Erich Buchholz • Überwachungsstaat
Erich Buchholz
Überwachungsstaat Die Bundesrepublik und der „Krieg gegen den Terror“
kai homilius verlag – COMPACT
© Kai Homilius Verlag 2008
COMPACT – Nr. 3
Kai Homilius Verlag
www.kai-homilius-verlag.de Email:
[email protected] Autor: Druck: ISBN:
Erich Buchholz Printed in E.U. 978-3-89706-403-4
Inhaltsverzeichnis
Die Datenflut – Gefahr für die Bürger ......................................................7 Der Anfang … ........................................................................................12 Kampf gegen den Terror – schon vor vierzig Jahren .................................14 Auch gegen gewaltlose Demonstrationen ................................................20 Eine – zufällige? – Korrektur! ..................................................................27 Weitere Verschärfungen im „Kampf gegen den Terrorismus“ ...................28 Das Volkszählungsurteil ..........................................................................31 Datenschutz , Verfassungsschutz und BND . ...........................................33 Polizeiliche Prävention gegen rechtsstaatliches Strafen .............................39 Bis zum „Großen Lauschangriff“ .............................................................51 Der Spruch des BVerfG dazu . .................................................................54 Abweichende Meinungen! .......................................................................62 Was bleibt? ..............................................................................................66 Ein verfassungsgemäßes Gesetz? ..............................................................67 Zum Menschenrecht der Privatheit .........................................................70 Zufällige Zusammenhänge? Auch Strafschärfungen! ................................72 Einfluss der DDR auf diese Entwicklung? ...............................................74 Fleißiger Gesetzgeber ..............................................................................75 Schon DNA – Vorratsdatenspeicherung ..................................................77 Gegen den internationalen Terrorismus! Datenspeicherung auf Vorrat! ...85 Wem nutzt die Massenspeicherung? ........................................................87 Das Teleüberwachungsgesetz – Vorratsdatenspeicherung .........................94 Weitere Entscheidungen des BVerfG zu Grundrechten der Bürger ..........97 Kautschuk zum Quadrat Terrorkeule gegen links....................................105 Eine neue „Sicherheitsarchitektur“ ........................................................109 Weitere neue Ideen zum Ausbau des Überwachungsstaats .....................114 Ein gefährlich falscher Weg! ..................................................................122 Ein Böser Traum ...................................................................................126 Abkürzungsverzeichnis ..........................................................................127
Die Datenflut und Gefahr für die Bürger Seit einigen Jahren überschütten uns die Medien mit den verschiedensten Nachrichten über geplante, praktizierte oder inzwischen Gesetz gewordene Maßnahmen oder Eingriffe in die Privatsphäre und die Freiheitsrechte der Bürger. Der jüngste – aber noch nicht der letzte – Anschlag auf die Freiheitsrechte der Bürger ist das Gesetzgebungsverfahren für ein neues Gesetz für das Bundeskriminalamt (BKA) mit weitreichenden Befugnissen, nach dem auf den „Großen Lauschangriff“ nun der „Große Spähangriff“ folgen soll. Ende Mai 2008 fand an der Berliner Humboldt-Universität ein Colloquium zum Thema „Sicherheitsstaat“ statt, das die Aktualität dieses Themas verdeutlicht. Neulich zitierte Dr. Stefan Wohanka in seinem Aufsatz „Die Anwaltschaft – auf der Seite der Freiheit“ Ulrich Schellenberg aus dessen Aufsatz „Schön, dass Sie da sind“: „Kaum eine Woche ist in den letzten Monaten vergangen, ohne dass eine neue Alarmmeldung, ein neuer Vorschlag zur Verschärfung bestehender oder zur Einführung neuer Sicherheitsgesetze durch die Medien gegangen wäre.“
Bei den neuen Sicherheitsmaßnahmen, mit denen in die Privatsphäre und in die Freiheitsrechte der Bürger eingegriffen, eingedrungen wird oder werden soll, ging und geht es um:
• Schleppnetzfahndung; • lückenlose Videoüberwachung, nicht nur auf öffentlichen Plätzen, in Bahnhöfen und auf Flughäfen, sowie vor öffentlichen Gebäuden, besonders auch bei Demonstrationen, sondern auch in Geschäften, Hotels, Gaststätten und selbst in Intimbereichen von Angestellten (bei Lidl) sowie in Wohnungen von Verdächtigen; • Vorratsdatenspeicherung; • den Abgleich oder Austausch von Daten aus dem Flugverkehr mit den USA, sowie zwischen Polizei- und Geheimdienststellen; • Fingerabdrücke in Ausweisdokumenten; • biometrische Pässe;
Es geht um die visuelle Überwachung von Wohnungen unter Nutzung der Web-Kameras der Computer.
• heimliche Online-Durchsuchungen privater PCs und v. a. m.
Schon ist von einem „Staatlichen Datenhunger“ die Rede. Außerdem spielt die Datenerfassung und -speicherung auch im Bereich der Sozial-, Gesundheits- und Steuerbehörden eine wachsende Rolle. Auch außerhalb der Behörden wird heimlich gelauscht, photographiert und mit Videokameras aufgenommen – so durch private Detekteien oder Geschäftemacher. Dabei darf nicht übersehen werden, in welchem Umfang die Bürger, die Telefon, Handys, EC-Karten, Chips, Internet etc. nutzen, selbst Dritten Möglichkeiten bieten, ihre höchstpersönlichen Daten zu erfahren, zu nutzen bzw. zu missbrauchen.
Nicht nur die Ortung und damit das Nachvollziehen der Bewegung der Nutzer von Handys, eines Bewegungsprofils, eröffnet sich, auch individuelle „Persönlichkeitsprofile“ lassen sich z. B. für Versicherungen, für Verkaufsangebote und andere wirtschaftliche Zwecke erstellen. War schon vor langer Zeit das Wort vom „gläsernen Bürger“ im Schwange, so spricht man heute vom „gläsernen Arbeitnehmer“ und vom „gläsernen Patienten“: Aufgrund der Entwicklung der Technik holen sich die „Arbeitgeber“ alle Daten über ihre „Arbeitnehmer“ herein und weil in den meisten Arztpraxen alles per (vernetzte) PC’s „festgehalten“ wird und der GesundheitsChip geplant ist, steht der Patient bald nackt vor Fremden...
Warum ist dies möglich? Besonders in den letzten Jahrzehnten ermöglichte die rasant vorangeschrittene Entwicklung der Tech nik, besonders der Datenerhebung und -übermittlung, eine immer weiter um sich greifende Datennutzung, wie auch ihren Missbrauch. Es handelt sich im Wesentlichen um folgendes: Digitalisierung von Informationen, deren massenhafte Speiche rung, Verknüpfung und Erschließung. Revolutionierung des Aus tauschs, des Vergleichs und der Bewertung von Informationen, bei weltweiten Zugängen. Miniaturisierung und Vervollkommnung
Der Beginn der „elektronischen Revolution“ wird auf 1947 datiert. – Die „eigentliche“ elektronische Revolution wird auf das Jahr 1955 zu datieren sein, als Silizium-Transistoren in die Computertechnologie Eingang fanden. – 1958 wurde der erste Mikrochip entwickelt. Nach 1990 trat die massenhafte praktische Nutzung im Alltag deutlich in Erscheinung.
der Technik zur Aufnahme, Speicherung und Übermittlung von Text-, Ton- und Bildinformationen. Satellitengestützte Ortung von Geräten und Dokumentation von Örtlichkeiten. Überfüh rung der modernen Informationstechnik in alle Bereiche: Behör den, Kommunikation, Verkehrswesen, Wirtschaft, besonders bei Banken und Versicherungen, Dienstleistungen, Gesundheits wesen, Bildung, Kultur und Privathaushalten.
Damit ist die totale Überwachung der Bürger potentiell möglich geworden. Jedes Handy kann zur „persönlichen Wanze“ umfunktioniert, jede Web-Kamera für eine visuelle Überwachung genutzt, jedes GPSSystem zur Kfz-Kontrolle eingesetzt werden.
Sämtliche erfassten Daten, auch ausschließlich für private Zwecke auf PC gespeicherte Daten, können abgerufen und nach beliebigen Gesichtspunkten ausgewertet werden. Vor allem darf nicht vergessen werden, dass diese Entwicklung stets mit militärischen Interessen in Verbindung steht, zumal daran die Rüstungsindustrie verdient. Im „Kalten Krieg“ nahm die Entwicklung der elektronischen Technik eine zentrale Rolle ein, insbesondere zu dem Zweck, die Sowjetunion sich „tot rüsten“ zu lassen. Dazu gehörte auch die die Prinzipien des internationalen Handels verletzende COCOM-Liste. So hat die Entwicklung der informationstechnischen Systeme in den letzten Jahren Möglichkeiten eröffnet, die zuvor nicht vorstellbar waren. Aber nirgends und niemals ist allein die Technik „schuld“. Ob und wie technische Möglichkeiten für welche Zwecke genutzt werden, hängt von der Gesellschaft, von den politischen und wirtschaftlichen Mächten, aber auch von der ihnen dienstbaren Rechtsordnung ab. Im Gegensatz zu vielfältigen Bedenken und Sorgen schreibt ein Lothar Kleinen in seinem Beitrag „Keine Tabuzone“:
Anfänge dieser Nutzung technisch-elektronischer Entwicklungen waren bereits im zweiten Weltkrieg überdeutlich zu erkennen, als mit Funkmessgeräten (Radar) die Bombenfliegerpulks der US- und der britischen Luftwaffe geortet wurden; im Einzelfall gelang sogar ein Abschuss. COCOM = Coordinating Commitee: das eine Liste von Gütern zusammenstellte, die nicht in die Ostblockländer geliefert werden dürfen.
„Die Diskussion über Bürgerrechte und Bürgerfreiheit im Internet versus staatliche Kontrolle (muss) ideologiefreier als bisher geführt werden. Das Internet darf keine Tabuzone für polizeiliche Überwachung zu Gunsten aller möglichen Arten von Kriminalität sein. Unter rechtstaatlicher Aufsicht muss sich die Polizei wie bei jeder anderen Fahndung auch im weltweiten Netz auf Jagd nach Kriminellen begeben können. Der Datenschutz darf das Internet nicht zum Schutzraum für Verbrecher machen.“
Unter dem Motto der „Ideologiefreiheit“ fordert er „unbegrenzt Fahndungsfreiheit“ für die Polizei – ohne Rücksicht auf die Grundrechte der Bürger! Das ist bedrohlich, beängstigend! Die Forderung nach Ideologiefreiheit ist mir in meinem langen Leben öfter begegnet. Ideologiefreiheit fordern immer jene, die der prinzipiellen Diskussionen ausweichen und sich hinter „Sachzwängen“ verstecken wollen, also diejenigen, die die grundsätzliche Auseinandersetzung, so in unserem Fall die Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen Bürgerrechten und -freiheit auf der einen und staatlicher Sicherheit auf der anderen Seite, scheuen. Solcher – bösartigen – Forderung nach „Ideologiefreiheit“ im Interesse der Fahndungsfreiheit der Polizei muss im Interesse der Freiheit der Bürger widerstanden werden! Die Überwachung der Bürger und die Eingriffe in ihre Privatsphäre durch Dritte ist heute ein umfassendes gewaltiges Thema geworden. Wir konzentrieren uns in diesem Büchlein auf die staatlichen Eingriffe in Bürgerrechte, auf die Entwicklung der BRD zu einem Überwachungs- und Sicherheitsstaat. Nach dem GG und den dort verankerten Grundrechten haben die Bürger gegen den Staat einen Rechtsanspruch auf Wahrung und Achtung ihrer Grundrechte, so ihres allgemeinen Freiheitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG), ihres Rechts auf Beachtung des Brief, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) und auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG). Vor Jahren gab es die Diskussion um den „Großen Lauschangriff“, die die damalige Bundesjustizministerin, Leutheuser-Schnarrenberg (FDP), aus prinzipiellen Gründen veranlasste, ihren Sitz im Kabinett zur Verfügung zu stellen. Dabei ging und geht es nicht mehr 10
nur um das Lauschen, also das heimliche Abhören von fremdem Wort, so am Telefon, sondern in der Wohnung – wirklicher oder vermeintlicher – Verdächtiger. Das Argument derjenigen, die diese Überwachung allüberall gegenüber jedermann fordern, ist einfach: es gehe um den Schutz vor Kriminalität, vor Terrorismus und vor allem möglichen. Nachdem US-Präsident George Bush kurz nach den Anschlägen am 11.9.2001 den „Krieg gegen den Terror“ ausrief, boomte diese Entwicklung, auch in der Bundesrepublik in einem zuvor unbekannten Um fang. Was würde am Ende der Fahnenstange dieser praktizierten und geforderten Maßnahmen und Sicherheitsgesetze stehen? Haben uns diese Sicherheitsbefürworter irgendwo und irgendwann mitgeteilt, wie weit sie und bis wohin sie gehen wollen, wo für sie eine absolute Grenze ist oder sein wird? Nein, ganz im Gegenteil: ihre Forderungen nach mehr Sicherheitsgesetzen, die üblicherweise nach der Salamitaktik stets nur stückweise erhoben werden, sind letztlich grenzenlos! Wenn Sicherheit und Schutz vor – wirklicher oder vermeintlicher – Kriminalität und vor – realer oder angenommener – Terrorgefahr zum obersten Prinzip einer Gesellschaft würden, würde aus dem Staat ein Sicherheitsstaat, ein Überwachungsstaat. Bürgerrechte, bürgerliche Freiheiten würden der Vergangenheit angehören. Schon heißt es unter Juristen, der das Freiheitsrecht der Bürger verankernde Art. 2 GG müsse nach dem 11. September 2001 lauten: „Die Sicherheit der Allgemeinheit“ – eigentlich die Staats sicherheit – „steht über der Freiheit des Einzelnen!“ Und es heißt schon: „Der Bürger ist das größte Sicherheitsrisiko!“
Sind wir in dieser Republik nicht schon sehr weit auf diesem Wege? Diejenigen, die für Schutz und Sicherheit vor Kriminalität und Terroristen keine Schranke kennen, wollen letztlich den absoluten Sicherheits- und Überwachungsstaat! Daher ist das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit prinzipiell zu diskutieren! Zunächst sei an dieser Stelle der namhafte Verfassungsrechtler und Verfassungsrichter, Ernst Wolfgang Böckenförde, mit einer bemerkenswerten Aussage zitiert:
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„der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit infrage zu stellen.“
Das ist deutlich genug!
Der Anfang … liegt weit zurück. Daher zunächst ein Rückblick: Was unseren Gegenstand, nämlich das Verhältnis zwischen Frei heit der Bürger und Staatssicherheit betrifft, so war im Grund gesetz in seiner 1949 in Kraft gesetzten Fassung – jedenfalls dem Wortlaut nach – eindeutig der Vorrang der Privatsphäre, der persönlichen Freiheit der Bürger, als Grundrecht gegen den Staat ausgestattet, festgeschrieben. Damals gab es, außer den allgemein anerkannten Schranken der Freiheit durch die rechtlich geschützten Interessen und Belange Anderer bzw. des Gemeinwohls, keine weitere Beschränkung. Seitdem hat sich viel verändert. Auch das Grundgesetz wurde in seinem Wortlaut nach Maßgabe wirklicher oder angeblicher größerer Sicherheitserfordernisse abgeändert und so die Freiheit der Bürger schon durch den geänderten Text des GG deutlich beschnitten. Als erster sichtbarer Eingriff in die Bürgerrechte ist die Ergänzung des Grundgesetzes am 24. Juni 1968 zum Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) zu nennen. Auf Grund dessen wurde das sog. Abhörgesetz, das „Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses“ vom 13. August 1968, das sog. erste G 10-Gesetz erlassen. Die Änderung der geschriebenen Rechtsordnung in den folgenden
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Böckenförde, Ernst Wolfgang: Der Staat als sittlicher Staat In diesem Zusammenhang wurden die § 100a („Überwachung des Fernmeldeverkehrs“) und § 100b („Anordnung und Ausführung“ – desselben) in die StPO eingefügt, – Zuvor waren die so genannte „Kleine Strafprozessreform“ und das „Gesetz zur Änderung der StPO und des GVG“ (StPÄG) vom 19. Dezember 1964 erlassen worden; damit wurde bei Staatsschutzdelikten das Legalitätsprinzip durch eine besondere Möglichkeit des „Absehens von der Verfolgung bei politischen Straftaten“ ausgeschaltet (§ 153d StPO).
mehr als vier Jahrzehnten ist vor allem durch zwei Grundlinien gekennzeichnet: Zum einen geht es (weitgehend aus Kostengründen) um die Vereinfachung der Verfahren, was vor allem eine Verkürzung der Rechte der Bürger mit sich brachte. Zum andern um Ver schärfungen, besonders des Straf-, Strafprozess- und Polizeirechts.
Infolgedessen kann heutzutage, im Unterschied zur Rechtslage des Jahres 1949, – allein unter dem Gesichtspunkt des geschriebenen Rechts – nur mit Einschränkungen von einer rechtsstaatlich aussehenden Grundgesetz-Rechtsordnung gesprochen werden. Zunächst war es das Wirken der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), das die Bundesrepublik total veränderte. Der bundesdeutsche Staat reagierte in preußischer Manier – ähnlich, wie früher berittene Polizei mit Säbeln auf demonstrierende Menschen einschlug oder Militär mit Kartätschen kugeln schoss. Die ganze Macht des Staates, besonders die Polizei, wurde, vielfach jenseits der Legalität, zum Zwecke der Unterdrückung dieser Aktivitäten und zur Strafverfolgung einzelner Personen eingesetzt – als wenn die Grundfesten der verfassungsmäßigen Ordnung angegriffen würden, als wenn eine wirkliche Revolution ante portas stand. Darauf zu überlegen und nachzufragen, woher solche Aktivität von bisher braven Staatsbürgern kam, die unter Teilen der Bevölkerung durchaus Verständnis, zum Teil Sympathie und Unterstützung gefunden hatte, also nach den gesellschaftlichen Ursachen dieses neuen Phänomens der RAF zu fragen, kam man nicht.
Dem Agieren der RAF gingen die Erschießung von Benno Ohnesorg durch die bundesdeutsche Polizei und die Studenten unruhen des Jahres 1968 voraus, mit denen sich bundesdeutsche, besonders Westberliner Studenten gegen das Totschweigen von NS-Verbrechen und gegen den wachsenden unsozialen Gegensatz zwischen Arm und Reich gewandt hatten.
Nach allem, was über die Dimensionen der RAF bekannt wurde, gehörte zu den eigentlichen Aktivisten eine überschaubare, öffentlich namhaft gemachte Anzahl von Personen. 13
Die Aktivisten der RAF kamen bemerkenswerter Weise gerade nicht aus traditionellen revolutionären Arbeiterkreisen, sondern aus den Mittelschichten, aus gebildeten Elternhäusern. Sie waren selbst gebildete, intellektuell hoch stehende junge Menschen.
Aus Zorn über die nicht mehr zu übersehenden Zustände in der Bundesrepublik sowie das Unterlassen des Aufarbeitens der faschistischen Vergangenheit der alten/neuen Herren traten sie in Opposition zu den Herrschenden. Allerdings gingen sie dabei zu absolut unannehmbar kriminellen Aktivitäten des „individuellen Terrors“ gegen einzelne Repräsentanten der von ihnen bekämpften Herrschaftsverhältnisse über. Statt sich mit den diesem Phänomen zugrunde liegenden sozialen und politischen Problemen auseinanderzusetzen, dominierte die militante Bekämpfung der RAF. Rechtsanwalt Hannover: „Es war eine Zeit, in der vernünftige Argumente keine Chance hatten.“
Dieser „Deutsche Herbst“ hat die BRD grundlegend verändert. Sie verlor samt ihres Straf-, Strafprozess- und Polizeirechts ihre rechtsstaatliche Unschuld. Das Sicherheitskonzept regierte über die Freiheitsrechte der Bürger, es wurde bis zum heutigen Tag bestimmend und maßgebend. In der Alternative von Freiheit und Sicherheit setzen alle Bundesregierungen auf die Staatssicherheit – auf Kosten von Menschen- und Bürgerrechten.
Kampf gegen den Terror – schon vor vierzig Jahren! Ausdruck der innenpolitischen Verschärfung, als kurzschlüssige Reaktion auf die Aktivitäten der RAF war das „Gesetz zur Änderung des StGB, der StPO, des GVG, der BRAO10 und des StVollzG“, das erste „Antiterrorgesetz“, vom 18. August 1976, nachdem durch das „Gesetz zur Änderung der StPO“
Beispielhaft seien Andreas Baader und Ulrike Meinhof genannt. Heinrich Hannover in seinen beiden Büchern: Die Republik vor Gericht. Viele dieser jungen BRD-Bürger hatten zunächst ihren Eltern ihre nazistische Vergangenheit vorgeworfen. 10 wegen Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten. 14
vom 7. August 1972 die Einfügung des § 112a StPO (Weitere Haftgründe) mit dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr11 erfolgt war, wodurch eine prozessuale Möglichkeit eröffnet wurde, die auch im „politischen Strafrecht“ eine Rolle zu spielen vermag.12 Dieses Gesetz reagierte damit auf die Aktivitäten der RAF. Das Gesetz von 1976 betraf auf strafrechtlichem Gebiet vor allem die Einfügung des § 129a StGB.13
Diese Vorschrift spielte indessen bei der strafrechtlichen Verfolgung der RAF-Aktivisten, die vor allem wegen Tötungs delikten und Freiheitsberaubung/Nötigung (Geiselnahme) verurteilt wurden, praktisch keine Rolle. Sie eröffnete vor allem der Polizei prozessuale Eingriffsmöglichkeiten, also Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger. Dieses Gesetz stellt keinen selbstständigen Tatbestand auf, sondern lediglich einen Qualifikationstatbestand zu der Straftat der „Bildung krimineller Vereinigungen“ (§ 129 StGB), deren Zweck und Tätigkeit auf die Begehung bestimmter schwerer Verbrechen, wie Mord, Totschlag, gemeingefährliche Delikte und Ähnliche, gerichtet ist. § 129a StGB reicht weiter. Vor allem genügt diese Vorschrift nicht dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG; es entbehrt der gebotenen Konturen. Demgemäß besteht die Bedeutung dieser Vorschrift nicht nur in dem gegenüber dem § 129 angehobenen Strafrahmen und der Er weiterung von Strafmöglichkeiten, einschließlich der Möglichkeit der Anordnung von Führungsaufsicht, sondern noch mehr in den an § 129 anknüpfenden Vorschriften über die Strafbarkeit der 11 Als Strafrechtler habe ich zu rügen, dass mit diesem dem Strafprozessrecht fremden, auch als „Sicherungshaft“ bezeichneten „Haftgrund“ in die Prozessordnung strafrechtliche Gesichtspunkte eingeschleust wurden. 12 Bis dahin war dieser Haftgrund mit der Verabschiedung der „Kleinen Strafprozessrechtsreform“ vom 19. Dez. 1964 nur für Sittlichkeitsverbrechen wieder eingeführt worden. 13 Der § 129a StGB ist nämlich kein gewöhnliches Delikt, sondern ein „Organisationsdelikt“; strafbar ist danach schon der, der eine Vereinigung gründet, deren Zweck und Tätigkeit auf die Begehung bestimmter schwerer Verbrechen, wie Mord, Totschlag, gemeingefährliche Delikte u. Ä., gerichtet ist. 15
„Nichtanzeige geplanter Straftaten“ (§§ 138 Abs. 2 und 139 Abs. 3), auch solcher der „Bildung terroristischer Vereinigungen“,14 die nun auch für § 129a gelten.
Als Strafrechtswissenschaftler sehe ich besondere Veranlassung herauszustellen, dass dem Erlass dieses Gesetzes keine hinreichende kriminologische Analyse zugrunde lag: Es war ein adhoc-Gesetz! Von Strafverteidigern wird diese Vorschrift als die Zentralnorm des politischen Strafrechts der BRD bezeichnet. Der Wortlaut dieser Vorschrift ist umfangreich und gewollt unscharf. Nirgendwo findet sich die Definition von „Terrorismus“. Wer wegen dieser Vorschrift vor Gericht steht, dem muss keine konkrete (strafbare) Handlung nachgewiesen werden. Verurteilt werden kann wegen eines „Organisationsdelikts“: Wer als Mit glied der Vereinigung angesehen(!) wird, kann für sämtliche dieser Vereinigung zugeschriebenen Taten zur Verantwortung gezogen werden.
Es handelt sich praktisch um Gesinnungsstrafrecht.
Die Auslegung der Zwecke und Tätigkeiten der betreffenden Vereinigung ist Sache der Gerichte und damit maßgeblich von den Wertvorstellungen der auserlesenen Richter der politischen Strafsenate der OLG15 abhängig.
Diese Vorschrift fungiert oft als „Ausforschungsparagraph“.
Für die Ermittler der Polizei ist es oft weniger entscheidend, ob das jeweilige Verfahren überhaupt gerichtlich eröffnet wird und mit einer Verurteilung endet. Wichtig ist ihnen, dass die Behörde überhaupt und in verschiedene Richtungen ermitteln kann. 14 Während gem. § 139 Abs. 2 StGB ein Geistlicher generell nicht verpflichtet ist anzuzeigen, was ihm in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut wurde, ist ein Rechtsanwalt bzw. Verteidiger gem. § 139 Abs. 3 StGB nur dann nicht verpflichtet anzuzeigen, was ihm in dieser Eigenschaft anvertraut worden ist, sofern er sich ernsthaft bemüht hat, den Täter von der Tat abzuhalten oder den Erfolg abzuwenden. 15 Zuständig insbesondere für Hoch- und Landesverrat (§ 120 Abs. 1 Nr. 2, 3 GVG), für Fälle der Nichtanzeige der „Bildung terroristischer Vereinigungen“ (§ 129a StGB). Aufgrund der Änderung des GVG wurden diese Strafkammern auch für Strafsachen nach § 129a StGB zuständig (§ 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG), was einschließt, dass der Generalbundesanwalt die Anklage vertritt, sofern er das Verfahren nicht an die Landesstaatsanwaltschaften abgibt. 16
Mithin wirkt diese Vorschrift als Kristallisationsnorm. Mit diesem Sonderrecht verfügen die Ermittler über ein prakti kables Instrumentarium, um in die anvisierten, schwer erfass baren Szenen einzubrechen, über den Einzelfall hinaus Kommuni kationsstrukturen zu knacken, Daten zu erheben und Programme des Widerstands erstellen zu können, die nicht nur repressiv, sondern vor allem präventiv und operativ genutzt werden können.
Strafverteidiger wissen, dass in solchen Verfahren Durchsuchun gen zumeist zu langfristiger Wegnahme von Unterlagen, Fest platten, persönlichen Aufzeichnungen, Adresslisten der Betref fenden führen, um deren politische Arbeit zu behindern und weitergehende personenbezogene Ermittlungsansätze eröffnen. Die auf prozessuale Zwecke ausgerichtete Bestimmung, so die Beschlagnahme von Gegenständen, die als Beweismittel von Be deutung sein können, wird so zu anderen – politischen – Zwecken missbraucht.
Hervorzuheben ist: Es wird nicht nur die strafrechtliche Ver folgung verschärft, sondern mit Einschränkungen von Bürger rechten, insbesondere des Rechts auf Verteidigung verbunden:
Über die Anordnung der Haft in Fällen des § 129a StGB (§ 112 Abs.3 StPO) hinaus eröffnete es eine an sich unzulässige Kontrolle des Kontaktes des Strafverteidigers mit seinem Mandanten (§ 148 Abs. 2 StPO, wo § 129a StGB ausdrücklich genannt ist) sowie den Ausschluss eines missliebigen Verteidigers (§ 138a Abs. 2 StPO, wo ebenfalls § 129a StGB ausdrücklich benannt ist).16
Diese Änderungen besaßen besondere Relevanz im Bereich des „politischen Strafrechts“, standen u. a. mit den Aktivitä ten der RAF im Zusammenhang. Um klarzustellen und kei ne Missdeutung zuzulassen: Selbstverständlich ist der Einsatz des Strafrechts gegen Straftaten, auch wenn diese als terroris tisch bezeichnet werden, legitimiert und rechtfertigt spezi fische prozessuale Maßnahmen. Die hiermit angesproche16 Nicht übersehen werden darf, dass Strafverteidiger von wegen „Terrorismus“ Verfolgter Gefahr liefen, als deren „Komplizen“ selbst strafrechtlich verfolgt zu werden! Umgekehrt wurde Angeklagten „strafschärfend“ angelastet, wenn sie sich solche Rechtsanwälte wählten, die auf diesem Gebiet Erfahrung hatten und als solche bekannt waren! 17
nen Bedenken richten sich jedoch dagegen, dass wegen der Bekämpfung von Terroristen generell strafprozessuale Rechte eingeschränkt werden, dass die hier womöglich begründeten Einschränkungen strafprozessualer Rechte generell zur Reduzie rung und Einschränkung prozessualer Rechten, insbesondere im Bereich des Rechts auf Verteidigung, führten. Durch das „Kontaktsperregesetz“ (30. 9. 1977) wurde das Recht des Beschul digten auf Verteidigung, insbesondere der Verkehr mit seinem Strafverteidiger, spürbar beschränkt, weitgehend entleert. Ein weiteres Antiterrorgesetz, das „Gesetz zur Änderung der StPO“ (14. 4. 1978) erweiterte die Möglichkeiten der Durchsuchung (§ 103),17 die Einrichtung öffentlicher Kontrollstellen, sog. Stra ßenkontrollen (§ 111), und der Identitätsfeststellung (§§ 163b, 163c). Auf dem Hintergrund des schwammigen § 129a StGB sind das außerordentlich weitgefasste, Willkür befördernde poli zeiliche Eingriffsbefugnisse! Als Jurist habe ich herauszustellen, dass all diese, in Rechte und Freiheiten der Bürger18 eingreifenden Gesetze weniger auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts er gingen, wo Gerichte über die strafrechtliche Schuld entscheiden, sondern auf dem Gebiet des Prozessrechts, wo vornehmlich der Polizei Eingriffsbefugnisse eröffnet werden. Gerade auf diesem Gebiet haben wir Eingriffe in Rechte und Freiheiten der Bürger zu beklagen und zu rügen. „Antiterrorgesetz“ ist deshalb irreführend, weil es den Eindruck erweckt, es sei nur gegen „Terroristen“ geschaffen worden und gerichtet. Tatsäch lich können unter diese Vorschriften auch verschiedenste andere Vorgänge und Personen fallen, die keineswegs „terroristisch“ sind, zumal die praktische Anwendung dieser Vorschriften zu nächst der Polizei bzw. Staatsanwaltschaft obliegt; eine evtl. 17 Der geänderte § 103 StPO sieht eine spezielle Sondereingriffsbefugnis bei einem angenommenen Verdacht einer Straftat nach § 129a StGB „oder einer der in dieser Vorschrift bezeichneten Straftat“ die Befugnis der Durchsuchung von Räumen, die „sich in einem Gebäude befinden, von dem anzunehmen ist, dass sich der Beschuldigte“ – der einer terroristischen Vereinigung zugerechnet wird! – „in ihm aufhält.“ 18 Beschuldigte und Angeklagte sind nach dem Grundsatz der Unschuldsvermutung solange als unschuldig, als mit ihren Rechten, zu behandeln, bis schließlich eine rechtskräftige Verurteilung vorliegt. 18
zulässige richterliche Überprüfung kommt immer zu spät. Für die Polizei steht die Sicherheit und die Gefahrenabwehr, also die vorsorgliche Abwehr von Gefahren im Vordergrund. Daher bergen diese „Antiterrorgesetze“ stets die Gefahr, dass auch unbescholtene Bürger betroffen werden. Die BRD kam mit diesen Gesetzen dem Überwachungsstaat schon deutlich näher. Hervorgehoben werden muss, dass diese Strafbestimmung des § 129a StGB vor allem im Ermittlungsverfahren, weitreichende prozessuale Eingriffsmöglichkeiten eröffnete, so die Überwach ung des Fernmeldeverkehrs (§ 100a), Durchsuchung auch bei Nichtverdächtigen (§ 103), von Straßenkontrollen (§ 111), An ordnung der Untersuchungshaft (§ 112 Abs. 3) ohne Vorliegen eines Haftgrundes allein wegen des Delikts der „Bildung einer terroristischen Vereinigung“. Damit wurde diese Straftat hinsichtlich der Untersuchungshaft solchen Verbrechen, wie Mord, Totschlag, Völkermord, schwerer Körperverletzung etc. gleichgestellt.19
Schon mit Behauptung des Verdachts eröffnen sich Eingriffe in Freiheitsrechte der Bürger, auch Unverdächtiger und Unbetei ligter. Wenn sich später der Verdacht nicht bestätigt, sich also ergibt, dass in Freiheitsrechte Unschuldiger und Unbeteiligter eingegriffen worden war, heißt es bestenfalls: „Sorry“. Die ergriffene Maßnahme mit ihren Folgen wirkt fort! Unter dem 5. Oktober 1978 wurde, diese Periode abschließend, das „Strafver fahrensänderungsgesetz 1979“ erlassen. Diese Vorschriften, – offiziell – zur Terrorismusbekämpfung ge schaffen worden, wurden indessen weder in der amtlichen Geset zesbegründung noch in der Praxis ausschließlich auf den Kampf gegen die RAF beschränkt; vielmehr standen sie nun als allgemein 19 Bei einer Strafverfolgung nach § 129a StGB kommt die Ausschließung des Verteidigers (§ 138a), ebenso die Einschränkung des Verkehrs des Strafverteidigers mit seinem Mandanten sowie die Durchführung von Überwachungsmaßnahmen gegen den Strafverteidiger des Beschuldigten, so das Anbringen einer „Trennscheibe“ für Gespräche des Verteidigers mit seinem Mandanten, in Betracht. – Ein Verteidiger in Strafsachen wegen § 129a läuft im übrigen Gefahr, als „Vertrauensanwalt“ von Terroristen angesehen zu werden, sodass er ein „Ehrengerichtsverfahren“ riskiert, wenn ihm nicht sogar illegale Unterstützung einer Vereinigung gem. § 129a vorgeworfen wird. 19
gültiges Gesetz im Strafgesetzbuch in der Strafprozessordnung zur Verfügung und hatten Bestand.
Befugnisse, die dem Innenressort, der Polizei, den Ermittlungs behörden, der Staatsanwaltschaft und ihren „Hilfsbeamten“20 einmal eingeräumt wurden, werden von diesen mit Klauen und Zähnen behauptet, nicht mehr aufgegeben – auf Kosten der Freiheit der Bürgerrechte. So entsteht fast zwangsläufig eine ständige Verschärfung zu deren Lasten.
