Michael Holzner
TREIBJAGD Die Geschichte des Benjamin Holberg
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Michael Holzner
TREIBJAGD Die Geschichte des Benjamin Holberg
s&c by anybody Benjamin Holberg, zu Hause unerwünscht, wird ins Heim abgeschoben. Er lernt, sich zu wehren, um in der brutalen Anstaltswelt zu überleben. Seinen Freiheitsdrang gibt er nicht auf. Immer neue Fluchtversuche scheitern, und er gerät in einen kriminellen Teufelskreis. Sein Mißtrauen gegenüber der Gesellschaft, die so eine Entwicklung zuläßt, wächst mit den menschlichen und sozialen Enttäuschungen, die er erlebt. Der Fall Michael Holzner, der durch die Presse ging, beweist, daß dieser Roman Wirklichkeit ist. (Backcover) ISBN 3 49914622 3 27. -31. Tausend Januar 1984 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1980 Copyright © 1978 by Margit Holzner Die Originalausgabe erschien bei Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg Umschlagentwurf Dieter Wiesmüller Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1980
Buch Michael Holzner, Jahrgang 43, verbrachte fast 15 Jahre seines Lebens in staatlichen Institutionen wie Erziehungsheimen und Vollzugsanstalten. Nach einem Ausbruch wurde er 1970 zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Während der Haft machte er den Realschulabschluß und schrieb diesen autobiographischen Roman. Nach seiner Entlassung machte er das Fachabitur und begann das Studium der Sozialpädagogik. Da fiel der Justiz ein, daß versäumt worden war, ihn für acht Jahre zurückliegende Straftaten zu verurteilen. Er verbrachte einen Teil der Strafe im offenen Vollzug, damit er sein Studium wahrnehmen konnte. Heute ist Michael Holzner begnadigt, lebt in Hamburg und arbeitet als DiplomSozialpädagoge in der Alkoholtherapie. 1979 erschien ein zweites Buch «Alles anständige Menschen».
1 Der Hotelportier hatte ihr Bild in einer älteren deutschen Zeitung gesehen. Kein gutes Bild, aber doch so gut, daß der Mann eine gewisse Ähnlichkeit festgestellt hatte. So ein Portier hat nicht viel zu tun, und was er tut, ist in erster Linie für die Gäste. Für Holberg und Oskar Berkmann hatte er die Polizei angerufen. Sie kamen morgens gegen zehn ins Hotel zurück. Das Hotel lag ein gutes Stück von der Stadt entfernt in einer Siedlung. Die Straße führte genau daran vorbei. Auf der anderen Seite befand sich eine große Meeresbucht, welche die Stadt halb umschloß. »Im Sommer wird hier ein ganz schöner Betrieb sein«, sagte Holberg, »Motorboote, Strandbienen, Muskelmänner und blaues Wasser. Alles inklusiv vom Hotelfenster aus.« Berkmann nickte. »Und echt dänisches Sonnenöl zum Einführungspreis. Nur im Winter umsonst. Weil du's schneiden mußt. Bei diesem Wetter gehen selbst die Fische auf Grund.« Es nieselte. Über dem Wasser hing ein milchig-weißer Dunst, der bis zur Straße reichte. Das richtige Wetter für ein englisches Kaminfeuer, dachte Holberg, mit knackenden Holzscheiten und züngelnden Flammen und wohltuender Wärme. Der Hund liegt faul vor dem Kamin und man selbst im Sessel, die Beine bequem hochgelegt. Ein gutes Buch. Ein Bourbon. Dann soll es regnen. Holberg betätigte den Blinker und lenkte den schweren Wagen von der Straße, am Haupteingang vorbei, auf den Hotelparkplatz. »Oha! Wo kommen denn die ganzen Autos her?« Berkmann zuckte die Achseln. »Irgendeine Konferenz. Das gibt es ja hier so zum Wochenende. Tagung der Kaninchenzüchter, Pornokongreß, Konferenz der Rolladenverkäufer, ich weiß es auch nicht.« Er gähnte und stieg aus. Sie gingen an der Wagenreihe entlang zu der Holztreppe an der Rückseite des Hotels. Motorisierte Gäste brauchten nicht durchs Foyer, wenn sie den Zimmerschlüssel bei sich trugen. Über die breite Treppe gelangte man direkt auf den -3 -
ersten Hotelflur. An dessen Ende befanden sich ihre Zimmer. Sie hatten zwei nebeneinanderliegende Zimmer genommen, die durch eine Zwischentür verbunden waren. Sie benutzten nur die Tür des ersten Zimmers, sie hatten die andere Tür von innen verschlossen. Holberg fiel die Stille an diesem Morgen auf. Sie hatten noch keine Nacht im Hotel verbracht. Holberg schlief bei Marion. Berkmann hatte zwei Freundinnen. In der Regel wußte Holberg nicht, wo Berkmann sich gerade befand. In unserer Branche muß man immer genügend Ausweichmöglichkeiten haben, pflegte Oskar ironisch zu sagen. Jeden Morgen, wenn sie wieder im Hotel eintrafen, waren die üblichen Geräusche zu hören gewesen, Geräusche, an die man sich im Unterbewußtsein gewöhnt. Ein summender Staubsauger, Gemurmel aus dem Restaurant, Schritte eines vorbeilaufenden Zimmermädchens oder eine etwas zu laut klappende Tür. Hotelgeräusche. Heute war es still. Holberg merkte es auf dem Flur. In irgendeiner Tür drehte sich ein Schlüssel. Holberg fühlte es wieder, ein dummes Gefühl. Es war, als wenn sein Nacken schwitzte. Doch er schwitzte nicht. Es war nur das Gefühl. »Oskar. Hier stimmt was nicht.« Berkmann erwiderte nichts. Er griff in seinen offenen Mantelausschnitt nach der Pistole. Holberg dachte daran, daß seine Pistole mit Halfter sich im Zimmer befand, im verschlossenen Koffer. Wozu auch, überlegte er, wenn es hart auf hart geht, dann rennen wir sowieso. Bis jetzt war das immer die beste Lösung. Berkmann schien ähnlich zu denken, denn er zog schulterzuckend die Hand aus dem Mantel. Sie gingen weiter, fast bis an das Ende des Flures und blieben vor der vorletzten Tür stehen. Holbergs Blick fiel auf das Türschloß, auf das schmale Schildchen über dem Schlüsselloch. -4 -
Wenn es >weiß< anzeigte, dann war die Tür von außen verschlossen, zeigte es >rot< an, dann von innen. Wenn der Schlüssel von innen steckte, war das Schildchen ebenfalls >rotWußte gar nicht, Meier, daß Sie so auf Draht sind. Gar nicht in Ihnen vermutet. Sollte Sie in Abteilung C versetzen. Da fehlt mir ein guter Mann.< Als wenn in Abteilung C Zeitungsfahnder sitzen würden! Der Taxifahrer, auf dessen Armaturenbrett immer der neueste Kriminalroman lag, fühlt den Detektiv in sich schlummern. Es mangelt ihm an Gelegenheiten, der Umwelt zu beweisen, daß er alles könnte. Holberg zündete sich eine Zigarette an. Jeder versucht, aus seinem Kreis herauszuspringen. Viele nur einmal. Andere immer wieder. Man zappelt, man strampelt wie eine Fliege im Spinnennetz. Das Netz ist das Leben. Niemand bemerkt die Fliege. Erst dann, wenn sie erregt brummend durch -1 0 -
den Raum schwirrt, dann blickt man vielleicht auf und sieht ihr nach, wie sie aus dem Fenster fliegt und so schnell kleiner wird, daß sie plötzlich verschwunden ist. Oder sie kann sich nicht befreien. Dann zappelt sie und strampelt sie solange, bis sie müde wird, kraftlos ist und stirbt. Wenn vorher nicht die Spinne kommt. Holberg beschloß, nach dem Essen aufzubrechen. Er mußte nach Deutschland zurück, bis sich die Aufregung hier gelegt hatte. Dänemark war ein ruhiges Land. Weihnachten würde er wieder zurück sein. Im Radio hatten sie Trost angesagt. Es war kalt. Aber es fror nicht. Holberg ging auf der linken Straßenseite. Falls ein Auto kam, konnte er hier am schnellsten untertauchen. Doch um diese Zeit kam keines. Seine Schritte waren das einzige Geräusch, manchmal zirpte es in den Telegraphendrähten, wenn der Wind etwas stärker aufkam. Die dänische Zollstation und der Grenzposten dahinter waren durch Bogenlampen hell erleuchtet. Danach verlief die Straße durch Niemandsland. Ungefähr dreihundert Meter. Dann kam der deutsche Posten und der deutsche Zoll. Mit dem Auto dauerten die Formalitäten höchstens fünf Minuten. Vielleicht auch mal zehn, wenn ein besonders korrekter Zöllner da war; der sah dann in den Kofferraum und unter die Kotflügel. Zu Fuß, ohne Formalitäten, über die Wiesen und unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßregeln, schaffte man es in einer Stunde. Unser Rekord liegt bei vierunddreißig Minuten, dachte Holberg. Diesmal ging er allein. Oskar saß seit zwei Tagen in Kopenhagen, im Faengsel, so hieß das ja wohl auf dänisch. Namen gab es viele, doch die Gitter waren alle aus dem gleichen Material. Holberg trat mit der Schuhspitze gegen einen Stein, er erschrak, als dieser laut über das Pflaster holperte. Verdammte Nerven, dachte er. Man reibt sich auf. Jetzt stand er hier. Hundert Meter von der Grenze entfernt. -1 1 -
Er zog Schuhe und Socken aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Die Wiesen und der Grenzgraben lagen noch vor ihm. Er stakste die Böschung runter und fluchte halblaut vor sich hin, weil er ein paarmal ins Rutschen kam. Er ging langsam über die Wiese. Seine Füße sanken bei jedem Schritt in den morastigen Boden ein. Manchmal schmatzte es laut. Die Lampen der dänischen Zollstation warfen ihren Schein ein ganzes Stück in die Dunkelheit, und Holberg machte einen größeren Bogen. Er trug die Tasche, die Marion ihm mitgegeben hatte, in der einen Hand und seine Schuhe in der anderen, er balancierte damit in der Luft herum, wenn ein Fuß zu tief eingesackt war. Dann gluckste es, und Holberg meinte, die ganze Nacht mit dieser Tätigkeit auszufüllen. Aber es war Morgen. Spätestens in einer Stunde würde die Dämmerung beginnen, dann mußte er alles hinter sich haben. Am Grenzgraben wartete er, um das Gelände zu sondieren. Der Graben war etwa zehn Meter breit, manchmal auch etwas mehr, doch nie weniger. Holberg ging am Weidezaun entlang, der sich unten an der Grabenböschung befand, stieß auf den verkrüppelten Zaunpfahl. Oskar hatte ihn noch zusätzlich mit einem Stück Silberpapier markiert, das zur Wiesenseite hin in einem Spalt steckte. Holberg überstieg den Zaun, er setzte sich einen Augenblick an die Böschung und lauschte. Nichts war zu hören. Die Grenzstation lag wie ausgestorben da. Wenn nur einer dort drüben etwas Verdächtiges hörte, etwas, was nicht in diese Nacht paßte, Wasserplätschern, das Knirschen eines Zaundrahtes, der sich unter dem Körpergewicht wie eine Bogensehne spannte oder ein unterdrücktes Husten. Dann wurden sie mobil. Scheinwerfer, die das Feld ableuchteten, Nachtferngläser, Hunde und Schnellfeuergewehre, »Haaaalt!« und »Stehnbleibääaän!« In kilometerweitem Umkreis war das Land
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so flach wie ein Teller, wie ein Kuchenteller. Selbst ein durchtrainiertes Karnickel hatte hier keine Chance. Holberg entkleidete sich und watete langsam in das schwarze Wasser. Es war so kalt, daß er es kaum fühlte. Bestimmt gab es noch seichtere Stellen, an denen das Wasser nicht bis unter die Achsel reichte, doch er kannte nur diese. Hier war Oskar mit einem kleinen Schlauchboot abgesackt. Sie hatten es in einem Kaufhaus gekauft, etwas für Kleinkinder, so eine Art Indianerkanu, sie hatten es erst beim Auseinanderfalten richtig gesehen. Doch Oskar hatte gemeint, wenn man sich ganz flach drauflegen würde, dann ginge das prima. Um das zu beweisen, würde er auch den Anfang machen: Oskar hatte sich bäuchlings auf das Dingi gelegt, wie bei einer Schlittenbauchfahrt, und Holberg gab der Fuhre einen kleinen Schubs. Das Boot trug tatsächlich, allerdings erst eine Handbreit unter der Wasserlinie und Oskar mußte wie auf einem Ei balancieren, paddelte schnell mit den Händen, um auf die andere Seite zu kommen. Etwa in der Mitte des Grabens legte sich das Dingi quer. Holberg empfahl Oskar einen Kompaß. Dann schlug das Boot um und Oskar hatte bis zur Brust im Wasser gestanden, war zu Fuß weitergegangen. Holberg hielt seine Sachen hoch über den Kopf. Das Wasser im Graben stand höher als damals. Vielleicht hing es mit der Flut zusammen. Er kletterte die Böschung hoch und zog sich auf deren anderer Seite wieder an. Er biß in sein Taschentuch, weil seine Zähne klapperten. Auf dieser Seite des Grabens war das Land trocken. Holberg ging in die Wiese hinein. Er befand sich in Höhe des deutschen Postens, als er plötzlich zur Linken einen Automotor hörte. Er stand ganz ruhig und horchte. Stille. Dann sah er weit hinten auf den Feldern Autoscheinwerfer aufflammen, es waren zwei, sie drehten sich ganz langsam. Holberg glaubte, eine Gestalt davor erkennen zu können, die mit den Armen herumfuchtelte. Er konzentrierte den Blick auf einen Punkt daneben, um die Bewegung besser wahrnehmen zu können, doch das Licht verlöschte wieder. Ein Motor blubberte schwach. Holberg begann zu laufen. -1 3 -
Bullen, dachte er. Wer hat morgens um halb fünf etwas auf den Feldern zu suchen? Um diese Jahreszeit werden sie nicht bestellt. Vieh ist auch nicht draußen. Bullen! Sie haben mich schon die ganze Zeit beobachtet. Vom Grenzgraben her haben sie mich gut gegen die hell erleuchtete Station ausmachen können! Wenn sie jetzt losfahren, dann dauert es Minuten. Sie rennen nicht über's Feld hinter mir hinterher. Sie warten, bis ich komme. Dann schießen sie. Einmal mit der Maschinenpistole hinhalten, einmal ziehen, schräg von unten nach oben. Das reicht. Der schlechteste Schütze wird so zum Schützenkönig. Holberg lief schneller. Er gelangte zu dem schmalen Feldweg, der zur Straße führte, er fiel erst in Schritt, als er den Asphalt unter den Füßen hatte. Hinter ihm blieb alles still. Glück gehabt, dachte er. Wie verschieden das Glück sein kann: Eine Gehaltserhöhung für den Angestellten, auf die er schon Monate wartet. Ein kleines Glück. Eine Hochzeit, die Geburt eines Kindes. Ein großes Glück. Ein genehmigtes Zweidrittelgesuch für den Gefangenen. Ein Lottogewinn. Ist das Glück? Für mich ist es ein großes Glück, wenn ich den Bullen entwische und für sie, wenn sie mich erwischen. Je weniger Erfolg sie trotz ihrer größeren Zahl haben, desto gefährlicher werden sie. Der Bullenpräsident schnauzt den Hauptkommissar an, der den Oberkommissar, der den Kommissar und immer so weiter, bis in die unteren Dienstgrade. Jedesmal wird auf die Wichtigkeit, auf die Gefährlichkeit der Sache hingewiesen. Bei Notwehr unbedingter Schußwaffengebrauch. Bis dann der Einsatz selbst einer Bedrohung gleichkommt. Jeder Bulle befindet sich in Not, weil er nicht weiß, wie und wann er sich wehren muß. Natürlich, so einfach durch die Gegend ballern, das darf niemand laut Gesetz. Die Ausnahmen sind in den Fußnoten vermerkt. Ist eine Schießerei spektakulär, dann wird eine Untersuchung eingeleitet. Man prüft und rekonstruiert und wenn dann amtlich bekanntgegeben wird, daß alles in Ordnung war, daß eine Notwehrsituation vorlag, dann interessiert es imgrunde niemanden mehr. Holberg steckte sich eine Zigarette an. Er machte das unter dem Mantel und ging dabei in die -1 4 -
Hocke. Oskar hatte immer gesagt, wenn sie uns erwischen, dann kriegen wir sowieso einen Fangschuß. Einen Notwehrfangschuß. Ob wir auf jemanden geschossen haben oder ob nicht. Hm. Aber es ist trotzdem ganz gut zu wissen, daß man niemanden aufs Korn genommen hat. Holberg griff nach der kleinen Pistole, die er in der Manteltasche trug, bei jedem Schritt schlug sie gegen seinen Oberschenkel. Er holte sie raus und schob sie unter den Mantel in die Hosentasche. Es war eine Damenpistole. Mit dem Ding konnte man ohnehin keinen großen Schaden anrichten, auf drei Schritte Entfernung traf man keinen Baum. Sie knallte böse und laut. Das war alles. Aber das ist es nicht, dachte Holberg. Man glaubt, man hätte eine gewisse Sicherheit durch eine Pistole, man glaubt, im geeigneten Augenblick Entscheidungsfreiheit zu haben. Eine Art Selbstsuggestion der Freiheit über sich selbst. Wenn es keinen Ausweg mehr gibt, dann kann man sich den Lauf in den Mund halten und Finger krumm. Schmerzlose Sache. Die anschließenden Diskussionen über Mut und Feigheit, hm, wen interessierte das schon. In einer Verzweiflungssituation kann man sich sehr schnell entscheiden. Doch meist läuft alles anders, unvorbereiteter. >SÜDERLÜGUM - 3 km< zeigte ein Straßenschild an. Hier zweigte die Straße nach Flensburg ab. Aus dieser Richtung kam ein Auto. Holberg wartete im Schutz der Straßenböschung. Warum ein Risiko eingehen. Er trat die Zigarettenkippe aus. Das Auto fuhr langsam. Es stoppte an der Abzweigung, obwohl kein anderer Wagen in Sicht war, dann setzte es ein Stück zurück, fuhr rechts ran. Die Scheinwerfer gingen aus, dann der Motor. Holberg hatte ein untrügliches Gefühl, daß da etwas nicht stimmte. Schräg gegenüber befand sich ein alleinstehendes Haus. Vielleicht saß in dem Auto jemand, der einen Kollegen zur Arbeit mitnahm. Doch das Haus lag vollkommen dunkel da, außerdem hätte der Wagen dann direkt vor der Einfahrt halten können. Der da drüben hatte sich anscheinend auf eine längere Wartezeit -1 5 -
eingerichtet. Es gab keinen Grund, wieso der Fahrer ausgerechnet dort parkte. Also Bullen. Holberg ging dichter an das Fahrzeug heran. Es war ein VW mit Fließheck. Nur eine Person. Jetzt steckte sie sich eine Zigarette an. Bullen fuhren in der Regel nicht allein. Vielleicht hatte der andere im Wagen seinen Sitz flachgestellt, überlegte Holberg. Wenn es soweit ist, dann flitzen sie beide aus dem Wagen raus, vielleicht haben sie mich schon ausgemacht und warten. Noch eine halbe Stunde, dann wird es hell. Ich kann mich über die Felder davonmachen, hier komme ich noch weg. Ich bin überreizt. Ich sollte einfach weitergehen. Holberg ging gebückt ein Stück zurück, dann auf die Straße, so daß der Fahrer des Autos nicht feststellen konnte, woher er kam. Aus den Augenwinkeln beobachtete er im Vorbeigehen den Wagen, doch nichts rührte sich darin. Das Dorf Süderlügum war nicht mehr weit entfernt. Vereinzelte Bauerngehöfte tauchten auf. Kannen klapperten. Ein Hund bellte lange. Kurz vor dem Dorf überholte ihn ein Auto. VW mit Fließheck, Pinneberger Nummer, ein Mann. Holberg nahm das alles in den Sekunden des Vorbeifahrens in sich auf, dann noch einmal, denn kurz darauf kam der gleiche Wagen wieder zurück. Also doch Bullen, ein Beobachter. Er hat im Dorf Bescheid gesagt. Vielleicht wissen sie noch nicht, wer ich bin, aber sie wissen, daß ich aus Richtung Grenze komme. Sie werden dort nachgefragt haben. Wie? Ein Mann? Hier bei uns soll er durchgekommen sein? Das ist unmöglich. In den letzten drei Stunden ist hier niemand durchgekommen, und dann noch zu Fuß! Also eine verdächtige Person. Sie müssen die Telefone abgehört haben. Woher sollten sie wissen, daß ich ausgerechnet heute hier entlangkomme? Wenn ich mich jetzt in die Hofe schlage, dann habe ich noch genug Zeit. Im Dorf werden sie vergeblich warten, werden vielleicht sagen, der -1 6 -
Beobachter habe sich geirrt. Holberg wunderte sich, mit welcher Klarheit er die Dinge erkannte. Dennoch ging er weiter. Es war, als könne er gar nicht anders. Erschießen ist ein humaner Tod, hatte Oskar immer gesagt. Man ist schneller im Himmel als der Knall. Wie vermessen! Holberg grinste. Auch noch in den Himmel wollte er. Die Sache würde da oben sicher erst einmal genügend besprochen, ob nun Himmel oder Hölle. Eine Abstimmung würde sicher negativ ausfallen. Der Gedanke war zwar nicht tröstlich, doch besser, als im Bett zu sterben, so ein »Vorbereitungstod«. Er befand sich jetzt im Dorf. Leute fuhren zur Arbeit. Ein Traktor röhrte und blubberte. Kühe muhten. Aus einer Seitenstraße kam ein Mercedes. Er fuhr langsam. Das waren sie! Holberg hatte keine Ahnung, wieso er es so genau wußte. Es war eben da. Der Wagen unterschied sich in keiner Weise von einem anderen. Neutrale helle Farbe. Fahrer und Beifahrer. Beide blickten zu Holberg herüber, als der Wagen ihn überholte. Hinten im Heckfenster lag ein Maskottchen, ein Stofflöwe oder Stofftiger. Das Nummernschild war nicht beleuchtet. In einem Dorf konnte das schon mal vorkommen. Holbergs Nacken schwitzte. Der Mercedes verschwand weiter vorne um eine Straßenbiegung. Vielleicht war es ein Bauer, der mit seinem Knecht zum Melken fuhr, oder es waren zwei Arbeitskollegen auf dem Weg in die Stadt, würde ein anderer sagen. Aber es waren Bullen. Holberg wußte es. Warum mache ich nichts, dachte er. Ich latsche hier auf dem Sommerweg lang, als sei er eigens für mich angelegt. Ich kann nicht mehr laufen. Es ist ein ewiges >Räuber und Gendarm-SpielAffe< genannt wurde, schaute zur Tür herein. >Affe< hieß er deshalb, weil er einen gebeugten Gang hatte und die Arme immer so komisch hängen ließ. »Holberg«, sagte Affe, »ab Montag Schälküche!« Und machte die Tür wieder zu. »Zieh Leine, Schieta!« rief Icke ihm hinterher. Doch Affe hörte nicht auf so was. »Aha, ich soll wohl in der Schälküche arbeiten.« »Du bist schön blöd, wenn de da runterjehst. Oogen aus die Kartoffeln pulen, Mensch! Det is Weibakram. Wir aba sind Männa, vastehste!« Er spuckte verächtlich gegen die Wand. »Mal sehen«, erwiderte ich und überlegte, ob ich mich zum Kartoffelschälen eignete. »Was ist, wenn ich nicht runtergehe?« -3 4 -
»Na, nichts! Wat soll sein? Damit demonschtrierst du denen, daß du keene Lust hast und nich willst. Und det jlooben se dir oofs Wort!« »Wieso?« »Na ja, weil du eben nich hinjehst, zu die Pulerei. Ist doch ganz klar!« »Aber können sie nichts gegen mich unternehmen?« »Untanehmen!« Icke sah mich mitleidig an. »Wat heeßt det eigentlich, untanehmen. Du machst'n Jeneralstreik off die janze Linie und det is alles. Wat wolln se denn? Ihre Ruhe wolln se, detis det! Und wir ooch. Kiek doch mal, die ganzen Kumpels auf dieGruppe, die ham ooch keene Lust zur Maloche. Also tun se nischt. Det is det beste Mittel gegen keene Lust. Mensch, mia is det sowieso allet ejal, ick tanz hia meene Jahre ab, bis ick einundzwanzig bin, und denn können se mia alle ma am Arsch lecken! Dann mach ick mia selbständig!« Icke schnippte lässig die Asche seiner Zigarette durch die Luft. An den Abenden wurde viel gepokert. Um die Wurstrationen, die es in der Woche gab oder um das Fleisch am Sonntag. Wenn das verloren war, so wurde das jeweilige Reinigungsamt als zusätzliches Zahlungsmittel eingesetzt. Jeder Mitspieler erhielt 50 Chips, sie waren aus Pappe zurechtgeschnitten. Fünf Chips entsprachen einer Zigarette, zehn Chips einem Stück Wurst, zwanzig Chips dem Stück Fleisch am Sonntag. Wenn nun jemand alle seine Chips verspielt hatte, so konnte er sich bereit erklären, bei nochmaligem Verlieren das Reinigungsamt des Gewinners zu übernehmen. Es gab viele Verlierer. Ein Junge putzte schon seit drei Wochen die Schuhe von drei anderen Jungen, eine Woche hatte er noch vor sich. Ein anderer machte seit vorgestern das Bett für einen Gewinner, der sich für die nächsten drei Monate nicht mehr darum zu kümmern brauchte. Spielschulden. -3 5 -
Auch ein besonders gemusterter Kamm oder ein Halskettchen, das durch seine Einmaligkeit zum Wertgegenstand wurde, galt als Einsatz. Spielschulden konnte man höchstens einlösen, wenn man ein Päckchen von zu Hause bekam, zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Zwei Tafeln Schokolade gegen die Streichung zwei Wochen Bettenmachens. Doch Schokolade wurde meist selbst gerne gegessen. Oder man erhielt in dem Päckchen eine Pfeife oder ein Feuerzeug! Dafür wurden sämtliche Spielschulden gestrichen. Einige Jungen spielten auch Skat und Schach und >Mensch ärgere dich nichtSchnelligkeit is det Janze, wenn du dir schlägstKraft is jut, aba ohne Schnelligkeit is se nischt.< Das Ganze kam mir plötzlich wie ein Spiel vor; zwei Spieler stehen auf einem Brett. Man setzt und schlägt, man wendet jeden Trick an, man versucht jede Situation auszunutzen, immer weiter, bis einer matt ist, schachmatt ist, bis er nicht mehr kann, in seiner Ecke, auf dem Boden liegt. Bis die Schnauze blutet, die Augen zuquellen, die Knochen brechen. Bulles Gesicht war rot und schweißig. Über dem rechten Auge hatte er einen langen Riß. Seine Lippen waren blutverschmiert und dick wie bei einem Neger, er atmete keuchend. Er bewegte -3 7 -
sich wie ein Landeskranker, der Musik hört und dazu im Kreis umhertorkelt und immer langsamer wird, weil die Musik zu schnell ist. »Du elendes Schwein«, er keuchte, »du verdammtes Schwein, du...« Er stand auf dem Fleck und glotzte mich an. Dann fiel sein Blick auf ein paar Schuhe, die vor ihm an der Schrankecke standen. Er bückte sich schnell und nahm einen auf, faßte ihn vorne an der Spitze. Ich wich bis an die Wand zurück. Es war ein solider Schuh, ein Landesjugendheimschuh, mit dicken Nägeln an der Sohle, am Absatz befand sich ein zusätzliches halbrundes Eisen - wie ein Hufeisen. Er sprang auf mich los und traf mich an der Schulter. Es war wie ein Hammerschlag. Für einen Augenblick meinte ich, mein Arm sei ab, ich konnte ihn nicht bewegen, ich rutschte auf den Boden und trat in Bulles linke Bauchpartie, mit voller Wucht, ich wälzte mich weg und kam wieder hoch. Ich konnte meinen Arm wieder bewegen, es tat aber so weh, daß mir das Wasser in die Augen schoß. Bulle war auf die Knie gefallen und hielt sich mit beiden Händen seinen Leib. Sein Mund war weit aufgerissen, und im Gesicht hatte er eine käsige Farbe. Ich schlug mit dem anderen Arm zu, meine Faust traf mitten auf seine Nase. Es gab ein Geräusch, das mich an einen Hund erinnerte, der in seiner Hütte einen Knochen zerbeißt, und man steht hinter der Hütte, hört zu. Bulle kippte nach hinten, er zappelte auf dem Boden herum wie ein Epileptiker. Plötzlich begann er zu kreischen. Ich wunderte mich, wie hoch seine Stimme klang, weil er sonst immer tief sprach. Die Jungen johlten begeistert. »Los, mach ihn fertig!« »Er rührt sich doch noch!« »Tritt ihm in die Schnauze! Tritt doch!!« »Oh, ist das geil! « »Los, den Westerwald!« -3 8 -
Sie begannen gleich mit >Ooooooo du schöhöhöner...gleich< ganz langsam sprach und in die Länge zog, damit es unheilvoll klingen sollte. »Wird er denn hart, Dickerchen?« »Also das... das ist doch...!« Loom fehlten die Worte. Ich fand ihn gar nicht mehr so bieder, wie er immer tat, weil er alles so schnell begriff.
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»Ich werde... werde euch...«, er sprach nicht aus, was er wollte und machte empört zwei Schritte in Richtung Treppe. »Au ja, mach es doch!« »Aber schön langsam! « »Schwitzt du doll?« Loom machte zwei weitere Schritte. Wir fanden das sehr spaßig. Die Mädchen auch. Es mochten jetzt zwanzig sein. »Kinder! Hand aufs Höschen, Papa Loom will an unser Döschen!!« »Ahhhhrrrr«, machte Loom und stürmte auf die Treppe zu, keuchte bis zur halben Höhe, dort blieb er stehen. Ich fragte mich, was er da oben wollte. Schließlich konnte er keine übers Knie legen. Die Mädchen waren lachend und kreischend auseinandergestoben. »Frechheit«, schnaubte Loom. Er stand auf der Treppe und glotzte nach oben. Dann noch einmal: »Frechheit!« Er kehrte wieder um und stellte sich unten im Saal vor ein anderes Bild. Auf der Galerie blieb es still. Er linste ein paarmal hoch, doch niemand war zu sehen. »Eh, ich gehe mal eben 'n Schluck Wasser trinken«, sagte er zu uns, »daß ihr mir ja keinen Blödsinn macht! Benno! Benjamin!« »Aber Meister Loom!« erwiderten wir zweistimmig. Loom verschwand durch eine der Türen, er war kaum weg, als Evi die Treppe heruntergehuscht kam. »Mensch, Benno!« Sie umarmten und küßten sich ungeniert, und Benno faßte ihr von hinten unters Kleid. Ich sah aus dem Fenster. »Mmmmmhmmmm«, machte Evi, »nimm die Hand aus meinem Schritt. Ich muß wieder hoch.« Ich drehte mich um. Auf der Galerie war wieder alles voll, doch die Mädchen blieben still. Sie blickten nur runter. Ich dachte an den Hühnerstall von Lohbrinks. Das war ein Nachbar meiner Oma. Dort hatte ich mal beobachtet, wie ein fremder Hahn über den Zaun geflogen kam. Die Hühner gackerten wie verrückt und flatterten, doch der Hahn ließ sich gar nicht beeindrucken. Er rannte auf ein Huhn zu, hackte -6 4 -
drauflos und die anderen Hühner waren alle still, sie guckten nur blöde, manche hatten den Kopf auf die Seite gelegt. Als der Hahn fertig war, ging das Gegacker wieder los. Benno gab Evi die Briefe. »Du hast dich solange nicht sehen lassen«, sagte sie hastig, »kommt doch abends mal hoch«, sie sah mich genauso an wie ihn. »Die alte Geschkesche ist im Urlaub. Das ist die schlimmste Glucke! Tschüs erst mal. Und denk dran, was ich dir geschrieben habe!« Sie lief nach oben. Ein bißchen Zeit wäre noch gewesen, denn Loom kam später. Hinter ihm eine Erzieherin. Sie schaute zur Galerie hoch, wo niemand war, zuckte die Achseln und ging wieder weg. Eigentlich alles hübsche Mädchen, dachte ich. Kommt doch abends mal hoch, hatte Evi gesagt. Warum hatten wir das eigentlich noch nicht gemacht! Auf dem Rückweg gab Loom jedem von uns eine Zigarre. »Aber erst nach Feierabend rauchen«, sagte er und steckte sich seine an. »Meine Herren, ist das eine Bagage da oben«, er seufzte, »wer war das denn, Benno, die dich da einfach so angequatscht hat?« »Was weiß ich. Ich kenne die Weiber auch nicht. Die kennen einen eben, und dann machen sie ihren Blödsinn«, Benno machte eine Handbewegung, als wollte er sagen: Ach, die! Die interessieren mich nicht. Warum sagte Benno sowas? Die Evi war doch sehr nett. Und er redet von >die Weibersie machen ihren Blödsinn.< Na ja, ich kenne sie ja nicht, nur so, vom Sehen, aber man kann nie sagen, daß alle nichts taugen, daß alle schlecht sind. Hm. »Schöner Blödsinn«, knurrte Loom, und es klang sofort wieder empört. »Mensch, da macht man eben mit, Meister Loom«, sagte Benno ungehalten, »oder meinen Sie wirklich, ich würde mich
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ernsthaft mit so einer einlassen! Habe schließlich 'ne Verlobte zu Hause! Sauberes Mädchen!« Ich glaubte mich verhört zu haben. Das hätte genauso gut von Loom sein können. Und das mit der Verlobten war mir ganz neu. Wie kann er überhaupt von zu Hause reden, wenn er nicht weiß, wer sein Vater ist. »Meine ich doch!« sagte Loom und ging mit kräftigen Schritten zwischen uns einher, die Hände tief in die Taschen seines Kittels vergraben, unter dem der Bauch hervortrat. Den Kopf aufrecht, mit dem etwas nach hinten geschobenen Hut obendrauf, und in dem vorstehenden Teil des Doppeldoppelkinns stank die qualmende Zigarre. »Die taugen alle nichts«, sagte er, »aus so einer Anstalt! Durch die Bank weg. Enden alle mal in der Gosse! Alles Abschaum in den Anstalten, gewissermaßen Landesabschaum, hö hö hö.« Benno nickte bestätigend und lachte ein Stückchen mit. Merkte der denn nichts!? Der war doch nicht blöd, der Benno! Der Loom meint uns genauso wie die Mädchen. Worin unterschieden wir uns von ihnen? Zöglinge waren wir alle. Landesabschaum! Über sich selbst lacht er, der Benno. Er muß doch merken, wie der Loom das meint, er muß das doch merken! Ich blickte Loom verstohlen von der Seite an und hatte plötzlich den Wunsch, ihm ins Gesicht zu schlagen, mitten hinein in dieses wohlwollende behäbige Zigarrengesicht, in diesen roten Ball, der mit Schweißtropfen besprenkelt schien, in diesen plumpen Rugbyball, den er mit einer Doktorenbrille schmückte. Es blieb Looms Kopf, mit dem labberigen Eingeborenenmund, aus dessen wulstiger Öffnung Worte kamen wie: >Ihr seid brauchbare Jungs< oder >Auf euch kann ich mich verlassen< und >Wenn ich euch nicht hätte!< Ich hatte wieder ein Gefühl, das weh tat. Ich wußte nicht wo. Ich würde losheulen, wenn mich jetzt einer ansprach. Ich wartete richtig darauf, daß Benno oder Loom mich ansprechen würde, daß mich einer von ihnen irgendwas fragen würde, auch wenn es ganz belanglos war. Doch bis zum Heim redete niemand mehr. Da war es vorbei. -6 6 -
Nach Feierabend ließen wir uns aus dem Fuchsbau schließen, bummelten auf Umwegen in die Gärtnerei und kletterten in einem günstigen Augenblick in die Kirschenbäume. Dort turnten schon andere Jungen herum, ohne daß man sie hörte. Es waren die Jungen, die auf freien Häusern lagen, oder die in der Stadt arbeiteten. Wenn man Freigänger war, spielte es keine Rolle auf welchem der Häuser man lag. Bei uns wußten die Erzieher, daß wir den ganzen Tag alleine herumliefen, und wenn wir abends sagten, daß wir noch mal schnell zum Sprungbrett müßten, dann ließen sie uns eben raus. Und wenn mal ein ganz genauer Erzieher im Fuchsbau Dienst machte, dann ging man zum Essen gar nicht erst rein, sondern blieb bis zum Dunkelwerden draußen. Das Essen hoben die anderen schon auf. Die Kirschen waren noch nicht richtig reif, doch was machte das. Ein Junge stand am Eingang des Gewächshauses und paßte auf den Gärtner auf. Der muddelte jeden Tag bis spät abends dort herum, er arbeitete mit einem Auge und bewachte mit dem anderen das Obst. Sowie er uns bemerkte, kam er wie ein Wilder angerannt. Der Aufpasser ließ ihn dann bis an die Tür kommen - das war der kürzeste Weg zu den Obstbäumen und schlug diese im letzten Moment vor der Gärtnernase zu, wobei er den schweren Riegel vorschob, an dem nachts ein Vorhängeschloß hing. Der Gärtner fiel immer wieder auf den Trick herein. Er mußte dann durch das ganze Gewächshaus zurücklaufen, bis zur entgegengesetzten Tür. In dieser Zeit waren wir weg. Einmal war er so wütend darüber gewesen und seitwärts durch eine Gewächshausscheibe geflogen. Danach mußte er eine Woche krank feiern, weil er sich die Hand aufgeschnitten hatte. Der Heimleiter W.C. Müller war gekommen, der Abteilungsleiter, der Wälzer hieß und noch zwei Inventarerzieher. Inventarerzieher waren gewöhnliche, die aber aufgrund 10- oder 15-jähriger Dienstzeit etwas mehr zu sagen hatten. Alle hatten sich die kaputte Scheibe angesehen, die dick verbundene Gärtnerhand, und alle hatten gesagt, daß sie nichts unversucht lassen würden, den Schuldigen zu ermitteln. -6 7 -
Dabei war der Gärnter selbst schuld gewesen. Warum war er nicht wie sonst auch durch die hintere Tür gelaufen? »Ben! Ich bin satt!« Benno turnte von seinem Baum herunter, er ließ sich das letzte Stück bis auf den Boden fallen. Er sah zu dem Jungen hin, der aufpaßte und gab ihm ein Zeichen, daß alles in Ordnung war. Wir durchquerten die Hecke und schlugen einen Weg unten an den Tongruben ein, um die Mädchen zu besuchen. »Sag mal, Benno, heute nachmittag, hast du nicht gemerkt, was der Loom meinte?« »Meinte? Was?« »Na! Mit seiner Ansicht, über die, die in einer Anstalt sind. Der hat nicht nur die Miezen gemeint, der meinte auch uns! Und du hast gelacht, Mensch! Er sagt, du bist ein Stück Dreck, und du nickst und du lachst und du sagst jawoll, Herr Loom, ich bin, Herr Loom...« »Hör mal zu, Ben...« »Nichts hör zu. Erst küßt du die Evi, und dann sagst du, sie taugt nichts und...« »Hör mal zu! Ich weiß, was du sagen willst, aber das wußte ich schon ein bißchen früher als du. Was sollte ich denn machen? Heh? Sollte ich Loom was in die Schnauze hauen? Ihm sagen, was für ein mieses Schwein er ist? Das ändert doch nichts, höchstens, daß er mich aus der Tischlerei rausschmeißt. Na gut, was macht es, dann arbeite ich eben auf der Ziegelei oder sonstwo. Aber Loom ändert sich doch nicht dadurch, oder meinst du das!? Ich sage eben zu allem ja, ich sage zu Loom, daß er der schärfste für mich ist, und ich habe meine Ruhe, schließlich muß ich ihn den ganzen Tag ertragen.« »Aber, das ist doch keine Einstellung...« »Was heißt Einstellung, Ben. Für diesen Scheißladen brauche ich nur eine Einstellung, mit der ich gut über die Runden komme. Was brauche ich zum Kohleschleppen für eine Einstellung? Zum Kartoffelbuddeln auch nicht. Ich muß die Zeit gut rumkriegen. Das ist alles, und alles andere ist mir egal, -6 8 -
verstehst du? Scheißegal.« Benno spuckte in hohem Bogen aus. »Aha. Aber wenn der Loom nun einen Spucknapf hätte, und er würde sagen, jedesmal wenn du abends seinen Spucknapf austrinkst oder immer dann, wenn der Napf voll ist, dann mußt du einen Monat weniger im Heim bleiben. Würdest du trinken?« »Ich!? Ich würde ihm den Spucknapf auf die Birne hauen!!« »Hm-hm!« »So was gibt es auch nicht. Weißt du, Benjamin, ob das Loom ist oder Wälzer oder Lokus-Müller. Die sehen auch nur zu, daß sie ihren Tag gut rumkriegen. Und ich auch. Wenn der Loom zu mir sagt, daß ich ein feiner Kerl bin, Mensch, dann weiß ich doch genau, daß das nicht sein Ernst ist. Dann will er irgendwas, er hängt eine Verpflichtung dran. Er kann ja schlecht sagen, ich verachte dich, du Lump, du bist ein Abschaum! Los, geh Scheiben einsetzen. Siehst du, ich verhalte mich genauso wie er.« »Du verhältst dich also diplomatisch.« »Ist das diplomatisch? Meinetwegen. Ich glaub auch, du machst dir zuviele Gedanken über den ganzen Quatsch. Ist die Sache doch nicht wert.« »Ich weiß nicht. Vielleicht muß ich bis einundzwanzig hierbleiben. Das ist noch sehr lange. Ich muß doch an irgendwas denken.« »Na klar. Das lernst du noch. Jetzt gehn wir erstmal zu den Miezen. Da hinten, ich glaube, das ist Fred. Ist er. Der kommt von oben, er sieht so geduscht aus.« Fred winkte uns zu. Vielleicht war das gar nicht diplomatisch, dachte ich. Es ist unaufrichtig, ein gegenseitiges Belügen. Keiner sagt dem anderen, was er wirklich denkt. Man lacht sich freundlich an, und wenn sich einer umdreht, dann haut der andere zu. Diplomaten, die schlagen sich nicht. Schreien tun sie auch nicht. Hm. Fred war herangekommen. »Hallo, Männer!« -6 9 -
»Siehst ja wieder wie geleckt aus. Warst'e bei den Miezen?« fragte Benno. »Ja. Wollt ihr auch hin?« »Hmhm.« »Ist nichts drin. Hab heute auch meinen Geschlechtstag«, er grinste, »aber da waren wieder so'n paar Idioten aus der Stadt oben, und die Vertretung von der Geschke hat die Bullen angerufen. Konnte mich gerade noch absetzen. Die Heinis kommen ja immer mit der bekannten Jagdmelodie. Dachte erst, auf der Ziegelei brennt es. Bin dann noch am Kiessee rumgestöbert, habe gebadet.« »Schätze, wir kehren um«, Benno sah mich an, »wir können ja noch 'ne Stunde bolzen.« »Och, macht man sich nur die Knochen kaputt. Das ist doch kein Sportplatz, das ist ein Schlackehaufen.« »Wieso Sportplatz! Wir nehmen den Rasen vor der Tischlerei!« Das Erzieherzimmer im Fuchsbau befand sich genau zwischen den beiden Tagesräumen. Wenn jemand von einem Tagesraum in den anderen wollte, mußte er das Erzieherzimmer durchqueren, dessen Türen den ganzen Tag offenstanden. Auf dem Fußboden war eine dunkle, ausgetretene Spur zu sehen, die auch durch heftiges Bohnern nicht zu beseitigen war. Die Spur rührte an der Wandseite entlang, an der sich die Türen befanden. In dem Raum stand eine alte Liege, ein runder Tisch mit vier Stühlen, ein Aktenschrank, in dem Putzlappen aufbewahrt wurden, dann ein Schreibtisch mit einem gepolsterten Sessel dahinter und einem Sperrholzstuhl davor. Der Schreibtisch hatte zwei Rolläden, zu der linken Rollade besaß Benno einen Zweitschlüssel. Im unteren Fach standen einige Bier-und Schnapsflaschen hinter einem quergestellten Aktenordner. Das war ein bombensicheres Versteck, weil die Erzieher es kannten und von nichts wußten. Die Getränke wurden beim abendlichen Skat mit Tünnes und Schade
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verbraucht. Gespielt wurde nur dann, wenn genügend Vorrat vorhanden war. Einmal hatte einer der Tageserzieher etwas in dem Schreibtisch gesucht, ihm war der Ordner unten aufgefallen, und er hatte die Flaschen gesehen. Doch er hatte nichts gesagt, weil er dachte, daß die Flaschen eben dem Schade gehörten. Gefragt hatte er ihn nicht. Im Dienst wurde nicht getrunken. Wir hätten auch Bennos oder mein Schließfach zur Aufbewahrung nehmen können, doch ein Vorhängeschloß konnte jederzeit geknackt werden. Tagsüber hielten sich viele Jungen im Haus auf. Man konnte nicht alle zur Rechenschaft ziehen. Das wußten die, die klauten, ebenso. Deshalb klauten sie auch. Bei uns hatte sich noch niemand getraut. Es mußte eine günstige Gelegenheit vorhanden sein. Aber wenn es bekannt geworden wäre, daß wir in unseren Fächern Schnaps aufbewahrten, dann wäre sicher eine günstige Gelegenheit geschaffen worden. Bei Schnaps war es sehr einfach, den Dieb festzustellen. Doch all das war umständlich, wirbelte Staub auf. Der Schreibtisch war einfacher. Wir spielten erst abends nach acht Uhr. Dann lagen fast alle anderen Jungen im Bett und die, die noch nicht drinlagen, wurden aufgefordert sich hinzulegen. Sie waren müde, ohne es zu wissen. Zurück blieb eine Gruppe von fünf oder auch sechs Mann. Die einen spielten am Schreibtisch, das waren Schade, Tünnes und Benno, und die andere Gruppe, zu der ich gehörte, spielte am runden Tisch. Ich machte nur ein paar Runden, hatte dann keine Lust mehr, und meine Mitspieler gingen in ihren Schlafsaal. Sie gingen sehr wichtigtuerisch, und wenn einer der anderen Jungen fragte, was denn so beim Skat geschoben würde, dann erklärten sie diesem erstmal, daß der abendliche Skat eine ganz reelle Sache wäre. Dann war der gemütliche Teil. Benno und ich spielten gegen Schade und Tünnes. Inzwischen war ich besser geworden, im Skatspielen, routinierter, doch wenn Benno mich unter dem Tisch gegen das Bein trat, dann zog ich oft die verkehrte Karte an, und er fluchte -7 1 -
ungeniert. Aber wenn wir einige Spiele gemacht hatten, dann war er ein bisschen besoffen und trat unter dem Tisch gegen Tünnes' Schienbein. Tünnes ächzte dann unterdrückt, weil er sich nichts anmerken lassen wollte. Oder Schade trat mich, dann wackelte manchmal der ganze Tisch, und jeder wußte, daß er Tünnes einen Tip gegeben hatte. Die Verlierer mußten die Vorräte auffüllen. Heute sah es so aus, als würden es die beiden Erzieher sein. »Zwanzig?« »Ja.« »Zwo? Null?« »Damit wollte ich anfangen.« »Dreißig?« fragte Benno. Zugleich bekam ich zwei Tritte auf die gleiche Stelle über dem Fußknöchel. Es tat verdammt weh. »Jaein, weg«, sagte ich schnell. Zwei Tritte, das hieß, er wollte das Spiel machen. »Tünnes! Dreißig!?« Der Erzieher kratzte sich ausgiebig hinterm Ohr. Dann nahm er einen langen Zug »Bock-Spezial« und machte ein Bäuerchen. »Etwas warm heute«, stellte er fest, »dreißig, dreißig«, er schielte nach den beiden Karten, die auf dem Tisch lagen, auf die gereizt wurde, und er gab sich einen Ruck: »Hab ich.« »Vierzig«, sagte Benno. »Auch!« »Und die vier?« Tünnes nickte. »Spiel.« Benno knurrte. »Mist! Kann einfach nicht höher.« Tünnes nahm die Karten auf, steckte sie zurecht und sah uns verstohlen an. Das war immer so, wenn einer das Spiel machte. Jeder versuchte in den Mienen der anderen zu lesen, wie deren Blatt wohl sein könnte.
