ROBERT TINE
TUCKER
Der Roman zu dem neuen Film von Francis Ford Coppola
Ins Deutsche übertragen von Kalla Wefel
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ROBERT TINE
TUCKER
Der Roman zu dem neuen Film von Francis Ford Coppola
Ins Deutsche übertragen von Kalla Wefel
LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 13193
Erste Auflage: Dezember 1988 © Copyright 1988 by Lucasfilm Ltd. All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1988 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: Tucker Ins Deutsche übertragen von Kalla Wefel Lektorat: Martina Sahler Titelfoto: United International Pictures, Frankfurt Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: VID Verlags- und Industriedrucke GmbH & Co. KG, Villingen-Schwenningen Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-13193-2
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der den amerikanischen Traum verwirklichte. Preston Tucker ist ein Träumer, ein Phantast, ein großes Kind: Er ist von der Idee besessen, ein wunderschönes, leistungsstarkes Auto zu fabrizieren, das sich jeder Amerikaner kaufen kann. Er hat keine Fabrik, keinen Cent in der Tasche – aber einen unbezwingbaren Willen und echte Freunde. Preston Tucker hat den Instinkt eines Straßenkämpfers, das Herz eines Rebellen und die feste Überzeugung, daß sein ›TuckerTorpedo‹ die Revolution in der Geschichte des Automobils sein wird. Daß die großen Automobilhersteller mit allen Mitteln und ohne Skrupel die Fertigstellung des ›Autos der Zukunft‹ verhindern wollen, hält der smarte Selfmade-Ingenieur dabei für das geringste Problem.
1 Wochenschau Es erklang eine laute Fanfare, und auf der Leinwand stand in großen Lettern »TUCKER: ein Mann und sein Traum.« Als der Film abgespult wurde, begann der von einer Trommel untermalte Vortrag des Erzählers: »Von der ganzen. Welt als zukunftsweisender Erfinder und Ingenieur anerkannt, wurde Preston Thomas Tucker noch zu Lebzeiten zur Legende.« Die ersten Bilder zeigten ›die Legende‹ hinter einem eindrucksvoll großen und auf Hochglanz polierten Schreibtisch sitzen. Offensichtlich hatte ihn jemand angewiesen, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und so zu tun, als führe er ein Telefonat. Preston Tucker fühlte sich vor der Kamera nicht wohl. Zwar mochte er ein Erfinder und Ingenieur mit zukunftsweisenden Ideen gewesen sein, zum Schauspieler taugte er aber nicht. Seine Feinde würden etwas anderes behaupten, und das sogar vor Gericht, aber bis dahin war es noch ein langer Weg. Die Kamera blendete Preston Tuckers theatralisches Industrieboß-Gehabe aus. Ein Standbild erschien auf der Leinwand; es zeigte ein bescheidenes Landhaus. Dem gekörnten und leicht vergilbten Foto war sein Alter anzusehen. »Er wuchs in diesem Haus in Capac, Michigan, in ärmlichen Verhältnissen auf. Er war erst zwei Jahre alt, als sein Vater starb«, rasselte der Erzähler herunter. Das erste Foto wurde durch ein anderes ersetzt, auf dem man eine typische Schulklasse sah: drei Reihen lächelnder Mädchen und Jungen, die kleinsten sitzen mit verschränkten Armen vorn auf dem Boden, die längsten stehen hinten über der Reihe der Mittelgroßen, die wiederum auf einer Holzbank sitzen. Links
daneben steht eine Frau, eine jüngere Frau, aber bereits mit dem strengen Blick einer Lehrerin, die keinen Spaß versteht. »Und so übernahm seine Mutter die Aufgabe, ihm den nötigen Antrieb, die Entschlossenheit und den Glauben an den amerikanischen Traum zu vermitteln…« Ein weiteres Foto erschien. Dieses Mal sieht man den jungen Preston Tucker im Alter von neun Jahren. Mit einem Overall bekleidet, steht er grinsend neben einem struwwelköpfigen Mädchen, das ein Baumwollkleid und Ringelstrümpfe trägt. Hinter ihnen ist der rechte Kotflügel und der Kühler eines Hupmobiles von 1916 zu sehen. »Als Tucker neun war, verliebte er sich.« Der Erzähler lachte in sich hinein, um den Zuhörern vorsorglich einen Witz anzukündigen. »Aber nicht in das Mädchen, sondern in das Auto. In alle Autos.« Auf der Leinwand erschienen Autos: Fotos von Case Playboys, Willys Overlands, Auburn Speedsters, Kissels, Locomobiles, Packards, Marmons und zum Abschluß ein Foto von Preston Tucker, wie er sich als Teenager voller Bewunderung einen eleganten Cord L-29 anschaut. »Mit 13 bekam er seinen ersten Job in der Autoindustrie…« Wieder wechselte das Bild. Dieses Mal zeigte der Film das arbeitende Amerika: qualmende Hochöfen, aus denen Funken sprühten; das lange, unermüdliche Fließ band auf dem riesigen Ford-Industriegelände am Red River; Dampfpfeifen bliesen; Schornsteine rauchten und funkelnagelneue Flivvers, die nach überall in die Vereinigten Staaten verfrachtet werden sollten, rollten aus der Fabrik die Rampe hinunter. »… fest entschlossen, die Produktion von Autos von der Pike auf zu lernen, arbeitete er an jedem Produktionsabschnitt des Fließbands…«
(Tatsächlich lernte er dabei, wie er Autos nicht produzieren würde, falls er jemals die Chance dazu bekommen würde. Eine Einstellung, die ihn eines Tages in Teufels Küche bringen sollte.) Der Erzähler senkte aus Respekt vor einem Foto, das nun auf die Leinwand geworfen wurde, ein wenig die Stimme: Der typische amerikanische Junge und sein Mädchen waren zu sehen. Sie saßen auf dem Trittbrett eines Stutz Blackhawk, Baujahr 1922 – ein Auto, das Tucker zwar nicht gehört hatte, das er aber damals gerne besessen hätte. »Während er in der Maschinenhalle der Ford Motor Company arbeitete, lernte Tucker Vera Fuqua kennen, die bei der Detroiter Telefongesellschaft angestellt war.« Dann erschien ein Bild von Tucker und Vera am Hochzeitstag. Eine Person, die nicht auf dem Bild zu sehen war, überschüttete das glückliche Brautpaar mit Reis. Im Hintergrund konnte man bei genauem Hinsehen einen zigarrerauchenden Japaner erkennen. Man hatte den Japaner auf dem Standbild erst bemerkt, als der Film schon fertiggestellt worden war. Frank, der Presseagent, der den Film zusammengeschnitten hatte, hoffte, daß diejenigen der Frauen und Männer im Publikum, die ihre Söhne auf Guadalcanal oder Iwo Jima verloren hatten, den Japaner nicht bemerkten – und falls sie es doch taten, ihren Verlust nicht der Tucker Automobile Company anlasteten. »Zwei Jahre später heirateten sie«, sagte der Erzähler, »und schon bald gründeten sie eine Familie…« Das erste Foto zeigte Tucker und Vera am Strand. Auf Veras Schoß saß ein winziges Baby. Das zweite Foto hatte man während eines sommerlichen Picknicks aufgenommen. Das Baby war ein wenig größer geworden, und ein noch kleineres hatte seinen Platz eingenommen. Das dritte Bild zeigte drei verschieden große Kinder, die sich durch einen Haufen
Weihnachtspapier wühlten. Im Hintergrund saßen Vera und Tucker. Wenn man genau hinschaute, konnte man sehen, daß Vera schwanger war. Diesen familiären Quatsch zu zeigen war Franks Idee gewesen. Tucker hatte gesagt, er wolle einen Film über sein Auto haben. Frank, der Presseagent, hatte geantwortet, daß den Leuten dieses Image eines treusorgenden Familienvaters gefallen würde. »Was meinen Sie mit Image?« hatte sich Tucker entrüstet. »Ich bin ein familiärer Mensch.« »Ja, ja«, war Franks Antwort. »… aber Tucker verlor dabei nie seinen Traum aus den Augen – den Traum, das schönste Automobil zu entwickeln und zu bauen, das jemals hergestellt worden war. Er verbrachte jede freie Minute an der Rennstrecke von Indianapolis und schloß sich der Automobilsport-Legende Harry Miller an, der allgemein als einer der größten Rennwagen-Konstrukteure aller Zeiten gilt.« Jetzt waren Filmbilder der Indianapolis-Rennstrecke zu sehen, über die im Hintergrund die schnittigen, einsitzigen Miller-Rennwagen vorbeischossen. Ein Fahrer, Eddie Dean, war seinen Konkurrenten weit voraus; selbst unter der Schutzbrille konnte man noch sein Lächeln erkennen. Die Kamera machte einen kurzen Schwenk auf die Boxen, wo Jimmy Sakuyama, der Japaner vom Hochzeitsfoto, seine Boxencrew dirigierte. Der junge Preston Tucker arbeitete am noch heißen Miller-Motor wie ein Chirurg, als ginge es um Leben und Tod. Dieses Mal machte sich Frank, der Presseagent, über das Erscheinen des Japaners keine Sorgen; er meinte, daß das Publikum durch die Rennwagen viel zu sehr abgelenkt wurde, als daß sich jemand für den Chef der Boxencrew hätte interessieren können.
Die Musikuntermalung wurde dunkler und bedrohlicher zugleich; eine Mischung aus Versatzstücken von Militärmusik. Die Stimme des Erzählers klang tiefer und melancholisch. »Überzeugt, daß Amerika bald in den Krieg eingreifen würde, konstruierte und baute Tucker 1937 einen Hochgeschwindigkeitskampfwagen…« Der Kampfwagen war ein äußerst merkwürdig aussehendes Ungetüm: Er hatte eine sargähnliche Motorhaube, dicke Reifen und ein hohes Heck, aus dem ein Geschützturm mit einem Maschinengewehr herausragte, wie man es eher von den fliegenden Festungen, den B-17 Bombern, gewohnt war. Der Wagen fuhr über Straßen, über von Büschen bewachsene Hügel und verschlammte Pfade. Durch den Spalt in der Windschutzscheibe konnte man die strahlenden Augen und das breite Grinsen von Preston Tucker erkennen. »Neben der Höchstgeschwindigkeit von 117 Meilen pro Stunde war der Kampfwagen kugelsicher, hatte eine Klimaanlage und besaß einen motorbetriebenen Geschützturm, der ebenfalls von Tucker entwickelt worden war. Der Kampfwagen wurde von den Militärs abgelehnt, denn er hatte einen Nachteil – er war zu schnell.« Ein Dutzend Variationen von Tucker-Geschütztürmen war auf der Leinwand zu sehen: auf Bombern, Panzern und Schnellbooten. Ein Geschütz schwenkte hin und her, das Zwillings-Maschinengewehr feuerte geräuschlos. »Sein Geschützturm kam jedenfalls sofort zum Einsatz…« Die Musik verwandelte sich in einen Marsch. »Wer vermag schon zu sagen, wieviele amerikanische Söhne dem Tucker-Geschützturm ihr Leben verdanken?« Frank, dem Presseagenten, gefiel dieser Abschnitt besonders gut. Es gab eine lange Bildsequenz, in der die Herstellung der Geschütztürme am Fließband gezeigt wurde. Männer mit
Schweiß-Schutzmasken vor dem Gesicht beugten sich über glühende Eisenstücke, Maschinengewehre wurden montiert, ein Lkw mit einer Ladung Geschütztürme fuhr auf den Highway zu. »Und wo wurden diese Geschütztürme gebaut? Im am besten geeigneten Ort, den Tucker sich vorstellen konnte: in Tuckers Scheune in Ypsilanti, Michigan…« Wo auch immer das gewesen sein mochte, dachte Frank, der Presseagent. Der Preston-Tucker-Haushalt war eine Mischung aus Schrottplatz, Scheunenhof, Kriegsmateriallager und einer Norman-Rockwell-Illustration für die Saturday Evening Post. Hühner flatterten über verrostete Autokarosserien, während die Tucker-Geschützstürme in einer riesigen Scheune hinter dem Haus montiert wurden. Das Haus selbst war ein mit Schindeln verschaltes viktorianisches Gebäude, umsäumt von einer Veranda mit verschnörkeltem Gitterwerk. Durch die erforderlichen Rüstungsarbeiten nebenan herrschte im ganzen um das Haus ein reges Treiben. Vera schien zwischen dem provisorischen Büro im Arbeitszimmer des Wohnhauses und der Fabrik in der Scheune unentwegt hin und her zu rennen. Eddie Dean, der ehemalige Fahrer des Harry-MillerRennteams, Jimmy Sakuyama, der ehemalige Boxenchef, und der älteste Tucker-Sohn, Preston Junior, verbrachten Stunden in der Scheune damit, über die Geheimnisse der Konstruktion von Kraftfahrzeugen zu diskutieren, und sie veranschaulichten ihre Ergebnisse, indem sie sich alte Motoren zurechtschusterten. Johnny Tucker, der jüngste, stand meistens im Weg. Noble Tucker, der mittlere Sohn, war ein Träumer und ging nach seinem Vater. Marilee, sechzehn und blond, schien stets drei, vier Jungs um sich zu haben; jugendliche GIs, die sie selbst auf der Busfahrt zur nahegelegenen High-School
begleiteten. Zu Hause hörte sie so laut wie möglich die Musik von Glen Grey und der Casa-Loma-Band und tanzte dazu. Man konnte nie vorhersagen, wie viele Leute bei den Tuckers zum Essen kamen. Eine Tatsache, die die Haushälterin Millie zur Verzweiflung trieb und zu immer größerem Einfallsreichtum zwang; so mußte sie unentwegt die Rationen der Tucker-Familie strecken, zumal noch Mangel an Butter, Zucker und besserem Fleisch bestand. An einem Frühlingstag 1945 waren mit Ausnahme von Preston alle Tuckers zu Hause, außerdem Eddie und Jimmy, zwei Soldaten, eine Klassenkameradin von Marilee und die übliche Anzahl Fabrikarbeiter. Als sich die Essenszeit näherte, überblickte Millie die Menge, überprüfte die Töpfe auf dem Herd und fragte sich, wie viele Leute sie an diesem Abend durchzufüttern hatte. Mr. Tucker war noch nicht zu Hause, und ihm war durchaus zuzutrauen, mit einer kompletten BaseballMannschaft, einer durchreisenden Bomberbesatzung oder einem Bus voller Nonnen aufzukreuzen. Es entstand eine allgemeine Unruhe, und einige gingen nach draußen, als Preston Tuckers Oldsmobile über die Zufahrt tuckerte und sich langsam dem Haus näherte. Eddie Dean und Vera waren als erste draußen, und sie waren auch die ersten, die den neuen Familienzuwachs zu Gesicht bekamen. Das Oldsmobile wurde auf der verschmutzten Zufahrt gestoppt. Tucker strahlte über das ganze Gesicht und stieg mit zwölf bellenden großen Hunden aus. Die Hunde sprangen einen Moment lang wie wild durcheinander, dann bildeten sie zur Überraschung aller einen Kreis, stellten sich auf die Hinterbeine und schickten sich an, im Kreis zu gehen. Sie zierten sich dabei wie Mitglieder der Frauenvereinigung beim Tanztee. Johnny rannte zu ihnen hinüber und tanzte mit den Hunden. Die Arbeiter und die Soldaten schauten nur ungläubig zu,
während Eddie, Jimmy und Vera die ganze Zeit Tucker anstarrten. Er hatte aus dem Kofferraum ein großes, flaches Päckchen geholt und versammelte alle um sich herum. »Meine Freunde«, sagte er und hielt dabei das Päckchen hoch, »ihr könnt euch auf etwas gefaßt machen, das…« Er strich sich die Haare aus der Stirn und suchte nach den passenden Worten. »Wie soll ich es ausdrücken? Ich spreche von einer in die Geschichte eingehenden Neuerung bei der Herstellung von…« »Paßt auf«, murmelte Eddie. »Er ist schon wieder dabei, Geschichte zu machen.« »… ich spreche von einem Vulkanausbruch.« »Noch ein Vulkan.« Vera blieb gelassen. »Preston! Bevor der ausbricht, würdest du mir vielleicht vorher einiges erklären? Zum Beispiel, was das für Hunde sind?« Tucker blickte über die Schulter auf die Tiere. Wenn jemand einen Zirkusreifen hochgehalten hätte, wären sie durch ihn hindurchgesprungen. »Ach so«, sagte er beiläufig. »Ich habe sie gegen den alten Packard eingetauscht. Das sind zwölf dressierte Zirkushunde.« »Alles klar«, sagte Vera. »Und was sollen wir mit zwölf dressierten Zirkushunden anfangen?« Tucker zuckte die Achseln. »Was weiß ich? Einen solchen Handel kann man doch nicht ausschlagen.« Eddie dachte darüber nach, wie leicht es ihm gefallen wäre, einen solchen Handel auszuschlagen. »Aber ich weiß, daß ihr alle vor Neugierde zerplatzt, was hier drin sein könnte, stimmt’s?« Vera schaute das Päckchen an, als sei es eine flache Version der Büchse der Pandora.
»Aber zunächst einmal ein kleines Quiz«, fuhr Tucker fort. »Letzte Woche machte ein Meinungsforschungsinstitut eine Umfrage, um herauszufinden, was der größte Wunsch der Amerikaner nach dem Krieg sein wird. Was meint ihr, was die meistgenannten Antworten waren?« »Autos!« sagte Johnny, als hätte er eine plötzliche Eingebung gehabt. Tucker strahlte. »Richtig! Die absolute Nummer eins der Liste. 87 Prozent der Leute in diesem Land sagten, daß sie sich zuallererst ein neues Auto wünschen. Nun, was meint ihr, welches Auto sich die Leute eher kaufen würden – dieselben alten Detroiter Vorkriegsmodelle oder…?« Wie ein Zauberer, der einen ganz besonderen Trick vollführte, riß er das braune Papier von dem Päckchen. »Nun, sie wünschen sich bereits heute den Wagen von morgen!« Einen Augenblick lang starrten die Umstehenden das Bild ehrfurchtsvoll schweigend an. Es zeigte ein Auto, wie sie es noch nie gesehen hatten: Es lag tief auf dem Boden und war geschmeidig wie ein Torpedo. Es hatte drei in die Karosserie eingelassene Scheinwerfer, wie bei dem letzten vor dem Krieg gebauten Pierce Arrow – doch der Silver Arrow wirkte dagegen altmodisch. Die aerodynamische Form der Karosserie erinnerte an den 1933er Chrysler Airflow, aber der Chrysler wirkte mit seiner Knollennase vergleichsweise plump. Der Wagen hatte einen vollkommen verchromten, monsterhaften Kühlergrill; die Schnauze lief spitz wie eine Nadel zusammen, und die Windschutzscheibe schien breit wie ein Wohnzimmerfenster. »Heiliger Strohsack! Das nenne ich stromlinienförmig«, sagte einer der Soldaten. »Es sieht so aus, als ob der Wagen selbst im Leerlauf neunzig Meilen die Stunde fährt«, bemerkte Noble voller Hochachtung. »Und wißt ihr, wer dieses Auto bauen wird?«
Eddie kniff die Augen zusammen. »Wer?« fragte er mißtrauisch. »Wir!« »Du meinst, wir stellen die Dinger auf Bestellung in der Scheune als Sonderanfertigung her«, sagte Vera ungerührt; nur sie und die Zirkushunde schienen unbeeindruckt. Tucker schüttelte energisch den Kopf. »Serienproduktion. In fünf Jahren werden wir die drei größten Autohersteller vom Markt verdrängt haben.« »Hast du’s denen schon gesagt?« fragte Jimmy. »Und wem willst du das Auto verkaufen? Buck Rogers vielleicht?« Eddie mußte sich eingestehen, daß es ein verdammt schöner Wagen war. Tucker schwang beim Gehen das Bild in der Luft hin und her, als hielte er bei einem Autorennen eine RundenAnzeigetafel hoch. »Soldat! Sie würden sich eins kaufen, oder?« Ein neunzehn Jahre alter GI konnte sich leicht vorstellen, wie es sein würde, mit einem solchen Luxusschlitten durch die Hauptstraße seines Heimatortes zu kutschieren. »Darauf können Sie Gift nehmen!« »Wie steht’s mit Ihnen?« wollte Tucker von einem der Arbeiter wissen. »Und ob!« Er hatte seit 1933 einen Ford Model A, Baujahr 29, gefahren. Tucker wandte sich wieder an Vera, dieses Mal wie ein Staatsanwalt, der gerade seinen Beweisvortrag abgeschlossen hatte. »Siehst du?« »Was steckt unter der Haube?« fragte der ewige Motorenmechaniker Jimmy. Tucker steckte das Bild wieder zurück und holte ein anderes hervor. Unter der geöffneten Motorhaube waren zwar vier Koffer, aber kein Motor zu sehen. »Der Kofferraum.«
»Der Kofferraum?« wiederholte einer der Soldaten verblüfft. »Der Motor ist hinten, wo er auch hingehört. Hey, Eddie, Jimmy, erinnert ihr euch, woran wir in Indianapolis gearbeitet haben, als Harry Miller starb?« »Etwa am 589er Boxermotor?« fragte Eddie unsicher. »Für einen Serienwagen?« warf Jimmy ein. »Der 589er ist ein Rennmotor.« »Harry Miller sagte immer, das sei der Motor der Zukunft; und wir haben ihn.« Er zog das Bild beiseite, und eine technische Zeichnung kam zum Vorschein. Ein Motor schwebte über einer Hinterachse. »Mein Gott«, sagte Eddie, als ob er sich an einen ganz bestimmten Alptraum erinnerte. »Die Drehmomentwandler.« »Genau«, stimmte ihm Tucker begeistert zu. »Drehmomentwandler, einzeln verbunden mit jedem der…« »Bist du verrückt? Dazu braucht man eine Spurweite von siebzig Inches!« »An dem Tag, an dem Eddie sagt, ›Das gefällt mir‹, falle ich auf der Stelle tot um.« »Vergiß nicht die Probleme mit Drehmomentwandlern«, wandte Jimmy vorsichtig ein. »Was ist ein Drehmoment?« fragte einer der Soldaten. »Und was verwandelt man damit?« Preston Tucker Junior hatte sich die Zeichnungen genau angesehen. »Ein Drehmoment ist das« – mit dem Finger malte er einen Kreis in die Luft – »und man will es dazu verwandeln.« Er malte einen weiteren Kreis mit dem Finger, als drehe er ein Rad. »Häh?« Preston Junior erschien alles so einfach. »Man verwandelt die Rotation des Drehmoments als Antrieb auf die Achse, die wiederum die Räder antreibt.« »Eine Art Kraftübertragung?« fragte der Soldat.
»So ungefähr«, sagte Preston Junior. Millie erschien auf der Veranda mit einer Glocke in der Hand. »Das Essen ist fertig!« Tucker klemmte sich die Zeichnungen unter den Arm. »Laßt uns gehen! Alle!« Millie hatte richtig vermutet: Alle wurden zum Essen eingeladen – nun mußte sie nur noch eine abschließende Zählung vornehmen. Tucker zeigte auf die Arbeiter. »Sie können doch noch zum Essen bleiben, oder?« »Ich denke schon«, antwortete einer. »Daß Sie bleiben können, weiß ich«, sagte er grinsend zu den Soldaten. »Und du…«, er deutete mit dem Daumen auf Marilees Klassenkameradin, »du rufst deine Mutter an.« »Mach’ ich, Sir!« »Millie!« rief Tucker. »Noch sieben Teller dazu!« »Ich weiß«, seufzte Millie. Tucker sah auf die Hunde. »Und zwölf Näpfe Hundefutter.« Vera lachte und küßte ihren Mann liebevoll. Die Hunde fügten sich in den Tucker-Haushalt nahtlos ein: Er konnte kein größerer Zirkus mehr werden, als er eh schon war. Abe Karatz war ein großer, leichenblaß aussehender Mann mit einem bleistiftdünnen Oberlippenbart und buschigen Augenbrauen. Er sah aus und sprach auch wie ein New Yorker und war entsprechend gekleidet: ein Großstädter von Kopf bis Fuß. Soweit es ihn betraf, bestand die Natur aus einem Blumenkasten, und Gras war etwas, auf dem ein Schild verkündete: ›Betreten verboten‹. Abe war damit durchaus einverstanden, denn er hätte ihn sowieso niemals betreten. Aber auf den Straßen kannte er sich aus, insbesondere auf der Wallstreet, und er kannte Tucker. Die Kombination dieser beiden Tatsachen war es, die ihn veranlaßt hatte, den Lake-
Shore-Schnellzug in Chicago zu verlassen und sich mit einer Reihe Bummelzügen auf den Weg nach Capac, Michigan, zu machen. Er kam an dem Abend an, als Tucker seiner Familie den neuen Wagen vorgestellt hatte. Karatz bat den Taxifahrer zu warten. Vera bemerkte als erste Abes Ankunft und beobachtete, wie er sich dem Haus näherte und dabei behutsam darauf achtete, seine teuren Florsheim-Schuhe sauberzuhalten. Noble gesellte sich zu seiner Mutter ans Fenster. »Wer ist das?« »Ein Freund deines Vaters.« Noble sah sich Abe genauer an. »Der sieht ja gräßlich aus.« »Er ist aber nicht gräßlich«, sagte Vera. »Er kommt eben aus New York – das ist alles.« Tucker ging nach draußen, um seinen Gast zu begrüßen. »Es freut mich außerordentlich, daß Sie hier einen Zwischenstopp machen. Wieviel Zeit haben Sie, bis Ihr Zug wieder fährt?« Abe Karatz sah sich angewidert um und starrte eine große Eiche an, als ob sie es auf ihn abgesehen hätte. »Und Ihnen gefällt es, hier mitten in der Wüste zu wohnen? Wenn man morgens um zwei, drei Uhr einen Kaffee möchte, verdurstet man hier doch.« »Man kann auch in die Küche gehen und sich selbst einen kochen.« Karatz sah Tucker an, als hätte der ihm gerade vorgeschlagen, nach Brasilien zu fahren und die Bohnen selbst zu pflücken. »Aber was für Leute trinken morgens um zwei Kaffee? Also, der Punkt ist doch der, man sitzt in einer Bar, liest Zeitung und bestellt sich etwas beim Kellner. Und hier? Überall, wo man hinschaut, entdeckt man nichts als Natur.« Tucker lächelte. »Ich fürchte, wir müssen hier damit leben.« Er führte ihn ins Haus. »Wie mögen Sie Ihren Kaffee am liebsten?«
»In der Stadt«, antwortete Abe Karatz trocken. Abe saß in Tuckers Arbeitszimmer. Er sah sich aufmerksam die Zeichnungen an, nippte am Kaffee, den er auf Drängen Tuckers trank, und schüttelte den Kopf. »Autos? Sie haben mich hier mitten in die Wüste wegen Autos bestellt?« Er klang gekränkt, als ob Tucker vorhätte, Planwagen zu bauen. Preston Tucker strich sanft mit der Hand über die Zeichnung. »Sieht das für Sie wie ein Auto aus?« »Offen gesagt, nein.« »Das ist auch kein Auto. Das ist eine Goldmine, die ich Ihnen auf dem Silbertablett serviere.« Abe schüttelte abfällig den Kopf. »Vergessen Sie’s. Sie haben keine Chance.« »Woher wollen Sie das wissen? Bis jetzt haben Sie sich meine Ideen noch nicht angehört.« »Ideen?« Allein die Vorstellung von Ideen erschien Abe genauso lächerlich wie Autos selbst. Er war Geschäftsmann. Autos bedeuteten für ihn vor allem eins – viel Geld; aber das Geschäft hatten die Jungs in Detroit bereits fest in der Hand. »Ideen? Einstein steckt im Ideen-Geschäft drin. Er treibt die Aktien in solche Höhen, daß sie nur noch Hunde hören können. Aber was kostet ihn das? Ein Stück Papier und ein paar Bleistifte. Um Autos zu bauen, braucht man Millionen von Dollar.« Tucker nickte begeistert. »Das stimmt. Und an der Stelle sind Sie gefragt. Die Wallstreet ist dazu da, Aktien in Umlauf zu bringen, um Millionen von Dollars zum Bau von Autos aufzutreiben.« »Und Sie? Wer sind Sie denn schon? Wer kennt Sie? Ich selbst kenne Sie kaum, aber wer auf der Wallstreet kennt Sie? Preston Tucker, mitten aus der Wildnis? Wie heißt dieser Bundesstaat?«
»Michigan.« »Wie auch immer.« Abe zuckte die Achseln. Tucker beugte sich in seinem Stuhl vor. »Abe, ich habe ein Auto, das so revolutionär ist, daß es von heute auf morgen alle Autos auf der Welt verändern wird.« »Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei.« »Aber mit Ihren Beziehungen…« Abes Augenbrauen schnellten hoch. »Meine Beziehungen? Ich habe keine Beziehungen. Ich habe nur Beziehungen zu Leuten, die selbst Beziehungen haben, und für die und für mich selbst setze ich mich ein… Worauf vertrauen Sie? Auf Gott? Ich sage Ihnen, vergessen Sie’s. Sie haben keine Chance.« Er beendete seine kleine Rede, trank den Kaffee aus und hoffte, Tuckers Traum ein Ende gesetzt zu haben. Was Abe anbelangte, so hatte er in seinem Leben noch nie von einer so schnell wirksamen Methode gehört, pleite zu gehen. Die Fabrikation von Autos war etwas für die großen Tiere. Preston Tucker war kein großes Tier – aber er war ein charmanter, überzeugender Mistkerl, und Abe wußte, daß er hier schnell heraus und wieder in die zivilisierte Welt zurück mußte, bevor er doch noch sein hart verdientes Geld in Tuckers Projekt stecken würde. Tucker gelang es die ganze Zeit, seine Emotionen zu unterdrücken, als er Abe Karatz zum Taxi zurückbegleitete. Der Wagen war bereits losgefahren, als er Abes niederschmetternde Kritik auf sich einwirken ließ. Er ließ einen Moment lang die Schultern hängen, während ihm Abes Worte durch den Kopf gingen: Sie haben keine Chance. Aber er hatte eine Chance. Das Auto war einfach zu gut, als daß es keine Chance haben würde. Er spürte, wie sich seine Verzweiflung in Wut verwandelte. Detroit baute miserable, unsichere Autos. Der Tucker wäre gänzlich anders. Er hob einen Stein auf und warf ihn zornig in die Dunkelheit. Er
würde den Tucker bauen, und wenn es das Letzte wäre, was er in seinem Leben tun würde. Er blickte auf das Haus. Seine Familie schaute aus dem Wohnzimmerfenster und beobachtete ihn. Er zwang sich zu lächeln und winkte. »Kommt, Kinder, laßt uns zu eurem Vater hinausgehen«, sagte Vera. Sie marschierten allesamt durch das Haus, dann durch die Haustür und die Veranda hinunter. Aber Tucker war verschwunden. »Wo ist er hingegangen?« fragte Noble. Der Rasen wurde von Scheinwerferlicht erhellt, als der Tucker-Kampfwagen um die Hausecke bog. Vera lachte und trat in den Lichtkegel. Sie zog ihren Rock hoch, winkte mit dem Daumen und mimte eine Anhalterin – wie Claudette Colbert in It Happened One Night. Der Kampfwagen bremste ab. Tucker lehnte sich aus dem Fenster. »He, Puppe, wie wär’s mit einer Spazierfahrt?« Er klatschte in die Hände. »Und wer von euch will ein Eis?« Tuckers Vorschlag stieß auf allgemeine Zustimmung. »Also gut. Dann zwängt euch hier rein, und ab geht die Post!« In dem Kampfwagen war nicht allzuviel Platz, aber sie drängten sich alle hinein. Vera hockte dicht neben ihrem Mann. Tucker brachte den Motor auf Touren, und sie rasten vom Hof auf die verschmutzte Straße, die das Haus der Tuckers mit der Landstraße verband. Sie fragten sich alle, was Abe Karatz, das Finanzgenie, gesagt hatte, aber sie brachten es nicht fertig, danach zu fragen. Auf der anderen Seite überwand sich Tucker nicht, ihnen von Abes ablehnender Haltung zu erzählen. Aber er mußte etwas sagen. »Ihr hättet den armen Kerl sehen sollen – richtig rührend. Ihm gefiel meine Idee.« »Und was ist daran so rührend?« fragte Noble.
»Nun, es war schon merkwürdig, daß ein solcher Mann immer wieder nur das alte Lied leiert.« »Was für ein altes Lied?« fragte Johnny. Vera wußte Bescheid. Preston mochte seine Kinder zum Narren halten können, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, was geschehen war – Abe hatte ihren Mann kalt abblitzen lassen. Doch Tucker schien sich fast selbst überzeugen zu wollen. »›Ich tue alles, um in das Geschäft einsteigen zu können‹, hat er mir gesagt. Er würde alles dafür geben, sagte er.« Er schmunzelte auf überzeugende Weise, als hätte Abe ihn wirklich darum gebeten. »Aber ich will ihn noch ein wenig schmoren lassen.« Vera streichelte Tucker sanft über den Arm, um ihm so mitzuteilen, daß sie das Ausmaß von Abes Desinteresse kannte. Auf merkwürdige Weise war Tucker froh darüber, daß sie bemerkt hatte, wie erfolglos das Gespräch verlaufen war. Ihm würde so der Schmerz erspart bleiben, die schlechte Nachricht erzählen zu müssen. Seine Stimmung wurde ein wenig besser. So schlecht standen die Dinge gar nicht; jetzt fuhr er erst einmal mit seiner Familie an einem schönen Sommerabend die Landstraße hinunter. Der Krieg war fast vorüber… und irgendeinen Weg würde er schon finden, sein Auto zu bauen. Er drückte ein wenig stärker auf das Gaspedal. Der Kampfwagen wurde schneller und sauste über die Straße. »Achtet darauf, wie dieses Baby beschleunigt!« rief er über den Fahrtwind. Dann trat er das Gaspedal durch. Der Wagen schien einen Satz nach vorn zu machen, und der starke Motor heulte mit ansteigender Drehzahl auf. Sie schossen am ersten der Warnplakate mit 85 Meilen vorbei und waren so schnell, daß es bereits hinter ihnen war, bevor sie es lesen konnten. Aber die Tucker-Familie war schon so oft
daran vorbeigefahren, daß sie ohnehin alle wußten, was darauf stand: 30 TAGE HAT DER SEPTEMBER. Die beiden Polizisten, die mit ihren Motorrädern hinter der Plakatwand standen, starteten sofort ihre Maschinen, aber noch bevor sie sich auf die Verfolgung gemacht hatten, hatte Tucker bereits das zweite Plakat mit der Aufschrift UND DER APRIL passiert. Die beiden Polizisten donnerten über den Highway und sahen, wie der Kampfwagen immer kleiner wurde; nicht einmal ihre 1200er Harleys konnten es mit Tuckers Erfindung aufnehmen. Am dritten Plakat, auf dem UND DER JUNI stand, fuhr Tucker schon ein wenig langsamer vorbei. Vor dem letzten der Plakate hielten die Polizisten an. UND 30 TAGE BEKOMMT AUCH DER, DER SICH NICHT AN DIE HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT HALTEN WILL, war als Mahnung zu lesen. Sie sahen sich kopfschüttelnd an. »Dieser Tucker«, murmelte einer über das Geräusch des laufenden Motors. Kurze Zeit später erreichte die Tucker-Familie den Ortskern von Ypsilanti. Tucker rollte langsam die Hauptstraße entlang. Die Einwohner der Kleinstadt hatten sich längst an den Anblick des Militärfahrzeugs gewöhnt und auch daran, daß es wie ein normaler Plymouth herumkutschiert wurde. Tucker hielt an, damit eine alte Dame über die Straße gehen konnte. Sie nickte ihm dankend zu, ohne einen zweiten Blick auf das bedrohlich wirkende Fahrzeug zu werfen. Er parkte den Kampfwagen direkt vor dem Doc’s – Imbißbude und Drugstore in einem für die ganze Stadt. Doc sah kurz von seinem Magazin auf, als die Tucker-Horde in den altmodischen Laden hereinplatzte. »Eine Runde Eis?« fragte Doc. »Zur Feier des Tages – die dreifache Menge!« »Erdbeer«, verkündete Johnny.
Doc werkelte hinter dem Tresen herum und nahm Bestellungen an, während sich Tucker auf einen Stuhl neben Vera setzte. Er sah sich den Artikel an, den Doc gelesen hatte. Es handelte sich um einen Bericht über Fertighäuser, eine Erfindung, die zu Kriegszeiten geboren worden war und nun in Friedenszeiten genutzt werden sollte. So könnte das nationale Problem des akuten Wohnungsmangels gelöst werden, stellte das Pic-Magazin begeistert fest. »Hat jemand schon mal diese Fertigteile gesehen? Wie kann man behaupten, daß diese Dinger etwas taugen?« Tucker sah seine Frau und Kinder an. Preston Junior zuckte die Achseln. »Ich meine, wenn man sie bis heute noch nicht gebaut hat«, fuhr Tucker fort, »wie kann man dann behaupten, daß diese Dinger etwas taugen?« Doc ließ eine Kugel Pistazieneis in eine Chromschale fallen. »Nun, die müssen schon gut sein.« »Woher wissen Sie das?« »Das wird allgemein behauptet.« Er winkte mit der Eiskelle in Tuckers Richtung. »Das Magazin behauptet es auch.« »Aber…«, begann Tucker und blickte dann wieder auf den Artikel. Doc, der in einem Haus wohnte, das sein Großvater während des Bürgerkrieges gebaut hatte, war nicht gerade besessen von neuen Ideen. Er war nicht der Typ, der Fertighäuser gutheißen würde – zumindest würde er sich nicht dafür interessieren –, nur weil ihm irgend jemand einmal etwas davon erzählt hatte. Aber Doc hatte den Artikel gelesen und ihn in der Zeitschrift gedruckt gesehen – also mußte für Doc etwas an der Sache dran sein. Vera sah ihren Mann skeptisch an. Zunächst legte sich dieses verschmitzte Lächeln auf sein Gesicht. Dann hätte sie schwören können, eine kleine Glühbirne über Tuckers Kopf leuchten zu sehen, so wie in den Zeichentrickfilmen, die man im Kino vor den Hauptfilmen sehen konnte.
Schließlich grinste Tucker über das ganze Gesicht. O nein, dachte Vera. Was hat er vor?
2 Wochenschau »Tucker brauchte Werbung«, verkündete der Erzähler. »Durch die Zusammenarbeit mit einem Journalisten, den er kannte, bekam er einen Artikel im Pic-Magazin.« Auch Tucker mußte einräumen, daß ihm der Journalist, den Abe aufgetrieben hatte, mit dem Artikel einen großen Gefallen erwiesen hatte. Der Typ hatte überhaupt keine Ahnung von Autos, aber er hatte Tucker erzählt, daß man als Journalist kein Hintergrundwissen benötige. Alles, was man brauche, sei der richtige Standpunkt. Der Standpunkt, für den sich der Journalist entschied, gipfelte schließlich in der Schlagzeile des Artikels: »Das Tucker-Torpedo – Das erste vollkommen neue Auto seit fünfzig Jahren.« In der Zeitschrift war auch ein schönes Foto des Wagens und eine Portraitaufnahme Tuckers, auf der er bereits wie ein Aufsichtsratsvorsitzender aussah. Der Inhalt des Artikels war ausgesprochen flach und sensationslüstern, aber der Verfasser hatte erklärt, daß exakt das der Stoff wäre, den die Leute verschlingen würden. Er schrieb über die Geräumigkeit des Wagens, die Eleganz, die Kraft und Geschwindigkeit. Junge Männer konnten gar nicht anders, als sich selbst hinter dem Steuer mit einem hübschen Mädchen auf dem Beifahrersitz vorzustellen. Familienväter lasen den Tucker-Artikel und glaubten, daß selbst das Fahren der Kinder zur Schule keine lästige Pflicht mehr sein würde. Der Artikel pries ein Auto an, das elegant und luxuriös wie ein Packard oder Lincoln war, aber besser, neuer und revolutionär. Und man konnte es für eintausend Dollar kaufen. Drehmomentwandler wurden in dem Artikel nicht ein einziges Mal erwähnt.