Auch gegen gewaltlose Demonstrationen Nicht nur durch Gesetze wurden Eingriffe in die Freiheitssphäre eröffnet. Auch die Rechtsprechung, besonders die höchstrichterliche, leistete ihren Beitrag zur Einschränkung von Freiheits rechten, vor allem bei der Einschränkung des Rechts auf Meinungs- (Art. 5 GG) und Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), darin eingeschlossen die Demonstrationsfreiheit. Dies wird an der Rechtsprechung zu den „Sitzblockaden“, besonders deutlich. Deshalb sei auf diese näher eingegangen: 1979 hatte die NATO beschlossen, auf dem Bundesgebiet 108 Pershing II-Raketen und 112 Cruise Missiles zu stationieren; der Bundestag erteilte am 22. 11. 1983 die Zustimmung zur Stationierung neuer US-amerikanischer Mittelstreckenrake ten.21 Gegen beide Beschlüsse wandten sich die verschiedensten Kräfte der Friedensbewegung der BRD. Namhafte bundesdeutsche Juristen hatten in Rechtsgutachten nachgewiesen, dass die Stationierung ein Verstoß gegen das Völkerrecht und das GG dar stellt.22 Auf diese Rechtsauffassung gestützt, begannen Anhänger 20 Nach § 152 GVG zählen die betreffenden Beamten der Kriminalpolizei als solche „Hilfsbeamte“. 21 Siehe hierzu auch das von der Bundestagsfraktion „Die Grünen“ ange strengte, letztlich erfolglose Organstreitverfahren; die Antragstellerin rügte, dass die Bundesregierung es unterlassen habe, die für die Zustimmung zur Ausrüstung der US-Streitkräfte mit nuklear ausgerüsteten Ra keten verfassungsrechtlich erforderliche Ermächtigung durch ein Gesetz des Bundestages einzuholen. 22 Rechtsgutachten Prof. Dr. Norman Paechs; Erklärung der VDJ. 20
der Friedensbewegung mit gewaltfreiem Widerstand gegen die Verwirklichung der NATO-Politik: Militärischen Einrichtungen der USA wurde durch Sitzdemonstration die Zufahrt versperrt. Das polizeiliche Einschreiten ließen die Teilnehmer widerstandslos über sich ergehen. Unter den Demonstranten waren auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Wissenschaftler, selbst Richter und Staatsanwälte, stellten sich symbolisch der atomaren Aufrüstung. Eine große Zahl von Bundesbürgern wurde wg. „gemeinschaft
lich begangener Nötigung“(!) gem. § 240 StGB zu hohen Geldoder Haftstrafen verurteilt.23 Im Urteil des AG SchwäbischGmünd vom 12. 6.198624 lesen wir:
„Die Angekl. (bildeten) durch ihren Aufenthalt auf der Straße ein für die blockierten Fahrer praktisch unüberwindliches körperliches Hindernis“; das sei Anwendung von Gewalt! Sie hätten gemäß Abs. 2 des § 240 StGB rechtswidrig25 gehandelt, weil ihnen Rechtfertigungsgründe26 nicht zur Seite stünden; sie können sich insbes. nicht auf die Grundrechte der Meinungs- und Versamm lungsfreiheit gemäß GG berufen! Schon das Sitzen auf der Straße als zum Einsatz gebrachtes Druckmittel wie auch der angestrebte Zweck, nämlich gegenüber den Militärfahrzeugen Zwang zum Anhalten, seien jeweils für sich genommen rechtswidrig. Mit dieser Sitzblockade hätten „die Angekl., denen es um die Rücknahme der Nachrüstung ging, in einer Weise in den Prozess politischer 23 Bis Mitte März 1988 etwa 3.800 Prozesse. 24 Es ging um ein Verfahren gegen einen Universitätsprofessor für Politikwissenschaften und Soziologie sowie dessen Ehefrau. 25 Nach Abs. 2 des § 240 StGB sei Rechtswidrigkeit gegeben, wenn die Gewaltanwendung zu dem angestrebten Zweck als „verwerflich“ anzusehen ist. Die Strafbarkeit dieser Straftat der Nötigung hängt somit voll und ganz von der Bewertung durch das jeweilige Gericht ab 26 Bei dieser Rechtsprechung wirkt sich die von uns wegen Gefahr für die Rechtssicherheit abgelehnte Abhebung der Rechtswidrigkeit und Schuld vom Tatbestand bzw. von der Tatbestandsmäßigkeit zum Nachteil der Angeklagten aus: Die Tatbestandsmäßigkeit konnte man bei ausweitender Auslegung des Begriffs „Gewalt“ (s. u.) ohne weiteres bejahen; dann wurde separat nach einem evtl. vorliegenden Rechtfertigungsgrund gefragt; bei wertender Betrachtung sah das Gericht keinen bzw. wollten die Richter, wie sie das GG verstanden, keinen sehen. 21
Willensbildung eingegriffen“, „wie sie den Vorstellungen des GG schlechterdings nicht entspricht“ – wie es dieses AG versteht!
Wenn es um Krieg oder Frieden geht, wie bei dieser Stationierung, sollen die Bürger brav bleiben, unüberhörbar demonstrieren dürfen sie – nach dem GG – nicht! Demgegenüber weigerten sich einige Gerichte, den uferlos gewordenen Gewaltbegriff des BGH27 zu Grunde zu legen und sprachen die Angeklagten frei; das Tatbestandsmerkmal „Gewalt“ habe nicht vorgelegen.28 Gegen die ausweitende Auslegung des Gewaltbegriffs wandten sich auch verschiedene Rechtswissenschaftler.29 Ganz überwiegend wurde kriminelle Nötigung verneint, weil der mit der Sitzblockade ausgedrückte Protest gegen die den Frieden und das Leben der Menschen bedrohende Raketenstationierung ethisch und nach der Rangordnung der Rechtsgüter30 deutlich höher zu bewerten sei als der ungehinderte Fahrzeugverkehr, sodass von einer Verwerflichkeit nicht die Rede sein könne.31 27 Laepple-Urteil des BGH (8. 8. 1969) und J. Wolter „Verfassungskonforme Restriktion und Reform des Nötigungstatbestandes“. 28 So das AG Reutlingen (18. 7.1984) und AG Münster (26. 10. 1984). 29 Jürgen Baumann, „Demonstrationsziel als Bewertungsposten bei der Ent scheidung nach § 240 StGB?“, er spricht von einer „Ausleierung“ des Gewaltbegriffes nach der Formel: „Gewalt ist, was wie Gewalt wirkt“ oder noch unfreundlicher: „Gewalt ist, was nötigend wirkt“. Traditionell wird Gewalt als Entfaltung körperlicher Kraft (vis absoluta und compulsiva) zur Überwindung eines erwarteten Widerstandes definiert. Wenn man aber auf mögliche Wirkungen abstellt, wird der Gewaltbegriff aus den Angeln gehoben. J. Brink/R. Keller: „Politische Freiheit und strafrecht licher Gewaltbegriff“; sie illustrieren die politische Dimension des vom BGH strapazierten Gewaltbegriffs durch den Hinweis, dass nach „die Blockade einer Straßenbahn oder eines NATO-Transporters Gewalt sei, das Einsperren eines Lehrmädchens im Auto durch den Ausbilder und Geschäftsherrn, der sie dadurch zum Geschlechtsverkehr zwingen will, diese Qualität aber noch nicht haben soll“(!) 30 Nach Art. 2 GG stehen das Freiheitsrecht und das Recht auf Leben im Rang der Rechtsgüter an erster Stelle! 31 AG Stuttgart im Urteil vom 3. 8.1983: „Die in Art. 8 Abs. 2 GG verankerte Demonstrationsfreiheit, deren grundrechtliche Gewährleistung der Verwirklichung des Rechts der Bürger auf über die Wahlen hinausgehende Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung dient, schützt gerade meinungsbildendes Wirken auf andere... Der sinnvollen Grundrechtsausübung ist somit zwangsläufig die Kollision mit der Rechtssphäre unbeteiligter Dritter immanent. Diese 22
Auch das AG Frankfurt a. M. verneint die Rechtswidrigkeit in einem umfangreichen akribischen Urteil vom 19. Juni 1985:32 Es stellt ähnlich wie das AG Stuttgart fest, dass die Bundesregierung mit ihrer Zustimmungserklärung zur Stationierung der NATORaketen auf dem Territorium der BRD Verfassungsbruch begangen habe, da diese Erklärung eine Handlung darstelle, „die geeignet und in der Absicht vorgenommen worden ist, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“ (Art. 26 Abs. 1 GG).33
Gegen einen so schweren Rechtsbruch der Regierung seien die „Sitzblockaden“ ein verhältnismäßiges Mittel. Aufgrund einer Verfassungsbeschwerde von neun Bundesbürgern, darunter ein Kreisamtmann, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Universität und ein Arbeitsrichter, die in Mutlangen zusammen mit 20 Richtern und Staatsanwälten friedlich demonstriert hatten, gegen ihre Verurteilung blieb es im Ergebnis des sich über drei Jahre hinziehenden Verfahrens im Wesentlichen dabei.34 Aus- und Einwirkungen, denen... unter den weiten strafrechtlichen Gewaltbegriff fallende Qualität zukommen kann, könne nicht per se und von vornherein rechtswidrig und darüber hinaus auch verwerflich und somit strafbegründend im Sinne des Nötigungstatbestandes sein... Für das Gericht stellte sich als unerträglicher Wertungswiderspruch dar, Störungen des Straßenverkehrs und die Behinderung Dritter anlässlich von überlieferten Volksfesten und in deren Rahmen veranstalteten Umzügen, Prozessionen... als zumutbar und dem sozialen Zusammenleben nicht abträglich nicht nur stillschweigend zu dulden, sondern durch Verwaltungsmaßnahmen zu fördern und die gleichen Auswirkungen, die durch den massenhaften Körpereinsatz zum Zwecke der Meinungskundgabe im Bereich der politischen Willensbildung von vornherein und ohne Einzelfallprüfung als fraglos sozialwidrig und damit strafbar abzutun“, zumal das „von den Angekl. mit der Demonstration verfolgte Ziel und die mit der Meinungsäußerung behandelte Thematik… von überragender, geradezu existenzieller Bedeutung und allgemeinem öffentlichen Interesse (sind).“ 32 Auf solche Wertungswidersprüche wies auch Jürgen Baumann hin und fragt: „Warum sollte ganz kurzfristige sitzende Belästigung (die mehr „demonstriert“ als nötigt) eigentlich krimineller sein als gehende?“ 33 Hier kam eine andere wertende Betrachtung der Richter – zugunsten der Angeklagten – zum Zuge. – Gegen die Richter, die dieses Urteil gefällt hatten, folgte eine wüste Hetze, die sie als „chaotische Amtsrichter“ beschimpften und von Rechtsbeugung und Strafvereitelung sprachen, sodass der Bund der Richter und Staatsanwälte genötigt war, in einer Erklärung die Unabhängigkeit des Richters zu verteidigen. 34 Nur das Strafurteil des AG Neu-Ulm vom 18. Juli 1984, einschließlich 23
Nach der das Urteil tragenden Meinung der vier Verfassungs richter35 stellte die friedliche Sitzblockade eine strafrechtlich relevante Nötigung dar!36 Das – juristische – Problem lag darin, dass der Gewaltbegriff – schon seit dem Reichsgericht – immer weiter ausgedehnt wurde und unscharf geworden ist.37 Daraus resultiert die Gefahr, dass das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verletzt werde.38 Jedenfalls lässt dieser Richterspruch
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des dieses Urteil bestätigenden Beschlusses des bayerischen Obersten Landesgericht wurde aufgehoben, wobei dem Amtsgericht vorgeworfen wurde, es hätte die „Verwerflichkeit“ gem. § 240 Abs.2 StGB als Kriterium der Rechtswidrigkeit der Tat gesondert geprüft haben müssen. Mit seinem Urteil des Ersten Senats vom 11. November 1986 wurden die übrigen Verfassungsbeschwerden vom BVerfG zurückgewiesen, und zwar wegen der Pattsituation, der Stimmengleichheit der Bundesverfassungsrichter (4 zu 4), sodass nicht durch Urteil festgestellt werden konnte, ob die angefochtene Verurteilung grundgesetzwidrig sei. – Die Gesetzgebung, die wegen der Besetzung der Richterbank mit einer geraden Zahl von vornherein eine Pattsituation und damit die Unmöglichkeit einer gerichtlichen Entscheidung zulässt, muss gerügt werden. Nach § 15 Abs. 2 BVerfGG kann in Verfassungsbeschwerdeverfahren die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung nur bei Stim menmehrheit positiv festgestellt werden. Ein vor dem BVerfG auftreten der Zweifel wirkt sich hier – anders als im Strafverfahren, wo der Grundsatz in dubio pro reo gilt – zu Ungunsten der Beschwerdeführer aus! B. Asbrock, „Die Sitzblockaden-Entscheidung des BVerfG (11. 11. 1986)“; Das BVerfG befasst sich mit dem strafrechtlichen Gewaltbegriff und seiner seit den ersten Ansätzen des Reichsgerichts immer extensiver gewordenen Auslegung. – Die anderen vier Verfassungsrichter erinnern daran, dass sich im Laufe der Zeit eine bedenkliche Ausweitung der Gewaltalternative herausgebildet hat, die „die Grenzen der nach den anerkannten Regeln zulässigen Auslegung überschreitet.“ Mit dem Gewaltbegriff wolle der Gesetzgeber nicht jede Zwangseinwir kung auf die freie Willensentscheidung und -betätigung unter Strafe gestellt wissen; es dürfe nicht dahin kommen, dass praktisch jede Verkehrsbehinderung durch Demonstrationen und ähnliche Menschenan sammlungen – auch bei rechtmäßigen Veranstaltungen – tatbestandsmäßig als Gewalt im Sinne der Nötigungsvorschrift angesehen werde. Die Bejahung nötigender Gewalt bedeute nicht bereits automatisch zugleich die Rechtswidrigkeit der Tat. Die Verwerflichkeit der Gewaltanwendung in Relation zu dem angestrebten Zweck müsse selbstständig und als unver hältnismäßig geprüft werden, andernfalls die als Korrektiv vorgesehene Verwerflichkeitsklausel praktisch gegenstandslos werde. – Nach Ansicht der vier Verfassungsrichter, die das Urteil nicht mittrugen, dürfen die von den Demonstranten verfolgten Ziele nicht außer Acht bleiben, wobei das unmittelbare Nötigungsziel (erhöhte Aufmerksamkeit in der Öf
erkennen, wie höchste Gerichte bei politisch neuralgischen Fra gen im Sinne der Regierungspolitik entscheiden, selbst wenn diese für das Leben der Menschen, auch in der BRD, gefährlich ist. Trotz der Entscheidung des BVerfG, das die Gerichte auf ei ne Verurteilung der Teilnehmer von Sitzblockaden drängen woll te, blieb es bei der kontroversen39 Rechtsprechung der Instanz gerichte. Besonders hervorzuheben ist: Eine solche Beteiligung selbst von Richtern und Staatsanwälten, an Demonstrationen bzw. „Sitzblockaden“ und eine solche kontroverse Spruchpraxis mit politischem Hintergrund hatte es weder zuvor, noch später jemals in der Bundesrepublik gegeben!40 Nunmehr legte das OLG Stuttgart mit Beschluss vom 17. Dezember 1987 dem BGH folgende Rechtsfrage41 vor: „Sind die Fernziele von Straßenblockierern bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung oder nur bei der Strafzumessung zu berücksichtigen?“ Der 1. Strafsenat entschied – ungewöhnlich schnell – in seinem Beschluss vom 5. Mai 1988 zur „Strafbarkeit von Sitzblockaden“. Womöglich anerkennenswerte „Fernziele fentlichkeit) und das Fernziel (Protest gegen die atomare Aufrüstung) zu beachten seien. – Die Gerichte dürften sich der Berücksichtigung dieses Fernzieles nicht mit der Begründung entziehen, dass sie keine Meinung bewerten dürften. Wenn der Gesetzgeber die Strafbarkeit nach § 240 Abs. 2 von sittlicher Wertung abhängig macht, dann dürfe der Richter dies bei der konkreten Abwägung nicht außer Acht lassen. Auch müsse zwischen eigen- und gemeinwohlorientiertem Handeln unterschieden werden. So fern keine erschwerenden Umstände hinzutreten, wie z. B. Behinderung von Krankentransporten, könne von Verwerflichkeit keine Rede sein. 39 Ende April 1988 hatten 62 Entscheidungen die Verwerflichkeit verneint und freigesprochen, 20 die Verwerflichkeit bejaht und verurteilt; in 45 Aufsätzen haben Rechtswissenschaftler die Verwerflichkeit verneint, in zehn Aufsätzen die Verurteilung gerechtfertigt. 40 Die Strafverfolgung von Gegnern der Adensauerpolitik in den 50er Jahren auf der Grundlage des extra zu diesem Zweck geschaffenen 1. StrÄG des Jahres 1951 lag vorwiegend in den Händen ausgesuchter Richter an „Sondergerichten“, darunter viele NS-Richter, und die Strafverfolgung von DDR-Bürgern durch die bundesdeutsche Strafjustiz in den 90er Jahren war von deren in Jahrzehnten anerzogener allgemeiner Distanziertheit oder gar Feindseligkeit gegenüber der DDR beherrscht. 41 § 121 Abs. 2 GVG: will ein OLG bei seiner Entscheidung von der eines anderen OLG oder des BGH abweichen, so hat es die Sache dem BGH vorzulegen! Es wird dann der BGH-Entscheidung zu folgen haben. 25
von Straßenblockierern“ seien nur bei der Strafzumessung zu berücksichtigen; sie bleiben also kriminelle Handlungen!
Das Handeln der Demonstranten wird zu einer Straftat gemacht!
Es sei nicht Sache des Strafrichters die Rechtswidrigkeit der Nö tigung von einer inhaltlichen Bewertung der politischen An sicht abhängig zu machen, der durch die Sitzblockade erhöhte Aufmerksamkeit verschafft werden soll. „Die Auffassung, die Fern ziele der Blockierer seien bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berück sichtigen, ist weder dogmatisch noch rechtspolitisch zu billigen.“
Mehr noch, der 1. Strafsenat des BGH meint:
„die Anerkennung von Zielen, für deren Verwirklichung auch unter Anwendung von Zwang im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB geworben werden dürfe, lasse die Gefahr einer Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung entstehen, die in einem demokratischen Rechtsstaat nicht hinnehmbar sei.“(!)
Die Bürger sollen schön brav und nicht so laut sein – andernfalls stellen wir – Richter, besonders wir BGH-Richter, Euch in die Radikalenecke! Das war eine eindeutige – disziplinierende – Orientierung für die Instanzgerichte. Indem die Richter des BGH erklärten, der Richter soll sich politisch zurückhalten, stellten sie sich unübersehbar und unter Aufga be ihrer Unabhängigkeit an die Seite der Bundesregierung; sie entschieden parteilich im Sinne der Regierungspolitik.42 So wendet sich der BGH ausdrücklich gegen das im Interesse der Allgemeinheit liegende „Wachrütteln“ und „Zeichen setzende“ Aktiv-Werden für Frieden, Freiheit, Menschenrechte oder Umweltschutz. Die BGH-Entscheidung erwies sich als „Maulkorbspruch“; sie verbot, seine Meinung unübersehbar zum Ausdruck zu bringen.43 Der BGH erwies sich nicht nur
42 u. a. geht es um die Frage, inwieweit Handlung und Wirkung derselben mit dem Zweck der Nötigung identifiziert würden; im Schrifttum wird von einem Zirkelschluss gesprochen nach dem Motto: strafwürdig ist eine Handlung, wenn es zu ihrer Unterbindung des Strafrechts bedarf! – Der BGH wendet sich gegen eine „Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung“, aber wie uns die Erfahrung lehrt, nur in der einen Richtung! 43 U. Vultejus „Blockade-Urteil: ein Schaden für die Republik“. 26
als staats-, sondern als regierungstreu! Seine Entscheidung zielte auf die Disziplinierung namentlich solcher Richter, die mit der Friedensbewegung sympathisieren, die sich in ihrer unabhängigen Rechtsprechung nicht davon abbringen ließen, die politischen Fernziele der friedlichen Straßenblockierer bereits bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit zu berücksichtigen, um zu einem Freispruch zu gelangen. Wenn es um Krieg und Frieden geht, ist es Richtern verwehrt, Stellung zu beziehen! Der BGH erwies sich in seiner politischen Grundhaltung als noch weit konservativer als das BVerfG. Vor allem wird folgendes erkennbar: Wenn es nicht auf verfassungskonforme, der Friedenssicherung und der Erhaltung der Menschheit dienende Fernziele ankommt, dann droht die Gefahr einer juristischen Gleichstellung solcher wertvoller Ziele mit menschheitsfeindlicher faschistisch-militaristischer Zielsetzung. So kann aus der Vorschrift zum Schutz der Demokratie, für Frieden und Humanismus ein Schutzschild für Kriegstreiber und Neonazis werden. Schon damals, 1986, hatte der Frontmann der Grünen Gerd Bastian ausgesprochen: „Der Lack ist ab... Weggewischt ist die Schminke der demokratischen Wohlanständigkeit, abgelegt die Maske des Gewaltverzichts, der Toleranz und Solidarität mit Schwächeren.“
Was würde er wohl heute sagen?
Eine – zufällige? – Korrektur! Fast zehn Jahre später korrigierte das BVerfG – in anderer Zusammensetzung und nachdem sich die politische Lage, im Weltmaßstab, verändert hatte! – seine Entscheidung vom 11.11.1986 mit 5 gegen 3 Stimmen (10. Januar 1995).44 44 zu einer veränderten Zusammensetzung der Richter des BVerfG kommt es gemäß Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG, wonach sie nach jeweils zwölf Jahren je zur Hälfte vom Bundestag – durch einen Wahlausschuss – und vom Bundesrat gewählt werden (§§ 4 ff BVerfGG); i. A. verständigen sich die betreffenden Gremien der beiden maßgebenden Parteien (CDU / SPD), keinen zu „schwarzen“ oder zu „roten“ Kandidaten zu benennen. 27
Diesmal hatten die Verfassungsbeschwerden Erfolg: Diese Ent scheidung befasst sich – anders als die frühere – insbes. mit dem Gewaltbegriff und lässt eine deutliche Wende in der als verfassungs konform zu akzeptierenden Auslegung dieses Begriffs erkennen.
Unbeschadet aller Diskussion über den Gewaltbegriff,45 ist letztlich die Kernfrage die, wie die Gerichte zu Meinungskundgaben gegen die Regierungspolitik stehen.46 Es entspricht der wie auch immer gearteten Rechtstaatlichkeit in der BRD, besonders der Justiz, dass der politische Streitpunkt hinter juristischen Erörterungen verborgen, versteckt wird. Die tatsächliche politische Korrektur der ersten Entscheidung des BVerfG erscheint im Gewande der juristischen Diskussion um den strafrechtlichen Gewaltbegriff! Vordergründig ist keine Korrektur erkennbar! Verfassungsgerichtlich sei weiterhin illustriert: Ein Verfassungsgericht entscheidet nicht in der fachgerichtlichen, hier strafrechtlichen Sache. Sein Prüfungsmaßstab ist „nur“, ob das angegriffene (strafrechtliche) Urteil dem GG entspricht, ob Grundrechte verletzt sind. Die (Mehrheit der) Richterbank des Jahres 1986 sah solches nicht, sodass die Verfassungsbeschwerde erfolglos blieb. Die (Mehrheit der) Richterbank sah die Sache jetzt 1995, insbesondere was den „Gewaltbegriff“ betrifft, anders, sodass die Verfassungsbeschwerden nunmehr Erfolg hatten. Ist Rechtsprechung in der BRD, auch verfassungsrechtliche, also „Glücksache“?47
Verschärfungen im „Kampf gegen den Terrorismus“ Nachdem die Hochzeit der kriminellen Aktivitäten der RAF bereits der Vergangenheit angehörte und es „nur noch“ um die Durchführung der Strafverfahren gegen die vor allem in dem 45 Die Bedeutung der Entfaltung körperlicher Kraft nahm seit dem RG in der Rechtsprechung, namentlich des BGH ab, die Bedeutung der eintretenden Zwangswirkung zu. Gewalt und Zwang wurden faktisch identifi ziert. Das Merkmal der Gewalt wurde „vergeistigt“ oder „entgrenzt“. 46 Siehe Strafverfolgung von Gegnern der Politik Adenauers. 47 Das kann jeder Rechtsanwalt bestätigen! 28
Spezialgefängnis in Stammheim in Gewahrsam, vielfach über lange Zeit in Einzelhaft gehaltenen RAF-Aktivisten bzw. der Strafvollstreckung ging, wurde Mitte der 80er Jahre die Linie der Verschärfung des Straf- und Strafprozessrechts, ohne er kennbaren kriminologischen Grund, fortgesetzt. Auch jetzt wurde nicht geprüft, ob die aus Anlass der RAF-Aktivitäten verschärften Gesetze mit ihren Eingriffen in Freiheitsrechte der Bürger weiterhin erforderlich seien. Vielmehr wurde mit dem nicht definierten unscharfen „Terrorismus“ – oder RAF als Synonym für „Terrorismus“ – weiter „gearbeitet“, obzwar dieses „Tatbestandsmerkmal“ dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht genügt. Bis auf den heutigen Tag kennt das bundesdeutsche Recht keine Definition dieses für sein Straf- und Strafprozessrecht sowie für die geheimdienstli che Terrorismusbekämpfung so zentralen völlig unscharfen Be griffs.48 Übrigens wird „Terror“ bzw. „Terrorismus“ immer nur für Aktionen der „Feinde“ verwandt; die eigenen Leute oder Befreundete zählen – wo auch immer – als „Freiheitskämpfer“ und „Helden“. Ronald Reagen werden die Worte zugeschrieben: „One man’s terrorist is another man’s freedom fighter!“ Am 19.4.1986 wurde ein Passgesetz und ein Gesetz zur Änderung der StPO erlassen, das mit dem neuen § 163d StPO der bis dato ohne Rechtsgrundlage praktizierten „Schleppnetzfahndung“49 eine gesetzliche Grundlage gab.
Durch das 23. Strafrechtsänderungsgesetz (StrÄndG) vom 13.4.1986 und das „Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus“ vom 19.12.1986 wurden der Katalog der Taten, die in terroristischer Absicht50 begangen werden können, erweitert auf:
48 Demgegenüber enthält der EU-Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung – nachdem es im Rahmen der UN wegen unversöhnlich entgegengesetzter Sichtweisen nicht gelang, sich auf eine allgemeine Terrorismuskonvention zu einigen – eine Reihe wichtiger Elemente, die bis heute keinen Eingang ins nationale Recht gefunden haben. Mark A. Zöller. Der Rechtsrahmen der Nachrichtendienste bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus; 49 Bei einer grenzpolizeilichen und einer (allgemeinen) Personenkontrolle anfallende Daten dürfen gespeichert und „ausgewertet“ werden. 50 Damit wurde an die gesetzgeberische Praxis der Schaffung von „Gesin29
gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr, Störung öffentlicher Betriebe und Zerstörung von öffentlichen Bauwerken oder Fahrzeugen der Bundeswehr und Polizei. Das Gesetz vom 19. 12. 1986 enthielt eine verschärfende Neu fassung des § 129a (Bildung terroristischer Vereinigungen), eine Einfügung der §§ 130a (Anleitung zu Straftaten) und 305a (Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel)51 sowie eine Änderung des § 140 (Belohnung und Billigung von Straftaten); es sah die erst instanzliche Zuständigkeit der OLG und somit die besonderen Befugnisse des Generalbundesanwalts (GBA) vor (§ 120 Abs. 2 GVG).52 Aufgrund von Änderungen im GVG wurden für Straf sachen nach § 129a StGB die politischen Strafsenate der OLG53 zuständig (§ 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG), was einschließt, dass der Ge neralbundesanwalt in diesen Verfahren die Anklage vertritt, sofern er das Verfahren nicht an die Landesstaatsanwaltschaften abgibt.
Alsbald folgte das „Gesetz zur Änderung des StGB, der StPO und des Versammlungsgesetzes“ vom 9. 6. 1989 mit der Einführung einer Kronzeugenregelung bei „terroristischen Straftaten“.
Es schloss verschiedene Verschärfungen des Strafrechts ein, so beim Landfriedensbruches (§ 125), beim erpresserischen Menschenraub (§ 239a), bei der Geiselnahme“ (§ 239a), beim „Besonders schweren Fall des Diebstahls“ (§ 243) und bei der „Störung öffentlicher Betriebe“ (316b).
Diese Strafgesetzgebung in den 80er Jahren setzte eine Entwick lung der siebziger fort: Sie richtete sich nicht nur gegen ähnliche Aktivitäten wie die der RAF, die kriminelle Formen annungsparagrafen“ beim Erlass des 1. StÄG 1951 angeknüpft, das ausdrücklich zur Strafverfolgung von Gegnern der Adenauerpolitik geschaffen worden war. 51 Namentlich wird als ein „wichtiges Arbeitsmittel“ auch ein „Kfz der Polizei und der Bundeswehr“ bezeichnet. Dass dies eine Reaktion auf Beschädigungen derartiger Fahrzeugen bei Auseinandersetzungen mit der Polizei ist, liegt auf der Hand. 52 Die durch die vielen Änderungen notwendig gewordene Neufassung des StGB wurde unter dem 10. März 1987 bekannt gemacht. 53 Sie sind zuständig insbesondere für Hoch- und Landesverrat (§ 120 Abs.1 Ziff. 2 und 3 GVG), aber auch für Fälle der Nichtanzeige der „Bildung terroristischer Vereinigungen“ (§ 129a StGB). 30
nahmen, sondern zunehmend gegen öffentliche Kundgabe von Meinungen und Forderungen im Zusammenhang mit abzulehnenden staatlichen Maßnahmen bzw. einer abzulehnenden Staatspolitik, so in Gestalt der Förderung der Errichtung von Atomkraftwerken und der „Castortransporte“, sowie anderer die Umwelt belastender Großprojekte, wie z. B. dem Flughafen bei Frankfurt am Main. Mit solchen Vorschriften des Straf- und Strafprozessrechts reagierte man – in preußischer Manier – auf Konflikte in der Gesellschaft, die nicht oder nicht mehr auf friedfertige Weise lösbar erscheinen.
Das Volkszählungsurteil Bevor das BVerfG in die Lage versetzt wurde, sich in seiner Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“ mit den Grundund Freiheitsrechten der Bürger grundsätzlich zu befassen, hatte es bereits in seinem Volkszählungsurteil von 1983 wichtige Positionen herausgearbeitet. Nun sind an sich Volkszählungen weder etwas Neues, noch etwas Besonderes. Bereits im alten Rom waren sie geläufig, wie uns überliefert ist. Ausgerechnet in der Zeit, als Jesus aus Nazareth geboren werden sollte, hatte der römische Kaiser Augustus für sein gesamtes römisches Imperium eine große Volkszählung angeordnet, wie dem Neuen Testament der Bibel entnommen werden kann.
Denn immer wollten die Herrschenden ihre „Schäfchen“ zählen, um zu wissen, wie viel Steuern sie erheben und vereinnahmen können.
Von den späteren Volkszählungen ist die des Hitler-Staates von 1938 deshalb erwähnenswert, weil diese Volkszählung ein Bestandteil der Vorbereitung des von Nazideutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieges war.
Als dann in der Bundesrepublik eine Volkszählung durchgeführt werden sollte, gab es Vorbehalte gegen die Regierungspolitik und den Wunsch, das Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs31
und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz – VZG – 1983) vom 25.3.1982 verfassungsrechtlich überprüfen zu lassen. So kam es zu dem Volkszählungsurteil des Ersten Senats des BVerfG vom 15. Dezember 1983, das den Schutz der Bürgerrechte, der persönlichen Rechte gegen staatliche Eingriffe, insbesondere unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung betraf.54
Deshalb verdient dieses Urteil unsere besondere Aufmerk samkeit: Das BVerfG stützte seine Entscheidung auf das im Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses Grundrecht gewährleiste die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Dieses mit Verfassungsrang ausgestatte Recht kreierte das BVerfG als ein Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, also das Recht, grundsätzlich über seine eigenen Daten selbst bestimmen zu dürfen. Einschränkungen dieses Rechts seien nur im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig und bedürfen einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht, wobei der Gesetzgeber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten muss; auch seien organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen, um der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenzuwirken Bei den verfassungsrechtlichen Anforderungen an derartige Einschränkungen des Rechts sei zu unterscheiden zwischen personenbezogenen Daten, die in individualisierter, nicht anonymer Form erhoben und verarbeitet werden, einerseits und solchen, die für statistische Zwecke bestimmt sind. Bei der Datenerhebung für statistische Zwecke könne eine enge und konkrete Zweckbindung der Daten nicht verlangt werden. Entsprechende Schranken zum Schutz der Grundrechte der Bürger sind geboten.
Im Ergebnis befand das BVerfG, dass das Volkszählungsgesetz grundgesetzgemäß sei, indessen seien zur Sicherung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ergänzende verfahrens54 Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer richteten sich unmittelbar gegen das vorgenannte Volkszählungsgesetz. 32
rechtliche Vorkehrungen für Durchführung und Organisation der Datenerhebung geboten. Dieses Urteil des BVerfG habe den Datenschutz nachhaltig gestärkt, meint Peter Schaar. In der Folge dieses Urteils explodierte der Umfang gesetzlicher Da tenschutzregeln. Der Datenschutz unterfiel einer umfassenden formalen Verrechtlichung. Dies ließ – wie Peter Schaar es for muliert – den Datenschutz in die „Verrechtlichungsfalle“ tap pen. Im Bestreben, den Datenschutz im Interesse der Bürger umfassend und detailliert rechtlich auszugestalten entstand ein „Datenlabyrinth“.55 Das hat zur Konsequenz, dass es heute praktisch niemanden gibt, der die genaue Zahl der datenschutz rechtlichen Bestimmungen von Bund und Ländern kennt.
Datenschutz , Verfassungsschutz und BND Unter dem Einfluss des Volkszählungsurteils des BVerfG wurde – wenige Wochen nach dem „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ – (erst) am 20. 12. 1990 ein modernes Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) erlassen, das später mehrfach geändert wurde. Dieses Datenschutzgesetz ist für den in diesem Buch behandelten Gegenstand deshalb von spezifischem Interesse, weil am gleichen Tage ein Gesetz über den Bundesnachrichtendienst (BND-Gesetz) (BNDG) und ein Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG)56 in Kraft gesetzt wurde. Im Hinblick auf den Gegenstand dieses Buches verdienen folgende Aussagen unsere Aufmerksamkeit: Nach dem BND-Gesetz untersteht diese Behörde, die für die Außenspionage zuständig ist, dem Kanzleramt; dem entspricht eine Berichtspflicht gegenüber diesem Amt – nicht gegenüber 55 Die „Seligkeit der Rechtsstaatlichkeit“ besteht keineswegs in einer totalen rechtlichen Reglementierung aller möglichen Vorgänge im gesellschaftlichen Leben, in der „Verrechtlichung“ und „Justiziabilität“ von all und jedem. Das gegenüber dem bundesdeutschen viel einfacher und überschaubarer gestaltete Rechtssystem der DDR war jedenfalls nicht deswegen minderwertig. 56 Das Datenschutzgesetz wurde 2006, die anderen beiden 2007 geändert. 33
dem Parlament! Aufgaben und Befugnisse des BND werden sehr allgemein beschrieben.57 Dort, wo es um konkrete Eingriffe in Bür ger- und Menschenrechte geht, so die „heimliche Beschaffung von Informationen“ (§ 3) beschränkt es sich auf Verweise auf das Ver fassungsschutzgesetz und das – nur in Grenzen zu berücksichtigen de – Bundesdatenschutzgesetz. Ausreichend für derartige Eingriffe sei die Erforderlichkeit – die der BND jeweils selbst bestimmt!
Das Verfassungsschutzgesetz regelt, relativ allgemein, die Auf gaben und Arbeitsweise, und zwar sowohl die des Verfassungs schutzamtes des Bundes wie auch die der Landesämter, sowie ihre Zusammenarbeit.58 Auch in diesem Gesetz werden Eingriffe in Bürgerrechte grundsätzlich lediglich mit einer Erforderlichkeit begründet oder gerechtfertigt, die die Verfassungsschutzämter (ebenso wie der BND) ohne Kontrolle durch andere Stellen selbst bestimmen.
Ein Rechtsschutz bzw. -weg ist nicht vorgesehen. U. U. kann sich der Betroffene an den Datenschutzbeauftragten wenden.
Der Verfassungsschutz soll die verfassungsmäßige Ordnung – insbesondere gemäß Art. 20 GG – schützen (§ 4). Abweichend vom Wortlaut des GG wird zur „verfassungsmäßigen“ Ordnung auch gerechnet, dass es eine Opposition geben müsse und eine Ablösung der Regierung.59
Im Weiteren zählen nur die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.
57 Dass der BND seit seiner Bildung aus der „Abwehreinheit“ der Nazis ohne gesetzliche Grundklage „arbeitete“, sollte nicht übersehen werden. 58 Selbstverständlich gibt auch der Bundesverfassungsschutz, wie andere Behörden, für die Öffentlichkeit „Aufklärungsschriften“, so „Verfassungsschutz – Was wir für Sie tun“ heraus, in denen in schönen Worten von einem rechtsstaatlichen Verfassungsschutz die Rede ist, wobei auch die in § 8 Abs.2 und § 9 BVerfSchG genannten Methoden der geheimen, verdeckten Nachrichtenbeschaffung aufgezählt werden Es wäre aber wider die Natur eines Geheimdienstes, wenn er der Öffentlichkeit Auskünfte über seine wirkliche Tätigkeit und seine de-facto-Unkontrollierbarkeit derselben erteilen würde. 59 Eine sehr willkürliche Ausdeutung des Verfassungsgehalts des GG ist schon aus dem 1 StrÄG von 1951 in der neu erfundenen „Staatsgefährdung“ geläufig! 34
Somit genießen andere Menschenrechte, wie die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen nicht den Vorzug, zum Schutzgegenstand des Verfassungsschutzes zu gehören.
Mit diesem Verfassungsschutzgesetz wird eine recht eigenwillige Modifizierung dessen vorgenommen, was die verfassungsmäßige Ordnung nach dem GG ausmacht. Im folgenden werden – so in § 8 – die Befugnisse des Verfassungsschutzes behandelt: Abs. 2 betrifft die heimliche Sammlung von Informationen. Den Behörden des Verfassungsschutzes stehe keine polizeiliche Befugnis zu, auch nicht im Wege der Amtshilfe. Wenn aber – sei es auch durch Informationen seitens dieser Behör den – die Voraussetzungen für das Eingreifen der Polizei vorliegen oder „hergestellt“ werden, kann diese selbstverständlich handeln.
