke gespannt. Gipsfiguren ließen den Trompeter von Säckingen und den drachentötenden Siegfried wieder aufleben. Da sah ich Frösche und Schweine zu Aschenbechern verarbeitet, horngeschnitzte Damenbeine als Klappmessergriffe und Igel, aus denen sich Zahnstocher als Stacheln sträubten. Verwundert betrachtete ich einen in Holz gebrannten und mit Edelweiß umrahmten Wandspruch: »Grüß Gott, tritt ein, bring’ Glück herein!« – als mich eine Faust unsanft im Genick packte und eine heisere Stimme in mein Ohr brüllte: »Überall will dieses Gesindel stehlen! Wir sind im Verein gegen Bettelei, verstanden? – Rraus!!« Meine Hinterseite spürte die wuchtige Breite eines Männerstiefels und ich flog hinaus. Hinter mir 149
krachte die Türe. Ich fiel auf einige Verwundete, die stöhnend vom Kampfplatz krochen, und rettete mich durch eilige Flucht vor ihrem Zorn. Mein Bart saß noch fest. Ich gedachte dankbar des Genossen, der ihn mir geklebt hatte. Auf dem Rummelplatz hatten jetzt die meisten Buden geschlossen. Der Wahnsinn suchte sich andere Ziele. Nur in den Werbezelten der Brigade und der Kirche blühte das Geschäft nach wie vor. Über die Straßen lief ein neues Wort, das die Massen erregte und der Goldstadt zutrieb. »Der Kaiser – der Kaiser –« hörte ich von Mund zu Mund gehen. »Der Kaiser soll gekrönt werden – Kaiserkrönung – Dom – Hurra, wir haben einen Kaiser! …« Aus den Nebenstraßen schwenkten geschlossene Trupps mit vielfarbig bunten Fahnen ein und brachen sich den Weg durch die gestaute Menge. Es gab Verwundete, wahrscheinlich Tote. Ich schloß mich einem dieser Züge an. Wir kamen nur langsam vorwärts. Aus den Fenstern der Hotels, Cafés warf man Blumen, Früchte und Backwerk auf uns herab. Eine besonders begeisterte Zuschauerin wirbelte eine silberne Bratenschüssel durch die Luft, die einen Mann in meiner Nähe erschlug. Dazu dröhnten alle Glocken vom Dom. Böllerschüsse krachten. Leute, die Schußwaffen bei sich trugen, feuerten sie im blinden Taumel in die Luft ab und trafen andere, die aus den Fenstern heraushingen. Ein Trupp der Brigade, der mit klingendem Spiel vor uns marschierte, ärgerte sich über das langsame Marschtempo, schob zwei Maschinengewehre in Front und knallte zum Spaß in die Masse vor uns. Von den Fenstern beklatschten die Damen dieses schneidige 150
Vorgehen. Einige stürzten auf die Straße, weil sie sich zu weit herausgebeugt hatten. Sie blieben zerschmettert liegen. Niemand achtete auf sie und die Toten, die vor den dampfenden Mündungen der Mordmaschinen in Reihen lagen. Wir konnten jetzt freiweg marschieren. Der Eingang zum Dom wurde mit gefälltem Bajonett erstürmt. Der Blutrausch der Massen wuchs. Frauen knieten sich mit entblößten Brüsten vor die blitzenden Waffen hin und wurden niedergestochen. Man klatschte Beifall wie im Theater. Ich sah Männer, die sich in die Arme bissen, um ihr eigenes Blut fließen zu sehen. »Taallos«, schnarrte neben mir eine Offizierscharge, »hätte nie jedacht, daß in rotem Jesindel doch ’n janz brauchbarer Kern steckt. Na, Jungens, mal immer feste druff!« Seine Garde ließ sich das nicht zweimal sagen, hieb und haute um sich, bloß zum Spaß natürlich, daß die Fetzen flogen. Wer sich von den Niedergebrochenen noch rührte, bekam von den nachrückenden Polizeimannschaften seinen Rest mit dem Gummiknüppel. Im Innern des Doms drängten sich an die hunderttausend Menschen Kopf bei Kopf. Sie hockten auf Altären, Kreuzen und Figuren; klammerten wie Affen an Kandelabern, Gesimsen und Zieraten. Niemand konnte ahnen, wie sie da hinaufgekommen waren. Alle Orgeln spielten mit vollem Werk zugleich. Von hunderttausend Menschen brüllte jeder, was die Kehle hergab. Uniformierte Musikbanden schmetterten Kriegsmärsche. Salven krachten. Weihrauch mischte sich mit Pulverdampf, Weihwasser mit Blut. Ich schob mich an den Wänden entlang in die Nähe des Hochaltars. Dort hatte man ein riesiges mit Fahnentuch verkleidetes Gerüst aufgeschlagen. Auf vergolde151
ten Stufen stand ein ungeheurer Thronsessel von roten Samthimmeln und Kronen überdacht. Männer, in goldstrotzenden Uniformen, mit breiten roten Streifen an den Hosen und federbuschige Helme im Arm, hielten zu beiden Seiten des Thrones Wacht. Hinter ihnen starrten Fahnen. Rechts und links flankierten das Gerüst zwei alte Bronzekanonen, die man wahrscheinlich aus dem Museum geholt hatte. In die ehrwürdigen Vorderlader stopfte man Kartuschen. Ich ahnte nichts Gutes. Priester kamen und besprengten den Thronsessel mit Weihwasser. Sie benahmen sich dabei sonderbar gravitätisch und sangen bekannte Arbeiterlieder getragen im liturgischen Tonfall. Die Kirche selbst beteiligte sich also nicht an dieser Maskerade, zu der sie aber Raum und Kostüme hergab. Sie konnte dann später jede Verantwortung leugnen. Entschädigung für Zerstörungen hatten ihr die Privaten wohl zugesichert. Die falschen Priester knieten nieder, falteten die Hände und erhoben sich wieder, wie sie es bei den echten gesehen hatten. Der einzige Unterschied zwischen diesen und jenen ergab sich aus der Körperform. Die wahren Priester verrichteten nämlich alle diese Übungen gleichmäßiger und weihevoller, weil ihr Fett kräftige Bewegungen dämpfte, während ihre Nachahmer von magerer und sehniger Gestalt waren, und dementsprechend straffer ins Zeug gingen. Der Lärm schwoll ungeheuer an. Aus der Sakristei von rechts näherte sich in feierlichem Zug die neue Hofgesellschaft. Sofern die Damen nicht über die ungewohnten Schleppkleider stolperten, trugen sie die Nasen fürstlich erhoben. Die Herren in goldbestickten 152
Diplomatenfracks mit breiten Ordenssternen. Ich konnte mich nicht genug verwundern, wo man diesen Plunder in aller Eile aufgetrieben hatte. Nachdem sich dieser Zug gruppiert hatte, erschienen zwölf stramme Jungfrauen in Walkürenpanzern und Flügelhelmen. Sie fuchtelten fürchterlich mit Speeren durch die Luft und sangen. Man konnte aber im ohrenbetäubenden Lärm nichts davon hören. Nach solcher Übung bildeten sie Spalier an den Stufen. Auf schweren Pferden – ich hatte vorher keine in Utopien gesehen – donnerten von rechts und links etwa fünfzig Fanfarenreiter auf die Estrade, rissen die halbe Hofgesellschaft über den Haufen, bildeten Front, stießen die standartengeschmückten Blechröhren in die Luft, und suchten mit einigem Erfolg den übrigen Lärm zu übertönen. Dann rissen sie altertümliche Pistolen aus den Gürteln, knallten sie ab und stoben wieder hinaus. Eine Kugel hatte das Seil eines freischwebenden Kronleuchters zerrissen. Die stürzende Metallast erschlug eine Handvoll Menschen. Man vernahm nicht einmal ihre Todesschreie. Und mehr noch schwoll das Gebrüll. Mit schnellen Schritten trat von rechts der Zeremonienmeister in die Mitte und stieß seinen Stab dreimal auf. Schwere Kanonenschüsse in nächster Nähe unterstrichen diese Handlung. Das Gebäude bebte. Und nun erschien der neue Kaiser. Er trug eine Art Generalsuniform. Darüber einen ungeheuren roten mit Hermelin eingesäumten Mantel, dessen Schleppe zwölf eisengepanzerte Ritter hielten. Er ging barhäuptig. Das einzige, das sein Antlitz vor anderen Menschengesichtern heraushob, war eine 153
mächtige Schnurrbartbinde, die sich von Ohr zu Ohr zog. Obwohl unter ihr, wie ich zu meinem Befremden merkte, gar kein Bart sproß. Im gleichen langsamen Feierschritt nahte von links ein hoher Kirchenfürst mit edelsteinfunkelnder Tiara. Seine mächtigen Hände steckten in violetten Handschuhen, auf die gelbe Kreuze gestickt waren. Er trug dem Kaiser eine vielzackige goldene Krone entgegen. Priester aller Grade folgten ihm in prächtigen Gewändern. Beide Züge trafen sich richtig vor dem Thron. Wahrscheinlich hatten sie das vorher schon mal probiert. Der Kaiser kniete vor dem Papst nieder. Ich sah jetzt sein Gesicht deutlich vor mir. War das möglich! – Ich boxte mich durch die Menge und setzte mein Leben aufs Spiel, um ganz sicher zu sein. Kein Zweifel. Der Kaiser war Bob, den ich aus dem Flugzeug herauswerfen mußte. Und jetzt begriff ich auch, was mir Umstehende ins Ohr gebrüllt hatten: »Der Himmel hat ihn gesendet er ist vom Himmel gefallen Gott hat ihn direkt zu uns geschickt …« und ähnliche Redensarten. Indessen schrie eine Stimme von der Kuppel durch ein Megaphon: »Kniet nieder, ihr Schweine, wenn euer Kaiser kniet!« Die Masse mußte sich aber begnügen, die Köpfe demütig zu senken, weil sie zu dicht stand, um die Knie beugen zu können. Der Papst ließ nun die Krone einen Würdenträger halten. Holte aus seinem Gewand eine Flasche hervor und salbte des Kaisers Kopf. Salbte reichlich. Das heilige Öl floß dem Geweihten in den Hals. Der Kaiser bewegte die Lippen. Mir schien, er hätte »Sau« gesagt. 154
Auf der Flasche las ich das Etikett: »Mumm-Extra«. Wenn mich nicht alles täuschte, so grinste der Papst bei dieser feierlichen Handlung. Jedenfalls bog er den Kopf zur Seite – und ich erkannte untrüglich Hein. So traurig der Anlaß war, überfiel mich unwiderstehlicher Lachreiz, den ich in Husten erstickte. Derbe Rippenstöße waren die Belohnung. Mit der Gewandtheit des alten Schiffers setzte Hein den Rest des Salböls an die Lippen und spülte ihn so rasch hinter die Gurgel, daß die Zeremonie um keine Sekunde unterbrochen wurde. Auch fand niemand was Ungehöriges daran. Auf das verklebte Haar des Kaisers drückte der Papst nun die Krone mit erstaunlicher Wucht. Bob verlor fast das Gleichgewicht. Der Papst schlug einige Kreuze über ihm und trat einige Schritte zurück. Im Hintergrund sangen Engelschöre zur Melodie: »Hamburg ist ein schönes Städtchen, siehstewoll.« Dazu zuckten sie im Takt mit den Schultern, damit es aussehen sollte, als bewegten sich ihre Flügel. Diese Sache hatte Hein einstudiert; er wippte mit dem Zeigefinger und sang kräftig mit und ich sah, daß er sich eine Träne der Rührung aus dem Auge wischte, als es im Text hieß: »Darin gibt es schöne Mädchen, aber keine Jungfer mehr, siehstewoll.« Der Kaiser, in ganzer Majestät, stieg zum Thron empor, riß seinen Säbel aus der Scheide, streckte ihn vor sich in die Luft, und stand wie ein Denkmal des blutrünstigen Kriegsgottes vor dem rotsamtenen Himmel. Zugleich zogen die Generäle ihre Säbel und die Diplomaten ihre Galadegen, gingen in Ausfallstellung und blieben in dieser unbequemen Lage wie erstarrt. 155
Die hunderttausend Zuschauer tobten vor Begeisterung. Schrien wie irrsinnig Hurra, warfen alles, was ihnen in die Hände kam, in die Luft. Die Soldaten der Wehrbrigade schossen aus Maschinengewehren. Einige warfen im Überschwang Handgranaten und zerfetzten ihre eigenen Kameraden. Doch kümmerte sich niemand um solche Kleinigkeiten. Jetzt schwenkte der Kaiser dreimal den Säbel durch die Luft, als wollte er unsichtbare Feinde köpfen. Man begriff. Er wollte reden. Die Orgeln verstummten. Die Musikanten setzten die Trompeten ab. Einige erlitten sofort Schlaganfälle. Das Gebrüll brandete ab, verlor sich in schaurigen Echos im ungeheuren Gewölbe. Man stellte vor den Kaiser ein Mikrophon, das mit Lautsprechern verbunden war. Und er hub an zu reden, indem er rechts das Schwert schwang und die Linke majestätisch in die Hüfte stemmte. »Wir von Gottes Gnaden, Kaiser von Utopien. (Hurragebrüll, dann wieder Stille) führen euch herrlichen Zeiten entgegen, die ab heute beginnen: (Ungeheure Begeisterung. Die Fahnen werden geschwenkt. Schüsse krachen. Ein Kanzeldach, voll besetzt mit Zuschauern, stürzt in das Kirchenschiff.) Wir werden die Starken schützen und die Schwachen zertreten! (Bravo! Bravo! Niemand merkt die Verwechselung. Aus Versehen berührt ein Organist die Tasten, die Orgel brummt auf. Scharfschützen schießen den Mann ab.) Wer wider uns ist (die Linke zwirbelt an der Bartbinde. Kühn blitzt das Auge des Kaisers) … den zerschmettern wir!« Bautz – bautz kracht es bei diesen markigen Worten 156
aus den ehrwürdigen Feldschlangen. Der rechte Schuß reißt die Hälfte der Portalwand ein. Der linke zerfetzt das Feuerrohr. Die Lafette springt auf den Thron und wirft ihn um. Der Kaiser steht verblüfft. Das Gerüst bricht zusammen. Kaiser und Papst retten sich mit einem Sprung auf den durchlöcherten Altar. Die Landsknechte der Brigade Wehrhart rufen brausend Heil und wirbeln den Präsentiermarsch, während die Menge etwas ernüchtert nach den Ausgängen drängt. Mit schmerzenden Gliedern und wüstem Kopf fand ich mich auf dem Vorplatz des Doms. Ich war dankbar, daß mir leichter Regen die heiße Stirn kühlte. 29 Da ich Hunger verspürte, ging ich in eines der Restaurants und verlangte zu essen. Verpflegung gibt’s in den Feldküchen der Armee, sagte man barsch. Einer der Lakaien hatte Mitleid. »Diesen alten Kerl machen sie doch nicht mehr zum Soldaten – und einen Arbeitsvertrag wird er auch nicht bekommen«, meinte er, und schob mir eine dünne Suppe hin. Keineswegs satt, versuchte ich mein Heil bei der Abendmahlspeisung im Kirchenzelt. Sie bestand noch, war aber nicht mehr weit von bloßem Brot und saurem Landwein entfernt. Wer essen wollte, mußte sich also der Brigade Wehrhart verschreiben, die inzwischen den stolzen Titel »Armee« angenommen hatte. Und wen sie dort nicht brauchen konnten, der bekam Vorschuß auf einen Arbeitsvertrag, den er später, wenn man die Industrien in der Hand hätte, in Sklavenfron abbüßen sollte. 157
Der Schnaps- und Besitzrausch hatte seine Schuldigkeit getan. Man wollte nun allmählich aus dem eingesetzten Kapital Zinsen ziehen. Mit bitteren Gefühlen durchstreifte ich die Straßen. Hohlwangige Gestalten, die die ungewohnten Ausschweifungen der letzten Tage ausgezehrt hatten, begegneten mir. Der Hunger trieb sie außer Haus. Wer zum Kriegsdienst tauglich war, hatte es gut, bekam eine schöne Uniform und kräftige Nahrung. Dafür wurde er auf Exerzierfeldern als Rekrut gedrillt. Die teuflische Strahlung bewirkte, daß man diese Beschäftigung für ehrenvoll hielt und ihre Entwürdigung nicht spürte. Die Untauglichen aber und die Frauen meldeten sich früher oder später in den Büros des Zivildienstes. Sie mußten dort einen Vertrag unterschreiben, der sie zu jeglicher Dienstleistung bei unbeschränkter Arbeitszeit verpflichtete. Dann erhielten sie Verpflegungsmarken, die sie gegen unzureichende und halb verdorbene Lebensmittel eintauschen durften. Besonders kräftige Männer hatte man der Polizeitruppe zugewiesen. Sie waren stolz auf ihre blanken Knöpfe und Helme und hauten mit Gummiknüppeln auf ihre Klassengenossen ein, so oft sich nach ihrer Meinung dazu Anlaß bot. Und dieser Meinung waren sie fast immer. Ich mischte mich unter Untaugliche, denen der Hunger aus den Augen sprang. Sie hockten im Schatten eines Kirchenpfeilers hinter Trümmern und Leichen und verhandelten Lackschuhe, Taschenuhren, Krawatten, Hosen gegen ein Stück Brot oder eine Konservendose mit fragwürdigem Inhalt. Sie schimpften und zeterten gegen Gott und Gesellschaft. Als ich aber versuchte, ihnen ihr früheres Leben ins Gedächtnis zurückzurufen, wiesen sie mich grob ab. »Halt’s Maul, 158
alter Weltverbesserer«, schrie man mich böse an. »Wir sind in der Gosse geboren und werden auch dort verrecken. Das ist nun mal so auf Erden. Das wird auch kein Heiland ändern. Aber wir wollen denen, die zuviel haben, das Schwein aus dem Stall holen.« Und sie berieten einen Einbruchsplan für die Nacht. Die neue – mir allerdings altbekannte – Gesellschaftsordnung gebar sich bereits in der ersten Stunde ihr Verbrechertum. Große Müdigkeit nahm mir die Sorge ab, aus meiner Greisenrolle zu fallen. Mein Rücken beugte sich unter der unsichtbaren Last des Leides, das ich miterleben mußte. Noch drei oder vier Tage, dachte ich, dann ist alles vorbei. Dann hat entweder Joll gesiegt und errichtet das Reich der Menschlichkeit über dem Grab von Millionen. Oder Joll ist unterlegen und die alte Hölle schlägt über uns allen zusammen; und erst in vielen Geschlechtern, die furchtbare Unterdrückung dulden müssen, reift langsam wieder die Saat der Freiheit und der Wille zur Befreiung. Ich schleppte mich müde in die Sakristei der ausgestorbenen Kirche. Da lag das Priestergewand, das Hein vor kurzer oder langer Zeit – meine Erinnerung versagte – getragen hatte. Ich rollte es zum Kopfpolster und schlief ein. Ich träumte. Utopolis sah ich vor mir. Die ganze Stadt wie eine einzige unendlich lange Straße von ungeheurer Breite. Das Ende dieser Weltstraße verriegelte der Turm. Viel höher und massiger als in Wirklichkeit. Höher war er als der Mond, der wie durch ein Öhr unter der Spitze des Gebäudes hindurchschlüpfte, das ein Mantel von Blitzen umhüllte. 159
Aber die Wohnburgen zu beiden Seiten der Straßen waren schmutzige Lehmhütten, elend und verkommen, wie die Katen polnischer Bergarbeiter. Von der Höhe des Turmes sahen sie wie Kindergräber aus. Menschen wimmelten in der Straße wie Ameisen, liefen planlos durcheinander, sehr geschäftig und sehr sinnlos. Da näherte sich vom Horizont her langsam eine Gestalt, die Menschen und Häuser weit überragte. Ich fühlte ihre Augen auf mir ruhen, und konnte doch ihr Gesicht nicht erkennen. Sie wuchs, ihr Schatten fiel über den halben Turm. Nun stand sie reglos lange vor der Mauer der knisternden Blitze und bückte mich unverwandt an. Als sie aber endlich die Hand hob, als wollte sie den flammenden Schleier zerreißen, begann ihr Körper weißlich zu leuchten. Funken sprühten aus ihrem Haar. Sie schloß die Augen und sank langsam vor mir in den Boden. Lag nun zu Füßen des Turms im Innern der Erde wie eine lächelnde Tote. Die Erde war durchsichtig, wie mattes Glas. Entsetzt, in Schweiß gebadet, fuhr ich auf. »Jana? – Jana! –« warf mir das Echo vom Gewölbe meine Schreckensschreie zurück. Draußen war Nacht. Blitze zerfetzten die Finsternis. Donner brach über dem Dom zusammen. Ich hastete hinaus, stolperte über Tote und Schlafende, wenn mir nicht fahlblaue Zucklichter über die goldenen Wände hingeisternd den Weg wiesen. Draußen war es gut. Die gewaltigen Himmelsentladungen schienen auch meine vergiftete Seelenatmosphäre zu reinigen. Begierig zog ich die starke wehende Luft ein. Ich wußte nun wieder, warum ich in dieser Stadt des 160
Grauens umherirrte. Kostbare Zeit war verträumt und versäumt. Ob ich den Turm seit Stunden oder Tagen verlassen hatte, daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. Vielleicht rüstete Joll bereits sein todbringendes Geschwader. Wilder Tatrausch überfiel mich. Irgendwas mußte geschehen; je toller, desto besser. Ich überflog noch einmal den Plan, den ich mir früher zurechtgelegt hatte. Verrückt und aussichtslos, sagte mir die innere Stimme. Um so besser wird es gelingen, antwortete der Leichtsinn. In Ermangelung eines Schlosses, hatte der Kaiser das Parkhotel zu seiner Residenz gemacht. Dorthin schlug ich mich durch. Nur wenigen Menschen begegnete ich. Die Zeit der Lustbarkeiten war vorüber. Wer keinen Dienst hatte, suchte Tag und Nacht den Hunger zu verschlafen. Auch der Tröster Alkohol floß jetzt spärlicher. Betrunkene waren selten. Blutiger Aschermittwoch über Utopolis. Das Parkhotel aber schwelgte im Lichterglanz. Automobile warteten in Reihen vor dem Portal. Offiziere und Würdenträger strömten ein und aus, eilig, dienstbeflissen, als wären sie langjährig eingeübte Hofschranzen. So rasch lernte man das! Aus dem Saal klang schmachtende Ballmusik. Über die Fenster huschten Schatten von tanzenden Paaren. Ich wartete geduldig an der Terrasse wie ein demütiger Bittsteller. Niemand beachtete mich. Endlich kamen Leute, die ich suchte. Drei jüngere Männer in Offiziersuniformen stiegen plaudernd über die Freitreppe herab, gingen an den Autos vorüber und bogen in den Park ein. Das Gewitter war verrauscht. 161
Sie wollten ihre erhitzten Köpfe in der kühlen Nachtluft ausrauchen lassen. Ich folgte ihnen im Schatten der Bäume. Schließlich trennten sie sich. Zwei nahmen Richtung auf die Arbeiter-Wohnburgen, von denen man die meisten zu Kasernen gemacht hatte. Einer kehrte nach dem Hotel zurück. Diesem lauerte ich auf, sprang ihn aus dem Gebüsch an. Er stürzte. Als er zur Besinnung kam, blitzte mein Revolver vor seinen Augen. Ich bedeutete ihm höflich, mit erhobenen Armen vor mir herzugehen. Meine Einladung war so überzeugend, daß er ohne einen Laut von sich zu geben, sich willig von mir lenken ließ. In einer Grotte von Jasminbüschen nahm ich ihm seine Waffen ab und befahl ihm, sich von Kopf bis zu Fuß auszuziehen. Dann band ich ihm die Hände auf den Rücken, legte ihn auf die Bank, schnürte ihn über Brust und Beinen am Holz fest, und schob ihm einen Knebel in den Mund. Menschenfreundlich deckte ich ihn mit meinen Kleidern zu. »Nur vier oder fünf Stunden strengen Arrest verhänge ich über Sie, junger Mann. Dann wird man Sie finden und befreien. Ihre Klassenkollegen in Europa stecken politische Gegner zehn Jahre ins Zuchthaus oder erschießen sie auf der Flucht … Denken Sie darüber nach. Sie sind hier ungestört.« Während solcher und ähnlicher belehrender Reden hatte ich seine Uniform angezogen, meinen Bart abgezupft, und mir die Schminke, so gut es gehen wollte, aus dem Gesicht gerieben. Sporenklirrend und säbelschleifend verließ ich als Leutnant oder was ähnliches die traute, süßduftende Laube. Niemand hielt mich auf, als ich sicheren Schrittes und lässig grüßend, in die Vorhalle des Parkhotels eintrat. Gelangweilt ging ich auf und ab, als sei ich zum 162
