K L E I N E
BIBLIOTHEK.
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
NIELS
HEFTE
BLAEDEL
Ural...
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K L E I N E
BIBLIOTHEK.
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
NIELS
HEFTE
BLAEDEL
Uraltes Tiervolk SELTSAME
VERLAG M U R N A U .
GESCHÖPFE
SEBASTIAN
MÜNCHEN
.
LUX
INNSBRUCK • BASEL
Lebendige Versteinerungen Damals, als das erste versteinerte Exemplar eines Fisches mit vier Beinen gefunden wurde, war das ein großes Ereignis. Es sollte noch übertroffen werden, als eines schönen Tages im Dezember 1938 draußen vor der Küste Südostafrikas ein riesiger, himmelblauer Fisch um sein Leben kämpfte. Blitzartig wurde mit diesem Fang der lange, ununterbrochene Weg, den das Leben von der Urzeit bis heute genommen hatte, erhellt. Mit dreihundertfünfzig Millionen Jahren auf dem Rücken lag der blaue Fisch zappelnd im Netz. Seine schaufelartigen, am Ende quastenähnlichen Flossen, sind der Übergang zu richtigen Gliedmaßen. Er ist der direkte Nachkomme ferner Vorväter, die einst, im Zeitalter der Fische, die Vorherrschaft hatten. Er ist eine lebendige Versteinerung. Man hielt diese Art schon seit Millionen und aber Millionen Jahren für ausgestorben. Niemand hätte sich träumen lassen, es existiere irgendein Tier, das während einer so unermeßlichen Zeitspanne völlig unverändert hätte bleiben können. Doch nun hatte man es gefunden: Es war eineinhalb Meter lang, hatte ein Gewicht von siebenundvierzig Kilogramm und war so voller Leben, daß es wie rasend seine Fänger zu beißen versuchte. Wie sollen wir uns eine Vorstellung machen von der ungeheuren Zeit, die verstrichen ist, seitdem im Urmeer die ersten blauen Fische das Licht der Welt erblickten? Was sind die ärmlichen Jahre der Existenz des Menschen, die Zeitspanne von einer halben Million, gegen ihre dreihundertfünfzig Millionen? Versteinerte Fische hat man sowohl in derNähe des heutigen Fundortes des blauen Fisches auf Madagaskar als auch in Ost-Grönland gefunden Von Grönland hat der Tierforscher Eigil Nielsen etliche tausend Versteinerungen heimgebracht, und daher weiß man, daß es vor dreihundertfünfzig Millionen Jahren drei Hauptgruppen von Fischen mit Quastenflossen gegeben haben muß. Aus der einen dieser Gruppen entwickelten sich die Urlurche, die im ersten Akt des Dramas, das der Eroberung der Erde durch die Tiere galt, als vierbeinige Fische siegreich an Land gingen. Im nächsten Akt gaben sie dann Idee und Form und Fleisch und Blut an die Kriechtiere weiter, die dann im dritten Akt, als es galt, ein neues Element zu erobern, ihren Kraftüberschuß an neue Wesen weitergaben, an die Vögel und an die Säugetiere. Aus der zweiten Gruppe entwickelten sich mit ständig sich ändernden Formen die Schwanzlurche bis 2
Der blaue Fisch, Latimeria, nach einem Modell im Zoologischen Museum in New York. Rechts eine der schaufeiförmigen und quastenartigen Flossen, die den Übergang zu Beinen und Füßen bilden zu jenen Salamandern, die heute noch leben. Und zu der dritten Gruppe gehört also der blaue Fisch, der sich allein unverändert erhielt, wahrend die allermeisten Tiere sich zu neuen Formen entwickelten und ungeheure Heerscharen anderer Lebewesen, von denen wir nur noch schwache Spuren kennen, den Kampf aufgeben mußten, in dem der Preis nur den am besten Ausgerüsteten zuerkannt wird. Wie verständlich war nicht der Eifer der Wissenschaft, den endlich gefundenen Urfisch zu öffnen, um das Innere, die Weich3
teile, gründlich zu erforschen, die die versteinerten Tiere nicht hatten bewahren können! Man glaubte vermuten zu dürfen, daß er keine Eier lege, sondern seine Jungen lebendig zur Welt bringe. In einem versteinerten Exemplar eines Urfisches hatte man nämlich Reste gefunden, die an einen Keimling denken ließen. Außerdem galt es, überhaupt festzustellen, ob die Theorie vom Bau des Fisches richtig war. Das Unglück wollte es jedoch, daß der erste blaue Fisch, der in menschliche Hände gefallen war, seiner Eingeweide beraubt werden sollte, noch ehe er in den Bereich der Wissenschaft gelangt war. Er wurde in das Laboratorium des südafrikanischen Professors Smith an der Grahamstown-Universität eingeliefert, ausgerechnet zu einer Zeit, als alle Forscher in den Ferien waren. Damit das Tier nichl verwesen sollte, ehe sie wieder zurückkamen, entfernte die Laboratoriumsassistentin Fräulein Latimer die ganzen Eingeweide. Sie hatte in der besten Absicht gehandelt, und man zögerte deshalb auch nicht, trotz allem den Fisch nach ihr zu benennen: Sein Familienname wurde Latimeria, und nach dem Fundort erhielt er den Gattungsnamen chalumnae. Immerhin wußte man nun, daß es den Urfisch noch gab. Und da er nicht nur in einem Exemplar vorhanden sein konnte, begann Prof. Smith' sofort mit seinen großen Nachforschungen. In den Küstenstrichen des Festlandes und der Insel Madagaskar ließ er Flugblätter mit der Beschreibung und dem Bild des Tieres verteilen. Große Belohnungen wurden ausgesetzt; und schließlich, um die Weihnachtszeit des Jahres 1952, wurde ein zweites Exemplar gefangen. Eingeborene Fischer einer der Komoren-Inseln brachten es auf den Markt. Doch noch ehe Smith mit dem Flugzeug, das ihm die Regierung Südafrikas eilends zur Verfügung stellte, die Insel erreichte, war auch dieser Fisch schon durch die gutgemeinte Behandlung mit konservierendem Salz zum großen Teil verdorben. Im ersten Augenblick glaubte Smith, bei dem gefangenen Fisch handle es sich um eine andere Art als der Latimeria, obwohl auch er Quastenflossen mit einem AnsaU zu ersten Gliedmaßen hatte. Er wollte deshalb den Fisch dem südafrikanischen Ministerpräsidenten Malan zu Ehren den Artnamen Malania geben, doch die Untersuchungen haben deutlich erwiesen, daß auch dieser Fisch ein Latimeria ist. Was für ein unerwarteter Reichtum war der Wissenschaft plötzlich geschenkt worden! Man erfuhr bei dieser Gelegenheit auch, daß die Eingeborenen jedes Jahr einige Male einen solchen Fisch in ihren 4
Netzen fangen und daß sie seine Schuppen zum Polieren verwenden, daß sie sich aber im übrigen nicht weiter für ihn interessieren. Sie konnten ja nicht ahnen, daß ihr Fang die Zoologen der ganzen "Welt in Aufregung versetzen werde. Doch auch Nr. 2 sollte nicht das letzte Exemplar bleiben. Ini Oktober 1953 stellte sich Nr. 3 ein, und seitdem fingen die Eingeborenen der Komoren-Inseln für die Wissenschaft weitere Exemplare. Einer davon war ein über ein Meter langer Jungfisch; ein zweites Exemplar hält man für ein Weibchen und hofft, daß es die Frage beantworten wird, ob der Latimeria ein lebendig gebärender Fisch ist. Die zuletzt -gefangenen Tiere wurden in völlig frischem Zustand mit Flugzeugen ins Naturhistorische Museum nach Paris gebracht, wo eine erste Untersuchung zunächst ergab, daß sie keine Schwimmblase haben. Nun ist die Schwimmblase dasjenige Organ, das zum Beispiel bei den Lungenfischen sich zu Lungen entwickelt hat, und man hätte annehmen sollen, daß auch der blaue Fisch, dessen Flossen sich in einem Übergangsstadium zu den Beinen befinden, eine Schwimmblase im Übergangsstadium zu Lungen habe und damit die Neigung zum Leben auf dem Lande zeige. Doch das trifft nicht zu. Es ist jedoch möglich, daß die Art im Laufe der Millionen Jahre ihrer Entwicklung die Schwimmblase verloren hat. So viele blaue Fische zur Verfügung zu haben, klingt fast märchenhaft; da sie aber alle seziert werden sollen, um Antwort auf zahllose Fragen über den Verlauf ihrer Entwicklung zu geben, ist es für die Wissenschaft doch immer nur eine sehr kleine Zahl, und deshalb geht die Suche noch immer weiter. Riesige Wasserbehälter werden an Bord der Schiffe installiert, um einen solchen Fisch der Vorzeit womöglich lebend an Land zu bringen. Außerdem stellen sich die Expeditionen die Aufgabe, herauszufinden, welches die Lebensbedingungen des blauen Fisches sind, wie Meer und Meeresgrund dort beschaffen sind, wo er lebt. Man verspricht sich davon eine Antwort auf die Frage, weshalb es gerade dieser Art mit ihrem vorzeitlichen Bau möglich gewesen ist, sich länger als jedes andere Wirbeltier am Leben zu erhalten. Unwillkürlich wirft der blaue Fisch auch die Frage auf, ob wohl noch andere Tiere existieren, die, auch wenn sie nicht ganz so alt wie Latimeria sind, es verdienen, Urformen genannt zu werden. Man findet unter den Fischen noch eine sehr alte Form: Es sind jene Lungenfische, die um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts 5
in Südamerika, in Afrika und Australien entdeckt wurden. Mit ihrer Doppelform des Atmens — sie haben sowohl Lungen als auch Kiemen — lösten sie seinerzeit eine ebenso heftige Diskussion aus wie heute Latimeria. Sie wiesen verwandtschaftliche Beziehungen zu einer Fischgruppe auf, die weit zurück in jenen Epochen, in denen Quastenfische ihre große Zeit hatten, weit verbreitet gewesen . war; man kann sie deshalb ruhig Urformen nennen, wenn auch die heute noch lebenden Tiere nicht mehr ganz dasselbe Aussehen haben wie die ursprünglichen.