Abs. 5 handelt von freiwilligen Auskünften. In Bezug auf den
Verfassungsschutz wird zu fragen sein, wann Freiwilligkeit wirklich vorliegt.
Wenn es schon in der Privatwirtschaft – sei es beim Abschluss von Arbeits- oder anderen Verträgen – angesichts der Marktlage mit der Freiwilligkeit oft nicht so weit her ist, liegt auf der Hand, dass manch eine Auskunft gegenüber dem Verfassungsschutz realiter und tatsächlich nicht so ganz freiwillige gegeben wird – und sei es um Schlimmeres von sich abzuwenden.
§ 8a – eine später eingefügte Vorschrift – betrifft Eingriffe in das Grundrecht des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG).
Näheres, so die Zuständigkeit für diesbezügliche Anordnungen, werden gem. Abs. 4 in Dienstvorschriften geregelt! In Abs. 5 ist die Unterrichtung der G-10-Kommission – also nicht des Parlaments – über derartige Anordnungen vorgesehen.
Im Abs. 9 dieses Paragrafen sind Grundrechtseinschränkungen des Grundrechts des Brief-, Post und Fernmeldegeheimnisses gem. Art. 10 GG ausdrücklich vorgesehen. § 9 handelt von besonderen Formen der Datenermittlung – soweit diese erforderlich seien! Dazu gehört gem. Abs. 2 die „akustische Wohnraumüberwachung“, also der „Große Lauschangriff“, das Abhören des nicht öffentlich gesprochenen Wortes mit bestimm35
ten (verdeckten) technischen Mitteln60 gem. Abs. 3. § 10 betrifft das Sperren von Daten und § 15 Auskünfte an den Betroffenen. Es folgen in § 17 ff Bestimmungen über Datenüberwachung, Informationen von anderen und an andere Stellen; § 20 die Information an Strafverfolgungsbehörden in Angelegenheiten des Staats- und Verfassungsschutzes; projektbezogene gemeinsame Dateien oder Datenerhebungen (§ 22a); bei betreffenden Datenermittlungen finden bestimmte Regelungen des Datenschutzgesetzes keine Anwendung.
Da die Gesetze des Verfassungsschutzes und des BND vielfach auf das Datenschutzgesetz verweisen, soll zu diesem eine Infor mation gegeben werden: § 1 bestimmt den Zweck und den Anwendungsbereich dieses Gesetzes. In Anlehnung an das Volks zählungsurteil des BVerfG soll es den einzelnen davor schützen, dass er durch den Umgang mit seinen personenbezogenen Daten in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt wird. Nach Abs. 2 des § 1 gilt es für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten durch: 1) öffentliche Stellen des Bundes, 2) öffentliche Stellen der Länder, soweit der Datenschutz nicht durch Landesgesetze geregelt ist, 3) nichtöffentliche Stellen,61 soweit sie Daten unter Einsatz von Datenver arbeitungsanlagen verarbeiten, nutzen oder dafür erheben oder die Daten in oder aus nicht automatisierten Dateien verarbeiten, nutzen oder dafür erheben, es sei denn die Erhebungsverarbeitung oder Nutzung der Daten erfolgt ausschließlich für persönliche und familiäre Tätigkeiten.
§ 3 Abs. 1 definiert personenbezogene Daten als Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person (Betroffener). Nach § 3a sollen Datenverarbeitungen nach dem Prinzip der Datensparsamkeit arbeiten; es sollen so wenig wie möglich perso nenbezogene Daten erhoben werden, ggf. seien Möglichkeiten 60 So mit besonderen Mikrofonen, im Volksmund „Wanzen“ genannt. 61 Gemäß § 2 Abs. 4 sind nichtöffentliche Stellen natürliche und juristische Personen, Gesellschaften und andere Personen vor Eingang des privaten Rechts. 36
der Anonymisierung zu nutzen. § 4 bestimmt die Zulässigkeit der Datenerhebung, Verarbeitung und Nutzung. § 4a betrifft die Einwilligung des Betroffenen, sofern diese auf der freien Entschei dung desselben beruht. § 4d behandelt die Meldepflicht. § 4f verpflichtet die Daten verarbeitenden Stellen dazu, „Beauftragte für den Datenschutz“ schriftlich zu bestellen, dessen Aufgaben in § 4g geregelt sind: er hat auf die Einhaltung dieses Gesetzes und anderer Vorschriften über den Datenschutz hinzuwirken.
§ 5 verpflichtet Personen, die mit Daten befasst sind, zur Ge heimhaltung (Datengeheimnis). Nach § 6 gelten als unabding bare Rechte Betroffener: das Recht auf Auskunft (§§ 19, 34), auf Berichtigung, Löschung oder Sperrung (§ 20, 35). Im § 6b wird die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videoüberwachung) nur in soweit für zulässig erklärt, soweit sie zur Aufgabenerfüllung öffent licher Stellen, zur Wahrnehmung des Hausrechts oder zur Wahr nehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke erforderlich ist und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen. Diese – sinnvolle – Vorschrift will die ungehemmte Videoüberwachung beschränken. Indessen dürfte die Gewährleistung ihrer Einhal tung im Einzelfall nicht unproblematisch sein – insbes. was die jeweilige gerichtliche Durchsetzung betrifft. Ein ähnliches An liegen verfolgt § 6c bzgl. mobiler personenbezogener Speicherund Verarbeitungsmedien. Abs. 3 schreibt vor, dass betreffende Kommunikationsvorgänge für den Betroffenen eindeutig erkennbar sein müssen. Zu begrüßen ist auch die Vorschrift des § 7, die einen Schadensersatzanspruch vorsieht, wenn eine verantwortliche Stelle dem Betroffenen durch eine nach diesem Gesetz oder anderen Vorschriften über den Datenschutz unzulässige unrichtige Erhebung, Bearbeitung oder Nutzung seiner personenbezogenen Daten einen Schaden zufügen.62 In gleichem Sinne bestimmt § 8 Schadensersatzansprüche bei automatisierter Datenverarbeitung durch öffentliche Stellen. 62 Wie ein solcher Schadenersatz gerichtlich durchzusetzen ist, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. 37
In den § 12 ff werden die Rechtsgrundlagen der Datenverarbeitung öffentlicher Stellen – soweit sie nicht als öffentlich-rechtliche Un ternehmen am Wettbewerb teilnehmen! – bestimmt, so die Daten erhebung, -speicherung, -veränderung und -nutzung soweit sie erforderlich ist und es für die Zwecke erfolgt, für den die Daten erhoben worden sind. (Prinzip der Zweckgebundenheit) § 15 betrifft die Datenübermittlung an öffentliche Stellen, § 16 die an nichtöffentliche Stellen.
Unter den in § 19 ff geregelten Rechten des Betroffenen steht zunächst wiederum das Recht der Auskunft an erster Stelle. Im Abs.3 wird dieses Recht auf die Übermittlung personenbezogener Daten gegenüber Verfassungsschutzbehörden, den BND, den MAD und, soweit die Sicherheit des Bundes berührt wird, anderer Behörden des Bundesministeriums der Verteidigung, grundsätzlich eingeschränkt. Denn in diesen Fällen wird Auskunft nur mit Zustimmung dieser Stellen erteilt!
In Bezug auf Datenerhebung zählen die persönlichen Belange des Betroffenen nicht! Staatssicherheit geht vor Datenschutz! Da ein Auskunftsanspruch die Kenntnis der Datenerhebung voraussetzt, schreibt § 19a vor, dass der Betroffene von einer ohne seine Kenntnis erfolgten Erhebung zu benachrichtigen ist. Werden Daten ohne Kenntnis des Betroffenen – also geheim – erhoben, so ist er von den diesbezüglichen datenrelevanten Vorgängen sowie über die jeweilige Zweckbestimmung zu unter richten. Aber wer kontrolliert das? Der Betroffene hat keine Kenntnis davon! Selbstverständlich gilt dies nicht für den vorgenannten Bereich der Staatssicherheit. Gerade beim politisch brisanten und neuralgischen Bereich versagt der Datenschutz! Nach dem mit „Anrufung des Bundesbeauftragten für den Daten schutz und die Informationsfreiheit“ überschriebenen § 21 kann jedermann diesen Bundesbeauftragten anrufen, wenn er der An sicht ist, bei der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung seiner personengebundenen Daten durch öffentliche Stellen in seinen Rechten verletzt worden zu sein.63 Dieser „Bundesbeauftragte für 63 Für die Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung von personenbezogenen Daten durch Gerichte des Bundes gilt dies nur, soweit diese in Verwal38
Datenschutz und Informationsfreiheit“ wird gemäß § 22 vom Bundestag auf Vorschlag der Bundesregierung auf fünf Jahre gewählt, eine einmalige Wiederwahl ist zulässig. Seine Dienststelle (Amt des Bundesbeauftragten) wird beim Bundesinnenminister eingerichtet; daher untersteht er dessen Dienstaufsicht!
Diese Behörde darf somit angerufen werden, wenn jemand der Ansicht ist, bei der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung seiner personengebundenen Daten durch öffentliche Stellen des Bundes in seinen Rechten verletzt worden zu sein. Nach § 24 obliegt ihm, bei den öffentlichen Stellen des Bundes die Einhaltung der Vorschriften dieses Gesetzes und anderer Vorschriften über den Datenschutz zu kontrollieren. Für nichtöffentliche Stellen werden §§ 33 ff die Rechte des Betrof fenen geregelt, so vor allem das auf Benachrichtigung (§ 33).
Eine solche entfällt – aus Gründen der Staatssicherheit –, wenn die zuständige öffentliche Stelle gegenüber der verantwortlichen Stelle festgestellt hat, dass das Bekanntwerden der Daten die öffentliche Sicherheit/ Ordnung gefährden oder sonst dem Wohle des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde. § 39 betrifft die Zweckbindung bei personenbezogenen Daten, die einem Berufs- oder besonderen Amtsgeheimnis unterliegen. §§ 43, 44 enthalten Bußgeld- und Strafvorschriften.
Polizeiliche Prävention gegen rechtsstaatliches Strafen Nunmehr ist Verhältnis von Freiheit und Sicherheit (des Staates) grundsätzlich zu diskutieren. Wir erinnern ausdrücklich an die zitierten Worte des Verfassungsrichters Wolfgang Böckenförde: „der moderne freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit infrage zu stellen.“ Da Hand in Hand mit Verschärfungen des Straf- und -prozess rechts die Erweiterung polizeilicher Befugnisse unter der Über tungsangelegenheiten tätig werden – sonst ist also insoweit der Rechtsweg nach den üblichen Bestimmungen eröffnet. 39
schrift frühzeitiger Gefahrenabwehr vonstatten ging,64 erscheint es geboten, auf das Verhältnis polizeilicher Prävention und recht staatlichem Strafen einzugehen. Besonders unter der Überschrift des Kampfes gegen den Terror entwickelt sich seit Jahrzehnten – in unterschiedlicher Intensität – eine Sicherheitspsychose: • Staatssicherheit um jeden Preis – unter Aufgabe des Prinzips der Verhältnismäßigkeit in Relation zu den elementaren Frei heitsrechten der Bürger. • Absoluter Vorrang der Belange der Staatssicherheit auf Kosten der Freiheitsrechte der Bürger, nach dem Prinzip: was im Kampf gegen Kriminalität und den (internationalen) Terror(ismus) an Überwachungsmaßnahmen technisch machbar ist, müsse auch juristisch erlaubt werden! Davon zeugt die allgemeine Erfahrung, dass vielfach im Nachhinein durch Gesetzgebung legitimiert wird, was vorher schon ohne Rechtsgrundlage längere Zeit praktiziert wurde.
Die Menschen- und Bürgerrechte sind bei einem solchen Kon zept nur hinderlich! Dann brachte der Aufruf von George W. Bush zum Kampf gegen den „internationalen (islamistischen) Terrorismus“ nach dem 11. 9. 2001 auch in der Bundesrepu blik einen neuen Schub der auf Verschärfung gerichteten Ge setzgebung, speziell in Gestalt von Antiterrorgesetzen. Es ist aber nicht nur die durch staatliche Sicherheitsbedürfnisse diktierte Gesetzgebung, die die Freiheitsrechte der Bürger beschränkt, sondern vor allem die polizeiliche Praxis. Daher ist auf den rechtsstaatlich eminent wichtigen prinzipiellen Unterschied zwischen strafverfolgender Tätigkeit der Justiz behörden und präventivem polizeilichen Vorgehen einzuge hen. Strafverfolgung geht einem konkreten Verdacht, einer in der Vergangenheit liegenden Straftat nach; sie reagiert auf tatsächliche Gegebenheiten, auf ein bestimmtes durch das Ge setz definiertes Delikt, das aufzudecken und aufzuklären ist, wozu den Strafverfolgungsbehörden zunächst oft nur einzelne 64 Die neuen Gesetze sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht entstanden ohne die gebotene Evaluierung der bereits geschaffenen Änderungen, so dass man schon von einem „Tasten im Dunklen“ sprechen muss. 40
tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Es handelt sich stets um Tatsachen, die einen Straftatverdacht betreffen, die nachweisbar und überprüfbar sind. Strafverfolgung ist durch den Gegenstand und durch die rechtlich zulässigen Methoden eingegrenzt. Sie hat (grundsätzlich) klar definierte Grenzen, bezieht sich auf aufzudeckende und aufzuklärende reale Tatsächlichkeiten. Außer dem materiellen Strafrecht mit seinen Strafbestimmungen, die per Gesetz definieren, was eine Straftat ist, worin die konkrete Straftat besteht, ist die Strafverfolgung in ihren verschiedenen Stadien durch die Strafprozessordnung (gesetzlich) geregelt, bestimmt und begrenzt. Dort sind namentlich die Eingriffsvorausset zungen, so für Untersuchungshaft, Durchsuchung, Untersuchung und Sicherstellung gesetzlich geregelt. Des weiteren kann sich diese Strafverfolgung auf in hohem Masse gesicherte kriminalistische und rechtsmedizinische Erkenntnisse und Erfahrungen stützen.
Die Strafverfolgungstätigkeit bewegt sich somit prinzipiell auf der Grundlage und im Rahmen von Gesetzen,65 auch wenn rechtliche Verstöße und Rechtsfehler nicht auszuschließen sind. Die (traditionellen) strafprozessrechtlichen Zwangsmaß nahmen, wie die Durchsuchung, setzen grundsätzlich eine richterliche Anordnung voraus, die dem Beschuldigten zur Kenntnis gebracht wird und die grundsätzlich in Anwesenheit des Betreffenden oder Dritter durchgeführt wird, also, was ihr wesentlich ist nicht heimlich! In diesem Sinne fanden sich bis zur Gesetzgebung zum „Großen Lauschangriff“ zum Art. 13 GG in der StPO die traditionellen bekannten Sicherungsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren, so in § 102 die Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten, § 103 bei anderen, § 104 wie nächtlicher Haussuchung, § 105 die Teil nahme von Personen dabei, § 106 die Anwesenheit des Inhabers der Wohnung und den § 110 die Durchsicht von Papieren.
All diese Maßnahmen setzen ein Ermittlungsverfahren voraus, – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zu beachten. 1998 wurde die StPO im Zusammenhang mit der Gesetzgebung zum
65 Auch wenn einige von diesen mangelhaft, kritikwürdig oder zu unbestimmt sind und daher missbraucht werden können, z.B. § 129a StGB. 41
„Großen Lauschangriff“ zum Zwecke der Einschränkung von Grundrechten in vieler Hinsicht ergänzt und verändert.66 Soweit Geheimdienste und auch Privatdetektive heimlich in frem de Wohnungen eindringen, um dort etwas zu finden oder zu installieren (z. B. Wanzen zum Abhören), geschieht es außerhalb der Rechtsordnung, insbesondere außerhalb der Strafprozessordnung, also ungesetzlich. Es handelt sich dann um Hausfriedensbruch und eventuell noch weitere kriminelle Handlungen.
In diesem Bereich dominiert – mehr oder weniger – ausdrücklich Rechtlichkeit, Rechtsstaatlichkeit. Gleichwohl sollen Strafverfol gung und Verhängung von Strafen präventiv wirken. Aber diese angestrebte präventive Wirkung auf mögliche künftige Straftäter (als Spezial- oder Generalprävention) beruht auf der rechtsstaatlich festgestellten Straftat.67 Im krassen Gegensatz zur rechtlich ausgeregelten Strafverfolgung steht die präventive polizeiliche Tätigkeit als präventive Gefahrenabwehr. Sie ist nicht auf (in der Vergangenheit liegende) reale objektive Tatsächlichkeit abgestellt, sondern auf Möglichkeiten von in der Zukunft liegenden Gefahren für die Allgemeinheit oder Einzelne. Allein dieser Umstand macht die polizeiliche präventive Tätigkeit zu einem von Ungewissheit, Unwägbarkeiten, Fragwürdigkeiten, Zufällen und Subjektivismus beherrschten Raum. Traditionell geht es bei der polizeilichen Gefahrenabwehr um die Abwehr sichtlicher Gefahren für die Allgemeinheit, für Leben und Gesundheit von Menschen oder von erheblichen Sachwerten, so wenn (nach einem Sturm) Bäume auf der Straße liegen, wenn irgendwo gesundheitsschädliche Gase austreten, bei Ausbruch eines Brandes oder bei Überschwemmungen (bevor die Feuerwehr eintrifft), wenn ein „Geisterfahrer“ auf der Autobahn fährt, wenn ein Geisteskranker Leben und Gesundheit von Menschen be66 So § 98a Abgleich von Daten, § 110a Verdeckter Ermittler, § 100c geheimes Betreten von Wohnungen, sowie § 111 Straßenkontrollen (Rasterfahndung). 67 Für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung trifft dies allerdings schon nicht mehr zu, weil diese Maßregel keine Strafe ist, sondern auf die Gefährlichkeit des Täters abstellt und auf Gefahrenabwehr und somit polizeiähnlich auf Prävention orientiert ist. 42
droht, wenn an Gebäuden Steine oder Dachziegel gelockert sind, sodass Gefahr für Passanten besteht usw. usf.
Die Polizei reagiert auf solche Gefahren, bevor erforderlichenfalls Feuerwehr oder andere Spezialkräfte am Ort sind, mit Ab sperrmaßnahmen und verwaltungsrechtlichen Auflagen u. Ä. Zur Illustration der polizeilichen Gefahrenabwehr sei auf das „Allgemeine Gesetz zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin“ (ASOG Bln.) vom 14. 4. 1992 (i. d. Fassung v. 11. 10. 2006) verwiesen. § 1 Abs. 1 bestimmt als Aufgaben der Ordnungsbehörden und der Polizei, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Nach Abs. 3 hat die Polizei im Rahmen der Gefahren abwehr auch Straftaten zu verhüten sowie für die Verfolgung künf tiger Straftaten vorzusorgen (vorbeugende Bekämpfung von Straf taten). Nach Abs. 4 obliegt der Polizei auch der Schutz privater Rechte, wenn gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist und wenn ohne polizeiliche Hilfe die Verwirklichung des Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert würde.
Was unter einer Gefahr (für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung) zu verstehen ist, ist im Gesetz nicht definiert. Das Gesetz bestimmt vor allem die Befugnisse der Polizei und die von der Polizei zu ergreifende Maßnahme. Nach § 11 sind jeweils diejenigen zu treffen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträch tigen; sie dürfen nicht zu einem Nachteil führen, der zum er strebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Gemäß § 12 sind die Maßnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Nach § 13 sind die Maßnah men gegen die Person zu richten, die eine Gefahr verursacht. Geht die Gefahr von einem Tier oder eine Sache aus, so sind die Maß nahmen gegen den Inhaber der tatsächlichen Gewalt der Sache bzw. des Tieres zu richten. Geht die Gefahr von einer herrenlosen Sache aus, können die Maßnahmen auch gegen denjenigen gerichtet werden, der das Eigentum an der Sache aufgegeben hat (sofern man das weiß!). 43
Gemäß § 16 können unter bestimmten Voraussetzungen Maß nahmen auch gegen andere Personen gerichtet werden, wenn eine gegenwärtige erhebliche Gefahr abzuwehren ist. Dabei sind gem. Abs. 3 Maßnahmen zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten grundsätzlich nur gegen Personen zu richten, bei denen Tatsachen die Annahme (!) rechtfertigen, dass sie Straftaten begehen werden(!), wobei vor allem der Verdacht zu berücksichtigen ist, dass sie bereits Straftaten begangen haben (!?) sowie die Art und Begehungsweise dieser Straftat. Das Gesetz enthält im Übrigen die verschiedenen Befugnisse der Polizei, u. a. auch zur Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen und Ansammlungen (§ 24) oder zur Datenerhebung durch längerfristige Observation und Einsatz technischer Mittel (§ 25), wobei nach Abschluss der Maßnahme diejenigen zu unterrichten sind, gegen die die Maßnahme angewandt wurde – sobald dies ohne Gefährdung des Zwecks der Maßnahme geschehen kann(!)
Gemäß § 26 ist die Erhebung personenbezogener Daten durch V-Personen und verdeckte Ermittler68 zulässig, weiterhin die polizeiliche Beobachtung (§ 27). Gemäß § 30 kommt auch in Betracht, eine Person vorläufig in Gewahrsam zu nehmen.69 Vor liegend geht es in dieser Schrift aber um schwer durchschaubare politisch determinierte Gefahrenabwehr, der – wirklichen oder angeblichen – Abwehr von realen oder angenommenen Gefah ren für das Staatswesen! Das ist etwas völlig Anderes! Deshalb besteht hier besonderer Grund zu fragen, um welche Gefahren es sich tatsächlich handelt, welche Gefahren real existieren? Von welchen, in der Vergangenheit liegenden Tatsächlichkeiten wird auf künftige, bevorstehende, drohende oder möglicherweise eintretende Gefahren abgestellt? Sind diese Tatsächlichkeiten 68 Das Gesetz definiert V-Personen als solche, deren Zusammenarbeit mit der Polizei Dritten nicht bekannt ist, und verdeckte Ermittler als „Polizeivollzugsbeamte, die unter einer Legende eingesetzt werden. 69 Nach § 52 leistet die Polizei Behörden und sonstigen öffentlichen Stellen Vollzugshilfe, wenn unmittelbarer Zwang gegen Personen anzuwenden ist und die anderen Behörden oder Stellen nicht über die erforderlichen Dienstkräfte verfügen oder ihre Maßnahme nicht auf andere Weise selbst durchsetzen können. 44
überprüfbar? Durch wen? Inwieweit wirken auch – politische – Interessen, Wünsche und andere subjektive Umstände auf die Annahme von Gefahren? Bekanntlich wollte US-Präsident Bush den Krieg gegen den Irak. Also musste eine von Geheimdiensten konstruierte Gefahr (dass der Irak Massenvernichtungsmittel besitze und die Welt bedrohe) herhalten, um für den politisch gewollten präventiven Militärschlag der Weltöffentlichkeit einen „Kriegsgrund“ vorzuweisen. Später stellte sich die Annahme und Behauptung dieser Gefahr als Irrtum, genauer: als Lüge, als geheimdienstliches Hirngespinst, heraus! Der Krieg mit seinen Opfern – vor allem unter der Zivilbevölkerung –, an Verlusten und Schäden und den über Jahre fortdauernden Wirkungen ist eine grausige Realität, die nicht wieder rückgängig gemacht werden kann! Entsprechendes gilt unter dem Gesichtspunkt der politischen Gefahrenabwehr, wenn die Polizei auf der Grundlage angenommener Gefährdung „rein vorsorglich“ vorbeugend Rechte von Individuen einschränkt oder in diese eingreift. Die so bewirkte Verletzung dieser Rechte von Individuen kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Unter Umständen entschuldigt man sich hinterher, in besonderen Fällen mag auch juristisch ein Schadensersatzanspruch bestehen, der womöglich auch gerichtlich geltend gemacht werden kann.
Demgegenüber ist die polizeiliche Prävention, die dem Gedan ken der Gefahrenabwehr folgt, in sich selbst die größte Gefahr, wenn sie erklärt, um einen möglichen drohenden Schaden rechtzeitig abzuwenden und abzuwehren, müsse nach dem Grundsatz gehandelt werden: Eher einmal mehr als zu wenig zu handeln und zu zugreifen. Es sei besser, einmal falschen Alarm gegeben zu haben, als ihn unterlassen zu haben und damit unter Umständen enorme Schaden haben eintreten lassen. Gerade im Bereich der politischen Gefahrenabwehr ist die Gefahr besonders groß, dass auf Anzeichen, auf Vermutungen hin gehandelt und in Rechte von Bürgern eingegriffen wird. Selbst wenn auch auf diesem Gebiet von Verhältnismäßigkeit der Eingriffe gesprochen wird, muss man sich darüber im Klaren sein, dass diese Behörden „Unbekanntes“ zueinander ins Verhältnis setzen, dass 45
sie eine Gleichung mit ausschließlich unbekannten Größen lösen will. Denn sowohl die (angenommene) Gefahr wie auch die drohenden Eingriffe in Grundrechte der Bürger sind durchweg „unbekannte Größen“! Es wird nicht übersehen, dass auch für die polizeiliche Gefahrenabwehr Rechtsvorschriften geschaffen wurden, so in Gestalt der Polizeigesetze der Länder.70 Diese sind aber weit weniger präzise als Strafgesetze, die bestimmte (begangene) Handlungen beschreiben. Die Polizeigesetze und Vorschriften der Gefahrenabwehr müssen auf mögliche Gefahren auf Ungewissheiten, Annahmen abstellen. Aus der allgemeinen Gefahrenlage werden konkrete Maßnahmen gegen bestimmte Individuen abgeleitet. Diese sind insoweit verdachtsunabhängig, ohne einen konkreten nachprüfbaren Verdacht gegenüber einer bestimmten Person. Das Phantom der Gefahr dominiert. Es wird auch nicht übersehen, dass das Innenressort sich insoweit in einer schwierigen Lage, zwischen Scylla und Charybdis bewegt, um die Sicherheit des Staates auf mehr oder minder große Vermutungen und Verdacht hin wirksam zu sichern. In diesem Bereich tritt das Verhältnis zwischen Sicherheit des Staates und Freiheit der Bürger als verfassungsrechtliches Problem, als Problem der Gewährleistung von Grundrechten, insbesondere von Freiheitsrechten, besonders hervor. Die Gefahrenabwehr ist nicht durch solche Rechtsbestimmungen eingeschränkt wie das Strafrecht; im Unterschied dazu ist sie relativ schrankenlos. Ein Sicherheitskonzept ist grundsätzlich ohne Grenzen, ohne Schranken, es besteht die Gefahr der Rechtlosigkeit. Je größer eine Gefahr angenommen oder vermutet wird, desto früher und unübersehbarer sind die Maßnahmen der Gefahrenabwehr. Ist schon in einem Strafverfahren sehr darauf zu achten, ob der Verdächtige sich dann auch als Schuldiger erweisen wird, weshalb der Strafprozess verschiedene Grade des Tatverdachts unterscheidet71 und es ist daher wichtig, sehr darauf bedacht zu sein, den Verdächtigen nicht zu früh zum Schuldigen zu ma70 Einige dieser Ländergesetze erlauben mehr Eingriffe in Bürgerrechte als Bundesgesetze. 71 allgemeiner Anfangsverdacht, dringender und hinreichender Tatverdacht. 46
chen – nach dem gefährlichen Grundsatz: es wird schon etwas dran sein, – so ist dieses Problem bei der Gefahrenabwehr unendlich viel größer. Wenn das Sicherheitskonzept überwiegt, schwindet die Freiheit der Bürger und damit das Recht und die Rechtsstaatlichkeit. Hinzukommt, dass die Gefahren, die der Gefahrenabwehr zu Grunde gelegt werden, insbesondere die dem Innenressort zur Verfügung stehenden, grundsätzlich geheimen und geheim zu haltenden Informationen und Daten, durch andere kaum überprüfbar sind, nicht nur nicht durch die Öffentlichkeit, sondern auch nicht durch parlamentarische Kontrollgremien – wie die Erfahrung mit den betreffenden Untersuchungsausschüssen zeigt. Weiterhin ist bei angenommenen und der Öffentlichkeit mitgeteilten Gefahren zu besorgen, dass die Öffentlichkeit mithilfe der Medien manipuliert wird. Reale Furcht und subjektive Angst werden instrumentalisiert. Anschließend wiegelt der Innenminister ab! Es wird nicht übersehen, dass es nicht leicht zu bestimmen ist, in welchem Maße die Öffentlichkeit über eine Gefahrenlage unterrichtet werden soll, zumal meist ein öffentliches Interesse besteht, die Öffentlichkeit nicht – unnötig – zu beunruhigen, in welcher Weise und in welchem Umfang die Bürger auf Gefahrenmomente aufmerksam gemacht werden sollen, um sie zu Vorsicht und vorbeugendem Verhalten und auch dafür zu gewinnen, ihre Beobachtungen den Behörden mitzuteilen.
Jedenfalls erweist sich in der BRD das ganze Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Gefahrenabwehr als durch außerordentlich große Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und Subjektivismen beherrscht. Soweit verbreitet wird, all diese Maßnahmen rich ten sich doch nur gegen Kriminelle und Terroristen, so muss dies als ein Ammenmärchen zurückgewiesen werden. Schon die enorme Masse der erhobenen Daten, allein bei der Video überwachung auf öffentlichen Plätzen, Bahnhöfen, Flughäfen und anderswo, betrifft Millionen Bürger; aber auch bei der Datenvorratsspeicherung, der Telefonüberwachung und ande ren Datensicherungen handelt es sich bei den Betroffenen um solche Größenordnungen. Allein diese Tatsache zeiht solche 47
Behauptungen der Lüge. Bei diesen millionenfachen Datener fassungen werden fast nur unschuldige und unverdächtige Per sonen betroffen, darunter nicht wenige zufällige Kontakt- oder Begleitpersonen. Selbst dort, wo die Überwachung einen be stimmten Verdächtigen im Visier hat, der offenbar noch nicht so hinreichend verdächtig ist, dass man gegen ihn ein Ermitt lungsverfahren einleiten konnte, ist – auch kraft des Gebots der Unschuldsvermutung – zunächst davon auszugehen, dass er unschuldig ist, wie es sich auch zu oft später erweist. Von der in die Millionen gehenden Zahl der Verdächtigen, auch von Beschuldigten, wird schließlich nur ein ganz geringer Bruchteil rechtskräftig verurteilt. Und wie viele letztlich Unschuldige werden durch die Medien aufgrund von der Staatsanwaltschaft voreilig übermittelten einseitigen Informationen „vorverurteilt“!72
Wie viele Unschuldige unter den rechtskräftig Verurteilten sind, weiß niemand. Jedenfalls sind Justizirrtümer auch in der BRD nicht so extrem selten! Nur durch Zufälle – oder auch aufgrund von Fortschritten der forensischen Wissenschaften – kann das eine oder andere Verfahren – als Wiederaufnahmeverfahren –, dem in der BRD erhebliche juristische Hürden entgegenstehen, neu aufgerollt und der rechtskräftig Verurteilte nach Jahren oder Jahrzehnten letztendlich freigesprochen werden.73
72 Besonders gegenüber dem politischen Gegner betreiben solche Behörden nicht selten eine „offensive Öffentlichkeitsarbeit“ mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung ins Gesicht schlagenden „tendenziösen Mitteilungen“, was mitunter zu einer „medialen“ oder „öffentlichen Hin richtung“ führte – wie wir das besonders bei den Verfolgungen in den 50er, 70er und 80er sowie dann gegen DDR-Bürger in den 90er Jahren erleben mussten. Christian-Alexander Neuling: Unterlassung und Widerruf vorverurteilender Medienauskünfte der Ermittlungsbehörden. 73 Schon geht das Gesetz von der Möglichkeit von Fehlurteilen, also der Verurteilung Unschuldiger aus, indem es – unter bestimmten Voraussetzungen – ein Wiederaufnahmeverfahren eröffnet, Aber die unbekannte weit übergroße Zahl von Verurteilungen Unschuldiger bleibt bestehen. Meist nur durch Zufälle kommt es zu eineer Korrektur von Fehlurteilen. Nur beispielhaft: Hans-Dieter Otto: Das Lexikon der Justizirrtümer, Jörg Kunkel/Thomas Schubauer (Hg.): Justizirrtum. 48
Vor allem sollten die Folgen von Justizirrtümern nicht übersehen werden: Eine mehrjährige Freiheitsstrafe, die ein ganzes Leben, ein persönliches Lebensprogramm zerstört, ist, wenn sich – wie gar nicht so selten – das Strafurteil als Justizirrtum herausstellt, auch durch Geld nicht mehr aufzuwiegen, nicht mehr gutzumachen. Selbst rechtsstaatliche Formen der Strafverfolgung sind somit nicht absolut frei von Fehlern, von Justizirrtümern und Fehlentscheidungen.
Aber immerhin gibt es dort einen rechtlichen Rahmen. Jeden falls darf davon ausgegangen werden, dass schon vor Jahrzehnten nicht wenige Unschuldige, unbeteiligte und unbescholtene Per sonen in die Polizeicomputer kamen, dort gespeichert wurden.
Vor fast drei Jahrzehnten erzählte mir ein renommierter Lehrer des Strafrechts der Universität Frankfurt am Main, er habe seinen Studenten die moderne Technik der Polizei gezeigt und sie vorführen lassen. Dabei habe er – spaßeshalber – auch gebeten, seinen Namen im Polizeicomputer einzugeben, was ihm jedoch verwehrt wurde – warum? Er dachte sich seinen Teil!
Selbst in dem Bereich der Datenerfassung und -erhebung nach der StPO ist niemand davor gefeit, unbegründet erfasst worden zu sein. Vor allem wird die grundsätzlich gesetzlich geforderte Information des Betreffenden über eine solche Datenerfassung gem. § 19a Bundesdatenschutzgesetz oft nicht eingehalten
Es wissen zahllose unbescholtene Bürger nicht, dass sie bei der Polizei oder – auch bei der Staatsanwaltschaft – erfasst waren, ohne dass gegen sie ein ordentliches Strafverfahren geführt wurde.
Mir ist solches als Strafverteidiger in verschiedenen Zusammen hängen bekannt geworden.
Ganz besonders bei so genannten Sammelverfahren, wo zunächst die verschiedensten allgemein verdächtigen Personen gesammelt werden, von denen dann vielleicht nur ein kleiner Teil tatsächlich zu einem Beschuldigten oder Angeklagten wird, finden sich nicht wenige, die niemals erfahren, dass sie im Visier der Strafverfolgungsbehörden waren.
Auch darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass die gesetzlich gebotene Löschung von Persönlichkeitsdaten restlos und
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auch ohne illegales Duplikat durchgeführt wird. Vielmehr darf angenommen werden, wer einmal in einem solchen behördlichen Computer erfasst ist, den gibt die Technik nicht wieder frei, der bleibt, möglicherweise auf ewig, dort erfasst.74 Der zweifelhafte, an Ergebnissen magere G-8-Gipfel in Heiligendamm desillusionierte die Weltöffentlichkeit über Demokratie und Grundrechte in dieser Republik und illustrierte das rücksichtlose, die Grundsätze des Rechtsstaates missachtende Eingreifen der Staatsmacht gegen friedliche Demonstranten: Während der Proteste wurden etwa 1000 Personen stundenund auch tagelang „präventiv“ in Gewahrsam genommen; nach Angaben der Staatsanwaltschaft wurden 1700 Ermittlungsverfahren eingeleitet; nur 176 Verfahren kamen vor Gericht! 23 Urteile sollen ausgesprochen worden sein, davon zehn Freisprüche, neun Freiheitsstrafen, bei sieben konnte der Vollzug zur Bewährung ausgesetzt werden, sowie in vier Fällen Geldstrafen.
Wenn der Leser sich über die enorme Diskrepanz zwischen der recht großen Zahl eingeleiteter Ermittlungsverfahren und der relativ geringen Zahl von Verurteilungen wundert, so sei ihm gesagt: Solches ist eine in der BRD gut bekannte Methode der strafrechtlichen Pression gegenüber dem politischen Gegner.