Befehlsempfang bestellt; besah mir Reiseplakate und Zimmertafel, um mir die Zeit zu vertreiben. Auf dieser Tafel war der nähere Hofstaat verzeichnet, der sich um die Gemächer des Kaisers gruppierte. Die Zimmer 1 bis 9 waren durch eine Klammer verbunden, hinter der aus Goldpapier geschnitten, eine kunstvolle Krone aufgeklebt war. Dort wohnte also ER. (Bob, was treibst du in neun Zimmern, da du noch nicht einmal christlich verheiratet bist?) Nummer 10 trug die Inschrift »Geheimkabinett«. Ich dachte, es sei der Sitzungssaal des Staatsrates, entdeckte aber später, daß es nur ein kleiner Raum war, mit einem gewissen Porzellanbecken und einem Griff zum Wasserfall. Folgten mit je zwei oder drei Zimmern die hohen Würdenträger. Wirklich, da gab es Kämmerer, Marschälle und Truchsesse. Da gab es Minister aller Spezialabteilungen. Und selbstverständlich auch einen Kriegsminister. Er bewohnte siebzehn und achtzehn, und nannte sich »von Starkström«. Das genügte mir. Ich klirrte nun die breite Marmortreppe empor, die zum großen Festsaal führte. Einen der galonierten Diener, die vor den offenen Türen Parade standen, fragte ich nach seiner Exzellenz, dem Herrn Kriegsminister. Ich hätte eine Meldung, die jedoch nicht so eilig sei, daß man seine Exzellenz von der Tafel abrufen müsse. Ich wollte eine günstige Gelegenheit abwarten … Man begriff meine Diskretion und zeigte mir den hohen Herrn, der rechts vom Kaiser-Bob saß, und mit einer Dame in lebhaftes Gespräch verwickelt schien. Er trug sein eisengraues Haar kurz gescheitelt. Der Bart auf der Oberlippe glich einer straffen Zahnbür163
ste. Sein rotes Gesicht glänzte vor Hochmutsspeck. Ein Monokel funkelte herausfordernd über seine bewundernde Nachbarin hin. Er war auf längere Zeit versorgt … Ich sprang hinunter in die Hotelhalle und verlangte die Schlüssel zu den Räumen des Herrn Kriegsministers. Man gab sie mir ohne Argwohn. Nun schnell hinauf in den Wohntrakt. Vor den Zimmern des Kaisers patrouillierten zwei Soldaten. Standen stramm, als ich vorüberrauschte. Die Zimmer Starkstroms lagen zum Glück um die Ecke. Ich fand sie leicht, waren doch die Türen mit schwarzen Zickzackkreuzen beschmiert, und unter der Visitenkarte mit dem Namen seiner Exzellenz, stand mit ungelenker Hand gekritzelt: Juden raus! Niemand beobachtete mich, als ich aufschloß und verschwand. Schnell abgeriegelt! Einen Blick durch das Fenster. Im Notfall könnte ich in den Garten springen. Aufgelockerte Blumenbeete würden den Fall mildern. Hoffentlich befinden sich keine Stachelkakteen darunter. Ich durchwühlte die Schränke. Eine Uniform mit stattlichem Behang fand sich. Ich zog sie an, beschnitt die Greisenperücke so gut es gehen wollte nach dem Muster meines Doppelgängers, bürstete mir einen Wasserscheitel militärisch, exakt, und klebte mir aus abgefallenen Borsten das schneidige Bärtchen. Das Gesicht verschmierte ich mir mit Generalsrot. Vom Nachttischchen blinkte mich ein runder Glasscherben ironisch an. Ich klemmte ihn ins Auge, trat vor den Spiegel – und »Äh … Donnerwetter …« entfuhr es mir ganz von selbst aus dem Munde. Einen weiten grauen Umhang legte ich um die Schultern. Die Mütze paßte einigermaßen. Ich raffte eine Aktenmappe vom Tisch. Nur schnell hinaus! 164
Die beiden Posten präsentierten jetzt, daß es nur so knallte. Wie rasch der Mensch als Soldat verdummt. In der Halle knickten die Fracks vor mir zusammen, die Uniformen stellten sich. Der Portier pfiff einen Wagen heran und riß salutierend den Schlag auf. Ich warf ihm die Schlüssel zu und befahl kurz: »Handelsklub«. Wir sausten davon. Der Morgen graute. Während der Fahrt durchstöberte ich den Inhalt der Aktentasche in der Hoffnung, Material für meine Unternehmung zu finden. Nichts dergleichen. Sie enthielt leere Papierbogen und einen begonnenen Privatbrief: »Liebe Arabella, ich habe das Portefeuille des Kriegsministers übernommen. Damit wird sich ein schönes Stück Geld bei den Kriegslieferungen verdienen lassen, denke ich. Bestelle Dir immer den Blaufuchsmantel, den Du Dir so sehnsüchtig wünschst. Seine Majestät hat mich beauftragt, Entwürfe für populäre Kriegsorden zu beschaffen. Sie müssen billig sein und nach was aussehen. Fällt Dir was ein, mein Schatz? Morgen nach der Kaiserparade komme ich zu Dir … Ob man schon wieder echte Seidenpinscher kaufen kann, ist mir nicht bekannt. Ich werde aber meinen Kollegen, den Kultusminister, bitten, daß er mir einen beschafft. So was fällt doch in sein Ressort.« An den Rand des Briefes waren putzige Figuren, Sternchen, Kreuze und dergleichen gemalt. Wahrscheinlich vorläufige Versuche Seiner Exzellenz in der Ordensfrage … Der Portier des Handelsklubs empfing mich ohne besondere Hochachtung. Er führte mich in ein nüchternes Zimmer und meinte trocken, ich solle warten. Nach ungefähr einer halben Stunde erschien ein 165
junger Mann und fragte mich herablassend, was ich eigentlich wolle. Donnerwetter – dem mußte ich imponieren. Was nahm sich der heraus! Ich schlug den Mantel auseinander, stattlich leuchtete das rote Futter, stemmte mich auf den Säbel und schnarrte: »von Starkström, Kriegsminister. Ersuche die Herren vom Präsidium um dringende Unterredung!« Der junge Mann lächelte unverhohlen und betrachtete mich mit unverschämter Neugier von oben bis unten. »Wer hat Sie denn eigentlich hergeschickt?« fragte er schließlich belustigt. »Ich komme im Auftrag Seiner Majestät des Kaisers in wichtigen Staatsgeschäften.« »Das ist ja großartig!« platzte der Bursche heraus. »Ein kapitaler Spaß, na, werden mal sehen, glaube allerdings kaum, daß die Herren vom Präsidium Interesse für Ihre Bekanntschaft haben werden.« Ich wollte ihn ärgern: »Die Herren vom Präsidium schlafen wahrscheinlich zu so früher Stunde«, sagte ich mit der Unverschämtheit des Militärs, der über die Schlappheit der Zivilisten spottet. Da kam ich aber schon an. Der Jüngling funkelte böse: »Die Herren vom Präsidium sind selbst im Schlaf noch mehr auf dem Posten, als Leute Ihres Schlages in der wachsten Stunde. Merken Sie sich das. Im übrigen empfangen wir nur, wen wir gerufen haben. Ich habe völlige Freiheit, Sie einfach wieder nach Hause zu schicken, verstehen Sie. Reine Gefälligkeit, wenn ich das Präsidium mit Ihrer Person belästige.« Damit ging er in den Nebenraum und telephonierte bei offener Tür. Er nannte meinen Titel und Namen und äffte meine Stimme nach: »… in wichtigen Staatsgeschäften.« Aus 166
dem Telephon lachte es und der Jüngling stimmte herzhaft ein. Dann antwortete er dem unsichtbaren Sprecher. »… natürlich … habe ihm schon angedeutet … also abweisen … ja, bitte (eine Weile verging) … wie? … also doch? … mal zum Spaß? … Sehr gut! … Gewiß, sofort.« Der Jüngling erschien. »Man will Sie empfangen. Legen Sie Ihren Säbel ab. Haben Sie sonst noch Waffen bei sich? Die Mütze können Sie auch hierlassen. Ich muß Ihnen die Augen verbinden.« Dagegen protestierte ich energisch. Man behandle mich, einen kaiserlichen Minister, wie einen Gefangenen. Das sei empörend. Seine Majestät werde Rechenschaft fordern. Der junge Mann betrachtete aufmerksam den Sonnenaufgang durch das Fenster. »Entweder Sie fügen sich – oder Sie verlassen das Klubhaus«, sagte er kühl. Ich fügte mich. Ein zweiter Privaten-Jüngling brachte ein Tuch. Man verband mich wirklich kunstgerecht und führte mich durch mehrere Räume, dann sackten wir in einem Fahrstuhl ab. Über eine schwebende Stufe bestiegen wir einen Wagen. Am Widerhall hörte ich, daß wir durch einen langen Tunnel rollten. Es bestätigte sich, was ich schon vermutet hatte: zwischen dem Klubhaus und Morgons Burg bestand eine unterirdische Verbindung. Wir hielten. Ein Fahrstuhl hißte uns empor. Noch einige Schritte, und man nahm mir das Tuch von den Augen. Als ich mich umblickte, waren meine Führer verschwunden. Vor mir saßen sieben Männer in bequemen Seidensesseln; denselben Sesseln, die ich vom Lichtspuk der Morgons her kannte. Fünf Plätze waren frei, das Präsidium also nicht vollzählig versammelt. 167
Ihre Gesichter verbargen die sieben Geldleute hinter leichten Masken. Drei Wände des fensterlosen Raumes schimmerten in mattsilbernem Metall. Die vierte Wand überzog in ganzer Breite und Höhe eine Milchglastafel, ähnlich denen, die im Dom den Börsennotizen dienten. Durch dieses Glas drang angenehmes gedämpftes Licht. Mir fiel auf, daß der Raum keine Türen besaß. Glatt schlossen die Metallplatten aneinander. Wie war ich hereingekommen? Ich war gefangen. Das peinliche Schweigen brach endlich der junge Morgon. Ich erkannte ihn sofort an Stimme und Geste. »Was gibt’s also?« fragte er nachlässig. Wie sollte ich auf diese respektlose Anrede antworten? Ich trat einen Schritt vor und legte feierlich die Hand aufs Herz. »Meine Herren«, rief ich pathetisch, »ich stehe vor Ihnen als Bevollmächtigter seiner Majestät unseres allergnädigsten …« »Geschenkt!« unterbrach mich Morgon. »Wenn Sie uns Vorschläge unterbreiten wollen, dann kurz, klar, ohne Einleitung. Ihr Kaiser, Ihr Hofstaat, Sie selbst verdanken einem Fastnachtsscherz das Dasein, den wir geduldet haben, weil er in unser Programm paßte. Ein Wort von mir genügt, und Sie betteln morgen um einen bedingungslosen Arbeitsvertrag als Bergmann, Kesselklopfer oder Stallknecht. – Das ist Ihre Lage, die Sie berücksichtigen wollen, um uns unnützes Geschwätz zu ersparen.« »Wir sind andererseits nicht grundsätzlich abgeneigt, Sie auf Widerruf anzuerkennen und Ihnen Mittel zur Verfügung zu stellen. Das hängt davon ab, was Sie für uns leisten wollen.« 168
»Mein Herr«, antwortete ich mit Würde, »wir sind Erwählte des Volkes. Dem Kaiser jubeln die Massen zu …« Morgon sprang ungeduldig auf. »Volk – Massen – auf diesen Popanz berufen Sie sich als Kriegsminister? Wir jagen Sie allesamt zum Teufel, richten ein Parlament ein, besorgen uns einen Präsidenten und nennen die Firma ›Republik‹ … Glauben Sie, daß dann die Massen weniger jubeln werden, Sie Idiot?« Das war stark, aber es galt ja im Grunde Seiner Exzellenz dem Kriegsminister von Starkström und nicht mir. Ich überging daher die Beleidigung und warf nur ein: »Aber die Armee?« »Kämpft für den, der sie aushält. Das werden immer wieder wir sein.« – Letzte Frage: »Wie fassen Sie Ihr Amt auf?« »Ich habe für heute vormittag eine Kaiserparade der gesamten Truppenmacht angesetzt …« Ein dicker Goldonkel neben Morgon lachte behaglich. »So was gehört wohl zum Betrieb. Wie?« »Und dann?« forschte Morgon unbarmherzig weiter. »Rücken die Regimenter an die Front ab«, sagte ich kühn. »Unsinn!« fauchte Morgon. »Die Truppen bleiben noch einige Tage in der Garnison, verstanden? Marschbefehl erteilen wir!« »Marschbefehl«, entgegnete ich militärisch, »hat nur Seine Majestät zu erteilen!« Morgon ließ sich in den Sessel fallen und sagte zu den andern leichthin: »Der Mann ist blödsinnig.« Er beugte sich zu dem Telephon und rief hinein: »Möchte sofort mit dem sogenannten Kaiser sprechen.« Dann drehte er an einigen Knöpfen, die vor seinem Sitz angebracht waren, und verschob einen Zeiger auf 169
dem Grundriß der Stadt, der in den Tisch eingelegt war. Auf der Milchglaswand erschien das Parkhotel. Rückte so nahe, daß alle Gegenstände verschwammen. Es war, als ginge man durch Mauern. Dann erschien in vollendeter Deutlichkeit der Festsaal. Lakaien räumten die Tische ab. Einer setzte eine halbleere Sektflasche an die Lippen. Das Fest war aus. Zimmer flogen heran. Vor einem breiten Bett, über dem eine wuchtige Krone baumelte, machte der Fernseher halt. Da lag Bob im friedlichen Schlaf, und neben ihm eine stattliche Dame, die ihm zärtlich den Kopf streichelte. Jetzt lauschte sie und runzelte Ärgerfalten. Schüttelte Bob energisch. Er erwachte und wollte sie mechanisch in die Arme schließen. Sie stieß ihn von sich und deutete mit theatralischer Gebärde auf das Telephon. Bob seufzte sichtbar, nahm amtlich strenge Miene an, und plötzlich hörte man seine Stimme. »Hier Kaiser von Utopien – welches Kamel wagt, mich mitten in der Nacht in meinen Regierungsgeschäften zu stören?« »Hier Morgon – (der Kaiser setzte sich erschreckt an den Bettrand nieder und legte, zu seiner Gefährtin gewandt, den Finger auf den Mund) es ist sechs Uhr dreißig. Sie sollten längst auf den Beinen sein, Mann. Erwarte Sie in einer Stunde. Klubhaus melden. Übrigens, Ihr sogenannter Kriegsminister, der sich Starkström nennt – er strömt aber verdammt linde –, ist ein kompletter Esel. Sofort abzusetzen, verstanden. Soll als Rekrut in die Brigade eintreten.« Der Kaiser stotterte: »Gewiß – sofort, Herr Morgon. In einer Stunde im Klubhaus.« Er verbeugte sich vor dem Telephon. Ich konnte kaum das Lachen verbeißen. Das Bild erlosch. Schon standen, wie aus dem Boden gewachsen, die 170
zwei jungen Leute neben mir, verbanden mir wieder die Augen, und führten mich auf dem bekannten Weg zurück. Morgon hatte es nicht für nötig befunden, noch ein Wort an mich zu richten. Unversehens stand ich allein im Vorzimmer des Klubhauses, schnallte meinen Säbel um, und ging unbehindert davon. Das Auto wartete noch auf mich. In einiger Verlegenheit ließ ich mich zum Dom fahren, stieg aus, und befahl den Wagen nach dem Hotel. Jetzt wird Kaiser-Bob, ärgerlich über die Störung seiner Nachtruhe, den Herrn von Starkström wecken und ihm mitteilen lassen, daß er allerhöchst in Ungnade gefallen und hiermit seiner Würden ledig sei. Niemals wird Starkström erfahren, warum dieses Ungewitter so jäh über ihn hereinbricht; denn der Kaiser wird nie eingestehen, daß ihn Morgon kommandiert hatte; und Morgon wird kein Wort mehr von der Sache reden, weil sie für ihn erledigt ist. Wer kauft nun Arabella den Blaufuchs? fragte ich mich. Die schöne Uniform tauschte ich bei den Domvagabunden gegen eine schäbige Arbeiterkluft und einige Eßwaren um. Mein Plan war im wesentlichen gescheitert. Ich hatte gehofft, mich auf irgendeine Weise, die der Augenblick hätte ergeben müssen, im Hause Morgons verstecken zu können. Der einzige Gewinn meiner Expedition war die Gewißheit, daß man vom Klubhaus, wenn man den unterirdischen Schacht fand, sich an die Morgonburg heranarbeiten konnte. Darauf stützte ich meinen nächsten Plan. Jetzt, am Tage, konnte ich natürlich nichts unternehmen. Müde verkroch ich mich in der Sakristei und schlief sofort ein. 171
30 Kurz nach Mittag wachte ich auf. Gern wäre ich auf einige Stunden zu Tirwa zurückgekehrt; aber ich wagte es nicht. Wahrscheinlich konnte man mit Hilfe des Fernsehers, der durch die Mauern drang, auch die Vorgänge im Turm beobachten. Daß man sich mit mir beschäftigte, wußte ich von früher. Im Strudel der Ereignisse hatte man offenbar meine Spur verloren. Ich wollte es meinen Feinden nicht leicht machen, sie wiederzufinden. Ich schloß mich einem Trupp von Schnapphähnen an, die nach Gelegenheiten stöberten. »Bei den Reichen hat’s keinen Zweck«, belehrte mich einer, »wenn du keinen Elektroschweißer hast. Alles hinter Panzerstahl, Mensch, und womöglich noch unter Hochspannung. Aber die Soldaten, die Offiziere, die haben ihr Geld lose in der Hosentasche …« Wir schlängelten uns vorsichtig um Polizisten herum, die uns argwöhnisch nachgafften. Wie müde Arbeiter trotteten wir, die von der Schicht kommen. Meine Kollegen von der Zunft wußten einige Neuigkeiten. Heute morgen waren etliche tausend Nummern der Arbeitsverträgler aufgerufen worden. Unter militärischer Bewachung mußten sie die Straßen säubern, die Buden auf dem Rummelplatz abreißen. An den Mauern lasen wir Anschläge: »Wer bis heute abend sechs Uhr nicht im Besitze einer Arbeitskarte ist und sich ausweisen kann, verfällt dem Standgericht.« Verflucht – meine Kunden kratzten sich den Kopf. Das Wichtigste war demnach, erst mal eine Legitimation zu klauen. 172
Wir änderten die Richtung, ließen die Kasernen rechts und strichen am Turm vorbei nach den wenigen Arbeiterburgen, in denen man die Menschen zu Tausenden zusammengepfercht hatte. »Wer wohnt denn jetzt im Turm?« fragte ich arglistig, um die Meinung der besitzkranken Genossen zu erforschen. »Das weißt du nicht?« – Sie betrachteten mich verwundert, als sei ich vom Mond gefallen. »Dort haben sich die roten Teufel verschanzt, die uns alle umbringen wollen. So predigt’s der Pfarrer von der Kanzel, und da wird’s schon wahr sein. Nachts hocken sie oben auf dem Dach und fauchen ihren feurigen Atem in die Wolken, weil sie nichts ausrichten können. Sie werden nämlich durch unsere frommen Brüder gebannt. Siehst du, da kommen sie schon …« Bevor ich mich von so viel Unsinn erholen konnte, sah ich einen sonderbaren Zug um die Ecke biegen. Voran schritt ein Mönch, der unter der Last eines schweren hölzernen Kreuzes fast zusammenbrach. Ihm folgten andere, die aus kupfernen Kesseln Weihwasser auf die Erde spritzten. Hinter ihnen etwa hundert Männer und Frauen mit entblößten Oberkörpern schwere Geißeln schwingend, mit denen sie sich selbst oder gegenseitig blutende Wunden ins Fleisch rissen. Die Mönche sangen. Die Geißelschwinger schrien und brüllten nach der Gnade Gottes. Schaum troff von ihren Mündern. Sie verrenkten sich in wunderlichen Sprüngen. Manche trugen Schellenkappen oder Glocken an Fuß- und Handgelenken, um die Dämonen im Turm zu erschrecken. So umkreisten sie stundenlang das Gebäude, bis sie im Krampf der Verzückung umfielen und wie gelähmt liegen blieben. Dann sprangen andere in die Bresche. 173
Einen aus unserem Trupp packte es plötzlich. Er schlug die Fäuste vor die Brust, zerfetzte sein Hemd, stürzte dem Zug nach, riß einem, der schon taumelte, das Marterwerkzeug aus der Hand und begann rasend auf seinen bloßen Körper loszuschlagen. Dieses Beispiel feuerte wiederum die anderen Flagellanten an. Sie verdoppelten die Wut der Kasteiung und ihr Geschrei. Meine Kollegen Taschendiebe bekreuzigten sich fromm. Da scheuchte uns der laute Knall einer Explosion aus den mehr oder weniger kirchenfreundlichen Betrachtungen. Der Boden zitterte unter unseren Füßen. Zwischen Bäumen wallte eine schwarze Wolke auf. Schon Jolls Geschwader? Das konnte nicht sein; denn vorher sollte ja der geheimnisvolle Rettungsversuch unternommen werden. Auch zeigten sich keine Flugschiffe am Himmel. Wir eilten auf den dunklen Rauchschwaden zu, drängten uns durch Arbeitermassen, die mit Schaufeln und Brechstangen ausgerüstet waren. Da lag vor uns ein tiefer Erdkrater, aus dem noch gelbe Dämpfe schwelten. Entwurzelte und zerrissene Bäume säumten seinen Rand. Trillerpfeifen schrillten. Die Arbeiter kletterten über die Erdtrümmer ins Innere des Sprengloches, um es zu erweitern und zu vertiefen. Motorbagger schoben sich heran. Im Hintergrund blitzten Bajonette. Einige Maschinengewehrmündungen funkelten auf hohen Gestellen über den Köpfen der schaufelnden Kolonnen. So machte man Lust zur Arbeit im neuen Reich der Geldkönige. Aufseher brüllten, aus ihren brutalen 174
