Dr. phil. Verena Kast (geboren 943) ist Psychotherapeutin in St. Gallen und Dozentin am C. G. Jung-Institut in Zürich ...
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Dr. phil. Verena Kast (geboren 943) ist Psychotherapeutin in St. Gallen und Dozentin am C. G. Jung-Institut in Zürich sowie an der Züricher Universität. »Mir ist bei der Behandlung depressiver Erkrankungen immer wieder aufgefallen, daß Verlusterlebnisse zu wenig betrauert wurden. Trauer ist ein Thema, das zu wenig beachtet wird, gemessen an der großen Bedeutung, die sie für unsere psychische Gesundheit hat.«
»Da wir uns wesentlich aus den Beziehungen zu Mitmenschen verstehen, Bindungen ein wesentlicher Aspekt unseres Selbst- und Welterlebens sind, werden wir durch den Tod eines geliebten Menschen in unserem bisherigen Selbst-und Weltverständnis erschüttert. Die Trauer ist die Emotion, durch die wir Abschied nehmen, Probleme der zerbrochenen Beziehung aufarbeiten und so viel als möglich von der Beziehung und von den Eigenheiten des Partners integrieren können, so daß wir mit einem neuen Selbst- und Weltverständnis weiterzuleben vermögen.« V. 040506 Nicht zum Verkauf!
Weitergabe nur unter Berücksichtigung des Copyrights
Verena Kast
Trauern
Phasen und Chancen des psychischen Prozesses
Mit all den Herzen, den bereits begrab’nen, die mich liebten – Kälte, zwischen dunklen Qualen – fühl’ ich mich ein wenig begraben. Mit all den Herzen, den bereits glückseligen, die mich liebten, in Gold glühend, fühl’ ich mich schon ein wenig verklärt. Juan Ramón Jiménez
Dieses Buch ist auch als Hörbuch erschienen. Blinde können es kostenlos entleihen bei der Deutschen Blindenstudienanstalt – Emil-Krückmann-Bücherei – Liebigstr. 9 3550 Marburg
Telefon: 0 64 2 /6 70 53
oder bei der Deutschen Blinden-Hörbücherei Am Schlag 2 a 3550 Marburg
Telefon: 0 64 2 /6 70 53
Quellennachweis: S. Gedicht von Juan Ramón Jiménez aus »Herz stirb oder singe« Deutsch von Hans Leopold Davi © by Diogenes Verlag AG Zürich 977 6. Auflage (34.-43. Tausend) 986 © Kreuz Verlag Stuttgart 982 Gestaltung: Hans Hug Umschlagfoto: Siegfried Himmer Gesamtherstellung: Ernst Kieser GmbH Graphischer Betrieb, 8902 Neusäß ISBN 3 783 06605
Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Todeserfahrung beim Tod eines geliebten Menschen . . . . . . . 9 Todeserfahrung und Trauer im Spiegel einer Traumserie . . 2 Träume als Wegweiser bei der Trauerarbeit . . . . . . . . . . . . . . 62 Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens . . . . . . . . . . . . . . . 65 Die Phase der aufbrechenden Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . 66 Die Phase des Suchens und Sich-Trennens . . . . . . . . . . . . . . 72 Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs . . . . . . . . . . . . 78 Probleme unterdrückter und verschleppter Trauerprozesse 87 Probleme in der Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens . . . . . . . 89 Probleme in der Phase der aufbrechenden Emotionen . . . . . . . 99 Der unausgedrückte Zorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 00 Die »ewigen« Schuldgefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 04 Probleme in der Phase des Suchens und Sich-Trennens . . . . .4 Symbiose und Individuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .37 Sterben ins Leben hinein – Die »abschiedliche« Existenz . .57 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
Vorwort Diese Untersuchung über die Bedeutung der Trauer im therapeutischen Prozeß hat sich mir aus meiner praktischen Arbeit als Psychotherapeutin aufgedrängt. Mir ist im Zusammenhang mit der Behandlung vieler depressiver Erkrankungen im Verlauf der letzten zehn Jahre immer wieder aufgefallen, daß Verlusterlebnisse zu wenig betrauert wurden und daß sie dadurch zu Mitauslösern von depressiven Erkrankungen werden konnten. Das Tabu um das Sterben ist in den letzten Jahren aufgehoben worden, man darf vom Sterben sprechen. Es scheint mir an der Zeit, daß man jetzt auch das Tabu um das Trauern aufhebt, daß man trauern darf und soll. Zwar hat schon Freud (95) über den großen Nutzen der »Trauerarbeit« – der Terminus stammt von ihm – geschrieben. Dennoch ist die Trauer ein Thema, das in der psychologischen Literatur eher wenig beachtet wird, gemessen an der großen Bedeutung, die sie für unsere psychische Gesundheit hat. Ich habe zu diesem Thema zehn Jahre lang Material, insbesondere Traummaterial, gesammelt und versuche jetzt anhand dieses Materials, systematisch herauszustellen, wie das Unbewußte uns anregt, mit dem Trauern umzugehen. Meine Ergebnisse habe ich mit den Ergebnissen der neueren Literatur in Beziehung gesetzt. Bei meinen Untersuchungen wurden mir vor allem die folgenden Gesichtspunkte wichtig:
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• Da wir uns wesentlich aus den Beziehungen zu Mitmenschen verstehen, Bindungen ein wesentlicher Aspekt unseres Selbst- und Welterlebens sind, werden wir durch den Tod eines geliebten Menschen in unserem bisherigen Selbst- und Weltverständnis erschüttert. Die Trauer ist die Emotion, durch die wir Abschied nehmen, Probleme der zerbrochenen Beziehung aufarbeiten und soviel als möglich von der Beziehung und von den Eigenheiten des Partners integrieren können, so daß wir mit neuem Selbst- und Weltverständnis weiterzuleben vermögen. • Unseren Träumen können wir wertvolle Hinweise für die Trauerarbeit entnehmen. An einer Traumserie versuche ich dies aufzuzeigen. Bei einem Vergleich mit den in der Literatur üblichen Trauerphasen modifiziere ich diese an einigen Stellen gemäß meinem Ansatz. • Jede der Trauerphasen bietet spezielle Schwierigkeiten der Bewältigung. Aufgrund praktischer Beispiele aus meiner therapeutischen Arbeit beleuchte ich diese Schwierigkeiten. • Es fällt immer wieder auf, daß das Bedürfnis nach symbiotischem Verweilen der Forderung nach Trennung entgegensteht. In extremen Fällen bewirkt diese Sehnsucht ein länger andauerndes Verschmelzen mit dem Verstorbenen. Ich stelle die These auf, daß der Rhythmus von Symbiose und Individuation nicht nur für das Kleinkind, sondern auch für den erwachsenen Menschen wesentlich ist. Wichtig scheint mir dabei zu sein, daß es gelingt, die Symbiose über das Zwischenmenschliche hinaus auf etwas Transzendentes zu beziehen. • Der Tod eines geliebten Menschen ist ein Extremerleb7
nis von Tod und fordert die Trauer radikal. Zugleich ist dieses Erlebnis aber auch eine große Herausforderung zur Selbstverwirklichung angesichts der Veränderung. Gerade die Trauer kann ein Stück Selbstverwirklichung auslösen. Was für diese Grenzsituation gilt, mag auch für viele andere Situationen des Menschseins, wenn auch in abgeschwächter Form, gelten, in denen sichtbar wird, daß der Tod immer in unser Leben hereinragt, immer wieder größere oder kleinere Veränderungen erzwingt, die mit dem Gefühl von Verlust gekoppelt sind und die daher auch betrauert werden müssen. Weil wir sterblich sind, müssen wir »abschiedlich« existieren, verbunden mit der Trauer, mit dem Schmerz und der Möglichkeit, unsere Situation immer wieder neu zu gestalten, auch angesichts unserer Abschiede immer neu uns aufzufalten. Dazu ist aber die Trauer unabdingbar. Das vorliegende Buch wurde als Habilitationsschrift unter dem Titel »Die Bedeutung der Trauer im therapeutischen Prozeß« an der Universität Zürich eingereicht. In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Professor Dr. Detlev von Uslar sehr herzlich danken für seine Anregungen und Ermutigungen. Auch möchte ich an dieser Stelle all meinen Analysanden danken, die mir erlaubt haben, ihr Material zu benützen und zu publizieren. Verena Kast
Todeserfahrung beim Tod
eines geliebten Menschen Beim Tod eines geliebten Menschen erfahren wir, was Tod ist. Dieses Todeserlebnis widerfährt uns, trifft uns, läßt uns irre werden an uns und an allem, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben. Es erschüttert nicht nur unser Welt- und unser Selbstverständnis, es zwingt uns zur Wandlung – ob wir wollen oder nicht. Stirbt ein geliebter Mensch, so nehmen wir in seinem Sterben nicht nur antizipatorisch unser eigenes Sterben vorweg; wir sterben in gewisser Weise auch mit ihm. Es wird uns kaum je so radikal bewußt wie beim Tod eines geliebten Menschen, in welchem Maß wir uns aus unseren Beziehungen zu anderen Menschen und Dingen verstehen und erfahren, in welchem Maß der Tod einer solchen Beziehung uns aufbricht und eine Neuorientierung verlangt. Es ist dies eine Erfahrung, die gewiß schon so alt ist wie die Menschheit selbst. Aus den vielen Zeugnissen dafür möge angeführt werden, wie der junge Augustinus den Tod eines Freundes erlebt hat (Confessiones III ): »Durch diesen Schmerz kam eine tiefe Finsternis über mein Herz, und wo ich hinsah, war der Tod. Die heimatliche Stadt ward mir zur Qual, das väterliche Haus zu einer sonderbaren Unglücksstätte, und jedwedes Ding, das ich mit ihm gemeinsam besessen hatte, wurde mir nun ohne ihn zu unendlicher Pein. Überall suchten meine Augen ihn und er wurde mir nicht 9
gegeben; ich haßte alles, weil es ihn nicht hatte und mir nicht mehr sagen konnte: Siehe, er kommt, so wie es, als er noch lebte, war, wenn er einmal abwesend war. Ich war mir selbst zu einer einzigen großen Frage, und forschte ich in meiner Seele, warum sie traurig sei, warum sie mich so sehr verwirre, so wußte sie mir nichts zu antworten. Und wenn ich zu ihr sagte: Hoffe auf Gott, so gehorchte sie nicht und hatte recht, weil dieser Mensch, den sie als Teuerstes verloren hatte, besser war und wahrer als das Trugbild, das ich ihr als Hoffnung gab. Nur noch das Weinen war mir süß und nahm in meinen Herzensfreuden die Stelle meines Freundes ein … In mir war … eine Regung ganz entgegengesetzter Art lebendig geworden, ich weiß nicht, was es war: einem ganz schweren Lebensüberdruß stand Todesangst zur Seite. Ich glaube, je mehr ich jenen geliebt hatte, um so mehr haßte und fürchtete ich den Tod, der mir ihn geraubt, wie den grimmigsten Feind, und ich stellte mir vor, er würde nun plötzlich alle Menschen verschlingen, weil er es bei jenem gekonnt … Ich wunderte mich nämlich, daß die übrigen Sterblichen lebten, wo er gestorben war, den ich so liebte, daß er gleichsam nie hätte sterben dürfen, und noch mehr wunderte ich mich, daß ich als sein andres Ich seinen Tod überlebte. Wie richtig hat einmal einer seinen Freund die Hälfte seiner Seele genannt (Horaz, Od. ,3)! Denn ich habe meine und seine Seele als eine einzige in zwei Körpern empfunden (nach Ovid, Trict. IV, 4, 72), und deshalb schauderte mich vor dem Leben, weil ich nicht als Halber leben wollte, und deshalb fürchtete ich vielleicht zu sterben, weil er, den ich so sehr geliebt, dann ganz gestorben wäre.« 10
In diesem kurzen Text von Augustinus sind viele Aspekte des Verhaltens eines Menschen, der einen großen Verlust erlitten hat, ausgedrückt: Die Erschütterung in seinem Weltverständnis; das, was ihm vorher vertraut war, wird ihm zur Qual. Es ist, als hätte der Tod seine Schatten über alles gelegt, was zuvor war, durchaus auch über die äußeren Dinge, etwa das Haus des Vaters. Hier wird sichtbar, wie sehr die Beziehung zwischen zwei Menschen eine gemeinsame Welt schafft, so daß das Erlebnis des Todes es mit sich bringt, daß auch dieses gemeinsame Erleben der Welt nicht mehr vorhanden ist. Ein Aspekt der Trauerarbeit wird also sein müssen, daß ein neues Verhältnis zur Welt geschaffen wird. Noch aber, und das ist typisch für die erste Phase nach einem großen Verlust, geht es Augustinus nicht darum, etwas Neues zu bauen, etwas Neues zu suchen; er sucht im Gegenteil noch den Freund. Lindemann 2 beschreibt die Ruhelosigkeit von Personen, die einen schweren Verlust erlitten haben, sehr eindrücklich: Dem Drang, etwas zu tun, auf der Suche nach etwas zu sein, steht ein Mangel an Zielgerichtetheit gegenüber. Parkes3 nennt dieses Suchverhalten nicht ziellos, sondern weist darauf hin, daß das Suchverhalten das Ziel habe, den eben verlorenen Partner wiederzufinden. Dies scheint Augustinus sehr bewußt zu erleben. Zur Trauerarbeit wird also auch gehören, diese Ruhelosigkeit zu begreifen, zu begreifen auch in ihrem Sinn, die ursprüngliche Welt und das ursprüngliche Beziehungsgefüge, das eben durch das Erlebnis des Todes auseinandergebrochen ist, wieder herzustellen, als Widerstand gegen die Veränderung, die vom Leben einfach gefordert ist. 11
Augustinus beschreibt seinen Zustand als traurig, verwirrt, »schwerem Lebensüberdruß stand Todesangst zur Seite« – einzige Erleichterung war das Weinen. Zugleich haßte und fürchtete er den Tod. Wie sehr dieser Todesfall sein Welt- und Selbstverständnis erschüttert hat, zeigt sich in seinem Lebensüberdruß: Wenn der Freund nicht mehr lebt, weshalb soll er denn leben ? Die Todesangst hält allerdings diesen suizidalen Ideen die Waage, und letztlich auch der Gedanke, daß der Freund, stürbe er auch noch, ganz gestorben wäre, weil er dann ja in niemandes Erinnerung weiterleben könnte. Wesentlich scheint mir auch der Haß zum Trauererlebnis zu gehören, hier bei Augustinus Haß auf den Tod. In meiner therapeutischen Praxis erfahre ich, daß dieser Haß oft auch auf eine göttliche Instanz gerichtet wird, oder auf den Partner, auf das Kind, das einen verlassen hat. Suizidale Ideen sind sehr häufig bei einem großen Verlust; der Suizid wäre eine Möglichkeit, die vielen Probleme, die sich einem bei einem Verlust stellen, zu »lösen«. Die Anzahl der Menschen, die nach einem Todesfall aber wirklich Suizid begehen, ist nach den Studien von Bowlby 4 gering; hingegen besteht die Tendenz, sich den Kummer durch Einnahme von Drogen jeglicher Art zu erleichtern. »Finsternis über dem Herzen haben«, traurig sein, verwirrt sein, an Lebensüberdruß und gleichzeitig an Todesfurcht zu leiden, sich selber zu einer einzigen Frage zu werden, all dies zeigt, wie sehr nicht nur das Weltverständnis des Augustinus erschüttert ist, sondern auch sein Selbstverständnis. Wenn Augustinus sagt: »denn ich habe 12
meine und seine Seele als eine einzige in zwei Körpern empfunden, und deshalb schauderte mich vor dem Leben, weil ich nicht als Halber leben wollte ...«, dann können wir bei ihm von einem Selbstverlust sprechen. Es gehört zum menschlichen Leben, daß das Selbsterleben sich wesentlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen ergibt, daß wir oft als unser Selbst erleben, was andere Menschen in uns hervorgerufen haben und immer wieder hervorrufen, und daß unsere Beziehung zu unserer Tiefe, zu unserem innersten Selbst durch die Beziehungen geprägt ist, die wir zu Menschen haben, insbesondere durch die Liebesbeziehungen. So werden geliebte Menschen zu einer »Hälfte unserer Seele«, gehören wesenhaft zu uns, bestimmen unser Lebensgefühl und unsere Sicht des Lebens mit, ohne daß wir das Gefühl hätten, von ihnen manipuliert zu werden, weil wir sie so nahe an uns herangelassen haben, daß sie Teil von uns sind. Trifft uns der Verlust eines so mit uns verbundenen Menschen, dann sterben wir in der Tat ein Stück mit 5. Gabriel Marcel 6 sagt dazu: »Das einzig wesentliche Problem wird durch den Konflikt Liebe und Tod gestellt.« Und so ist wohl der Tod dessen, den wir lieben, ebenso ein Todesproblem und eine Todeserfahrung, mit der wir umzugehen haben, die wir zu bestehen haben, wie das Leben auf unseren eigenen Tod hin. Es ist eine Grenzsituation des Lebens, die uns verändern, die uns den Blick für das wirklich Wesentliche frei machen kann, und es ist eine Situation, die uns auch zerbrechen kann. Ob es uns gelingt, neue Perspektiven in unser Welt- und Selbsterleben zu bringen, Todesbewußtsein auch als einen 13