Schon in den 50er Jahren standen bei der Strafverfolgung politischer Gegner der auf Einbeziehung der BRD in die NATO gerichteten Politik Adenauers – und damit der Gefahr eines Bruderkrieges zwischen Deutschen in Ost und West – Ermittlungsverfahren gegen 250 000 lediglich etwa 10 000 Verurteilungen gegenüber. Nach 1990 wurden über 100 000 Ermittlungsverfahren75 gegen DDR-Bürger eingeleitet, denen – entgegen den Festlegungen des Einigungsvertrages – aus bundesdeutscher Sicht in der DDR angeblich begangene Straftaten vorgeworfen wurden: letztendlich gab es 759 Verurteilungen. 74 Durch Zufall erfuhr der bekannte Strafverteidiger Heinrich Hannover, dass sein Telefon zehn Jahre zuvor abgehört worden war; in der dritten Instanz bescheinigte ihm dann nach weiteren acht Jahren, dass dieses Abhören rechtswidrig gewesen war! 75 Darüber hinaus befanden sich zahlreiche in sog. Sammelverfahren erfasste weitere DDR-Bürger im Visier der Staatsanwaltschaft 50
Es ist somit festzustellen: Wir haben es bereits heute mit einer grenzenlosen Erfassung von Persönlichkeitsdaten zu tun, sodass – mit Peter Schaar – davon zu sprechen ist, dass der Bürger unter Generalverdacht steht.
Bis zum „Großen Lauschangriff“ Die vorstehend umschriebene Entwicklung der Eingriffe in Bürgerrechte setzte sich dann bis zum Gesetz über den „Großen Lauschangriff“ fort. Hierbei handelt es sich um das für die Bürger nicht bedrohlich aussehende „Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität“ vom 15.7.1992 (OrgKG ).
Nun ist diese „Organisierte Kriminalität“ zweifellos eine sehr bösartige und gefährliche Kriminalitätserscheinung, aber schon die „Begrifflichkeit“ ist typisch polizeilich und nicht auf die Beschreibung konkreter Straftaten abgestellt. Es ist ein polizeilicher Arbeitsbegriff nicht mehr! In keinem Gesetz findet sich eine Definition der OrgK! Jedenfalls betrifft die maßgebliche Vorschrift in der StPO, der § 98a, – in der übrigens der Begriff „Organisierte Kriminalität“ nicht vorkommt –. nicht nur Rauschgiftdelikte und andere schwere Verbrechen gegen die Bürger, sondern auch Staatsschutzdelikte. Es werden also unter der neutralen Bezeichnung OrgKG auch politische Straftaten ins Gesetz „geschmuggelt“. Im Einzelnen wurde in den §§ 98a, b und c StPO der maschinelle Abgleich und die Übermittlung personenbezogener Daten – die sog. Rasterfahndung – im Ermittlungsverfahren zugelassen. Weiter wurden jetzt in den §§ 110a ff der Einsatz „verdeckter Ermittler“ und technischer Mittel sowie die Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung (§ 163e) erlaubt.76 76 Dass Polizei und Geheimdienste außerhalb eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens seit langem auf diese Weise arbeiten, darf als allgemein bekannt angenommen werden. 51
Mit dem „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ – dient denn nicht jedes Strafgesetz der Bekämpfung von Straftaten? – vom 28. Oktober 1997 wurden die Möglichkeiten des Erlasses eines Haftbefehls noch mehr erweitert; das Strafverfahrensänderungs gesetz vom 17. März 1997 regelte die Zulässigkeit von molekulargenetischen Untersuchungen. Der nächste Schritt in Gestalt des „Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ vom 4. Mai 1998 brachte dann den „Großen Lauschangriff“, die akustische Wohnraumüberwachung: Unter der Regierung Kohl sprach sich am 19.5.1995 die Innen ministerkonferenz der Länder für die akustische Wohnraumüber wachung77 aus. Angesichts innerparteilichen Streits führte die FDP am 25.9.1995 eine Mitgliederbefragung durch: eine Mehrheit von 63,6% sprach sich für den „Großen Lauschangriff“ aus. Daraufhin legte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger am 14.12.1995 ihr Amt als Bundesministerin der Justiz nieder, womit sie Charakter und Rechtstreue bewies. Am 16. 1. 1998 beschloss der Bundestag mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und Teilen der SPD die Einschränkung des Art. 13 GG (452 Ja-Stimmen, 184 NeinStimmen, fünf Enthaltungen); am 6. 3. 1998 ließ der Bundesrat die Abs. 3 bis 6 des Art. 13 GG einfügen, wodurch die akustische Wohnraumüberwachung ermöglicht wurde.
Durch das „Gesetz zur Änderung des GG (Art. 13)“78 wurden in den Art. 13, der die Unverletzlichkeit der Wohnung gewährleisten will, die Abs. 3 bis 6 eingefügt bzw. geändert.
Auf der Grundlage dieser Änderung des GG erfolgte die einfachgesetzliche Umsetzung durch das „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der organisierten Kriminalität“, durch das die maßgeblichen §§ 100c, 100d, 100f und 101 in die StPO eingefügt 77 Im Unterschied zum „kleinen Lauschangriff“, der sich nur auf Gespräche außerhalb von Wohnungen abspielt, bezieht sich der „Große Lauschangriff“ auf Wohnungen, die der Berechtigte der allgemeinen Zugänglichkeit entzogen und zur Stätte seines Lebens und Wirkens gemacht hat. Der Begriff „Lauschangriff“ ist übrigens viel älter; er war schon in den siebziger Jahren im nachrichtendienstlichen Bereich geläufig. 78 Da Otto Schily von der SPD auf die andere Seite wechselte, wurde die für dieses das Grundgesetz ändernde Gesetz die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Bundestag gesichert. 52
bzw. geändert wurden. Am 6. 2. 1998 beschloss der Bundesrat die Gesetzesänderung, der jedoch den Vermittlungsausschuss anrief, um die Ausführungsgesetze überprüfen zu lassen. Am 2. 3. 1998 fordert der Vermittlungsausschuss, die Schutzgarantie des Art. 13 für Personen in besonderer Vertrauensstellung (Pfarrer, Ärzte) unvermindert fortgelten zu lassen. Am 5. März folgt der Bundestag dieser Forderung. Am 6. März wird die beschlossene Änderung durch den Bundesrat mit 39 gegen 30 Stimmen verabschiedet.
Nach dieser Änderung des GG dürfen „Eingriffe und Beschrän kungen zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebens gefahr für einzelne Personen, aufgrund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutz gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden.“ Von Organisierter Krimi nalität und Staatsschutz steht im Abs. 3 des Art. 13 nichts! Die Öffentlichkeit wurde irregeführt! Aber dem Gesetzgeber ging es mit der Änderung des GG vor allem darum, eine Möglichkeit zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu schaffen. Nunmehr ist nach Art. 13 Abs. 3 die akustische Wohnraum überwachung zum Zwecke der Strafverfolgung möglich, sofern bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand eine durch Gesetz, im § 100a StPO im einzelnen bestimmte besonders schwere Straftat (Katalogtat) begangen hat, sich der Beschuldigte vermutlich in der Wohnung aufhält und die Erforschung des Sachverhalts „auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos“ ist.79
Dieser Art. 13 Abs. 3 GG wurde durch das bereits erwähnte „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ vom 4. Mai 1998, das bereits am 9.5.1998(!) in Kraft trat, einfachgesetzlich ausgestaltet. § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO: Das in einer Wohnung nichtöffentlich gesprochene Wort eines Beschuldigten darf abgehört und aufgezeichnet werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht 79 Diese – typische – Formulierung findet sich in ähnlichen Gesetzen. 53
begründen, dass er eine der in § 100a bezeichneten Katalogtaten80 begangen hat. Dazu müssen bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass der Betreffende eine Katalogtat, also nicht nur eine schwere Straftat, begangen hat.
Die Befugnis zur Anordnung durch Abhörmaßnahmen liegt bei der Staatsschutzkammer des Landgerichts, bei Gefahr im Verzuge bei ihrem Vorsitzenden.
Weitere Vorschriften regeln u. a. Beweiserhebungen und Beweis verwertungsverbote sowie die Pflicht zur nachträglichen Unterrich tung der Betroffenen, „sobald dies ohne Gefährdung des Unter suchungszwecks, der öffentlichen Sicherheit, von Leib oder Leben einer Person sowie der Möglichkeit der weiteren Verwendung eines eingesetzten nicht offen ermittelnden Beamten erfolgen kann.“
– für die Strafverfolgungsbehörden ausreichende Möglichkeiten, die Unterrichtung Betroffener nach Ermessen aufzuschieben!
Der Spruch des BVerfG dazu Nach Erlass der Gesetze reichten März 1999 namhafte FDPMitglieder, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Burkhard Hirsch, Gerhart Baum u. a. Verfassungsbeschwerde ein.81 Nach der von der Öffentlichkeit stark beachteten mündlichen Verhandlung am 1. Juli 2003 folgte am 3. März 2004 das bedeutsame Urteil des BVerfG zum „Großen Lauschangriff“.
Das BVerfG entschied, dass die in Art. 13 Abs. 3 GG 1998 vorgenommene Verfassungsänderung nicht als solche verfassungs widrig ist, weil der Wortlaut des Art. 13 Abs. 3 die Garantie des Art. 1 Abs. 1 (Menschenwürde) unverändert ließ und das veränderte GG in diesem Sinne nur zu eingeschränkten Über wachungsmaßnahmen ermächtige, nämlich nur zu solchen, die die Menschenwürde wahren. Das BVerfG stellte somit vor allem 80 Katalogtaten sind in § 100a StPO aufgelistet; dazu gehören außer Staatsschutzdelikten und Mord, Totschlag und Völkermord ganz unterschiedliche Delikte, auch der allgemeinen Kriminalität, was sehr bedenklich ist. 81 Übrigens hat am 18. Mai 2000 das Landesverfassungsgericht von Mecklenburg-Vorpommern den „Großen Lauschangriff“ stark erschwert. 54
auf die Menschenwürde ab! Die neue Fassung des Art. 13 Abs. 3 sei mit den Anforderungen des Art. 79 Abs. 3 vereinbar. Art. 79 betrifft die Voraussetzungen der Änderung des GG. Zu nächst könne das GG nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut dessen ausdrücklich ändert oder ergänzt. Ein solches bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln des Bundestages und zwei Dritteln des Bundesrates (einer qualifizierten Mehrheit).
Nach Art. 79 Abs. 3 ist eine Änderung des GG bzgl. der Gliede rung des Bundes in Länder, der grundlegenden Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder der in den Art. 21 niedergelegten Grundsätze absolut unzulässig. Das BVerfG befand also, dass die Änderung des Art. 13 insoweit keinen Verstoß gegen das GG darstelle. Es akzeptiert den Wortlaut des geänderten Art. 13 als noch nicht verfassungswidrig, verlangt indessen eine an der Menschenwürde orientierte Auslegung! Das dürfte für den Bürger schwer nachvollziehbar sein! Demgegenüber sei ein erheblicher Teil der Vorschriften der StPO, die in diesem Zu sammenhang ergänzt und geändert wurden, mit Art. 19 Abs. 4 GG82 unvereinbar und daher verfassungswidrig, wie die Gründe des Urteils ergeben. Diese Rüge des BVerfG betrifft folgende Vorschriften der StPO: § 100c Abs. 1 Nr. 3 (hierbei geht es um das „Abhören“ des in einer Wohnung nichtöffentlich gesprochenen Wortes, also den „Großen Lauschangriff“); § 100d Abs. 3, Abs. 5 S. 2 und § 100f Abs. 1 betreffen die Verwertbarkeit der gemäß § 100c Abs. 1 Nr. 3 erlangten Informationen;
Diese – neuen – Vorschriften der StPO seien mit Art. 13 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 (allgemeines Persönlichkeitsrecht) und Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar, auch weitere Bestimmungen:
und zwar § 101 Abs. 1 S. 1 und 2 StPO mit Art. 19 Abs. 4 GG; § 101 Abs. 1 S. 3 StPO mit Art. 103 Abs. 1 GG (grundrechtlicher Anspruch auf gerichtliches Gehör) und § 100d Abs. 4 S. 3 in Verbindung mit § 100b Abs. 6 StPO mit Art. 19 Abs. 4 GG. 82 betrifft den Rechtsanspruch des Bürgers, sich bei Verletzung seiner Grundrechte durch die öffentliche Gewalt an die Gerichte zu wenden. 55
Das Gericht verpflichtete den Gesetzgeber, einen verfassungsmäßigen Rechtszustand bis zum 30. Juni 2005 herzustellen! Bis dahin dürften die beanstandeten Normen nach Maßgabe der Gründe weiterhin angewandt werden, wenn gesichert ist, dass bei der Durchführung der Überwachung der Schutz der Menschenwürde gewahrt und der Grundsatz der Verhältnis mäßigkeit eingehalten wird. Wie soll das gewährleistet werden? Wer kontrolliert? Auch wenn die Änderung des Art. 13 hinsichtlich seines Wortlauts nach BVerfG noch hinnehmbar erscheint und lediglich einige prozessuale Vorschriften korrigiert werden müssen, dürfte diese Entscheidung eine „schallende Ohrfeige“ für den Gesetzgeber sein. Eigenartig ist indessen, dass das BVerfG den Behörden erlaubt, Vorschriften anzuwenden, die nach eigenen Erkenntnissen verfassungswidrig sind. Zur Begründung seiner Entscheidung führt das BVerfG aus: Die Unverletzlichkeit der Wohnung habe einen engen Bezug zur Menschenwürde und dem verfassungsrechtlichen Gebot unbeding ter Achtung einer Sphäre der ausschließlich privaten – höchstpersönlichen – Entfaltung. Die vertrauliche Kommunikation benö tigt einen räumlichen Schutz, auf den Bürger vertrauen können. Im Einzelnen soll das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, gerade in seinen privaten Wohnräumen gesichert werden, und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen(!) die Entfaltung seiner Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung überwachen.
Die Beschränkung auf staatliche Eingriffe besagt im Umkehr schluss: Nichtstaatliche Stellen (privatwirtschaftlich agierende Unternehmen, als Vertragspartner, „Arbeitgeber“ o. Medien, Privatdetektive o. Ä.) werden von dieser grundgesetzlichen Ver pflichtung der Achtung der vertraulichen Kommunikation in den privaten Wohnräumen nicht tangiert: sie dürfen in diese Privatsphäre eindringen! In diesen Kernbereich darf die akus tische Wohnraumüberwachung nicht eingreifen, auch nicht im Interesse effektiver Strafrechtspflege und Erforschung der Wahrheit. Eine Abwägung zwischen Unverletzlichkeit der Wohnung und Strafverfolgungsinteresse (Verhältnismäßigkeits grundsatz) darf es nicht geben. Selbst überwiegende Interessen 56
der Allgemeinheit können Eingriffe in diese höchstpersönli chen Angelegenheiten nicht rechtfertigen! Allerdings, schränkt das BVerfG ein, verletzt nicht jede Überwachung, die in das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung eingreift, die Menschenwürde. So gehören Gespräche über begangene Straf taten ihrem Inhalt nach nicht zum absolut geschützten Kern bereich privater Lebensgestaltung: In solchen Fällen können Grundrechtsverletzungen zulässig sein, so des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung gem. Art. 13 GG, wenn sie nur die Menschenwürde nicht verletzen! Es ist bemerkenswert, dass sich diese Aussage auf begangene Straftaten bezieht. Jedoch muss daran erinnert werden, dass nach rechtsstaatlichen Prinzipien vor einer rechtskräftigen Verurteilung überhaupt nicht feststeht, ob eine Straftat begangen wurde! Davon spricht das BVerfG nicht. Zweifelhaft ist, wie bei einer Wohnraumüberwachung zuverlässig bemerkt werden kann, an welcher Stelle private Gespräche, die nicht abgehört, in solche übergehen, die abgehört werden dürfen, weil sie eine begangene Straftat betreffen. Das Urteil besagt dann weiter: Eine auf die Überwachung von Wohnraum gerichtete gesetzliche Ermächtigung müsse unter Beachtung des Grundsatzes der Normenklarheit für die Sicherung der Unantastbarkeit der Menschenwürde das Risiko ihrer Verletzung ausschließen! Wahrhaft salomonische Worte! Auch muss die Ermächtigung den tatbestandlichen Voraussetzun gen des Art. 13 Abs. 3 GG und den übrigen Vorgaben der Ver fassung entsprechen. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der Wohnraumüberwachung seien um so strenger, je größer das Risiko ist, dass mit ihnen Gespräche höchstpersönlichen Inhalts erfasst werden könnten! So muss die Überwachung dann von vornherein unterbleiben, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass die Menschenwürde durch die Maßnahme verletzt wird.
Und das soll der überwachende Beamte erkennen können!? Wenn bei der Überwachung das überwachte Gespräch unerwartet zu absolut geschützten Informationen übergeht, muss sie abgebrochen werden, die Aufzeichnungen gelöscht werden! Die Verwendung solcher erhobener absolut geschützter Daten 57
sei ausgeschlossen. Diese schönen Worte des BVerfG erinnern an – lebensfremde – Sandkasten-Manöverspiele! Das Risiko, solche Daten zu erfassen, bestehe typischerweise beim Abhören von Gesprächen im engsten Familienkreise mit Ange hörigen im engsten Kreise vertrauter Personen, zu denen ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht (Pfarrer, Ärzte, Strafverteidiger etc.). Bei diesem Personenkreis dürfen Überwachungsmaßnahmen nur ergriffen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Gesprächsinhalte zwischen dem Beschuldigten und diesen Personen keinen absoluten Schutz erfordern, so bei einer Tatbeteiligung der das Gespräch führenden Personen.
Wie lebensfremd sind die Damen und Herren des BVerfG? Woran will das der abhörende Beamte erkennen? Da nicht auszuschließen ist, dass professionelle Kriminelle, namentlich solche der „Organisierten Kriminalität“, diese Entscheidung als Anleitung für ihr Gesprächsverhalten verstehen, dürfte der Nutzen der Neufassung des Art. 13 Abs. 3 GG (incl. zugehöriger Vorschriften der StPO) nach dieser „Weißwäsche“ durch das BVerfG für die Strafverfolgung eher gering sein. Anhaltspunkte, dass die zu erwartenden(!) Gespräche nach ihrem Inhalt einen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweisen, müssen schon zum Zeitpunkt der Anordnung (durch die Staatsschutzkammer) bestehen, belehrt das BVerfG! Sie dürfen nicht erst durch eine Wohnraumüberwachung begründet werden!
Sehr gut! Aber: Woher soll die Staatschutzkammer bzw. bei Gefahr im Verzug ihr Vorsitzender diese für die Zukunft relevanten Anhaltspunkte gewinnen? Das BVerfG mutet diesen Kammern hellseherische Fähigkeiten zu! Es besteht die Vermutung dafür, dass Gespräche mit engsten Vertrauten in der Privatwohnung zum Kernbereich privater Lebensgestaltung gehören.
Das ist eine bemerkenswerte Entdeckung!
Demgegenüber nehmen Gespräche in Betriebs- und in Geschäfts räumen zwar am Schutz des Art. 13 Abs. 1 GG teil, sie beträfen aber bei einem fehlenden Bezug des konkreten Gespräch zum Persönlichkeitskern nicht den Menschenwürdegehalt des GG! 58
Da haben wir wieder den nicht ganz einfach zu meisternden Un terschied zwischen einer – zulässigen – Grundrechtsverletzung und der besonderen Achtung der Menschenwürde! Dann aber erkannte das BVerfG: Die auf Art. 13 Abs. 3 GG gestützte gesetzliche Ermächtigung zur Durchführung der Wohnraumüberwachung (§ 100c Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, Abs. 3 StPO und weitere Regelungen) seien in wesentlichen Teilen verfassungswidrig! So habe der Gesetzgeber die mit Blick auf den Kernbereich privater Lebensgestaltung verfassungsrechtlich gebotenen Überwachungs- und Erhebungsverbote in § 103d Abs. 3 StPO nicht in ausreichender Weise konkretisiert.
Richtig! Das BVerfG fährt fort:
Die Überwachung müsse ausgeschlossen sein, wenn sich der Beschuldigte allein mit seinen engsten Familienangehörigen oder anderen engsten Vertrauten in der Wohnung aufhält und keine Anhaltspunkte für deren Tatbeteiligung bestehen.
Woran soll der überwachende Beamte solche Anhaltspunkte tatsächlicher Art erkennen?
Auch fehlen hinreichende gesetzliche Vorkehrungen dafür, dass die Überwachung abgebrochen wird, wenn unerwartet eine Situation eintritt, die dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen ist.
Also ständig zuhören und abbrechen!
Auch fehle ein Verbot der Verwertung und ein Gebot unverzüglicher Löschung rechtswidrig erhobener Informationen.
Auch das ist zutreffend! Aber wer kontrolliert dies?
Ferner müsse gesichert sein, dass Informationen aus dem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, weder im Hauptsacheverfahren verwertet noch zum Anknüpfungspunkt weiterer Ermittlungen werden!
Wie soll solche Sicherung aussehen? Weiter das BVerfG:
Nach Art. 13 Abs. 3 GG komme eine Überwachung nur zur Er mittlung besonders schwerer, im Gesetz einzeln aufgeführter Straf taten (Katalogtaten) in Betracht. Die besondere Schwere solcher Delikte sei nur gegeben, wenn der Gesetzgeber die Straftat mit einer Höchststrafe über fünf Jahre bewehrt hat. Eine Reihe der in 59
§ 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO in Bezug genommenen Katalogtaten erfüllen diese Anforderungen nicht! Sie scheiden daher als Anlass einer Wohnraumüberwachung aus, befand das BVerfG!
Das ist ein deutlicher, an den Gesetzgeber adressierter Auftrag. Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung sei auch verfahrensrechtlich zu sichern, so insbes. durch die Einschal tung des Richters (§ 100 Abs. 2 und 4 S. 1 und 2 StPO).83 Die Anforderungen an den Inhalt und die schriftliche Begründung der gerichtlichen Anordnung seien näher zu konkretisieren; so seien in der Anordnung Art, Dauer und Umfang der Maßnahme zu bestimmen. Bei einer Verlängerung des ursprünglich festgesetzten Überwachungszeitraums unterliegen die Staatsanwaltschaft und das Gericht eingehender Prüfungs- und Begründungspflicht.
Erfüllen sie diese? Können sie es überhaupt? Wer kontrolliert? Das Gericht sei auch zur Sicherung der Beweisverwertungsver bote einzuschalten. Das ist erfreulich. Nur, wer überwacht dies? Ein Gericht kann immer nur tätig werden, wenn es angerufen wird. Und wenn es nicht angerufen wird, wer kontrolliert dann? Unterliegt das BVerfG nicht einer Überschätzung der Möglich keiten von Gerichten – selbst, wenn alles aktenkundig gemacht wird? Durchaus berechtigt beanstandet das BVerfG: Die Regelungen über die Pflicht zur Benachrichtigung der Beteilig ten (§ 101 StPO) seien nur teilweise mit dem GG vereinbar. Die Grundrechtsträger haben einen Anspruch, grundsätzlich über Maßnahmen der Wohnraumüberwachung informiert zu werden. Zu benachrichtigen seien neben dem Beschuldigten, die Inhaber und Bewohner der Wohnung. Dies gilt auch für Drittbetroffene, es sei denn, durch Recherchen (wessen?!) über ihren Namen und Adressen wird der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht vertieft!?
Der Letztere soll also nicht unnötig beunruhigt werden! Da ein Betroffener, etwa der Inhaber oder (Mit)bewohner der Woh nung, in aller Regel von dieser Maßnahme nichts weiß, kann er überhaupt nicht kontrollieren, ob er im Nachhinein darüber unterrichtet wird! Es ist nur zur Genüge bekannt, wie oft solche gesetzlich gebotene Benachrichtigung unterbleibt. 83 Es müsse stets eine richterliche Anordnung vorliegen. 60
Außerhalb der das Verfahren betreibenden Justizbehörden dürften Dritten solche Fälle nur dann – zufällig – bekannt werden, wenn z. B. Rechtsanwälte Gelegenheit zur Akteneinsicht (auch in einem anderen Verfahren) erhalten.84
Ist das alles nicht Augenauswischerei!? Weiter das BVerfG:
Die in § 101 Abs. 1 S. 1 StPO genannten Gründe für eine ausnahmsweise Zurückstellung der Benachrichtigung seien teilweise verfassungswidrig. Unbedenklich sei es, die Benachrichtigung zurückzustellen, wenn andernfalls der Untersuchungszweck oder Leib und Leben einer Person gefährdet seien.
Woran soll das festgemacht werden? Demgegenüber reiche die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder der Möglichkeit des weiteren Einsatzes eines nicht offen ermittelnden Beamten nicht für Zurückstellung der Benachrichtigung, befindet das BVerfG. Auch verletze es den Anspruch auf das in Art. 103 Abs. 1 GG verankerte rechtliche Gehör, wenn nach Erhebung der öffentlichen Klage das Prozessgericht über die Zurückstellung der Benachrichtigung entscheidet, so dass ihm Tatsachen bekannt werden, die dem Angeklagten verborgen bleiben! Die gesetzlichen Regelungen über den nachträglichen Rechtsschutz der Betroffenen unter Einschluss von Drittbetroffenen werden, meint das BVerfG, verfassungsrechtlicher Anforderung gerecht; sie seien daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden: Die Regelung zur Verwendung personenbezogener Informationen in anderen Verfahren, so in § 100d Abs. 5 S. 2 und § 103f Abs. 1 StPO seien weitgehend verfassungsgemäß. Allerdings führe eine re striktive Auslegung dazu, dass Informationen nur zur Aufklärung anderer ähnlich gewichtiger Katalogtaten und zur Abwehr von im Einzelfall bestehenden Gefahren für hochrangige Rechtsgüter nutzbar gemacht werden dürfen. Daher müsse der Verwendungszweck mit dem ursprünglichen Zweck der Überwachung vereinbar sein. 84 Über meine eigenen Erfahrungen hinaus darf auf eine Meldung verwiesen werden, nach der ein Strafverteidiger aus einer Akteneinsicht entnahm, dass gegen fünf Beschuldigte bereits seit 2001, also seit sieben Jahren! – ermittelt worden war; i. Ü. wimmelten die Akten nur von diversen akustischen und optischen Überwachungsmaßnahmen! 61
Wer wird dies überprüfen? Verfassungswidrig sei das Fehlen einer Pflicht zur Kennzeichnung der weitergegebenen Informationen! Unvereinbar mit Art. 19 Abs. 4 GG seien die Vorschriften über die Datenvernichtung (§ 100d Abs. 4 S. 3 und § 100b Abs. 6 StPO). Der Gesetzgeber habe das Interesse an einer Datenvernichtung und das Gebot effektiven Rechtsschutzes gegenüber einer Wohn raumüberwachung nicht hinreichend aufeinander abgestimmt! Soweit die Daten im Interesse der gerichtlichen Kontrolle noch verfügbar sein müssen, dürfen sie nicht gelöscht, müssen aber gesperrt werden. Auch dürfen sie zu keinem anderen Zweck als dem zur Information des Betroffenen und zur gerichtlichen Kontrolle verwendet werden – also nicht für weitere Verfahren.
Auch das ist gut und richtig – nur: wie will wer solches tatsächlich kontrollieren, jedenfalls sobald die Informationen aus dem Kontrollbereich der Gerichte gelangt sind. Als Jurist kann ich diese Grundrechte der Bürger sichernwollende Entscheidung des BVerfG begrüßen. In Ansehung der Lebenswirklichkeit des Eigenlebens betreffender Behörden darf gefragt werden, inwieweit sich die unter dem GG geübte Praxis für die Betroffenen von der Praxis einer anderswo geübten Wohnraumüberwachung unterscheidet, die nicht unter dem GG und eines – erst bei Anrufung! – tätig gewordenen BVerfG entwickelt hatte!?
Abweichende Meinungen! Die Berechtigung zu einer solchen Frage nach Kenntnisnahme dieser Entscheidung des BVerfG wird dadurch unterstrichen, dass die beiden Verfassungsrichterinnen Jaeger und HohmannDennhardt zu dieser Entscheidung ihre abweichende Meinung anfügten. Sie meinen, worin ich ihnen beipflichte, dass schon der (neue) Art. 13 Abs. 3 mit Art. 79 Abs. 1 GG nicht vereinbar und daher nichtig sei! Sie plädieren, diesen Art. 79 streng und unnachgiebig auszulegen. Heute, wo man sich an den grenzenlosen Einsatz technischer Möglichkeiten gewöhnt zu haben scheint und selbst die persönliche Intimsphäre – die „eigenen vier 62
Wände“ – kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicherheitsbedürfnis halt zu machen habe, sei nicht mehr nur den Anfängen eines Abbaus von verfassten Grundrechtspositionen zu wehren. Viel mehr sei einem bitteren Ende zu begegnen, in der das dadurch erzeugte Menschenbild einer freiheitlich-rechtsstaatlichen De mokratie nicht mehr entspricht. Daher erkennen die beiden Richterinnen, dass Art. 13 Abs. 3 GG die materielle Grenze überschreitet, die Eingriffe in die Unverletzlichkeit der Woh nung vorsieht. Diese Grundrechtsnorm enthalte in ihrem (durch das angefochtene Gesetz veränderten) Wortlaut keine Eingrenzung, die sicherstellen könnte, dass bei Einsatz der Wohnraumüberwachung in der Privatwohnung ein unantastba rer Kernbereich privater Lebensgestaltung geschützt bleibt. Auch erscheint ihnen fraglich, ob der Gesetzgeber eine solche Einschränkung gewollt habe. (Was hat er eigentlich gewollt?) Im Gesetzgebungsverfahren seien Änderungsanträge mehrheitlich mit dem Argument abgelehnt worden, damit werde die Effektivität des Instruments gänzlich infrage gestellt.
Damit wird – hochinteressant – von diesen Richterinnen die eigentliche Kontroverse „Effektivität des Instruments oder Gewährleistung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung“ deutlich gemacht! So sei das höchstpersönliche Gespräch mit Familienangehörigen und engen Vertrauten vom verfassungsändernden Gesetzgeber durch Art. 13 Abs. 3 GG ungeschützt geblieben; dieser Abs. 3 erlaube, mit technisch möglichen Mitteln diese Gespräche zu belauschen; lediglich durch eine einfachgesetzliche Regelung ihrer Verwertung und durch Betonung von Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten werde es etwas in Frage gestellt. Sie sprechen erfreulich deutlich aus, dass der Gesetzgeber damit dieses höchstpersönliche Gespräch mit technischen Mitteln zu belauschen erlaubt! Die Folge davon sei, dass das Zeugnisverweigerungsrecht ausgehöhlt wird, unverdächtige Gesprächspartner des Beschuldigten durch Abschöpfen der in der Wohnung herrschenden Vertrauens atmosphäre zum Objekt staatlicher Strafverfolgung werden. 63
Hier wird Klartext gesprochen! Der durch Verfassungsänderung eingeführte Art. 13 Abs. 3 kann nicht durch verfassungskonforme oder -systematische Auslegung verfassungsfest gemacht werden. Dem ist beizupflichten! Was ist das für ein Rechtsstaat, der Grundrechte der Bürger verletzende Gesetze erlässt und sich dann auf eine „verfassungskonforme“ Auslegung verlässt? Grundrechte verletzende Bestimmungen des GG kann man nicht durch Auslegung „heilen“ – ganz abgesehen davon, dass zu hoffen bliebe, wer wo, wann und wie eine solche Auslegung überwacht. Wo bleibt die Wahrung der Bürgerrechte? Eine Ver fassungsänderung sei – zutreffend – nach Art. 79 Abs. 3 an den in Art. 1 u. 20 niedergelegten Grundsätzen zu messen, nicht dagegen mit deren Maßstäben auszulegen! Sehr gut: zu messen und nicht auszulegen und also erst auf dem Wege der Auslegung abweichend vom Wortlaut in Konformität mit der Verfassung zu bringen. Auch die Senatsmehrheit – so die Richterinnen – geht davon aus, dass Art. 13 Abs. 3, für sich genommen, mit § 79 Abs. 3 nicht im Einklang steht. Deshalb fügt sie unter Zuhilfenahme einer systematischen Verfassungsauslegung mithilfe des Menschenwürdegehalts in Art. 13 Abs. 1 dem Art. 13 Abs. 3 GG weitere ungeschriebene Grenzen hinzu und will damit die Ermächtigung zur Wohnraumüberwachung über den geschriebenen Text hinaus einengen. So höhlt die Senatsmehr heit die fundamentale Bedeutung der lex scripta aus!85 So aber verliere der Menschenwürdegehalt des Wohnraumschutzes seine Sperrwirkung gegenüber Verfassungsänderungen, dient nur noch dazu, als Interpretationshilfe einer verfassungswidrigen Verfassungsänderung zu verfassungsgemäßem Bestand zu ver helfen. Gerade das, was in der verfassungsändernden Norm gar nicht geschrieben steht, lässt diese die Hürde des Art 79 Abs. 3 überwinden! 85 In meiner Tätigkeit als Strafverteidiger ist mir wiederholt begegnet, dass Gerichte, um eine Verurteilung zu erreichen, den Wortlaut von Gesetzen beiseite schoben und sich auf ganz andere „Rechtsregeln“ bezogen. Dabei darf davon ausgegangen werden, dass jene berühmt-bedenkliche Soraya-Entscheidung des BVerfG seine Wirkung zeitigt: Gerichte sollen, „Gesetzeslücken“ durch rechtsfortbildende Rechtsprechung schließen! 64
Die Kompetenzzuweisung des GG und der rechtsstaatliche Grundsatz der Normenklarheit verbieten es dem BVerfG, die Verfassungsnorm so weit einzuengen, dass sie die Hürde des Art. 79 Abs. 3 GG nehmen kann, dann aber kompensatorisch die ein fachgesetzlichen Regelungen, die sich auf die in der geänderten Verfassungsnorm zum Ausdruck kommende Eingriffsermäch tigung stützen, wegen Verfassungswidrigkeit zu beanstanden.
Verfassungsänderungen müssen beim Wort genommen werden! Indem die Senatsmehrheit die Verfassungsmäßigkeit einer ver fassungsändernden Norm durch deren verfassungskonforme Auslegung herstellt(!), schränkte sie außerdem den Geltungsbe reich von Art. 79 Abs. 3 in unzulässiger Weise ein, da auf diesem Wege seine für Verfassungsänderungen gesetzten Schranken letztlich nur noch dort greifen, wo der Gesetzgeber Art. 1 oder 20 selbst in Gänze abzuschaffen versucht. Art. 79 Abs. 3 reiche weiter, meinen sie zu Recht. Denn der Grundgesetzgeber hat bereits eine Verfassungsänderung als unzulässig ausgeschlossen, die die in diesen Artikeln niedergelegten Grundsätze berührt. Geschieht dies, sei deshalb kein Raum mehr für eine verfassungskonforme Auslegung, die einer unzulässigen Verfassungsänderung im Nachhinein zur Verfassungsmäßigkeit verhilft.
Die beiden Richterinnen wähnen einen „juristischen Taschen spielertrick“, mit dem die Senatsmehrheit die Gesetzgebung „retten“ und die Verfassungskonformität der bedenklichen Gesetze durch entsprechende Auslegung „herstellen“ möchte. Letztlich läuft dies, wie wir das auch von anderen Entscheidun gen des BVerfG wissen, darauf hinaus, dem Gesetzgeber nicht allzu sehr in die Parade zu fahren, ihm Hilfestellung zu geben, um einer allzu krassen überdeutlichen Grundgesetzwidrigkeit zu begegnen. Vergegenwärtigen wir uns darüber hinaus, dass die Mehrheitsverhältnisse im BVerfG unterschiedlich, veränderlich sind, dann könnte dasselbe Gericht in einer anderen Zusammensetzung zu einem anderen Ergebnis kommen. Die Verfassungstreue, die Grundgesetzmäßigkeit von Gesetzen – wie auch von gerichtlichen Entscheidungen – hängt mitunter von Zufälligkeiten ab, manchmal am seidenen Faden! 65
Was bleibt? Auch wenn man diese Entscheidung des BVerfG als – überwiegend – erfreulich beurteilen möchte, bleibt: • Das gerügte Gesetz litt in der justiziellen Praxis etwa sechs Jahre an diesem Mangel. Mithin gab es über diesen beträchtlichen Zeitraum eine verfassungsrechtlich bedenkliche Rechtslage und eine ebenso bedenkliche Rechtsanwendungspraxis.86 • Bedenklich bleibt auch, dass das BVerfG nur eine begrenzte und sehr vorsichtige Entscheidung traf, sich i. Ü. damit begnügt, die zuständigen Behörden zu verpflichten, dieses Gesetz bis zu seiner Ablösung durch ein neues verfassungskonformes Gesetz bei seiner Anwendung verfassungsgemäß, insbesondere im Sinne der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 GG), auszulegen.