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Tünnes überlegte diesmal ziemlich lange, steckte erneut hin und her und drückte zwei Karten. »Null-ouvert«, sagte er dann und legte die ganzen Karten auf den Tisch, »ich kann gleich hinlegen, alles dicht. Los, Benjamin, du kommst raus!« »Weiß ich.« Ich spielte Kreuz-acht aus, die einzige Karte, die ich von Kreuz besaß. Benno nickte befriedigt und schob Kreuzsieben unter meine Karte. Wenn wir richtig ausspielten, dann war der Null-ouvert mit Karo zu töten. Tünnes hatte ein ZweiFarben-Spiel, Karo und Herz. Tünnes kicherte und zupfte Karo-zehn aus seinem Blatt, dabei verschob er die zuvor gedrückten Karten. »Moment mal!« Normalerweise wäre es mir gar nicht aufgefallen, daß dort drei Karten lagen, doch das Skatblatt war schon sehr abgegriffen. Tünnes hatte die Kreuz-Dame mit gedrückt, drei Karten. »Ahaaaa!« »Das habe ich nicht gemerkt«, beteuerte Tünnes, »Mensch, sonst hätte ich doch keinen Nullo gespielt!« »Geschenkt.« Benno grinste. »Eine Mark!« Tünnes zahlte an jeden eine Mark aus und grunzte. »Ich setze erstmal aus«, sagte ich, »muß mal.« Ich ging zur Toilette, was beim Skat sehr oft geschah. Ich mochte keinen Schnaps und verdünnte ihn immer sehr stark mit Brause. Das schmeckte bedeutend besser, und außerdem dauerte es sehr lange, bis der Kreisel in meinem Kopf zu drehen begann. Tünnes und Benno spotteten zwar, doch das störte mich nicht. Dafür verloren sie ziemlich oft, das heißt, ein richtiges Verlieren war es nie. Wenn Benno verlor, dann gewann ich oder umgekehrt. Wir spielten zusammen. Tünnes und Schade auch. Wenn Tünnes verlor, stöhnte er immer und zahlte manchmal in Groschen und Pfennigen. Allzuviel schien so ein Erzieher auch nicht zu verdienen. Dabei brauchte er nie die Vorräte aufzufüllen, dachte ich und schlurfte auf Socken durch den -7 3 -
Tagesraum. Die Toilettentür befand sich am Ende des Raumes. Mir fiel ein, daß sie abgeschlossen war. Das war auf dieser Hausseite nachts immer so, weil die Toiletten zwei Türen hatten. Eine zum Tagesraum und eine andere zum Schlafsaal. Die Tagesraumtoilettentür wurde abends abgeschlossen und die zum Schlafsaal führende aufgemacht. Ich drehte um und wollte in den anderen Tagesraum, als jemand leise lachte. In der Toilette! Warum sollte da einer lachen, überlegte ich und blieb stehen. Es war fast ein Uhr. Was gibt es nachts um eins auf einem Klo zu lachen? Ich schlurfte an die Tür. Die obere Hälfte hatte vier kleine Scheiben, von denen die unteren durch Sperrholz ersetzt worden waren, weil sie dauernd zu Bruch gingen. »Schön so?« fragte eine Stimme hinter der Tür. »Hmhmmmm.« Aha, da waren welche auf dem Klo! Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und konnte gerade über die Sperrholzkante durch die oberen Scheiben sehen. An der Wand stand ein Junge, er hielt das hochgeschobene Nachthemd fest und hatte die Augen zugemacht, den Kopf etwas nach hinten gekippt. Er sah recht glücklich aus, so, als wolle er jeden Moment lächeln, als habe er ein Stück Schokolade auf der Zunge gehabt und koste den Geschmack noch einmal nach. So sah er aus. Vor ihm hockte ein anderer, umklammerte seine Beine und hatte den Stehenden des Stehenden im Mund. Ich stellte mich wieder normal hin, mir taten die Zehen weh. Nachts um eins, dachte ich, wenn alle im Bett liegen, dann machen sie so was. Na ja, dann haben sie ihre Ruhe. Wenn jemand aus dem Schlafsaal auf die Toilette ging, das hörten sie dann schon vorher. Im Haus lief fast jeder Junge in Holzschuhen herum, wegen des kalten Steinbodens. Und die, die Turnschuhe hatten, die schlüpften nur so rein, ohne diese richtig anzuziehen. Dann hörte man das Schlurfen. Ha. Aber mit mir haben sie nicht gerechnet. Sauerei! Hm, wieso Sauerei? Eigentlich ihre Sache. -7 4 -
Aber wenn das nun alle machen? Dann sterben die Mädchen aus. Ach, Spinner. Benno und ich bleiben auf jeden Fall über. Hinter der Tür war unterdrücktes Husten zu hören. Ich wippte auf die Zehenspitzen. Der, der in der Hocke gesessen hatte, der stand jetzt und tupfte sich geziert den Mund mit einem Taschentuch ab. Weiß der Teufel, wo er das her hatte. Oder es war Toilettenpapier. Im Haus wurde der Junge »Mutti« genannt, weil er immer so weibisch tat und wie ein Mädchen ging. Jetzt küßten sie sich! Wenn ich nicht gewußt hätte, daß Mutti keine »Mutti« war, hätte ich geglaubt, sie wäre eine. Sie hatte die Hände um den Nacken des anderen gelegt und streichelte dessen Rundschnitt, sie drängte und drückte sich gegen ihn, es sah aus, als steckten beide in einem Nachthemd. Mir wurde ganz komisch zumute. Aber als Mutti ihr Nachthemd hochhob, war es sofort wieder vorüber. »Komm!« sagte sie zu dem anderen und federte neckisch in den Knien, bückte sich unter das ziemlich hohe Waschbecken und stützte beide Hände auf das Abflußrohr. »Aber ganz lieb sein, hörst du?« ich konnte es kaum verstehen. Für ein Weib hatte sie einen ganz schön behaarten Hintern, fand ich. Ein roter Lampion müsste her. Der andere trat hinter Mutti und fummelte unter ihren Backen herum. »Brrriiee«, machte Mutti. Es hörte sich wie ein leises Quietschen an. Meine Zehen taten wieder weh. Ich machte eine Faust, hob sie gegen das Sperrholz. Soll ich, soll ich nicht; soll ich, soll ich nicht. Ich zählte es an meinen Hemdknöpfen ab, der untere fehlte, es ging nicht auf. Ich begann verkehrt rum. Soll ich nicht, soll ich; soll ich nicht, soll ich! Aha, ich soll! Ich schob den mittleren Knöchel vor und genoß einen Augenblick des Wartens. Dann schlug ich zweimal hart mit dem Knöchel gegen das Holz, ganz kurz! -7 5 -
Es dröhnte dumpf, weil Mutti mit dem Kopf gegen das eiserne Waschbecken stieß. Sie hatten sich sehr erschrocken. Wie ein Blitz waren die beiden auseinandergefahren. Ich grinste. Quatsch, sich so zu beeilen, dachte ich. Die können sich doch denken, daß der Klopfer schon länger hier steht und alles gesehen hat. Sie standen wie zwei große, weiße Kerzen da und glotzten zur Tür, zu mir. Doch sie konnten nur meine Stirn sehen und die Augen. Mehr nicht. Ich ging etwas tiefer, so daß ich noch eben über die Kante gucken konnte, ich linste, doch die beiden rührten sich nicht. Sie glotzten nur. Auf was die wohl warteten? Oder war etwas passiert? Vielleicht hatten sie einen Schock gekriegt. So was gab's ja heutzutage. Seelenschock. Oder Medusaschock, dann sind sie jetzt wie aus Stein. Ich kann nicht ewig auf den Zehenspitzen stehen, ich werde noch mal klopfen. Ich wippte durch und wieder hoch. Da waren die beiden schon an der Tür zum Schlafsaal und verschwanden mit wehenden Nachthemden. Ich setzte mich auf eine Bank und massierte mir die großen Zehen. Mir fiel ein, weshalb ich überhaupt hierher gekommen war. Und wie! Ich ging in den Waschraum und pinkelte in den Duschabfluß. Benno und Tünnes schienen mich gar nicht vermißt zu haben. Schade war schon halb weggetreten. Sie spielten. Schade reizte. »A... ach... a... arrrsch...«, sagte er. »Hab ich.« »Zwanzi... ig.« »Ich will ins Bett«, sagte ich zu Tünnes. Er nickte. »Ich komme mit.« Benno rülpste und warf seine Karten hin. »Du bist besoffen.« »Ich bin nicht besoffen«, erwiderte er schwer, »der billige Fusel schlägt mir auf den Magen, das ist es. In Zukunft wird nur noch Asbach getrunken. Klar!?« »Klar!« Tünnes nickte. Benno kam langsam hoch und ging mit ziemlich festen Schritten aus dem Zimmer. Ich stellte mit Genugtuung fest, daß -7 6 -
er bedeutend mehr vertragen konnte als Tünnes, der hinter uns her wankte. Ich schaute aufmerksam zu, wie er den Tagesraum schaffte, er brabbelte vor sich hin, und ich wartete darauf, daß er lang hinfallen würde, um zu sehen, wie lange er brauchte, bis er wieder stand. Aber er fiel nicht, er schloß die Schlafsaaltür bereits beim zweiten Versuch auf. SECHSTER DEZEMBER. Vor den Fenstern der Klinik wurde des dunkel. Holberg fühlte sich etwas besser. Die beiden letzten Tage hatte er fast nur geschlafen. Wenn er zwischendurch mal aufgewacht war, hatte ihm irgendeine Schwester eine Spritze gegeben. Ich fühle mich immer noch wie ein nasser Sack, so schlapp, dachte Holberg. Fünf Tage ist es jetzt her. Aber es kann mir egal sein. Warum bin ich ungeduldig? Er sah auf die Flaschen an dem Gestell. Eine davon tropfte Tropfen für Tropfen in den durchsichtigen Schlauch, in seine Armvene. Was ist, wenn ich den Schlauch heimlich abmache? Wenn sie es nicht rechtzeitig bemerken, kann mein Kreislauf zusammenbrechen. Vielleicht. Ich brauche nur die Nadel verbiegen oder einfach rausziehen, ich lege die Decke drüber. Aber ich weiß, daß ich es nicht tun werde, heute nicht, morgen nicht. Mir fehlt der Mut, ich weiß nicht, was nachher sein wird. Nichts. Holberg hob den Kopf ein wenig. Die Betten gegenüber waren jetzt leer, auch der Platz hinter dem Tisch war leer. Es befand sich niemand im Zimmer. Manchmal sah einer der Aufpasser herein, verschwand dann wieder. Die schienen sich hier schon eingelebt zu haben. Holberg versuchte, sich auf die Seite zu drehen, doch es ging immer noch nicht. Der willige Geist und das schwache Fleisch, dachte er. Ich weiß nicht, was werden wird. Aber ich habe ganz tief in mir eine Hoffnung, ich kann vielleicht noch einmal am Meer -7 7 -
entlanglaufen, im Herbst, we nn die Wellen ihre Zähne blecken, und der Wind einem den Atem nach innen drückt, oder ich sitze auf der Neckarbrücke und sehe, wie die Baumspitzen in der Abendsonne flüssig werden. Doch das ist nicht meine Hoffnung. Vielleicht ist es die Hoffnung auf ein normales Leben. Marion könnte es mir sicher sagen. Sie war so klar und verständlich, auch wenn sie vieles nicht in Deutsch erklären konnte. Dann half ich ihr, und ich verstand sie. Eigenartig. Wäre ich damals nicht geflüchtet, dann hätte ich sie nie kennengelernt. Vielleicht war alles richtig so, um diese Wochen mit Marion erleben zu können. Holberg spielte mit seinen Zehen und ließ seine Füße tasten. Es machte keine Schwierigkeiten. Eine Krankenschwester kam ins Zimmer. »Hallo, guten Abend. Ausgeschlafen? Ich bin Schwester Elisabeth und in der nächsten Zeit für Sie verantwortlich.« Sie blieb am Bett stehen und lächelte, als warte sie auf eine Antwort. »Und ich bin der Kriminelle Holberg«, erwiderte er. Schwester Elisabeth krauste die Stirn, sie schien zu überlegen. Dann kontrollierte sie die Schläuche nach, sah auf die Tafel, die am Fußende des Bettes hing. Ein Pfleger betrat das Zimmer. Er trug einen gewaltigen Nietzsche-Bart, nickte Holberg zu und hing eine neue Flasche an das Gestell, nachdem er die alte abgenommen hatte. Er verließ den Raum. »Haben Sie einen Wunsch?« fragte Schwester Elisabeth. »Nein, danke.« »Sie wissen sicher, daß Sie bei uns nur von Medizinstudenten im fortgeschrittenen Semester betreut werden, an die Sie sich ebenso wenden können wie an mich. Doch ich bin ja immer da.« Sie schwieg. Holberg grinste leicht. Wie das Schild im Kaufmannsladen, dachte er. Sind Sie zufrieden, so sagen Sie es anderen; sind Sie es nicht, so sagen Sie es mir. »Es darf etwas mehr sein«, sagte er. »Ach Sie, Ihnen geht es noch gar nicht so gut.« -7 8 -
»Ich habe Durst.« »Ein Glas Saft?« »Hmhm.« »Ich hole es sofort.« Schwester Elisabeth nahm Holbergs Handgelenk und fühlte den Puls, sah auf ihre Armbanduhr. Er konnte nur ihre Stirn und die Nasenspitze ein bißchen sehen, da ihre langen Haare nach unten hingen. Sie trug als einzige Schwester kein Häubchen. Als sie rausging, kam ein Pensionsberechtigter ins Zimmer. Holberg erkannte ihn sofort, obwohl es ein neuer zu sein schien. Er nickte, ging einmal bis zu den Fenstern, dann wieder auf den Flur. Schwester Elisabeth kam mit dem Saft und einer Tüte zurück. Sie holte sich einen Sessel ans Bett. So einen Sessel, wie er auch in den Inspektorenzimmern zu finden war, mit einem grünen Polstersitz und hölzernen Armlehnen. »Ich darf mich doch zu Ihnen setzen?« »Sicher. Es sind andere Leute da?« »Ja. Von der Justiz oder so. Ich habe mich nicht danach erkundigt. Wollen Sie es wissen?« »Nein. Es ist nicht wichtig.« Die hundertprozentige Sorte ist es nicht, dachte er. Dann würden sie links und rechts neben seinem Bett sitzen. Sie würden sitzen bis zur neuen Anweisung. Keine besonderen Vorkommnisse! Kopf und Rumpf haben sich nicht bewegt! Jawoll! Diener! Jawoll! Diener. Jawoll! »Sehen Sie doch mal, mögen Sie's leiden?« Schwester Elisabeth hatte Strickzeug aus der Tüte geholt, zwei winzige rote Handschuhe und eine angefangene Mütze. »Es ist für meine kleine Tochter, sie heißt Anja, es ist für ihre Puppe. Wissen Sie, Weihnachten wird nur durch Kinder geprägt, nicht durch den Verkauf der Geschäfte, sondern auch durch die Freude. Finden Sie nicht auch?« Holberg dachte an Marion. Sie hatten über Weihnachten und über Kinder gesprochen, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Zusammenhängen. Weihnachten wollte er -7 9 -
wieder in Dänemark sein, bei Marion. Sie wünschte es sich so sehr und er auch. »Ja«, er nickte. »Ich habe auch noch einen kleinen Sohn, er ist zwar erst vier, aber sie sollten mal sehen, wie fachmännisch er einen Bagger in seine Einzelteile zerlegt und wieder zusammenbaut. Oh, sind Sie müde?« »Nein, ich habe nur die Augen zugemacht, erzählen Sie ruhig weiter«, Holberg sah sie an, er blickte auf ihre Finger, die mit den Stricknadeln hantierten. »Sie haben vorhin gesagt, Sie seien der Kriminelle. Bitte sagen Sie so etwas nicht. Es gibt so viele Menschen, die Ihnen helfen wollen, und ich...« »Erzählen Sie doch wieder von Ihren Kindern«, Holberg schloß die Augen, »wie heißt Ihr Sohn?« Er fühlte sich schwach und müde. Die paar Worte strengten an, weil er sich konzentrieren mußte. »Ja«, er spürte, daß sie ihn ansah, ihre Nadeln waren auch nicht mehr zu hören, »er heißt Eilert«, fuhr sie zögernd fort. »Er ist zur Zeit etwas krank, er ist so ein süßes Kerlchen...« MEISTER LOOM WAR KRANK. Sagte er. Erkältung. Um seinen Hals hatte er einen dicken Schal geschlungen, der ihm das Aussehen eines erwachsenen Mainzelmännchens mit Kittel verlieh. Er begann den Morgen damit, daß er Kamillentee aufbrühte, der mit seinem Geruch die ganze Luft verpestete. Dann setzte er sich an den Glaszuschneidetisch und rechnete irgendwelchen Holzverbrauch aus. »Jungs«, sagte er zwischen kleinen Tee-schlückchen, »ich bin krank, ich bin ganz auf euch angewiesen. Ich weiß, daß ich mich auf euch verlassen kann. Drews! Du läßt Stühle Stühle sein und sorgst dafür, daß ich immer heißen Tee habe! Und genug davon! Wenn er alle ist, machst du neuen!« Drews nickte, ging in den Bankraum und klapperte dort laut mit Geschirr herum. Benno und ich folgten ihm und suchten uns ein ruhiges Plätzchen. »Und dann feg da drüben aus, Drews«, rief Loom herüber, »werden heute oder morgen 'ne Besichtigung kriegen!« »Ja,ja!« -8 0 -
»Dann bin ich weg«, sagte ich zu Benno. »Ich bin hier nicht im Zirkus.« »Ist mir doch egal, Ben, ich stell mich eben die paar Minuten an die Bank und basta.« Ich überlegte, daß es reichen würde, wenn ich in den Keller flitzte. Dort hinunter wurde keine Besichtigung geführt. Die Treppe war zu steil und der Keller zu klein. So ein Blödsinn! Die Werkstatt fegen! Wenn die Besichtigung im Heim war, kriegte Loom einen Anruf von vorne, und dann raste er durch die Bude, schloß alle Werkzeugschränke auf, verteilte Werkzeug auf den Bänken, während Drews aus einem Sack Hobelspäne und Sägemehl auf dem Boden und über die Hobelbänke verstreute. Letztes Mal hatte ich an einer Bank gestanden und vier Bretter zersägt, einmal quer und einmal lang. >Ich sage dir dann, was weiter zu machen istaus
Karen gab mir die Hand. An der Tür drehte sie sich noch mal um. »Ein Brief ist übrigens von mir.« Weg war sie. Ich hämmerte den letzten Kitt aus dem Fensterfalz und dachte nach.
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3 »Warum hast du denn unter dem Bett gelegen?« fragte Benno mich und schoß einen Stein vor sich her. »Weiß ich auch nicht. Das ging alles so schnell. Gegenüber lag eine Mieze, Karen heißt sie. Kennst du sie?« »Nee. Kann ja nicht alle kennen. Da sind sechzig Miezen oben. Und?« »Was und, und! Nichts und! Wir haben uns nur unterhalten. Sonst nichts.« »Von Bett zu Bett.« »Quatsch. Da war nichts.« »Hätte ja sein können. Mensch, die Britta hätte mich bald erwischt. Ich habe ein bißchen an Evi rumgefummelt, sie hatte sich vorher die Hose ausgezogen. Das ist ja das praktische an so einer Mieze, wenn sie ein Kleid anhat. Dann horten wir die Britta rumrennen. Zum Verrücktwerden! Aber Samstag gehen wir in die Stadt. Erinnere mich mal dran, daß ich noch zu Schade gehe, er soll meinen Pulli von der Kammer rausrücken.« Ich nickte. Im Fuchsbau hatte jeder Junge irgend etwas von seinen eigenen Sachen in Besitz. Ein Hemd, einen Pullover, eine Jeans oder mehrere Stücke zugleich. Wenn man am Sonntag in die Kirche ging, die oben in der Verwaltung in der Aula abgehalten wurde, dann bekam man sein eigenes Zeug von der Kammer ausgehändigt. Anschließend musste es wieder abgegeben werden. Doch es gab genügend Tricks, um ein Stück zu behalten. Man nahm zwei Hemden mit und faltete bei der Rückgabe ein Hemd so, daß es wie zwei aussah. Schade nahm das auch nicht so genau. Wenn man Freigänger war, dann konnte man auch ein paar Mark auf die Seite legen und sich ein T-Shirt kaufen oder mal eine billige Hose. Schließlich konnte man nicht wie ein Penner -9 7 -
in die Stadt laufen. Das sah selbst Wälzer ein und guckte nicht hin, wenn wir eigenes Zeug trugen. Allerdings kannte ich niemanden, der sich etwas kaufte. Man sagte gekauft und hatte geklaut. In einer Stadt von achtzigoder neunzigtausend Einwohnern gab es eine Unmenge Leinen, auf denen Wäsche hing. Sie waren einfach da. Was war schon dabei, wenn mal eine Hose oder ein Hemd abgeklammert wurde. Benno war in die Gärtnerei gegangen und pflückte Obst. Ich hatte die Briefe an die Empfänger verteilt und legte mich an die Sportplatzböschung, die nie fertig wurde. Ich sah mir die vier Briefe an und überlegte, welchen ich zuerst öffnen sollte. Ich schüttelte Looms zerquetschte Zigarre aus der Hemdtasche, das Zeug ließ sich nicht mal in der Pfeife rauchen. Für besondere Verdienste, hatte er gesagt. Der Spinner. Zwei Briefe waren rosa, einer war hellblau und einer weiß. Der hellblaue trug eine hübsche Handschrift. Ich wünschte, daß es der von Karen sei. Er war es. Die drei anderen Briefe fand ich reichlich blöd. Innige Liebe und der einzige, welcher, und Treue fürs ganze Leben. Das wollte die eine rosane. Die weiße hätte gerne ein Kind gehabt, ein ganz kleines süßes. Eine Vorstellung hatten die! Treue fürs ganze Leben. Wer wusste überhaupt, wie alt er wurde. So ein Leben ist ganz schön lange. Hm, der Zweitevatervater war immerhin achtundfünfzig. Er hatte immer gesagt, ich würde mal im Zuchthaus verrecken, wenn ich den Garten nicht umgraben würde. Also, die im Zuchthaus saßen, die hatten früher den Garten nicht umgegraben. Scheiß. Wie komme ich überhaupt drauf? Ah ja, achtundfünfzig war der Alte. Das kann schon ein ganzes Leben sein. Und kleine süße Kinder gibt es nicht von mir! Basta! Als ob ich den Samen im Brief verschicken könnte! -9 8 -
Die andere rosane schrieb nämlich mit >hh< schreiben. Wer nämlich mit >h< schreibt, ist dämlich. Hm, so wild ist es nun auch wieder nicht. Ich schlitzte den hellblauen auf. »An Benjamin - Fuchsbau« stand drauf. Auf den anderen ebenfalls. Das reichte vollkommen aus. »Hallo Benjamin!« Hm, das klang normal, als wenn man jemandem guten Tag sagt. »Meine Zeilen an dich werden nicht sehr lang werden, denn was soll man sich groß schreiben, wenn der eine den anderen nicht kennt.« Da hat sie recht. Wie vernünftig! »Ich habe dich neulich zum ersten Mal gesehen, als ihr im Tagesraum die Fenster repariert habt. Ich würde mich ganz gerne mit dir schreiben, weil ich dich leiden mag (bilde dir bloß nichts darauf ein).« Olle Pute! »Wir könnten uns mal treffen, wenn du willst. Ich gehe jeden Dienstag und jeden Samstag in die Stadt zum Saubermachen und habe um Viertel vor fünf Feierabend. Anschließend gehe ich noch immer an den Kiessee und schwimme eine halbe Stunde. Hinter dem Wald zur Ziegelei hin, da ist eine kleine Bucht. Ich weiß zwar nicht, ob du Zeit hast oder überhaupt bei euch wegkannst...«. Natürlich kann ich. ».. aber dann weißt du Bescheid. Für alle Fälle. Du wirst dich sicher fragen, wie ich aussehe und so. Zu deiner Beruhigung: Ich habe kein Holzbein, keine Hängebrust, und ich wiege auch nicht zwei Zentner! Evi hat heute abend die Scheiben in unserem Schlafraum eingehauen, und es ist ziemlich sicher, daß ihr und euer fettes Spanferkel morgen hier erscheinen werdet. (Es zieht ganz schön!) Dann wirst du mich sehen. Bis dahin also, tschüs. Karen.« -9 9 -
Ich legte mich ins Gras zurück. Nett schreibt sie. Ein ganz normaler Brief. Sonst kriege ich nur Post von Mama. Aber die schreibt anders. Auch normal, aber eben doch anders. Ich solle mich gut führen, dann wird alles wieder gut, und ich komme bald wieder nach Hause. Hm, ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt will. Der Zweitevatervater nörgelt, und der Zweiteva-ter traut sich nichts zu sagen! Karen hätte mir alles heute nachmittag sagen können. Ein Brief ist übrigens von mir, und zack weg war sie. Samstag gehen wir in die Stadt, Mensch, das paßt ja wieder alles. Ich werde hingehen, an den Kiessee, und Benno geht zu Evi. Mochte wissen, wohin uns der Wälzer zum Arbeiten schickt. »Benno, mein Kreuz tut vielleicht weh, oha!« »Meins auch«, sagte er fluchend, »ist ungewohnt. Wir haben zu lange ausgesetzt. Mach dir nichts draus.« Er spuckte einen Strahl schwarzer Spucke in den Kohlenstaub und schaufelte unermüdlich weiter. Ich hielt den schmutzigen Sack auf. Über den Dächern der Stadt konnte ich eine Kirchturmuhr sehen, zu der ich andauernd hinblickte. Halb vier. Eine Stunde noch, dann hatten wir es geschafft. Wir mußten Eierkohlen abfüllen. Zu Zentnern. Jedesmal wenn ein Sack voll war, stellten wir ihn zur Seite. Hatte sich eine Anzahl angesammelt, nahm sich jeder einen Sack und schleppte ihn fünfzig weiter unter ein Überdach. Dort standen wer weiß wie viele Zentner Kohlen. Eierkohlen, Nußkohlen klein, Nußkohlen groß, Briketts, Steinkohlen klein und groß, Kokskohlen, Heizkohlen eins, zwei und drei. Es gab hier Kohlen wie Margarinesorten. Nur Kohlen waren schwer. Ab Mittag hatte ich ein Gefühl, als wenn ein Zentner das doppelte wiege. Ein paarmal waren LKWs gekommen, die wir zwischendurch unter dem Überdach beladen mußten. Den ersten beiden Fahrern hatten wir einige Zentner unter der Hand verkauft. Der letzte hatte auch was genommen. Drei Zentner, das war ein Kasten Bier. Ein Kasten Bier, das waren zehn Mark. -1 0 0 -
Der erste Fahrer hatte für fünf Kästen genommen und hatte sich sehr gefreut. Er kam noch nicht lange zu dieser Firma und kannte das nicht. Der zweite nahm für zwei Kästen. Aber der letzte kam kurz nach dem Mittagessen, er war ein Freund des ersten Fahrers und wollte fünfzig Sack abholen und nahm auch für fünf Kästen mit. »Jeder sieht zu, wie er klarkommt, Jungs«, hatte er gesagt. Da hatte er recht. Was weg war, war eben weg. Unter dem Dach standen achthundert oder gar tausend Zentner, dauernd kamen neue Säcke hinzu, wurden andere abgeholt. Da zählten unsere paar Säcke als Verschnitt. An der anderen Hofseite arbeiteten noch zwei Jungen aus der Anstalt. Sie luden einen Waggon ab. Sie machten das mit breiten Koksgabeln und brauchten nur den Koks auf ein tiefer liegendes Förderband zu schaufeln. Das war nicht besonders schwer, aber dort ließen sich keine Geschäfte machen. »Was ist die Uhr?« fragte Benno. »Viertel nach.« »Vier?« »'türlich. Dachtest du drei.« »Gut, machen wir Schluß. Duschen. Wenn ich bedenke, daß heute der gewerkschaftlich erkämpfte, arbeitsfreie Samstag ist, der Fami-lientag, dann kommen mir die Tränen.« Er schulterte seine Gabel. »Laß sie kommen, du brauchst dann weniger Wasser beim Duschen.« Nach dem Duschen gingen wir zum Büro des Platzmeisters, der unseren Arbeitsschein unterschrieb und jedem fünf Mark gab. Das bekam man bei Kohle & Co. immer, und das war ein guter Verdienst. In der Holzhandlung gab es nur drei. Die beiden anderen Jungen waren vom Sprungbrett und kamen rein, als wir gehen wollten. „Wartet, wir kommen mit euch.« »Gut. Aber beeilt euch.« Wir setzten uns auf ein Geländer an der Straße. Benno zählte das Geld ab und gab mir die Hälfte. »Hier. Drei Pfund für jeden. Die anderen brauchen nichts zu wissen, Ich steckte die Scheine in die Uhrtasche meiner Hose und überlegte, wann ich schon einmal sechzig Mark besessen hatte. Noch nie. Und damit konnte ich nun machen, was ich -1 0 1 -
wollte. Ich könnte für Karen etwas mitbringen, da freut sie sich. Aber das sieht so blöd aus, als wenn ich was von ihr wollte. Na, mal sehen. So schwer war die Arbeit bei Kohle & Co. nun auch wieder nicht. Ha, im Bergwerk, da müssen sie noch ganz anders ran. Oder früher auf den Galeeren, die Sklaven, nicht einen Pfennig hatten die bekommen. Die Sprungbrettjungen kamen um die Ecke. »So, Leute, jetzt gehn wir erstmal ein kühles Blondes trinken! Wir kennen 'ne dufte Kneipe.« »Nee, wir haben noch was vor.« »Ihr wollt zu den Miezen. Gehen wir auch noch hin, aber anschließend. Erst das Bier geht alles besser.« Das fand ich nicht. Bier, schmeckte bitter. Und es stank. Und die, die Bier tranken, die mußten alle Augenblicke pinkeln gehen. »Wir müssen die Zeit einhalten«, sagte ich. »Na gut, wir gehen bis zum Güterbahnhof mit«, erwiderte der kleinere der beiden. An der nächsten Kreuzung trafen wir noch zwei aus dem Heim, aber sie blieben auf der anderen Straßenseite. Vor einem Fotogeschäft, das ein paar Meter von der Straße entfernt lag, standen Jungen mit ihren Mopeds. Es waren welche aus der Stadt. Vier der Jungen standen neben ihren Maschinen, drei lehnten an einem Holzzaun, es waren wohl die Beifahrer. Sie trugen alle Lederjacken. Ich fand so eine Jacke nicht schlecht. Aber dann musste man auch ein Moped haben. Nicht so eines wie die hatten, mit dem ganzen Klimbim dran, sondern eine starke Maschine mit hochgezogenen Blechen, mit der man auch Rallye fahren konnte. Als wir auf gleicher Höhe waren, pöbelte uns einer der Jungen an. Ich hatte gar nicht mitgekriegt, was er gesagt hatte, aber Benno blieb stehen. »Mensch, geh doch weiter, du Anstaltshiwi«, sagte ein Lederbejack-ter kauend, »oder wartest du auf meinen Gummi? Hier!« -1 0 2 -
Er spuckte sein Kaugummi gegen Benno. Der war im gleichen Moment bei ihm und schlug eine Gerade. Der Stadtjunge wollte zurückschlagen, doch Benno wich aus und schlug wieder zu. Der Junge stolperte nach hinten und fiel auf die Betonplatten vor dem Geschäft. Das war alles sehr schnell gegangen. Im Nu waren seine Kameraden da, auch die von den Mopeds. Ich schlug um mich, ich trat mit dem Fuß zu, wenn ich konnte. Ein pfeifender Hieb traf meine Schulter, ich spürte wie das Hemd aufriß. Die Lederjacken schlugen mit Fahrradketten. Von der anderen Straßenseite kamen die zwei Mann von uns als Verstärkung. Ein Sprungbrettjunge hatte eine Zaunlatte abgerissen und ließ sie kreisen. Sie zerbrach beim ersten Schlag. Er riß eine neue ab. Ich bekam den Arm einer Lederjacke zu fassen und drehte mich um, ließ den Arm nicht los. Der Junge schrie, aber ich hielt ihn fest und schleuderte ihn im Kreis herum. Sein eigenes Gewicht zog ihn mit. Er schrie hoch und schrill. Wie ein Schwein. »Mamaaaaaa!« schrie er und übertönte alles. Da ließ ich ihn los. Er krachte mit baumelndem Arm in die Scheibe des Fotogeschäftes und fiel mit dem Glas in die Apparate. Ich griff seine Kette aus dem Dreck. Ich konnte die Lederjacken gar nicht verfehlen. Ich bekam wieder einen Schlag mit einer Kette und fühlte, wie meine Haut aufplatzte. Ich trat und ließ meine Kette pfeifen. Warum lassen sie uns nicht in Ruhe, diese Idioten! Warum lassen sie uns nicht in Ruhe! Ich trat in einen Bauch. »Mein Ohr! Mein Ohaaaaa! Mein Ohaaaa!« Eine Lederjacke kreischte und hielt mit beiden Händen die Ohren zu. »Mein Ohaaaa!« schrie er immer. Dann rannte er quer über die Fahrbahn. Autobremsen quietschten. Eine Hupe ertönte laut und anhaltend.
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Zwei andere Stadtjungen liefen durch den kaputten Zaun und verschwanden in dem Garten dahinter. Auf einmal waren wir nur noch alleine da und der, den ich getreten hatte. Er lag auf dem Boden, auf dem Rücken und hielt seinen Bauch fest. Er kotzte blubbernd und der Kotzbrei lief ihm über das Gesicht, verschmierte alles. Am Zaun lag einer. Er mußte k.o. sein, denn er lag an den Zaun gelehnt und ließ den Kopf nach vorn hängen. »Ein Schweinsohr«, keuchte Benno und hob ein Ohr auf. Es war ein Menschenohr. Ich schluckte. Um uns herum standen eine Menge Leute und drohten mit den Fäusten. Benno warf das Ohr in die Richtung. Ohne daß wir miteinander sprachen, hoben wir die Mopeds hoch und warfen sie auf die Betonplatten, wieder hoch, wieder auf die Platten, wieder hoch, wieder auf die Platten. Glas und Metall knirschten. Die Leute ringsherum schrien jetzt durcheinander und drohten mit Gehstöcken und Taschen in den erhobenen Händen, weil wir das taten. Doch es traute sich niemand an uns heran. Von irgendwo her tönte die Sirene eines Streifenwagens. »Bullen!!« Wir rannten in eine Toreinfahrt neben dem Fotogeschäft, an dem das Türgitter heruntergelassen worden war, wir kletterten über mehrere Mauern, hasteten durch Gärten und Hinterhöfe. Ein Hund kam kläffend angerannt und rannte jaulend wieder weg, weil er einen Tritt bekommen hatte. Erst als wir über das Güterbahnhofsge-lände hinaus waren, verschnauften wir. Auf dieser Seite floß ein Fluß, ein Flüßchen, denn er war nur fünfzehn oder zwanzig Meter breit. Wenn man dem Wasser entgegenging, gelangte man zum Landeskrankenhausgelände, dann an einer großen Schrebergartenkolonie vorbei bis zum Kiessee. Vor dem Kiessee bog der Fluß zum Stadion hin ab. Wir überquerten die Promenade und gingen in die tiefer liegenden Flußwiesen, um unsere Sachen am Wasser in Ordnung zu bringen. »Diese verdammte Saubande«, fluchte Benno laut. »Vielleicht haben sie gedacht, wir sind aus dem
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Nachbarort, mit. denen prügeln sich die Stadtjungen doch auch oft.« »Ach Quatsch! Der hat doch Anstaltshiwi zu mir gesagt! Da wart ihr noch auf der ändern Straßenseite. Die wußten genau, woher wir kamen! Mensch, das nächste Mal schlagen wir ihnen die Birne ein!« Das nächste Mal werden die vorsichtiger sein, dachte ich. »Aber ich hab dem einen sein Schweinsohr abgeschlagen«, Benno grinste schon wieder. »Wollte ich gar nicht, er kommt hoch und dreht die Birne und klatsch! Weg war es!« »Mit der Kette?« "Klar! Ein Schlag. Wie ein Rasiermesser.« »Vielleicht saß es schon ein bißchen locker. Zur Hälfte hat es gereicht.« »Mein Finger ist im Eimer«, sagte einer vom Sprungbrett. »Und meine Fresse.« »Zeig mal! Nicht loslassen, du mußt sie festhalten.« Der andere Junge vom Sprungbrett hielt seine Wange. Wenn er losließ, dann klappte sie wie ein Lappen runter, wie ein Stück rotgefütterter Stoff. »Hab eins mit'm Schlagring abgekriegt. Habe erst gar nichts gemerkt.« »Dann hau schon ab. Das kann noch geklammert werden, wenn es frisch ist. Geh zum Neubau, Müller hat Dienst.« Müller war der Erzieher im Neubau, der für den ambulanten Behandlungsraum zuständig war. Der Junge trabte los. Wenn er sich beeilte, war er in einer Viertelstunde da. »Dein Hemd ist auch im Arsch, Benjamin.« »Weiß ich. Pelle auch.« »Made in Fahrradkett!« »Am besten, wir trennen uns«, sagte der eine von der anderen Straßenseite, der Hans hieß. »Jeder denkt sich selbst 'ne Story aus, wenn er gefragt wird. Sonst verhaspelt sich einer.«
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»Das geht schon klar, Hans«, Benno nickte. »Ben und ich wollen sowieso noch zu den Miezen. Wir kriegen ohnehin kein Recht, und wenn die zehnmal angefangen haben.« »Bis dann also.« Benno und ich gingen auf die gegenüberliegende Promenade. Die anderen blieben im Gras zurück. Die Promenade war nicht mehr als ein breiter Spazierweg, auf dem keine Autos und keine Fahrräder fahren durften. Ich holte meine Armbanduhr aus der Tasche. Ich trug sie dort, weil sie keine Armriemchen besaß. Vier Minuten nach fünf, sah ich und dachte, wie schnell doch etwas passieren kann und wie langsam die Zeit dabei vergeht. Spaziergänger kamen uns entgegen, manche so langsam, als wollten sie genau dann zu Hause ankommen, wenn die Sonne untergegangen war. Viele musterten uns, und manchmal lächelten sie verächtlich, als wollten sie sagen: Ach ja, die Zöglinge aus dem Heim, da oben. Wie kann man nur so herumlaufen, zerrissen und dreckig. Als wenn sie in den Kohlen gearbeitet hätten. Aber solche arbeiten ja nicht! Müssen die denn ausgerechnet hier langgehen? Warum wird so was nicht von der Stadt verboten? Jetzt kam ein halbaltes Ehepaar mit einem Jungen, der etwa in unserem Alter sein mußte. Die Jacke trug er über einem Arm, an der anderen Hand baumelte ein Fotoapparat. Sein Oberhemd war makellos weiß. Er sah uns und fragte die Frau etwas. Ich konnte nicht verstehen, was es war, doch alle drei guckten uns jetzt an, Auch der Mann, der vorher ein Paddelboot beobachtet hatte. Ihre Mienen drückten alle das gleiche aus. Ich wartete, bis sie nur noch ein paar Schritte von uns entfernt waren und zog geräuschvoll Spucke hoch. Einmal, zweimal. Es hörte sich an, wie wenn ein Balken über eine Holzbohlenbrücke geschleift wird. Dann spuckte ich auf einen Baumast, neben dem Weg, und ich traf. Die Spucke war grauschwarz und tropfte, einen langen schleimigen Faden nachziehend, von dem Ast. »Aaaalso... das ist doch...!« hörte ich die Frau sagen. Aber es interessierte mich -1 0 6 -
nicht, was sie sagte. Mich interessierte nur die Spucke. Und die gehörte mir. Was ging die überhaupt meine Spucke an! Der Schleimfaden wurde immer dünner, und der Tropfen fiel schneller, ich ging in die Hocke, jetzt! Jetzt riß er ab und fiel auf einen Grashalm, der sich unter dem Gewicht durchbog. Wie ein kleiner Lappen hing die Spucke über dem Halm, dann rutschte sie nach einer Seite ab und verschwand in dem Grasdickicht. Der zweite Tropfen hing an der Rundung eines Astes, ich richtete mich wieder auf. Doch der Faden war nicht mehr so dick wie Paketschnüre, es war eher ein guter Zwirnsfaden, er riß ab, und das am Ast hängende Stück zog sich wieder hoch. Die Vater-Mutter-Sohn-Gruppe war stehengeblieben und guckte mich an wie einen Aussätzigen. Anscheinend hatten sie so was noch nie gesehen. Ich grinste und beförderte einen zweiten Schub Spucke nach oben. »Karrrl!« schrillte die Frau. »Kannst du nichts dagegen tun!?« »Polizei!« sagte der Mann. »Das können wir der Polizei melden!« Ich rotzte in Richtung Ast, aber ich verfehlte ihn. »Furchtbar!« stöhnte die Frau. Aber sie blieben stehen. Es grum-melte in meiner Kehle, ich zog hoch, und sie starrten mich an. Aber ich ging ganz plötzlich weiter. Angeschmiert! Die dachten wohl, ich spucke bis zum Dunkelwerden! Benno wartete etwas weiter. »Was war denn da los?« »Nichts. Ich habe gespuckt, und die haben mir zugesehen. Die so was noch nicht.« Ich drehte mich um. Die Gruppe stand da immer noch und redete. »Gleich ist es halb sechs. Ich denke, du willst deine Mieze noch am Kiessee treffen«, sagte Benno, »laß uns ein bißchen laufen. Ich verdrücke mich gleich vornean ins Wäldchen. Wer zuerst fertig ist, der wartet in den Tongruben.« »Aber ich weiß doch gar nicht, ob sie da ist. Kann ja was dazwischengekommen sein.« Ich dachte an Karens Brief.
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»Dann kommst du mir nach. Oder geh an der Ziegeleikantine vorbei und bring zwei Flaschen mit. Vielleicht ist auch dicke Luft da oben, dann brauchst du nicht lange warten.« Wir liefen gemächlichen Dauerlauf. Ich spürte jetzt meinen Rücken, er brannte, als sei ich in Brennesseln gefallen. Dort, wo der Fluß eine Biegung machte, war die Gartenkolonie zu Ende. Wir gingen über eine schmale Asphaltstraße, dann befanden wir uns am Kiesseeufer. An dieser Seite war es mit Büschen und Schilf bewachsen. Von der Straße zweigte ein schwarzer Schlackeweg ab. Er führte zwischen Kiesseeufer und Mädchenheimwald entlang, dann um die Ziegelei herum und mündete wieder an der Bundesstraße. Das war ein Privatweg der Ziegelei, der von jedermann benutzt wurde. Vor dem Wald kam noch ein Stück Acker. Das war das Feld, das man vom Neubau aus sehen konnte. Ich versuchte festzustellen, von welchem Fenster aus Icke und ich rausgeguckt hatten, doch die Fenster sahen alle gleich aus. Das Jungenheim lag auf dem höchsten Punkt. Den Neubau und die Verwaltung konnte man sofort erkennen. »So, machs gut.« Benno lief über eine schmale Wiese, dann war er im Wald untergetaucht. Es war ein richtiger kleiner Wald und kein Wäldchen. Aber wo lag da der Unterschied, fragte ich mich. Direkt an den Wald schloß sich das Gelände von Heise & Sohn an; das war der Name der Ziegelei. Der Kiessee verästelte sich hier. Ich bog vom Weg ab und verdrückte mich in die Büsche. Ein Stück Wiese, dann ein Wasserarm, den ich umgehen mußte, wieder Büsche. Vielleicht wartete sie gar nicht mehr auf mich. Sechs Uhr. Um fünf hat sie Feierabend, nein, früher, aber um fünf ist sie dann erst hier Wenn die Rocker nicht gewesen wären, dann hätte ich um halb sechs hier sein können. Wenn, wenn! Ein dämliches Wort! Ein neuer Wasserarm tauchte auf, es war mehr eine Beule im Seeufer, und ich entdeckte Karen. -1 0 8 -
Sie trug einen verblichenen Badeanzug und drehte sich auf die Seite, als sie mich hörte, sah mir entgegen. »Hallo.« »Schön, daß du kommst, ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet.« »Prügelei gehabt.« Ich setzte mich zu ihr auf das Badetuch. »Prügelst du dich gerne?« »Quatsch, Soll ich stillhalten und aua aua sagen?« »So war es doch nicht gemeint.« Ich zog meine zerknautschte Zigarettenpackung aus der Tasche. »Magst du?« »Ja, danke. Ich habe aber auch welche.« Karen legte sich wieder zurück und blies den Rauch in die Luft. Sie war sehr schlank. Unter dem Stoff zeichneten sich ein Paar kleine runde Brüste ab, sie hoben und senkten sich, wenn sie atmete oder den Rauch ausstieß. »Wie alt bist du eigentlich, Ben?« »Ich? Warum?« »Ach, nur so.« Sie lachte. »Ist auch unwichtig.« »Werde siebzehn«, sagte ich und stellte fest, daß das nicht einmal gelogen war, auch wenn es noch gut zwei Jahre dauerte. »Bin ich im Mai geworden.« »Dann bist du eine Maikatze.« »Hmhm.« Die Beinöffnungen ihres Badeanzuges hatten sich etwas verschoben und gaben einen Streifen weißer Haut frei, wo die Sonne sonst nicht hinkam, an der Haut waren ein paar winzige Härchen eingeklemmt. »Warum bist du hier oben?« »Warum. Auf den Strich bin ich nicht gegangen!« »Das habe ich auch nicht gefragt.« »Ich bin eine blöde Ziege, nicht?« Karen drehte sich zu mir und stützte den Kopf auf die Hand.