»Die Nation las von Tuckers Traumauto und reagierte entsprechend«, fuhr der Erzähler fort. »Aber niemand, selbst Tucker nicht, war auf das, was nun geschah, vorbereitet…« Die Tucker-Familie hatte ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Postboten. Morgens gegen neun lieferte er Briefe und Rechnungen ab, und manchmal nahm er an einem kalten Wintermorgen auch die Einladung zu einer heißen Tasse Kaffee an. Aber eine Woche nach Erscheinen des Artikels im P/c-Magazin kam der Postbote sechs- bis achtmal am Tag mit einem Lastwagen voller Briefe zu den Tuckers – an so viel Arbeit war er nicht gewöhnt. »Innerhalb einer Woche trafen mehr als 150 000 Briefe ein, ›Wo kann ich einen Tucker kaufen?‹ ›Wie bekomme ich als Händler eine Werksvertretung?‹ Über Nacht brach im ganzen Land das Tucker-Fieber aus…« Die Wallstreet begann, das Geschäft zu riechen. Abe war überrascht, daß ein Artikel im Pic einigen Leuten auf der Wallstreet den Kopf verdreht hatte. Und das nicht etwa, weil Tucker und dessen Schöpfung auf den geheiligten Seiten des Wall Street Journal, des Forbes oder Fortune gepriesen worden waren, sondern im Pic, einer gewöhnlichen Kioskzeitschrift, die normalerweise von den seriösen und zurückhaltenden Geldbaronen nicht gelesen wurde. Doch aufgrund dieser Tatsache hatte Abe ein Treffen zwischen Tucker und Floyd Cerf arrangiert, einem konservativen Börsenmakler, wie er im Buche steht. Abe mußte einräumen, daß Cerf nicht gerade vor Begeisterung über Tuckers Idee Purzelbäume schlug – es würde ihn einige Überzeugungskraft kosten, bevor er auch nur einen Cent erhalten würde – , aber Cerf wollte Tucker und dessen Auto kennenlernen, und das war zweifellos ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Als Tucker nach Chicago fuhr, um Cerf zu treffen, hatte Abe schon befürchtet, daß Preston Tucker mit dem naiven Gehabe eines Hinterwäldlers aus dem Mittelwesten auftreten würde. Er hatte fast erwartet, Tucker auf einem Grashalm kauend, mit blauem Arbeitsanzug und Strohhut auf dem Kopf aus dem Zug aussteigen zu sehen. Um so überraschter war er, daß Tucker einen perfekt sitzenden, schlichten, braunen Anzug trug, als er über den Bahnsteig auf ihn zukam. Die Krawatte war ein wenig auffällig – aber so war Tucker eben und letztendlich auch dessen Auto. Abe war zudem überrascht, daß Tucker genauso widerspenstig wie Cerf sein konnte. Sie trafen sich in dem imposanten Büro des Börsenmaklers, in dem sich Cerf langsam und mit der üblichen Zurückhaltung mit Tuckers Projekt vertraut machte. »Ein Auto in Ihrer Scheune zu bauen, ist eine Sache, aber Massenproduktion ist etwas anderes«, begann Cerf. »Um mit Detroit konkurrieren zu können…« »Hören Sie, Mr. Cerf«, unterbrach ihn Tucker, »wenn ein Zeitungsartikel auf eine solche Resonanz stößt, dann kann ich nicht erkennen, worin eigentlich das Problem besteht, ein Aktienpaket von fünfzehn Millionen Dollar herauszugeben.« Er lächelte schwach. »Wie hoch wäre Ihre Provision dabei? Zweieinhalb Millionen?« Cerf zuckte die Achseln. »Mehr oder weniger.« Tuckers Lächeln wurde stärker. »Mir scheint es fast so, daß Ihr einziges Problem das Vermittlungshonorar für meinen Freund Abe hier ist.« Cerf sah Abe an. Beide Männer wußten, daß das Vermittlungshonorar und die Provisionen nicht die einzigen Probleme waren, die auf sie zukommen würden. Aber es gab keinen Grund, Tucker davon in Kenntnis zu setzen. Der wollte nur das Geld, um sein Auto bauen zu können – alles andere
war nebensächlich. Beide Geldvermittler wußten, daß es besser sein würde, Tucker seine Arbeit machen zu lassen und die finanziellen Angelegenheiten ihnen, den Profis, zu überlassen. »Hören Sie, Mr. Tucker, Sie müssen mir ein paar Tage Zeit geben. Ich rufe Sie Anfang der Woche an.« Tucker erhob sich. »Montag?« »Montag… Dienstag.« »Also Montag. Was ist mit Ihnen, Abe?« »Ich werde noch bleiben. Ich muß mit Mr. Cerf noch ein paar geschäftliche Dinge regeln.« »Dann sehe ich Sie zum Essen«, sagte Tucker. Nachdem er gegangen war, saßen Abe Karatz und Floyd Cerf noch eine Weile schweigend beisammen. Schließlich begann Abe zu sprechen. »Was benötigen wir, um alles in Gang zu bringen?« Cerf dachte noch einen Moment lang über alles nach, obwohl er, seit Abe ihn auf Tucker aufmerksam gemacht hatte, kaum noch an etwas anderes gedacht hatte. »Ein Auto…«, stellte Cerf als erstes fest. »Das haben wir«, bemerkte Abe. »Ein funktionierender Prototyp?« fragte Cerf, denn bis dahin hatte er nur Konstruktionszeichnungen gesehen. »In der Zeitschrift wird das behauptet.« »Und wir brauchen einige große Detroiter Namen im Verwaltungsrat. Leute, die viel Vertrauen einflößen.« »Wen zum Beispiel könnten wir gewinnen?« »Nun… da wäre Robert Bennington, jahrelang Vizepräsident von Ford. Er ist zur Zeit Präsident von Plymouth, aber ich habe gehört, er soll dort weggelobt werden. Wir könnten ihn vielleicht überreden.« Abe nickte zustimmend, aber die Sache gefiel ihm nicht. Vor Tucker Detroit zu erwähnen, bedeutete das gleiche, als ob man bei einem Treffen von Baptisten den Atheismus erwähnen
würde. »Wird dieser Bennington nur ein Strohmann sein, oder will er etwas in der Firma zu sagen haben?« Etwas zu sagen haben? dachte Cerf. »Wenn Tucker meint, er kann fünfzehn Millionen Dollar auftreiben und damit abtanzen, um sein Auto zu bauen, dann irrt er sich gewaltig. Jeder, der in dieses Vorhaben Geld stecken soll, wird einen erfahrenen und geeigneten Mann der Autobranche an der Spitze des Unternehmens sehen wollen. Bennington will mehr, als nur etwas zu sagen haben – er wird die Firma leiten wollen.« »Ich bin mir nicht sicher, ob Tucker sich darauf einlassen wird.« Abe war sich vollkommen sicher, daß Tucker sich absolut nicht darauf einlassen würde. Cerf schüttelte den Kopf. »Haben Sie mir nicht zugehört? Abe, Sie wissen, daß die Menschen keine Aktien, sondern die Leute kaufen, die dahinterstecken und denen sie vertrauen – oder von denen sie zumindest glauben, ihnen vertrauen zu können. Und wenn«, er winkte zu dem Stuhl hinüber, in dem Tucker gesessen hatte, als ob dieser dort noch sitzen würde, »wie hieß er nochmal?« »Tucker«, half ihm Abe. »Und wenn Tucker wegen dieser Geschichte einen nervenaufreibenden Kampf beginnen will, dann…« »Machen Sie sich wegen Tucker keine Sorgen«, besänftigte ihn Abe. »Er ist ein guter Mann. Ich werde ihn mir vorknöpfen. Was benötigen wir noch?« »Sie werden eine Fabrik brauchen.« »Okay«, sagte Abe und faßte zusammen: »Das Auto haben wir. Sie kümmern sich um Bennington. Ich werde die Fabrik besorgen.« »Das werden Sie?« bemerkte Cerf skeptisch. »Ist das so einfach? Wo wollen sie eine Fabrik herbekommen?« »Von meinem Onkel Sam«, sagte Abe.
Als Tucker von draußen das Zuschlagen einer Autotür hörte, rannte er aus dem Haus und lief Abe ungeduldig auf der Zufahrt entgegen. Es war bereits ein Monat vergangen, seit er seinen Partner das letzte Mal gesehen hatte. Seit der Zeit hatte sich Abe im ganzen Land nach einer Fabrik für Tuckers Auto umgesehen. Aber es war gar nicht Abe. Es war ein junger Mann in der Uniform eines Sergeants der Air Force. Tucker war enttäuscht – wahrscheinlich war er ein Freund von Marilee. Tucker blickte die Straße hinunter, in der Hoffnung, Abes Taxi zu entdecken. Anstatt auf das Haus zuzugehen, blieb der Sergeant der Air Force vor Tucker stehen, als sei er wegen ihm gekommen. »Mr. Tucker, mein Name ist Alex Tremulis«, stammelte er nervös. »Haben Sie vielleicht fünf Minuten Zeit für mich, Sir?« »Ich warte auf jemanden«, sagte Tucker. Seit Erscheinen der Pic-Story waren viele Leute zum Haus gekommen und hatten ihn um ein paar Minuten Zeit gebeten. Gewöhnlich waren es Leute, die irgendwelche Ideen verkaufen wollten. Ideen, die verrückter waren als Tuckers eigene. Es gab Leute, die Perpetuum mobiles verhökern wollten, oder Pillen, die, in einem Glas Wasser aufgelöst, dieselbe Verbrennungsenergie wie ein voller Benzintank haben sollten; einige kamen mit Plänen, aus Meerwasser Gold zu machen, indem man die Wüsten bewässerte. Aber dieser nervöse Bursche in Uniform schien anders zu sein. »Ich will nur fünf Minuten.« »Wofür?« »Ich will Ihnen etwas verkaufen.« Alle wollten ihm etwas verkaufen, aber gewöhnlicherweise rückten sie nicht sofort damit heraus. »Und was?« »Mich.«
»Wie? Sich selbst?« »Ja, Sir, ganz richtig.« Tucker schaute auf die Uhr. »Fünf Minuten«, sagte er und setzte sich auf die Verandatreppe. »Die fünf Minuten beginnen jetzt.« Der junge Mann öffnete hastig die Aktentasche. »Ich werde in ein paar Wochen aus der Air Force entlassen. Vor meiner Militärzeit habe ich Kraftfahrzeugtechnik studiert. Und ich muß Ihnen sagen, Sir, als ich den Artikel über Ihr Auto gelesen habe… nun, seither bin ich nicht mehr davon losgekommen.« Ich auch nicht, dachte Tucker. »Das Auto hat alles, wovon ich immer geträumt habe. Aber bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen sage, daß es da ein paar Kleinigkeiten gibt, die…« Er legte Tucker eine Zeichnung in die Hände. Alex Tremulis leckte sich aufgeregt über die Lippen, während sich Tucker die Zeichnung ansah. »Ich habe ein paar isometrische, perspektivische Zeichnungen angefertigt, wenn Sie sich die vielleicht einmal anschauen würden?« Tuckers Augenbrauen zuckten. Dieser Bursche hatte an seinem Auto herumgepfuscht. »Was Sie mit der Stromlinienform gemacht haben, ist fantastisch, aber wenn man richtige aerodynamische Linienführung wie bei einer Rakete auch bei einem Serienwagen anwenden könnte, dann…« Was, zum Teufel, meinte er? Das hier war richtige aerodynamische Linienführung – wenigstens glaubte Tucker das. Und was war überhaupt isometrische Perspektive? »Junge, du hast die Türen verändert.« »Nun, die Sache ist die, Sir, Sie haben nur 31 Inches lichte Höhe und ein Serienwagen benötigt 36 Inches.« »Wirklich?«
Alex beharrte auf seinem Standpunkt. »Ja, Sir. Ich habe es auf der Zeichnung verändert, aber auch so ist er zehn Inches niedriger als irgendein anderer Wagen auf der Straße, doch wenn man nun die Türen öffnet, würden sie gegen den Bordstein schlagen, also öffnet man sie bei mir nach oben, wie bei einem Flugzeug.« Er reichte Tucker eine andere Zeichnung. »Sehen Sie, wie ich das Problem gelöst habe?« Tucker blickte auf die Straße. Abes Taxi kam. »Die Zeit ist um, mein Junge.« »Nur noch zwei Minuten. Ich habe noch nicht…« »Was willst du? Einen Job?« Tremulis schluckte kräftig. »Ja, Sir.« Tucker gab ihm die Zeichnungen zurück. »Du hast ihn.« Alex zog die Augenbrauen hoch. »Im Konstruktionsbüro?« Abes Taxi hielt an, und Tucker machte sich auf den Weg, um Abe zu begrüßen. »Junge, du bist das Konstruktionsbüro.« »Ich?« Abe stieg aus dem Taxi und blickte nicht auf Tucker, sondern auf ein Huhn, das um das Haus geflattert kam und im Staub auf der Zufahrt herumpickte. Abe glotzte es argwöhnisch an, und das Huhn, als wollte es Abes Blick erwidern, kackte ohne viel Federlesens auf den Weg. »Hühner«, murmelte Abe schaudernd. »Was haben Sie gegen Hühner?« »Nichts, solange sie auf einem Teller mit Kartoffelpüree serviert werden. Die Dinger gehören auf die Speisekarte. Aber ein Viech mit Federn zu essen, das man gerade beim Scheißen gesehen hat… das ist nicht mehr natürlich.« Als sie auf das Haus zugingen, kamen Noble und Jimmy Sakuyama um die Ecke. »Abe, das sind zwei Männer, die ich Ihnen gerne vorstellen möchte«, sagte Tucker.
Noble sah Abe Karatz mißtrauisch an und musterte ihn auf dieselbe Weise, wie es zuvor Abe im Vorgarten mit dem Huhn getan hatte. Ein Kind und ein Japaner, dachte Abe. Er hatte wirklich keinen blassen Schimmer, wie er sich den beiden gegenüber verhalten sollte. »Noble«, sagte Tucker, »das hier ist Onkel Abe.« Onkel? dachte Abe. Kein Kind mit dem Namen Noble Tucker hatte jemals einen Onkel namens Abraham Karatz gehabt. Noble sah aus, als ob ihm dieser Gedanke ebenfalls durch den Kopf ging. »Und das ist Jimmy Sakuyama…« Jimmy wischte sich die Hände am Arbeitsanzug ab und gab Abe die Hand. »Schön, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Preston erzählte mir, daß Sie sein Partner sind.« »Das stimmt.« »Jimmy, würdest du Eddie bitten, sich zu uns zu gesellen?« fragte Tucker. »Klar, Boß.« Abe hatte manchmal das Gefühl, daß er einiges an Tucker niemals begreifen würde. Es war April 1945 – die Deutschen waren so gut wie erledigt, aber der Krieg gegen Japan tobte noch heftig, und Tucker hatte einen Japaner auf seinem Anwesen. Als sie die Verandatreppe hinaufgingen, flüsterte Abe hörbar: »Sagen Sie, hat man die Japaner nicht irgendwo im Westen in ein Lager gesteckt?« Es mußte sich dabei um einen dieser Bundesstaaten handeln, die Abe nicht voneinander unterscheiden konnte: Utah, Iowa oder Idaho. Tucker wurde wütend; er hatte von Abe mehr Zurückhaltung erwartet. »Jimmy ist kein Japaner, er ist Ingenieur.« »Ja, aber er ist dennoch Japaner.«
»Jimmy und ich arbeiten seit fünfzehn Jahren zusammen. Er ist Amerikaner. Ich habe ihm die Herstellung der Geschütztürme anvertraut – das ist wesentliches Rüstungsmaterial. Aber sein Vater, seine Mutter und seine zwölf Jahre alte Schwester sind in Colorado in eins dieser luxuriösen Umsiedlungslager verschleppt worden – falls Sie das beruhigt.« Abe blieb betroffen stehen. »Hören Sie, Preston, ich meinte das nicht so…« Als Tucker die Haustür öffnete, quoll ihnen das Dutzend trainierter Zirkushunde wie aus einer Konservendose entgegen. »Hunde!« brüllte Abe erschrocken. Er klang wie ein Schwimmer, der gerade eine Haifischflosse auf sich zukommen sah. Die Hunde tollten umher, sprangen auf die Hinterbeine, und einige von ihnen rochen an dem höchst interessanten Stadtgeruch an Abes Hosenaufschlägen. »Haut ab!« fluchte Abe. »Das sind doch nur Hunde, Abe.« »Hunde, Hühner… wer braucht so etwas schon?« Tucker lachte. »Kommen Sie herein, und erzählen Sie mir von unserer Fabrik.« Preston Tucker, Vera und Eddie – praktisch die komplette Gehaltsliste von Tucker Automobiles – versammelten sich im Arbeitszimmer, um zu hören, was Abe zu berichten hatte. Abe kratzte sich an der Nase und nahm einen Schluck Kaffee, bevor er mit dem Reden begann. »Die W.A.A. – das ist die War Assets Administration – verteilt alles überschüssige Material. Alles – vom Zahnstocher bis hin zur Lokomotive. Ich versuche, eine Fabrik zu bekommen, und diese Typen bieten mir die ganze Zeit Portalkräne an – kostenlos –, ich müßte sie nur von den Docks in San Diego wegschaffen.« »Haben Sie die Kräne genommen?« fragte Tucker, schließlich konnte Abe keinem Geschäft widerstehen.
Abe sah Tucker an, als wäre dieser verrückt. »Wozu? Außerdem wiegen die Dinger pro Stück etwa eintausend Tonnen.« »Wir könnten für sie Verwendung finden.« »Für die Fabrikgebäude«, schlug Vera vor. »Nun gut«, Abe kratzte sich wieder über die Nase; das war zu einer nervösen Angewohnheit geworden. Vera fragte sich, ob es richtig war, daß Abe ihren Ehemann immer noch auf die Folter spannte. Schließlich fuhr Abe fort: »Es gibt drei Fabriken, auf die wir eine Chance haben – eine geringe Chance.« »Wie kommt’s?« fragte Eddie. »Weil die alle haben wollen. Wir haben den Krieg gewonnen, und die GIs kommen nach Hause. Die Leute wollen Sachen kaufen: Waschmaschinen, Radios, Möbel…« »Und Autos«, warf Tucker ein. »Die auch. Aber nirgends hat man Platz genug, um das Zeug zu produzieren. Alles, was die Vereinigten Staaten heutzutage herstellen können, sind in Reihenfertigung produzierte Handelsschiffe oder Panzer.« »Jeder Haushalt sollte ein Handelsschiff erhalten«, schlug Vera vor. »Aber egal. Es gibt drei Fabriken, und ich meine, es ist einen Versuch wert, sie zu kriegen. Eine davon wäre bestens geeignet.« »Und was macht sie so geeignet?« fragte Tucker. »Sie ist gut in Schuß und klein. Die Unterhaltung der Fabrik würde nicht viel kosten, und sie würde uns eine Vorstellung davon geben, auf was für Probleme wir bei der Serienproduktion stoßen könnten… denn eine kleine Fabrik schafft auch nur kleine Probleme. So jedenfalls sehe ich die Sache.«
Tucker sah überhaupt keine Probleme. »Und die anderen Fabriken?« »Eine von ihnen ist zu groß. Es würde das Doppelte kosten, sie neu auszurüsten. Aber wenn es sein muß, könnten wir die Sache schaukeln.« Abe kratzte sich wieder an der Nase. »Denke ich jedenfalls.« »Und die dritte?« »Hat keinen Sinn.« »Ist sie zu klein?« »O nein, zu groß! Es ist ein Dodge-Betriebsgelände in Chicago, auf dem man die Motoren für die B-29 gebaut hat.« »Und was spricht dagegen?« »Zum einen umfaßt das Gelände eine Größe von 475 Acres. Sechzehn Gebäude. Sie können Ihre Scheune hier, Ihre ›Fabrik‹, im Besenschrank des kleinsten Gebäudes unterbringen. Eins ist allein 73 Acres lang.« Vera war froh, daß Noble an diesem Gespräch nicht teilnahm. Er hätte Abe bestimmt darauf hingewiesen, daß ein Acre ein Flächen- und kein Längenmaß ist. Und sie hatte das Gefühl, daß ›Onkel Abe‹ über diesen Hinweis nicht gerade begeistert gewesen wäre. Tucker war das nicht aufgefallen. Seine Augen glänzten; allein der Gedanke an eine so große Fabrik ließ seinen Puls höher schlagen. »Dieses Gebäude«, fuhr Abe fort, »ist das größte überdachte Gebäude der Welt.« Vera wünschte sich, Abe würde endlich aufhören, denn je mehr er über die Größe der Fabrik redete, desto geeigneter erschien sie Tucker. »Das ist die richtige!« verkündete Tucker. »Die richtige? Sind Sie verrückt?« stieß Abe aufgebracht hervor.
»Nein. Das ist der geeignete Ort, das Auto zu bauen – das größte überdachte Gebäude der Welt!« Tucker konnte sein Glück kaum fassen. Abe kniff die Augen zusammen. Dann sah er Tucker lange und durchdringend an, als wäre Tucker ein Fremder, der ihm auf der Straße Zehndollarscheine zum Preis von fünf Dollar anbot. »Dann erklären Sie mir etwas. Wenn diese Fabrik so geeignet zur Autofabrikation ist, wie kommt es dann, daß die Besitzer nicht selbst darauf kommen, Autos in einer Fabrik zu bauen, die ihnen bereits gehört?« Zufrieden lächelnd lehnte er sich auf der Couch zurück, denn er war sich sicher, daß Preston Tucker darauf keine Antwort finden würde. »Kein Weitblick«, sagte Tucker. »Die denken in zu kleinen Kategorien.« »Kein Weitblick? Immerhin baute die Dodge Company den Jeep«, bemerkte Eddie. »Schnee von gestern«, sagte Tucker. »Jetzt denken die in zu kleinen Kategorien.« Abe hatte das unbestimmte Gefühl, daß die Tucker Motor Company in zu großen Kategorien dachte. Der B-29-Bomber, die Superfortress, war das größte Flugzeug seiner Art. Es war noch einmal um die Hälfte größer als sein nächster Rivale, die B-17 oder Flying Fortress. Sie hatte eine Zwölf-Mann-Besatzung und konnte über fünf Tonnen Bomben laden. Die vier Motoren einer solchen Maschine verbrauchten bei halber Tourenzahl so viel Energie, daß man damit einen ganzen Stadtteil hätte versorgen können. An dem Tag, als sich die Tucker-Familie das Dodge-Fabrikgelände ansehen wollte, standen dort über einhundert B-29-Bomber, und sie schienen nicht mehr Platz zu benötigen als ein Rasenmäher in der Ecke einer Vorstadtgarage. Es waren auch einige hundert Arbeiter auf dem Werksgelände, unzählige Lastwagen und Maschinen,
aber sie wirkten unscheinbar wie Ameisen im freien Gelände. Abe hatte das Gefühl, er wäre mitten in einer mit Beton ausgegossenen Wüste und daß er noch Meilen weiter gehen könnte, ohne auf ein menschliches Wesen zu treffen. Das Hauptgebäude des Industriegeländes schien sich bis in die Unendlichkeit zu strecken – wenn man an einem Ende stand und laut rief, wäre man am anderen Ende nicht zu hören. Aber was Abe betraf, so war die Dodge-Fabrik in diesem Augenblick lediglich die größte Telefonzelle der Welt. In einer Wand war ein öffentliches Telefon verankert, in das er drei Dollar in Zehncentstücken warf. Dann telefonierte er mit Washington. Tucker spazierte mit seiner Familie zwischen den halbfertigen B-29-Bombern umher und schüttelte immer wieder voller Bewunderung den Kopf. Die Dodge-Fabrik entsprach in groben Zügen seiner Vorstellung vom Paradies. Nicht weniger beeindruckt war Noble Tucker, aber dessen Zukunftsvisionen übertrafen noch die seines Vaters. »Weißt du, was ich machen werde, wenn ich groß bin und du der reichste und berühmteste Mann der Welt bist, Dad?« Er redete gerade so, als wäre das nur noch eine Frage von Wochen. Tucker legte eine Hand auf die Schulter seines Sohns. »Was hast du dann vor, Noble?« »Ich werde in jedem Land der Welt eine zehnmal größere Fabrik als diese hier bauen.« Tucker grinste. »Ich werde den Namen Tucker für alle Zeiten berühmt machen.« »Auf dieser Welt kannst du alles schaffen, wenn du es nur wirklich willst«, sagte Tucker und wurde plötzlich ernst. »Vergiß das nicht. Du mußt nur das Köpfchen und den Riecher dazu haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtige Idee zu haben.« »Und ich muß ein Tucker sein, stimmt’s, Dad?«
Tucker konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Nun, schaden kann das nicht.« Aber nicht alle Tucker-Kinder waren von der Vorstellung, die neue Fabrik zu besitzen, begeistert. Für Marilee war es okay, daß ihr Vater das erste seit fünfzig Jahren wirklich neue Auto bauen wollte, aber sie hatte grundsätzliche Probleme damit; sie wollte nicht ihr Zuhause und ihre Freunde verlassen. Sie wollte nicht nach Chicago ziehen. Vera bemerkte, daß Marilee – und auch Preston Junior – etwas quälte. Tucker war zu sehr mit der Fabrik beschäftigt, als daß er etwas gemerkt hätte, und so lag es wie üblich an Vera, ihre Kinder zu trösten. Marilee könnte sie mit der Zeit dazu überreden, an Chicago Gefallen zu finden – spätestens, wenn Marilee feststellen würde, daß die Stadt voller Leute und Geschäfte war. Bei Junior war das schon schwieriger. In einer Ecke der riesigen Fabrikhalle holte Tucker Junior einen Brief aus der Tasche und händigte ihn seiner Mutter aus. »Der kam letzte Woche an…« Der Umschlag hatte Eselsohren und war an den Rändern schmutzig. Vera konnte sich leicht ausmalen, daß Junior ihn seit Tagen bei sich getragen und immer wieder gelesen hatte. Die fett aufgedruckte Adresse des Absenders lautete: United States Military Academy, West Point. »Man hat mich angenommen«, sagte Junior mürrisch. Vera war verdutzt. »Aber ich dachte, daß du dich darüber freuen würdest.« »Dad hat sich das gewünscht.« Vera nickte. Daß sein ältester Sohn nach West Point berufen werden würde, war stets Preston Tuckers Traum gewesen, aber man konnte von einem Sohn nicht verlangen, daß dieser die Träume seines Vaters verwirklicht. Tucker selbst hätte sich das von seinem Vater niemals vorschreiben lassen, und deshalb konnten Vera und Junior nicht einsehen, weshalb sie sich nun
ihrerseits damit abzufinden hatten. Junior hatte sich gegenüber den Hoffnungen seines Vaters immer verständnisvoll verhalten, aber jetzt, wo sie zur Realität wurden, stellte er sich auf die Hinterbeine. Er war eben wie sein Vater. »Wo willst du dann hin?« »Hierhin. In diese Fabrik, um Autos zu bauen«, sagte Junior entschieden. »Ich bin Ingenieur, wie Dad. Und das ist alles, was ich sein will… jedenfalls kein General.« Vera war stolz auf ihren Sohn. Die Träume seines Vaters lebten in ihm weiter; aber er mußte sie teilen. »Junior, ich bin mir sicher, daß er…« »Pssst«, zischte Junior. Preston Tucker kam mit Abe im Schlepptau auf sie zu. Tucker war von der Vorstellung, in dieser Fabrik Autos zu bauen, begeistert. Er war so besessen von dieser Vorstellung, daß er einige der Hindernisse auf dem Weg dahin übersah. »Es ist fantastisch! In dieser Fabrik können wir alles bauen, wovon ich immer geträumt habe, Familienwagen, Sportwagen, Rennwagen, Cabriolets, Lastwagen und selbst Flugzeuge.« Bloß keine Flugzeuge, dachte Abe. »Wir müssen nur mit der Regierung reden, daß man uns die Anlage überläßt.« »Haben Sie mit denen schon gesprochen? Was haben die gesagt?« Abe nickte. »Ja. Wir haben mit der War Assets Administration in Washington einen Termin.« »Wann?« »Montag um drei Uhr.« Tucker schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gut. Wir sollten irgendwohin mit denen zum Lunch gehen.« Abe schüttelte überdrüssig den Kopf. »Wissen Sie eigentlich, was ich angestellt habe, nur um diesen Termin zu bekommen?« Er warf Vera einen Blick zu, als wollte er ihr
sagen: Kann dieser Kerl nicht ein einziges Mal vernünftig sein? »Zum Lunch«, wiederholte Tucker. »Mit Roastbeef. Blutig. Sehr blutig.« »Mit Roastbeef«, murmelte Abe. »Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Das ändert natürlich die Sachlage vollkommen.« Ob das Roastbeef nun die Sachlage entscheidend veränderte oder nicht, einen nachhaltigen Eindruck hinterließ es allemal. Abe hatte zwar kein Essen in einem Restaurant arrangieren können, aber es war ihm gelungen, die Bosse der War Assets Administration während der Mittagszeit in den Sitzungssaal zu bekommen. Tucker ließ fast rohes Roastbeef auffahren. Es wurde gereicht, während er seine Rede hielt, die von einer Reihe Dias, die er in den letzten Jahren gesammelt hatte, unterstützt wurde. Abe mochte Roastbeef, aber das Fleisch, das der philippinische Chefkoch vom Bratenstück tranchierte, war so roh, daß es noch lebendig schien. Tuckers Anweisungen gemäß lud der Chefkoch jeden Teller mit dem blutigen Fleisch voll. Abe lehnte seine Portion wohlweislich ab, und die anderen Männer wären seinem Beispiel gerne gefolgt, aber das Fleisch war bereits serviert worden, ehe sie bemerkt hatten, daß es fast roh war. Es gab kein Zurück mehr, und einige verdrückten voller Todesverachtung ein paar Happen. Tucker tat so, als bemerke er ihr Unbehagen nicht. Das erste Dia, das er zeigte, hatte Alex Tremulis aufgenommen. Auf ihm waren die Kotflügel zu sehen, die sich bei dem TuckerTorpedo mit der Lenkbewegung der Vorderachse mitbewegten, und der mittlere Frontscheinwerfer, der der Fahrtrichtung des Wagens folgte.
Oscar Beasley, der verantwortliche Mann, der Mann, den sie überzeugen mußten, falls sie die Fabrik bekommen wollten, stocherte in seinem Essen herum und blickte ab und an zu Tucker und dessen Dias auf. Abe konnte sehen, daß Beasley weder am Essen noch an dem Auto sonderlich interessiert war. »Alle 25 Sekunden wird jemand durch einen Autounfall getötet oder zum Krüppel gemacht. Sechzig Prozent aller nächtlichen Unfälle passieren in Kurven, weil es für zirka zwei Sekunden ein totes Blickfeld gibt, nämlich zwischen der Zeit der Drehung der Räder und der Zeit, in der die Scheinwerfer in Fahrtrichtung zeigen…« Abe sah, wie am anderen Ende des Tisches einer der hohen Herrn gähnte. »Wenn die Räder des Tuckers gelenkt werden«, fuhr Tucker fort, »drehen sich Kotflügel und Scheinwerfer mit, also weiß man, wohin man fährt, bevor man dort ist.« Tucker drückte auf einen Knopf, und das Dia wurde gewechselt. Die um den Tisch versammelten Männer wurden blaß. Abe schüttelte den Kopf. Er wußte, worauf er und Tucker zusteuerten – sie steuerten schnurstracks auf die Gosse zu, und dort gab es weder ein totes Blickfeld noch eine Zwei-Sekunden-Verzögerung. Das Dia war schockierend; es war von einem Polizeifotografen aufgenommen worden und hatte den sachlichen und unbarmherzigen Charakter eines Archivfotos. Es war von einem Unfall auf einer dunklen Landstraße – zwei ineinander verkeilte Autowracks auf einer regennassen Schotterstraße und überall verstreute Glassplitter. Ein paar entsetzt blickende Polizisten standen an der Unfallstelle. In der Mitte lag der leblose Körper einer Frau. Ihr Alter konnte man unmöglich schätzen; ihr Gesicht war grausam zerfleischt. Blut hatte die Bluse durchtränkt und war auf die Straße geflossen. Den Männern, die Roastbeef gegessen hatten, drehte sich der Magen um. Einer von ihnen schob den blutigen Teller beiseite.
»Diese Frau wurde durch die Windschutzscheibe ihres Autos geschleudert«, sagte Tucker. Warum nur? dachte Abe. Warum tut er sich das an? Und warum tut er mir das an? Tucker drückte auf den Knopf, und ein neues Dia erschien auf der Leinwand – ein weiterer blutiger Unfall. Dieses Mal war ein Mann durch die Windschutzscheibe geflogen, auch dessen Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der philippinische Chefkoch ging mit einer dampfenden Platte Fleisch von Teller zu Teller. Etliche der versammelten Geschäftsleute rückten ihre Stühle zurück und verließen den Raum. Beasley kam es so vor, als ob um ihn herum nichts als blutiges, rohes Fleisch war. Er mochte nicht auf seinen Teller schauen, nicht auf den Mann an der anderen Seite des Tisches oder auf das Dia auf der Leinwand. Er stierte an die Decke. Als er hörte, daß das Bild gewechselt wurde, traute er sich wieder auf die Leinwand zu sehen. Das Dia zeigte eine kunstvolle Abbildung des eleganten Tucker-Torpedos. Gegen dieses Foto hatte er nichts einzuwenden. »Bei einem Tucker fällt die Windschutzscheibe heraus. Und um sicherzugehen, daß niemandem das Gesicht zerschnitten wird, benutzen wir splitterfreies Glas und Gurte, an denen sich Fahrer und Mitfahrer festschnallen.« Tucker stützte sich auf dem Tisch ab und sah seine Zuhörer an. »Und warum ist den großen Drei in Detroit erlaubt worden, Milliarden von Dollars zu verdienen, ohne auch nur einen Cent für die Sicherheit ausgeben zu müssen?« Erneut wurde das Dia gewechselt, und ein anderer schrecklicher Unfall erschien auf der Leinwand. Ein Wagen, der früher vielleicht einmal ein Packard Clipper gewesen sein mochte, war gegen etwas gekracht – eventuell einen Baum – und war, als wäre er aus Preßpappe gebaut, wie eine
Ziehharmonika zusammengedrückt worden. Mitten in dieser Blechmasse war ein Körper eingequetscht, ein Mann, dessen Kopf zu einer Seite baumelte. Blut lief aus einer klaffenden Wunde in der Stirn. »Wie Sie und ich wissen«, donnerte Tucker los, »und wie auch die Öffentlichkeit weiß, scheren sich diese Leute einen Teufel um die Sicherheit der Menschen. Sie kümmern sich nur um eins – den Profit…« Abe wünschte sich, Tucker würde nicht so reden, als ob Profit etwas Anrüchiges sei. Am Tisch saßen ausschließlich Geschäftsmänner. Geschäftsmänner liebten Profite; auch Abe hatte eine ausgesprochene Schwäche für sie. »Nun, lassen Sie mich Ihnen noch folgendes erklären, und ich meine es aus tiefstem Herzen«, fuhr Tucker wie ein Staatsanwalt fort. »Die ganze Autoindustrie Amerikas verhält sich schuldhaft fahrlässig, und wenn ich zu entscheiden hätte, so ist sie der fahrlässigen Tötung überführt und schuldig zu sprechen.« Tucker schien sich langsam zu beruhigen, und er schaltete den Diaprojektor aus. »Gentlemen, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und die Zeit, die Sie mir geopfert haben.« Außer Beasley beeilten sich die übriggebliebenen Mitglieder des Aufsichtsrats der War Assets Administration, aus dem Zimmer zu kommen. Einige von ihnen sahen deutlich grün im Gesicht aus und konnten vor Roastbeef und Blut gar nicht schnell genug die Flucht ergreifen. Beasley rückte sich die Krawatte zurecht und erhob sich. »Ich hoffe, Mr. Tucker, Sie können mich morgen in meinem Büro aufsuchen. Sagen wir gegen drei?« »Ja, sicher. Ich…« Beasley nickte. »Gut, wir sehen uns dann.« Er ging gefaßt auf die Tür zu und ließ sich nichts von seinem Brechreiz anmerken.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Abe. »Die hassen Sie jetzt wie die Pest, und ich auch. Wie konnte ich nur zulassen, daß Sie mich mit Ihrem Gerede so in die Scheiße reiten…?« Er sackte auf seinem Stuhl zusammen. »Das beweist nur, wie wenig Sie davon verstehen«, stellte Tucker freudig fest. »Haben Sie denn nicht gerade gehört, daß Beasley gesagt hat, er wolle mich morgen sehen? Es hat ihnen gefallen! Würden die uns wiedersehen wollen, wenn es ihnen nicht gefallen hätte?« Abe winkte ab. »Wollen Sie Haarspalterei treiben? Das hier ist Washington.« »Aber warum würden die uns dann…?« »Das ist Politik!« brüllte Abe. »Die wollen uns in die Pfanne hauen. Glauben Sie mir, wir haben keine Chance.« »Wir werden ja sehen, Abe«, sagte Tucker. »Wir werden ja sehen.« Als Tucker an diesem Abend Vera von seinem Hotelzimmer aus anrief, gab er sich redlich Mühe, zuversichtlich zu klingen. »Ich hatte sie soweit, daß sie mir aus der Hand fraßen. Als ich fertig war, hätte ich ganz Kalifornien verlangen können und hätte noch Arkansas obendrein bekommen.« Vera verzagte. »Oh, Liebling, das tut mir leid«, flüsterte sie in den Hörer. Tuckers Zuversicht schwand. »Es ist noch nicht alles verloren – noch nicht ganz. Wir haben morgen ein weiteres Treffen.« Auch Vera hatte schlechte Neuigkeiten. Um mit der Produktion beginnen zu können, war sie in der Hoffnung auf einen Kredit zu einer örtlichen Bank gegangen. Ihr Gesuch war rundweg abgewiesen worden. Sie hatte sich vorgenommen, alles ihrem Mann zu erzählen, entschied sich aber nun doch dagegen. Es gab nur eine gewisse Menge an schlechten Nachrichten, die ein Mensch auf einmal verkraften konnte.
»Glaubt Abe, daß wir noch eine Chance haben?« »Was weiß der schon? Hast du den Kredit bekommen?« Warum, fragte sie sich, mußte er das ausgerechnet jetzt zur Sprache bringen? »Sie beraten darüber und wollen es noch einmal überdenken.« »Du bist ein noch schlechterer Lügner als ich«, sagte Tucker. »Nein, das bin ich nicht. Niemand lügt so schlecht wie du. Woher wußtest du, daß wir abgewiesen worden sind?« »Die Telefonverbindung ist gut genug, um Jimmy in seinen höchsten Stimmlagen singen zu hören.« Sobald Jimmy Sakuyama eine schlechte Nachricht erhielt, kletterte er immer mit einer Flasche Calvert-Roggenwhisky auf das Scheunendach. Wenn er die Hälfte ausgetrunken hatte, begann er, sein japanisches Lieblingslied zu singen. »Ja, Jimmy ist mal wieder auf dem Dach«, bestätigte Vera. »Und singt immer wieder das gleiche Lied.« »Oh, da kenne ich noch jemanden«, sagte Vera. Das Treffen in Beasleys Büro war kurz, und man kam sofort zur Sache. Als sie beide eintrafen, war Abe sich sicher, es würde so schlecht verlaufen, wie er es erwartet hatte, und Beasley, dieser kleine Bürokrat, stand nicht einmal hinter seinem Schreibtisch auf. Tatsächlich blickte er nicht einmal von den Formularen auf, die er durchblätterte, und ließ Abe und Tucker wie zwei Jungen im Zimmer des Schuldirektors warten, während er weiterschrieb. Schließlich sah er von seinem Papierkram auf. »Mr. Tucker«, begann er mit seiner trockenen Stimme, »kurz – das Komitee hat dafür gestimmt, Ihnen das Fabrikgelände in Chicago zu übergeben.« Das muß ein übler Scherz sein, dachte Abe. Tucker strahlte über das ganze Gesicht.