Schnauzen geiferte Hohn: »Fuffzehn Stunden Dreck schippen, bis ihr Lunge kotzt, das is mal was anderes, ne kleine Abwechslung, was?« Und sie fuhren mit Knüppeln und Peitschen unter die Sklaven, wenn sie sich einbildeten, daß einer nachließ. Ein älterer Mann brach plötzlich neben seiner Kipplore zusammen, seine Hände krallten in die Erde, als wollte er sich in sie verwühlen. Blut strömte aus seinem Mund. Seine Kameraden wollten ihm beispringen, da knallte der Wächter zwischen sie: »Hände weg, Gesindel«, schrie er, »den hat der Pfaffe kostenlos in die Versicherungskasse zur himmlischen Seligkeit aufgenommen …« und wieherte viehisch über diesen Witz. Wir pirschten uns an zwei Leute heran, die einen Korb mit Steinbrocken ausschütteten. »Was soll das werden?« Die beiden blieben gebückt, als arbeiteten sie, und antworteten leise von unten herauf: »Sie wollen sich an den Turm heranbohren. Soll morgen gesprengt werden …« Unser frommer Anführer nickte beifällig: »Recht so! Treibt nur die rote Sündenbrut gehörig aus!« Die beiden Korbträger zuckten nur mit den Schultern. Sie waren offensichtlich anderer Meinung, hoben an und trotteten wieder dem Krater zu. Das gab mir zu denken. Der Rausch war verflogen. Vielleicht begannen die Unglücklichen sich zu erinnern. Die Vagabunden wollten weiter. Ich verabschiedete mich von ihnen. Hätte eine andere »Gelegenheit« ausgekundet. Käme später nach. Ich griff eine Schaufel auf und mischte mich unter die Arbeitenden. Hielt mich zu den beiden Trägern. Ohne die Lippen zu bewegen, flüsterte ich auf sie ein: »Kommt ihr wieder zu Verstand, Genossen? – Wißt 175
ihr, was vorgeht? – Habt ihr euch organisiert? – Wer leitet die Aktion?« Sie antworteten lange nicht. Ich hörte, wie der eine dem anderen zuraunte: »Vorsicht! Spitzel!« Nicht lockerlassen. Weiter sprach ich auf sie ein. »Joll wird helfen – im letzten Augenblick –« munterte ich auf. »Kenne keinen Joll«, knurrte mein Nebenmann. Die Erinnerung war noch gestört. Aus der Not trieben sie – unabhängig von früheren Erfahrungen – aufs neue dem Sozialismus zu. Sollten sie den langen Leidensweg mit allen Wirrungen und Irrungen noch einmal gehen müssen? Dieser Gedanke war unerträglich. Überdies mußte sich in den nächsten Stunden unser Schicksal erfüllen. Spätestens am kommenden Tag. Das fühlte ich ganz deutlich. Ich gab keine Ruhe. Die Korbträger überzeugten sich endlich von meiner Redlichkeit. »Wohnblock 267, im Keller, wenn du was wissen willst …« flüsterte der Kamerad beim Bücken. Schon trillerten die Pfeifen. Wir sprangen aus dem Erdloch und rannten davon. Die zweite Explosion krachte. Steinhagel schwirrte. Der Genosse hinter mir schrie auf … stürzte. Ein faustgroßer Granitbrocken hatte ihm das Rückgrat zerschmettert. Die Geldleute wollten den roten Turm sprengen, und zwar schnell. Da galten Menschenleben nichts. Ich warf die Schaufel hin, benutzte Büsche und Beete als Deckung, und schlich mich aus dieser Hölle. Auf den Straßen schob sich die graue Menge zerlumpt und hungrig. Kinder und Frauen bettelten vor den Kasernenausgängen um Küchenabfalle. Polizei trieb neue Scharen von Kulis nach den Arbeitsplätzen. Das Durcheinander war unbeschreiblich. 176
Die Fahrzeuge gehörten jetzt der Herrenkaste und ihren Bütteln. Proleten mußten laufen. Da die Signalaugen an den Straßenkreuzungen längst erblindet waren, und sich niemand auf die Feinmechanik der Selbstlenkung verstand, nahmen wieder die Hände das Steuer und bewirkten aus Unachtsamkeit oder Übermut zahllose Unfälle, zumal man die Dachstraßen zerstört hatte, und alles Volk in die früheren Verkehrswege zwängte, der besseren Kontrolle wegen, wie es hieß. Der Lärm der Hupen, in Utopien längst unbekannt, drohte die Trommelfelle zu sprengen und verwirrte die Passanten. Ich kam nicht schnell vorwärts im Gewühl; erst weiter draußen – der Wohnblock 267 lag fast an der Stadtgrenze – verebbte der Menschenstrom. Nun aber Laufschritt. Die Sonne hing schon in den Bäumen. Nach Einbruch der Nacht wollte ich am Handelsklubhaus sein. Ich wagte gar nicht daran zu denken, wie weit es bis dorthin quer durch die ganze Stadt wäre, meine Füße brannten schon jetzt wie Feuer. Da hörte ich aus den Feldern rechts vor mir leise Musik. Aus dem staubigen Nebel blinkte es metallisch. Ich blieb stehen und fragte einen Mann, was es da gäbe. »Kaiserparade, du Lümmel«, herrschte er mich an. »Die sollte doch am Vormittag sein?« »Seine Majestät geruhten eben noch nicht einzutreffen«, knurrte er wie ein Fleischerhund; »schadt nischt, wenn die Kerls ’n paar Stunden strammstehn.« »Wer bist denn du?« fragte ich den zackigen Militärfreund verwundert. Brüllte mich an: »Nimm die Knochen ’zamm; du stehst vor einem kaiserlichen StraßenreinigungsInspektor, verstann’! Zeig mal deine Legitimation, du Landstreicher. Werd dich melden …« 177
Ich haute ihm eine runter, daß er sich erstaunt in eine Stechpalme setzte, und rannte davon. 31 Die sonderbare Kaiserparade zog mich an. Morgon hielt Bob entweder gefangen oder beriet mit ihm ein ganzes Staatsprogramm. Daß hier mehr als hunderttausend Mann seit sechs oder sieben Stunden in der Sonne schmorten, ließ ihn natürlich völlig gleichgültig. Ich schlug mich durch die Felder. Zwischen Maisstauden erspähte ich einen Geräteschuppen, der dicht am neuen Exerzierplatz abschnitt. Von seinem Dach aus übersah ich die ganze hingebaute Kriegsmacht. Tiefgestaffelt stand Regiment bei Regiment. In der Mitte des riesigen Vierecks hielten höhere Offiziere in Gruppen. Aus ihren Gesten sprach Langeweile und unterdrückter Ärger. Verstohlen zogen sie ihre Uhren. Musikkapellen spielten Märsche, um die Mannschaften bei guter Laune zu halten. Aber häufig genug entstand eine kleine Bewegung in den Reihen; Sanitätsleute sprangen hinzu, und man trug einen, den die Hitze umgeworfen hatte, eilig hinter die Front. Ich wollte meine Zeit nicht mit diesem toten Schauspiel vertrödeln, und beschloß den Rückzug anzutreten. Im Block 267 würden mich wichtigere Dinge erwarten. Den Zauber kannte ich zur Genüge. Die kronprinzlichen Ehrenaufmärsche vor Verdun liegen mir heute noch in den Knochen. Fort also und zurück. Da tönte, gerade als ich mit halbem Körper in der Luft hing, Fanfarengeschmetter unheimlich laut, als sollte die Welt untergehen. Ich zog mich wieder hinauf. 178
Ihr wißt, daß ich kein Hasenfuß bin und nicht leicht aus der Ruhe zu bringen; was ich aber hier sah, drückte mir die Luft ab. Inmitten des Platzes fuhren langsam zwei riesige eisengraue Tanks, ich hörte ihre Raupenbänder klappern, Kanonen schwenkten aus den Panzertürmen und krachten blinde Salven über die Truppen hin. Woher sie gekommen, ob sie aus der Erde gewachsen oder aus der Luft gefallen waren? Jedenfalls, sie waren da. Daß man sie nicht erwartet hatte zeigte sich, indem die Generäle und Würdenträger vor ihnen ausrissen wie Schafleder. Auch die Soldaten wurden von der Panik ergriffen und wandten sich zur Flucht. Da stand plötzlich wie hingehext ein Kerl, hoch wie ein Haus, breitbeinig mit jedem Stiefel auf einem der Kriegswagen. Bis an die Zähne bewaffnet war dieses Scheusal. Kanonenrohre steckten in seinem Gürtel, aus den Händen sprühten Flammenwerfer, im gebleckten Maul hielt es einen blutigen Dolch. Der Stahlhelm verdeckte die niedrige Stirn, unter der bösartig kleine Augen funkelten. Diese wüste Denkmalsfigur begann mit versoffenrauher Stimme zu brüllen, daß sich daneben das Kanonenfeuer wie bescheidener Knallerbsenspektakel anhörte: »Kam’raden, die Armee hört auf mein Kommando!« Die Regimenter rotteten sich wieder zusammen. Der kam also nicht als Feind, sondern als Führer. Keinen schrecklicheren Eisenfresser konnte man sich träumen. Einige Fähnlein schrien »Heil!« und schwenkten die Standarten. Die Mehrzahl blieb noch unschlüssig. »Kam’raden!« donnerte er wieder, »wollt ihr Schießbudenfiguren auf dem Paradefeld sein oder echte Soldaten, denen nichts über ’ne tüchtige Rammelei und gute Beute geht?« 179
Jetzt wurde das Geschrei allgemein: »Heil, heil Beute, große Beute …« Das Gespenst nickte befriedigt. Es hob den rechten Arm und hielt plötzlich in der Faust eine ungeheure blutrote Fahne mit goldener Sonne im Mittelfeld. »Der Krieg ist erklärt!« schrie es. »Wer die meisten Kreaturen zur Strecke bringt, wird Feldmarschall, wer sich am besten aufs Plündern versteht, kriegt seinen Ehrenplatz an der Börse! Regimenter in vierfacher Marschkolonne! Musik an die Front! Ich führe selbst!« Unter brausendem Jubel der Landsknechte ratterten die Tanks, in feurige Wolken gehüllt, über den Platz nach Westen zu, wo eben die Sonne unterging. Die Kolonnen schwenkten ein und marschierten hinter dem gräßlichen Phantom her, rohe Lieder grölend. Die Offiziere aus der Lakaienkaste waren machtlos. In einigem Abstand folgten sie dem Heerhaufen, der sich immer mehr von der Stadt entfernte. Vielleicht glaubten sie, daß ihr oberster Kriegsherr, der doch noch nicht eingetroffen war, sich irgendwo über die Grenze gemacht hätte, wie das gelegentlich in der Geschichte vorgekommen ist. Da wäre denn ein Privatkrieg auf eigene Faust immer noch einer hassenswerten geregelten Beschäftigung vorzuziehen. Daß der Dämon der Schlachten höchst persönlich die Führung übernommen hatte, darüber machten sie sich wahrscheinlich keine besonderen Gedanken, weil sie darin nicht geübt waren. Irgendwie wird Morgon hinter diesem Theater stecken, wird ihrer Meinung gewesen sein, und sie wußten, daß er nicht erst ihre Erlaubnis einholen würde. Über mir erblickte ich am Himmel, der sich abendlich färbte, eine kleine weiße Wolke, die langsam in 180
der Richtung des marschierenden Heeres davonschwebte. Da ahnte ich, was los war. Ich lief rasch zurück, überquerte die große Straße und stand bald vor der Wohnburg 267. Als ich in der Verkleidung des Greises zuletzt die Arbeitersiedlung besucht hatte, waren die hellen, lichten Räume in überladene, stickige Kleinbürgerstuben verwandelt gewesen. Jetzt glichen sie traurigen Massenpferchen in Mietskasernen. In jedem Zimmer hausten acht oder zehn Menschen, die auf Lumpenlagern am Boden schliefen. Stümpfe von Talglichtern scheuchten die äußerste Dunkelheit. Das elektrische Licht hatte man gesperrt. Früher hatte man die Mahlzeiten, die in den blitzsauberen elektrischen Küchen hergestellt wurden, im Gemeinschaftssaal eingenommen. Jetzt aber mußte jeder seine Nahrung in den Magazinen der Privatverwaltung abholen. Unter der Obhut von Gummiknüppeln stellte man sich stundenlang an. Niemand kannte mehr warme Speisen. Faulende Reste von Lebensmitteln, die schon ungenießbar waren, als man sie bezog, verpesteten die Luft. Das Band der Gemeinschaft war zerrissen. Die Not umklammerte alle und zwang sie unter das gleiche Joch. Aber jeder grübelte für sich, wie er es abschütteln könnte, an den Nachbarn dachte er nicht. Ich trat zu einer Gruppe von Männern, die in einem Winkel Karten spielten. Der Einsatz ging um die Hungervorschüsse der Arbeitsverträge. »Auch gut«, rief einer von den Vieren, ein großer, hübscher Bursche, und schob den anderen den Rest seiner Kontrollkarten hin, »fort mit dem Zuchthaussold, es hat verdammt keinen Zweck, Steine zu karren oder Lumpen zu sortieren. Da bleibt keine Chance. 181
Geld muß ran! Sonst bleibt man ewig ’n Schweinehund!« »Hm«, brummte sein Gegenüber und versteckte den Gewinn sorgfältig unterm Hemd, »du fängst gleich beim Oberschinder an, Großmaul!« Der Junge wollte ihm an den Kragen, aber die anderen warfen sich dazwischen, die Partie war noch nicht zu Ende. »Blödsinn«, schrien sie, »hier kann sich jeder seinen eigenen Nagel aussuchen, an dem er am besten hängt, das geht niemanden was an …« Aus dem Finstern kroch ein Rattengesicht heran, Spitzel. »Halbpart«, flüsterte er dem Jungen zu, »was hast du vor, Mann?« Der Bursche musterte die verschlagene Fratze und schien an ihr Gefallen zu finden. »In den Bergen gibt’s Pelztiere für feine Damen, denke, da wächst ’n Geschäft für flinke Kerls. Kannst du mir ’n Schießeisen verschaffen?« Das Rattengesicht pfiff durch die Zähne und zerrte den künftigen Pelzjäger in seinen Winkel. Überall die gleichen Projekte: wie wird man schnell und ohne besondere Mühe reich, um dann Herr sein und andere unterdrücken zu können, wie man selbst unterdrückt wurde? Die Verzweiflung trieb abenteuerliche Blüten. Spekulierwut und brutale Rücksichtslosigkeit, Erfolgmacherei, das hatten sie ihren Vorbildern, den Morgons und wie sie hießen, schon abgeguckt. Hier hatte ich nichts zu suchen. Ich tastete mich in die unteren Geschosse. Im Kellerdunkel duckten sich die riesigen Kessel der Küche wie Vorwelttiere um mich. Durch leere Speicher hallte mein Schritt und durch die ausgedehnten Baderäume. Hie und da stieß ich gegen Lumpenbündel. 182
Man hatte mich wohl genarrt. Ich wollte bereits umkehren, der weite Rückweg mahnte mich, da vernahm ich unter mir dumpfen, leisen Gesang. Ich lauschte … ein Schauer durchfröstelte mich. Nun hat auch mich der Wahnsinn gepackt, dachte ich und war nicht imstande, die Füße zu bewegen. Aus der Grabestiefe klang es gedämpft, wie von vielen Menschen gesungen: »… die Internationale – erkämpft – das Menschenrecht …« In-ter-na-tio-na-le – erkämpft … ich sank in die Knie und heulte wie ein Kind. Vielleicht fühlte ich erst in diesem Augenblick den entsetzlichen Jammer der letzten Tage bis ins allertiefste. Das Blut schoß mir heiß nach dem Herzen: dort unten, unter mir, sind Genossen, sind Kameraden, die das alte Kampflied nicht vergessen haben! Ich mußte zu ihnen, und sollte ich den Zement mit den Nägeln aufkratzen. Ich fand einen Kabelschacht und kletterte in ihm abwärts. Stimmenlärm drang näher. Ich klopfte an die Metallwände. Plötzlich tat sich eine Klappe auf, zwei Arme zogen mich herein, ich stand unter Proletariern, die dichtgedrängt beim Schein einer einzigen Kerze den Worten eines Mannes lauschten, den ich nicht erkennen konnte. »Blödsinn ist das, was euch da die Pfaffen von den roten Teufeln vorerzählen. Begreift ihr denn das nicht? Man macht euch dumm, damit ihr ohne Murren für die Reichen schanzt. Eure Söhne haben sie in Uniformen gesteckt, damit sie sich für was Besseres halten als ihr, und euch totschießen, wenn ihr den Gehorsam verweigert. Rechtlos seid ihr, Maschinenfutter. Wenn einem von den Luxusweibern das Schoßhündchen verreckt, dann heult es drei Tage. Aber wenn hundert Proleten krepieren, weil man ihnen keine Zeit läßt, sich in Sicher183
heit zu bringen bei den verdammten Sprengungen – dann heißt es: »Recht so, wieder hundert von diesen Dreckteufeln weniger!« – He, versteht ihr das?« Ein Alter vor mir rief: »Der Kaiser soll uns Recht verschaffen!« Da fluchte der unsichtbare Sprecher vorn: »Dunnerslag!« auf Deutsch und dann auf Utopisch: »Ihr seid unverbesserliche Esel …!« »Hein!« rief ich und warf mich mit so viel Ungestüm gegen die Menschenmauer, daß man mir unwillkürlich eine Gasse machte. Und wir lagen uns in den Armen, lange unfähig, ein Wort zu sprechen. Es war ganz still um uns. Dann sagte Hein mit einem Anflug seines alten Humors, ein Schluchzen hinunterwürgend: »Bist du’s sülbst, Korl, oder hast du man bloß din’ Geist up Reisen geschickt?« »Ich bin’s leibhaftig«, bekräftigte ich und schüttelte ihm beide Hände. Er war mager geworden, blaß, seine Augen lagen in tiefen Höhlen. Aber das Feuer der Aufopferung brannte in ihnen. »Mensch«, sagte er, »es ist so verdammt schwer. Sie haben alles vergessen. Man muß ganz von vorne anfangen. Aber sie merken wenigstens, daß es ihnen an den Kragen gehen soll. Und nun kommen sie zu mir. Seit zwei Tagen sitze ich hier zwischen Wasserröhren und Kabelleitungen und muß auf die dümmsten Fragen antworten. Und bin doch gewiß kein Redner. Wenigstens habe ich ihnen die Internationale eingepaukt, wenn sie sich auch nicht viel dabei denken. Aber ’s ist doch was Gemeinsames. Bis ich sie so weit habe, daß sie begreifen, was ’ne richtige Organisation und ’n Streik ist, Mensch, das kann noch lange dauern.« 184
Er zupfte verlegen und hilflos an seiner dünnen Jacke. »Könnt’st mich ’n bißchen ablösen, Karl«, meinte er müde. »So zwei, drei Stunden wenigstens …« Ich klärte ihn über die Absichten von Joll auf. Keine Stunde sei mehr zu verlieren. Er nickte. »Es geht zu Ende. Hab’ mir’s gedacht, wie ich hörte, daß sie an den Turm heranwollen.« Er bot sich an, mir bei meiner Unternehmung gegen Morgon zu helfen. »Hat keinen Zweck, Hein. Ob’s mir allein gelingt, bezweifle ich. Wenn wir aber zu zweit gehn, bedeutet’s sicheren Selbstmord.« »Du denkst, ich lauf wieder davon?« flüsterte er. »Mach’ dir deshalb keine Sorge! Ich bin nüchtern geworden. Den Bob hab ich zum Kaiser gesalbt mit dem letzten Schnaps, den ich erwischen konnte. Hab genug davon. Kannst mir ’n Dutzend Pullen vom besten alten Korn unter die Nase bauen … vorbei!« Er scheuchte die Erinnerung an seinen Riesenrausch mit entschiedener Ekelgebärde von sich. Ich glaubte ihm. »Gut«, meinte er, nachdem ich ihm nochmals meinen Plan auseinandergesetzt hatte. »Bleibe auf meinem Posten. Will sehn, daß ich diese dummen Küken vor der Katz’ in Sicherheit bringen kann.« Er deutete fast mit mütterlicher Zärtlichkeit auf die Versammelten, die verständnislos unserem Gespräch lauschten. Ich sprang auf eine Kabelrolle und schrie: »Genossen! Ihr müßt die Stadt verlassen. Utopolis wird in wenigen Stunden zerstört. Laßt eure paar Habseligkeiten zurück. In wenig Tagen wird euch alles ersetzt und viel besser und schöner. Lauft über die Felder, so viel Stunden, als euch die Beine tragen. Hein wird euch führen!« 185
Frauen weinten. Männer riefen uns entgegen: »Wer gibt uns denn zu essen … wo sollen wir denn schlafen? Wir verlieren unser Brot … sie werden uns den Arbeitsvertrag entziehen willst uns bloß ins Unglück hetzen!« Im Hintergrund rumorte es gefährlich. »Achtgroschenjunge!« schimpften welche. »Der Kerl will uns den Gummiknüppeln ausliefern, reibt ihm die Schale blank! …« Hein sprang auf und donnerte: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde! …« Da fielen sie zögernd und doch gehorsam ein, manche falteten die Hände, als wollten sie beten. »Da siehst du, wie sie sind«, raunte mir Hein traurig zu, während er wieder Takt schlug, wie früher bei seinem Engelschor, »kleine Kinder …« Nach dem Gesang trat er vor mich hin und fing geduldig an: »Hört mal schön zu, Genossen. Ich will euch mal ’ne Geschichte erzählen, die bei uns in Europa passiert ist …« Mächtiges Gepolter unterbrach ihn. Die Tür wurde aufgerissen, eine Stimme rief hastig: »Kommt schnell alle rauf, es gibt was Feines zu essen!« Da war kein Halten mehr. Wie toll drängten sie durch das enge Loch hinaus. Wir schauten uns verblüfft an. »Da hat een ’n Sack Kartoffeln geklaut«, Hein wischte sich matt den Schweiß aus dem Gesicht, »un schon schießt dat büschen Solidaritätsgefühl koppheister.« Langsam folgten wir. Oben sah sich die Sache aber doch ganz anders an. Aus den Gängen und Treppen im Halbdunkel stürzten und stolperten Menschen übereinander her, als ob es brennte, schrien und heulten. Manche sangen laut Hosiannah und Halleluja, während sie andere niedertram186
pelten. Der Wahnsinn hatte eine neue Methode gefunden. Als es uns mit den anderen hinausgeschwemmt hatte, blendete uns grelles Licht, das wie ein breiter Scheinwerferstrahl vom nächtlichen Himmel fiel. Es schneite in rosafarbenen Flocken, nach denen Männer, Frauen und Kinder haschten. »Manna! Manna!« riefen sie und steckten das Zeug in den Mund. Hein fing sich eins von den schwebenden Kügelchen und kostete es. »Zuckerschaum!« brummte er und spuckte aus. Von den benachbarten Wohnburgen rannten sie herbei, die Menge schwoll ins Ungeheure. »Ein Wunder! … das tausendjährige Reich bricht an …« Als hätten sie es herbeigerufen, verdichtete sich der Lichtschein zu einer gewaltig großen Christusgestalt, um deren Kopf bunte Nordlichtfeuer strahlten. Das Leuchtgebilde hob die Hand und sprach mit weithin tönender Stimme: »Die Stunde ist gekommen, da euer Heiland euch erlösen wird! Wer mir folgt, den führe ich ins Paradies. Da braucht niemand zu werken. Herrliche Speisen und Tränke erwarten ihn. Himmlische Musik wiegt ihn in den Schlaf. Kommt, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken!« Langsam entwich die Erscheinung nach Westen. Die armen Menschen folgten ihr jubelnd und verzückt. Das Paradies konnte wahrlich nicht mehr weit sein. Leise Musik klang aus der Höhe. Von Zeit zu Zeit sprach die Erlösergestalt und winkte den Verzauberten. Unabsehbar wälzte sich der Volkshaufe an uns vorbei. Bald standen wir allein. Das Phantom schwebte schon klein und vergehend am Horizont. Hein fluchte ingrimmig, seine ganze Mühe war dahin. »Wenn ick dat Aas zu fassen kriege, dat diesen 187
