Marie Louise Fischer
Undine die
seltsame Hexe
Inhaltsangabe Undine wächst ohne das Wissen um ihre Herkunft als Pfl...
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Marie Louise Fischer
Undine die
seltsame Hexe
Inhaltsangabe Undine wächst ohne das Wissen um ihre Herkunft als Pflegetochter bei dem Leuchtturmwärter Carstens und seiner Frau auf. Diese schenken ihr all die Liebe und Zuneigung, die ein junges Mädchen braucht, um zu einer schönen und intelligenten Frau heranzuwachsen. Die Menschen in dem kleinen nordfriesischen Dorf halten sie allerdings aufgrund ihres fremdländischen Aus sehens - sie hat pechschwarze Haare und durchdringende dunkle Augen - für eine Hexe, die dem Dorf Unglück bringt. Unterstützt werden die Gerüchte von dem ›Hexenbanner‹ Schwenzen, der dem Mädchen unangenehm zusetzt. Undine findet dennoch Halt bei dem jungen Kurarzt Dr. Hagedorn und bei Frank Ostwald, dem Sohn eines Gutsverwalters. Beide versuchen Undines Un schuld an den seltsamen Vorfällen im Dorf zu beweisen. Schließlich ist es auch Ostwald, der Un dine die Hoffnung auf ein zufriedenes und friedliches Leben zurück gibt, indem er ihr die Liebe schenkt, die sie braucht, um der Wahrheit ins Auge zu sehen.
Genehmigte Sonderausgabe für Serges Medien GmbH, Köln
Copyright © 1998 by Oesch Verlag, Zürich
Printed in Germany
Alle Rechte vorbehalten
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
I
D
as Unwetter dauerte schon drei Tage. Unaufhörlich schlugen die gelbgrauen Wellen die Deiche hinauf. Vom Festland war nichts zu sehen. Rings um die Insel herrschte eine eigenartige Dämmerung, die Himmel, Erde und Meer nicht unterscheiden ließ. Der Sturm jagte Wolkenfetzen, riß an den niedrigen strohgedeckten Dächern des Fi scherdorfes. Drinnen in der Wirtsstube des ›Deichkruges‹ brannte ein Torffeuer. Der große holzgetäfelte Raum mit der tiefen Decke war warm erleuch tet. Wiebke Jans, die Wirtin, stand rund und prall hinter dem Schank tisch und bereitete dampfenden Teepunsch. Es hätte gemütlich hier drinnen sein können, wenn nicht der Sturm gewesen wäre, der schau erlich um das Haus heulte, an den Fensterläden zerrte, die alten Bal ken ächzen und stöhnen ließ. Die Burschen hockten mit mürrischen Gesichtern beieinander, wuß ten nichts Rechtes mit sich anzufangen. Ole Peters klapperte mit den Würfeln in der Tasche, versuchte seine Freunde zu einem Spiel zu er muntern; aber niemand zeigte Lust. »Tranfunzeln seid ihr, alle miteinander«, sagte er ärgerlich. »He, Frau Wirtin, noch eine Runde! Auf meine Rechnung – aber gib mehr Rum als Wasser in den Punsch, du weißt: Wasser ist nicht gesund für die Nieren.« Das Gelächter seiner Freunde klang schwach. Ole Peters drehte sich um und sah einen der beiden Männer an, die im Hintergrund des Raumes dicht beim Feuer saßen. »Wie ist es, Jako bus Schwenzen«, sagte er herausfordernd, »jetzt kannst du mal zeigen, ob du bist, was du vorgibst. Mach uns ein besseres Wetter, dann will ich auch an deine Kunst glauben.« Seine Freunde lachten, verstummten aber sofort, als Jakobus Schwen 1
zen seinen stechenden Blick auf sie richtete. »Du redest, wie du's ver stehst«, sagte er langsam, »aber ich versichere dir: Schon mancher hat Jakobus Schwenzen verspottet und ist vierundzwanzig Stunden spä ter angekrochen gekommen, ihn auf den Knien um seine Hilfe zu bit ten.« Ole Peters wollte eine trotzige Antwort geben, aber Wiebke Jans, die die Gläser mit Punsch auf den Tisch setzte, ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Sei still«, sagte sie, »versündige dich nicht …« Frank Ostwald, der junge Mann neben Jakobus Schwenzen, warf eine Geldmünze auf den Tisch. »Zahlen!« Auf seiner Stirn zeigte sich eine steile Falte. Jakobus Schwenzen beugte sich vor. »Sie wollen doch nicht im Ernst – bei dem Wetter?« »Mein Vater erwartet mich.« Die Wirtin kam näher, strich die Münze ein. »Versucht's nur«, sagte sie, »aber Ihr werdet es nicht schaffen. Beide Fähren sind seit drei Ta gen eingestellt – bis zum Harmshof kommt Ihr nie.« »Ich werde mir ein Boot leihen.« Die Wirtin warf einen bewundernden Blick auf seine hohe Gestalt, die breiten, kräftigen Schultern. »Euch trau' ich es zu«, sagte sie, »Euch und sonst niemand. Aber«, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu, »ob es Antje Nyhuus recht ist, wenn Ihr das Leben wegen nichts und wieder nichts aufs Spiel setzt?« »Seid vernünftig, Herr«, sagte Jakobus Schwenzen, »trinkt lieber noch einen mit mir. Es ist besser, bei diesem Wetter unterm Dach zu bleiben. Ich weiß wohl, Ihr glaubt nicht an irgendwelchen Spuk. Aber ich sage Euch, in einer Nacht wie dieser, wo die Elemente sich gegen die Ordnung aufbäumen, in die sie gebannt sind, da gehen auch böse Geister um. Sie liegen auf der Lauer und wollen ihr Opfer haben. Hört nur, wie sie wimmern und ächzen, die verfluchten …« Er hob die Hand, legte den Kopf mit halb geschlossenen Augen in den Nacken. Unwillkürlich lauschten alle – die jungen Burschen mit weit aufge rissenen Augen, die Wirtin schaudernd und Frank Ostwald mit ärger 2
licher Ungeduld; aber auch er konnte sich der Faszination, die von den Worten und Gebärden dieses seltsamen Mannes ausging, nicht ganz entziehen. In diesem Augenblick fegte eine besonders starke Sturmbö heran. Das alte Haus, das Hunderte von Unwettern und Springfluten über standen hatte, schien in seinen Grundfesten zu beben. Dann flog die Tür zur Wirtsstube mit so gewaltigem Schwung auf, daß sie fast aus den Angeln gerissen wurde. Ein Strom eiskalter Luft drang in den Raum. »Gott sei uns gnädig!« Die sonst so beherzte Wirtin konnte es nur noch stammeln. Die Burschen waren aufgesprungen. Jakobus Schwenzen machte eine beschwörende Geste zur Tür hin. Als ob sich der Sturm durch diese gewaltige Anstrengung verausgabt hätte, wurde es plötzlich still – un heimlich still. Nichts war zu hören als das Klatschen der Wellen gegen den Deich. In dieser Sekunde hatte jeder das Gefühl, daß etwas Ungeahntes ge schehen müßte. Frank Ostwald hatte sich als erster gefaßt. Er ging mit großen Schrit ten zur Tür, wollte sie schließen – da taumelte ein junges Mädchen herein, wankte zum Schanktisch, brach fast zusammen. Die jungen Burschen wichen zurück. Wiebke Jans preßte erschrok ken die Hand vor den Mund. »Das hätte ich mir denken können!« murmelte Jakobus Schwenzen. Frank Ostwald drückte die Tür ins Schloß. Er stemmte sich mit der Schulter dagegen, bis der Riegel einschnappte. »Undine Carstens«, sagte die Wirtin, »was suchst du hier? In dieser Nacht?« »Mein Vater«, stammelte das junge Mädchen mit zitternden Lippen, »es geht ihm sehr schlecht – einen Arzt …« Die Stille draußen löste sich, der Sturm setzte in gewohnter Stärke ein. Die Burschen began nen, als ob ein Bann gebrochen wäre, albern zu lachen. »Du hast uns schön erschreckt, Jakobus Schwenzen«, rief Ole Peters, der am lautesten lachte. »Spuk und Geisterkram – und das alles we 3
gen einer kleinen Dirn. Mit so einer lütten Hexe werden wir noch al lemal fertig.« »Der Doktor ist selber krank, weißt du das nicht?« sagte die Wirtin zu dem Mädchen. »Er wird deinem Pflegevater nicht helfen können.« »Aber er muß!« rief Undine verzweifelt und warf ihr einen flammen den Blick zu. »Lassen Sie mich mit ihm telefonieren. Er muß kommen.« Die Wirtin zuckte die Schultern, drehte die Scheibe des Telefons, das hinter dem Schanktisch stand, stellte die Verbindung zu dem al ten Doktor her und gab Undine den Hörer. »Hier hast du ihn, aber du wirst schon sehen …« Undine nahm den Hörer, gab Wiebke Jans ein Geldstück, begann aufgeregt zu sprechen. Die Wirtin ließ das Geld in die Schublade des Schanktischs ver schwinden. »Sehr unvorsichtig!« raunte Jakobus Schwenzen kopfschüttelnd. »Wiebke Jans hätte besser daran getan, sich da nicht einzumischen. Wer von einer Hexe was annimmt, gerät in ihre Gewalt.« Frank Ostwald starrte den anderen an. »Sie wollen doch nicht be haupten, dieses hübsche junge Mädchen wäre eine Hexe?« »Sie sind fremd hier, Herr, deshalb wissen Sie's vielleicht nicht. Aber glauben Sie mir, es ist, wie ich es sage. Sie ist eine Hexe, eine wahre Teufelsbraut. Fragen Sie, wen Sie wollen. Fragen Sie das Mädchen sel ber. Sie leugnet es ja gar nicht.« Frank Ostwald holte tief Atem. »Das ist wirklich der verdammteste Unsinn, den ich je gehört habe«, sagte er schroff. Undine hatte aufgelegt. »Danke, Wiebke Jans«, sagte sie. »Na, hat es geklappt?« fragte die Wirtin gutmütig. »Er wird den Badearzt verständigen.« »Wenn der kommt.« »Er muß«, sagte Undine und warf ihr langes schwarzes Haar mit ei nem Ruck in den Nacken. Sie war sehr schön, wie sie so dastand, rank und schlank und hochaufgerichtet, die roten, geschwungenen Lippen leicht geöffnet, die großen schwarzen Augen voller Glut. Die Burschen standen dicht beieinander und starrten sie an. Jeden gelüstete es, das Mädchen in die Arme zu nehmen. 4
Ole Peters, der kühnste von ihnen, hatte ein Geldstück in die Mu sikbox geworfen. Der Automat dudelte los. Ein wilder Cha-Cha-Cha peitschte den Burschen Mut ein. Undine wollte zur Tür. John Manners, Ole Peters' bester Freund, vertrat ihr den Weg. »Na, wie wär's, schöne Hexe?« sagte er. »Ein Tänzchen gefällig?« Er faßte sie bei den Handgelenken. Sie versuchte sich loszureißen, aber der Griff seiner Hände war ei sern. »Nicht doch, nicht doch«, spottete er, »wir können's wie der Teufel, du wirst sehen!« Er drehte sie ein paarmal und schleuderte sie dann mit heftigem Schwung einem seiner Kumpane zu, die sich in weitem Kreis um ihn und das Mädchen gestellt hatten. Undine wäre fast gefallen, aber einer riß sie hoch und schleuderte sie fort – direkt in die Arme von Ole Peters. Der preßte sie an sich, woll te seine Lippen auf ihren atemlos geöffneten Mund drücken, aber sie wandte blitzschnell den Kopf zur Seite, und er traf nur ihre Wange. Sie versuchte ihn von sich zu stoßen, doch er dachte nicht daran, nachzu geben, sondern packte sie noch fester. »Laß das, Ole Peters! Ausgerechnet jetzt, wo ihr Vater krank ist!« rief die Wirtin ärgerlich, aber nicht gerade mit großem Nachdruck. Undines dunkle Augen schweiften hilfesuchend durch den Raum, blieben an Frank Ostwalds ruhigem Blick haften. Ohne sich über sei ne Beweggründe Rechenschaft zu geben, stand er auf und ging auf die Kämpfenden zu. »He, laß sie los, du!« rief er energisch. Unwillkürlich lockerte Ole Peters seinen Griff und wandte sich Ost wald zu. »Kümmere dich um deinen eigenen Mist«, sagte er, »was …« Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Undine hatte die Sekunde der Unaufmerksamkeit genützt, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Jetzt schlug sie ihm mit aller Kraft ins Gesicht. »Du wirst noch an mich denken!« schrie sie außer sich vor Zorn. Dann bückte sie sich geschmeidig, hob ihr Schultertuch auf und hatte die Tür schon aufgerissen, ehe die anderen sich von ihrer Über raschung erholt hatten. Die Platte war zu Ende, die Musik verstummte. 5
Ole Peters rieb sich verdutzt die schmerzende Wange, seine Freunde lachten schadenfroh. Er wurde rot vor Wut, holte aus und traf seinen Freund John Manners mit der Faust aufs Ohr. Frank Ostwald riß ihn am Kragen zurück. »Genug. Du bist ja be trunken.« Ole Peters fuhr herum, wollte auf Frank Ostwald losgehen, aber der war zehn Jahre älter als er, größer und stärker. Trotz seines Zorns be griff er, daß es nicht klug war, sich mit diesem Riesen anzulegen. »Mach dich nicht unglücklich, Ole Peters«, sagte die Wirtin, »Herr Ostwald hat ganz recht. Du hast zuviel getrunken. Ich will keinen Är ger wegen euch Kroppzeug haben. Macht, daß ihr nach Hause kommt. Von mir kriegt ihr jedenfalls keinen Tropfen mehr.« »Sei friedlich, Ole«, stimmte ihr John Manners zu, dessen Ohr wie Feuer brannte. »Was hat es für einen Zweck, wenn wir uns in die Haa re geraten – doch nicht wegen einer hergelaufenen Dirn. Komm, gehen wir. Hier ist ja heute abend doch nichts los.« Die Burschen schoben sich leicht schwankend, die Hände in den Ho sentaschen, zur Tür. Jakobus Schwenzen war nach vorn gekommen. »Warte, Ole Peters«, rief er, »warte, bis ich dir das Mittel gebe! Ich würde an deiner Stelle nicht nach draußen gehen, ehe der Fluch der Hexe gebrochen ist.« »Dummes Zeug«, knurrte Ole Peters, ohne sich umzusehen, und ging stur zur Tür. »Also wirklich, Ole Peters«, sagte die Wirtin. »Wie kann man nur so sein. Sei doch froh, daß Herr Schwenzen gerade hier ist. Du hast selber gehört, wie sie dir geflucht hat. ›Du wirst an mich denken‹, hat sie ge sagt, und das bedeutet etwas.« Die anderen stießen Ole Peters an, wollten ihn bewegen, zurückzu gehen. Aber der dachte nicht daran. Er war zu sehr in seiner männli chen Eitelkeit verletzt, fühlte sich lächerlich gemacht. Um keinen Preis der Welt hätte er zugegeben, daß er sich fürchtete. Er stieß die Tür auf und trat ins Freie. Jakobus Schwenzen hob die Hände, ließ sie aber resigniert wieder sinken. »Ich denke, ich gehe ihm doch lieber nach, daß kein Unglück 6
geschieht«, sagte er und tauschte einen Blick des Einverständnisses mit der Wirtin. »Nichts für ungut, mein Herr.« Er nahm Hut und Wetter mantel, verließ die Wirtsstube und schloß die Tür hinter sich. Sie hörten das Geheul der anspringenden Motoren – einmal, zwei mal, dreimal –, dann wurde es leiser, entfernte sich, war bald darauf vom Toben des Unwetters verschluckt. »Das ist eine Nacht«, sagte die Wirtin zu Frank Ostwald und zog schaudernd die Schultern zusammen. »Gnade Gott allen, die heute draußen sein müssen.« Undine rannte, den Kopf geduckt, das Schultertuch fest über der Brust zusammengezogen, keuchend den Deich entlang. Ihr Ziel war das alte Leuchtfeuergebäude, in dem ihr Pflegevater Tede Carstens leb te. Zu normalen Zeiten konnte man das einsame Haus vom Fischer dorf aus sehen, aber jetzt war vor und hinter ihr nichts als das rasen de Unwetter. Nur hin und wieder gab eine treibende Wolkenschicht den Mond frei, gleich darauf wurde es wieder pechschwarz. Heulende Böen droh ten das Mädchen vom Deich herunterzufegen; sie schluchzte laut. In das Brüllen der Wellen mischte sich das Krächzen der Krähen und Möwen, die sich vom Sturm ins Land hinein treiben ließen. Der Mann auf dem Motorrad hatte Undine schon fast erreicht, als sie den Lärm des Motors vom Heulen des Windes unterscheiden konnte. Sie glaubte entfliehen zu können und schritt rascher voran. Aber das Motorgeräusch kam näher und näher, und sie begriff, daß eine Flucht aussichtslos war. Sie blieb stehen, sah den Scheinwerfer dicht hinter sich, wich unwill kürlich zur Seite und merkte zu spät, daß sie in eine Falle geraten war; sie stand zwischen dem Motorrad und dem Meer. Sie zitterte am ganzen Körper. Gischt spritzte gegen ihre nackten Beine, durchnäßte ihren Rücken. Es war eiskalt. Ihre Finger klammer ten sich krampfhaft um die Stablampe, die sie aus der Tasche ihres Rockes gezogen hatte. »Sitz auf!« sagte der Mann auf dem Motorrad. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, weil der Scheinwerfer sie blende 7
te, aber sie erkannte an der Stimme, daß es nicht Frank Ostwald war, der sie verteidigt, und auch nicht Ole Peters, der sie belästigt hatte. Unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen, schüttelte sie stumm den Kopf. »Na, komm schon!« sagte der Fremde mit erhobener Stimme, um das Gebrüll von Wogen und Sturm zu über tönen. »Brauchst keine Angst zu haben. Ich meine es gut mit dir. Sitz auf, und ich bring' dich auf dem schnellsten Weg nach Hause.« Die Stimme des Fremden hatte gutmütig geklungen, um Vertrauen werbend. Dennoch erkannte sie instinktiv, daß er ein Feind war. Sie nahm allen Mut zusammen. »Nein«, rief sie, »nein!« »Na, was ist denn? Du wirst mich doch nicht fürchten?« Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie zuckte zurück, wäre beinahe auf dem lehmigen Grund ausgeglit ten und den Deich hinuntergestürzt. »Laß mich in Ruhe!« schrie sie. »Fahr weiter – laß mich in Frieden!« »Sieh einmal an!« Die Stimme des Fremden hatte plötzlich ihren gutmütigen Klang verloren, war höhnisch und böse. »Die Hexe fürch tet sich vor ihrem Meister.« Jetzt wußte Undine, wer der Mann war, der sie verfolgte: Jakobus Schwenzen, den man den ›Hexenbanner‹ nannte! Mit dieser Erkennt nis kam seltsamerweise ihr Selbstvertrauen zurück. Jetzt, da sie die Absicht des anderen zu ahnen begann, schien er ihr nicht mehr so ge fährlich. »Laß mich vorbei, Jakobus Schwenzen«, sagte sie und hatte ihre Stim me fast wieder in der Gewalt, »ich muß zu meinem Vater. Du weißt, er ist sehr krank. Willst du seinen Tod auf dein Gewissen laden?« »Ich muß mit dir sprechen, Undine«, drängte Jakobus Schwenzen, »hier, wo uns niemand hört und sieht.« »Ein andermal!« »Nein. Hier und jetzt. Ich brauche dich, verstehst du? Ich brauche dich, weil du eine Hexe bist.« »Nein!« schrie sie gequält. Der Sturm riß ihr das Wort aus dem Mund. 8
»Du weißt es selber, es hat gar keinen Zweck, wenn du dich verstellst. Aber mir bist du gerade recht, so wie du bist. Ich möchte dir einen Vor schlag machen. Hör mich an: Du und ich, wir beide sollten zusam menarbeiten. Das würde ein Geschäft! Natürlich laß ich dich mitver dienen. Es soll dein Schaden nicht sein. Sieh dich doch nur einmal im Spiegel an. Ein Mädchen wie du! Was könntest du aus dir machen mit ein bißchen Geld.« Er hatte den Motor abgestellt, rutschte vom Sattel und stand jetzt dicht bei ihr. Der Scheinwerfer war erloschen, es war dunkel um sie. »Schöne Kleider«, fuhr er fort, »Schuhe mit so hohen Absätzen, Pel ze, Schmuck, seidene Strümpfe. Wenn du schon eine Hexe bist, warum profitierst du nicht von deinen Künsten? Warum läßt du dich von den Dummköpfen verspotten? Zeig ihnen, wer du bist. Wenn wir zusam menarbeiten, sind sie verloren. Wir werden alles haben – Reichtum, Macht. Du kannst dich rächen! Hast du dir das nicht oft gewünscht: Rache?« Machten seine Worte Eindruck? Kamen sie Undines geheimen Ge danken entgegen? Dem Mann schien es so, als ob ihr Widerstand er lahmte. Er stieß nach: »Du brauchst dir nicht den Kopf darüber zu zer brechen, wie wir es machen. Das erkläre ich dir schon, wenn die Zeit gekommen ist. Du brauchst nur ja zu sagen. Ich weiß, du wirst es tun. Was ist denn schon dabei? Es ist dein gutes Recht. Haben sie dich nicht genug gequält? Von jetzt an wirst du sie an der Nase herumführen, jetzt wirst du endlich einmal obenauf sein.« Undine sagte weder ja noch nein. »Mein Vater«, stieß sie hervor, »er wartet auf mich. Ich muß …« »Laß ihn warten! Was kümmert er dich? Ein alter Mann. Du weißt genau, er ist nicht dein Vater, er ist nicht einmal mit dir verwandt …« Jakobus Schwenzen hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da brach er ab, denn er spürte, daß er einen schweren Fehler begangen hatte. Aber es war schon zu spät. »Geh!« schrie sie und stieß ihn heftig mit der Faust vor die Brust. »Laß mich gehen – du!« Sie wollte an ihm vorbei, aber er ließ sein Motorrad fallen, packte zu 9
und hielt sie mit beiden Armen fest. Sie warf den Kopf zurück, um sich zu befreien. Aber er umklammerte sie um so fester. Sie rangen miteinander. Er fühlte ihre glatte Haut unter seinen Hän den. Ihr junger Körper wand sich unter seinem Griff. Warmer Atem streifte sein Gesicht. Er glaubte ihr Herz schlagen zu hören. Da stieg ihm das Blut zu Kopf. Leidenschaft packte ihn, sie warf seine eiskalten Berechnungen über den Haufen. »Du«, stöhnte er, »du Hexe …« Er zwang sie in die Knie, warf sie zu Boden. Sie schrie wild wie ein gepeinigtes Tier. Aber ihr Schrei ging un ter im Lärm der Sturmnacht. Ihre Abwehr, die nicht einen Atemzug lang erlahmte, steigerte nur noch seine Zudringlichkeit. Er preßte ihre Schultern gegen den Boden. Da ertastete ihre Hand etwas Metallisches. Es war die Stablampe, die ihr bei Beginn des Kampfes entfallen war. Sie hatte eine Waffe. Sie entspannte sich, machte sich schlaff in seinen Armen. Und als er glaubte, ihren Widerstand gebrochen zu haben, da riß sie die Hand hoch und schlug die Stablampe mit aller Kraft auf seinen Schädel. Es gab ein hartes, häßliches Geräusch. Er stöhnte dumpf und ließ von ihr ab. Sie sprang auf die Füße und rannte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. »Vater«, rief sie schluchzend, »Vater …!«
Die Wirtin Wiebke Jans lauschte auf das Toben des Sturms. »Das Wet ter wird heute nacht umschlagen«, sagte sie, »ich spüre es in meinen Knochen. Morgen früh ist es ganz klar.« »Hoffen wir's«, sagte Frank Ostwald gelassen, »es wäre auch lang sam Zeit. Seit drei Tagen bin ich nun schon vom Harmshof fort. Mein Vater wird sich Gedanken machen.« Er war nun doch als ein ziger Gast geblieben und hatte sich ein Buch aus seinem Zimmer ge holt. Wiebke Jans kam näher, beugte sich über seine Schultern. »Daß Ihr das alles in Eurem Kopf behalten könnt«, sagte sie, als sie die physi 10
kalischen Formeln und Zeichnungen sah, »so ein Kram. Für was soll denn das gut sein?« »Wenn ich es schon im Kopf hätte, brauchte ich es nicht mehr zu le sen«, sagte er mit einem Lächeln, »aber lernen muß ich es wohl, sonst lassen mich meine Professoren durch die Prüfung fallen. Das wäre schlecht.« »Ich an Eurer Stelle«, sagte die Wirtin, »ich würde mir nicht den Kopf heiß machen lassen. Ich würde möglichst bald die Antje Nyhu us heiraten und …« »Soweit ist es noch nicht«, unterbrach er sie, »und welche Achtung sollte ein Mädchen vor einem Mann haben, der sich auf ihren Hof setzt und es sich gutgehen läßt? Vielleicht mögen andere anders den ken, aber unsere Art ist das nicht.« »Man sagt …«, Wiebke Jans beobachtete den jungen Mann wohlge fällig, »Ihr hättet oben in Ostpreußen eigenen Grund und Boden ge habt, und wenn ich Euch so ansehe, dann möchte ich es glauben.« »Das ist vorbei!« sagte Frank Ostwald. »Mein Vater kommt wohl noch manchmal ins Sinnieren, wenn er daran denkt, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern – außer an die Pferde, ja, an die schö nen wilden Pferde, aber an mehr nicht. Nein, es hat keinen Zweck, in der Vergangenheit herumzuwühlen. Wir leben hier und jetzt, und da mit müssen wir uns abfinden.« Er beugte seinen Kopf wieder über das Lehrbuch, um der Wirtin zu zeigen, daß für ihn das Gespräch beendet sei. Aber Wiebke Jans war nicht so leicht abzuschütteln. »Und der Harmshof?« bohrte sie weiter. »Glaubt Ihr nicht, daß Ihr den einmal übernehmen könnt? Die Bauers leute sind doch schon alt, und seit ihnen der einzige Sohn davongelau fen ist … Oder warten die Alten immer noch auf ihn?« Frank Ostwald zuckte die Achseln. »Wer will wissen, was in so al ten Leuten vor sich geht. Eines steht aber fest: Mein Vater und ich, der ich auf dem Harmshof aufgewachsen bin, wir sind für den Bauern und seine Frau immer noch Fremde. Obwohl mein Vater seit Kriegsende den Hof für sie verwaltet, obwohl sie nie unfreundlich zu uns sind. Als Fremde sind wir gekommen, und Fremde bleiben wir wohl auch – bis 11
wir sterben. Da ist es gut«, er klopfte auf sein Buch, »wenn man sich sein eigenes Lebensziel steckt und sich nicht von allerlei Hoffnungen und Berechnungen verwirren läßt.« Der Sturm heulte mit neuer Kraft um das Haus im Deichwinkel. Die Wirtin schauderte. »Grad' so eine Nacht war es, als mein Uwe ertrank, mein Uwe und Peer Peters, Ole Peters' Vater. Anno dreiundvierzig war es, und eine Nacht wie heute. Damals«, sagte sie und rieb sich die Hän de nahe beim Feuer, »damals ist auch Undine zu uns gekommen, die Hexe, wie sie genannt wird …« Er hob den Kopf. »Ach«, sagte er, »Sie können sich noch daran erin nern?« »Als wenn ich es je vergessen könnte! So eine Nacht, und alle saßen sie hier beieinander im ›Deichkrug‹ und tranken und ahnten nichts Böses. Bis die Tür aufgerissen wurde und Tede Carstens, der Leucht turmwärter, hereinkam. Damals wurde das alte Leuchtfeuer noch be nutzt. Tede Carstens sagte, ein Schiff hätte ein Rettungsboot ausge setzt, und das käme geradewegs auf die Insel zu.« Wiebke Jans mach te eine Kunstpause. »In solch einer Nacht?« fragte er. »Ein Rettungsboot? Ja, hatte es denn Schiffbruch gegeben?« Die Wirtin steckte sich eine Nadel fester in ihr üppiges blondes Haar. »Ja, wer das wüßte«, sagte sie, »darüber ist später noch viel gesprochen worden. Die einen haben gesagt, das Schiff wäre ein Schmugglerboot gewesen, und andere wieder haben es für einen Dänen gehalten, der sich verirrt hatte. Niemand hat es je erfahren. Denn die Menschen in dem Rettungsboot …« Sie senkte ihre Stimme zu einem geheimnisvol len Flüstern. »Sie sind nicht an die Küste gekommen. Keiner von ih nen. Ertrunken sind sie alle. Und mein Uwe und Peer Peters dazu – weil die Männer nämlich die Boote losgemacht hatten, um denen da draußen zu helfen, und dabei ist's passiert. Und jetzt wißt Ihr auch, warum die Undine eine Hexe ist. Sagt selber, wie könnte es sonst mög lich sein, daß so ein winziges Ding heil an Land kommt, während alle, die bei ihr waren, und zwei dazu, die helfen wollten, ertrunken sind?« »Ihr habt sie in jener Nacht gefunden?« 12
»Ja. Tede Carstens hat sie aus dem Wasser gefischt. Ein winziges Ding soll sie damals gewesen sein, und in einer Schwimmweste soll sie ge steckt haben. Aber es ist niemand dabeigewesen. Tede Carstens hat sie ganz allein an Land gezogen. Er und seine Frau haben sie mit zu sich auf den Leuchtturm genommen und keiner Menschenseele ein Wort davon gesagt. Versteht Ihr das?« »Nein.« »Ja, damals wart Ihr noch zu klein, das habt Ihr nicht richtig miter lebt. Aber Tede Carstens sagt, er hat Angst um das Kind gehabt, weil es so fremdartig aussah mit seinen schwarzen Funkelaugen und sei nen schwarzen Locken. Anders als die Kinder hier – eben wie kein Christenmensch aussieht, und das war damals gefährlich. Gemeldet hat Tede Carstens es erst, als der Krieg aus war, und sie haben Nach forschungen angestellt nach den Eltern. Aber alles vergeblich. Und so ist sie denn im Leuchtturmhaus geblieben, und den seltsamen Namen hat sie auch behalten, den ihr Tede Carstens gegeben hat: Undine! Car stens hat eben selber gemerkt, daß es anders mit dem Kind war, als es hätte sein sollen.« Frank Ostwald klappte sein Buch zu und sah die Wirtin mit einem Lächeln in den Augenwinkeln an. »Nun, das war eine interessante Ge schichte«, sagte er, »aber überzeugend war sie nicht. Jedenfalls, was die Hexennatur der Undine betrifft. Denn daß die anderen ertrunken sind in jener Nacht, das kann man doch wohl nicht ihr anrechnen. Und was ihre schwarzen Locken und schwarzen Funkelaugen betrifft – nun, Ihr wißt selber, daß sie auf einem Schiff gewesen ist, das sehr wahrschein lich von weit her kam.« »Ihr wollt mich nicht verstehen«, sagte die Wirtin gekränkt. »Doch. Aber wenn Ihr keine besseren Beweise habt …« »Die habe ich wohl. Aber gerade Euch möchte ich sie nicht erzählen. Ihr lacht mich nachher nur aus.« »Das kommt drauf an, Wiebke Jans.« Frank Ostwald nahm den letz ten Schluck aus seinem Punschglas. »Setzen Sie sich zu mir und erzäh len Sie. Wenn Sie uns beiden vorher noch einen heißen Punsch berei ten möchten, könnte es gewiß nicht schaden.« 13
Während die Wirtin sein Glas nahm und sich am Schanktisch zu schaffen machte, betrachtete er sie aufmerksam aus seinen kühlen grauen Augen. »Mich wundert nur eines«, sagte er, »Sie sprechen schlecht über das Mädchen und waren vorhin doch ganz freundlich zu ihr.« »Legt Ihr Euch mit Hexen an, wenn Ihr mögt«, antwortete die Wir tin achselzuckend, »und dann – mir hat sie ja nie was getan, außer daß sie mir meinen Uwe genommen hat.« Sie stellte die dampfenden Gläser auf den Tisch, setzte sich und sagte nachdenklich: »Wenn sie auch eine Hexe ist, so tut sie mir leid, ich weiß selber nicht, warum. Aber immer, wenn ich sie sehe, packt mich ein großes Erbarmen.« »Sie sind eine gute Frau, Wiebke Jans«, sagte Frank Ostwald ernst haft. »Nun, vielleicht kommt es daher, daß der Herrgott mir selber keine Kinder gelassen hat, deshalb kann ich verstehen, wie es für Tede Car stens' Frau war, als er ihr das Hexenkind brachte. Völlig außer sich war sie vor Freude und Glück und hat es lieb gehabt bis zu ihrem Tode und hat sich ihre Liebe von niemand ausreden lassen. Sie war eine gute Freundin von mir, Tina Carstens, und so hat sie mich gelehrt, ihr He xenkind mit ihren eigenen Augen zu sehen. Mutteraugen, wenn Ihr versteht, was ich meine.« »Doch. Das verstehe ich gut. Und wie hat das Mädchen seiner Pflege mutter die Liebe vergolten?« Die Wirtin schwieg einen Atemzug lang, dann sagte sie: »Alles, was recht ist – ein gutes Kind ist sie immer gewesen, ihren leiblichen El tern gegenüber hätte sie nicht anhänglicher sein können. Und trotz dem …« Sie beugte sich vor und senkte unwillkürlich die Stimme. »Sie war etwa zwölf Jahre alt – wann sie wirklich geboren ist, hat ja nie ein Mensch erfahren –, als Tina Carstens ins Krankenhaus aufs Fest land kam. Krebs. Es gab keine Hoffnung. Dem Kind hatte natürlich niemand etwas davon gesagt, sondern man hat sie belogen, wie man es Kindern gegenüber tut: ›Mutter kommt bald wieder‹, und was der gleichen Reden mehr sind. Hier bei mir im ›Deichkrug‹ war es, als sie plötzlich die Totenglocke zu hören glaubte. Ganz weiß wurde ihr klei 14
nes Gesicht und die Augen riesengroß, direkt zum Fürchten. ›Mutter ist tot‹, sagte sie, sonst nichts, und dann war sie auch schon umgefal len. Ich habe auf die Uhr gesehen. Dreizehn Minuten nach elf war es, auf die Sekunde. Und im gleichen Augenblick ist Tina Carstens tat sächlich gestorben, weit weg von hier. Auf dem Festland.« Die Wirtin sah fast triumphierend aus, als sie sagte: »Was sagt Ihr nun?« »Gedankenübertragung. Läßt sich ganz natürlich erklären.« Die Wirtin stemmte die Ellbogen auf den Tisch und sah Frank Ost wald herausfordernd an. »Jetzt hört mich einmal an!« sagte sie zornig. »Ihr mögt ein kluger Herr sein, habt in der Stadt studiert, wißt sicher mehr als wir armen Leute hier, aber von Hexen versteht Ihr gar nichts. Ihr macht es Euch sehr leicht, sagt einfach: ›Das gibt es nicht!‹ Und wenn man Euch etwas unter die Nase reibt, das Ihr selber nicht erklä ren könnt, dann sagt Ihr: ›Zufall‹. Aber damit schafft Ihr nichts aus der Welt. Ja, lacht nur, lacht mich nur aus. Aber wenn Ihr in Ole Peters' Haut stecktet, dann würde Euch das Lachen schon vergehen!« Die Burschen waren, nachdem sie das Wirtshaus verlassen hatten, gemächlich ins Dorf zurückgefahren. Das Land hinter dem Deich lag einigermaßen geschützt gegen die Unbill des Wetters, aber dennoch war es auch hier keine gemütliche Nacht. Regenstöße fuhren den Bur schen ins Gesicht, der eiskalte Wind riß an ihren Lederjacken, das dumpfe Donnern des Meeres war deutlich zu hören. Als sie die große Esche fast erreicht hatten, riß Ole Peters seine rechte Hand hoch und gab mit der Leuchtgaspistole – seiner neuesten Errungenschaft – ein Signal in die Luft, worauf seine Freunde ihre Motorräder abbremsten und langsam neben ihm zum Stillstand brachten. »Was machen wir jetzt?« fragte er unternehmungslustig, als sie alle beisammen waren; er wollte die Schlappe, die er im ›Deichkrug‹ erlit ten hatte, so schnell wie möglich wettmachen. Aber er fand bei den anderen kein Echo. »Ich bin müde – ich geh' schlafen«, sagte einer nach dem anderen. Manche hielten sogar die Hand vor den Mund und gähnten herzhaft. Ole Peters wurde weiß vor Zorn. »Ihr Feiglinge«, sagte er wütend, »habt ihr es mit der Angst bekommen?« 15
»Wir sind bloß müde«, sagten sie, und: »Heute ist doch nichts los!« und: »Morgen geht's früh 'raus!« Sie sahen zur Seite, als sie ihm gute Nacht wünschten, wagten aber doch nicht, sich ohne seine Zustim mung davonzumachen, denn er galt gewissermaßen als ihr Anfüh rer. »Sei vernünftig, Ole«, sagte John Manners, »wir werden bis auf die Haut naß, wenn wir länger hier herumstehen. Wenn du unbedingt noch was unternehmen willst, dann komm zu mir. Wir spielen eine Partie Karten.« Ole Peters warf das lange blonde Haar in den Nacken. »Wenn auch du dich fürchtest, dann mache ich es eben allein.« Er riß sein Fahrzeug herum und ließ den Motor anspringen. »Was, Ole, was willst du tun?« John Manners versuchte ihm mit sei nem Vorderrad den Weg abzuschneiden. »Ich will's ihr heimzahlen, der Hexe. Die wird's bereuen, sich mit mir angelegt zu haben.« Er schwang sich in den Sattel. »Mir nach, wer sich was zutraut!« brüllte er und knatterte in Richtung auf den Deich da von. Die anderen folgten ihm, zögernd, unentschlossen, aber doch voller Neugier, keiner bereit, sich vor dem anderen eine Blöße zu geben. Sie erschraken nicht, als Ole Peters den Deich an seiner steilsten Stelle an ging, aber unwillkürlich verlangsamten sie ihr Tempo, um erst abzu warten, wie er es schaffte. Der Deich fiel fast drei Meter tief zum Hinterland ab, so daß er eine steile, mit Grasnarben bedeckte Böschung bildete. Es war nicht das er stemal, daß einem der Burschen das Kunststück gelang, die Steigung auf kürzestem Weg zu überwinden. Nie zuvor hatte es jedoch einer bei so schlimmem Wetter versucht. Gras und Lehm hatten sich zu einer nas sen, glitschigen Masse verknetet, auf der die Reifen keinen Halt fanden. Zweimal ging Ole Peters den Deich an, und zweimal rutschte er wie der zurück. »Laß den Quatsch, Ole«, rief John Manners, »du fährst dir noch dei ne Maschine zuschanden.« Verbissen versuchte Ole Peters es zum drittenmal, und diesmal schien es zu gelingen. Die Reifen griffen in den Boden. Mit ungeheu 16
rem Lärm gewann das Motorrad an Höhe, hatte mehr als zwei Drit tel der Steigung schon überwunden – da raste eine gewaltige Bö vom Meer her über den Deich. Ole Peters verspürte noch den kräftigen Stoß gegen die Brust, woll te ihn abfangen, ausweichen – zu spät. Er verlor die Gewalt über sein Fahrzeug, flog rückwärts durch die Luft in einen schwarzen, gähnen den Abgrund. Den Aufprall fühlte er nicht mehr. Die jungen Burschen standen wie versteinert. Das Unglück hatte sich in Sekundenschnelle abgespielt. Fassungslos starrten sie auf Ole Peters, der im Licht ihrer Scheinwerfer in einer unnatürlich verrenkten Hal tung dalag. John Manners stürzte als erster vor. »Ole!« schrie er. »Ole!« Er kniete sich neben den Freund in den Lehm, packte ihn bei den Schultern, versuchte ihn aufzurichten – aber Ole Peters' Kopf knick te in den Nacken, seine Augen standen weit offen, Blut rann ihm in ei nem dünnen Rinnsal aus dem Mund. Ole Peters war tot. Langsam richtete John Manners sich auf, sah die anderen an, in de ren Augen sich sein eigenes Entsetzen spiegelte. »Aus«, sagte er. Mehr brachte er nicht über die Lippen. John Manners hatte eine Zeltplane bei sich. Die spannten sie auf, legten den Toten darauf. Zu viert trugen sie ihn. Keiner sagte ein Wort. Sie hatten nicht weit zu gehen, Ole Peters' Mutter lebte im dritten Haus hinter der großen Esche. Aber noch nie war ihnen der Weg so lang erschienen wie jetzt, mit dem Toten auf der nassen Plane. John Manners, der an der Spitze des traurigen Zuges ging, hörte die anderen hinter sich tuscheln. »Das war die Hexe«, sagte einer, »sie hat ihn verflucht.« »Ich hab's gleich gewußt – sie hat das Unglück auf ihn herabgeschwo ren.« »Hätten wir uns bloß nicht mit ihr eingelassen!« John Manners blieb stehen und wandte den Kopf. »Wir werden mit ihr abrechnen, das schwöre ich euch. Wir werden es ihr heimzahlen, der verdammten Hexe.« 17
Der Arzt kam gegen Morgen, als das Unwetter nachgelassen hatte. Er war jung, elegant und sah immer noch sehr braun aus, denn er hatte die vergangene Saison nur zum kleinsten Teil in seiner Sprechstunde und an Krankenbetten verbringen müssen; meist hatte er sich als char manter Unterhalter um das Badeleben der Insel verdient gemacht. Er stellte sich vor: »Doktor Hagedorn – Klaus Hagedorn«, sah das verstörte Mädchen lächelnd an und fragte: »Na, wo fehlt's denn? Sie se hen wirklich elend aus. Warum sind Sie nicht im Bett?« »Nicht ich bin krank«, sagte Undine mit zitternden Lippen, »mein Vater …« »Ach ja, das sagte mir Kollege Schirmer am Telefon. Aber Sie sind doch auch nicht ganz in Ordnung, Mädchen.« Sie wich mit angstvoll aufgerissenen Augen zurück, als er auf sie zu trat. »Nicht, bitte nicht. Es geht mir ganz gut, nur …« Er blieb stehen, runzelte die Stirn. »Was ist los mit Ihnen? Sie haben doch nicht etwa Angst vor mir?« »Nein«, sagte sie leise. »Fein. Dann werden Sie mir jetzt auch mal ganz brav sagen, wie Sie heißen, ja?« »Undine. Undine Carstens.« »Ein schöner Name. Klingt ein bißchen fremdartig, aber zu Ihnen paßt er.« Er sah sie abschätzend an. »Undine – sehr schön. Und nun sa gen Sie mir mal, was Sie so in Schrecken versetzt.« »Mein Vater – er ist bewußtlos.« »Hm«, sagte der junge Arzt und rieb sich das Kinn; ihm schien die Erklärung für das Entsetzen, das aus den Augen des jungen Mädchens sprach, zwar nicht ganz glaubhaft, aber er begriff, daß er sich vorerst damit begnügen mußte. »Wo ist der Kranke?« »Hier, bitte …« Undine öffnete die Tür zur Schlafstube, zog sich aber einige Schritte zurück, als er hineinging; erst als er sich an das Bett des alten Mannes setzte und dessen Puls fühlte, kam sie zögernd näher. »Wie alt?« fragte Dr. Hagedorn. »Achtundsiebzig«, antwortete Undine. Dr. Hagedorn betrachtete das verzerrte Gesicht des Kranken, dem 18
das dichte schlohweiße Haar eine rührende Würde verlieh, bewegte erst den linken, dann den rechten Arm, zog die Augenlider hoch. Er nahm sein Stethoskop aus der Bereitschaftstasche, öffnete das Hemd des Kranken, horchte das Herz ab. »Achtundsiebzig Jahre«, wiederholte er, »ein schönes Alter. Aber ich hoffe, ein paar Jährchen mehr darf er sich noch gönnen.« Er lächel te Undine ermutigend zu. »Tadelloses Herz«, sagte er, »ich denke, wir kriegen ihn über den Berg.« Sie entspannte sich. »Gott sei Dank!« sagte sie inbrünstig, schlug sich aber gleich darauf erschrocken auf den Mund. Er beobachtete sie interessiert. »Was ist nun schon wieder?« »Nichts«, sagte sie, »gar nichts«, und eine heiße Blutwelle stieg ihr in die Stirn. Als sie seinen forschenden Blick weiter auf sich gerichtet fühlte, sagte sie leise: »Es heißt doch, du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen …« »… denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen«, ergänzte er, »ja, ich weiß schon. Aber ich finde, Sie nehmen es ein bißchen zu genau, denn schließlich …« Er unterbrach sich, hob den Kopf, lauschte. Ein seltsames Geräusch, wie ein vielstimmiges Gemurmel, war durch die dicken Mauern des alten Hauses zu hören. »Was ist das?« Sie rang die Hände. »Ich weiß nicht.« Er lauschte noch einen Augenblick. Das Geräusch wurde schwächer, verstummte ganz, so daß er glaubte, sich geirrt zu haben. »Sie sind ein interessantes Mädchen«, sagte er, »mit Ihnen möchte ich mich gerne länger unterhalten.« Er nahm eine Ampulle aus einer Schachtel in seiner Bereitschaftstasche, trennte die gläserne Spitze ab und füllte den durchsichtigen Inhalt in eine Spritze. »Leben Sie immer hier?« »Ja«, sagte sie. »Schrecklich einsam, wie?« Sie schüttelte den Kopf. »Was machen Sie da?« »Ein krampflösendes Mittel.« Er drückte den entblößten Arm des al ten Mannes, bis die Vene dick und bläulich hervortrat. »Wird intrave nös gespritzt. Haben Sie einen Eisschrank?« 19
»Nein. Warum?« »Ein Eisbeutel auf den Kopf wäre das Richtige, aber, na ja, was nicht ist, kann nicht sein. Machen Sie ihm statt dessen bitte wenigstens kal te Umschläge.« Sie lief fort und kam sehr bald mit einer Blechschüssel kaltem Was ser und einem Handtuch über dem Arm wieder, reichte beides dem Arzt. »Danke«, sagte er, »und nun passen Sie auf.« Er tunkte das Tuch in das kalte Wasser, wrang es kräftig über der Schüssel aus, strich es glatt und legte es dem alten Mann über die Stirn. »So wird's gemacht«, sag te er, »und so oft wie möglich wechseln. Alle zehn Minuten, später sel tener.« »Was – fehlt ihm?« fragte Undine. »Eine Apoplexie«, sagte der Arzt, »Schlaganfall kann man es auch nennen, oder Gehirnschlag, ich weiß nicht, was Ihnen geläufiger ist. Kein Wunder in diesem Alter. Hat wahrscheinlich gerne und gut ge gessen, geraucht, getrunken und sich wenig Bewegung verschafft. Stimmt's?« Sie nickte. »Wenn er zu sich kommt, wird wahrscheinlich seine eine Seite ge lähmt sein. Die linke, soviel ich feststellen konnte. Auch sein Gesicht wird verzerrt bleiben, die eine Hälfte wenigstens. Sie dürfen darüber nicht erschrecken. Das sind Begleiterscheinungen einer solchen arte riosklerotischen Störung, die sich später meist völlig wieder geben.« Er stand auf, legte ihr die Hand unter das Kinn und zwang sie, ihn an zusehen. »Keine Sorge, kleine Undine, wir bekommen ihn durch. Ich fürchte nur, es wird für Sie nicht ganz einfach sein. Haben Sie vielleicht eine gute Freundin oder eine Tante, irgendeine zuverlässige Frau, die sich wenigstens in den nächsten Tagen mit Ihnen in der Krankenpfle ge abwechseln könnte?« »Nein«, sagte sie. »Niemand?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Hm«, sagte er, »dann müßte man sehen …« Er kam nicht dazu, sei nen Satz zu beenden. 20
Mit dumpfem Poltern schlug etwas Schweres gegen die Haustür. Dr. Hagedorn sah das Mädchen verblüfft an. Sie preßte die Faust vor den Mund, unterdrückte ein Wimmern. Ehe Dr. Hagedorn etwas sagen konnte, polterte ein wahrer Hagel von Schlägen gegen die Tür. Gleichzeitig rauschte das Gemurmel vie ler Stimmen auf, schwoll an, wurde drohend, wuchs zu einem unver ständlichen Inferno voll dumpfer Bösartigkeit. Dr. Hagedorn vergewisserte sich mit einem Blick, daß die Fenster durch schwere Läden gesichert waren. »Bleiben Sie ruhig«, sagte er, »niemand kann Ihnen etwas tun. Haben Sie eine Taschenlampe?« Sie zögerte, dann lief sie zu einem Schrank, öffnete die Schublade und holte die Stablampe heraus, mit der sie Jakob Schwenzen auf das Haupt getroffen hatte. Sie berührte sie nur mit Widerwillen, war froh, als er sie ihr aus der Hand nahm. Er prüfte den Lichtstrahl, sagte befriedigt: »Funktioniert«, sah sie nachdenklich an und fragte mit einer Kopfbewegung nach draußen: »Wissen Sie, was dieser Lärm zu bedeuten hat?« Undine zitterte so sehr, daß sie kaum sprechen konnte. »Sie – nen nen mich – Hexe«, brachte sie mühsam hervor. »Nicht zu fassen! Na, denen werde ich heimleuchten. Bleiben Sie hier oben, was auch geschieht. Kommen Sie mir nicht nach und öffnen Sie auf keinen Fall ein Fenster.« Er wandte sich zur Treppe. Ganz plötzlich kam Bewegung in sie, sie lief ihm nach, packte ihn am Ärmel. »Bitte«, sagte sie, »bitte, gehen Sie nicht.« Er nahm ihre Hand, hielt sie einen Atemzug lang beruhigend fest. »Sie brauchen nichts zu fürchten, Undine, mir tun sie nichts. Ich bin Arzt. Niemand würde es wagen, und ich werde nicht zulassen, daß je mand Ihnen auch nur ein Haar krümmt. Verstanden?« Sie sagte nichts, sah ihn nur mit ihren schwarzen, weit aufgerissenen Augen angstvoll an. Er wandte sich ab, ging mit raschen Schritten die Treppe hinun ter. Als er die Haustür öffnete, schrie eine Frau mit gellender Stimme: »Mörderin!« Undine klammerte sich an das Geländer, um nicht umzusinken. 21
Dann zog der Arzt die Tür hinter sich ins Schloß, und die drohenden Stimmen draußen verloren damit viel von ihrer Kraft. Lieber Gott, dachte Undine, wenn ich nur beten dürfte!
Dr. Klaus Hagedorn hatte sich durchaus nicht so sicher gefühlt, wie er vorgegeben hatte. Es hatte ihn eine nicht geringe Überwindung ge kostet, die fest verriegelte Tür zu öffnen und der Wut der Volksmen ge die Stirn zu bieten. Aber im Augenblick, als es getan war und der Strahl seiner Taschenlampe die Gesichter der gegen das Haus Drän genden traf, gewann er sein Selbstvertrauen zurück. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er begriffen, daß es sich im Grunde nur um ein armseli ges Häuflein Menschen handelte, vor allem alte Frauen und junge Bur schen, die einzeln völlig harmlos gewesen wären, sich aber zusammen in einem Zustand gefährlicher Hysterie befanden. »Was wollt ihr?« fragte er mit erhobener Stimme, bemüht, ihr ei nen Klang von eherner Festigkeit zu geben. »Ich bin Doktor Hagedorn. Sprecht, wenn ihr etwas zu sagen habt. Aber einzeln, bitte, und in al ler Ruhe.« John Manners trat vor. Er stemmte die Fäuste in die Hosentaschen, warf herausfordernd den Kopf zurück und sah den Arzt zornig an. »Sie ist eine Hexe«, sagte er, »sie hat meinen Freund auf dem Gewis sen, Ole Peters, meinen besten Freund. Sie hat ihn durch ihren Hexenfluch umgebracht.« Wieder klang im Hintergrund das böse Wort ›Mörderin‹ auf. »Wenn dem so ist«, sagte Dr. Hagedorn, »warum geht ihr nicht zur Polizei und zeigt sie an?« Die fahle Morgendämmerung warf ihr graues Licht auf die verbis senen Gesichter. Und plötzlich kam dem Arzt alles ganz unwirklich vor – er selber, das alte, verlassene Leuchtfeuerhaus, das schöne Mäd chen Undine und diese Menschen, die sie eine Hexe und eine Mörderin nannten. »So etwas gibt es doch gar nicht«, sagte er laut, da alle schwie gen und ihn nur aus brennenden Augen anstarrten. Eine kräftige Frau, 22
fest in ein schwarzes Schultertuch gehüllt, kam nach vorn, und alle wi chen auseinander, machten ihr ehrfürchtig Platz. »Mein Sohn ist tot, Herr Doktor«, sagte sie, »mein Ole ist gestorben in dieser Nacht. Kom men Sie mit uns und sehen Sie ihn an, wenn Sie mir nicht glauben. Sie hat meinen Ole auf dem Gewissen.« Der Schmerz in ihrer Stimme war echt. »Erst meinen Mann, jetzt meinen Sohn. Die Hexe muß fort!« »Wie hat sie ihn denn getötet?« fragte Dr. Hagedorn. »Mit einem Re volver oder mit einem Messer? Ich nehme an, Sie haben einen Beweis für das, was Sie behaupten.« »Den habe ich, Herr Doktor«, sagte Ole Peters' Mutter, »auch wenn Sie noch so spotten mögen. John Manners hat es gehört und Wiebke Jans und alle seine Freunde: sie hat ihn verflucht, meinen Ole. Damit hat sie ihn in den Tod gejagt.« Dr. Hagedorn senkte den Strahl der Stablampe zu Boden und lösch te sie aus. »Seit sie hier ist, hat sie nur Unheil angerichtet«, sagte ein alter Mann, nahm seine Pfeife aus dem Mund und spuckte in weitem Bogen aus, »wer weiß, wie viele sie schon umgebracht hat. Unsere Kutter hat sie verhext und die Kuh von Peer Nyhuus, daß sie verkalbt hat. Sie hat den bösen Blick.« Dr. Hagedorn strich sich über das Kinn. »Hm«, sagte er, »weiß euer Pfarrer eigentlich, daß ihr so denkt?« »Unser Herr Pfarrer? Der hat es ja selber gesagt, damals beim Bitt gottesdienst, als wir die große Sturmflut hatten. ›Die Sünde ist mit ten unter euch‹, hat er gesagt. ›Vertreibt den Widersacher aus der Ge meinde, tut das Eure, und dann könnt ihr den Allmächtigen bitten, daß er uns gnädig ist und das Seine tut!‹« Der alte Mann mit der Pfeife sah sich nach Zustimmung suchend um. »So hat er gesagt, unser Herr Pfarrer, ihr habt es ja alle gehört.« »Mag sein, daß er so gesprochen hat«, sagte der Arzt. »Aber seid ihr auch sicher, daß ihr seine Worte richtig ausgelegt habt? Wahrschein lich hat er doch nicht Undine Carstens gemeint, sondern nur das Böse an sich. Eure eigenen Sünden wollte er euch vor Augen halten.« »Das verstehen Sie nicht, Herr Doktor«, sagte die Witwe Peters, »die, 23
die es anging, hat es gleich verstanden. Es war das letzte Mal, daß sie sich in unsere Kirche getraut hat, die Teufelsdirn.« »Sie soll was erleben, die Hexe!« John Manners hob die geballte Faust, trat drohend auf das Haus zu. Dr. Hagedorn wich einen Schritt zurück, stellte sich mit ausgebreite ten Armen vor die Haustür. »Nehmt Vernunft an, Leute!« rief er. »Was wollt ihr denn tun? Euch an einem schwachen Mädchen vergreifen?« »Geben Sie uns die Hexe 'raus!« forderte John Manners. »Nein, das werde ich nicht«, erklärte Dr. Hagedorn mit fester Stimme. »Wenn ihr dem Mädchen ein Leid antun wollt, dann müßt ihr erst mich zusam menschlagen. Versucht es nur, wenn ihr Lust habt. Aber ich sage euch, ihr werdet dafür bestraft werden. Einer wie der andere. Ich habe mir eure Gesichter wohl gemerkt. Und ich werde dafür sorgen, daß ihr ins Zuchthaus kommt, wenn dem Mädchen nur ein Haar gekrümmt wird.« Dr. Hagedorns nachdrückliche Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Leute begannen unsicher zu werden, sahen sich an. John Manners steckte die Faust in die Tasche, die Witwe Peters begann leise zu wei nen. Der junge Arzt stieß nach. »Ihr seid doch vernünftige, anständige Menschen«, sagte er, »warum wollt ihr eure Hände mit einer Gewalt tat besudeln? Ihr wollt das Mädchen nicht länger in eurer Gemeinde dulden. Das verstehe ich. Ich verspreche euch, dafür zu sorgen, daß sie fortgeht.« »Jetzt gleich«, sagte John Manners, »wir werden warten.« »Nein, das geht nicht. Glaubt nicht, ich wolle euch betrügen. Aber ihr Vater ist sehr krank. Schlaganfall. Er kann nicht allein bleiben. Er muß im Krankenauto zum Festland. Das kann frühestens heute nachmittag geschehen. Dann werde ich sie beide holen, Undine Carstens und ih ren Vater. Versprecht mir, daß ihr sie bis dahin in Ruhe laßt!«
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Als Dr. Hagedorn in das Leuchtfeuerhaus zurückkehrte, sah er Undine erst nicht. Dann entdeckte er sie, wie sie sprungbereit im dunkelsten Winkel hinter der Treppe hockte, ein langes Fleischermesser zur Ver teidigung in der Hand. Am irren Glanz ihrer Augen erkannte er, daß sie vor Angst halb wahnsinnig war. »Es ist alles vorbei«, sagte er, »ich habe die Leute fortgeschickt. Tun Sie das Ding weg, Sie könnten sich damit verletzen.« Die unnatürliche Spannung, mit der sie sich bis jetzt aufrecht gehal ten hatte, löste sich. Ihr Körper erschlaffte. Sie schloß in plötzlicher Er mattung die Augen. Das Messer fiel ihr aus der Hand. Dr. Hagedorn sah, daß sie wankte. Er war mit einem Satz bei ihr, hob sie hoch und trug sie auf den Armen die Treppe hinauf in ein Zimmer. Dort legte er sie aufs Sofa. Sie schlug die Augen auf, als er ihr einen Be cher mit Wasser und etwas Rum an die Lippen hielt. »Trinken Sie«, sagte er, »das wird Ihnen guttun.« Undine gehorchte. Sie trank in großen, durstigen Zügen. Dann ließ sie ihren Kopf wieder gegen die Lehne zurücksinken. Aber sie schloß die Augen nicht wieder, sondern betrachtete ihn mit angstvoll for schendem Blick. »Was werden Sie mit mir tun?« fragte sie. Er zog sich einen Stuhl heran, nahm ihr Handgelenk, fühlte ihren Puls. »Am liebsten möchte ich Sie jetzt gleich mitnehmen«, sagte er, »aber wir können Ihren Vater nicht allein lassen, nicht in diesem Zu stand. Bis zum Nachmittag müssen wir durchhalten. Ich bin ziem lich sicher, daß bis dahin niemand Sie mehr belästigen wird. Natürlich müssen Sie schön still hier oben bleiben. Nicht spazierenlaufen oder so etwas. Heute nachmittag komme ich dann mit einem Krankenwagen und hole Sie beide ab. Sie und Ihren Vater.« Er sah, daß Tränen in ihre Augen stiegen, fügte hinzu: »Hier bleiben können Sie nicht. Ich hoffe, das sehen Sie ein. Und Ihr Vater ist im Krankenhaus bestimmt am be sten untergebracht.« »Ich habe es nicht gewollt«, sagte sie, mühsam ein Schluchzen zu rückhaltend, »ich habe es nicht mit Absicht getan, ich wollte nicht tö ten …« 25
Dr. Hagedorn glaubte, es wäre der Fluch gegen Ole Peters, der ihr zu schaffen machte. »Er hat Sie gequält, nicht wahr?« fragte er. »Ja«, sagte sie, »ich wußte einfach nicht mehr, was ich tun sollte. Weil ich eine Hexe bin, hat er mich verfolgt.« Sie dachte nicht an Ole Peters, son dern an Jakobus Schwenzen, an die entsetzliche Szene im nächtlichen Un wetter auf dem Deich, und schlug schaudernd ihre Hände vors Gesicht. »Undine!« Dr. Hagedorn packte ihre Gelenke, zog ihre Hände von den Augen, zwang sie, anzusehen. »Glauben Sie etwa selber, daß Sie eine Hexe sind?« »Alle sagen es.« »Aber das ist doch Irrsinn! Es gibt keine Hexen, Undine. Sie haben sich etwas einreden lassen, was gar nicht möglich ist.« Dann ging er noch einmal zu Tede Carstens in die Kammer, wech selte den Umschlag. »Ich glaube, ich habe eine gute Nachricht für Sie«, sagte er anschließend zu Undine. »Ihrem Vater scheint es besser zu gehen.« Als sie nur verzweifelt schluchzte, fügte er eindringlich hin zu: »Nehmen Sie es nicht zu schwer. Alles wird wieder gut werden.« Er blieb vor ihr stehen. »Ich muß jetzt fahren, Undine. Je schneller ich fortkomme, desto eher kann ich Sie nachher holen. Seien Sie tapfer. Vergessen Sie nicht, Ihr Vater braucht Pflege.« Undine warf das schwarze Haar zurück, suchte in ihrer Rocktasche nach einem Tuch. Er bemerkte es, reichte ihr lächelnd sein frisches, schön zusammengefaltetes Taschentuch. Sie dankte ihm mit einem Blick, putzte sich die Nase, wischte die Tränen ab. »Na, sehen Sie«, sagte der Arzt, »so gefallen Sie mir schon viel bes ser.« Als sie das gebrauchte Tüchlein etwas unsicher in der Hand hielt, nicht wußte, was sie jetzt damit anfangen sollte, sagte er rasch: »Behal ten Sie's nur.« Er lächelte ihr zu. »Also dann bis später, Undine.« Er schlang den Gürtel seines Wettermantels fester, nahm die Bereit schaftstasche und ging die Treppe hinunter. Als sie keine Anstalten machte, ihm zu folgen, drehte er sich noch einmal um und rief: »Hin ter mir abriegeln, Undine!« Sofort war sie auf den Beinen und lief ihm nach. »Wann kommen Sie wieder?« fragte sie zaghaft, als er die Haustür schon geöffnet hatte. 26
»So bald wie möglich. Aber es kann Abend werden.« Er sah prü fend umher, bevor er vom Leuchtfeuerhaus wegging, aber weit und breit war keine Menschenseele zu sehen; die Leute hatten sich ver laufen. Als er die Tür seines Wagens aufgeschlossen hatte, drehte er sich noch einmal um und hob winkend die Hand – aber Undine stand nicht mehr auf der Schwelle. Die Tür war geschlossen. Seltsamerweise war er ein wenig enttäuscht. Ein sonderbares Mäd chen, dachte er, und eine sonderbare Geschichte. Die Leute waren wie verrückt. Hoffentlich passiert nichts, bis ich wiederkomme. Ich muß sie fortbringen, wahrscheinlich weit fort. Später erst, als er auf dem aufgeweichten Wegstück langsam zum Ba deort zurückfuhr, fiel ihm ein, was er mit dem schönen Mädchen Un dine, das sie eine Hexe nannten, und ihrem kranken Vater anfangen könnte.
Als Dr. Hagedorn gegangen war, hatte Undine sich beeilt, die Haus tür zu verriegeln. Dann blieb sie tief atmend stehen, mit dem Rücken zur Tür. Sie war noch immer voller Angst. Von Dr. Hagedorns Gespräch mit den aufgebrachten Dorfbewoh nern hatte sie nur das einzige Wort verstanden: »Mörderin!« Sie hat te es auf Jakobus Schwenzen bezogen, dem sie in Notwehr ihre Stab lampe über den Schädel geschlagen hatte. Sie war überzeugt, ihn getö tet zu haben. An Ole Peters dachte sie gar nicht mehr. So hatte sie auch Dr. Hagedorns Versprechen, sie in Sicherheit zu bringen, völlig miß verstanden. Sie war überzeugt, daß er sie nur holen wollte, um sie der Polizei auszuliefern. Undine Carstens war in ihrem ganzen Leben nicht von der Insel fort gekommen. Aber sie hatte viel gelesen – Bücher, die der Vater entweder selber besaß oder vom Pfarrer und vom Lehrer ausgeliehen hatte. Sie war nicht unintelligent, aber da sie nie Gelegenheit gehabt hatte, Er 27
fahrungen zu sammeln, entsprach ihr Weltbild keineswegs der Wirk lichkeit. In ihrer Vorstellung war ein Gefängnis ein feuchter, düsterer Kerker, und sie war fest überzeugt, daß sie für ihr vermeintliches Ver brechen mit dem Tode würde büßen müssen. Sie zitterte vor Angst. Ihr Instinkt trieb sie zur Flucht, ganz gleich, wohin – nur fort. Fort von den Menschen, die sie haßten, die sie ein sperren und töten lassen wollten. Sie war schon auf dem Sprung, da vonzujagen – da war es ihr, als ob sie einen dumpfen Laut hörte. Der Gedanke an ihren kranken Pflegevater hielt sie zurück. Sie konn te nicht fliehen. Wenn sie ihn allein ließ, mußte er vielleicht sterben. Tief entmutigt, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, stieg sie die Treppe hinauf. Als sie in die Kammer trat, lächelte ihr Pflegevater mit einem Mund winkel und versuchte zu sprechen. Da vergaß Undine ihre Angst und Verzweiflung. Sie ging zu ihm hin, kniete an sein Bett, sah ihn aus glücklichen Augen an. »Vater – ganz still, sag nichts. Ich weiß, was du willst, du brauchst nicht zu reden«, stammelte sie, »streng dich nicht an. Ich bin so froh, daß du wieder wach bist. Warte!« Sie lief in die Küche, füllte eine Schale mit starkem kaltem Tee, kam zurück und hielt sie ihm an die Lippen: »Trink, das wird dir guttun.« Er trank ein paar Züge, dann wollte er ihr die Schale aus den Hän den nehmen, aber es gelang ihm nicht. Seinen linken Arm konnte er nicht heben. »Erschrick nicht, Vater«, tröstete Undine, »das hat nichts zu sagen, ganz bestimmt nicht. Der Arzt war da, er sagt, du wirst wieder ganz gesund.« Sie beugte sich über den alten Mann, strich zärtlich über sein verzerrtes Gesicht. Plötzlich ertrug sie es nicht länger, allein mit al lem, was sie bedrückte, fertig zu werden. »Vater«, sagte sie, »Vater, ist es wahr? Bin ich eine Hexe?« Er hob die rechte Hand, rang um ein Wort. Aber alles, was er hervor brachte, war ein unartikuliertes Stöhnen. Da sprang sie auf, lief in die Stube, zog aus der Tischschublade ein al tes Heft, in dem sie die Abrechnung für den Haushalt zu führen pfleg 28
te, nahm den Bleistift und brachte beides Tede Carstens. »Hier, Vater, bitte schreib. Ich muß es wissen.« Mühsam, mit ungelenken, zittrigen Buchstaben begann der alte Mann zu schreiben; es kostete ihn sichtlich Anstrengung. Undine wartete, die Hände vor der Brust gefaltet, bis er fertig war. Dann gab er ihr das Heft. Aufschluchzend las sie seine Antwort: »Du bist mein liebes Kind.«
II
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akobus Schwenzen lebte. Der Schlag auf den Kopf hatte ihn nur betäubt. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er sich aufgerafft, sein Motorrad neben sich hergeschoben und war in den ›Deichkrug‹ zurückgekehrt. Aber er hat te die Gaststube nicht betreten, sondern war über die Hintertreppe in sein Zimmer geschlichen. Seine Heimlichtuerei hatte einen guten Grund: Er würde es schwer haben, sein Ansehen wiederherzustellen, wenn bekannt wurde, daß es Undine Carstens gelungen war, ihn so wirkungsvoll abzuwehren. Erst am nächsten Morgen, als er zum Frühstück in die Gaststube herunterkam, erfuhr er, was in der Nacht geschehen war. Von der Wir tin ließ er sich den Unfall des jungen Ole Peters so genau wie möglich schildern, denn er wußte, daß jede Einzelheit später einmal wichtig für ihn werden konnte. Die beiden waren bei diesem Gespräch völlig unter sich. Frank Ostwald war früh aufgebrochen, um mit der ersten Fähre zum Festland überzusetzen. »Der arme Junge«, sagte Wiebke Jans immer wieder, »der arme Jun ge. Wer hätte das gedacht!« Jakobus Schwenzen lächelte hintergründig. »Haben Sie vergessen, 29
daß ich ihn gewarnt hatte? Aber er wollte keinen Rat annehmen. Und ich kenne andere Leute, die nicht klüger sind.« »Von wem sprechen Sie?« »Von jemand, der gar nicht weit von hier ist. Ja, sehen Sie sich nur um. Sie brauchten bloß einen Spiegel, dann wüßten Sie gleich, wen ich meine.« Die Wirtin faltete erschrocken die Hände über der Brust. »Weil ich Geld von ihr genommen habe?« »Weil Sie ihr eine Gefälligkeit erwiesen haben.« »Aber sie mußte doch telefonieren. Wenn ein Mensch einen Arzt braucht …« »Wiebke Jans! Sie ist eine Hexe, vergessen Sie das nicht! Hexen brau chen keinen Arzt, sie kurieren sich selber.« »Kann sein. Aber wie steht es mit Tede Carstens, ihrem Pflegevater? Er ist doch krank. Seinetwegen wollte sie telefonieren.« Jakobus Schwenzen stand abrupt auf. »Ich gehe jetzt«, sagte er schroff, »gegen Mittag komme ich und hole meine Sachen. Vorher habe ich noch einiges zu erledigen.« Die Wirtin vertrat ihm den Weg. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« »Ich glaube, es hat keinen Zweck, wenn wir weiter miteinander re den. Sie sind nicht imstande, zu begreifen, sonst hätte der Tod des Bur schen Ihnen doch die Augen öffnen müssen!« »Aber ich weiß ja, daß sie eine Hexe ist.« »Dann sollten Sie auch wissen, daß diejenigen, die mit Hexen paktie ren, in ihrem Bann stehen, also nur selber Behexte oder Hexer sein kön nen. Ich kenne Tede Carstens nicht und weiß deshalb nicht, was bei ihm zutrifft. Aber ein Mensch, der Hilfe braucht, ist er jedenfalls nicht. Sie waren sehr unvorsichtig, Wiebke Jans. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Guten Morgen.« Er schob sie beiseite, nahm seinen Mantel vom Stuhl und ging zur Tür. Sie eilte ihm nach. »Bitte, Jakobus Schwenzen«, sagte sie, »bitte, gehen Sie nicht!« Ihr sonst so volles, fröhliches Gesicht wirkte plötzlich eingefallen vor Entsetzen. »Ich verstehe nichts von sol chen Dingen, ich kenne mich da nicht aus. Kann die Hexe mir etwas an tun? Sprechen Sie doch, Jakobus Schwenzen, bitte, helfen Sie mir!« 30
Der Mann blieb stehen und schaute sie prüfend an. »Ist das Ihr Ernst, Wiebke Jans? Wünschen Sie meine Hilfe?« »Ja, sicher. Ich – ich würde selbstverständlich gut dafür bezahlen.« »Meine Dienste lassen sich nicht bezahlen«, sagte er. »Sonst wäre ich wohl längst ein reicher Mann. Der Preis für ein langes Leben, für Gesundheit, Wohlstand, Ansehen, er ist zu hoch, als daß irgend je mand ihn bezahlen könnte. Es genügt, wenn Sie mir ein Geschenk ma chen.« »Geld?« fragte sie mit angstvollen Augen. »Ja. Meinetwegen. Am besten geben Sie es mir gleich. Als Zeichen Ihres Vertrauens. Das würde meine Hilfe wirksamer machen.« Kalt lächelnd sah er zu, wie sie zum Schanktisch ging, die Schubla de der Kasse öffnete. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie einen Schein herausnahm und ihn Jakobus Schwenzen gab. Mit Genugtuung stellte er fest, daß ihr seine Hilfe einen Hunderter wert war. »Danke«, sagte er trocken und steckte den Schein in seine Mantel tasche, »jetzt lassen Sie mich überlegen.« Er sah die Wirtin durchboh rend an. »Erst eine Frage: Haben Sie das Gefühl, daß etwas mit Ihnen nicht mehr ganz in Ordnung ist? Denken Sie gut nach. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Meist kommt das Übel nämlich schlei chend, nistet sich allmählich ein, gewinnt erst nach und nach immer mehr an Kraft.« Die Wirtin war blaß geworden. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« »Nun, dann will ich Ihnen helfen. Wie haben Sie geschlafen heute nacht? Ruhig und tief?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe geträumt, ganz wildes, ver worrenes Zeug.« »Erzählen Sie mir, was Sie davon behalten haben.« »Gar nichts. Wirklich gar nichts. Es war alles so durcheinander und …« »Schade, das darf nicht wieder vorkommen. Versprechen Sie mir, daß Sie sich von nun an jeden Traum so genau wie möglich merken 31
werden. Aus Träumen läßt sich manches ersehen. Aber jetzt weiter: Wie haben Sie sich beim Aufstehen gefühlt? Frisch, munter und aus geschlafen? Oder?« »Elend!« sagte die Wirtin. »Ganz entsetzlich elend. Der Kopf war mir ganz schwer und leer. Ja, und jetzt fällt's mir ein: Ich bin ein we nig rasch aufgestanden, und da ist's mir so … so schwindlig geworden. Hat das was auf sich?« Er runzelte die Stirn. »Die Anzeichen sind nicht unbedenklich. Ich muß schnell eingreifen, sehr schnell, das ist fatal. Damit der Gegen zauber wirksam ist, braucht er seine bestimmte Zeit. Jetzt gerade ist die Himmelskonjunktion ausgesprochen ungünstig. Aber wenn Sie drei Tage warten können, dann, um Mitternacht …« »Nein«, sagte sie rasch, »das halte ich nicht aus bis dahin.« »Nun gut. Ich verstehe. Dann werden wir gleich etwas tun, wenn es auch nicht ganz so wirksam ist.« »Bitte, ja.« »Wie Sie wollen. Verriegeln Sie jetzt Türen und Fenster, damit nie mand uns stören kann. Ich bin gleich wieder da.« Er verschwand aus der Gaststube und ging mit schweren Schritten die Treppe hinauf, während die Wirtin unten tat, was er ihr gesagt hatte. Dabei zitter te sie am ganzen Leib und konnte sich kaum aufrecht halten. Sie war keine ängstliche Frau, solange es sich um greifbare Gefahren handelte, aber die Furcht vor der unerklärlichen Drohung, die über ihr und dem ganzen Haus schweben sollte, ließ ihren Atem stocken. Doch bevor sie den letzten Fensterladen geschlossen hatte, knipste sie die Lampe an, damit sie sich ohne Schwierigkeiten zurechtfand. Aber da ertönte von der Treppe her Jakobus Schwenzens Stimme: »Lösch das Licht aus!« Sie gehorchte erschrocken, stand voll banger Erwartung in dem nun völlig düsteren Raum. Dann sah sie das Licht. Es näherte sich schwan kend von der Treppe her. Jakobus Schwenzen trug es in der Hand. Es strahlte von einer schwarzen brennenden Kerze aus. Jakobus Schwenzen stellte die Kerze auf den Tisch. »Her zu mir, Wiebke Jans«, sagte er mit feierlicher Stimme, »höre die Beschwö 32
rungsformel.« Laut begann er: »Ich opfere dir diese Kerze aus Jung frauenwachs als das Reinste, das ich auf Erden finden konnte, dir al lein, großer Adonay, Eloim, Ariel. Nimm dieses mein Opfer gnädig auf, o großer Adonay, steh mir bei mit deiner Macht und verleih mir Sieg und Gelingen in diesem großen Unternehmen.« Er nahm ein Blatt Papier, auf das er die Umrisse einer menschlichen Gestalt gezeichnet hatte, hielt es hoch empor. »Dies ist das Abbild der Hexe Undine, es ist in meiner Gewalt, großer Adonay. Brich ihren Zau ber, wie wir ihn brechen«, er zerriß das Papier in sieben Stücke, »damit sie uns keinen Schaden mehr antun kann. Laß sie brennen, wie wir sie verbrennen, großer Adonay«, er hielt die Papierschnitzel einzeln in die Kerzenflamme und ließ sie fallen, wenn sie hoch aufloderten, »denn nur das Höllenfeuer ist imstande, die Schandtaten auszulöschen, die sie vollbracht hat. Tu, was ich dir befehle, großer Adonay, Eloim, Ariel, denn du bist in meiner Gewalt. Sator Arepo Tenet Opera Rotas …«
Undine Carstens verbrachte den Tag mit der Pflege ihres Vaters. Sie kochte ihm eine kräftige Suppe, wusch ihn, bettete ihn um. Dann be gann sie Stube und Kammer aufzuräumen. Der alte Mann schlief bald wieder ein. Aber sie fand keine Ruhe. Sorge um ihn und Angst vor dem Kommenden trieben sie umher. Sie packte einen Koffer mit allem Nötigen für den Kranken, richtete sich selber ein kleines Bündel mit Wäsche. Dann saß sie lange, die Hände im Schoß gefaltet, in dem großen Lehnstuhl und starrte vor sich hin. Sie hätte gern gebetet, aber sie wag te es nicht. Wenn sie wirklich eine Hexe war, wie die anderen sagten, dann hatte Gott sie verworfen. Dann wäre jedes Gebet einer Gotteslä sterung gleichgekommen. Wie schon so oft in ihrem jungen Leben zergrübelte sie ihren Kopf. Warum war sie anders als die anderen? Warum haßten die Leute sie so? Warum schimpften sie sie eine Hexe? Warum hatte sie jetzt noch zur Mörderin werden müssen? 33
Aber auch heute fand sie keine Antwort, und ohne es selber zu mer ken, schlummerte sie schließlich sachte ein. Sie war todmüde, denn sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Als sie erwachte, war es bereits dämmerig geworden. Sie fröstelte, mußte sich erst besinnen, was geschehen war, warum sie nicht in ih rem Bett schlief. Dann hörte sie einen Schlag gegen die Haustür und begriff, daß es dasselbe Geräusch gewesen war, das sie geweckt hatte. Schlaftrunken erhob sie sich, ging, taumelnd vor Müdigkeit, zur Treppe, stieg hinunter. Der dritte Schlag ertönte, noch bevor sie die Tür geöffnet hatte. Sie schob den Riegel zurück, stieß die Tür auf – niemand war zu se hen. Verdutzt rieb sie sich die Augen, trat einen Schritt vor, spähte nach allen Seiten. Einsam lagen die Dünen. Sie drehte sich um und wollte wieder ins Haus zurück – da erblickte sie ihn: Jakobus Schwenzen. Sein hageres Gesicht war geisterhaft blaß im Dämmerlicht. Sie schrie auf, überzeugt, einen Toten vor sich zu sehen – den Mann, den sie er mordet hatte. Da bewegte sich Jakobus Schwenzen, kam auf sie zu, die Hände wie Klauen erhoben – noch einmal schrie Undine gellend, voll Entsetzen, dann warf sie ihren Körper herum, jagte in die Dünen hinaus, außer sich vor Verzweiflung, halb besinnungslos vor Angst. Eine halbe Stunde nach Undines kopflosem Davonrennen hielt der Krankenwagen vor dem alten Leuchtturm. Dr. Klaus Hagedorn saß auf dem Vordersitz neben der Kranken schwester. Noch bevor er ausstieg, merkte er, daß die Haustür offen stand, im Leuchtturm brannte kein Licht. Er ahnte nichts Gutes. »Bitte, warten Sie noch«, sagte er zu der Schwester, die ihm folgen wollte, und ging allein die steile hölzerne Treppe hinauf. Er fand den alten Mann schlafend. Von Undine keine Spur. Dr. Hagedorn rief den Fahrer und die Schwester. Gemeinsam such ten sie das ganze Haus ab; vergeblich. 34
»Sie kann nicht weit sein«, sagte die Schwester, der Dr. Hagedorn auf der Fahrt seine Begegnung mit dem seltsamen Mädchen Undine geschil dert hatte, »der Herd ist noch warm.« Sie öffnete die Klappe. »Ja, tatsäch lich: der Torf brennt noch, als wenn vor nicht allzulanger Zeit neu aufge legt worden wäre. Das ist sonderbar. Soll ich den Patienten fragen?« »Lassen Sie nur, das mache ich selber.« Dr. Hagedorn ging zu Tede Carstens in die Kammer und weckte ihn. Es dauerte eine Weile, bis er ihm klargemacht hatte, wer er war und was er wollte. »Wo ist Undine?« fragte er dann. »Wir suchen sie, wir wollen sie ebenfalls mitnehmen.« Er spürte, daß der alte Mann seine Frage verstand, bekam aber keine Antwort. Da reichte er ihm Undines Rechnungsheft, das aufgeschla gen auf dem Tisch lag, und den Bleistiftstummel. »Bitte, schreiben Sie auf, was Sie wissen!« drängte er. Es dauerte lange, fast unerträglich lange für Dr. Hagedorns Unge duld, bis Tede Carstens seine Antwort aufs Papier gebracht hatte. Als er den Bleistift sinken ließ, riß der Doktor ihm fast das Heft aus der Hand. »Ich habe geschlafen«, las er, »ich weiß es nicht.« »Aber hören Sie mal, Sie müssen doch wissen …«, wunderte sich die Schwester. »Lassen Sie. Es ist zwecklos«, wehrte Dr. Hagedorn ab. »Entweder er weiß es nicht, oder er will es uns nicht sagen. Wir dürfen ihn nicht quälen.« »Na, dann können wir wohl?« fragte der Fahrer, der neben der Trag bahre stand und unberührt von dem, was die anderen bewegte, eine Zigarette rauchte. »Ja. Ich helfe Ihnen«, sagte der Arzt. Sie stellten die Trage neben das Bett und hoben den Kranken behut sam darauf. Die Schwester hatte den Koffer gefunden, den Undine für ihren Pfle gevater gepackt hatte. »Ich denke, er gehört ihm«, sagte sie, öffnete den Deckel und prüfte den Inhalt. »Tatsächlich. Nehmen wir ihn mit.« Den Koffer in der Hand, folgte sie langsam den beiden Männern, denen es nur mit Mühe gelang, die Trage waagrecht die steile Treppe zur Haus tür hinunterzubekommen. 35
Dann lief sie voraus und öffnete die rückseitige Türe des Wagens. Gemeinsam schoben sie die Trage hinein. Dann setzte sich der Fah rer ans Lenkrad. Die Schwester blieb hinten bei dem Kranken. Nur Dr. Hagedorn stand noch unschlüssig da, so, als wollte er versu chen, mit dem bloßen Auge die Dunkelheit zu durchdringen. Dann legte er beide Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und rief: »Undine! Undine!« Nach einer kleinen Pause, in der ihm nicht einmal ein Echo Antwort gab, noch einmal: »Undine!«
Undine hörte das Rufen. Sie hatte sich, seit sie in panischer Angst vor dem vermeintlichen Geist des Jakobus Schwenzen geflohen war, in den Dünen verborgen gehalten. Nun beobachtete sie von ihrem Versteck aus die Vorgänge beim alten Leuchtturm. Es war nicht viel, was sie sah – die Scheinwerfer des Krankenwagens und das blaue Warnlicht auf seinem Dach, die Lichter im Leuchtturm, die angingen und nach einer guten Weile wieder erloschen, und den Schein einer Taschenlampe, der über den Boden huschte. Sie war überzeugt, daß Dr. Hagedorn die Polizei zum alten Leucht turm geführt hatte, die sie, die Mörderin, festnehmen wollte. Sein Ru fen hatte in ihren Ohren keinen besorgten, sondern vielmehr einen drohenden Klang. Zitternd vor Angst preßte sie sich noch enger auf den Boden. Endlich schlugen die Autotüren zu, und der Wagen setz te sich in Bewegung. Aber auch als er schon längst außer Sichtweite war, wagte Undine sich nicht zum Haus zurück. Sie wartete noch eine Weile, hockte still in dem vom Unwetter feuchten Sand, lauschte dem Rauschen des Meeres, dem Schreien der Möwen und dem Klopfen ih res Herzens. Erst als der Mond als schmale Sichel am Himmel aufstieg und die karge Landschaft in gespenstisches Licht hüllte, richtete sie sich auf und näherte sich – immer auf der Hut – lautlos dem Haus. Was sie zurücktrieb, war die Sorge um ihren Pflegevater. Sie muß 36
te sich vergewissern, ob sie ihn wirklich zum Festland gebracht hatten, oder ob sie etwa nur ihretwegen gekommen waren und ihn hilflos zu rückgelassen hatten. Sie stieß die Haustür auf, blieb stehen und lausch te mit angehaltenem Atem. Aber nichts war zu hören als das Knak ken und Knistern des Holzes, das ihr von frühester Jugend her ver traut war. Ohne Licht zu machen, schlich sie die Treppe hinauf. Dr. Hagedorn hatte einen Fensterladen aufgestoßen. Im spärlichen Mondlicht sah Undine, daß das Bett ihres Pflegevaters leer war; auch sein Koffer war fort. Jetzt erst, da sie ihn versorgt wußte, konnte sie daran denken, was mit ihr selber geschehen sollte. Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Für sie gab es nur einen Weg: Flucht. Flucht vor den Menschen und den Geistern, die sie jagten. Die Polizei würde kommen, dessen war sie sicher, und auch der Geist jenes bösar tigen Jakobus Schwenzen, den sie erschlagen zu haben glaubte. Sie hat te keine Freunde mehr im Fischerdorf, nicht einen einzigen Menschen, der es gut mit ihr meinte und der sie in Schutz genommen hätte. Sie mußte fort – so schnell wie möglich und so weit wie möglich. Sie nahm ihr Bündel, das sie in einer alten Truhe verwahrt hatte, öff nete es noch einmal und legte ihr fest zusammengerolltes Sonntagskleid dazu, zog ihre Strickjacke an und darüber den Wettermantel ih res Vaters, band sich ein Tuch fest um das schwarze Haar. Das Spar kassenbuch hatte sie ihrem Pflegevater in den Koffer gesteckt, sie sel ber hatte nur die paar Mark, die vom Haushaltsgeld in ihrer Börse ge blieben waren. In wenigen Minuten hatte Undine alles zusammengerafft, was sie brauchte. Ein einziger Blick mußte genügen, um Abschied von dem Reich ihrer Kindheit zu nehmen. Es fiel ihr schwer, denn in diesen be scheidenen Räumen hatte sie sich zu Hause gefühlt. Hier hatte sie Lie be und Geborgenheit genossen inmitten einer Welt, die ihr sonst nur feindlich gesinnt war. Das Geräusch eines fernen Motorfahrzeuges ließ sie zusammen zucken. Lautlos, wie sie gekommen war, huschte sie die Treppe wie 37
der hinunter. Als sie die Tür aufstieß, hätte sie fast aufgeschrien – zwei glühende Augen starrten ihr aus dem Dunkel der hereinbrechenden Nacht entgegen. Undine war so verstört, daß es eine Weile dauerte, bis sie begriff, daß sie sich von einer Katze, die um das Haus strich, hatte erschrecken las sen. Ihr Herz schlug immer noch bis zum Hals, als sie durch die Dü nen zum Meer rannte. Sie hatte einen Plan, der, je weiter sie lief, immer festere Form annahm. Sie rannte den Strand entlang, bis sie zu der kleinen Bucht kam, wo die Fischerjungen den Sommer über ihre Ruderboote liegen hatten. Sie hatte Glück. Die meisten Jungen hatten ihre Boote rechtzeitig vor dem Unwetter eingeholt, aber eines war in der Bucht zurückgeblieben. Jetzt lag es kieloben auf dem Schlick. Es dauerte eine Weile, bis Undine es wieder herumgedreht hatte. Dann brachte sie das Boot zu Wasser, zog Schuhe und Strümpfe aus, warf sie hinein, ihr Bündel dazu. Dann hob sie mit der linken Hand den Rock hoch und watete, das Boot vor sich herstoßend, bis das Wasser tiefer wurde. Als sie endlich im Boot saß und die Ruder ins Wasser gleiten ließ, schloß sie für ein paar Sekunden die Augen. Der gefährlichste Teil der Flucht war geglückt, obwohl sie noch um die Insel herumfahren muß te, ehe sie die Richtung zum Festland einschlagen konnte. Mit kräftigen, sicheren Schlägen glitt sie das Ufer entlang. Sie achte te genau auf den Abstand. Sie mußte sich vorsehen, um nicht ins offe ne Meer hinausgetrieben zu werden. Der ›Deichkrug‹ und die Häuser des Fischerdorfes lagen hinter die Deiche geduckt, vom Meer her waren sie nur zu erkennen, wenn un ter ihren Dächern Lichter brannten. Das Wasser, heute fast unbewegt, schimmerte wie ein großer metallener Spiegel. Undine ruderte stetig und mit gleichmäßigen Schlägen. Endlich tauchte wie ein schmaler Nebelstreifen das Festland in der Ferne auf. Aber Undine änderte ihren Kurs noch nicht. Sie blieb in In selnähe, bis sie an die Anlegestelle der Fähre kam. Dort erst nahm sie Richtung auf das andere Ufer. Sie brauchte kaum eine halbe Stunde, um das Festland zu erreichen. 38
Nachdem das Boot aufgelaufen war, warf sie Schuhe, Strümpfe und ihr Bündel aufs Trockene. Dann stieg sie aus und gab dem Boot einen kräftigen Stoß, damit es in die Strömung geriet und vom Land fort trieb. Nun erst watete sie aus dem Wasser. Wohin? Undine wußte es nicht. Sie zog Strümpfe und Schuhe an und machte sich auf den Weg landeinwärts. Ihre Arme und Hände schmerzten vom Rudern, sie konnte kaum noch einen Fuß vor den an deren setzen. Aber sie stapfte weiter, wie von einer Macht getrieben, die stärker war als sie selber. Zur Rechten und Linken des schmalen Pfades, den sie gewählt hat te, lag die Marsch, dem Meer abgewonnenes Land. Es bot einen eintö nigen Anblick. Nur hier und da erhoben sich Werften, zum Schutz ge gen die Wassergefahr aufgeworfene Erdhügel, auf denen niedrige Häu ser standen. Nirgends war ein Licht zu sehen. Alle Menschen, außer ihr selbst, schienen zu schlafen. Endlich erreichte sie die Geest, das höher gelegene Land hinter der Marsch, und sah rechter Hand einen stattlichen Hof, dessen Eingang von einer mächtigen Eiche überschat tet wurde. Der Mondschein spiegelte sich in den Fensterscheiben, hin ter denen die Lichter erloschen waren. Undine blieb stehen, von einem seltsamen Gefühl berührt. Ihr war, als hätte sie dies alles schon einmal gesehen – vor langer, langer Zeit oder in einem anderen Leben. Alles schien ihr irgendwie vertraut. Selbst Einzelheiten, wie die eisernen Ringe links und rechts neben der Haustür, kamen ihr seltsam bekannt vor, obwohl sie auf der Insel der gleichen nie gesehen hatte. Ein überwältigendes Glücksgefühl ergriff sie. Aber es verging so schnell, wie es gekommen war. Plötzlich schien alles wieder fremd und kalt. Undine fühlte sich verlassener denn je. Sie schauderte vor Kälte, taumelte vor Müdigkeit, spürte, daß sie sich nicht länger auf den Bei nen halten konnte. Als sie um das langgestreckte Haus herumging, schlug ein Hund an, riß klirrend an seiner langen Kette. Aber sonst regte sich nichts. Ein gutes Stück vom Hof entfernt stand eine Scheune. Sie öffnete die Tür, tastete im Dunkeln, fand eine Leiter und kletterte hinauf. Sie 39
kroch, um warm zu werden, tief in das Heu hinein, ihr Bündel immer krampfhaft in der Hand haltend, um es nicht zu verlieren. Nur ein paar Stunden, dachte sie, dann bin ich wieder frisch. Bevor die Sonne aufgeht, muß ich weiter. Sie wagte nicht, die Augen zu schließen, wollte sich nur ausruhen. Aber sie war eingeschlafen, noch ehe der Hund aufgehört hatte zu bellen.