»Wie auch immer«, fuhr Beasley fort, »daß die Fabrik Ihnen gehört, schreibt vor, daß Sie ein Jahr nach Inbesitznahme wenigstens fünfzig Autos produziert haben müssen. Ist das in Ihrem Sinn?« Tucker war im siebten Himmel. Beasley hätte von ihm verlangen können, ein Raketenschiff zu bauen, und er hätte zugesagt. »Ja. Sicher. Ausgezeichnet.« Beasley nickte und reichte ihm die Hand. »Morgen nachmittag um fünf sind die Unterlagen soweit zur Unterschrift bereit.« Er gab jedem die Hand, machte sich dann wieder an die Büroarbeit und gab so zu verstehen, daß der Termin nun für ihn vorbei war. Wie Reporter, die noch rechtzeitig eine heiße Story abliefern wollen, rannten Abe und Tucker in die nächsten Telefonzellen in der Empfangshalle der War Assets Administration. Tucker wollte Vera die gute Nachricht übermitteln. Abe wollte ein paar Leute, die er kannte, anrufen und herausfinden, was, zum Teufel, da ablief – wo der Haken war. Abe bekam als erster einen Anschluß. Er erläuterte schnell, was geschehen war, und hörte dann eine Weile aufmerksam zu. Tucker wartete in der Telefonzelle nebenan, während ihm die Telefonistin die Verbindung nach Michigan herstellte. Abe hielt die Sprechmuschel zu und lehnte sich zu Tuckers Zelle hinüber. »Tucker, die Automobilarbeiter-Gewerkschaft hat Roosevelt gesagt, daß er die Fabrik lieber einem der Autohersteller – und nur einem Autohersteller – überläßt, wenn er die Stimmen der Arbeiter bei der nächsten Wahl haben will. Also kam der Machtspruch aus dem Weißen Haus. Ich bin heilfroh, daß Franklin und Eleanor das Roastbeef nicht essen mußten.« »Roosevelt? Und warum ich? Warum nicht Ford oder General Motors… oder warum nicht einer der großen Drei?« »Sie wollen die Fabrik nicht. Die ist ihnen zu groß.«
»Wie kann jemand eine solche Fabrik nicht wollen?« »Alle wollen diese Fabrik, aber ob Sie es mir glauben oder nicht, Sie sind der einzige Verrückte in diesem Land, der dämlich genug ist, dort Autos bauen zu wollen.« Abe ging wieder ans Telefon. Tucker hörte, wie die Telefonistin seine Verbindung herstellte. Abe wählte hektisch eine neue Nummer. »Bist du’s, Schatz?« fragte Tucker, als er Veras Stimme hörte. »Ja?« Abe sagte etwas. »Wart ‘ne Minute, Frank. Ich werde ihn fragen.« Er lehnte sich aus der Telefonzelle und rief: »Hey, Tucker! Wie schnell können Sie eines Ihrer Autos in New York haben? Montag? Dienstag? Ich hab’ hier den besten Presseagenten, den es in dieser Branche gibt, am Hörer, und um den Aktienverkauf anzukurbeln, will er den Wagen vor der Börse auf der Straße enthüllen. Er hat eine Tanztruppe mit hundert Mädchen an der Hand, die Rockettes… genug Rummel, jeden Investoren auf die Knie zu zwingen und ihn um Anteile winseln zu lassen.« Abe hörte sich plötzlich selbst sprechen und bemerkte, daß er schon wie Tucker redete. Etwas im Unterbewußtsein sagte ihm, daß das gefährlich werden könnte. »Hör zu, Schatz«, sagte Tucker hastig. »Ich muß dich später noch einmal anrufen. Aber wir haben sie; die größte Fabrik auf dieser gottverdammten Welt – und wir haben sie.« Er hängte auf und wandte sich an Abe: »Alles, was wir brauchen, sind also fünfzehn Millionen Dollar und ein Auto.« Abe machte ein langes Gesicht. »Wir brauchen ein Auto?« »Lassen Sie uns irgendwo etwas trinken.« »Haben wir ein Auto oder nicht?« »Das ist nicht die Frage von…«
»Ich werde dich zurückrufen«, brüllte Abe in den Hörer. Am anderen Ende war Frank, der Presseagent. »Gibt es noch etwas, das Sie mir erzählen wollen, Tucker?« Tucker zuckte die Achseln. »Ich habe kein Auto und keinen…« »Und keinen was?« unterbrach ihn Abe entsetzt. »Und ich habe keinen Cent, um eins zu bauen.«
3 Wochenschau Auf der Leinwand war das Weiße Haus zu sehen, und der Untertitel lautete: ›Größte Fabrik der Welt an unbekannten Automobilhersteller vergeben.‹ »Den Sieg vor Augen«, sagte der Erzähler gewichtig, »plant Franklin D. Roosevelt, die Industriegiganten auszuklammern und alle überschüssigen Industrieanlagen an kleine, unabhängige Firmen zu übergeben.« Eine von ihnen war die Tucker Motor Company, eine Firma, die so klein war, daß sie nicht einmal ein einziges Auto besaß. Auf der Leinwand war das Büro des Präsidenten zu sehen. Der müde und ausgelaugt wirkende Roosevelt saß hinter dem Schreibtisch. Tucker stand neben ihm, und er sah aus, als ob er sich nicht ganz im klaren darüber war, wo er sich eigentlich befand. Der Präsident blickte in die Kamera und sprach in dem der ganzen Nation wohlbekannten, stark patriotischen Tonfall: »Die größten Unternehmen dieses Landes wurden von unbekannten Männern aufgebaut, die nichts als ihren Traum als Startkapital besaßen.« Abe, der hinter den Kameras stand, fragte sich, woher Roosevelt wissen konnte, daß sie absolut nichts besaßen – keinen Cent, kein Auto. »Ein Traum«, sagte Roosevelt. »Der amerikanische Traum. Wettbewerb ist das Rückgrat der freien Wirtschaft, und ich habe die große Ehre, aus dem Heer der amerikanischen Träumer Mr. Preston Tucker zu begrüßen – einen Mann, der seinen Traum verwirklichen wird.«
Tucker schüttelte die Hand des Präsidenten, Blitzlichter flackerten auf, jemand rief »Schnitt«, und die Szene war im Kasten. Es war ein recht eindrucksvolles Händeschütteln mit dem Präsidenten, aber die Frage blieb offen, wie man ein Auto ohne einen Cent in der Tasche bauen sollte. Als Tucker und Abe schließlich wieder in Michigan waren, nahm Abe allen Mut zusammen, Tucker zu fragen, wieviel Geld er brauchen würde, um anfangen zu können. Tucker reagierte ungewöhnlich gereizt. »Fünfzigtausend Dollar?« wiederholte Abe entgeistert. »Fünfzigtausend amerikanische Dollar für ein einziges Auto?« Alle Mitglieder der Familie sowie Jimmy und Abe hatten sich im Arbeitszimmer versammelt. Tucker blickte seine Ingenieure unmißverständlich an, damit sie ihm den Rücken stärkten. »Abe, denken Sie daran, daß ein Prototyp von Hand gebaut werden muß.« »Wieviel brauchen Sie, um anfangen zu können?« Abe fragte sich, warum er die Frage überhaupt wiederholt stellte. Er kam sich selbst langsam albern vor. »Fünfzigtausend wären gut«, sagte Tucker. »Vergessen Sie die fünfzigtausend.« Tucker kratzte sich am Kinn. »Wieviel meint ihr, Eddie, Vera, Jimmy?« »Um anzufangen?« fragte Eddie. »Ich würde sagen, zehntausend Dollar«, sagte Vera. Abe holte sein Scheckheft heraus und begann zu schreiben. »Ich gebe Ihnen sechs. Und wenn sich herausstellt, daß Sie recht behalten sollten, können wir bereits jetzt einige Händlerlizenzen verkaufen, was, aufrichtig gesagt, für mich verrückt klingt. Warum sollte jemand für ein Auto, das es noch gar nicht gibt, tatsächlich Geld rausrücken?« Er unterbrach und
kratzte sich kurz nachdenklich an der Nase. »Ich sitze hier, unterschreibe einen Scheck mit meiner eigenen Handschrift und nenne andere Leute verrückt…« Er riß den Scheck aus dem Heft und händigte ihn Tucker aus. »Noch eins – wir brauchen das Auto spätestens in sechzig Tagen. Spätestens. Ohne Wenn und Aber. Oder gibt es dabei Probleme?« »Probleme?« brüllte Eddie. »Das ist unmöglich!« Selbst Tucker war von diesem Ultimatum entsetzt. »Sechzig Tage?« »Oder gar nicht«, sagte Abe betrübt. »Wieso?« »Weil wir bis jetzt noch nicht genügend Aktien verkauft haben, um auch nur einen toten Hering einkaufen zu können.« »Aber was ist mit den vielen Briefen und der ganzen Begeisterung?« warf Vera ein. »Es gibt Leute, die kaufen Autos, und es gibt Leute, die kaufen Aktien. Große Kapitalanleger werden uns ohne Auto nicht einmal registrieren.« Abe hielt inne und holte tief Luft. »Moment noch«, sagte Tucker. »Wir verkaufen kein Sumpfland in Florida. Wir haben hier ein Auto, das seiner Zeit fünfzig Jahre voraus ist.« »Und was heißt das? Wer sollte davon wissen, solange es nicht in der Öffentlichkeit gezeigt wird? Selbst nachdem alle das Auto gesehen haben, müssen Sie denen noch sagen, was sie da eigentlich gesehen haben.« Noble Tucker dachte, daß die Öffentlichkeit ziemlich schwer von Begriff sein mußte. »Warum sechzig Tage?« »In sechzig Tagen, das heißt am 1. Juni, übernehmen wir die Fabrik«, erklärte Abe geduldig. »Und an diesem Tag – und keinen Tag später – wird das geheimnisvolle Auto, das Auto des Jahrhunderts, präsentiert. Und so wie Frank, dieser Presseagent, arbeitet, wird die ganze Welt bis dahin vor
Neugierde platzen. Und wenn Petrus höchstpersönlich mit fünf steptanzenden Engeln vom Himmel schweben und gleichzeitig ›The Star-Spangled Banner‹ singen wird, so wird er nicht die Hälfte der Publicity bekommen, wie Frank sie für uns machen wird.« Unwillkürlich kratzte sich Abe mit den Fingern an der Nase. Während die Tucker-Familie erst einmal schlucken mußte, was Abe gesagt hatte, herrschte allgemeines Schweigen. »Hat niemand von Ihnen etwas dazu zu sagen?« fragte schließlich Abe. Noble meldete sich zu Wort. »Wieso machen Sie das immer mit Ihrer Nase?« »Noble!« rief Vera entsetzt. »Was soll mit meiner Nase sein?« fragte Abe und sah den Jungen verdutzt an. Noble kratzte sich mit den Fingern an der Nase und ahmte Abes nervöse Angewohnheit perfekt nach. Vera mußte sich umdrehen, um nicht laut loszulachen. »So? Mache ich das?« fragte Abe mißtrauisch. Der Junge versuchte, ihn wie einen Trottel aussehen zu lassen. »Ja«, sagte Noble. »Und ich hab’ überlegt, warum Sie immer…« »Okay!« mischte sich Vera ein und klatschte in die Hände. »Und jetzt ab nach oben in die Tretmühle.« »Ach, Mom«, beschwerte sich Marilee. Sie war offiziell zur Stenotypistin der Firma ernannt worden, ein Job, den sie haßte. »Wir müssen alle dafür arbeiten«, sagte Vera streng und wandte sich an Abe: »Ich habe eine Liste von den Leuten gemacht, die Händleranfragen gestellt haben. Marilee wird Ihnen eine Liste und eine Reiseroute zusammenstellen – zusätzlich die Telefonnummern, die Hotels in jeder Stadt und einen Zug-Fahrplan. Alles ganz minuziös.«
»Mache ich das wirklich mit meiner Nase?« fragte Abe. Eddie gefiel überhaupt nicht, was da gespielt wurde. Abe ging draußen mit Vera seine Reise durch, und so waren nur noch die Automechaniker im Zimmer. Eddie schüttelte den Kopf und sah Tucker, Jimmy, Junior und Alex der Reihe nach an. »Sechzig Tage? Das ist unmöglich.« Jimmy lachte nur und fragte sich, wieviel CalvertRoggenwhisky er noch übriggelassen hatte. »Wir haben keine Formgußstücke, keine Vorlagen – gar nichts.« Auch Alex Tremulis war niedergeschlagen. Man konnte in der Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, kein Auto bauen – jedenfalls kein gutes Auto. »Ford braucht neun Monate vom Zeichenbrett bis zum Prototyp.« Tucker hatte eine Idee. »Ruf alle Boxenmechaniker von Indianapolis an, die wir kennen, und hol sie bis morgen hierher…« »Alle?« hakte Eddie nach. »So viele, wie du erreichen kannst.« »Du bist der Boß, Preston«, sagte Eddie und fragte sich, womit Preston diese Leute bezahlen wollte. »Alex, setz dich sofort in Bewegung, kauf die Tonerde, und fang mit dem Modell an. Jimmy…?« »Ja?« »Haben wir noch genügend Stahl von den Geschütztürmen übrig?« »Geht so.« »Jeder Tag hat vierundzwanzig Stunden. Kann mir jemand dabei in die Augen sehen, wenn er sagt: Wir schaffen das nicht?« Eddie verzog keine Miene und schaute Tucker unnachgiebig in die Augen. »Wir schaffen das nicht.« »Noch jemand – außer dir?«
»Das hab’ ich befürchtet«, murmelte Eddie. »Komm, Jimmy, wir müssen ein Auto bauen.« »Ich auch«, sagte Tucker und ging auf die Tür zu. »Dad«, rief ihm Junior hinterher, »ich habe beschlossen, nicht auf die…« Aber sein Vater war bereits nach draußen gegangen und marschierte auf die Scheune zu, um seinen Traum zu verwirklichen. Abe reiste noch am selben Nachmittag ab, und der Rest der Familie arbeitete bis nach Mitternacht. Tucker und Vera kamen nicht vor ein Uhr morgens ins Bett. Tucker hockte auf der Bettkante und sah sich einige Broschüren an, die Abe von New York mitgebracht hatte. Vera war im Badezimmer und kämmte sich die Haare. Tucker mußte zugeben, daß der Prospekt ausgezeichnet gelungen war. In ihm war ein formelles Porträt von Bennington, der erfolgreich von der Plymouth-Abteilung des Chrysler-Dodge-Werks abgeworben worden war, sowie eine atemberaubende Geschichte über den Tucker und daß das Auto das Ergebnis fünfzehn Jahre langer Entwicklungsarbeit war. Diese fünfzehn Jahre wurden in dem Satz, ›Bereits heute das Auto der Zukunft‹, zusammengefaßt. Tucker war zwar von dem Auto begeistert, aber was Bennington anging, war er sich nicht sicher. »Hast du die Prospekte gesehen, die Abe mitgebracht hat?« »Ich möchte mit dir darüber reden«, rief Vera aus dem Badezimmer zurück. »Das ist irgendein Verwaltungsrat, den man für uns ausgesucht hat.« Er hielt sich Benningtons Bild direkt vor die Nase. »Ich kann nicht sagen, ob Bennington ein Unternehmer oder eine dieser Leichen ist, die er selbst einzubalsamieren hat.« Bennington sah tatsächlich fast wie Calvin Coolidge aus.
»Was ist mit diesen fünfzehn Jahren Testphase?« fragte Vera, als sie ins Schlafzimmer kam. Für ein Auto, das nicht existierte und das es wahrscheinlich auch nicht in den nächsten zwei Monaten geben würde, war das eine erschreckend lange Entwicklungsphase. »Ich habe über dieses Auto weit länger als fünfzehn Jahre nachgedacht.« Vera ging wieder ins Badezimmer. »Über ihn nachzudenken heißt nicht, ihn getestet zu haben.« »Das ist eben Werbung!« rief Tucker. »Man muß es ja nicht glauben. Aber wenn man Bonbons verkaufen will, wofür wirbt man dann? Für schlechte Zähne?« Tucker betrachtete sich im Spiegel der Frisierkommode. Er lächelte sich zu und übte ein hinterhältiges, verschmitztes Lächeln. Er meinte, daß er dabei gut aussehen würde. Vera tauchte hinter ihm im Spiegel auf. Er behielt das Grinsen bei und drehte sich zu ihr um. »Du hast mich ertappt, stimmt’s?« »Du hast dieses hämische Grinsen von Clark Gable abgeguckt, stimmt’s?« »Abgeguckt? Ich? Das ist von mir.« Vera lachte. »Tucker, ich habe dich tausendmal beim Üben beobachtet, wenn du dachtest, ich würde nicht hinsehen.« Tucker lächelte über das ganze Gesicht. »Und jetzt dieses Lächeln…«, sagte Vera, »dieser Mann ist mein Untergang. So bist du nun einmal; ein Kanarienvogel, der die Katze verschlingt.« Sie legte seinen Kopf in ihre Hände und küßte ihn leidenschaftlich. Er zog sich von ihr zurück und rang nach Atem. »Hat dich dieses Lächeln dazu getrieben?« »Jedesmal.« »Gibt es noch etwas anderes, wozu dich dieses Lächeln treibt?«
»Mhm«, murmelte Vera. Sie huschte ins Bett und zog ihren Mann hinter sich her. Die Prospekte flatterten auf den Boden; Aufsichtsratsvorsitzender Bennington fiel samt strengem Blick mit dem Gesicht auf den Fußboden. Niemand hatte behauptet, daß es leicht werden würde, aber niemand, selbst Abe nicht, hatte erwartet, daß sie nicht einmal hätten beginnen können. Ein anerkennendes Schulterklopfen von Franklin Roosevelt und eine Drohung der Automobilarbeiter-Gewerkschaft reichten eben nicht aus, die Detroiter Autoindustriellen im Zaum zu halten. Die wollten keinen Tucker-Torpedo, und sie taten alles, was in ihrer gewaltigen Macht stand, damit Preston Tuckers Auto ein Entwurf auf dem Zeichenbrett bleiben würde. Die Wahrheit war, daß Detroit das Auto fürchtete, das in der Scheune der Tucker-Familie Gestalt annehmen könnte. Wenn Tucker der autokaufenden Bevölkerung erzählte, daß sie ein Auto mit Sicherheitsgurten bekommen könnte, wären andere Autohersteller gezwungen, Sicherheitsgurte in ihre Modelle einzubauen. Wenn man einen Tucker mit Verbundglas kaufen könnte, müßte Detroit nachziehen – und das würde bedeuten, umrüsten, umkonstruieren und die Werbung neu organisieren zu müssen. Und das wiederum bedeutete Geld. Die Amerikaner waren seit Jahren mit den Autos, die sie gekauft hatten, zufrieden, und die Autohersteller waren ihrerseits mit dem Gewinn zufrieden. Sie hegten nicht die geringste Absicht, Preston Tucker aus Ypsilanti, Michigan, in ihren ureigensten Angelegenheiten herumpfuschen zu lassen. Als erster stellte Alex Tremulis fest, daß man ihnen Schwierigkeiten machte: Um das Modell eines Autos herzustellen, benötigt man viel Tonerde. Konstrukteure wie Alex stellen ein Modell in natürlicher Größe aus grauer
Knetmasse her, formen und tüfteln solange daran herum, bis es die gewünschte Form hat. Alex mußte feststellen, daß er merkwürdigerweise bei keiner der Automobil-Zuliefererfirmen in Detroit Tonerde bekommen konnte. Kaum hörten sie, daß sie die Lieferung an Tucker schicken sollten, war die Ware nicht mehr auf Lager. Eddie bekam nirgends Stahl und Jimmy keine Gußformen, um Autoteile herstellen zu können, an die sonst kein Mensch gedacht hätte: wichtige Teile wie Reduzierstücke, Spannhülsen, Kugellager und natürlich Drehmomentwandler. Tucker, der eigentlich kaum aus der Ruhe zu bringen war, wurde wütend. Der allmählich Gestalt annehmende Verwaltungsrat der Firma, seiner Firma, traf sich in Floyd Cerfs Büro in Chicago. Cerf und Abe schauten mißmutig drein. Bennington wirkte, als ließe ihn die Sache völlig kalt – eine gewisse Geringschätzung für Tucker und eine verärgerte Reaktion über die neuen Firmenprobleme konnte er allerdings nicht verbergen. »Man legt uns die Schlinge um den Hals«, polterte Tucker los. »Wer ist man?« fragte Bennington, als wüßte er es nicht. »Detroit. Wir bekommen keine Tonerde, wir bekommen gar nichts. Keinen Stahl. Mit dem Wenigen, was wir haben, können wir nicht einmal einen Kinderwagen bauen.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Bennington und schien dabei gelangweilt. »Wie soll man in dieses Geschäft einsteigen, wenn die großen Drei versuchen, einen gar nicht erst hineinzulassen? Ich habe beschlossen, mich gleich an die höchsten Stellen zu wenden. Ich habe einen Termin mit Ferguson abgemacht. Ich will die Geschichte ein für allemal vom Tisch haben und mit ihm von Angesicht zu Angesicht sprechen.« »Senator Ferguson?« fragte Bennington.
»Richtig.« »Hören Sie…«, begann Abe. Er glaubte nicht, daß ein Treffen mit Senator Ferguson die Lösung der Probleme sein würde. »Sie hören mir jetzt zu«, fuhr Tucker dazwischen. »Wenn man Ärger bekommt, muß man ihn sofort im Keim ersticken.« Tucker schlug mit der Faust auf den Tisch. Cerf zuckte zusammen. »Und was glauben Sie, damit zu erreichen? Glauben Sie, ein freundliches Lächeln und ein Schulterklopfen werden ihn vergessen lassen, woher er kommt?« Ferguson war ein einflußreicher Senator aus Michigan. Er hatte sich den großen Drei verschrieben, so daß er manchmal auch der ›Senator von Detroit‹ genannt wurde. »Vergessen Sie nicht, daß wir in Chicago Autos bauen. Was interessieren Ferguson die Wähler in Illinois? Er wird sich nur um seine eigenen Leute kümmern.« »Nun, ich wohne nicht in Chicago«, konterte Tucker. »Ich bin zufällig aus Michigan und einer seiner Wähler – auch wenn ich ihn nicht gewählt habe.« »Dann wünsche ich Ihnen ein erfolgversprechendes Gespräch mit Ihrem Senator…« »Wenn das Gespräch nicht erfolgreich verläuft, werde ich ihm das Genick brechen.« Tucker schlug wieder mit der Faust auf den Tisch. Dieses Mal zuckte Abe zusammen. Tucker mochte sich ruhig in die Angelegenheiten des Senators einmischen, aber taktisch würde es kein guter Schritt sein. »Ich begleite Sie lieber«, entschied Abe. »Ich denke, das ist eine gute Idee«, stimmte ihm Cerf zu. Senator Ferguson ließ sie so lange warten, daß Abe noch genügend Zeit hatte, sich alle Auszeichnungen anzusehen, die
dieser Gesetzgeber in seiner politischen Laufbahn erhalten hatte. Die Wände waren voll davon, und Abe las: Kiwanis, Boys Clubs, Order of the White Eagle, Sons of Italy, Gold Star Mothers, Veterans of Foreign Wars… es müssen an die hundert gewesen sein. Die Auszeichnung, die ihm sofort ins Auge fiel, war von der Detroiter AutomobilherstellerVereinigung – der Club, dem man nur beitreten konnte, wenn man Ford, Sloane oder Chrysler hieß. Einer der einflußreichsten Interessenverbände Detroits war nicht repräsentiert: die Automobilarbeiter-Gewerkschaft. Kurz darauf begrüßte Homer Ferguson beide mit Handschlag und fragte nach der Schreibweise von Abes Nachnamen, als ob er sich an ihn erinnerte. Tucker schoß los, wie eines seiner immer noch nicht gebauten Autos. »Lassen Sie uns gleich auf den Punkt kommen. Ich weiß, daß Sie einer der einflußreichsten Männer in Washington sind. Und ich weiß auch, daß Ihr Hauptanliegen darin besteht, die großen Drei zu…« Ferguson setzte seine Drahtgestell-Brille auf, die gleiche, die Harry Truman zu tragen pflegte, und musterte Abe. »Abe Karatz, richtig?« Abe fühlte sich unwohl – Ferguson tat so, als ob er ihn schon einmal gesehen hätte. Obwohl er sich geschworen hatte, es nie wieder zu tun, kratzte sich Abe an der Nase. »Das ist richtig, Senator.« Tucker machte einen neuen Anlauf. »Ich weiß, daß Sie der Repräsentant der großen Drei in Washington sind, und ich…« Ein Mann streckte seinen Kopf durch die Tür. »Der Wagen steht bereit, Senator.« Ferguson seufzte. »Tja, Gentlemen, gerade, wo es interessant zu werden schien…«, sagte er, als ob Tucker und Abe seit Stunden bei ihm gewesen wären und ihn die ganze Zeit mit
Statistiken gelangweilt hätten. Dabei waren sie noch keine Minute in seinem Büro gewesen. »Es tut mir leid, Gentlemen. Ich muß leider gehen. Es ist bei mir einiges dazwischengekommen, seit wir dieses Treffen abgemacht haben.« Er warf den beiden dieses besorgte, um Wähler heischende, altväterliche Lächeln zu. »Ich kann leider nichts daran ändern.« Er erhob sich aus seinem Sessel. Eine Sekretärin drapierte einen Mantel über seine Schultern, während ihm eine andere einen Hut aufsetzte. »Senator…«, hakte Tucker nach. Ferguson umfaßte Tuckers Arm. »Ihr beiden könnt mich zum Auto begleiten.« Der Senator ging auf die Tür zu und eilte mit einer seiner Sekretärinnen an der Seite den langen Flur entlang. »Senator, vergessen Sie nicht den Termin um vier Uhr«, sagte sie hastig. »Gut.« »Senator…« Tucker gab niemals auf, aber die Sekretärin übertraf ihn noch. »Und, Senator, vergessen Sie nicht, sich die Unterlagen anzusehen, die wir für das Gespräch in…« »Ich sehe sie mir im Flugzeug an.« »Senator…« Dieses Mal wurde sie von Ferguson unterbrochen. »Und Sie sind dieser Tucker, wie? Die Burschen vom War Assets Department haben Ihnen da einen Bärendienst erwiesen…« »Jetzt hören Sie mir bitte zu…« Aber der Senator hörte nicht zu. Er winkte einem Mann zu, der ihnen entgegenkam. »Bobby! Danke für die Karten.« Bobby lachte. »Keine Ursache, Senator.« »Mögen Sie Jack Benny, Tucker?« Tucker hatte in diesem Moment überhaupt keine Meinung zu Jack Benny. »Hören Sie, Senator…«
»Er ist mein Lieblingskomiker.« Der Senator grinste, als ob er sich an einen Witz oder Sketch von Jack Benny und Rochester erinnerte. Er blieb am Treppenabsatz stehen und stellte Tucker eine Frage. »Wer ist Ihr Lieblingskomiker, Mr. Tucker?« Aber er wartete die Antwort gar nicht erst ab. Statt dessen wandte er sich einer jungen, hübschen Frau zu, die die Treppe hinaufgeeilt kam. »Halten Sie so Ihre Figur in Form?« Die Frau lachte und strich ihr blondes Haar zurück. »Das ist nur eine Möglichkeit, Senator.« Die beiden lachten lüstern, als ob sie sich über einen nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Scherz amüsierten. Abe hegte den eindeutigen Verdacht, daß sie sich sowieso gemeinsam an etwas erfreuten, das für die Öffentlichkeit nicht bestimmt war. Ferguson wandte sich unvermutet an Tucker. Er lachte dabei immer noch. »Ein spaßiger Einfall, Händlerlizenzen für Autos zu verkaufen, die es noch gar nicht gibt.« Er lachte noch mehr, als ob Jack Benny auf Tuckers Idee gekommen wäre. »Es würde sie geben, Senator, wenn…« Ferguson eilte die Treppe hinunter, um sich nicht weiter von Tuckers Erzählungen belästigen zu lassen. »Es würde sie geben, Senator, wenn die Detroiter…« Ferguson fegte durch die Empfangshalle und verschwand durch die Eingangstüren des Gebäudes. Er blieb erst stehen, als er seinen am Straßenrand geparkten großen Cadillac erreicht hatte. »Hey, Tucker, erinnern Sie sich noch an das Lied ›The Music Goes Round and Around‹?« Tucker war aus dem Konzept gebracht. »Ja, ich…« Warum der Senator den Song erwähnt hatte, wurde Tucker nicht klar. Kurz bevor der Senator in den Wagen einstieg, lachte er erneut. »Die großen Drei sollten wegen fahrlässiger Tötung angeklagt werden. Das haben Sie doch gesagt, stimmt’s, Tucker?« »Ja, das hab’ ich, und glaube immer noch, daß…« Senator Ferguson stieg in den Wagen ein. »Ein komischer Satz«, sagte
er noch, bevor er die Tür zuschlug. Abe und Tucker schauten dem Wagen hinterher. Dann sahen sie sich an. »Was sollte das? Hat er irgend etwas gesagt? Und wenn ja, was hat er gesagt?« Abe verschränkte die Arme. »Er sagte, halt dich aus dem Autogeschäft heraus, oder ich schneide dir die Eier ab.« »Hat er das gesagt?« »Laut und deutlich.« Tucker fuhr von Washington aus nach Hause, und Abe machte sich auf die Reise. Er war fest entschlossen, jede Kleinstadt und jedes Kuhdorf im Land zu besuchen, um alle Personen aufzusuchen, die Interesse an einer neuen Tucker-Vertretung geäußert hatten. Es war nicht gerade die Reise, nach der er sich gesehnt hatte, aber er wußte, daß nur er sie machen konnte. Sein Job war es, etwas zu verkaufen – eher eine Idee als ein Auto zu verkaufen, aber Abe war ein As im Verkaufen. Tucker kehrte nach Ypsilanti zurück und erfuhr dort, daß Eddie und Jimmy genügend Stahl zusammenbekommen hatten, um Karosserie und Motor bauen zu können, aber es war nicht ausreichend hochwertiges Material dabei, um den Rahmen fertigen zu können. Und der mußte als erstes gebaut werden. Er beratschlagte sich mit seinen Männern, und sie beschlossen, daß der Achsabstand des 1940er Olds lang genug war, um Karosserie und Motor des Tuckers tragen zu können. Das war zwar ein wenig geschummelt, aber das störte Tucker nicht sonderlich – schließlich handelte es sich nur um einen Prototyp. Auf einem Schrottplatz in der Nähe des Bahnhofs hatte Tucker einen Olds entdeckt. Er und Junior fuhren dorthin, um ihn sich näher anzusehen. Nachdem sie sich vergewissert hatten, daß der Rahmen noch fest und nicht verzogen war, kauften sie das Auto auf der Stelle. Tucker zahlte für den
Wagen zwanzig Dollar, inklusive der Kosten, ihn auf Tuckers Transporter zu hieven. Junior hatte sich während der Fahrt ruhig verhalten und nur wenig zu dem Auto gesagt; er hatte lediglich darauf hingewiesen, daß am Gehäuse des Differentialgetriebes und entlang der Antriebswelle Rost war. Auf der Rückfahrt nach Hause brachte er endlich West Point zur Sprache. Er war von Tuckers angenehm überrascht. Offenbar hatte er genau den richtigen Zeitpunkt erwischt. Tuckers Reise nach Washington hatte ihn auf die Regierungsstellen wütend gemacht, sei es die War Assets Administration, das Büro des Senators von Michigan oder die Armee. »Wenn ich nicht nach West Point gehe, dann will ich auch nicht aufs College gehen«, erläuterte Junior. »Und wenn ich nicht aufs College gehe, kann ich auch nicht eines Tags Präsident werden. Das waren doch deine Pläne mit mir, Dad, oder?« »Meine Pläne?« Tucker brachte den Motor ein wenig auf Touren. »Soweit es mich betrifft, sind die beiden abstoßendsten Berufe, die ein Mensch ausüben kann, Anwalt und Politiker. Warum, um Himmels willen, sollte ich also wollen, daß du Präsident wirst? Die meisten Präsidenten sind beides, Anwalt und Politiker.« »Also darf ich hierbleiben? Aber wenn ich nach West Point gehen würde, würde ich als Ingenieur ein Diplom erhalten.« Tucker lachte und fuhr mit dem Lastwagen durch die Einfahrt dem Haus entgegen. »Habe ich eins? Ein Diplom?« »Nein, Sir.« »Und wie ist es mit Eddie oder Jimmy?« »Die haben auch keins.« »Kannst du mir drei bessere Ingenieure nennen?« »Nein, Sir.«
Tucker hielt mit dem Lastwagen vor der Scheune an. »Also, was kann man dir in West Point beibringen, was du nicht hier lernen kannst? Und nebenbei bemerkt, weißt du wahrscheinlich sowieso schon mehr als die in West Point.« Tucker kletterte aus dem Führerhaus des alten Lastwagens. »Sicher kannst du hier bei mir bleiben; schließlich bin ich von dir abhängig.« Junior hätte am liebsten Freudentränen vergossen, aber statt dessen ging er lieber in die Scheune und machte sich an die Arbeit. Die Apparaturen, die Tucker zum Bau der Geschütztürme verwendet hatte, waren zu einer Miniaturausgabe einer Autofabrik umgerüstet worden. Die Scheune war in drei Abschnitte aufgeteilt worden: Im ersten beugte sich gerade Jimmy über den Motor, bastelte an irgend etwas herum und murmelte etwas auf japanisch in sich hinein. Im zweiten Abschnitt bearbeitete Eddie den freigelegten Olds-Rahmen mit einem Kupferhammer. Im dritten schaute Alex Tremulis auf den an der Wand hängenden vollständigen Entwurf der Tucker-Karosserie und war verzweifelt; das Auto würde nie fertig werden. »Wir sollten realistisch denken«, sagte er mürrisch zu Tucker. »Ich bekomme keine Tonerde, und ohne Tonerde können wir kein Modell bauen. Und ohne ein Modell können wir kein Auto bauen.« »Das Leben ist voller Überraschungen«, sagte Tucker locker. »Was soll das heißen?« »Hast du Fritz und Dutch schon kennengelernt?« Zwei Männer saßen auf einer Lattenkiste und tranken aus zerbeulten und zerkratzten Emaillebechern Kaffee. Fritz schien kaum über einen Meter fünfzig groß zu sein, Dutch überragte ihn und war breit und kräftig wie ein Lastwagen. »Fritz, Dutch, ich möchte euch mit Alex bekannt machen. Er ist der Karosserie-
Designer.« Alex’ Hand verschwand in Dutschs gewaltiger Pranke. »Alex sagt, er braucht Tonerde, um sein Modell zu bauen. Kein Modell, kein Prototyp.« Dutch brach in schallendes Gelächter aus, Fritz kicherte. »Aber ich sage: Wer braucht schon Tonerde?« Tucker langte erst nach oben, um den Arm um Dutch zu legen, und dann nach unten, um den anderen Arm auf Fritz’ schmale Schulter zu legen. »Diese beiden Jungs sind die besten Karosseriebauer, die es gibt. Fritz war früher bei Duesenberg in Auburn, Indiana. Erinnerst du dich noch an die geschwungene Form des alten SJ?« Alex nickte. Der 1935er Duesenberg SJ war für jeden Jugendlichen – und jeden Filmstar – die Verwirklichung eines schönen Autos schlechthin. »Dafür war Fritz verantwortlich, und Dutch baute in Springfield Karosserien…« »Bei Rolls-Royce, als die noch in Amerika ihre Fabrik hatten«, ergänzte Dutch. »Und in Connecticut«, sagte Tucker. »Brewster-Karosserien«, fügte Dutch hinzu. »Und wo hast du noch gearbeitet, Dutch?« »Ich begann mit vierzehn bei Mercer. Ich arbeitete an dem Raceabout.« Vor dem 1. Weltkrieg war der Mercer Raceabout das Auto für feine Leute gewesen. Alex schüttelte ungläubig den Kopf. Dutch konnte man eher zutrauen, einen Teppich zu weben, als daß er so schöne und elegante Autos wie den Rolls-Royce, den Brewster oder Mercer hätte bauen können. »Alex, das hier sind die absolut besten Karosseriebauer Amerikas. Sie können deine Skizze direkt ins Metall schlagen, stimmt’s, Jungs?« »Wir können mit Metall alles machen«, stimmte Dutch ihm zu.
Alex Tremulis zuckte die Achseln. »Ich denke, es ist einen Versuch wert.« Soviel zu den Schwierigkeiten mit der Karosserie. Als nächstes mußte sich Tucker um den Motor kümmern. Eddie und Jimmy kamen sofort zur Sache. »Wir haben Probleme«, sagte Eddie. »Und wir bekommen echte Probleme, wenn du weiterhin darauf bestehst, den Motor nach hinten zu setzen«, ergänzte Jimmy. »Der Motor bleibt, wo er ist«, stellte Tucker klar. »Und du hast gesagt, du könntest es ihm ausreden«, tadelte Jimmy Eddie. »Ich vergaß dabei, daß man ihm nicht einmal ausreden kann, sich von einem Felsen zu stürzen, wenn er es sich erst einmal in den Kopf gesetzt hat.« »Boß, wir müssen den Motor umsetzen.« »Nein! Der Heckmotor ist das Herz dieses gottverdammten Autos. Seht zu, wir ihr damit klarkommt.« Nach einer Woche harter Arbeit mit langen Nächten, schnellen Mahlzeiten und Unmengen von Kaffee schaff ten sie es. Der Motor saß da, wo Tucker ihn haben wollte, aber etwas mit den gefürchteten Drehmomentwandlern lief vollkommen falsch. Jimmy warf seine Arbeitshandschuhe wütend auf den Boden und starrte den Motor an, der auf einem Prüfstand war. »Diese Zwillings-Drehmomentwandler funktionieren einfach nicht. Wir brauchen eine Übersetzung.« »Warum funktionieren sie nicht?« wollte Tucker wissen. »Wir haben nicht die Zeit, das herauszubekommen, wir wissen nur, daß es so nicht funktioniert. Und wir haben auch nicht mehr die Zeit, dann eine entsprechende Antriebswelle zu
konstruieren, sobald wir herausgefunden haben sollten, was mit den Drehmomentwandlern nicht stimmt.« Junior hatte seinen Vater und die beiden Mechaniker beobachtet. Die drei Männer wirkten ausgelaugt, aber der 1. Juni stand bald bevor. Alle wußten, daß es keine Zeit zum Ausruhen gab, noch nicht. »Wir brauchen eine bestimmte Antriebswelle«, sagte Jimmy. »Erinnerst du dich an den Cord?« fragte Eddie. »Es war der 812 – nein, der 810. Wie nannten sie den doch gleich? Den Cord…« »Der 810 war der Beverly. Der 812 der Westchester«, bemerkte Junior. »Ja, und der 810 hatte diese Antriebswelle.« »Aber das war 1936.« »1935«, korrigierte ihn Junior. »Und unser Auto ist von heute. Das ist das Auto der Zukunft.« Mit einer weiten Armbewegung bezog Tucker die Karosserie mit ein, die langsam in Alex’ Scheunenabschnitt Gestalt annahm. Sicherlich sah das Auto mit seiner Schnauze wie ein Meeresungeheuer und mit den drei raffinierten Scheinwerfern wie das Auto der Zukunft aus, aber beim Blick auf den Rahmen entdeckte man einen 1940er Olds. Und jetzt wollten seine Männer eine zehn Jahre alte Antriebswelle in sein Baby einsetzen. »Warum gerade der Cord?« fragte Junior. »Ein großartiges Auto. Und dann diese elektromagnetische Schaltung. Das war damals wirklich das Auto der Zukunft.« Eddie schaute Tucker unnachgiebig an und erwartete dessen Antwort. »Also? Geht das mit der Cord-Antriebswelle in Ordnung?« »Du vergißt etwas«, sagte Tucker. »Und was?« fragte Jimmy.
»Auburn-Cord-Duesenberg ging 1939 pleite. Außer einer leeren Fabrik in Auburn ist nichts übrig – wenn die nicht schon längst von der War Assets Administration vergeben worden ist. Wo wollt ihr also eine 1936er-Cord-810-BeverlyAntriebswelle finden?« »Auf Schrottplätzen«, sagte Eddie. Tucker hatten Cords immer gefallen. Sie waren geschmeidig und elegant, als andere Autos noch überdimensioniert und plump waren. Sie hatten versenkbare Scheinwerfer – die regelrecht im Kotflügel verschwanden – und ein hervorragendes elektromagnetisches Schaltgetriebe. Allerdings hatten sie ein Vermögen gekostet – etwa 20 000 Dollar, und das zur Zeit der Depression. Selbst einen zehn Jahre alten Cord würde niemand verschrotten lassen. »Wartet mal«, sagte Jimmy. »Was für Leute haben Cords eigentlich gekauft?« »Playboys«, meinte Eddie. »Und Filmstars«, ergänzte Tucker. »Leute aus der HighSociety.« »Ich hab’s!« meldete sich Junior zu Wort. »Es sind auf alle Fälle Leute, die sich alle paar Jahre ein neues Auto kaufen. Oder sie fahren mit ihrer Raserei die Autos zu Bruch – und der Cord ging ab wie der Teufel.« »Also findet man vielleicht welche auf Schrottplätzen«, schloß Jimmy daraus. »Das ist unsere Antriebswelle«, sagte Eddie. »Okay, Preston?« Jimmy sah nun ein wenig hoffnungsvoller aus. »Ich hab’ doch keine andere Wahl«, sagte Tucker, als leide er sehr darunter. »Aber nur für den Augenblick. Sobald die Show in Chicago vorbei ist, beginnen wir damit, das Auto so zu bauen, wie wir es angekündigt haben.« »Alles, wie du willst, Boß«, sagte Jimmy.
»Und wie geht es jetzt weiter?« fragte Tucker. »Dad, ich kann alle Schrottplätze zwischen hier und Florida durchstöbern. Vielleicht finde ich genügend alte Cord-Teile, damit wir anfangen können.« »Dann fahr los!« forderte ihn Tucker auf. In den nächsten Wochen schien es so, als ob Tuckers Mitarbeiter beschlossen hätten, Stück für Stück seinen ursprünglichen Entwurf zu ändern. Alex Tremulis begann mit dem ketzerischen Vorschlag, die beweglichen Kotflügel abzuschaffen. »Was ist?« brüllte Tucker los. Seine Stimme war so laut, daß man sie noch über den Lärm der Bohrmaschine, mit der jemand in einer entlegenen Ecke der Scheune etwas bearbeitete, hörte. Tremulis faßte allen Mut zusammen. »Sobald sich diese Kotflügel mit den Rädern…« »An diesen Kotflügel änderst du nichts!« befahl Tucker und marschierte energisch auf die Tür zu. »Aber die sind gefährlich«, rief ihm Tremulis hinterher. Als nächstes gab es Probleme mit der Kraftstoffeinspritzung. Eddie erläuterte, daß man beim derzeitigen Stand des Motors kein Benzin einspritzen könne. »Keine Einspritzung?« Tucker war entsetzt. »Das wird die Geschwindigkeit entscheidend verringern. Erst die Kraftstoffeinspritzung bringt die Beschleunigung…« »Ich weiß, was die Kraftstoffeinspritzung bewirkt«, sagte Jimmy. Er wußte auch genug von den Einspritzmotoren in den Rennwagen, an denen er in Indianapolis gearbeitet hatte, um beurteilen zu können, daß eine solche Modifikation des Motors höchst empfindlich und launisch war und mit äußerster Vorsicht vorgenommen werden mußte. Vielleicht würden sie ein Einspritzsystem, das für einen Serienwagen geeignet war, entwickeln können, aber nicht jetzt und nicht vor dem 1. Juni.
»Wenn du den Wagen rechtzeitig fertig haben willst, Boß, dann wirst du die Einspritzung vergessen müssen – statt dessen tut es vielleicht ein Doppelvergaser.« Tucker ließ sich gegen die Werkbank fallen. »Gott verdammt! Wo ist mein Auto? Bleibt noch irgend etwas davon übrig?« Alex hätte besser nichts an den Kotflügeln verändert. Natürlich kommandierte Tucker die anderen ziemlich viel herum. Und wenn Jimmy und Eddie Teile aus seinem Auto entfernen konnten, war er allemal imstande, auch noch in letzter Minute selbst einige Neuerungen und beängstigende Veränderungen vorzunehmen. »Der Kolbendruck ist während der Kompression dreimal höher als bei einem normalen Auto«, bemerkte Jimmy an einem stürmischen Abend. »Das hier ist kein normales Auto«, sagte Tucker. »Ganz gewiß nicht«, bemerkte Eddie. »Aber es wird noch merkwürdiger, als es bereits ist, wenn die Leute erst einmal feststellen, daß sie das Ding nicht starten können«, sagte Jimmy. »Warum sollte man das Auto nicht starten können?« »Der Kolbendruck ist so stark, daß man zum Starten eine 24Volt-Batterie benötigt. Und es gibt keine 24-Volt-Batterie.« Tucker fand für das Problem eine geschickte Lösung. »Wieviel Volt hat eine gewöhnliche Batterie? Sechs, richtig?« »Richtig, und glaub’ nicht, daß wir vier normale Batterien in dem Auto unterbringen. Vergiß es«, sagte Eddie. »Was ist mit einer LKW-Batterie? Die hat zwölf Volt.« Tucker zuckte die Achseln, als ob die Antwort auf dem Tisch lag. »Also nehmt ihr zwei LKW-Batterien.« »Da wir gerade von Lastwagen sprechen…«, sagte einer der Arbeiter. Junior fuhr gerade mit Tuckers Lastwagen vor die Scheune. Zwei Wochen war er unterwegs gewesen. Tucker ging nach draußen, um ihn zu begrüßen.