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Ich erwiderte nichts. Mir fiel nichts ein, was nett genug gewesen wäre, um es ihr zu sagen. »Weil ich schwer erziehbar bin«, sagte sie. Sie kramte in einer kleinen Tasche, die neben ihr auf den Badetuch lag. »Laß uns meine Zigaretten rauchen, Ben. Ich bekomme öfter welche als du. Hier.« Sie steckte mir eine in den Mund. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, fuhr sie fort, »ich sollte Verkäuferin werden, weißt du Mein Vater hatte ein Geschäft, es war das einzige im Ort. Als ich lernte, mußte ich immer dreißig Kilometer bis in den Nachbarort fahren, dort war ein großer Laden. Und der Einfachheit halber wohnte ich da, im Haus des Kaufmanns. Da wohnten noch zwei Verkäuferinnen. Mein Vater hatte noch eine Filiale, er war immer unterwegs, eines Tages ist er mit dem Auto verunglückt. Er war sofort tot, haben sie gesagt. Er hat auch Öfter was getrunken. Da war nur noch meine Oma zu Hause...« »Und deine Mutter?« »Die ist gestorben. Ein Jahr, bevor ich aus der Schule entlassen wurde. Das Geschäft ist verkauft worden. Mein Vater hatte eine Menge Verpflichtungen zu erfüllen, er wollte sich immer mehr vergrößern, weißt du. Und dann muß man Darlehen aufnehmen. Na ja, der Kaufmann, bei dem ich war, mit dem hatte ich schon in den ersten Wochen Krach gehabt. Ich stand mal im Lager auf der Leiter, und plötzlich steht der Typ unter mir und faßt mir zwischen die Beine, und kaum war ich unten, da habe ich ihm ein Ding geknallt. Da war noch ein Mädchen, die war im zweiten Lehrjahr, mit der hatte ich ein hübsches Zimmer. Die hat sich halb kaputtgelacht, als ich ihr das erzählte. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, sagte sie, und was denn dabei wäre. Mit ihr hätte er schon ganz andere Dinge gemacht, und man hätte nur Vorteile dadurch. »Phh«, Karen lachte verächtlich, »die stellte sich schon breitbeinig hin, wenn sie seine Stimme auf dem Flur horte, Dann hatte sie Geburtstag, und es wurde eine richtige Feier gemacht, und wir waren alle ganz schön betrunken, na ja, das ist keine Entschuldigung, jedenfalls hat er mich soweit gehabt. Die -1 1 0 -
andere und seine Frau waren auch dabei. Und da dachten die, das ginge jetzt jede Woche so. Ich habe ihnen was gepfiffen. Er hat mich schikaniert, das wurde immer doller, und da bin ich einfach abgehauen, habe die Tageskasse mitgenommen. Ich hatte ja nichts, und ich mußte doch leben. Dann haben sie mich auf St. Pauli erwischt.« »Wo wolltest du denn hin?« »Nach Samen, in der Schweiz. Da habe ich eine Tante. Sie hat mir schon einige Male geschrieben. Da hätten sie mich lange suchen können, in der Nähe ist der Vierwaldstättersee. Kennst du den?« »Ja, aber nur dem Namen nach. Wieso bist du über Hamburg gefahren, wenn du in die Schweiz wolltest?« »Ach, das ist alles so blöd gekommen. Bin doch nur Anhalter gefahren. Wie's gerade kam. Jetzt bin ich hier.« Karen zündete neue Zigaretten an, gab mir eine. Zwischendurch hat man probiert, ob ich leichter zu erziehen sei, so nach einem Jahr. Arbeitsurlaub nennen sie so was in der Akte, und zu dir sagen sie Entlassung auf Widerruf und daß du jetzt deine riesengroße Chance hättest. Als Mädchen für alles war ich in einer Großhandlung. Saubermachen. Und breitmachen, gleich am zweiten Tag. Du weißt doch, ein Anruf, und du bist wieder in der Anstalt!« Karen äffte mit dem letzten Satz jemanden nach. »Hat nur vier Wochen gedauert, dann war ich wieder hier«, sagte sie nach einer Weile. Ich steckte ein Streichholz an, ließ es abbrennen. Trotz der Abendstunde war es drückend warm und so windstill, daß die Flamme nicht ein einziges Mal flackerte. Ich legte mich auf den Bauch und guckte über den See. Auf der anderen Seite war ein Anleger, an dem Boote festgebunden waren. »Hast du gebadet?« »Ja, das Wasser ist herrlich. Dein Hemd ist kaputt.« »Weiß ich.« »Oh, zeig mal, was ist... denn das?« Sie zog vorsichtig den Stoff auseinander. Ich fühlte ihre Finger auf meinem Rücken, der überhaupt nicht mehr weh tat. -1 1 1 -
»Menschenskind«, sagte sie und nahm ein kleines Handtuch, sie lief zum Wasser und machte es naß, kam zurück. »Zieh das Hemd aus!« Ich tat es und riß es noch mehr entzwei. Karen kniete sich neben mich und hantierte auf meinem Rücken herum. Das kalte Handtuch tat gut auf meiner Haut, ihre Hände taten gut, ihre Knie, die ich in der Seite fühlte, taten gut, ihre Nähe tat gut. Es war herrlich, so im Gras zu liegen und über den See zu gucken, die Finger zu spüren, die behutsam weich mit mir in Berührung kamen. »Wie ist das passiert?« »Hab ich doch gesagt. Prügelei. Bengels aus der Stadt. Sie hatten Ketten.« »Damit kann man ja einen totschlagen!« »Nicht auf dem Rücken.« Sie war fertig und legte sich neben mich auf den Bauch. »Es tut mir leid, von vorhin«, sagte sie nach einer Weile. »Was?« »Als ich dich fragte, ob du dich gerne prügelst.« »Das ist nicht schlimm.« Ich zog meinen Hemdfetzen wieder an. »Ich werde mich auch anziehen«, Karen stand auf, »um sieben gibt es bei uns Abendbrot und die in der Stadt arbeiten, die sind dann alle da. Es würde auffallen, wenn ich fehle.« Sie schob die Träger des Badeanzuges runter. »Drehst du dich um?« »Aha, du schämst dich.« Ich rollte mich auf die andere Seite. »Ach, du.« Ich hörte, wie sie mit ihrem Zeug raschelte und fragte mich, ob sie wieder ein Blumenhöschen anhatte. »Ich kann dir eine Hemdbluse von mir geben«, sagte sie hinter mir, »so kannst du doch nicht ins Heim zurück.« »Och, das geht schon.« »Das geht nicht! Stell dich nicht so an. So eine Hemdbluse kann von Männern und von Frauen getragen werden. Du mußt hinten ans Fenster kommen, ich werfe sie dann raus. Fertig?-« -1 1 2 -
Karen hatte Rock und Bluse an. Sie verstaute Badetuch und Handtuch in ihrer Tasche und schlüpfte in ihre Sandalen. »Wollen wir unten um die Ziegelei gehen?« »Lieber nicht«, erwiderte sie, »da braucht nur mal ein Erzieher vorbeizukommen, wir gehen durch den Wald, erst immer am Rand lang, da ist ein Weg und dann so ein Pfad, ich kenne mich da aus. Wir kommen direkt bis an die Pforte. Ist Benno auch hier?« »Klar. Warte, ich helfe dir.« Ich gab Karen die Hand, damit sie über einen Graben springen konnte, wir gingen weiter, ohne einander loszulassen. »Warum ist die Evi hier?« »Du, genau weiß ich's nicht. Ich glaube Betrug oder Unterschlagung oder so, jedenfalls kein Strich. Aber sonst die meisten. Ist ja auch keine Kunst, die Beine breitzumachen, nur hinterher kriegt man sie so schlecht wieder zusammen, weißt du.« Ich wußte nicht. »Wenn man einmal damit angefangen hat, viel Geld verdient, dann will man's immer, das Verdienen. Die schaffen hier noch durchs Gitter an, daß sie 'n Profil am Hintern haben!« Ich grinste und mußte an Icke denken. »Ist doch wahr!« sagte Karen. Wir waren an der anderen Seite angekommen. Durch die Büsche war das Holztor zu sehen, der Haupteingang, den wir auch mit benutzt hatten. Wir blieben stehen. »Vielleicht dauert es ein bißchen«, sagte sie, »mit dem Hemd. Ich glaube, ich kann erst nach dem Essen in den Schlafraum, kannst du solange warten?« »Sicher.« Wir sahen uns an. Ich spürte, wie das Verlangen in mir drängte, sie einfach zu umarmen, sie zu küssen. Aber außer ein paar Schulzeit-küßchen hatte ich keinerlei Erfahrung. Das betrübte mich. »Ich werde am Dienstag auf dich warten, unten am See.« -1 1 3 -
»Ja, das ist gut.« Ihre Augen sind grau oder grün. Blödes Waldlicht, nicht mal die Augenfarbe kann ich sehen. Wenn ich richtig mit der Zunge in ihrem Mund umherschlug, dann müßte es doch ein guter Kuß werden. Ich faßte um Karens Hüfte und sie legte ihre Arme um meinen Hals. Das Mädchenheim war an einen Abhang gebaut worden. Die Fenster an der Vorderseite in Brusthöhe, waren an der Rückseite doppelt so hoch, und die Schlafraumfenster lagen unerreichbar hoch, es mochten zehn oder zwölf Meter sein. Dann kam das Dach, ein Flachdach, mit eckigen hohen Kaminen und Entlüftungsrohren. Es war ein sehr altes Gebäude. An den Hausecken waren große Bruchsteine vermauert, von denen jeder zweite Stein etwas vorsprang - als Verzierung. Den breiten Parkweg, der ehemals hier entlanggeführt hatte, konnte man trotz der Grasnarbe noch erkennen, weil in regelmäßigen Zeitabständen Büsche und Farnkraut in einem breiten Streifen vom Gebäude her abgeholzt wurden. Dicht an der Hauswand standen noch Sträucher, doch das war ein toter Winkel, der ohnehin nicht einzusehen war, höchstens von einem seitlichen Vorbau aus, doch das geschah selten, weil dort kein Erzieherinnenzimmer lag. An zwei Hausecken hatte man sehr hoch Scheinwerfer angebracht, damit auch nachts die Schneise zu übersehen war. Scheinwerfer im eigentlichen Sinne waren es nicht, es waren große, gewölbte Blechschirme an einer Eisenstange, die an der Hauswand befestigt war. Die Innenseiten der Schirme waren weiß emailliert. In der Mitte steckte eine Fünfhundert-WattBirne. Das war alles, doch der Schein reichte aus, um die unmittelbare Umgebung sehr hell zu machen. Jetzt war es noch Tag, und die Lampen waren aus. Auf der Fensterbank eines der oberen Fenster saß Benno. Er hatte einen Arm hinter die Gitterstäbe gehakt und ließ die Beine runterbaumeln. Er unterhielt sich mit zwei Mädchen, das eine Mädchen war Evi.
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Schräg unter Benno saß ein anderer Junge, der seine Freundin durch die Stäbe küßte. Als er sich nach mir umwandte, erkannte ich Fred von der Ziegelei. Er winkte lässig, so, als säße er in einem Cafe, an dem ich gerade vorbeikäme. »Moment«, rief Benno mir zu und verabschiedete sich von Evi. Das dauerte eine Weile. Ich sah ihm zu, wie er nach unten turnte. Die Fenster lagen so weit auseinander, daß man die nächste Fensterbank mit dem Fuß erreichen konnte, wenn man sich gehörig streckte. Benno machte das, er stieß sich ab und faßte schnell um die nächste Mauerkante in das Gitter, so daß er nicht mehr runterfallen konnte. Vom letzten Fenster aus verlief ein schmales Sims bis zur Hausecke. Benno stellte sich bäuchlings zur Wand auf das Sims, schob sich immer weiter auf die schmale Leiste und hielt sich am Fenstergitter fest. Jetzt war sein Arm ganz ausgestreckt, er ließ los, machte schnell ein paar seitliche Trippelschritte und bekam in dem Augenblick, als er nach hinten Übergewicht bekam, den eisernen Scheinwerferarm mit der anderen ausgestreckten Hand zu fassen. Dann kletterte er an den vorstehenden Bruchsteinen nach unten. Es war ganz einfach, man mußte nur auf dem Sims ein paar schnelle Schritte machen oder umgekehrt, wenn man vom Scheinwerfer aus zu den Fenstern wollte. »Hallo, Ben, wie geht's?« fragte Evi von oben herunter. »Sehr gut«, sagte ich und dachte es auch. Benno ließ sich den letzten Meter nach unten fallen. »Gut, daß du hier vorbeikommst, ich dachte schon, du wärst weg. Dann können wir noch 'ne Weile bleiben. Wenn wir zusammen eintrudeln, dann ist das nicht so wild.« »Aber ich habe doch gesagt, daß ich komme. Wenn ich nicht kommen wollte, dann hätte ich das auch gesagt!« »Ja, gut. Die Miezen essen jetzt. Wir verdrücken uns etwas in den Wald. Hast du sie getroffen?« »Natürlich. Sie schmeißt mir nach dem Essen ein neues Hemd runter, dann glotzen sie nicht so dumm im Heim.«
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»Kann sie machen. Die haben genug Hemden.« Benno grinste. Fred hatte seinen Fensterplatz ebenfalls verlassen. »Wollt ihr schon weg?« »Nee, noch nicht.« »Na prima, ich bleibe auch noch hier.« Wir gingen ein Stück ins Unterholz und legten uns hin. »Wenn die alte Glucke nicht da ist, dann läuft das hier oben. Die Britta und die Anni, die sind nicht so link. Aber die Geschke, die linst nur heimlich raus und ruft dann oben bei uns an.« »Und dann?« fragte ich. Fred sah mich mitleidig an. »Tja, wenn wir Glück haben, und das haben wir sehr oft, warnt uns eine Mieze, dann können wir noch einen Endspurt bis zum Heim einlegen. Wenn wir kein Glück haben, dann sperren sie erst mal die Freigängerarbeit.« »Wieso wissen die denn, daß wir hier waren?« »Och, das machen sie ganz einfach. Der Wälzer ruft auf den Häusern an und dann wird durchgezählt, das geht ganz flott. Und wer nicht da ist, der ist eben hier bei den Miezen. Fertig.« »Und wenn man nun gar nicht hier ist, wenn man woanders ist?« »Wo? Du sollst nach der Arbeit sofort wieder ins Heim zurückgehen. Wenn du mal Baden gehst oder mal in der Sonne liegst und länger wegbleibst, dann ist das zwar auch verboten, doch niemand sagt was. Aber wenn die Alte anruft, dann sagen sie was. Es bleibt gehopst wie gesprungen. Wir dürfen uns eben nicht schnappen lassen. Aber die ganzen Zimmer hier an der Rückseite, da können die Miezen auch rein. Wenn also 'ne Glucke kommt und will nachsehen, was hier hinten vor sich geht, dann werden wir vorgewarnt.« »Da kommt wer«, Benno richtete sich auf. »Wo?« »Von der Seeseite her.« »Ruhig doch mal!« Von der Seeseite her hörten wir Äste brechen. Dann Stimmen. »Er hat recht. Leise.« -1 1 6 -
Wir lauschten. »Die kommen angelatscht wie Elefanten. Unsere sind nicht so laut.« Die Stimmen und das Knacken waren jetzt sehr nahe. In dem grünen Dickicht konnte man zwei Schritte voneinander entfernt sein, ohne sich zu sehen. Wir erhoben uns lautlos. Plötzlich waren zwei Kerle vor uns. Sie erschraken mächtig. Wir nicht. »Ihr habt uns aber einen ganz schönen Schreck eingejagt!« sagte der Jüngere von ihnen. Ich schätzte ihn auf etwas älter als Benno. Der andere mochte so an die vierzig sein. Er hatte schon Haare gelassen »Wo wollt ihr denn drauflos, wie?« »Oh, wir, nur so quer durch den Wald und...« »Gänseblümchen pflücken und Waldluft atmen, ich weiß«, unterbrach Benno den Älteren. »Aber das zieht nicht. Wir stoßen unsere Hühner selbst, kapiert!?« Fred sah sich den Jüngeren an. »Mensch, dich kenn' ich doch! Du warst doch schon öfter hier oben, Wollt 'ne Nummer machen, was?« »Meine Verlobte... äh... die wohnt nämlich hier oben...«, der Ältere druckste. »Uhuhuuuuu!« Fred heulte vor Vergnügen. »Ich halt' das nicht aus, habt ihr das gehört? Seine Verlobte wohnt hier. Wenn er die Verwandten besucht, muß er erst 'ne Waldläuferausbildung haben, das is'n Ding. Egal, ob Verlobte oder nicht, macht'n Fünfer!« Fred strecke die offene Hand aus, nach dem Jüngeren hin, weil der ihm am nächsten stand... Dieser wand sich einen Moment. Dann zog er sein Portemonnaie heraus und suchte Kleingeld zusammen. »Für jeden natürlich. Aber das brauche ich ja wohl nicht zu betonen!« Der Jüngere wollte protestieren, doch der Ältere griff ein. »Laß nur, ich mache das schon.« Er nahm einen Zwanziger aus seiner Brieftasche und gab ihn Fred. »Okay, sind fünf mehr, aber lassen wir so, verrechnen wir das nächste Mal, nicht!?« -1 1 7 -
»Ja ja, schon gut.« »Na, dann setzt euch mal, Jungs«, Benno machte eine einladende Handbewegung. »Im Augenblick könnt ihr sowieso nichts machen, sind alle beim Essen. Wir warten selbst.« Die beiden setzten sich ins Gras. Fred hielt ihnen seine Zigarettenpackung hin. Der Ältere wollte nicht. »Los Opa, nimm eine! Das regt den Kreislauf an!« Opa nahm. Er schien nicht viel zu rauchen, denn er sah nach den ersten Zügen ganz käsig aus, er hustete andauernd. Eigentlich sind sie ja aus der Stadt, dachte ich, was haben die hier oben überhaupt verloren. Wie Rocker sahen sie nicht aus. Na gut bezahlt hatten sie, immerhin zeigten sie guten Willen. An den Fenstern waren wieder Mädchen zu sehen, eine pfiff. »Die sind fertig.« »Gehn wir.« Die beiden aus der Stadt blieben gleich vorne, sie schoben sich durch die Sträucher in den Gebäudewinkel des ersten Vorbaus. Wir gingen weiter, auf die andere Seite, die zwischen den Vorbauten zurückwich. »Wann wollen wir denn überhaupt wieder zurück, ist gleich acht.« »Evi gibt mir noch Post mit, na, ich werde noch'n Augenblick klönen, dann können wir ja abhauen. Habe mir vorhin wieder die Beckenknochen an dem Scheißgitter demoliert!« Benno fluchte. »Und du, Fred?« »Bei mir kommt es nicht so drauf an. Ich kann immer sagen, ich habe Überstunden gekloppt. Wenn das mal der Fall ist, dann dauert das bis zehn, halb elf.« »Solange dauert das!« »Klar! Wenn neu eingefahren wird. Dann läuft dir der Saft am Arsch runter, aber dafür habe ich freitags meine dreißig Mark.« Dreißig, dachte ich. Das sind pro Tag fünf Mark, samstags mußte er ja auch arbeiten. »Hm, und wenn du Überstunden machst? Was gibt es dann?« -1 1 8 -
»Na, sage ich doch. Dreißig Mark, da sind die Überstunden mit drin.« »Viel ist das nicht.« »Was heißt viel. In der Tischlerei kriegst du nichts, da mußt du froh sein, daß du sonnabends 'n Job kriegst, wo es ein paar Mark gibt. So schlecht ist die Ziegelei nun auch wieder nicht.« »Ben!« Karen winkte aus einem der Fenster. »Geh unter den Schlafsaal!« Ich nickte, ging, wartete, bis oben das Fenster aufging. Es war ein Fenster ohne Gitter, es war das, in dem ich die Scheiben eingesetzt hatte. Ich guckte mir die Wand an, die Zwischenräume von Dachrinne zur Fensterbank, doch ohne Leiter war in diesem Fall überhaupt nichts zu machen. »Paß auf.« Sie warf mir ein grünes Hemd herunter. »Sind auch Taschen dran, vorne.« »Das ist gut.« Ich zog es gleich an Ort und Stelle an und warf das alte in die Büsche. Das Hemd war an den Schultern etwas eng, und die oberen Knöpfe gingen nicht zu, doch was machte das schon. Dem Stoff haftete ein leichter Eau de Cologne-Duft an; den gab es in keinem Laden und erst recht nicht von einer Wäscheleine. »Wie angegossen, prima«, sagte Karen. »Dankeschön.« »Brauchst dich nicht zu bedanken. Willst du jetzt weg?« »Ja, ich glaube schon. Der Benno hat wieder eine Leitung, dabei ist er jetzt den ganzen Abend hier.« Sie lachte. »Bis Dienstag?« »Sicher, Dienstag sehen wir uns.« Und wenn ich mit dem Kopf durch die Wand muß, dachte ich, im Moment war ich nur über Wandstärken völlig im unklaren. »Schön, ich freu mich schon.« Ich ging zu Benno zurück, ging ein Stück weiter bis zur nächsten Ecke, weil er dauernd »Moment« und »gleich« sagte und blieb stehen. Der Jüngere aus der Stadt stand auf einer Fensterbank und bearbeitete rhythmisch die Wand. Es sah aus, als seien seine Arme bis zu den Schultern in die Wand -1 1 9 -
eingemauert und die Kniespitzen seiner Beine, die in einem Hosenwust endeten. Der Opa stand unten im Farnkraut und feuerte den oben an. »Jaaa, gib's ihr, gib's ihr!« Er keuchte und war krebsrot im Gesicht, »Ja so, gib ihr, was sie braucht, gib's ihr, Feuer! Feuer! Gib ihr Feuer!« Er schlug im Halbkreis mit einem Arm durch die Luft, jedesmal, wie ein weit hergeholter Aufwärtshaken sah das aus. Ich ging etwas weiter, ohne daß er mich bemerkte, und ich sah das Mädchen auf der Fensterbankinnenseite. Ich konnte nur seine Beine sehen und ein bißchen Haut, bis zum hochgeschobenen Kleid. Das Mädchen stand nach vorne gebückt und hielt sich mit beiden Händen rückwärts an den Gitterstäben fest. Der Junge hatte durch die Stäbe hindurch um ihre Hüfte gefaßt, hatte den Kopf zurückgelegt, sein Gesicht war fast bis zu den Wangenknochen gegen das Gitter gepreßt. Weiter kam er wohl nicht. »Eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei«, kommandierte der Opa unten. Und dann wieder: »Jaaa, Feuer! Feuer! Gib's ihr doch! Eins-zwei...« Bei »Feuer« landete er wieder zwei kurze Aufwärtshaken in der Luft. Er schwitzte ordentlich dabei, stand nicht eine Sekunde still. Aber der Jüngere kam andauernd aus dem Takt, so wie sein Beutel taktlos baumelte. Ich fand das sehr lustig, zumal der Opa sich solche Mühe mit dem Kommandieren gab. Benno stieß mich in die Seite. »Dachte, du wärst schon weg. Komm her, laß sie, bezahlt haben sie ja.« Wir gingen durch die Tongruben zum Heim zurück. »Hast du's vorhin auch so gemacht?« »Was gemacht?« »Na, so durchs Gitter.« »Logisch. Kriegt man immer blaue Flecken, merkt man erst hinterher.« »Hätte ich keine Lust zu, so, ich will ein Mädchen anfassen. Immer das blöde Eisen dazwischen, jeden Augenblick kann jemand kom-men, nee, ich weiß nicht.« »Wenn's nicht gerade ein Erzieher ist oder eine Glucke.« -1 2 0 -
»Trotzdem. Wenn wir auf einem freien Haus liegen würden, Sprungbrett oder Wigwam, dann könnten wir nachts mal hoch, mit 'ner Leiter. Karen und Evi liegen doch auf einem offenen Schlafsaal.« »Sicher, das ginge schon. Wenn die Evi nicht dauernd Mist bauen würde, da oben, dann wäre sie schon lange auf Freigang und könnte in die Stadt gehen, wie Karen.« »Was macht sie denn?« »Machen tut sie eigentlich nichts. Sie läßt sich nur nichts gefallen, von den Glucken. Was meinst du, was da für blöde Weiber Erzieherinnen sein wollen. Die Britta ist die einzige, die was taugt. Aber mit der Zeit wird sie von den anderen versaut. Da liegen noch zwei Miezen mit im Schlafzimmer. Meinst du, die lutschen am Daumen?« »Och, wenn die in Ordnung sind, dann gehen wir eben mit vier Mann hoch. Solange wir auf dem Fuchsbau liegen, können wir ohnehin nichts machen.« Ich hatte Kopfschmerzen und saß im Bankraum auf einem vollen Sägemehlsack. Ich schaute Icke zu, der sich ein Schmuckkästchen baute. Icke war jetzt fast zwei Monate in der Tischlerei und hatte in dieser Zeit schon einige Kästchen angefertigt. Sie ließen sich gut verschachern. Man konnte darin Bilder aufbewahren oder besondere Briefe oder auch Zigaretten, und dann hatte man das Gefühl, diese Dinge seien besonders gut verwahrt. Schmuck besaß niemand. Und wenn, dann nützte so ein kleines Kästchen auch nicht viel, weil es mitsamt Schloß und Inhalt geklaut worden wäre. Allein das Vorhandensein eines solchen Kästchens wies schon auf was Wertvolles hin, dachte ich. Loom kam rein, hängte seinen Hut an den dafür vorgesehenen Nagel. In der Werkstatt war es warm. Wir hatten eingeheizt. »Du verdammte Berliner Wanze sollst Stühle reparieren und keine Schatullen bauen«, sagte er zu Icke. Dabei hatte er selbst einen Kasten mitgenommen, nach Hause. Ich überlegte, ob Loom Schmuck besaß oder seine Frau. -1 2 1 -
Vielleicht Talmi, das lag dann vor dem Frisierspiegel, zwischen Flakons Cremes und Haarbürsten seiner Frau. Er selbst brauchte ja keine Haarbürsten. Oder sie hatte auch 'ne Glatze. Aber Frauen haben selten eine Glatze. Und wenn, dann hangen sie sich eine Perücke drüber. Sind auch Haare. Vielleicht hatte die Loomsche Frau ein paar Erbstücke, Broschen, Spangen und so, von der Mutter, und die wieder von der Mutter, die wieder von der Mutter, die auch von der Mutter, die auch von der Mutter... hm, das wäre dann für Looms Kinder die Ur, die Ur-hoch-drei-Oma, die Kubik-Oma. Hatte der Loom überhaupt Kinder? »Benjamin! Flegel dich da nicht so hin! Ihr müßt heute Nachmittag zum Neubau, 'ne Tür abholen!« »Warum soll ich um zehn aufstehen, wenn um drei 'ne Tür geholt wird.« »Da hat er recht«, pflichtete Benno mir bei. »Halt den Mund! Wir haben soviel zu tun, wissen nicht ein noch aus!« Loom schnaubte, ließ uns sitzen und ging nach nebenan. Der mit seinem »soviel tun«! Jetzt geht er zu Meier, guckt mal hierhin und mal dorthin, dann rennt er wieder raus, klönen, in die Verwaltung oder in die Gärtnerei oder zu einer in der Nähe liegenden Erzieherwohnung. Das nannte er »soviel zu tun«. Er fand immer eine Ecke. Na ja, wir auch. Benno meinte, zu Looms Zeit konnte man die Meisterprüfung noch mit'm Schinken unter'm Arm bestehen, anders hätte der Loom das nicht geschafft. Ich nahm eine Handvoll Sägemehl, hängte den Loomschen Hut ab, hängte ihn wieder an den Nagel und nahm meinen alten Platz ein. »Ick lach mir'n Ast«, sagte Icke. »Wir sind imma für 'ne kleene Überraschung jut.« Benno grinste. Loom brauchte nicht lange, bis er zurückkam. Er ging zur Tür und griff im Vorbeigehen, ohne hinzusehen, mit drei Fingern nach seinem Filz. Er machte das immer mit drei Fingern, mit -1 2 2 -
Daumen und zwei Fingern. Daumen und Mittelfinger legte er seitlich an den Kniff und den Zeigefinger oben drauf. Ein kurzer Schwung! Loom blieb stehen, drehte sich langsam nach uns um und lüftete den Hut etwas, wobei er die Augen nach oben kippte und sofort zukniff, weil ein Rutsch Sägemehl hervorkam. Er ließ den Filz los. Das Sägemehl staute sich an seinen Brauen zu kleinen Häufchen, rieselte, lagerte sich seitlich der Nase und auf der Oberlippe ab. Wie blöd, dachte ich, warum nimmt er nicht sofort den Hut ab und macht ihn sauber, anstatt mit dem Mehl auf dem Kopf dazustehen. »Wer...«, eine unheilvolle Pause, »... war das?« Schweigen. Das Sägemehl rieselte noch etwas, doch das war nicht zu hören. Ich fühlte einen Lachkrampf in mir aufsteigen, aber als ich daran dachte, daß Loom sofort auf mich losstürzen würde, ging es wieder. Er beugte sich vorsichtig nach vorne, nahm erst die Brille ab, dann mit einem Ruck den Hut und schüttelte sich, er prustete wie ein Pferd. Dann nieste er zweimal kräftig. »Jesundheit«, sagte Icke freundlich. »Wer... das... war?« Loom putzte seine Brille und starrte mit zusammengekniffenen Augen umher, als könne er den Feind entdecken. Auf seinem Kopf war eine dünne Kruste Sägemehl verblieben, die durch bloßes Schütteln nicht wegging. Das war die untere loomschweißdurchfeuchtete Schicht, wie eine Landkarte sah es aus. Er wischte den Rest mit seinem karierten Taschentuch ab und schlug das Tuch aus. Wir grinsten alle drei, dann nur noch Benno und ich, weil Benno sagte: »Icke, nun sag schon, daß du's warst. Ist doch nichts dabei, Meister Loom macht schon mal ein kleines Späßchen mit.« »Ickeee!?« brüllte Icke. Loom starrte Icke durchdringend an, wie eine fette Schlange eine Maus. Dann kam Leben in ihn. Er griff seitwärts in die Holzlatten, die an der Wand lehnten. -1 2 3 -
Icke rannte um die Hobelbänke herum. Loom hinterher. »Du verdammte Blase«, röhrte er und schlug mit der Latte zu, »du verdammte Blase! « Wenn er traf, jaulte Icke auf wie ein Hund. »Ick war det nich, Meesta! Ich war det nich!« schrie er. »Ick bin doch viel zu kleen für den Nagel! Ick war det nich! « Loom ließ sich auf nichts ein. Icke kroch und flitzte durch die Werkstatt. »Der Ast«, wieherte Benno, »lach dir einen und dann schnell drauf setzen!« Jetzt standen sie jeder an einer Bankstirnseite, Loom mit erhobenem, lattenbewehrtem Arm. Es war die zweite Latte, eine dickere da die erste sofort zerbrochen war. Icke stand geduckt gegenüber und pendelte mit dem Oberkörper hin und her, um Loom zu irritieren. Loom versuchte mitzupendeln, er schlug wieder zu. Icke heulte langgezogen und versuchte, angeschlagen eine Hobelbank zu unterqueren. Wir sahen interessiert zu, ob er es wohl schaffte. Beinahe. Loom traf ihn quer auf die Beine, wollte schnell noch mal zuschlagen, doch Icke zog sie weg, er brüllte wie am Spieß. Loom warf die Latte nach ihm, weil er nicht mehr konnte, er war knallrot und außer Atem. Er fischte mit einem Fuß seinen verbeulten Hut unter einer Bank hervor, drückte ihn zurecht und sah uns eisig an. »Wir sprechen uns noch«, sagte er keuchend. »Man wird doch wohl noch lachen dürfen«, maulte Benno. Loom stülpte den Filz auf und knallte die Tür von außen zu. Icke kroch aus seiner Deckung. »Det Rübenschwein hätte mir ja bald erschlagen«, schimpfte er, »det laß ick mir nich bieten!« »Nun Jammer hier nicht rum, ich denke, du bist'n Mann.« Benno lachte. »Hättest dir auch ein Stück Holz nehmen sollen und dann rein in seine Fresse.« »Wie kann ick det, wenn er mir keene Zeit läßt.« »Nächstesmal. Hier, rauch erst mal eine.« Benno gab ihm eine Zigarette. »Ick geh lieba oofs Klo damit, wenn er mir jetzt ooch noch beim Roochen erwischt, dann macht er mir kalt!«
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4 Wälzer saß hinter seinem Schreibtisch, seinem AbteilungsleiterSchreibtisch. Auf der blanken Platte stand ein Kalender mit kleinen Kunststoffscheiben, die man jeden Tag umklappen mußte. Daneben ein Tintenlöscher, rechtwinklig zu einer Federschale. In der Federschale lagen auf der einen Seite ausgerichtet nebeneinander sechs Büroklammern, auf der anderen Seite ein Radiergummi mit der Aufschrift »Speckgummi«, in der Mitte ein Bleistift, der mit der Spitze genau auf die Speckgummimitte zielte. Dann folgten eine Zigarettendose, ein Aschenbecher mit einer zerdrückten Zigarette am Rand und ein goldenes Feuerzeug. Alles stand in einer Linie in gleichem Abstand. Vor Wälzer lag eine Glasplatte, auf dieser ein roter Aktenhefter, Ober- und Seitenkante mit der Glaskante abschneidend. »Komm näher, mein lieber Holberg«, sagte Wälzer freundlich, steckte das Feuerzeug ein, verrückte die Federschale um eine Winzigkeit und schaffte ein bißchen Ordnung auf der Schreibtischfläche. »Ich habe dich nicht von ungefähr zu mir bestellen lassen«, er entfernte etwas für mich nicht Sichtbares von seinem Ärmel, »du weißt, Ursache gleich Wirkung.« Er schlug den roten Aktenhefter auf, auf dessen Vorderseite mein Name stand und nahm ein Blatt heraus. Es waren nicht viele Blätter in dem Hefter. Ich versuchte, die Schrift zu lesen, doch ich war zu weit entfernt. Hinter Wälzer stand ein Schrank, voll mit Büchern, ich konnte sie alle durch die Türscheiben sehen. Viele waren mit Goldschrift und verschnörkelten Zahlen versehen. Über dem Schrank hing der Bundespräsident und guckte auf die Tapetenleiste neben dem Fenster. Neben dem Präsidenten hing ein gleich großes Bild eines Mannes, den ich nicht kannte. Er hatte einen Spitzbart und sah mich mit erfreuten Augen an, oder er blickte zur Tür, die genau hinter mir war.
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Ein toter Präsident konnte es nicht sein. Die wurden ja sofort ausgewechselt. Es mußte ein wichtiger Mann sein. Bei Wälzer hingen keine unwichtigen Männer an der Wand. Zum Fenster hin folgten kleinere Bilder, jedes ein Stück tiefer aufgehängt in Form einer Treppe. Es waren alles Brustaufnahmen, manchmal eine ganze Gruppe. Von weitem waren sie nicht zu erkennen. »Also«, Wälzer hatte das Blatt durchgelesen, »ich habe hier ein Schreiben deiner verehrten Frau Mutter...« Blödsinn! Der kannte Mama doch gar nicht. »...welches Beachtung bei der Anstaltsleitung findet, Beachtung insofern, da du ja schon einige Zeit bei uns bist, Zeit, die dazu beigetragen hat, dich Dinge lernen zu lassen, die ein jeder Mensch braucht, die er für sein späteres Leben braucht, die er verwenden kann, ja nicht nur kann - manchmal muß er es sogar, muß er darauf zurückgreifen!« Wälzer machte eine Pause und schaute in eine nicht sichtbare Ferne, dann ganz kurz in meine Augen, dann an mir vorbei zur Tür. »Du bist reifer geworden«, sagte er, und seine Stimme hatte eine beschwörenden Klang, »ein Mensch reift durch die Zeit, und die Zeit reift durch ihn...« Was war das denn für'n Quatsch? Zeit reift nicht. Zeit ist Zeit. »Du bist - abgesehen von einigen Kleinigkeiten - in den Grenzen der Heimordnung geblieben, Herr Tischlermeister Loom beurteilt dich, nun ja, als verwendungsfähig. All das sind Dinge, die erkennen lassen, daß eine innere Wandlung in dir vorgegangen ist, etwas ist in dir passiert, verstehst du? Diese Wandlung wird dir nun helfen, dein Leben, dein, ach so junges Leben neu zu gestalten«, Wälzer musterte versonnen die Tür hinter mir, »mit Tatkraft und immer aufrecht...« Das Telefon klingelte. Wälzer hob sofort den Hörer ab. Ich fragte mich, was er überhaupt von mir wollte. »Wälzer! Abtei... jawoll! Wie sie meinen!« Er straffte sich merklich. »Selbstverständlich! Nein, nein, ganz Ihrer Meinung! Morgen früh um zehn Uhr. Jawoll! Jawoll!« Zeitzeichen. »Jawoll!« Wälzer hängte auf. »Äh, wo war ich stehngeblieben?« »Tatkraft.« -1 2 6 -
»Ah so, also, mit Tatkraft und immer aufrecht das Leben zu meistern, denn auch das Leben...«, Pause. »Auch das Leben ist eine Aufgabe, eine recht schwierige, und um sie zu losen, hat man dich...«, er blätterte in den paar Seiten der Akte, »... vor gut einem Jahr zu uns gebracht, damit wir es dich lehren.« »Was lehren?« »Na, das Lösen, Mensch! Also deine verehrte Frau Mutter teilt uns in ihrem Schreiben mit, daß sie für dich eine Schlosserlehrstelle ausfindig gemacht hat, die du sofort antreten kannst. Somit wirst du im Laufe des Monats entlassen, entlassen, das heißt, daß wir, die Anstaltsleitung, die Entlassung jederzeit widerrufen können, wenn du den draußen an dich gestellten Anforderungen nicht ensprichst!« Wälzer hatte immer schneller gesprochen. Er klappte den roten Hefter zu und spulte weiter: »Das, mein lieber Holberg, war es tu heute. Wir sehen uns dann noch am Entlassungstag. Bis dahin Adieu!« Er nickte in Richtung Tür. Ich ging raus. Ich ging zum Sportplatz und legte mich an die Böschung. Entlassen, dachte ich. Einfach so. Entlassen. Was wird Karen dazu sagen? Hm, Karen. Wie zärtlich sie sein konnte. Was war zu Hause schon los? Nichts. Aber wenn wir zusammen am Seeufer lagen, wenn wir über alles Mögliche redeten, wenn wir uns liebten, das war was. Wieso Schlosser? Ich habe nun mal keine Lust als Schlosser! Mama hat sich wieder bereden lassen. Und Benno! Na, der wird Augen machen. Oder auch nicht. Er sollte ja selbst vor einem Monat raus, zu einem Bauern, bei dem er früher schon mal gewesen war. Und er wollte nicht. Er hat zu Wälzer gesagt, er macht sofort einen Einbruch. Das habe ich gehört. Sofort antreten, sagte Wälzer. Dann können sie mich auch doch sofort entlassen, und nicht erst im Laufe des Monats. Vielleicht bekommt inzwischen jemand anders die Stelle. Na ja, auch nicht schlimm. Freue ich mich eigentlich? Nee, ich glaube nicht, jedenfalls nicht richtig. Dabei dachte ich immer, auf so eine Entlassung, da freut man sich riesig. Ist gar nicht so. Im Laufe des Monats, dann kann ich ja noch alles regeln. Ich kann Karen ja schreiben von draußen. -1 2 7 -
Zöglinge dürfen von Zöglingen keine Post erhalten, aber ich nehme einfach einen anderen Namen. Ist überhaupt ein Blödsinn. Nicht mal Benno darf ich schreiben. Da arbeitet man fortwährend zusammen, und nicht mal 'ne Karte darf man schicken, wie's einem draußen geht und so. Aber Loom, dem darf man schreiben. An der Wand über dem Glasschneidetisch hängt eine Karte von einem ehemaligen Zögling. Aus Spanien. Mit weißem Sandstrand und viel Wasser. Aber die Karte war schon zehn Jahre alt, sagte Benno. Er hatte mal den Poststempel gelesen und Loom damit geärgert. Loom hatte die Karte daraufhin an die Wand geleimt. HOLBERG MUSTERTE DIE ÄRZTE, die sein Bett umstanden. Einer nahm die Tafel, die am Fußende hing und las die täglichen Eintragungen auf dem Millimeterpapier. Die anderen guckten zu. »Das Fieber«, sagte er zu der neben ihm stehenden Krankenschwester, »wir erhöhen die Einheiten Penicillin forte.« »Jawohl, Herr Doktor.« Die Schwester notierte etwas auf einem Block. »Und wie geht es Ihnen, Herr Holberg?« Der Arzt sah ihn an. »Ich denke, ganz gut.« Er lachte. »Meine ich doch auch. Wollen mal sehen, was unsere Wunden machen. Können Sie sich schon etwas drehen? Na, fein.« Die Schwester löste mit wenigen Griffen die Verbände, unter Holbergs Arm und auf seinem Bauch. Der Arzt nickte und betastete die Haut. »Prächtig«, sagte er. Die Gruppe ging zu dem gegenüberliegenden Bett. Eine andere Schwester und ein Pfleger legten Holberg neue Verbände an. Es ist makaber, dachte er. Sie jagen und hasten und fluchen und rennen, dann knallt es. Und das Ganze geht umgekehrt. Ambulanz, Krankenwagen, Hubschrauber. Elisabeth sagt, sie haben mich mit dem Hubschrauber gebracht, weil es schnell gehen mußte, mit dem Operieren, weil man eine solche Operation nur in dieser Klinik machen konnte. Und die Ärzte warten bebrillt und bekittelt. Auf dem OP-Tisch liegt ein weißes -1 2 8 -
Laken, weiß wie Unschuld, wie die Kittel der Ärzte, wenn sie nicht grün sind. Warum hat er bloß geschossen? Vielleicht sollte es tatsächlich ein Fangschuß sein. Einmal nur. Zweimal würde auffallen. Um die Gesellschaft zu schützen. Ein tolles Wort, Ge-sell-schaft. To sell, verkaufen; Bruderschaft, Lanzenschaft, Sippschaft. Und jetzt werde ich wieder repariert. Weil es das Gesellschaftssystem vorschreibt. Wenn ich verreckt wäre, hätte es wenigstens einen Nutzen für die Gesellschaft gehabt. Zugunsten der Steuerzahler. Ach was, vielleicht bei genügender Anzahl, dann würde es sich bemerkbar machen, aber im Grunde will das niemand. Die Gesellschaft sieht es ganz gerne, wenn es eine Gruppe gibt, die schlecht ist, die wegen ihrer Schlechtigkeit isoliert wird. Es beruhigt das eigene schlechte Gewissen. Die Gesellschaft wird durch die Diäten der Politiker mitbestimmt. Je einfacher eine Lösung, desto besser wird sie von der Gesellschaft verstanden. Also werden weitere Häuser gebaut, kleine Forts mit niedlichen, noch kleineren Klosetts, in denen man auch essen und schlafen kann. Wie einfach. Man ist ein Bläschen, ein Abschaumbläschen. Jedes Bläschen trocknet einmal aus, es platzt. Und wenn jemand pustet, kräftig pustet, dann platzt es um so eher. Das stärkt die weiße Brust, die bürgerstolzgeschwellte. Was soll's. Das Leben ist eine Vorbereitung auf den Tod. Schopenhauer. Was ist überhaupt noch wesentlich? Die Visite hatte das Zimmer verlassen. Wachsein ermüdet, dachte Holberg. Nachmittags brachte eine Schwester fünf rote Rosen, an denen eine Karte hing. »Für Sie«, sagte sie zu Holberg, »und das nur ausnahmsweise. Auf der Intensivstation dürfen keine Blumen sein, aber ich werde sie zwischen die Doppelfenster stellen, das ist halb Station und halb Park, und sehen können Sie sie auch.« Sie lächelte. Einer der Pensionsberechtigten war hereingekommen und wollte die Karte lesen.
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Marion, dachte Holberg. Ich möchte wetten, daß sie von Marion sind. Sie hat solange herumtelefoniert, bis sie wußte, wohin man mich gebracht hat. Sie wird dann nervös, raucht viel, obwohl sie gar kein richtiges Verlangen nach einer Zigarette hat, sie drückt sie jedesmal zur Hälfte aus, zieht ihre Nase kraus, um dann ein paar Minuten später eine neue Zigarette anzuzünden. Sie hat es in der Zeitung gelesen. Kurze Notiz nur, das übliche. >Nach Gegenwehr angeschossenTut uns leid, gnädige Frau, wir sind nicht informiert, wir könnten ihnen auch keinerlei Auskunft gebenAch sagen Sie, darf Herr Holberg schon Besuch empfangen?< Sicher hatte sie diesen deutschen Satz auswendig gelernt. >Einen Moment bitte!< Man hat in einem Buch nachgeblättert. >HaIlo? Nein, Herr Holberg liegt zur Zeit auf der Intensivstation, dort dürfen keine Besuche stattfinden!< Solche Antworten wurden jeden Tag gegeben, das ging in Fleisch und Blut über. Hinterher hatte man vielleicht festgestellt, daß keinerlei Auskunft gegeben werden durfte. Holberg zog die Karte aus dem Umschlag. Marions Schrift. Er hätte sie unter tausend Schriften erkannt, diese eigenwilligen, nach links fallenden Schnörkel. Wie sie die fertigbrachte, es hatte ihn immer wieder verwundert. »Liebe Grüße von mir.« Holberg wendete die Karte. Das war alles. Schön, genügte ja auch. Er legte den Umschlag auf die Bettdecke und schloß die Augen. Es gibt so viele Dinge, die der Vergangenheit angehören, aber manchmal erinnert man sich. Wie ein Film. Zuerst ist alles dunkel, dann konzentriert man sich, und weiße Bilder flackern über die Leinwand, der Vorspann. Ein Stummfilm, doch die Gedanken werden laut. Manchmal reißen die Bilder ab oder flackern. Es darf gelach. werden. Dann läuft die Spule richtig. Dann ist es auch kein -1 3 0 -
Stummfilm mehr. Die Stimmen hallen in den Ohren wider, wenn die Rolle richtig läuft. ICH SCHOB MEIN FAHRRAD durch die Toreinfahrt, stellte es an die Garage und ging ins Haus. Mama war schon aus dem Büro da, und in der Küche war ein Duft, der das nahe Essen ankündigte, er erinnerte einen sofort daran, daß man Hunger hatte. Auch dann, wenn man erst vor zwei Stunden etwas gegessen hatte. Bei mir war es so. Oft guckte ich in die Töpfe, dann zog sich mein Gaumen zusammen, dann war ich besonders hungrig. Heute war mir nicht nach Topfgucken zumute. »Bist du früher gekommen?« fragte ich. »Ja, ich habe doch mittwochs frei, jedenfalls den Nachmittag. Und du?« »Oh, ich auch.« »Wie, auch?« »Na ja, mittwochs und die anderen Wochentage auch. Sonntags ist ja sowieso Feiertag.« Mama ließ das Rühren sein. Ihrem Gesicht war anzusehen, daß sie ahnte, was los war. Für schlechte Neuigkeiten hatte sie immer eine Ahnung. »Bin rausgeflogen.« »Ich werd' nicht mehr«, sagte sie. »Ach, was ist schon dabei. Deine Sauce brennt gleich an.« Sie stellte den Herd ab und setzte sich. »Wie ist das denn passiert? Wir haben doch alles mit dem Chef besprochen, wo du gewesen bist, damit von Anfang alles klar ist. Vier Wochen bist du jetzt da und schon Ende.« »So was geht schnell. Von den vier Wochen habe ich eine Woche Rost geklopft, eine Woche Kellerräume gekalkt, vier Tage Apfelbäume zu Feuerholz zersägt, drei Tage einen Hühnerstall mit Teerpappe vernagelt, zwischendurch mußte ich Autos waschen, ach ja, fünfzehn Minuten lang habe ich ein Eisengitter festgehalten, das war meine Schlossertätigkeit. -1 3 1 -
Möchte mal wissen, was ich in mein Werkstattwochenheft schreiben soll.« »Aber«, Mama seufzte, »ich verstehe das nicht.« »Das ist ganz einfach. Heute Nachmittag sollte ich Teppiche klopfen. Ausgerechnet Teppiche klopfen! Das kenne ich, das wollte ich nicht. Ich hatte keinen Willen zu haben, sagte der Alte, ich wäre ein junger unerfahrener Schnösel. Hm, ein Wort gab das andere. Er meinte, er wäre schon mit ganz anderen Ganoven fertiggeworden und ich hab gesagt, er war so blöd, daß ich ihn am liebsten in Hintern treten würde. Da ist er rot angelaufen, und als er wieder Luft kriegte, brüllte er dauernd, ich solle gehen.« »Vielleicht läßt sich das ja wieder einrenken.« »Glaube ich nicht. Der war so sauer, weil die anderen alle mitgehört haben. Ich habe auch keine Lust mehr. Am besten, ich geh gleich wieder ins Heim zurück.« »Aber Junge, Junge, du bist doch hier zu Hause, ich...«, ihre Augen füllten sich mit Tranen. »Ja, Mama, weiß ich.« Daß sie jetzt auch noch weinen mußte. Ich kann sie so schlecht weinen sehen. Mama. Wenn ich nicht wär, dann hätte sie sicher nicht soviele Sorgen. Ich ging raus in den Garten. Ich setzte mich hinter die Garage. Von hier aus konnte man das ganze Grundstück übersehen, ohne dass man selbst zu sehen war. Der Vater meines zweiten Vaters fütterte die Hühner. Dann ging er mit einer Schere zu den jungen Apfelbäumen, er schnitt hier und da kleine Zweige heraus. Konnte er auch. Schließlich waren es seine Bäume. Räudiger Verbrecher, sagte er. Dabei dachte ich immer, ein Hund sei räudig. Hunderäude gibt es, Menschenräude, weiß nicht. Der kann mir den Buckel runterrutschen. Ich fasse sowieso keinen Spaten mehr an. Es ist sein Garten, also soll er ihn auch umgraben. Mama kaufte ihre Kartoffeln jetzt beim Kaufmann.
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Ich ging erst zum Essen ins Haus. Vor der Garage stand der alte Volkswagen, jetzt war der zweite Vater ebenfalls von der Arbeit gekommen. Mama hatte ihn ein paar Jahre nach dem Krieg geheiratet, weil mein erster Vater gefallen war. Seitdem hieß sie Geliert. Ich nicht. Ich wollte auch gar nicht so heißen. Der Name meines ersten Vaters gefiel mir viel besser. Ich kannte nur Fotos von ihm. Er mußte ein guter Mann gewesen sein. Gefallen! Das ist auch so ein Wort. Als wenn er mal eben hingefallen wäre. Ermordet, na das hört sich gleich nach Rache an. Ein Mord wird gesühnt. Im Krieg nicht, beschweren. Gefallen, das verkleidet fast alles. Ob er ist gefallen. Endgültig ist dieses »Gefallen«, dagegen kann man sich nicht beschweren. Gefallen, das verkleidet fast alles. Ob er von einer Granate zerrissen worden ist, ob er die Beine verloren hat und stundenlang schrie, oder ob er einen Kopfschuß bekam. Aber ermordet, da malt man sich die schrecklichsten Dinge aus, da will man, daß der Täter bestraft wird. Heimelig, das Heim, das häusliche Heim, das gemütliche, warm und weich. Heim, das ist Ruhe und Verständnis und Geborgenheit Erziehungsheim, das ist schon schlechter. Die Erziehung ist streng, hart und kalt, aber das warme Heim dahinter, das macht die >Erziehung< wieder nett, verstehend, es macht eine gute Sache daraus. Aber Anstalt, Erziehungsanstalt, da gibt es nichts, das heißt zugeschlossen, abgesondert, kalt, Zwang. Ein böses Wort. Anstalt sagt man auch heute gar nicht mehr, und wenn, dann mit einem aufweichenden Zusatzwort. >Christliche Anstalt< oder Gemeinnützige AnstaltJugend< klingt nach Unschuld. Die Unschuld aus dem ganzen Land. Auf dem Flur hörte ich Mamas Stimme aus der Küche. »... auch mal mit Vater reden, daß er den Jungen in Ruhe läßt!« »Warum ich?« fragte der zweite Vater, »meinst du, ich habe Lust, mich damit nach Feierabend rumzuärgern? Warum sagst du's ihm denn nicht!«
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»Ich! Du weißt ganz genau, ob ich etwas sage oder...«. Sie redete nicht weiter und ihre Stimme klang zittrig, als müsse sie wieder weinen. »Siehst du, bei mir ist es auch so. Vater meint das im Grunde gar nicht so, wir müssen ihn nur verstehen...«. Ich ging ins Bad, um meine Hände zu waschen. Das Gespräch interessierte mich nicht. Ich hatte es schon zu oft gehört, zwar mit anderen Worten, doch der Sinn blieb der gleiche. Viele Menschen sollten einen alten Mann verstehen und immer das machen, was er wollte, und keiner mochte ihm sagen, daß ihn niemand verstand. Ich versuchte mich zurückzuerinnern, wann ich zum erstenmal so ein ähnliches Gespräch bewußt wahrgenommen hatte. Vor zwei Jahren? Vor drei? In drei Jahren würde es genau das gleiche sein. Wie die alte Dachrinne am Stall, die dauernd repariert werden sollte, schon damals, als ich noch zur Schule ging. Das Wasser pladderte heute noch genauso runter wie damals, wenn es regnete. Der Onkel, der Bruder Mamas, wohnte in dem Vorort einer Kleinstadt, die keine war. Eine Großstadt war es auch nicht. Sie lag so dazwischen. In dem Haus wohnten auch Mamas Eltern, ihnen gehörte das Haus. Der Onkel reparierte viel an dem Haus, weil er sich ausrechnete, daß er es später mal erben würde. Dann hatte er nicht mehr soviel zu tun. Der Onkel hatte einen Handwerksberuf erlernt und stellte erst nach seiner Heirat mit Herta Lappewasch fest, daß er durchaus in der Lage sei, eine verantwortungsvollere Tätigkeit auszuüben als die eines Handwerkers. Denn der Bekanntenkreis der Lappewasch bestand aus Leuten in gehobenen Stellungen- So sagte sie immer. Einer dieser Leute war Schreiber in einem der städtischen Kulturhäuser und dank Hertas Bemühungen hämmerte der Onkel mit zwei Fingern auf einer Schreibmaschine herum, beschäftigte sich mit anderen bürokratischen Dingen und fluchte auch mal kräftig, wenn Herta nicht in der Nähe war. Er bewarb sich dann im selben Kulturhaus, in dem Hertas Bekannter arbeitete und das sich >Staatsarchiv< nannte.