Gregor Ostwald, der Verwalter des Harmshofes, erwachte von dem Gebell. Er kläfft nur den Mond an, dachte er flüchtig und wollte sich auf die andere Seite drehen. Aber so schnell, wie er gehofft hatte, kam der Schlaf nicht wieder, und das Gebell wollte nicht aufhören. Der Verwalter setzte sich auf, lauschte. Hassan bellte zwar manch mal in der Nacht, wenn ein Fremder vorbeiging oder eine neue Magd sich spät in ihre Kammer schlich, aber doch nie so lange. Das mußte etwas zu bedeuten haben. Einen Augenblick wartete der Verwalter noch ab, ob nicht auch Iven, der Großknecht, Anstalten machte, nach dem Rechten zu sehen. Aber da nichts dergleichen geschah, beschloß er, selber hinunterzugehen. Zwar dachte er nicht an Einbrecher, aber der Bauer und seine Frau wa ren alt und kränklich, und sie würden es sehr übel vermerken, durch den Hund in ihrem ohnehin nur kurzen Schlaf gestört zu werden. Leise, um seine schlafende Frau nicht zu wecken, zog Gregor Ost wald Schuhe und Mantel an. Er nahm eine Taschenlampe und stieg die Treppe hinunter. Er benutzte nicht den vorderen Ausgang, sondern verließ das Haus durch die Ställe. Der Hund jaulte immer noch und riß wild an der langen Kette. Der Verwalter machte ihn los, legte ihm die Leine an. »Still, Hassan«, sagte er beruhigend, »still, such!« Hassan begann sofort in eine bestimmte Richtung zu ziehen. Er führte den Verwalter geradewegs zur Scheune, deren Tür halb offen stand. 40
Mit der Nase stieß Hassan die Tür ganz auf und zog den Verwal ter mit sich ins Innere. Gregor Ostwald knipste seine Taschenlampe an, ließ den Lichtkegel über das Heu gleiten. Auf den ersten Blick war nichts Verdächtiges zu sehen, doch dann erkannte er, daß jemand da war – das Heu oben auf dem Boden lag anders, als er es selber vor kur zer Zeit geschichtet hatte. »Hallo, wer da?« rief er laut. Hassan blaffte. Den Hund voran, kletterte der Verwalter die schmale Leiter hin auf, blieb gebückt stehen, griff, als Hassan mit einem kurzen Satz nach vorn wollte, die Leine kürzer. Dann sah er das zu Tode erschrockene blasse Mädchengesicht mit den weit aufgerissenen dunklen Augen, in denen nackte Angst stand. Er mußte beinahe lachen. »He, Hassan«, sagte er, »beruhige dich; schlägst Krawall wegen solch einer lütten Dirn!« Er kraulte ihn zärt lich hinter den Ohren. »Mir scheint, du wirst alt, mein Lieber!« Er wandte sich an das Mädchen. »Und du, reiß nicht die Augen so auf, als wenn du noch nie einen Menschen gesehen hättest. Ich bin kein Räu ber, und Hassan ist kein Wolf. Komm hervor aus deinem Lager und laß dich ansehen.« Undine spürte sofort, daß sie einen Menschen getroffen hatte, der wohlwollend war. »Entschuldigen Sie, bitte«, sagte sie zaghaft, ohne den Blick von ihm zu lassen, »ich wollte mich nur ausruhen.« »Hast wohl kein Geld für den Gasthof, wie?« Sie schüttelte den Kopf. »Wo kommst du her?« Sie war zu erschöpft, als daß ihr eine überzeugende Lüge eingefallen wäre, und so sagte sie ehrlich: »Von der Insel.« »Etwas angestellt?« Sie wurde rot, senkte zum erstenmal die Augen. »Die Leute dort mö gen mich nicht! Sie quälen mich. Ich bin anders als sie, und ich bin nicht auf der Insel geboren.« Jetzt wagte sie ihn wieder anzusehen. »Ich habe ihnen nie etwas getan, bestimmt nicht.« 41
Ihm war nicht entgangen, daß sie etwas verbarg, aber ihr offener Blick überzeugte ihn, daß es nichts wirklich Schlechtes sein konnte. »Papiere?« fragte er. Es dauerte einen Augenblick, bis sie verstand, was er meinte, dann knüpfte sie ihr Bündel auf und holte eine kleine abgeschabte Lederta sche heraus, in der ihre geringe Barschaft und ihr Taufschein steckte. Er nahm ihr das Blatt Papier aus der Hand, las: »Undine Carstens«, hob den Blick und fragte: »Ist das alles?« »Ja.« »Bißchen wenig. Ausweis hast du keinen? Geburtsurkunde?« »Ich bin ein …«, sie schluckte, »ein Findelkind.« »Ach so.« Er runzelte die Stirn. »Wo hat man dich denn gefunden?« »Im Meer. Ich war in ein Rettungskissen eingeschnürt, hat mir mein Vater erzählt. Mein Pflegevater, meine ich.« »Und wo ist dein Vater jetzt?« »Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Aufs Festland.« Ihre gro ßen Augen blickten ihn unverwandt an. »Deshalb bin ich fort. Weil niemand mehr da ist, der mich mag.« »Ich verstehe«, sagte der Verwalter, »ja, es ist schlimm, als Fremder unter Fremden zu leben. Aber was hilft's? Viele haben es lernen müs sen, die früher nie daran gedacht haben.« Sie war aufgestanden, hatte das Heu von ihrem Mantel geschüttelt. Er sah sie prüfend an. »Was willst du nun anfangen?« »Ich weiß es nicht.« »Kannst du arbeiten?« »Ich habe meinem Vater den Haushalt geführt.« »Ausgezeichnet. Dann könnte ich es schließlich mal mit dir versu chen. Wenn du willst, meine ich natürlich nur. Wir könnten jemand brauchen.« Er kletterte die Leiter hinunter, reichte ihr die Hand, um ihr herab zuhelfen. Als sie vor ihm stand, reichte sie ihm gerade bis zum Kinn. »Sind Sie der Bauer?« fragte sie. »Nein. Ein Fremdling wie du. Ich verwalte den Harmshof seit fünf 42
zehn Jahren. Meine Frau führt die Wirtschaft. Ihr könntest du zur Hand gehen.« »Das würde ich gern tun«, sagte Undine zu ihrer eigenen Überra schung. Ohne daß sie selber wußte, wie es geschehen war, hatte sie zu dem stattlichen Mann Vertrauen gefaßt. »Gut. Das andere besprechen wir morgen. Dann wird dir meine Frau auch dein Zimmer zuweisen. Heute kannst du in der Kammer vom Carsten schlafen. Der Junge hat eine Lungenentzündung und ist im Krankenhaus. Seine Kammer ist leer und das Bett frisch bezogen. Carsten ist unser Kleinknecht, mußt du wissen, Iven der Großknecht. Aber das erfährst du alles noch früh genug.« Sie waren nebeneinander über den Hof gegangen. Jetzt legte Gre gor Ostwald den Hund wieder an seine Kette und führte das Mädchen durch den langgestreckten Stall ins Haus. Sie folgte ihm schweigend, ganz benommen von der unverhofften Wendung der Dinge. Sie hätte denken mögen, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Es war ihr nicht oft geschehen, daß ein Mensch sich ihrer so selbstverständlich annahm. »Schlaf in Frieden«, sagte er, als er die Tür zu einer karg eingerich teten Kammer öffnete. »Hast du eine Uhr? Nein? Macht nichts. Wir werden dich zeitig genug wecken.« Das Frühstück durfte Undine am nächsten Morgen mit dem Verwalter, seiner Frau und dem Gesinde in der Küche einnehmen, einem großen Raum, der sich mit nichts ver gleichen ließ, was Undine bisher gesehen hatte. Die Wände waren bis zur Täfelung mit alten handgemalten Kacheln ausgelegt, deren Far ben schon ein wenig verblaßt waren, die aber dem Raum trotzdem et was besonders Anheimelndes gaben. Der große, blankgeputzte Herd, an dem die Verwalterin hantierte, stand in der Mitte, an den Wän den hing altes, wertvolles Küchengerät, das offenbar schon lange nicht mehr benutzt wurde, sondern nur noch zur Zierde diente. Während des Frühstücks – es gab stark gesüßten Milchkaffee mit dicken Scheiben frischen Brotes – wurde so gut wie nichts gespro chen. Der Verwalter hatte Undine nur mit einem einzigen Satz bekannt 43
gemacht, und niemand schenkte ihr besondere Beachtung. Das Mäd chen selber wagte nur ganz verstohlen, unter ihren langen, sanft gebo genen Wimpern die anderen zu beobachten – Iven, den Großknecht, der langsam und mit großem Bedacht aß, seine Brotkanten immer wieder in den Milchkaffee tauchend, den Verwalter, der genauso kräf tig und noch vertrauenerweckender wirkte als in der Nacht, und sei ne Frau, die im Gegensatz zu den beiden Männern sehr flink, lebhaft und zierlich war. Alles war für Undine neu und interessant, aber immer wieder glitt ihr Blick zu Gregor Ostwald hin. Er merkte es schließlich. »Was schaust du mich so an, Dirn?« fragte er mit einem lächelnden Stirnrunzeln. Sie wurde rot bis unter den Ansatz ihres pechschwarzen Haares. »Ich habe es nicht mit Absicht getan«, stotterte sie. Die Männer lachten. »Laß die Dirn in Frieden«, sagte die Verwalterin, »wenn man in der Fremde ist, wird man doch wenigstens schauen dürfen.« Sie begann energisch den Tisch abzuräumen. »Seht zu, daß ihr fertig werdet. Es ist gleich sechs Uhr, und das Vieh muß gefüttert werden.« Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als die Tür aufging und ein hünenhafter junger Mann eintrat. Undine erkannte ihn sofort. Er war das Ebenbild des Verwalters, nur an die dreißig Jahre jünger. Blitzartig begriff sie, warum ihr Gregor Ostwald von Anfang an so be kannt vorgekommen war – er hatte sie an den jungen Mann erinnert, der sie im ›Deichkrug‹ aus den Händen von Ole Peters gerettet hatte. »Bißchen spät dran, Frank, wie?« sagte der Vater gutmütig. »Be stimmt mal wieder bis in die Nacht hinein studiert.« Frank Ostwald antwortete nicht. Er betrachtete, fassungslos vor Überraschung, das Mädchen. »Undine Carstens!« stieß er hervor. »Du?« Der Verwalter stand auf; sein Gesicht hatte plötzlich jede Freund lichkeit verloren. »Wieso?« fragte er schroff. »Ihr kennt euch?« Frank Ostwald trat auf das Mädchen zu. »Wie kommst du hierher?« »Ich vermute, du müßtest es selber am besten wissen«, sagte der Va 44
ter. Er musterte den Sohn voll Skepsis. »Nein«, erwiderte Frank ruhig, »wie kommst du darauf?« »Mahlzeit miteinander!« Der Großknecht grinste unbehaglich. Dann, als niemand ihm antwortete, zog er sich rasch aus der Küche zurück. »Es ist ein reiner Zufall«, erklärte Frank Ostwald mit Nachdruck. Auge in Augen standen sich die beiden Männer, Vater und Sohn, ge genüber. »Ich habe das Mädchen erst einmal im Leben gesehen. Drü ben auf der Insel. Und ich wette, sie kannte nicht einmal meinen Na men.« Frau Ostwald legte mit einer mütterlich beschützenden Geste ihren Arm um Undines Schulter. »Ist das wahr, Dirn?« »Ja.« Sie schluckte. »Es tut mir leid, ich habe nicht gewußt …« »Sie konnte es gar nicht wissen«, sagte Frank Ostwald, »wir haben kein Wort miteinander geredet. Und selbst wenn es anders gewesen wäre …« Seine Spannung löste sich plötzlich. Er zeigte ein jungenhaf tes Grinsen. »Ich bin doch nicht so einer, dem die Mädchen nachlau fen, noch dazu bei Nacht und Nebel.« Er reichte Undine seine kräftige braune Hand. »Ich bin Frank Ostwald. Deinen Namen kenne ich, und ich weiß auch noch einiges mehr über dich. Die Wirtin im ›Deichkrug‹ war froh, daß sie mir etwas erzählen konnte.« »Das kann ich mir denken.« Undine seufzte tief, ohne es selber zu merken. Sie sah den Verwalter mit einem großen Blick an. »Ich danke Ihnen für alles, Herr Ostwald. Sie waren so gut zu mir! Aber jetzt kann ich wohl nicht länger bleiben.« »Wieso denn?« fragte Gregor Ostwald erstaunt. »Weil ich auftauchte, nicht wahr?« stieß Frank nach. »Ja«, sagte sie leise. »Hast du Angst vor mir?« Sie schüttelte den Kopf. Frau Ostwald hatte ihrem Sohn eine große Tasse Milchkaffee einge schenkt und schnitt ihm ein kräftiges Stück von einem Laib hausge backenen Brotes ab. »Setz dich, mein Junge, iß!« sagte sie. »Und dann wollen wir mal in aller Ruhe überlegen. Wir können dich natürlich 45
nicht zwingen, bei uns zu bleiben, Undine – seltsamer Name, kann mich nur schwer dran gewöhnen –, aber willst du uns nicht wenig stens sagen, was du vorhast? Kennst du jemand, der dich aufnehmen würde?« Undine schwieg. Aber als sie die drei Augenpaare unverwandt auf sich gerichtet sah, begriff sie, daß ihr eine Antwort nicht erspart blieb. »Ich will fort«, sagte sie zögernd, »dorthin, wo mich niemand kennt.« Frank Ostwald sah sie belustigt über den Rand seiner Kaffeetasse hin an. »Du bist ein närrisches Ding, Undine. Bildest du dir etwa ein, auch wir würden glauben, daß du eine Hexe bist?« »Eine Hexe?« sagte seine Mutter. »Was ist das für ein Unsinn?« »Da hörst du es selber, wie Mutter über so etwas denkt, Undine.« Frank sah seine Eltern an. »Sie haben sie eine Hexe genannt auf der In sel, sie haben sie gequält, sie haben es soweit getrieben, daß ich mich nicht wundern würde, wenn sie sich selber für eine Hexe hielte. Habe ich recht, Undine?« Sie hatte die Hände gegeneinandergepreßt und sah ihn nur aus ängst lichen Augen an. »Und deshalb willst du davonlaufen? Bis du zu Menschen kommst, die nichts von dir wissen, die nicht dir die Schuld geben, wenn ein Un glück geschieht, eine Kuh verkalbt oder die Milch sauer wird.« Frank Ostwald lachte verächtlich. »So ist es doch wohl mit dem Hexenwahn, der ist was für die Unbelehrbaren, die nicht eher zufrieden sind, bis sie einen Sündenbock gefunden haben. Bleib bei uns, Undine«, sag te Frank Ostwald herzlich. »Nach ein paar Wochen werden wir sehen, ob es dir auf dem Harmshof nicht doch gefällt …«, er schmunzelte, »und ob Mutter dich überhaupt brauchen kann. Fort kannst du immer noch. Sag nicht nein, wenn wir alle dich bitten.«
Undine blieb, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Sie war überzeugt, als Mörderin gesucht zu werden, und jedesmal, wenn ein Fremder sich dem Haus näherte, versteckte sie sich. 46
Ostwalds merkten es wohl, aber sie verloren kein Wort darüber. Frank hatte seinen Eltern jenen Auftritt im ›Deichkrug‹, bei dem ihm Undine zum erstenmal begegnet war, ausführlich geschildert. Er wuß te auch, daß man ihr auf der Insel die Schuld an dem Tod des jungen Ole Peters gab. Die Ostwalds waren tiefgläubige Menschen, und des halb fehlte ihnen für Hexenwahn jedes Verständnis. Sie sahen nur, daß Undine ein armes, gequältes Menschenkind war, und sie hatten den Wunsch, sie zu schützen. Bei der Hausarbeit ließ sie sich geschickt an, und auch im Umgang mit dem Vieh, der ihr bisher ungewohnt gewesen war, fand sie sich rasch zurecht. Frau Ostwald hatte sie gern um sich und gab ihr man ches gute Wort. Der Verwalterin gefiel es, daß man Undine nicht jede Arbeit auftragen mußte, sondern daß sie immer und überall freiwil lig zugriff, wo es not tat. Sie staunte über die Feinfühligkeit des Mäd chens. Oft geschah es sogar, daß Undine ihr einen Wunsch erfüllte, kaum daß sie ihn selber gedacht hatte. Frank Ostwald blieb Undine gegenüber das, was er von Anfang an gewesen war – der aufmerksame Beschützer. Sie bewunderte seine Kraft, seine Ruhe, seine Zuverlässigkeit und nutzte jede Minute, die sie mit ihm zusammen sein konnte. Zwar wußte sie, daß er nur nach Hause gekommen war, um Carsten, den kranken Kleinknecht, zu ver treten, daß er bald wieder zur fernen Universität zurück mußte. Aber sie schob den Gedanken an Abschied und Trennung innerlich in wei te Ferne. Selbst mit dem Harmshofbauern und seiner Frau, zwei sehr eigen artigen alten Leuten, denen das übrige Gesinde und auch die Verwal tersleute so weit wie möglich aus dem Wege zu gehen pflegten, kam sie gut aus. Als sie zum erstenmal den Mittagstisch in der schönen alten Stu be mit den Seidentapeten decken durfte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Alles hier war so ungewohnt – der schöne Teppich, die alte hol ländische Uhr, die hinter einer Glasscheibe in die Wand eingelassen war, der Schrank, hinter dessen Glastüren Silber und kostbares Por zellan blinkten. Nie in ihrem Leben hatte Undine etwas Ähnliches ge 47
sehen. Und doch war ihr, als ob sie in ihrer Kindheit davon geträumt hätte. Sie erschrak, als unvermutet die Bäuerin, eine zierliche weißhaarige Frau, in die Stube trat. Sie wirkte krank und abgezehrt, das feine Ge sicht war von Leid gezeichnet, nur die hellen Augen blickten scharf. Schwer stützte sie sich auf ihren Krückstock, als sie näher kam. »Wie heißt du?« fragte sie und musterte das tief errötende Mädchen von den Fußspitzen bis zu den Haarwurzeln mit einem mitleidlos abschätzen den Blick. »Undine.« Sie spürte, wieviel für sie von dem Wohlwollen der alten Frau abhing, und versuchte einen jener treuherzigen Augenaufschläge, mit denen es ihr schon in frühester Kindheit oft gelungen war, einen Menschen für sich zu gewinnen. »Der Verwalter hat mich als Klein magd angestellt.« »Woher kommst du?« »Von der Insel.« Die Bäuerin verzog ärgerlich den Mund. »Warum hat man mir nichts davon gesagt?« Undine nahm allen Mut zusammen. »Wenn Sie nicht wünschen, daß ich da bin, gehe ich natürlich wieder«, sagte sie ganz ohne Trotz. Fast eine halbe Minute lang sahen sich die beiden fest in die Augen. »Bleib«, sagte die alte Frau endlich, »laß dich nicht stören.« Sie wies mit einer Kopfbewegung zum gedeckten Tisch hin. »Ich sehe, du bist nicht ungeschickt. Sag der Verwalterin, daß du uns nachher bedienen wirst.« Undine begriff, daß dies eine große Ehre war, und sie war froh, daß man ihr Vertrauen schenkte. Von nun an durfte sie die ›Herrschaft‹, wie man den Bauern und seine Frau auf dem Harmshof nannte, bei jeder Mahlzeit bedienen. »Morgen fahre ich zu Carsten«, sagte Frank Ostwald am ersten Samstag, den Undine auf dem Harmshof arbeitete. »Willst du mitkommen?« »Ja«, sagte Undine, »aber …« Sie warf einen fragenden Blick zur Ver walterin hinüber. »Geh nur, Kind«, lächelte Frau Ostwald, »ich verstehe schon, daß du deinen Pflegevater besuchen willst.« 48
Sie saßen in der Küche beim Mittagessen. Undine sprang so heftig auf, daß die Suppe in ihrem Teller fast übergeschwappt wäre. »Zu mei nem Vater?« »Ja«, sagte Gregor Ostwald bedächtig, »er liegt im gleichen Kranken haus wie Carsten. Wir haben uns erkundigt.« »Oh«, rief Undine und sah mit Tränen in den Augen von einem zum anderen, »ihr seid so gut zu mir. Ich weiß nicht, wie ich euch danken soll.«
In dieser Nacht fand Undine keinen Schlaf. Der Gedanke an ein Wie dersehen mit ihrem Pflegevater erregte sie zu sehr. Sie hatte ihn keinen Augenblick vergessen. Aber jetzt, da sie so bald wieder bei ihm sein sollte, wurde die Sorge um ihn auf einmal wieder ganz stark. Es war noch etwas anderes, das sie beunruhigte. Sie hätte alles dar um gegeben, auf dem Harmshof bleiben zu dürfen. Dennoch wurde sie das ungute Gefühl nicht los, sich in das Vertrauen der Ostwalds eingeschlichen zu haben. Wenn sie alles von ihr wüßten – ob sie dann auch so freundlich aufgenommen worden wäre? Bestimmt nicht. Man hätte sie der Polizei ausgeliefert. Und Frank Ostwald – er würde nicht mehr so zu ihr sein. Undine begriff, daß sie sich mehr bedeuteten, als gut war … Es war eine klare, kalte Nacht. Fahles Mondlicht schien in Undines Kammer. Von der Kirche des fernen Dorfes schlug die Uhr. Undine zählte. Zwölf Schläge – Mitternacht. Es hielt sie nicht mehr länger im Bett. Sie stand auf, öffnete weit das Fenster, atmete die reine Nachtluft. Da sah sie ihn wieder – Jakobus Schwenzen. Mit kleinen, gleitenden Schritten kam er über den Hof, näherte sich dem Haus, eine geisterhaft blasse Gestalt im Schimmer des Mondes. Hassan schlug nicht an; er wimmerte nur. Undine schloß die Augen, hoffte inbrünstig, daß der Spuk ver schwunden sein möge, wenn sie sie wieder öffnete. Aber das Bild hatte 49
sich kaum verändert. Die Gestalt, die Undine für den Geist eines To ten hielt, hatte jetzt die Hintertür erreicht. Das Mädchen hörte, wie Ja kobus Schwenzen dreimal gedämpft gegen das Holz pochte. Mit einem qualvollen Aufschrei brach sie zusammen. Als Undine aus ihrer Ohnmacht erwachte, war Frank Ostwald bei ihr. Wie ein Kind nahm er sie auf die Arme. Er trug sie zum Bett und deckte sie zu. »Was ist, Undine?« fragte er. »Was hast du? Was ist geschehen?« Es dauerte eine Weile, bis sie die Sprache wiederfand. Dann stieß sie mühsam hervor: »Jakobus Schwenzen …« Frank Ostwald beugte sich zu ihr. »Ja? Was ist mit ihm?« »Er war hier. Ich habe ihn gesehen. Er pochte an die Hintertür.« »Das mag wohl sein«, erwiderte Frank Ostwald gelassen. »Aber was soll's? Bis in deine Kammer wird er nicht kommen.« Sie ertrug es nicht länger, mußte sich das, was sie seit Tagen bedrück te, von der Seele reden. »Ich habe ihn getötet!« sagte sie. Es klang wie ein Stoßseufzer. Frank Ostwald sah sie verständnislos an. »Wieso? Nein, Mädchen, das kann nicht sein. Das hast du geträumt.« Er stand auf, trat zum Fen ster, spähte hinaus. »Es ist nichts zu sehen. Komm her, überzeug dich selber, wenn du mir nicht glaubst. Er müßte doch noch dort unten lie gen.« Undine erwiderte sein Lächeln nicht. »Nicht hier – nicht jetzt«, stammelte sie, »damals ist es geschehen, als ich aus dem ›Deichkrug‹ kam. Ich wollte nach Hause, und er …« Sie schlug die Hände vors Ge sicht. »Ich habe ihn erschlagen. Ich konnte nicht anders. Ich mußte mich doch wehren.« Ihre Verkrampfung löste sich in einem Strom wil der Tränen. »Armes Kind«, sagte Frank Ostwald erschüttert, »was mußt du durchgemacht haben.« Er strich ihr über das Haar. »Weine dich aus, weine nur, das wird dir guttun.« Sie sah ihn an mit einem Blick voller Vertrauen. Plötzlich zog er seine Hand so rasch zurück, als ob er sich verbrannt hätte. Undine war nicht einmal schön in diesem Augenblick, das schwarze Haar zerzaust, die Augen vom Weinen gerötet, und doch hatte ihn ihr Anblick zutiefst berührt. Er erhob sich und bohrte die 50
Hände in die Taschen des Mantels, den er sich übergeworfen hatte, als er zu ihr lief. Er sah sie nicht an, als er sagte: »Jakobus Schwenzen ist nicht tot. Ich habe ihn noch gestern an der Fähre gesehen.« Sie richtete sich auf. »Ist das wahr?« fragte sie. »Ist das wirklich wahr? Oder …« Sie schluckte, sprach den Satz nicht zu Ende. »Ich lüge dich nicht an«, erklärte er mit fester Stimme. »Jakobus Schwenzen lebt. Daß du den Kerl vorhin gesehen hast, glaub' ich dir gern. Aber er war es leibhaftig. Nicht etwa sein Gespenst.« Er zögerte einen Augenblick, fragte dann: »Kannst du schweigen, Undine?« Sie nickte heftig. »Dann sag' ich dir etwas – aber bitte sprich nicht darüber, meine El tern hören es nicht gern.« Er senkte seine Stimme. »Jakobus Schwen zen kommt oft hierher, die Harmshofbauern lassen ihn holen.« »Aber wozu?« fragte Undine mit angstvollen Augen. »Er bespricht ihre Krankheiten – oder wie man das nennt. Ich ken ne mich in diesen Dingen nicht aus. Jedenfalls versucht er, sie auf sei ne Art zu kurieren.« »Und warum kommt er so heimlich? Um Mitternacht?« »Das fragst du mich? Du solltest dich doch eigentlich in diesen Bräu chen besser auskennen als ich.« Er hatte einen Scherz machen wollen, aber ihr Gesicht wurde sofort glutrot. Sie holte tief Atem, fragte, die Hände vor der Brust gegenein andergepreßt: »Du – glaubst es also auch?« »Was?« »Daß ich eine Hexe bin.« »Aber, Undine, was für ein Quatsch! Es gibt keine Hexen. Wer dich so reden hört, könnte meinen, du hieltest dich selbst für eine.« »Ich weiß es nicht«, sagte sie schwer. »Sie haben dich halb verrückt gemacht auf der Insel, du mußt al les vergessen«, sagte er begütigend. Und um der Situation, die für ihn immer unerträglicher wurde, zu entfliehen, fügte er hinzu: »Weißt du was? Ich gehe jetzt in die Küche hinunter und koche einen Tee. Zieh dir einen Mantel über und komm mir nach. Einschlafen können wir jetzt doch nicht so bald.« 51
In der Küche war es warm und gemütlich. Der Wasserkessel summte schon auf dem Feuer, als Undine herunterkam. Sie hatte sich die Zeit genommen, ein Kleid anzuziehen und ihr schwarzes Haar sorgsam zu flechten. Sie lächelte scheu, als sie seinen bewundernden Blick auf sich fühlte. »Schön bist du«, sagte er, »das muß dir sogar der Neid lassen. Hast du dir nicht schon einmal überlegt, ob die Leute auf der Insel nicht nur deshalb so böse zu dir sind, weil du eine Fremde bist?« Sie wurde sofort wieder ernst. »Du verstehst das nicht«, sagte sie. »Nun, vielleicht versuchst du es mir zu erklären. Warum hältst du dich selber für eine Hexe? Denn so ist es doch, nicht wahr?« »Nein«, sagte sie, »es ist nur – manchmal bin ich mir selber unheim lich.« »Na, so was«, sagte er verblüfft, aber das Lachen verging ihm unter dem qualvollen Blick ihrer großen Augen. »Erzähl mir, Undine«, bat er, »ich möchte dir so gerne helfen. Aber wie kann ich das, wenn ich nichts über dein Leben weiß?« »Du wirst mich wieder auslachen.« »Bestimmt nicht.« Er gab die Teeblätter in eine angewärmte Kanne, Undine stellte Tas sen und die Büchse mit Kandiszucker auf den Tisch. Sie wartete ab, bis das Wasser kochte, und goß dann den Tee auf. »Es ist so«, erklärte sie mühsam und blieb neben ihm stehen, »manch mal geht in Erfüllung, was ich mir gewünscht habe.« »Da ist doch nichts dabei«, sagte er, »das geht jedem so.« Es fiel ihr schwer, weiterzusprechen. »Besonders dann, wenn ich jemand etwas Böses gewünscht habe …«, sagte sie. Er sah sie erstaunt an. »Tust du denn so etwas?« »Ja.« Sie schwieg, und als auch er nichts sagte, fügte sie mit gepreß ter Stimme hinzu: »Siehst du, nun magst du mich auch nicht mehr. Ich bin schlecht.« Er nahm ihr die Teekanne aus der Hand, goß die Tassen voll. »Setz dich, Undine«, sagte er ruhig. »Verrate mir, was wünschst du denn Böses?« 52
»Jetzt nicht mehr, aber als ich noch in die Schule ging. Wenn einer von den anderen mich besonders schlimm geärgert hatte, dann habe ich ihm was angewünscht. Daß er seine Aufgaben vergessen haben sollte oder so etwas, daß der Lehrer ihn verhauen sollte.« »Und diese Wünsche haben sich erfüllt?« »Oft.« Frank Ostwald hatte drei Stück Kandis in seine Tasse getan, rührte nachdenklich um. »Bitte, sei ganz ehrlich. Du sagtest, du würdest den Leuten jetzt nichts Böses mehr wünschen. Ist das wirklich wahr?« Sie nickte. »Ja. Ich tu's nicht mehr, weil ich weiß, daß es gefährlich ist.« »Und wie war das mit Ole Peters? Erinnerst du dich, daß du geschrien hast: ›Das wirst du bereuen‹, oder so etwas?« »Ja, aber ich habe ihm nichts Böses gewünscht. Ich wollte ihn nur er schrecken, weil er …« »Ich verstehe.« Frank Ostwald biß sich auf die Oberlippe. »Weißt du, was mit Ole Peters geschehen ist?« fragte er vorsichtig. »Nein«, sagte sie, »was ist mit ihm?« »Er ist verunglückt.« »Nein!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Er sah, daß ihr Entsetzen ehrlich war, und wünschte, er hätte nicht davon angefangen. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. »Es geschah in der Nacht, als du die Auseinandersetzung mit Jakobus Schwenzen hattest. Ole ist mit dem Motorrad gestürzt. Er ist tot.« Sie sagte nichts. Und Frank ließ ihr Zeit, sich zu fassen. Endlich hob sie den Kopf und sah ihn aus brennenden Augen an. »Das habe ich nicht gewollt«, flüsterte sie, »du mußt es mir glauben – das nicht.« Er nahm ihre Hand. Sie war sehr kalt und zitterte zwischen seinen großen braunen Händen. »Ob du es gewünscht hast oder nicht, spielt keine Rolle. Daß Ole Peters verunglückt ist, kann nicht mit deinen Ge danken zusammenhängen. Er war allein schuld daran. Er war ein An geber und ein Rowdy, das weißt du doch. Einem von dieser Sorte pas siert eben leicht so etwas.« »Die arme Frau Peters«, sagte Undine erschüttert, »es war ihr einzi ger Sohn.« 53
»Natürlich ist es traurig. Aber bitte, tu mir den Gefallen und gib dir nicht die Schuld.« »Du hast doch auch einen Verdacht gehabt, Frank. Sonst hättest du mich nicht gefragt – nicht so gefragt.« Er zuckte die Schultern, gab ihre Hand frei. »Ich weiß selber nicht, was da über mich gekommen ist.« Er lachte gequält. »Niemand von uns ist ohne Schuld und ohne Bosheit. Sonst wären wir ja Engel.« »Ich möchte so gern gut sein.« »Das glaube ich dir. Gerade deshalb nimmst du die Dinge zu schwer. Wenn ich so genau sein wollte wie du – ich bin ja auch schuld an dem, was in jener Nacht geschehen ist. Hätte ich sofort eingegriffen, als die Burschen dich zu hänseln begannen, dann hättest du gar nicht dar an gedacht, Ole Peters zu erschrecken. Wenn ich dich nach Hause ge bracht hätte, wäre dir das mit Jakobus Schwenzen nicht passiert. Siehst du nicht ein, daß man die Dinge auch so ansehen kann?« »Du bist wie mein Vater«, sagte sie mit einem Lächeln, »er versteht es auch, mich zu trösten.« Er wußte selber nicht, warum ihn diese Bemerkung verletzte, aber Undine las ihm an den Augen ab, daß sie etwas falsch gemacht hatte. »Du kannst noch mehr als mein Vater«, fügte sie rasch hinzu, »du kannst mich beschützen. Er hätte es auch getan, aber er ist zu alt. Ich konnte auch nie so mit ihm sprechen wie mit dir, weil ich ihm nicht das Herz schwermachen wollte. Ihr seid alle so gut zu mir, auch dei ne Eltern und die Bauern. Ich bin sehr froh, daß ich hier sein darf, bei euch auf dem Harmshof. Für mich ist das wie ein richtiges Zuhause.«
54
III
I
n der Wohnstube war es ganz still. Die drei Menschen hielten ihren Atem an. Nichts war zu hören als das Knistern des Feuers in dem prächtigen Kamin mit den handgemalten Kacheln und das Ticken der alten holländischen Uhr, die hinter Glas in die Täfelung der Wand oberhalb der Seidentapete eingelassen war. Jakobus Schwenzen hielt ein Pendel an einem dünnen Faden über eine verblichene Fotografie. Er und die Harmshofbauern starrten ge bannt auf das kleine blanke Stückchen Metall, das keine Anstalten machte, sich zu bewegen. »Merkwürdig«, sagte Jakobus Schwenzen schließlich mit gedämpfter Stimme. Er ließ die Hand mit dem Pendel sinken. »Ob wir etwas falsch gemacht haben? Ich weiß genau, ich bin Schlag Mitternacht gekom men, und ich habe das Pendel dreimal bei Neumond mit dem Kno chen eines hingemordeten Kindes berührt. Sehr sonderbar.« Er be trachtete die Fotografie. »Wo habt ihr sie aufbewahrt?« »In der Truhe mit seinen alten Sachen«, versicherte die Bäuerin. »Dann kann es daran auch nicht liegen.« Jakobus Schwenzen tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen die Nasenwurzel. »Versuch es noch einmal«, drängte der Bauer Uwe Harms ungedul dig. Jakobus Schwenzen schüttelte den Kopf. »Das kann nichts nützen. Böser Einfluß steht im Wege. Dämonen.« Lauernd sah er die Harms hofbauern an, als er hinzufügte: »Ich hoffe, es ist kein Fremder bei euch auf dem Hof?« »Nein«, sagte die alte Bäuerin sofort. »Warte mal, Mathilde«, warf Uwe Harms ein, »denk an das neue Mädchen.« 55
Die alte Bäuerin schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. So ein lie bes Ding. Du wirst sie doch nicht mit Dämonen in Verbindung brin gen wollen?« Jakobus Schwenzen verstaute das Pendel sorgfältig in einem leder nen Futteral. »Wir brechen die Sitzung besser ab, denke ich …« »Was fällt dir ein?« Zornig stieß der alte Bauer mit seinem Krück stock auf den Boden. »Wozu bist du gekommen, wenn du uns nur an der Nase herumführen willst, Jakobus Schwenzen?« »Mir auch noch Vorwürfe machen – das habe ich gern«, murrte Ja kobus Schwenzen. »Wer hat unseren Vertrag gebrochen, ihr oder ich? Hattet ihr mir nicht versprochen, niemand auf den Hof aufzunehmen, ohne mich vorher um Rat zu fragen?« »Du wirst unverschämt, Jakobus Schwenzen«, polterte Uwe Harms, »noch bin ich hier der Herr.« »Ja, noch – das sagst du sehr richtig, Bauer. Aber was wird sein, wenn du nicht mehr bist? Was wird dann aus dem Harmshof? Vergiß nicht, daß du meine Hilfe brauchst. Oder willst du, daß Haus und Hof und alles, was dazugehört, in fremde Hände kommt?« Jakobus Schwenzen schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich gehe jetzt. Ihr könnt mich wieder rufen lassen, wenn ihr euch besonnen habt.« »Bleib«, befahl die Bäuerin mit fester Stimme, »du kennst meinen Mann. Du weißt, daß er nicht immer denkt, was er sagt. Wir haben Unrecht getan, dir nicht gleich von der neuen Magd zu erzählen. Aber wir haben es vergessen. Ein sanftes, liebes Ding. Wer denkt da an et was Böses?« »Vielleicht hast du recht, Bäuerin. Ich gehöre nicht zu denen, die gern von ihren Mitmenschen Schlechtes denken«, sagte Jakobus Schwen zen. Er rieb sich die Hände. »Und wenn ihr Eurer Sache ganz sicher seid …« Die Bauersleute wechselten verstohlene Blicke. »Nein, das sind wir nicht«, sagte Mathilde Harms dann. »Wir kennen das Mädchen zu we nig.« »Ihr seid also einverstanden, wenn ich die Hexenprobe mache?« Jakobus Schwenzen wartete die Antwort nicht ab. Er nahm eine klei 56
ne Metallschale und schüttete aus einem Lederbeutel, in den seltsame Zeichen eingegerbt waren, kleine dunkle Kügelchen hinein. »Das ist Teufelsdreck, den werde ich jetzt anzünden. Das gibt nichts weiter als einen großen, fürchterlichen Gestank. Ihr müßt euch die Nasen zu halten.« »Ja, und was hat das mit der Dirn zu tun?« wollte die Bäuerin wis sen. »Wenn sie eine Hexe ist, wird sie hier erscheinen. Der Rauch quält sie wie das höllische Feuer. Er zwingt sie zu kommen.« »Da wirst du kein Glück haben«, sagte der Bauer. »Sie ist längst in ih rer Kammer und wird es gar nicht riechen bis nach oben.« »Ihr irrt euch«, widersprach Jakobus Schwenzen ruhig und entzün dete einen Span am Ofenfeuer, »das spüren Hexen kilometerweit.« Er hielt die brennende Spitze des Spans an die Kügelchen in der Metallschale; eins nach dem anderen begann zu glühen, und gräßlich rie chende Rauchfahnen kräuselten auf. »Und wenn sie nicht kommt, was dann? Ist sie dann freigesprochen?« fragte die Bäuerin. »Nein. Das würde nicht beweisen, daß sie keine Hexe ist, sondern nur, daß wir es mit stärkeren Mitteln versuchen müssen. Dies ist nur die einfachste Probe. Ich kann selber nicht glauben, daß sie darauf an spricht. Undine ist …« Mathilde Harms unterbrach ihn erstaunt. »Wie so kennst du ihren Namen?« Jakobus Schwenzen begriff, daß er sich verraten hatte, aber er verlor keinen Augenblick die Fassung. »Nanntest du sie nicht selber so, Bäue rin?« »Ihr Name ist noch nicht gefallen.« »Woher könnte ich ihn dann kennen? Ihr spracht von Undine, ganz bestimmt. Und der Name ist nicht so häufig, daß ich glauben könnte, sie wäre eine andere als die Inselhexe. Man hat sie dort vertrieben, weil sie einen jungen in den Tod geschickt hat. Ole Peters hieß er. Ihr könnt euch erkundigen, ob ich die Wahrheit spreche. Jetzt ist sie also bei euch, und mir scheint, sie hat ihre Künste nicht schlecht angewandt. Ihr seid ja wirklich sehr eingenommen von der Dirn …« 57
»Ich kann es nicht glauben«, sagte Mathilde Harms kopfschüttelnd, »Undine eine Hexe?« Sie konnte nicht weitersprechen, denn der Rauch stieg ihr beizend in die Kehle; sie mußte husten. »Haltet euch ein Taschentuch vor Nase und Mund«, rief Jakobus Schwenzen, »und dann schweigt, damit der Zauber wirksam werden kann.« Er hob die Hände, machte beschwörende Gesten, lallte unver ständliche Worte vor sich hin, gab seltsame Urlaute von sich, die die al ten Leute erschauern ließen. Plötzlich wurde die Stimme Jakobus Schwenzens deutlich. Hohl und tonlos klang es, als er rief: »Die du eine Hexe bist, verschrieben dem Teufel, erscheine, beende die Qual! Hexe, komm, dir bleibt keine Wahl! Undine – Undine – Undine!« Allen, selbst Jakobus Schwenzen, verschlug es den Atem, als sich plötzlich die Stubentür öffnete und Undine Carstens eintrat. »Ihr habt mich gerufen?« fragte sie. »Was für ein Qualm! Ist etwas mit dem Ofen passiert?« Sie wollte weiter ins Zimmer kommen. »Bleib!« donnerte Jakobus Schwenzen, als er sich von seiner Überra schung erholt hatte. Jetzt erkannte sie ihn, denn der dicke Rauch war fast undurchdring lich. Sie wurde sehr blaß, aber sie sah dem Mann, der sie vernichten wollte, unerschrocken in die Augen. »Was willst du von mir?« fragte sie hart. »Bist du es, der hier zu befehlen hat?« Die alte Bäuerin kam näher und sagte in einer Mischung aus Furcht und Mitgefühl: »Geh jetzt, Kind, geh schlafen.« Ohne Jakobus Schwenzen noch eines Blickes zu würdigen, verließ sie die stickige Stube. Niemand erwiderte ihren Gutenachtgruß.
»Ich kann Undine nicht fortjagen«, erklärte der Verwalter Gregor Ost wald mit Nachdruck, »sie ist ein Mensch und kein hergelaufener Kö ter.« Das Gesicht des Harmshofbauern war starr. »Dann schicken Sie sie mir. Ich werde es tun.« 58
»Aber warum? Was haben Sie gegen das Mädchen? Ich begreife das einfach nicht. Sie ist überaus willig und anstellig und …« »Sie muß fort. Noch bin ich der Herr auf diesem Hof, und was ich be stimme, hat zu geschehen. Ich bin niemand Rechenschaft schuldig.« Gregor Ostwald gab immer noch nicht auf. »Meine Frau«, sagte er, »ist so froh, daß sie endlich eine Hilfe hat. Allein war es nicht mehr zu schaffen, und Sie wissen doch, Bauer, gute Kräfte sind heutzutage rar, besonders in der Landwirtschaft.« »Ich will dieses Mädchen nicht auf meinem Hof haben«, erklärte Uwe Harms starrsinnig. Das Gespräch fand am Sonntagmorgen nach der Kirche in der gu ten Stube statt. Die Männer standen sich Auge in Auge gegenüber. In beiden loderte unterdrückter Zorn. Den Bauern kränkte es, daß seine Anordnungen nicht ohne Gegenfrage durchgeführt wurden, und Gre gor Ostwald wurde es wieder einmal bitter bewußt, daß er nicht mehr wie früher Herr auf eigenem Grund und Boden war, sondern unsinni ge Befehle entgegennehmen mußte. »Hängt es mit gestern abend zusammen?« fragte der Verwalter. »Weil sie noch zu so später Stunde in die Stube kam?« Der Bauer schwieg. Gregor Ostwald merkte, daß er der Klärung der Dinge nahe war. »Mein Sohn hat mir davon erzählt«, sagte er, »er hat mit Undine noch eine Tasse Tee in der Küche getrunken. Fragen Sie mich nicht, warum. Junge Leute haben oft sonderbare Einfälle. Als sie wieder nach oben gingen, hörte Frank eine laute Stimme. Ihm schien, als ob jemand den Namen ›Undine‹ riefe, und er sagte es dem Mädchen. Er riet ihr, in der Stube nach dem Rechten zu schauen, und so tat sie es. Wenn einer also die Schuld trägt an der Störung, dann ist es mein Sohn, nicht das Mäd chen.« Er schwieg und sah den alten Mann erwartungsvoll an. »Sie sehen die Dinge nicht, wie sie sind«, erwiderte der Bauer ei gensinnig, »das Mädchen ist kein guter Mensch, sie ist …« Der Bau er schreckte davor zurück, das auszusprechen, was er wirklich dachte. »Die Bäuerin und ich wollen sie ganz einfach nicht mehr hier haben«, sagte er statt dessen. 59
»Die Bäuerin hat Undine immer sehr gern um sich gesehen, ich kann nicht glauben …« »Schluß!« Uwe Harms stieß den Krückstock mit zitternder Wut zu Boden. »Ich will kein Wort mehr hören!« Der Verwalter duckte sich nicht. »Sie können das nicht tun!« sagte er heftig. »Das Mädchen steht allein in der Welt, ihr alter Vater liegt mit einem Schlaganfall im Kran kenhaus. Sie hat niemand, der sich um sie kümmert. Sie können sie nicht ins Elend hinausstoßen, Sie sind doch ein Christ.« Das Gesicht des alten Mannes schien von einer Sekunde zur anderen zu verfallen. »Ich tue es ja nicht gern, Ostwald«, sagte er mit gänzlich veränderter, weicher Stimme. »Aber es muß sein.« »Wer zwingt Sie denn dazu?« fragte Gregor Ostwald, und als der an dere schwieg, gab er sich selber die Antwort. »Jakobus Schwenzen, das hätte ich mir denken können. Er hat Ihnen eingeredet, daß Undine fort muß, weil sie angeblich eine Hexe ist. Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt? Dann hätte ich mir jedes Wort sparen können. Ich weiß ja längst, gegen Aberglauben und Dummheit ist kein Kraut ge wachsen.« »Sie nehmen sich allerlei heraus, Ostwald«, warnte der alte Mann, aber seine Empörung hatte keine Kraft mehr. »Weil ich mich verant wortlich fühle, Bauer. Seit mehr als fünfzehn Jahren verwalte ich jetzt den Harmshof, und ich habe es so gewissenhaft getan, als ob es mein eigener wäre. Es ist schwer für mich, mit anzusehen, daß seine Erträg nisse in die Taschen dieses …«, er schluckte das Wort, das er eigentlich hatte aussprechen wollen, hinunter und sagte statt dessen: »… dieses Jakobus Schwenzen fließen.« »Er hat uns schon große Dienste geleistet.« Gregor Ostwald lachte. »Dienste? Da bin ich aber gespannt. Noch nie habe ich gehört, daß Jakobus Schwenzen gearbeitet hätte.« »Sie tun ihm unrecht.« »Das glaube ich kaum. Aber hier geht es nicht um Jakobus Schwen zen, den man den Hexenbanner nennt, sondern um das Mädchen. Sie hat nichts Böses getan, seit sie bei uns auf dem Hof ist. Wir alle mögen sie gern. Wir können sie doch nicht einfach fortschicken, weil ein her 60
gelaufener …«, er mußte wieder ein Wort verschlucken, »Mensch sie angeschwärzt hat.« »Sie stört ihn in seinen Nachforschungen!« »Wovon reden Sie?« fragte Gregor Ostwald verständnislos. Der alte Mann hatte seine Würde wiedergewonnen. »Setzen Sie sich, Gregor Ostwald«, sagte er, »ich will Ihnen alles erklären. Sie sollen mich nicht für einen Unmenschen halten.« Er öffnete die gläserne Tür des schön geschnitzten Wandschran kes, nahm zwei gravierte Silberbecher heraus und goß in beide kla ren selbstgebrannten Korn. Dann setzte er sich zu seinem Verwalter an den Tisch. Die beiden Männer prosteten sich zu, bevor sie tran ken, und stellten die Becher gleichzeitig wieder vor sich hin, wie es der Brauch war. Uwe Harms wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, ehe er begann. »Wir mochten das Mädchen von Anfang an, das kann ich nicht leugnen, und auch jetzt noch fällt es mir schwer, mein Herz ge gen sie zu verhärten. Doch denke ich, da sie eine Hexe ist, wird sie sich schon zu helfen wissen – lassen Sie mich ausreden, Gregor Ostwald. Ich könnte sogar glauben, daß sie ihre Bosheit nicht gegen uns richten will. Aber selbst wenn sie uns das verspräche, es hülfe nichts. Sie muß fort. Ich frage Sie jetzt, Gregor Ostwald: Wenn Sie sich zu entscheiden hätten zwischen Undine und Ihrem Sohn – wen würden Sie wählen?« »Das eigene Blut.« »So ist es.« Uwe Harms faltete die blau geäderten Hände über dem elfenbeinernen Knauf des Krückstocks. »Können Sie mir dann mei ne Entscheidung verargen? Auch mir geht es um meinen Sohn, mei nen Klaus …« Gregor Ostwald fragte erstaunt: »Er lebt noch?« »Jakobus Schwenzen behauptet es.« Das Gesicht des Verwalters lief rot an, so schwer fiel es ihm, seine wahre Meinung nicht offen heraus zu sagen. »Jakobus Schwenzen! Hat er ihn gesehen?« fragte er mit mühsamer Beherrschung. »Ja. Ihm ist die Kraft gegeben.« Gregor Ostwald räusperte sich. »Wenn dem tatsächlich so ist – ich 61
meine, wenn Ihr Sohn noch lebt –, warum kommt er dann nicht zu rück? Warum schreibt er nicht wenigstens?« »Er kann nicht«, erklärte der alte Mann überzeugt, »er ist in einer schwierigen Lage. Dunkle Mächte – er wagt nicht, sich an den Vater um Hilfe zu wenden. Wir sind nicht im guten auseinandergegangen, müssen Sie wissen. Ich konnte nicht verstehen, daß er den Hof verließ. Aber er war starrsinnig. Er ist Anno 1936 nach Südamerika ausgewan dert.« Der Alte schwieg erschöpft. Es schien ihn ungeheure Anstren gung gekostet zu haben, dies preiszugeben. »Und seitdem haben Sie nie mehr von Ihrem Sohn gehört?« fragte der Verwalter nach einer langen Pause. »Doch. Er hat geschrieben, mehrmals. Dann kam der Krieg, und wir erhielten keine Nachricht mehr. Erst ganz zum Schluß, als alles schon beinahe vorüber war, kam noch ein Brief. Aber der war schon etliche Monate alt. Darin schrieb Klaus, daß er zurückkäme, um die Heimat zu verteidigen. Wir haben gewartet und gewartet, er kam nicht. Auch kein Brief mehr oder irgendein Lebenszeichen.« »Haben Sie selbst Nachforschungen angestellt?« »Jakobus Schwenzen tut es für uns.« Der Bauer hob fast flehend die Hand. »Sehen Sie, Ostwald, deshalb ist er für uns so wichtig. Er ist der einzige Mensch, der noch mit Klaus in Verbindung steht, nur über ihn können wir etwas erfahren. Deshalb muß Undine fort, auch wenn sie vielleicht keine Hexe ist. Weil sie ihn stört, weil er ihretwegen zu kei ner Verbindung mehr kommt.« Nach einer Pause fuhr der alte Bauer fort: »Sagen Sie es ihr bitte gleich. Je eher sie fortkommt …« »Sie ist mit Frank zum Krankenhaus gefahren. Sie wollen den Klein knecht und ihren Vater besuchen. Ich werde ihr kündigen, sobald sie zurückkommt.« »Zahlen Sie ihr den vollen Lohn aus, Ostwald, ich will nicht, daß sie in Not kommt, hören Sie?« »Ja, ich verstehe.« Der Verwalter ging zur Tür, drehte sich plötzlich noch einmal um und fragte: »Von wo war der letzte Brief adressiert?« »Aus Brasilien, Rolandia hieß der Ort. Warum fragen Sie?« 62
»Wenn Sie das wissen, Bauer, dann haben Sie doch einen sehr gu ten Anhaltspunkt, Nachforschungen anzustellen – ernsthafte Nach forschungen, meine ich. Oder soll ich es für Sie tun?« Uwe Harms schien nahe daran, einzuwilligen, dann aber entschloß er sich anders: »Darüber müßte ich erst mit Jakobus Schwenzen spre chen«, erwiderte er, und sein hilfloses Lächeln bat so rührend um Ver ständnis, daß Gregor Ostwald sich eine Antwort versagte.
Gregor Ostwald kündigte Undine nicht persönlich. Er schob diese un liebsame Aufgabe seinem Sohn zu, weil er wußte, daß sie zu ihm am meisten Vertrauen hatte. Ohne Argwohn willigte das Mädchen ein, als Frank ihr nach dem Abendessen vorschlug, mit ihm noch einen Gang über das ausgedehn te Geestland zu machen, das zum Harmshof gehörte. Es war ein klarer, schöner Herbsttag gewesen, aber jetzt, als die Dun kelheit hereinbrach, wurde es empfindlich kalt. Beide hatten ihre Man telkragen hochgeschlagen und die Hände tief in die Taschen gesteckt. Eine Weile gingen sie nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich war es Undine, die das Gespräch überraschend begann: »Du brauchst es dir nicht so schwerzumachen, Frank«, lächelte sie, »ich weiß, du hast mir etwas Unerfreuliches zu sagen.« »Wie kommst du darauf?« fragte er verdutzt, als wäre er bei einer Lüge ertappt worden. »Ich merke es dir an.« »Weißt du auch, was ich dir sagen muß?« »Du willst mir von Antje Nyhuus erzählen.« Er schwieg, suchte nach Worten. »Ach so«, sagte er dann. »Hat dir der Knecht davon erzählt?« »Ja – daß du mit ihr so gut wie verlobt bist.« »Kennst du sie?« Jetzt war es an Undine, mit der Antwort zu zögern. »Sie ist ein sehr hübsches Mädchen«, sagte sie schließlich ausweichend. 63
»Stimmt. Sie ist hübsch und klug, und was dir Iven erzählt hat, trifft ebenfalls zu. Wir wollen heiraten, wenn ich mit meinem Studium fer tig bin.« Sie lachte anscheinend unbekümmert, und er versuchte vergeblich zu ergründen, ob sie sich dazu zwang oder ob ihre Heiterkeit echt war. »Wenn das alles ist, was du auf dem Herzen hast«, sagte sie. »Ich hatte gedacht, es würde dir ein wenig an mir liegen«, sagte er verletzt, »aber wenn ich mich geirrt habe – um so besser. Es dauert nicht mehr lange, dann tritt der Kleinknecht seinen Dienst an, und ich kann wieder zurück zur Hochschule.« Sie schwieg, und er sah sie forschend von der Seite an. Aber er konn te im Dunkeln den Ausdruck ihres Gesichtes nicht erkennen. »Es wird dann sehr einsam für dich auf dem Harmshof werden«, fuhr er fort. »Ich bin sehr gern auf dem Hof«, sagte sie ruhig. »Ja, weil du nicht viel von der Welt gesehen hast, nur euer Dorf und den Hof. Anderswo ist es viel schöner – und lustiger.« Sie blieb stehen, und er glaubte das Funkeln ihrer Augen in der Dun kelheit zu sehen. »Worauf willst du hinaus?« fragte sie. »Ich liebe es nicht, wenn man wie die Katze um den heißen Brei herumgeht.« »Es ist ein Unrecht, von dem ich dir mitteilen muß. Deshalb fällt es mir so schwer.« Er holte tief Atem. »Du mußt fort, Undine.« »Fort?« Es war ein Aufschrei. »Ja. Die Bauern wollen dich nicht länger behalten.« »Dahinter steckt Jakobus Schwenzen!« rief Undine. »Du hast recht. Er hat dich bei ihnen als Hexe verschrien. Vater versuchte alles, um es ihnen auszureden. Aber sie sind alt, und sie verstehen es nicht besser.« »Ich habe ihnen doch nie etwas getan«, schluchzte Undine. Er legte einen Moment seinen Arm um ihre Schulter. »Beruhige dich, Undine, niemand kann dir einen Vorwurf machen. Der Bauer selbst hat nichts gegen dich einzuwenden. Schuld ist nur dieser windi ge Kerl, dieser Jakobus Schwenzen – du weißt doch selber, was das für einer ist.« 64
»Ja, ich weiß, er ist schlecht. Aber schlecht sind auch die, die auf ihn hören. Ich wollte, sie würden es am eigenen Leibe verspüren, wie es ist, so herumgestoßen zu werden.« »Vorsicht, Undine, keine bösen Wünsche! Nicht weil ich glaube, du würdest den anderen damit schaden. Aber du vergiftest dein eigenes Herz, Bitte, sei jetzt vernünftig. Es hat keinen Zweck, wenn wir uns aufregen. Überlegen wir lieber, was zu tun ist. Mein Vater zahlt dir na türlich den vollen Lohn für den ganzen Monat und noch etwas dazu. Aber das hilft dir wohl auch nicht viel weiter. Ich habe mir überlegt …« Er zögerte, weiterzusprechen. »Ja?« fragte sie. »… ob du nicht in eine Stadt solltest, weit weg von hier. Dort wür dest du leicht Arbeit finden und brauchtest nicht mehr zu fürchten, als Hexe beschimpft zu werden. Ich würde dir helfen, bis du dich aus kennst.« »Danke«, sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich glasklar und hart. »Sehr lieb von dir, aber das würde Antje Nyhuus wohl mißver stehen.« »Du hast recht«, sagte er ruhig, »es war dumm von mir …« Sie ging auf seine Entschuldigung nicht ein. »Ich muß hier in der Nähe bleiben. Solange mein Vater noch lebt, kann ich ihn nicht allein lassen. Du hast doch heute selber gesehen, wie schwach und hilflos er ist und wie sehr er sich über meinen Besuch gefreut hat. Er ist der ein zige Mensch, der mich braucht. Ich darf ihn nicht im Stich lassen.« »Natürlich. Daran hätte ich denken müssen. Aber warte, wir werden schon etwas anderes für dich finden. Laß mich nur überlegen …« Sie waren unterdessen wieder beim Hof angekommen. »Nicht nö tig«, sagte sie und reichte ihm die Hand, »ich werde mir schon allein helfen können. Hab Dank für alles.« Er wußte, daß er sie nur in die Arme hätte nehmen müssen, um ih ren Trotz zu brechen. Aber er dachte an die blonde Antje Nyhuus, die ihm vertraute, und an die gemeinsame Zukunft, die sie sich ausgemalt hatten. Er wollte das alles nicht aufs Spiel setzen. »Gute Nacht, Undine«, sagte er deshalb gefaßt, »wir sprechen mor 65
gen früh weiter, wenn du dich von deinem ersten Schrecken erholt hast. Dann wirst du bestimmt darauf kommen, daß alles halb so schlimm ist.«
»Wie hat sie's aufgenommen?« fragte die Mutter besorgt, als Frank Ost wald in die Küche trat. »Besser, als man erwarten konnte.« »Das freut mich. Ich kann dir nicht sagen, wie es mich kränkt, daß wir dem Mädchen das antun müssen.« »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, schmunzelte Gregor Ostwald und sah seinen Sohn scharf an, »mir scheint, noch jemand hier wird gar nicht traurig sein, wenn sie erst fort ist.« »Frank – du?« fragte die Mutter. »Ich dachte, ihr beiden …« »Ach, das verstehst du nicht«, sagte er so heftig, daß sie zusammen zuckte, drehte sich auf dem Absatz um, verließ die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. »Frank«, rief Frau Ostwald, »aber Frank …« »Laß ihn in Ruhe, Mutter, das muß er allein mit sich ausmachen. Ich hätte gescheiter sein und nicht davon anfangen sollen.« »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Ihr seid alle ganz verdreht, seit Undine da ist. Dabei weiß ich ganz genau, daß das Mädchen keine Schuld hat.« Sie legte nachdenklich den Zeigefinger an die Stirn. »Son derbar.« »Fang du jetzt auch noch damit an, daß sie eine Hexe ist! Unsinn, Mutter! Ein schönes, liebes Ding ist sie, das den Männern den Kopf verdreht, ohne es selber zu wollen. Das macht unserem Frank zu schaf fen. Hast du es denn nicht selber gemerkt? Ich dachte immer, Mütter hätten ein scharfes Auge für solche Dinge.« Frau Ostwald seufzte. »Nun, morgen früh muß sie fort, dann wer den wir unseren Frieden wieder haben. Gehen wir jetzt schlafen. Ich bin sehr müde.« Aber in dieser Nacht sollte Frau Ostwald nicht viel Schlaf bekom 66
men, sie nicht und auch niemand anders auf dem Harmshof. Gegen Mitternacht wurden alle durch einen hellen Feuerschein geweckt.
Undine erwachte als letzte. Sie sah den Feuerschein vor ihrem Fenster und glaubte zu träumen. Erst als ihr der scharfe Brandgeruch in die Nase stieg, begriff sie, daß es Wirklichkeit war. Sie sprang aus dem Bett und eilte zum Fenster. Da sah sie, daß die große Getreidescheuer brannte. Riesige Flammenzungen leckten ge gen den Himmel. Das Prasseln und Knistern des Feuers vermischte sich mit den angstvollen Lauten der Tiere und dem Klirren ihrer Ket ten. Im Hof wimmelte es von Menschen. Undine wußte nicht, woher alle diese Leute kamen, sie dachte auch nicht darüber nach. Es schien ihr gar nicht verwunderlich, daß ein so mächtiges Feuer die Menschen von nah und fern alarmieren mußte. Es wurden Ketten gebildet, Wassereimer flogen von Hand zu Hand, laute Zurufe ertönten – Undine erkannte die Stimmen von Frank Ost wald und seinem Vater, die sich bemühten, die Löscharbeiten bis zum Eintreffen der Feuerwehr voranzutreiben. Aber es schien undenkbar, daß der Kampf gegen dieses gewaltige Flammenmeer auch nur die ge ringste Aussicht auf Erfolg haben konnte. Es war ein gefährliches, aber auch faszinierendes Schauspiel, das sich Undine bot, und sie konnte sich seinem Eindruck nicht entziehen. Ei nen Augenblick stand sie überwältigt, die Hände vor die Brust gepreßt, und starrte in die Flammen. »Da seht, wie sie frohlockt, die Hexe!« Nur das letzte Wort dieses gellend ausgestoßenen Rufes drang bis hinauf zu Undine, aber es ge nügte, um sie zusammenzucken zu lassen wie unter einem Peitschen schlag. Zu Tode erschrocken starrte sie auf die Menschen, die alle fast gleichzeitig ihre Gesichter zu ihr hinauf wandten, helle Gesichter, in denen Augen und Münder wie gierige dunkle Löcher aussahen. Ein 67
paar Fäuste reckten sich drohend, und fast besinnungslos vor Angst wankte Undine Schritt für Schritt ins Zimmer zurück. Sie sah nicht mehr, daß Frank Ostwald sich umwandte und Jakobus Schwenzen, der den Hetzruf gegen Undine ausgestoßen hatte, mit ei nem Faustschlag zu Boden streckte. Sie hörte nicht mehr, wie er zornig schrie: »Von der Sorte habe ich noch mehr! Wer will, kann sich eine Abreibung bei mir holen!« Aber niemand gelüstete danach. Die Nachbarn, ihre Söhne und Knechte, alle, die gekommen waren, den Harmsbauern in der Not bei zustehen, wandten sich sofort wieder den Löscharbeiten zu. Die we nigsten hatten überhaupt begriffen, um was es ging. Es gab kaum ei nen, der Jakobus Schwenzen den Schlag nicht gegönnt hätte, denn sie kannten ihn als einen heimtückischen und boshaften Menschen. Den noch rückten die am nächsten Stehenden unmerklich einen Schritt weiter von Frank Ostwald ab, der es gewagt hatte, offen den Kampf gegen den Unheilstifter aufzunehmen. Um Jakobus Schwenzen küm merte sich niemand. Der mußte sehen, wie er allein wieder auf die Bei ne kam. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lehnte er sich gegen die Haus mauer und rieb sein geschwollenes Kinn. Als die Feuerwehr eintraf, verlor der Zwischenfall vollends an Bedeu tung. Doch die Augenzeugen vergaßen ihn nicht. Alle, die gesehen hat ten, wie Undine im Widerschein der züngelnden Flammen am Fen ster gestanden und wie Frank Ostwald ihren Ankläger niedergeschla gen hatte, erzählten es in der Frühe, als sie heimkamen, den Frauen. Auch die Männer der freiwilligen Feuerwehr konnten den Brand nicht löschen; sie beschränkten sich von Anfang an darauf, das Feu er einzudämmen und wenigstens zu verhindern, daß die Flammen auf die Stallungen und das Wohnhaus übergriffen. Der Morgen dämmerte schon, als alles vorüber war. Die Helfer stan den erschöpft, mit schwarzen Gesichtern und angesengtem Haar, in Gruppen beisammen und starrten auf die verkohlten Überreste der mächtigen Scheune, von der nur wenige starke Balken einigermaßen heil geblieben waren. Sie tranken starken heißen Tee mit Rum, den Frau Ostwald ausschenkte. 68
Die letzten waren eben gegangen, als es für Frank Ostwald und Iven, den Knecht, bereits Zeit wurde, das Vieh zu versorgen. Als später alle beisammen in der Küche beim Frühstück saßen, fiel ihnen fast gleichzeitig auf, daß Undine fehlte. »Wo ist die Dirn?« fragte der Verwalter mit hochgezogenen Augen brauen. »Hat niemand sie gerufen?« »Ich habe sie die ganze Nacht nicht unten gesehen«, sagte Frau Ost wald. Frank Ostwald sah Iven an. »Wir auch nicht«, sagten beide. »Vielleicht hat sie sich wieder hingelegt«, versuchte Frau Ostwald zu erklären. Frank schob den Stuhl zurück. »Wann? Während es brannte? Das glaubst du doch selber nicht, Mutter.« »Nein, heute früh nach dem Brand.« Frank schüttelte den Kopf. »Dann hätte sie beim Löschen geholfen und auch bei der Stallarbeit. Nein, das sieht ihr nicht ähnlich, sich so zu drücken. Da steckt etwas anderes dahinter.« Er ging zur Tür. »Wo willst du hin, Junge?« rief seine Mutter. Aber da hatte er die Küche schon verlassen. »Das kannst du dir wohl denken«, sagte Gregor Ostwald bedäch tig und schnitt sich ein kräftiges Stück von dem hausgebackenen Laib Brot ab. »Undine will er suchen, das treibt ihn. Er bringt uns noch ins Unglück.« Frau Ostwald lächelte. »Na, so schlimm ist es wohl nicht gleich, wenn ein Junge sich in ein hübsches Mädchen verliebt, Gregor …« »Davon spreche ich nicht. Was er dem sogenannten Hexenbanner getan hat, das macht mir zu schaffen.« »Nun, der hat es doch wohl hundertfach verdient.« Iven erhob sich schwerfällig. »Ich lege mich einen Schlag nieder, wenn du's gestattest, Verwalter.« »Geh nur, Iven. Es genügt, wenn du zur zweiten Fütterung wieder auf den Beinen bist.« Gregor Ostwald wartete, bis der Knecht gegangen war, dann sagte er: »Ob er es verdient hat, darum handelt es sich nicht. Ich mag diesen 69
Kerl genausowenig leiden wie du und Frank. Aber es wäre besser gewe sen, wenn wir ihn uns nicht zum Feind gemacht hätten. Er ist gefähr lich, und er hat den Bauern völlig in der Hand.« »Aber das ist doch nicht …« Ehe Frau Ostwald ihren Satz zu Ende sprechen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Frank Ostwald kam herein. »Sie ist weg«, sagte er dumpf, »sie hat ihre Sachen mitgenommen und ist weg.« »Na also.« Der Verwalter schob seine leergetrunkene Tasse fort und zündete sich eine Zigarette an. »Wenn du genau nachdenkst, Frank, wirst du einsehen, daß es die beste Lösung ist.« »Das kann doch nicht dein Ernst sein, Vater! Findest du es etwa in Ordnung, daß sie ohne einen Pfennig Geld bei Nacht und Nebel her umirrt?« »Du übertreibst«, erwiderte Gregor Ostwald ruhig, »geh mal zum Fenster: draußen ist heller Tag, und Geld hat Undine auch. Ich habe ihr gestern morgen einen Teil ihres Lohnes gegeben.« »Du willst mich nicht verstehen.« Frank Ostwalds Stimme klang zornig. »Doch. Aber ich empfinde es tatsächlich als Erleichterung, daß die ses Mädchen den Harmshof verlassen hat. Sie bringt uns Unheil.« Er hob die Hand, als sein Sohn ihn unterbrechen wollte. »Still, jetzt rede ich. Ich sage nicht, daß sie eine Hexe ist – mehr noch, ich hal te dieses ganze Gerede nach wie vor für Unsinn. Aber das macht die Lage, in die wir durch sie geraten sind, nicht besser. Der Brand …« Frank Ostwald konnte sich nicht länger zurückhalten. »Du glaubst doch nicht etwa, daß sie ihn gelegt hat?« »Natürlich nicht. Aber wir werden uns zu verantworten haben. Die Scheune ist hoch versichert. Das bedeutet nicht nur, daß wir mögli cherweise den vollen Schaden ersetzt bekommen, sondern vor allem, daß die Versicherungsleute keine Ruhe geben werden, bis sich die Ur sache des Feuers erwiesen hat. Verstehst du?« »Ja. Aber was hat das mit Undine zu tun?« »Du hast diesen sogenannten Hexenbanner niedergeschlagen – we 70
gen Undine. Er wird es dir nie verzeihen, und sein Haß kann uns die Existenz kosten.« »Ausgeschlossen!« Gregor Ostwald sah seinen Sohn ernst an. »Ich hätte gedacht, du kennst mich gut genug, um zu wissen, daß ich kein Schwätzer bin. Ja kobus Schwenzen besitzt einen großen Einfluß auf die Harmshofbau ern, sie fühlen sich von ihm abhängig. Wenn er es darauf anlegt, be zweifle ich nicht, daß es ihm gelingen wird, uns über kurz oder lang vom Hof zu vertreiben.« Zum erstenmal zeigte sich Frank beeindruckt, aber er wollte es nicht zugeben. »Unmöglich«, sagte er, »seit fünfzehn Jahren sind wir jetzt hier, ohne uns wäre alles verkommen, und da willst du behaupten …« Er versuchte zu lachen, aber es klang nicht überzeugend. »Ich behaupte nicht mehr, als ich wirklich weiß. Es hat doch keinen Zweck, sich etwas vorzumachen: Der Bauer glaubt, daß Jakobus Schwen zen eine Verbindung zu seinem verschollenen Sohn schaffen kann.« »Aber das ist doch …« »… Unsinn. Das weiß ich selber. Aber der Bauer und seine Frau ha ben sich so in diesen Unsinn verrannt, daß sie ihn sich mit Vernunftgründen bestimmt nicht ausreden lassen. Es wäre sogar gefährlich, den Versuch zu machen. Wir würden damit nur ihr Mißtrauen wecken. Sie stehen völlig un ter dem Einfluß dieses raffinierten Burschen. Wir müssen ihm noch dankbar sein, daß er bisher nicht gegen uns intrigiert hat.« »Ich kann mir auch denken, warum«, sagte Frau Ostwald. »Weil er weiß, daß der Hof bei uns in guten Händen ist, weil wir den größtmög lichen Ertrag herauswirtschaften.« »… der dann wieder in Jakobus Schwenzens Tasche fließt«, ergänzte Frank Ostwald. »Ich könnte mir jetzt vor den Kopf schlagen, daß ich diesen durchtriebenen Kerl so gereizt habe.« »Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, den Bauern davon zu über zeugen, daß Jakobus Schwenzen ein Schwindler ist«, erklärte der Ver walter, »wir müssen den hieb- und stichfesten Beweis erbringen, daß Klaus Harms gestorben ist.« 71
»Aber wie können wir diesen Beweis erbringen?« fragte seine Frau. »Durch eine Auskunftei. Hast du uns nicht erzählt, Frank, daß ein Freund von dir neben seinem Studium für eine Auskunftei arbeitet?« »Ja. Helmut Zach. Das ist eine gute Idee. Er könnte mir helfen, er weiß bestimmt, wie man so etwas anpackt. Aber wahrscheinlich wür de es teuer werden …« »Ich weiß«, antwortete der Verwalter. »Trotzdem müssen wir das Geld zusammenkratzen. Vergiß nicht, es geht ums Ganze. Für dich ist der Harmshof die Heimat, und wir sind zu alt, um noch einmal von vorne anzufangen.«
Als Undine in der Kreisstadt ankam, schlug die Uhr im Turm der schönen alten Backsteinkirche die siebte Stunde. Das Mädchen konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Sie war die ganze Nacht durch gelaufen, nur von dem einen Gedanken besessen, den Harmshof so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Als sie aufgebrochen war, ihr armseliges Bündel in der Hand, hat te sie noch kein Ziel gehabt. Erst als sie die Landstraße schon erreicht hatte, war ihr eingefallen, daß sie nur denselben Weg zu gehen brauch te, den sie am Tag zuvor mit Frank Ostwald in der alten Kutsche zu rückgelegt hatte, um zu ihrem Vater zu kommen. Der Gedanke, bald nicht mehr allein zu sein, hatte sie beflügelt. Tap fer war sie marschiert, mit großen, gleichmäßigen Schritten, ohne nach links oder rechts zu sehen. Was sie in der Kreisstadt anfangen, wovon sie leben sollte, darüber hatte sie nur ganz unklare Vorstellungen. Es schwebte ihr vor, im Krankenhaus selber vielleicht eine Tätigkeit zu finden. Das große, ein wenig veraltete Haus mit den vielen Gängen und Türen hatte Eindruck auf sie gemacht. Sie glaubte, daß es dort be stimmt eine Kammer geben müßte, in der sie hausen konnte. Aber so weltfremd Undine auch war, kam ihr doch der Gedanke, daß die Stunde ihrer Ankunft zu früh für einen Besuch im Spital sein könnte. Die Straßen der Stadt waren noch fast leer, ihre Schritte klap 72
perten so laut über das holprige Pflaster, daß sie sich plötzlich sehr ver lassen fühlte. Ihre schöne Sicherheit erlosch mit dem Aufleuchten des Tageslichtes. Frank Ostwald hatte sie am vorigen Tag in eine kleine Konditorei zu einem Stück Torte eingeladen. Dorthin wandte sie sich als den einzi gen Ort, den sie außer dem Krankenhaus in der Stadt noch kannte. Aber vergeblich drückte sie auf die Klinke der gläsernen Tür. Die Konditorei war noch nicht geöffnet. Undines Verwirrung wuchs. Wenn nicht ein junger Mann, der auf einem Fahrrad Brötchen ausfuhr, sie beobachtet und ihr ungefragt ge raten hätte, in die Bäckerei schräg gegenüber zu gehen, hätte sie nicht mehr weiter gewußt. So folgte sie entmutigt, setzte sich an einen der kleinen Tische im Verkaufsraum und ließ es sich gefallen, daß eine freundliche dicke Frau ihr Hefegebäck auf einen Teller legte und ein Kännchen Kaffee vor sie hinstellte. Aber auf alle Fragen antwortete sie nur mit einem so verwirrten Lächeln, einem so undeutlichen Ja und Nein, daß die Bäckerin es bald zu mühsam fand, ihre Neugier über die Person des fremden Mädchens zu stillen. Eine gute Stunde saß Undine still an ihrem Platz, genoß den Frieden und die Ruhe des kleinen Raums wie ein Geschenk, schloß auch wohl ein wenig die Augen und döste vor sich hin. Dann erst, als die Glocke an der Ladentüre immer häufiger bimmelte und sie sich immer mehr neugierigen Blicken ausgesetzt sah, raffte sie sich auf, zahlte mit einem schüchternen »Danke« und ging. Das Krankenhaus lag am Rande der kleinen Stadt, etwa zwanzig Mi nuten von der Hauptstraße entfernt. Obwohl Undine sich nach der all zu kurzen Rast eher noch erschöpfter fühlte, beschleunigte sie bei dem Gedanken, auf dem Weg zu ihrem Vater zu sein, doch noch einmal den Schritt. Erst als sie schon dicht am Ziel war, verließ sie wieder der Mut. Das Gesicht des Pförtners, dessen Augen hinter funkelnden Bril lengläsern verborgen waren, flößte ihr Furcht ein. Sie traute sich nicht, ihm Rede und Antwort zu stehen, und drückte sich nahe der großen Eingangstür in eine Nische, von der aus sie, ohne selber gesehen zu werden, den Mann an der Pforte beobachten konnte. 73
Sie hatte Glück, sie brauchte nicht lange zu warten. Zwei alte Frauen mit großen Marktkörben über dem Arm näherten sich dem Eingang und verwickelten den Pförtner in ein langes Gespräch. Undine nutzte die Gelegenheit, ungesehen in das Haus zu schlüpfen. Sie rannte den langen Gang entlang, stieg die drei Treppen hoch – den Lift traute sie sich allein nicht zu benutzen – und kam in das Stockwerk, an dessen äußerstem Ende ihr Pflegevater bei ihrem gestri gen Besuch ein Zimmer mit vier anderen Männern geteilt hatte. Aber noch ehe sie die Tür erreicht hatte, hörte sie sich von hinten angerufen. Ein energisches »Halt!« zwang sie, stehen zu bleiben. Langsam wandte sie sich um und sah sich einer älteren Kranken schwester mit strengem Gesicht gegenüber, deren blaue, ein wenig wäßrige Augen sie durchdringend musterten. »Was wollen Sie hier?« »Ich möchte meinen Vater besuchen – meinen Pflegevater – Tede Carstens …«, stammelte das Mädchen. Das Gesicht der Schwester schien weicher zu werden. »Da kommen Sie zu spät«, sagte sie mit ei ner Spur von Mitgefühl in der Stimme. »Herr Carstens ist nicht mehr hier – hat man Sie denn nicht benachrichtigt?«
Dr. Klaus Hagedorn hatte das Mädchen Undine nicht vergessen. Seit er sie damals aus dem Leuchtturm hatte abholen wollen und nicht mehr angetroffen hatte, war ihm der Gedanke an ihr Schick sal immer wieder durch den Kopf gegangen. Jedesmal, wenn er in der Kreisstadt zu tun hatte, war er auch ins Krankenhaus gekommen und hatte mit Tede Carstens gesprochen. Aber der alte Mann hatte ja bis zum vorhergehenden Tag selber nicht gewußt, was mit Undine gesche hen war. Dr. Hagedorn war sogar so weit gegangen, Nachforschungen auf der Insel anzustellen. Aber das Ergebnis war nicht sehr aufschlußreich ge wesen. Nur eines stand fest – in den Leuchtturm zurückgekehrt war Undine nicht. Die meisten im Dorf glaubten, daß sie ertrunken sei – 74
»vom Teufel geholt«, wie man sich zuflüsterte. Aber der junge Arzt war überzeugt, daß Undine wieder auftauchen würde, und für diesen Tag traf er seine Vorbereitungen. Eines stand für ihn fest: Das Mädchen mußte für immer von der In sel fort, wo man sie eine ›Hexe‹ nannte. Auch an der Küste des Fest lands war, so glaubte Dr. Hagedorn, nicht der richtige Platz für sie. Je größer die Entfernung wurde, die sie zwischen sich und die Heimat legte, desto besser. Da Dr. Hagedorn wußte, daß sie nicht bereit sein würde, ihren Pflegevater im Stich zu lassen, galt es zuerst, den alten Mann in eine andere Umgebung zu bringen. Es war nicht leicht gewe sen, das durchzudrücken. Tede Carstens leuchteten Dr. Hagedorns Ar gumente nur schwer ein, noch weit mühsamer war es, diese Aufgabe verwaltungstechnisch zu lösen. Aber Dr. Hagedorn schaffte es schließlich. Es gelang ihm, den ehe maligen Leuchtturmwärter in einem schönen Pflegeheim in der Süd westecke der Bundesrepublik, in Bad Wildenbrunn, unterzubringen. Durch einen Todesfall war von heute auf morgen ein Platz frei gewor den. Der Arzt des Heims, ein alter Freund von Dr. Hagedorn, hatte es am späten Abend telefonisch mitgeteilt, und Dr. Hagedorn hatte rasch gehandelt. Schon am nächsten Morgen war Tede Carstens trotz sei nes heftigen Einwandes, daß ja nun seine Tochter über nichts Bescheid wisse, begleitet von einer jungen Schwester, auf die Reise geschickt worden. Dr. Hagedorn selber hatte die beiden zum Zug gebracht, und nun kam er gerade zurück, als Undine, die Augen blind von Tränen und mit schmerzverzerrtem Gesicht, aus dem Krankenhaus stürzte. Er stoppte seinen Wagen, sprang heraus, holte Undine mit zwei, drei großen Sätzen ein, packte sie bei den Schultern. Sie versuchte sich los zureißen, aber sein Griff war eisern. »Undine – Menschenskind«, rief er, »was machen Sie für Geschichten! Sehen Sie mich doch bloß mal an. Ich bin's ja, Doktor Hagedorn. Erinnern Sie sich nicht? Hören Sie auf mit dieser Zappelei – au, verflixt, aber das nutzt Ihnen nichts! Einmal sind Sie mir entwischt, aber diesmal … Was ist bloß los mit Ihnen?« »Mein Vater«, stieß sie atemlos hervor, »was haben Sie mit ihm ge tan?« 75
»Ja, haben Sie denn nicht mit dem Pförtner gesprochen? Hat er Ih nen nicht gesagt …« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Na, so ein Hallodri! Ich hatte ihm doch ausdrücklich eingeschärft, Ihnen zu erklären …« »Ich habe ihn gar nicht gesprochen!« Er lachte. »Das sieht Ihnen wieder mal ähnlich, kleines verrücktes Ding, Sie!« Er fühlte, daß ihr Widerstand erlahmt war, und ließ sie los. »Also, schön brav sein, dann werde ich Ihnen alles erzählen. Kommen Sie mit.« Er nahm ihr das Bündel aus der Hand. Unwillkürlich machte sie eine Bewegung zur Flucht. Dann erst entsann sie sich, daß sie ja nichts zu befürchten hatte, errötete unter seinem belustigten Blick und folgte ihm zum Wagen. Er öffnete die Tür, und sie stieg ein, setzte sich auf den Vordersitz. Er warf ihr Bündel nach hinten, nahm am Lenkrad Platz, wendete und fuhr in die Stadt zurück. »Also, nun mal 'raus mit der Sprache, Mädchen, wo waren Sie die ganze Zeit? Ich habe Sie gesucht wie eine Stecknadel …« »Wo ist mein Vater?« unterbrach sie ihn. »Das werden Sie noch zur rechten Zeit erfahren, erst einmal sind Sie mir eine Erklärung schuldig. Überhaupt«, er warf ihr von der Seite ei nen Blick zu. »Sie sehen aus, als ob Sie seit Tagen nicht mehr geschla fen hätten.« Sie schwieg. »Na schön. Sie wollen nicht. Das hätte ich mir denken können. Von mir aus. Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß ich mich so brennend für Sie interessiere. Haben Sie Hunger?« Sie schüttelte den Kopf. »Macht nichts. Ich muß jedenfalls unbedingt etwas essen, habe heu te morgen noch nicht gefrühstückt. Was Sie dringend brauchten, wäre, glaube ich, ein heißes Bad.« Er bremste. »Gehen wir in den ›Goldenen Löwen‹, da kriegen wir beides.« Er half ihr beim Aussteigen, schloß den Wagen ab und nahm sie gleich wieder fest am Arm, denn er fürch tete, daß sie schon wieder auf dem Sprunge war, davonzulaufen. 76
Auch im Gasthaus gab er sich nicht damit zufrieden, ihr ein Bad zu bestellen, sondern begleitete sie in den ersten Stock und blieb bei ihr auf dem Gang stehen, bis das Stubenmädchen die Wanne hatte voll laufen lassen. Undine fühlte sich unbehaglich. Sie hielt ihr Bündel, das sie aus dem Wagen mitgenommen hatte, krampfhaft fest und starrte mit leicht gerunzelter Stirn auf die Vorbereitungen, die für sie getroffen wurden. Das Stubenmädchen hängte ein zusammengefaltetes Badelaken über einen Ständer, legte ein Stück Seife in die Schale am Rande der Wanne, drehte die Hähne ab. »Falls Sie sonst noch etwas brauchen«, sie wies auf die Kordel, »das hier ist die Klingel.« »Danke, es ist gut.« Dr. Hagedorn gab dem Stubenmädchen ein Trinkgeld. »Was machen Sie für ein Gesicht, Undine?« fragte er, als sie allein waren. »Paßt Ihnen etwas nicht?« Sie hob den Blick und sah ihn aus ihren großen Augen beschwörend an. »Sie haben versprochen, mir zu sagen, wo mein Vater ist …« »Das sollen Sie auch erfahren. Es geht ihm gut, das ist ja wohl das Wichtigste. Sie haben nicht den geringsten Grund, sich aufzuregen. Nun machen Sie sich erst mal frisch. Und dann kommen Sie 'runter in die Wirtsstube, und ich erkläre Ihnen das Ganze.« »Aber warum …?« begann sie eigensinnig. »Weil ich mich nicht gern in Begleitung von jungen Damen sehen las se, die den Eindruck machen, als wären sie aus der Mülltonne geklet tert.« Sie wurde blaß, dann rot, aber er fuhr unbarmherzig fort: »Wir sind hier nicht am Ende der Welt. Wenn Sie nicht wollen, daß man Sie auslacht, müssen Sie schon dafür sorgen, daß Sie wie ein Mensch aus sehen.« Er lächelte ihr zu. »Lassen Sie sich Zeit. Ich warte unten auf Sie.« Dann ging er langsam zur Treppe. Er ließ sich ein Frühstück bringen, aß Schinken und Eier, schwarzes Brot und frische Landbutter, trank ein Kännchen Bohnenkaffee. Im mer wieder ging sein Blick zur Tür. Als zwanzig Minuten vergangen waren, ohne daß Undine erschien, wurde er unruhig. 77
Dann aber, als sie tatsächlich hereinkam, sehr ordentlich in ihrem Sonntagskleid, das tiefschwarze lockige Haar in einem dicken Zopf um den Kopf geschlungen, versuchte er zunächst, den Gleichmütigen zu spielen. Doch er konnte nicht verbergen, daß er beeindruckt war von ihrer Schönheit, die jetzt, da Undine gepflegt und frisch aussah, erst ganz zur Geltung kam. Die leichten Schatten der Ermüdung ließen ihre dunklen, glutvollen Augen noch größer erscheinen und verliehen ihrem jungen Gesicht einen rührenden Schmelz. »Donnerwetter!« rief Dr. Hagedorn bewundernd. »Jetzt können Sie sich wieder sehen lassen, Undine …« Sie lächelte nicht, blieb an seinem Tisch stehen und sah ihn ungedul dig an. »Wo ist mein Vater?« »Setzen Sie sich, ich werde es Ihnen erzählen.« Er wartete, bis sie Platz genommen hatte, und fuhr dann fort. »Ich habe ihn in einem Pflegeheim untergebracht in Südwestdeutschland – in Bad Wilden brunn. Machen Sie jetzt nicht ein Gesicht, als ob Sie mich beißen woll ten. Ich habe es ja vor allem für Sie getan. Es war gar nicht so einfach, glauben Sie mir.« Er nahm ein Brötchen aus dem Korb, schnitt es auf und begann es mit Butter zu bestreichen. »Sehen Sie, auf die Insel will ich Sie nicht mehr zurücklassen, und allein hätte Ihr Vater sich auf dem alten Leucht turm doch wohl nicht zu helfen gewußt. Deshalb …« Sie ließ ihn nicht aussprechen. »Ich will zu meinem Vater. Er ist der einzige Mensch …« »Warten Sie's ab. Sie sollen ja zu ihm, damit Sie hier wegkommen.« Er träufelte Honig auf beide Hälften des Brötchens. »Ich habe Ihnen eine Stellung in Bad Wildenbrunn verschafft, als Kindermädchen beim Kurdirektor. Wie gefällt Ihnen das?« Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fassen; zu viele Gedan ken stürmten auf sie ein. Sie sollte fort vom Meer? Zu fremden Men schen in eine fremde Welt? »Paßt Ihnen etwas nicht?« fragte Dr. Hagedorn. Sie dachte an Frank Ostwald, der sie gewiß nicht liebte – und auf ein mal schien ihr der Gedanke an die Fremde gar nicht mehr so bestür 78
zend. »Warum kann ich nicht in dem Heim arbeiten, in das Sie meinen Vater bringen ließen?« fragte sie nur noch. »Bei lauter pflegebedürftigen Leuten? Das wäre nichts. Beim Kurdi rektor werden Sie es viel besser haben. Doktor Mommert ist ein sehr netter Mensch, die Kinder sind reizend, und seine Frau – Sie werden sich bestimmt leicht dort eingewöhnen.« Er schob ihr den Teller mit fertig gestrichenen Brötchen hin, schenkte ihr Kaffee ein. »So, jetzt es sen Sie erst mal. Selbst wenn Sie schon gefrühstückt haben, können Sie bestimmt noch einen Happen vertragen.« Sie sah ihn forschend an. »Warum tun Sie das alles für mich?« »Nur so. Aus Menschenfreundlichkeit, wenn Sie wollen.« Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte, und er begann mit dem Nagel seines Zeigefingers scharfe Linien in die weiße Tischdecke zu zeichnen. »Ich mag es nicht, wenn Menschen gequält werden, wenn eine ganze Horde sich auf einen einzelnen stürzt, nur weil er anders ist als sie selber.« Er hob den Kopf und blickte sie an. »Deshalb. In Bad Wildenbrunn weiß niemand, daß man Sie hier eine Hexe nennt. Das ist Ihre Chance. Sie können ein neues Leben anfangen, ohne jede Vorbelastung.« Ihre Augen waren immer noch unverwandt auf ihn gerichtet, aber sie schienen durch ihn hindurchzublicken. »Ich habe Angst«, sagte sie und zog schaudernd die Schultern zusammen. Beruhigend legte er seine Hand auf ihren Arm. »Ich werde in Ihrer Nähe sein«, sagte er. »Ich bin in Bad Wildenbrunn zu Hause. Anfangs nächsten Jahres übernehme ich dort die Praxis meines Vaters, wahr scheinlich bin ich schon Weihnachten dort. Sie können sich immer an mich wenden.« »Jetzt verstehe ich selber nicht mehr«, antwortete Undine mit einem kleinen Lächeln, »weshalb ich von der Insel weggelaufen bin, ohne ir gendeine Nachricht zu hinterlassen. Sie sind so gut zu mir …« »Na, na, na«, sagte er rauh, »nur nicht weinen, Tränen kann ich schlecht vertragen, besonders am frühen Morgen. Sie werden sehen, es wird alles in Ordnung kommen.«
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Frau Ostwald war nicht überrascht, als Antje Nyhuus am späten Nach mittag auf dem Harmshof erschien. »Schön, daß du dich mal wieder blicken läßt«, sagte sie, »leg ab und setz dich. Wie geht es daheim?« Sie wischte mit einem Tuch über einen ohnehin blitzblanken Stuhl. Antje Nyhuus nahm Platz, stellte die Beine brav nebeneinander, fal tete die Hände im Schoß. »Wenn Frank den Weg zu mir nicht findet, so muß ich wohl zu ihm kommen«, sagte sie leicht gekränkt. »Ja, richtig, du hattest ihn wohl am Sonntag erwartet? Aber du darfst das nicht übelnehmen, daß Frank sich nicht freimachen konnte. Der Vater hat ihn in die Stadt geschickt. Er sollte sich im Krankenhaus er kundigen, wann Carsten wieder arbeiten kann.« »Ach so«, schmollte das Mädchen. »Er muß übrigens gleich kommen«, sagte Frau Ostwald unbehag lich. »Wo ist er denn?« wollte das Mädchen wissen. Frau Ostwald hatte schon eine Lüge auf der Zunge, doch im letz ten Augenblick besann sie sich anders. Wie kam sie denn dazu, Ge schichten zu erzählen, um Frank die Vorwürfe seiner Verlobten zu er sparen. Sollte der Junge die Suppe selber auslöffeln, die er sich einge brockt hatte. »Frank ist in die Stadt gefahren«, sagte sie ehrlich. »Warum?« »Das frag ihn nur selber.« Frau Ostwald hatte es eilig, das Thema zu wechseln. »Soll ich uns jetzt eine Tasse guten starken Tee kochen? Oder einen Kaffee? Du mußt ja ganz müde sein von dem weiten Weg.« »Nein, danke«, sagte Antje Nyhuus, »ich habe nicht viel Zeit. Hof fentlich kommt Frank wirklich bald.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Mußte er wegen des Feuers in die Stadt?« »Ja, richtig«, rief Frau Ostwald, froh, ein anscheinend unverfängli ches Thema gefunden zu haben. »Was sagst du zu der Geschichte? Der ganze Hafer verbrannt, in einer Nacht! Ein Glück, daß mein Mann das Ganze hoch versichert hat, aber schrecklich ist es doch. All das gute Heu! Und was meinst du, wie der Versicherungsinspektor hier 80
herumgeschnüffelt hat. Erst ein paar Minuten, bevor du kamst, ging er weg.« »Was hat er denn gewollt?« »Aber das kannst du dir doch denken, Kind: Wegen der Brandur sache nimmt er es so genau. Fragen hat er gestellt, als ob er uns alle hier für eine Verbrecherbande hielte. Selbst den Bauern hat er verhören wollen. Aber da ist er an den Richtigen gekommen, kann ich dir sagen. Der alte Harms hat es ihm ganz schön gegeben.« »Wegen der Brandursache?« wiederholte Antje Nyhuus verwundert. »Aber ich dachte, das wäre schon klar. Hat dieses schreckliche Feu er denn nicht die Hexe gelegt, die ihr hier auf dem Hof aufgenommen habt?« Frau Ostwald stellte sich, die Fäuste in den Hüften, vor das Mädchen. »Ist das dein Ernst, Antje?« Antje Nyhuus wurde unsicher. »Die Leute sagen so«, murmelte sie. »Die Leute! Die Leute! Als wenn je etwas Gescheites herausgekom men wäre bei dem, was die Leute schwatzen.« »Aber ihr habt doch eine Hexe auf dem Hof gehabt, das jedenfalls stimmt wohl, nicht wahr?« Unwillig sagte Frau Ostwald: »Ich habe es nicht gern, wenn man sich einen Spaß mit mir erlaubt, aber diesmal wäre ich froh, wenn du nicht im Ernst gesprochen hättest. Glaubst du denn wirklich und wahrhaf tig an Hexen, Kind?« Das Mädchen errötete. »Natürlich nicht.« »Na, das wäre ja auch noch schöner, wenn so ein junges, gescheites Ding wie du glauben würde, daß es tatsächlich Hexen gibt. Weißt du, was das ist? Dummes Altweibergeschwätz, das ist es! Laß nur deinen Frank nichts dergleichen hören, das würde er übel aufnehmen.« »Ich weiß das natürlich, ich bin ja nicht von gestern. Sicher ist vie les nur Geschwätz, aber manche Leute glauben nun mal daran. Jako bus Schwenzen sagt …« »Was? Auf den Kerl hörst du auch?« »Er hat nach unserem kranken Stier geschaut, da läßt sich doch wohl nichts dagegen einwenden. Jeder weiß, daß er eine Menge Sachen 81
kennt – Kräuter und Medizinen, von denen der Doktor keine Ahnung hat. Sollen wir etwa das schöne Tier krepieren lassen?« »Das kann wirklich niemand von euch verlangen«, sagte Frau Ost wald, aber sie begann, mit dem Rücken zu dem Mädchen, so laut am Herd zu hantieren, daß Antje ihren Unwillen spürte und schwieg. »Na, was hat der denn gesagt?« platzte Frau Ostwald nach einer klei nen Weile heraus. »Nun red schon. Es ist wahrscheinlich besser, du er zählst es mir als später deinem Frank.« »Nun, ich glaube nicht, daß es stimmt«, sagte das Mädchen, vorsich tig geworden, »aber er erzählt, die Hexe – Undine heißt sie ja wohl – hätte am Fenster gestanden, in die Flammen gestarrt und Zaubersprü che gemurmelt, denn die Hexen lieben ja kein Feuer, weil …« Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen; die Tür ging auf, und Frank Ostwald trat herein. »Frank!« Antje Nyhuus sprang auf, und in ihre blauen Augen kam ein zärtliches Leuchten, daß Frau Ostwald, die die kleine Szene beob achtete, im selben Augenblick all ihren Ärger vergaß. »Na, genier dich nicht, Junge«, sagte sie, »nimm dein Mädchen in die Arme – ich dreh' mich so lange um, wenn du nicht magst, daß ich zu schaue.« »Nicht nötig, Mutter.« Frank Ostwald küßte Antje mit fast brüderli cher Herablassung, schien es aber gern zu dulden, daß sie ihren blon den Kopf an seine Brust schmiegte. »Ich habe Undine gefunden«, sagte er, »das heißt, nicht sie selber, aber ich weiß jetzt, wo sie ist.« Antje Nyhuus löste sich von ihm, zog die feinen Augenbrauen hoch. »Bist du etwa deshalb in die Stadt gefahren? Wegen dieser – dieser Va gabundin?« »Bedenk, was du sprichst«, sagte er scharf, »du kennst sie ja gar nicht!« »Nein, das nicht, aber ich habe genug über sie gehört …« Frau Ost wald wollte vermitteln. »Aber Kinder«, rief sie, »nun streitet euch doch nicht. Was hat das für einen Sinn? Undine ist weg, und sie kommt auch nicht wieder. Also gibt es gar keinen Grund, sich ihretwegen noch zu zanken. Wo ist sie denn jetzt, Frank?« 82
Nach einem fast unmerklichen Zögern erklärte er: »In Bad Wilden brunn hat sie eine Stelle bekommen.« Die beiden Frauen wechselten einen Blick, dann sagte Antje Nyhu us mißtrauisch: »Ist das nicht ganz in der Nähe deiner Universitäts stadt, Frank?« Und als er schwieg, fügte sie mit vor Eifersucht brüchi ger Stimme hinzu: »Ich gratuliere! Dann kannst du sie ja wenigstens besuchen.«
IV
U
ndines erste Tage in Bad Wildenbrunn vollzogen sich in einem solchen Wirbel, daß sie Mühe hatte, einen klaren Gedanken zu fassen. Eine Unmenge neuer Eindrücke stürmte auf sie ein. Anita Mommert, die Frau des Kurdirektors, holte sie persönlich vom Bahnhof ab und fuhr sie in einem schneeweißen Sportwagen, an des sen rote Lederpolster Undine sich kaum anzulehnen wagte, nach Hau se. Sie war eine stattliche, hochgewachsene Frau, die sehr hübsch ge wesen wäre, wenn nicht der hartnäckige Kampf gegen jedes Gramm Mehrgewicht scharfe Falten in ihr Gesicht geprägt hätte. Sie hatte, nach den Empfehlungen von Dr. Hagedorn, ein treuherziges, fast primitives Mädchen vom Lande erwartet und war nun von Undines glutäugiger Schönheit irritiert. Aber sie ließ sich ihr Befremden nicht anmerken und behandelte Undine mit nachsichtiger Herablassung. Während der kurzen Strecke zwischen dem Bahnhof und der Villa des Kurdirek tors ließ sie Erklärungen, Anweisungen, Warnungen und Ratschläge in solcher Fülle auf das ohnehin verwirrte Mädchen niederprasseln, daß Undine wie betäubt war. Das prächtige Haus, in dem die Mommerts lebten – es gehörte nicht ihnen, sondern war von der Stadtverwaltung Dr. Mommert in seiner Eigenschaft als Kurdirektor zur Verfügung gestellt worden –, lag hin 83
ter einem schmiedeeisernen Gitter in einem weitläufigen, gepflegten Garten mit großen Rasenflächen und Gruppen von Büschen und Bäu men. Undine glaubte, noch niemals etwas so Schönes gesehen zu ha ben; in ihren Augen wurde das Haus zum Schloß, der Garten zum Park. Sie wußte nicht mehr, ob sie wach war oder träumte. Es war gut, daß das Begrüßungsgeschrei der Kinder sie rasch in die Wirklichkeit zurückrief. Die Sprößlinge der Familie – Sonja ging be reits zur Schule, Thomas war fünf und Ralf, das Nesthäkchen, zwei Jahre – hatten schon auf die Ankunft ihrer neuen Betreuerin gelauert und zerrten sie mit vereinten Kräften nach oben. Undine warf noch einen hilfesuchenden Blick auf Frau Mommert, aber sie fand keine Beachtung. Die Frau des Kurdirektors unterhielt sich intensiv mit einer häßlichen, dickbusigen Frau – der Köchin Anna, wie Undine bald genug erfahren sollte. So ließ sie sich von den Kindern in ihr Reich entführen. Thomas und Ralf hatten ein Schlafzimmer für sich, Undine mußte ihren Raum mit Sonja teilen, und ein großes, luftiges Zimmer mit ei nem Balkon stand ihnen allen als Spiel-, Wohn- und Schularbeitsraum zur Verfügung. Ein Badezimmer mit eingekachelter Wanne, Brau se und schimmernden Waschbecken gehörte dazu. Die Köchin Anna ›wusch sich nicht‹, wie Thomas steif und fest behauptete, obwohl Sonja widersprach und ihn als einen ›Dummerjan‹ bezeichnete. Undine hatte niemals rechten Umgang mit Kindern gehabt, auch in jener Zeit nicht, da sie selber noch klein war. Sie war stets als ›Hexe‹ gemieden worden, und wenn schon der eine oder andere ihrer Alters gefährten keine Scheu vor ihr gehabt hatte, so hatten doch die Müt ter streng verboten, sich um die Fremdartige zu kümmern. Wenn man schon mit ihr spielte, dann meist nur, um sie zu ärgern, zu quälen oder sich auf ihre Kosten zu belustigen. Die Kinder des Kurdirektors kamen ihr natürlich ohne Vorurteil entgegen, und für Undine waren das Ver trauen, die Neugier und die Bewunderung, mit der sie ihr neues Kin dermädchen betrachteten, ein beruhigendes Erlebnis. Sonja, ein ma geres, langbeiniges Ding mit einem lustigen Pferdeschwanz, betrach tete sie aufmerksam, als sie vor dem Spiegel ihr volles schwarzes Haar 84
bändigte. »Wie schön du bist«, flüsterte sie, »so schön werde ich wohl nie werden.« Mit den Kindern verstand sich Undine sofort, und sie selber wurde in der Gesellschaft der Kleinen so fröhlich und unbekümmert wie seit Jahren nicht. Weder Frau Mommert noch die Köchin kümmerten sich am ersten Tag um sie; den Kurdirektor selber bekam sie nicht einmal zu sehen. Von Evelyn, dem Stubenmädchen, das ihr ein Tablett mit dem Abend essen aufs Zimmer brachte, erfuhr sie auch den Grund: Bei Mommerts wurden Vorbereitungen für eine große Gesellschaft getroffen, die der Kurdirektor zu Ehren eines berühmten Pianisten geben wollte, der in Bad Wildenbrunn konzertiert hatte. Von Evelyn erfuhr Undine noch ein paar andere wissenswerte Einzelheiten über das Leben im Hause, etwa, daß ›die Gnädige schwierig‹ sei, ›der Herr lustig‹ und die Köchin ›ein Biest‹. Evelyn zeigte Undine den großen eingebauten Schrank im Flur, in dem Bett- und Badewäsche sowie weiße Schürzen für sie und Undine aufbewahrt wurden. »Ziehen Sie bloß gleich so was an«, sagte Evelyn, »die Gnädige wird böse, wenn man zivil herumgeht. Überhaupt, Ansprüche stellt die! Na, Sie werden schon sehen. Wo doch unsereins heutzutage Seltenheits wert hat. Ein Glück, daß Sie da sind, Undine – komischer Name, hei ßen die Mädchen dort so, wo Sie her sind? Lassen Sie sich hier bloß nicht ins Bockshorn jagen. Zahlen tut die Gnädige ja gut.« Undine, gewohnt, mit bedächtigen Menschen umzugehen, war es bei dem Gerede des Mädchens ungemütlich geworden. Immer wieder hatte sie nach links und rechts geschaut, ob sie auch nicht belauscht würden. Aber auch Evelyn war auf der Hut und wechselte sofort das Thema, als Frau Mommert die Treppe heraufkam. »Wie gesagt«, erklärte das Stubenmädchen mit honigsüßer Stimme, »die Kinder müssen immer ganz gründlich Gewaschen werden, be vor sie ins Bett kommen. Sie dürfen auch niemals vergessen, ihnen die Zähne zu putzen …« Sie tat, als ob sie jetzt erst die Frau des Kurdirek tors bemerkte, und sagte mit gespieltem Erstaunen: »Oh, Verzeihung, gnädige Frau, ich wollte nur eben Undine erklären …« 85
»Ich erinnere mich nicht, daß ich Sie dazu aufgefordert habe«, erwi derte Frau Mommert kalt, »gehen Sie an Ihre Arbeit.« Evelyn schnitt, nur für Undine sichtbar, eine kleine Grimasse und verzog sich eilends. »Tut mir leid, daß ich heute keine Zeit für Sie habe«, wandte sich Frau Mommert – deutlich bemüht, freundlich zu sein – an Undine. »Ich hoffe, Sie finden sich zurecht.« »Ja, danke«, stammelte Undine. Ihr wollte die Anrede ›gnädige Frau‹, die Evelyn so geläufig gebraucht hatte, nicht über die Lippen. »Morgen früh werde ich zu Ihnen kommen. Dann können Sie mich alles fragen, was Sie wissen möchten«, sagte Frau Mommert, nickte Undine flüchtig zu und ging aus dem Zimmer. Aber am nächsten Tag wartete Undine vergeblich darauf, daß Frau Mommert im Bereich der Kinder auftauchen würde. Die Spannung im Haus wuchs stündlich, und selbst Evelyn fand keine Zeit mehr zu ei nem Gespräch. Auch die Kinder waren unruhig und fragten immer wieder, ob sie hinuntergehen und ›Guten Abend‹ sagen dürften, wenn die Gäste kämen. Undine fand nicht den Mut, Frau Mommert mit dieser Bitte zu belä stigen, und tröstete die Kinder, indem sie ihnen versprach, mit ihnen vom Flurfenster auf die Straße hinunter zu sehen und das Eintreffen der Gäste zu beobachten. Tatsächlich brachte sie auf diese Weise auch Sonja und Thomas, die sonst schon nicht mehr mittags schliefen, dazu, sich an diesem Tag ein Stündchen hinzulegen. Der Anblick der elegan ten Wagen, der Herren in Frack und Smoking, der Damen in Nerz und Chinchilla, Samt, Seide und Brokat, das Funkeln der Schmuckstücke war für Undine dann mindestens so erregend wie für ihre Schützlinge. Erst als es sicher schien, daß alle Gäste eingetroffen waren, konnte sie sich und die Kinder vom Fenster losreißen. Später, als die Kleinen endlich im Bett lagen, als ihnen, nachdem sie ihrer Betreuerin eine lange Geschichte abgebettelt hatten, die Augen zugefallen waren, konnte Undine sich nicht entschließen, selbst auch schlafen zu gehen. Sie war zu aufgeregt. Als sie noch mit ihrem Pfle gevater auf dem alten Leuchtturm lebte, hatte sie viele Bücher gelesen, 86
darunter Romane, die auf Schlössern und in reichen Bürgerhäusern unter vornehmen Menschen spielten. Aber sie hatte das immer für er funden gehalten oder für etwas, das es einmal vor langer, langer Zeit gegeben hatte. Sie war überwältigt, daß sie jetzt etwas so Wunderba res – wenn auch nur am Rande – aus nächster Nähe miterleben durf te. Sie wartete, bis die Atemzüge der Kinder ruhiger wurden, dann schlich sie sich auf den Flur hinaus und über die Galerie, dorthin, von wo sie hoffen konnte, wenigstens einen Blick in die Diele werfen zu können. Aber sie hatte kein Glück. Sie sah nur einen der Lohndiener. Die Gä ste selber schienen sich in den anderen Räumlichkeiten, die Undine noch nicht kannte, aufzuhalten. Nur ihre Stimmen, gedämpftes Ge lächter und Gläserklirren klangen bis zu ihr hinauf. Fast ohne es selber zu merken, glitt Undine Stufe für Stufe die breite Treppe hinunter, Augen und Ohren unverwandt auf die große gläser ne Schiebetür gerichtet, hinter der das Wunderbare sich abspielte. Undine war so fasziniert, daß sie gar nicht gewahrte, wie sich eine Seitentür öffnete und ein hochgewachsener Herr heraustrat. Erst als er schon dicht bei ihr war, sah sie ihn und erschrak. Sie wollte sich zur Flucht wenden, die Treppe zurück nach oben laufen, aber die Bei ne versagten ihr den Dienst. Sie öffnete den Mund und brachte keinen Ton heraus. »Na, na, na«, sagte der Herr beruhigend, »sehen Sie mich nicht so an, als ob ich Sie beißen wollte! Sagen Sie mir lieber, wer Sie sind! Wie hei ßen Sie?« »Undine!« Es kam wie ein Hauch. Aber er hatte sie doch verstanden. »Ah, das hätte ich mir denken können«, sagte er, »Sie sind also das neue Kindermädchen, wie? Die kleine Insulanerin – machen Sie doch nicht so ein Gesicht. Hier tut Ih nen ja niemand was. Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?« Sie nickte. »Der Herr Kurdirektor.« »Nanu! Woher wissen Sie denn das? Haben Sie mich etwa schon mal irgendwo gesehen?« 87
»Nein«, sagte sie, »ich habe es mir nur gedacht.« »Bravo. Sie sind ein kluges Mädchen, das habe ich gern.« Er musterte sie lächelnd. »jetzt, wo ich Sie sehe, wundere ich mich nicht mehr, daß der junge Doktor Hagedorn sich so für Sie eingesetzt hat. Ich nehme an, daß eine Menge Burschen bei Ihnen zu Hause recht traurig waren, als Sie weggingen?« »Nein«, sagte sie, »ich habe niemand außer meinem Vater.« »Ja, richtig, der alte Herr ist hier im ›Luginsland‹. Haben Sie ihn schon besucht?« Sie schüttelte den Kopf. »Aber Sie würden es gern, nicht wahr?« »Ich habe große Sehnsucht nach meinem Vater«, sagte sie ernst. »Na, dann muß ich, glaube ich, mal ein gutes Wort bei meiner Frau einlegen, damit sie …« Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn in diesem Augenblick wurde die große gläserne Schiebetür aufgestoßen, und Anita Mommert trat in die Diele. Sie trug ein Abendkleid aus meergrüner, schmiegsamer Seide, das um die Hüften bauschig gerafft war. Das blonde Haar war hoch fri siert, so daß ihre sanft geschwungene Halslinie und das schneewei ße Dekolleté voll zur Geltung kamen. Ihr Make-up war vollendet, und sie hätte sehr schön sein können, wenn sich ihr Gesicht beim Anblick ihres Mannes, der sie ein wenig betroffen ansah, nicht vor Zorn ver zerrt hätte. »Hier bist du also«, sagte sie mit mühsamer Beherrschung, »ich stehe drinnen wie auf Kohlen, und du …« »Du übertreibst wieder einmal, Liebes«, sagte er sanft, »weshalb regst du dich auf? Ich bin überzeugt, daß kein Mensch mich vermißt hat.« »Du bist der Hausherr …« »Sicher. Aber auch der Gastgeber wird sich wohl mal für fünf Minu ten entfernen dürfen.« Dr. Mommert drehte sich auf dem Absatz um und ging. Undine blieb allein mit seiner Frau zurück. »Entschuldigen Sie bit te«, sagte sie hilflos, »ich wollte nur …« 88
Frau Mommert ließ sie nicht weitersprechen. »Sparen Sie sich Ihre Lügen«, sagte sie zornig, »ich weiß, worauf Sie es abgesehen haben – ich habe es von Anfang an gewußt. Aber schlagen Sie sich diese Plä ne aus dem Kopf. Ich dulde in meinem Haus keine Glücksjägerinnen. Entweder Sie verzichten darauf, den Männern schöne Augen zu ma chen, oder Sie müssen gehen. Überlegen Sie sich das rechtzeitig.« Die Seide ihres Abendkleides rauschte, als sie mit hocherhobenem Haupt zu ihren Gästen zurückging. An diesem Abend weinte Undine sich in den Schlaf.