»Warte noch«, sagte Eddie, dann brüllte er Tucker hinterher: »Zwei LKW-Batterien! Das heißt fast dreihundert Pfund mehr Gewicht!« Jimmy brach in schallendes Gelächter aus. Eddie sah ihn wütend an. »Worüber lachst du, verdammt noch mal? Ich werde bis zum Ende meiner Tage nicht herausbekommen, weshalb du immer über die verkehrten Dinge lachst.« Jimmy umarmte Eddie freundschaftlich. »Weil ich mich selbst nicht für so wichtig halte, Eddie, das ist alles. Laß uns hinausgehen. Mal sehen, was Junior mitgebracht hat.« »Wahrscheinlich noch mehr schlechte Nachrichten«, murmelte Eddie. Es erwartete sie kein schöner Anblick: Auf der Ladefläche des Lastwagens lag ein Haufen ölverschmierter und verrosteter Schrott. Nur ein geübtes Auge konnte erkennen, daß dieser Haufen Altmetall die beste Sammlung von Cord-810Wechselgetrieben mit Antriebswellen in den Vereinigten Staaten enthielt. »Ich habe fünfundzwanzig Stück bekommen«, sagte er, nachdem er seine Mutter umarmt und ihr einen Begrüßungskuß gegeben hatte. »Ich denke, mehr davon gibt es nicht. Ich habe alle Schrottplätze im Land durchforstet.« Eddie sah sich kopfschüttelnd den Schrotthaufen an. »Und daraus sollen wir ein Getriebe bauen?« Selbst Tucker war von dem Anblick leicht betroffen. »Ich hoffe, ihr seid gut im Puzzlespielen.« Jimmy kletterte auf die Ladefläche und fluchte auf japanisch in sich hinein. Er mühte sich mit einem Kardangelenk ab, das fest in der Verankerung saß. »Hast du dir Quittungen geben lassen?« fragte die stets praktisch denkende Vera. »Du wirst jeden Cent abrechnen müssen. Benzin, Essen, Hotels…«
»Ich habe alles hier, Mom. Mach dir deswegen keine Sorgen.« Tucker gefiel es nicht, aber er mußte es sagen: »Das Auto muß hier am Dienstagmorgen um acht die Scheune verlassen.« Eddie grunzte. Jimmy unterbrach seinen Kampf mit dem verbogenen Metall. »Von mir aus geht das in Ordnung.« Irgendwie schafften sie es – mehr oder weniger. Die komplett angetretene Belegschaft legte die Werkzeuge beiseite, um Jimmy beim Starten des Motors und Herausfahren des Fahrgestells aus der Scheune und die Zufahrt hinauf zu beobachten. Noch hatte der Wagen keine Karosserie, aber das Chassis fuhr gut, und der Motor klang ausgezeichnet. Außer Alex Tremulis, der besorgt aussah, brachen alle in Jubel aus. Tucker musterte das Auto, sein Auto, als es auf dem Hof im Kreis fuhr. Alex kam zu ihm herüber. »Mr. Tucker?« Tucker sah ihn nur flüchtig an und schaute dann wieder auf das fertiggestellte und funktionierende Chassis. »Was gibt’s, Alex?« Tremulis atmete tief durch. »Es tut mir leid, Sie zu stören, aber ich muß Ihnen zwei Dinge erzählen. Erstens war die Arbeit an diesem Auto für mich eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde, egal, was ich sonst noch alles im Leben erleben werde.« »Das freut mich zu hören. Ich glaube, niemand von uns wird diese Zeit vergessen. Und was gibt es noch?« »Ich kündige.« Tucker sah ihn verdutzt an. »Warum?« »Um es mir zu ersparen, gefeuert zu werden.« »Gefeuert?« Es war bereits zu spät; Alex hatte die Karosserie auf seine Art gemacht, und die Zeit war zu knapp, um etwas zu ändern. »Ich
habe die Kotflügel nicht so gebaut, daß sie sich mit den Rädern drehen, wie Sie es wollten.« »Was ist? Warum nicht?« »Erinnern Sie sich daran, als Frank Lockhart dasselbe mit dem Stutz versucht hat? Bei hoher Geschwindigkeit verhielten sich die Kotflügel wie Steuerruder, und er kam bei einem Unfall um. Aber ich habe den mittleren Scheinwerfer so konstruiert, daß er sich mit der Lenkung der Räder bewegt, das funktioniert recht gut und erfüllt den gleichen Zweck.« Tucker war einen Moment lang sprachlos. »Solltest du das jemals wieder tun, dann helfe dir…« »Aber, Mr. Tucker«, sagte Alex und schluckte nervös, »es war zu gefährlich, und ich…« »Wenn du das jemals wieder tust, jemals…verstehst du? Dann werde ich… dann werde ich dir eine Gehaltserhöhung geben.« Tucker grinste. »Das hast du ausgezeichnet gemacht, Alex. Ich danke dir.« Alex atmete erleichtert auf. »Der Rückwärtsgang geht nicht«, beklagte sich plötzlich Jimmy auf dem Chassis. Tucker drehte sich um und sah, wie Jimmy den Rückwärtsgang einlegte. Dann gab er etwas Gas, aber das Auto rührte sich nicht von der Stelle. »Der Rückwärtsgang geht nicht«, stellte er immer wieder betrübt fest. »Können wir ihn reparieren?« Eddie schüttelte den Kopf. »Nicht bis zum Termin.« Jimmy stellte den Motor aus, und einige Arbeiter schoben das Chassis in die Scheune zurück. Eigentlich hatte es ein Freudentag werden sollen, doch die Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Am nächsten Tag kam Abe. Er sah nach seiner wochenlangen Reise mitgenommen aus, trotzdem stürzte sich Vera sofort auf
ihn. »Bevor ich es vergesse, ich benötige die Quittungen für jedes Essen, die Hotelübernachtungen, Fahrkarten…« »Hab’ ich, hab’ ich. Aber lassen Sie mich erst einmal Luft holen.« Unter einen Arm hatte sich Abe einen großen, weißen Karton geklemmt, der mit dem kunstvollen Namenszug eines Fachgeschäfts aus Kansas City bedruckt war. Er enthielt ein Kleidungsstück; ein Abendkleid, das er spontan gekauft hatte. Nun war er verlegen und fragte sich, warum er es gekauft hatte. Die Wahrheit war, daß er keine Familie hatte, und bislang hatte ihn das auch nicht weiter gestört, aber die Tuckers und deren Kinder waren ihm immer mehr ans Herz gewachsen; und Abe hatte das Gefühl, das irgendwie zeigen zu müssen. Schüchtern überreichte er Marilee den Karton. »Für mich?« Sie war ehrlich überrascht. »Ja, ja.« Die ganze Familie sah zu, als Marilee den Karton aufriß. Sie zog das Kleid aus der Seidenpapierhülle heraus und stieß einen Jubelschrei aus. Es war aus feinstem Satin und für ein sechzehnjähriges Mädchen viel zu tief ausgeschnitten – eigentlich für jedes brave Mädchen, egal wie alt. Vera war entsetzt, aber Marilee war in ihrer jugendlichen Unschuld völlig hingerissen. »Es ist für die Autoshow in Chicago«, stammelte Abe. »Ist es okay? Was verstehe ich schon von Mode?« Er sah Tucker an, der die Achseln zuckte – auch er verstand nichts von Mode. Marilee stieß Freudenschreie aus. »Es gefällt mir fantastisch, Onkel Abe!« Sie hielt das Kleid vor sich und ließ es nur einmal kurz herunter, um sich bei Abe mit einer Umarmung und einem Kuß zu bedanken. »Es gefällt mir einfach großartig!« Sie drehte sich mit dem vorgehaltenen Kleid im Kreis. »Darf ich es anprobieren?« flehte sie Vera an.
Vera wurde weich. Sicher saß Abes Herz auf dem rechten Fleck; aber sein Geschmack lag ein wenig daneben. Vera konnte sehen, daß sie einige kleine Änderungen würde vornehmen müssen – etwa in der Größenordnung der Veränderungen, die an dem in der Scheune gebauten Auto vorgenommen worden waren – , aber sie war sich sicher, das Kleid für die Eröffnungsfeier der Fabrik mit ein paar kunstvollen Nadelstichen tragbar machen zu können. »Geh schon, und probier es an«, sagte sie ihrer Tochter, und Marilee rauschte aus dem Zimmer. Nun reicht’s aber mit der Mode, dachte Abe. »Würde mir jemand freundlicherweise verraten, ob wir ein Auto haben?« Tucker atmete tief durch. »Ja, wir haben da etwas.« »Etwas?« Wieso konnte Tucker nicht einfach sagen: Ja, wir haben ein Auto, und es ist ein Hammer? »Was meinen Sie mit ›etwas‹? Sieht es denn wie das Auto in den Anzeigen aus?« »So aussehen tut’s schon.« »Aber?« »Aber wir mußten ein paar Veränderungen vornehmen.« »Veränderungen?« Abe dachte an die Hunderte von Autohändlern und Möchtegernhändlern, mit denen er während seiner Reise gesprochen hatte. Die meisten von ihnen waren von der äußeren Erscheinung des Wagens wirklich angetan, aber viele von ihnen interessierte auch, was unter der Motorhaube steckte, technische Details also, von denen Abe nichts verstand. »Was ist mit dem Getriebe? Habt ihr die Dinger bekommen? Wie hießen die doch gleich? Drehmomentdingsda, stimmt’s?« Tucker schüttelte betrübt den Kopf. »Nein. Wir haben ein Vierganggetriebe.« Er hielt es nicht für ratsam, in diesem Moment die alte Cord-Achse zu erwähnen.
Abe stöhnte auf. »Aber die… die Kraftstoffeinspritzung? Ihr spritzt doch noch das Benzin da rein?« Was immer das, zum Teufel, bedeutete. Tucker schüttelte wieder den Kopf. »Doppelvergaser.« »Das heißt keine Kraftstoffeinspritzung?« »Ja.« »Das hatte ich nicht erwartet…« Abe blickte Tucker betrübt an, und trotz seines Versprechens kratzte er sich an der Nase. Dann schien er wieder Mut zu fassen. »Worüber mache ich mir eigentlich Gedanken? Die Leute müssen das Auto doch nur sehen, stimmt’s?« »Stimmt.« »Dann werdet ihr das ganze Zeug aber einbauen, sobald das Auto in Serie geht, stimmt’s?« »Stimmt.« »Mhm, wo ist dann das Problem?« fragte Abe. »Es gibt kein Problem«, stimmte ihm Tucker zu. Marilee rauschte ins Zimmer herein. Das Kleid saß gut, aber Vera fand, daß ihre Tochter wie eine… sagen wir, wie ein leichtes Mädchen aussah. Weder Abe noch Marilee fiel das auf. Marilee strahlte und war stolz, so ›erwachsen‹ auszusehen. Auch Abe war zufrieden: Er mußte sich eingestehen, daß er einen ausgezeichneten Geschmack hatte, wenn es um Klamotten für Weiber – er meinte Damenkleidung – ging. »Ich finde es toll!« rief Marilee und küßte Abe erneut. »Gefällt es dir nicht?« fragte sie ihre Mutter. Vera gab sich alle Mühe, nicht entsetzt zu wirken. »Sehr hübsch«, sagte sie. »Keine Probleme mit dem Kleid, keine Probleme mit dem Auto«, sagte Abe. Doch im selben Augenblick kam Junior ins Zimmer gestürmt. Seine Stirn war ölverschmiert, und in der Hand hielt er eine Zange.
»Dad, du kommst besser sofort mit«, sagte er außer Atem. »Was ist passiert?« fragte Tucker. »Ja! Was ist passiert?« schloß sich ihm Abe besorgt an. »Aus dem Druckausgleichsventil spritzt Öl. Das halbe Getriebe ist auseinandergefallen. Dad, das ganze Auto zerfällt in seine Einzelteile!« »O nein!« Tucker folgte seinem Sohn im Eilschritt nach draußen. Plötzlich hatte Abe den Kopf wieder voller Probleme. Vera ließ sich völlig verzweifelt ins Sofa fallen. »Das Auto bringt ihn noch um, Abe… Sagen Sie, wird ihn dieses verdammte Auto umbringen?« »Vielleicht«, sagte Abe und glaubte auch daran. Er fühlte sich plötzlich entsetzlich müde. Es war wie bei einem der Slapsticks in Stummfilmen: Ein Witzbold beabsichtigt, eine Tapete anzukleben, aber kaum hat er die zweite Bahn angebracht, rollt sich die erste bereits wieder auf; kaum hat er Tapetenkleister auf eine Bahn aufgetragen, bleibt die nächste daran kleben. Der Clown rennt wie wild herum und versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber kaum hat er ein Problem gelöst, stürzt er sich in das nächste. Er tritt in den Eimer mit Tapetenkleister und fällt gewöhnlicherweise von der Leiter – zum Schluß ist das ganze Zimmer ein einziger Saustall. Sehr amüsant. In der Scheune war es alles andere als amüsant. Der Druck, den Wagen in einer solch kurzen Zeit zusammen zubauen, begann sich bei allen bemerkbar zu machen: bei Jimmy, Eddie, Alex, Fritz, Dutch und fast allen Tuckers. Sie alle waren ausgelaugt, die Stimmung entsprechend mies, und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Karosserie war auf das Chassis montiert worden, und das Auto sah gut aus, sehr gut. Aber die Probleme unter der Karosserie waren enorm. Das Schaltgetriebe machte immer
noch Ärger – sie konnten einfach nicht herausfinden, warum das verdammte Ding nicht den Rückwärtsgang annehmen wollte – der 6-Zylinder-Motor lief nur auf vier Töpfen, im Schmiersystem und den Dichtungen waren Lecks und Risse. Junior hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, daß das ganze Auto in seine Einzelteile zerfallen würde. Und diese ausgelaugten, von Kummer geplagten Männer mußten ihn in null Zeit wieder zusammenbauen. Alex und Eddie lagen unter dem Rahmen und arbeiteten fieberhaft am Getriebe und versuchten, es einigermaßen anzugleichen, bevor alles zu spät war. Von den beiden Männern waren nur die Beine zu sehen, aber man konnte sie fluchen hören. Alex hielt die Halterung des Differentials fest, während Eddie das Wellengelenk wieder einsetzte. Alex blieb so lange in dieser verkrampften, unbequemen Position, daß ihm die Arme fast abgestorben waren. »Eddie!« rief Tucker. »Ja?« »Kannst du mal für eine Minute darunter hervorkommen?« Eddie war froh, einen Grund zu haben, sich mit dem Gelenk, das nun fest verankert war, nicht mehr abmühen zu müssen. Alex konnte die Halterung nun loslassen und seinen Blutkreislauf wieder in Gang bringen. »Was ist?« fragte Eddie. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen, und die Haut an seinen Fingerknöcheln war aufgeschürft und blutig, als hätte er sich mit jemandem geschlagen – was er am liebsten getan hätte. Die beiden Männer standen auf, ihre Gelenke knackten, als sie sich rekelten. Im selben Augenblick gab es ein Knatschen und dann ein lautes Krachen, als ob ein schneebeladener Ast von einem Baum abbrach. Die schwere Karosserie war auf den Rahmen gekracht und hatte das ganze Auto bis auf zwei, drei Zentimeter Abstand auf den Boden gedrückt.
Einen Moment lang starrten sie das Auto fassungslos an. »Was, zum Teufel, ist passiert?« rief Tucker. Er kniete sich hin und spähte hinter einen Radkasten. Alex stand mit offenem Mund da. Wenn Eddie und er auch nur einen Moment länger unter dem Wagen geblieben wären, wären sie jetzt von zwei Tonnen Stahl plattgedrückt worden. »Ich hätte getötet werden können… Wir hätten getötet werden können!« Tucker hörte nicht zu. Er war nur an seinem Auto interessiert. Der Wagen sah aus, als ob er am Ende war. Tucker zwängte den Arm hinter die Hinterachse, tastete alles ab und fühlte ausgezacktes, zerrissenes Metall. Dann kroch er auf allen vieren nach vorn und stellte dasselbe direkt hinter der Vorderachse fest. Mit vor Wut rot angelaufenem Gesicht sprang er auf die Beine, sein Blick huschte durch die Scheune, als ob er nach jemandem suchte, den er anschnauzen könnte. »Kein Wunder!« polterte er los. »Aluminium-Aufhängung! Und das bei diesem Gewicht! Seid ihr denn alle verrückt? Man kann doch eine solche Karosserie nicht auf Aluminium setzen. Viel zu schwach. Fritz! Dutch!« »Ja, Boß?« »Könnt ihr das sofort reparieren?« Fritz und Dutch waren Experten in Sofort-Reparaturen geworden. Dutch grinste leicht. »Sie kennen uns doch…« »Kein Problem«, sagte Fritz. Alex litt noch unter dem Schock. Er taumelte gegen eine Werkbank und umklammerte sie mit zitternden Händen. Wenn er keinen Halt gefunden hätte, wäre er kopfüber hingefallen. »Ich hätte getötet werden können«, murmelte er immer wieder vor sich hin. Eddie sah, daß der Junge kreidebleich im Gesicht war. Tucker hatte nichts davon mitbekommen, und das empörte Eddie. Es war nicht typisch für Tucker, nicht auf das Wohl der
Leute zu achten, die für ihn arbeiteten, aber er hatte nichts anderes mehr im Kopf als dieses verdammte Auto. »Eddie, wir brauchen ein paar Wagenheber«, sagte Tucker eifrig, »und für die Aufhängung guten Stahl. Wenn keiner mehr da ist, nehmt was vom…« »Was, zum Teufel, bildest du dir eigentlich ein? Der Junge und ich waren so nah dran zu krepieren…« Er hielt Daumen und Zeigefinger etwa einen Zentimeter nebeneinander. »Du hast es nicht einmal bemerkt!« Eddie warf die Zange auf den Boden und ging, um nach den Wagenhebern zu suchen. Tucker sah sich den durchgesackten Wagen an. Eddie hatte recht; zwei Männer hätten tot sein können, und es hatte ihn nicht einmal berührt. Er ging zu Alex hinüber, der sich mittlerweile ein wenig beruhigt hatte. Tucker gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Wie geht es dir, Alex? Besser? Eigentlich bin ich hierhergekommen, um euch bei Laune zu halten.« Alex zwang sich zu einem Lächeln. »Gut, mir geht’s gut.« »Gutgelaunt?« »Sehr gut gelaunt.« Dieses Mal war das Lächeln echt. »Fast zu gut gelaunt.« »Wenn du meinst, daß das gut gelaunt ist, dann kannst du dir vorstellen, wie gut gelaunt ich bin. Ich werde bei meiner eigenen Kreuzigung in Chicago einen Ringplatz haben.« Merkwürdigerweise wirkte Tucker tatsächlich recht gut gelaunt. Fritz hörte Tucker reden und sagte zu Jimmy: »Seine eigene Kreuzigung. Glaubst du, es wird so schlimm werden?« Jimmy lachte. »Kann sein, kann sein.« Dann machte er sich wieder singend an die Arbeit. In der folgenden Woche fiel der Wagen noch dreimal auseinander, und zweieinhalbmal bastelten sie ihn wieder
zusammen. Als der Prototyp des Tucker-Torpedos für die Reise nach Chicago auf den Zug verladen wurde, funktionierte das Auto weitestgehend. Als Junior den verantwortlichen Mann am Güterbahnhof fragte, ob er mit dem Auto auf dem Eisenbahnwaggon mitfahren könnte – so hätte er noch während der Fahrt am Wagen arbeiten können – , sah ihn der Mann nur an und sagte: »Verschwinde hier, Junge.« Als sie alle bei der Fabrik ankamen, wurde das Auto schnell in einen der Schuppen gebracht, und die gesamte Belegschaft machte sich wieder an die Arbeit, um den Tucker so hinzubekommen, wie es sich Tucker gewünscht hatte. Tucker blieb eine Weile stehen, um einen Arbeitstrupp zu beobachten, der seinen Namenszug in riesigen, roten Buchstaben auf dem Fabrikgelände anbrachte. Als er sah, daß sie das T von Tucker auf das Dach hochhievten, erfüllte ihn mit einemmal großer Stolz. Und so fand ihn Abe vor: in stiller Bewunderung vor seinem eigenen Namen auf dem größten Fabrikgelände der Welt. Abe war nicht allein; neben ihm standen ein modisch gekleideter, junger Mann und ein weniger modisch gekleideter, dessen Gesicht von einer tragbaren Filmkamera verborgen war. »Schau ihn dir an, Frank«, sagte Abe. »Als ob er seinen Namen zum ersten Mal sieht.« Tucker wurde rot. »Jedenfalls habe ich ihn noch nie so groß gesehen.« »Das hier ist der Mann, der ihn noch größer machen wird«, sagte Abe. »Darf ich vorstellen? Preston Tucker, und das hier ist Frank, der Presseagent.« Frank gab Tucker die Hand. »Frank-der-Presseagent ist ein einziges Wort für Abe. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« »Wie ich sehe, waren Sie bereits aktiv, Frank.« Die Fabrikhalle sah aus, als wäre der Zirkus in die Stadt gekommen. Eine Bühne war errichtet worden, überall hingen
Fahnen und Flaggen, und es gab ein Podium für die Musiker. Ein Trupp brachte an den hohen Dachbalken Scheinwerfer an. »Man muß den Leuten etwas bieten. Man muß sie zwingen, aufrecht zu sitzen, damit sie alles mitbekommen.« »Noch will ich lieber, daß niemand etwas mitbekommt. Haben Sie die Wachmänner bekommen?« »Klar. Zwei Dutzend. Sie arbeiten in drei Schichten rund um die Uhr.« »Niemand, absolut niemand, darf in die Nähe des Wagens.« »Ich habe es ihnen gesagt«, beruhigte ihn Abe. Die Wachmänner waren noch das einfachste, dachte Frank, obwohl er einräumen mußte, daß es ein Bravourstück war, ein Auto wie Fort Knox bewachen zu lassen. Aber Frank hatte Größeres vor. »Nach der Enthüllung des Autos…« Wenn es zu einer Enthüllung kommen würde, dachte Tucker. »… nach der Enthüllung des Autos habe ich eine Menge geplant. Sobald die Öffentlichkeit das Auto erst einmal kennt, werden sich Zeitungen, Magazine und vielleicht auch die Wochenschauen darauf stürzen. Es ist etwas Neues, aber wir müssen es auch weiterhin als etwas Neues verkaufen, um das Interesse aufrechtzuerhalten.« »Und um das Auto zu verkaufen«, bemerkte Abe. »Und wir müssen das Auto bauen«, sagte Tucker. Der Werbefachmann und der Geschäftsmann winkten ab, als ob die Herstellung des Autos ein unwichtiges Detail sei. »Erinnern Sie sich daran, wie die Filmstars während des Krieges durch das Land fuhren und Kriegsanleihen verkauften? Es waren große Rallyes mit viel Publikum. Etappenziele waren Theater, Vergnügungsparks und Volksfeste.« »Ich erinnere mich«, antwortete Tucker mißtrauisch.
»Nun, ich habe mit Ihnen etwas Ähnliches vor. Aber anstatt Kriegsanleihen zu verkaufen, werden Sie in Ihrem Wagen Aktien verkaufen.« »Ich…?« Der Mann mit der Kamera lief im Kreis um sie herum. »Heh, komm mal her, Stan«, sagte Frank. Der Kameramann setzte die Kamera ab und stellte sie aus. »Das ist Stan. Er dreht über Sie einen Promotion-Film. Wir werden ihn in Kinos und vor Händlern, Verkaufsmanagern und ähnlichen Typen zeigen.« »Haben Sie irgendwelche Fotoalben, Schnappschüsse, Filme oder so etwas von Ihrer Familie? Ich kann alles gebrauchen.« »Wozu?« fragte Tucker. »Um Aktien zu verkaufen«, erklärte Abe. »Meine Familie verkauft keine Aktien«, protestierte Tucker. »Was glauben Sie, was wir verkaufen?« fragte Frank. »Autos vielleicht?« meinte Tucker mutig. Frank lachte. »Autos?« Er hörte sich an, als hätte Tucker ›Känguruhs‹ gesagt. »Autos? Wir verkaufen Sie. Ihr Image. Und ein positives Image schließt eine Familie mit ein.« »So? Tut es das?« Abe versuchte, es Tucker zu erklären: »Wer, meinen Sie, hat für den Wochenschaubericht aus dem Weißen Haus gesorgt? Und was war der Grund? Glauben Sie, Roosevelt wachte mitten in der Nacht auf, drehte sich zu Eleanor um und sagte: ›Hol mir diesen Tucker.‹ Eine solche Publicity kann man nicht kaufen.« »Aber Sie haben die Sache doch gekauft«, sagte Tucker. »Sicher«, sagte Abe genervt. »Und zwar für Geld.« »Aber Sie sagten, man kann eine solche Publicity nicht kaufen… Und was hat das alles mit meiner Familie zu tun? Und… wie kommt es, daß nichts, was Sie sagen, plausibel klingt? Und woher kommt es, daß ich trotzdem immer weiß, was Sie meinen?«
»Weil Sie dieselbe Sprache wie ich sprechen, nur schlechter«, sagte Abe. Tucker nickte. Das klang irgendwie plausibel. Stan unterbrach die beiden. »Ich möchte von Ihnen ein paar Aufnahmen machen, wie Sie zu dem Namenszug hinauf schauen.« Frank zog Tucker die Krawatte gerade und gab erste Anweisungen. »Gediegen. Vertrauenerweckend. Seriös. Ein Gigant unter seinesgleichen, ein echter Industriekapitän.« Tucker schaute zu dem Schild hinauf. »Vielleicht ein klitzekleines Clark-Gable-Grinsen gefällig?« »Nun, versuchen Sie’s«, ermunterte ihn Stan. »Ich denke, Sie sollten es lieber Clark Gable überlassen«, sagte Abe. »Sie wollen mir aber auch jeden Spaß verderben.« »Das hier ist kein Spaß, das ist knallhartes Busineß«, sagte Abe entschieden. »Showbusineß«, ergänzte Frank lachend. Wie kommt es, dachte Tucker, daß diese Burschen nie mein Auto erwähnen?
4 Wochenschau Auf dem Filmtitel stand ›RUHM‹, und er war über dem riesigen TUCKER-Namenszug auf dem Fabrikdach eingeblendet. Tucker tat sein Bestes, um wie ein Industriekapitän oder wenigstens wie ein Industrieoffizier zu wirken, und diejenigen, die möglicherweise zuvor noch niemals einen gesehen hatten, bildeten sich zumindest ein, daß ein großer Geschäftsmann so wie Tucker auszusehen hatte. »Am Tag der offiziellen Vorführung des Autos war der größte Parkplatz der Welt überfüllt von Menschen…« Frank wußte nicht, ob es sich um den größten Parkplatz der Welt handelte, aber er war verdammt groß, und schließlich stand das größte Fabrikgebäude der Welt daneben, also, was zum Teufel… »Sie alle warteten auf das neue Tucker-Automobil, das im Fabrikgebäude vor der versammelten Weltpresse enthüllt werden sollte.« »Aber gegen acht Uhr morgens war die Menschenmenge so groß geworden, daß einhundert Polizisten angefordert werden mußten, nur um den Verkehr zu regeln. Dreihundert Menschen waren eingeladen worden, mehr als fünftausend kamen.« Das Bild wechselte von der erwartungsvollen Menschenmenge vor den Toren zur Bühne in der Fabrik. Dort tanzten viele hübsche Mädchen – Frank hatte sie ›The Tuckerettes‹ getauft – , und die Band heizte den Leuten ein. Die Stimmung war ausgelassen, ja begeistert. »Der Tucker startete wie eine Rakete zum Mond!« sagte der Erzähler triumphierend.
Wie die meisten Dinge, die Frank für diese Feier ausgeheckt hatte, entsprach das nicht ganz der Wahrheit. Am 1. Juni 1945 gegen zwei Uhr mittags war der Tucker nicht wie eine Rakete zum Mond gestartet; er war überhaupt noch nicht gestartet. Die vielen Menschen, die sich schon den ganzen Tag in der Fabrik aufgehalten hatten, wurden allmählich ein wenig unruhig – der Wagen war immer noch nicht zu sehen, und die Band hatte bereits ihr ganzes Repertoire das dritte Mal durchgespielt. Frank, ein ausgesprochen guter Kenner solch vertrackter Situationen, fürchtete ein schreckliches Desaster. Wo blieb nur das Auto? Hinter der Bühne wurde immer noch hektisch gearbeitet. Tucker trug einen elegant geschnittenen zweireihigen Anzug und beobachtete Alex, Eddie, Jimmy und Junior, wie sie fiebrig an der widerspenstigen Maschine herumbastelten. »Wie lange noch? Wir sind bereits eine Stunde hinter der Zeit.« »Das Getriebe sitzt fest«, nuschelte Eddie mit zusammengebissenen Zähnen. Niemand hatte bemerkt, daß ein unwillkommener Gast es geschafft hatte, sich selbst zur Enthüllungsfeier einzuladen. Es handelte sich dabei um einen Mann, den Abe und Tucker zuvor in Senator Fergusons Büro gesehen hatten. Sie hatten damals seinen Namen nicht erfahren, hatten den Mann allerdings auch kaum bemerkt. Als ein inoffizieller Agent des Senators war der Mann so etwas wie ein diskreter Beobachter von Tuckers Aktivitäten, und es war ihm gelungen, einen der Wachmänner in ein Gespräch zu verwickeln. »Haben die da hinten vielleicht Schwierigkeiten?« fragte er scheinheilig. Der Wachmann nickte. Er mochte die Tucker-Jungs, und sie taten ihm ein wenig leid. Sie hatten wirklich eine schreckliche
Zeit hinter sich. »Die armen Schweine haben die ganze Nacht durchgeackert, nur damit dieser Schrotthaufen nicht auseinanderfällt. Die Kiste will einfach nicht rückwärts fahren. Im Ernst – ich mach’ keine Scherze.« »Kein Rückwärtsgang?« »Richtig.« Der Agent beugte sich ein Stück vor, flüsterte dem Wachmann etwas ins Ohr und steckte ihm gleichzeitig ein paar Geldscheine in die Hand. »Ich bin sehr daran interessiert, von Ihnen zu erfahren, was die da drinnen tun. An allem, was Sie mir erzählen können…« Der Wachmann sah in seine Hand und entdeckte zwei Fünfzigdollarscheine. Dann blickte er sich nervös nach allen Seiten um. Er mochte die Tucker-Jungs wirklich, aber hundert Dollar waren hundert Dollar. Er verdiente ganze 45 Dollar die Woche. Auf der anderen Seite konnte er arge Schwierigkeiten mit seiner Firma bekommen, und dennoch, hundert Dollar waren… »Sie bekommen noch mehr«, sagte Fergusons Agent. »Also gut. Um vier Uhr habe ich Feierabend. Wir treffen uns am Werkstor.« Der Agent nickte und begab sich dann auf die Suche nach einem Telefon. Er bahnte sich den Weg durch die Menge und durchsuchte seine Taschen nach genügend Kleingeld, um den Senator in Detroit anrufen zu können. Die Atmosphäre in der Fabrik wurde von Minute zu Minute angespannter. Vera saß mit ihren Kindern in der ersten Reihe und war abwechselnd um ihren Mann und dessen Zukunft oder um ihre Tochter und deren Ruf besorgt. Es hatte um Marilees Kleid einen Kleinkrieg gegeben; Marilee hatte natürlich darauf gedrängt, so wenig wie möglich am Ausschnitt zu ändern, Vera wollte ihn dagegen komplett zunähen. Tränen flossen, und es fielen böse Worte, aber zu guter Letzt hatte es so etwas
wie einen Kompromiß gegeben. Doch jetzt, zwischen all den Leuten hier, fand Vera, daß sie zu schnell nachgegeben hatte. Sie zog den Ausschnitt von Marilees Kleid ein wenig höher und versuchte, einen Seidenschal so über Marilees Schultern zu drapieren, daß er mehr nackte Haut verdeckte. »Ach, Mom«, jammerte Marilee. Aber Vera hatte ihre Aufmerksamkeit und die damit verbundenen Sorgen bereits wieder ihrem Mann auf der Bühne zugewandt. »Heul, wenn du willst«, sagte sie außer sich. »Ich hab’ dich schon als kleines Kind heulen sehen.« Aber Marilee war klar, daß sie die Aufmerksamkeit all dieser Leute auf sich lenken würde, und so entschloß sie sich, lieber die Tränen zu unterdrücken. Hinten im Publikum begann jemand, mit den Füßen zu stampfen und rhythmisch zu klatschen. »Anfangen!« rief er. »Worauf warten wir eigentlich noch?« »Genau!« brüllte ein anderer. »Laßt uns endlich die Show auf der Straße weitermachen!« Senator Fergusons Agent war gerade am Telefon und berichtete seinem Boß, daß weder die Show noch der Wagen jemals auf der Straße sein würden. Der Senator, der heute merkwürdigerweise viel Zeit hatte, war hocherfreut. »Gute Arbeit. Bleiben Sie am Ball«, ermunterte er seinen Agenten. Robert Bennington saß in einem schwarzen, maßgeschneiderten Anzug neben Floyd Cerf. Bennington und die anderen Vorstandsmitglieder der Tucker Motor Company saßen an der Bühnenseite auf einer Art Tribüne, als würden sie eine Parade abnehmen wollen. Bennington tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »In was haben Sie mich da nur verwickelt, Cerf?« fragte er zornig. Cerf erinnerte sich daran, daß er Bennington vor ein paar Wochen noch erzählt hatte, daß das hier das Geschäft seines
Lebens werden würde. Er erinnerte Bennington heute lieber nicht daran. Abe und Frank beobachteten Eddie und Jimmy hinter der Bühne bei der Arbeit. Beide Männer hatten keine Ahnung, was die Mechaniker da machten; alles, was sie wußten, war, daß es zu lange dauerte. »Startet endlich dieses verdammte Ding!« befahl Frank. Eddie warf ihm einen wütenden Blick zu. Jimmy beachtete ihn einfach nicht. Es ging nicht darum, den Motor zu starten – das war nicht das Problem – es ging darum, daß die Antriebswelle die Räder zum Drehen brachte. Das war das Problem. Abe nahm sich Tucker vor. »Sie haben mich überzeugt. Sie haben Cerf überzeugt. Sie haben die Typen von der War Assets Administration überzeugt. Jetzt gehen Sie da raus, und überzeugen Sie diese aufgebrachte Menschenmenge da draußen, daß alles in bester Ordnung ist und daß es sich lohnt, auf dieses Auto zu warten.« »Soll ich denen irgend etwas über Drehmomentwandler erzählen?« Frank stöhnte und lehnte sich mit dem Kopf gegen die kühlende Autokarosserie, die rot wie ein Liebesapfel lackiert worden war. »Gehen Sie da raus, und erzählen Sie denen irgend etwas!« brüllte Abe. »Aber tun Sie etwas! Erzählen Sie Witze. Aber erzählen Sie denen bloß nichts über Autos.« Tucker schluckte. »Eddie«, sagte er und klang dabei merkwürdig ruhig, »gib mir ein Zeichen, sobald ihr bereit seid. Stell dich in die Ecke hinter den Vorhang, und gib mir ein deutliches Zeichen, wenn ihr dieses verdammte Baby nach draußen bringen könnt.« »Ja, ja«, murmelte Eddie.
Tucker ging auf die Bühne. Die Tuckerettes applaudierten brav, wie es ihnen Frank gesagt hatte. Die Band begann zu spielen, aber das ungehaltene Publikum stampfte mit den Füßen und pfiff. Jemand begann, immer wieder rhythmisch »Wir wollen das Auto« zu rufen, und der Schlachtruf wurde von etlichen Leuten in der riesigen Halle übernommen. Tucker hielt besänftigend die Arme hoch. Die Band unterbrach mitten im Stück, und die Rufe verhallten. »Ladies and Gentlemen!« rief Tucker. »Entschuldigen Sie bitte die kurze Verzögerung, aber vielleicht wird Sie das nun folgende wieder aufmuntern: die Tuckerettes!« Die Leute hatten den Tuckerettes bereits seit Stunden zugesehen, und auch wenn sie hübsch und keß waren und in ihren rosa Kostümen sexy aussahen, waren sie mittlerweile keine Attraktion mehr. Aber die Tuckerettes sangen unverdrossen ein kleines Liedchen, das ihnen Frank beigebracht hatte. Der Text erzählte davon, daß, wenn man erst einmal einen Tucker fuhr, man in die Zukunft fuhr und die Freunde vor Neid platzen würden. Der Titel kam nicht gut an, aber Tucker merkte nichts davon. Er blickte hinter den Vorhang. Seine Männer schwirrten immer noch um das Auto herum und versuchten, es in Gang zu setzen. Jimmy lag unter dem Wagen, und als er unter ihm hervortauchte, sah er wie ein Bergwerksarbeiter aus. »Ich hab’ herausgefunden, woran es liegt.« »Woran?« »Es ist nicht die Antriebswelle.« »Was, zum Teufel, ist es dann?« »Die Karosserie. Sie sitzt auf den Hinterrädern. Mit diesem ganzen Gewicht können die sich nicht drehen. Die Achse und die Räder sehen aus, als ob sie sich festgefressen haben… haben sie aber nicht. Wir müssen die Karosserie abstützen, dann rollt das Ding.«
Eddie griff nach einem stabilen Vierkantholz. »Wenn wir die Karosserie aufbocken, können wir sie dann damit abstützen?« »Ja!« rief Jimmy. Er griff nach dem Stück Holz und wand sich unter den Wagen wie eine Schlange, die sich hinter einem Felsen versteckt. Junior und Alex pumpten zwei hydraulische Wagenheber hoch, die beide so an den Wagen angebracht wurden, als ob man die Reifen wechseln wollte. Jimmy zwängte zwei Holzstücke unter die Federbeine, und die anderen ließen dann langsam die Karosserie herunter. Als die Wagenheber weggezogen wurden, ruhte die schwere Karosserie auf der riskanten Konstruktion, aber es sah gut aus. Das Auto mußte nur fünf Meter zurücklegen – das kurze Stück würde es schon halten. »Alles klar«, sagte Jimmy erleichtert und kroch unter dem Wagen hervor. »Fertig. Sieht gut aus.« Eddie flitzte hinter den Vorhang und gab Tucker das Zeichen. Tucker nickte ihm zu und fühlte sich mehr als erleichtert. Er wandte sich der Menge zu und nahm sich von den Tuckerettes ein Mikrofon. »Und nun, Ladies and Gentlemen…«, seine Stimme hallte durch das riesige Gebäude, »nun ist endlich der große Augenblick gekommen, auf den Sie alle so gewartet haben…« Jimmy stützte sich gegen den linken hinteren Kotflügel, um das Auto in Position zu bringen, als er plötzlich bemerkte, daß ihm etwas auf die Schuhe tröpfelte. Er schaute nach unten und sah, wie sich eine kleine, blaugrüne Öllache um seine Füße bildete. Er fluchte auf japanisch. Die Antriebswelle oder das Getriebe leckte! »Halt! Das Druckausgleichsventil leckt!« Eddie fluchte auf englisch. »Junior, brems deinen Vater. Jimmy, hol eine Lötlampe.«
Junior rannte hinter den Vorhang. »Nein, Dad, noch nicht!« zischelte er laut vernehmbar. »Aber bevor wir nun das Auto präsentieren«, verkündete Tucker geschickt – es gab ein Raunen im Publikum – , »haben Sie doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich Ihnen erst einmal meine Familie vorstelle, oder?« Der Großteil des Publikums hatte etwas dagegen, traute sich aber nicht, zu protestieren. Fergusons Agent, der alles vom Zuschauerrand her beobachtet hatte, war hocherfreut. Es lief alles weit besser ab, als er und der Senator jemals zu hoffen gewagt hätten. Vera hörte, wie ihr Name genannt wurde. Wie automatisch erhob sie sich und winkte dem Publikum fröhlich zu, als sei alles in bester Ordnung. »Meine reizende Frau Vera«, sagte Tucker, und es gab freundlichen Applaus. »Meine Tochter, Marilyn Lee.« Es gab anerkennenden Applaus, vermischt mit einigen bewundernden Pfiffen von den Jungs, die nahe genug waren, um einen Blick auf ihr Kleid werfen zu können. »Meine Söhne, Noble und Johnny. Und ich habe noch einen weiteren Sohn. Aber Preston Junior, mein ältester, ist hinter der Bühne.« »Ist der auf der Rückbank eingeschlafen?« rief ein Typ von der Chicago Sun-Times, der im Rufe stand, so etwas wie ein Spaßvogel zu sein. Das Publikum lachte jedenfalls. »Ich weiß nicht, wo Sie aufgewachsen sind«, konterte Tucker, »aber als ich noch jung war, fielen uns auf der Rückbank weit bessere Dinge ein, als einzuschlafen.« Tucker erzielte einen Lacherfolg. Hinter der Bühne kroch Jimmy schon wieder unter dem Wagen hervor; er hatte die undichte Stelle versiegelt. Nun wurde es Zeit.