Aspekt unseres Selbstbewußtseins zu sehen, oder ob wir zerbrechen, pathologisch trauern und nie mehr aus der Trauer herauskommen, hängt wesentlich davon ab, ob wir richtig zu trauern verstehen. Trauern darf nicht länger als »Schwäche« betrachtet werden, sondern es ist ein psychologischer Prozeß von höchster Wichtigkeit für die Gesundheit eines Menschen. Denn wem bleiben schon Verluste erspart ? Und wenn wir es auch mit dem Tod dessen, den wir lieben, nicht immer zu tun haben, der Abschiede sind noch genug im Leben, und sie können ähnliche Verlustreaktionen hervorrufen, wie wenn wir einen geliebten Menschen verlieren. Wichtig scheint mir zu bedenken, wie schlagartig sich das Leben eines Menschen durch den Tod eines Lebenspartners etwa ändern kann, wie vielen Schwierigkeiten deshalb auch der Zurückgebliebene sich gegenübersieht, zudem in einer psychischen Verfassung, die Problemlösungen fast unmöglich macht. Versuchen wir nochmals, uns die Probleme zu vergegenwärtigen: Äußerlich verändert sich das Leben etwa dadurch, daß eine Ehefrau zur Witwe wird, unter Umständen mit finanziellen Problemen zu kämpfen hat, mit der Notwendigkeit, die Kinder allein zu erziehen, einen neuen Partner suchen zu müssen; oder ist die Witwe älter, muß sie nun plötzlich den Lebensabend allein verbringen, vielleicht ohne die dazugehörige praktische Begabung zu haben, weil der Mann ihr zuvor alles abgenommen hat. Äußerlich ändert sich das Leben auch dadurch, daß ein trauernder Mensch eben 14
ein Trauernder ist, der von der Umwelt plötzlich anders behandelt, im schlimmsten Fall tabuisiert wird, fast wie der Tod selber, im besten Fall zwar nicht gemieden, aber »vorsichtig«, unspontan behandelt wird. Man weiß nicht so recht, wie man denn mit dem Trauernden umgehen soll, und man löst das Problem meistens, indem man sich von ihm fernhält. Und so kommt zur Trauer, zum Erleben des Verlusts, auch noch die Einsamkeit, das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören usw. Parkes 7 hat in seinem Buch »Vereinsamung, die Lebenskrise bei Partnerverlust« in einer Studie über junge Witwen viele dieser sozialen Faktoren beschrieben. Die Welt tritt dem Trauernden anders gegenüber als dem Menschen, der nicht trauert. Und je stärker die Trauer und der Tod in einer Gesellschaft verdrängt werden, um so weniger spontan wird diese Gesellschaft mit den Trauernden umgehen, desto schneller wird sie fordern, daß man nun endlich wieder einmal mit der Trauer aufhören sollte. Aber nicht nur die Welt tritt dem Trauernden anders gegenüber. Der Trauernde selbst erlebt die Welt anders. Er hat einen Verlust erlitten, er ist mit einem Problem, das allerdings viele Probleme nach sich zieht, ganz beschäftigt. Alles andere interessiert ihn wenig, er hat keine Kraft für etwas anderes. Er kann nicht auf die Menschen zugehen, auch wenn er sie sehr nötig hätte, weil gerade die Wärme der andern Menschen ihn daran hindern könnte, am Leben ganz irre zu werden. Gehen die andern Menschen aber nicht auf ihn zu – und das kann sich in unserer Gesellschaft ereignen, da uns eine rituelle Trauer fehlt, wie sie etwa bei 15
den gläubigen Juden noch stattfindet 8 –, dann kann er auch nicht auf die andern Menschen zugehen, die zudem noch erwarten, daß der Trauernde »normal« weiterlebt. Er entfremdet sich ihnen in seinem Kummer noch mehr und erlebt die Welt, der er nicht mehr gewachsen ist, bald als feindlich. Und so kann sich ein Zirkel der Isolierung, der Angst, der Weltentfremdung einstellen, in dem ein neues Weltverständnis nur schlecht oder überhaupt nicht aufzubauen ist. Eher noch stellen sich paranoide Reaktionen ein. Der Trauernde versteht aber nicht nur die Welt, er versteht oft auch das Schicksal nicht mehr. Gerade bei Menschen, die »vor ihrer Zeit« gestorben sind, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens, die sich angesichts des Todes ja immer unabweisbar, ja geradezu brutal erhebt: eine Frage, auf die in einer solchen Situation kaum eine Antwort gegeben werden kann. Die gängigen Antworten, die etwa angeboten werden, klingen wie Hohn in den Ohren der Trauernden und vermögen zumindest nicht weiterzuhelfen. Es gehört wohl auch zur Trauer, diese Abwesenheit von Sinn auszuhalten und trotzdem weiterzuleben, sei es in der Hoffnung, daß der Sinn sich schon wieder zeigen werde, sei es in der Erinnerung daran, daß Sinn schon einmal das Leben erfüllte; oder aber einfach mutig weiterzuleben im totalen Zweifel an Sinn, an Existenz, an Gott, an den Menschen, zumindest verunsichert durch den Preis, den man bei Verlust für eine menschliche Bindung bezahlt, und tief unsicher, ob man diesen Preis noch einmal zu zahlen bereit wäre. 16
Aber nicht nur diese Verunsicherungen am Sinn des Daseins erschüttern den Trauernden; er fühlt sich ja wirklich erschüttert, verändert. Sein Lebensgefühl hat sich verändert, sein Erleben von sich ist nicht mehr dasselbe. Ein fünfzigjähriger Mann, der seine Frau nach langer, harter Krankheit verloren hatte, beschrieb seinen Zustand: »Ich meine, ich hätte mich auf den Verlust vorbereitet, lange genug Zeit hatte ich ja dazu. Jetzt, wo sie gestorben ist, spüre ich, daß alles noch einmal anders ist, als ich es mir vorgestellt habe. Es ist so unwiederbringlich. Ich fühle die Größe des Todes, ich habe gelernt, was wichtig ist und was unwichtig ist. Aber mit diesem Gelernten kann ich nicht mehr leben unter den Menschen, ich werde ein Sonderling. Und dann fühle ich mich auch ganz unsicher, sie hat so viel von mir weggenommen ins Grab, manchmal frage ich mich, ob noch genug bleibt zum Leben.« Und eine fünfundvierzigjährige Frau, die ihren Mann durch einen Verkehrsunfall verloren hatte, sagte: »Es ist, wie wenn man ihn von mir weggerissen hätte, ohne jede Vorwarnung – und ich fühle mich ganz verwundet, ich bin eine offene Wunde, ich blute, ich fürchte, ich blute aus. Aber was soll’s, dann bin ich auch tot …« Man könnte natürlich denken, daß dieses Ehepaar eine besonders symbiotische Ehe geführt hätte, in der die Frau ihre eigene Persönlichkeit aufgegeben hätte. Solche Aussprüche trifft man aber so häufig an, daß dementsprechend entweder alle Men17
schen symbiotische Partnerschaften führen, oder daß wir in unserem Selbsterleben so sehr von den Menschen, die wir lieben, abhängig sind, daß der Tod dann als »das große Loch in mir«, als »Zersplitterung meiner ganzen Persönlichkeit« erlebt werden muß. Welches auch immer die Gründe dafür sind, daß der Tod eines andern Menschen unser Selbsterleben so sehr beeinflußt, der Trauernde muß mit der Zeit wieder zu einem einheitlichen Erlebnis seiner selbst kommen. Denn das scheint – in allen Lebenssituationen – die Voraussetzung dafür zu sein, daß wir uns als mit uns identische Menschen erleben können. Gerade diese Brüchigkeit in unserem Selbsterleben angesichts des Verlusts eines Menschen, den wir lieben, zeigt, wie sehr an unserem Selbsterleben – das zwar durchaus auch von einem Persönlichkeitskern aus gesteuert wird, also in einer Verbindung zur eigenen Tiefe oder zu einem tieferen Selbst wurzelt – die Beziehungen zu unseren Mitmenschen Anteil haben. Unser Selbsterleben resultiert nicht nur aus der Beziehung zu unseren ersten Beziehungspersonen, so wichtig diese auch sind, sondern aus unseren Beziehungen überhaupt. Die Erschütterung im Selbstgefühl ist sehr schwer zu ertragen; es scheint, daß aber gerade das Trauern, das Zulassen der verschiedenen Emotionen, die damit verbunden sind, das Sich-überwältigen-Lassen von Sinnlosigkeit, Angst und Wut es möglich machen, daß ein neues Selbsterleben sich wieder einstellen kann. Vielleicht ist Trauer die Emotion, die im Leben des erschütterten Menschen eine neue Ordnung, ein neues Selbst- und Welterleben schaffen kann. 18
Damit aber Trauer zugelassen werden kann, damit wirklich die Trauer erlebt werden kann, die psychologisch notwendig ist, um den Verlust zu überwinden und zu einem neuen Welt- und Selbstverständnis zu kommen, müssen die Menschen einander helfen. Kuhn 9 beschreibt das Gefühl des trauernden Menschen als das eines Menschen, der aus der Welt ausgestoßen worden ist – nicht der Tote ist ausgestoßen, der Trauernde ist es, oder anders gesagt, ist es mit. Dieses Ausgestoßensein bringt es mit sich, daß der Trauernde sich dann überwiegend mit dem Vergangenen beschäftigt und damit natürlich immer mehr aus der realen Welt ausgestoßen wird. Wir müssen Wege finden, Trauern als etwas Wesentliches zu sehen, nicht einfach als etwas Pathologisches, und wir müssen Wege finden, miteinander wieder mittrauern zu lernen. Dazu gehört zunächst einmal, daß wir unsere große Angst vor der Trauer überwinden, sie also weniger abwehren, wohl damit auch der Realität wieder ins Auge sehen, um zu erfahren, daß wir sterblich sind, daß unser Leben von vielen Abschieden geprägt ist, daß die Abschiede wesensmäßig zu uns gehören – und daß sie weh tun. Dazu gehört aber auch die Erkenntnis, daß wir überhaupt enorm zerbrechlich sind, von unendlich vielen Faktoren in unserem Wohlbefinden abhängig, die wir nicht beeinflussen können; andrerseits aber auch, daß wir Trauer durchzustehen vermögen, daß wir Grenzsituationen erleben können und daran erstarken. Wir müssen auch neue Wege finden, miteinander zu trauern. Wir werden kaum die Rituale, die für uns nicht mehr gelten, einfach zu neuem Leben er19
wecken können. Wir werden neue Rituale finden müssen. Solche Rituale sind da und dort im Entstehen begriffen; man begreift offenbar, daß man sie braucht. So schreibt Schultz 0 in dem Sammelband »Einsamkeit«, daß nach dem Tode seiner Frau viele Menschen tagelang um ihn gewesen wären und daß sie miteinander über die Verstorbene gesprochen hätten. Dies scheint mir ein »Ritual« zu sein, das dem Bedürfnis des Trauernden oder der Trauernden entgegenkommt. Einen ganz anderen Ansatz zu einem neuen »Ritual« erlebte ich auf einer Tagung, in der über Psyche und Tod gesprochen wurde. In einer großen Gruppe von etwa 20 Menschen entwickelte sich ein sehr ernsthaftes Gespräch über Tod, Verlust, Angst vor dem Tod, Angst vor dem Verlust, Mut angesichts des Todes. Eine allgemeine Betroffenheit breitete sich aus, ohne peinlich zu werden; jeder konnte sich identifizieren, wann er wollte, wo er wollte, wo es ihn in seinen Begegnungen mit dem Tod betraf. Am Schluß der Tagung hatte ich den Eindruck, daß wir alle miteinander getrauert hatten, vielleicht, gerade weil wir uns eigentlich »fremd« waren; sogar auf eine besonders gute Art getrauert hatten, weil jedem klar geworden war, daß der Tod etwas ist, das wirklich in jedem Leben eine Rolle spielt, daß jeder nach seinen Möglichkeiten damit umgehen muß und daß wir vielleicht gerade da, wo wir uns oft am einsamsten fühlen, nicht so einsam sind. Es gibt viele Mittrauernde, wenn wir sie an uns heranlassen.
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Todeserfahrung und Trauer
im Spiegel einer Traumserie Es ist bekannt , daß im Umfeld von Todeserleben sehr intensiv geträumt wird, daß das Unbewußte hilft, das Todeserlebnis mit zu verarbeiten. Ich habe seit zehn Jahren Träume von Trauernden gesammelt und dabei herausgefunden, daß das Unbewußte Anleitung zum Trauern gibt und sich dadurch eine neue Identität des trauernden Menschen aufbaut. Ich möchte stellvertretend für viele Beispiele nun an einer Traumserie einer jungen Frau zeigen, wie das Unbewußte eine solche Erschütterung, ausgelöst durch den Tod eines sehr geliebten Mannes, darstellt und wie von den Träumen die wesentlichen Impulse zur Verarbeitung dieses Verlustes ausgehen. Diese Traumserie ist beispielhaft. Ich werde sie gelegentlich durch Traumbeispiele anderer Trauernder ergänzen, wo es mir geboten scheint. Die Traumserie stammt von einer fünfundzwanzigjährigen Träumerin, die ich hier Elena nennen will. Elena war zu diesem Zeitpunkt Studentin, sehr interessiert am Umgang mit dem Unbewußten, befand sich indessen nicht in einer psychotherapeutischen Behandlung. Die Traumserie begann vor dem Tod des Freundes, den ich hier Georg nenne. Georg erlitt einen Herzinfarkt und starb drei Wochen nach diesem ersten Infarkt, vermutlich an einem zweiten Infarkt. Sowohl der erste Infarkt als auch der Tod erfolgten überraschend. 21
Elena träumte in der Nacht, bevor Georg seinen ersten Infarkt erlitt: »In einer Alpenlandschaft. Ich soll an einen bestimmten Ort gehen. In meiner Begleitung befindet sich ein scheues, etwa sechzehnjähriges Mädchen. Wir laufen an einer Kette von hohen Schneebergen entlang, befinden uns aber auf einer grünen Wiese. Die Sonne scheint warm. Plötzlich löst sich mit Getöse eine Lawine oben an einem Gipfel und stürzt zu Tal. Die Lawine reißt Steine mit sich, ein paar Bäume, unten verschiebt sie Sennhütten. Wir befinden uns einige Meter von den Ausläufern der Lawine entfernt, es besteht keine Gefahr, trotzdem fühle ich mich wie gelähmt. Die Sonne ist weg, die Alp wirkt plötzlich so seltsam grau. Wir gehen in eine der Hütten, die noch steht und die uns bewohnt scheint. Wir müssen den Rettungsdienst alarmieren.« Dieser Traum spricht von einer Naturkatastrophe, gegen die nichts unternommen werden kann, die plötzlich in diese schöne Alpenlandschaft einbricht. Die Träumerin selbst ist nicht in unmittelbarer Gefahr, dennoch aber betroffen von dieser Lawine. Dies drückt sich aus im Wechsel der Wetterstimmung: Ist die Stimmung zunächst warm, schön, grün, was auf eine psychische Stimmung der Wärme, der Freude, des Wachstums hindeuten dürfte, so verschwindet nach dem Niedergang der Lawine die Sonne; es dürfte also kalt werden, das Freudvolle verschwindet und macht dem Grau Platz, einer eher düsteren, freudlosen Stimmung. Eine Rettungsmannschaft wird benötigt. Dieser Traum kündigt 22
nicht unbedingt einen Tod an, obwohl er vom sogenannten »weißen Tod«, der Lawine, handelt. Elena war als junges Mädchen einmal fast von einer Lawine erfaßt worden. Seither hat sie große Angst vor Lawinen. Der Traum kündigt eine Naturkatastrophe an, die einen starken Stimmungswechsel mit sich bringt. Zur Alpenlandschaft assoziiert Elena, daß sie sich in den Alpen sehr wohl fühle, daß sie immer wieder in die Alpen gehe, wenn sie zu sich kommen möchte, daß sie nirgends die Einheit ihrer Person so sehr fühle wie in den Alpen und am Meer. Dann spricht sie auch von den letzten Ferien, die sie mit Georg in den Alpen verbracht hat, sagt aber, die Landschaft im Traum sei für sie eine ganz unbekannte Landschaft gewesen, und auch der Bestimmungsort sei ihr im Wachen nicht mehr bekannt vorgekommen, obwohl im Traum sowohl der Weg als auch der Bestimmungsort vertraut gewesen seien. Wenn diese Assoziationen miteinbezogen werden, dann könnte der Traum eine »Naturkatastrophe« ankündigen, also eine Katastrophe, bei der Menschen kaum die Schuld tragen, eine Katastrophe, die von viel weiter her kommt. Diese Katastrophe wird die Träumerin ganz zentral treffen, in der »Einheit« der Person, in ihrem Eigensten. Diese Naturkatastrophe kann mit Georg zu tun haben, muß aber nicht. Obwohl vom Traum her nicht klar wird, was denn eigentlich unter dieser Lawine begraben worden ist, und er eher den Einbruch des Elementaren schildert, des Todbringenden natürlich schon, vor allem aber des Kältebringenden, wird eine Rettungsmannschaft benötigt. Hilfe 23
wird gebraucht, und die Träumerin ist auch fähig, sich diese Hilfe zu beschaffen. Elena sagte, sie hätte sich nach diesem Traum gefühlt, als müsse sie sofort sterben, als sei sie in unmittelbarer Lebensgefahr. Sie hätte den Traum zunächst nicht verstanden. Sie hätte nur verstanden, daß ihr Leben und ihr Lebensgefühl bedroht seien. Sie sei zudem mit einem Gefühl von Mitleid erfüllt gewesen, sich selbst, aber auch diesem sechzehnjährigen Mädchen gegenüber, das sie zwar nicht gekannt, von dem sie aber den Eindruck gehabt habe, es beginne eben erst zu leben. Sie erzählte diesen Traum Georg, der meinte, sie würde in ihrer Gefühlsreaktion übertreiben; zwar werde schon etwas Katastrophales eintreten, aber ihr Leben sei keineswegs in Gefahr, und das Leben ihrer Begleiterin auch nicht. Georg träumte in dieser selben Nacht vor seinem Infarkt: »Schweizer Armee. Ich soll meine gesamten Ausrüstungsgegenstände abgeben, weil ich eine größere Reise ins Ausland antreten werde. Ich muß aber auch die Zigaretten, das Feuerzeug und ein angefangenes Manuskript abgeben. Ich wende ein, das wären doch persönliche Effekten. Der Offizier, dem ich diese Dinge abgeben muß, zuckt die Schultern und sagt: Sie kennen doch den Laden hier, Befehl ist Befehl. Ich freue mich auf die Reise, endlich passiert wieder einmal etwas Unvorhergesehenes. Pferde ziehen einen schwer beladenen Wagen. Plötzlich - ich habe keine Ahnung, wer oder was das bewirkt hat – haben sich die Pferde befreit, der Wagen bleibt stehen, rollt rückwärts 24
