Über sieben Millionen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus 22 europäischen Staaten mussten während des Zweiten Weltkri...
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Über sieben Millionen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus 22 europäischen Staaten mussten während des Zweiten Weltkrieges in Deutschland arbeiten - Männer, Frauen und Kinder. Thomas Rother geht dem unermesslichen Leidensweg dieser Menschen nach, macht ihn am Schiksal Einzelner deutlich. Sein packender und erschütternder Reportageroman ist ein Plädoyer für Verantwortungsbereitschaft und Menschlichkeit.
Scanner und K-Leser - Keulebernd
Thomas Rother
Untermenschen Obermenschen Eine Reportage aus Deutschland
Pomp Verlag • Essen
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© 1994 Pomp Verlag, Essen Lektorat: Margarethe Lavier, Essen Lithografie: Repro-Gravur Wuchert GmbH, Bochum Druck: Peter Pomp GmbH, Essen Buchbinderei: Hunke & Schröder, Iserlohn Titelgestaltung unter Verwendung einer Fotografie von der Musterung sowjetischer Gefangener für den Ruhrbergbau 1942 in Sennelager Alle Rechte vorbehalten ISBN: 3-89355-085-2
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Dokumentation oder historischer Roman, als Zeithistoriker interessiert mich in erster Linie der verarbeitete Stoff und die Form, in der das geschieht. In seinem neuen Buch Untermenschen Obermenschen hat Thomas Rother die Mitte zwischen einer romanhaften Darstellung und einer quellennahen Dokumentation, die auch die Diktion der Epoche wiedergibt, vorzüglich getroffen. Der Autor kennt das Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenproblem in der nationalsozialistischen Zeit genau. Es gelingt ihm, die Einstellung beider Seiten, der Opfer und der Täter, plastisch zu rekonstruieren und zugleich die Dritten, die stillschweigend zu helfen versuchten, nicht zu übergehen. Dabei vermeidet er jede tendenziöse Tonart. Er konfrontiert den heutigen Leser mit der damaligen erschreckenden Wirklichkeit, die nicht direkt abgebildet, sondern in verdichteter und damit dichterischer Form dargestellt ist. In diesem Buch kommt insbesondere zum Ausdruck, nach welchen durchaus unterschiedlichen Kategorien Zwangsarbeiter in ihrer ausnahmslos beklagenswerten Situation eingeteilt wurden. Die Verhältnisse beim Zusammenbruch 1945, die Liquidation der letzten Stunde, die schwachen Versuche Einzelner, Menschenleben zu retten, schildert Thomas Rother eindringlich. Für die Mitlebenden ruft der Reportageroman bittere Erinnerungen zurück. Für diejenigen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufwuchsen, gibt er Einblick in eine fast unvorstellbare Wirklichkeit zynischer Menschenausbeutung, die nicht so sehr festgelegten Ideologien entsprang, als vielmehr ungestraft ausgelebten Vorurteilen und Ressentiments und den von der nationalsozialistischen Propaganda gestifteten Klischees des Untermenschen. Ich wünsche dem Buch eine weite Verbreitung, und ich hoffe sehr, dass es aufmerksame und verständige Leser findet. Prof. Dr. Hans Mommsen Ruhr-Universität Bochum
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Inhaltsverzeichnis I Hoffmann, der alte Nazi ............................................... 8 1 Kupfertreiben ............................................................. 9 2 Iwan, der Mäher ....................................................... 14 3 Georges Charlier und Edith Schmidt......................... 18 4 Die Kellerregistratur des Fritz Hoffmann.................. 26 5 Tochter Elisabeth, Schulmädchen ............................. 30 6 Ideologiefestigung .................................................... 35 7 Das rote Viertel ........................................................ 43 II Juri............................................................................. 49 8 Kino-Sequenzen ....................................................... 50 9 Ofenreiniger ............................................................. 64 III Gelage und Gequatsche ........................................... 71 10 Tanz der Obermenschen ......................................... 72 IV Wanja und Olga - Russenputzen............................. 84 11 Putzen .................................................................... 85 V In der Gruft ............................................................... 92 12 Der Tunnel ............................................................. 93 13 Die Flakstellung ................................................... 107 VI Im Sonderlager....................................................... 111 14 Taufe .................................................................... 112 15 Das fehlende Stück ............................................... 117 16 Alphonse Bertrand, der Belgier............................. 121 17 Wasser im Bunker ................................................ 126 18 Der Tod des Stepan Solowjew .............................. 134 19 Die Mäusemahlzeit ............................................... 136 20 Schlittentransporte................................................ 137 21 Arbeitsbummelei .................................................. 140 5
VII Hitlerjunge Seipel ................................................. 143 22 Auftritte................................................................ 144 23 Saure Nudeln ........................................................ 149 VIII 24 25 26
Valentin ............................................................... 152 Das Grab im Beton ............................................... 153 Hundefleisch ........................................................ 158 Das Ende .............................................................. 172
IX Der Angriff ............................................................. 176 27 Bombenkrieg im Lager ......................................... 177 X Erschießung und Ende ............................................ 183 28 Interviews............................................................. 184 29 Erschießung.......................................................... 190 XI Rettung und Tod .................................................... 197 30 Das Versteck ........................................................ 198 31 Aktion „unter Tage“ ............................................. 203 32 Auflösungen ......................................................... 220 33 Etappenschweine .................................................. 226 XII Müll ....................................................................... 234 34 Aufräumarbeiten................................................... 235 35 Ordnungsprinzipien .............................................. 243 Fotonachweis ............................................................. 249 Literatur in Auswahl................................................... 250
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„Das Ungeheuerliche, Unbewältigt könnte das Erbe von Generation zu Generation sein.“ Anita Eckstaedt
„Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“ Theodor W. Adorno
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I Hoffmann, der alte Nazi
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1 Kupfertreiben „Nein! Verdammt noch mal, nein!“ Fritz Hoffmann erschrak. Wie in einer Geste der Wiedergutmachung strich er mit der rechten Hand über die Zeitungsseite auf der Werkbank, auf die er voller Wut mit der Faust geschlagen hatte. Der ehemalige Lagerführer versuchte, die Zeitung zu glätten. Er hatte sagen wollen, dass es kein Russe und keine Russin waren, die als erste aus dem Spind gefallen sind. Er hatte es laut sagen wollen, dass es keiner aus dem Osten, kein Pole und auch kein Jude war, kein Rumäne und kein Tscheche. Doch statt eines Bekenntnisses wurden seine Gedanken zu einem Fluch. Erschrocken hatte da der alte Nationalsozialist den Mund geschlossen, als er sich zum erstenmal nach vielen Jahren davon hatte sprechen hören, wenn auch nur kurz, zu sich selbst und unten in der Kellerwerkstatt, in der er mit seinen Kupfertreibarbeiten und den Erinnerungen an den Strafspind allein war. Immer wieder strich der alte Mann über die Zeitung. Ein wenig wippte er dabei mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, als mache er eine Meditationsübung. Doch wurde er nicht ruhig und der Strafspind und Klein-Klein, der junge Franzose, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Seit einigen Jahren standen hin und wieder Berichte über den Strafspind in den Zeitungen. Dieses Zuchtmittel für Zwangsarbeiter und russische Kriegsgefangene war interessant geworden, doch nur Fritz Hoffmann wusste, dass der Strafspind des Lagers sein Strafspind gewesen ist. Heute hatte er es wieder gelesen: Es soll ein junger Russe gewesen sein, der als erster in den Spind gesperrt worden sei, weil er aus der Gemeinschaftsküche Brot entwendet habe. Ein Historiker habe dies herausgefunden, schrieb die Zeitung. 9
Es stimmte nicht. Da dachte Fritz Hoffmann „Merde!“ und schüttelte den Kopf. Doch er, der wusste, wie alles gewesen war, schwieg. Der alte Mann nahm die Kupfertreibarbeit wieder in die Hand. Entgegen seiner Gewohnheit hatte er sie hastig auf die Werkbank gelegt, um mit der Faust auf die Zeitung und auf das alte Holz zu schlagen. Es war kein Russe, dachte er störrisch, der nach der Schicht bewusstlos aus dem Spind kippte, als er, Lagerführer Hoffmann, die Spindtür öffnete. Es war ein junger Franzose. Ein lautloses Lächeln zuckte in Hoffmanns rechtem Mundwinkel wie bei einem, der darüber triumphiert, bei einer Missetat nicht aufgefallen zu sein und anderen ein Schnippchen geschlagen zu haben. Es war ein kleiner Franzose, „Klein-Klein“ von den Deutschen genannt. Die französischen Kriegsgefangenen sagten „Petit“ zu ihm. Er war nicht einmal einen Meter und fünfzig Zentimeter groß, ein richtiger Zwerg. Er hatte rote Haare und ein auffallend großes Gesicht, ein Kaspergesicht mit Sommersprossen. Ein schiefes Grinsen, ein Feixen hatte der, als lache er die Menschen aus. Selbst als Lagerführer Fritz Hoffmann den Gefangenen strafte, ihm sagte, dass erst nach zwölf Stunden, erst nach einer Schicht, der Spind wieder geöffnet werde und keine Minute vorher, auch da hatte der junge Franzose nur schief gegrinst, stur gelächelt. Verfehlungen, die ihm vorgehalten wurden, gab er nicht zu. Auch da lächelte er nur. Er tat so, als verstehe er kein Wort Deutsch. Klein-Klein, dachte der ehemalige Lagerführer Fritz Hoffmann in seiner Kellerwerkstatt, KleinKlein war der erste im Spind. Der erste war Georges Charlier, der junge Franzose. Fritz Hoffmann, der ehemalige SA-Mann und Lagerführer des Arbeitslagers im Martinwerk 7, der heutige pensionierte Oberbrandmeister der Berufsfeuerwehr, griff zur begonnenen Kupfertreibarbeit mit den Gedanken beim Spind. Er nahm sich vor, irgendwann diesen Spind zu begutachten, der im Museum 10
ausgestellt stand, von dem es hieß, es sei der Strafspind. Er wollte das Ding aus dem Lager noch einmal sehen, das nach seinen Angaben und Zeichnungen damals in der Lehrwerkstatt zusammengebaut worden war, als Prototyp aller Strafspinde, die in den Lagern zum Einsatz kamen. Zwei Kammern, links eine, rechts eine, eine Stahlplatte senkrecht in der Mitte, zwei Kammern für zwei Leute. Links ein Mensch, rechts ein Mensch. Links ein Kriegsgefangener, rechts ein Kriegsgefangener. Links ein Zwangsarbeiter, rechts ein Zwangsarbeiter. Links ein Ostarbeiter, rechts ein Ostarbeiter. Links ein Zivilarbeiter, rechts ein Zivilarbeiter. Fremdarbeiter links und rechts einer. Gegner, Feinde, Kriegsfeinde. Fritz Hoffmann, der ehemalige Angehörige des Ersatzheeres und Stabsunteroffizier, Stuffz. Hoffmann dachte seit Jahren darüber nach, wer die waren, die er damals in den Spind gesperrt hatte. Es war Krieg. Für ihn waren sie Angehörige von Feindstaaten: Russen, Polen, Tschechen, Jugoslawen, Franzosen, Holländer, Engländer, Belgier. Alle waren Feinde. Wer gegen die Lagerordnung verstoßen hatte, hatte bestraft werden müssen, rechtfertigte er sich. Das zu tun, dazu war er, Lagerführer Hoffmann, bestimmt worden. Er bestrafte durch Einsperren im Spind. Schlagen durfte er nicht. Das war nur der SS und der Gestapo vorbehalten gewesen. Da hatte er sich etwas anderes ausdenken müssen. Sein Spind, der hatte sich herumgesprochen. Fast fünfzig Jahre, nachdem der Strafspind nach seinen Angaben zusammengebaut worden war, wurde er Mittelpunkt einer Ausstellung über Zwangsarbeiter, Fremdarbeiter, Kriegsgefangene, Zivilarbeiter und Ostarbeiter, über all dieses Gesocks, dachte Fritz Hoffmann, über all die Gegner von einst. Die Leute rätselten, wer ihn wohl erbaut haben könnte, und wer ihn erfunden hatte, wozu er gedient hatte, was für Strafen es waren, was für Menschen es waren, die in dem Spind standen. Hocken konnte keiner darin. Er war so gebaut worden, dass 11
keiner zusammensacken konnte. Er war so eng, dass niemand in sich hineinfallen konnte, wenn kraftlos die Beine wegknickten, sondern dass er auch dann stehenblieb, wenn der Körper keinen Halt mehr gab und schlaff und bewegungslos im schmalen Schacht aus Eisenblech steckte. Hoffmann erinnerte sich, einmal hatte ein SS-Mann gesagt: „Hoffmann, da haste ja zwei Särge gebaut, zwei aufrechtstehende Särge. Aber nicht für zwei auferstehende Tote, für zwei aufrechtstehende Schweine, wa?“ Da hatte Hoffmann erwidert, es würden immer nur die bestraft, die was getan hätten. „Das wissen die alle, das wissen alle ganz genau!“ Klein-Klein, der kleine Franzose, Petit, der mit den roten Haaren, war der erste, der die Strafe des Spindes erfuhr. Er war aber auch einer der wenigen, die nicht gejammert hatten: „Hoffmann, lass mich frei!“ Geflucht, gefleht, gebettelt, gebetet, gewinselt und gejammert hatten sie fast alle. Der kleine Franzose hatte schief gegrinst, als Hoffmann die Tür zugemacht und den Riegel vorgeschoben hatte. Der hatte nicht von innen auf das Eisen geschlagen. Er hatte nicht versucht, von innen an den Schrank zu hämmern. Er hatte auch nicht gegen das Metall getreten, wie die anderen. Er war still. Doch auch er war bewusstlos nach zwölf Stunden aus dem schrankähnlichen Ding gekippt, als Fritz Hoffmann die Tür geöffnet hatte. Öffnete man die Spindtür, stürzte der Befreite entweder heraus und schlug auf den Boden oder sackte langsam an den Stahlwänden abwärts, um dann nach vorn zu kippen wie ein schlaff gefüllter Sandsack. Er, Fritz Hoffmann, hatte die Schlüsselgewalt, sperrte ein. Wie die anderen Gefangenen musste auch der Franzose in die Krankenbaracke geschleppt und auf die Pritsche gelegt werden. Einen Eimer Wasser ins Genick! Es dauerte lange, bis sie zu sich kamen. Die Franzosen waren gut dran, dachte Fritz Hoffmann. Die konnten manchmal auch alleine aus dem Lager heraus. Klein12
Klein wurde bei einem Freigang geschnappt, erinnerte er sich. Der Franzose hatte vom Kommandoführer frei bekommen, um Feuerholz zu sammeln. Er wurde ertappt, als er sich mit einer Deutschen traf, einer Politischen. Klein-Klein hatte er in den Spind gesperrt, weil der seiner Mutter etwas vom Russenlager geschrieben hatte. „Die Russen sind arme Teufel“, hatte in seinem Brief gestanden. „Die können keinen unbewachten Schritt tun. Sie werden schlimmer als Vieh behandelt. Sie sind am unglücklichsten dran. Immer werden sie geschlagen, auch wenn sie nichts getan haben. Die Deutschen geben ihnen oft nur Abfälle zu essen. Wenn ich es selbst nicht gesehen hätte, würde ich es nicht glauben: Sie essen sogar Gras und Baumrinde. Ein Bild des Jammers. Die Deutschen tun so, als wären die Russen keine Menschen. Manche von den Gefangenen sterben in ihren Baracken, weil sich keiner um sie kümmert. Die sind vergessen worden.“ Er habe Glück, dass er Franzose sei, hatte Fritz Hoffmann zu Klein-Klein gesagt, als er ihn einsperrte. Wenn er einer von diesen stinkigen Untermenschen wäre, käme er nicht in den Schrank. Ob er den Keller kenne, hatte Lagerführer Fritz Hoffmann den französischen Kriegsgefangenen Georges Charlier gefragt. „Non“, war seine Antwort, obwohl er wusste, dass in diesem Keller russische Kriegsgefangene totgeschlagen worden waren. „Jawoll heißt das, du Ratte“, schrie der Lagerführer den Franzosen an. Georges Charlier stand im Spind. Ohne Regung der Augenlider blickte er dem Lagerführer Fritz Hoffmann direkt in die Augen.
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2 Iwan, der Mäher Den Russen nannten sie Goliath. Er war ein Riese von einem Kerl. Er hatte ständig Hunger. Alle Russen hatten ständig Hunger, doch bei seiner Statur muss es besonders schlimm gewesen sein. Als er kam, war er stark wie ein Stier. Die deutschen Arbeiter und Wachmannschaften machten sich einen Spaß daraus, ihn schwere Roheisenteile heben zu lassen. Dafür bekam er eine Zigarette. Manchmal schlossen sie Wetten ab, ob er dies oder das schaffen könne hochzuheben. Diese Wetten waren verboten, aber sie wurden doch gemacht. Goliath bekam ein Stück Brot für seine Leistungen, manchmal etwas mehr. Für Brot machte Goliath alles. Wenn er nichts zu essen hatte, versuchte er, sich etwas zu besorgen. Auch die Drohung, in den Spind gesperrt zu werden, hielt ihn nicht davon ab. Die Wachmannschaften hatten ihm gesagt: „Goliath, nicht klauen! Nix zappzarapp!“ Sie sagten: „Klau nicht, Goliath!“ Doch der Hunger war so groß, dass Goliath Zugriff, wo er etwas zu fassen bekommen konnte: Eine Mohrrübe, eine Runkelrübe, eine Kartoffel, einen Apfel, ein Stück Brot, er aß alles. So hatte er sich auch in der Heimat Nahrung verschafft. Er kannte es nicht anders. Das war für ihn natürlich und selbstverständlich. Wieso ein Mensch dafür bestraft wurde, wenn er, weil er Hunger hatte, eine Rübe zog, verstand er nicht. Ihm, dem Mäher, war es an der Wolga erlaubt, Essen und Trinken auf diesem Weg zu beschaffen, es war für ihn wie Einatmen und Schlafen. Brot und Kwaß waren ihm stets von den Bauern gebracht worden, wenn er als Mäher unterwegs war. Er kam von weither an der Wolga, aus einem kleinen Dorf. Goliath zog, wenn das Gras zum Schneiden hoch genug stand, von Ort zu Ort und mähte. Er war ein Mäher, einer, der sich draußen am wohlsten fühlte. Und dieser Iwan hatte tatsächlich 14
den Vornamen Iwan. Iwan Goliath kam in der Stadt und mit der Fabrik nicht zurecht. Er war wortkarg und sagte nicht viel. Aber wenn er redete, soll er wunderschön erzählt haben. Selbst die Wachmannschaft hörte ihm zu, selbst wenn sie nichts als den einen und anderen Brocken Russisch verstand. Iwan erzählte von den Abenden an der Wolga. Die waren still und frisch manchmal, und manchmal heiß und stickig. Das bergige Ufer war in Nebel gehüllt, so erzählte der große Russe vom Wolgaufer. Die Nebel sollen lila gewesen sein, so sagte er, lila Nebel. Begeistert habe er davon berichtet, wie es war, wenn die Wiesen überschwemmt waren. Dann war die Wolga ein großer, großer See, das Ufer ganz weit weg und der Horizont fern. Manchmal nur ragte ein Baum oder ein Stückchen Wiese aus der großen Wasserfläche grün heraus. Wenn man den Fluss entlang geschaut hätte bis zum Horizont am Abend, dann hätte die untergehende Sonne ein Loch in den sich langsam dunkel färbenden Himmel gebrannt. Schön soll es gewesen sein an der Wolga in der Heimat von Iwan Goliath. Zum Schluss erzählte der große Mann von der Nachtigall, wie sie im Untergehen der Sonne die Luft mit Trillern und Bögen angefüllt habe. Manchmal soll er auch von Raddampfern der Wolga erzählt haben. Sie zogen an den Wiesen vorbei, auf denen er gemäht habe. Das Wasser habe aufgeregt geschäumt, als wolle es ihn mitnehmen. Dann habe er davon geträumt, auch einmal mit dem Raddampfer unterwegs sein zu können und weit weg zu kommen. Die Deutschen hatten Iwan Goliath gewarnt: Beim nächsten Mal gäbe es nicht nur Schläge, dann fiele die Strafe härter aus. Wenn er wieder stehlen würde oder sonst gegen die Lagerordnung verstieße, werde er sehen, was ihm blühe. Doch der Hunger hockte in den Augen des Mannes. Er saß auch irrlichternd in den Augen der anderen Russen. Doch bei dem Russen von der Wolga war er riesengroß. Der Mann mit der 15
Statur eines Preisboxers vergaß alles, vergaß jede Vorsicht, wenn er irgendetwas Eßbares sah. Nach der letzten Warnung war er beobachtet worden. Er hatte sich über Wochen von einem deutschen Schulkind beim morgendlichen Gang ins Martinwerk 7 heimlich Butterbrote zustecken lassen. Obwohl er nicht begriff, dass auf Brot sogar Tod stand, hatte der Instinkt ihn zu Vorsicht und zu Geschick geführt, die heimlich dargereichte bescheidene Speise schnell, von anderen nicht bemerkt, unter seiner Wattejacke verschwinden zu lassen. Tatsächlich waren das Zustecken, das Annehmen und das Verstecken zunächst nicht entdeckt worden. Doch als der große Mann, am Sklavenarbeitsplatz im Martinwerk 7 angekommen, die beiden Brote beim Durchschreiten eines dunklen Ganges zwischen zwei Werkshallen schnell und gierig verschlang, war sein Kauen und Hinunterschlucken einem anderen Kriegsgefangenen in der zweiten Halle, dem eigentlichen Arbeitsplatz, aufgefallen. Als der Bewachung des Sklaventrupps beim morgendlichen Gang zum Werk zwei zusätzliche Männer zugeteilt worden waren, die auf der Strecke zwischen Barackenlager und Martinwerk 7 nur darauf zu achten hatten, wo diesem Russen etwas zugesteckt werden konnte, und wer es war, der diese Feindbegünstigung wagte, wurde der Wechsel der beiden Butterbrote aus den Taschen des deutschen Schulmädchens in die Hand des russischen Riesen entdeckt. Die deutschen Überwacher hatten von Lagerführer Hoffmann die Anweisung bekommen, zunächst nicht einzugreifen. Dem Mädchen geschah nichts. In den nächsten Tagen sah sie den großen Mann nicht mehr in der Elendskolonne. Als die Mutter ihr erzählte, dass Deutsche, die den Russen halfen, verhaftet wurden, begann das Mädchen zu zittern. Die Mutter verließ den Raum, ging in den Garten und weinte. In der Nacht schlief das Mädchen nicht. Am nächsten Morgen wählte es einen anderen Weg zur Schule. Der Russe, den sie Iwan 16
Goliath nannten, musste sich in die Mitte des großen hölzernen Lagertores stellen. Von dort waren alle Baracken zu sehen. Aus allen Baracken war dieses Lagertor zu sehen. Der Mann wurde in die Mitte des hölzernen Tores gestellt. Neben ihn stellten andere Gefangene Bänke aus Holz. Auf diese Bänke mussten vier Gefangene eine Eisenplatte hieven. Dann stiegen die Gefangenen auf die Bänke. Sie hoben die Platte unter den antreibenden Befehlen der Deutschen hoch über den Kopf von Goliath. Sie wussten, wenn sie dies nicht täten, würden auch sie hart bestraft. Schläge mit Gewehrkolben und mit steifen Lederriemen waren im Lager an der Tagesordnung. Die Platte wurde auf Goliaths Kopf gelegt. Der spannte die Muskeln. Dann stiegen die vier anderen Gefangenen von den Bänken und mussten die Bänke wegtragen. Die Sonne stand tief, doch sie hatte noch Kraft. Es war Sommer und die Abende waren lang. Der Mann stand mit der schweren Eisenplatte auf dem Kopf bewegungslos. Er hatte die Augen geschlossen. Es war kaum zu sehen, dass er atmete. Anfangs hatten einige der deutschen Wachmannschaft ihn verhöhnt. Die Männer hatten ihm zugerufen, dies sei die größte Wette, die er zu bestehen habe. Zwei Stunden gäben sie ihm. Manche hatten auf drei Stunden gewettet. Nach viereinhalb Stunden brach der Mann zusammen. Die Eisenplatte lag flach, schmutzig, dunkelbraun, über dem Mann. Sie reichte von der Hälfte des Rückens bis weit über den Kopf hinaus.
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3 Georges Charlier und Edith Schmidt Der ständige Hunger traf Georges Charlier, den die Deutschen Klein-Klein und die Franzosen Petit nannten, nicht so arg wie seine Kameraden. Auch er, dem die gleichen knappen, unzureichenden Rationen zugeteilt wurden, litt Hunger, doch für ihn, den Kleinwüchsigen, war der Mangel an Eßbarem eher zu ertragen. Die größeren Schmerzen der Gefangenschaft empfand er nicht bei den Schlägen. Er hätte einen schönen großen Kopf, sagte einer der Vorarbeiter oft, der sei gut für Kopfnüsse, außerdem sei er, Klein-Klein, so klein, dass er, der Vorarbeiter, gleich hinlangen könne: „Wie bei einem Kind.“ Und er ratschte mit den Knöchelkuppen der rechten Hand mit Gewalt über den Hinterkopf des Franzosen. „Eine Kopfnuss für Klein-Klein“, lachte er dabei. Immer wenn er an ihm vorbeiging, malträtierte der Mann so den Kopf des Franzosen. Die größten Schmerzen bereiteten Georges Charlier die unzähligen Versuche, die Persönlichkeit des Gefangenen aufzulösen, dass er eines Tages sich nicht mehr als ähnlich erkannte. Ein Werkmeister besonders, zwei Vorarbeiter, wenige Arbeiter, denen er, der Feind, Kollege war, plapperten immer das gleiche, schnauzten jeden Gefangenen und Fremdarbeiter an. Auch den kleinen Franzosen behandelten sie so mit ihren selbstsicheren Belehrungen. „Das musst du verstehen, Klein-Klein, wenn das in deinen komischen Schädel reingeht“, sagten sie. „Es ist völlig klar, dass ihr den Krieg verliert. Ihr müsst den Krieg verlieren. Sag warum!“ Klein-Klein sagte nicht, warum der Deutsche meinte, dass sie, die Franzosen und die anderen Völker, den Krieg verlieren müssten gegen die Deutschen. „Ach, du weißt es nicht, warum ihr den Krieg verlieren 18
müsst, du weißt auch nicht, warum wir den Krieg gewinnen müssen. Wir sind ein Herrenvolk. Weißt du das immer noch nicht? Und ihr, ihr seid eine verkommene, degenerierte Rasse in einem verlorenen Land.“ Klein-Klein war Schlachter, Fleischer, einer von den Gesellen eines Familienbetriebes. Er las Gedichte, auch deutsche. Er sprach deutsch, tat jedoch in der Gefangenschaft so, als verstehe er es nicht. Immer wenn sie sagten, sie seien eine Herrenrasse, und sie, die Franzosen, seien eine degenerierte Rasse, dachte er an Heine, euer Heinrich Heine, denk ich an Deutschland in der Nacht. Er war sich sicher, dass vielleicht der Werkmeister den Namen Heine einmal gehört hatte, doch wohl keiner seiner Wächter wusste, wer Heinrich Heine war. Wenn sie es wussten, dann war er nur ein in Paris gestorbener Jude, dessen Werk sie 1933 verbrannt hatten. Es brannte wie Feuer und dröhnte im Kopf, wenn der Vorarbeiter mit den Knöcheln einer Hand grob über den Hinterkopf des kleinen französischen Kriegsgefangenen ratschte. Georges Charlier, der Metzgergeselle aus Südfrankreich, in den ersten Tagen des Frankreichfeldzuges der Deutschen gefangengenommen, hätte zwar weinen mögen ob dieses körperlichen Schmerzes, doch der Verlust jeder Menschlichkeit war es, der ihn tiefer traf, die Aushöhlung aller moralischen Normen, der Zerfall der Kriterien des Anstandes, die Erschütterung, am Ende die Auflösung von Werten wie Wahrheit, Standhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Uneigennützigkeit, Würde und Ehre. Es verunstaltete die Seele. Georges Charlier lächelte. Seine Peiniger sahen darin ungebrochenen Hochmut. Einer zischte ihm zu: „Du kleiner französischer Schweinehund wirst dich zu Tode lächeln!“ Charliers Lächeln entstand aus einer hilflosen Schwermut, aus der der Gefangene noch nicht einmal kurzzeitige Befreiung wie durch Weinen hätte erfahren können. Mit jedem weiteren Tag der Erniedrigung wurde sein Glaube an Gerechtigkeit dünner, 19
die Hoffnung darauf schmolz zu einem winzigen Rest wie der Wachsstummel einer herunterbrennenden Kerze. Im Januar 1942 bot der Kriegsgefangene Georges Charlier, über den sich die Deutschen als einen Klein-Klein lustig machten, den die anderen französischen Kriegsgefangenen zärtlich ihren Petit nannten, ein Bild des Jammers. Der Winter 1942 war kalt. Es ging ein eisiger Wind. Für einen Kriegsgefangenen, für einen Prisonnier, gab es keinen Pullover, auch keine Jacke. Georges Charlier trug ein dünnes Hemd, das Löcher hatte. Er trug eine dünne Hose, die Löcher hatte. Er trug Schuhe mit Löchern. Die Schuhe waren abgewetzt, hinten abgetreten, nicht nur die Hacken, das Leder war auseinandergebrochen. Er schlurfte in seinen Schuhen. Da er keine Schuhriemen besaß, hatte er Drähte durch die Ösen geschlungen. Mit Draht wurden die Schuhe an seinen Füßen festgehalten. Er trug zwei unterschiedliche Socken, kaputt, zerfetzt. Der rostige Draht hatte den Spann des rechten Fußes wund gescheuert. Georges Charlier hatte an einem Sonntag im Januar 1942 vom Kommandoführer des Lagers an der Hafenstraße Ausgang bekommen. Ihm war erlaubt worden, Feuerholz auf den nahen Zechenhalden und Trümmergrundstücken zu sammeln: Akazienäste, heruntergebrochene Birken, Zweige von schütterem Buschwerk, zersplitterte Tür- und Fensterrahmen, Reste von Holzfußböden. Georges Charlier hatte schon dreimal an diesem Tag Holz durch das Lagertor getragen. Er brachte das Holz in die Baracke zu seinen Kameraden. In der Baracke stand ein Kanonenofen. Georges Charlier ging zum vierten Mal hinaus, um Feuerholz zu sammeln. Es war nachmittags und es war diesig. Als er gerade die Straße verlassen wollte, stieg aus dem Bus eine großgewachsene Frau. Er blieb stehen, da er sie erkannt hatte. Edith Schmidt, eine Kranführerin im Martinwerk 7, war ausgestiegen. 20
Edith Schmidt arbeitete in der Gondel des Laufkrans, der unter dem Dach der Fabrikhalle mit einer Spannweite von zwanzig Metern über ihm schwebte. Mit dieser Laufkatze wurden die großen Panzerplatten angehoben, zum Ende der Halle gefahren, wo sie ein anderer Kran übernahm zum Weitertransport in die „Fertigung“. Es war eine langsame Stafette von schnarrenden und klirrenden Rädern und Ketten, durchsetzt von den zischenden Lauten der anspringenden Elektromotoren, manchmal untermalt vom tiefen nachschwingenden Ton der tonnenschweren Eisenplatten, wenn sie beim Anheben noch einmal an ihren Halteketten wippten und kurz den Boden berührten, der sie leicht anschlug wie eine Glocke. Georges Charlier war einer der Arbeiter, die in der Landschaft aus Qualm und Ruß, Stahl und Schmutz, Gestänge und Geschiebe wie Wichtelmänner unter der Laufkatze Panzerplatten richten mussten, mit Stangen, mit Keilen, Hölzern und Rollen Vorbereitungen für den weiteren Transport trafen. Er hatte Edith Schmidt oft über sich gesehen. Ihre Arbeit war schwer, verlangte Konzentration; das wussten die grauen Arbeitssklaven unter ihr. Manchmal lächelte die Frau in der Gondel; Georges Charlier nahm an, das Lächeln gelte ihnen. Der Mann hatte sie auch durch das Fenster der Gemeinschaftsküche gesehen. Die Frau war für die Zuteilung des Essens der Gefangenen abgestellt worden. Einige erzählten heimlich, sie fülle vor allem den am meisten drangsalierten russischen Gefangenen Essensreste ins Kochgeschirr, die, gemäß Vorschrift, in den Abfall gehörten. Aber Edith Schmidt, so wurde erzählt, habe die Reste aus den Kochgeschirren der Deutschen in ein anderes Essgeschirr gekippt. Wenn dieses voll war, füllte sie ein zweites. Beide stellte sie auf die Fensterbank neben das zu spülende Essgeschirr. Sie tat so, als bemerke sie nicht, dass die gefüllten Geschirre mit den Essensresten der Deutschen von einem Russen durchs Fenster 21
gegriffen wurden; der teilte sich die Reste hinter einer Baracke mit Kameraden. Die leeren Essgeschirre standen am Ende wieder dort, wo sie von der Frau hingestellt worden waren. Der kleine Georges Charlier blieb stehen, er hatte gerade auf die Halde steigen wollen, als er Edith Schmidt sah. Sie kam zu ihm. Sie sagte, er sei viel zu dünn angezogen. Das mit dem Draht an den Schuhen, sagte sie, „Georges, das geht so nicht. Das wird eine böse Wunde werden. Sie müssen Schuhriemen haben. Ich besorge Ihnen welche. Heute nachmittag komme ich vorbei. In zwei Stunden vielleicht.“ Georges ging zum vierten Mal, auf beiden Armen Feuerholz geladen, durch das Lagertor. Als er annahm, die zwei Stunden seien vergangen, ging er wieder zur Halde. Edith Schmidt kam zu Fuß. Der Bus fuhr aus irgendeinem Grund nicht. Der Wind war stärker als vor zwei Stunden. Es war kälter geworden. Georges Charlier bat Edith Schmidt, da sie sich weiter mit ihm unterhalten wollte, in einen windgeschützten Neubau; er fror. Als sie sich gerade in den Eingang des Rohbaus stellten und sie fragte: „Georges, bekommen Sie genug zu essen?“ traten zwei deutsche Soldaten vor sie. „Was machen Sie hier?“ sagte einer von beiden grob. Edith Schmidt antwortete ruhig: „Das sehen Sie doch! Ich spreche mit einem Menschen, mit einem Arbeitskollegen.“ „Was sagen Sie da?“, sagte der deutsche Soldat. „Arbeitskollege nennen Sie das? Das ist ein Kriegsgefangener. Was Sie hier mit dem machen, ist strafbar, das wissen Sie doch.“ Der Soldat forderte beide auf, ihm zu folgen. Edith Schmidt, die einunddreißigjährige Kranführerin aus dem Martinwerk 7, und Georges Charlier, der fünfundzwanzigjährige französische Kriegsgefangene Nr. 172 A, wurden in einen kleinen Raum geführt. Dort mussten sie warten. Nach fünfzehn Minuten wurde die Tür geöffnet. 22
„Mitkommen!“ Sie wurden in den Raum des wachhabenden Polizeioffiziers gebracht. Als die großgewachsene Edith Schmidt und der kleinwüchsige Georges Charlier nebeneinander im Wachraum standen, begann der Polizeioffizier zu lachen; alle anderen Polizeibeamten fielen in sein Lachen ein. „Das kann mir doch keiner weismachen, dass die beiden was miteinander haben“, sagte der Polizeioffizier immer noch lachend. „Das ist doch nicht möglich. Hol mal einer ‘ne Rutsche, damit wir sehen, ob er rankommt.“ Georges Charlier und Edith Schmidt wurden rot. „Der Kleene“, sagte der Polizeioffizier kichernd, „der Kleene“. Ein Polizist stand eilfertig mit einer kleinen Fußbank in den Händen neben dem Polizeioffizier. „Ach lassen Sie das! Stellen Sie das hin, albern, glaubt ja doch keiner.“ Edith Schmidt war empört. „Ich habe nichts weiter getan, als mit dem Kriegsgefangenen zu sprechen.“ „Schon gut, wir glauben, dass Sie mit ihm gesprochen haben. Aber gerade das ist ja Ihr Vergehen“, sagte schneidend der Polizeioffizier. „Genau das ist es! Sie können gehen!“ Edith Schmidt war entlassen. Ihre Personalien waren aktenkundig. Drei Tage danach musste sie zur Geheimen Staatspolizei in der Kortumstraße. „Was hat er von dir gewollt?“ fragte der Gestapo-Beamte. „Was er von dir gewollt hat? Sag es! Wenn du heute nicht die Wahrheit sagst, dann passiert etwas, das sag ich dir.“ Edith Schmidt war nahezu ohnmächtig vor Wut: „Was soll ich denn sagen!“ Sie schrie. „Ich habe doch die Wahrheit gesagt. Ich hab mit dem Mann gesprochen. Mehr nicht!“ „Das kannst du jedem erzählen“, herrschte sie der Gestapomann an. „Soll ich etwa lügen? Ich habe nur mit ihm gesprochen, mehr nicht. Was wollen Sie denn? Der Kriegsgefangene ist ein Kollege vom Martinwerk 7. Ich fahre oben die Laufkatze. Ich 23
hebe die Panzerplatten an und fahre sie zur Fertigung. Er steht mit den Arbeitern unten. Sie sorgen dafür, dass die Platten richtig in die Lagerung kommen. Das ist alles. Was wollen Sie denn? Ich wollte ihm helfen, ich wollte ihm Schuhriemen bringen, weil er sich die Schuhe mit Draht zugemacht hat. Mehr kann ich doch nicht sagen. Ich hatte nichts mit ihm.“ „Ach, darum geht es doch gar nicht, ob du was mit ihm hattest“, sagte der Gestapo-Beamte. „Das ist ja unwichtig zur Zeit. Ihr habt konspiriert, euch abgesprochen, etwas ausgeheckt, das ist es. Dass du eine bist, die sich mit Gefangenen einlässt, ist schlimm genug. Du hattest etwas anderes mit ihm vor, etwas Politisches! Du hast mit einem Feind konspiriert!“ Der Gestapo-Mann war immer lauter geworden. Im Protokoll stand später, die Schmidt habe einen sehr ungünstigen Eindruck gemacht. Sie habe keine einwandfreie und glaubwürdige Erklärung abgegeben für ihre verwerfliche Handlungsweise. „Sie wusste ganz genau, dass es verboten ist, mit Kriegsgefangenen umzugehen und dass dieser Umgang unter Strafe steht und dennoch hat sie es getan. Ihr Verhalten ist ein Benehmen, das in der Tat geeignet ist, das gesunde deutsche Volksempfinden gröblich zu verletzen.“ Edith Schmidt wusste, dass es schlimm für sie enden konnte. Ihre Arbeitsstelle im Martinwerk 7 wurde eine Woche nach der Vernehmung bei der Gestapo von jetzt auf gleich gekündigt. Zwei Monate später, nachdem sie dem französischen Kriegsgefangenen Georges Charlier hatte Schnürsenkel bringen wollen, damit der Draht ihm die Füße nicht noch mehr verletzte, stand sie im Gerichtssaal. Wegen verbotswidrigen Umgangs mit Kriegsgefangenen und Feindbegünstigung, da sie einem von ihnen hatte helfen wollen, wurde sie mit zwei Monaten Gefängnis bestraft. Sie verließ den Gerichtssaal mit einem „Guten Tag!“ 24
Der Richter rief sie zurück: „Drehen Sie sich gefälligst um!“ sagte er laut, „und sehen Sie an die Wand. Was sehen Sie da?“ Edith Schmidt sah das große Bild von Adolf Hitler. „Und jetzt grüßen Sie, wie es sich gehört!“ Das „Heil Hitler“ der Edith Schmidt fiel dünn aus. Da sie von nun an als nicht politisch einwandfrei galt, bekam sie nicht die Stelle bei der Post, bei der sie sich nach Verbüßung der Haftstrafe beworben hatte. Georges Charlier verschwand. Er war zu zwei Jahren Strafkompanie verurteilt worden.
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4 Die Kellerregistratur des Fritz Hoffmann Fritz Hoffmann saß in seiner Kellerwerkstatt und sah auf die Wandschränke. Dort waren die Ordner aufgereiht, die Ordner seiner Erinnerung. Dort sei seine Erinnerung ordentlich abgeheftet, registriert, dachte der alte Mann. Zwangsarbeiter, Zivilarbeiter, Fremdarbeiter, Ostarbeiter, Arbeiter mit dem Zeichen „P“ für Polen, Arbeiter mit dem Zeichen „O“ für Ost, Kriegsgefangene, Häftlinge, Arbeitslager, Straflager, Arbeitserziehungslager, Strafkompanie, Konzentrationslager Fritz Hoffmann hatte alles abgeheftet und katalogisiert. Seine Kellerwerkstatt war seine Erinnerungswerkstatt. Dort unten bewahrte er, was „die da draußen“, wie er manchmal dachte, oft auch, „die da oben“, nicht wussten. Ordner Nummer 1 war von Fritz Hoffmann mit einem kleinen roten „p“ versehen worden, kleines „p“ stand für „persönliche Notizen“. Fritz Hoffmann saß still auf seinem Arbeitsstuhl und sah auf den Ordner Nummer 1. Er brauchte nicht hineinzusehen, er wusste, was er notiert hatte. „Die nicht an der Front gewesen waren, die in der Heimat gewesen waren, haben sie gekannt. Sie haben sie gesehen.“ Über diese Eintragung kam der alte Mann seit Tagen nicht hinweg. Immer wenn er an einer Kupfertreibarbeit saß, sah er, obwohl er sich zwang, nicht danach zu sehen, auf den Ordner mit dem kleinen „p“. In den Zeitungen wurden Fragen an Fragen gereiht, suchten Reporter nach Antworten, ohne sie zu finden, „...haben sie gekannt“, dachte Hoffmann wieder. Auch die Gedanken an Statistiken und Berichte, die in diesem Ordner mit der Zahl eins von ihm abgeheftet worden waren, brachten ihn davon nicht ab. Wenn sie nicht mit ihnen zusammengearbeitet hatten, hätten sie die sehen müssen, abends und morgens, sehen können, schränkte der alte Mann in 26
Gedanken ein. Trupps mit Lastwagen waren unterwegs. Sie waren in Kolonnen durch die Straßen zur Arbeit geführt worden. Straßenbahnen fuhren mit ihnen quer durch die Stadt. Fritz Hoffmann schüttelte den Kopf. Hunderte waren es in seiner Stadt, die wie er, Fremde bewacht hatten. Die meisten sind jetzt alt, viele sind gestorben, jetzt sterben die letzten weg. Fritz Hoffmann zuckte die Achseln. Der alte Mann stand auf und griff einen Ordner. Er setzte sich, schlug den Ordner auf und blätterte. Er las seine Eintragung: „Vor fünfzig Jahren kamen die ersten Polen und Russen. Sie kamen in Viehwaggons am Bahnhof Rotes Viertel an. Die Ankunft der ersten Russenarbeiter war Stadtgespräch. Fünfzig Jahre ist darüber nicht gesprochen worden. Über Juden haben sie immer gesprochen. Über Russen und die anderen nicht. Jetzt fangen die Zeitungen an, darüber zu schreiben. Junge Doktoren halten darüber Vorträge. In den Zeitungen sind auch Fotos abgebildet.“ Hoffmann blätterte einige Seiten weiter. Das Bild eines jungen Mädchens mit Kopftuch war einem Zeitungsbericht zugeordnet: „Wer kennt Olga?“ stand über dem Bericht. Eine Leserin hatte sich an die Zeitung gewandt: „Olga war ein guter Mensch. Sie weinte und wir weinten, als wir uns im September 1945 verabschiedeten. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört. Vielleicht weiß jemand, wie ihr Leben weiterging.“ Hoffmann hätte viele Geschichten erzählen können, die keiner kannte, ihn fragte niemand. Keiner wusste etwas vom Lagerführer Fritz Hoffmann. Die, die ihn kannten, kannten ihn als den pensionierten Oberbrandmeister Fritz Hoffmann, der in seiner Kellerwerkstatt Kupfertreibarbeiten für ehemalige Feuerwehrkollegen und für die Verwandtschaft anfertigte: „Trautes Heim, Glück allein“. Ein richtiger Künstler, sagten die Leute. Fritz Hoffmann treibt in Kupfer, was gewünscht wird: „Da hilft kein Beten und kein Hoffen, am Abend biste 27
doch besoffen!“ Sie mussten in jeder deutschen Stadt die Arbeit tun, die im Frieden von deutschen Männern getan wurde, die damals in allen vier Himmelsrichtungen Krieg gegen Frauen und Kinder und Männer führten, mit denen diese zerlumpten Arbeitssklaven verwandt, befreundet, bekannt waren. Durch Granaten, die Russen und Franzosen in Deutschland bauten, starben in deren Heimat Vater, Mutter, Schwester, Bruder, Großvater, Großmutter, Onkel, Tante, Nichte, Kusine, der Pope. Siebenkommaachtmillionen, aus ganz Europa im Reich. Auf drei deutsche Arbeiter kam ein ausländischer Kriegsgefangener oder ein Zivilarbeiter. Sie waren in jedem deutschen Dorf. Auf jeden deutschen Landarbeiter kam ein ausländischer Kriegsgefangener oder Zivilarbeiter. Siebenkommaachtmillionen. SA-Mann Fritz Hoffmann, Lagerführer Martinwerk 7, Erfinder des Strafspindes, pensionierter Feuerwehrmann, stellte den Ordner in den Wandschrank und nahm einen anderen Ordner in die Hand. Das Geräusch der Arbeitskommandos war weit zu hören, wenn sie durch die Straßen schlurften. Die Arbeitskommandos waren zu riechen. „Sie rochen zehn Meilen gegen den Wind“, hatte Hoffmann im Ordner „Sanitäre Angelegenheit“ vermerkt. „Das Lager Humboldtstraße war mit 350 Mann belegt. Zwei Donnerbalken, ein Wasserhahn an der Krankenbaracke.“ Die Gefangenen nannten den Wasserhahn ihre eiserne Brust. „Die Bande stank.“ „Feindbegünstigungen“ hatte Fritz Hoffmann auf ein anderes Aktenstück mit blauer Tinte geschrieben. „Heute melden sich Leute, die wie Helden dastehen wollen. Sie haben einem Russen eine Kartoffel gegeben, einem ukrainischen Dienstmädchen eine Bluse geschenkt, hinter Aschentonnen Butterbrote versteckt.“ Hoffmann schob seine Vermerke zur Seite: „Alles 28
Quatsch!“ sagte er laut. Der alte Mann glaubte nicht den Berichten „winziger Menschlichkeit“, wie ein Reporter geschrieben hatte, auch nicht den „wenigen und schwachen Lichtern in der Finsternis“. Der alte Mann lehnte sich zurück. Wie in den vergangenen Tagen hielt er erneut das Blatt mit den Fragen eines Zeitungskommentars in der linken Hand: „Wo sind die, die geschlagen haben? Wo sind die, die Russen verraten haben, die dann in den Strafspind gesperrt wurden? Wo sind die, die einen Belgier denunziert haben, weil er ein russisches Mädchen geliebt hatte?“ Liebe war verboten. Alles war verboten. Die Lagerordnung bestand nur aus Verboten. Erlaubt war: Arbeiten, Arbeiten! Arbeiten bis zum Umfallen! Arbeiten bis zum Tode! Sie sollten sich totarbeiten! „Wo sind die, die mitgemacht haben beim Antreiben, beim Auspeitschen, beim Prügeln, beim Quälen, beim Einsperren, beim Totschlagen, beim Erschießen, beim Erhängen, beim Ersticken, beim Ersäufen, beim Erwürgen, beim Lebendigbegraben? Wo sind die Menschenräuber aus der Ukraine? Wo sind die Vergewaltiger von überall?“ Fritz Hoffmann starrte auf die Fragen, die er inzwischen auswendig kannte: „Wer hat sich den Strafspind ausgedacht? Wo ist dieser Mensch?“ Fritz Hoffmann las nicht mehr weiter. Immer wenn er diese Fragen anstarrte, las er nur bis zu dieser Stelle. Er heftete das Blatt wieder ab. Dann griff er zur angefangenen Kupfertreibarbeit. Als er das Metall über die Werkbank zog, schepperte es. Wenn die Sklaventrupps durch die Straßen getrieben wurden, rasselte es kläglich. Das drang durch geschlossene Fenster und klirrte wie ein austrudelnder Wecker an Betten.
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5 Tochter Elisabeth, Schulmädchen Elisabeth hörte sie kommen. Sie stand neben dem Busch an der Trendlers Gasse, dort, wo sie in die Brückstraße einmündete. Der Schulweg führte durch die Trendlers Gasse. Von der anderen Seite kam der Sklaventrupp. Seit einem halben Jahr sah sie sie jeden Morgen. Sie wurden zu Fuß zur Arbeit geführt. Vorher waren sie auf Lastkraftwagen zum Panzerwerk gefahren worden. Jetzt waren die meisten Lastkraftwagen an der Front. Lastkraftwagen in der Heimat gab es kaum noch. Straßenbahnen fuhren nicht mehr. Elisabeth hatte beide Hände in die Taschen ihrer Jacke gesteckt. Dort hielt sie die Tüten fest. Als sich das seltsame Geräusch verstärkte, wusste sie, dass die Kolonne in die Trendlers Gasse eingebogen war. Es war ein Schlurfen und Pochen, als würden Holzstücke über das Katzenkopfpflaster geschleift, schlügen polternd auf die Steine. Es war ein dumpfes und monotones Trommeln. Darüber lag klagend ein Klirren und Scheppern. Ihre Mutter hatte es einmal „das Karfreitagsrasseln“ genannt. Jetzt trat Elisabeth aus dem Busch heraus und ging auf der linken Seite in die Trendlers Gasse hinein. Sie sah den Wachsoldaten, der als erster ging und den Trupp anführte. Die Gasse war eng. Elisabeth ging noch einige Schritte, so dass sie eine Hauswand im Rücken hatte. Um jedoch in einen Hauseingang zu gelangen, hätte sie wieder zurückgehen müssen. Sie machte es immer so. Sie presste sich an die Wand, um den Zug vorbei zu lassen. Um den Hals der meisten Gefangenen war eine Kordel geschlungen. Daran hing eine Blechdose oder ein Napf. In den Blechgefäßen tanzten die Löffel. 30
Der Russe, mit dem sie ihr unabgesprochenes Abkommen hatte, sah sie nicht an. Die Männer zwängten sich an ihr vorbei. Elisabeth zog langsam die Hände aus den Taschen, hielt in jeder Hand verborgen eine eng gepackte Tüte. Im Vorbeigehen fasste der Russe danach. Unbemerkt verschwanden die Brote unter der Wattejacke. Elisabeth Hoffmann hatte die Russen, die zur Arbeit ins Panzerwerk geführt wurden, im Frühjahr zum ersten Mal gesehen. Sie war angewidert die Trendlers Gasse zurückgegangen und hatte sich hinter den Busch gestellt. Sie sahen verkommen aus, die Männer. Die Haare waren verklebt. Sie rochen schrecklich, sie stanken! Sie schlurften mit ihren Holzschuhen über die Straßensteine. Es war regnerisch gewesen. Einige glitten mit ihren Holzschuhen auf dem Kopfsteinpflaster der engen Trendlers Gasse aus, sie stützten sich gegenseitig. Elisabeth kam es vor, als torkelten einige. Sie hatten Lumpen um die Füße gewickelt. Die Russen sahen so aus, wie ihr Vater sie beschrieben hatte: Richtige Untermenschen. Die Augen waren besonders schlimm, dachte das Mädchen. Die Männer starrten sie an. In diesen Augen war für das Mädchen ein unbeschreiblicher Ausdruck. Es wusste nicht, was es war: Angst oder Bitten? Die deutschen Wachsoldaten trieben die Russen zur Eile an. Die Trendlers Gasse war nicht lang, doch eng. Die Menschen mussten sich durchzwängen. Von vorn und von hinten kamen die Rufe der Deutschen: „Los, los!“ und „schnell, schnell!“, manchmal auch das russische Wort „Dawai!“ Am zweiten Tag wollte Elisabeth einen anderen Schulweg nehmen, doch sie ging wieder in Richtung Trendlers Gasse, blieb aber diesmal am Busch stehen. Wieder erlebte sie mit Herzklopfen dieses merkwürdige Schauspiel der Elendsgestalten, die an ihr vorübergetrieben wurden. Von da an ging sie diesen Weg jeden Tag. Sie ging jeden Morgen so zeitig los, dass sie den Zug nicht verpassen konnte. Es zog sie 31
magisch an, obwohl es sie anekelte. Der Geruch und der gesamte Anblick riefen bei ihr eine leichte Übelkeit hervor. Aber die Augen waren es, in die sie immer wieder schauen musste. Die deutschen Wachleute kümmerten sich nicht um das Mädchen, das da mit dem Schulranzen an der Ecke stand und wartete, bis der Zug vorüber war, damit es den Weg zur Schule nehmen konnte. Sie sahen kaum zu ihr hin. Einige dieser Russen jedoch starrten sie umso intensiver an. Sie schienen ihr alle in die Augen sehen zu wollen. Und einer von ihnen, ein Riese, schaffte es, von den Wachen unbemerkt ein Zeichen zu geben. Ganz knappe, kleine Zeichen machte dieser große Mann. Er öffnete den Mund und zeigte mit dem Zeigefinger schnell auf seinen Mund. „Hunger!“ Elisabeth verstand. Eine Schulfreundin hatte ihr vom Lager in der Zinkstraße erzählt. Elisabeth dachte, die Freundin sei eine Aufschneiderin. Das Lager war von einer Seite gut einzusehen. Dort war auf zwanzig Meter Länge ein Stacheldrahtzaun errichtet, so war von der Straße der Blick auf die Lagerplätze zwischen den flachen Holzbaracken frei. Die Freundin hatte erzählt, sie hätte gesehen, als sie aus der Schule gekommen sei, wie die Russen geschlagen worden seien. Es wäre mittags gewesen und sonnig. Die deutsche Wachmannschaft verteilte das Essen draußen an die Kriegsgefangenen. Die Freundin meinte, es sei Kappes gewesen, eine dicke Kohlsuppe. Die Gefangenen hätten sich wegen der Kohlsuppe gestritten. Der Streit soll in eine Rauferei ausgeartet sein. Auch Faustschläge soll es gegeben haben. Die Wachmannschaften hätten zunächst dabei zugesehen. Sie hätte am Stacheldrahtzaun gestanden und hätte alles beobachten können. Als der Streit zwischen den Russen besonders hoch hergegangen sei, hatte die Freundin aufgeregt erzählt, seien zwei Deutsche mit langen Pferdepeitschen auf die Streitenden 32
eingedrungen und hätten dazwischengeschlagen. „Immer wieder, immer wieder“, erzählte das Mädchen. Die Russen hätten geschrien. Einer habe sich plötzlich die Augen zugehalten. Er habe heulend geschrien und sei wie blind weggelaufen, sei dabei gegen einen Holzpfosten gelaufen und gestürzt. Ein dritter Deutscher habe mit einem Knüppel auf den am Boden Liegenden eingeschlagen und plötzlich auch noch ein Vierter, bis der Russe regungslos auf der Erde gelegen hätte. Die anderen Russen wären von den Deutschen auseinandergetrieben worden, wären in ihre Baracken gerannt, verfolgt von den Deutschen mit Peitschen. Elisabeth hatte dies ihrem Vater, Fritz Hoffmann, erzählt, und fragte ihn: „Vati, ist das so?“ Der fragte barsch, wer das erzählt habe. Dann sagte er: „Die Deutschen haben für Ruhe und Ordnung gesorgt!“ Aber da könne sie sehen, was für Schweine die Russen seien, sagte ihr Vater. Wegen eines Löffels Kohlsuppe schlügen sich diese Untermenschen die Schädel ein. Elisabeth erzählte zu Hause nicht, wie sie den Zug der hohlwangigen Russenarbeiter in der Trendlers Gasse erlebt hatte. Am vierten Tag nahm sie unbemerkt ihre Pausenbrote aus dem Schulranzen und steckte sie in die Taschen ihrer Jacke. Der riesige Russe, der ihr die Zeichen mit dem offenen Mund gemacht hatte, sah sie wieder an. An den folgenden Tagen, beim Austausch der Butterbrottüten, vermieden das Kind und der Russe, einander in die Augen zu sehen. Am vierten Tag ging sie, als der Zug kam, zum erstenmal einige Schritte den Männern entgegen, blieb dann, wie überrascht, an der Hauswand stehen. Der große Russe ging immer in der vierten Reihe nach den deutschen Wachsoldaten. Er ging immer rechts außen. Schon von weitem sah er sie an. Auch Elisabeth sah ihn so an diesem Tag. Dann aber wandte sie langsam den Kopf zur Seite und sah auf die andere Seite der Gasse, als sähe sie geradeaus auf die gegenüberliegende 33
Hauswand. Ihre Hände hielten die Butterbrote in ihrer Jackentasche. Als die Russen an ihr vorbeischlurften, sich an dem Mädchen vorbeidrückten, das glaubte, ihr werde der Atem genommen, da zog es zum erstenmal vorsichtig die Hände mit der kleinen Speise aus den Taschen. Als sei es verabredet, griff der große Russe danach. Die Butterbrote verschwanden unter der zerschlissenen wattierten Jacke. Der Austausch schien unbemerkt. Nach vielen Tagen ging der Riese nicht mehr unter den an ihr Vorbeitaumelnden. Nach drei Tagen, an denen sie ihn wieder nicht gesehen hatte, befiel Elisabeth Angst. Am Tag darauf mied sie die Trendlers Gasse auf ihrem Schulweg. Doch sie fragte sich in den nächsten Wochen, warum die Deutschen die Russen durch diese kleine enge Gasse getrieben hatten, immer so schnell und hastig, dass einige der Russen strauchelten und stürzten und mit Schlägen wieder hochgetrieben werden mussten. Das Poltern der Holzklotschen auf den Steinen hatte sich mit dem Klatschen und Dröhnen der Stöße mit Gewehrkolben und dem Peitschen mit Lederriemen gemischt. Warum durch die schmale Trendlers Gasse? Dieser Weg war doch ein Umweg zum Panzerwerk, dem Arbeitsplatz der Russen, rätselte das Mädchen noch lange.