Die Echse mit drei Augen Die bis jetzt berühmteste lebendige Versteinerung ist wahrscheinlich die kleine Tuatara-Echse, die noch heute auf den kleinen Inseln im Norden Neuseelands lebt. Sie hat mitten auf der Stirn ein drittes Auge. Mehrere heute noch lebende Kriechtiere und Lurche haben ebenfalls dieses Drittauge, aber bei ihnen ist es ganz zurückgebildet, während die Tuatara-Echse mit ihrem dritten Auge noch auf Licht und Schatten reagiert und mit ihm vermutlich Bewegungen von solchen Feinden erkennen kann, die sich ihr von oben nähern. Die Tuatara-Echse kann bis zu einem halben Meter lang werden. Sie ist der letzte Rest einer großen Tiergruppe, die vor zweihundert Millionen Jahren lebte. Man weiß nicht, wann die heutige Form sich bildete, doch man rechnet damit, daß sie sich schon seit mehr als hundert Millionen Jahren nicht mehr geändert hat. Daß sie sich so lange halten konnte, erklärt man sich mit dem völlig abgeschlossenen Leben auf den einsamen Inseln, wo fast keine Feinde die Existenz des Tieres bedrohen. Im Gegenteil, es hat unter den Sturmschwalben gute Freunde, mit denen zusammen es in unterirdischen Gängen wohnt. Was für gemeinsame Interessen diese Vögel mit den Echsen haben, ist unbekannt, doch eines Tages wird man wohl auch in dieser Beziehung eine interessante Entdeckung machen. Zu den lebendigen Versteinerungen könnte man, außer den niedrigstehenden festsitzenden Armfüßern, den Brachiopoden, wohl auch noch die Schildkröten und Krokodile rechnen. In ihrem Körperbau und Aussehen haben sich zwar einige Einzelheiten verändert, im wesentlichen jedoch haben diese Tiere nun schon beinahe zweihundert Millionen Jahre so ausgesehen wie heute. 6
Tuatara-Echse in ihrem unterirdischen Gang in Gesellschaft einer Sturmschwalbe, mit der sie sich gut versteht Das „ w i d e r s i n n i g e " Schnabeltier Unter den Säugetieren gibt es nur wenige, die so primitiv sind, daß man sie Urformen nennen könnte. Und von ihnen zählen das Schnabeltier und der Ameisenigel zu den ältesten und merkwürdigsten. Als man das erste Schnabeltier nach Europa brachte, wollte kein Mensch glauben, daß es sich um ein richtiges Tier handle. Man hielt es für ein künstliches Gebilde, und da das Handelsschiff, das es von Australien nach London brachte, aus dem Fernen Osten kam, taufte man das merkwürdige Wesen „Meermädchen des Ostens". Gewiß, es war keine exotische Erscheinung mit einem Frauenleib und einem farbenglänzenden Fischschwanz, aber das kleine Tier war doch eine so herausfordernde Überraschung, daß selbst die Wissenschaft in einen Zwiespalt geriet. Sein Aussehen war zugleich das eines Kriechtieres und eines Säugetieres. Die größte Ähnlichkeit hatte es mit einem Maulwurf mit Biberschwanz, doch als erstaunliche Absonderheit kam dazu noch der Entenschnabel, der wie an7
gesetzt erschien. Etwas Ähnliches war noch nie vorher gesehen worden, und erst als man eine anatomische Untersuchung durchführte und sein Inneres näher betrachtete, wurde klar, daß dieses Wesen nicht ein „Erzeugnis des chinesischen Kunsthandwerks" war, sondern eine Laune der Natur, für die man einmal in verständlicher Selbstverteidigung die Bezeichnung „Paradoxus", ,Der Widersinnige', gewählt hatte. Und dieses kleine Paradox mit dem traurig zusammengedrückten Kopf und den kleinen melancholischen Augen kam nach Europa und brachte ein Geheimnis mit. das es mit nur allzu gutem Grund bewahren wollte. Als einem Säugetier, mit typischem Haarpelz ausgestattet, mußte ihm dieses Geheimnis richtige Gewissenqualen verursachen. Das Tier leg:e nämlich. Eier. Und allein schon aus diesen Eiern scheint so etwas wie ein Schuldgefühl zu sprechen: Sie drücken sich so ängstlich dicht aneinander, daß sie aneinander festwachsen. Das erste Exemplar, das nach London kam, traf im Jahre 1799 ein; ' doch erst im Jahre 1884 fand man in Australien zum ersten Mal j ein Nest mit Eiern. Seitdem haben zahlreiche Zoologen das Leben des Tieres studiert. Als Eierleger bezeichnet es ein Übergangsstadiutn zwischen Kriechtier und Säugetier. Auch wenn das Ei bereits seine Schale gebildet hat, wächst es noch ruhig im Mutterleib weiter, genauso, wie das die Embryos der Säugetiere tun. Die Nahrung wird dabei durch die Schale aufgenommen. Doch so primitiv das Tier auch ist: Es ist vorzüglich für seinen Daseinskampf ausgerüstet, so daß es mit gutem Grund viele andere niedrigstehende Säugetiere überdauert hat. Es ist ein hervorragender Schwimmer, der zwar unter Wasser die Augen zumacht, der aber andererseits in seinem Schnabel ein ausgezeichnetes Tastorgan hat. Das Männchen trägt an den Hinterbeinen einen Sporn, der, verbinden mit einer Giftdrüse, eine wirksame Verteidigungswaffe ist. In den australischen und tasmanischen Elüssen schwimmen die Schnabeltiere so herum, daß ihre Augen gerade noch über die Wasseroberfläche heraussehen, während der Schnabel den Flußschlamm nach Insekten und kleinen Krebsen durchpflügt. Sie haben Backentaschen, von denen man lange glaubte, die Beute werde dahinein gesammelt. Der australische Forscher Harry Burrell jedoch hat entdeckt, daß die Tiere diese Taschen mit Kies füllen, und er ist der Meinung, daß sie, da sie ihre Zähne sehr früh schon verlieren, damit ihre Nahrung zermahlen. Werden sie erschreckt, so tauchen sie unter und können bis zu zehn Minuten unter Wasser bleiben.