Eine solche Verpflichtung bleibt ein leeres Wort, wenn sie nicht kontrolliert werden kann!
• Rechtsstaatlich bedenklich bleibt, dass die Mehrheit des Senates nicht die sachlich gebotene Konsequenz bewies. Sie hat sich im allgemeinen Staatsinteresse, um eine sofortige Nichtigkeitserklärung der gerügten Vorschriften zu vermeiden, darauf zurückgezogen, nur eine verfassungsrechtliche Rüge auszusprechen.87
Aber das BVerfG sah sich – dem Gesetzgeber misstrauend? – veranlasst, ihm die gebotene deutliche Nachhilfe zu erteilen, indem es selbst alle wesentlichen Vorgaben vermittelte, die beim Erlass eines neuen Gesetzes zum gleichen Gegenstand be86 Ähnliches gab es bereits in den 50er Jahren! – Der durch das 1. StrÄG am 30. 8. 1951 erlassene § 90a (Verfassungsverräterische Vereinigungen) umschloss Abs. 3, der politische Parteien, so auch die erst 1956 durch das BVerfG verbotene KPD, zu solchen Vereinigungen zählt, weshalb KPDMitglieder allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser bis 1956 legalen Partei strafrechtlich verfolgt wurden: Am 21. März 1961 erkannte das BVerfG diese Vorschrift wegen Verstoßes gegen Art. 20 und Art. 103 GG für verfassungswidrig und nichtig, nachdem eine verfassungswidrige Strafverfolgungspraxis über fünf Jahre ausgeübt wurde; der BGH hatte darüber hinaus in noch krasser verfassungswidriger Weise die KPD von 1951 bis 1955 als eine „kriminelle Organisation“ behandelt. 87 Die Funktion, sich als Hüter der Verfassung bzw. des GG zu erweisen, erfüllt das BVerfG mit dieser Entscheidung gerade nicht! 66
rücksichtigt werden müssen. Damit hat es sich als Gesetzgeber geriert und die Grenzen seines Richteramts überschritten. Bei einer anderen Zusammensetzung des Senats, in der sich die Mindermeinung hätte durchsetzen können, wäre es zu einer weiterreichenden Entscheidung gekommen, insbesondere dazu, die Verfassungswidrigkeit und damit die Nichtigkeit der angegriffenen Vorschriften festzustellen.
Die Rechtsstaatlichkeit erwies sich als befleckt, nicht makellos.
Ein verfassungsgemäßes Gesetz? In der Presse wurde die Entscheidung des BVerfG überwiegend als eine seit langem überfällige Rückbesinnung auf die Kernelemente des Rechtsstaates begrüßt Die Würdigung der tatsächlichen Durchführung des „Großen Lauschangriffs“ lieferte – wegen der Unbestimmtheit der Entschei dung des BVerfG – Gegnern wie Befürwortern gleichermaßen Ar gumente: Die Tatsache, dass in fünf Jahren – vorgeblich – nur 119 Überwachungsmaßnahmen durchgeführt worden seien,88 wird von den Befürwortern als Beweis angesehen, dass von einer flächendeckenden Bespitzelung keine Rede sein könne. Die Kritiker argumentieren, die relativ geringe Zahl der Überwachung beweise, dass der Nutzen der Regelung weit geringer sei als behauptet und dass die grundrechtliche Fragwürdigkeit bei weitem überwiege.89
Am 10. 7. 2004 präsentiert das Bundesjustizministerium einen neuen Referentenentwurf zur Änderung der vom BVerfG als nicht verfassungskonform erklärten Regelungen der StPO, die heftige Kritik, besonders bei der Anwaltschaft, auslöste. Am 24. 6. 2005 beschloss der Bundestag ein Gesetz zur Umsetzung des Richterspruchs und fasste die betreffenden Bestimmungen der
88 Diese Angabe ist durch die Öffentlichkeit nicht überprüfbar; auch ist anzunehmen, dass sich diese Angabe nur auf die „offiziellen“ Überwachungsmaßnahmen nach StPO bezieht, aber all die anderen ausblendet. 89 Übrigens wurde im Vorfeld dieser Entscheidung bereits neben der akustischen auch die optische Wohnraumüberwachung der so genannte „Späh-Angriff“ ergänzend vorgeschlagen. 67
StPO neu, womit die vom BVerfG gesetzte Frist (30. 6. 2005), ein neues Gesetz zu erlassen, gerade noch eingehalten wurde.
Ob diese verfassungsgemäß sind, weiß niemand – solange nicht jemand, der sich in seinen Grundrechten verletzt sieht, das BVerfG anruft. Vor allem wurden nunmehr die gerügten Be stimmungen der StPO gemäß BVerfG-Vorgaben neu gefasst. So erlaubt § 100c das Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes unter bestimmten Voraussetzungen. Im Abs. 2 wurde der Katalog der betreffenden Straftaten präzisiert. In Abs. 5 ist die unverzügliche Unterbrechung des Abhörens vorgeschrieben, wenn persönliche Gespräche betroffen werden, ebenso das Löschen des Abgehörten und die Nichtverwertbarkeit, was alles aktenkundig gemacht werden muss. Falls sich die abhörenden Beamten darüber im Zweifel sind, ob sie weiter abhören dürfen, ist eine gerichtliche Entscheidung verlangt.
Wie das praktisch vonstatten gehen soll – nicht vorstellbar.
Wenn nicht nur ein Apparat, sondern Menschen abhören und diese merken (woran?), dass es sich um Gespräche im intimen Privatbereich handelt, haben sie das Abhören zu unterbrechen.
Wenn sie Zweifel haben (woran manifestiert sich dieser Zweifel?), sollen sie eine gerichtliche Entscheidung einholen!
Wenn etwa das Gespräch, das abgehört wird, am späten Abend oder in der Nacht stattfand, wie will der abhörende Beamte seine Zweifel geklärt bekommen? Selbst wenn bei Tage durch telefonische Rücksprache, in dem der abhörende Beamte dem Richter mit seinen Worten (oder wie?) vermittelt, um welchen Gesprächsinhalt es sich nunmehr handele, und das Gericht nun ein weiteres Abhören erlaubt, dürfte der Gesprächsfaden inzwischen viel weiter gesponnen sein…
Ist das nicht lebensfremd? Weiter:
§ 100d betrifft die Zuständigkeit für die Anordnung der vorge nannten akustischen Überwachung – durch eine gerichtliche Ent scheidung des Staatsschutzsenats des LG. U. a. ist eine Befristung des Ablauschens auf einen Monat vorgesehen – unter Umständen ist eine Verlängerung zulässig. Abs. 4 schreibt vor, das Gericht über den Verlauf und die Ergebnisse des Abhörens zu unterrichten. 68
Was das Gericht damit anfangen kann, sei dahingestellt; wenn es sich damit begnügt zu prüfen, ob keine Privatgespräche belauscht, abgehört und aufgezeichnet wurden, ist es schon viel. Aber sonst? In § 100e ist vorgesehen, dass die Bundesregierung dem Bundestag – noch vor allgemeiner Unterrichtung der Öffentlichkeit – darüber zu berichten habe, nach Vorgaben, gemäß Abs. 2.90 Im § 100f wird der „kleine Lauschangriff“, das Abhören des nicht öffentlich gesprochenen Wortes außerhalb der Wohnung, erlaubt, was grundsätzlich nur beim Beschuldigten zulässig sei.
Weiter betrifft
§ 100g heimliche Erhebung von Verkehrsdaten; § 100h Bildauf nahmen außerhalb der Wohnung und andere Datenerfassung, grundsätzlich nur gegenüber dem Beschuldigten; § 100i Erfassung/ Überwachung in Fällen, in denen die Straftat bisher lediglich versucht oder vorbereitet wurde; § 101 Verbleib der Entscheidung und andere Unterlagen; § 101, Abs. 4 Benachrichtigung der betref fenden Personen und die Möglichkeit eines nachträglichen Rechts schutzes, soweit dem nicht besondere Gründe entgegenstehen!?
Beim nachträglichen Rechtsschutz geht es um die Möglichkeit, sich nach entsprechender Information an das Gericht zu wenden und sich im Nachhinein bestätigen zu lassen, ob die betreffende Maßnahme rechtmäßig oder – rechtswidrig91 war. Was kann der Betroffene damit praktisch anfangen, wenn ihm nun gerichtlich bescheinigt wird, dass die ihn betreffende Maßnah me rechtswidrig war? Abgehört wurde er! Womöglich hat das Auswirkungen auf die Verwertbarkeit der betreffenden Infor mationen? Aber – wie auch sonst im persönlichen und allgemei nen Leben: Wurde etwas erst einmal ausgesprochen, dann hat der Urheber der Aussage keinen Einfluss mehr, was daraus wird. Jedenfalls kann er all das Weitere nicht mehr beherrschen Abs. 5 des § 101 sieht eine Benachrichtigung des Betroffen vor – so weit dies ohne Gefährdung, insbes. des Untersuchungszweckes 90 In der früheren Fassung war nur eine – interne – Berichtspflicht an die StA bzw. durch sie vorgesehen. 91 Ob sich im Einzelfall daraus greifbar Positives ergibt, ist ungewiss. 69
möglich ist; u. U. ist diese Benachrichtigung zurückzustellen! Abs. 8 betrifft das Sperren und Löschen der betreffenden Daten
Außer den vorgenannten Vorschriften ist auf andere Vorschriften der StPO hinzuweisen, die mit dem Gesetz des Jahres 2005 eingefügt oder geändert wurden:
In § 100a die Voraussetzungen der heimlichen, ohne Wissen des Betroffenen durchgeführten Überwachung des Fernmeldeverkehrs. § 100b die Zuständigkeit für die betreffenden Entscheidungen.
So sehr zu begrüßen ist, dass nunmehr gesetzliche Vorschriften erlassen wurden, die sich – vorgeblich oder auch tatsächlich – an die Vorgaben des BVerfG halten, so bleibt, dass diese Vorschriften – insbesondere von betroffenen Personen, die die Praktiken der zuständigen Behörden nicht kennen – sehr schwer zu durchschauen sind. Dieses Gesetz ist wahrlich nicht bürgerfreundlich – und das auf einem Gebiet, das die Bürgerrechte tangiert! Mit diesen Neufassungen mag den rechtlichen Geboten des BVerfG Genüge getan worden seien, aber die Kompliziertheit der rechtlichen Regelungen illustriert und verdeutlicht das bereits hervorgehobene Problem der „Verrechtlichung“ derartiger Vorgänge, um dadurch eine höhere Rechtssicherheit für die Bürger erreichen zu wollen. Im Ergebnis wird nicht selten das Gegenteil dessen, also eine geringere Rechtssicherheit, erreicht.
Zum Menschenrecht der Privatheit Das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ist ein elementares Grund- und Menschenrecht. Im Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (4. 11. 1950), die für die BRD 1954 verbindlich wurde, ist dieses Recht noch ausdrücklicher und ausführlicher dargestellt als im Art. 13 des GG.92 EMRK: „Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.“ 92 70
Art. 13 Abs. 1 GG lautet schlicht: „Die Wohnung ist unverletzlich.“
Hierin kommt der menschen- und grundrechtliche Anspruch jedes Menschen auf Privatheit, darauf, in „seinen vier Wänden“ in Ruhe gelassen zu werden, klar und deutlich zum Ausdruck. Es ist zu fragen, warum nicht das GG angepasst wurde.
Das Recht auf Privatheit hat eine solche Bedeutung, dass unvertretbar ist, dieses, besonders krass im ersten Lauschangriffgesetz (1998), einem zweifelhaften fragwürdigen Zweck und vor allem bedenklichen Mitteln des Lauschangriffs zu unterwerfen. Das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ist seinem Ursprung nach ein Individualrecht, das dem einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse seiner freien Entfaltung einen „elementaren Lebensraum“ geben soll. Deshalb sieht Art. 13 GG für die öffentliche Gewalt ein grundsätzliches Verbot des Eindringens in die Wohnung oder des Verweilens darin gegen den Willen des Wohnungsinhabers vor.
Danach sind der ohne und gegen den Willen des Wohnungs inhabers vorgenommene Einbau von Abhörgeräten und ihre Benutzung sowie das Überwachen und Belauschen unter Verwendung optischer und akustischer Hilfsmittel verboten. Zulässig sind Erhebungen, die sich auf Wohnverhältnisse bezie hen und ohne Eindringen in die Wohnung vorgenommen wer den. Zulässig ist auch die Durchsuchung einer Wohnung und die Beschlagnahme von Sachen im Rahmen des Ermittlungs verfahrens.
Der Wohnungsinhaber ist von beabsichtigten Grundrechts eingriffen zu informieren und er muss vor deren Durchführung angehört werden (§ 102 ff, bes. § 106 StPO). Der Begriff der Wohnung ist weit auszulegen. Er umfasst alle Räu me, die der Berechtigte der allgemeinen Zugänglichkeit entzogen und zur Stätte seines Lebens und Wirkens gemacht hat, auch Nebenräume wie Flure, Treppen, Keller, Böden, Garage usw., auch Hof, Garten oder Spielplätze. Auch fahrbare und schwimmende Räume wie Wohnwagen und Wohn- bzw. Hausboote, ebenso Hotelzimmer, sowie Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume.
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Zufällige Zusammenhänge? Auch Strafschärfung?! Es dürfte kein Zufall sein, dass parallel zur Entwicklung der Bundesrepublik zu einem Überwachungs- und Sicherheitsstaat auf strafrechtlichem Gebiet eine unübersehbare Verschärfung zu beobachten ist. War im Ergebnis der großen Strafrechts reform und in Gestalt des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (25. 6. 1969) und des Strafvollzugsgesetzes (16. 3. 1976) ein in vieler Hinsicht progressives und begrüßenswertes Recht geschaffen worden, so hat sich „eine Generation später das Bild gewandelt“93 An unterschiedlichen Merkmalen weist Meier nach, dass das Strafrecht, insbesondere 1998 – 2004, ver schärft wurde. 2006 erinnerte Winfried Hassemer in seinem Eröffnungsvortrag zum Strafverteidigertag: „In den längst vergangenen Tagen, da meine Generation an den Universitäten das Strafrecht geübt hat, war natürlich manches anders als heute – und natürlich fast alles besser.“94
Weiter: „Das Strafrechtssystem gewinnt an innenpolitischer Verfügbarkeit“ – bedeutet, dass sein Stellenwert im polizeilichen Raum wächst und nach Bedarf zur Verfügung stehen soll. Damit verliert es seinen rechtsstaatlichen, Grundrechte gewährenden Charakter! Hassemer weiter: „Das moderne Strafrecht ist dabei, sich in ein Gefahrenabwehrrecht zu verwandeln“ – womit es seinen ihm originär innewohnenden Charakter zugunsten eines Polizei-Straf-Rechts verliert. Deutlicher kann dieser Wandel in ein Polizei-Straf-Recht nicht ausgedrückt werden! Rechtsstaatliches Strafrecht Ade?! Dieser Entwicklung entspricht im Verfahrensrecht, vor allem in der strafprozessu alen Praxis, eine seit Jahren zu beobachtende Tendenz der „Durchsetzung des Strafverfahrens mit präventiv-polizeilichen Elementen“, „einer immer stärkeren Abwendung von einem strikt regel- und prinzipiengeleiteten Strafverfahren“ mit „einer Entformalisierung und Funktionalisierung“ des Strafprozesses 93 So Bernd-Dieter Meier, Kriminalpolitik in kleinen Schritten – Entwicklungen im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem. 94 Wilfried Hassemer: „Sicherheit durch Strafrecht“. 72
geht eine wachsende „Ungenauigkeit“ einher.95 Nachdem in der polizeilichen Praxis zunehmend mit verdeckten Metho den gearbeitet und dann in §§ 110a ff der Einsatz verdeckter Ermittler geregelt wurde,96 ist in letzter Zeit die Nutzung von Nachrichtendienstdaten zur Strafverfolgung, auch aus internationalem Zusammenwirken, offen zu tage getreten.97 All diese Verschärfungen im Strafprozessrecht betreffen vor allem die dadurch verletzten Rechte der Bürger, namentlich derer, die – unversehens – in die „Mühlen“ der Justiz geraten. Es ist zu erinnern, dass sich gerade am Strafverfahrensrecht die Verfassungstreue eines Strafjustizsystems, wie sie durch betreffende Artikel des GG98 vorgegeben ist, beweist. An verschiedenen Untersuchungsergebnissen veranschaulicht Meier die Verschärfung des Strafrechts, so längere Freiheitsstrafen, Anstieg der Strafen bei Straftaten des sexuellen Missbrauchs, schleichender Wandel in Richtung Verschärfung, an einer „wachsenden Publizität der Justiz“. Das Sanktionsklima ist generell rauer geworden, die Justiz setzt heute stärker auf Freiheitsentzug. die Gefangenenraten stiegen in den letzten zwei Jahrzehnten markant,99 die Überbelegung der Gefängnisse nimmt drastisch zu, es werden mehr und länger wirkende lebenslange Freiheitsstrafen verhängt.100
Aufgrund dieser Untersuchungsergebnisse ist festzustellen, dass die Verschärfung des Strafrechts nunmehr nicht nur beim politischen Strafrecht (§ 129a StGB), sondern auch beim allge meinen Strafrecht, der allgemeinen Kriminalität hervortritt. All dies wirke sich besonders zum Nachteil von Straftätern aus den armen und minderbemittelten Teilen der Bevölkerung aus, zu mal sich die Bundesrepublik vom Sozialstaat verabschiedet hat 95 96 97 98 99
Siehe Brigitte Kelker. Wohin will der BGH beim Zeugenstaatsanwalt? Siehe oben zum „Großen Lauschangriff“ Mark Zöller, aaO,S. 771. Genannt seien vornehmlich die Art. 1, 2, 3, 10, 13, 101, 103, 104 GG. Allerdings seien die gesetzliche Verschärfung der Strafdrohungen in der Justizpraxis nicht so umgesetzt. 100 Anzumerken ist der Ausbau der Anwendbarkeit der Sicherungsverwahrung, nun auch gegenüber Jugendlichen! 73
– unübersehbar in der permanent hohen Arbeitslosigkeit und zunehmenden Armut. Beim Sanktionssystem gibt es die von Meier gezeichnete Verschärfung des Strafrechts bei der Geld strafe101 und der Ersatzfreiheitsstrafe.102 Wer nicht zahlen kann, sitzt! In diesem Zusammenhang muss auch die Verschärfung im Jugendstrafrecht, so das Vorhaben der Sicherungsverwah rung gegen Jugendliche,103 besonders genannt werden. Damit leistet sich die BRD eine beispiellose Kapitulation vor den von ihr selbst geschaffenen sozialen Problemen, insbesondere der Perspektivlosigkeit Hunderttausender junger Menschen! Wir konstatieren für die letzten 10 bis 15 Jahren mehrgleisige be denkliche Entwicklungen, im Strafrecht, in der Entwicklung zum Überwachungs- und Sicherheitsstaat und beim Abbau des Sozialstaats, die sich auf die Betroffenen massiv auswirken. Es ist Zeit, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten!
Einfluss der DDR auf diese Entwicklung? Wenn sich der Leser daran erinnert, dass die DDR am 3. 10. 1990 durch ihren „Beitritt zum Geltungsbereich des GG“ ihr Ende fand, sollte er sich die Frage vorlegen, ob nur von einem zeitlichen Zusammenhang dieser unerfreulichen Entwicklung in der Bundesrepublik zu reden ist oder ob es auch sachliche Zusammenhänge gibt. Hängt die vorstehend skizzierte bedroh liche Entwicklung womöglich damit zusammen, dass der äußere Feind, die DDR, wegfiel und man sich nun auf einen inneren 101 Trotz oder wegen des Tagessatz-Systems bei der Berechnung der Geldstrafe kommen Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger bei diesem Berechnungsmodus besonders schlecht davon; infolgedessen wird ihnen gegenüber die Ersatzfreiheitsstrafe besonders häufig angewandt! 102 Sie wird verhängt, wenn die Geldstrafe nicht beitreibbar ist! 103 In der DDR wurde die 1933(!) ins deutsche Strafrecht eingeführte Si cherungsverwahrung seit 1952 als mit der Verfassung unvereinbar nicht mehr angewandt; demgemäß gab es sie auch nicht im StGB der DDR von 1968. Dies wurde jetzt durch das „Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstraf recht“ (8. 7. 2008) geregelt, insbes. durch Änderung des § 7 JGG. 74
Feind einstellen – oder ihn sich aufbauen – muss, so besonders in Gestalt der „organisierten Kriminalität“ und des „Terrorismus“? Oder folgt aus dem Wegfall der gesellschaftlichen Alternativen der DDR, dass nun nicht mehr Rücksicht genommen werden muss, wie früher – wo z. B. bei den Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern noch ein „dritter Mann“ (unsichtbar) am Verhandlungstisch saß, nämlich die DDR – in den 60er Jahren personifiziert durch Ulbricht? Tatsache ist, dass die Existenz, die Wirkung und Ausstrahlung der DDR während ihres Bestehens in der BRD sehr wohl in Rechnung gestellt wurde! Jedenfalls zeigt sich im Nachhinein, dass das Bestehen der DDR auch für einfache Menschen in der alten Bundesrepublik von Nutzen war! Oder gibt es noch eine andere Erklärung für den sachlichen Zusammenhang zwischen den unerfreulichen Entwicklungen in den letzten Jahren?
Fleißiger Gesetzgeber In den letzten zehn Jahren bewiesen alle Bundsregierungen eine außerordentliche Geschäftigkeit bei der Gesetzgebung auf sicherheitspolitischem Gebiet. Nachdem durch das Strafver fahrensänderungsgesetz (17. 3. 1997) DNA-Analysen zur Fest stellung der Täterschaft oder der Abstammung (§§ 81e, f ) zu gelassen wurden und durch Gesetz vom 4. 5. 1998 der „Große Lauschangriff“ eingeführt wurde, wurde durch ein Gesetz zur Änderung der StPO (20. 12. 2001) in den §§ 100g (Erhebung von Verkehrsdaten) und 100h (Weitere Maßnahme außerhalb von Wohnungen) im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens die Auskunftserteilung über „Telekommunikationsverbindungs daten“ festgeschrieben – zunächst nur für drei Jahre (2002 – 2004). Am 6. 8. 2002 wurde per Gesetz ein neuer § 100i104 (Maßnahmen bei Mobilfunkgeräten) in die StPO eingefügt, womit es zulässig wurde, durch technische Mittel den Standort 104 Jawohl, wir sind bei den zahlreichen Einfügungen in die StPO inzwischen schon beim Buchstaben „i“ angelangt! 75
eines eingeschalteten Mobilfunkgeräts ausfindig zu machen. Am 5. 10. 2002 beschloss der Bundestag eine weitere Änderung der StPO, nach der aufgrund eines veränderten § 100a Abs. Nr. 2 im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens die Anordnung einer Telefonüberwachung beim Verdacht eines schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zulässig wurde.Nun wird der Leser mit mir einer Meinung sein, dass solche gegen Kinder gerichtete Straftaten konsequent zu verfolgen sind – nur: – zu oft wurde mit derartigen Maßnahmen – oder höchstgerichtlichen Auslegungen – gegen allgemein geächtete Verbrechen getes tet und das Tor für weitergehende Eingriffe in Bürgerrechte geöffnet – nicht zuletzt für Eingriffe bei der strafrechtlichen Verfolgung des politischen Gegners!
In rascher Folge wurden die die DNA-Identitätsfeststellung betreffenden §§ 81g und 88 StPO durch Neuregelung 2003 geändert.105 Mit dem neuen Gesetz über die akustische Wohn raumüberwachung (24. 5. 2005) wurden gemäß den Vorgaben des BVerfG in den §§ 100c – f StPO die gebotenen Änderun gen vorgenommen. Erwähnt sei weiter das Gesetz zur Neurege lung der DNA-Analyse (12. 8. 2005), wodurch diese erleichtert und der Richtervorbehalt eingeschränkt wurde. Nun darf vorgebracht werden, dass diese Änderungen in der StPO vorgenom men wurden und sich auf Befugnisse im Rahmen eines Ermitt lungsverfahrens beziehen. So steht es im Gesetz. Wir wissen aber, dass in der polizeilichen Ermittlungspraxis die Grenzen nicht immer genau eingehalten werden und das Zusammenwir ken mit anderen Diensten Schule macht. Deshalb besteht kein Grund zu Sorglosigkeit und Selbstberuhigung. Im Gegenteil! Wer für die Wahrung von Bürgerrechten eintritt, hat allen Grund, wachsam zu sein! Schließlich hat ein Gesetz (21. 12. 2007) die Telekommunikationsüberwachung und andere ver deckte Ermittlungsmaßnahmen – nach Vorgaben des BVerfG 105 Nach § 81g dürfen molekulargenetische Untersuchungen zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren, auch zur Feststellung des Geschlechts vorgenommen werden und gem. § 88 ist bei der Leiche vor einer Öffnung zu diesem Zweck die Entnahme von Körperzellen und die molekulargenetische Untersuchung zulässig. 76
neu geregelt. Wir dürfen feststellen: Der Bundestag – genauer die Bundsregierung, die diese Gesetze einbrachte und sich von der Bundestagsmehrheit „abnicken“ ließ – hat in den vergangenen zehn Jahren bei den Eingriffen in Bürgerrechte und auf dem Gebiete der Staatssicherheit eine außerordentliche gesetzgeberische Aktivität entfaltet! Eine vergleichbare Aktivität im Interesse der Bürger fehlt!
Schon DNA-Vorratsdatenspeicherung106 Am 1. 11. 2005 war das „Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse“ vom 8. 7. 2005 in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz wurden die Voraussetzungen und das Verfahren der Verwendung der DNA-Analyse im Strafverfahren und zur Strafverfolgungsvorsorge zum wiederholten Male verändert, die durch das Strafverfahrensänderungsgesetz (in Kraft: 22. 3. 1997) eingeführt worden waren. Dieses Gesetz hatte die Zulässigkeit von molekulargenetischen Untersuchungen zur Feststellung der Täterschaft oder der Abstammung (§§ 81e, f StPO) geregelt.
Danach durften – nur aufgrund einer richterlichen Anordnung und unter weiteren einschränkenden Voraussetzungen – in den Fällen der §§ 81a, c StPO (körperliche Untersuchung und Blut probe, auch an Dritten) DNA-Analysen an sichergestelltem oder beschlagnahmtem Spurenmaterial vorgenommen werden. Durch das neue Gesetz wird der Anwendungsbereich der DNAAnalyse ausgeweitet, der Richtervorbehalt eingeschränkt und eine Vorschrift zur DNA-Reihenuntersuchung, also einer u. U. sehr großen Zahl mit ganz überwiegend nicht Tatbeteiligten, eingeführt. Die Datenerhebung auf Grundlage einer Einwilligung wird ausdrücklich zugelassen.107 Alsbald folgte die weitere No vellierung durch das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über 106 Nils Bergemann / Gerrit Hornung: „Die DNA-Analyse nach den Änderungen der Strafprozessordnung – Speicherung bis auf Widerruf?“ 107 Enthielt die StPO seit 1997 eine ausdrückliche Regelung zur DNA-Analyse im Rahmen einer bestimmten Strafverfolgung, so war diese Regelung ein Jahr später durch das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz (7. 9. 77
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Ände rung anderer Vorschriften, das am 1. 4. 2004 in Kraft trat. Rechtspolitische Forderungen nach einer Erweiterung des Einsat zes der DNA-Analyse waren durch einzelne spektakuläre Ermitt lungserfolge befördert worden; wodurch es zu dem Gesetz kam.
So sehr der Einsatz ausgereifter kriminalwissenschaftlicher Methoden zur Aufdeckung und Aufklärung von Straftaten und zur Überführung Schuldiger im Grundsatz zu begrüßen ist, so darf nicht übersehen werden, dass die erweiterte Ver wendung der DNA-Analyse – zusammen mit verschiedenen Überwachungsmaßnahmen, vom „Großen Lauschangriff“ bis zum „Datenklau“ aus Internetbewegungen und von Festplatten – letztlich auf den „gläsernen Staatsbürger“ hinausläuft, darauf, dass jeder Bürger nackt und durchsichtig vor den Behörden steht und seine Privatsphäre immer mehr ausgehöhlt wird. Das neue Gesetz (8. 7. 2005) betrifft zum einen den Einsatz der DNA-Analyse in laufenden Ermittlungsverfahren. So enthält der neue § 81f Abs. 1 StPO – erweiternd – bei Gefahr im Verzuge eine Eilkompetenz zur Anordnung der molekulargenetischen Untersuchungen nach § 81e Abs. 1 für die Staatsanwalt schaft und ihre Personen im laufenden Ermittlungsverfahren.
Für die Untersuchung an Spurenmaterial (§ 81e Abs. 2) hat der Gesetzgeber den Richtervorbehalt gestrichen; die betreffenden Maßnahmen können seitdem ohne einen richterlichen Beschluss erfolgen!
Seit dem 1. 11. 2005 bedarf es einer richterlichen, staatsanwaltlichen oder polizeilichen Entscheidung nur noch dann, wenn der Betroffene nicht schriftlich einwilligt; dieser muss gemäß § 81f Abs. 1 S. 2 über den Zweck der Datenerhebung belehrt werden.
Aber wie freiwillig wird die Einwilligung eines Beschuldigten sein, der sich dem Druck der polizeilichen Ermittlungsbeamten gegenüber sieht, besonders, wenn er festgenommen wurde und in U-Haft sitzt: „Wir haben Zeit“, erklären ihm diese Beamten – bis er schließlich – freiwillig!? – einwilligt! Viel weiterreichen-
1998) um eine Bestimmung für die Speicherung zur Verwendung in künftigen Strafverfahren ergänzt und deutlich erweitert. 78
der ist die Datenerhebung für künftige Strafverfahren, also die Datenspeicherung für die molekulargenetische Untersuchung zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren gemäß § 81g. Zwar ist diese Untersuchung auf den Bereich bisheriger Anlasstaten beschränkt, nämlich von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und andere Straftaten „von erheblicher Bedeutung“. Was solche Straftaten von erheblicher Bedeutung sein sollen, verschweigt der Gesetzgeber; verzichtet sogar auf die bisherigen Beispiele. Die wiederholte Begehung sonstiger Straftaten – gewöhnlicher klei ner Diebstahl, Körperverletzung – sei im Unrechtsgehalt einer Straf tat von erheblicher Bedeutung gleichzustellen (§ 81g Abs. 1 S. 2).
Die Gefahr der Uferlosigkeit dieser Regelung ist nicht zu über sehen. Hinsichtlich Anordnungskompetenz differenziert § 81g Abs. 3 zwischen Entnahme der Körperzellen und deren mole kulargenetischer Untersuchung. Mit schriftlicher Einwilligung Betroffener, die zuvor zu belehren sind, sind beide Maßnahmen zulässig. Willigt der Betroffene nicht ein, kann die Entnahme durch das Gericht – bei Gefahr im Verzug durch die Staatsan waltschaft – angeordnet werden. Zur Untersuchung des entnom menen Materials ist stets – auch bei Einwilligung des Betrof fenen! – die Anordnung des Gerichts erforderlich; es muss eine detaillierte einzelfallbezogene Begründung aktenkundig machen. Wesentlich und grundsätzlich neu: An Spurenmaterial er hobene Daten dürfen künftig ohne Einschränkung gespeichert werden, wobei die Übermittlung betreffender Daten nur für Zwecke eines Strafverfahrens, der Gefahrenabwehr und der in ternationalen Rechtshilfe zulässig sind. Ebenfalls völlig neu: die Regelung zur „molekulargenetischen Reihenuntersuchung“. Solche war vorher wiederholt auf freiwilliger Basis – ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage – durchgeführt worden.
Die neue Bestimmung des § 81h verlangt als Anlasstat für solche „Massentests“ ein Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung. Eine so weitgehende Maßnahme wird durch das Gesetz nur dann für zulässig erachtet, wenn sie namentlich 79
im Hinblick auf die Zahl der Betroffenen nicht außer Verhältnis zur Schwere der Tat steht. Auch das ist natürlich wiederum eine auslegungsfähiger Begriff. Wie hoch darf die Zahl der Betroffenen sein? Bei welcher Tatschwere dürfen etwa auch mehrere 100 Personen in diesen Massentest einbezogen werden?
Die Durchführung dieser molekulargenetischen Reihenunter suchung darf nur bei denjenigen erfolgen, die nach einer ausführlichen Belehrung schriftlich einwilligen. Außerdem bedarf es einer richterlichen Anordnung, die den infrage kommenden Personenkreis genau bestimmt und begründet.
Sobald die durch den Massentest ermittelten Daten für das betreffende Ermittlungsverfahren nicht mehr erforderlich sind, müssen sie vernichtet werden.
Die Datenvernichtung ist zu dokumentieren; immerhin ist das Einstellen der erhobenen Daten in die Datei des BKA gemäß § 81h Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO absolut unzulässig.
Wie aber kann das durch wen überprüft werden? An sich ist das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel der Verbesserung der Effektivität des Strafverfahrens, die Beseitigung von Rechtsunsicherheiten und der Stärkung der rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Verfahrens zu begrüßen. Als Stärkung für den Rechtsschutz von Individuen ist die neue Regelung des § 81g Abs. 5 S. 4 anzusehen, mit dem die Infor mation der Betroffenen über die dauerhafte Speicherung ihrer Daten in der DNA-Datei (so genannte Umwidmungsfälle) verbes sert wird. Ebenso ist die Klarstellung zu begrüßen, dass auch in diesen Fällen – wie sonst bei Verletzung von Rechten der Bürger im Ermittlungsverfahren (nachträglich) eine richterliche Entschei dung beantragt werden kann, wobei das Gericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 81g Abs. 1 StPO zu prüfen hat.
Trotz teilweise geäußerter Skepsis an der Leistungsfähigkeit des Instruments der DNA-Analyse soll eine Verbesserung der Ef fektivität des Strafverfahrens durch die Ausweitung der DNAAnalyse erreicht werden. Gleichwohl bestehen verschiedene (rechtsstaatliche) Bedenken. So muss zunächst ganz praktisch 80
auf die Gefahr aufmerksam gemacht werden, dass am späteren Tatort unwissentlich DNA-Spuren hinterlassen werden können oder zur Täuschung der Ermittlungsbehörden fremde DNASpuren „ausgelegt“ wurden. Auch bzgl. des Beweiswertes von DNA-Spuren gilt dasselbe wie bei Fingerabdrücken: Ein Fingerabdruck mit seinen einmaligen daktyloskopischen Merk malen auf einer Sache, beweist zunächst nur, dass der betreffende Finger eines bestimmten Menschen mit der Sache in Berührung kam, sich dort abbildete. Wie dies zustande kam, ist eine andere durch weitere Beweise zu erhellende Frage.
Es darf nicht vergessen werden, dass Erhebung, Speicherung der DNA-Identifizierung ins Grundrecht auf informationelle Selbst bestimmung eingreifen, selbst wenn „nur“ der nichtcodierende Bereich betroffen ist. Inwieweit daraus persönlichkeitsrelevante Informationen erzielbar sind, ist streitig. Das BVerfG hat die Ver fassungsmäßigkeit der früheren §§ 81e – g bzgl. DNA-Analyse für künftige Strafverfahren, insbes. dann für verfassungsmäßig erkannt, wenn die Maßnahme auf besondere Fälle beschränkt bliebe, an eine Straftat von erheblicher Bedeutung anknüpfe und eine auf Tatsachen gestützte Prognose voraussetze, nach der gegen die betroffene Person erneut Strafverfahren wegen Straf taten von erheblicher Bedeutung zu führen sein würden.108 Aus welchen in der Vergangenheit liegenden Tatsachen könnte solche Prognose mit gehöriger Zuverlässigkeit abgeleitet werden? Die neue Regelung ist durch das Bestreben gekennzeichnet, die Anlassschwelle einer Speicherung in der DNA-Datei, für die Verwendung in künftigen Strafverfahren, weiter zu senken. Ob diese neue Regelung noch verfassungsrechtlich hinnehmbar ist, bleibt einer weiteren BVerfG-Entscheidung vorbehalten – sofern es von jemandem angerufen wird, der sich in seinen Grundrechten verletzt sieht. Bis dahin gilt das erlassene Gesetz, ohne Rücksicht darauf, ob es womöglich nicht verfassungskonform ist.
Bzgl. des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Straftat von erhebli cher Bedeutung“ als relevantes Tatbestandsmerkmal, so muss 108 BVerfG im Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats vom 14. 12. 2000; in gleichem Sinne: die gleiche Kammer durch Beschluss vom 15. 3. 2001.