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6 Ideologiefestigung „Fritze“, sagte der Gestapomann und goss Wodka in das Glas, das er vor Fritz Hoffmann auf den Rauchtisch gestellt hatte. „Zum Wohl! Auf alte Kameradschaft!“ Der Gestapomann Joseph Becker war vom Schreibtisch aufgestanden, als Fritz Hoffmann den Raum betreten hatte. „Fritze, unser kleiner SA-Mann“, hatte er gelächelt, hatte Fritz Hoffmann den rechten Arm vertraulich um die Schulter gelegt und ihn zum Rauchtisch geführt. Als Hoffmann im Klubsessel saß, hatte Joseph Becker, der ehemalige Sturmbannführer von Hoffmanns Sturmabteilung, eine Flasche Wodka und zwei Gläser auf die Mahagonitischplatte gestellt. „Stilecht“, hatte er gesagt, Wodka trinke man aus Wassergläsern. „Wie die Zaren“, doch Nationalsozialisten würfen sie nicht über ihren Rücken an die Wand. Fritz Hoffmann nippte am Wodkaglas. Lachend lehnte sich Becker im Sessel zurück. Saufen hätte er, Fritz Hoffmann, der kleine SA-Mann, immer noch nicht gelernt. Ob er Bauchschmerzen habe, er solle ihm erzählen, was los sei. „Ich denke oft an Zweiunddreißig“, begann Hoffmann: „Zweiunddreißig habe ich nicht vergessen.“ Da hätten sie gemeinsam für die nationalsozialistische Bewegung gekämpft. Von den Flugblättern habe er sich je eines aufgehoben. Er halte auf Ordnung, und so etwas lege er sofort immer ab. Da wäre auch das Flugblatt mit dem wirtschaftlichen Sofortprogramm der NSDAP gewesen. Da stehe nun ganz genau, dass bei allen Arbeiten der Vorzug dem deutschen Material gegenüber dem ausländischen gegeben werden solle. Einen Satz wisse er auswendig: „Wenn wir das Recht auf Arbeit für unsere deutschen Volksgenossen verwirklichen wollen, müssen wir verhindern, dass ihnen Nichtdeutsche den Arbeitsplatz 35
wegnehmen.“ Doch was mache er? Er sei Lagerführer und bewache Kriegsgefangene, die auf deutschen Arbeitsplätzen arbeiteten, er bewache Fremde. „Ausländer, Jupp, Ausländer!“ sagte er laut. Andere bewachten nichtvölkische Arbeiter aus Polen und der Ukraine, aus Holland und aus Frankreich. Fremde und Fremdrassige stünden nun an Arbeitsplätzen von Deutschen. Das passe nicht mit dem Parteiprogramm zusammen. Der kleine Mann saß ruhig, doch redete hastig. Er hoffte, sein alter Freund Joseph Becker, sein ehemaliger Sturmbannführer, inzwischen ein hohes Tier bei der Geheimen Staatspolizei, sei in geheime Pläne eingeweiht. Schon lange hatte er mit ihm reden wollen, als das Telefon in der Wachstube läutete und Joseph Becker sagte, er, Fritz Hoffmann, solle ihn einmal auf der Dienststelle besuchen. Becker war berichtet worden, Hoffmann habe sich dahingehend geäußert, das mit den nichtvölkischen Arbeitern sei nicht mehr deutsch. Wie er denn das gemeint habe, hatte Becker Hoffmann am Telefon gefragt. Sturmbannführer Joseph Becker sah Hoffmann mit offenem Mund an. Nach einer Pause sagte er eine Spur lauter als zuvor: „Pass mal auf, SA-Mann Fritz Hoffmann, der Nationalsozialismus verkündet die ewigen Wahrheiten des völkischen Daseins, wie sie vor tausend Jahren gültig waren und wie sie in tausend Jahren gültig sein werden.“ Joseph Becker nahm einen Schluck Wodka. „Der Führer hat schon im Mai 1939 gesagt: Die Bevölkerung nichtdeutscher Gebiete, die tut keinen Waffendienst. Und deshalb hat er entschieden, dass sie zur Arbeitsleistung zur Verfügung steht.“ Das sei doch eine ganz klare Aussage mit großer Vorhersehungskraft, sagte Becker. „Du solltest mal wieder ‚Mein Kampf’ lesen, SA-Mann Fritz Hoffmann! Da schreibt der Führer, worum es geht und was das für Leute sind, für die du die Verantwortung trägst!“ 36
Becker, der Gestapomann, stand auf, nahm sein Glas und trank es mit einem Schluck aus. Er ging zum Schrank und nahm mit einem Griff Hitlers ‚Mein Kampf’ heraus. Er setzte sich, blätterte kurz, dann zitierte er: „Ohne die Herstellung einer gewissen modernen Form der Hörigkeit oder wenn man will, des Sklaventums, kann die menschliche Kultur nicht weiterentwickelt werden. Das hat Hitler geschrieben. Anfang der dreißiger Jahre. Und du, Fritze, du bist Angehöriger eines Herrenvolkes. Die Kriegsgefangenen, Fritze, die du bewachst, sind Sklaven. Sieh sie dir doch mal an! Die Polacken beispielsweise, die in den Bergwerken arbeiten.“ Becker dozierte, deren Charakter sei doch persönliche Unselbständigkeit. Denen müsse doch gesagt werden, was sie machen sollten. Von alleine könnten die doch nichts. Wankelmütige Leute, unnatürlich lebhaft und besonders reizbar, die seien ein richtiger Hemmblock für die Kultur und die Moral der deutschen Volksgenossen. Die meisten seien kriminell. Ärzte hätten festgestellt, „dass die Infektionskrankheiten durch sie bei uns eingeführt worden wären“, und sie seien verantwortlich für die Ausbreitung von Seuchen. „Wenn selbst bei deutschen Volksgenossen manchmal die Sitten etwas lockerer werden, und die Kriminalität steigt, woran liegt das denn? Die Deutschen sind doch im Kern gut! Der Pole aber ist verroht und vor allem der Russe!“ Doch die alle, so Becker, müssten an die Werkbänke, damit der deutsche Soldat seinen Dienst an der Front tun könne. Das seien doch alles Hilfsschüler, die Weiber alle Nutten, schwachsinnige Kinder würden die gebären, diese Kaczmareks, diese Iwans, das Drecksvolk, das tauge zu nichts, auch diese Schangels, diese Franzosen. „Hoffmann, die sind alle nur dazu da, um für das deutsche Volk zu arbeiten!“ „Ich erzähle dir jetzt was, Hoffmann, hör gut zu! Neununddreißig im Juni hat schon der Reichsinnenminister bei einer Sitzung des Reichsverteidigungsrates gesagt, alle 37
diejenigen Arbeiten sollten festgelegt werden, die den Kriegsgefangenen übertragen werden sollen. Es sollte gearbeitet werden und überlegt werden, welche Arbeiten die Leute in den Gefängnissen, in den Konzentrationslagern und in den Zuchthäusern zu verrichten hätten. Ja Fritze, das nenne ich Weitsicht, daran erkennst du unsere Partei! Die ewigen Wahrheiten kennt die Nationalsozialistische Arbeiterpartei!“ Der Reichsinnenminister habe, betonte Becker entschlossenen Blicks auf Hoffmann, der Minister habe schon lange vor Kriegsbeginn, „und das zeigt wieder einmal seine Voraussicht“, erkannt, und er habe dafür gesorgt, dass jetzt, wo der Krieg tobe und das deutsche Volk um seinen Raum kämpfe, „um das Recht“ - dass jetzt das deutsche Volk den anderen Völkern zeige, dass andere für Deutsche arbeiten könnten, damit Deutsche kämpften. „Im Krieg zahlt sich aus, was der Reichsinnenminister vorausgedacht hat, Hoffmann.“ Schon Mitte Neununddreißig sollten Betriebsführer, Polizei und Wehrmacht Vorkehrungen treffen zum Einsatz von Kriegsgefangenen. Der Minister habe schon damals gesagt, im Krieg müssten Hunderttausende zusammengefasst werden in Baracken. Der Gestapomann sprach schnell und laut, als halte er eine Rede vor größerem Publikum. Und - so fuhr er fort - sie müssten unter ständiger Aufsicht eingesetzt werden, vor allem in der deutschen Landwirtschaft, denn der Nährstand, das sei der wichtigste Stand. „Der deutsche Bauer braucht Leute, um die Scholle zu beackern.“ Der deutschen Landwirtschaft fehle es an Menschen. Der deutsche Landarbeiter sei an der Front. „Es fehlen die tüchtigen deutschen Männer.“ Nun hob Becker die Stimme: „Menschenmaterial brauchen wir! Und das ist es, Hoffmann, worüber du wachst: Menschenmaterial, nicht mehr und nicht weniger als Material! Verstehst du mich richtig, Hoffmann, Material!“ Und so ein 38
Schwachkopf im Innenministerium habe gefaselt - Becker senkte die Stimme - Ausländer könnten nur eine vorübergehende Hilfe sein für die Zeiten angespannten Arbeitseinsatzes. „Geschwollene Scheiße ist das, Hoffmann, die Ausländer, mein lieber Fritz, die nehmen wir, damit der Krieg so läuft, wie wir es bestimmen! Dafür sind die da.“ Und Becker setzte mit dem Pathos einer Inszenierung hinzu, ausländisches Blut sei Öl für deutsche Maschinen. SA-Sturmbannführer und Gestapomann Joseph Becker starrte Fritz Hoffmann an. Hoffmann sah zu Boden. Fritz Hoffmann, der überzeugte Nationalsozialist, sagte leise: „Sklaven schon! Aber wir haben immer gesagt, das sind richtige Tiere, slawische Bestien. Jetzt musst du auch sehen, dass einige der deutschen Arbeiter und ihre Frauen, ja sogar deren Kinder den slawischen Tieren Brot zustecken, manchmal auch ‘ne Kartoffel oder irgend etwas anderes zum Essen.“ „Feindbegünstigung“, schrie Becker, „das ist Zersetzung“, und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. „Einige sehen das aber anders“. Hoffmann zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche: „Das hat einer mitgebracht von der Front.“ Hoffmann las vor: „Was Bolschewiken sind, das weiß jeder, der einmal seinen Blick in das Gesicht eines der roten Kommissare geworfen hat, hierzu sind keine theoretischen Erörterungen mehr nötig. Es hieße Tiere beleidigen, wollte man die Züge der zu einem hohen Prozentsatz jüdischen Menschenschinder tierisch nennen. Sie sind die Verkörperung des Infernalischen, Person gewordener wahnsinniger Hass gegen alles edle Menschentum. In deren Gestalt erleben wir den Aufstand des Untermenschen gegen edles Blut.“ „Genau so ist es“, sagte Gestapomann Becker leise. Seine Wachleute seien überzeugte Parteigenossen, argumentierte Fritz Hoffmann weiter, für die er seine Hand ins Feuer legen würde. Aber sie bekämen feuchte Augen, wenn die Russen 39
sängen, auf der Quetschkommode oder der Balalaika spielten. Neulich habe derjenige, der dieses Flugblatt gebracht hatte, gesagt, wie schön die spielen könnten. „Das sind ja richtige Menschen.“ Dann habe der allen Russen eine Zigarette gegeben. Fritz Hoffmann biss sich, als er das gesagt hatte, auf die Unterlippe. Er senkte den Kopf. Als Lagerführer Fritz Hoffmann den Kopf wieder hob, sah er, dass sein früherer SASturmbannführer, der Dreiunddreißig zur SS gewechselt hatte und heute Gestapomann war, ihn entgeistert anstarrte, sich an den Armlehnen des Sessels festhielt. Dann sagte er langsam, senkte dabei die Stimme, betonte jede einzelne Silbe jedes Wortes: „SA-Mann Hoffmann, ich muss doch annehmen, dass du deine neue Aufgabe übernehmen willst! Auch wenn du ein kleiner SA-Mann bist, dann brauchst du noch lange kein Schlappschwanz zu sein!“ Den letzten Satz hatte Becker dann wieder geschrien. Dabei war er aufgestanden. Der Sessel behinderte den Angetrunkenen. Becker hatte sich zum Stuhl hinter seinen Schreibtisch bewegt und sich auf ihn fallen lassen. Fritz Hoffmann hatte sich gleichfalls erhoben und sich vor den Schreibtisch gestellt. Als ihn der Gestapomann anbrüllte, ob er vielleicht eine andere Arbeit wolle, hatte Fritz Hoffmann die Hacken zusammengeschlagen und die Hände an die Hosennaht gelegt: „Nein, Sturmbannführer! Meine Arbeit dient dem deutschen Volksganzen! Ich stehe auf meinem Posten und diene dem Führer!“ „Na also“, sagte Becker tonlos, „ich dachte schon, du machst schlapp wie damals.“ Hoffmann wurde rot. In einer Nacht im Jahr 1932 hatten sie Jagd auf Rote gemacht und einen „Kommunistenbengel“ geschnappt. Zwei SA-Leute hatten den jungen Mann festgehalten. SA-Sturmbannführer Becker hatte Fritz Hoffmann befohlen, er solle „die Kommunistensau“ fertig 40
machen. Als Hoffmann zögerte, hatte Becker ihn angeschrien, er brauche ihm doch einfach nur eins in seine dreckige Kommunistenfresse zu schlagen. „So.“ Becker schlug dem Wehrlosen mit voller Wucht die Faust ins Gesicht. Er könne ihm aber auch in die Eier treten! Fritz Hoffmann hatte damals die Fäuste geballt, hatte ebenfalls auf den aus Mund und Nase Blutenden einschlagen wollen, hatte es jedoch nicht geschafft. So hatte er sich geduckt und seinen gesenkten Schädel dem Mann in den Magen gerammt. Die anderen SA-Männer hatten gelacht und dann lachend auf den Mann eingeschlagen, bis er keinen Laut mehr von sich gegeben hatte. „Ich muss dich doch nicht an den Aushang erinnern, den du überall im Martinwerk 7 angepinnt hast, Hoffmann.“ Fritz Hoffmann kannte die Anweisung „zum Umgang mit Kriegsgefangenen“ auswendig. Jedem sollte klar gemacht werden, „dass alle Kriegsgefangenen Angehörige von Feindstaaten sind“, zitierte Hoffmann nun seine eigenen Anweisungen vor Beckers Schreibtisch im Büro der Geheimen Staatspolizei. „Die zivilen russischen Arbeiter sind den Kriegsgefangenen gleichzustellen.“ Beim nächsten Satz fiel Joseph Becker langsam mit ein: „Jedes Mitgefühl ist falsches Mitleid, das die Gerichte nicht als Entschuldigung gelten lassen.“ Er solle sich immer wieder vor Augen halten, welche „untermenschliche Brut“ für uns Deutsche arbeite. Und wenn einer verrecke, dann verrecke ein Feind, kein Mensch. „Verstehst du mich richtig, Hoffmann, kein Mensch.“ Er solle sich ein Beispiel an den Parteigenossen in Nürnberg nehmen. Ausgerechnet in dieser wichtigen Stadt der nationalsozialistischen Bewegung hätten die Schweine die deutschen Ärzte täuschen wollen. Becker, der inzwischen alleine trank, sprach zu sich selbst: Fünf wären im Lager gleich aufgehängt worden, mitten im Lager. Fast zweitausend 41
slawische Säue: Weiber und Kerle. Auf der Russenwiese. Plötzlich seien die krank geworden! Kriegten Blasen an Armen und Beinen, zweihundert krank, Eiter, überall Eiter. Alles hätte desinfiziert werden müssen. Teures Desinfektionsmittel des deutschen Volkes für vereiterte Russenzelte! „Die Schweine hatten sich mit Hahnenfuß eingerieben, mit diesem Kraut selbst krank gemacht!“ Mit glasigen Augen starrte er Hoffmann an. „Kein Pardon geben, verstanden, Hoffmann, kein Pardon! Zweihundert von denen ab auf den Lastwagen und ins KZ.“ Die SS wisse, wie man mit dem Kroppzeug umgehe! „Fünf aufgehängt, fünf, die mit diesem Kraut Wirtschaftssabotage begehen wollten.“ Joseph Becker sah auf sein Glas. Langsam schüttete er Wodka nach. Er lachte blöde: „Idioten, glaubten, sie kämen wieder nach Russland, nach Polen! Bloß weil sie ein paar Blasen an den Armen und an den Füßen hatten? Ich sag es dir doch“, wandte er sich prustend an Fritz Hoffmann, „Schwachsinnige sind das. Die glauben, wir schicken sie nach Hause, wegen ein paar Blasen.“ Fritz Hoffmann stand immer noch stramm. Joseph Becker lachte nicht mehr. Er stand auf, schlug Hitlers ‚Mein Kampf’ zu und sagte laut, als habe er eine größere Zuhörerschaft vor sich: „Eine gewisse Form des Sklaventums braucht das deutsche Volk, Lagerführer Hoffmann. Und Sklaven haben kein Recht, zu singen! Heil Hitler!“ „Heil Hitler!“ schrie Fritz Hoffmann, hob den Arm zum Hitlergruß, grüßte Hitlerbild und Gestapomann und machte zackig kehrt.
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7 Das rote Viertel Auf dem Gang zum Martinwerk musste das Arbeitskommando über eine Brücke, die über eine der vielen mehrgleisigen Güterstrecken führte. Von der Brücke war der Blick auf den nördlichen, größten Teil der Stadt und die angrenzenden Städte frei. Eine langgezogene Senke lag voraus, die in das schier endlose und flache Stadtland auslief. Die Stadt verwob sich zu einem Gewirr und Knäuel, aus der stählerne Gerüste ragten mit monumentalen Rädern, den Seilscheiben, über die armdicke Eisentaue gezogen wurden. Die Räder drehten sich fortwährend. Hohe, schmale Industrieschornsteine stießen bald schwarze, bald schwefelgelbe und graue Rauchfahnen und -fetzen aus. Schmutziggrau, mit Brettern verkleidet, hockten Kühltürme dazwischen, aus deren zum Himmel gerichteten runden Mäulern von Zeit zu Zeit eine imposante Dampferuption schneeweiß aufschoss, gleich einer vom Erdboden schnell aufsteigenden Wolke, die, immer breiter werdend, sich selbst überholte. Die Brücke war eine der wenigen Stellen, von denen der Blick über das Gemenge aus Wohngebieten und Fabriken möglich war. Die nächsten Ortschaften schlossen sich ohne architektonische und landschaftliche Unterschiede an dieses Stadtgewöll an. Zwar waren einige Kirchen zu sehen, doch auch diese drängten sich kaum als das Stadtbild überragende Fixpunkte hervor und gingen in der großen Reihung der Fabriktürme und Schornsteine auf. Das, was von mittelalterlicher Sakralbaukunst oder vom bürgerlichen Stolz der Gründerzeit zur letzten Jahrhundertwende übrig geblieben war, war längst dunkel geworden wie die roten Backsteinbauten der Rathäuser und Gasthäuser und zerschmolz in der Überzahl der Industriegebäude. Auch sie fanden in diesem gleichförmigen 43
Städtegemisch keinen Halt. In Ermangelung anderer markanter Erhebungen hatten die Schüler gelernt, sich damit zu brüsten, ihre Vaterstadt besitze den größten Gasometer des Kontinents. Nicht nur die eine Stadt selbst war ein Gemenge, auch die umliegenden Städte griffen ineinander, so dass eigentlich nicht erkennbar war, wo die eine Stadt anfing und die andere aufhörte. Dies alles durchzog das lange, kurvenreiche Schienengeflecht wie Nähte und Säume einer von geschickten Händen gearbeiteten Flickarbeit. Von oben besehen glich dieser Raum einem Schnittmusterbogen. Die Unübersichtlichkeit verwirrte und gab dem Land etwas Rätselhaftes. Wenn die geballten Dampfschwaden beim Löschen glühender Kohle beim Umwandeln in Koks in den ohnehin dunstigen Himmel aufstiegen und der Horizont sich seltsam rot verfärbte, wurde das Land gar dramatisch. Die Fabrikareale selbst waren nochmals Städte in der Stadt. In ihrer Mitte lag rostigbraun das Ziel der Arbeitskolonne, das Martinwerk 7. Der Arbeitertrupp wurde Tag für Tag den langen Weg vom Lager am südlichen Stadtrand quer durch die halbe Stadt, von Vorort zu Vorort bis zum Werk geführt. Die Wohnbebauung der Vorstädte war längst nicht so dicht wie die in der Nähe der Fabriken. Es ging vorbei an Einfamilienhäusern, Zweifamilienhäusern mit Gärten vor und hinter den Häusern, dann kamen Straßenzüge mit kleineren Villen höhergestellter Beamter von Zander und anderer Werke. Die Vorgärten, in Friedenszeiten mit Ziersträuchern, Blumenrabatten und Putten besetzt, waren nun Gemüsegärten: Kohl und Kohlrabi, Möhren, Tomaten, auch Kartoffeln pflanzten die Frauen dort. Selbst der nahegelegene Volksgarten war in der Hungerzeit des Krieges zur Selbstversorgung freigegeben: Gurken statt Geranien. Auf den Feldern, die hinten an die Grundstücke Zanderscher Angestelltenhäuser angrenzten, wuchsen unendliche Reihen Weißkohl und Unmengen von Rüben. 44
Am Rande des Rübenackers stand eines der Lager. Angehörige des Zanderschen Werkschutzes, Stabsabteilung Zanderschutz, SZS, holten dort die Arbeitskommandos ab, meist zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Ihr Weg bis zum Martinwerk führte nur in der letzten Etappe durch Wohngebiete. Zunächst gingen die Arbeitssklaven vorbei an Kohl- und Rübenfeldern, dann am Zentralfriedhof, am Wasserturm, am Güterbahnhof, zwei Baggerseen, dem Park und vorbei an verrußten Glashallen. Dann erst führte der Weg durch die Kolonie. Die dem Werk angrenzenden Straßen waren schmal. Allein die Ausfahrten der breiten Werkstore, jene Stellen, an denen der Werkszaun aus senkrechten Eisenstäben sich bei Ankunft der Kolonne zweiteilte, aufklappte und sich nach ihrem Eintritt schloss, verdienten den Namen Straße. Neben dem Werkstor befand sich ein zweites, kleines Schlupftor, das den Gang am Pförtnerhaus, verglast nach drei Seiten, abschloss. Die Werksstraßen der Fabrik führten zu den Güterrampen der Eisenbahnlinie oder zu den wenigen Ausfallund Umgehungsstraßen. Die anderen Werkswege waren eher Gassen, kaum fünf Meter breit. Die Kolonien, in der die Arbeiter der Fabrik, Werksangehörige genannt, wohnten, hatten ihr Aussehen seit ihrer Erbauung um die Jahrhundertwende nicht verändert. Immer noch befand sich am Anfang der Kolonie eine Filiale des Konsums und an ihrem Ende ein noch immer unbebauter Fleck, an dessen Rand Brombeeren wucherten, und in dessen Mitte Kinder spielten. Die einstöckigen Häuser waren aus dunkelroten Backsteinen errichtet worden, ihre Eingänge lagen wie dunkle, schmale Schachteingänge zurück, zur Straße führten mehrere breite Steinstufen. In anderen Stadtteilen lebten Arbeiter in vier- bis fünfstöckigen Mietskasernen, die Mitte der zwanziger Jahre eilig hochgezogen worden waren. Obgleich diese Häuser mit 45
ihren Stuckvernagelungen den Eindruck von Wohnlichkeit vermitteln sollten, entstand in diesen Straßen eher noch als in den Kolonien das Gefühl der Enge. Quirlend und lärmend, mit Kneipen, Kirmes und Kinovergnügen, Schlägereien und Hoffnungen, ohne Grün und Sonne zwischen den Häuserfronten lagen diese Arbeiterquartiere jenseits der meistbefahrenen Bahnlinie der Stadt. Über zwölf Bahngleise rollten die Güter aus der Stadt: Kohle und Eisen, Granaten, Bleche, Panzerplatten. Auf zwölf Gleisen kamen Güter an, die die Stadt zum Leben brauchte: Kohl und Kartoffeln, Mehl und Marmelade, Vieh, Schuhe, Schnaps und Schweine. Die Bahnlinien lagen auf einem gewaltigen Damm, der wie ein Bollwerk den Norden, in dem die Stadtteile der Arbeiter und die Fabriken lagen, vom Stadtzentrum und den heiter, bürgerlich eleganten Wohngegenden im Süden trennte. Nur drei breite und vor allem lange dunkle Unterführungen verbanden diese beiden unterschiedlichen Welten. Der übliche Weg des Arbeitskommandos war unpassierbar geworden. Britische Sprengbomben hatten bei einem nächtlichen Luftangriff das Schmiedewerk zerstört. Trümmer blockierten die Straßen. Aus dem Durcheinander von Betonbrocken, mehrere Meter hoch, ragten an Stelle der Werksschmiede nun Eisenspitzen wie Haken und Spieße, Eisenträger, bizarr verbogen, Stangen und stählernes, entkleidetes Fachwerk. Das Kommando musste den Umweg durch eine der Unterführungen quer durch das rote Viertel nehmen. Die meisten Häuser dieses Arbeiterviertels waren nach ihrer Errichtung rot, russischrot, gestrichen worden. In den zwanziger Jahren wurde dieser Wohnbezirk auch politisch ein rotes Viertel. Die kommunistische Partei hatte dort ihr Zentralbüro, dort wohnten zumeist ihre Anhänger. Wenige Jahre nach der sogenannten Machtübernahme der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei wurde aus 46
dem roten Viertel ein braunes Viertel. Die Stimmung der dort Lebenden kippte um, die meisten ehemaligen Genossen der KPD wurden Parteigenossen der NSDAP. Die größte Zahl der jungen Männer, die sich 1939 freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, wurde im roten Viertel registriert. Als der Trupp der Elenden durch die Straßen geführt wurde, waren nur alte Frauen und Männer, einige junge Frauen und Kinder in den Häusern. Es war morgens, die Zeit, in der sich die meisten, so gut es ging, für diesen Kriegstag rüsteten. Zwar kannten die Menschen des roten Viertels den Anblick zerlumpter Gestalten, denn ihr Vorüberziehen war genauso Kriegsalltag wie das Hasten in den Luftschutzbunker am Hauptbahnhof bei Fliegeralarm oder das Schlangestehen nach Brot. Doch die plötzliche körperliche Nähe der Gefangenen vor ihren Hauseingängen und Wohnungsfenstern war neu und sorgte für Aufregung. An der Ecke Schlageter- / Windmühlenstraße begann der Zwischenfall nahezu spielerisch. Die Russen waren früher auf den Straßen als die Deutschen, das heißt, noch brauchten die Deutschen nicht hinaus zur Arbeit, zum Bäcker, zur Schule. Ein Halbwüchsiger, Franz Mirbach, war bereits - warum auch immer - unterwegs. Obgleich er als Hitlerjunge an Gesangsmärschen vorbei an Russenlagern teilgenommen hatte, erschrak er, als er sich der grauen Kolonne beim Einbiegen um die Straßenecke gegenüber sah. Der Sechzehnjährige blieb stehen. Die Russen schlurften an ihm vorüber. Der Junge, der bei den Gesangsmärschen der Hitlerjungen mit dem Lied „Ein junges Volk steht auf, zum Kampf bereit“ an den Bergwerkslagern mit Russen vorbeimarschiert war, um denen zu zeigen, „was Sache ist“, wie er und seine Freunde meinten, war doch noch nie so „nah am Feind“ gewesen. Als Franz Mirbach einen gleichaltrigen Jungen in der Kolonne entdeckte, lief er neben dem Russen her und sprach ihn an: „He, Kumpel“, nach einigen Metern, „he, Rußki, malenki Rußki“. 47
Der Russe reagierte nicht, die anderen Russen gingen gleichmäßigen Schritts den vorgeschriebenen Weg, immer auf Hacken und Rücken des Vordermanns stierend, der das Tempo angab. Die vorderste Reihe folgte den Wachleuten. Nach „he, Rußki, du Arsch“ und „Russenschwein“ war dem Hitlerjungen Franz Mirbach schließlich ein Fluch in Russisch eingefallen, den ihm ein Fähnleinführer und seine Kameraden beigebracht hatten: „Jupp twoje mat“. Fick deine Mutter. Er wusste an diesem Morgen, was er gesagt hatte, als sich beim ersten Fluch der junge Russe ruckartig dem Deutschen zuwandte. Doch dann wendete der Russe sich wieder ab und sah stur auf den Rücken seines Vordermannes. Franz Mirbach lief nun neben dem Jungen her und wiederholte immer wieder leise „Jupp twoje mat“. Die Wachmänner bemerkten es nicht. Das rote Viertel grenzte an eine Wiese, an die sich wiederum ein verwahrloster Friedhof anschloss. Der Ausbruch des jungen Russen aus der Kolonne und der Überfall auf Franz Mirbach, der gerade hatte stehen bleiben wollen, kam plötzlich. Es war so, als habe der junge Russe auf das Ende der Stadt gewartet, auf das Stück Natur, das ihm die Kraft zur Gegenwehr gab. Ein Landsmann versuchte, ihn von dem Deutschen wegzureißen. Die Wachleute schossen, vom Geschrei des Deutschen alarmiert, in die Luft und rannten auf die drei am Boden Kämpfenden zu, schlugen mit Gewehrkolben auf sie ein. Die Rauferei war schnell beendet. Während Franz Mirbach zitternd am Wiesenrand stand, hatten die beiden Russen sich zurück in die Kolonne gereiht, die Köpfe gesenkt, den Blick auf die Hacken des Vordermannes gerichtet. Die Wachmänner schrien und fesselten den Russen die Hände auf dem Rücken, stießen sie nach vorn. Bei einem ähnlichen Vorfall in einer anderen Stadt sind die Russen auf der Stelle erschossen worden.
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II Juri
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8 Kino-Sequenzen Als Heinz Rühmann durch den Käfig raste, das Zirkuspublikum sich tot zu lachen schien, ob dieser tollen Nummer, und das Kinopublikum gleichfalls sich königlich amüsierte, erschrak Wilhelm Wehner mitten im Lachen. Der zu einer Kinofreizeit in die Welt der Deutschen geschmuggelte Zwangsarbeiter Juri Konstantinowitsch Suslow saß neben Wehner und riss die Augen auf, presste seinen Körper an den roten Samt der Rückenlehne des Kinosessels und seine Hände umklammerten die Armlehnen. Auch im schwachen Licht des Kinosaals war dem Jungen die Angst anzusehen. Der Deutsche hatte den Kopf dem gleichaltrigen Russen zugewandt, als der Mann auf der Kinoleinwand erkannt hatte, dass er nicht mit Clowns in Fellen im Löwenkäfig eingeschlossen war, sondern dass der Spaß zum Ernst geworden war, die Raubtiere keine Attrappen waren. Die Zuschauer erkannten: Der kleine Mann wollte weg, hopste wie ein ängstliches Männlein, wollte flüchten, wollte hinter die Stäbe, dorthin, wo die Menschen sich bogen vor Lachen und annahmen, der Dompteur vollführe in einer lustigen Nummer die Flucht nur zum Schein und seine Angst sei gespielt. Wilhelm Wehner erschrak, als er sah, dass der Russe der einzige im Kino war, der nicht lachte. Der Russe saß da, als bedrohten die Löwen ihn. Wilhelm Wehner, der den Russen hatte anstoßen wollen, um ihm vertraut zu sagen, wie toll der Film doch sei, konnte nun nicht mehr den jungen Russen berühren. So sah er zwar den Film bis zum Schluss, lachte auch zwischendurch, sah, wie der kleine Rühmann doch zu dem Mann wurde, von dem man sprach und der durch seinen Löwenmut das Herz der Direktorentochter erobert hatte. Das seltsame Gefühl der Unsicherheit aber blieb. Als der deutsche Junge dem Russen gesagt hatte, heute 50
werde er es riskieren, ihn ins Kino zu schmuggeln, beide werden zusammen in den roten Samtsesseln sitzen, war der junge Russe steif geworden, hatte einmal wie in einem Aufschrei „Njet“ gesagt und dann mehrmals sein „Nein“ tonlos wiederholt. Dem Deutschen schien es einen Moment, als habe der Russe Angst vor dem Kino, doch weder er, noch seine Schwester hatten länger darauf geachtet. Die Manipulation, den jungen Zwangsarbeiter für einen Ausflug ins Kino so zu präparieren, dass ihn niemand entdecken konnte, hatten Wilhelm und seine vier Jahre jüngere Schwester Margot so gefesselt, dass für andere Gefühle kein Platz geblieben war. „Juri“, hatte Wilhelm gelacht, um sich Mut zu machen, „wir gehen ins Kino.“ „Njet!“ hatte darauf Juri geschrien, und dreimal hatte er leise dieses russische „Nein“ wiederholt. „Du brauchst keine Angst zu haben, dich erkennt keiner“, hatte Wilhelm gesagt. Juri ließ sich in den Sessel bugsieren, saß steif und stumm, und die Geschwister nahmen dies als Einverständnis. Als die Schwester warnte, der Vater sei damit gewiss nicht einverstanden, beschwichtigte sie der Bruder, Vater habe Nachtschicht, er brauche nichts davon zu erfahren. „Aber“, sagte die Schwester, neulich sei einer erschossen worden, als er über den Zaun Pflaumen gepflückt habe. Juri braucht nur nichts zu sagen“, sagte Wilhelm. Wenn er nicht rede, könne ihn keiner entdecken, außerdem sei es dunkel, kaum jemand werde ihn sehen. „Juri“, sagte er zu dem Russen, „du stumm, du nicht sprechen können! Verstanden?“ Wilhelm legte dem Russen die rechte Hand auf den Mund. Juri Konstantinowitsch hatte verstanden. Die Angst, die ihn verstummen ließ in den nächsten Stunden, sahen die Geschwister als sein Mittun bei der aufregenden Konspiration dreier Jugendlicher. Margot machte sich an den Haaren des 51
jungen Russen zu schaffen, kämmte und bürstete sie, frisierte ihm mit Pomade eine Schmalzlocke. Der Russe saß bewegungslos in Vaters Sessel. Wilhelm trennte von der zerschlissenen Jacke den Aufnäher „Ost“ ab. Nach dem Film sollte ihn die Schwester wieder an die Jacke nähen. In der Dunkelheit werde niemand den Fleck auf der Jacke wahrnehmen, meinte der Bruder. Der Russe müsse endlich einmal rauskommen, hatte Wilhelm oft gesagt. Der Russe müsse auf andere Gedanken kommen. „Nein!“ hatte der Vater entschieden, „das ist zu gefährlich. Die machen kurzen Prozess.“ Dann fügte er hinzu: „Mit dem und mit uns.“ So ein richtig lustiger Film, hatte Wilhelm gesagt, der sei das beste, um Juri auf andere Gedanken zu bringen. „Pass auf, Juri“, sagte Wilhelm, „‘Der Mann, von dem man spricht’, ist ein dufter Film. Heinz Rühmann, den kennt jeder, das ist so ein kleiner Komiker mit ‘ner spitzen Nase, der lacht immer so...“ „...verschmitzt“, ergänzte die Schwester, die den Ausdruck bei Erwachsenen im Zusammenhang mit diesem Schauspieler gehört hatte. „Also, der will die Tochter vom Zirkusdirektor. Und deshalb geht der in den Löwenkäfig. Die haben abgemacht, die Clowns und der Rühmann, dass sie sich in Fellen verstecken, also die Clowns. Da braucht der Rühmann keine Angst zu haben. Und dann sind die auf einmal echt. Die Clowns sind nicht in den Fellen, sondern die Löwen, also die echten, sind im Käfig. Und das merkt der erst, als er schon mittendrin ist, und so wie ein Dompteur tut. Und da hat der sich auf einen Löwen gesetzt, weil er dachte, der Löwe ist nicht gefährlich, denn da drinnen steckt ein Mensch, der ihm nichts tut. Und da läuft der wie ein Irrer durch den Käfig, weil er raus will. Das soll zum Totlachen sein.“ Aljoscha Rasnizin schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. 52
Er boxte seinen Freund Juri in die Seite. Es sah auch zu komisch aus, wie der gefangene Kulak durch die Stäbe des Schweinestalls um Gnade bat, während der Kommissar sich wegen des Gestanks die Nase zuhielt. Er habe nichts getan, winselte der Kulak, er habe immer alle gut behandelt. „Du Laus hast jeden ausgesaugt“, sagte einer, der neben dem Kommissar stand. „Er ist ein Blutsauger“, sagte ein anderer Mann. Dem Kulaken stand der Angstschweiß auf der Stirn. Auf seiner rechten Schulter, von der das Tuch geglitten war, waren rote Striemen zu sehen. Aljoscha wollte gerade Mitleid mit dem Großbauern haben, als auf der Leinwand wieder die Schweine zu sehen waren, die von hinten dem Kulaken zu Leibe rückten. Der strampelte kindisch im Schweinekot, wälzte sich, während sich der Kommissar die Nase zuhielt. Da johlte der Kinosaal von Dnjepropetrowsk. Aljoscha sah nach rechts zu seinem Freund Juri. Der lachte nicht. Aljoscha legte die Hand auf Juris Schulter, als sie aufstanden. Er hatte den Freund zum Kinobesuch überreden müssen. „Juri“, hatte Aljoscha zärtlich gesagt, „dein Vater wird nicht mehr lebendig.“ Der Vater sei ein Held, gefallen am Dnjepr bei der Verteidigung der Heimat, erschossen im Kampf gegen die Faschisten, hatte Aljoscha gesagt. Juri sollte einmal auf andere Gedanken kommen und mit ihm ins Kino gehen, hatte Aljoscha gesagt. Aljoscha legte den Arm um die Schulter des Freundes, als die beiden fünfzehnjährigen Russen ein Kino in Dnjepropetrowsk verließen. Aljoscha erkannte die Situation als erster. Er presste sich gegen die Wand, als von vorn und von hinten Rufe kamen: „Dawai! Schnell! Schnell!“ Die Mädchen begannen zu kreischen. Schüsse fielen. Die Jungen wurden mit den anderen jungen Leuten zum Ausgang gedrängt. Motoren heulten auf. „Aljoscha!“ schrie Juri, „Aljoscha!“ Der Freund hatte sich aus den zum Ausgang getriebenen 53
Jugendlichen lösen können und war nach vorn gesprungen. Vor dem Ausgang stand ein Lastwagen mit laufendem Motor. Er war rückwärts vor den Ausgang des Kinos gefahren worden. Juri sah den Freund, wie er sich zwischen Auto, Hauswand und einem Soldaten hindurchzwängte, sah ihn im schwachen Licht des Abends über den Platz laufen, sah ihn im knappen Ausschnitt zwischen der Lastwagenplane und der Hauswand des Kinos auf den Platz bis zu dessen Mitte laufen, sah ihn einen Haken schlagen und dann hinter einer Baumreihe verschwinden. Überall wurde geschrien: „Dawai!“ Erst als er auf dem Lastwagen gegen die anderen gefallen war, und er dann doch einen engen Platz gefunden hatte, auf dem er hocken konnte, spürte er einen Schmerz auf der rechten Schulter. Der Wagen fuhr ruckartig an. Die jungen Menschen wogten gegeneinander. Die Mädchen schrien wieder. Juri konnte es auch irgendwann nicht mehr unterdrücken und machte wie viele der anderen unter sich. Auf dem Lastwagen stank es. Der Fünfzehnjährige weinte. Ein Mädchen neben ihm bewegte sich nicht mehr. Einmal hielt der Wagen an. Die am Ende saßen, flehten, freigelassen zu werden, machten Anstalten, hinabzuklettern. Dem ersten von ihnen wurde mit einem Gewehrkolben ins Genick geschlagen. Der zweite sprang ungeschickt zurück und stürzte auf die hinter ihm Liegenden. Plötzlich hielt der Lastwagen so ruckartig, wie er angefahren war. Die hintere Klappe wurde schnell geöffnet und wieder wurde geschrien: „Dawai! Dawai!“ Juri Konstantinowitsch Suslow stürzte den letzten halben Meter vom Wagen. Ihm wurde schlecht von der auf ihn einstürmenden frischen Luft. Er übergab sich im Gehen. Er wollte fallen, doch jemand stieß ihm etwas in den Rücken, dass er weitertorkelte. Rufen und Schreien und Weinen überall. Juri stolperte über Eisenteile, doch fiel nicht, hielt sich an den vor ihm und neben ihm Schwankenden fest. Plötzlich 54
blickten die vor ihm nach oben. Er stand mit der Brust vor einer flachen hölzernen Platte und fühlte eine Eisenschiene, als er die Hände darauf legte. Juri zog sich hoch, doch mehr noch wurde er geschoben. Er wälzte sich auf die Platte, kam auf die Knie, kippte auf vor ihm Liegendes, während ein anderer von hinten auf ihn fiel. Es ging schnell. Jemand schrie gellend, schrie verletzt, als hinter ihnen ein Tor kreischend und rumpelnd über die Eisenschiene lief und es plötzlich dunkel war. Nur noch Wimmern und Weinen, Stöhnen und Beten waren zu hören. Dem Fünfzehnjährigen war übel vor Hunger, Müdigkeit und Schmerz. Er weinte wieder leise. Er wusste nicht, wo er war. Jemand in einer Ecke des dunklen Raumes schrie: „Nieder mit den Faschisten! Nieder mit den Nazis!“ Andere hatten sich wohl auf ihn geworfen und ihm den Mund zugehalten. Es war ein Weinen, Schreien und Kämpfen. Er bringe sie alle um, schrien einige, die Deutschen würden sie alle erschießen, wenn er das noch einmal tue. Draußen vor dem dunklen Raum liefen Leute hin und her. Auch sie schrien, aber in der fremden Sprache Deutsch. Es wurde geschossen. Irgendjemand schrie etwas laut, immer wieder. Juri konnte es nicht verstehen. „Schnauze halten, ihr Schweine! Schnauze halten!“ In gebrochenem Russisch forderte ein anderer schreiend schnelle Ruhe: „Tiesche! Dawai! Tiesche!“ Wieder wurde geschossen. Juri Suslow wurde bewusstlos. Als der junge Russe wach geworden war, bewegte sich der dunkle Raum. Juri blieb liegen wie in Ohnmacht. Der Hunger bohrte sich in seinen Körper. Er sah etwas stechend Helles, unterbrochen von senkrechten Stäben. Eine Hand hielt sich an einem der Stäbe fest. Der Fußboden des rollenden Raumes stieß schmerzhaft gegen seine Hüfte. Der Fünfzehnjährige fand keine Kraft, eine andere Lage einzunehmen. Er erwachte aus 55
seinem Halbschlaf durch Rufe und Getrappel und blendende Helligkeit. Das Tor stand offen. Die ersten Russen kletterten aus dem Viehwaggon. Juri richtete sich auf die Knie und stützte sich mit den Händen ab. Er sah viele deutsche Soldaten vor dem Wagen in schwarzen und grünen Uniformen. Einige hielten das Gewehr auf sie gerichtet. „Los! Los! Dawai! Dawai!“ riefen sie. „Macht voran, macht voran, aber schnell, schnell!“ Überall standen Lastwagen. Überall kletterten junge Russen von hinten auf die Lastwagen. Als Juri mit den anderen in Richtung Wagen ging, sah er einen langen Zug von Eisenbahnwaggons, aus denen immer mehr jugendliche Russen kletterten. Die Menschenströme teilten sich. Die Richtungen zeigten Gewehrläufe an. Weder die Mädchen noch die Jungen weinten. Jeder tat das, was von ihm verlangt wurde, wovon er annahm, es werde von ihm verlangt: Den Viehwaggon zu verlassen, zu diesem oder jenem Lastwagen zu gehen, auf den Lastwagen zu klettern, sich hinzuhocken und zu warten. Die Fahrt auf dem offenen Lastwagen war kurz. Die Wagen fuhren durch einen dichten Fichtenwald. Juri Suslow suchte unter den anderen nach einem bekannten Gesicht. Niemand sprach. Die jungen Menschen waren erschöpft und verwirrt. Als der Wagen den Wald verlassen hatte, waren wieder Eisenbahngleise zu sehen. Die Straße führte jetzt neben der Bahnlinie entlang. Der Wagen näherte sich einem Dorf. Die Menschenfracht durchquerte das Dorf. Nach wenigen hundert Metern hinter den letzten Häusern blieb der Lastwagen stehen. Als Juri Suslow mit den anderen vom Wagen gestiegen war, erkannte er, dass sie sich in einer von Stacheldraht umzäunten Barackenstadt befanden. Er ging mit den anderen, hatte die Befehle nicht gehört, ging dennoch, lief mit. Und die anderen liefen auch mit, nahezu automatisch. Es ist Nachmittag, dachte 56
Juri, als er die dünne Sonne hinter den Wolken sah. Alle wurden in Baracken geführt. In der Baracke war es eng, überall standen Metallbetten; zwei Betten waren auf ein drittes gestellt, das auf dem Boden stand. Juri hatte so etwas noch nie gesehen. Dünne Decken lagen auf den Betten. Als Juri die Betten sah, spürte er auf einmal, dass er unendlich müde war. Der Wunsch, sich hinzulegen und ausstrecken zu können, überflutete ihn. Sie müssten warten, sie würden erst untersucht. Neben dem Mann, der sie auf russisch angesprochen hatte, standen zwei deutsche Soldaten mit Gewehren. Juri Suslow, der sich, wie angewiesen, entkleidet hatte, stand in Unterhose und im Unterhemd in der Reihe, die vor einer grünen Baracke entstanden war. Auf der Stirnseite war ein Holzschild angebracht, auf dem etwas stand, was Juri nicht lesen konnte. Es waren deutsche Worte: „Entwesungsstation“. Die Baracke hatte zwei große Eingänge. Juri stand vor dem Eingang auf der rechten Seite, durch den jetzt langsam junge Leute eintraten. Die Mädchen versuchten mit ihren Armen die Brüste mehr zu verdecken, als dies die Unterhemden vermochten. Aus der Tür auf der linken Seite kamen diejenigen heraus, die zuvor durch die rechte Tür in die Baracke getreten waren. Über den Eingängen standen, gleichfalls auf Holztafeln gepinselt, wieder fremde Schriftzüge. Über der rechten Tür, durch die Juri in die Baracke schritt, stand: „Schmutzige Seite“, über der anderen Tür besagte das Schild: „Saubere Seite“. Im Inneren der Baracke öffnete sich ein großer Raum. An der den Eingängen gegenüberliegenden Wand standen drei Meter von ihr entfernt Tische; dahinter standen oder saßen Männer, einige Frauen. Sie trugen weiße Kittel oder weiße Jacken. Juri zitterte vor Anspannung. Zwei Gruppen hatten sich gebildet. Links im Raum befanden sich plötzlich die Mädchen und jungen Frauen, rechts standen die Jungen und jüngeren 57
Männer. Juri sah, wie ein Mann in weißem Kittel, der aussah wie Spiri Lama, der Lump aus Juris Viertel, mit einem Gerät, einer Luftpumpe ähnlich, weißes Pulver einem Mädchen überall hinspritzte, der Pulverstaub schoss aus dem Gerät wie Wasser aus einer Spritze, und der Mann hielt die Pumpe unter die Achseln des Mädchens, in den Schoß, zum Schluss vor das Gesäß, während das Mädchen halbgebückt die Hinterbacken mit den Händen auseinanderzog. Das Mädchen hielt die Augen geschlossen. Jetzt stand auch Juri vor dem Tisch. Hinter dem Tisch saßen zwei blonde Frauen. Eine von ihnen machte ihm Angst. Neben dem Tisch saß auf einem grauen Hocker ein Mann in einem weißen Kittel. Der Mann rauchte eine Zigarre, die ähnlich stank wie die Pfeife vom Lumpen Spiri Lama, der seinen Machorka mit Pfefferminz- und Rosenblättern streckte. Die Deutschen lachten und unterhielten sich. Der Mann war laut. Die Frau, vor der Juri Angst hatte, kicherte und deutete dabei mehrmals auf den Jungen. „Noch so ein Hosenscheißer“, sagte der Mann. „Wo soll denn der Zwerg arbeiten?“ Bei den Jungen, die vor Juri untersucht worden waren, hatte der Mann die Arme befühlt, hatte sich die Füße zeigen lassen. Bei Juri tat er es nicht. „Hose runter!“ sagte der Deutsche laut. Juri verstand nichts. Der Mann griff zur Unterhose des Russenjungen. Juri hatte gesehen, dass die vor ihm Stehenden die Hosen heruntergezogen hatten. Instinktiv zog er blitzschnell die Hose herunter. Der Mann hatte seine Zigarre in einen Aschenbecher gelegt, beugte sich nach vorn und beäugte den Unterleib des Fünfzehnjährigen. Der Mann hob mit einem Stöckchen den Penis von Juri hoch. Juris Herz klopfte vor Scham und Angst. Der Mann sagte etwas zu den Frauen, das Juri nicht verstand. Die Frauen lachten. „Vielleicht wird daraus mal ein Schwanz. Nicht beschnitten! Kein Judenbengel! Entwesen! 58
Weiter!“ Juri wurde von seinem Hintermann zur Seite geschoben. Während er zwei Schritte nach links tat, versuchte er die Hose hochzuziehen. Hinter ihm stellte sich der Nächste auf. Nun stand er vor einem anderen Mann, der eine weiße Jacke über einer dunklen Uniformhose trug. Dieser Mann griff wieder nach Juris Hose, die er gerade hochgezogen hatte, und zerrte sie mit einem Ruck nach unten. Dabei riss das Gummiband. Während der Mann mit der linken Hand das Gummiband von Juris Hose zerrissen hatte, hatte er mit der rechten in einen Behälter gelangt, die Hand weiß wieder herausgezogen und Juri in die Lenden gegriffen. Er schmierte und drückte. Dann griff er wieder in den Behälter und schmierte das weiße Zeug unter die Achseln des Jungen. Danach wurde gewogen und gemessen. Dabei rutschte die Hose von den Lenden. Die hübsche blonde Frau, die das Messen und Wiegen vornahm, lachte gemein. Als Juri Suslow, die Hose festhaltend, zum Ausgang „Saubere Seite“ ging, hörte er hinter sich einen Schrei. Er sah zurück: Ein Junge in seinem Alter war vor dem Mann zu Boden gestürzt, der seine Lenden besehen hatte. Der andere Mann, der mit der weißen Jacke über der dunklen Uniformhose, trat nach dem am Boden liegenden Jungen. „Aufstehen, Judenbengel!“ In der folgenden Nacht schlief Juri Suslow tief und fest. Der Schlaf hatte über Hunger und Aufregung gesiegt. Der nächste Tag verdämmerte in der Baracke. Einmal gab es aus einem Blechnapf Suppe, dazu einen Kanten Brot. Leise unterhielten sich die jungen Russen. Dabei lauschten sie, ob jemand sie hören konnte. Sie werden zum Arbeiten nach Deutschland geschafft, sagten einige. Der Junge, den die Deutschen niedergeschlagen hatten, sei ein Jude, sagten andere. Sie hätten alle die Hose herunterlassen müssen, damit die Deutschen sehen konnten, wer von ihnen beschnitten sei. Noch 59
zwei Juden hätten die Deutschen an diesem Tag entdeckt, sagte einer. Die würden sofort an Ort und Stelle erschossen. Vor dem Abtransport der neuen Arbeitskräfte wurden Läuse und Juden entfernt. Vor beiden hatten die Deutschen Angst. Der fünfzehnjährige Russe kannte nur die Schweinelaus: Er hatte sie auf den Dörfern bei Dnjepropetrowsk in den Schweineställen gesehen, besonders bei den Ebern, aber Menschenläuse kannte Juri nicht. Er hatte auch nie gehört, dass ein Schulfreund oder einer von den jungen Pionieren, mit denen er oft zusammen in Zeltlagern gewesen war, Läuse gehabt hatte. Die Deutschen hatten sie geweißt mit diesem Läusepulver, so dass sie aussahen wie einige afrikanische Stammesangehörige, die sich mit weißer Asche einrieben. Der Geographielehrer hatte es ihnen an dem Tag erzählt, an dem Juri mit seinem Klassenkameraden Aljoscha ins Kino in Dnjepropetrowsk gegangen war. Es war an dem Tag gewesen, an dem der Lastwagen der Deutschen vor dem Kinoausgang mit laufendem Motor auf sie gewartet hatte. Später in Deutschland erfuhr Juri Suslow den Grund: Angst der Deutschen vor den Läusen. Durch die Läuse werde das Fleckfieber übertragen, erzählte ihm ein anderer Russe, einmal sei in einem Lager in Polen eine Fleckfieber-Epidemie ausgebrochen, vier deutsche Wachsoldaten seien an dieser Krankheit gestorben. Der Russe, der ihm das später in Deutschland erzählte, sagte auch, diese Läuse hätten fast immer nur die Kriegsgefangenen eingeschleppt, und die auch nur deshalb, weil sie monatelang in Erdlöchern gehaust hätten. Die Deutschen hätten die sowjetischen Kriegsgefangenen zu Zigtausenden, so sagte der Russe, später in Deutschland im Martinwerk 7, auf einem Wiesengelände zusammengetrieben, das von großen Stacheldrahtzäunen eingefasst gewesen wäre. Baracken seien nicht errichtet worden, auch keine Zelte. Da hätten die sowjetischen Kriegsgefangenen Erdhöhlen ausgehoben, in denen sie sich vor Wind und Regen geschützt 60
hätten. Plötzlich erfasste Unruhe die Menschen in der Barackenstadt. Es ginge los, hieß es. Der Transport nach Deutschland, raunten sie; in den Stimmen schien die bange Frage zu schwingen, was sie am Ende des Transportes erwartete. Juri hatte die Enden des Gummibandes seiner Unterhose verknotet. Das Band war zu kurz. Sie kletterten in die Viehwaggons; diesmal waren sie nach Geschlechtern getrennt worden. An zwei Stellen vom Holzfußboden des Viehwaggons war ein kreisrundes Loch von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser herausgesägt worden. Als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte und der fünfzehnjährige Juri Suslow aus Dnjepropetrowsk die Abortstellen im Boden des Waggons sah, legte sich ihm eine Beklemmung auf die Brust, als feine Ahnung von dem, was ihn erwartete. Zehn Tage nach dem Menschenraub in einem Kino von Dnjepropetrowsk hatte ein Lastwagen mit der Sklavenfracht aus dem Osten sein Ziel erreicht: das Kraftwerk am Kanal. Zwanzig Jugendliche, Jungen im Alter von fünfzehn bis zweiundzwanzig Jahren, Juri war der Jüngste von ihnen, bekamen einheitliches blaues Arbeitszeug; ihre eigenen Kleider wurden in die Entlausungskammer geschafft. Sie wurden von einem Wachmann in eine Baracke geführt und mussten an einem großen Holztisch Platz nehmen. Jeder erhielt einen kleinen Blechnapf mit einer Schnur. Ihnen wurde gezeigt, wie sie sich die Schnur um den Hals zu legen hatten, damit der Blechnapf vorne auf der Brust zu hängen kam. Sie wurden in einer Reihe aufgestellt. Ein dicker Mann ging an ihnen vorbei und nahm aus einem Karton Löffel, von denen er immer einen in den Blechnapf warf. Als alle einen Löffel hatten, mussten sie mehrmals um den Tisch hintereinander gehen. Es schepperte und klirrte. Der Dicke lachte dümmlich 61
und sang zur Melodie „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“: „Es klappert der Löffel im leeren Blech. Iwan bleib hier, lauf doch nicht wech!“ Die anderen Deutschen lachten. Juri lächelte dünn und schief. Der Dicke war vor ihm stehen geblieben und hatte gesagt: „Iwaneken, Iwaneken, du bist der kleinste Untermensch, den ich kenne.“ Wieder lachten die anderen Deutschen, diesmal noch lauter. „Schluss, Meierdick!“ schnauzte plötzlich einer der Deutschen. „Setzen und essen! Dann schlafen! Wer weiß, wann wir wieder ‘ne Ladung Ofenreiniger bekommen.“ Juri Suslow wurde schwindelig, als er den ersten Löffel heißer Wassersuppe hinunterschluckte. Er schwankte auf der Bank und stellte den Blechnapf hin, um sich am Tisch festhalten zu können. Es verging. Hastig löffelte er den Napf leer. Mehr als ein Jahr nach dem Menschenraub in einem Kino von Dnjepropetrowsk sang der kleine „Mann, von dem man spricht“ im deutschen Kino: „So ein Regenwurm hat’s gut, so ein Regenwurm hat’s fein, ach könnt ich doch ein Regenwurm, ein Regenwürmchen sein.“ Der sechzehnjährige Russe verstand inzwischen Deutsch, doch warum der Mann einen Regenwurm beneidete, das verstand er nicht. Die anderen Kinobesucher lachten. Juri sah die vielen Eisenstäbe des Löwenkäfigs, sah den kleinen Mann auf der Leinwand hin- und herhasten, sah, dass der flüchten wollte vor den Tieren, von denen er sein Leben bedroht sah. Er dachte an seinen Vater am Dnjepr. Er sah wieder Aljoscha, wie der über den Platz lief. Juri wusste plötzlich auch, er würde Wilhelms Vater nichts vom „Mann, von dem man spricht“ erzählen. Er stieß Wilhelm leicht am Arm an. Wilhelm sah verstört aus, als er seinen Kopf dem jungen Russen zuwandte. Juri lächelte gequält. „Juri“, sagte der Deutsche leise. Noch bevor das Licht anging, stand Wilhelm auf. Er hatte plötzlich Angst. Es war, als schlichen der junge Deutsche und der junge Russe aus dem 62
Kino, während der Vorhang sich rauschend und quietschend schloss. „Dawai!“ sagte Juri Suslow leise. Im Laufschritt kamen die Jungen am Haus der Eltern von Wilhelm an.