Ein Schnabeltier läßt sieh bequem auf zwei Händen unterbringen Ihre Höhlen mit den vielen Gängen graben sie in die Ufer und Flußbänke hinein. Sobald das Weibchen seine Eier gelegt hat, verschließt es den Höhleneingang mit einer großen Erdscholle; dann legt sich dieses Säugetier für drei Wochen zum Brüten zurecht. Was aber geschieht, wenn die Jungen ausgeschlüpft sind? Azt die Mutter sie mit Insekten, oder erhalten sie Muttermilch, wie das bei richtigen Säugetieren der Fall ist? Das letztere ist ungefähr richtig. Das Tier hat nämlich Milchdrüsen, deren Haut winzige Öffnungen aufweist. Das bedeutet, daß die Jungen die Milch aus den Drüsen herauspressen müssen. Lange hat es gedauert, bis man die Bedingungen kannte, die es ermöglichen, ein Schnabeltier in Gefangenschaft zu halten. Im Jahre 1947 erhielt der New Yorker Zoologische Garten drei Tiere: das Männchen „Cecil" und die Weibchen „Betty" und „Penelope". Man machte sich große Hoffnungen, wenigstens eines der beiden 9
Weibchen werde in der Gefangenschaft ein Junges zur Welt bringen, so wie das ein einziges Mal vorher in Australien bei einem gefangenen Schnabeltier vorgekommen war. Die Zeit verstrich jedoch, ohne daß sich etwas ereignete. Schließlich glaubte man, nun sei es bald so weit, denn „Penelope" war eines Nachts auf rätselhafte Weise aus ihrem Käfig entwichen und wurde am anderen • Morgen bei „Cecil" gefunden. Fortan richtete man es nun so ein, daß „Penelope" und „Cecil" einander nachts unbehindert besuchen konnten. Doch schon am folgenden Morgen fand man zwar „Penelope" in „Cecils" Käfig, „Cecil" jedoch in dem der „Penelope". Der Zaubertrick Beim Ameisenigel liegen die Dinge ganz 'ähnlich wie beim Schnabeltier; auch er legt Eier, und auch in der Fortpflanzung und Brutpflege ist kaum ein Unterschied festzustellen. Nur hat er noch eine kleine Extraausrüstung, einen Beutel am Bauch, in dem das Ei ausgebrütet wird. Lange kam man nicht dahinter, wie in aller Welt das Tier es nur anstellen mochte, daß es das Ei in den Beutel hineinbekam. Mit seinem dünnen Saugschnabel, der fast keine Öffnung hat, kann der Ameisenigel das Ei unmöglich packen. Auch daß er das Ei mit den stark gekrallten Vorderbeinen anfassen sollte, wollte nicht einleuchten. Schließlich kam man aber doch hinter den Trick: Sobald sich der Ameisenigel zusammenrollt, kann das Ei so ausgestoßen werden, daß es genau in die Öffnung des Beutels fällt; es braucht mit der Erde gar nicht erst in Berührung zu kommen. Wenn das Junge eineinhalb Zentimeter groß ist, stößt es mit seinem Schneidezahn — dem einzigen Zahn, den es während seines ganzens Lebens bekommt — ein Loch in das Ei. Ist es zehn Tage alt, dann verläßt es den Beutel, doch seine Mutter besucht es noch eine Zeitlang und gewährt ihm immer wieder für kurze Zeit Unterschlupf, so daß es Milch lecken kann. Bei Nacht, solange die Mutter auf Fang ausgeht, gräbt sich das Junge ein. Und hier zeigt sich eine höchst überraschende Eigenschaft des Ameisenigels: Er kann sich blitzartig in die Erde hineinwühlen. Es ist wie ein Zaubertrick: In kurzer Zeit bringen diese Tiere, von denen einzelne Exemplare der verschiedenen Familien bis zu vierzig und fünfzig Zentimeter lang werden, es fertig, vollständig von der Erdoberfläche zu verschwinden. Sitzt dann ein solches Tier in seinem Loch, so spreizt 10
In wenigen Minuten gräbt sich der Ameisenigel in die Erde und bezieht zur Abwehr die Igelstellung. Wenn es ihm gar zu bunt wird, verschwindet er völlig im Boden es seine Stacheln nach allen Seiten — auch nach oben — und stemmt sich damit so fest, daß es nicht zu bewegen ist. Einen besseren Schutz als diese Igelstellung kann es überhaupt nicht geben. Die Lieblingsnahrung des Ameisenigels sind Termiten, denen er mit fast herausfordernder Gemächlichkeit zuleibe geht. Er gräbt am Fuß des Termitenbaues ein Loch in dessen Wand, legt sich nieder, streckt seine Zunge in das Loch hinein, zieht sie wieder zurück und schlürft die Tiere, die sich darauf gesetzt haben, genießerisch in sich hinein. Stundenlang kann er so liegenbleiben und sich seiner nahrhaften Zungenbewegung hingeben. Wenn auf Neu-Guinea der langschnabelige Ameisenigel, der dort lebt, herangestapft kommt, will man seinen Augen nicht trauen. Die schweren Pfoten der Hinterbeine treten nämlich völlig verkehrt auf. Sie sind so verdreht, daß das Tier auf ihrer Oberseite geht. Das hängt damit zusammen, daß es sich hier um einen Grabefuß handelt, so daß also diese Merkwürdigkeit ihren Sinn hat. Man sieht, daß auch dieses Tier, das zusammen mit dem Schnabeltier eine eigene, selbständige Gruppe bildet, so gut ausgerüstet ist, daß es, seiner ganzen Primitivität zum Trotz, sich großartig neben viel moderneren Säugetieren halten kann. 11
Reitendes Tier Noch verwunderlicher ist es, wie der im bewaldeten Teil Südamerikas lebende „Große Ameisenbär" daherkommt. Auch er ist eine sehr altertümliche Tiergestalt mit einer gewaltigen Fahne von einem Schwanz — einem riesigen Urpinsel — und einer Röhre von einem Kopf, der fast nichts als Saugapparat ist, in dem es noch nie auch nur einen einzigen Zahn gab. Die Maulöffnung ist so klein, daß das Tier nicht einmal wie andere Tiere gähnen kann. Wenn es erwacht, streckt es deshalb als Ersatz für das morgendliche Gähnen seine Zunge heraus, und man sollte meinen, das müßte ein guter Ersatz sein, denn es kann seine Zunge bis zu einem halben Meter heraushängen lassen. Da der Ameisenbär von Ameisen und Termiten lebt, vermißt er die Zähne so wenig wie die Kiefer und Kaumuskeln. Was aber kurios anmutet, ist die Tatsache, daß er, wenn er schon einmal einen Schmetterling oder einen Wurm erwischt, dennoch Kaubewegungen macht. Doch der Erscheinung begegnet man ja immer wieder im Tierreich, daß ein Organ im Laufe der Entwicklung in den Jahrtausenden als solches zwar verloren ging, daß jedoch die Funktionen, die es einst auslöste, sich immer noch zeigen. Ein anderer Gedanke an die Vorzeit drängt sich einem auf, wenn das Weibchen des Großen Ameisenbären seine Jungen zur Welt bringen soll. Dabei berührt nämlich das Junge die Erde überhaupt nicht, es klettert vielmehr im selben Augenblick, da es das Licht der Welt erblickt, auf den Rücken seiner Mutter, die sich die ganze Zeit aufrecht auf den Beinen hielt. So etwas sieht man sonst bei Jungen anderer auf dem Erdboden lebender Tiere nicht, dagegen bei Baumbewohnern. Man erklärt sich deshalb das Verhalten des jungen Ameisenbären damit, daß es sich dabei um einen von seinen Vorfahren ererbten Instinkt handle, die tatsächlich einmal auf den Bäumen gelebt haben müssen, so wie das seine nächsten Verwandten, die Zwergameisenbären, heute noch tun. Als der bekannte Tierforscher Dr. Krieg einmal das Junge eines Großen Ameisenbären vom Rücken seiner Mutter nahm und es in einen Baum setzte, begann es sofort, wie aus einem angeborenen Instinkt heraus, weiter in die Höhe zu klettern. Und als er ein ausgewachsenes Tier verfolgte,kletterte es ebenfalls auf einenBaumhinauf. Wenn dieser Kletterinstinkt sich erhalten hat, so ist das vielleicht der Tatsache zuzuschreiben, daß der Große Ameisenbär ein 12