81
nach dem o. g. BVerfG-Beschluss (14. 12. 2000) eine derartige Straftat „mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sein, den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen“. Auch wenn diese Formulierung schon einen relativ weiten Auslegungsspielraum enthält, wird nunmehr eine weitere Unbestimmtheit hinzugefügt und dadurch die verfassungsrechtliche Toleranzgrenze überschritten. Wenn in der Gesetzesbegründung eine „Gesamtschau“ an Hand der Kriterien im §§ 81g Abs. 1 S. 1 StPO gefordert wird, so reicht dies zur Begrenzung der Eingriffsbefugnis nicht aus.
Für Betroffene wird es zunehmend schwieriger zu erkennen, unter welchen Voraussetzungen eine gegen sie gerichtete An ordnung zur DNA-Analyse für die Speicherung in der Datei rechtlich zulässig wäre. Es ist zu hoffen, dass das BVerfG – wenn es wegen des Gesetzes vom 8. 7. 2005 angerufen wird – die Umgestaltung der vorgenannten Vorschriften zum Anlass nimmt, die Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes als nicht mehr gewahrt zu beurteilen und somit verfassungsrechtliche Bedenken geltend zu machen.
Ein weiteres Problem stellt die Einwilligung des Betroffenen in Entnahme und Untersuchung seines DNA-Materials dar. Soweit im Ermittlungsverfahren eine solche Einwilligung erstrebt wird, ist der Beschuldigte durch rechtsstaatliche Verfahrensicherung abzufedern; dem soll der Richtervorbehalt dienen. Die Einwil ligung bedeutet, dass der Betreffende auf den Schutz seiner in formationellen Selbstbestimmung verzichtet. Das ist an sich zulässig. Die Ausübung dieses Rechts liegt beim Inhaber, hier beim Beschuldigten. Wenn aber die erstrebte Einwilligung, be sonders in U-Haft, gewissermaßen als Selbstverständlichkeit abverlangt wird, würde es an der Freiwilligkeit der Abgabe der Erklärung fehlen, diese bedenklich werden. Wie kann der Be schuldigte das Fehlen der Freiwilligkeit seiner Einwilligung in Entnahme und Untersuchung des DNA-Materials monieren?
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Die ggf. als Zeugen zu vernehmenden Polizeibeamten werden bekunden, dass sie alles taten, um eine Freiwilligkeit seiner Einwilligung zu gewährleisten!
Möglich ist, dass die Festlegung der Eingriffsvoraussetzungen (§ 81e – laufende Ermittlungsverfahren, § 81g Abs. 1 – Spei cherung für künftige Verfahren) unterlaufen wird. Die Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der DNA-Analyse darf keines falls auf den Beschuldigten abgewälzt werden, indem von ihm die Einwilligung erwartet wird. Es muss gesichert werden, dass die Ermittlungsbehörden das Risiko einer materiellrechtlichen Fehlentscheidung durch das Mittel der Einwilligung auf den Betroffenen verlagern. Im Ermittlungsverfahren, besonders in U-Haft, ist der Beschuldig te regelmäßig bestimmtem Druck ausgesetzt, evtl. wird ihm ver sprochen, die Bekundung der Einwilligung zu honorieren. Selbst wenn Betroffene über Rechtslage und Rechte informiert wurden, werden Beschuldigte – besonders in U-Haft – befürchten, dass die Verweigerung nachteilig gewertet, insbes. eine Verstärkung des gegen sie bestehenden Verdachts angenommen wird.
Daraus resultiert, wie wichtig es ist, Betroffenen die Möglichkeit zu geben, die Entscheidung in Ruhe ohne Anwesenheit von Er mittlungsbeamten, unter Hinzuziehung sachkundiger Beratung (Rechtsanwalt)109 zu überdenken, so dass sie keinerlei Nachteile im Falle einer Verweigerung befürchten dürfen.110 Die kompli zierte Regelung bedingt zu prüfen, welche Rechtsfolgen ein treten, wenn die Einwilligung wg. nicht hinreichender Freiwil ligkeit unwirksam ist oder durch den Betroffenen widerrufen wird, weil er meint, unüberlegt, unter Druck oder Täuschung eingewilligt zu haben und seine Entscheidung nunmehr ändert. Die Rechtslage, inwieweit ein Betroffener seine einmal erklär 109 Dieser wird Akteneinsicht verlangen und seinen Mandanten in Kenntnis der Akten beraten können. 110 Mit Recht wird angeregt, dem Beschuldigten vor seiner Einwilligung einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Gesetzlich vorgeschrieben ist dies nicht, sodass die Gefahr besteht, dass es in der Ermittlungspraxis an der gebotenen freiwilligen Einwilligung des Öfteren fehlt. 83
te Einwilligung in Entnahme und Untersuchung seines DNAMaterials tatsächlich widerrufen darf, scheint nicht eindeutig. Würde man einen Widerruf des Betreffenden für unzulässig halten wollen, bedeutete dies, dass an die Anforderungen der Einwilli gung in Entnahme und Untersuchung des von ihm genommenen DNA-Materials besondere Maßstäbe zu stellen sein werden.
Dass ausgerechnet insoweit ein Widerruf völlig ausgeschlossen sein soll, dürfte nicht angenommen werden können, wobei auf Art. 19 Abs. 4 GG verwiesen werden darf.111
Die Zulässigkeit des Widerrufs einer Einwilligung entspricht allgemeinen datenschutzrechtlichen Regeln,112 da sie Ausdruck der verfassungsrechtlich garantierten Rechte des Betroffenen ist, selbst Einfluss auf den Umgang mit seinen Daten zu nehmen.113
Da nach Regelung der StPO die Einwilligung an die Stelle der gerichtlichen oder behördlichen Prognoseentscheidung über die DNA-Analyse tritt, entfiele durch den Widerruf der Einwilli gung mit die Grundlage für weitere Speicherung. Eine Regelung, die zum Zwecke der Verfahrensvereinfachung darauf abzielt, gerichtlichen Rechtsschutz auszuschließen, darf dem allgemeinen Rechtsschutzprinzip des Art. 19 Abs. 4 GG nicht zuwiderlaufen. Schließlich erscheint ein Wort zur Speicherungsdauer geboten. Sicher könnte man sich darauf stützen, dass der richterliche Beschluss nach § 81g erlaubt, die gewonnenen DNAIdentitätsmuster beliebig lange aufzubewahren. Die derzeitige Regelung sieht Aussonderungsfristen vor, die bei Erwachsenen 10 und bei Jugendlichen fünf Jahre betragen. Nach Ablauf der Frist und bei jeder Einzelfallbearbeitung ist zu prüfen, ob die Gefahrenprognose bestätigt wird. 111 Nach dieser Bestimmung steht jedem, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der (ordentliche) Rechtsweg offen. 112 § 4a Bundesdatenschutzgesetz regelt die auf freiwilliger Entscheidung beruhende Einwilligung; i. Ü. werden die Rechte des Betroffenen in §§ 19 ff, §§ 33 ff dieses Gesetzes geregelt. 113 Auch ergibt sich die Frage, wann ein Widerruf wirksam sein soll. Dass die Polizei davon ausgeht, erst ab Erklärung und nicht rückwirkend, liegt auf der Hand, widerspräche aber dem allgemeinen datenschutzrechtlichen Grundsatz, Daten bei Widerruf der Einwilligung zu löschen. 84
Bei allen für die Effektivierung der Strafverfolgung sprechenden Gesichtspunkten, wird es darauf ankommen, bei Eingriffen in die informationelle Selbstbestimmung die Grundrechte Betrof fener hinreichend zu sichern. Sowohl die neuen gesetzlichen Re gelungen als auch die übliche polizeiliche Praxis lassen große Aufmerksamkeit geboten erscheinen.
Gegen den internationalen Terrorismus! Datenspeicherung auf Vorrat! Nachdem die Bundesrepublik aufgrund der Entwicklung des letzten Jahrzehnts nicht mehr als Sozialstaat gilt, verliert sie der zeit auch das Prädikat Rechtsstaat, wird Überwachungsstaat. Dazu trägt nicht unwesentlich bei, dass sie sich auf eine militä rische und sicherheitspolitische Allianz mit den USA festlegte. Die Wirkungen sind verheerend. So ist überdeutlich, dass nach der Verkündung des „Krieges gegen den Terror“ diese sicherheitsorientierte Entwicklung in der Bundesrepublik in einem zuvor unbekannten Umfang boomte. Am 21. 2. 2006, hatten die EU-Justizminister der EU-Richtlinie über die Vorratsspeicherung der Daten zugestimmt, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommuni kationsdienste und -netze erzeugt oder verarbeitet werden.
Nach dieser Richtlinie müssen Telekommunikationsunterneh men Informationen über Telefon-, Mobiltelefon-, Internet- und Emailverbindungen und die Identität der Beteiligten mind. sechs Monate aufbewahren. Bisher hatten diese Unternehmen derartige Daten – Verkehrsdaten i. S. des § 96 Telekommunikationsgesetz (TKG) – gem. § 97 zu Abrechnungszwecken (Entgeltermittlung und -abrechnung) auf bewahrt; hatte der Kunde seine Abrechnung nicht innerhalb der vereinbarten Frist beanstandet, konnten diese Daten entsorgt wer den. I. Ü. gewährleistet § 88 TKG gemäß Art. 10 GG das Fernmel degeheimnis bzgl. des Inhalts der Telekommunikation und der nä heren Umstände, insbesondere der Tatsache, ob jemand an einem 85
Telekommunikationsvorgang beteiligt ist oder war. Zur Wahrung dieses Fernmeldegeheimnis ist jeder Dienstanbieter, auch nach dem Ende der betreffenden Tätigkeit, ausdrücklich verpflichtet.
Diese ursprünglich zu Abrechnungszwecken aufbewahrten Da ten sollen nun für ganz andere Zwecke gespeichert werden. We sentlich und grundrechtlich erheblich ist die fundamentale Ver änderung des Zweckes der Aufbewahrung dieser Daten. Es han delt sich um eine einseitig bzw. seitens der Obrigkeit vorgenom mene Zweckumwandlung, der der Nutzer sich nicht entziehen kann, da es im EU-Bereich keinen Anbieter mehr gibt, der sich dieser vorgeschriebenen Datenverwendung verweigern kann. Gebe ich bei einem beliebigen Vertrag meine Daten (Namen, Adres se, Telefonnummer pp) an, darf ich als Bürger eines Rechtsstaates arglos davon ausgehen, dass diese nur meinem Vertragspartner und nur zum Zwecke der Abwicklung des mit ihm geschlossenen Vertrages, einschließlich eventuell gebotener gerichtlicher Geltendmachung von Ansprüchen aus diesem Vertrag, zur Verfügung stehen, aber zu keinem anderen Zweck.
Müsste ein Teilnehmer der Telekommunikation besorgen, dass sein Vertragspartner die ihm im Rahmen seiner Vertrags beziehungen übermittelten persönlichen Daten hinter seinem Rücken Polizeibehörden u. Ä. übermittelt, würde er – in der freien Wirtschaft – sich einen neuen Vertragspartner suchen. Sein Vertragspartner hätte sich entgegen Treu und Glauben einer schwerwiegenden Vertragsverletzung schuldig gemacht. Jeg liche Vertrauensgrundlage für den Abschluss von Verträgen, von Geschäften entfiele. Würde solches allgemeine Übung, würde niemand mehr Verträge abschließen, würde jeglicher wirtschaftliche Verkehr, den das GG als Ausübung von Grundrechten zu fördern gebietet, ruhen! Da aber die EU-Richtlinie europaweit gilt, hat der Nutzer keine (Wahl-)freiheit. Zur Begründung der vorgesehenen Vorratsspeicherung heißt es, diese sei zum Zwecke der Bekämpfung des Terrorismus und sonstiger Kriminalität, besonders der Organisierten Kriminalität, unerlässlich. Meinen die Verantwortlichen, dass mit der „Vorratsdatenspeicherung“ ein ernst zu nehmender Erfolg im Kampf gegen den Terrorismus 86
zu erreichen ist? Später wurde die Motivation dieser Richtlinie um den Kampf gegen die „organisierte Kriminalität“ erweitert; so liest man in Art. 1, dass die gespeicherten Daten „zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten zur Verfügung stehen.“ Abgesehen von der rechtstaatlich höchst bedenklichen Unbestimmtheit einer solchen Vorschrift spricht aus diesen Zeilen eine absichtsvolle Irreführung der Öffentlichkeit durch zuständige Beamte. Wenn sie schon die Öffentlichkeit in diesem Land belügen, dürften sie i. Ü. wider besseres Wissen handeln, wenn sie vortragen, mit diesem Datenvorrat Nennenswertes im Kampf gegen die „organisierte Kriminalität“ bzw. gegen „schwere Straftaten“ erreichen zu können. Ist daher nicht anzunehmen, dass diese Datenvorratsspeicherung ganz anderen Zwecken dient? Jedenfalls ist bemerkenswert, dass in Umfragen (Forsa) 46% der Befragten diese Speicherung als unverhältnismäßigen und unnötigen Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger ablehnt.
Wem nutzt die Massenspeicherung? Heutzutage werden verschiedenste elektronische Mittel auch durch Kriminelle und kriminelle Organisationen genutzt. Das Prinzip ist das alte: Kriminelle und Verdächtige passen sich an die neuen Möglichkeiten an: Die Kriminellen sind die Lehrmeister der Kriminalpolizei! Die Nutzung technischer Möglichkeiten durch Kriminelle nötigt die Kriminalpolizei „nachzurüsten“. Vor Jahrzehnten hatten sich Kriminelle besonders schnelle Autos verschafft, sodass sie die Polizeiautos im buchstäblichen Sinne des Wortes abhängen konnten.
Soweit die Normalität des alten „Krieges“ zwischen professionellen Kriminellen und der Polizei. Was aber die Eingriffe in die Rechte, Menschen- und Grundrechte, betrifft, so handelt es sich um etwas fundamental Anderes – nämlich um Eingriffe in die Rechte Dritter, unbeteiligter und unbescholtener Bürger – auf Verdacht hin! Die „Legitimation“ solcher Eingriffe wird mit 87
Gefahren „begründet“. Im Unterschied zu dem früheren „Krieg“ zwischen Kriminellen und der Polizei sind heutzutage die modernen Methoden der staatlichen Sicherheit im „Krieg gegen den Terrorismus“ im Rauch verhüllt. Nichts ist durchschaubar! Alles wird auf nachrichtendienstliche „Erkenntnisse“ gegrün det. Wie zuverlässig solche „Erkenntnisse“ sind, erfuhr die Welt Jahre später, nachdem die USA den Krieg gegen Irak wegen dessen Massenvernichtungsmittel vom Zaun gebrochen hatten. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es diesen Kriegsgrund realiter gar nicht gab! Wenn aber der Öffentlichkeit auf derartige Weise Gefahrenszenarien vorgeführt werden, dann wird es für die Bürger gefährlich! Mithilfe der Medien können den Bürgern auf solche Weise Gefahrenlagen suggeriert werden, dass sie aus Angst und Furcht alle möglichen Sicherheitsmaßnahmen über sich ergehen lassen. Aber es werden der Öffentlichkeit nicht nur die Tatsachengrundlagen der sicherheitspolitischen „Erkennt nisse“ vorenthalten, ebenso auch, welchen Nutzen die neuen Gesetze einbringen, auch werden aussagekräftige Analysen über die Effektivität der schon vor vielen Jahren gegen die organisierte Kriminalität erlassenen Gesetze nicht vorgelegt. Auch die alljährlichen „Verfassungsschutzberichte“ enthalten keine Aussagen über Nutzen und Effektivität. Sie dienen mehr der Täuschung und Irreführung, wozu die Medien ihren Beitrag leisten. Alles Wesentliche bleibt im Dunkeln! Statt Tatsachen zu vermitteln, werden Stimmungen und Ängste erzeugt. Der effektive Nutzen der neuen Sicherheitsgesetze ist unverhältnismäßig gering.114 Wissen die zuständigen Beamten nicht, dass die wirklichen Terroristen und Kriminellen der „Organisierten Kriminalität“ Wege finden, der „Wunderwaffe“ des „Großen Lauschangriffs“ und der Vorratsdatenspeicherung, die nicht einmal die USA kennen, zu entgehen und sie zu umschiffen? Der Präsident des Europäischen Verbands der Polizei 2005: „Für Kriminelle bliebe es einfach, mit simplen technischen Mitteln eine Entdeckung zu verhindern, z. B. durch den häufigen Wechsel 114 Oben war bereits die Zahl von 119 Überwachungen genannt worden. 88
im Ausland gekaufter, vorausbezahlter Mobiltelefonkarten. Das Ergebnis wäre ein enormer Aufwand mit wenig Wirkung.“
Es wird davon auszugehen sein, dass eine Vorratsdatenspeiche rung kontraproduktiv wirkt. Denn sie fördert Entwicklung und Einsatz von Anonymisierungstechniken, schneidet auf diese Weise der Polizei, selbst in Fällen schwerster Gefahr, die Möglichkeit Erfolg versprechender Ermittlungen ab.115 Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter 2005: „Da es sich herumgesprochen hat, dass Telefongespräche relativ leicht abgehört werden können, reden die Verdächtigen nur noch selten offen am Telefon.“
Wenn es zu einer Vorratsdatenspeicherung kommen sollte – hieß es damals –, werden sich Kriminelle und Terroristen darauf einrichten. Selbst wenn die Massenspeicherung von Kommuni kationsdaten in Einzelfällen nützlich sein könnte, bedeutet dies nicht, dass dadurch der Schutz der Bürger verbessert wird. Wie groß ist die „Bedrohung“ durch Kriminalität? Nach Eurostar sterben weniger als 0,002% der Europäer als Opfer einer Straftat, wobei in diese Angabe terroristische Anschläge einge schlossen sind. Nach einer Statistik der WHO beruht der Verlust gesunder Lebenszeit bei Westeuropäern zu: 92% auf Krankheiten, 2 % auf Verkehrsunfällen, 1% auf Stürzen, 1,7 % auf Suizid, 0,2% auf Gewalt. Die großen Gesundheitsrisiken sind andere: Blut hochdruck, Tabak, Alkohol, Fehlernährung, Bewegungsmangel etc. Auch treffen Lebensrisiken, wie Armut, Arbeitslosigkeit oder Naturkatastrophen weit stärker als Kriminalität. Das Risiko, infolge dieser Lebensrisiken „gesunde Lebenszeit“ zu verlieren, ist weit größer, als Opfer einer Straftat zu werden.
Nach allgemeiner Ansicht gewährleisten europäische Strafverfol gungsbehörden einen guten Schutz vor Straftaten, ohne dass Informationen über die Kommunikation aller zur Verfügung stehen müssen Es genügte die Überwachung im Einzelfall, bei Bedarf. Nicht erkennbar ist, dass die Vorratsspeicherung die 115 Im Zusammenhang mit der Aufnahme biometrischer Daten in Pässe wurde vor dem Risiko gewarnt, dass man Fingerabdrücke fälschen und so falsche Spuren an Tatorten hinterlassen könnte. 89
Sicherheit der Bevölkerung erhöhen werde! Unzutreffend ist die verbreitete Annahme, dass der staatliche Zugriff auf die nähe ren Umstände der Telekommunikation (Verkehrsdaten) weniger schwer wiege als der Zugriff auf die Inhalte. Vergleicht man die Verarbeitungsmöglichkeiten, so gilt: Verkehrsdaten können automatisch analysiert, mit anderen Datenbeständen verknüpft und auf bestimmte Suchmuster hin durchkämmt sowie geordnet und ausgewertet werden.
Bei Inhaltsdaten ist dies nicht möglich. Aus diesem Grunde sind die Strafverfolgungsbehörden oft (bzw. zunächst) nur an den Verkehrsdaten interessiert. Sogar das BVerfG vermerkt in seiner Entscheidung vom 2. März 2006:
„Immer mehr Lebensbereiche werden von modernen Kommuni kationsmitteln gestaltet. Damit erhöht sich nicht nur die Menge der anfallenden Verbindungsdaten, sondern auch der Aussage gehalt. Sie lassen in zunehmendem Maße Rückschlüsse auf Art und Intensität von Beziehungen, auf Interessen, Gewohnheiten und Neigungen und nicht zuletzt auch auf den jeweiligen Kom munikationsinhalt zu und vermitteln Erkenntnisse, die an die Qualität eines Persönlichkeitsprofils heranreichen können.“
Zur Illustration:
Wenn die Polizei wissen möchte, ob Herr X ein bestimmtes Telefongespräch führte, könnte sie diese Information durch eine Auskunft über die Bestandsdaten dieses Herren gewinnen oder, falls sie dessen Personalien kennt, durch Auskunft über die von seinem Anschluss geführten Telefongespräche, also eine Auskunft über „Verkehrsdaten“. Über beide Wege erfährt die Polizei, mit wem Herr X zu einem bestimmten Zeitpunkt dieses Telefongespräch führte. Diese Information ist für sich wertlos; sie wird erst durch weitere Zusammenhänge bzw. Verbindungen interessant.
Aufschlussreich könnte sein, wenn die Verkehrsdaten verraten, dass jemand nicht nur diese oder jene bestimmte Person anrief, sondern bestimmte Stellen oder Berufe, so einen bestimmten Arzt (z. B. Frauenarzt), einen bestimmten Rechtsanwalt (z. B. auf Steuerstrafsachen spezialisierten), einen Psychologen (mit einer bestimmten Spezialisierung), eine AIDS-Hilfestelle usw. Die 90
Auswertung betreffender Kontakte erlaubt trainierten Beamten – ohne einen persönlichen Kontakt mit dem Betreffenden, etwa durch ein Sich-Einschleichen unter einer Legende oder eine übliche Observation – ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen, mit relevanten Kontakten, individuellen Interessen, Ge schäftsverbindungen, Schwächen usw., sodass dieser Anrufer vor dem betreffenden Beamten „völlig nackt“ dasteht, wir den „gläsernen“ Staatsbürger haben – sofern die Behörden irgendeinen Anlass sehen, den betreffenden Staatsbürger unter die Lupe zu nehmen. So kann eine solche Auswertung wichtige Ansatzpunkte für einen möglichen Straftatverdacht, aber auch für Geheimdienste interessante Aktivitäten ergeben. Jedenfalls ist die Identität von Telefon- und Internetnutzern („Bestandsdaten“) nicht weniger schutzwürdig als sonstige Informationen über die Telekommunikation der Bürger. Dass damit das Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung, wie es das BVerfG in seinem Volkszählungsurteil entwickelt hat, liegt auf der Hand.116 Ist diese Verletzung dieses Grundrechts wenigstens durch eine gewisse Effektivität zu rechtfertigen? Nach einer BKA-Studie (11/2005) hätten in den letzten Jahren ganze 381 Straftaten „wegen fehlender Telekommunikationsdaten“ – nur wegen dieses Mangels? – nicht aufgeklärt werden können, vor allem in den Bereichen Internetbetrug, Austausch von Kinder pornographien und Diebstahl. Um was für eine Größenordnung handelt es sich bei diesen 381 (möglichen) Straftaten? Sie machen nur 0,01% der ca 2,8 Millionen Straftaten aus, die nach der polizeilichen Kriminalstatistik Jahr für Jahr nicht aufgeklärt wurden.
Es liegt auf der Hand, dass die Vorratsspeicherung allenfalls dieses oder jenes Delikt von unvorsichtigen Kleinkriminellen aufspüren dürfte, aber gerade nicht die Straftaten der „Organisierten Kriminalität“ oder des „internationalen Terrorismus“. Es werden allenfalls ein paar Dumme mehr gefasst, während die Schlauen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Im Netz der Datenvorratsspeicherung würden – wie auch sonst – die „kleinen Fische“ gefangen, während die großen sehr schnell herausfinden, 116 Siehe auch seine spätere Entscheidung. 91
wie man diesem entgehen kann. Angesichts dessen ist zu besorgen, dass die Vorratsspeicherung „eigentlich“ vorsorglich ganz andere Zugriffsmöglichkeiten eröffnet, ganz anderen Zwecken dienstbar gemacht werden, einen totalen Überwachungsstaat schaffen kann. Wo sind wir in diesem Rechtsstaat hingekommen? All das bewirkt im Ergebnis keine größere Sicherheit für die Bürger, wohl aber, dass sie sich nicht mehr unbefangen zu verhalten wagen, weil sie sich so oder so allüberall und zu jeder Zeit beobachtet und abgelauscht wähnen – zumal sie von sich aus nicht abzuklären vermögen, ob sie in einer gegebenen Situation irgendwelchen Überwachungsmaßnahmen unterworfen sind oder nicht.117 Ist diese Unsicherheit für immer mehr Bürger die Sicherheit, die der Staat seinen Bürgern bietet und verspricht? Aus den Augen gelassen werden darf weiterhin nicht das Risiko falscher Verdächtigung – zumal ein Strafverteidiger darum weiß, wie viele Bürger zu Unrecht strafrechtlich verfolgt und womöglich sogar verurteilt werden. Dabei ist auch in Betracht zu ziehen, dass Mobiltelefone gestohlen oder Internetzugänge „gehackt“ werden, wodurch evtl. Ermittlungen in eine völlig falsche Richtung gelenkt werden, insbesondere Anschlussinhaber grundlos in Verdacht geraten. Wird somit die Vorratsspeicherung nicht zu einem allgemeinen Sicherheitsrisiko? Umgekehrt kann eine so umfassende Datenspeicherung nach sich ziehen, dass Bürger sich scheuen, Anrufe bei einem (bestimmten) Rechtsanwalt, einem (bestimmten) Arzt, einem Psychologen oder einer Beratungsstelle vorzunehmen, weil sie damit rechnen müssen, dass den Behörden sensible Informationen über ihr Privatleben bekannt werden. Die o. a. Forsa-Umfrage ergab, dass 52% der Befragten, nicht mehr mit Bratungsstellen in telefonischen Kontakt treten wollen, weil sie sich abgehört fühlen.
Nur zustimmen muss man der in Bielefeld bekundeten Erklärung des „Deutschen Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung“:
117 Selbst wenn es bis heute noch nicht positiv festgestellt wurde, ist absehbar, dass diese Erfahrung, dieses tägliche Empfinden psychische Wirkungen und Erkrankungen nach sich ziehen kann und dann auch zieht. 92
„Die abschreckende Wirkung des Gesetzes ist lebensgefährlich, wo etwa telefonische Hilferufe bei Psychotherapeuten und Drogenberatungsstellen unterbleiben.“
Dieser Arbeitskreis, der die Verfassungsbeschwerden beim BVerfG initiiert und unterstützt hat, fordert eine unverzügliche Aufhebung des Gesetzes, jedenfalls erklärte er, wir brauchen: „ein Moratorium für sämtliche Überwachungspläne.“
Diese Vorratsdatenspeicherung erweist sich somit bereits heute als eine die Gesellschaft belästigende und belastende staatliche Maßnahme. Dass die betreffenden Behörden ein Interesse haben dürften, politisch nicht genehmen Kreisen Aktivitäten zu erschweren, erscheint nachvollziehbar und wahrscheinlich. Vor allem ist zu besorgen, dass die Eröffnung der Vorratsdaten speicherung als einer bösartigen grundrechts- und grundgesetz feindlichen Maßnahme zu einem Präzedenzfall mit der Wirkung eines Dammbruchs werden kann. Ist erst einmal die Hemm schwelle gegenüber den Grundrechten überschritten, gibt es kein Halten mehr (Siehe Auslandseinsätze der Bundeswehr). Vieles von dem, was die vorgenannte EU-Richtlinie erlauben und ermöglichen soll, wird bereits praktiziert. Kürzlich berichteten die Medien davon, dass BND, MAD und Verfassungsschutz, seit 2005 Computer online ausspähen, obwohl der BGH eine solche etwa von Polizeibehörden geübte Arbeitsweise ausdrücklich für rechtlich unzulässig erklärte.
Angesichts massiver öffentlicher Kritik an Schäubles weitergehenden Plänen, lautete jetzt sein Kommando: „Zurück!“ Es solle erst die Rechtsgrundlage geprüft werden! Es wird also erst (verdeckt und rechtswidrig) gehandelt und dann, wenn es auffällt, die Rechtsgrundlage geprüft. Jurastudenten lernen es anders: Erst die rechtlichen Voraus setzungen prüfen, ggf. ein Rechtsgutachten erstellen (lassen), und dann gemäß der gefundenen Rechtsgrundlage handeln.
Dieses in einem Staat, der Rechtsstaat sein will! Abschließend ist zu fragen, wem diese Eskalation an Sicherheit dient und nutzt: Cui bono? Die Antwort liegt auf der Hand: Dem Innenressort mit Polizei und Verfassungsschutz! Wurden Politik und insbe93
sondere der Gesetzgeber genügend für solch ein weitreichendes Sicherheitskonzept „heiß“ gemacht und mithilfe der Medien die – unaufgeklärte naive – Öffentlichkeit auf Akzeptanz getrimmt, dann sind alle politischen und psychologischen Barrieren beseitigt, um ein Sicherheits- und Überwachungsgesetz nach dem anderen vom Bundestag abnicken zu lassen! Jedenfalls gelang es konservativen Politikern, in der Öffentlichkeit die Begriffe „Sicherheit“, „organisierte Kriminalität“ und „Terrorismus“ mit einer überverfassungsmäßigen Geltungs- und enormen Sprengund Schubkraft zu versehen, mit dem unter rechtsstaatlichem Gesichtspunkt grotesken Ergebnis, dass sich die die Grundrechte der Bürger gewährleistenden Bestimmungen des GG nicht mehr von selbst verstehen, sondern besonders legitimiert werden müssen: Nicht mehr die Grundrechte der Bürger sind der Ausgangspunkt, sondern die Staatssicherheit! In der politischen Atmosphäre sind die Grundrechte bereits in Frage gestellt, bevor sie durch ein Gesetz formell eingeschränkt, partiell außer Kraft gesetzt werden! Ob Grundrechte der Bürger noch weiter gewährleistet werden sollen, hängt von der Sicherheitslage ab, wie sie das Innenressort annimmt und verkündet! Der Rechtsstaat ist auf den Kopf gestellt! Wenige Jahre nach dem „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ muss diese Entwicklung – nicht nur für die Bürger des Beitrittsgebietes – besonders perfide wirken: Was gestern überhöht wurde, wird heute unterhöhlt! Die Bundesrepublik begab sich auf den Weg, sich als Überwachungsstaat auszuweisen!
Das Teleüberwachungsgesetz – Vorratsdatenspeicherung Inzwischen wurde das Gesetz zur Neuregelung der Telekom munikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungs maßnahmen erlassen (21. 12. 2007); es ist im Wesentlichen am 1. 1. 2008 in Kraft getreten. Die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erfolgt durch Änderung des beste 94
henden TKG,118 wonach Anbieter alle Telefon-, Handy-, EMail- und Internetdaten sechs Monate zu speichern haben.119 Bereits nach bisherigem TKG war im § 1 als Zweck angegeben, durch technologieneutrale Regulierung den Wettbewerb im Be reich Telekommunikation und leistungsfähiger -infrastrukturen zu fördern, flächendeckend angemessene, ausreichende Dienst leistungen zu gewährleisten. § 2 Abs. 1 Regulierung ist hoheitliche Aufgabe (Bundesnetzagentur). § 88 Fernmeldegeheimnis, § 89 Abhörverbot und Geheimhaltungspflicht der Betreiber von Empfangsanlagen. § 90 Missbrauch von Sendeanlagen, § 91 Anwendungsbereich; § 96 Verkehrsdaten, § 97 Entgeltermittlung und -abrechnung. Nach ist im § 111 vorgesehen, dass Daten für Auskunftsersuchen der Sicherheitsbehörden gemäß dem automa tisierten Auskunftsverfahren (§ 112) zur Verfügung stehen, im § 113a, was neu und hier wesentlich ist, die Speicherung von Ver kehrsdaten,120 in § 113b die Verwendung dieser Daten geregelt; § 114 handelt vom Auskunftsersuchen des BND. §§ 116 ff regeln unter „Bundesnetzagentur“ ihre Befugnisse, darin eingeschlossen Untersagung (§ 126), Auskunftverlangen (§ 127), Ermittlungen (§ 128), Beschlagnahme (§ 129), vorläufige Anordnung (§ 130).
Das Artikelgesetz von 2007 verfolgt zwei Ziele: Zum einen soll das Gesamtsystem der strafrechtlichen heimlichen Ermittlungsmethoden, insbesondere der Telekommunika tionsüberwachung, neu geordnet werden, zum anderen wird die europäische RL über die Vorratsdatenspeicherung umgesetzt. Künftig sind heimliche Telekommunikationsüberwachungen beim Verdacht auf schwere Straftat zulässig, wenn die Tat auch im Einzelfall schwer wiegt und die Erforschung des Sachverhalts
118 Das TKG (25. 7. 1996), das 152 Paragraphen umfasste, wurde durch Gesetze vom 5. 5. 2004, 22 6. 2004 und dann durch Art. 2 des vorgenannten Gesetzes gemäß der EU-Richtlinie weitreichend geändert. 119 Dagegen wurde beim BVerfG eine „Massenverfassungsbeschwerde“. 120 Im § 113a heißt es: Wer öffentlich zugängliche Telekommunikations dienste für Endbenutzer erbringt, ist verpflichtet, von ihm bei der Nutzung seines Dienstes erzeugte oder verarbeitete Verkehrsdaten nach Maßgabe der Abs. 2 bis 5 sechs Monate zu speichern. Ggfs. sind diese vor Freischaltung zu erheben und unverzüglich zu speichern, auch soweit diese Daten für betriebliche Zwecke nicht erforderlich sind. 95
oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts des Beschuldigten auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre. Neu in den Straftatenkatalog des § 100a StPO aufgenommen wurden u. a. schwere Straftaten aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität (Korruptionsdelikte, gewerbs- oder bandenmäßiger Betrug bzw. Urkundenfälschung sowie schwere Steuerdelikte). Nach dem neu eingefügten § 160a besteht für Geistliche, Strafverteidiger und Ab geordnete ein absolutes Abhörverbot, so sie nicht selbst verdächtig sind; für übrige Berufsgeheimnisträger, wie z. B. Journalisten und Rechtsanwälte wird eine Verhältnismäßigkeitsprüfung eingeführt.
Gegen dieses Gesetz, insbesondere § 113b S. 1 Nr. 1 des TKG wurde das BVerfG angerufen. In seinem bemerkenswert schnell ergangenen Beschluss vom 11. 3. 2008 aufgrund eines Eilantrages in Sachen „Vorratsdatenspeicherung“ erkannte es: § 113b S. 1 Nr. 1 TKG (21. 12. 2007) ist bis zur Entscheidung in der Hauptsache nur mit folgenden Maßgaben anzuwenden: Aufgrund eines Abrufersuchens einer Strafverfolgungsbehörde nach § 100 Abs. 1 StPO, das sich auf Anleihen nach § 113 TKG bezieht, hat der verpflichtete Anbieter von Telekommunikations diensten die verlangten Daten zu erheben.
Sie sind jedoch nur dann an die ersuchende Behörde zu übermitteln, wenn Gegenstand des Ermittlungsverfahrens gemäß der Anordnung des Abrufes eine Katalogtat (§ 100a Abs. 2 StPO) ist und die im § 100a Abs. 1 genannten Voraussetzungen der Überwachung des Fernmeldeverkehrs vorliegen. In den übrigen Fällen des § 100 Abs. 1 StPO ist von einer Übermittlung der Daten einstweilen abzusehen.
Damit wird dem privatwirtschaftlichen Diensteanbieter die Verantwortung überbürdet, ob er übermittelt oder nicht! Er hat die Daten zu speichern, darf sie nicht verwenden und hat sicherzustellen, dass Dritte nicht auf sie zugreifen können! Die Bundesregierung hat dem BVerfG zum 1. 9. 2008 nach Maßgabe der Gründe über die praktischen Auswirkungen der in §§ 113a vorgesehenen Datenspeicherung und der vorliegenden einstweiligen Anordnung zu berichten! Auf diese Weise stoppte das BVerfG ein verfassungsrechtlich bedenkliches Gesetz. Das 96
ist etwas Neues. Bisher gab es Fälle, wo das BVerfG bestimmte Gesetze oder einzelne Vorschriften davon für verfassungswidrig bzw. nichtig erklärte oder eine Frist setzte, wo noch mit ihm gearbeitet werden dürfe und ein neues Gesetz erlassen werden musste. Ein Gesetz nicht aufgehoben, sondern lediglich seine Ausführung beschränkt zu haben, ist neu und illustriert das Dilemma, vor dem Politik und BVerfG stehen. Ebenso ist die Berichtspflicht der Regierung gegenüber dem BVerfG im Sinne einer Evaluierung neu und bemerkenswert. Es ist abzuwarten, wie dieser Bericht ausfällt und ob er veröffentlicht wird!