Wenige Tage, nachdem Undine den Harmshof verlassen hatte, kam der Kleinknecht Carsten aus dem Krankenhaus und trat seinen Dienst wieder an. Frank Ostwald konnte also an die Universität zurückkeh ren. Antje Nyhuus brachte ihn und sein Gepäck im Auto ihrer Eltern zum Bahnhof in die Kreisstadt. Es war ein nebliger Wintermorgen, nur wenige Meter drangen die Scheinwerfer durch den milchigen Dunst. Antje Nyhuus mußte ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Fahrbahn richten. Die beiden jungen Leute hatten sich wieder versöhnt, aber der Frieden war nicht echt, im mer noch knisterte Spannung zwischen ihnen. Antjes Eifersucht auf das fremde Mädchen Undine hatte sich keineswegs vermindert, aber ganz bewußt sprach sie nicht mehr von ihrem Mißtrauen, denn sie wollte Frank um keinen Preis noch mehr verärgern. »Hoffentlich schreibst du mir auch mal«, sagte sie so gleichmütig wie möglich, als sie auf dem Bahnsteig standen und auf das Einfahren des Zuges warteten. »So oft ich kann.« Er spürte selber, daß dieser kurze Satz fast ab weisend geklungen hatte, und fügte in herzlicherem Ton hinzu: »Du kannst dir wohl denken, wie ich schuften muß, damit ich wie der den Anschluß kriege. Schließlich habe ich fast zwei Monate ver säumt.« Sie lächelte ihn zärtlich an. »Du sollst dich meinetwegen nicht noch 89
mehr quälen müssen, Frank. Wenn's nicht geht, brauchst du nicht zu schreiben. Hauptsache, ich weiß, daß du an mich denkst.« »Bestimmt, Antje. Und ich werde mich über jeden deiner Briefe sehr freuen, verlaß dich drauf.« »Ach, ich weiß nie was Interessantes. Bei uns passiert doch nichts. Frank, es wird noch einsamer werden, wenn du weg bist.« »Ganz allein in einer fremden Stadt zu leben ist auch kein Spaß, Ant je. Aber ich werde nicht oft dazu kommen, mich einsam und verlassen zu fühlen – dazu muß ich zuviel lernen.« Sie runzelte plötzlich die Stirn. »Warum sagst du eigentlich dauernd, daß du so viel zu lernen hast?« »Weil es stimmt«, lächelte Frank Ostwald. »Ja, aber du brauchst es mir doch nicht immerzu unter die Nase zu reiben. Das kommt mir fast so vor, als ob du …« Sie stockte, biß sich auf die Lippen. »Na, red dich nur aus.« »Nichts«, sagte sie, »gar nichts.« Sie schwiegen beide, und er sah ungeduldig auf seine Armbanduhr. Noch nie hatte er die Ankunft des Zuges so herbeigesehnt. »Du brauchst mir doch nur zu versprechen, daß du nicht nach Bad Wildenbrunn fährst«, brach es plötzlich aus ihr heraus. Sie packte ihn an den Mantelaufschlägen. »Frank, bitte, wenn du mich liebst …« Seine Finger umschlossen ihre Handgelenke, so fest, daß sie mit einem leisen Schmerzensschrei ihren Griff lockerte. »Ich lasse mich zu nichts zwingen, das weißt du. Wenn du kein Vertrauen zu mir hast …« »Doch, Frank, das habe ich«, sagte sie kläglich und rieb sich die Ge lenke. »Dann fang nicht immer wieder davon an. Ich habe dir gesagt, daß ich dich liebe, daß mir Undine nichts bedeutet – daß ich nur Mitleid mit ihr gehabt habe. Das ist die Wahrheit.« »Du versprichst mir also …«, fragte sie hoffnungsvoll. »Nichts. Ich kann tun und lassen, was ich will, solange ich verantworten kann, was ich tue.« 90
»Ja, Frank«, sagte sie leise. »Na endlich, ich wußte doch, daß du ein vernünftiges Mädchen bist.« Er legte seine Hand unter ihr Kinn, zwang sie, ihn anzusehen. »Wie lange kennen wir uns jetzt, Antje?« »Seit ihr auf den Harmshof gekommen seid.« »Stimmt. Das sind gut und gerne fünfzehn Jahre. Als wir uns zum erstenmal begegneten, waren wir noch Kinder. Und wie lange kenne ich Undine?« »Das weiß ich nicht.« »Dann will ich es dir ganz genau sagen: noch keinen Monat. Begreifst du jetzt, daß du keinerlei Grund zur Eifersucht hast?« »Aber – sie ist sehr schön.« »Du doch auch, Antje. Schau nur mal in den Spiegel.« »Warum willst du dann zu ihr fahren?« fragte sie hartnäckig. Er schnappte nach Luft. »Schluß jetzt!« sagte er zornig. »Es wird mir zu dumm. Hör auf damit, Antje, oder …« Sie warf sich an seine Brust. »Ach, Frank, bitte, sei mir nicht böse! Du mußt mir glauben, ich sagte alles nur, weil ich dich so liebe.« »Ich dich auch«, antwortete er und strich ihr beruhigend über den Rücken. »Aber, bitte, nimm dich zusammen, wisch dir die Tränen ab. Die Leute schaun ja schon her. Sie werden sich wer weiß was denken, wenn du dich so aufführst.« Von weit her tönte das Pfeifen einer Lokomotive. Frank Ostwald at mete erleichtert auf und nahm seine Koffer. Donnernd rollte der Zug auf dem Bahnsteig ein. »Leb wohl, Antje«, sagte er und gab ihr einen flüchtigen Kuß, »ver giß mich nicht und schlag dir die Flausen aus dem Kopf.« Er riß eine Tür auf, schob seine Koffer auf die Plattform des Waggons und klet terte hinterher. Dann schlug er die Tür hinter sich zu und blickte aus dem Fenster. »Frank«, rief sie atemlos, »Frank, wann kommst du wieder?« »Weihnachten«, sagte er, »wie jedes Jahr.« »Bestimmt?« »Natürlich, was denkst du denn? Wo sollte ich sonst sein?« 91
Die Stimme aus dem Lautsprecher verkündete: »Achtung, Türen schließen! Zurücktreten von der Bahnsteigkante!« Gleich darauf setz te sich der Zug in Bewegung.
Es war kurz vor Mitternacht. Der Hund auf dem Harmshof schlug nicht an, als Jakobus Schwen zen sich der Hintertür näherte. Für ihn war der ›Hexenbanner‹ kein Fremder. Uwe Harms und seine Frau erwarteten ihn in der guten Stu be. Schon in den ersten Sekunden spürte Jakobus Schwenzen, daß die Stimmung anders war als sonst. In der Haltung des Bauern lag etwas Ablehnendes, ja Feindliches. »Was bringst du uns für Nachrichten?« fragte der alte Mann. »Das Mädchen ist fort, wie du es verlangt hast. Wir hoffen also, daß du uns heute mehr sagen kannst.« Jakobus Schwenzen schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist nicht fort – ihr Hexenzauber liegt noch über dem Hof. Spürt ihr es nicht selber?« »Nein«, sagte die alte Frau, und ihre Stimme zitterte, »das spüren wir nicht – und wir glauben auch nicht, daß sie wirklich eine Hexe war.« Jakobus Schwenzen lachte böse. »So ist das also, soweit hat sie euch gebracht. Vielleicht glaubt ihr auch nicht mehr, daß ich mit eurem Sohn Verbindung aufnehmen kann, wie?« »Doch«, sagte der Bauer zögernd, »das hast du uns ja wohl bewiesen. Aber mit diesem Mädchen ist das etwas anderes.« Er sah seine Frau an. »Sie fehlt uns, Jakobus Schwenzen, und es tut uns leid, daß wir sie fort gejagt haben. Sie ist ein gutes Mädchen und hat niemand ein Leid ge tan.« »Und das Feuer? Habt ihr das vielleicht auch schon vergessen?« »Nein. Aber es war nicht ihre Schuld. Die Brandkommission hat die Ursache des Feuers abgeklärt. Es war Selbstentzündung. Durch das Unwetter ist das Heu feucht geworden, dann kam Zugluft dazu, und dadurch entstand dann eben …« Jakobus Schwenzen lachte wieder. Diesmal klang es noch hämischer. 92
Der Bauer unterbrach ihn. »Es gibt da nichts zu lachen. Der Schaden war schlimm genug. Wenn nicht die Versicherung wäre …« »Ich lache nicht über das Feuer«, sagte Jakobus Schwenzen, »sondern über eure Dummheit. Ja, glaubt ihr denn, eine Hexe müßte ein Streich holz nehmen, wenn sie einen Brand legen will? Das eben ist der Hexen zauber, daß man die Ursache nicht herausbringen kann. All das, was die Männer von der Brandkommission euch erzählt und wohl auch in einem Bericht niedergelegt haben, ist doch Unsinn. Jedes Jahr hat es geregnet und ist Luft an das Heu gekommen, und wie oft hat es ge brannt? Nur ein einziges Mal, als die Hexe auf eurem Hof war. Ich habe sie oben am Fenster stehen und in das Feuer starren sehen – nicht nur ich. Fragt alle, die dabei waren. Sie stand da und machte myste riöse Zeichen. Warum tat sie das wohl, wenn sie, wie ihr sagt, keine Hexe ist?« Die Bauersleute schwiegen betroffen. Dann sagte Uwe Harms, und seine Stimme klang nicht mehr so sicher wie zuvor: »Du brauchst dich nicht zu beklagen, Jakobus Schwenzen, wir haben dir den Willen ge tan. Das Mädchen Undine ist fort. Mach keine Ausflüchte mehr. Sag uns, was du in der Zwischenzeit über unseren Sohn erfahren hast.« »Wir haben nachgerechnet«, ergänzte seine Frau, »wieviel Geld du in all den Jahren von uns bekommen hast. Es geht in die Tausende, das weißt du gut. Was hast du uns dafür gegeben? Nichts als Verspre chungen. Du sagst, daß unser Klaus noch lebt. Aber das ist alles. Du hast uns unseren Jungen nicht einen Schritt nähergebracht, nicht ei nen wirklich entscheidenden Beweis hast du uns zeigen können für das, was du behauptest. Immer nur hast du uns hingehalten, immer wieder hast du versprochen, noch bessere Auskunft über unseren Sohn zu bringen. Aber wenn wir dich beim Wort nehmen wollten, dann bist du immer ausgewichen – wie heute.« Jakobus Schwenzen war auf einen solchen Ansturm massiver Vor würfe nicht gefaßt. »Ihr tut mir Unrecht«, sagte er kleinlaut und zer marterte seinen Kopf nach einem Argument, mit dem er sie schlagen konnte. »Was du mit uns gemacht hast, ist Betrug«, fuhr der Bauer fort. 93
»Glaub nur nicht, daß wir dumm sind. Wir kennen uns aus, Jakobus Schwenzen. Du treibst ein übles Spiel mit unserer Not.« Jakobus Schwenzen erhob sich. »Wer hat euch das eingeredet?« frag te er drohend. Die Bauersleute sahen sich an. »Niemand«, sagten sie gleichzeitig. »Könnt ihr mir das beschwören?« »Ja«, sagte Uwe Harms, »das können wir. Aber nicht wir müssen uns rechtfertigen – du bist es, der zu seinem Wort stehen muß.« »Das werde ich«, sagte Jakobus Schwenzen mit Nachdruck, »wenn ihr nur noch ein wenig Geduld haben wollt. Es beginnt sich aufzu hellen, noch einen Schritt, das spüre ich ganz deutlich, dann haben wir das Rätsel gelöst. Dann werden wir genau wissen, wo euer Sohn ist, und wir können ihn zurückholen. Allerdings, wenn ihr mir nicht mehr glaubt … Ohne Vertrauen ist die Beschwörung unmöglich.« Er wandte sich zur Tür. »Überlegt's euch!« »Halt!« Auch der Bauer stand auf, folgte ihm mühsam, auf seinen Krückstock gestützt. »Was fällt dir ein? Vertrauen sollen wir haben? Ist das das einzige, was du uns heute zu sagen hast? Als ob wir nicht Jahr um Jahr Vertrauen zu dir gehabt hätten. Und was ist dabei herausge kommen?« »Ihr wißt, daß euer Sohn lebt. Wer außer mir hätte euch das sagen können?« »Wenn es nur stimmt«, antwortete die Bäuerin leise. »Ich weiß, woher eure Zweifel kommen.« Jakobus Schwenzen gab sich jetzt wieder sehr sicher. »Die Hexe ist schuld. Sie hat euch ver wirrt. Widersprecht mir nicht! Das eben ist eure Krankheit, daß ihr euren Zustand nicht erkennen könnt. Ihr braucht mir meinetwegen nicht zu glauben, wenn ihr mich nur gewähren laßt …« »Was willst du tun?« fragte Uwe Harms verstört. »Einen Blutbann ziehen. Um euch und das Haus. Damit verliert die Hexe ihre Macht.« Er warf einen Blick auf die alte holländische Uhr in der Wand. »Noch ist nicht Mitternacht. Ich werde es jetzt tun – jetzt gleich. Ihr werdet bald erlöst sein.« »Wen willst du wieder töten?« fragte der Bauer. 94
»Ein Stück Vieh. Welches ihr mir gebt, es steht in eurem Ermessen. Vielleicht ein Ferkel – oder besser nicht. Niemand soll davon erfahren. Ich nehme euren schwarzen Hahn, wenn es euch recht ist.« »Muß das unbedingt sein?« fragte die Bäuerin. Ihre Stimme klang müde. »Ja. Es ist die einzige Rettung. Der Blutbann – oder ihr seid verloren. Ich gehe jetzt.« Weder der Bauer noch seine Frau rührten sich, als er das Zimmer verließ. Beklommen saßen sie da und wagten nicht, sich anzusehen. Wie gelähmt erwarteten sie den Schrei der gequälten Kreatur. »Es ist nicht unsere Schuld«, sagte der Bauer Uwe Harms endlich. »Wir haben es nicht gewollt«, bestätigte seine Frau. Aber beide wußten, daß sie mitschuldig waren an dem Verbrechen des Hexenbanners, und nicht zum erstenmal. Doch sie brachten es nicht über sich, die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrem verschol lenen Sohn aufzugeben. Dieser Sehnsucht hatten sie das Mädchen Un dine geopfert, für diese Sehnsucht mußte jetzt der schwarze Hahn bei lebendigem Leibe sein Blut vergießen …
Frank Ostwald war fest entschlossen, Undine nicht wiederzusehen. Er dachte dabei nicht an Antje Nyhuus und ihre Eifersucht, sondern seine Vernunft sagte ihm, daß es keinen Zweck hatte, eine Freund schaft fortzusetzen, aus der nun einmal nichts werden konnte. Er re dete sich ein, daß Undine ihm nicht das geringste bedeute und daß sie ihn längst vergessen habe. Es blieb Frank Ostwald kaum Zeit, an Undine zu denken. Tatsäch lich hatte er nicht übertrieben, als er seiner Braut Antje Nyhuus bei der Abreise erklärte, wieviel er arbeiten müßte, um seine Lücken aufzufül len. Er studierte jeden Tag bis tief in die Nacht hinein und stand den noch morgens schon oft vor Tagesanbruch auf. Er wußte, daß es für seine Eltern eine große Beruhigung sein würde, ihn als ausgebildeten Ingenieur zu sehen, er wollte ihnen nicht länger als unbedingt erfor 95
derlich auf der Tasche liegen. Zwar bekam er ein Stipendium, aber da mit allein war es nicht getan. Der Vater mußte jeden Monat zusätzlich noch tief in die Tasche greifen, damit Frank das Nötigste hatte: Hei zung, Nahrung, Kleider und eine kleine Summe für die bescheidenen Vergnügungen, die er sich gönnte. Miete brauchte Frank glücklicherweise nicht zu bezahlen, da er un entgeltlich bei Verwandten wohnen konnte, von denen er darüber hin aus mancherlei Unterstützung genoß. Dies war auch der Grund, wes halb er für die letzten Semester den Studienort so weit weg vom Eltern haus gewählt hatte. Zeit hatte er sich nach seiner Rückkehr nur genommen, und zwar gleich am ersten Tag, um mit seinem Freund Helmut Zach zu spre chen. Er erklärte ihm, warum er unbedingt den Beweis haben mußte, daß der verschollene Klaus Harms gestorben sei. »Du verstehst, es ist außerordentlich wichtig für uns – alles hängt davon ab«, sagte er. »Das Unangenehme ist nur, daß wir nicht viel Geld für die Nachforschungen ausgeben können. Meinst du, daß du deinen Chef trotzdem überreden könntest, uns zu helfen? Später, wenn ich mit dem Studium fertig bin …« »Klar«, lachte Helmut Zach, ein etwas schnoddriger blondschopfi ger Bursche, »oder wenn ihr euch den Harmshof unter den Nagel ge rissen habt, dann könnt ihr natürlich zahlen. Aber ich fürchte, darauf läßt sich der Chef nicht ein. So viel, daß er keine Unkosten hat, wirst du schon hinblättern müssen.« »Natürlich, das will ich ja gerne tun. Aber es muß alles schnell gehen. Dieser Jakobus Schwenzen ist ein gefährlicher Bursche, du kannst dir das gar nicht vorstellen. Er hat den Bauern und seine Frau völlig in der Hand. Sie tun, was er sagt. Wenn er die alten Leute eines Tages überre det, uns 'rauszuwerfen, dann sitzen wir auf der Straße – meine Eltern ohne Existenz und ich ohne Abschlußprüfung.« »Nicht zu fassen«, grinste Helmut Zach. »Daß es so etwas noch gibt, Hexenbanner! Wenn nicht gerade du mir das erzählt hättest, ich wür de es für ein Ammenmärchen halten. Hexenbeschwörungen um Mit ternacht – unglaublich!« 96
»Tu etwas, Helmut, bring mich zu deinem Chef«, drängte Frank Ost wald. »Nein«, sagte Helmut Zach, »das machen wir ganz anders. Ich werde so tun, als ob ich es wäre, der die Geschichte ins Rollen bringen möch te, verstehst du? Ich schufte jetzt schon seit drei Jahren bei ihm, mir kann er seine Hilfe nicht abschlagen. Wenn was dabei herauskommt, informiere ich dich sofort. Also los – zunächst die Daten. Erzähl mir alles, was du über diesen Menschen weißt …« Er drehte sein Kollegheft herum, schlug die letzte Seite auf, sah Frank Ostwald fragend an. »Der letzte Brief von Klaus Harms kam aus Rolandia«, erklärte Frank, »das muß eine Stadt in Brasilien sein, wenn mein Vater den Al ten richtig verstanden hat.« »Weißt du das Datum?« »Nein.« »Bißchen wenig.« »Dieser Brief traf gegen Ende des Krieges ein, und er war schon Mo nate alt. Klaus Harms schrieb darin, daß er in die Heimat zurück wol le, um seinen alten Eltern endlich eine Stütze zu sein.« »Anständiger Zug von ihm. Aber ob er das wirklich versucht hat? 1943 von Brasilien aus, ein ziemlich kühner Gedanke. Ich nehme an, er hat sich das noch im letzten Moment anders überlegt.« »Oder er ist bei dem Versuch umgekommen. Das halte ich für wahr scheinlicher«, sagte Frank Ostwald, »denn sonst hätte er nach dem Krieg doch irgendein Lebenszeichen geben müssen.« »Hat er vorher regelmäßig geschrieben?« »Nein. Du darfst nicht vergessen, er ist im Streit von zu Hause weg gegangen. Anfangs hat er lange Zeit gar nichts von sich hören lassen. Erst zwei Jahre nach seiner Auswanderung, also 1938, kam Nachricht von ihm. Soviel ich weiß, wurden seine Briefe von da an immer häufi ger, aber dann kam der Krieg …« »Ich verstehe. Aber immerhin muß die Korrespondenz doch lange genug gedauert haben, damit er seinen Eltern das eine oder andere von seinen Lebensumständen drüben mitgeteilt haben könnte …« »Hat er auch. Aber anscheinend waren seine Verhältnisse ziemlich 97
verworren. Er hat sich in diesem und jenem Beruf versucht, konnte sich aber wohl nicht anpassen und auch nicht recht heimisch werden.« »Familie?« »Du meinst, ob er geheiratet hat? Ja, das hat er. Aber wie seine Frau hieß, ob sie arm war oder reich, jung oder alt – das weiß ich selbst nicht. Fest steht nur, daß sie ein Kind miteinander hatten, eine Toch ter. Geboren wahrscheinlich 1943.« Helmut Zach hatte eifrig mitgeschrieben. »Komisch«, sagte er dann. »Warum?« »Nun, findest du es nicht merkwürdig, daß seine Frau auch nichts von sich hören läßt?« »Aber sie kennt ihre Schwiegereltern doch gar nicht.« »Darauf kommt es nicht an. Zumindest wird sie wissen, daß diese wohlhabend sind. Das hat ihr Klaus Harms sicher erzählt. Und aus der Ferne hat der große Bauernhof bestimmt noch viel glänzender ausge sehen. Die junge Frau Harms hätte also allen Grund gehabt, sich nach dem Krieg mit den Eltern ihres verstorbenen Mannes – wenn er über haupt inzwischen verstorben ist – in Verbindung zu setzen. Warum hat sie das nicht getan?« Frank Ostwald lächelte. »Das herauszubringen ist deine Aufgabe, Helmut – oder die deines Chefs. Wenn es euch gelingt …« »Keine voreiligen Versprechungen!« Helmut Zach hob abwehrend die Hand. »Es würde dir später leid tun. Ich werde ohnehin alles ver suchen, was sich machen läßt. Auf alle Fälle mußt du damit rechnen, daß ich mich später mitsamt meiner vielköpfigen Familie in den gro ßen Ferien auf dem Harmshof einnisten werde.« »Ich kann nur hoffen, daß deine Pläne in Erfüllung gehen«, antwor tete Frank Ostwald. Noch am selben Abend schrieb er seinem Vater, daß er die Suche nach dem verschollenen Klaus Harms eingeleitet habe. Dann widmete er sich seinen Studien und vergaß darüber die Angelegenheit fast. Je denfalls beunruhigte sie ihn nicht mehr. Harmshof und ›Hexenban ner‹ schienen sehr in die Ferne gerückt. Aber Undine vergaß er nicht. Je entschlossener er war, nicht mehr an 98
sie zu denken, desto häufiger schob sich ihr Bild vor die chemischen und mathematischen Formeln, über denen er brütete. Eines Nachts erwachte er schweißgebadet. Er hatte sie so deutlich vor sich gesehen, sie so verzweifelt seinen Namen rufen hören, daß es lan ge dauerte, bis er in die Wirklichkeit zurückfand. In dieser Nacht entschloß er sich, Undine aufzusuchen.
Es war Samstagabend. Im ›Copacabana‹ in St. Pauli herrschte Hochbetrieb. Alle Räume wa ren bis auf den letzten Platz besetzt. Man konnte die Palmenhaine, die auf die Wände gemalt waren, nur durch einen Rauchschleier se hen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Eine Tanzkapelle spielte mit vol ler Lautstärke. Zwei Menschen, die in einem dunklen, von der Kapelle weit entfern ten Winkel saßen, versuchten ein leises Gespräch zu führen. Es waren Jakobus Schwenzen und ein blondes Mädchen. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Mann immer wieder, »es kann gar nichts schiefgehen. Es ist ein Geschäft ohne Risiko.« »Ich glaube schon, daß es dir jetzt so vorkommt«, sagte das Mäd chen, »genau wie du hat Schorsch gesprochen, als er das große Ding drehen wollte, und nachher …« »Also weißt du, Karin, du wirst mich doch nicht mit deinem blöden Schorsch vergleichen wollen!« »So blöd ist er gar nicht, er hat nur Pech gehabt.« »Kann sein«, lenkte Schwenzen ein, »aber ob Dummheit oder Pech, was macht das für einen Unterschied, jetzt, wo sie ihn eingelocht haben? Mir kann so was nicht passieren. Mein Plan ist bis in alle Einzelheiten durchdacht, und dann – ich kenne auch die richtigen Zeiten. Wenn man Erfolg haben will, muß man sich die bösen Mächte gefügig machen …« »Heckmeck«, sagte das Mädchen. »Mit mir nicht! Ich will genau wis sen, was mir passiert, wenn die Sache schiefgeht. Mach nicht so große Sprüche. Damit lockst du mich nicht aufs Glatteis!« 99
Jakobus Schwenzen zündete sich eine Zigarette an. »Gib nicht so an, Kleine. Was hast du schon zu verlieren? Nach St. Pauli kannst du im mer zurück. Was hält dich hier? Bis Schorsch aus dem Knast kommt, vergehen noch gut zwei Jahre. Dann ist unser Geschäft längst perfekt.« Sie schwieg. Er nahm es als Zustimmung. »Na, siehst du. Ich garan tiere, du hast zehntausend auf der Bank, wenn Schorsch freikommt.« Die Blonde stutzte. Sie tat so, als wollte sie aufspringen. »Ist das dein Ernst?« fragte sie und heuchelte Entrüstung. »Tut mir leid. Dann lohnt es sich nicht für mich!« »Was?« Schwenzen starrte sie entgeistert an. Die Blonde weidete sich eine Weile an seiner Verblüffung. Dann verzogen sich ihre karminrot geschminkten Lippen zu einem Lächeln. »Halbe-Halbe, oder ich pas se.« »Du mußt verrückt sein, wenn du so etwas verlangst. Wer hat denn die ganze Geschichte ausgeknobelt? Wer hat die alten Leute noch und noch bearbeitet?« »Warum regst du dich auf?« Sie bewegte geringschätzig ihre vollen Schultern. »Es zwingt dich niemand, mich in dein Geschäft hineinzu ziehen. Wenn du nicht willst …« Sie legte den Kopf zurück und ließ den Inhalt des Sektglases durch ihre Kehle rinnen. »Du bist wahrhaftig unverschämt«, sagte er. Es klang fast bewun dernd. »Mit Bescheidenheit kann man es zu nichts bringen«, erwiderte sie ungerührt. »Ich gebe dir zwanzigtausend …« »Interessiert mich nicht. Entweder die Hälfte – oder ich steige aus. Hältst du mich für eine Anfängerin? Andere Leute die Arbeit ma chen lassen und selber nur kassieren, das könnte dir so passen. Bei mir nicht! Überleg's dir.« Sie stand jetzt wirklich auf, aber sie kam nicht dazu, den Tisch zu verlassen. »Halt!« rief er rasch. »Hör auf mit dem Unsinn, setz dich gefälligst. Es soll sein, wie du sagst …« »Abgemacht. Ich nehme dich beim Wort. Und versuch ja nicht, mich zu betrügen. Sonst lasse ich die ganze Sache platzen …« 100
»Du wärst dazu imstande.« »Bestimmt. Also schieß los: Erklär mir noch einmal ganz genau, was ich zu tun habe. Wann soll es überhaupt losgehen?« »Du erhältst von mir noch Bescheid. Spätestens zu Weihnachten. Ich glaube, das wäre der richtige Zeitpunkt – die Feststimmung macht die Leute weich und gutgläubig.« Er schaute sie prüfend an. »Natürlich müssen wir dich bis dahin schon umgemodelt haben. Ist die Haarfarbe echt?« Sie fuhr sich mit der Hand in die blonden Locken. »Na klar.« »Gut. Dann brauchen wir nur noch eine andere Frisur.« »Was Hausbackenes, 'nen Knoten vielleicht?« »Nicht übertreiben! Vergiß nicht, daß du aus London kommst. Reicht dein Englisch aus?« »Oh, yes. Aber nicht für gehobene Konversation.« »Wird auch nicht nötig sein. Wir werden sagen, du bist in einer deut schen Emigrantenfamilie aufgewachsen. Die alten Leute können oh nehin nicht mit dir englisch sprechen.« »Wie bin ich denn nach London gekommen?« »Aus Brasilien. Hier. Das ist dein Taufschein.« Er holte ein fotoko piertes Dokument aus seiner Jackentasche, schob es ihr über den Tisch zu. Sie las laut: »Elke Harms, fünfzehnter Oktober neunzehnhun dertundzweiundvierzig …« Sie tippte mit dem langen, rotlackierten Fingernagel auf eine bestimmte Stelle. »Das ist wohl mein neuer Papa, wie?« »Ja.« Er nahm ihr den Taufschein wieder ab. »Klaus Harms, und die Mutter heißt Carmencita geborene Malhages …« Er sah sie beifallhei schend an. »Gut, nicht wahr?« »Prima. Wo hast du das machen lassen?« Er lachte. »Das sieht dir ähnlich! Du glaubst, es ist falsch? Großer Irr tum. Dieses Dokument ist goldrichtig, und ich weiß sogar noch mehr über Elke Harms und ihre Eltern – Tatsachen, die ich beweisen kann. Sie sind 1943 von Brasilien nach England gekommen. Sie haben in ei nem Londoner Hotel gewohnt …« 101
»Und dann? Weiter? Was ist mit ihnen geschehen?« »Ich weiß es nicht. Da verläuft die Spur im Sande. Mehr habe ich nicht herausbringen können, obwohl ich wirklich das Menschenmög liche getan habe.« Sie hob die Augenbrauen. »Es ist also gar nicht so sicher, daß sie tot sind?« »Aber doch. Hundertprozentig. Wahrscheinlich sind sie bei einem Luftangriff ums Leben gekommen, und man hat sie nicht identifizie ren können. Tot sind sie auf alle Fälle. Oder glaubst du, daß sie sonst fünfzehn Jahre lang keinerlei Lebenszeichen gegeben hätten?« »Es ist trotzdem riskant«, sagte sie und zog ihre Oberlippe zwischen die Zähne. »Du kriegst ja schon die Hälfte – willst du etwa noch mehr?« Sie ging nicht auf diese Bemerkung ein. »Wie sah sie aus? Hast du ein Bild von ihr?« fragte sie. »Ich muß doch wenigstens ungefähr wis sen …« »Niemand weiß es. Ich nicht und die alten Leute genausowenig.« Er zog eine altmodische Fotografie, die auf einen Pappdeckel aufgezogen war, aus der Tasche. »Sieh dir das an. So sah die alte Harmshofbäuerin aus, als sie jung war …« Karin betrachtete lange die verblichene Fotografie, und er störte sie nicht dabei. »Das könnte ich sein«, sagte sie schließlich. »Eben. Deshalb bin ich ja auch ausgerechnet auf dich verfallen.« »Und warum melde ich mich erst jetzt?« »Weil du gar nichts von der Verwandtschaft gewußt hast. Ich habe dich erst gefunden, das ist sehr wichtig. Merk dir das gut; denn zu mir müssen sie Vertrauen haben. Du spielst nur die Nebenrolle. Anders geht es nicht. Um sie ohne weiteres zu beerben, fehlen dir ja die Papie re. Wir müssen sehr behutsam vorgehen. Ein einziges falsches Wort kann alles zerstören. Also mach es dir nicht leicht, Karin, sondern gib dir Mühe, deine Rolle richtig zu spielen.« »Was an mir liegt, soll geschehen – für Geld kann der Mensch al les.« 102
An ihrem ersten freien Sonntagnachmittag besuchte Undine ihren Pflegevater im Haus ›Luginsland‹. Die Freude des alten Mannes, sie in der Fremde wiederzusehen, war ihr reichlich Entschädigung für ihr ei genes Heimweh, denn obwohl sie es sich selber nicht eingestand, sehn te sie sich nach dem rauheren Klima des Nordens, nach der Meeresluft und dem steifen Wind. Aber während der Stunden, die sie mit Tede Carstens zubringen durfte, vergaß sie all ihr Leid. Sie konnte fröhlich von dem schönen Haus des Kurdirektors, den liebenswerten Kindern und dem netten Herrn Mommert erzählen, so daß ihr Vater glauben mußte, sie hätte es aufs beste getroffen. Daß sie weder bei der Hausfrau noch bei der Kö chin Sympathie gefunden hatte, verschwieg sie. Als die Dämmerung hereinbrach, mußte sie sich zum Heimweg ent schließen; die Besuchszeit war beendet. Es fiel ihr bitter schwer. Sie hät te noch nicht direkt nach Hause zurückkehren müssen, denn ihr frei er Nachmittag dauerte bis zwölf Uhr. Aber wohin sollte sie sich wen den, jung, unerfahren und ganz allein in der eleganten Badestadt? Sie schlenderte langsam, die Hände in den Taschen ihres neuen Winter mantels, den sie von ihrem ersten selbstverdienten Geld gekauft hatte, die Kurpromenade hinunter. Längst waren die bunten Blätter der Pla tanen zusammengefegt worden. Kahl starrten die beschnittenen Äste in den Himmel. Undine ging langsam und mit gesenktem Kopf und bemerkte nicht die Blicke, die ihr die Entgegenkommenden zuwarfen. Als sie sich nun plötzlich beim Namen gerufen hörte, blickte sie auf. Sie war in Gedanken weit fort gewesen und brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, wer vor ihr stand. »Frank Ostwald«, stammelte sie, und ihr Gesicht blühte auf, »du?« Er erwiderte ihr Lächeln kaum. »Nun«, sagte er finster, »ich dürfte mich wohl nicht verändert haben.« Er hatte das ›ich‹ so stark betont, daß sie seinen Vorwurf nicht überhören konnte. Ihr Lächeln erlosch. »Wie meinst du das?« fragte sie. »Du brauchst nur in den Spiegel zu schauen.« Sie sah an sich hinunter. »Ach so. Du meinst meinen neuen Mantel. Ich habe ihn mir selber gekauft …« 103
»Und die Pumps? Und die Strümpfe? Hast du dir die auch selber ge kauft? Und beim Friseur bist du auch gewesen – alles von deinem eige nen Geld? Da kann man dir ja gratulieren. Auf tausend Mark wirst du im Monat sicher kommen.« Sie wollte schon aufbrausen, aber dann begriff sie, daß er sie nicht verletzen wollte, sondern nur eifersüchtig war. »Aber Frank«, sagte sie, »was sind das für Ideen? Ich kann dir alles ganz leicht erklären: Die Schuhe hat mir Evelyn, das Stubenmädchen bei Mommerts, ge schenkt, die Strümpfe habe ich mir selber gekauft, die kosten genau eine Mark neunzig, und das Haar habe ich mir bloß anders frisiert, weil Frau Mommert es so wünschte.« Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn schelmisch an. »Gefall ich dir etwa nicht?« Er brummte etwas Unverständliches vor sich hin und ärgerte sich, weil er spürte, daß er sich albern benommen hatte. Aber tatsächlich war er mit der Vorstellung nach Bad Wildenbrunn gefahren, eine unglückliche, verzweifelte Undine vorzufinden, die sich die Augen nach ihm ausweinte, weil sie sich ohne seine guten Ratschläge nicht zurechtfand. Statt dessen mußte er erkennen, daß nur ein wenig Geschicklichkeit dazu gehörte, das gehetzte Mädchen von der Insel in eine wahre Schönheit zu verwandeln. Sie erwartete keine Entschuldigung, sondern war schon zufrieden, daß er ihr anscheinend nicht mehr zürnte. »Ich habe viel mehr Grund, dich zu fragen, wie du hierher kommst«, sagte sie lächelnd. »Ich bin gekommen, weil ich dachte, daß du mich brauchtest. Dei ne Adresse herauszukriegen war ganz einfach. Aber jetzt sehe ich, daß du dich schon angepaßt hast. Das soll kein Vorwurf sein, Undine, son dern nur eine Feststellung, weiter nichts – da kann ich wohl getrost wieder in meine Universitätsstadt zurückfahren.« Er drehte sich um, als ob er gehen wollte. »Nicht, Frank!« Mit ein paar raschen Schritten war sie bei ihm. »Du ahnst nicht, wie froh ich bin, daß du da bist. Bitte, fahr nicht gleich wieder weg. Ich muß etwas mit dir besprechen.« Er war glücklich über ihre Nähe, aber er wollte es sich nicht eingeste hen. So behielt er denn ein finsteres Gesicht und preßte die Lippen zu sammen und brummte: »Na schön, was gibt es?« 104
Undine antwortete nicht sofort. Sie hakte ihn unter und wandte sich einem Fußpfad zu, der sich im weiten Bogen durch die Kuranlagen schlängelte. Dann erst hob sie an: »Ich glaube«, sagte sie, indem sie ihre Stimme senkte, »ich glaube, ich bin doch eine Hexe.« »Unsinn«, antwortete er und versuchte zu lachen. »Du bist vielleicht ein klein bißchen verrückt. Das ist alles, was mit dir los ist.« »Frank, bitte, versuch doch, mich ernst zu nehmen. Ich würde ja gar nicht darüber sprechen, wenn es mich nicht so bedrückte.« Sie schlen derten durch die einsame Grünanlage. »Als ich hierherkam, war ich richtig froh, weil außer Doktor Hagedorn niemand weiß, daß sie mich zu Hause eine Hexe genannt haben. Ich hatte gehofft, ich könnte ein neues Leben anfangen, ein normales Leben, wie es die anderen Men schen auch führen.« »Und? Tust du das denn nicht?« »Nein.« Sie zögerte. »Ich habe etwas Schreckliches gemerkt. Ich kann Menschen zwingen, zu tun, was ich will.« »Auch mich?« fragte er und tat belustigt. »Ja. Auch dich. Damals im ›Deichkrug‹ habe ich mir intensiv ge wünscht, daß du mich schützen würdest – und auch jetzt habe ich dich herbeigesehnt. Und deshalb bist du gekommen.« »Nein, Undine. Du irrst dich. Beides habe ich aus freien Stücken ge tan, und ich würde es jederzeit wieder tun. Es ist nichts Besonderes da bei, wenn die Wünsche zweier Menschen übereinstimmen.« »Auch andere fühlen meine unheimliche Macht«, beharrte sie ernst haft, »Frau Mommert und die Köchin spüren es ganz genau. Sie haben mich abgelehnt von der ersten Minute an.« »Sind sie gute Menschen, deine Frau Mommert und die Köchin?« wollte er wissen. Undine überlegte. »Gut? Das glaube ich nicht. Anna ist herrschsüch tig und lieblos zu den Kindern. Und Frau Mommert behandelt ihren Mann gar nicht gut, obwohl er ihr alles zu Gefallen tut.« Er lachte. »Was bist du doch für ein Wirrkopf. Soll ich dir sagen, wa 105
rum diese beiden Frauen dich ablehnen? Weil sie dich beneiden um deine Jugend und um deine Schönheit – aber das bedeutet noch lange nicht, daß du eine Hexe bist.« Sie wollte etwas erwidern, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Laß mich erst ausreden: Daß du Menschen zwingen kannst, dei nen Wünschen gefügig zu sein, das redest du dir ein. Ich will dir etwas sagen, Undine. Wenn du dir von mir etwas wünschtest, das ich nicht wollte, du würdest auf Granit beißen! Versuch's nur. Du wirst schon sehen, daß es mit deinen ‚Hexenkünsten' nicht weit her ist.« »So? Meinst du?« fragte Undine. Es klang ein wenig schroff. Sie senk te den Kopf und schwieg. Ihre Schritte wurden kürzer und langsamer. Frank fühlte, daß ihr Unterarm schwer auf dem seinen lastete. Dann blieb Undine plötzlich stehen. »Wir werden es ja sehen«, sagte sie leise, entzog Frank Ostwald rasch ihren Arm, wandte sich ab und bedeckte das Gesicht mit ihren Händen. »Was werden wir sehen? Was ist mit dir, Undine?« Statt einer Antwort bekam Frank nur ein paar hohe, glucksende Lau te zu hören, die sowohl von einem verhaltenen Lachen als auch von Schluchzen oder Weinen herrühren konnten. »Was fehlt dir, Undine?« fragte der junge Mann. Seine Stimme war rauh geworden. Er kam sich hilflos vor. »Was hast du?« Er zog ihr die Hände vom Gesicht und hob ihr Kinn hoch, um sie an schauen zu können. Undine hielt die Augen geschlossen. »Oh, Frank! Wenn du nur da bist«, stammelte sie, und ihre Lippen bebten. »Wenn du bei mir bist, ist alles gut!« Sie atmete heftig, mit halb geöffnetem Mund. Und da sie plötzlich zu taumeln schien, fing Frank sie auf. Während er sie in seinen Armen hielt, hob sie die Lider. Undines Augen schimmerten ihm entgegen. Sie flehten und sie zwangen, sie sagten ihm mehr als tausend Worte und doch nur das eine: »Ich bin dein!« Als sich ihre Lippen endlich voneinander lösten, war Frank wie be nommen und verwirrt. Warum hatte er es getan? Wo war sein Vor satz geblieben, Undine nur ein helfender Freund zu bleiben? Gewiß, er hatte immer die Verlockung gespürt, die von dem seltsamen Mädchen 106
ausging. Aber dies hatte er nicht gewollt. So dachte er. Und er erschrak. Denn eben hörte er Undine tonlos sagen: »Ich, Frank – ich habe es so gewollt!« Es war, als ob eine dunkle Woge heranstürmte, die alle Be denken und Überlegungen fortschwemmte. »Hexe! Du kleine, geliebte Hexe, du!« rief er, riß Undine an sich und küßte sie aufs neue …
V
J
akobus Schwenzen traf mit dem Mittagszug aus Hamburg in der
Kreisstadt ein. Er war bester Laune. In Karin, dem flotten Mädchen, schien er die
geeignete Helfershelferin für seinen großen Plan gefunden zu haben. Das Ziel, das ihm seit langem vorschwebte, war plötzlich in erreichba re Nähe gerückt. Er stand im Begriff, sich endlich ein großes Vermö gen auf einen Schlag aneignen zu können, und zwar nicht durch Ar beit oder andere Unbequemlichkeiten, sondern durch eine verhältnis mäßig simple Intrige. Vordringlich war jetzt, dem Harmshofbauern und seiner Frau scho nend beizubringen, daß ihr Sohn Klaus schon seit Jahren nicht mehr am Leben sei. Das stimmte nicht mit dem überein, was er ihnen bisher gesagt hatte. Dennoch war er sicher, daß die alten Leute diese Wen dung der Dinge, wenn er sie ihnen nur recht mitfühlend beibrachte, schlucken würden. Schließlich konnte er ihnen ja zum Trost eine En keltochter präsentieren. Jakobus Schwenzen schlenderte in die Stadt und suchte, bevor er ins Geestland hinausfuhr, den Apotheker Sörensen auf, zu dem er seit Jah ren engen Kontakt hielt. Die Apotheke lag gleich hinter der Kirche. Ein Glöcklein bimmelte, als er in den kleinen, altmodisch eingerichteten Verkaufsraum trat. 107
Paul Sörensen begrüßte ihn mit tiefer, höhnisch übertriebener Ver ehrung, die auf die beiden alten Frauen im Laden dennoch mächtigen Eindruck machte. Sie stießen sich an, tuschelten miteinander und war fen sich vielsagende Blicke zu. »Willkommen, Herr Schwenzen! Welch eine Ehre für mein beschei denes Haus, Sie wieder einmal unsere Schwelle überschreiten zu sehen!« dröhnte er, räusperte sich und fügte in sachlichem Ton zu dem ältlichen Mädchen im weißen Kittel, das ihm beim Verkauf half, hinzu: »Machen Sie nur allein weiter, Agathe. In zehn Minuten können Sie schließen.« Jakobus Schwenzen folgte ihm durch die holzgetäfelte Tür hinter der hohen Theke aus Mahagoniholz in das kleine Hinterzimmer. Paul Sörensen hatte bereits eine gläserne Karaffe entstöpselt, als er eintrat, und goß sich einen tüchtigen Schluck der wasserhellen Flüssig keit in einen Becher. »Für dich auch 'ne kleine Herzensstärkung, mein lieber Schwenzen?« fragte er. »Nein, danke«, sagte Jakobus Schwenzen, »ich muß einen klaren Kopf behalten, ich habe heute noch große Dinge vor.« »Wann hättest du das nicht«, sagte der Apotheker wenig beeindruckt und trank seinen Becher leer. »Diesmal lohnt's sich wirklich«, versicherte Jakobus Schwenzen, »wenn es klappt, habe ich ausgesorgt. Dann wandere ich aus und fan ge in Übersee ein neues Leben an.« »In Afrika vielleicht?« meinte der Apotheker spöttisch. »Dort brau chen sie möglicherweise solche wie du. Denk doch mal nach, wie fein sich das machen würde: ›Die Bundesrepublik sendet weißen Medizin mann zur Entwicklungshilfe.‹« »Du weißt genau, wie lange ich schon vorhabe, meinen Job an den Nagel zu hängen.« »Wirklich? Ist er nicht mehr einträglich genug? Gehen dir nicht mehr genug abergläubische Leute auf den Leim?« »Hör auf damit! Wenn ich gewußt hätte, daß du wieder einmal schlechter Laune bist …« Paul Sörensen goß sich ein zweites Glas ein und sagte: »Entschuldige, es war nicht so gemeint. Weißt du übrigens, wo deine niedliche Hexe 108
hingekommen ist? Das Mädchen Undine, von der du dir so viel ver sprachst? In Bad Wildenbrunn ist sie, als Kinderschwester beim Kur direktor. Ich weiß es aus zuverlässiger Quelle. Schönlein, der Pfleger im Krankenhaus …« »Interessiert mich nicht mehr«, sagte Jakobus Schwenzen, »oder ge nauer: interessiert mich im Augenblick nicht. Trotzdem besten Dank für die Information, vielleicht kann ich sie doch noch mal brauchen. Wer weiß?« Er stand auf. »Was, du willst schon gehen?« »Wenn ich meine Tasche hierlassen könnte?« »Das heißt, du willst wieder einmal im Morgengrauen bei mir auf tauchen und dich auf meinem alten Kanapee ausschlafen. Bitte, von mir aus. Bloß – mach es möglichst so, daß dich niemand sieht. Ich will deinetwegen keinen Ärger haben.« »Hast du je welchen gehabt?« »Immer, wenn ich dich sehe, habe ich das Gefühl, als ob er mir kurz bevorstünde. Gibst du heute wieder einen deiner mitternächtlichen Auftritte?« »Das auch. Aber vorher habe ich auch noch einiges andere zu tun. Leider habe ich mein Motorrad zu Hause gelassen. Könntest du mir deinen Wagen leihen?« »Pech gehabt. Steht in der Werkstatt. Bremsbeläge verschmiert.« »Zu dumm. Na ja, ich werde schon eine andere Fahrgelegenheit fin den – sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich heute, am Markt tag, nicht jemanden fände, der mich mitnähme.« »Versündige dich nicht«, warnte Paul Sörensen, »der Teufel ist schließlich dein Brötchengeber! Warte, ich lasse dich durch die Hin tertür 'raus. Du weißt, ich habe es nicht gern, wenn die Leute uns bei de in Verbindung bringen.« Der Markt auf dem Platz vor der alten Backsteinkirche war fast vor über, als Jakobus Schwenzen hinzuschlenderte. Einige Buden waren schon abgerissen, das Pflaster war übersät mit Tannennadeln, Kohlblättern und zertretenem Papier. Die Bauern hatten eingespannt oder waren in den ›Goldenen Löwen‹ gegangen. 109
Jakobus Schwenzen sah viele bekannte Gesichter, aber er grüßte sel ten. Den meisten war er hochwillkommen, wenn er bei Nacht und Ne bel heimlich ins Haus schlich. Beim hellen Tageslicht und in Gegen wart der Nachbarn wollten sie ihn lieber nicht kennen. Eine Frau nach der anderen wandte sich rasch und abrupt ab, wenn seine Augen sie trafen … Nicht so Antje Nyhuus. Sie reagierte anders. Sie errötete, als sie ihn sah, öffnete den Mund, holte tief Luft – und er begriff sofort, daß sie ihn gern sprechen wollte. Er machte eine kleine Bewegung mit dem Kopf in eine bestimmte Richtung, wandte sich ab und schlenderte zu rück. Er hatte den Stadtrand noch nicht erreicht, als Antje ihn im Auto überholte, anhielt und die Wagentür weit öffnete. Er stieg rasch ein, setzte sich bequem zurecht und wartete ab. Eine Weile fuhren sie schweigend dahin. Erst als er sicher war, daß sie von sich aus den Mut zum Sprechen nicht finden würde, fragte er: »Wie geht es Frank Ostwald? Was schreibt er?« Sie beantwortete seine Frage nicht, sondern stellte eine Gegenfrage: »Ist es wahr, daß es mit dieser Undine nicht geheuer ist?« »Habe ich Ihnen nicht schon einmal deutlich genug gesagt, daß sie eine Hexe ist?« »Es gibt Leute, die es nicht glauben wollen.« »Solche Leute gibt es immer, die sich wer weiß was auf ihren Ver stand einbilden und die Augen verschließen, wenn ihnen etwas nicht in ihren Kram paßt. Sie denken, was sie nicht verstehen, darf es nicht geben. Aber wenn sie's erst am eigenen Leibe spüren, dann ändern sie ihre Meinung sehr rasch.« »In der Schule«, erklärte Antje, »hatten wir in unseren Büchern auch Geschichten über Hexen. Die waren jedoch immer alt und häßlich und boshaft. Die Leute sagen aber, das Mädchen Undine soll – gut aussehen.« »Ja, das stimmt. Sie ist so schön, daß jeder Mann, der keinen wirksa men Gegenzauber hat, ihr für immer verfallen muß.« Antje Nyhuus sah Jakobus Schwenzen plötzlich offen an. »Ich habe nie an so was geglaubt, an Hexen und Teufelsspuk und das alles, bis …« 110
Sie schluckte, um nicht aufzuschluchzen. »Frank macht sich nichts mehr aus mir. Sie hat ihn verzaubert, diese – Hexe!« Jakobus Schwenzen weidete sich an der Verzweiflung des Mädchens, aber er ließ es sich nicht anmerken. Sein Gesicht blieb ernst, als er sag te: »Das ist schlimm. Aber es gibt Gegenmittel.« »Frank ist mit ihr zusammen«, fuhr Antje Nyhuus leidenschaftlich fort, »ich weiß es ganz genau. Deshalb hat er mir bisher erst einmal ge schrieben. Er behauptet, er habe so viel zu arbeiten. Aber das mußte er früher auch. Sie steckt dahinter. Wenn ich sie nur zwischen die Finger bekommen könnte …« »Haben Sie eine Fotografie von ihr?« Antje Nyhuus schüttelte den Kopf. »Dann müssen wir es anders anfangen. Es geht auch mit einer Stoffpuppe. Sie müssen sie selber anfertigen, und niemand darf Sie dabei sehen. Während Sie nähen, müssen Sie immerzu leise ihren Namen aussprechen, bei jedem Stich – das spürt die Hexe.« »Und dann?« »Dann können Sie die Hexe symbolisch töten. Sie müssen sie ver brennen – bei Neumond um Mitternacht an einem Kreuzweg. Und das Holz, mit dem Sie das Feuer machen, muß vom Sarg eines unschuldi gen Kindleins sein. Oder Sie können sie erstechen …« Antje Nyhuus sah Jakobus Schwenzen von der Seite an. »Wie lange wird es dauern, bis der Zauber wirkt?« »Nicht länger als dreizehn Monate – wenn du alles richtig machst.« Er ging dazu über, sie zu duzen, und sie wehrte es ihm nicht. »Wird Frank dann zu mir zurückkehren?« fragte sie. »Du solltest auf alle Fälle jetzt schon versuchen, Frank Ostwald zu rückzugewinnen – schon jetzt, solange sie noch lebt. Es gibt da einen Liebeszauber …« »Was muß ich tun?« fragte Antje. »Den Liebeszauber zu bereiten ist nicht schwer. Dazu brauchst du dreierlei: erst einmal fein zerriebenen Stincus, den bekommst du in der alten Apotheke. Kauf davon für genau siebenundsiebzig Pfennig. Dann das Herz von einer Schwalbe, auch zu Pulver zerrieben, das be 111
sorge ich dir. Das dritte kannst nur du herbeischaffen, denn es muß et was von dir sein – ein Stück Fingernagel, kleingeschnittene Haare oder so. Das alles mische in eine Speise – ich werde dir noch zeigen, wann und wie du es am besten machst – und gib sie ihm zu essen.« »Aber wie soll ich denn das? Er ist ja gar nicht hier!« »Schick es ihm in einem Paket. Schick ihm eine Wurst oder einen Laib hausgebackenes Brot – irgend etwas, das ihn freut und das er si cher essen wird.« »Ich habe Angst. Wenn er nun davon krank wird?« »Das mußt du selber entscheiden. Zwingen will ich dich zu nichts, ich kann dir nur raten. Jetzt halt bitte an. Hier muß ich 'raus. Du hast Zeit genug, dir alles zu überlegen.« Sie bremste scharf. »Es muß sein«, sagte sie tonlos, »ich will ihn nicht an die andere verlieren, ich würde es nicht ertragen.« Jakobus Schwenzen hatte die Tür schon halb geöffnet. »Wann sehen wir uns wieder?« fragte sie hastig. »Ich will nichts umsonst haben – ich werde Ihnen Ihre Hilfe bezahlen, ich habe Geld gespart …« Er kam mit seinem Gesicht so nahe an sie heran, daß sie unwillkür lich zurückwich. »So? Hast du das?« fragte er. »Aber ich muß dich enttäuschen. Geld interessiert mich nicht. Ich will etwas anderes von dir …« »Was?« fragte sie entsetzt. Er lachte hämisch. »Nicht das, was du vielleicht denkst. Ich brau che deine Unterstützung in einer, hm, etwas schwierigen Angelegen heit. Ich weiß, du hast großen Einfluß auf Franks Eltern. Du könntest mir nützlich sein. Es ist nichts Schweres, was ich von dir verlange. Du brauchst nur das zu tun, was ich dir sage. Dann werde ich dir helfen, deinen Frank zurückzugewinnen. Abgemacht?«
Im Dezember verreiste Kurdirektor Mommert für einige Tage, um an einer Tagung teilzunehmen. Seine Frau, Anita Mommert, hatte nun mehr Zeit für den Haushalt und die Kinder übrig, aber das wirkte sich 112
keineswegs als eine Entlastung für das Personal aus. Sie kontrollierte alles, vom Keller bis zum Dachboden. Auch in den Kinderzimmern schaute sie in jeden Schrank und in jede Schublade. Es schien so, als ob sie enttäuscht wäre, weil sie hier kaum etwas auszusetzen fand. Undine hatte sich bemüht, ihre Pflich ten bis aufs äußerste zu erfüllen, und hoffte auf ein Lob. Aber dieses Wort der Anerkennung kam nie. Eines Tages – es war der zehnte Dezember – saß Undine mit den Kindern um den runden Tisch im großen Zimmer, als Anita Mom mert hereinkam. Alle blickten zur Tür. Undine, die Ralf, den Klein sten, auf dem Schoß gehalten hatte, sprang unwillkürlich auf und setz te den Jungen auf den Boden. »Wieso seid ihr noch zu Hause?« Frau Mommerts Stimme klang schrill. »Undine, Sie wissen genau, daß Sie nach Tisch mit den Kin dern spazierengehen sollen. Um halb vier Uhr ist die Sonne weg.« »Entschuldigen Sie bitte, Frau Mommert …« »Ihre Entschuldigungen interessieren mich nicht. Tun Sie gefälligst, was Ihnen aufgetragen worden ist.« »Bitte, ich wollte nur …« »Ziehen Sie die Kinder an und gehen Sie! Worauf warten Sie noch?« Undine begriff, daß Frau Mommert nicht in der Stimmung war, sie anzuhören, und wandte sich ab, um ins Nebenzimmer zu gehen und die Mäntel zu holen. Die kleine Sonja war nicht so schnell einzuschüchtern. »Aber Mama«, rief sie, »wir wollen ja gar nicht gehen! Wir müssen doch da sein, wenn Papa heimkommt!« »Papa? Was für ein Unsinn! Papa kommt erst am Samstag heim, bis dahin sind es noch gut vier Tage.« »Nein«, erklärte Sonja hartnäckig, »er kommt heute.« »Sonja, mach mich nicht böse! Du weißt, es gehört sich nicht, seiner Mutter zu widersprechen. Ich muß es doch wissen! Ich habe ja erst vor gestern mit Papa telefoniert.« »Aber Undine hat gesagt, daß er gleich kommen wird«, krähte der kleine Thomas. 113
»Ist das wahr?« Anita Mommert drehte sich um. »Wie kommen Sie dazu, den Kindern so einen Unsinn in den Kopf zu setzen?« Undine, die, mit Mänteln und Mützen beladen, ins Zimmer trat, wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ob Sie das behauptet haben, will ich wissen!« rief Anita Mommert außer sich. Undine konnte nur nicken. »Unglaublich! Das ist wirklich unglaublich! Sie tischen den Kindern Lügen auf, nur weil Sie zu faul sind, mit ihnen spazierenzugehen.« Undine versuchte sich zu beherrschen. »Nein«, antwortete sie mit lei ser, aber fester Stimme, »ich habe nicht gelogen. Es ist wahr.« Frau Mommert traute ihren Ohren nicht. »Was? Was soll wahr sein?« »Der Herr Direktor kommt heute nach Hause.« Ein schrecklicher Verdacht stieg in Anita Mommert auf. »Hat er Ih nen etwa geschrieben?« fragte sie. »Nein.« »Hat er es Ihnen gesagt, bevor er abreiste?« »Nein«, antwortete Undine, »da wußte er es ja selber noch nicht. Es – ist ganz plötzlich gekommen.« Frau Mommert starrte Undine an, als ob sich das Mädchen vor ihren Augen plötzlich in ein Reptil verwandelt hätte. Sie holte tief Luft, aber bevor sie etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Evelyn steckte ihren Kopf ins Zimmer. »Eben ist der Herr Direktor vorgefahren!« rief sie und war ver schwunden, ehe noch jemand eine Frage an sie stellen konnte. Sonja und Thomas stürmten wie auf Kommando hinaus und die Treppe hinunter. Undine konnte den kleinen Ralf gerade noch im letz ten Augenblick erwischen, bevor er vor lauter Begeisterung aufs Näs chen fiel. Sie ließ sich von ihm auf die Galerie zerren, nahm ihn auf den Arm und wollte ihn hinter seinen Geschwistern her zum Vater hinuntertragen. Aber dazu kam es nicht. »Geben Sie mir das Kind«, sagte Frau Mommert hart und nahm ihr den Kleinen ab. 114
Undine blieb allein zurück, während die anderen zur Haustür eilten. Sie spürte, daß Tränen in ihr aufsteigen wollten, wandte sich rasch ab und lief ins Kinderzimmer zurück. Als die Kleinen wenig später wieder nach oben kamen und strahlend vorzeigten, was ihnen der Vater mitgebracht hatte, freute sie sich mit ihnen und war herzlich wie immer. Niemand merkte, wie unglücklich und verlassen sie sich fühlte. Frau Mommert kam mit keinem Wort auf den seltsamen Zwischen fall zurück, und ihr Mann ließ sich nicht anmerken, ob sie ihm etwas davon erzählt hatte. Undine glaubte schon, alles wäre vergessen, als sie wenige Tage spä ter abends in das sogenannte Herrenzimmer gerufen wurde, einen alt deutsch und ein wenig düster, aber sehr komfortabel eingerichteten Raum, den Mommerts besonders dann zu benutzen pflegten, wenn sie vertraute Gäste hatten. An diesem Abend waren zwei Herren zu Besuch, die Undine schon dem Sehen nach kannte: Professor Schneider, ein älterer Herr mit einem graumelierten, sorgfältig gestutzten Kinnbart, und der we sentlich jüngere Dr. Höllriegel. Beide und auch Direktor Mommert standen auf, als Undine hereinkam. Das Mädchen wurde glutrot, da es sich so unerwartet der allgemeinen Aufmerksamkeit ausge setzt sah. Frau Mommert sagte mit einer herablassenden Handbewegung: »Das ist sie – Undine, das Wunderkind. Mein Mann ist nach wie vor überzeugt, sie sei ein Phänomen, während ich …« Direktor Mommert gab ihr keine Gelegenheit, auszusprechen. »Un dine«, lächelte er, »diese beiden Herren möchten sich gern mit Ihnen darüber unterhalten, wie es möglich war, daß Sie neulich meine An kunft vorausgesehen haben, obwohl Ihnen niemand davon etwas mit geteilt hatte.« Undine schwieg und blickte verlegen zu Boden. »Sie brauchen sich nicht zu fürchten«, sagte Direktor Mommert er mutigend, und scherzend fügte er hinzu: »Die beiden Herren sind nicht von der Polizei. Doktor Höllriegel ist Psychiater und Professor Schnei 115
der Parapsychologe. Deshalb interessieren sie sich für die Geschichte, aus beruflichen Gründen.« »Entschuldigen Sie bitte, Herr Direktor«, sagte der Professor mit ei ner tiefen, gutturalen Stimme, »aber diese Erklärung scheint mir für das junge Mädchen doch ziemlich wertlos. Oder« – er wandte sich an Undine – »haben Sie vielleicht eine konkrete Vorstellung davon, was Parapsychologie ist?« Undine schüttelte stumm den Kopf. »Parapsychologie ist die Wissenschaft, die sich mit all jenen Erschei nungen befaßt«, dozierte der Professor, »die sich mit dem bloßen Ver stand und unter Anwendung der bisher bekannten Naturgesetze allein nicht erklären lassen. Haben Sie verstanden?« »Ich weiß nicht …«, murmelte Undine unsicher. Dr. Höllriegel lachte schallend. »Das beweist, daß Sie einen gesun den Menschenverstand haben«, sagte er amüsiert. »Lassen Sie sich nur nicht verwirren«, wandte sich Direktor Mommert an Undine. »Nein, natürlich nicht«, lenkte Dr. Höllriegel rasch ein, »entschuldi gen Sie bitte, Herr Direktor – und auch Sie, Herr Professor –, und nicht zuletzt Sie, gnädige Frau. Ich habe mich gehenlassen. Aber Sie wissen ja alle, daß die Definition der Parapsychologie als Wissenschaft von je her das rote Tuch für mich war …« »Bitte, setzen Sie sich zu uns. Es ist schrecklich ungemütlich, wenn Sie da an der Tür stehenbleiben.« Undine nahm auf der äußersten Kante des Sessels Platz, den Herr Mommert ihr zuschob. »Geben Sie ihr einen Schluck zu trinken«, bat Dr. Höllriegel, »damit sie auftaut.« »Nein, danke, bitte nicht«, sagte Undine rasch und hielt wie schüt zend ihre Hand über das leere Glas, das Herr Mommert ihr hinstell te. »Warum nicht?« fragte der Kurdirektor erstaunt. »Mögen Sie keinen Wein?« »Nein – ich meine, ich weiß nicht …« »Augenblick mal«, schaltete sich Dr. Höllriegel ein, »jetzt wird es in 116
teressant. Beantworten Sie mir doch einmal ganz offen die Frage: Mö gen Sie keinen Wein, oder bekommt er Ihnen nicht?« »Ich weiß nicht«, sagte Undine wieder, und dann, durch die vielen erwartungsvollen Blicke in die Enge getrieben, fügte sie hinzu: »Ich habe noch nie welchen getrunken.« Frau Mommert lachte: »Sehen Sie, ich habe nicht zuviel gesagt. Dieses Mädchen besitzt eine ganz beson dere Art, sich interessant zu machen.« »Ich widerspreche dir nur ungern, Anita«, beschwichtigte der Kur direktor, »aber ich bin sicher, daß du das Mädchen falsch einschätzest. Du vergißt, daß Undine auf einer Insel zu Hause ist, wo die Menschen vornehmlich Grog trinken – oder Rum oder vielleicht einmal einen Schnaps oder ein Bier. Habe ich recht?« »Ja, Herr Direktor«, sagte Undine mit einem dankbaren Blick. »Wenn du ihr die Antwort förmlich in den Mund legst, brauchst du dich nicht zu wundern, wenn sie sie aufgreift«, sagte Anita Mommert, nicht im geringsten beeindruckt. Undine antwortete mit unerwarteter Heftigkeit: »Ich will mich nicht interessant machen, ich möchte weiter nichts, als in Ruhe gelassen zu werden. Ich gebe mir Mühe, richtig zu arbeiten – und ich kann be stimmt nichts dafür, wenn man mich nicht mag.« »Undine, was reden Sie da für einen Unsinn!« sagte der Kurdirektor, peinlich berührt. »Natürlich mögen wir Sie alle, nicht wahr, Anita?« »Selbstverständlich. Ich würde keinen Menschen in meinem Hause dulden, den ich innerlich ablehnen müßte.« Undine dachte, daß Frau Mommert sehr wohl imstande wäre, jemanden für sich arbeiten zu lassen, der ihr unsympathisch war – besonders dann, wenn sie keine andere Arbeitskraft zur Verfügung hatte; aber sie schwieg wohlweis lich. »Ich bin überhaupt der Meinung, daß man ihr jetzt keinen Alkohol zu trinken geben sollte«, sagte Professor Schneider, »ich gestatte nie mals, daß meinen Medien …« »Hoppla, verehrter Herr Professor!« Dr. Höllriegel lachte wieder. »Soweit sind wir ja noch gar nicht. Das Mädchen Undine ist nicht Ihr Medium und wird es, möchte ich hoffen, auch niemals werden.« 117
Undine hätte gerne gefragt, was ein Medium ist, aber sie traute sich nicht. »Ich will auch nichts trinken«, sagte sie, »ich mache mir nichts aus Alkohol und …« Sie stand auf. »Ich schaue mal rasch nach, ob der kleine Ralf schläft.« »Hiergeblieben«, rief der Kurdirektor, »denken Sie jetzt mal nicht an die Kinder. Erzählen Sie uns lieber, wie Sie dazu gekommen sind, steif und fest zu behaupten, ich käme am Dienstag zurück, während Sie doch tatsächlich wie alle anderen glauben mußten, ich käme erst am Samstag.« »Ich habe es gewußt«, sagte Undine verschlossen. »Wann? Als ich abfuhr?« »Nein. Später.« »Wann genau?« »Am Abend vorher. Am Montagabend.« Professor Schneider beugte sich vor. »Und – wie war das? Haben Sie Stimmen gehört? Erscheinungen gesehen?« »Nein, es war einfach so«, erklärte Undine. »Ich dachte: Ach, der Herr Kurdirektor kommt also bereits morgen. Er ist früher fertig ge worden, er freut sich schon aufs Zuhause. Morgen mittag kommt er.« Die Herren schwiegen und sahen sich an. »Das ist eine ziemlich merkwürdige Art zu denken, meine ich«, sagte Frau Mommert. »Kam Ihnen das selber nicht merkwürdig vor?« »Nein. Erst als Sie mir nicht glauben wollten. Vorher habe ich mir gar nichts dabei gedacht.« »Aber dann fiel Ihnen auf, daß es sonderbar war?« fragte Dr. Höll riegel. »Ja«, sagte Undine. »Und? Wie haben Sie es sich erklärt?« Undine war auf der Hut. »Gar nicht«, sagte sie, »wie soll ich mir denn so etwas erklären?« »Haben Sie früher schon mal solche – Ahnungen gehabt?« fragte der Professor. »Nein«, sagte Undine nach kurzem Zögern. »jemand aus Ihrer Familie?« fragte Dr. Höllriegel. 118
Undine schüttelte den Kopf. »Es war also das erstemal in Ihrem ganzen Leben, daß Sie gespürt haben, was ein anderer denkt – oder was an einem entfernt liegenden Ort geschehen ist?« Undine umklammerte so heftig die Lehne des Sessels, hinter dem sie stand, daß ihre Gelenke weiß wurden. »Ich will das nicht«, sagte sie er regt, »ich kann es nicht leiden, wenn man mich so ausfragt. Was habe ich denn getan? Ist es ein Verbrechen, daß ich gewußt habe, der Herr Direktor kommt früher nach Hause? Wenn ich geahnt hätte, was dar aus würde, hätte ich es nie verraten – nie, nie, nie!« »Aber, Mädchen, regen Sie sich doch nicht auf«, sagte Herr Mom mert beruhigend, »wir wollen Sie ja nicht quälen, wir sind bloß neu gierig. Wenn Sie sich darüber empören, hören wir natürlich sofort auf. Sagen Sie mir nur noch eines: Erinnern Sie sich, wieviel Uhr es war, als Ihnen einfiel, daß ich früher nach Hause kommen würde?« »Ja«, erwiderte Undine mit einem tiefen, befreienden Atemzug, »es war zehn Uhr vorbei, ich hatte gerade meine Nachttischlampe ausge knipst, um einzuschlafen. Kann ich jetzt gehen?« Ehe sie Antwort auf ihre Frage erhielt, trat Evelyn ins Zimmer und meldete: »Herr Doktor Hagedorn ist eben gekommen …« »Na endlich«, rief der Kurdirektor, »führen Sie ihn herein.« Und zu den anderen Herren gewandt: »Doktor Hagedorn hat uns seinerzeit Undine empfohlen. Er weiß sicher über sie Bescheid – ich meine, ob wirklich etwas Besonderes mit ihr los ist.« Undine war vor Schrecken wie gelähmt. Unwillkürlich schloß sie die Augen, als ob sie sich dadurch vor der Wirklichkeit verstecken könn te. Dr. Hagedorn kam, er, der so viel über sie wußte! Jetzt war alles aus. Im Geist nahm sie schon Abschied von den Kindern, von ihrem war men Zimmer, von ihrem ruhigen, gesicherten Leben, Abschied von der kurzen, für ihre Begriffe fast ungetrübten Zeit, da sie als ein Mäd chen wie alle anderen und nicht als Außenseiterin gegolten hatte. Sie blickte erst wieder auf, als Dr. Hagedorn ins Zimmer trat, Anita Mommert, den Hausherrn, die Gäste begrüßte und sich dann mit ei nem freundschaftlichen Lächeln ihr zuwandte. 119
Er reichte ihr die Hand. »Ich staune, Undine«, sagte er, »Sie haben sich mächtig herausgemacht, ich freue mich wirklich, daß Sie es hier so gut getroffen haben. Natürlich habe ich das vorher gewußt, denn sonst hätte ich Sie nicht gerade hier empfohlen.« Er wandte sich an Anita Mommert. »Ich hoffe sehr, gnädige Frau, Sie sind mit meinem Schütz ling zufrieden?« »O ja, doch.« »Wunderbar. Und was das andere betrifft, weshalb Sie mich ange rufen haben – tja, da bin auch ich überfragt. Hat Undine selber in zwischen die Sache erklären können? Nein? Das tut mir leid. Ich ver stehe, ehrlich gestanden, überhaupt nichts. Was mich für Undine von Anfang an eingenommen hat, war ihre rührende Liebe zu ihrem Va ter. Deshalb habe ich ihr auch geholfen, in seine Nähe zu kommen. Von übersinnlichen Fähigkeiten verstehe ich sowieso nichts.« Er lach te etwas gezwungen. »Das ist Ihre Sache, meine Herren. Geht in diesen Räumen vielleicht eine Art Hausgeist spazieren?« Herr Mommert und Doktor Höllriegel lachten, Professor Schnei der verteidigte seine Theorie, nach der es durchaus Geisterwesen ge ben könnte, die an eine bestimmte Örtlichkeit gebunden wären, seien es nun Naturgeister oder die Seelen Verschiedener. Eine heftige Debat te entbrannte, und Undine geriet in Vergessenheit. »Darf ich jetzt gehen?« fragte sie leise Frau Mommert. Die Frau des Kurdirektors nickte ihr zu, aber ehe Undine das Zimmer verlassen konnte, bemerkte Dr. Höllriegel ihren Fluchtversuch. »Wenn Sie mal Zeit haben«, rief er, »dann kommen Sie zu mir, Undi ne. Ich würde gerne ein paar Tests machen.« Professor Schneider fuhr hoch. »Ich warne Sie, lassen Sie sich nicht mit diesem Materialisten ein. Kommen Sie zu mir, bei mir finden Sie wirkliche Hilfe. Ich vermute, Sie sind ein begnadetes Wesen.« »Danke«, sagte Undine, »ich brauche keine Hilfe, von niemand. Vie len Dank und gute Nacht.« Sie hörte noch, wie man hinter ihr laut weiterdiskutierte, als sie durch die Diele lief. Aber es interessierte sie nicht. Sie fühlte sich ganz schwindlig vor Erleichterung. Dr. Hagedorn hatte zu ihr gehalten; jetzt 120
wußte sie, daß er sich nicht nur aus einer Laune heraus um sie geküm mert hatte, sondern daß er es wirklich gut mit ihr meinte. Wenn sie je wieder in Not geraten sollte, er würde ihr helfen. Aber das brauchte gewiß nicht zu geschehen. Sie war fest entschlos sen, im Hause Mommert, bei den Kindern, die sie lieb hatten, zu blei ben und auch die Sympathie der Hausfrau zu gewinnen. Sie mußte nur vorsichtig sein. Wenn sie sich sehr in acht nahm, würde niemand mer ken, mit was für einem Fluch sie beladen war.
Das Mädchen Karin aus Hamburg, das nach dem verwerflichen Plan Jakobus Schwenzens die Rolle der verschollenen Enkelin Elke Harms übernehmen sollte, wurde an einem Sonntagnachmittag von ihm auf den Harmshof gebracht. Sie gingen durch die Vordertür geradewegs in die Stube. Die Ost walds und das Gesinde nahmen an der ersten Begrüßung nicht teil. Nur der Verwalter selber, der zur Zeit ihrer Ankunft vor dem Hof ein Mitglied des Gemeinderates verabschiedete, bekam sie zufällig zu Ge sicht. Als er in die große Küche trat, bestürmten ihn seine Frau und Antje Nyhuus, die zum Mittagessen gekommen war, mit Fragen. Aber Gregor Ostwald antwortete nicht sogleich. Er zündete sich be dächtig seine Pfeife an, bevor er sagte: »Wie sie aussieht, ob sie hübsch oder häßlich, dick oder dünn, groß oder klein ist, was tut das schon zur Sache? Entscheidend ist doch nur …« Seine Frau unterbrach ihn. »Nun sei man nicht so, Gregor«, sagte sie ungeduldig, »ob's was zur Sache tut oder nicht, uns interessiert es eben. Schließlich möchte man doch wissen, wie die neue Herrschaft auf dem Harmshof aussieht.« »Ich habe mir fest vorgenommen, Frank heute abend noch einen ausführlichen Brief über sie zu schreiben«, sagte Antje Nyhuus. »Bit te, Vater Oswald …« »Na, dir zuliebe, Antje«, sagte der Verwalter und klopfte dem jungen 121
Mädchen zärtlich auf den Rücken. »Also, ehrlich gestanden, übel sieht sie nicht aus, wenn mir auch scheinen will, daß sie mehr mit den Hüf ten wackelt, als es die Art anständiger junger Mädchen ist. Ob in Lon don oder bei uns!« Frau Ostwald gab zu bedenken: »Wir wollen nicht voreilig urtei len, Gregor. Vielleicht ist sie wirklich die echte Enkelin, und Jakobus Schwenzen hat sie tatsächlich gefunden …« »Für uns kommt es auf dasselbe 'raus«, sagte der Verwalter ärgerlich. »Jakobus Schwenzen wird die alten Leute noch mehr einwickeln, das Mädchen wird sein Spiel mitspielen, und wir werden langsam, aber si cher vom Hof weggeekelt.« »Du bist also gegen sie?« fragte Antje Nyhuus. »Ich bin nur gegen Jakobus Schwenzen.« »Ich weiß nicht«, sagte Antje zögernd, »ich habe neulich lange mit ihm gesprochen – ganz zufällig, es ergab sich so …« »Mit dem Hexenbanner?« rief Frau Ostwald heftig. »Das laß nur nicht Frank hören. Er würde es dir übelnehmen, wenn du dich mit Ja kobus Schwenzen und womöglich mit diesem Mädchen befreundest.« »Frank! Was interessiert den schon, was ich tue!« Antjes Stimme klang erstickt. »Der wäre ja nur froh, wenn ich ihm einen Grund gäbe, mit mir Schluß zu machen. Seit er wieder fort ist, hat er mir nur einen einzigen Brief geschrieben, und der war nichtssagend genug.« Frau Ostwald lachte. »Wenn das alles ist! Du weißt doch, daß er den Anfang des Semesters versäumt hat …« Antje stand auf. »Ach, das ist doch kein Grund«, sagte sie gereizt. »Wenn man jemand liebt, findet man auch Zeit, ihm zu schreiben. Frank macht sich überhaupt nichts mehr aus mir, das ist die Wahrheit.« Gregor Ostwald ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Selbst wenn es so wäre, Antje«, sagte er, »darfst du dich doch nicht mit unseren Fein den verbünden.« Antjes Augen funkelten. »Und wie gefällt euch das Benehmen eures Sohnes?« fragte sie. »Mich vom einen zum anderen Tag fallenzulassen, das ist anständig, nicht wahr? Nein, es ist gemein von ihm, einfach ge mein.« Sie schluchzte. 122
Gregor Ostwald betrachtete das aufgeregte Mädchen mit kühlem Blick. »Wenn du so über ihn denkst, warum gibst du ihm dann nicht den Laufpaß? An einem gemeinen Menschen ist doch wenig verloren, und du stehst immerhin besser da, wenn du es bist, die Schluß mit ihm macht.« Antje stemmte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. »Das ist ein schöner Rat, ich danke dir dafür. Aber ihr habt euch verrechnet. Ich gebe Frank nicht auf, nicht freiwillig und nicht unter Druck.« Antje Nyhuus redete sich immer mehr in Erregung: »Er hat mir sein Jawort gegeben, und dafür wird er geradestehen. Ich lasse mich nicht zum Gespött der Leute machen! Nein, so einfach geht das nicht. Frank Ostwald wird mich heiraten, verlaßt euch darauf. Ich bin das einzige Kind vom Bauern Nyhuus, mich kann man nicht so behandeln.« »Du bist ein seltsames Mädchen, Antje«, sagte Frau Ostwald kopf schüttelnd. »Du würdest es also tatsächlich fertigbringen, ihn zu hei raten, auch wenn du wüßtest, daß er dich nicht liebt?« »Er wird mich wieder lieben«, sagte Antje Nyhuus. Ihr Gesicht war schneeweiß geworden. »Es wird alles so werden, wie es früher war, be vor diese … Aber wozu erzähle ich euch das. Ihr könnt mich nicht verstehen. Deshalb gehe ich jetzt in die Stube hinüber und heiße Elke Harms willkommen. Ich tue es, weil ich Frank nicht verlieren will und weil Jakobus Schwenzen der einzige Mensch ist, der ihn mir zurück gewinnen hilft.« Sie drehte sich heftig um, ging mit raschen Schritten zur Tür und verließ den Raum. Gregor Ostwald und seine Frau sahen sich nur an. Sie sagten auch dann noch kein Wort, als wenig später aus der Stube Gläserklirren und Gelächter zu ihnen herüber klang. Endlich stand der Verwalter auf, um die Tür zu schließen. »Schreib Frank nichts davon«, sagte er zu seiner Frau, »es hat keinen Sinn, ihn jetzt mit diesen Dummheiten zu belästigen. Er wird früh genug merken, wie die Dinge stehen, wenn er Weihnachten nach Hause kommt.«
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»Fahr nur nach Hause«, sagte Undine zu Frank Ostwald, aber ihre Stimme klang alles andere als froh. »Wegen mir brauchst du nicht zu bleiben. Am Heiligen Abend werde ich wahrscheinlich sowieso keinen Ausgang haben.« Frank Ostwald legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm; sie sa ßen sich an einem kleinen Marmortisch in der ›Hofkonditorei‹ gegen über. »Du weißt genau, wie ungern ich dich allein lasse«, sagte er, »aber es muß sein. Ich habe es versprochen.« »Antje Nyhuus?« »Meinen Eltern. Du weißt, in was für einer Situation sie sind. Ich habe dir erzählt, daß Jakobus Schwenzen dieses Mädchen auf den Hof gebracht hat …« »Ja und? Was kannst du dagegen tun? Willst du sie entlarven?« »Ich täte es, wenn ich es könnte«, antwortete er ruhig, »aber noch ist es nicht soweit. Bis jetzt weiß ich erst, daß der Sohn des Bauern und seine Familie im Jahr 1943 von Brasilien nach London gereist sind. Mehr hat mir Helmut Zach noch nicht mitteilen können.« Sie runzelte die Stirn. »Aber dann könnte doch alles stimmen«, sag te sie. »So ähnlich hat es auch Jakobus Schwenzen dargestellt, wie dein Vater geschrieben hat …« »Ja. Aber daraus ergibt sich höchstens, daß auch er ernsthafte Nach forschungen angestellt hat, die ihn natürlich zu demselben Ergebnis geführt haben.« Sie lächelte mit nachsichtigem Spott. »Merkwürdig, du bist doch so ein gescheiter Mensch, Frank. Wenn du von deinem Studium erzählst, dann komme ich mir immer ganz klein neben dir vor. Aber in diesem Fall siehst du vor lauter Bäumen den Wald nicht.« »Wie meinst du das?« fragte er irritiert. »Ganz einfach. Wenn Jakobus Schwenzen tatsächlich Nachforschun gen angestellt hat und es trotzdem wagt, dieses Mädchen auf den Hof zu bringen, dann ergeben sich daraus klipp und klar zwei Möglichkei ten: Entweder er ist absolut sicher, daß die Enkelin der Bauern nicht mehr lebt, und er präsentiert dieses Mädchen trotzdem als Erbin – oder sie ist es tatsächlich. Alles andere wäre doch viel zu gewagt …« 124
»Er weiß, daß die Bauersleute ihm alles glauben.« »Darauf kommt es nicht an. Er kennt euch, dich und deinen Vater. Er muß damit rechnen, daß ihr Nachforschungen auf eigene Faust an stellt, um ihn und das Mädchen zu entlarven. Ach, Frank, mach dir doch nichts vor: Die Spur von Klaus Harms und seiner Familie wird in London versanden. Das weiß Jakobus Schwenzen bestimmt schon. Die ganze Geschichte liegt jetzt mehr als fünfzehn Jahre zurück. Wie könnt ihr hoffen, nach so langer Zeit noch etwas herauszubringen?« »Es wäre schrecklich, wenn du recht hättest«, sagte Frank Ostwald niedergeschlagen. »Die Eltern müßten vom Hof, ich könnte mein Stu dium nicht beenden …« »Aber wieso denn?« »Jakobus Schwenzen haßt uns, mich und meine Eltern. Sobald sein Einfluß auf die Bauern groß genug ist, wird er uns vom Hof jagen.« »Nicht unbedingt«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Du könntest dich hinter das Mädchen stecken – ich wette, daß sie sich in dich verlieben würde, und dann …« »Undine!« rief er zornig. »Ach ja, entschuldige bitte, ich vergaß, du bist Antje Nyhuus verspro chen. Aber da ist die Sache ja noch einfacher. Du brauchst bloß sie zu heiraten, und schon habt ihr alle ein neues Heim und eine Existenz. Wozu zerbrichst du dir also den Kopf?« »Undine«, sagte er mit verhaltenem Zorn, »warum sprichst du so? Was für einen Grund habe ich dir gegeben, mich so zu beleidigen? Führst du das ganze Theater etwa nur auf, weil ich zu Weihnachten nach Hause fahren will? Was ist los mit dir? Was willst du eigentlich von mir hören?« In ihren großen Augen standen Tränen. »Weißt du das wirklich nicht?« flüsterte sie. »Nein«, sagte er unbehaglich. »Du lügst.« Sie sprang so heftig auf, daß die leeren Tassen klirrten. »Du weißt genau, was ich meine. Ich will nicht, daß du nach Hause fährst. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß du sie küßt …« Sie riß ihren Mantel vom Ständer und schlüpfte hinein, ehe er ihr helfen konnte. »Wenn du mich nicht wirklich liebst, dann brauchst du 125
mich auch nicht mehr zu besuchen. Fahr doch nach Hause, fahr nur! Fahr zu der anderen, sie hat ja die älteren Rechte.« Sie eilte auf die große Schwingtür zu. Frank Ostwald wollte hinter ihr her, aber eine mürrische Serviererin vertrat ihm den Weg. »Darf ich kassieren, mein Herr?« »Ja, natürlich«, sagte er verwirrt, »ich wollte nur …« Er drückte ihr ein Zweimarkstück in die Hand, ging zu seinem Tisch zurück, zog den Mantel an und spürte förmlich die vielen neugierigen Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren. Als er auf die Straße trat, war von Undine weit und breit nichts mehr zu sehen. Er überlegte, ob er zu Mommerts gehen und nach ihr fragen sollte. Aber das hätte einen seltsamen Eindruck gemacht, da er sie dort am frühen Nachmittag abgeholt hatte. Wahrscheinlich war sie auch gar nicht nach Hause gegangen, sondern irrte irgendwo in der Stadt umher. Es bestand wenig Aussicht, sie zu finden. Frank Ostwald fühlte sich sehr elend. Er kannte das Wort, auf das Undine vergeblich gewartet hatte. Langsam machte er sich auf den Weg zum Bahnhof.
»Du bist so still, Elke, erzähl uns doch etwas«, sagte die alte Frau Harms und blickte liebevoll auf das Mädchen, das beim Kachelofen in der Stube saß und an einem Pullover strickte. »Laß sie in Frieden«, sagte der Bauer, »du weißt doch, Klaus war auch immer ein stiller Junge.« Die alte Frau Harms ging auf diese Bemerkung nicht ein. »Bedrückt dich etwas, Kind?« fragte sie. Die angebliche Elke Harms schüttelte so heftig den Kopf, daß es we nig überzeugend wirkte. »Hast du irgendeinen Wunsch?« fragte die Bäuerin weiter. Das Mädchen zögerte einen Augenblick, dann sagte sie leise: »Groß mutter, Großvater, bitte, seid mir nicht böse. Ich möchte fort von hier.« 126
»Fort?« Die beiden alten Leute sahen sich bestürzt an. »Wohin? Was fällt dir ein?« Das Mädchen hob die Schultern und ließ sie mit einer resignierten Gebärde wieder fallen. »Es ist so schwer, euch zu erklären …« »Fort willst du«, sagte die Bäuerin erschüttert, »und wir sind so froh, daß wir dich endlich gefunden haben.« »Ach, laß die Dirn!« Der Bauer stand verärgert auf. »Das hätte ich dir gleich sagen können. Wenn eine aus London kommt, einer Weltstadt, dann muß es ihr doch hier bei uns, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, zu einsam sein.« »Nein.« Das Mädchen ließ ihr Strickzeug sinken und sah die Harms hofbauern treuherzig an. »Das ist es nicht. Ich bin gern bei euch, ich kann gar nicht sagen, wie gern, nur …« Sie stockte. »Was – nur?« wollte der Bauer wissen. Das Mädchen nahm ihr Strickzeug wieder auf und ließ eifrig, mit gesenkten Wimpern, ihre Nadeln klappern. »Ich würde ja nicht für immer gehen, bloß bis meine Papiere in Ordnung sind.« »Aber warum?« fragte der Bauer verständnislos. »Wir wissen, daß du hierher gehörst. Die Papiere sind nicht so wichtig. Damit eilt es doch nicht.« »Das ist eure Meinung«, sagte das Mädchen langsam, »und ich danke euch dafür, aber die Ostwalds …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. »Haben sie dich etwa gekränkt?« Die Stirn des Bauern rötete sich. »Nein, das nicht. Ich kann mich keineswegs beklagen, sie sind sehr höflich zu mir …« Der Bauer stieß heftig mit seinem Krückstock auf. »Dann verstehe ich dich nicht.« »Ich glaube, sie halten mich für einen Eindringling«, brach es an scheinend impulsiv aus dem Mädchen heraus, »für eine Hochstaple rin. Sie haben es mir natürlich nicht gesagt, aber ich fühle, daß sie so denken.« »Du bist überempfindlich, Kind«, sagte die Bäuerin, »du irrst dich bestimmt.« »Nein, Großmutter. Das Schlimmste ist, ich kann es den Ostwalds 127
nicht einmal übelnehmen. Von ihrem Standpunkt aus sind sie ja im Recht. Was für einen Beweis habe ich denn, daß ich eure Enkelin bin?« »Deinen Geburtsschein.« Das Mädchen schüttelte traurig den Kopf. »Das ist kein Beweis, den hätte sich auch eine Betrügerin beschaffen können. Nur ihr wißt, daß alles, was ich euch erzählt habe, Wahrheit ist.« »Darauf kommt es ja auch an«, sagte die alte Bäuerin begütigend, »laß die anderen doch denken, was sie wollen. Eines Tages wirst du ih nen beweisen können …« »Ja«, sagte das Mädchen rasch, »und wenn es soweit ist, komme ich zurück. Ich verspreche es euch.« Der Bauer sah seine Frau betroffen an. »Nein, Kind«, sagte er dann, »das können wir nicht zulassen. Wir sind so lange allein gewesen – verlang von uns, was du willst, aber bleib.« »Du hast doch auch Antje Nyhuus«, gab die Bäuerin zu bedenken, »wir hatten gehofft, du würdest eine gute Freundin in ihr finden.« »O ja. Sie ist nicht wie die anderen. Aber die Ostwalds … Ich kann ihnen doch nicht immer aus dem Wege gehen, ich begegne ihnen je den Tag, das macht für mich alles so unerträglich.« »Wir können sie nicht entlassen, Kind, wenn du darauf hinaus willst«, sagte der Bauer bedächtig, »sie haben gut für uns gearbeitet, und sie stehen unter Vertrag.« »Wie schlecht ihr mich versteht.« Die Lippen des Mädchens zitter ten. »Niemals habe ich daran gedacht, daß die Ostwalds vom Hof soll ten. Ich will doch keinen Unfrieden stiften. Aber hierbleiben kann ich auch nicht, ich – habe Angst.« »Angst? Aber Kind, wovor denn?« »Ich weiß es selber nicht«, sagte das Mädchen kläglich. »Vielleicht sind es die bösen Wünsche der Ostwalds, die mich geradezu krank machen. Nur wenn Jakobus Schwenzen da ist, dann ist es anders, dann haben sie keine Macht über mich.« »Das verstehen wir schon«, sagte die Bäuerin nachdenklich, »aber ich sehe nicht ein, wie wir helfen könnten. Schwenzen kommt ja oh 128
nehin oft genug, er kann schließlich nicht für immer hier auf dem Hof leben.« »Nicht für immer«, hakte das Mädchen ein, »nur so lange, bis mei ne Papiere ganz in Ordnung sind. Ich bin sicher, dann werden auch die Ostwalds ihre Meinung über mich ändern.« »Selbst wenn wir es wollten – Jakobus Schwenzen hat Geschäfte«, antwortete die Bäuerin. »Es gibt viele Menschen, die seine Hilfe brau chen, außerdem arbeitet er noch als Vertreter. Er könnte also unmög lich …« »Er soll ja nicht den ganzen Tag hier sein«, sagte das Mädchen hastig, »es genügt, wenn er ein kleines Zimmer zum Schlafen bekäme.« »Wenn es nur das ist«, meinte die Bäuerin erleichtert. »Geh und ruf Frau Ostwald, ich will ihr meine Anweisungen geben.«
Acht Tage vor Weihnachten war in Bad Wildenbrunn über Nacht Schnee gefallen. Er war naß und pappig und schmolz auf den Fahrbahnen schnell dahin, dennoch waren die Mommert-Kinder begeistert. Sie drängten Undine, mit dem Schlitten zum Wäldchen hinauszuziehen, und Un dine tat es. Sie rodelten so lange an einem kleinen Abhang, bis die blanke Erde unter den Schlittenkufen hervorsah. Die Kinder wären gern noch län ger geblieben, aber Undine mahnte energisch zum Aufbruch. Auf ihrem Weg zurück zur Stadt begegneten sie dem jungen Dr. Ha gedorn. »Hallo, Undine!« rief er schon von weitem, kam rasch auf sie zu und hielt die Hand des errötenden Mädchens länger, als es nötig gewesen wäre. »Ich brauche wohl nicht zu fragen, wie es Ihnen geht«, sagte er. »Sie sehen blendend aus.« Er konnte seinen Blick nur zögernd von dem schönen Mädchen reißen. Sonja und Thomas hatten es schwer, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. 129
»Müssen wir wirklich schon nach Hause, Onkel Doktor?« fragte Son ja. »Alle anderen dürfen noch bleiben, nur wir …« »Bloß noch einmal!« bettelte Thomas. »Noch einmal 'rauf und wie der 'runter …« Der kleine Ralf klatschte nur in die Hände, was heißen sollte, daß er die Wünsche seiner Geschwister voll und ganz unterstütze. »Nein«, lächelte Dr. Hagedorn, »wenn Undine es euch verboten hat, dann bleibt es dabei. Aber ich mache euch einen anderen Vorschlag: Setzt euch alle drei auf den Schlitten, und ich ziehe euch nach Hau se.« Die drei ließen sich das nicht zweimal sagen und kletterten mit gro ßem Hallo auf das hölzerne Fahrzeug. »Wollen Sie das wirklich tun?« fragte Undine den Arzt. »Sie wollen doch in die andere Richtung.« »Stimmt«, antwortete er augenzwinkernd, »bevor Sie mich verhext haben.« Ihre Wangen färbten sich noch röter. »Ich bin Ihnen so dankbar, Herr Doktor, daß Sie mich nicht verraten haben – neulich abends, als Mommerts mich ins Verhör genommen hatten.« Die Kinder schrien ungeduldig, und Dr. Hagedorn begann, den Schlitten hinter sich herziehend, kräftig auszuschreiten. »Das war selbstverständlich«, erklärte er, »schon in meinem eigenen Interesse – ich konnte doch nicht zugeben, daß ich den Mommerts eine ›Hexe‹ als Kindermädchen ins Haus geschleust habe.« Er sah sie lächelnd von der Seite an. »Bitte, machen Sie jetzt nicht so ein Gesicht. Natürlich weiß ich so gut wie Sie selber, daß bei Ihnen alles mit rechten Dingen und ohne jeden Teufelsspuk zugeht.« »Manchmal«, begann sie ehrlich, »bin ich mir selber tatsächlich un heimlich. Ich kann mir zum Beispiel nicht erklären, wie ich wissen konnte, daß Herr Mommert vorzeitig nach Hause kam …« »Wenn Sie das interessiert, dann wenden Sie sich an Doktor Höllrie gel, er hat es Ihnen ja angeboten. Verlassen Sie sich darauf, er wird es herausbringen. Er hat bewährte Methoden, in die verborgensten Win kel und Ecken einer Seele zu leuchten …« 130
»Nein, lieber nicht«, sagte Undine rasch, »ich glaube, so was ist scheußlich.« Er drang nicht weiter in sie, sondern sagte statt dessen: »Eigentlich ist es schade, daß ich Sie nur dann ein Stückchen begleiten darf, wenn ich Ihnen zufällig begegne. Ich hatte gehofft, jetzt, da ich wieder in Bad Wildenbrunn ansässig bin, nachdem ich die Praxis meines Vaters übernommen habe, würden wir Gelegenheit haben, uns öfters zu se hen.« »Aber das können wir doch«, sagte sie arglos. »Wirklich? Ich hatte gedacht … Die verehrte Frau Mommert erzähl te mir, daß Sie einen Freund hätten, der Sie regelmäßig an Ihren frei en Tagen abholt.« »Ach«, entgegnete sie heftig, »das ist kein Freund, das ist nur Frank Ostwald.« Er lächelte. »Hört sich ganz so an, als ob Sie sich gestritten hätten.« »Überhaupt nicht.« Sie wurde rot über ihre eigene Lüge. »Es ist nur … Frank Ostwald ist verlobt mit einer Bauerntochter aus der Marsch.« »Wahrhaftig?« Dr. Hagedorn lachte. »So ein Pechvogel!« »Müssen Sie über alles Ihre Witze machen?« fragte sie bissig. »Ich lache nur, weil ich erleichtert bin. Tatsächlich hat mir Ihr Frank Ostwald schon schlaflose Nächte bereitet. Wenn es aber so ist – haben Sie Weihnachten etwas vor?« »Nein«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Sie wissen, daß ich niemand in Wildenbrunn kenne.« »Wundervoll. Würden Sie gestatten, daß ich Sie dann für den ersten Weihnachtsfeiertag in den Klub einlade? Sagen Sie nicht nein, es geht dort immer recht lustig zu.« »Was für ein Klub?« fragte Undine. »Der Golfklub.« »Nein«, sagte Undine erschrocken, »da können Sie mich nicht mit nehmen. Im Golfklub verkehren nur die allerfeinsten Leute …« »Sind Sie etwa nicht fein?« »Sie wissen genau, wer und was ich bin.« »Das schönste Mädchen, das ich kenne.« 131
Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Sie haben also keine Angst, sich mit mir zu blamieren?« »Durchaus nicht. So schrecklich gescheite Sachen reden die feinen Leute gar nicht. Wenn Sie wirklich merken, daß Sie einem Gespräch nicht folgen können, dann halten Sie einfach den Mund.« Plötzlich lachte Undine und zeigte ihre schneeweißen, regelmäßigen Zähne. »Sie sind sehr höflich, Herr Doktor«, sagte sie, »aber ich nehme Ihnen gar nicht übel, daß Sie mich für ungebildet halten. Aber so viel haben Sie nicht zu befürchten. Ich war immer sehr gut in der Schule, und mein Vater hat mir viele Bücher zu lesen gegeben.« »Entschuldigen Sie bitte meine Bedenken, Undine. Also, darf ich Sie abholen?« Undine überlegte, bevor sie antwortete. Sie war sich darüber im kla ren, daß Frank Ostwald es bestimmt nicht gern sehen würde, wenn sie mit einem anderen ausging. Aber hatte er irgendein Recht, ihr Vor schriften zu machen? Sie hatte von Frau Mommert ein abgelegtes Sei denkleid geschenkt bekommen, das sich unter Evelyns Fingern in ein nettes kleines Abendkleid verwandelt hatte. Es reizte sie sehr, sich dar in zeigen zu können. Dr. Hagedorn las die widersprechenden Gefühle auf ihrem Gesicht und fragte: »Nun, woran hapert's noch?« »Wird auch getanzt?« erkundigte sich Undine. »Ach, Sie Kindskopf«, lachte er, »natürlich wird getanzt. Also abge macht. Ich freue mich sehr auf den Fünfundzwanzigsten und werde Sie pünktlich um sieben Uhr abholen.«
»Frank Ostwald kommt zu Weihnachten nicht nach Hause«, sagte Antje Nyhuus. Sie klopfte auf den Brief, den sie in der Hand hielt. »So sieht also Ihre Hilfe aus, Schwenzen. Ich habe alles getan, was Sie mir aufgetragen haben. Und was ist die Wirkung? Er kommt nicht nach Hause.« »Worin hast du ihm denn den Liebeszauber geschickt?« fragte der 132
Hexenbanner ruhig. Er stand neben seinem Motorrad und wollte den Harmshof gerade verlassen. »In einem hausbackenen Brot, genau, wie Sie mir geraten haben.« »Vielleicht hat er es noch nicht bekommen.« »Doch. Das hat er. Hier, lesen Sie selber. Er bedankt sich für das Brot, und einen Satz später schreibt er, daß er Weihnachten nicht nach Hau se kommen kann, weil er zu viel Arbeit hat.« »Nun«, sagte Jakobus Schwenzen, »der Liebeszauber war jedenfalls in Ordnung, der hätte wirken müssen. Vielleicht hat er das Brot gar nicht gegessen. Jedenfalls besteht kein Grund zum Verzweifeln. Viel leicht genügen die einfachen Mittel nicht. Wir sollten es auf andere Art versuchen.« »Nein«, sagte sie heftig, »das genügt mir jetzt nicht mehr. Ich habe mich von Ihnen an der Nase herumführen lassen. Ich fahre selber zu Frank.« »Wie du meinst«, sagte der Hexenbanner achselzuckend und wandte sich ab. Er stieg auf sein Motorrad und schaltete die Zündung ein. »Halten Sie es nicht für richtig?« fragte Antje, plötzlich unsicher ge worden. »Ehrlich gestanden, nein. Das müßte dir doch dein gesunder Men schenverstand sagen: Es ist das Dümmste, einem jungen Burschen nachzulaufen.« »Aber ich will ihn nicht verlieren.« »Das sollst du auch nicht. Verlaß dich nur auf mich.« »Geben Sie mir ein stärkeres Mittel?« »Ja. Aber nur, wenn du dir deine Reisepläne aus dem Kopf schlägst. Ich brauche dich zu Weihnachten hier.« »Wann bekomme ich das Mittel?« fragte sie. »Ich will es noch recht zeitig vor dem Fest abschicken.« »Morgen. Ich besorge dir eine Alraunwurzel. Schick sie ihm als Ta lisman. Am besten, er legt sie sich unter das Kopfkissen.« »Aber wenn er es nicht tut?« »Es genügt, wenn er die Wurzel bekommt und in seinem Zimmer aufbewahrt.« 133
»Gut. Ich werde es auf diese Art versuchen«, sagte das Mädchen nach kurzem Nachdenken. »Dann treffen wir uns morgen. Geh jetzt zu Elke Harms hinein. Sie wird sich freuen, dich zu sehen.« Antje Nyhuus blieb stehen und wartete, bis er davonfuhr. Sie biß sich auf die Lippen. In ihrem Inneren reifte ein Plan: Sie würde sich die Al raunwurzel geben lassen und selber damit zu Frank Ostwald fahren. Jakobus Schwenzen wollte es ihr sicher nur ausreden, weil er sie für sei ne Pläne brauchte. Aber so weit ging ihre Dankbarkeit nicht. Schließ lich hatte er noch nichts Entscheidendes für sie getan. Nein, noch einmal ließ sie sich nicht an der Nase herumführen. We der von Jakobus Schwenzen noch von Frank Ostwald noch von sonst irgend jemandem.