. Von der Schwanzspitze bis zur Rüsselspitze mißt dieser Große Ameisenbär vier Meter Vagabundenleben ohne feste Wohnung führt, so daß es für das Junge keinen Ort gibt, wo es Schutz finden kann; es muß sich deshalb an den Pelz der Mutter klammern und auf ihren Rücken klettern. So ist für das Kleine die erste Zeit seines Lebens ein ununterbrochener Ritt, und es ist ein ausgezeichneter Reiter. Eine andere Erinnerung an das Leben der Vorfahren wird deutlich, wenn der Große Ameisenbär sich auf seine Hinterbeine erhebt. Das tut er immer dann, wenn er gereizt wird. Der scheinbar so Gemütliche und Unbeholfene ist dann kaum noch wiederzuerkennen. Mit gespreizten Vorderbeinen steht er da und hält seine abschrekkenden Klauen, die eine verheerende Abwehrwaffe sind, in eindrucksvoller Drohstellung. Wer ihm in dieser Situation zu nahe kommt, dem bringt er furchtbare Wunden bei. Manchmal beginnt der Hochaufgerichtete auch, wie ein Boxer im Ring angriffslustig auf den Hinterbeinen zu tänzeln, während er mit den krallenbewehrten Armen mächtige Hiebe austeilt. Funde von Skeletteilen gigantischer Verwandter der Urzeit zeigen, daß auch sie eine Schwäche für das Gehen und Stehen auf den Hinterbeinen gehabt haben müssen. Mit seinen großen Klauen gräbt der Ameisenbär Löcher in die harte Rinde der Termitenhügel, und er braucht nur noch seine 13
Zunge hineinzustecken, sie wieder zurückzuziehen und alles abzulutschen, was sich daraufgesetzt hat. Und für dieses Geschäft kann er sich Zeit lassen. Neben den Insekten und Larven gelangen auch Holz- und Wurzelteile und Splitter vom Termitenbau in seinen Magen; aber er kann dieses Splitterzeug gut brauchen, damit die Zerkleinerung der Nahrung besser vonstatten geht. Die Klauen jedoch sind ein so wichtiges Werkzeug für ihn, daß er sie, ähnlich wie der Ameisenigel, schonen und schützen muß. Er tritt deshalb überhaupt nicht mit den Fußflächen der Vorderfüße auf, sondern nur mit deren äußeren Kanten, und gleichzeitig krümmt er die Zehen mit ihren Klauen einwärts. Das läßt seinen Gang sehr schwerfällig erscheinen, aber es hat seinen guten Sinn. Und genauso muß die Gangart der großen Riesenfaultiere gewesen sein, die an Größe unseren heutigen Elefanten gleichkamen, die aber längst schon ausgestorben sind. Sie waren mit den Vorfahren des heutigen Ameisenbären nahe verwandt. Und zuletzt noch eine spaßhafte Gewohnheit des Großen Ameisenbären. Als Landstreicher, der nicht einmal ein eigenes Loch zum Schlafen hat, mußte er sich etwas Besonderes einfallen lassen, wenn er während der Nacht geschützt sein wollte. Deshalb hat er sich folgendes ausgedacht: Bevor er sich zum Schlafen niederlegt, streckt er seinen Schwanz aus, schlägt ihn nach vorn über sich her, so daß die langen Haare wie eine große Mähne zu beiden Seiten seines Körpers herunterhängen. Wenn er sich so in seine Schlafdecke eingehüllt hat, legt er sich auf die Seite und fällt in Ruhe.
Panzerritter Unter den altertümlichen Vertretern der Tierwelt zeugen auch die Gürteltiere von ihrer Herkunft aus uraltem Geschlecht. Die Ahnen dieser schwer gepanzerten Säugetiere Südamerikas reichen weit ins Tertiär zurück. Und wenn die heutigen Gürteltiere auch nicht mehr Nashorngröße erreichen wie ihre Vorfahren, so scheinen sie doch aus einer andern Welt zu stammen. Das ist vor allem beim Neunbindergürteltier der Fall. Vor einigen Jahren erst entdeckte der norwegische Physiologe Scholander einen besonders eigenartigen Zug bei diesem Tier, als er es beim Graben beobachtete. Zum Unterschied vom Ameisenbär wohnt das Gürteltier in einer Höhle, die so praktisch unter einen 14
Auch das Gürteltier scheint aus einer anderen Welt zu kommen Termitenbau gegraben wird, daß der Weg zum Leibgericht nicht weit ist. Beim Graben selbst geht es recht wild zu. Verbissen und wie besessen wühlt das Tier mit seinen Klauen. Dicke Staubwolken hüllen es während der pausenlosen Arbeitsstöße von drei bis vier Minuten ein. Scbolander wunderte sich, wie eine solche Ausdauer überhaupt möglich ist; denn das Tier muß dabei eine große Masse Staub in seine Lungen bekommen. Bei genauerer Untersuehung kam der geduldige Beobachter dann dahinter, daß das Neunbindergürteltier, solange es gräbt, überhaupt nicht atmet. Daß ein landbewohnendes Säugetier so lange den Atem anhalten kann, ist ganz und gar ungewöhnlich. Der Organismus des Gürteltiers muß sich also seinen besonderen Lebensbedingungen völlig angepaßt haben: Je früher die Grabarbeit beendet ist, desto früher kommt es zu seinem schützenden Versteck; das aber ist notwendig, denn in all seinen anderen Bewegungen ist das Tier sehr langsam. 15
Einen Teil der Energien, die das Neunbindengürteltier zusätzlich für die Grabarbeit benötigt, kann es dadurch freimachen, daß gewisse Prozesse im Körper keinen Sauerstoff benötigen, so daß der Blutkreislauf des Tieres langsamer erfolgen und die Geschwindigkeit der Herztätigkeit herabgesetzt werden kann. Mit anderen Worten: Das Herz des Gürteltieres schlägt, solange es gräbt, beträchtlich langsamer als zu normalen Zeiten. Die Zahl der Herzschläge fällt bis auf ein Drittel oder die Hälfte. Diese Eigenart des Gürteltieres läßt an die tauchenden Tiere des Meeres denken, deren Herzschläge sich ebenfalls verringern, solange sie tauchen. Es ist erstaunlich, welches Geschick und welche Kräfte das Gürteltier als Grabarbeiter einsetzen kann. Man hat es dabei getroffen, wie es mit Erfolg versuchte, einen betonierten Boden aufzureißen. Es begann bei einigen kaum sichtbaren Rissen und fetzte dann Stück um Stück des Betongrundes heraus, bis es sich in die ausgestemmte Mulde sichernd hineinducken konnte; denn das ist bei seiner Tiefbaubeschäftigung seine eigentliche Absicht, sich im Boden seinen Angreifern zu entziehen. Fest zum Kreis zusammengerollt, bietet es dem Gegner mit seinem aus unzähligen Knochenplättchen zusammengefügten Panzer, der in Ringen auch den langausgezogenen Schwanz überdeckt, kaum noch eine Angriffsfläche. Wenn aber keine Gefahr droht, sieht man das urtümliche Tier manchmal behaglich auf seinen Hinterbeinen aufrecht sitzen, wobei der Schwanz eine feste Stütze bietet. Gelegentlich macht es ihm auch Vergnügen, auf den Hinterbeinen aufrecht zu stehen oder aufrecht einherzuwandeln. Das ist ein Anblick, der ebenso possierlich wie ungewohnt ist. Es verwundert nicht, daß das Gürteltier in Amerika neuerdings als Hausgenosse gehalten wird; seine grabende Unart muß dabei in Kauf genommen werden.