Weitere Entscheidungen des BVerfG zu Grundrechten der Bürger Wegen erheblicher Zunahme von Eingriffen in Freiheits- und Grundrechte der Bürger durch Überwachungsmaßnahmen wurden mehrere Verfassungsbeschwerden angebracht, von denen mehrere angenommen121 und im Sinne der Beschwerdeführer entschieden wurden. Mit der Entscheidung des BVerfG vom 2. 3. 2006 wurde die Verfassungsbeschwerde einer Richterin beschieden, die sie gegen die Anordnung der Durchsuchung ihrer Wohnung wegen des Verdachts der Verletzung von Dienstgeheimnissen angebracht hatte.122 Die gerichtliche Anordnung betraf ausschließlich in der Privatsphäre der Beschwerdeführerin gespeicherte Daten.
Das BVerfG hob einstimmig die angegriffenen Beschlüsse des LG auf. Zwar sei nicht das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) verletzt, da nach Abschluss des Übertragungsvorgangs im Herrschaftsbereich des Kommunikationsteilnehmers gespeicherte Verbindungsdaten nicht vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) umfasst 121 Über 95% der Verfassungsbeschwerden werden mittels § 93a ff. BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen. 122 Es war u. a. auf die im PC der Richterin gespeicherten Daten sowie auf die Nachweise ihres Mobilfunktelefons Zugriff genommen worden. 97
würden. Der Schutz des Fernmeldegeheimnisses endet in dem Moment, in dem die Nachricht beim Empfänger einging, wo der Übertragungsvorgang beendet ist. Während des Kommunikationsvorganges hat der Teilnehmer keine Möglichkeiten, Entstehung und Speicherung von Verbindungs daten durch den Nachrichtenermittler zu verhindern oder auch nur zu beeinflussen. Erst wenn sich die Daten in der Sphäre des Teilnehmers befinden, besitzt er solche: Denn bei den seiner Verfügungsmacht unterliegenden Geräten kann er sich durch vielfältige Vorkehrungen gegen unerwünschten Zugriff schützen.
Insoweit besteht eine Vergleichbarkeit mit den Grenzen der Privatsphäre des Nutzers gespeicherter Daten.
Die spezifischen Risiken eines der Kontroll- und Einwirkungs möglichkeit des Teilnehmers entzogenen Übertragungsvorganges, denen Art. 10 Abs. 1 GG begegnen will, bestehen im Herrschafts bereich des Kommunikationsteilnehmers nicht mehr.
Jedoch seien die Daten durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und ggfs. durch das Recht auf Unverletzlich keit der Wohnung (Art. 13 GG) geschützt. Danach darf auf die beim Kommunikationsteilnehmer gespeicherten Daten nur unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zugegriffen werden.
Vorliegend habe die Durchsuchungsanordnung des LG dem Ver hältnismäßigkeitsgrundsatz nicht hinreichend Rechnung getragen, der fragliche Tatverdacht und die erheblichen Zweifel an der Geeignetheit der Durchsuchung stünden außer Verhältnis zu dem Eingriff in die Grundrechte der Beschuldigten.
Ein Durchsuchungsbeschluss, wie der vorliegende, der ziel gerichtet ausdrücklich die Sicherstellung von Datenträgern bezweckt, greift in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Das BVerfG führt – erläuternd – aus:
Zwischen Fernmeldegeheimnis und dem Recht auf informatio nelle Selbstbestimmung besteht ein Ergänzungsverhältnis: greift Art. 10 nicht, werden die Verbindungsdaten, die sich in der Herr schaftssphäre des Betroffenen befinden bzw. die dort gespeicher ten personenbezogenen Verbindungsdaten durch das Recht auf in 98
formationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 (Allg. Freiheits recht) i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) geschützt.
Damit wird der besonderen Schutzwürdigkeit der Telekommu nikationsumstände Rechnung getragen und die Vertraulichkeit räumlich distanzierter Kommunikation auch nach Beendigung des Übertragungsvorgangs gewahrt. Beschränkungen dieses Rechts bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht. Das sind die §§ 94 ff. StPO, insbesondere §§ 102 ff.
Zur Strafverfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung kommen Eingriffe in diese Rechte grundsätzlich in Betracht. I. Ü. sei zu beachten, dass es beim Eingriff auf beim Betroffenen gespeicherte Verbindungsdaten, die in der Sphäre des Betroffenen gespeichert sind, an der Heimlichkeit der Maßnahme fehlt, die bei der Telefonüberwachung charakteristisch ist.
Eine offene Maßnahme bietet die Möglichkeit, bereits ihrer Durchführung entgegenzutreten, wenn es an den gesetzlichen Voraussetzungen fehlt, oder aber zumindest die Einhaltung der im Durchsuchungsbeschluss gezogenen Grenzen zu überwachen. Weiter betont das BVerfG: Ein erheblicher Eingriff sowohl in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als auch in die Unverletzlichkeit der Wohnung bedarf im konkreten Fall der Rechtfertigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Beim Zugriff auf bei dem Betroffenen gespeicherte Verbindungs daten ist auf deren erhöhte Schutzwürdigkeit Rücksicht zu nehmen. Auch muss die Verhältnisverhältnismäßigkeitsprüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass es sich um Daten handelt, die au ßerhalb der Sphäre des Betroffenen unter besonderem Schutz des Fernmeldegeheimnisses stehen und denen im Herrschaftsbereich des Betroffenen ein ergänzender Schutz durch das Recht auf in formationelle Selbstbestimmung zukommt. Im Einzelfall können – wie vorliegend – die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straf tat, eine geringe Beweisbedeutung der zu beschlagnahmenden Ver bindungsdaten sowie die Vagheit des Auffindens entgegenstehen.
Dem Schutz der Verbindungsdaten muss bereits in der Durch suchungsanordnung, soweit es die konkreten Umstände ohne
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Gefährdung des Untersuchungszwecks erlauben, durch Vor gaben zur Beschränkung des Beweismaterials auf den tatsächlich erforderlichen Umfang Rechnung getragen werden. Dabei ist vor allem an die zeitliche Eingrenzung der zu suchenden Verbindungsdaten zu denken oder an die Beschränkung auf bestimmte Kommunikationsmittel.
Dass die Beschlüsse dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht hinreichend Rechnung tragen, ergibt sich aus folgendem:
Der Tatverdacht war als äußerst gering zu bewerten und vermochte keineswegs die schwerwiegenden Eingriffe in Grundrechte der Beschwerdeführerin zu rechtfertigen.123 Auch die Geeignetheit der Durchsuchung zum Auffinden von Beweismitteln war von vornhe rein zweifelhaft. Im Zeitpunkt der Durchsuchungsanordnung wa ren fast fünf Monate seit der mutmaßlichen Tatzeit vergangen!
Mithin stehen der fragliche Tatverdacht und die erheblichen Zweifel an der Geeignetheit der Durchsuchung außer Verhältnis zu dem Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Das BVerfG zutreffend: Das LG hätte von Verfassung wegen – von sich aus – von der Anordnung absehen müssen! In der Tat muss man sich an den Kopf fassen, dass ein LG die vom BVerfG vorgebrachten Gesichtspunkte, die gegen eine solche Anordnung sprechen, nicht selbst sehen, in Betracht ziehen und berücksichtigen konnte – oder wollte! Wem die justizielle Praxis in diesem Lande nicht ganz ungeläufig ist, weiß, dass dergleichen Missachtung der Gesetze und vor allem der verfassungsrechtlichen Grundrechte nicht selten ist. Es ist zu begrüßen, dass das BVerfG die Gerichte „an die Hand nimmt“, die nicht das gebotene Maß an Achtung der Grundrechte der Bürger respektieren.124 Eine weitere BVerfG-Entscheidung (4. 7. 2006) befasst sich – z. T. – mit Durchsuchungen und Abhörmaßnahmen: 123 Das geringe Gewicht des Tatverdachts folge im vorliegenden Falle bereits aus der Vielzahl von Personen, die für die fragliche Weitergabe der Information in Betracht kam! Einige von ihnen wurden allein aufgrund eigener Bekundung als verdächtig ausgeschlossen, andere wurden überhaupt nicht in die Betrachtung einbezogen. 124 Es besteht der Verdacht, dass Vorbehalte gegen die Richterin eine beson100
Es handelt sich um die Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwalts gegen die gerichtliche Anordnung des Abhörens von Gesprächen mit einem inhaftierten Mandanten und gegen die Durchsuchung seiner Kanzleiräume wegen des Verdachts der Geldwäsche.
Das BVerfG stellte fest, dass das Abhören des Verteidigergesprä ches und die Durchsuchung der Kanzlei den Beschwerdeführer in seiner Berufsausübungsfreiheit sowie seinem Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) verletzten. Das Gewicht des Grundrechtseingriffs verlange den Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Der Richtervorbehalt gebietet es, dass in dem richterlichen Durchsuchungs- und Abhörbeschluss ein Verhalten oder sonstige Umstände geschildert werden, die wesentliche Merkmale eines Straftatbestandes erfüllen. Diesen Anforderungen genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht. In einem Abhör- bzw. Durchsuchungsbeschluss muss zum Aus druck kommen, dass der Ermittlungsrichter die Eingriffsvorausset zungen selbstständig und eigenverantwortlich geprüft hat. Er muss ein dem Beschuldigten angelastetes Verhalten schildern, das die Voraussetzungen eines Strafgesetzes erfüllt. Er muss ein Verhalten oder sonstige Umstände schildern, die alle wesentlichen Merkmale des Straftatbestandes erfüllen. Bei Geldwäsche muss eine Vortat begangen worden sein, die im Katalog des § 261 Abs. 1 Satz 1 StGB aufgeführt ist. Darlegungen zum Geldwäscheverdacht erfordern die Schilderung des Vortatverdachts. Kommt eine Steuerhinter ziehung in Betracht, ist den Anforderungen nicht genüge getan, wenn lediglich behauptet wird, Einnahmen seien nicht versteuert worden. Damit ist die Tathandlung der Steuerhinterziehung nicht einmal ansatzweise beschrieben.
Bei dem Tatverdacht der Steuerhinterziehung bleibt vorliegend schon offen, welche Steuer gemeint ist.
Tathandlungen der Steuerhinterziehung sind falsch oder pflicht widrig unterlassene Erklärungen gegenüber den Finanzbehörden. Im Ermittlungsverfahren ist eine Schilderung des Verdachts der Steuerhinterziehung ausreichend, wenn angegeben wird, welche dere Rolle gespielt haben könnten, dass sich die gerügte Anordnung des LG durch sachfremde Gesichtspunkte erklärt. 101
Steuer und welcher steuerbare Gegenstand betroffen sind und durch welche Verletzung einer steuerrechtlichen Verpflichtung die Steuerverkürzung oder der Steuervorteil bewirkt worden sein soll.
Die Gerichte hätten einwenden müssen, welche Steuererklärung oder Voranmeldung pflichtwidrig unterlassen oder falsch abgegeben und welche Steuer dadurch verkürzt wurde.
Weitere Voraussetzung für die auf Geldwäsche gestützten Durchsuchungs- und Abhörbeschlüsse ist die Bildung einer kriminellen Vereinigung, so dass es einer eigenen Darlegung der Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmals bedurft hätte.
Insoweit genügt es nicht, auf eine frühere Verurteilung zu verweisen. Die Vortat muss aktuell begangen worden sein.
Ob das in den angegriffenen Beschlüssen geschilderte Verhalten des Beschwerdeführers einen anderen als den dort angegebenen Tatbestand erfüllt, braucht das BVerfG nicht zu prüfen. Durchsuchungs- oder Abhörbeschlüsse müssen den gesetzlichen Tatbestand selbst benennen.
Nur wenn der zur Kontrolle des Eingriffs berufene Richter sich den Straftatbestand vergegenwärtigt, kann die Verhältnismäßig keit vollständig geprüft werden, weil die Zumutbarkeit des Ein griffs auch von der Schwere der vorgeworfenen Tat abhängt, für die die Strafdrohung von wesentlicher Bedeutung ist. Mit der Verfassungsmäßigkeit der Online-Durchsuchung be fasste sich das BVerfG (27. 2. 2008): Das allgemeine Persön lichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Die heimliche In filtration eines solchen Systems, mittels derer die Nutzung über wacht und Speichermedien ausgelesen werden können, ist ver fassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte konkreter Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut beste hen: Das sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder der Existenz der Menschen berühren. Die Maßnahme kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststel 102
len lässt, ob die Gefahr in näherer Zukunft eintritt, sofern be stimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Per sonen drohende Gefahr für das überragend wichtige Rechtsgut hinweisen. Die heimliche Infiltration eines informationstechni schen Systems steht grundsätzlich unter dem Vorbehalt richter licher Anordnung. Das Gesetz, das zu einem solchen Eingriff er mächtigt, muss Vorkehrungen enthalten, Kernbereiche privater Lebensgestaltung zu schützen. Soweit die Ermächtigung sich auf eine staatliche Maßnahme beschränkt, durch welche Inhalte und Umstände der Telekommunikation im PC erhoben oder darauf bezogene Daten ausgewertet werden, ist der Eingriff an Art. 10 Abs. 1 GG zu messen. Verschafft der Staat sich Kenntnis von Inhalten der Internetkommunikation und dem dafür vorgesehenen Weg, so liegt dann ein Eingriff in Art.10 Abs. 1 GG, wenn er nicht durch Kommunikationsbeteiligte zur Kenntnisnahme autorisiert ist, nimmt er aber im Internet öffentlich zugängliche Kommunikationsinhalte wahr, beteiligt sich an öffentlich zugänglichen Kommunikationsvorgängen, greift er grundsätzlich nicht in Grundrechte ein. In diesen Zu sammenhang gehört der BVerfG-Beschluss vom 21. 1. 2008. Die Verfassungsbeschwerde einer Ärztin war erfolgreich, weil die angegriffenen Beschlüsse des AG (Durchsuchungsbeschluss für Wohn- und Praxisräume, sowie ihrer Person und Kfz) sie in ihrem Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung verletzen. In Anbetracht des relativ geringen Schadens und der Tatsache, dass ein kaum über bloße Vermutungen hinausreichender Tatverdacht bestand, war die Durchsuchung der Arztpraxis unverhältnismäßig. In die Erwägungen hätte auch eingestellt werden müssen, dass mit der Durchsuchung der Praxisräume Daten Dritter gefährdet wären. Da sich schon aus den vorgenannten Gründen die Verfassungswidrigkeit ergab, konnte offen bleiben, ob der Durch suchungsbeschluss auch deswegen als verfassungswidrig anzusehen war, weil nicht nur die Durchsuchung der Praxisräume, sondern auch die der Wohnung und der Kraftfahrzeuge angeordnet war.
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Bemerkenswert ist auch, dass das BVerfG (11. 3. 2008) die hessischen und schleswig-holsteinischen Vorschriften zur automatisierten Erfassung von Kfz-Kennzeichen für nichtig erklärte. Die automatische Kennzeichenerfassung greift in den Schutzbe reich des aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht erwachsenden Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung125 ein, wenn das Kennzeichen nicht unverzüglich mit dem Fahndungsbestand abgeglichen und ohne weitere Auswertung sofort gelöscht wird. Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbst bestimmung müssen auf einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage beruhen. Die angegriffenen Vorschriften erfüllen diese Voraussetzungen nicht: Es fehlt an einer hinreichenden bereichsspezifischen und normenklaren Bestimmung des Anlasses und Verwendungszweckes der automatisierten Erhebung, was eine grundrechtswidrige Unbestimmtheit auch hinsichtlich der erheb baren Informationen einschließt. Auch genügen die angegriffenen Bestimmungen nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit, weil sie schwerwiegende Eingriffe in das informationelle Selbst bestimmungsrecht der Betroffenen ermöglichen, ohne die für derart intensive Maßnahmen grundrechtlich geforderten gesetzlichen Eingriffsschwellen hinreichend zu nominieren.126
Erwähnt sei schließlich noch ein Beschluss des BVerfG vom 10. März 2008(!), der die behördliche Datensammlung steuerlicher Auslandsbeziehungen betrifft. Es befand, dass gegen die beim Zentralamt für Steuern127 nach §§ 88a AO i. V. m. § 5 Abs. 1 Nr. 6 Finanzverwaltungsgesetz geführten Datensammlungen über steuerliche Auslandsbeziehungen keine verfassungsrechtli125 Dieses Grundrecht hatte das BVerfG im Volkszählungsurteil aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs.1 GG abgeleitet. 126 In Bayern werde diese Überwachung besonders intensiv betrieben: 35 Scanner würden im Dauerbetrieb fünf Millionen Kfz. pro Monat abgleichen – mit einer „Erfolgsquote“ von 0,03%! 127 Sammelt Angaben über steuerrechtlich relevante Beziehungen von im Inland ansässigen Firmen/Personen zum Ausland/umgekehrt. Die Datensammlung soll die Bekämpfung des Missbrauchs rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten unterstützen. Es sammelt Hinweise, ob es sich bei ausländischen Gesellschaften um so genannte Domizilgesellschaften handelt, die dazu genutzt werden können, Steuern zu verkürzen. 104
chen Bedenken bestehen. Gegenüber dem Auskunftsanspruch Betroffener stellt die in § 19 Bundesdatenschutzgesetz enthaltene Abwägungsklausel in verfassungsmäßiger Weise sicher, dass eine Auskunft nur dann unterbleiben darf, wenn das Interesse an der ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung der Steuerbehörden dem Informationsinteresse des Betroffenen vorgeht.
Kautschuk zum Quadrat Terrorkeule gegen links Bevor wir uns „neuen“ Ideen des Ausbaus des Sicherheitsstaates zuwenden, muss darauf verwiesen werden, dass die Bundes regierung die im Jahre 1976 geschaffene „Zentralnorm des politischen Strafrechts“, § 129a StGB, im Zuge des „Kriegs gegen den internationalen Terror“ durch ein harmlos aussehendes 34.(!) StrÄndG vom 22. 8. 2002 deutlich veränderte und vor allem in Gestalt des § 129b eine weitreichende Ergänzung des politischen Strafrechts vornahm. Nach dieser Vorschrift gelten die §§ 129 und 129a in Ausdehnung der Strafhoheit der Bundesrepublik auf fremdes Staatsgebiet auch bei Vereinigungen im Ausland, wobei bei Vereinigungen außerhalb der Mitgliedstaaten der EU auf § 7 StGB128 Bezug genommen wird. Für eine auf § 129b gestützte Strafverfolgung bedarf es im konkreten Fall einer besonderen Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz (BJM). Folglich wird die Geltung dieses Strafgesetzes, zumindest die Strafbarkeit bzw. die Strafverfolgung von einer besonderen Ermächtigung einer Behörde abhängig gemacht. Das Legalitätsprinzip wird offen ausgeschaltet. Die durch dieses Gesetz eröffnete Willkür wird augenscheinlich durch den letzten Satz dieses Paragraphen. Danach soll bei der Entscheidung über die Ermächtigung – ob verfolgt werden soll oder nicht – in Betracht gezogen werden, „ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen 128 Gemeint sind Fälle, wo Täter oder Opfer Bundesdeutsche sind. 105
das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen.“
Nun ist auslegungsfähig, was „die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung“ sein sollen. Aber letztendlich ist maßgebend, ob die betreffenden Bestrebungen – aus Sicht des BJM – bei Abwägung aller Umstände als „verwerflich“ erscheinen.War schon der § 129a eine Strafbestimmung, die der gebotenen Bestimmtheit entbehrt, so ist der neue § 129b „Kautschuk zum Quadrat“. Es gibt nur noch Subjektivismus und subjektive Bewertung durch eine Behörde! Von Bestimmtheit des Gesetzes und Legalitätsprinzip verbleibt keine Spur mehr! Auch diese neue Strafbestimmung ermöglicht wie der § 129a verschiedene weitergehende Eingriffe. Ausdrücklich ist eine „erweiterte Möglichkeit von Verfall und Einziehung“ gem. §§ 73d, 74a StGB vorgesehen. Die strafbewehrte Anzeigepflicht gem. § 138 wird um § 129b erweitert – wobei schon die Frage zu stellen ist, woher ein einzelner anzeigepflichtiger Bürger wissen oder ahnen kann, was alles als anzeigepflichtig unter diesen § 138 fällt, wenn nun auch der § 129b von ihm erfasst wird. Auch auf die Strafbestimmung gegen Geldwäsche gem. § 261 StGB bezieht sich der neue § 129b. Ebenfalls werden Eingriffsbefugnisse in das vom Art. 10 GG gewährleistete Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnis unter Bezugnahme auf das G-10Gesetz in der Fassung vom 20. 6. 2002 eröffnet.
Strafprozessual sind ausdrücklich Überwachungsmaßnahmen ohne Wissen des Betroffenen ( § 100c) sowie die Durchsuchung bei dritten Personen (§ 103) und die erweiterten Möglichkeiten für den Erlass eines Haftbefehls (§ 112) zu nennen. Angesichts der Schwammigkeit des neuen Gesetzes und der vollständigen Abhängigkeit der Strafverfolgung von einer besonderen Ermächtigung einer Behörde sind die strafprozessualen Eingriffsmöglichkeiten völlig in das Belieben der Behörde gestellt! Dieser Beliebigkeit entspricht im Gegenzug, dass auch in den Fällen des § 129b StGB gem. § 153c StPO (Nichtverfolgung von Auslandstaten) von der Verfolgung solcher Taten nach Ermessen der Verfolgungsbehörden abgesehen 106
werden kann. Selten ist im Wortlaut eines Gesetz so klar ein rechtsstaatlich so bedenklicher Zustand ausgedrückt, dass sowohl die Strafverfolgung wie auch umgekehrt das Absehen von einer solchen völlig in das Ermessen der Behörden gestellt ist. Gesetz und Legalitätsprinzip bleiben völlig außen vor! Wozu überhaupt noch ein Gesetz? Es genügte doch zu erklären: Wenn die Behörde will, darf sie verfolgen, wenn nicht, muss sie nicht! Und das in einem Staat, der Wert darauf legt, als Rechtsstaat angesehen zu werden! Jenseits aller über alle Maßen unerträglichen Rechtsunsicherheit ist eines gewiss: Durch diese Gesetzgebung verlieren die geheimdienstlichen Aktivitäten und polizeiliche Ermittlungstätigkeit jegliche rechtsstaatliche Grenze. Grenzen ergeben sich nur noch faktisch – durch die personelle Kapazität der Behörden. Auch wenn diese auf § 129b StGB gestützte Tätigkeit „nur“ Ausländer im Visier haben soll, werden im Einzelfall aus einer unübersehbaren Zufälligkeit auch Bundesbürger von der Gefahr, erfasst zu werden, bedroht, wenn sie mehr oder weniger zufällig „Kontaktperson“ zu dem betreffenden Ausländer wurden oder durch einen anderen zufälligen Zusammenhang in das Visier der Behörden geraten! Die Annahme, ein solches nicht unbedenkliche Gesetz würde doch aber gar nicht praktisch werden, ist ein großer Irrtum. Auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE wurde die Auskunft erteilt, dass 2007 40 Ermittlungsverfahren nach § 129b StGB eingeleitet wurden, in der Mehrzahl gegen „Islamisten“ – was immer das sein soll. Der im Jahre 2002 neu geschaffene Straftatbestand gegen „terroristische Vereinigungen im Ausland“ wurde bereits gegen bis zu 10 mutmaßliche Mitglieder oder Unterstützer der aus Nordirak stammenden kurdisch-islamistischen Gruppierung Ansar al Islam angewandt; betreffende Personen wurden Mitte Juli 2008 zu Frei heitsstrafen bis zu 10 Jahren verurteilt, und zwar wiederum in Stuttgart-Stammheim. Derzeit wird ein Prozess gegen mutmaß liche Anhänger der „Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C)“ geführt, die eine linke Vereinigung ist. 107
Jedenfalls sind verstärkt ausländische linke und nationale Befrei ungsbewegungen ins Visier der Bundesanwaltschaft geraten 2007 wurden sieben Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Anhänger der „Türkischen Kommunistischen Partei/MarxistenLeninisten“ eingeleitet, drei Verfahren betrafen die DHKP-C und weiterhin eines die iranisch-kurdische Oppositionsgruppe „Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK)“.
Diese Beispiele illustrieren, dass die Ermächtigung in Händen des BJM praktisch bedeutet, dass diese Behörde nach außenpolitischen Interessen und Einschätzungen von Partnerstaaten, wie zum Beispiel der Türkei, bestimmt, ob eine Organisation als „Befreiungsbewegung“ hofiert oder als „Terrorbande“ verfolgt wird. In diesem Zusammenhang darf noch angemerkt werden, dass die bereits vor 40 Jahren geschaffene Vorschrift des § 129a StGB missbraucht wird, um linke Journalisten zu verfolgen und mundtot zu machen.
Als Beispiel sei der Fall der Journalistin der „Jungen Welt“ Heike Schrader genannt. Sie wurde am 10. 12. 2007 aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des BGH vom 13. 9. 2005 bei ihrer Einreise auf dem Flughafen in Köln von Beamten des BKA verhaftet. Sie ist mit einem griechischen Bürger verheiratet und lebt demgemäß in Athen. Ihr wurde zur Last gelegt, von 1996 – 1998 Mitglied der im Inland innerhalb der DHKP-C bestehenden terroristischen Vereinigung im Sinne des § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB (in der zur Tatzeit geltenden Fassung) gewesen zu sein. Die Journalistin war aus Anlass einer Lese-Reise eingereist, um das von ihr übersetzte und kommentierte Buch „Guantanamo auf griechisch – Zeitgenössische Folter im Rechtsstaat“ über Folter in Griechenland vorzustellen.
Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE warf der Bundesanwaltschaft am 12. 12. 2007 vor, „die Terrorismuskeule des § 129a zu schwingen“:
Nach kritischen Sozialwissenschaftlern und Antimilitaristen in Berlin trifft es diesmal die in Athen lebende linke Journalistin, die offenbar deshalb ins Visier der Terroristenjäger geriet, weil sie 108
von Prozessen gegen Aktivisten der verbotenen linken türkischen Organisation der DHKP-C in Deutschland berichtet hatte.
Sämtliche Tünche des Rechtsstaats und der Gleichbehandlung aller Bürger gem. Art. 3 GG ist verwischt: Der Stoß der bundes deutschen Geheimdienste und Behörden richtet sich gegen links und gegen Kritiker von Vorgängen in der BRD, besonders der regierungstreuen Strafverfolgung wie in anderen mit ihr verbün deten Staaten, so der Türkei. Die §§ 129a, 129b StGB erweisen sich als mit Freiheitsentzug verbundene Maulkorb-Paragrafen!
Eine neue „Sicherheitsarchitektur“ Mit der Installierung eines für die Sicherheit der Bürger völlig überflüssigen „Nationalen Sicherheitsrats“ und einem „modernen“ BKA-Gesetz erstreben Kanzlerin und Bundesinnenminister eine neue „Sicherheitsarchitektur“. Aufgrund der gefährlichen Erfahrungen mit der Sicherheitspraxis des Hitlerstaates, vor allem in Gestalt des RSHA wurde in Westdeutschland nach 1945 das Prinzip der Trennung von polizeilicher Tätigkeit von nachrichtendienstlicher Aktivität129 zur Geltung gebracht. Nach diesem Prinzip besitzen Geheimdienste keine polizeilichen Zwangsbefugnisse; demzufolge dürfen Verfassungsschutz- und Polizeibehörden nicht in einer Behörde zusammengefasst werden.
Dieses Prinzip wurde durch die gemeinsame „Terrordatei“ und gemeinsame „Projektdateien“, nun durch die neue „Sicher heitsarchitektur“ offen über Bord geworfen. Deshalb sind, bevor wir auf das BKA-Gesetz eingehen, an dieser Stelle zwei andere sehr bedenkliche Regelungen anzusprechen: Es geht um das „Gemeinsame-Dateien-Gesetz“ vom 1. 12. 2006 und das „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“ vom 5. 1. 2007. Mit der Einführung von sog. „Projektdateien“ wurde eine weitreichende Aufweichung der informationellen Trennung von Polizei 129 Ob dieser Trennungsgrundsatz ein verfassungsrechtliches Prinzip ist, ist umstritten. Verwiesen wird auf Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG und auf den „Polizeibrief“ der drei westlichen Militärgouverneure vom 24. 4. 1949. 109
und Geheimdiensten bewirkt. An der „Antiterror-Datei“ (ATD) sind neben BKA die Geheimdienste (BND, BfV, LfV und MAD), das Zollkriminalamt und Polizeibehörden des Bundes und der Länder beteiligt. Das Gesetz regelt im Einzelnen die Speicherungspflicht und die Betroffenen und den Umfang der gespeicherten Daten; schließlich finden sich Zugriffsregelungen.
Durch das „Gemeinsame-Dateien-Gesetz“ wurde die Errichtung von „Projektdateien“ ermöglicht, wie das auch in den BKA-, Verfassungsschutz- und BND-Gesetzen vorgesehen ist. Stärker als bei der ATD werden hier sensible personenbezogene In formationen, ggfs. in Volltextdateien, zusammengeführt. Dazu ge hört auch die Schaffung eines „Gemeinsamen Terrorismusabwehr zentrums“, das 2004 in Berlin-Treptow seine Arbeit aufnahm.
Auch hier bleiben die eigentlichen Funktionen und Zwecke unausgesprochen, geheim. Treffend spricht Berthold Huber vom „Bankgeheimnis“ der Nachrichtendienste!130 und zutreffend erkennen Roggan und Bergemann, dass inzwischen „macht begrenzende Verfassungsgrundsätze – wie etwa das Trennungs gebot – mit zunehmender Geschwindigkeit an Bedeutung (verlieren)“. Im gleichen Sinne moniert Zöller die Verletzung des Trennungsgebotes, wodurch den beteiligten Behörden „Übergriffe in fremde Zuständigkeitsbereiche ermöglicht werden“. Durch die „Antiterrordatei“ werden das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzende Zugriffe auf höchst sensible persönliche Daten eröffnet, wenn „nur irgendein Bezug zum Phänomen des internationalen Terrorismus geltend gemacht werden kann.“ Im Klartext heißt dies: Bereits heute sind Polizei und Geheimdienste – unter Verletzung des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, nach dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht – im bundesdeutschen Staatswesen die eigentlichen, nicht mehr an 130 In „Das Bankgeheimnis der Nachrichtendienste“ äußert sich der Autor, selbst Mitglied der G-10-Kommission des Bundes, äußerst besorgt darüber, „dass eine effektive externe Kontrolle über die an Luftfahrtunternehmen sowie Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute gerichteten Auskunftsersuchen nicht mehr stattfinden. Die Prüfungszuständigkeit der Kommission ist nunmehr auf die Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis nach dem G 10 beschränkt.“ 110
Gesetz und Recht gebundenen Inhaber der staatlichen Macht! Durch das Gesetz erlangt das BKA weitreichende Befugnisse für Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger! Nach Plänen des Innenressorts soll das BKA die Online-Durch suchung, das Ausspähen mit Videokamera und die Verwendung von Daten im Hinblick auf den Kernbereich privater Lebensge staltung sowie die Rasterfahndung betreiben dürfen. Durch das BKA-Gesetz soll erlaubt werden, „zur Terrorabwehr“ künftig PC und Wohnungen auszuspähen und dadurch in Grundrechte nach Art. 2 Abs.1, Art. 10 und Art. 13 GG einzugreifen. Dabei sollen außer „Tatverdächtigen“ auch „Kontakt- und Begleitpersonen“ betroffen werden, können somit auch Mikrofone und Kameras in Wohnungen unbescholtener Bürger angebracht werden – ohne richterlichen Beschluss allein durch den BKA-Präsidenten! Mithil fe der Online-Fahndung wird ein Zugriff auf Privatcomputer eröff net. Nach dem Bundesinnenminister sei dieses Gesetz ein „wich tiger Baustein in der Sicherheitsarchitektur“. Andere sprechen von einem „schwarzen Tag“ für Bürgerrechte und von „Tabu-Bruch!“
Durch dieses Gesetz würde – wie Leutheusser-Schnarrenberg erklärt – die „Sicherheitsarchitektur Deutschlands“ zu Lasten der Freiheiten der Bürger radikal verändert, das BKA – Bundes kriminalamt –, also die Bundesbehörde zur Verfolgung von Verbrechen bekäme erstmals ausdrücklich die Befugnis, im Sinne allgemeinpolizeilichen Handelns „präventiv zur Verhü tung von Straftaten“ tätig zu werden. Die kriminalpolizeiliche Bundesbehörde mutiert dadurch zu einer allgemeinen für die Gefahrenabwehr zuständige Polizeibehörde! Sie soll gem. § 4a des Gesetzes in diesem präventiven Sinne tätig werden, wenn länderübergreifende Gefahr vorliegt – was subjektiver Bewertung unterläge; die Zuständigkeit einer Landesbehörde nicht erkenn bar(!?) ist; die oberste Landesbehörde um Übernahme ersucht(!?).
Dies sind keine präzisen Voraussetzungsbestimmungen. Die Ge fahrenabwehr im Bereich des internationalen Terrorismus soll durch eine Reihe von Eingriffsmöglichkeiten und verdeckten Maßnahmen – die sich einer wirksamen Kontrolle entziehen – optimiert(!) werden. Im Einzelnen sind folgende Befugnisse zur 111
Abwehr – außerhalb eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens und damit außerhalb rechtsstaatlicher Kontrolle – vorgesehen: § 20a Allgemeine Befugnisse, § 20b Erhebung personenbezogener Daten! § 20c Befragung und Auskunftspflicht (wessen für welche Auskünfte?), § 20d Identitätsfeststellung und Prüfung von Be rechtigungsscheinen, § 20e Erkennungsdienstliche Maßnahmen (bei präventiver Gefahrenabwehr!), § 20f Vorladung (beliebiger Personen, die weder Beschuldigte, noch Zeugen sind!), § 20g Besondere Mittel der Datenerhebung (was immer das sein mag?), § 20h Besondere Bestimmungen über den Einsatz technischer Mittel in und aus Wohnungen
Damit will sich das BKA die Erlaubnis zum „Großen Lauschangriff“ beschaffen!131
§ 20i Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung (von beliebi gen Personen!), § 20j Rasterfahndung außerhalb eines Ermittlungs verfahrens! § 20k Verdeckte Eingriffe in informationstechnische Sys teme, also Online-Durchsuchungen außerhalb eines Ermittlungs verfahrens! § 20l Überwachung der Telekommunikation außerhalb eines Ermittlungsverfahrens! § 20m Erhebung von Verkehrsund Nutzungsdaten, also Ausdehnung des TKG außerhalb eines Ermittlungsverfahrens! § 20n Identifizierung und Lokalisierung von Mobilfunkgeräten, § 20o Platzverweisung, § 20p Gewahrsam, § 20q Durchsuchung von Personen, § 20r Durchsuchung von Sa chen, § 20s Sicherstellung, § 20t Betreten und Durchsuchen von Wohnungen außerhalb eines Ermittlungsverfahrens, § 20u Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen (außerhalb eines or dentlichen Ermittlungsverfahrens unter Bezugnahme auf § 160a, der Erkenntnisse über zeugnisverweigerungsberechtigte Personen betrifft),132 § 20v Kennzeichnung, Verwendung und Löschung, § 20w Benachrichtigung, § 20x Übermittlung an das BKA. 131 Einige Länder, so Bayern, beabsichtigen, in Ländergesetzen noch weiter reichende polizeiliche Befugnisse vorzusehen. Inzwischen hat der Land tag in München (17. 7. 2008) dieses Gesetz angenommen. Petra Pau: das Gesetz lasse sich auf folgende Kurzformel bringen: „Wer demonstrieren will, ist verdächtig. Und wer dennoch demonstriert, wird registriert.“ 132 Besonders bedenklich ist in diesem Zusammenhang die von dem umfassenden Zeugnisverweigerungsrecht aus beruflichen Gründen in § 53 112
Solches Unternehmen kostet Geld! Nach eigener Einschätzung: derzeit(!) ca. 23,3 Mio. €, jährlich 10 Mio. €. Ob die Sicherheit des Staates tatsächlich erhöht wird, ist zu bezweifeln. Jedenfalls markieren solche Vorhaben die „Militarisierung der Politik und des Rechts“, Hand in Hand mit einer „Verpolizeilichung der Geheimdienste“. Wer Sicherheit des Staates anstrebt, dabei die Sicherheit der Bürger aus den Augen verliert, wer in der Sicherheit des Staates etwas anderes sieht, als die Sicherheit der Bürger, stellt den – polizeistaatlichen – Staat dem Bürger entgegen, über ihn, verselbständigt den – polizeistaatlichen – Staat. Damit wird offen die Demokratie beiseite geworfen, begraben. Die Grund- und Bürgerrechte nehmen im öffentli chen Diskurs nur noch einen hinteren Rang ein. Wir erleben eine „Entdemokratisierung“, begleitet von Entmündigung der Bürger. Wo geht diese Entwicklung hin? Die Gefährlichkeit des BKA-Gesetzes besteht darin, dass unter Verletzung des Tren nungsgrundsatzes Daten von Polizeibehörden und Geheim dienststellen miteinander vernetzt würden – Datenaustausch mit ausländischen Geheimdiensten nicht ausgeschlossen! Seit Beginn dieses Jahrhunderts ist „ein tiefgreifender Wandel des deutschen Nachrichtendienstrechts“ hin zu einem bisher vom Datenschutzrecht verhinderten „Informationsverbund deut scher Sicherheitsbehörden“ erfolgt, mit einer weiteren „Verwäs serung“ – letztlich Aufhebung – „des Trennungsverbots“.133 In gleicher Richtung liegt das gesetzgeberische Vorhaben der bayrischen Landesregierung, das von Leutheusser-Schnarrenberg gerügt wird: Mit diesem Gesetz soll das nach Art. 8 GG uneingeschränkte Grundrecht auf Versammlungsfreiheit durch ein „polizeiliches Erlaubnisrecht“ zur Durchführung von Versammlungen abgelöst StPO abweichende Aufspaltung der Anwaltschaft in Strafverteidiger und andere Rechtsanwälte, zumal § 160a StPO nur Strafverteidiger in Fällen von Straftaten von erheblicher Bedeutung wirksam schützt. 133 Mark Zöller schließt mit der Überlegung, dass Al-Quaida mit der mit dieser Sicherheitspsychose bei der Bevölkerung erzeugten „Angst, Opfer von terroristischen Gewalttaten zu werden,“ „vielmehr erreicht“ hätten, „als sie sich beim Anflug auf das WTC jemals erhoffen konnten.“ 113
und beseitigt werden. Solches würde behördlicher Willkür gegen ungeliebte Personen und -gruppen Tür und Tor öffnen. Bei der herrschenden Sicherheitspsychose ist zu befürchten, dass
andere Bundesländer, ihre Gesetzgebungsbefugnis missbrau chend, nachziehen! Heribert Prantl spricht gar davon, dass die bösartigste Wirkung des „internationalen Terrorismus“ da rin bestünde, dass er die Bundesrepublik zu einer veränderten Sicherheitsarchitektur veranlasst, genötigt hätte – die die Frei heitsrechte der Bürger verkürze.134 Hat sich die BRD durch den „internationalen Terrorismus“ zu einer für ihre Bürger bedroh lichen Politik und Gesetzgebung drängen lassen, anstatt aktiv zu konstruktiven wirklichen Problemlösungen beizutragen?