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9 Ofenreiniger „Wir haben niemanden mehr zum Ofenreinigen. Das habe ich Ihnen schon x-mal gesagt!“ Der Betriebsleiter telefonierte zum vierten Mal mit dem Arbeitsamt. Er brauche wendige Leute, die auch in die tiefer gelegenen und engeren Stellen der Öfen gelangen konnten. „Liliputaner haben wir nicht auf Lager“, höhnte der Mann am anderen Ende der Leitung. „Glauben Sie, das ist der Moment, Witze zu machen?“ schrie der Betriebsleiter in den Hörer. „Wir machen hier Strom! Wissen Sie, wozu der wichtig ist? Strom ist kriegswichtig, Mann, kriegsentscheidend, hören Sie: Entscheidend! Der wird vor allem im Panzer- und Granatenwerk gebraucht. Der Führer braucht Strom, Mann! Und wenn die Öfen voller Schlacke sind, dann ist’s zappenduster!“ „Ist ja gut!“ beschwichtigte der andere. „Aber wir haben keine kleinen Leute. Wo soll ich denn kleine Leute hernehmen? Ich kann sie mir doch nicht aus den Rippen schneiden. Sollen wir Ihnen etwa Kinder schicken?“ „Das ist mir egal, das ist mir vollkommen egal“, schrie der andere. „Hauptsache, meine Öfen sind sauber.“ „Gut“, wurde der Mann vom Arbeitsamt förmlich. „Wir werden uns bemühen, Ihnen Leute zu besorgen.“ Nach einer Pause lachte der Parteigenosse vom Arbeitsamt wieder: „Was wollen Sie denn haben, kleine Juden oder kleine Untermenschen?“ Als er vom Betriebsleiter vom Kraftwerk am Kanal nichts mehr hörte, beendete der andere das Gespräch: „Sie hören von uns, Heil Hitler!“ Die Öfen wurden immer in den Nächten vom Samstag auf 64
Sonntag gereinigt, manchmal aber auch den ganzen Sonntag über. Die Ofenreiniger verrichteten an den anderen Tagen Hilfsarbeiten im Kraftwerk, einige von ihnen wurden ausgeliehen ins nahegelegene Panzerwerk, andere in die Schraubenwerke. Wenn sie die Wahl hatten, sich zu entscheiden, dann ließen sich die meisten ins Panzerwerk bringen. Die Arbeit war körperlich zwar schwerer als im Schraubenwerk, auch durch Ruß, Rost und Staub eine fürchterliche Drecksarbeit, doch im Schraubenwerk traf die jungen Russen erneut Gluthitze. Das Schraubenwerk produzierte Schrauben für Eisenbahnschwellen auf Hochtouren. Das Schraubenwerk war zum Rüstungsbetrieb erklärt worden. Die Bautrupps der deutschen Wehrmacht brauchten zum Bau von Eisenbahnlinien für Truppen- und Rüstungstransporte Hunderttausende von Bahnschwellen-Schrauben. Die geglühten Schrauben fielen in große viereckige Eisenkästen, die einen Meter breit, einen Meter hoch und einen Meter lang waren. Die Eisenkästen mussten auf flachen Wagen stehen, während die glühenden Schrauben aus der Stanze fielen. Die jungen Russen mussten die Kästen mit den glühenden Schrauben zu den Abschreckbecken schieben. Tränen trockneten sofort. Manchmal war ein Eisenkasten nicht richtig auf den Wagen gesetzt worden. Dann geriet er beim Schieben außer Kontrolle und verrutschte oder kippte vom Wagen. Mit Brechstangen mussten die Russen den Eisenkasten wieder auf den Wagen hebeln, nachdem sie zuvor mit langen Stangen die Hälfte der heißen Ladung aus dem Kasten gezogen hatten. Wenn der Kasten wieder richtig auf dem Wagen stand, mussten die glühenden Schrauben mit Schaufeln wieder eingeladen werden. Früher verrichteten diese Arbeit ausschließlich Deutsche, die Schutzbrillen, Schutzhelme, hitzeabweisende Arbeitshandschuhe trugen. 65
„Sie sind wohl nicht ganz bei Trost!“ herrschte der Werkmeister den Stanzer an. „Schutzbrillen für Russen?“ Es wären doch aber blutjunge Menschen, hatte der Mann an der Schraubenstanze eingewandt. „Menschen, dass ich nicht lache! Wir sind im Krieg, Volksgenosse, wir sind im Krieg mit Untermenschen.“ Wenn die zur Stromversorgung dienenden Koksöfen gelöscht worden waren, mussten die Schlackenreste von den Röhren und von den Wänden abgeschlagen werden. Der ausgebrannte Koks fiel auf bereitstehende Waggons. Die glühenden Teile, die neben die Waggons fielen, schaufelten die Russen in Loren. Zum Ofenreinigen bekamen Deutsche, Russen und Juden Hämmer und Brecheisen. Damit mussten sie die an den Röhren und an den Wänden festsitzenden Schlackenreste abschlagen. Im Werk hingen überall große Anschläge, auf denen Unfallverhütungsvorschriften zu lesen waren. Vor allem mussten Arbeitshandschuhe getragen werden, auch Staubmasken. Wer keine Arbeitshandschuhe trage und wer keine Staubmaske aufsetze, wer keinen Schutzhelm trage, der bringe sich und auch andere in Gefahr, stand in den Unfallverhütungsvorschriften. Je tiefer sie in die Öfen eindrangen, desto heißer wurde es. Im Schein der mitgeführten Lampen sah es so aus, als sei die Schlacke erkaltet, doch wenn man sie abschlug, war sie an einigen Stellen noch glühend. Es war nie vorher auszumachen, wo die Schlacke erkaltet und wo sie noch glühend war. Die Schlacke war tückisch. Drei deutsche Arbeiter, meist jedoch nur zwei, sollten mit in die Öfen. Die deutschen Arbeiter mit Arbeitshandschuhen, Staubmasken, Schutzhelmen und hitzeabweisender Arbeitskleidung waren mehr zur Überwachung der Russen in den Öfen, als dass sie selber die Arbeit des Schlackeabschlagens verrichteten. Auch sie hatten Brecheisen und Hämmer in der Hand, und von Zeit zu Zeit klopften auch sie Schlacke ab. Diese Arbeiter waren von der 66
Parteileitung ausgesucht worden. Es waren zuverlässige Pgs. Besonders schlimm wurde es, wenn zu den russischen Zwangsarbeitern eine Judenkolonne einer Baufirma kam. Dann arbeiteten Russen und Judenkolonnen übereinander, beide jedoch noch unter den Deutschen. Wenn alle im Ofen waren, sagten die deutschen Arbeiter, dass sie, die Arier, ihnen zeigen würden, wie hier gearbeitet werde. Wenn die Judenkolonne kam, hatten die Russen Angst. Die deutschen Arbeiter richteten es so ein, dass zu einer gewissen Zeit mehrere Ofenreiniger an einer tiefer gelegenen Stelle des Ofens versammelt waren, während die deutschen Aufseher über ihnen hantierten. Die Deutschen trieben die Juden und die Russen zur Eile an. Sobald die Deutschen zwischen dem Pochen und Hämmern ein Weinen hörten, trieben sie die Fremdvölkischen noch mehr zur Eile an. Wenn mehrere russische Zwangsarbeiter und mehrere Juden unter den höher arbeitenden Deutschen klopften und hebelten und schlugen, taten die deutschen Arbeiter über ihnen besonders fleißig. Es musste schnell gehen, denn dort, wo die Deutschen wirkten, war es heiß, war unter der trügerischen dunklen Schicht der Schlacke oft Glut. Die Arier schlugen und klopften und hebelten gleichfalls schnell, doch verbissen und hastig, schafften es, dass heiße Asche, oft große Schlackebrocken, auch Glut auf die unter ihnen arbeitenden Menschen stürzte und regnete. Die Arbeiter bückten sich schnell und zogen die Jacke über den Kopf. Dieser Spuk dauerte nicht lange, denn die Deutschen hielten es in den höher gelegenen Teilen nicht lange aus. So kam es auch nur zu kleineren Verletzungen und geringfügigen Verbrennungen. Die heiße Asche wurde in Kauf genommen. Die Arbeiter achteten aber darauf, wenn über ihnen ein Brocken losgehebelt worden war, der größere Schaden anrichten konnte. Wenn die Judenkolonne und die Zwangsarbeiter wieder aus den Öfen geführt worden waren, erstatteten die Aufseher der 67
Betriebsleitung Bericht. Oft lachten sie: „Von Pompeji zurück!“ Juri hatte fünf Monate als Ofenreiniger gearbeitet, als es ihn traf. Der Junge war besonders geschickt, hatte immer ausweichen können, wenn ein größerer Brocken über ihm losgebrochen worden war und nach unten stürzte. Juri war erkältet und todmüde und an diesem Tag nicht so reaktionsschnell wie sonst. Zu spät sah er, dass über ihm sich ein großer Schlackebrocken hatte losbrechen lassen. Plötzlich spürte er den Aufschlag des großen Steinbrockens im Kreuz. Er hatte sich nicht wie sonst an die Wand geworfen, dass der Brocken nur vor seine Füße fiel, sondern hatte sich geduckt, sich klein machen wollen, den Kopf an die Brust und die Knie gepresst. So hatte ihn der Brocken mitten zwischen die Schulterblätter getroffen. Die Wunde wollte nicht heilen. Er musste auf dem Bauch liegen und musste auf dem Bauch schlafen. Er verfiel zusehends und wurde kraftlos. Die Wunde eiterte und wurde größer. Als Juri die dünne Wassersuppe verweigerte, die ihm die anderen Russen zu seinem Pritschenlager brachten, schluchzte die deutsche Heilgehilfin. „Dat Iwaneken muss wech“, sagte der Koch zum Kommandoführer. „Wird doch nix mehr mit dem“, sagte er noch. Alle glaubten, Juri würde das nicht überleben, der Körper sei verseucht von der schwärenden Wunde, die mittlerweile so groß geworden war, dass ein großer Teil des Rückens wie zerfressen aussah. Doch nach zwei Monaten bedeckte nur noch Schorf diese Stelle. Juri wurde wieder zum Kraftwerk am Kanal zurückgebracht. Er kam in dieselbe Baracke. Zwei Ofenreiniger waren inzwischen gestorben. Einer vor Entkräftung, der andere war tot aus dem Ofen geschleppt worden. Was im Ofen geschehen war, erfuhr niemand. Der Tote hatte eine riesige, klaffende Wunde am Kopf, er war über 68
und über mit Blut besudelt. Juri ging wieder in den Ofen. Die Angst verflog nicht. Die meisten Arbeiter des Kraftwerks kannten die Russen. Sie sahen, wie sie zur Arbeit gingen, sahen, wie sie in die Öfen kletterten und sahen, wie sie herauskamen: verschmutzt, rußbeschmiert, dreckig, nur durch ihre Statur voneinander zu unterscheiden. August Wehner, ein Arbeiter des Kraftwerks, hatte von Juri erfahren. Es wurde über den Jungen gesprochen. Einige sagten, der Junge könne nichts dafür, dass Krieg sei. Das wurde heimlich geredet, wenn keiner von den Hundert- und Hundertfünfzigprozentigen in der Nähe war. August Wehner hatte seiner Familie von den Russen erzählt, auch von dem kleinen Iwan. Der Junge war so alt wie sein Sohn Wilhelm. Seine Frau und seine Tochter Margot fragten auch: „Was macht der kleine Juri, wie geht es ihm? Lebt er noch? Ist er noch im Krankenlager? Muss er wieder in die Öfen? Kann er nicht was anderes machen?“ Eines Tages hatte Wilhelm, der Sohn von August Wehner, gefragt: „Vater, kann man den Juri da nicht rausholen? Gibt es keinen Weg, ihn rauszuholen?“ „Nur an arbeitsfreien Tagen geht das“, hatte der Vater gesagt, „aber wie?“ Als eines Abends die Familie zusammensaß, dachte August Wehner laut: „Vielleicht kann ich dem Lagerführer sagen, der Juri soll uns beim Bau eines Luftschutzkellers helfen. Der ist klein und geschickt. Und hinterm Haus sind noch alte Stollen, von den ehemaligen kleinen Bergwerken, den Kleinzechen. Da bauen wir uns einen zum Luftschutzkeller aus. Den Juri, weil er so klein ist, den schicken wir vor, der könnte uns dabei helfen. Das sagen wir dem Lagerführer.“ An einem arbeitsfreien Tag wurde der fünfzehnjährige Juri Suslow aus der Baracke geholt. Er wurde auf die andere Seite des Drahtzaunes vom Lager geführt. Dort stand August Wehner. August Wehner nahm ihn bis zur 69
nächsten Bus-Haltestelle mit. Sie stiegen in den Bus. In der Nähe des Hauses der Wehners stiegen sie aus. Bei den Wehners saßen der fünfzehnjährige Wilhelm und die elfjährige Margot zusammen am Tisch, sie standen auf und gaben dem Russen die Hand. Der war verwirrt. Er solle sich setzen, sagten sie. Dann kam die Frau von August Wehner. Auch sie gab ihm die Hand. Sie führte ihn zum Waschbecken und sagte ihm, er solle sich die Hände waschen. Er wusch sich die Hände und trocknete sie ab. Dann sagten sie, er solle sich wieder an den Tisch setzen. Der August Wehner hatte sich auch hingesetzt. Alle schauten den Russen an. Vor jedem stand ein Teller und lag ein Löffel. In einem Korb lagen Brotscheiben. Die Frau stellte eine Schüssel auf den Tisch. In der Schüssel war Suppe. In der Suppe waren Fleischstücke. Fleisch! Juri konnte sich an Fleisch nicht mehr erinnern. Er hatte nicht mehr gewusst, wie Fleisch aussah. Die erste Kelle Suppe wurde auf seinen Teller geschüttet. Als die Teller gefüllt waren, reichten sie sich die Hände. Links von ihm saß der Junge, der nahm seine Hand, rechts von ihm saß das Mädchen, es nahm seine Hand. Dann hoben alle die Hände hoch und sagten: „Gott, segne unsere Mahlzeit!“ und „Guten Appetit“. Dabei schüttelten sie rhythmisch die Hände in der Luft und lachten. Juri aß zwei Teller. Ihm liefen die Tränen und fielen in die Suppe.
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III Gelage und Gequatsche
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10 Tanz der Obermenschen Der Brigadeführer SS saß im Schaukelstuhl neben dem Kamin. Er sah durch die Glastür über die Terrasse zur Auffahrt. Neben der gläsernen Gartentür stand ein kleines Sofa aus altem Rohr, auf dem drei Kissen aus rosa Seide lagen. Die Wände waren mit dunkelroter Seide bespannt. Schwungvoll geschnitzte, senkrecht verlaufende Holzleisten hielten die Seidenbespannung straff. An einigen Stellen war das Gold der Holzleisten abgeblättert, an anderen Stellen verblichen. Der Parkettfußboden des großen Salons hatte nicht überall die gleiche Farbe, in der Mitte setzte sich ein helleres Rechteck ab, ein großer Teppich musste ihn lange Zeit bedeckt haben. Über dem niedlichen Clubsofa neben der Glastür hing ein großes Bild von zwei nackten jungen Menschen, Frau und Mann; das Paar bedeckte einander die Unterleibsblößen mit den Händen. Ihre Blicke gingen aus dem Bild, sie sahen sich nicht an, sondern blickten auf etwas weit vor ihnen Liegendes. Das Fleisch der beiden Figuren war weißlich. Ein bisschen zu weiß, dachte der Brigadeführer SS, als er das Bild betrachtete. „Viel zu weiß, das Fleisch“, sagte er laut. Er wandte den Kopf nach rechts. „Finden Sie nicht auch, Gauleiter?“ Der Gauleiter saß auf der anderen Seite des Kamins aus Marmor- und Bronzepracht, gleichfalls in einem Schaukelstuhl. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen. „Der Junge und das Mädchen da auf dem Bild. Viel zu weiß! Finden Sie nicht auch?“ Der Gauleiter starrte überrascht auf das Bild, als sähe er es zum erstenmal. Er legte die Fingerspitzen und die Handflächen gegeneinander, legte die beiden Zeigefinger gegen die Lippen und schüttelte den Kopf. „Aber reinrassig sind sie“, lachte er trocken. „Etwas 72
schwächlich, aber nordisch schon.“ Er hatte das Bild anbringen lassen, hatte es zwar nicht ausgesucht, doch dafür gesorgt, dass die entarteten Bilder entfernt worden waren. Er hatte angeordnet, ein Bild eines deutschen jungen Paares im blutgebundenen Stil für diesen Platz zu finden. Der Brigadeführer wandte sich an den Gauleiter, gequält lächelnd: „Und das gefällt Ihnen?“ Der Gauleiter nahm die Fingerspitzen vom Mund: „Gefallen ist nicht die Frage. Wichtig ist, dass dieser jüdische Dreck weggeräumt wird und dass unsere Kunst an die Wand kommt. Die Kunst muss gut sein, verantwortungsbewusst, gekonnt, volksnah und kämpferisch, sagt der Führer. Das wissen Sie als SS-Mann besser als ich.“ „Aber, aber Gauleiter!“ beschwichtigte der Brigadeführer, „ich wollte nicht am Geschmack des Gauleiters zweifeln.“ Jetzt lachte der ranghohe SS-Mann: „Doch wenn ich mir die beiden so ansehe, mit kämpferisch ist da nicht viel los.“ Der Gauleiter kicherte: „Na warte, wenn der ‘ne Uniform anhat, wie der dann aussieht!“ Die großen Fenster der Villa ließen viel Sonne herein. In breiten Bahnen fiel das Licht auf den Parkettfußboden. Aus den Nebenzimmern drang Lachen, Geschirrklappern und Gläserklirren, Geschäftigkeit, Eilen und Tappen mischten sich zum Geräusch der Vorbereitungen einer Festlichkeit. Der Gauleiter stand als erster auf, er, der Hausherr des Gästehauses der NSDAP. Ein wenig hinter ihm, aber kaum merklich, folgte ihm der Brigadeführer SS, Polizeipräsident dieser Stadt. Die Gartentür aus Glas wurde vor beiden geöffnet. Gemessen gingen die Männer auf die Terrasse bis zur breiten geschwungenen Freitreppe, die die prachtvolle Villa mit dem Gartengelände und der langen Allee verband. Das erste Auto bog langsam in die breite Einfahrt und rollte vor der Treppe aus. Ein junger SS-Mann sprang heraus und riss den Wagenschlag auf. Der Staatssekretär stieg bedächtig aus 73
und ebenso bedächtig stieg er die Stufen empor zu den beiden auf ihn wartenden Männern. „Lahme Pfeife“, zischte der Brigadeführer zwischen den Zähnen. „Heil Hitler“. Hacken zusammen. Arme hoch. Wagen um Wagen fuhr vor in der nächsten halben Stunde. Der große Salon und die angrenzenden weiträumigen Zimmer füllten sich mit gutgelaunten Uniformierten und ihren Frauen. Sekt, Cognac und Wein wurden eingeschenkt. Bedienstete reichten Zigarren und Zigaretten herum. Um neunzehn Uhr bat der Gauleiter ins Esszimmer. SA-Mann Peter Reiter hatte Herzklopfen, als er den Kiesweg entlang auf diese weiße Villa zuging. Das hohe geschweifte Dach war von weitem durch die Bäume zu erahnen. Die langgestreckte Front des Gebäudes mit der ausladenden Freitreppe, den breiten Gartentüren und der riesigen Glastür auf der Terrasse leuchtete im Spätnachmittagslicht. Peter Reiter hörte Lachen von Frauen und Männern über der Schlagermelodie „Was macht der May-er am Hima-la-ja...“ Das Fest war in vollem Gange. Er ging schneller und versuchte seinem Gang Geschmeidigkeit zu geben. Peter Reiter war überrascht, als sein ehemaliger Sturmbannführer ihm gesagt hatte, er lade ihn ein zum Abend mit dem Staatssekretär und „einigen wichtigen Figuren“ aus dem SS-Hauptamt in Berlin. Dann hatte der Sturmbannführer zu ihm gesagt: „Pitter, da kannste mal richtig den Lachs raushängen lassen!“ Dabei hatte er gelacht und mit dem rechten Zeigefinger das Unterlid des rechten Auges nach unten gezogen. „Den Lachs raushängen lassen?“, dachte Peter Reiter. Er hatte nicht verstanden, was der Sturmbannführer damit hätte meinen können. Als Reiter stutzte, hatte der Sturmbannführer leise wissend gesagt, da wären auch viele feine Mädels dabei, Reiter solle sich mal auf Vordermann bringen. Sein „Heil Hitler“ fiel kaum auf, als er 74
eintrat. Sein Sturmbannführer winkte ihn zu sich heran. Sie standen in der Nähe der großen Glastür zur Terrasse neben einem großen Bild mit einem nackten Paar. Auf einem kleinen Sofa neben ihnen saßen zwei junge BDM-Mädchen und eine etwa Dreißigjährige in einem blauen Abendkleid mit gewagtem Ausschnitt. Peter Reiter sah auf die beiden Nackten des Wandgemäldes über den jungen Mädchen auf dem alten Rohrsofa. Der Sturmbannführer stand neben ihm, lächelte und schwieg. Eine Ordonnanz kam mit einem Tablett mit Champagnergläsern vorbei. Reiter erschien die Situation unwirklich. Er rätselte, wie er zu der Ehre kam, zu diesem Abend mit den wichtigen Männern aus Berlin eingeladen worden zu sein. Bin doch nur ein Polizist, dachte er. 1939 hatte er sich, wie viele seiner Freunde aus der Dachdeckerinnung und andere Handwerksmeister zur Polizei gemeldet. Er wollte nicht zur Wehrmacht, seine Freunde wollten auch nicht zur Wehrmacht. Ihre Rechnung war bisher aufgegangen. In Frankreich, am Atlantik Sicherungsaufgaben, mehr nicht. An sich ein tolles Leben, dachte Peter Reiter. Doch vor vierzehn Tagen kam der Einsatzbefehl: Bandenbekämpfung im Osten. Der Einsatzbefehl betraf vierhundert Mann aus der Polizeikaserne, alles Leute, die sich, wie er auch, 1939 freiwillig zur Polizei gemeldet hatten. Er, Peter Reiter, sollte ein Kommando leiten. Bandenbekämpfung - was ist das? Peter Reiter hatte viele gefragt. Keiner hatte Auskunft geben können oder wollen. Zwei Tage nach dem Einsatzbefehl kam die Einladung seines ehemaligen SA-Sturmbannführers: Gala-Abend im Gästehaus der NSDAP. Wichtige Leute aus dem Reichssicherheitshauptamt Berlin kämen und ein Staatssekretär aus dem Innenministerium sei auch dabei, hatte ihm sein ehemaliger Sturmbannführer gesagt. Er sollte noch einmal 75
richtig feiern, bevor es nach Osten ginge. SA-Mann Reiter betrat zum zweitenmal diesen Bau. In der Nacht zum 10. November war er zum erstenmal in diesem Gebäude gewesen. Damals war es noch die Villa Blumenfeld. Blumenfeld, der Geldsack, dachte Peter Reiter. Die Nacht zum 10. November 1938 war sein erster größerer Einsatz. Dafür wurde er gelobt. „Saubere Arbeit“, hatten sie gesagt, saubere Arbeit hätte Peter Reiter geleistet, der SA-Mann Reiter. Er hatte die Villa judenfrei gemacht. So stand es auch in der „National-Zeitung“. Nun aß er mit wichtigen Männern aus Berlin. Er wolle niemandem das Essen verderben, hatte der Gauleiter gesagt, der als Hausherr als erster zu reden begonnen hatte. Sie saßen bei Kerzenschein an gedeckter Tafel. Aber er müsse doch über die Aufgaben der Partei und ihrer Gliederungen sprechen. Eines müsse er allen in dieser Stunde ins Bewusstsein rufen: „So wie die Nacht aufsteht gegen den Tag, und Licht und Schatten sich ewig Feind sind, so ist der größte Feind des Erdebeherrschenden Menschen der Mensch selbst.“ Peter Reiter hörte dem Gauleiter gespannt zu, wusste aber nicht, was der sagen wollte. „Der größte Feind des Erdebeherrschenden Menschen“, wiederholte der Gauleiter, „ist der Mensch selbst. Die Nacht steht gegen den Tag auf. Licht und Schatten sind keine Freunde!“ Der Mann war laut geworden. „Der Tag und die Nacht sind unterschiedlich. Das wissen wir, Kameraden. Und deshalb muss jeder Nationalsozialist wissen, wer sein größter Feind ist.“ Der Brigadeführer SS klatschte dreimal leicht in die Hände. Der Gauleiter wurde lauter: „Kameraden! Wir müssen wissen, wo der Feind steht, politisch und biologisch. Und deshalb ist es wichtig zu wissen, dass es den Untermenschen gibt. Deshalb sind wir hier zusammengekommen. In diesem Sinne begrüßt die NSDAP und ihre Gauleitung die Vertreter 76
des SS-Hauptamtes und den Staatssekretär. Alles ist nicht gleich, was Menschenantlitz trägt! Wehe dem, der dies vergisst.“ Der Gauleiter setzte sich hin, es schien, als hätten ihn die wenigen Worte angestrengt. Jetzt stand der Staatssekretär auf und klopfte an sein Weinglas. Der Gauleiter habe den Kern getroffen, sagte der Staatssekretär. „Gauleiter, Sie haben genau das gesagt, was der Deutsche zur Selbsterhaltung in dem Sumpf, in der Hölle, in der Unterwelt braucht. Die Kultur ist gewachsen, indem sich der Mensch hinaufgearbeitet hat in ein höheres Dasein, um das Unzulängliche zu gestalten und das Unzureichende durch Besseres zu ersetzen. Das hat sich die NSDAP als Ziel gesetzt. Pflug, Werkzeug und Haus sind durch diese selbstgesteckten Ziele des Menschen entstanden. So ist der Mensch Gottes Nächster geworden, indem er gut und groß wurde und sich weit über alle Lebewesen emporgeschwungen hat.“ Der Staatssekretär machte eine Pause und sah in die Runde: „Aber Kameraden, auch der Undank entsteht, der Hass, dieses Werk von unten. Der Undank wütete gegen das Werk der anderen. Er wütete heimlich wie ein Dieb, aber auch öffentlich als Lästerer, als ein Kritikaster, ja, als ein Mörder. Und er gesellte sich mit Seinesgleichen, und er rottete sich mit Gesindel zusammen. Sie konspirierten miteinander. Die Bestie rief die Bestie.“ Der Staatssekretär machte wieder eine Pause. Dann sprach er mit großer Betonung weiter: „Denn Frieden hat der Untermensch nie haben wollen.“ Er sprach dozierend, als hätte er es auswendig gelernt: „Der Untermensch hat nie den Frieden gewagt. Nie hat er Ruhe gegeben. Er braucht das Halbdunkle, sucht das Schummrige. Er brauchte immer das Chaos, um zu wirken. Und er hat das Licht gescheut, das Licht des kulturellen Fortschritts der nationalsozialistischen Bewegung. Und diese Unterwelt des Untermenschen, die bekämpfen wir! 77
Und ich wiederhole es und ich wage es noch einmal zu sagen: Kameraden! Kameraden! Wir sind heute zusammen, um uns zu vergewissern und zu stärken, dass wir gemeinsam gegen den Untermenschen kämpfen müssen! Unser Kampf geht gegen Banditen und gegen Banden! Heil Hitler!“ Peter Reiter klatschte wie die anderen. Und wie die anderen war auch er von seinem Platz aufgestanden. Das hatte der Staatssekretär gesagt: Kampf gegen Banditen und Banden. Und sein Auftrag lautete: Bandenbekämpfung im Osten. Also ging es gegen Untermenschen, das war seine Aufgabe. Ein Grammophon wurde angestellt. Walzermelodien wurden gespielt während des Essens. Der Gauleiter stand bereits auf, als der Kaffee eingeschenkt wurde. Danach spazierte die Gesellschaft durch die große Villa. Sekt, Cognac, Wein, Zigarren, Zigaretten - alles war im Überfluss auf Tischen, Tabletts, in Dosen, Kistchen und Kästen. Ober flitzten herum oder verdrückten sich, machten Verbeugungen und fragten leise nach Wünschen. Foxtrott wurde nun aufgelegt. Peter Reiter stand wieder an dem Clubsofa neben der Tür. Er stand allein. Er hatte sich seinen Cognacschwenker nur wenig füllen lassen. Die Gesellschaft tat fröhlich und ausgelassen. Sein ehemaliger Sturmbannführer lachte. Jeder grüßte jeden. Reiter sah überall bekannte Gesichter. Fünf andere Polizeioffiziere aus der Kaserne waren gleichfalls unter den Gästen. Der Sturmbannführer winkte Reiter zu sich. Andere Polizeioffiziere und SS-Leute standen schon bei ihm. „Sturmbannführer?“ Der Mann stellte Reiter vor. Bei einem älteren Mann sagte er, der sei wie Reiter: „Auch SA-Mann gewesen. Einer von unseren alten Kämpfern.“ Lauter sagte er: „Staffelmann Schikowski, einer meiner besten! Schikowski ist schon lange im Osten dabei. Schikowski gehörte zu meiner Standarte. Kamerad Schikowski hat schon in der Kampfzeit Kerben in 78
den Pistolenschaft geschnitten, wenn er einen roten Halunken umgelegt hatte. Klar, Schikowski?“ „Jawoll, Sturmbannführer!“ Schikowski schlug die Hacken zusammen. Sein großes Glas war randvoll mit Cognac gefüllt. „Kamerad Reiter“, sagte der Sturmbannführer, „Schikowski kann erzählen, wie es im Osten ist. Schikowski, Staffelmann, wie habt ihr das gemacht? Da in diesem Dorf am Dnjepr und in den Städten, was war da?“ Schikowski, der immer noch stramm stand und sein Glas in der Hand hielt, sah Reiter mit glänzenden Augen an: „Am Dnjepr von Dorf zu Dorf umgelegt. Alles umgelegt. Keiner blieb übrig.“ „Schikowski, mal ‘n bisschen genauer! Von diesem Dorf ist doch Bericht erstattet worden ans SS-Hauptamt.“ „180 Juden, Banditen und Untermenschen wurden umgelegt, vernichtet“, sagte Staffelmann Schikowski knapp und militärisch, als machte er Meldung. „Ja, Kamerad Reiter, so ist das im Osten. Da gibt es keinen Pardon. Da gibt es keine Russen, da gibt es keine Polen, da gibt es keine Tschechen, Kamerad Reiter. Da muss es ihnen genauso egal sein wie uns SS-Leuten, ob es denen schlecht geht oder gut geht. Wie es denen geht, das ist völlig gleichgültig, total gleichgültig. Ob die nun im Wohlstand leben oder ob sie verrecken, verhungern, das darf Sie gar nicht interessieren. Schikowski, hat Sie das interessiert!“ „Nein, Standartenführer!“ „Das hat Sie nur so weit zu interessieren, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur gebrauchen können. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens zehntausend russische Weiber vor Entkräftung umfallen oder nicht, das interessiert uns nur so weit, als der Panzergraben für Deutschland fertig werden muss. Wir Nationalsozialisten sind niemals roh und herzlos und wo es nicht sein muss, da werden wir auch nicht hart sein, das ist 79
doch vollkommen klar. Wir Deutsche, die wir als einzige Nation der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen. Zu den Menschentieren, zu den Polacken, zu diesen Iwans, zu diesen Schangels, zu diesen Tschechen. Es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, Kamerad Reiter, wenn wir uns um sie Sorgen machen und nicht um unsere Söhne und Enkel. Wenn jemand sagt, wenn sie die Panzergräben bis zum Umfallen ausheben, das ist unmenschlich, die würden daran krepieren, die würden das nicht aushalten, ja, da kann ich nur sagen, der Deutsche, der das sagt, der ist ein Mörder, der ist ein Mörder am eigenen Blute. Denn wenn der Panzergraben nicht gebaut wird, dann sterben deutsche Soldaten. Und dann sind es Söhne deutscher Mütter, die dabei draufgehen. Das ist unser Blut, was dann vergossen wird! Das ist genau das, was wir wissen müssen, und was Ihre Aufgabe ist, Reiter, wenn Sie nach Osten gehen. Wir sind das Herrenvolk und müssen hart aber gerecht regieren. Wir werden das Letzte aus diesem Land herausholen. Wir kommen nicht, um Segen zu spenden, sondern um dem Führer zu helfen. Die russische Bevölkerung muss arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten. Alles andere kann uns gleichgültig sein.“ Peter Reiter sagte nichts. Er sah plötzlich, dass neben ihm der Brigadeführer SS stand und nickte. „Sehr gut, sehr gut, das ist das, wofür wir seit Jahren kämpfen“, sagte der Brigadeführer SS. „Das ist ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich. Das ist unser Blutideal. Ja, meine Herren, in diesem Sinne!“ Der Brigadeführer SS hob sein Glas. Alle anderen hoben ihre Gläser. Der Brigadeführer SS sagte hölzern „Prost!“, verbeugte sich steif und ging. Die anderen gingen gleichfalls. Peter Reiter blieb am Sofa aus altem Rohr stehen. Neben ihm auf dem Clubsofa saß eines der beiden jungen BDM80
Mädchen. Das Mädchen hatte die Unterhaltung mitgehört und starrte ihn mit großen Augen an. Peter Reiter hatte das Gefühl, als hätte das Mädchen Angst. Er trank das Glas Cognac leer und ging dem Sturmbannführer nach. Kurz vor Mitternacht waren die meisten betrunken. Der Staatssekretär hielt sich weiterhin tapfer an Wasser. Der Gauleiter war um dreiundzwanzig Uhr von Ordonnanzen hinausgetragen worden. „Kann nichts vertragen, dieser Goldfasan“, sagte der Brigadeführer SS. „Große Schnauze, große Sprüche, redet wie gedruckt, als wenn er Hitlers ,Mein Kampf’ noch mal schreiben wollte“, sagte der Brigadeführer SS zu seinen Leuten, die um ihn standen. „Ach, lassen wir das, meine Herren, Meyer, noch mal ‘n bisschen was zu saufen!“ Peter Reiter stand immer noch neben dem Clubsofa. Ihn schwindelte. Das Essen war gut gewesen, doch hatte er mehr Alkohol getrunken, als er wollte. In der Nähe des Brigadeführers SS stand Schikowski, dieser Schutzstaffelmann, wie ihn alle nannten. Er hatte ein blödes Gesicht, lachte breit und schlug von Zeit zu Zeit vor dem Brigadeführer SS die Hacken zusammen. „Jawoll!“ Der Brigadeführer hatte sich in den Schaukelstuhl gesetzt. Der Schaukelstuhl stand nun mitten im Raum. Einige Offiziere tanzten eng mit BDM-Mädchen. Die etwa dreißigjährige Frau mit dem tiefen Ausschnitt hatte die Arme einem glatzköpfigen Offizier um den Hals geschlungen. Das Grammophon dudelte zum dritten Male hintereinander: „Auf dem Dach der Welt, da steht ein Storchennest, da liegen lauter süße Babys für uns drin. Wenn dir eins gefällt und du mich heiratest, dann bringt der Storch dir auch ein...“ Ein betrunkener SS-Offizier gröhlte und sang falsch: „Auf dem Dach der Welt, da steht ‘ne Flakbatterie, die schießt den lieben langen Tag, doch treffen tut die nie.“ „Schnauze halten!“ schrie der Brigadeführer. „Jawoll, Herr General“, lachte der Betrunkene und sang 81
weiter: „...da steht ‘ne Flakbatterie, der Storch beißt dich ins linke Bein...“ „Wegschaffen den Kerl!“ Um den Brigadeführer SS stand und saß eine Gruppe von Uniformierten. Reiter war müde; ihm taten die Augen weh. Er hatte den Eindruck, als beobachte ihn der Brigadeführer schon längere Zeit. Unvermittelt befahl der Mann: „Schikowski, Schutzstaffelmann, komm her! Knall nicht die Hacken zusammen! Rühren! Setzen!“ Ein SS-Mann musste den Schutzstaffelmann Schikowski auf einen Stuhl bugsieren und den schweren Mann regelrecht auf die Sitzfläche drücken. „Reiter, kommen Sie mal her!“ Reiter stellte sich vor den Schaukelstuhl des Brigadeführers. „Schikowski, sitzen bleiben! Erzähl diesem Neuling, wie das mit den jungen Iwans am Dnjepr ist, wie ihr die geholt habt für den Einsatz im Deutschen Reich. Der ist ja die ganze Zeit hier in der Stadt, hier bewachen seine Leute Russen, Tschechen, Holländer und Polen, Franzosen und wie diese ganzen Fremdrassigen heißen. Wie habt ihr das gemacht, Schutzstaffelmann? Erzähl ein Beispiel. Los Schikowski!“ Schikowski stand mit einem Ruck auf und schob den Stuhl mit einem Fuß nach hinten. Er war gewöhnt, im Stehen Antwort zu geben. „Also, wir haben uns überlegt, wie können wir die Zahl der jungen Arbeitskräfte schneller zusammenkriegen. Einmal haben wir eine Postenkette um ein Dorf gemacht und sind langsam Schritt für Schritt in die Mitte des Dorfes gegangen. Das war abends, also, es wurde schon dunkel. Das hat nicht viel gebracht, weil alte Weiber und alte Männer dazwischen waren. Die haben geschrien wie die Verrückten. Einmal haben wir einen Park umstellt. Einer hatte ausgekundschaftet, wann das war, wenn die jungen Russen sich treffen abends im Park. Wir haben ihn umstellt. Und dann los, wieder Schritt für Schritt zur Mitte. Das gab zwei Lastwagen voll. Und dann kam einer 82
mit der Bombenidee. Der machte den Kinovorschlag. In Dnjepropetrowsk lief so ‘n Film, den die jungen Ukrainer liebten. Da haben wir gewartet, bis das Kino voll war. Und kurz bevor das Kino aus war, haben wir langsam einen Lastwagen vor den Ausgang geschoben, die hintere Klappe runter, daneben noch zwei. Am Hinterausgang standen unsere Leute. Als der Film zu Ende war, hatten wir sie in der Zange. Da ging’s dawai, dawai, alles nach vorn auf die Wagen rauf! Und Motor an. Ruck, zuck, hatten wir die ganze Bande im Sack. Einer von denen ist quer über den Platz gelaufen. Sein Freund hat noch nach ihm geschrien. Bautz, und hops, weg war er! Macht ‘n Salto rückwärts. Dann war Ruhe. Konnten wir nicht riskieren, dass einer die anderen in Aufruhr bringt.“ Der Brigadeführer SS nickte beifällig. „Reiter“, sagte er und sprach Peter Reiter direkt an, „und dann hat so ein Arschloch von einem deutschen General an den Führer geschrieben, die Wehrmacht sei in einem wahren Blutrausch. Da mussten viele Banditen und Juden und Untermenschen umgelegt werden. Mal auf ‘ner Wiese, mal in einem Steinbruch, mal in einem Haus, mal neben einem Haus. Ist ‘ne schäbige Arbeit, die getan werden muss. Und da fragt dieser Arsch den Führer, wo soll dieser Blutrausch noch hinführen? Da fängt der an, die Toten zu zählen. Unbegreiflich! Da könnten wir ja auch Fliegen zählen.“ Der Brigadeführer SS lachte kurz auf. Die Umstehenden lachten mit. Peter Reiter lachte gequält und sah den Brigadeführer an. Er glaubte, der werde noch etwas sagen. Ein Kellner brachte einen Pokal mit Champagner für den Brigadeführer. Der nahm das Glas, nippte daran und stellte es auf einen Rauchtisch neben den Schaukelstuhl. Er begann, den Schaukelstuhl langsam in Bewegung zu setzen. Nach einiger Zeit lösten sich die Umstehenden von ihren Plätzen und gingen. Nur eine Ordonnanz stand hinter dem Schaukelstuhl und wartete.