Das brave Nashorn Aus fernster Vergangenheit in die Gegenwart ragen auch zwei gehörnte Tiere, die ihre Namen jedoch zu unrecht tragen: das „schwarze" und „weiße Nashorn". Von ihrer Herkunft und der Ausbildung ihres unförmig globigen Äußeren erzählen sich die Eingeborenen: Als der Schöpfer die großen Tiere erschaffen hatte, hatte er viel Mühe damit, sie einzukleiden. In der Eile warf er dem Nashorn eine 16
Porträt eines alten Flußpferdes
Haut und Nadel und Faden zu und forderte es auf, sich sein Kleid selbst zu nähen. Das Nashorn tat sein bestes, doch vor lauter Eile verschluckte es die Nadel, bevor alles richtig und ganz fertig war; und deshalb sitzt seine Haut noch heute in so großen Falten. Seit dieser Zeit seines Schneiderpechs hat es die Angewohnheit, wenn es seine Losung fallen gelassen hat, mit den Hinterbeinen danach zu stoßen oder mit den Hörnern darin herumzuwühlen, in der Hoffnung, eines Tages die Nadel wiederzufinden, damit es endlich fertignähen kann und dann standesgemäß angezogen ist. Zu dieser Geschichte hat wohl in erster Linie das schwarze Nashorn Anlaß gegeben, da seine Haut in noch lockereren und dickeren Falten sitzt als die des weißen. Aber dieser weite Faltenwurf ist nicht sinnlos; die Falten haben nämlich große Bedeutung bei einer dicken Haut, und dick ist die Haut des Nashorns. Sie soll es gegen die Sonnenstrahlen schützen und gegen alles Ungeziefer, wenn es in der Tageshitze steht oder liegt und döst. Wenn es nämlich jemanden gibt, der es versteht, in der Sonne zu dösen, dann ist es das Nashorn, und das Fliegengeschmeiß soll es dabei nicht stören. Die dicke Haut ist zugleich ein Schutz gegen Angriffe von Raubtieren und beim Kampf mit Rivalen. Es ist vorgekommen, daß nach einem rasenden Kampf das Hörn des Gegners mit solcher Wucht am Panzer des Angegriffenen abprallte, daß es herausbrach. Das Nashorn hat also Grund genug, eine dicke Haut zu haben, die in vielem an die Brünne unserer Vorfahren erinnert. Denn eigentlich waren auch die Panzer der Ritter eine „faltige Haut", deren gegliederte Teile sich übereinanderschieben konnten, so daß der Krieger selbst in stählernem Panzer in der Lage war, sich zu bewegen. Auf die gleiche Art kann sich auch das Nashorn dank der Falten fast ungehindert rühren und regen. Am besten paßt jedoch die Erzählung der Eingeborenen auf das indische Nashorn, das buchstäblich in bewegliche Platten gekleidet ist. Daß das Nashorn nach seiner Losung tritt und sie mit seinem Hörn aufwühlt und verstreut, hat natürlich einen anderen Grund als die Nadelsuche. Diese Handlung ist ihm so wichtig, daß es schleunigst zurückeilt, um das Notwendige nachzuholen, wenn es einmal das Treten und Streuen vergessen haben sollte. Eine ähnliche Gewohnheit haben auch die Flußpferde, sie zerstreuen mit noch größerer Originalität ihre Losung. Beide wollen durch diese Maßnahme, die für den Geruchsinn anderer Tiere eine unverkennbare Markierung ist, etwas deutlich machen. Doch wäh18
ren das Flußpferd durch die Geruchspunkte sein eigenes, persönliches Territorium abgrenzt, in dem es außer seinem Weibchen niemand anderen duldet, beansprucht das einzelne Nashorn kein Herrenrecht über ein bestimmtes Stück Land. Es lebt nach großzügigeren Regeln. Das weiße Nashorn lebt in kleinen Gruppen, während das schwarze gar keinen Herdeninstinkt zeigt. Außer in der Paarungszeit streift der Bulle allein umher. Das Zerstreuen der Losung soll also nicht das Territorium des einzelnen Tieres markieren. Etwas anderes ist der wahre Grund: Sämtliche Nashörner eines bestimmten großen Umkreises haben die Gewohnheit, zu einem gemeinsamen Losungsplatz zu gehen. Während sie sonst das Recht auf ein selbständiges, freies Leben beanspruchen, lassen sie sich doch dazu herab, an der gleichen Stelle ihre Losung abzusetzen. Dieser Brauch ist mit der Stärke eines Instinktes völlig traditionsgebunden beim schwarzen wie beim weißen Nashorn. Das Nashorn sucht also trotz seines isolierten Lebens doch einen gewissen Zusammenhalt, und der gemeinsame Losungsplatz ist der deutliche Ausdruck für dieses Bestreben. Wenn das einzelne Tier die Losung auseinandertritt und sich mit Hilfe des Windes ein unverkennbarer Geruch über das große gemeinsame Gebiet ausbreitet, tut es das, um die weit verstreuten Tiere für den Augenblick der Notdurft an dieses Gemeinsame zu erinnern — an jenen Platz, der die vielen Tiere verbindet, selbst wenn die einzelnen in großen Abständen umherstreifen. Lange ist das Nashorn als das gefährlichste Tier Afrikas gefürchtet worden. In wilder Raserei, so heißt es, stürze es wie eine Dampfwalze auf denjenigen zu, der sich erdreiste, in sein Gebiet einzudringen. Doch die Zoologen, die hinauszogen, nicht um es zu jagen, sondern um das Leben des Nashorns zu erforschen, haben ganz andere Erfahrungen gemacht . . . Das Nashorn, so behaupten sie, ist das friedlichste und ungefährlichste Tier Afrikas. Um ihre Auffassung, die mit der vieler Jäger im Widerstreit liegt, zu beweisen, haben sie viele Jahre hindurch das Gewehr zu Hause gelassen, wenn sie in die Gebiete des Nashorns vordrangen. Neben dem Elefanten ist das Nashorn das Tier, an das man am dichtesten herankommen kann, und das liegt an seinem schwach entwickelten Sehvermögen. Seine Augen sind unverhältnismäßig klein, und die Linsen sind nur halb so dick wie die des Menschen. Wer auf ein Nashorn gegen den Wind zugeht, kann sich ihm un19
Nur wenn sie nervös sind, werden Nashörner dem Menschen gefährlich gesehen bis auf einen Abstand von hundert bis fünfzig Metern nähern. Selbst bei einer Entfernung von etwa fünfundzwanzig Metern kann das Nashorn nur eine Bewegung unterscheiden. Steht man still, so bemerkt es einen nicht, wenn nicht der Wind es auf die Fährte bringt und die Vögel, die auf ihm schmarotzen, nicht aufschreien. Es ist oft gar nicht schwierig, bis auf zwanzig Meter heranzukommen. Entdeckt das Nashorn den sich nähernden Menschen und überrascht man den Dickhäuter, so wird er nervös. Ist der Überraschte ein schwarzes Nashorn, so kann es vorkommen, daß das Tier schrill pfeifend wie eine Lokomotive zum Angriff ansetzt. Springt man aber zur Seite, so läuft es weiter und kommt nicht auf den Gedanken, wieder umzukehren. Ein einziger, wenn auch sehr behender Sprung kann die Katastrophe abwehren. Das weiße Nashorn greift nur äußerst selten an. Am liebsten flüchtet es im Galopp und hält nicht an, bis es nicht mehrere Kilometer hinter sich gebracht hat. Das weiße Nashorn wird nur bösartig, wenn es sich um eine hoch20