neuen Klamauk ausklabüsert hat! …« und er schwang ein unsichtbares Tauende durch die Luft … »Dann mußt du Joll an die Kehle fahren«, unterbrach ich ihn. »Das hier und der wilde Eisenfresser, der die Soldaten entführt hat, sind seine Erfindungen, um die kranken Genossen aus dem Zerstörungsbereich der Fernlenker zu locken. Mit roten Fahnen und Aufrufen zur Internationale hätte er sie keinen Schritt weit aus dem Bau getrieben.« Nicht alle waren auf den frommen Schwindel hereingefallen. In kleineren Gruppen standen sie beieinander, schauten finster dem Spuk nach und verbargen ihre Verlegenheit hinter groben Witzen. Ganz geheuer war ihnen die Sache nicht, aber der Zweifel überwand die Furcht. Etwas bäumte sich in ihnen auf gegen das Widernatürliche, ein Funke von Vernunft glomm. In diesem Augenblick hätte ich ihnen allerdings lieber ein schwärmerisches Sektierergemüt, als männlichen Höllen- und Himmelstrotz gewünscht. Und doch hatte Joll auch an sie gedacht. Dieser Einfall übertraf die anderen an genialer Schlichtheit. Es passierte nämlich nichts weiter, als daß plötzlich ein Flüsterton in der Luft lag. Woher es kam, ahnte niemand. Der Nebenmann konnte es leise in den Wind gesprochen haben, es war aber auch wiederum so deutlich, daß es alle zugleich hörten. Diese Stimme um uns raunte: »Der schwarze Butan hat in den Lankibergen eine Goldader gefunden …« Butan ist ein Name in Utopien wie bei uns Richard oder Heinrich. Es gab Tausende von »schwarzen Butans«. Aber jeder kannte im Nu den »richtigen«. »Gold! Gold!« das lief von Mund zu Mund. »Der schwarze Butan – verfluchter Hund, hätte ihm nicht zugetraut – in den Lankibergen höchstens sechs Stunden zu Fuß, wenn man die Backen 188
zusammenkneift – halt’s Maul, braucht nicht jeder zu wissen, wo die Kieselsteine gelb sind –« Sie verschwanden wie Diebe in den Häusern, rafften, was sie fanden, an sich, Schaufeln, Hacken, Hämmer, und rannten in kleinen Trupps, als gelte es ihr Leben, in die Nacht hinein, nach Westen, den Bergen zu, in derselben Richtung, in der die Massen dem »Erlöser« gefolgt waren. »Da kann ick ja nu stempeln geihn«, meinte Hein verdrießlich. Wimmern eines Säuglings und beschwichtigende Worte einer Frau waren die einzigen Laute, die noch aus dem toten Gebäude drangen. Ich riet Hein, den Auswanderern nachzusetzen und sie, soweit es in seinen Kräften stünde, an der vorzeitigen Rückkehr zu hindern. Wie lange Jolls Ablenkungsmanöver einwirken würden, war doch sehr ungewiß. Das leuchtete ihm ein. Wir drückten uns die Hände (wohl zum letzten Male, dachte jeder vom anderen) und trennten uns, ohne unnütze Worte zu machen. Für mich war es höchste Zeit, ich wechselte zwischen Dauerlauf und schnellem Schritt. Hunger und Aufregung machten mich schwach, ich knickte in den Knien ein. Warum lief ich eigentlich in die Stadt zurück, was ging mich Morgon an? Ich hörte Rauschen und Surren hinter mir und bildete mir ein, es wären Jolls Flugschiffe, rannte quer über die Straße und wollte mich in den Graben schmeißen. Es waren aber nur zwei Autos, die heranjagten, mich in ihren Scheinwerfern fingen und fast übern Haufen stießen. Sie bremsten scharf und hielten neben mir. »He, Sie, Mann!« rief man mich an. Ich wollte nicht auffallen und trat an den ersten Wagen. Eine Stimme 189
fragte ziemlich kläglich: »Sagen Sie mal, das Paradefeld liegt doch hier draußen, nicht wahr?« Das war Bobs Stimme. Er saß klein, verängstigt im Gehäuse seiner imposanten Uniform. Das gab mir wieder Mut. »Jawoll, Herr Offizier«, sagte ich forsch. »Hier ist auch die Parade gewesen, heute am ganzen Tag. Aber nun sind die Truppen abmarschiert. Durch die Stadt …« »Durch die Stadt? Ist doch gar nicht möglich!« »Nu, ich hab sie doch mit eigenen Augen marschieren sehn. Es war ’ne helle Freude. Kann Ihnen den Weg zeigen.« »So, so. Sie wissen den Weg? Setzen Sie sich doch neben den Schofför und zeigen Sie uns, wie die Truppen gezogen sind.« »Mit Vergnügen, Herr Offizier!« brüllte ich, stand stramm, sprang in den Wagen. Wir rasten durch den menschenleeren Boulevard, daß der Asphalt quietschte. Wie gut das tat, im weichen Leder zu sitzen! Vom Turm her dröhnten wieder Explosionen. Dort wurde also noch gearbeitet. Arme Kameraden, euch konnte Joll keinen Heiland und kein GoldgräberAbenteuer schicken. Die Privatstadt war jetzt durch Polizeiketten von der Arbeiterstadt abgesperrt. Ohne den glücklichen Zufall, der mich zum kaiserlichen Wegweiser gemacht hatte, wäre ich kaum mehr durchgehuscht. Einige Häuserblocks vor dem Handelsklub ließ ich rechts einbiegen. Der bekümmerte Kaiser-Bob wunderte sich immer heftiger über das sonderbare Marschziel seines Heeres. Ich ließ halten. »Hab mich – glaub’ ich – geirrt.« »Ogottogott, das ist eine Nacht!« seufzte der allerhöchste Herr. 190
Ich riß den Wagenschlag auf, sprang heraus, über den nächsten Zaun und verschwand in den Büschen. Schreie hinter mir. Zwei Schüsse krachten. Sie mochten Tulpen oder Rosenköpfe zerschmettert haben. Mehr als das beunruhigten mich die Polizeipfiffe, die kurz darauf aus verschiedenen Richtungen trillerten. In einigen Minuten ist das ganze Viertel rebellisch und umstellt, sagte ich mir. Ich besaß plötzlich die Fähigkeiten von zehn erstklassigen Artisten, turnte über Gitter und Hecken, sprang über Gräben, rutschte an Mauern abwärts und landete wohlbehalten im Park des Klubhauses. 32 Ausgedacht hatte ich mir meinen letzten Besuch bei Morgon so: Türwart des Klubhauses niederschlagen, ebenso den Sekretär, dessen Kleider anziehen, seidene Maske vor das Gesicht binden, durch den Tunnel als Mitglied des Präsidiums passieren … Vorläufig kroch ich gebückt durch die Büsche, selbst gehetzt und verfolgt. Das Portal war sicher schon von Gummiknüppeln bewacht. Ich mußte von der Gartenseite ins Innere des Hauses dringen, und zwar so rasch wie möglich. Das Tor zur Gartenterrasse war verschlossen, alle Fenster des Erdgeschosses stark vergittert, die Wände ragten ohne Simse und Kerben glatt auf. In die Höhe mußte ich, unten würde man mich einkreisen, wie die Hundemeute den Fuchs. Blieben nur die hohen Palmen neben der Terrasse. Ich erinnerte mich, bei Negern gesehen zu haben, daß sie mit Hilfe einer Seilschlinge rasch an Palmen hinaufliefen. Sie stemmten die nackten Füße gegen die 191
Astwülste und schnellten die Schlinge, die sie in den Händen hielten, aufwärts. Zog also die Schuhe aus, hing sie mir um den Hals, drehte die Weste zum Strick und versuchte nach Art des braunen Mannes den Weg in der Senkrechten zu gehen. Mehrfach rutschte ich, riß mir Füße und Arme blutig, kam aber langsam höher. Die Blätterwedel des mächtigen Baumes schienen sternenweit. Da hörte ich Pfiffe dicht unter mir. Laternen blitzten auf. Man suchte den Garten ab. Ohne zu wissen, wie, sprang ich am Stamm empor, schwang mich in die dickfleischigen Äste und saß wie ein Affe zwischen Kokosnüssen. Unten leuchteten Gummiknüppel das Gelände ab und konnten sich nicht beruhigen. Wahrscheinlich hatten sie Spuren gefunden. Die Metallbeschläge ihrer flachen Helme funkelten böse herauf. Da löste sich unter meinen Füßen eine Nuß und fiel gewaltig krachend auf die Stiefelspitze eines eifrigen Polizisten, der mit dem Schuh auf ein verdächtiges Zeichen im Sand gewiesen hatte. Der Getroffene heulte auf und setzte auf dem gesunden Bein mit einem Panthersprung zur Seite. Seine Kollegen lachten. Man kam zur Einsicht, ich müßte über die nächste Mauer weitergeflüchtet sein, und trollte sich davon. Fluchend hob der Gezüchtigte die wuchtige Nuß vom Boden, klemmte sie unter den Arm und hinkte den anderen nach … Ich sah mich um. Der flache Dachrand lag knapp unter mir. Ohne Anlauf konnte ich nicht hinüberspringen. Trotzdem, was riskierte ich denn? Entweder ich stürzte ab oder Jolls Fernlenker sorgten für mein ruhmloses Ende. Ein Unterschied von knapp zwei Stunden, schätzte ich. 192
Ich hangelte mich an einer kräftigen Rippe nach außen, bis ich das Blatt fühlte, und begann mich wie auf einer Schaukel zu schwingen. Kein angenehmes Gefühl ohne Fangnetz unter mir, dürft ihr mir glauben. Doch der Ast hielt. Ich ließ los, flog auf das Dach zu und erwischte die Kante mit beiden Händen. In diesem Augenblick packte mich der Schwindel. Mit vergehenden Kräften hing ich zwischen Himmel und Erde. Die Welt ging im Kreise, ich wußte nicht mehr, ob ich noch Halt hatte oder schon ins Bodenlose fiel. Vielerlei hörte und sah ich in diesen Sekunden. Oben auf dem Dach stand ein schönes Mädchen und beugte sich zu mir. »Komm, Karl«, sagte es leise, »so lange warte ich schon auf dich.« Jana – Jana … aber ich wagte nicht einmal ihren Namen zu flüstern. Da marschierte hinter mir meine Turnriege auf, acht stramme Kerls (manchen Streich hatten wir gemeinsam ausgefressen). »Was, der Karl bringt nicht mal mehr ’n einfachen Knickstütz zuwege«, höhnten sie. Und da ging’s. Ich biß die Zähne zusammen, meine Muskeln arbeiteten und ich rief: »Paßt mal auf, wie man das macht, wenn Jana zuschaut!« Dann lag ich wie geprellt in der Blechtraufe, fast ohnmächtig. Meine Gedanken flatterten wie aufgescheuchte Fledermäuse um Jana. Wie kam es, daß ich mich so selten mit ihr beschäftigte, obwohl sie doch mein ganzes Wesen ausfüllte? War sie noch in Utopolis, war sie mit den Paradiessuchern ausgewandert? Sie ist hier, ganz in der Nähe, du mußt sie befreien! … Armselige Fieberphantasien, dachte ich später, als ich wieder zu Kräften kam. Ich erholte mich und richtete meine Aufmerksamkeit auf das Nächste. Die Falltüren auf dem Dach waren verschlossen. Nach einiger Mühe gelang es mir, 193
eine Oberlicht-Glasplatte auszuheben. Ich stieg ein in den Fahrstuhlschacht und kletterte langsam abwärts. Dichteste Finsternis umgab mich. Wenn der Passagierkasten hochsaust, zerquetscht er dich wie eine Fliege, überlegte ich. Kletterte ins Endlose, tastete mit den Händen die Türen der Stockwerke ab. Das Haus war wie ein Bergwerk tief unter die Erde gebaut. Endlich stieß ich auf das Oberteil des Fahrkastens und versuchte, mich zwischen den Stahlstangen des Schachtgerüstes durchzuzwängen. Meine Hände glitten über die Glasfenster der Kabine. Da es bei den übrigen Stockwerken nicht möglich gewesen war, ins Treppenhaus einzusteigen, nahm ich an, die Sohle des Schachtes erreicht zu haben. Demnach mußte sich links der Wagen befinden, der den Tunnel durchrollte. Ich fühlte wie ein Blinder an den Wänden entlang. Den Wagen fand ich nicht, aber die Schienen. Das Gefährt wartete wahrscheinlich am anderen Ende der Strecke auf Gäste. Ich schritt rüstig zwischen den Geleisen aus. Der Tunnel war so schmal, daß ich bei ausgebreiteten Armen die Fingerspitzen an beiden Wänden streifen lassen konnte. Plötzlich hörte ich dumpfes Rollen. Ein Lichtschein fiel mir entgegen. Der Wagen! Ich warf mich zwischen die Schienen, das Gesicht gegen den Boden gepreßt. Das Unheil raste über mich hin. Man hatte mich wohl nicht bemerkt. Geduckt lief ich weiter. Wie lange? Wie weit? Ich schlug mit der Stirn gegen eine metallische Wand, daß mir Feuer aus den Augen sprang. Endstation. Haus Morgon. Für alle Fälle band ich die seidene Maske vor, ob194
wohl ich, verschmiert und zerrissen, niemandem den Geldmann hätte vorspiegeln können. Eine Maske macht geheimnisvoll und erregt mehr Schrecken, als die gewöhnliche Muskel- und Fettpackung, die man Gesicht nennt. Schrecken mußte von mir ausgehen, wenn mich jemand ertappte. Ich war entschlossen, mich wie ein wütender Tiger auf jeden zu stürzen, der mir in den Weg treten würde. Der Sitzungsraum des Präsidiums befand sich nach meiner Schätzung im Erdgeschoß oder im ersten Stock. Wir waren nur einige Sekunden gefahren, als man mich, das heißt den Kriegsminister von Starkström, ins Allerheiligste der Goldburg eingelassen hatte. Der Strahler würde wohl im obersten Stockwerk untergebracht sein. Wieder klettern! Aber diesmal nur am doppelten Zugseil; denn der Raum, in dem der Kasten glitt, war eine nahtlose Metallröhre. Meine Hände, zerschrammt, bluteten. Die Minuten wurden zu qualvollen Stunden, zumal mich die Finsternis fast betäubte. Endlich fühlte ich eine Decke über mir und ein Loch, in dem das Seil verschwand. Der höchste Punkt war erreicht. Ich suchte nach der Ausgangstür, fand einen Riegel und schob ihn zurück. Die Tür sprang auf, ich stand in einem hellen Vorraum. Aber schon sauste unter leisem Glockenzeichen der Fahrstuhl herauf. Rasch schlug ich die Tür zu und versteckte mich hinter einem Pfeiler. Am Stockwerkzeiger sah ich, daß die Kabine sofort wieder sank. Automatenwerk ohne Bedeutung. Ich atmete auf. Wieder im Licht zu sein, tat mir so wohl, daß ich beinahe alle Gefahren vergaß. Aufmerksam sah ich 195
mich um. Eine breite Treppe endete hier. Nach oben überall geschlossene Decke, mattgoldene Metallplatten. Das konnte nicht stimmen. Mindestens mußte es einen Zugang zum Dach geben, das, wie überall in Utopien, als Flugzeuglandeplatz diente. Ich lauschte. Über mir hörte ich ein feines, helles Summen, wie es Apparate aussenden, in denen hochgespannte elektrische Ströme wirken. Da oben, davon war ich überzeugt, hatten sie den Strahler montiert. Kurz vorm Ziel! Vorsichtig beklopfte ich die Wände aus gemaserten Elfenbeinplatten. Sie hörten sich nirgends hohl an. Als ich aber, fast aus Versehen, eine kleine goldene Zunge berührte, schoben sie sich lautlos auseinander. Vor mir lag ein prachtvoll eingerichteter Wohnraum. Durch offene Gänge sah ich weitere Gemächer. Taghell war es, obwohl keine Lampen leuchteten. Fenster fehlten, dennoch atmete ich frische, kühle Luft. Der Schritt verlor sich in schweren Teppichen. An silbernen Wänden kostbare Webereien mit eingewirkten Götterbildern, vielleicht aus China. Wenige, aber mit herrlichen Stoffen überspannte und edelsteinverzierte Möbel. Angesichts dieser schwellenden Lager und Kissen, wie aus einem Märchen aus tausend und einer Nacht herbeigezaubert, fühlte ich, wie todmüde ich war. Sollte ich mir fünf Minuten Ruhe gönnen? Ein sanftgeschwungener Diwan in gelber Seide, über die ein silberner Reiherflug gestickt war, dehnte sich mir behaglich entgegen … Ich riß mich zusammen. Los! Eine Treppe, ein Durchschlupfloch suchen! Zimmerfluchten durchstreifte ich, ohne zu bedenken, daß man mich beobachten könnte. Was lag schließlich daran? Das Haus hatte mich gefangen, ich würde mit ihm zugrunde gehen, wie die Genossen im 196
Turm zugrunde gehen mußten. Diese Gewißheit machte mich furchtlos. Wo ich goldene Zungen bemerkte, berührte ich sie, in der Hoffnung, einen geheimnisvollen Mechanismus in Bewegung zu setzen, der mir plötzlich einen besonderen Fahrstuhl oder eine Treppe öffnen würde. Nichts, nichts fand sich. Wände glitten auseinander. Der Nachthimmel schaute herein. Über die Aussichtsterrasse blickte ich herab auf die Stadt. Sie lag im Dunkeln. Hoch über ihr flammte rot die Lichtsäule des Turms. Sie leuchtete hastende Wolken an, die – wie ertappt – aus der purpurnen Helligkeit flohen. Da blitzte es dicht beim Turm auf. Glühende Eisenteile sprangen wie Raketen hoch. Donner krachte scharf und kurz zusammen. Sie sprengten bereits unter den zerschmolzenen Brücken. Die nächste oder übernächste Explosion mußte das Fundament des Turmes unterhalb des Energiepanzers angreifen. Vom Rand der Terrasse aus blickte ich am Hause empor. Da oben saß, wie ich vermutet hatte, noch ein mächtiger Stahlwürfel. Keine Leiter führte zu ihm empor. Und wenn ich mich schon durch übereinandergetürmte Möbel hatte hinaufschwingen können, durch seine Panzerwände drang ich niemals. Ich schloß wieder die Schiebewand und suchte vergeblich weiter. Meine Verzweiflung wuchs. Ich wünschte mir einen Menschen. Irgendeinen Lakaien oder Wächter, der sich mir in den Weg stellte. Ich hätte mit ihm kämpfen und ihm das Geheimnis mit Gewalt entreißen können. Aber ich bewegte mich in einem prächtigen Grabgewölbe. In einer Stunde, rechnete ich, würden Jolls Fernlen197
ker Utopolis erreicht haben. Bestimmt waren sie schon gestartet. Sie stürmten schon durch die Nacht. Ich hatte den ganzen Wohntrakt in fieberhafter Eile durchstöbert, alle Behänge von den Wänden geschoben, um nach verborgenen Türen oder Mechaniken zu forschen, die Möbel verrückt und alle Schiebewände spielen lassen. Jetzt wußte ich keinen Rat mehr. Ich stützte mich auf eine grüne Marmorsäule und überlegte. Da schwand plötzlich der Boden unter mir. Das Zimmer sauste nach oben, während ich fiel. Im gleichen Moment empfand ich einen dämpfenden Stoß und stand im nächsttieferen Stockwerk. Die Öffnung, durch die ich abgesunken war, schien von Zauberhand geschlossen worden zu sein. Ich grübelte nicht lange. Fest stand: ich war entdeckt. Man trieb ein Katz- und Mausspiel mit mir und wollte sich an meinen Ängsten weiden. Diesen Spaß gönnte ich den Leuten mit der schwarzen Maske nicht. Mochten sie mir ihren ganzen Teufelsspuk auf den Hals hetzen, einen feigen, um Gnade winselnden Proleten sollten sie in mir vergeblich erwarten. An Flucht zu denken oder nach dem Strahler weiterzusuchen, erübrigte sich. Ich kannte die Morgons. Diesmal waren sie ihrer Mittel sicher. Um jeden Zweifel eines Zufalls zu verscheuchen, drückte ich eine der goldenen Zungen. Keine Wand verschob sich mehr. Ich hatte meine letzte Station erreicht. Es war immerhin ein Zeichen zynischer Großzügigkeit, mir als Gefängniszelle einen Festsaal anzuweisen. Die Wände prunkten in Mosaiken aus Smaragden, Rubinen, Saphiren, Brillanten und anderem Edelgestein. Leuchtende Emailflüsse umrahmten diese Bilder. Man sah Bogenschützen in fremdländischen Trachten, 198
die aufspringenden Pferden hinter Hirschen herjagten, Schlachtenszenen zwischen schwergepanzerten Rittern und halbnackten Hunnen, eine Prozession von Priestern, die sich demütig einem gefesselten und aus Pfeilwunden blutenden Märtyrer näherte. Ich ließ mich in einen goldenen Sessel fallen, sterbensmüde. Am liebsten hätte ich geschlafen. Gar nicht mehr aufwachen, nicht mehr denken, sorgen und Pläne machen … lohnt nicht, Schluß damit. Aber ich war doch innerlich zu aufgewühlt. Die Augen schmerzten mich, ohne daß ich sie schließen konnte, so blinzelte ich teilnahmslos auf die gleißenden Bilder, bis sie zu leben begannen. Die Gestalten traten aus ihren Rahmen und füllten den Saal. Aus vielen Jahrhunderten waren sie zusammengekommen und gingen jetzt in Gruppen, friedlich und in munteren Gesprächen, hin und wieder. Immer Neue strömten aus den Wänden, Männer in behäbigen Bürgerwämsern mit goldenen Patrizierketten um den Hals, Heerführer und Fürsten in klirrenden Uniformen, Kardinäle in roten Damastroben, Kaufherren mit brillantblitzenden Fingerreifen und plump-goldenen Uhrketten über prallsitzenden weißen Westen. Es fehlten nicht mongolische Eroberer mit bernsteinfunkelnden Tigeraugen und goldenen Geißeln im Gürtel. Nicht fehlten die spanischen Inkamörder in blutrostigen Brustharnischen, über denen sich weiße Brabanter Spitzenkragen spielerisch frauenhaft kräuselten. Und alle verstanden sich sogleich, begrüßten sich zuvorkommend, höflich, höfisch, wie bei einem großen Bankett, wo Haß, Ehrgeiz und Selbstliebe unter glatten, gefälligen Formen so tief versteckt werden, daß der Unkundige das Zeitalter ewigen Friedens und paradiesischer Eintracht gekommen glaubt. 199
Da schleppten Sklaven eine schwere Truhe herein, an die sie mit Ketten geschmiedet waren. Der Deckel sprang auf, eine dicke, goldene Kröte kroch heraus und begann zu sprechen: »Wer mir das meiste Menschenblut zu trinken gibt, der soll Herr der Erde sein!« Hei, flogen da die Degen und Schwerter aus den Scheiden, Dolche blitzten, Pistolenläufe funkelten. Mordlust glitzerte aus aller Augen. Aber einer der dicken Kaufleute hob die Hand und sprach: »Edle Herren, jedem von uns ziemt die Weltherrschaft und keiner wird freiwillig auf sie verzichten. Sollen wir aber darum unser eigenes, edles Blut vergießen? Wollen wir uns umbringen, da die Tafel der irdischen Freuden so reich für uns bestellt ist? Lasset uns lieber das Blut opfern, das uns leibeigen und hörig ist. Wer davon dem goldenen Gott am meisten hinfließen lassen kann, dem soll die Herrschaft gebühren.« Dieser Vorschlag fand lebhaften Beifall. Und nun schleppten sie herbei: die Fürsten ihre Bauern, die Heerführer ihre Soldaten, die Eroberer trieben ganze Völkerschaften vor sich her, die Priester stießen Ketzer scharenweise in den goldenen Schlund, die Kaufherren hetzten Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder, eine unübersehbare Masse von bleichen, verhärmten Menschen, ohne Erbarmen in den goldenen Tod. Die Kröte fraß und wuchs, fraß und wuchs und ächzte: »Mehr mehr! Das alles ist die Weltherrschaft noch nicht wert. Viel blutiger und grausamer müssen eure Kriege werden, viel schneller müssen die Fabriken eure Sklaven verbrauchen Tempo … Tempo! – Sonst freß ich auch euch!« Die Herren und Herrscher verdoppelten ihre Anstrengungen. »Hier, liebe Kröte: ein kriegsstarkes Regiment von Siebzehnjährigen, zart und knusprig.« 200