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IV Wanja und Olga Russenputzen
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11 Putzen Ein Bombentreffer hatte die längst durch andere Luftangriffe unbrauchbar gewordene Halle neben der ArtillerieKonstruktionsabteilung vollends zerstört. Die Druckwelle der Explosion hatte die Scheiben der Konstruktionsabteilung A A, wie Artillerie - zerbersten lassen. Durch die Erschütterung waren Risse im Mauerwerk und im Fußboden entstanden. „Die Bomben sollten uns treffen“, sagte einer der Konstrukteure, „nicht diese kaputte Halle. Das wusste der Tommy ganz genau. Er wollte uns kaputtschlagen.“ Das AKA wurde ausgelagert. Die ArtillerieKonstruktionsabteilung kam in den „Schützenhof“, ein vor der Stadt gelegenes Hotel der Extra-Klasse im Jugendstil. Die Hotelzimmer wurden ausgeräumt. Einige Wände wurden über Nacht herausgebrochen. Die Bruchstellen wurden notdürftig verputzt. Zwei Tage danach wurden morgens die schräggestellten Zeichentische in den ehemaligen Hotelzimmern aufgestellt. Mittags bereits vervielfältigten technische Zeichnerinnen die Konstruktionen für Geschütze, Waffen, anderes Kriegsgerät. Bereits am ersten Tag, als die technischen Zeichnerinnen ihre neuen Zeichensäle im „Schützenhof bezogen hatten, waren Olga und Wanja da. Die beiden Mädchen kamen aus der Ukraine. Beide waren siebzehn Jahre alt. Olga und Wanja putzten den Bau, fegten, schrubbten und wischten die Fußböden. Sie mussten das Haar unter Kopftüchern verbergen. Beide schauten ängstlich, wenn sie mit Wassereimern, Schrubber und Scheuerlappen die Zeichensäle betraten. Besonders in den ersten Wochen beaufsichtigte ein Werkmeister die „Russenputzen“. Wie schon in der ehemaligen Artillerie-Konstruktionsabteilung von Zander kam er auch in 85
den „Schützenhof“ in SA-Uniform zur Arbeit. Die beiden Mädchen fürchteten sich vor dem Mann. Er sagte nichts zu ihnen, sprach nicht mit ihnen. Er stand da und er sah ihnen zu. Wenn die Mädchen ein Zimmer gesäubert hatten und das Zimmer verlassen wollten, pfiff der Mann. Die Mädchen erkannten beim ersten Mal, dass dieser Pfiff ihnen galt. Sie blieben stehen, und stellten die Putzeimer ab. Der Werkmeister ging langsam durch den Raum. Er bückte sich und fuhr mit dem Finger über den Fußboden. Dann gab er mit einer Handbewegung den Mädchen zu verstehen, dass sie das Zimmer noch einmal wischen sollten. Der Mann sagte kein Wort, er pfiff. Die beiden russischen Zwangsarbeiterinnen mussten nicht die Zimmer säubern, wenn die deutschen Zeichnerinnen gegangen waren, sie mussten ihren Putzdienst verrichten, während die deutschen Mädchen an den Zeichenbrettern standen und Konstruktionszeichnungen vervielfältigten. Der Werkmeister achtete darauf, dass sie dabei keine der Deutschen berührten. Es durften auch keine Spritzer an die Beine der deutschen Mädchen gelangen. Es gehörte zur Aufgabe der beiden russischen Putzmädchen, Abfälle vom Bleistiftanspitzen aus den Schalen zu nehmen. Dabei mussten sie sich aus ihrer gebückten Haltung erheben und die Blechschalen, die in Halterungen an den Tischen befestigt waren, herausheben. Oft mussten sie dabei an den deutschen Mädchen vorbeigreifen. Der Werkmeister hatte es ihnen beigebracht, dass sie bei dieser Arbeit eine Verbeugung vor den deutschen Mädchen zu vollführen hatten, sozusagen als die Bittgebärde, ob sie die Schalen entleeren dürften. Einmal hatte Olga, ein Mädchen mit nahezu weißlicher Haut, lustigen Sommersprossen, kastanienbraunem Haar und feurigen Augen, die nun aber von Traurigkeit stumpf geworden waren, vergessen, eine dieser Schalen auszuleeren. Ein deutsches Mädchen hatte vergeblich versucht, durch heimliche 86
Gesten, die der Werkmeister nicht sehen durfte, aber auch durch Hinweise mit den Augen, die Russinnen darauf aufmerksam zu machen, dass die Schale mit den Abfällen vom Bleistiftanspitzen noch geleert werden müsse. Olga hatte es nicht gesehen. Das deutsche Mädchen jedoch sah, dass der Werkmeister diese Schale im Auge behielt. Beide Russinnen glaubten, der Zeichensaal sei geputzt. Der Mann in der braunen Uniform ging auf den Zeichentisch zu, nahm die Schale aus ihrer Halterung und leerte sie langsam mit einer weiten Armbewegung über dem Fußboden. Die beiden Russinnen begannen sofort, das Zimmer noch einmal zu putzen. Nach einigen Wochen stellte der Werkmeister seinen täglichen Bewachungsdienst ein. Nur noch gelegentlich kam er und sah nach den beiden Mädchen. In den Wochen seiner Abwesenheit fasste sich die erste der deutschen technischen Zeichnerinnen ein Herz und verließ den Zeichensaal. Die Zeichnerin ging auf die Toilette als auch Olga, um neues Wasser zu holen, dorthin gegangen war. Die Toilette, mehr ein Klo, hatte auf einer Seite ein großes gusseisernes, tiefliegendes Waschbecken mit einem Wasserhahn. Von dort holten die Russinnen das Wasser. Daneben befand sich, durch eine Kachelwand abgetrennt, die Toilette. Sieglinde, die technische Zeichnerin, hatte Herzklopfen, als sie den Toilettenraum betrat. Olga hatte den Eimer auf das Waschbecken gestellt und wusch ihn mit frischem Wasser sauber. Die Russin sah sich nicht um, als jemand den Raum betrat und ließ weiter Wasser in ihren Eimer laufen. Sieglinde blieb mit dem Rücken zur Tür stehen. Sie sah das andere Mädchen an, das nur wenige Jahre jünger war als sie selbst. Olga drehte den Wasserhahn zu, hob den schweren Wassereimer von dem gusseisernen Waschbecken und stellte ihn auf den Boden. Noch immer drehte sie sich nicht um. Doch 87
um hinausgehen zu können, musste sie es tun, sie hatte jedoch Scheu, sich umzukehren. So wartete sie, weil sie Angst hatte, den Zorn der Deutschen zu erregen. Sieglinde sagte leise: „Olga, dreh dich um! Guck mich doch an!“ Olga, die schon etwas deutsch verstand, hörte ihren Namen. Sie spürte, dass die andere wohlwollend sprach. Sie griff den Eimer und drehte sich vorsichtig um. In der rechten Hand hielt sie den Schrubber wie ein Soldat sein Gewehr. Sieglinde lachte. Olga sah nun, dass die Deutsche sie anlachte, ihr sogar zunickte. „Olga, ich heiße Sieglinde.“ Dabei zeigte die Deutsche auf die Russin, dann auf sich selbst. Mit klopfendem Herzen verließ die deutsche technische Zeichnerin eilig diesen Ort einer heimlichen Begegnung. Fast alle technischen Zeichnerinnen glaubten an die nationalsozialistische Idee. Aber auch für sie wurde das Damen-Klo zum Verschwörungsort. Dort trafen sie sich heimlich mit Olga und Wanja. Dort erfuhren die Zeichnerinnen auch die Umstände dieses Menschenraubes. Olga und Wanja kamen aus verschiedenen Ortschaften. Doch in beiden Orten war es gleich abgelaufen: Die Bürgermeister der beiden Dörfer mussten zur Kommandantur. Ihnen war befohlen worden, in fünf Tagen zwanzig, in dem anderen Dorf fünfzehn junge Burschen und Mädchen als angeworbene Arbeitskräfte zu stellen. Wenn nicht... Die deutschen Mädchen brachten den beiden russischen Mädchen heimlich Geschenke: Einmal bekamen Olga und Wanja jede eine billige Brosche, ein anderes Mal hatten die deutschen Mädchen beschlossen, Olga und Wanja je eine Bluse zu schenken. Die Übergabe der Bluse war für beide Seiten aufregend. Olga weinte, Wanja lachte. Immer wieder sagten sie leise: „Spassiba! Spassiba! Danke! Danke!“ Von den Butterbroten, die ihnen die Zeichnerinnen zusteckten, wenn die 88
Russinnen gebückt zu ihren Füßen den Boden wischten, ließen sie immer eines eingepackt; das nahmen sie ins Lager mit und teilten es mit ihren Freundinnen Anna und Magda. Auch Anna brachte an manchen Tagen ein Butterbrot in das Lager. Das Mädchen tat gleichfalls Putzdienst. Sie putzte im Süden der Stadt in den großen Villen, wo selten eine Bombe fiel und sich der Krieg nur in den allgemeinen Versorgungsschwierigkeiten zeigte, im Explosionslärm und in dem Feuerschein der nächtlichen Luftangriffe auf die Innenstadt und die nördlichen Industriegebiete sowie die dort angrenzenden Arbeitersiedlungen. In den drei von der Partei bezogenen Villen mussten sie mit anderen Mädchen als Saubermachfrau arbeiten. Auch in der Villa eines Direktors des Stahlkonzerns von Zander arbeitete sie als Reinemachfrau. Anna wurde nicht, wie die meisten russischen Arbeiterinnen, mit Kolonnen zum Dienst geführt, auch nicht mit Kolonnen vom Dienst wieder ins Lager gebracht. Anna durfte allein ins Lager zurück. Auf dem Rückweg durchsuchte sie heimlich und vorsichtig die Mülltonnen nach Essbarem. Sie versuchte sich dabei zu verstecken, damit es kein Deutscher sah. Nachdem sie eine Woche in der Villa gearbeitet hatte, fand sie hinter einer Mülltonne eine Zigarrenkiste. In dem Kistchen lagen in Fettpapier eingewickelte Brote. Anna nahm die Zigarrenkiste mit ins Lager. Sie hatte sie unter ihrer wattierten Jacke versteckt. Sie zitterte vor Aufregung, als sie in der Baracke angekommen war. Die vier Mädchen Olga, Wanja, Anna und Magda schliefen am Ende der Baracke nebeneinander in den doppelstöckigen Pritschen. Als die Mädchen sich auf ihren Pritschen ausgestreckt hatten und mit den schmutziggrauen Wolldecken zugedeckt hatten, berichtete Anna flüsternd den anderen von dem Fund. Langsam machte sie den Deckel unter der Decke auf. Dann teilten die vier Frauen das Essen. Am nächsten Tag versteckte Anna das Kistchen unter der 89
wattierten Jacke. Als sie sich unbeobachtet glaubte, legte sie es an die Stelle, an der sie es gefunden hatte. Jeden Tag fand sie es mit Broten gefüllt. Sie erfuhr nie, wer sie speiste. Nur Magda, die vierte der jungen Russinnen, brachte nichts Essbares mit ins Lager. Sie arbeitete im Granatenwerk von Zander als Hilfsarbeiterin beim Granaten-Drehen. Oft weinte sie still bei der Arbeit: Die Granaten schlugen vielleicht auch im Dorf ihrer Eltern im Donbecken ein, dachte sie dann. Sieglinde fiel es als erster auf. Wanja wurde blass. Einmal erbrach sich das Mädchen, als es sich bückte. Sieglinde sagte nichts und tat, als übersähe sie, dass Wanja das Erbrochene wegwischte. Die Deutschen standen stumm, weil Sieglinde ihnen ein Zeichen gegeben hatte mit der Hand und mit einem Finger auf dem Mund. Als Wanja auf die Toilette gegangen war, sagte die Deutsche plötzlich: „Kinder, die ist schwanger. Die kriegt ein Kind.“ Wanja tat noch Dienst bis kurz vor der Niederkunft. Seltsam war, dass der Werkmeister mit der SA-Uniform im achten Monat von Wanjas Schwangerschaft auftauchte, dabei die Russin bei der Arbeit zwar regelrecht besichtigte, doch nicht mehr pfiff, sie auch nicht mehr schikanierte, wie früher. Er stand nur noch da, lehnte sich an die Wand, hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und sah die Russin an. Manchmal schüttelte er unmerklich den Kopf. Die deutschen Mädchen versuchten mit der Russin über die Schwangerschaft zu sprechen und fragten, wer der Vater sei. Doch Wanja weinte nur still. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, da sie Angst hatte, ihre Situation könne dadurch schlimmer werden, dass sie bestraft würde. Wanja kam eines Tages nicht mehr. Olga tat allein Putzdienst. Die deutschen Mädchen fragten Olga. Olga sagte, der Vater wäre ein junger Russe, der so alt wie Wanja sei, und beide kämen aus demselben Dorf. Aber der Vater des Kindes, das Wanja bekäme, lebe nicht mehr. Den hätten die Deutschen 90
erschossen. Ein anderer russischer Arbeiter hätte ihn verraten. Der hatte die beiden jungen Menschen oft zusammen gesehen, Wanja und Fjodor. Der Arbeiter, der den Deutschen gesagt hatte, Fjodor hätte die Wanja geschwängert, hätte gedacht, er werde dafür belohnt werden mit Essen, Freizeit, Zigaretten oder mit irgend etwas anderem, lang Entbehrtem, unbekanntem Schönen. Fjodor wurde zunächst verprügelt. Am Ende der Tortur war sein Gesicht nicht mehr zu erkennen. Wanja kam wieder zum Putzen zurück. Doch sie sprach mit niemandem mehr. Es war, als sei sie stumm geworden. Sie hielt die Augen gesenkt wie in den Anfangszeiten, als sie im „Schützenhof“ mit dem Reinemachen begonnen hatte und der Werkmeister in der SA-Uniform sie schikaniert hatte. Wenn die deutschen Mädchen Olga fragten: „Was ist mit dem Kind?“, dann weinte Olga. Einmal sagte sie: „Weggenommen, zapp-zarapp.“ Sieglinde fragt: „Gestohlen?“ „Da, da“, sagte Olga. „Kind weg! Kind tot!“ Von diesem Tag an wurde im Saal der Zeichnerinnen nicht mehr gelacht. Die Kinder wurden sofort umgebracht. Diese Mitteilung, die flüsternd die Runde machte, von der keines der Mädchen wusste, wie sie in den Zeichensaal gelangt war, fror jede Fröhlichkeit ein. Eines Tages sagte ein Mädchen, einige der Russenbabys kämen in Krankenhäuser, konfessionelle Krankenhäuser. Aber dann wären die bereits in einem so elenden Zustand, dass auch die größte Fürsorge der Ordensschwestern sie nicht am Leben erhielte.
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V In der Gruft
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12 Der Tunnel Es war, als hätte der Tod seine jüngeren Geschwister vorausgeschickt: Die Krankheit und den Schmerz. Doch es gab Tage, an denen er selbst in den Tunnel unter dem Bahndamm kam. Dann wurde wieder einer herausgetragen, oft herausgeschleift. Zwei, manchmal auch drei Gefangene übernahmen diese Arbeit. Sie fassten den Leichnam dort, wo er sich für sie am besten packen lassen konnte. Tote zu tragen, ging vielen bereits über die Kräfte. Wenn der Leichnam aus dem Tunnel geschafft worden war, wurde er auf einen flachen Pritschenwagen gelegt. Es gab eine Zeit, da waren die Bombenopfer unter der deutschen Zivilbevölkerung und unter den Gefangenen so zahlreich, dass die Totengräber der umliegenden Friedhöfe mit ihrer Arbeit nicht nachkamen. Der Arbeit der Totengräber stellte sich der Frost der Wintermonate Ende des Jahres 1944 und zu Beginn des Jahres 1945 entgegen, manchmal machte er sie unmöglich. Die Erde war durch die Kälte hart gefroren. Die Bestattung der toten Deutschen hatte Vorrang vor dem Verscharren toter Russen. Wie für die lebenden Russen Regeln als Befehle ausgegeben worden waren, so waren auch Regeln für die toten Russen ausgegeben worden. Die Bedingungen, unter denen die russischen Kriegsgefangenen und die russischen Zwangsarbeiter in Deutschland zu leben hatten als Arbeitssklaven in der Industrie und in der Landwirtschaft, sollten weitaus härter sein, als jene, unter denen die ersten polnischen Fremdarbeiter in Deutschland arbeiten mussten. Der Reichsführer der SS hatte es so gewollt. Und der Reichsinnenminister, der allmächtige Minister, donnerte, wenn Russen etwas zu Fressen bekämen, dann sollte ihnen nur 93
Hunde- und Katzenfleisch vorgesetzt werden. In den Lagern B und S beispielweise, in denen zigtausend russische Kriegsgefangene in Erdlöchern hausten, und wo sich in einem der Kriegswinter „die Sache von selber erledigt hatte“, war die Lagerfläche nach wenigen Wochen ohne einen Grashalm Gras und Baumrinde waren die einzige Nahrung. Tote sowjetische Kriegsgefangene sollten namenlos bleiben. Sie sollten unbekannte Tote sein. Keine Urkunde über ihr Ableben in den Standesämtern, kein Grab für sie. Massengräber sollten für sie angelegt werden. An einer abseits gelegenen Stelle eines jeden Friedhofes sollten, wenn Russen starben, Russenfelder ausgeschaufelt oder ausgebaggert werden. Keine Särge für Russen: Dachpappe für jeden Toten, mit Stacheldraht verschnürt zu einem Bündel. In den Wintermonaten 1944 und 1945 gab es kaum noch Dachpappe in Deutschland. Die wenige Dachpappe, die es gab, war ein Schatz, um Bombenschäden zu beseitigen und notdürftig Dächer zu reparieren. Stacheldraht war knapp geworden in dieser eisigen Zeit. Die vielen toten Russen wurden so wie sie waren in die Massengräber der Russenfelder geworfen - ohne Dachpappe und ohne Stacheldraht. Einige der Leichen wurden in Papiersäcke gepackt. Viele wurden nackt in die Gruben gebracht, die meisten wurden in ihrer schäbigen, verdreckten Kleidung verscharrt. Tote russische Fremdarbeiter wurden gleichfalls würdelos unter die Erde gebracht, doch nicht namenlos wie ihre toten kriegsgefangenen Kameraden. Die deutschen Friedhofsverwaltungen arbeiteten korrekt, in ihren Totenbüchern wurden die Wassilis, Andrejs und Anatolis ordentlich als begraben rubriziert. Die Zahl der deutschen Bombenopfer und jene unter den Gefangenen und Fremdarbeitern sowie die Zahl der toten Russen, die durch Tuberkulose, Lungenentzündung, Herzschwäche, Schlaganfall, Ruhr, Typhus, Unfall, Selbstmord vom Leben zum Tode gelangt waren, schwoll in den 94
Wintermonaten 1944/45 so an, dass Leichen tagelang liegenblieben. Die meisten Toten waren ausländische Arbeitskräfte, vor allem Russen. In jenem Tunnel unter dem Bahndamm grassierte unerkannt die Ruhr. Erst spät wurde die Epidemie entdeckt. Die Russen hatten ihre erkrankten Kameraden gedeckt und hatten sie an jenen Tagen, an denen sie aus dem Tunnel heraus ins Martinwerk 7 zum Arbeiten geführt wurden, im Tunnel zurückgelassen. Die deutschen Wachmannschaften, Hilfspolizisten, gingen auch am Tage nicht in den verdreckten und stinkenden Tunnel. Die Ereignisse waren durch ständige Luftangriffe zu einem Nacheinander von hektischen Katastrophen geworden, dass das Fehlen einiger Gefangener erst Tage danach bemerkt worden war. In dieser Zeit hatte die Ruhr in den Körpern der erkrankten, geschwächten Russen gewütet. Die wenigen Bissen Brot, die die anderen den Kranken von der Arbeitsstätte mitgebracht hatten, wurden von den Kranken kaum noch aufgenommen. Das Sterben kam schneller als erwartet. Innerhalb von zwei Tagen erlagen zwölf Männer im Tunnel der Epidemie. Zur gleichen Zeit war ein nahegelegenes Lager von Bomben getroffen worden, wobei dreiunddreißig sowjetische Kriegsgefangene den Tod fanden. Die Wachmannschaften wussten keinen Rat, was sie mit den Leichen beginnen sollten, da es niemanden gab, sie zu verscharren. Die Gefangenen wurden angewiesen, die zwölf Toten mit dem Pritschenwagen einige hundert Meter am Bahndamm entlang zu karren und dort abzukippen, wo das Gelände neben dem Weg abfiel zu einem Acker und wo ein Feldweg einbog. Dort hätten die Bestatter die Gelegenheit, später die Toten abzuholen. Wenn die Bestatter wieder in der Lage wären, Russenfelder zu belegen, so war überlegt worden, könnten russische Gefangene ihre toten Kameraden auf dem flachen Wagen dorthin fahren. 95
Der Winter war so kalt, dass die Toten, wenn sie an dieser Stelle auf den Karren angekommen waren, bereits erstarrt waren. Es wurden immer zwei der Zwölfe auf den Wagen gelegt und zu dieser Zwischenstation gebracht. Als die Leichen vom Wagen gehoben und den Abhang hinabgeworfen wurden, fielen sie verrenkt und in bizarren Stellungen an den Ackerrand. Ein neu hinzugeworfener Körper verhakte sich in den bereits auf dem Acker aufgehäuften, zu grotesken Figuren gefrorenen Körpern. In der Nacht war Schnee gefallen. Als am nächsten Tag wieder zwei Russen im Tunnel nicht mehr lebten und beide auf dem Karren an der Zwischenstation angelangt waren, sah dieser Gespensterhaufen unterm Schnee wie ein Haufen Gerümpel oder ungeordnetes Holz aus. Als die beiden neuen Toten zu den übrigen von oben gekippt worden waren, sah es aus, als lägen im wilden Tanz verbogene, verzerrte Körper leblos auf einem schneebedeckten Holzstoß. Der gefrorene Boden und die Toten waren sich ähnlich: Jeder Saft war zu Eis erstarrt, jedes Leben war abwesend. Ein Polizeioffizier entdeckte den Leichenhaufen. Er befahl, die toten Russen fortzuschaffen auf das nächste Russenfeld. Die deutschen Hilfspolizisten wurden gemaßregelt; es gab Strafen. Ein Arzt sollte den Tunnel begutachten. Der Arzt, an viele angeblich unhaltbare Zustände in den Lagern gewöhnt, erschrak, als er durch den Tunnel ging. Er sah keine Betten, er sah keine Matratzen, er sah keine Pritschen, er sah keine Öfen. Auf dem Boden lag verschmutztes, vermoderndes Stroh. An manchen Stellen war der Boden kahl, nicht einmal alle Russen konnten auf Stroh liegen. Der Tunnel war der Russen Nachtasyl. Frühmorgens wurden sie zur Arbeit ins Martinwerk 7 geführt. Tagsüber waren nur die Siechen im Tunnel. Dann trippelten Ratten durch das Gewölbe. Der Arzt schrieb einen Bericht an die Betriebsleitung des Martinwerks 7. Es dauerte Tage, bis er die Betriebsleitung 96
erreicht hatte. Der Mediziner forderte, die Kranken aus dem Tunnel zu schaffen. Wenn schon keine Betten und Decken aufgetrieben werden könnten in dieser Zeit, sollten zwei Wagen Stroh oder zwei Wagen Heu in den Tunnel geschafft werden als Schlafunterlage für die Gefangenen, regte er an. Die Betriebsleitung unternahm nichts. Erst als die deutschen Hilfspolizisten sich weigerten, den Tunnel weiter zu bewachen, weil sie fürchteten, die Epidemie erfasse auch sie, wurden die Sterbenden fortgeschafft. Als die Sterbenden aus dem Tunnel gebracht worden waren, gab es für sie keine Hoffnung mehr. Es gab niemanden, der Wert auf ihre Rettung gelegt hätte. Die wenigen Krankenhäuser waren Not-Krankenhäuser geworden, sie waren überfüllt mit Verletzten des Bombenkrieges. Verbandsmaterial und Medikamente waren knapp geworden. Es gab kaum noch Personal in den Krankenhäusern. Die sterbenden Russen wurden in ihr „Stalag“ geschafft, ins Stammlager. Alle sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen die Wachmannschaften oder die Betriebsleitung der einzelnen Werke annahmen, sie lebten nicht mehr lange, und denen anzusehen war, dass der Tod in ihnen saß, wurden in die „Stalags“, in die Stammlager, gefahren. Dort wurden die Anweisungen, tote sowjetische Kriegsgefangene nicht zu beurkunden, sondern sie als unbekannte tote Russen zu verscharren, befolgt. Die Zahl der dort gestorbenen, verreckten sowjetischen Kriegsgefangenen ist nicht bekannt geworden. Augenzeugen und einige der wenigen Überlebenden schätzen die Zahl auf zwanzig- bis dreißigtausend, die höchsten Schätzungen geben für ein Lager sogar sechzigtausend Tote an. Die Wachmannschaften aus deutschen Hilfspolizisten hatten sich geweigert, die Russen, die im Tunnel gefangen gehalten wurden, zu bewachen, weil sie glaubten, über die Exkremente der vor dem Tunnel liegenden Abortanlagen sich selbst anstecken zu können. An einer Seite des Bahndammes war eine 97
Latrine mit sogenanntem Donnerbalken aus Holz gezimmert worden. Die Sterbenden hatten oft keine Kraft mehr, sich dorthin zu schleppen. Die krampfartigen Durchfälle überfielen manche von ihnen innerhalb des Tunnels. Ob der Frost, fragten die deutschen Hilfspolizisten, der Kot und Urin gefrieren ließ, auch Krankheitserreger töte, sei nicht sicher. Nachdem die Sterbenden abtransportiert worden waren, wurden Säcke mit Kalk herangeschafft. Den Kalk mussten Gefangene in die Abortgrube schippen. Während der Tunnel an einem Tag geräumt worden war, und die meisten Gefangenen im Martinwerk 7 arbeiteten, streuten einige Gefangene mit Schaufeln Kalk auf den Boden des Tunnels und bewarfen die Wände damit. Zum Schluss wurde aus zwei Säcken Desinfektionspulver mit einer Spritze in den Tunnel geblasen. Ein beißender Geruch erfüllte das hundert Meter lange Gewölbe. Der Tunnel unter dem Bahndamm war als Unterkunft gewählt worden, nachdem bei einem Bombenangriff das eigentliche Lager der sowjetischen Kriegsgefangenen, die wie viele andere Hunderte aus anderen Lagern im Martinwerk 7 und in anderen Werken des Stahlkonzerns arbeiteten, von Bomben und Luftminen zerstört worden war. Hundertachtundvierzig Gefangene starben bei diesem Angriff. Russen und Fremdarbeiter hatten keinen Zutritt zu Luftschutzkellern und zu unterirdischen Bunkern. Als Fliegeralarm gegeben worden war, hatten sie nirgends Schutz finden können. Sie durften Gräben ausheben, Kabelgräben vergleichbar. Diese Gräben deckten sie mit allen möglichen Materialien ab, deren sie habhaft werden konnten: Balken und Bohlen, Bretter und Latten, doch nur Reste davon, Baumaterial wurde immer knapper, Blechstücke, Reisig, Lumpen, Abschnitte von Förderbändern. Diese schmalen Höhlengänge boten nur wenig Schutz; so wurden oft diese Splittergräben die Gräber der Russen. 98
Der Angriff hatte der Bahnlinie gegolten, die in der Nähe des Barackenlagers vorbeiführte und die als strategisch wichtiger Transportweg galt. Die Bomben hatten die Bahnlinie verfehlt. Einige von ihnen waren in das Ackerland nahe der Bahnlinie geschlagen. Die meisten Sprengsätze des Angriffs jedoch waren im Barackenlager der Russen explodiert. Viele Bomben hatten nahegelegene Häuser der deutschen Zivilbevölkerung getroffen und hatten dort Verwüstungen angerichtet, Blut und Tod gebracht. Knapp hundert Gefangene waren, als Sirenen heulend das kommende Inferno der Bombardierung angekündigt hatten, zum Tunnel unter den nahen Bahndamm gelaufen. Dort hatten sie Schutz gesucht und das Ende des Angriffs abgewartet. Als nach dem Angriff das Barackenlager ein Trümmerhaufen war, musste der Lagerführer, wie er es nannte, improvisieren. Das sei die Kunst des Krieges in der Heimat, sagte er lachend, obgleich draußen die Balken schwelten. „Wir müssen sehen, wo wir das Pack unterbringen“, sagte er. Als einer seiner Leute sagte, etwa hundert seien zu dem Tunnel gelaufen, hätten dort den Luftangriff unbeschadet überstanden, entschied der Lagerführer, hundertundfünfzig Russen dort unterzubringen. Links und rechts an den Eingängen des Tonnengewölbes wurden aus Holzwänden Palisaden errichtet; wer herein- oder herausging, musste wie durch eine Schleuse schreiten. Flucht aus diesem Tunnel war unmöglich, kein Entrinnen. Vor jedem Eingang standen Wachposten. Zwei Einmann-Bunker wurden auf jeder Seite aufgestellt, runde Stahlbehälter, in denen bei einem Luft-Angriff die Wachmannschaften Schutz suchen konnten vor Splittern. Der Zaun um das unbrauchbar gewordene Barackenlager wurde erneuert. Aus den Holzresten zimmerten sich die Gefangenen Hütten, in die sie für die Nachtzeit krochen. Andere übernachteten in großen, umgekippten Aschentonnen. Nur wenige schafften es, sich Erdlöcher zu graben, wie sie das 99
im Lager nach ihrer Gefangennahme auch gemacht hatten. Der Tunnel war knapp hundert Meter lang, ein Tonnengewölbe. Einmal hatte ein deutscher Wachmann gesagt, als durch die vielen Krankenfälle die Entkräftung der Gefangenen besonders augenfällig geworden war, der Tunnel sei wie ein langgestreckter Sarg. Er sagte: „Die Russengruft“. Da beide Eingänge durch Palisadenwände dicht gemacht worden waren, fiel auch am Tage in die Russengruft kein Licht. Nur diejenigen, die nah am Ausgang lagen, sahen das Morgenlicht und den Abenddämmer. Am Ausgang wollte keiner liegen. Alle drängten zur Mitte. Es war, als wollten sie sich wie eine Herde eine warme Mitte bilden und in der Mitte ihrer Gruft zusammenkommen, damit einer den anderen wärmte. Es war der letzte Wärmerest von Sterbenden. Anfangs war es noch, dass sie manchmal leise sangen oder summten. Je größer die Entkräftung mit der zunehmenden Kälte geworden war, umso seltener waren auch ihre Singe- und Summestunden. Doch manchmal erzählte Fjodor Rudenkow, der Lehrer aus Odessa, wenn ihn seine Kameraden baten, Geschichten aus der Heimat, auch Märchen. Rudenkow war einer von denen, die in Hoffmanns Spind gesperrt worden waren. Wenn Fjodor Rudenkow langsam und deutlich erzählte, wurde es still unter den Männern. Dann war es, als errichteten die Worte ihrer Sprache ein Haus, doch nur flüchtig. Wenige Tage, bevor die ersten im Tunnel an der Ruhr gestorben waren, sollte er von Iwanuschka erzählen, den die Hexe Baba Jaga braten wollte und den ein hässliches Gänslein gerettet hatte. Es waren einmal eine Frau und ein Mann. Die hatten große Sehnsucht nach einem Kind. So lange sie auch zusammen gelebt hatten, hatten sie doch keinen Sohn bekommen. Da die Frau so gerne Mutter eines Sohnes geworden wäre, nahm der Mann eines Tages sein Messer und schnitzte aus einem Holzklotz ein Söhnchen. 100
Das Holzklötzchen kleidete die Frau wie einen Knaben und wickelte es in Windeln. Sie gaben ihm den Namen Iwan, doch riefen sie ihn Iwanuschka. Und oft sang die Frau dem Holzkind ein Wiegenlied: „Iwanuschka, schlaf ein, schlaf ein. Alle Schwalben schlafen. Und die Füchsin schläft. Selbst der Wolf schläft jetzt. Sieh, die Schwalbe vom Haus schläft schon. Der Marder schleicht nicht mehr herum. Iwanuschka, drum schlaf ein, und alle sollen schlafen lassen unser liebes Kindelein.“ Die Frau wiegte und wiegte den kleinen Klotz und sang und sang ihn in den Schlaf. Und sie hatte den Knaben aus Holz so lieb, dass der nach langem Schlaf doch die Augen aufschlug und erwachte. Wie froh waren da die Frau und der Mann. Als der Knabe größer geworden war, baute ihm der Vater einen Kahn aus Holz. Der Kahn wurde bunt bemalt: weiß und rot, die Ruder aber machte er blau. Iwanuschka wollte damit weit, weit hinaus aufs Wasser. Iwanuschka wollte die Welt sehen. Wenn er in seinen Kahn gestiegen war, begann er zu singen: „Schiffchen, Schiffchen treibe weit, treibe über’s Wasser weit, trag mich dahin, trag mich dorthin, zeige mir die Welt!“ Und der Kahn trieb oft so weit, dass die Ufer kleiner wurden. Doch bevor die Ufer verschwanden, ruderte der Junge zurück. Iwanuschka hatte seine Angel dabei. Manchen Fisch fing er. Die Mutter hatte ihm Quark gegeben und süße Milch. Iwanuschka litt keinen Hunger. Iwanuschka war froh, ein freier, kleiner Mensch zu sein. Er fuhr mit dem Kahn hinaus und fing manchen Fisch. Der Vater freute sich, wenn das Söhnchen mit der silbernen Beute am 101
Ufer anlegte. Die Hexe Baba Jaga hatte von Iwanuschka gehört, von Iwanuschka, dem Frohen. Es ging die Rede vom Söhnchen aus Holz, der ein guter Fischer geworden war. Der, so dachte die Hexe Baba Jaga, der wird gut brennen: „An dem will ich mich laben!“ Die Baba Jaga belauschte Vater und Mutter, wie sie am Ufer singend ihren Iwanuschka riefen: „Söhnchen, Söhnchen, komm herbei, komm ans Ufer mit dem Boot! Essen, Trinken gibt’s für dich, Iwanuschka, warte nicht, süße Milch für deinen Durst!“ Da ging die Baba Jaga in ihr verstecktes Hexenhaus und übte heimlich, so zu singen und so zu rufen, wie Mutter und Vater von Iwanuschka es getan hatten, denn sie wollte den kleinen Mann täuschen. Eines Tages fiel Iwanuschka auf die Täuschung herein. Froh ruderte er an das Ufer, weil er glaubte, sein Mütterchen habe ihn gerufen, weil er annahm, sie stände dort mit warmen Plinsen und süßer Milch. Vielleicht gibt es heute auch Piroggen, dachte der Knabe und legte sich ins Zeug. Doch als er aus dem Kahn gestiegen war und nach seinem Mütterchen schaute, da packte ihn die Baba Jaga und steckte ihn in ihren Sack, band den Sack zu, warf ihn auf den Rücken und lief in ihr Versteck. Alenka, die Tochter der Baba Jaga, heizte schon den Ofen, um die Menschenbeute ihrer Mutter auf deren Geheiß zu braten. „Iwanuschka, der bringt uns Kraft! Der Iwan wird uns schmecken, dann leiden keinen Hunger wir, sein Fleisch ist Leben für uns zwei, gibt Kraft und Saft in schwerer Zeit, 102
Iwan-klein singt nun nicht mehr, so weit ist er gekommen.“ So sang die Hexe Baba Jaga. Die Hexentochter Alenka hörte zu und glaubte es. Alenka sollte den Jungen in den Ofen stecken. Mit einer großen hölzernen Schaufel sollte der kleine Iwan auf das Feuer gelegt werden. Die Baba Jaga aber war wieder hinaus gegangen, um weitere Menschen zu fangen. Überall suchte sie Mädchen und Jungen, aus denen sie für sich und die Ihren Kraft ziehen wollte. Während die Baba Jaga in Feld und Wald Menschen fing, sie in ihren Säcken verschloss, traf ihre verdorbene Tochter alle Vorkehrungen, um Iwanuschka zu braten. Das sollte ein Festschmaus werden, dachte sie. Und sie befahl Iwanuschka, er solle sich auf die Schaufel legen, damit sie ihn in den Ofen stecken könne. Iwanuschka, zwar klein, war doch gewitzt und liebte sein Leben. Er legte sich auf die Schaufel wie ein sperriger Holzklotz und streckte alle Viere von sich. So sehr sich auch Alenka bemühte, sie schaffte es nicht, den Jungen in das Ofenloch zu schieben. Alenka wurde zornig und sagte zu Iwanuschka: „Wie dumm du doch bist! Du weißt noch nicht einmal, wie du dich auf eine Schaufel zu legen hast!“ Iwanuschka aber antwortete: „Ich bin ja noch klein und noch dumm und verstehe gar nichts. Du Alenka aber, du bist klug. Zeig mir doch, wie ich mich auf die Schaufel legen muss.“ Da machte es die Alenka dem Jungen vor, wie er sich auf die Schaufel zu legen hätte. Sie legte sich hin wie eine Katze oder ein Hund, wenn sie schlafen, sie rollte sich zusammen, machte sich klein wie ein Baby und sagte: „Siehst du, so passt jeder auf die Schaufel!“ Da war Iwanuschka flink auf seinen Beinen, griff den Schaufelstiel und schwupp, schob er die bös erzogene Alenka in den Ofen und schlug die Tür zu. Schnell lief er aus dem Haus und kletterte auf einen großen Eichenbaum. 103
Baba Jaga kam hungrig nach Hause. Sie hatte Gäste mitgebracht, Gäste ihrer Art. Die Gäste waren hungrig. Die Baba Jaga hatte ihnen gesagt, sie werde sie mit dem Fleisch von Iwanuschka bewirten. Ein Gastmahl sollte es werden, von dem die Welt noch lange sprechen sollte. Die Kraft aus Iwanuschkas Körper sollte ihr und ihren Gästen Kraft geben. Und als Baba Jaga den Ofen aufgemacht hatte, sagte sie stolz: „Alenka ist ein gutes Mädchen. Alenka hat mir einen guten Braten gemacht.“ Alle setzten sich an den Tisch, auf den die Baba Jaga die gebratene Tochter Alenka gestellt hatte, ohne es zu wissen. Die Hexe schnitt den Braten an und legte vor jeden hungrigen Gast ein großes Stück vom Fleisch. Und sie nagten an den Knochen, schabten mit ihren Zähnen jedes Stückchen Fleisch ab. Sie schmatzten und grunzten vor Begierde und Wonne. Sie strichen sich über die Bäuche und rülpsten zufrieden. Es war ein sonniger Tag. Die Baba Jaga und ihre Gäste verließen das Haus und legten sich ins Gras. Sie wälzten und kugelten sich. Jeder sagte: „Oh, was war das für ein schönes Essen. Was kugle ich mich vor Vergnügen, weil ich so gut gegessen habe.“ Und Baba Jaga sagte selig: „Ich bin voll von Iwanuschkas Fleisch, wie herrlich, dass mich Iwanuschkas Fleisch stark und satt gemacht hat.“ Doch Iwanuschka saß oben in der Eiche. Er rief aus dem Baum: „Kugle dich nur, wälze dich nur, du bist voll von Alenkas Fleisch, nicht Iwanuschkas Fleisch.“ Die Baba Jaga meinte zu träumen und glaubte, die Blätter raschelten wie trockenes Eichenlaub. Aber dieser Baum war grün, keine Blätter konnten rascheln. Und wieder sagte sie: „Ach wie schön ist Iwanuschkas Fleisch, ach wie schön ist Iwanuschkas Fleisch gewesen.“ Und sie lachte, sie hätte noch viele andere Jungen und Mädchen aus der ganzen Welt in ihren Säcken, aus denen sie Kraft ziehen werde. 104
Doch wieder rief Iwanuschka von oben: „Baba Jaga, du bist nicht voll von Iwanuschkas Fleisch, du bist voll von Alenkas Fleisch. Du hast dein eigenes Fleisch gegessen. Baba Jaga, du frisst dich selber auf. Dein eigen Fleisch hast du verschlungen.“ Die Baba Jaga lag im Grase auf dem Rücken. Und so sah sie über sich in einer Astgabel Iwanuschka, von dem sie annahm, er sei in ihrem Bauch. Ein großer Zorn erfasste sie und eine große Wut kam in ihr hoch. Sie sprang auf, sprang zum Eichenbaum und begann mit ihren Zähnen schnell die Rinde abzunagen. Und nach der Rinde schlug sie ihre Zähne in den harten Stamm und nagte und nagte, biss und biss in das Holz und plötzlich brachen ihre beiden oberen Schneidezähne ab. Da rannte sie zum Schmied. Und der Schmied musste ihr zwei große neue eiserne Zähne machen, so groß und spitz und scharf wie Bajonette von Soldaten. Sie lief zum Baum und nagte immer schneller. Wieder brachen ihr zwei Zähne ab. Wieder lief sie zum Schmied. Und wieder musste der weitere Zähne machen, spitz und scharf und eisenhart. Die Baba Jaga nagte und nagte, bis ihr alle Zähne ausgebrochen waren. Der Schmied hämmerte und schlug, schlug und hämmerte: Ein Zahn nach dem anderen aus Stahl, spitz und scharf. Der Schmied setzte sie der Hexe Baba Jaga ein, bis deren Gebiss ganz aus Stahl war, ein Gebiss aus Bajonetten, vor dem sich alle Welt fürchten konnte. So schaffte sie es, den Eichenstamm so dünn zu machen, dass er umzustürzen drohte. Iwanuschka oben im Baum hatte Angst. Da hörte er das Rauschen von Schwanenflügeln, und er rief: „Weiße Schwäne, weiße Schwäne, nehmt mich heim zum Mütterchen, nehmt mich heim zum Väterchen, lasst mich nicht alleine bei der Hexe Baba Jaga!“ 105
Die stolzen Schwäne aber antworteten hochmütig: „Wir sind so weiß und sind so fein, wir nehmen dich nicht mit. Doch hinter uns da fliegen welche, frag die, ob sie dich nehmen.“ Wieder kamen weiße Schwäne geflogen. Wieder bat Iwanuschka: „Schwäne, Schwäne, nehmt mich mit, sonst muss ich bitter sterben hier!“ Aber wieder meinten die Schwäne, sie wären so weiß und wären so fein, sie könnten ihm nicht helfen. Hinter ihnen aber kämen noch andere. Und die nächsten sagten, am Ende flöge ein hässliches Gänslein, gerupft und schmutzig, unansehnlich und allein, das sei gerade gut genug für ihn. Iwanuschka hatte nahezu den Mut verloren, als ein einsames hässliches, gerupftes und schmutziges Gänslein über den Eichenbaum geflogen kam. Das flog so langsam und so nah an ihm vorbei, dass Iwanuschka auf seinen Rücken steigen konnte. Und als er aufgestiegen war, schlang er die Arme um den Hals des Gänsleins und flüsterte: „Bring uns heim! Bring uns heim!“
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13 Die Flakstellung Der tödlichen Grausamkeit des Lagers war nur durch Meldung als Freiwilliger in den Flakstellungen zu entrinnen. Fjodor Rudenkow, ehemals Lehrer in Odessa und Offizier der Roten Armee, hatte tagelang darüber nachgedacht, ob er die Kameraden im Tunnel unterm Bahndamm zurücklassen durfte. Tag für Tag trudelten immer mehr von ihnen ins Hungerdelirium, wurden abgekarrt ins Stammlager, um dort sich überlassen zu bleiben zu einem schäbigen Sterben. Es war ein Eingehen dieser Elenden, ein Vergehen. Schon in den letzten jämmerlichen Lebzeiten glichen viele bereits Verblichenen und Verwesenden. Fjodor Rudenkow, der so oft Sterbende durch seine Erzählungen von der Heimat das Hinübergleiten erleichtert hatte, suchte vergeblich nach Tränen, als er die Stätte des Grauens eintauschte mit der letzten Hoffnung davonzukommen, indem er sich freiwillig dazu meldete, bei den Fliegerabwehrkanonen den Deutschen als Handlanger zu dienen. Die Stellung lag auf einem der Hügel im Süden, weit vor der Stadt in einem großen Acker- und Wiesengelände. Drei grüngetarnte Baracken waren Unterkunft für die soldatische Bedienung der Flaks, für die jugendlichen Flakhelfer und für die wenigen russischen Hilfswilligen. Fjodor Rudenkow schleppte mit den anderen die schweren Munitionskisten. Die Russen mussten alle Arbeiten verrichten, die zu tun waren: Die Sandsäcke der Stellung richten, die Granathülsen fortschaffen, die Baracken fegen und wischen. Einzig allein der Dienst an den Geschützen war ihnen untersagt. Die Flakhelfer waren Schüler des Schillergymnasiums, 107
Hitlerjungen. Einige Lehrer kamen mehrmals in der Woche in die Flakstellung und unterrichteten dort. Fjodor Rudenkow sah verstohlen durch das Fenster der Baracke, wenn die Jungen unterrichtet wurden. Eines Abends saßen die Jungen wie häufig im Dunkeln in der Baracke. Es war ein lauer Herbsttag und kaum Bewegung in der Luft, wie auch die Jungen inzwischen Nächte ohne feindliche Angriffe nannten. Die Lichter blieben aus. Übermorgen sollte eine Mathematikarbeit geschrieben werden, wenn kein Angriff dazwischen käme. Abitur unter Bomben, lachten sie manchmal. Einer fragte in der Dunkelheit, wie das nun wäre mit der Cotangente. Keiner antwortete. Da sagte leise eine Stimme mit russischem Akzent: „Ankathete auf Gegenkathete.“ Der Russe kann deutsch, dachten alle Jungen. Der sitzt da irgendwo bei uns im Dunkeln. Der kann Mathematik. Die Stille wurde zur Last. Einer sagte stockend: „Vielen Dank!“ Ruhig kam als Antwort aus der Dunkelheit: „Bitte, Bitte! Ich drücke euch die Daumen für die Mathematikarbeit.“ Und nach einer Pause sagte der Russe: „Schlaft gut, junge Deutsche!“ Dann ging die Tür. Die Hitlerjungen waren verwirrt und erstaunt. Einer sagte: „Mensch, ich wird’ verrückt! Der wischt da tagelang die Bude, macht jeden Scheiß für uns, und dann spricht der deutsch, versteht uns!“ Ein anderer sagte: „Und versteht was von Mathe, der Iwan!“ „Wie heißt der eigentlich?“ fragte ein anderer. Keiner kannte seinen Namen. Er war nur ein Iwan, und so wurde er auch gerufen, wenn er den Deutschen die Drecksarbeit abnehmen sollte. Am nächsten Morgen tat Fjodor Rudenkow so, als wäre nichts geschehen. Die Jungen aber schauten sich um, ob der 108
Feldwebel sie nicht sah. Dann grüßten sie lachend ihren Iwan und fragten nach seinem Namen. Fjodor, ihr Fjodor. Kein Untermensch, wie einer der Hitlerjungen am dritten Tag nach Fjodors Entdeckung feststellte. Der Feldwebel schikanierte die Russen weiter. Einige Soldaten verachteten ihn dafür. Auf Rudenkow hatte der Feldwebel es besonders abgesehen. Jeden zweiten Tag stieß er den Wassereimer um, wenn Rudenkow die Baracke putzte. Die Flakhelfer versuchten, dem Feldwebel deshalb das Leben sauer zu machen. Eines Nachts schlugen die britischen Bomber besonders hart zu. Von der Anhöhe der Flakstellung schien es, als brenne die gesamte westliche Hälfte der Stadt. Ein Flakhelfer wohnte dort. „Geh hin und sag, du musst deine Mutter retten“, sagte Rudenkow zu dem Jungen. Die Jungen müssten den Alten helfen, indem sie löschten, sagte der Russe. Er verstand nicht, dass den Jungen nicht gestattet wurde, in der Stadt zu retten, was noch zu retten war. Eines Tages wurde Rudenkow plötzlich zu drei Flakhelfern unwirsch, die in seiner Nähe standen und über irgendeinen Umstand fluchten. Einer der jungen Deutschen wiederholte immer wieder einen russischen Fluch, den er gehört, doch dessen Sinn er nicht verstanden hatte: „Jupp twoje mat!“ Der russische Kriegsgefangene wurde plötzlich zornig und herrschte den Hitlerjungen an: „Schweig! Das ist ein böses Schimpfwort!“ Und als der Deutsche fragte, was es denn sei, sagte der Russe, doch diesmal ruhig: „Ihr wisst nicht, was das heißt. Das ist eine ganz ordinäre Beleidigung von Müttern. Sagt es nicht. Ihr seid doch Kinder von Goethe und Schiller!“ In dem Moment stand plötzlich der deutsche Feldwebel im Unterstand. „Das Stück Russenscheiße kann also deutsch“, sagte er. 109
Der Mann musste an der Sandsackmauer gelauscht haben. Einer der Hitlerjungen schrie auf, als der Feldwebel Rudenkow mit dem Handrücken ins Gesicht schlug.
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VI Im Sonderlager
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14 Taufe Der Eintritt in das Sonderlager der Geheimen Staatspolizei begann mit der Taufe. „Jesus hat mit Wasser getauft, ich taufe mit Blut!“ Der Lagerführer, ein untersetzter SS-Feldwebel, lachte. Sein Lager sei dazu da, den neuen Adam zu schaffen. „Wenn du das verstehst, du mickriger kleiner Schangel“, sagte er zum französischen Kriegsgefangenen Georges Charlier. „Und wenn du das nicht verstehst, dann verstehst du aber das: Ausrottung der widerstrebenden Elemente. Ausziehen!“ Damit wirklich ein neuer Adam entstehen könne, müsse der Mensch nackt sein, so wie er auf die Welt gekommen sei. Georges Charlier, der wegen eines Treffens mit einer deutschen Arbeitskameradin, die ihm hatte Schnürsenkel bringen wollen, zu Straflager verurteilt worden war, zog sich eilig aus. Neben ihm entkleidete sich ein junger Belgier, einer von den „Freiwilligen“. Mit der Taufe im Sonderlager der Geheimen Staatspolizei hörten die Männer auf, als Georges Charlier, Stepan Solowjew und Alphonse Bertrand zu existieren. Nach der Taufe mit Blut des SS-Feldwebels waren sie nur noch Stücke. Sie hatten keinen Namen mehr, sie wurden als Stücke gezählt. Die Taufwedel waren zwei starke Vierkantlatten aus Eichenholz mit rundgeschmirgelten Griffen. Die beiden Neuankömmlinge mussten sich nach vorne über einen langgestreckten Bock aus Holzbalken beugen, wie er von Bauarbeitern zum Gerüstbauen verwendet wird. Dieser Holzbock war so gebaut worden, dass zwei Täuflinge auf ihm Platz hatten. Auf ein Zeichen des SS-Feldwebels schlugen zwei SS-Leute mit den Vierkantlatten auf die über dem Bock Liegenden ein, bis deren Rücken blutig waren und die Holzlatten rot. 112
Jeder Täufling bekam am Ende der Tortur den Inhalt eines Wassereimers ins Genick geschüttet. Dann befahl der SSFeldwebel, sie sollten sich hinstellen. „Strammstehen!“ schrie er. Jetzt kommt der zweite Gang, jetzt kommt ihr unter die Faust!“ Das Unter-die-Faust-kommen nahm der SS-Feldwebel selber vor. Es schien, als sei er ein geübter Boxer und trainiere nun Aufwärtshaken und Schwinger. Die meisten der Neuangekommenen schlug er bewusstlos. Andere Häftlinge schleppten anschließend die Zusammengeschlagenen in die Räume der Friedensschule. In der Friedensschule war das Sonderlager der Geheimen Staatspolizei eingerichtet worden. Diese Schule war das Straflager der Stadt und beherbergte die Strafkompanie. In jedem Klassenzimmer waren zweiundvierzig Holzbetten aufgestellt worden. Drei Holzbetten standen übereinander. In dem zuunterst angebrachten Holzbett konnte der Sträfling nur liegen, auf der Bettkante konnte niemand aufrecht sitzen. Neuankömmlinge brauchten einige Tage, bis sie begriffen hatten, dass zuunterst Liegende sich nicht aufrichten durften beim Aufstehen, sondern sich gleich nach rechts oder links aus diesen Holzpritschen zu Boden wälzen mussten, sonst schlugen und schrammten sie sich die Stirn an den direkt über ihren Köpfen befestigten rohen Brettern des Bettes. In jedem Klassenzimmer stand ein Holztisch. Um jeden Holztisch sollten sechs Hocker stehen. Viele dieser Sitzgelegenheiten wurden in den Kriegswintern in den eisernen runden Öfen verheizt, die in den Klassenzimmern standen. Jeder Häftling der Strafkompanie sollte einen Strohsack besitzen. Jedem waren zwei Decken zugestanden, doch die meisten hatten nur eine. Nach der Taufe bekamen die Häftlinge ihre Kleidungsstücke, mit denen sie in das Straflager gekommen waren, nicht mehr wieder. Der Magaziner hatte ihnen neue 113
Kleidung zugeworfen, entweder blaues oder graues Leinentuch, mit senkrechten gelben Streifen, eine blaue Kappe ohne Schirm mit einem gelben Streifen. Die meisten Mitglieder der Strafkompanie brachten ihr eigenes Ungeziefer mit. Wer ohne Läuse kam, doch das war selten, dessen Ungeziefer lebte im Strohsack und in den muffigen Decken. Das Schuhwerk waren Galoschen: Tuch, Billigleder, Kunstleder mit Holzsohlen dran. Es soll auch Unterwäsche gegeben haben, sagten einige nach der Befreiung und kicherten dabei verlegen. Der Magaziner gab tatsächlich Unterhosen und Unterhemden aus. Doch Georges Charlier, dem kleinen Franzosen, wurden Unterhemd und Unterhose vom Unterlagerführer wieder abgenommen. „Ihr seid Pottsäue“, sagte der Unterlagerführer. Franzosen seien alle Pottsäue, richtige Schweine, sagte er. Die könnten nackt gehen. „Lass den Schwanz raushängen, den kleinen, du Sau, kleine Franzosensau“, sagte der Unterlagerführer und schlug im Davongehen dem Franzosen ins Genick. Georges Charlier war schon zwei Wochen im Straflager, als er auf den ehemaligen Schulhof gerufen wurde, der nun der Strafhof war. Der SS-Feldwebel stand an der Treppe. Georges Charlier sah sofort, dass er das Bild von Marie, seiner Verlobten, in der Hand hielt. Es war verboten, in der Strafkompanie private Dinge zu besitzen, Habseligkeiten, wie eine Fotografie beispielsweise. Wer keinen Namen hat und wer noch nicht einmal als Nummer registriert worden ist, der hat auch nichts zu besitzen. „Wer nichts ist, hat auch nichts!“ schrie der Lagerführer. Keinen Brief, kein Bild, keinen Ring, nichts. Georges Charlier, dessen stilles Lächeln die meisten seiner Bewacher erzürnte, erstarrte, als er das Bild von Marie in der Hand dieses Mannes sah. Der SS-Feldwebel machte nur eine knappe Bewegung mit dem Kopf: Georges Charlier wusste, dass er näher kommen sollte. Der Mann zeigte ihm die 114
Fotografie seiner Verlobten und wedelte langsam damit vor dem Gesicht des Gefangenen herum. „Du Schwein“, sagte er, „du französisches kleines Schwein. Ne Frau in der Hosentasche! Den Schwanz werden wir dir abreißen! Den Sack werden wir dir zerquetschen, du Schangel, du! Die Eier schleifen wir dir, du mieses Schwein! Wer ist das?“ Georges Charlier zwang sich zu einem Lächeln und sagte nichts. „Wer das ist, du Ratte? Sag wer das ist! Was steht denn dahinter?“ Der Deutsche versuchte, die französische Liebeserklärung „für meinen liebsten Georges“ zu entziffern, stotterte und geriet in Wut. „Pass auf, sagte er, „da steht Marie. Kennste das Lied von der Marie und dem Kommissbrot? Los, sing!“ Georges Charlier blieb stumm. Da begann der Deutsche zu singen: „Leck mich am Arsch, Marie. Mein Geld bekommst du nie.“ So, das singen wir Deutsche. Und dann singt deine Hure, Marie, das singst du jetzt!“ Georges Charlier sang nicht. Da sang der Deutsche wieder allein: „Für ein Kommissbrot und für einen Frang leck ich dich stundenlang.“ Sing mit: „Für ein Kommissbrot und für einen Frang, für ein Kommissbrot und für einen Frang leck ich dich stundenlang!“ Georges Charlier sang trotz eines neuerlichen Befehls nicht. Der SS-Feldwebel zerriss das Bild der jungen Französin. Und während er mit der rechten Hand die Fetzen der Fotografie nach unten warf, nahm er die Hand mit Schwung wieder nach oben mit geballter Faust und schlug Georges Charlier auf die Kinnspitze. Als der Franzose am Boden lag, schrie der SS-Mann: „Arschkontrolle!“ Georges Charlier wurde die Hose ausgezogen. Zwei SS-Leute spreizten seine Beine. „Und?“ rief der Lagerführer. Der Häftling schüttelte den Kopf. „Arsch leer!“ erstattete einer der SS-Leute Bericht, bevor beide von 115
dem Franzosen abließen, damit der ins Lager geschleppt werden konnte.