VI
F
rank Ostwalds Entschluß, über die Feiertage nicht nach Hause zu fahren, war nicht von heute auf morgen gereift. Er hatte lange ge gen den Wunsch angekämpft, das Fest in Undines Nähe zu verbringen, immer wieder Für und Wider gegeneinander abgewogen. Endlich fiel die Entscheidung. Er schrieb nach Hause, daß es das be ste sei, wenn er in den Weihnachtsferien in der Universitätsstadt blie be. Er sei ja noch vor gar nicht langer Zeit zu Hause gewesen und hal te es deshalb für richtig, das Fahrgeld und die übrigen mit einer Reise verbundenen Ausgaben zu sparen. Mit gleicher Post teilte er auch Antje Nyhuus mit, daß er nicht kom men würde. Am liebsten hätte er sofort bei Mommerts angerufen und Undine mitgeteilt, daß er zu Weihnachten dableibe. Aber er scheute die unnöti ge Ausgabe. Außerdem war es besser, so glaubte er, sie einfach zu über 134
raschen. Wenn er vor ihr stünde und sie in die Arme nehmen konn te, würden alle Mißverständnisse zwischen ihnen auf einen Schlag be seitigt sein. Einen ganzen Nachmittag schlenderte er durch die weihnachtlich dekorierten Geschäftsstraßen der Universitätsstadt auf der Suche nach einem Geschenk für Undine. Es sollte etwas sein, das ihr wirklich Freude machte – aber was? Sicherlich hätte sie sich über einen Schal, Handschuhe, ein Parfüm gefreut, aber er traute sich nichts dergleichen zu kaufen: er verstand von diesen Dingen für junge Mädchen zu we nig. Ihr Schmuck zu schenken, dazu reichte sein Geld nicht, und au ßerdem wäre es wohl auch unpassend gewesen, denn so vertraut wa ren sie doch nicht miteinander. Schließlich entschloß er sich für ein Buch, das in diesem Jahr als Bestseller galt. Aber als er es schon gekauft hatte, war er mit seiner Wahl nicht ganz zufrieden. Ein Kommilitone, mit dem er sich in der letzten Zeit näher angefreundet hatte, wohnte in Bad Wildenbrunn. Da dieser junge Mann über die Weihnachtsfeiertage bei auswärtigen Bekannten eingeladen war, ergab sich die Möglichkeit, daß Frank Ost wald sein Zimmer benutzen durfte. Er war sehr erleichtert darüber, denn die Hin- und Herfahrerei zwischen der Universitätsstadt und Bad Wildenbrunn wäre lästig und teuer geworden. Am Mittag des 24. Dezember traf Frank Ostwald in der Kurstadt ein. Sein Freund, Günter Auer, holte ihn im elterlichen Sportwagen von der Bahn ab und zeigte ihm sein kleines, komfortables Apparte ment. Eine halbe Stunde später brauste er ab. Frank Ostwald nahm sich Zeit, seine Sachen einzuräumen, nutzte die Gelegenheit, unter die heiße Brause zu steigen, zog sich um und schlenderte zum Haus des Kurdirektors. Es kostete ihn eine gewisse Überwindung, zu klingeln, weil er Evelyns neugierigen Blick scheute. Aber als die Tür aufging, war es Undine selber, die vor ihm stand. »Oh!« rief sie überrascht, und ihre Augen wurden groß vor Staunen. Er räusperte sich. »Hallo, Undine, ich wollte mal sehen, wie es dir geht.« »Du bist nicht nach Hause gefahren?« 135
»Nein. Hab's mir anders überlegt.« »Warum hast du mir das denn nicht geschrieben?« Er runzelte die Stirn. »Paßt es dir etwa nicht, daß ich da bin?« »Doch, natürlich«, sagte sie hastig, »ich freue mich sehr, nur, weißt du, wir sind mitten in den Vorbereitungen für die Bescherung – die Kinder …« »Wann bist du frei?« »Heute abend. Ich muß warten, bis sie schlafen. Vielleicht um acht.« »Gut, ich hole dich ab.« »Nein, bitte, warte lieber auf mich an der Ecke.« Mit einem entschul digenden Lächeln fügte sie hinzu: »Es ist doch wirklich nicht nötig, daß wir denen hier etwas zu klatschen geben.« Frank Ostwald wollte noch etwas sagen, aber da wurde aus dem In nern des Hauses nach Undine gerufen, sie nickte ihm noch einmal freundlich zu und verschwand. Er fühlte sich tief enttäuscht. Er wuß te nicht warum, aber alles war so anders gewesen, als er es sich vorge stellt hatte. Undine hatte sich gefreut, sicher, aber sie war keineswegs so glücklich, wie er erwartet hatte. Es schien, als ob sie sich seit ih rer letzten Begegnung verändert hätte. War sie ihm immer noch böse? Aber warum? Schließlich hatte er doch genau das getan, was sie sich gewünscht hatte. Er war zu Weihnachten nicht nach Hause gefahren. Mehr konnte sie doch nicht verlangen. Allmählich überwand Frank Ostwald seine Enttäuschung. Er stellte fest, daß die Geschäfte noch offen waren, und beschloß, ein paar Dinge einzukaufen, mit denen er Undine heute abend bewirten konnte. Der Gedanke daran, daß sie in wenigen Stunden zusammen sein würden, zum erstenmal nicht in einem Cafe oder in einem Kino, son dern – falls Undine damit einverstanden war – wirklich allein, ließ sein Herz plötzlich höher schlagen. Er mußte tief Atem holen, um wie der ruhiger zu werden, und er fühlte heiß und beglückend, wie sehr er sie liebte.
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Antje Nyhuus traf am späten Nachmittag in der Universitätsstadt ein. Sie nahm ein Taxi und gab dem Chauffeur Frank Ostwalds Adresse. Ihre Reisetasche hielt sie auf dem Schoß, während sie durch die festlich erleuchteten Straßen fuhren. Das Auto stoppte vor einem großen Mietshaus in der Nähe der tech nischen Hochschule. »Hier muß es sein«, sagte der Fahrer, »Robert-Koch-Straße siebzehn.« »Danke«, sagte Antje Nyhuus. Sie zahlte und stieg aus. Als sie auf die Haustür zuging, fühlte sie sich plötzlich sehr verlassen. Frank Ostwalds Zimmer war eine Dachkammer im fünften Stock. Auf einer weißen Karte, die an die Tür geheftet war, stand sein Name. Antje Nyhuus klingelte – einmal, zweimal, dreimal –, aber drinnen rührte sich nichts. In dieser Sekunde dachte sie zum erstenmal daran, daß Frank nicht da sein, daß er sich sogar am Heiligen Abend mit der anderen getroffen haben könnte. Ihre Knie zitterten, sie mußte sich am Geländer festhalten. Aber nach wenigen Sekunden faßte sie wieder Mut. Schließlich war es durchaus möglich, daß er sich an irgendeiner studentischen Weih nachtsfeier befand oder daß ihn vielleicht seine Wirtin für den Abend eingeladen hatte. Sie stieg eine Treppe tiefer und klingelte an der Etagentür, die auf einem Messingschild den Namen Pielsticker trug. Eine rundliche, kleine Frau mit lebhaften, neugierigen Augen öffne te. »Ich möchte bitte zu Frank Ostwald«, sagte Antje mit spröden Lip pen. »Oh, das tut mir aber leid«, antwortete Frau Pielsticker und schlug mit ehrlichem Bedauern die Hände zusammen, »Herr Ostwald ist nicht da. Aber kommen Sie doch bitte herein, legen Sie ab …« »Wann kommt er wieder?« »Genau weiß ich das nicht, aber nach Weihnachten ganz be stimmt.« Antje Nyhuus schwankte, Frau Pielsticker sah es und drückte ihren unerwarteten Gast schnell in einen der Korbsessel, die um den runden Tisch in der Diele standen. 137
»Setzen Sie sich, Fräulein, was ist Ihnen? Soll ich Ihnen einen Schluck Wasser bringen?« Antje Nyhuus schüttelte stumm den Kopf. »Haben Sie denn nicht gewußt, daß Herr Ostwald über die Feierta ge verreist ist?« »Nein«, sagte Antje Nyhuus mühsam, »sonst wäre ich doch nicht ge kommen.« Sie riß sich zusammen, versuchte sogar zu lächeln, als sie sagte: »Ich bin Antje Nyhuus, ich komme aus seiner Heimat.« »Ah, wirklich? Sie sind seine Braut?« Antje wurde rot. »Hat er über mich gesprochen?« Frau Pielsticker lächelte mütterlich. »Natürlich, oft … Er hat es sehr bedauert, daß er zu Weihnachten nicht nach Hause fahren konnte.« »Wo ist er jetzt?« fragte Antje Nyhuus mit angstvollen Augen. »In Bad Wildenbrunn bei einem Studienkollegen. Sie wollen wäh rend der Feiertage zusammen arbeiten.« »In Bad Wildenbrunn!« Antjes Züge verkrampften sich. »Haben Sie seine Adresse?« »Nein, die hat er mir nicht gegeben. Es sind ja auch nur ein paar Tage, die er fortbleibt.« Antje Nyhuus hielt nur mit äußerster Anstrengung ihre Tränen zu rück. Was sollte nun werden? Sie mußte auf jeden Fall versuchen, Frank die Alraunwurzel zukommen zu lassen. »Ich habe eine große Bitte«, sagte sie leise, »könnte ich wohl einmal Franks Zimmer sehen, damit ich weiß, wie er hier lebt?« »Ja, gerne«, lächelte Frau Pielsticker, »aber leider kann ich Sie nicht hinaufbegleiten, ich habe in der Küche zu tun.« Besser hätte es gar nicht kommen können. Antje Nyhuus nahm dankend den Schlüs sel entgegen, lief noch einmal die Treppe hinauf, nahm sich aber nur wenig Zeit, die karg eingerichtete Kammer zu betrachten, sondern zog rasch die Alraunwurzel aus ihrer Reisetasche und legte sie unter Franks Kopfkissen. Dann, schon wieder unter der Tür, drehte sie sich noch einmal um, lief zum Bett zurück. Sie knöpfte die Kopfkissenlei ste auf und steckte die Wurzel unter den Bezug. So, da saß sie sicher. Frau Pielsticker würde sie natürlich entdecken, wenn sie die Bettwä 138
sche wechselte. Aber das geschah bestimmt nicht allzubald. Bis dahin mußte der Zauber gewirkt haben. »Ich danke Ihnen für alles, Frau Pielsticker«, sagte sie, als sie den Zimmerschlüssel unten wieder abgab, »bitte, verraten Sie Frank nicht, daß ich da war – es würde ihn vielleicht sehr wundern, da ich unan gemeldet kam.« »Ich verstehe schon«, lächelte Frau Pielsticker, »die Männer brauchen nicht alles zu wissen.« Sie telefonierte für Antje Nyhuus nach einem Taxi, mit dem das Mädchen zum Bahnhof zurückfuhr. Als sie dort den Fahrplan studierte, um festzustellen, wann der nächste Zug nach Bremen fuhr, rief die Stimme aus dem Lautsprecher: »Achtung, Achtung! Der Eilzug aus München in Richtung Bad Wil denbrunn fährt auf Bahnsteig eins ein!« Antje Nyhuus hatte es nicht vorgehabt, aber in dieser Minute schien ihr das Stichwort wie ein Wink des Himmels: Sie lief, ihre Rückfahr karte vorzeigend, durch die Sperre und erreichte den Zug gerade noch im letzten Augenblick. Vierzig Minuten später war sie in Bad Wildenbrunn. Das Haus des Kurdirektors war leicht zu finden. Gleich der erste Passant, den Antje Nyhuus vor dem Bahnhof von Bad Wildenbrunn fragte, konnte ihr den Weg beschreiben: Zunächst mußte man die Hauptstraße entlanggehen bis zum Theaterplatz. Von dort aus war die Kurpromenade mit ihrer Doppelreihe von Kastanien nicht zu verfehlen. Das Haus des Kurdirektors stand dann schräg ge genüber dem Musikpavillon. Erst als sie am Ziel war, spürte Antje Nyhuus ihre Erschöpfung. Sie war seit dem frühen Morgen unterwegs, ihr Kopf schmerzte von der überhitzten Luft in den Zügen. Im Haus des Kurdirektors brannten viele Lichter. Antje Nyhuus stand eine Weile da und starrte angestrengt hin über. Plötzlich wurde ihr klar, wie beschämend die Situation für sie war. Sie sah sich nach Deckung um. Der Musikpavillon bot das einzige, 139
wenn auch ungenügende Versteck. Sie stellte sich hinter eine der Säu len und schaute unverwandt zu dem hell erleuchteten Haus hinüber. Sie konnte nicht in die Zimmer hineinsehen, denn die Vorhänge wa ren zugezogen. Die Silhouetten der hin- und herhuschenden Gestal ten waren nur undeutlich zu unterscheiden. Dennoch wußte Antje Ny huus – oder glaubte es zu wissen –, daß Undine Carstens dort drinnen war, wo der Lichterbaum brannte, wo elegante Menschen ihre Gaben bestaunten und sich gegenseitig ein frohes Weihnachtsfest wünschten. Antje Nyhuus preßte die Zähne aufeinander. Die da drinnen waren glücklich, und sie – sie mußte in der schneidenden Kälte draußen ste hen, ausgestoßen, verlassen. Der Gedanke, daß sie jetzt ebensogut zu Hause in der warmen Stube ihrer Eltern hätte sein können, kam ihr gar nicht. Sie hatte etwa eine halbe Stunde gestanden – ihre Füße schienen fast gefühllos –, als ihr plötzlich das Unsinnige ihres Tuns bewußt wurde. Warum war sie überhaupt nach Bad Wildenbrunn gekommen? Was wollte sie hier? Vielleicht war Undine doch nicht dort drinnen, vielleicht war sie längst fort – mit Frank Ostwald zusammen. Und selbst wenn sie zu Hause geblieben war, was nutzte es ihr, Antje Nyhuus? Sie konnte ja nicht die ganze Nacht hier stehenbleiben. Die Spannung erlahmte, mit der das Mädchen sich bisher aufrecht gehalten hatte. Sie sackte förmlich zusammen; der Krampf, der ihr Herz gepackt hatte, löste sich, machte einer tiefen Hoffnungslosigkeit Platz. Sie wußte, daß sie jetzt zum Bahnhof zurück mußte, auf einen Zug warten, umsteigen, nach Hause fahren. Sie würde die ganze Nacht un terwegs sein, und in diesem Augenblick tiefster Depression erschien ihr die Heimfahrt als eine unüberwindliche Strapaze. Ich werde es nicht schaffen, dachte sie, ich bin mit meinen Kräften am Ende. Unendlich mühsam hob sie die Füße, drehte sich um und – sah ihn. Frank Ostwald! Er stand nahe der Ecke, deutlich zu erkennen im hel len Lichtkreis der Laterne. 140
Antje Nyhuus rührte sich nicht. Sie ballte die Hände zu Fäusten, preßte die Nägel in die Handflächen, daß es schmerzte. Frank Ostwald! Da stand er und wartete auf Undine. Es gab keine andere Erklärung. Frank Ostwald, der sich nicht geschämt hatte, ihr zu schreiben, daß er nicht nach Hause kommen könne, weil er so viel zu arbeiten habe, war nach Bad Wildenbrunn gefahren, um sich mit Undine zu treffen. Antje Nyhuus war drauf und dran, vorwärts zu stürmen und ihn zur Rede zu stellen. Aber eine selbstquälerische Neugier hielt sie zurück. Jetzt wollte sie es genau wissen. Die Lichter im oberen Stock der Vil la erloschen. Frank Ostwald zog die Hand aus der Tasche, sah auf seine Arm banduhr. Von einer fernen Kirche erklangen Glocken. Frank Ostwald blickte auf, und Antje Nyhuus drückte sich tiefer in den Schatten, um nicht entdeckt zu werden. Plötzlich hörte sie Schritte, das Gartentor quietschte leise – sie beug te sich vor und sah Undine auf Frank Ostwald zueilen. Er ging ihr ent gegen, breitete erwartungsvoll die Arme aus. Undine gab ihm einen flüchtigen Kuß, dann schritten sie Arm in Arm davon. Antje Nyhuus mußte ihre Augen schließen. Eine Welle der Eifer sucht überflutete ihr Gehirn und spülte alle Vernunft fort. Es dauerte lange, bis sie sich soweit gefaßt hatte, daß sie den Rück weg antreten konnte. Warum war ich so feige? dachte sie. Warum habe ich ihnen nicht ins Gesicht geschrien, was ich von ihnen halte? Aber fast gleichzeitig verwarf sie den Gedanken wieder. Es hätte kei nen Zweck gehabt, dieses Mädchen hätte mich nur ausgelacht – die Hexe hätte triumphiert. Die Vorstellung, daß beide nun irgendwo gemeinsam feiern wür den, während sie allein in der Fremde umherirrte, schmerzte unsag bar. Wie konnte Frank, mit dem sie schon so lange versprochen war, ihr das antun! Liebte sie ihn immer noch, obwohl er sie so betrog? Hätte sie ihn nicht hassen müssen, ihn vor allem? 141
Antje Nyhuus atmete tief. Nein, sie haßte ihn nicht. Es war nicht sei ne Schuld. Niemals hätte er ihr dies angetan, wenn nicht die Hexe ge wesen wäre. Sie hatte ihn in ihren Bann geschlagen. Man konnte ihm keinen Vorwurf machen. Er sträubte sich gegen ihren Zugriff, er ver suchte ja immer noch mit allen Mitteln, das Versprechen, das er ihr, Antje Nyhuus, gegeben hatte, zu halten. Denn wozu hätte er sonst Heimlichkeiten treiben müssen? Wozu lü gen? Ausreden erfinden? Wenn seine Gefühle zu ihr wirklich erloschen wären, hätte er es leichter gehabt. Ein einziges Wort hätte genügt: Ich trete von unserer Verlobung zurück. Ich will und kann dich nicht heiraten. Aber er brachte es nicht über sich. Weil er sie immer noch liebte, sie, Antje Nyhuus. Er würde eines Tages wieder zu ihr zurückfinden, sie mußte nur Ge duld haben. Geduld? Wieder zu Hause sitzen und warten? Grübeln und den Din gen ihren Lauf lassen? Nein, das konnte sie nicht. Sie mußte etwas unternehmen. Sie muß te die Hexe vernichtend treffen – aber wie? Sie zerbrach sich den Kopf, doch es wollte ihr nichts Vernünftiges einfallen. Als sie auf den Bahnhof kam, blieb ihr bis zur Abfahrt noch über eine Stunde Zeit. Sie stand unentschlossen, studierte die Fahrpläne, las die Anschläge. Dann sah sie einen Mann in der erleuchteten Tele fonzelle; er blätterte in einem dicken Telefonbuch, wählte eine Num mer, sprach. Blitzschnell kam ihr ein Gedanke. Sie wartete, bis er sein Gespräch beendet hatte, und trat dann selber in die Zelle. Sie kramte ein Notiz buch aus der Tasche, legte das Telefonbuch daneben und schrieb. Ihre Wangen glühten. Wer sie von außen beobachtete, hätte meinen können, daß sie sich Nummern heraussuchte, um noch zum Fest zu gratulieren. Aber das stimmte nicht. An diesem Abend – am Heiligen Abend – faßte Antje Nyhuus einen wahrhaft teuflischen Plan … 142
Wenn sie geahnt hätte, wie das Zusammentreffen Franks mit ihrer Ri valin verlief, wäre sie nicht so verzweifelt und rachsüchtig gewesen. Frank Ostwald fand nicht einmal Gelegenheit, Undine sein Weih nachtsgeschenk zu überreichen. Als er ihr andeutete, daß er sie ins Zimmer seines Studienkollegen mitnehmen und dort allein mit ihr den Abend verbringen wollte, wehrte das Mädchen sofort ab. Sie be hauptete, in ihrer Situation gebe es keine andere Möglichkeit, als zu schauen, ob irgendwo noch ein gemütliches kleines Café geöffnet sei, und später vielleicht einen schönen Spaziergang in der sternklaren Nacht zu machen. Alles Drängen Frank Ostwalds half nichts. Er konnte auch darauf hinweisen, daß er ein paar Leckerbissen und eine gute Flasche Wein gekauft habe. Undine blieb unerbittlich. Schließlich packte ihn der Zorn. Er schleuderte dem Mädchen entge gen, nur ihretwegen sei er über die Feiertage nicht nach Hause gefah ren und denke jetzt nicht daran, den Heiligen Abend in einer Kneipe zu verbringen oder sich auf der Straße herumzutreiben. Undine hatte Verständnis für seine Unbeherrschtheit und wollte be schwichtigen. So schlug sie vor, zur Villa Mommert zurückzugehen. Dort könnten sie für zwei, drei Stunden in einem Gästezimmer fei ern, da es der Kurdirektor an diesem besonderen Abend bestimmt er lauben würde. Aber Frank Ostwald hatte dafür nur ein entrüstetes La chen übrig. Da wurde auch Undine unwillig. Sie bat ihn, er möge sie nach Hause bringen. Enttäuscht und geradezu beleidigt – wie er sich vorkam –, wi dersprach er nicht. Wortlos gingen sie den Weg zurück. Erst als sie bereits am Gartentor standen und sich verabschieden woll ten, versuchte Frank Ostwald, seinen Groll zu überwinden. Er fragte, ob er Undine morgen bei besserer Laune wiedersehen und ihr sein Ge schenk mitbringen dürfe. Nach kurzem Zögern meinte sie, er könne sie ja am Nachmittag zu einem Besuch bei ihrem Pflegevater beglei ten. Am Abend allerdings – fügte sie mit einem gewissen Stolz hinzu – dürfe sie mit Dr. Hagedorn, dem ihr Pflegevater und sie so viel ver dankten, zu einer großartigen Veranstaltung gehen. Wenn sie gewußt 143
hätte, daß Frank über die Feiertage nicht nach Hause fahren würde, hätte sie diese Einladung selbstverständlich nicht angenommen. Undines argloses, um Verständnis bittendes Lächeln half nichts. Frank Ostwald war wie vor den Kopf geschlagen. Er fühlte sich nach dem turbulenten Nachmittag, seiner zerstörten Vorfreude und allen Auseinandersetzungen dieses Abends nicht mehr in der Lage, seinen Standpunkt durchzusetzen. Durfte er es überhaupt? War dieses Mäd chen ihm, dem mit einer anderen rechtmäßig Verlobten, Rechenschaft schuldig? Frank Ostwald hatte es plötzlich eilig. Er gab Undine förmlich die Hand, wünschte ihr noch einmal ein glückliches Fest und teilte ihr mit, daß er morgen keine Zeit habe, da er sich nun doch ernsthaft über seine Lehrbücher setzen müsse. Bestürzt, aber ohne ein Wort der Widerrede, ging Undine ins Haus. In dieser Nacht schrieb Frank Ostwald an Antje Nyhuus einen Brief, der herzlicher klang als alle, die er seit langem geschrieben. Er wollte ihn noch zur Post bringen, aber da fiel ihm ein, daß seine Braut ja von dem Aufenthalt in Bad Wildenbrunn nichts wissen durfte. So wartete er damit bis zum nächsten Nachmittag, als er in die Uni versitätsstadt zurückkam.
»Trink nicht so viel!« sagte Jakobus Schwenzen und nahm der angeb lichen Elke Harms die Rumflasche aus der Hand. Das Mädchen fuhr hoch. »Was! Du willst mir verbieten zu trinken, selbst wenn wir allein sind?« Sie saßen am runden Tisch in der guten Stube des Harmshofes. Die Kerzen am Weihnachtsbaum waren niedergebrannt und die alten Leu te zu Bett gegangen. »Wir müssen vorsichtig sein«, mahnte Jakobus Schwenzen, »du hast heute abend ein paar Dinge gesagt …« Er sah sie finster an. »Du wirst noch alles verderben.« Sie stützte beide Ellbogen auf den Tisch und beugte sich angriffs 144
lustig vor. »Wenn einer von uns beiden das Recht hat, zu kritisieren, dann bin ich es, nicht du! Glaubst du, daß ich glücklich bin, hier mit den vertrottelten Alten? In einer Irrenanstalt muß es tausendmal lusti ger zugehen. Was hab' ich denn noch vom Leben? Langeweile von früh bis spät. Wenn dieser Ostwald und seine Frau wenigstens mal ausfal lend werden würden, daß ich Theater machen könnte. Aber nein, sie schauen mich nur an wie ein lästiges Insekt und denken nicht daran, den Mund aufzumachen, diese Heuchler.« »Schrei nicht so!« »Ich kann schreien, soviel ich will …« »Du hast zuviel getrunken. Geh zu Bett, es ist spät.« »Und was tust du?« Jakobus Schwenzen zögerte mit der Antwort. »Ich muß noch fort«, sagte er. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Das sieht dir wieder mal ähn lich«, sagte sie voll Abscheu. »Du streunst durch die Gegend, und mich läßt du hier verrückt werden.« »Du irrst dich, wenn du glaubst, daß ich zu meinem Vergnügen un terwegs bin. Wenn es nicht ums Geschäft ginge, würde ich auch zu Hause bleiben, verlaß dich drauf. Worüber beklagst du dich eigentlich? Du hast alles, was ein Mensch sich wünschen kann, wirst bedient wie eine Prinzessin – dir ist es ja in deinem ganzen Leben noch nie so gut gegangen. Aber statt dankbar zu sein, spielst du die Leidgeprüfte. Paß nur auf, daß ich nicht die Geduld mit dir verliere.« »Meine ist längst futsch. Ich habe es satt, verstehst du? Wenn du die Sache nicht bald zu Ende bringst …« »Was dann?« Er sah sie mit seinen stechenden Augen so lauernd an, daß sie unwillkürlich den Blick senkte. »Dann werfe ich dir den ganzen Krempel vor die Füße«, sagte sie, aber ihre Stimme klang ziemlich kleinlaut. »Du willst womöglich aussteigen?« fragte er kalt. Sie preßte die Lippen zusammen. »Nein«, antwortete sie zögernd. »Das freut mich für dich.« Er stand auf. »Bitte«, sagte sie, »bitte, wie lange soll das noch dauern?« Er beugte 145
sich zu ihr hinab. »Mir macht die ganze Situation genausowenig Ver gnügen wie dir, Karin …« Er verbesserte sich sofort: »Elke. Du weißt genausogut wie ich, daß ein einziges falsches Wort von dir oder mir den ganzen Plan platzen lassen kann. Wir müssen behutsam vorgehen, sehr behutsam. Vergiß nicht, es ist ein großes Geschäft.« »Bis jetzt ist noch so gut wie nichts dabei herausgesprungen. Die paar Kröten, die du von der Auszahlung der Feuerversicherung hast abzweigen können …« »Es waren immerhin etliche Tausender.« »Genausoviel hätte ich in derselben Zeit in St. Pauli verdienen kön nen.« »Gib nicht so an«, sagte er trocken. Sie ließ sich nicht beirren. »Wenigstens hatte ich gehofft, daß mir die Harmshofbauern zu Weihnachten was Richtiges schenken würden. Statt dessen …« Sie warf mit einer verächtlichen Bewegung ein Paar altmodische Ohrringe auf den Tisch. »Trotzdem hättest du so tun sollen, als ob du dich freutest.« »So tun! So tun! Seit ich hier bin, tue ich schon dauernd so als ob, das hängt mir längst zum Hals 'raus. Und nie ist etwas los! Hattest du mir nicht versprochen, daß der junge Ostwald nach Hause kommen wür de? Den hätte ich leicht einwickeln können, das wäre doch wenigstens ein Spaß gewesen. Aber nein! Der Kleine bleibt auf seiner Universität, und die fade Antje Nyhuus ist ihm nachgefahren. Warum hast du ihr das erlaubt?« »Kümmere dich um deine eigenen Sachen. Und der junge Ostwald geht dich nichts an. Selbst wenn er heimgekommen wäre, hättest du dich auf gar keinen Fall um ihn kümmern dürfen.« »Aber warum denn nicht? Willst du mir auch das verbieten?« »Ja. Die Ostwalds sind unsere Gegner. Du würdest alles verderben.« »Und wenn ich den Jungen soweit kriegte, daß er mich heiratet? Was dann?« »Dann wäre es aus mit unserem schönen Plan. Dann würden die Ostwalds den Hof übernehmen. Jetzt habe ich aber genug von dem Blödsinn. Der Junge ist nicht einmal da, du hast ihn nie gesehen und 146
machst Pläne, wie du ihn einfangen könntest. Verwende lieber deine Energie darauf, dich bei den Alten lieb Kind zu machen.« Sie stöhnte. »Schauderhaft.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern. »Ich weiß, daß es kein Ver gnügen ist. Aber reiß dich zusammen. Hast du eine Ahnung, was der Harmshof wert ist? Hunderttausende! Wir werden mit einem Schlag ausgesorgt haben, dafür lohnt es sich doch.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaub' nicht mehr daran, daß wir ihn je bekommen. Die Alten sind so – mißtrauisch.« »Laß das nur meine Sorge sein. Mein Plan ist gut. Augenblicklich kassiere ich, weil ich angeblich Geld brauche, um deine Papiere in Ord nung zu bringen, und nachher – na, du wirst schon sehen. Warum soll ich dir den Kopf heiß machen? Du hast nichts zu tun, als deine kleine Rolle zu spielen, alles andere überlaß mir.« Sie versuchte noch einmal, zu widersprechen. »Und wenn ich nicht mehr mitmachen will?« »Das möchte ich nicht gehört haben«, sagte er hart, »ich lasse mir nicht meine Pläne durchkreuzen – von einer wie dir schon gar nicht. Bildest du dir ein, ich habe die ganze Sache mühevoll eingefädelt, da mit du mir alles kaputtmachst? Nimm dich in acht, ich warne dich! Für dich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder du machst mit, bis die Sache geklappt hat, dann verläßt du den Hof als reiche Frau, oder du gibst auf – aber ich schwöre dir, daß deine Freunde in St. Pauli dich dann nicht mehr wiedererkennen werden.« »Warum regst du dich denn auf?« sagte das Mädchen eingeschüch tert. »So habe ich es ja gar nicht gemeint.« »Dann quatsch gefälligst nicht so blödes Zeug! Ich hab' keine Lust, mich mit dir herumzustreiten. Du hast allen Grund, mir gegenüber dankbar zu sein. Vergiß das nicht. Noch einmal so ein Auftritt, und du bist erledigt. Ich spaße nicht.«
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»Sind die Kinder im Bett?« fragte Evelyn, das Stubenmädchen im Hau se Mommert, und schaute ins Badezimmer. »Na endlich! Weißt du, wie spät es ist, Undine? Höchste Zeit, daß wir anfangen, dich anzuklei den, eine halbe Stunde brauchen wir mindestens.« »Ich bin gleich soweit«, rief Undine, »ich will nur noch für die Kin der ein paar Kleinigkeiten auswaschen.« »Was willst du?« Evelyn riß die Augen auf. »Waschen.« Undine lachte. »Was machst du für ein Gesicht?« Sie stand in einem weißen kurzärmeligen Kittel am Becken und wollte ge rade die schmutzigen Kleidungsstücke – Strumpfhosen und Pullover der Kinder – ins Wasser werfen. Evelyn fiel ihr in den Arm. »Nicht!« sagte sie heftig. »Das bringt Un glück. Zwischen Weihnachten und Neujahr soll man keine Wäsche trocknen, weißt du das nicht?« »Ach so, deshalb. Ja, das sagt man bei uns zu Hause auch. Ich dach te, ihr in der Stadt glaubt nicht an so etwas.« Evelyn lächelte verlegen. »Na ja, aber warum soll man nicht vorsichtig sein?« »Schön. Wenn du meinst …« Undine ließ das Wasser aus dem Bek ken ablaufen und legte die Kleidungsstücke in den Wäschebeutel zu rück. Dann plötzlich wurde sie unsicher. »Was wird Frau Mommert dazu sagen? Sie ist so streng. Wenn ein Knopf nicht angenäht ist, regt sie sich schon auf.« »Daß du ausgerechnet jetzt wäscht, wird sie bestimmt nicht von dir verlangen.« »Ist sie auch abergläubisch?« »Ich glaub' schon. Jedenfalls geht sie nie zurück, wenn sie etwas ver gessen hat, und sie klopft auf Holz, wenn sie etwas Gutes sagt.« Undine bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen. »Glaubt sie womöglich sogar an – Hexen?« »Nein! So dumm ist sie nun auch wieder nicht. Hexen gibt es doch höchstens in Märchen. Als ich ein Kind war, da lebte in unserem Dorf zwar eine häßliche alte Frau, die nannten sie Hexe. Aber ich habe nie richtig daran geglaubt. Ich habe mir immer gedacht, wenn sie wirklich eine Hexe wäre, dann würde sie sich doch weit weghexen, nicht ein 148
fach dableiben, wo die Kinder hinter ihr heräffen und die Burschen ihr die Fensterscheiben einwerfen. Aber Angst – Angst hatte ich natürlich trotzdem vor ihr.« »Ich verstehe«, sagte Undine leise. »Warum fragst du eigentlich danach? Interessierst du dich für sol che Dinge?« »Nein. Im Gegenteil. Sie stoßen mich ab.« »Bist du mir etwa böse, daß ich dir davon erzählt habe? Daß du um diese Zeit nicht waschen sollst und so …? Ich habe es nur gut gemeint, ich wollte dich warnen.« »Es war nicht nötig, Evelyn.« Undine warf ihr einen flammenden Blick zu. »Ich weiß mir schon selber zu helfen.« Unwillkürlich war Evelyn er schrocken einen Schritt zurückgewichen, aber da lächelte Undine schon wieder, und ihr Gesicht bekam den vertrauten kindlichen Ausdruck zu rück. »Verschwinde jetzt bitte, damit ich baden kann«, sagte sie, »in zehn Minuten kannst du mir dann beim Ankleiden und Frisieren helfen.« Wenig später zerstreute die Vorfreude auf den kommenden Abend auch das letzte Unbehagen.
Das Fest im Golfklub, das Undine an der Seite Dr. Hagedorns besuch te, war für sie ein ungeahntes Erlebnis. Sie wirkte in dem kleinen schwarzen Abendkleid so schön und ele gant, daß Dr. Hagedorn Zeit brauchte, um sich daran zu gewöhnen, daß die gepflegte junge Dame an seiner Seite das gehetzte, ängstliche Mädchen von der Insel war. Ihre üppigen schwarzen Haare trug sie hochfrisiert, was sie älter und gleichzeitig reifer erscheinen ließ, als sie wirklich war. Ihren kühn ge schwungenen Mund hatte Undine mit einem hellen Lippenstift nach gezogen, sonst aber hatte sie wenig getan, um ihre Reize zu unterstrei chen. Ihre natürliche Schönheit bedurfte kaum einer Hilfe. »Ich wette, daß alle Damen vor Neid erblassen werden«, flüsterte Dr. Hagedorn, als er ihr in der Garderobe aus dem Mantel half. 149
»Das sollen sie gar nicht«, sagte Undine rasch, »ich will nicht, daß je mand sich meinetwegen kränkt.« »Das ist ein guter Vorsatz. Trotzdem, bitte, tanzen Sie nur mit mir.« Undine lächelte. »Und all die Mädchen und Frauen, die Sie verehren, die werden es mir nicht übelnehmen?« »Ach, ich habe niemals Glück bei Frauen gehabt.« Dr. Hagedorn machte eine betrübte Miene. Aber Undine war zu klug, um ihm zu glauben. Obwohl sie selber ihn nur ›nett‹ fand, zweifelte sie nicht daran, daß er in Bad Wildenbrunn zu den begehrtesten Junggesellen zählte. »Was machen wir nun zuerst?« fragte der junge Arzt, als sie einen der festlich geschmückten Säle des Klubhauses betraten. »Eine Kleinigkeit essen? Ein Glas Sekt trinken? Soll ich Sie einigen Herrschaften vorstel len – oder wollen Sie gleich tanzen?« »Nur tanzen«, sagte Undine. »Sie ahnen nicht, wie ich mich danach gesehnt habe.« »Haben Sie auf der Insel viel getanzt?« »Manchmal«, sagte Undine ausweichend, und ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Sie vergessen, daß ich dort eine …« Er fiel ihr rasch ins Wort. »Sprechen Sie es nicht aus. Vergessen Sie es. Wie konnte ich nur eine so dumme Frage stellen.« Sie schlenderten in den hinteren Klubraum, aus dem gerade die feu rige Musik einer kleinen Band ertönte. Dr. Hagedorn hatte recht be halten. Undine erregte Aufsehen. Viele Gäste schauten auf, als sie vor beikamen, blickten ihnen nach. Dr. Hagedorn grüßte schmunzelnd nach allen Seiten. Undine strebte voran. Sie war über das Interesse, das man ihr entge genbrachte, nicht gerade begeistert. Als sie zur großen Tanzfläche kamen, auf der sich erst wenige Paare befanden, sagte Undine lächelnd, während sie ihre Hand auf Dr. Ha gedorns Arm legte: »Das ist für mich das erstemal, daß ich in einer so vornehmen Umgebung tanzen darf.« »Ich hoffe, Sie werden sich trotzdem nicht unsicher fühlen«, antwor tete er. 150
Undine warf den Kopf zurück, lauschte noch einen Augenblick der Musik, dann schmiegte sie sich in seine Arme und ließ sich führen. Sie tanzte hingegeben, die Augen geschlossen, das Gesicht verklärt. »Oh, Sie Schwindlerin«, lächelte Dr. Hagedorn, »wie können Sie sich erlauben, mit einem gesetzten Herrn Ihre Späße zu treiben? Sie tanzen ja einfach wundervoll. Und Sie haben mir einreden wollen, daß Sie bis her nur selten dazu Gelegenheit hatten.« »Ja«, sagte sie und hob ihre dunklen Augen. »Ich habe nur manchmal für mich allein zu Hause vor dem Radio geübt.« Sie tanzten unermüdlich, bis Dr. Hagedorn sich nach einer guten Stunde ein wenig erschöpft fühlte. Er führte Undine in ein Nebenzim mer, wo die Tombola aufgebaut war. »Wollen wir ein Los kaufen?« fragte er. »Vielleicht können wir einen Toaster gewinnen oder eine Kaffeemaschine. Das wäre doch etwas für Ihre Aussteuer.« »Nein«, sagte sie entschlossen, »ich möchte den Pelzmantel haben.« Der Pelzmantel, ein sehr schöner Ozelot, war der Hauptpreis und thronte mitten auf dem Berg der Gewinne. Dr. Hagedorn lachte. »Ich wette, mit diesem Wunsch stehen Sie nicht allein. Den Pelzmantel werden sich wohl alle Damen wünschen.« »Aber ich«, sagte Undine überzeugt, »ich werde ihn bekommen.« Die Lose für die Tombola lagen in einem großen runden Behälter aus Plexiglas, der von einem ziemlich gelangweilten jungen Mädchen be wacht wurde. »Hallo, Sylvia!« rief Dr. Hagedorn, als er mit Undine herantrat, »mei ne Begleiterin möchte gern den Ozelot gewinnen. Wie viele Lose hast du denn noch in deiner Trommel?« »Keine Ahnung. An die fünfzig werden es noch sein. Wenn du sie alle haben willst, mußt du fünfhundert Mark auf den Tisch des Hau ses legen.« Sie lachte. »Aber der Hauptgewinn ist vermutlich längst weg.« »Wirklich? Ich dachte, die Ziehung wäre erst um Mitternacht.« »Stimmt. Aber es waren an die tausend Lose, da wirst du doch nicht annehmen, daß ausgerechnet der Hauptgewinn dringeblieben ist.« 151
»Schade«, sagte Dr. Hagedorn und sah Undine an. »Wir sind wohl zu spät gekommen.« Undine blickte wie fasziniert auf die gläserne Kugel. »Nein«, sagte sie, »bitte lassen Sie mich einen Versuch machen.« »Aber mit Vergnügen, wenn Sie sich etwas davon versprechen.« Dr. Hagedorn gab Sylvia einen Zehnmarkschein, und das junge Mäd chen ließ den gläsernen Behälter rotieren. Anschließend steckte Undi ne mit geschlossenen Augen ihren Arm durch die Öffnung, tastete be hutsam mit ihren Fingerspitzen und zog eines der kleinen Röllchen heraus. »Das ist es!« sagte sie und hielt es strahlend hoch. »Darf ich mal sehen?« fragte eine Männerstimme. Sie erkannte Professor Schneider. Ehe sie sich von ihrer Überraschung erholen konnte, hatte er ihr das Los aus der Hand genommen, entfernte den Ring, rollte es auf und las: »Siebenhundertundachtzehn. Kaum eine magische Zahl – oder doch?« Er sah Undine an. »Sind Sie sicher, daß der Hauptgewinn auf dieses Los fallen wird?« Undine war sehr blaß geworden. »Natürlich nicht«, antwortete sie, »ich bin ja keine Hellseherin. Ich habe nur einen Scherz gemacht.« Dr. Hagedorn versuchte ihr beizustehen. »Der Herr Professor wird uns entschuldigen«, sagte er, »gehen wir wieder tanzen.« »Einen Augenblick noch«, sagte der Professor, »ein guter Freund von mir möchte gern Ihre Bekanntschaft machen, Fräulein Undine, ich habe ihm von Ihnen erzählt.« Er winkte einem sehr eleganten Herrn, der die kleine Szene mit einem amüsierten Lächeln aus einiger Entfer nung miterlebt hatte. »Mein Freund Jerry Kater, ein Filmproduzent.« Undine nahm Professor Schneider das Los ab, das er noch immer in der Hand hielt, gab es Dr. Hagedorn und sagte: »Können wir jetzt ge hen?« Jerry Kater trat ihr in den Weg. »Sie möchten also nicht entdeckt werden, gnädiges Fräulein?« »Bestimmt nicht.« Der Filmproduzent lachte. »Ich sehe schon, Sie versuchen von An fang an, die Gage hinaufzuschrauben. Haben Sie jemals Schauspielun terricht gehabt?« 152
»Nein.« »Schon mal irgendwo aufgetreten?« »Nein!« Undines Stimme wurde immer erstaunter. »Aber Jerry«, vermittelte Professor Schneider, »dieses Mädchen ist doch weit mehr als eine Schauspielerin. Sie ist ein Medium – und erst noch ein fotogenes Medium, verstehst du?« »Ah, natürlich, das ist etwas anderes«, lächelte Jerry Kater. Er wandte sich wieder an Undine. »Sie halten sich selbst für medial begabt?« Undine warf einen hilfesuchenden Blick auf Dr. Hagedorn, aber den hatte das Mädchen Sylvia in Beschlag genommen. »Sie ist eine Natur begabung«, meinte Professor Schneider. »Ich kann es dir beweisen, Jer ry. Hast du nicht beobachtet, wie sie das Los gezogen hat? Sie war wie in Trance. Wenn auf die Nummer – wie hieß sie doch gleich? Sieben hundertachtzehn –, wenn auf diese Nummer kein Hauptgewinn fällt, dann …« »Dann hast du Pech gehabt«, grinste Jerry Kater. »Na, wir werden sehen.« Er packte Professor Schneider freundschaftlich am Arm, und miteinander verließen die beiden Herren den Raum. Undine stand wie versteinert. Dr. Hagedorn wurde immer noch von der blonden Sylvia in An spruch genommen. Aus der Art, wie sie ihn ansah und ihm zulächelte, war leicht zu erkennen, daß sie sehr vertraut miteinander waren. Undine schämte sich entsetzlich. Wie hatte sie sich überreden lassen können, mit Dr. Hagedorn zu diesem Fest zu gehen, sich unter Men schen zu mischen, zu denen sie nicht gehörte. Niemand liebte sie, nie mand empfand auch nur Sympathie für sie, alle waren darauf aus, sie zu demütigen. Der Ozelot! Daß sie nur so töricht hatte sein können, sich den Pelz mantel zu wünschen! Sie hatte geradezu behauptet, daß sie ihn bekom men würde, wenn sie nur wollte. Sie mußte von Sinnen gewesen sein. »Was ist mit Ihnen?« fragte Dr. Hagedorn in ihre Gedanken hin ein. »Möchten Sie tanzen? Oder kann ich Sie endlich überreden, einen Happen zu essen und sich irgendwo mit mir zu netten Leuten zu set zen?« 153
»Geben Sie mir mein Los!« sagte Undine. »Bitte!« Dr. Hagedorn begriff nicht, was sie vorhatte, aber er zog den zusammengefalteten Zettel aus der Brusttasche und reichte ihn ihr. »Danke«, Undine nahm das Los, riß es entzwei – einmal, zweimal und noch einmal –, dann ließ sie die Fetzen in einen Papierkorb flat tern. Dr. Hagedorn hob die Augenbrauen. »Ist Ihnen jetzt wohler?« »Ja«, sagte Undine. »Würden Sie mich bitte nach Hause bringen?« »Nach Hause? Jetzt schon? Das Fest hat doch erst begonnen.« »Sie können ja nachher noch einmal zurückkehren, nicht wahr? Sie können mir auch einfach meine Garderobemarke geben, dann gehe ich allein.« »Wie Sie wünschen«, sagte Dr. Hagedorn ärgerlich. »Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als hielte ich Sie gegen Ihren Willen hier fest. Gehen wir also.« Er nickte Sylvia zu. »Bis später.« »Fein. Ich sehe inzwischen zu, daß meine Trommel leer wird, bevor du zurückkommst«, sagte Sylvia und warf Undine einen spöttischen Blick zu. Undine und Dr. Hagedorn mußten abermals die festlichen Säle durchqueren, um zum Ausgang zu kommen. Die Stimmung war jetzt schon sehr angeregt, und dennoch gab es wieder einiges Aufsehen, als Undine erschien. Aber sie beachtete es nicht, hielt den Blick gesenkt und ging so rasch, daß Dr. Hagedorn sich beeilen mußte, um an ihrer Seite zu bleiben. Sie sprach kein Wort, bis sie im Auto saßen. Erst als Dr. Hagedorn schon den Motor angelassen hatte, ließ sie sich gelöst zurücksinken und sagte unvermittelt: »Diese Sylvia ist ein sehr hübsches Mädchen.« »Also doch!« stöhnte er. Sie begriff, was er meinte. »Nein, ich bin keineswegs eifersüchtig, dazu müßte ich Sie doch lieben. Ich meine nur …« Sie zögerte, stock te. »Was?« »Sie sollten ihr nicht zu große Hoffnungen machen.« »Oh, danke. Reizend von Ihnen, mir Ratschläge zu erteilen«, ant 154
wortete Dr. Hagedorn ironisch, »ich weiß, Sie schöpfen selbstverständ lich aus einem tiefen Born der Erfahrung. Aber erstens habe ich gar nicht vor, Sylvia zu heiraten, und zweitens würde ich mir auch von Ih nen nicht abraten lassen, wenn ich mich dazu entschlossen hätte.« Der Wagen hielt vor dem Haus des Kurdirektors. Sie reichte Dr. Ha gedorn die Hand. »Gute Nacht und vielen Dank für alles. Bitte, seien Sie mir nicht böse.« Seine Miene glättete sich. »Gute Nacht, Undine. Ich bin Ihnen durch aus nicht böse. Schlafen Sie gut, Sie bezaubernde kleine Hexe!«
Um Mitternacht, während die Verlosung stattfand, saßen Dr. Hage dorn und Sylvia an der Bar und tranken Sekt. Sylvia kannte den jun gen Arzt schon seit Jahren, aber sie hatte bisher noch nie Gelegenheit gehabt, so ausgiebig mit ihm zu flirten wie heute. Keiner von beiden dachte noch an das Los, das Undine gezogen und später zerrissen hat te. Erst als ein anderes Paar an die Bar kam und eine elektrische Kaffee maschine vor sich auf die gläserne Platte stellte, wurden sie aufmerk sam. »Na, wie war's, Peter?« fragte Sylvia. »Jubel, Trubel, Heiterkeit?« »Höre und staune: Der Hauptgewinn ist nicht abgeholt worden.« »Was? Der Ozelot?« »Tatsächlich. Stell dir so etwas vor. Der scheint an eine Dame ge fallen zu sein, die es unter einem Nerz nicht tut.« Sylvia rutschte von ihrem Barhocker. »Augenblick mal.« Dr. Hagedorn drehte sich zu ihr herum. »Wo willst du hin?« Sie lächelte nervös. »Bin gleich wieder zurück.« Dr. Hagedorn wandte sich, aufmerksam geworden, wieder um und fragte den jungen Mann: »Wissen Sie zufällig, auf welche Nummer der Hauptgewinn gefallen ist?« »Mindestens zwölfmal haben sie die Zahl aufgerufen: siebenhun dertundachtzehn war es.« 155
»Sind Sie sicher?« »Absolut.« Wortlos sprang Dr. Hagedorn zu Boden und eilte hinter Sylvia her. Der junge Mann wandte sich belustigt an seine Begleiterin: »Manie ren haben die Leute heutzutage …« Er hob sein Glas mit Whisky-So da. »Na, dann prost!« Dr. Hagedorn fand Sylvia, wie sie in dem Papierkorb wühlte, der ne ben ihrer Lostrommel gestanden und in den Undine ihr zerrissenes Los geworfen hatte. »Sylvia!« rief er empört. Sie achtete nicht darauf. »Nur noch eine Sekunde«, sagte sie, »dann bin ich soweit – da, das ist die letzte Ecke! Meinst du, daß ich das Los so vorweisen kann, oder muß ich es erst zusammenkleben?« »Es gehört nicht dir, Sylvia!« »Aber warum denn nicht? Schließlich habe ich es gefunden.« »Ich bitte dich …« »Meinst du etwa, ich könnte den Ozelot nicht gebrauchen?« Ohne ihm einen Blick zu gönnen, stürmte Sylvia, die Papierfetzen in der zusammengepreßten Faust, in den großen Saal hinüber, wo das Festkomitee tagte. Auf einer Tafel prangte in großen Ziffern die Num mer 718. »Hier«, rief Sylvia atemlos, »das Gewinnlos – ich habe es!« Die Herren drehten sich zu ihr um. »Wirklich, Sie brauchen es nur zusammenzusetzen«, erklärte Sylvia, »das ist es! Siebenhundertundachtzehn!« »Merkwürdig!« Der Leiter des Festkomitees, ein dicker Herr mit ei ner schimmernden Glatze, wandte sich an Professor Schneider, der vor dem langen Tisch stand. »Sie behaupteten doch, Sie wüßten, wem das Los gehört, Herr Professor …« »Ich weiß es auch.« Professor Schneiders Stimme klang sehr be stimmt. »Ich habe es selber in der Hand gehabt. Eine mir bekannte junge Dame hat es gezogen, ich sagte es Ihnen schon. Sie war in Beglei tung von – ah, da kommt er ja! Bitte, lieber Doktor Hagedorn, erklären Sie doch den Herren hier …« 156
»Jawohl«, sagte Dr. Hagedorn, »die Nummer siebenhundertachtzehn hat Fräulein Undine Carstens gezogen.« »Und ist dies die junge Dame?« wollte der Leiter des Festkomitees wissen. »Nein. Sie ist schon nach Hause gegangen«, antwortete Dr. Hagedorn. »Sie hat ihr Los fortgeworfen«, schaltete sich Sylvia rasch ein, »des halb wollte ich …« »Das ist eine ziemlich knifflige Frage«, sagte der Leiter des Festko mitees, »die möchte ich lieber nicht allein entscheiden. Wenn Sie ei nen Augenblick warten wollen, damit ich mich mit den anderen Her ren beraten kann …« »Das wird nicht nötig sein«, unterbrach ihn Dr. Hagedorn, »der Fall ist doch sonnenklar. Die junge Dame hier wollte den Mantel natürlich nur für Fräulein Carstens in Empfang nehmen – nicht wahr, Sylvia?« Das Mädchen öffnete den Mund, schloß ihn wieder, eine rote Wel le stieg ihr in die Stirn, dann sagte sie gepreßt: »Ja, natürlich, das woll te ich …« »Ah, wunderbar, dann ist ja alles klar.« Der Leiter des Festkomitees wischte sich mit einem blütenweißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Und wie ist die Adresse der Gewinnerin?« »Sie wohnt bei Herrn Direktor Mommert. Aber wenn Sie erlauben, werde ich ihr den Preis morgen früh selber überbringen«, sagte Dr. Hagedorn. »Darf ich Sie dabei begleiten?« fragte Professor Schneider. »Das wäre mir sehr angenehm – mein berufliches Interesse für Fräulein Undine hat sich nämlich durch diesen Vorfall nur noch verstärkt.«
Wenige Tage später saßen Direktor Mommert und seine Frau beim Frühstück, als Evelyn auf einem Tablett die Post hereinbrachte. »Danke, Evelyn, legen Sie nur alles hin, wir lesen es später.« Der Kur direktor nahm eine Scheibe goldbraunen Toastes aus dem Röster und ließ ein Stück Butter darauf zerfließen. 157
Seine Frau knabberte an ihrem trockenen Diätbrot, zog das Tablett mit der Post näher heran und begann, Briefe und Karten zu sichten. »Fast alles Drucksachen«, sagte sie, »verspätete Gratulationen – mein Gott, die lieben Meyers könnten sich auch mal etwas Geschmackvolle res einfallen lassen als Jahr für Jahr dieses rosige Ferkel mit dem Klee blatt im Maul – aber hier, ich glaube, das ist was Interessantes.« Sie fischte einen Umschlag heraus, betrachtete ihn näher. »Eine Da menhandschrift, kein Absender, noch dazu an dich gerichtet! Viel leicht kann ich den Poststempel entziffern?« Sie hielt den Umschlag dicht an die Augen. »Hochinteressant«, rief sie, »seit wann hast du eine Freundin in Bremen?« »Nie gehabt«, knurrte ihr Mann und biß krachend in seinen Toast. »Aber irgendein weibliches Wesen in Bremen – ziemlich primitive Handschrift übrigens – muß Veranlassung haben, dir zu schreiben.« Er rührte in seinem Tee. »Keine Ahnung. Sieh doch nach, wenn du solche Vermutungen anstellst.« »Ich will mich nicht in deine Geheimnisse drängen.« »Bitte, Anita, nun werde aber nicht albern. Wann hätte ich mir je erlaubt, Geheimnisse vor dir zu haben? Mach schon auf, du stirbst ja sonst vor Neugier.« »Keineswegs.« Anita Mommert faßte den Brief mit ihren überlan gen, spitz gefeilten Fingernägeln und legte ihn neben seinen Teller. Er nahm ein Messer, öffnete den Umschlag und las. Sein Gesicht ver finsterte sich. »Nun, was ist?« fragte sie gespannt. Er sah sie an, war nahe dar an, ihr den Inhalt des Briefes vorzuenthalten, begriff aber dann, daß nichts und niemand in der Welt seine Frau davon hätte abhalten kön nen, alles herauszubringen. »Nimm es nicht ernst«, sagte er und reich te ihr den kleinen Bogen über den Tisch, »ein anonymer Brief. Du weißt, vernünftige Leute werfen so etwas unbesehen in den Papier korb.« »Anonym?« fragte sie erschrocken und begann mit flinken Augen zu lesen. »Mein Gott«, sagte sie dann, »das ist ja unglaublich.« »Das finde ich auch. Eine gemeine Verleumdung und dumm dazu.« 158
Sie ließ das Blatt sinken. »Verleumdung? Woher willst du das wissen? Es könnte doch auch …« »Anita, bitte! Das Ganze ist nichts weiter als ein haarsträubender Unsinn.« »Wieso? Hör dir das doch einmal an.« Sie las laut: »Das Mädchen Undine, das bei Ihnen arbeitet, ist eine Hexe. Sie bringt allen Unglück. Sie hat mehrere Menschenleben auf dem Gewissen. Zuletzt mußte ein junger Mann daran glauben, den sie verflucht hatte. Er starb. Deshalb mußte sie fort von der Insel. Sie hat eine Scheune in Brand gesteckt und kennt alle Hexenkünste. Hüten Sie sich! Sie ist mit dem Teufel im Bunde!« Direktor Mommert schob ärgerlich seinen Teller zurück und zünde te sich eine Zigarette an. »Und so etwas willst du ernst nehmen?« »Warum nicht? Diese Undine ist doch wirklich ein merkwürdiges Mädchen, das ist mir von Anfang an aufgefallen. Wie sie einen manch mal anschaut, direkt zum Fürchten. Und dann, wie sie damals gewußt hat, daß du vorzeitig zurückkommen würdest, und jetzt die Sache mit dem Ozelot …« Der Kurdirektor lachte, aber es klang nicht ganz unbefangen. »Aha, da liegt ja der Hase im Pfeffer. Du hast ihr immer noch nicht verziehen, daß sie den Pelzmantel gewonnen hat.« »War es nicht ein Skandal? Noch jetzt spricht die halbe Stadt dar über. Niemand begreift, wie Doktor Hagedorn sie überhaupt in die ex klusive Gesellschaft hat einführen können.« »Ich mag über dieses Thema nicht mit dir reden – nicht schon wie der. Wie oft habe ich dir klarzumachen versucht, daß eine Veranstal tung, zu der Eintrittskarten frei verkauft werden, von jedem besucht werden darf, der sie bezahlen kann. Undine ist ihrem Auftreten nach ein ausgesprochen nettes Mädchen, warum sollte Hagedorn sie nicht dorthin einladen? Außerdem hattest du es ihr ja selber erlaubt. Daß ausgerechnet sie den Pelzmantel gewonnen hat, kann man ihr doch nicht übelnehmen.« Sie musterte ihn mit kaltem Spott. »Sag mal, was ist eigentlich in dich gefahren? Du ereiferst dich ja geradezu. Und das alles wegen ei 159
nes hergelaufenen Mädchens mit höchst zweifelhafter Vergangenheit. Gib dir keine Mühe. Mein Entschluß steht fest: Undine muß aus dem Haus, und zwar so bald wie möglich.« »Du willst ihr kündigen?« »Ja.« »Weil in diesem Wisch hier blödsinnige Verdächtigungen gegen sie ausgesprochen werden? Oder weil sie einen Pelz gewonnen hat – oder einfach, weil sie schön ist?« »Weil ich nicht will, daß sie meine Kinder verdirbt.« Er griff sich an den Kopf. »Anita, weißt du denn. Überhaupt, was du redest? Die Kin der lieben Undine, sie hängen an ihr …« Seine Frau unterbrach ihn. »Eben. Diese übergroße Sympathie ist mir schon lange verdächtig. Ich habe noch nie mit einer Hexe zu tun gehabt. Woher soll ich wissen, mit was für Tricks sie arbeitet?« »Anita! Glaubst du denn womöglich, daß es Hexen gibt?« »Nun, ehrlich gestanden, bis zum heutigen Tag habe ich mir niemals Gedanken darüber gemacht. Aber wenn es Hexen gibt, dann ist Un dine eine. Ihre schwarzen Augen – sie haben etwas geradezu Dämo nisches an sich. Und wie sie dich eingewickelt hat, dich und die Kin der und auch den jungen Doktor Hagedorn – das kann einfach nicht mit rechten Dingen zugehen.« Anita Mommert stand plötzlich auf, legte ihre Arme um den Hals ihres Mannes und sagte schmeichelnd: »Schick sie fort, bitte. Ich spüre es ganz genau, sie würde uns allen Un glück bringen.« Er wurde unsicher. »Weißt du«, sagte er, »wir wollen die Sache noch einmal überschlafen. Wenn du erst ruhiger geworden bist …« »Ich bin ganz ruhig«, sagte sie mit Betonung. »Das Mädchen muß fort …« Und als sie spürte, daß ihr Mann immer noch zögerte, füg te sie rasch hinzu: »Vielleicht ist es dumm von mir, aber ich kann mir nicht helfen, ich habe Angst vor ihr. Sie war mir von Anfang an un heimlich – und jetzt, da ich diesen Brief gelesen habe, könnte ich sie nie mehr ansehen, ohne daran zu denken, daß sie eine Hexe sein soll.« »Anita«, sagte er, »bitte höre mich einmal in aller Ruhe an …« Er konnte seinen Satz nicht beenden, denn Evelyn trat ins Zimmer. 160
»Herr Direktor, Sie werden am Telefon verlangt«, meldete sie. »Herr Doktor Hagedorn möchte Sie sprechen – der alte Herr Doktor Hage dorn.« Direktor Mommert und seine Frau wechselten einen Blick. »Merk würdig«, sagte Anita Mommert, »mindestens ein Jahr haben wir nichts mehr von ihm gehört, und jetzt auf einmal …« Der Kurdirektor folgte Evelyn in die Halle, nahm den Hörer auf und meldete sich. »Sie werden sich sicher wundern, warum ich Sie so früh am Tage an rufe«, sagte der Vater von Dr. Klaus Hagedorn mit einer tiefen, ein we nig rauhen Stimme, »aber ich wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen: Ich habe mit der Morgenpost einen Brief bekommen, ei nen unangenehmen Brief …« »Anonym?« »Ja. Sie wissen Bescheid? Es betrifft diese Undine, die mein Sohn Ih nen als Kindermädchen vermittelt hat. Es stehen ein paar seltsame Dinge darin …« »Ich kann es mir denken. Wir haben auch einen solchen Brief be kommen.« »Wirklich? Dann kann ich meinen also gleich zerreißen?« »Nein, bitte – oder doch. Vernichten Sie ihn.« »Es ist mir, wie gesagt, äußerst unangenehm. Ich bin überzeugt, daß mein Sohn nichts dergleichen geahnt hat. Das soll natürlich nicht hei ßen, daß ich an den in diesem Brief erwähnten Unsinn glaube, nur … Wenn ich beispielsweise an die Andeutung über eine Brandstiftung denke …« »Jedenfalls danke ich Ihnen, daß Sie uns so rasch verständigt ha ben, verehrter Doktor. Wir müssen uns bald mal wieder zusammen setzen. Warum besuchen Sie uns nicht einmal, ganz zwanglos? Na türlich mit Ihrer Frau Gemahlin. Ja, rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit haben.« Direktor Mommert legte den Hörer auf und starrte, die Lippen zu sammengepreßt, vor sich hin. »Was ist geschehen?« fragte seine Frau, die ihm nachgeeilt war. 161
Er ging auf ihre Frage nicht ein. »Moment, hast du die Privatnum mer von Apotheker Meyer im Kopf?« »Ja. Zwei – null – drei – sieben …« Er wählte und meldete sich. »Hallo, verehrte gnädige Frau«, sagte er, »es ist wirklich eine Freude, Ihre Stimme zu hören. Wir haben gera de Ihre reizende Glückwunschkarte erhalten, aber ich rufe nicht nur deswegen an. Wir haben heute morgen einen recht unangenehmen Brief bekommen – anonym, und da Sie und Ihr verehrter Mann doch zu den Honoratioren der Stadt gehören … Ja, Poststempel Bremen … Also wahrhaftig, das hatte ich mir gedacht. Höllriegels auch? Inter essant. Nein, natürlich geben wir auch nichts darauf, selbstverständ lich, ich weiß, Sie sind aufgeklärte Menschen … Ja, ich sehe den guten Arthur am Donnerstag beim Kegeln … Natürlich, ich weiß, daß Sie die Sache völlig diskret behandeln. Aber selbstverständlich, ich danke Ihnen. Auf Wiederhören.« »Diskret«, mokierte sich Anita Mommert, »ausgerechnet die dicke Meyer! Und Höllriegels haben auch so einen Brief bekommen?« »Ja. Wahrscheinlich noch mehr Leute. Ich bin sicher, daß bis heute mittag die ganze Stadt alles weiß.« »Wir können schon aus diesem Grunde Undine unmöglich behalten.« »Bitte!« Er faßte seine Frau unter den Arm, zog sie ins Frühstücks zimmer zurück, drückte die Tür ins Schloß. »Wir können jetzt nicht mehr tun, was wir wollen, wir müssen unter diesen Umständen auf die Öffentlichkeit Rücksicht nehmen …« »Ja, glaubst du denn etwa, die Öffentlichkeit, wie du es nennst, wird von mir verlangen, daß ich so einen Menschen in unserem Hause dul de?« »Ich weiß es nicht. Aber wir müssen vorsichtig sein, wir dürfen uns jetzt nicht ins Unrecht setzen. Wir müssen Undine Gelegenheit geben, sich zu rechtfertigen, alles aufzuklären …« »Das halte ich für völlig sinnlos.« »Es muß sein! Das heißt natürlich nicht, daß sie nun für unbegrenzte Zeit bei uns bleiben soll. Wir müssen eben später einen anderen Vor wand finden, um ihr zu kündigen.« 162
»Mir leuchtet das zwar nicht ein, aber bitte. Mach es von mir aus, wie du es für richtig hältst. Hauptsache, dieses Mädchen kommt fort, und zwar so bald wie möglich«, antwortete Frau Mommert.
Antje Nyhuus las den Brief, den Frank Ostwald ihr in der Heiligen Nacht geschrieben hatte, immer wieder. Sie steckte ihn vorn in ihren Pullover und nahm ihn hervor, sobald sie während der Arbeit allein war. Frank Ostwald schrieb: »Sei mir nicht böse, wenn ich in letzter Zeit nicht sehr nett zu Dir war …« Er schrieb: »Ich fürchte, ich habe Dir manchmal Unrecht getan …« Er schrieb: »Ich habe mir fest vorgenom men, daß im neuen Jahr alles anders und besser werden soll …« Bei diesen drei Sätzen wurde es Antje Nyhuus jedesmal aufs neue warm ums Herz. Sie war sicher: Frank hatte zu ihr zurückgefunden. Warum hatte sie sich nur so gegrämt? Was konnte diese Undine Frank bieten? Bestimmt nicht einmal eine Aussteuer oder Ersparnisse. Sie dagegen war Erbin eines reichen Hofes mit dreißig Stück Vieh und riesigen, eichengeschnitzten Schränken voll der feinsten Wäsche. Sie begriff nicht mehr, wie sie so eifersüchtig hatte sein können. Daß sie sich von Jakobus Schwenzen hatte beraten lassen, schien ihr wie ein böser Traum, und wenn sie an die anonymen Briefe dachte, die sie nach Bad Wildenbrunn geschrieben hatte, stieg ihr vor Scham das Blut zu Kopf. Wie hatte sie so etwas tun können! Sie mußte außer sich gewesen sein. Jetzt, nachdem Frank Ostwald sich wieder ihr zugewandt hatte, emp fand sie fast Mitleid für Undine, und gleichzeitig spürte sie ein bohren des Schuldgefühl. Dennoch: Frank Ostwald zu beichten und ihn dadurch zu veranlassen, sich um Undine zu kümmern, brachte sie nicht über sich. So schrieb Antje Nyhuus einen langen Brief an Frank, in dem sie ihm gestand – vorsichtshalber, denn sie war nicht sicher, ob Frau Pielsticker, 163
seine Wirtin, schweigen würde –, daß sie ihn am Heiligen Abend hatte überraschen wollen, dann aber gleich wieder nach Hause gefahren sei. Daß sie auch in Bad Wildenbrunn gewesen war, daß sie ihn und Un dine beobachtet hatte, verschwieg sie.
VII
S
etzen Sie sich, Undine«, sagte Direktor Mommert, »ich habe mit Ihnen zu reden …« Seine Finger spielten nervös mit dem Brieföff ner, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Undine setzte sich zuvorderst auf die Kante eines Sessels. Sie spür te ein dumpfes Unbehagen. Es war das erstemal, daß er sie so förmlich behandelte, und das konnte nichts Gutes bedeuten. »Wegen des Oze lots?« fragte sie leise. »Ja, auch deswegen – aber nur am Rande. Es geht um etwas anderes.« Er legte den Brieföffner in die Bleistiftschale zurück. »Undine, würden Sie mir eine einfache Frage ehrlich beantworten?« »Ich lüge doch nicht.« »Gewiß. Aber wenn es um Dinge geht, die Ihnen unangenehm sind, weichen Sie meist aus. Vielleicht haben Sie das selber noch gar nicht bemerkt.« »Was wollen Sie mich fragen?« Der Kurdirektor machte eine kleine Pause, dann fragte er: »Haben Sie Feinde?« Undine dachte nach. »Vielleicht«, sagte sie dann, »Anna kann mich nicht sehr gut leiden …« »Ach, ich denke nicht an unsere Köchin«, antwortete der Kurdirek tor ungeduldig, »überhaupt nicht an die Menschen hier in Bad Wil denbrunn. Anscheinend habe ich meine Frage ungenau formuliert. Ich meine, haben Sie Feinde in Ihrer Heimat?« 164
Undine schwieg. Dann sagte sie zögernd: »Ich weiß nicht …« »Aber das müssen Sie doch wissen!« Er machte eine Pause. Dann fuhr er fort: »Also, dann packen wir die Sache eben anders an. Ich habe heute morgen einen Brief bekommen, einen sehr unangenehmen Brief, in dem allerhand merkwürdige Dinge über Sie zu lesen sind. Unter schrieben ist er nicht, kein Absender angegeben, Poststempel Bremen, können Sie sich vorstellen, wem Sie das zu verdanken haben?« »Was steht da über mich?« Undine war blaß geworden bis an die Lip pen. Er reichte ihr wortlos den anonymen Brief. Sie las, und in ihrem Gesicht verriet kein Muskel, was sie dachte. »Nun, was haben Sie dazu zu sagen?« Er wehrte ab, als sie ihm den Brief zurückgeben wollte. »Sie können ihn behalten, er geht Sie schließ lich am meisten an.« Sie schluckte. »Der Hexenbanner … So niederträchtig kann nur er sein«, sagte sie. »Wer? Von wem sprechen Sie?« Sie lächelte verzerrt. »Vielleicht wissen Sie nicht, was ein Hexenban ner ist. Das ist einer, der die Hexe findet, die schuld daran ist, wenn ir gendwo eine Kuh verkalbt oder die Milch sauer wird – er findet die Hexe, und dann quält er sie, und dafür wird er gut bezahlt.« Herr Mommert konnte nicht länger sitzenbleiben. »Das ist doch Un sinn«, rief er aufspringend, »entsetzlicher Unsinn! Und daran glauben irgendwelche Menschen? Sie selber vielleicht auch?« »Ich?« Undines Blick blieb leer. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll, weil man mich schon als Kind eine Hexe nannte.«
Seit Frank Ostwald aus Bad Wildenbrunn zurück war, konnte er sich nur schwer auf sein Studium konzentrieren. Der Streit mit Undine be reitete ihm viel Kopfzerbrechen. Gewiß war der Anlaß lächerlich ge wesen, aber lagen die Ursachen nicht tiefer? Und seine Braut Antje Nyhuus? Handelte er ihr gegenüber nicht schäbig? Er hatte ihr zwar in der Heiligen Nacht einen netten Brief ge 165
schrieben, doch er tröstete sie bestimmt nicht über die Enttäuschung hinweg, daß er zum Fest nicht nach Hause gekommen war. Sein Verlangen, wenigstens auf einen Sprung heimzufahren, wurde immer größer. Hinzu kam die Ungewißheit, was es mit dieser angeb lichen Enkeltochter der Harmshofbauern auf sich hatte, über die seine Eltern nichts Näheres schrieben. Frank Ostwald überlegte hin und her, ob er sich die teure Bahnfahrt jetzt noch leisten sollte. Da bot sich eine unerwartete Gelegenheit: Ein gutgestellter Studienfreund fuhr für ein paar Tage mit dem Wagen nach Bremen und war damit einverstanden, daß er sich anschloß. Sechsunddreißig Stunden später war Frank Ostwald in Bremen. Er rief Antje Nyhuus an und bat sie, ihn am Bahnhof der Kreisstadt abzuholen. Er erwischte den 8.30-Uhr-Zug gerade noch im letzten Mo ment. Während der langen Fahrt hatte er Zeit genug gehabt, über sich, über Antje Nyhuus und Undine Carstens gründlich nachzudenken. Das Ergebnis dieser Überlegungen war nicht erfreulich. Er war sich darüber klargeworden, daß es nur ein einziges Mädchen gab, das er liebte – Undine. Er begriff auch, daß er die Hauptschuld an ihren Streitereien trug, denn er war es, der alles falsch gemacht hatte: Er hatte Hoffnungen in dem Mädchen geweckt, die er tatsächlich nie er füllen konnte. Undine war ein zauberhaftes Mädchen, aber sie paßte nicht zu ihm, nicht in die karge bäuerliche Welt, nicht auf den Harmshof, nicht in seine Familie. Frank Ostwald konnte sich bei näherer Überlegung nicht vorstellen, daß dieses zarte Mädchen mit den seltsam glühenden Augen jemals eine gute Bäuerin, überhaupt eine Bäuerin werden könn te. Und seine Liebe zum Boden, auf dem er aufgewachsen war, schien ihm wichtiger als alles andere. Frank Ostwald wollte an seinem ursprünglichen Entschluß festhal ten: Antje Nyhuus zu heiraten. Er würde sie zwar niemals wirklich lie ben können, aber das, so glaubte er, war auch nicht nötig, um eine or dentliche Ehe zu führen. Vertrauen und gegenseitige Achtung, das wa ren die Grundpfeiler, auf denen man unbesorgter sein Leben aufbauen 166
konnte als auf der heftigen, fast unbegreiflichen Liebe, die er für Un dine empfand. Als der Zug auf dem Bahnhof der Kreisstadt hielt und Antje Nyhuus, das Haar hell schimmernd im Schein der Bahnsteiglampen, ihm ent gegenlief, freute er sich aufrichtig. Aber als sie sich mit einer Leiden schaft in seine Arme warf, die er nicht ehrlich erwidern konnte, fühlte er sich plötzlich befangen und elend. Sie schien es nicht zu bemerken, legte den Kopf in den Nacken und zeigte ihm ihr strahlendes Gesicht. »Wie schön, daß du da bist!« rief sie und hielt ihn fest umklammert. Eine andere Frauengestalt löste sich aus dem Schatten, trat auf sie zu. »Möchtest du mich nicht vorstellen, Antje?« Antje Nyhuus ließ Frank Ostwald los und sagte mit einer Spur von Verlegenheit und Trotz in der Stimme: »Frank, das ist Elke Harms. Du weißt doch …« »Ja«, sagte er und sah die angebliche Enkelin des Harmshofbauern forschend an, »ich weiß alles.« Eine kleine, peinliche Pause trat ein, dann lachte das Mädchen. »Wenn Sie wirklich so viel über mich wissen, kann ich vielleicht von Ihnen gelegentlich noch etwas über mich selbst erfahren.« Antje Nyhuus hängte sich bei Frank Ostwald ein. »Komm, gehen wir, hier ist es wirklich nicht gemütlich.« Sie zog ihn mit zur Treppe. »Elke war zufällig bei mir, als du anriefst, da habe ich sie mitgenom men.« Flüsternd setzte sie hinzu: »Mach nicht so ein Gesicht, Frank, sie ist wirklich nett.« Das Mädchen hatte sie inzwischen überholt und ging hüftenschwen kend voraus. »Seid ihr viel beisammen?« fragte Frank, als Antje den Wagen auf schloß. »Ja«, sagte sie ehrlich und setzte dann, als er schwieg, unsicher hinzu: »Du mußt verstehen, ich habe zwingende Gründe …« »Antje ist ein Schatz«, sprach das Mädchen dazwischen und trat von einem Bein auf das andere, um ihre Füße zu wärmen. »Wenn ich sie nicht hätte, wäre ich längst verzweifelt. Es ist ja wahnsinnig öde hier.« Antje hatte die Wagentüren geöffnet. 167
»Ich setze mich nach hinten«, sagte Frank Ostwald, »damit ihr Freundinnen beisammensitzen könnt.« »Machen Sie sich nur lustig«, lachte Elke, »das kann ich gut vertra gen.« Sie drehte sich nach hinten um. »Wissen Sie, warum ich mitge kommen bin, Sie abzuholen? Weil ich Angst hatte, Sie würden Antje verbieten, sich weiterhin um mich zu kümmern.« »Sie verkennen die Sachlage. Ich habe keineswegs Befehlsgewalt über Fräulein Nyhuus.« »Frank«, lenkte Antje Nyhuus ab, indem sie den Motor anließ, »wo hin fahren wir?« »Ich wäre dir dankbar, wenn du mich direkt nach Hause bringen würdest.« Elke ließ Antje Nyhuus nicht zu Wort kommen. »Begreifst du denn nicht, daß er müde sein muß?« Sie drehte sich wieder ihm zu. »Ist es wahr, daß Sie einen Tag und eine Nacht unterwegs waren?« »So ungefähr. Wie geht es meinen Eltern, Antje?« Antje schwieg verlegen, und Elke antwortete an ihrer Stelle. »So weit ganz gut, glaube ich. Nur sind sie natürlich wütend – auf mich, versteht sich. Als ob ich etwas dafür könnte, daß ich die Enkelin der Harmshofbauern bin.« »Sind Sie es wirklich?« Sie lachte, aber es klang nicht echt. »Zweifeln Sie etwa auch daran?« »Ehrlich gestanden, ja. Jedenfalls so lange, bis Sie es einwandfrei be weisen können.« Er hatte erwartet, daß sie scharf reagieren würde, aber sie sagte ganz gelassen: »Das ist schließlich Ihr gutes Recht.« »Bitte«, sagte Antje Nyhuus, »müßt ihr euch in den ersten zehn Mi nuten wegen dieser dummen Geschichte streiten? Gibt es denn wirk lich kein anderes Thema? Erzähl doch lieber was von dir, Frank.« »Na, mein Tun und Treiben dürfte Fräulein Harms wohl kaum in teressieren.« »O doch. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich auf dem Harmshof ein wenig wie die Maus in der Falle. Mir wird schon wohler, wenn ich mal ein Lüftchen aus der freien Welt spüren kann.« 168
So begann Frank denn zu erzählen. Er tat es nur mit halbem Interes se, aber die Mädchen lauschten dennoch voll Aufmerksamkeit. Auch seine Braut schien nicht zu bemerken, daß er in seinem Inneren mit ganz anderen Problemen beschäftigt war. Dann hielt Antje Nyhuus vor dem Tor zum Harmshof. Alle stiegen aus. »Wann sehen wir uns?« fragte Antje, während Elke schon auf die Tür zuging. »Komm doch vorbei, sobald du Zeit hast.« Sie zögerte, sagte, ohne ihn anzusehen: »Das möchte ich nicht so gern …« »Nicht? Warum denn nicht?« »Deine Eltern … Ich glaube, sie sind böse auf mich, weil ich … Du wirst es schon selber merken.« »Sie konnten dich doch immer so gut leiden«, sagte er erstaunt. »Mir wäre es trotzdem lieber, wenn du zu mir kämst.« »Na schön. Aber ob mir das morgen schon möglich ist, kann ich dir jetzt noch nicht versprechen.« »Ich werde warten.« Wieder schlang sie ihre Arme um seinen Hals. Als Frank wenige Minuten später ins Haus trat, stand die vermeint liche Elke Harms in dem schwach erleuchteten Flur. »Sie machen sich nichts aus ihr, wie?« fragte sie ungeniert. »Geben Sie sich keine Mühe, mir was vorzuschwindeln. Man merkt es an der Art, wie Sie sie be handeln. Sie brauchen deshalb aber nicht zu erschrecken. Antje ahnt nichts, sie ist ja vernarrt in Sie. Sie wollen sie wegen des Hofes heira ten, nicht wahr?« »Sprechen Sie nicht so leichtfertig«, antwortete er verärgert. »Ach, geben Sie es doch ruhig zu, was ist denn schon dabei. Jeder muß sehen, wo er bleibt. Ich glaube, Frank, wir beide sollten uns ein mal in aller Ruhe miteinander unterhalten.« »Warum nicht?« meinte er nach kurzem Nachdenken. »Morgen abend ist Tanz im ›Goldenen Löwen‹. Wollen Sie mich begleiten?« »Zum Tanzen?« »Aber natürlich. Ich versuche immer, das Angenehme mit dem Nütz lichen zu verbinden.« 169
Der junge Dr. Hagedorn saß mit seinem Vater beim Mittagessen, als das Telefon klingelte. Die alte Haushälterin, die gerade die Suppe auf den Tisch gesetzt hatte, watschelte, unwillig vor sich hin murmelnd, zum Apparat und nahm den Hörer ab. Wenige Sekunden später legte sie ihn auf die An richte. »Für Sie, Herr Klaus!« Der junge Doktor stand auf. »Wer ist es denn?« »Weiß ich nicht«, sagte die Alte unfreundlich, und als er den Hö rer schon in der Hand hatte, brummte sie: »Beeilen Sie sich, die Sup pe wird kalt.« Dr. Hagedorn meldete sich. Eine unsichere Stimme sagte am ande ren Ende der Leitung: »Bitte, Herr Doktor, Sie müssen mir helfen …« »Wer spricht denn?« fragte er verdutzt. Es trat eine kleine Pause ein, dann sagte dieselbe Stimme: »Undine. Störe ich Sie etwa?« Dr. Hagedorn warf einen Blick auf seinen Vater, der schon begonnen hatte, seine Suppe zu essen, sah die Augen der alten Rosa ungeduldig auf sich gerichtet und sagte schnell: »Aber nein, nein, gar nicht. Reden Sie nur. Was ist denn passiert?« »Man hat mir gekündigt.« »Ach. Was haben Sie denn angestellt?« »Nichts. Ganz bestimmt nichts.« »Aber irgendeinen Grund muß die Sache doch bestimmt haben.« »Ja. Es ist wegen der Briefe, Sie wissen doch …« Dr. Hagedorn holte tief Atem. »Und Sie wollen ernsthaft behaupten, daß Mommerts Ihnen deswegen gekündigt haben?« »Ja.« Die Stimme war nur noch ein Hauch. »Ist so etwas denn möglich! Intelligente und aufgeklärte Menschen sind also fähig … Sie haben sich doch hoffentlich verteidigt, wie?« »Ich habe es versucht, aber sie haben mir nicht geglaubt, und da …« Sie stockte. »Was? Nun reden Sie schon!« »… habe ich erzählt, was auf der Insel und auf dem Harmshof vor sich gegangen ist.« 170
Dr. Hagedorn schwieg. »Sind Sie noch da?« fragte Undine ängstlich. »Natürlich. Entschuldigen Sie bitte, ich mußte das erst verkraften.« »Sie haben mir mein Gehalt bis Ende Januar gezahlt«, erklärte Undi ne, »und jetzt warten sie darauf, daß ich gehe, aber ich weiß nicht, wo hin …« »Kommen Sie hierher – nein, nicht jetzt gleich, sagen wir lieber, in ei ner Stunde. Dann werden wir alles in Ruhe besprechen. Und seien Sie nicht so verzweifelt, Mädchen, wir werden schon einen Ausweg fin den.« Dr. Hagedorn legte auf, setzte sich zu Tisch und begann, unter den mißbilligenden Blicken der Haushälterin, hastig seine Suppe zu essen. Während der ganzen Mahlzeit war er einsilbig und zerbrach sich den Kopf, wie er Undine helfen könnte. Erst als die Haushälterin den Kaf fee auf den Tisch gestellt hatte und in die Küche hinausgeschlurft war, begann er zu sprechen. »Du, Vater«, sagte er, »man sieht Frau Schmid ihren Zustand schon ziemlich deutlich an. Ich denke, wir werden uns bald nach einer neu en Sprechstundenhilfe umsehen müssen.« Der alte Herr zündete sich bedachtsam eine Zigarre an. »Ich hoffe, du hast nicht vor, diese Undine bei uns einzuschleusen.« Sein Sohn errötete. »Und warum nicht?« »Fragst du das im Ernst? Ich hätte dich wirklich nicht für so töricht gehalten.« »Aber das arme Mädchen steht jetzt auf der Straße. Mommerts ha ben sie Knall und Fall …« »Du brauchst mir nichts zu erklären. Dein Telefongespräch war in struktiv genug. Außerdem hatte ich etwas Ähnliches kommen se hen.« »Wenn du die ganze Angelegenheit so genau kennst, Vater, dann be greif doch bitte auch, daß ich ihr helfen muß. Ich habe sie schließlich hierhergebracht, ich …« Der alte Herr unterbrach ihn ungehalten. »Das eben war dein Feh ler.« 171
»Nun, darüber zu streiten ist es jetzt wirklich zu spät«, sagte der Sohn ärgerlich. »Gewiß. Deshalb würde ich auch solche Argumente gar nicht in die Debatte werfen, Klaus.« Der alte Herr beugte sich vor und sah seinen Sohn ernst an. »Das Mädchen bei uns einzustellen wäre äußerst un klug. Ist dir das nicht klar?« »Nein.« Der junge Doktor rührte nervös in seiner Kaffeetasse. »Du kennst Undine nicht, Vater, deshalb bist du voreingenommen. In Wirk lichkeit ist sie …« »Klaus! Als ob es darauf ankäme, was sie in Wirklichkeit ist. Was die Menschen von ihr denken, die Menschen in Wildenbrunn, das allein ist für uns wichtig.« »Aber du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß irgend jemand hier an Hexen glaubt.« »Dennoch gilt ein Mädchen, dem man so etwas nachsagt, auch hier als verdächtig. Hast du dir einmal überlegt, warum sie auf ihrer hei matlichen Insel in Verruf geriet?« »Weil sie eine Fremde war, ein Findelkind, weil sie Gaben besitzt, die sie über andere hinausheben, oder wahrscheinlich nur deswegen, weil sie so besonders schön ist.« »Na, siehst du. Alles das trifft auf das Mädchen hier so gut wie dort zu. Sie ist eine Außenseiterin. Je weniger du dich um sie kümmerst, de sto besser für dich.« »Aber jemand muß ihr doch helfen!« »Jemand, der es sich erlauben kann, mein Sohn, der unabhängig ist, nicht du! Sei ohne Sorge, nach allem, was ich von dem Mädchen ge hört habe, fällt sie immer wieder auf die Beine. Frauen dieser Art fin den immer einen, der sich um sie kümmert.« »So ist Undine ja gar nicht! Sie ist ein absolut anständiges Mädchen, sie ist …« »Sag einmal, Klaus, du liebst sie doch nicht etwa?« »Jedenfalls ist sie mir lieber als all diese albernen Gänse hier zusam mengenommen.« Der alte Herr seufzte. »Das tut mir leid, Klaus, leid für dich. Du wirst 172
nämlich trotzdem eine von diesen Gänsen heiraten – Sylvia oder eine andere. Weil du von ihnen abhängig bist, von all diesen albernen Gän sen, die mit ihren albernen Krankheiten und den Krankheiten ihrer albernen Kinder zu dir kommen müssen, damit du leben kannst. Du kannst nicht im luftleeren Raum existieren, Klaus, du brauchst diese Leute. Ich weiß Bescheid. Wenn du dieses Mädchen heiraten würdest, wenn du sie auch nur als Sprechstundenhilfe einstellen würdest, wäre deine Ordination von einem Tag auf den anderen verwaist. Du glaubst mir nicht? Ich schwöre dir, daß es so ist. Ich kenne die Menschen und besonders die Wildenbrunner. Ich kenne sie durch und durch.« Der junge Dr. Hagedorn schwieg lange, dann sagte er nachdenklich: »Ich habe niemals vorgehabt, Undine zu heiraten, Vater.« »Um so besser für dich.« »Aber es muß doch irgendeine unverfängliche Form geben, ihr zu helfen.« »Nein, die gibt es nicht. Mit Geld ist ihr auf die Dauer kaum gehol fen – und sonst? Ich glaube nicht, daß eine der hiesigen Hausfrauen sie auch nur als Küchenhilfe einstellen würde, wenn du ihr dieses Mäd chen zuschöbest, na, das brauche ich dir wohl nicht zu beschreiben.« Der junge Doktor sah jetzt sehr deprimiert aus. »Ja, es ist eine dumme Geschichte, mein Sohn«, sagte der alte Herr. »Wenn ich Undine nur nicht so unüberlegt hierherbestellt hätte.« »Ist es dir nach unserer Unterredung sehr unangenehm, sie zu emp fangen?« Der junge Dr. Hagedorn nickte schweigend. »Na schön, dann werde ich dir diese Aufgabe abnehmen«, lächelte sein Vater. »Angenehm ist es für mich zwar auch nicht, aber ich den ke, daß ein alter Knabe wie ich mit dergleichen Dingen besser fertig wird.«
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»Ich glaube nicht daran, daß du eine Hexe bist«, sagte Sonja. Sie stand im Zimmer, die Hände auf dem Rücken, und sah zu, wie Undine ihren Koffer packte. »Das ist einfach nicht wahr.« »Anna hat gelogen«, bekräftigte Thomas nachdrücklich, »eher ist sie selber eine Hexe.« »Böse Anna«, sagte Ralf, das Nesthäkchen. Undine zwang sich zu lächeln. »Ihr dürft nicht auf die Köchin schimpfen«, mahnte sie, »sie meint es gut mit euch.« »Aber dich mag sie nicht leiden«, sagte Sonja trotzig. »Und deshalb mögen wir sie auch nicht.« Undine schloß den Koffer, zog ihren alten Wintermantel an, nahm den Ozelot über den Arm und sagte traurig: »Ich werde sehr viel Sehn sucht nach euch haben, vergeßt mich nicht.« »Nie!« sagte Thomas mit Überzeugung. »Wenn ich groß bin, hole ich dich, und dann werde ich dich heiraten, Undine.« Trotz ihres Kummers mußte Undine lachen. Sie fuhr dem kleinen Jungen mit der Hand übers Haar, küßte Sonja, nahm den kleinen Ralf noch einmal auf die Arme und sagte dann: »Ich gehe jetzt, bleibt bitte im Zimmer, wie es eure Mutter gewünscht hat.« Sie ging rasch hinaus und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Es gab nichts mehr in diesem Haus, was sie hielt. Von Direktor Mom mert und seiner Gattin hatte sie sich schon verabschiedet. Frau Anita war kühl, fast feindlich gewesen, der Kurdirektor verlegen, weil er sei ne wahre Einstellung nicht zeigen durfte. Die Köchin Anna hatte ihr nicht einmal die Hand gegeben, und Evelyn, ja, Evelyn hatte ihr einen Zettel mit ihrer Heimatadresse in die Hand gedrückt. »Sei froh, daß du hier fortkommst«, hatte sie ihr zugeflüstert, »ich mach' auch nicht mehr lange mit.« Niemand war in der Diele, als Undine zur Haustür ging, und dennoch fühlte sie sich beobachtet. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, denn sie wollte niemand merken lassen, wie schwer ihr trotz allem der Abschied fiel. Sie hatte die Türklinke schon in der Hand, als Evelyn die Küchen treppe heraufgehuscht kam. »Moment«, flüsterte sie und zog Undine hinter einen Vorhang. »Ich muß dir was Wichtiges sagen …« 174
»Ja?« fragte Undine und stellte ihren Koffer ab. »Ein Herr wartet draußen auf dich.« Eine freudige Hoffnung durchzuckte Undines Herz. »Frank Ost wald?« fragte sie, und das Blut stieg ihr in die Wangen. »Ach wo. Kein junger Mann, wirklich ein Herr. Der Fabrikant Kurt Klingenfeldt – was sagst du nun?« »Ich habe nie etwas von ihm gehört.« »Aber Undine! Lebst du denn auf dem Mond? Herr Klingenfeldt war schon ein paarmal bei Mommerts zu Gast, du müßtest ihn wenigstens gesehen haben. Er gibt großartige Trinkgelder …« »Was interessiert mich das?« »Er ist steinreich, Undine, er ist der Chef der Klingenfeldt-Werke im Ruhrgebiet.« »Ich begreife immer noch nicht, was mich das angeht.« »Wozu glaubst du denn, daß ich dir das erzähle?« ereiferte sich das Stubenmädchen. »Weil er es auf dich abgesehen hat! Er wartet seit ei ner halben Stunde in seinem Wagen auf dich.« Sie griff in ihre Schür zentasche und holte einen Geldschein heraus. »Das hat er mir gegeben, wenn ich versuche, ein Zusammentreffen zwischen euch zu vermit teln, und ich kriege noch einmal soviel, wenn es wirklich klappt.« Undine starrte die andere mit gerunzelter Stirn an. »Was heißt das: Er hat es auf mich abgesehen?« Evelyn steckte ihren Geldschein wieder weg und sagte ärgerlich: »Also weißt du, für eine Hexe bist du wirklich prüde.« Als sie das Fun keln in Undines Augen sah, fügte sie rasch hinzu: »Oh, ich wollte dich nicht beleidigen. Bitte, verfluch mich nicht, du weißt, ich habe immer zu dir gehalten.« »Hast du denn auch Angst vor mir?« »Ein bißchen schon.« Evelyn holte tief Atem. »Bitte, sag mir ehrlich: Bist du eine Hexe? Mir kannst du es doch verraten.« Undines Augen waren sehr nachdenklich geworden. »Ich wäre froh, wenn ich es selber wüßte.« Sie nahm ihren Koffer auf und verließ endgültig das Haus. 175
Undine hatte keineswegs vorgehabt, sich mit dem steinreichen Fabri kanten Klingenfeldt auch nur in ein Gespräch einzulassen. Als sie den schwarzen Mercedes an der Ecke parken sah, war sie fest entschlossen, sich nicht aufhalten zu lassen, sondern schnell vorbeizugehen. Aber es kam alles anders. Sie war noch einige Schritte von dem Auto entfernt, als die Tür ge öffnet wurde und ein Mann in grauer Livree ausstieg. Er grüßte, in dem er zwei Finger an die Mütze legte, nahm Undine den Koffer aus der Hand und öffnete die hintere Tür des Autos. Alles geschah so überraschend, daß Undine sich überrumpelt fühl te. Aber blitzschnell überlegte sie, daß es sich ja um einen guten Be kannten von Mommerts handelte und daß ihr deshalb nichts passie ren könnte. So beschloß sie, der seltsamen Geschichte auf den Grund zu gehen. Sie stieg in den Wagen, und der Chauffeur drückte die Tür ins Schloß. Dann fragte eine helle Stimme neben ihr: »Wohin dürfen wir Sie bringen?« Undine sah neben sich ein weißes fettes Männergesicht, das harm los gewirkt hätte, wenn nicht die kleinen, gefährlich klugen Augen ge wesen wären. »Ich möchte zu Doktor Hagedorn«, sagte Undine. Der Mann beugte sich vor, tippte dem Chauffeur auf die Schul ter und sagte: »Zu Doktor Hagedorn, Tom. Sie kennen die Adresse.« Dann wandte er sich wieder Undine zu. »Sie werden erlauben, daß wir langsam fahren, denn ich habe Ihnen allerhand zu erzählen – viel leicht genug, daß Sie auf einen Besuch bei Doktor Hagedorn verzich ten.« Undine drückte sich in die äußerste Ecke ihres Sitzes und sah den dicken Mann unverwandt an. »Das glaube ich kaum«, sagte sie. »Abwarten. Sie wissen, wer ich bin?« »Herr Klingenfeldt?« »Sehr schön. Ich sehe, das Mädchen Evelyn hat mit Ihnen gespro chen, ich brauche mich also wohl kaum noch selber zu empfehlen. Da Sie im Augenblick ohne Stellung sind und auch in absehbarer Zeit kei ne bekommen werden …« 176
»Doktor Hagedorn wird mir helfen.« »Warten Sie's ab. Ich bezweifle, daß er etwas für Sie tun wird. Ich bin im Augenblick der einzige Mensch, der Ihnen helfen kann, und des halb haben Sie allen Grund, auf mich zu hören.« »Warum wollen Sie mir denn helfen?« fragte Undine. »Sie kennen mich ja gar nicht.« »Ich habe bei Mommerts sehr viel über Sie gehört, und Sie interessie ren mich. Ich möchte Ihnen eine Partnerschaft anbieten.« »Ich verstehe nicht …« »Das können Sie auch gar nicht. Ich muß Ihnen erst alles erklären. Manche Leute behaupten von Ihnen, daß Sie eine Hexe sind. Nun, ich glaube nicht an so etwas. Aber ich bezweifle nicht, daß Sie Fähigkei ten besitzen, die anderen Menschen fehlen: Sie haben die Macht, das Glück zu zwingen. Und deshalb brauche ich Sie.« Undine hatte aufmerksam zugehört. »Ich fürchte, ich muß Sie ent täuschen«, sagte sie. »Wenn ich das Glück wirklich beeinflussen könn te, wäre ich niemals in eine solche Situation geraten. Wenn Sie von mir sagen würden, ich wäre vom Pech verfolgt, so träfe das eher zu.« Der dicke Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß es besser. Sie haben Glück, wenn Sie nur wollen. Vielleicht erringen Sie nicht das, was Sie unter Glück verstehen. Möglich, daß Sie geliebt werden möch ten, geschützt und geborgen sein, aber dergleichen Wünsche passen nicht zu Ihnen. Dieses Glück wird Ihnen vielleicht immer versagt blei ben. Aber Sie können Geld verdienen, soviel Sie wollen.« »Bisher habe ich achtzig Mark im Monat verdient. Finden Sie das überwältigend?« »Sie haben es falsch angefangen. Natürlich dürfen Sie nicht arbeiten. Das ist sowieso das Dümmste, was man tun kann.« »Haben Sie nie gearbeitet?« fragte Undine erstaunt. »Doch. Und lei der viel zuviel. Ich mußte erst alt werden, um zu begreifen, daß es ganz andere Möglichkeiten gibt, Geld zu scheffeln. Waren Sie schon einmal in einer Spielbank?« »Nein.« »Heute abend werden Sie mich dorthin begleiten.« 177
»Ich hoffe, daß Doktor Hagedorn bis heute abend eine neue Stellung für mich gefunden hat.« »Seien Sie doch nicht so dumm! Warum wollen Sie unbedingt et was tun, das nicht zu Ihnen paßt? Kindermädchen bei fremden Leuten spielen – was für eine alberne Idee! Warum wollen Sie sich überhaupt abplagen? Ich verlange keine Arbeit von Ihnen, ich verlange nur Ihre Anwesenheit. Dafür werde ich Sie fürstlich bezahlen. Ich gebe Ihnen dreißig Prozent von allem, was ich gewinne, ein Hotelzimmer, drei Mahlzeiten am Tage – ist das ein Vorschlag?« »Nein«, sagte Undine. »Zu wenig? Gut, ich bin bereit, Ihnen sogar vierzig Prozent zu ge ben, aber keinen Pfennig mehr. Vergessen Sie nicht, die Verluste muß ich allein tragen.« »Bitte, lassen Sie jetzt halten. Herr Hagedorn erwartet mich.« »Fünfzig Prozent, aber mehr auf keinen Fall!« »Herr Klingenfeldt«, sagte Undine, die Hand am Türgriff, »Evelyn erzählte mir, daß Sie ein sehr reicher Mann seien. Wie kann es Sie da überhaupt noch interessieren, bei einem Glücksspiel Geld zu gewin nen?« »Jetzt reden Sie genau wie meine Tochter. Niemals hätte ich eine sol che Frage von Ihnen erwartet.« »Eine Antwort wissen Sie also nicht?« »Warum wollten Sie auf der Tombola im Golfklub unbedingt den Pelzmantel gewinnen?« »Davon wissen Sie?« »Jeder hier weiß es. Also warum?« lenkte er ab. »Weil er mir gefiel und ich einen solchen Mantel niemals kaufen könnte.« »Nun, Sie werden Ihren Ozelot behalten können, und er wird nicht Ihr einziger Pelz bleiben. Sie werden sich jeden Wunsch erfüllen kön nen, wenn Sie sich entschließen, meine Geschäftspartnerin zu wer den.« Undine hielt sich plötzlich die Ohren zu. »Nein«, rief sie, »ich will das nicht, hören Sie auf.« Sie schluchzte. »Warum darf ich nicht leben 178
wie ein normales Mädchen? Warum sind alle gegen mich? Warum er warten Sie so etwas Ausgefallenes von mir? Lassen Sie mich doch mein eigenes Leben aufbauen …« »Halten Sie, Tom«, sagte Herr Klingenfeldt, »hier ist die Wohnung von Doktor Hagedorn. Lassen Sie die Dame aussteigen und geben Sie ihr ihren Koffer.« Als Undine ohne Abschied und blind vor Tränen auf die Straße stol perte, lehnte Herr Klingenfeldt sich gegen die lederbezogenen Polster seines Sitzes und zündete sich eine Zigarette an. »Wohin?« fragte der Chauffeur. »Lassen Sie den Motor laufen, damit er nicht kalt wird. Wir warten.« Herr Klingenfeldt hatte seine Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, als die Haustür aufgestoßen wurde, und Undine auf die Straße lief. Tom wartete diesmal nicht auf einen Befehl seines Herrn. Er stieg aus und führte Undine wieder zum Wagen. Ihr Gesicht war blaß vor Zorn, ihre Augen loderten. Herr Klingen feldt sah es mit Befriedigung. Er stellte keine Fragen, gab keinen Kom mentar, sagte nur: »Können wir fahren?« Undine nickte. »Ja«, sagte sie, »fahren Sie mich, wohin Sie wollen.«
Im großen Herd der Harmshofküche brannte ein prächtiges Torffeu er. Frank Ostwald stand vor dem Spiegel neben dem Spülbecken und rasierte sich. Ein frisches weißes Oberhemd hing über einem der Stüh le. Seine Mutter war damit beschäftigt, einen Fleck aus seinem dunkel grauen Jackett zu reiben, das sie auf dem Schoß hielt. »Ich verstehe dich nicht, Frank«, sagte sie. »Wenn jemand mir pro phezeit hätte, daß ausgerechnet du …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern seufzte statt dessen tief. Frank Ostwald begann unge rührt zu pfeifen. »Frank!« rief seine Mutter böse. »Hör auf damit! Du machst mich noch ganz nervös.« 179
»Entschuldige bitte, Mutter«, sagte er und zwinkerte mit den Au gen. »Jetzt lachst du auch noch!« Sie nahm sein Jackett hoch und warf es voller Zorn vor sich auf den Tisch. »Schäm dich! Ich bin keine törich te Frau. Ich weiß ganz genau, warum ich nicht will, daß du mit diesem Mädchen ausgehst. Wenn du mir wenigstens erklären wolltest …« Er ließ das Rasiermesser sinken. »Ach, Mutter«, sagte er, »du kannst es einem aber wirklich schwermachen. Als ob ich es dir nicht bereits erklärt hätte – mindestens fünfmal –, dir und Vater dazu! Ich will mit Elke Harms …« »Sie ist es nicht!« »Na schön. Also mit diesem Mädchen, das sich als Elke Harms aus gibt, wenn dir das lieber ist …« »Es kommt nicht darauf an, was mir lieber ist. Sie ist nicht Elke Harms, sie kann es nicht sein.« »Ich glaube es ja auch nicht, Mutter. Aber da wir nicht wissen, wie sie wirklich heißt, können wir sie doch vorläufig Elke Harms nennen, oder nicht? Wem schaden wir denn damit? Kurz und gut, ich habe mich mit dieser angeblichen Elke Harms verabredet, um herauszube kommen, was sie vorhat – sie und der Hexenbanner. Vielleicht erfah re ich auf diese Weise …« »Du kommst mir vor wie ein kleiner Bub, der Indianer spielen will«, unterbrach ihn seine Mutter ärgerlich. »Was sie vorhaben, wissen wir doch längst. Sie wollen den Harmshof in ihre Hände bekommen – ent weder als Ganzes, aber das wird ihnen nicht gelingen, oder Stück für Stück. Damit haben sie ja schon sehr erfolgreich begonnen. Das gan ze Geld, das die Brandversicherung für die Scheune gezahlt hat, ist von Jakobus Schwenzen im Laufe der Zeit kassiert worden. Er hat so gar durchgesetzt, daß zehn Fuder Heu für teures Geld verkauft wur den. Selbstverständlich kam der Erlös nicht dem Hof zugute, sondern verschwand in seinen Taschen. Nun reicht uns das Heu nicht bis zum Frühjahr, und wir müssen Vieh verkaufen. Du solltest begreifen, was das bedeutet, Frank. Es wird keine drei Jahre dauern, dann wird der Harmshof unter den Hammer kommen.« 180
Frank Ostwald wandte sich vom Spiegel ab und sagte betroffen: »Da von hat mir Vater kein Wort gesagt.« »Aber Junge! Du kennst ihn doch. Er frißt alles in sich hinein. Auch mit mir spricht er jetzt nicht mehr über diese Dinge. Ich soll nicht mer ken, wieviel Sorgen er sich macht. Aber nachts liegt er stundenlang wach und kann nicht schlafen.« »Das tut mir leid, Mutter«, sagte Frank Ostwald mit ehrlichem Be dauern. Sie stand auf und trat, die gereinigte Jacke über dem Arm, auf ihn zu. »Ich wußte ja, daß du ein guter Junge bist. Du wirst also nicht hinge hen? Nicht mit diesem Mädchen, meine ich?« »Aber jetzt erst recht! Wenn sie wirklich so gefährlich ist – offenbar viel gefährlicher, als ich gedacht hatte –, dann ist es wichtig, mit ihr in Kontakt zu kommen. Ich werde ihr auf den Zahn fühlen, und du wirst sehen, daß sie sich verraten wird. Besonders schlau kann sie nicht sein, sonst wäre sie nicht mit Jakobus Schwenzen ins Geschäft gestiegen. Der Hexenbanner hat es noch mit keinem Menschen ehrlich gemeint, er wird auch sie zum Schluß betrügen.« »Sie ist sehr gerissen, mach dir nichts vor«, warnte seine Mutter. »Wie hätte sie sonst Antje Nyhuus so einwickeln können? Ich sage dir, die Dirn ist ganz verwandelt, seit die Fremde auf dem Hof ist. Antje steckt kaum noch die Nase zu uns herein, aber mit der Person hockt sie stun denlang zusammen. Die beiden sind so gute Freundinnen geworden, als ob sie miteinander aufgewachsen wären. Begreifst du, wie das mög lich ist?« »Nein«, sagte er ruhig und trocknete sich das Gesicht ab. »Aber ich werde es herausbringen.« Er sah seine Mutter an. »Bitte, versuch doch, mich zu verstehen. Wir müssen irgend etwas unternehmen. Ihr schließt euch gegen Jakobus Schwenzen und das Mädchen ab. Das ist zwar menschlich begreiflich, aber es führt zu nichts. Die beiden pfei fen auf eure Sympathie.« »Ich will mit diesem Gesindel nichts zu tun haben.« »Brauchst du ja auch nicht, Mutter. Schließlich bin ich auch noch da, nicht wahr? Ich bin sehr froh, daß du mir gesagt hast, wie die Dinge 181
stehen. Ich werde mich sehr in acht nehmen, darauf kannst du dich ver lassen. Aber wir können doch nicht einfach mit den Händen im Schoß zusehen, wie sie uns das Dach über dem Kopf abtragen.« Er nahm sein frisches Hemd und das Jackett über den Arm und gab seiner Mutter einen flüchtigen Kuß. »Morgen früh werden wir beide schlauer sein als jetzt. Halt mir Däumchen, Mutter! Vielleicht erfahre ich etwas, wo mit wir dem Hexenbanner und seiner sauberen Gehilfin an den Kar ren fahren können.« Im ›Goldenen Löwen‹ war noch nicht viel Betrieb, als Frank Ostwald und das Mädchen, das sich Elke Harms nannte, eintrafen. In der Mit te des großen Saales waren die Tische beiseite gerückt, um eine Tanz fläche zu schaffen. Auf einem kleinen Podium standen ein Klavier und mehrere Notenständer, aber von der Kapelle war noch nichts zu sehen. Sie schien nicht enttäuscht zu sein. »Jubel, Trubel, Heiterkeit«, sag te sie lachend und nahm seinen Arm. »Kommen Sie, Frank, setzen wir uns, die Nacht ist ja noch lang.« Er sah sie prüfend an, während er ei nen der Stühle heranzog, damit sie sich setzen konnte. »Sie sehen wun derbar aus, Elke. Irgendwie ganz verändert.« »Ach, das kommt nur, weil ich mich ein bißchen angepinselt habe – heimlich, nachdem ich mich bei den Großeltern abgemeldet hatte.« Sie seufzte leicht. »Das sind nämlich schrecklich altmodische Herrschaf ten.« »Machen Sie sich nichts daraus«, sagte er so freundlich es ging, »auch ungeschminkt sehen Sie gut aus, wie ich schon bemerkt habe.« »Wirklich?« Sie warf ihm unter ihren kohlschwarz gefärbten Wim pern einen koketten Blick zu. »Aber natürlich. Was möchten Sie trinken?« »Am liebsten einen Wacholder und ein Bier.« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte ihr Kinn auf die verschlungenen Finger und sagte: »Aus Sekt mache ich mir gar nichts. Früher einmal, ja – aber den habe ich mir längst leid getrunken.« Er grinste. »Sekt hätten Sie von mir auch nicht bekommen. So weit reichen meine Finanzen nicht.« Er bestellte zwei doppelte Wacholder und zwei Bier. 182
»Das mit dem Sekt«, sagte sie, ihre hellen Augen unentwegt auf ihn gerichtet, »hätte ich eigentlich nicht verraten dürfen. Jakobus Schwen zen hat es mir streng verboten. Es könnte die alten Herrschaften schok kieren, wenn sie etwas davon erfahren. Aber Sie sind hoffentlich kein Spießer.« Sie machte eine Pause, während sie die Zigarette nahm, die er ihr anbot. »Ich habe nämlich längere Zeit als Tischdame gearbeitet.« »In St. Pauli?« fragte er gelassen. Sie hob spöttisch die Augenbrauen. »Nein. Natürlich in Soho. Oder glauben Sie mir etwa nicht, daß ich in London aufgewachsen bin?« Er gab ihr Feuer. »Da ich Sie bisher noch nicht bei einer Lüge er wischt habe«, sagte er ruhig, »glaube ich Ihnen alles.« »Ihre Eltern halten mich aber für eine Hochstaplerin.« »Das kann man ihnen wohl kaum verargen.« »Und Sie? Für was halten Sie mich?« »Für ein höchst bemerkenswertes Mädchen.« Er spürte, daß das zu schwach klang, und fügte deshalb mit Nachdruck hinzu: »Sie sind zau berhaft, Elke, aber das wissen Sie selber wohl am besten.« Sie leerte das Glas mit dem doppelten Wacholder in einem Zug und nahm hinterher einen tüchtigen Schluck Bier. »Wissen Ihre Eltern, daß Sie mit mir ausgegangen sind?« »Ja.« »Das wird ihnen wohl sehr gegen den Strich gegangen sein.« »Offen gestanden, Sie haben recht.« »Na ja, man kann's verstehen.« Sie sah ihn durch den Rauch ihrer Zi garette hindurch forschend an. »Wenn ich nicht aufgetaucht wäre, dann hätten wohl Sie oder Ihre Eltern den Hof bekommen, nicht wahr? Daß jetzt nichts mehr daraus wird, tut mir leid – seit ich Sie kenne, meine ich. Ich mag Sie sehr gern, Frank, aber man kann trotzdem kaum von mir erwarten, daß ich auf mein Erbe verzichte.« »Ich verlange es bestimmt nicht«, sagte er, ohne eine Miene zu ver ziehen. »Sie wissen ja, ich will Ingenieur werden. Ich hatte niemals vor, auf dem Harmshof zu bleiben.« »Sie sind mir also nicht böse?« »Nein, Elke. Ganz im Gegenteil. Sie tun mir leid.« 183
»Ich Ihnen?« Ihre Frage klang ehrlich verblüfft. »Ja. Ein Mädchen wie Sie! Sie passen einfach nicht auf den Harms hof. Wenn ich mir vorstelle, daß Sie Ihr ganzes Leben dort versauern müssen.« Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. »So blöd müßte ich sein! Nein, das kommt natürlich gar nicht in Frage. Sobald alles gere gelt ist, wird der Hof verkauft.« »Und die Bauersleute?« »Für die wird sich wohl auch noch ein Platz in einem Altersheim fin den lassen.« Jetzt erst bemerkte sie, daß sich sein Gesicht verfinstert hatte, und fragte erschrocken: »Habe ich Sie schockiert?« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, durchaus nicht. Sie haben mit Ihrer Einstellung völlig recht. Was sollten Sie auch in dieser lang weiligen Gegend anfangen?« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte strahlend: »Ich wußte, Sie würden mich verstehen.« »Es ist nur die Frage«, antwortete er langsam, »ob der Bauer Ihnen den Hof schon vor seinem Tode abtreten wird.« »Ach«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung, »das wird Jakobus Schwenzen schon schaukeln. Der hat was los, sage ich Ihnen. Ein ganz toller Hecht.« »Wie hat er Sie eigentlich gefunden? Ich meine, in einer so großen Stadt wie London muß man doch …« Sie unterbrach ihn mit einem spöttischen Lächeln. »So fragt man die Leute aus, mein Lieber. Sie wollen mich wohl hereinlegen, wie? Aber dazu hätten Sie früher aufstehen müssen.« Er gab nicht auf. »Ihre Papiere haben Sie doch noch nicht beisam men, oder?« »Ich habe meinen Geburtsschein. Der wird wohl genügen, nehme ich an.« »Als was? Doch nicht etwa als Beweis für Ihre Identität? Einen Ge burtsschein kann sich jeder von jedem verschaffen, man braucht bloß an das zuständige Standesamt zu schreiben.« »Sie halten sich wohl für sehr gescheit«, sagte sie plötzlich böse. »Mit 184
Ihnen rede ich kein Wort mehr. Ich hätte auf Jakobus Schwenzen hö ren und mich gar nicht erst mit Ihnen einlassen sollen.« Er umschloß ihr Handgelenk und sah ihr unverwandt in die Augen. »Warum haben Sie es doch getan?« »Weil Sie mir gefallen, Frank«, sagte sie leise, »aber …«, sie riß sich mit einem Ruck los, »herausbringen werden Sie trotzdem nichts aus mir – so weit geht die Liebe nicht.« Die Musiker, die inzwischen auf dem Podium Platz genommen hatten, nachdem das Lokal fast bis zum letzten Tisch mit jungen Paaren besetzt war, begannen einen langsamen Walzer zu spielen. »Wollen wir, Frank?« fragte das Mäd chen. In diesem Augenblick mußte er an Undine denken, die sich so sehr gewünscht hatte, einmal mit ihm tanzen zu gehen. Eine brennende Sehnsucht nach ihr überfiel ihn. »Nein«, sagte er, »nein, Elke, bitte nicht!« Sie öffnete schon den Mund, um ihrer Enttäuschung Ausdruck zu geben – da sah sie Antje Nyhuus, die quer über die Tanzfläche auf ih ren Tisch zueilte. Sie packte unwillkürlich, wie Schutz suchend, Frank Ostwalds Arm. »Da bist du also!« sagte Antje schrill, obwohl sie noch einige Meter von Frank Ostwald entfernt war. »Beim Tanz im ›Goldenen Löwen‹! Und mir hast du nicht ein Sterbenswörtchen …« Er war aufgestanden. »Moment mal, Antje«, unterbrach er sie, »laß dir erst erklären, bevor du einen Skandal machst.« »Du Lump!« zischte sie, und Tränen schossen ihr in die Augen. »Statt mich anzurufen, statt mit mir …« Sie konnte vor Aufregung kaum noch sprechen. »Ausgerechnet mit diesem Flittchen«, stammelte sie, »oh, es ist so gemein!« »Beruhige dich doch«, bat er, »setz dich zu uns. Was willst du trin ken?« »Nichts! Gar nichts! Ich will – oh, das wirst du mir büßen!« Sie dreh te sich auf dem Absatz um und rannte nach draußen. Frank Ostwald beugte sich zu seiner Begleiterin. »Entschuldigen Sie bitte, Elke, aber ich glaube, ich muß …« 185
»Gar nichts müssen Sie, Frank. Sie werden doch nicht hinter ihr her laufen? Sie machen sich ja lächerlich. Man schaut schon auf uns.« »Antje ist im Recht. Es war nicht fair von uns, auszugehen, ohne sie zu verständigen.« »Ach, Unsinn! Sie hat sich aufgeführt wie eine Furie.« Sie lächelte Frank an. »Ich verstehe durchaus, daß Sie ihren Hof haben wollen, Frank, das wäre ja auch wirklich für alle die beste Lösung. Deshalb brauchen Sie sich aber nicht von ihr zum Narren machen zu lassen. Wenn Sie morgen zu ihr gehen, ist es immer noch früh genug. Geben Sie nicht nach, Frank, gewöhnen Sie ihr die Eifersucht ab, solange es noch Zeit dazu ist, sonst werden Sie später die Hölle mit ihr haben.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Ich weiß nicht …«, sagte er zö gernd. »Sie haben nur deshalb ein schlechtes Gewissen, weil bei Ihnen ein bißchen viel Berechnung im Spiel ist. Aber Antje Nyhuus ist auch kei ne Feine. Diese Sache mit den anonymen Briefen – ich habe ihr das ins Gesicht gesagt – war ein ganz gemeiner Trick.« Er sah sie erstaunt an und setzte sich langsam. »Von was sprechen Sie eigentlich?« »Antje Nyhuus hat doch anonyme Briefe losgelassen«, erklärte das Mädchen, »eine ganze Menge. Sie hatte sich ein paar wichtige Adres sen aus dem Telefonbuch abgeschrieben, als sie damals in Bad Wilden brunn war. Na, und diesen Herrschaften hat sie die Wahrheit über Un dine mitgeteilt – Sie wissen schon, über diese Hexe von der Insel.« »Nein«, sagte Frank entsetzt, »das ist nicht wahr!« »Nicht? Na, dann müßte ich ja ein sehr schlechtes Gedächtnis ha ben«, sagte das Mädchen spöttisch. »Geschrieben hat sie jedenfalls, und zwar ein paar ganz dicke Brocken …« »Woher wissen Sie das?« »Von Antje selber. Sie konnte es nicht für sich behalten, in einer schwachen Stunde hat sie es mir gebeichtet.« Sie sah, daß er sehr blaß geworden war. »Aber nehmen Sie es nicht so schwer, Frank, was ist schon dabei? Sie ist eben wild verknallt in Sie. Oder warum sonst hat sie sich so mit mir angefreundet? Weil Jakobus Schwenzen es von ihr 186
verlangt hat, als Entgelt dafür, daß er ihr Zaubermittel verschafft, um Ihre Liebe zurückzugewinnen.« »Das ist doch heller Wahnsinn!« »Kann ich nicht finden. Sie versucht Sie eben mit allen Mitteln zu halten. Sie müssen ihr ganz schön den Kopf verdreht haben.« »Ich habe mich wie ein Idiot benommen«, sagte er verstört. »Mein Gott, niemals hätte ich für möglich gehalten, daß Antje zu so etwas fä hig wäre. Ich habe sie überhaupt nicht gekannt.« Er wartete keine Ent gegnung ab, winkte dem Kellner und zahlte. »Entschuldigen Sie mich bitte, Elke«, sagte er, »ich muß ihr nach, jetzt erst recht. Ich muß mit ihr sprechen, ihr eine Möglichkeit geben, sich zu verteidigen.« Das Mädchen stand rasch auf. »Warten Sie, ich komme mit. In Ih rem Interesse. Ich möchte nicht, daß Sie belogen werden.« Sie lächelte genüßlich und dachte: Ich werde ihr das ›Flittchen‹ heimzahlen, dem Biest! Wahrhaftig, die hat es gerade nötig!