an einen Baum, die Pferde rasen davon. Es macht mir Freude, daß sich die Pferde befreit haben, sie rennen querfeldein, es kann kaum jemand zu Schaden kommen dabei.« Der erste Traum spricht von der Vorbereitung auf eine sehr große Reise. Die Militäreffekten muß man als Schweizer Soldat nur dann abgeben, wenn man in einem anderen Land Wohnsitz nehmen will. Eigentümlich ist, daß auch die persönlichen Gegenstände abgegeben werden müssen, vermutlich die Dinge, die Georg in diesem Zeitpunkt sehr wichtig waren. Er muß also alles zurücklassen und auf eine große Reise gehen; er freut sich darauf, endlich einmal etwas anderes zu erleben. Zum zweiten Traum erinnert Georg zunächst einen Spruch aus dem chinesischen Weisheitsbuch »I Ging«: »Pferd und Wagen trennen sich, blutige Tränen ergießen sich.« Im Kommentar dazu heißt es, gemeint sei damit, daß man in Schwierigkeiten die Hände sinken lasse und den Kampf aufgebe. Er lehnte diese seine Interpretation dann aber sofort ab mit der Begründung, seine Emotion sei ja eine ganz andere gewesen; er habe sich gefreut über die Pferde, die endlich wieder ihre Freiheit gehabt hätten. Er sähe den Traum so, daß er sich von seinen Lasten und Pflichten einmal befreien müsse und wirklich eine Reise machen solle. An den Wagen, der an den Baum rollt, denkt er nicht. Er versteht den Traum als Aufforderung zu einer wesentlichen Wandlung seiner Lebenssituation. So kann man diese Träume durchaus verstehen – und solange jemand noch lebt, käme man kaum in die Versu25
chung, in ihnen eine Todesankündigung zu sehen, obwohl die weite Reise mit unbekanntem Ziel, zu der man keine persönlichen Effekten mehr braucht, auch ein mögliches Symbol für die Todesreise ist; ebensogut kann es aber ein Aufruf sein, etwas ganz Neues in sich zu entdecken. An diesen Träumen Georgs ist sichtbar, was ich schon verschiedentlich an Träumen von Menschen gesehen habe, die kurz vor ihrem Tod standen: Die Träume sprechen von etwas Neuem, das oft sogar herbeigesehnt, manchmal auch ängstlich erwartet wird – ohne daß man auch nur annähernd ausmachen könnte, ob dieses Neue den Tod meint oder einfach noch einmal etwas Neues in dieser Welt. Elena und Georg versuchten, ihre beiden Träume zueinander in Beziehung zu bringen. Georg meinte, sein Traum zeige doch ganz klar, daß er wieder einmal ausbrechen sollte, eben eine große Reise machen, vielleicht sogar ohne Elena; ja ihm scheine, es sei besser, das ohne Elena zu tun. Natürlich sei das für sie eine Katastrophe. Elena meinte dazu trocken: eine Katastrophe vielleicht schon, aber keine Naturkatastrophe. Sie habe Angst, daß ihm etwas passieren, daß er krank werden könnte. Georg sagte dazu nachdenklich, er fühle sich heute auch eigentümlich, sonderbar, aber er müsse nur ausspannen. Den nächsten erinnerten Traum von Elena träumte sie drei Tage nach dem Infarkt von Georg. Georg ist also noch am Leben: »Ich stehe an einer Türschwelle. Ein Kalb muß auf dieser Schwelle getötet werden, und zwar darf dabei kein Blut auf 26
den Boden fließen; alles Blut muß aufgefangen werden. Ich versuche mit aller Sorgfalt, alles Blut in einer Wanne aufzufangen. Es sind Unmengen von Blut. Es fließt und fließt. Mir wird dabei immer elender, mir wird schlecht. Ich erwache.« Elena, ohnehin schon sehr in Sorge um Georg, auch wenn die Ärzte ihr versicherten, es bestünde keine unmittelbare Gefahr mehr, fühlte sich nach diesem Traum »elend wie überhaupt noch nie in meinem ganzen Leben«. Sie fühlte sich ohnmächtig, überfordert, sagte aber auch, der Traum hätte auch eine Qualität von »seltsam heilig« gehabt. Der Ernst, mit dem sie das Blut in der Wanne aufgefangen hätte, die Sorgfalt, das hätte sie an eine heilige Handlung erinnert. Das sei aber nur eine Gefühlsqualität; die Gefühlsqualität des Elendwerdens sei sehr viel ausgeprägter, sehr viel quälender gewesen, deshalb sei sie wohl auch aufgewacht. Die Türschwelle weist auf einen Übergang hin: an der Schwelle stehen, hier: auf der Schwelle stehen. An diesem Übergang muß die Tötung des Kalbes stattfinden, das Kalb muß geopfert werden. Dieses Bild erinnert an das Tieropfer, wie wir es auch aus dem Alten Testament kennen. Im Blut liegt nach alter Auffassung die Seele. Diese darf nicht verlorengehen, weil sie Gott gehört. Die Form aber, in der die Seele sich befand, muß getötet werden, muß geopfert werden, es muß eine Wandlung stattfinden. »Kalb« verband die Träumerin mit Lebensfreude,Vitalität, Ungebundenheit, naiver Freude am Dasein. Das Kalb weist auf eine Jugendform hin. (Luther sagte schon: »Ihr habt noch viel Kalbfleisch!«) Elena muß diese jugendliche, unbeschwerte 27
Form von Vitalität und Freude am Dasein opfern, ohne daß dessen Essenz – das Blut – verlorengeht. Von der Träumerin wird ein ungeheures Opfer verlangt; kein Wunder, daß ihr dabei schlecht wird. Das Opfer fordert ihre letzte Kraft. Das strömende Blut zeigt die Fülle ihrer großen, warmen Emotionalität, die da verströmt – und gesammelt werden muß. Das Sammeln des Blutes in einer Wanne kam Elena »seltsam heilig« vor. Dieses Bewahren der Essenz auf den Befehl von jemandem, der gar nicht vorhanden ist – Elena weiß einfach, daß das zu geschehen hat –, hat nicht nur den Charakter der fast nicht zu bewältigenden Aufgabe, sondern auch die Qualität des Heiligen, des Sinnhaften, auch wenn von der Träumerin kein unmittelbarer Sinn eingesehen werden kann. Der Traum zeigt an, daß von Elena eine Schwelle überschritten werden muß, daß von ihr ein Reifeschritt gefordert ist, der ihr sehr schwer fällt, weil er mit einem großen Opfer an Jugendlichkeit, an Vitalität, an Sexualität, an warmer Lebendigkeit verbunden ist. Nichts davon darf aber wirklich verlorengehen, es gehört zu ihrem innersten Wesen, es muß nur in anderer Form gelebt werden. Elena verstand den Traum als Reaktion auf ihre ganz veränderte Lebenssituation: der geliebte Mann im Spital in Todesgefahr. Sie verstand, daß sie erwachsener werden mußte, daß auch ihre Beziehung sich ändern mußte. Allerdings meinte sie damals noch, es sei sonderbar, daß ihr das so schwer fallen sollte, wie der Traum das ausdrückte. Dann fügte sie hinzu: »Eigentlich könnte man nach diesem Traum wiederum denken, daß ich es bin, die sterben wird.« Sicher 28
zeigt dieser Traum eine Wandlung an, die ihr abgefordert wird; aber das Traum-Ich stirbt nicht, es erleidet, partizipierend an dem Kalb, das gestochen wird und dessen Blut aufgesammelt werden muß, den Tod. Aber der Traum enthält auch einen Hinweis auf die Zukunft; denn wenn nur Tod gemeint wäre, dann könnte das Blut auch verströmen. Drei Tage vor seinem Tod träumte Georg: »Ich sehe einen Wald, über den ein Sturm hereingebrochen sein muß. Die Tannen liegen kreuz und quer. Waldarbeiter sind da. Sie verladen die Bäume und transportieren sie ab. Mich wundert, daß der Wald, der in voller Kraft zu stehen schien, dem Sturm nicht trotzen konnte. Ich schaue traurig zu.« Wiederum begegnen wir in diesem Traum einer Naturgewalt, die über den Wald hereingebrochen ist. Und der Wald – der in voller Kraft zu stehen schien, so wie auch Georg in voller Kraft zu stehen schien – wurde gebrochen. Der Baum, der stürzt, kann unter anderem auch ein Bild sein für den Menschen, der stirbt; zumindest ist es ein Bild für die Gebrochenheit der Vitalität. Georg selbst fragte sich, ob dieser Traum ihm den nahenden Tod ankündigen wolle, meinte dann aber sofort, es könne ja auch bedeuten, daß da aufgeräumt werden müsse, daß die Reste seiner Krankheit aufgeräumt werden müßten, damit er wieder neu anfangen könne zu leben. Beide Deutungsmöglichkeiten sind möglich; immerhin hat Georg als erste Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß der 29
Traum ihm den Tod ankündigen könne. Und Georg zeigt in seiner Interpretation, daß er sowohl auf den Tod als auch auf das Weiterleben ausgerichtet ist. Im Traum schaut er traurig zu. Kübler-Ross 2 weist nach, daß gewisse Phasen, die der Trauernde durchmacht, auch der Sterbende vor seinem Tod durchmacht. Dieser Trauerprozeß war bei Georg nicht als vollständiger Prozeß sichtbar – es blieb ihm ja auch sehr wenig Zeit dazu. Sichtbar war bei ihm die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens, die sich auch im ersten hier geschilderten Traum zeigt, aber auch in seiner Reaktion auf den Naturkatastrophentraum von Elena. Hier in diesem Traum war für ihn die Trauer sehr wichtig. Als er den Traum Elena erzählte, sprach er davon, daß der Traum ihn mit unermeßlicher Trauer erfülle, und dann sprach er von Abschiednehmen. Er war dabei sehr bewegt, zählte auf, was er alles noch machen möchte, auf wen er eine Wut habe, wem er nicht gerecht geworden sei, aber auch, wie schön das Leben gewesen sei; er erzählte Episoden aus seinem Leben, für die es sich zu leben gelohnt habe. Auch wenn bei Georg kaum eine Verarbeitung des Todes möglich war, wie dies vielleicht bei Menschen möglich ist, die langsamer auf den Tod zugehen, scheinen mir die ersten Phasen der Trauerarbeit sichtbar zu sein. Elena träumte in der Nacht vor Georgs Tod : »Ich sehe einen Bildschirm. In der oberen Hälfte ist er hell, in der unteren Hälfte ist er dunkler. Über diesen Schirm laufen drei Lichtstrahlen, von rechts nach links. Als der eine Lichtstrahl ein Drittel des Bildschirms durchlaufen hat, stürzt er 30
ab. Es sieht aus, als ob er erlöschen würde. Dann stelle ich aber fest, daß er unten, in der dunkleren Hälfte, seinen Weg fortsetzt. Ich denke an Georg und erschrecke. Der zweite Lichtstrahl fängt an zu flackern, wird aber wieder ruhig. Jemand sagt, das sei der Lichtstrahl von Frau X. (Diese Frau hatte vor einiger Zeit einen Herzinfakt, es geht ihr aber wieder gut.) Der dritte Lichtstrahl beginnt auch zu flackern und stürzt am Ende des Bildschirms ab. Dieser Lichtstrahl gehört zu Frau A – das weiß ich unwillkürlich –, eine Frau, die mir nahesteht. (Diese Frau ist vier Jahre später jung gestorben.) Ich erwache, bin sehr beunruhigt.« Elena dachte natürlich sofort an Georg, dessen Herztätigkeit über längere Zeit auf einen Bildschirm übertragen wurde. Es war ihr klar, daß der Traum nicht das wirkliche Zeichen für Herzstillstand übermittelt hatte, aber für sie bedeutete Absturz des Lichtes Tod dieses Menschen, der für sie so etwas wie ein Licht gewesen war. Der Traum spricht nicht von Absturz ins Nichts, sondern von Absturz in eine andere Sphäre, in der der Lichtstrahl sich zwar fortsetzt, für uns aber kaum mehr sichtbar ist. Ein Lichtstrahl ist gleichbedeutend mit Frau X und bestätigt dadurch, daß der Traum die Todesproblematik aufgreift. Elena sagte, sie hätte gewußt, daß Georg jetzt sterben würde. Andrerseits hätte sie aber auch gedacht, der Traum wolle ihr sagen, daß Tod gar nicht einfach Tod sei, daß das Lebenslicht weitergehe, nur eben so, daß wir es mit unserem Bewußtsein kaum wahrnehmen können. Dieser Traum war Elena über längere Zeit ein großer 31
Trost. Sie, die zuvor nie eine Aussage machen wollte über das Leben nach dem Tod und Spekulationen über dieses Thema als Versuch billiger Angstbewältigung abtat, war aufgrund dieses Traumes plötzlich davon überzeugt, daß ein Mensch, den man geliebt hat, gar nicht sterben kann, daß er in irgendeiner Form, für unser beschränktes Bewußtsein eben nicht oder kaum mehr erkennbar, weiterlebt. Betrachten wir die drei Träume von Elena vor Georgs Tod in ihrem Zusammenhang, dann wird ersichtlich, daß die Träume auf die große Trennung vorbereiten, diese auch als Katastrophe darstellen und zeigen, welche ungeheure Veränderung von Elena gefordert wird. Die gefühlsmäßige Reaktion Elenas auf die ersten beiden Träume, das Gefühl, selbst vom Tod bedroht zu sein, scheint mir klar darauf hinzudeuten, wie sehr wir »mitsterben«, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Die Träume spenden wenig Trost, außer dem Hinweis darauf, daß Elena nicht umkommen wird, daß sie diesen Einbruch von etwas Furchtbarem gerade noch ertragen kann. Ein kleiner Trost lag für Elena vielleicht darin, daß sie das Aufsammeln des Blutes zwar als schrecklich, aber auch als »seltsam heilig« erleben konnte, daß ein gewisser Sinn für sie sichtbar wurde. Der letzte Traum zeigte an, daß der Zeitpunkt des Todes gekommen war; er hatte insofern eine tröstende Komponente für Elena, als er ihr erlaubte, eine Weltanschauung aufzubauen, nach der die Toten – wenn auch nicht mehr leicht erkennbar – weiter mit uns sind. Mit diesem Traum, der gleichzeitig natürlich auch die Unabwendbarkeit des Geschicks betonte, wurde bereits in die Trauerarbeit hinein »vorgegriffen«. Dadurch, daß die 32
Träumerin ein erstes Bild vom Leben nach dem Tode hatte, wurde das Suchverhalten, das bei Verlust immer eintritt 3, bereits in Bahnen gelenkt. Schelling schrieb nach dem Tode seiner Frau Caroline (809) eine Schrift: »Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt« (80/). Der Schmerz über den Tod seiner Frau brachte ihn dazu, über den Tod nachzudenken, ja er sagte: »Es kann mich nichts ferner weder beschäftigen noch trösten als der Umgang mit den Gegenständen einer höheren Welt, wodurch allein ich die schmerzliche Trennung aufhebe.« Und in seinem Nachdenken kommt er zu dem Schluß: »›Daß wir im Innersten unseres Wesens‹ mit den Verstorbenen vereinigt bleiben! ...« 4 Ähnliche, noch weiter gehende Gedanken hat Gabriel Marcel, wenn er sagt: »Das Wesen, das ich liebe, ist noch immer da, auch wenn es tot ist.« 5 Es ist leicht nachzuvollziehen, daß ein Mensch, den wir liebten, eben auch noch mit uns mitlebt, solange er in unserem Gedächtnis ist; es ist aber auch nicht darüber hinwegzusehen, daß die Abwesenheit der leiblichen Präsenz diese Beziehung total verändert. Auch wenn der Trauernde vielleicht versucht, durch ein weltanschaulich-religiöses System, vielleicht auch durch spiritistische Sitzungen mit dem Toten in Kontakt zu bleiben, bringt ihm gerade der Verlust der leiblichen Anwesenheit den Tod des geliebten Menschen immer wieder sehr schmerzvoll in Erinnerung und weist darauf hin, welch ein fundamentaler Unterschied gegenüber der Zeit seiner leibhaften Existenz besteht. In der Nacht nach Georgs Tod träumte Elena: 33
»Ich umarme Georg, ich fühle mich ihm sehr nahe, werde überströmt von Gefühlen der Zärtlichkeit. Plötzlich spüre ich, wie er immer kälter wird, er stirbt in meinen Armen. Ich bin ganz verzweifelt. Ich weiß, daß nichts ihn mir mehr zurückbringt, daß ich ihn nie mehr umarmen kann, nie mehr spüren kann.« In diesem Traum erfährt Elena das Todeserlebnis nochmals sehr intensiv. Dabei wird das leibliche Beisammensein zunächst als wunderschön geschildert, und dann zeigt der Traum, daß eben gerade dieses leibliche Beisammensein nicht mehr möglich ist. Er zeigt aber auch, wie Elena gerade dadurch realisiert, daß Georg gestorben ist. Es mag sein, daß dieser Traum die Phantasien Elenas kompensiert, die sie im Anschluß an den letzten Traum von dem abgestürzten Lichtstrahl hatte, die Phantasien, die dahin gingen, daß der Tote in gewisser Weise weiter existiert. Dieser Traum nun sagt deutlich: nicht aber leiblich. Der Traum mag auch den wachen Zustand Elenas kompensieren kurz nach Georgs Tod: Wie alle Menschen wollte auch sie diesen Tod nicht wahrhaben. Sie war unmittelbar nach Georgs Tod starr, empfindungslos, sie erledigte die Dinge, die getan werden mußten, wie ein Automat und sagte sich immer wieder, sie träume wohl, das sei doch bestimmt nur ein schrecklicher Traum, wohl wissend, daß es kein schrecklicher Traum war, aus dem man aufwachen kann, sondern schreckliche Realität, aus der man auch eines Tages aufwachen muß. Diese Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens, des StarrSeins, der Empfindungslosigkeit wird ganz allgemein als 34