»Alles repariert!« »Okay«, sagte Eddie. Junior gab seinem Vater das Zeichen. Tucker lächelte und legte eine Kunstpause ein. »Will jemand das Auto sehen?« »Das Auto? Was für ein Auto?« rief jemand. »Das Tucker-Torpedo!« verkündete Tucker. Es gab einen aufrichtigen Beifallssturm. Das Publikum war zwar ungeduldig, aber es war noch nicht aufgebracht – noch nicht. Sie mußten jetzt nur noch das Auto herausbringen. Aber das immer noch hinter der Bühne stehende TuckerTorpedo brannte. Rauch und Flammen züngelten unter der Karosserie hervor. Alex und Jimmy warfen sich auf den Boden und begannen, die Flammen auszuschlagen. Ein Schmierlappen hatte Feuer gefangen. »Junior!« rief Eddie verzweifelt. Junior winkte aufgeregt seinem Vater zu und schüttelte den Kopf. »Mach weiter, Dad! Erzähl noch was!« »Aber bevor wir Ihnen nun das Auto präsentieren«, sagte Tucker, »lassen Sie mich Ihnen einige der aufsehenerregendsten Neuerungen des Tucker-Torpedos erläutern.« Das Publikum stöhnte auf. Frank und Abe stand der Angstschweiß auf der Stirn. Bennington sackte auf seinem Stuhl zusammen. Senator Fergusons Agent war hocherfreut. »Meine Damen«, sagte Tucker an die Tuckerettes gewandt, »das Detroiter Automobil, bitte…« Drei Tuckerettes kamen auf die Bühne. Zwei von ihnen trugen ein Modell aus Pappe eines konventionell gebauten Detroiter Autos. Die dritte trug einen funkelnagelneuen, großen Mülleimer. »Wegen des revolutionären neuen Tucker-Heckmotors benötigen wir achthundert Teile weniger als bei einem
konventionell gebauten Auto. Diese Teile sind sinnlos, aber die großen Drei haben uns trotzdem dafür zur Kasse gebeten. Wir benötigen kein Differentialgetriebe mehr.« Tatsächlich brauchten sie es noch, aber in der Zukunft nicht mehr. Eine der Tuckerettes zog ein Differentialgetriebe aus Pappe aus dem Detroiter Automobil und warf es in den Mülleimer. »Wir brauchen auch keine lange Kardanwelle mehr.« Eine Kardanwelle folgte dem Differentialgetriebe in den Mülleimer. Hinter der Bühne war das Feuer gelöscht worden. Es war nicht groß gewesen – lediglich ein Funken der Lötlampe hatte einen öl- und benzingetränkten Lappen entflammt – , aber es hatte gereicht, alle in Panik zu verrsetzen. Auf der Bühne fuhr Tucker fort: »Und das Beste von allem ist, man kann mit dem Tucker auf der ganzen Welt zu einem noch so schlecht ausgebildeten Kfz-Mechaniker fahren, und er wird den Motor in einem Stück ausbauen und in zwanzig Minuten wieder einbauen können.« Bennington stockte der Atem. »Das stimmt doch nicht«, flüsterte er Cerf zu. »Hat ihm niemand gesagt, daß wir das verworfen haben? Warum, zum Teufel, sagt er das?« »Pssst!« sagte Cerf. Jimmy, Eddie und Alex schoben das Auto auf die Bühne, zogen eine Hülle darüber und verschwanden, bevor sich der Vorhang öffnete. Junior gab seinem Vater das Startzeichen und verdrückte sich. Tucker nickte. »Und nun der große Augenblick, auf den Sie alle gewartet haben«, verkündete Tucker triumphierend. »Und gewartet… und gewartet«, rief jemand aus dem Publikum. Die Band ließ eine laute Fanfare erklingen, und hinter Tucker öffnete sich der Vorhang. Und dort, im Glanz des Scheinwerferlichts, stand das einzige Tucker-Torpedo der Welt. Doch noch war das Auto von einem Seidenlaken
verhüllt. Tucker macht einen Schritt nach vorn, griff nach einer auf dem Boden liegenden Leine und zog die Hülle von dem Auto. Es gab ein hörbares Raunen im Publikum, gefolgt von einem ehrfurchtsvollen Schweigen, während die wunderschöne Form bestaunt wurde. Urplötzlich und völlig spontan wallte ein gewaltiger Applaus auf. Tucker mußte sich eingestehen, daß der Wagen sehr imposant wirkte, aber die Menge konnte einfach nicht glauben, daß ein Serienwagen derart schön aussehen konnte. Dieselben Gedanken, die einer Anzahl von Arbeitern und Technikern vor ein paar Monaten gekommen waren, als Tucker die Entwürfe nach Hause gebracht hatte, kreisten nun durch das Publikum. Das Auto sah so aus, als ob es selbst im Leerlauf neunzig Meilen die Stunde fuhr. Die plumpen, kastenförmigen und untermotorisierten Vorkriegsmodelle von Chevrolet, Ford und Studebaker gehörten der Vergangenheit an. Der Tucker war tatsächlich das Auto der Zukunft. Fergusons Agent fühlte sich ein wenig unwohl. »Ladies and Gentlemen, um das erste wirklich neue Auto seit fünfzig Jahren taufen zu können, bitte ich meine hübsche Tochter Marilee und meine ganze Liebe und Inspiration, meine Frau Vera, auf die Bühne.« Vera und Marilee kamen aufgeregt auf die Bühne. Sie versuchten, nicht in die Menge zu schauen, aber sie winkten verlegen und nickten dem Publikum kurz zu, damit wenigstens jeder ihr Erscheinen registrierte. Eine der Tuckerettes überreichte Vera eine Flasche Champagner, die Vera gleich an Marilee weitergab. »Ich?« »Nun mach schon«, drängte Tucker. Marilee griff um den Flaschenhals, atmete einmal tief durch und warf sie gegen die Stoßstange des Autos. Hinter der Bühne betete Eddie leise in sich hinein, daß die Stoßstange nicht
abfallen würde. Sie hielt. Der Champagner spritzte über den ganzen Wagen, aber am meisten bekam Tucker ab, der während der Zeremonie neben dem Kotflügel gestanden hatte. »Ich nehme gewöhnlicherweise außer samstags kein Bad«, sagte er und wischte sich den Champagner aus dem Gesicht. Aus der Seitenkulisse tauchten Arbeiter auf und legten vom Bühnenrand aus eine Rampe ins Publikum. Tucker übergab einer der Tuckerettes sein Mikrofon, stieg in das Auto und setzte sich hinter das Lenkrad. Alex, Jimmy und Junior hatten sich mittlerweile Eddies Stoßgebet angeschlossen. Nun galt es! Der Motor sprang bei der ersten Umdrehung des Zündschlüssels an; die fast dreihundert Pfund schweren Batterien waren stark genug. Der Motor heulte auf. Tucker legte den ersten Gang ein und fuhr langsam in das beifallspendende Publikum die Rampe hinunter. Das Auto lief geschmeidig wie Seide.
5 Wochenschau Stan, der Kameramann, und Frank, der Presseagent, hatten für das Auto eine Motorrad-Polizeieskorte organisiert. Tucker saß hinter dem Steuer. Während er durch die Chicagoer Straßen sauste, blieben die Menschen am Straßenrand stehen und schauten dem Auto bewundernd hinterher. Mit heulenden Sirenen bewegte sich die Kolonne im Eiltempo direkt zum Flughafen. Sie fuhren durch die Tore auf den betonierten Abstellplatz und direkt auf die hintere Laderampe eines großen Conestoga-Militär-Transportflugzeugs zu. Stan hielt alles mit der Kamera fest. »Tucker sorgte höchstpersönlich dafür, daß sich das amerikanische Volk von den sensationellen Fortschritten in der Kraftfahrzeugtechnik selbst überzeugen konnte…« Es folgten einige Bildsequenzen: Tucker und dessen Auto auf der Bühne des Paramount-Filmtheaters in New York. Das Auto wie ein Filmstar im Scheinwerferlicht, Tucker dazu passend im Smoking. Er trug während seiner Rundreise durch das ganze Land derart häufig elegante Anzüge, daß sich die Leute über seinen Sonntagsstaat schon regelmäßig Witze erzählten. Was die sensationellen Fortschritte in der Kraftfahrzeugtechnik betraf, so stellte Tucker weder das alte Getriebe und die Antriebswelle des Cord noch das Chassis von 1940 vor. Aber die amerikanische Bevölkerung bekam ein wunderschönes Auto zu sehen, ein Auto, das wahnsinnig schnell und elegant war. In den Scheinwerfer, der sich mit der Vorderachse drehte, hatte sich das Publikum regelrecht vernarrt. Doch niemand hatte den Wagen bislang rückwärts fahren gesehen.
Eddie und Jimmy reisten mit und kümmerten sich um das Auto. Sobald die Shows und täglichen Vorführungen beendet waren, untersuchten sie ihr Baby von oben bis unten, um sicherzustellen, daß das Auto auch am folgenden Tag den Strapazen eines Showstars gewachsen war. Obwohl sie die merkwürdige Entdeckung machten, daß das einst so zerbrechlich wirkende Auto wie ein Fohlen von Tag zu Tag kräftiger zu werden schien. Der Motor setzte nicht ein einziges Mal aus, und das Getriebe spielte nicht einmal verrückt. Die Elektrik funktionierte einwandfrei. Das verteufelte Druckausgleichsventil an der Schmiervorrichtung saß fest wie ein Fels in der Brandung. Allmählich dämmerte es den beiden Mechanikern, daß das Tucker-Torpedo tatsächlich das war, was Tucker immer behauptet hatte – das revolutionärste Auto seit fünfzig Jahren, und es würde in naher Zukunft sogar noch verbessert werden können. Ferguson, General Motors, Ford und Chrysler sahen das genauso. In Washington und Detroit trafen sich in den Büros, Nobelrestaurants und Clubs besorgte Männer, um über den Tucker zu diskutieren. Sie waren sich alle einig, daß etwas geschehen mußte. Die Tucker-Promotion-Tournee war ein Bombenerfolg. Sobald das Auto und sein Erfinder in eine Stadt fuhren, erschienen Tausende von Menschen, um dieses Wunder der Technik zu besichtigen. Sie klatschten und jubelten Tucker zu, und er erhielt Auszeichnungen, Preise und Ehrenbürgerschaften. Er erhielt auch Geld. Abe, in Tuckers Gefolge, verkaufte Aktien und Händlerlizenzen im Wert von mehreren Millionen Dollar. Es sah so aus, als ob die Tucker Motor Company zur Realität werden sollte. Sie hatten die Fabrik, das Auto und nun erstaunlicherweise auch das Geld. Das Tucker-Torpedo war ununterbrochen von wißbegierigen Autonarren umringt, und Tucker war von hübschen Mädchen
umgeben, die Frank angeheuert hatte. Wo er auch hinkam, es wurden immer mehr Tuckerettes, und immer stand eine Phalanx von Fotografen von Zeitschriften wie Life, Time, Colliers oder der Saturday Evening Post daneben. Alles – jeder Schritt Tuckers, jede Bewegung seines Autos oder sein Auftreten mit den vielen hübschen Frauen – wurde von den großen Speed Graphic-Kameras festgehalten. In Los Angeles war die Rundreise schließlich zu Ende. Der Tucker-Werbezug für die Zukunft war vorbei. Das Auto war in einer Lattenkiste verstaut worden und wurde wieder nach Chicago gebracht. Tucker gewöhnte sich in seiner Suite im Beverly Hills Hotel ein; er mußte noch für ein paar Tage in Los Angeles bleiben, um sich mit Bankern und Börsenmaklern zu treffen. Anscheinend würde er nach New York fliegen müssen, um dort mit den gleichen Männern in Nadelstreifenanzügen zusammenzutreffen. Das Tohuwabohu war vorüber, die hübschen Mädchen verschwunden, und Tucker war allein. Aus einer spontanen Regung heraus rief er um drei Uhr morgens Vera an. Er ertappte sich selbst dabei, daß er die alte Nummer in Michigan wählte. Seine Familie war während seiner Abwesenheit umgezogen und hatte die baufällige, alte Farm gegen eine große Wohnung in einem feudalen Gebäude am Lake Shore Drive eingetauscht. Abe hatte gesagt, daß es für einen Industriekapitän angemessener wäre, dort zu wohnen, und Frank hatte zugestimmt. In Chicago war es fünf Uhr morgens, und obwohl Vera schlecht geschlafen hatte, war sie doch erschrocken, so früh am Morgen die Stimme ihres Mannes zu hören. »Bist du okay?« Auch über das halbe Land konnte Tucker die Besorgnis in ihrer Stimme wahrnehmen. »Ich weiß, es ist noch sehr früh… Ich wollte nur… ich weiß auch nicht.« Vor allem wollte er bei ihr sein – bei ihr im
großen Bett – und nicht in dieser luxuriösen, anonymen Hotelsuite. »Dir bereitet doch etwas Kummer, oder?« Tucker nahm einen Scheck vom Nachttisch und sah ihn sich an. Was sollte ihm außer ein wenig Einsamkeit schon Kummer bereiten? »Tut mir leid, dich geweckt zu haben.« Aber Vera war mittlerweile hellwach. »Ich kann keine Zeitung in die Hand nehmen, ohne ein Bild von dir zu sehen.« Tucker lachte in sich hinein. »Ich habe an ein paar neuen Arten zu lächeln gearbeitet.« »An deinem Industrieboß-Lächeln könntest du noch ein wenig arbeiten.« Tucker wußte das. Ungeachtet des Autoerfolgs und der gigantischen Fabrik fühlte sich Tucker überhaupt nicht wie ein Industrieboß. Er vermißte das Gefühl, als exzentrischer Erfinder in der Scheune Dinge auszutüfteln, Probleme zu lösen, einfach etwas herzustellen. Aber das war nun vorbei. Der Scheck in seiner Hand war der Beweis. »Weißt du, was ich gerade in der Hand halte?« »Ich hoffe, keine Blondine.« »Einen Scheck über fünfzehn Millionen Dollar. Ich, der Bauernjunge aus der tiefsten Provinz, halte fünfzehn Millionen Dollar in meiner Hand.« Unwillkürlich überlief es Tucker heiß und kalt, die momentane Melancholie verschwand. »Kannst du so etwas glauben?« »Klar«, sagte Vera wie selbstverständlich. »Sicher kann ich das glauben.« »Es ist schon verrückt, was so alles passiert.« »O ja. Werfen sich eigentlich viele dieser Schönheiten dir zu Füßen?« »Mir zu Füßen?« »Wenn sie es tun, dann verkauf denen wenigstens Aktien.«
Tucker lachte wieder. »Ich liebe dich, Vera. Fahr vorsichtig.« »Ich habe nichts, womit ich fahren könnte. Jedenfalls nicht, bevor du nicht zurückkommst und mir ein Auto baust.« »Wird sofort erledigt«, sagte Tucker, und jetzt strahlte er über das ganze Gesicht. Das von Bennington eingestellte Personal und der Firmenvorstand trugen nur wenig dazu, in der Tucker-Fabrik eine angenehme Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Sie fielen über die Fabrik her wie Marinesoldaten, die auf einem Strand landeten, und teilten Befehle aus. Alex arbeitete in der Karosserie-Entwicklungsabteilung und überwachte die Herstellung eines Holzmodells für das Auto. Er konnte nicht glücklicher sein – jetzt, wo sie ausreichend Material und auch die notwendige Zeit hatten, würde er das Auto richtig bauen können. Aber dann marschierte einer von Benningtons Ingenieuren herein, als gehöre ihm die Fabrik. Er drückte Alex ein paar Entwürfe in die Hand, als handele es sich dabei um einen Haftbefehl. »Hier sind die neuen Spezifikationen. Das Auto wird 64 Inches lichte Höhe haben, anstatt 56. Wir haben die Spurweite verändert…« »Moment mal! Wer sind Sie überhaupt?« protestierte Alex. »Ihr Boß«, gab der Mann unmißverständlich zur Antwort. Eddie und Jimmy widerfuhr die gleiche Behandlung in der Motoren-Entwicklungsabteilung. Ein Diplomingenieur des General-Motors-Instituts hatte die beiden Tucker-Mechaniker mit eiskaltem, angewidertem Blick gemustert und dann begonnen, Befehle auszuteilen. »Kein Heckmotor«, sagte er. Heckmotor! So etwas Verrücktes. Weder Fords noch Chevrolets hatten
Heckmotoren. Und Bennington hatte entschieden, daß das mit Tucker-Autos nicht anders sein würde. Doch Tucker wußte noch nichts davon, er war noch in New York. Alex und Eddie gingen zu Bennington, kamen aber erst gar nicht an der Sekretärin vorbei. »Wir müssen mit Bennington reden«, beschwerte sich Eddie empört. »Wir vertreten Mr. Tucker.« »Es tut mir leid, aber Mr. Bennington ist nicht da, er hat außer Haus einen Termin.« Sie hatte seit Jahren für ihren Chef gelogen. Im Normalfall wußte jeder, daß die Sekretärin log, aber niemand traute sich, zu widersprechen. Eddie kannte die Spielregeln nicht, oder wenn er sie kannte, waren sie ihm zumindest schnuppe, und er öffnete die Tür zu Benningtons Büro. Bennington saß hinter dem Schreibtisch und diktierte einer Stenotypistin einen Brief. »Das nächste Mal, wenn Sie außer Haus gehen, Bennington, sollten Sie vielleicht lieber Ihren Körper mitnehmen.« Schließlich mußte jemand vom Sicherheitsdienst ins Büro heraufkommen und Eddie und Alex hinauswerfen Vera beschloß, das Problem auf ihre Weise zu lösen. Sie stürmte in den Sitzungsraum der Tucker-Fabrik wie jemand, der eine Straßensperre durchbrechen wollte. Eine ganze Horde Sekretärinnen folgte ihr. Bennington saß am Kopfende. Verärgert blickte er auf, aber als perfekter Gentleman stand er – wie die anderen Vorstandsmitglieder auch – auf. »Mrs. Tucker, ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte er – er war kein guter Lügner. »Aber rufen Sie doch bitte meine Frau an. Mrs. Bennington ist für alle sozialen Aktivitäten unserer Firma verantwortlich.« »An meinem Besuch gibt es nichts Soziales.« Sie war so wütend, daß sie beinahe fauchte. »Setzen Sie sich hin! Alle!« Gehorsam wie Schuljungen setzten sich die Herren Vorstände hin. »Als erstes will ich wissen, was Sie mit dem Auto meines
Mannes alles vorhaben. Warum wollen Sie keinen Heckmotor? Alex Tremulis hat mir gesagt, Sie haben die lichte Höhe des Autos verändert. Das ist doch geradezu lächerlich!« Bennington grinste nachsichtig. »Wirklich, ich bewundere Sie. Ich finde es wirklich reizend, wenn eine Vertreterin des schwachen Geschlechtes Interesse an der Arbeit ihres Ehemanns…« »Bezeichnen Sie mich nicht noch einmal als Vertreterin des schwachen Geschlechts!« Veras Stimme und Blick waren kühl. »Warum haben Sie die Form vom Auto meines Mannes geändert? Und die Farbe? ›Walzer-Blau‹ – Mein Gott! Muß wohl zufällig von der Farbe eines meiner Abendkleider stammen.« Bennington behandelte sie nicht mehr als schwache Vertreterin ihres Geschlechts. »Ich muß bis zum 1. Juni fünfzig Autos produziert haben. Dieses Hirngespinst von Ihrem Mann, dieser Heckmotor, funktioniert offensichtlich nicht, und die Wahrscheinlichkeit, daß er es jemals tut, ist äußerst gering.« Alle Vorstandsmitglieder schauten nun auf Vera und erwarteten deren Antwort; es war wie bei einem Tennismatch. »Und was ist mit dem Preis? Sie haben den Preis erhöht. Preston hat dem Käufer das Auto für eintausend Dollar versprochen. Und Sie…? Sie haben das Verkaufsbüro angewiesen, den Preis zu verdoppeln!« Bennington begann wieder, Vera wie ein dummes Mädchen zu behandeln. »Mrs. Tucker, meine Frau und ich würden uns freuen, Sie bei uns zum Essen begrüßen zu dürfen, wann immer Sie wollen…« »Ich kann mir mein Essen selbst kaufen, Benny«, raunzte ihn Vera an. »Und jetzt beantworten Sie mir gefälligst meine Fragen!«
»Das ist ganz einfach«, sagte Bennington. »Der Wagen kostet das Doppelte, weil wir doppelt soviel wie die großen Drei für Stahl bezahlen müssen.« »Stahl?« »Richtig. Nun, ich möchte nicht unhöflich wirken, aber wir stecken mitten in einer wichtigen Sitzung. Und wie Sie doch wissen…« – er grinste wieder nachsichtig -»… rechtzeitig reparieren erspart Kosten.« Vera stürmte hinaus. Sobald Tucker zurückkommen würde, würde es einiges zu reparieren geben. Vor allem Mr. Robert Bennington.
6 Werbung Vier Mädchen standen dichtgedrängt um ein Mikrofon, links neben ihnen stand Tucker hinter seinem eigenen Mikrofon und las stirnrunzelnd den Werbetext. »Okay, Mädchen«, sagte der Regisseur. Der Toningenieur des Aufnahmestudios meldete sich per Lautsprecher aus dem Abhörraum. »Wenn du bereit bist, können wir aufnehmen, Marty.« »Gebt alles, was ihr habt, Mädchen«, sagte Marty. »Wenn du einen Tucker fährst«, sang das Quartett, »wenn du einen Tucker fährst, fährst du schon heute im Auto der Zukunft.« »Jetzt Tucker«, rief der Mann im Abhörraum. Frank nickte Tucker zu. »Hallo, Leute. Ich bin Preston Tucker. Es ist nicht höflich, laut auf die Hupe zu drücken, also lasse ich das lieber den Tonmeister für mich erledigen.« Marty drückte auf den Gummibalg einer altmodischen Autohupe, die wie ein Esel schrie. »Aber mal im Ernst«, fuhr Tucker fort und hielt plötzlich inne. »Wer hat denn das hier geschrieben?« »Stopp das Band!« rief Marty. Tucker warf das Manuskript in einen Papierkorb. »Das ist ja schrecklich. Ich werde mir selbst einen Text schreiben müssen.« Frank zuckte die Achseln. Die Typen von der Werbeagentur, die von der Tucker Company beauftragt worden war, fanden den Text ausgezeichnet – clever und populär. Die Stimme des Toningenieurs schepperte aus dem Lautsprecher.
»Telefon, Mr. Tucker.« »Sagen Sie, ich rufe zurück.« Tucker schrieb gerade ein paar Stichworte für seinen eigenen Werbetext auf und war beschäftigt. »Es ist Ihre Frau. Sie sagt, es sei wichtig.« Tucker eilte ans Telefon; ohne triftigen Grund würde Vera niemals anrufen. »Liebling, du mußt auf der Stelle zurückkommen«, flehte sie ihn an. »Warum? Was ist passiert?« Aber Junior hatte seiner Mutter den Hörer bereits aus der Hand gerissen. »Dad, Bennington hat die ganze Karosserie verändern lassen!« Verändern lassen? dachte Tucker. Was hätte Bennington schon verändern lassen können? Jedermann wußte, was von dem Tucker-Torpedo verlangt wurde. Falls Bennington lediglich an der Innenausstattung herumpfuschen wollte, warum sollte man deswegen sauer auf ihn sein? So kam er sich wahrscheinlich wichtig vor und bekam zudem noch das Gefühl, als würde er etwas von Autos verstehen. »Du wirst nicht glauben, was er alles getan hat. Er hat sich für einen ganz normalen V-8-Frontmotor entschieden, hat das ganze Äußere der Karosserie verändert…« »Hör auf!« brüllte Tucker. »Macht euch doch deswegen keine Sorgen. Es ist okay so.« »Okay?« brüllte Junior zurück. »Alex sagt, falls Bennington weiterhin daran festhält, einen 1940er Plymouth zusammenzuschustern, wie er es ohne Zweifel vorhat, dann würde es Millionen kosten, wenn wir wieder auf unser Auto umrüsten wollen. Gar nicht zu denken an die Zeit, die dabei flöten geht. Wenn wir in einem Jahr fünfzig Autos haben wollen, dann…«
»Das einzige, was jetzt zählt, ist, Aktien zu verkaufen«, unterbrach ihn Tucker. »Wenn ich die Geldsäcke in New York nicht dazu bringe, einzusteigen, wird es gar kein Auto zum Verschandeln geben. Also vergiß diesen Bennington. Sobald ich zurück bin, werde ich ihn mitsamt dem Rest der anderen Beerdigungsunternehmer zurück ins Leichenschauhaus schicken.« »Aber Dad, Mom sagt, du hast bereits fünfzehn Millionen Dollar zusammen. Das muß doch reichen.« Es gab mal eine Zeit, in der Tucker dasselbe gedacht hätte. Aber fünfzehn Millionen Dollar waren nur der Anfang, der Grundstock. Wenn Tucker überleben und mit der Serienproduktion beginnen wollte, dann mußte er noch etliche Millionen mehr auftreiben. Schließlich bauten sie nicht mehr wie früher in einer Scheune Autos. Der Toningenieur startete das Playback des von den Mädchen gesungenen Tucker-Songs. »Wenn du einen Tucker fährst…«, dröhnte es durch den Abhörraum. Veras Stimme war wieder am anderen Ende der Leitung zu hören. »Und Bennington sagt, wir müssen den Preis verdoppeln, den du angekündigt hast, weil wir für den Stahl das Doppelte zahlen sollen.« »Wenn du einen Tucker fährst…« »Würden Sie bitte dieses verdammte Lied abschalten?« schnauzte Tucker den Toningenieur an, und die Musik brach abrupt ab. »Und Preston… bitte, kein ›Walzer-Blau‹.« »Was ist? Liebling, ich komme noch heute nacht zurück.« Irgendwoher hatte Abe ein Flugzeug erworben. Eine laute Ford Trimotor, ein Vorkriegsmodell, aber sie war in den Tucker-Farben gestrichen und trug am Rumpf die Aufschrift ›Tucker Motor Company‹. Mit Tucker, Abe und Frank an Bord flog das Flugzeug durch den nächtlichen Himmel. Abe und
Frank saßen nebeneinander, Tucker auf der anderen Seite des schmalen Mittelgangs. Der Geschäftsmann und der Werbefritze machten sich eifrig Notizen. Tucker war in Gedanken versunken. Bennington hatte Vera die Wahrheit gesagt. Detroit hatte auf die Stahlindustrie Druck ausgeübt, so daß Tucker mehr als jeder andere für den unverzichtbaren Stahl bezahlen mußte. Und wenn sie für Stahl mehr bezahlen mußten, würde der Autokäufer für das Auto auch mehr bezahlen müssen. Tucker war außer sich: Er hatte dem amerikanischen Volk versprochen, daß das Tucker-Torpedo $ 1000 kosten würde, und niemandem, nicht einmal den großen Drei, würde es gelingen, ihn als Lügner dastehen zu lassen. Tucker lehnte sich über den Mittelgang zu Frank und Abe hinüber. »Frank, Abe, ich will eine Stahlfabrik kaufen. Wir brauchen eine. Wir müssen eine eigene haben.« Abe und Frank sahen sich an. Besorgt mir eine Stahlfabrik, hat er gesagt. Eine Stahlfabrik kann man vielleicht in der Lotterie gewinnen, müßten sie eigentlich antworten. Es würde sie nicht überraschen, wenn Tucker eines Tages verkünden würde, daß er ein U-Boot, eine Fischkutter-Flotte oder einen Zeppelin brauche. »Ich werde das mit unserem Freund Beasley von der War Assets Administration durchgehen und prüfen, ob die noch irgendwo eine Stahlfabrik übrig haben«, sagte Abe. »Wie kommt man daran?« »Der Meistbietende erhält sie.« »Dann sehen Sie zu, daß wir das sind.« »Ja, ja«, murmelte Abe und hoffte insgeheim, daß Tucker bis zur Landung in Chicago alles vergessen haben würde. Tucker lehnte sich im Sitz zurück. Frank zog die Kappe von seinem Füllfederhalter und schrieb auf der gelben
Schreibunterlage ein paar Notizen. Tucker beobachtete ihn eine Zeitlang, dann beugte er sich wieder zu ihnen hinüber. »Ein schöner Füller.« »Danke«, sagte Frank. Er fragte sich, ob Tucker als nächstes vorschlagen würde, eine Füllfederhalterfabrik zu kaufen. »Ich würde Ihnen gerne meine Krawattennadel dafür geben.« Das war nun noch überraschender. »Sie wollen was?« Tucker zog die Krawattennadel von seiner Seidenkrawatte. »Vierzehn Karat Gold. Ich will mit Ihnen ein Tauschgeschäft machen.« Frank fragte sich, ob alles für Tucker zu viel gewesen war. Schließlich hatte der Mann seit Tagen, und das bei all dem Kummer, rund um die Uhr arbeiten müssen. »Mit mir tauschen?« fragte er verblüfft. »So einen Füller können Sie überall kaufen.« Tucker lächelte verschmitzt. »Wo bleibt da der Spaß? Wie sagen Leute wie Sie doch gleich? Kommen wir ins Geschäft, oder nicht?« »Wir kommen nicht ins Geschäft«, entgegnete Frank. Tucker lehnte sich in seinem Sitz zurück. Er war überrascht. Er hatte nicht gewußt, daß Frank das Leben so ernst nahm. Die Sitzung des Verwaltungsrats am nächsten Tag war allerdings tatsächlich ernst. Tucker und Abe traten gegen Bennington und die anderen sechs Mitglieder des Verwaltungsrats an. Tucker waren alle Vorstandsmitglieder schon einige Dutzend Male vorgestellt worden, aber er vergaß immer wieder ihre Namen – sie sahen alle gleich aus. Wenn Bennington der Beerdigungsunternehmer war, dann waren diese anderen Typen die Sargträger. Robert Bennington gab sich gewohnt cool, ruhig und kontrolliert – er konnte einen zum Rasen bringen. Er belehrte Tucker wie einen Schuljungen.
»Ein für allemal, Mr. Tucker, das mit dem Heckmotor ist aus und vorbei. Ihre eigenen Ingenieure räumen ein, daß der Tucker-589-Motor eine Fehlkonstruktion ist.« »Dann werden wir eben einen anderen bauen, einen besseren«, sagte Tucker. Bennington schüttelte den Kopf. »Der Vorstand wird keine weiteren Diskussionen, soweit sie den Heckmotor betreffen, mehr zulassen.« »Der Vorstand?« fragte Tucker erstaunt. Er sah Abe an, dann musterte er die Sargträger. »Wer hat hier wen zum Vorstand ernannt?« Bennington hielt es nicht einmal für nötig, die Frage zu beantworten. Er nahm ein Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag, in die Hand und las von einer Liste ab. »Außerdem sind gestrichen und stehen somit auch nicht mehr zur Debatte: Scheibenbremsen, Kraftstoff-Einspritzung, hydraulische Ventilstößel, Sicherheitsgurte…« »Sicherheitsgurte? Wie können Sie etwas gegen Sicherheitsgurte haben?« »Unsere Marktforschungs-Abteilung befürchtet, daß Sicherheitsgurte den Eindruck erwecken könnten, daß unsere Autos nicht stabil sind.« »Menschen sind nicht stabil!« sagte Tucker aufgebracht. »Hören Sie, Bennington, wenn ein Mensch in einem Tucker wegen einer von Ihnen gestrichenen Sicherheitsvorkehrung sterben muß, dann…« »Darf ich Sie daran erinnern, Sir«, unterbrach ihn Bennington in seinem schulmeisterlichen Tonfall, »daß Sie sich nicht in die Geschäftspolitik einzumischen haben. Ich allein bin für diese Firma verantwortlich.« »Für diese Firma? Das ist meine Firma.« »Das ist nicht Ihre Firma.«
»Und ob. Darf ich Sie daran erinnern, Sir, daß es sich hierbei um die Tucker Motor Company handelt! Die Autos tragen meinen Namen. Wenn die Autos Benningtons heißen würden, könnten Sie vielleicht das Recht haben, aber so…« »Ich denke, Sie sollten sich die mir laut Vertrag zustehenden Machtbefugnisse näher durchlesen. Ich allein bin für geschäftspolitische Entscheidungen verantwortlich.« Tucker wandte sich an Abe. »Ist das wahr?« »Sie wissen doch, daß wir seinen Namen brauchten, um Aktien zu verkaufen. Und wir brauchten einen erfahrenen Mann aus der Autoindustrie.« Abe legte die rechte Hand auf das Herz. »Und ich schwöre bei Gott, ich wüßte nicht, daß er durch seinen Vertrag eine solche Macht erhalten hat.« Bennington erlaubte sich ein hämisches Grinsen. »Sie können Falstaff nicht ohne Hunger engagieren, Mr. Tucker.« Abe schaute sich die Sargträger an und fragte sich, wer von ihnen dieser Falstaff sein könnte und was dieser mit alldem hier im Augenblick zu tun hatte. »Was, zum Teufel, soll das heißen?« »Kleine Boote sollten sich nicht zu weit von der Küste entfernen.« Tucker wandte sich erneut an Abe. »Der spricht ja wie ein Orakel.« »Ich versuche lediglich, Ihnen alles so einfach wie möglich zu erklären.« »Schluß jetzt«, sagte Tucker. »Und jetzt werde ich es Ihnen so einfach wie möglich erklären: Das hier ist meine Firma, Mr. Bennington, und das heißt, es gibt Sicherheitsgurte, KraftstoffEinspritzung und Scheibenbremsen…« »Wir werden ja sehen, Mr. Tucker.« Bennington war aufgebracht, seine kühle Fassade begann zu, bröckeln. Eine Sekretärin streckte den Kopf durch die Tür. »Da ist ein Telefonat für Sie, Mr. Tucker.«
»Jetzt nicht!« »Es ist aber sehr dringend«, sagte sie schüchtern. Im Sitzungsraum gab es einen Nebenanschluß. Tucker hob wütend den Hörer ab. »Hallo…?« »Mr. Preston Tucker?« fragte jemand mit professionell unterkühlter Stimme. Wenn Bennington nicht direkt vor ihm gesessen hätte – Tucker hätte schwören können, mit ihm zu sprechen. Die Stimme klang jünger, aber sie hatte denselben selbstgefälligen Unterton. »Ja, ich bin Tucker.« Er hörte einen Augenblick lang zu. »Soll das ein Witz sein…?« Eine ganze Weile war er sprachlos, dann schrieb er etwas auf einen Block. »Ja, ich werde dort sein.« Er lehnte sich im Stuhl zurück und strahlte Bennington siegesgewiß an. »Haben Sie nicht etwas gesagt, Mr. Bennington?« Der Unternehmer fuhr mit seiner kleinen Tirade gegen Tucker fort und erzählte von seinen Vorstellungen, wie ein besseres Automobil auszusehen habe. Aber Tucker hörte nicht mehr zu. Er hatte gerade ein Treffen mit einem Mann verabredet, der all seine Probleme würde lösen können. Am nächsten Nachmittag setzte die Ford Trimotor auf einem privaten Flugfeld vor den Toren Los Angeles’ auf. Die Maschine rollte auf einen riesigen Hangar zu, und noch bevor die Propeller aufgehört hatten, sich zu drehen, hatte die Bodencrew bereits eine Gangway an die Tür geschoben. Tucker stieg, gefolgt von seinem Sohn Noble, die Treppe hinunter und ging über den von der Sonne angewärmten Beton. Noble hatte gebettelt, in dem Flugzeug mitfliegen zu dürfen, und so hatte sich Tucker in letzter Minute entschlossen, ihn mitzunehmen. Sie gingen in den Hangar, der vom Tageslicht, das durch die leicht geöffneten Rolltore fiel, nur spärlich beleuchtet wurde.
Es dauerte einen Moment, ehe sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Aber als es soweit war, sahen sie als erstes – wie hätten sie es auch verfehlen sollen? – ein Flugzeug. Es war ein gigantisches, zwölfmotoriges Ungeheuer mit gewaltigen Schwimmern wie bei einem Wasserflugzeug und einem zusätzlichen Fahrwerk. Noble verstand etwas von Flugzeugen. »Dad«, sagte er voller Respekt, ohne den Blick vom Flugzeug abzuwenden, das den Umfang eines Ozeanriesen zu haben schien, »Dad, das ist die Spruce Goose.« Tucker nickte. Die Spruce Goose war das von Howard Hughes entwickelte und geführte riesige Flugzeug. Hughes war einer der reichsten und exzentrischsten Männer der Welt. Früher einmal hatte er sich wie jeder andere millionenschwere Playboy aufgeführt, Filmstars um sich geschart und Geld zum Fenster hinausgeworfen. Aber Tucker hatte von den Gerüchten gehört, daß sich Hughes in zunehmendem Maße merkwürdig verhielt, ein Einsiedlerleben führte und sonderbare und verschrobene – einige meinten sogar verrückte – Vorstellungen von Größenordnungen entwickelt hatte. Nichts schien Hughes verrückter gemacht zu haben als sein Plan, das größte Flugzeug der Welt zu bauen – die Spruce Goose. Einmal wäre die Maschine fast geflogen. Die ganze Welt hatte den Film gesehen: Das gigantische, plump wirkende Flugzeug glitt vor der kalifornischen Küste über das Wasser. Hughes saß im Cockpit. Als er das von ihm erschaffene Ungeheuer nicht in die Luft bekam, wurde dem Flugzeug Startverbot erteilt, und Hughes versteckte es wie ein Kind, das durch ein nicht funktionierendes Spielzeug irritiert worden war. Ein Mann trat aus dem Schatten des Flugzeugs und kam auf sie zu. Er war groß, dunkelhaarig und trug einen Schnäuzer, der ihn ein wenig wie einen Filmstar aussehen ließ – Tucker
wußte nicht, an wen Hughes ihn erinnerte… an Adolphe Menjou vielleicht? Der Mann blieb vor den beiden stehen. »Howard Hughes«, stellte er sich vor. Tucker streckte ihm die Hand entgegen, aber Hughes ließ die Hände in den Taschen seines Trenchcoats stecken; aus Angst vor einer Ansteckung gab er generell niemandem die Hand. Er dachte dabei nicht an eine bestimmte Krankheit, die er vielleicht besonders hätte fürchten können, er hatte einfach vor allen nur denkbaren Krankheitserregern Angst. Er drehte sich um und betrachtete sein Flugzeug, dann sprach er mit Noble. »Was hältst du von dem Flugzeug, mein Junge?« Noble musterte es kritisch. »Es ist zu groß.« Hughes nickte betrübt, als habe er gerade das Expertenurteil eines Flugzeugingenieurs erhalten. »Das sagen die meisten. Nein, das sagen sogar alle.« Hughes langte mit den Händen tief in die Taschen seines Regenmantels und holte sich zwei Hände voll roter Pistazien heraus. Er gab Tucker und Noble jeweils eine Handvoll ab. »Anwälte«, sagte Hughes. Er öffnete eine der Nüsse und ließ die Schale auf den Boden fallen. Noble und Tucker taten das gleiche. »Anwälte?« fragte Tucker. »Sie können nur daran denken, ob es auch fliegen wird. Aber wen kümmert es schon, wenn es nicht fliegt?« Er öffnete eine weitere Nuß und steckte sie sich in den Mund. »Aber darum geht es jetzt nicht.« Er schaute zu seinem Flugzeug hinauf. »The Spruce Goose – die geschniegelte Gans. Warum nennen die Leute das Flugzeug so? Soll das lustig sein? Finden Sie das lustig?« Er sah Vater und Sohn hilfesuchend an, als ob nur sie ihm den Namen erklären könnten, und aß noch ein paar Pistazien. Tucker und Noble taten das gleiche. Die Schalen
fielen mit einem leisen, trockenen Klacken auf den Betonfußboden. »Ich weiß wirklich nicht mehr, was lustig ist. Menschen. Habe ich mich verändert, oder hat sich das allgemeine Verständnis von Humor verändert? Früher habe ich mit den Menschen noch gemeinsam lachen können.« Noble zuckte die Achseln. »Dieser Schuft Ferguson. Auf mich hat er es auch abgesehen. Er hat mich unter Strafandrohung vor einen Untersuchungsausschuß des Kongresses geladen, und wenn ich nicht persönlich erscheine…« – Hughes sagte ›persönlich‹ so, als sei es der größte Affront, der einem Menschen widerfahren könnte – »… dann steckt man mich ins Gefängnis.« Tucker fragte sich, woher Hughes von Fergusons Rachegelüsten gegen ihn und seine aufstrebende Firma wissen konnte. Sicherlich hatte ein Mann wie Hughes in Politik und Industrie an allen Ecken und Enden Kontakte, Spione und Informanten. »Gefängnis«, wiederholte Hughes entrüstet. »Man droht mir, mich ins Gefängnis zu werfen.« Er schaute sich im Hangar um. Sein Gesichtsausdruck änderte sich dabei ein ums andere Mal. Zunächst schien er von der Vorstellung, im Gefängnis zu sitzen, fasziniert zu sein, und strahlte; im nächsten Augenblick wirkte er erschrocken, dann amüsiert. »Denen ist gar nicht klar, daß ich bereits im Gefängnis bin.« Noble aß ein paar Pistazien, sah sich das Flugzeug an und blickte von Howard Hughes zu Preston Tucker. Er fragte sich, worüber Mister Hughes da gerade geredet hatte. Einen ähnlichen Gedanken hatte sein Vater. Hughes sah sich in dem riesigen Hangar um, als habe er Angst, beobachtet oder abgehört werden zu können. Er senkte seine Stimme bis zu einem heiseren Flüstern.
»Sie und ich, wir sind ein und dieselbe Person. Sie wissen das, oder?« Tucker war sich nicht sicher, ob er ihn überhaupt verstanden hatte. »Wir denken beide in großen Kategorien«, sagte er. »Wir riskieren viel.« »Nein, nein, nein, das meine ich nicht. Ich meine es wörtlich. Doch die Zusammenballung veränderbarer Größen…« Er starrte schweigend ins Leere. »Stahl!« sagte er plötzlich. »Stahl?« Hughes warf eine Handvoll der roten Pistaziennüsse auf den Boden. »Deshalb habe ich Sie hierherbestellt. Deshalb habe ich meinen Mann beauftragt, Sie anzurufen. Stahl!« Hughes Augen glänzten. Tucker fragte sich, ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit an dem Gerücht war, daß Hughes leicht verrückt geworden war. »Stahl?« wiederholte Tucker. Hughes sprach schnell, als ob er nur noch ein paar Sekunden Zeit hätte, etwas Lebenswichtiges zu sagen, weil ihn jeden Moment jemand daran hindern könnte. »In Syracuse gibt es eine Helikopter-Fabrik. Sie heißt Air-Cooled Motor Company und hängt mit keiner Regierungsstelle zusammen. Also kann sich da kein Politiker einmischen, und Sie können…« Plötzlich sprach er wie eine Aufziehpuppe, die immer schwächer wurde. Er sprach immer langsamer, bis er gar nichts mehr sagte und schwieg. »Gottverdammt!« rief er plötzlich, holte sich eine Handvoll Pistazien aus der Tasche und aß ein paar davon. »Warum kann ich nicht… Anwälte! Anwälte?« Er hielt abermals kurz inne, bis er den Faden wiedergefunden hatte. »Die bauen da einen guten Motor aus Aluminium.« Tucker folgerte daraus, daß Hughes ihm einige InsiderInformationen über die Air-Cooled Motor Company stecken wollte, damit er später vielleicht… aber Tucker war sich nicht ganz sicher.