VIII
D
as Spielkasino von Bad Wildenbrunn lag im vorderen Teil des Kurparks, ein großes rundes Gebäude mit einem Säulenportal, das in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut und seit her mehr als einmal gründlich renoviert worden war. Es bildete die At traktion des kleinen Bades, nicht nur für die Kurgäste, sondern auch für jene Bewohner der benachbarten Großstädte, die es sich leisten konnten, ein Wochenende in Bad Wildenbrunn zu verbringen, nur um den Reiz des Glücksspiels zu genießen. Als das Mädchen Undine an der Seite Kurt Klingenfeldts gegen neun Uhr abends die Stufen zum Portal des Kasinos hinaufschritt, war der weiträumige Parkplatz schon fast vollständig besetzt. Aus den hohen französischen Fenstern fiel warmes Licht in den hellen Schnee. Sie tra 187
ten in das Foyer. Der Boden war mit roten Teppichen ausgelegt, riesi ge gläserne Kronleuchter funkelten von der Decke, an den Wänden hingen alte englische Stiche. Für Undine war es ein Bild nie gesehener Pracht. Sie fühlte sich benommen und in eine fremde Welt versetzt. An der Garderobe half Kurt Klingenfeldt ihr aus dem Ozelot. Sie trat vor einen der hohen, goldgerahmten Spiegel, ordnete sich mecha nisch das Haar. Sie war schöner denn je mit den großen nachtdunklen Augen in dem schmalen, hellen Gesicht, aber sie war sich selber ihres Zaubers nicht bewußt. Sie sah nur, daß das schwarze Seidenkleid, das Frau Mommert ihr geschenkt hatte, in diesem eleganten Rahmen fast schäbig wirkte, und wünschte sich, sie hätte Kurt Klingenfeldts Drän gen nachgegeben und sich etwas Neues gekauft. »Kommen Sie, kommen Sie«, drängte Kurt Klingenfeldt ungeduldig und faßte sie am Arm, »wir haben keine Zeit zu verlieren!« Seine klei nen Augen funkelten gierig, er zerrte sie fast auf die breite gläserne Tür des Spielsaals zu. An der Kasse bezahlte er das Eintrittsgeld und erstand sogleich für einen Betrag, der sich auf mehrere hundert Mark belief, Spielmarken. Undine fühlte sich sehr unbehaglich. Sie bereute, daß sie sich in der Verzweiflung dazu bereitgefunden hatte, Klingenfeldts Vorschlag an zunehmen. Sie schlug die Augen nieder, als sie in den großen Spielsaal traten, denn sie fürchtete, an der Seite des kleinen dicken Mannes eine schlechte Figur zu machen. Dann aber bemerkte sie zu ihrer Überra schung, daß niemand sie anblickte, und wagte sich freier umzusehen. Der langgestreckte grüne Tisch in der Mitte des Saales erschien ihr riesig groß. Er war umdrängt von Herren und Damen in Abendtoilet te, die nahe beieinander auf gradlehnigen Stühlen saßen oder, falls sie keinen Platz mehr gefunden hatten, hinter den Stühlen standen. Die elfenbeinerne Kugel tanzte in dem Roulette. Obwohl nicht alle hinsahen, manche Gelassenheit, ja Gleichgültigkeit vorzutäuschen suchten, spürte Undine doch deutlich, daß jeder seine innere Auf merksamkeit auf das Spiel und auf nichts als das Spiel konzentriert hatte. Jetzt blieb das Roulette stehen, die elfenbeinerne Kugel lag in einem der Fächer, der Croupier rief – erst auf französisch, dann auf 188
deutsch – die Zahl aus, die gewonnen hatte. Die Spannung löste sich. Der Croupier und seine beiden Helfer fuhren mit ihren kleinen, lang stieligen Rechen über die Spielfläche, holten die verlorenen Spielmar ken zu sich heran, teilten gewonnene aus. »Mesdames, messieurs, faites vos jeux!« Ein neues Spiel begann. Während die meisten eifrig Spielmarken auf die roten und schwar zen Zahlen oder auf die größeren Felder setzten, erhob sich ein jun ges Paar, das einen kleinen Gewinn hatte einstreichen können, und schlenderte zum Ausgang. Kurt Klingenfeldt nahm sofort auf einem der Stühle Platz, aber als Undine sich neben ihn setzen wollte, wink te er ab. »Bleiben Sie hinter mir stehen«, sagte er hastig, »und legen Sie mir Ihre linke Hand auf die rechte Schulter, aber stören Sie mich um Him mels willen nicht!« Undine preßte die Lippen zusammen. Nur mit Widerwillen tat sie, was Klingenfeldt von ihr verlangte. Gleichgültig sah sie zu, wie er seine Chips setzte und kaum erwarten konnte, daß der Croupier das Ergeb nis verkündete. Er setzte weiter, fast fieberhaft, erzielte kleine Gewin ne, setzte hoch, verlor. Undine kümmerte es nicht. Klingenfeldts Ver luste bereiteten ihr eine gewisse Genugtuung. Mit Schadenfreude sah sie, wie sein feister Nacken sich rötete, seine Glatze sich mit Schweiß bedeckte. Sie glaubte, daß er vorgehabt hatte, sie zu etwas Schlechtem zu mißbrauchen, und es stärkte ihr Bewußtsein, daß sein Plan offen bar fehlschlug. Klingenfeldt hatte es nicht für nötig gehalten, ihr die Regeln des Rou lettes zu erklären. Als sie ihn danach gefragt hatte, hatte er abweisend gesagt: »Je weniger Sie davon verstehen, desto besser!« Undine hatte sich mit dieser Antwort zufrieden gegeben. Jetzt, als sie zum ersten mal selber am Roulettetisch stand, interessierte sie nicht so sehr das Spiel. Es waren vielmehr die Menschen, die den Lauf der kleinen Ku gel mit gierigen Augen verfolgten. Männer waren unter den Spielern, denen man ansah, daß sie es gewohnt waren, große Summen zu ver dienen und auch auszugeben, verwöhnte Frauen, für die das Spiel an 189
scheinend nichts anderes als einen Kitzel bedeutete in einer Welt, in der sie sich langweilten. Aber es gab auch andere. Undine gegenüber stand ein blasser junger Mann, dessen zucken de Lippen und nervöse Hände deutlich genug verrieten, daß Gewinn oder Verlust für ihn eine Existenzfrage waren. Eine junge Dame brach in Tränen aus, nachdem sie mehrmals hintereinander verloren hatte; ein älterer Herr, wahrscheinlich ihr Vater oder ihr Ehemann, führte sie hinaus. Langsam, ganz langsam begriff Undine, um was es ging. Der grü ne Spieltisch war in neun große Felder unterteilt, die drei mittleren Felder von oben nach unten enthielten Kästchen mit den Zahlen von eins bis sechsunddreißig, die teils rot, teils schwarz eingezeichnet wa ren. Ganz oben, in einem Kästchen für sich, stand die Null. Wenn man auf eine der Zahlen setzte, war die Chance, zu gewinnen, sehr gering. Kam aber die gewählte Zahl tatsächlich, so betrug der Gewinn das Sechsunddreißigfache des Einsatzes. Wenn man dagegen auf Rot setz te oder Schwarz, die geraden oder die ungeraden Zahlen, die Zahlen von eins bis achtzehn oder von neunzehn bis sechsunddreißig, war die Möglichkeit zu gewinnen größer, der Gewinn selber betrug jedoch nur das Doppelte des Einsatzes. Man konnte auf beliebig viele Einzelzah len und Felder gleichzeitig setzen. Die elfenbeinerne Kugel, die über die schwarzen und roten numerierten Fächer des Roulettes tanzte, be stimmte die Gewinner. Einmal kam Null heraus, aber sie war nicht be setzt, und die Bank strich die gesamten Einsätze ein. Kurt Klingenfeldt konnte in diesem Augenblick ein Stöhnen nicht unterdrücken. »Verdammt, und ich hatte Null setzen wollen!« Er verlor unaufhörlich, ging mehrere Male zur Kasse, um neue Spiel marken zu kaufen, und verlor wieder alles. Dennoch gab er erst auf, als die Bank geschlossen wurde. Sein Gesicht hatte eine ungesunde gelb liche Färbung angenommen; er mußte sich auf Undine stützen, als sie zur Tür gingen. »Es tut mir leid, Herr Klingenfeldt«, sagte sie und schämte sich über sich selber, weil es so wenig ihrer wahren Meinung entsprach. »Seien Sie still!« sagte er grob. 190
Sie schwieg, aber sie war nicht gekränkt. Sie fühlte sich plötzlich so schuldbewußt, als ob sie seine Spielverluste verursacht habe. Auf der ganzen Heimfahrt sprachen sie nicht ein einziges Wort. Erst als sie die Halle des Parkhotels betraten, sagte er: »Ich muß un bedingt noch etwas trinken. Leisten Sie mir Gesellschaft?« »Es ist schon spät, ich möchte doch lieber …«, begann sie, aber als sie den gequälten Ausdruck in seinem Gesicht sah, unterbrach sie sich rasch: »Natürlich, gerne, wenn Sie es wünschen.« In der Halle waren die großen Lichter schon ausgeschaltet, aber in der Bar gab es noch Gäste. »Zwei Kognaks«, bestellte Kurt Klingenfeldt beim Mixer. »Bitte, weil Sie es sind«, sagte der junge Mann, »aber dann mache ich Schluß.« Undine sah sich nach einem Platz um. Ihr Wunsch, endlich die Bei ne ausstrecken zu können, überwog alles. Ein Herr erhob sich. »Bitte, gnädiges Fräulein, wenn Sie hier Platz nehmen möchten.« Undine erkannte Professor Schneider. »Guten Abend«, sagte sie unsicher, »ich weiß nicht …« »Ich habe auf Sie gewartet, auf Sie und Herrn Klingenfeldt«, erklär te Professor Schneider ruhig. »Sie sollten sich zu mir setzen, ich denke nämlich, daß ich Ihnen helfen kann.« Und nach einer fast unmerkli chen Pause fügte er hinzu: »Ich war heute abend auch im Kasino.« »Tatsächlich?« fragte Kurt Klingenfeldt, der zu ihnen getreten war. »Ich habe Sie aber nirgends gesehen.« »Haben Sie überhaupt etwas gesehen – außer dem Spielfeld und dem Roulette?« »Ich habe schreckliches Pech gehabt.« Kurt Klingenfeldt setzte sich ächzend. »Wenn das so weitergeht, bringe ich mich noch um mein ganzes Vermögen.« »Warum haben Sie das gnädige Fräulein nicht spielen lassen?« »Das gnädige Fräulein? Ach so, Sie meinen Undine? Das war auch so ein Reinfall. Ich habe sie mitgenommen, damit sie mir Glück bringen sollte, und statt dessen …« Auch Undine hatte sich gesetzt. »Ich habe 191
niemals behauptet, daß ich irgend jemand Glück bringen könnte«, sag te sie heftig. »Es war also nicht meine Schuld.« »Bestimmt nicht. Herr Klingenfeldt hat einfach zu viel von Ihnen er wartet.« Professor Schneider strich sich über seinen gepflegten Spitzbart. »Ich halte sie zwar nach wie vor für ein ausgezeichnetes Medium, aber unter den gegebenen Bedingungen mußten Sie versagen. Um erfolgreich zu sein, hätten Sie mehrere gänzlich voneinander verschiedene Psi-Fä higkeiten – so nennen wir Fachleute alle jene menschlichen Fähigkeiten, die sich aus den physikalischen Gesetzen allein nicht erklären lassen –, kurzum, Sie hätten einige übersinnliche Fähigkeiten auf einmal ausüben müssen. Erstens Hellsehen: Sie hätten voraussehen müssen, in welches Fach die Kugel fallen würde, noch bevor sie geworfen war. Sehr schwie rig, fast unmöglich. Weiter hätten Sie Herrn Klingenfeldt telepathisch mitteilen müssen, auf welches Feld er setzen mußte. Das würde aber zu gleich voraussetzen, daß Herr Klingenfeldt als telepathischer Empfän ger geeignet wäre. Und das alles war zu viel verlangt. Besonders für ein erstes Experiment.« Der Ober hatte die beiden Kognaks gebracht, und Kurt Klingenfeldt nahm einen Schluck. »Experiment«, sagte er, »es soll te kein Experiment sein. Ich wollte gewinnen, das war alles.« Professor Schneider wandte sich an Undine. »Und Sie? Warum ma chen Sie mit?« »Um Geld zu verdienen. Herr Klingenfeldt hat mich engagiert.« »Auf wie lange?« Undine zuckte die Achseln. »Na, jedenfalls hoffe ich, daß Sie an mich denken, wenn Sie wieder frei sind«, sagte Professor Schneider. »Ich würde sehr gerne mit Ih nen zusammen arbeiten – auf streng wissenschaftlicher Basis, versteht sich. Aber natürlich würde ich auch dafür sorgen, daß Sie bei mir Ihr Auskommen hätten.« »Sind das Ihre guten Ratschläge, Professor?« sagte Kurt Klingenfeldt böse. »Dann danke ich. Dann hätten Sie mich lieber meinen Kognak ungestört trinken lassen sollen.« »Ich glaube, ich weiß, was Professor Schneider vorhin meinte«, sag te Undine plötzlich. 192
Die beiden Herren sahen sie an. Undines Augen glänzten. »Ich müß te selber spielen, dann könnte es vielleicht klappen.« »Aber Sie haben doch keine Ahnung vom Spiel!« rief Kurt Klingen feldt. »Doch. Ich bin bereits dahintergekommen, wie es vor sich geht. Es ist ja gar nicht weiter schwer. Ich könnte schon etwas wagen, wenn ich das Geld dazu hätte.« »Sie hat recht«, sagte Professor Schneider nachdenklich, »das wäre ein vorzügliches Experiment.« »Aber ich müßte dabeisein«, verlangte Kurt Klingenfeldt. »Selbstver ständlich«, sagte Undine, »es ist ja Ihr Geld.« »Wie wollen Sie es machen?« fragte Professor Schneider. »Bitte, er klären Sie es uns – Sie haben doch sicher schon eine Idee.« »Ja«, sagte Undine rasch, »ich werde …« Aber dann biß sie sich auf die Lippen. »Nein, soweit bin ich noch nicht – vielleicht ist auch alles Unsinn, was ich mir vorstelle. Versprechen, daß ich gewinne, kann ich natürlich nicht. Sie müssen selber wissen, Herr Klingenfeldt, ob Sie es riskieren wollen.« Kurt Klingenfeldt stürzte den restlichen Inhalt seines Glases hinun ter. »Und ob ich will«, rief er, »Kinder, ich bin begeistert. Ein Jammer, daß wir es nicht sofort versuchen können!« Undine blieb bis Mittag im Bett. Dann badete sie, kleidete sich an, nahm ein leichtes Essen und ging anschließend zum Friseur, der sein Geschäft in einer Passage des Parkhotels hatte. Später legte sie sich wieder hin und versuchte an alles zu denken, nur nicht ans Roulette und das, was ihr am Abend bevorstand. Es fiel ihr schwer, so untätig zu sein, aber Professor Schneider hatte es ihr dringend geraten. »Schonen Sie sich«, hatte er gesagt. »Seien Sie faul bis zur Langeweile. Je ausgeruhter Sie das Spiel begin nen, desto wirksamer werden Ihre medialen Fähigkeiten sein.« Sie mußte über seine Ausdrucksweise lächeln, spürte aber dennoch, daß er recht hatte. Sie mußte in Höchstform sein, wenn sie das er reichen wollte, was sie sich vorgenommen hatte. Eine einzige Stunde am Roulettetisch konnte nach all ihren Beobachtungen genügen, um 193
sie reich zu machen, so reich, daß sie von niemandem mehr abhängig war. Das war ihr Ziel, und das mußte sie schaffen. Sie hatte sich alles genau überlegt: Sie wollte nicht versuchen, vorauszusehen, wohin die Kugel rollen würde, sie war entschlossen, ihren Lauf zu beeinflussen. Sie wollte sich auf die Null konzentrieren, so lange, bis die Kugel ihr gehorchte. Sie hatte nicht gewagt, Herrn Klingenfeldt oder Professor Schneider in diesen Plan einzuweihen, weil sie befürchtete, daß man über sie la chen würde. Ihr eigener Verstand sagte ihr ja, daß dieses Vorhaben lä cherlich war. Doch irgendwie spürte sie, daß es gelingen würde.
Antje Nyhuus sagte trotzig: »Ja, ich habe es getan.« Sie stand gegen den schweren Eichentisch in der Wohnstube des väterlichen Hofes ge lehnt und sah Frank Ostwald und die angebliche Elke Harms heraus fordernd an. »Ich habe die Briefe geschrieben. Und ich würde es wie der tun. Jedes Wort, das ich geschrieben habe, ist wahr.« Frank Ostwald trat auf sie zu, das Gesicht wutverzerrt. »Was hast du geschrieben? Los, sag es mir! Ich will es wissen – jedes Wort!« Das Gesicht des Mädchens war kalkweiß, aber sie sagte mit einer Stimme, in der kein Schwanken war: »Daß sie eine Hexe ist! Daß sie Menschenleben auf dem Gewissen hat und daß sie die Scheune auf dem Harmshof angezündet hat.« Frank Ostwald wich einen Schritt zurück und sagte in verändertem Ton: »Du mußt wahnsinnig sein, Antje …« »Nein, Frank«, sagte Elke Harms und trat neben ihn, »sie ist nur ei fersüchtig und will Sie nicht verlieren.« »Ich habe ja dein Wort, Frank«, sagte Antje Nyhuus, und ihre ange spannten Züge schienen plötzlich zu erschlaffen. »Das weiß ich, und ich habe zu meinem Wort gestanden – bis heute«, antwortete er. »Lügner! Als ob ich nicht wüßte.« Antjes Stimme brach. »O Gott, du bist ja so unaufrichtig!« 194
»Weil ich mit deiner Busenfreundin ins Wirtshaus gegangen bin? Ist es das, was dich aufregt?« »Nein, es ist etwas viel Entscheidenderes!« In Antjes Augen funkelte Haß. »Du hast dich von dieser Hexe einwickeln lassen! Mir hast du vor Weihnachten geschrieben, daß du arbeiten müßtest, und dann bist du nach Bad Wildenbrunn gefahren, um mit ihr zu feiern! Ich habe dich beobachtet – dich und sie –, ja, ich weiß, ihr habt mich nicht gesehen, ihr wart viel zu glücklich. An mich hast du gewiß nicht gedacht, als du sie in die Arme nahmst!« »Hör mal«, sagte Frank Ostwald und fühlte sich plötzlich sehr unbe haglich, »du siehst das alles ganz falsch. Ich gebe zu, ich habe mich um Undine gekümmert. Anfangs habe ich nie daran gedacht, das Wort, das ich dir gegeben habe, zu brechen. Ich habe ihr das auch erklärt …« Er straffte die Schultern. »Übrigens ist zwischen Undine und mir alles aus, schon seit langem. Du hast nicht den geringsten Grund, mir Vor würfe zu machen.« »Frank«, sagte Antje flehend, »als ob ich das jemals getan hätte! Ich weiß ja, daß du nichts dafür kannst – nur sie ist schuld! Sie hat dich behext!« »Antje, mein Mädchen«, rief er beschwörend und faßte sie am Arm, »weißt du überhaupt, was du da redest?« »Ja! Ja! Ich weiß es genau, ich will ja nur dein Bestes! Laß dir doch helfen! Jakobus Schwenzen …« Er ließ sie so plötzlich los, als ob er sich verbrannt hätte. »Nein«, sag te er, »nein. Es hat keinen Zweck. Wir verstehen uns nicht mehr. Es ist unmöglich.« Er drehte sich um und ging langsam zur Türe. Sie stürzte hinter ihm her, klammerte sich an seinen Arm. »Frank, bitte! Laß dir doch erklären …« Er sah sie fast mitleidig an. »Es ist zu spät, Antje. Du hast alles ver dorben durch dein Komplott mit dem sogenannten Hexenbanner.« »Nein, nein! Alles war in Ordnung zwischen uns, erinnerst du dich denn nicht mehr? Du hast mich geliebt, wir haben Pläne zusammen geschmiedet – bis Undine kam, diese Hexe!« Sie hob die geballten Fäu ste. »Wie ich sie hasse!« 195
»Daran«, sagte er kalt, »kann ich dich nicht hindern. Aber ich warne dich. Wenn du noch einmal gegen sie etwas unternimmst, sie in irgen deiner Form verleumdest, machst du dich strafbar! Und der Hexen banner, der dich zu diesen Machenschaften anstiftet, mit dir!« »Das hat er nicht getan!« sagte Antje Nyhuus. »Nein, wirklich nicht, Frank«, bestätigte das Mädchen, das sich Elke Harms nannte. »Jakobus Schwenzen ist viel zu klug …« »Laßt euch nur von ihm beraten«, sagte Frank Ostwald geringschät zig, »ihr habt allen Grund dazu.« Er befreite seinen Arm aus Antjes Griff. Sie rieb ihr schmerzendes Handgelenk. »Soll das heißen«, stammelte sie, »daß es zwischen uns aus ist?« »Was hattest du dir denn gedacht, nach allem, was geschehen ist?« »Ich liebe dich doch, Frank!« »Das ist die Wahrheit«, sagte Elke Harms mit einer Spur von Mitleid, »Antje liebt Sie wirklich. Nur deshalb hat sie …« »… sich mit dem Hexenbanner und mit Ihnen eingelassen, nicht wahr? Mit euch Gesindel, das uns vom Hof treiben will! Nur deshalb hat sie ein anständiges Mädchen anonym verleumdet. Abscheulich!« Er stieß die Tür auf, trat in den Hausflur und ging ins Freie; er wußte, daß er unbesonnen gehandelt hatte. Dennoch spürte er eine unendli che Erleichterung. »Er liebt Undine«, sagte Antje Nyhuus drinnen in der Stube und stürzte, ehe Elke Harms ihr zu Hilfe springen konnte, mit einem dump fen Laut zu Boden. »Antje! Bitte, komm zu dir, mach doch die Augen auf!« rief das Mäd chen. Sie rüttelte Antje, und als das nichts half, stand sie auf und lief zum Tisch. Sie nahm den mageren Strauß Winterastern aus der Blumenvase und goß das abgestandene Wasser über Antjes Gesicht. Aber auch diese Gewaltkur blieb ohne Wirkung. Antje Nyhuus rühr te sich nicht. Sie lag in tiefer Ohnmacht.
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Als Undine und der Industrielle Kurt Klingenfeldt zum zweitenmal das Spielkasino von Bad Wildenbrunn betraten, schenkte ihnen wie derum niemand Beachtung. Nur Professor Schneider hob den Blick, als sie eintraten. Er hatte auf sie gewartet. Er stand auf und bot Undine seinen Stuhl am Roulette tisch an. Undine nahm Platz und legte die Spielmarken, die Kurt Klingenfeldt für sie gekauft hatte, zu ihrer Rechten auf das grüne Tuch. Es waren zwanzig Marken im Wert von je 50 Mark. Eine Weile beobachtete Undine nur das Spiel. Gerade und ungerade, rote und schwarze Zahlen kamen ganz unregelmäßig. Sie konzentrierte sich auf Rot, und es kam Schwarz. Sie setzte eine Spielmarke auf Rot. Rot kam heraus. Sie ließ Einsatz und Gewinn ste hen. Rot kam noch einmal. Wieder ließ sie alles stehen, und wieder kam Rot. Sie hatte jetzt fünfzehn Spielmarken gewonnen und damit ihren Ein satz zurück. Sie nahm alle Spielmarken an sich und setzte eine davon auf Schwarz. Es kam wieder Rot. Undine hatte verloren. Kurt Klingenfeldt sagte ein gereiztes Wort, aber sie achtete nicht dar auf. Sie setzte zwei Marken auf Schwarz, gewann, ließ alles stehen, ge wann wieder und nahm alle Marken an sich. Die Zahl ihrer Marken hatte sich, seit sie sich an den Spieltisch gesetzt hatte, verdoppelt. »Mesdames, messieurs, faites vos jeux!« erklang wieder die Stimme des Croupiers. Sie zögerte eine Sekunde. Dann nahm sie zehn Marken und setzte sie auf die Zahl 17. »Rien ne vas plus! Le jeu est fait!« sagte der Croupier. Die elfenbei nerne Kugel rollte klappernd. Undine saß atemlos und ohne sich zu regen, die dunklen Augen auf das Roulette gerichtet. »Dix-sept!« sagte der Croupier. »Die Siebzehn!« Langstielige Rechen seiner Gehilfen fuhren über das Spielfeld, zogen die verlorenen Marken ein, teilten die Gewinne aus. Undine hatte das Sechsunddreißigfache ihres Einsatzes gewonnen. 197
Sie wollte alle Marken auf der Nummer siebzehn stehenlassen, aber Professor Schneider beugte sich zu ihr und flüsterte: »Mehr als tausend darf nicht auf eine Chance gesetzt werden.« Undine strich alles ein bis auf eine Tausendermarke, die sie mit ih rem Gewinn zugeschoben bekommen hatte. Sie setzte wieder auf die Siebzehn. Ein neues Spiel begann. Alle am Tisch starrten jetzt auf Un dine. Selbst von den Bakkarattischen kamen Spieler herüber, um die Vorgänge beim Roulette zu beobachten. Wieder fiel die Siebzehn. Ein junges Mädchen hatte Undines Glückssträhne vertraut und ih ren gesamten Einsatz, fünfzig Mark, auf die Siebzehn gesetzt. Auch sie hatte gewonnen – eintausendachthundert Mark. Sie war außer sich vor Freude und rannte zur Kasse. Undine setzte noch einmal auf die Siebzehn, und noch einmal blieb das Glück ihr treu. Ohne eine Miene zu verziehen, strich sie ihren Ge winn ein und stand auf. »Was ist?« fragte Kurt Klingenfeldt verwirrt. »Wohin wollen Sie?« »Ins Hotel!« »Ausgerechnet jetzt, wo Sie im Gewinn sind?« »Ich möchte es gern bleiben«, sagte Undine, und ein kleines Lächeln zuckte um ihre Lippen. Professor Schneider hatte vorsorglich seinen Schal aus der Gardero be geholt. Dahinein packten sie die gewonnenen Marken. Kurt Klingenfeldt gab dem Croupier auf dem Weg zur Kasse ein be trächtliches Trinkgeld. »Ich halte es für einen Wahnsinn, jetzt schon nach Hause zu gehen«, murrte er. Undine drehte sich zu ihm um, sie sah plötzlich sehr erschöpft aus. »Sie können ja noch bleiben«, sagte sie, »aber erst, wenn wir abgerech net haben.« Der Direktor der Spielbank führte sie in einen kleinen Salon, dessen Tür man von innen abschließen konnte. »Ich erwarte Sie an der Bar, Fräulein Undine«, sagte Professor Schnei der. 198
»Danke, nicht nötig. Sie brauchen wirklich nicht meinetwegen ihre Zeit zu opfern.« »Jemand muß Sie doch wohl nach Hause begleiten, nicht wahr? Ich werde auf alle Fälle warten.« Professor Schneider zog sich zurück. Kurt Klingenfeldt schloß die Tür hinter ihm ab, dann begann er mit gierigen Händen zu zählen. Undine sah ihm schweigend zu. »Neunzigtausend rund«, sagte Kurt Klingenfeldt, »wollen Sie nach zählen? Ich denke, wir machen keine langen Geschichten: Fünfund vierzig für Sie, fünfundvierzig für mich – ist es so recht?« Sie nickte. Kurt Klingenfeldt teilte die Scheine in zwei gleich große Bündel und schob eines davon Undine zu. »Erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen jetzt danke«, sagte er. »Schließlich bin ich es, der Sie entdeckt hat.« Er schob sein Bündel in die Seitentasche seiner dunkelblauen Smokingjacke. »Und jetzt halten Sie mir bitte Däumchen!« Undine überlegte, wie sie ihn zurückhalten könnte. »Wollen Sie mich nicht lieber in die Bar begleiten?« fragte sie. »Wir haben unseren gro ßen Gewinn ja noch gar nicht gefeiert.« »Später, Kindchen! Warten Sie auf mich. Erst muß ich meinen Ge winn verdoppeln. Sie werden sich wundern, ich habe allerhand von Ih nen gelernt.« Er schloß die Tür auf und verließ, ohne sich noch einmal umzuse hen, den Salon. Undine legte die Geldscheine vorsichtig in ihre schwarze Handta sche, deren Verschluß sie nur noch mit Mühe zumachen konnte. Dann suchte sie den Weg in die Bar. Er war leicht zu finden. Sie brauchte nur der gedämpften Musik nachzugehen, die ihr entgegenklang. In der Bar des Spielkasinos wurde auf einer kleinen mosaikbeleg ten Fläche getanzt. Undine merkte an der Aufmerksamkeit, die sie er regte, daß die Nachricht von ihrem großen Gewinn sich schon her umgesprochen hatte. Professor Schneider glitt von seinem Barhocker und kam ihr entgegen. »Was möchten Sie trinken?« fragte er. »Und wo möchten Sie Platz nehmen, an der Bar oder lieber hinten an einem der Tischchen?« 199
»Könnten wir nicht woanders hingehen? Wo niemand auf mich ach tet?« fragte sie. Er schüttelte den Kopf. »Bad Wildenbrunn ist wie ein Dorf«, sagte er, »man hat sich schon seit langem mit Ihrer Person beschäftigt. Jetzt interessiert sich hier jeder für Sie, wo immer Sie auch hingehen. Das müssen Sie in Kauf nehmen.« »Vielleicht haben Sie recht.« »Bestimmt sogar. Also, was haben Sie für Wünsche, mein Fräu lein?« »Ich möchte an der Bar sitzen, das habe ich noch nie getan. Trinken möchte ich gern einen Grog, wenn man so was hier kriegen kann.« »Aber nicht doch!« Professor Schneider lachte. »Sie sind hier nicht auf Ihrer heimatlichen Insel, Undine. Ich werde Ihnen einen Champa gnercocktail bestellen; ich weiß, daß er Ihnen schmecken wird.« Er half ihr, sich auf einen der lederbezogenen Barhocker zu setzen, und bot ihr eine Zigarette an, die sie zögernd annahm. »Ist Herr Klingenfeldt wirklich noch spielen gegangen?« fragte er. »Ich habe ihn nicht davon abhalten können«, sagte sie bedauernd. »Er wird sicher alles Geld wieder loswerden.« »Ich fürchte auch.« Professor Schneider gab ihr Feuer. »Aber es hat keinen Zweck, sich darüber Sorgen zu machen. Klingenfeldt ist nun mal ein Spieler und außerdem sehr reich. Ich hoffe nur, daß Sie nicht auch dieser Leidenschaft verfallen, Undine.« Sie rauchte sehr vorsichtig und unbeholfen. »Nein«, sagte sie über zeugt, »ich werde nie mehr spielen.« »Das ist vernünftig. Ich habe Sie heute abend sehr bewundert – nicht, als Sie gewannen, sondern als Sie aufhörten, bestimmt im richtigen Augenblick. Was werden Sie jetzt mit dem vielen Geld machen?« »Mein Vater lebt im Haus ›Luginsland‹, das ist ein Alterspflegeheim am Stadtrand von Wildenbrunn. Er hat es nicht schlecht dort, aber ich möchte ihn trotzdem herausnehmen. Ich möchte mit ihm zusammen sein – die kurze Zeit, die ihm noch bleibt.« »Ist er krank?« »Er hat einen Schlaganfall hinter sich und hat sich seither nicht rich 200
tig erholt.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Er ist der einzige Mensch, den ich habe.« Der Mixer stellte den Champagnercocktail vor sie hin. Sie versuchte einen Schluck und sagte: »Oh! Erfrischend, aber stark.« »Sie sollten Ihr Geld auf die Bank tragen, Undine«, riet Professor Schneider. »Damit kenne ich mich nicht aus.« »Sie sollten es trotzdem tun, das ist am sichersten.« Sie drehte ihr Glas in der Hand. »Ich weiß es wirklich noch nicht.« »Eröffnen Sie ein Bankkonto, das geht ganz einfach. Passen Sie auf, ich werde es Ihnen erklären …« »Nein«, sagte Undine, »bitte nicht jetzt, Herr Professor. Ich bin müde und schwindlig, ich fühle mich nicht imstande, irgend etwas zu be greifen.«
Der alte Tede Carstens bewohnte ein schönes Einzelzimmer mit einem schmalen Balkon und einem herrlichen Blick auf Wälder und Hügel. Aber er ging niemals ins Freie, weder auf den Balkon noch in den großen, ein wenig verwilderten Garten, der das Alterspflegeheim um gab. Mühsam hatte er sich in den letzten Wochen vom Bett zu dem Lehnstuhl am Fenster geschleppt, und auch das war seit ein paar Ta gen vorbei. Müde lag er in seinem Bett. Undine erschrak, als sie ihn sah. Seine Augen leuchteten auf, als sie eintrat, und er blickte ihr mit ei nem rührenden Lächeln entgegen. »Vater«, sagte Undine und beugte sich zu ihm, »mein lieber Vater, wie geht es dir?« Sie fühlte seine Hand auf ihrem Haar und hätte fast geweint. »Gut«, sagte er mit schwacher Stimme. »Mach dir um mich keine Sorgen.« »Ich habe Geld gewonnen, Vater, viel Geld! Ich brauche nicht mehr zu arbeiten. Wir beide können wieder zusammenziehen. Ist das nicht 201
wunderbar?« Sie sah ihn erwartungsvoll an. Aber er schwieg, in sei nem Gesicht rührte sich kein Muskel. »Ich werde uns ein Häuschen suchen«, fuhr sie drängender fort, »oder eine kleine Wohnung, wo wir ganz ungestört miteinander hau sen können. Von nun an werde ich dich pflegen, Vater, freust du dich nicht?« Und als er immer noch nicht antwortete, sagte sie mit äußerster Selbstüberwindung: »Wenn du willst, kehren wir auch auf die Insel zurück, Vater, in den alten Leuchtturm!« Er öffnete den Mund, setzte zum Sprechen an und sagte mühsam: »Zu spät, Undine.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Aber nein! Du denkst wohl, ich rede nur so daher? Ich habe das Geld wirklich, Vater.« Mit einem plötz lichen Entschluß öffnete sie ihre Tasche, holte die Bündel Geldscheine heraus und legte sie vor ihrem Vater auf die Bettdecke. »Da, sieh selber! Ich bin reich. Wenn du willst, hole ich dich heute noch hier heraus.« Er hob die Hand, als ob er die Geldscheine betasten wollte, ließ sie jedoch wieder sinken, bevor er sie berührt hatte. »Unrecht Gut, Undi ne«, sagte er. »Aber ich habe es doch nicht gestohlen, Vater, ich habe es gewonnen, im Spiel gewonnen! Es ist nichts Verbotenes dabei.« »Sündengeld«, sagte der alte Mann. Undine sah ihn verwirrt an. »Ach, Vater, warum willst du denn nicht verstehen? Ich habe mich so über das Geld gefreut, weil es uns damit möglich wird, wieder beisammen zu sein.« »Wirf es weg!« Mit einer überraschend heftigen Bewegung fuhr Tede Carstens über die Bettdecke. Die Geldbündel fielen zu Boden. Undine preßte die Lippen zusammen, bückte sich und hob eins nach dem anderen wieder auf. Sie fühlte sich gedemütigt und bitter ent täuscht. »Geld«, sagte der alte Mann, »bringt keinen Frieden.« Sie richtete sich auf und stopfte die Scheine wieder in ihre Handta sche zurück. »Es tut mir leid, Vater«, sagte sie mit zitternden Lippen. 202
»Komm her, mein Kind!« Die Stimme Tede Carstens' klang jetzt mil der. »Ganz dicht! Es fällt mir schwer, weißt du …« Gehorsam beugte sie sich so tief über ihn, bis sie seinen Atem an ih rem Ohr fühlte. »Ich habe etwas für dich, mein Kind, etwas, das mehr wert ist als Geld. Ich habe es für dich aufbewahrt, all die Jahre. Ich trage es seit langem an einer Schnur um den Hals. Knüpf sie auf.« Undine verstand sofort, was er meinte. Seit sie sich erinnern konnte, hatte Ted Carstens ein Lederbeutelchen an einer festen Schnur auf der Brust getragen. Sie hatte sich als Kind oft gefragt, was es wohl enthal ten mochte. Später hatte sie sich so daran gewöhnt, daß sie sich kaum noch Gedanken darüber machte. Jetzt aber, als sie mit ihren geschickten Fingern den Knoten löste, der die Schnur im Nacken zusammenhielt, war sie voller Spannung. Sie betastete das Lederbeutelchen, ohne einen Begriff über seinen In halt zu bekommen. Der alte Mann beobachtete sie erwartungsvoll. »öffne es!« sagte er. Der zweite Knoten war schwerer zu lösen. Er war ganz eng gezogen und schien seit vielen Jahren nicht mehr gelöst worden zu sein. Es dau erte eine ganze Weile, bis es Undine gelang, ihn zu öffnen. Dann fuhr sie mit der Hand in das Beutelchen, fühlte etwas Glattes und zog es heraus. Was sie in der Hand hielt, war ein rundes Schmuck stück aus Gold, mit schwarzen Achaten und schimmernden Brillant splittern besetzt. Es hing an einer dünnen goldenen Kette. Undine betrachtete es staunend, fand einen Verschluß und ließ ihn aufspringen. Das Schmuckstück erwies sich als eine Art Medaillon. Aber es befand sich kein Bild in der Mitte, sondern eine Locke, blond und seidenzart. »Du trugst es um den Hals, als ich dich fand«, flüsterte Tede Car stens, »in jener Nacht vor achtzehn Jahren. Es war in dem Lederbeu tel, schon damals. Nur die Schnur, die habe ich dazugetan. Die alte war dünn und auch zu kurz, nur für ein Kind gedacht.« Undine runzelte die Stirn. »War ich denn als ganz kleines Kind blond?« fragte sie. »Kannst du dir erklären, was das zu bedeuten hat?« 203
»Ich weiß es nicht. Ich habe oft darüber nachgedacht. Vielleicht ist es das Haar deiner Mutter.« »Meine Mutter …«, sagte Undine versonnen und fühlte das Medail lon schwer in der geöffneten Hand. »Es gehört dir. Halt es in Ehren.« »Ja, Vater.« Undine beugte sich über den kranken alten Mann und küßte ihn zart auf die Stirn. »Ich danke dir – für alles.« Bevor Undine das Haus ›Luginsland‹ verließ, suchte sie den Leiter des Alterspflegeheimes auf. Während sie noch im Vorzimmer wartete, öff nete sich die Tür des Büros, und der junge Dr. Hagedorn trat heraus. Undine sah mit starrem Gesicht an ihm vorbei. Er grüßte und blieb, als ob er ihr abweisendes Verhalten nicht be merkte, vor ihr stehen. »Hallo, Undine«, sagte er dann unsicher, »Sie sehen blendend aus.« Sie saß mit unbewegtem Gesicht. »Ich höre, man kann Ihnen gratulieren.« Dr. Hagedorn warf einen raschen Blick ins Nebenzimmer, wo ein Mädchen auf einer Schreib maschine schrieb, und zog die Tür zu. Undine stand auf. Er trat auf sie zu. »Hören Sie, Undine, machen Sie bitte nicht so ein Gesicht. Was haben Sie gegen mich?« Sie wollte an ihm vorbei. »Ich möchte zum Herrn Direktor.« »Erst wenn wir uns ausgesprochen haben.« Sie sah ihn kühl an. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen, Herr Doktor.« Er war keineswegs beleidigt. »Doch, Undine«, sagte er eindringlich, »sehr viel sogar. Ich verstehe, daß Sie böse auf mich sind, weil mein Va ter … Aber ich schwöre Ihnen, es war nicht in meinem Sinne. Ich hät te Sie gern als Sprechstundenhilfe eingestellt. Aber die Praxis gehört meinem Vater – noch gehört sie ihm jedenfalls.« »Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich Ihnen böse bin«, sagte Un dine mit spröder Stimme, »ich habe Ihnen viel zu verdanken, Herr Doktor, und ich werde das nie vergessen, nur möchte ich Sie nicht kompromittieren.« 204
»Undine! Was ist das für ein Wort! Wie kommen Sie überhaupt dar auf?« »Ihr Vater hat es gebraucht. Er hat mir sehr deutlich zu verstehen ge geben, daß Sie durch den Umgang mit mir kompromittiert würden, weil ich ein hergelaufenes Mädchen bin – wenn nicht gar eine Hexe.« »Das kann mein Vater nie gesagt haben!« »Aber er denkt genau wie die anderen. Und Sie! Warum haben Sie sich nicht auf meine Seite gestellt oder nach der Kündigung durch Mommerts wenigstens den Mut gehabt, selber mit mir zu spre chen?« »Jedenfalls nicht, weil ich Sie inzwischen für eine Hexe hielte.« »Ach was, das reden Sie sich ja bloß ein, weil Sie auf Ihren Schulen gelernt haben, daß es keine Hexen gibt. Aber vielleicht irren Sie sich. Vielleicht bin ich doch eine.« »Sie sind höchstens ein wenig übergeschnappt«, sagte er schroff. »Sie sollten mal zu einem guten Nervenarzt gehen.« »Kann sein, daß ich das sogar tue, obwohl ich von vornherein weiß, daß mir kein Arzt helfen kann. Wenn man mich bloß in Ruhe lie ße …« Ihre mühsam bewahrte Haltung geriet ins Schwanken. »Ja, wahrhaftig«, sagte er, »Sie haben allen Grund, verzweifelt zu sein. Dieser Trick mit den anonymen Briefen war wirklich gemein.« »Warum sagen Sie das mir? Warum haben Sie es nicht allen gesagt, die über mich hergezogen sind? Warum haben Sie mich nicht vertei digt? Oh, Sie wissen nicht, wie das ist, wenn man jemandem vertraut und dann enttäuscht wird.« Einen Augenblick sah es so aus, als ob sie in Tränen ausbrechen wollte, dann aber sagte sie plötzlich mit kalter Stimme: »Das ist vorbei, und ich bin froh, daß es vorbei ist. Jetzt habe ich Geld und bin auf niemand mehr angewiesen.« »Ich habe davon gehört …« »Natürlich. Jeder in Bad Wildenbrunn hat davon gehört. Deswegen möchte ich jetzt auch den Herrn Direktor sprechen.« »Er ist noch nicht frei. Aber vielleicht kann ich Ihnen helfen?« Sie sah ihn prüfend an, bevor sie sagte: »ja, das können Sie.« Sie zö gerte, dann sprach sie weiter: »Ich wollte meinen Pflegevater hier weg 205
holen, damit wir wieder beisammen sind. Aber er weigert sich. Was soll ich tun? Ich meine, was ist das Beste für ihn?« »Lassen Sie ihn, wo er ist.« »Aber …« »Ich weiß, daß das, was ich Ihnen jetzt sage, schmerzhaft für Sie ist, aber früher oder später müssen Sie es doch erfahren. Ihr Pflegevater hat nicht mehr lange zu leben.« »Wie lange?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht ein paar Monate noch, wahrscheinlich kein Jahr mehr. Eines steht fest: Er würde es wohl kaum mehr über stehen, wenn er sich noch einmal an eine neue Umgebung gewöhnen müßte.« »Auch nicht, wenn ich ihn zurück in den Leuchtturm brächte?« »Das würden Sie tun, trotz Ihrer Leidenszeit auf der Insel?« Undine nickte stumm. »Sie sind ein Prachtmädchen«, sagte Dr. Hagedorn, »weiß Gott, ich wollte …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern erklärte: »Auch das hat keinen Sinn mehr. Der Transport wäre zu beschwerlich.« Er las die Trauer in ihren Augen und fügte rasch hinzu: »Aber Sie kön nen etwas anderes für ihn tun – mit Geld. Stiften Sie einen Betrag, damit Ihrem Pflegevater auch der kleinste Sonderwunsch erfüllt wer den kann. Gewiß ist er hier aufs beste untergebracht, Verpflegung und Betreuung sind ausgezeichnet. Aber kranke Menschen haben zu weilen ganz plötzlich auf irgendeinen Leckerbissen Appetit, der nicht auf dem Speiseplan steht, und die besten Medikamente sind selbst verständlich auch die teuersten. Mit Geld könnten Sie da noch eini ges tun.« »Und wem soll ich es geben?« »Mir. Ich werde es schon an eine Vertrauensperson weiterleiten.« Er sah, wie sie ihre Handtasche öffnete und einen Schein aus einem der Geldbündel klaubte. »Hören Sie«, sagte er entsetzt, »tragen Sie etwa all Ihr Geld mit sich herum? Sie sollten …« »Ich weiß, ein Bankkonto eröffnen.« 206
»Ja, aber schleunigst. Sie verführen ja Ihre Mitmenschen geradezu zu einem Verbrechen.« Sie blickte ihn mit seltsamem Spott in den Augen an. »Nein, mich beraubt keiner. Wenn ich mich von diesem Geld trenne, dann werde ich es freiwillig tun.«
Es war früher Abend, als Frank Ostwald wieder in der Universitätsstadt eintraf. Er ließ sich am Hauptbahnhof von seinem Studienfreund, mit dem er in die Heimat gefahren war, absetzen, kaufte eine Rückfahrkar te und fuhr mit dem nächsten Zug nach Bad Wildenbrunn. Seine Gedanken waren bei Undine. Jetzt, da er frei war, wußte er ge nau, was er ihr sagen würde. Er war entschlossen, sie trotz aller Beden ken zu heiraten, auch gegen den Willen seiner Eltern. Wenn sie erst seine Frau war, würde niemand mehr wagen, sie eine Hexe zu nennen, und wenn doch – er war bereit, mit Undine bis ans Ende der Welt zu gehen, irgendwohin, wo man sie in Frieden ließ. Es war ein kalter Win tertag. Frank Ostwald ging eilig vom Bahnhof in Bad Wildenbrunn zum Haus des Kurdirektors. Jetzt, so kurz vor dem Wiedersehen, glaubte er die Trennung nicht eine Sekunde länger als unbedingt notwendig er tragen zu können. Er klingelte am Lieferanteneingang, wie er es früher so oft getan hat te, und sagte, als Evelyn öffnete, atemlos: »Bitte, könnte ich Undine sprechen?« Evelyns Augen wurden groß. »Ja, wissen Sie denn nicht? Undine ist fort. Schon seit einer Woche.« »Fort? Was heißt das?« Evelyn warf einen verstohlenen Blick über die Schulter. »Ich kann hier nicht sprechen«, sagte sie leise, »wenn Ihnen was dran liegt, war ten Sie auf mich in der ›Hofkonditorei‹. Ich sehe zu, daß ich so schnell wie möglich wegkomme.« Sie klappte ihm die Tür vor der Nase zu, und er stand einen Augen 207
blick völlig verwirrt, bevor er sich zum Gehen entschloß. Er glaubte, daß Evelyn nur deshalb so geheimnisvoll tat, weil sie sich gern einmal von ihm ausführen ließ. Sie hatte schon immer jede Gelegenheit be nutzt, ein wenig mit ihm zu flirten. Dennoch hätte keine Macht der Welt ihn jetzt davon abhalten kön nen, in der ›Hofkonditorei‹ auf sie zu warten. Er bestellte ein Glas Tee mit Rum, blätterte in einer Zeitung, unfähig, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, und machte sich auf eine lange Wartezeit gefaßt. Aber Evelyn erschien schon nach einer knappen halben Stunde, sehr hübsch, mit vor Kälte geröteten Wangen. Während er ihr aus dem Mantel half, begann sie bereits zu erzäh len: »Also Sie wissen wirklich nichts, Frank? Ja, natürlich, ich habe so eine Ahnung gehabt, daß Sie mit ihr verzankt seien, aber ich habe ge dacht, Undine hätte Ihnen trotzdem geschrieben.« Sie setzte sich und sagte ungeniert: »Was trinken Sie da Gutes? Tee mit Rum? Mir dassel be, bitte.« »Warum ist sie von Mommerts fort?« fragte Frank Ostwald ungedul dig, nachdem er bei der Kellnerin bestellt hatte. »Es fing an mit dem Ozelot. Den hat sie bei der Tombola im Golfklub gewonnen. Sie wissen sicher, Doktor Hagedorn hatte sie eingeladen …« »Sie hätte nicht hingehen sollen.« »Na, wissen Sie«, sagte Evelyn entrüstet, »jetzt sprechen Sie beinahe wie Frau Mommert! Dabei hat die selber Pelze genug. Sie hat ihn Un dine einfach nicht gegönnt. Ja, und dann kamen die anonymen Brie fe – scheußliches Zeug –, nicht nur Mommerts bekamen einen, son dern alle möglichen Leute in der Stadt. Es stand drin, daß Undine eine Hexe sei und den bösen Blick hätte …« »Ich weiß«, sagte Frank Ostwald, »weiter!« »Sie wissen?« Evelyn sah ihn mißtrauisch an. »Aber woher denn? Eben sagten Sie doch …« »Das tut nichts zur Sache. Ich erkläre es Ihnen später, wenn Sie Wert darauf legen. Also bitte!« »Nun, Frau Mommert regte sich hysterisch auf und setzte dem Herrn Direktor so lange zu, bis er Undine kündigte. Es war eine Gemeinheit.« 208
»Und wo ist Undine hin?« »Sie wollte sich eine neue Stellung suchen. Aber der alte Doktor Ha gedorn hat ihr offenbar den Weg verbaut. Bloß der Herr Klingenfeldt wollte sie engagieren. Natürlich hatte er auch gehört, daß Undine an geblich eine Hexe ist, deshalb schleppte er sie als seine Beraterin mit ins Spielkasino – und was soll ich Ihnen sagen?« Sie machte eine Kunst pause. »Machen Sie's nicht so spannend«, drängte er, das Gesicht bleich vor Unbehagen. »Undine hat's geschafft.« »Was soll das heißen?« »Sie hat Glück gehabt am laufenden Band. Natürlich mit Klingen feldts Geld, aber den riesigen Gewinn haben sie geteilt.« »Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Frank Ostwald verstört. »Nicht? Dann erkundigen Sie sich doch selber. Sie wohnt im Parkho tel, sehr feudal. Ja, Undine ist jetzt kein armes Mädchen mehr.«
IX
U
ndine war an diesem Nachmittag lange in Bad Wildenbrunn un terwegs gewesen. Sie war auf der Suche nach einer möblierten Wohnung kreuz und quer durch die Stadt gegangen. Denn sie hatte ih ren Plan, den Pflegevater zu sich zu nehmen, trotz allem nicht aufgege ben. Aber überall, wo sie anfragte, war man ihr mit Zurückhaltung, wenn nicht mit deutlicher Abweisung begegnet. Eine alte Frau hatte sich so gar bekreuzigt und ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ziemlich entmutigt hatte Undine ihr Vorhaben schließlich aufgegeben. Auf dem Rückweg war sie lange vor dem Fenster des ›Modesalon Re gina‹ gegenüber dem Kurtheater stehengeblieben. Sie hatte auf ein ele 209
gantes schwarzes Kostüm in der Auslage gestarrt, das ihr besonders gefiel. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihr eingefallen war, daß sie ja tatsächlich Geld genug besaß, um es zu kaufen – zum erstenmal in ih rem Leben hatte sie Geld genug, um sich alle Wünsche zu erfüllen. Sie trat ein, erstand das schwarze Kostüm, dazu noch ein grünes aus einem seidig glänzenden Stoff, zwei Kleider, Pullover und einen modi schen Regenmantel. Zum Kauf der Keilhosen, die die Verkäuferin ihr zeigte, konnte sie sich nicht entschließen; sie schienen ihr allzu extrava gant. Als sie den Laden verließ, hatte sie einige hundert Mark ausgege ben. Man versprach ihr, die Einkäufe ins Hotel zu schicken. Sie war gut und aufmerksam bedient worden, und das gab ihr den Mut, anschlie ßend noch einen Schuhladen und ein Wäschegeschäft aufzusuchen, um sich mit allem einzudecken, was ein junges Mädchen wünscht und auf das sie bis zu diesem Augenblick hatte verzichten müssen. So kam es, daß sie mit kleinen Paketen beladen und sehr elegant in ihrem Ozelot, zarten Strümpfen und modernen Husarenstiefelchen ins ›Parkhotel‹ zurückkehrte. Ein Page übernahm die Pakete, sie öff nete ihren Pelz, trat zur Rezeption und verlangte ihren Schlüssel. Der Empfangschef überreichte ihn mit einer Verbeugung. Frank Ostwald, der, hinter einer Zeitung halb verborgen, in der Hal le auf sie gewartet hatte, beobachtete alles. Undine schien ihm fremd und sehr selbstsicher. Wie konnte er ihr jetzt, da sie wohlhabend ge worden war und ihn offenbar nicht mehr brauchte, gegenübertreten und sie bitten, einmal seine Frau zu werden. Er glaubte zu wissen, daß es eine Zeit gegeben hatte, da sie sehnsüchtig auf dieses Wort gewar tet hatte – damals hatte er sich nicht entschließen können. Jetzt – das fühlte er mit schmerzhafter Deutlichkeit – war es zu spät. Sie war über ihn hinausgewachsen. Er hatte zu lange geschwiegen. Undine kam so dicht an ihm vorbei, daß ihm das Medaillon auffiel, das sie an einem Samtband um den Hals trug. Sie bemerkte ihn nicht. Sie ging, ohne nach links oder rechts zu sehen, zum Aufzug. Der Empfangschef folgte ihr: »Gnädiges Fräulein, entschuldigen Sie bitte, ich vergaß …« Sie blieb stehen, blickte ihn an. 210
»Ein Herr wartet auf Sie.« »Wo?« »In der Halle.« Undine sah sich um, aber in der Halle befanden sich nur wenige Per sonen, die sie nicht kannte und von denen ihr niemand Beachtung schenkte. »Ich habe nicht den Eindruck, als ob von diesen Leuten jemand auf mich warten würde«, sagte Undine. »Tatsächlich. Nun, es scheint, daß der Herr schon gegangen ist, dabei könnte ich schwören, ich hätte ihn eben noch gesehen.« »Macht nichts.« Um Undines Lippen spielte ein kleines Lächeln. »Wenn es etwas Wichtiges war, wird er wohl wiederkommen.« Der Page mit den Paketen hatte ihr die Tür aufgehalten. Sie fuhr im Lift nach oben. Nicht eine Sekunde kam ihr der Gedanke, daß es Frank Ostwald hätte sein können, der auf sie gewartet hatte und dann, ohne das Wort an sie zu richten, wieder gegangen war.
Eine halbe Stunde später – Undine war noch damit beschäftigt, die Pa kete zu öffnen und die neue Wäsche in die Fächer ihres Kleiderschran kes zu ordnen – klopfte es an die Zimmertür. Sie zögerte, »Herein« zu rufen, denn sie hatte ihr Kostüm abgelegt und statt dessen einen rotseidenen Morgenrock angezogen. Aber ehe sie sich noch entschlossen hatte, was sie tun sollte, wurde die Tür ohne ihre Aufforderung geöffnet. Kurt Klingenfeldt trat ein. Sein feistes Gesicht war bleicher als sonst. Tiefe Schatten lagen unter seinen kleinen Augen, die gefährlich glitzerten. Unwillkürlich wich Undine einen Schritt zurück und zog den Gür tel ihres Morgenrockes enger. »Was wollen Sie?« »Tun Sie nicht so! Sie wissen doch sehr genau Bescheid«, fauchte er. »Ich? Worüber? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« »Sie wissen nicht, was gestern nacht passiert ist?« 211
Undine begriff. »Sie haben verloren?« »Ja. Alles.« »Das tut mir leid«, sagte sie unsicher. Er schob mit der Hand Papiere, Schnüre und leere Kartons von ei nem der Sessel und setzte sich schwer. »Heute vormittag habe ich den Mercedes verkauft – zu einem Spottpreis, versteht sich. Die Leute mer ken natürlich, daß man Geld braucht.« Undine spürte etwas Unangenehmes auf sich zukommen. Sie fuhr sich mit der Hand an die Kehle. »Warum haben Sie das denn ge tan?« »Weil heute Mittwoch ist. Verstehen Sie, was das bedeutet?« »Nein.« »Mittwoch ist das Kasino auch nachmittags geöffnet. Ich brauchte Kapital. Ich wollte alles zurückgewinnen …« Plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Undine stand hilflos da. Sie fühlte kein Mitleid mit dem seltsamen Mann, nur Unbehagen. Plötzlich hob er sein Gesicht und sah sie an. »Sie lachen mich aus!« sagte er zornig. Undine schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe keinen Grund zu la chen. Nur – ich begreife nicht, warum Sie das gerade mir erzählen.« »Weil Sie der einzige Mensch sind, der mir helfen kann.« »Nein«, sagte Undine, »ich will nicht. Ich habe von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, daß ich nur ein einziges Mal spielen werde.« »Dann geben Sie mir wenigstens Geld. Einen Tausender. Wenn ich einen Tausender habe, werde ich alles zurückgewinnen.« »Herr Klingenfeldt«, sagte Undine, »es heißt, doch, Sie seien so reich. Warum schreiben Sie nicht einfach nach Hause? Oder, wenn Ihnen das zu langsam geht, telegrafieren Sie, rufen Sie an – verlangen Sie, daß man Ihnen Geld schickt.« Kurt Klingenfeldt sprang auf. »Mischen Sie sich nicht in meine Pri vatangelegenheiten.« »Gerne. Solange Sie mich nicht mit Ihren Sorgen behelligen.« »Undine! Sie scheinen zu vergessen, daß Sie mir verpflichtet sind. 212
Geben Sie mir das Geld.« Er streckte die Hand aus. »Einen Tausender! Was bedeutet das schon für Sie …« »Sie werden auch den verlieren.« »Nein, ich schwöre es Ihnen. Wenn Sie wüßten, welche Beträge ich schon gewonnen habe! Nur gestern und heute, da hatte ich einfach eine Pechsträhne. So etwas gibt es doch.« Undine ging langsam zu dem kleinen Sekretär, der nahe dem Fen ster stand, nahm ihre Handtasche, öffnete sie, zog zehn Hundertmark scheine heraus und gab sie Kurt Klingenfeldt. »Hier«, sagte sie, »und viel Glück.« Ohne sich die Zeit zu nehmen, auch nur ›Danke‹ oder ›Auf Wieder sehen‹ zu sagen, stürzte er aus dem Zimmer. Undine dachte nach. Ei nes stand fest – sie mußte hier fort. Kurt Klingenfeldt würde spielen und verlieren und wieder kommen, sie um Geld zu bitten. Sie sah kei ne Möglichkeit, ihn zurückzuweisen, nachdem sie mit seinem Einsatz ihren großen Gewinn gemacht hatte. Also mußte sie fort, wenn sie ih ren neuen Reichtum nicht so schnell, wie sie ihn erworben hatte, wie der verlieren wollte. Sie wollte nicht wieder arm sein, um keinen Preis. Es war schreck lich gewesen, so ausgeliefert zu sein, herumgestoßen zu werden wie ein lästiges Subjekt, das sich nicht wehren konnte. Der Wille, das Geld zu behalten, war sogar stärker als der Wunsch, in der Nähe ihres Vaters zu bleiben. Sie dachte flüchtig an den alten Mann, erstickte diesen Ge danken aber sofort wieder. Tede Carstens verstand sie nicht. Er hatte sich nicht gefreut, als sie ihm gesagt hatte, daß sie ihn holen wollte. Er hatte ihr Geld und damit sie selber von sich gestoßen. Für ihn machte es keinen großen Unter schied, ob sie in Bad Wildenbrunn lebte oder sonstwo. Ihn besuchen und Geld für seine Pflege schicken konnte sie von überallher. Undine riß ihren Koffer vom Schrank und begann zu packen. Der Koffer war viel zu klein. Zu dumm, daß sie nicht daran gedacht hatte, einen neuen zu kaufen. Aber wenn sie einen Teil ihrer alten Sachen zu rückließ, einen anderen Teil in Pakete verpackte, dann mochte es ge hen. Ein Glück, daß die Kleidungsstücke aus dem Salon ›Regina‹ noch 213
nicht eingetroffen waren. Sie würde dorthin einfach eine Karte mit ih rer neuen Adresse schicken – wenn sie erst eine hatte. Unversehens hielt Undine mit ihrer Arbeit inne. Wohin sollte sie sich wenden? Nach Norden, nach Süden, nach Westen, nach Osten? Es war ganz gleichgültig. Sie kannte nirgends einen Menschen, und das war gut so. Das große Paket, in dem sie alles verstauen wollte, was nicht mehr in ihren Koffer paßte, wollte ihr nicht gelingen. So ging es nicht. Sie klingelte dem Zimmermädchen. Wenn sie wenigstens einen geeig neteren Karton bekommen könnte. Sie war eben dabei, die Schnüre wieder aufzulösen, als an die Tür geklopft wurde. Sie sagte »Herein«, ohne aufzusehen. »Undine!« Sie sprang überrascht auf. Es war Dr. Hagedorn, der in ihr Zimmer getreten war. Er blickte sehr ernst. »Sie?« rief Undine. »Wieso hat man Sie nicht angemeldet?« Er blieb stumm und sah sie nur an, und plötzlich wußte sie es. »Vater?« »Ja. Tede Carstens ist friedlich hinübergegangen – im Schlaf. Er hat nichts gespürt.« Ihre Augen glühten in dem blaß gewordenen Gesicht. »Wann?« frag te sie mit steifen Lippen. »Vor einer guten Stunde hat ihn eine der Pflegerinnen leblos gefun den. Man rief mich sofort.« Vor einer Stunde, dachte Undine traurig. Er war also schon tot, als ich mich mit Klingenfeldt um das Geld stritt. »Sie dürfen es nicht so tragisch nehmen, Undine«, sagte Dr. Hagedorn, »er war ein alter Mann und am Ende seiner Kräfte. Er hätte nicht mehr viel Freude am Leben gehabt.« »Ich weiß …« Sie sah an ihm vorbei. »Ich möchte ihn gern auf der In sel beisetzen lassen.« »Ich verstehe.« Dr. Hagedorn zögerte. »Nur …« »Auch wenn es teuer sein sollte.« »Das ist es nicht, Undine«, sagte er rasch, »ich denke jetzt nicht an Geld. Aber haben Sie sich wirklich überlegt, was eine Beerdigung 214
auf der Insel für Sie bedeuten würde? Sie könnten nicht hinter dem Sarg hergehen, sonst würde wahrscheinlich niemand von seinen alten Freunden kommen. Hier wird es ganz anders sein. Tede Carstens war beliebt, und von dem Geschwätz, das in der Stadt umgeht, ist kaum et was zu den alten Leutchen im Heim gedrungen. Alles wird in Ruhe und Frieden verlaufen. Niemand wird es wagen, Sie zu schmähen.« »Danke, Doktor«, sagte sie. Den Ausdruck ihrer Augen vermochte er nicht zu deuten. »Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann …« »Nein, danke. Es war sehr mitfühlend von Ihnen, daß Sie selber ge kommen sind, um es mir zu sagen. Ich danke Ihnen – aber jetzt möch te ich allein sein.« Er hatte schon die Tür geöffnet, um das Zimmer zu verlassen, als das Stubenmädchen hereinkam. »Gnädiges Fräulein haben geläutet?« fragte sie und sah sich mit kaum verhohlener Neugier um. »Danke, es hat sich inzwischen erledigt.« Undine drängte das Mädchen und Dr. Hagedorn förmlich aus dem Zimmer, drückte hinter ihnen die Tür ins Schloß und drehte den Schlüssel zweimal um. Dann warf sie sich auf das breite Bett. Lange lag sie so, mit geschlos senen Augen, wartete, daß Tränen in ihr aufsteigen würden. Aber sie blieb ganz starr, spürte nichts als ein dumpfes Schuldgefühl.
»Gut, daß du kommst, Frank«, sagte Helmut Zach, ohne aufzustehen. »Hau dich aufs Bett, einen zweiten Stuhl gibt's leider nicht in dieser lausigen Bude. Hat man dir erzählt, daß ich dich sprechen wollte? Man sagte mir, du wärst für einige Tage nach Hause gefahren. Gibt es sonst etwas Neues?« Frank Ostwald bot dem Freund eine Zigarette und Feuer an und be diente sich dann selber. »Genau dasselbe wollte ich dich fragen«, sag te er. 215
Helmut Zach dachte nicht daran, auf diese Bemerkung zu antwor ten. »Du siehst ein bißchen mitgenommen aus«, sagte er. »Hat es zu Hause Ärger gegeben?« »Allerdings. Jakobus Schwenzen und Konsorten werden immer unver schämter. Es wäre wirklich an der Zeit, ihnen das Handwerk zu legen.« Helmut Zach blinzelte in den Rauch seiner Zigarette. »Tja, ich fürch te, das wird nicht ganz einfach sein.« »Das sagst du immer. Erzähl mir lieber klipp und klar, was ihr her ausgebracht habt.« Endlich entschloß sich der Freund dazu und begann ausführlich zu schildern: »Kurz nach Weihnachten kam ein Bericht unseres Agenten aus Lon don. Ich kann ihn dir nicht zeigen, weil der Chef ihn eigenhändig in seinen Panzerschrank geschlossen hat. Das tut er mit allen Dokumen ten, die er für wichtig hält.« »Aber du wirst doch wenigstens wissen, was drinsteht.« »Sicher. Das will ich dir ja gerade erzählen. Klaus Harms und sei ne Familie – Vater, Mutter und Tochter – sind nicht in London umge kommen. So lautet jedenfalls der Bericht unseres Agenten.« »Nicht? Soll das heißen, sie könnten genausogut noch leben?« »Sieht so aus.« Frank Ostwald stand auf und begann in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen. »Das glaube ich nicht«, sagte er schließlich, »dann müßten sie sich doch in all den Jahren mal gemeldet haben.« »Nicht unbedingt. Möglicherweise haben sie etwas zu verbergen.« »Ach, Unsinn.« »Nicht so heftig, mein Junge! Hast du denn diesen Klaus Harms je gekannt? Natürlich nicht. Wie kannst du dann so rasch urteilen? Fest scheint jedenfalls zu stehen, daß er irgend etwas mit Spionage zu tun hat oder gehabt hat.« Frank Ostwald blieb überrascht stehen. »Wie kommst du darauf?« »Sehr einfach. Weil die Spuren, die unser Agent gefunden hat, sehr deutlich auf den Secret Service hinweisen. Dieser Klaus Harms scheint mit dem englischen Geheimdienst zusammengearbeitet zu haben.« 216
»Aber wann denn? Und warum?« »Das Warum ist leicht zu erklären. Klaus Harms war eine Abenteu rernatur, das steht außer Frage. Genausowenig dürfte bestreitbar sein, daß es ihm nicht gelungen ist, sich in Südamerika eine neue Existenz aufzubauen. Also: Was lag näher, als das Geld zu nehmen, das die Männer vom Secret Service ihm unzweifelhaft geboten haben?« Frank Ostwald drückte seine Zigarette aus. »Mir schwirrt der Kopf«, sagte er. »Selbst wenn wir deine Vermutungen mal als richtig unter stellen wollen: Du kannst mir keinesfalls weismachen, daß seine Frau und seine Tochter – ein Baby damals – mit von der Partie waren.« »Genau die gleiche Überlegung hat mich auf einen Gedanken ge bracht«, sagte Helmut Zach. »Erinnerst du dich, daß Klaus Harms im letzten Brief an seine Eltern geschrieben hat, er käme bald nach Hause? Vielleicht hat er gerade das mit Hilfe des Secret Service versucht – mit seiner ganzen Familie. Vielleicht hatte man ihm versprochen, ihn und die Seinen in die Heimat zu bringen. Vergiß nicht, es war 1943, also eine Zeit, wo das auf legalem Weg so gut wie unmöglich war.« »Und du meinst, Klaus Harms hat sich als Gegenleistung zur Spio nage verpflichtet?« »Ich gebe zu, das klingt sehr schäbig, ist wohl auch für einen nord friesischen Bauernsohn ziemlich abwegig. Aber – vielleicht dürfen wir es nicht Spionage nennen, sondern Widerstand? Ich weiß, daß die Eng länder während des Krieges Leute ihres Vertrauens eingeschleust ha ben. Warum sollte Klaus Harms nicht darunter gewesen sein? Hast du übrigens eine Ahnung, wie er zum damaligen Regime stand?« »Keine Ahnung. Jedenfalls ist er bald nach dreiunddreißig ausge wandert. Möglicherweise als politischer Rebell.« »Siehst du. Paßt ja großartig. Er hat die Heimat verlassen, weil er mit dem Regime nicht einverstanden war, vielleicht …« Frank Ostwald unterbrach ihn. »Du kannst mit allem, was du sagst, recht haben – bloß, bringt uns das weiter? Das sind doch nur Vermu tungen. Fest steht, daß der Hauptgrund für Klaus Harms, den Hof zu verlassen, in einem Zerwürfnis mit dem Vater bestand.« »Könnte das nicht die gleichen politischen Ursachen gehabt haben?« 217
»Doch. Aber glaubst du, das würde der alte Harmshofbauer uns ge genüber heute noch zugeben?« »Das spielt auch keine Rolle mehr«, sagte Helmut Zach. »Tatsache ist: Klaus Harms wollte mit seiner Familie in die Heimat. Beweis: der letzte Brief an seine Eltern. Tatsache ist: Er traf im Frühjahr 1943 in London ein. Beweis: seine Eintragung in einem Londoner Hotel; unser Agent konnte sie zufällig ermitteln. Tatsache ist: Klaus Harms stand in Verbindung mit dem englischen Geheimdienst. Beweis: Unserem Agenten gelang es, einen der maßgebenden Herren in dieser Angele genheit zu sprechen …« »Tatsächlich?« Frank Ostwald horchte auf. »Davon hast du mir noch kein Wort gesagt.« »Ich hebe mir die Knüller gerne bis zuletzt auf.« »Los! Red schon! Wie hat sich dieser Mann vom Secret Service zu der Angelegenheit geäußert?« »Sehr zurückhaltend. Fest steht nur: Sie kennen Klaus Harms, er hat mit ihnen zusammengearbeitet, und sie wissen vermutlich auch, was aus ihm geworden ist. Andernfalls hätten sie sich bestimmt eindeutig distanziert.« Frank Ostwald holte tief Atem. »So nahe dem Ziel …« »Tja«, sagte Helmut Zach, »ein Jammer. Ich kann deine Gefühle ver stehen, alter Junge. Aber diese Burschen vom Geheimdienst sind hart gesotten. Bei ihnen beißt man auf Granit.« Eine Weile schwiegen beide. Helmut Zach war es, der als erster weitersprach. »Tut mir verdammt leid, Frank. Sollen wir trotz allem versuchen, weiterzumachen? Ich muß dich allerdings warnen. Ihr habt schon jetzt ein ganz hübsches Sümmchen zu bezahlen.« »Trotzdem. Wir dürfen nicht aufgeben. Ich weiß nicht, ob es meine Eltern überleben würden, wenn man sie noch einmal von Haus und Hof vertriebe.«
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Undine wußte nicht, wie lange sie nach der unerwarteten Nachricht vom Tode ihres Pflegevaters auf dem Bett gelegen hatte, als das Tele fon klingelte. Es war dunkel im Zimmer. Sie knipste die Nachttisch lampe an und warf einen Blick auf ihren kleinen Wecker, den sie sich angeschafft hatte, als sie noch Kindermädchen bei Kurdirektor Mom mert war. Sie stellte fest, daß zehn Uhr vorbei war. Wahrscheinlich war sie trotz ihres Kummers eingeschlafen. Erst beim dritten Klingeln des Telefons nahm sie den Hörer ab. Der Empfangschef meldete sich. »Entschuldigen Sie bitte, gnädiges Fräulein, daß ich störe, aber eine Dame wünscht Sie zu sprechen – Frau Beate Meyer.« »Kenn ich nicht …« »Die Dame sagt, er sei sehr wichtig – einen Augenblick, bitte!« Eine weibliche Stimme bestätigte mit Nachdruck: »Jawohl, es ist sehr wichtig. Würden Sie bitte in die Halle herunterkommen?« »Auf keinen Fall. Warum?« fragte Undine erstaunt. »Das kann ich Ihnen unmöglich am Telefon erklären.« Undine über legte einen Augenblick, dann sagte sie: »Wenn Sie mich unbedingt sprechen wollen, kommen Sie nach oben.« Gleich darauf tat ihr dieses Zugeständnis leid, aber da hatte die an dere schon aufgelegt. Undine trat vor den Spiegel, ordnete ihr Haar, wusch das Gesicht mit kaltem Wasser und fühlte sich daraufhin schon besser. Als an die Tür geklopft wurde, hüllte sie sich enger in ihren Morgen rock und schloß auf. Eine magere, elegante junge Frau trat ins Zimmer. Obwohl sie stark geschminkt war und ihre Kleidung eine betont weib liche Note hatte, wirkte sie eher herb. Ihre Züge waren scharf, ihre Be wegungen eckig. Undine hatte sie noch nie gesehen. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie so spät noch belästige«, sagte die Fremde, »aber mein Zug … Ich bin erst vor einer Stunde eingetroffen. Erlauben Sie, daß ich rauche?« Sie zündete sich nervös eine Zigarette an. »Ich glaube, daß ich gerade noch rechtzeitig gekommen bin.« Sie 219
warf das Streichholz in einen Aschenbecher auf dem Tisch. »Mein Va ter ist fertig. Völlig am Ende. Ich habe das kommen sehen, schon seit langem.« Sie seufzte tief und sah Undine an. Undine benutzte die erste Pause, die die Fremde machte, um selbst zu Wort zu kommen. »Wer sind Sie überhaupt? Ich kenne weder Sie noch Ihren Vater.« »Doch. Mein Vater ist Kurt Klingenfeldt.« »Ach so.« »Sie müssen mir das Geld zurückgeben, das Sie durch ihn bekom men haben.« Undine glaubte nicht richtig gehört zu haben. »Sie irren sich«, sagte sie kühl. »Wahrscheinlich hat Herr Klingenfeldt Ihnen etwas Unrich tiges erzählt. Das Geld, das ich habe, gehört mir.« »Sie haben es mit seinem Geld gewonnen.« Undine zog die Augenbrauen zusammen. »Ich mag mich nicht mit Ihnen streiten. Das ist mir zu dumm. Herr Klingenfeldt und ich hatten eine Abmachung getroffen – fragen Sie ihn doch selber! Wir haben uns daran gehalten und den Gewinn geteilt. Im Grunde genommen habe ich ja gewonnen, nicht er.« »Aber mit seinem Geld. Bitte, nur noch eine einzige Frage: Wenn Sie verloren hätten, was dann?« »Ich habe nicht verloren.« Undine warf ungeduldig den Kopf in den Nacken. »Lassen Sie mich jetzt in Ruhe. Ich habe wirklich genug an dere Sorgen.« »Sie werden bald noch mehr Sorgen haben, wenn Sie mir das Geld nicht zurückgeben.« »Das werden wir sehen.« Undine trat zur Tür. »Bitte, lassen Sie mich allein, ich bin sehr müde.« Frau Meyer machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. »Mein Vater braucht das Geld«, sagte sie beschwörend, »ich kann Ihnen wohl gar nicht eindringlich genug erklären, wie wichtig es für ihn ist.« »Damit er es wieder verspielen kann?« »Nein. Ich bin gekommen, ihn nach Hause zu holen.« Die Frau hatte jetzt einen fast flehenden Ausdruck im Gesicht. »Er muß nach 220
Hause – sonst wird man ihn entmündigen. Sie ahnen nicht, wieviel Geld er schon verspielt hat, und jetzt auch noch den großen Merce des. Wenn er nicht sofort mit mir nach Hause fährt, und wenn es mir nicht gelingt, den Wagen wiederzubekommen, dann ist mein Vater am Ende.« »Aber ist es denn nicht sein Geld gewesen, mit dem er gespielt hat?« fragte Undine naiv. »Das Geld seiner Firma, der Firma, die er selber aufgebaut hat.« »Aber dann darf er doch …« »Nein, er darf nicht! Die Familie wird es auf keinen Fall zulassen, daß er die Firma durch seine Spielleidenschaft ruiniert, und sie hat recht damit. Er darf nicht all das, was durch den Fleiß und die Um sicht vieler Menschen geschaffen worden ist, einfach verschleudern. Das wäre ein. Unrecht, geradezu ein Verbrechen.« Frau Beate Meyer trat auf Undine zu. »Geben Sie heraus, was Sie mit seinem Geld gewon nen haben – helfen Sie gutmachen.« Undine spürte, wie ihr Widerstand erlahmte. Sie wußte, daß diese Frau trotz allem, was sie vorbrachte, kein Recht hatte, ihr die gewon nene Summe abzuverlangen, aber sie fand keine Worte, ihr Eigentum zu verteidigen. »Ich brauche das Geld auch«, sagte sie nur und spürte selber, daß es sehr schwach klang. »Wozu? Sie sind jung, Sie sind gesund, Sie können arbeiten – wozu brauchen Sie da das Geld, das Sie auf unrechtmäßige Weise gewon nen haben? Denn Sie haben die Einsätze nicht mit Ihren eigenen Mit teln bestritten, und Sie hätten sich nach dieser seltsamen Abmachung mit keinem Pfennig an den Verlusten zu beteiligen brauchen. Wenn mein Vater sich nun in seiner Verzweiflung das Leben nimmt? Sind Sie wirklich so hartgesotten, mit einem Lächeln darüber hinwegzugehen? Nein, Sie sind es nicht. Vergiften Sie doch Ihr Leben nicht mit diesem Sündengeld!« Frau Meyer konnte ihre Überraschung nicht verbergen, als Undi ne sich wortlos umdrehte, ihre Tasche nahm und ihr die Bündel Geld scheine in die Hand drückte. Sie konnte nicht ahnen, wie Undine das 221
Wort ›Sündengeld‹ getroffen hatte – das gleiche Wort, das der alte Tede Carstens gebraucht hatte. »Ich muß sagen«, stotterte sie, »das ist sehr anständig von Ihnen. Ich hätte nicht geglaubt …« »Mein Vater ist heute gestorben«, sagte Undine mit einer Stimme, die keinen Klang hatte, »ich konnte ihm mit dem Geld nicht mehr hel fen. Nehmen Sie es und gehen Sie – aber gehen Sie rasch!« Als die Tür hinter Kurt Klingenfeldts Tochter ins Schloß fiel, fühlte Undine kein Bedauern, sondern im Gegenteil eine seltsame Erleichte rung. Dieses Mal hatte sie gewiß keine Schuld auf sich geladen.