die erste Phase nach einem großen Verlust bezeichnet 6. Übrigens auch als erste Phase der Trauerarbeit, wenn jemand erfährt, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach an einer unheilbaren Krankheit leidet 7. Der Traum könnte die Funktion haben, die Träumerin auf den Weg zu bringen, den Verlust zu akzeptieren. Selbstverständlich kann Elena den Verlust zu diesem Zeitpunkt noch nicht akzeptieren, aber mir scheint, daß der Traum doch darauf hindeutet, daß der Tod akzeptiert werden muß, daß die grundlegende Veränderung dieser Beziehung, nämlich die leibliche Abwesenheit, angenommen werden muß. Die meisten Autoren, die sich mit Tod und Trauer befassen, sind sich darüber einig, daß dann, wenn der Verlust wirklich akzeptiert wird, vielleicht sogar ein Sinn dahinter gesehen werden kann, der Trauerprozeß abgeschlossen ist 8. Zwei Tage nach Georgs Tod träumte Elena: »Ich erhalte ein großes Paket mit Briefen. Es sind die Briefe, die ich Georg geschrieben habe. Ich weiß, daß es lange nicht alle sind, es sind nur die, die mich noch etwas angehen. Es liegt auch ein Brief von Georg bei. Er schreibt: ›Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie wunderbar es war, als ich diesem Banner folgte.‹ Die Fahne hatte er gemalt: Es war eine blaue Fahne mit Krone und Feuer unter der Krone. Einerseits war ich glücklich über den Brief, andererseits war ich traurig und vor allem auch sehr wütend, weil er mich wegen dieses Banners verlassen hatte.« Briefe spielten in der Beziehung zwischen Elena und 35
Georg eine sehr große Rolle; beide liebten es, kleine Alltagsbegebenheiten einander zu schreiben, und besonders während der Zeit, in der Georg im Krankenhaus lag, schrieb ihm Elena oft, manchmal mehrmals täglich. Was Elena Georg geschenkt hat, die Briefe, ihre Mitteilungen, den Ausdruck ihrer Liebe und ihrer Beziehung, wird ihr zurückgegeben. Diese Briefe gehen sie noch etwas an, so als könnte diese Liebe nicht einfach auch sterben mit dem Partner. Sie muß nochmals zur Kenntnis nehmen, was wesentlich war für sie beide und was wesentlich war für sie ganz persönlich; denn es sind die Briefe, die sie geschrieben hat. In diesem Teil des Traums schwingt sicher auch mit, daß das Zurückbekommen von Briefen ein Symbol ist für den Abbruch einer Beziehung durch den Tod; da Elena aber nicht alle Briefe bekommt, sondern nur die, die sie. etwas angehen, liegt das Hauptgewicht doch auf der Aufforderung, noch einmal zur Kenntnis zu nehmen, was für sie an Wichtigem in dieser Beziehung gelegen hat, und auch zur Kenntnis zu nehmen, daß alle Liebe, die in diesen Briefen ausgedrückt war, nicht einfach verloren ist. Das wäre eine Entsprechung zu dem Blut im Traum vom Kalb, das nicht vergossen werden darf, das auch nicht weniger wird. Georg teilt mit, daß er einem Banner folgte. Er scheint etwas gefolgt zu sein, was für ihn sehr wichtig war. Das Ritterhafte an ihm kommt zum Ausdruck: einem Banner folgen, sich in den Dienst einer Idee stellen – und zwar bedingungslos –, wie durch das Banner ausgedrückt ist. Welche Idee aber ist ausgedrückt ? 36
Der blaue Grund der Fahne könnte auf einen geistigen Hintergrund hinweisen, auf dem ein Feuer brennt, Symbol der wärmenden und verzehrenden Leidenschaftlichkeit. Man könnte sagen, daß diese geistige Leidenschaftlichkeit das Beherrschende in seinem Leben war – und vielleicht auch die Krönung seines Lebens bedeutete. Dieses doch recht individuell gestaltete Banner, dem er nachgefolgt ist, scheint auf sein individuelles Schicksal hinzudeuten, dem er gefolgt ist. Für die Träumerin war dieser Teil des Traumes Zeichen dafür, daß dieser Tod für Georg wirklich sein Schicksal war – daß es sein Tod war, daß er einen Sinn hatte. Für Elena war er eine Botschaft aus dem Jenseits, eine Botschaft, die sie zunächst sehr glücklich gemacht hat. Man kann aber mit ebenso großer Berechtigung sagen, daß dieser Traum-Teil die Intuition ihrer eigenen Psyche über die Hintergründe dieses Sterbens ist und daß ihre Psyche nach einem Sinn darin sucht: Elena möchte verstehen; denn sie versteht diesen Tod nicht. Wesentlich an diesem Traum war für Elena auch, daß die Emotionen, die in ihm angeklungen waren, auch über das Erwachen hinaus anhielten: Freude, Trauer, Wut. Freude, daß die Beziehung nicht einfach abbricht, denn das fürchtete Elena nach dem Traum der letzten Nacht; Trauer, weil Georg trotzdem gestorben ist; Wut darüber, daß sie verlassen worden ist, weil er seiner eigenen Bestimmung, seinem Banner, sogar freudvoll folgte. Dieser Traum leitete eine Phase ein, in der die Träumerin alle diese Emotionen sehr stark erlebte, besonders die Wut darüber, daß er sie verlassen hatte. Zwar war es auch ihre Weltanschauung, daß 37
man seiner eigensten Bestimmung unbedingt folgen müsse; das war für sie auch sinnvoll, und sie sah ein, daß sie dieses Der-eigensten-Bestimmung-Folgen, das sie im Leben so sehr an Georg geliebt hatte, jetzt nicht verurteilen konnte. Dennoch war sie wütend und traurig. Damit hatte dieser Traum wesentlich dazu beigetragen, daß sie aus der ersten Phase nach Georgs Tod, der Phase der absoluten Erstarrung, die einherging mit einem Nicht-wahrhaben-Wollen, daß er gestorben war, in die zweite Phase der Trauer gelangte, in der die Emotionen der Trauer und der Wut zum Ausdruck gebracht werden konnten. Elena war in dieser Zeit oft im Kreise von Freunden, die beide gekannt hatten und die sie zu Hilfe gerufen hatte. In vielen Gesprächen versuchten die Anwesenden, über den Verstorbenen zu sprechen und Elena dahingehend zu beeinflussen, Georg nun nicht einfach zu idealisieren, sondern wirklich auch jene Seiten zu sehen, die sie in Wut versetzen konnten, etwa seine Unbezogenheit, wenn er meinte, seiner Bestimmung folgen zu müssen, und dabei die Beziehung zu Elena außer acht ließ. Bei diesen Gesprächen zeigte sich, daß es gar nicht einfach ist, über einen Toten »Schlechtes« zu sagen, daß die Maxime »Über einen Toten spricht man nichts Schlechtes« in uns stark verwurzelt ist. Im vollen Wissen darum, wie krankmachend diese Maxime ist, wie sehr sie einen daran hindert, die Auseinandersetzung mit dem Toten zu bestehen, haben wir dennoch die Tendenz, den Verstorbenen zu idealisieren. Der Freundeskreis war geradezu süchtig danach, vom Verstorbenen zu sprechen, von seinen Heldentaten, von seinen Eigenheiten usw., als 38
würden sie ihn damit nicht ganz verlieren. Dieses Sprechen nach dem Tod über einen Verstorbenen scheint viele Funktionen zu haben: Einerseits werden die Emotionen, die mit dem Menschen verbunden sind, wach und können, müssen ausgedrückt werden. Dann können auch Probleme, die mit dem Verstorbenen noch bestehen, aufgearbeitet werden; auch die Zorngefühle des Verlassenwordenseins können hier zum Audruck gebracht werden. Dieses Sprechen scheint aber auch die Funktion zu haben, den Toten noch zu »finden«. Denn wenn der Tote vom Trauernden »gesucht« wird, und es ist ja nur natürlich, daß wir Menschen auf Verlust mit Suchen antworten, dann bedeutet die Suchphase, daß wir uns mit dem Verlust noch nicht abgefunden haben. Nachdem Elena – zumindest äußerlich – akzeptiert hatte, daß Georg tot war, und sie aus ihrer Erstarrung erwacht war, wechselten »Anfälle« von Wut gegen das Schicksal, Ausfälligkeiten gegenüber dem Leben als solchem, das seine Geschöpfe nur umbringen könne, mit Phasen der ganz stillen Trauer. Sie selber erlebte sich als in hohem Maß unkontrolliert. Das war sie auch, aber das ist eine gute Voraussetzung beim Verarbeiten eines Verlusterlebnisses. Was bei Elena fehlte – im Vergleich zu den meisten Trauerprozessen –, waren Schuldgefühle. Das mag damit zusammenhängen, daß in der Beziehung von Elena und Georg sehr offen darüber gesprochen wurde, wenn der eine oder andere Partner das Gefühl hatte, »Opfer« zu sein. Außerdem war beiden klar, daß keine Beziehung gelebt werden kann, ohne daß man einander auch etwas schuldig bleibt. Die Selbstvorwürfe hielten 39
sich in Grenzen. Elena war der Ansicht, sie hätte alles getan, was sie in dieser Situation hätte tun können. Elena wirkte gefaßt. In ihrem Tagebuch stand indessen ein Eintrag: »Ich bin sehr froh um den Beistand meiner Freunde, ich habe das Gefühl, ich brauche Menschen um mich, die meinen Körper zusammenhalten, er könnte sonst in seine Teile zerfallen.« Elena fühlte sich also doch in der Einheit ihrer Person sehr bedroht, sie brauchte die Wärme der Menschen, um diese Bedrohung auszuhalten. Elena träumte eine Woche nach Georgs Beerdigung, von der sie fand, sie habe weder dem Toten noch den Lebenden etwas genützt: »Ich warte auf Georg. Er kommt, setzt sich auf eine Bank unter einem Baum. Er übergibt mir ein Blatt, das braun beschrieben ist, aber in Spiegelschrift. Es ist ein Konzept für eine wissenschaftliche Arbeit. Ich hoffe, daß ich es lesen kann. Außerdem schenkt mir Georg ein Gummiband. Ich schaue ihn etwas verdutzt an und frage: Was soll ich denn mit diesem Vermächtnis ? Wie ich das sage, bin ich sehr böse über meine Taktlosigkeit, ihn an seinen Tod zu erinnern; ich weiß nämlich während des ganzen Traums, daß wir ihn beerdigt haben. Ich sehe aber auch, daß er ganz lebendig ist.« Es geht in diesem Traum vermutlich wirklich um das Vermächtnis des Toten: ein wissenschaftliches Konzept, das aber nicht einfach übernommen werden kann, sondern gespiegelt werden muß – reflektiert, bis es lesbar und damit verstehbar ist. 40
Elena hatte keine Ahnung, worauf sich das Konzept bezog. Interessant ist die braune Farbe der Schrift. Braun als die Farbe der Erde, des Mütterlichen, im Zusammenhang mit Tod natürlich auch als die Farbe der Erde, die den Sarg zugedeckt hat. Weist dieses Blatt darauf hin, daß es eben nicht einfach eines der Konzepte ist, die noch von Georg herumliegen und von denen man schon denken kann, Georg möchte gerne, daß sie ausgearbeitet würden von jemandem, der seine Anliegen kannte, sondern daß es wirklich ein Konzept ist, das mit seinem Tod zusammenhängt ? Für Elena war klar, daß der Traum ihr mitteilte, Georg würde die außerordentlich anregende Rolle, die er in ihrem Leben gespielt hatte, auch vom Jenseits aus weiterspielen können, sie aber dürfte diese Anregungen nicht einfach übernehmen, sie müßte sie reflektieren, auf menschliche Verhältnisse übertragen. Sie schloß daraus auch, daß die Welt nach dem Tode eine gespiegelte Welt der unseren sein könnte. Das Gummiband sah sie als Möglichkeit der weiteren Bindung aneinander; zwar gebunden sein, aber elastisch – im Gegensatz zu einer fixierten Bindung. Elena hatte in dieser Zeit die Neigung, die Traumfigur Georgs als objektive, reale Figur zu verstehen, die versuchte, ihr Botschaften aus dem Todesbereich zukommen zu lassen. Diese allnächtlichen Zusammenkünfte mit Georg trösteten sie sehr, stürzten sie aber auch immer wieder neu in Trauer. In den Träumen wird aber auch sichtbar, daß ihr TraumIch auch um eine Ablösung bemüht ist: Sie erinnert Georg immer wieder daran, daß er ja tot ist; sie erinnert sich damit daran, daß es eben doch eine veränderte Beziehung ist. 41
Wenn man diesen Traum eher von außen sieht, dann ist man geneigt, Georg als Repräsentanten für das aufzufassen, was in ihr durch die Beziehung zu Georg gewachsen ist. Und der Traum würde dann aussagen, daß er zwar tot ist, aber daß das, was in ihr gewachsen ist, weiterhin aktiv bleibt, sie anregt, ihr auch ein Gefühl von Bindung vermittelt, auch wenn konkret der Kontakt abgebrochen ist. Dieser Traum scheint sehr stark dieses Doppelte zu vermitteln: einerseits das Wissen darum, daß die Beziehung abgebrochen ist, andererseits die Erfahrung, daß das, was durch die Beziehung belebt worden ist, weiter wirkt und verwirklicht werden will. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre es auch sinnvoll, wenn Elena irgendein Konzept Georgs ausarbeiten und damit die Rolle des Anregenden, die sie bisher auf ihn projiziert hatte, in eigene Möglichkeiten des Anregens verwandeln würde. In diesem Traum scheint mir auch immer noch das Suchen nach Georg ausgedrückt zu sein, das Suchen, das letztlich wohl nicht nur als Widerstand dagegen gesehen werden kann, den Verlust zu akzeptieren, sondern das wohl auch den Sinn hat, in sich selbst das zu finden, was durch die Beziehung zu dem verstorbenen Menschen geworden ist, zu sehen, was an Einmaligem in dieser Beziehung gesteckt hat – als einen wesentlichen Aspekt des Selbstverständnisses, das ja wiederum aufgebaut werden muß. Es stimmt ja nicht, daß, wenn ein Mensch gestorben ist, auch die gemeinsam mit ihm durchlebte Zeit einfach ausgelöscht wäre; im Gegenteil: Die Zeit, die man mit einem Menschen verbracht hat, das Stück Leben, das man zusammen gelebt oder nicht gelebt hat, wird beim Tod dieses Menschen evident. 42
Daß Elena zu diesem Zeitpunkt die Traumfigur Georg als reale Erscheinung aus dem Jenseits auffaßte, zeigt natürlich, daß für sie das Suchen noch auf einer sehr realen Ebene stattfand, nicht ganz im Dienste der Herstellung der alten Verhältnisse, aber immerhin im Dienste der geringst möglichen Wandlung, die angesichts des Todes überhaupt denkbar ist. Dieses Verhalten ist aber ein typisches Verhalten. Bowlby und Parkes erwähnen verschiedene Trauerprozesse, in denen in der Phase des Suchens der verstorbene Gatte entweder überhaupt als real, wenn auch nicht sichtbar anwesend empfunden wurde, oder doch als ein Mensch, der sich zwar jetzt im Jenseits befindet, der aber jederzeit mit einem kommunizieren kann. Dieser Erfahrung kann eigentlich kaum widersprochen werden, solange jemand nicht behauptet, damit allgemeine Aussagen über das Jenseits zu machen. Solange ein Mensch eine intensive Beziehung zu einem Verstorbenen hat, solange dieser noch so lebendig in seiner Seele ist, daß auch Zwiesprachen möglich sind, so lange wird sich ein Trauernder nie damit zufriedengeben, daß das nur eine Erinnerung, eine Phantasie ist, die zwar einen ungeheuren Wert haben kann, aber doch nicht zu vergleichen sei mit dem Gespräch mit dem Partner, wie es vor seinem Tod stattgefunden hat. Die Anwesenheit des Verstorbenen ist eine radikal andere, auch wenn sie noch als Anwesenheit erlebt wird. Gerade diese radikale Veränderung muß im Trauerprozeß – schrittweise – akzeptiert werden. Die Gefahr besteht aber immer darin, daß der Trauernde versucht, an Gewohnheiten zu retten, was 43
nur immer zu retten ist. Das mag für den Augenblick sehr tröstlich sein, es kann aber den Trauerprozeß verschleppen. Elena träumt drei Wochen nach Georgs Beerdigung: »Georg schreibt mir einen Brief. Er bittet mich, ihn zu besuchen, und nennt mir als Treffpunkt einen Grenzbahnhof. Ich treffe ihn. Wir sind in einem Eisenbahnzug, zusammen mit anderen Menschen. An einer bestimmten Stelle müssen wir alle aussteigen, nur Georg darf und muß weiterfahren. Ich versuche, bei der allerhöchsten Stelle durchzusetzen, daß ich weiterfahren darf, daß ich mit Georg mitfahren darf. Es nützt alles nichts. Ich werde von dieser höchsten Stelle überhaupt nicht empfangen. Wir verabschieden uns zärtlich – ich bin wie betäubt. Ich muß nun einen Zug suchen, der zurückgeht. Ich suche endlos, wechsle Bahnhöfe, habe das Gefühl, die ganze Nacht den richtigen Zug zu suchen. Irgendwann bin ich dann in einem Zug, der zurückfährt. In diesem Zug sind viele Menschen, ich habe Angst vor diesen Menschen – auch ist kein Platz dafür mich. Ich stelle mich zwischen zwei Zugwagen. Ich erwache ganz gerädert …« Elena muß sich jetzt noch radikaler von Georg trennen. Diese Trennung erfolgt aber zunächst durch ein erneutes Treffen. In diesem Treffen und sich doch Trennen-Müssen scheint mit die ganze Ambivalenz dieser Trauerphase zu stecken: Wir müssen uns mit den Verstorbenen befassen. Es ist auch wesentlich, die guten Gefühle für sie in sich wiedererstehen zu lassen, die Verbundenheit weiter zu 44