»Hier, liebe Kröte: zweihundert Bergarbeiter. Jeder hat Familie. Da kommt der Rest bald nach.« »Hier, liebe Kröte: ein ganzes Schock feingliedriger Mädchen. Wir haben ihnen eingeredet, daß sie sich über dem Kindlein, das sie gebären wollen, zu Tod schämen müßten …« An den vier Ecken des Saals arbeiteten auf kleinen Tribünen Henker um die Wette. Das Fallbeil sauste, das große Richtschwert blinkte durch den Blutnebel. »Die sind gut«, schmatzte die Kröte, »der Lebenssaft von Revolutionären und freien Geistern schmeckt am besten. Mehr, mehr davon!« Am Galgen knackten die Genicke von ausgehungerten Bauern. Das ging hopp-hopp, die Herren lachten. Viele drängten sich um den elektrischen Stuhl. Dort dauerte es zwar länger, dafür aber entschädigte das Schauspiel der Qualen. Richter und StaatsGouverneure unterhielten sich dabei vorzüglich. »Wie gefährlich diese Kerle sind«, witzelten sie, »das geht allein schon daraus hervor, daß man ihnen nichts nachweisen kann.« Die Kröte ächzte schaurig Beifall. »Kein Verbrechen geht über Unschuld und Glauben an die Menschheit«, hüstelte sie, »deshalb hab’ ich den Jesus von Nazareth geschluckt, der ein Narr war wie diese.« Trat ein Bischof herzu, drehte die Augen gen Himmel und greinte salbungsvoll: »Im Namen der heiligen christlichen Kirche, liebe Kröte, bitte ich dich, in diesem einen Falle etwas zurückhaltender in deinen sonst stets so treffenden Bemerkungen zu sein.« Die Kröte tätschelte ihm die fetten Wangen. »Nette Jungens seid ihr«, kreischte sie, »ganz nach meinem Sinn. Am allerbesten mag ich die Feldprediger leiden.« Aber plötzlich blies sie sich auf, ihr Körper schwitzte 201
Gold aus, und sie schrie: »Da, nehmt, das sind Dividenden, Zehente, Kopfsteuern, das ist Beute aus mörderischen Kriegen, das sind ungezählte Arbeitsstunden, die ihr mit Kupfer lohntet und die Gold brachten, nehmt, denn ihr habt mich gut bedient bisher.« Die Herren balgten sich und rauften um den kostbaren Schweiß der Kröte, den sie aus dem Blut der Armen herausgesogen hatte. Danach sanken sie vor ihr in die Knie, beteten sie an und gelobten, ihr die Opfer zu verdoppeln. Da hörte ich neben mir eine wirkliche Menschenstimme und schreckte aus dem grauenvollen Halbtraum empor: »Wir wohnen ganz angenehm, nicht wahr, junger Mann? Hätten sich noch besser umsehen sollen …« Ich wandte mich entsetzt zur Seite. Diese greisenhaft weinerliche Stimme kannte ich. Neben mir stand der alte Morgon. Er stützte sich auf einen elfenbeinernen Krückstock. Sein ganzer, spinnendürrer Körper zitterte. Die eine Hand, mehr einer Vogelkralle ähnlich, streckte sich langsam nach mir aus. Sein Totenschädel wackelte und mahlte mit den Kiefern, als wolle er mich zerreißen. In den grünschwarzen Augenlöchern glommen gespenstisch schillernde Pupillen. Mit einem Schrei sprang ich empor und stürzte mich auf die gräßliche Erscheinung. Stürzte ins Nichts, schlug haltlos auf den achatenen Boden. In der Ferne, wie hinter Wänden, hörte ich ein glucksendes, kindisches Kichern. Das Licht erlosch. Mir war, als sänke ich in einen finsteren Schacht. Dann war lange alles aus. Ein brennender Schmerz auf der Wange weckte mich, ich öffnete die Augen – und saß auf einem Stuhl im Sitzungsraum des Präsidiums. Meine Hände waren gefesselt. Vor mir stand der 202
Mann mit Monokel, den ich im Café beleidigt hatte. Er schüttelte seine Hand im Gelenk. Die Ohrfeige, die er mir zu meiner Ermunterung versetzt hatte, schmerzte ihn noch. Er verbeugte sich wie ein Artist vor dem versammelten Präsidium, wies auf mich und sagte schnarrend: »Habe die Ehre, Ihnen Europa-Karl, alias Graf Zak, alias Kriegsminister von Starkström vorzustellen.« 33 Die zwölf Männer, die am Beratungstisch saßen, hatten die Masken abgelegt. Vor mir brauchten sie sich nicht mehr zu verstecken. Ich war in ihren Augen ein toter Mann. Sie kümmerten sich daher auch wenig um mich. Andere Dinge beschäftigten sie dringender. Morgon sagte kurz zu dem Monokelmann, der mich bewachte: »Lassen sie den Kerl vorläufig hier, Wells, er kann uns vielleicht Auskünfte geben.« Wells beugte sich zu mir, schlug mir freundschaftlich seine Faust unter die Nase und flüsterte: »Hatte dich ’ne Zeitlang aus den Augen verloren. Auf die Sache mit dem Kriegsminister bin ich erst nachträglich gekommen. Was du dir aber heute geleistet hast – hier im Hause –, das war blutiger Dilettantismus. Hätte dir bessere Arbeit zugetraut.« Zur Bekräftigung seiner Meinung stieß er mich mit dem Knie in die Seite. Ich schwieg. Am Beratungstisch war man erregt. Ein älterer Mann mit hagerem, verkniffenen Gesicht und glattrasiertem Schädel führte die Opposition gegen Morgon. »Die Sache dauert viel zu lange«, meinte er in hoch203
fahrendem Ton. »Warum haben Sie die Leute nicht schon seit zwei Tagen in die Industriebezirke abgeschickt? Sie fressen uns hier die Töpfe leer und wir sehen keine Leistung. Das faule Leben bringt den Pöbel höchstens zur Besinnung. Habe überdies schon gehört, daß bereits wieder Wühler an der Arbeit sind.« Ein anderer ergänzte: »Wir haben den ganzen Tag vertrödelt, um diesem ›Kaiser‹ von unseren Gnaden ein genaues Arbeitsprogramm einzubauen. Was versprechen Sie sich von diesem Kinderspiel? Halten Sie diesen Apparat von Hof und Staatsämtern für eine wirksame Garantie, daß unsere Truppen auf rebellierende Arbeiter schießen, wenn es nötig sein sollte? Wäre es nicht einfacher und billiger gewesen, einen Draufgänger zum Höchstkommandierenden zu machen, der seine Befehle direkt von uns bezieht und von uns – ohne den Umweg einer Staatskasse – bezahlt wird?« Ein Dritter ärgerte sich darüber, daß man der Kirche zu hohe Entschädigungen zugebilligt hätte. »Wir haben alles Risiko auf uns geladen. Kaum beginnt unsere Saat aufzugehen, stellt sich schon der Pfarrer ein und fordert seine Pfründe. Ich finde es unerhört, daß der Erzbischof uns mit seinen Unterhändlern belästigt und Truppen anfordert, um die Ländereien, die weiß Gott wann einmal der Kirche gehört haben, gegen ›weltliche Übergriffe‹ zu sichern. Diese Ländereien, meine Herren, gehören uns und der Bischof soll seine Klöster in den Mond bauen.« Man nickte zustimmend. Nun begann Morgon zu sprechen. Seine Rede ging langsam, ruhig und knapp, beherrscht wie immer, aber man spürte doch, daß er gereizt war. »Einer der Herren meint, die Bestätigung des Kaisers sei Zeitverschwendung gewesen, die Anerkennung 204
und Besoldung einer Art Regierung vergeude unser Geld. Wer mich kennt, weiß, daß ich noch nie eine Minute und einen Cent verschwendet habe.« Er blickte scharf in die Runde und las von allen Gesichtern, daß man ihm, was Geiz anlangte, unbedingtes Vertrauen schenkte. Zufriedener fuhr er fort: »Unsere Herrschaft wird nur dann Bestand haben, wenn uns niemand kennt. Wir brauchen aber Scheinherrscher, die aller Öffentlichkeit sichtbar sind, um der Masse sowohl Idole der Verehrung, als Köpfe für die Guillotine zu liefern. Je nach Zeit und Mode. Denn darüber, meine Herren, kann kein Zweifel sein: früher oder später wird sich der Pöbel wieder auf Gleichmacherei, Verbrüderung und andere Hirngespinste besinnen und eine revolutionären Ideen forterben. Er wird sich wieder in Organisationen zusammenfinden, und wenn wir hinter jedem einzelnen Mann ein Bajonett aufpflanzen. Das ist unvermeidlich. Und wenn es uns auch lange gelingt, ihn uneinig zu halten und seine Kräfte zu zersplittern – wobei uns die Kirche vorzügliche Dienste leistet –, wir können nicht verhindern, daß er eines Tages alle Ventile sprengt und sich die Herrschaft anmaßt. Wer soll dann sein Opfer sein? Wollen Sie die Köpfe Ihrer Kinder oder Enkel der Volkswut aussetzen? Oder wollen wir nicht beizeiten den Strom des Hasses, der schließlich seine Dämme bricht, auf andere Leute richten, auf Lakaien, denen wir gestatten, Kronen und Zepter zu tragen und sich in äußerlichem Machtrausch zu baden? Hat sich an diesen Thronhimmeln und Galauniformen die Rache der Sklaven gekühlt, dann werden sie zu uns kommen und uns zwar hochfahrend, aber innerlich demütig bitten, an dem neuen Staat mitzuarbeiten, unsere Erfahrungen und Beziehungen in den Dienst der 205
Volksgemeinschaft zu stellen, und was dergleichen Redensarten mehr sind. Daß wir in dem Augenblick wieder Sieger sind, brauche ich Ihnen nicht erst zu versichern. Aus diesen Gründen Kaiser, Hofstaat, Beamte und Offizierskaste und freundliches Einvernehmen mit der Kirche. Die Fäden, an denen diese Puppen tanzen, laufen hier zusammen« – er schloß seine knochigen Finger zur Faust. »Wenn es jemanden gelüstet, auszukundschaften, wer diese Lebensfäden führt« – er öffnete die Hand, ab wolle er einen Vogel fliegen lassen –, »werfen wir den Mechanismus von uns, und diese Scheinwelt der Ehren und des Ruhms stürzt stumm und starr in die Versenkung. Wer wahrhaft herrschen will, muß unsichtbar sein!« Diese lange Rede schien auch die Gegner Morgons überzeugt zu haben. Niemand begehrte mehr zu sprechen. Man schmunzelte und unterhielt sich gedämpft von Sessel zu Sessel. Morgon rief: »Ingenieur!« Die Glaswand verschob sich, hinter ihr trat ein Mann im weißen Mantel hervor. Im Nebenraum, aus dem er kam, befand sich offenbar die Apparatur des Fernsehers, vielleicht die ganze technische Zentrale, von der aus Strahler und Energieschutz bedient wurden. »Sic garantieren für den Elektropanzer unseres Hauses?« fragte Morgon. »Gewiß, Herr«, antwortete der Ingenieur. »Allerdings nicht für unbeschränkte Zeit. Wenn es den Turmleuten gelingt, ihre ganze, ungeheure Energie gegen uns zu richten, können wir uns höchstens zehn Minuten dagegen halten. Doch sind die Umformer, die man drüben montiert hat, so schwach, daß sie nach höch206
stens drei oder vier Minuten durchbrennen müssen. Man glaubt, wir besäßen keinen Energiepanzer. Dann würden allerdings einige Sekunden genügen, um dieses Haus zu schmelzen.« »Sie haben uns das schon erzählt«, schnitt Morgon kurz ab. »Wann, glauben Sie, sind die Leute drüben fertig?« »Kalkuliere, in zwanzig Minuten, Herr Morgon.« »Gut, zeigen Sie!« Der Ingenieur verschwand, die Milchglaswand schloß sich. Ein Schatten lief über sie hin und dann erschien eine Terrasse des Turms. Hinter einer Zeltwand arbeiteten die Genossen Ingenieure an seltsam geformten Apparaten. Mannshohe Kabelrollen türmten sich übereinander. An meterlangen Isolierketten hingen weißglänzende Metallscheiben. Armstarke Kabelrohre hingen über die Brüstung des Vorbaus nach unten und verloren sich im Nachtdunkel. Man montierte an einem riesigen Schalter. Der junge Ingenieur, der den kühnen Plan entwickelt hatte, prüfte mit zufriedener Miene alle Einzelheiten der Anlage. Dennoch erkannte selbst ich als Laie, daß dieses kunstvolle Gebilde nur aus behelfsmäßigem Material zusammengebaut war. Der Ingenieur Morgons würde schon recht haben. Es handelte sich um einen verwegenen Versuch, dessen Erfolg in ein, zwei Minuten gesichert sein mußte, andernfalls zerstörte die Energie ihr eigenes Strombett. Jetzt trat Tirwa zu den Monteuren. Er zeigte auf seine Uhr. Sein Gesicht drückte ernste Spannung aus. Wußte auch er, daß Jolls Fernlenker bereits anrasten, um Utopolis zu vernichten? Morgon deutete auf ihn; »Der Kerl ist im Bilde«, sagte er ironisch. »Hat sich ausgerechnet, daß wir in 207
einer halben Stunde mit unserem Sprengloch unterm Turm sind. Daher will er uns vorher unschädlich machen. Nicht übel gedacht. Ist einer von den Gefährlichen, dieser Tirwa. Einer aus der Schule Jolls.« Das also war der Grund, weshalb Tirwa zur Eile drängte. Die Maulwürfe wühlten zu rasch. Daß Joll seine Rettungsaktion bereits ausgeführt hatte, konnte er nicht wissen. Er sann noch auf Befreiung und schon umflatterte ihn und alle, die da so fieberhaft letzte Hand anlegten, der Tod, den Joll schickte. Da leuchtete vor Morgon ein roter Lichtpunkt auf. Er nahm hastig den Hörer ans Ohr. »Wie? Aus Westen? Schätzungsweise wieviel? Einhundert. Entfernung? Etwa 150 Kilometer – gut. Wenn auf 75 Kilometer genähert – wieder melden.« Er war um einen Schein blasser. »Ingenieur«, rief er, »schieben Sie die Wand etwas auf, damit Sie mich hören, bleiben Sie am Energieschalter stehen und beobachten Sie die Vorgänge im Turm.« Die Wand verschob sich um Handbreite. »Ich stehe in Bereitschaft, Herr Morgon«, scholl es zurück. Morgon wandte sich an seine Komplizen: »Die Fernlenker, mit denen wir gerechnet haben, sind gemeldet. Wir können ihre Flugbahn stören und sie von Utopolis ablenken.« »Na also!« unterbrach ihn erleichtert ein dicker Geldmann zu seiner Rechten. Morgon runzelte die Stirn. »Sie irren, wenn Sie sich außer Gefahr glauben«, sagte er kalt. »Wenn uns die Leute im Turm in dem Augenblick, da die Fernlenker Utopolis erreicht haben, zwingen, unseren Energiepanzer einzuschalten, können wir keine Ätherwellen mehr aussenden. Dann stürzen die Bomben dort ab, wohin sie Joll sich wünscht.« 208
»Haben Sie gehört, Ingenieur?« »Ich verstehe, Herr Morgon.« Es war still in der Runde der Sieger, die ihre Beute schon verteilt hatten. Dann hörte man wieder die Stimme des Mannes im Nebenraum: »Glaube, daß die Leute im Turm in acht bis zehn Minuten schalten.« »Geb’s Gott«, meinte Morgon sarkastisch. »Zwanzig Minuten brauchen die Flugschiffe mindestens noch.« Wieder leuchtete es vor Morgon auf. »Will in der nächsten halben Stunde nicht gestört werden!« brüllte er in den Apparat. Man ließ ihm jedoch keine Ruhe. Er hörte wieder. »Was – der Kaiser? – Unsinn, soll sich ins Bett legen – morgen meinetwegen!« Aber er legte den Hörer nicht ab. Seine Gesichtsmuskeln zuckten nervös. Dann sagte er ruhig: »Nein – nicht herbringen – soll in den Apparat sprechen.« Er stellte den Lautsprecher an. Seine Augen blickten müde über die Männer hin, die aus seinen Mienen neues Unheil lasen. »Hören Sie selbst«, sagte er matt. »Hier ist Bob der Erste«, meldete sich die Stimme des Kaisers. »Schon gut«, antwortete Morgon, »kurz, bitte.« »Die Armee ist fort«, tönte es lakonisch zurück. »Und was weiter?« »Ungefähr zweihunderttausend Arbeiter, die in den Wohnburgen am Westrand der Stadt untergebracht waren, sind ausgewandert. Die Häuser stehen leer.« »Was haben Sie unternommen?« »Die Polizei benachrichtigt.« »Sie sind Ihre Krone wert«, sagte Morgon trocken. »Melden Sie sich in einer Stunde, habe jetzt keine Zeit.« Und schaltete den Sprecher ab. 209
»Was halten Sie davon?« fragte er die verblüfften Geldleute. »Der Joll ist ein Kerl von Genie. Das muß man ihm lassen. Ich schlage vor, wir beschäftigen uns später mit dieser Neuigkeit …« Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Verstohlen oder offen verfolgte jeder von uns das Vorrücken des Sekundenzeigers auf der großen elektrischen Uhr zu Häupten Morgons. Ich wünschte mir, durch die Kraft der Phantasie die Umdrehungsgeschwindigkeit der Motoren in den Fernlenkern verdoppeln zu können. Ich sah, wie sie im Rasen die Nacht hinter sich zerrissen. Dämonen der Zerstörung waren sie, die nach Beute lechzten. Und ich gönnte sie ihnen aus ganzem Herzen. In dem Augenblick mußten sie auf Utopolis stürzen, da der Ingenieur im Nebenraum durch einen Hebeldruck dieses verruchte Haus in Energie einsargte, die nicht mehr nach außen strahlen konnte. Da würden diese stählernen Vögel mit den vulkanischen Kräften in den Leibern auf uns niederfallen. Die Erde würde bis in ihre feurigen Abgründe aufreißen und dieses Geschwür aus ihrem Körper brennen. Ich sah, wie diese Stahlburg auseinanderkrachte und in Atome zerstob, daß von diesen Morgons und den anderen Goldgötzen kaum die flockige Asche übrig blieb. Daß ihr Schicksal zugleich das meine sein würde, kam mir nicht einmal in den Sinn. Hätte mich auch nicht bekümmert. Der Haß gegen diese gewissenlosen Schurken glühte in mir wie Fieber. Dieser Triumph, den ich im voraus genoß, leuchtete wohl aus meinem Gesicht, denn plötzlich sprang Morgon auf, seine sonst so beherrschten Züge verzerrten sich, er stürzte sich auf mich, spie mich an und keuchte: »Du Hund – du weißt alles – dich hat Joll geschickt – 210
ich laß dir deine verdammte Zunge ausreißen und die Augen blenden – Prolet!« Und er schlug mich wieder und wieder, daß mir das Blut aus Nase und Mund schoß. Das brachte ihn zur Besinnung. Er wischte sich voll Ekel seine besudelten Hände ab, wandte sich und sagte ruhig: »Wir binden den Kerl später auf den elektrischen Stuhl und kochen ihn langsam zu Tode auf amerikanische Art. Da werden wir schon erfahren, wohin Joll untere Armee entführt hat …«, nahm wieder seinen alten Platz ein und zündete sich eine Zigarette an. »Die Flugschiffe – wie weit?« fragte er an. »Knapp hundert Kilometer!« tönte es zurück. »Wie sieht’s im Turm aus?« Der Ingenieur antwortete: »Schätze noch vier Minuten.« »Dann, meine Herren« – Morgon atmete tief auf –, »können wir uns wohl als gerettet betrachten. Bis die Flugzeuge heran sind, hat der Turm seine Energie verpufft und wir können sie aus der Bahn treiben.« Von den zwölf Männern wich die Lähmung der Angst. Sie rückten sich in ihren Sesseln zurecht, griffen zum Rauchzeug, witzelten über Bob des Ersten klassischen Ausspruch: Die Armee ist fort. »Mochte mal das Sprengloch am Turm sehen«, meinte einer und blies blaue Ringe von sich. »Muß doch so ziemlich fertig sein.« Morgon nickte, auch ihm war diese Ablenkung willkommen. »Beobachten Sie am kleinen Apparat den Schalter im Turm und geben Sie mir den großen frei«, befahl er dem Ingenieur. Dann schraubte er, und wir blickten in eine tiefe Schlucht, in der Arbeiter wimmelten. Bohrmaschinen fraßen sich mit ihren diamantenen Kronen in den Granit ein und schufen 211
einen Tunnel, der bereits unter die Gründung des Turmes reichte. Im Reflex der Scheinwerfer, die in den Abgrund hineinleuchteten, schimmerte weiß und steil die Front des Turms. »Nehme an, daß die früheren Sprengungen bereits das Fundament angerissen haben«, meinte Morgon und veränderte die Einstellung. Wir sahen jetzt in einen breiten Korridor, der wie ein tiefer, offener Graben zwischen Außenmauer und Turm verlief. Weitgeschwungene metallische Bögen zogen sich durch ihn. »Dort strahlt der Energiepanzer aus«, belehrte Morgon. Der Fernseher tastete diesen Betongraben entlang, um Schäden zu entdecken. In Abständen, der Außenmauer zugewendet, folgten Nischen. Sie dienten wohl den Ingenieuren zum Aufenthalt, wenn man den Kraftschutz prüfte. Die Mauern hatten bisher standgehalten. »Tadellos gebaut«, urteilte man. In einer der Nischen lag etwas. Morgon stellte genauer ein. Ein Mensch. Näher führte der Apparat heran. Ein Mädchen – – – »Jana – Jana!« Ich wollte schreien, aber nur ein Wimmern drang aus meiner Kehle. Im Aufruhr der Gefühle sprengte ich die Fesseln. »Jana! …« »Was winselt das Schwein?« näselte Morgon. Der Detektiv beugte sich über mich und hätte zweifellos bemerkt, daß seine guten stählernen Handschellen nur noch Brucheisen waren, wenn nicht in diesem Augenblick der Ingenieur laut »Achtung!« gerufen hätte. Auf der Glasscheibe erschien wieder die Turmterrasse mit den Apparaten. 212
Alle starrten wie gebannt auf den jungen Genossen Ingenieur, der den großen Schalter mit beiden Händen hielt und auf ein Kopfnicken Tirwas schnell in die Kontakte warf. Im gleichen Augenblick knackte es im Nebenraum. Der Ingenieur Morgons meldete mit ruhiger Stimme: »Ich habe ebenfalls geschaltet.« Der Sekundenzeiger tat drei, vier langsame Schritte. Meine Gedanken rotierten in rasendem Schwung, wie der Kern einer Dynamomaschine. Spannung, Überspannung und … Blitz! Meine große, meine einzige Gelegenheit war da! Ich schnellte empor, hieb meinem Wächter die Faust unters Kinn und warf mich mit voller Wucht gegen die Glaswand. Sie zersplitterte. Den Ingenieur schleuderte ich zur Seite und riß den Hebel, auf dem seine Hand geruht hatte, herunter. Er brach ab. Schon schlug Hitze furchtbar auf mich nieder. Ich ertastete taumelnd eine goldene Zunge. Die Wand schob sich auf. Ich sprang ins Treppenhaus, flog in langen Sätzen hinunter. Das Gestänge des Fahrstuhls begann zu glühen. Glitzernde Gießbäche geschmolzenen Metalls rieselten an ihm herab. Hinter mir horte ich gräßliche Schreie. Mit letzter Kraft erreichte ich den Schacht. Krachend und zischend stürzte das Treppenhaus in sich zusammen. Ich raste durch den Tunnel. Flammenbäche folgten mir und warfen ihren feurigen Widerschein weit voraus. Wie ich das Klubhaus erreichte und die rettende Steintreppe, weiß ich nicht mehr zu sagen. Ich stand plötzlich im Freien, auf der Straße, und konnte wieder atmen. Die Nacht war weiß. Der glühende, schmelzende Stahlblock erhellte sie, der noch vor einer Minute Morgons Burg gewesen war. 213