»Ich kann die Beerdigung nicht bezahlen«, sagte Undine. Sie gab Dr. Hagedorn die Aufstellung, die er ihr überreicht hatte, zurück. »Es tut mir leid.« Es war später Vormittag, sie saßen sich in der Halle des Parkhotels gegenüber. »Aber das ist doch …« Der junge Dr. Hagedorn war betroffen. »Sie machen Witze, Undine.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist wirklich so. Ich habe nur noch ein paar Mark – Taschengeld sozusagen. Alles übrige habe ich Herrn Klingenfeldt zurückgegeben.« »Zurück? Aber es hat ihm doch nie gehört!« »Er brauchte es. Seine Familie droht ihn zu entmündigen – ach, was hat es jetzt noch für einen Zweck, Ihnen das alles zu erklären. Ich habe das Geld eben nicht mehr und damit basta.« Dr. Hagedorn sah Undine nachdenklich an. »Wenn es wirklich so ist …« »Ich habe Sie noch nie belogen.« »Wenn es wirklich so ist«, wiederholte Dr. Hagedorn, »dann haben Sie sich aber ganz schön hereinlegen lassen. Weder Kurt Klingenfeldt noch seine Familie hat ein Recht auf dieses Geld.« »Recht! Recht! Kommt es immer darauf an, wer recht hat? Jetzt wer 222
de ich Ihnen ein Geständnis machen, und Sie können mich dann ruhig für verrückt halten: Ich war froh, als ich dieses Geld los war. Es stand mir nicht zu, und es hätte mir kein Glück gebracht.« Dr. Hagedorn schüttelte den Kopf. »Sie werden wohl nie vernünf tig werden, Undine. Nein, verrückt sind Sie keineswegs, aber unwahr scheinlich sentimental.« »Natürlich werde ich arbeiten, damit mein Vater …« »Das hat keinen Sinn. Eine Beerdigung muß im voraus bezahlt wer den. Ich selbst kann Ihnen das Geld leider nicht vorstrecken – und ich täte es auch dann nicht, wenn ich es könnte. Es hat keinen Sinn, daß Sie sich auch noch damit belasten. Ein Armenbegräbnis vom Alters heim tut es auch.« Undine schwieg. Sie saß ihm aufmerksam gegenüber. Der gesam melte Blick ihrer großen Augen verwirrte ihn. Er sah zur Seite, als er sagte: »Viel wichtiger ist, was Sie jetzt anfan gen wollen. Wenn Ihnen das Hotel die Rechnung präsentiert …« »Das wird nicht geschehen. Ich habe mich schon erkundigt. Sie ist von Herrn Klingenfeldt für acht Tage im voraus bezahlt worden.« »Immerhin. Sie haben also eine kleine Atempause.« »Machen Sie sich keine Sorgen meinetwegen.« Ihr rührendes Lächeln schnitt ihm ins Herz. »Ich werde gleich nach dem Begräbnis Bad Wil denbrunn verlassen – und zwar für immer.« Er schwieg, zündete sich eine Zigarette an und sagte nach einer lan gen Pause: »Wahrscheinlich wird es das Richtige sein.« »Ich freue mich, daß Sie mir recht geben.« Undine stand auf und reichte ihm die Hand. »Noch einmal: Dank für alles.« Er hatte sich ebenfalls erhoben. »Undine«, sagte er, »wie sehr Sie sich verändert haben! Wenn ich an das scheue Mädchen denke, das Sie auf der Insel waren – und jetzt! Dieser Gegensatz!« Er betrachtete sie von den Spitzen ihrer eleganten Schuhe, den hauchdünnen Strümpfen an den schlanken Beinen, dem gut sitzenden grünen Kostüm bis zu ih rem wohlfrisierten schwarzen Haar. »Sie sind eine junge Dame gewor den, Undine.« »Das ist nur äußerlich«, sagte sie, ohne zu lächeln, »in Wirklich 223
keit …« Sie hob die Hände und ließ sie mit einer resignierenden Ge ste wieder fallen. »Ich finde nicht, daß sich in Wirklichkeit etwas ge ändert hat. Ich fühle mich ausgestoßen, wie ich es immer gewesen bin.« »Ich weiß, ich habe Sie enttäuscht«, sagte er beschämt, »aber viel leicht kann ich doch noch versuchen …« »Danke, Doktor, Sie meinen es gut. Aber Sie können mir bestimmt nicht helfen. Ich muß meinen Weg wohl allein weitergehen.«
Als Undine zwei Tage nach der Unterredung mit dem jungen Dr. Hage dorn von der Beerdigung ihres Pflegevaters Tede Carstens zurückkam, wartete Jerry Kater, der Filmproduzent, in der Hotelhalle auf sie. Sie wußte nicht, wer er war, bis er sich wieder vorstellte. Da erinnerte sie sich an die Begegnung mit ihm auf dem Fest im Golfklub, bei dem sie ihren Pelzmantel gewonnen hatte. »Ich weiß, Sie haben inzwischen allerhand Pech gehabt«, sagte Jer ry Kater nach der Begrüßung, »aber das ist kein Grund zum Verzwei feln – nicht für ein Mädchen wie Sie. Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen …« Undines Gesicht war starr. »Mein Zug fährt in einer halben Stun de«, sagte sie. Der Produzent zeigte sich unbeeindruckt. »Was soll's? Dann neh men Sie eben den nächsten. Züge gibt's immer.« »Aber ich bin entschlossen …« Er unterbrach sie. »Es wäre ein großer Fehler, jetzt wegzufahren. Das Dümmste, was Sie tun könnten. Sie haben sich hier eine Propaganda gemacht, wie kein Starlet sie sich besser wünschen könnte.« »Das ist doch wohl eine unpassende Bemerkung.« Undine wollte sich abwenden, ohne ihm die Hand zu geben. Er hielt sie am Ellbogen zurück. »Hoppla, hoppla, junge Dame, nicht so hastig. Sie haben eine seltsame Art, mit Menschen umzugehen, Sie lassen einen ja gar nicht aussprechen. Haben Sie denn nicht verstan 224
den, daß ich Ihnen einen Vorschlag machen will? Ich möchte Sie un ter Vertrag nehmen.« Undine sah ihn groß an. »Als was?« »Als Schauspielerin natürlich. Was dachten Sie?« Farbe stieg in ihre Wangen, sie lächelte fast. »Ach«, sagte sie verlegen, »ich hatte gedacht, Sie wollten womöglich Experimente mit mir ma chen, wie Herr Klingenfeldt. Aber so was tue ich nie wieder …« »Brauchen Sie auch nicht. Ich will zwar auch Geld mit Ihnen verdie nen, aber auf andere Weise. Darf ich Sie jetzt vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?« »Bitte«, sagte sie zögernd. Sie setzten sich an einen der niedrigen Tische, von denen aus man durch das große Fenster die Passanten im winterlich kahlen Kurpark sah. Jerry Kater bestellte zwei Kännchen Mokka und für sich selber, da Undine ablehnte, noch einen Kognak. Auch auf die Zigarette, die er ihr anbot, verzichtete sie. Sie saß sehr blaß in ihrem schwarzen Ko stüm da und sah ihn aus ihren großen Augen erwartungsvoll an. Er sagte spontan, was er dachte: »Sie sind ein bemerkenswert schö nes Mädchen.« Da sie auf diese Feststellung nicht reagierte, fuhr er sachlich fort: »Ich weiß natürlich, daß Sie keinerlei Ausbildung haben, keinerlei Bühnenerfahrung und so weiter. Deshalb hatte ich auch in erster Linie an einen Ausbildungsvertrag gedacht. Ich würde Ihnen – nun, sagen wir einmal – tausend Mark im Monat bieten, und zwar auf die Dauer von drei Jahren. Das erste Jahr dient nur Ihrer Ausbildung, später werden Sie in meinen Filmen spielen oder auch, wenn ich Ih nen das vermittle, in Filmen anderer Produzenten. Sind die drei Jah re abgelaufen, lösen wir unseren Vertrag entweder, oder wir verlän gern ihn zu anderen, für Sie günstigeren Bedingungen. Jedenfalls habe ich das Recht, zu entscheiden, ob der Vertrag verlängert oder beendigt wird. Ich bin auch bereit, den Vertrag von vornherein auf fünf Jahre abzuschließen, wenn Ihnen das ein Gefühl größerer Sicherheit gibt. Na, was sagen Sie dazu? Ist das ein anständiges Angebot?« »Aber ich weiß ja gar nicht, ob ich schauspielerische Begabung habe«, wandte Undine ein. 225
»Pipapo – Begabung! Wenn Sie ahnten, wie unbegabt einige von den Herrschaften sind, die zurzeit die höchsten Gagen beziehen. Abgese hen davon – das Risiko trage in unserem Falle ja ich. Lassen Sie sich deswegen nur keine grauen Haare wachsen.« Der Ober servierte. Undine rührte nachdenklich in ihrer Kaffeetas se. Unvermittelt hob sie den Kopf und sah den Produzenten prüfend an. »Bitte, seien Sie mir nicht böse«, sagte sie, »aber es kommt mir vor, als ob irgend etwas bei Ihrem Angebot nicht stimmte – als ob Sie einen Hintergedanken hätten.« Jerry Kater zeigte sich nicht im geringsten gekränkt. »Stimmt«, sagte er, »ich halte mit etwas hinter dem Berg zurück, und ich wollte eigent lich erst damit herausrücken, wenn wir unseren Vertrag abgeschlos sen hätten …« Sie beugte sich vor. »Was ist es?« »Nichts, das sie in Schrecken versetzen könnte. Ich habe ganz ein fach schon jetzt für Sie eine bestimmte Rolle im Auge, keineswegs eine schlechte Rolle. Ich kenne eine Menge junger Damen, die sich darum reißen würden: Sie sollen ein medial veranlagtes Mädchen spielen.« Undine saß ganz still. Erst nach einer langen Pause fragte sie: »Eine – Hexe?« Der Produzent lachte. »Hexe? Nein! Wie kommen Sie darauf? Es soll kein mittelalterlicher Film werden in Kostümen und so, sondern ein ganz moderner Streifen.« »Glauben Sie, daß es heutzutage keine Hexen mehr gibt?« forschte Undine gespannt. »Mädchen, Sie können Fragen stellen! Hexen hat es nie gegeben, war alles bloß Einbildung.« Undine schwieg. »Also los!« sagte er ungeduldig. »Jetzt habe ich die Katze aus dem Sack gelassen, jetzt äußern Sie sich! Nehmen Sie an – ja oder nein?« »Warum muß es gerade so eine Rolle sein?« fragte Undine. »Weil Sie keine Schauspielerin sind, jedenfalls jetzt noch nicht. Man muß also eine Rolle auswählen, die Ihnen sozusagen auf den Leib geschrie 226
ben ist. Vor ein paar Tagen kam ein gewisser Herr Lombardi zu mir – höchst interessanter Bursche, nebenbei gesagt – und schlug mir vor, mal einen Geisterfilm zu drehen mit spiritistischen Sitzungen und derartigen Dingen. Er hatte auch gleich ein Exposé mitgebracht, gar nicht übel, kann ich Ihnen versichern. Das Medium, das die Haupt rolle spielen sollte, hatte er auch an der Hand, leider eine ganz und gar unmögliche Person, so ein fades Dutzendgesicht. Nichts zu machen. Ich wollte schon das ganze Projekt fallenlassen, da erinnerte ich mich an die Empfehlung meines Freundes Professor Schneider. Es liegt nun ganz bei Ihnen …« »Ich begreife immer noch nicht, was ich da alles tun soll«, sagte Un dine. »Sie sind aber wirklich schwierig! Wie soll ich Ihnen das jetzt schon erklären? Das steht doch alles im Drehbuch – später, wenn es fertig ist.« »Ich meine nicht später, ich denke an jetzt«, sagte sie hartnäckig. »Wie fängt meine Arbeit an?« »Haben Sie schon einmal als Medium gearbeitet?« »Nein.« »Dann ist das natürlich das erste, was Sie tun müssen – mal so eine Sitzung als Medium mitmachen, damit Sie nachher bei den Aufnah men wissen, wie der Hase läuft. Lombardi wird uns so etwas arrangie ren.« Undine fuhr sich erschrocken mit der Hand an die Kehle. Er lach te. »Nun machen Sie bloß nicht so ein Gesicht, als ob Sie Angst hätten. Vor was denn? Vor Geistern etwa? Ich sage Ihnen, ein einziger leben diger Mensch kann hundertmal gefährlicher sein als ein altes Schloß voller Geister.« »Und wenn nun bei der Sitzung gar keine erscheinen?« »Egal. Dann muß Lombardi eben doch sein eigenes Medium arbei ten lassen. Später, im Atelier, können wir ja sowieso keine echten Sit zungen veranstalten.« »Aber wenn das so ist, warum muß ich dann überhaupt bei der ech ten Sitzung dabeisein?« 227
»Weil ich meinen Regisseur, Herrn Kaufmann, überzeugen muß, daß man mit Ihnen den Film machen kann. Schauspielerin sind Sie nun mal nicht, also will ich wenigstens versuchen, Ihre mediale Bega bung zu beweisen. Ist nun alles klar?« Undine stand wortlos auf. »Wo wollen Sie hin?« fragte er verdutzt. »Professor Schneider anrufen. Er wird mir raten können.« »Da haben Sie leider Pech«, sagte Jerry Kater, »mein Freund Schnei der ist zurzeit in Davos. Wintersport.« Er zündete sich eine neue Zi garette an. »Aber Sie können meinem Vorschlag trotzdem ohne Be denken zustimmen. Versuchen Sie es zunächst einmal mit der spi ritistischen Sitzung – mit einer einzigen Sitzung, wohlverstanden. Dann werden wir mehr wissen: Sie, ob Sie die Rolle spielen mögen, und wir, ob Sie der Aufgabe gewachsen sind. Erst dann machen wir den Vertrag – oder auch nicht. Ich zahle Ihnen fünfhundert Mark nur fürs Hierbleiben. Ich glaube, dabei geht keiner von uns ein Ri siko ein.«
»Gut, daß Sie kommen, Jakobus Schwenzen!« Der Bauer Nyhuus, ein kräftiger Mann in den Fünfzigern, stapfte über den Hof auf den so genannten Hexenbanner zu. »Meine Tochter Antje ist krank. Sie mag nicht mehr essen und nicht mehr sprechen.« »Krank?« sagte Jakobus Schwenzen. »Da müssen Sie den Arzt be nachrichtigen.« »Der war schon hier und kann auch nicht helfen. Ich soll sie zu ei nem … Warten Sie, er hat mir's aufgeschrieben …« Der Bauer Nyhu us zog ein Blatt von einem Rezeptblock aus der Westentasche. »Zu ei nem Psychotherapeuten soll ich Antje bringen. Sie wäre nicht richtig krank, behauptet er, es sei alles nur eingebildet. Was soll ich jetzt bloß machen?« »Tun Sie, was Ihr Hausarzt geraten hat.« »Nein. Zu den fremden Ärzten in der Stadt habe ich kein Vertrauen. 228
Außerdem …« Der Bauer Nyhuus senkte seine Stimme: »… ich bin si cher, meine Antje ist verhext.« »Das mag schon sein«, sagte Jakobus Schwenzen, »ich kenne eine, die ihr etwas angehext haben könnte.« »Helfen Sie! Sie sind der einzige, der es kann.« »Wo ist sie?« fragte der Hexenbanner nach kurzem Nachdenken. »Oben in ihrer Kammer. Sie ist den ganzen Tag noch nicht herun tergekommen. Die Arbeit bleibt liegen, ich habe ja auch nur zwei Hän de.« »Ich werde nach oben gehen«, sagte Jakobus Schwenzen. »Nein, Sie brauchen mich nicht zu führen, Bauer, ich finde den Weg auch allein.« Unter der Haustür drehte er sich noch einmal um. »Und keine Stö rung, Bauer, solange ich oben bin – das Leben Ihrer Tochter hängt vielleicht davon ab.« Jakobus Schwenzen war schon in zahlreichen nordfriesischen Bau ernhäusern gewesen. Es fiel ihm nicht schwer, Antjes Zimmer zu fin den. Er öffnete behutsam die Tür und trat ein, ohne anzuklopfen. Das Mädchen lag in einem schmalen hohen Bett, hielt die Augen ge schlossen, die Hände um die Decke verkrampft. Ihr Kopf bewegte sich langsam hin und her; sie stöhnte leise. Jakobus Schwenzen trat näher. Er nagte an seiner vollen Unterlippe. Als er das Mädchen eine Zeitlang beobachtet hatte, ohne daß sie seine Anwesenheit bemerkte, sprach er sie an. »Antje«, sagte er, und da sie nicht reagierte, noch einmal lauter, ein dringlicher: »Antje, mach die Augen auf, sieh mich an! Ich bin es, Jako bus Schwenzen! Ich will dir helfen. Sieh mich an und sprich mit mir – ich hole dir deinen Frank zurück.« Es schien ihm, als ob ihr Stöhnen ein wenig lauter geklungen hätte, aber sie schlug die Augen nicht auf. Er versuchte es noch zwei- oder dreimal, doch seine Bemühungen blieben ohne Erfolg. Da ging er zum Waschbecken, füllte ein Glas mit Wasser und ließ zwei Tabletten aus einem Röhrchen, das er aus der Ta sche zog, hineingleiten. »Hier, trink, Antje«, sagte er, »das wird dir guttun.« 229
Er stützte ihren Kopf mit der linken Hand und hob mit der rechten das Glas an ihren Mund. Aber sie preßte den Mund fest zusammen, und als er ihr die Nase zuhielt, um sie zum Trinken zu zwingen, schlug sie mit einer ziellosen Bewegung in die Luft, so daß der Inhalt des Gla ses über das Bett spritzte. »Verdammt«, sagte Jakobus Schwenzen böse, »jetzt ist es aber genug! Hör auf mit dem Theater, sieh mich an!« Sie wandte den Kopf zur Sei te, verbarg ihr Gesicht in den Kissen, lag regungslos. Jakobus Schwenzen öffnete seine schäbige Ledertasche. Er nahm eine Ampulle heraus, trennte die Spitze ab und füllte den Inhalt in eine Spritze. Dann nahm er Antjes Arm und schob den langen Är mel des Nachthemdes zurück. Bläulich zeichneten sich die Venen ge gen das Weiß ihrer Haut ab. Geschickt stieß er die Nadel hinein. Ant je schrie auf, wollte mit dem Oberkörper hoch. Aber sein Griff war ei sern. Es gab kein Loskommen. Er hielt ihren Arm umklammert, bis auch der letzte Rest der glasklaren Flüssigkeit in ihren Blutkreislauf gedrungen war. »So, das hätten wir«, sagte er befriedigt und verstaute die leere Spritze wieder in seiner Tasche. »Warum benimmst du dich wie eine Verrückte? Ich will dir ja nur helfen.« Sie sagte immer noch nichts, aber er sah, wie der krampfhafte Griff, mit dem sie die Bettdek ke umklammert hatte, sich lockerte. Er sprach weiter in einem gleich mäßigen, einschläfernden Ton auf sie ein. Dann, etwa fünf Minuten, nachdem er ihr die Spritze gegeben hatte, sagte er: »So, und jetzt sieh mich an!« Sie gehorchte. Ihre Augen öffneten sich weit, ihre Pupillen waren übernatürlich vergrößert. Mit hämischer Genugtuung betrachtete Jakobus Schwenzen das Mädchen. Jawohl, viele Leute hielten ihn für einen Bösewicht, der ganz einfach den Aberglauben seiner Mitmenschen ausnutzte, ohne ihnen auch nur im geringsten überlegen zu sein. Andere hielten ihm wenig stens zugute, daß er mit seltenen Kräutern und weitherum vergesse nen Hausmitteln oftmals geholfen hatte, wo moderne ärztliche Kunst versagte. Jetzt aber war er entschlossen, seine wirksamste Waffe einzu setzen: seine erprobte hypnotische Kraft. 230
Der Fall war es wert. Mit Hilfe dieses vor Liebeskummer halb wahn sinnigen Mädchens konnte er Frank Ostwald samt seinen Eltern in den Augen der alten Harmshofbauern unmöglich machen, die lästigen Aufpasser vom Hof herunterekeln und so endgültig zu einem großen Vermögen gelangen. »Sieh mich an«, sagte er noch einmal mit sanfter Stimme zu Antje Nyhuus, »ich werde dir sagen, warum du dich elend fühlst: Du schläfst keine Nacht mehr, seit Frank Ostwald dich verlassen hat. Aber jetzt bin ich bei dir, jetzt wirst du schlafen … Du wirst schlafen, und alles wird nicht mehr wichtig sein, was geschehen ist.« Er ließ das Mädchen keine Sekunde aus den Augen. Sie schauten sich unverwandt an, bis sich ihre Blicke ineinander festsaugten. Langsam ging Jakobus Schwenzen von der Seite des Mädchens zum Fußende des Bettes und murmelte: »Ja, sieh mich an, schau mir in die Augen, ich verspreche dir, du wirst schlafen können – du wirst zum er stenmal wieder richtig schlafen können – du bist sehr müde – du wirst schlafen können …« Das Mädchen hatte sich jetzt ganz auf ihn konzentriert. Jakobus Schwenzens Augen ließen sie nicht mehr los. Er sprach unaufhörlich weiter – wohl ein dutzendmal –, mit leiser, monotoner Stimme: »Du wirst wieder schlafen können – du bist sehr müde – du wirst schlafen können – du wirst schlafen …« Während dieser stereotypen Aufforderung beugte er unmerklich den Kopf nach unten, ging sogar langsam in die Knie, so daß Ant je Nyhuus, da sie ihren Kopf nicht bewegte, immer mehr ihre Augen niederschlagen mußte, um seinen Blick nicht zu verlieren. Schließlich schlossen sich ihre Lider. Jakobus Schwenzens Stimme hatte immer verhaltener geklungen, war zum Schluß nur noch ein Hauch. Jetzt fragte er nach einer kleinen Pause: »Schläfst du?« »Ja«, sagte sie leise. »Aber du hörst mich?« »Ja.« Jakobus Schwenzen trat wieder neben sie und hob ihren Arm, so daß 231
er geradegestreckt in die Höhe stand. »Dein Arm«, sagte er, »zeigt nach oben. Er ist steif. Du kannst ihn nicht knicken, und du kannst ihn auch nicht herunternehmen. Versuch es!« Er ließ sie los. Ihr Arm schwankte leicht, aber sonst veränderte er sei ne Stellung nicht. »Warum nimmst du ihn nicht herunter?« fragte er. »Ich habe es versucht, aber es geht nicht«, lautete die Antwort. »Jawohl. Es ging nicht, weil ich es verboten hatte. Aber jetzt erlaube ich es wieder. Versuch es noch einmal, jetzt geht es.« Tatsächlich gelang es Antje ohne Mühe, den ausgestreckten Arm zu beugen und auf die Bettdecke zu legen. »Nun wollen wir beide uns einmal in aller Ruhe unterhalten«, sagte Jakobus Schwenzen lauernd. »Du bist nicht wirklich krank, Antje, ich weiß es. Warum tust du dann so?« »Damit Frank zurückkommt. Wenn ich krank bin, wird er bestimmt zurückkommen. Er hat mich verlassen. Alle Leute werden mich aus lachen, wenn sie es erfahren. Ich traue mich ja nicht mehr aus dem Haus – ach, das ist ja alles so gemein. Diese Hexe …« Jakobus Schwenzen ließ sie reden, veranlaßte sie nur immer dann, wenn sie zu stocken begann, mit kleinen Fragen zum Weitersprechen. Er erfuhr dabei zwar nichts, was er nicht schon gewußt hätte, aber er nahm an, daß es in seinen Plan passen würde, wenn sie sich aus sprach. Endlich, als er sah, daß sie erschöpft zu werden begann, sagte er: »Nun hör mich einmal an, Antje, du weißt, wie mich die Leute nennen: Hexenbanner! Ich bin tatsächlich der einzige Mensch, der imstande ist, den Bann, den die Hexe um deinen Frank geschlagen hat, zu lö sen und ihn dir zurückzubringen. Aber du mußt dann auch alles tun, was ich dir sage. Es hat keinen Sinn, daß du krank spielst, verstehst du mich? Du mußt doch schön und gesund sein, wenn Frank wieder zu dir kommt. Hör deshalb genau zu, was du zu tun hast!« »Ja«, sagte sie und öffnete die Augen. Er sah an ihrem Blick, daß sie weit weg war, in tiefer Hypnose. »Du wirst jetzt eine halbe Stunde schlafen, genau bis zehn Uhr. Dann wirst 232
du dich frisch und gesund fühlen, aufstehen, dich waschen und anklei den. Aber bevor du hinuntergehst, wirst du einen kleinen Brief schrei ben. Hast du Papier hier oben?« »Ja«, flüsterte sie. »Du wirst schreiben: ›Frank Ostwald hat mein Leben zerstört. Er hat sein Wort gebrochen und mich der Schande preisgegeben. Ich will nicht mehr länger leben. Verzeih mir, Vater.‹ Diesen Brief unterschreibst du mit deinem vollen Namen, steckst ihn in einen Umschlag, klebst ihn zu und bringst ihn mir hinunter. Du sollst diesen Brief vergessen, so bald du ihn geschrieben hast. Nur wenn ich – ich, Jakobus Schwen zen! – das Wort ›Abschiedsbrief‹ sage, wirst du dich wieder daran er innern. Hast du alles genau verstanden?« »Ja.« »Schön. Von nun an wirst du wieder nachts gut schlafen und tags über ganz munter sein.« Jakobus Schwenzen stand auf. »Jetzt gehe ich hinunter. Du wirst in einer halben Stunde erwachen, vergiß es nicht!« Noch ehe er die Zimmertür erreicht hatte, fielen dem Mädchen wie der die Augen zu. Unten in der Stube wartete der Bauer. »Wie geht es Antje?« fragte er erwartungsvoll. »Ist es schlimm?« »Es hat keinen Zweck, Sie mit billigen Redewendungen zu trösten«, sagte Jakobus Schwenzen ernst, »der Fall liegt nicht einfach. Ich habe zwar schon einen gewissen Erfolg erzielen können, sie wird gleich her unterkommen …« »Wird sie das wirklich?« staunte der Bauer. »Ja. In einer halben Stunde. Aber deshalb ist sie nicht geheilt. Sie wird immer wieder Rückfälle haben. Ich fürchte, Sie werden sie doch in die Stadt bringen müssen. Es ist eine langwierige Behandlung, und ich habe nicht genug Zeit …« »Ich zahle, was Sie wollen.« »Ich darf für meine Hilfe nichts verlangen, das wissen Sie. Wenn Sie mir freiwillig etwas geben …« Er steckte befriedigt den Geldschein ein, den der Bauer Nyhuus ihm reichte. Die beiden Männer saßen zusammen am Tisch und tranken einen 233
Wacholderschnaps, als Antje hereinkam. Sie war zwar immer noch sehr blaß, und unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, doch war es für den Bauern wie ein Wunder, sie wieder lächeln zu sehen. Sie reichte Jakobus Schwenzen den Brief, dann lief sie auf ihren Vater zu und schlang die Arme um seinen Hals. »Es tut mir leid, wenn ich dir Sorgen gemacht habe, Vater!« Jakobus Schwenzen leerte sein Glas und stand auf. Mit einem bescheidenen Lächeln lehnte er den Dank des Bauern ab. »Morgen komme ich wieder«, sagte er zum Abschied.
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ür die spiritistische Sitzung, bei der der Filmproduzent Jerry Kater das Mädchen Undine seinem Regisseur als Medium vorführen wollte, hatte der geheimnisvolle Herr Lombardi eine ehemals herr schaftliche Altbauwohnung im Zentrum von Bad Wildenbrunn ge mietet. In dem hohen, geräumigen Zimmer, in dem die Sitzung stattfinden sollte, waren bereits alle Teilnehmer versammelt, als Undine eintrat: Lombardi selber, ein gepflegter, etwas geckenhaft gekleideter Mann mit einem schwarzen Schnurrbärtchen, dann Jerry Kater mit dem be rühmten Regisseur Bruno Kaufmann und dem Kameramann Hel muth Lange sowie ein paar Leute aus Wildenbrunn, in der Hauptsa che Damen, die aus Interesse am Spiritismus oder aus Neugier erschie nen waren. Lombardi forderte sie alle auf, an dem ovalen Eichentisch in der Mitte des Zimmers Platz zu nehmen. Es war zwei Uhr nachmittags, aber da die schweren, lichtschlucken den Vorhänge vor den hohen Fenstern zugezogen waren, konnte man glauben, es wäre mitten in der Nacht. Nur der Kronleuchter, an dem einige Birnen fehlten, verbreitete ein mattes, ungewisses Licht. 234
Es herrschte eine drückende Atmosphäre. Undine, sensibler als die meisten, empfand sie so stark, daß sie schon jetzt heftig bedauerte, sich zu diesem Experiment eingefunden zu haben. Aber da sich die ande ren zwar unwillkürlich gedämpft, aber doch irgendwie angenehm er regt miteinander unterhielten, fürchtete sie, sich mit einem verspäteten Rückzieher lächerlich zu machen. Auch sah sie keine Möglichkeit, Jer ry Kater das Geld, das er ihr für die Teilnahme an der Sitzung gegeben hatte, zurückzuzahlen. Das große Zimmer hatte die Form eines lan gen Rechteckes. Die Tür, die von der Diele hereinführte, lag der Fen sterfront gegenüber. Herr Lombardi führte Undine an eine der Schmalseiten des ovalen Tisches, wo ein bequemer Sessel für sie bereitstand. Er bat Jerry Ka ter, links neben Undine Platz zu nehmen. Die übrigen Personen konn ten sich nach Belieben um den Tisch setzen. Außer für Undine gab es für niemand einen Sessel, sondern nur gradlehnige altdeutsche Stüh le. Lombardi zündete eine Kerze an, die er vor Undine auf den Tisch stellte, löschte das elektrische Licht und nahm zur Rechten des Medi ums Platz, so daß er die Fensterfront im Rücken hatte. »Meine Damen und Herren«, sagte er mit einer tiefen, wohlklingen den Stimme, »zunächst möchte ich Ihnen danken, daß Sie gekommen sind, um an diesem Experiment teilzunehmen. Ich bin sicher, daß es ungewöhnlich interessant werden wird. Insbesondere danke ich Fräu lein Undine Carstens, die sich liebenswürdigerweise als Medium zur Verfügung gestellt hat. Ich erwarte nicht, daß Sie alle – wie ich es tue – vorbehaltlos an den Erfolg dieses Experimentes glauben. Aber ich hof fe, daß niemand unter Ihnen ist, der sich absichtlich dem Kontakt mit Verstorbenen widersetzt. Dadurch würde nämlich unsere Arbeit und vor allem die Arbeit unseres Mediums wesentlich erschwert und viel leicht sogar unmöglich gemacht. Sollte also jemand unter Ihnen sein, der von vornherein überzeugt ist, daß wir nicht zu einem Kontakt kommen werden, so möchte ich ihn bitten, den Raum zu verlassen.« Lombardi legte eine Kunstpause ein, aber niemand meldete sich. »Danke«, sagte er befriedigt. »Darf man rauchen?« fragte Jerry Kater lässig. 235
Eine vergnügte dicke Dame kicherte. »Natürlich nicht.« Lombardis Stimme hatte einen gereizten Un terton. »Es darf weder geraucht noch getrunken werden. Hier han delt es sich um eine bedeutsame Sitzung, die durch nichts beeinträch tigt werden soll.« Lombardis Stimme änderte sich, wurde geheimnis voll. »Jeder, der sich mit übersinnlichen Dingen beschäftigt, weiß, daß die Welt von Geistern bevölkert ist, die immer existieren – Geister, die in den Wiesen, Wäldern und Flüssen leben, Hausgeister und Ko bolde. Sie vor allem erschweren es uns, in Kontakt mit Verstorbenen zu kommen. Sie versuchen uns zu täuschen. Nur mit reinem Herzen können wir Nachricht aus der anderen Welt erhalten. Das Medium hat seit gestern abend nichts mehr gegessen und getrunken – denken Sie daran, und es wird Ihnen leichtfallen, für kurze Zeit auf eine Zi garette zu verzichten.« In dem Raum, der offenbar lange nicht gelüf tet worden war, roch es muffig, die Luft wurde immer unerträglicher durch den Atem und den Parfümgeruch der zahlreichen Menschen. Undine fühlte von ihrem leeren Magen her eine Schwäche in sich auf steigen. Lombardi fuhr in seinen Erklärungen fort. »Wir werden jetzt alle miteinander eine Kette bilden, indem wir unsere Hände vor uns auf den Tisch legen, und zwar ausgespreizt, so daß unsere kleinen Fin ger die unserer Nachbarn berühren. Bitte schön, ist die Kette geschlos sen? Sehr gut. Dann ersuche ich um einige Minuten absoluter Ruhe.« Lombardi schwieg, es wurde sehr still im Raum. Lange Zeit rührte sich niemand. Die Kerze brannte stetig. Undine fiel das Atmen schwer, sie fühlte, wie sich kalter Schweiß auf ihrer Stirn bildete. Die Zeit dehn te sich endlos. Als Lombardi endlich wieder sprach, schien seine Stimme aus ei ner anderen Welt zu kommen. »Ich spüre, daß die Geister nahe sind«, sagte er, »wir können gleich beginnen. Hat jemand einen besonderen Wunsch? Gibt es einen Verstorbenen, an den Sie einige Fragen rich ten möchten? Ich mache aber von vornherein darauf aufmerksam, daß die Geister sich heute wahrscheinlich nur durch Klopfzeichen mani festieren werden – nur sehr erfahrene Medien sind imstande, die Gei 236
ster zum Sprechen oder gar zu einer Materialisation in Form von Pro toplasma zu bringen.« »Mahatma Gandhi«, platzte ein ältliches Fräulein heraus, »ich würde brennend gern ein paar Fragen an ihn richten.« »Ich verstehe Ihren Wunsch durchaus«, sagte Lombardi salbungs voll. »Diesen Geist zu zitieren stände auch durchaus im Bereich des Möglichen, nur – beherrscht zufällig einer der Anwesenden Gandhis Muttersprache? Nein? Dann ist es wohl doch besser, wir konzentrieren unsere Bemühungen auf einen Geist aus unserem Lebensraum.« Jerry Kater sagte überraschend: »Ist es möglich, mit der Filmschau spielerin Renate Müller in Verbindung zu treten?« »Ich glaube, das ist ein guter Vorschlag«, antwortete Lombardi so fort, »ich denke, wir alle haben die Schauspielerin Renate Müller schon einmal auf der Leinwand gesehen.« Er fragte befehlend: »Ist die Kette geschlossen? Gut, dann wollen wir beginnen. Ich bitte alle Anwesen den, auch das Medium, seine Gedanken auf die verstorbene Schauspie lerin zu richten. Absolute Ruhe, bitte!« Wieder trat jenes lastende Schweigen ein. Die Spannung steigerte sich ins Unerträgliche. Plötzlich schauderte Undine zusammen. Ein eisiger Luftzug hatte sie im Rücken getroffen – nein, es war keine Einbildung, auch die Flam me der Kerze flackerte heftig. Es schien Undine, als ob sie einen elek trischen Schlag verspürte. Sie ertrug es nicht länger, riß ihre Hände aus der Kette zurück und rief mit gebrochener Stimme: »Nein, nein, ich kann nicht! Ich will nicht!« Die Spannung löste sich, plötzlich sprachen alle durcheinander. »Unwahrscheinlich«, sagte Jerry Kater beeindruckt, »mir war es eben, als ob ich einen kühlen Hauch verspürt hätte …« »Die Kerze hat stark geflackert«, bestätigte der Kameramann, »wie ist das möglich? Fenster und Türen sind doch fest verschlossen.« Das ältliche Fräulein, das nach Mahatma Gandhi gefragt hatte, schnupperte: »Mir ist, als ob es nach Schwefel riecht!« Jetzt rochen es alle. 237
»Schade, schade«, sagte Lombardi mit enttäuschter Stimme, »wir waren so nahe am Ziel, der Geist wollte sich bereits melden. Fräulein Undine, ist wirklich ein ausgezeichnetes Medium. Ich habe selten ei nen so raschen Erfolg erzielt.« »Ich kann nicht mehr«, sagte Undine erstickt. »Natürlich können Sie! Sie müssen sogar!« sagte Lombardi eindring lich. »Stellen Sie sich vor: Ein Geist, eine körperlose Seele möchte sich mit uns in Verbindung setzen – und Sie rauben ihr die Möglichkeit? Vielleicht hat sie uns etwas Wichtiges mitzuteilen.« »Sie waren ausgezeichnet, Undine«, lobte Jerry Kater. »Nicht wahr, Bruno?« Er wandte sich an den Regisseur. »Sie war doch wirklich gut! Mir zuliebe machen Sie weiter, Undine.« Undine seufzte schwer. »Ich habe solche Angst!« »Doch nicht vor den Geistern? Sie, die ständig, seit frühester Kind heit, mit Geisteswesen in Verbindung stehen!« sagte Lombardi. »Sie sind ein Liebling der Geister, niemand wird Ihnen etwas anhaben – vergessen Sie nicht, daß die Geister körperlos sind, daß sie also keine Mittel haben, Ihnen körperlich zu schaden.« »Also los, weiter«, sagte Jerry Kater ungeduldig, »machen Sie jetzt keine Umstände, Undine!« Lombardis Stimme war ganz sanft. »Haben Sie sich ein wenig er holt?« fragte er. »Ja«, sagte Undine leise. »Dann versuchen wir es noch einmal. Diesmal aber, glaube ich, wird es länger dauern.« Tatsächlich mußten sie sehr lange warten, bis etwas geschah, Minu ten, die sich endlos zu dehnen schienen. Dann kam wieder jener eisige Luftzug, das Flackern der Kerze; der Schwefelgeruch wurde stärker. Aber niemand erschrak jetzt mehr, man hatte diese Zeichen schon erwartet. »Geist, wer du auch seist«, sagte Lombardi dumpf, »melde dich, sprich mit uns, wir sind für deine Botschaft bereit!« Ein rasches, har tes Pochen ertönte, ohne daß jemand zu bestimmen vermochte, von wo es kam. 238
»Bist du unter uns?« fragte Lombardi. Ein einmaliges hartes Po chen. »Ja«, übersetzte Lombardi. »Bist du der Geist, den wir gerufen ha ben?« Zwei Schläge ertönten. »Es ist nicht Renate Müller«, erklärte Lombardi. »Wer bist du?« Viele harte Schläge kamen rasch hintereinander, dann ein einziger Schlag, eine kurze Pause, wieder viele, dann wenige und noch einmal viele Schläge. »Kennst du das Klopfalphabet?« fragte Lombardi in die Stille hin ein. Der Geist bejahte es. »Es scheint ein Wort mit fünf Buchstaben gewesen zu sein«, erklär te Lombardi, »wir wollen ihn bitten, es zu wiederholen. Versuchen Sie alle, die Schläge zwischen den Pausen zu zählen.« Ehe er noch seinen Wunsch auf Wiederholung an den Geist rich ten konnte, ertönten noch einmal die gleichen Klopfzeichen. Jerry Ka ter, das ältliche Fräulein und Lombardi waren die einzigen, die rasch genug hatten mitzählen können. Sie stimmten darin überein, daß die Klopfzeichen 22, 1, 20, 5 und 18 bedeutet hätten, und Lombardi über setzte nach dem Klopfalphabet das Wort. »Vater!« verkündete er laut. »Der Geist ist ein Vater – aber wessen Va ter?« Eine knisternde Spannung lag über dem Raum. Jeder hielt den Atem an. »Geist, der du dich Vater nennst«, sprach Lombardi mit erhobener Stimme, »sag uns: Wessen Vater bist du?« Er hatte den Satz kaum aus gesprochen, als ein starker, eiskalter Luftzug die Kerze löschte. Es pol terte laut. Starker Schwefeldunst verbreitete sich im Zimmer. Eine der Teilnehmerinnen schrie entsetzt auf. Was jetzt geschah, war furchtbar. Hinter Lombardis Rücken sah man Qualm aufsteigen. Er schimmer te bläulich. In bizarren Windungen kroch er, immer heller werdend, empor. Dann tauchten aus dem Dunst – schemenhaft, aber noch er 239
kennbar – das Gesicht eines Mannes auf und Hände, die nach dem Mädchen zu greifen schienen. Undine war vor Schreck erstarrt. Eine hohle Stimme sagte dröhnend: »Undine! Ich bin dein leiblicher Vater!« Da riß es das Mädchen aus seiner Starrheit. Abwehrend hob sie die Hände. »Nein!« schrie sie gellend. »Nein!« Sie sprang auf und stürzte, ehe ihr jemand zu Hilfe eilen konnte, ohnmächtig zu Boden.
Als Undine wieder zu sich kam, lag sie in einem kleinen freundlichen Zimmer mit orangefarben gestrichenen Wänden und hellblauen Vor hängen. Sie sah sich um und fragte sich, wie sie hierhergekommen war. Alles erschien ihr unbekannt. Erst ganz allmählich kam ihr die Erin nerung wieder an das, was geschehen war – an die entsetzliche geister hafte Erscheinung, die behauptet hatte, ihr Vater zu sein. Ein Schauer schüttelte sie, ein starkes Frösteln, das sie nicht unter drücken konnte, obwohl es warm war in dem kleinen Raum. Sie zitter te am ganzen Leib, ihre Zähne schlugen aufeinander. Die Tür öffnete sich, und eine junge Krankenschwester trat ein. »Sie sind wach, Fräulein Carstens?« sagte sie freundlich. »Das ist fein. Ha ben Sie einen Wunsch?« Undine schüttelte den Kopf. »Sicher möchten Sie etwas zu trinken«, sagte die Schwester. »Ich habe Ihnen schon vor zehn Minuten ein Glas Traubensaft ins Zimmer ge bracht, aber da schliefen Sie noch.« Undine spürte erst jetzt, daß ihr Mund trocken war. Sie richtete sich auf, nahm mit unsicheren Händen das Glas, trank in kleinen, dursti gen Zügen. Das war gar nicht so einfach, denn ihre Zähne schlugen immer wieder klirrend gegen das Glas. Die Schwester schien es nicht zu bemerken. »Sehr brav«, lobte sie und nahm das leere Glas weg, »jetzt werde ich Ihr Bett in Ordnung brin 240
gen, und dann benachrichtige ich den Herrn Doktor, daß er Sie spre chen kann.« »Ich weiß gar nicht, wo ich bin«, sagte Undine. »In der Robert-Koch-Klinik in Bad Wildenbrunn.« »Bin ich denn krank?« »Sie haben einen kleinen Schock erlitten, aber jetzt sind Sie schon wieder auf dem Wege der Besserung.« »Wie lange bin ich hier?« »Gestern nachmittag wurden Sie eingeliefert.« Die Schwester sah auf ihre Armbanduhr und fügte lächelnd hinzu: »Also vor ungefähr vier undzwanzig Stunden.« »Ich kann mich nicht daran erinnern.« »Natürlich nicht. Sie waren bewußtlos. Der Herr Doktor hat Ihnen ein starkes Medikament zur Beruhigung gegeben.« »Ach so«, sagte Undine. Und dann: »Wo ist Herr Lombardi? Und Jer ry Kater?« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« »Aber ich war doch nicht allein, als es geschah, die anderen …« Die Schwester drückte sie sanft an den Schultern in die weißen Kis sen zurück. »Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen. Der Herr Doktor wür de mir sonst Vorwürfe machen, daß ich Ihnen überhaupt soviel erzählt habe. Und das wollen Sie doch nicht?« »Nein«, sagte Undine schwach. »Na also. Sobald ich Sie versorgt habe, hole ich den Herrn Doktor, der wird Ihnen sicher alles ganz genau erklären.« Undine begriff, daß die Schwester angewiesen war, bestimmte Fra gen auf keinen Fall zu beantworten. Sie fühlte sich immer noch sehr erschöpft. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und dahin gedämmert. Aber als sie schon fast wieder eingeschlafen war, tauch ten unheimliche, beängstigende Bilder vor ihr auf – sie schrak hoch und war erleichtert, sich in der Geborgenheit des freundlichen kleinen Zimmers zu finden. »Schwester«, sagte sie, »ich …« Dann erst bemerkte sie, daß die Schwester den Raum verlassen hatte. 241
Wenige Augenblicke später trat der junge Dr. Hagedorn ein, im wei ßen Kittel, das Stethoskop in der Brusttasche, ärztlicher, als Undine ihn je gesehen hatte. Dennoch war sie erleichtert, daß es kein Fremder war, der an ihr Bett trat. Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Er beugte sich zu ihr nieder, fühlte ihren Puls und sagte leicht befangen: »Was machen Sie nur für Geschichten, Undine?« Ihre Augen verdunkelten sich. »Ich weiß ja selber nicht …« »Sie hätten sich niemals darauf einlassen sollen, an einer spiritisti schen Sitzung teilzunehmen. Auch noch als Medium! Das ist wirklich der Gipfel der Unvernunft.« »Nein«, sagte sie und sah ihn groß an, »jetzt weiß ich wieder, warum ich es getan habe: Weil ich es wissen wollte!« »Was?« Sie schwieg. »Ob Sie sich mit Geistern in Verbindung setzen können?« »Ob ich eine Hexe bin«, sagte sie kaum hörbar. Er ließ ihr Handgelenk los. »Ach du lieber Himmel! Und jetzt bilden Sie sich wohl ein, Sie wüßten es? Wie kann man nur so leichtgläubig sein! Natürlich war das Ganze Schwindel.« »Schwindel?« »Was hatten Sie denn gedacht? Sie hätten doch eigentlich auf den er sten Blick erkennen müssen, daß dieser Lombardi kein Ehrenmann ist. Er ist ein Scharlatan, der kreuz und quer durch Europa reist, um unglücklichen oder leichtgläubigen oder sensationslüsternen Men schen Geld dafür abzuknöpfen, daß sie angeblich mit ihren verstorbe nen Angehörigen in Verbindung treten können. In Ihrem Falle hat er gehofft, noch mehr Geld als gewöhnlich aus diesem zwielichtigen Ge schäft herausholen zu können: Er hat dem Filmproduzenten seine Idee zu einem spiritistischen Film und seine Mitarbeit teuer verkaufen wol len; Jerry Kater war es ganz gleich, ob der Spiritismus des Herrn Lom bardi echt war oder Humbug, wenn er nur einen filmischen Effekt her gab. Und auf diesen Schwindel sind Sie hereingefallen, Undine!« »Der schreckliche Geist war nicht echt?« fragte sie aufatmend. 242
»Aber nein. Natürlich nicht. Sobald Sie sich ein bißchen besser füh len, werden wir Sie noch einmal in diese Wohnung führen und Ihnen zeigen, wie die angebliche Geistererscheinung gemacht worden ist. Na türlich kannte dieser Lombardi Ihre Vergangenheit – daß Sie ein Fin delkind sind und so weiter. Das hat ja in den meisten dieser anonymen Briefe gestanden. Sie waren das erwünschte sogenannte ›Medium‹ für ihn, denn einem Menschen, der seine Angehörigen so gut wie gar nicht kennt, kann man natürlich alles mögliche vorschwindeln. Hätte Lom bardi zum Beispiel versucht, Ihnen den verstorbenen Tede Carstens er scheinen zu lassen – das hätten selbst Sie nicht geglaubt, denn Sie hät ten ja Ihren Stiefvater an irgend etwas erkennen wollen.« »Aber alle haben es geglaubt, nicht nur ich!« »Ach wo. Das ist Ihnen nur so vorgekommen. Ich habe schon mit den Filmleuten gesprochen. Die haben sehr bald gemerkt, daß das Ganze nichts als ein glänzend inszeniertes Theater war. Und die übri gen! Vergessen Sie doch nicht, daß die meisten nur zu der Sitzung ge kommen waren, um sich etwas bestätigen zu lassen, das sie schon vor her glaubten.« Undine antwortete nichts. Sehr blaß, mit traurigen Augen lag sie in den Kissen. »Sie müssen mir das nicht unbesehen abnehmen«, fuhr Dr. Hage dorn eindringlich fort. »Wir werden es Ihnen ganz klar beweisen. Wenn ich ›wir‹ sage, meine ich Professor Schneider und mich. Wir werden Sie ganz gesund machen, und wir werden Sie von dem Wahn, irgendwie abnormal zu sein – ich will jenes häßliche Wort gar nicht aussprechen – befreien. Aber Sie müssen uns helfen, Undine. Sie müs sen den Willen haben, mit uns die Wahrheit zu finden, zu lernen, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.« »Professor Schneider hat doch selber gesagt, daß ich mediale Fähig keiten habe«, wandte Undine ein. »Mediale Fähigkeiten, ja! Natürlich haben Sie die. Fast jeder Mensch hat mediale Fähigkeiten – bis zu einem gewissen Grade jedenfalls. Sie haben sie etwas stärker als die meisten, das ist alles. Aber das kann Ih nen der Professor viel besser erklären als ich. Wollen Sie ihn sprechen?« 243
Undine nickte. Dr. Hagedorn ging zur Tür, blieb nach wenigen Schritten stehen und sah sich um. »Undine«, sagte er, »ich muß Ihnen etwas gestehen …« »Ja?« »Ich habe Professor Schneider die Wahrheit gesagt – alles, was ich über Sie weiß, was auf der Insel geschehen ist. Ich habe bisher zu kei nem Menschen darüber gesprochen. Jetzt mußte ich es tun, damit er Ihnen helfen kann. Verstehen Sie?« Als sie keine Antwort gab und ihn nur unverwandt anschaute, fuhr er fort: »Aber der Professor ist auch damit nicht zufrieden. Er sagt, daß er Ihnen viele Fragen stellen müsse. Werden Sie sie ihm beantwor ten?« »Ich will es versuchen.« »Danke, Undine. Und glauben Sie mir: Es wird alles gut werden.« Am nächsten Morgen kam Frank Ostwald, um Undine zu besu chen. Die Presse hatte den Fall des Mädchens Undine, das aus Nordfries land nach Bad Wildenbrunn gekommen war, bei einer Tombola ei nen Ozelot und später in der Spielbank ein kleines Vermögen gewon nen hatte, ausführlich behandelt. Die Reporter hatten auch nicht uner wähnt gelassen, daß Undine C., wie sie in den Zeitungen genannt wur de, das ganze Geld verschenkt hatte. Anlaß zu diesen Berichten war ihr Nervenzusammenbruch an der spiritistischen Sitzung des Herrn Lombardi gewesen. Frank Ostwald hatte alles geradezu gierig verschlungen, denn er hat te Undine nicht vergessen können, obwohl er glaubte, sie für immer verloren zu haben. Jetzt, da er wußte, daß sie aufs neue in Schwierigkeiten geraten war, sah er endlich den willkommenen Anlaß, sich wieder mit ihr in Ver bindung zu setzen. Als die Stationsschwester zu Undine sagte: »Ein Herr Ostwald ist an der Pforte, wollen Sie ihn empfangen, Fräulein Carstens?« – da schlug Undines Herz bis zum Hals. »Bitte«, sagte sie, und ihre Wangen röte ten sich. 244
Die Schwester lächelte. »Er soll also hereinkommen …« Sie wollte zur Tür. Undine richtete sich auf. »Ja, aber bitte, Schwester, geben Sie mir rasch einen Spiegel.« Undine prüfte lange ihr Aussehen. Sie fand, daß sie jetzt, da ihr nachtschwarzes Haar nicht mehr gut frisiert war, sondern wild über ihre Schultern hing, fast wieder dem Mädchen von der Insel glich, als das Frank sie kennengelernt hatte. Ihr Gesicht war blaß, ihr Mund un geschminkt. Undine schien es, als sei alles, was seit jener ersten Begeg nung zwischen ihnen in der Gaststube der Deichschenke geschehen war, unwirklich und ohne Bedeutung. »Soll ich Ihnen das Haar ein wenig in Ordnung bringen?« anerbot sich die Schwester. Undine wehrte ab. »Nein, danke. Es ist gut so.« Als Frank Ostwald dann auf der Schwelle stand, einen kleinen Veil chenstrauß in der Hand, den er ihr unsicher entgegenhielt, da konnte Undine nicht verhindern, daß ihr Tränen in die Augen schossen. »Frank!« sagte sie. Unwillkürlich streckte sie die Hände nach ihm aus. Mit zwei Schritten war er an ihrem Bett, zog sie an sich. »Undine«, flüsterte er. »Undine, ich liebe dich! Endlich darf ich es dir sagen: Ich habe dich von Anfang an geliebt, immer nur dich, Undine!« Sie dachte an Antje Nyhuus, aber sie wollte das Glück dieser seligen Minuten durch nichts trüben. Er selber war es, der den Namen der anderen erwähnte: »Ich habe meine Verlobung mit Antje Nyhuus gelöst. Ich war schon einmal hier in Bad Wildenbrunn und wollte es dir sagen …« »Warum hast du es nicht getan?« »Ich habe es nicht gewagt. Ich war in der Hotelhalle, als du herein kamst, so schön und elegant und – unnahbar.« »Ach, Frank«, sagte sie mit zärtlicher Trauer, »wenn du wüßtest, wie sehr ich dich gerade damals gebraucht hätte.« »Verzeih mir. Heute weiß ich es. Ich hätte dich niemals allein lassen dürfen.« 245
Lange schwiegen sie und fühlten sich sehr glücklich. »Du hast es nie geglaubt?« fragte sie leise. »Was?« Er sah sie erwartungsvoll an. »Daß ich eine Hexe bin.« »Es gibt keine Hexen, Undine«, versicherte ihr Frank, wie er es schon oft getan hatte. »Es gibt nur abergläubische Menschen, die nicht ein sehen wollen, daß ihre fixen Ideen in ihrem eigenen Wesen begrün det liegen. Deshalb erfinden solche Menschen auch Hexen, um für vie le Dinge eine leichte Erklärung zu haben und um die Schuld für man cherlei Unglück auf andere abwälzen zu können.« »So ähnlich erklärte es auch Professor Schneider.« Sie lächelte zag haft. »Er sagt, daß ich vernünftiger bin, als er erwartet hat. Aber er will mich erst entlassen, wenn er ganz sicher sein kann, daß ich den mir von Kindheit an eingeredeten Komplex völlig überwunden habe.« »Was wirst du dann tun?« fragte Frank. »Du weißt, es wird noch eine Weile dauern, bis wir heiraten können.« »Ich werde arbeiten – irgendwo ganz neu anfangen.« »In einem Zeitungsartikel über dich stand, daß du eine Filmrolle übernehmen wirst.« »Das stimmt nicht. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Jerry Kater – das ist dieser Produzent – war bei mir. Heute früh. Er sagt, daß er sein Ange bot aufrechterhält. Er will mir einen Ausbildungsvertrag geben. Aber ich werde mich nicht darauf einlassen.« Sie sah ihn lächelnd an. »Du verstehst das doch, Frank, nicht wahr? Ich weiß jetzt, daß er mich nicht einfach deswegen engagieren will, weil ich gut aussehe und vielleicht sogar schauspielerisch begabt bin, sondern in erster Linie, weil viele Leute mich für eine Hexe halten. Wenn ich einwillige, wird er Berichte über mich und meinen ganzen Lebenslauf in die Illustrierten bringen, und das will ich nicht, auf keinen Fall.« Er strich ihr zärtlich über die dunklen Locken. »Niemand verlangt es von dir.« »Selbst wenn ich tatsächlich eine Schauspielerin werden könnte, wie Jerry Kater behauptet«, sagte sie ernsthaft, »was hätte es für einen 246
Zweck, da wir ja doch heiraten wollen. Oder möchtest du eine Schau spielerin zur Frau, die immerzu auf Reisen ist?« Er lachte. »Lieber nicht.« Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken, denn sie fühlte, daß eine Schwäche sie überfiel. »Du bist so gut zu mir, Frank«, sagte sie weich, »ich möchte in den Erdboden versinken, wenn ich daran denke, wie dumm ich mich oft gerade auch dir gegenüber benommen habe.« »Du? Nein, ich bin an allem schuld. Ich habe dich ins Unglück ge trieben, weil ich nicht den Mut hatte, mich rechtzeitig für dich zu ent scheiden.« »Mit diesem Fest im Golfklub fing alles an«, sagte sie, »wenn ich doch auf dich gehört hätte und nicht hingegangen wäre. Daß ich den Pelz gewann, hat Frau Mommert mir nicht verziehen.« »Hat man dir deshalb gekündigt?« fragte Frank Ostwald erstaunt. »Ich dachte …« »Nicht nur deshalb. Es kam vieles zusammen. Sie konnte mich ja von Anfang an nicht leiden. Und als dann ein anonymer Brief eintraf …« Sie stutzte, als sie den verbissenen Ausdruck seines Gesichtes sah. »Du weißt davon? Wer hat es dir erzählt?« »Jemand, den du nicht kennst«, sagte er wahrheitsgemäß, denn tat sächlich war es die angebliche Elke Harms gewesen, von der er es zu erst erfahren hatte. »Erzähl weiter.« Sie mußte sich überwinden. »Ich wäre eine Hexe, stand da drin, und ich hätte Menschenleben auf dem Gewissen – lauter solche scheußli chen Dinge.« Sie schluckte. »Da haben sie mich entlassen. Aber Mom merts waren nicht die einzigen, die einen solchen Brief bekamen. Nie mand wollte mich mehr bei sich arbeiten lassen. Selbst Doktor Hage dorn konnte mir nicht helfen. Damals war es schrecklich für mich.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ach, Frank, manchmal wünschte ich, daß ich wirklich eine sogenannte Hexe wäre – damit ich Jakobus Schwenzen verfluchen könnte, ihn, der mir das alles angetan hat.« »Du meinst, er hat die Briefe geschrieben?« fragte Frank Ostwald verwundert. »Wer denn sonst?« 247
»Du hast selber wohl nie einen dieser Briefe gesehen, Undine, oder?« »Doch. Einen einzigen. Herr Mommert gab ihn mir, ich habe ihn aufgehoben. Bitte, reich mir mal meine Handtasche, sie steht hier drin nen im Nachttisch.« Er gab ihr die Tasche. Undine nahm das anonyme Schreiben heraus und überreichte es ihm. Frank Ostwald warf einen Blick darauf und sagte sofort: »Also doch!« Er ließ das Blatt sinken. »Du irrst dich, Undine. Diesen Brief hier hat Antje Nyhuus geschrieben.« »Nein!« sagte Undine ungläubig. »Doch. Sie hat es selber zugegeben. Aber sprechen wir nicht mehr darüber – die ganze Angelegenheit ist es nicht wert.« Er nahm die Ta sche und wollte den Brief wieder zurückstecken. Da malte sich Erstau nen in seinem Gesicht. »Was ist das?« fragte er, als ob er seinen Augen nicht trauen könnte. Undine richtete sich auf und sagte arglos: »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Er hielt ihr seine Hand geöffnet hin. Das goldene Medaillon lag dar auf, die Brillantsplitter funkelten. »Das hier!« Sie erschrak, weil sein Gesichtsausdruck von einer Sekunde zur an deren zornig geworden war. »Ich habe es von meinem Vater bekommen. Von Tede Carstens«, er klärte sie. Er stand auf. »Gut, ich werde gehen und ihn fragen, ob das stimmt.« »Das kannst du nicht.« Sie zögerte und fügte leise hinzu: »Er ist vo rige Woche gestorben.« »Das hast du dir fein ausgedacht!« Frank Ostwald hatte seine Stim me kaum noch in der Gewalt. »Von Tede Carstens, daß ich nicht lache! Als ob der alte Leuchtturmwächter je so kostbare Dinge besessen hät te. Aber natürlich, als Ausrede eignet er sich hervorragend. Er ist ja tot, man kann ihn nicht mehr fragen.« Mit einer heftigen Bewegung warf er das Medaillon auf die Bettdecke. Undine war wie vor den Kopf geschlagen. »Frank, bitte, hör mich doch an …«, stammelte sie hilflos. 248
Er trat ans Fenster, blieb mit abgewandtem Gesicht stehen. »Red schon! Aber verlang nicht, daß ich auch nur ein Wort glaube.« »Mein Vater hat mir dieses Medaillon gegeben, kurz bevor er starb. Ich habe es früher auch nie gesehen. Er hat es immer in einem Leder beutelchen auf der Brust getragen.« »Sehr romantisch!« sagte Frank Ostwald höhnisch. Sie überhörte den Einwurf. »Er hat mir mitgeteilt, ich hätte es bei der Rettung um den Hals getragen – in jener Sturmnacht im Jahre 1943, am siebzehnten März. Ich kann dir das Lederbeutelchen zeigen, in das er das Datum eingeritzt hat, um es nicht zu vergessen.« Er drehte sich zu ihr um, sein Gesicht war blaß und verzerrt. »Undi ne«, sagte er, »dumm bist du nicht, das kann man wohl behaupten.« »Frank!« »Sei still! Ich beweise dir, daß du lügst. Du hast das Medaillon ge stohlen. Es gehört nämlich zum Schmuck auf dem Harmshof.« Er än derte den Ton, zwang sich zur Ruhe. »Bitte, Undine, verstricke dich doch nicht immer weiter in Ausreden! Ich weiß, es war wieder einmal meine Schuld …« Er schlug sich mit der Hand vor den Kopf. »Verzeih mir, ich habe dir keine Gelegenheit gegeben, dich zu rechtfertigen, ich habe dich gleich angefahren …« »Aber Frank, das stimmt doch alles gar nicht! Das ist doch …« »Du wirst es genommen haben – damals, in jener Nacht, als die Scheune brannte. Du hattest deinen Lohn noch nicht. Du wolltest auch nicht warten, bis du ihn bekamst, denn du hattest Angst. Ich verstehe das. Da hast du dir das Schmuckstück genommen, als Entschädigung sozusagen. Es ist dir gar nicht richtig klargeworden, daß es Diebstahl war.« Er beugte sich zu ihr nieder. »War es so?« »Nein, Frank, ganz bestimmt nicht! Glaub mir doch, ich habe keinen Grund zu lügen.« »Undine, den hast du wirklich nicht«, sagte er ruhig. »Hör mir gut zu: Wenn du mir jetzt die Wahrheit gestehst, wenn du zugibst, daß du das Medaillon genommen hast, dann soll alles vergessen sein. Ich bringe es zurück auf den Harmshof, ohne daß es jemand merkt. Und ich werde nie wieder ein Wort davon erwähnen. Ich liebe dich, Undi 249
ne, das weißt du. Aber du mußt mir die Wahrheit sagen.« Sie hielt das Medaillon fest in der Hand. »Mein Vater hat es mir gegeben«, sagte sie, »es war alles genau so, wie ich es dir erklärt habe. Du mußt mir glau ben, Frank, ich bitte dich.« Sein Mund war nur noch ein schmaler Strich, seine Augen brannten. Er drehte sich um und ging wortlos aus dem Zimmer. Undine lag ganz still, unfähig, zu denken, unfähig, sich zu rühren. Sie wartete auf die erlösenden Tränen. Aber ihre Augen blieben trok ken.
Elke Harms spielte ihre Rolle gut. »Ich kann nicht länger auf dem Harmshof bleiben«, sagte sie unver mittelt, als sie gerade von einem Einkaufsbummel zurückkam. »Ich kann es nicht, und ich will es nicht. Die Ostwalds behandeln mich wie jemand, der sich aufdrängt – als ob ich etwas haben wollte, das mir nicht zusteht.« Sie sah den Bauern und seine Frau, die beim Kaffee saßen, herausfordernd an. »Euch zuliebe habe ich alles erduldet, aber jetzt kann ich nicht mehr. Nachdem ich selbst miterleben mußte, was meiner Freundin Antje Nyhuus durch den Sohn des Verwalterehepaa res angetan worden ist, mag ich nicht einen Tag länger hierbleiben.« Sie warf den Kopf in den Nacken und ging zur Tür. »Aber wo willst du denn hin, Kind?« fragte die Harmshofbäuerin fassungslos. »Dahin zurück, wo ich hergekommen bin: nach London.« Ehe die Bäuerin oder ihr Mann noch etwas entgegnen konnten, war das Mäd chen schon aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Jakobus Schwenzen sagte mit Würde: »Es tut mir leid, aber ich fürch te, wenn nicht etwas Entscheidendes geschieht, kann auch ich sie nicht mehr zurückhalten.« »Wir haben getan, was wir konnten«, antwortete der Harmshofbau er ärgerlich. Es entstand eine lastende Stille. Nur das melodische Ticken der al 250
ten holländischen Uhr und das Knistern des Torfs im Kachelofen wa ren zu hören. »Wovon sprach die Dirn?« fragte die Bäuerin endlich. »Was ist mit Antje Nyhuus geschehen? Sag es uns, Jakobus Schwen zen.« »Frank Ostwald hat sie schmählich verlassen. Sie wollte aus dem Le ben scheiden.« »O Gott!« Die Bäuerin war ehrlich erschüttert. »Das arme Mäd chen!« »Wir hätten früher davon erfahren müssen«, sagte der Bauer schroff. Jakobus Schwenzen brauste auf. »Glaubt ihr mir etwa nicht? Da, lest selber!« Er riß den Brief aus der Tasche, den er Antje Nyhuus hatte schreiben lassen, und warf ihn auf den Tisch. »Das habe ich bei ihr ge funden, als sie schon bewußtlos war. Ihrem Vater habe ich es gar nicht gezeigt, ich wollte ihn nicht erschrecken.« Die Bäuerin holte umständlich ihre Brille aus dem Futteral und las laut: »Frank Ostwald hat mein Leben zerstört. Er hat sein Wort gebro chen und mich der Schande preisgegeben. Ich will nicht länger leben. Verzeih mir, Vater.« Dann ließ sie den Brief sinken und sagte erschüt tert: »Das hätte ich Frank nie zugetraut.« »Ja, du hattest einen Narren an ihm gefressen«, rief der Bauer böse, »an ihm und der ganzen Familie. Wie oft habe ich dir gesagt: Was weißt du über diese Menschen? Es sind Fremde, auch wenn sie einen noch so anständigen Eindruck machen.« Jakobus Schwenzen nahm den Brief wieder an sich. »Ich hoffe, ihr versteht nun, warum Elke nicht länger bleiben kann.« »Wir haben trotzdem keine Möglichkeit, den Ostwalds von heute auf morgen zu kündigen«, sagte der Bauer. »Aber ihr könntet Elke in ihre Rechte einsetzen.« »Du weißt, daß ich keine endgültige Entscheidung treffe, solange ihre Papiere sie nicht einwandfrei als unser Enkelkind ausweisen«, be harrte der Bauer. »Es liegt an dir, das zu erreichen.« »Ich werde es schaffen, verlaßt euch darauf. Aber es ist eine langwie 251
rige Angelegenheit, darüber habe ich euch niemals im unklaren gelas sen. Was ist, wenn ihr vorher sterbt?« Die Bauersleute sahen sich an. »Wenn du einen besseren Weg weißt …«, sagte die alte Frau. »Ja. Ich habe mit Doktor Krüß gesprochen, dem Notar in der Kreis stadt. Er sagt, wenn keine anderen Erben vorhanden sind, könnt ihr jederzeit euer Testament zugunsten von Elke machen. Ihr braucht sie nur mit ihrem jetzigen Namen einzusetzen, dann ist es gültig.« »Wir vermachen alles unserer Großtochter, die derzeit den Namen Karin Janssen führt«, formulierte der Bauer nachdenklich. »Meinst du es so?« »So ähnlich. Das mit der Großtochter könnt ihr ruhig auslassen.« »Nein«, sagte die Bäuerin energisch, »das möchten wir eben nicht.« Jakobus Schwenzen stand auf. »Gut, dann werde ich Elke sofort Be scheid sagen und einen Termin beim Notar für euch ausmachen. Bei dieser Gelegenheit könntet ihr übrigens auch noch etwas anderes er ledigen.« »Was meinst du?« fragte der Bauer mißtrauisch. »Ich nehme an, ihr habt euch im Vertrag mit Gregor Ostwald ein Mitspracherecht ausbedungen über wichtige Entscheidungen, die den Hof betreffen …« »Ja, das haben wir. Wie es Sitte ist.« »Wenn ihr nun schon beim Notar seid, dann könntet ihr dieses Mit spracherecht auf Elke übertragen. Damit würdet ihr eurer Enkeltoch ter gewiß eine Genugtuung bereiten. Sie hat sehr unter den Demüti gungen der Ostwalds gelitten.« Der Bauer zögerte. »Du weißt selber, sie versteht nichts von der Land wirtschaft.« Jakobus Schwenzen begegnete seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich werde sie beraten.« »Nein«, sagte die Bäuerin rasch, »das möchten wir lieber doch nicht.« Jakobus Schwenzen verzog keine Miene. »Gut. Wie ihr wollt. Aber begreift ihr denn nicht, daß ihr diese Ostwalds nur auf diese Weise 252
vom Hof treiben könnt? Denn ehe die sich von Elke befehlen lassen, werden sie von selber kündigen.« Der Bauer wagte noch einen letzten Widerstand. »Die Ostwalds sind sehr tüchtig.« »Tüchtig!« Jakobus Schwenzen lachte. »Das haben sie euch eingere det. Ich bin sicher, daß sie euch all die Jahre betrogen haben, nur seid ihr noch nicht dahintergekommen. Ich bin gespannt, was sich alles er weisen wird, wenn wir den Hof selber verwalten.« Er beugte sich vor, stemmte beide Fäuste auf den Tisch und sagte drängend: »Ihr müßt euch jetzt entscheiden: Entweder die Ostwalds oder Elke. Beide passen nicht auf ein und denselben Hof. Also – wer ist euch lieber?« Von oben war ein undeutliches Geräusch zu hören. Jakobus Schwen zen warf einen Blick zur Decke. »Ich glaube, ihr solltet keine Zeit mehr verlieren. Es scheint, Elke packt schon ihre Koffer.« »Also gut«, sagte der Bauer, aber es klang gequält, »ruf den Notar an, Jakobus Schwenzen.«
Frank Ostwald saß über seinen Büchern, als er hastige Schritte die Treppe heraufkommen hörte und gleich darauf an seine Tür gepocht wurde. »Herr Ostwald«, rief ein befreundeter Hausbewohner, »ein Anruf für Sie! Von auswärts!« Frank eilte zur Tür, rannte die Treppe hinunter und stürzte zum Te lefon. Er war sicher, daß es nur Undine sein konnte, die ihn sprechen wollte. Dann aber, als er die Stimme seines Vaters hörte, merkwürdig ver ändert und sehr weit weg, legte sich beklemmende Angst auf sein Herz. Er begriff, daß dieser ungewöhnliche Anruf nur Unheil bedeu ten konnte. »Frank!« sagte Gregor Ostwald, »kannst du mich verstehen?« »Ja, Vater, aber nur undeutlich. Bitte, sprich ganz laut und langsam.« »Ich rufe vom Harmshof an, Frank. Die Bauern sind mit Jakobus 253
Schwenzen und dieser Hochstaplerin zur Kreisstadt gefahren. Sie wol len sie ins Testament einsetzen und ihr ein Mitspracherecht einräu men. Hast du verstanden, Frank?« »Ja. Aber kann sie denn beweisen, daß sie die Enkeltochter ist?« »Nein, aber die Alten glauben ihr trotzdem. Jakobus Schwenzen hat ihnen das eingeredet. Also müssen wir einwandfrei beweisen, daß sie es nicht ist.« »Gut. Aber wie? Helmut Zach behauptet, alle Spuren enden beim Se cret Service und …« »Du mußt nach London reisen, Frank, sofort!« hörte er die Stimme seines Vaters. »Du mußt selber versuchen, an Ort und Stelle zu ermit teln, daß sie ein falsches Spiel treiben. Ich lasse dir telegrafisch Geld anweisen. Es muß dir gelingen, Frank, es muß! Sonst sind Mutter und ich verloren.«
Als Frank Ostwald in London eintraf, lag zäher Nebel über der Mil lionenstadt. Der junge Mann hatte keine Ahnung, wohin er sich wen den sollte. Sein einziger Anhaltspunkt war eine Telefonnummer, die sein Freund Helmut Zach ihm aufgeschrieben hatte und die ihn mit einem gewissen Oberst Humphrey vom Secret Service in Verbindung bringen sollte. Vom Bahnhof aus rief er an. Er erreichte es zwar nicht, Oberst Humphrey persönlich zu sprechen, aber nachdem er sein An liegen drei verschiedenen Herren vorgetragen hatte, sagte man ihm, daß er sich am nächsten Morgen um neun Uhr auf Zimmer 317b bei Scotland Yard melden sollte. Frank Ostwald hatte das Gefühl, einen entscheidenden Schritt wei tergekommen zu sein. Auf dem Platz vor dem Bahnhof blieb er eine Weile zögernd stehen. Er kannte sich in der Riesenstadt nicht aus. Die Überfahrt über den Kanal war stürmisch gewesen, und er spürte noch die Nachwirkungen; er wünschte sich nichts sehnlicher, als sich ausstrecken und schlafen zu können. 254
Um ihn her brandete der Lärm der Weltstadt, aber der Nebel verhin derte es, daß er weiter als drei Schritte sehen konnte. Sein Reisebudget war sehr knapp. Dennoch entschloß er sich, ein Taxi zu nehmen. Wahrscheinlich war der Taxistand ganz nahe. Aber da Frank Ost wald sich am Bahnhof nicht vergewissert hatte, in welche Richtung er gehen mußte, hielt er es für besser, dicht an den Randstein zu treten und zur Fahrbahn hin zu winken. Kaum fünf Minuten später hielt ein Taxi in seinem Blickfeld. Frank Ostwald stieg ein und erklärte dem Fahrer, daß er eine nicht zu teu re Pension suche, möglichst im Stadtzentrum, da er in der City zu tun hätte. Der Fahrer fuhr ihn zu einem ›Boarding-House‹, das den vierten und fünften Stock eines alten Gebäudes in einer schmalen Straße hin ter dem Trafalgar Square einnahm. Frank Ostwald mietete ein sauberes kleines Zimmer, packte seine Sachen aus und legte sich aufs Bett, um vorerst etwas auszuspannen. Zwei Stunden später wurde er durch Klopfen geweckt. Ein Stuben mädchen teilte ihm mit, daß es Zeit zum Dinner sei. Er hatte tief ge schlafen und erhob sich verwirrt. Aber nachdem er sein Gesicht gewa schen hatte, fühlte er sich wesentlich wohler. Er zog ein frisches Hemd an, band eine neue Krawatte um, bürstete sich sorgfältig das Haar und ging in den Dining-room hinüber. Die meisten Gäste waren bereits versammelt. Die Inhaberin der Pen sion machte Frank Ostwald mit seinen Nachbarn an der großen Tafel, einer jungen Schauspielschülerin und einem hageren Oberst a.D. be kannt, die, wie die meisten anderen Gäste, Dauermieter waren. Ob wohl das junge Mädchen an seiner Seite sehr hübsch war, gab Frank Ostwald sich keine Mühe, in Konversation zu machen. Er konzentrierte sich auf die Mahlzeit, die reichlich und sehr viel besser war, als er erwartet hatte. Nach dem Dinner wollte er noch in die Stadt gehen. Er hatte viel über London gelesen. Er wollte wenigstens etwas davon erleben, denn er würde vermutlich nicht so bald wieder eine Gelegenheit dazu ha ben. Zwar konnte er es sich nicht leisten, eine Vergnügungsstätte auf 255
zusuchen, aber ein Streifzug durch die nächtlichen Straßen würde ge wiß auch nicht ohne Reiz sein. Er ging in sein Zimmer, holte seinen Regenmantel und wollte die Pension verlassen. Erst als er an die Haus tür kam, fiel ihm wieder ein, daß Nebel herrschte. Schon am Nach mittag war er dicht gewesen, jetzt in der Dunkelheit schien er gerade zu undurchsichtig. Seinem ersten Impuls folgend, wollte Frank Ostwald wieder ins Haus zurück. Aber dann entschloß er sich doch anders. Bis zum Trafalgar Square konnten es höchstens zweihundert Schritte sein, dort mußten Licht und Leben herrschen. Er hatte sich die Richtung gut gemerkt und traute sich ohne weiteres zu, den berühmten Platz von hier aus so gar bei ausgesprochen schlechten Sichtverhältnissen zu finden. Aber schon nach wenigen Schritten mußte Frank Ostwald feststellen, daß er jede Orientierung verloren hatte. Der Nebel war so dicht, daß er buchstäblich nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnte. Er blieb stehen, lauschte, hoffte, irgendein Geräusch zu hören, nach dem er sich orientieren konnte – nichts. Plötzlich fühlte er sich so von aller Welt abgeschnitten, daß es ihm schwerfiel, sich überhaupt nur vorzustellen, inmitten einer Großstadt zu sein. Eine jähe, panische Angst überfiel ihn. Nur mit Mühe bezwang er sich, nicht irgend etwas Unvernünftiges zu tun – zu schreien oder blindlings in irgendeine Richtung zu laufen. Er bemühte sich krampf haft, einen klaren Kopf zu behalten. Wenn er wenigstens eine Taschen lampe bei sich gehabt hätte! Oder einen Stock, mit dem er sich hät te weitertasten können! So blieb ihm nur ein einziges Hilfsmittel, sich zurechtzufinden – die Häuserwand. Von der Haustür aus hatte er sich nach links gewandt, dessen war er sicher. Er streckte seinen linken Arm weit aus, in der Hoffnung, mit den Fingerspitzen ein Haus zu berühren. Aber er spürte nichts. Schritt für Schritt bewegte er sich weiter nach links, ohne auf den geringsten Widerstand zu stoßen. Er blieb stehen. Wenn die Hauswand wirklich da wäre, wo er sie ver mutet hatte, müßte er sie längst berührt haben. Irgend etwas stimm te nicht. 256
Ein siedendheißer Schreck überfiel ihn. War es möglich, daß er sich vorhin umgedreht hatte? Dann mußte er, statt der Wand näher ge kommen zu sein, jetzt auf der Fahrbahn stehen. Hatte er eben nicht so etwas wie eine Stufe gefühlt, die er überschritten hatte? Plötzlich war es ihm, als ob jemand seinen Namen riefe. »Frank!« Er hörte es deutlich und glaubte, Undines Stimme zu erkennen. Blitz schnell fuhr er herum – gerade noch rechtzeitig, um die beiden Au toscheinwerfer zu entdecken, die wie glühende Augen durch den Ne bel direkt auf ihn zukamen. In letzter Sekunde konnte er sich beisei te werfen. Er schlug mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Die Sinne schwanden ihm.