fühlen, die auch immer wieder dem mühevollen Suchprozeß ein vorläufiges Ende setzt. Wenn in Träumen solche Wiedersehen stattfinden, kann sich das sehr wohltuend auf das Befinden der Trauernden auswirken 9. Wir müssen aber zugleich auch Distanz zu den Toten schaffen, den Abschied wirklich akzeptieren. Das können wir wohl nur, wenn wir den Verstorbenen als eine innere Figur zu sehen beginnen. Die Trennung kündigt sich bereits in dem im Traum gezeigten Treffpunkt an: Grenzbahnhof. Eine Grenze muß wieder überschritten werden. Georg muß bei dieser Grenzüberschreitung weiter gehen als jeder andere. Die Träumerin möchte die Todesreise, die Jenseitsreise mit dem geliebten Mann teilen. Elena spürt in dieser Zeit einen sehr starken Sog nach »drüben«; nicht, daß sie aktiv ihrem Leben hätte ein Ende setzen wollen, sondern sie war allen Gefahren gegenüber unglaublich gleichgültig. Auch das scheint, wie Bowlby ebenfalls feststellt, ein typischer Zug an Trauernden zu sein, zumindest in einer ersten Phase der Trauer 20. Was ist für sie denn das Leben noch wert, wenn der geliebte Mensch gestorben ist? Es scheint mir auch die Erschütterung im Selbstsein anzuzeigen: Was soll den »mein« Leben überhaupt noch nach diesem Verlust ? Im Traum wird Elena aber zurückgeschickt. Es fällt ihr schwer genug, den richtigen Zug zu finden. Sie will zunächst auch gar nicht zurück; sie will an der »allerhöchsten Stelle« durchsetzen, daß sie mitfahren kann. Diese »allerhöchste« Stelle erinnerte Elena an ein Buch von Kasack 2, das sie einmal gelesen hatte: »Die Stadt hinter dem Strom«. In 45
diesem Buch geht es, ähnlich wie in Elenas Traum, um eine Reise über einen Fluß ins Totenland. Auch in diesem Buch braucht man, um in jenem jenseitigen Land leben zu können, die Erlaubnis von einem geheimnisvollen »Hohen Kommissar«. Elena erinnert sich, daß in diesem Buch beschrieben wird, wie ein noch Lebender in diese Stadt hinter dem Strom berufen wird, um das Archiv zu leiten, in dem alles, was den geistigen Bestand der Menschheit ausmacht, aufbewahrt wird. Sie erinnert sich auch, daß dieser Archivar dann eine Liebesbeziehung mit einer verstorbenen Frau weiter pflegen kann und daß er schließlich wieder zurückkommt, immer in einem Bahnwagen durch das Land reist und zu den Menschen spricht, die ihn hören wollen. Sie weiß, daß in dem Buch steht, daß die Menschen immer mehr Vertrauen zum Leben fassen, je mehr sie vom Tod und von den Gestorbenen erfahren. Elena scheint sich mit diesem Archivar ein Stück weit zu identifizieren. Möchte sie einfach auch sterben, oder möchte sie ein Stück weit mit dem geliebten Mann in den Tod gehen und dann auch zurückkommen und den Menschen erzählen, was sie weiß, wie der Archivar ? In diesem Wunsch scheint mir der Wunsch nach etwas Großartigem verborgen zu sein, was sich auch darin ausdrückt, daß ein allerhöchstes Wesen gefragt werden müßte, zu dem sie gar nicht vordringt. Das Bedürfnis nach einem großartigen Erlebnis ist leicht verständlich aus der Situation des Sichzerrissen-Fühlens. Das großartige Erlebnis könnte schlagartig zu einem neuen Selbsterleben führen. Aber Elena muß an der Grenze umkehren. 46
Die Rückfahrt fällt schwer. Elena fühlt sich im Traum den Menschen gegenüber total verunsichert. So fühlt sie sich auch in Realität. Die Zeit, in der die Freunde mittrauern helfen konnten, ist vorbei. Elena wagt in jener Phase nicht, weiter um Beistand zu bitten; sie findet, sie müsse nun endlich wieder selbst zurechtkommen. Sie kommt aber noch nicht zurecht. Sie beschäftigt sich mit dem Tod, mit Fragen, die das Leben nach dem Tod betreffen. Botschaften in Träumen von Georg faßt sie als Informationen auf, die er ihr aus der jenseitigen Welt zukommen läßt. Durch diese Beschäftigung entwickelt sie eine starke Sehnsucht nach dem Jenseits und vernachlässigt, den Kontakt mit den Lebenden sehr. Der Traum verweist sie nun aber zurück auf die lebenden Menschen. Sie hat zwar noch keinen Platz unter ihnen: Sie befindet sich »zwischen den Zugwagen«, wiederum in einem Übergang, aber immerhin fährt der Zug zurück. Diese Sehnsucht nach drüben, der Wunsch, auch zu sterben, muß geopfert werden. Sie muß Georg gehen lassen; sie muß ihn seinen Weg gehen lassen, einen Weg, der sich immer weiter von dem ihren entfernt, der gerade in die entgegengesetzte Richtung führt, und sie muß ihren Weg gehen. Sie soll Georg treffen, sich freuen, den Abschied akzeptieren, trauern – erst dann kann sie sich trennen. Das scheint eine Bewegung zu sein, die beim Trauerprozeß immer wieder sichtbar wird: Die Erinnerung an den Verstorbenen wird immer wieder ganz lebendig, Freuden werden nochmals nacherlebt, auch Wut, Angst und Trauer. Gerade dadurch wird es möglich, sich wieder ein Stück 47
weiter von dem Verstorbenen als realer Person abzusetzen. Gleichzeitig integriert sich emotioneil etwas bewußter in die eigene Psyche, was den Trauernden an diesen Menschen gebunden hat, nun als eigenes Erlebnis, nicht mehr raubbar, auch nicht durch den Tod. Elena fühlte sich nach diesem Traum sehr schlecht. Sie fand ihn sehr klar in seiner Aussage, aber sie erlebte, was sie im Traum auch erlebt hatte: Sie wußte nicht so recht, wie sie wieder zu den Menschen zurückkehren sollte. Es gab nichts, was sie interessiert oder gar gefesselt hätte. Die Welt der Lebenden schien ihr trivial. So kümmerte sie sich lustlos wieder um ihr Studium. Doch nach wenigen Wochen überraschte sie ihre Freunde mit der Mitteilung, sie hätte sich für die Schlußprüfungen angemeldet. Etwa ein Jahr später sprach sie davon, wie wichtig dieser Traum für sie gewesen sei, lebensrettend; wie wichtig es für sie aber auch gewesen sei, diese »Grenzsituation« zu erleben. Im Augenblick, als sie den Traum geträumt habe, habe sie sich nur zurückgestoßen gefühlt, um aber im Laufe der Zeit zu merken, wie klar das Leben vor ihr liege, wie sie plötzlich Wichtiges und Unwichtiges mit großer Trennschärfe unterscheiden könne. Sicher ist dieser Traum entscheidend wichtig, weist er Elena doch zurück in ihre Welt. Wenn durch den Tod eines geliebten Menschen das Welt- und Selbstverständnis erschüttert wird – hier bei Elena so stark, daß sie bereit ist, ihr Leben aufzugeben –, dann zeigt dieser Traum die Intention des Unbewußten, dieses Welt- und Selbsterleben wieder neu aufzubauen, unabhängig von dem Menschen, 48
den man verloren hat. Gleichzeitig weist ihre Reaktion auf den Traum auch auf, wie durch ein solches Grenzerlebnis das Leben plötzlich andere Akzente bekommt, wie dadurch viel Zufälliges, Verstellendes wegfallen kann. Es folgte nun eine Periode, in der Elena sich mit sehr viel Sorgfalt auf die Prüfungen vorbereitete, im übrigen aber sich immer weiter mit dem Verlust Georgs auseinandersetzte, wann immer die entsprechenden Gefühle sie überkamen, sei es durch einen Traum, sei es dadurch, daß irgend etwas aus dem realen Leben auf ihn hinwies. Sie überließ sich dann ihren Anfällen von Kummer und Trauer. Die Träume dieser Phase brachten sehr viele Erinnerungen an Georg; Probleme, die sie mit ihm gehabt hatte, wurden plötzlich in einem Traum wieder virulent, ganz als lebte Georg noch. Als Beispiel ein Traum aus dieser Phase: »Ich sitze bei Georg im Auto. Er fährt wie ein Verrückter, gleichzeitig entwickelt er ein Konzept, wie man die Straßen besser nützen könne. Dazu fuchtelt er argumentierend mit Händen und Füßen herum. Ich werde wütend, herrsche ihn an, er solle besser auf die Straße achten, sich konzentrieren, sonst könne er sich dann überlegen, wie man besser mit Unfallopfern umgehen könne. Georg lacht und fährt noch schneller. Ich beginne ihn zu streicheln, da wird er langsamer. Ich bin wütend über seinen Starrsinn und stolz, daß ich ihn bändigen kann.« Dieser Traum greift ein Problem auf, das Elena und Georg hatten: Georg fuhr gern ungeheuer schnell und hatte die 49
Gewohnheit, beim schnellen Fahren gleichzeitig auch noch irgendwelche Konzepte zu entwickeln, philosophische Fragen zu klären usw. Elena fand das alles zuviel auf einmal, sie hatte Angst. Das Verhalten im Traum entsprach ihrem realen Verhalten: Sie schimpfte zunächst, was aber niemals eine Wirkung zeitigte, und dann versuchte sie, Georg ruhiger zu stimmen, indem sie zärtlich war. Elena fand dieses Verhalten Georgs immer unbezogen, ja suizidal. Ihr Verhalten fand sie auch mies, weil sie ihn ja manipulierte – aus ihrer Ohnmacht heraus. Träume dieser Art brachten Elena dazu, die Beziehung zu Georg immer wieder zu überdenken, auch ihr Verhalten ihm gegenüber. Sie sah mit der Zeit auch Georg immer realer, mit seinen Vorzügen, aber auch mit seinen Mängeln. Man kann sich natürlich fragen, ob solche Träume nicht auch auf der Subjekt-Stufe 22 zu verstehen sind: Georg wäre dann nicht als der reale Georg, wie er war, zu interpretieren, sondern als ein Aspekt der Persönlichkeit Elenas. Es ist wohl angemessen, die Träume sowohl auf der Subjekt-Stufe als auch auf der Objekt-Stufe zu sehen, jeweils im Sinne des Aufarbeitens der Beziehung. Mir scheint es gerade bei der Interpretation von Träumen Trauernder wichtig zu sein, nicht zu schnell auf die Subjekt-Stufe überzugehen, die auch den Partner als Aspekt des Träumers versteht, weil sonst die Beziehung zu wenig bewußt werden kann. Es scheint mir auch für das neue Selbstverständnis bedeutsam, daß der Trauernde sieht, wie er sich innerhalb seiner letzten Beziehung verhalten hat. Es sind ja doch auch die Verhaltensweisen des Trauernden, die die Beziehung 50
mitgestaltet haben. Die Abwesenheit des Partners aber erlaubt, diese Verhaltensweisen in einer Klarheit zu sehen wie sonst kaum je. Etwa drei Monate nach Georgs Tod träumt Elena: »Georg liegt in einem Holzsarg, der oben offen ist. Ich kann ihn sehen, wie er drin liegt, so als würde er schlafen. Ich muß ihm irgendwelche Kräuter auflegen, als Arznei. Ärzte sind auch da, sie rennen mit Krankengeschichten unter dem Arm geschäftig hin und her, obwohl es gar nichts zu tun gibt. Auf meine Frage, worauf sie denn warteten, sagen sie, Georg könne jederzeit aufwachen. Ich schaue belustigt und gebannt auf den Sarg. Georg beginnt sich wirklich ganz langsam zu bewegen, legt sich von der Seite auf den Rücken. Er reibt sich die Augen, sieht mich, begrüßt mich und sagt: ›Du, das war dann überhaupt nicht lustig.‹ Damit meinte er offensichtlich die Zeit, die er im Sarg zugebracht hatte. Er steht auf, beruhigt die Ärzte und sagt, er wolle jetzt zunächst einen Spaziergang mit mir im Wald machen. Wir gehen weg. Ich höre eine Musik, die in unserer gemeinsamen Geschichte eine große Rolle gespielt hat. Ich gehe an seiner Seite und überlege mir, ob das nun der Geist (Georgs sei und weshalb Geist so körperlich sei. Georg sagt: ›Ich kann jetzt da bei dir bleibend Ich finde das sehr schön, bemerke aber, daß unsere Beziehung eine sehr veränderte ist, er kommt mir vor wie ein Teil von mir. Auf unserem Spaziergang treffen wir Freunde von mir, wir gehen alle miteinander, wir sind immer mehr.« 51
Ging es im Traum vom Grenzbahnhof um Abschied, um wirkliches Akzeptieren, daß der Tote einen andern Weg hat als die Zurückgebliebene, so geht es in diesem Traum wieder um Annäherung, allerdings auf eine neue Art: »Unsere Beziehung ist eine sehr veränderte, er kommt mir vor wie ein Teil von mir.« Daß Georg in einem Sarg liegt, kann auch Zeichen dafür sein, daß Elena Georgs Tod wirklich akzeptiert hat. Der offene Holzsarg kann darauf hindeuten, daß sie dem Toten auch ins Gesicht sehen kann, daß sie sich diesem Tod wirklich stellen kann. Der Holzsarg wird in der Schweiz auch Totenbaum genannt. Damit wird seine Verbindung zu einem ausgehöhlten Baumstamm sichtbar: der Sarg, der aus dem Holz des Baumes gefertigt ist, die bergende mütterliche Höhlung, die den Toten aufnimmt – und auf Wandlung hindeuten könnte. In unserem Traum findet diese Wandlung statt. Zunächst ist Hoffnung auf Wandlung sichtbar. Was könnte das Traum-Ich bewegen, Kräuter aufzulegen, wenn nicht eben Hoffnung auf Wandlung bestünde? Auch die Mediziner mit den Krankengeschichten haben Hoffnung auf Wandlung; sie sprechen ja eigentlich davon. Für die Träumerin ist es bestimmt heilend, wenn dieser Mann wieder aufsteht. Ich meine, daß sich diese Mediziner wohl mindestens so sehr um das Traum-Ich kümmern wie um Georg. Im Traum findet eine Auferstehung statt. Diese Auferstehung kann man auch wieder doppelt verstehen. Elena verstand sie so, daß Georg nun auch als Toter eine erste Wandlungsphase hinter sich hätte und daß er nun deshalb 52
ihr auch wieder näher sein könnte. Eine solche Erklärung kann nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden. Jeder aber, der jemanden verloren hat, nimmt wahrscheinlich das Auftauchen des Toten in den Träumen als real. Man kann diese Auferstehung aber auch so verstehen, daß Elena in eine neue Phase ihrer Trauer um Georg tritt. »Du, das war dann überhaupt nicht lustig«, dürfte auch für Elena gegolten haben: Die Zeit, in der Georg für sie nun wirklich im Sarg, also wirklich tot war, war für sie bestimmt sehr schwierig. War im Zug-Traum unter anderem ausgedrückt, daß sie Georg einfach noch haben wollte und daß sie ihn loslassen mußte, so zeigt dieser Traum, daß sie nun wieder mehr Nähe zu Georg erleben darf. Vielleicht gerade deshalb, weil sie sich nicht mehr so sehr an ihn geklammert hat, ist sie frei geworden für eine andere Art der Beziehung, die dann im Traum auch ausgedrückt ist durch die Musik, die Symbol für das Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit ist. »Ich kann jetzt da bei dir bleiben«, kann heißen, daß es nun Elena möglich ist, das, was Georg für sie war, bei sich zu haben, es selber zu leben, Kontakt dazu zu haben. Dabei dürfte es vor allem auch um die Gefühlswelt gehen. Damit kann auch eine Neuorientierung dem Leben gegenüber erfolgen, nicht in dem Sinn, daß sie die Beziehung und die Trauer, die daraus geworden ist, vergißt, sondern so, daß diese Beziehung nun ein Teil von ihr geworden ist. Die Neuorientierung ist im Traum auch dadurch sichtbar, daß Freunde auftauchen, daß der Weg zu den andern Menschen wieder möglich wird – im Gegensatz zum Zug-Traum, in dem sie vor den Menschen Angst hatte. 53
Träume, in denen der Tote aus dem Sarg aufsteht, scheinen häufig zu sein. Ich habe ihn – in Varianten – bei zwölf Personen finden können, die jemanden verloren hatten, der ihnen nahestand. Es mag natürlich sein, daß die christliche Idee der Auferstehung da mitspielt; aber das vermindert nicht die persönliche Bedeutsamkeit dieser Träume. Es würde dann nur bedeuten, daß dieser Auferstehungsgedanke wesensmäßig zu unserer Psyche gehört. Ein weiterer Traum zu diesem Thema, geträumt von einer einundfünfzigjährigen Frau: »Ich versuche am Bahnhof enge zu parken. Beim Aussteigen sehe ich etwa 20 Meter vor mir einen aufgebahrten, offenen Sarg. Ich weiß, da ist Helmut drin. Helmut ist doch schon fünfzig Tage tot, er muß ja ganz verwest sein, ich muß doch einmal nachsehen. Ich habe Angst. Ich komme näher, da ist kein Sarg mehr, aber Helmut liegt offen da in seinem langen, dunkelgrünen Morgenrock. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, oder vielleicht traue ich mich nicht, aber den Körper will ich anfassen. Da bewegt er sich und dreht sich in seiner unverkennbaren Helmut-Art um. Wir schauen uns an, ohne ein Wort zu sagen, dann gehe ich in einer Mischung von Betroffenheit und Befriedigung weg.« Wie in Elenas Traum wendet sich der zunächst »abgewendete« Verstorbene seiner Frau wieder zu; das SichAnschauen scheint wichtig zu sein. Es geht wohl um das Wahrnehmen der neuen Situation. Parkes 23 erwähnt einen ähnlichen Traum: 54
»Er lag im Sarg, der Deckel war nicht darauf, und ganz plötzlich wurde er lebendig und kam heraus. Und ich war so maßlos froh bei dem Gedanken, daß er wieder da war, daß ich mich nach dem Aufwachen fragte, wo er sein mochte. Es war so deutlich, daß ich zugleich weinen und lachen mußte. Ich schaute ihn an, und er machte den Mund auf. Ich sagte: ›Er lebt, er lebt!‹ Ich dachte: Gott sei Dank, jetzt kann ich wieder mit ihm reden.« Parkes führt an, daß dies ein typischer Verlusttraum sei, nur unter dem Aspekt der Wunscherfüllung zu sehen. Das schiene mir eine zu wenig weitgehende Interpretation zu sein. Auch wenn sich eine Wunscherfüllung in ihm spiegeln sollte, scheint mir doch wichtig, diese Träume auch unter dem subjektstufigen Aspekt zu betrachten; zu sehen, daß sie gleichzeitig auch eine Phase der Trauer beenden, indem sie ankündigen, daß der Verstorbene, wenn auch in einer neuen Art, nun wieder »mitleben« kann. Der Unterschied zwischen Elenas Traum und dem der Londoner Witwe besteht darin, daß es für Elena auch im Traum sehr klar zu sein scheint, daß nun eine andere Art der Beziehung zwischen ihr und dem verstorbenen Partner herrscht. Auch Helmuts Frau geht – betroffen und befriedigt – vom »auferstandenen« Helmut weg. Es geht bestimmt nicht um die Wiederherstellung der alten Beziehungsform. Mir scheint, daß immer dann, wenn dieser typische Traum geträumt wird, sich eine Wendung im Erleben des Todes anbahnt: Der Träumer spürt, daß das Leben wieder 55