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15 Das fehlende Stück An jedem vierten Sonntag brauchten die Sträflinge nicht zu arbeiten. Sonst war täglich morgens um halb fünf Wecken. Dann stellten sich die einzelnen Kommandos, ohne sich gewaschen zu haben, im Straflagerhof auf. Jedes Kommando hatte einen Wachmann, meist ein Polizeireservist, fast alles ältere Leute. Morgens begannen die Appelle. „Neunzehn Stück, angetreten zum Kabelkommando!“ rief einer der Polizeireservisten. „Alle Stücke da!“ sagte hastig ein alter Polizist, der zum Hafen musste mit seinen sieben Leuten, um dort Böschungen einebnen zu lassen. „Wieviel Stücke?“ rief der den Appell abnehmende SS-Mann. „Sieben Stücke!“ antwortete der alte Polizist. Um sechs Uhr morgens sollten alle an ihrem Arbeitsplatz angelangt sein. Die Fußmärsche dauerten stundenlang. Das Hafen-Kommando brauchte oft zweieinhalb Stunden. An einem Samstag kamen nur sechs Stück an der Hafenböschung an. Einer war unbemerkt auf dem Hinweg zusammengebrochen. Die anderen waren weitergegangen. Der Polizist hatte den Vorfall nicht bemerkt. Beim Abendappell gab es das übliche Drama, das immer dann entstand, wenn ein Stück fehlte. Die meisten Kommandos waren tatsächlich um sechs Uhr morgens an ihren Arbeitsstellen. Die in der Fabrik hätten es gut, sagten die anderen. Die hätten um neun Uhr eine Viertelstunde Pause und von ein Uhr bis halb zwei hätten sie auch Pause. Um achtzehn Uhr sollte für alle Schluss sein. Fünf Ziegelsteine sollte jeder tragen vom Kommando Schuttverwertung, doch jeder Häftling trug nur zwei bis drei Ziegelsteine. Für den vierten Ziegelstein fehlte die Kraft. Auch 117
die Androhung schlimmer Strafen bewirkte nicht, dass einer der Häftlinge mehrere Ziegelsteine aufnahm. „Du Schwein bekommst noch weniger zu fressen als jetzt!“ Diese schlimmste Drohung nach der des Todes, fruchtete nicht. Auch das Schlagen mit der Peitsche brachte niemanden dazu, mehr als drei Ziegelsteine zu schleppen. „Das sind doch nur fünfzehn Meter“, sagte der Mann vom Sicherheitsdienst, der das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald überprüfen musste. „Das sind doch nur fünfzehn Meter bis zur Straße, die diese Schweine die Ziegelsteine tragen müssen. Warum denn nur zwei und drei Steine, das ist doch idiotisch!“ Der Verwaltungsführer erklärte dem Inspekteur des Sicherheitsdienstes, es sei angeordnet, dass die Häftlinge fünf Ziegelsteine tragen müssten, das wüssten auch alle, aber die täten es einfach nicht. „Es ist zum Verrecken, die Schweine machen es nicht. Und sie wollen es auch nicht machen. Genug zum Fressen haben sie, Ostarbeiterverpflegung und Schwerarbeiterzulage! Es ist doch alles da!“ schnauzte der Inspektor des Sicherheitsdienstes den Verwaltungsführer an. „Jawohl!“ machte der Meldung: 300 Gramm Brot am Tag, zwei Schöpflöffel Suppe, Weiß- oder Rotkraut, kein Salz, ein Scheibchen Wurst, am nächsten Tag vielleicht ein Stückchen Ersatzmarmelade, am nächsten Tag anstelle der Wurst oder der Ersatzmarmelade ein bisschen Fett. Um achtzehn Uhr war Schluss im Schutt der Trümmer, in den Fabrikhallen, an den Hafenböschungen, in den Kabelgräben. Um neunzehn Uhr sollten alle im Lager sein. Die letzten kamen um halb acht. Dann stellten sich die einzelnen Kommandos der hundertundfünfzig Häftlinge im Hof der ehemaligen Friedensschule auf. Jedes Kommando wurde angeführt vom zuständigen Wachmann. Der SS-Feldwebel stand am Eingang des Schulgebäudes und nahm den Appell ab. 118
Ein anderer SS-Mann, der an einer Kordel ein Brett vor die Brust gebunden hatte, das ihm in der Waagerechten als Schreibunterlage diente, hakte in einer Liste die einzelnen Kommandos ab. Er rief die Kommandos auf: „Kommando Schuttverwertung!“ „Kommando Schuttverwertung mit neunzehn Stück!“ schrie der Kommandoführer. „Kommando Kabelverlegung!“ „Kommando Kabelverlegung elf Stück!“ schrie dieser Kommandoführer. „Kommando Panzerbau!“ „Kommando Panzerbau sechzehn Stück!“ schrie antwortend der Kommandoführer. „Kommando Hafenbecken!“ „Kommando Hafenbecken sechs Stück!“ sagte der Kommandoführer. „Sieben!“ schrie der Mann mit der Liste. „Sechs Stück“, sagte der Kommandoführer leise. „Was?“ schrie der Schreiber zurück. Dann sah der Mann mit der Liste vor dem Bauch fragend den SS-Feldwebel an. „Wo ist das siebte Stück?“ Jetzt schrie auch dieser Mann. „Ist nicht bekannt“, sagte der Kommandoführer, ein etwa sechzigjähriger Polizist. „Was heißt das: Ist nicht bekannt?“ fragte der Lagerführer. „Sieben Stück hat das Kommando und sechs Stück sind hier.“ Der alte Polizist versuchte Forschheit in seine Stimme zu legen. „Als das Kommando am Einsatzort angekommen war, begannen wir mit der Arbeit. Da waren es nur noch sechs Stück. Ein Stück fehlte.“ „Kommandoführer, Sie hätten sofort Meldung machen müssen!“ Der Polizist versuchte, sich zu rechtfertigen. „Wir haben es zu weit. Wir brauchen über zwei Stunden, bis wir da sind, zurück auch so lange!“ Der SS-Feldwebel fragte: „Welches Stück fehlt?“ Der Kommandoführer drehte sich nicht um zu seiner kleinen Gruppe. Er zuckte mit den Achseln, er wusste es nicht. „Franzose, Deutscher, Luxemburger, Holländer, Belgier, was für ein Stück?“ schrie fragend der Lagerführer, „Pole, Russe?“ Der alte Polizist wusste es nicht. Der Abendappell dauerte fast zwei Stunden. Welches Stück fehlte, wurde nicht klar. Dass jemand am Wegesrand 119
zusammengebrochen und gestorben war, auch das erfuhr das Lager nicht. Es war nur so: Ein Stück war verschwunden. Erst nach diesem endlosen Appell, bei dem herausgefunden werden sollte, welches Stück fehlte, und warum es fehlte, nachdem immer wieder gezählt worden war, ob alles stimmte, aber am Ende es doch nicht stimmte, erst nach diesem endlosen Stehen im Hof der Friedensschule, bei dem wieder zwei von den nun hundertneunundvierzig Russen, Polen, Franzosen, Holländern, Belgiern, Dänen, Luxemburgern und drei Deutschen ohnmächtig zusammengebrochen waren, zwei von den neunzig Russen, erst da gab es die einzige Nahrung des Tages.
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16 Alphonse Bertrand, der Belgier Wenn er diesen Kontrakt nicht unterzeichnete, dann solle er sehen, wie und wo er Arbeit bekäme, nämlich nirgendwo. „Und deiner Familie, Alphonse, deiner Familie geht’s dann dreckig. Ich kann nichts dafür, mon eher, ich kann nichts dafür, aber die Deutschen wollen das so. Du musst dich entscheiden: Entweder Arbeit in Deutschland oder du gehst drauf. So ist das Leben.“ Alphonse Bertrand war neunzehn Jahre alt, als er im November 1942 zum Arbeitsamt gerufen worden war. „Ich hab ‘ne Vorladung“, hatte er zu einem Freund gesagt. „Sieh dir das an! Da steht nicht, kommen Sie bitte, da steht: Sie haben auf dem Arbeitsamt zu erscheinen.“ Alphonse Bertrand ging zum Arbeitsamt. Er verließ es als „Freiwilliger“. Als er das Büro verlassen hatte, war er ein „freiwilliger Arbeiter“ für Deutschland. Auch er hatte gehört, dass die Deutschen überall Arbeitskräfte anwarben. In allen möglichen Berufen wären Arbeitskräfte gefragt. Im November 1942 unterschrieb auch Alphonse, der neunzehnjährige Belgier, einen solchen Kontrakt, er hatte Angst um seine Familie. Bis zum März 1943 arbeitete Alphonse Bertrand in einem Zeichenbüro des Martinwerks der Stahlfirma Zander. Er zeichnete gut. Seine Arbeit wurde sogar gelobt. Eines Tages sagten sie ihm, dem Direktor sei aufgefallen, Alphonse, der Belgier, sagte nie „Heil Hitler“, wenn es ihm befohlen werde. Er, der Belgier, täte immer nur so, „Heil Hitler“ sage er nie. Ein Direktor von Zander, der hielt die Fremdarbeiter an, ihn laut mit „Heil Hitler“ zu grüßen. Weil „dieser belgische Arsch“ nicht so wollte, wie es der Herr Direktor wollte, musste „dieser belgische Arsch“ das Zeichenbüro verlassen und kam in den Keller. 121
Im Keller musste Alphonse zunächst aufräumen. Es war das Turmhaus von Zander. Zu den Aufgaben des lang aufgeschossenen jungen Mannes gehörte es auch, die Kohlen heraufzutragen, die Asche aus den Öfen zu nehmen und herunterzutragen. Russen hatten das bisher getan. Das Lager der Russen aber stand nun unter Quarantäne. Im Russenlager war eine Epidemie ausgebrochen. Fleckfieber, raunten alle ängstlich. Alphonse Bertrand, der lange junge Belgier, war nur noch Haut und Knochen. Im Zeichenbüro gab es zwischendurch schon einmal ein Stück Brot, auch manchmal etwas anderes, was ihm von Deutschen heimlich zugesteckt wurde. Doch nun, da er in den Keller heruntergekommen war, war er fast auf der Ration der Russen angekommen. Alphonse Bertrand war unterernährt. Eines Tages sagte Direktor Dr. Mayerling unwirsch, der Belgier solle endlich mal wieder den Ofen saubermachen. Als Alphonse den Ofen säuberte, sagte Direktor Mayerling im Vorbeigehen, die Ascheneimer solle er hinten links ausleeren, vor dem kleinen Hügel, dort, wo die Birken ständen, die jetzt kahl seien. Ob er das verstanden hätte, hatte der Direktor näselnd gefragt. Alphonse hatte gesagt, er habe verstanden. Alphonse trug den ersten Eimer nach unten. Er nahm den Paternoster, der im Turmhaus lief, so wie ihm aufgetragen worden war. Der Assistent von Direktor Mayerling hatte ihm gesagt: „Alphonse, in den Paternoster, aber dalli!“ Der junge Belgier ging hinaus mit seinen beiden Eimern Asche aus dem Ofen vom fünften Stock. Er ging nach links zu dem kleinen Berg mit den Birken. Er kippte dort die Asche aus, wie angewiesen, erst den einen Eimer, dann den zweiten Eimer. Plötzlich schrie einer: „Was machst du denn da?“ Alphonse erkannte nicht, dass er gemeint war. „He, du!“ Alphonse drehte sich um. Ein Wachmann von Zander kam drohend auf ihn zu; er trug die blaue Werksuniform mit den drei Pfeilen, die im 122
Kreis hintereinander herjagten, dem Firmenzeichen, das mit silbernen Fäden am linken Ärmel aufgestickt war und als Abzeichen vorne an der Schirmmütze steckte. „Was machst du da?“ fragte der Mann. „Asche weg“, sagte Alphonse Bertrand. „Die Asche gehört hier nicht hin. Die Asche kommt woanders hin. Wie kommst du dazu, die Asche hierhin zu tun? Wie kommst du dazu?“ „Direktor Mayerling!“, sagte Alphonse Bertrand. „Was für’n Mayerling?“ „Mayerling hat gesagt, Asche zum kleinen Berg.“ „Die Asche kommt hier nicht hin, die Asche kommt woanders hin!“ Alphonse war ratlos. Auch war er empört. Ihm war gesagt worden, die Eimer an dieser Stelle zu leeren. „Die Asche kommt da drüben hin, am Ende des Berges“, sagte der Wachmann. „Kehr die Asche wieder in die Eimer, und bring sie da rüber.“ „Non!“ sagte Alphonse. „Was?“ fragte der Deutsche. „Non, Direktor Mayerling sagt, Asche hier.“ „Was ist los? Du willst die Asche nicht wegtragen? Die Asche in die Eimer!“ „Non!“ sagte Alphonse wieder. Der Deutsche griff Alphonse an den Arm. Alphonse war immer noch gebückt bei seinen beiden Eimern, die er zwar geleert hatte, doch hatte er deren Bügel in der Hand. Der Deutsche griff Alphonses Schulter fest und schüttelte ihn. Alphonse versuchte, sich wegzudrehen aus dem Griff des Deutschen. „Jetzt reicht’s“, schrie der Deutsche. „Du tust, was ich gesagt habe! Die Asche sofort in die Eimer!“ Alphonse fasste zur Hand des Deutschen, versuchte sie von seiner Schulter wegzudrücken. Als der Deutsche mit der zweiten Hand zupackte, ließ Alphonse den Bügel des zweiten Eimers los und griff erneut zur Hand des Deutschen. Es entstand ein Handgemenge mit Rufen und 123
Schreien. Andere Wachleute eilten herbei und überwältigten den jungen Belgier. Sie stießen ihn im Laufschritt in die Empfangshalle des Turmhauses von Zander. Alphonse Bertrand musste die Hände an die Wand legen. „Das Schwein macht alles dreckig“, schrie einer, da Alphonses Hände mit Ruß verschmutzt waren. Der Mann schlug ihn zwischen die Schulterblätter. Alphonse musste die Beine weit von der Wand wegstellen, gespreizt, das Gesicht zur Mauer gekehrt. Er hörte, wie die Deutschen auf ihn einredeten und schimpften. Von Zeit zu Zeit wurde er geschlagen. Die Schläge trafen ihn unvermutet. Einmal wurde ihm irgendein Gegenstand in die rechte Kniekehle geschlagen. Alphonse brach schreiend zusammen. Dann wurde er in die vierte Etage gebracht, eine Etage unter der von Direktor Dr. Mayerling. Als er in den Raum eintrat, sah der Belgier erschrocken die Knüppel, die auf dem Schreibtisch des Sicherheitschefs lagen. Etwa zehn Stück glaubte Alphonse wahrgenommen zu haben. Der Sicherheitschef der Firma saß hinter seinem Schreibtisch und lächelte. Dann sagte er leise: „Alphonse Bertrand, ein schöner Name. Aber Alphonse, Alphonse, was hören wir nur? Du widersetzt dich einem deutschen Wachmann, einem Wachmann von Zander. Aber Bertrand, das geht doch nicht“, sagte süffisant der Sicherheitschef. „Du weißt doch genau, dass du den Deutschen Folge zu leisten hast. Wenn sie dir sagen, spring aus dem Fenster, Alphonse, was tust du dann?“ Alphonse stand zitternd vor dem Schreibtisch, ihm tat alles weh. Er war dem Zusammenbruch nahe. Zwischen den Schulterblättern und in der Nierengegend brannte es wie Feuer. „Ja, was tut unser lieber Bertrand dann?“ flüsterte nun der Sicherheitschef, der langsam aufgestanden war. „Du springst aus dem Fenster. Springst du aus dem Fenster, mein Freund?“ Alphonse Bertrand flimmerte es vor den Augen. Ihm war schlecht. Er nahm nicht wahr, dass der Sicherheitschef einen 124
der vielen Knüppel von seinem Schreibtisch genommen hatte. Der Mann holte aus und schlug mit voller Wucht den Knüppel quer über das Gesicht des bereits Geschundenen. Bertrand stürzte nach rückwärts und schlug die Hände vor das Gesicht; das rechte Auge schwoll zu. „Bertrand, Bertrand“, sagte der Sicherheitschef, „ein so wunderschöner Name ist das, Alphonse! Und der springt nicht aus dem Fenster. Weißt du was, Alphonse? Ich weiß eine schöne Unterkunft für dich. Du hast einen Deutschen angegriffen, und das wird schwer bestraft.“ Alphonse Bertrand wurde zum Straflager verurteilt. Er wurde auf einen Lastwagen gestoßen, auf dem schon ein kleiner Franzose saß. Der Franzose hieß Georges. Das war alles, was er später in den Jahren von diesem Mann wusste. Sie nannten ihn „der Kleine“, Petit. Er und der kleine Franzose kamen gemeinsam über den Bock zur Taufe des neuen Adams im Sonderlager der Geheimen Staatspolizei. Während der Franzose nur stöhnte, schrie Alphonse wie am Spieß. Bewusstlos wurden beide zur gleichen Zeit.
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17 Wasser im Bunker Eines Tages kam eine große Gruppe von Verurteilten in die Strafkompanie: Russen, Polen, Franzosen und Holländer. Sie waren aus verschiedenen Lagern zusammengekarrt worden. Der SS-Feldwebel war betrunken. Niemand hatte einen Überblick, was nun geschehen sollte. Die Kommandos, die gerade zum Abmarsch zur Arbeit angetreten waren, konnten das Lager nicht verlassen, weil der Lastwagen mit den Neuankömmlingen mitten im Tor stand und angeblich einen Motorschaden hatte. Einer der SS-Leute versuchte, die Kommandos über einen Nebeneingang über die Treppe zum Hof führen zu lassen. Das ging schief. Es war ein undurchschaubares Durcheinander, so dass die Neuankömmlinge und viele alte Häftlinge plötzlich neue Gruppen bildeten. Die Situation wurde immer verworrener. Das Lager war überfüllt. Der SS-Feldwebel und Lagerführer schrie schließlich: „In den Bunker, alle in den Bunker! In den Bunker mit den Kerlen! Bunkert alle Stücke ein!“ Der Bunker war über einen großen Eingang vom Schulhof aus zu erreichen. Er war 1939 bereits gebaut worden als Fluchtmöglichkeit für die Schulkinder der Friedensschule. Alphonse Bertrand geriet in die Gruppe, die in den Bunker getrieben wurde. Er hatte sich gegen den Strom der Menschen stemmen wollen, doch plötzlich war auch er mitten in diesem Bunker. Der Boden fiel langsam, doch stetig ab. Zweihundert Meter weit war der Bunkerstollen in den Berg getrieben worden. Nach fünfzig Metern etwa wurde der Boden glitschig; nach fünfundfünfzig Metern stand Wasser auf dem unebenen Betonboden. Am Ende war das Wasser knietief. Die Wachmannschaften drückten und stießen von außen immer mehr auf die Menschen.
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Die Nachrückenden schoben ihrerseits und drückten die vor ihnen Stehenden weiter in den Bunker. Die bereits in die Tiefe Geschobenen schrien. Es gab kein Licht. Die ersten stürzten. Es war ein Geschrei und es war ein Wehklagen in diesem dunklen Schacht, in dem jeder spürte, die Gefahr des Totgetrampeltwerdens war groß. Einige versuchten, wieder nach vorne zum Ausgang zu gelangen. Die Nachrückenden versperrten ihnen den Weg und drängten diejenigen, die wieder ins Freie wollten, zurück. Unter den Gefangenen entstanden Kämpfe. Einige wenige Holzbalken befanden sich an den Stellen, an denen bereits Wasser auf dem Boden stand. Diese Balken konnten Schutz vor der Nässe bieten. Die Erschöpften versuchten, einen Platz zum Schlafen zu finden. Jene, die bei den Holzbalken einen Schlafplatz gefunden hatten, waren im Trockenen. Viele standen im Wasser. Alphonse schlief in dieser Nacht im Stehen. Er wachte immer wieder auf und schreckte hoch. Einmal wurde er abrupt wach, weil er träumte, ein Wal schlüge mit seiner Schwanzflosse ins Wasser; er sah noch, dass einer der anderen ins Wasser gefallen war. Es war ein Rumoren und Schimpfen im Bunker, in Polnisch und in Russisch, in Holländisch und in Französisch, in Deutsch und Italienisch, das durch diese Katakombe ging. Obwohl die Gefangenen am zweiten Abend eine Kette gebildet hatten, um mit drei Eimern das Wasser abzuschöpfen und herauszuschaffen, blieb der lange Gang im Berg unwirtlich feucht, klamm und stickig. Die Kämpfe um einen einigermaßen trockenen Schlafplatz hielten an den nächsten Abenden an. Einer der Aufseher hatte Gefallen an diesem Schauspiel. Zu Alphonse, von dem er wusste, dass er gut deutsch verstand, sagte er: „Alphonse, Alphonse, du dummes Stück. Wie schön ist das. Ihr Schweine erzieht euch selber.“ Im Weggehen sagte er verächtlich: „Ihr Lumpenpack!“ 133
18 Der Tod des Stepan Solowjew Stepan Solowjew war nur kurze Zeit im Straflager Friedensschule. Stepan Solowjew sei ein Dickkopf, sagten alle. Der junge Ukrainer schien keine Angst vor den Deutschen zu haben. Eines Tages hatte er eine leere Streichholzschachtel in seiner rechten Hand, die er schnell öffnete und wieder schloss. Er flüsterte, alle sollten ihre Filzläuse sammeln und sie ihm geben. Anfangs hielten ihn alle für verrückt. Er sagte, sie sollten die Filzläuse alle in seine Schachtel tun. Er würde die Schachtel einen Spalt aufmachen. „Klaubt euren Sack ab“, sagte Stepan Solowjew. Er nehme die Filzläuse und täte sie in die Streichholzschachtel. „Stepan, du bist verrückt“, sagte Piet, der Holländer. „Rußki verrückt“, sagte Alphonse Bertrand, der Belgier. „Njet“, sagte Stepan. „Filzläuse für SS. Filzläuse, SS, Fleckfieber!“ Er machte mit der Hand das Zeichen, dass er es heimlich tun würde. Heimlich würde er die Filzläuse den SSLeuten unters Hemd geben. Filzläuse, Typhus, Flecktyphus, Tod! So dachte Stepan Solowjew. Stepan Solowjew kam nicht wegen der Filzläuse um. Er hätte es nie geschafft, das Ungeziefer einem SS-Mann oder einem anderen Deutschen auf die Haut zu bringen. Stepan hatte vor, vielen SS-Leuten die Filzläuse in die Hose zu stopfen. Der Russe starb an Gehirnquetschungen und Schädelzertrümmerung. Alphonse Bertrand erzählte, wenn er davon erzählte, und er erzählte ungern davon später als Erwachsener, er habe nie geglaubt, dass ein Kopf so dick werden könne. Aber Stepan Solowjews Kopf sei nach der Tortur durch den SS-Feldwebel auf das Doppelte angeschwollen. Der junge Russe hatte bei einem Abendappell, als ein Kommandoführer aufgerufen worden war als „Kommando 134
Kraftwerk am Kanal“ und der Kommandoführer gerufen hatte: „Zwanzig Stück angetreten!“, plötzlich seine Stimme erhoben. Der junge Russe schrie wie ein Ertrinkender: „Wir siegen doch!“ Danach war Stille. Jeder der Häftlinge machte sich klein. Der SS-Feldwebel gab dem Mann mit der Liste ein Zeichen, nicht weiter zu fragen und still zu sein. Auch der Lagerführer fragte nicht. Er verließ langsam seinen Platz auf der Treppe und ging auf die in Gruppen angetretenen Schattengestalten zu. Er machte mit dem ausgestreckten Arm langsame Bewegungen, als schiebe er Zweige zur Seite in einem dichten Waldstück. Zum Schluss schob er den Führer des Kommandos vom Kraftwerk am Kanal zur Seite. So teilte er auch die anderen Stücke, die vor ihm standen, bis er am Stück Stepan angelangt war. Dort blieb er stehen und schien zu warten. Plötzlich griff er mit der rechten Hand dem jungen Russen von unten blitzschnell an die Gurgel, mit der linken Hand in dessen Genick, riss den Jungen zu Boden und trat, als der auf der Erde lag, blitzschnell an dessen Schläfe. Mit der linken Hand gab er den anderen zwei SS-Leuten neben dem mit der Liste ein Zeichen. Die traten auch auf den Kopf des jungen Russen ein. Nach einiger Zeit hoben sie Stepan hoch und stellten ihn auf die Füße. Alle dachten, der Russe sei tot. Der aber stand immer noch schwankend. Da nahm ihn der SS-Feldwebel wie einen Neuankömmling unter die Faust. Er schlug nicht auf die Kinnspitze. Es war zu sehen, dass er ihn nicht k.o. schlagen wollte. Der Lagerführer schlug immer nur von rechts und von links Schwinger gegen die Backenknochen und gegen die Ohren. Nach einiger Zeit ließ der Lagerführer von ihm ab. Der Russe stand völlig entstellt. Er wankte. Dann sackte Stepan Solowjew zusammen.
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19 Die Mäusemahlzeit Auf dem Weg von der Arbeit ergatterte manchmal einer der Insassen des Straflagers eine Rübe oder einen Kohlkopf. Auch dabei entstanden Kämpfe zwischen den Häftlingen um einen Kohlstrunk, um eine verfaulte Runkelrübe, um ein Stückchen Kartoffel, die an den zänkischen Streit von Möwen um ein Stück Brot erinnerten. Die Männer kämpften wie Tiere um eine Kohlstange und um eine faule Wurzel von einem Misthaufen, um eine Handvoll Kartoffelschalen. Alphonse durchsuchte wie die anderen auch seinen Strohsack nach einer Maus. Er griff tatsächlich eine und tötete sie, indem er einfach zudrückte. Alphonse Bertrand war später, als er daran dachte als erwachsener Mann, immer wieder überrascht, dass er dies geschafft hatte. Dann fragte er sich, wie er das hatte fertig bringen können. Er steckte die tote Maus in die Hosentasche und schlief mit ihr unruhig die Nacht. Am Morgen beim Appell steckte er die Hand in die Hosentasche und spürte die tote Maus. Dabei überfiel ihn das Glücksgefühl, bald ein Stück Fleisch essen zu können. Wie in einem Dämmer dachte er, ob er verrückt geworden sei. Mit einer Glasscherbe hatte er das Fell aufgeschlitzt und es der Maus abgezogen. In der Mittagspause durften sich die Arbeiter über einem offenen Feuer die Hände wärmen. In seinem Napf, den er stets an einem Band um den Hals bei sich trug, kochte Alphonse die Maus mit Wasser aus einer Regenpfütze.
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20 Schlittentransporte Sechs Stück mussten Bleche tragen. Alphonse Bertrand trug nasse Kleidung. Es hatte geregnet während des gesamten Arbeitsganges. Vom Hof der Friedensschule bis zum Martinwerk 7, der Arbeitsstelle, hatte es geregnet. Alphonse fror. Die sechs Stück trugen ihre Bleche und legten sie ab. Dann gingen sie zurück und hoben das nächste Blech auf. Sie trugen das Blech fünfundzwanzig Meter weit und legten es ab. Danach waren die sechs Stück kraftlos. Sie sollten noch einmal ein Blech anheben, doch es ging nicht. Der Aufseher schrie. Als nichts geschah, legte er das Gewehr auf sie an. Aber die sechs Stück schafften es nicht, das Blech aufzuheben. Da lehnte der Aufseher sich an die Wand, wartete und sagte nichts. Bertrand setzte vorsichtig die Füße langsam seitlich nach rechts in die Richtung des großen Trockenrohres, durch das der Hitzestrom des Martinwerks ging. Er wollte seine Kleidung trocknen. Er hatte die drei Meter geschafft, als der Aufseher ihn sah. Der Mann schrie: „Ihr Schweine wisst genau, dass es für Schweine verboten ist, die Kleidung zu trocknen. Hau ab, sonst knall ich dich ab!“ Alphonse Bertrand bekam zwei Tage später einen seltsamen Auftrag. Er musste einen Schlitten ziehen. Morgens war er ein Stück Kommando Martinwerk 7 und wurde beim Appell dort mitgezählt. Alphonse war dann immer das zwölfte Stück. Stück zwölf musste von nun an einen großen Schlitten ziehen. Der Schlitten stand bereits am Eingang des Martinwerks 7. Alphonse konnte sich an einem langen Stück Holz festhalten, an dem die Kordel des Schlittens festgemacht war. So musste er drei Kilometer weit bis zur Gemeinschaftsküche der Firma Zander gehen. Ein bewaffneter Posten ging neben ihm. In der 137
Gemeinschaftsküche wurde das Essen, in großen Bottichen gefüllt, auf seinen Schlitten geschnürt. Der Hinweg war leicht. Es ging abwärts. Der Rückweg zum Werk, wohin Alphonse Bertrand das Essen für die Arbeiter auf seinem Schlitten ziehen musste, dünne Wassersuppe, keine Fettaugen, ging stetig leicht bergauf. Bertrand legte sich dann das Stück Holz quer über die Brust, wie ein Wolgaschiffer, schräg gegen die Straße geneigt, zog er seinen Schlitten in Richtung Werk. Einmal wurde ihm auf dem Weg schlecht. Er blieb stehen, das Gewicht der Wassersuppe auf seinem Schlitten zog ihn mit dem quer über die Brust gehenden Stück Holz rückwärts, er torkelte, rutschte mit seinen Holzklotschen auf der schneevereisten Straße aus und stürzte. Der Schlitten setzte sich in Bewegung, glitt abwärts und zog den Mann, an dem sich nun Kordel und Holz verhakt hatten, zwei Meter mit. Dann bremste eine Gehwegkante den Schlitten, der auf der abschüssigen Straße ins Schlittern geraten war. Der bewaffnete deutsche Posten blieb stehen. Er tat nichts. Alphonse Bertrand blieb auf der Straße liegen. Ihm war elend und übel. Er spürte nicht einmal die Kälte, die von der schneebedeckten Straße in seinen Körper drang. Er war benommen wie im Halbschlaf. Wie im Halbschlaf nahm er wahr, dass ihn jemand an der Schulter anstieß und ihn am Ohr zog. Jemand schüttelte ihn. Als er aus schweren Augen nach oben sah, entdeckte er das Gesicht einer Frau, die sich über ihn beugte. Er solle mit ihr kommen, sagte sie. Die Frau half ihm hoch. Der Soldat ließ sie gewähren. Bertrand kroch mehr nach oben, als dass er aufstand. Die Frau dirigierte ihn über vier Steinstufen, die von einer Tür eines kleinen Hauses auf die Straße führten. Neben den Steinstufen stand der deutsche Wachposten. Er hatte sich an die Wand gelehnt und begann zu rauchen. Die Frau zog Alphonse in das Haus. Der junge Belgier erschrak, als ihn plötzlich Wärme überfiel. Die Frau drückte ihn auf einen Stuhl. 138
Nachdem er einige Zeit dort gesessen hatte, sah er, dass vor ihm eine Tasse stand, aus der es dampfte. Daneben stand ein Teller, auf dem ein Schmalzbrot lag. Zwei Wochen lang zog Alphonse Bertrand hin und her mit dem leeren Schlitten und danach mit der dünnen Wassersuppe. Jeden Tag bekam der belgische Strafhäftling in diesem Haus seine große Tasse Malzkaffee und seine Butterbrote. Jedesmal stand der bewaffnete Wachmann vor der Tür. Der Mann lehnte dann an der Hauswand und wartete schweigend. Weder die Frau noch der Wachmann schienen sich zu sehen, so taten sie jedenfalls. Der Wachmann ging immer im Schritttempo von Alphonse. Es sah aus, als bewache ein Deutscher einen Schlitten mit Warmhaltekübeln, doch keinen Gefangenen. Zwischen dem Deutschen und dem Belgier fiel nie ein Wort.
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21 Arbeitsbummelei Einige Wochen, nachdem Georges Charlier und der Belgier Bertrand in das Straflager der Geheimen Staatspolizei gebracht worden waren, kam mit einem weiteren Transport der verurteilte Franzose Robert Nicolas in die Friedensschule. Nicolas war als Arbeitsbummelant verurteilt worden. Er hatte im Martinwerk 7 der Firma Zander Winkeleisen mit zwei anderen Arbeitern aus dem Weg räumen sollen. Ein mit Panzerplatten beladener Wagen sollte den Betrieb verlassen. Die Winkeleisen versperrten den Weg. Jedes Eisen hatte ein Gewicht von 30 Kilogramm. Robert Nicolas weigerte sich, das Eisen anzufassen. Als der Meister fragte, warum er nicht arbeiten wolle, sagte der junge Franzose: „Nichts essen, also auch nicht arbeiten!“ Er wies mit der Hand auf die Laufkatze über ihm, auf diese Kranbahn, die quer über dem Weg hing. Robert Nicolas betrachtete es als Schikane, dass er und zwei andere junge Franzosen die Winkeleisen hochheben sollten, vier Meter weiter neben den Weg legen sollten, damit der Wagen zur Durchfahrt Platz hatte. Mit der Laufkatze wäre es schneller, leichter, problemlos gegangen. Der Meister holte den Werkschutz. Zwei Werkschutzleute nahmen Nicolas in die Mitte. Sie drehten ihm die Arme auf den Rücken; Nicolas schrie auf, sein Körper wollte sich nach vorn werfen im Schmerz, doch die Werkspolizisten rissen ihn hoch. Dann wurde Nicolas eingesperrt. Für die Betriebe gab es eigene Strafsysteme. In einer Anweisung aus Berlin hieß es: „SS und Polizei können hier ruhig hart zufassen, und die Leute, die als Bummelanten bekannt sind, in KZ-Betriebe stecken. Anders geht es nicht.“ Seit dieser Zeit empfanden sich viele Betriebsführer als Polizisten und als Richter im eigenen Werk. Doch die Geheime Staatspolizei achtete peinlich darauf, dass 140
sie von allen Fällen der Arbeitsbummelei oder anderer Verstöße in Betrieben unterrichtet wurde. Mehr als drei Tage Arrest durften die Betriebsführer nicht anordnen. Körperliche Züchtigung oder sogenannte körperliche Einvernahme war ihnen nur bei Ostarbeitern gestattet. Robert Nicolas wurde mit drei Tagen Arrest bestraft und mit dem Entzug der warmen Verpflegung. Als er wieder seinem Arbeitskommando zugeteilt worden war, häuften sich die Schikanen. Es gab keinen Tag, wo Robert Nicolas nicht durch Auferlegung besonderer Strafarbeit drangsaliert wurde. Im wahrsten Sinne des Wortes wurden ihm jeden Tag „Beinchen“ gestellt, so dass der junge Mann stürzte, oft mit einem schweren Eisenteil, das er gerade trug, so dass er sich oft Hautabschürfungen und Verstauchungen zuzog. Einer der Meister hatte Arbeiter angewiesen, dem Franzosen immer wieder ein Bein zu stellen. Es war, als hasse dieser Meister den jungen Franzosen. Es war sogar manchmal so, dass dieser Mann andere Fremdarbeiter in Gegenwart von Robert Nicolas bevorzugte und schonte, indem er ihnen leichtere Arbeit gab, dafür aber Robert Nicolas die schweren und sperrigen Teile tragen musste oder ihm der unbequemere Weg befohlen wurde. Als Robert Nicolas eines Tages unter Tränen in seiner Muttersprache auf den Meister einredete, warum er ihn so erniedrige und quäle, der Meister auf ihn zuging, ihn mit den Händen an der Schulter fasste und ihn grob schüttelte, versuchte der junge Franzose vergeblich, sich dem Griff zu entziehen. Der Meister sagte später, es wäre ein Angriff des Franzosen auf ihn gewesen. Dabei habe er, sagte der Meister, bei dem Franzosen einen Zettel entdeckt. Diesen Zettel hatte der Meister auf einem Abort gefunden, den nur Fremdarbeiter benutzten. Der Zettel war auf einen Haken gespießt. Nun unterschob der Deutsche ihn dem jungen Franzosen. Diese Unterstellung brachte Robert Nicolas ins Straflager. Das war 141
der Inhalt: „Zehn Gebote des vollkommenen französischen Arbeiters: 1. In der Werkstatt langsam gehen. 2. Am Feierabend sich beeilen. 3. Den Abort oft aufsuchen. 4. Nicht zuviel arbeiten. 5. Den Meister ärgern. 6. Den schönen Mädchen den Hof machen. 7. Den Arzt oft aufsuchen. 8. Nicht mit Urlaub rechnen. 9. Die Reinlichkeit lieben. 10. Immer Hoffnung haben.“ Es war ein Kettenbrief, der Anfang 1944 unter französischen Zivilarbeitern in deutschen Betrieben kursierte. In Robert Nicolas Tasche hatte er nicht gesteckt. Doch dessen Beteuerungen wurden nicht geglaubt. Die Aussage des Meisters genügte, Robert Nicolas ins Straflager zu bringen. Als der junge Franzose an der Friedensschule abgeliefert worden war, sagte einer der Bewacher zu ihm: „Du Stück hast Glück. Sie hätten dich auch gleich ins KZ bringen können.“ Als das Straflager in der Friedensschule bombardiert wurde, gehörte Robert Nicolas zu jenen, die flüchteten. Wenige Wochen vor Kriegsende wurde er von Volkssturmmännern gefasst und ins Polizeigefängnis gebracht.
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VII Hitlerjunge Seipel
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22 Auftritte „Also Leute, ihr wisst, worum’s geht! Tief Luft holen und singen, dass es nur so kracht. Blast die Fanfaren und trommelt, dass denen die Ohren abfallen!“ Diesmal waren hundertundsiebzig Hitlerjungen auf dem Sportplatz „Am Krausen Bäumchen“ angetreten. Am letzten Sonntag waren es zweihundert gewesen. Die anderen dreißig Hitlerjungen waren nun an der Front. Alfred Seipel war froh, wieder am Lagermarsch teilnehmen zu können. „Und ihr wisst!“ rief der Zugführer, „zwischen den Lagern schont euch, kein Gequatsche. Schnauze halten! Klar? Damit die Stimme umso besser ist, wenn die Schweine uns hören sollen.“ Hundertundsiebzig Hitlerjungen setzten sich in Marsch. Das Ziel waren neun Lager im Süden der Stadt, neun Lager von Ostarbeitern und russischen Kriegsgefangenen, drei davon Bergwerkslager. Es war Sonntag. Der Marsch mit Gesang war so organisiert worden, dass die Fremdarbeiter und russischen Kriegsgefangenen in den Lagern waren und keine dieser grauen Kolonnen den singenden Hitlerjungen begegnen konnte. „Immer schön tief! Wer Stimmbruch hat, summt, der singt nur, wenn er tief singen kann!“ Der Zugführer lachte. Als sich die Jungen dem ersten Lager bis auf zweihundert Meter genähert hatten, wurden die Trommeln geschlagen. Danach setzten die Fanfaren ein. „Mit klingendem Spiel an den Russen vorbei!“ Das war ihre Aufgabe. Dann gab es das Zeichen zum markigen Männergesang von Hitlerjungen im Alter von vierzehn bis sechzehn Jahren: „Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren!“ Sie sangen ohne Unterlass. Dann kam das nächste Lied: „Wildgänse rauschen durch die 144
Nacht, mit wildem Schrei nach Norden. Unstete Fahrt, habt acht, habt acht, die Welt ist voller Morden.“ Besonders inbrünstig sangen die Jungen die letzte Strophe: „Wir sind wie ihr ein graues Heer und fahrn in Kaisers Namen, und fahrn wir ohne Wiederkehr, rauscht uns im Herbst ein Amen!“ Danach zitterten die morschen Knochen. Die Jungen glaubten an den im Lied verheißenen „Großen Sieg“. So sangen sie auch: „Wir werden weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt!“ Der Text „Heute da hört uns Deutschland“ war ihnen nicht genug. Sie gröhlten: „Heute gehört uns Deutschland“. Davon waren sie beseelt, dass ihnen morgen die ganze Welt gehören werde. Alfred Seipel war begeistert. Es war stolz, als er an dem ersten Stacheldrahtzaun vorbeimarschierte im gleichen Schritt mit seinen Kameraden und sang: „Ein junges Volk steht auf, zum Kampf bereit! Hebt die Fahnen höher, Kameraden!“ Er träumte davon, endlich auch zur Waffe zu greifen, um endlich, endlich für Deutschland und den Führer kämpfen zu dürfen. Als das erste Lager dreihundert Meter hinter ihnen lag, gab es von vorne die Parole: „Aufhören! Ruhe!“ Doch immer wieder stimmten einige ein Lied an, bis einer mit der Trillerpfeife sich Gehör verschaffte: „Ruhe Leute! Schnauze halten! Kraft sammeln! Es sind noch acht Lager!“ Acht Lager mit Russen, mit Feinden, mit Polen, mit Bulgaren, mit Jugoslawen, mit Holländern, mit Franzosen, mit Dänen sogar. Seltsam, fragte sich Hitlerjunge Seipel, warum eigentlich Dänen? Warum die blonden Dänen? Es sollen nur zehn sein, also nur wenige, aber auch sie waren hinter Stacheldraht in einem Lager. Vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren, ein Volk steht auf, der Sturm bricht los. Am sechsten Lager kam von vorne der Befehl: „Halt!“ Die Leitung hatte sich etwas Besonderes für diesen Tag ausgedacht. Die Straße führte etwa zwanzig Meter oberhalb des Lagers vorbei, das in einer Senke lag, mehr in einem 145
langgestreckten Geländevorsprung an einem tiefen, doch gemächlich abfallenden Hang. Die ganze Gegend war ein breites Tal, an dessen Grund sich träge und schwärzlich, gekrümmt wie ein Lurch, ein Fluss schlängelte. Überall schoben sich Ausläufer bewaldeter Hügel vor, unregelmäßig gestaffelt wie ein zum Angriff formiertes Armeekorps. Das silbrige Blau hundertjähriger Buchen hinterließ selbst auf diesem trüben Gewässer einen Abglanz von Zartheit und Unberührtheit. Die gesamte Niederung war besprenkelt mit weißgekalkten Bauernketten, Gartenlokalen, Fruchtäckern, Tennisplätzen, Bootshäusern, Wiesen und Viehherden. Leuchtendweiß hob sich aus dem dunkelgrünen Gewoge der sich überlagernden Wälder am Ende der letzten Krümmung des Flusses, der wie abgehackt hinter einem Felsvorsprung verschwand, das Ausflugslokal „Heimliche Liebe“ als besonders heller Punkt von der Gegend ab. Etwas näher drängten sich ocker- und sandsteinfarben die protzigen Säulen und die giftiggrün angelaufenen Dächer von Zandershöhe aus der Landschaft hervor, das Großindustriellen-Schloss, ein pompöser Prachtbau des Stahlgiganten Zander. Nahe der Straße jedoch lag schmutziggrau das Lager der Russen, hässlich und störend, wie eine schadhafte Stelle auf einem idyllischen Landschaftsbild. Von oben war es gut einzusehen. Die Straße bog in einem scharfen Knick nach links ab. Wer in diesem Bogen stand, nach unten auf das Lager und über das Tal sah, stand wie auf einer Kanzel. Dort wurde den Hitlerjungen „Halt!“ befohlen. Die Trommeln wurden gerührt. Es schallte ins Tal bis zum Fluss und dumpf bis ans andere Ufer. Dann gab es mehrere Fanfarenstöße wie bei der Olympiade in Berlin. Alfred Seipel hatte im Ufa-Filmpalast den Film über die Olympiade gesehen. Und der Mann, der jetzt auf der Bank stand, sah aus, als stünde er auf dem Siegerpodest. Erneut wurden Trommeln gerührt. Der Mann war auf die Bank gestiegen, auf der Wanderer in ruhigeren 146
Zeiten ins Land und auf den Fluss schauten. Es war eine liebliche Landschaft, die von der Bank aus zu sehen war. Den, der auf die Bank gestiegen war, kannte Alfred Seipel nicht. Es war ein etwas älterer Mann. Norbert Gotthard neben ihm sagte, das sei der Schauspieler vom Stadttheater, der immer die Hauptrollen spiele, genau das sei der: „Das ist der Konrad Scholtitz!“ Der Schauspieler stand auf der Bank, während der Hitlerjugendführer rief: „Ruhe! Augen geradeaus!“ Die Hitlerjungen hatten die Köpfe zum Schauspieler gewandt. Der Schauspieler straffte sich. Plötzlich setzte er sich blitzschnell einen Stahlhelm auf und legte sich den Sturmriemen ums Kinn. Dann rief er ins Tal: „Deutschland, erwache!“ Hitlerjunge Alfred Seipel ging es durch und durch. „Sturm, Sturm, Sturm! Läuten die Glocken von Turm zu Turm! Dass die Funken zu sprühen beginnen! Judas erscheint, das Reich zu gewinnen! Läutet, dass blutig die Seile sich röten! Rings lauter Brennen und Martern und Töten! Läutet Sturm, dass die Erde sich bäumt! Unter dem Donner der rettenden Rache! Wehe dem Volk, das heute noch träumt! Deutschland, erwache!“ Der Schauspieler machte eine Pause. Alfred Seipel atmete tief ein und sah auf das Lager der Russen. Diese Schweine! dachte der junge Deutsche. Wir müssen sie alle zusammenschlagen, wir müssen sie alle vernichten. Diese Judasse wollen uns unseren Raum nehmen, unser Leben, dachte der Junge. Er wollte laut rufen: Alle Fremden müssen wir ausrotten! Er sah die Bilder, die in der großen Ausstellung über dieses Dreckspack gezeigt worden waren. In richtigen Lehmhütten hausten die noch. Keine Kultur hatten die. Alle saßen um einen Holztisch, auf dem ein großer Topf mit Kohlsuppe stand. Und jeder langte mit seinem Löffel in den Topf; alle aßen aus einem Topf, dachte Alfred Seipel angewidert, nicht vom eigenen Teller, den hatten die nicht. Mit Holzlöffeln fraßen die, dachte er, nicht einmal Metalllöffel kannten die, und wie die lachten! Wie kleine, dumme, 147
glückliche Kinder. Keine Würde und keine Kultur! Da begann der Schauspieler erneut: „Sturm, Sturm, Sturm! Läuten die Glocken von Turm zu Turm! Läutet die Männer, die Greise, die Buben, läutet die Schläfer aus ihren Stuben! Läutet die Mädchen herunter die Stiegen, läutet die Mütter hinweg von den Wiegen. Dröhnen soll sie und gellen die Luft, rasen, rasen im Donner der Rache. Läutet die Toten aus ihrer Gruft. Deutschland, erwache!“ Der Schauspieler blieb mit ausgestrecktem Arm stehen, als wolle er etwas aus der Luft greifen. Alfred Seipel war gebannt. Einmal so wie dieser da reden, dass einem das Herz im Halse schlägt. Da rief der Zugführer: „Ein Volk steht auf!“ Sofort brach es wie ein Jubelschrei aus hundertundsiebzig Jungen heraus: „Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit, reißt die Fahnen höher, Kameraden!“ Nachdem sie das neunte Lager durchgesungen hatten, waren Alfred Seipel und seine Freunde erschöpft. Alfred war glücklich: Sie hatten etwas für den Führer getan! Sie hatten Dienst für das Vaterland getan, die Männer in der Stadt, sie, die Jungen! Der Führer konnte sich auf sie verlassen. Wehe, die Ostarbeiter und alle anderen Fremden und Ausländer kämen auf den Gedanken, die Stadt wäre ohne männlichen Schutz, sie kämen gar auf den Gedanken, die Zäune zu durchbrechen. Da sind wir, dachte Alfred Seipel, wir Hitlerjungen sind da! Alle Gedanken, die Alfred Seipel an diesem Tag bewegten, waren Gedanken mit Ausrufungszeichen. Mit tiefen Ernst sang er, dass ihm heute Deutschland gehöre, aber morgen die ganze Welt, die Welt der Russen, Polacken, Tschechen, Slowaken, Ukrainer, Franzosen, Briten. Keiner sollte sich herauswagen aus diesen elendigen Baracken! Als Alfred Seipel müde und glücklich nach Haus kam, grüßte er seine Mutter mit „Heil Hitler!“. Dann machte er seinen Diener.
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23 Saure Nudeln Ein Hitlerjungentrupp brachte das Essen zu den Fliegergeschädigten. Fliegergeschädigte waren jene Menschen, deren Häuser und Wohnungen bei Luftangriffen zerstört worden waren. Im Stadtwald war in einem der großen Nebenbetriebe des Stahlkonzerns Zander ein Heim eingerichtet worden, in dem hundertundzwanzig Fliegergeschädigte lebten. Sie wohnten in enger Nachbarschaft zu einem Lager russischer Fremdarbeiter. Die Eingänge des Russenlagers hinterm Stacheldraht und die des Heims der Fliegergeschädigten in einem Ziegelsteinbau, lagen nur dreißig Meter voneinander entfernt. Doppelposten taten dort Dienst; die Wut der Ausgebombten auf alle Feinde hinterm Stacheldraht steigerte sich in dem Maße, wie die Lebensmittelzuteilungen und die gesamten Zustände in den letzten kalten Kriegsmonaten sich verschlechterten. Die Amerikaner und Engländer, die ihnen mit ihren Bomben das Dach über dem Kopf genommen hatten, bekamen sie nicht zu fassen! Einmal jedoch war ein mit seinem Flugzeug abgestürzter Amerikaner mit Mühe durch deutsches Militär vor der Lynchjustiz der Menschen gerettet worden. Das Essen wurde von einem Wehrmachtsangehörigen am Steuer eines kleinen Planwagens aus der Küche von Zander in den Stadtwald gefahren. Auf der Ladefläche saßen zwei Hitlerjungen, die sich freiwillig zu diesem „völkischen“ Dienst gemeldet hatten. Sie hatten die Aufgabe, die Thermobehälter in den Bau zu schaffen: Manchmal ergab es sich, dass gerade ein Trupp zerlumpter und müder Russen ins Lager schlurfte, wenn der Wagen mit dem Essen vorfuhr. Die Hitlerjungen hievten die Kübel vom Wagen, schleiften sie mehr über den Boden und die Fliesen des Baus, als dass sie die schweren Kessel mit Erbsensuppe, Nudeln oder Griesbrei schleppten. Alfred Seipel 149
tat diesen Dienst gern. Es gab ihm das Gefühl, andere satt gemacht zu haben. Es war ihm, als gäbe er von seinem Essen Bedürftigen genügend ab. Eines Tages waren die Straßen vereist. Nachts hatte es geregnet. Morgens hatte Frost eingesetzt. So kam das Essen später an dem Bau im Stadtwald an, als vorgesehen. Der Fahrer hatte vorsichtig die vereisten, kurvenreichen Straßen, die zum hügeligen Gelände des Stadtwaldes führten, hinauffahren müssen. Als die beiden Hitlerjungen den ersten schweren Thermobehälter vom Wagen hoben, rutschte Alfred Seipel aus und der Thermobehälter schlug um. Der andere Hitlerjunge griff hinzu, um den Behälter mit dem Essen zu halten, griff aus Versehen an den Hebel des Deckels, dass der sich löste. Doch beide Jungen schafften es, den sich nun gerade öffnenden Thermobehälter wieder senkrecht zu stellen. Der Deckel war mit einem hässlich scheppernden Geräusch über den vereisten Boden gerutscht. Aus dem offenen Essenskessel schlug den beiden Hitlerjungen der eklige Geruch von sauren Nudeln entgegen. Das ganze Essen war verdorben. Die Leiterin der Küche begann bereits zu schimpfen über diese Schweinerei. Zur gleichen Zeit schlich, nur wenige Meter entfernt, ein Trupp von Russenarbeitern ins Lager zurück. Alle starrten mit hungrigen Augen auf den runden Kübel. Da machte Alfred Seipel eine Reflexbewegung mit dem rechten Bein, trat gegen den Kessel, dass er über die vereiste Straße in Richtung der Russen schlitterte. Etwa fünf Meter vor den Gefangenen blieb er stehen. Die russischen Arbeiter stürzten sich auf den Kessel mit den übel riechenden sauren Nudeln. Einige von ihnen ließen sich auf die Knie fallen. Sie griffen mit den Händen in den Kessel hinein, rissen ihre Mützen vom Kopf, füllten die Mützen mit dem verdorbenen Essen, indem sie gleichzeitig versuchten, sich soviel wie möglich von der Matsche in den Mund zu 150
stopfen und hinunterzuschlingen. Andere heulten und schimpften wütend, da sie nicht an den Kessel herangekommen waren. Mehrere zogen einen anderen aus dem Kübel, in den der hineingekrochen war, um die Wände abzulecken, als der Kessel umgestürzt war und bereits leer auf der Seite gelegen hatte. Alles war schnell gegangen, dass die deutsche Wachmannschaft erst mit den sandgefüllten Gummischläuchen auf die Meute einschlagen konnte, nachdem von den Nudeln nichts mehr übriggeblieben war.