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Der Onkel hockte dort in einem der vielen Räume, als einer der vielen Schreiber, sortierte, numerierte und notierte Kulturtatsachen und hatte sich an diesen Zustand gewöhnt, so wie sich der Mensch an alle - zuerst unangenehmen - Dinge gewöhnt und mit ihnen lebt. Für Herta Lappewasch war die Gewöhnung an den Gattenar-beitswechsel bedeutend schneller erfolgt, was sich schon nach ein paar Tagen beim Kaufmann bemerkbar machte, indem sie sagte: >Ach geben Sie mir doch noch zwei von den Rollmöpsen, wissen sie, wenn mein Mann abends aus dem Staatsarchiv kommt, dann mag er so gerne etwas SauresHaben Sie noch die Salami von neulich? Mein Mann nimmt sie so gerne mit ins Archiv.< Ihr Ton und ihre Haltung ließen keinen Zweifel daran, daß der Onkel in eine leitende, wenn nicht noch höhere Stellung aufgestiegen war. Sie veranlaßten die Kaufmannshände wie von selbst mal größere Rollmöpse in die Schale zu tun. Und wenn die Salami ausverkauft war, dann fiel ihm ein, daß in seiner privaten Speisekammer ja noch eine frisch angeschnittene hing, und er rannte los. Schließlich wußte man, was man der Kundschaft schuldig war. Herta blühte richtig auf, sie legte besonderen Wert auf ihr Äußeres, was niemand feststellte, und trug den Kopf dementsprechend hoch. Sie war glücklich, und da der Onkel davon profitierte und dunkel ahnte, daß seine neue Tätigkeit ausschlaggebend für das seelische Wohlbefinden seiner Frau geworden war, wurde die Gewohnheit zur Lust. Lust an der Arbeit. Zwei Jahre später kam ein Junge zur Welt, ein Jahr darauf ein Mädchen, dann wieder ein Junge. Die bösen Zungen, die vorher behauptet hatten, Herta habe den Onkel nur geheiratet, damit sie ihren Namen ändern könne, die tuschelten nun vom körperlichen Ausgleich, der ja irgendwie getätigt werden müsse, besonders bei >StaatsbedienstetenZimmerei und Bautischlerei Karl DettmerZimmerei und Bautischlerei Karl Dettmer< vergessen, weil das die Leute immer sehen müßten. So ein Quatsch. Die Beschriftung war an den Türaußenseiten, und diese wurden sowieso gewaschen, die konnte man gar nicht vergessen. Melzer wohnte auf dem Betriebsgelände in einem kleinen Häuschen, das zu einer Wohnung ausgebaut worden war. Er war verheiratet, und seine kleine, pummelige Frau kam jeden Freitagabend um punkt acht Uhr an die Maschinenraumtür, um ihn zum Essen zu holen. Sonst sah man sie kaum. Außer mir waren noch drei Lehrlinge in der Firma. Zusammen mit Melzer machten wir freitag abends den Betrieb sauber, den ich dadurch kennenlernte, Der Sonnabend war arbeitsfrei, das heißt, die Lehrlinge und Melzer mußten saubermachen. Doch sonnabends extra noch mal zur Firma kommen, dazu hatte niemand Lust, deshalb erledigten wir das freitags. Das Saubermachen dauerte bis zehn oder elf Uhr abends, dann -1 3 6 -
waren wir fertig. Inzwischen war ich zweimal mit auf einem Richtfest gewesen, und ich hoffte, meine Zusammenarbeit mit Melzer würde nicht mehr lange dauern. In der letzten Zeit stritten wir uns immer häufiger, wobei er nie zu erwähnen vergaß, daß er schon zwanzig Jahre, einen Monat und achtzehn Tage - das war der gegenwärtige Stand - im Betrieb arbeitete. Angefangen hatte er mit neunzehn Jahren und... Bei jeden Streit teilte er mir dann den neuen Stand der Firmentreue mit. Er tat das sehr stolz, mit verantwortungsvollem Herabziehen der Unterlippe und sehr laut. Stolz über sich selbst, Verachtung mir gegenüber. Er sprach laut, damit es zu hören war, falls jemand in der Nähe zu tun hatte. Anscheinend führte Melzer Buch über seine Tage. Er sammelte sie, wie andere Bierdeckel sammelten oder Streichholzschachteln, und er brauchte sich nie um neue Exemplare zu bemühen. Ein neuer Tag kam ganz sicher. Heute war wieder Freitag. Ich mußte nachmittags ins Büro zum Alten. »Mensch, Holberg«, sagte er, »ich sehe mir gerade dein Werkstattwochenbuch an und muß sagen: sauber, sehr sauber. Die anderen sollten sich ein Beispiel daran nehmen.« Er blätterte. Ich stellte mich gerade hin. »Aber«, fuhr er fort, »so was kannst du natürlich nicht abgeben. Du schreibst hier zwei Seiten über Unkraut jäten, dann hier, Wege planieren, Obstbäume roden. Seid ihr übrigens damit fertig geworden?« Er sah mich an. »Nein, am Zaun steht noch 'ne Reihe.« »Na ja, gut. Aber schließlich lernst du Zimmermann. Ich gebe dir ein neues Heft mit, die Berichte vom Holz stapeln, die kannst du ja übertragen, das muß ein Zimmermann schon mal machen. Will mal sehen, ob ich dich dem Wendt mitgebe. Der braucht noch'n kräftigen Mann zum Fenstereinsetzen. Also.« Ich ging wieder raus, nach hinten in Dettmers Garten. Der Wendt ist gar nicht schlecht, dachte ich. Zimmermeister ist der. Die anderen sagen, daß man mit ihm gut auskommen kann. Der Meckert auch nicht rum, wenn man mal eine raucht.
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Melzer wühlte an einer Baumwurzel herum, die fast freigegraben war. »Wird auch langsam Zeit«, knurrte er, »mich alleine hier abquälen lassen. Der Herr Lehrling macht Spaziergänge!« »Ich war beim Alten bis jetzt.« »Und dann noch schnell auf'm Klo, eine geraucht, was!« »Nee, da sind Sie ja dauernd drauf.« »Ich? Ich! Wenn ich hingehe, dann muß ich auch, du, du Lehrling, du!« Lehrling war für Melzer ein Schimpfwort. »Dann haben Sie sicher jeden Tag Durchfall, Sie Armer.« Er erwiderte nichts mehr. Ich stieg mit in die Grube, und wir versuchten gemeinsam den Stumpf hochzuwuchten. »Der hängt noch zu fest«, Melzer fluchte, »geh mal ins Magazin, da hängt links 'ne große Axt.« Ich ging los. Die Axt war nicht da. Ich sah vorsichtshalber im ganzen Magazin nach, obwohl das überflüssig war. Wenn Werkzeug gebraucht wurde, dann kam es immer wieder an den dafür vorgesehenen Platz zurück. »Nicht da«, sagte ich, wieder bei Melzer angekommen. »Nicht da, nicht da! Nicht richtig nachgesehen hast du! Alles muß man selbst machen!« Er war aus der Grube gestiegen und eilte in Richtung Magazin. Ich fand Zeit, die halbe Zigarette zu rauchen, die ich noch in der Hemdtasche hatte. Es dauerte eine ganze Zeit, bis Melzer zurück kam, im Paradeschritt, auf der Schulter die Axt. »Ich sage ja, zu nichts zu gebrauchen! Aber Weiber und Beatmusik!« Er schnaufte. Ich überlegte, wieso er einfach so was daherredete. Er hatte mich noch nie mit einem Mädchen gesehen, er wusste auch nicht, welche Musik ich mochte. »Vielleicht hat sie jemand vom Zimmereihof gebraucht, hat sie wieder zurückgebracht, als ich weg war.« Melzer lachte höhnisch. »Um Ausreden ist er nie verlegen, der Herr Lehrling! Gerade nötig hast du's! Hätte beinahe was
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gesagt!« Er machte eine Pause. »Ich bin jetzt zwanzig Jahre hier! Zwanzig Jahre und..!« Ich bemühte mich, nicht hinzuhören. Das dritte Mal heute. Melzer drosch mit der Axt auf die Baumwurzel ein und ließ Dampf ab. Er hatte einen Paragraphen. Er hatte im Krieg einen Splitter in den Kopf bekommen, und der sollte noch drin sein. Das wußte jeder im Betrieb. Die Lehrlinge erzählten ihm oft zweideutige Witze, die sich auf ihn selbst bezogen, was er aber nicht merkte. Doch wenn beim Saubermachen sein Handfeger versteckt wurde, dann schimpfte er noch eine halbe Stunde später darüber... Ich zog es vor zu schweigen, da er mit der Axt immer wilder auf die Wurzel eindrosch. Und manchmal in die Erde, wo die Axt bis an den Schaft verschwand. Dann guckte ich schnell weg, weil er sofort zu mir hersah, ob ich grinste. Das abendliche Saubermachen begann mit Späneschleppen. Die hatten sich im Laufe der Woche in einer Ecke des Maschinenraumes angesammelt und wurden von dort in einem großen Sack in den Spänebunker geschleppt. Das machten zwei Mann, während die anderen beiden zusammen mit Melzer die Werkstatt ausfegten. Danach ging es gemeinsam an den Maschinenraum. Der älteste Lehrling räumte das Magazin auf, in dem es nichts zum Aufräumen gab. Die anderen fegten, wischten und putzten. Melzer kroch unter der Fräse herum, putzte und wunderte sich, wieso immer wieder neue Späne da waren. Die streute ihm Müller, der zweite Lehrling, oben in die Maschine. Melzer fluchte dann unter der Verkleidung und zog seinen Oberkörper raus, warf einen mißtrauischen Blick in die Runde. Aber die Lehrlinge waren im ganzen Raum verteilt, keiner stand dichter bei ihm als zehn Meter, und Melzer kroch wieder in seine Verkleidung. Ich fragte mich, wie man es zwanzig Jahre so bei einer einzigen Firma aushalten konnte. Zwanzig Jahre lang jeden Freitagabend unter die Fräse kriechen, Holz stapeln, Hof fegen, Bäume zersägen. Vielleicht hatte er sogar damals Obstbäume gepflanzt, die er heute wieder ausgrub. Manchmal -1 3 9 -
wurde er auch zu einem Richtfest mitgenommen und kam am anderen Morgen noch halb blau zur Arbeit. Dann redete er in einem fort von >Ich und der ChefDu bist rausgeflogen, Schatz, mach dir nichts draus. Auf jeden Fall bist du wieder daLiebst du mich noch? Ja? Ich dich auch. Sehn wir uns am Samstag wieder? Ich habe die ganze Zeit an dich gedacht, als du weg warst. Hast du keine andere gehabt? Nein? Ich auch nicht, keinen anderen. Du, ich habe jetzt einen ganz tollen Platz, wo wir's machen können, ich habe eine Freundin in der Stadt, sie wohnt gleich hinter dem Stadion.< Wie sie das gesagt hatte. Als hätte sie's dort die ganze Zeit gemacht. Warum ich nicht einmal geschrieben hatte, danach hatte sie auch nicht gefragt. Ist das ein blödes Weihnachtsfest, verdammt. »Gib mir auch noch'n Schluck, die Luft hier macht mich ganz alle«, sagte ich zu Hagen. Er ist gar nicht dumm, der Hagen. Brrr, wie Feuer brennt das Zeugs. Aber er ist schon zwanzig. Das ist sehr alt für einen Jungen. Jetzt müßte er Klavier spielen, dabei läßt es sich viel einfacher überlegen... »Das muß natürlich nicht alles so sein«, sagte Hagen, »aber ich meine, daß es so ist.« »Mensch, ich verlier richtig die Lust, im Heim zu sein.« »Lust ist gut. In einer unnormalen Situation hat man unnormale Gedanken. Das ist hier keine Gaukelei sondern Ersatzgaukelei. Man muß das nur nüchtern betrachten. Ich bin jetzt über anderthalb Jahre hier, Ben, erst Schälküche, dann nach hierher verlegt, mit zum Bauern gefahren, Kohlen geschleppt, und jetzt bin ich in der Wäscherei. Vor einem halben Jahr habe ich Wälzer mal gefragt, ob ich nicht mein Abi nachmachen könnte. Mein lieber Röhmer, hat er gesagt, das ist hier ein Erziehungsheim und keine Penne. Beweise doch erst einmal, was in dir steckt. Siehst du, und jetzt bin ich qualifizierter Wäschereihilfsarbeiter. Ich weiß genau, wie viele Bettbezüge und Tischdecken die Alte -1 8 6 -
vom Zigarrenladen im Monat braucht, wie der Anhänger vollgepackt werden muß. Und für den Fall, daß eine andere Wäscherei, bei der ich nach meiner Entlassung mal anfangen werde, ein anderes Wäscheverteilungssystem hat, dann hat die Anstaltsleitung, vorausblickend wie eine Anstaltsleitung nun mal sein muß, mich im Kartoffelschälen ausgebildet. Oder wie lade ich einen Ackerwagen voll? Oder wie wird ein Kuhstall gesäubert und was ist bei der Säuberung als erstes zu beachten? Daß alle Kühe raus sind, weil sie sonst nämlich im Weg stehen. Wir sind in erster Linie billige Arbeitskräfte, Ben, das ist alles, eingesperrte Arbeitskräfte. Wir verrichten unsere Arbeit unter Zwang, unsere Arbeitsleistung entspricht der ausgewachsener Män-ner, und diese Arbeitsleistung wird von der Anstalt verkauft, vermietet. Das andere Wort für uns ist Sklaven, aber es ist verpönt, in unserem Zeitalter noch von Sklaven zu sprechen. Der Bauer oder der Kohlenhändler muß an die Anstalt den vollen Lohn bezahlen, und was bekommst du? Du bekommst pro Tag eine Mark davon auf dein Anstaltskonto. Damit du später etwas bei deiner Entlassung hast. Gut, nicht? Diese Anstalt ist eine staatliche Einrichtung, es ist eine staatliche Sklavenhalterei. So einfach ist das. Und was viel schlimmer ist - so selbstverständlich ist das. Man ist sogar noch dankbar, wenn die Leute hin und wieder 'ne Mark geben, Geld, das dir sowieso zusteht. Sie geben es dir nur, um dich bei Laune zu halten, damit sie für den Lohn, den sie an die Anstalt entrichten müssen, möglichst viel Arbeitsleistung bekommen. Verstehst du das ist ein ewiger Kreislauf.« »Ja, das verstehe ich.« Ich fand, daß er noch nie so lange und ausführlich über eine Sache geredet hatte. Zwei Jungen kamen im Nachthemd herein und wollten ins Bett. Hagen schloß die Flasche weg. Wir gingen in den Waschraum und lehnten uns aus dem Fenster. Der Schnee war schon wieder weggetaut, nur dort, wo Verwehungen waren, lagen noch schmutzige Reste. »Da fällt mir ein, einen Plattenspieler könnte ich gebrauchen.« -1 8 7 -
»Für die Scheiben von deinem Mädchen?« »Ja.« »Die sind doch nichts. Ich werde mal ein paar vernünftige Platten mitbringen. Plattenspieler ist nicht so einfach wegzuschleppen, mal sehen, vielleicht gibt es einen, der mit Batterien lauft, wo man vorne die Platten reinschiebt. Der tut's ja auch.« »Aber ja. Wollen wir die halbe Flasche mit hochnehmen? Jeder einen Schluck und die ist alle.« Hagen nickte. »In der Ziegeleikantine haben sie wieder eingebrochen, fallt mir ein. Sind durch's Oberlicht gekrochen.« »Habe ich auch schon gehört. Ist ein Witz. Erst sind sie durch das Kellerfenster, die haben dann Gitter angebracht, dann durch's Oberlicht. Und früher sind mal welche dringeblieben, haben sich einschließen lassen. Als der Kantinenwirt morgens kam, da war die Bude leer.« »Das Klofenster ist übrigens nicht vergittert.« »Weiß ich doch. Aber vom Klo aus kommt man erst auf den Flur, und zur Kantine hin sind Eisentüren, Brandtüren, die haben sie erst vor kurzem eingebaut. Wenn die einer aufknacken will, dann muß er schweißen oder bohren, weil's sonst zu lange dauert. Aber das lohnt sich nicht. Was ist schon groß drin, in so einer Kantine.« Hagen nickte. »Es gibt noch einen anderen Weg«, sagte er, »einfach durch die Wand. Das ist ein uralter Bau, die Wände sind aus Lehm, das wissen die wenigsten, sie sind immer wieder übergeputzt und gestrichen worden. Die Kantinenräume liegen im ersten Stock und wenn du auf dem ersten Ziegeleiboden bist, genau über dem Ofen links, da mußt du durch die Wand gehen, dann stehst du mitten im Kantinenraum.« »Woher weißt du das denn?« »Ach, ich war schon mal da, habe mir das angesehen. Ein paarmal mit'm Vorschlaghammer gegen die Wand, und sie fällt ein.«
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»Oha, wenn das mal einer macht, dann wird der ganze Laden sicher abgerissen. Wegen Einbruchsgefahr.« »Mensch, du Mistkäfer! Du machst einen Krach, der das ganze Haus aufweckt!« »Is mia aus die Hand jerutscht, die Tüa, weil det Fensta oof is.« Ich verknotete das Tau an der Heizung unter dem Fenster. Das Tau war aus der Turnhalle. Die Turnhalle war eine lange Baracke, die von der Tischlerei bis zur Böschung des Sportplatzes reichte. Eine Hälfte war Turnhalle, und die andere Hälfte war das Holzlager der Tischlerei. Manchmal ging eine Gruppe vom Neubau mit einem Erzieher in die Turnhalle. Der scheuchte die Gruppe dann zehnmal im Kreis und ließ sie über Holzkästen springen und brüllte: »Locker vom Hocker, Jungs!« Weglaufen konnte niemand, weil die Fenster vergittert waren. Aber man konnte von der Rückseite des Holzlagers durch ein loses Brett erst ins Lager und von dort in die Turnhalle kommen. Es hatte eine ganze Zeit gedauert, bis wir in der Trennwand zur Halle ein loses Brett gefunden hatten. Mit einem Hebel hatten wir es soweit abgebogen, daß sich Icke hindurch schieben konnte. »Hält det ooch? Ick meine, so wie det festjebunden is.« »Klar, ich gehe als erster runter. Wenn das Tau abreißt, dann siehst du's ja. Mußt es eben neu festmachen. Wir müssen noch ein paar Klamotten auf die Heizung legen und die Flügel randrücken, das macht der letzte.« »Ich mach das schon«, sagte Hagen. Nach mir folgte Icke, sehr schnell, und kaum war er unten, klemmte er sich die Hände unter die Achseln und tanzte herum. »Meen Jott, meen Jott, is det aba heiß an die Knochen«, ächzte er. »Mußt du denn wie ein Affe runterrutschen? Tröste dich mit'm hochklettern, da kann dir das nicht passieren.« Hagen kam.
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»Hoffentlich schleicht hier niemand durch's Gelände. Wir müssen das Tau hängenlassen.« »Ach wo. Die Hauswand ist genauso dunkel, wie das Tau. Dann muß schon jemand dicht vorbeigehen, der Weg ist aber an der anderen Seite. Ein Erzieher schleicht hier jedenfalls nicht rum, und ein anderer hat sicher allen Grund das Maul zu halten.« Wir gingen zur Gärtnerei und hakten die lange Leiter hinter dem Gewächshaus ab. Dort hingen ein halbes Dutzend Leitern. Wir hatten tagsüber die richtige nach vorne gehängt. Das Klofenster im ersten Stock des Sprungbretts war auf. Ich warf kleine Steinchen hoch, beim dritten Mal traf ich ins Fenster. Benno tauchte augenblicklich auf. Wir legten die Leiter an und Benno kam runter, im Schlafanzug. »Mensch, spinnst du. Willst du so mit?« »Wieso denn nicht. Ist doch ein hübsches Stück. Ich muß mich doch gleich wieder ausziehen, warum soll ich mich dann erst anziehen. Außerdem hängen unsere Klamotten im Flur, und der ist abgeschlossen.« »Ick lach mir'n Ast, wenn wa plötzlich loofen müssen. Dia könn'se ja nich vafehlen in deen hellen Frack, un wenn det noch so dunkel is!« Benno winkte ab. »Los, wir gehen durch das Haupttor. In den Tongruben ist jetzt ein ganz schöner Matsch. Kann gar nichts passieren, die pennen doch alle.« Eigentlich gut, daß so vieles verboten ist, dachte ich. Sonst wäre es ganz schön langweilig hier. »Bajuwaren ziehen auf Brautschau«, Hagen lachte leise. »Ja, die Bayjan machen det ooch so, mit 'ner Leita in die Fensta, det habe ick ma jelesen.« »Mensch Icke«, sagte Benno mitleidig, »wenn du schon unter der Leiter herlatschst, dann tret mir nicht dauernd auf die Hacken! « »Kiek! Ick denk, det sind Steene, ick kann det nich sehen. Wenn ick mia det ma richtig überlege, dann machen wa heute Nacht staatlich jeprüfte Christkinda, wat!« »Halt mal ein bißchen deine Klappe jetzt. Hoffentlich reicht die Leiter?« -1 9 0 -
»Zehn Meter. Ich habe sie mit dem Zollstock gemessen.« Wir hatten die Straße erreicht und gingen an der linken Seite bis zur Ziegelei, über den Werkshof und von dort aus in den Wald. Von dieser Seite aus ließ es sich am besten durch den Wald gehen, an die Rückseite des Mädchenheimes. Im Schutz der Büsche beobachteten wir die hell erleuchtete abgeholzte Fläche. »Die pennen bestimmt. Wollen wir die Birnen losdrehen?« »Nein, nicht. Das fällt nur auf.« Ich suchte nach ein paar Fichtenzapfen, die durch die Nässe schwer geworden waren und trat in den Lichtschein. Es gab ein dumpfes Geräusch, als ich das Fenster von Karens Schlafsaal traf, dann noch einmal. Oben ging das Fenster auf. Es quietschte ein bißchen. Ein Kopf tauchte auf. »Ben?« hörte ich sehr leise. »Ja, alles klar?« Das Mädchen winkte mit der Hand. Die anderen kamen mit der Leiter. Sie reichte genau bis an die Unterkante der Fensterbank. »Wir dachten schon, daß ihr nicht mehr kommt.« »Ja doch, laß mich erst mal rein.« Ich kletterte ins Zimmer. Die anderen folgten. Die Hauswand selbst lag im Schatten, doch das untere Stück der Leiter war zu sehen, da sie schräg an der Wand lehnte. Ich zog sie zusammen mit Benno näher heran. »Nicht weiter, sonst kippt sie um. Wir können nicht von hier oben runterspringen.« Die Mädchen hatten Kerzen angezündet. Es roch nach Parfümerie und nach verbrannter Schonung. Unter der Türklinke stand ein Stuhl mit der Lehne. Die Wände waren mit Tannenzweigen geschmückt, immer dort, wo ein Bild hing. »Kinder, wir nehmen erst mal einen Schluck, das stärkt die Glieder«, sagte Benno. Niemand nahm an seinem Schlafanzug Anstoß. Hagen wollte nicht mehr. Ich auch nicht. »Soll ick die Flasche aus dem Fensta schmeeßen?« »Du spinnst wohl«, flüsterte Evi, »gib her, die können wir gut für eine Kerze gebrauchen.« »Wie?« fragte Benno. »Ja, da kommt oben eine Kerze drauf, das sieht toll aus, wenn das Wachs an den Seiten runtergelaufen ist.« -1 9 1 -
»Wir dürfen nicht zu laut sein«, sagte eines der Mädchen, »wenn draußen mal eine zur Toilette geht, die ist genau gegenüber. Im Saal nebenan sind sie manchmal bis zwei Uhr wach.« »Du hast recht, was sollen wir uns erst lange bei der Vorrede aufhalten«, Benno zog seine Pyjamahose aus, »an die Arbeit, Jungs.« Er stieg zu Evi ins Bett. »Du Schwein«, sagte eines der Mädchen und blies mit einem gezielten Puster die letzte Kerze aus. Hagen saß auf dem Bettrand. Sie flüsterten zusammen. Ich überlegte, ob er sie fragte, welche Bücher sie las und welche Platten sie am liebsten hörte. Anscheinend die gleichen. Als ich wieder hinsah, war er weg. »Schön, daß du da bist«, flüsterte Karen, »woran denkst du jetzt?« »An die Leiter unter'm Fenster. Sie ist gut sichtbar.« »Huh, ist der kalt«, teilte Evi jedem mit. »Soll ich vielleicht 'ne Lötlampe mitbringen? Hauch ihn an.« Das war Benno. Kichern. »Au au, daaa doch nicht.« »Meen Jott, det is aba ooch dunkel hia. Naaa, wat sachste nu. Berlin hat ooch als Reitastadt 'n Namen.« Kichern. »We-henn jetzt die Gesch-ke-sche rein-ko-hommen würde, kriegkrieg-kriegte sie 'nen Schla-hag-anfall.« Das war Evi. Wie sie das wohl machte, jetzt an die Geschke zu denken. »Wie heißt du überhaupt?« »Franz«, murmelte Hagen. »Weeßte wat in Berlin een jemütlicher Jalopp is?« »Liebst du mich noch, Ben?« »Ja.« »Genauso wie zuerst?« »Ja.« -1 9 2 -
»Woran denkst du?« »Wann die endlich mit dem doofen Gequatsche aufhören.« »Du sollst aber an mich denken«, Karens Stimme klang enttäuscht, »so kenne ich dich gar nicht. Was hast du denn?« Was hast du denn, fragt sie auch noch. Hagen hat vielleicht doch recht, mit der Gewohnheitsliebe. Wenn die Evi an die Geschke denkt, dann ist es Gewohnheitsliebe. »Ben?« »Ich kann nicht, wenn dauernd so'n blöder Kommentar dazwischen kommt.« »Ach, da gewöhnst du dich dran«, flüsterte Karen tröstend, »das ist nur zuerst, wir haben ja noch Zeit, bis fünf könnt ihr auf jeden Fall hierbleiben oder nicht?« Ich habe gar keine Lust mehr. Gewöhnst du dich dran, sagte sie selbst. Einem Huhn ist es egal, welchen Hahn es trifft. Scheißweihnachten!
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6 Loom schnitt Glas. Für eine Erzieherwohnungsküchenfensterscheibe. Sagte er. Dafür war sie ziemlich groß. Aber wenn Loom das sagte, dann mußte es ja stimmen. Ein Doppelfenster, denn er schnitt zwei Scheiben zu. Ich half ihm dabei. Einsetzen wollte er sie alleine, nach Feierabend, da die Wohnung auf seinem Nachhauseweg lag. Pas mußte mindestens eine Hausvaterwohnung sein, überlegte ich, oder er wollte die Scheiben nur verscheuern. Mit Ickes Schmuckkästchen machte er das, denn er nahm pro Woche ein Kästchen mit. Erst hatte seine Frau Geburtstag. Danach die Schwiegermutter, dann die Frau Hochzeitstag, dann die Tante in der DDR, dann die Schwägerin in der Ostzone, je mehr Kästchen Loom mitnahm, desto größer wurde seine Verwandtschaft. Dabei hatte er mal gesagt, daß man in der Ostzone überhaupt keinen persönlichen Besitz haben dürfte, keinen Schmuck und überhaupt. Die Kommunisten sammelten alles ein, weil das eben so wäre, beim Kommunismus. Und für den Schmuck würden dann Waffen gekauft, und mit diesen Waffen würden sie eines Tages alle Westdeutschen killen. Und daß Kommunismus das Schlimmste sei, was es in der Welt gäbe. »Das ist Quatsch«, hatte ich daraufhin laut gesagt, »dann kann er nämlich keine Schmuckkästchen mehr mitnehmen nach Hause, und Tee braucht dann auch niemand mehr für ihn aufbrühen.« Alle hatten gegrinst, und Loom war langsam auf mich zugegangen, ich dachte, er wollte mich schlagen, doch er blieb nur dicht vor mir stehen. »Wenn du so weitermachst, dann wird das noch ein schlimmes Ende mit dir geben!« hatte er gesagt und war ganz weiß vor Wut. »Aha, also gewissermaßen ein kommunistisches Ende, Herr Loom?« hatte Benno gefragt. »Und mit dir auch!« hatte Loom plötzlich losgebrüllt. »Wartet nur ab. Zeiten können sich sehr schnell ändern!« Dann war er an seinen Glasschneidetisch zurückgegangen und hatte den ganzen Vormittag nicht mehr mit uns geredet. -1 9 4 -
Gegen Mittag kam ein Erzieher vom Neubau mit zwei Jungen. »Guten Morgen, Herr Loom. Wir wollen den Tisch abholen, ist er fertig?« »Morjen«, sagte Loom, ohne sich umzudrehen. Er schnitt in aller Ruhe eine Glaskante nach, weil er sich mit dem Maß verguckt hatte. »So so, den Tisch«, sagte er dann. Der Erzieher wartete. Was sollte er auch sonst machen. Er hatte an der Stirn eine lange Narbe, für treue Pflichterfüllung hatte er die bekommen, er war mal hinter einem Jungen hinterhergelaufen, der türmte, bis der Junge nicht mehr konnte und sich mit einern handlichen Stein zur Wehr gesetzt hatte. Seitdem ließ der Erzieher andere hinterherlaufen, wenn einer türmte. War das der Fall, dann liefen auch Jungen vom Sprungbrett oder vom Wigwam hinterher. Manchmal erwischten sie den Flüchtling und brachten ihn wieder mit zurück und manchmal nicht Letzteres dann, wenn der, der türmte, der Stärkere war. Einmal waren zwei Unwissende hinter so einem hinterher gelaufen. Abends kamen sie zurück, leicht angeschlagen. Einer hatte beide Augen zu und einen Arm gebrochen, und dem anderen fehlten vorne alle Zähne. Es war immer so eine Sache. »Tja, der Tisch«, sagte Loom und zu mir: »Ist der überhaupt fertig?« »Ja. Steht nebenan im Bankraum.« »Aha. Wie ihr euch das immer so denkt«, redete er wieder mit dem Erzieher, »wir können vor Arbeit kaum aus den Augen gucken, und ihr kommt einfach so daher, den Tisch bringen, den Tisch abholen.« Er schob das Lineal um eine Winzigkeit hin und her, schnitt eine andere Kante nach. Der Erzieher erwiderte nichts. »Tja, also der Tisch«, ließ sich Loom nach einer Weile wieder vernehmen und deutete mit dem Daumen über seine Schulter, »der steht nebenan im Bankraum, ist fertig, nehmt ihn mit.«
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»Gut, Herr Loom, vielen Dank!« Und zu den beiden Jungen: »Der Tisch steht nebenan. Schnappt euch das Ding und dann nichts wie rüber!« Sie verließen die Werkstatt. Ich sah sie vorne rausgehen, die Jungen zuerst, während der Erzieher die Tür abschloß. Plötzlich ließen sie den Tisch fallen und rannten quer über den Rasen zum Sportplatz hinüber. »Halt! Haaalt!« schrie der Neubauerzieher. »Haaalt! Verflucht noch mal! Loom schreckte hoch. »Was is'n da los?« »Wo?« fragte ich. »Draußen?« »Ja, ist doch draußen?« Türen knallten. Loom stand auf. Der Erzieher kam wieder in die Werkstatt gestürmt. »Schnell, Herr Loom! Die hauen mir ab!« »Wo? Wer?« »Na die beiden, die ich mit hatte zum Tisch tragen!« »Los Benjamin. Hinterher!« schrie Loom mich an. »Wo ist Benno? Wo ist der Schirmer!?« Benno hatte auf dem Klo gesessen und geraucht, er kam mit brennender Zigarette in die Werkstatt. »Was is'n los?« »Da hauen welche ab! Los los, schnell!« Loom eilte voraus, um die Tür aufzuschließen. »Komm Ben!« Wir liefen aus der offenen Werkstattür, an Loom vorbei die Treppe runter. »Bringt sie zurück!« brüllte Loom uns hinterher. Wir hatten die Böschung zum Sportplatz erreicht und sahen die beiden Jungen, wie sie gerade durch ein Loch in der Hecke krochen, auf der anderen Seite des Sportplatzes. Wir nahmen dasselbe Loch. Die beiden liefen etwa hundert Meter vor uns einen Feldweg entlang. »Kennst du die?« »Nee«, sagte Benno, »wir lassen sie sowieso laufen.« »Was hast du denn gedacht. Der Loom schickt uns los wie zwei Hunde, faß, Pluto, faß.« Wir fielen in Schritt.
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»Vom Heim aus sind wir nicht mehr zu sehen. Was machen wir denn jetzt mit dem angebrochenen Tag? Wir können ins Kino gehen.« Die Jungen vor uns sahen sich mehrmals um und gingen auch langsamer. Vielleicht ahnten sie, daß wir nichts von ihnen wollten, oder sie teilten ihre Kräfte ein. »Laß uns wieder ein Stück laufen«, Benno setzte sich in Trab. »Wieso denn?« »Na ja, kennst du sie? Nein. Wenn sie später mal geschnappt werden und sagen, daß wir ganz gemütlich hinter ihnen hergebum-ßielt sind, dann stehen wir dumm da. Sie werden dann ein bißchen ausgefragt, und schon verplappern sie sich. Uns wird die Freigängerarbeit gestrichen, und wir wissen nicht mal, warum.« »Sehr witzig.« Die Jungen vor uns liefen auch wieder. »Mal angenommen, wir bringen sie zurück? Was ist dann?« »Nichts. Loom verteilt ein paar trockene Zigarren. Und Wälzer sagt dir vielleicht, daß er dich sowieso auf Arbeitsurlaub schicken wollte. Kommt bei uns nicht in Frage. Außerdem ist das nur Spruch. Wir können wieder langsam gehen, die sind jetzt an der Mauer zum Südfriedhof. Der ist so groß, daß sie eine ganze Kompanie Bullen einsetzen können. Die findet auch nichts.« »Guck an, dann sagt der Wälzer, du sollst entlassen werden! So ein Schwein. Das spricht sich rum. Und wenn einer abhaut, dann laufen von ganz alleine welche hinterher, weil sie entlassen werden wollen.« »Ist alles Scheiße, Ben. Bin ja zweimal entlassen gewesen, immer zu so einem Bauern.« »Wann sie mich wohl wieder entlassen wollen?« »Bei dir ist das etwas anderes, du hast Eltern.« »Ich habe eine Mutter!« »Mensch, ob du nun einen Stiefvater hast oder einen echten, das spielt keine Rolle, du hast eben Eltern. Und dann traut sich die Anstalt nicht, dich einfach irgendwo hinzuschicken, Ich habe -1 9 7 -
nur noch zwei Schwestern. Die eine hat 'ne Kneipe, aber ich komme mit ihrem Mann nicht klar. Der meint, ich könnte seine Kinder versauen. Wie ich das wohl machen soll. Ich möchte ja auch mal aus diesem Laden raus.« »Und die andere?« »Die ist in Ordnung, ihr Mann auch, aber da kann ich nicht hin. Das ist ein Beschluß vom Jugendamt. Sie hätte 'ne zu kleine Wohnung, und das ist sozial nicht zulässig. Sie hat ein Kind, weiß du, aber da ist trotzdem genug Platz.« »Wie groß ist die Wohnung?« »Na, so fünf Zimmer, genaugenommen fünfeinhalb, da ist noch ein kleiner Abstellraum bei.« »Das ist aber komisch.« »Was willst du machen«, Benno zuckte die Achseln, »laß uns hier links runtergehen, da kommen wir zum »Gloria«, da haben sie immer heiße Filme.« Wir bogen auf die Hauptstraße ein, die in Richtung Stadt führte. Arbeitsurlaub, wie blöd, dachte ich. Die beiden machen jetzt Türmurlaub, ist das gleiche. Wenn ich daran denke, daß ich hier erst mit einundzwanzig rauskomme, das ist noch sehr lange. In den letzten Wochen waren eine ganze Reihe Jungen abgehauen. Dabei haben wir erst März. Bißchen früh noch. Normal geht es erst Ende April Anfang Mai los. Vielleicht sind es jetzt so viele, weil die Sonne schön so warm schien, aber nachts friert es noch. Na ja, die hatten ja beide einen Pullover an. Wir waren am Kino angelangt und blieben vor den Schaukästen stehen. »Der fängt um vier Uhr an, das ist zu spät.« Ich sah mir die Bilder an. »Die letzte Karte spielt der Tod«, horte sich ja spannend an. Hm, der Tod kommt immer zuletzt. Ist ja ein flotter Typ, der Kommissar. Da schießt er, da auch. Ob das eine Smith & Wesson ist? Aha, Kinnhaken verteilt er auch. Als Kommissar muß er das auch.