XI
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rank!« schrie Undine. Sie saß aufrecht in ihrem Bett, die Augen weit geöffnet. Die Nacht schwester stürzte herein. »Aber Fräulein Carstens, was ist denn?« Undine schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Die Nachtschwester faßte sie an den Schultern. »Fräulein Carstens, haben Sie Schmerzen? So reden Sie doch! Möchten Sie eine Spritze?« Undine hob den Kopf und sah sie aus tränennassen Augen an. »Nein«, sagte sie tonlos, »nein, danke.« Die Nachtschwester zögerte einen Augenblick. Durfte sie die Patien tin in diesem Zustand allein lassen? Aber was hatte es für einen Zweck, zu bleiben, ohne helfen zu können? Undine schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Gehen Sie nur«, sagte sie, »es ist schon vorüber.« Als sie die zweifelnden Augen der Schwester sah, fügte sie hinzu: »Ich werde versuchen zu schlafen.« Die Nachtschwester hatte sich bereits entschieden. »Tun Sie das«, 257
sagte sie, »ich schaue nachher noch einmal herein.« Mit einem unwill kürlichen Blick auf die vergitterten Fenster verließ sie den Raum. Die Anweisungen, die man ihr für diesen Fall gegeben hatte, waren klar. Sobald sie irgend etwas Ungewöhnliches an der Patientin Undine Carstens bemerkte, hatte sie Professor Schneider oder, wenn der nicht erreichbar war, Dr. Hagedorn anzurufen. Professor Schneider kam erst nach längerem Läuten an den Appa rat. Im Hintergrund hörte die Nachtschwester Gläserklingen und Ge lächter. Offensichtlich hatte der Professor Gäste zu Hause. Aber er ver sprach dennoch, sofort zu kommen, und war tatsächlich in einer Vier telstunde da. Undine lag in ihren Kissen und sah ihm mit wachen Au gen entgegen. »Es ist etwas Furchtbares geschehen«, sagte sie mit ton loser Stimme, »Frank Ostwald ist etwas zugestoßen.« Professor Schneider zog sich einen Korbsessel an das Krankenbett, lehnte sich bequem zurück und sagte ruhig und interessiert: »Erzäh len Sie!« »Es war vor etwa einer halben Stunde«, erklärte Undine, »ich lag im dämmrigen Zimmer, kurz vor dem Einschlafen. Da sah ich Frank. Er hatte die Augen verbunden …« »Die Augen verbunden?« unterbrach Professor Schneider. »Sind Sie dessen sicher?« »Ja. Völlig sicher. Das ist merkwürdig, nicht wahr? Wer könnte ihm die Augen verbunden haben?« »Erzählen Sie weiter!« »Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, so ähnlich, wie man es beim Blindekuhspiel tut. Aber es war kein Spiel. Es wirkte ernst, ge radezu verzweifelt.« Sie atmete schwer. »Und dann sah ich das Raub tier. Ich weiß nicht, was für eines es war. Vielleicht ein Tiger. Jedenfalls aber ein Raubtier. Es duckte sich zum Sprung – mit funkelnden Au gen! Frank sah es nicht, denn das Raubtier war in seinem Rücken. Da schrie ich seinen Namen, um ihn zu warnen …« Undine machte eine Pause. »Und dann? Weiter?« drängte Professor Schneider. »Nichts. Die Schwester kam herein, und alles war vorbei.« Sie sah 258
Professor Schneider gequält an. »Bitte, glauben Sie nicht, ich habe mir das alles nur eingebildet. Ich weiß, es klingt unwahrscheinlich – ver bundene Augen und ein Raubtier –, aber es ist dennoch geschehen. Ich bin dessen ganz sicher.« Professor Schneider betrachtete nachdenklich seine gepflegten Hän de. »Sicher hat es irgend etwas zu bedeuten«, sagte er schließlich, »nur ist mir – wie Ihnen selber – nicht recht vorstellbar, daß es wirklich so, wie Sie es gesehen haben, geschehen könnte. Das alles klingt nach ei nem Traumerlebnis.« »Nein«, sagte sie rasch, »ich habe nicht geschlafen. Ich war ganz wach. Wirklich, Sie müssen mir glauben. Frank Ostwald befindet sich in Not.« »Ich werde versuchen, das festzustellen. Hat er Telefon?« »Ja«, sagte Undine, »ich habe zwar noch niemals dort angerufen, aber er hat mir einmal eine Nummer angegeben. Das Telefon ist in dem Haus, in dem er ein Zimmer hat.« Sie nahm einen kleinen Zettel aus ihrer Handtasche. »Wenn Sie sich erkundigen würden …« »Selbstverständlich tue ich das. Sowohl in Ihrem Interesse als auch im Interesse meiner Forschungsarbeiten.« Er ließ sich den Zettel geben und verließ das Zimmer. Als er zurückkam, hatte Undine sich im Bett aufgesetzt. »Was ist?« fragte sie mit angstvollen Augen. »Frank Ostwald ist gestern überraschend in einer dringenden Fami lienangelegenheit für ein paar Tage nach London gefahren«, erklärte Professor Schneider. »Niemand hat eine Ahnung, wo er dort abgestie gen ist, man erwartet auch keine Nachricht. Leider.« Undines Hände krampften sich ineinander. »Ich habe solche Angst.« »Dazu ist wirklich kein Grund vorhanden«, sagte Professor Schnei der. »Es ist zwar möglich, daß Sie richtig empfunden haben und sich Frank Ostwald in Gefahr befindet; es deutet aber nichts darauf hin, daß ihm tatsächlich etwas zugestoßen ist. Sie sahen das Raubtier ja nur im Ansprung und nicht, wie es ihn packte.« »Ja, das stimmt«, bestätigte sie, nur halb beruhigt. 259
»Undine«, sagte Professor Schneider, »seien Sie jetzt einmal ganz ehrlich: Hatten Sie schon öfters solche Gesichte?« Undine schwieg und spielte nervös mit ihren Fingern. »Sie müssen ganz offen sprechen«, drängte der Professor, »sonst kann ich Ihnen nicht helfen.« »Ja«, sagte sie leise, »es war schon öfters so …« Sie stockte, und er wartete geduldig, bis sie wieder zu sprechen be gann. »Als Kind«, berichtete sie, »wußte ich, daß meine Pflegemutter starb. Sie war weit weg, im Krankenhaus auf dem Festland, aber ich wußte es trotzdem. Später sagte mir mein Pflegevater, daß sie genau in der Mi nute gestorben sei, die ich angegeben hatte.« »Nun«, antwortete Professor Schneider, »das ist nicht so erstaunlich. Sie haben Ihre Pflegemutter sehr geliebt, nicht wahr? Sie hatten Angst um sie, waren mit all ihren Gedanken bei ihr.« »Es war nicht nur dieses eine Mal«, erzählte Undine weiter. »Die be ste Freundin meiner Pflegemutter hatte eine Tochter. Sie hieß Geesche Lüns. Sie war ein junges Mädchen, als ich ein Kind war, und ich habe sie immer beneidet, weil sie so blond und so sanft war – ganz anders als ich. Eines Tages nahm meine Mutter mich mit zu Geesche Lüns und ihrer Mutter. Geesche war mit einem jungen Steuermann verlobt und sollte bald heiraten. Sie probierte gerade ihr Hochzeitskleid an und war sehr schön. Alle Frauen, die da waren, bewunderten sie. Aber ich – ich sah es plötzlich.« Undine machte eine Pause. »Ich sah sie anders: nicht mehr strahlend und in Weiß, sondern schwarz gekleidet, mit blassem, traurigem Gesicht. Da wußte ich, daß irgend etwas Schreckliches pas sieren würde. Ich begann laut zu weinen, und als die Frauen mich frag ten, sagte ich, was ich gesehen hatte. Ich war natürlich noch sehr un erfahren damals und selber so erschrocken, daß ich es gar nicht für mich hätte behalten können, selbst wenn ich klüger gewesen wäre.« Sie schluckte, das Sprechen fiel ihr sichtlich schwer. »Es kam nie zu der Hochzeit. Der Bräutigam ertrank. Sein Schiff kenterte in einem der Frühjahrsstürme. Und die Leute auf der Insel …« Undines Stim me brach. »Alle behaupteten, daß ich schuld daran wäre: Ich hätte Ge 260
esche ihr Glück nicht gegönnt und deshalb das Schiff ihres Bräutigams verhext.« »Glaubten Sie es selber?« fragte Professor Schneider. »Ich hatte Gee sche beneidet«, sagte Undine leise. »Tatsächlich liegen die Dinge ganz einfach«, erklärte Professor Schneider. »Wir haben schon einmal darüber gesprochen. Beinahe je der Mensch strahlt Wellen aus, die physikalisch nicht meßbar sind. Aber die moderne Wissenschaft hat trotzdem einwandfrei bewiesen, daß fast jeder Mensch solche Wellen ausstrahlt und fast jeder auch in der Lage ist, sie zu empfangen. Nur sind bei manchen Menschen Sen der und Empfänger so schwach, daß sie ihrem Besitzer selbst nie be wußt werden. Bei Ihnen, Undine, sind beide sehr stark ausgebildet. Wollen wir nun einmal die drei Fälle von ASW – so bezeichnen wir in der Fachsprache außersinnliche Wahrnehmungen – untersuchen. Fangen wir mit Ihrer Pflegemutter an. Offensichtlich bestand zwi schen Ihnen und ihr immer eine starke seelische Bindung. Wir wissen aus vielen wissenschaftlich nachgeprüften Berichten, daß gerade in der Todesstunde sich die Ausstrahlungskraft ganz ungewöhnlich verstär ken kann. Es ist sogar vorgekommen, daß durchaus nicht medial ver anlagte Menschen einen Angehörigen in dessen Todesstunde leibhaf tig vor sich sehen. In fast jeder Familie ist so ein seltsamer Fall überlie fert. Der Sterbende hat dann nicht nur seine Gedanken und sein Füh len, sondern seine ganzen unterbewußten Kräfte eben auf diesen einen Menschen konzentriert, dem er erscheint oder sich in irgendeiner an deren Form erkennbar macht.« »Mein Gott, das hieße, Frank ist – tot?« fragte Undine verwirrt. »Nein. Aber ich könnte mir vorstellen, daß er sich tatsächlich in ei ner akuten Gefahr befunden hat und sein Unterbewußtsein Ihnen ein Signal gab. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Die Annahme, daß man den jungen Mann mit verbundenen Augen womöglich in einen Raub tierkäfig gesperrt haben könnte, erscheint mir allerdings zu abwegig. In der Stunde irgendeiner anderen Gefahr kann sich aber sein Unter bewußtsein mit Ihnen in Verbindung gesetzt haben, weil Sie wahr scheinlich der Mensch sind, der ihm innerlich am nächsten steht.« 261
»Ich habe ihm bestimmt nichts Böses gewünscht«, sagte Undine ver zweifelt. »Machen Sie sich doch endlich von der törichten Idee frei, daß man deshalb etwas Böses gewünscht haben müßte. Natürlich haben Sie das nicht, genauso wenig wie seinerzeit Geesches Bräutigam. Haben Sie den überhaupt gekannt?« »Ich habe ihn ein einziges Mal gesehen.« »Wissen Sie, wann er gestorben ist?« »Nein. Aber sein Schiff soll sich zu der Stunde, als Geesche uns ihr Brautkleid vorführte, schon im Sturm befunden haben.« »Nun, dann ist auch dies wohl mehr ein Fall von Telepathie als von Hellsehen. Ich möchte annehmen, daß der junge Steuermann sich gar nicht mit Ihnen, die ihm ja nichts bedeuten konnte, in Verbindung set zen wollte, sondern mit seiner Braut. Sie war nur nicht feinfühlig ge nug, seine Nachricht zu erfassen. Aber sie verspürte immerhin eine solche Angst, daß sie sich auf Sie übertrug.« »Aber das ist doch – unheimlich?« »Es ist nur außergewöhnlich. Bei Ihnen handelt es sich um eine au ßergewöhnliche Begabung wie etwa Musikalität oder Schauspielerta lent.« »Aber das ist ja nicht alles«, fuhr Undine selbstquälerisch fort. »Ich kann Menschen und Dinge beeinflussen. Es ist doch kein Zufall, daß ich den Pelzmantel bei der Tombola gewonnen habe, und auch mein Gewinn in der Spielbank war kein Zufall.« »Auch diese Begabung, die wir Psi-Fähigkeit nennen, teilen Sie mit vielen. Fast jeder Mensch besitzt sie bis zu einem gewissen Grade. In Amerika hat man die Psychokinese – so nennt man die Beeinflussung von toter Materie durch den Menschen – wissenschaftlich exakt er forscht. Man hat sehr genaue Reihenuntersuchungen angestellt. Man hat Hunderte und aber Hunderte von Studenten würfeln und Karten wählen lassen auf eine Weise, die jede Täuschung unmöglich machte. Die Ergebnisse lagen ausnahmslos höher, als der Wahrscheinlichkeits rechnung nach zu erwarten war. Man hat auch Versuche mit Gedan kenlesen gemacht, und auch hier waren die Ergebnisse überraschend. 262
Sie haben also keinen Grund, sich als abnormal anzusehen. Sie sind nichts weiter als ein Mensch, bei dem eine normale Begabung über durchschnittlich ausgeprägt ist.« »Ich möchte aber so gerne ganz normal sein«, antwortete Undine. »Sie sind es. Nur die Umstände, unter denen Sie Ihre Kindheit ver bringen mußten, sind es nicht. Entscheidend für Ihre Entwicklung hat sich nicht Ihre hochgradige Sensibilität ausgewirkt – die hätte sich un ter günstigeren Umständen wahrscheinlich gar nicht so stark ausge prägt –, sondern Ihre unbekannte Herkunft. Wollen wir die Dinge doch mal beim Namen nennen. Auch in der Großstadt wird ein Frem der oft mit einem gewissen Mißtrauen beobachtet, ehe man ihn in ei nen engeren Kreis aufnimmt. Eine andere Sprachfärbung, andere Le bensgewohnheiten, vor allem aber ein etwas fremdländisches Ausse hen können unter Umständen genügen, daß sogar ein anpassungsfähi ger Mensch jahrzehntelang gewissermaßen ein Ausgestoßener bleibt. In einer ländlichen Gemeinschaft, wo die Menschen seit Hunderten von Jahren in einem eng umrissenen Lebenskreis beieinander leben, ist diese Gefahr besonders groß. Ich bin überzeugt, daß abergläubische Furcht unter den Bewohnern Ihrer Insel herrschte, längst bevor Sie dort als kleines Kind landeten. Sie waren ein Findelkind und deshalb von vornherein verdächtig. In Ihnen fanden diese Menschen dann den willkommenen Sündenbock für mancherlei Unheil.« »Aber«, wandte Undine ein, »es war doch nicht nur auf der Insel so, auch später …« »Stimmt. Sie haben mir jedoch selber einmal erzählt, daß Sie sich auf dem Harmshof wie zu Hause fühlten, bis dieser sogenannte He xenbanner wieder auftauchte. Und auch hier in Bad Wildenbrunn bei Mommerts hätten Sie sich eingelebt, wenn nicht die anonymen Briefe gekommen wären.« »Immer wird so etwas geschehen«, sagte Undine hoffnungslos, »im mer.« »Das muß nicht sein. Wenn Sie einen Menschen finden, der Ihre Ver gangenheit kennt und sich dennoch zu Ihnen bekennt, wird die Welt ganz anders für Sie aussehen.« Professor Schneider erhob sich. »Genug 263
für heute. Sie brauchen Schlaf, und ich habe Gäste zu Hause. Morgen sprechen wir weiter.« Undine reichte ihm die Hand. »Ich habe noch eine Bitte, Herr Pro fessor«, sagte sie. »Herr Doktor Hagedorn versprach, daß ich in die Wohnung geführt werde, wo die spiritistische Sitzung stattgefunden hat. Sie haben doch behauptet, diese Geistererscheinung wäre Betrug gewesen.« Er sah lächelnd auf sie hinab. »Sie glauben uns nicht?« »Doch«, antwortete sie zögernd, »aber ich möchte mich gerne mit ei genen Augen überzeugen.«
Das Haus, in dem Lombardi seine spiritistische Sitzung durchgeführt hatte, erkannte Undine sofort wieder. Auch an den düsteren Trep penaufgang erinnerte sie sich noch. Professor Schneider hatte sich die Schlüssel vom Besitzer des Hauses geben lassen, er schloß die leerste hende Wohnung auf. Ein muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. Un dine sah sich in der unmöblierten Diele um. Dann folgte sie Professor Schneider in das hohe, geräumige Zimmer, in dem die Sitzung stattge funden haben sollte. Aber sie fand sich nicht zurecht. »Nein«, sagte sie nach einer Weile, »hier kann es kaum gewesen sein.« »Und warum nicht?« »Es war irgendwie anders. Die Vorhänge waren zu …« »Wenn Sie glauben, daß es nur daran liegt – das werden wir gleich haben.« Professor Schneider schaltete das Licht ein und zog die schwe ren Vorhänge vor die Fenster. »Na, wie ist es jetzt?« »Irgend etwas war anders«, wiederholte sie hartnäckig, »lassen Sie mich überlegen: der Tisch« – sie klopfte auf die Platte –, »ja, es ist der selbe Tisch, auch die Stühle sind dieselben.« Sie drehte sich um. »Ich hatte einen Sessel, der ist nicht mehr hier. Aber das ist es nicht, was mir so anders vorkommt.« Sie ging im Raum auf und ab, betrachtete jeden einzelnen Gegenstand ganz genau. 264
Professor Schneider ließ sie ruhig gewähren; er stellte nicht einmal eine Frage. »Jetzt weiß ich es«, sagte sie überraschend, »zu dumm, daß ich es nicht gleich gemerkt habe.« Sie wies mit der Hand auf eine der Wände. »Dort war keine Tür!« Professor Schneider betrachtete die große Schiebetür aufmerksam. »Sind Sie ganz sicher?« fragte er. »Völlig. Ich habe ja dort meinen Platz gehabt mit dem Rücken zur Wand. Aber ich habe mir alles genau angesehen, bevor ich mich setz te. Es gab nur eine Tür, und die führte von der Diele herein, sie lag ge nau wie hier, den Fenstern gegenüber. In den beiden anderen Wänden waren keine Türen.« »Interessant!« rief Professor Schneider. »Sie sind eine ausgezeichnete Zeugin, Undine. Ihre Aussage erklärt natürlich alles.« »Tatsächlich?« fragte sie verdutzt. »Sie sagten doch, Sie hätten mit dem Rücken zu eben jener Wand ge sessen, die jetzt durch eine breite Schiebetür geöffnet werden kann. Bitte, kommen Sie näher, schauen Sie sich die Tür genau an. Glauben Sie, daß sie nachträglich eingebaut wurde?« »Nein«, meinte Undine, »sie ist alt.« »Richtig. Wenn die Schiebetür aber schon immer da war, dann muß Lombardi sie Ihnen und den anderen Teilnehmern der Sitzung ab sichtlich verborgen haben.« »Geht denn das?« »Natürlich gehört einige Geschicklichkeit dazu, aber die dürfen wir diesem Herrn Lombardi schon zutrauen. Blicken Sie mal hoch – ja, dorthin, über die Tür –, fällt Ihnen da etwas auf?« »Ich sehe einen schmalen hellen Streifen, der übrigens um den gan zen Türrahmen führt.« »Nun, höchstwahrscheinlich war hier eine aus Mull gespannte Ver kleidung angeklebt, mit der die Türöffnung verdeckt wurde.« Profes sor Schneider untersuchte die Ecken. »Sehen Sie, hier finden sich noch besonders deutliche Spuren. Ein ganz primitiver Trick und doch aus gesprochen wirkungsvoll.« 265
»Ich verstehe nicht«, sagte Undine. »Mull? Das hätte man doch mer ken müssen.« »Wer kommt denn schon auf die Idee, die Zimmerwände auf ihre Beschaffenheit zu prüfen? Sehen Sie sich doch einmal um. Die Tapeten sind verschossen, ich würde die Farbe als ein fahles Braun bezeichnen. Nichts einfacher, als ein genügend großes Stück Mull in demselben Ton einzufärben. Vergessen Sie nicht, daß weder Sie noch andere Teil nehmer der Sitzung diesen Raum je bei Tageslicht gesehen haben.« »Das stimmt«, bestätigte Undine. »Die Vorhänge waren von Anfang an geschlossen, nur das Licht brannte.« »Und was für ein Licht! Dieser große Kronleuchter enthält noch ge nau fünf ziemlich schwache Birnen. Bei dieser Beleuchtung könnte selbst ein mißtrauischer Beobachter den Unterschied zwischen einer solchen Tapete und gespanntem Mull mit dem bloßen Auge nicht er kennen.« »Wozu aber diese Täuschung?« fragte Undine, noch immer nicht ganz überzeugt. »Ganz einfach: Hinter der Mullwand war die Schiebetür geöffnet. Solange nur Licht in diesem Raum brannte, war aber die Öffnung von hier aus wegen der Mullverkleidung nicht zu sehen. Ein Helfershelfer Lombardis konnte also aus dem Nebenzimmer alles mögliche produ zieren: Klopfgeräusche, Luftzug, Schwefelgerüche. Niemand von Ihnen konnte beurteilen, woher sie rührten.« »Aber die Geistererscheinung!?« rief Undine. »Kein Problem. Sobald Lombardis Helfershelfer im Nebenraum Licht machte, wurde der Mull natürlich durchsichtig. Auf die Teilneh mer an der Sitzung mußte das so wirken, als ob die Wand sich einfach auflöste. Der Helfershelfer Lombardis spielte den Geist – wahrschein lich auf einem Stuhl stehend, von unten beleuchtet, um größer und da durch noch unheimlicher zu wirken. Der Qualm und die Lichteffekte sind auch sehr leicht auf natürliche Weise zu erklären.« Undine sah ihn nachdenklich an. »So klingt alles ganz harmlos. Aber der Eindruck an jenem Nachmittag war schrecklich.« 266
»Ich nehme an, Lombardi hat Sie alle für den Höhepunkt der Sit zung gut vorbereitet, Sie in eine erwartungsvolle, beinahe hysterische Stimmung versetzt.« Professor Schneider lächelte. »Sie sehen, daß es Fälle gibt, in denen auch Sie Ihre Fähigkeiten im Stich lassen: Sie wa ren zweifellos nicht hellsichtig genug, um diesen plumpen Betrug zu durchschauen.« Undine atmete erleichtert auf. »Ich bin so froh, daß es nur Betrug war. Ich habe entsetzliche Angst ausgestanden.« »Vor Geistern?« fragte Professor Schneider lächelnd. »Nein. Vor mir selber«, erwiderte Undine. »Ich hatte schon geglaubt, ich hätte diese Erscheinung durch meine Anwesenheit herbeigerufen.« »Fühlen Sie sich jetzt wohler?« »Doch – ja.« »Das klingt nicht überzeugend.« »Ich muß immer an Frank Ostwald denken«, sagte sie ehrlich. »Ich mache mir große Sorgen um ihn. Wenn wir uns nur nicht im Streit ge trennt hätten, wenn ich jetzt wüßte, wo ich ihn erreichen könnte!« »Einem gesunden jungen Mann wie Ihrem Frank Ostwald geschieht nicht so leicht etwas«, antwortete Professor Schneider. »Und was Ihren Streit betrifft: Ich bin sicher, Frank wird früher oder später einsehen, daß er Ihnen Unrecht getan hat. Ein Mädchen wie Sie läßt man nicht wegen eines dummen Verdachtes einfach im Stich. Sie werden sehen, er kommt zurück.«
Die angebliche Elke Harms lag in ihrem rotseidenen Morgenrock auf dem Bett und las in einem Groschenheftchen, als Jakobus Schwenzen in ihr Zimmer kam. Sie hob die Hand vor den Mund und gähnte. »Du könntest auch ruhig anklopfen, wenn du das Zimmer einer Dame betrittst«, sag te sie. »Dame«, knurrte er, »soll das ein Witz sein? Ein Luder bist du ja im mer gewesen, aber seit ich dich hierher auf den Harmshof gebracht 267
habe, entwickelst du dich auch noch immer mehr zu einem faulen Lu der. Von früh bis spät rekelst du dich auf deinem Bett herum.« »Was soll ich denn auf diesem langweiligen Hof sonst tun?« »Dich um die alten Bauersleute kümmern, zum Beispiel. Aber ich weiß gar nicht, wozu ich dir noch gute Lehren erteile, du bist ja doch ein hoffnungsloser Fall. Hast du wenigstens eine Stricknadel?« Sie sah ihn aus halb geschlossenen Augen an. »Wozu? Willst du etwa stricken lernen?« »Komm, komm, frag bitte nicht so blöd. Hast du eine Nadel?« »In der untersten Kommodenschublade«, sagte sie und vertiefte sich anscheinend wieder in ihren Roman. Er öffnete die Schublade, fand die Nadeln und zog eine heraus. Aus seiner Jackentasche nahm er einen Brief, löste behutsam eine obere Ecke des zugeklebten Umschlags, steckte die Stricknadel hinein und begann sie zu drehen. Das Mädchen hatte ihn aus ihren Augenwinkeln beobachtet. »Was machst du da?« fragte sie. »Es interessiert mich, was in diesem Brief steht.« »Von wem ist er?« »Von Frank Ostwald.« Das Mädchen ließ den Roman fallen, richtete sich auf und schwang die Beine zu Boden. »Kann ich dir helfen?« fragte sie. Er grinste boshaft. »Auf einmal?« »Na und? Besser spät als gar nicht. Ich bin froh über jede Abwechs lung.« Sie bückte sich und betrachtete den Umschlag, den Jakobus Schwenzen in der Hand hielt. »Nanu? Eine ausländische Briefmarke? Das finde ich aber komisch.« »Nicht komisch – gefährlich! Frank Ostwald ist in London.« »Was will er denn dort?« »Genau das möchte ich auch wissen.« Jakobus Schwenzen zog mit ei ner geschickten Bewegung den Briefbogen, der sich um die Nadel ge wickelt hatte, aus der Öffnung und faltete ihn auf. »Laß sehen!« bat sie. »Von mir aus.« Er reichte ihr den Brief. »Lies vor!« Er setzte sich auf einen Stuhl und zündete sich eine Zigarette an. 268
»Liebe Eltern«, las das Mädchen, »entschuldigt bitte, daß ich erst heute schreibe. Ich habe von Tag zu Tag gehofft, Euch eine gute Nach richt mitteilen zu können. Aber alles ist viel schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich bin jeden Tag bei Scotland Yard, habe auch schon mit verschiedenen Herren gesprochen, leider ohne Erfolg. Man hat Verständnis für unsere Lage, aber anscheinend befindet sich der Fall Harms in den Geheimakten des Secret Service, und niemand wollte mir bis jetzt Auskunft geben. Das alles ist sehr zermürbend. Aber ich bin entschlossen zu bleiben, solange es irgendwie geht. Es wäre gut, wenn Ihr mir noch einmal einen Geldbetrag überweisen könntet, da mit meine Nachforschungen nicht daran scheitern. Übrigens hatte ich am Tag meiner Ankunft in London einen Unfall im Nebel, bei dem ich noch haarscharf mit dem Leben davongekom men bin. Ihr braucht aber nicht zu erschrecken. Tatsächlich ist mir nichts passiert, was irgendwelche Folgen haben könnte, wie die ärztli che Untersuchung ergeben hat. Ich muß jetzt Dich etwas fragen, liebe Mutter: Du kennst doch den Schmuck der Harmshofbäuerin. Du sagtest mir mal, er sei schon über hundert Jahre in der Familie und einmalig in seiner Art. Stimmt das? Weißt Du, ob in letzter Zeit ein Stück davon weggekommen ist? Könn test Du das erfahren? Ich kann mir denken, daß Ihr im Augenblick nicht gut mit dem Bauern steht, aber diese Auskunft wäre sehr wichtig. Zu fällig habe ich nämlich bei Undine ein Medaillon entdeckt, das genau zu diesem Schmuck paßt. Ich nahm an, daß sie es nach dem Brand vom Harmshof mitgenommen hat. Ich sagte es ihr auch auf den Kopf zu. Aber sie behauptete, es von ihrem Pflegevater bekommen zu haben. Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger weiß ich, was wirk lich wahr ist. Sonst hat Undine doch nie gelogen. Bitte, liebe Mut ter, versuch es herauszubringen und schreibe mir dann sofort. Mei ne Adresse …« »Genügt«, sagte Jakobus Schwenzen mit bösem Gesicht, »oder steht sonst noch etwas Interessantes drin?« »Nein«, sagte das Mädchen und überflog die letzten Zeilen, »nur sei ne Adresse, gute Wünsche und dergleichen …« 269
»Gib her!« Jakobus Schwenzen nahm den Brief, steckte ein Streich holz an und verbrannte ihn mit dem Umschlag über dem Waschbek ken. Dann ließ er das Wasser laufen und spülte die Asche fort. »So, das hätten wir«, sagte er grimmig und wusch sich die Hände. »Du wirst mich nun die nächsten Tage entbehren müssen. Ich fahre nach Bad Wildenbrunn. Ich möchte so bald wie möglich zurück sein. Aber im merhin werde ich wohl mindestens fünf Tage brauchen. Ich weiß ja nicht, wo sie jetzt steckt.« Das Mädchen sah ihn verständnislos an. »Warum willst du nach Bad Wildenbrunn? Was hast du vor?« »Besser für dich, wenn du es nicht weißt«, antwortete er, und sein Gesicht verzog sich zu einem teuflischen Grinsen. Langsam begriff sie. »Jakobus«, rief sie, »bitte, versprich mir, daß du ihr nichts antust! Bitte, versprich es mir!« »Kümmere dich um deine eigene Aufgabe bei unserem Plan«, sag te er grob und schob sie beiseite. »Die Rolle der Betschwester steht dir nicht. Du kannst nur hoffen, daß alles klappt. Es wäre auch in deinem Interesse.«
Frank Ostwald traf kaum vierundzwanzig Stunden, nachdem Jako bus Schwenzen den Harmshof verlassen hatte, in der Kreisstadt ein. Er ahnte nicht, daß er den ›Hexenbanner‹ nicht antreffen würde, und brannte darauf, ihm das, was er in London erfahren hatte, ins Gesicht zu schleudern. Buchstäblich in letzter Stunde war er doch noch zu einem maßgeben den Herrn vom Secret Service vorgedrungen. Vor der Heimreise blieb ihm nur knapp so viel Geld, daß er seine Rechnung in der Pension be zahlen konnte. Für ein Telegramm nach Hause hatte es nicht mehr ge reicht. So kam es, daß niemand ihn am Bahnhof der Kreisstadt abholte. Bis zur Abfahrt des Omnibusses dauerte es noch eine ganze Stunde, und Frank Ostwald hatte nicht die Ruhe, untätig zu warten. Er schlen derte ohne Ziel durch die kleine Stadt. 270
Als er an der alten Apotheke vorbeikam, eilte gerade der Landarzt aus dem Laden. Dr. Häwelmann war ein hagerer alter Herr, der all gemein für seine Ruhe und seine nie versiegende gute Laune bekannt war. Jetzt aber schien er außer sich. Sein schmales Gesicht war feuer rot, während er mit großen Schritten auf sein Auto zuging. Er wäre fast gegen Frank Ostwald geprallt, der erstaunt stehengeblieben war. »Verdammt«, knurrte der Doktor wütend, »was fällt Ihnen ein …« Dann erst erkannte er den jungen Mann und schien sich zu besänfti gen. »Ach so, du bist es, Frank Ostwald! Wieder einmal daheim?« Er pflegte alle seine Patienten, die er schon als Kinder gekannt hatte, bis an ihr Lebensende zu duzen. »Noch nicht ganz, Doktor«, erwiderte Frank Ostwald. »Wenn Sie zu fällig zum Harmshof hinausfahren …« »Mach' ich, mein Junge! Steig ein.« Dr. Häwelmann kletterte in sein al tes, staubbedecktes Auto und öffnete Frank Ostwald von innen die Tür. »Danke, Doktor.« Dr. Häwelmann ließ den Motor an und fuhr davon. »Ich bin kein Philister«, schimpfte er, »ich habe für allerhand Verständnis. Ich ma che meinen Mitmenschen im allgemeinen keine Vorhaltungen und schaue nicht auf sie hinab. Aber wenn ich auf die Spuren solcher Gau ner treffe wie dieses sogenannten Hexenbanners Jakobus Schwenzen – das ist mehr, als ich ertragen kann. Verbrecher, die die Dummheit, die Hilflosigkeit, die Verzweiflung ihrer Mitmenschen ausnützen, um Geld daraus zu schlagen, die nur an ihren Profit denken, denen sollte man einen Stein um den Hals binden und sie im Meer versenken, da, wo es am tiefsten ist.« »Ich bin völlig Ihrer Meinung«, sagte Frank Ostwald mit Überzeu gung. Dr. Häwelmann sah ihn wohlwollend von der Seite an. »Freut mich zu hören. Aber du warst ja immer schon ein anständiger Junge.« »Was hat Jakobus Schwenzen denn getan? Ich meine: Gibt es etwas Besonderes, über das Sie sich so aufregen?« »Du kennst doch Antje Nyhuus? Bist du nicht sogar eine Zeitlang mit ihr gegangen?« 271
»Was ist mit ihr, Doktor?« Frank begann nervös in seinen Taschen nach Zigaretten zu suchen, bis ihm einfiel, daß er die letzte im Zug ge raucht hatte. Dr. Häwelmann bemerkte, was er wollte. »Mach das Handschuhfach auf«, sagte er, »da ist was zu rauchen drin, bediene dich. Nein, danke, mir keine, ich rauche lieber später zu Hause eine gute Zigarre.« Er war tete, bis Frank Ostwalds Zigarette brannte, dann fragte er: »Du weißt nicht, daß Antje Nyhuus krank ist?« »Ich bin seit Wochen nicht mehr daheim gewesen.« Frank Ostwald runzelte die Stirn. »Ist sie ernstlich krank?« »Eine ganz gemeine Vergiftung!« Frank Ostwald wurde blaß. »Antje hat sich doch nicht etwa …?« »Ach wo«, sagte Dr. Häwelmann rasch. »Als ich sie kürzlich unter sucht habe, wirkte sie zwar ziemlich hysterisch, aber von der Hysterie bis zum Selbstmord ist ja noch ein weiter Weg.« »Sagten Sie nicht – Gift?« »Ja. Ein gefährliches, rezeptpflichtiges Gift. Ich habe ein leeres Röhr chen neben ihrem Bett gefunden. Außerdem hatte sie verschiedene Injektionsstellen am Arm, und ich habe ihr nie eine Spritze gegeben. Also, was hältst du davon?« »Ich verstehe gar nichts mehr.« »Aber ich. Mir ist das Ganze völlig klar. Der Jammer ist bloß, daß ich es nicht beweisen kann. Ihr Vater, der es wissen müßte, schweigt, und Antje Nyhuus, das dumme Ding, will natürlich auch nicht re den.« »Ist sie außer Gefahr?« fragte Frank Ostwald erregt. »Ich habe ihr den Magen auspumpen lassen und denke, daß sie auf dem Wege der Besserung ist. Allerdings – bis sie wieder ganz in Ord nung ist, wird es noch einige Zeit dauern. Vielleicht muß sie sogar eine Entziehungskur machen.« »Süchtig? Sie glauben doch nicht, daß Antje wirklich süchtig ist?« »Ich befürchte, daß man sie dazu gemacht hat. Irgendein Quacksal ber. Ich möchte keinen Namen nennen. Jemand, der geholt wird, wenn man zur medizinischen Wissenschaft kein Vertrauen mehr hat, wenn 272
man keine Geduld hat, sich sachgemäß und vernünftig behandeln zu lassen, wenn man Wunder verlangt.« »Ich habe nicht gewußt, daß Jakobus Schwenzen auch mit derart ge fährlichen Mitteln arbeitet.« »Dann weißt du's jetzt. Es ist nicht das erste Mal, daß ich auf sein gewissenloses Eingreifen stoße. Ich kann mir genau vorstellen, wie es war: Erst hat er versucht, das Mädchen mit Hypnose zu behandeln. Das ist nämlich eine Kunst, die er beherrscht. Und als es damit nicht geklappt hat – oder auch, um die Wirkung zu verstärken –, hat er ihr Medikamente gegeben, die sie in einen somnambulen Zustand versetzt haben. Wie gesagt, es ist nicht das erste Mal, aber es ist wahrscheinlich das erste Mal, daß ich ihn packen kann. Das leere Röhrchen und die Einstiche scheinen mir Beweis genug. Der Zustand, in dem das Mäd chen ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte, spricht für sich sel ber. Auch wenn der Bauer und Antje Nyhuus noch nicht reden wol len: Diesmal kriegt Jakobus Schwenzen es mit der Polizei zu tun! Da für werde ich schon sorgen!« »Wie hat er sich wohl die Medikamente verschafft? Sie sagten doch, die wären rezeptpflichtig.« »Woher soll ich seine geheimen Quellen kennen? Ich kann es nur vermuten.« Dr. Häwelmann starrte mit zusammengezogenen Augen brauen vor sich auf die Landstraße. »Da wird tüchtig Dreck aufsprit zen, wenn die Polizei sich endlich dazu bewegen läßt, sich um diesen Ehrenmann und seine Komplicen zu kümmern. Aber mir soll's recht sein. Ich bin alt. Ich sterbe leichter, wenn ich weiß, daß unsere Heimat von dieser Pest befreit ist.«
Gregor Ostwald arbeitete im Hof, als sein Sohn nach Hause kam. Frank fiel auf, wie sehr sein Vater in der letzten Zeit gealtert war. Er hielt sich nicht mehr so aufrecht wie früher, und sein von Sonne und Wind gegerbtes Gesicht wirkte genau wie von durchwachten Nächten. »Vater!« rief Frank und lief auf ihn zu. 273
Einen winzigen Augenblick lagen sich beide in den Armen – eine seltene Geste unter Menschen, die es nicht gewohnt sind, ihre Gefüh le zu zeigen. Gregor Ostwald räusperte sich, um seiner Regung Herr zu werden, und sagte: »Na, da bist du ja endlich wieder, mein Junge. Warum hast du auch nicht ein einziges Mal geschrieben? Deine Mutter hat sich gro ße Sorgen um dich gemacht.« »Aber ich habe doch geschrieben«, sagte Frank erstaunt. »Schon in den allerersten Tagen in London …« »Wir haben nie eine Zeile von dir erhalten.« Gregor Ostwald stell te sein Arbeitsgerät beiseite und rief zu den Ställen hinüber: »He, Krischan, mach du fertig!« Dann wandte er sich wieder an seinen Sohn. »Macht nichts, Hauptsache, daß du wieder da bist – gesund und munter, wie ich sehe.« »Ich bringe gute Nachrichten, Vater.« »Nicht hier im Hof, Junge. Dieses Frauenzimmer lungert überall her um. Ich möchte nicht, daß sie vorzeitig etwas erfährt und sich danach richten kann.« »Das würde ihr auch nichts mehr nützen«, bemerkte Frank Ostwald und begleitete seinen Vater ins Haus. Die Begrüßung mit der Mutter war sehr herzlich. »Setz dich nun, Junge, iß einen Happen!« sagte sie dann. »Du siehst ja ganz müde aus. Hast du in London was erreichen können?« »Ich habe schriftliche Beweise, die für uns sehr günstig sind.« Frank Ostwald pochte stolz auf seine Brieftasche. »Mach's nicht so span nend«, drängte der Vater, »erzähl jetzt!« »Eigentlich«, begann Frank, »habe ich es mir anders vorgestellt. Ich wollte erst dann ausführlich berichten, wenn wir alle zusammen sind: die Harmshofbauern, dieses Frauenzimmer, wie Vater es nennt, und ihr beide.« »Nun, ich muß schon sagen …«, begann seine Mutter entrüstet. »Laß dem Jungen den Spaß«, unterbrach sie ihr Mann, »er hat aller hand hinter sich, möchte ich meinen. Da soll's jetzt auch so sein, wie er es wünscht.« Er schüttete heißes Wasser in eine Schüssel und seif 274
te sich die Hände ein. »Ich gehe gleich hinüber zum Bauern und berei te die Sache vor. Iß inzwischen einen Teller Suppe, Junge, und rasieren könntest du dich auch!«
Eine knappe Stunde später waren sie alle in der guten Stube des Harms hofes versammelt. Der Bauer und seine Frau saßen nebeneinander, sehr würdevoll in ihrer altmodischen Kleidung. Ihre verschlossenen Gesichter zeigten, wie sehr ihnen die ganze Szene mißfiel. Die angebliche Elke Harms stand am Fenster. Sie schaute anschei nend gelangweilt hinaus, zupfte aber nervös an ihren altmodischen Ohrringen, die sie, um die Bauern für sich einzunehmen, angelegt hat te. Gregor Ostwald und seine Frau saßen in einigem Abstand von den Bauern. Sie gaben sich Mühe, ruhig und zuversichtlich zu wirken, aber es war ihnen anzumerken, daß es hier gewissermaßen um ihre letzte Chance ging. Frank Ostwald holte tief Atem, bevor er zu sprechen begann. »Ich war in London«, sagte er und beobachtete das Mädchen scharf; aber sie zeigte keinerlei Bewegung, wandte sich nicht einmal um. »Ich habe Nachforschungen nach Klaus Harms und seiner Familie angestellt«, fuhr Frank Ostwald fort. »Wer hat dich dazu befugt?« fragte der Bauer unwirsch und miß trauisch. »Ich habe es auf eigene Faust getan, weil ich wünsche, daß Sie erfah ren sollen …« »Sag lieber, weil du unserer Großtochter den Besitz nicht gönnst«, unterbrach ihn die Bäuerin. »Aber dein Neid nutzt dir nichts. Das Te stament ist bereits aufgesetzt und ebenfalls der Vertrag, der Elke ein Mitspracherecht auf dem Hof einräumt.« »Haben Sie schon unterschrieben?« fragte Gregor Ostwald, und sei ne Hände krampften sich ineinander. Der Bauer und seine Frau sahen sich an. »Nein«, sagten sie dann bei 275
de, und die Bäuerin fügte hinzu: »Aber die Unterschrift ist bereits be schlossen.« »Würden Sie auch unterschreiben«, fragte Frank Ostwald, »wenn Sie wüßten, daß dieses Mädchen«, er wies mit dem Kopf zum Fenster, »nicht Ihre Enkelin Elke Harms ist, sondern eine Betrügerin?« »Jetzt reicht's mir aber!« rief das Mädchen frech. »Ich möchte bloß wissen, woher Sie den Mut haben, den Mund so voll zu nehmen. Seien Sie ruhig, sonst werden Sie was erleben.« »Sie haben einen forschen Umgangston«, sagte Frank Ostwald iro nisch, »man merkt sofort, daß Sie aus einer guten Familie stammen.« »Meine Familie ist gut genug, nicht irgendwelches Gesindel!« Sie lief zu dem Bauern und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Sag ihm doch, daß er mich nicht beleidigen darf, verbiete es ihm!« Der Bauer klopfte mit seinem Krückstock auf den Boden und sag te zu Frank Ostwald: »Ich möchte hier keinen Spektakel, sonst kannst du sofort gehen.« Frank Ostwald wich keinen Schritt. »Ich gehe nicht, bevor ich al les gesagt habe, und Sie werden mich anhören. Nachher können Sie mich immer noch hinauswerfen mitsamt meinen Eltern. Wir gehen gerne, wenn Sie selbst durch einwandfreie Beweise nicht zur Vernunft zu bringen sind.« Die alte Bäuerin sah Frank Ostwald groß an. »Sag, was du zu sagen hast.« »Dieses Mädchen«, erklärte Frank Ostwald, »behauptet, mit seinen Eltern im Jahre 1943 aus Brasilien nach London gekommen zu sein …« »Ja, und es ist die Wahrheit!« rief das Mädchen. »Anfang Januar 1943 sind wir in London eingetroffen.« »Sie haben ein erstaunliches Gedächtnis«, erwiderte Frank Ostwald sarkastisch, »wenn man bedenkt, daß Sie damals gerade ein Jahr alt waren …« »Meine Pflegeeltern haben es mir erzählt«, sagte das Mädchen trot zig und warf den Kopf in den Nacken. »War's nicht vielleicht Jakobus Schwenzen, der Ihnen das eingetrich tert hat?« »Frechheit!« 276
»Berichte, was du zu berichten hast, aber laß das Mädchen jetzt in Ruhe«, bat die Bäuerin. »Nur noch eine Frage.« Frank Ostwald trat auf das Mädchen zu. »Sie haben erzählt, daß Ihre Eltern bei einem Luftangriff umgekom men seien und daß Sie selber von fremden Leuten aufgezogen wurden. Überlegen Sie sich gut, was Sie jetzt antworten: Bleiben Sie dabei?« »Klar. Ich weiß gar nicht, was dieses blöde Verhör soll. Ich habe doch alles schon hundertmal erzählt.« »Dann haben Sie hundertmal gelogen. Klaus Harms und seine Frau sind nämlich nachweisbar nicht in London umgekommen!« »Sie – leben?« fragte die Bäuerin mit bebenden Lippen. Frank Ost wald wandte sich der alten Frau zu. »Sie sind gestorben, weil sie zu Ih nen in die Heimat wollten. Mit einem britischen Zerstörer stachen sie in See …« »Märchen«, unterbrach das Mädchen grob, »alberner Quatsch. Mit einem britischen Zerstörer! Konnten Sie sich nichts Besseres ausden ken? Behaupten Sie jetzt nur noch, daß das Kind mit dabei war.« »Jawohl. Die kleine Elke war dabei«, erklärte Frank Ostwald mit Nachdruck. »Wahrscheinlich wollte Klaus Harms das Kind und sei ne junge Frau den Eltern bringen. Aber es kam nicht dazu.« Er ent schloß sich, seine ganzen Ermittlungen ausführlich zu schildern: »Zu erst klappte alles programmgemäß. Sie wurden von einem dänischen Fischkutter übernommen. Es war eine stürmische Frühjahrsnacht, und die Fischer weigerten sich, die kleine Familie nahe der Küste in ei nem Rettungsboot auszusetzen. Sie hielten das für zu gefährlich. Aber Klaus Harms bestand darauf. So berichteten jedenfalls die Fischer spä ter nach London. Er hatte wohl lange auf diese Chance, in die Hei mat zu kommen, warten müssen, und er wollte sie wahrnehmen, auch wenn es gefährlich war.« »Warum«, fragte der Bauer, »taten diese Leute all das für meinen Sohn – die englischen Soldaten und die dänischen Fischer?« »Es ist anzunehmen, daß Ihr Sohn einen Auftrag vom englischen Geheimdienst hatte. Um was es bei diesem Auftrag ging, habe ich nicht erfahren können. Es ist auch nicht wichtig. Fest steht jedenfalls, 277
daß Klaus Harms mit seiner jungen Frau und seiner Tochter Elke in einem Rettungsboot auf das Wasser gesetzt worden ist. Es war, wie gesagt, eine stürmische Nacht, die Wellen gingen hoch. So geschah das, was die Dänen befürchtet hatten: Das Rettungsboot kenterte. Sie sahen es mit eigenen Augen und wollten zu Hilfe eilen. Aber da mel dete der Funker das Herannahen eines deutschen Küstenwachboo tes. Die Dänen wagten nicht länger zu bleiben und machten sich da von.« »Man hat also nicht gesehen, daß sie wirklich ertrunken sind«, sagte die Bäuerin mit leiser Hoffnung. »Sie können an Land gekommen sein, die Besatzung des Küstenwachbootes könnte sie gerettet haben.« »Das müßten die Leute hier erfahren haben«, wandte Frank Ostwald ein, »so was geht nicht heimlich vor sich. Und die Küstenwachboote haben in dieser Nacht niemand aus Seenot gerettet. Der Secret Service hat sich nach dem Krieg bemüht, solche Fälle zu klären. In Zusam menarbeit mit deutschen Behörden ist dabei einwandfrei festgestellt worden, daß Klaus Harms, seine Frau und seine Tochter umgekom men sind. Jedenfalls hat sich in all den Jahren noch kein Zeuge gefun den, der einen von ihnen gesehen hätte.« »Sagtest du nicht, du könntest deine Behauptungen beweisen?« frag te der alte Bauer. Es war seiner Stimme anzuhören, wie erschüttert er war und wie schwer es ihm fiel, zu sprechen. »Ja. Ich habe es schriftlich.« Frank Ostwald nahm ein mit Schreib maschine geschriebenes, unterzeichnetes und ab gestempeltes Doku ment aus seiner Brieftasche. »Das genügt, um Klaus Harms und seine Familie für tot erklären zu lassen. Soll ich es übersetzen?« »Nein«, sagte der Bauer und setzte seine Brille auf. »Soviel Englisch verstehe ich wohl selber.« Gregor Ostwald packte die angebliche Elke Harms gerade noch, als sie ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer verschwinden woll te. »Halt«, rief er, »was fällt Ihnen ein? Wird Ihnen jetzt der Boden zu heiß?« Sie versuchte sich loszureißen. »Lassen Sie mich! Was wollen Sie von mir?« 278
»Daß Sie uns sagen, wer Sie in Wirklichkeit sind«, verlangte Gregor Ostwald. »Hat das Ihr gescheiter Sohn immer noch nicht herausgebracht?« Frank Ostwald trat näher. »Ich habe mich bisher noch nicht darum bemüht. Es war auch nicht nötig. Die Polizei wird das sehr schnell fest stellen.« »Sie – wollen doch nicht die Polizei benachrichtigen?« In den Augen des Mädchens zeigte sich unverkennbarer Schrecken. »Was denn sonst?« antwortete Frank Ostwald mit scharfer Stimme. Das Mädchen wechselte plötzlich den Ton. »Das geschieht mir ganz recht«, sagte sie niedergeschlagen. »Ohne diesen schrecklichen Jako bus Schwenzen wäre ich nie auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Und ausgerechnet jetzt, wo es brenzlig wird, läßt er mich im Stich. Eine Gemeinheit!« Sie starrte plötzlich den Verwalter und seinen Sohn wütend an. »Was wollt ihr denn von mir? Daß ich nicht Elke Harms bin, habt ihr ja von Anfang an gewußt. Also, was soll's? Ich gebe al les zu und verspreche, daß ich mich nie wieder auf etwas Derartiges einlassen werde – so dumm kann man ja wirklich nur einmal sein. Laßt mich laufen, ich bin gestraft genug. Monatelang habe ich hier her umgesessen und mich gelangweilt, bloß weil Jakobus Schwenzen mir den Mund auf einen großen Batzen Geld wäßrig gemacht hat. Dabei – wer weiß, ob er mir überhaupt was abgegeben hätte, dieser widerli che Schuft. Was habe ich nun von allem gehabt? Essen und Trinken, aber nicht den geringsten Spaß und keinen Pfennig verdient. Und ge schenkt? Ja, geschenkt habe ich auch bloß diese altmodischen Dinger bekommen.« Sie nestelte ihre Ohrringe los und warf sie auf den Tisch. »Laßt ihr mich nun laufen, oder wollt ihr unbedingt einen Skandal?« Gregor Ostwald und sein Sohn sahen sich unentschlossen an. Dann sagte der Verwalter: »Wenn der Bauer nichts dagegen hat: Von uns aus kehren Sie dahin zurück, woher Sie gekommen sind.« »Ja, geh«, bekräftigte die Bäuerin, »ich möchte dich nicht mehr se hen.« Das Mädchen glitt geschmeidig wie eine Katze aus dem Zimmer. Man hörte, wie sie mit schnellen Schritten die Treppe hinauflief. 279
»Sie war wirklich nur Jakobus Schwenzens Werkzeug«, sagte Frank Ostwald. Der Bauer nahm seine Brille ab und sagte bedächtig: »Ich glaube, wir müssen uns bei dir bedanken, Frank Ostwald, und uns entschul digen …« »Ich hätte euch gerne bessere Nachricht gebracht«, versicherte der junge Mann abwesend und starrte auf die beiden Ohrringe auf dem Tisch – dunkles Gold mit Achaten und Brillantsplittern besetzt. »Ich hätte es fast vergessen«, sagte er. »Fehlt Ihnen irgend etwas von diesem Schmuck, Bäuerin?« Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ganz gewiß nicht?« »Nein«, antwortete sie erstaunt. »Ich halte die Schatulle verschlossen, nur sonntags hole ich mir eine Brosche oder eine Kette heraus.« »Wenn das wahr ist«, rief Frank Ostwald erregt, »dann ist diese Aus kunft das schönste Geschenk, das Sie mir machen konnten.« »Wovon sprichst du? Und warum glaubtest du, daß etwas von die sem Schmuck fehlen könnte?« fragte seine Mutter verwundert. »Ich habe es euch schon in meinem Brief geschrieben, der nicht an kam. Als ich Undine das letzte Mal besuchte …« Er wandte sich ab rupt an die Bäuerin. »Sie erinnern sich, das Mädchen, das kurze Zeit hier auf dem Hof arbeitete – sie hatte in Bad Wildenbrunn ein Medail lon in ihrer Handtasche. Es sah aus, als ob es zu diesem Schmuck ge hörte. Ich glaubte, sie hätte es nach dem Brand auf dem Harmshof mit genommen, und machte ihr Vorwürfe. Jetzt weiß ich, daß ich ihr Un recht getan habe.« »Es gab ein Medaillon«, erklärte die alte Bäuerin versonnen, »aber ich habe es fortgeschickt, es war noch während des Krieges. Ich habe eine blonde Locke hineingetan von meinem Mädchenhaar.« »Fortgeschickt?« fragte Gregor Ostwald. »Wohin denn?« »Meinem Sohn. Ich hatte es für sein Töchterlein bestimmt, das da mals gerade geboren worden war. Das Medaillon sollte Glück bringen, und statt dessen …« Sie tupfte sich die Augen mit einem blütenweißen Taschentuch. 280
»Undine behauptete, sie hätte das Medaillon von ihrem Pflegevater Tede Carstens«, berichtete Frank Ostwald. »Er war Leuchtturmwäch ter auf der Insel …« »Wir kennen ihn nicht«, sagte der Bauer. »Er hat ihr das Schmuckstück angeblich auf dem Sterbebett gegeben. Undine soll es in einem Lederbeutel um den Hals getragen haben, als er sie aus dem Wasser gezogen hat. Wie Undine mir erzählte, hat Tede Carstens das Datum eingeritzt. Sie nannte es mir auch – wartet nur ei nen Augenblick, es wird mir wieder einfallen.« Frank Ostwald sah ei nen nach dem anderen mit geradezu töricht verwundertem Ausdruck an. »Es war der siebzehnte März 1943.« Der Bauer sah auf die Bescheinigung vom Secret Service, die er vor sich liegen hatte. »In der Nacht vom sechzehnten zum siebzehnten März 1943 ist das Rettungsboot mit Klaus Harms und seiner Familie von einem dänischen Fischkutter nahe der nordfriesischen Küste aus gesetzt worden«, las er laut vor. Frau Ostwald war aufgesprungen. »Nein«, rief sie, »das ist doch nicht möglich! Undine wäre dann …« »… Elke Harms«, ergänzte ihr Mann. »Es gibt kaum einen Zweifel.« »Unsere Enkelin«, murmelte die Bäuerin. »Und wir haben sie vom Hof gejagt.« Der Bauer schüttelte den Kopf. »Sie war ein liebes Ding, ja, aber sie hat doch gar keine Ähnlichkeit mit unserem Sohn. Mir erschien sie wie eine Fremde.« »Vergiß nicht, daß ihre Mutter Portugiesin war«, sagte die Bäuerin, die sich schneller umzustellen vermochte. »Das hat uns Klaus doch ge schrieben.« »Du wirst schon recht haben«, antwortete der alte Mann mit tränen erstickter Stimme und schlurfte schweigend aus dem Zimmer. Seine Frau sah ihm mit einem kleinen Lächeln nach. »Du hast viel für uns getan, Frank Ostwald«, sagte sie dann, »wir werden wohl im mer in deiner Schuld bleiben. Dennoch mußt du uns eine letzte Bitte erfüllen: Bring uns unsere Großtochter wieder auf den Hof. Du weißt, wo sie ist.« 281
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. »Herein!« rief die Bäuerin. Das von Jakobus Schwenzen auf den Harmshof gebrachte Mädchen stand auf der Schwelle. Sie hatte sich in der kurzen Zeit, seit sie aus dem Zimmer gegangen war, sehr verändert, hatte sich das Haar zu ei ner modischen Frisur gelegt, die Lippen stark geschminkt, die Augen wimpern getuscht, die Brauen schwarz nachgezogen. Sie war reisefer tig und hielt ein Köfferchen in der Hand. Die Bäuerin schaute sie, entsetzt über diese Verwandlung, groß an. »Tut mir leid, daß ich noch einmal störe«, sagte das Mädchen, »aber …« Sie sah Frank Ostwald an. »Sie lieben doch wohl diese Undi ne, nicht wahr? Wenn Ihnen wirklich etwas an ihr liegt, dann sollten Sie sich beeilen. Jakobus Schwenzen ist zu ihr gefahren.« Frank Ostwald starrte sie mit schreckgeweiteten Augen an. »Er hat Ihren Brief geöffnet, den Sie von London geschickt haben, und dann hat er gesagt, er müßte zu Undine. Was er von ihr will, weiß ich nicht genau. Aber was Gutes wird's bestimmt nicht sein. Ein Ge sicht hat er gemacht, daß ich selber mich vor ihm gefürchtet habe.«
XII
U
ndine Carstens hatte sich noch nie so geborgen gefühlt wie in den Wochen, die sie in der Robert-Koch-Klinik in Bad Wildenbrunn verbringen durfte. Alle waren liebenswürdig zu ihr – die Ärzte, die Schwestern und die Besucher. Direktor Mommert kam, ziemlich verlegen, mit einer riesi gen Schachtel Pralinen und erkundigte sich nach ihrem Befinden, und Evelyn besuchte sie mit den Kindern; die Freude dieses Wiedersehens ließ Undine zum ersten Mal für kurze Zeit ihre trüben Gedanken ver gessen. 282
Täglich kamen Professor Schneider und Doktor Hagedorn zur Visi te in ihr Krankenzimmer und sprachen lange mit ihr. Allmählich be gann Undine zu begreifen, daß sie tatsächlich nur ein Opfer des Aber glaubens war. Sie begriff, daß ihre Fähigkeiten zwar ungewöhnlich, aber nicht unheimlich waren und der Teufel gewiß nicht seine Hand dabei im Spiel hatte. »Wenn es Ihnen etwas besser geht«, erklärte Professor Schneider, »werde ich Versuche mit Ihnen machen. Wir werden alles ausprobie ren – außersinnliche Wahrnehmungen, Psychokinese, Telepathie und Hellsehen –, und ich bin sicher, wir werden zu großartigen Ergebnis sen kommen.« »Was nutzt mir das?« fragte Undine müde. »Ihnen vielleicht nichts, dafür aber der parapsychologischen Wis senschaft, die sich mit der Erforschung nichtmaterieller Erscheinun gen befaßt. Man nimmt uns heute vielenorts noch nicht recht ernst. Aber es ist gut möglich, daß auf unser technisches Jahrhundert ein pa rapsychologisches folgt – daß man eines Tages erkennt, daß die Psi-Fä higkeiten eines Menschen entscheidender sein können als seine kör perlichen Kräfte, seine Erfahrung und sein Verstand.« »Ich glaube nicht«, sagte Undine, »daß diese Psi-Fähigkeiten, wie Sie sie nennen, irgendeinen Menschen glücklich machen. Mich haben sie jedenfalls nur ins Elend gebracht. Ich wäre froh, wenn ich sie loswer den könnte und nichts sein als …« »… ein normaler Mensch«, fiel ihr Professor Schneider ins Wort. »Das habe ich nun schon oft genug von Ihnen gehört, Undine. Sie sind undankbar. Sie bekamen große Gaben in die Wiege gelegt. Sie können nur sich selber dafür verantwortlich machen, wenn Sie sie nicht rich tig zu nutzen verstanden.« »Ich habe mich damit einfach gewehrt gegen alle, die niederträchtig zu mir waren.« »Ja, ich weiß. Wenn Sie sich früher mit einem Kind gezankt haben, dann haben Sie gesagt: ›Warte nur, der Klabautermann wird dich ho len!‹ Und wenn jemand böse zu Ihnen war, haben Sie gedroht: ›Hüte dich, du wirst noch was erleben!‹ War es so?« 283
Undine nickte. »Und da wundern Sie sich, wenn Sie langsam, aber sicher in den Ruf einer Hexe gekommen sind? Sie, ein Findelkind, das in einer stürmi schen Nacht an die Küste gespült wurde – in einer Nacht, die andere Menschen das Leben kostete. So etwas gibt der Phantasie von vornher ein einen starken Anreiz. Dazu kommt, daß Sie anders aussehen als die Leute oben an der Küste, anders auch als die Menschen hier in Bad Wildenbrunn – schöner, geheimnisvoller …« Undine unterbrach ihn. »Sie brauchen mir nicht zu erzählen, wa rum die Leute mich für eine Hexe halten. Sagen Sie mir lieber, wie ich es ändern kann.« »Indem Sie aufhören, sich extravagant zu verhalten. Nehmen Sie die Menschen so, wie sie sind, und versuchen Sie nicht, sie nach Ih rem Willen zu zwingen. Ihre Fähigkeiten übrigens, die Sie so sehr er schrecken, werden mit der Zeit ganz von selber verschwinden. Das haben bisher alle wissenschaftlichen Versuche übereinstimmend er geben. Je mehr die Psi-Fähigkeiten nämlich ausgeübt werden, desto stärker lassen sie nach. Die besten Ergebnisse liegen immer am An fang einer Versuchskette und in den ersten Arbeiten eines neuen Me diums. Jede körperliche Umstellung – eine Operation, ein Unfall, die Geburt eines Kindes – verschüttet diese Fähigkeiten, meist sogar schlagartig. Warten Sie nur ab, Undine, es wird vielleicht eine Zeit kommen, in der Sie von Herzen wünschen, sich ein wenig von Ihrer sogenannten Hexenhaftigkeit bewahrt zu haben. Spätestens nach dem dritten Kind …« »Mich will doch niemand heiraten«, lächelte Undine vielsagend. Professor Schneider schmunzelte. »Das ist nicht wahr, und Sie wis sen es. Bloß der eine, den Sie sich in den Kopf gesetzt haben, scheint schwierig zu sein. Das ist aber schon vielen jungen Mädchen genauso gegangen.« »Wenn ich nur wüßte, ob er gesund ist«, antwortete Undine. »Er wird sich schon wieder bei Ihnen melden, auch wenn Sie sich ge stritten haben. Ein Mädchen wie Sie verläßt man nicht wegen irgend einer Bagatelle.« 284
Undine konnte den Optimismus des Professors nicht teilen. Immer wieder dachte sie an ihre letzte Auseinandersetzung. So kalt, so böse, so verächtlich hatte Frank Ostwald früher nie zu ihr gesprochen. Ihre Sorge wurde noch verstärkt durch jenen sonderbaren Wachtraum, in dem sie ihn mit verbundenen Augen einem Raubtier ausgeliefert gese hen hatte. Undine war sehr unglücklich. Sie spürte die liebevolle Fürsorge, mit der man sie umgab, sie war auch dankbar, aber ihr Herz blieb unerfüllt. Dr. Hagedorn glaubte, daß ihr der dauernde Aufenthalt in dem kleinen Zimmer nicht bekä me, und schickte sie täglich nachmittags zwei Stunden spazieren. Aber er er reichte damit nur, daß sie blind vor Kummer durch die schöne Frühlingswelt streifte. Als sie eines Tages mit traurigen Augen von einem dieser Spazier gänge zurückkehrte, geschah das kaum noch Erhoffte. Der Pförtner teilte ihr mit, daß ein Herr namens Frank Ostwald an gerufen hätte und bestellen ließ, daß sie um acht Uhr abends am Aus sichtspavillon bei den Klippen sein möchte. Undine schoß das Blut zum Herzen. Sie konnte den Abend kaum noch erwarten. In fieberhafter Aufre gung bereitete sie sich vor. Sie zögerte, ob sie das Medaillon umhängen sollte, entschied sich dann aber, es in die Handtasche zu stecken. Sie wollte Frank nicht sofort an ihren Streit erinnern, auch wenn sie über zeugt war, daß er ihr inzwischen glaubte. Als sie die Klinik verließ, begann der Himmel sich glutrot zu fär ben. Die Sonne versank hinter den Wäldern, die Bad Wildenbrunn umgaben. Es wurde dämmrig und kühl, als Undine durch den Park eilte. Die letzten Spaziergänger machten sich bereits auf den Heim weg, und je weiter sie sich von der Promenade entfernte, desto stiller wurde es. Ein unheimliches Gefühl beschlich das Mädchen. Plötz lich fiel ihr auf, wie merkwürdig es war, daß Frank Ostwald sie aus gerechnet zum Aussichtspavillon bestellt hatte. Warum wohl? Wie war er auf diese Idee gekommen? Sie hatten sich dort noch nie ge troffen. Unwillkürlich verlangsamte sie den Schritt. 285
Es wurde immer dunkler. Neben ihr im Gehölz knackte es. Weit und breit war kein Mensch mehr zu sehen. Auch der Aussichtspavillon lag verlassen. »Frank!« rief Undine, und noch einmal: »Frank!« Sie trat an die steinerne Brüstung, von wo aus man den Fluß und den Wasserfall sehen konnte, jetzt freilich nur noch undeutlich. Dann – obwohl kein Geräusch sie gewarnt hatte – fuhr sie plötzlich her um. Eine hohe Männergestalt kam mit einem etwas schwerfälligen Gang auf sie zu. Undine begriff, daß dies nicht Frank Ostwald sein konnte. Sie erkannte Jakobus Schwenzen. Jakobus Schwenzen kam näher und näher. Undine konnte den Ausdruck seines Gesichtes nicht erkennen, aber in seinem unaufhaltsamen Vorwärtsschreiten lag etwas Drohendes, das sie erschauern ließ. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß hinter ihr der Abgrund gähnte. Mit einer raschen Drehung erreichte sie, daß Jakobus Schwenzen die Richtung ändern mußte. Sie stand jetzt mit dem Rük ken zum Aussichtspavillon. »Was wollen Sie von mir?« fragte sie, bemüht, ihrer Stimme einen fe sten Klang zu geben. »Das Medaillon – gib es her!« forderte er. Sie streckte ihm die Handtasche entgegen, aber er nahm sie ihr nicht ab. »Nur das Medaillon«, verlangte er. »Du kannst mich nicht betrü gen!« Sie öffnete ihre Handtasche mit zitternden Fingern, nahm das Me daillon heraus und reichte es ihm. Er hielt es hoch im letzten Schim mer des vergehenden Lichts und betrachtete das alte Schmuckstück gierig. »Ja«, sagte er, »das ist es!« Sie versuchte sich unmerklich zum Park hin zurückzuziehen. Aber er bemerkte ihre Fluchtbewegung. »Bleib!« zischte er. Undine gehorchte. Sie überlegte, ob er imstande wäre, sie einzuho len, wenn sie einfach blindlings davonlief. Vielleicht hätte sie entkom men können. Dennoch wagte sie es nicht. Sie fühlte sich wie unter ei nem Bann. 286
»Sieh mich an!« befahl er. Sie tat es, sagte aber gleichzeitig: »Ich bin hier mit Frank Ostwald verabredet, er kann jeden Augenblick kommen.« Schwenzen lachte hämisch. »Das könnte dir so passen. Aber du hast dich verrechnet. Frank Ostwald kommt nicht. Er kommt nie wieder. Du bist mir ausgeliefert, mir hast du immer gehört – Hexe!« Das Wort wirkte auf Undine wie ein Peitschenhieb. Sie zuckte zu sammen. Er sah, daß er sie getroffen hatte, und wiederholte: »Ja, eine Hexe bist du, und eine Hexe bleibst du. Du hast dir wohl von den gelehrten Her ren hier in diesem feinen Nest allerlei verrücktes Zeug in den Kopf set zen lassen, wie? Willst du nicht mehr zugeben, daß du dem Höllen fürsten ergeben bist? Aber mich kannst du nicht betrügen, mich nicht. Ich kenne dich bis auf den Grund deiner Seele. Du weißt, daß du eine Hexe bist – gib es zu!« Sie nickte, stumm und verängstigt. »Du weißt auch, wer ich bin?« Sie nickte wieder. »Sag es mir, sprich es aus!« »Der Hexenbanner«, sie flüsterte es kaum hörbar. »Ja, ich bin der Hexenbanner, und du stehst in meiner Gewalt. Sieh mir in die Augen – nein, schau nicht weg –, sieh mich an! Ich befehle es dir! Du mußt mir gehorchen, du bist mir ausgeliefert, du mußt alles tun, was ich dir sage. Du kannst nicht mehr gehen, nicht einen einzi gen Schritt – versuch es nur! Es geht nicht!« Undine stand, ohne sich zu rühren, sie machte keine Bewegung. »Versuch es!« schrie er unvermittelt. »Heb dein rechtes Bein!« Es sah aus, als ob sie eine Anstrengung machte, ihm zu gehorchen, aber ihr Fuß hob sich nicht vom Boden. »Es ist gut«, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich milder, »so ist es sehr gut.« Er sah sie lauernd an. »Schön bist du, das muß dir so gar der Neid lassen. Fast könnte es einem leid tun, daß du eine Hexe bist. Ja, du wärst eine, die mir gefallen könnte. Verdammt noch mal!« 287
Er machte einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen. »Nein«, sagte er, »noch einmal falle ich nicht auf dich herein wie damals auf der Insel. Es geht um mehr als um eine schöne Stunde.« Wieder än derte er den Ton. »Du mußt sterben, Undine, weißt du das?« raun te er. Sie sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken, aus weit geöffne ten Augen. »Wiederhole, was ich gesagt habe!« »Ich muß – sterben«, flüsterte sie. »Sehr gut«, sagte er befriedigt. »Dumm von mir, daß ich es auch bei dir nicht schon früher mit Hypnose versucht habe. Du mußt sterben, und warum? Weil du nur Unheil über die Menschen bringst. Denk an den jungen Ole Peters und seinen Tod auf der Insel.« »Ja«, hauchte sie. »Du hast ihn auf dem Gewissen, und nicht nur ihn allein. Niemand liebt dich, alle haben Angst vor dir, hassen dich, verachten dich – weil du kein richtiger Mensch bist. Du bist eine Hexe.« »Ich bin eine Hexe«, wiederholte sie tonlos. »Ja, eine Hexe, und du wirst es bleiben. Niemand kann aus seiner Haut heraus. Du hast allen nur Unglück gebracht, und sie werden dich verfolgen und quälen. Es ist besser für dich, du stirbst.« »Es ist besser für mich, ich sterbe.« »Du weißt, wo die Klippen sind?« fragte er. »Es ist dort drüben, nur ein kurzer Weg. Du wirst zu den Klippen gehen und dich hinunter stürzen.« »Mich hinunterstürzen …«, sie machte eine Bewegung, als ob sie sich abwenden wollte. »Noch nicht!« rief er. »Warte!« Sie blieb stehen. »Du wirst warten, bis ich fort bin, hast du verstanden? Glaubst du, ich will mir deinen Tod anhängen lassen? In zehn Minuten, wenn ich Menschen erreicht habe, die mir ein Alibi geben können, gehst du zu den Klippen. In zehn Minuten, verstehst du? Du wirst hinuntersprin gen, weil du sterben willst. Du wirst springen, auch wenn man ver 288
sucht, dich daran zu hindern.« Er machte eine rasche, wischende Be wegung über ihre Augen. Dann verschwand er langsam und gleitend, wie er gekommen war, im Dunkel des Parks. Undine stand, ohne sich zu rühren.
Frank Ostwald traf abends in Bad Wildenbrunn ein. Ohne sich die Zeit zu nehmen, seinen Koffer zur Gepäckaufbewahrung zu bringen, eilte er zur Robert-Koch-Klinik. »Keine Besuchsstunde«, sagte der Pfört ner, als Frank Ostwald um Einlaß bat. »Aber es ist wichtig! Es ist ungeheuer wichtig! Ich will zu Fräulein Undine Carstens, sie ist in Gefahr!« drängte Frank Ostwald. »Kommen Sie morgen wieder«, sagte der Pförtner gelassen. »Morgen kann es zu spät sein. Hören Sie, so nehmen Sie doch Ver nunft an. Wenn Sie mich nicht aus eigenem Ermessen einlassen dür fen, so rufen Sie einen Arzt. Ich heiße Frank Ostwald und bin mit Un dine Carstens verlobt.« Der Pförtner beugte sich vor, bis seine Lippen fast die Sprechscheibe berührten. »Wie heißen Sie?« »Na endlich. Ich heiße Frank Ostwald und …« »Haben Sie heute nachmittag hier aus Bad Wildenbrunn angerufen?« »Nein. Ich bin eben erst mit dem Zug angekommen aus Nordfries land. Ich will …« »Das kann nicht sein«, unterbrach ihn der Pförtner. »Ein Frank Ost wald hat heute nachmittag von hier aus angerufen. Ich erinnere mich genau. Er wollte Fräulein Carstens sprechen.« Frank Ostwald holte seinen Paß aus der Brieftasche und hielt ihn dem Pförtner aufgeschlagen hin. »Da, lesen Sie! Ich bin Frank Ost wald, und ich müßte es doch wissen, wenn ich angerufen hätte. Der andere muß ein Betrüger sein – ein Verbrecher …« Plötzlich kam ihm ein entsetzlicher Gedanke. Alles begann sich um ihn zu drehen, er mußte sich gegen das schwere eichene Haustor leh nen. »O mein Gott!« stöhnte er. 289
Der Pförtner öffnete seinen Schalter. »Was ist mit Ihnen?« fragte er. »Fühlen Sie sich nicht wohl?« »Ich fürchte, es ist etwas Entsetzliches geschehen«, murmelte Frank Ostwald. »Aber vielleicht können wir es noch verhindern. Was sagte dieser Mann, der sich Frank Ostwald nannte?« »Er wollte Fräulein Carstens sprechen, aber sie war nicht im Hause. Da bat er mich, ihr etwas auszurichten. Warten Sie, ich hab' mir's auf geschrieben.« Der Pförtner bückte sich und nahm einen zerknitter ten Zettel aus dem Papierkorb, strich ihn glatt und las vor: »Acht Uhr abends beim Aussichtspavillon an den Klippen.« Frank Ostwald sah auf seine Armbanduhr. »Und jetzt ist acht Uhr bereits vorbei …« Er biß sich auf die Lippen. »Ich muß es versuchen!« Er hatte sich schon zum Tor gewandt, da drehte er sich noch einmal um. »Kennen Sie Doktor Hagedorn?« »Natürlich. Er behandelt ja Fräulein Carstens in Zusammenarbeit mit Professor Schneider.« »Dann rufen Sie ihn an – sofort! Berichten Sie ihm alles. Sagen Sie ihm, er soll die Polizei verständigen. Ich lauf' schon los!« »Aber«, wandte der Pförtner ein, »soll ich nun erst …?« Frank Ost wald hörte ihn nicht mehr, er stob davon. Der Park war jetzt schon ganz dunkel. Frank Ostwald stolperte mehr mals, wäre beinahe gestürzt. Die Klippen, dachte er, diese verdammten Klippen! Wenn er sie da hinunterstößt, dann ist es aus. Dann ist alles vorbei. Dann kann ich Undine nicht einmal mehr sagen, daß ich ihr Unrecht getan habe. Er begann lautlos zu beten: O mein Gott, laß das nicht geschehen! Beschütze sie, laß sie nicht sterben! Laß es nicht zu, daß ihr ein Leid geschieht! Der Platz bei den Klippen war wie ausgestorben. Er versuchte hin unterzuspähen, legte sich sogar auf den Boden – aber es war zu düster. Selbst wenn Undine unten lag, würde er nicht einmal einen Schatten von ihr erkennen können. »Undine!« rief er verzweifelt. »Undine!« Die Felsen gaben ein hohles Echo zurück, sonst war kein Laut zu hö ren. Lähmende Hoffnungslosigkeit überfiel ihn. Er fühlte sich plötzlich 290
sehr müde, um Jahre gealtert. Mit schleppenden Schritten ging er wei ter. Als er sich dem Aussichtspavillon näherte, wollte er noch einmal rufen. Aber er brachte keinen Ton heraus. Wenn sie tot ist, dachte er, ist es meine Schuld. Allein meine Schuld. Wenn ich ihr nicht mißtraut hätte … Ich werde es mir nie verzeihen. Plötzlich sah er eine schmale Gestalt sich gegen den grauen Hori zont abheben. »Hallo«, sagte er heiser und ging näher. »Frank!« klang es ihm leise entgegen. Erst in dieser Sekunde begriff er, daß es Undine war. Er stürzte auf sie zu und umklammerte sie mit beiden Armen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Sprache wieder fand. Die seelische Anspannung war zu groß gewesen. »Ich dachte«, stammelte er endlich, »Jakobus Schwenzen …« »Er war hier«, antwortete sie ruhig. »Also doch! Undine, hat er dir etwas getan?« »Nein, sei ganz unbesorgt, Frank. Nichts ist geschehen. Er wollte das Medaillon.« »Hast du es ihm gegeben?« »Ja. Ich hatte Angst vor ihm, denn er ist zu allem fähig. Ich glaube, er hätte mich eigenhändig getötet …« »Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen!« Er strich ihr über das Haar. »Es war sehr klug von dir, daß du es ihm gegeben hast.« »Er behauptete wieder, ich wäre eine Hexe, und wollte, daß ich mich nach seinem Weggehen selbst von den Klippen stürze. Er dachte wohl, er hätte mich hypnotisiert.« Plötzlich klang es wie geheimer Jubel in ihrer Stimme. »Er versuchte mich zu hypnotisieren, aber es ist ihm nicht gelungen, er hat keine Macht über mich! Frank, ich bin keine Hexe!« »Natürlich nicht. So wenig, wie er ein Hexenbanner ist. Er ist ein Verbrecher und hat es auf den Harmshof abgesehen. Aber das alles er kläre ich dir später. Weißt du, wohin er sich gewandt hat?« »Nein. Er sagte etwas von einem Alibi, er wollte irgendwohin, wo Menschen sind. Deshalb sollte ich auch nicht sofort hinuntersprin gen.« 291
»Wo Menschen sind«, wiederholte Frank Ostwald nachdenklich. Jemand trat aus dem Dunkel, eine Taschenlampe blinkte auf. Dann sagte eine Stimme: »Alles in Ordnung?« Sie erkannten Dr. Hagedorn. »Haben Sie die Polizei benachrichtigt?« fragte Frank Ostwald so fort. »Ja. Ein Funkstreifenwagen hält am Eingang des Parks. Die Männer müssen gleich hier sein.« »Hoffentlich hat Jakobus Schwenzen nichts gesehen«, sagte Frank Ostwald. »Das glaube ich nicht«, meinte Undine. »Er ist schon vor längerer Zeit fort, er sagte …« Sie stockte. »Was?« fragte Frank Ostwald gespannt. »Versuch dich bitte zu erin nern, es kann sehr wichtig sein.« »Er sagte, in zehn Minuten wäre er bei Menschen, die ihm ein Ali bi geben könnten.« »Wer kann das sein?« überlegte Dr. Hagedorn. »Wissen Sie, ob er je mand in Bad Wildenbrunn kennt?« »Ich kann es mir nicht vorstellen, er ist doch völlig fremd hier«, ant wortete Undine. Die beiden Männer der Funkstreife näherten sich im Laufschritt und verhielten, als sie die kleine Gruppe beisammen stehen sahen. »Na, das hätten wir uns denken können!« rief der eine. »Wieder mal falscher Alarm, wie?« »Nein«, sagte Undine, »man hat mir ein Schmuckstück geraubt, ein sehr altes Medaillon.« »Haben Sie den Täter erkannt?« wollte der eine der Polizisten wissen. »Ja. Es war Jakobus Schwenzen. Bei uns zu Hause nennen sie ihn den Hexenbanner.« »Ein Verbrecher«, erklärte Dr. Hagedorn, »ein ganz gemeines Sub jekt. Ich warte schon lange darauf, ihn unschädlich machen zu kön nen.« »Er hat versucht, dieses Mädchen zu hypnotisieren und zum Selbst mord zu treiben«, bekräftigte Frank Ostwald. »Gibt's denn so etwas?« fragte der andere Polizist ungläubig. 292
»Jawohl«, bestätigte Dr. Hagedorn. »Und es paßt genau in das Bild, das ich mir von diesem Burschen gemacht habe.« »Wollen Sie Anzeige erstatten, Fräulein?« fragte einer der Polizeibe amten. »Ja«, sagte Undine. »Wegen Mordversuchs und Raubs«, ergänzte Dr. Hagedorn. »Dies mal sollten Sie's durchfechten, Undine.« »Wir müssen Jakobus Schwenzen unbedingt finden«, sagte Frank Ostwald. »Er ist bestimmt noch hier in Bad Wildenbrunn.« »Vielleicht hat er sich im Park versteckt. Wahrscheinlich wollte er sich doch mit eigenen Augen vergewissern, ob sein Opfer tatsächlich den Sprung in den Tod wagen würde«, meinte Dr. Hagedorn. »Das glaube ich nicht«, widersprach Frank Ostwald. »Ich nehme an, er war seiner Sache ganz sicher. Deshalb wollte er nur unter Menschen, um ein Alibi zu haben. Natürlich wollte er außerdem so bald wie mög lich fort aus Bad Wildenbrunn, denn …« Frank Ostwald unterbrach sich mitten im Satz. »Ich glaube, ich weiß, wo er sich aufhält!« Er wandte sich an die beiden Polizeibeam ten. »Würden Sie mich bitte sofort zum Bahnhof fahren? Sei mir nicht böse, Undine, aber ich denke, Doktor Hagedorn bringt dich nach Hau se. Ich muß diesen Kerl erwischen.« »Paß auf dich auf, Frank«, sagte sie leise, »alles andere ist nicht wich tig.« Frank Ostwald hatte sich schon abgewandt. »Ich komme heute abend noch zu dir«, rief er über die Schulter zurück, »auf jeden Fall!« »Ausgeschlossen«, entgegnete Dr. Hagedorn, »die Patientin braucht Ruhe. Morgen ist auch noch ein Tag.« Frank Ostwald antwortete nicht mehr. Im Laufschritt eilte er hinter den beiden Polizisten her durch den dunklen Park. Fast gleichzeitig erreichten sie den Funkstreifenwagen, rissen die Tü ren auf und warfen sich in die Sitze. Der Fahrer ließ den Motor an, während sein Kollege sich mit der Zentrale in Verbindung setzte. »Verbrecher flüchtig«, meldete er, »Raub und Mordversuch. Wir fah ren zur Verfolgung Richtung Bahnhof. Ende.« 293
Dann wandte er sich an Frank Ostwald. »Wie kommen Sie darauf, daß er sich auf dem Bahnhof versteckt haltert könnte?« »Er hält sich nicht versteckt«, behauptete Frank Ostwald, »sondern er zeigt sich ganz offen, denn er ist überzeugt, das perfekte Verbre chen begangen zu haben. Er hat es ganz bewußt so eingerichtet: Wenn das Mädchen von den Klippen springt, wollte er am anderen Ende der Stadt sein – unter Menschen, die ihn notfalls später identifizieren kön nen. Außerdem möchte er natürlich so schnell wie möglich abhauen.« »Also zum Bahnhof«, sagte der Polizist. »Es wäre zu wünschen, daß Sie recht hätten.« Sie waren mit Blaulicht in wenigen Minuten quer durch die kleine Stadt gerast. »Bitte«, sagte Frank Ostwald, »halten Sie etwas entfernt vom Bahn hof, damit Jakobus Schwenzen nicht gleich mißtrauisch wird, und las sen Sie mich zunächst allein hinein. Sie kennen ihn ja nicht, aber ich kann ihn vielleicht überrumpeln.« Der Polizeibeamte nahm Rücksprache mit der Zentrale, bevor er sich bereit fand, auf diesen Vorschlag einzugehen. Der Funkstreifenwagen hielt beim Güterbahnhof. Frank Ostwald lief allein zum Hauptgebäude. Er rannte in die Halle wie jemand, der Angst hat, seinen Zug zu ver passen, hielt aber dabei nach allen Seiten hin Ausschau. Doch Jakobus Schwenzen war nirgends zu sehen. Frank Ostwald trat zu einer der großen Anschlagtafeln, auf denen die abgehenden Züge aufgeführt waren. Er stellte erleichtert fest, daß in der letzten halben Stunde kein Zug in Richtung Norden Bad Wil denbrunn verlassen hatte. Der nächste Zug nach Hannover fuhr um 21.15 Uhr. Wenn seine Rechnung stimmte, würde Jakobus Schwenzen diesen Zug nehmen. Im Vorbeigehen warf er einen Blick in das Bahnhofrestaurant erster Klasse, obwohl er ziemlich sicher war, daß Jakobus Schwenzen sich nicht dort aufhielt. Dann schlenderte er, die Hände in den Taschen, so unauffällig wie möglich in die Gaststätte zweiter Klasse. Der große Raum war voll besetzt. Auf den blank gescheuerten Ti 294
schen standen Bier- und Limonadengläser. Junge und alte Männer sa ßen auf Stühlen und Bänken, Liebespaare, Familien mit weinerlichen und übermüdeten Kindern. Frank Ostwald ging durch die Reihen – Jakobus Schwenzen sah er nicht. Er wurde plötzlich unsicher. Sollte er sich geirrt haben? Er schaute auf die große Wanduhr. Es blieben noch zwölf Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Es hatte wohl keinen Zweck, schon jetzt auf den Bahnsteig zu gehen. Bestimmt war es besser, sich noch weiter hier umzusehen. Eine gläserne Tür führte in die Milchbar. Als Frank Ostwald sie öff nete, drangen südamerikanische Rhythmen an sein Ohr. Vor dem Mu sikautomaten stand ein Mann. Frank Ostwald blieb auf der Schwelle stehen; er überlegte, was zu tun war. Jakobus Schwenzen hatte ihn noch nicht bemerkt, sondern wand te sich an das blonde Mädchen hinter der Bar. »He, Kleine«, sagte er, »können Sie mir wechseln? Ich brauche noch mals Zaster für die Musikkommode.« Frank Ostwald trat langsam näher. Der andere steckte das Kleingeld in die Hosentasche und drehte sich um. Sie standen sich Auge in Auge gegenüber. Jakobus Schwenzens Gesicht verzerrte sich, aber nur für eine Sekunde, dann setzte er eine gleichmütige Miene auf und fragte spöttisch: »Warst du deinen Schatz besuchen?« »Ja.« Frank Ostwald sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Wo ist das Medaillon?« »Keine Ahnung, wovon du sprichst«, antwortete Schwenzen. »Gib das Medaillon her!« Frank Ostwalds Stimme wurde drohend, er packte den anderen bei den Mantelaufschlägen. »Wird's bald!« »Nimm deine Finger weg!« In Schwenzens Augen stand kalter Zorn. »Rotzjunge, spiel dich nicht auf, sonst …« »Was – sonst?« »Hört auf damit«, rief die Blonde hinter der Bar. »Geht 'raus, wenn ihr euch prügeln wollt. Ich will keine Scherereien haben.« »Komm!« sagte Frank Ostwald mit einer Kopfbewegung zur Tür. 295
Jakobus Schwenzen befreite sich mit einem Ruck aus seinem Griff. »Ich denke nicht daran! Laß mich in Ruhe. Ich habe keine Zeit für Dummejungenstreiche. Mein Zug …« »Er wird ohne dich fahren. Du warst schlau, Jakobus Schwenzen, sehr schlau, aber diesmal hast du dich verrechnet! Undine Carstens lebt, sie wird …« Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Jakobus Schwenzens Faust schnellte durch die Luft und traf ihn an der Schläfe. Frank Ostwald taumelte, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann warf er sich auf seinen Gegner, der an ihm vorbei zur Tür wollte, und riß ihn zurück. Jakobus Schwenzen versuchte, ihm den Kopf in den Magen zu stoßen, aber Frank Ostwalds Faust hieb ge gen sein Kinn. Schwenzen schlug rücklings zu Boden. Eine Menge Münzen und das Medaillon fielen ihm aus der Tasche. Ein junges Mädchen hob das Schmuckstück auf. »Gib her!« sagte Frank Ostwald und nahm es ihr aus der Hand. Einen Atemzug lang ließ er dabei Jakobus Schwenzen aus den Au gen – und da geschah es. Die Blonde hinter der Milchbar schrie auf. Schwenzen war wieder auf die Beine gekommen. Geduckt, ein Messer in der Hand, kam er auf Frank Ostwald zu. »Nein!« schrie das Mädchen hinter der Bar, aber Schwenzen schien es nicht zu hören. In seinen Augen funkelte Mordlust. Frank Ostwald spürte instinktiv, daß er ihm ausgeliefert war. Das ist doch Wahnsinn! schoß es ihm durch den Kopf. Aber da stürzte der andere schon, das Messer von oben nach unten reißend, auf ihn. Frank Ostwald warf sich zur Seite, schlug mit dem Kopf gegen die Bar. Glühende Punkte wirbelten vor seinen Augen, dann versank er in nachtschwarzes Nichts. Jetzt ist alles aus, war das letzte, was er den ken konnte. Wie aus weiter Ferne hörte er noch ein helles Klirren und Splittern, dann umfing ihn dunkle Nacht, und er versank in Bewußtlosigkeit. Eine kräftige Hand rüttelte an seiner Schulter. Er spürte eine schar fe Flüssigkeit auf der Zunge, die ihm beizend in die Kehle rann, mußte husten und fand in die Gegenwart zurück. Als er die Augen aufschlug, 296
sah er ganz nahe vor sich ein freundliches breites Gesicht. Er erkannte einen der beiden Polizeibeamten. »Wo ist …?« fragte er, aber seine Zunge versagte den Dienst. Er muß te noch einmal ansetzen. »Wo ist Jakobus Schwenzen?« »Ausgerückt, als er uns kommen sah.« Der Polizeibeamte wies mit dem Kopf auf die riesige Mattglasscheibe, die die Milchbar vom Bahn steig getrennt hatte und deren Trümmer jetzt auf dem Boden lagen. Nur aus dem Rahmen stachen noch scharfe, gefährliche Zacken. »Wir müssen ihn schnappen«, sagte Frank Ostwald und richtete sich auf. »Er ist ein gefährlicher Verbrecher.« Der Polizeibeamte legte wie der seine Hand auf Frank Ostwalds Schulter. »Immer langsam, junger Mann – Sie müssen gar nichts! Sie haben schon viel zu viel getan! Mein Kollege ist hinter dem Kerl her …« »Aber der kennt ihn ja gar nicht«, fiel ihm Frank Ostwald ins Wort. »Stimmt. Und deshalb müssen Sie jetzt mit uns zur Wache und eine möglichst genaue Personenbeschreibung des Täters geben.« »Sie rechnen also schon damit, daß Ihr Kollege ihn nicht faßt?« »Ziemlich unwahrscheinlich. Wir sahen ihn nur ganz kurz, und dazu stand er noch im Gegenlicht. Verletzt hat er sich leider auch nicht. Er war schlau genug, nicht mit dem Körper durch die Scheibe zu sprin gen. Er hat zuerst einen Stuhl hindurch gefeuert.« »Er wird versuchen, den nächsten Zug nach dem Norden zu neh men …« »Oder den übernächsten. Lassen Sie das unsere Sorge sein.« Frank Ostwald rappelte sich auf. »Dieser raffinierte Bursche! Daß ich ihn habe entwischen lassen!« »Es hätte schlimmer kommen können«, sagte der Polizeibeamte und stützte ihn, da er leicht schwankte, unter dem Arm. »Wenn wir nicht gerade rechtzeitig dazugekommen wären – ich fürchte, Ihr Mädchen hätte nicht mehr viel Freude an Ihnen gehabt.«
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»Ich danke dir«, sagte Undine, als sie das Medaillon aus Frank Ost walds Hand entgegennahm. »Ich bin so froh. Du weißt jetzt, daß es wirklich mir gehört?« Sie saßen alle um Undines Bett – Frank Ostwald, der junge Dr. Ha gedorn und Professor Schneider. »Ich muß dich um Verzeihung bitten, Undine«, sagte Frank Ost wald, »ich habe dir Unrecht getan …« »Sprich nicht mehr davon!« wehrte sie ab mit einem raschen, ver legenen Blick zu den beiden Ärzten hin. »Doch, ich muß es dir ein mal sagen, und alle sollen es wissen: Ich habe dich verdächtigt, ob wohl …« »Ich will nichts davon hören«, unterbrach sie ihn wieder. »Können wir nicht endlich die Vergangenheit ruhen lassen?« »Nein, nie«, antwortete Professor Schneider an Frank Ostwalds Stel le. »Nur wenn wir die Vergangenheit bewältigt haben, können wir uns der Gegenwart stellen.« »Das sind doch Worte!« rief Undine. »Ich bin heute glücklich …« »Ja, Sie sind verliebt!« sagte Professor Schneider trocken. »Glauben Sie nur nicht, daß wir uns nicht mit Ihnen darüber freuen. Aber Ver liebtsein ist nicht das ganze Leben. Sie sind noch nicht geheilt, Undi ne, nicht restlos geheilt, ich muß das mit allem Nachdruck betonen. Ich hoffe, Sie werden mich bei unserer lange geplanten Versuchsreihe nicht im Stich lassen.« »Sehr richtig«, pflichtete ihm Dr. Hagedorn bei, »ich halte auch nichts von übereilten Schritten. Bevor nicht ganz sicher ist, daß mit Ihnen al les in Ordnung geht, sollten wir Sie nicht entlassen.« Undine richtete sich in ihren Kissen auf. »Aber ich bin doch ganz in Ordnung. Es gibt für mich gar keinen Grund mehr, in einer Klinik zu sein. Ich möchte arbeiten, etwas tun …« »Was denn?« fiel Professor Schneider ihr ins Wort. »Sie dürfen sich den Übergang in ein normales Leben nicht zu leicht vorstellen.« »Ich werde sie beschützen«, sagte Frank Ostwald impulsiv; er wandte sich an das Mädchen: »Ich bringe dich nach Hause, Undine.« Eine jähe Röte schoß in ihre Wangen. »Zu deinen Eltern, Frank?« 298
»Auf den Harmshof. Du hast mehr Recht, dort zu leben, als ich.« Undine sah ihn groß an, ohne ein Wort zu sagen. »Das Medaillon«, erklärte Frank Ostwald, »ist ein entscheidendes Glied in der Kette der Beweise. Deshalb wollte Jakobus Schwenzen es auch unbedingt haben.« »Ich fände es schon richtig, Herr Ostwald«, unterbrach ihn Dr. Ha gedorn, »wenn Sie uns diese seltsame und überraschende Geschichte von Anfang an erzählen würden. Wollen Sie etwa behaupten, daß Un dine die Enkelin der Harmshofbauern ist?« »Genau das! Dieses Medaillon gehört zum Schmuck der alten Bäue rin. Das ist mir sofort aufgefallen. Wenn ich bloß den richtigen Schluß daraus gezogen hätte, aber ich Idiot vermutete, Undine hätte es wider rechtlich mitgenommen. Wie konnte ich bloß …« »Ich denke, wenn Sie sachlich bleiben würden, kämen wir eher zum Ziel«, mahnte Professor Schneider. Frank Ostwald warf ihm einen nicht gerade freundlichen Blick zu. Dann fuhr er, ganz unbewußt zu Undine gewandt, fort: »Tatsächlich besaß die Bäuerin das Medaillon schon seit Jahren nicht mehr. Sie hat te es ihrer Schwiegertochter nach Brasilien geschickt, kurz nach dei ner Geburt, und wahrscheinlich hat dein Vater, Klaus Harms, es dir in dem Lederbeutel um den Hals gebunden, als ihr in Seenot gerie tet. Er wollte nämlich heimlich in seine Heimat zurückkehren im Jah re 1943. Das habe ich in London ermittelt. Du und deine Eltern sind in der Nacht zum siebzehnten März vor der nordfriesischen Küste ausge setzt worden …« »Am siebzehnten März?« wiederholte Undine atemlos. »Am sieb zehnten März hat Tede Carstens mich am Strand aus dem Wasser ge zogen!« »Ja. Du kannst mir glauben: du bist Elke Harms. Auch deine Großel tern sind davon überzeugt. Sie freuen sich auf deine Heimkehr.« »Ich denke, unser junger Freund hat recht«, meinte Professor Schnei der. »Sie sind die Erbin des Harmshofes. Aber es wäre ein Fehler, in dieser gewiß erfreulichen Tatsache nun die Lösung aller Probleme er blicken zu wollen.« 299
»Vor allem, solange der Hexenbanner noch frei ist«, stimmte Dr. Ha gedorn zu. »Darin liegt nicht einmal das Hauptproblem«, sagte Professor Schnei der. »Selbst wenn dieser Mann unschädlich gemacht wäre – dort, wo der Aberglaube verwurzelt ist, läßt er sich so leicht nicht ausrotten. Wir wissen, daß Sie keine Hexe sind, Undine, und ganz bestimmt sind auch Ihre Großeltern nun von diesem Wahn geheilt. Das bedeutet aber nicht, daß alle Menschen in Ihrer Heimat eine plötzliche Sinneswand lung erfahren haben.« »Niemand wird es wagen, die Enkelin der Harmshofbauern zu ver leumden«, behauptete Frank Ostwald. »Hoffen wir's«, sagte Professor Schneider, »aber so ohne weiteres möchte ich das nicht annehmen. Wie nun, wenn man ihr gar nicht ab nimmt, daß sie die Erbin des Hofes ist? Wenn die Leute glauben, daß sie sich durch sogenanntes Hexenblendwerk in das Vertrauen der alten Leute geschlichen hat? Nach all meinen Erfahrungen auf diesem Ge biet würde ich das nicht für ausgeschlossen halten.« Frank Ostwald stand auf. »Warum erschrecken Sie Undine?« fragte er ärgerlich. »Sie hat doch wirklich genug durchgemacht. Ich habe be reits gesagt, daß ich sie beschützen werde.« »Es fragt sich nur, ob Sie das können.« Professor Schneider wandte sich an Undine. »Ich würde Sie sehr gern in Ihrem eigenen Interesse noch eine Weile hierbehalten.« »Nein, Herr Professor.« Undine strich sich das schwere Haar aus der Stirn. »Ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, aber ich muß auch diese Schwierigkeiten noch durchstehen – früher oder später, für mich ist das kein Unterschied. Ich will endlich irgendwo zu Hause sein.« »Ich könnte Undine begleiten«, schlug Dr. Hagedorn vor. »Ich könn te sie und Herrn Ostwald mit meinem Wagen nach Hause bringen. Mein Vater ist ohnehin froh, wenn er wieder einmal für ein paar Wo chen die Praxis allein führen kann.« »Kein schlechter Gedanke«, sagte Professor Schneider, »denn dann hätten wir wenigstens einigermaßen die Sicherheit, daß Undine nicht wieder durch neue Aufregungen einen Schock erleidet.« 300
Dr. Hagedorn wandte sich mit einer leichten Verbeugung an das Mädchen. »Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.« »Ja«, sagte Undine dankbar. Ihre Augen leuchteten auf. »Wann kön nen wir abreisen, Herr Doktor?« Sie sah nicht, daß Frank Ostwalds Gesicht sich verfinstert hatte.
Das Mädchen Undine, Frank Ostwald und Dr. Hagedorn trafen zwei Tage nach ihrer Abfahrt aus Bad Wildenbrunn auf dem Harmshof ein. Die schwere eichene Eingangstür schmückte eine lange bunte Pa piergirlande; Frau Ostwald und die beiden Mägde hatten sie gewun den. Auf einer großen Papptafel verkündeten ungelenke Buchstaben: »Willkommen daheim!« Die Bäuerin weinte, als sie ihre Enkeltochter in die Arme schließen konnte, und der alte Bauer brachte vor Rührung kein Wort hervor. »Hier, das ist für dich«, sagte er endlich mühsam und zog eine ver gilbte Fotografie aus seiner Brieftasche, »ein Bild von unserem Klaus.« »Von deinem Vater«, fügte die Bäuerin hinzu. Undine betrachtete die Züge des großen, blonden jungen Mannes, und plötzlich begann sie heftig zu weinen. Es war wie ein Strom, der aus ihr hervorbrach. Alles Leid ihres jungen Lebens lag in diesem Aus bruch; sie schien sich alle Kränkungen und alle Qual, die sie erfahren hatte, von der Seele weinen zu wollen. Die alten Leute standen erschüttert, sie fühlten sich diesem leiden schaftlichen Schmerz gegenüber hilflos. Frank Ostwald und seine Mutter versuchten, Undine zu beruhigen. Aber Dr. Hagedorn wehrte ab: »Laßt sie nur«, sagte er, »es wird ihr guttun. Tränen reinigen die Seele.« Es dauerte eine Weile, bis Undines Schluchzen ruhiger wurde. Sie wischte sich die Augen, bemühte sich sogar um ein Lächeln. Aber das überstandene Leid war stärker. Wie ein verwundetes Tier schlich sie aus dem Zimmer. Als sie zehn Minuten später wieder in die gute Stube 301
zurückkam, hatte sie den Anfall überwunden. Ihr Gesicht war frisch gewaschen, das nachtschwarze Haar sorgfältig frisiert; nur ihre um schatteten Augen verrieten, was in ihr vorgegangen war. »Bitte«, sagte sie, »es tut mir so leid …« Die Bäuerin streckte die Hand aus und zog das Mädchen neben sich auf das mit verblichener Seide bespannte Biedermeiersofa. »Wir müs sen uns schämen«, sagte sie, »nicht du.« Sie wandte sich an die Ost walds. »Es ist mir heute unbegreiflich, daß wir uns von diesem bösen Menschen, diesem Jakobus Schwenzen, haben einfangen lassen kön nen. Wir haben ihm nicht alles geglaubt, aber doch zuviel.« »Jakobus Schwenzen ist, möchte ich annehmen, ein Mann, der eine sehr starke persönliche Ausstrahlung besitzt. Außerdem schreckt er, wenn es darum geht, seine Opfer zu beeinflussen, auch nicht vor der Anwendung von zweifelhaften Mitteln wie Suggestion und Hypnose zurück«, erklärte Dr. Hagedorn. »Wenn Frank nicht nachgeforscht hätte, würden wir doch wahr haftig unseren gesamten Besitz dieser Hochstaplerin überschrieben haben«, sagte der Bauer mit einem dankbaren Blick auf Frank Ost wald, »nur weil Jakobus Schwenzen sie als unsere Enkeltochter aus gab.« »Sie war uns fremd, ja«, sagte die Bäuerin, »aber wir haben nicht be griffen, daß ein solches Mädchen niemals unser Fleisch und Blut sein konnte.« »Und mir glaubt ihr es?« fragte Undine lächelnd. »Ja«, sagte die Bäuerin, »dir glauben wir. Nicht nur, weil du im Be sitz des Medaillons bist, sondern …« Sie hob hilflos die Hände. »Es ist schwer, das zu erklären, warum ich felsenfest überzeugt bin.« Undine trug das Medaillon um ihren Hals, jetzt öffnete sie den Ver schluß des Samtbandes und reichte es der Großmutter. »Hier ist es!« Sie ließ die Feder aufspringen, so daß die helle blonde Locke sichtbar wurde. »Ich habe mich oft gefragt, von wem dieses Haar stammt. Mei ne Mutter muß dunkel gewesen sein wie ich.« »Ja, Kind«, bestätigte die Bäuerin, »das war sie. Dein Vater schrieb es uns einmal. Die Locke«, fügte sie mit einem zarten, wehmütigen Lä 302
cheln hinzu, »stammt von mir. Aus der Zeit, da ich noch ein junges Mädchen war. So jung wie du, Elke.« Undine hörte sich zum erstenmal mit ihrem wirklichen Namen an geredet, und es traf sie auf eine seltsame und tiefe Art. Dr. Hagedorn hatte ihren Gesichtsausdruck beobachtet. »Ja, Sie hei ßen in Wirklichkeit Elke«, sagte er, »und es wäre gut, wenn Sie und alle, die mit Ihnen umgehen, sich recht bald an diesen Namen gewöh nen würden. Es könnte manches erleichtern. Ein Name ist kein unwe sentliches Beiwerk, wie manche glauben, sondern er bestimmt in ho hem Maß die Persönlichkeit. Undine – in diesem Namen, den Ihr Pfle gevater Ihnen gegeben hat, liegt etwas Geheimnisvolles, das die mei sten Menschen als bedrohend empfinden.« »Wir haben nie geglaubt, daß du eine sogenannte Hexe seist«, sagte die Bäuerin rasch, »aber wir haben Jakobus Schwenzen nachgegeben und dich vom Hof geschickt – gegen unser besseres Wissen. Und ich glaube, das ist genau so schlimm.« Undine streichelte die Hand der alten Frau. »Ich bin so froh, daß al les gut geworden ist, und ich wünsche mir nur eines: daß ich nie wie der fort muß.« »Das verstehe ich gut«, sagte Dr. Hagedorn, »und trotzdem meine ich, Sie sollten noch einmal auf die Insel. Sie haben doch noch einen Haushalt aufzulösen. Ich habe damals eine alte Truhe bemerkt, um die es sich schon lohnen würde …« »Nein«, rief Undine, »ich will nichts, das mich an die Vergangenheit erinnert.« »Aber vielleicht hat dein Pflegevater noch etwas aufbewahrt, irgend ein Dokument, das für dich wichtig sein könnte«, gab Gregor Ostwald zu bedenken. Frank wandte sich gegen seinen Vater. »Nein, das halte ich für ganz und gar überflüssig«, sagte er. »Wir wissen jetzt, wer sie ist. Alles ande re erscheint mir im Moment unwichtig.« An diesem Mittag aßen alle zusammen in der guten Stube – der Bauer und die Bäuerin, die Ostwalds, Dr. Hagedorn und Undine. Das Mädchen hatte darum gebeten, und ihre Großeltern erfüllten ihr gern 303
diesen Wunsch. Sie trug das Medaillon um den Hals, dazu die Ohrrin ge, die die falsche Elke Harms so verächtlich zurückgegeben hatte. Un dine standen sie wundervoll. Es gab zu der Mahlzeit einen alten, sehr würzigen Wein, den der Bauer eigenhändig aus dem Keller geholt hatte. Als er in den schön ge schliffenen Kristallpokalen schimmerte, stand der Bauer zur allgemei nen Überraschung auf und klopfte an sein Glas. Er wollte eine kleine Ansprache halten, und alle wurden still. »Meine lieben Freunde«, begann er feierlich, »denn so darf ich Sie wohl alle, die an diesem Tisch sitzen, nennen. Meine lieben Freunde, wenn ich behaupte, daß dies der glücklichste Tag meines Lebens ist, so übertreibe ich nicht. Unsere Elke hat heute heimgefunden, und ich bin sicher, daß sich ihr Vater – unser guter Sohn Klaus – und ihre liebe Mutter im Himmel darüber freuen werden. Wer weiß, ob sie nicht sel ber ein wenig die Hand im Spiel hatten, um alles zu einem guten Ende zu bringen. Unsere liebe Enkeltochter hat einen langen und dunklen Weg gehen müssen, bis sie endlich nach Hause fand, und – ich muß es leider zugeben – der Weg, den meine Frau und ich gegangen sind, war wohl noch dunkler. Wir hatten uns tief im Gestrüpp des Aberglaubens verirrt. Es ist nicht unser Verdienst, daß sich alles zum Guten gewandt hat; wir müssen den Dank dafür unserem Vater im Himmel abstatten, der uns so trefflich geführt hat.« Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Ja, wir haben unsere Enkeltochter gefunden, wir wissen, daß der Hof in die richtigen Hände kommen wird, und so könnten wir uns eigentlich beruhigt zum Sterben niederlegen.« Protestrufe wurden laut, er beschwichtigte sie mit einer Handbewe gung. »Aber wir tun es nicht«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln, »wir haben uns vorgenommen zu warten, bis wieder neues Leben im Hause erblühen wird. Und da meine Frau und ich darauf nicht mehr allzulange warten können, schlage ich vor, daß wir heute nicht nur El kes Heimkehr, sondern auch ihre Verlobung mit dem jungen Frank Ostwald feiern: Das junge Paar lebe hoch – hoch – hoch!« Alle stießen auf Undines und Frank Ostwalds Glück an, die beiden 304
gaben sich den ersten offiziellen Kuß, und das Mädchen errötete leicht, als sie die Gratulationen entgegennahm. »Ich hätte niemals gedacht«, sagte sie leise, »daß man so glücklich sein kann.« Hoffentlich gibt es kein böses Erwachen, dachte Dr. Hagedorn. Aber er sprach es nicht aus.
Dr. Hagedorn fuhr am nächsten Morgen ins Krankenhaus der Kreis stadt, um Antje Nyhuus aufzusuchen, denn er hatte Professor Schnei der versprochen, sich auch um diesen Fall zu kümmern. Kurz vor Mittag kam er zurück. Als er von der Landstraße auf den Weg zum Harmshof abbog, sah er schon von weitem eine hohe Gestalt. Er erkannte Gregor Ostwald. Der Verwalter machte ihm ein Zeichen. Dr. Hagedorn hielt und öff nete die Wagentür. »Ist etwas passiert?« fragte er. »Ja«, sagte Gregor Ostwald, fügte aber sofort abschwächend hin zu: »Vielleicht ist es nicht besonders wichtig. Trotzdem dachte ich, ich müßte es Ihnen mitteilen. Sie sind doch der Enkeltochter wegen mit gekommen, nicht wahr?« »Steigen Sie ein«, sagte Dr. Hagedorn. »Ich fahre ein Stück die Land straße zurück, im Auto können wir ungestört sprechen.« Erst als er die Landstraße wieder erreicht hatte, erklärte er: »Natürlich bin ich Un dines – Verzeihung – Elkes wegen hier. Hat sie sich etwa merkwürdig benommen?« »Nein. Das Mädchen ist ganz in Ordnung, nur – unsere Kleinmagd hat gekündigt.« »Ach …« »Wir hatten sie erst im Januar für ein Jahr in Dienst genommen, und sie kann eigentlich gar nicht so einfach von heute auf morgen weg, aber sie machte es sehr dringend. Erst behauptete sie, daß ihre Mutter plötz lich schwer erkrankt sei, aber als ich den Dingen auf den Grund ging, merkte ich, daß sie log. In Wahrheit will sie wegen Undine fort.« 305
»Mit so etwas mußten wir rechnen.« »Sicher. Aber es macht mir trotzdem Sorgen. Die Arbeitskraft fehlt uns jetzt im Winter gar nicht mal so sehr – es ist mir nur um Undi nes willen. Ich habe natürlich versucht, mehr von der Kleinmagd zu erfahren. Das dumme Ding war tatsächlich ganz verstört. Der Aber glaube scheint wahrhaftig weit mehr verbreitet zu sein, als man, wenn man selber nichts damit zu schaffen hat, annimmt.« Gregor Ostwald zündete sich eine Zigarette an. »übrigens stammt dieses Mädchen von der Insel.« »Sie kannte Elke also?« »Ja, aus ihrer Heimat. Als Elke das erstemal auf den Harmshof kam, hat die Kleinmagd noch nicht bei uns gearbeitet.« »Sicher werden Sie alles versucht haben, um sie zur Vernunft zu brin gen.« »Natürlich. Sie tat auch so, als ob sie alles einsähe. In Wirklichkeit aber hat sie mir kein Wort geglaubt. Jedenfalls beharrte sie darauf, daß sie fort müsse.« »Kann ich mal mit ihr sprechen?« fragte Dr. Hagedorn. »Zu spät! Sie ist schon auf und davon.« Gregor Ostwald kurbelte das Fenster herunter und warf den Rest seiner Zigarette hinaus. »Tut mir leid, daß ich Sie mit so unangenehmen Neuigkeiten überfallen muß, Herr Doktor. Haben Sie wenigstens in der Stadt etwas ausgerich tet?« »Leider nein«, berichtete Dr. Hagedorn. »Antje Nyhuus ist schon nach Hause entlassen; ich werde sie in den nächsten Tagen auf dem Hof ihres Vaters aufsuchen.« »Und Jakobus Schwenzen?« »Ist noch nicht gefaßt. Wenn Sie mit niemandem darüber spre chen …« »Selbstverständlich.« »Ich möchte Elke nicht beunruhigen: Der sogenannte Hexenban ner soll sich wieder hier in der Gegend herumtreiben. Wer weiß, ob es stimmt. Es wäre schon der Gipfel der Frechheit. Der Kollege Doktor Häwelmann hat nämlich tatsächlich Anzeige erstattet.« 306
»Bravo!« rief der Verwalter. »Und das nennen Sie eine schlechte Nachricht?« »Mir ist nicht wohl, bevor Jakobus Schwenzen endgültig unschädlich gemacht worden ist.« »Sie haben recht, Herr Doktor«, gab Gregor Ostwald zu, »solange der frei herumläuft, ist Elke in ständiger Gefahr. Natürlich gibt es keinen einleuchtenden Grund, warum er ihr jetzt noch etwas tun sollte, aber dem Burschen wäre es zuzutrauen, daß er aus reiner Rachsucht han delt. Glauben Sie nicht doch, wir sollten Elke warnen, damit sie auf der Hut ist?« »Ich bin nicht sentimental«, sagte Dr. Hagedorn und begann sein Auto zu wenden, »aber es täte mir leid, das Mädchen aus seinem Glück zu reißen. Ich glaube, sie hat noch nicht viel Glück genießen dürfen in ihrem jungen Leben.« »Sie sprechen wie mein Sohn. Er will auch nicht, daß Elke den Kün digungsgrund der Kleinmagd erfährt.« »Das wird wohl nicht zu umgehen sein«, antwortete Dr. Hagedorn. »Sie kann sich nicht ihr ganzes Leben lang verstecken, sondern muß den Mut finden, sich mit ihren Mitmenschen und ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Erinnern Sie sich, daß ich gestern vorschlug, Elke sollte noch einmal auf die Insel zurückkehren? Ich wurde überstimmt. Aber dieser Schritt scheint mir inzwischen noch wichtiger zu sein.«
Seltsamerweise nahm Elke Harms die schlechten Nachrichten viel ge lassener hin, als die Männer vermutet hatten. Die alten Bauersleute machten ein Mittagsschläfchen. Ostwalds und Elke saßen bei einer Tasse Kaffee, als Dr. Hagedorn ihr über die Kündigung der Kleinmagd und über Jakobus Schwenzen berichtete. »So etwas mußte kommen«, sagte sie, »es wäre sonst zu schön gewe sen …« »Sie müssen den Leuten beweisen, daß Sie keine Hexe sind!« mein te Dr. Hagedorn. 307
»Wie soll ich das denn machen?« »Es genügt möglicherweise schon, wenn Sie sich Ihren Verleumdern stellen.« »Das würde ganz bestimmt nichts nutzen«, widersprach sie lebhaft. »Aber versuchen sollten Sie es wenigstens. Tun Sie, was ich vorge schlagen habe: Kehren Sie noch einmal zur Insel zurück. Dort hat alles angefangen, und nur dort kann es auch ein gutes Ende nehmen. Frank Ostwald und ich würden Sie natürlich begleiten.« »Ich will aber nicht«, beharrte Elke. Frank Ostwald unterstützte seine Braut. »Sie hat völlig recht! Was soll das alles noch? Es kann uns doch egal sein, was die Leute von uns denken.« »Entschuldige, Frank«, sagte seine Mutter überraschend, »ich glau be, da irrst du dich. Und wenn Elke die Einstellung der Leute wirklich gleichgültig wäre, könnte sie doch gegen einen kleinen Ausflug zur In sel nichts einzuwenden haben.« »Sehr richtig«, stimmte Dr. Hagedorn zu. »Elke, ich bitte Sie von gan zem Herzen, überwinden Sie sich und Ihre Angst! Wagen Sie es, den Dingen unerschrocken ins Auge zu sehen!« »Sie sprechen wie ein Wanderprediger«, spottete Frank Ostwald. Sein Vater warf ihm einen mahnenden Blick zu. Aber Frank Ostwald ließ sich durch nichts abhalten, sondern beug te sich angriffslustig vor. »Ich muß es sagen, sonst ersticke ich daran!« Er holte tief Atem. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Herr Doktor. Es war sehr liebenswürdig, daß Sie uns auf den Harmshof gebracht ha ben, aber jetzt …« »Augenblick!« Dr. Hagedorn fiel ihm scharf ins Wort. »Ich möchte einen Irrtum richtigstellen: Ich habe nicht Sie hierher gebracht, son dern Elke. Sie habe ich nur mitgenommen, weil es sich so ergab.« Frank Ostwalds Gesicht lief rot an. »Daß Sie es auf Elke abgesehen haben, daran hat niemand gezweifelt.« Elke Harms stand auf. »Frank«, rief sie, »willst du wieder alles mit deiner Eifersucht kaputtmachen? Ich habe Doktor Hagedorn viel zu verdanken.« 308
»Aber als du wirklich in Not warst, hat er dich sitzenlassen!« »Darüber steht dir kein Urteil zu.« Elke wandte sich an Dr. Hage dorn. »Wenn Sie es für notwendig halten, Herr Doktor, werde ich mit Ihnen auf die Insel gehen …« Frank Ostwald stieß seinen Stuhl zurück und verließ mit großen Schritten den Raum. »Deine Entscheidung ist richtig, Kind«, sagte Frau Ostwald und strei chelte beruhigend Elkes Hand, »und was Frank betrifft – die Eifersucht gibt sich in der Ehe meist ganz von selber.« Sie lächelte ihrem Mann zu. »Erinnerst du dich, Gregor? Als ich jung war, hast du dich auch über alle Männer geärgert, die mich nur anzublicken wagten. Damals fand ich es furchtbar. Aber heute – wie würde ich es genießen, wenn du nur noch einmal ein kleines bißchen eifersüchtig auf mich sein könntest!« Alle, selbst Elke, mußten lachen, und die gereizte Stimmung löste sich.
XIII
F
rank Ostwald hatte sich fest vorgenommen, seine Braut und den jungen Arzt nicht auf die Insel zu begleiten, aber als sie und Dr. Hagedorn am nächsten Morgen zum Aufbruch bereit waren, schien es ihm ratsamer, sich dennoch anzuschließen. »Nur damit wenigstens ein objektiver Mensch dabei ist«, sagte er mit einem Seitenblick auf Dr. Hagedorn. Der lachte. »Hören Sie auf mit den Anspielungen, Frank. Es ist wirk lich nicht fair von Ihnen, Elke die Dinge noch schwerer zu machen.« Aber Franks Laune besserte sich erst, als seine Braut ihm zuflüster te: »Ich bin sehr froh, daß du mitkommst, Frank. Jetzt habe ich keine Angst mehr, auf die Insel zurückzukehren.« Es war ein kalter, unfreundlicher Tag. Das Mädchen fror selbst in sei 309
nem Pelzmantel. Die Männer schlugen die Mantelkragen hoch. Gre gor Ostwald hatte dem Arzt eine warme Strickmütze und einen dicken Schal geliehen. Sie fuhren auf der geraden Straße durch das Marsch land, das wie ausgestorben dalag, bis zum Meer. Die Fähre war einge stellt, und so mußten sie sich entschließen, ein Ruderboot zu benutzen. »Wahrhaftig eine herrliche Idee!« sagte Frank Ostwald fröstelnd. »Bei diesem Wetter zur Insel hinüber! So was tut man sonst nur in ganz dringenden Ausnahmefällen.« »Wenn Sie auf uns warten wollen«, grinste Dr. Hagedorn, »ich hät te nichts dagegen.« »Das möchte ich sehen! Ich wette, Sie und Elke kriegen nicht einmal das Boot von der Stelle!« knurrte Frank. Tatsächlich wehte der Wind landeinwärts, und die Männer mußten sich tüchtig in die Riemen legen, um mit dem schweren Boot zur Insel überzusetzen. Sie brauchten fast eine Stunde dazu, während der Wind ihnen durch die Kleidung pfiff und hin und wieder Wasser ins Boot klatschte. Das Mädchen sprach während der ganzen Überfahrt kaum ein Wort. Sie saß zusammengekauert hinten im Boot und dachte daran, wie sie vor vielen Monaten die Insel mutterseelenallein auf dieselbe Art verlassen hatte und fest überzeugt gewesen war, daß es für im mer sei. Nun kehrte sie doch wieder zurück, aber sie war eine ande re geworden. Sie war nicht mehr das unerfahrene, verängstigte Mäd chen, das selber glaubte, eine Hexe zu sein. Sie war eine selbstbewuß te junge Dame, die viele Dinge verstehen gelernt hatte. Ja, sie hatte sich sehr verändert – nicht einmal der Name war derselbe geblieben. Sie hieß jetzt Elke Harms und war die Erbin eines der größten Höfe in der ganzen Gegend. Sie hatte ihren Platz gefunden. Wie sollte sie sich da noch vor den armen Fischern der Insel fürchten? In diesem Augen blick fühlte sie sich ihnen weit überlegen. Auch als sie den Fuß auf heimatlichen Boden setzte, dauerte ihre Hochstimmung noch an. Frank Ostwald vertäute das Boot, während Dr. Hagedorn ihr an Land half. In dem kleinen Fischerhafen waren ein paar Männer bei der Arbeit. Sie machten sich an ihren Booten zu 310
schaffen, säuberten die Decks und flickten Netze. Sie hatten kaum auf gesehen, als das Mädchen und ihre Begleiter an Land gesprungen wa ren, erwiderten nur mürrisch den Gruß, den Frank Ostwald und Dr. Hagedorn ihnen boten. Einer spuckte dem Mädchen genau vor die Füße, aber das mochte Zufall gewesen sein. Während sie durch das kleine Fischerdorf gingen, dessen alte Häu ser mit den tiefgezogenen strohbedeckten Dächern unregelmäßig ver teilt waren, wie es der Zufall oder die Laune des Erbauers gewollt hatte, hörten die Kinder neugierig mit ihren Spielen auf und zogen sich dann scheu zurück. Zwei alte Frauen, die vom Einkaufen kamen, machten einen weiten Bogen um das Mädchen. Dr. Hagedorn drückte ihren Arm. »Kränken Sie sich nicht, Elke«, sagte er, »diese Menschen wissen es nun einmal nicht besser.« »Sie tun mir leid«, antwortete das Mädchen. »Heute begreife ich: Die se Menschen sind ärmer dran, als ich es gewesen bin.« Aber als sie in die Wirtsstube des ›Deichkrugs‹ traten, überfiel das Mädchen plötzlich eine Beklemmung, die ihr fast die Kehle zuschnür te. Es hatte sich während ihrer Abwesenheit nichts verändert – das Torf feuer brannte, und der große holzgetäfelte Raum mit der tiefen Decke war ziemlich düster. Ein paar Burschen hockten beisammen. Hinter dem Schanktisch stand rund und prall Wiebke Jans, die Wirtin. Es war ein durchaus friedliches Bild, das sich den Eintretenden bot, und doch spürte das Mädchen sofort, daß Feindseligkeit ihnen entge genschlug. Niemand erwiderte ihren Gruß. Die Burschen ließen sich, scheinbar uninteressiert, nicht bei ihrem Würfelspiel stören. Die Wir tin bereitete einen dampfenden Teepunsch. Frank Ostwald versuchte die Situation zu überspielen. »Na, Wiebke Jans«, sagte er, »wie geht's, wie steht's? Ich habe mich lange nicht mehr auf der Insel blicken lassen.« Die Wirtin schwieg und tat in jedes der großen Gläser ein Stück Kandiszucker. »Ist das die Möglichkeit, Wiebke Jans«, fuhr Frank Ostwald fort, »kennen Sie uns etwa nicht mehr? Ich bin Frank Ostwald vom Harms hof, dies ist Doktor Hagedorn, der im vorigen Sommer Badearzt auf 311
der Insel war, und hier …«, er schob das Mädchen ein wenig vor und hob seine Stimme, damit niemand ihn überhören konnte, »das hier ist Elke Harms, die Enkeltochter auf dem Harmshof.« Jetzt hob die Wir tin den Kopf, und die Burschen hielten im Würfeln inne. »Das ist meines Wissens Undine, die Pflegetochter vom alten Tede Carstens«, sagte Wiebke Jans hart, »den sie in die Fremde gelockt und dort elendiglich hat zugrunde gehen lassen.« »Die Hexe, die meinen Freund Ole Peters auf dem Gewissen hat«, rief John Manners und schob seinen Stuhl zurück. Dr. Hagedorn schaltete sich ein. »Sie irren sich«, sagte er mit fester Stimme. »Der richtige Name dieses jungen Mädchens ist Elke Harms, das ist klar bewiesen. Sie ist die Tochter von Klaus Harms, der einst sein Elternhaus verließ und, als er zurückkehren wollte, im März 1943 hier vor der Insel ertrank. Elke allein wurde gerettet, und da Tede Car stens nicht wußte, wer sie wirklich war, nannte er sie Undine.« »Genau so war's«, stimmte Frank Ostwald zu. »Ich hoffe, das ist end lich in eure Dickschädel hineingegangen.« Er warf ein Geldstück auf den Schanktisch. »Dreimal Punsch, Wieb ke Jans. Wir hatten eine schlimme überfahrt.« »Punsch ist keiner fertig«, sagte die Wirtin. »Und der hier?« Dr. Hagedorn wies auf die dampfenden Gläser. »Ist bestellt.« Die Wirtin ordnete die Gläser auf ein Tablett und trug es zu den Burschen hinüber. »Na, dann geben Sie uns eben Schnaps«, forderte Frank Ostwald. Die Wirtin war hinter den Schanktisch zurückgegangen und wisch te sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Schnaps ist alle«, sagte sie. »Dann Rum«, verlangte Dr. Hagedorn und wies auf die Flasche, mit deren Inhalt die Wirtin den Teepunsch bereitet hatte. »Da ist noch ge nügend drin, wie ich sehe.« Die Wirtin straffte die Schultern. »Den brauche ich für meine Stamm gäste.« »Sie wollen uns also nichts verkaufen. Nun gut. Ich verstehe.« Dr. Hagedorn klopfte mit dem Knöchel auf den Schanktisch. »Obwohl wir 312
Sie dazu zwingen könnten, denn dies ist ein öffentliches Wirtshaus, und Sie haben die Pflicht, jeden Gast zu bedienen, der bereit ist, zu zahlen. Aber wir wollen keinen Skandal. Deshalb verzichten wir frei willig. Sie werden uns aber gestatten müssen, daß wir uns an Ihrem Feuer aufwärmen.« Er wandte sich um und schritt auf den Ofen mit den Delfter Kacheln zu. Frank Ostwald und das Mädchen folgten ihm; er hielt ihr Handge lenk fest umspannt, damit sie spürte, daß sie in seiner Nähe geborgen war. Die Burschen erhoben sich von ihren Plätzen, schwerfällig und dro hend. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, stellten sie sich Seite an Seite vor den Ofen. »Gehen wir«, sagte Dr. Hagedorn leise, »wir wollen die Sache nicht auf die Spitze treiben …« »Mir juckt's in den Fingern, jeden einzelnen von diesen Kerlen zu verprügeln, daß ihnen der Atem vergeht«, keuchte Frank Ostwald. »Aber Sie kriegen sie nicht einzeln. Gehen wir!« Dr. Hagedorn faßte das Mädchen am Arm und wollte sie in Richtung der Tür ziehen. Sie riß sich los. »Nein«, rief sie, »erst laßt mich reden. Ich glaube, ich habe schon zu lange geschwiegen!« Sie trat einen Schritt vor und sah John Manners, dem Anführer der Burschen, fest in die Augen. »Ich habe keine Angst vor euch, daß ihr's nur wißt«, sagte sie. »Al les, was ihr mir antun könnt, fällt auf euch selber zurück – nicht weil ich eine Hexe bin, sondern weil das Böse letzten Endes den Täter viel stärker trifft als das Opfer. Was wollt ihr von mir? Warum laßt ihr mich nicht einmal in Frieden hier in der Wirtsstube sitzen und mich aufwärmen? Habt ihr etwa Angst? Vor mir, einem schwachen Mäd chen? Denn das bin ich: ein schwaches Mädchen und keine Hexe. Wenn es je anders gewesen wäre, dann hätte ich mir ein besseres Le ben verschafft, als ich es bei euch hier auf der Insel gehabt habe. Ich habe euch nie etwas getan, keinem von euch, auch Ole Peters nicht. Sein eigener Übermut hat ihn zugrunde gerichtet. Und ihr? Ihr habt mich gequält und verfolgt, gedemütigt und geächtet, seit ich denken kann, bloß weil ich eine Fremde war. Aber ich habe euch verziehen – 313
alles.« Sie streckte die Hände aus. »Kommt, laßt uns Frieden schlie ßen!« Niemand schlug ein. Die Burschen standen da mit finsteren Gesich tern. Als das Mädchen näher auf sie zuschritt, wichen sie zur Seite. Da wandte sie sich ihren Begleitern zu. »Laßt uns gehen«, sagte sie, »es ist sinnlos!« Sie verließ als erste den ›Deichkrug‹. Die beiden Männer folgten ihr. Draußen hatte der Wind aufgefrischt und zerrte heftig an ihren Män teln. »Sie waren sehr tapfer, Elke«, sagte Dr. Hagedorn bewundernd. »Und was hat es genutzt?« Ihre Stimme klang bitter und enttäuscht. »Sehr viel sogar – jedenfalls Ihnen selber«, erklärte der Arzt. »Sie ha ben sich überwunden und dadurch …« »Ach, hören Sie doch auf«, unterbrach ihn Frank Ostwald ärgerlich. »Sehen Sie denn nicht, daß meine Braut ganz erledigt ist? Ich schlage vor, wir rudern sofort zurück.« »Nein«, bat sie, »noch nicht, Frank. Es ist heute wahrscheinlich das letzte Mal, daß ich auf der Insel bin: Ich muß den alten Leuchtturm wiedersehen!« Nebeneinander, das Mädchen in der Mitte, stapften sie den Deich entlang. Der Wind, der immer heftiger wurde, kam von vorn, so daß sie sich gegen ihn stemmen mußten. Das Mädchen hatte ihr Kopftuch fester gebunden, die beiden Männer schlugen wieder die Mantelkragen hoch. Krähen und Möwen ließen sich über ihnen mit Krächzen und Schreien auf das Festland zutreiben. Das alte Leuchtfeuergebäude kam in Sichtweite, als sie den Deich erklommen. Ein schmaler Weg führte vom festen Damm über Sand, Steine und Geröll. »Kehren wir um!« sagte Frank Ostwald plötzlich, und in seiner Stim me war ein ganz neuer Ton – nicht mehr Unwille und Ungeduld, son dern kaum unterdrücktes Entsetzen. »Warum?« fragte Undine, »wo wir doch schon …« Sie brach ab, mit ten im Satz, denn auch sie hatte es jetzt gesehen. Die Wände des alten Leuchtturms waren mit Farbe verschmiert, eine verrostete Schere war geöffnet über die Eingangstür genagelt. 314
Einen Augenblick standen alle drei stumm da. Dann sagte Dr. Hagedorn, krampfhaft bemüht, gleichgültig zu spre chen: »Offenbar Abwehrmaßnahmen gegen Hexen …« »Kehren wir um!« forderte Frank Ostwald noch einmal. »Nein«, rief das Mädchen entschlossen. »Ich muß hinein! Sonst gebe ich ihnen ei nen neuen Beweis, daß ich angeblich eine Hexe bin.« »Elke hat recht«, meinte Dr. Hagedorn. »Allerdings, wenn ich das ge wußt hätte …« Schweigend gingen sie zum Leuchtturm. Frank Ostwald stieß die Tür auf. Das Mädchen hatte die Schlüssel bei sich, aber sie waren nicht nötig. Das Schloß war aufgebrochen. Überall in dem alten Haus – auf der Treppe, in der Küche, in den Schlafstuben – herrschten Unord nung und Zerstörung. »Wozu Menschen fähig sind …«, sagte Dr. Hagedorn erschüttert. Das Mädchen war blaß geworden. Trotzdem sagte sie mit unheimli cher Ruhe: »Was ist schon dabei? Man sollte es nicht zu tragisch neh men. Jeder weiß, daß Menschen zu weit mehr als zu diesem fähig sind – zum Morden, Totschlagen, Ausrauben. Ein verlassenes Haus zu verwüsten, was ist schon dabei? Bestimmt waren es John Manners und seine Freunde. Bist du fertig, Frank?« Frank Ostwald hatte in den zerstreuten Papieren gestöbert, in der Hoffnung, einen weiteren Identitätsnachweis für seine Braut zu finden, ein Dokument vielleicht, das Tede Carstens absichtlich oder zufällig für sich behalten hatte. Aber alles war zerrissen, beschmutzt, unkennt lich gemacht. »Gemeinheit«, sagte er wütend. Das Mädchen begriff, was in ihm vorging. »Mach dir nichts daraus«, lächelte sie krampfhaft, »es waren doch bloß alte Rechnungen, Schul hefte von mir und ähnlicher Kram. Etwas Wichtiges war bestimmt nicht darunter.« Sie versuchten sich gegenseitig aufzumuntern, und doch war jeder von ihnen tief deprimiert, als sie den alten Leuchtturm verließen. Zum Dorf hin kamen sie schneller vorwärts. Sie nutzten den Wind, denn jeder hatte jetzt nur noch den Wunsch, so schnell wie möglich von der Insel fortzukommen. 315
Aber plötzlich blieb Undine stehen. Sie löste sich von ihren Beglei tern, stand da und starrte mit entrücktem Blick auf das Meer hinaus. Frank Ostwald drehte sich zu ihr um. »Elke«, sagte er, indem er sie am Arm faßte, »was ist?« Aber sie hörte nicht auf ihn. »Elke! So kommen Sie doch zu sich!« rief Dr. Hagedorn. Die beiden Männer sahen sich an, dann riefen sie wie aus einem Mund: »Undi ne!« Dieser altvertraute Name schien sie aus ihrer Trance zu reißen. Ihr Gesicht veränderte sich, die großen Augen verloren den starren Aus druck, sie sagte mit einem tiefen Atemzug: »Ich muß noch einmal in den ›Deichkrug‹ zurück!« »Aber warum?« »Elke, nimm doch Vernunft an!« Die beiden Männer wollten es ihr ausreden, aber sie ließ sich nicht beirren. »Geht ihr unterdessen zum Boot«, sagte sie ruhig, »ich muß meinen Weg gehen.« Als sie zum zweitenmal an diesem Tag in den ›Deichkrug‹ trat, bra chen alle Gespräche ab. Die Burschen und die Wirtin sahen sie betrof fen an. Das Mädchen hatte ihr Kopftuch abgenommen, das Haar fiel ihr wild auf die Schultern. Ihre Augen brannten. John Manners war der einzige, der sich etwas zu sagen getraute. »Was willst du, Hexe?« fragte er, aber seine Stimme war ohne Kraft. »Euch warnen!« sagte sie. »Es wird diese Nacht eine Flut kommen, wie keiner von euch sie je erlebt hat! Sie wird die Deiche überspü len, seht euch vor! Verlaßt eure Häuser, nehmt Decken mit, Nahrung, Trinkwasser, soviel ihr könnt! Rettet euch, solange es noch Zeit ist!« »Wohin?« fragte die Wirtin ängstlich. »Wo sind wir denn sicher?« Einen Augenblick dachte das Mädchen nach. Dann sagte sie: »Im Schulhaus. Das liegt hoch genug, und es hat Platz für alle. Sichert das Dach und die Fensterläden. Nachher wird alles unter Wasser stehen, was nahe dem Deich gebaut ist! Ich habe es gesehen …« 316
Zufällig fiel John Manners' Blick auf den bunten Reklamekalender neben dem Schanktisch. Es war Freitag, der 16. Februar.