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VIII Valentin
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24 Das Grab im Beton Der Transport mit den Leiharbeitern kam an einem Freitag an der Küste an. Ohne Aufenthalt waren die Viehwaggons zum Norden gefahren. Keiner der Russen wusste, wohin es ging und wozu die Fahrt diente. Sie hatten sich längst in das Hin und Her ergeben. Ihre Menschenwürde war längst verloren gegangen. Die meisten dachten kaum noch nach, was der nächste Tag bringen könnte. Die Behandlung der Wachmannschaften hatte das erklärte Ziel erreicht, ihnen das Gefühl, Menschen zu sein, zu nehmen. Nicht einmal wie Tiere gehalten, dachten sie nur noch ans Essen und ans Überleben. Das neue Lager an der Küste unterschied sich nicht von dem bei „Beton und Monier“ im Westen des Landes. Beim Bau des Westwalls hatte die Firma „Beton und Monier“ viel Geld verdient. Nun baute das Unternehmen, mit anderen zusammengeschlossen in der „ARGE Nord“, ein unterirdisches Werk für U-Boote. Eine der Geheimwaffen, die in Berlin von Strategen der Kriegsmarine als kriegsentscheidend eingestuft worden war, sollte in einer riesigen Betonhalle gebaut werden. Ein Bauwerk, vergleichbar den Pyramiden. „Valentin“ - ein Traum der Ingenieure des Krieges. Die Grundfesten sollten bis weit unter den Boden der Flussmündung am Meer reichen. Ein Gigant aus Stahlbeton, hoch aufgerichtet, hoheitsvoll, wie bei den alten Ägyptern, majestätisch, eine Werft, die keiner sehen sollte, sozusagen fast unter Tage. Und wie beim Bau der Pyramiden in Ägypten verrichteten Sklaven diese Arbeit: Sowjetische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter aus Holland, der Tschechoslowakei, Franzosen, Belgier, Jugoslawen, Italiener, Polen und Häftlinge eines nahen Konzentrationslagers. Tausende schippten Kies, 153
schippten Beton, schippten Sand, karrten Beton, karrten Kies, karrten Sand. Tausende gingen hin und her mit Lasten, schleppten Bohlen, Schwellen, schleppten Säcke. Viele starben wie beim Bau der Pyramiden in Ägypten, verreckten in den Baracken am Meer, sackten entkräftet bei der Arbeit zusammen, manche stürzten kraftlos von den Gerüsten zu Tode. Jeden zweiten Tag sollte ein Unterseeboot diese unterirdische Werft „Valentin“ verlassen. Jeden Tag sollte ein Unterseeboot voll todbringender Fracht auf See geschickt werden gegen den Feind. Die Planer dieser Pyramide, auf deren Grund die Unterseeboote gebaut werden sollten, sahen ein Schiff nach dem anderen der Feinde explodieren. Kein Unterseeboot hat je „Valentin“ verlassen. Tausende Arbeiter starben. Die Lager waren im Umkreis von acht Kilometern errichtet worden. Die russischen Gefangenen, die Zwangsarbeiter, arbeiteten bis zum Umfallen. Grigorij Kisseljow war einer der Russen, die aus dem Landesinneren ausgeliehen worden waren für diesen Bau. Der Russe Grigorij Kisseljow hatte im Bergwerk geschuftet. Im Sammellager war er für den Bergbau ausgesucht worden. Du musst die Arschbacken zusammenkneifen, hatten die Kameraden gesagt. Mit schlappem Arsch bist du ein Distrophiker, und Distrophiker können die Deutschen im Bergbau nicht gebrauchen. Doch im Bergbau gibt es was zu Fressen. Im Lager gibt es nur Hunger. Hunger wird Tod. Der Russe kniff die Arschbacken zusammen. Die Fahrt von der Zeche „Königliche Hoheit“ zur Sammelstelle und nach Norden waren für Grigorij Kisseljow Tage der Wohltat. Zum ersten Mal gab es keinen Steiger, der mit Lederriemen auf ihn einschlug, in die Sand gefüllt worden war. Das Bergwerkslager lag zweihundert Meter entfernt vom Eingang der Schachtanlage. Zwischen Lagertor und Schachtgerüst war aus Stacheldraht ein Gang gebaut worden, 154
der denen für Löwen in einer Zirkusmanege ähnlich war. Die einzige Bewegung, die er und die anderen Elenden hatten, und die einzige Zeit, die er unter freiem Himmel verbrachte, waren die Schritte auf diesen zweihundert Metern im Stacheldrahtgang vom Lagertor bis zum Schachtgerüst und zurück. Aber auch das waren Zeiten, in denen sie getrieben wurden. Auf diesem Weg vom Lager bis zum Schachtgerüst, bis zum Förderkorb, der sie hinunter nahm in die Schächte, war Flucht unmöglich. Links und rechts sperrte sie mehrfach verwickelter Stacheldraht ein. Und doch wurde jeder Sklaventrupp von fünf Deutschen bewacht, die mit Lederriemen neben den Russen gingen, unvermutet, scheinbar wahllos auf die Verelendeten einschlugen, bis wenigstens ein Mann strauchelte und fiel, hochgetrieben wurde, oft nicht mehr auf die Beine kam. Einige Russen huschten wie Gespenster durch den Gang. Rechts und links gingen Aufseher mit Riemen. Kam ein Russe, der gestrauchelt war, nicht schnell genug hoch, wurde sofort und ohne Pause auf den Mann geschlagen. Es war, als tobten sich die Männer aus. Wenn die Russen unten im Schacht vor Ort waren, waren es nicht nur die Hundertfünfzigprozentigen, nicht nur die Nazis, nicht nur die Braunen, die ihre Russen geschlagen haben. Es wurde mit der Hacke, mit der Schippe, mit dem Schaufelstiel geschlagen. Es war, als wären alle übergeschnappt. Und es war, als wären die Schläger stolz, endlich einmal jemanden unter sich zu haben. Keiner stand in der Nacht des Berges mehr über ihnen, sondern unter ihnen standen noch andere, an denen sie sich schadlos für vieles halten konnten. Russen schlagen sei genau so wichtig für Deutschland wie Juden schlagen, hatte ein Steiger zu seinen Leuten gesagt, als er mit einem Schraubenschlüssel einem jungen Russen den Schädel eingeschlagen hatte. Bis nach oben kam kein Schrei der misshandelten 155
sowjetischen Kriegsgefangenen und der anderen russischen Sklaven. Kein Schrei drang hinauf. Wehe, der sowjetische Arbeiter hatte die Arbeit des deutschen Hauers nicht übernommen. Wehe, die gesteigerte Arbeitsleistung, die gefordert worden war, hatte der Russe nicht für den Deutschen erledigt. Dem Iwan eine zwischen die Zähne oder eine ins Genick! War der deutsche Kohlengräber einen Tag nicht da, musste der Russe für ihn mitarbeiten. Grigorij Kisseljow war an der See. Er stand an der Betonmaschine. Er schob den Japaner, wie die kleinen lorenähnlichen Schubkarren genannt wurden, in die der schwappende Betonbrei gegossen wird, stellte ihn vor die Maschine. Dann karrte er den Beton über schwankende Bohlen zur Baustelle, wo er auf das Eisengeflecht gekippt werden musste. Grigorij Kisseljow war bereits seit Wochen an der See beim Bau der Pyramide. Die Arbeit an der frischen Luft und unter freiem Himmel war grauenvoller als die unter Tage. Schläge waren auch am Meer üblich. Es wurde noch mehr auf Tempo gedrückt. U-Boot für U-Boot sollte dem Feind entgegenfahren. An einem Freitag, frühmorgens, wurde Grigorij Kisseljow schlecht, als er mit dem hin- und herschwappenden Beton an der Ecke des Bauwerks in zehn Meter Höhe auf dem Gerüst angekommen war. Er wollte den Japaner noch abstellen, als ihm schwarz vor Augen wurde und er umfiel. Grigorij Kisseljow kippte auf den rechten Griff des Japaners. Dabei riss er im Fallen die Baukarre mit dem Beton zur Seite. Der Russe stürzte in den frischen Beton. Der Polier sah den Vorfall. Er pfiff auf den Fingern einen der Ingenieure herbei, der wenige Meter weiter mit einer Zeichnung die nächsten Arbeiten erklärte. Der Polier zeigte auf den bewusstlosen Russen, der in den Beton gefallen war und dem der nachstürzende Japaner auf den Leib gekippt war. Der nasse Beton hatte ihm die Brust zugeschüttet. Graue Kiesel 156
lagen auf dem Mann. Sein Kopf hing in der Zementbrühe. Auf den Bohlen des Baugerüstes standen hinter dem Polier und dem Ingenieur bereits drei weitere Russen mit gefüllten BetonJapanern. Der Ingenieur zuckte mit den Schultern. Er machte mit der rechten Hand eine wegwerfende Bewegung. Der Polier gab dem hinter ihm stehenden Russen das Zeichen, den Beton abzukippen. Der Russe kippte den Beton ab; die Brühe schwappte auf den Bewusstlosen. Auf den Schalungsbrettern hob der nächste Russe die Griffe des Japaners zur Brust. Mit scharrendem Geräusch rutschte der Betonbrei nach unten. Der dritte Arbeiter wuchtete die Griffe des Japaners in Brusthöhe. Nur noch die Schuhspitzen Grigorij Kisseljows ragten aus dem feuchten Beton.
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25 Hundefleisch Pierre Clemente spuckte immer wieder das Blut aus. Der Schmerz in seinem Mund war groß. Das Blut verursachte ihm eine Übelkeit, die er schlimmer empfand als den Schmerz. Dass sie ihm die Haare geschoren hatten, auch die unter den Achseln, in den Lenden, an den Beinen und sich dabei keine Mühe gaben, ihn nicht zu verletzen, als sie die Haare am Hodensack abrasierten, erlitt Pierre Clemente dort kleinere Verletzungen, als sie ihn so scherten, bis er vollkommen nackt war und das Gefühl hatte, nicht mehr er selbst zu sein, ein anderer geworden zu sein, hatte ihn das erniedrigt. Mit solchen Erniedrigungen durch die Deutschen hatte der neunundvierzigjährige Franzose gerechnet. Auch dass sie ihn von oben bis unten bestäubten und besprühten und desinfizierten als französische Drecksau, hatte ihn nicht so sehr verstört wie diese letzte Aktion, die die Summe unmenschlicher Leiden immer größer werden ließ und das Gefühl, Mensch zu sein, langsam, aber schier unaufhaltsam zurückdrängte. Einer riss ihm den Mund auf, da er nicht sofort verstanden hatte, was er machen sollte, griff ihm mit der linken Hand hinter die Zähne des Unterkiefers und mit der rechten Hand hinter die Zähne des Oberkiefers und riss ruckartig, dass Pierre Clemente aufschreien wollte, weil er das Gefühl hatte, die Kiefer brächen auseinander. Dabei drückte der Mann ihm die Nase so heftig ins Gesicht, dass er nicht mehr atmen konnte, mit einem pfeifenden und schnarchenden Geräusch die Luft durch den aufgerissenen Mund sog und wieder hineingehen ließ. Pierre Clemente wusste nicht, was ihm geschah. Er spürte, dass jemand in seinen Mund hineinlangte mit einem Gegenstand wie ein Zahnarzt und sich an seinen Zähnen zu 158
schaffen machte. Plötzlich spürte er das knackende und krachende Geräusch, als ihm der erste Zahn abgebrochen wurde. Dann brachen sie ihm einen zweiten Zahn aus dem Oberkiefer. Sie gingen rücksichtslos vor, so dass Fleisch und Teile des Kiefers verletzt wurden. Später erfuhr er von anderen, dass die Deutschen allen Gefangenen, die nun die neuen Zebraanzüge trugen, die Goldzähne herausbrachen. Pierre Clemente war weder ein „Politischer“, noch ein Berufsverbrecher. Er war auch kein Nichtsesshafter, kein Bibelforscher, kein Roma und kein Sinti, kein Zigeuner, war nicht homosexuell, und er war auch kein Jude. Er war ein neunundvierzigjähriger Friseur eines südfranzösischen Dorfes. Resistancekämpfer hatten Brücken gesprengt und Bäume gefällt, die auf Straßen fielen und der deutschen Wehrmacht den Weg versperrten. So kam Pierre Clemente an die deutsche See. Zwei Wochen nach der Sprengung war eine Gruppe der deutschen Wehrmacht in das kleine südfranzösische Dorf von Pierre Clemente eingerückt. Die Männer wurden zum Marktplatz befohlen. Die Frauen mussten ebenfalls zum Marktplatz kommen. Die Frauen wurden in die Kirche geschickt. Einige fingen an zu weinen, einige klagten, wenige schimpften. Deutsche Soldaten schoben und stießen die Frauen in die Kirche; dann wurde das Tor verschlossen. Die Männer standen auf dem Marktplatz, der Kommandantur gegenüber. Deutsche Soldaten hatten den Platz umstellt. Es wurde geschrien, geredet, manchmal hatte es sogar den Anschein, als verhandelten die Deutschen mit den Franzosen. Einer der Franzosen sprach mit dem deutschen Offizier. Er wiederholte immer wieder: „Diese Männer hier sind unschuldig! Sie sind keine Widerstandskämpfer!“ Natürlich waren auch Widerstandskämpfer auf dem Marktplatz, doch keiner verpfiff sie. 159
„Diese Männer“, sagte der Wortführer der Franzosen dem deutschen Offizier, „sind keine Widerstandskämpfer, die haben die Brücken nicht in die Luft gesprengt und auch nicht die Straßen blockiert“. Sie hätten auch nicht die deutschen Soldaten aus dem Hinterhalt erschossen. Sie seien es nicht gewesen. Der deutsche Offizier entschied, als die Sonne unterging: Zweiundfünfzig Männer im Alter von achtzehn bis fünfundzwanzig Jahren werden ausgewählt! Zwei Häuser, von denen die Deutschen annahmen, dort hätte die Resistance ihre Zusammenkünfte abgehalten, wurden in die Luft gesprengt. Pierre Clemente gehörte zu den zweiundfünfzig Männern, die ausgesondert wurden und ins Polizeigefängnis der nächsten Stadt gebracht wurden. Zwei Wochen später war er Mitglied eines Außenkommandos „Valentin“ des großen Konzentrationslagers und wurde kurz nach drei Uhr morgens von SS-Leuten zum Waschen gepeitscht. Pierre Clemente konnte keinen Brocken Deutsch. In zwei Monaten allerdings verstand und sprach er deutsch, zumindest das, was für sein Überleben wichtig war. Es waren zwei Worte, die die meisten der Ausländer kannten: Suppe und Brot. An den ersten Tagen hungerte Pierre Clemente. Er hatte seine Nummer bekommen, die Nummer 31231. Er sei die Nummer 31231, wurde ihm immer wieder gesagt von Leuten, von denen er nicht wusste, wer sie waren, er wusste nur, dass sie stärker und mächtiger waren als er und ihm Befehle erteilen konnten und dass es Deutsche waren. 31231: Das war die Nummer, die er auswendig lernen musste. Sie war lebenswichtig. „Pierre, tu es le numero trente-et-un-mille-deux-cent-trenteet-un“, hatte ihm ein anderer Franzose zugeraunt. Pierre hatte bisher noch kein deutsches Wort gesprochen. Aber wenn er nicht beim Zählappell rief: „Einunddreißigtausendzweihunderteinunddreißig!“, dann war 160
er nicht da. Wer nicht vorhanden war, bekam keine dünne Scheibe Schwarzbrot, keinen Teelöffel Margarine, keinen Löffel Wassersuppe aus Futterrüben oder Kohl. Wer nicht vorhanden war beim Zählappell, wer beim Aufrufen der „Nummer“ nicht rufen konnte, bekam Schläge. Pierre Clemente war in der Zementkolonne. Der Zementstaub war widerlich. Pierre Clemente versuchte zu husten, doch die grauen Schwaden drangen in den Menschen ein und machten das Atmen schwer. Einer seiner Kameraden bekam davon Ausschlag und Furunkel. Später wurde Pierre Clemente zu einem Betonstampfer. Die größte Sorge der Betonstampfer war, nicht umzukippen. Die Arbeit war schwer, sie verlangte Kraft. Aber Kraft hatte kaum jemand bei dieser Nahrung. Die Angst war groß und die Angst schützte sie meisten davor, in den abbindenden Beton zu fallen. Aus dem holte einen niemand mehr heraus. Auch die Kapos und die Vorarbeiter und die Meister hatten Angst. Sie gingen selten am Rand der schwankenden Holzplanken, die über den frischen Beton gelegt worden waren. Wie leicht hätte ein Stoß sie in die schwappende Brühe befördern können, die schlimmer war als Moor, wenn ein Schlag mit dem Maurerhammer auf den Kopf folgte. Keine rettende Hand würde einen der Verhassten hinausziehen aus dem Beton, obwohl Hände genug da waren auf „Valentin“. Einige Decken waren bis zu fünf Meter stark. Pierre Clemente war schon längere Zeit bei den Betonstampfern. Oben auf dem Dach, dort, wo sich die Vorarbeiter und Meister und die Kapos selten hinwagten, da das Risiko, das Leben im Beton zu beenden, groß war, da sah kaum jemand, wenn Zwangsdeportierte oder Russen oder andere Gips in den Beton mischten, um ihn faul zu machen, damit „Valentin“ brüchig und löchrig wurde. Doch das war selten. Pierre Clemente gehörte zu denen, die sich so rächten. 161
Auch er hatte Angst vor Bestrafung. Alle hatten Angst vor Bestrafung. Oft war es so, dass sich nur die Franzosen mit den Franzosen verständigen konnten, aber mit den Jugoslawen beispielsweise nicht, auch nicht mit den Polen und den Russen. Und die Russen und die Holländer? Auch sie sprachen kaum miteinander, konnten kaum miteinander reden. Es war ein Turmbau zu Babel dort an der See. Es war eine Sprachverwirrung in schrecklicher körperlicher und seelischer Not. Um das Leben in der nassen Betonwüste zu überstehen, bestimmte Hass neben Angst alles. Angst vor den Bewachern, Angst vor dem Nebenmann, der einen verpfeifen konnte, Hass auf jene, die einem das Leben schwer machten, die das Menschsein nahmen. Die sieben Franzosen des Außenkommandos „Valentin“ vom nahen Konzentrationslager, alle aus dem gleichen, kleinen französischen Dorf, sieben Männer dieser zweiundfünfzig, die von der deutschen Wehrmacht bei einer Strafaktion zwangsdeportiert und in dieses Konzentrationslager gesteckt worden waren, hassten mehr als alle Menschen im Lager Hasso, den SS-Hund. Hasso, der Schäferhund, war der König des Lagers. Er ging spazieren, lief frei herum und war auf den Mann dressiert worden. Vor allem auf die Franzosenbaracke hatte sein Herrchen diesen Hund abgerichtet. Keiner der Franzosen wagte sich vor die Baracke. Das war die Absicht der SS-Herren dieses SS-Hundes. Wenn Hasso von der Leine oder Kette war, dann hatte der Mann Ruhe, dann waren alle Schangels in der Baracke. Dann wusste er, dass die Zähne seines Hundes für Ordnung gesorgt hatten. Die sieben Franzosen kannten neben Hass und Angst nur ihren Hunger. Einer von ihnen sagte: „Wir werden ihn töten. Wir werden ihn töten und werden das Vieh fressen; das Vieh will uns fressen.“ 162
Pierre Clemente, der Friseurmeister aus Südfrankreich, der seinen Freunden im Dorf die kleinen Menjoubärtchen exakt rasierte, der den alten Pierre und den alten Henri immer gut rasierte, indem er ihnen einen Löffel in den Mund steckte und so im Mund hielt, dass die Wangen der alten Männer sich strafften, damit er die Bartstoppeln abrasieren konnte, der bei schönem Wetter draußen vor der Tür arbeitete, und alle ihm zusahen und ihn lobten, er habe den alten zitternden Jean so schön rasiert, dass der rosig aussähe und ein glattes Gesicht hätte wie ein Kinderpopo oder wie der Pfirsicharsch von Pasquale, der Dorfschönen. Pierre Clemente, der sich so gut mit dem Messer verstand, bekam den Auftrag, ein Messer zu besorgen. Einer der sieben war Fleischermeister, war einer von denen, die sich auf das Zerlegen von Tieren verstanden. Der versprach, wenn der Hund erst tot sei, zerlege er ihn eilig in Stücke und keiner erführe, wo Hasso geblieben sei. Alles wäre weg. Kein Hund mehr. Pierre Clemente, der Betonstampfer von „Valentin“, nahm drei Stück Moniereisen von etwa dreißig Zentimeter Länge an drei Tagen mit in die Baracke. Dann entdeckte er ein Flacheisen, stark genug, dass es sich nicht verbiegen konnte, es war auch nicht zu lang. Die Eisen wurden unter den Freunden verteilt. Jeder von ihnen hatte den Auftrag, zwischen den Arbeiten das Eisen am harten Beton entlang zu ratschen, immer wieder, Tag für Tag, bis die Eisen spitz und scharf waren. Mit dem Flacheisen wurde es ebenso gemacht: drei Spitzen und ein Messer. An einem Sonntagnachmittag, an einem arbeitsfreien Tag, gingen die sieben Freunde hinaus, obwohl Hasso nicht an die Kette gelegt worden war und auch nicht an der Leine seines Herrn lief. Sie gingen schnell hintereinander; Hasso war in der Nähe. Der Hund sah die sieben Menschen in den Zebraanzügen, sah, dass sie aus der Franzosenbaracke kamen, auf die sein 163
Herr ihn besonders abgerichtet hatte. Er stürzte auf die Männer los, um zuzuschnappen, zuzubeißen, wozu er abgerichtet worden war, hasserfüllt, bellend und geifernd. Drei Männer vorn, jeder mit einem angespitzten Moniereisen in der Hand. Als der Schäferhund den ersten anspringen wollte, rammte ihm der Mann das spitze Eisen in die Kehle, und auch die beiden anderen stießen auf den Hund ein. Der tote Hund wurde hinter die Baracke geschleift. Mit dem angeschärften Flacheisen zerlegte der Fleischermeister des kleinen südfranzösischen Dorfes den Hund. Einige andere Franzosen in der Baracke waren eingeweiht worden. Sie streuten Staub und Sand auf die Blutflecken, nachdem der Fleischermeister das Hundefleisch in mundgerechte Brocken zerlegt hatte. Hasso war schnell verschlungen. Fell und Pfoten und Kopf wurden in einen Zementsack gestopft. Pierre Clemente schaffte es, über Schleichwege den Rest des Hundes in ein dafür ausgesuchtes Loch der Baustelle zu werfen und mit zwei Schaufeln schnell angemachten Betons zu überdecken. Die Reste des Hundes wurden nicht gefunden. Das Verschwinden des Hundes war schnell entdeckt worden. Da die Wachmannschaften, vor allem die ständig lauernden SSLeute, mit allen möglichen Sabotage- und Racheakten und Fluchtversuchen rechneten, kam schnell der Gedanke auf, Hasso sei getötet worden. Der Hundeführer sagte seinem Vorgesetzten, die Franzosenbaracke solle auf dem Appellplatz Aufstellung nehmen. Dieser Mann kannte nur ein Wort auf Französisch: „Merde!“ Wenn er den Hund auf die Franzosen hetzte, sagte er immer: „Hasso, fass! Merde!“ Die Franzosen mussten auf dem Appellplatz strammstehen. Auch die Nummer 31231 stand stramm. Der Hundeführer war aufgefordert worden, selbst die Moralpredigt zu halten. „Ihr französischen Schweine!“ begann er seine Ansprache, „Mensch und Tier, Tier und Mensch - kennt ihr den 164
Unterschied? Das Tier ist treu. Der Mensch noch lange nicht. Der Mensch, hat Adolf Hitler gesagt, hat sich über das Tier erhoben. Das ist Kultur. Ihr französischen Säue habt keine Kultur. Ihr habt auch keine Hunde. Ihr habt nur Köter, ihr Schweine. Wo ist mein Hund?“ Der Mann schrie hysterisch. Ein Vorgesetzter ergriff das Wort. Er sagte, der Hund sei weg. So ein Hund könne nicht verschwinden. Der könne nur verschwinden, wenn ihn jemand genommen habe, ja, wenn ihn jemand umgebracht hätte. Einen SS-Hund umzubringen sei, als brächte man einen SS-Mann um. Wer den Hund umgebracht hätte, der solle sich melden. Sonst, und da grinste der Mann, weil er dachte, er hätte einen besonders guten Einfall, sonst gingen sie alle vor die Hunde. Keiner aus der Franzosenbaracke meldete sich. Da gingen die SS-Leute durch die Reihen der strammstehenden Lagerinsassen aus Frankreich. Jeder wurde untersucht. Jeder musste die Hände vorzeigen, musste den Kopf drehen. Der Lagerkommandant ging mit. Bei Pierre Clemente blieben sie stehen. Im linken Mundwinkel war etwas auf der unrasierten Wange verschmiert. „Das ist Blut!“ sagte der Lagerkommandant. Blut hatte Pierre Clemente Übelkeit bereitet, ihn mehr gequält, als die Schmerzen durch das Herausbrechen seiner Goldzähne. Als er sein Lagerleben begonnen hatte, hatte er das Blut ausgespuckt, hatte sein eigenes Fleisch geschmeckt, von dem ihm schlecht geworden war. Er hatte sich auf dem Boden gewunden vor Schmerz und Übelkeit. Das Blut, das er auf dem Boden sah, das aus seinem Mund sickerte, das er aussabberte, machte ihm, als er es vor sich im Sand sah, noch mehr Schwindel. Jetzt bekam er panische Angst. Einer der SS-Männer sagte: „Nun guckt euch diese französische Drecksau an! Guckt euch das an! Gefressen haben die Schweine Hasso. Männer, die haben den Hund gefressen!“ So brachte das Hundefleisch 165
Pierre Clemente auf den Prügelbock. Fünfundzwanzig Schläge standen im Strafbuch. Der erste Schlag schmerzte grauenvoll. Beim zweiten Schlag wurde Pierre Clemente wie fast jeder andere ohnmächtig. Der dritte Schlag ist ein Wachauf-Schlag, der Schmerz ist so groß, dass die Ohnmacht vergeht. Danach versinken die meisten nicht mehr in die rettende Bewusstlosigkeit, obwohl sie doch von Sinnen sind. Jeder Schlag ist ein Schlag gegen das Gedächtnis. Es ist so, als könnte der Mensch sich an nichts erinnern, was ihm gerade geschieht und was soeben geschehen ist. Am Ende wurde Pierre Clemente mit glasigen Augen zur Hundehütte geschleppt. Sie legten ihn auf die Erde, mussten ihn an jene Stelle legen, an der der Schäferhund gelegen hatte. Hasso war an der Kette festgemacht worden. Die Kette erlaubte es dem Hund, einen Halbkreis von etwa dreißig Metern zu beschreiben, fünfzehn Meter nach links und fünfzehn Meter nach rechts. Der Hund raste an der rasselnden Kette, wenn Lagerinsassen an ihm vorbeigeführt wurden. Die SS-Wachmannschaften führten die Gefangenen so dicht an dem Hund vorbei, dass oft nur ein halber Meter zwischen ihm und den Menschen geblieben war. Die Kette rasselte immer dann, wenn der Hund Gefangene sah. Sonst lag er vor seiner Hütte und träumte wie andere Hunde auch. Die Franzosen geiferte er besonders an, bellte sich heiser, fletschte selbst dann noch japsend die Zähne, wenn er sich in seiner Raserei nahezu strangulierte. An dieser Stelle, an der Hasso gelegen hatte, mussten die Gefangenen den in Trance geschlagenen Pierre Clemente fallen lassen. Einer musste einen Ledergürtel um Pierre Clementes Hals schlingen und an die Kette von Hasso, dem Schäferhund, mit einem Karabinerhaken montieren. Pierre Clemente lag auf dem Boden und konnte an nichts denken. Es war so, als wenn er total betrunken war und dennoch alles wahrnahm, was geschah. Er war wie im 166
Alkohol-Delirium, das Bett sauste mit ihm herum, und er dachte, so besoffen war ich noch nie. Ihm war immer noch entsetzlich schlecht, Wellen der Übelkeit überlagerten sich. Er wollte würgen, sich übergeben. Der Magen gab nichts her. Plötzlich gossen sie ihm Wasser über den Körper und über den Kopf. Das Wasser auf seinem wundgeschlagenen Rücken und auf seinem Gesäß brannte stechend, ein Schmerz, der ihn unnatürlich wach machte. „Du arme französische Sau“, sagte eine Stimme nah an seinem Ohr. „Du armer französischer magerer Hund. Du Straßenköter, der nichts zu fressen bekommt, du hast Hunger. Du hast jeden Tag Hunger. Du bist ja auch so mager, man kann dir das Vaterunser durch die Rippen blasen. Jede Rippe kann man zählen. Man kann sie dir brechen. Aber man kann sie auch zählen. Hier hast du dein Fressen!“ Jemand trat ihn in die rechte Seite und schrie: „Auf alle Viere, auf die Knie, du Schwein! Friss!“ Als Pierre Clemente auf den Knien hockte, mit den Händen sich abstützte, wurde vor sein Gesicht eine Schüssel gestellt. Es war der Fressnapf von Hasso, dem SS-Hund. In der Schüssel schwappte warme, dampfende Suppe, eine gut riechende Brühe. Jemand sagte: „Los, friss! Aber friss wie ein Hund, nimm nichts in die Hand! Schlabber, du Schwein!“ Die SS-Männer lachten. Obwohl Pierre Clemente zerschlagen war und dachte, wenn ich nur tot wäre, und obwohl er hoffte, zu sterben, beugte er doch den Kopf nach vorn wie ein Hund und schlabberte und saugte und schlürfte die warme Suppe in sich hinein. Sie tat gut. Er hatte seit Monaten nicht mehr so etwas Gutes zu sich genommen. Der Napf wurde weggenommen. Pierre Clemente wollte sich hinlegen, wollte auf die Seite rollen, kreuzte die Arme und lag auch schon mit der Brust auf der Erde, wollte die Knie ausstrecken und sich hinlegen wie ein Hund, wollte die Suppe 167
genießen, diese ungeahnte Wohltat. In dem Moment erhielt er erneut einen Tritt. Einer trat ihm in die Hüfte. „Hoch, du Schwein, damit aus dir was wird! Hier, die zweite Portion.“ Wieder stand der gefüllte Napf vor ihm. Wieder schrie ihn Jemand an: „Los, friss! Friss oder stirb!“ Pierre Clemente wusste, er musste fressen, musste schlabbern und fressen und schlürfen wie ein Hund, sonst machten sie ihn tot. „Du bist doch sicher hungrig, mein Hundchen. Ein hungriges Hundchen haben wir hier, Leute.“ Jemand lachte. Pierre Clemente ahnte, dass die Kameraden ihn so sehen würden. Ja, Franzose und Hund, hier ist was zu essen.“ Der dritte Hundenapf mit Suppe wurde vor Pierre Clemente abgestellt. Pierre Clemente hatte das Gefühl zu platzen, nichts ging mehr in ihn hinein. Da wurde der vierte Napf vor ihn geschoben. Und als er zweimal geschlürft hatte, während er von hinten Tritte erhielt, schnauzte jemand, er solle sich beeilen, Hasso würde sich auch nicht so zieren. Der Häftling Nr. 31231 übergab sich. Alles stürzte wie ein Schwall aus ihm heraus, auch die nicht zerkauten Fleischstücke des SS-Hundes. Das meiste ging über den Rand des Napfes und versickerte im trockenen Boden. „Da bekommst du was zu essen, du Saufranzose, du Schweinchen, du mieses kleines Schweinchen! Du kannst das Zeug nicht einmal verdauen. Wenn du nichts bei dir hältst, kannst du auch nicht scheißen. Merde! Du musst doch auch scheißen können, Franzose!“ Pierre Clemente dachte, es wäre endlich zu Ende. Ihm war schlecht. Er bekam wieder einen Tritt: „Friss! Friss alles auf!“ Er musste das, was er erbrochen hatte, in dem noch das meiste vom vierten Suppengang war, das sich gemischt hatte mit dem Erbrochenen, musste er wieder fressen, musste schlabbern, 168
obwohl würgend, nichts mehr über den Schlund in den Magen gelangte. Über und über besudelt begann der zweite Teil der Strafaktion für den Mann. Pierre Clemente blieb angekettet draußen eine Nacht liegen. Am nächsten Morgen wurde er wach, als er Schritte an sich vorübergehen hörte. Das Außenkommando, die französische Baracke, ging zur Arbeit. Ein SS-Mann befahl: „Hasso, mach deine Runde! Gib Laut!“ Pierre Clemente musste bellen. Dann musste er, wie Hasso, den Halbkreis an der Kette beschreiben. Er musste hinund herlaufen auf allen Vieren. Ein SS-Mann kam vorbei, als Hasso-Pierre in der Mitte des Halbkreises angelangt war, blieb stehen und sagte: „Hasso mach Männchen!“ Pierre Clemente verstand nicht, was der Mann von ihm wollte. Andere SS-Leute gesellten sich dazu. Clemente verstand nur wenige Brocken Deutsch, er rief seine Nummer: „Einunddreißigtausendzweihunderteinunddreißig!“ Immer wieder. Pierre Clemente wollte sich hinstellen und strammstehen. Der SS-Mann schnauzte: „Mach Männchen!“ Dabei trat er dem Franzosen vor das Schienbein. Der Häftling wusste nicht, was mit Männchen-Machen gemeint war. Er schrie immer wieder: „Einunddreißigtausendzweihunderteinunddreißig!“ Der SS-Mann ohrfeigte ihn. Er machte dem Häftling vor, was der machen sollte. Er knickte in den Knien ein, hielt die Oberarme am Körper, die Unterarme im Winkel von fünfundvierzig Grad nach vorn und ließ die Hände wie Pfoten baumeln. Pierre Clemente verstand. Wenn einige Hunde betteln, machen sie Männchen, „faire le beau“, wie man bei ihm zu Hause sagte. Am Abend wurde Pierre Clemente losgebunden. Von diesem Tage an riefen ihn die Deutschen nur noch „Hasso“ oder „Hund“. Pierre Clemente hörte von nun an auf diese 169
Namen. Pierre Clemente sprach nur noch selten mit anderen Häftlingen. Er wurde schweigsam. Wenn sie heimlich und flüsternd mögliche Ausbruchsversuche debattierten und wenn die Frage auch an ihn kam, gab Pierre Clemente keine Antwort. Schließlich wurde er gemieden. Er starrte zu Boden und sah niemanden mehr an. Er dachte daran, dass es zwecklos war, auszubrechen. Wohin sollten sie auch gehen? Überall waren sie verhasst, selbst die deutschen Kinder bewarfen sie mit Steinen, wenn sie zur Arbeit im großen U-Boot-Bunker „Valentin“ marschierten. Pierre Clemente machte von dieser Zeit an alles, was von ihm erwartet wurde. Er dachte nur noch daran, dass es endlich vorbei sein sollte, dass er bis zu dieser Zeit überleben wollte. Einmal noch widersprach er. Es war oben beim Betonstampfen. Nur wenige Meister und Aufseher waren auf dieser Etage, als befohlen worden war, ein Werkstück zu transportieren. Es war eine wichtige Maschine. Pierre Clemente und die anderen wussten nicht, was es für eine Maschine war, aber die Deutschen machten ein Aufhebens darum, als hinge „Valentins“ Glück davon ab. Fünf Meter etwa, schätzte später in der Erinnerung der Franzose, sei das Ding lang gewesen, fünf Meter vielleicht lang und anderthalb Meter breit. Überall waren Räder und Schrauben, Hebelchen und Kurbelwellen. Voller Chrom war das Ding. Teilweise war es noch eingepackt. Ein Jugoslawe war mit dem Transport beauftragt worden. Er war einer von denen, von denen es hieß, sie seien Fachleute. Die Decke war frisch betoniert. Über Balken waren Holzbohlen gelegt worden. Alles war glitschig durch die vielen Betonpfützen vom Überschwappen der Betonkarren. Auf diesen Holzplanken sollte die Werkbank von einer Ecke zur anderen der gerade gegossenen Betondecke geschoben werden. Rollen, Rundhölzer, sollten unter die Maschine gelegt 170
werden. Der Jugoslawe gab auf Französisch die Anordnungen. Pierre Clemente dachte, wie wir diese Rollen legen sollen, liegen sie falsch. Wenn wir anfangen zu schieben, dachte er, gibt es ein Unglück. So kommt die Maschine nie zu der Stelle, an der sie aufgestellt werden soll. Pierre Clemente sagte zu dem Jugoslawen: „Das können wir doch nicht machen! So kippt die Maschine um!“ Kaum hatte er es gesagt, herrschte ihn der Jugoslawe an: „Halt die Fresse, Franzose! Tu, was dir gesagt wird!“ Da wurde Pierre Clemente wach wie vor der Geschichte mit dem Hund. In diesem Moment klickte es beim Widerstandskämpfer Pierre Clemente aus Südfrankreich. Der Mann der Resistance war wieder da. Seine Leute hatten ihn nicht verpfiffen, als alle auf dem Marktplatz zusammengerufen worden waren und jeder sagen sollte, wo ein Widerstandskämpfer unter ihnen stünde. Keiner hatte gesagt: „Da, der Pierre Clemente, das ist einer, der hat die Brücken mit anderen gesprengt. Der hat auf die Deutschen geschossen!“ Er stand entschlossen auf den Bohlen über dem frischen Beton. „Hauruck“, gab der Jugoslawe das Kommando: „Allons, vitesse! Schnell, los, los!“ Da legte sich Pierre Clemente, der Friseurmeister aus dem kleinen südfranzösischen Dorf, dessen Spezialität es war, alte zitternde Greise so zu rasieren, dass ihr Gesicht rosig und glatt aussah wie der Pfirsicharsch einer Siebzehnjährigen, legte sich ins Zeug, stachelte die anderen neben sich an, sagte zwischen den Zähnen: „Es geht los! Gegen die Deutschen!“ Die teure Maschine, mit der die Deutschen ein solches Theater veranstaltet hatten, als hinge das Kriegsglück davon ab, lief mit Krachen und Poltern über den Rand der Holzplanken in die andere Richtung, nicht in jene, die von den Deutschen bestimmt war, stürzte in den frischen, gerade abbindenden Betonbrei. Das Ding versank bis zur Hälfte. Es herauszuholen, war nicht mehr möglich. 171
26 Das Ende Je größer und je häufiger die Niederlagen der deutschen Armee wurden, umso größer wurden die Grausamkeiten in den Lagern von „Valentin“. Obwohl das Ende des Deutschen Reiches abzusehen war, wurden wenige Monate vor Kriegsende weiterhin Zwangsarbeiter aus Holland, aus Frankreich, aus Belgien zur deutschen Küste deportiert, dort, wo „Valentin“ in jedem Monat vierzehn U-Boote, Unterwasser-Kanonenboote ausspucken sollte, obgleich den Planern im Ministerium in Berlin selbst klar geworden war, dass vor Kriegsende kein UBoot diese Betongigantomanie verlassen würde. Zweiundvierzig Tage vor Ende des Krieges wurde auf „Valentin“ die Arbeit eingestellt. Viertausend Menschen waren gestorben bei diesem Bau, der groß wie sechs Fußballfelder und hoch wie ein zehnstöckiges Haus war. Auch die anderen Lager im Innern des Landes wurden wie die von „Valentin“ aufgelöst. Im März 1945 bombardierten die Engländer den Bunker. Kein Zementsack, der beim Bau dieses Bunkers verwandt worden war, war den Engländern unbekannt geblieben. Von Anfang an war die Baustelle mit Luftaufnahmen dokumentiert worden. Die englischen Spione saßen auch in den Bauabteilungen des Kriegsministeriums. Wenige Senkbomben der Briten auf die oberen über sieben Meter starken Decken, gerade gegossen, eben fertig geworden, umjubelt von den Ingenieuren, hochgelobt von den Parteigrößen als Schutz der Wunderwaffe U-Boote vom Band, machten deren Bau unmöglich. Täglich waren über zehntausend Menschen auf der Baustelle beschäftigt. Die wenigsten von denen waren Deutsche. Nahezu zehntausend Menschen waren Ausländer. Ihre Freiheit begann chaotisch. 172
Die Auflösung des Lagers „Valentin“ begann mit der Aufgabe der Baustelle über einen Monat vor Kriegsende. Von den Deutschen war kaum noch Kontrolle möglich. Die bürokratische Organisation, an die fast alle deutschen Wachmannschaften und die SS gewöhnt waren, gab es nicht mehr. Im April 1945 machten sich die ersten Lagerinsassen von „Valentin“ auf den Weg. Die Niederländer waren die ersten, die versuchten, wieder in ihre Heimat zu gelangen. Gemeinschaftlich und in kleineren Gruppen gingen sie in Richtung Holland zu Fuß; für Zwangsarbeiter und Deportierte hatte es kaum andere Reisemöglichkeiten gegeben in diesen Tagen des Zusammenbruchs, als sich „Valentin“ als eine große, riesige Seifenblase aus Beton entpuppte. Die Niederländer gingen drei Tage und drei Nächte zu Fuß, ehe sie die holländische Grenze passiert hatten. Sie kamen durch und überlebten. Viele Insassen des Arbeitserziehungslagers und viele der Zwangsdeportierten der Konzentrationslager überlebten nicht; keiner weiß, wo sie geblieben sind. Es war am letzten Märztag 1945, als Bomben der Briten und Amerikaner das Dach des Bunkers zerschlugen und aus der Großbaustelle eine Wüste aus verbogenen Eisenteilen und vielen Gesteinssplittern von Beton machten. Die Hoffnung vieler Gefangener, doch noch zu überleben, trog. Die SS öffnete nicht die Tore. Viele glaubten es als letzte Hoffnung, so war es zum Gerücht geworden, das flüsternd weitererzählt worden war wie eine Geheimbotschaft. Doch das war angeordnet worden: „Aktion Evakuierung“. Ein Güterzug mit Zwangsdeportierten aus dem Konzentrationslager war in Bewegung gesetzt worden, dessen Endziel das KZ in B. sein sollte. Der Güterzug ist nie angekommen. Die Gleise waren durch Bomben zerstört. Und die Bewacher und die Transportführer hatten für diesen Fall keine Anweisung vom Sicherheits-Verwaltungshauptamt in 173
Berlin. Die Züge wurden umgeleitet, blieben da und dort verschlossen stehen. Sieben Tage lagen die Arbeitsmänner in den Waggons. Sie hatten geglaubt, „Valentin“ sei das Maß des Grauens, ihr Folterwahnsinn. Nun erlitten sie diese Fahrt in den Irrsinn und in ein Sterben auf Raten. Die Haufen der Toten in den Wagen wurden größer. Sie verdursteten und verhungerten. Viele der Noch-nicht-Toten tranken eigenen Urin. Einige versuchten, von gerade Gestorbenen Fleisch herauszureißen, was ohne Messer und Kraft in Händen und Kiefern misslang. Wenige schafften es, eine Ader zu öffnen, was zu wüsten Kämpfen führte wie von wilden Tieren am erlegten Opfer, so dass das dünne Blutrinnsal keinem Kraft geben konnte. Diejenigen, die Hunger, Durst und Todesangst in den Wahnsinn hatte versinken lassen, stopften alles in den Mund, was sie im rollenden Totenhaus greifen konnten, selbst ihre wenigen Exkremente. Die körperliche Auszehrung hatte bei vielen die Sinne verwirrt. So war vollbracht, was gewollt worden war. Die, die fiebernd und glasig in dieser schaukelnden Grabkammer durch ein verlorenes Land gefahren wurden, hatten vergessen, dass sie Menschen sind; nur ganz unten in ihnen vielleicht hielt sich ein Rest einer Ahnung vom Menschsein. Schmutzstarrend, krank, eiternd, stinkend, lallend, taumelnd, waren sie durch die Summe der erlittenen Erniedrigungen und Zerstörungen würdelos geworden, dass sie in den Augen ihrer Bewacher nun dem satanischen Bildnis des Untermenschen entsprachen. So bis zur Unkenntlichkeit abscheulich deformiert, war es für ihre Wächter leicht, sich ihrer wie ekliges Ungeziefer durch Töten zu entledigen. Einige dieser Armseligen waren doch lebend zu einem winzigen Ort an der Weser gebracht worden. Die Gehfähigen sollten zu einem Kriegsgefangenlager in der Heide marschieren. Feige und schussbereit begleitete die SS den Todesmarsch. Drei Tage schleppten sich die längst Todgeweihten. Viele ließen sich fallen, sanken kraftlos hin, 174
blieben, einmal am Boden, ohne Hoffnung liegen, hatten weder Kraft noch Mut, sich zu erheben, um weiter zu gehen in eine doch wieder nur elende Zukunft. Niemand war da, der sie aufheben, der sie stützen konnte. Die SS-Leute, wie alle Feiglinge im Organisieren groß, taten das, was in ihrer Situation pragmatisch war: Sie erschossen die Lebenden unter den am Boden Liegenden. Die Leichen wurden mit Benzin übergossen und angezündet.