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»Komm her, wollen mal sehn, ob es hier irgendwo einen Bratwurststand gibt. Und dann zockeln wir wieder hoch. Die anderen Kinos haben die gleichen Anfangszeiten.« Als wir wieder im Heim eintrafen, war es später Nachmittag. Loom fluchte. »Fünf Stunden unterwegs und dann noch ohne die Burschen zurückkommen! Möchte bloß mal wissen, wann auf euch Verlaß ist! Man blamiert sich ja!« »Die sind auf dem Friedhof untergetaucht, sie wissen doch selbst, wie groß der ist, da haben wir gesucht wie die Irren! Mehr können wir ja schließlich nicht tun!« »Nicht tun! Nicht tun!« schnaubte Loom. Am gleichen Abend kam Hagen aus der Stadt nicht zurück. Als er um zehn noch nicht da war, machte Böger eine Verlustmeldung. Es war ihm einer abhanden gekommen. Ich zog Hagens Bett ab und überlegte, warum er mir nichts gesagt hatte. Haute einfach so ab. Manfred hatte auch nichts gesagt. Das war vor zwei Wochen gewesen. Aber Hagen, hm, das war doch etwas anderes. Gesprochen hatten wir öfter mal, auch mit Jürgen-sen, der auf dem Sprungbrett lag. Jürgensen war schon auf >Großer Fahrt< gewesen, er war in Schweden auf einen Pott gegangen. Seine Mutter wohnte dort und sein Vater hier, und sie hatte einen anderen Mann dort, und er hatte eine andere Frau hier, trotzdem waren sie noch miteinander verheiratet, hatten aber schon wieder neue Kinder. Verzwickte Sache. Hatte zwei Eltern, der Jürgensen, zweifache Geschwister, zwei Zuhause. Mal war er hier, und mal war er dort. Und dort war er dann von zu Hause abgehauen und hatte auf einem Panamesen angeheuert. Das waren die besten, sagte er, weil man nur einen Ausweis brauchte und kein Seefahrtsbuch. Der Jürgensen würde bestimmt wieder abhauen. Der wußte, wo man Ausweise kaufen konnte. Trotzdem hätte mir Hagen was sagen können. Oder nicht? Schließlich war es seine Sache. Vielleicht hätte er was gesagt, wenn er gewußt hatte, daß ich mitgekommen wäre. Ich müßte auch versuchen, auf ein Schiff zu kommen. Zu Hause holten sie mich gleich wieder ab. Und die Lappewasch, -1 9 9 -
die kriegte bestimmt einen Schlaganfall, wenn ich da plötzlich auftauchen würde, ihr ganzer Staatsarchivhaushalt käme durcheinander. Aber zu Ingrid, zu der könnte ich hin. Die würde sich freuen. Fast ein halbes Jahr ist es her. Warum bin ich eigentlich noch nicht abgehauen? Ingrid. Das merke ich, wenn ich an sie denke. Hm, am liebsten würde ich sofort losgehen, einfach so. Es ist alles so verdammt blöde, so beschissen hier. In der Werkstatt war nichts zu tun. Loom war in die Verwaltung gegangen, und wir waren vom Neubau zurückgekommen, wo wir zu zweit ein Türscharnier geölt hatten. »Wenn das Wetter so bleibt, Benno, dann können wir es schon mal mit Baden versuchen, was meinst du?« »Von mir aus.« Loom kam rein. In dem üblichen Tempo, als gelte es, eine Akkordarbeitsnorm zu brechen, zu überbieten. Doch er rannte dann nur bis zu seinem Platz am Glasschneidetisch, ließ sich ächzend auf den Stuhl fallen und saß rum, rechnete ein bißchen mit seinem Bleistift, dessen Spitze dauernd abbrach, weil sie zu spitz war. »Ihr müßt mal... verdammt und zugenäht!« Er hatte sich mit einem Fuß im Stromkabel verfangen, das von der Wand zur Kreissäge führte und stolperte auf uns zu. Das war ein Grund, herzhaft zu grinsen, was Loom sofort auf achtzig brachte. »Warum hat das noch keiner festgenagelt?« brüllte er. »Den Hals bricht man sich, und das Gesindel lacht auch noch drüber!« Er knallte seinen Hut auf den Tisch und setzte ihn wieder auf. »Ihr müßt mal zur Verwaltung rüber«, sagte er nach einer Weile wesentlich ruhiger, »holt aus der Geschäftsstelle einen Schreibtisch, muß repariert werden. Aber erst bringt mir einer das Kabel in Ordnung!« Ich nahm mir Nägel und eine Axt, die gerade an der Wand lehnte, die geschärft werden sollte und kniete mich auf den Boden. Das Stromkabel lief normalerweise in einer Rinne entlang^ die in den Fußboden verlegt worden war, damit man nicht immer drauftrat. Die Rinne war mit einem Sperrholzstreifen zugenagelt. Dieser Streifen hatte sich
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irgendwann mal gelöst, und das kringelte sich über den Boden. Wenn Loom jetzt nicht wäre, hätte sich nichts daran geändert. Looms Hals, dachte ich und nagelte den Holzstreifen mit der flachen Axtseite fest, der hat gar keinen Hals. Müßte ganz schön rumsen, wenn der mal hinfällt, und seine Zigarren wären im Eimer, weil er sie oben in der Kitteltasche hat. »So, fertig.« Loom nickte wohlwollend und ließ uns raus. »Ben, in vier Tagen haben wir den ersten April, da müssen wir uns noch was Gutes ausdenken.« »Wir können die Werkstattür von außen zunageln und dann den Feuerknopf drücken und schreien. Der Loom flitzt dann wie eine Maus in in der Bude rum und kann nicht raus, weil die Fenster ja alle vergittert sind. Du, der geht senkrecht an der Wand hoch.« »Hm, und wir fliegen raus, auch senkrecht. Das läßt er sich nicht bieten. Hast du eigentlich noch Stinkbomben!« »Drei, warum?« »Opfere eine. Das Fenster ist auf, in der Geschäftsstelle, das letzte.« »Ah, da. Ich holte die Schachtel aus der Hosentasche und fischte eine der kleinen Glasampullen aus dem Sägemehl, in dem sie lagen, ging bis dicht unter das Fenster. Benno sah sich um und gab mir ein Zeichen. Ich holte aus, warf und rannte zurück. Wir gingen zur Tischlerei, setzten uns auf die Treppe und rauchten eine Zigarette, machten uns wieder auf den Weg zur Verwaltung. »Ob die wissen, daß das von draußen kam?« »Weiß nicht. Wenn das Ding genau auf einen Tisch geflogen ist, dann ja. Aber sonst hört man das kaum, ist doch nur so groß wie 'ne Erbse, plitsch, dann ist vielleicht ein kleiner Fleck an der Wand oder auf dem Boden, und das ist alles.« Die vier Fenster der Geschäftsstelle waren jetzt alle sperrangelweit geöffnet. Die drei Schreiber und die Frau, die -2 0 1 -
die Buchhaltung machte, hielten sich auf dem Verwaltungsflur auf. Sie machten keine freundlichen Gesichter. »Was ist denn hier los? Wir sollen 'nen Schreibtisch abholen.« »Da hat uns so'n Schwein was ins Fenster geworfen«, sagte einer der Schreiber. »Und der Schreibtisch?« »Na, den sollt ihr mitnehmen. Aber das stinkt da erbärmlich! Pfui Teufel!« »Hier stinkt es überall. Komm her, Benno!« Wir gingen den Flur runter in die Geschäftsstelle. »Mensch, Beeilung, sonst muß ich kotzen.« »Guck mal, die lassen alles stehn und liegen und den Tresorschlüssel stecken«, sagte Benno, »man braucht nur 'ne Stinkbombe werfen.« »]a, nützt aber nichts. Die wissen sofort, wer's war, wenn was fehlt.« Der Schreibtisch stand fertig ausgeräumt an der Wand. Wir wuchteten ihn hoch und trugen ihn in die Werkstatt. Die Rolläden waren kaputt. »Kleben«, sagte Loom und peilte über die Kante seines Glasschneidelineals, »Ihr wißt ja Bescheid. Unten das Schlußstück raus und dann Leinen hinter die Lamellen. Aber Kaltleim nehmen und kein Pattex!« Er ging an die Abrichtmaschine und schaltete sie ein. »Mist! 'n Kurzer. Benno geh mal raus und drück die Sicherung wieder rein. Einer der Züge klemmt auch, Benjamin, nimm Seife, das reicht. Und wenn nicht, dann stoß mal leicht mit'm Hobel über die Kante.« Benno kam zurück. »Springt dauernd wieder raus«, sagte er. »Himmelherrgottarschundzwirn!« Loom ging selbst. Wir hörten ihn auf dem Flur schimpfen. »Wer hat denn an der Maschine rumgespielt?« er kam zurück. »Ich habe eben noch abgerichtet, und jetzt geht sie nicht mehr!« Er sah uns an und bekam keine Antwort. Ihm schien einzufallen, daß wir gerade aus der Verwaltung -2 0 2 -
zurückgekommen waren. Er probierte an der Säge herum. Sie lief auch nicht, weil die beiden Maschinen an einem Stromnetz hingen. »Det hätt ick Ihnen ooch vorher sajen können.« »Halt die Klappe, du Filzlaus! Ich glaube, du hast da wieder deine Finger im Spiel! « »Glooben heeßt nich wissen!« »Du sollst die Klappe halten!« Loom stemmte die Fäuste in die Seiten und sah Icke eisig an. Dann suchte er wieder an den Maschinen herum und wurde immer wütender, weil er den Fehler nicht fand und wir alle zusahen. Er rief den Elektriker an. Das war der Mann, der die Heizung in der Anstalt betreute. Er kam genau wie Tischler Meier aus der Stadt und tat immer so, als sei er auch ein Erzieher. Er war aber keiner. In der Heizung arbeiteten zwei Jungen. Koks schippen. Die schickte der Mann immer zuerst los, mit einer großen Werkzeugtasche. Doch die Jungen wußten vom Strom nur soviel, daß sie gehörig einen gewischt kriegten, wenn sie an beide Pole zugleich faßten. Sie guckten überall dort nach, wo Loom auch schon nachgesehen hatte. Dann warteten sie auf ihren Meister. Der Heizungsmann kam eine halbe Stunde später, und Loom kochte. »Na, Leute, wo fehlt's denn? Das werden wir gleich haben!« Nach einer Stunde hatte der Mann aus der Heizung immer noch nichts und sich mit Loom in der Wolle. Loom meinte, er, der Heizungsmann, hätte wohl Ahnung, wieviel ein Zentner Koks wiege, aber von Elektrizität sollte er die Finger man lassen, eine Kuh wäre da schon schlauer. Die wüßte wenigstens, daß sie nicht auf'n Weidezaun kacken durfte, der unter Strom stand. Wir lachten. Lachen entspannt. Der Mann aus der Heizung schrie Loom an, daß er schon Stromleitungen verlegt hätte, als Loom noch in die Windeln geschissen hatte! Das entspannte noch mehr. Loom in Windeln! Das konnte sich niemand vorstellen. Und er selbst auch nicht. Er brüllte, ob er, der alte Kokssack, -2 0 3 -
überhaupt wüßte, wer er, der Loom, sei! An den Kurzschluß dachte niemand mehr. »Vielleicht sollten wir die Rinne wieder aufmachen, die der Benjamin zugenagelt hat, vielleicht hat er danebengenagelt.« »Quatsch hat er!« brüllte Loom. »Ich habe danach schon wieder gesägt!« »Nein, das war vorher.« »Das war nachher!« »Vorher.« »Nachheeer!« Loom konnte lauter schreien. Meier ging weg. »Rinne auf!« brüllte Loom. Niemand rührte sich. »Rinne auf!« Er sah mich an. »Ich?« »Jaaaa!« »Kann ich das riechen!« Ich nahm eine Zange und riß den Sperrholzstreifen wieder los. Die Nagel rutschten alle durch und blieben im Fußboden stecken. Ein Nagel war an einem Ast abgeglitten und durch das Stromkabel gedrungen. »So was habe ich mir schon gedacht«, sagte Meier, »das kann schon mal passieren.« »Also das ist doch... das ist Sabotage!« schrie Loom. »Das ist glatte Sabotage! Das ist Sabotage!« Ich zuckte die Schultern und wollte den Nagel rausziehen. »Haaalt! Drinlassen! Das muß ich melden, Mensch! Wo kommen wir da hin, wenn hier jeder durch die Gegend nagelt!« »Was kann ich dafür!« Ich schrie jetzt auch. »Was du dafür kannst! Du bist wohl verrückt, einfach so ins Kabel kloppen!« »Das kann ich doch nicht sehen!« Ich ging weg und zeigte ihm einen Vogel. »Das ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht passiert!« brüllte Loom. »Sabotage hinter'm eigenen Rücken!« Er ging auf den Flur und telefonierte. Durch die offene Tür sah ich, wie er seine Worte mit den Händen unterstrich, er fuchtelte dauernd in der Luft herum. -2 0 4 -
Die Elektriker gingen wieder. »Der spinnt doch«, sagte Benno, »morgen hat er sich wieder beruhigt. Du mußt dir da nichts draus machen.« »Ich habe die Schnauze voll. Ich gehe raus aus der Tischlerei. Mir wird schon was einfallen.« »Quatsch. Hätte mir doch genausogut passieren können. Dann hätte er mich angebrüllt.« Loom war wieder in der Werkstatt, flitzte plötzlich an uns vorbei auf den Flur, wir hörten ihn schließen. Abteilungsleiter Wälzer kam herein. Gemessenen Schrittes. Gefolgt von Loom. Sie gingen zusammen zu der Rinne, guckten. Loom zeigte auf das Kabel. Wälzer schüttelte den Kopf. Wälzer zeigte nach oben. Loom schüttelte den Kopf. Dann redeten sie beide, nickten, redeten wieder. Wir konnten nicht verstehen, was es war. Wälzer nickte. Loom auch. Sie kamen zurück. »Holberg«, sagte Wälzer, »ich bin über dein Verhalten erschüttert!« Ich erwiderte nichts. Was hätte ich sagen sollen. »Es hätte«, sprach Wälzer, »ja sonst was passieren können...« Er redete immer weiter, ohne daß ich hörte, was er sagte. Ich sah in seine blassen Augen, in einem Auge war ein Äderchen kaputt. Aus dem rechten Loch seiner Nase schauten zwei Haare hervor, das hatte er sicher noch nicht bemerkt. In seinen Mundwinkeln sammelte sich Nässe, vom Reden, die er regelmäßig mit der Zungenspitze wegschlabberte, ohne das Reden zu unterbrechen. »... ganz abgesehen von der tödlichen Gefahr, in der du geschwebt hast! Stell dir nur einmal vor, dein Meister hätte den tödlichen Schlag bekommen!« Wälzer machte eine Pause. Den tödlichen Schlag, dachte ich, er hat vom Strom keine Ahnung, der Wälzer. Niemand hat einen Schlag erhalten! Hat Loom genagelt? Ich habe genagelt! Ich wollte die Rinne zunageln! Mehr nicht! Und außerdem habe ich den Holzgriff der Axt in der Hand gehabt! Das ist alles eine Scheiße! -2 0 5 -
»Ihr«, fuhr Wälzer im gebräuchlichen Plural fort, »bringt unseren Herrn Direktor noch ins Grab! Nicht ein kleines bißchen Verständnis habt ihr!« Er schüttelte seinen wohlfrisierten Kopf. Loom seine Glatze. Dann gingen beide nach draußen, weil Wälzer in die Verwaltung und Loom ihm die Tür aufschließen wollte. »Junge, Junge«, sagte er zurückkommend, »du machst aber auch Sachen.« Sein Ton war freundschaftlich vorwurfsvoll. »Nun nagel den Streifen mal wieder fest. Aber vernünftig!« Ich rührte mich nicht. »Heh, hast du nicht gehört!?« »Ich nagel gar nichts!« Loom glotzte mich an. »Na gut«, sagte er, »Benno, mach du das!« »Nee, ich hab schon als kleiner Junge Angst vor'm Strom gehabt.« Loom glotzte wieder. Sein Blick blieb auf Icke hängen. »Was kann denn dabei passieren!?« brüllte er plötzlich los und rannte nach nebenan. »Meier! Nägel! Hammer!« Er hielt sich an der Säge fest, ging in die Hocke und ließ sich auf die Knie fallen. »Bumms!« machte es. Tischler Meier gab ihm die Sachen. Loom nagelte. Bei jedem Schlag hüpfte der Dreck aus den Fußbodenritzen. Er rutschte von einem Nagel ab und streifte seinen Daumen. »Ein Irrenhaus ist das hier!« brüllte er wieder und lutschte seinen Daumenknöchel. »Jetzt müßt'a een jefunkt kriegen, det er bis unta die Decke jeht!« »Idiot! Wie kann er einen gefunkt kriegen!« »Weeß ick, aba det wär so schön.« Es war Feierabend. Wir saßen an der Rückseite der Turnhalle und ließen uns von der untergehenden Sonne bescheinen. »Ich werde morgen abhauen«, sagte ich zu Benno. »Ist aber noch kalt, nachts. Warum?« »Ist mir egal, ob es kalt ist oder nicht. Ich haue ab. So ein Affenladen. Wenn ich daran denke, wie lange ich noch hierbleiben, wie lange das immer so weiter geht, dann wird mir ganz schlecht.« Benno zuckte die Schultern. »Eigentlich habe ich hier alles...« -2 0 6 -
»Habe ich hier alles! Wenn ich das höre, wird mir noch schlechter verstehst du! Dein Fressen hast du, deine Gammelarbeit, manchmal ein paar Mark, und manchmal kannst du eine Nummer machen wenn du das alles nennst, dann hast du es hier natürlich!« »Ich habe noch anderhalb Jahre, dann bin ich volljährig, da werd' ich mich nicht mehr groß anstrengen, dann müssen sie mich ja sowieso entlassen.« »Wird sicher ein bitterer Tag für dich werden.« »Du bist sauer, wegen Loom heute. Was nützt das, du kannst es nicht ändern. Es ist besser, wenn du >Ja< und >Amen< sagst.« »Ich haue ab!« »Gut.« Benno dachte nach. »Wo willst du hin? Nee, laß, will es nicht wissen. Ich gebe dir einen Brief mit, für meine Schwester, die mit der kleinen Wohnung, die hilft dir weiter. Oder willst du ein Ding drehen?« »Nee. Warum sollte ich. Ich komme auch so da hin, wo ich hin will. Wäre natürlich gut, deine Schwester. Ich habe nur noch zwei Mark.« »Und ich drei, sind fünf. Ist auch mein Rest. Wir können ja noch mal schnell zu den Miezen hoch, die haben genug Taler.« »Nein. Aber ich gebe dir für Karen einen Brief mit.« »Wie willst du denn weiterkommen? Du kannst Anhalter fahren, dann reichen die paar Mark zum Rauchen. Meine Schwester wohnt in Misburg, Hannover-Misburg ist das. Erklär ich dir genau. Mußt dich immer am Kanal halten. Na ja, sie wird dir Geld geben, und dann fährst du mit dem Zug weiter. Wenn du so weiterkommst, ich meine, wenn du einen triffst, der gerade in deine Richtung fährt, dann zerreiß aber den Brief.« »Sicher, mache ich.« »Deiner Mieze würde ich nichts schreiben. Meinst du, sie täte das, wenn sie trällern ginge?« »Glaube ich, bestimmt.« -2 0 7 -
»Na gut, Evi wäre das egal. Die würde absegeln wie ein Schwan.« Sechs Uhr, dachte ich. Gestern abend um diese Zeit haben wir noch an der Turnhalle gesessen. Im Heim werden sie noch nichts gemerkt haben. Vielleicht merken sie es erst um acht oder um neun, und dann ist es zu spät. Ist es jetzt auch schon. Woher sollten sie wissen, welche Richtung ich genommen habe. Anhalter, sagte Benno. Das ist mir viel zu gefährlich. Gerade hier in der Gegend. Brauchte nur ein Erzieher im Auto vorbeizufahren, einer der außerhalb wohnte. Ich fahre mit dem Zug. Wenn ich nicht so oft nach Kohle & Co. gegangen wäre, dann wüßte ich nicht mal davon. Ich ging immer noch am Fluß entlang. Der breite Spaziergängerweg hatte längst aufgehört, und der Trampelpfad, auf dem ich ging, war an vielen Stellen vom Gras überwachsen. An den Schuppen des Güterbahnhofs war ich vorbei, jetzt kamen Fabrikanlagen, dann die Rückseite von Kohle & Co., etwas weiter war die Holzhandlung. Dahinter liefen die Bahngeleise zusammen, waren nur noch zweispurig, sie führten an der Kläranlage entlang und verloren sich in den Feldern. Vor der Kläranlage stand ein Signalmast. Fast alle Züge, die aus der Stadt kamen, verlangsamten hier ihre Fahrt, weil das Signal immer im letzten Moment auf Grün umsprang. Oft mußten die Züge auch halten, doch das war selten. Bei den Schnellzügen merkte man das Abstoppen gar nicht, die hatten sofort wieder ihre volle Fahrt drauf. Die Güterzüge nicht. Die kamen langsamer und brauchten länger, um wieder auf volle Fahrt zu kommen. Ich bog vom Fluß ab und ging durch ein Kornfeld auf den Bahndamm zu. Der Damm war ziemlich hoch, und etwas weiter führte ein Feldweg unter ihm hindurch. Die Dammböschungen waren mit Buschwerk, Gras und meterhohem Unkraut bewachsen. Zwei Personenzüge und ein Güterzug fuhren vorbei. Verdammt schnell, fand ich. Ich könnte auch immer an
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den Schienen entlanggehen. Aber das dauerte zu lange. Ich mußte mit so einem Zug mit. Ich legte mich an die Bahnböschung und steckte mir eine Zigarette an. Herrlich, so zu liegen. Wenn ich will, kann ich in jede Richtung gehen. Rechts, links, geradeaus. Nach links nicht, dann komme ich zum Heim zurück, Aber halblinks, vorwärts, rückwärts. Ich sage jetzt: ich gehe baden, und dann gehe ich. Ich gehe einfach zum Fluß runter und bade. Oder ich bleibe so lange liegen, bis der Mond aufgeht. Hm, dann verpasse ich sicher meinen Zug. Im Dunkeln sehe ich nichts. Ich muß es versuchen, wenn es noch hell ist. Brennessel gibt es hier auch! Ich kletterte auf die Dammkrone. Auf der anderen Seite waren ebenfalls Felder, die bis an die entfernte Bundesstraße reichten, an der sich die Ausläufer der Stadt bis zum nächsten Dorf hinzogen. Wenn ich jetzt in einem weichen Autositz sitzen würde. Wäre nicht schlecht. Hm, lieber nicht. Die Bullenautos haben auch weiche Sitze. Das wäre eine richtige Blamage, wenn sie mich am gleichen Tag erwischen. Ich fühlte Bennos Brief hinten in meiner Tasche. Ich setzte mich auf den schmalen Weg, der neben dem Schotter entlangführte und wartete. Bis zum nächsten Zug dauerte es nicht lange. Es war ein Güterzug! Ich rutschte etwas in die Büsche. Ich muß so lange nebenherrennen, bis ich die Haltestange fassen kann, dachte ich. Eigentlich ganz einfach. Die Stangen sind an jeder Waggonecke. Schnurgerade muß ich laufen, sonst hauen mir die Zweige ins Gesicht oder eine Haltestange haut mir. ins Kreuz. Möchte wissen, warum die den Weg nicht breiter gemacht haben. Wie soll man da spurten können. Die Lokomotive und die ersten Wagen waren vorbei. Jetzt! Ich erhob mich und taumelte etwas. Einen Meter vor mir rasselten die Güterwagen vorbei. Der Fahrtwind preßte mir das Zeug an den Leib. Ich rannte. -2 0 9 -
»Schschtt! Schschtt!« machte es bei jeder Zuglücke, dort wo die Waggons zusammengekoppelt waren. Mit jedem »Schschtt« huschten zwei Haltestangen an mir vorbei, überholten mich. Schneller! Die Stangen auch. Das muß doch zu schaffen sein! Das muß! »Schschtt!« Die Puffer des letzten Waggons hatten mich überholt. Meine Beine wurden langsamer, ich blieb stehen. Meine Knie zitterten. Ich ließ mich einfach auf den Weg fallen und rang keuchend nach Luft. So ein... verdammter... Mist! Ich schlug mit der Faust auf den Boden. Nochmal. Ich muß es nochmal versuchen. Ich versuche es so lange, bis es klappt. Weiter zurückgehen muß ich, dann ist er noch langsamer, der Zug, dann gleich hinter der Lok hoch und laufen, dann ist die Wagenreihe noch voll hinter mir. Ich bin zu spät losgelaufen, das ist es. Ein halber Zug ist schnell vorbei. Dieser Idiot von Lokführer! Sonst fahren die Züge auch langsamer. Aber wenn der sieht, daß hinten einer aufspringen will, dann gibt er sicher mehr Gas. Von weitem sieht so ein Zug immer langsam aus. Ich stand auf und ging die Strecke, die ich gelaufen war, zurück. Ich stieß jeden Stein aus dem Weg, damit ich nicht stolperte und dachte, daß ich bedeutend schneller rennen könnte, wenn die Schlacke fest wäre und nicht so weich, wie diese hier. Ein richtiger Schlackenmüll war das. Dann wartete ich wieder, drei Personenzüge lang. Der vierte war ein Güterzug. Ich ließ die Lok vorbei, sprang auf und rannte. Aus den Augenwinkeln sah ich die Haltestangen auftauchen, wie sich ein Paar nach dem anderen langsam an mir vorbeischob. Zufassen! Ich muß zufassen! Noch zwei Züge, und ich habe nicht mal mehr die Kraft auf einen stehenden aufzuspringen! Die Beine anziehen! Nicht loslassen! Bloß nicht loslassen! Eine Stange! Vorbei. Die nächste! Vorbei. Jetzt! Jetzt! Ich griff mit der rechten Hand zu, faßte ganz schnell mit der Linken nach. Der Ruck riß meine Füße vom Boden, schneller, als ich sie hatte anziehen wollen. Jetzt zog ich sie an. Ich hatte ein Gefühl, als hinge die ganze Wagenreihe an meinen Armen, -2 1 0 -
doch ich ließ nicht los, ich konnte gar nicht loslassen, ich guckte in den Himmel und baumelte an der Haltestange. Ich tastete mit einem Fuß nach dem kleinen Trittbrett. Es befand sich nur wenige Handbreit unter meinem Knie. Ich kniete mich auf das Trittbrett, zog mich an der Stange hoch und stand, ich faßte mit einer Hand nach einer Querstrebe an der Stirnseite des Waggons, schob ein Bein über einen Puffer, zog und stieß, bis ich rittlings auf ihm saß, verschnaufte. Am liebsten hatte ich laut losgebrüllt. So ähnlich mußte einem Gladiatoren zumute gewesen sein, wenn er den Löwen besiegt hatte, dachte ich. Weicher Autositz war Quatsch. Ein Autositz ließ sich überhaupt nicht mit so einem Puffer vergleichen! Ich richtete mich vorsichtig auf. Das Schlingern hatte zugenommen. Der Zug schien seine volle Geschwindigkeit erreicht zu haben. Ich stellte mich auf die Zehen und kam mit den Händen eben an den oberen Waggonrand, ich zog mich hoch und half mit den Füßen nach, wälzte mich auf die andere Seite, auf Schottersteine. Der ganze Zug hatte Schottersteine geladen. Vor mir, hinter mir. Ich kroch bis zur vorderen Wagenwand und kauerte mich in eine Ecke. Dort lag der Schotter so tief, daß ich dem Fahrtwind nicht so sehr ausgesetzt war. Aber es zog trotzdem. Ich fror. Aber was machte das schon. Ich fuhr! Ich überlegte, wohin der Zug wohl fahren könnte. Einmal mußte er ja halten. Hauptsache, ich kam weg, von der Stadt, von der Anstalt. Es war ein schönes Gefühl. Als ich aufwachte, war es dunkel. Der Zug stand. Vielleicht war ich deshalb aufgewacht. Meine Beine waren eingeschlafen. Ich bewegte und rieb sie und fror. Ich kniete mich hin und linste über den Waggonrand. Der Zug stand auf einem Güterbahnhof. Etwas weiter standen weitere Güterzüge, dann einzelne Wagen, Geleise, eine dampfende Lok vor einem Güterzug. Manchmal stieß sie einen kurzen Pfiff aus. Ich schwang mich über den Waggonrand, ließ mich einen Moment hängen, dann auf den Boden fallen. Ich suchte die -2 1 1 -
kleine Tafel, die an jedem Güterwagen angebracht war, auf der der Bestimmungsort zu lesen war, fand sie und riß ein Streichholz an. »Kiel« las ich, »Hamburg«, »Ratzeburg«, ich schritt die ganze Zugreihe ab. Ein Eisenbahner tauchte auf und leuchtete die Kupplungen mit einer Lampe ab. Ich kroch unter dem Zug hindurch. Der andere mit der dampfenden Lok stand da immer noch. Ich brauchte einen Kurswagen, das war bequem, dann brauchte ich nicht umzusteigen. Ich vergewisserte mich, ob die Luft rein war und huschte über die Geleise. »Bremen«, »Bremen«, »Hannover« las ich. Das war genau richtig. Diese Waggons gingen in meine Richtung. Noch mal »Hannover«. Den nehme ich, der hat Bretter geladen. Die Bretter waren an der vorderen und an der hinteren Seite des Waggons bündig gestapelt und mit einer Plane abgedeckt, die ringsherum an der niedrigen Wagenwand festgezurrt war. Doch zwischen Plane und Wand war ein Stück frei. Es reichte aus, damit ich in der Mitte in den Hohlraum zwischen den Bretterstapeln klettern konnte. Ich zwängte und quetschte mich durch die Lücke und kletterte aur den unregelmäßig vorstehenden Holzschichten hoch, blieb dicht unter der Plane liegen. Im gleichen Moment ging ein Ruck durch den Zug. Noch einmal. Er begann zu rollen. Gerade noch geschafft, dachte ich zufrieden. Züge warten nicht. Ich war müde, nickte manchmal ein. Aber zum Schlafen war es zu kalt, trotz der schützenden Plane. Von Zeit zu Zeit turnte ich nach unten auf den Wagenboden und machte Freiübungen. Ingrid wird Augen machen! Ich werde sie richtig überraschen. Wenn ich bloß schon da wäre. Hunger habe ich. Und wie! In Südamerika kauen sie Colablätter oder so, die Indios, dann haben sie keinen Hunger mehr. Hm. Bin ich eine Kuh? Aber die haben nicht nur Hunger, wenn sie mit dem Güterzug fahren, die haben immer Hunger.
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In den Schnellzügen gibt es wenigstens einen Speisewagen. Drei Mark habe ich noch. Vielleicht reicht das für Kartoffelsalat mit Würstchen. Nee, ein Würstchen mit Kartoffelsalat. Oder nur Kartoffelsalat. Oder nur Würstchen. Ein paar Brötchen, das wäre auch schon sehr gut. Wenn ich mir keine Zigaretten gekauft hätte, dann würde es sicher für meinen ganzen Bauch reichen. Wenn ich nur so eine Ecke ausfülle, dann habe ich bald wieder Kohldampf. Und eine Limo konnte ich auch vertragen. Durst. Wenn ich jetzt irgendwo zu Fuß unterwegs wäre, könnte ich eine Scheibe einschlagen, in einer Bäckerei oder so. Da liegt genug zum Essen rum. Ach, Quatsch. Ein Mensch kann das dreißig Tage ohne Verpflegung aushalten. In Amerika fahren auch viele mit'm Güterzug mit. Tramps. Die nehmen sich immer genug mit, die sind oft tausend Kilometer unterwegs. Berufsgüterzugmitfahrer sind das. Der Mann hinter dem Schalter nickte, nahm eine Fahrkarte und stempelte sie an der Maschine ab. »Sieben Mark achtzig!« Ich legte den Zehnmarkschein, den mir Bennos Schwester gegeben hatte, auf den Zahlteller und nahm das Wechselgeld und die Karte in Empfang. »Welcher Bahnsteig ist das?« »Bahnsteig sechs. Vierzehn fünfunddreißig!« Zehn Minuten noch, dachte ich, ging zur Sperre. Bennos Schwester war in Ordnung. Ich sollte ja auf die Bullen aufpassen, hatte sie gesagt, die liefen hier auf dem Bahnhof rum wie Ameisen. Und alle in Zivil. Das war gar nicht so einfach, wenn die in Zivil herumliefen. Einen Schlapphut setzten die Bullen nicht auf, und einen Regenmantel zogen sie sich auch nicht an. In Zivil sehen sie aus wie richtige Menschen. Den Güterzug hatte ich schon in Hildesheim verlassen, dort hatte er so lange gehalten, und ich hatte gedacht, daß ich schon in Hannover sei. Es war so ein großer Bahnhof gewesen und nirgends ein Schild. Ich war im Dunkeln quer über die Gleisanlagen gelaufen, über einige Zäune und hatte mich auf einer Straße befunden. Da es morgens um fünf Uhr gewesen war, gingen bereits Leute zur Arbeit, ich hatte einen Mann nach dem Listerplatz gefragt. Diesen Platz hatte mir Benno als -2 1 3 -
Orientierungspunkt gegeben, von dort kannte ich den beschriebenen Weg zu Bennos Schwester fast auswendig. »Listerplatz?« hatte der Mann erstaunt gefragt. »Der ist doch in Hannover!« Und auf mein dummes Gesicht hin: »Zu Fuß noch einundvierzig Kilometer! Morjen!« An den Verkehrsrichtungsschildern hatte ich gesehen, daß ich tatsächlich erst in Hildesheim war. Ich war durch die Stadt gelaufen, bis die Geschäfte öffneten, hatte mir für mein letztes Geld Brötchen und Kakao gekauft. Ein Auto hatte mich mitgenommen, bis zum Messeschnellweg. Von dort, so meinte der Fahrer, käme ich am schnellsten nach Hannover. Nicht lange darauf hatte mich ein anderer Fahrer mitgenommen, als ich ihm sagte, daß ich nach Misburg wollte, hatte er einen Umweg gemacht und mich an der Misburger Kanalbrücke abgesetzt. An der ersten Straßenbahnhaltestelle hinter der Brücke wohnte Bennos Schwester. Sie hatte den Brief gelesen, ich hatte mich gewaschen, gegessen und war nach dem Mittagessen wieder los. Zehn Mark hatte sie mir gegeben, weil ich dachte, das würde als Fahrgeld bis nach Detmold reichen. Doch es fehlten ein paar Mark, ich hatte nur eine Fahrkarte bis nach Gütersloh gelöst. Dort hätte ich sowieso umsteigen müssen, von dort kam ich schon irgendwie weiter. Dreißig Kilometer waren es dann noch. »Achtung! Gleis sechs! Der Schnellzug Bremerhaven-Köln über Hannover, Gütersloh, Bielefeld, Dortmund läuft in wenigen Minuten ein. Bitte Vorsicht an der Bahnsteigkante!« Aha, das ist er. In wenigen Minuten. Noch zwei genau. Oder die Uhr geht falsch. Aber Bahnhofsuhren gehen immer nach dem Fahrplan der Züge. Ich kaufte mir eine Schachtel Zigaretten und ein Pfund Bananen. Ich war zwar satt, doch man konnte nie wissen. Dann saß ich im Zug, am Fenster, aß die Bananen, rauchte eine Zigarette und fand, daß Zugfahren eine schöne Sache war. Ich erwachte, als mich jemand an der Schulter rüttelte. »Ihren Fahrschein bitte!« Ich holte meine Karte raus und gab sie dem Schaffner. -2 1 4 -
»Die geht aber nur bis Gütersloh«, sagte er. »Weiter will ich auch nicht.« »Wir sind in zehn Minuten in Bielefeld«, er klappte sein Buch zu, ein anderes auf und fuhr mit dem Finger eine Seite runter, stoppte, »das macht drei Mark fünfzig Nachzahlung«, sagte er. Nicht ein Wort mehr und nicht ein Wort weniger, als würde bei ihm während der Sprechdauer auf einen Knopf gedrückt. Ich dachte an die vierzig Pfennige, die ich noch in der Tasche hatte. Aber der Schaffner guckte mich mit einem Dreimarkfünfzigblick an. ACHTER DEZEMBER! Es schneite. Es war kein richtiger Schnee, es war halb Schnee und halb Regen. Schwester Elisabeth hängte eine neue Flasche an das Gestell. »Ich habe geschlafen.« Holberg hörte selbst, wie heiser seine Stimme klang.« »Ja, du mußt weiterschlafen«, sagte sie. Er fühlte ihre Hand an seinem Puls. Er öffnete wieder die Augen. »Ich habe Durst, warum gibst du mir nichts zu trinken...?« »Ich hole dir gleich etwas, aber du mußt die Augen zumachen«, sie drückte sein Kissen zurecht, »ich werde dir ein ganz großes Glas Saft holen, aber du mußt mir versprechen zu schlafen, du mußt deine Augen schließen, ja, so.« Sie wischte sein nasses Gesicht mit einem Tuch ab. Er spürte es und versuchte zu überlegen, wieso es kam, daß sie sich mit >du< anredeten. ABTEILUNGSLEITER WÄLZER saß hinter seinem Abteilungsleiterschreibtisch, auf dem die Dinge immer noch nach Abteilungsleiterart, nach seiner Art, ausgerichtet lagen, und ich meinte, in genau dem gleichen Abstand vor dem Schreibtisch zu stehen, wie die beiden Male davor. -2 1 5 -
Die Bullen hatten mich eine Nacht in der Polizeizelle behalten, mich wieder hierher gebracht und vor ein paar Minuten abgeliefert. Wälzer betrachtete mich eine ganze Weile schweigend, räusperte sich. »Ich«, sagte er, »kann mich des dummen Gefühls nicht erwehren, Holberg, daß du mir und dem Herrn Direktor noch eine Menge Ärger bereiten wirst.« Er schwieg und verrückte den Aschenbecher. Ich sah an ihm vorbei auf den Bücherschrank. Hinter der Glastür konnte ich zwei Bücher entdecken, die eine dicke Goldschrift auf dem Rücken hatten, ich legte den Kopf etwas schräg, doch die Schrift war durch das Glas nicht lesbar, ich gab es auf. »Ich«, fuhr Wälzer fort, »bestrafe dich hiermit mit einer Woche Arrest, und du weißt auch, warum ich dich bestrafe?« Er sah mich fragend an. Ich antwortete nicht. Dumme Frage. Weil ich abgehauen war, deshalb. Der Aschenbecher stand noch nicht richtig. Jetzt. Er mußte mit der Zigarettendose und der Federschale im rechten Winkel flüchten. »Ich«, sagte Wälzer, »frage mich, was aus dir überhaupt noch mal werden soll. Unsere Bemühungen, dir den Weg in ein geordnetes Leben zu ebnen, ignorierst du, ja, du ignorierst sie nicht nur, du trittst sie sogar mit den Füßen!« Er straffte sich in seinem Ledersessel. »Du flüchtest einfach so aus deiner Umgebung, ohne Skrupel, du machst dir nicht einen Augenblick Gedanken darüber, daß wir seit der Feststellung deiner Flucht in großer Sorge um dich waren! Du verläßt deine Arbeit, du läßt einfach alles im Stich! Wo, so frage ich dich, ist dein Verantwortungsbewußtsein!« Er sagte das ohne Fragezeichen und schwieg erschöpft, obwohl er ganz langsam gesprochen hatte. An der Tür klopfte es. Wälzer hörte nicht hin. Es klopfte erneut. »Hereiiin!« sagte er tönend. Ich dachte an die Weihnachtsfeier und daran, daß er eine schöne Stimme hatte. Es wäre toll, wenn er mir das alles singen würde. In der Oper war das auch so. Es würde hier -2 1 6 -
unten im Zimmer nicht klingen, wir müßten nach oben gehen, in die Aula. Schade vom Fuchsbau kam herein, blieb an der Tür stehen. »Warten Sie noch einen Moment, ich bin gleich fertig!« Schade nickte und ging wieder raus. »Du«, sagte Wälzer, »hast in den anderthalb Tagen deiner Flucht Straftaten begangen...« Ich guckte ihn verblüfft an. »... die uns zwar noch nicht gemeldet worden sind, vielleicht auch nie gemeldet werden, sei es, weil du äußerst geschickt zu Werke gegangen bist oder auch aus anderen Gründen. Aber es wird schwer sein, dieses auf Dauer mit deinem Gewissen in Einklang zu bringen!« Er schwieg wieder, fuhr sich mit dem Mittelfinger der linken Hand leicht über einen Leberfleck seitlich der Stirn. Ich überlegte, wieso er einfach sagen konnte, ich hätte etwas gemacht, wo ich nichts gemacht hatte. Die drei Mark fünfzig hatte ich nicht bezahlen können, das war alles, aber die Bullen hatten gesagt, das sei nicht weiter wild. Wälzer war verrückt. Das mußte es sein. Er war aus dem Landeskrankenhaus abgehauen und hatte es hier irgendwie zum Abteilungsleiter gebracht. Wenn der Lokusmüller keinen Spitzbart hätte, vielleicht war er Napoleon? Wälzer war blöd. Wälzer war verrückt. Ich merkte, wie ich wütend wurde, so wie bei Loom, wenn der etwas sagte, wogegen man nichts tun konnte, obwohl man genau wußte, daß es falsch war. >Ja< und >Amen< sagen, das war alles. Es war eine stille Wut, die unsichtbar kam und unsichtbar nachließ. Ich beschloß, überhaupt nichts mehr zu sagen, gar nicht mehr hinzuhören, was er noch redete. »Jetzt«, fuhr Wälzer fort, »ist natürlich noch Zeit, mein lieber Holberg, du kannst mir sagen, was dich bedrückt. So ein paar Diebstähle oder ein Einbruch, es läßt sich alles wieder ins richtige Gleis bringen, wichtig ist nur, daß man sich dazu bekennt und dafür Sühne tragen will. Du mußt dich erleichtern!« Er machte eine Pause. »Na?« -2 1 7 -
»Wie?« »Na, erleichtern sollst du dich!« Er wedelte mit einer Hand, als locke er einen Hund. Ich schwieg. »Ich vermute, du willst nicht.« Ich schwieg. »Genauso«, sagte Wälzer, »habe ich es erwartet«, und nach einer neuen kleinen Pause: »Du leugnest! Dem Herrn Direktor standen Tränen in den Augen, als er von deiner Flucht erfuhr. Und jetzt Werde ich ihm sagen müssen, daß du leugnest! Nein... nein...« Wälzer schüttelte den Kopf, als wolle er sagen, daß dann irgendwas passieren würde. Entweder kriegte der Lokusmüller einen Herzanfall, oder Wälzer brachte es nicht fertig, ihm das zu sagen. Was überhaupt? Der Herr Direktor! Der Herr Direktor! Dann mußte er ab Frühjahr und den ganzen Sommer über tränenschwere Augen haben, der Lokusmüller. In dieser Zeit hauten die meisten ab. Außerdem kenne ich ihn gar nicht, den Direktor! Den Direktor! Will ihn auch gar nicht kennenlernen! Wälzer blickte gedankenschwer an mir vorbei auf die Tür, als habe er soeben die Nachricht vom Tod eines nahen Verwandten erhalten. »Ich habe dich«, sagte er, »wieder auf den Fuchsbau verlegt. DU wolltest es ja nicht besser haben. Nach Rücksprache mit Herrn Tischlermeister Loom, der sich bereiterklärt hat, dich wieder in seine Gemeinschaft aufzunehmen, wirst du wieder in der Tischlerei arbeiten. Du magst daran erkennen, daß alle nur dein Bestes wollen.« Ich werde mich im Arrest richtig ausschlafen. »Herr Hausvater Schade!« Die Tür ging auf. Wälzer stieß mit dem Zeigefinger in meine Richtung. »Sie können ihn mitnehmen.« Ich ging neben Schade zum Fuchsbau rüber. »Na, wie war's?« »Das Abhauen?« »Ja?« -2 1 8 -
»Och, konnte nicht bezahlen, im Zug, habe verschlafen. Der Schaffner hat mich dann den Bullen gegeben, Der Benno soll mir was ans Fenster bringen, zum Rauchen.« Schade nickte. »Werde ihm Bescheid sagen.« Er schloß die Tür auf. »Sind ja nur vier Tage, bei guter Führung, und die hast du doch, oder?« Er grinste. »Sicher.« Was sollte ich auch in so einer Zelle anders machen, als mich gut führen. Ein Monat war seitdem vergangen. Jürgensen war abgehauen, doch nach ein paar Tagen hatte man ihn wieder zurückgebracht. Er war eine Nacht in der Arrestzelle gewesen, am anderen Tag hatte man ihn mit dem Anstalts-VW weggebracht. Jetzt käme er endlich nach Schweden, zu seiner Mutter, hatte er gesagt. Er würde bis zum Flughafen gebracht, damit er keinen Mist mehr bauen könnte. Benno hatte einem das Nasenbein zerdeppert, weil der einen Brief von Evi an Benno geöffnet hatte, gelesen und dann wieder zugeklebt hatte. Aber Benno hatte es sofort bemerkt. Evi machte immer ein bestimmtes Zeichen an ihre Briefe. Im Neubau auf der Schülergruppe war Fräulein Motz, die Praktikantin, geflogen, weil sie sich immer von den Schülern hatte unter den Rock fassen lassen. Vor Weihnachten hatte es deswegen schon mal Krach gegeben. Zwei jungen hatten mit ihrem Zeigefinger geprahlt. Zehn Minuten später war Wälzer im Neubau eingetroffen, hatte eine Geruchsuntersuchung bei beiden vorgenommen. Das Ergebnis war negativ gewesen. Die beiden hatten wirklich nur geprahlt, oder sie hatten sich schnell die Zeigefinger gewaschen. Letzteres war wahrscheinlicher, denn zwei Tage später hatten sie fürchterliche Prügel gekriegt. Der eine, weil er nachts immer so laut schnarchte, und der andere, weil er beim Mittagessen gerülpst hatte. Doch diesmal hatte Fräulein Motz Pech gehabt. Ein Erzieher hatte sie belauscht, wie sie mit hochgeschobenem Rock und -2 1 9 -
ohne Hose einem Schüler Nachhilfeunterricht erteilte. Thema: Der menschliche Haarwuchs. Das Schamhaar zum Beispiel, so Fräulein Motz, sei bedeutend härter und halte größere Belastungen aus als das Kopfhaar. Und da war alles rausgekommen. Ein Spitzel von Wälzer sei es gewesen, so sagten die Schüler, denn an dem Nachmittag hatte nur Fräulein Motz Dienst gehabt. Er nicht. Er wollte angeblich nur ein Buch holen, das er vormittags vergessen hatte. Und weil Mittagsruhe war, hatte er ganz leise die Tür aufgeschlossen und war auf Zehenspitzen über den Flur geschlichen, damit er die Jungen nicht störte. Die machten im Tagesraum Reiterkämpfe. Wälzer hatte alle Beteiligten richtig verhört, bis auf Fräulein Motz und den Schüler. Die hatten nichts gesagt. Der Erzieher hatte immer dasselbe gesagt, er hatte das alles aufgeschrieben. Wälzer war für den Rest des Tages zwischen Verwaltung und Neubau hin- und hergependelt, hatte immer neue, etwaige Zeugen vernommen. Armes Fräulein Motz! Jetzt war eine neue Praktikantin da. Eine mit Nickelbrille und Haarknoten, und ziemlich fett war sie auch. Die hatte am ersten Tag jeden Schüler mit >Sie< angeredet, auch die, die erst zehn waren. Aber mögen tat sie keiner. Für Anfang Mai war es schon sehr warm. Das Wäldchen war zu einer undurchdringlichen Wand geworden, grün, hellgrün, dunkelgrün, mit braunen Tupfern und Strichen. Der Kiessee war klar und kalt, und ich meinte, dieses Klare, dieses Saubere und Frische riechen zu können. Das Gras stand zwei Fuß hoch, es war weich und duftete. Alles kam mir so vor, als würde es jeden Morgen von Handwerkern erneuert, die die Bäume grün anmalten, das Gras kämmten, frisches Wasser in den See ließen. Ich hatte meinen Kopf auf Karens Bauch gelegt und beobachtete einen Bussard, der über dem Wald, über dem Wasser, über dem Stadion kreiste. Genau ließ sich der Ort nicht bestimmen. Aber der Vogel wußte schon, was er im Auge hatte. Bussarde haben ebenso gute Augen wie Adler. Ein Vogel -2 2 0 -
müßte man sein. Fliegen. Wohin man wollte. Aus der Höhe konnte man alles überblicken. So ein Vogel überfliegt schlechte Gegenden, in einer guten landet er. Aber für einen Vogel war jede Gegend gut. Mäuse gab es überall. Würmer auch. Fliegen, das möchte jeder Mensch. Früher hatte das mal einer versucht, aber dann nie wieder. Wo war das denn noch gewesen? Er hatte sich vorher mit Federn beklebt, an die Arme große Schwingen, das ganze Volk hatte ihm zugesehen. Und ab ging die Post. Hurra hatten sie alle gebrüllt, er fliegt, er fliegt. Senkrecht war er geflogen. Von oben nach unten. Klatsch! Und dann hatten sie ihn vom Straßenpflaster gekratzt und gesagt, daß er ganz schön tapfer gewesen wäre. Wie schön das Wetter ist. Ein richtiges Wetter zum Abhauen ist das. Eigentlich hatte ich sofort nach den vier Tagen Arrest wieder loswollen. Arrest war gar nicht schlecht, da konnte man in Ruhe nachdenken, was man falsch gemacht hatte. Ich hätte dem Schaffner im Zug einfach weglaufen sollen, die Notbremse ziehen und raus aus dem Zug. Ich wäre einfach so lange den Gang entlanggerannt, bis die Fahrt zum Abspringen gereicht hätte. Ich hätte ihm auch einen Kinnhaken geben können, daran hatte ich nicht gedacht. Aber was kann er dafür, der Schaffner. Nichts. Die Tage nach dem Arrest war ich abends immer später auf den Fuchsbau gekommen, und Schade hatte jedesmal gegrinst, hatte gesagt, er hätte gedacht, ich sei schon wieder auf Achse. Na ja, Schade, wer so viel Alkohol trinkt, bei dem degeneriert das Hirn. Es wird immer weniger, und eines Tages ist es ganz weg, der Kopf ist hohl. Schade um Schade, mit dem konnte man wenigstens reden. Aber eigentlich brauchte er auch kein Hirn. In der Anstalt wurden nur Türen aufgeschlossen und zugeschlossen, da konnte niemand was verkehrt machen. Wenn der Schlüssel sich nicht nach rechts drehen ließ, na, dann wurde er eben nach links gedreht. Was gab's da zum Überlegen. Karens Bauch knurrte. »Was denkst du, Ben?« »Dein Bauch knurrt.« »Das hast du nicht gedacht.« -2 2 1 -
»Doch, gerade eben. Und davor habe ich ans Türmen gedacht und an Schade, der säuft so, weißt du.« »Und?« »Na ja, eines Tages hat er kein Gehirn mehr.« »Ach was, ich meine das Türmen.« »Hm, wenn ich an morgen denke, an den bekloppten Loom, überhaupt so an alles. Ich habe einfach keine Lust mehr, weißt du.« »Ich komme mit.« »Im Ernst? Willst du auch?« »Ja. Aber erst im Juni oder im Juli, dann ist es wärmer, und dann haben wir tausend Mark zusammen.« »Bitte was? Was haben wir?« »Ja.« »Sag noch mal.« »Tausend Mark. Mein Gott, was ist schon dabei, du kannst dir ja denken wie. Der Alte ist eben ein bißchen geil, da wo ich arbeite. Laß ihn doch. Ich erinnere ihn immer an seine verunglückte Tochter, hat er gesagt, so hat es angefangen, und dann hat er mal ein bißchen so gefummelt, hat mir Geld dafür gegeben. Nicht sofort, zwischendurch, weißt du. Mensch, ich müßte doch schön blöd sein, wenn ich das nicht nähme. Laß ihm doch die kleine Freude.« »Der arme Alte. Nein, so ein herziger Kerl! « »Mensch, Ben!« »Ich dachte immer, du liebst mich richtig, wenn du so was sagst, daß du es dann auch so meinst.« »Meine ich doch auch, Benni, das hat doch nichts mit Liebe zu tun, was ich mit dem mache...« »Wieso du mit dem, ich denke er mit dir?« »Ist doch egal, wie. Ich empfinde nichts dabei, gar nichts...« »Das sagst du.«
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»Nein, das ist auch so! Das ist ein Geschäft, er bezahlt und ich liefere. Mensch Ben, der ist verheiratet, ein Geschäftsmann ist das, er ist Vorsitzender in zig Vereinen, ein ganz seriöser Mann! So was kann man doch gar nicht lieben, verstehst du?« »Stör mich nicht, muß nachdenken.« Mit Liebe nichts zu tun. Das is'n Ding! Nur mal gefummelt. So hat es angefangen, sagt sie. Ich bin ahnungsloser Teilhaber von irgend so einem Mops wie Loom. »Ben?« »Ist er dick?« »Na ja, ich glaub schon. So wie Reimers...« »Der ist nicht dick. Der ist saufett. Dachte ich's mir doch.« Ich schwieg. Heute erst sagt sie mir das. Vielleicht hat er heute nachmittag wieder gefummelt. Und sie liebt mich. Tja, mich liebt sie. Scheiße. Hm, Ingrid, die verdiente ihr Geld ja auch so. Aber Ingrid, das war etwas ganz anderes, das war ihr Job, ich wußte das von Anfang an. Ich glaube auch, Ingrid würde das nicht mehr machen, wenn ich ihr das sagen würde. Karen hat immer so getan, als würde sie entjungfert. Erst haut sie wegen so was von den Lehrstellen ab und jetzt? Ist das eigentlich schlimm? Was ist schlimm. Da hat sie recht. Es gibt schlimmere Sachen. »Ich weiß noch ganz genau, was du damals gesagt hast, weshalb du von zu Hause abgehauen bist.« »Ja, Ben, das weiß ich«, Karens Stimme war nicht mehr so sicher und bestimmt wie am Anfang, »aber man wird doch älter und reifer...« »Hast du mal mit Wälzer gesprochen?« »Nein, warum?« »Hm, nur so.« »Weißt du, ich sehe das heute mit ganz anderen Augen. Es ist wirklich so, wie ich's sage. Sieh mal, ich hätte dir das gar nicht sagen brauchen, du hättest es vielleicht nie erfahren. Aber ich wollte dir das sagen, schon viel früher, ich hab mich nicht getraut, weil ich dachte, daß du dann sauer bist.«
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»Aha, du meinst, ich brülle jetzt Hurra und freue mich fürchterlich?« Karen erwiderte nichts. »Bist du jetzt sehr sauer?« fragte sie dann. »Ach, ich weiß es auch nicht genau.« »Du, wir könnten zu meiner Tante nach Sarnen gehen. Da finden sie uns nie.« »In der Schweiz?« »Ja, habe ich dir doch mal erzählt. Die ist in Ordnung, die Tante.« »Aber ich warte nicht bis Juli oder so. Ich haue heute ab. Heute abend. Ich halte das nicht mehr aus.« Karen überlegte. »Würdest du mich denn abholen? Nicht erst im Juli, nächsten Monat schon. Ben, wir brauchen das Geld, ich kann nicht unterwegs auf den Strich gehen.« »Nein, das geht nicht, ich mag das auch nicht, wenn du auf den Strich gehst. Ich hole dich ab.« »Aber du darfst dich nicht vorher erwischen lassen.« »Diesmal bin ich schlauer.« »Wo willst du denn so lange bleiben?« »Irgendwo. Ich habe einfach die Schnauze voll, es ist alles so verlogen hier, es ist dreckig, es ist... ich weiß auch nicht, was es ist.« »Aber Ben. Du kannst nichts dagegen tun.« Karen streichelte meine Schulter. »Doch, du sagst es doch selbst. Abhauen. Je eher, desto besser. Deshalb gehe ich schon heute.« »Ich gebe dir Geld mit.« »Das brauchst du nicht, dann dauert es wieder länger mit den tausend Mark.« »Ach wo, so genau kommt es nun auch nicht darauf an.« »Tausend Mark, das ist viel Geld.« »Wie man's nimmt. Sag mal, hast du mich denn noch lieb, ein bißchen?« »Ich glaub schon.« -2 2 4 -
»Du liegst auf meinem Schlüpfer.« »Brauchst du ihn jetzt?« »Nein.« Im Wäldchen traf ich Fred, gerade als ich wieder weg wollte. »Eh, Ben. Schon lange hier oben?« »Nee, nur was geholt. War bis eben mit Karen am See.« »Ah so, habe jetzt auch Feierabend. Mal sehen, ob ich am Fenster noch was losmachen kann.« »Na denn, tschüs.« »Willst du jetzt noch mal runter, zum Baden?« »Nee, türmen.« »Wie? Jetzt? Sofort?« »Und?« »Moment, warte mal«, Fred dachte nach, sehr kurz. »Ich komme mit«, sagte er dann. »Ich werd mich nur von meiner Mieze verabschieden, damit sie sich keine Sorgen macht.« »Beeil dich, ist gleich sieben. Um acht wird es dunkel.« Ich setzte in die Büsche und rauchte eine Zigarette. Dann kam er. »Habe noch gut dreißig Mark, wir fahren mit dem Zug.« »Sicher. Aber mit'm Güterzug, das kostet nichts. Ich kenne da eine Stelle, wo man aufspringen kann.« »Auf'n Zug? Aufspringen?« »Ja. Ist doch nichts dabei, du kannst fast nebenhergehen, läufst eben ein bißchen flott und jupp! bist du drauf. Immer noch besser, als dass uns auf dem Bahnhof ein Bulle erwischt. Hier in der Stadt haben sie einen Riecher dafür, weißt du ja selbst.« »Wo ist das?« »Hinter Kohle & Co.« »Mensch, da müssen wir ja durch die ganze Stadt latschen!« »Wir gehen am Fluß lang, das ist kürzer.« »Wir könnten doch ein Taxi nehmen, hinterm Stadion stehen immer welche. Ich habe den ganzen Tag malocht, ich habe keine Lust mehr zum Laufen.« -2 2 5 -
»Dann kannst du nicht abhauen.« »Na gut«, Fred hatte eine Weile geschwiegen, »im Ernstfall geht es wohl noch. Ich meine, ich bezahle das Taxi. Der braucht uns ja nicht bis an den Zug zu bringen, wir lassen uns an einer Straße absetzen.« Kurze Zeit später setzte uns ein Taxi an der Bundesstraße ab, an dem Stück, das ich damals hatte vom Bahndamm aus sehen können. Bis zum Feldweg, der zum Bahndamm führte, waren es noch gut zweihundert Meter. »Na siehst du, so geht das viel einfacher«, sagte Fred. »Schon möglich.« Ein Streifenwagen überholte uns. Einer der Bullen guckte herüber, doch der Wagen fuhr weiter. »Ist es da drüben?« »Ja. Wir können aber nicht quer über den Acker, wir nehmen den Feldweg da vorne, und wenn wir unter der Unterführung durch sind, dann gehen wir auf der anderen Bahndammseite wieder ein Stück in Richtung Stadt, da ist eine gute Stelle zum Aufspringen. Hast du eben die Bullen gesehen?« »Logisch. Aber die wollen nichts von uns.« »Noch nicht. Jetzt biegen sie dort hinten rechts ein.« »Das ist ihre Route, Stadtgrenze, sie fahren im Bogen wieder zurück.« »Ich weiß nicht«, ich hatte so ein komisches Gefühl, »vielleicht warten sie, bis wir dort vorbeikommen.« »Nee. Du siehst Gespenster. Komm, wir müssen hier sowieso abbiegen.« Wir überquerten die Bundesstraße und bogen in den Feldweg ein. Wenn sie jetzt dort hinten stehen und auf uns warten, dann sehen sie uns, dachte ich, bis zum Bahndamm sind es gut dreihundert Meter, wenn sie schlau sind, dann warten sie, bis wir den halben Weg zurückgelegt haben, und dann kommen
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sie, dann sind wir mitten im Feld, wie auf einem Teller. »Mensch, Ben, ich bin noch nie auf'n Zug aufgesprungen.« »Du lernst es.« Wir legten fast die Hälfte des Weges zurück, als ich mich vergewissernd umschaute. Der Streifenwagen blinkte und bog in den Feldweg ein. »Fred! Sie kommen! Hau ab!!« Ich ließ ihn einfach stehen, sprang über einen Graben und rannte über das Feld, durch fast kniehohen Roggen. Ich hörte das Auto, wie es bremste, wie Türen schlugen. »Halt! Haaalt! Stehenbleiben! Stehenbleibaään!« Den Teufel werde ich tun! Ich werde solange rennen, bis ich umfalle! »Stehenbleibaään!« Es knallte. Kurz und hell. Dann noch einmal. Etwas zupfte an meinem Hemd. Schießen tun die! Die schießen tatsächlich! Ich blickte mich um. Fred stand ein ganzes Stück hinter mir im Feld und hielt die Arme in den Himmel. Wie eine jauchzende Vogelscheuche. Ein Bulle lief auf ihn zu. Ein anderer kniete neben dem Wagen, hatte einen Arm quer vor dem Gesicht. »Peng!... Peng! Peng!« Schlecht. Ich merke nichts. Hauptsache, er trifft nicht meine Beine, ich werde dann sicher nicht mehr laufen können. Nicht mal die Kugeln höre ich. Ich lief langsamer. Der Streifenwagen war jetzt weit hinter mir. Fred mußte einsteigen. Hätte ich bloß nicht auf ihn gehört. Warum rennt er noch auf dem Weg lang, warum guckt er erst, ob sie auch wirklich kommen. Da hinten kommt noch ein Bullenauto. Und andere. Das können Zivilisten sein, die sehen das von der Straße aus und sind neugierig. Dabei geht es niemanden etwas an. Ich hatte den Bahndamm erreicht und kletterte durch das Gestrüpp nach oben. Wenn jetzt ein Zug kommen würde! An dieser Stelle ist er schon wieder schneller, egal, ich werde es trotzdem versuchen,
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wenn ich den Willen habe, dann klappt es auch. Sie dürfen mich nicht schnappen! Ich war auf dem Damm und stolperte über die Geleise. Auf der anderen Seite standen auch zwei Streifenwagen. Drei Bullen kamen über das Feld. Ich werde es nicht schaffen. ACHTER DEZEMBER, ABENDS. Am Bett standen zwei Ärzte. Holberg sah ihre weißen Umrisse verschwommen, dann klar. Es waren ein Arzt und eine Schwester, Elisabeth. Er fühlte, wie sie seinen Arm zurechtrückte, wie der Arzt ihm eine Spritze gab. »Wie fühlen Sie sich?« fragte der Arzt. Holberg brauchte einen Moment, ehe er antworten konnte. »Es geht mir gut«, sagte er langsam. »Sie werden es schon schaffen«, der Arzt wischte seinen Arm ab, legte ihn quer auf die Decke. Holberg sah auf die Flaschen an dem Gestell. Tropfen um Tropfen fiel in einen kleinen Trichter, füllte den durchsichtigen Schlauch, der bis zu seinem anderen Arm reichte. Er atmete, es schmerzte. Er merkte, daß man den Schlauch aus der Nase entfernt hatte. »Versuch wieder zu schlafen«, Schwester Elisabeth stand an der anderen Seite des Bettes, »es ist nur eine kleine Krise.« »Ich kann nicht immer schlafen... ich verschlafe mein ganzes Leben«, Holberg mußte eine Pause machen. Schwester Elisabeth trug ein goldenes Kettchen über dem Kittel, an dessen Ende ein kleines Kreuz hing. »Was ist das für ein Kreuz?« »Dies? Ein Kreuz. Ein ganz normales Kreuz. Ich habe es irgendwann einmal geschenkt bekommen... warum fragst du?« »Ich weiß nicht... glaubst du an das Kreuz.«
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»Ich glaube daran«, erwiderte sie, »nicht so, wie es sein müßte, aber ich glaube daran. Mach die Augen zu. Wir reden morgen über das, nicht heute.« Sie legte einfach ihre Hand über seine Augen. Sie glaubt daran, dachte Holberg. Jeder glaubt an etwas. Ich weiß nicht, woran ich glaube. Alle sind Schäfchen. Es ist so billig, wenn die Vorhänge zur Seite gezogen werden. Es ist wie Make-up, es halt eine ganze Zeit, dann färbt es ab, man muß nur wischen, der Vaterunserverein, damals, der Vater, der für alle seine Schäfchen Verwendung hatte, Elisabeth soll das Kreuz abmachen, einfach an den Spiegel hängen - abmachen.