»Worüber sprach ich doch gleich?« »Stahl«, sagte Tucker. »Air-Cooled. Richtig. Diese Helikopter-Fabrik. Die haben mehr Stahl als sie benötigen, und sind finanziell am Arsch…« Tucker wünschte sich, daß Hughes in der Gegenwart seines Sohnes seine Sprache ein wenig zähmen würde. Er mochte hundertmal ein Millionär sein, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, vor seinem Sohn unflätige Ausdrücke zu benutzen. Hughes hatte wieder aufgehört zu sprechen. Noble hatte keine Pistazien mehr, hätte aber gerne noch welche gehabt. Aber er hatte das Gefühl, daß es nicht schicklich wäre, mit Mr. Hughes zu reden, wenn man nicht von ihm selbst angesprochen wurde. »Wie ich sagte, die sind finanziell am Arsch«, wiederholte Hughes. »Aber noch weiß es niemand. Wenn Sie sich beeilen, können Sie ein gutes Geschäft machen. Sie können die Firma bekommen und somit auch den Stahl. So viel Stahl, wie Sie benötigen. Ich weiß, daß Sie mit Stahl knapp sind, stimmt’s?« »Und ob«, bestätigte Tucker. »Dann können Sie ihn sich aus Syracuse holen. Und Sie bekommen deren Motoren. Ein fantastischer Motor ist das. Aber, um Himmels willen…!« Hughes hörte abrupt auf zu sprechen und blickte verwundert auf seine Fingerkuppen. Sie waren von der Farbe der Pistaziennüsse vollkommen rotgefärbt. Er starrte auf die Hände und wurde vom Anblick des tiefen Rots völlig verwirrt. Dann schien er innerlich zusammenzubrechen. Er wirkte tief traurig und schaute Tucker in die Augen. »Ich frage mich, wie wird man nur dieses ganze böse Blut los?« Tucker schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß es nicht, Mr. Hughes.«
In den folgenden Jahren würde Preston Tucker viele schlechte Dinge über Howard Hughes hören. Vielleicht entsprachen sie der Wahrheit, aber alles, was Tucker über diesen Mann sagen konnte, war, daß dieser versucht hatte, sein Automobil zu retten, als Detroit, Washington und sein eigener Verwaltungsrat versucht hatten, es zu zerstören. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit gelang es Karatz und Tucker, die Air Cooled Motor Company zu übernehmen. Ferguson und dessen Kumpane wurden von diesem Schritt völlig überrascht, Bennington war geschockt. Die Tucker Motor Company bekam einen guten Motor als Prototyp und umfangreiche Stahllieferungen. Die Dinge standen gut – zumindest besser als zuvor. Aber die Opposition – die großen Drei bis hin zu Ferguson – war weit davon entfernt, die Flinte ins Korn zu werfen, und verdoppelte statt dessen ihre Anstrengungen, das Auto erst gar nicht zur Produktionsreife kommen zu lassen. Für Tucker stand als erstes auf der Tagesordnung, einen Heckmotor ohne Antriebswelle zu entwickeln. Er sollte Herz und Seele des Automobils werden. Die Übergangslösungen, mit denen sie sich noch im vergangenen Frühling abgefunden hatten, waren tatsächlich nur der Versuch gewesen, etwas zusammenzuschustern, um irgend etwas auf die Straße zu bringen. Nun würden sie einen echten Tucker bauen. Und was Tucker und sein Team betraf, so gab es nur einen Ort auf der Welt, dieses Auto zu bauen. Eddie, Jimmy, Alex und die Tucker-Familie zogen wieder nach Ypsilanti und bauten die notwendige Gerätschaft in der Scheune auf. Die große Tucker-Fabrik in Chicago bot keine kreativen Arbeitsbedingungen, und in der Luxuswohnung am Lake Shore Drive hatte sich sowieso niemand wohl gefühlt.
Als erstes zerlegten sie den Air-Cooled Motor in seine Bestandteile, um herauszufinden, wie sie ihn modifizieren konnten. Selbst Eddie war – wenn auch nur verhalten – begeistert. »Er ist klein, und das ist gut«, sagte er, als er sich einen der Motoren in der Scheune näher ansah. »Und er ist unkompliziert.« »Wir müssen ihn von Luft- auf Wasserkühlung umrüsten, aber er ist ein Anfang«, sagte Jimmy. »Es muß klappen.« Tucker lief in der Scheune auf und ab. »Bennington bastelt an seinem Auto – wir müssen unser Auto bauen und testen.« Jimmy machte von jedem Motorteil Skizzen, und die Männer studierten sie mit der Aufmerksamkeit, mit der Schatzsucher Landkarten studieren. »Wir werden eine neue Nockenwelle benötigen«, sagte Jimmy. »Und ein Schwungrad«, bemerkte Eddie. »Entschuldigt mal«, unterbrach sie Junior zaghaft, »aber steht in einem Helikopter der Motor nicht aufrecht?« »Stimmt.« »Wenn wir ihn also flachlegen und seitwärts ausrichten, wie ihr das vorhabt, werden wir eine Ölwanne benötigen, oder?« Eddie schlug sich auf die Stirn. »Die Ölwanne…! Natürlich fehlt die! Wie konnte ich das nur vergessen?« »Bei dir kein Wunder«, bemerkte Jimmy. Tucker war stolz auf seinen Sohn; Junior hatte an etwas gedacht, das zwei der besten Ingenieure, die er je kennengelernt hatte, vergessen hatten. In West Point wäre sein Talent nur vergeudet worden. »Gute Arbeit.« »Ein Schwungrad, eine Nockenwelle, eine Ölwanne«, sagte Jimmy. »Komm, Eddie. Wir haben nur noch bis morgen Zeit, dieses Ding zusammenzubauen.«
Am nächsten Morgen war der Motor zu einem Testlauf bereit. Zu diesem Zweck war der Motor auf einer Werkbank in ein Gestell eingespannt und an einen 20-Liter-Kanister Benzin angeschlossen worden. Ein Schlauch führte vom Auspuff aus durch ein Fenster ins Freie. Junior pumpte in Vergaser und Zylinder Benzin, Jimmy schloß die Batterie an. Tucker knackte mit den Fingerknöcheln, rieb sich die Hände wie ein Safeknacker und drückte schließlich auf den Starter. Der Motor heulte kurz auf und blieb dann wieder stehen. »Holt eine andere Batterie«, sagte Tucker. Tucker drückte erneut den Starter, und der Motor keuchte und spuckte, doch plötzlich sprang er an. Eddie gab etwas mehr Gas, und der Motor heulte laut auf, dann lief er gleichmäßig wie eine Nähmaschine. Jimmy, Eddie und Junior strahlten sich an und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Sie hatten es geschafft. Jedenfalls fast. Vor ihnen lag noch eine Menge Arbeit, bevor sie mit dem Tucker-Torpedo im Triumphzug nach Chicago würden fahren können. Sie wußten alle, daß das erste Auto nur ein Notbehelf war und darunter zu leiden hatte, daß es nicht ausreichend getestet werden konnte – wie es bei einem neuen Auto unerläßlich ist. Ein Motor mag im Test gut laufen, eine Karosserie auf dem Zeichenbrett fantastisch aussehen, aber es war etwas vollkommen anderes, wenn alles zusammen auf die Straße kam und wie ein Auto gefahren wurde, nicht wie eine gehätschelte und vertätschelte Luxuskarosse. Außerhalb von Ypsilanti gab es eine alte, heruntergekommene Rennpiste – eine schlechte Imitation des Brickyard von Indianapolis, auf der Rennteams mit mehr Mut als Können ihre Rennen fuhren und der einheimischen Bevölkerung etwas Nervenkitzel boten. Kleinstadt-Autorennen waren mit Kriegsbeginn fast vollkommen eingestellt worden,
und so hatte Tucker die Ypsilanti-Rennstrecke für sich allein. In der Morgendämmerung fuhren sie mit dem Wagen dorthin. Die Morgensonne war blaß, und auf dem Gras lag noch der Tau. Das Tucker-Torpedo hielt langsam auf dem Vorplatz vor den Boxen an. Die Rennstrecke war zwar nicht Indianapolis oder Watkins Glen, aber sie erinnerte Tucker, Eddie und Jimmy an alte Zeiten, als sie noch in den dreißiger Jahren zu dem großen Miller-Team gehörten. Sie konnten die alten, heißen Motoren förmlich riechen – das Öl, das Superbenzin oder die ätzenden Dämpfe des verbrannten Gummis. Auf der leeren Piste hörten sie die Geräusche der alten Motoren: das silbrig helle Surren des Duesenberg, den leidenschaftlichen Sound des Miller, das eigenartige Geräusch – als zerreiße man Stoff – des Bugatti-Kompressormotors, das Aufheulen des Stutz, das schwere Hämmern des Auburn 100 mit seinem zwölfzylindrigen Lycoming-Schiffsmotor. »Erinnert ihr euch an die Versuchsfahrt des Stutz – 1927 oder ‘28?« fragte Tucker die anderen. Jimmy und Eddie nickten. Die Stutz-Fabrik hatte verlauten lassen, daß ihr neuer Blackhawk vierundzwanzig Stunden am Stück laufen würde, ohne ihn vorher einzufahren, ohne jede Wartung, außer Benzin, Wasser, Öl und Reifen. Und sie schafften es auch, obwohl damals die ganze Autowelt sagte, daß das nicht möglich sei. »Dasselbe werden wir mit unserem Baby tun. Wir werden das Auto rund um die Uhr ohne Unterbrechung in Schichten fahren, und wir werden das Baby treten – treten bis an die Leistungsgrenze.« Tucker klang wie Knute Rockne, der Fighting Irish anfeuerte. »Ist das vernünftig?« fragte Alex. »Alles oder nichts. Wir haben nichts zu verlieren.« Hinter der alten Kabine des Pisten-Rennwarts auf der gegenüberliegenden Seite des Ovals hatte sich Senator
Fergusons Agent vor den Blicken der anderen versteckt. Er hatte vom Besitzer der Rennstrecke erfahren, daß Tucker die ganze Anlage für eine Woche gemietet hatte. Dahinter konnte sich nur ein Testversuch verbergen. Der Agent war noch vor Tucker und den anderen auf der Rennstrecke angekommen und hatte sich ziemlich mies gefühlt, als das Auto vorfuhr; er mußte sich eingestehen, daß der Wagen fantastisch aussah. Eddie wurde die erste Drei-Stunden-Schicht zugeteilt. Er setzte sich einen alten und zerkratzten Helm auf den Kopf und rutschte hinter das Lenkrad. Die komplette Tucker-Crew stand um das Auto herum und sah ihm zu, als er sich mit den Sicherheitsgurten anschnallte und den Motor startete. Der Motor klang recht gut. Eddie brachte den Motor einige Male auf Touren und grinste. »Zur Hölle! Worüber machen wir uns eigentlich Sorgen?« rief er. Dann legte er den ersten Gang ein und fuhr los. Tucker, Jimmy und Alex sahen ihm hinterher, als würde er sich auf eine lange, lange Reise begeben. Der Tucker nahm die erste weite, leicht erhöhte Kurve. Eddie fuhr konstant 65 Meilen pro Stunde. Er lenkte den Wagen scharf auf die Innenseite der Kurve zu, so, wie er es bei den ganz Großen gesehen hatte. Er war schon 1907 zum Motorsportfan geworden, als er bei einem Rennen Barney Oldfield mit seinem Ford auf dem zugefrorenen Lake Michigan gesehen hatte. Danach hatte er etliche der ganz großen Fahrer gesehen: Rudolf Caracciola mit seinem schnittigen und furchterregend aussehenden Mercedes SSK; Meo Constantini mit seiner schwarzen Schönheit, dem Black Beauty Bugatti; und der Größte von allen, Tazio Nuvolari, mit seinem Alfa 1750. Er machte es sich hinter dem Steuer bequem, der Wagen lief ruhig und gleichmäßig und lag gut in der Kurve. Der Wind
blies durch das offene Fenster, und als er an den Boxen vorbeifuhr, hörte er den Jubel der vier anderen Jungs. Von seinem Aussichtspunkt aus beobachtete auch Senator Fergusons Agent das Geschehen. Das Auto spulte seine Runden wie am Schnürchen ab und lief ruhig und sicher. Er schüttelte den Kopf; dem Senator würde das überhaupt nicht gefallen. Tucker löste Eddie um neun Uhr morgens ab. Sie hatten mit Schildern und Flaggen Eddie das Zeichen zum Boxenstopp gegeben, aber es bedurfte drei, vier Extra-Runden, ehe er bereit war, seinen Platz hinter dem Steuer zu räumen. Als er schließlich an die Boxen fuhr, ließ er den Motor laufen. Er stieg aus dem Wagen, setzte den Helm ab und übergab ihn Tucker, der ihn sofort aufsetzte. »Ein unglaubliches Auto, Preston, ein unglaubliches Auto.« Dann fuhr Tucker los. Als die Tachonadel 90 Meilen anzeigte, konnte er sich selbst vergewissern, daß Eddie nicht übertrieben hatte. Das Tucker-Torpedo lag in den Kurven, als klebe es auf der Straße, und hatte eine unglaubliche Beschleunigung. Detroiter Autos, diese einfallslosen Maschinen… von Typen produziert, die mehr Zeit damit verbrachten, Bilanzen zu lesen und an Rechenmaschinen zu sitzen, als sich mit einem Motor zu beschäftigen. Diese Vögel bekamen schon Nervenflattern und weiche Knie, wenn man deren Kisten über 40 mph fuhr. Wenn man mit einem dieser Tortenheber in die Kurve ging, war es, als würde man durch einen Haufen Schlagsahne fahren. Sie schlingerten und scherten aus, und die hintere Hälfte dieser Autos hatte die beunruhigende Angewohnheit, unbedingt nach vorn zu wollen. Zur Hölle! Diese Dinger waren mehr als unsicher, dachte Tucker. Und das war schon längst kein Scherz mehr! Stan, der Kameramann, und Frank, der Presseagent, tauchten im Laufe des Morgens auf. Stan schien mit dem Sucher seiner
Kamera verschmolzen zu sein – der Tucker bot ein zu gutes Motiv, als daß er hätte darauf verzichten können. Das Auto röhrte über die Piste und glänzte in der Morgensonne – ein verchromtes, wunderschönes Etwas mit rotem Zuckerguß. Die Männer, die den Tucker gebaut hatten, saßen nur in der Box und schauten dem Wagen zu, der unablässig seine Runden zog. Sie konnten den Blick nicht von ihm wenden. Das Auto fuhr und fuhr, mit Volldampf voraus, als ob es ein Eigenleben entwickelt hätte, ja, als ob es ihm gefiel, gefahren zu werden. Jimmy schüttelte den Kopf. »Ein unglaubliches Auto«, sagte er glücklich. Tatsächlich dachten das alle, und es gab dem nichts mehr hinzuzufügen. Im Laufe des Tages bekam jeder seine Chance: Tucker löste sich mit Jimmy ab und Jimmy mit Junior. Alex war am späten Nachmittag an der Reihe, dann setzte sich wieder Eddie ans Steuer. Es war schon fast beängstigend: Sobald einer nach seiner Testfahrt aus dem Auto stieg, hatte er nur Lob für das Auto übrig. Keiner hatte ein Flattern oder Klappern zu bemängeln, oder gar einen Aussetzer am Motor – selbst der Sitz war bequem. »Meinst du, daß irgend etwas an dem Wagen nicht funktionieren könnte?« fragte Alex aufrichtig. »Nein«, sagte Jimmy. »Das glaube ich nicht.« »Wie haben wir es nur geschafft, ihn so perfekt hinzukriegen?« fragte sich Eddie laut. Am frühen Abend meißelte der synchronlaufende, mittlere Scheinwerfer bei jeder Drehung der Vorderachse weiße Kegel ins Dunkel. Fergusons Agent wachte in seinem Versteck von selbst auf. Er war im Laufe des Nachmittags eingeschlafen, aber er hatte während seines unruhigen Halbschlafs das kraftvolle und selbstbewußt wirkende Motorengeräusch des Tuckers, der unablässig seine Runde gezogen hatte,
wahrgenommen. Er war eingeschlafen, weil er sich gelangweilt hatte – Perfektion wird mit der Zeit langweilig, es sei denn, man selbst ist an ihr beteiligt gewesen. Er hatte gehofft, bei absoluter Stille aufzuwachen, bei einem ernsthaften und irreparablen Mißgeschick oder Problem, aber nein, da war es: Das Auto zog immer noch eine Runde nach der anderen, ohne auch nur einen Aussetzer zu haben. Der Agent stahl sich davon. Selbst als die Rennstrecke schon weit hinter ihm lag, brummte ihm das Motorengeräusch noch in den Ohren. Senator Ferguson würde alles andere als erfreut sein über das, was er ihm zu berichten hatte. »Es tut mir leid«, sagte der Agent und umklammerte den Telefonhörer. »Es tut mir wirklich leid, Senator, aber ich habe eine schlechte Nachricht.« »Eine schlechte Nachricht?« polterte Ferguson los. »Hat Tucker etwa einen Motor?« »Und noch eine Menge mehr, Sir.« »Wie schlimm ist es?« »Er hat die Kiste fertiggebaut. Sie sollten sie sehen, Sir. Das Auto fährt wie der Teufel, es ist bereits…« – er schaute auf die Uhr – »… dreizehn Stunden gefahren.« »Und wie oft mußten sie es für Reparaturen an die Boxen holen?« »Nun, Sir… keinmal.« »Nicht ein einziges Mal!« Der Agent bekam das Gefühl, daß Senator Ferguson ihn für Tuckers Erfolg verantwortlich machen wollte. »Nein, Sir, nicht ein einziges Mal.« Ferguson knurrte – er hörte sich ein wenig wie ein angeketteter Hund an. Er hatte Auftraggeber – drei, um es genau zu sagen – , die ihn beauftragt hatten, sicherzustellen, daß Tucker niemals sein Auto würde bauen, geschweige denn,
dreizehn Stunden lang ohne einen Reparaturstopp würde fahren können. Vielleicht wäre Sabotage das Richtige. Wenn er Sand ins Getriebe schütten könnte – notfalls wortwörtlich – , dann könnten sie diese verhängnisvolle Entwicklung noch stoppen. »Wo ist jetzt das Auto?« »Auf der Rennstrecke, Sir.« »Steht es unter Bewachung?« »Unter Bewachung? Nein, Wachen habe ich nirgends entdeckt, Sir.« Na gut, dachte Ferguson, das war wenigstens etwas. »Können Sie sich ein paar von unseren Chicagoer Jungs heute nacht besorgen? Einige von unseren Leuten, die das Ding wirklich auseinandernehmen können?« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, woran Sie denken, Senator.« »Nun stellen Sie sich nicht so zimperlich an«, fauchte Ferguson ihn wütend an. »Ich bin nicht zimperlich, Senator. Ich denke nur, daß es ein wenig schwierig werden könnte, an den Wagen heranzukommen. Das ist alles.« »Warum?« »Nun…« Dem Senator würde das gar nicht gefallen, »wissen Sie, es fährt noch. Die fahren damit immer noch auf der Rennstrecke herum.« »Was ist?« »Es ist so, als ob die so etwas wie einen neuen Dauerbelastbarkeits-Rekord aufstellen wollen. Sie machen keinerlei Anstalten, heute noch aufzuhören. Sie lösen sich andauernd ab…« Sabotage würde also nicht funktionieren, dachte Ferguson. Sie würden Tucker sabotieren müssen und nicht sein Auto. »Bleiben Sie bei ihm«, befahl er und hängte auf. »Ja, Sir«, sagte der Agent in die bereits tote Leitung.
Sofort wählte Ferguson eine andere Nummer. »Charlie, hier ist Homer Ferguson«, sagte er, als sich der andere Teilnehmer gemeldet hatte. »Dieser Mistkerl Tucker hat dieses verdammte Ding gebaut. Ich hat gehört, die Kiste fährt… und zwar gut. Sehr gut.« Charlie sagte seinem Senator gründlich die Meinung. Einige Minuten lang rechnete er Ferguson die Chancen seiner Wiederwahl als Senator vor, falls Tucker die Produktion seines neuen, revolutionären Automobils aufnehmen würde. Er malte ein anschauliches Bild von Fergusons Zukunft, obwohl er sie in einem Wort hätte zusammenfassen können: trostlos. »Keine Sorge«, sagte Ferguson, »wir werden ihn schon kriegen. Tucker ist so gut wie erledigt.« »Sie oder er, Homer«, sagte Charlie. Das Auto raste durch die ganze Nacht bis in den nächsten Tag hinein. Als Junior um sieben Uhr morgens mit dem Wagen zum Tanken und Ölnachfüllen an die Boxen fuhr, sprang Eddie von der Bank. »Wo willst du hin?« wollte Tucker wissen. Eddie ging weiter auf das Auto zu. »Ich bin an der Reihe«, sagte Eddie. »Nein, bist du nicht.« »Nun«, sagte Eddie und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich denke, es ist an der Zeit, ein wenig mehr über dieses Auto zu erfahren.« »Was soll das heißen?« »Nun, du prahlst immer damit, wie sicher das Auto ist.« »Es ist sicher«, sagte Tucker erregt. »Es ist das sicherste Auto, das je gebaut wurde.« Eddie zuckte die Achseln. »Dann brauchen wir uns ja keine Sorgen zu machen.« »Und was soll das nun wieder heißen?«
»Das heißt, ich werde damit einen Unfall bauen.« »Was ist?« »Ich muß es tun, Tuck.« Tucker hielt Eddie am Arm fest, bereit, Eddie notfalls mit Gewalt beim Einsteigen zu hindern. »Du hast nicht mehr einen einzigen heilen Knochen in deinem Körper. Du hast schon so viele Unfälle mit Autos gebaut, daß du nicht allen Ernstes vorhaben kannst, dich absichtlich zum Krüppel zu fahren.« Eddie grinste. »Wenn es mich dieses Mal erwischt, werde ich nicht einmal was merken.« »Eddie, du bist…« »Hör zu. Du sagst, dein Auto ist sicher. Wenn es das nicht ist, dann steckst du ganz schön in der Tinte, sollte jemand in dem Auto getötet werden, der es voller Vertrauen gekauft hat. Wenn ich das bin, werde ich nicht vor Gericht gehen. Und wenn es so sicher ist, wie du behauptest, dann werde ich auch keine Probleme haben, stimmt’s?« Eddie setzte sich hinter das Lenkrad, schnallte sich aber dieses Mal nicht an. Er brachte den Motor auf Touren, stieg von der Bremse und schoß wie ein Windhund auf die Rennpiste. Die erste Kurve nahm er mit etwa 75 mph, erhöhte die Geschwindigkeit auf der Gegengeraden auf etwa achtzig, neunzig Meilen pro Stunde und fuhr mit voller Geschwindigkeit in die zweite Kurve. Er nahm die Kurve absichtlich zu scharf und raste über die innere Fahrbahnbegrenzung. Als der Wagen von der Rennpiste schoß, trat er auf die Bremse, und brachte den Wagen zum Schleudern. Das Quietschen der Reifen war vom einen Ende der Piste bis zum anderen zu hören. Fergusons Agent hörte das Kreischen der Bremsen und Quietschen der Reifen in seinem Versteck. Er hüpfte vor Freude. Das Wunder, das er sich so sehr ersehnt hatte, war geschehen. Doch als er das Tucker-Torpedo auf der Grasfläche
des Innenfeldes hin und her schleudern sah, schwand sein momentanes Glücksgefühl dahin. Eddie hatte Probleme, das Auto beim Schleudern in der Spur zu halten. Tucker, Alex, Jimmy und Junior, die von den Boxen aus gebannt zusahen, waren sich sicher, daß etwas Schlimmes passieren würde, daß selbst Eddies Fahrkünste ihn vor einem 90-Meilen-Crash nicht retten würden. Die Vorderreifen des Tuckers schlugen gegen einen Höcker auf dem Innenfeldrasen, und für einen Moment war das große Auto ohne Bodenkontakt. »Junior! Ruf einen Krankenwagen!« Tucker rannte in Richtung des Autos. Das Torpedo schlug auf dem Rasen auf, drehte sich und überschlug sich dreimal. Die schöne Karosserie wurde zerdellt, schließlich landete der Wagen wieder auf den Rädern und blieb mit der richtigen Seite nach oben stehen. Der Motor heulte auf, und aus dem Auspuff stieß eine schmutzige, schwarze Rauchwolke. Noch bevor Tucker und die anderen das Autowrack erreichten, öffnete sich die Fahrertür, und Eddie stieg aus dem Wagen. Er wirkte leicht zerknittert, grinste aber trotz seiner Schmerzen und blauen Flecke. »Ich dachte schon, das sei’s für dich gewesen«, sagte Jimmy kopfschüttelnd. »Was ist passiert?« wollte Tucker wissen. »Nur das, was zu erwarten war. Ich habe keinen Kratzer abbekommen, weil die Windschutzscheibe wie vorgesehen heraussprang. Und ich wurde nicht zerquetscht, weil die Überrollbügel das Dach abstützten. Ich hab’ mich mit dem Ellenbogen verdammt am Lenkrad gestoßen, aber das lag nur daran, daß ich nicht angeschnallt war. Tuck, er ist so sicher, wie du immer behauptet hast.« Jimmy hatte die Motorhaube geöffnet und untersuchte den Motor. Alex rutschte hinter das Steuer.
»Ich setze zwei Dollar, daß die Kiste noch läuft«, sagte Eddie. Der Motor startete beim ersten Versuch. Der Klang war ein wenig rauh, aber er lief. »Ein unglaubliches Auto«, sagte Eddie. Der Agent hatte alles aus seinem Versteck heraus beobachtet und fühlte sich hundeelend. Als das Auto erst einmal die Testfahrten hinter sich hatte, fuhren Tucker und sein Team nach Chicago zurück. Wie eine siegreiche Armee, die eine feindliche Festung besetzte, marschierten sie in die Fabrik ein. Jimmy übernahm auf der Stelle die Leitung der Motoren-Entwicklungsabteilung, und niemand sprach von Kündigung, nur weil der Japaner wieder im Lande war. Tucker stellte klar, daß er keine Galionsfigur sei und daß das, was er sagte, Gültigkeit habe. Bennington war draußen, jedenfalls kurz davor. Tucker gab sich nicht einmal damit ab, in die Vorstandsetage zu gehen – noch nicht. Die eigentliche Arbeit gab es da zu tun, wo Bennington am meisten Schaden angerichtet hatte: in der Fabrikhalle. Sein Anti-Auto mußte unschädlich gemacht und statt dessen das Fließband für den Tucker eingerichtet werden. Tucker, Eddie und Jimmy waren Meister im Improvisieren und schafften es, einige der eingerichteten Maschinen für den Tucker zu nutzen, aber der Rest mußte komplett umgerüstet werden – ein kostspieliges und zeitaufwendiges Unterfangen. Aber sie hatten auch ein paar Vorteile: Die Stahllieferung aus Syracuse stand bereit, und sie besaßen aus derselben Quelle einen Motor, der lediglich modifiziert und nicht von Grund auf neu gebaut werden mußte. Die Karosserie war ein Problem. Sie mußten sich von den Gußformen und Blechstanzen, aus denen Benningtons Auto
gebaut worden wäre, befreien und durch eigene ersetzen. Für die Karosserie gab es keine Patentlösung: Selbst wenn die Leute eine Einspritzpumpe nicht von einer Tetanusspritze unterscheiden konnten, so wußten sie doch, wie ein TuckerTorpedo auszusehen hatte, und nur das war es, was sie auch kaufen wollten. Bennington entdeckte Tucker im Konstruktionsbüro, in der er die Konstruktion der neuen Karosserie und den Arbeitsablauf überwachte. Der Verwaltungsratsvorsitzende behandelte Tucker noch immer voller Mißachtung, aber es bereitete ihm immer mehr Probleme, sein reserviertes, überhebliches und gleichgültiges Gehabe beizubehalten. »Mir wurde gesagt, Sie haben mit der Umstellung begonnen, Mr. Tucker. Ich fürchte, daß das vollkommen im Widerspruch zu den Vorstellungen des Verwaltungsrats steht und…« Tucker zeigte auf die Originalzeichnung des Tuckers, und zwar auf die, die er an jenem schicksalhaften Tag seiner Familie gezeigt hatte. »Alles, was nicht mit diesem Auto übereinstimmt, Mr. Bennington, steht im Widerspruch zum Gesetz.« Bennington runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?« »Das heißt, daß Sie – in Einklang mit dem Gesetz – laut Vertrag unterschrieben haben, dieses Auto zu bauen, und das hier ist das Auto, das wir bauen werden.« »Falls Sie glauben, Sie werden mich…« »Ich will, daß Sie hier sofort aus meinem Konstruktionsbüro verschwinden«, befahl Tucker Bennington, bevor er sich wieder an die Zeichnungen machte. »Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden?« Tucker wurde immer zorniger. »Hören Sie, Bennington, Ihre Meinung hat hier kein Gewicht mehr. Es war geplant, daß Sie diese Firma leiten, während ich das Auto bauen sollte, ein Auto, nach dem sich ganz Amerika sehnt. Statt dessen haben Sie versucht, mir und den Leuten, die
in dieses Automobil ihre ganze Kraft und Hoffnung gesteckt haben, einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie werden wegen Vertragsbruchs eine Klage an den Hals bekommen.« Dann wandte sich Tucker wieder seinen technischen Zeichnungen zu und ließ Bennington sprachlos zurück. Bennington stürmte aus dem Konstruktionsbüro, blieb kurz im Flur stehen und schrie etwas von Anwälten und Gerichten. Tucker aber war in seine Arbeit vertieft.
7 Wochenschau Man sah eine Filmaufnahme des über eine Landstraße dahinfegenden Tuckers. Preston Tucker saß höchstpersönlich am Steuer. Das Auto sah fantastisch aus, und Tucker hatte sein Clark-Gable-Grinsen aufgelegt. Der Wagen bog von der Straße ab und hielt vor einer Tankstelle an. Zwei Tankwarte mit Baseball-Kappen und feschen Fliegen eilten heraus, um das Torpedo vollzutanken, die Windschutzscheibe sauberzumachen und den Ölstand zu prüfen. Der Bursche, der nach dem Öl schaute, öffnete die Haube und schaute – in leicht übertriebener Manier – zweimal hin. Da, wo der Motor hingehörte, war nichts als Gepäck. Tucker stieg lachend aus dem Wagen und öffnete die Heckklappe – die beiden Tankwarte schienen ihren Augen nicht zu trauen. Der Erzähler gluckste vor Lachen. »Ja, meine Herren, wenn Sie mit Ihrem Tucker auf eine Tankstelle fahren, werden Sie einigen Leuten Kopfzerbrechen bereiten. Bei einem Verbrauch von einer Gallone auf dreißig Meilen werden Sie zudem viel Zeit und Geld sparen.« Die Verkaufsabteilung sagte, daß sich bei einem Benzinpreis von zehn Cent pro Gallone niemand für den Verbrauch interessieren würde. Doch Tucker war da anderer Meinung: Jeder wollte Geld sparen, wenn er konnte. Die Leinwand wurde hell, und Tucker schaltete das Licht an. Er saß in seinem Büro auf dem Firmengelände. Er hatte sich den Werbefilm in der dunklen und ruhigen Fabrik allein angesehen. Ihm gefiel, was er gesehen hatte. Der Tucker war auf dem besten Weg, das Auto zu werden, das er immer angekündigt hatte: ein revolutionärer Meilenstein in der
Kraftfahrzeugtechnik und ein überwältigender kommerzieller Erfolg zugleich. All diese Witze über die Wunschvorstellung, ein Leben als Industriekapitän zu führen… nun, sie würden bald ein Ende finden. Abe steckte den Kopf in das Zimmer. Wenn Tucker über das, was er eben gesehen hatte, nicht so glücklich gewesen wäre, hätte er sicherlich bemerkt, daß Abe weit ernster und gebändigter als sonst aussah. »Kommen Sie rein, Abe. Ich will Ihnen den Film vorführen, den Stan gemacht hat. Er ist großartig…« Abe antwortete nicht. Er war gerade mit einigen höchst beunruhigenden Nachrichten aus Washington zurückgekommen. Gerade jetzt, wo sie kurz vor einem durchschlagenden Erfolg standen, schien alles zusammenzubrechen; das war einfach nicht fair. »Abe?« Abe legte den Zeigefinger auf die Lippen, um Tucker anzudeuten, nichts zu sagen. Dann deutete er in Richtung Flur. »Kommt da noch jemand?« fragte Tucker, als ob Abe mit irgend jemandem Versteck spielte. Abe schüttelte energisch den Kopf – nein. Eine Menge Ärger würde auf sie zukommen, aber der wartete nicht draußen im Flur vor Tuckers Büro, jedenfalls noch nicht. Abe ergriff Tuckers Arm. »Wollen Sie, daß ich mit Ihnen komme, oder was?« fragte Tucker verwirrt. Abe nickte. »Was, zum Teufel, soll das alles…?« »Pssst, sagen Sie nichts«, flüsterte er Tucker geheimnisvoll ins Ohr. Tucker schaltete den Projektor aus und folgte Abe aus dem Büro und den langen, dunklen Flur entlang. Abe sprach erst
wieder mit Tucker, nachdem sie das Gelände verlassen hatten und mitten auf dem riesigen Parkplatz standen. »Was soll diese ganze Heimlichtuerei?« »Ihr Büro wird abgehört.« »Was ist?« »Ihr Büro wird abgehört«, wiederholte Abe. »Der Vorstandsraum, die ganze Fabrik und selbst die Toiletten.« Abe schaute sich auf dem riesigen Parkplatz um und fragte sich, ob man solch ein großes, weites Gelände auch abhören konnte. Wenn es diese Möglichkeit gab, würden diese Typen selbst davor nicht zurückschrecken. »Abe, Sie sind doch verrückt…« »Einen Teufel bin ich… Ich hab’ es von einem Freund aus Washington gesteckt bekommen. Seit Sie und Ihre Crew mit dem Wagen Testfahrten machen, werden Sie von vierzig Agenten beschattet. Die haben Sie rund um die Uhr überwacht.« »Aber weshalb? Was hab’ ich denn falsch gemacht?« »Weil Sie etwas richtig gemacht haben, deshalb. Sie haben dieses Auto zu gut gebaut. Die können sich eine solche Konkurrenz nicht erlauben. Es würde sie Millionen, wenn nicht gar Milliarden kosten.« Abe schüttelte betrübt den Kopf. »Wenn Sie eine Schrottkiste gebaut hätten, hätte sich niemand darum gekümmert.« Abe mußte nicht erklären, wer ›Die‹ waren oder wer Milliardenverluste machen würde. »Aber das ist doch gerade das, was hinter der ganzen Idee steckt: ein Auto zu bauen, das ein Verkaufsschlager wird.« Abe Karatz sah Preston Tucker verdrossen an. Man konnte Tucker zwanzig Millionen Dollar und die größte Fabrik der Welt geben, ihn in einen Smoking stecken und ihn berühmt machen, aber wenn es um das Wesentliche ging, war Preston Tucker doch nur das, was er von sich selbst immer behauptet
hatte: ein Farmerjunge aus der tiefsten Provinz, der einfach nicht verstand, wie die Welt draußen funktionierte. Er glaubte immer noch an das Märchen, daß Henry Ford allein durch eigener Hände Arbeit, einen unbeugbaren Willen und einiges Know-how ein Imperium aufgebaut hatte. Vielleicht hatte es eine solche Zeit einmal gegeben, aber die lag schon lange zurück. Ein Verkaufsschlager war nur ein Verkaufsschlager, wenn ihn die entsprechenden Leute bauten – und Tucker gehörte nicht zu ihnen. »Antworten Sie mir, Abe. Geht es nicht darum, einen Verkaufsschlager auf vier Rädern auf den Markt zu bringen?« »Nicht, solange Sie dabei unter die Räder kommen.« Tucker lächelte. »Kommen Sie, lächeln Sie wieder.« Er gab Abe einen Klaps auf den Rücken. Sie hatten schwere Zeiten hinter sich, Zeiten, in denen es so aussah, als ob die großen Drei gewinnen würden, aber das war nun vorbei. Die großen Drei waren endgültig geschlagen. Tucker hatte ein Auto. Und was für ein Auto! »Wir haben gewonnen, Abe. Mann, wir haben es geschafft! In zwei Wochen werden wir täglich hundert Wagen pro Tag vom Band laufen lassen.« »In zwei Wochen werden Sie tot sein und von den großen Drei zu Grabe getragen werden.« Aus der Jackeninnentasche zog Abe einen Umschlag. »Hier ist meine Kündigung.« »Was, zum Teufel, soll das, Abe? Wollen Sie kneifen? Ist es das?« »Ein Kapitän mag das sinkende Schiff vielleicht nicht verlassen, ein Geschäftsmann schon.« Abes Stimme war lauter geworden. Es war ihm jetzt egal, ob ihn jemand hören konnte. »Es tut mir leid, Tuck, aber so ist es nun einmal.« Er wandte sich ab, als wollte er gehen. Tucker hielt ihn am Ärmel fest. »Schauen Sie mir in die Augen.«
Abes Blick blieb fest auf den Boden geheftet. »Abe, Sie sind ein zu guter Geschäftsmann, als daß Sie einem Kunden nicht in die Augen schauen.« Abe sah auf. »Was ist? Glauben Sie, das hier ist ein Spiel? Glauben Sie, ich mache Scherze? Sie haben meine Kündigung, und tun Sie mir einen Gefallen, akzeptieren Sie sie.« »Ich glaube eher, daß Sie hier ein Spielchen mit mir treiben, Abe. Irgend etwas verheimlichen Sie mir. Etwas aus der Vergangenheit? Aber wozu?« »Ich mußte vor Jahren wegen Bankbetrugs drei Jahre in den Knast«, antwortete Abe prompt. Er wußte jetzt, weshalb dieser Mistkerl Ferguson damals so interessiert daran war, seinen Nachnamen buchstabiert zu bekommen. Er war sich sicher, daß Ferguson einen seiner Spitzel damit beauftragt hatte, seine Vergangenheit zu durchleuchten. Und da hatte es dann klipp und klar gestanden: Abe Karatz war im Vorstrafenregister verzeichnet. Drei Jahre Gefängnis. »Ein Ex-Häftling in einer gehobenen Position? Seien Sie nicht naiv, Tucker. Die werden das gegen Sie verwenden.« »Und Sie glauben, wenn Sie mir Ihre Kündigung geben, werden die das nicht tun? Sie glauben, dieses Blatt Papier ändert alles? Abe, Sie waren von Anfang an bei dieser Geschichte dabei. Sie waren der erste Mensch, den ich um Hilfe bat. Ich habe mich an Sie gewandt, bevor ich mit Vera, Eddie, Jimmy oder sonst wem gesprochen habe… Abe, Sie können jetzt nicht einfach aufhören.« »Um Himmels willen, lassen Sie mich endlich in Ruhe!« Abes Stimme hallte über den dunklen Parkplatz. »In den ganzen letzten zehn Jahren, seit ich damals aus dem Kittchen kam, hat es mich nicht eine Sekunde lang gestört, daß ich ein Ex-Häftling bin. Warum hätte es das auch tun sollen? Wen interessierte das schon? Aber daß Sie, Vera und die Kinder nun wissen, daß ich ein… Ich schäme mich.«
»Abe, das ändert doch nichts. Nicht einen Moment. Ich, Vera und die Kinder, wir alle haben Sie ins Herz geschlossen.« Abe schwieg für einen Augenblick, dann sagte er: »Damals in meiner alten Heimat, als ich etwa fünf Jahre alt war, warnte mich meine Mutter, Gott habe sie selig, immer: ›Nähere dich den Menschen nie zu sehr, sie stecken dich mit ihren Träumen an.‹« Abe seufzte und steckte die Hände in die Taschen. »Jahre später war mir klar, daß ich sie mißverstanden haben mußte. ›Krankheiten‹ muß sie gemeint haben, nicht Träume. ›Du wirst dich an ihren Krankheiten anstecken‹. Ich bin mit Ihnen aus einem einzigen Grund ins Geschäft gekommen – Geld. Das war alles. Woher sollte ich wissen, daß ich mich, wenn ich mich Ihnen zu sehr nähere, von Ihren Träumen anstecken lassen würde?« Behutsam steckte er den Brief mit der Kündigung in die Innentasche von Tuckers Jacke. »Wollen Sie noch wissen, wie die Sie kleinkriegen werden? Dann hören Sie sich morgen abend Drew Pearson im Radio an.« »Abe, ich… wir… haben doch nichts falsch gemacht.« »Das weiß ich. Und die wissen das auch…« Abe zögerte kurz. »Ich fürchte, Sie haben etwas falsch gemacht. Wie ich schon sagte, Sie haben das Auto zu gut gebaut, und das können die nicht zulassen.« Niedergeschlagen schlenderte Abe über den Parkplatz davon. Er hoffte, sich zu irren und daß Tucker die großen Drei doch noch würde schlagen können. Aber Abe war Realist: Er wußte, daß Tucker unwiderruflich am Ende war.