tragende Kuh handelt oder um eine Kuh mit einem neugeborenen Kalb, oder einen Stier in der Paarungszeit, oder um ein verletztes Tier. Aber das weiße wie das schwarze Nashorn unterscheiden sich auch sonst in ihren Lebensgewohnheiten. Das weiße — es ist größer und kann bis zu eine Tonne mehr wiegen — ist ein Grasfresser und hat die dazu geeigneten breiten, ebenmaßigen Lippen, während das schwarze von Schößlingen und kleinen Zweigen lebt. Deshalb ist seine Oberlippe gleichsam mit einem Finger versehen, mit dem es pflücken kann. Die Entstehung der falschen Bezeichnungen „weiß" und „schwarz" zu erklären, ist jedoch schwierig. Das schwarze Nashorn wird vielleicht deshalb so genannt, weil es ein wenig dunkler ist als das weiße, das jedoch grau ist. Daß man es trotzdem weiß nennt, dafür gibt es zwei Deutungen: Als die Buren das Tier zum erstenmal erblickten, soll es sich gerade in einem Pfuhl mit hellfarbenem Schlamm gewälzt haben. Eine andere Deutung besagt, daß der Name von dem burischen Wort „weit" abgeleitet sei, das „groß" bedeutet, fälschlich aber mit „weiß" übersetzt wurde. Wir wollen das urtümliche Nashorn verlassen mit einem Erlebnis des russischen Zoologen Potocki, der in Somaliland zufällig die Geburt eines Nashorns beobachtete. In dem Augenblick, in dem das Junge zur Welt gekommen war, flüchtete die Mutter voller Schreck. Das Nashornbaby, das Potocki als erstes Lebewesen erblickte, stand auf und schloß sich ihm an. Zutraulich trottete es hinter ihm her und folgte ihm bis zum Lager. Das ist eines der wenigen Beispiele dafür, daß ein wildes Säugetierjunges sich instinktiv dem Wesen anschließt, das ihm zuerst in den Weg tritt. Im Dschungel Komodos Vertreter eines uralten Tiervolkes sind auch die Rieseneidechsen, die zu Beginn unseres Jahrhunderts auf Komodo, einer der kleinen Sundainseln, entdeckt wurden. Damals drangen Gerüchte nach Europa, daß Perlenfischer der Insel eine Echse von sieben Meter Länge geschossen hätten, die bis dahin nicht bekannt war. Aber erst, als eines Tages ein holländischer Beamter eine Haut dieser Echse nach Batavia sandte — sie stammte von einem Tier, das nur etwas über zwei Meter lang gewesen war —, begann sich die Wissenschaft zu rühren. 21
Bald kamen den Zoologen nicht nur Häute, sondern auch ein paar ganze Tiere unter die Hände. Nun konnten sie endlich feststellen, daß es sich nicht um einen völlig unbekannten Tiertyp handelte, sondern um eine bisher nie beschriebene Art der größten heute lebenden Kriechtiere, der Warane, die in den tropischen Gegenden der Alten Welt und in Australien weit verbreitet sind. War es auch kein ganz neues Tier und nicht ein direkter Nachkomme der Rieseneidechsen aus der Kreidezeit, sondern nur ein Trieb am Stammbaum der Kriechtiere, der die Eidechsen der Vorzeit überlebt hatte, so erwies sich die Rieseneidechse doch als ein Wesen, das viele Überraschungen brachte. Die erste wissenschaftliche Expedition, die sich von Amerika aus auf den Weg machte, die Riesenwarane auf Komodo aufzusuchen, kam nicht dazu, sich zu langweilen. In den Berichten, die man bis dahin gesammelt hatte, hieß es, daß die Echse imstande sei, ein Wildschwein zu zerreißen. Im dichten Dschungel, 700 Meter hoch in Komodos Bergen, stieß die Expedition auf zahlreiche Spuren von Waranen, und sie schlug in ihrem Revier das Lager auf. Ein Hirsch wurde als Köder ausgelegt, während die Forscher in Deckung gingen. Es dauerte nicht lange, bis mehrere junge Warane hervorkamen, aber schnell machten sie wieder kehrt und verschwanden in wilder Flucht, weil im gleichen Augenblick ein alter Waran sich näherte; sie haben entsetzliche Furcht vor den Alten. Schon kam der gewaltig große Kopf des Alt-Warans zum Vorschein. Unter den dicken, knochigen Augenbrauen spähten ein Paar wilde Raubvögelaugen hervor. Als das Tier die Umgebung abgesucht hatte, machte es ein paar Schritte vorwärts, aber nicht, wie man es von einem Kriechtier erwarten sollte, mit dem Bauch an der Erde, sondern mit erhobenem Körper auf vier klotzigen und zugleich merkwürdig langen Kriechtierbeinen. Eine lange, gelbe Zunge hing dem Waran aus dem Maul hervor, während er sich der ausgelegten Beute näherte. Den Forsehern wurde klar, daß ein Waran seine Beute in einer Weise zerreißt, wie man es bei anderen Kriechtieren unserer Zeit nicht kennt. Er zerfetzte das Fell mit seinen scharfen Krallen und schnitt mit häßlichem Beißen seiner gezackten, säbelförmigen und krummen Zähne große Stücke heraus, während er den Kopf vor und zurückbewegte und in jeden Rückwärtsruck sein ganzes Körpergewicht legte. Die Zähne sägten sich buchstäblich durch die Beute hindurch. Bei jedem Bissen, der in 22
den Schlund hinunterglitt, schleckte sich die Riesenechse mit der gelben Zunge ums Maul. Bald danach konnten die Expeditionsteilnehmer beobachten, wie ein hungriger Waran das ganze Hinterteil eines Hirsches verschluckte. Die Gerüchte, die den Waran als gefräßiges Raubtier bezeichneten, hatten nicht übertrieben. Wie aber helfen sich diese verfressenen, massigen Kriechtiere, wenn sie sich den Wanst vollgestopft haben und ein Feind sie überrumpelt? Auch mit einer solchen Situation werden sie fertig. Denn bei einer Überrumpelung wie bei der geringsten Störung erbrechen die Warane die eben eingenommene Mahlzeit und verschwinden im Dickicht mit einem Tempo, wie man es eben nur mit leerem Magen vorlegen kann. Die Expedition erhielt die Erlaubnis, fünfzehn Warane zu fangen oder zu erlegen Da aber mehr Tiere in die Fallen gerieten, benutzte man die Überzähligen zu einem Experiment. Man ließ sie am Strand der Insel los. Zwei der Freigelassenen liefen in den Dschungel zurück, drei rannten ins Wasser. Einer von ihnen schwamm mit erhobenem Kopf soweit in die Meeresbucht hinaus, daß man ihn aus den Augen verlor. Die beiden anderen tauchten zwei Minuten und erschienen in einiger Entfernung wieder an der Oberfläche. Als man sie mit Booten wieder einzufangen suchte, führten sie sich sehr sonderbar auf. Statt zu fliehen, steckten sie die Köpfe unter Wasser und legten die Vorderheine auf den Rücken. War das, was man hier sah, eine aus ferner Vorzeit überkommene Instinkthandlung? War es eine Erinnerung an die Zeit, da die Tiere viel öfter ins Meer gingen als heute und es für sie lebenswichtig war, sich totstellen zu können, wenn ein Entrinnen und eine Gegenwehr aussichtslos schien? Denn in dem feuchten Element konnten sie nicht mit voller Kraft zu offenem Kampf übergehen. Das merkwürdige Benehmen konnte bis heute noch nicht überzeugend erklärt werden. Als die Boote sich entfernten, wurden die Warane wieder munter, schwammen an Land und verschwanden im Dickicht. Das Experiment hatte jedenfalls bewiesen, daß der Riesenwaran sich auch im Meer behaupten kann. Vielleicht läßt sich dadurch die Frage beantworten, wie die Warane auf die entlegene Komodo-Insel gelangt sein konnten. Denn man nimmt allgemein an, daß diese Echsen ursprünglich in Australien heimisch gewesen sind. Hier leben noch ihre nächsten Verwandten, die kleineren Warane, hier hat man auch in einer späteren Erdschicht Skeletteile sehr ver23
Auch der Komodo-Waran stammt aus uraltem Tiergeschlecht wandter Arten gefunden Da es den Tieren möglich ist, Meeresstrecken zu überqueren, glaubt man, daß der Riesenwaran Komodos von Australien herübergekommen ist. Er konnte sich auf Komodo halten, weil er hier nicht auf die Konkurrenz höherstehender Raubtiere traf Räuberische Säugetiere gab es auf Komodo nicht. Die Riesenechsen konnten ungestört ihre Fähigkeiten zur Jagd auf große lebende Beute entwickeln, während sie auf dem australischen Festland ausgeschaltet wurden, als der wilde Hund, der Dingo, kam und sich als ein schnellerer und besserer Jäger erwies. Wie unbändig die Muskelkraft der Großechsen sein kann, erlebte die Expedition, als sie ein besonders großes Tier lebend in die Hände bekommen wollte. Aus Pfählen war eine starke Einfriedung geschaffen und darin ein Wildschwein als Köder ausgelegt worden. 24