In flüssigem Silber versanken die Terrassen wie untergehende Schiffe. Goldene Fontänen spritzten auf. Dann sackte die blendende Masse in sich zusammen, lief breit aus und färbte sich dunkelrot. Schwarzer Qualm ballte sich zu Wolken. Der Wind wehte ätzende Metalldämpfe herüber. Morgons Spiel war aus. 34 Die Betäubung dieser schrecklichen Tage wich von mir. Mein Kopf war frei und leicht, aber die Glieder versagten den Dienst. Ich wollte zum Turm rennen, um Jana zu finden. Sie war wohl längst tot, von der Gewalt der elektrischen Stürme, die sie umbraust hatten, zerstört. Ich wollte dennoch bei ihr sein und an ihrer Seite sterben, wenn das Bombengeschwader Utopolis zerpflügte, aber meine Willenskraft war am Ende. Ich brach in die Knie, zog mich am Gartengitter wieder empor, und setzte mich auf den breiten, steinernen Sockel. Wie schön war Jana gewesen, als ich sie in der zauberischen Glaswand erblickt hatte. Völlig unversehrt, ein schlafendes Kind, lag sie in der blitzumfunkelten Gruft. Auf ihren Lippen schien ein glückliches, zärtliches Wort zu schweben. Ohne Schmerz war sie hinübergegangen, vielleicht im liebevollen Gedenken an mich. Ich grüßte hinüber in ihre Einsamkeit. Wie gerne hätte ich noch einmal deinen lieben Kopf in meinen Schoß gebettet, kleine Jana, und zum Abschied geküßt. Leb wohl – leb wohl … Um mich war es lebendig geworden. In den Villen der Privaten flammten Lichter auf. Menschen schrien 214
und rannten auf die Straße. In Nachtgewändern liefen sie planlos durcheinander. Krallten sich aneinander fest: »Was gibt’s? – Entsetzliches geschieht.« »Wo ist Morgons Burg – unser Schutz!« »Dort dieser dampfende Feuersee.« »Hilfe! – Hilfe! – Was sollen wir tun?« »Polizei!« »Die Soldaten – die Armee – wo sind sie?« »Was Armee – alle Verräter!« »Wer hat die Macht?« »Wir sind die Herren, Ruhe. Zurück in die Häuser. Die Regierung sorgt für Ordnung.« »Unsinn – die Roten sind über uns – die Roten – rette sich, wer kann.« Und sie hasteten in panischer Angst straßauf, straßab. Manche schleppten keuchend schwere Bündel auf dem Rücken. Sie hatten wohl Edelmetalle und Steine zusammengerafft, in seidene Tischdecken eingeschlagen, dachten nur, wie sie einen armseligen Teil ihrer Schätze retten und verstecken könnten. Aber schon rasten Autos, mit Flüchtlingen überfüllt, in irrsinnigem Tempo den Boulevard entlang, rannten zusammen, überschlugen sich, verbrannten. Von den Dächern surrten Flugzeuge ab. Es hilft ihnen nichts, dachte ich ruhig. Sie entgehen dem Strafgericht nicht mehr. Aus dem Klubhaus stürzte ein Mann auf die Straße. Goldener Zierat umglitzerte ihn. Ich erkannte Bob, den Kaiser von Utopien. Er starrte auf die rauchenden Trümmer der Morgonburg, seine Hände umwürgten seinen Hals, als wollte er sich den Kopf vom Rumpfe reißen, brüllte wie ein Stier: »Verräter … ich … ich Verräter!« und zerschlug sich die Brust, riß sich die 215
Uniform vom Leibe, zerstampfte sie unter den Füßen und lief, wie von bösen Geistern gepeitscht, in der Richtung des Turms davon, schrie: »Genossen – Genossen – ich wußte nicht, was ich tat – helft mir – helft mir –« In der Höhe begann es zu sausen, erst ferne, wie das Summen eines Motors hinter Wänden, vertiefte sich dann und brauste wie viele Orgelstimmen zugleich. Herandonnernde Gewalt. Heranstürzender Tod. Das zornige Summen der Fernlenker übertönte die Angstschreie der Menschen, die das Ende ahnten, ohne seine Ursache zu wissen. Vom Turm schnitten Scheinwerferstrahlen bleiche Lichtkeile in die Nacht. Wolkenbäuche schimmerten gespenstisch auf. Und nun blitzte es metallisch in einem der Lichtstreifen. Die anderen tasteten hastig, huschend nach dem gleichen Ziel. Da jagten sie heran, Leib an Leib, in gestaffelter Reihe, unabsehbar. Auf der Straße wurde es still. Wie gelähmt vor Angst starrten die Menschen den dröhnenden Ungeheuern entgegen. Viele knieten nieder und beteten. Andere warfen sich zu Boden und vergruben die Gesichter in den Händen. Die Spitze des Geschwaders stürmte genau auf den Turm los. Sie mußte an ihm in sechs, fünf Sekunden zerschellen und das stolze Gebäude, Wahrzeichen der Macht einigen Proletariats, würde wie ein gesprengter Vulkan das Wolkendach des Himmels zerschmettern. Das Herz stockte, Angst riß mich am Genick empor, ich zitterte, taumelte, lallte sinnlose Laute wie ein Kind … Da wandte sich der Bug des ersten Flugschiffes in leichter Wendung zur Seite. Die anderen schwenkten nach. In steiler Kurve stießen die stählernen Vogel am 216
Turm vorbei, brausten schon über mir, stürzten wie ein Spuk in die Finsternis hinein. Der Donner verebbte zum tönenden Maschinensang, der sich allmählich in der Ferne verlor. Gerettet! Vom Turm trug der Wind Jubelgeschrei herüber. In allen Stockwerken strahlte Licht auf. Wie ein leuchtender Kristall glänzte es märchenhaft über der dunklen Stadt. In der Lichtsäule des Gipfels stieg die rote Fahne und wehte wie eine Flamme. Gerettet! So wunderlich ist der Mensch: In diesem Augenblick kam ich mir hilflos und verlassen vor, ganz einsam, wie ein Landstreicher, der von außen, durchs Fenster, zusehen muß, wie sie drinnen eine Hochzeit feiern, stand gegen das Gitter gelehnt, klein und in ärmlichen Gedanken. Immer schwerer schlug es mich nieder, daß ich Jana verloren hatte, zumal mir selbst keine Gefahr mehr drohte. Ohne sie, schien es mir, würde ich mich in der neuen Gemeinschaft nicht mehr zurechtfinden. Dunkle Gestalten eilten an mir vorüber. Männer und Frauen aus der Lakaienkaste, die ihre Herren beraubt hatten und Schlupfwinkel suchten. Manche hatten sich rote Schärpen oder Kopftücher umgebunden, um schon in der ersten halben Stunde zu beweisen, daß sie stramme Revolutionäre seien. Sie summten versuchsweise die Internationale, den Text kannten sie natürlich nicht. In einer solchen Gruppe, die, innerlich angstschlotternd, äußerlich frech und siegessicher, den Anschluß an die »neuen Tatsachen« vollzog, glaubte ich auch Elvira zu erkennen. Sie fiel einem ehemaligen Wehrhart-Feldwebel, der sich eine rote Blume vor den Waffenrock gesteckt hatte, um den Hals und schrie verzückt: »Genosse!« Dann lachten 217
beide hämisch und schauten sich zugleich furchtsam nach allen Seiten um. Ein Polizist lehnte an einer Hauswand. Helm und Gummiknüppel lagen zu seinen Füßen. Er starrte wie geblendet nach dem roten Feuerzeichen und murmelte, wie aus schwerem Schlaf erwachend: »Proletarier – aller Länder – einig – einig?« Er wischte sich matt mit dem Handrücken über die Stirn. Vom Horizont schimmerte in fahlem Streif der Morgen herauf. Wie kühl und klar atmete sich die Luft. Der giftige Brodem der Metalldämpfe wich aus meinen Lungen. Damit loste sich auch die innere Erstarrung. Ich machte mich auf, Schritt vor Schritt, turmwärts. Ich sehnte mich nach Menschen, die mich kannten, nach vernünftigen, gesunden Menschen, die meinen Schmerz begreifen und mich trösten würden. Es waren durchaus egoistische Gedanken. Ich bildete mir einen besonderen Anspruch auf Mitleid ein und wollte es kassieren wie ein Unterstützungsgeld. Der Sprenggraben unterhalb der Turmmauer war verlassen. Die Arbeiter, die man gezwungen hatte, an ihm zu fronden, standen in Gruppen auf dem Wiesenplan. Zu ihnen hatten sich die Teufelsaustreiber gesellt. Aus ihren frischen Wunden sickerte noch Blut, aber die Geißeln hatten sie fortgeworfen. Der Wahnsinn in ihren Augen war erloschen. »Wo warst du?« »Weiß nicht – habe tolles Zeug zusammengeträumt.« »Wer hat dich blutig geschlagen? – Und dich – und dich?« Sie blickten verlegen einander an: »Vielleicht ’ne Krankheit –’ne Art Krätze.« Die anderen lachten: »Gibt’s bei uns bloß noch in 218
Märchen von der alten Welt – habt euch wohl mit Igeln gekitzelt – wie?« »Und was grabt ihr für ein scheußliches Loch in den Park, he? – Wer hat euch dazu angestellt? – Die schönsten Bäume sind zersplittert!« Da standen die Werkleute linkisch von einem Fuß auf den anderen, schauten einander fragend an und wußten keine Antwort. Die Leute vom Turm hatten bereits Notbrücken über den Schutzgraben gelegt. Sie untersuchten den Sprengkanal und fanden ihre Vermutung bestätigt. In wenigen Minuten hätte er den Felsen, auf dem das riesige Gebäude gegründet ist, zerrissen. Im Eingang zum Turm begegnete ich Tirwa. Er wich vor mir zurück, als sehe er einen Spuk. »Karl?« fragte er zweifelnd – aber nun sprang er auf mich zu, riß mich an sich und streichelte mir übers Haar wie einem Kinde. »Keinen Heller Privatgeld hätte ich mehr für dein Leben gegeben«, rief er und lachte wie ein Junge. »Und nun komm, stärk’ dich, ruh’ dich aus und berichte. Dann will ich dir sagen, was wir inzwischen getrieben haben. Waren auch nicht faul …« »Was ihr geleistet habt, weiß ich«, antwortete ich. »Hatte Gelegenheit, bei Morgon eure Arbeit zu bewundern. Jetzt aber zeig’ mir den Weg in den Schutzgraben. Ich will zu Jana.« »Wer ist Jana?« fragte Tirwa erstaunt. Aber dann sah er an meiner Haltung, wie es um diese Sache bestellt war. »Viele Hunderte, vielleicht Tausende von Genossen und Genossinnen haben ihr Leben hingeben müssen«, sagte er finster, »eine unter diesen allen ist Jana.« Er winkte einen jungen Genossen heran und bat ihn, 219
mich zu führen. »Du findest mich in der Zentrale, Joll ist schon unterwegs …«, drückte mir rasch die Hand und ging. 35 Wir suchten Nische für Nische an den vier Seiten des Schutzgrabens ab, ohne eine Spur von Jana zu finden. Mein Begleiter schaute mich zweifelnd von der Seite an. Er hielt mich wohl für geistesgestört. Ich dankte ihm hastig und lief wieder hinaus vor den Turm. Da trugen sie Verwundete heran, die bei den Sprengungen zu Schaden gekommen waren; alle Leute, die kein wichtiger Dienst abhielt, halfen. Die anderen, die draußen gewesen waren, unter dem Einfluß der Strahlung, standen neugierig dabei. Immer heller wurde es in ihnen, Erinnerungen tauchten herauf: unser Turm … unsere Stadt … unser Land? Keine Aufseher, keine Teufel mit Hetzpeitsche und Trillerpfeife hinter uns? Sie begannen zu fragen wie Kinder. Manche reihten sich in die Schar der Träger ein und sparten sich die Worte für später auf. Hier hatte ich nichts zu suchen, aber drüben auf dem Wiesenplan, wo man die Toten aufbahrte. Männer und Frauen lagen da mit zerrissenen Gliedern, eine stattliche Heerschau des Todes. Immer neue schleppten sie heran. Wie erstarrte Masken des Grausens die Gesichter. Aber viele hatten keine Gesichter mehr. Von einem zum anderen ging ich. Jana war nicht unter ihnen. »Wer ist Jana?« hatte Tirwa gefragt. Nicht im Tonfall der Neugier, sondern der Abwehr eines einzelnen Namens. Diese Toten lehrten mich ihn verstehn. Bisher hatte ich den Geist der Gemeinschaft, der die Men220
schen in der Arbeitsgenossenschaft verband, mit dem Kopf begriffen. Jetzt senkte er sich mir ins Herz. Sie »veranstalteten« keine Kollektivgefühle in Versammlungen und Umzügen und berauschten sich an der großen Brüderlichkeit, um dann, zu Hause, wieder kleine Alltagstyrannen zu werden, mit Eitelkeiten und neidischem Zank von Tür zu Tür. Sie lebten das gemeinsame Schicksal ihrer Klasse und vollendeten es durch die selbstverständliche Tat. Mein Schmerz um Jana stumpfte nicht ab, aber er weitete sich aus, er umspannte das Leid, das uns allen widerfahren war, und erst in dieser Gestalt gab er mir Kraft, mich wieder zugehörig zu fühlen und mitverantwortlich für die Zukunft, die den Lebenden geweiht ist. Unter denen, die die Totenbahren herantrugen, erkannte ich Noris. Er war in den wenigen Tagen um Jahre gealtert. Das gutmütige und freundliche Lächeln, das beinahe sprichwörtlich geworden war, hatte er wohl für immer verlernt. Ich grüßte ihn. »Faß mit an, Genosse«, sagte er rauh, »da sind noch viele …« und lud seine schreckliche Last behutsam ab. Die Traggeräte reichten nicht aus. Während ich mich nach einem Behelf umsah, rief mich ein Verletzter an. Er kroch auf den Knien, ein Steinbrocken hatte ihm den linken Fuß zerschmettert. Ich stützte ihn, so gut es gehn wollte. Die Fahrstühle nach der Krankenabteilung im achtzigsten Stock waren überfüllt. Wir standen im Korridor an. Ein Arzt ordnete die Transporte nach der Dringlichkeit. In das Stöhnen der Schwerverwundeten mischten sich die Wutausbrüche derer, die das Schurkenstück der Morgons zu durchschauen begannen. Dieser Haß war für alle Zeiten eingebrannt, fühlte ich, er mußte hinauswirken in die übrige Welt, 221
die noch am Goldfieber litt. Vielleicht wäre er mächtiger und sieghafter, als das Evangelium der Liebe, das sich so leicht in zweideutige Worte und verräterische Handlungen umbrechen läßt. Nachdem ich meinen Kameraden eingeliefert hatte, half ich mit, die drei nächstunteren Stockwerke in Krankensäle zu verwandeln. In normalen Zeiten hatte die achtzigste Raumschicht mit ihren breiten Sonnengalerien in luftiger Höhe, die den Ärzten zugewiesen war, überreichlich dem Bedarf der ganzen Arbeiterstadt genügt. Die Armenkrankheiten Tuberkulose und Rachitis kannte man nicht mehr. Geschlechtskrankheiten waren, dank der allgemeinen Aufklärung und rückhaltlosen Offenheit unter den Genossen, eingegangen, Betriebsunfälle äußerst selten. Die häufigsten Gäste waren Private, die bei schweren Leiden um Aufnahme in unsere Klinik ersuchten, weil sie unseren Ärzten mehr zutrauten als ihren Salondoktoren. Sie mußten natürlich reichlich dafür bezahlen. Jetzt rollten wir sie in ihren Betten in ein Nebenzimmer. Sie protestierten und pochten auf das Recht, in Einzelräumen untergebracht zu sein. Sie ahnten nicht, was inzwischen vorgegangen war, sonst wären sie wohl still gewesen. Der Zustrom wuchs. Aus den Hausburgen sammelten sich nach und nach alle im Turm an, die vor Übermüdung den Appell Jolls verschlafen hatten, und die Siechen, die hilflos in den Winkeln vergessen worden waren. Es wimmelte wie in einem Ameisenbau. Tirwa ließ in der Turmhalle sammeln und Lebensmittel heranschaffen. Im Fahrstuhl traf ich einen Genossen Ingenieur, der mich kannte. »Habt ihr vielleicht im Panzergraben ein Mädchen? …« Er schnitt meine Frage ab: »Müssen sehn, 222
daß wir sofort die Brotfabrik in Schwung bringen« und gab seiner Kolonne Anweisungen. Nein, ich wollte nicht mehr fragen; helfen, arbeiten, das gebot die Pflicht der Stunde. Unser improvisiertes Lazarett füllte sich. Genossen, die im Sanitätsdienst ausgebildet waren, übernahmen die Wache. »Such’ dir eine stille Ecke und schlaf dich aus«, riet mir einer freundlich, »du taumelst uns nur im Weg herum.« Er hatte recht, meine Kräfte waren erschöpft. Ich schleppte mich hinaus auf die Terrasse, sackte zusammen und schlief schon. 36 Ich träumte Geheul von Sirenen und Geschrei von Menschen. Jemand rüttelte mich wach. »Joll kommt!« Das war es. Sie drängten alle heraus auf die Balkone und Galerien. Die Begeisterung riß mich mit. Da standen wir Mann bei Mann und schauten nach Westen aus. Unter uns, auf dem breiten Vorbau, wo die Flugzeuge landeten, erkannte ich Tirwa. Ganz in der Tiefe, im zerstörten Park, blinkten rote Punkte, da schwenkten sie Fahnen. Das Brausen der Stimmen schwoll und übertönte die Signalpfeife. Vom Horizont lösten sich schwarze Punkte ab und vergrößerten sich rasch. Allen voraus Jolls kleine Maschine. Dreimal im Gleitflug umkreiste er den Turm. Die Sirenen verstummten. Sein Name allein brandete wie der Donner von stürzenden Wassermassen zu uns herauf. Ich wußte, sie jauchzten ihm nicht zu wie einem Feldherrn, der den Sieg erfochten hat; er war ihr Gewissen und ihre bessere Einsicht, er verkörperte den Geist, der sie alle zur großen Einheit zusam223
menband. Sie feierten ihn nicht als Helden, sondern als den Genossen, der im Auftrag aller seine Pflicht getan hatte. Die großen Transport-Flugschiffe landen inzwischen auf der zertrampelten, lehmigen Fläche, wo Morgons Rummelplatz gewesen war. Joll zieht seine letzte Schleife und setzt langsam neben Tirwa auf, der zur Seite tritt. Das Geschrei verstummt, es wird still, auch die Fahnen ruhen, die aus allen Stockwerken des Turms dem Führer den Gruß zugewinkt haben. Es wird still wie in der weiten Natur, wenn du spürst, daß sie ihr ungeheures Werk in schweigender Tat vollendet. Joll verläßt die Maschine. Der Raum um ihn bleibt frei. Nichts geschieht, und doch halten wir alle den Atem zurück. In diesen Sekunden schweißt uns der Schmerz aneinander. Die Toten, die Opfer, sind unter uns getreten, und ihre stumme Klage durchzittert alle. Dann … im Kreis hinter Tirwa entsteht Bewegung, drei, vier Genossen, die in der Stadt gewesen waren, Verwundete, weiß leuchtet die Kopfbinde des einen heraus, zwei andere gehen lahm, auf Stöcke gestützt, durchbrechen den Bann, nähern sich Joll – die Starre weicht von uns – Joll springt ihnen entgegen, hält sie auf, umarmt einen nach dem anderen, lange, drückt Tirwa, der ihnen langsam folgt, rasch die Hände, und dann zurück auf die Balustrade, wo alle ihn sehen können, auch die unten vor dem Turm. Er breitet die Arme aus und ruft in den Schallkasten, der seine Stimme tausendfach und allen vernehmbar verstärkt: »Es lebe – die freie Arbeitergenossenschaft – der Welt!« Noch bevor das Echo von den Hausburgen zurückbricht, braust der Massenruf: 224
»Es lebe – die freie Arbeitergenossenschaft – der Welt!« Alle wissen, was in diesem Gelöbnis beschlossen ist. Aus dem Lande Utopia muß der Kampf um Recht und Freiheit über die Erde hingetragen werden. Die Zeit ist reif. In allen Weltteilen versuchen die Morgons, ihre Herrschaft durch Betrug und Einnebelung der Vernunft zu festigen. Überall besolden sie Mordknechte und Aufseher, Diplomaten und Priester, Diktatoren und andere Scharfrichter des Kapitals, um Proletarier wehrlos zu machen, ihre Eintracht zu stören und ihre Kraft zu brechen. Von unten tönt es herauf, und im Augenblick reißt es alle mit, wie Sturm fegt es über die Stadt weg: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde! …« Ich denke an den Keller, in dem Heins Schützlinge das gleiche Lied gesungen hatten wie eine gelernte Schulaufgabe, mechanisch, ohne von seinem Sinn ergriffen zu sein. Ich denke an frühere Zeiten, manche Versammlung bei uns im alten Land, wo wir es sangen, weil es sich so gehörte, weil es die Gewohnheit so wollte. Hier aber ist es Schwur und Bekenntnis, Aufruf und Parole, und so muß es sein. Als die Tausende in gewaltiger Steigerung über alle Grenzen hinweg die Fanfare erklingen lassen: »Völker, hört die Signale!«, setzen wieder Sirenen ein. Die Häuser singen mit. Man hört sie. Aus der Ferne, aus der Stadt der Industriewerke, brüllt die Antwort herüber. So fliegt es von Ort zu Ort, Signale der Arbeit, gewaltiger als Glockenklang, friedvoller und mächtiger als Kanonensalut. Joll springt herab, die Menge umringt ihn, viele Hände muß er schütteln, auf viele Fragen rasche Antworten hinwerfen, die sich im Nu verbreiten: die Ge225
nossen, die er durch den Lichtspuk aus ferngelenkten und als Wolken verkleideten Schraubenfliegern aus der Stadt locken ließ, sind auf dem Rückmarsch, er ist über sie hingeflogen, in wenig Stunden werden sie da sein. Aus allen Teilen des Landes sind Geschwader gemeldet. Alle Genossen, die abkommen können, und vor allem die Jugend, wollen noch heute die geretteten Kameraden begrüßen. Am Nachmittag wird der Zentralrat in der Turmhalle zusammentreten. »Jeder an seine Arbeit!« ist Jolls letztes Wort, bevor er mit Tirwa im Turm verschwindet. Sie sind schon dabei. Die Massen gliedern sich in Kolonnen. Die Hausburgen müssen wenigstens notdürftig wieder zum Wohnen hergerichtet, die Gemeinschaftsküchen in Betrieb gesetzt werden. Die Transportflieger laden riesige Mengen von Nahrungsmitteln aus, die sofort verteilt werden. Ein starkes Schutzkommando besetzt U-Privat. Nicht viele Minuten sind vergangen, seit Joll gelandet ist, und schon verzahnt sich planvolles Wirken. Jeder kennt seinen Platz. Reibungslose Zusammenarbeit zum gleichen Ziel ist ihre zweite Natur geworden. Da bedarf es nicht umständlicher Anweisungen und Vorberatungen. 37 Joll und die Genossen, die mit ihm gekommen waren, fand ich in einem Zimmer neben der Nachrichtenzentrale. Sie saßen an einem langen Tisch und aßen von den kalten Platten, die ihnen die Turmküche unaufgefordert heraufgeschickt hatte. Es war die erste Entspannungspause seit Tagen. Ich wollte wieder gehn, aber Jolls scharfe Augen hatten mich gleich entdeckt. 226