weitergehen kann; neues Selbst- und Weltverständnis sind wieder entstanden, indem sich abzeichnet, daß vieles, was durch den Tod des geliebten Menschen verloren schien, zumindest andeutungsweise im Zurückgebliebenen lebt und von ihm sich auch realisieren läßt. Der Trauernde stellt fest, daß nicht einfach nichts mehr da ist, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, sondern daß vieles, was vorher »außen« war, in der Beziehung gelebt wurde, nun nach innen genommen werden kann und muß – als eigene Möglichkeit. Dies kann natürlich nur erfaßt werden, wenn die Trauerarbeit 24, der Trauerprozeß »gelingt«. »Gelingt« die Trauer, dann kann der Tod eines geliebten Menschen ganz wesentlich zur Selbstwerdung, zur Individuation beitragen. Dieser Tod zwingt sozusagen herauszuspüren, was an einer Beziehung wirklich das Eigene ist. Ein Traum Elenas ein halbes Jahr nach dem Tod Georgs: »Ich bin in einem Heilbad. Ich kann sehr schlecht gehen, weil ich an meinem rechten Bein offenbar Brüche hatte und Wunden, die jetzt ausheilen sollen. Ich denke, ich müßte wohl in eine Lawine geraten sein, und finde, es sei eigentlich sonderbar, daß ich daran nicht ganz gestorben bin. Das Traumbild ändert sich: immer noch im Heilbad: im warmen Wasser; Georg ist da, und ich streite mich mit ihm über ›Sinn‹. Meine These ist: Das Leben kann unmöglich einen Sinn haben, wenn die Leute, die man liebt, sterben und die Leute, die man nicht liebt, leben. Georg versucht mir 56
beizubringen, daß gerade wegen des Todes das Leben einen Sinn hat. Ich bin ungehalten, sage ihm, das wäre Gerede; im Moment, als er gestorben sei, da sei mir das Leben gar nicht als lebenswert aufgeleuchtet, sondern als eine verdammte Bürde, die ich schleppen mußte. Ich tauche weg. Plötzlich weiß ich, daß es im Leben jedes Menschen etwas gibt, das weit über die gegenwärtige Existenz hinausgeht. Es ist nicht formulierbar, aber ich bin plötzlich erfüllt von dem starken Gefühl, daß darauf sich zu beziehen Sinn vermittelt. Ich steige aus dem Heilbad. Eine ältere Frau ist da und sagt: Sie haben ja plötzlich ganz veränderte Augen. Ja, sage ich, es ist auch gerade etwas in mir gestorben. Ich sage das mit strahlendem Gesicht. Sie schaut mich etwas verdutzt an.« Elena hatte in der Zwischenzeit versucht, so normal wie möglich zu leben. Sie traf sich mit Freunden, beendete ihre Studien. Für die, die sie näher kannten, wirkte sie etwas freudlos, angestrengt, depressiv und enorm tapfer. Die Gespräche, die sie führte, kreisten oft um den Sinn des Lebens. Der Traum sagt zunächst, daß die Träumerin noch weiter geheilt werden muß: in einem Heilbad. Heilbäder erinnern an die Situation im Mutterleib, an das wohlige Sein im warmen Wasser; und eben dadurch, daß diese Regression erlaubt wird, wirkt das Heilbad heilend. Die Desintegration, die Verwundungen, die Elena durch Georgs Tod erlitten hat, werden dargestellt durch die Knochenbrüche und Wunden am rechten Bein. Mit den Beinen stehen wir auf dem Boden, sie geben uns den festen 57
Stand und die Möglichkeit zur Bewegung. Sowohl Elenas Standfestigkeit war also nicht mehr da wie auch ihre Beweglichkeit. Rechts meint meistens die Seite, die der Welt, dem Bewußtsein zugekehrt ist. Diese Seite dürfte auch vor allem getroffen gewesen sein. Wenn wir Elenas Träume ansehen, dann wird klar, daß ihre Verbindung zur Tiefe überhaupt nicht abgebrochen war, sondern sich durch den Verlust eher sehr verstärkt hatte; aber der Kontakt zur Welt war gebrochen. Interessant ist, daß dieser Traum das Thema der Lawine aus dem ersten Traum wieder aufnimmt; ein Kreis dürfte geschlossen sein. Im zweiten Traumbild wird auf einer anderen Ebene klar, was da geheilt werden müßte: nicht einfach das Bein, sondern die Verzweiflung an der Sinnfrage. Was Georg sagt, stimmt abstrakt schon: Angesichts des Todes kann ich mich schon freuen, daß ich lebe; aber ich kann mich nicht freuen, daß ich lebe, wenn mir jemand wegstirbt, mit dem ich eng verbunden bin. Der Gedanke des Sterbens, auch des Mitsterbens ist da doch viel stärker als die Freude, noch dazusein. Auch diese Ambivalenz scheint mir typisch zu sein, wenn man jemanden verloren hat, den man liebte, allerdings erst in einer Phase, in der der Verlust akzeptiert werden kann: Das Leben ist nicht mehr nur eine Last; Leben kann wieder ungeheuer farbig sein, lebenswert, wenn man es gegen den Tod halten muß. Gleichzeitig aber weiß der Trauernde, daß er mit dem Toten auch mitgestorben ist, daß auch er wieder neu geboren werden muß, ins Leben hineingeboren werden muß. 58
Die Veränderung der Örtlichkeiten in diesem Traum scheint sehr wichtig zu sein: Im ersten Traum-Teil ist die Träumerin einfach im Heilbad, im zweiten Teil ausgesprochen im warmen Wasser; dann taucht sie sogar unter, erlebt dabei dieses Gefühl von Sinn dadurch, daß sie spürt, daß jedes Leben weit über die gegenwärtige Existenz hinausgeht – vielleicht ist damit das Einbeziehen des Todeserlebnisses in ihr Leben gemeint; und dann taucht sie wieder auf, offenbar neugeboren. In diesem Untertauchen und Wiederauftauchen drückt sich ihre Wandlung aus - Tod und Wiedergeburt. Die Folge: Sie hat veränderte Augen. In den Augen sind die emotionalen Veränderungen leicht sichtbar. Das wird von der Träumerin ja auch bestätigt, wenn sie sagt, etwas in ihr sei gerade gestorben. Sie ist untergetaucht und hat das quälende Gefühl der Sinnlosigkeit dabei verloren; dieses Gefühl ist »gestorben«. Und damit ist Elena ins Leben hineingestorben; denn die Sinnerfahrung emotional machen heißt, wieder Vertrauen ins Leben zu haben, und zwar jetzt in ein Leben, das durchaus den Tod auch bereithält, wie sie ja sehr schmerzlich erfahren hat. Und jetzt kann sie – wieder verändert – aus dem Heilbad steigen. Ein Heilungsvorgang ist abgeschlossen. Sie wird bestimmt immer noch einmal wieder geheilt werden müssen; aber der wesentliche Heilungsschritt ist doch in dem Moment erfolgt, wo die Träumerin von dieser Sinn-Emotion überströmt wird. Dieser Traum brachte Elena neue Lebensfreude. Sie hatte das Gefühl, eine große Leistung vollbracht zu haben. Sie 59
hat wohl auch eine große Leistung vollbracht. Sie hat sich einem Trauerprozeß gestellt – und als Ergebnis kann sie weiterleben, kann sie wieder Freude am Leben haben; mehr noch: in ihrem Leben ist das Todesbewußtsein zu einer Dimension ihres Selbstbewußtseins geworden. Mir scheint diese Traumserie deshalb so bemerkenswert, weil der Trauerprozeß von den Träumen gesteuert wurde und weil man von diesen Träumen her eine Anleitung zum Trauern überhaupt beziehen kann. Auch wenn diese Träume so »schön« durch den Trauerprozeß führen und auch wenn sich letztlich eine wesentliche Dimension durch den Tod des geliebten Menschen und durch das Verarbeiten dieses Verlusterlebnisses in Elenas Leben erschloß, so ist doch nicht zu übersehen, daß Elena den Tod zunächst als Katastrophe erlebte und dadurch selbst an den Rand des Todes geriet. Erst das Aushalten der Katastrophe, das Durchtragen der Erschütterung führten zu einer Wandlung. Katastrophe und Wandlung gehören im Erleben des Todes eines Menschen, den wir lieben, zusammen. Sehen wir nur den Katastrophenaspekt des Todes, dann müssen wir ihn verdrängen, weil er zu beängstigend ist. Dann müssen wir auch das Trauern verdrängen, weil es uns zu sehr ängstigt – und das führt zu vielfältigen psychischen Problemen, die in der Folge besprochen werden sollen. Sehen wir nur den Katastrophenaspekt, dann flüchten wir in »die Geschäftigkeit wider den Tod« 25 oder können – im übertragenen Sinn – überhaupt nichts mehr loslassen. Sehen wir nur den Wandlungsaspekt des Todes, dann vergessen wir, welche immensen Schmerzen und Verunsicherungen er auslösen 60
kann; dann sind wir zu romantisch, werden womöglich todessüchtig und lassen - wieder im übertragenen Sinn – alles zu schnell los. Was hier vom Tod gesagt wurde, gilt natürlich nicht nur vom Erleben des endgültigen Todes eines Menschen. Wir erleben Tod in sehr vielen Aspekten: Verlust überhaupt, Enttäuschungen, Scheitern, Abschiede, Entzug, Höhepunkte, Streben nach Dauer und vieles mehr haben immer auch mit Tod zu tun. Vor allem aber das Abbrechen einer Beziehung kann ähnliche Verzweiflung auslösen, kann ähnlich unser Selbsterleben erschüttern wie der reale Tod eines Partners. Der Konflikt Liebe und Tod ist immer schon da – bei einem wirklichen Sterben aber wird er radikal gestellt. Leben steht wesentlich unter dem Aspekt des immer wieder notwendigen Abschiednehmens, und um Abschiede, welcher Art sie auch sein mögen, zu verkraften, müssen wir trauern können, müssen wir mit dem ständigen Abschiednehmen umgehen können.
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Träume als Wegweiser
bei der Trauerarbeit Elenas Träume provozierten Trauerarbeit, der Schluß der Traumserie kündigt das Ende einer gelungenen Trauerarbeit an. Ich möchte die Hinweise auf Trauerarbeit aus diesen Träumen aufnehmen, sie auch in Zusammenhang bringen mit Erkenntnissen zur Trauerarbeit, wie sie uns vor allem von Bowlby und Parkes 26 vorliegen, und die Konsequenzen daraus für die praktische Arbeit mit Trauernden beleuchten. In Elenas Unbewußtem kündigt sich eine Katastrophe (Lawinentraum) an, die sie im Kern ihrer Existenz zu treffen droht. Der Traum wird von Elena zunächst so erlebt, als müsse sie selbst sterben. Dieses Gefühl wiederholt sich im Traum von dem Kalb, das gestochen werden muß. Es wird Elena eine Veränderung ihres Lebens angekündigt, deren Bewältigung alle ihre Kraft fordert. In diesem Traum wird allerdings auch angedeutet, daß in dem Ganzen eine »heilige« Dimension liegen kann; es kann Transzendenz, es kann Sinn erfahren werden, aber dieser Aspekt wird ihr erst in den Assoziationen zu dem Traum richtig deutlich. Tod als Katastrophe, das ist das erste, was das Unbewußte von Elena zum drohenden Verlust des geliebten Mannes zu sagen hat. Träume, die den drohenden Tod eines geliebten Menschen oder den drohenden Bruch einer Beziehung als »Katastrophensituation« darstellen, sind häufig. Als weiteres Beispiel möchte ich den Traum eines fünfundvierzig62
jährigen Mannes anführen, dessen Frau an Krebs erkrankt war. Niemand erwartete in dem Stadium, in dem sie sich befand, schon den Tod. Er träumte: »Ich bin in meinem Garten. Sitze mit meiner Frau an unserem Gartentisch, wie immer. Wir reden über irgend etwas. Belanglos. Da wird es ganz dunkel. Vorher schien das Licht. Es ist beängstigend dunkel, wie mitten in der Nacht. Ich finde mich überhaupt nicht zurecht, finde auch meine Frau nicht mehr. Ich rufe nach ihr. Sie gibt keine Antwort. Ich will eine Kerze holen. Ich finde den Weg nicht mehr, weiß nicht mehr, wie denn der Eingang zum Haus ist. Ich rufe um Hilfe. Niemand kommt. Ich bin verzweifelt.« Der Mann assoziierte die Dunkelheit mit »Weltuntergang«, mit Sonnenuntergang mitten am Tage. Tags darauf starb seine Frau, überraschend. Es scheint mir wichtig, diesen Katastrophenaspekt auszuloten, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die einen solchen Verlust erlitten haben. Wir müssen die Dimension dieses Verlustes ganz zu ermessen suchen. Auch wer selbst einen geliebten Menschen verloren hat, vermag dies nur dann, wenn er nicht abwehren muß, weil er vielleicht selbst mit seinem Verlust nie fertig geworden ist. Wenn wir diese Dimensionen beachten, können wir unter Umständen den Menschen, die dabei sind, jemanden zu verlieren, schon vor dem Tod ihres geliebten Menschen beistehen. KüblerRoss 27 erwähnt in dem bereits zitierten Buch »Interviews 63
mit Sterbenden«, daß in der letzten Phase, in der der Kranke seinen Tod akzeptiert hat, vielleicht nur noch ruhig daliegt und nicht mehr mit Problemen der äußeren Welt behelligt werden will, die Angehörigen mehr Hilfe als der Sterbende brauchen. Die Hilfe kann in dieser Situation wohl nur darin bestehen, daß man den Zurückbleibenden erklärt, weshalb der Sterbende sich »abweisend« verhält, und daß man ihnen das Gefühl gibt, daß man solidarisch mitträgt, was sie jetzt fühlen und durchmachen. Wenn ich jetzt immer wieder darauf zu sprechen komme, wie man den Trauernden in den entsprechenden Phasen am besten »helfen« könne, dann meine ich keineswegs, daß man dadurch das Erlebnis des Todes verharmlosen kann; ich halte nur dies für erreichbar, daß sich Menschen in diesen äußersten Grenzsituationen nicht ganz allein fühlen, sich selbst darin etwas besser verstehen und dadurch auch besser mit dem Todesereignis umgehen können. Es geht keineswegs darum, das Todeserlebnis durch irgendwelche tröstenden Gesten zu verharmlosen, zu dämpfen; es geht aber darum, dem Menschen zu zeigen, daß man damit umgehen kann. Es geht auch gerade bei den Angehörigen eines Sterbenden darum, daß sie das Leben des Sterbenden in den letzten Stunden nicht auch noch belasten durch ihre eigenen Kümmernisse und Ängste. Wenn sie sich in ihrer Verzweiflung nicht ganz allein fühlen, ist es ihnen auch besser möglich, das Sterben des Sterbenden mitzuerleben, was ja einen großen Einfluß darauf hat, wie sie ihren eigenen Tod sehen werden. Es ist wichtig, daß der Helfende weiß, welche große Erschütterung den Hinterlassenen bevorsteht. 64
Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens
Die erste Phase nach der Nachricht vom eingetretenen Tod ließ sich bei Elena durch Empfindungslosigkeit charakterisieren. Elena glaubte nicht an den Tod des Partners, fühlte sich selbst wie tot, starr. Ähnlich wird ganz allgemein die erste Phase der Trauer beschrieben, wobei sich herausstellt, daß bei plötzlichen Todesfällen diese Phase eher länger anhält. Bowlby 28 beschreibt, daß diese Phase von einigen Stunden bis zu etwa einer Woche dauern könne. Die Helfer sollten in dieser Phase zur Bewältigung der alltäglichen Besorgungen und Verrichtungen bereitstehen und auch vieles von dem übernehmen, was mit dem Trauerfall zu tun hat. In dieser Phase ist es wichtig, den Trauernden spüren zu lassen, daß er nicht allein ist, ihn anderseits aber auch nicht zu entmündigen oder ganz und gar mit Beschlag zu belegen. Im Umgang mit dem Trauernden ist immer zu bedenken, daß er einerseits menschliche Wärme nötig hat, anderseits aber auch wieder eigenständig weiterleben muß, etwa mit Freunden, Nachbarn usw. Es gilt das optimale Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zu finden, damit der Trauernde nicht das Gefühl hat, es würden ihm Versprechungen für die Zukunft gemacht, die dann nicht eingehalten werden können. Wichtig ist das Gefühl für den Trauernden, daß er so starr, so empfindungslos sein darf, wie er ist, und daß es ihm niemand vorwirft, wenn er jetzt keine Tränen hat. Diese Empfindungslosigkeit entspringt ja nicht einer Gefühllosigkeit, sondern einem Gefühlsschock. 65
Der Trauernde ist unter dem einen starken Gefühl »erstarrt«. Die Empfindungslosigkeit, die einhergeht mit dem Nichtwahrhaben-Wollen des Verlustes, kann meines Erachtens nicht nur als Verdrängung der unangenehmen Nachricht gesehen werden. Sie muß auch als Überwältigung von einem zu starken Gefühl, mit dem nicht umgegangen werden kann, gewertet werden. Ich halte die verschiedenen Gefühlsausbrüche, die sich im Laufe der Trauerarbeit einstellen, für die Ausfaltung dieses einen ersten großen Gefühls. Es mag hilfreich sein, wenn die Helfer ihren Gefühlen keinen Zwang antun und weinen, wenn es ihnen ums Weinen ist.