8 Radioprogramm »Und nun«, sagte der Rundfunkansager, »Drew Pearson.« Drew Pearson, der meistgehörte Radiokommentator der Nation, kam sofort zur Sache. In seiner zum Markenzeichen gewordenen unterkühlten, sarkastischen Art, begann er, Tucker niederzumachen: »Guten Abend, Ladies and Gentlemen. Die heißeste Nachricht aus Washington stammt heute von Preston Tucker, diesem Strahlemann, selbsternannten Genie und revolutionären Automobilhersteller.« Tucker saß in einem Armsessel neben dem Radio und lehnte sich ein Stück vor, als ob er so besser hören könnte. Vera und die Kinder sahen ihn besorgt an. »Er wurde bereits seit einigen Monaten von der Securities and Exchange Commission überwacht, und nun ist sie soweit, eine der raffiniertesten und zynischsten MillionenBetrügereien aufzudecken, die dem amerikanischen Volk jemals zugefügt worden ist.« Tucker schüttelte fassungslos den Kopf. »Nicht nur, daß das Auto keine der angekündigten, futuristischen Neuerungen besitzt, es wurde zudem Stück für Stück aus alten, auf städtischen Schutthalden und Schrottplätzen gefundenen Teilen zusammengeflickt…« Junior sprang wutentbrannt vom Stuhl. »Das ist doch gar nicht wahr!« »Ruhig, Junior«, besänftigte ihn Tucker. »Spaßvögel aus der Gegend, die das Auto ›The Tin Goose‹ getauft haben, finden es äußerst amüsant, daß das, was Tucker als den Wagen der Zukunft bezeichnet, nicht einmal rückwärts
fahren kann.« Pearson hielt einen Moment inne, um seinen Worten größeren Nachdruck zu verleihen. »Genausowenig kann Mr. Tucker an diesem Punkt noch einen Rückzieher machen.« »Das Auto fährt rückwärts«, protestierte Noble. »Senator Homer Ferguson«, fuhr Pearson fort, »Vorsitzender des War Surplus Comittee, wird einem Untersuchungsausschuß vorstehen, der exakt feststellen wird, was mit den 26 Millionen Dollar, die Tucker sich ergaunert hat, geschehen ist.« Er machte wieder eine Kunstpause. »Eins steht fest, für das Auto hat er das Geld bestimmt nicht ausgegeben.« Vera überlief es heiß und kalt; Preston Tucker war bereits schuldig gesprochen, bevor es überhaupt zu einer Verhandlung gekommen war. »Von geringerem Gewicht ist die nächste Nachricht«, fuhr Pearson fort. »Das Gerücht der Woche um den Capitol Hill lautet, daß…« Tucker schaltete das Radio aus. Er war sich vollkommen sicher, daß die weniger wichtige Nachricht nicht über ihn handeln konnte. Seine Familie sah ihn, gelähmt vor Entsetzen, schweigend an. Tucker lachte nur und schüttelte den Kopf, als ob er sich an einen alten Witz erinnerte. »So etwas darf der doch nicht einfach sagen«, beschwerte sich Noble. »Wir machen ihn fertig. Du wirst ihn doch nicht mit diesem Quatsch ungeschoren davonkommen lassen, Dad?« Tucker zerwühlte liebevoll die Haare seines Sohnes. »Was denkst du, mit wem die es zu tun haben? Ist das hier ein Waschlappen? Die Typen wissen es zwar noch nicht, aber diese Schießbudenfiguren haben die Schießbude gerade erst eröffnet.« Marilee lachte über dieses Aufbrausen ihres Vaters und umarmte ihn herzlich. »Ich liebe dich sehr, Daddy!«
Vera fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie alle liebten Preston, und das würde sie die vor ihnen liegenden harten Wochen leichter ertragen lassen. Als Tucker am nächsten Morgen in sein Büro kam, warteten Alex, Eddie und Jimmy bereits auf ihn. Er warf eine Ausgabe der Detroit News auf den Schreibtisch. Die Schlagzeile war groß, schwarz und bedrohlich: RIESENBETRUG TUCKERS Darunter stand in kleineren Buchstaben: SEC BESCHLAGNAHMT AKTEN. »Habt ihr das schon gesehen?« Eddie nickte. Tucker wandte sich an seine Sekretärin, die ein paar Tassen Kaffee hereingebracht hatte: »Wann haben die Leute die Akten abgeholt? Letzte Nacht? Wer hat die SEC hier hereingelassen?« Die Sekretärin schüttelte den Kopf. »Niemand hat hier in der Firma auch nur irgend etwas angerührt. Gleich nachdem ich hier ankam, habe ich bei allen Abteilungen durchgerufen. Die Leute vom SEC waren nirgends.« »Verbinden Sie mich mit dem Chefredakteur.« Sie benutzte das Telefon auf Tuckers Schreibtisch und begann zu wählen. Noch bevor sie einen Anschluß bekam, stürmten vier Männer ins Büro. »Mr. Tucker, wir sind von der Security and Exchange Commission, wir haben die richterliche Anweisung, alle Akten und Briefe zu beschlagnahmen sowie alle Notizen, Rechnungsbücher und Aufzeichnungen von…«
»Ich hab’ ihn am Apparat, Mr. Tucker.« Die Sekretärin hielt ihm den Hörer entgegen, und Tucker riß ihn ihr aus der Hand. »Das ist ja eine unglaubliche Zeitung, die Sie da haben, Mister«, brüllte er wütend in den Hörer. »Es ist die einzige, die ich kenne, die Nachrichten druckt, bevor sie geschehen sind.« Er knallte den Hörer auf. »… eine Gewinn- und Verlustaufstellung, Rechnungen und eine Auflistung der Außenstände«, leierte der Mann von der SEC herunter. Junior stürmte in das Büro. »Bennington hält im Sitzungsraum eine Pressekonferenz ab!« »Wann?« »Jetzt!« Tucker, gefolgt von Eddie, Jimmy und Alex, rannte aus dem Büro und den Flur entlang. »Diese ganze Geschichte ist von langer Hand geplant worden«, sagte Tucker, während sie durch den Flur stürmten. »Das ist wie eine militärische Operation geplant. Man läßt zur Presse hin etwas durchsickern, die SEC taucht augenblicklich auf, und nun das hier mit Bennington. Steckte der von Anfang an mit denen unter einer Decke, oder will er wie eine Ratte nur das sinkende Schiff verlassen?« Tucker schüttelte den Kopf. »Es ist schon verblüffend. Wie bei der Landung der Alliierten.« Nur dieses Mal ist Tucker der Feind, dachte Eddie traurig. Der Sitzungsraum war von Reportern gefüllt. Typen von Rundfunkstationen, vom Wall Street Journal und allen wichtigen Tageszeitungen waren da. Frank, der Presseagent, gab sein Bestes, die Menge unter Kontrolle zu halten. Bennington und dessen Team standen steif wie Pappfiguren an einem Tischende. Bennington las eine vorbereitete Stellungnahme vor.
»Ich spreche im Namen von mir und den anderen Mitgliedern des Verwaltungsrats. Wir erklären hiermit mit sofortiger Wirkung unseren Rücktritt.« Von hinten aus dem Raum war der Applaus eines einzelnen Mannes zu hören. Tucker. Er sah hocherfreut aus. Wenn er Bennington loswerden konnte, war die ganze Geschichte im Grunde nur noch halb so schlimm. Die Reporter drehten sich nach hinten und entdeckten Tucker. Er war es, mit dem sie sprechen wollten. Bennington war langweilig, Tucker brachte die Schlagzeilen. »Was ist mit den Hunderten von Händlern, die Sie verklagt haben?« Ein weiteres, sorgsam vorbereitetes Gerücht, dachte Tucker. Er hatte keine blasse Ahnung von Hunderten von Klagen. »Das ist mir neu«, sagte er. »Können Sie etwas dazu sagen, daß der Bezirksstaatsanwalt das Betriebsvermögen beschlagnahmt hat?« Auch das war ihm neu. »Wie lange wird die Firma noch weiterlaufen?« wollte jemand wissen. »Gentlemen! Bitte!« rief Frank. »Richten Sie Ihre Fragen an Mr. Bennington!« Die Gentlemen von der Presse beachteten ihn nicht. »Werden Sie versuchen, weiterhin Autos zu bauen, Mr. Tucker?« »Die Fabrik ist offiziell geschlossen!« brüllte Bennington. »Meinen Sie nicht, daß Sie die amerikanische Bevölkerung im Stich gelassen haben, Mr. Tucker?« »Aus der Sicht einer Frau, Mr. Tucker, glauben Sie, daß Ihre Frau…« Tucker wandte sich ab und verließ den Raum. Die Fabrik war offiziell geschlossen. Kein Fließband, keine Autos. Allmählich begann es ihm zu dämmern, daß die anderen die Schlacht
gewinnen würden; ohne Autos konnte es keine Verteidigung geben. Langsam ging er zu seinem Büro zurück. Als er eine Hand auf der Schulter spürte, blieb er stehen und drehte sich um. Es war Frank. »Es gibt immer ein nächstes Mal, Mr. Tucker.« Tucker schüttelte den Kopf. »Glauben Sie wirklich, daß es ein nächstes Mal gibt, Frank?« Frank schaute auf die Uhr. »Ich muß los.« Frank zog Tucker die Krawattennadel ab und steckte ihm den Füllfederhalter, den Tucker so gerne haben wollte, in die Brusttasche. Dann gab er ihm die Hand und ging davon. Tucker sah ihm hinterher – Franks Nachnamen hatte er nie gekannt… Eddie holte ihn ein. »Sollen wir…? Was sollen wir tun?« Tucker zuckte die Achseln. Zum ersten Mal in seinem Leben wußte er nicht, was als nächstes zu tun war. Die SEC und ein paar Agenten des FBI benötigten den ganzen Tag, um alle Akten und Dokumente einzusammeln und fortzuschaffen. Einige der verbliebenen Werkschutzmänner gingen um die Fabrik herum und verscheuchten Arbeiter, die in kleinen Gruppen auf dem Parkplatz standen, dort über ihr Schicksal diskutierten und immer wieder zu den Fenstern der Direktionsetage hinaufblickten. Tucker hatte die Jalousien geschlossen und ließ das Telefon klingeln. Die Arbeiter verließen schließlich das Werksgelände und kauften sich auf dem Nachhauseweg die Abendzeitungen. Als erstes lasen sie die sensationslüsternen Stories über Tucker und das Zerplatzen seines Traums, dann machten sie sich niedergeschlagen auf den Weg zum Arbeitsamt. Tucker verließ sein Büro erst bei Einbruch der Dunkelheit und ging nach unten in die Fabrikhalle. Außer einer Notbeleuchtung war die große Fabrik dunkel. Seine
Fußschritte hallten durch das riesige Gebäude. Diese Stille in der Fabrik hatte für Tucker etwas Unnatürliches. Dieser Ort sollte voller Leben sein, um das Auto zu bauen, auf das die ganze Nation gewartet hatte, aber nun war es hier wie ausgestorben. Das Fließband war eingerichtet worden, und die ersten Tuckers waren fertiggestellt. Einige halbfertig montierte Chassis standen auf dem Band, und in der Mitte der Fertigungsstraße hingen einige Tucker-Karosserien an einem Förderband, bereit, auf den Rahmen geschweißt zu werden. Doch nun baumelten sie nur wie gigantische Mobiles von der Decke. Tucker brauchte bis zum Ende des Fließbands einige Zeit. Am hinteren Ende der Fabrik standen die wenigen fertig montierten Autos. Diese ersten produzierten Tucker-Torpedos standen dicht nebeneinander gereiht. Er sah sie sich liebevoll an, als wären sie seine Kinder. Er strich mit der Hand über den glatten Lack und genoß das Gefühl. Er trat auch gegen einen Reifen. Er öffnete die Fahrertür eines Autos und rutschte hinter das Steuer, die Tür schnappte mit einem satten Klicken zu. Er legte die Hände aufs Lenkrad, blickte über die lange Kühlerhaube und atmete den Geruch des neuen Autos ein. Dieses Auto war ein Prachtstück. Dann startete er die Maschine. Wie es sein sollte, sprang der Motor sofort an und röhrte munter los, als er Gas gab. Er legte den Gang ein, rangierte aus der Reihe der funkelnagelneuen Autos und fuhr langsam durch die Halle, dann legte er den Rückwärtsgang ein und beschleunigte den Wagen. Der Wagen schoß in die andere Richtung, das war also der Rückwärtsgang, über den Drew Pearson seine sarkastischen Witze gerissen hatte. Tucker steuerte den Wagen rückwärts im Zickzack durch die ganze Fabrik, an Pfeiler und Pfosten
vorbei. Danach legte das Auto die ganze Strecke durch die Fabrik elegant und kraftvoll zurück. Vor der KarosserieEntwicklungsabteilung hielt er an und drückte auf die Hupe – wie ein junger Mann, der auf sein Mädchen wartet. Eddie, Alex, Jimmy und Junior kamen aus dem Büro. Jimmy hielt eine Flasche Calvert-Roggenwhisky in der Hand. Ohne ein Wort zu sagen, stiegen die vier Männer in das Auto und hörten dem auch im Leerlauf überzeugend klingenden Motor ehrfurchtsvoll schweigend zu. Tucker nahm einen Schluck von Jimmys Whisky. »In einer Woche hätten wir nur noch auf einen Knopf zu drücken brauchen und täglich einhundert Autos produziert.« Tucker reichte Eddie die Flasche. »Laß mich dich was fragen«, sagte Eddie. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und reichte die Flasche an Alex weiter. »Wenn wir bis zum 1. Juni fünfzig Autos fertig haben, kann man uns die Fabrik nicht wegnehmen, richtig?« »Laut Vertrag jedenfalls nicht.« Aber der Vertrag bedeutete nichts; bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich die großen Drei nicht an die Spielregeln gehalten, warum sollten sie es jetzt tun? »Wie viele Autos haben wir bis jetzt fertig? Fahrbereit.« Alex hatte die Flasche Junior gegeben, der von dem starken Fusel leicht husten mußte. »Wir haben 47 Autos.« Jimmy setzte die Flasche an und nahm einen kräftigen Schluck. »Wir brauchen nur noch drei mehr?« »Wer soll die bauen?« fragte Tucker. »Ich kann niemanden mehr bezahlen. Der Staatsanwalt hat jeden Cent beschlagnahmt.« Eddie lachte. Es war typisch Tucker, sich jetzt Gedanken über die Bezahlung zu machen, wo es eh egal war – wo es vielmehr einzig und allein darum ging, die Autos zu bauen. »Würde nicht das erste Mal sein, daß wir umsonst arbeiten.«
Jimmy nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Er fühlte sich jetzt besser, viel besser. »Wenn wir nicht einmal drei Autos zusammenbauen können« – er nahm noch einen Schluck – , »dann haben wir im Autogeschäft wahrhaftig nichts zu suchen.« »Das schaffen wir nicht«, sagte Tucker. »Die Hölle schaffen wir nicht!« fluchte Eddie. Er sah Alex, Junior, Jimmy und schließlich Tucker an. »Kann mir jemand in diesem Auto dabei in die Augen sehen, wenn er sagt, wir schaffen das nicht?« Im Konstruktionsbüro klingelte das Telefon. Laß es klingeln, dachte Tucker. Wahrscheinlich war es ein Reporter, der Tuckers Sarg ein wenig fester zunageln wollte. »Ich sagte, kann mir jemand in diesem Auto dabei in die Augen sehen, wenn er sagt, wir schaffen das nicht?« wiederholte Eddie. Alex, Jimmy und Junior schüttelten den Kopf. Sie alle meinten, es schaffen zu können. Tucker schaute Eddie in die Augen. »Wir können das nicht schaffen.« Eddie grinste ihn an. »Du vielleicht nicht, wir schon.« Das Telefon klingelte immer noch. Tucker sah sich die vier an und dachte, zur Hölle, warum sollten sie es nicht schaffen? Sie hatten das erste Auto in der Scheune gebaut. Sie hatten es aus allem, was sie finden konnten, zusammengebaut – und es hatte funktioniert. Er schaute auf die Fabrik. Nun hatten sie eine solche Fabrik, sie hatten fertiggestellte Karosserien, alle Konstruktions- und Motorenprobleme waren gelöst. Es würde so einfach werden, als bastele man Spielzeugautos zusammen. Er schlug aufs Lenkrad und begann, vor sich hinzusummen. Die Jungs brachen in Freudengeschrei aus. »Das ist der alte Kämpfergeist!«
»Verdammt richtig!« brüllte Tucker. Sie würden die Autos zusammenbauen, sie würden die Fabrik am Leben erhalten. Mit den Autos konnten sie Ferguson und dessen Hintermänner schlagen. Das Telefon klingelte immer noch. Und von genau diesem Augenblick an würde Tucker der Presse liebend gerne seine Meinung kundtun. Er sprang aus dem Wagen und rannte zum Telefon. »Wo waren Sie so lange?« wollte Abe wissen. »Ich wollte gerade aufhängen.« »Abe, hören Sie, wir…« »Nein, Sie hören zu«, unterbrach Abe ihn barsch. »Sie dürfen nicht nach Hause gehen.« »Ich will gar nicht nach Hause. Ich will… Und warum darf ich nicht nach Hause gehen?« »Zwei Polizeiwagen warten vor Ihrem Haus. Man will Sie verhaften. Und auf Sie warten zudem – und das werden Sie mir kaum glauben – etwa fünfzig bis hundert Reporter und Sogar Wochenschaukameras vor dem Polizeigebäude.« »Wozu?« »Wegen der Show, die sie dort erwartet. Man wird Sie in Ketten legen.« »Sie machen Scherze.« »Wenn Sie sich einer Verhaftung entziehen wollen, tauchen Sie irgendwo unter, wo man Sie nicht finden kann.« Abe knallte den Hörer auf. Tucker hängte auf. Sein erster Gedanke war, in der Fabrik zu bleiben und mit dem Bau der Autos zu beginnen. Aber dann zögerte er. Er hatte nichts verbrochen, warum sollte er sich also vor denen verstecken? »Okay«, sagte er laut vernehmbar. »Wenn die Leute Schlagzeilen wollen, dann sollen sie auch welche bekommen. Ich werde denen eine prächtige Schlagzeile liefern.«
Er lief an den Autos entlang und schnappte sich einen der anderen funkelnagelneuen Tuckers. Er startete den Motor und raste wie ein Verrückter aus der Fabrik. »Was meint ihr, wo der hinfährt?« fragte Jimmy. »Keine Ahnung«, sagte Eddie. »Laßt uns anfangen«, forderte Junior die beiden anderen auf. Tucker fuhr mit dem Wagen durch die Chicagoer Straßen und hinterließ an jeder Ecke verdutzte Gesichter. Es war wie damals, als er mit der Polizeieskorte zum ersten Mal durch die Stadt gefahren war. Die Leute starrten dem Auto verblüfft und erfreut hinterher. Als er sich seinem Apartmenthaus näherte, stellte er fest, daß Abe hundertprozentig recht hatte. Vor dem Gebäude parkten zwei Streifenwagen mit jeweils zwei Polizisten. Es waren Plymouth-Wagen, Autos also, die Bennington gewohnt war, zu bauen. Tucker fuhr längsseits an sie heran und blieb dort einen Moment lang abwartend stehen. Die gelangweilten Polizisten bemerkten ihn nicht einmal, bis Tucker auf die Hupe drückte. »Das ist er!« »Richtig, Jungs!« brüllte Tucker. »Kriegt mich doch, wenn ihr könnt!« Er trat das Gaspedal durch, und der Wagen schoß ab wie ein Pfeil. Er hatte bereits zweihundert Meter zurückgelegt, bevor die ihre Plymouths gestartet und die Motoren auf Touren gebracht hatten. Tucker wartete kurz, damit sie ihn einholen konnten, dann startete er los. Von einer Ampelanlage aus startete das Auto wie ein Rennpferd aus der Startbox. Die Sirenen hinter ihm wurden schwächer und schwächer. Tucker schüttelte den Kopf. Es bereitete keinen Spaß, solange die Polizisten keinen ernsthaften Versuch starteten, ihn einzuholen. Er verlangsamte die Geschwindigkeit des Wagens auf Schrittempo und wartete, bis ihn die beiden Streifenwagen fast eingeholt hatten. Dann
trat er wieder das Gaspedal durch. Der starke Motor heulte kurz auf, und das Auto zog ab wie eine Rakete. Die Polizisten fuhren so schnell, wie sie sich trauten, aber sie konnten Tucker nicht einholen. Sie mußten bei jeder Abbiegung stark abbremsen, und während ihre Plymouths um die Kurven schaukelten, nahm sie das Tucker-Torpedo wie ein Rennwagen in Indianapolis. Tucker war weit voraus, und so wurde er wieder langsamer und hielt schließlich an. Um den Polizisten die Verfolgung zu erleichtern, schaltete er den Rückwärtsgang ein und fuhr ein Stück zurück – schließlich sollte es ein sportlicher Vergleich werden. »Dieser Mistkerl!« rief einer der Polizisten, als Tucker ihn höhnisch grinsend ansah. »Ich denke, das Auto kann gar nicht fahren… wenigstens nicht rückwärts!« »Halt die Klappe und fahr!« sagte sein Partner. Er bekam langsam das Gefühl, daß sie keine Chance bekommen würden, die Hand- und Fußschellen zu benutzen, auf die der Staatsanwalt bei einer Verhaftung bestanden hatte. Tucker jagte durch die Chicagoer Straßen, während die beiden Plymouths verzweifelt versuchten, ihn zu verfolgen. Aber es war kein fairer Wettstreit. Als Tucker vor dem Polizeigebäude vorfuhr, waren die Streifenwagen weit, weit hinter ihm. Die Reporter erkannten Tucker und das Auto sofort – beide waren unverwechselbar. Tucker sprang in ein Sperrfeuer aus Blitzlichtern, Scheinwerfern und Fragen aus dem Wagen. »Wie reagieren Sie auf die Anklage, die…« »Mr. Tucker, stimmt es, daß Sie…« Die Blitzlichter knallten wie Sektkorken. »Mr. Tucker, werden Sie sich schuldig bekennen, oder…« Tucker wartete, bis die lahmen Streifenwagen mit heulenden Sirenen um die Ecke bogen. Dann sprach er.
»Stellen Sie mir doch keine Fragen. Fragen Sie lieber die Polizisten nach der Hundert-Meilen-Pro-StundeVerfolgungsjagd, die ich denen mit ihren zusammengeflickten Schrotthaufen geliefert habe.« Er streichelte über die Motorhaube des Autos wie ein Rennpferdbesitzer, der sein Pferd streichelt, das gerade das Kentucky Derby gewonnen hat. »Stimmt das, Officer?« rief einer der Reporter. »Kein Kommentar«, grummelte einer der Polizisten – das war das, was er sonst immer von Angeklagten zu hören bekam. Tucker wurde verhaftet. Abe stellte die Kaution. Ein Gerichtstermin wurde anberaumt. Ein Anwalt wurde engagiert. Aber Tucker schien nicht sonderlich an seiner eigenen Verhaftung interessiert zu sein. Sein Platz war, und darauf bestand er, in der Fabrik bei Jimmy, Eddie und dem Rest der Jungs. Seine Verteidigung würde in der Fabrikhalle aufgebaut werden. Die Arbeit an den letzten drei Autos ging gut voran. Sie sprachen nicht viel miteinander, jeder wußte, was er zu tun hatte. Nur das Radio war die ganze Zeit an. »Heute morgen wird die Verhandlung gegen Preston Tucker eröffnet«, sagte der Nachrichtensprecher von WLS, »und zwar im selben Gerichtsgebäude, in dem Al Capone verurteilt wurde.« Jetzt ist er schon Al Capone, dachte Eddie wütend. »Tucker wird zur Last gelegt, fünfundzwanzigmal in betrügerischer Absicht Lieferungszusagen gemacht zu haben, fünfmal gegen die Securities and Exchange Commission zuwidergehandelt zu haben, und ein Anklagepunkt wirft ihm wissentliche Veruntreuung von Geldern vor.« Der Nachrichtensprecher beschrieb – und das tat er nach Auffassung der Leute in der Fabrik mit einigem Vergnügen – , was Tucker zu erwarten hatte, falls er in allen Anklagepunkten für schuldig befunden werden würde.
»Sollte Tucker verurteilt werden, der übrigens für eine Kaution von 25 000 Dollar auf freiem Fuß ist, erwartet ihn eine Höchststrafe von 155 Jahren Gefängnis und 60 000 Dollar Geldstrafe.« Jimmy lachte. »Warum machen die daraus nicht 155 Dollar Geldstrafe und 60 000 Jahre Gefängnis? Bleibt sich doch gleich.« Außer Jimmy konnte niemand etwas Komisches daran entdecken, aber alle wußten, daß Jimmy nicht über Tuckers mißliche Lage lachte. Jimmy summte vor sich hin und arbeitete weiter an der Federung. Alex wußte nicht, was das alles sollte. Falls Tucker die Investoren betrogen hatte, warum gab er sich dann damit ab, 47, mittlerweile fast 48 Tucker-Torpedos zu bauen? Warum war er dann mit seinen 25 Millionen nicht in Brasilien, der Schweiz oder sonstwo? Für Eddie lag alles klar auf der Hand. Für die Staatsanwaltschaft lag das Gegenteil klar auf der Hand. Gleich vier Staatsanwälte wurden gegen Tucker aufgefahren – vier entschlossene, erfahrene Männer, angeführt von einem Mann, der extra für diese Aufgabe ausgesucht worden war. Dem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt Otto Kerner Jr. war in verschiedensten Gesprächen versichert worden, daß er sich, wenn er Tucker für einige Zeit aus dem Verkehr ziehen würde, in Washington einige sehr einflußreiche Freunde verschaffen würde. Kerner mußte nicht fragen, wen. Tuckers Anwalt William Kirby kannte Kerner schon seit langem, und er konnte ihn nicht ausstehen: Kerner war ein aalglatter Staatsanwalt, der alle Tricks und Schliche kannte und nicht davor zurückschreckte, sie einzusetzen, wenn es so zu einer Verurteilung kam. Kerner kam in seinem Eröffnungsplädoyer sofort zur Sache. Er sprach die Geschworenen – sechs Frauen, sechs Männer –
direkt an und redete mit unverhohlener Geringschätzung über Tucker. »… und betrachtet man seine revolutionären Konstruktionen und Pläne einmal genauer«, sagte Kerner, wobei er das Wort ›revolutionär‹ abfällig betonte, »werden wir feststellen, daß das einzige, was Mr. Tucker konstruierte, ein raffinierter Betrugsplan war.« Vera, Abe und Marilee saßen in der ersten Reihe. Vera zuckte bei jedem Wort, das gegen ihren Ehemann gerichtet wurde, zusammen, aber Tucker selbst schien das alles nicht zu berühren. Er saß am Tisch der Verteidigung neben Kirby und malte auf seiner gelben Schreibunterlage Männchen. »Er wollte nur an das Geld der Menschen kommen. Und er wollte das Geld für nichts. Und das ist auch das, was die Menschen dafür bekommen haben – nichts.« Kerner hatte die Zusammenstellung der Geschworenen genau überprüft. Es waren einfache Arbeiter und Hausfrauen, die für redliche Arbeit auch redliche Bezahlung erwarteten. Sie bekamen und erwarteten auch keine Bezahlung für ›nichts‹. Und sie kannten den Wert eines Dollars. »Die Regierung hat gesagt, daß Tuckers Absicht darin bestand, die Öffentlichkeit zu täuschen, indem er sie in dem Glauben ließ, demnächst würde ein gutes Auto auf den Markt kommen. Aber die wahre Absicht bestand darin, Geld zu ergaunern.« Tucker malte weiter Strichmännchen. Ein gutes Auto würde kommen. Fünfzig gute Autos würden kommen. Vera fühlte sich immer unwohler und rutschte auf dem harten Stuhl unbehaglich hin und her. Der Raum war heiß und überfüllt. Sie schwitzte und hatte kurzzeitige Atembeklemmungen, als würde sie ertrinken oder als würge man sie.
»Bist du okay, Mom?« fragte Marilee. »Es ist wirklich heiß hier. Vielleicht solltest du mal kurz vor die Tür gehen.« Vera schüttelte den Kopf. Sie würde keine Minute dieses Prozesses versäumen. »Ich denke nur an deinen Vater – es ist nicht die Hitze, es ist diese Demütigung.« Kerner ließ Tucker alles andere als demütig und bescheiden aussehen. »Die Habgier dieses Mannes…« – er deutete anklagend mit dem Finger auf Tucker – »… war die treibende Kraft, die ihn auf den Gedanken brachte, er könnte Tausende von amerikanischen Bürgern betrügen, einfache, anständige Menschen…« Abe fand, daß der Staatsanwalt nun ein wenig zu dick auftrug. »… die er ihrer Ersparnisse beraubte. Und zynischerweise glaubte er auch noch, er würde mit diesem Betrug unbehelligt davonkommen.« Vera schüttelte den Kopf. Wenn die Investoren und Kerner die schlaflosen Nächte miterlebt hätten, den Kummer und die Arbeit, dann würden alle wissen, daß nichts von dem, was der Bezirksstaatsanwalt sagte, der Wahrheit entsprach. Kirby wirkte gelassen und kam in seinem Eröffnungsplädoyer auch sofort auf den Punkt. Er sah die Geschworenen eindringlich an und hoffte, sie würden die Wahrheit in seinen Worten hören. »Die Tucker-Fabrik wurde im guten Glauben eröffnet, und der Angeklagte beabsichtigte, Autos in Serienproduktion herzustellen. Gute Autos. Autos, wie sie die Autoindustrie bis dahin seit fünfzig Jahren nicht gesehen hatte. Die Tatsache, daß ihm das nicht gelang, war nur bis zu einem gewissen Grade durch einen Mangel an finanziellen Mitteln begründet, aber in einem weit höheren Maße scheiterte sein Unterfangen an höchst illegalen und skrupellosen Machenschaften, die von außen auf ihn einwirkten.« Kirby sah direkt auf Kerner. Kerner
schien an einer Notiz, die er vor sich auf einen Block gekritzelt hatte, sehr interessiert. Er hatte nicht die Absicht, Kirbys Blick zu erwidern. »Ursprung dieser Machenschaften sind derartig mächtige Leute«, Kirby fuhr mit lauter Stimme fort, »daß ihnen niemand hätte widerstehen können.« William Kirby mußte die Namen der mächtigen Leute nicht nennen. Er konnte sehen, daß einige der Geschworenen bemerkt hatten, daß Kerner seinem Blick ausgewichen war. Einige von ihnen nickten zustimmend. Als sich Tuckers Anwalt hinsetzte, war er mit seinem Auftritt zufrieden. Er hatte es geschafft, Tucker als kleinen Jungen aussehen zu lassen, der nur versucht hatte voranzukommen, und dessen gutes Recht, ein Auto zu bauen und sein Glück zu machen, von einem Kartell nicht akzeptiert worden war, das den kleinen Mann klein halten wollte. Der erste Zeuge der Anklage war der Besitzer einer KfzWerkstatt. Einer von denen, mit denen Abe gesprochen hatte, als er durch das Land gereist war, um Aktien und Händlerlizenzen zu verkaufen. Der Mann wirkte aufgeregt und bedrückt. Er hatte für die Händlerlizenz gutes Geld bezahlt, und nun sah es so aus, als ob er keinen Cent davon wiedersehen würde. »Und was haben Sie für Ihr Alleinverkaufsrecht bezahlt?« fragte Kerner. »Zehntausend Dollar.« Kerner sah zu den Geschworenen hinüber. Zehntausend Dollar war für sie sicherlich ein Vermögen. »Und was wurde Ihnen als Gegenleistung versprochen?« »Autos. Viele Autos. Ohne die Zusicherung einer regelmäßigen Lieferung würde ich nicht zehntausend Dollar auf den Tisch legen, und die wurde mir auch zugesichert. Sie
sagten mir, sie würden eintausend Autos täglich vom Band laufen lassen.« »Wurden Ihnen diese Zusicherungen nur mündlich oder auch schriftlich gegeben?« »Beides. Mein Bruder fiel im Pazifik. Ich unterstützte neben meiner auch seine Familie. Das Geld war alles, was ich besaß.« Kerner tat alles, um betroffen auszusehen, aber innerlich war er hocherfreut. Niemand hatte dem Mann vorher eingetrichtert, zu sagen, daß sein Bruder im Krieg gefallen war, aber das war eine ausgezeichnete Randbemerkung; Kerner wußte, daß zwei der weiblichen Geschworenen Mütter von gefallenen Söhnen waren. »Und sehen Sie hier die Person, die zu Ihnen in die Tankstelle kam und Ihnen eine Händlerlizenz verkauft hat? Die, für die Sie zehntausend Dollar bezahlt haben?« Als ob dieser Bursche mehrere gekauft hätte. Der Mann entdeckte Abe, ohne zu zögern, im Zuhörerraum. »Der da«, sagte er und zeigte auf Abe. Abe rutschte auf seinem Stuhl ein wenig tiefer, als sich im Zuhörerraum alle Blicke auf ihn richteten. »Vermerken Sie im Protokoll, daß der Zeuge auf Abe Karatz zeigte.« Der Gerichtsschreiber nickte und hielt die Information fest. »Sagen Sie mir«, fuhr Kerner fort, »hat Mr. Karatz Ihnen verraten, daß er drei Jahre wegen Bankbetrugs in einem staatlichen Gefängnis verbracht hat?« Kirby sprang auf. »Einspruch! Unzulässige Beeinflussung der Geschworenen!« »Abgelehnt!« Tucker tat Abe leid. Er erinnerte sich an den Abend, als Abe gekündigt hatte und ihm gesagt hatte, wie sehr er sich schämen würde, wenn Tuckers Familie von seiner Vorstrafe erfahren würde. Es war nicht richtig, ihn einer solchen Tortur
auszusetzen. Schließlich stand Tucker vor Gericht, nicht Abe. Tucker warf einen Blick über die Schulter. Er hatte erwartet, daß Abe blaß und hilflos aussehen würde. Statt dessen lächelte Abe ihn an, als ob das Schlimmste nun vorbei und die Scham, die er in sich getragen hatte, verflogen wäre. Die Anklagevertretung rief nun Abe als nächsten Zeugen auf, und Kerner nahm kein Blatt vor den Mund. »Mr. Karatz, entspricht es der Wahrheit, daß Sie im Juni 1935 wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder verurteilt wurden und eine dreijährige Haftstrafe in einem Staatsgefängnis verbracht haben?« Abe nickte. »Das entspricht der Wahrheit.« »Mr. Karatz, erwarten Sie als vorbestrafter Verbrecher, daß Ihnen bei dem, was Sie sagen, auch nur ein einziger Mensch in diesem Gerichtssaal Glauben schenkt?« »Ja«, sagte Abe und sah Tucker direkt in die Augen. »Einer.« Wie Kerner, so wollte auch Bennington diese Verhandlung gewinnen. Er haßte Tucker und wollte Revanche. Er verdrehte alle Tatsachen, um der Anklagevertretung die Antworten zu geben, die sie sich erhofft hatte. »Und wie würden Sie Mr. Tuckers Verhalten als Geschäftsmann beschreiben?« »Sein Verhalten, sein Benehmen, nun, es war unbegreiflich. Er verstand ganz einfach nicht, daß eine gut geführte Firma keine Gelder für Forschung vergeudet, es sei denn, daß sie nur durch Neuerungen mit der Konkurrenz Schritt halten kann.« Und das, dachte Tucker, faßte die ganze Geschichte in Kurzform zusammen. Tucker war zur Konkurrenz geworden – und die großen Drei konnten nur Geld ausgeben, um Schritt zu halten oder ihn aus dem Geschäft heraushalten – , und sie hatten sich für die billigere Lösung entschieden.
»Nun«, sagte Kerner, »hier haben wir einen Mann – Mr. Tucker – mit der größten Fabrik der Welt, mit zwei Gießereien, einem Dutzend Drehereien und einem Maschinenpark und einer Ausrüstung sondergleichen. Mr. Bennington, Sie sind ein anerkannter Experte für die Produktion von Kraftfahrzeugen. Können Sie sich einen einleuchtenden Grund vorstellen, warum Tucker sich entschieden haben könnte, das Auto in einer Scheune zu entwickeln?« – er sagte ›Scheune‹ so, als hätte Tucker an seinem Auto in einem Iglu gearbeitet – »In einer Scheune!« Henry Ford hatte auch eine Scheune gereicht, dachte Tucker. Aber Kirby sprang auf und legte Einspruch ein. Kerner befragte nicht den Zeugen Bennington, sondern benutzte das Zeugenverhör nur als eine Gelegenheit, um eine Rede oder eine Moralpredigt zu halten. »Einspruch, Euer Ehren«, brüllte Kirby. Er brauchte nicht näher darauf einzugehen. »Ein Schuppen«, fuhr Kerner fort, »der wenig oder gar nicht ausgerüstet war. Jedenfalls so wenig, daß noch die meiste Arbeit in der Küche erledigt werden mußte…« »Einspruch.« Selbst der Richter konnte das nicht durchgehen lassen. Er klopfte laut mit dem Hammer auf den Tisch. »Stattgegeben! Mr. Kerner, würden Sie…« »Verschieben wir das«, beendete Kerner sein Verhör. »Bitte beschränken Sie sich bei Ihren Äußerungen ausschließlich auf die Befragung des Zeugen, anstatt Ihre persönliche Meinung zu äußern.« Tucker wandte sich an Kirby. »Dieses Gerichtsverfahren wurde gekauft, bezahlt und wie ein Weihnachtsgeschenk verpackt, das sich Detroit selbst macht.« Langsam wurde Tucker von Verzweiflung ergriffen. »Ich wäre schon froh, wenn ich mit zehn, fünfzehn Jahren davonkomme.«
Aber Kirby kannte das Gesetz. »Bis jetzt ist noch nichts bewiesen worden. Rechtlich gesehen haben die sowieso noch gar nichts erreicht.« »Die haben dann etwas bewiesen, wenn die das so glauben.« Tucker nickte zu den Geschworenen hinüber. »Ich glaube, die glauben eher, daß Kerner nur bewiesen hat, daß er ein selbstgefälliger Wichtigtuer ist.« »Dann würden die Geschworenen ja richtig liegen.« Aber unglücklicherweise war nicht Kerner der Angeklagte, dachte Kirby. An diesem Nachmittag gegen drei Uhr rollte das erste der letzten drei Tucker-Torpedos vom Fließband. Eddie, Jimmy und Alex legten eine halbstündige Pause ein, um den Wagen zu bewundern und eine Tasse Kaffee zu trinken. Dann begannen sie mit dem nächsten Auto. Kirby hatte gehofft, daß die Beweisführung der SECErmittlungsbeamten auf die Geschworenen einschläfernd wirken würde. Aber er lag falsch. Mr. Blue, der von der SEC mit der Untersuchung beauftragte Wirtschaftsprüfer, lieferte klare, prägnante und absolut vernichtende Beweise – die allerdings alle falsch waren. »Wie hoch war die Summe, die die Tucker Motor Company für Motor und Getriebe des Prototypen bezahlt hat?« fragte Kerner und erinnerte die Geschworenen: »Für das Auto also, von dem wir bereits nachgewiesen haben, daß es in erster Linie aus alten Schrotteilen zusammengebaut wurde.« »223 000 Dollar«, sagte Blue trocken. »Was ist? Das ist eine gottverdammte Lüge!« Tuckers Stimme überschlug sich fast vor Empörung. Er schaute zu Vera. Sie war wie gelähmt; was der Mann behauptet hatte, war eine absolute Lüge. Sie hatte die Geschäftsbücher immer
ordentlich geführt, und niemand konnte ihr jetzt erzählen, daß so viel ausgegeben worden war. »An wen wurde dieses Geld bezahlt?« fragte Kerner. »An die Ypsilanti Machine and Tool Company.« »Können Sie mir die Ypsilanti Machine and Tool Company genauer beschreiben? Das Fabrikgebäude zum Beispiel?« »Die Fabrik?« fragte Blue lachend. »Das ist keine Fabrik. Es handelt sich um eine Scheune.« Kerner lächelte. »Eine Scheune. Also ein Ort, an dem man sonst zum Beispiel Pferde hält, ja? Ist es so etwas?« Kirby fluchte in sich hinein; diese verdammte Scheune würde ihn noch umbringen. »Ich habe die Scheune nie gesehen«, sagte Blue. »Aber im SEC-Bericht steht es so.« Kerner nickte. Er nahm an, daß die Geschworenen dem SECBericht glauben würden. »Und wem gehörte diese Scheune – Entschuldigung – ich meine natürlich, die Ypsilanti Machine and Tool Company?« »Der Tucker-Familie.« »Und welche Honorare und Spesen wurden an Preston Tucker Junior ausgezahlt?« Kerner zog das Wort ›Junior‹ extra lang, in der Hoffnung, die Geschworenen würden sich Junior als kleinen Jungen in kurzen Hosen vorstellen. »11 400 Dollar.« Tucker sprang auf. »Hören Sie, lassen Sie gefälligst meine Kinder aus dem Spiel! Haben Sie mich verstanden?« Kerner blieb gelassen, war aber zufrieden; Wutausbrüche im Gerichtssaal hatten der Verteidigung noch nie genutzt. »Mr. Tucker«, ermahnte ihn der Richter, »noch so eine Bemerkung, und ich werde Sie zu einer Geldbuße von hundert Dollar verurteilen.« Kirby zog Tucker auf den Stuhl zurück. »Das wäre es mir wert!« schimpfte Tucker.