»Ich denke, du hast auch Hunger, Karl«, das waren seine schlichten Begrüßungsworte. Er strich einladend mit der Hand über die belegten Brote hin, und wirklich, wie ich sie so vor mir sah, konnte ich nicht widerstehen und biß schon in eins hinein. Tirwa schob mir einen Stuhl hin. »Wo bleibt Noris?« fragte Joll. »Er hält Wache bei den Toten«, antwortete die Sindra. Man fühlte, welche Buße er sich selber auferlegte. Ein alter Genosse in schneeweißem Haar sagte leise: »Wir haben mit Menschlichkeit gespielt, Noris und wir andern, die auf seiner Seite standen. Und wir hätten fast verloren … Menschlichkeit muß verwirklicht werden – und sei es im Anfang durch unmenschliche Strenge gegen ihre Verleumder. Das war immer eure Meinung« – er zeigte auf Joll und einige andere an seiner Seite. »Die Geschichte hat euch recht gegeben.« Joll zerriß das betretene Schweigen, das dieser freimütigen Erklärung folgte. Er schilderte die schrecklichen Minuten, die er in Futura im Schaltraum durchlebte, von dem aus die Fernlenker durch Kurzwellen bedient wurden. Die Ingenieure hatten eine Karte konstruiert, auf der die Flugschiffe ihren Weg durch vorwärtsrückende Lichtstreifen automatisch anzeigten. Schon schwebten sie über Utopolis, rasten auf den Turm zu, und die Genossen an den Schaltern warteten nur auf ein Kopfnicken Jolls, um die Tiefensteuer auf Absturz zu stellen. »Was ich in diesen Augenblicken empfand, brauche ich euch wohl nicht zu sagen … noch langsam bis sechs zählen, nahm ich mir vor, da schrie es aus dem Lautsprecher von der Zentrale her: »Turm funkt: Strahler vernichtet! …« und da habt ihr das Beispiel, was für großartige Kerls unsere Techniker sind. Während bei mir die Gedankenkontakte noch 227
knisterten, hatten sie bereits Seitensteuer gegeben und die Lichtlinien liefen am Turm vorbei …« Tirwa wollte wissen, was mit den Privaten und Lakaien geschehen sollte. »Die völlige Enteignung aller Privaten habe ich provisorisch verfügt«, antwortete Joll. »Die ganze Küste von Utopien wird bewacht. Alle Fahrzeuge der Privaten werden beschlagnahmt. Unsere Flugschiffe patrouillieren und vernichten jedes Luftfahrzeug, das nicht nach erster Aufforderung sofort landet. Du, Tirwa, säuberst binnen drei Stunden die Privatstadt von allen Bewohnern, die sich noch in ihr verkrochen halten. Sie werden vorläufig in den Kellern des Turms interniert. Die meisten werden sich davongemacht haben und schon festsitzen.« »Geschieht bereits«, meinte Tirwa trocken. »Und ihr«, wandte sich Joll an den Vertreter der Turmingenieure, »kennt euren Auftrag?« »Es wird schon daran gearbeitet«, antwortete der. Joll nickte. Das Gespräch lockerte sich. Einzelheiten der letzten Kampfstunden kamen zur Sprache. »Und wo hat’s dich erwischt, Karl?« fragte Joll. Ich glaube, er wollte mir nur Gelegenheit geben, auch etwas zu sagen, weil er mir ansah, daß ich traurig war. Ich hatte schon etwas von der sachlichen Art meiner utopischen Freunde gelernt und warf hin, als wenn es gar nichts wäre: »Bei Morgons!« Da rissen sie denn doch die Augen auf. Als ich beschrieb, wie ich durch die Glaswand gebrochen war und den Energiepanzer ausgelöscht hatte, ging starke Bewegung durch die Genossen. Die Ingenieure hatten nicht damit gerechnet, daß die Stahlburg ihrem Kraftangriff hätte Widerstand leisten können. Joll stand auf, reichte mir die Hand und nannte mich einen 228
mutigen Kämpfer. Ich schämte mich beinahe, jeder hätte in meiner Lage das Gleiche getan. Zum Glück störte diesen fast feierlichen Moment einer, an den noch niemand gedacht hatte. Der war Bob. In der Tür blieb er stehen, den Kopf gesenkt. Seine rundlichen Wangen waren eingefallen, das Haar klebte an den Schläfen. Sein ganzer Zustand bejammernswert. Ohne den Blick zu heben, flüsterte er: »Ich stelle mich dem Revolutionsgericht.« Joll schwieg eine Weile. »Habe mir seit langem gewünscht, mal ein gekröntes Oberhaupt zu sehn«, sagte er endlich, »stellte mir darunter so ’ne Art Panoptikums-Mißgeburt vor: Adlernase, Falkenblick, Tigerklaue und ’n Maul, so groß wie ’n Walfisch, so liest man’s doch aus historischen Märchenbüchern … Bin aber enttäuscht – bin wirklich enttäuscht!« Lange Pause. »He, Bob!« Joll schrie ihn an und haute mit der Faust auf den Tisch. »Wach’ auf! Hast wahrscheinlich nicht gefrühstückt. Komm her!« Bob gehorchte zweifelnd. Joll steckte ihm ein kräftiges Stück Brot in den Mund. »So, nun stärk’ dich. Wenn wir dich hängen wollten, dann müßte eine Million Genossen baumeln, die des Kaisers Rock, von Morgons Schneider geliefert, mit Stolz getragen haben, und die andern, die meinem Paradiesspuk nachgelaufen sind, oder gar die, die unseren Turm in die Wolken sprengen wollten. Oder tut’s dir leid, daß du wieder zum ›ganz gewöhnlichen Proleten‹ herabgesunken bist?« Bob wußte sich vor Freude kaum zu fassen. Er strahlte. Das Brot quoll ihm im Munde und widersetzte 229
sich seinen Schlingversuchen, und so brachte er bloß ein geschwollenes »… Joll!« heraus. Aber in diesem verunstalteten Laut lag sein ganzes Bekenntnis zur großen Sache. »Ich hoffe, du trägst mir’s nicht nach, daß ich dir deine Armee fortgestohlen habe«, fuhr Joll fort. »Damit du deine Kenntnis privater Feigheit und Lebensangst verwerten kannst, übertrage ich dir die Streifkommandos, die nach versteckten Privaten und Lakaien suchen. Du wirst sie am besten aufzustöbern wissen.« Als Bob abtrat, rief er ihm nach: »Übrigens empfehle ich dir, deine Memoiren als Kaiser von Utopia zu schreiben. Wir verkaufen sie nach Amerika und überweisen das Geld der Revolutionspropaganda.« Joll erhob sich. Die Ruhezeit war vorüber. Das Lächeln, das den unschuldig-schuldigen Bob begleitet hatte, erlosch in seinem Gesicht. »Wir wollen jetzt unsere Genossen besuchen, die Morgon zu Krüppeln gemacht hat«, sagte er zwischen zusammengepreßten Lippen, »und dann hinunter, dorthin, wo Noris Wache hält …« Er und die meisten gingen. Die Ingenieure hielten mich zurück. Sie interessierten sich für den Fernseher der Privaten, dessen Strahlen Wände durchdringen konnten, und fragten mich aus. Ich wußte nicht viel zu berichten, es fehlte mir am technischen Blick: Ein paar Kästen mit Drehknöpfen, da soll sich der Teufel auskennen. Einer von denen, die aus Futura gekommen waren, erklärte das Prinzip der Lichtprojektion, das bei den Spukgestalten angewendet worden war, nannte das Fernspaltung von Farben im diffusen Lichtkegel, fing an, auf der Tischplatte mit Zeichen zu rechnen. Die anderen nickten ernsthaft mit den Köpfen, was mir ziemlich komisch vorkam, weil ich kein Wort davon 230
verstand. Jeder achtzehnjährige Junggenosse hätte es mindestens grundsätzlich kapiert. Ich wollte mich drücken. Gerade nahm wieder einer von den Turmleuten das Wort: »Wir sind hier durch Zufall auf eine merkwürdige Erscheinung gestoßen, die vielleicht noch mal große Bedeutung haben wird … (Nichts für dich, dachte ich und hatte schon den Türdrücker in der Hand.) »… In der Nähe eines starken elektrischen Felds scheinen sich unter gewissen Umständen, die wir noch untersuchen müssen, Körper zu konservieren.« (Mir wurde plötzlich zu heiß in meinem Kittel …) »Während wir mal den Panzer auf dreißig Sekunden ausschalteten, um dich (er wies auf mich … nur nicht gemuckt, mal ganz ruhig abwarten …) in die Stadt zu lassen, ist da eine Genossin in eine Nische des Schutzgrabens gestürzt und …« Es war aus mit der Beherrschung. Ich sprang auf den ahnungslosen Mann zu, schüttelte ihn und brüllte: »Wo ist Jana?« Die anderen rissen mich zurück, meinten sie doch, ich wäre toll geworden. »Jana! – Jana!« schrie ich in einem fort und rang verzweifelt mit meinen Bändigern. »Das Mädchen?« – der überfallene Genosse mochte was ahnen – »ich ließ den Körper in die Klinik schaffen, vielleicht …« Drei starke Männer schleuderte ich in die Ecke und war hinaus wie der Blitz. 38 Als ich oben im achtzigsten Stock ankam, aus der Kabine sprang und ich weiß nicht wohin rennen wollte, fing mich eine Genossin im weißen Ärztemantel ab. Sie hatten schon hinauftelephoniert. 231
»Europakarl?« fragte sie und faßte nach meiner Hand. »Tot?« hauchte ich. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Lebt«, sagte sie einfach. Ich taumelte. Sie legte ihren Arm mütterlich um meine Schultern und schaute mich aus freundlichen Augen begütigend an. »Ruhig sein, Karl. Es geht ihr gut, aber sie ist noch müde. Wir haben sie mit schwachen Strömen wieder geweckt. Hat auch schon nach dir verlangt, aber ich wußte nicht, wo wir dich finden konnten. Es gibt so viel zu tun heute.« Es klang wie eine Entschuldigung. Sie führte mich durch ein paar Zimmer, alles verschwamm vor meinem Blick, öffnete leise eine Tür, schob mich hinein in einen halbverdunkelten Raum, sagte leise: »Dein Karl kommt …« und ließ uns allein. Da wie durch Schleier … ein Bett, ich hörte eine wunderbare weiche Stimme, zwei Arme streckten sich mir entgegen. Wer mir half, die drei Schritt zu gehen, weiß ich nicht. Ich kniete, sank vornüber und Jana fing mich auf. Ihr möchtet gern wissen, was draußen in den nächsten Stunden geschah, wie die Genossen empfangen wurden, die als Soldaten, religiöse Sektierer und Goldgräber davongelaufen waren und nun als freie Proletarier in breiten Kolonnen zurückkehrten, wie die Jugend des ganzen Landes in Flugschiff-Geschwadern herbeieilte und rings um den Turm ihr rotes Zeltlager aufbaute, wie überall die Spuren der Zerstörung durch tausendfache bereitwillige Hilfe ausgetilgt wurden. Davon kann ich euch nichts erzählen. Gewaltiger Massensang schlug zu uns herauf, Surren und Summen der Luftschrauben dröhnte heran und klang ab. Wir fühlten, 232
wie der gesunde, mächtige Takt der Herzmaschine im Gemeinschaftskörper auch uns durchdrang. Aber das große Glück, die überstürzende Freude, uns wiedergefunden zu haben, übertönte alle anderen Stimmen. Wir hielten uns umschlungen, und in dieser Vereinigung erneuerte sich unsere Welt. Janas Wangen begannen sich zu färben. Sie sehnte sich nach Licht und Luft. Ich ließ die Fensterwand zur Seite gleiten. Wir sahen weithin über das blühende, wiedergewonnene Land. Da kamen auch wieder die Worte zu uns zurück und die Erinnerung an den bösen Traum. »Ja, wie ein schrecklicher Traum war es«, sagte Jana und verschränkte ihre Hände in meinen, als wollte sie sich in der Wirklichkeit verankern. »Der Strudel packte uns und riß uns in die Stadt, wir konnten nicht widerstehen. Die Genossen, mit denen ich im Magnetbahnwagen gereist war, wollten mich umarmen. Ich hatte kaum Kraft, mich zu wehren. Nur noch bis zum Turm … laßt mich. Da gab’s genug hübsch geputzte Frauen, sie lachten mich aus und nahmen andere. Schritt um Schritt kämpfte ich mich voran, schloß die Augen, um nicht zu sehen, wie sie tanzten und liebten, hielt mir die Ohren zu, um nicht Musik und Lustgekreisch zu hören. Nur manchmal blinzelte ich zwischen den Lidern nach dem Turm, der schon dicht vor mir ragte, und sprach deinen Namen vor mich hin, um ihn nicht zu vergessen. Nur noch wenige Meter, rief ich mir zu! Es rauschte und dröhnte mir im Kopf. Die Füße versagten den Dienst. In letzter Willensanstrengung, mit festgeschlossenen Augen, warf ich mich vorwärts, glitt, stürzte und dann war alles vorbei …« Jana ballte ihre kleine, energische Faust, als wollte sie den schlimmen Erinnerungen handgreiflich zuleibe gehen. Sie versuchte, aufzustehen, ich stützte sie, und 233
es gelang. »Du siehst, ich bin schon ganz stark«, lächelte sie tapfer. »Ich will wieder an meinen Platz in der Jugendsiedlung. Komm mit, es gibt für uns beide genug zu tun!« »Das wäre das Paradies, Jana, aber ich glaube, wir können in der Hölle noch nützlicher wirken. Joll braucht Pioniere für die Weltagitation. Dafür sind wir die rechten Leute. Ich kenne die Ränke und Schliche der alten Klassenwelt aus eigener Erfahrung, du verkörperst reiner als ich den Menschen der kommenden Arbeiterunion, um die wir kämpfen. Wir wollen Wort und Tat in einem sein.« Jana versuchte, mich umzustimmen, aber ich merkte doch, wie mein Vorschlag in ihr Wurzel faßte. Während wir uns gegenseitig zu überreden suchten, klopfte es mädchenhaft-schüchtern an die Tür. Den Finger am Mund und »pst pst!« flüsternd, schob sich Hein im Diebsgang herein. »Ich weiß alles …«, flötete er, schwebte auf Jana zu und drückte seine Lippen auf ihre Fingerspitzen, ohne einen eleganten Kratzefuß zu vergessen. »Bin doch kein zerbrechliches Glasfigürchen?« fragte Jana spaßigverwundert. »Fürchtest dich vor deiner eigenen Stimme?« Hein hieb sich auf die Schenkel, daß es krachte. »Mensch, Korl, dat’s ’n Fest!« schrie er und lachte unbändig. Dann umarmte er mich, daß meine Knochen im Leibe knackten, und schüttelte mich vor Freude wie eine Medizinflasche. »Und ich?« sagte Jana. Da nahm er sie behutsam auf seine Arme, wiegte sie wie ein Püppchen hin und her und gab ihr einen festen, brüderlichen Kuß. »So, dat wär für’s erste genug«, meinte er und setzte sie aufs Bett. Dann fuhrwerkte er mit großen Stelzschritten 234
durch das Zimmer. »Dat Marschieren, Jungs, dat viele Singen un dat Fahnenschwenken un all dat Hin und Her, wat nü mal bi ’ne Revolutschon dat Hauptstück is, dat is mir in die Glieder geschlagen.« Er reckte den Arm, seine Pranke umschloß einen unsichtbaren Fahnenschaft, und sang: Die Flamme loht, Die Erde glüht im Schmiedefeuer, Hämmert, Gesellen, rot Dämmert der Tag und ungeheuer, Bald sind wir frei! Jana sang leise mit. Sie lächelte glücklich unter Tränen. »Wir gehen zusammen, Karl«, sagte sie einfach, nachdem das Lied verklungen war. »Wir wollen unser Leben und unsere Kraft nicht sparen«, und reichte mir beide Hände. Hein setzte sich auf die Tischkante und verschnaufte. Er kramte aus der Hosentasche ein Stück Brot, das er sich irgendwo unterwegs gefischt hatte. Während er wacker kaute, berichtete er halb auf utopisch, halb auf hamborgsch: »Dat wor ’ne stürmische Nacht, Mensch, ohne dat uns ’ne Brise um die Neese sprang … doll … Meine Leute liefen wie die Bürstenbinder achter den paradiesischen Zuckerplätzchen. Dabei sangen sie Choräle und rangen die Hände. Mittenmang fluchten die Goldgräbers. Mit eins war der Heiland weg. Eklig duster war’s um uns. Da fing’s an, über unseren Köpfen zu heulen und zu brausen. Die armen Sünder legten sich auf den Bauch und schrien: »Nu holt uns alle de Düwel … und so ähnlich, ’s war mir selber unheimlich, obwohl ich’s wußte, dat mit die Fernlenkers. Dann war’s lange still. Sie kiekten hin un kiekten 235
her un bunkerten mit den Lichtern. »Wat’s ’n los … worum heft wir uns eegentlich in ’n Dreck smeten«, un wat da an Redensarten umging. Da wußte ick Bescheid, dat Morgon mitsamt seine Strahlers Pumpernickel wor. Und nu mal los! So viel Volksreden, as ick hinnereinander gehalten habe, dat gläuwt mir man, snakt kein Reichstagsabgeordneter in fiw Jahren tosammen. Aber sie kapierten, wat ick ihnen in’t Logbuch schriew, un ’t wor ’n grotes Besinnen. Dann kam ’n Geschrei: Dort drüben sind noch viel mehr und wissen ooch nich, wat de Klock is. Ich ’nüber. Waren’s unsere Herren Militärs, die sich an den Nägeln kauten. Ho, da hew ick ’ne Revolutschon organisiert, wie sich dat gehört. Die Knarren flogen in ’n Dreck, die Herren Offiziers aus der Lakaienkaste kriegten ihre Tracht Prügel, soweit sie sich nich schon gedrückt hatten. Wir rissen den ganzen Blinkerkram von den Uniförmchen. ’s war ’n doller Spaß. Aus den Generalsmänteln wurden rote Fahnen gemacht. Und wie der Tag graute, ging’s in Marschkolonne mit Singsang taurück.« Wieviel gab es noch zu fragen und zu erzählen, aber dazu blieb uns später Zeit. Die Turmsirene rief. Hein sprang erschreckt auf beide Beine und riß seine hellen Seemannsaugen auf, als wäre ihm ein fetter Fisch durch die Hände geschlüpft: »Nu geiht et los, Döskopp« – er schlug sich die Faust an den festen Schädel – »Joll hat mich ’n Wink gegeben und seggt, ick soll dir in de grote Versammlung lotsen, Korl!« Er faßte mich links und Jana rechts unter und schleppte uns zum Fahrstuhl. Mit vielen Leichtverletzten zusammen fuhren wir nach der Turmhalle. 236
39 In der Turmhalle drängten sich an die hunderttausend Menschen. Wir setzten uns auf eine Stufe zwischen den unteren Reihen, die den Invaliden vorbehalten waren. Der große, bühnenartige Aufbau uns gegenüber, der sonst den beliebten Massenspielen diente, glich einem Treppenteppich aus Köpfen und Schultern, es blieb kaum ein schmaler Rampenstreifen für den Zentralrat, der außer Joll und einigen wenigen schon versammelt war. Hunderttausend waren Augenzeugen, als aktive Teilnehmer an der Versammlung galten jedoch alle Genossen im ganzen Land. In allen Städten und Werksiedlungen, an den Sammelplätzen der Landkreise, in den Jugendlagern scharten sie sich jetzt um die Lautsprechermasten und hörten jedes Wort, das in der Turmhalle zu allen gesprochen wurde. Überall dort gab es Rednerpulte mit Sende-Mikrophonen. Wer da hineinsprach, wurde ebenso gut im Turm, wie im ganzen Land gehört. Ein automatischer Wellensucher in der Nachrichten-Zentrale kontrollierte dreitausend Sendestellen und vermittelte den Antrag durch Lichtbild dem Versammlungsleiter. Dadurch wurde niemand unterbrochen, der gerade sprach. Es genügte, daß später, nach der Reihenfolge der Eingänge, der Genosse in Futura oder wo sonst er sich gemeldet hatte, aufgerufen wurde, um sofort seine Meinung vor sechzig Millionen Arbeitergenossen zu vertreten. Diese Einrichtung konnte sich nur in einer hochdisziplinierten Gemeinschaft bewähren, die von Jugend auf gewöhnt war, praktisch und wesentlich zu denken 237
und zu handeln. Eitle Schwätzer und Wiederkäuer waren unbekannte Leute in Utopien. Über die haushohe, weiße Wand hinter der Terrassenbühne liefen dunkle Schatten; plötzlich erhellte sie sich stark, und wir sahen eine vieltausendköpfige Menge, die uns zujubelte und Fahnen in den Wind hob. Wir hörten das Brausen der Stimmen, die sich zu taktmäßigem Sprechen vereinigten: »Futura – grüßt – das – freie – Utopolis!« Wir in der Turmhalle antworteten, ohne daß wir uns bewußt wurden, wer unsere Worte zum Gleichklang brachte (niemand sprach uns das vor oder gab den Takt an, es formte sich aus uns ganz von selbst): »Es – lebe – die – rote – Internationale!« Sie sahen und hörten uns dort, wie wir sie hier, das bewirkte die drahtlose Tonfilmtelegraphie. Alle großen Arbeiterstädte begrüßten uns auf diese Weise. Wir standen ihnen gegenüber, leibhaftig fast. Wenn wir den Gruß erwiderten, immer einmütiger und gewaltiger, Rogen die Arme empor und die Fäuste ballten sich: das war der Massengruß in Utopien, Sinnbild der hämmernden Kraft. Ich fühlte, welche unwiderstehliche Macht gleichen Wollens uns über das einzelne und den einzelnen hinaushob. Da war keiner, der an sich und seine persönlichen Sorgen dachte. Das Ganze, sein Bau, seine Vollendung durchseelte und durchblutete uns alle. Einiges Proletariat: große, glückliche Welt! Die Ferntonbilder erloschen. Es wurde still im weiten Raum. Vor der langen Tafel, an der die Mitglieder des Zentralrates saßen, stand Joll. Sein Name ging leise von Mund zu Mund. Er hob seinen Arm, wie wir es eben noch alle getan hatten, und die Ruhe wurde vollkommen. »Wir begrüßen«, rief er mit heller, harter Stimme, 238
»die Genossen und Genossinnen, die hier und in aller Welt, heute und zu allen Zeiten als Opfer des Kapitalismus gefallen sind, sie leben in uns!« Wer noch nicht stand, erhob sich. Unten, vom Fuß des Turms her, wo die Toten ruhten, tönte gedämpft der Trauermarsch herauf, unter dessen Klängen unsere Brüder in Rußland die gefallenen Revolutionäre zu Grabe tragen. Dort unten hielt jetzt die Jugend Totenwache. Hinter Joll färbte sich die Leinwand: rot überdeckt Bahre an Bahre, eine breite Straße des Schweigens, die kein Ende erkennen läßt, umsäumt von gesenkten Fahnen. Diese stummen Minuten härteten unsere Entschlossenheit, Unrecht und Sklavendienst in aller Welt zu brechen. Die Musik verklang, das Fernbild verging. Joll trat hinter den Rednertisch und berichtete in knappen Worten über den Verlauf des Kampfes. Als er auf die letzten Ereignisse zu sprechen kam, die zum Fall der Morgons führten, erwähnte er auch meinen Namen. Hein wollte »Bravo!« schreien, Jana hielt ihm mütterlich verweisend die Hand vor den Mund. Es war jetzt nicht die Zeit für private Heldenverehrung. Joll faßte zusammen: »Wir verdanken unsere Rettung in letzter Stunde einer Reihe von Zufällen und unterscheiden uns dadurch kaum von den Machthabern bürgerlicher Nationalstaaten, die ihre Hoffnung auf Gott und das Schlachtenglück setzen. Wir kannten die Morgons. Wir mußten aus der Geschichte gelernt haben, daß sie keinen Vertrag achten, der ihren Machtwillen eingrenzt. Hyänen und Haifische sind unzähmbar. Die Opfer fallen uns zur Last, wir haben sie selbst verschuldet.« Diese Anklage, die den Zentralrat unter Noris und 239