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7 HEILIGENSTATT LAG IM MOOR. Es war bedeutend größer als das Landesjugendheim, Heiligenstatt war eine ganze Gegend, rechts von der Bundesstraße oder links, je nach dem von welcher Seite man kam, lag ein hübsches Gebäude, eingebettet in grüne Rasenflächen unter hohen Bäumen. Es sah wie ein herrschaftlicher Gutshof aus. Ein breiter asphaltierter Weg führte von der Bundesstraße dorthin. Am Anfang des Weges befand sich eine große Tafel, ähnlich wie bei Wohnungsbauprojekten, auf der man die ausführenden Firmen nachlesen konnte. Doch soviele Namen waren auf dieser Tafel nicht verzeichnet. Statt dessen befand sich auf der linken Seite ein Kreuz, ein Christenkreuz, und rechts stand: »Vereinigte Christliche Heimstätten - Angeschlossen dem ChristlichPädagogischen Landesverband - Leitung: Pastor Heinrich Ballhausen«. Das war alles. Hinter dem Gutshof, wo die Verwaltung war, begann das Moor, eine weite, mit niedrigen Birken und Büschen bewachsene Landschaft, in die ein mit Schlaglöchern übersäter Weg hineinführte. An einer Seite des Wegs verliefen die Schienen einer Feldbahn. Manchmal zweigte ein anderer Weg ab, zusammen mit einem Schienenstrang, und an jeder Abzweigung konnte man ein Schild lesen wie: »Glaube«, »Hoffnung« oder »Himmelstür«. So waren die Häuser benannt, die weitverstreut im Moor lagen, zu denen der jeweilige Weg hinführte. Nachdem die Bullen mich gestern am Bahndamm geschnappt hatten, war ich die Nacht über in einer Fuchsbauzelle gewesen. Gleich heute morgen waren zwei Erzieher im anstaltseigenen VW mit mir losgefahren. Auf dem Gutshof hatten sie kurz angehalten, einer war reingegangen und einen Augenblick später wieder rausge-kommen. Wir waren weitergefahren, ins Moor hinein. Das Auto schaukelte von Schlagloch zu Schlagloch, war an vielen -2 3 0 -
Abzweigungen vorbeigefahren, der Weg machte jetzt einen scharfen Knick und war zu Ende. Ich las ein Schild: »Nächstenliebe«. Der Beifahrer grinste. Geradeaus liefen die Feldbahnschienen in eine große Baracke. Das Tor war offen. Ich sah einige Loren darin stehen. Das Auto hoppelte über eine Weiche und bog rechts ein. Hier stand eine andere Baracke. Die Fenster waren vergittert. Gegenüber war eine kleinere, bunt angemalt. Auf dem Teerdach stand eine lange Fernsehantenne, die Fenster waren ohne Gitter. In dem Garten vor der bunten Baracke arbeiteten mehrere Jungen. Sie trugen einen grünen Haarschutz auf dem Kopf, ähnlich wie sie früher von Fußballspielern getragen wurden, damit die Haare nicht ins Gesicht fielen. Es war ein gestrickter Rand, durch dessen Mitte sich ebenfalls zwei gestrickte Streifen zogen, einmal von vorne nach hinten und dann von einem Ohr zum anderen. Die Jungen guckten neugierig zu uns herüber. Das Auto fuhr langsam um die große Baracke herum und hielt vor einem Vorbau. Über der Tür war ein sauber gemaltes Schild: »Nächstenliebe«. Wir stiegen aus. Ein Mann kam heraus. »Na, ihr beiden Pißnelken«, sagte er zu den beiden Erziehern, die mich brachten, »wenn ihr kommt, dann gibt's Arbeit, das kenne ich nun schon langsam.« »Tag Schulze! Arbeit macht das Leben süß.« »Aber nicht wenn ich mein Mittagspennerchen mache. Scheiße!« Er warf einen Blick auf mich. »Der Herr segne deinen Eingang«, sagte er. »Wie?« fragte ich. Doch der Mann hatte sich schon wieder abgewandt. »Los, gehn wir rein.« Wir betraten zusammen die Baracke, dann einen -2 3 1 -
Raum, der das Erzieherzimmer sein mußte. Ein großer Schreibtisch, ein Schrank, zwei Stühle und in einer Ecke eine Liege. Der Mann, der Schulze hieß, setzte sich hinter den Schreibtisch, holte unten aus einem Fach eine Thermoskanne heraus, schraubte sie auf und nahm einen langen Schluck. »Ahhh«, er wischte sich den Mund, »wenn man hier nicht hin und wieder 'n vernünftigen Schluck Tee hat, dann geht man vor die Hunde. Mistklima. Wollt ihr auch?« »Nee, laß man«, sagte der eine der Erzieher, »wir müssen noch fahren.« „Auch gut«, Schulze nahm noch einen langen Zug, stellte die Flasche wieder weg. »Dann mal los. Wo ist der Lieferschein? Damit wir das Schriftliche erledigen.« Er holte einen Füllfederhalter aus seiner Jackentasche, schraubte ihn auf, stieß einen Arm in die Luft und peilte über die Feder. Dann sank er in sich zusammen und beugte sich über den Schreibtisch, malte seine Unterschrift auf drei verschiedene Blätter. Ohne meinen Kopf zu drehen, konnte ich deutlich lesen: E. Schulze. »Ich... sage ja, nichts... als... Arbeit«, murrte er während des Unterschreibens und schob die Blätter von sich, wollte einen vierten Bogen unterschreiben. »Den nicht, den behältst du doch selbst.« »Macht nichts. Nun bin ich einmal dabei.« Der Beifahrer faltete die Papiere und steckte sie ein. Sie verabschiedeten sich von Schulze. Ich hörte den Automotor anspringen, wie sie abfuhren. Schulze sah auf seinen Bauch und rieb sein Ohrläppchen. »Rrrroth!« schrie er dann. Ein Junge stürzte ins Zimmer. »Gott zum Gruß!« Schulze deutete mit dem Zeigefinger in meine Richtung, sagte: »Sachen fassen.« Der Junge winkte mit dem Kopf, ich solle ihm folgen. Wir gingen über einen Gang zur Bekleidungskammer.
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»Draußen warten«, sagte er und klappte ein Querbrett in die offene Türfüllung. Ich zog meine eigenen Sachen, die ich während der Fahrt angehabt hatte, aus und nahm das verwaschene Zeug entgegen, daß er mir über die Klappe reichte. Komischer Verein hier, dachte ich, wie ein weihrauchbenebelter Meßdiener glotzt der mich an. Kurze Hosen tragen sie hier. Und bis zum Knie geht die! Viel zu groß, das ist eine für Loom! »Gib mir mal 'ne andere. Die ist zu groß.« »Du kriegst einen Gürtel, und dann paßt sie.« »Wie?« Der Junge erwiderte nichts und warf mir einen Gürtel über die Klappe. Ich warf die Hose zurück. »Eine andere!« »Sind keine da. Du mußt schon nehmen, was ich dir gebe.« »Du brauchst was auf die Fresse, wir werden sehen!« Ich tauchte unter der Klappe hindurch, er wich bis an die Wand zurück. »Bleib draußen, bleib draußen«, sagte er schnell und wütend, griff in ein Regal und warf mir eine andere Hose zu, »hier hast du eine.« »Feigling!« »Wer hier wem was auf die Fresse haut, das merkst du schon noch.« »Du auf keinen Fall, du Blödmann! Paß auf, daß ich nicht noch mal reinkomme, bist wohl 'n Reserveerzieher, was?« Schulze kam. Ich nahm meine Bettwäsche, folgte ihm durch einen Tagesraum, durch einen Waschraum, durch ein Klo in einen Schlafsaal, der wie ein Lagerraum für Betten aussah. Übereinander, nebeneinander, lang, quer, es gab nur Betten. Die Bezüge und die Decken lagen wie gemeißelt auf den Gestellen. Schulze ging suchend durch die schmalen Gassen und kratzte sich den Hinterkopf. »Rrrroth!« Als dieser angewieselt kam: »Ein Bett!« Der Junge brachte ein Feldbett, ein aufklappbares Holzgestell, dazwischen eine Segeltuchplane. Er schob es in eine Lücke zwischen anderen Betten. -2 3 3 -
»Ausziehen«, sagte Schulze zu mir, »und Nachthemd an.« Er untersuchte die eine Tasche meiner Hose, nahm meine angebrochene Zigarettenpackung und mein Feuerzeug heraus. »Geraucht wird bei uns nicht im Schlafsaal. Wie alt bist du?« »Ich werde sechzehn«, erwiderte ich und dachte daran, daß ich Hunger hatte. »Dann wird bei uns gar nicht geraucht«, klärte er mich auf, steckte sich eine Zigarette aus meiner Packung an, hustete, »und schon gar nicht so ein Kraut. Halte dir unseren Herrn Heiland vor Augen, der hat sein ganzes Leben lang nicht geraucht. Deine Sachen, komm mit, die werden hier in den Waschraum gehängt. Vor jedem Zubettgehen. Heute und morgen bleibst du im Bett. Übermorgen geht es raus zur Arbeit. Gute Nacht in Jesu!« Er wollte gehen. »Ich habe Hunger, Herr Schulze!« »Waas?« fragte er verblüfft. »Dir ham'se wohl ins Gehirn geschissen, was!?« Ich fragte mich, was daran so ungewöhnlich war. Ich hatte kein Mittagessen gehabt, jetzt war es Nachmittag. »Ich bin Bruder Schulze, verstehste! Herren gibt's bei uns nicht! Ich bin dein Bruder, Kerl! Alle Menschen sind Brüder vor dem Herrn, merk dir das! Wenn du mich noch einmal mit >Herr< anquatschst, entziehe ich dir für einen Tag das Rauchen«, er stockte, »du darfst ja noch nicht rauchen«, überlegte er laut, »na, ich werde schon was finden! Und zu Essen kriegst du heute abend was. Bei uns ist noch keiner verhungert! Gute Nacht in Jesu!« Er schlurfte durch die Bettgassen davon. Ich hörte, wie die Tür abgeschlossen wurde. Mein Bruder ist das, dachte ich. Wo bin ich hier bloß? Jesus läßt grüßen, Gott läßt grüßen. Es wird mir hier sicher nicht gefallen. Ich baute mein Feldbett. Dann ging ich zu der offenen Fensterreihe, sah nach draußen. Ich sah gegenüber den Lorenschuppen ein Stück der bunten Baracke und den Weg, der vor dem Schuppen abbog.
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Die Gitter vor den Fenstern waren nicht sehr dick, sie waren von außen angeschraubt, doch mit bloßen Händen konnte man da nichts machen. Ich ging zu der anderen Fensterfront. Hier war ein festgestampfter Platz, er zog sich an der ganzen Barackenseite entlang, an dieser Seite war auch der Eingang, wo das Auto gehalten hatte. Hinter dem Platz war eine Wiese, die langsam von einer Ziege aufgefressen wurde. Hinter der Wiese war eine mannshohe Wand von Buschwerk, dort begann das Moor, das das ganze Anwesen wie eine Insel erscheinen ließ. Es war heiß. Die Luft flimmerte. Ich fragte mich, wie es die Ziege mit ihrem Fell überhaupt aushallen konnte. Sie war mit einer langen Leine an einen Pflock angebunden und fraß. Wie eine Maschine. Linker Vorderfuß... ein paarmal rupfen... rechtes Hinterbein... ein paarmal rupfen... rechter Vorderfuß... rupfen ... linkes Hinterbein... rupfen, sie nahm anscheinend zuerst immer das Beste vom Gras, immer um den Pflock herum, beim nächsten Rundgang wieder das Beste, beim nächsten auch und immer so weiter. Bis alles kahl war. Oder sie fraß zuerst das schlechte Gras und sparte sich das beste bis zum Schluß auf. Kenn sich einer mit Ziegen aus. Ich suchte die Toilette. Sie befand sich an der rückwärtigen Wand des.Schlafsaals. Es war ein kleiner Raum, eine Kabine. In einer Ecke war ein Eisenbecken zum Sitzen auf den Boden geschraubt, daneben eins zum Stehen an der Holzwand, daneben eins zum Trinken. Das Wasser aus dem Hahn war braun. Es schmeckte nicht wie Wasser. Die Fensterflügel waren hier ausgehängt, aber es stank dennoch wie in einem Klo, wie in einem schlechten. Mein Bett stand mit dem Kopfende an einer Bretterwand, die sich freistehend in einer Höhe von zwei Metern durch den ganzen Saal zog. Ich sprang an den oberen Rand und zog mich so weit hoch, dass ich hinübersehen konnte, doch die Betten standen dort genauso, wie an dieser Seite. Warum gucke ich rüber, wenn ich weiß, wie es aussieht. Die andere Seite war die Ziegenfensterfrontseite, die kannte ich. -2 3 5 -
Ich legte mich ins Bett, starrte an die gelbe Bretterdecke und dachte daran, daß ich hier weg wollte. Dabei war ich erst zwei Stunden hier. Oder drei Stunden? Ich wußte es nicht. Ich hatte keine Uhr. »... im Stiiillen, hallihallo, heiße Tränen weiiiinen, wenn ich aaan die Aaaabschiedsstunde denk!« »Großer Vater!« »Großer Va-ha-ta, der du bist dort droooben, laß mein Fle-hehen, niiicht vergeeebens sein...« Da sangen tatsächlich welche. Ich träumte gar nicht. Ich rieb mir die Augen und sprang aus dem Bett. Vom Lorenschuppen her kam eine Kolonne Jungen, in Dreierreihen, im Gleichschritt, ihre Füße stampften dumpfen Takt. Ich lief zur anderen Fensterseite, doch ich konnte sie nicht sehen, der Eingang lag vorne und der Schlafsaal hinten. Ich hörte sie nur singen und stampfen. Dann eine Stimme: »Abteiluuuuung... Halt!« Ein Knall ertönte. Stille. Dann Stimmen. Ich hörte die Jungen einrücken. Ich legte mich wieder hin. Wenn die abends noch zum Singen aufgelegt Waren, dann schien das hier doch nicht so schlecht zu sein. Aber >Bruder< sagen, zu einem Erzieher! Ekelhaft! Der Schulze rief einen ja auch nur beim Nachnamen. Sonst hätte er vorhin >Bruder Roth< rufen müssen. Oder >Bruder Holbergmach uns doch keinen Kummer, >denk doch auch mal an unswenn< war es meistens zu spät. Jetzt bin ich drin. Lernen, sagte der zweite Vater, einen Beruf ergreifen, so was gäbe es nur in deutschen Anstalten, und ich solle froh sein, daß ich nicht in einer kommunistischen Anstalt wäre. Was hatte das für einen Sinn! So herrlich duftender Torf. Aromatischer Torf! Eine wunderbare braune Farbe! So ein würziger Duft! Scheißtorf! Ganz gewöhnlicher Scheißtorf! Und Jesus oben drüber, meinte Elias. Von der Erde kommt alles, zur Erde geht alles, sagt Jesus, sagt Elias. Elias wird für das Sprüchekloppen bezahlt. Schulze auch. Alle Brüder! Und der Anstaltsleiterpastor - Ich hasse Elias! Elias, das Torfschwein! >So, liebe Kinder, sagt der Lehrer in der Schule, >heute wollen wir mal über das Moor sprechen, über die verschiedenen Tierarten, die es dort gibt, nun, was meint ihr?< >Torfschweine, Herr Lehrer, Torfschweine!< >Ja, richtig. Könnt ihr mir denn auch andere Tiere nennen?< >Jaaaa! Große Torfschweine, große, Herr Lehrer!< >Na fein! Fassen wir also zusammen: Es gibt große Torfschweine und normale Torfschweine. Sie leben vorwiegend im Moor, an sogenannten heiligen Stätten. Könnt ihr mir denn auch die besondere Bezeichnung der verschiedenen Arten sagen...?< >Jaaaa! Elias heißen die -2 6 5 -
großen Torfschweine, und Schulze und Bolm und Matthes sind normale Torfschweine!!< >Na wunderbar! Und jetzt sagt mir noch eine spezielle Eigenart...< >Alle sind heilig, Herr Lehrer, alle sind heilig!
Nacktnackt< dazu, als Anreiz gewissermaßen. Die meisten denken dann, das ist ein Sonderangebot, so was kennen sie ja vom Supermarkt her.« »Also muß ich dir jetzt vierzig Mark geben?« »Ah, Schatz!« sagte sie erstaunt. »Aber ich will dich nicht ausnutzen, du bist das erste Mal bei mir, sagen wir die Hälfte als Einführungspreis.« Sie hatte die Strumpfbänder abgehakt, löste an der Seite zwei, drei Ösen, das Korsett fiel auf den Boden. »Ist eine gute Idee von dir, dann brauchen wir nicht so rumsitzen.« -3 4 7 -
Ich fand jetzt, daß ich eigentlich noch ganz gut herumsitzen konnte, so richtige Lust hatte ich gar nicht mehr. »Was ist denn los? Komm!« Sie hatte es sich auf der Liege bequem gemacht und wartete. Ich stand da ohne Hose, ohne Hemd. »Ich weiß nicht, eben ging es noch«, erwiderte ich. »Ach, das haben wir gleich, das ist die Aufregung.« Sie holte aus einer Schublade ein Gerät, mit dem man auch andere Haut massieren konnte. »Komm hier rüber, setz dich auf den Stuhl. Die Schnur ist nicht lang genug, ich vergesse jedesmal, beim Einkaufen eine Verlängerungsschnur mitzubringen.« Ich setzte mich neben der Steckdose auf einen Stuhl. »Mit zweihundertzwanzig Volt und Gottes Hilfe habe ich schon ganz andere Dinger geschaukelt«, sie lachte. Ich mußte an Elias denken, der auch immer alles mit Gottes Hilfe machte, ganz ernst. Da ging es gar nicht mehr. »Meine Herren! Hast du vielleicht was Falsches gegessen? Oder getrunken?« fragte sie. »Nein. Weiß nicht. Cola habe ich getrunken, sonst nichts.« »Das wird es sein. Cola ist nicht gut.« Draußen schrillte eine Trillerpfeife. Blödsinn. Vier Flaschen waren es nur gewesen. Mit Karen hatte ich schon mal zehn an einem Abend getrunken, und es ging prima. Ich guckte auf ihren Kopf. Schuppen hat sie. Und Brüste wie zwei Keulen. Frau Oberbruder trug sie auch immer dicht über der Kittelschleife. Teufel aber auch. »Das kommt von der Cola«, sie stellte das Gerät ab und erhob sich von den Knien. »Wenn du das nächste Mal kommst, dann trinkst du vorher keine. Ts, ts, ts, jetzt haben wir das Geld eben für den Strom verbraucht.« Sie seufzte und schnallte sich das Korsett wieder um, zog die runtergerutschten Strümpfe hoch und machte sie fest.
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Es klopfte von draußen an das Fenster. Ich erschrak. Einmal kurz, zweimal lang. »Keine Angst, ist ein Bekannter von mir, ein Doktor. Beeil dich, er wartet nicht gerne.« Sie fuhr sich ein paarmal mit den Fingern durchs Haar. Es klopfte wieder. »Momentchen, Herr Doktor«, trillerte sie und öffnete die Tür, während ich meine Hose schloß. Draußen vor der Tür stand einer mit Hut und dunklem Mantel und einer goldgeränderten Brille. »Idiot«, sagte ich halblaut, doch er verstand nicht. »Wie bitte?« fragte er. Ich ging in Richtung Davidswache, dann rechts runter, geradeaus, wieder rechts, als es dämmerte, hatte ich das Hotel gefunden. Es lag nur hundert Meter vom Bordell entfernt. Ich fluchte. Auf mein Nachtglockenklingeln kam nach einiger Zeit eine mit Lockenwicklern bestückte Frau und ließ mich ohne ein Wort zu sagen ein. Ich knarrte die ausgeleierte Treppe hoch, fand nach einigem Suchen die Zimmernummer. Die Tür war unverschlossen. Erwin war sofort wach. Er lag auf der einen Seite des Doppelbettes. Er nörgelte, warum ich jetzt erst käme, er hätte die ganze Nacht gewartet. Ich fand das reichlich blöd, fragte mich, warum er gewartet hatte, und als er immer weiter nörgelte, sagte ich: »Halt endlich dein Maul, du Blödmann, du!« Und legte mich ins Bett. Mein Kopf brummte. Ich schlief ein, ich träumte. Dann merkte ich, daß es der Apparat war. Die Frau schwitzte und sagte: »Nur vom Colatrinken kommt das.« In der Ecke stand Barren-Ernst mit einer Schubkarre voll Colaflaschen, und als ich ihn fragte, ob er mir nicht eine geben könnte, sagte er: »Ach laß mich doch in Ruhe! Ich bin ein Doktor!« „Arn besten, du legst dich gleich auf die Liege, das haben wir gleich, gleich, gleich, das ist normal«, sagte die Frau. Ich lag auf der Liege, sie kam, ich sah, wie der Stecker aus der Steckdose rutschte, wie eich die Schnur zu einer Schlange zusammenringelte, zischte, und der Apparat brummte weiter. -3 4 9 -
Sie hatte Schuppen und einen Heiligenschein auf dem Kopf und summte »Wohlauf in Gottes schöne Welt, das wissen alle Leut.« »Los, sing doch mit, du kannst es doch, sing! Sing! Sing! Du frißt bis an dein Lebensende Kartoffeln, das sage ich dir!« Ich sang. Barren-Ernst auch, er schob die Schubkarre im Zimmer umher. Ich konnte meine Stimme nicht mehr heraushören. Ich sang nicht weiter. Niemand sang mehr. Doch draußen wurde gesungen. Eine Kolonne stampfte. »Das Geweeeeehr legt an! Feuer!! Frei!« Es roch nach Rauch. Ich bekam keine Luft mehr. Eine laute Jungenstimme schrie, ich verstand nicht, was es war. Dann konnte ich es verstehen. »Das Liiiiieben bringt gro-hoß Freud... drei, vier!« Der ganze Chor sang, und das Stampfen kam immer näher, immer näher, ich wollte aufstehen, aufspringen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich sah, wie Barren-Ernst in die Schubkarre griff, zwischen den Colaflaschen wühlte. Ich sagte ihm, er solle mir eine geben, aber er schrie: »Für dich bin ich immer noch Bruder Barren-Ernst!« Und um seinen Kopf war ein lichter Schein. Er zog eine Thermosflasche aus der Karre und nahm einen langen Zug. Draußen war das Stampfen vieler Füße zu hören, immer auf der Stelle. >Lie-be, Freu-de, Lie-be, Freu-de, Lie-be, Freu-deAhhhh, habe sie schon!< Als wenn Mama mitgesucht hätte! Dann war er wieder oben: >Anne!? Leg mir doch mal den Schlips raus!< Das konnte Mama sowieso nicht, weil sie halbnackt im Bad stand, und wenn ich sie mal im Schlüpfer sah, dann machte ich >Ha-ha-haHier findet man aber auch gar nichts! Er brüllte: >Anneeee! Hast du meinen silbernen Schlips gesehen?< Im Bad Wasserrauschen. Keine Antwort. >Anneeeee!?< >Jahaaa?< >Mein Schlips!< >Was ist damit!< >Was ist damit! Wo der ist!?< >Wo der ist! Trage ich Schlipse!?< Das für einen Moment verstummte Wasserrauschen setzte wieder ein. Der zweite Vater suchte seinen Schlips weiter, überall, der Rasierschaum trocknete, er brauchte ihn eigentlich noch gar nicht, den Schlips. In der Küche am Handtuchhalter und in der Kellertreppe hinterm Arbeitszeug hatte er nachgesehen, da kam die Frage aus dem Bad: >Welcher denn?< >Der silberne.< >Schlafzimmerschrank, zweite Tür links, Innenseite, da wo er hingehört!< Er: >Na also, wußte ich doch!< Holt den silbernen Schlips, hängt ihn über die Schulter und geht wieder nach oben, kommt wieder runter: >Anneeee! Hast du meine schwarzen Schuhe...< Zehn vor acht trappelten sie beide auf den Hof, er noch mal zurück, hat den Autoschlüssel vergessen, der ist in der Arbeitshose, rennt durch Bad, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, findet die Arbeitshose hinter der Kellertreppe, wo -3 7 6 -
sie hingehört, findet die Schlüssel nicht. >Anneeee! Wo sind die Schlüssel...< >Nun mach doch, die hab ich doch schon mitgenommen!< Draußen sprang der Automotor an. >Laß mich lieber fahren, ich kenne den Weg.< Und ab ging die Post. »So, ich habe mich extra beeilt«, Ingrid setzte sich neben mich, »sag mal, bist du denn gar nicht müde?« »Ein kleines bißchen.« Sie lachte. »Schlaf dich erst mal richtig aus, es wird draußen schon hell. Morgen erzählst du mir alles, ach, wir haben ja schon heute.« »Schläfst du nicht?« »Ich bleibe mal auf, dann kann ich gleich alles erledigen, wenn die Geschäfte öffnen. Was macht denn dein Fuß?« »Och, ich glaube, das geht schon wieder«, ich stand auf und wollte auftreten, doch es tat genauso weh wie vorher. Ich stöhnte etwas und hielt mich am Tisch fest. »Siehste! Geht schon wieder!« Ingrid sprang auf und stützte mich. Das tat gut. Ich stöhnte noch mal. Ich konnte wieder laufen. Eine Woche hatte es gedauert, mit dem Fuß. Ingrid hatte aus der Apotheke was mitgebracht, zum Baden, zum Einreiben, zum Einnehmen, es war von Tag zu Tag besser geworden. Wenn ich zwischendurch mal ein bißchen geächzt hatte, dann nur deshalb, weil Ingrid sofort angerannt kam, den Fuß vorsichtig massierte und sagte, ich solle ja liegenblieben, ich müsse mich noch schonen. Richtig besorgt war sie. Jetzt bummelte ich gemütlich am Schloßgraben entlang und fütterte die Schwane mit Kuchenbröckchen. Sie kamen mir nachgeschwommen. Ich wartete auf Ingrid. Sie saß drüben beim Friseur. Was willst du beim Friseur, hatte ich gesagt, ich finde dich so sehr hübsch, außerdem werde ich heute abend deine Haare alle durchwuscheln, kein Friseur wird sie jemals wiedererkennen. Ingrid hatte gelacht. Macht nichts, hatte sie gesagt, ich lasse nur unten die Spitzen einlegen, das dauert -3 7 7 -
doch nicht lange. Dauert nicht lange! Die Schwäne werden Magenerweiterung kriegen. Gleich ist es eins. Fast zwei Stunden schon dauerte es nicht lange. Ingrid hatte gesagt, ich sollte solange bei Steffens ein Eis essen. Steffens war eine Konditorei, ein paar Häuser vom Friseur entfernt. Das hatte ich getan, hatte mir noch Kuchen gekauft und war über die Promenade zum Schloßgraben gegangen. Zweifünfzig hatten sie jetzt verfressen, die Schwäne. Bienenstich mochten sie, bekamen sie wohl selten. Ich sollte noch ein Eis essen, Eis ist gesund. Ich schlenderte zu Steffens rüber, mir fiel ein, daß Ingrid dort vorhin eine Torte bestellt hatte und noch einiges, für morgen, es war mir nicht besonders aufgefallen, aber jetzt fiel es mir ein. Warum bestellt sie eine Torte? Ich hatte ihr alles erzählt, daß ich aus dem Heim abgehauen war, daß ich schon einmal zu ihr gewollt hatte, sie wußte jetzt, was Heiligenstatt war, sie wußte, daß der Vater vom zweiten Vater schon immer gesagt hatte, ich würde mal in 'ner Anstalt oder im Zuchthaus verrecken, sie wußte, daß ich damals aus der Lehre geflogen war, als ich sie getroffen hatte, an jenem Abend und daß ich in Wirklichkeit gar nicht Ben hieß. Ingrid hatte gemeint, was schon so ein Name bedeute. Für sie wäre ich Ben und der bliebe ich auch. Von Karen hatte ich ihr auch erzählt, daß das ein Mädchen im Nachbarheim sei, daß ich es mit ihr öfters gemacht hatte und daß ich sie hatte rausholen wollen, daß es nicht geklappt hatte. Ist sie hübsch? hatte Ingrid mich gefragt. Ich hatte mit den Schultern gezuckt. Wie so'n Mädchen eben aussieht, aber dich mag ich lieber. Ach Ben, hatte sie gesagt und gelächelt. Ich hatte ihr erklärt, daß ich Karen versprochen hatte, sie dort rauszuholen und wenn ich so was verspreche, dann muß ich es halten. Das hätte sie auch getan, hatte Ingrid gemeint. Und der zweite Vater sagte, daß man nur acht Schuljahre brauchte, um Schlosser zu werden. Ich hatte aber gar keine Lust, Schlosser zu werden. Ich haßte das Schlossern! Was ich denn werden wolle, hatte Ingrid mich gefragt. Na, was wohl! Architekt wollte ich werden! Häuser bauen und Brücken und Staudämme und -3 7 8 -
so. Das war schon was. Besser jedenfalls als Schlosser oder Torf auf ein Förderband schmeißen. Vielleicht hatten sie den Ellas schon reingeschubst, ins Moor? Dann war Bolm jetzt sicher Oberbruder, weil der den treuesten Blick hatte. Du hirnverbranntes Arschloch, du, sagte er und guckte dabei wie ein, ein Bernhardiner. Ingrid wußte jetzt, wer Benno war, von Hagen hatte ich ihr erzählt und sie hatte sich gefreut, weil der so schwer in Ordnung gewesen war. Als ich mit Eis in der einen und Kuchen in der anderen Hand bei Steffens rauskam und wieder zu den Schwänen wollte, kam Ingrid aus dem Friseurladen heraus. »Hallo, Be-hen!« Sie winkte. Ich wartete leckend. »Hat ganz schön lange gedauert, ja?« »Och, jetzt nicht mehr.« »Oh du, es war so voll da, ich hatte mich nicht angemeldet, ich dachte, es ginge mal so. Magst du mich?« Sie lächelte. »Hmhm, sehr.« Ingrid sah aus, wie auf einem Titelfoto, sie roch von allen Seiten nach Friseur. Ich warf das Stück Bienenstich über Bord, die Schwäne warteten schon. Wir gingen ein Stück am Wasser entlang, bogen dann in Richtung Markt ab, wo Ingrid das Auto geparkt hatte. »Du, Inge... was ist morgen eigentlich los?« »Morgen?« Sie tat erstaunt. »Ja. Morgen. Zum Friseur gehst du, eingekauft hast du wie eine Wilde, bei Steffens hast du Kuchen bestellt, nur sagen, sagen tust du mir nichts!« »Du meinst also, das kommt dir verdächtig vor?« »Hm, hm.« Sie lächelte versteckt. »Ich dachte, wir könnten morgen ein bisschen feiern.« »Feiern? Ich finde, jeder Tag ist ein Feiertag.« -3 7 9 -
»Das ist schön, Ben. Aber morgen... ich habe morgen Geburtstag, weißt du, und die ganzen Jahre war das für mich ein Tag wie jeder andere auch. Einmal habe ich mich betrunken, aber der Kater anschließend, der war noch schlimmer. Und jetzt, wo du da bist, da dachte ich. Oder meinst du, man könnte mit zweien nicht feiern?« »Doooch!« Wenn das mit mehreren ging, dann erst recht mit zweien. Geburtstag hat sie. Und ich wußte es nicht, ich habe nicht mal ein Geschenk. Vorhin habe ich noch fünf Mark gehabt. Verfressene Schwäne! Ich auch! Bis jetzt habe ich nie Geld gebraucht, sie hat immer alles bezahlt, sie brachte auch immer alles mit Wenn du mal Geld brauchst, Ben, sagte sie mir oft, wenn du dir mal etwas kaufen möchtest, dann mußt du es sagen. Nein, wozu, hatte ich geantwortet. Und jetzt brauchte ich was, und ich konnte es ihr nicht sagen, weil sie dann genau weiß, wofür. Das geht nicht. Rosen hole ich ihr heute abend, in der Parkstraße ist eine große Villa mit einem Garten, da wachsen sie wild auf den Beeten, die Rosen. Und nachher werde ich ins Kaufhaus gehen, da liegt immer eine Menge herum. Detektive haben sie da, muß ich mir meine Turnschuhe anziehen. »Ben, du sagst ja gar nichts mehr?« »Nachgedacht habe ich.« »Und worüber?« »Na, dein Geburtstag, daß das ganz schön wird, wenn wir den alleine feiern. Die Geburtstage, die ich kenne, da kamen immer ein Haufen Leute, die quasselten über die, die nicht da waren, und sie betatschten alles und stopften sich mit Schlagsahne voll, und wenn sie lachten, dann kreischten sie...« »Leute? Komm, wir setzen uns ein bißchen auf die Bank hier.« »Na ja, Verwandtschaft und so, kenne ich auch nicht alle. Bist du schon mal drüben im Schloß gewesen?« »Besichtigt?« -3 8 0 -
»Ja?« »Nein, noch nie. Ich bin sicher schon hundertmal hier vorbeigegangen, ohne daran zu denken, wie es da drinnen aussieht. Wir werden es nächste Woche besichtigen, hast du Lust?« »Ja, das wird gut.« Wir rauchten. »Sag mal, Inge, hast du mich eigentlich sehr lieb?« »Oh ja, sehr.« »Oder liebst du mich sehr?« »Sehr. Aber wo liegt da der Unterschied?« »Ich weiß nicht. Vielleicht hat man sich lieb, wenn man noch jung ist, und wenn man erwachsen ist, dann liebt man sich. Peng, fertig.« »Ach du, wann ist man jung und wann ist man erwachsen. Die Jahre sind nicht immer ausschlaggebend.« »Morgen bist du zehn Jahre älter als ich.« »Und ein bißchen!« Sie lachte spitzbübisch und schaukelte mit den Beinen. »Meinst du, das sei schlimm?« »Nein. Ich habe es nur gesagt. Wenn du zwanzig Jahre älter wärst dann würde ich dich ebenso lieb haben.« »Meinst du?« »Ja, bestimmt.« »Dann hätte ich aber sicher schon Runzeln im Gesicht, hätte graue Haare und wäre ganz launisch!« »Glaube ich nicht. Du siehst sehr viel jünger aus. Und wenn du zwanzig Jahre älter wärst, dann wäre ich zehn Jahre älter. Weißt du, ich denke oft, du bist meine Schwester. Möchtest du meine Schwester sein?« »Oh, dann dürften wir aber nicht zusammen schlafen.« »Warum denn nicht? Wir könnten doch ganz still nebeneinander liegen, wir erzählen uns dann nur was.« Ich grinste ein bißchen. Ingrid lachte. »Ich werde nicht zuhören!« Sie streichelte meine Hand. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn sie uns wieder trennen, wenn sie mich mal -3 8 1 -
wieder schnappen. Es dauert noch so verdammt lange, bis ich volljährig bin.« »Wir werden schon einen Weg finden, meinst du nicht auch? Es gibt immer einen Weg, eine Losung. Ich weiß ganz sicher, eines Tages wirst du Architekt sein.« Sie sah mich etwas nachdenklich an. »Weißt du, Inge, ich glaube... ich stelle mir das wie Fäden vor...« »Was für Fäden?« »Die Menschen. Jeder Mensch ist ein Faden, und immer eine andere Farbe. Natürlich gibt es nicht Millionen verschiedene Farben, sicher aber viele Farbnuancen. Siehst du, und alle diese Fäden laufen kreuz und quer durcheinander, ein richtiger Wirrwarr ist das, es wird gezogen und geschoben und gezupft und gezerrt, und dadurch wird ein Faden durch den anderen bewegt, er kommt mal mit dem, mal mit dem zusammen. Blaue, grüne, gelbe, rote Fäden. Weiß und Rot passen natürlich nicht zusammen, aber Rosa und Rot. Es gibt überhaupt keine Farben, die genau zueinander passen, die vollkommen eins sind. Aber es gibt ähnliche, wenn sich zum Beispiel zwei Menschen gut verstehen, wenn alles genau stimmt, wenn es aber nicht vollkommen ist. Du wärst vielleicht ein blauer Faden, ein roter oder ein grüner und ich wäre ein hellblauer, ein hellroter oder ein hellgrüner. Wir hätten Farben, die sich am wenigsten voneinander unterscheiden, das wäre der Idealfall. Hörst du mir überhaupt zu, Inge?« »O ja, sehr genau.« »Hm, ein ganz normaler Unterschied ist zwischen einem Mann und einer Frau. Also schon deshalb Farbunterschiede. Siehst du, viele Fäden kommen nie zusammen, andere nur für einige Zeit, für zehn oder zwanzig oder auch hundert Jahre. Nee, hundert Jahre nicht, so alt wird man nicht.« Ich schwieg. »Wie kommst du eigentlich auf solche Gedanken, Ben?« »Och, manchmal denke ich eben, weiß auch nicht, warum es so ist und nicht anders. Durst habe ich, du nicht auch?« »Wir trinken am Markt eine Cola, und dann fahren wir nach Hause, ja?« -3 8 2 -
Ich nickte, dachte daran, daß ich noch in ein Kaufhaus mußte. »Ich backe gleich noch einen Kuchen, extra für dich, aber du darfst nur ein ganz kleines bißchen naschen.« »Ich mache noch Sport.« »Sport?« »Ja, laufen, Gymnastik und so. Dann stör ich dich nicht beim Backen.« »Sag das nicht nochmal, du!« Ich grinste. »Wir hätten ja auch mal ins Hallenbad gehen können, aber mit deiner Frisur...« »Macht doch nichts, ich brauche ja nicht untertauchen, aber dann habe ich heute abend soviel zu tun.« »Nein, nein, ich habe mich auch schon auf Gymnastik eingestellt, weißt du. Vor jeder sportlichen Übung muß man sich sammeln, ich müßte mich dann ganz schnell auf Schwimmen umstellen, das geht nicht.« Ingrid lachte hell und unbeschwert. Ich beschloß, etwas besonders Hübsches für sie auszusuchen. Wir tranken an dem Erfrischungsstand neben der Marktwache eine Cola und gingen zum Parkplatz. »Schnell, Ben! Da ist gerade eine Lücke frei, wo ich rausfahren kann.« Ingrid schloß das Auto auf, ließ den Motor an, fuhr los. Der nochgerutschte Rock gab ihre schlanken Beine frei. Ich faßte zwischen ihre Beine, fühlte ihre Hose und streichelte den Stoff. »Ben! Ich muß doch fahren!« Sie zog den Rock wieder nach vorne, faßte ans Lenkrad. »Fahr doch.« »Wenn das jemand sieht, daß du an meinen Beinen rumfummelst!« »Zwischen. Das sieht niemand, es sieht so aus, als hielte ich dich fest, weil du nicht angeschnallt bist.« Ingrid stoppte an einer Kreuzung. »Wenn du nicht sofort deine Finger da wegnimmst, fahre ich bei >Rot< über die Ampel! « -3 8 3 -
»Über die Kreuzung. Die Ampel hangt oben drüber.« Ich saß kerzengerade und grinste dem Fahrer zu, der neben uns auf Grün wartete. Er grinste zurück. Er konnte uns nur bis Unterkante Brust sehen. »Be-hen!« »Ich hab dich lieb.« »Ben, bitte, bitte...« Ingrid legte den Gang ein und preschte los. »Ich sage dir, wenn wir gleich zu Hause sind, dann kannst du aber was erleben...« Sie mußte an der nächsten Kreuzung erneut stoppen. Ich rutschte plötzlich tief in den Sitz, knickte die Beine ein und linste über die Wagentürkante. »Was... was hast du denn?« »Na da, siehst du die? Die mit dem blöden Hut, das ist sie!« »Wer denn?« »Na, die Lappewasch, die meine Tante sein will. Fahr weiter!« »Ist doch rot. Die ist das!? Schickes Kostüm hat sie an.« Die Lappewasch überquerte vor uns den Zebrastreifen wie ein Pfau, sie sah zum zweiten Mal auf unser Auto. Ich dachte erst, sie hätte mich gesehen, doch sie ging auf der anderen Seite weiter, ohne sich nach uns umzudrehen. »Wenn die mich sieht, dann rennt sie sofort zu den Bullen oder zum Jugendamt. Ausgerechnet hier begegnen wir ihr, der ollen Archivziege!« »Ist doch schon weg, komm hoch. Außerdem glaubst du doch wohl nicht, daß ich dich einfach so rausgebe. Neben dem Bad bei uns ist übrigens eine Feuerleiter.« »Weiß ich doch.« »Wenn wirklich mal was sein sollte, dann kannst du bis in den Hof runter oder aufs Dach. Die Dachfenster sind nicht verriegelt. Vielleicht hat sie dich doch gesehen, hat sich nichts anmerken lassen.« Ingrid schwieg eine Weile. »Be-hen?« »Hm?« »Ich liebe dich.« »Das ist gut.«
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Ich hatte Karstadt gewählt. Wegen der großen Auswahl. Die anderen Kaufhäuser waren alle kleiner. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Ich ließ mich schon zum zweiten Mal durch die Geschenkabteilung schieben. Bei den Haushaltswaren hatte ich nichts Passendes gefunden. So eine lederne Papiermappe mit Schreibsachen, das wäre schon ein schönes Geschenk, dachte ich. Fünfundachtzig Mark. So was ließ sich schon verschenken. Ich nahm die Mappe vom Ständer, klappte sie auf und zu und linste mit einem Auge zum Verkäufer rüber, damit ich sie noch rechtzeitig weglegen konnte, wenn der was merkte. Doch der Verkäufer hatte zu tun. Ich schob die Mappe unter meine Jacke, ging weiter und erreichte unbehelligt den Ausgang. Auf der Straße lief ich ein Stück und überlegte, daß ich noch Papier zum Einwickeln brauchte. Ich mußte erstmal die Mappe irgendwo lassen. Ingrid war zu Hause. Wenn ich die Korridortür aufschloß, dann kam sie garantiert auf den Flur. »Ach, da bist du ja wiederMein Gott, du hast immer Extrawünsche!< sagte sie dann, wenn ich was sagte. >Vom Löffel fällt wenigstens nichts runter.< >Von der Gabel auch nicht.< erwiderte ich. Sie: >Opa braucht auch nur einen Löffel!< Das sagte sie in der Hoffnung, daß ich nun auch einen Löffel nahm. Ich nahm keinen Löffel. >Ich bin kein Opa. Ich esse Bratkartoffeln mit der Gabel! Ich esse immer mit der Gabel, wenn ich denke, daß ich mit der Gabel essen will!« Sie: >Immer diese Extramanieren!< und knallt mir eine Gabel hin. Dann konnte sie richtig gehässig sein. >Ich brauche auch nie 'ne Gabel. < Ich: >Warum putzt du sie
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dann jede Woche wie 'ne Wilde?< Sie: >Damit du Bratkartoffeln essen kannst!< Dann war ich still, weil ich essen wollte. So fing es immer an, wenn ich aus der Schule kam. Wenn sie mit ihrer Bestecktheorie fertig war, hatte ich die Bratkartoffeln erst zur Hälfte weg. Zu der anderen Hälfte hörte ich, daß heute der Garten umgegraben werden müßte, daß der Vater vom zweiten Vater sich gestern abend wieder so aufgeregt hatte, weil ich eben gestern erst abends gegraben hätte und nachmittags überhaupt nicht, wo das nochmal hinführen sollte! Ich dachte dann nach, mit wem, mit ihm oder mir. Die letzten Kartoffeln schmeckten nicht mehr, ich würgte sie runter und beschloß, heute gar nichts zu tun. War ja schließlich sein Garten und nicht meiner. Bloß weg. An die Weser. Da hatte man wenigstens seine Ruhe. Da konnte ich nachdenken, ein mitgenommenes Buch lesen oder nur faul im Gras liegen und die Schiffe beobachten. Manchmal kamen ganz schöne Brummer vorbei, sie schleppten eine Kette von Lastkähnen. Ich schwamm immer an die Lastkähne heran und ließ mich stromauf mitnehmen, sprang oberhalb des Flusses wieder ins Wasser und ließ mich stromab treiben. So ein Fluß war eine gute Sache. »So, guten Appetit.« Ingrid setzte sich. »Danke.« »Warst du wieder mit deinen Gedanken unterwegs? Was hältst du Von München?« fragte sie. »München? Da essen sie viel Sauerkraut.« »Hast du nicht mal gesagt, dort wohnen Verwandte von dir?« »München nicht. Inzell oder so, da ist das. Aber die kennen mich nicht, es sind die Verwandten von meinem richtigen Vater. Als ich das letzte Mal bei ihnen war, muß ich so vier Jahre alt gewesen sein. Da ist Mama endgültig nach hier gezogen.« »Ja, aber du bist doch hier geboren!?« »Hm. Geboren bin ich hier und gemacht in Bayern, Mama ist dann wieder mit mir runter, als ich so drei oder vier war, sagt -3 9 5 -