Weitere Ideen zum Ausbau des Überwachungsstaates Immer neue Ideen135 zum Ausbau des Überwachungsstaates werden geboren. In Abstimmung mit den übrigen Bundesressorts hat das BMJ die Entwürfe neuer Straftatbestände wegen Vor bereitung terroristischer Straftaten vorgelegt. Diese Vorbereitung schwerer terroristischer Gewalttaten soll künftig ebenso wie die Anleitung zur Begehung solcher Straftaten bestraft werden können. Auch das Aufnehmen oder Unterhalten von Beziehungen zu einer „terroristischen Organisation“ sollen zukünftig strafbar sein, wenn dies in der Absicht(!) geschieht, sich in der Begehung von Anschlägen unterweisen zu lassen. Die geplanten neuen Straftatbestände werden durch aufenthaltsrechtliche Vorschriften flankiert, die es ermöglichen Ausländer, auszuweisen bzw. gegen sie Einreiseverbote zu verhängen.
Im einzelnen soll es in Gestalt eines neuen § 89a StGB im Staats schutzstrafrecht(!) eine Vorschrift geben, die die Vorbereitung 134 Prantl: „Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Angst Politik macht. 135 Wie gefährlich derartige Vorhaben für die Bürger werden können, illustriert eine Datenpanne in einem Einwohnermeldeamt: Die installierenden Kommunen hatten das vom Hersteller der Software mitgelieferte Passwort übernommen, sodass Internetnutzer sofort an die persönlichen Daten der Bürger herankamen! 114
einer schweren Gewalttat mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu 10 Jahren unter Strafe stellt. Die Überlegung, die diesem Gesetzesvorschlag zugrunde liegt, besteht darin, dass „islamistische Täter“ oftmals ohne feste Ein bindung in eine (mindestens drei Mitglieder umfassende) Gruppe agieren, somit von §§ 129a, b StGB nicht erfasst werden.
Mit der neuen Strafbestimmung werden erfasst
die Vorbereitung von Straftaten aus dem terroristischen Kern bereich(!), wie in § 129a Abs. 1 aufgeführt (Straftaten gegen das Leben und die persönliche Freiheit; Mord, Totschlag, Freiheitsberaubung, Geiselnahme), wenn diese Taten bestimmt und geeignet sind, den Bestand oder die Sicherheit eines Staates zu beeinträchtigen oder die Verfassungsgrundsätze zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben.
Diese neue Strafbestimmung ist so wegen der darin beschriebenen Zielstellung der inkriminierten Handlung als eine echte Staatsschutzbestimmung abgefasst. Weiterhin sollen Täter, die solche Taten vorbereiten, aber mangels Bestehens oder Nachweisbarkeit(!) einer „terroristischen Vereinigung“ derzeit nicht nach §§ 129a oder b bestraft werden können, erfasst werden. Die neue Vorschrift soll auch solche Einzeltäter erfassen, deren Handlungen nicht als Verbrechen der Verabredung nach § 30 Abs. 2 StGB strafbar sind. Auf diese Weise wird – unübersehbar – die Strafbarkeitsgrenze in alle mögliche Richtungen hinausgeschoben. Ein besonderes Problem besteht darin, dass diese Strafbestimmungen, obwohl ihrem Wortlaut nicht zu entnehmen, nach der Begründung dieses Gesetzgebungsvorhabens „nur“ „islamistische“ Täter im Visier haben. Damit wird eine ganze Menschengruppe unter den Generalverdacht des Terrorismus gestellt. Der § 89a StGB will im einzelnen folgende strafbaren Vorbereitungshandlungen erfassen:
1) Ausbildung und Sich-ausbilden-lassen, um schwere Gewalttaten zu begehen; 2) Herstellung, Sich-verschaffen, Überlassen oder Ver wahren von Waffen, bestimmter Stoffen (Viren, Gifte, radioaktive Stoffe, (Flüssig-)Sprengstoffe) oder besonderer zur Ausführung der vorbereiteten Tat erforderlicher Vorrichtungen (Zünder); 115
3) Sich-verschaffen oder Verwahren von erforderlichen wesentlichen Gegenständen oder „Grundstoffen“, um Waffen, Stoffe oder Vorrichtungen herzustellen; 4) Finanzierung eines terroristischen Anschlags – auch Sammeln, Entgegennehmen oder ZurVerfügung-Stellen von nicht unerheblichen Vermögenswerten, „Spenden“ zur Vorbereitung eines Anschlags. Hierbei muss es sich stets um Vermögenswerte handeln, die – im Rahmen einer Gesamtschau(!) – einen nicht unerheblichen Beitrag zur Vorbereitung einer schweren Gewalttat leisten.
Alle unter 1 – 4 beschriebenen Tathandlungen müssen vorgenommen werden in der Absicht(!), eine schwere terroristische Gewalttat vorzubereiten. Das bloße Erwerben von Fertigkeiten, ohne die Absicht, damit eine terroristische Gewalttat zu verüben, soll straflos bleiben.
Aber wer befindet darüber, ob der Betreffende mit einer derartigen Absicht handelte? Die Strafverfolger, Polizei und Staats anwaltschaft – nach ihrer Auffassung und Sichtweise von dem, was sie ermittelt haben! Durch das Merkmal „Absicht“ wird die Strafverfolgung willkürlich, kreieren die eigenen politischen Vorstellungen der Strafverfolger die Tat: Nicht der Täter begeht die Tat. Vielmehr machen die Strafverfolger aus dem, was sie ermittelt haben, die Tat! Die höchst gefährliche subjektivistische Straftatbestandsgestaltung besteht darin, dass Handlungen und Verhaltensweisen, die als solche noch nichts Kriminelles beinhalten, durch eine böse „Absicht“ zu einem Verbrechen werden. Das ist nicht neu in dieser Republik! Bereits das 1. Strafrechtsänderungsgesetz vom August 1951, zeichnete sich in besonderem Maße durch solche Tatbestandsgestaltung, die als Gesinnungsstrafrecht bezeichnet werden muss, aus. So begann der unter einer neu erfundenen Art von Staatsschutz delikten, nämlich „Staatsgefährdung“ platzierte § 90 StGB mit den Worten „Wer in der Absicht“ das und das tut, wird bestraft. Unter den durch die staatsgefährdende Absicht zu Straftaten gemachten Handlungen waren „Aussperrungen, Streiks, Störmaßnahmen(?) oder sonstige Handlungen“, „die nicht nach den §§ 316a, 317 strafbar sind“. Durch § 92 (Verfassungsverräterischer Nachrichten 116
dienst) wurden nicht strafbare politische Aktivitäten der Samm lung von nicht geheimen „Nachrichten“ durch die verfassungs verräterische Absicht zu Straftaten gemacht. § 94 sah eine Strafschärfung zahlreicher Delikte, vom „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ über die Störung des Gottesdienstes, Nötigung, Be günstigung, Urkundenfälschung bis zu gemeingefährlichen Hand lungen, bei Begehung dieser in verfassungsverräterischer Absicht.
Maßgeblich ist eine nicht objektivierte, nicht an objektiven Kri terien festmachbare und daher nicht beweisbare „böse“ Absicht, die dem Beschuldigten/Angeklagten unterstellt wir, die realiter nur im Hirn der Strafverfolger produziert wurde. Deshalb wurden die darauf gestützten Strafprozesse gegen politische Gegner Adenauers in den 50er Jahren als „Hexenprozesse“ bezeichnet. Das „Hexeneinmaleins der kollektiven Schuldvermutung“ beherrschte damals die Strafverfolgung von politischen Gegnern der Regierung Adenauer! Selbst dem obersten Ankläger in politischen Strafsachen, Generalbundesanwalt Max Güde, drängten sich 1961 historische Vergleiche auf:
„Die heutige politische Justiz judiziert aus dem gleichen gebrochenen Rückgrat heraus, aus dem das Sondergerichtswesen (des Dritten Reiches) zu erklären ist.“136 Das erste Strafrechtsänderungsgesetz „vorverlegte die Schwelle der Strafbarkeit weit in den Bereich bloßer Vorbereitungshandlungen. Mit der Subjektivitätsstruktur der Gefährdungsdelikte, die erst durch die staatsgefährdende Absicht zum Straftatbestand erhoben wurden, öffnete man ein Einfaltstor für richterliche Gesinnungsforschung. Letztlich liefe alles darauf hinaus“, wie Alexander von Brünneck in seiner Studie über diese Strafverfolgungspraxis erkannte: „Wer sich als Kommunist betätigte, konnte bestraft werden“– egal, was er getan hatte.
Das gesamte damalige politische Strafrecht wurde durch das 8. StrÄG vom 25. 6. 1968 grundlegend verändert. Jetzt 2008 stehen wir vor einem gesetzgeberischen Rückfall in jenes Gesinnungsstrafrecht! Um es klar auszusprechen: Gegen Straftaten, gerade auch gegen schwere Gewaltdelikte ist auf Strafrecht nicht 136 Zitiert nach Ingo Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz.
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zu verzichten! Aber das Strafrecht ist kein Allerweltsheilmittel und kann nicht – ohne seine Natur zu verlieren – beliebig ausgestaltet werden. Mit dem Legalitätsprinzip, dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit bzw. der Gesetzlichkeit – nulla poena sine lege – muss gem. Art. 103 Abs. 2 GG137 auch das Tatprinzip beachtet werden. Wer dies zugunsten eines Gesinnungsstrafrechts aufgibt, gibt das Strafrecht, gibt den Rechtsstaat auf! Solche Absichten werden Bürgern, auch „islamistischen Terroristen“ regelmäßig unterstellt. Gegen Unterstellung aber kann sich niemand wehren! Sie entbehren jeder tatsächlichen Grundlage. Mithin kann jeder in Verdacht geraten und sein an und für sich noch nicht strafbares Verhalten dadurch zu einem strafbaren gemacht werden. Darin besteht die Gefahr für die Freiheitsrechte der Bürger! Im Zusammenhang mit der einleitenden Aussage von islamistischen Tätern liegt deshalb die Gefahr besonders nahe, dass Mitbürgern, die Gläubige des Islam sind, eher eine solche Absicht unterstellt wird, und ebenso solche Mitbürger, die mit solchen Gläubigen Kontakt haben! Nach den neuen §§ 1 und 90 Abs. 1 StGB soll das Verbreiten oder Anpreisen von Anleitungen im Internet strafbar sein, und zwar mit bis zu drei Jahren Haft bedroht, wenn die Anleitung nach den Umständen(!) ihrer Verbreitung geeignet ist, die Bereitschaft anderer zu fordern oder zu wecken, eine schwere Gewalttat zu begehen. Realistisch wird in der Erläuterung zu dem neuen Gesetz mitgeteilt: Anleitungen zum Bombenbau oder zur Terroristenausbildung finden sich im Internet häufig ohne konkreten Tatbezug, dafür aber oftmals im Kontext mit „islamistischer Hetzpropaganda“.
Was ist „islamistische Hetzpropaganda? Hetzpropaganda betreiben immer die anderen, die „Feinde“; was die eigenen Leute in den Medien verbreiten, ist niemals „Hetzpropaganda“. Was „islamistische Hetzpropaganda“ sein soll, bestimmen demnach die verantwortlichen Politiker und Strafverfolger! Jedenfalls hat ein solcher unscharfer, ideologisch besetzter Begriff in ei137 „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ 118
nem Gesetz bzw. der Begründung oder Erläuterung eines Gesetzgebungsvorhabens keinen Platz! Dann lesen wir weiter: Nach geltendem Recht sei bisher solche Anleitung wegen des fehlenden Bezugs auf eine konkrete Tat bzw. des mangelnden Nachweises(!) von den Strafvorschriften im StGB, nämlich § 111 (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten) und § 130a (Anleitung zu Straftaten) nicht hinreichend erfasst.
Deshalb soll das Strafrecht ausgeweitet werden!
Auch das Sprengstoff- und Waffenrecht decke die von den Justiz politikern für strafwürdig gehaltenen Verhaltensweisen nicht ab.
Diese „Probleme der Praxis“ soll der neue § 91 StGB lösen; die Strafbarkeitsschwelle wird angehoben. Der Strafbarkeitsbereich wird ausgedehnt, und wie wir oben sahen, vor allem durch Absichtsdelikte! Entscheidende Neuerung sei es, dass eine solche Anleitung vom Täter nicht mehr dazu „bestimmt“ sein muss, eine bestimmte Gefährdung eintreten zu lassen. Weil es in der Vergangenheit schwer, war nachzuweisen, dass eine solche bestimmte Gefährdung vom Täter vorgesehen war, weil das geltende Recht den Strafverfolger in der Vergangenheit die Arbeit wesentlich erschwerte, weil es schwierig war, solche subjektive Bestimmung der Tat nachzuweisen ist, deswegen wird das Gesetz geändert. Er soll nämlich stattdessen künftig ausreichen(!), dass die jeweilige Anleitung nach den Umständen ihrer Verbreitung(!) objektiv dafür geeignet sei, die Bereitschaft anderer zu fördern
oder zu wecken, eine Gewalttat mit einer staatsschutzrelevanten Zielstellung (Absicht!) zu begehen!138 Aber wer beurteilt diese Umstände? Die Strafverfolger, indem sie diese Umstände – in einer Gesamtschau – nach ihrem Vorverständnis „würdigen“! Alles ist nur noch Subjektivismus, Subjektivismus im Quadrat! Es wird nicht mehr darauf abgestellt, ob und dass der Täter selbst bestimmte Gefährdungen anstrebt oder in Kauf nimmt, vielmehr soll es genügen, wenn 138 Zur Illustration wird eine „islamistische“ oder auch „rechtsextremistische“ Webseite angeführt und so schon „Islamistisch“ in die Nähe von „Rechtsextremistisch“ gebracht; wann wird hier auch auf „Linksextremismus“ abgestellt? – Jedenfalls der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann hat diese Beziehung kürzlich schon hergestellt. 119
die Strafverfolger aus ihrer Sicht nach den Umständen eine objektive Eignung dafür annehmen! Weiterhin soll künftig nach dem neuen § 91 Abs. 2 Nr. 1 StGB ebenfalls bestraft werden können, wer sich eine solche Anleitung (zum Beispiel durch Herunterladen aus dem Internet) zur Begehung einer solchen Gewalttat verschafft.
Wohl eher zur Beruhigung der Öffentlichkeit heißt es, dass von Strafbarkeit solcher Handlungen ausgenommen bleiben soll,
die ausschließlich(!) der Erfüllung rechtmäßiger beruflicher oder dienstlicher Pflichten oder der Forschung, Wissenschaft oder Lehre dienen.139
Reicht diese Abgrenzung? Straflos bleiben somit Recherchen der Polizei im Internet, bei der einschlägige Web-Seiten identifiziert werden und zu diesem Zweck auch „Anleitungen“ herunter geladen werden müssen! Wie die Rechtsanwender bei solchen „Gesetzen“ in rechtsstaatlicher Weise die Grenze zwischen Strafbarem und nicht Strafbarem finden wollen, werden wir erleben! Mit solcher Gesetzgebung ist der Rechtsstaat dabei, sich vollständig zu verabschieden! Weiterhin soll auch die Aufnahme von Beziehungen (!) zu einer „terroristischen Vereinigung“ (§ 129 a StGB) zwecks Ausbildung in einem „Terrorcamp“ strafbar sein.
Wer bestimmt, ob eine solche Kontaktaufnahme vorliegt?
Nach dem neuen § 91 StGB soll ebenso bestraft werden, wer in der Absicht(!), sich in der Begehung einer schweren Straftat nach § 89 a Abs. 2 Nr. 1, unterweisen zu lassen, Beziehungen zu einer „terroristischen Vereinigung“ aufnimmt oder unterhält.
Mit dieser Erweiterung der Reichweite des Strafrechts soll es ermöglicht werden, mit strafrechtlichen Mitteln gegen Personen vorzugehen, die in „terroristische Ausbildungslager“ gehen. Erfahrungsgemäß gehe dem Aufenthalt in „Terrorcamps“ die Vermittlung durch Personen voraus, die „terroristischen Vereinigungen“ zugerechnet(!)140 werden können; deshalb soll 139 Auch Anleitungen in Chemiebaukästen, Lehrbüchern oder auch Patentschriften sollen nicht unter die Strafbarkeit fallen. 140 „Zurechnen“ ist der typische Begriff, der deutlich macht, dass der 120
diese Vermittlung von Personen unter Strafe gestellt werden. Anknüpfungspunkt für die Strafbarkeit sei die zielgerichtete Kontaktaufnahme. Ausbildungswillige Täter benötigen regelmäßig „vertrauenswürdige“ Personen, die ihnen die notwendigen Kontakte und Empfehlungen für eine solche Ausbildung vermitteln. Regelmäßig dürfte es daher zu solchen Kontakten zu dem – zahlenmäßig eng umgrenzten – Kreis von Vermittlern im Vorfeld der Reise in ein „terroristisches Ausbildungslager“ kommen. Wer Beziehungen zu einer „terroristischen Vereinigung“ mit dem Ziel(!) aufnimmt oder unterhält, sich in der Begehung einer schweren Gewalttat unterweisen zu lassen, begründet schon zu diesem Zeitpunkt eine abstrakte Gefahr für Leib oder Leben potentieller Opfer (abstraktes Gefährdungsdelikt!)
Dies rechtfertige die Strafbewehrung solchen Verhaltens.141
Ergänzt werden die beiden neuen Tatbestände im StGB durch begleitende Regelungen, so sollen die Strafverfolgungsbehörden zur Verfolgung von Straftaten nach dem neuen § 89a auf Ermittlungsmaßnahmen zurückgreifen dürfen, die bereits nach geltendem Recht für die Terrorismusbekämpfung zur Verfügung stehen.142 Auch soll eine Änderung des GVG dem Generalbundesanwalt die Möglichkeit eröffnen, bei Straftat nach § 89a die Strafverfolgung zu übernehmen, wenn es sich um einen Fall mit besonderer Bedeutung handelt.143 Ergänzend sind auch aufenthaltsrechtliche Regelungen vorgesehen. Ausländer, die schwere Gewalttaten im Ausland vorbereiten, um anschließend in die BRD weiter zu reisen, sollen nach Möglichkeit bereits an der Einreise gehindert werden.
So wie dieser Gesetzesentwurf angelegt ist, ist zu besorgen, dass diese schwammigen und unbestimmten, von Subjektivismus dominierten Straftatbestände, die aktuell gegen den „islamiRechtsanwender, also auch der Richter, jemandem eine Straftat „zuordnet“ – oder „anhängt“, die man „eigentlich“ nicht zu beweisen vermag! 141 Gegenüber den Vorschlägen des Bundesrats, wonach die sog. Sympat hiewerbung erneut unter Strafe gestellt werden soll, bestünden durch diese beabsichtigte Regelung erheblich weniger Nachweisprobleme! 142 Durchsuchung, Wohnraumüberwachung, -überwachung u. ä. 143 Das ist das so genannte Evokationsrecht. 121
stischen Terrorismus“ gerichtet sind, als „Straftatbestände auf Vorrat“ auch für ganz andere Zwecke, gegen andere politische Kräfte eingesetzt werden können. Inzwischen hat sich also, sehr handgreiflich das bundesdeutsche Strafrecht auf den Weg zu einem Gefahrenabwehr und Polizeistrafrecht begeben.
Ein gefährlich falscher Weg!144 Strafrechtler und Kriminologen wissen, dass bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufgrund sorgfältiger Beobachtung der damaligen rasanten Zunahme der Kriminalität, insbesondere der Jugendkriminalität, der bekannte Strafrechtswissenschaftler von Liszt zu der fundamentalen Erkenntnis gelangte: eine gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik! Wir Strafrechtler und Kriminologen in der DDR teilten diese Erkenntnis und waren uns mit vielen westdeutschen Strafrechtlern und Kriminologen in dieser Hinsicht einig.
Noch sehr viel früher als Liszt waren die ältesten französischen Materialisten zu dem Schluss gekommen, man müsse „nicht das Verbrechen am Einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentlichen Lebensäußerungen geben.“ In diesem Sinne, nämlich vor allem vorbeugend zu wirken, werden die internationalen Kongresse der UNO zur Kriminalitäts bekämpfung mit dem Titel „On the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders“ durchgeführt. Auch und gerade die „organisierte Kriminalität“ hat gesellschaftliche, vor allem ökonomische Gründe: Vorrangig regiert das Geld die Welt – als Ziel und Motiv des Verbrechens wie auch als maßgebliches Instrument seiner Ausführung! Wenn dies als „eigentlich“ sichere Erkenntnis im Kampf gegen die Kriminalität, auch und gerade gegen die „organisierte Kriminalität“ aner144 Es fließen meine Erkenntnisse und Erfahrungen als Rechtswissenschaftler und die Monologe ein, aufgrund von Erfahrungen der strafrechtlichen Praxis und auf internationalem Parkett. 122
kannt würde, bliebe die Frage, wie es mit dem „internationalen Terrorismus“, insbesondere dem „islamistischen“ aussieht. Gilt denn die vorgenannte, knapp skizzierte Grundidee da auch? Auch dieses Phänomen des „internationalen Terrorismus, insbesondere des „islamistischen“, fiel nicht vom Himmel. Worauf beruht diese gefährliche Form der Auseinandersetzung, die mit zahlreichen Gewalttaten verbunden ist? Hat diese scharfe Auseinandersetzung, die auf beiden Seiten mit Waffengewalt ausgetragen wird, etwas mit Gegensätzen von Religionen und Glaubensrichtungen zu tun, insbesondere zwischen der christlichen und dem Islam? In all den zahlreichen Religions- und Glaubenskriegen, die die Menschheit in mehr als Tausend Jahren erleben musste, standen hinter den Differenzen von Religionen und Glaubensrichtungen stets handfeste machtpolitische und ökonomische Interessen! Die religiösen Konflikte waren nur das Gewand, die jeweilige „Losung“, hinter der sich der wirkliche Konflikt verbarg. Der religiöse Konflikt zwischen Religionen, so aktuell zwischen der christlichen und dem Islam erklärt das Phänomen des „internationalen Terrorismus“ nicht. Unter den Staaten der „dritten Welt“, in Mittel- und Südamerika, in Afrika und in Süd- und Südostasien, spielten schon immer die arabischen Staaten eine spezifische Rolle. Im internationalen Rahmen wollten sie gehört werden! Das Vorhandensein und Wirken der „zweiten Welt“ war für das Erheben ihrer Stimme und ihrer Forderungen nicht ungünstig. Nach deren Zusammenbruch trat die Kontroverse zwischen der arabischen Welt und der „ersten Welt“ in verschiedenen Formen und in besonderer Weise in Erscheinung, wobei das seit Jahrzehnten ungelöste Problem „Palästina“ eine spezifische Rolle spielt. Angesichts dessen, dass die USA nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Osteuropa ganz offen die Weltherr schaft beanspruchen, musste dieser Konflikt an Schärfe zunehmen. Die geostrategische auf Einkreisung Russlands orientierte Politik der USA und ihr in den letzten Jahren besonders akut werdender Bedarf an Erdöl und deshalb Erdöllagern, besonders in verschiedenen arabischen Ländern, – als ökonomisches und 123
machtpolitisches Thema –, trug zur Zuspitzung des Konflikts bei, wobei die unehrliche Politik der USA, arabische Staaten gegen einander auszuspielen, ein Übriges tat. Seit längerer Zeit richtet sich die Stoßrichtung der Diplomatie der USA und der Einsatz militärischer Macht gegen bestimmte arabische Staaten (Irak, Afghanistan, Ägypten, Libyen, Syrien).
Es geht den USA mit dem „Feindbild Islam“ um eine „Neuordnung der Welt“, zu der insbesondere die neokoloniale Beherrschung des Nahen und Mittleren Ostens gehört. Auf diesem weltpolitischen Hintergrund sah sich ein militantes islamistisches Potenzial, das um den Namen Osama Ben Laden und das Al Quaida-Netzwerk kreist, vorgeblich aus religiösen Motiven, verpflichtet zu handeln. Die dabei von diesen militanten Kräften eingesetzten kriminellen Aktivitäten und Mittel, die zahlreiche unbeteiligte Menschen verletzen und in den Tod reißen, verdienen entschiedene Verurteilung. Aber sie erklären sich als eine von ihnen für gerechtfertigt angesehene Antwort auf die Gewaltmaßnahmen der USA und ihrer Verbündeten, die die Unabhängigkeit, Souveränität und Lebensexistenz arabischer Staaten gefährden und in Fragestellen.
Die völkerrechtswidrigen Aggressionen der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak und Afghanistan und später die Drohung gegen Iran taten und tun ein Übriges. Das löste auf „islamistischer“ Seite die Fortsetzung und Intensivierung ihrer militanten Aktivitäten aus und sorgte auch für Nachwuchs überzeugter Selbstmörder! Solange die diesen militanten Aktionen zugrunde liegenden tiefgründigen Konflikte nicht wirklich gelöst werden und auf Seiten der USA keine Bereitschaft zu einer solchen Lösung besteht, solange im Vordergrund des Kampfes gegen den „internationalen Terrorismus“ Militäreinsätze, Straf maßnahmen, Polizeieinsätze und das Agieren von Geheim diensten stehen, ist mit Fortbestehen und Verschärfung dieses weltpolitischen Konflikts und demzufolge mit ungebremster militanter Aktivität des „internationalen“, insbesondere „islamistischen“ Terrorismus zu rechnen. Die alten außerordentlich kostspieligen Machtmittel, wie Militär, Strafrecht, Polizei 124
und Geheimdienste, werden auf die Dauer erfolglos bleiben! Der militante Kampf wird neue Anschläge gerade auch gegen die Länder mit sich bringen, die in einer Vasallentreue gegenüber den USA deren Politik unterstützen und mit betreiben, vor allem deren völkerrechtswidrige Aggressionen und andere rechtswidrige Aktionen, besonders von Geheimdiensten. Ginge es der Bundesregierung wahrhaftig um die Interessen der einfachen Menschen in dieser Republik, darum, deren Leib und Leben zu wahren und Gefahr von ihnen abzuwenden, dann müsste sie in erster Linie ihre Vasallentreue gegenüber den USA aufgeben und vor allem ihre Truppen abziehen, so aktuell aus Afghanistan, statt sie aufzustocken. Sie müsste an Stelle der militärischen Intervention auf politischen Dialog und Bereitschaft zu Verhandlungen zur Lösung des Konflikts bei Beachtung der Interessenlage anderer Länder, vorliegend vornehmlich arabischer Staaten, setzen, darin eingeschlossenen, aufrichtige Unterstützung und Hilfe. Dadurch würde die Bundesregierung Bedeutendes zur Gewährleistung der Sicherheit der Bürger dieser Republik leisten. Der überzogenen, den Rechtsstaat beschädigenden und außerordentlich kostspieligen polizeilichen, strafrechtlichen und geheimdienstlichen Kampfmittel gegen den „islamistischen“ Terrorismus bedürfte es dann nicht mehr! Weiß das die Regierung nicht? Will sie sich nicht in diesem Sinne beraten lassen? Scheut sie davor, eigene, von den USA abgehobene, Wege zu gehen? Eines ist gewiss: Solange die Bundesregierung und das von ihr beeinflusste Parlament den USA gegenüber Vasallentreue beweist und sich an deren Verbrechen direkt und indirekt beteiligt, wird mit Sicherheit für die Bürger dieser Republik Unsicherheit produziert, und zwar gegenüber verschiedensten Anschlägen auch des „internationalen“, auch des „islamistischen“ Terrorismus! Der Weg militärischer Auslandseinsätze, der Verschärfung des Strafrechts, der Ausweitung polizeilicher Befugnisse sowie geheimdienstlicher Aktivitäten ist ein gefährlich falscher Weg!
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Ein böser Traum Da ich mich mit der zunehmenden Überwachung in dieser Republik so intensiv befasste, träumte ich auch des Nachts davon. Ich träumte: Ich hatte kein Telefon und kein Handy mehr, auch keinen PC und keinen Internetanschluss, ebenso keine EC-Karten oder andere Chips. Auch ging ich nicht mehr auf öffentliche Straßen und Plätze; auch Bahnhöfe und Flugplätze mied ich, ebenso Kaufhäuser und Gaststätten. Schließlich hatte ich meine Wohnung aufgegeben und mit der Post hatte ich auch nichts mehr zu tun. Ich war froh und glücklich. Jetzt konnte mich niemand mehr irgendwo und irgendwie überwachen! Ich war erleichtert! Da wachte ich auf. Bloß, wo sollte ich leben? Wie unsere Urahnen wieder auf den Bäumen? Oder sachlicher? Wenn wir also heutzutage alle auf diese oder jene Weise, auch durch eigenes Zutun mit unseren Daten irgendwie erfasst werden, sei es durch staatliche Behörden, sei es durch private Datenerfassung und -sammlung, vor dem uns die staatlichen Behörden nicht zu schützen vermögen, erhebt sich die Frage, wie wir uns dagegen wirksam schützen und wehren können, tatsächlich und praktisch? Wer keinen PC, keinen Internetanschluss, kein Telefon, kein Handy, keine EC- Karte oder ähnliches besitzt, sodass Fremde sich Daten beschaffen und mitlesen können, wer sich schließlich nicht auf öffentlichen Straßen und Plätzen, Bahnhöfen und Flugplätzen, in Kaufhäusern oder Gaststätten begibt, ist vor Videoüberwachung sicher… Und wer schließlich keine Wohnung hat, die optisch und akustisch überwacht werden kann, wer seine Briefe und andere Sendungen nicht der Post anvertraut, nur ein solcher Mensch dürfte vor Datenerfassung und -überwachung sicher sein! Sollten wir also, wie unsere Urahnen, wieder auf die Bäume zurück?
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Abkürzungsverzeichnis
AG AaO BGBl. BGH BKA BND BVerfG BVerfGG BVerfGE COCOM
EG EGGVG EMRK EU GG GVG ND NJ NJW OLG RAF RL StGB StPO StV TKG
Amtsgericht Am angegebenen Ort Bundesgesetzblatt Bundesgerichthof Bundeskriminalamt Bundesnachrichtendienst Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsgesetz Entscheidungssammlung des BVerfG Coordinating Commitee (Koordinierungsausschuss für Ost-WestHandel) Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum GVG Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Union Grundgesetz Gerichtsverfassungsgesetz Neues Deutschland Neue Justiz Neue Juristische Wochenschau Oberlandesgericht Rote Armee Fraktion Richtlinie Strafgesetzbuch (der BRD) Strafprozessordnung (der BRD) Strafverteidiger Telekommunikationsgesetz
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Bisher erschienene Titel in der Reihe COMPACT: Detlef Joseph vom angeblichen antissemitismus der ddr 1992 stellte der SPIEGEL nach einer Umfrage fest: „Daß unter den Ostdeutschen weit weniger Antisemiten zu finden sind als unter den Westdeutschen, […]. Durchgängig äußern sich Ostdeutsche weniger antisemitisch, rechtsradikal und ausländerfeindlich als die Westdeutschen.“ Heute, 15. Jahre später, wird wiederholt der Antisemitismusvorwurf gegen die DDR laut, eine von Anetta Kahane initierte und von Jugendlichen erarbeitete Wanderausstellung „Das hat´s bei uns nicht gegeben. Antisemitismus in der DDR“ reist durchs Land. Von den Mainstream-Medien hochgejubelt, ist die Ausstellung dagegen unter Kennern der DDR-Geschichte höchst umstritten. Detlef Joseph, der sich mit diesem Büchlein zu Wort meldet, fand Erstaunliches heraus, stellt richtig, regt zum Nachdenken an. „Der untergegangene ostdeutsche Staat soll seines Charakters als antifaschis tisches Staatswesen entkleidet werden. Dass er sich so darstellte, wird als bloße Lüge zum Zwecke seiner Legitimation dargestellt. In Wahrheit habe er die Hinterlassenschaft des Naziregimes, hier Bodensatz genannt, »unangetastet« belassen. Die Verfechter der These spekulieren womöglich auf jene Wirkung, auf die auch Joseph Goebbels vertraute, der meinte, eine Lüge müsse nur oft genug wiederholt werden, damit sie auch geglaubt würde.“ Prof. Dr. Kurt Pätzold im ND ISBN 978-3-89706-401-0, 110 S., Taschenbuch, € 7,50, COMPACT Nr. 1
Gregor Schirmer Lissabon am ende? Kritik der EU-Verträge Als die Iren am 12. Juni 2008 ihr „Nein“ zum Lissabonner Vertrag bekundeten, war das Wehklagen groß, Spekulationen schossen ins Kraut, die Gemeinschaft der EU sei gefährdet usw. Doch nur die Insider wissen worum es geht. Nachdem die Franzosen und Niederländer 2006 die damals geplante EUVerfassung ablehnten, wurde eifrig an einer Veränderung der beiden Verträge über die Europäische Gemeinschaft (Römischer Vertrag, Vertrag von Maastricht) gearbeitet und sollte als Lissabonner Änderungsvertrag am 1.1.2009 in kraft treten. Da dieser Vertrag grundlegend in das Recht auch der beteiligten Staaten eingreift, sind einerseits in mehreren Ländern Verfahren vor Verfassungsgerichten anhängig, andererseits wäre es jetzt an der Zeit, endlich auch die jeweilige Bevölkerung um Rat und Meinung zu fragen. Zumal man anhand des Textes feststellen kann, dass die meisten – manche sagen 95 Prozent – der Bestimmungen des durchgefallenen Verfassungsvertrags durch den Lissabonner Änderungsvertrag in die zwei EU-Verträge „hinüber gerettet“ worden sind. Der Autor in diesem Band: „Ein anderes Europa braucht eine andere vertragliche Grundlage, eine andere Verfassung, die auch so heißt. Und die kann nur auf einem konsequent demokratischen Weg zustande kommen.“ ISBN 978-3-89706-402-7, 120 S., Taschenbuch, € 7,50, COMPACT Nr. 2