Fünfzehn Kulis bogen einen dicken, aber federnden Baumstamm zur Erde nieder und verbanden ihn mit einer Tauschlinge, durch die der Waran hindurch mußte, wenn er an das Wildschwein herankommen wollte. Als der Waran aus dem Dickicht trat, zeigte sich erst, welch außergewöhnlich mächtiger und wilder Geselle er war. Der Körper war über und über mit Narben bedeckt, Zeugen der vielen Kämpfe, die er siegreich bestanden hatte. Bei einem der Kämpfe hatte er den halben Schwanz eingebüßt. Vorsichtig steckte er den Kopf in die Schlinge, dann folgte der Körper nach. In diesem Augenblick kappten die Fallensteller das Tau, der Baum federte zurück, der Waran schnellte hoch in die Luft. Doch mit seinem Gewicht von fast drei Zentnern beugte er den Baum wieder zur Erde, und wild und wütend riß er mit seinen Krallen tief die Erde auf. Einer der Großwildjäger warf das Lasso, die übrigen sprangen hinzu und fesselten das Opfer mit Tauen. So schaffte man den Gefangenen ins Lager und in den bereitstehenden, solide gezimmerten großen Käfig. Aber d'e Tierfänger hatten sich zu früh gefreut. Als man dem Gefangenen anderntags das Frühstück reichen wollte, mußte man feststellen, daß er das Weite gesucht hatte. Er hatte sich durch das Dach einen Ausweg gesucht und auch das gute Stahlnetz zerrissen, mit dem der Käfig zusätzlich gesichert worden war. Die Großwarane haben ein für Kriechtiere ungewöhnlich hoch entwickeltes Gehirn; Echsen, die man lebend in Aquarien brachte, zeigten sich sehr gelehrig. Man konnte sie dressieren, sie konnten Personen und Dinge wiedererkennen. Als im Frankfurter Aquarium ein Tier mehrere Male operiert werden mußte, wurde es bereits rasend, wenn es nur sah, daß man den Operationstisch an seinem Käfig vorübertrug. Aber so wild sie auch sind, so kann man sie doch zähmen. Bei einem Zusammentreffen der Zoologischen Gesellschaft in London spazierte ein ausgewachsener Waran frei auf dem langen Konferenztisch herum, während ein Zoologe eine Vorlesung über ihn und seinesgleichen hielt. Ein anderer merkwürdiger Zug soll noch erwähnt werden. Tierfänger und Eingeborene haben behauptet, der Waran könne nicht hören. Und tatsächlich, die Jäger konnten in ihrem Versteck laut sprechen, in Gelächte: ausbrechen, sie konnten ein Gewehr abschießen: Kein Lärm erschreckte die großen Eidechsen, die in unmittelbarer Nähe waren; sie flüchteten erst, wenn eine Bewegung die Expeditiousmitglieder verriet. Und doch war es möglich, die Warane in den Aquarien dazu zu bringen, daß sie herbeikamen, 25
wenn man sie rief. Der Gehörssinn mußte also vorhanden sein. Der Waran ist vielleicht ein Beispiel dafür, daß ein Tier bei seinem Leben in freier Natur nicht alle seine Fähigkeiten ausnutzt. Oder sollte der von Menschen ausgehende Lärm das einzige Geräusch sein, das keine Reflexe bei ihm auslöst? Das ist kaum vorstellbar. Das Leben des Riesenwarans ist bisher noch wenig erforscht worden. Vielleicht leben im Innern der Komodo-Inseln Exemplare, die noch größer als drei Meter sind, da die Perlenfischer weiterhin behaupteten, daß sich unter ihren ersten Fängen jenes Tier von sieben Meter Länge befunden habe. Jedenfalls bietet der Riesenwaran eine Vorstellung davon, wie längst ausgestorbene Formen einst gelebt und ausgesehen haben. Das Aussehen seiner Zähne hat große Ähnlichkeit mit den Zähnen der Raubeidechsen aus der Kreidezeit. Und wer einen Riesenwaran seine Beute zerfetzen sah, kann sich ein Bild davon machen, wie vor Millionen Jahren die fünf Meter hohe Riesenechse Tyrannosaurus sich ihr Mahl aus dem Fleisch eines anderen Sauriers bereitet hat.
Sieben Millionen Jahre alt Die Reihe der Uralten, die hier vorgestellt werden, kann nur unvollständig sein. Keineswegs aber soll der Elefant hier fehlen, obwohl er nur zu den Jüngeren unter den Senioren der Tierwelt zählt — ist er doch erst sieben Millionen Jahre alt. Wunderbare Berichte und Geschichten sind über ihn geschrieben worden. Legenden und Mythen entstanden, und immer war der Zusammenhalt der Elefantenherde und die hohe Intelligenz des einzelnen Tieres die Inspirationsquelle. Wer einmal eine Herde gesehen hat, die sich um ein getötetes Tier versammelt, vergißt den Augenblick nie wieder. Still stehen die Riesen, ehe sie ihren Marsch fortsetzen, bei dem Toten und berühren ihn wie liebkosend ganz leicht mit den ausgestreckten Rüsseln. Vermutlich ist es nur ein Zeichen dafür, daß die Tiere, bevor sie weiterziehen, sich mit Hilfe ihres außerordentlichen Geruchssinnes versichern wollen, daß ihr Kamerad auch wirklich tot ist. Das Erlebnis hinterließ einen Eindruck von Würde. Diesen Eindruck vermittelt auch der Anblick des Leitelefanten. Das ist der Bulle mit den prächtigsten Stoßzähnen. Er ist der Alleinherrscher über die Bewegungen von vielleicht hundert und 26
mehr Tieren. Er ist nicht etwa ein eigensinniger Despot, sondern steht in engem Kontakt mit einer alten Elefantenkuh, die wegen ihrer in einem langen Leben gesammelten Erfahrungen auserwählt ist, Wache zu halten und Warnungen zu geben. Die Elefanten haben ein hochentwickeltes Gesellschaftsleben. Doch die Erzählung von den Elefantenfriedhöfen tief im Dschungel, wohin sich die sterbenden Tiere zurückziehen, um auch im Tode unter Kameraden zu sein, ist dichterische Erfindung. Man hat noch niemals einen Platz voller Elefantenskelette oder mit Bergen von Stoßzähnen gefunden. Diese Legende ist auch unter den Eingeborenen Afrikas lebendig. Sie beruht auf der Tatsache, daß man kaum einmal auf ein Skelett oder einen Zahn von toten Elefanten trifft. Aber wie verschwindet das Skelett? Wie verschwinden die großen Stoßzähne aus hartem, widerstandsfähigem Elfenbein? Alle, die sich mit Elefanten beschäftigt haben, ob Großwildjäger oder Menschen, die die Tiere wissenschaftlich erforschten, haben sich diese Frage vorgelegt. Die Wissenschaft hat bisher keine Antwort gefunden. Sanderson, Indiens bester Elefantenkenner, schreibt in seinem Buch über das Leben unter den Tieren des Dschungels: „Der Umstand, daß man nie Überreste wilder, toter Elefanten findet, ist so auffällig, daß das Sholaga-Volk die Vorstellung hat, die Elefanten stürben überhaupt nicht. Das Kurraba-Volk wieder glaubt, es gebe einen den Menschen unbekannten Ort, den die Tiere aufsuchen, um zu sterben." Emerson Tennent, ein berühmter Ceylonkenner, erzählt, bei der Bevölkerung Zentral-Ceylons herrsche die allgemeine Überzeugung, die Elefanten zögen sich beim Nahen der Todesstunde in ein Tal im Saffragan, in den Bergen ösllich von Adams Pik, zurück. Der Weg führe durch einen engen Paß mit senkrechten Felswänden, und wenn die Tiere dort angelangt wären, wählten sie ihren letzten Ruheplatz am Strand eines klaren Sees. G. Casserly, der viele Jahre in den großen Elefantenwäldern am Fuße des Himalaya lebte, hat sich fortwährend mit diesem Problem beschäftigt. Doch obwohl er indische und europäische Ansiedler und Waldhüter ausfragte und auch die Familien, in denen sich die Arbeit des Elefantenfangens und -zähmens vom Vater auf den Sohn vererbt, konnte er die Lösung des Rätsels nicht finden. Wie aber verschwinden die toten Elefanten? Wieviel Zeit ist überhaupt nötig, bis ein anderes Tier in der Wildnis völlig verschwindet? Ceylons hervorragender Tierkenner John Still machte 27