Mama, da hätte sie erfahren, daß mein Vater wirklich gefallen ist, daß das keine Falschmeldung gewesen war. Und die Verwandten haben es auch erfahren und Mama weggegrault. Sie hat eine Abfindung gekriegt, sonst hatte sie die Hälfte erben müssen. Aber sie ist keine Bayerin, und dann wird das mit einer Abfindung gemacht. Sie hat ein paar Millionen gekriegt, da hat sie zwei Brote und einen Pott Honig gekauft, und die Millionen waren alle.« »Aber sie hätte doch klagen können!?« »Hat sie auch, aber nur so vor sich hin. Mama war froh, daß sie mit der ganzen Bagage nichts mehr zu schaffen hatte, hat sie gesagt. Der einzige, der wirklich in Ordnung gewesen ist, das war mein Vater.« »Ich glaube, ich kann sie verstehen«, sagte Ingrid nachdenklich. »Was gibt es wohl für einen Pudding?« »Pudding? Ach so«, sie lächelte, »dreimal darfst du raten.« »Vanille und Hirnbeersaft!« »Gut!« Ich schob das Fahrrad auf den Bürgersteig, trug es die Treppe hoch, über den Flur, dann eine Treppe runter und stellte es im Kellergang ab. Es war ein Herrenrad. Unter der Querstange befand sich ein langes, schwarzes Schild mit der weißen Aufschrift: »Niemöller & Sohn«. Dort arbeitete ich nun schon zwei Wochen. Ingrid hatte mir den Job besorgt. Genau genommen war es Ingrids Bekannte gewesen, die das mit dem Ausweis regeln wollte. Doch das dauerte etwas. Ich hatte die Bekannte nur einmal gesehen, es war eine dunkelhaarige Frau in einem Pelzmantel gewesen, sie fuhr einen großen Mercedes mit einem kleinen, giftigen Hund auf dem Rücksitz. Niemöller war ein prima Kerl, fand ich. So so, du bist der Hans und willst später einmal Architekt werden, hatte er gesagt, na ja, klein anfangen muß jeder mal, das weißt du ja, fährst erst mal die Baustellen ab, machst Botengänge, Zeichnungen abholen, Pausen bringen, da gibt es genug zu -3 9 6 -
tun. Du kriegst fünfzig Mark in der Woche, und später werden wir dann weitersehen, was!?« Das war alles gewesen. Niemöller & Sohn war ein Architekturbüro. Niemöller war der Sohn und hatte zwei Töchter. Das Geschäft hatte den Namen noch von früher. Niemöller hatte mich nicht einmal gefragt, woher ich kam, was ich bisher gemacht hatte. Ich war eben da und fertig. Alles weitere würde sich schon finden. Wenn er mich sah, hob er eine Hand und streckte den Daumen in die Luft. Ich grüßte ihn genauso. Manchmal fragte er auch, wie weit es an der oder der Baustelle sei, ob das Richtholz für den Schulneubau eingetroffen war. Wenn ich auf einer Baustelle war, dann achtete ich schon von selbst auf Dinge, nach denen er mich vielleicht fragen würde. Niemöller war sein eigener Bauunternehmer. Wenn es nichts zu tun gab, dann hielt ich mich im Zeichenbüro auf und sah den Zeichnern zu, die an schräggestellten Reißbrettern zeichneten, wie sie leicht mit zwei Fingern die Zeichenmaschinen versetzten. Die Bedeutung der verschiedenen Schraffuren kannte ich bereits, und heute morgen, als ich im Nebenraum war, hatte ich gehört, wie einer der Zeichner zu Niemöller sagte: »Dein neuer Stift fragt mich noch mal ein Loch in den Bauch!« »Dann laß dir gleich den Blinddarm rausnehmen«, hatte Niemöller lachend gesagt, »Hauptsache, du gibst ihm immer die richtige Antwort!« Heute hatte ich die zweiten fünfzig Mark erhalten, in einer Tüte, auf der mein Name stand. Wenn das nichts war! Hundert Mark schon, richtig verdient. Runde fünf Monate mußte ich im Heim für hundert Mark arbeiten. Und das Geld bekam man erst bei der Entlassung, damit man später etwas hatte. In Heiligenstatt hatte es gar nichts gegeben. Scheiß Heim. Ich schloß die Wohnungstür auf. Ingrid hatte Eierpfannkuchen gebacken. Mensch, das ist eine Ingrid! So eine gibt es sicher nur einmal, hm, vielleicht gibt es sie doppelt, aber die andere kann nicht so gut Eierpfannkuchen machen und Paprikaschoten und überhaupt... -3 9 7 -
»Traritrara, der Ben ist da«, trällerte sie, »ich hab auch was Schönes für dich.« »Was denn?« »Nach dem Essen.« »Ich hab auch was für dich«, ich zog eine zerknitterte Blume aus der Hemdtasche, »oha, ich glaub, ich hab sie schon heute mittag gepflückt.« Ich gab sie Ingrid. »Sie muß ins Wasser.« »Klar, die wird schon wieder, danke.« »Ah ja, ich habe noch was, hier.« Ich gab ihr den Fünfzigmarkschein. »Ben, du bist goldig«, sie drehte den Schein hin und her. »Er ist echt!« »Aber ja, es ist nur... ich brauche kein Kostgeld, ich habe die anderen Fünfzig auch noch nicht angebrochen. Wir werden das Geld sparen, einverstanden?« »Wenn du meinst.« Ich sah, daß sie einen neuen Hosenanzug trug, ich kannte alle ihre Sachen, dieser Anzug war neu. »Du hast einen neuen Anzug.« »Ja. Gefällt er dir?« »Hübsch.« »War ganz billig, im Ausverkauf. Ein Sonderangebot, weißt du.« »Hast du was drunter?« Ingrid lächelte. »Natürlich. Noch eine Hose, ein Höschen, wenn du's genau wissen willst. Möchtest du Preiselbeeren oder Blaubeeren?« »Beides. Nacheinander.« Sie sah mir beim Essen zu. »Schmecken sie?« »Ja, gut. Deshalb esse ich sie mit den Fingern. Stell dir mal vor, in der Steinzeit, ich glaube, da hättest du gar keinen Abwasch gehabt.« »Oh, laß nur, ich finde unsere Zeit ganz gut.« Ingrid hatte ihre Haare an den Seiten zu Schwänzchen zusammengebunden, es paßte so gut zu ihr, fand ich. Jetzt war sie genauso alt wie ich. Wenn ich sie kitzelte, dann lachte sie sich halbtot und warf mit -3 9 8 -
Pantoffeln und Kissen nach mir. Aber wenn sie vom Friseur kam, wenn sie eine Wolke unnahbarer fraulicher Eleganz vor sich herschob, dann war sie sechsundzwanzig. »Bist du schon satt?« »Ja.« Sie puffte mir ihre kleine Faust in die Rippen und sah mich zärtlich an. Ich merkte es an ihren Augen. Ich hatte plötzlich das Verlangen in mir, ihr Hose und Höschen runterzuziehen, trotz Eierpfannkuchenfettfinger. Ich dachte daran, daß sie, solange ich bei ihr war, abends nicht mehr weggefahren war. »Woran denkst du jetzt?« »Sag mal, Inge, hast du eigentlich viel Geld auf deinem Konto?« »Was heißt viel? Für uns beide reicht es schon, die nächste Zeit.« »Was ist nächste Zeit?« »Ich weiß auch nicht, vielleicht ein paar Jahre. Wenn wir nicht jedes Jahr zwei Mittelmeerfahrten machen. Warum fragst du? Hast du einen Wunsch?« »Nein. Ich habe daran gedacht, daß ich später ja mal mehr Geld verdiene, und dann brauchst du nie mehr los.« »Ich höre sowieso damit auf«, Ingrid lächelte. Dann wurde sie ernst. »Ich kann mir denken, was du denkst, Ben, aber ich empfinde nichts bei den anderen...« Das kam mir bekannt vor. »... bekomme Geld für die Benutzung einer Ware, so ungefähr muß man das sehen. Vielleicht finde ich auch nichts dabei, weil ich nichts empfinde, verstehst du? Wenn ich hinterher gebadet habe, dann bin ich ein ganz neuer Mensch. Natürlich muß man sich von der allgemeinen Moral freimachen, aber wer sagt denn, daß gerade diese Moral die richtige ist? Bei den Eskimos soll es eine Sitte sein, einem Gast die Frau anzubieten. Stell dir das hier mal vor! Im Aburteilen sind alle schnell bei der Sache, taugt nichts, verworfen, verkommen, diese Leute sollten sich -3 9 9 -
doch erst mal um ihre eigenen Sachen kümmern. Weißt du, die am schlechtesten über eine Sache reden, die würden sie am liebsten selbst einmal versuchen. Aber sie haben Angst, ins Gerede zu kommen. Aber mir ist das egal, verstehst du«, Ingrid schwieg, ihr Atmen war hörbar geworden. »Inge... ich habe dich lieb.« »Ach Ben«, sie setzte sich neben mich und lehnte ihren Kopf an, »Viele Menschen denken mit Wollust daran, daß es andere gibt, die schlechter sind als sie selbst, zumindest nach außen hin. Und diese nach ihrer Moral schlechten Menschen beruhigen das eigene, schlechte Gewissen. Ich habe eine ganze Reihe biederer Hausfrauen gekannt, so nennen sie sich ja, sie sind heimlich auf den Strich gegangen und haben angeschafft, und der liebe Gemahl wußte von nichts. Und die Knilche, die im Senat gegen öffentliche Bordelle wettern, sie gehen dreimal wöchentlich in die inoffiziellen Puffs und reagieren ihre Perversionen ab...« »Hast du schon mal einen Wellensittich eingefangen?« »Wie? Eingefangen?« »Na ja, ich hab dir doch gesagt, als ich in Hamburg war, die Frau sagte, sie machte das öfters.« »Ach so, ja, die. müssen noch ganz andere Dinge machen, damit die ihre Miete bezahlen können. Ich habe keinen Schein, einmal hat mich die Polizei erwischt, sie haben ein großes Protokoll aufgenommen, doch sie konnten mir nichts nachweisen. Ist schon lange her.« »Das fiel mir eben nur so ein, Inge. Weißt du, wenn wir zusammen im Bett liegen, dann sagst du immer so vieles zu mir, manchmal denke ich daran, daß du das auch jemand anders sagen könntest, dann ist mir so komisch zumute, als könnte ich nicht atmen.« »Ben, Lieber«, Ingrid küßte mich sanft auf die Schläfe, »du weißt doch, daß es nicht so ist, du weißt es. Wenn du volljährig bist, dann können sie uns sowieso den Buckel runterrutschen.« »Das dauert noch lange.« -4 0 0 -
»So lange ist das gar nicht. Zeit vergeht schnell.« »Deine Bekannte, geht die auch?« »Früher ist sie mal. Heute ist sie mit einem Fabrikanten verheiratet und hat einige Verbindungen. Hilfst du mir schnell abtrocknen?« »Klar.« »Na, dann komm. Macht dir die Arbeit bei Niemöller Spaß?« »Oh ja, ich gondel überall mit dem Rad hin, zu den Bauten, weißt du, und wenn nichts los ist, dann sitze ich im Zeichenbüro. Niemöller ist nicht verkehrt. Gestern hat er mich gefragt, ob ich nicht mal Lust hätte, ein paar Skizzen zu machen und Querschnitte und so, er würde mir schon sagen, was ich falsch mache. Da ist ein freier Tisch, den darf ich benutzen. Er sagt, ich solle alles aufzeichnen, was mir so in den Kopf kommt. Ein Reißbrett ist da auch, aber ich kann nicht mit einer Zeichenmaschine umgehen. Das muß man erlernen.« »Oh, das lernst du schon, das geht nicht alles von heute auf morgen. Laß mich mal ziehen, ich habe nasse Hände.« Ingrid machte zwei Züge aus meiner Zigarette. Ich lehnte mich zurück, ich dachte an die Fundamente einer riesigen Brücke, wie sie langsam wuchs, nur auf zwei Pfeilern, eine kühn geschwungene Betonkonstruktion. Kein Holzgestell wie am River Kwai, oh nein, freitragend! Und wenn schwere Lkws darüber fuhren, dann vibrierte sie. Oder einen Staudamm. Aus dem Beton ragt das Eisengeflecht heraus wie Borsten aus einem verfilzten Besen; dazwischen krabbelten die Arbeiter herum, scheinbar wahllos. Doch jeder hatte seine Aufgabe, jeder verrichtete etwas Bestimmtes, und wenn man näher kommt, dann hört man das Rufen und Pfeifen, mit dem sie sich untereinander verständigen. Die Baumaschinen machen Krach. Und der Damm wächst. Und hin und wieder stehe ich mit Niemöller an der einen oder der anderen Stelle, wir vergleichen Pausen und Bauabschnitte, ein Polier geht vorbei, ich kenne sie alle auf der Baustelle, >Morgen, Herr Ingenieur!< >Morgen, MorgenTja, Pahlmer, wenn die Sache so weiter vorangeht, dann sind wir im Herbst mit dem ersten Abschnitt fertig. Übrigens ist da wieder so eine Ausschreibung, eine Talsperre. Kümmern Sie sich mal drum, sagen Sie mir, was Sie davon halten...< »Wenn du weiter so auf meine Bluse starrst, ist das ganze Muster weg, hallo! Bist du wieder unterwegs?« »Ja, ein bißchen«, sagte ich etwas verlegen. »Wollen wir Sonntag nach Berlebek fahren? Zur Adlerwarte? Ich möchte mir die Vögel so gerne mal von ganz nah ansehen, du, richtig wilde haben sie da. Ich bin zwar schon mal in Jugoslawien gewesen, aber bis zur Adlerwarte hat es noch nie gereicht. Sie sind gefährlich, nicht?« »Ach wo, die nicht. Als ich klein war, bin ich oft dagewesen, mit meinem richtigen Großvater, der, der zu Mama gehört, weißt du. Wir sind quer durch den Berg gegangen, das sagt man so, wenn man durch den Wald geht, na ja, das dauerte immer eine Stunde.« »Durch den Berg?« »Nein, nicht hindurch. Durch den Wald heißt »wir gehen durch den Berg« und in den Wald gehen heißt »wir gehen in den Berg«. »Wir fahren vor Mittag los und essen da oben irgendwo, wir werden mal so richtig Spazierengehen, ich freu mich schon!« Berlebek war ein kleiner Ort, es war ein Randort der Stadt, so wie Hiddessen, Wilhelmshöhe, Heiligenkirchen und Schling. In Schling wohnten der Onkel und der Großvater. Alle diese Orte trugen die Bezeichnung »Luftkurort«. In der Stadt kostete ein Schnitzel sieben Mark und fünfzig, in einem Luftkurort dagegen acht Mark und fünfzig. Die würzige Luft wurde mitberechnet. An jedem Ortseingang stand eine große Tafel, auf der auf Luft, Ruhe, Würzigkeit und Erholung hingewiesen wurde. In Berlebek gab es eine große Zusatztafel: »Besuchen Sie die Adlerwarte! Einmalig! Wilde, freifliegende Adler über den Wipfeln des Teutoburger Waldes!« Und darunter, etwas kleiner, aber doch so groß, daß man es schon
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von weitem lesen konnte: »Bitte achten sie auf Ihre Kinder! Hunde anleinen!« Im ganzen Ort waren eine Vielzahl gefiederter Holztafelpfeile angebracht, deren Spitze immer den kürzesten Weg zur Adlerwarte anzeigte. Unter jedem dieser Richtungspfeile war ein wetterfestes Bild mit einem Adler, immer verschieden; Adler sitzend, Adler stehend, Adler liegend, Adler im Dauerlauf, Adler im Gleitflug, Adler grimmig guckend, Adler lächelnd, Adler empört, Adler schlafend, Adler mit Beute, Adler flügelschlagend, Adler ohne Beute, Adler nachdenklich und immer so weiter. Die Beute des Bilderadlers sollte ein junges Reh sein, doch wenn man sehr genau hinsah, dann konnte man den verwaschenen Stempel eines ehemaligen Jutesacks erkennen. Welches Reh trägt schon ein Brandzeichen. Unter jedem Bild stand: »Adlerwarte Berlebek«. In dem Lokal, in dem Ingrid und ich zu Mittag gegessen hatten, waren Adler auf die Teller gebrannt, auf Tassen, auf Bestecke; die Toilettenhandtücher hatten einen eingewebten Adler, das Toilettenpapier einen aufgedruckten, den Hakenschnabel ganz am Rand. An einer Wandseite des Lokals war ein riesiges Farbfoto angebracht, aus Glas, das von hinten beleuchtet wurde. Auf dem Bild stand ein Adler inmitten rotblutiger Knochen und blickte ziemlich wütend um sich, weniger, weif es ein wildes Tier war, sondern weil man ihn einfach zwischen die Knochen gestellt hatte. Es mußte auf dem Hof von Kuhle & Kuhlmann sein, eine Schlachterei in Ortsmitte, denn im Hintergrund war ein Stück Backsteinmauer zu sehen, was der Unterschrift: »Adler in freier Wildbahn« völlig widersprach. Ingrid trug ein kurzes, rotes Kleid. Es war warm. Sie hatte gemeint, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie ein gelbes oder ein grünes Kleid angezogen hätte, weil Puter doch auch so furchtbar wild würden, wenn sie rot sähen. Wir befanden uns oben auf dem Berg, auf dem Gelände der Adlerwarte, das von einem Maschendraht umgeben war. Wir passierten drei Erfrischungsbuden, eine Wegbiegung, zwei Andenkenstände, eine Erfrischungsbude, einen großen Andenkenstand und einen kleinen, dann das Lokal »Zum -4 0 3 -
Adlerhorst«. Hinter dem Lokal schlängelte sich der Weg um Kurven, zwischen angelegten Rasenflächen und Büschen entlang. Überall standen Schilder. »Füttern verboten«, »Hunde anleinen«, »Nehmen Sie Ihre Kinder an die Hand«, »Führer zwei Mark«. Zu sehen gab es noch nichts. Eintritt hatten wir schon an der ersten Bude bezahlt, dort war eine Sperre gewesen. »Ben, wollen wir einen Führer nehmen?« fragte Ingrid. Ich grinste. »Nee. Wenn wir von der anderen Seite durch den Wald gegangen wären, dann hätten wir nicht mal Eintritt zu bezahlen brauchen. Da fällt das Gelände steil ab, deshalb ist da kein Zaun. Aber an den Felsen kommt man prima hoch.« »Ach du, ich bezahle lieber.« Besucher kamen uns entgegen oder überholten uns. Dann war der erste Adler zu sehen. Er hockte trübsinnig auf einem abgesägten Baumstumpf, der etwa einen Meter hoch war. Unter dem Stumpf war eine Wasserschale in den Boden eingegraben, daneben ein Schild: »Steinadler« und darunter Steinadliges Federflugis oder so ähnlich, was die lateinische Bezeichnung war. An einem Adlerbein war eine lange dünne Kette befestigt und deren anderes Ende an dem Baumstumpf. Eine Tafel an der Rasenkante wies darauf hin, daß jene Kette einen Radius von zwei Metern erlaube und daß man besser nicht in den Bereich dieser Zone ging. »Daaa! Mamaaa! Putt Putt!« krähte ein Kleinkind und wollte unbedingt zu dem Vogel hin, streckte eine Hand aus. Doch die Mama hielt es fest. »Jürgen, nun sei doch vernünftig«, sagte sie und zu einem Nebenstehenden: »Es ist mein Einziger, wissen Sie.« Ein junger Mann lag auf dem Rasen auf dem Bauch und schoß mit einer Kamera ein Foto nach dem anderen. Er hatte ein Bein etwas angezogen und stützte sich auf den Ellenbogen auf. Nach einigen Fotos sprang er auf, warf sich ein Stückchen weiter wieder hin und fotografierte erneut. Fast jeder der Besucher trug einen Apparat in der Hand oder um den Hals. Wenn bei jedem Klicken eine Feder ausfällt, dachte ich, dann ist er bis zum Abend nackt, der Adler. -4 0 4 -
»Was für ein stolzes Tier«, sagte Ingrid, »und wie groß der ist!« »Na ja, ist ja ein Adler.« Wir bummelten inmitten des Besucherstroms weiter, sahen uns zwei angebundene Uhus an, einen Falken, einen Seeadler und zwei Enten. Die waren nicht angebunden. Dann kam ein Kondor. Er saß mit zusammengefaltetem Hals auf seinem Baumstumpf und lauschte den Erklärungen eines Adlerwartenführers, die dieser einer Gruppe von Leuten gab. Daß der Kondor ein ganz gefährlicher sei, was ja auch die aufgestellten Schilder ringsum bewiesen und die starke Kette, die aufgrund der Umweltschutzbestimmungen in der Stärke genormt wäre. Und daß sich so ein Vogel in der Hauptsache von mexikanischen Säuglingen ernähren würde, auch von solchen, die schon ein paar Wochen tot seien, denn er wäre ein Aasfresser. Und daß er nur in den Bergen hausen würde, und wenn keine Berge da wären, na ja, dann auch in der Wüste. Die Gruppe schwieg und fotografierte. Ein dünner kleiner Mann sah mit Kopfrucken hin und her, doch es gab nur zwei deutsche Frauen mit zwei deutschen Säuglingen. Er hörte wieder dem Führer zu, der weitersprach. Manchmal zog der Aasfresser ein Augenlid etwas runter und guckte durch den Spalt, wer da noch so alles stand. Von der anderen Seite kam ein Langhaardackel quer über den Rasen. Er schnüffelte hier und da und störte sich weder an den Warntafeln noch an den vogelbewe hrten Stümpfen. Der Aasfresser drehte seinen Hals ein wenig und guckte runter. Unter ihm nahm der Dackel Trinkwasser, das eigentlich nur für Adler bestimmt war, zu sich. Dann schnüffelte er sich die zwei Schritte bis zum Baumstumpf hin, guckte hoch und der Kondor runter, wobei er den Hals nach vorne krümmte. Der Dackel war ein Rüde, er hob ein Bein, strullte kurz an den Baumstumpf, der Kondor guckte weg, brachte seinen Kopf wieder in die alte Lage und zog die Lider zu. Der Dackel lief weiter. ».., und deshalb diese besonderen Sicherheitsbestimmungen«, sagte der Adlerwartenführer. Die Umstehenden grinsten. »Und nur wenn er ganz satt ist, dann tut er keiner Seele etwas, wie -4 0 5 -
Sie gerade selbst festgestellt haben. Sie, gnädige Frau«, wandte er sich an eine Hinzugekommene mit einem Kinderwagen, »Sie können jetzt unbesorgt Ihr Kleines dem Kondoris Aasfressitis anvertrauen.« Aber die Frau wollte nicht und lachte verlegen. Vielleicht hatte sie nur das eine Kind. Die Gruppe ging langsam weiter, Ingrid und ich schlossen uns an. »Da sehen Sie gerade Hermann, der von der Jagd zurückkommt!« Alle Blicke folgten dem Adlerwartenführerzeigefinger, der steil in die Luft stach. »Zahm ist der«, sagte ich zu Ingrid. Hermann hatte schon für die Adlerwarte e.V. geflogen, als ich noch zur Schule ging. Für ein Butterbrot ließ er sich ohne weiteres streicheln. Damals hatte er in regelmäßigen Zeitabständen die Schulhöfe der umliegenden Orte abgeflogen. Der Adler setzte weich auf dem Rasen auf und faltete seine Schwingen zusammen. »Hermann hat heute mittag bestimmt wieder ein oder zwei Karnickel erlegt. Er ist unser billigster Kostgänger, er versorgt sich selbst«, erklärte der Führer, »er darf deshalb zu bestimmten Zeiten fliegen, wenn die Bewohner der Umgegend zu Hause sind. Manchmal ist er natürlich etwas scheu«, der Adler verschwand zwischen den Büschen, »aber Menschen, die er gut kennt, die dürfen ihn sogar anfassen. Und das ist Elli, unsere Elster...« Als wir nach Hause fuhren, ging die Sonne unter. »Ben?« »Hm?« »Es war ein herrlicher Tag heute, weißt du das?« »Ja.« Ich lehnte meinen Kopf an Ingrids Schulter. Wir waren anschließend quer durch den Wald gelaufen. Ingrid lief barfuß. Sie fand es schön, die Fichtennadeln unter den Füßen zu fühlen. Wir hatten Versteck gespielt, es war, wie wenn wir uns schon jahrelang kannten. Wenn ich sie fand, dann lachte sie so hell und unbeschwert, es hallte von den Bäumen wider. Ich hatte mir vorgestellt, daß es genauso klingen müßte, wenn man
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gläserne Tropfen über die kurzen Saiten einer schräg gestellten Harfe schüttet. »Noch Kaffee?« Ingrid füllte meine Tasse nach. Nach dem Frühstück saßen wir immer noch eine Weile herum und klönten, bevor ich das Rad aus dem Keller holte und zu Niemöller fuhr. Um neun mußte ich dort sein, jetzt war es erst halb. Mit dem Rad waren es nur zehn Minuten. Sie steckte sich eine Zigarette an und hustete nach dem ersten Zug. »Puh, in den falschen Hals gekriegt«, sagte sie, »hast du schon sehr früh mit Rauchen angefangen?« »Nein, ich war schon aus der Schule, ich war vierzehn, fast. Im Heim raucht jeder.« »Viele sagen, daß das Rauchen schädlich sei, ich habe mal gelesen, in Amerika ist ein Mann hundertundzwei Jahre alt geworden bei ein und derselben Zigarettenmarke. Blöd, nicht? Als Nichtraucher wäre er doch sicher auch so alt geworden. Magst du die neue Topfblume, dort links? Habe ich gestern mitgebracht, sie blüht nur einmal im Jahr, aber dafür vier Wochen lang, ich mag die Farbe so gerne.« »Ja, mag ich.« Ich dachte daran, wie sehr Ingrid sich immer über Blumen freute, die ich ihr mitbrachte. Manchmal war es nur eine ganz einfache gewesen, eine Kornblume oder eine Butterblume, die ich hinter einer Baubaracke gefunden hatte und die schon arg zerknittert war, wenn ich sie Ingrid am Abend gegeben hatte. Sie stellte sie dann in eine kleine Vase, und erst wenn die Blume ganz verwelkt war und ich eine neue mitbrachte, warf sie sie weg. »Ich glaube, ich muß los.« Ich sah zur Uhr. Es klingelte an der Wohnungstür. »Nanu, wer kann das denn sein?« Ingrid sah mich verwundert an. Ich dachte das gleiche. »Weiß nicht.« Es klingelte erneut, diesmal anhaltend, zweimal, dreimal hintereinander. »Inge! Bullen!«
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»Ja? Meinst du?« Sie sprang auf und räumte schnell das Geschirr weg, schob es wahllos übereinander in den Schrank. Solange ich jetzt bei Ingrid war, hatte es erst zweimal geklingelt. Abends. Beide Male war es ihre Bekannte, die dunkelhaarige Frau gewesen. Sie kann es jetzt ja auch sein, dachte ich, ich wußte aber, daß es nicht so war. »Leg dich in die Nische hinter der Couch«, sagte Ingrid leise. »Nein, ich nehme das Badezimmer, mach das Fenster hinter mir zu.« Es klingelte. »Moment« rief sie. Ich lief auf Socken ins Bad. Die Feuerleiter war eine Armlänge neben dem Fenster, und da die Flügel sich nach innen öffnen ließen, war es sehr einfach. Ich stieg die wenigen rostigen Sprossen hoch bis zum Dach. Unter mir schloß Ingrid das Fenster. Oben war ein breiter zinkverkleideter Rand, dann begannen die Dachpfannen. Ich kroch bis zum ersten Dachfenster, hob es hoch, es war nicht verriegelt, ich kletterte rein, auf den Boden. Ein Stück neben mir ragte ein viereckiges Blechrohr aus dem Fußboden, es reichte nach oben durch die Pfannen hindurch. In Bauchhöhe befand sich eine Klappe mit einem Riegel. Der Luftabzug vom Bad. Ein gleiches Rohr etwas weiter, es gehörte anscheinend zur Küche. Ich öffnete die Klappe und kauerte mich hin. Eine Tür schlug unten. Stimmen. Ich konnte sie nicht verstehen. Dann hörte ich Ingrid rufen: »... lassen Sie mich doch in Ruhe! Ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen!« »Aber Süße, du bist ja richtig prüde«, vernahm ich jetzt eine Männerstimme, »wenn du sonst auch so bist, dann kannst du aber nichts verdienen. Du hast zwar kein Bäckerbuch, doch die Augen des Gesetzes sehen überall, das weißt du ja.« »Ich werde mich über Sie beschweren! Und lassen Sie gefälligst meine Schubladen in Ruhe! Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl? Und für was überhaupt!?« Ein schurrendes Geräusch war zu hören. -4 0 8 -
»Das nicht, du holdes Kind. Aber wenn wir deine Burg auf den Kopf stellen wollen, dann machen wir das so, die Genehmigung reichen wir dann nach. Aber deine Klamotten interessieren uns nicht, uns interessiert, ob du einen Holberg kennst. Sagt dir der Name was?« Ingrid lachte spöttisch. »Ach! Weil Sie sich für irgend jemand interessieren, kommen Sie in meine Wohnung gestürzt, reißen meine Schubladen auf und beleidigen mich noch obendrein?« Schweigen. »Daß wir nicht wegen deiner langen Beine gekommen sind, das kannst du dir doch wohl denken«, sagte eine andere Männerstimme. »Ich kenne ungefähr fünfzigtausend, die Holmann heißen. Welchen wollen Sie denn nun haben?« »Werd nicht frech, Puppe, wir können auch andere Seiten aufziehen!« Über meinen Rücken lief es heiß, kalt, heiß, dann wieder kalt. Scheißbullen, dreckige! »Ich will Ihnen was sagen, wenn Sie nicht augenblicklich meine Wohnung verlassen, dann schreie ich um Hilfe! Das wollen wir doch mal sehen!« »Na gut, Fräulein Pahlmer. Eine Zeugin hat gesehen, wie ein junger Mann aus Ihrem Auto gestiegen ist. Vor einigen Wochen, aller Wahrscheinlichkeit war das der Neffe der Zeugin. Er ist aus einem Fürsorgeheim ausgebrochen. Wir sind hier, um Sie zu der Sache zu hören. Was haben Sie dazu zu sagen?« »Nichts. Aber ich bekomme gleich einen Lachkrampf«, erwiderte Ingrid. Schweigen. »Naaaa?« Ein Bulle. »Was naaaa?« »Na, was du zu sagen hast!« Ein Bulle. »Wie heißt die Zeugin denn?« »Wie die heißt? Was tut denn das zur Sache. Krüger heißt sie.« »Gut, dann möchte ich hiermit Anzeige gegen eine Frau Krüger erstatten«, sagte Ingrid, »wegen falscher Anschuldigung, -4 0 9 -
Verleumdung, was es genau ist, wird Ihnen mein Anwalt mitteilen. Die Anzeige nehmen Sie aber bitte gleich auf!« »Oho, du gehst aber ran.« Ein Bulle. »Übrigens nehme ich hin und wieder mal einen Anhalter mit, ohne daß der sich vorstellt. Außerdem war ich vor einigen Wochen, wie Sie sagen, im Urlaub. Und auch wenn ich einen Holmann kennen würde, dann hätte ich es Ihnen nicht gesagt!« »Vielleicht hat die Krügersche auch vor lauter Neffen ihren eigenen nicht gesehen«, ließ sich der erste Bulle vernehmen. Er meinte wohl seinen Kollegen. »Ihr Mann hätte ihn ja schließlich auch sehen müssen, aber der sagte ja, seine Frau sähe öfters was, was er nicht sähe. Junge Leute sind ja heutzutage manchmal nicht zu unterscheiden.« »Sie haben also nichts dazu zu sagen?« »Ich habe mich doch wohl klar genug ausgedrückt! Ich erstatte hiermit Anzeige gegen diese Krüger!« »Also passen Sie auf, wir werden die Krüger noch mal befragen, und so wie ich die Dinge sehe, wird sie ihre Behauptungen zurücknehmen.« »Ich verstehe zwar nicht, was es mit dieser ganzen Sache auf sich hat«, sagte Ingrid, »aber ich lasse mir das auf keinen Fall bieten!« »Ihr Bengel, also ihr Neffe, der ist im Sommer aus irgendeinem Erziehungsheim ausgebrochen. Wir sind erst durch die Tante aufmerksam geworden. Und er soll wieder rein in die Anstalt. Wofür werden Anstalten schließlich gebaut.« »Also Puppe, mach's gut.« Ich hörte, wie sie auf den Flur gingen, wie die Tür zuschlug. Kurze Zeit später schloß Ingrid die Bodentür auf. »Ben?« »Ja, ich bin hier.« »Ben, es waren tatsächlich welche. Jetzt sind sie weg.« »Ich weiß, ich habe alles mitgehört, durch den Luftschacht. Mistkerle!«
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»Laß doch. Ich habe gar nicht hingehört. Die kommen auch nicht wieder.« Wir gingen nach unten. »Vielleicht ist es doch besser, wenn wir woanders hinziehen, Ben?« Ich nahm sie in die Arme. »Ich hab dich lieb.« »Ich dich auch. Wenn wir deine Papiere haben, dann ziehen wir weg, ganz bestimmt.« »Ja.« »Oh, halb zehn gleich, du mußt doch los!« Als ich das Rad aus dem Keller schob, hatte ich die Bullen fast vergessen. Unterwegs dachte ich daran, daß ja auch einer mal in der Nähe stehen konnte, den Eingang beobachten. Aber viel nützte es nicht, es wohnten ja auch andere Familien dort. Ein Bild hatten die Bullen nicht von mir. Außerdem haben sie der Lappewasch nicht richtig geglaubt. Ingrid hat gut die Nerven behalten. Wir hätten ja auch nicht zu öffnen brauchen. Aber dann wären sie ein anderes Mal wiedergekommen. Bullen sind hartnäckig. München ist groß. Später einmal werde ich die Inge heiraten. Was machte das schon, wenn ich mit einundzwanzig wieder Hofberg hieß. Gar nichts. Ingrid meinte auch, was ich einmal gelernt hätte, das könnte mir niemand mehr wegnehmen, und so eine Prüfung konnte man nachmachen. Schade, mit Niemöller kam man so gut aus. Heute komme ich das erste Mal zu spät, wegen der blöden Bullen, wegen der Lappewasch! Was kümmerte es die überhaupt! Nicht mal eine echte Verwandte ist sie. Zu den Bullen rennen, das kann sie. Als wenn ich ein Schwerverbrecher wäre. Manchmal ist alles wie ein Traum. Man träumt sich von einem Tag zum anderen, und wenn man aufwacht, ist man tot. Klingt richtig philosophisch. Werde Niemöller sagen, daß ich die Zeit verschlafen habe. Dann grinst er bestimmt und sagt, daß ihm das auch schon passiert wäre. Freitags war bei Niemöller & Co. um halb vier Feierabend. Eigentlich schon um drei Uhr, weil dann auf den -4 1 1 -
Baustellen niemand mehr anzutreffen war. Im Zeichenbüro wurden die Reißbretter mit weißen Tüchern abgedeckt, man klönte noch ein bißchen, wünschte sich ein angenehmes Wochenende, und wenn die letzten weggingen, war es halb vier. Freitags ließ ich das Rad immer bei Niemöller stehen, weil Ingrid mich dort abholte. Wir kauften dann zusammen ein und tranken anschließend bei Steffens eine Tasse Kaffee und aßen Kuchen. Meist war es immer sieben Uhr, ehe wir zu Hause eintrafen. Beim Einkaufen schob ich den Drahtwagen, und Ingrid suchte aus Sie wußte immer, was fehlte, was wir brauchten. >Halt, Ben, hier ist der Zucker. Und eine Tafel Marzipanschokolade für dich! Und was darf ich mir heute wünschen?< >Alles.< >Gut, eine Rolle Drops, aber die saurenHeute nachmittag gehe ich zum Friseur, und um Punkt vier treffen wir uns am Theater, ich schaffe es nicht eher, du weißt ja, Friseur! Aber dafür bin ich wieder wie neu, gut?< hatte sie heute morgen gesagt. >Du bist immer wie neu, ein Friseur kann daran nichts ändern, ich werde mich an der Schloßparkhaltestelle auf die Bank setzen und warten«, hatte ich erwidert. Dort saß ich jetzt seit Viertel vor vier und beobachtete die Leute, die aus der Straßenbahn aus- und einstiegen. Gegenüber war das Theater. Die hohen dicken Säulen erinnerten mich immer an Elefanten. Das Theater war ein riesiger Bau und hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Elefanten. Doch die Steine und die Fassade waren grau, elefantengrau, und die Säulen waren Elefantensäulen. Acht Minuten nach vier kam Ingrid. Ich erkannte den hellblauen VW schon von weitem in der Autoschlange, die aus dem Stadtzentrum kroch. Ich stand auf und stellte mich an die Kante des Bürgersteigs, Ingrid stoppte auf der anderen Seite, um den Gegenverkehr vorbeizulassen. Sie sah zu mir herüber, spitzte ihren Mund zu einem Kuß und winkte. Ich auch. Eine neue Straßenbahn hielt, und die Leute an der Haltestelle stiegen ein. Ingrid wendete. -4 1 2 -
Dann geschah alles so schnell, wie man die Augen schließt und wieder öffnet; ich mußte an eine Libelle denken, die flirrend in der Luft still zu stehen scheint, die plötzlich ruckartig ihre Position verändert. Die Straße vor dem Theater war ziemlich breit. Um an meine Bürgersteigkante zu kommen, mußte Ingrid über die Straßenbahnschienen vor der Bahn, deren hydraulische Türen sich schlössen. Der Mann an der Kurbel sah das und gab ihr ein Handzeichen, daß sie ruhig fahren solle. Ingrid winkte, bedankte sich, sie konnte nicht den Lkw sehen, der zwischen Bahn und Bürgersteig angefahren kam. Vielleicht hatte der Fahrer schon von weitem gesehen, wie die letzten Leute eingestiegen waren, hatte sich ausgerechnet, daß er in eins durchfahren konnte, ohne anzuhalten, weil die Bahn abfahren mußte. Es gab ein krachendes Geräusch, ein kreischendes. Der VW wurde wie ein Pappauto zusammengedrückt, unter die bullige Stoßstange des Lastwagens, der ihn vor sich herschob, erst ein Stück weiter kam er zurn Stehen. Doch das Geräusch hält an, es ist so laut, daß ich meine, mein Kopf platzt auseinander. Menschen quellen an mir vorbei und laufen zu der Stelle hin, eilig, wichtigtuerisch und gierig, wie eine Schar Tauben, in deren Mitte man ein Stück Brot geworfen hat. Ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht vor dem Geräusch fliehen, und die Tauben schwimmen gläsern und flattern umher. Inge...Inge... Plötzlich ist das Geräusch fort aus meinem Kopf: Ich höre, wie sie alle durcheinander rufen, wie Autos hupen, der Sirenenton eines Unfallwagens. Meine Beine lassen sich wieder bewegen, links, rechts, links, rechts, Stolpern, ich laufe, linksrechtslinksrechtslinksrechts... Ich schiebe mich durch die Menge. Das Auto schaut nur noch ein wenig unter dem Lkw hervor, der jetzt zurücksetzt, es knirscht. Blau abgeblättertes, verbeultes Blech, das Dach bis auf die Türbrüstung niedergequetscht, bis auf den weißen Arm, der -4 1 3 -
über der Türkante hängt, manchmal von einem der Unfallwagenmänner verdeckt wird. »Weitergehn! So gehn Sie doch weiter! Weitergehn, meine Herrschaften! Weitergehn!« Ein zweiter Unfallwagen kommt, die Fahrer reden miteinander, der Wagen fährt an den Straßenrand. Ein Mann im weißen Kittel ist aus dem Haus schräg gegenüber gekommen. Er läuft. Es ist wie eine lautlose Szene vor dem Theater. Dort wo der Lastwagen gestanden hat, laufen dicke Kreidestriche über das Pflaster, sie klammern den blauen Blechhaufen ein, wie eine Zange. Schneidbrenner leuchten bläulich. Einer der Männer stellt das herausgebrannte Unterteil der Tür zur Seite, es fällt um, bleibt mit der rot gesprenkelten ehemals weißen Innenseite nach oben liegen. Schneidbrenner leuchten bläulich. Eine blauweiße Handtasche wird weitergereicht, zu einem Polizi-sten. Neben einem Polizeiauto hält ein Milchpalmenscheibenauto Zwei Männer steigen aus. Sie öffnen die hintere Tür und ziehen eine übergroße Brottrommel heraus, sie stellen sie neben die Schneidbrennermänner und haken den Deckel ab. »Weitergehn! So gehn Sie doch weiter! Weitergehn!« Ich bewege meine Füße. Je weiter ich mich von der Stelle entferne desto mehr höre ich wieder. Anfahrende Motoren, Hupen, das Ping-Ping-Ping einer Straßenbahn, das knisternde Lecken des Stromabnehmers an der Hochspannungsleitung, gerade hier an der Schloßparkstraße ist das ein paarmal hintereinander zu hören, weil mehrere Leitungen abzweigen. Wenn es dunkel war, nachts, erhellten die bläulichen Blitze die riesige Front des Theaters, die wuchtigen Säulen und machten ein Fabeltier daraus. Die Schwäne zockeln eine Weile hinter mir her. Sie machen das bei jedem, der dicht am Graben entlanggeht, um zu prüfen, ob es was zum Fressen gibt. An der Konditorei Steffens sitzen ein paar Leute vor der Tür unter der Markise und rauchen kaffeetrinkend und -4 1 4 -
kuchenessend. Vor dem Friseur nehme ich die schmale Passage und komme auf die Schmiedestraße, sie ist für den Autoverkehr gesperrt, damit die Leute in Ruhe einkaufen können. Der Selbstbedienungsladen, in dem wir immer einkaufen, liegt in der Mitte der Straße. Ich nehme mir einen der blanken Drahtwagen, schiebe ihn vor mir her und kaufe. Zum Wochenende kaufen wir immer allerlei ein. >Oh Ben, Mehl! Wir haben Mehl vergessen! Warte, fahr noch einmal zurück auf die andere Seite.< Das Mehl mit der gelben Ähre an der Tüte, wo... aha, da ist es ja. Und Drops, die sauren. Ich lege die Sachen oben auf den Wagen, doch sie rutschen immer wieder runter. >WolIen wir ein Schwarzbrot mitnehmen? Klar! Weintrauben, ich mache heute abend mal wieder diese Häppchen wie neulich, du magst sie, ich weiß es, du willst es nur nicht sagen.< Ja, ich mag sie. Viereckig, dreieckig, ein Käsewürfel, eine Traube und eine Salzstange oder ein Stäbchen. Salzstange ist besser, die kann man mitessen, man muß vorher nur ein kleines Loch bohren, sonst bricht sie ab. >Du, lauf noch mal schnell nach hinten und bring Erdnüsse mit. Und dann liest du mir wieder etwas vor, ja?< Hmhm, Streichhölzer, Zucker, Drops, wo sind denn... »Suchen Sie etwas Bestimmtes?« fragt die Verkäuferin. »Ja. Ja, ich habe Drops vergessen, ich kann sie nicht finden, die sauren, die mit der angeschnittenen Zitrone, ja, ja, die sind es.« Die Verkäuferin legt mir eine Rolle auf den Wagen. Sie rutscht nach unten unter die eingekauften Sachen. »Noch eine bitte, ich möchte noch eine haben.« Die Kassiererin an der Kasse nimmt Stück für Stück aus dem Wagen, registriert und läßt die Sachen in die Mulde hinter der Sperre rutschen, sagt etwas. Ich lege ihr den Fünfzigmarkschein hin, nehme das Kleingeld, das der Kassenautomat in eine Schale spuckt.