Es ging auf Mitternacht zu. Der Bauer Nyhuus saß in der Küche seines Wohnhauses, eine schwe re silberbeschlagene Bibel vor sich auf dem Tisch. Heulend fuhr der Sturm um das tiefgelegene Haus. Der Bauer seufzte schwer und wischte sich mit einem großen Ta schentuch über die Stirn. »Was hast du, Vater?« fragte Antje, die ihm, ein Strickzeug in den Händen, gegenübersaß. »Der Sturm!« sagte er müde. Antjes Gesicht blieb unbewegt. »Es ist nicht das erstemal«, antwor tete sie. Sie war immer noch sehr blaß, denn die letzten Wochen hat ten ihr arg zugesetzt. »Aber es war noch nie so schlimm wie heute«, widersprach ihr Va ter. »Das kommt dir nur so vor.« Antje legte ihr Strickzeug zusammen. »Das beste wird sein, wir gehen jetzt schlafen.« »Doch nicht in solch einer Nacht!« Der Bauer sah seine Tochter kopf schüttelnd an. »Wo denkst du hin! Wir müssen wach bleiben!« Sie legte dem Vater die Hand auf die Schulter. »Also komm schon! Was soll uns denn passieren? Außerdem ist unser Gesinde mit dem Vieh doch schon heute nachmittag vorsichtshalber zur Geest hinauf. Als ob das Wasser unsere Warft jemals erreicht hätte!« Der Bauer hob den Kopf. »Horch! Hat da nicht jemand ans Tor ge pocht?« »Das bildest du dir ein. Wer sollte in einer solchen Nacht wohl un terwegs sein?« »Aber ich habe es ganz deutlich gehört – da! Eine menschliche Stim me!« »Ach wo. Das ist nur der Sturm.« 317
Der Bauer erhob sich schwerfällig. »Ich will nachsehen.« Er zündete die Stallaterne an und schlurfte zur Haustür. Als er sie öffnen wollte, riß der Sturm sie ihm fast aus der Hand. »Antje!« rief er. »Hilf!« »Komm wieder herein, Vater«, sagte Antje, indem sie ihm nacheilte, »wer auch immer …« Aber sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden. Eine dunkle Gestalt schob sich in den Hausflur. Dem Bauern und Antje gelang es mit vereinten Kräften, die Tür wie der ins Schloß zu drücken. Der Bauer hob die flackernde Laterne und leuchtete dem Eindringling ins Gesicht. Unwillkürlich wich Antje zurück – es war Jakobus Schwenzen. Stechende Augen funkelten in einem kalten, bösen Gesicht. Alles Gewinnende, seine gewandten Manieren, sein einschmeichelndes Lä cheln, waren von ihm abgefallen wie eine Maske. Er packte das Mäd chen am Handgelenk und zog sie in die Küche. Antje schrie auf. Jakobus Schwenzen kümmerte es nicht. »Deinetwegen bin ich ge kommen, mein Schatz«, sagte er höhnisch, »mach bloß keine Schere reien!« Der Bauer ging drohend auf ihn zu. »Lassen Sie meine Tochter in Ruhe«, rief er, »und verschwinden Sie! Bei uns haben Sie nichts mehr zu suchen.« »Das könnte euch so passen!« Jakobus Schwenzens Stimme klang schneidend. »Als ihr mich brauchtet, war ich euch gut genug. Aber jetzt, nachdem ihr mich verraten habt, da zittern euch schon die Knie, wenn ihr bloß meinen Namen hört, wie?« »Wir haben dich nicht verraten«, sagte Antje Nyhuus, krampfhaft bemüht, ihrer brüchigen Stimme Festigkeit zu geben. »So? Du hast den feinen Ärzten in der Stadt nicht gesagt, daß ich dir Spritzen gegeben habe?« »Und wenn ich es gesagt hätte! Es wäre ja nur die Wahrheit gewesen. Du hast mich erst richtig krank gemacht, Jakobus Schwenzen. Schlim mer noch! Du hast mir den Körper und die Seele vergiftet. Ich schäme mich, wenn ich daran denke, daß ich dir einmal vertraut habe.« 318
Jakobus Schwenzen zog gelangweilt seinen Mantel aus und häng te ihn in die Nähe des Ofens. »Ich wollte dir einen Vorschlag machen, Antje. Ich helfe dir und du hilfst mir – wie in alten Zeiten.« »Es gibt nichts, wobei du mir helfen könntest.« »Doch!« Jakobus Schwenzen trat dicht auf das Mädchen zu. »Ich kann den Hexenbann brechen, ich kann dir Frank Ostwald zurück gewinnen …« »Ich will ihn aber nicht mehr«, sagte sie kalt. Zum erstenmal war Jakobus Schwenzen aus dem Konzept gebracht. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte er erstaunt. »Es ist die Wahrheit. Ich will keinen Mann, der mich nicht wirklich liebt.« Sie lächelte plötzlich, als sie Jakobus Schwenzens verwirrtes Ge sicht sah. »Du staunst, nicht wahr? Du bist es gewohnt, mit Menschen umzugehen, die immer gleich dumm, gleich egoistisch, gleich verblen det bleiben. Ich aber habe mich gewandelt. Ich interessiere mich nicht mehr für deinen Hexenkram. Sieh zu, daß du hier wegkommst, ehe der Sturm noch stärker wird. Ich gehe jetzt schlafen.« Sie wollte sich umdrehen, aber er war mit einem Satz bei ihr und packte ihre Arme mit eisernem Griff. »Hiergeblieben!« schrie er. »Jetzt wirst du anhören, was ich dir zu sagen habe!« Und als der Bau er dazwischenfahren und seine Tochter schützen wollte, sagte er roh: »Nimm dich in acht, Alter …« Er sprach seine Drohung nicht aus, sondern wandte sich wieder an das Mädchen. »Setz dich und hör zu – und du auch, Bauer! Ihr wißt, daß ihr mich mit eurem Gerede bei den Ärzten schön in die Patsche gebracht habt. Ihr habt mich geradezu ruiniert. Dieser Doktor Häwelmann hat mich angezeigt wegen Kur pfuscherei und ich weiß nicht was alles. Natürlich ist diese Anzeige lächerlich. Der alte Knabe ärgert sich eben, daß viele Leute lieber zu mir kommen als zu ihm. Aber ich weiß trotzdem schon, wie die Sache auslaufen wird. Die Richter sind voreingenommen. Eine Geldstrafe ist das mindeste, was ich zu erwarten habe. Warum soll ich mich dem aussetzen? Es scheint mir besser, diese Gegend für eine Weile zu ver lassen.« »Ihr müßt also fliehen«, sagte Antje kühl. 319
»Ich muß nicht fort, aber ich will fort«, verbesserte Jakobus Schwen zen sie mit gerunzelter Stirn. »Und dafür brauche ich Geld.« »Von uns kriegst du nichts«, sagte der Bauer, »wir haben dir schon viel zuviel gegeben.« »Ich brauche nichts von euch, wenn ihr mir nur zu meinem Eigen tum verhelft.« Er senkte seine Stimme und sagte mit eindringlichem Flüstern: »Ich habe mir allerlei erspart in den letzten Jahren. Bis vor kurzem hatte ich alles auf der Bank, aber dann habe ich es abgehoben. Dieses Geld steckt nun in einem gelben, länglichen Briefumschlag hin ter dem Spiegel neben meinem Kleiderkasten auf dem Harmshof.« Antje Nyhuus lachte. »Das wirst du nicht mehr holen können.« »Aber du kannst es. Und du mußt es. Ich verlange es von dir.« Das Mädchen sprang auf. »Niemals!« In diesem Augenblick schien der Sturm für eine Sekunde den Atem anzuhalten. Dann hörten alle drei ein dumpfes, drohendes Grollen. Sie sahen sich erschrocken an. »Was ist das?« fragte Jakobus Schwenzen. »Das Meer«, sagte Antje tonlos, »Sturmflut!« Plötzlich schrie sie auf: »Der Deich ist gebrochen, Vater, sonst könnte doch nicht …« »Ich will hier 'raus«, verlangte Jakobus Schwenzen, »ich will so fort …« Er griff hastig und sichtlich aufgeregt nach seinem Mantel. »Zu spät!« murmelte der Bauer und faßte seine Tochter am Arm. »Nach oben, ohne eine Sekunde zu verlieren!« Sie stürzten alle drei zur Treppe. Als Antje Nyhuus sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie das Was ser in breiten grauen Schwaden unter der Tür hindurchdrang.
Um den Harmshof brauste der Sturm. In der guten Stube saßen Elke Harms, die Ostwalds und Dr. Ha gedorn beisammen. Die Stimmung war gedrückt. Der Wetterbericht, den sie über den Rundfunk gehört hatten, ließ Schlimmes befürch ten. Außerdem machte ihnen die Vorahnung Undines auf der Insel zu schaffen, wenn auch niemand mehr davon sprach. 320
Die Balken über ihren Köpfen ächzten, als wollte der Sturm das Dach von den Mauern reißen. »Ich glaube nicht, daß es Zweck hat, noch länger aufzubleiben«, sag te Frau Ostwald, »wir sollten lieber zu Bett gehen.« »Ja, tut das«, erwiderte Frank, »ich selber möchte draußen nachse hen.« »Bei dem Sturm?« rief seine Mutter. »Gerade deswegen«, sagte Frank. »Wegen des Deiches brauchst du dich nicht zu beunruhigen, Jun ge«, erklärte Gregor Ostwald, »der hat keine schwache Stelle, da bin ich ganz sicher. Hinten beim Nyhuushof, wo der Knick ist, da schon eher …« »Ich muß mich mit eigenen Augen überzeugen.« Frank Ostwald war schon an der Tür. »Halt! Warte! Ich komme mit!« rief Elke, obwohl Frau Ostwald sie zurückzuhalten versuchte. Eine neue Sturmbö, ein Krachen und Splittern übertönte ihre Wor te. Frau Ostwald sprang auf. »Was war das?« Sie lauschten mit angespannten Sinnen, aber nur noch das Toben des Sturmes, das Ächzen der Balken und das Klappern der Fensterlä den waren zu hören. »Die alte Eiche«, sagte Gregor Ostwald endlich, »es kann nur die alte Eiche gewesen sein.« Erst jetzt wurden sich alle der Gewalt des Unwetters ganz bewußt. »Also dann!« sagte Frank Ostwald entschlossen. Elke folgte ihm schweigend in die Küche, wo die Mäntel nahe dem Kamin hingen. Frank Ostwald erhob keinen Einspruch, als sie sich ebenfalls anzog. »Gehen wir«, sagte er rauh. »Ich komme auch mit!« Dr. Hagedorn, fertig angezogen, stand auf der Schwelle. Frank Ostwald zuckte die Achseln. »Wenn Sie es wün schen!« Tatsächlich gelang es den beiden Männern nur mit vereinten Kräf 321
ten, die Haustür zu öffnen und wieder zu schließen, ohne daß der Sturm sie ihnen aus den Händen riß. Elke war zwischen ihnen hin durchgeschlüpft. Sie standen und starrten auf die uralte Eiche, die wie ein Streichholz geknickt worden war. Frank Ostwald spürte Elkes Erschütterung. Er packte sie am Arm und riß sie vorwärts. Dr. Hagedorn folgte ihnen. Geduckt kämpften sie gegen den Sturm an, der vom Meer landeinwärts drang. Sie benutzten denselben Weg, den sie schon einmal an diesem Tag gegangen waren, bevor sie zur Insel hinüberruderten. Diesmal brauch ten sie die doppelte Zeit. Zu beiden Seiten lag das Marschland wie eine unheimliche, von Schatten erfüllte Wüste. Der Sturm setzte nicht mehr aus. Er peitschte heran, als sollte die ganze Welt zerbersten. Wie eine gischtende Wand rannte das Meer gegen das Festland an. Kurz vor dem Deich schien sich seine Kraft zu brechen, fast sanft rollte es aus, ging zurück und wiederholte seinen gigantischen Angriff aufs neue. »Mein Gott!« stöhnte Elke, atemlos vor Entsetzen. »Hallo! Wer da?« drang eine Stimme vom Deich her. Sie sahen eine hagere Gestalt, hoch aufgerichtet gegen das dräuende Meer. »Leute vom Harmshof«, schrie Frank Ostwald zurück. Nahe beiein ander blieben sie stehen, bis die Gestalt auf sie zukam. Erst als Frank Ostwald seine Taschenlampe einschaltete, erkannten sie, daß es ein Mann vom technischen Sicherheitsdienst war. »Wie steht's?« fragte Frank Ostwald. »Wird der Damm halten?« »Der hält eisern!« sagte der Mann. »Eine fabelhafte Konstruktion. Aber weiter vorn – da, wo der alte Deich den Knick macht – hat es ei nen Einbruch gegeben …« »Was ist mit der Insel? Haben Sie Nachricht?« fragte Elke Harms. »Leider nein. Jede Funkverbindung ist abgebrochen. Die Insel muß es schwer erwischt haben.« »Machen Sie sich keine Gedanken, Elke«, sagte Dr. Hagedorn rasch, »Sie haben die Leute ja gewarnt …« 322
»Brauchen Sie Hilfe?« fragte Frank Ostwald den Fremden. »Jede Menge«, sagte der Mann, »da vorne versuchen sie den alten Deich zu flicken, aber sie haben zu wenig Sandsäcke, und das Meer reißt alles wieder weg.« »Wir laufen hin und helfen«, sagte Frank Ostwald entschlossen. »Aber vorsichtig sein!« warnte der Mann vom technischen Sicher heitsdienst. »Und das Fräulein geht am besten wieder nach Hause zu rück.« »Sehr richtig«, sagte Dr. Hagedorn, »kommen Sie, Elke!« »Nein, Herr Doktor!« Elke löste sich aus seinem Griff. »Gehen Sie al lein, wenn Sie wollen …« »Sind Sie etwa Arzt?« warf der Mann vom technischen Sicherheits dienst ein. »Dann sollten Sie auf den Verbandsplatz gehen. Es hat schon eine Menge Verletzte gegeben diese Nacht, und Doktor Häwel mann allein …« »Beschreiben Sie mir bitte den Weg«, sagte Dr. Hagedorn bereitwil lig, »ich gehe zum Verbandsplatz, und Sie kommen mit, Elke. Sie kön nen mir helfen!« »Begreifen Sie denn nicht, um was es geht?« Elkes Augen schienen in der Dunkelheit zu glühen. »Der alte Deich ist gebrochen, der Nyhuus hof steht unter Wasser, vielleicht sind Antje und ihr Vater in Gefahr! Wir müssen sie retten!« »Sie reden sich da etwas ein!« sagte Dr. Hagedorn. »Erstens haben sich die Leute bestimmt längst in Sicherheit gebracht, und zweitens …« »Komm, Elke!« Frank Ostwald packte das Mädchen unvermittelt am Arm. »Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Er riß sie mit sich. Die Köp fe geduckt, rannten sie im Schutze des Deiches davon.
Antje Nyhuus, ihr Vater und Jakobus Schwenzen hatten sich in pani scher Angst immer weiter nach oben geflüchtet. Das graue, trüb schäumende Meerwasser war ihnen mit großer Ge schwindigkeit gefolgt. 323
Vielleicht hätten sie doch noch Zeit gehabt, Decken, Kissen, Wollsa chen und Trinkwasser mitzunehmen, aber ihr Entsetzen war zu groß. Keiner von den dreien war auf dieser Flucht eines klaren Gedankens fähig. Sie stolperten nur nach oben, immer höher und höher hinauf, während das Wasser ihnen gurgelnd von Stufe zu Stufe folgte. Erst als sie den Dachboden erreicht hatten, schien das Wasser stillzu stehen, und sie wagten aufzuatmen. Jakobus Schwenzen trat an das Dachfenster und versuchte hinaus zusehen. Aber das Glas war trüb, der Riegel rostig. Er versuchte es mit Gewalt. Klirrend zerbrach die Scheibe. Ein schneidend kalter Wind stoß fuhr in den niedrigen, dunklen Raum. Jakobus Schwenzen steckte den Kopf hinaus und schaute lange. »Ver dammt«, sagte er endlich, mehr nicht. Antje Nyhuus wartete, bis er den Kopf zurückzog, dann trat sie eben falls ans Fenster. Was sie sah, ließ ihr fast das Herz stillstehen. Wo ge stern noch üppige Marsch, gute schwere Erde gewesen war, dehnte sich jetzt graues brodelndes Wasser. Antje schrie auf. »Vater!« Und noch einmal: »Vater!« Der Bauer taste te sich in der Dunkelheit zum Fenster. »Was gibt's?« fragte er. Er hatte seine Tochter schon fast erreicht, als er mit einem dumpfen Laut zu Boden stürzte. »Um Gottes willen!« rief Antje. »Was ist passiert?« Der Bauer stöhnte. »Ich bin ausgerutscht auf einer dieser Scherben.« Antje war schon bei ihm und stützte ihn, damit er sich aufrich ten konnte. Er versuchte auf beiden Beinen zu stehen, aber mit einem Schmerzensschrei knickte er wieder zusammen. »Ich glaube, ich habe den Knöchel gebrochen«, sagte der Bauer mühsam, »ich kann nicht mehr auf dem linken Fuß stehen.« »Auch das noch!« Die Stimme von Jakobus Schwenzen klang ge reizt. »Sei du still!« rief Antje aufgebracht. »Wer ist denn schuld? Ohne die Scherben wäre Vater bestimmt nicht gestürzt.« Er trat drohend auf sie zu. »Halt den Mund!« »Du kannst mich nicht mehr einschüchtern, Jakobus Schwenzen«, 324
sagte sie kalt, »etwas Schlimmeres als den Tod gibt es nicht – und den werden wir zusammen er leiden, alle drei. Das ist meine einzige Ge nugtuung, daß du mit uns sterben wirst.« »Sie werden uns holen«, sagte er verbissen. »Dich etwa? Niemand weiß, daß du überhaupt hier bist.« »Aber nach dir werden sie suchen und nach deinem Vater.« »Wer? In dieser Not hat jeder mit sich selbst zu tun. Und dann – wie lange, glaubst du, werden wir es aushalten können? Ohne Mäntel, ohne Decken?« »Tagelang«, sagte er, schlug die Arme übereinander und trampelte mit den Füßen, um sich zu wärmen. Der Bauer stöhnte. »Vater«, sagte Antje, »ich weiß, wie weh es tut, aber wir können dir nicht helfen. Versuch dich so bequem wie möglich zu legen, ich schieb' dir diese Kiste in den Rücken. Ist es so besser? Mehr läßt sich nicht tun.« Jakobus Schwenzen war wieder zum Fenster getreten und starrte hinaus. Der Sturm heulte immer noch, riß am Gebälk, trieb hohe Wel len vor sich her. Antje Nyhuus wandte sich zur Bodentreppe. In dem ungewissen Licht war kaum etwas zu erkennen, aber es schien ihr, als ob der Was serspiegel wieder gestiegen wäre. Sie bückte sich, streckte die Hand aus – wahrhaftig, das Wasser hatte die oberste Stufe fast erreicht. Sie drehte sich um und ging in den Raum zurück. Jakobus Schwen zen stand noch am Fenster. Das Mädchen trat ganz nahe zu ihm und sagte leise: »Du mußt mir helfen!« Er fuhr herum, sah sie aus bösartig glitzernden Augen an. »Ich? Dir?« »Ja«, sagte sie fest. »Ich bitte dich darum.« Er lachte hämisch. »Du kannst mich bitten, soviel du willst – für dich rühre ich keinen Finger.« »Das Wasser steigt immer noch«, erklärte sie. »Wir müssen versu chen, auf das Dach zu kommen.« 325
»Danke für den guten Rat. Aber so schlau wäre ich allein auch ge wesen.« Sie zitterte in ihrem dünnen Kleid. »Es geht um meinen Vater«, sag te sie, »du mußt mir helfen, ihn hinaufzubringen.« »Ich denke nicht daran.« »Es ist Menschenpflicht!« »Du hast mir ja auch nicht geholfen, als ich dich gebeten habe.« »Das war doch etwas ganz anderes.« »Nein«, sagte er hart, »auch ich war in Not.« Er sah sie plötzlich lau ernd an. »Ich bin es übrigens noch.« »Gut«, sagte sie, »ich verspreche dir: Wenn wir lebend davonkom men, werde ich dir das Geld holen.« »Schwörst du es?« »Ja.« »Dann sprich mir nach: Ich schwöre bei …« »Nein«, sagte sie heftig. »Ich verspreche es dir, das muß genügen – oder ich werde sagen, wer du bist, wenn sie uns tatsächlich retten.« »Du hast dich nicht schlecht entwickelt«, knurrte er, »soweit bin ich also gekommen, daß ich mir von einem jungen Ding drohen lassen muß. Aber gut, ich werde es riskieren: Du verschaffst mir mein Geld und verrätst mich nicht, und ich helfe dir, den Bauern nach oben zu bringen.« Sie versuchten erst, durch das Fenster nach draußen zu kom men, aber das erwies sich als zu klein und lag in der Schräge des Da ches, so daß sie kaum Halt gefunden hätten. Deshalb entschlossen sie sich, mit Hilfe einer Leiter am Dachfirst Strohbündel herauszuziehen und sich so einen Ausstieg zu verschaffen. Jakobus Schwenzen kletterte als erster hinaus. Dann folgte Antje Ny huus. Für sie, das geschmeidige junge Mädchen, war es nicht schwer. Aber den Bauern nach oben zu schaffen, einen alten, durch seinen schmerzhaften Knöchelbruch fast hilflosen Mann, erwies sich als eine ungeheure Anstrengung. Dennoch gelang es. Sie saßen nebeneinander auf dem breiten First und hielten sich krampfhaft am strohgedeckten Dach fest. Aber was nachher kam, war noch schlimmer. 326
Während sie arbeiteten und sich mühten, hatten sie die Kälte kaum noch gespürt. Jetzt, als sie auf dem Dach saßen, dem schneidenden Sturmwind preisgegeben, ringsum nichts als die weite Wasserwüste, verloren sie bald jeden Mut, zumal auch auf dem Speicher das Wasser langsam, aber unaufhörlich höher stieg. Antje betete leise vor sich hin. Jakobus Schwenzen fluchte zuerst ver zweifelt, dann wurde er still. Der Bauer redete von seinem Gesinde und dem Vieh, fragte sich, ob sie wirklich gerettet seien. Schließlich rechnete er aus, wieviel Geld es kosten würde, die Zerstörungen, die das Wasser angerichtet hatte, wieder zu beheben, und woher er die Mittel dazu nehmen sollte. »Sei doch still, Vater«, bat Antje, die am ganzen Körper zitterte, »als ob es jetzt darauf ankäme. Wenn wir mit dem Leben davonkommen, ist alles andere unwichtig.« Dann schwiegen sie. »Am Deich müssen doch Leute sein«, sagte Jakobus Schwenzen nach einer langen Pause. Aber die anderen waren schon zu apathisch, um darauf zu reagieren. Der Bauer stöhnte wieder. Plötzlich glaubte Antje, es nicht mehr ertragen zu können. Eine tiefe Hoffnungslosigkeit überfiel sie. Wenn ich mich jetzt das Dach hinun terfallen lasse, dachte sie, habe ich alles überstanden. Warum tue ich es nicht? Warum klammere ich mich hier fest? Nur um meine Leiden zu verlängern? Sie war in ihrer Verzweiflung schon entschlossen, sich loszulassen, warf noch einen Blick über die grauen Wasser – da sah sie es. »Ein Boot«, sagte sie mit erstickter Stimme, »es kommt direkt auf uns zu!« Wie elektrisiert hob Jakobus Schwenzen den Kopf. »Du hast recht«, rief er, und in seiner heiseren Stimme war ein wildes Frohlocken. »Wir sind gerettet!« Antje versuchte den Leuten im Boot zuzuwinken, aber sie brachte ihre eiskalten Arme kaum mehr in die Höhe. Jakobus Schwenzen hatte sich Kraft bewahrt. Er reckte sich und gab Zeichen über die Flut hinweg. 327
Das Boot kam näher und näher. »Vater!« rief Antje Nyhuus und rüttelte den Bauern an der Schulter. »Sie kommen! Wir werden gerettet!« Aber der Bauer hielt die Augen geschlossen, ohne etwas zu antwor ten, und klammerte sich fest an den Balken. Das Boot war jetzt so nahe gekommen, daß man sehen konnte, wer drin saß – Frank Ostwald und Elke Harms. »Schau da, deine Freun de!« sagte Jakobus Schwenzen gehässig. »Wenn sie sich in dieser Nacht aufgemacht haben, uns zu retten, sind sie meine Freunde«, erwiderte das Mädchen ruhig. »Aber meine nicht«, erwiderte Jakobus Schwenzen. Das Boot war auf Rufweite herangekommen. Frank Ostwald schrie über das Wasser: »Hallo! Haltet aus! Wir holen euch!« Dann warf er sich wieder in die Riemen, und wenig später legte das Boot am Dach an. »Steigt 'runter!« rief Frank Ostwald. Antje Nyhuus beugte sich vor. »Wir können nicht! Mein Vater hat sich den Fuß gebrochen!« »Dann helfen Sie den beiden!« rief Frank Ostwald mit einer Kopfbe wegung zu Jakobus Schwenzen hin. »Kann nicht. Bin ganz steif vor Kälte«, antwortete der. »Augenblick.« Frank Ostwald band das Boot an einer Verstrebung fest. Dann half er seiner Begleiterin auf das Dach, und sehr vorsichtig kletterten sie hö her. »Daß ihr gekommen seid«, sagte Antje Nyhuus. »Lange hätten wir nicht mehr ausgehalten.« »Es war Elkes Idee«, erklärte Frank. Antje streckte der ehemaligen Rivalin die Hand hin. »Ich danke dir«, sagte sie, und mit kaum merklicher Überwindung fügte sie hin zu: »Elke Harms.« Die beiden Mädchen tauschten ein zaghaftes Lächeln. Frank Ost wald hatte sich über den Bauern gebeugt. »Am besten«, sagte er, »fas se ich ihn unter die Schultern, und du, Elke, versuchst die Beine …« Er unterbrach sich mitten im Satz und starrte auf das Wasser. 328
Ohne daß jemand von ihnen darauf geachtet hätte, war Jakobus Schwenzen zum Boot hinuntergeklettert. Mit einem heftigen Ruck hatte er das Haltetau gelöst, stieß sich mit dem Ruder vom Dach ab und gewann in Sekundenschnelle das freie Wasser. Er schrie durch den Sturm zurück: »Viel Spaß, ihr da oben!« Sein höhnisches Gelächter gellte über die grauen Wogen. Mit kräftigen Ruderschlägen entfernte sich Jakobus Schwenzen im mer weiter vom Nyhuushof. Frank, Elke, Antje und ihr Vater blieben in einer fast aussichtslosen Situation zurück. In wenigen Sekunden war das Boot von der Dunkelheit verschluckt. Nur Frank Ostwald war zu einer einigermaßen vernünftigen Reaktion fähig. Er hielt die Hände trichterförmig an den Mund und schrie aus Leibeskräften: »Schwen zen! Lassen Sie uns nicht im Stich, Sie machen sich zum Mörder! Kom men Sie zurück! Schwenzen! Schwenzen!« Der Sturm riß ihm die Wor te von den Lippen. Es war zwecklos. Wahrscheinlich hatte ihn Schwenzen überhaupt nicht mehr hören können in diesem Inferno entfesselter Naturgewal ten. Außerdem war der Hexenbanner wie in so vielen anderen Fäl len auch beim Diebstahl des Bootes mit Überlegung und Brutalität zu Werke gegangen. Er würde sich durch nichts umstimmen lassen. Sein höhnisches Gelächter gellte Frank noch in den Ohren. »Dieser Schuft! Er hat uns hereingelegt!« knirschte er wütend. »Man konnte ihm vieles zutrauen, aber so etwas doch nicht«, ant wortete Elke Harms. Antje Nyhuus schien von Niedergeschlagenheit gepackt. »jetzt ist al les aus«, sagte sie tonlos. Elke zog ihren Wintermantel aus und band sich den wollenen Schal vom Kopf. Beides bot sie Antje an, indem sie sagte: »Wir dürfen nicht den Mut verlieren. Hier, Antje, wärm dich!« Antje sah zögernd von den Kleidungsstücken auf ihre frühere Ri valin. Dann nahm sie wortlos die warmen Sachen. Pausenlos peitsch te der Sturm heran. Die beiden Mädchen kauerten sich unwillkürlich aneinander. Sie sprachen kein Wort. Dennoch wußte Elke um Antjes tiefe Hoffnungslosigkeit. Die Enttäuschung mit Frank Ostwald, ihre 329
Krankheit und die Kurpfuscherei Jakobus Schwenzens mußten ihre Widerstandskraft sehr geschwächt haben. Außerdem saß Antje wohl zwei Stunden länger als sie selbst auf dem von Wind und Wasser um tosten Dach. Elke hatte das Bedürfnis, Antje ermutigende Worte zu sagen. Aber eine unüberwindliche Scheu hielt sie davor zurück. Auch ihr schwand der Mut, während eisiger Wind durch ihre dün nen Kleider fuhr und salziges Wasser in ihr Gesicht sprühte. Gab es in dieser Lage überhaupt noch einen Funken Hoffnung? Würde man sie – wenn auch erst nach Stunden – finden und retten? Oder waren sie dazu verdammt, auf diesem Dach zu erfrieren, wenn sie es nicht vor zogen, den Tod im Wasser zu suchen? Plötzlich packte sie Angst, nackte, grausige Angst. Angst vor dem Sturm und dem Meer. Es war wie damals als Kind, wenn sie schon Tage zuvor gefühlt hatte, daß ein Unwetter kommen würde. Wie oft hatte sie dann auf dem Deich oder den Dünen gestanden und bangen Herzens hinausgeschaut auf die unendliche See, die so viele Geheim nisse barg und sie selbst irgendwoher zur Insel gespült hatte. Sie fühlte sich wieder wie das kleine wilde, fremdländisch aussehen de Mädchen mit dem rätselhaften Namen Undine, das nur von sei nen Pflegeeltern geliebt, von allen anderen Menschen aber mit Haß, Verachtung oder Mißtrauen behandelt wurde. Sogar in der Natur hat te sie ihren Feind gesehen und immer befürchtet, daß ihr vom Was ser, das ihr einst so gnädig gesinnt war, einmal großes Leid widerfah ren könnte. War jetzt die Zeit gekommen? Sollte sie bei dieser Flutkatastrophe elend zugrunde gehen und mit ihr das Liebste, was sie auf Erden be saß – ihr Bräutigam Frank Ostwald? Sie fror erbärmlich, fühlte sich durch den eisigen Wind und das sprü hende Wasser ausgelaugt, ihre Zähne schlugen aufeinander. Fest preß te sie sich an Antje Nyhuus, die wie leblos neben ihr saß und in ein un vermeidliches Schicksal ergeben schien. Der eisige Sturm ließ nicht nach. Heulend fegte er über das Wasser, ohne je ein Ende nehmen zu wollen. Dann schien er Atem zu holen 330
und leckte wie eine Meute hechelnder Hunde um das Dach. Eine neue Bö riß am Gebälk, so daß es jeden Augenblick auseinanderzubersten drohte. Das Wasser war in der Dunkelheit nur undeutlich zu erken nen. Offenbar war es in der letzten halben Stunde nicht mehr gestie gen. Aber der Sturm trieb meterhohe Wellen vor sich her. Sie schwapp ten am Dach hoch, ohne jedoch allzuweit zu kommen. Trotzdem wur de Elke immer mehr von lähmendem Entsetzen gepackt. Ihr waren die auf den Strand schlagenden Wellen stets wie Pranken eines Raub tieres vorgekommen, die heimtückisch vorschnellten, um Unheil an zurichten. Am meisten zerrten Elke jedoch die gurgelnden und glucksenden Laute an den Nerven, die das Wasser verursachte, wenn der Sturm sich für einen Augenblick legte. Sie klangen in ihren Ohren wie eine Melo die des Todes. In einer verzweifelten Aufwallung wollte Elke ihre Angst vor Sturm und Meer hinausschreien … Da fiel ihr Frank Ostwald ein. Sie löste ihre Augen vom Wasser und blickte an Antje Nyhuus vorbei zu ihm hinüber. Frank hatte seinen Mantel ausgezogen und über den Bauern Nyhuus gebreitet. Jetzt war er damit beschäftigt, ihm aus einer kleinen Flasche Rum einzuflößen. Dem Bauern schien sein gebroche ner Knöchel große Schmerzen zu bereiten. Er stöhnte laut. Frank Ost wald sprach beruhigend auf ihn ein, dann schaute er aufmerksam in die Runde. Von einer Rettungsaktion oder gar vom Boot mit Jakobus Schwenzen war nichts zu sehen. »Wir müssen irgend etwas unternehmen«, sagte Frank Ostwald laut, »damit wir durchhalten. Bis zum Morgengrauen sind es noch drei, vier Stunden. Vorher können wir kaum mit Rettung rechnen.« »Wenn ich nur nicht verletzt wäre«, knurrte der Bauer. »Dieser feige Lump Jakobus Schwenzen hat mir in der Aufregung die Dachfenster scheibe kaputtgeschlagen, und ich bin auf den Scherben ausgerutscht. Aber vielleicht können wir jetzt doch ins Haus zurück. Wir hatten ge dacht, das Wasser würde noch weiter steigen, und sind deshalb auf den höchsten Punkt des Daches geflüchtet.« Frank Ostwald zog eine Ta 331
schenlampe aus der Brusttasche und leuchtete in den Speicher hinun ter. »Der Boden ist mit Wasser bedeckt«, verkündete er, während ihn die beiden Mädchen erwartungsvoll anschauten, »aber es scheint nicht all zu hoch zu stehen. Ich werde mal hinunterklettern und mich vergewis sern.« Auf der von Jakobus Schwenzen an den Dachfirst gestellten Leiter kletterte Frank Ostwald in den Speicher hinunter. Das Wasser stand nicht höher als etwa dreißig Zentimeter. Es war also klar, daß der Auf enthalt auf dem sturmgepeitschten Dach sofort beendet werden konn te. Frank Ostwald ließ von der Leiter aus den Lichtkegel über den Spei cher huschen. Da waren allerlei brauchbare und unnütze Dinge aufbe wahrt. Verstreut standen Kisten herum, und in einer Ecke sah er Die len gestapelt. Damit konnte auf dem überschwemmten Speicher leicht eine Art Podest errichtet werden, auf dem man sich ein paar Stunden aufhalten konnte, ohne vom Sturm durchfroren und zermürbt zu wer den. Frank Ostwald kletterte hoch, um den Mädchen und dem Bauern Bescheid zu geben. Dann zog er Schuhe und Socken aus, hängte sie über eine Dachlatte und krempelte die Hosenbeine hoch. Einen Augenblick schien ihm das Herz aussetzen zu wollen, als er in das eiskalte Wasser auf dem Dachboden glitt, aber er ließ sich durch nichts beirren. Es stellte sich heraus, daß nur zwei Kisten die gleiche Höhe hatten, aber die waren sehr massiv und gut zwei Meter lang. Mit einiger Mühe schob er die beiden Kisten in unmittelbare Nähe der Leiter, wo er sie in einem Abstand von wiederum ungefähr zwei Metern nebeneinan derstellte. Anschließend schleppte er ein paar Dielenbretter herbei, die der Bau er offenbar für Reparaturzwecke bereitgelegt hatte, und legte sie ne beneinander über die Kisten. Eilig kletterte er dann die Leiter hoch. »Ich habe da unten eine kleine Insel konstruiert, auf der wir uns vor läufig sicher fühlen können wie in der Arche Noah«, lachte er. »Wir können also unsere Zelte hier oben abbrechen. Ich werde jetzt am be 332
sten vorausgehen. Der verletzte Bauer klettert direkt hinter mir her, und ihr Mädchen haltet zunächst mal die Leiter, damit sie bei unserem Krankentransport auch ja nicht umkippt. Einverstanden?« Der Bauer biß vor Schmerz die Zähne zusammen, als er sich mit Franks Unterstützung zur Leiter hinquälte. Langsam kletterten sie hintereinander nach unten. Von den Mädchen war nur Elke der Aufforderung Frank Ostwalds gefolgt. Als sie gesehen hatte, daß Antje nur apathisch vor sich hin starrte, ohne auf die Vorgänge zu achten, war sie nicht in sie gedrun gen, sondern allein zur Leiter hingeklettert. Als Elke jetzt durch die Dachlücke den schwierigen Abstieg verfolg te, spürte sie plötzlich, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Sie wandte den Kopf. Wo war Antje? Der Platz, auf dem sie eben gesessen hatte, war leer. Elke ließ die Leiter los und warf sich auf den Rücken. Um Gottes wil len! Antje war das Dach hinuntergeklettert und befand sich schon bei nahe am Wasser. Aber das war doch Wahnsinn! Was wollte Antje dort? Glaubte sie nicht mehr an eine Rettung – jetzt, da sie tatkräftig dabei waren, sich für ein Überleben der Flutkatastrophe vorzubereiten? Oder hatte sie ganz einfach die Nerven verloren? Konnte sie bei ihrer geschwächten körperlichen und seelischen Verfassung womöglich den gemeinsamen Anblick des früheren Verlobten und der früheren Rivalin nicht ver kraften? »Antje, bleib doch hier!« rief Elke angstvoll und versuchte ihr nach zuklettern. Aber sie war in der Aufregung nicht vorsichtig genug und geriet auf dem steilen nassen Dach ins Rutschen. Verzweifelt suchte sie im Stroh nach einem Halt und griff mit beiden Händen hinein, bis sie einen schneidenden Schmerz verspürte. Es tat sehr weh, aber sie rutschte nicht mehr. Wo war Antje? Da! Sie kauerte noch tiefer unten, unbeweglich. Gleichzeitig bemerkte Elke, wieso Antje dieser gefährliche Abstieg so schnell gelungen war: sie hatte sich an dem über die Dachschräge ver laufenden Kabel des Blitzableiters hinuntergelassen. 333
Von der Stelle, wo Elke sich jetzt befand, mochten es drei Meter bis zur Leitung sein. Sie überlegte fieberhaft, ob es einen Sinn hätte, ein fach nach Frank zu rufen. Aber das würde er bei diesem Sturm doch nicht hören. Oder sollte sie wieder hochklettern? Dadurch ginge kost bare Zeit verloren. Nein, sie mußte es selber riskieren. Mühselig arbeitete sie sich zum Kabel hinüber, obwohl ihre Finger schmerzten und bluteten. Aber es gelang. Elke schaute hinunter. Antje kauerte immer noch di rekt am Wasser. Es mochten bis zu ihr etwa sieben Meter sein. Noch einmal schrie sie: »Antje! Warte auf mich!« Dann kletterte sie, indem sie sich am Kabel festhielt, hinunter. Um rascher vorwärts zu kommen, wandte sie Antje den Rücken zu. Jetzt mußte sie etwa fünf Meter geschafft haben, die Wellen schlugen ihr bereits gegen die Füße. Sie drehte sich um. Da sah sie Antje abrutschen. Und dann geschah das Merkwürdige: Im Bruchteil einer Sekunde fiel alle Angst von Elke ab. Sie sah in dieser Situation völlig klar, was zu tun war. Ohne auf die eigene Sicherheit zu achten, sprang sie los. Mit der linken Hand den Blitzableiter packend, erreichte sie die Stel le, an der Antje im Wasser verschwand. Elke konnte gerade noch ei nen der hochgereckten Arme ergreifen, die aus der Flut ragten. Sie zog und zog, bis Antje mit dem Oberkörper aus dem Wasser heraus war und mit der freien Hand gleichfalls Halt fand. Antje atmete keuchend. Anscheinend hatte sie bereits Wasser geschluckt. Jetzt lag sie erschöpft neben Elke, die sie trotz ihrer vom salzigen Meerwasser gepeinigten Hände krampfhaft festhielt und nach oben schaute: Eine Gestalt ließ sich am Blitzableiter herunterrutschen und machte knapp vor dem Mädchen halt. Es war Frank Ostwald. »Das hätte gerade noch gefehlt«, rief er, nachdem er mit einem ein zigen Blick festgestellt hatte, daß nichts Folgenschweres passiert war, »ein Unglück, kurz bevor wir uns retten lassen!« Er gab den Mädchen Anweisung, auf demselben Weg zurückzuklet tern – voraus Elke, dann Antje und schließlich er, damit er Antje vor sich herschieben konnte. Es ging ziemlich rasch, da der kurze Aufent halt im Wasser das Mädchen wieder zur Vernunft gebracht hatte. 334
Der Bauer Nyhuus war im Speicher von Frank Ostwald auf das Po dest gebettet worden. »Wo seid ihr denn so lange geblieben?« fragte er verwundert. »Antje ist wegen der Kälte vom Dach gerutscht«, erklärte Frank Ost wald, »aber es ist nichts weiter schiefgegangen, nicht wahr, Antje?« »Nein«, bestätigte sie kleinlaut. »Antjes Kleider sind nur durch und durch naß«, sagte Elke. »Sie kann sie unmöglich auf dem Leibe behalten.« »Da kann geholfen werden«, antwortete der Bauer. »Wir haben drü ben in dem Schrank Arbeitsklamotten. Antje wird sich darin zwar nicht besonders wohl fühlen, aber es ist ja vorläufig noch stockdunk le Nacht.« Barfuß ging Frank Ostwald mit der Taschenlampe zum Schrank. Er brachte eine alte Hose zum Vorschein, ein paar Stiefel, Socken, einen warmen Pullover und eine Jacke. Außerdem erspähte er noch einige leere Säcke und eine Plane, mit denen sie es sich auf den Dielen beque mer machen konnten. Als Antje ihre nassen Kleider ablegte, um sich mit Elkes großem Schal gründlich abzutrocknen, bevor sie die alten Kleider anzog, stieg Frank Ostwald diskret die Leiter hoch und hielt angestrengt nach al len Richtungen Ausschau. Trotzdem hörte er, wie Antje Nyhuus laut zu ihrem Vater sagte: »Elke hat mir das Leben gerettet. – Das werde ich ihr nie vergessen.«
XIV
D
ie Boshaftigkeit war so tief in Jakobus Schwenzens Seele verwur zelt, daß sie ihn blind machte. Er genoß den Triumph, Frank Ost wald hereingelegt zu haben, in vollen Zügen und verkannte darüber die eigene, keineswegs rosige Situation. Haß und Genugtuung steiger 335
ten seine Kräfte. Er merkte kaum, wie mächtig er sich in die Riemen le gen mußte, um voranzukommen. Der Sturm hatte nach einer kurzen Atempause wieder zugenommen. Mit Windstärken über zwölf fegten die Böen heran und peitschten die Flut. Immer zorniger und härter wurden die Schläge, die das aufge brachte Wasser gegen die leichten Bootsplanken führte. Jakobus Schwenzen nahm es nicht wahr. Er schreckte erst aus seinen satanischen Erwägungen über das mutmaßliche Ende der Hexe auf, als das Boot sich plötzlich, wie von Geisterhand bewegt, im Kreise zu drehen begann. Er war in einen Strudel geraten, der sich über einem der das flache Land durchziehenden Gräben gebildet hatte. Mit hefti gen Ruderschlägen versuchte Schwenzen, dem gurgelnden Sog zu ent kommen. Aber er konnte nichts ausrichten. Wie eine Fliege im Spin nennetz zappelnd, wirbelte das Boot herum, bis es irgendwo hart an stieß und zu kentern drohte. Schwenzen kam aus dem Gleichgewicht. Er rutschte von der Bank und lag rücklings in der Bootsmitte. Er spür te, daß sich auch die Ruder verfangen hatten, und zog sie ein. Als das Schwanken aufgehört hatte, tasteten seine Hände vorsichtig nach dem Hindernis in der Dunkelheit. Er fühlte Zweige und Gesträuch zwi schen den Fingern und griff schließlich gegen glitschiges Holz. Er war in die Krone einer Weide geraten, wie sie überall an den Grabenrän dern standen. Was war zu tun? Schwenzen überlegte. Stieß er sich mit Hilfe eines Ruders vom Baumstamm ab, konnte er das Boot wahrscheinlich befreien. Würde es dann aber nicht wieder ins Zentrum des Strudels geraten? Konnte er dabei nicht über Bord fal len und ertrinken? Vielleicht war es das beste, sich hier an den Zweigen festzuhalten und abzuwarten. Irgendwann mußte das Wasser ja wieder ablaufen. Und bei Tageslicht konnte man sehen, was zu tun war … Bei Tageslicht? Jakobus Schwenzen fiel ein, wie viele Gründe es für ihn gab, das Ta geslicht zu scheuen. Nein, er durfte nicht abwarten. Bei Tag mußte er längst weit hinten im Festland untergetaucht sein. Er mußte es wagen. Er überlegte krampfhaft, wie er freikommen könnte. Nach einer Wei 336
le entschloß er sich, das Boot durch das Gestrüpp der Zweige zur dem Sog entgegengesetzten Seite zu ziehen. Eine harte Arbeit, aber er schaffte es. Als er merkte, daß die Baum krone lichter, die Zweige schlanker und biegsamer wurden, drehte er sich vorsichtig. Bäuchlings im Boot liegend, stocherte er schließlich mit einem Ruder, bis er Widerstand fühlte, und stieß sich ab. Seltsamerweise ging es leichter als gedacht. Das Boot schien in eine Strömung geraten zu sein und kam schnell vorwärts. Schwenzen ließ sich, noch immer auf dem Boden liegend, eine Zeitlang treiben, ohne einen Finger zu krümmen. Als er dann aber wieder über seine Lage nachzudenken begann, packte ihn plötzlich panische Angst. Wohin trieb die starke Strömung? Sollte es vielleicht einer der brei ten Abflußkanäle sein, in denen das Wasser zur See zurücklief? Die Ebbe mußte doch längst begonnen haben. Schlotternde Furcht lähmte den Mann, dessen Geschäft es bislang gewesen war, anderen Menschen Angst ein zujagen. Er wagte nicht den Kopf zu heben. Das Ruder entglitt den zitternden Händen. Wie lange die Höllenfahrt dauerte, merkte Schwenzen nicht. Er er wachte erst wieder, als er im Tosen des Sturmes plötzlich ein Rauschen unterschied, das er für die Brandung hielt. Er stützte sich auf, reckte den Kopf und sah in der Finsternis eine schwarze Wand, der das Boot entgegenraste. Gleich darauf warf ihn der Aufprall ins Wasser. Trotz des gewaltigen Schlages, der seine Brust traf, griff er fest zu. Er spürte eiserne Stäbe in den Händen, an denen er sich hochzog. Nach dem er mit den Füßen nach einem Halt getastet hatte, fand er festen Stand auf einer geraden Schwelle. Er suchte weiter, bis er rechts von sich eine steinerne Wand bemerkte, in die eiserne Leitersprossen ein gemauert waren. Schwenzen begriff jetzt, wo er sich befand. Er war am Binnendeich gelandet, einen Kilometer vom Harmshof entfernt. An ihm hatte die Flut haltgemacht. Er war mit dem Boot gegen das Gitter des Sieles ge prallt, durch welches das Wasser unterirdisch in den jenseits des Dei ches liegenden Hauptkanal abgeleitet wurde. Liegenbleiben, ausruhen! Das war Schwenzens erster Gedanke. Er 337
schüttelte ihn sofort ab. Er stieg die Böschung hinauf, bis er die mit Backsteinen gepflasterte Straße auf der Deichkrone erreicht hatte. Mochte das Boot dort unten zerschellen! Dann konnten sie denken, er wäre ertrunken. Er duckte sich, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten, und stapfte los. Bald sah er die Lichter auf dem Harmshof. Es waren viele. Er fluch te laut. Das hatte gerade noch gefehlt. Er konnte dort nicht viel Betrieb brau chen für das, was er vorhatte. Auf dreihundert Meter herangekommen, konnte er bereits Einzel heiten unterscheiden. Anscheinend standen mehrere Autos mit vol lem Licht auf dem Hofe herum. Daher die Helligkeit. Hinter den Fen sterscheiben war nur ein matter gelblicher Schimmer zu sehen. Sicher lich war die Stromversorgung unterbrochen. Sie hatten die alten Petro leumlampen angezündet. Der rötliche Schein aber kam von einem of fenen Feuer, das auf dem überdachten Dreschplatz zwischen dem neu en Stallgebäude und dem Wohnhaus brannte, vermutlich als Signal für jene gedacht, die sich aus dem überfluteten Gebiet retten wollten. Jakobus Schwenzen zögerte. Hatte es unter diesen Umständen einen Sinn, sich auf den Harms hof zu wagen? Mußte er nicht damit rechnen, dort viele Menschen an zutreffen? Jetzt, da er sich nicht bewegte, spürte er die Kälte doppelt. Nein, er konnte nicht länger in den wassertriefenden Kleidern herumirren. Er brauchte neues Zeug und Geld, um sich möglichst weit aus der Gegend abzusetzen. Am besten mit neuen Papieren und ins Ausland. Den Rest des Weges legte Schwenzen an der dem Hof abgewendeten Deichböschung zurück. Er ging an der Auffahrt vorbei und benutzte zur gut getarnten Annäherung den Weißdornknick der Kälberweide, die an den Küchengarten auf der Rückseite des Wohngebäudes grenz te. Dieser Teil lag im Dunkel. Die Autolichter und der Schein des Feu ers reichten nicht dorthin. Von hier aus konnte er gut beobachten und in Ruhe überlegen, wie er weiter vorgehen wollte. Es hatte keinen Zweck, sagte er sich, im patschnassen Anzug durch 338
die Stuben zu schleichen. Es wäre hinderlich und würde außerdem all zu viele Spuren hinterlassen. Das einfachste war, in Frank Ostwalds Kammer einzudringen, sich dort mit Kleidern einzudecken und dann weiterzusehen. Franks Kammer war verhältnismäßig einfach zu errei chen. Von der Regentonne aus konnte er auf den vorgebauten Wind fang am Küchenausgang steigen. Dann brauchte er sich nur noch hochzurecken. Das Geräusch zerbrechenden Glases ging unter im Tosen der Nacht. Schwenzen kannte sich aus. Er öffnete den Riegel, das Fenster schwang auf. Ein Klimmzug noch, dann hatte er es geschafft. Es bereitete einige Schwierigkeiten, im Dunkeln die nötigen Sachen zu finden. Schwenzen hätte gern wenigstens ein Streichholz benutzt, aber seine eigenen waren völlig aufgeweicht, und andere fand er nicht. So mußte er sich auf seinen Tastsinn verlassen. Schließlich hatte er doch alles, was er brauchte. Und er beschloß, zu nächst einmal auf Erkundung auszugehen. In Strümpfen verließ er Franks Kammer. Er hatte kein Schuhzeug gefunden und wollte seine Stiefel erst auf dem Rückweg wieder anziehen. Er schlich den Flur ent lang und wollte gerade die Treppe zum Erdgeschoß hinab, als unten das breite Tor zur Diele geöffnet wurde. Er hörte Stimmen, unter denen er die von Frau Ostwald und dem al ten Bauern erkannte. Ein Fremder sagte: »Sie müßten bald hier sein. Meinen Sie wirklich, daß alle vorübergehend hier untergebracht werden können? Nur die Unverletzten natürlich. Die anderen nehmen wir mit zum Verbands platz.« »Wenn die Gesunden mit einer Strohschütte vorliebnehmen, wird es schon gehen. Für die Alten und Kranken finden sich auch noch ein paar Betten!« hörte er Frau Ostwald sagen. »Unsere Männer haben da für in der nächsten Zeit sowieso keinen Bedarf. Erst muß der Seedeich geflickt sein.« »Wir finden sicher auch noch trockene Sachen genug im Haus«, füg te der Harmshofbauer hinzu. Nachdem der Fremde sich bedankt hatte und mit mehreren anderen nach draußen gegangen war, hob er wieder 339
an: »Lassen Sie meine Frau lieber schlafen. Die Angst um unsere Elke hat sie ganz krank gemacht. Nur gut, daß der Doktor ihr Tabletten da gelassen hatte. Sie können ja selbst in unseren Schränken nachsehen, was alles herumhängt. Es wird zwar nicht für alle zwanzig reichen, die erwartet werden, aber wir kriegen sicher einiges zusammen. Schauen Sie auch bei den Knechten nach. Die kommen ja auch erst morgen vom Deich zurück. Und wie ist es eigentlich mit Frank?« »Wenn ich das wüßte«, sagte Frau Ostwald. »Gott gebe, daß den Kin dern nichts passiert ist!« Schwenzen hörte sie seufzen. Dann fuhr sie fort: »Ich werde einen großen Kessel Wasser aufsetzen. Für den Kaf fee. Damit die Ärmsten sich aufwärmen können und neuen Lebens mut kriegen.« »Gut, Frau Ostwald«, entgegnete der Bauer. »Sie werden es schon recht machen. Sie wissen ja selbst, wie es ist, wenn man kein Dach mehr überm Kopf hat.« Dann schlurfte der Alte davon. Die Dielentür schlug zu. Frau Ostwald aber verschwand in der Küche. Der Lauscher im ersten Stock dachte angestrengt nach. Man erwar tete also in Kürze viele Menschen, wahrscheinlich von Höfen, die un ter Wasser standen. Frau Ostwald würde bald in Franks Kammer kom men, um auch dort Zeug zu sammeln. Es war also höchste Eile gebo ten. Andererseits: die Bäuerin schlief unter der Wirkung einer Droge. Und in ihrem Zimmer stand die Truhe mit dem Familienschmuck und dem Ersparten. Schwenzen wußte es. Die Alte hatte während sei ner ›Beratungen‹ oft genug hineinlangen müssen. Der gelbe Briefumschlag mit seinem ergaunerten Geld steckte hin term Spiegel der Kammer, in der er selber oft geschlafen hatte. Sie be fand sich am anderen Ende des Flurs. Weit weg von der Treppe. Womit sollte er beginnen? Schwenzen rechnete sich aus, daß es am vorteilhaftesten wäre, das Haus auf dem gleichen Wege zu verlassen, auf dem er gekommen war. Folglich erschien es ihm logisch, im Zimmer der Bäuerin im Erdge schoß zu beginnen, dann den Umschlag zu holen und durch Franks Zimmer wieder zu verschwinden. 340
Wenn ihm nur die Ostwald nicht zuvorkam! Gedacht – getan. Er stieg hinab zur Diele, in der eine Petroleumlampe hing. Besser ist besser, sagte er sich und schraubte den Docht zurück. Dann öffnete er leise die Schlafzimmertür der Bauersleute. Als er sie hinter sich zugezogen hatte, hörte er die regelmäßigen, etwas rasselnden Atemzüge der alten Frau. Er hielt sich nicht lange auf, sondern steuerte zielsicher auf die Truhe zu. Sie war unverschlos sen. Er wühlte in dem Stoff, den er zwischen den Händen fühlte – wahrscheinlich das Brautkleid der Bäuerin oder ein ähnliches Erin nerungsstück –, und fand schließlich die Schmuckstücke und einige Münzen. Als seine gierigen Finger gerade das wertvollste Stück, ein mit Edel steinen besetztes, zur Brautkrone gehörendes Diadem, hervorgezogen hatten, geschah es: Gleißendes Licht überflutete den Raum. Es kam vom Scheinwerfer eines sich nähernden Fahrzeuges. Schwenzen erschrak. Er stieß mit dem Knie gegen die Truhe. Der schwere Deckel fiel zu. Die Bäuerin schreckte hoch. Aufrecht im Bett sitzend, öffnete sie den Mund zum Schrei. Da war Jakobus Schwen zen schon über ihr. Er preßte sie zurück in die Kissen und drückte die Bettdecke fest auf ihr Gesicht. In diesem Augenblick wurde es unheimlich lebendig auf dem Hof. Vor den Fenstern rannten Menschen auf und ab. Und einer blickte ins Zimmer. Schwenzen sah, wie die Augen des Fremden sich vor Ent setzen weiteten. Er ließ von seinem Opfer ab und sprang zur Tür. In diesem Augenblick ging das Dielentor auf. Ein ganzer Schwarm was sertriefender Menschen drang ein, angeführt vom Harmshofbauern. Schwenzen wollte ins Zimmer zurück, aber er war schon entdeckt. Mit erhobenem Krückstock drang der Alte auf ihn ein: »Räuber!« schrie er. »Verfluchter Plünderer, du! Hab' ich dich end lich erwischt?« Schwenzens Pech war, daß Frau Ostwald früher nach oben gegangen war, als er sich ausgerechnet hatte. Gerade in diesem Augenblick rief sie vom ersten Stock herunter: 341
»Hier ist eingebrochen worden. Der Lump muß durchs Fenster ge kommen sein. Er hat Franks Schrank ausgeraubt!« Es gibt Situationen, in denen die Menschen zum Äußersten bereit sind. Lebensangst und Verzweiflung suchen sich ein Ventil. So auch hier in der Katastrophennacht. Schwenzen kam nicht dazu, den Schlag des Alten zu parieren. Sechs, acht, zehn Arme packten ihn. Fäuste prasselten auf ihn nieder. Und man hätte ihn gewiß gelyncht, wären die Fahrer der Militärwagen auf dem Hofe nicht besonnene Männer gewesen. »Halt, Leute! Zurück!« hörte Schwenzen rufen. Eine Gasse bahnte sich. Zwei Uniformierte traten vor ihn hin. »Sie sind festgenommen!« erklärte der eine. »Kommen Sie mit! Lei sten Sie keinen Widerstand, sonst zwingen Sie uns, von der Waffe Ge brauch zu machen.« Und sein Gefährte hielt Schwenzen unmißverständlich die Pistole vor die Nase. Dann führten sie ihn ab. Ein Feldwebel kam, um sofort den Tatbestand aufzunehmen. Die alte Bäuerin sagte ihm, daß Schwenzen, der versucht hätte, sie zu er drosseln, bereits wegen Mordversuchs an ihrer Enkelin und anderen Untaten gesucht werde. »Das sagen Sie dann auch der Polizei. Sie wird sich freuen, einen solchen Fang gemacht zu haben«, sagte der Feldwebel und befahl sei nen Untergebenen, den Festgenommenen sofort zur Polizeistation der Kreisstadt zu fahren.
Im Dach des Nyhuushofes machte man sich auf stundenlanges Warten gefaßt. Frank Ostwald schleppte alles herbei, was ihnen die Lage ir gendwie erleichtern konnte: eine Plane, noch ein paar leere Säcke und eine alte Pferdedecke, mit der eine beschädigte Häckselmaschine zu gedeckt war. Der verletzte Bauer wurde trotz seines Protestes in die warme Pferdedecke gehüllt. Unter der Plane verkrochen sich alle außer Frank, der wieder aufs Dach stieg, um Ausschau zu halten. 342
Kurz vor Tagesanbruch nahm der Sturm noch einmal zu. Er fegte durch das Loch im Dach und verfing sich mit schauerlichem Geheul im Gebälk. Erst als es zu dämmern begann, legte sich der Wind. Frank Ostwald blickte umher. Ringsum war nichts als schäumendes, gurgelndes Wasser, aus dem die Scheune, Baumkronen und Telegra fenmasten hervorragten. Bretter und Hausrat trieben in den Wellen. Nach ungefähr einer halben Stunde sah er den Hubschrauber, der sehr niedrig flog und rasch näherkam. Frank Ostwald machte eine so hefti ge Bewegung, daß er beinahe die Leiter hinuntergestürzt wäre. »Elke! Antje!« rief er heiser. »Wir bekommen Hilfe!« Wie elektrisiert sprangen die Mädchen auf und drängten sich hinter Frank Ostwald die Leiter hoch. Der hatte die Mütze vom Kopf gerissen und schwenk te sie aufgeregt durch die Luft. Der Pilot hielt direkt auf das Haus zu. Etwa zwei Meter über dem Dach blieb der Hubschrauber – wie eine Libelle schwirrend – in der Luft stehen. Über eine Winde wurde ein Seil hinuntergelassen, das in eine Schlaufe auslief. Frank Ostwald überlegte. Zunächst mußte der verletzte Bauer ab transportiert werden, das war klar. Es war nicht leicht, den Bauern zum Seil des Hubschraubers zu brin gen. Aber der verletzte Mann gab sich so viel Mühe, daß Frank Ostwald ihn einigermaßen vorschriftsgemäß in die Schlaufe setzen konnte. Dann wurde das Seil hochgewunden, und der Pilot gab ihnen durch Zeichen zu verstehen, daß er wiederkommen würde. Dennoch sahen sie dem davonfliegenden Hubschrauber mit ge mischten Gefühlen nach. Wenn der Pilot nun sein Versprechen nicht halten konnte? Wenn die Not groß war, daß anderswo dringender Hil fe benötigt wurde? Die knappe halbe Stunde, die es dauerte, bis ein anderer Hubschrau ber auftauchte, kam den Wartenden wie eine Ewigkeit vor. Er war bedeutend größer als der erste. Der Überstieg erwies sich dennoch als ein ziemlich gefährliches Unternehmen, dem die Mäd chen mit ihren vor Kälte erstarrten Gliedern kaum gewachsen waren. Aber auch sie schafften es. 343
Drinnen reichte ihnen der Kopilot eine Thermosflasche mit heißem Bohnenkaffee und Pakete mit belegten Broten. Sie aßen und tranken. Langsam wurden die Lebensgeister wieder wach. Frank Ostwald fragte mit lauter Stimme durch den Lärm der Roto ren: »Sind viele umgekommen?« »Nein, hier nicht!« schrie der Kopilot zurück. »Aber ihr könnt von Glück reden, daß wir euch überhaupt gesucht haben. Es hieß nämlich zuerst, das ganze Gebiet hinter dem Deichknick wäre geräumt. Ein Doktor Hagedorn hat uns auf dem Verbandsplatz darauf aufmerksam gemacht, daß hier noch Menschen sein müßten.« Frank Ostwald blickte Antje Nyhuus fragend an. »Die anderen waren tatsächlich alle fort«, rief sie, »aber Vater dachte, unser Hof läge hoch genug, und überhaupt – es ist doch in all den Jah ren noch nie etwas so Schreckliches passiert!« »Dies war die schlimmste Sturmflut seit über hundert Jahren«, er klärte der Kopilot, »und wer weiß, vielleicht ist sie noch nicht vor über.« Vom Hubschrauber aus hatte man einen weiten Rundblick. Sie sa hen nur eine graue, wildbewegte Wasserfläche. Nur an der mehrfach durchbrochenen Linie des Deiches konnten sie erkennen, wo das Meer endete und das überflutete Land begann. »Wo fliegen wir denn hin?« rief Elke Harms plötzlich. »Wir müssen noch zur Insel«, erklärte der Kopilot. »Jede Funk- oder Telefonverbin dung ist seit gestern abend unterbrochen. Aber die Leute haben auf ein Dach geschrieben, daß ein Kranker bei ihnen ist. Wir wollen ihn mit nehmen. Außerdem haben wir ein paar Säcke mit Proviant und war men Sachen dabei.« Er hatte kaum ausgesprochen, als die Insel schon sichtbar wurde. Sie schien wie in der Mitte auseinandergerissen. Vom Fischerdorf ragten nur noch die Häuser auf dem Hügel mit dem Schulhaus und der Kir che aus den Wogen. »Ich werde landen!« rief der Pilot. »Bitte halten Sie sich fest!« Dann setzte er die große Maschine unmittelbar neben dem Schulhaus auf. Menschen drängten heraus. Sie umringten den Hubschrauber. Frau 344
en weinten. Das machte die überstandene Nervenbelastung. Ihre Män ner nahmen die Proviantsäcke entgegen. Es stellte sich heraus, daß es sich bei dem Kranken um ein Kind handelte, das an einer schmerz haften Mittelohrentzündung litt. Es wurde mit seiner Mutter, warm in Decken verpackt, an Bord genommen. Elke und Antje stiegen aus, um dabei zu helfen. Die allgemeine Aufregung war in den ersten Minuten so groß, daß niemand Elke Harms bemerkte. John Manners war es, der sie als erster erkannte. Er machte die ande ren auf Elke aufmerksam, und plötzlich bildete sich ein Halbkreis von Menschen, die das Mädchen anstarrten. »Wir haben noch zwei Plätze frei«, rief der Pilot. »Entscheidet euch, wer mit soll. Ich starte jetzt.« »Noch nicht«, sagte John Manners erregt. Er trat ein paar Schritte auf Elke zu, blieb aber wieder zögernd stehen. Wiebke Jans, die Wir tin vom ›Deichkrug‹, schob ihn resolut zur Seite. »Du bist ein Feig ling, John«, rief sie. Sie holte tief Luft und sagte: »Was John Manners dir mitteilen wollte, Undine – oder vielmehr Elke, wie du ja wirklich heißt –, damit hat es folgende Bewandtnis: Wir haben eingesehen, daß wir dir all die Jahre über Unrecht getan haben.« Die anderen Einwohner nickten Zustimmung, und Wiebke Jans fuhr fort: »Du siehst, sie sind alle meiner Meinung. Und wenn einer es nicht wäre, würde er sich ein für allemal hüten, es auszusprechen. Du hast uns mit deiner Warnung vor großem Leid bewahrt, keiner von uns ist umgekommen.« Elke Harms war bei diesen Worten errötet, ihre Augen strahlten. »Das ist nicht mein Verdienst«, versuchte sie zu erklären, »ich selber …« »Verkleinere nichts!« unterbrach sie Wiebke Jans. »Vielleicht kannst du wirklich mehr als Brot essen. Wenn wir klüger gewesen wären, hät ten wir dich von Anfang an freundlich aufgenommen, aber wir waren verblendet. Sonst hätten wir begreifen müssen, daß alles Böse, was wir dir zugeschrieben haben, in unseren eigenen Gedanken entstanden ist. Du warst immer gut, wie deine Pflegeeltern uns sagten. Nur weil du eine Fremde warst, sind wir dir mit Abneigung begegnet und haben dich nie als eine von uns akzeptiert.« 345
Jetzt gab sich John Manners einen Ruck und trat neben Wiebke Jans. »Nimm es uns nicht übel, Elke«, bat er unbeholfen. Elke Harms reichte beiden ihre Hände. »Ich bin so froh«, sagte sie herzlich. »Ich danke euch!« Als sich der Hubschrauber in die Luft erhob, konnte Elke ein Schluch zen nicht unterdrücken. »Endlich«, sagte sie, »endlich scheint alles gut zu werden.« Die Spannung der vergangenen Stunden löste sich. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß ihr die Inselbewohner Abbitte leisten würden, nachdem man sie noch am Tage zuvor wie eine Aussätzige behandelt hatte. Gewiß, sie war durch ihre Warnung vor der Flutkata strophe für viele zur Retterin geworden. Aber hätte nicht gerade die se Voraussage sie aufs neue verdächtig machen müssen – wenn nicht als Hexe, so doch als ein mit geheimnisvollen Kräften ausgestattetes und deshalb furchterregendes Menschenkind? Elke verstand die Welt nicht mehr. Plötzlich merkte sie, daß der Hubschrauber nicht direkt aufs Fest land zuflog. Der Pilot ließ ihn noch einmal über der Insel kreisen, um den gefährdeten Menschen Mut einzuflößen. Angestrengt ließ Elke ihre Augen über die Insel wandern. Da – vom Badeort war nur noch das große, hochgelegene Strandhotel zu erken nen. Was sie aber in Wirklichkeit ausfindig machen wollte, suchte sie vergebens. »Wo ist der alte Leuchtturm?« rief sie. »Man müßte doch wenigstens ein Stück davon sehen. So hoch kann die Flut unmöglich gestiegen sein …« Der Kopilot zuckte die Schultern. »Vielleicht hat es ihn fortgeris sen.« »Mein Gott«, murmelte Elke erschüttert. Frank Ostwald hatte sie aufmerksam beobachtet. Jetzt griff er ver stohlen, aus Rücksicht auf Antje Nyhuus, nach ihrer Hand und sagte: »Nicht traurig sein, Elke! Auf dem Harmshof ist deine neue Heimat.« Dann versuchte er sich wieder nützlich zu machen. Mit dem Kopilo ten sah er nach den beiden alten Leuten, einer Frau und einem Mann, die sie zusätzlich an Bord genommen hatten. Sie machten einen gefaß 346
ten, aber durch die Strapazen übernächtigten Eindruck. Willenlos lie ßen sie alles mit sich geschehen, was ihnen empfohlen wurde, aßen und tranken eine Kleinigkeit, sprachen jedoch kein Wort. Von Antje Nyhuus wurde die Frau mit dem an Mittelohrentzündung erkrankten Mädchen umsorgt. Das Kind schrie so laut und ausdauernd, daß jeder Beruhigungsversuch aussichtslos erschien. Glücklicherweise übertön te das Geräusch der Rotoren das nervenzermürbende Geschrei. Elke Harms nahm kaum wahr, was um sie vorging. Mit einem wehmüti gen Lächeln blickte sie zur Insel zurück, von der sie sich immer wei ter entfernten. Dieses schwer heimgesuchte Fleckchen Erde, umfan gen vom Meer, war über eineinhalb Jahrzehnte ihre Heimat gewesen. Noch gestern hatte sie sich geschworen, nie mehr ihren Fuß daraufzu setzen. Sie war gedemütigt worden wie selten in ihrem Leben. Den al ten Leuchtturm, wo sie als einzigen Lichtblick die Liebe ihrer Pflege eltern erfahren durfte, fand sie gestern nachmittag besudelt und mit Symbolen des Hexenwahns verunziert. Jetzt war er ein Raub des Mee res geworden, weggerissen von den unersättlichen Wogen. Das Mäd chen wußte nicht, ob es darüber traurig oder glücklich sein sollte. Eine entscheidende Episode ihres Lebens schien jedenfalls ihr Ende gefun den zu haben. Heute war sie nun mit aufrichtigem Wohlwollen emp fangen worden. In ihren ehemaligen Peinigern, die lange Zeit einem verheerenden Aberglauben erlegen waren, hatte sie endlich Freunde gefunden. Wog das nicht alles auf? Versonnen blickte Elke zur Insel, die langsam im Dunst entschwand. Antje Nyhuus riß sie aus ihren Gedanken. »Schau doch, Elke«, rief sie, »dort drüben liegt der Hof meines Vaters und ganz da hinten der Harmshof. Ihr habt Glück gehabt, das Wasser ist nicht bis zu euch vor gedrungen.« Antje machte einen überanstrengten, aber gelösten Ein druck. Offenbar gab ihr die Gewißheit, der Flutkatastrophe mit hei ler Haut entronnen zu sein und ihren verletzten Vater in Sicherheit zu wissen, neuen Lebensmut. Elke sah es mit Genugtuung. »Ich werde bei meinen Großeltern dafür sorgen, daß ihr mit dem Nyhuushof bald wieder zu Rande kommt«, versprach sie ernsthaft. Draußen ließ der Sturm nicht nach. Die Böen waren in der schwe 347
ren Maschine deutlich zu spüren. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt und beschlug die Scheiben. Trotzdem konnte man den Verlauf des Fluteinbruchs ins flache Land einigermaßen unterscheiden. »Dort drunten am Knick beim Öhlerthof wird fest gearbeitet«, schrie Frank Ostwald und deutete auf eine bestimmte Stelle des sinnvoll an gelegten Deichsystems. Man sah eine Menge Männer den immer noch nicht geschlossenen Einbruch mit Sandsäcken ausfüllen. Es war aus der Höhe ein erschreckender und doch faszinierender Anblick. Kurz darauf tauchte das Geestdorf auf, von dem aus der Hubschrauber zum Nyhuushof gestartet war. Wieder rief der Pilot: »Ich werde landen. Bit te halten Sie sich fest!« Sie setzten im Hof der Schule auf, in der ein pro visorischer Verbandsplatz eingerichtet worden war. Hier spielte sich ein ziemlich hektischer Betrieb ab. Lastwagen der Bundeswehr und private Fahrzeuge wurden entladen. Die Landung des Hubschraubers lenkte für kurze Zeit die Aufmerksamkeit aller Helfer auf sich. Ein Sa nitäter nahm das kranke Kind in Empfang. Frank Ostwald erkundigte sich sofort nach Dr. Hagedorn. Ein Mann des Roten Kreuzes führte ihn mit Elke und Antje in den verhältnismä ßig geräumigen Turnsaal, an dessen Wänden Feldbetten aneinander gereiht standen. Sie waren mit verletzten Angehörigen der Rettungs mannschaften oder mit Leuten belegt, die in ihren Häusern von der Flut überrascht worden waren. Frank Ostwald erkannte schon beim Eintreten Dr. Häwelmann, der sich über einen aus dem Mund blutenden Jungen beugte. Er trat auf den alten Landarzt zu und fragte nach Dr. Hagedorn. »Der ist nur einen Moment hinausgegangen und veranlaßt den Ab transport des an Mittelohrentzündung erkrankten Mädchens, das ihr mitgebracht habt. Bei so etwas ist natürlich nur im Krankenhaus zu helfen«, erklärte er, ohne aufzusehen. Frank eilte wortlos aus dem Turnsaal, gefolgt von den beiden Mäd chen. Auf dem Gang kam ihnen Dr. Hagedorn entgegen. Elke erschrak bei seinem Anblick. Er sah aschfahl aus. Zweifellos hatte es für die bei den Ärzte ununterbrochen Arbeit gegeben. 348
Als er die drei erkannte, hellte sich sein Gesicht auf. »Gott sei Dank, daß ich euch in Sicherheit weiß!« rief er. »Wir danken Ihnen«, sagte Elke herzlich und faßte nach seiner Hand. »Sie haben uns die Hubschrauber zum Nyhuushof geschickt.« »Das ist doch selbstverständlich«, antwortete er beiläufig. An Antje gewandt, fügte er hinzu: »Ihr Vater mit seinem gebrochenen Knöchel liegt bereits im Krankenhaus. Sie fahren jetzt am besten zusammen auf den Harmshof, wo ein Notaufnahmelager für Obdachlose einge richtet wird. Da könntet ihr behilflich sein. Im Hof habe ich für Sie ei nen Jeep bereitstellen lassen.« Frank Ostwald wandte ein, daß er doch wohl dringend bei den Deicharbeiten gebraucht würde. Aber Dr. Hagedorn widersprach ihm. »Das hat Zeit«, behauptete er. »Auf dem Harmshof wird vorläufig ebenfalls jede Hand benötigt. Ich selbst bleibe hier auf dem Verbandsplatz, bis es einigermaßen Luft gibt.« Sein bestimmter Ton ließ keine Widerrede mehr aufkommen. Man verabschiedete sich flüchtig. Plötzlich wandte sich Dr. Hagedorn auf dem Weg in den Turnsaal noch einmal um und rief zurück: »Dieser saubere Jakobus Schwenzen ist übrigens heute nacht noch einmal auf dem Harmshof aufgetaucht, wie ich vorhin von einem Kurier erfahren habe. Er wurde beim Einbruch ertappt und der Polizei übergeben.« Als Frank, Elke und Antje im Jeep saßen und mit einem jungen Bun deswehrsoldaten am Steuer in rasender Fahrt das Geestdorf verließen, empfanden sie eine unbändige Freude über die Festnahme des ›Hexen banners‹, der durch sein gewissenloses Verhalten bei dieser Flutkata strophe beinahe ihr Schicksal besiegelt hätte.
Wer während der nächsten vierzehn Tage zum Harmshof kam, mußte zunächst annehmen, er befände sich mitten im Zentrum der Katastro phe. Zwischen Wohnhaus, Scheune und Stallgebäude wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Zur Tür hinein kam man nur, wenn man über Berge von Möbeln und Hausrat kletterte. Von fast allen Fenster 349
kreuzen waren Leinen zu den Obstbäumen im Garten gespannt. Alles mögliche, Wäsche, Bekleidungsstücke, Daunenbetten und sogar Tep piche, war zum Trocknen aufgehängt. Auf dem Dreschplatz dampfte die Gulaschkanone der Pioniere, die draußen am Seedeich damit be schäftigt waren, die Bruchstellen zu flicken. Indes, bei näherem Hinschauen entpuppte sich das scheinbar heillo se Durcheinander von Gegenständen, Frauen, Kindern und Soldaten als wohlorganisierte Zentrale gegenseitiger Hilfsbereitschaft. Gregor Ostwald und sein Sohn Frank hatten dafür gesorgt, daß je der der durch die Sturmflut obdachlos gewordenen Nachbarn auf dem Hof Notquartier fand. Siebzehn Familien mit insgesamt dreiundvier zig Köpfen hatten sie aufgenommen. Klar, daß kein Bett, kein Sofa, keine Bank zu irgendeiner Tageszeit unbenutzt blieb. Außerdem hat te man Stühle und Sessel zusammengeschoben, aus Brettern Pritschen gebaut und in den hintersten Winkeln noch Strohschütten errichtet. Gregor Ostwald, der aus seinen eigenen Flüchtlingstagen die läh mende und zermürbende Wirkung tatenlosen Jammers zur Genüge kannte, hatte sofort dafür gesorgt, daß niemand, der zu einer Hand reichung zu gebrauchen war, unbeschäftigt blieb. Als das Wasser sich verlaufen hatte, zeigte sich bei vielen der Hang zur Eigenbrötlerei. »Heute gehe ich nicht mit zum Deich«, sagte der Sieversbauer. »Ich muß sehen, was mein Haus macht.« »Und ich schau erst mal auf meinen Hof«, schloß sich der Jensenbau er an. »Nichts da!« erklärte Gregor Ostwald. »Wir haben bisher gemein same Sache gemacht und wollen es auch weiter so halten.« Er teilte Trupps ein, die die Lage auf den einzelnen Höfen erkundeten, und dann nahmen sie sich die Anwesen gemeinsam der Reihe nach vor. Mutter Ostwald hatte alle Hände voll zu tun, um die über fünfzig hungrigen Mäuler zu stopfen. Natürlich gab es genug Frauen zum Kar toffelschälen, aber die größte Unterstützung fand sie in den Kühen des Harmshofes und der Feldküche der Soldaten. Elke bemühte sich tagsüber um die Kinder und die Alten. Erst wenn 350
diese versorgt und für die Nacht untergebracht waren, schloß sie sich den Trupps der Frauen an, die zu den anderen Höfen gingen, um Ord nung zu schaffen. Trotz des Widerspruchs ihrer Großeltern plagte sie sich über zwanzig Stunden am Tag ab. »Es tut mir gut. Laßt mich, es wird mir helfen«, sagte sie. Wie es gemeint war, konnten die Harms leute selber sehen. Denn mit jedem Tag wuchsen Zuneigung und Ver trauen, die Elke entgegen gebracht wurden. Frank, der immer mit den Männern unterwegs war und wegen seines Organisationstalents all gemein geschätzt wurde, bekam sie nur selten zu Gesicht. Es stellte sich bald heraus, daß der Nyhuushof von allen am ärgsten betroffen war. So kam es, daß Antje mit am längsten auf dem Harmshof blei ben mußte. Sie wich kaum von der Seite ihrer ehemaligen Nebenbuh lerin. Ohne große Worte war eine Freundschaft entstanden, die an scheinend durch kein Fünkchen Eifersucht mehr getrübt wurde. Viel leicht lag das an Klaus Öhlert. Die Öhlerts waren die südlichen Nachbarn der Familie Nyhuus. Jah relang hatten sie miteinander im Zwist gelebt. Seit den frühesten Kin dertagen war Antje eingeimpft worden, ein Umgang mit Klaus Öhlert, dem einzigen Sohn, käme niemals in Betracht. In der Unglücksnacht aber hatte es sich so ergeben, daß die beiden feindlichen Dickschädel sich plötzlich – friedlich nebeneinandergebettet – im Kreiskranken haus wiederfanden. Nachdem sie sich lange genug grimmig gemustert hatten, wollte Öh lert dem anderen eins versetzen: »Skiunfall?« fragte er mit listigem Blick auf den frischen Gips, der Nyhuus' Unterschenkel umhüllte. Ny huus wollte aufbegehren, besann sich aber eines Besseren. Er streck te den Zeigefinger aus und deutete auf den Kopfverband, den Öhlert trug, weil ihm ein herabstürzender Balken eine Platzwunde zugefügt hatte, und fragte nicht weniger tückisch: »Dachschaden?« Da mußten beide lachen. Und wie so oft wurde befreiendes Geläch ter zum Beginn einer versöhnenden Aussprache. Als Klaus Öhlert sei nen Vater am nächsten Tag aufsuchte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Er durfte zum erstenmal mit dem Nyhuusbauern sprechen! Und er durfte, da ihn der Weg zum Deich über den Harmshof führ 351
te, sogar schöne Grüße für Antje mitnehmen. Klaus deutete das Au genzwinkern des Nyhuusbauern als ermunternde Aufforderung, sich des hübschen Mädchens ein bißchen anzunehmen, und handelte ent sprechend. Natürlich freute sich niemand mehr als Elke über die Freundschaft, die sie hier keimen sah. Und sie empfand noch größere Erleichterung, als Antje ihr eines Tages anvertraute: »Klaus ging es ebenso wie mir. Schon im Konfirmandenunterricht hat er dauernd zu mir herüberge schielt. Wenn unsere Eltern uns nicht verboten hätten, miteinander zu reden – wer weiß?« Dann war es eines Tages soweit. Die gröbsten Schäden waren ausge bessert. Eine Familie nach der anderen kehrte auf ihren Hof zurück. Jetzt galt es, auch auf dem Harmshof wieder Ordnung zu schaffen. Fünf Tage brauchten die Frauen, dann hing die große Wäsche an der Leine, und in den Stuben und Ställen blitzte es wieder wie vor der Sturmnacht. Zur Feier des Tages hatten sich alle beim abendlichen Teepunsch im Wohnzimmer der alten Harmshofleute zusammenge setzt. Aufatmend nahm einer nach dem anderen Platz. Aber es kam keine Unterhaltung in Gang. Mutter Ostwald war die erste, der die Augen zufielen. Wenig später rutschte die alte Bäuerin im Ohrensessel in sich zusammen. Sie war eingenickt. Bald gähnte auch Gregor Ost wald, und der Großknecht kam mit seiner Stirn der Tischplatte ver dächtig nahe. Nach der Entspannung machte sich die allgemeine Erschöpfung doppelt bemerkbar. Frank blickte zu Elke hinüber, die ihm gegenübersaß. Er suchte den Blick ihrer großen, dunkel glänzenden Augen. Es dauerte eine Weile, bis er erschreckend begriff, daß das Mädchen ihn gar nicht anschau te, sondern irgendwohin – nach innen oder in weite Fernen – starrte. »Elke!« rief er leise hinüber. Da fuhr sie zusammen. Ihr Lächeln wirkte wehmütig. »Was ist denn, Elke?« fragte er. »Wollen wir lieber noch ein paar Schritte ums Haus gehen?« Sie folgte ihm wortlos. Draußen legte er den Arm um ihre Schultern. Sie gingen die Auffahrt 352
entlang zur Straße. Frank suchte eine Erklärung für Elkes Schweigen. Als er glaubte, sie gefunden zu haben, sagte er: »Ja, und nun muß ich wieder zur Universität zurück. Aber keine Angst, ich bleibe ja nicht lange. In sechs Wochen bin ich schon wieder da, mein Kleines! Und bis dahin ist sicher alles mit den Papieren klar. Dann wird geheiratet.« Keine Antwort. Statt dessen fühlte er Elkes Schultern beben. Er tastete nach ihrem Gesicht, um es zu streicheln, und spürte Feuchtigkeit. Elke weinte. Dann brach es plötzlich aus ihr hervor: »O Frank, ich habe solche Angst! Weißt du, die letzten Tage waren die glücklichsten meines Le bens. Ich fühlte mich endlich wie ein Mensch unter anderen Men schen. Ich glaubte, alles von der alten Geschichte wäre vorbei. Und jetzt? Ich habe Angst! Ich fühle, daß ich sterben muß!« Frank konnte vor Erschütterung kein Wort erwidern. Er schloß sie in die Arme und spürte plötzlich, daß Elke glühendheiß war. Dann fing sie wieder zu zittern an, und schließlich wurde ihr Körper schlaff. Er mußte sie halten, damit sie nicht zu Boden sank. Da hob er sie mit beiden Armen hoch und trug sie zum Hof zurück.
Dr. Hagedorn, der in einem Wirtshaus des Geestdorfes wohnte, in dem der Verbandsplatz errichtet worden war, kam noch in der Nacht. Aus Franks Anruf schließend, daß es sich um eine besonders schwe re, ernst zu nehmende Vision handelte, hatte er sofort mit Professor Schneider in Bad Wildenbrunn telefoniert. Schneider hatte sofort zu gesagt, auf den Harmshof zu kommen. Was Dr. Hagedorn dann aber bei der ersten Untersuchung feststellen mußte, ließ vielmehr auf eine beginnende Lungenentzündung schlie ßen. »Sie muß ins Krankenhaus«, sagte der junge Arzt, als er Elke abge horcht und die Temperatur gemessen hatte. Aber er hatte nicht mit dem Widerstand der Harmshofleute gerech 353
net, die ihre Enkeltochter unter dem Eindruck von Frank Ostwalds alarmierendem Bericht nicht aus dem Hause lassen wollten. Elke hatte hohes Fieber. Sie wälzte sich schweißgebadet im Bett und stöhnte wie in Höllenqualen. Manchmal schien sie einzuschla fen. Dann begann sie zu phantasieren. »Frank, Frank!« und »Hilf mir doch!« war das einzige, was man verstehen konnte. Frank blieb die ganze Nacht an ihrem Bett sitzen, obwohl ihr die Medikamente einen ruhigen Schlaf verschafften. Soviel Liebe wie in den kommenden Tagen hatte Elke im Leben nicht erfahren. Alle um sorgten sie in rührender Weise. Auch die Nachbarn kamen, um nach ihr zu schauen. Frank begegnete manchmal dem ironischen Blick Dr. Hagedorns und wußte, daß der junge Arzt dasselbe dachte wie er: Sie alle, die alten Bauersleute und seine Eltern, hatten sich nicht schützend vor das arme Mädchen gestellt, als es Jakobus Schwenzen noch mit sei nem Haß und seinen abergläubischen Verleumdungen verfolgte. Woll ten sie jetzt – getrieben vom schlechten Gewissen – nachholen, was sie versäumt hatten?
Professor Schneider wußte nicht recht, wozu man ihn hatte kommen lassen. »Sagen Sie mal, Hagedorn, was haben Sie sich eigentlich dabei ge dacht? Sie holen einen Spezialisten für die Grenzgebiete der Wissen schaft aus Süddeutschland, um sich von ihm allenfalls als Nachtwache bei einer simplen Lungenentzündung vertreten zu lassen?« Als Dr. Hagedorn eine Entschuldigung stammelte, fügte er lachend hinzu: »Lassen Sie's gut sein, lieber Freund. Es war nicht so gemeint. Sie haben genau das Richtige getan. So enttäuscht ich sein könnte, daß sich wieder mal ein scheinbar hundertprozentiger Fall von außersinn licher Wahrnehmung bei genauerer Betrachtung in Nichts aufgelöst hat, so froh bin ich darüber um Undines willen.« »Wir sind uns also einig«, sagte Hagedorn, »daß dieser letzte Angst 354
zustand nichts mit Visionen, Hellgesichten und ähnlichem Zeug zu tun hatte?« »Selbstverständlich! Die Todesangst war doch natürlicher Herkunft! Sie war durch den körperlichen Zustand begründet. Wir können nur dankbar sein, daß der heimtückische überfall auf den ohnehin er schöpften Organismus sich auf diese Weise gerade noch rechtzeitig an gekündigt hat«, fügte Professor Schneider abschließend hinzu.
Elke war bereits wieder auf den Beinen, als eines Vormittags Wacht meister Brodersen angeradelt kam. »Ich soll nachfragen, ob sich hier noch Sachen von diesem Gauner Schwenzen befinden. Es geht um Pa piere und so was. Vielleicht auch um Geld.« Da den Harmshofbauern und den Ostwalds weiter nichts bekannt war, gingen sie nach oben in die Kammer, in der Schwenzen zeitwei lig übernachtet hatte. Auch in diesem Raum hatten inzwischen an die zehn Personen gewohnt. Man fand zunächst nichts. Dann aber erin nerten sich Elke und Frank an das, was ihnen Antje Nyhuus in der Sturmnacht erzählt hatte. »Schauen Sie hinter dem Spiegel nach«, for derte Frank den Polizisten auf. Da zog Brodersen den gelblichen, dik ken Briefumschlag hervor. »Hoffentlich hat ihn noch keiner von euch angefaßt. Wir können das nämlich feststellen«, sagte er wichtigtue risch. Er schob den Fund in seine Ledertasche. »Das hätten wir also. Na schön, die Kripo, die sich dafür interessiert, wird wohl noch bei euch hereinschauen in den nächsten Tagen.« Er trank noch eine Tasse Kaffee bei den Ostwalds. Dann stieg er aufs Rad und fuhr davon. Die Kriminalpolizei der Kreisstadt erschien schon am nächsten Nachmittag. Drei Mann kamen gleichzeitig, um die Vernehmungen rasch hinter sich zu bringen. Jeder kam dran. Frank und Dr. Hagedorn wollten sich schützend vor Elke stellen. Aber das Mädchen sagte ru hig: »Warum? Natürlich will ich aussagen. Ihr braucht keine Angst davor zu haben, 355
daß ich mich über Schwenzen noch aufrege.« Der einzige, der während der Anwesenheit der Kripo einen gewaltigen Schreck bekam, war der Harmshofbauer. Man fragte ihn, ob er Schwenzen bevollmächtigt hät te, den Verkauf des Harmshofes einzuleiten. »Was, Verkauf?« rief der alte Bauer und mußte sich an der Tisch kante festhalten, als er erfuhr, daß Schwenzen bereits gegen stattliche Summen das Vorkaufsrecht weitergegeben hatte. »Gründlich, wie er ist«, sagte der Kriminalbeamte, »hat er sich gleich von zwei Interessenten je zehntausend Mark zahlen lassen. Nun, der größte Teil des Betrages ist sichergestellt. Dreitausend Mark befanden sich im gelben Briefumschlag, in dem außerdem das Sparkassenbuch mit den Eintragungen über die Restsumme war. Die Leute können also ihr Geld zurückbekommen.« Am Vorabend des Tages, an dem Frank Ostwald, Professor Schnei der und Dr. Hagedorn gemeinsam nach Süden fahren wollten, kam noch einmal Besuch auf den Harmshof. Diesmal hatte sich der Untersu chungsrichter höchstpersönlich bemüht, um ›noch einige Dinge zu klä ren‹, wie er es nannte. Frank hingegen argwöhnte, ihn hätte die Neugier de hergetrieben, die seltsame ›Hexe‹ selber in Augenschein zu nehmen. Hinterher gab er zu, daß er dem Mann möglicherweise Unrecht ge tan hatte. Obwohl er lieber den letzten Abend mit Elke allein verbracht hätte, mußte er eingestehen, daß der Jurist eifrig und sachkundig be müht war, sich Klarheit zu verschaffen. In der Diskussion, die man anschließend beim Punsch in der Wohn stube führte, wurde schließlich auch die Frage laut: Konnte Elke nun damit rechnen, vor den niederträchtigen Verleumdungen Schwenzens oder gar vor Racheakten sicher zu sein? »Ich brauche nicht zu sagen, daß ich darauf keinen Einfluß habe«, sagte der Untersuchungsrichter. »Ich äußere also eine ganz private Meinung. Erwarten Sie nicht zuviel Strafe für seine Hexenbannertätig keit. Für die Niederträchtigkeit, jemand mit seiner Umwelt zu verfein den, indem man ihn Hexe schimpft, finden sich im Gesetzbuch nur so verhältnismäßig zahme Begriffe wie Beleidigung und üble Nachrede. Daraus resultieren selten Freiheitsstrafen.« 356
»Das ist doch unfaßbar«, warf Dr. Hagedorn ein, »er hat ja sogar nachweisbar einen Mord an dem Mädchen versucht.« »Das ist ein anderes Kapitel. Bitte, ich glaube nach meiner Kenntnis der Dinge auch, daß es ein Mordversuch war. Bisher behauptet Schwen zen jedoch, es sei ihm nur auf das Medaillon angekommen. Beweisen Sie ihm das Gegenteil. Es ist sehr die Frage, wie das Gericht auf Hyp nose oder Suggestion als Mittel zum Mord reagiert. Ich bin mir nicht sicher, daß man ihm den Mordversuch beweisen kann.« »Glauben Sie etwa, daß der Lump gar nicht hinter Schloß und Riegel kommt?« fragte Frank Ostwald. »Aber natürlich. Da ist doch dieser großangelegte Betrug mit der fal schen Harmshoferbin. Da ist ferner der Einbruch, der versuchte Raub der Schmuckstücke und der versuchte Totschlag an der Harmshof mutter. Auch der Drogenmißbrauch, verbunden mit der an der Ny huustochter verübten gefährlichen Körperverletzung, wird ihm noch genügend einbringen. Alles in allem ergibt sich doch das Bild eines ge fährlichen Gewohnheitsverbrechers. Einige Jahre sind ihm sicher. Und dann wird er noch soweit unter Kontrolle stehen, daß er sich besser nach einem anderen Beruf umsieht.« Der Untersuchungsrichter trank einen Schluck. Er sah Elke lange prüfend an. Schließlich sagte er: »Es ging um die Frage: Sind Sie jetzt sicher vor Schwenzen? Ich habe versucht, den juristischen Teil der Ant wort zu geben. Es gibt noch eine andere Seite, die ganz bei Ihnen selber liegt, bei Ihnen und den Menschen Ihrer Umgebung.« Professor Schneider sah den fragenden Blick in Elkes Augen. Er sprang in die Bresche. »Ich weiß, auf was Sie hinaus wollen. Was Undine betrifft« – Schnei der hatte sich immer noch nicht an den neuen Namen gewöhnt –, »so kann ich Sie beruhigen. Zwei Dinge waren es, die früher ihr, na, sa gen wir ›seltsames Wesen‹ bedingten. Erstens: Ihre Einsamkeit, an der die Menschen auf der Insel schuld waren. Zweitens: Ihre auf ei nen frühen Schock zurückzuführende hochgradige Wetterempfind lichkeit. Beides ist überwunden. Von Einsamkeit kann keine Rede mehr sein. Undine ist ins Vaterhaus heimgekehrt, und sie ist, wenn 357
mich nicht alles täuscht, auch sonst in festen Händen.« Er lächelte Frank Ostwald zu. Dann wandte er sich an den Untersuchungsrich ter: »Ja, Herr Doktor, ich glaube, daß unsere ›Hexe‹ jetzt von einem großen Kreis Menschen umgeben ist, die sie besser vor Schwenzen schützen als – mit Verlaub – Ihre schwedischen Gardinen. Was aber die Wetterempfindlichkeit betrifft, so scheint mir auch sie überwun den. Undine wurde mit ihr fertig, als sie in der Sturmnacht über sich selber hinauswuchs und – ich sage das ganz ohne Pathos – für Antje Nyhuus ihr Leben riskierte. Die fürchterliche Prophezeiung, wegen der ich hergekommen bin, war bekanntlich nichts als die berechtig te Angst einer Kranken und hat sich – Gott sei Dank – nicht bewahr heitet. Nein, ich habe keine Befürchtungen mehr, was Undine be trifft. Sie ist eine ganz normale junge Frau, wenn man davon absieht, daß sie besonders reizend ist. Sie hat alle Aussichten, sehr glücklich zu werden.« Er trank dem Mädchen zu. Der Untersuchungsrichter schloß sich an und verabschiedete sich anschließend. Zu Professor Schneider sagte er noch: »Ich glaube, wir sind uns dar über einig, daß die juristischen Konsequenzen immer unbefriedigend bleiben müssen. Auf der Anklagebank sollte immer auch die Dumm heit sitzen, der Aberglaube, der dem Schwindel Vorschub leistet!« Der nächste Morgen war sonnig und kalt. Die Wasserlachen und Gräben im weiten Marschland waren mit Eis bedeckt und blitzten im hellen Licht. Alle Bewohner des Harmshofs standen vor dem großen Dielen tor, als die drei Männer ihr Gepäck im Wagen Professor Schneiders verstauten. Der alte Bauer drückte Frank Ostwald lange und fest die Hand. »Komm bald wieder, mein Junge«, sagte er. »Außer dem Mäd chen wartet auch der Hof auf dich.« Die Harmshofbäuerin vergoß Tränen der Rührung und der Dank barkeit. Sie beschwor die Herren aus Bad Wildenbrunn, recht bald zu Besuch zu kommen. Der Professor zeigte lächelnd auf Hagedorn. »Unser guter Doktor wird es sich nicht zweimal sagen lassen. Wie ich ihn kenne, wird er so 358
wieso während der Ferienzeit wieder eine Vertretung in dieser Gegend übernehmen.« Hagedorn versuchte zu lächeln. Es mißlang. Achselzuckend wand te er sich ab. Da ging Elke zu ihm hin. Sie wußte, was ihn bewegte. »Bitte, lieber Doktor, kommen Sie! Sie wissen, ich würde mich darüber freuen.« Sie küßte ihn flüchtig auf die Wange und fügte flüsternd hinzu: »Trotz al lem!« Hagedorn und Schneider saßen schon längst im Wagen, als Frank Elke in die Arme nahm. Sie küßten sich, bis die Autohupe ungeduldig dazwischenfuhr. Da trennten sie sich, und Frank stieg ein. Bevor er die Autotür zu zog, sagte er: »Mach's gut, Elke. Paß auf dich auf. Du weißt, was ich meine!« »Keine Angst, Frank«, erwiderte das Mädchen. »Ich werde dich nicht enttäuschen. Nur einen Wachtraum mußt du mir noch gestatten. Von ihm komme ich nicht los.« Und ehe er etwas entgegnen konnte, fuhr sie fort: »Ich träume näm lich Tag und Nacht von unserer Hochzeit.« Frank lachte befreit, und Professor Schneider rief: »Darüber brauchen Sie sich nun wirklich kei ne Gedanken zu machen, junger Freund. Das ist völlig normal! Davon träumen alle verliebten Mädchen in der ganzen Welt.«
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