die Mehrheit der Genossenschaft traf, die ihn gewählt hatte, wurde mit schweigender Zustimmung hingenommen. Joll sprach die bittere Wahrheit. »Es gibt nur eine Sicherung für die Rechte des Proletariats, die es sich in verlustreichen Revolutionen erstritten hat: das ist seine wirtschaftliche Unabhängigkeit, Selbstverwaltung der Produktion und der Besitz der Energiequellen. Der Kampf um politische Gleichberechtigung ist eine Vorstufe, über die wir in unserem Gemeinschaftswesen bereits emporgestiegen waren. Dennoch glaubte sich der größere Teil von uns im Namen der Menschlichkeit zur demokratischen Toleranz verpflichtet. Diesen Irrglauben bezahlten tausende von Genossen mit Tod und Siechtum! Zinskapital und Werkfriede schließen einander aus. Der Einsatz im Spiel mit den goldenen Würfeln war und ist Arbeiterblut. Diese Erfahrung werden wir in Tat und Wort über die Erde hintragen. Allen, die ihre Arbeitskraft verkaufen und verhandeln müssen, rufen wir zu: Wo immer euch die Herren der Börse durch ihre beauftragte Bürokratie, Diplomaten, Minister und bürgerliche Parlamentshälften zur Mitverantwortung ziehen, wo sie Verständigung und Gemeinschaft mit euch suchen, betrügen sie euch, schwächen sie eure Kraft, zerstören sie soziale Grundwerte. Ob sie von Gott, Volk, Nation und anderen ›heiligen Gütern‹ reden, sie meinen ihr Geschäft, ihre Herrschaft, ihren Profit! Stoßt sie von ihren goldenen Stühlen, wie ihr früher eure Könige von ihren Thronen verjagt habt. Wir wollen euch dabei helfen!« Im dritten Teil seiner Ansprache begründete Joll die Maßnahmen, die er bisher zur Sicherung des Staates getroffen hatte. 240
»Gestützt auf das Recht meiner Diktatur, habe ich alle Klassenvorrechte ohne Ausnahme aufgehoben. Ich anerkenne kein geschichtliches Recht auf Sonderbehandlung irgendeines Menschen. Wir leben in unserer Zeit, frei und gleich unter Freien und Gleichen. Die Forderungen der Vergangenheit sind beglichen. Die Zukunft bedarf ihrer nicht. Ich habe verfügt, daß alle Privaten und Lakaien, die sich schwer an unserem Vertrauen vergangen haben, in einer Zwangsarbeitskolonie vereinigt werden. Ihre Kinder werden in unseren Jugendgemeinschaften erzogen. Die Älteren können sich nach zehnjähriger Gemeinschaftsarbeit unter schärfster Kontrolle um Aufnahme in die Genossenschaft bewerben. Über die Anstifter urteilt das Revolutionsgericht. Die Siedlungen der Privaten werden zerstört. U-Privat, als Sitz der Verschwörung, wird noch heute, im Anschluß an diese Sitzung, dem Erdboden gleichgemacht. Unsere Genossen Ingenieure melden mir, daß die Mittel bereitstehen, um vom Turm aus diesen Stadtteil einzuäschern. Genosse Tirwa bürgt dafür, daß er von seinen Bewohnern geräumt ist.« Joll kam zum Schluß: »Alle diese Anordnungen erkläre ich für widerrufbar, denn sie bekunden den Willen eines einzelnen. Bei uns aber gilt der Wille der Gesamtheit. Der Kampf ist vorüber. Der Ausnahmezustand, den er bedingte, besteht nicht mehr. Ich lege meine Diktatur zurück in die Hände des Zentralrats, der sie mir übertrug, und bitte Noris, meinen Platz einzunehmen.« Joll trat zur Seite. Hunderttausend Menschen im Turm, Millionen im Land warteten in atemloser Spannung. Das Schweigen drückte uns nieder. 241
Langsam erhob sich Noris. Wir, die nahe saßen, sahen, wie mühsam er sich aufrecht hielt. Sein Gesicht war den Toten ähnlicher, denen er den letzten Dienst erwiesen hatte, als den Lebenden, die jetzt das Wort aus seinem Munde wollten. Er faßte beide Hände Jolls und ließ sie nicht los, solange er sprach. Darin lag mehr als der Dank, den er im Namen der Genossenschaft abstatten wollte, es war, als müsse er sich an Joll körperlich anhalten, um nicht zu schwanken und zu fallen. »Genossen« – seine Stimme klang fest und sicher, das erschütterte uns mehr, als wenn sie gezittert hätte –, »der Irrtum, dem wir, ich und viele von uns, ergeben waren, hat den Tod unter uns gesät. Wir glaubten, unsere zahlenmäßige Übermacht müßte die Widerstandskraft des Gegners brechen und von selbst die klassenlose Gesellschaft herbeiführen. Es war ein Irrglaube. Die Waffen der Revolution, mit denen unsere Väter und Mütter den Sieg erfochten haben, wurden in unseren Händen zu papiernen Verträgen, mit denen wir uns banden, während die Krämer im Schutze der Verfassung ihr Verbrechen vorbereiten konnten. Joll und eine kleine Gruppe um ihn hat diese Gefahr, die wir nicht sehen wollten, seit langem erkannt, ihn mußten wir rufen, als unsere Führung versagte. Der Zentralrat unter meiner Leitung hat damit das Recht verwirkt, das gesetzliche Leben in der Genossenschaft zu beeinflussen. In Übereinstimmung mit den Genossen des Rates erkläre ich unseren Rücktritt von der Verwaltung. Wir empfehlen als letzten gemeinsamen Beschluß den Genossen in Utopien, die Maßnahmen, die Joll als Diktator getroffen hat, zu bestätigen. Bis zur Wahl schlagen wir die Bildung eines engeren Räteausschusses unter Vorsitz von Joll vor!« 242
Vielleicht hätte Noris noch weitersprechen wollen, aber die zurückgehaltene Erregung und die Begeisterung für Joll ließ sich nicht mehr eindämmen. Die Massen umdrängten ihn, starke Arme hoben ihn empor. Nicht nur die Versammelten riefen ihm zu, von den zahlreichen Lautsprechern übermittelte jeder das Beifallstosen einer Fernsiedlung. Neben Joll erschien auch Tirwa auf den Schultern. Der junge Genosse Ingenieur, der den Vernichtungsstrahler gegen Morgon konstruiert hatte, flog ehrenhalber durch die Luft. Und ich, wie ich da stand, mitschrie und im Überschwang Jana heftig an mich preßte, fühlte mich unversehens von zwei mächtigen Fäusten ausgehoben und zappelte mit allen Vieren in der Luft wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist. Der mich da auf- und niederstemmte, als wäre ich eine leichte Hantel, der war Hein. »EuropaKorl … Europa-Korl!« brüllte er, andere, die mich erkannten, sprangen herzu und taten ihr Bestes, mich kräftig zu wippen, sogar Jana half mit. Ihren Höhepunkt erreichte diese spontane Kundgebung, als die Jugend in doppeltem Zug singend aufmarschierte und hinter Joll ein Fahnenspalier bildete. Als schließlich wieder Ruhe eingetreten war, trat noch einmal Noris vor das Mikrophon. Massenzuruf begrüßte ihn jetzt kurz und herzlich. Er brachte seinen Wahlvorschlag ein und verlas die Namen von zehn Genossen, die dem Kreis um Joll angehörten. Er erbat Gegenvorschläge. Die Nachrichten-Zentrale meldete nach wenig Minuten, daß überall Einverständnis herrschte. Die Liste galt somit als gewählt. Joll dankte im Namen des neuen Rats. »Das Kommissariat für die Weltagitation, das wir neu organisieren müssen«, fügte er hinzu, »ist im Ausschuß noch nicht berücksichtigt. Wir brauchen dafür 243
einen Genossen mit eiserner revolutionärer Entschlossenheit. Ich bitte euch, wählt dafür – Noris!« Ihr denkt vielleicht, das war eine schöne Abschlußgeste von Joll, so wie bei uns der und jener in Amt und Würden fällt, weil er sich zur Reklamefigur für das edle Herz seiner Gönner eignet. Solche Theaterwirkungen waren den Utopiern fremd, sie kannten in ernsten Dingen keine Liebenswürdigkeiten, die dem Bedürfnis nach einem glücklichen Ausgang aus einer verwickelten Lage entsprechen. Sie verstanden, daß die Ereignisse Noris hartgeschmiedet hatten, daß er Übermenschliches leisten würde, um das höchste Vertrauen der Genossenschaft zu verdienen, deshalb stimmten sie freudig zu, und deshalb war Tirwa jetzt der erste, der seinen Arm brüderlich um Noris’ Schultern legte und ihn an den Ratstisch führte. Joll schloß die Versammlung. Wir erhoben uns und fielen in die Internationale ein, die die Sirenenorgel des Turmes angestimmt hatte. Die Dämmerung wurde von der Nacht aufgesogen. Wir hatten uns auf einer der mittleren Terrassen des Turms eingefunden. Tief unter uns, auf den Dächern der Hausburgen, sammelten sich im Schein der elektrischen Sonnen die Genossen. Die Jugend verließ ihr Zeltlager und kam zu uns herauf. Unsere Augen hingen an den finsteren Umrissen der Privatstadt, die lichtlos, schwarz wie ein gefesselter Dämon, vor uns lag. Da strahlte über unseren Häupten von der Zinne des Turms die rote Lichtsäule auf. Das war das Zeichen. Bündel von grell-blauen Blitzen zerrissen die Dunkelheit. Der rote Turm schleuderte sie gegen die Stadt des Goldes. Aus Häusern und Palästen schlugen Flammen. 244
Der Dom, der zugleich Börse gewesen war, stürzte zuerst unter betäubendem Krachen ein. Der geronnene Metallsee, der einst Morgons Machtträume in funkelnden Wanden bewacht hatte, begann wieder zu rauchen und Schlacken auszukochen. Bald verschlang das Feuermeer die einzelnen Gebilde. Ungeheure Qualmwolken, durchflackert und durchflammt, wälzten sich übereinander her und verdunkelten die Sterne. Heins Fäuste umkrampften das Geländer, sein Gesicht war starr geradeaus gerichtet und finster, wie das gräßliche Schauspiel vor uns. Ich stieß ihn an: »Was ist, Hein?« Ohne mich anzublicken, knirschte er in verbissenem Haß: »Was ich denk1?,.. Wir verbrennen ihre Häuser … aber die dort wollten unsere Herzen und unsere Gehirne verbrennen. Das denk’ ich, Karl …« Jana, die sich eng an mich geschmiegt hatte, schlang ihren linken Arm um Heins Nacken und zog ihn zu sich herab. »Die Freiheit«, sagte sie leise, »will harte Kämpfer, die das weiche Herz mit unerbittlicher Vernunft panzern … aber grausame Gedanken zerstören ihr Werk, grausam sind nur Herren und – Knechte, nicht Menschen, wie wir …« Hein bückte erstaunt und lange in Janas Augen. Sein Gesicht wurde weich, und wie er den Kopf gegen Janas Schulter neigte, begann er zu lächeln: So erkämpfte er sich den höchsten Sieg.
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Nachwort In ihrer unter dem schmissigen Titel ›Roboter und Gartenlaube‹ jüngst publizierten wissenschaftlichen Untersuchung zur Science-Fiction-Literatur konstatieren Michael Pehlke und Norbert Lingfeld die zähe Verhaftung des literarischen Genres in reaktionärer Ideologie und leiten daraus – mehr mit einem Schlenker in den Praxisbezug als mit einer konkreteren Einlassung auf echte Möglichkeiten der Realisation – die Forderung nach einer neuen, die lesenden Massen nicht mehr indoktrinierenden, sondern emanzipierenden ScienceFiction-Literatur ab. Der vorliegende Roman von Werner Illing ist ein Versuch in diese Richtung, allerdings auf historischer Ebene, die vom Autorengespann Pehlke und Lingfeld insofern vernachlässigt wurde, als sie hier – in Darstellung und Kritik – allzu ausschließlich auf berühmte und literarisch gehobene Beispiele wie George Orwells ›i984‹ und Aldous Huxleys ›Schöne neue Welt‹ (Fischer Taschenbuch Nr. 26) eingingen. Illings ›Utopolis‹ ist 1930 im Verlag ›Der Bücherkreis‹ erschienen. Der Anstoß ging, wie die entsprechende Nachforschung ergibt, vom Verlag aus, einer Buchgemeinschaft, die geschäftlich mit dem sozialdemokratischen ›Vorwärts‹- Verlag zusammenhing, der seinerseits schon vor dem Ersten Weltkrieg eine separate Romanreihe betrieben hatte, in der wichtige Werke der sozialistischen Literatur, zum Beispiel Romane und Erzählungen von Minna Kautsky und Wilhelm Bios gedruckt worden waren. Werner Illing ist 1895 in Chemnitz geboren. Als Luftwaffenfunker nahm er am Ersten Weltkrieg teil, brach nach dem Krieg sein Studium der Medizin und 246
Germanistik ab, weil er – nach dessen Tod – die Fabrik des Vaters übernehmen mußte, löste sich aber bald wieder von den kaufmännischen Geschäften und wandte sich der Literatur zu. Als erste Buchveröffentlichung Illings erschien 1921 der Gedichtband ›Vor Tag‹. Zum Zeitpunkt, zu dem ihn der Auftrag des ›Bücherkreises‹ erreichte, war er ständiger Mitarbeiter am Feuilleton der Vossischen Zeitung und hatte bereits für Funk und Film gearbeitet: unter den zahlreichen Filmdrehbüchern, die er verfaßte, sind ›Das Lied der Wüste‹ (1939 verfilmt mit Zarah Leander) und ›Der Herr vom anderen Stern‹ (1948 verfilmt mit Heinz Rühmann) hervorzuheben; neben ›Utopolis‹ erschienen bis 1933 und nach 1945 vier weitere Romane. Werner Illing lebt heute als freier Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks in Eßlingen a. N.; er ist Ehrenvorsitzender des Verbandes Deutscher Schriftsteller in BadenWürttemberg. Zur inneren Motivation, der Aufforderung des ›Bücherkreises‹ zu folgen und den Romanauftrag zu akzeptieren, merkt Illing – in einer brieflichen Auskunft – an: »Ich wußte schon, wen ich da anzusprechen hatte. Ich hatte in Chemnitz, wo ich geboren bin, in den frühen zwanziger Jahren Sprechchöre von Jungarbeitern geleitet und dafür auch manche Texte geschrieben. Die also sah ich vor mir, ihre Begeisterung für den technischen Fortschritt, ihren Willen, eine neue Gesellschaft aufzubauen, in der nichts an die wilhelminischen Zeiten erinnern sollte. Ich wußte aber auch, daß die Entwicklung anders lief: auf Stinnes, Hugenberg und Hitler zu. Als ich nach zwei Studienjahren aus Frankreich zurückkehrte, wurde mir klar, wohin die Linien gezogen waren und wo sie sich schneiden würden … Die Handlung griff ich also aus der Zeitbe247
drohung.« Zusätzlich verweist Illing auf ein frühes Interesse an der Technik, das schon in die Schulzeit fällt und durch die zeitweilige Übernahme der väterlichen Fabrik wachgehalten wurde, und auf die Tatsache, daß in etwa gleichzeitig mit der Abfassung des Romans – »auf höherer Ebene« – Alfred Döblin mit ›Berge, Meere und Giganten‹ in die Science-Fiction gegangen war und Fritz Lang seinen utopischen Film Metropolis‹ in die Kinos gebracht hatte: »Fiction war also in Mode«. Obwohl sie inzwischen bis in die trivialste ScienceFiction-Literatur hinein endlos variiert und so verbraucht oder längst übertrumpft worden sind, trifft eine Reihe technischer Perspektiven, die Illing in ›Utopolis‹ zieht, auch noch das Interesse des heutigen Lesers: die Magnetkissenbahn, deren Erfindung er vorwegnimmt, befindet sich eben erst im Stadium ihrer Realisation und Erprobung; Raumfilm und drahtlose elektrische Kraftübertragung mit der Möglichkeit ungeheurer zerstörerischer Potenz sind aus der fernen Zukunftsvision in die nahe und nächste Projektion getreten. Auch in der realgeschichtlichen Perspektive geht Illing nicht ins vage Irgendwo, sondern bleibt in der Greifnähe seiner Gegenwart: das ferne Utopolis liegt zeitlich parallel zur politischen und gesellschaftlichen Realität Europas in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und vor der faschistischen Machtergreifung von 1933; im Zusammenhang der Erzählhandlung erlaubt Utopolis die Freisetzung einer sozialen Utopie, von der her sich die politische und gesellschaftliche Szene Deutschlands um 1930 kritisch und satirisch beleuchten läßt. Illing erreicht dieses Ziel aber auch dadurch, daß er – umgekehrt – den utopischen Ort selbst als eine Spiegelung von Verhältnissen begreift, die in seiner Gegenwart als Autor und in der seiner Leser spielen. Hinter »Ludo 248
Stinkes«, dem reichsten Bankier von Utopia, dem durch Streiks und andere Konteraktionen der freien Arbeitergenossenschaft der Spaß am Handwerk derart verdorben wird, daß er – in der Hoffnung, dort Dümmere zu finden – nach Europa entflieht, verbirgt sich, kaum kaschiert, der Konzernherr Hugo Stinnes, der neben Krupp entscheidenden Einfluß schon auf die imperialistische Reichspolitik vor dem Ersten Weltkrieg gehabt hatte. Und die Marionette eines Kaisers von Utopia, die ganz als ein Spielball der Kapitalisten gekennzeichnet wird, ist bezeichnenderweise nicht nur durch die Schnurrbart-Assoziation, sondern realiter durch Zitate Kaiser Wilhelms II. charakterisiert: »Wir von Gottes Gnaden, Kaiser von Utopien … führen euch herrlichen Zeiten entgegen … Wer wider uns ist (die Linke zwirbelt an der Bartbinde. Kühn blitzt das Auge des Kaisers) … den zerschmettern wir!« Die Auseinandersetzungen um die richtige Strategie des befreiten Proletariats den verbliebenen und wieder zur Macht drängenden Kapitalisten gegenüber, die zwischen Joll und Noris geführt wird, ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussionen in der Sozialdemokratie und zwischen der SPD und KPD zu sehen. Selbstverständlich ist nicht jedes Handlungsmoment des Romans in dieser Weise auf die Zeitsituation rückbeziehbar. Der utopische Entwurf behauptet sich weitgehend in seiner erzählerischen Eigendynamik: sie führt partiell zurück zur »Flucht aus dem Alltag« und arbeitet der »sozialreformistischen Mißdeutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Endphase der Weimarer Republik« in die Hand, die der DDRLiteraturwissenschaftler Alfred Klein in seiner Arbeit über die deutschen Arbeiterschriftsteller zwischen 1918 und 1933 an Mings Roman herausgestrichen hat. – 249
Dem kritischen Leser heute, der freilich aus der Kenntnis der Realgeschichte nach 1930 argumentiert, fällt auf, daß die drohende Gefahr des Nationalsozialismus nur schwach angedeutet ist Jedenfalls kommt ihr innerhalb der ausgeführten Romanhandlung nicht das Gewicht zu, das ihr im Rückblick beizumessen ist. Diese Blindheit wird jedoch dadurch kompensiert, daß die aggressiven kapitalistischen Kräfte als Gegner des Proletariats zentral herausgestellt sind und daß so die kapitalistischen Strukturen sichtbar gemacht werden, aus denen der deutsche Faschismus der Hitler-Ara hervorgegangen ist. In der Abwehr dieser Kräfte gewinnt das Buch seinen agitatorischen Gehalt, der am deutlichsten in den Schlußpartien – in der großen Rede Jolls – zu fassen ist. Joll stellt sich auf den Boden einer deutschen Revolution und verurteilt von ihr aus die parlamentarische Bindung der revolutionären Bewegung an die Reaktion; am konkreten Hinweis auf die deutsche Revolution von 1918/19 hindert ihn nur, daß er als Held in einem utopischen Roman agiert: »Die Waffen der Revolution, mit denen unsere Väter und Mütter den Sieg erfochten haben, wurden in unseren Händen zu papiernen Verträgen, mit denen wir uns banden, während die Krämer im Schutze der Verfassung ihr Verbrechen vorbereiten konnten.« Die aktuelle, gegen die Zersplitterung der proletarischen Macht gerichtete Forderung lautet: »Es – lebe – die – rote – Internationale!« Die aufgezeigten Implikationen, der Versuch, das Science-Fiction-Genre ins Politische und Agitatorische umzubiegen und für Arbeiter-Leser aufzubereiten, machen Illings ›Utopolis‹ zu einem interessanten literarischen Dokument im Bereich der deutschen bürgerlichen Arbeiterdichtung zwischen den beiden Weltkriegen; 250
als solches belegt es ein politisches und gesellschaftskritisches Engagement, an das die westdeutsche Unterhaltungsliteratur nach 1945 nicht mehr anzuknüpfen vermochte und unter den Konstellationen des Kalten Krieges, in dessen Dienst sie sich weithin stellte, auch gar nicht anknüpfen wollte. Daß der Roman auch sonst lesenswert geblieben ist, davon überzeugt die Lektüre; vor allem jene Passagen, in denen das babylonische Wirrwarr der Großstadtmetropole U-Privat vor ihrer Vernichtung in grelle Schaubilder gesetzt wird, erreichen eine gewisse literarische Höhe und bieten Assoziationen zu Werken, die zum festeren Bestand der Literatur jener Jahre gehören. – Angesprochen auf die zeitgenössische Aufnahme des Romans und seine unmittelbare Wirkung, antwortete Werner Illing: »Sie fragen, wie ›Utopolis‹ damals angekommen ist? Ich glaube, recht gut. Ich bekam viele Zuschriften, die zu beantworten nicht leicht waren, weil ich spezifizieren sollte, was ich selbst nicht so genau wußte … Bei Parteiversammlungen der SPD in Berlin wurde ich oft auf das Buch angesprochen. Dort mochte man es. 1935 wurde ich deshalb von der Gestapo vorgeladen. Ich arbeitete damals am Deutschlandsender in der Sparte der gehobenen Unterhaltung. Der dringenden Aufforderung, Nazi zu werden, widerstand ich. Und nun ›Utopolis‹! Die Befragung war peinlich, ich wurde verwarnt, kam aber noch einmal davon.« Karl Riha
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