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IX Der Angriff
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27 Bombenkrieg im Lager „Pastor! Pastor!“, schrien die am nächsten Stehenden. Andere riefen: „Herr Pfarrer, Herr Pfarrer, helfen Sie uns!“ Das Schreien wurde übertönt von den Detonationen der Bomben. Als kurz nach sieben Uhr abends der Abendvoralarm kam, rannten die Gefangenen in den Splittergraben. Der Splittergraben war quer über den Schulhof ausgehoben worden. Er war ihre einzige Zuflucht. Sonst waren die Häftlinge schutzlos den Fliegerangriffen ausgeliefert. Die Gefangenen rannten in die Gräben, die Deutschen flüchteten in ihren Betonunterstand, der neben dem ehemaligen Schulgebäude gebaut worden war. In ihrem Betonunterstand stellte die deutsche Wachmannschaft ein Radio auf volle Lautstärke, damit die Deutschen trotz des Lärms der heranrollenden Bomberwellen und der Explosionen die Warnungen hören konnten. Im notdürftig abgedeckten Splittergraben hörten auch die Gefangenen die Meldungen. Abendvoralarm war kaum gegeben, kaum hatten die Sirenen aufgehört zu heulen, da füllte schon das angsteinflößende Brummen der Flugzeuge mit ihren todbringenden Lasten die Luft. Das Abwehrfeuer der deutschen Flak tackte und knatterte knallend, doch offenbar erfolglos, dazwischen. Die Gefangenen kauerten im Splittergraben. Schon fegte der Luftdruck der ersten nahen Explosion das Wellblech über dem Graben fort. Die letzten Worte aus dem Radio waren noch von allen gehört worden: „Schwerer Kampfverband über Venlo mit Ostkurs!“ Nach wenigen Minuten stürzte alles zusammen. Überall Lärmen und Tosen, Blitzen und Schreien. Ein ungeheurer Luftsturm kam in Sekundenschnelle, mit ihm ein Druck, der die Ohren taub machte und die Todesangst in jedem 177
der im Graben Hockenden und Bangenden vergrößerte. Die ersten Bomben waren in der Nähe des Grabens gefallen; an einigen Stellen stürzte Erdreich in den Graben. Jeder fürchtete, verschüttet zu werden. Laut und verzweifelt begannen einige, in ihrer Muttersprache zu beten. Der belgische Priester rief immer wieder in deutsch und in seiner Muttersprache: „Bleibt ruhig! Bleibt ruhig!“ Er versuchte in der Dunkelheit das Kreuzzeichen so zu schlagen, dass wenigstens diejenigen es sahen, die in seiner Nähe hockten und auf dem Boden lagen und sich an die Wand des Grabens pressten. Er erteilte die allgemeine Absolution. Drei oder vier Sträflinge umklammerten Arme, Beine und Brustkorb des Mannes und schrien durcheinander: „Pfarrer, Pastor, Hilfe!“ Einige versuchten, aus dem Graben zu fliehen. Viele von ihnen strauchelten und fielen auf die Erde. Die Nachstürzenden trampelten über sie hinweg. Die Explosionen wurden immer stärker und wurden immer mehr. Den Männern im Graben wurde es schwer, zu atmen. Die Schläge waren kurz und hart. Es war, als schlügen die Geschosse direkt neben dem Graben ein. Die Erde erzitterte. „Raus!“ schrie einer. „Raus! Wir müssen hier raus!“ Ein anderer schrie: „Er ist getroffen, sein Arm ist weg, sein Arm ist weg!“ In dem Augenblick, da diejenigen, die das Tottrampeln im Graben überstanden hatten, ins Freie gelangt waren, war der Angriff vorüber. Das Lager war zur Hälfte verschwunden. Von mehreren Bomben getroffen, brannte es. Alles war von Feuerschein erfüllt. Der Betonbunker der deutschen Wachmannschaft existierte nicht mehr. Ziegel und Eisen, brennende Dachbalken, Glas überall. Angrenzende Häuser waren zu Schutt gefallen. Ihre Reste brannten. Schreien und Weinen. Anstelle der Bäume auf dem ehemaligen Schulhof des jetzt zerstörten Sonderlagers der Geheimen Staatspolizei taten sich große Löcher auf, 178
Bombentrichter. Die Überlebenden dieses Infernos waren ratlos. Einige Sträflinge liefen ziellos ins Dunkel, die meisten kehrten zum Feuerschein zurück. Der belgische Priester bildete einen Mittelpunkt in diesem Strudel der Geschlagenen. Überall lagen Tote im Graben. Überall lagen Verwundete und schrien. Unter den brennenden Trümmern ragten Arme, Beine und Köpfe hervor. Im Schein des Feuers begannen einige Sträflinge, diejenigen, von denen sie glaubten, dass sie noch lebten, unter den Trümmern herauszuziehen. Doch die meisten Geborgenen waren verbrannt. Einige waren erstickt. Einer von ihnen war blind. Er schrie nicht, er weinte nicht, er klagte immer wieder: „Ich sehe nichts! Ich sehe nichts mehr!“ Noch in der Nacht im Schein der brennenden Häuser legten die Sträflinge die Toten auf einen Stapel. Der Stapel wurde größer. Der belgische Priester ging herum und segnete die Toten und die Sterbenden. Immer wieder erteilte er die allgemeine Absolution. Die meisten nahmen sein Tun nicht wahr, doch einige knieten nieder und ließen sich von ihm segnen. Morgens, wohl gegen vier Uhr, stieg auch der belgische Priester in den Splittergraben zurück und hockte sich an die Erdwand. Die ständigen Bombardements des Spätherbstes 1944 stürzten die deutsche Zivilbevölkerung in ein Chaos, auch die Lager der einzelnen Firmen, auch die Straflager der Gestapo wurden zu chaotischen Orten. Am Morgen dieses Angriffs flohen viele der Sträflinge, sie verließen die Stätte des Grauens, versuchten sich selbständig zu machen, um sich in den Trümmerlandschaften durchzuschlagen in der Hoffnung, dass der Spuk bald vorbei wäre. Die meisten jedoch blieben noch einige Tage dort und schliefen in dem Splittergraben und in den verschont gebliebenen Teilen der ehemaligen Friedensschule, verbarrikadierten die Fenster, deren Scheiben durch die Bombenexplosionen zersprungen waren, mit Bohlen 179
und Balken. Plötzlich tauchte eine neue Wachmannschaft auf: SA-Leute in braunen Uniformen, dazu einige Volkssturmmänner. Die meisten Überlebenden des Strafgefangenenlagers mussten abmarschieren. Einige wenige blieben als Trümmerkommando zurück. Der Befehl zum Abmarsch kam plötzlich. Das Überraschendste für die zerschlagenen Männer war: Jedem Häftling wurde ein halbes Kommissbrot zugeteilt. Es war die erste richtige Nahrung nach mehreren Tagen, in denen die meisten nur rohe Rüben gegessen hatten, die sie sich aus einem Keller beschafft hatten, den einer der Häftlinge bei einem Streifzug entdeckt hatte. Die Überlebenden mussten abmarschieren mit unbekanntem Ziel. Nach anderthalb Stunden Fußmarsch kamen sie bei einer Gaststätte an, einem Ausflugslokal in einem kleinen Waldstück. Dort befahl der Kommandoführer Halt. Zur Gaststätte „Zum Eichbaum“ gehörte ein großer Festsaal, ein Tanzsaal. Er war ausgeräumt worden. Zur Überraschung der Häftlinge lagen neue Strohsäcke auf dem Boden. Der Nazi-Ortsgruppenchef hielt den ersten Appell ab. Er wies die SA-Männer ein und gab für die Häftlinge unmissverständliche Anweisungen. Das Lager, um das zwei Stacheldrahtzäune gezogen worden waren, durften nur noch die Arbeitsfähigen verlassen. Die Arbeitsunfähigen, also die Kranken und die Schwachen, mussten im Lager bleiben. Auch die Schuhlosen durften das Lager nicht verlassen. Wer keine Schuhe hatte, musste im Lager bleiben, musste Lagerarbeit verrichten, beispielsweise Räume fegen und den Waldboden fegen, immer wieder. Der Ortsgruppenchef der nationalsozialistischen Arbeiterpartei beendete seine Befehle damit, dass er den Gefangenen sagte, sie wären alle Banditen, Stücke und Banditen, mehr nicht. Und die Schlimmsten seien eben die schuhlosen Banditen, die noch nicht einmal in der Lage wären, für die Deutschen Arbeit zu leisten. Nur dazu 180
seien sie hier, um in Deutschland zu arbeiten und zu sterben. Er kündigte allen Überlebenden des Infernos des letzten Lagers der Gestapo an, er werde jedem den Tod bringen: „Ich bringe euch allen den Tod!“ schrie er. Dann verließ er den Festsaal. Zwei SA-Leute forderten den belgischen Priester auf, mitzukommen. Der belgische Priester wurde in das Büro des Ortsgruppenchefs geführt, das er sich in einem Nebenzimmer des Ausflugslokals hatte einrichten lassen. Der Mann saß hinter einem schweren geschnitzten Eichentisch, hinter ihm hing an der Wand ein Gobelin mit einer Jagdszene, bei der gerade ein Hirsch bei einer Parforce-Jagd zu Tode gehetzt wird. Er fragte den Priester: „Du spielst also den Priester. Spielst du den Priester auch im Lager?“ „Wer einmal geweiht ist, bleibt immer geweiht“, sagte der Belgier. Der NS-Ortsgruppenchef zog seine Pistole und legte sie im Sitzen auf den Belgier an: „Messe feiern und Beichte hören und überhaupt dieser ganze religiöse Quatsch“, schnauzte der Deutsche, „das ist ein politischer Akt, weißt du das?“ Der Deutsche fuchtelte mit der Pistole in der Gegend herum und benahm sich wie ein Verrückter. Er schrie immer wieder: „Alle Politischen werden über den Haufen geknallt, vor allen Dingen politische Banditen! Auch Priesterstücke machen keine Ausnahme!“ Er befahl, der Belgier solle sich umdrehen. Der Belgier drehte sich um. Er stand mit dem Gesicht zur Tür. Er hörte, wie der Deutsche von dem Eichentisch aufstand, den Stuhl zurückschob und die Hacken auf die Fliesen knallte, als mache er Stechschritte bei einer Parade, während er sich dem Belgier näherte. Dann spürte der Häftling plötzlich einen schmerzhaften Fußtritt des Deutschen im Gesäß und gleichzeitig einen Schlag in das Genick, den ihm der Deutsche mit dem Pistolenknauf versetzt hatte. „Du bist kein Priester, du bist ein Stück, ein Stück Bandit!“ 181
schrie der Deutsche. Wenige Wochen bevor auch das Sonderlager der Geheimen Staatspolizei „Zum Eichbaum“ aufgelöst wurde, wurde ein Transport der Arbeitsunfähigen und Schuhlosen zusammengestellt. Sie sollten in eine andere Stadt verlegt werden. Im „Eichbaum“ sollten nur die Arbeitsfähigen bleiben, die zum Martinwerk 7 gehen mussten. Nur diejenigen, die „deutsche Kanonen bauen können, bum-bum“, wie einer der bewachenden SA-Leute jeden Morgen beim Appell dem Kommando, das nach Zander marschierte, stets sagte. „Deutsche Kanonen bauen, bum-bum!“ Nur die Arbeitsfähigen blieben im Lager. Der Transport der Arbeitsunfähigen, Kranken und der Schuhlosen in ein Lager einer anderen Stadt dauerte drei Tage. Einmal ging es per Bahn, einmal wurden die Gefangenen auf einen Lastwagen verladen, einmal mussten sie zu Fuß gehen. Immer wieder wurde der Transport durch Luftangriffe gestoppt. Das Durcheinander bei diesen Luftangriffen nutzten viele Häftlinge zur Flucht. Der belgische Priester wurde von SA-Leuten festgenommen, als er versuchte, eine Gruppe von drei Landsleuten zu bewegen, wieder zum Transport zurückzukehren. Die drei Schuhlosen hatten sich bei einem Stop des Lastwagens in einem Waldstück nahe einer Bahnlinie abgesetzt, als amerikanische Tiefflieger einen Güterzug auf dieser Bahnlinie angriffen. Der belgische Priester war ihnen nachgelaufen. Er hatte auf sie eingeredet, sie sollten mit ihm zurückkehren, sie wüssten doch, dass die Deutschen mit Flüchtlingen kurzen Prozess machten. Überall seien jetzt die Braunen auf Hasenjagd, SA-Leute, Reservepolizisten und Volkssturmmänner, die Jagd auf ausländische Arbeitskräfte und Kriegsgefangene machten. Auch diese vier Häftlinge wurden ins Polizeigefängnis in die Stadt gebracht und zu den übrigen gesperrt. 182
X Erschießung und Ende
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28 Interviews Auszug aus dem Tonbandprotokoll mit Prof. Dr. Werner K., Sozialhistoriker. „Die den Nationalsozialismus tragende Schicht waren die Bergleute allerdings kaum.“ „Es gab Misshandlungen, auch Totschläge unter Tage an russischen Arbeitern.“ „Ja. Doch obwohl sich eine große Zahl von Bergleuten der NSDAP durchaus überzeugt angeschlossen hat, verhielten sie sich so, wie die meisten Leute, fügten sich und taten mit, mehr pro forma, traten auch in die Partei ein, um, wie viele das glaubten, ihre Einstellungschancen zu erhöhen. Brot war ihnen wichtiger als Gesinnung und Meinungsfreiheit, was ja menschlich durchaus verständlich ist. Sie hatten ihr bescheidenes Auskommen, das wollten sie behalten. Wie die meisten hielten sie den Mund. Man mogelte sich durch. Aber man muss auch sehen, dass Bergleute ins Konzentrationslager kamen.“ „Antifaschisten?“ „Wenn der Eindruck erweckt wird, dass es unter den Bergleuten eine antifaschistische Bewegung gab, ist das nicht richtig. Nur vereinzelt kam es zu Aktionen gegen den nationalsozialistischen Staat.“ „Die Drangsalierung der russischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen wurde lange Zeit verschwiegen.“ „Die ersten Fremdarbeiter kamen aus Belgien und Frankreich, waren angeworben worden. Ab 1942 kamen die Russen vor Kohle, wie man sagt. Es ist ja bekannt, dass der Bergbau Arbeitskräfte brauchte. Also 1942 und 1943 wurden 120 000 Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten auf den Zechen angelegt. Natürlich wurden sie bewacht. Es gab extra 184
Arbeitslager für sie. Bei der Personenfahrt wurden sie von den Deutschen getrennt.“ „Morgens wurden sie von Wärtern aus den Baracken zum Schacht getrieben, oft wurden sie mit Gummischläuchen geschlagen.“ „Ja, sie wurden zur Arbeit geführt und gegebenenfalls diszipliniert.“ „Sie mussten die schwersten Arbeiten verrichten.“ „Ja, ihnen wurden die härtesten Arbeiten auferlegt.“ „Es waren Jugendliche?“ „Sie waren zwischen 15 und 17 Jahre alt.“ „Viele wurden krank?“ „Ja.“ „Wer untersuchte sie?“ „Der Fahrsteiger entschied über ihren Gesundheitszustand.“ „... ob sie noch die Kraft hatten, unter Tage zu arbeiten?“ „Den Fahrsteigern war befohlen worden, so viele wie möglich zur Arbeit zu schaffen.“ „Also fuhren auch Angeschlagene, Kranke ein?“ „Die Betriebsführer hatten die Order, die Fördermenge zu erhöhen. Ab März 1942 arbeiteten ja auch deutsche Frauen in den Tagesbetrieben der Zechen. Die deutschen Bergleute standen unter Druck: Kohle machen, Kohle machen! Wenn die Arbeitsleistung zurückging, wurden auch sie von Nazianhängern verprügelt. Das große Wort in der Strecke und vor Ort führten damals die Nazibonzen und SS-Leute. Oft musste ein deutscher Bergmann so lange unter Tage bleiben, bis er sein Soll erfüllt hatte.“ „Das machte aggressiv? Ließen Bergleute ihre Wut an Russen aus?“ „Es war oft eine hysterische Situation. Vielleicht auch eine Kompensation der Ohnmachtsgefühle. So kam es zu Misshandlungen von Gefangenen.“ „Wie? In welcher Form?“ 185
„Was?“ „Wie wurden die Gefangenen misshandelt?“ „Es kam vor, dass Russen, auch wenn sie fleißig waren, mit Rutschenschlüsseln oder Bandnadeln totgeschlagen wurden. Auch die Steiger standen unter großem Druck. Acht Tonnen mehr sollte durch einen Russen gefördert werden. Und die Russen waren ja keine gelernten Bergleute.“ „Höllenzustände, Brutalitäten unter Tage?“ „Bei einigen Bergleuten führte der zunehmende Druck zu Brutalisierung, die sich da und dort in unmenschlichem Verhalten gegenüber Fremdarbeitern äußerte,“ „Taten sich die Vorgesetzten, die Steiger, hervor?“ „Die kleineren Antreiber sollen schlimmer gewesen sein als die großen.“ „Es gab betriebsinterne Erhängungen. Wenn ein Russe beim Brotdiebstahl ertappt worden ist, wurde er öffentlich gehenkt.“ „Ja, das ist vorgekommen. Aber man muss auch sehen, dass deutsche Bergleute Russen Brot mitgebracht haben. Die Russen bekamen nur Kohlsuppe. Oft nagten die Russen den Schiefer ab, der an der Kohle hängt, weil der salzhaltig ist. Aber mit den Broten riskierten die Bergleute ihr Leben.“ „Wieso?“ „Wenn es bekannt wurde, dass sie den Russen Brote gegeben hatten, drohte ihnen der Entzug der Schwerstarbeiterkarte, gegen Kriegsende stand darauf Erschießung.“ „Nennen Sie Fälle von Erschießungen.“ „Mir sind keine bekannt.“ Auszug aus dem Tonbandprotokoll mit Elisabeth W., Rentnerin: „Sie standen auf den Feldern und das Blut lief ihnen die Beine längs.“ „Das verstehe ich nicht?“ 186
„Die hatten ihre Tage. Nicht alle, habe ich nicht gesagt, aber eine sehe ich noch, wie die auf den Knien Kartoffeln ausmachte, der Rock war ja kein Rock, das war so’n Fetzen, und dann steht die auf, und das Blut ging da so runter. Die mussten die Kartoffeln mit den bloßen Händen ausmachen. Hacken hat ihnen dieses Schwein nicht gegeben. Viele Bauern waren braun, aber doch ganz gut zu den Fremdarbeitern, aber das war ‘ne richtige braune Sau. Der ging mit SA-Klamotten sogar in den Kuhstall.“ „Was ist aus den Frauen geworden?“ „Genau weiß ich es nicht. Aber später ist erzählt worden, sie wollten zu viert nach Hause gehen, zu Fuß und so. An der Elbe soll ein russischer Offizier sie angehalten haben, wohin und woher und wo sie waren. Da sollen alle vier erschossen worden sein wegen Kollaboration mit den Deutschen.“ Auszug aus dem Tonbandprotokoll mit Erna K., Rentnerin, ehemalige Lagerführerin: „Trugen Sie eine Waffe ?“ „Natürlich musste ich als Wachführerin eine Waffe tragen, da ich für die Sicherheit des Arbeitskommandos verantwortlich war.“ „Sie schützten die Frauen?“ „Die Frauen?“ „Ja, die Frauen?“ „Die Waffe war notwendig, um, wenn eine türmte, sie aufzufordern, stehen zu bleiben.“ „Haben Sie von der Waffe Gebrauch gemacht?“ „Auf dem Spaziergang?“ „Spaziergang?“ „Die Stunde vom Lager zum Werk und vom Werk zurück. Nein, ich habe von der Waffe keinen Gebrauch gemacht.“ „Der Spaziergang, wie Sie es nennen, ging Sommer und Winter. Die Mädchen waren oft nur notdürftig bekleidet. Auch 187
im Winter gingen manche nur mit Lumpen an den Füßen.“ „Die Arbeit ruft! Die Arbeit im Werk ging weiter. Die Mädchen waren den Vorschriften entsprechend gekleidet.“ „Drei Frauen sollen bei diesen Gängen zwischen Lager und Werk erschossen worden sein. Von wem?“ „Weiß ich nicht.“ „Sie waren Kommandoführerin. Mussten Sie nicht davon wissen?“ „Die Mädchen hatten sich während des Spazierganges vom Kommando entfernt. Es war immer morgens in der Dämmerung. Sie wurden erschossen, als sie längst weit weg vom Kommando waren. SS-Soldaten hatten sie gefasst.“ Auszug aus dem Tonbandprotokoll mit Manfred R, Bauführer: „Einen von denen, die sich gemeldet hatten zur Erschießung, hatten sie ausgewählt.“ „Wie kam es zur Festnahme der fünf Gefangenen?“ „Das weiß ich nicht. Meine Mutter hatte gesagt, Manni, ich hau dir den Arsch, wenn du nicht zu Hause bleibst. Ich war neun Jahre alt. Ich ging immer zum Bahnhof, da war immer was los. Ein Waggon mit Kappes war entgleist. Und die Iwans hatten sich den Kappes geholt, so ein paar Kohlköppe. Und die Bahnhofswache sollte die erschießen. Doch die sagten nein, diese Leute. Der Krieg war doch schon vorbei. Die Amis standen am Kanal und ballerten auf das Eisenwerk. Die meisten Soldaten waren getürmt, die Bonzen waren weg. Um die Zwangsarbeiter kümmerte sich kaum noch einer. Aber irgend so ein Obernazi kontrollierte mit ein paar Leuten die Straßen und spielte den großen Macker. Die hatten die Russen gepackt, waren ja noch halbe Kinder. Die haben die in den Bahnhof in einen Raum gesperrt. Wie ein Lauffeuer ging das rund, am Bahnhofsvorplatz werden Russen erschossen. Als ich ankam, standen bestimmt über tausend Leute da. Zu sehen war 188
nichts. Dann kamen sie mit den Russen raus, der eine hatte schon zugeschwollene Augen. Die haben sie an die Wand vom Luftschutzbunker gestellt. Einer wollte noch in die Grünanlage retirieren. Und der aus unserer Kolonie, der hatte sich freiwillig gemeldet, den habe ich nach fünfundvierzig nicht mehr gesehen, der wurde von dem Zweihundertprozentigen so ein paar Schritte vor den Russen entfernt aufgestellt mit seinem Gewehr, und der hat die der Reihe nach abgeschossen. Die haben dagestanden wie betäubt, wohl ohne Hoffnung. Der Obernazi ist hingegangen, hat sie mit dem Fuß angestoßen, allen hat er mit der Pistole in den Kopf geschossen.“ Auszug aus einem Brief des Amtes für Statistik, Wahlen und Stadtgeschichte von W.: „...sollen drei russische Kriegsgefangene und zwei ukrainische Arbeiter sich ohne Erlaubnis von ihrem Arbeitskommando entfernt haben und bei einem Diebstahl gestellt worden sein. Es kann bestätigt werden, dass Augenzeugen im Mai 1945 berichteten, die auf Diebstahlsdelikte bei diesem Personenkreis vorgeschriebene Todesstrafe soll vollstreckt worden sein. Gesicherte Erkenntnisse liegen jedoch nicht vor, die Voraussetzung dafür wären, eine Gedenktafel an dem infrage kommenden Gebäude anzubringen.“
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29 Erschießung Der Befehl zur Erschießung kam unerwartet. Die wenigen Polizisten, die meisten von ihnen Reservepolizisten, einige von der Geheimen Staatspolizei, hatten nicht mehr mit militärischen Aktionen gerechnet. Als die Häftlinge zum Abmarsch zusammengestellt worden waren, alles sollte schnell gehen - der Kommandoführer erteilte nahezu hektisch die Befehle - war den Wächtern nicht bewusst, dass ihre Waffen nicht zum Bewachen, sondern zum baldigen Töten der Gefangenen bestimmt waren. Die wenigsten Bewacher dachten über das Ziel des Marsches nach, einige dachten, die Gefangenen würden verlegt oder zum Errichten einer Panzersperre vor die Stadt geführt, dass dieser Gang mit dem Tod der Häftlinge enden würde, daran dachte keiner der Deutschen. Die telefonische Verbindung zwischen dem Oberkommando der Wehrmacht und dem Polizeipräsidium war nicht mehr herzustellen. Ein Kurier wurde in Marsch gesetzt, er trug einen kleinen Umschlag in seiner Brusttasche. „Sie haften mit Ihrem Kopf dafür, Mann, dass der Brief dem Brigadeführer SS persönlich übergeben wird!“ Der Kurier fuhr mit dem Motorrad durch die Trümmerstraßen. Der Brigadeführer SS, Polizeipräsident einer zerstörten Stadt, nahm den Zettel aus dem Umschlag, las ihn, obgleich er wusste, welche Botschaft auf dem Papier stand, ging zum Konferenztisch, zündete den Brief an und legte ihn in den Aschenbecher, wo er verbrannte. Nachdem er den Umschlag zerknüllt hatte, gab er den Befehl, Staffelmann Schikowski und Gestapomann Joseph Becker zu rufen. „Einsatz morgen früh um ...“ Wochen zuvor war bei einer Besprechung im Haldenbunker 190
diese Entscheidung gefällt worden. Fünf hohe Tiere waren anwesend. „Keiner darf das Ende erleben!“ Die Gefängnisse und Lager müssten geräumt werden. „Die darf es nachher nicht mehr geben!“ Alle Augen- und Ohrenzeugen, hatte der Kommandant leise gesagt, obwohl er es hatte schneidend sagen wollen, alle Zeugen müssten verschwinden. Die Spuren der Gefangenen, das Gedächtnis und der Hass von Hunderttausenden müssten ausgelöscht werden. „Wir brauchen uns ja wohl nicht mehr über das Warum zu verständigen“, sagte der Kommandant. „Es geht nur um das Wie. Ich erwarte Vorschläge!“ Einer der Vorschläge erhielt den Befehl „Aktion saubere Zelle“. Der Polizeipräsident hatte ihn mit der Hand auf einen Zettel geschrieben bei der Besprechung im Haldenbunker, hatte ihn in einen Umschlag gesteckt, den Umschlag versiegelt, der Kommandant hatte den Siegellack tropfen lassen und hatte sein Petschaft darauf gedrückt. Dann hatte der Brigadeführer SS den Umschlag dem Kommandanten übergeben. „Weiter!“ forderte der Kommandant. Er wartete auf den nächsten Vorschlag, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Häftlinge vor dem Ende zum Schweigen zu bringen. Die erste Kolonne, die zum Erschießen unterwegs war, hörte den nahen Gefechtslärm. Vier Tage später standen zwei amerikanische Jeeps vor dem Polizeipräsidium, aus dem jetzt zwölf Gefangene geführt wurden. Es war morgens vier Uhr zehn, die Zeit des Weckens in den Straflagern. Um diese Zeit waren die Kolonnen der Ausländer unterwegs. Die Kolonne der zwölf Häftlinge unterschied sich von den anderen nur dadurch, dass zwei Frauen am Ende der Gruppe gingen und dass sechzehn Bewaffnete die Kolonne beim Gang zwischen den Trümmern eskortierten. Anderthalb Stunden ging der Marsch durch dunkle Schuttstraßen, endete auf Waldwegen, von denen viele von Bombeneinschlägen zerfurcht waren. Keiner der zum 191
Erschießungstod Marschierenden wusste, wo er sich befand; allen war das Gelände neu. Der Argwohn, dass dies die Todesstunde sein könnte, kam erst, als sie einzeln weggeführt wurden. Den ersten vier von ihnen wurden die Hände auf dem Rücken mit Telefondraht zusammengebunden. Einer der Polizisten knüpfte mit einer Zange, wie sie Bauarbeiter benutzen für Betoneisen, die Drahtschlaufen an den Handfesseln der Häftlinge auf dem Rücken. Der Draht wurde um die Handgelenke geschlungen. Die beiden Enden kniff der Mann mit der Zange zusammen, rodelte sie fest, beim zweiten Häftling so stark, dass der Draht ins Fleisch schnitt. Der Mensch schrie auf. Den anderen, noch nicht gefesselt, pflanzte sich die Angst wie ein Pfahl in die Brust. Das Fesseln ging dem Kommandoführer zu langsam. Er schrie irgendetwas. Die anderen acht wurden ungefesselt auf einem schmalen Weg hintereinander durch eine dichte Fichtenschonung auf eine Lichtung getrieben. Vor und hinter jedem Häftling lief ein Bewaffneter. Mit dem Lauf der Waffe im Kreuz wurden die Häftlinge auf den Erschießungsplatz gestoßen. Der Gang zum Erschießen hatte so begonnen: Die zehn männlichen Häftlinge waren im Hof des Polizeipräsidiums aufgestellt worden und mussten warten. Sie hatten den Befehl bekommen, die Augen zum Tor zu richten und sich nicht umzudrehen. So sahen sie auch nicht, dass zum Schluss zwei Frauen auf den Hof geführt worden waren. Beim Abmarsch mussten die beiden Frauen am Schluss gehen, dass die Männer sie auch beim Marsch nicht sahen. Edith Schmidt, ehemalige Kranführerin im Martinwerk, eine „Politische“, versuchte in der Dunkelheit nicht herauszufinden, mit wem sie durch die Straßen der zerstörten Stadt geführt wurde. Die Tochter eines Sozialdemokraten, belastet durch ein Treffen mit einem französischen Kriegsgefangenen, war wegen „zersetzender Äußerungen“ festgenommen worden und ins 192
Polizeigefängnis verlegt worden, nachdem das eigentliche Gefängnis bei einem Luftangriff zum großen Teil zerstört worden war, der noch stehende Zellentrakt nicht mehr als sicher galt und die den Luftangriff überlebenden Häftlinge evakuiert werden mussten. Nach dem Treffen mit einem französischen Kriegsgefangenen, für das sie wegen „Feindbegünstigung“ mit zwei Monaten Gefängnis und Verlust der Arbeit bestraft worden war, behielt die Gestapo die Frau im Auge, wie es später bei der Festnahme protokolliert wurde. Edith Schmidt war aufgefallen, als sie nicht mit „Heil Hitler!“ grüßte. Sie wurde denunziert: Wenn die Schmidt grüßt, höre es sich an, als sage sie „Heilt Hitler!“. Dies habe sie nicht gesagt, beteuerte Edith Schmidt, als die Denunziantin sie angegangen war, ob sie etwa meine, der Führer sei krank, nein, nein, da müsse sie sich verhört haben, manchmal spräche sie undeutlich. Doch eines Tages hatte Edith Schmidt sich nicht mehr in der Gewalt, schluckte es nicht mehr hinunter, sagte, als diese Frau sie beim Bäcker zur Rede stellte, ob sie den deutschen Gruß nicht kenne: „Sehen Sie sich doch das Elend an, dann haben Sie Ihr Heil Hitler!“ Dann war sie schnell aus dem Laden gegangen. Die andere hatte bei der Polizei angegeben, sie meine, die Schmidt habe etwas von „Unheil Hitler“ gesagt, zwar leise, aber doch gesagt. Der Mann dieser Frau, die Edith Schmidt der Geheimen Staatspolizei gemeldet hatte, arbeitete im selben Werk bei Zander im Martinwerk. Einst Hilfsarbeiter, war er mittlerweile SA-Rottenführer geworden. Seiner Aussage, von Edith Schmidt abgestritten, war geglaubt worden, die Kranführerin hätte schon im Werk ähnliche und weitaus schlimmere zersetzende Reden gemacht. Die vor Edith Schmidt gehenden Gefangenen waren alle auf der Flucht gestellt worden: Vier Belgier, einer von ihnen ein Priester, hatten den Transport von einem Lager in ein anderes zur Flucht genutzt. Der junge Franzose Robert Nicolas war von 193
einem Arbeitskommando nicht mehr in das Sonderlager der Geheimen Staatspolizei zurückgekehrt. Eine Streife hatte ihn und den russischen Kriegsgefangenen Fjodor Alexejewitsch Rudenkow in der zerstörten Leichenhalle des jüdischen Friedhofes außerhalb der Stadt entdeckt. Dort hatten sie sich drei Wochen lang versteckt gehalten. Rudenkow war einer, der in der großen Russengruft gewesen war. Er war geflohen, als die Flakstellung vor der Stadt getroffen worden war, zu der er sich als freiwilliger „Hiwi“ gemeldet hatte. Der Unterstand der Flakmannschaften war durch einen Volltreffer zerstört worden, während der Russe, ungeschützt auf der Erde des Feldes liegend, und auch die deutschen Flakhelfer lebend davongekommen waren. Die Hitlerjungen, zum erstenmal durch mehrere Einschläge mit Toten, mit Sterbenden, mit schreienden Verwundeten, mit Blut und abgerissenen Gliedmaßen vom Kriegspielen in die Grauen des Krieges geworfen, waren kopflos geworden. Einer von ihnen, bislang mit Rudenkow gut Freund, suchte nach einer Waffe, um „diesen Iwan“ zu erschießen. Da rannte Fjodor Alexejewitsch Rudenkow in die Nacht. Die jungen Russen Pjotr Semjonowitsch Kusmitsch, Juri Suslow und Wanja Krupskowskaya Scharkow waren von den Deutschen als Mitglieder der sogenannten Pawel-Bande festgenommen worden. In den Wirren der letzten Kriegsmonate geflohen, hatten sich etwa fünfzehn russische Zwangsarbeiter unter Führung von Pawel Luchenin zusammengeschlossen und gemeinsam oder in verschiedenen Gruppen Überfälle und Diebstähle begangen. Zwei der Bandenmitglieder hatten sich sogar Waffen beschaffen können. Als erster Gefangener von den zu Erschießenden ging Georges Charlier in der Kolonne, ein kleinwüchsiger Franzose, auch er war bei einem Bombenangriff geflohen. „Wer niedrig ist“, lachte höhnisch ein Wachsoldat, „der soll erhöht werden, du bist Nummer eins“; dabei gab er dem kleinen Franzosen 194
eine Kopfnuss. Erst als alle auf dem Erschießungsplatz standen, erkannten Edith Schmidt und Georges Charlier einander. Edith Schmidt rief: „Petit!“ In diesem Augenblick hatte Gestapomann Joseph Becker das Kommando zum Feuern gegeben. Das Gelände fiel leicht ab. Im Frühdunst des herannahenden Tages waren wenige Meter voraus Schilf und Binsenkräuter zu sehen. Wassergeräusche waren zu hören. Ein Weiher musste sich am Ende des abfallenden Geländes befinden. Zu erkennen war in der noch lastenden Dunkelheit der vergehenden Nacht nichts. Am Ende ging es schnell. Wie sie auf dem schmalen Weg durch die Fichtenschonung hintereinander gehen mussten, wurden sie nebeneinander wie eine Kette aufgestellt. So standen sie am Rande der Senke. Kaum dass sie aufgestellt worden waren, machten die Bewaffneten eilig mehrere Schritte rückwärts. Gestapomann Becker gab das Kommando. Zwei Männer gingen zu den Exekutierten. Sie schossen jedem der am Boden Liegenden in den Kopf. Die Schüsse gellten in den beginnenden Tag. Einer von ihnen war Staffelmann Schikowski. Zu vieren der Erschossenen mussten die Männer den Abhang bis zu dessen Ende schräg hinuntergehen, da die Erschossenen nach rückwärts gestürzt und bis zum Grund des sanften Hügels wie leblose Puppen gekullert waren. Zwei von den Sträflingen schrien nach der Erschießung; sie waren getroffen, angeschossen, doch noch nicht tot. Ein Polizeioffizier befahl, die Toten in der Mulde am Fuß des Abhanges nebeneinander zu legen. Die Mulde war sumpfig, das Wasser des Weihers quoll unter den Schuhen des Polizisten mit saugenden und gurgelnden Geräuschen hervor. Es klatschte unwirklich, als die Männer große Grassoden nach unten warfen, die sie am Rand der Senke mit Spaten 195
ausstechen mussten. Anschließend wurde vom Erschießungskommando der Sand, der unter der Grasnarbe war, auf das Leichenfeld geschippt. Der erste Teil der Aktion „saubere Zelle“ wurde mit dem eiligen Abmarsch des Erschießungskommandos beendet. Bei Anbruch der nächsten Nacht wurden weitere achtzehn Häftlinge an einer anderen Stelle des Weihers erschossen. Wieder leitete Gestapomann Joseph Becker das Erschießen. Die dritte Erschießung von weiteren zehn Häftlingen am nächsten Abend in einer Senke des großen Blumengartens befehligte ein anderer Gestapo-Offizier. Gestapomann Joseph Becker war um diese Zeit bereits in Zivil auf dem fünfzig Kilometer entfernt liegenden Bauernhof eines Verwandten mit einem Motorrad eingetroffen. Sein Dienstausweis hatte ihn alle Militärkontrollen passieren lassen. Als die letzten zehn Häftlinge aus dem Polizeipräsidium unter Feuerstößen aus zwei Maschinenpistolen im Blumengarten des großen Ausflugsgeländes starben, montierte Beckers Onkel das Nummernschild vom Motorrad und versteckte es mit seinem Neffen Joseph am Ziegelboden unter einem Haufen Heu in der Scheune.
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XI Rettung und Tod
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30 Das Versteck Als der Ortsgruppenleiter an einem späten Märzabend 1945 an die Tür des Seilfabrikanten Schröder pochte, erschrak Hildegard Schröder. Gerade war ihr Mann hinausgegangen auf das Fabrikgelände, um den Mädchen etwas Essen zu bringen. Und nun stand der Ortsgruppenleiter, die „braunste Sau der Stadt“, Filthaut vor ihr, Schimpfname „Filzlaus“. Der Filthaut stand am späten Abend in der Tür und fragte ohne Gruß: „Wo ist Ihr Mann?“ Es dauerte lange, bis Frau Schröder sagte, er sei noch einmal auf das Fabrikgelände gegangen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. Man könne zu dieser Zeit nicht wissen, wer sich dort herumtreibe. Es sei alles so schrecklich. Deshalb sehe ihr Mann jeden Abend nach, ob alles in Ordnung sei, setzte die Frau schnell hinterher. „Dann will ich ihn mal suchen!“ sagte der Ortsgruppenleiter und ging auf das Fabrikgelände. Frau Schröder überlegte krampfhaft, wie sie ihren Mann und die Mädchen warnen konnte, die dort versteckt waren auf dem Gelände. Wenn der Ortsgruppenleiter die Mädchen entdecken würde, wäre das deren Tod. Was mit ihrem Mann und ihr geschehen würde, wagte die Frau nicht zu denken. Vor einer Woche war der warnende Anruf gekommen. Es war längst Feierabend. Normale Arbeit gab es sowieso nicht mehr. Seile für die Bergwerke wurden kaum noch gefertigt. Seile für Bergwerke wurden auch nicht mehr verlangt. Es gab kaum noch ein funktionierendes Wirtschaftsunternehmen. Bei Schröder lief nur noch Hanfseilproduktion. Zwei Deutsche arbeiteten mit den fünf russischen Zwangsarbeiterinnen, mit den „Mädchen“, wie sie mittlerweile hießen. Die Mädchen nannten das Ehepaar Schröder Mama und Papa. Nach Jahren 198
der Demütigung, der Erniedrigung und der sklavischen Arbeit erlebten sie zum erstenmal in der Seilfabrik Schröder Menschlichkeit. Die Russinnen hatten geweint, als drei Monate zuvor eine Anweisung eingetroffen war, die Seilfabrik solle die fünf russischen Zwangsarbeiterinnen abgeben, die müssten in die Produktion des Martinwerks 7 von Zander „gesteckt werden“, dort seien die Ausfälle zu groß. Die fünf Mädchen seien ja „gut genährt und bei Kräften“. Sie würden also „die Bedingungen der Produktion erfüllen können“. Johannes Schröder hatte es geschafft, den NSDAPOrtsgruppenleiter zu überzeugen, dass die Hanfseilproduktion ebenso wichtig sei, wie der Bau von Panzerplatten. Er brauche die russischen Mädchen unbedingt, hatte Schröder gesagt, sonst käme die Produktion gänzlich zum Erliegen. Dann war eines Abends der Anruf gekommen. Ein Freund von der Industrie- und Handelskammer hatte kurz und knapp und leise ins Telefon gesagt: „Lass die Mädchen verschwinden! Versteck sie! Die haben etwas Ungeheuerliches vor!“ Als ihr Mann nachgefragt hatte: „Was ist denn los?“ hatte der andere gesagt: „Mensch, frag nicht! Die haben etwas Wahnsinniges vor. Lass sie verschwinden, sonst gehen sie drauf! Die machen alle tot!“ Damit hatte er das Gespräch beendet. Die beiden Männer kannten sich aus der Jugendzeit, waren gemeinsam in einer christlichen Jugendorganisation gewesen. Ihr Mann hatte dem anderen geglaubt und ein Versteck für die Mädchen auf dem unübersichtlichen, zum Teil durch Bomben beschädigten Werksgelände gesucht. Den ganzen Tag über verharrten die Mädchen hinter einem Bretterverschlag. Sie hatten dort nur Gelegenheit zum Sitzen. Sie mussten in dieser Zeit auch ihre Notdurft zurückhalten. Abends in der Dunkelheit wurde ein Brett von Johannes Schröder von außen gelöst und die Mädchen konnten ins Freie schlüpfen, um ihre Notdurft zu verrichten und zu einem 199
Schuppen zu schleichen, in dem sie schlafen konnten. Dorthin brachte er ihnen auch etwas Essen. Manchmal am Tag steckte der Mann unbemerkt durch einen Spalt zwischen den Brettern Brotscheiben. Die Mädchen hatten „Vertrauen zu Papa“, wie sie sagten, der werde das Richtige für sie tun. Der Mann sagte, Mama sei der Meinung, niemand dürfe sie sehen, die Bösen unter den Deutschen seien hinter ihnen her und trachteten nach ihrem Leben. Nun ging der Ortsgruppenleiter Filthaut voraus, um mit Hildegard Schröder deren Mann zu suchen. Vor Tagen schon war der Ortsgruppenleiter am Tage gekommen und hatte gefragt: „Wo sind die Russinnen?“ Da hatte Johannes Schröder gesagt, die wären getürmt. Er sei sehr enttäuscht, hatte Schröder gesagt, er habe sie doch gut behandelt und sie hätten bei ihm immer gut zu essen gehabt. Auch sei die Arbeit nicht zu schwer. Er könne sich nicht erklären, warum sie abgehauen seien und so seine Gutmütigkeit ausgenutzt hätten. Der Ortsgruppenleiter hatte ihn nur angestarrt, hatte ihn angeglotzt, hatte nichts gesagt, und war mit einem lauten „Heil Hitler“ gegangen. Jetzt war er wieder da. Er hatte die Frau misstrauisch beäugt. Hildegard Schröder wusste nicht, wie sie ihren Mann und die fünf Russinnen warnen sollte in der Dunkelheit. Ihr Mann war wahrscheinlich gerade dabei, das Brett vom Verschlag zur Seite zu schieben, damit die fünf Mädchen herausschlüpfen konnten. Hildegard Schröder ließ den Ortsgruppenleiter vorangehen. Der Mann schritt schnell aus. Nach zehn Metern stieß er in der Dunkelheit mit dem Schienbein gegen irgendein Eisenteil, was an einer Mauerecke herausragte. Er fluchte und schimpfte und Frau Schröder sagte, er solle vorsichtig sein in der Dunkelheit, es läge viel herum, nach dem Bombenangriff hätten sie noch keine Zeit gefunden, aufzuräumen. Und er wisse doch, sie möchte jetzt um Gotteswillen keine Taschenlampe anmachen, 200
wer weiß, ob nicht gleich wieder der Tommy angeflogen käme. „Seien Sie vorsichtig“, sagte sie. Und plötzlich sagte sie laut: „Gehen Sie doch nicht so schnell!“ Da schritt der Ortsgruppenleiter langsamer durch die Dunkelheit, ging vorsichtiger und Frau Schröder noch langsamer; und der Abstand zwischen den beiden wurde größer. Plötzlich ließ sich die Frau an einer Mauerecke fallen und schrie laut auf: „Au! Au!“ Sie klagte und jammerte und rief: „Herr Filthaut! Herr Filthaut! Helfen Sie mir! Kommen Sie! Helfen Sie mir doch!“ Der Mann blieb stehen und rief ins Dunkle: „Was ist passiert?“ Da schrie die Frau, sie sei gestürzt: Sie schrie so laut, dass es über das Gelände hallte. Filthaut tastete sich zu ihr und versuchte, ihr aufzuhelfen. Sie aber machte sich schwer und klemmte ihre Beine unter einen Eisenträger. Da er es nicht schaffte, sie hochzuheben, schrie sie laut weiter: „Um Gottes willen! Meine Beine sind eingeklemmt! Herr Filthaut, vorsichtig! Bitte nicht!“ Weithin schallte ihr Rufen durch die Nacht. Als ihr Mann das hörte, legte er der ersten jungen Russin, die gerade zwischen den Brettern durchschlüpfen wollte, die Hand auf den Mund. „Tiesche“, sagte er, denn er hatte von ihnen mittlerweile das russische Wort für Ruhe gelernt. Er sagte: „Tiesche! Tiesche!“ Und er sagte: „Vorsicht! Ein Deutscher!“ Dabei drückte er sie zurück, schob das Brett langsam davor, ging wenige Schritte um eine Ecke, legte die Hand wie einen Trichter an den Mund und rief, aber in eine andere Richtung, nicht in jene, aus der der Schrei seiner Frau gekommen war: „Was ist, Hildegard? Was ist passiert?“ Dann ging er zielstrebig auf den Ort zu, aus der er die Stimme seiner Frau gehört hatte. Gemeinsam mit dem Ortsgruppenleiter Filthaut hob er seine Frau auf die Beine, die 201
immer noch jammerte und hinkte. So brachten sie die Frau ins Haus. Der Ortsgruppenleiter Filthaut, den sie die braunste Sau der Stadt nannten, brach seine Suche nach den fünf verschwundenen Russinnen ab.
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31 Aktion „unter Tage“ Der Mann stand plötzlich im Besprechungsraum des Oberkommandos der Wehrmacht, das in einer Villa in einem Waldstück im Süden der Stadt untergebracht worden war. Der Gefechtslärm der anrückenden Amerikaner jenseits des Kanals im Norden war, fast zwanzig Kilometer entfernt, dumpf zu hören. Der Mann hatte alle Wachen umgangen und war in das Zimmer des Kommandanten gestürmt. Einer der Offiziere redete auf die Versammelten ein: „Es muss aber einen Ausweg geben. Das dauert höchstens nur noch drei Tage, dann sind die hier!“ Der Mann hatte zwei Offiziere zur Seite gestoßen und hatte die Hacken zusammengeschlagen. Da er nie Soldat gewesen war, gelang ihm das schlecht. Stockend und etwas linkisch sagte er: „Ich melde mich freiwillig. Ich will an die Front. Ich will Soldat werden.“ Offiziere und Soldaten sahen sich an. Einer begann zu lachen: „Ein Verrückter. Sind Sie noch ganz gescheit? Was wollen Sie?“ Da sagte der Mann fest: „Meine Frau hat gesagt, sie hätte lieber einen toten Soldaten als einen Verbrecher zum Mann. Ich melde mich freiwillig, ich will an die Front. Schickt mich an den Kanal.“ Jetzt schrie er hysterisch: „Werft mich den Amerikanern entgegen!“ Dabei zuckte es in seinem Gesicht, auch seine Schultern zuckten. Einer der Offiziere begann erneut glucksend zu lachen. Ein anderer schrie erst den Lachenden an: „Aufhören! Sofort aufhören!“, dann schrie er Dr. Goldkuhle zu, er solle verschwinden. Ein dritter schrie zunächst „Ruhe!“, um sich dann in der plötzlichen, umso gespenstischeren Stille leise an 203
Dr. Goldkuhle zu wenden: „Sie sind doch Doktor Goldkuhle von der Industrie- und Handelskammer. Sie waren doch im Haldenbunker, na klar, da waren Sie dabei. Wie kommen Sie denn auf diese verrückte Idee? Sind Sie übergeschnappt? Mensch, die Amerikaner sind in wenigen Tagen hier.“ Der Mann war laut geworden. „Was wollen Sie denn an der Front?“ Dr. Goldkuhle hatte sich gefasst. Leise, doch fest sagte er: „Lieber ein toter Soldat als ein Verbrecher. Eure Schweinereien kann ich nicht mitmachen!“ Da erinnerte sich der Offizier, dass Doktor Goldkuhle bei der Besprechung im Haldenbunker dabei gewesen war, im bombensicheren Bunker des Reichsverteidigungskommissars und des Gauleiters, die längst nicht mehr in der Stadt waren. Die Bonzen waren alle schon geflohen vor den anrückenden Amerikanern. Es war eine Sondersitzung gewesen. Es ging um die Frage: Was machen wir mit den Russen? Was machen wir mit den Polen? Was machen wir mit den Italienern, mit den Franzosen, mit den Holländern, mit den Jugoslawen? Was machen wir mit all den Fremdarbeitern? Was machen wir mit den Kriegsgefangenen und den Zivilarbeitern? „Wenn die Amerikaner kommen“, hatte der stellvertretende Gauleiter gesagt, „wenn die Amerikaner kommen, wenn die Lager aufgelöst werden, wenn die dann alle frei sind, wenn die dann ohne Bewachung sind, wenn die dann machen können, was sie wollen, dann kommen die zu uns, und bringen uns alle um. Die massakrieren uns. Was machen wir mit denen?“ Im Bunker wurde es still nach dieser Frage. Es war, als dachten alle gleichzeitig über die Fragen nach, was mit jedem von ihnen geschehen könnte, kämen die Menschen aus den Lagern in Freiheit, und, was zu unternehmen sei, zu verhindern, dass diese Menschen die Freiheit erlebten. So viele Tage das Jahr hat, so viele Lager in der Stadt. Kaum ein Betrieb ohne seinen Russen, ohne seinen Polen, ohne seinen Franzosen, ohne seinen Belgier, Holländer, ohne, ohne, ohne. 204
Europa versammelt in einer nahezu zerstörten Stadt, Sklaven für die Industrie und für die Landwirtschaft. Wohin mit denen? Was tun mit diesen Menschen voller Rachegedanken? Der stellvertretende Gauleiter ergriff das Wort: „Alle nach unten!“ Fragend sahen ihn die anderen an. „In die Bergwerke, unten am Fluss. Förderkorb für Förderkorb. Die karren wir ran mit Lastwagen, die haben wir noch, Benzin für die Aktion auch. Also alles runter zum Fluss, in die Förderkörbe und ab.“ Das Wasser sammle sich schon in den Schächten. Keiner kümmere sich mehr um die Pumpen. Einige Pumpen wurden gesprengt. Der stellvertretende Gauleiter machte eine Pause. Keiner sagte etwas. Der Mann räusperte sich. „Der letzte Korb kommt nach oben, leer. Feierabend. Hängen im Schacht!“ Nach einer Pause sagte er noch, solche idealen Möglichkeiten hätten andere nicht. Zwei Tage später wurde der Mann von der Industrie- und Handelskammer zu einer Sitzung in den Haldenbunker gerufen. Der Reichsverteidigungskommissar hatte die Besprechung einberufen. Ein Plan der Stadt und der Umgebung hing an der Wand. Fähnchen markierten die Lager der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen. Auf den Fähnchen standen die Zahlen der „Lagerbelegungen“. „Aktion unter Tage!“ Der stellvertretende Gauleiter unterrichtete den Mann von der Industrie- und Handelskammer kurz vom Vorhaben: „Es muss die Zahl der Lastwagen errechnet werden, damit wir sehen, ob das Benzin reicht. Die Fördermaschinisten werden angewiesen, vorläufige Unterbringungen auf Befehl der Wehrmacht zu gewährleisten. Es ist in einem Tag zu schaffen, allerdings ohne Pause, die Angelegenheit abzuwickeln.“ Jemand hatte geschätzt, wie viele Lastwagenfahrten notwendig wären, um alle Lagerinsassen zu den drei Todesschächten am Fluss zu transportieren. Der Mann hatte einen Zeitplan aufgestellt für die Förderkorbfahrten 205
hinunter zu den Schachtsümpfen und wieder leer aufwärts, abwärts mit der Menschenfracht, die nicht aussagen sollte, wie es ihr ergangen war in den letzten Jahren. Der Mann von der Industrie- und Handelskammer war gefragt worden, wie diese Aktion zusammen mit den Betriebsleitern der betreffenden Schachtanlagen zu organisieren sei. Er, der für die Zechen bei der Industrie- und Handelskammer zuständig sei, sozusagen der alte Hase in Sachen Kohle, müsse helfen. Dr. Goldkuhle war es kalt geworden. Er spürte ein seltsames Gefühl in den Beinen. Seine Hände lagen auf den Knien. Sie zitterten leicht. Dr. Goldkuhle sagte nichts. Einer berichtete, wann die Aktion „unter Tage“ ablaufen sollte. Goldkuhle sollte die einzelnen Betriebe melden, bei denen Fremdarbeiter und Kriegsgefangene arbeiteten, denn SS, SA und NSDAP hatten nur noch den Überblick über bestehende Massenlager. Von denen existierten einige bereits nicht mehr, hatten sich im beginnenden Chaos aufgelöst, das die heranrückende Front und die abzusehende Niederlage hatten entstehen lassen. Dr. Goldkuhle müsse die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte in den kleineren und mittleren Betrieben wissen. Manchmal waren es zwei, manchmal fünf, manchmal sechs, manchmal auch zehn. Zwanzig war bei den kleineren Betrieben die Höchstzahl. In den Lagern der großen Fabriken, beispielsweise in denen von Zander, wurde das Menschenmaterial nach Hunderten gezählt. Dr. Goldkuhle sollte auch den Transport mit Lastwagen bei der Aktion „unter Tage“ koordinieren. Es war wieder der stellvertretende Gauleiter, der das Wort ergriffen hatte: „Das muss alles schnell gehen, sehr schnell. In einem Tag muss die Sache gelaufen sein. Niemand darf davon Wind bekommen. Bloß keine Scheißhaus-Parolen! Die dürfen nicht das Geringste erfahren. Runter in die Schächte, dann Schluss und ab!“ Als Dr. Goldkuhle nichts zu all diesen Vorschlägen und 206
Vorhaben gesagt hatte, hatte die Konferenz sein Schweigen als Zustimmung genommen. Einige Tage später bot er sich in der Villa im abgelegenen Waldgelände, in dem das Oberkommando der Wehrmacht die letzte Stellung hielt, als Freiwilliger für die Front an. Die Offiziere, die Soldaten und die Sekretärinnen ließen ihn stehen. Sie redeten weiter, als sei er nicht anwesend. „Mann, hauen Sie ab!“ rief ihm einer der Offiziere zu. „Was wollen wir mit einem neuen Soldaten? Gehen Sie in den Wald, holen Sie sich ‘nen Knüppel, gehen Sie an den Kanal und schlagen dem ersten Amerikaner eins auf die Rübe, Sie Spinner.“ Dr. Goldkuhle machte zwei Schritte zur Wand und setzte sich auf einen Stuhl. „Wir brauchen Sie nicht“, sagte ein Offizier. „Wir brauchen niemanden mehr. Das einzige, was wir jetzt brauchen, sind Autos, schnelle Autos. Die Amis kommen nämlich. Verstehen Sie, es ist aus! Die Aktion unter Tage findet nicht statt.“ Dr. Goldkuhle fragte nicht, warum die Aktion „unter Tage“ nicht stattfände. Ein Offizier antwortete ungefragt: „Das kann man nicht geheim halten, das spricht sich rund. Wenn die Amerikaner erfahren, dass wir Zigtausend haben absaufen lassen unten in den Bergwerken, ja was meinen Sie denn, was die mit uns machen? Die machen mit uns genau dasselbe, was die Russen mit uns machen, wenn die uns kriegen: Die schneiden uns die Ohren ab. Die Aktion ist gestorben. Gehen Sie zu Ihrer Frau und sagen ihr, sie braucht keinen toten Soldaten. Sagen Sie ihr, Sie wären auch kein Verbrecher. Sie sind nur ein Schlappschwanz, Herr Doktor!“ Auch die Aktion „Zusammenschießen“ war fallengelassen worden. Bei einer anderen Konferenz im Haldenbunker war beschlossen worden, alle Flakbatterien auf die Lager der großen Firmen auszurichten, beispielsweise auf die von 207
Zander. Kurz bevor die Amerikaner einmarschierten, sollten diese Lager unter Beschuss genommen werden. „Dann gehen alle drauf!“ hatte einer gesagt. Niemand mehr von denen werde erzählen können, wie es ihm in den vergangenen Jahren ergangen war. Dr. Goldkuhle stand von seinem Stuhl auf. Er ging. Niemand hielt ihn auf. Er ging langsam und schleppend die Treppe der Villa hinab. Eine junge Frau ging vor ihm her, nervös tänzelte sie eine Stufe voraus, eine Stufe zurück. Sie redete ohne Unterlass. Sie schien ratlos. Manchmal hielt sie Dr. Goldkuhle am Arm fest, ließ ihn sogleich wieder los. Ob er sich denn nicht vorstellen könne, dass sie alle ihre Giftkapseln bei sich hätten, flüsterte sie, um gleich wieder lauter zu werden: „Sollen wir uns denn von den Amerikanern gefangen nehmen lassen?“ Wenn die wüssten, was geschehen sei mit den Iwans und den anderen allen, ob er sich das denn nicht vorstellen könne, was dann los sei. „Mein Gott, was sind Sie naiv!“ schrie sie Dr. Goldkuhle an. Als Dr. Goldkuhle aus dem Haus trat, war sein Wagen verschwunden. Er brauchte mehr als zwei Stunden, um in die zerbombte Innenstadt zurückzugehen.
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32 Auflösungen Die Friedensschule, von vielen Treffern zum größten Teil zerstört, existierte als Sonderlager der Geheimen Staatspolizei nicht mehr. Viele Häftlinge waren in den Feucht-Bunker geschickt worden. Die meisten aber hatten erneut überhastet Schutz im Graben hinter dem Schulhof gesucht. Der Graben war wieder mit Brettern und Reisig abgedeckt worden. Die deutsche Wachmannschaft, die in den eigentlichen Bunker geflüchtet war, als die erste Angriffswelle der amerikanischen Bomber kam, war tot. Zwei Bomben hatten den Bunker der Deutschen getroffen und zerstört. Viele Häftlinge hatten das Lager weiter als ihre „Heimat“ angesehen. Es blieb in den letzten Kriegstagen ihre Anlaufstelle. Dorthin kamen sie zurück nach ihren Erkundigungen in den Gärten, in den Trümmern und an den Bahnlinien, wo sie nach Essbarem suchten. Dort übernachteten sie. Doch in den letzten Wochen des Krieges wurde die Zahl herumstreunender Gefangener dieses Straflagers immer geringer, die an den Ort ihrer Pein zurückkehrten. Wie an vielen anderen Orten, löste sich auch dieses Lager auf. Alphonse Bertrand hatte sich nach den Volltreffern einer Arbeitsgruppe angeschlossen, die unter der Führung von älteren SA-Leuten die Mauern der durch Bomben zerstörten Häuser rings um das Sonderlager einreißen musste. Aus den Trümmern bargen die Häftlinge Balken und Bretter für den Bau von Panzersperren, die die erwarteten Amerikaner aufhalten sollten. Die Amerikaner standen kurz vor dem Kanal. Der Gefechtslärm war weit bis in die Stadt zu hören. Die Zahl der Wachmänner, die für diese Arbeitsgruppen verantwortlich gemacht worden waren, wurde von Tag zu Tag geringer. Irgendwann waren die Wachmannschaften so 220
dezimiert, dass es selbstmörderisch gewesen wäre, in dieser Unterzahl ein Heer, zwar durch Hunger geschwächter, doch von Hass gestärkter Gefangener zu bewachen und in Schach zu halten. Da machten sich die Letzten aus dem Staub. Tatsächlich arbeiteten einige Trupps auch ohne Wächter ein, zwei Tage weiter. Alphonse, zwei Russen, ein Italiener und ein Holländer arbeiteten im Dachboden eines durch Bomben ramponierten Hauses. Sie hatten Balken und Bretter vom Dach geworfen und auf dem Hof aufgehäuft. Dann waren sie die baufälligen Treppen abwärts gestiegen und hatten sich in einem gekachelten Raum zu einem weiteren Russen gesetzt. Zwei Hocker, ein zerschlissenes Sofa, ein umgestürzter Schrank dienten als Sitzgelegenheiten. Alphonse hockte auf dem Boden und lehnte gegen einen Ofenvorsprung. Der dritte Russe hatte ein Kaninchen organisiert, hatte es abgezogen und briet es nun über einem offenen Feuer auf den Bodenfliesen. Das Kaninchen war seit Jahren die erste Mahlzeit mit Fleisch. Salz vermisste keiner. Alphonse war eingeschlafen. Als er erwachte, erschrak er: Er war allein. Keiner der anderen Gefangenen war da. Es war unnatürlich still. Alphonse spürte eine bisher nicht gekannte Angst. Kein Wachmann gab Befehle. Kein Fliegeralarm. Kein Flugzeug. Das übliche Geschrei der Deutschen betäubte nicht die Sinne, hielt nicht wie sonst die Instinkte der Vorsicht wach. Im Leben der Gefangenen gab es keinen Augenblick der Besinnung und keinen Stillstand. Selbst der Gang zur Schlafbaracke war, obwohl schlurfend, doch getrieben. Selbst der Schlaf war flach. Irgendwo war auch im Schlaf ein Rasseln, Knacken, fernes oder nahes Rufen, ein Tacken, Scharren oder anderes Geräusch der Gefahr. Nun überkam ihn eine vergessene, fremde Stille. Der Lärm der zurückliegenden Jahre war abwesend, als wäre er von einem Schlund verschluckt worden. Alphonse sprang auf, drückte sich mit dem Rücken an eine 221
Wand. Ein Brett fiel auf den umgestürzten Schrank, hohl wummte es, wie eine gesprungene Trommel. Alphonse flüchtete aus dem Haus, rannte auf die Straße, lief in deren Mitte, umging den Trümmerschutt, der über Gehwege gefallen war. Seine Schritte waren die einzigen Geräusche. Kein Deutscher, kein Gefangener. Alphonse nahm die Richtung zur Eisenbahnlinie, stets einer der Markierungspunkte bei den Bewegungen der Gefangenen, aber auch Angriffsziel der amerikanischen Jagdflieger, deshalb von den Deutschen gemieden. Auch dort war er allein. Er erreichte die angeschlagene Friedensschule. Die Klassenzimmer waren leer. Keine Ratte huschte; es gab keine Nahrungsreste, die die Nager an diesem Ort hätten finden können. Alphonse Bertrand erlebte einen Zustand, den er in den Jahren der Gefangenschaft, als sie ihn gezwungen hatten, Freiwilliger in Deutschland zu werden, seit November 1942 nicht gekannt, gespürt, erfahren, erlebt hatte, der ihm so fremd geworden war durch ständige Unruhe, die auch dann die Gefangenen beherrschte, wenn nichts zu hören war, der sich nun über ihn stülpte, dem auch mit dem Geräusch seiner einsamen Schritte nicht zu entfliehen war, der ihn plötzlich und maßlos erschreckte. Zwischen zwei ausgebrannten Häusern stand eine Villa in einem Gartengrundstück, sie war unversehrt. Die Blendläden vor den Fenstern waren geschlossen, die Tür war kreuz und quer mit rohen Brettern vernagelt. Alphonse blieb abrupt stehen. Kein Vogellaut oder abschwirrender Flug durchstieß die schwere Decke der Stille. Mitten auf der Straße stehend, vor einem unzerstörten Haus, das wie eine Oase in der Wüste der Trümmerstadt ihn noch mehr verwirrte, schärften sich die Sinne des Gefangenen, wurde der Instinkt wieder Herr. Die Deutschen machen Jagd auf Ausländer! Kein Pardon! Immer mehr, immer mehr, immer mehr, gefangene Schweine wie Sand am Meer. So sangen sie. Piff, paff, eu, eu, eu, umirajet Seitzyk, moi, sangen sie höhnisch das russische Kinderlied, das 222
Lied vom erschossenen Hasen. Alphonse Bertrand sprang über die Gartenmauer, schlich durch die Trümmer. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Seine Angst blieb. Niemand war da, den er fragen konnte, was zu tun sei: He, Kumpel, ist die Scheiße vorbei? Krieg aus? So wie in der Friedensschule war es in allen Lagern der Stadt: Sie lösten sich von selbst auf. Die Wachmannschaften flohen. Die letzten Bomben, die auf die Stadt fielen, trafen keinen Wachmann, sie waren aufs Land getürmt. Jeder hatte sich verdrückt. Alphonse Bertrand fiel der Luftschutzstollen ein. 1939 hatten ihn die Deutschen für die Schulkinder gebaut. Vor seinem Eingang hatten Siebenjährige geübt, wie mit der Feuerpatsche eine Brandbombe ausgeschlagen werden konnte. Und mit dem Feuerlöscher gingen sie gegen brennende Schultüren vor. Alphonse Bertrand lief den Weg, den er gerade ängstlich genommen hatte, wieder zurück. Er fand eine trockene Stelle in der Nähe des Eingangs des Stollens. Dort schlief er bis zum nächsten Tag. Am nächsten Morgen, er wollte den Stollen verlassen, um nach etwas Essbarem zu suchen, hörte er, dass sich jemand dem Luftschutzstollen näherte. Alphonse Bertrand tastete sich rückwärts und tiefer in den Stollen. Er blieb dort stehen, wo das Wasser immer höher wurde, ihm bis zu den Knien reichte. Er war am Ende des Stollens angelangt. Als er sich im Dunkeln versteckte, sah er eine Deutsche, eine alte Frau, die im Eingang auftauchte. Sie begann mit zwei Eimern das Wasser abzuschöpfen, schüttete das Wasser aus dem einen Eimer in den zweiten, den sie forttrug. Beim fünften Eimer setzte Alphonse einen Fuß vorsichtig zur Seite. Dennoch plätscherte es leicht. Das alarmierte die Frau. Sie richtete sich auf, doch ihr war keine Furcht anzusehen. Alphonse dagegen erschrak. Er solle im Bunker bleiben, sagte die Frau. Überall patrouillierten Soldaten 223
herum. „Die suchen Ausländer“, sagte sie. Dabei hob sie die rechte Hand, streckte den Zeigefinger nach vorn, ahmte eine Pistole nach. Nach einer Stunde brachte sie ihm ein Stück Brot und ein kleines Stück Wurst. Er solle nach hinten gehen, falls jemand käme, sagte sie; dort, wo das Wasser ist, wo keiner hingehe von den Deutschen im Bunker, sei er sicherer. Die amerikanischen Tiefflieger kämen sicherlich wieder, die Amis schossen schon über den Kanal. Man müsse mit allem rechnen, vielleicht wollten sich ja auch Deutsche im Bunker verstecken. Die Frau zeigte in die Tiefe des Stollens. Zwei Tage und Nächte fror der Mann in dieser nassen Zuflucht. Am Mittag des zweiten Tages sagte die Alte, die Amerikaner seien über den Kanal. Alphonse dachte, nun könne er hinausgehen ins Freie. Er suchte den Weg zu der Klosterkirche, an der er stets mit seinem Essensschlitten im Winter hatte vorbeiziehen müssen. Er ging durch die offenstehende Tür. Zwei Schwestern starrten ihn an. „Bonjour,“ sagte Alphonse und ging in die MuttergottesKapelle. Erschöpft setzte er sich und sagte tonlos, heilige Maria, es ist vorbei. Immer wieder dachte er, dass es vorbei sei. Plötzlich standen zwei alte Volkssturmmänner vor ihm. „Guck’ mal! Da ist ja noch einer“, sagte einer von ihnen und kam auf Alphonse Bertrand zu. Der Mann hinkte. „Komm, den nehmen wir mit!“ Alphonse stand auf und ging zur Tür. Die beiden Schwestern standen in der Tür. Alphonse blieb stehen. Der hinkende Volkssturmmann sagte, die Schwestern sollten den Weg zum Keller zeigen. Die ältere der beiden Schwestern stieg voraus die Treppe hinab; durch die offenstehende Kellertür fiel ein schmaler Lichtschein über die Stiege auf den Kellerboden. Alphonse setzte sich auf die letzte Stufe. Die Schwester rief nach oben, die Herren vom Volkssturm brauchten Licht, die andere Schwester solle eine Kerze 224
bringen. „Es ist ja kein Strom mehr da“, sagte sie zu den Männern. Ja, es sei kaum noch irgendwo Strom, sagte der Mann mit dem Hinkebein. „Wo bleibt sie denn?“ Alphonse hatte Hunger. Er fragte die Schwester, ob er etwas zu trinken haben könne. Sie solle dem Gefangenen etwas zu trinken bringen, sagte nun der andere Volkssturmmann. Die Schwester stieg nach oben. Der hinkende Deutsche setzte sich neben Alphonse auf die Treppenstufe. Die Schwestern kamen nicht zurück. „Lass uns gehen!“ sagte der andere Deutsche nach einiger Zeit. Die Deutschen stiegen nach oben. Oben schlugen sie die Kellertür zu. Der junge Belgier wusste nicht, ob er sich fürchten müsse. Wieder empfand er die Stille ähnlich körperlich wie wenig zuvor, als er in dem zerstörten Haus aufgewacht war und sich allein und verlassen fand. Doch diesmal war das Dunkle des Kellerraumes wie ein beschützendes Tuch, in das er gewickelt war. Er saß da und wurde ruhig. Er erschrak auch nicht, als plötzlich die Tür über ihm aufgerissen wurde. „Die Amis sind da! Junge, die Amis sind da!“ Die Schwester schrie und deutete mit dem Arm hinter sich. „Komm rauf, Junge, komm rauf!“ rief sie. Alphonse überfiel jetzt starkes Herzklopfen. Langsam stieg er nach oben. Er trat aus der Klosterkirche auf die Straße. Ein amerikanischer Soldat suchte die beiden Volkssturmmänner nach Waffen ab. Die Deutschen standen mit gespreizten Beinen an der Kirchenwand, die Hände über dem Kopf an die Steinmauer gestützt. Ein zweiter Amerikaner hatte eine Maschinenpistole auf die alten Männer gerichtet. Alphonse setzte sich auf die Gehwegkante und weinte. Später fasste ihn einer der Amerikaner an der Schulter und sagte, er solle mitkommen. Die beiden Deutschen rückten zusammen, um ihm im Jeep Platz zu machen.