einmal eine Probe. Er häutete einen großen Bären und ließ ihn für die Aasfresser liegen. Nach achtundzwanzig Tagen war der letzte Rest auch des Skeletts verschwunden. Gibt man einem großen Elefanten die doppelte Anzahl von Tagen und darüber hinaus eine geraume Zeit für die Stoßzähne, so ist es klar, daß irgendwo einmal während einer so langen Zeit ein wilder Elefant, der eines natürlichen Todes starb, früher oder später gefunden werden müßte. Wer also ist es, der Zähne und Skelette vorher verschwinden läßt? Der Jäger J. A. Hunter glaubt, eine Antwort auf diese oft gestellte Frage geben zu können. Er sah mit eigenen Augen, wie ein Höhlenstachelschwein einen Elefantenstoßzahn vollständig zernagte. Das Höhlenstachelschweinhat außergewöhnlich starke und scharfe Zähne. Es läuft durch die Nacht und raschelt warnend mit seinen Stacheln wie die Klapperschlange niit ihren Schwanzschuppen. Den Unerfahrenen überrascht es dadurch, daß es plötzlich rückwärts galoppiert und ihm die Stacheln ins Fleisch bohrt. Birgt dieses Tier des Rätsels Lösung? Hunter ist davon überzeugt, und seine Angaben sind interessant, da man seit seiner Beobachtung weiß, daß es ein Tier gibt, das imstande ist, einen Elefantenstoßzahn zu zerstören; und das Höhlenstachelschwein lebt überall dort, wo wilde Elefanten leben. Eine einzige Beobachtung kann natürlich nicht als schlüssiger Beweis gelten. Immerhin wurde eine Spur entdeckt. Während man sich bisher allein auf den Elefanten konzentrierte, wird man nun auch das Stachelschwein aufs Korn nehmen. Läßt das Höhlenstachelschwein die Zähne verschwinden, dann gehören jedenfalls mehrere dazu, um einem Rekordzahn zu Leibe zu gehen; es gibt Stoßzähne, länger als drei Meter und schwerer als 100 Kilogramm. Unter den merkwürdigen Dingen im Leben der Elefanten hat auch ihre Wedel-Gewohnheit einiges Kopfzerbrechen gemacht. Wenn eine Herde afrikanischer Elefanten unter der brennenden Sonne steht, wedeln alle erwachsenen Tiere mit ihren gewaltigen Ohren. Die Kälber der Herde aber wedeln nicht. Warum nicht? Die Alten wedeln, wie man weiß, um sich abzukühlen. Was ihnen das bedeutet, versteht man erst, wenn man sich klar macht, daß die wedelnden Ohren die Körperoberfläche des ganzen Tieres um ein Sechstel vergrößern. In den Ohren sind zahlreiche kleine Blutgefäße, die sich ausweiten und zusammenziehen können. Wenn das Blut durch die Gefäße strömt und auf einer so großen Fläche abgekühlt wird, ist das sehr wohltuend. Andererseits ist diese Vergrößerung 28
Die Elefanten haben ein hochentwickeltes Gesellschaftsleben
der Oberfläche auch notwendig; denn je größer ein Tier ist, desto kleiner ist im Verhältnis seine Oberfläche. Aus dem gleichen Grunde haben die jungen, kleineren Elefanten im Verhältnis zu ihrer Größe eine größere Oberfläche. Darum brauchen sie nicht zu wedeln, und darum tun sie es auch nicht. Es ist verblüffend, zu sehen, wie alle Tiere einer großen Herde in der gleichen Sekunde wie auf Verabredung zu wedeln beginnen. Dieser Reflex wird automatisch ausgelöst. An kalten Tagen kann man den Mechanismus in Funktion treten sehen, wenn warme Luftströme die Tiere streifen. Dasselbe tritt ein, wenn die Sonne herniederprallt. Außer durch höhere Temperatur wird das Wedeln auch durch den stärkeren Lichteinfall reguliert. Die Tiere brauchen sich nicht darum zu kümmern, es funktioniert alles von selbst. Daß die Elefanten sich auch abkühlen, wenn sie in Wasserlöchern baden, ist wieder eine andere Sache. Wenn sie weit von Wasserlöchern entfernt sind und die Ohren allein mit der Abkühlung nicht fertig werden, haben sie noch eine andere Kühlvorrichtung. Unten im Rachen haben sie einen Wasserbeutel, den sie mit dem Rüssel füllen, bevor sie die Wasserlöcher verlassen. Wenn die Tiere das Bedürfnis nach einer Dusche verspüren, pumpen sie mit dem Rüssel das Wasser wieder hoch und spritzen es über Kopf und Schultern. Außer der Pumpe, die zehn Liter Wasser auf einmal in die Mundhöhle gießen kann, ist der Rüssel gleichzeitig die Hand des Tieres und seine Trompete. Eine Tonfolge ganz verschiedener Laute verkündet die Gemütsverfassung des Elefanten. Es ist jedoch ein Mißverständnis, wenn vom Rüssel als Angriffs- und Verteidigungswaffe gesprochen wird. Dazu ist er nicht geeignet, er ist ein sehr empfindliches Organ. Das „weiß" der Elefant instinktiv. Niemals teilt er mit dem Rüssel harte Schläge aus, und er beschützt ihn auf der Jagd und im Kampf, indem er ihn zusammenrollt; das Ausstrecken des bisher eingerollten Rüssels ist deshalb ein deutliches Signal dafür, daß die Gefahr überstanden ist. Im allgemeinen ist det Elefant kein gefährliches Tier. Wie das Nashorn hat der Elefant schwache Augen. Er kann auf fünfzig Meter Abstand einen Menschen nicht von einem Baumstumpf unterscheiden. Dagegen kann er auf weite Entfernung riechen, aber er wird sich eher zurückziehen als angreifen, wenn er nicht sogar einfach stehen bleibt, ohne sich im mindesten um die Anwesenheit von Menschen zu kümmern. Nur in der Brunstzeit sind die Bullen gefährlich oder wenn sie zu Einzelgängern geworden sind. 30
Wird ein Elefant verfolgt und ist ersehreckt, so kann er eine Geschwindigkeit bis zu siebzig Kilometer in der Stunde erreichen, ohne zu traben oder zu galoppieren, denn niemals hebt er alle vier Beine gleichzeitig vom Boden. Verschwindet er im Wald, so kann er sich verblüffend lautlos zwischen den Bäumen vorwärts bewegen. Im ersten Schrecken stürzt eine Herde wilder Elefanten mit donnerndem Getöse durch den Wald. Aber bald dämpft sich der Lärm bis zur völligen Lautlosigkeit, so daß unerfahrene Jäger glauben können, die Tiere wären nur ein kurzes Stück gelaufen und stünden nun bewegungslos still. Die Elefanten sind auch vortreffliche und ausdauernde Schwimmer. Der Tierfänger Sanderson schickte einmal neunundsiebzig zahme Tiere von einem Landteil Indiens in einen anderen. Die grauen Riesen benutzten zum Teil den Wasserweg. Sie schwammen ohne Unterbrechung sechs Stunden durch den Ganges, und nach einer Ruhepause auf einer Sandbank schwammen sie weitere drei Stunden. In Afrika zeigen sie ihre Ausdauer auf tagelangen Märschen, die oft länger als hundert Kilometer sind. Für ihre Intelligenz gibt es viele verblüffende Beispiele aus den Zirkussen und Tiergärten. Aber auch in freier Natur beweisen sie, wie verständig sie sein können. Man beobachtete, daß ein Elefant Zweige von Bäumen brach und sie als Fliegenklatsche benutzte. Im Journal der „Natural History Society", Bombay, kann man folgendes lesen: Ein Elefant war von einem Tiger angegriffen worden. Der Tiger hatte ihm ein großes Stück Fleisch aus dem Bauch gerissen. Der Elefant ließ es nicht zu, daß man die Wunde behandelte. Er wedelte mit Zweigen, die er im Rüssel hielt, die Fliegen fort und badete die Wunde viele Male mit Schlamm aus bestimmten Schlammlöchern, die er selbst auswählte. Nach drei Monaten war die Wunde geschlossen. Man kann verstehen, daß der Elefant in der Götterlehre der alten Inder das Symbol höchsten Wissens war und daß der Schirmherr der Dichter und Gelehrten, der Gott Ganesha, einen Elefantenkopf trägt. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 2 9 0 (Naturkunde) H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vlerteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind In jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München
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