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Wo ist denn... die große Tasche, wir haben die große Tasche vergessen, warte, ich hole sie eben... sie wird im Auto sein... Ich bin unter den letzten und gehe zum Ausgang. »Hallo! Sie! Wollen Sie Ihre Sachen nicht mitnehmen!« Ich gehe schneller. »Hallo!?« Auf der Straße laufe ich. Es regnet gleichmäßig Fäden. Die Leute gehen dicht an den Vorderfronten der Läden entlang. Einige schimpfen, weil ich an ihnen vorbei durch die Pfützen laufe und sie bespritze. Ich erreiche den Markt. Ich laufe mit angewinkelten Armen zwischen die Autos auf der Kreuzung. Eine Hupe blökt, noch eine. Bremsen quietschen, wie wenn man mit dem angefeuchteten Finger über eine Scheibe fährt. Auf der anderen Straßenseite laufe ich langsamer, immer dicht an der Gehsteigkante entlang, die vollkommen frei ist, manchmal um einen Hydranten, um einen Fahrradständer herum. Die Menschen drängen sich alle an der Schloßparkmauer, weil die Autos Wasserfahnen werfen. An der Kreuzung biege ich ab. Die Straße verläuft breit und schnurgerade, macht einen leichten Knick, wieder gerade. An dem Knick ist das Theater, ich komme immer näher. Ich kann nicht mehr atmen, das unbarmherzige Würgen wird so stark, daß vor meinen Augen gleißende Streifen sind, kleine Punkte, die größer werden und blendend platzen, ich habe ein Gefühl, die Straße entlang zu taumeln. Ich rudere mit den Armen in der Luft herum, ich verliere immer wieder das Gleichgewicht, die Menschen schwanken und kreischen. Doch ich laufe ganz normal. Ich laufe an der Stelle mit den Kreidestrichen vorbei, sie sind durch den Regen verwischt, auf der Ladefläche eines Abschleppwagens hängt ein unförmiger blauer Klumpen halb an einem Hebekran, ein Polizeiauto, eine Gruppe Menschen, die auf die nächste Bahn warten. An der Post biege ich wieder ab. In meinen Ohren braust es, macht den Verkehrslärm unhörbar. -4 1 6 -
Gehweg. Straße. Kreuzung. Straße. Gehweg. Allee. Straße. Allee. Gehweg. Hinter der Musikakademie ist die Stadt so gut wie zu Ende. Die Rollschuhbahn, eine Künstlerkneipe, ein großes Kino: >Ben, VOM WINDE VERWEHT, den sehen wir uns an. Im Regina spielen sie den nächste Woche. Ich finde, das ist das beste Kino in der Stadt, so ein bißchen verräuchertes Plüsch, richtig gemütlich, nicht so ein kahler Kunststoffkasten...< Zur Linken beginnt der Wald. Ich laufe neben der Straße auf dem weichen Weg bis zur Mühle, da ist die letzte Haltestelle vor dem Depot. Ich biege ab und laufe in den Wald, zwischen die Buchen, bis es ganz still ist, dann gehe ich im Schritt, stolpere, falle hin, und das Aufstehen fällt mir schwer, ich bleibe an einem Baum sitzen. Ich merke, daß ich weine. Ein Mann weint nicht! >Doch Ben, auch Männer müssen weinen. Wenn ein Mann weint, dann gibt es einen sehr wichtigen Grund, dann weiß er sich nicht anders zu helfen. Aber deshalb ist er trotzdem ein Mann, gerade deshalb.< Es läßt sich nicht unterdrücken. Die Tränen laufen mir warm aus den Augen. Ich stehe auf und gehe weiter, sehe angestrengt nach vorne, als könne dort etwas passieren, was ich nicht versäumen darf, was ich sehen muß, doch bei jedem Schritt wanken die Stämme, werden Büsche und Äste glasig, ich muß die Augen schließen, wieder öffnen, um sehen zu können. -4 1 7 -
Es ist schon eine Weile dunkel. Die Beine tun mir weh, aber ich kann nicht stehenbleiben, ich stolpere immer öfter. Es nieselt weich durch das Blätterdach. Das Unterholz knackt und bricht. Ich gehe an mannshohen Schonungen vorbei. Es ist Wind aufgekommen. Die Tannen bewegen sich, sie sehen aus wie eine dichtgedrängte Menschenmenge. »Weitergehn! So gehn sie doch weiter! Weitergehn!« raunen sie, sagen sie, rufen sie! Von überall her vernehme ich es, durch das Keuchen des Windes, aus dem Ächzen alter Äste. Ich versuche erneut zu laufen, in die Tannen hinein, ich stoße sie auseinander und dränge mich durch ihre Zweige, meine Füße verhaspeln sich, ich falle hin und krieche weiter und bleibe nach Atem ringend unter Zweigen liegen. Jetzt ist alles still. Am Morgen ist der Himmel verhangen. Ich sehe zur Uhr. Es ist Nachmittag. Ich bleibe einfach liegen. Die Mulde unter mir ist naß, und von oben tropft es regelmäßig. Meine Beine frieren. Ich ziehe sie unter den Körper. Die Zigaretten in meiner Hosentasche sind feucht, doch ich finde eine, die sich anzünden läßt, versuche mich noch mehr einzurollen, weil ich jetzt überall friere. Ich krieche unter der Tanne hervor, stehe auf. Die Bewegungen treiben mir den Schweiß aus den Poren. Ich ziehe meine Jacke aus und öffne das Hemd bis zum Bauch. Als es dunkelte, war ich an einer Ortschaft. Es war der Adlerwartenluftkurort. Ich kaufte mir an einem Kiosk eine Schachtel Zigaretten und eine Tüte Kekse und ging wieder in den Wald. ES WAR DUNKEL. AUF HOLBERGS TISCHCHEN neben dem Bett brannte eine kleine Lampe, die das Zimmer nicht ausleuchtete. Er konnte aber trotzdem alle Gegenstände erkennen, weil durch die verglaste Wand zum Flur hin etwas Licht durch die Vorhänge fiel. Schwester Elisabeth hatte Nachtdienst. Sie kam immer zuerst zu ihm, wenn ihr Dienst begann. Er hatte jedenfalls das Gefühl, daß es so war. Er -4 1 8 -
überlegte, wieviele Tage er schon hier war, zehn oder elf, er wußte es nicht genau. Er hatte erst einmal in einem Krankenhaus gelegen. Nicht in einer Klinik. In einem Krankenhaus, in einem gewöhnlichen, in einem Lazarett. Eine Klinik war etwas Besonderes, bei einer Klinik setzte man gute Ärzte, gute Behandlung und Krankenzimmer voraus. Bei einem Lazarett nicht. Der Name Lazarett erinnerte an Krankensäle, an Ärzte, die auch mal ein Besteck im Bauch eines Patienten liegenlassen konnten, es erinnerte an Feldbetten, Notdürftigkeit und Eile. Lazarett war eine gewöhnliche Sache, eine gemeine, ein gemeines Krankenhaus, in dem jeder behandelt werden mußte. Damals war er gerade sechzehn gewesen. Die Bullen, die ihn verfolgten, hatten sich nicht lange bei der Vorrede aufgehalten. Komplizierter Schußbruch des rechten Oberschenkels. Der Lazarettaufenthalt hatte fast fünf Monate gedauert. In dem Lazarett hatte er damals fingerlange Kakerlaken kennengelernt, fingerhohen Dreck und gichtfingerige Mörder. Schwester Elisabeth kam herein. »Bist du nicht müde?« frage sie. »Nein, ich schlafe tagsüber so viel, ich glaube, ich verschlafe den ganzen Tag.« »Das ist ein Zeichen der Gesundung, jeder Arzt wird das bestätigen.« »Und Wachsein macht krank.« »Sei nicht so sarkastisch.« Sie fühlte seinen Puls. »Eine Kollegin wird mich gleich eine Weile lang ablösen. Sei ein bißchen nett zu ihr. Sie möchte dir so gerne helfen. Dein Puls ist in Ordnung, du hast es jetzt geschafft.« »Sind die Typen noch da?« »Natürlich. Du bist der erste Patient bei uns, der seine Leibwache vor der Tür sitzen hat. Es wird aber noch ein Weilchen dauern, bis du wieder laufen kannst. Die Aufpasser wissen es vom Arzt.« »Kannst du mir etwas zum Trinken bringen?« »Natürlich, kommt gleich.« -4 1 9 -
Aufpasser, dachte Holberg, damit ich nicht abhaue. Wenn das so einfach wäre. Das Abhauen vielleicht, irgendeine Gelegenheit gab es immer mal, aber dann. Ich kann nicht mein ganzes Leben lang abhauen, ich laufe im Kreis, ich beginne an einem Punkt, laufe los und dann bin ich wieder dort, wo ich begonnen habe, wo ich jetzt bin; ein Teufelskreis. Eine andere Schwester betrat in diesem Augenblick das Zimmer. Holberg sah es an dem Häubchen, das sie trug. Der Lichtkreis der Lampe fiel auf ihr Gesicht, auf ihre Haare, sie waren blond und kurz. »Marion...« Er schloß die Augen, öffnete sie wieder. Es war Marion. Sie stand neben dem Bett. »Ich bringe diese Saft«, sagte sie und lächelte. Sie stellte das Glas ab und sah zur Tür. Dann beugte sie sich über ihn, er fühlte ihre Lippen auf seiner Stirn. »Ich bin eine shlechte Shwester, at jeg kommer for sent, hm, wie sagt man das in tysk..., daß ich komme allzu spät. Es war ein bischen shwierig zu finden wo du bist, aber nun bin ich da.« Sie setzte sich in den Stuhl neben dem Bett und nahm seine Hand, streichelte sie. Er sah sie an, sog ihr Lächeln in sich auf, dieses Lächeln, das er so liebte, das ihn aufgerichtet hatte, wenn er mal »down« gewesen war, ohne daß sie es bemerkt hatte. Beim Lächeln konnte man ihre weißen, spitzen Eckzähne sehen. Er hatte ihr gesagt, daß ihn das an ein kleines, wildes Raubtier erinnern würde und erklärt, was das war. Sie wußte nicht, was ein Raubtier war. >Ist es eine kleine Kaninschen? In Danmark es gibt nur kleine Kaninschen!< »Marion, es ist alles zu schwer...« »Du mußt nicht sprechen, wir haben so viel zueinander gesagt, you remember, what does it mean in dansk...« »Jeg elske dig.« »Oh, ich wußte das, du bist ein shlauer Junge.« Es war wunderbar, ihr zuzuhören. Sie gab sich immer solche Mühe, wenn sie >sch< oder >schw< aussprach, aber es klappte nur selten. -4 2 0 -
»Ich kann nicht bei dir sehr lange bleiben, dear, Shwester Elisabeth hat es so gemacht, daß wir uns sehen. Aber ich werde immer wieder kommen, du mußt vertrauen auf mich, wir zusammen schaffen alles, verstehst du das!« Holberg lächelte. Seine Brust schmerzte, es war nicht von der Operation, es war ein anderer Schmerz. Er schloß die Augen und fühlte ihre Nähe, Marions Nähe. »Es ist sehr gut, daß du da bist«, sagte er nach einer Weile »Ja, sehr sehr gut.« Bei Marion war >sehr sehr gut< die höchste Steigerung. »Du mußt shlafen. Ich bin jetzt deine Krankenschwester, und du mußt hören, was sie zu sagen hat.« »Ich möchte dich aber ansehen.« Er nickte manchmal ein. Wenn er die Augen öffnete, saß sie unverändert da und sah ihn an. Der Platz neben dem Bett war leer. Schwester Elisabeth befand sich im Zimmer. »Sie wollte dich nicht wecken«, sagte sie, kam ans Bett und setzte sich, »sie fliegt in zwei Stunden zurück. Sie ist eine großartige Frau. Ich bin sicher, daß ihr es zusammen schaffen werdet. Du liebst sie sehr?« Holberg dachte nach. »Ja.« »Warum hast du mir dann so wenig von ihr erzählt?« »Ich kenne dich nicht. Ich kenne dich erst ein paar Tage.« Elisabeth schwieg. »Du hast recht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich möchte dir danken, daß du sie hier hereingebracht hast.« »Es war nicht schwer. Die Bewacher kennen sie nicht.« »Du hast deinen Job auf's Spiel gesetzt.« »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich hatte es aber dennoch getan. Ich hoffe, daß man dir eine Chance gibt.« »Was weißt du von einer Chance.«
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»Oh, es wird einiges getan. Ich habe mich in diesen paar Tagen unserer Bekanntschaft ein bißchen informiert, über Strafvollzug, weißt du.« »Ja, und du hast festgestellt, wieviel doch im Grunde genommen für die Resozialisation getan wird.« »Ja. Hier in der Stadt ist ein Arbeitskreis...« »Ja, das hat man jetzt in allen Städten, das ist in.« »Warum sprichst du so verbittert?« »Das kann ich dir nicht mit zwei Sätzen sagen. Eine Chance. Ein Richter sieht eine Chance darin, daß er anstatt fünfzehn Jahre zehn Jahre verhängt. Und mit diesen zehn Jahren mußt du leben. Oder krepieren. Wenn du lebst..., du mußt dir das wie einen Tausendfüßler vorstellen, jede Woche wird ihm ein Bein abgehackt, das ist Vorschrift, für jede menschliche Regung wird dir auch ein Bein abgehackt. Nach acht Jahren oder auch nach neun schickt man dich wieder raus. Dann versuche zu laufen. Du hast neunhundert Mark in der Tasche, es sind nicht einmal die Zinsen irgendwelcher Schulden. Eine Wohnung bekommst du nicht. Wer bezahlt die Mietvorauszahlung? Du nimmst dir irgendwo ein möbliertes Zimmer, du darfst niemandem sagen, woher du kommst. Aber es dauert in der Regel nicht sehr lange, dann weiß deine Umgebung woher du kommst. Dann weiß es auch dein Arbeitgeber. Und dann suchst du dir was Neues, weil du hoffst. Weil du meinst, du hast deine Strafe verbüßt. Aber du mußt dir wieder was Neues suchen. Und dann gehst du dorthin, wo niemand Anstoß daran nimmt, daß du mal gesessen hast. Was macht man in diesen Kreisen, die sich von Ungesetzlichkeiten über Wasser halten? Man heult mit den Wölfen.« Holberg schwieg. Schwester Elisabeth erwiderte nichts. Die Stille im Zimmer war bedrückend. Irgendwo fuhr ein Auto an, es war nur als ein leises Grummeln zu hören. Du wirst ganz normal in so ein Haus eingeliefert«, fuhr er langsam fort, »und mit einem normalen Verstand erkennst du, daß du in absehbarer Zeit ein Tier sein wirst, ein Tier heißt in diesem Fall ein Mensch ohne Meinung, ohne Selbständigkeit, -4 2 2 -
ohne Selbstvertrauen, du wirst zum Befehlsempfänger abgerichtet. Was du behältst, ist dein aufrechter Gang. Du hast vielleicht eine Frau, und trotz allem hältst du durch, weil du diese Frau hast. Und dann beginnt diese Bindung langsam zu zerbröckeln. Man kann nicht nur immer von der Erinnerung, von der Vergangenheit leben. Wenn man nach vorne gehen will, muß man auch nach vorne sehen, sonst verhaspelt man sich, man stolpert. Eine Ehe oder eine Gemeinschaft überhaupt läßt sich nicht durch Briefe, durch einen Besuch alle vierzehn Tage aufrechterhalten.« »Aber es gibt doch Urlaub«, unterbrach sie ihn. »Siehst du, Elisabeth, das ist das eigentlich Gemeine an der ganzen Sache. Jedem wird etwas vorgegaukelt, der Gefangene hat, der Gefangene bekommt, der Gefangene kann... natürlich bekommt er Urlaub. Wenn du zehn Jahre Strafe bekommen hast, dann kannst du frühestens ein oder eineinhalb Jahre vor deiner voraussichtlichen Entlassung Urlaub bekommen. Du kannst bekommen, du mußt nicht bekommen. Bei zehn Jahren würde das dann heißen, daß du nach sechs oder sieben Jahren Urlaub bekommst. Es ist eine Auslegungssache, der man einen Gesetzestext gegeben hat.« Holberg trank den Rest Saft aus. »Soll ich dir noch ein Glas holen?« »Hmhm. Es wird hell.« Er sah zu den Fenstern. »Es wird ein Scheinwerfer gewesen sein, es ist erst fünf Uhr.« Elisabeth verließ das Zimmer und kehrte einen Augenblick später mit einem gefüllten Glas zurück, stellte es hin und setzte sich wieder. »Erzähl doch weiter«, sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Soviel gibt es da nicht zu erzählen.« »Es gibt dort doch auch Betriebe...« »Natürlich. Dort gibt es auch Betriebe.« »Weißt du, ich denke gerade daran, wenn ich manchmal so richtig unzufrieden bin, dann stürze ich mich in die Arbeit, und irgendwie überwinde ich dann diesen Punkt.«
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»Dort könntest du dich in Plastiklöffel, in Plastikgabeln stürzen. Du nimmst dann ein Plastiklöffelchen, schiebst es in eine durchsichtige Papierhülle. Danach ein Plastikgäbelchen. Das schiebst du auch in eine durchsichtige Papierhülle. Beide Papierhüllen legst du dann, entgegengesetzt zusammen, in einen Pappkarton. In diesen Pappkarton passen zwölf Doppelbestecke. Dann faltest du den Pappkarton zu. Du wirst es sicher sofort können, die Falten sind vorgestanzt. Wenn du fünf solcher Pappkartons gefüllt hast, dann schiebst du sie in einen größeren Pappkarton. Das wirst du sicher auch können, denn in diesen größeren Pappkarton passen nur fünf kleine. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn du nun fünf größere Pappkartons mit fünf kleinen besteckgefüllten Pappkartons gefüllt hast, dann schiebst du diese fünf größeren in einen noch größeren. In einen Karton mit der Aufschrift >Inhalt Stück 300 à 1 PaarSie machen gute Fortschrittein ein paar Tagen können die Fäden entfernt werden; aber das brauchen wir nicht unbedingt zu machen.< Letzteres hatte der Arzt mehr zu sich selbst gesagt. Holberg fühlte, daß irgend etwas in der Luft lag. Wahrscheinlich wollte man ihn wegbringen.
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Als Schwester Elisabeth sich zu ihm setzte, fragte er sie. »Es ist darüber gesprochen worden«, erwiderte sie, »aber der Arzt will noch nicht. Irgendeine Staatsanwaltschaft hat angefragt. Sie wollen dich in eines ihrer Krankenhäuser bringen. Gibt es dort auch Schwestern?« »Nein. Das heißt, in dem Lazarett in dem ich früher mal war, lief so eine alte Vettel herum, sie machte die Blutsenkungen. Es ging immer ein Beamter mit, damit sie nicht mal vergewaltigt wurde. Aber sie sah aus wie ein Vampir. Wer vergewaltigt schon einen Vampir.« Elisabeth lächelte. »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte sie, »es gibt doch auch gute Richter. Solange nichts Gegenteiliges bewiesen ist, kannst du doch hoffen... du... du bist kein Verbrecher, du mußt dich vertei-digen...« »Da gibt es nicht viel zum Verteidigen, weißt du, als ich das erste Mal vor einem Richter stand, las er mir meine Akte vor, die hat jeder, so eine Akte. Und er las: Der Angeklagte legte bereits während seines Heimaufenthaltes den Grundstein für sein späteres, kriminelles Verhalten, indem er mit einer Axt auf ein Starkstromkabel einhieb und die Arbeit des Betriebs, in dem er arbeitete, sabotierte.« Holberg grinste schwach. »Das glaube ich nicht!« »In einem Prozeß urteilt man nicht nach Glauben, sondern nach Tatsachen, nach Fakten. Und so ein Aktenvermerk ist eine Tatsache.« »Aber das geht doch nicht, so was muß doch objektiv überprüft werden«, Schwester Elisabeth schwieg. »Das ist alles so neu für mich, so kompliziert«, sagte sie dann. »Ich habe noch nie etwas mit einem Gericht zu tun gehabt.« »Wie schön für dich.« »Ach, so meine ich das doch nicht, du weißt es. Ich kann mir das nicht vorstellen, wie das ist, immer in einer kleinen Zelle. Mit wem kannst du dort sprechen?« »Du kannst mit jedem sprechen, mit jedem Gefangenen. Doch es ist keiner unter ihnen, der den anderen versteht. Sie verstehen nur sich selbst.« -4 4 3 -
»Es gibt doch Lehrer dort. Hier in der Stadt sind zwei Lehrer in der Anstalt. Ich weiß es, dieser Arbeitskreis geht einmal in der Woche hinter die Mauern.« »Zwei Lehrer und fünfhundert Mann.« »Wenn sie mich wegbringen«, fuhr er dann fort, »sag mir vorher Bescheid. Dann kommt es nicht so überraschend.« »Natürlich. Ich sage dir ganz bestimmt Bescheid.«
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13 In der Zelle standen vier Betten, je zwei übereinander. Unter dem Fensterloch standen zwei, die anderen längs der Wand. Dahinter war noch etwas Platz für ein Waschbecken aus Eisen und eine Toilette. An der anderen Wandseite stand ein Tisch mit vier Hockern. Über dem Tisch hingen vier kleine Schränke. Neben den Schränken waren vier Nägel in die Wand geschlagen, an denen drei Handtücher hingen. Unter den Handtüchern befand sich eine Heizung mit vier Rippen, und da wir nur zu dritt auf der Zelle lagen, teilten wir uns die Wärme der vierten Rippe. Ich befand mich schon zwei Wochen hier in diesem Gefängnis, mitten in Göttingen. Die Bullen hatten uns zwei Stunden, nachdem wir uns von dem Stadtratssohn getrennt hatten, erwischt. Erst hatten sie uns zusam-men in ein anderes Gefängnis gebracht, am späten Abend des Tages war ich dann hierher verlegt worden. Sie hatten Angst, daß wir zusammen ausbrechen würden. So schlecht war es gar nicht im Gefängnis. Hier brauchte ich niemanden mit >Bruder< anzureden, und man wurde den ganzen Tag lang in Ruhe gelassen. Die Tür wurde viermal am Tag geöffnet. Morgens gab es Brot und braunen Kaffee, mittags eine gemischte Suppe, in der auch kleine, schwarze Speckstückchen schwammen, abends wieder Brot, braunen Kaffee, einen alten Fisch oder ein Stück Käse. Morgens wurde die Tür noch mal aufgeschlossen, zum Hof-rundgang. Die ersten drei Tage hatte ich alleine auf der Zelle verbracht, tagsüber, weil die beiden anderen tagsüber in einem Saal arbeiteten. Dort wurden Einkaufstaschen aus Papier geklebt. Am vierten Tag durfte ich auch in den Saal mitgehen. Manchmal saßen dort sieben Männer, manchmal zehn, wie sie wollten. Vor dem Saal, dessen Tür sehr oft offen stand, war ein kleiner Flur. Dort war immer ein Hauptwachtmeister, der mit einem uralten Gefange-nen die geklebten Taschen zählte und verpackte. -4 4 5 -
Daß er ein Hauptwachtmeister war, das hatte er mir genau erklärt, weil ich »Wärter« zu ihm gesagt hatte. Er trug auf seinen Schulterstücken drei Sterne. Das bedeute Hauptwachtmeister, hatte er gesagt, und das sei mehr, als zwei Sterne oder gar ein Stern. Das leuchtete mir ein. Also nannte ich ihn Hauptwachtmeister. Herr Meier wollte er auch nicht hören. So hieß er wirklich. Die anderen sagten alle nur »Meister« zu ihm. Zu jedem Wärter sagten sie Meister. Das fand ich sehr blöd. Als Meister mußte man wenigstens eine Meisterprüfung haben. Und die hatte er nicht. Außerdem gab es für Wärter keine Meisterprüfung, weil sie nur Türen auf- und zuzuschließen brauchten. Das leuchtete mir auch ein. Am fünften Tag hatte mich der Hauptwachtmeister Meier auf den Flur geholt und gesagt: »Holberg, du bist ein kräftiger Kerl! Du hilfst hier dem Böhm beim Verpacken und trägst die Sachen immer mit runter, wenn der Wagen kommt!« Böhm war der uralte Gefangene. »Geht in Ordnung, Herr Hauptwachtmeister«, hatte ich erwidert. Wenn es nichts zum Verpacken gab, saß ich mit im Saal. Die beiden, mit denen ich auf der Zelle lag, waren schon über zwanzig. Sie warteten auf ihre Berufungsverhandlung. Der eine war aus der Automatenbranche, sagte er. Er hatte vier Jahre bekommen. Das war ihm zuviel. Er hatte schon mal drei Jahre gesessen, in einer Jugendstrafanstalt, die Vechta hieß. Damals hatte man ihm eine Strafe von unbestimmter Dauer gegeben. Zwei bis vier Jahre. Davon hatte er drei verbüßt. Diesmal hatten ihn die Bullen auf frischer Tat erwischt. Die Automatenwand, an der er gearbeitet hatte, war durch eine Alarmanlage mit den Bullen verbunden gewesen. Der Besitzer hatte die Anlage einbauen lassen, weil an der Wand andauernd gewerkelt wurde. Der, mit dem ich zusammenlag, wußte davon nichts. Er war das erste Mal in jener Gegend gewesen. Plötzlich hatten die Bullen hinter ihm gestanden. Da war es zu spät -4 4 6 -
gewesen. Der andere hatte schon zweimal gesessen, einmal sechs Monate, dann drei Jahre und einen Monat. Er hatte Villeneinbrüche begangen. Es war ihm auf die Dauer zu nervenaufreibend gewesen, sagte er. Als er wieder entlassen war, hatte er die Branche gewechselt. Die Richter meinten, nun sei es Raub, schwerer Raub. Seine Freundin war ein Handtaschenmädchen. Der aus der Automatenbranche hatte mir heimlich gesagt, sie sei der letzte Schrott und mache es für eine Zigarette, wenn sie gerade keine hätte. Das Mädchen war in den Wallanlagen auf und ab gegangen, und wenn einer kam, der wollte, dann hatte sie sich zwanzig Mark geben lassen und zu dem, der wollte, gesagt, er solle mal die Hose aufmachen. Und dann war das Mädchen plötzlich weggerannt. Und der, der, wollte hinter ihr her, weil er eben sie oder sein Geld haben wollte. Plötzlich war der ehemalige Einbrecher, mit dem ich zusammenlag, hinter einem Baum hervorgesprungen und hatte dem, der wollte, den Weg versperrt, ihn gefragt, was er überhaupt wollte und so nebenbei einen Aufwärtshaken losgelassen. Er schlug gute Aufwärtshaken. Wir stellten jeden Abend Tisch und Hocker auf die Betten. Er hatte früher mal ein bißchen geboxt. Nach dem Aufwärtshaken konnte der, der wollte, nicht mehr weiterlaufen, und der Einbrecher hatte ihm die Brieftasche und die Uhr abgenommen. Eines Abends hatte er selbst einen Haken bekommen, sagte er, mit links und ganz kurz aus der Schulter heraus, von einem Bullen. Der Bulle, ein Polizeilandesmeister im Halbschwergewicht, sollte diese Brieftaschengeschichte mit Haken aufklären. Das war ihm gelungen. Das Handtaschenmädchen mußte nun zwei Jahre Körbe flechten. Der Einbrecher hatte vier Jahre bekommen. Er war auch schon in der Jugendstrafanstalt Vechta gewesen und nach dem, was -4 4 7 -
er so erzählte, war dieses Vechta noch schlimmer als Heiligenstatt. Jeder der dort eingeliefert wurde, mußte Rohr flechten. Für Verwaltungsteppiche. Neunzig Meter am Tag. Immer rückwärts. Wer es nicht schaffte, der bekam eine Meldung. Auf eine Meldung hin gab es Arrest. Die Arresttage wurden hinten an die Strafe drangehängt. In den ersten Monaten durfte man keinen Besuch empfangen, man durfte nicht rauchen, nur einmal im Monat schreiben, man saß in seiner kleinen Zelle und war mit Flechten beschäftigt. Die Haut an den Fingern ging kaputt, und wenn man damit zum Sanitäter ging, dann pinselte der Jod drauf, und man mußte weiterflechten. Aus dem Fenster durfte man nicht gucken, sonst gab es Arrest; singen durfte man nicht, sonst gab es Arrest; pfeifen durfte man nicht, dann gab es Arrest; onanieren durfte man nicht, sonst gab es Arrest; beim Hofgang durfte man nicht mit dem Vordermann sprechen, dann gab es Arrest. Es gab eigentlich nichts, wofür es keinen Arrest gab, und ich konnte mir vorstellen, daß dort welche schon zehn Jahre oder noch länger saßen. In so eine Anstalt brauchte man nicht erst verlegt zu werden, um zu wissen, daß man dort abhauen würde. Wenn ich es mir so richtig überlegte, war es im Gefängnis nun auch wieder nicht so gut. Sicher, man brauchte nicht »Bruder« sagen, auch keine Gebete sprechen, aber es war so eng in einer Zelle. Immer war es mir, als fiele mir die Decke auf den Kopf, als könnten jeden Augenblick die Wände einstürzen und mich unter sich begraben. Der Einbrecher und der Automatenfritze wollten auch türmen, aber erst nach der Berufungsverhandlung, weil sie meinten, daß sie vielleicht weniger Strafe bekämen. Dann brauchten sie nicht zu türmen. Aber das war mir zu unsicher. Ich würde gar nicht erst warten, bis man mich verurteilte. Mich würden sie sowieso nach Vechta bringen. Ich würde es dort sicher schwerer haben, mit dem Abhauen. -4 4 8 -
Ich dachte oft daran, daß Karen nur durch die Gitterstäbe und die Stadt von mir getrennt war. Das war schlimm. Wir waren beide eingesperrt, in einer Stadt, aber wir konnten uns nie sehen. Vielleicht war sie jetzt abgehauen? Sie würde es verstehen, daß es gar nicht so einfach war, aus einem Gefängnis zu türmen. Daß es so war, das machte mich richtig nervös. Ich war schon ein paarmal mit dem Uralten und dem Hauptwachtmeister Meier unten in einem kleinen Nebenhof gewesen. Dort wurden die verpackten Pakete auf einen Lieferwagen verladen. Der Lieferwagen kam in den Hof gefahren, er paßte genau in den Hof rein, man konnte gerade noch das Tor schließen. Doch an der Mauer stand ein Schuppen, von dem ich auf die Mauerkrone kommen konnte. Vor dem Schuppen standen Mülltonnen. Das hatte ich jetzt zweimal gesehen, auch, daß der Hauptwachtmeister Meier jedesmal an den Tonnen stand. Aber der würde sich ablenken lassen, wenn es soweit war. Vor drei Tagen waren drei Leute aus einem Zirkus eingeliefert worden. Der Zirkus gastierte in der Stadt. Die drei waren nur eine Nacht geblieben, am anderen Morgen waren sie während des Hofrundganges über die Mauer gegangen. Schwarzhaarige drahtige Kerle waren es gewesen, und das Ganze hatte höchstens ein oder zwei Minuten gedauert. Einer hatte sich an der Mauer gebückt und seinen Turnschuh zugeschnürt, der zweite hinter ihm war stehengeblieben, als warte er solange, und plötzlich war der Dritte mit ein paar langen Sätzen über den schmalen Hof gerannt, auf den Rücken des Gebückten gesprungen, dann auf die Schultern des Stehenden und hatte oben an der Mauer gehangen. Der Stehende war blitzschnell auf den Gebückten gesprungen und hatte an die Beine des Hängenden angefaßt, und der Gebückte hatte sich aufgerichtet, war wie ein Wiesel an dem Stehenden, der jetzt auch hing, hochgeklettert, er hatte ihm geholfen, mit der Brust auf die Mauer zu gelangen, der Stehende hatte einen raffinierten Aufschwung gemacht, zu zweit hatten sie den Hängenden hochgezogen. Das alles war so schnell gegangen, -4 4 9 -
daß jeder nur geglotzt hatte. Auch der Wärter, der die Hofaufsicht führte. Dann war der durch die offene Tür ins Haus gerannt, hatte die Alarmschnur gezogen, die über den Türen entlanglief. Zusätzlich hatte er laut geschrien: »Alarrrrm!!« Dabei befand sich draußen gleich neben der Hoftür ein Alarmknopf. Doch die drei waren weg gewesen. Jetzt standen immer zwei Wärter Auf dem Hof, der eine an der Stelle, an der die Zirkusleute über die Mauer gegangen waren. Ich steckte mir jeden Tag zwei Zigaretten ein. Die wollte ich rauchen, wenn ich es geschafft hatte. Die Tage des Wartens läpperten sich zusammen. Heute waren es achtzehn, Dienstag. Sonntag war der zweite Advent. Auf jedem Gefängnisflur hing ein Adventskranz ohne Kerzen. Die Kerzen wurden am Adventstag auf den Kranz gesteckt und angezündet, weil sie sonst geklaut wurden. Verpackt wurde gar nichts. Niemand hatte Lust zum Arbeiten. Im Saal wurde Karten gespielt. Hauptwachtmeister Meier kam herein. »Böhm und Holberg! Mitkommen!« Wir kamen. »Ist Koks gekommen«, sagte er draußen auf dem Flur, »die beiden Kalfaktoren schaffen das nicht allein bis Feierabend. Wir helfen!« Er ging uns voran die Treppen hinunter. Ich fühlte nach den beiden Zigaretten hinten in meiner Tasche. Sie waren da. Koks abladen, Koks abladen, Koks abladen, sang es in meinem Kopf. Auf dem Hof hustete ich vor mich hin, um meine Verblüffung nicht merken zu lassen. Das Tor war offen! Schräg vor die Öffnung war ein großer Lkw gefahren, voller Kokssäcke. Die Ladeklappe hing bis auf den Boden, man konnte nicht unter dem Lkw hindurch. Hauptwachtmeister Meier stellte sich sofort in die Lücke, wo der Lkw nicht bis an die Mauer reichte.
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Der Fahrer stand im Keller und zählte die leeren Säcke. Der uralte Gefangene kletterte auf den Wagen und zog die vollen Säcke an die vordere Kante. Er war sehr zäh. Ich trug den Koks mit in den Keller. Ich paßte es so ab, daß ich nie zusammen mit den Kalfaktoren nach unten ging oder wieder heraufkam. Vielleicht rannten die im Gefängnis auch hinter einem her? Wer wußte das schon. Ich kam zum fünften Mal wieder nach oben, die Kalfaktoren schwankten mit einem vollen Sack nach unten. Hauptwachtmeister Meier stand neben mir, als ich einen vollen Sack auf meine Schulter kippen ließ, ich drehte mich um und ließ den Sack los. »Ahhhau! Paß doch auf, Ker... Halt!« Ich schubste ihn zur Seite und raste los. »Haaalt! Haaalt! Festhalten!« Er kreischte. Aber es war niemand da, der mich festhielt. Vor mir klirrten Schlüssel auf das Pflaster. Er hatte sein Bund nach mir geworfen. Dann war ich um die Ecke herumgelaufen, befand mich mitten auf einem Markt, zwischen Blumenständen. Ich lief zwischen den Leuten herum, nicht allzu schnell, damit ich nicht auffiel. Auf der anderen Marktseite führte eine breite Treppe nach oben auf die Wallanlagen. Ich sah mich um. Es folgte mir niemand. Ich ging die Treppe hoch, oben auf dem Wall lief ich wieder. Es würde nicht lange dauern, dann waren hier überall Bullen. Ich kam an die Hauptstraße und bog in Richtung Innenstadt ein. Hundert Meter weiter war eine Toreinfahrt zwischen Geschäften, ich ging hinein, als sei das jeden Tag um diese Zeit so. Auf dem Hinterhof befand sich eine Druckerei. Alles war hell erleuchtet, und ich sah drei Arbeiter, doch sie sahen nicht nach draußen auf den Hof. Ich überkletterte ein morsches Holztor und schlich an der Rückseite des nächsten Hauses entlang, überstieg ein zweites Tor und befand mich in einer schmalen Lücke zwischen den Häusern, die zur Straße hin zugemauert war. Fenster gab es hier nicht. Über mir war in etwa zwei Metern Höhe eine Holzklappe. Ich stemmte mich zwischen den Wänden wie in einem Kamin hoch, zog an der Klappe, riß, riß -4 5 1 -
sie auf und kletterte nach innen. Die Klappe war mit einem Bindfaden zugebunden gewesen, ich flickte die Reste zusammen und band sie erneut zu. Ich sah mich in dem halbdunklen Raum um, es war eine Abstellkammer. Zum Garten hin war ein kleines, blindes Fenster. Es war zugenagelt. Überall lag Gerumpel herum, standen Kisten und alte, zerbrochene Stühle. In der Stadt war der auf- und abschwellende Sirenenton eines Streifenwagens zu hören. Ich grinste ein bißchen, wischte mit einem Lumpen hinter einer Kiste den Staub weg und legte mich auf den Boden. Jetzt wurde es dunkel. Sie konnten lange suchen. Als ich aufwachte, war es stockfinster. Ich blieb noch eine Weile liegen, dann tastete ich mich zu der Klappe, machte die Knoten auf, rutschte nach draußen, drückte die Klappe zu und stemmte mich nach unten. In den Druckereiräumen herrschte jetzt reger Betrieb. Ich konnte eine Uhr sehen. Es war zehn Minuten nach elf. Ich ging in den Garten hinter der Druckerei und setzte mich auf einen wackligen Stuhl, der an einem Tisch in einer Laube stand. Aus der hinteren Tasche holte ich die beiden Zigaretten hervor, aus einer war der Tabak herausgekrümelt, doch die andere ließ sich noch rauchen. Sie schmeckte gut. Im Wäldchen hatte sich nichts verändert. Blätter waren gefallen. Wenn ich die Füße nicht hoch genug hob, dann raschelte es in einem fort. Ich blieb stehen und lauschte. Der Wind strich durch die Kronen der Bäume und durch die Büsche. Ich ging langsam weiter, ich legte die Leiter auf die andere Schulter. Ich hatte sie den ganzen Weg von der anderen Ziegelei unten am Bahndamm hergetragen. Auf der Ziegelei neben dem Mädchenheim hingen keine Leitern mehr am Schuppen. Sie waren sicher weggeschlossen worden. Karen wußte, daß ich kam. Ich war gestern nacht schon hier gewesen. Ich hatte Steinchen gegen das Fenster des Schlafsaals geworfen, in dem Karen -4 5 2 -
früher gelegen hatte. Die Mädchen waren aufgewacht und hatten nach draußen geguckt, auch seitlich aus dem Toilettenfenster, doch ich hatte mich nicht blicken lassen, ich hatte sie nur beobachtet, Karen hatte ich nicht entdecken können. In Pyjamas sahen die Mädchen alle gleich aus. Etwas später war ich an den Mauervorsprüngen nach oben geklettert, hatte mich auf die Fensterbank der Toilette gesetzt und gewartet. Wenn die Mädchen einmal wach waren, dann blieben sie es auch eine Zeitlang. Dann klönten sie erst mal, wer das wohl gewesen sein könnte, ob das der und der gewesen sei, und ob es überhaupt einer gewesen war und nicht nur der Wind oder ein Traum. Na ja, Traum würden sie vielleicht nicht denken. Sie konnten nicht alle das gleiche träumen. Sicher war es der Wind, denn wenn da einer gewesen wäre, dann hätte er sich bestimmt noch mal gemeldet, wer weiß. Und bevor sie dann wieder einschliefen, mußte die eine oder andere noch mal schnell. Ich dachte daran, daß es schlecht sei, wenn zwei gleichzeitig mußten, wegen des Weitererzählens. Wen sollte ich H ansprechen. Eine wollte dann die andere übertrumpfen. Es wurde natürlich nur der besten Freundin weitererzählt, unter dem Siegel der höchsten Verschwiegenheit. Und die erzählte es wieder der besten, und die dann wieder. Alles mit Siegel. Spätestens bis Mittag war jedes Mädchen Geheimnisträgerin. Und dann wußte es die Geschke auch. Mist. Ich stellte es dann fest, wenn die Bullen hier auf mich warteten oder die Erzieher. Was nutzte es schon, wenn diejenige, die geplappert hatte, von den anderen einen Arschvoll bekam. Gar nichts. Mich hatten sie wieder. Doch es war nur ein Mädchen auf die Toilette gekommen. Es hatte einen Satz vom Fenster weggemacht, als ich gegen die Scheibe pochte und einen Juchzer ausgestoßen. Es war eine Neue gewesen. Sie kannte mich nicht. Sie kannte aber Karen, die jetzt in einem anderen Schlafsaal schlief. Es hatte eine ganze Weile gedauert, ehe Karen kam, und ich dachte schon, die Neue habe mich verpfiffen. Sie hatte sich mächtig gefreut. Ich mich auch.
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Doch es war nicht die gleiche Freude gewesen wie früher, wenn wir uns getroffen hatten. Wenn man jemand gut kennt und nach einer Zeit der Abwesenheit wiedersieht, dann freut man sich sowieso. Eine Art Grundfreude war das dann, so stellte ich mir das vor, etwas wie einen Luftballon. Ist er schlapp, ist gar nichts. Grundfreude reingepustet, bekam er vielleicht ein Viertel seiner ganzen Größe. Dann kamen andere Freuden dazu, kleinere Freuden, vielleicht ein gemeinsames Erlebnis, an das man sich im Augenblick des Wiedersehens erinnerte, weil man sich liebte, weil man sich darüber freute, daß sich der andere freute, weil man froh war, ihn wiedergetroffen zu haben, weil durch das Treffen vieles klargerückt wurde. Diese kleinen Freuden wurden dann zu der Grundfreude gepustet, vermischten sich zu einer großen Freude. Und an der Größe des Ballons ließ sich dann erkennen, wie groß die Freude war, ob sie den Ballon bis zum Zerreißen füllte und dehnte, oder ob sie gerade ein Viertel ausmachte. Ich fand, daß sich mit meiner Freude ein Ballon nur zur Hälfte füllen ließ. Heute abend war es ein bißchen mehr, wäre es ein bißchen mehr gewesen, weil ich tagsüber daran gedacht hatte, daß Karen abhauen wollte, daß sie sich auf mich verließ und daß ich ihr helfen wollte. Als ich gegen Morgen wieder in der Stadt war, hatte ich von einem Bäckereihof ein Brot mitgenommen. Dort standen zwei Regalwagen zum Abkühlen. Ich setzte die Leiter ab und hängte den Bolzenschneider von der anderen Schulter. Ich hatte ihn ebenfalls von der Ziegelei mitgenommen. Es war ein großer Schneider, die Hebelarme waren gut achtzig Zentimeter lang, und die Eisen, die auf der Ziegelei durchgeknipst wurden, waren bedeutend dicker, als die Gitterstäbe des Toilettenfensters. Um ein Uhr hatten wir abgemacht. Bis dahin waren es noch zehn Minuten. Ich sah auf Karens Armbanduhr, die sie mir mitgegeben hatte. Pünktlichkeit war wichtig. Auf der Arbeit mußte man auch pünktlich sein, sonst flog man raus. Wenn etwas nicht in Ordnung war, dann sollte sie zweimal den Fensterflügel zuknallen. Genau um eins. Wenn alles klar war, -4 5 4 -
sollte sie mit dem Feuerzeug knipsen. Karen hatte gesagt, daß die Neue in Ordnung wäre. Ich überlegte, was ich tun sollte, wenn nun doch etwas nicht stimmte, wenn die Bullen schon ringsherum auf der Lauer lagen? Wenn man aus dem Gefängnis türmen ging, dann waren die Bullen zuständig. Bullen sind auch nur 'ne Art Erzieher. In Uniform. Aber wenn man bei denen nicht genau das machte, was sie wollten, dann ballerten sie los. Ein normaler Heimerzieher hatte we nigstens keine Pistole. Würde sicher eine ganz schöne Knallerei geben. Ich könnte auch aufs Haus zurennen und blitzschnell an der Ecke hoch. Aber was heißt blitzschnell. Die bleiben unten stehen, den Arm quer, Pistole drauf und peng! Ich falle runter wie eine Erbse. Hm, eine Erbse treffen sie sicher nicht sofort. Auf Erbsen wird auch nicht geschossen. Ich könnte einfach in die Büsche flitzen, das Laub ist zwar weg, aber man kann da immer noch gut verschwinden, ich kenne mich hier aus. Aber wenn sie hier sind, dann überall zugleich. Bullen kommen bei so was immer im Dutzend. Und wenn sie wissen, daß ich schon mal versucht habe, die Karen rauszuholen, daß ich aus einem Gefängnis getürmt bin, dann sind sie richtig wild. Den Stab oben haben sie wieder eingeschweißt. Unsauber. Die Nähte stehen wie Gnubbel vor, man kann sich dran reißen. Da ist sie! Oben an der Hauswand blitzte es ein paar Mal auf. Ich lud mir Leiter und Bolzenschneider auf, ging hinüber. Beim Aufrichten rutschte mir die Leiter weg, scharrte an der Hauswand entlang. Ich wartete, ob es jemand gehört hatte, doch alles blieb ruhig. Ich stellte die Leiter erneut an. »Mensch, Ben, ich bin so aufgeregt, beeil dich doch«, Karen huschte zur Tür und legte ein Ohr an das Holz, lauschte, kam zurück. »Alles klar, kann ich dir nicht dabei helfen?« »Ja. Sei still und halt die Leiter fest. Ich muß mich nach hinten lehnen.« »Ich bin doch schon still, ich sage doch gar nichts!« Sie faßte durch die Gitterstäbe und hielt einen Leiterholm fest. »Du glaubst nicht, wie unruhig ich den ganzen Tag gewesen bin. Immer -4 5 5 -
wenn mich eine Kluck angesehen hat, dann habe ich gedacht: hoffentlich hat die Neue den Mund gehalten, hat nichts gesagt und... geht es? Hoffentlich geht es.« »Sicher, ich kann schlecht zusammendrücken, ich kippe über, sonst«, ich drehte den Bolzenschneider hin und her und preßte die Hebelarme zusammen. »Knack!« machte es. Ich setzte die Beißzangen oben an den Stab, schnitt ihn nur soviel an, daß ich ihn herumbiegen konnte und grinste, weil ich mir vorstellte, wie sie morgen früh durcheinanderlaufen würden. Wie die Hühner! Alles dicht, und ein Huhn fehlt! Das is'n Ding! Zuerst ist es immer ein flüchtiges Suchen, weil man sich etwas Unangenehmes nicht vorstellen will. Sie muß doch irgendwo sein! Habe sie doch eben noch gesehen, meinte die Geschkesche dann. Aber Karen war weg. Und dann suchte man genau, kontrollierte jedes Fenster und jedes Gitter, und der Stab, der vorher übersehen worden war, löste Alarmstimmung aus. >Alarrrrrm!< Lustig. Aber der fette Reimers würde es ja erst später erfahren, dann war das Alarmbrüllen zwecklos. Ich bog den Stab nach oben. »Komm, ich helfe dir. Krabbel durch und stütz dich auf meine Schultern.« »Warte, Ben, nimm erst mal die Tasche.« Karen wollte eine kleine Reisetasche durch das Loch schieben, doch sie klemmte. »Zieh doch mal.« »Ich werd verrückt! Laß das Ding stehen, sie geht nicht durch.« »Ich brauche doch ein paar Kleinigkeiten für unterwegs, warte, ich packe schnell was aus.« »Nichts brauchst du! Deine Beine, das ist alles!« »Rede nicht!« Sie schob mir zwei Frotteetücher durch das Loch, eine Nietenhose, einen Pyjama, ein Paar Schuhe, dann die dünner gewordene Tasche hinterher. -4 5 6 -
Ich versuchte an etwas zu denken, nur nicht daran, daß man uns durch diese blöde Tasche erwischen konnte, daß durch die Tasche alles schief laufen konnte, und ich stand da, mit den Klamotten auf dem Arm! Ich stopfte sie wieder rein, ließ alles nach unten fallen. »Puff!« Da lag sie. »Mensch, du! Mein helles Kleid ist da drin!« Karen zwängte und drehte sich durch das Loch. »Im Arrest brauchst du kein helles Kleid! Du mußt dich mehr drehen, ja so. Wir werfen alles in den Kiessee, das ist Ballast, letztes Mal hast du auch nichts mitgehabt.« »Dann trage ich sie eben. Letztes Mal hatte ich auch noch keinen Draht zur Kleiderkammer.« Karen kletterte auf die äußere Fensterbank, stieg nach unten. »Guck mal um die Ecke, ob alles klar ist.« Ich bog den angekniffenen Stab in seine alte Lage und zog die Fensterflügel zu. »Alles in Ordnung, Ben. Wollen wir die Leiter wieder mitnehmen?« »Ja. Den Schneider auch. Komm!« Wir standen an der Seitenwand der Tankstelle. Karen hatte nur eine Plastiktragetasche mit ein paar Sachen behalten. Alles andere hatten wir am Kiessee versteckt. Es war kalt und windig, aber es fror nicht. Karen hatte sich ein Kopftuch umgebunden, sie bibberte. »Frierst du ga-ga-gar nicht, Ben?« »Nur ein bißchen, du mußt dich bewegen, hättest dich wärmer anziehen sollen, es dauert ja nicht mehr lange.« »Ha-hab ich d-doch. V-v-vier Schlüpfer ha-ha-habe ich drunter, trotzdem...« »Wenn du oben frierst, dann hilft das nicht. Schlag mit den Armen, sieh mal, so, aber weck nicht die Leute auf. Du weißt Bescheid. Wenn du irgendwas Verdächtiges merkst, dann klopf an die Scheibe, auch wenn es hinterher nichts war. Besser dreimal raus und rein, als einmal rein, in den Bau.« -4 5 7 -
»Ja, ist g-gut.« Ich kletterte an der Eingangstür der Tankstelle hoch und zwängte mich durch das offene Oberlicht. Auf dem Hof standen fünf Autos und mit einem Zündschlüssel ließ es sich einfacher fahren, als wenn man kurzschloß. Außerdem mußte ich erstmal die richtigen Kabel finden. Ich sah überall nach, dann fand ich die Schlüssel. Sie hingen hinter einem Blumenbaum an einem Wandbrett. Ich hakte den Opelschlüssel ab. Opel war gut. Für lange Strecken nur Opel, sagte Fred immer, wegen der weichen Federung. Mercedes war natürlich noch besser, aber die standen nicht so rum. Ich gab Karen ein paar Coladosen nach draußen und Schokolade. Dann sah ich die Ladenkasse, sie war unverschlossen. Drei Zwanziger und etwas Hartgeld. Ich schob die Lade wieder zu. Karen hatte ihr ganzes Geld mit, warum sollte ich dann dieses Geld auch noch mitnehmen. Der Chef würde dann sicher sauer sein, vielleicht lief die Tankstelle gar nicht so gut. Oder er machte das absichtlich? Als Täuschung. Er läßt nur etwas Geld in der Kasse und nimmt das andere mit nach Hause, damit ein Einbrecher denkt, die Tankstelle geht nicht besonders gut. Aber Autos sind versichert. Ich kletterte wieder nach draußen. »Hast du einen Öffner mitgebracht?« »Kannst du doch so aufziehen, hier am Haken. Laß uns erstmal wegfahren, komm.« Ich probierte die Schlüssel an dem einzigen Opel unter den Autos auf dem Hof. Er paßte. Wir stiegen ein. Der Motor sprang sofort an. Ich ließ ihn eine Weile im Stand laufen. Fred hatte mal erklärt, wenn man eine Maschine anläßt und gleich wie ein Verrückter Gas gibt, dann ist sie bald im Eimer. Dann brennen die Kolben fest, weil sie sofort unter Höchstbelastung arbeiten müssen. Das Öl, das die Kolben schmiert, ist noch kalt und kommt nicht so schnell überall hin. Die Kolben schleifen sich dann ab. Wenn man den Motor etwas im Stand laufen läßt, dann wird das Öl heiß und kommt bei Vollgas überall hin. Das war eine klare Sache. Karen band ihr Kopftuch ab. -4 5 8 -
Ein Zeitungsmann ging vorbei. Er sah nur kurz zu uns herüber. Ich machte die Scheinwerfer an und gab Gas. Der dachte sicher, das mußte so sein, da fuhr jemand mit seinem Auto weg. Ich fuhr los. »Schickes Auto. Damit laß uns man bis in die Schweiz fahren. Meine Tante hat auch einen Wagen«, Karen steckte zwei Zigaretten an und schob mir eine zwischen die Lippen. »Ohne Papiere kommen wir nicht mit einem Auto über die Grenze.« »Du, da gibt es soviele Stellen, da ist kein Mensch, in den Bergen...« »Da sind die Alpen. Wir können das Auto nicht tragen.« Ich rauchte. »Wir fahren bis zum Hellwerden, dann stellen wir das Auto ab und suchen uns eine Scheune, bis es wieder dunkel ist«, sagte ich. »Oh ja!« Als es dämmerig wurde, nahm der Verkehr zu. In einem großen Dorf ließ ich Karen aussteigen und fuhr das Auto auf einen Parkplatz, kehrte zu Karen zurück, die in einer Nebenstraße wartete. Als wir aus dem Stroh der Scheune krochen, war es fünf Uhr abends, und es begann dunkel zu werden. Es hatte den ganzen Tag geregnet. Wir brauchten eine ganze Zeit, um uns gegenseitig die Halme aus den Haaren und aus dem Zeug zu entfernen. »Das Ideale ist es gerade nicht im Winter, in einer Scheune, ich habe hinterher ganz schön gefroren, du nicht?« »Doch. Ist noch Schokolade da?« »Eine Tafel.« »Brich mir 'ne halbe ab.« »Kannst sie ruhig aufessen, Ben, ich hab keinen Hunger. Wenn wir unterwegs einen Kiosk sehen, dann mußt du mal halten. Ich habe ein bißchen Bauchschmerzen.« -4 5 9 -
»Hmhm, vielleicht doch ein Stück Schokolade? Das hilft!« »Ach du. Ich hab meine Tage, hätten eigentlich gestern schon da sein müssen, aber durch die ganze Aufregung hat sich das wohl um einen Tag verschoben.« »Aha, und nun meinst du, ein Kiosk führt Watte oder so?« »Ach wo, darauf bin ich doch vorbereitet. Zigaretten brauchen wir, und eine Cola könnte ich auch vertragen.« Karen seufzte. »Und ich drei halbe Hähnchen.« »Oho, drei gleich!« »Ist in Wirklichkeit nur eins, ich such mir nur das weiße Fleisch raus.« In Höxter, einer Kleinstadt, blieb das Auto stehen. Genau um zwölf Uhr nachts. Vor einer Kreuzung. Ich war zweimal durch die Stadt gefahren, hatte die richtige Ausfallstraße nicht gefunden. Beim dritten Versuch fand ich zwar eine Straße, von der ich glaubte, sie sei die richtige. Vor einer Kreuzung hielt ich an, um die Schilder genau zu lesen. Ich merkte, daß irgend etwas mit der Kupplung nicht stimmte. Das Pedal ließ sich so lasch durchtreten, dann merkte ich, daß die Gänge nicht mehr einrasteten. Hinter uns stand ein großer Lastzug und hupte, doch wir kamen nicht vom Fleck. »Verdammter Mist!« »Ben, laß uns aussteigen und abhauen«, sagte Karen und sah sich andauernd um, »wir laufen einfach weg, es ist dunkel...« »Wie stellst du dir das vor? Wir können doch nicht das Auto mitten auf der Straße stehenlassen, wir behindern den ganzen Verkehr! Außerdem alarmiert der Fahrer hinter uns sofort die Bullen! Los, setz dich ans Lenkrad, ich schiebe.« »Ich hab doch noch nie Auto gefahren!« »Das lernst du. Halt das Lenkrad einfach fest, und wenn ich rufe >rechts