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33 Etappenschweine Als es dunkel geworden war, hatte Hauptmann Edmund Weber ein Gartengelände erreicht. Die parzellierten Gärten waren durch Hecken, Sträucher und Wege unterteilt; Äste und Zweige waren bis auf die schmalen Wege gewachsen, sie waren schon lange nicht mehr geschnitten worden. Es müsse nicht mehr weit sein bis zum Kanal, dachte der Mann. Der deutsche Hauptmann auf dem Weg zum Feind, lächelte Edmund Weber. Die Nacht werde er in einer dieser Lauben zubringen, sagte er sich, jedenfalls bis zu dem Moment, an dem sein Weg als Parlamentär zu den Amerikanern begänne. Der Hauptmann hatte sich am Tag abseits der Wege gehalten. Häuser und bäuerliche Anwesen hatte er gemieden. Zwar befand sich alles in Auflösung und jeder versuchte, seine Haut zu retten und sich vor den anrückenden amerikanischen Truppen in Sicherheit zu bringen, die deutschen Verbände im Westen setzten sich nach Osten ab; dennoch wäre ein Hauptmann der deutschen Wehrmacht aufgefallen, der sich eilig in entgegengesetzter Richtung als alle anderen bewegte, und dorthin strebte, wo der Feind seit Tagen stand und offensichtlich Stellung bezogen hatte. Hauptmann Weber hatte am Morgen sein Quartier verlassen. Zwanzig Kilometer nordwärts wären die Amerikaner schon über den Kanal vorgestoßen, hatte es am Tag zuvor geheißen, und hier könne er von jetzt auf gleich ebenfalls sein. Sofort abhauen, Kameraden! Das war die Devise. Auch der Hauptmann auf dem Weg zum Feind hatte in der allgemeinen Hysterie seinen Aufbruch vorbereitet. Am Morgen hatte er nach zwei Stunden Fußmarsch in einigen Kilometern Entfernung drei deutsche Wehrmachtslastwagen nach Südosten fahren sehen. Trotz der Entfernung war Weber hinter einen 226
Busch getreten. Eine Viertelstunde später hörte er zwei Detonationen. Er wunderte sich, da die Brücken über den Kanal schon vor Tagen gesprengt worden waren. Einige Kilometer weiter war ein Kübelwagen an ihm vorbeigebraust, dessen sich näherndes Motorengeräusch ihn gewarnt hatte, so dass er im Wald in Deckung gegangen war. Auf dem Kübelwagen saßen mehrere verdreckte Landser. Einen Offizier sah Hauptmann Weber nicht. In einem Reflex griff er an den Mantelkragen, als wollte er den weißen Kopfkissenbezug verdecken, den er zusammengefaltet unter seinem Hemd auf der Brust trug. Die Letzten! dachte er. Obwohl er annahm, diese Flüchtenden wären auf seinem Gang bis zu den amerikanischen Stellungen die letzten deutschen Soldaten gewesen, sah er, so lange er im Wald lief, dass er schnell in Deckung gehen könnte, sollte Gefahr bestehen. Es war unnatürlich still. Die Hysterie und die Hast des Absetzens der deutschen Soldaten, der Motorenlärm, das Schreien der Kommandos, das Wimmern der sterbenden Russen im Lager war abgelöst worden von einem angenehmen Aprilwind und von Vogelstimmen. Singvögel gegen Schlachtenlärm, dachte der Germanist und Schulleiter Edmund Weber, der deutsche Hauptmann auf der Flucht nach vorn. Wieder näherte sich Motorengeräusch, knallend, manchmal tuckernd: ein Motorrad knatterte an Webers Versteck vorüber; auf den Beiwagen war eine sperrige Kiste geschnallt. Der Soldat am Lenker sang. In der Dunkelheit schlich Edmund Weber vorsichtig über den Gartenweg. Die Gartenlauben wären auch für ausgebrochene Russen aus dem Stammlager ein gutes Versteck, dachte er, nicht nur für ihn. Erwischten die einen deutschen Hauptmann, machten sie kurzen Prozess. Da hätte er noch so viel hinausschreien können, er sei ihretwegen unterwegs, ihrer und ihrer Kameraden wegen, er schlüge sich 227
zu den Amerikanern durch, um die zur Eile anzutreiben, denn wenn die Befreiung des Lagers nicht bald käme, gäbe es noch weitere mehrere tausend Tote außer den bereits Zigtausenden der letzten Jahre. Er hätte seinen weißen Kopfkissenbezug als Beweis seiner Parlamentäreigenschaft aus dem Hemd reißen können, es hätte nichts genützt. Die Wut war zu groß, der Hass zu schwer, das Unrecht zu gewaltig, als dass noch Zeit für Verständigung in diesen Tagen bleiben konnte. Eure Kameraden krepieren, wenn die Amerikaner ihren Vormarsch nicht sofort fortsetzen und das Stammlager befreien! Die letzen Überlebenden von Zigtausend dieser armen Teufel! Die Deutschen kümmern sich nicht mehr um sie! Das wollte er den Amerikanern zuschreien. Das hätte er ausgebrochenen Russen zuschreien müssen. Viele der Russen gruben schon nach Wurzeln, einige fraßen Erde, viele andere waren bereits vor Hunger verrückt geworden, andere lagen auf dem Boden wie Weggeworfene, nicht etwa wie Abfall, sondern wie unnützer Kehricht, die meisten krank, entkräftet, mit Ungeziefer übersät, waren dem Tode geweiht, dem ein menschenunwürdiges Sterben vorausginge. Ausgegrenzt auf fremdem Boden, ausgeliefert dem gigantischen Mechanismus gesellschaftlicher Willkür, stürzten sie hilflos und hoffnungslos in eine gähnende Leere. Die Grautönigkeit der Gefangenschaft war zur Schwärze eines erniedrigenden Sterbens abgesunken, in der die Menschenwürde lächerlich gemacht und zertreten wurde wie ein zerbrochener und mit Kot besudelter Hampelmann. Macht schnell! Macht schnell! Edmund Weber wollte es den Amerikanern zurufen. Nehmt die Stadt endlich ein, befreit das Lager! Die deutsche Wachmannschaft interessiert das Schicksal dieser Elenden nur insoweit, dass sie die Tore geschlossen hält, damit die bestialische Wut dieser Ohnmächtigen nicht über sie hereinbräche und sich an ihnen und ihresgleichen rächen könne. Macht schnell! Macht schnell! Edmund Weber, der Hauptmann der deutschen Wehrmacht, 228
auf der Flucht zu den amerikanischen Truppen, schlief kaum in seiner kurzen Nacht. Die Gedanken an seine Mission am nächsten Morgen und sein Nachsinnen über zwei junge Männer ließen ihn nicht schlafen. Sascha und Walter, der junge Russe und der junge Deutsche, bewegten den Lehrer im Soldatenrock. Sascha, der ein so gutes Deutsch sprach, der Student aus Leningrad, war plötzlich vor Edmund Weber stehengeblieben. Eben noch gehörte er zu den grauen Männern, die durch das Lager schlurften, schleppend, die Köpfe gesenkt, die zu Boden sahen, auf den viele von ihnen in kurzer Zeit sinken würden, da hob der junge Russe plötzlich den Kopf und sah den deutschen Hauptmann aus seltsamen wasserblauen Augen an. „Wir sind alle des Todes. Wir alle werden sterben müssen, sterben müssen wir alle.“ Weber kniff die Augenlider zusammen. Wie auf der Bühne, dachte er, der junge Russe spricht wie ein Schauspieler. „Herr Hauptmann, sind Sie sich gewiss, dass nur eine schnelle Rettung unseren Tod abwenden kann?“ Der Hauptmann war über den Mut des zerlumpten jungen Russen überrascht. Er hätte schnell und hart reagieren müssen. Der Russe kam ihm zuvor. Er drehte sich um, senkte den Kopf und gehörte schlurfend wieder zur großen grauen Schar. Doch im Abwenden sagte er leise, hinter dem Kanal läge die Rettung. Aus den Lautsprechern des Lagerfunks kam die Ankündigung, dass einer gleich ins Maxim gehen werde, um dort mit Damen intim zu sein. Seit Bestehen des Lagers immer wieder „Da geh ich ins Maxim“. Danach dröhnte es jeden Mittag über den Appellplatz: „Lippen schweigen ... hab mich lieb“. Tag für Tag hallte „Die lustige Witwe“ durch das Lager. Befehl des Lagerkommandanten: Des Führers Lieblingsoperette wird jeden Mittag übertragen. „Ja das Studium der Weiber ist schwer“. Hauptmann Weber sah irritiert dem sowjetischen Kriegsgefangenen Sascha nach. „Warum hat er gerade mich angesprochen?“ fragte er sich in 229
seinem Gartenlaubenversteck. Als habe er seinen Entschluss geahnt, zu den Amerikanern überzulaufen und sie um schnelle Befreiung des Lagers zu bitten. Edmund Weber hockte mehr auf der Gartenbank als dass er auf ihr lag. Sascha hätte auch einer von denen in der Strafkompanie sein können, die in seine ehemalige Friedensschule eingepfercht worden waren. Sascha, aber auch Walter, einer seiner ehemaligen Schüler, etwa so alt wie dieser Russe. Walter war bei einem Fronturlaub zu ihm gekommen: „Herr Weber“, hatte er beinahe flehentlich gesagt, „mein Gott, wenn das der Führer wüsste!“ Der Führer weiß es nicht, hatte Weber antworten wollen, doch er war sich nicht sicher, ob es der Führer nicht doch wisse. Er will es auch gar nicht wissen, hatte er sagen wollen. Doch sein ehemaliger Schüler Walter redete wie befreit: „Schweine, dreckige, feige Etappenschweine!“ Edmund Weber kannte Walter als feinsinnigen Schüler, einer seiner besten in Deutsch. Als Walter Jung nun von der Strafaktion gegen ein ukrainisches Dorf berichtete, war von seiner Feinsinnigkeit nichts mehr zu ahnen. „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände, hat diese Sau gepfiffen, als er sie alle umgelegt hatte, die alte Frau, den Mann und die beiden Kinder. Ruckzuck! Die Maschinenpistole einmal durchgezogen und ...“ Walter Jung hatte gestockt. Leise hatte er dann weiter berichtet: Ihr Panzer hatte Motorschaden, sie mussten damit in die Etappe. Von weiten hätten sie schon den Rauch gesehen, fünfzig Kilometer hinter der Front. Wenige Meter vor dem Dorf, in dem einige Häuser schon in Flammen gestanden hätten. Ein General habe wie wild mit den Armen gefuchtelt und sie gestoppt. „Haben Sie Handgranaten?“ „Na klar haben wir Handgranaten“, habe der Panzerführer im Turm geantwortet. 230
„Fahren Sie durch das Dorf und dann die Handgranaten nach links und rechts!“ Der Mann habe wie ein Irrer geschrien und gestikuliert, „links und rechts“ habe er lang gedehnt geschrien; dabei habe er jeweils mit dem rechten Arm langausholende Wurfbewegungen gemacht: „Nach liiinks und nach reeechts! Werft alles, was Ihr habt!“ Als der Mann im Turm nichts tat, schrie der General wieder: Partisanen hätten die Schreibstube überfallen, den Schreibstubenhengst gefangengenommen und die ganze Schreibstube mitgenommen: „Das ist eine Strafaktion, Mann! Führen Sie meinen Befehl aus! Zerstören Sie das Dorf!“ „Nein!“ habe der Panzerführer gerufen. Er unterstehe der Wehrmacht, ihm nicht. Dies sei keine kriegswichtige Aktion. Er könne dem Befehl schon deshalb nicht Folge leisten, weil er ein Fass Fliegerbenzin geladen habe, wenn sie Feuer fingen, sprengten sie sich selbst in die Luft. Da habe der General geschrien: „Ich bringe Sie vor ein Kriegsgericht!“ In diesem Moment sei der alte Mann aus dem Haus gekommen, dessen eine Front bereits Feuer gefangen hatte. Er habe einen Sack auf der Schulter getragen und sei vorsichtig die Steintreppe hinabgestiegen. Einer der Soldaten habe aufgelacht und gesagt: „Na, auf dich habe ich gerade gewartet.“ Dann habe der die Maschinenpistole geschwenkt und dem Mann einen Feuerstoß in den Leib gejagt. Der Mann sei tot die Treppe hinuntergestürzt. Der Sack sei auf die Straße gerollt. Hausgeräte seien aus dem Sack gefallen. Eine Frau wäre aus der Tür gestürzt, zwei halbwüchsige Kinder seien ebenfalls schreiend und weinend „Papa! Papa!“ zu dem Toten gerannt. Da habe der Soldat wieder gelacht und gesagt: „Das trifft sich ja gut, euch lege ich gleich daneben!“ Und mit mehreren Feuerstößen habe er Frau und Kinder erschossen. Im Weggehen habe das Schwein die Schlagermelodie gepfiffen 231
„Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“. „Wir kamen von der Front, Herr Weber“, hatte Walter Jung zu seinem früheren Lehrer gesagt. „Wir haben gegen Soldaten gekämpft. Aber diese Etappenschweine vergreifen sich an Wehrlosen, an Frauen und Kindern. Wir kämpfen ehrlich! Und die in der Etappe machen eine Sauerei nach der anderen. Wenn das der Führer wüsste!“ Es interessiert den Führer einen Dreck, hatte Edmund Weber antworten wollen. Doch hatte er nichts gesagt. Es blieb still in dieser Nacht in der Gartenlaube. Einmal schepperte ein Metallgegenstand. Eine Katze vielleicht. Auf der anderen Seite liegen die Amerikaner. Es wird Zeit. In der Mitte der Versorgungsbrücke musste er ins Wasser steigen; die gesprengten Eisenteile waren im Bogen abgesackt. Edmund Weber zog sich am Eisengestänge langsam ans andere Ufer. Er robbte bis zur Dammkrone, blieb kurz sichernd liegen, dann schob er sich hastig und schnell über den Dammweg und rollte auf der anderen Seite abwärts. Ein Gebüsch fing ihn auf. Er fror entsetzlich. Als die Dämmerung so weit in den Tag gedrungen war, dass er gesehen werden konnte, raffte er sich auf. Mit klammen Fingern knöpfte er den Mantel auf, danach die Uniformjacke, zog zum Schluss den weißen Kopfkissenbezug von seiner Brust. Dann lief der deutsche Hauptmann von der Böschung, stolperte mit eiskalten Füßen am Ende des Kanaldammes, lief über das Wiesengelände, den Stoff mit beiden Armen über seinem Kopf in den ausgestreckten Armen haltend, steuerte auf mehrere Armeelastwagen zu und schrie immer wieder: „Nicht schießen! Nicht schießen!“ Er hatte vergessen, dass er dies hatte in Englisch rufen wollen. Als am Mittag der erste amerikanische Jeep ins Stammlager fuhr, folgten zwei Fahrzeuge mit Sanitätern und Ärzten. Eine Woche später lag Edmund Weber auf einer Wiese am Rhein. Es regnete seit Stunden. Der Hunger marterte den 232
deutschen Kriegsgefangenen. Am Stacheldrahtzaun war Geschrei. Einer der deutschen Gefangenen hatte die Nerven verloren und glaubte, sein Recht als Offizier einfordern zu können. Der schwarze GI hockte, im Regenzeug vergraben, auf dem Jeep und starrte über den Fluss.
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XII Müll
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34 Aufräumarbeiten Fritz Hoffmann räumte auf. Als er den ersten Aktenordner aus dem Regal gegriffen und ihn in den Müllsack gelegt hatte, sagte er: „Weg mit Schaden!“ Der pensionierte Oberbrandmeister, ehemaliger Lagerführer für Fremdarbeiter und SA-Mann, hatte sich eine Halterung für die blauen städtischen Müllsäcke besorgt, so dass er bequem seine Akten mit Notizen und Erinnerungen sowie die grauen Kartons mit den Dokumenten hineinlegen konnte. Er begann seine „Vergangenheitsbewältigung“, wie er kichernd zu sich sagte, in der Mitte: „Bettelunwesen der Ostarbeiter. Mitte bis Ende 1943. In ihrer Freizeit treiben sich viele Lagerinsassen bettelnd herum, fahren sogar mit der Straßenbahn, dabei ist denen das verboten. Viele tragen das Ost-Abzeichen nicht, haben sich mit Pappe und einer Sicherheitsnadel einen Anstecker Ost gemacht, den sie anstecken und abnehmen, wie es ihnen gerade passt. Es gibt sogar deutsche Volksgenossen, die mit diesen Individuen in Kontakt treten. Manche sagen tatsächlich, die Russen sind bedauernswerte Wesen.“ Fritz Hoffmann klappte den Ordner zu. „Weg damit!“ sagte er, als er den Ordner in den Müllsack legte. Er achtete darauf, dass die Ecken der sperrigen Ordner das Plastikmaterial des Müllsackes nicht zu sehr spannten. Auch dabei hielt er auf Ordentlichkeit. Seinen Kindern hatte er stets seine Feuerwehrweisheit mitgegeben: „Es ist leichter, jemanden aus einer ordentlichen Wohnung zu bergen als aus einer Rumpelkammer.“ Franz Wald war früher Wirt gewesen. „Lagerleiter W. ist oft betrunken“, las Hoffmann seine Eintragung aus dem Jahre 1944. „Er unterschlägt das Essen, das den Ostarbeitern zusteht. Niemand wagt, den Kerl oben anzuschwärzen. Wenn W. 235
betrunken ist, wird er gewalttätig. Er lässt seine Wut an den Ostarbeitern aus. Dabei gröhlt er oft: Jetzt siehst du den Wald vor lauter Bäumen nicht! Er schlägt immer mit dicken Baumästen. In seinem Zimmer hat er in einer Ecke eine Auswahl davon stehen. 14 Stück habe ich gezählt.“ Fritz Hoffmann erinnerte sich: Die Fremdarbeiter nannten den Mann Schinderfrannes. Fünf kleine Zettel hatte er damals über den Mann beschrieben. „W. vergreift sich an allem Essbaren. Nur die Brause lässt er liegen. Doch die Mäuschen in seiner Nähe haben feiste Backen und stramme Ärsche.“ Tatsächlich hatte sich Franz Wald mit Butter und Wurst sexuelle Freuden verschafft. Lagerführer Fritz Hoffmann sah noch eine dieser grauen Mäuse vor sich, Rita, die offensichtlich Walds Favoritin gewesen war, ein ordinäres Mädchen, das doch immer wie aus dem Ei gepellt durch die Fabrik ging. „W. ist es egal, dass die Hure R. auch durch die Männerlager stolziert, obwohl sie das nicht darf. Sie trägt immer schwarze glänzende Stiefel wie die von der SS. Sie macht jedes Mal Theater, wenn sie durch die Baracken geht; ein Soldat begleitet sie. Sie lärmt und schreit herum. Sie soll sich auch beim Prügeln beteiligt haben.“ Hoffmann hatte unter diese Eintragung ein Fragezeichen gemalt. Als er diesen Ordner zu den übrigen getan hatte, dachte er daran, wie diese Frau zu Tode gekommen ist: Sie war wenige Tage nach Kriegsende ehemaligen Ostarbeitern in die Hände gefallen, obwohl sie sich versteckt gehalten hatte. Nachdem elf Männer sie vergewaltigt hatten, hatten sie ihr die Brüste abgeschnitten und auf sie eingestochen. Alle persönlichen Erinnerungen, alle Erzählungen von Freunden aus der SA, der SS, der Wehrmacht und von Werkschutzleuten, die Fritz Hoffmann aufgeschrieben hatte, verschwanden in blauen Müllsäcken. Wie immer hatte er auch bei seinem Aufräumen die Tür hinter sich zugesperrt. Zu seiner Frau sagte er auf deren Fragen freundlich, er habe Wichtiges zu 236
erledigen, nein, keine Kupfertreibarbeit, etwas Wichtigeres. Er müsse etwas sichern, sagte er, das niemand erfahren dürfe. Fritz Hoffmann ging im Viertel umher, um zu sehen, ob und wo Sperrmüll zum Abholen bereitgestellt worden war. Zwei Nebenstraßen weiter fand er einen Haufen: alte Küchenschränke mit Omagardinen, Nierentische, Polstersessel mit Noppen, Apfelsinenkisten aus den fünfziger Jahren, inzwischen nicht mehr gebrauchte Kohlenkästen. Am nächsten Tag zog er mit dem ersten Abfall los. Er hatte in Erfahrung gebracht, wann der Sperrmüll abgeholt werden sollte. Er schob den kleinen Leiterwagen aus der Garage, eine Handkarre aus der Kriegszeit, die er aufgehoben hatte, und belud das Wägelchen mit seiner Fracht. Die Räder quietschten, als der alte Mann durch die Straßen fuhr. Der Sperrmüllhaufen lag auf der anderen Straßenseite. Zwei Männer, Ausländer, suchten nach etwas Verwertbarem. Zigeunerpack, dachte Hoffmann. Die beiden Männer gingen, ohne etwas gefunden zu haben, als sich auf ihrer Straßenseite eine Frau im mittleren Alter langsam dem Gerümpel näherte; die hat Angst vor den Asylanten, dachte Hoffmann. Hoffmann kannte die Frau des Oberstudienrates; sie lebte in der Nachbarschaft. Die Frau grüßte wie immer freundlich, doch kicherte etwas verlegen, als wäre sie ein ertapptes Schulkind. Sie zog und zerrte an einem Gegenstand, der in einer vergammelten Kiste zwischen Besenstielen, einem verrosteten Spaten und einem zerbrochenen Lampenschirm steckte. Sie holte endlich das Gerät heraus, einen emaillierten Schaumlöffel, und streckte ihn Hoffmann hin. „Krass!“ sagte sie. „Toll, Herr Hoffmann.“ Hoffmann verstand nicht, warum die Frau so entzückt war über ein emailliertes Küchengerät, dessen Stiel verrostet war. Am liebsten nähme sie die alte schöne Kiste mit, doch die sei zwischen den anderen Möbelteilen eingeklemmt, sagte die Frau. 237
„Die Kiste?“ fragte der Alte. Ihr Mann werde sie aufpolieren, sagte die Frau des Oberstudienrates überzeugt. „Ist doch nur ‘ne alte Munitionskiste“, meinte abschätzig Fritz Hoffmann, „noch aus ‘m Krieg.“ Die Frau sagte nichts. Hoffmann machte keine Anstalten, ihr bei der Bergung der Kiste zu helfen. Da ging sie, hob manchmal den Schaumlöffel hoch und betrachtete ihn. Fritz Hoffmann wartete. Als der Sperrmüllwagen gekommen war, beobachtete der Mann, wie sein Sack in das Presswerk auf der Rückfront des Wagens geworfen wurde, wo er zusammen mit einem Bettgestell knirschend, seufzend und pfeifend zur Unkenntlichkeit vernichtet wurde. Fünf blaue Müllsäcke mit den Erinnerungen und Akten eines Lagerführers im Zweiten Weltkrieg verschwanden in den nächsten Wochen im übelriechenden und lärmenden Bauch des Müllwagens. Jedesmal karrte Fritz Hoffmann einen Sack zum neuen Sperrmüllhaufen in einer anderen Straße. „Oppa“, sagte beim vierten Sack der Türke am Bedienungshebel für das Presswerk, „brauchst nicht kommen. Anrufen, kommen vorbei.“ Hoffmann erwiderte nichts. In den letzten Sack hatte er Handarbeiten gesteckt und außer anderen auch die Ordner „Valentin“ und die Mappe „Leni“ verstaut. Beim Einsacken hatte der alte Mann in den Papieren geblättert und in die grauen Kartons gesehen, doch nur flüchtig; was er sah, kannte er nahezu auswendig. „Aus Chromstahl machen sie jetzt Armbänder und verkaufen sie an Deutsche.“ Sie haben tatsächlich die schönsten Dinge gebastelt, wusste Hoffmann. Dass die Russen dazu noch Zeit, Gelegenheit und Kraft gefunden hatten? fragte er sich. Holzlöffel waren das Geringste ihrer Künste. „Weihnachten 1943: Die ersten mit Erschießung bestraft. Sie machen keine Armbänder mehr.“ Fritz Hoffmann tat den Ordner in den Müllsack. Er nahm 238
den Karton mit der Aufschrift „Armband - 2 Holzlöffel“ und verstaute auch ihn, ohne zuvor hineingeschaut zu haben. Dann griff er zur Mappe „Leni“. Der Frau war nie nachzuweisen gewesen, dass sie der Bekennenden Kirche der Evangelischen angehörte und in einer Kellerdruckerei heimlich Friedensgebete vervielfältigt hatte. Sie war Tippse in der Verwaltung von Zander gewesen. Direktor Mayerling gegenüber hatte sie einmal gesagt, ob es mit der Würde der Nationalsozialisten zu vereinbaren sei, so tief hinabzusteigen. „Was meinen Sie mit tief?“ hatte Dr. Mayerling zurückgefragt. Die junge Frau druckste herum. „Die Russen und so“, sagte sie. „Und diese Züchtigungen.“ Direktor Mayerling verschaffte ihr „die Gelegenheit, einer Züchtigung“, wie er sich ausdrückte, „beizuwohnen“. Leonore Hein wurde mit dem Direktorenwagen zum Werkschutzgebäude gefahren. Der junge Russe war bereits im Keller über den Bock geschnallt worden. „Nehmen Sie Platz“, forderte einer der Männer in dem Kellerraum. Dabei hatte er auf einen Holzschemel gewiesen. Der junge Russe hatte Mohrrüben und Kartoffeln gestohlen, die er unter das Hemd gesteckt hatte, etwa drei Hände voll. „Wir werden dem Iwan zeigen, wie man Kartoffelbrei macht“, sagte der Mann, der am Schreibtisch saß. Tatsächlich sah Leonore Hein, wie sich auf dem Rücken des jungen Mannes Kartoffeln unterm Hemd abzeichneten, als wären sie absichtlich dort drapiert worden. Im gleichen Moment begannen die beiden anderen zu prügeln. Am Ende war das Hemd dunkel getränkt. Den Ordner „Valentin“ liebte Fritz Hoffmann sehr. Wenige Wochen vor dem Kauf der städtischen Müllsäcke, in die er nun Notizen und Dokumente, Kopien von Notizen und Dokumenten, Zeitungsberichte und Tagebücher, Kopien von Zeitschriftenseiten und Archivunterlagen stopfte, glaubte er zu 239
wissen, was es gewesen sein könnte und was es war, das ihn an diesem Projekt anzog. Irgendetwas Großes schien ihm im Ineinanderwirken von Bürostuben und Bürobaracken, Stabsabteilungen und Strafkammern, in der Summe der Konstruktionen und Ingenieursgedanken, im Planen und Rechnen vieler Firmen zu liegen. Selbst in der Arbeit der Arbeitssklaven wollte er einen wichtigen Teil eines großartigen Ideengebäudes sehen. Er lehnte sich zurück und sah mit leerem Blick auf die Backen des Schraubstocks seiner Werkbank. Da war noch etwas anderes, was diesen Bunker für ihn so unvergleichlich gemacht hatte. Vierzig Jahre lang kannte ihn kaum jemand. Als wäre er weiterhin eine Geheimsache, blieb er nahezu unentdeckt. Mit der Vergangenheit seiner Jugend im Kohlengräberland war es ähnlich: Den Feuerwehrmann kannten viele, den Lagerführer von einst nur einer, er, Fritz Hoffmann. Beide, der Bunker und der Mann, blieben unbeachtet. Da kaum jemand Interesse an ihm fand, brauchte es nicht einmal einer Rosenhecke wie bei Dornröschen, um verborgen zu sein. Fritz Hoffmanns Gedanken jagten einander. Auch einige dieser linken Schnüffler, dachte er, einige von denen, die alles herausbekommen wollen und die versuchen, alles madig zu machen, hätten nicht verhindern können, dass „Valentin“ vierzig Jahre lang ein Geheimnis geblieben sei. Nur wenige wissen von diesem Bunker. Schadenfroh dachte der alte Mann: Was haben sie denn erreicht? Viele der jungen Leute von heute hätten damals doch auch mitmarschieren können, dachte Fritz Hoffmann. Der alte Mann frohlockte: Mit ihrem Kurzhaarschnitt sähen die ihnen ähnlich, manche mit glattrasiertem Schädel, mit Bomberjacken und Springerstiefeln, erinnerten an die SA-Männer von einst. Viele seien wie damals „die alten Kameraden“ auch heute ohne Arbeit. Plötzlich kicherte Fritz Hoffmann, der ehemalige SA-Mann, als er daran dachte, dass auch Pickelgesichter unter ihnen sind. Joseph 240
Becker, sein SA-Sturmbannführer, der habe gesagt, mit den Pickeln im Gesicht sehe er, Fritze, wie ein Streuselkuchen aus, aber nicht wie ein harter SA-Mann. Aber saufen könnten die Kerle, und Pardon gäben sie wie die SA damals auch nicht. Der alte Mann hielt immer noch die Akte „Valentin“ in der Hand. Von Notiz zu Notiz wuchs seine Begeisterung. „Über vierhundert Meter lang, mehr als vierzig Meter hoch, siebeneinhalb Meter starke Decken, Mauern so dick wie ein kleines Haus breit ist.“ Er las die Überschrift in einer Zeitung aus den fünfziger Jahren: „Valentin ist ein Wunder! Ein achtes Weltwunder!“ 1959 hatte eine Zeitung geschrieben: „Der größte Bunker der Welt!“ Eine dritte hatte ihn mit einem „nichtvollendeten Bauwerk der Pharaonen“ verglichen. Die ehemaligen Marinesoldaten oben an der Küste hatten ihren alten Namen abgelegt und nannten ihren Verein „Valentin“. Hoffmann hatte dazu notiert: „An der Küste wird nicht feige gekuscht wie hier an Rhein und Ruhr.“ Tatsächlich trägt die Kaserne der Bundeswehr aus den steinernen Baracken, in denen früher die Arbeiter aus dem Konzentrationslager, aus dem Arbeitserziehungslager, aus dem Gefangenenlager und aus dem Lager der Deportierten gelebt hatten, den Namen „Lützow“. Sozialdemokraten hatten vorgeschlagen, sie „Bernhard-Henze-Kaserne“ zu nennen. Dazu hatte Hoffmann vermerkt: „Bernhard Henze - ein 17jähriger Klempnergeselle, der ins Arbeitserziehungslager eingewiesen worden war und später an der Front gefallen ist.“ 1985 kam der Gedanke auf, die Bundeswehr solle einen Streifen Land abgeben, da dort Gräber von Arbeitern des Werkes „Valentin“ vermutet wurden. Hoffmann kommentierte auch das: „Spinner! Sie haben sich verrechnet.“ Das Bundesverteidigungsministerium hatte erklärt, das Gelände werde für Ausbildungszwecke gebraucht. Heute heißt es offiziell „Marinematerialdepot Bunker Valentin“. Vor Vergnügen glucksend las er den Vorschlag nach, „Valentin“ zu zerkleinern, um aus all dem Schutt einen 241
Hügel entstehen zu lassen und auf dem einen Park mit Ausflugslokal und Freizeitvergnügen. Lachend schloss er den Aktenordner. Die Sache mit dem Totenschädel, der einen Arbeiter erschreckt haben sollte, die kannte er auswendig. Eine Zeitung veröffentlichte im Juni neunzehnhundertsiebenundfünfzig diese Meldung: „Als gestern am U-Boot-Bunker einer der dort zur Gewinnung von Bauschutt beschäftigten Arbeiter die Picke in die Erde stieß, prallte er entsetzt zurück. Aus dem Loch starrte ihm ein Totenschädel entgegen. Als er sich nach dem ersten Schrecken gefasst hatte, arbeitete er weiter und legte nach und nach ein menschliches Skelett frei.“ Neben dem Toten fand sich ein kaum noch erkennbarer Behälter mit einer Geldmünze aus der Reichsmarkzeit. Die Zeitung hatte damals gefragt: „Wer wird heute noch mit Sicherheit sagen können, wie der Mann umgekommen ist? Der Fund ist eine bittere Erinnerung an eine unselige Zeit.“ Fritz Hoffmann legte die Akte in den blauen Plastiksack. Als er „Valentin“ zuoberst verstaut hatte, sicherte er den Sack mit breiten braunen Klebestreifen.
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35 Ordnungsprinzipien „Alles hatte seine Ordnung“. Auf diesen ersten Satz des Aktenordners „Rechnungen“ war Fritz Hoffmann stolz. Auch auf die nächsten: „Die Akten sind gut geführt worden. Seine Ordnung hatte alles gehabt. Keiner Dienststelle kann eine Unkorrektheit nachgesagt werden. Die Vorgänge sind exakt notiert worden. Die Wachstuben waren gute Amtsstuben, in denen nichts nicht registriert worden ist. Nichts wurde dem Zufall überlassen.“ Eine Latrine wäre nicht etwa ein Donnerbalken zum Scheißen für Russenschweine im Freien gewesen, hatte der alte Mann geschrieben. Die zusammengefaltete Skizze zum Bau einer Latrine hatte Fritz Hoffmann in eine durchsichtige Zellophanmappe gesteckt. Das Abzeichen P für Pole hätte keiner mit einem P für Post verwechseln können, hatte er vermerkt. In einer Zellophanmappe schützte Hoffmann auch das Reichsgesetzblatt vom März 1940 vor dem Vergilben, in der eine Grafik die Maße des Abzeichens P regelte: Rechteck auf der Spitze stehend, siebzig Millimeter breit, fünf Millimeter starke Balken bilden das P und den Rand, das große P achtundzwanzig Millimeter hoch, der Bauch vom P-Bogen achtzehn Millimeter breit. Auf fünf folgenden Seiten Rechnungen darüber. Den Rechnungen folgten 33 Seiten mit Transportzahlen von einem Lager ins andere, von Lagern zu Firmen mit Anweisungen, Zuweisungen und Abgängen von Arbeitskräften an Firmen, mit Absagen, dass „im Augenblick eine Zuweisung nicht erfolgen kann, da die Unterkünfte noch nicht fertig sind“. Danach kamen 50 Seiten mit Transportplänen, Vereinbarungen, Durchführungsverordnungen, mit Bezugsfernschreiben, mit Eilvermerken, Geheimvermerken, 243
mit Ausmusterungsbögen, mit Verauslagungen von Kriegsgefangenentransportkosten, mit Ent- und Beladefristen, mit Tabellen von Arbeitseinsätzen und mit Nachweisen von Arbeitsleistungen, Verfügungen zur zweimaligen Verabfolgung warmen Essens, Wehrkreiskommandobefehlen („Veröffentlichungen in der Tagespresse sind nicht erwünscht“), mit Untersuchungsanweisungen über „ansteigende Todesziffern“ („die Kr. Gef. sehen gut und zufrieden aus und arbeiten willig und fleißig“), bis hin zu Flucht- und Erschießungsprotokollen: „Dr. C. sagte am 13. Oktober aus: Die Gefangenen ließen wir vor uns marschieren. Die Dunkelheit war sehr groß. Wir gingen mit Taschenlampenbeleuchtung. Nach einer kurzen Strecke machten die Gefangenen Anstalten, in der Dunkelheit zu fliehen, worauf SS-UStuf K. und ich sofort schossen und alle drei auch richtig trafen. Der Tod trat bei allen dreien nach kurzer Zeit ein.“ Die Rechnungen der Transportkosten der Leichen und die der Bestattung waren beigefügt. Zwischendurch notierte Hoffmann: „Kein Stabszahlmeister hat versagt. Die Rechnungen stimmten.“ „... haben Sie die Transportkosten des Eisenbahntransportes der russ. Krfg. zu tragen von 29 Stück zu je 6,90 RM, zusammen 200,10 Reichsmark.“ Fritz Hoffmann verrichtete seine Aufräumarbeit systematisch. Als Ruheständler hatte er Zeit. In seinem Keller störte ihn niemand. Keiner käme hinter das Geheimnis seiner Akten, dachte der alte Mann oft. Wären sie erst im Bauch des Sperrmüllwagens verschwunden, gäbe es auch keine Erinnerung, glaubte er. Dennoch sah er beim Einsacken immer wieder in Kartons und Ordner, las da und dort, als inspizierte er die Bestände für eine kurz bevorstehende sachgemäße Übergabe an eine andere Verwahrstelle, an ein anderes Archiv. Tatsächlich hatte er einmal mit dem Gedanken gespielt, seine Notizen und Akten 244
dem Museum zu übergeben, dort einem etwas jüngeren Mann, der sich mühte, Zusammenhänge aus wenigen Erinnerungsund Dokumentenbruchstücken zusammenzufügen. Doch das war noch ein kurzzeitiger Gedanke, den er vor allem deshalb nicht weiter verfolgte, weil er nicht sah, wie dies anonym geschehen konnte, geheim nannte er es. Hoffmann sah seine Arbeit auch als Fortsetzung des gesamten Systems. „Keiner wurde willkürlich zu irgendeiner Fabrik verschickt“, notierte er. Über allem habe ein großer Geist der Registratur geschwebt, dachte er schwärmerisch. Dann wandte er sich wieder Konkretem zu: „Auf Anordnung des Oberkommandos der Wehrmacht ist auf Wunsch der Reichsvereinigung Kohle für die im Bergbau eingesetzten russ. Krfg. ein Sondermannschaftslager für den Kohlebergbau einzurichten.“ Die Reichsvereinigung Kohle hatte gute Gründe dafür: Durch die Zusammenfassung aller im Ruhrbergbau eingesetzten Ausländer erwarteten die Kohlenbarone eine Steigerung der Förderung. Der Führer hatte es befohlen. Da war es wieder. Fritz Hoffmann besah sich das Dokument bewegt. Es war eine Kopie, sogar eine schlechte Kopie. Das störte den Mann nicht. Der Text, der Absender, die Stempel die waren für ihn entscheidend: „Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht. Führerhauptquartier, den 6. 1943.“ Eine Monatsangabe fehlte. Fritz Hoffmann stutzte darüber erneut. „Betr.: Abgabe von russischen Kriegsgefangenen und Ostarbeitern aus der Wehrmacht in den Kohlebergbau. Die zur Zeit besonders schwierige Arbeitseinsatzlage im Kohlebergbau zwingt zu besonderen Maßnahmen, wenn nicht die Belieferung der deutschen Rüstungsindustrie mit Kohle und Energie und anderen Vorprodukten gefährdet werden soll.“ Hoffmann war mit dem Ordner in der Hand aufgestanden. Stehend las er zum x-ten Male, was er auswendig kannte. 245
Zweimal war der Führerbefehl gestempelt. Am Ende stand das übliche Siegel des Führerhauptquartiers. Doch am Kopf prangte dick und breit und auffällig der Abdruck: „Geheime Kommandosache“. Lange starrte der Mann die Kopie an. Dann schloss er den Ordner, legte ihn auf die Werkbank, ohne ihn loszulassen. So sah er lange auf die restlichen Akten, die noch im Regal standen. Laut sagte er: „Die Dinger müssen weg!“ Bedächtig nahm er die Arbeit der systematischen Vernichtung seines Gedächtnisses wieder auf. Tote Russen, tote Italiener, tote Tschechen, tote Polen, tote Rumänen, tote Franzosen, tote Serben, tote Kroaten - der alte Mann warf alles Erinnern an sie in seine blauen Plastiksäcke. Es war, als wolle er etwas auslöschen, was nicht Gegenwart und Zukunft sein sollte. Auch die Notizen über Nationalsozialisten, auch die Akten und die Erinnerungen an sie ließ er so verschwinden, auch alte Nazis wurden zusammen mit anderem zu Brennmaterial für die Öfen im Kraftwerk am Kanal. Untermenschen und Obermenschen gemeinsam als Abfall. Schall und Rauch. Nachdem der alte Lagerführer auch den Führer zu den übrigen getan hatte, verrichtete er seine Arbeit ohne Emotionen. Nur einmal kam etwas wie Empörung in ihm auf. Doch als er den Ordner „Entschädigung“ aus dem Regal nahm, und ihn lange in der Hand hielt, sah er nicht hinein. Schon Vor Jahren hatten einige politische Gruppierungen Entschädigung für Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene verlangt. Einige große Firmen hatten von sich aus gezahlt. Die Forderungen werden nun, knapp 50 Jahre nach dem Krieg, erneut erhoben. Fritz Hoffmann öffnete nun doch den Ordner und las einige seiner Eintragungen: „Jetzt rechnen sie sogar die Renten auf. 125 Rubel für eine Alte in Moskau. Die hat bei Zander gearbeitet. Nun ist sie krank. Das Panzerwerk soll daran schuld 246
sein.“ Der alte Mann schlug den Ordner zu. Er stand auf und legte ihn in den Plastiksack. Wieder sagte er leise: „Weg mit Schaden!“ Von den wenigen Aktenstücken, die noch im Regal standen, nahm er das mit der Aufschrift „Nach 1945 in der SU“, las den Beginn seiner handschriftlichen Vermerke: „Dickbacken. Arbeiter aus der Sowjetunion, vor allem jene, die bei unseren Bauern gearbeitet haben, wurden in ihrer Heimat als Dickbacken beschimpft, weil sie besser genährt waren als die Russen zu Hause, denen Stalin nichts zu Fressen gegeben hat. Die Dickbacken hätten mit uns zusammengearbeitet, sagen die Kommunisten. Tausenden von ihnen wurden wegen Kollaborationsverdacht verhaftet, nach Sibirien in die Gulags geschickt, Tausende wurden erschossen. In der Heimat begann ihr Elend; bei uns ging es denen dagegen gut.“ Weg mit Schaden! dachte der alte Mann. So verschwand auch das im blauen Sack. Als alle Regale leergeräumt waren, durfte Frau Hoffmann in den Keller. Die beiden alten Leute fegten und wischten, bis alles sauber war. Später tünchte Hoffmanns Enkelsohn Wände und Decken weiß. „Sieht aus wie neu!“ Frau Hoffmann lachte. Am nächsten Tag ging Fritz Hoffmann nachmittags zum DZV. Er wollte sehen, ob der Spind, von dem geschrieben worden war, es sei der erste Strafspind, wirklich sein Strafspind ist. Über dem ehemaligen Gelände eines Sportplatzes, auf dem sich Firmenvertreter wie auf dem Sklavenmarkt Fremdarbeiter hatten aussuchen können, war eine Traglufthalle errichtet worden. Dort waren Dokumente aus der Zeit 1933 bis 1945 ausgestellt: „DZV - Dokumentationszelt der Vergangenheit“. Die Traglufthalle hatte das Unternehmen Zander gestiftet. Als Fritz Hoffmann das Zelt betrat, hätte er die Besucher an zwei Händen abzählen können. Es war Sonntag. Die wenigen 247
Besucher gingen leise von Vitrine zu Vitrine. Fritz Hoffmann fand den Spind in einer Nische, die von trapezförmig angeordneten Stellwänden gebildet wurde. Laut sagte der alte Mann: „So ein Quatsch!“ Der Wärter, etwa so alt wie Hoffmann, sah von der Fernsehzeitschrift auf: „Was meinen Sie?“ „Schon gut!“ Hoffmann winkte ab. Dann ging auch er langsam durch die Ausstellung. Es langweilte ihn. Nach einiger Zeit stand er wieder vor dem Spind. Der Wärter blätterte immer noch in der Zeitschrift. Eine billige Blechkiste, dachte Hoffmann. Zwei Kleiderschränke aus Metall, wie sie in jeder Fabrik stehen, aber kein Gefängnis, nicht sein Spind. Fritz Hoffmann zog die Schuhe aus und stieg in den offenstehenden Eisenschrank. Er konnte bequem in dem Ding stehen. Er hockte sich hin. Er konnte sich bequem darin bewegen. Der ehemalige Lagerführer stieg aus dem Spind und zog die Schuhe wieder an. Niemand hatte Notiz davon genommen, dass er in ein Museumsstück gestiegen war. Er hätte das Ding schwarz, weiß, rot anstreichen können, ohne dass es ein Mensch bemerkt hätte.
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Fotonachweis Abb. Seite 127, 128, 129, 130, 219: Zentralbild Berlin über Ruhrlandmuseum Essen, Archivsammlung Ernst Schmidt Abb. Seite 131 oben, 218: Foto: Willy van Heekern. Fotoarchiv Ruhrlandmuseum, Essen Abb. Seite 131 unten: Stadtbildstelle Herne Abb. Seite 132, 210 unten, 218, 219: Archivsammlung Ernst Schmidt, Ruhrlandmuseum Essen Abb. Seite 210, 211 oben, 212, 214: Karl Hüser, Reinhard Otto: Das Stammlager 326 (VI K) Senne 1941 - 1945. Sowjetische Kriegsgefangene als Opfer des Nationalsozialistischen Weltanschauungskrieges, Bielefeld 1992 Abb. Seite 213: Bergbau-Archiv beim Deutschen BergbauMuseum, Bochum Abb. Seite Dortmund
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oben:
Westfälisches
Abb. Seite 215 unten: Foto: Norbert Krüger Abb. Seite 216: Foto: Heinz Buhr
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Wirtschaftsarchiv
Literatur in Auswahl Brüggemann, Detlef: Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg am Beispiel des Stalag 326. (unveröffentlichte Staatsarbeit, Bielefeld 1986). Buchenwald, Mahn- und Gedenkstätte, Hg.: Buchenwald. Dokumente und Berichte. Berlin/Ost 1983. Diestelmeier, Heinrich: Versöhnung über den Gräben - Blumen für Stukenbrock. In: Detlef Garbe, Hg.: Die vergessenen KZ’s? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik. Bornheim-Merten 1983. S. 145-152 Gerhard, Dirk: Denkmal Stukenbrock-Senne. In: Druck und Papier, Jg. 120, Nr. 18 vom 6.9.1982. Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin/Bonn 1985. Derselbe: Geschichte der Ausländerbeschäftigung 1880-1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter. Berlin/Bonn 1986. Derselbe, Hg.: Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945. Essen 1991. Klönne, Arno: Die deutsche Russland- und Besatzungspolitik 1941 - 1945. In: Stimmen der Zeit. Bd. 158. April 1956, Heft 7. Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München 1977. 250
Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung Gedenkstätte Bergen-Belsen, Hg.: Sowjetische Kriegsgefangene 1941 - 1945. Leiden und Sterben in den Lagern Bergen-Belsen, Fallingbostel, Oerbke, Wietzendorf. Ausstellungskatalog. Hannover 1991. Peukert, Detlev/Reulecke, Jürgen, Hg.: Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus. Wuppertal 1981.
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Dieses Buch konnte nur mit der hilfreichen Unterstützung vieler Menschen entstehen. Ich danke allen. Einige, die mir Auskunft gegeben haben, erreicht mein Dank nicht mehr; sie sind in der Zeit, in der ich an diesem Buch gearbeitet habe, gestorben. Besondere Hilfe erfuhr ich durch Joseph Herten und Dr. Ernst Schmidt; sie gaben mir Einblick in ihre Forschungen, berieten mich fachlich bei der Arbeit. Eine große Stütze waren die Forschungen über „Fremdarbeiter“ von Dr. Ulrich Herbert. Die Materialien über den Bau von „Valentin“ verdanke ich Horst Temmen und der Edition von Barbara John und Helmut Roder „Der Bunker“. Elisabeth Rüther danke ich, dass sie die Mühe der Übertragungen vieler Tonbandaufzeichnungen in Maschinenschrift auf sich genommen hat. Das Eingangszitat von Anita Eckstaedt ist ihrem Buch „Nationalsozialismus in der zweiten Generation“ entnommen und das von Theodor W. Adorno stammt aus: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ in: „Erziehung zur Mündigkeit“; 1971. Einige Textstellen sind, teilweise verändert, aus dem Roman „Union der festen Hand“ von Erik Reger entlehnt. Thomas Rother im Frühjahr 1994
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