Kerner lächelte. Tucker spielte seine Rolle ausgezeichnet. Eventuell würde er über die Strenge schlagen und sich so selbst die Schlinge um den Hals legen. Aber Kerner lag falsch. Er selbst war es, der über die Strenge geschlagen war. Er hatte vermutet, daß die Geschworenen jeden, der auf die schnelle Tour reich werden wollte, mißtrauisch und voller Argwohn beurteilen würden, und lag damit auch richtig. Aber er hatte dabei vergessen, daß sie zu den Leuten zählten, die einen ausgeprägten Familiensinn besaßen. Junior anzugreifen hatte die Anklagevertretung kalt und herzlos aussehen lassen. Wenn die Rollen vertauscht gewesen wären und einer der Geschworenen vor Gericht gestanden hätte, hätte jeder von ihnen wie Tucker gehandelt und seine Kinder verteidigt – und das war allemal hundert Dollar wert. Während einer Verhandlungspause hatte Vera Rechtsanwalt Kirby erzählt, daß die Zahlen, die der SEC-Agent vorgetragen hatte, vollkommen erfunden seien. »Ich habe jede Quittung aufbewahrt, alle Rechnungen, Schecks und Kontoauszüge – ich kann auf den Cent genau sagen, was wir ausgegeben haben und was man uns bezahlt hat.« Kirby schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die sich mit den Zahlen vertun – das sind Fachleute. Sind Sie sich da ganz sicher?« Vera nickte. »Ich kann beweisen, daß wir nicht einmal ansatzweise das ausgegeben haben, was die behaupten.« »Dann müssen die Leute von der SEC ja einen ganzen Stapel Geschäftsbücher vergessen haben. Warum tun die das? Das ist Fälschung von Beweismaterial.« »Warum stellen die so etwas Dummes an, wenn sie wissen, daß wir das Gegenteil beweisen können?« fragte Marilee.
»Die Menschen glauben, was in den Zeitungen steht«, sagte Tucker verbittert. »Selbst dann, wenn sie es nicht glauben.« »Aber, Daddy, das ergibt doch…« »Keinen Sinn, richtig? Nun, wenn ich in genügend Schlagzeilen als Gangster bezeichnet werde, und das regelmäßig, dann bin ich auch einer. Und das bedeutet mein Ende und das des Autos, und darum dreht sich doch die ganze Geschichte, oder?« Abe hatte sich zu ihnen gesellt. »Obwohl, wenn es wahr ist, was Sie sagen, Tucker, dann habe ich das Gefühl, daß wir der Presse eine weit größere Story liefern können, als sie bereits hat. Die Zeitungen stellen Sie also als Verbrecher dar. Was ist neu daran? Seit Wochen behaupten die das. Schnee von gestern, stimmt’s? Wenn wir nun aber behaupten, die anderen sind Verbrecher, dann ist das etwas Neues… feinster Neuschnee sozusagen.« »Ich sage die Wahrheit«, beteuerte Vera. »Ich werde jeden Papierfetzen aus den Akten holen. Wenn diese Leute Schlagzeilen voller Lügen machen, können wir weit größere Schlagzeilen mit der Wahrheit liefern.« »Ich werde Frank, den Presseagenten, anrufen«, sagte Abe. Sie blickten alle auf den Anwalt. »Was meinen Sie dazu?« fragte Tucker. »Ich denke, die Gegenseite ist dieses Mal zu weit gegangen«, antwortete Kirby. Tucker schlug sich mit der Faust gegen die Handfläche. »Dann kriegen wir sie. Nein, wir haben sie schon! Die Hölle machen wir denen heiß! Wir werden denen noch die Eier langziehen.« »Die was?« fragte Marilee. »Vergiß es«, sagte Vera.
Der letzte Zeuge der Anklage war der Chicagoer Leiter der Securities and Exchange Commission. Mehr oder weniger ließ Kerner ihn dasselbe sagen, was Blue schon behauptet hatte, nur um die Geschworenen daran zu erinnern, daß die mächtige und unbestechliche SEC Tucker für einen Betrüger hielt. Kerner ließ die Zeugenaussage seines Mannes perfekt enden. »Und all diese Beweise deuten darauf hin, daß Mr. Tucker über eine Million Dollar aus dem Geld der Aktionäre zu seinen eigenen Gunsten abzweigte.« »Sind Sie sich dessen absolut sicher?« fragte Kerner. Der Mann zuckte die Achseln. »Mr. Kerner, ich kann Bilanzen lesen.« Kerner nickte. »Keine weiteren Fragen.« Kirby bereitete dem Mann von der SEC einige äußerst unbehagliche Minuten. »Sagen Sie mir, gehört es zur Politik der SEC, bereits Ergebnisse von Nachforschungen zu veröffentlichen, während diese noch gar nicht abgeschlossen sind?« Der SEC-Mann schreckte zusammen. »Absolut nicht. Alle Berichte sind geheim und vertraulich.« »So? Sind sie das?« »Ohne Ausnahme.« »Ich verstehe.« Kirby ging zum Tisch der Verteidigung hinüber und holte zwei Dokumente, die er dem Gerichtsdiener übergab. »Ich würde gerne ein Protokoll über frühere Ermittlungen der SEC gegen Mr. Tucker zur Sprache bringen.« Kirby wandte sich an die Geschworenen. »Bei diesen Dokumenten handelt es sich um eine eidesstattliche Erklärung eines Reporters der Detroit News, daß Harry A. MacDonald, Commissioner der SEC, ihn in einem Zimmer des Statler Hotels in Washington über den Stand der Ermittlungen informiert hat.«
Kirby unterbrach, als sei er durch dieses Verhalten verblüfft. Kerner drehte sich der Magen um. Wie konnte es kommen, daß er davon nichts gewußt hatte? »Warum gibt die SEC gegen Mr. Tucker gerichtete Informationen weiter, die wahr oder unwahr sein mögen, wenn sich dieses Verhalten aber mit der Politik der SEC nicht vereinbaren läßt?« fragte Kirby verwundert. »Mir kommt es so vor, daß…« »Einspruch!« schrie Kerner. »Was wir hier haben«, fuhr Kirby fort, »ist der Versuch, meinen Klienten zu zerstören. Wenn die SEC mit ihren eigenen Grundsätzen brechen kann, nur um Mr. Tuckers Namen durch den Dreck zu ziehen, dann…« Der Richter begann, mit dem Hammer auf den Richtertisch zu klopfen. »Mr. Kirby, Sie müssen…« Aber Kirby war fest entschlossen, angehört zu werden. Kerner hatte das genauso getan, also war es nur sein gutes Recht weiterzureden. »… dann ist das, was sie von diesem Zeugen eben noch gehört haben, nichts als eine Lüge…« »Euer Ehren! Ich erhebe entschieden Einspruch gegen diese unentschuldbare…« Kirby fuhr unbeirrt fort, lauter, um Richter und Staatsanwalt zu übertönen. »Wie können wir dann der Behauptung der SEC Glauben schenken – laut der Mr. Tucker ja eine Million Dollar gestohlen haben soll – , wenn die SEC keinerlei Beweise vorlegen kann?« »Euer Ehren! Ich muß darauf bestehen, daß Sie den Verteidiger daran hindern…« Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Mr. Kirby, ich muß Sie darauf hinweisen, daß Ihr Verhalten nicht zulässig ist. Meine Damen und Herren Geschworenen, ich muß Sie daran erinnern, daß persönliche Äußerungen der
Verteidigung keine Beweiskraft haben.« Der Richter rückte seine Robe zurecht. »Nun, Mr. Kirby, haben Sie noch weitere Fragen an den Zeugen?« »Nein, Euer Ehren.« »Mr. Kerner, haben Sie noch weitere Zeugen?« »Die Beweisaufnahme der Anklage ist abgeschlossen.« Der Richter klopfte noch einmal mit dem Hammer auf den Tisch. »Die Verhandlung wird vertagt.« An diesem Abend rollte der dritte und letzte Wagen vom Fließband. Die ganze Tucker-Großfamilie war angetreten, um dabeizusein. Das Auto war mehr als nur ein Auto geworden, mehr als nur ein Traum. Nun war es zu einer Waffe geworden, die sie zur Verteidigung gegen die feindlichen Streitkräfte einsetzen mußten. Tucker schüttelte Eddie feierlich die Hände. »Du hast es geschafft, du ewig alter Nörgler. Du hast es geschafft.« »Wir alle haben es geschafft.« »Und eine Woche vor der Frist!« jubelte Junior, und seine Stimme schallte durch die Fabrik. Vera öffnete eine Flasche Champagner und begann, die Gläser zu füllen. Tucker ging an der Reihe funkelnagelneuer Autos entlang. Er streichelte jedes einzelne, alle fünfzig, als wollte er sich vergewissern, daß es sie wirklich gab. »Morgen werden wir zuschlagen.« Es schien, als würde er genauso zu den Autos reden wie zu seiner Familie und den Freunden. Sie beobachteten ihn und waren beeindruckt von den Gefühlen, die er für seine Schöpfungen empfand. »Morgen werden wir sie wie Katzenfutter in Stücke zerhacken. Wir haben jetzt die Zeugen, die beweisen, daß die ganze Geschichte erstunken und erlogen ist.« »Das ist der alte Kampfgeist, Dad!« sagte Noble.
»Eddie, ich will jeden einzelnen dieser fünfzig Wagen morgen früh um halb acht vor dem Gerichtsgebäude sehen.« »Wir werden dort sein.« Es sei denn, sie würden zu spät kommen. Tucker, Vera, Abe, Kirby, Marilee und Noble standen im Nieselregen auf der Eingangstreppe zum Gericht und schauten erwartungsvoll die Straße hinauf – aber es gab keine Anzeichen von den Autos. »Wo bleiben die nur?« fragte Abe verwundert. »Die stecken wahrscheinlich im Verkehr fest«, sagte Vera mit einer Überzeugung, von der sie selbst nichts verspürte. »Vergeßt nicht, daß jetzt Rush-hour ist.« »Die Sitzung wird gleich eröffnet, wir müssen ins Gericht. Wir können nicht mehr länger warten.« Kirby steckte seine Uhr in die Westentasche zurück. Als sie verdrossen in das Gerichtsgebäude gingen, stürzte sich ein Reporter auf Tucker. »Irgendein Kommentar zu den heutigen Meldungen, Mr. Tucker?« »Was für Meldungen?« Der Reporter hielt ihm die Zeitung unter die Nase. »Haben Sie denn davon noch nichts gehört?« Es sah fast so aus, als ob die Schlagzeile wenigstens einen Fuß hoch war. TUCKER VERLIERT CHICAGOER FABRIK Tucker trottete ein paar Schritte weiter und gab Vera die Zeitung. »Das darf nicht wahr sein. Gestern abend waren wir noch in der Fabrik. Was ist, wenn die die Autos beschlagnahmt haben?« ›»Eine von Senator Ferguson geleitete und von Präsident Truman eingerichtete Sonderkommission beauftragte die War Assets Administration, die Tucker Motor Company wieder in
Besitz zu nehmen‹«, las Vera laut vor. Auf einem Foto war Senator Ferguson auf dem Fabrikgelände zu sehen, der einige Polizisten dirigierte, als sei er Patton, Eisenhower oder sonstwer. ›»Die ehemalige Flugzeugfabrik mit der größten Produktionsanlage unter einem Dach wurde der Lustron Corporation zur Herstellung von kostengünstigen Fertighausteilen zuerkannt…‹« »Aber wieso können die uns einfach die Fabrik wegnehmen? Wir hatten noch bis zur nächsten Woche Zeit, die Autos zu produzieren.« »Und wir haben es geschafft«, bemerkte Marilee. Von der Straße war ein Hupkonzert zu hören – von fünfzig Autos. Eddie saß hinter dem Steuer eines dunkelblauen Tuckers und hielt als erster am Straßenrand an. Die anderen 49 Wagen parkten hinter ihm. »Wußtet Ihr, daß die anscheinend zur Zeit jede Straße in der Stadt aufreißen? Tut mir leid, daß wir uns verspätet haben, aber wir mußten einen Umweg über China machen. Ihr hättet sehen sollen, wie die Leute geguckt haben, als wir an ihnen vorbeifuhren. Einige klatschten sogar…« Eddie fiel plötzlich auf, daß sich niemand über sein Auftauchen übermäßig zu freuen schien. »Was ist passiert? Jemand gestorben?« Tucker gab ihm die Zeitung. »Wir sind gestorben.« Eddie mochte nicht glauben, was er da las. »Was soll das? Wir haben erst den 24. Mai, und wir haben doch bis zum 1. Juni Zeit, oder?« Tucker schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das hatten wir, bis man wegen uns die Vereinbarungen änderte.« Er wandte sich ab und ging wie zu seiner eigenen Exekution auf den Gerichtssaal zu, dann blieb er stehen. Was hier ablief, war hinterhältig und unfair. Man gab ihm die Fabrik und setzte ihm eine Frist. Er hatte gesagt, er würde fünfzig Autos bauen, und
das hatte er geschafft. Sie hatten die Bücher gefälscht, seine Kinder beschuldigt, seine Freunde gedemütigt, seine Frau verletzt – und seinen Traum zerstört. Er würde nicht aufgeben, jetzt nicht mehr. »Kirby, lassen Sie uns deren Spielregeln nicht mehr einhalten«, sagte Tucker. »Lassen Sie uns diese Geschichte endlich klären und den Geschworenen sagen, was hier gespielt wird.« »Tucker, bitte, ich bin Anwalt. Lassen Sie mich das machen. Wir haben eine unangreifbare Verteidigung aufgebaut. Hören Sie auf meinen Ratschlag.« »Ich will mit denen reden, von Angesicht zu Angesicht.« »Vergessen Sie’s.« »Aber die haben keinerlei rechtliche Handhabe, mir die Fabrik wegzunehmen.« »Vergessen Sie die Fabrik. In dem Punkt haben Sie verloren.« Er packte Tucker bei den Schultern. »Gegen Sie haben sich mächtige Kräfte verschworen, aber das hier ist ein Gerichtshof. Riskieren Sie nicht, sich denen selbst ans Messer zu liefern.« »Lassen Sie mich reden. Lieber schneide ich mir die Kehle selber durch, als daß ich die anderen das für mich erledigen lasse.« Tucker ging fest entschlossen in den Gerichtssaal. Kirby versuchte verzweifelt, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. »Ich will nicht, daß Sie hier Ihren Mund aufmachen. Hören Sie auf mich. Ich meine es ganz ernst… wenn Sie nicht vorsichtig sind, verbringen Sie die nächsten zwanzig Jahre im Gefängnis.« »Das werde ich nicht, denn ich bin unschuldig.« »Ich weiß das«, sagte Kirby und zeigte auf die Geschworenen. »Aber wissen die das auch?«
»Die Geschworenen werden keinen unschuldigen Menschen verurteilen.« Kirby schüttelte den Kopf. Kaum zu glauben, aber nachdem Tucker all das hinter sich hatte, glaubte er immer noch an den amerikanischen Traum; daß jeder die Möglichkeit besaß, Präsident zu werden, daß man vom Tellerwäscher zum Millionär werden konnte, daß Amerika das Land der Gerechtigkeit und Gleichheit für alle war. Zur Hölle, wahrscheinlich glaubte Tucker sogar, daß George Washington nie gelogen hatte. »Bitte, lassen Sie mich das machen.« »Okay, Sie regeln das«, sagte Tucker. »Sagen Sie dem Richter, daß ich ein paar Worte an die Geschworenen richten will. Sagen Sie ihm, daß das die einzige Möglichkeit zur Verteidigung ist.« Das Publikum im überfüllten Gerichtssaal schaute sich nach hinten um. Blitzlichter flackerten auf, Reporter stellten Fragen – Senator Ferguson hatte den Gerichtssaal betreten. Tucker bahnte sich den Weg durch die Menge, bis er dem Senator von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Ferguson starrte zurück und war bereit, sich aus dem Staub zu machen, falls Tucker ausfallend werden würde. »Schön, Sie zu sehen, Senator.« Tucker hielt ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. Ferguson machte keinerlei Anstalten, Tuckers Gruß zu erwidern, und steckte die Hände in die Taschen. Tucker lachte. »Ich hatte nie gedacht, so etwas auch einmal live erleben zu dürfen – ein Politiker, der so tief in die Taschen greift.« Die Reporter brüllten vor Lachen, und Dutzende von Kugelschreibern hielten diese Bemerkung auf Notizblöcken fest. Wieder flackerten Blitzlichter auf. »Keine Antwort parat, Senator?« rief jemand.
Ferguson hatte eine Antwort parat; am liebsten hätte er Tucker in die Fresse geschlagen. Dieser Bauerntrampel hatte ihn vor versammelter Presse lächerlich gemacht, und das hatte sich noch niemand mit Senator Homer Ferguson getraut. Er gab sich Mühe, zu lächeln, und flüsterte seinem Begleiter ins Ohr. »Schmeißen Sie ihn hier raus.« »Wie bitte, Senator?« »Schmeißen Sie ihn hier raus!« »Ich glaube nicht, daß. Sie jemanden aus seinem eigenen Prozeß werfen können, Senator.« »Verdammt!« fluchte Ferguson. Er ließ sich von seinem Begleiter aus dem Haufen von Reportern herausführen und setzte sich auf einen Platz in der ersten Reihe, gleich hinter dem Tisch der Anklage Vertretung. Der Gerichtsdiener räumte den Gerichtssaal von Fotografen, und das Publikum, die Verteidigungs- und Anklagevertreter erhoben sich von den Plätzen, als der Richter den Raum betrat. Kirby ging zum Richtertisch. »Euer Ehren, auch wenn es das Hohe Gericht verwundern mag, aber der Angeklagte hat sich entschieden, keine Zeugen zu seiner Verteidigung aufzurufen.« Der Richter und die Geschworenen wirkten überrascht. »Keine Zeugen?« Kirby sah dem Blick des Richters an, daß er Tuckers Vorgehen für eine völlig verrückte Idee hielt. Kirby stimmte dem innerlich zu. »Ja, Euer Ehren. Die Verteidigung meint, daß die Anklage keinerlei Beweise anführen konnte.« »Meint sie das?« »Ja, Euer Ehren.« »Mr. Kirby, ist sich Ihr Mandant der Tatsache bewußt, welche Konsequenzen ein derartiges Vorgehen für ihn haben kann?«
Nein, dachte Kirby. »Ja, Euer Ehren. Er weiß, was er tut.« Jedenfalls hoffe ich das. Der Richter zuckte die Achseln. »Also, was haben Sie als nächstes vor? Wollen Sie direkt zu den Schlußplädoyers übergehen?« »Das ist richtig, Euer Ehren.« »Hat die Anklagevertretung irgendwelche Einwände?« Kerner warf einen kurzen Blick auf Ferguson, der durch ein kurzes, kaum wahrnehmbares Nicken sein Einverständnis gab. Tucker hatte den kurzen Blickkontakt zwischen Staatsanwalt und Senator genau bemerkt. Es war fast so, als ob sie ihre Verbindung nicht einmal mehr verheimlichen wollten. Tucker schüttelte nur verwundert den Kopf. »Zusätzlich bittet der Angeklagte das Hohe Gericht um Erlaubnis, das Schlußplädoyer selbst vorzutragen.« »Will er das wirklich?« Traurig, aber wahr, dachte Kirby. »Ja, Euer Ehren.« »Hat die Anklagevertretung irgendwelche Einwände?« Kerner bekam von Ferguson ein Zeichen, wie der Werfer vom Fänger beim Baseball. »Keine Einwände, Euer Ehren«, sagte Kerner. Der Richter dachte einen Moment lang nach. »Ich erteile Ihnen also die Erlaubnis, Mr. Tucker. Aber sollte irgend etwas von dem, was Sie sagen, vor einem Gericht unzulässig sein, werde ich Sie unterbrechen.« »Das geht schon in Ordnung, Richter.« »Also gut. Fahren Sie fort.« Kirby führte Tucker vom Tisch zur Mitte des Raums und gab ihm einen letzten Ratschlag. »Sagen Sie denen, ein ehrenhafter Versuch kann kein Verbrechen sein«, flüsterte er. Tucker nickte. Nun war er auf sich allein gestellt. In der ersten Reihe hinter der Verteidigung saß seine ganze Familie versammelt. Er sah sie alle einen Augenblick lang an,
bevor er mit dem Sprechen begann. Er mußte diesen Prozeß gewinnen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die anderen. »Der Staatsanwalt behauptet, ich hätte überhaupt nie vorgehabt, Autos zu bauen«, begann er ruhig. Einige der Geschworenen in der hinteren Reihe lehnten sich ein Stück vor, um jedes Wort mitzubekommen. »Die Anklage sagt, alles, was ich vorhatte, war, an Geld zu kommen, um damit durchzubrennen. Aber wenn ich versucht habe, die Autos zu bauen, und selbst wenn es sich herausstellen sollte, daß sie schlecht sind, und selbst dann, wenn ich sie nicht einmal gebaut haben sollte und Sie mir nur Glauben schenken, daß ich es versucht habe, wirklich versucht habe, dann bin ich laut Gesetz nicht schuldig.« Er wandte sich zum Richter. »Ist das nicht so laut Gesetz, Euer Ehren?« »Einfach ausgedrückt. Aber mehr oder weniger ja.« Das war auch mein Anliegen, dachte Tucker, deshalb stehe ich hier: um alles einfach auszudrücken. Keine Anwälte, kein Juristenlatein. Keine aufgeblasenen Typen wie Bennington oder selbstherrliche Bürokraten wie diese Typen von der SEC. Und vor allem keine bestochenen und intriganten Politiker, die ihre Stellung dazu benutzen, sich die Taschen vollzustopfen und das Vertrauen der Öffentlichkeit zu mißbrauchen. Tucker hatte immer Vertrauen in das amerikanische Volk gehabt, in die einfachen Leute. Er wollte für die Namenlosen dieses Landes ein Auto bauen. Er machte es billig, damit sie es sich leisten konnten, und baute es sicher, damit sie ihre Familien ausfahren konnten – und er machte es ein wenig auffällig, damit auch der kleine Mann etwas an Selbstwertgefühl gewinnen konnte. Das war kein Verbrechen. Die zwölf Geschworenen waren Vertreter des durchschnittlichen Amerikas. Und jetzt waren sie die einzigen Amerikaner, auf die er Eindruck machen mußte.
»Ich bin unschuldig, weil es, Gott sei Dank, nicht gegen das Gesetz verstößt, zu irren oder dumm zu sein. Und ich war beides, als ich diesen Prototypen baute. Aber was uns noch niemand erlaubt hat zu sagen, ist, was geschah, nachdem ich das Auto gebaut hatte. Denn wissen Sie, ich habe nicht nur das Auto gebaut, sondern das Auto so gebaut, wie ich es angekündigt hatte. Tatsächlich habe ich sogar fünfzig Autos gebaut, und die stehen hier direkt vor der Tür auf der Adams Street. Alles, was der Richter zu tun hat, ist, Sie hinausgehen zu lassen und Sie in einem der Autos fahren zu lassen, und dieser Prozeß hier ist vorbei.« Tucker wandte sich an den Richter. »Okay?« Die Geschworenen sahen den Richter erwartungsvoll an, wie Kinder, die darum betteln, daß sie auf den Jahrmarkt gehen dürfen. Kerner verdarb ihnen die Freude. »Einspruch! Es handelt sich hierbei um ein Schlußplädoyer. Eine Beweisaufnahme ist dabei nicht länger statthaft.« Der Richter wirkte ein wenig enttäuscht. Er hätte selbst nichts gegen eine Fahrt in einem dieser Autos einzuwenden gehabt. Aber Kerner hatte das Gesetz auf seiner Seite. »Einspruch stattgegeben«, sagte der Richter widerwillig. Kerner begann, dem Richter auf die Nerven zu gehen, und der Richter empfand allmählich Sympathien für Tucker. Zur Hölle, seine Wiederwahl zum Richter war nicht alles im Leben. »Ach, nun hören Sie aber mal auf«, protestierte Tucker. »Würden Sie den Geschworenen denn wenigstens einen Blick aus dem Fenster gestatten?« Die Geschworenen machten auf ihren Bänken Verrenkungen und streckten die Hälse, um zu sehen, ob sie durch das hohe Fenster hinter den Geschworenenbänken einen Blick auf die Straße werfen konnten. »Einspruch, Euer Ehren!«
»Aber darum geht es doch in diesem Prozeß. Und habe ich diese Autos nun gebaut oder nicht?« »Euer Ehren«, sagte Kerner, »der Angeklagte ist offensichtlich…« »Wenn ich nichts als das Geld wollte, was tue ich hier dann noch? Warum habe ich es mir nicht genommen und bin damit abgehauen? Ihr Burschen selbst habt erklärt, daß ich das Geld dazu hatte. Warum sollte ich hier bleiben und jetzt für etwas geradestehen, wenn ich nicht…« »Würde der Angeklagte…«, begann der Richter. »Warum habe ich einen zweiten Motor gebaut, als der erste nicht funktionierte?« Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Mr. Tucker, bitte…« »Und warum blieb ich hier?« Tucker brüllte jetzt. »Um diese Autos zu bauen! Warum würde ich meine Familie einer solchen Tortur aussetzen, wenn ich nicht die Absicht gehabt hätte, das zu tun, was ich den Geldgebern versprochen hatte…?« »Euer Ehren!« schrie Kerner. »Bitte zügeln Sie den Angeklagten!« »Gerichtsdiener!« brüllte der Richter. Zwei stämmige Gerichtsdiener ergriffen Tuckers Arme und versuchten, ihn aus dem Gerichtssaal zu zerren. »Sie können mir nicht erzählen, daß ich es nicht versucht habe, Ferguson! Und wenn für Sie nicht zuviel auf dem Spiel gestanden hätte, würde die Fabrik jetzt laufen und Autos produzieren! Aber Sie und Ihre reichen Freunde…« Ferguson starrte auf den Boden und musterte seine Schuhe. »Los jetzt!« forderte ihn einer der Gerichtsdiener auf. »Und halten Sie endlich die Klappe!« Das war für einen der Geschworenen zuviel. Er sprang auf. »Lassen Sie den Mann reden!« rief er über den ganzen Lärm.
Kurz herrschte erstauntes Schweigen im Raum. Anstatt sich zu beruhigen, beharrte der Geschworene auf seinem Standpunkt. »Was er sagt, klingt plausibel. Sehr plausibel.« »Jawohl!« stimmte ihm der Sprecher der Geschworenen zu. »Setzen Sie sich!« befahl der Richter. »Wenn sich Ihr Verhalten nicht ändert, dann habe ich keine andere Wahl, als diesen Prozeß für ungültig zu erklären!« Von den Zuhörern kamen mißbilligende Äußerungen. Ferguson hoffte, daß Tucker sich den Strick selbst gedreht hatte. Er haßte ihn in diesem Moment mehr als jeden anderen auf der Welt. »Also gut«, fuhr der Richter fort, »ich werde in diesem Gerichtssaal keinerlei emotionelle Äußerungen mehr tolerieren, egal von welcher Seite.« Er sah jeden finster an, einschließlich der Zuhörer auf der Galerie, von denen keiner einen Ton gesagt hatte. »Sie können fortfahren, Mr. Tucker, aber ich warne Sie…« »Es tut mir leid, Euer Ehren.« »Gut. Ich gebe Ihnen noch eine Minute.« Tucker sammelte seine Gedanken zusammen. »Als ich noch ein Junge war, las ich von Edison, Ford und den Gebrüdern Wright. Sie waren meine Helden. Nur lauteten die Titel der Bücher nicht ›Vom armen Schlucker zum reichen Mann‹, sie handelten lediglich davon, was dieses Land einmal war und welche Möglichkeiten es bot.« Die meisten der Geschworenen nickten zustimmend. Nur wenigen von ihnen war im Leben jemals etwas geschenkt worden, sie hatten ihr Leben lang hart arbeiten müssen. Aber sie hatten es zu etwas gebracht. Und mochten sie auch nie so reich wie Daddy Warbucks werden, so standen sie heute doch besser als ihre Eltern da, und ihre Kinder wiederum würden es einmal besser haben als sie.
»Wir haben die freie Marktwirtschaft erfunden, bei der jeder – egal wer er war, woher er kam oder welcher Klasse er angehörte – , wenn er mit einer besseren Idee, egal wofür, herauskam, seine Chance bekam.« Tucker strich sich mit der Hand durch die Haare, wandte seinen Blick aber keinmal von den Geschworenen ab. Er sah jedem einzeln ins Gesicht und warb für Sympathie und Verständnis. Tucker wirkte niedergeschlagen. »Aber ich fürchte, daß ich eine Generation zu spät aufgewachsen bin.« Er zwang sich zu einem Lächeln, um so zu vermitteln, daß sein Auto und sein Traum heute nichts mehr bedeuteten. »Und wie funktioniert heute dieses System? Der Einzelkämpfer, der Spinner, der Träumer mit seinen verrückten Ideen, die die Welt eventuell revolutionieren könnten, nun, so einer wird heute von den mächtigen Konzernen niedergestreckt, bevor er kapiert hat, wer ihn da eigentlich getroffen hat. Die neuen Bürokraten würden eher eine neue Idee abwürgen, als irgend etwas Althergebrachtes ins Wanken zu bringen.« Er hielt inne und grinste, dieses Mal war es ein aufrichtiges Lächeln. »Wenn Benjamin Franklin heute noch leben würde, würde er wahrscheinlich verhaftet werden, weil er seine Mühle ohne Fluglizenz geflogen hat.« Das Publikum kicherte. Kirby und Vera fühlten sich allmählich besser. Die Geschworenen, die Beisitzer und – jawohl – selbst der Richter begannen, sich auf Tuckers Seite zu schlagen. Die Sympathie, die ihm entgegen schlug, und das Mitgefühl für seine mißliche Lage waren im Raum förmlich zu spüren. Endlich schien Tucker auf der Siegerstraße. »Wir alle sind in diesen Tagen stolz, weil wir die Atombombe erfunden und den Nazis und Japanern den Garaus gemacht haben. Und darauf können wir auch stolz sein, egal, welche Opfer uns das gekostet hat.«
Die Mütter der gefallenen Soldaten nickten. Eine wischte sich bei dem Gedanken an ihr persönliches Opfer eine Träne aus dem Auge. »Aber wenn die großen Konzerne dem kleinen Mann – also mir oder Ihnen – den Zugang zur freien Wirtschaft verwehren, dann haben wir nicht nur die Türen zum Fortschritt und zu ehrlicher Arbeit versperrt, sondern sabotieren alles, wofür wir einmal gekämpft haben. Genausogut könnten wir die Deutschen und Japaner hier einmarschieren lassen, damit sie uns sagen, was wir zu tun haben. Wo ist da der Unterschied? Wenn sich neue Ideen nicht mehr entfalten dürfen, dann haben wir anscheinend eine Herrschaftsform gegen eine andere ausgetauscht, richtig?« »Richtig«, flüsterte einer der Geschworenen. »Die Säulen dieses Landes sind freies Unternehmertum und Konkurrenz. Wir müssen das Land zum Blühen bringen, wir müssen Menschen Fehler zugestehen, denn wenn wir das nicht mehr tun, werden wir eines Tages aufwachen und uns am Fuß des Berges, anstatt auf dem Gipfel des Erfolgs, wiederfinden. Warum sollten wir eines Tages…« – er suchte in Gedanken nach dem drastischsten Beispiel – »… so kommen wir eines Tages an einen Punkt, an dem wir Waren aus dem Ausland unseren hier in Amerika produzierten Waren vorziehen. Und es wird der Tag kommen, an dem wir unsere Autos, Radios und Haushaltsgeräte von unseren früheren Feinden kaufen werden!« Die letzte Bemerkung erntete Gelächter. Es klang einfach zu unwahrscheinlich; die früheren Feinde der Vereinigten Staaten – die Achsenmächte Japan und Deutschland – lagen in Ruinen, waren von amerikanischen Bombern und amerikanischen Bomben in Schutt und Asche gelegt. Sie waren von amerikanischen Soldaten besetzt. Ein Auto aus Deutschland kaufen? Also wirklich! Ein Radio aus Japan kaufen?
Unglaublich! Diese Länder wurden allein durch das Wohlwollen des amerikanischen Volkes und dessen Regierung vor Hunger und Anarchie bewahrt. Sie würden stets abhängige Länder bleiben, und sie würden hundert Jahre benötigen, um den Lebensstandard des heutigen Amerikas zu erreichen. Über das Gelächter hinweg sagte Tucker: »Das ist wahr, glauben Sie mir…« Als das Gelächter nachließ, atmete Tucker noch einmal tief durch, bevor er seine abschließenden Sätze sagte. Er hatte aufrichtig gesprochen. Wenn man ihm nicht glaubte, dann gab es nichts mehr, was er hätte tun können. Ferguson und der Rest hatten gewonnen, und ein wunderschöner Traum war zerplatzt. »Ich will einfach nicht glauben, daß wir so tief sinken. Und aufrichtig gesagt, glaube ich das auch nicht. Aber es wird geschehen, wenn die Mächtigen dieses Landes nicht aufwachen und schützen, was dieses Land einmal so groß gemacht hat. Wenn ich jemals aufhören sollte, an den aufrichtigen und gesunden Menschenverstand des amerikanischen Volkes zu glauben, dann müßte ich schon tot sein. Schauen Sie mich an. Ich hatte eine Idee, eine gute Idee. Ich versuchte, einen Traum zu verwirklichen. Aber die Leute, die dieses Land kontrollieren, konnten das nicht zulassen. Sie haben mir heute morgen meine Fabrik genommen, sie haben meine Familie beleidigt, und sie versuchen, mich ins Gefängnis zu stecken…« Tucker unterbrach, er war sich nicht sicher, ob er noch weitersprechen konnte. Er schaute zu seiner Familie hinüber, Vera lächelte ihn unter ihren Tränen an. Tucker mobilisierte seine letzten Kräfte. »Nun…« Er zuckte die Achseln. »Es liegt jetzt an Ihnen. Egal, wie. Entschuldigung. Ich…ich danke Ihnen, daß ich…« Er ging zum Tisch der Verteidigung zurück.
Kirby schüttelte ihm die Hand, aber auch den eigenen Kopf. »Ich hoffe nur, es war eine richtige Entscheidung, Sie dort reden zu lassen.« »Das sind aufrichtige Leute«, sagte Tucker. »Die werden das verstehen.« Der Richter meldete sich wieder zu Wort. »Dem Angeklagten wird Betrug zur Last gelegt. Die Tatsache, daß er möglicherweise bei der Serienfertigung von Autos fehlgeschlagen hat, ist kein Beweis für Betrug. Genausowenig die Tatsache, ob das Auto nun funktioniert oder nicht.« »Ein falsches Urteil kann genauso aus guter wie aus schlechter Absicht gefällt werden. Gottvertrauen ist der beste Schutz dagegen.« »Die Geschworenen werden nun entlassen, um sich beraten zu können.« Der Richter erhob sich, und mit ihm standen alle im Gerichtssaal auf. Kirby war sich nicht ganz sicher, aber er meinte, gerade gehört zu haben, daß der Richter vage in Richtung Freispruch tendiert hatte. Die ganze Familie hatte sich um Tucker versammelt. Nur Marilee hatte sich in eine Ecke des Gerichtssaals zurückgezogen, damit ihr Vater die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte – sie war so stolz auf ihn! Vera hatte solche Hemmungen nicht. Sie warf Tucker die Arme um den Hals und heulte sich an seiner Schulter aus. »Das war wundervoll«, stammelte sie schluchzend. Nach einer Stunde wurde die Tür zum Geschworenenzimmer geöffnet. Ein Gerichtsdiener brachte zwölf Colas und ein einzelnes Aspirin hinein. Kerner und die anderen Anklagevertreter hatten das Gefühl, daß man die Getränke hineingebracht hatte, weil die Geschworenen eine lange Sitzung erwarteten. Kerner hatte kein gutes Gefühl bei dem Prozeß: Diese letzte Rede von Tucker hatte die Geschworenen
mitten ins Herz getroffen. Nachdem der Richter die Geschworenen entlassen hatte, hatte Ferguson kurz mit Kerner gesprochen. Der Senator hatte ihm nicht gedroht oder dergleichen, aber er hatte ihm klargemacht, daß, sollte er diesen Prozeß verlieren, Mr. Kerner sehr trübe Zukunftsaussichten als Jurist haben würde, egal in welchem Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Als der Sprecher der Geschworenen bereits nach zwei Stunden Beratung in der Tür erschien, war sich Kerner sicher, daß dieser nach einem Imbiß oder weiteren Instruktionen des Richters fragen würde. Statt dessen bat er um Erlaubnis, in den Gerichtssaal zurückzukehren, denn man war zu einem Urteil gekommen. Das alles war so schnell geschehen, daß einige der Reporter, die noch über einem dreistöckigen Martini hingen, das Urteil versäumten. Diese Burschen verbrachten ihre Zeit auf Geheiß ihrer wütenden Chefredakteure noch etliche Wochen danach auf Bezirksversammlungen, bei denen so interessante Themen wie Gebietsreformen und Abwässerbeseitigung auf der Tagesordnung standen. »Sind die Geschworenen zu einem Urteil gekommen?« fragte der Richter. Er sah nicht sehr ausgeschlafen aus. Er hatte in seinem Zimmer ein Nickerchen auf der Couch gehalten, weil er erwartet hatte, daß die Geschworenen heute nicht mehr zu einem Urteil kommen würden. »Ja, das sind wir, Euer Ehren.« Der Sprecher überreichte dem Gerichtsdiener einen Zettel, der ihn dem Richter übergab. Der Richter blickte nicht auf den Zettel. »Wie lautet Ihr Urteil?« »Wir halten den Angeklagten, Mr. Tucker, in keinem der Anklagepunkte für schuldig, Euer Ehren.« Die Anweisung des Richters an den Gerichtsdiener, er möge das Abstimmungsergebnis vorlesen, ging in dem allgemeinen
Jubel und Applaus unter, der nicht nur von Tuckers Familie und deren Freunde, sondern auch vom gesamten Publikum kam. Selbst die Gerichtsdiener, die noch ein paar Stunden zuvor versucht hatten, Tucker hinauszuwerfen und ermahnt hatten, die Klappe zu halten, klatschten Beifall und trampelten mit den Füßen. In diesem Durcheinander schafften es Ferguson und sein Begleiter, aus dem Gerichtsgebäude zu fliehen, ohne dabei von einer Meute Reporter verfolgt zu werden. Kerner fragte sich, ob das Angebot seiner Freunde aus Carbondale, das liegt im südlichen Illinois, bei ihnen in einer Anwaltspraxis zu arbeiten, noch Gültigkeit besaß. Tucker umarmte Kirby, weil der Anwalt in seiner unmittelbaren Nähe stand. Aber Sekunden später waren sie alle um ihn versammelt – Vera, Marilee, Junior, Noble, Johnny, Jimmy, Abe, Eddie und Alex. Sie küßten sich alle gegenseitig, lachten, weinten und schlugen auf den Tisch. Tucker kämpfte sich zu den Geschworenen hinüber. Er gab jedem die Hand. »Wie wäre es, wenn jeder einzelne von Ihnen jetzt auf der Stelle in einem dieser Tucker-Autos, die es ja gar nicht gibt, eine Probefahrt machen würde?« »Zum Teufel!« rief der Sprecher der Geschworenen. »Ich habe vor, mir eins zu kaufen!« Um die auf der Straße parkenden Tuckers hatte sich eine beachtliche Menschenmenge angesammelt. Man konnte die Autos nur schwer übersehen – genausowenig wie die offensichtliche Anerkennung und Bewunderung der Leute, die um sie herumstanden. Jemand hatte die Motorhaube eines Tuckers geöffnet und suchte vergeblich die Maschine. Abe schüttelte den Kopf. »Seht nur, wie sehr die Leute Autos lieben. Es bringt mich zum Wahnsinn, daß die Tucker Motor Company am Ende ist und die Autos nie gebaut werden.«
Tucker schaute liebevoll auf seine Autos, die er allen Widerständen zum Trotz gebaut hatte. »Wir haben sie gebaut.« »Fünfzig Stück.« »Wo ist da der Unterschied, Abe? Fünfzig oder fünfzig Millionen? Das ist nur Metall. Es ist die Idee, die zählt, Abe. Und der Traum.« Tucker ging die Treppe hinunter und näherte sich den Autos. Er wollte mit den Geschworenen eine Probefahrt machen, schließlich hatte er sie ihnen versprochen. Abe sah ihm nur hinterher, dem letzten Mann, der noch an den amerikanischen Traum glaubte.
Nachwort Wochenschau Das Tucker-Torpedo raste über eine offene Landstraße. Tucker saß hinter dem Steuer, Vera auf dem Beifahrersitz. Der Rest der Familie hatte sich auf die Rückbank gezwängt. Das Auto hatte noch nie schöner ausgesehen. Es war elegant und schnell und hielt die Spur, als klebe es auf der Straße. Der Motor klang satt und kräftig. Die Stimme des Erzählers klang verhalten, fast nachdenklich. »Wo anders als in Amerika kann ein einfacher Mann den Kurs und den Werdegang der Kraftfahrzeugtechnik entscheidend verändern. « Die Kamera blieb auf Tucker und das Auto gerichtet. »Aller Wahrscheinlichkeit nach hätten Sie nie etwas von einer Einspritzpumpe, von Scheibenbremsen, Sicherheitsgurten, einem ausgepolsterten Armaturenbrett, einer herausfallenden Windschutzscheibe, sich mit dem Lenkrad drehenden Scheinwerfern und den Dutzenden anderen Innovationen, die der Tucker besaß, gehört.« Das Tucker-Torpedo nahm eine Kurve wie ein Vollblüter an der Kandare. »Diese Vorrichtungen hatte es noch nie zuvor bei einem Serienwagen gegeben. Aber eines Tages«, fuhr der Erzähler feierlich fort, »wird sie jedes Auto auf der Straße haben.« Das Auto war nun von hinten zu sehen und schoß wie eine Rakete über den Highway. »Also gehen Sie noch heute zum Händler. Wenn Sie einen Tucker probefahren, werden Sie auch einen Tucker kaufen. Lassen Sie sich nicht von der Zukunft überholen.« Der Sprecher saß noch über das Mikrofon gebeugt in der Sprechkabine. Er atmete kaum, während er das Band
beobachtete, bis es aus der Spule lief. Franks Stimme kam über die Lautsprecher. »Das war großartig. Ich glaube, wir haben’s im Kasten.« Tom, der Sprecher, setzte die Kopfhörer ab und rieb sich die Augen. »Hey, Frank, glaubst du, daß ich dafür jemals bezahlt werde?« »Wer weiß? Er zahlt, sobald er das Geld dazu hat. Glaubst du, daß ich dafür bezahlt werde?« Der Sprecher zuckte die Achseln. »Sag ihm, ich werde ein Auto nehmen.«