Die Phase der aufbrechenden Emotionen Der Phase der Empfindungslosigkeit folgt die Phase der aufbrechenden Emotionen: bei Elena die der Wut, der Trauer, der Freude. Bowlby 29 erwähnt in diesem Zusammenhang auch Ausbrüche von Zorn, Parkes 30 Ausbrüche von Angstgefühlen, Ruhelosigkeit. Die Angstgefühle waren bei Elena wenig ausgeprägt. Bei vielen Trauernden findet man diese Angstgefühle, etwa auch bei dem fünfundvierzigjährigen Mann, der den »Weltuntergangstraum« geträumt hatte. Er beschrieb die Phase nach der Erstarrung so: »Ich mußte aus der Erstarrung aufwachen, da waren ja noch die Kinder. Ich mußte mich auch um die Todesanzeige kümmern. Aber ich hatte eine solch grauenhafte Angst, ich hatte Angst, überhaupt nie eine Todesanzeige zustande zu bringen, 66
keinen Tag mit den Kindern überleben zu können, ich fühlte mich wie gelähmt vor Angst. Ich dachte, ich könne nicht mehr weiterleben. Mein zwölfjähriger Sohn nahm mich dann bei der Hand und sagte: Wir sind ja auch noch da. Diese Angst kam später immer wieder. Manchmal, ganz ohne Anlaß, hatte ich das Gefühl, allem und allen ganz ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Ich begann zu frieren, zu zittern.« Dieser Mann war an sich schon, vor dem Verlust seiner Frau, ein ängstlicher Mensch gewesen. Elena ist keine ängstliche Frau, sie neigt eher zu Zornmut. Es scheint, als wären diese emotionalen Reaktionen, die nach der Phase der Erstarrung aufbrechen, jeweils der Eigenheit des Trauernden gemäß. Natürlich wechseln die Ausbrüche von Wut und Zorn ab mit Phasen der tiefen Niedergeschlagenheit. Der Zorn scheint in zwei Richtungen zu gehen. Parkes und Bowlby 3 zitieren immer wieder Witwen, die die Ärzte oder auch Verwandte beschuldigen, irgend etwas unterlassen zu haben. Gegen den Ehemann selbst richtete sich der Zorn nur bei einer geringen Anzahl der Witwen. Die einen suchen also in ihrem Zorn einen Schuldigen für den Tod, für ihren Kummer. Ihn gefunden zu haben, scheint, wenn auch nur für eine gewisse Zeit, den Trauernden zu erleichtern. Die anderen, die zornig auf ihren Ehemann sind, finden den Schuldigen eben in dem Menschen, der sie verlassen hat. Das scheint mir eine direktere Art von Zorn zu sein als der über den Arzt, und so frage ich mich, ob denn der Zorn über den Arzt, das Pflegepersonal etc. 67
nicht einfach ein verschobener Zorn ist, weil man es nicht wagt, auf den Verstorbenen zornig zu sein. Immerhin hat er einen verlassen, immerhin läßt er einen mit sehr vielen, sehr schwierig zu lösenden Problemen zurück. Vielleicht ist es aber auch einfach eine Reaktion auf die veränderten Lebensbedingungen. Der Verstorbene hat ja in den seltensten Fällen den Tod gewählt. Bei Suizidanten richtet sich der Ärger der Angehörigen auch viel direkter auf den Verstorbenen. Aber auch der, der den Tod nicht gewählt hat, beweist dem Hinterlassenen, wie wenig dazu nötig war, um die ganze Lebenssituation zu verändern, wie vergänglich, wie zerbrechlich wir Menschen sind: wie ohnmächtig letztlich dieser Vergänglichkeit gegenüber. Und diese Reaktionen der Angst, der Wut, der Ohnmacht und des Zorns über diese Ohnmacht werden dann jeweils gerade auf den übertragen, der dem Trauernden zuerst über den Weg läuft. Die Suche nach dem Schuldigen müßte, wäre sie erfolgreich, eben zeigen und beweisen, daß wir so ohnmächtig doch nicht sind. Mir scheint, es ist unsere Reaktion auf die Ohnmacht, die wir angesichts des Todes eines andern Menschen erfahren und die wir bei uns selbst und unserem eigenen Tod fürchten, die dieses Verhalten von Zorn, von Wut, von Niedergeschlagenheit bewirkt. Wir können uns unsere Ohnmacht angesichts des Todes so schlecht eingestehen. Wenn wir uns ärgern, wenn wir versuchen, die Schuldigen zu finden, oft ja mit beachtlicher Betriebsamkeit, dann spielen wir uns vor, daß wir nicht ganz so hilflos sind. Und vielleicht hilft uns sogar dieses »Spiel«, unsere Kräfte wieder zu mobilisieren zum Weiterleben. 68
Vielleicht müssen wir uns dieses Stück Lüge gestatten. Wenn den Schuldigen zu finden bewiese, daß das Todesereignis nicht so schicksalhaft hätte einbrechen müssen, sondern daß jemand »nur« etwas verfehlt hätte, dann verlöre der Tod eine Spur seiner Grausamkeit, die allerdings dafür dem Menschen aufgeladen würde. Nun braucht man den Schuldigen natürlich nicht nur bei den andern zu suchen, man kann sich auch selbst schuldig fühlen an dem Tod. In diese Phase der Trauer gehören auch die aufbrechenden Schuldgefühle. Grof und Halifax 32 stellen die These auf, daß die Dauer der Trauer - und ich würde auch ergänzen: die Art der Trauer, allenfalls sogar das »Gelingen« der Trauer – wesentlich davon abhängt, welcher Art die Konflikte zwischen den Angehörigen und dem Toten waren. Sie weisen nach, daß die Schuldgefühle wesentlich geringer waren, wenn die Kommunikation zwischen Hinterbliebenen und Sterbendem gut war, wenn richtig Abschied genommen werden konnte, wenn Probleme noch miteinander besprochen werden konnten. Wenn die Schuldgefühle nicht zu stark waren, dehnte sich die Trauerperiode auch nicht unbegrenzt aus. Wer allerdings seine Probleme mit dem Verstorbenen nicht vor dessen Tod aufarbeiten kann, wird sich nachher mit seinen Schuldgefühlen herumschlagen müssen, mit seinen Aggressionen, die noch den Toten betreffen und gegenüber dem Verstorbenen seltsam ins Leere gehen. Für die Therapie ist es wichtig, solche Schuldgefühle sehr ernst zu nehmen als Ausdruck realer Probleme, die, solange der Partner lebte, nicht ausgetragen werden konnten. Sicher 69
wäre es wünschenswert und ist mit aller Deutlichkeit anzustreben, daß die Kommunikation mit dem Sterbenden, das Abschiednehmen mit ihm, gepflegt wird. Vielleicht verstanden es unsere Vorfahren besser zu sterben. In der Literatur 33 wird uns immer wieder übermittelt, wie der alte Vater, bevor er stirbt, alle seine Angehörigen noch sprechen will, mit jedem etwas bereinigt, ihm noch ein Wort auf den Weg gibt, manchmal ein Wort der Sorge, manchmal ein Wort der Anerkennung und des liebevollen Gefühls, mit dem diese Generationen vielleicht noch sparsamer umgegangen sind, als wir es tun. Wie er sich mit seinen Freunden und Feinden nochmals trifft, versucht, Unstimmigkeiten zu mildern – und dann stirbt. Die massiven Ausbrüche von Zorn, von Wut und von Schuldgefühlen scheinen sich eher beim Tod von Menschen zu ereignen, die vor ihrer Zeit sterben 34 und die plötzlich sterben. Da wird der Tod noch viel unbegreiflicher, und die Auseinandersetzung kann nicht mehr geführt werden. Für den Helfer ist es wichtig, zu wissen, daß das Auftauchen dieser Emotionen wünschenswert ist. Wenn man über den Verstorbenen spricht, ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese Emotionen auftreten, größer, als wenn man die Trauernden »ablenkt«. Auch Ablenken kann einmal hilfreich sein, im allgemeinen aber ist es ein Verdrängen der Situation. Der Trauernde kann sich gar nicht von seinem Verlust ablenken lassen. So ist es besser, sich dem Problem zu stellen und vom Toten zu sprechen. Es ist auch sinnlos, dem Trauernden seine Schuldgefühle wegargumentieren zu wollen. Als Begleiter muß man diese Schuldgefühle einfach einmal 70
zur Kenntnis nehmen, ohne sie zu verstärken, ohne sie abzuschwächen. In einer späteren Phase wird – mindestens im Rahmen einer Therapie - die Beziehungsproblematik, die diese Schuldgefühle verursacht hat und verursacht, aufgearbeitet werden müssen. In der Regel verschwinden viele Schuldgefühle von selbst und bedürfen keiner therapeutischen Auseinandersetzung. Elena sprach davon, daß der Traum, in dem sie ihre Briefe zurückbekam, in ihr auch Freude ausgelöst hatte, Freude darüber, daß nicht einfach nichts geblieben ist, sondern daß in gewisser Weise die Beziehung noch existiert. Man kann immer wieder feststellen, daß Trauernde neben Zorn, Wut und Trauer immer wieder auch ein tiefes Gefühl der Freude haben, daß diese Beziehung überhaupt existiert hat, daß das ein Stück Leben ist, das ihnen niemand wegnehmen kann, auch der Tod nicht. Ich denke in diesem Zusammenhang an eine zweiundfünfzigjährige Frau, die ihren Gatten ganz plötzlich verloren hatte und die schwer depressiv geworden war. Sie erzählte mir, wie das war, als ihr Mann gestorben war. Sie erzählte es ausführlich, mit tonloser Stimme; sie erklärte, wie überflüssig sie sich nun vorkomme, wie zerstört sie sei. Doch plötzlich leuchteten ihre Augen auf, und sie sagte ganz lebendig: »Wir haben es wunderschön miteinander gehabt, er war ein so interessanter, guter Mann! Das kann mir niemand nehmen!« Sie lächelte noch ein wenig versonnen. Langsam schoben sich wieder die Schatten über ihr Gesicht, und sie sagte mir, sie hätte viel verloren, deshalb sei jetzt auch alles so wertlos. 71
Die Freude über den gemeinsam gegangenen Weg gehört ebenso zur Trauerarbeit wie die Probleme, die Unstimmigkeiten, die es gegeben hat. Es ist ebenso falsch, wenn nur die Konflikte wie wenn nur die harmonischen Aspekte einer Beziehung gesehen werden. Der Helfer in dieser Phase muß allerdings damit rechnen, daß der Zorn, der Ärger des Trauernden auch ihn trifft, besonders, wenn er etwa im Blick auf etwas Vergangenes oder Gegenwärtiges anderer Ansicht sein sollte. In dieser Phase ist es wesentlich, daß man das Erleben des Trauernden einfach nur teilt, das heißt zuhört und wirklich anwesend ist und vor allem nicht die eigenen Trauererlebnisse zum besten gibt. Um wirklich fruchtbringend trauern zu können, das heißt, um alte Verhaltensmuster aufbrechen und neue Verhaltensmuster entstehen zu lassen, scheint es für neue Beziehungs- und Lebensmöglichkeiten keinen andern Weg zu geben, als dieses wechselnde Emotions-Chaos durchzuhalten, auszuhalten. Das Emotions-Chaos ist ein Bild für das Chaos ganz allgemein, in dem Altes verschwindet und Neues sich bilden kann.
Die Phase des Suchens und Sich-Trennens Bowlby sieht Zorn und Schuldgefühle bereits im Dienste des Suchens: Solange ich mich noch über jemenden ärgern kann, so lange ist er irgendwie noch anwesend. Ich verstehe das Ärgern, den Zorn mehr in dem Sinne, daß die 72
Beziehung noch geklärt werden muß. Sicher wird damit der Tote nochmals aufgesucht und aufgefunden, meines Erachtens aber nicht nur als etwas, worauf man dann endgültig verzichten muß, sondern als eine eigene Beziehungsmöglichkeit und -fähigkeit, die einem zugehört; als Möglichkeit auch, den Verstorbenen als Aspekt von sich zu sehen. Ich sehe dieses Suchen nicht nur als Verdrängung des Todes, sondern als Versuch, das, was der Tote bedeutet hat, ins neu entstehende Lebensgefüge mit einzubringen. Wie sieht aber dieses Suchen aus? Bei Elena war es der Manuskript-Traum, der ihr zunächst das Gefühl gab, Georg wieder zu finden. Im Tun dessen, was er eigentlich hätte tun wollen, suchte sie ihn und fand sie ihn auch. Parkes 35 beschreibt, wie die Londoner Witwen, die er befragt hat, suchten. Die Suche scheint bei vielen Trauernden sehr real zu sein. So berichtet Parkes von einer Witwe, die im Supermarkt immer nach dem Verstorbenen Ausschau hielt; eine andere schaute immer an ihre linke Seite, weil ihr Mann da zu gehen pflegte. Die zweiundfünfzigjährige Frau, von der ich sprach, horchte immer auf die Autogeräusche. Hörte sie »das Autogeräusch ihres Mannes«, wurde sie ganz nervös, wollte in die Küche stürzen, um ihm etwas zu essen zu machen; erst dann fiel ihr ein, daß das ja unsinnig sei, daß das Motorengeräusch gar nichts mehr mit ihrem Mann zu tun haben könne. Der fünfundvierzigjährige Mann, der den Weltuntergangstraum geträumt hatte, suchte unbewußt bei allen Frauen, die er sah, nach körperlichen Ähnlichkeiten mit seiner Frau. So fand er sich, wie er plötzlich den Haaransatz einer Frau fasziniert anstarrte, ihre Lippen musterte usw. 73
Im allgemeinen richtet sich die Aufmerksamkeit auf Örtlichkeiten, die der Verstorbene geliebt hat, auf Tätigkeiten usw. Das kann so weit gehen, daß die Trauernden den Lebensstil des Verstorbenen übernehmen, obwohl er überhaupt nicht zu ihnen paßt. In diesem Fall müßte man sagen, daß das Suchen als ein Retten der alten Gewohnheiten, als Widerstand gegen die Veränderung zu sehen ist. Andererseits glaube ich aber doch, daß das Suchen den Sinn haben kann, sich immer wieder mit dem Menschen auseinanderzusetzen, den man verloren hat. Das vermeintliche Finden stürzt ja den Trauernden, gerade weil er gefunden zu haben meint und dadurch den Verlust neu erleiden muß, wieder in ein emotionales Chaos. Dieses Suchverhalten scheint mir den Menschen immer mehr darauf vorzubereiten, den Verlust zu akzeptieren, ein Leben ohne den Verstorbenen weiter zu leben, andererseits aber auch nicht einfach alles verloren zu geben, sondern die Beziehungsintensität und die gelebte Beziehung als etwas zum Leben Gehörendes zu erfahren. Das Suchen und Sichtrennen-Müssen wirft den Trauernden auf sich zurück und legt auch nahe, Eigenschaften und Fähigkeiten, die man an den Partner delegiert hatte, zurückzunehmen. In diesem Zusammenhang erzählte mir ein achtzigjähriger Urgroßvater, er hätte zur Weihnachtszeit seine Frau immer in der Nähe des Spielwarengeschäfts »gesucht«. Da hätte sie doch sein müssen. Plötzlich sei ihm gewesen, als hätte er sie sagen hören: »Du Narr, jetzt mußt doch du die Geschenke für die Urenkel aussuchen.« Er habe dann versucht, ein inneres 74
Zwiegespräch mit ihr zu führen. Er wollte ihr klarmachen, daß sie 55 Jahre lang alle Geschenke gekauft hätte und daß es für ihn undenkbar sei, das nun zu tun. Seine Frau hätte darauf nur gelacht und gesagt: »Wenn du das bis jetzt noch nicht gelernt hast, dann ist es höchste Zeit.« Und dann erzählte er, was für ein Erlebnis es für ihn gewesen sei, das erste Mal seit seiner Jugend wieder Geschenke einzukaufen, wie schwierig es für ihn gewesen sei, überhaupt zunächst zu merken, daß man sich ja in einen Menschen einfühlen muß, dem man ein Geschenk kaufen will, daß es ihm schwierig gewesen sei, sich in die Wünsche der anderen Menschen einzufühlen usw. Das Suchen scheint sich oft im inneren Zwiegespräch auszudrücken. Im inneren Zwiegespräch findet man den Partner nochmals, kann nochmals mit ihm sprechen. Für viele Trauernde, besonders für die Älteren, scheint es sehr hart zu sein, niemanden mehr zu haben, mit dem man sprechen kann. Das innere Zwiegespräch ersetzt zunächst den Partner, bietet gleichzeitig auch Gelegenheit, sich mit ihm nochmals auseinanderzusetzen. In den meisten Fällen, die ich gesehen habe, verändert sich dann dieser innere Partner, so daß der Trauernde ein neues inneres Gegenüber hat, das seinem verlorenen Partner kaum mehr gleicht, mit dem er sich aber jetzt auseinandersetzt. So scheint es mir gerade über das innere Zwiegespräch möglich zu sein, den Partner nochmals zu finden. Die Entwicklung dieser Zwiegespräche führt dann zur Trennung von dem Partner, wie er damals war. Allerdings ist zu sagen, daß es auch möglich ist, sich an diese Zwiegespräche zu klammern, sie immer wieder 75
zu wiederholen, ihnen keine Entwicklung zuzugestehen – dann nimmt man natürlich auch nicht Abschied von seinem Partner, sondern ist auf sehr geheimnisvolle Weise an ihn gebunden und ihm verbunden, mit der Konsequenz, daß keine neuen Beziehungen sich im Leben mehr ereignen können. Das Suchen geschieht unwillkürlich. Die Trauerarbeit scheint mir dort gelungen zu sein, wo dem Finden immer wieder auch der Aspekt des Sich-trennen-Müssens, des Verlassen-Müssens folgt und wo diese Trennung akzeptiert wird. Dieses Suchen – Finden – Trennen erlaubt es, sich mit dem Partner auseinanderzusetzen, etwas in sich zu entdekken, was mit dem verstorbenen Menschen zusammenhängt, und dennoch zu spüren, daß mit den alten Lebensumständen nicht mehr zu rechnen ist, daß das eigene Welt- und Selbstverständnis umgebaut werden muß. Dieses Finden und Trennen war bei Elena besonders klar ausgedrückt in ihrem Traum vom Grenzbahnhof. Zudem setzte hier ihre Psyche auch eine klare Grenze: Jetzt muß sie den geliebten Mann gehen lassen, auch das Suchverhalten wird nichts mehr einbringen. Bei diesem Traum Elenas wird aber auch klar, wie sehr mit dem Suchen auch eine Bereitschaft, das eigene Leben aufzugeben, verbunden sein kann. Dies auch wieder im doppelten Sinn: einmal in dem Sinn, daß man nicht die eigenen Möglichkeiten des Weiterlebens sucht, also nicht auf die Zukunft orientiert ist, sondern an der Vergangenheit klebt, die alten Gewohnheiten behalten will; dann anderseits auch viel konkreter, daß 76
einem das eigene Leben nicht mehr lebenswert erscheint oder daß einen der Umbruch zu mühsam dünkt. Es ist selbstverständlich, daß in dieser Phase des Suchens und Sich-Trennens wie in allen Trauerphasen immer wieder Phasen der Verzweiflung, der Depression oder auch der Apathie auftreten, in denen der Trauernde das Gefühl hat, daß sein Leben nie wieder so sein wird wie zuvor, daß es auch nie mehr lebenswert sein wird, und der Gedanke an den Tod als Ausweg auftaucht. Diese Phase des Suchens und Sich-Trennens kann nach Bowlby Wochen bis Jahre dauern, wobei nach meiner Erfahrung die Intensität des Suchens immer mehr abnimmt, je mehr der Trauernde seine chaotischen Emotionen äußern konnte und je mehr es gelingt, das Finden nicht nur als äußeres Finden zu sehen, sondern auch als ein inneres Finden von Werten, die in der Beziehung gesteckt haben, von eigenen Möglichkeiten, die durch diese Beziehung aufgebrochen sind, von Möglichkeiten, die auch eigene werden können, weil der Verstorbene sie nicht mehr »besetzt« hält. Im Umgang mit Trauernden dieser Phase ist es wichtig, daß man sie nicht drängt, das »unsinnige« Suchen aufzugeben, also den endgültigen Verlust zu akzeptieren. Sicher wird man bei Menschen, die zwei Jahre nach dem Verlust den Tisch immer noch mitdecken, einmal darauf hinweisen können, daß vielleicht das Suchen eine andere Form annehmen müßte. Es ist für den Helfenden manchmal beschwerlich, immer dieselben Geschichten über den Verstorbenen zu hören – auch das ist eine Form des 77
Suchens und Findens. Natürlich ist es auch beschwerlich, immer wieder die Phantasien zu hören, wo denn der Tote sein könnte, der ja eigentlich gar nicht tot ist. Eine häufig anzutreffende Phantasie ist zum Beispiel, daß irgendein Geheimdienst den Menschen entführt, statt dessen eine Leiche hingelegt habe, oder daß eine entfernte Geliebte den Mann habe stehlen lassen. Diese Phantasien ereignen sich häufiger bei plötzlichem Sterben. Besonders lebendig sind die Phantasien über Vermißte in einem Krieg. Da in diesem Fall ja wirklich nicht mit Sicherheit auszumachen ist, ob der Vermißte tot ist, ist den Phantasien über seinen Verbleib kaum Einhalt zu gebieten. Über diese Phantasien aber bleibt die Bindung an den Vermißten erhalten; kommt er nie zurück, so kann es erst sehr spät – wenn überhaupt – zu einer verschleppten Ablösung kommen. Für den Trauernden ist es wichtig, daß er seine Geschichten, seine Phantasien erzählen kann, immer wieder, weil dadurch seine Emotionen immer wieder geweckt werden.
Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs Ist einmal die Such- und Trennphase in ein Stadium gekommen, in dem sie nicht mehr das gesamte Sinnen und die gesamte Phantasie des Trauernden beansprucht, dann kann die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs einsetzen. Voraussetzung dafür ist, daß der Verstorbene nun eine »innere Figur« geworden ist; sei dies, daß der Trauernde den Verstorbenen als eine Art inneren Begleiter erlebt, der 78
sich auch wandeln darf, sei es, daß der Trauernde spürt, daß vieles, was zuvor in der Beziehung gelebt hatte, nun seine eigenen Möglichkeiten geworden sind. Bei Elena drückt sich der Übergang in diese neue Phase in dem Traum aus, in dem Georg aus seinem Holzsarg aufersteht und in dem sie natürlich auch mit aufersteht. Georg wird zwar wieder ihr Begleiter, aber ganz anders als zuvor, und sehr viele Menschen kommen dazu: neue Freunde. Damit ist ein erster Teil der Trauerarbeit abgeschlossen. Je besser der Trauernde sich in die neuen Rollen hineinfindet, die das Leben von ihm verlangt, je besser er sieht, auch im Zusammenhang mit diesen neuen Rollen, welche Eigenschaften er als Mensch entwickeln kann, um so eher gewinnt er sein Selbstvertrauen und seine Selbstachtung wieder. In dieser Phase kann er dann die Menschen, die ihn zuvor betreut haben, entbehren, ja diese Helfer können ihrerseits plötzlich zu Hemmenden werden, wenn sie die neue Selbständigkeit und die Veränderung des Trauernden nicht akzeptieren, diesen vielleicht nur allzu gern in seiner hilflosen Situation stabilisieren wollen, um ihrerseits die großen Helfer zu bleiben. Es gehört zu einem gelungenen Trauerprozeß, daß der Trauernde sich verändert und demgemäß natürlich auch neue Beziehungen eingeht. Den Verstorbenen als innere Figur, als inneren Begleiter zu sehen kann jedoch auch sehr eigentümliche, krankmachende Folgen haben; dann nämlich, wenn die Persönlichkeit des Trauernden einfach in die Rolle des Verstorbenen schlüpft, tut, was dieser getan hat, denkt, was dieser gedacht hätte, sich engagiert, wo dieser sich engagiert hätte, ohne die eigenen 79
Möglichkeiten und Wünsche dabei wirklich zu sehen. Der Verstorbene legt sich dann wie eine zweite Persönlichkeit über den Trauernden; natürlich ist es dann nicht möglich, einen neuen Welt- und Selbstbezug zu schaffen. Das Integrieren von Möglichkeiten, die durch den Verstorbenen dargestellt werden und die als eigene Möglichkeiten erkannt werden können, muß immer im Zusammenhang mit der eigenen Persönlichkeit gesehen werden, es muß geprüft werden, ob sie wirklich zu einem gehören. Der neue Selbst- und Weltbezug zeichnet sich auch dadurch aus, daß der Verlust jetzt akzeptiert ist, daß viele Lebensmuster, die sich im Bezug auf den verstorbenen Menschen eingespielt haben, »verlernt« sind und eben neue Lebensmuster an ihre Stelle treten, ohne daß der Verstorbene nun einfach vergessen wäre. Auch in dieser Phase sind immer wieder Rückfälle in die schon durchschrittenen Phasen der Trauer zu erwarten, verbunden mit Zweifeln an sich selbst, gerade dann, wenn die Euphorie etwas abflaut, die mit dem Erreichen dieser Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs oft verbunden ist. So erlebte Guido (Weltuntergangstraum beim Tod seiner Frau) eine ausgesprochen euphorische Phase, nachdem er sich seinen chaotischen Emotionen gestellt hatte, sich auch viele Gedanken über die Beziehungsmuster gemacht hatte, die zwischen ihm und seiner Frau geherrscht hatten, und der dadurch seiner Eigenheiten, aber auch seiner Möglichkeiten viel bewußter geworden war, gerade im Beziehungssektor. Er pflegte Beziehungen, die er zuvor nicht pflegen durfte, da seine Frau eifersüchtig auf alles gewesen 80
war, was er außerhalb der Ehe unternahm, und er fühlte sich nun dabei sehr gut. Er hatte eine zärtliche Beziehung zu einer Frau angeknüpft, die aber daran zweifelte, ob sie miteinander eine stabile Beziehung aufbauen könnten. In diesem Moment brach seine ganze Euphorie zusammen; er hatte das Gefühl, wieder einen sehr großen Verlust erlitten zu haben, nahm die Zweifel der Frau nicht als berechtigte, über die man reden konnte, denen man Zeit geben mußte, sondern als klare Absage und fiel so wieder in chaotisches Trauern, machte alle Phasen der Trauer wieder durch. Es scheint so zu sein, daß Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben, auf längere Zeit auf jede Art des Verlusts von Menschen sehr stark reagieren, sozusagen wieder einen Rückfall haben und dann den Trauerprozeß nochmals durchmachen müssen. Allerdings geschieht das in den meisten Fällen nicht mehr in der ursprünglichen Intensität. Brown, Harris und Copeland 36 wiesen nach, daß Menschen, die ihre Mutter vor dem . Lebensjahr verloren haben, eine besondere Neigung zeigen, auf Verlusterlebnisse im späteren Leben heftiger zu reagieren als andere. Mir scheint, daß wir diese Beobachtung auch auf spätere Zeiten übertragen können. Wenn jemand einen Menschen verloren hat, der ihm viel bedeutete, dann wird er auf Verlusterlebnisse, Trennungserlebnisse stärker reagieren als jemand, der niemanden verloren hat. Ist doch die Erfahrung von Tod eine starke emotionale Erfahrung und Belastung – Parkes 37 spricht vom stärksten Streß, der einem Menschen überhaupt widerfahren kann. 81
Erlebnisse, die stark emotional besetzt sind, tendieren dazu, in ähnlichen Situationen wieder erinnert zu werden und die neue Situation durch die »alte« zu verfälschen; dadurch verhält man sich gleich wie bei dem emotionellen Streß-Erlebnis und erlebt jene Emotion mit. Wird die Emotion ausgehalten und werden die gleichgebliebenen Verhaltensmuster durchschaut und gebremst, so wird dieser »Wiederholungszwang« immer weniger wirksam. Das gilt für die Aufarbeitung jedes starken Komplexes 38; es gilt aber ganz besonders für die Aufarbeitung eines Todes-Erlebnisses. Es ist deshalb wichtig, daß sowohl der Trauernde als auch die Menschen um den Trauernden wissen, daß mit »Rückfällen« immer wieder zu rechnen ist, wobei die Rückfälle gar nicht eigentliche Rückfälle sind, sondern vielmehr auch Möglichkeiten, Verlusterfahrungen und das Erlebnis des einen großen Verlusts immer noch einmal aufzuarbeiten. Sehr eindrücklich wird das, wenn jemand einige Jahre nach einem ersten Verlust wieder einen Menschen verliert. Bei der Trauerarbeit vermengen sich dann die beiden Verluste. Bei jedem neuen Erlebnis von Tod scheint es, als würde man alle Menschen nochmals verlieren, die man je schon verloren hat. Allerdings hilft einem dann das Wissen, daß man schon einmal die Trauerarbeit durchgestanden hat. Man erinnert sich daran, wie es war, und ist möglicherweise nicht ganz so verzweifelt wie beim ersten Mal. Die Phase, in der der Trauernde meint, diesen Verlust auf keinen Fall überleben zu können, ist meistens viel kürzer. Der Trauernde »weiß«, daß er den Verlust schon einmal überlebt 82
hat. Schwieriger zu bewältigen ist allerdings ein neuerlicher Verlust bei jemandem, der beim ersten Verlust die Trauerarbeit verdrängt hat; er fällt dann meistens in eine schwere Depression. Darüber wird noch zu sprechen sein. Als Abschluß der Trauerarbeit kann bei Elena der Traum vom Heilbad gelten. »Abschluß« ist auch hier nicht so gemeint, als ob Elena nachher nicht wieder in Trauer hätte verfallen können, daß sie nicht auf Trennungen emotionaler reagiert hätte als vor dem Verlust. Mit Abschluß ist gemeint, daß Elena zum ersten Mal das Gefühl hatte, wirklich wieder Freude am Leben zu haben, obwohl es den Tod gab, Beziehungen neu eingehen zu können, obwohl der Tod jederzeit immer wieder lauern konnte. Angesichts des Todes stellt sich die Sinnfrage radikal. Für Elena genügte es offenbar nicht, daß sie die Beziehung zu Georg in ihre Persönlichkeit integrieren konnte, soweit das möglich war, daß sie, durchaus mit neuen Möglichkeiten und auch einem neuen Selbstbewußtsein, in dem das Todesbewußtsein seinen Raum einnahm, weiterleben konnte. Sie mußte auch erfahren können, daß das Leben – auch angesichts des Todes – einen Sinn hat. Der Traum stellte diese Sinnerfahrung dar als etwas, was ihr wirklich »zukam«, nachdem sie in dem Bad geheilt worden war. Ich habe bei anderen Trauernden festgestellt, daß die Sinnerfahrung wieder gemacht werden konnte, wenn wirklich ein neues Selbst- und Welterleben erwachsen war und wenn ihnen bewußt wurde, daß der Tod des betrauerten Menschen ihnen nicht nur sehr viel genommen, sondern auch viel gebracht hatte. Das ereignet sich in einer sehr 83
späten Phase einer gelungenen Trauer und soll nicht über den Schmerz hinwegtäuschen, über die Verzweiflung, die Abspannung, die Zerrissenheit, die Entbehrungen der körperlichen Nähe, die der Tod eines geliebten Menschen mit sich bringt. Um wirklich trauern zu können, um den Verlust aufzuarbeiten, ist die Bereitschaft sowohl des Trauernden als auch seiner Umgebung nötig, Tod und Trauer zu akzeptieren. Es ist nötig, daß die ganze schreckliche Verzweiflung als solche akzeptiert und als der Lebenssituation angemessen betrachtet wird. Zudem müssen die chaotischen Emotionen, insbesondere auch der Zorn, ausgehalten werden. Das geht leichter, wenn klar wird, daß dieses emotionale Chaos dem Abbau der alten Beziehungsmuster und der alten Gewohnheit und damit dem Aufbau neuer Möglichkeiten gilt. Es ist aber auch sehr wichtig, daß alle Erlebnisse mit dem Toten nicht totgeschwiegen werden müssen, sondern daß darüber gesprochen werden darf, auch wenn sie zum Teil als »absonderlich« gelten. Die Erinnerung an Erlebnisse mit dem Toten ist wichtig, damit die Beziehung zu ihm auch dem Zurückgebliebenen wesentlich bleibt und der Integrationsvorgang in die eigene Psyche gelingen kann. Die vorliegende Traumserie von Elena zeigt, wie wesentlich Träume beim Verarbeiten eines Verlustes sind, ja wie die Träume die Trauerarbeit geradezu steuern. Jungs These über die Selbstregulierung der Psyche scheint sich auch hier zu bewahrheiten 39. Das Unbewußte gibt jene Impulse, die notwendig sind, damit das Leben wieder weitergehen kann. Die Traumserie von Elena steht 84
nicht allein. Ich kenne einige Traumserien, die ebenfalls die wesentlichsten Trauerphasen eingeleitet haben. Dabei waren die meisten Träume sehr klar verständlich. Gerade die Phase des Suchens, Findens und Trennens nimmt in den Träumen einen großen Platz ein. Alle Autoren, die solche Träume erwähnen, sprechen davon, wie wesentlich diese Phase ist, wobei es oft vorkommt, daß man den Toten zwar lebendig, meistens auch gesund wieder antrifft, der Träumer aber weiß, daß er es mit einem Verstorbenen zu tun hat, er sich also wieder von ihm trennen muß 40. Beispielhaft scheint mir in diesem Zusammenhang der Traum eines achtundsiebzigjährigen Mannes zu sein, der seine Frau einen Monat zuvor verloren hatte. Ursprünglich hatte er vor, ihr nachzusterben. Er fand, sie hätten so viel miteinander erlebt, sie müßten eigentlich auch miteinander sterben dürfen. Aber kurz nach ihrem Tod hatte er einen ersten Traum, in dem ihm seine Frau so lebendig, so voll Leben erschien, wie sie schon lange nicht mehr gewesen war. Sie sagte zu ihm: »Ich kann immer wieder zu dir kommen, aber überstürze nichts, wenn du zu mir kommen willst.« Dieser Traum tröstete ihn sehr, obwohl er auch die Distanz zu seiner Frau empfand, aber als sinnvolle Distanz. Dieser Mann war einer der Menschen, die nie viel auf ihre Träume gegeben hatten. Doch im Zusammenhang mit seinem Verlust, so erzählte er, seien sie ihm sehr wichtig geworden, er warte jede Nacht darauf, daß er seine Frau wieder treffe und daß sie ihm »Lebenshilfe« gäbe. Ich glaube, man kann das nicht besser ausdrücken: Träume können in diesen 85
Situationen Lebenshilfe geben. Sie müssen nicht einfach tröstend sein. Für viele mag es sehr schmerzlich sein, wenn der geliebte Mensch zwar erscheint, sich dann aber wieder entzieht. Doch dieser Schmerz steht im Dienste des Weiterlebens; es ist ja nicht nur wichtig, daß der Träumer getröstet wird, es ist noch wichtiger, daß er mit den neuen Lebensumständen fertig wird. Die Träume in diesen Phasen sind meistens sehr lebendig und sehr realistisch, sie werden unmittelbar verstanden, auch von Menschen, die nicht viel von Symboldeutung verstehen. Auch Selbsthilfegruppen von Trauernden, wie sie in England bestehen 4, scheinen sehr gut geeignet zu sein, den Trauerprozeß positiv in Gang zu halten. Menschen, die in einer ähnlichen Lebenssituation stehen, können sich gegenseitig sehr viel helfen, zumindest können sie anregen, daß die Emotionen ausgedrückt werden dürfen. Allerdings: Die Wandlung, das Dauern der Wandlung muß selbst getragen werden, auch das Mittragen der andern hat seine Grenzen.
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Probleme unterdrückter und
verschleppter Trauerprozesse Jede der Trauerphasen bietet die Gefahr, daß man sich in ihr »versitzt«, daß man den Weg zurück wählt und sich nicht dem fortschreitenden Trauerprozeß stellt. In der Therapie haben wir es oft mit Menschen zu tun, die irgendwann in ihrem Leben einen Menschen verloren haben, der ihnen sehr nahe gestanden hat, ohne daß sie ausreichend getrauert haben. Es gilt ja in unserer Gesellschaft oft als Merkmal der Stärke, wenn es gelingt, Trauer sehr schnell zu »überwinden«. Diese Trauerverdrängung kann zu Depressionen führen, die für die Betroffenen recht unerklärlich sind. Geht man diesen Depressionen nach, findet man häufig unabgeschlossene Trauerprozesse, verdrängte Trauer usw. Auslöser für diese Art von Depressionen sind: der Tod eines anderen Menschen, durchaus auch eines weniger Nahestehenden, das Erreichen des Alters, das der Verstorbene hatte, der Jahrestag seines Todes, kurz: Situationen, die mit dem Verstorbenen in einem engen Zusammenhang stehen. Schon Freud hat Trauer und Melancholie 42 in einem Zusammenhang gesehen, weil sie sich in ihrem Erscheinungsbild gleichen und auf Verlust geliebter Objekte erfolgen. Trauer beschreibt Freud als normale Reaktion, Melancholie als pathologische. Den Unterschied zwischen Trauer und Melancholie sieht er darin, daß der Trauernde weiß, was er verloren hat, der Melancholische zwar auch weiß, wen er verloren hat, aber nicht was, daß also der 87
Objektverlust dem Bewußtsein teilweise entzogen ist 43. Außerdem besteht nach Freud ein Unterschied darin, daß bei der Trauer die Beziehung zum Objekt eine einfache ist, bei der Melancholie aber ein Ambivalenzkonflikt besteht, also Liebe und Haß gleichzeitig dem verlorenen Objekt gegenüber bestehen. Jacobson 44 bedauert, daß durch das Zusammensehen von Trauer und Melancholie durch Freud die depressiven Verstimmungen grundsätzlich als pathologisch angesehen wurden. Sie vertritt die Auffassung, daß depressive Stimmungszustände auch im Rahmen normaler Gestimmtheit entstehen können, also nicht pathologisch sein müssen. Wir bezeichnen ja auch nicht jede gehobene Stimmung als pathologisch. Depressive Zustände entstehen aber nach Ansicht Jacobsons auch »aus aggressiven Spannungen und sind daher Ausdruck einer Konfliktsituation, eines neurotischen oder psychotischen Konflikts oder eines Konflikts mit der Realität« 45. Derartige Gestimmtheiten haben in sich ein pathologisches Potential; das heißt, die Depression kann pathologisch werden, wenn regressive Prozesse in Gang kommen oder wenn große, unbewältigte Probleme am Konflikt beteiligt sind. Diese Ansicht Jacobsons scheint mir sehr einleuchtend zu sein, sie stimmt mit meinen Beobachtungen an Depressiven überein. Trauer kann dann depressiv untermalt sein, wenn Feindseligkeit, aggressive Gefühle dem Verstorbenen gegenüber bestehen und diese nicht zugelassen werden dürfen. Da zu jedem Trauerprozeß der Zorn gehört, Zorn darüber, daß man verlassen worden ist, daß man gezwungen 88
ist, sich mit dem Verlust abzufinden und sich neu mit dem Leben zu arrangieren, da außerdem auch die Beziehung aufgearbeitet werden muß, die man mit dem verstorbenen Menschen gehabt hat, ist es naheliegend, daß aggressive Regungen auftauchen müssen. Anderseits haben wir aber auch die Maxime, daß über einen Toten nichts Schlechtes gesagt werden darf, und so müssen die aggressiven Gefühle verdrängt werden. Damit aber bleibt der Trauerprozeß »stecken«, die Möglichkeit zu depressiven Reaktionen ist gegeben. Diese sind um so pathologischer, je stärker Verlusterlebnisse und die damit verbundenen Aggressionen schon immer verdrängt wurden, je mehr unbearbeitete Konflikte vorliegen, je weniger ein Ich in der Lage ist, Konflikte auszutragen. Anhand von Beispielen aus der therapeutischen Praxis sollen nun die Probleme unterdrückter und verschleppter Trauerprozesse gezeigt werden.
Probleme in der Phase des
Nicht-wahrhaben-Wollens
Wird diese Phase verlängert, dann haben wir den Menschen vor uns, der den Verlust und damit auch die große Emotion verdrängt. Diese Menschen leben so weiter, als wäre fast nichts geschehen. Ganz verdrängen läßt sich ja der Verlust eines geliebten Menschen nicht. Eine beliebte Form davon ist die Flucht in die »Geschäftigkeit«.
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Eine vierzigjährige Geschäftsfrau, die ihren Mann durch einen Unfall verloren hatte, sagte: »Wenn er nicht mehr da ist, dann muß ich nach dem ›Rechten‹ sehen.« Sie erlaubte sich überhaupt keine Schwäche; ihren Kindern sagte sie, der Vater wäre bestimmt sehr enttäuscht über sie, wenn sie jetzt schwach wären, weinen würden. Er erwarte, daß sie tapfer wie Soldaten seien. Die ganze Familie kam sich sehr heroisch vor, daß sie Vaters Werk so tapfer weiterführte, bewundert von allen Menschen um sie herum, die ihre Tapferkeit nicht genug zu rühmen wußten. Mit der Zeit war die Angelegenheit nicht mehr ganz so heroisch: Die Menschen ihrer Umgebung hatten sich daran gewöhnt, daß diese Familie so tapfer war, auch verblaßte das Andenken an den Toten langsam. Da begann die Frau, mit ganz verschiedenen psychosomatischen Beschwerden die Ärzte aufzusuchen. Diese schickten sie in Psychotherapie. Sie erzählte ihr Leben und sagte mit Stolz, wie sie den Verlust ihres Mannes »verkraftet« hätte: »Alles ging weiter, wie wenn er noch dagewesen wäre, überhaupt nichts hat sich verändert!« Ich fragte erstaunt: »Überhaupt nichts?« Sie antwortete darauf – nach einigem Nachdenken –, es sei schon hart gewesen, so ohne jede Unterstützung das ganze Geschäft zu leiten, es sei auch hart gewesen, überhaupt nie mehr Zärtlichkeit zu spüren; aber dafür sei sie entschädigt worden durch das gute Gefühl, auch ohne ihn alles in Ordnung halten zu können, alles zu regeln, die Kinder ohne Vater aufziehen zu können. Nur eben jetzt mache es ihr Sorgen, daß ihr Körper nicht mehr so richtig mitmache. Auf meine Frage, wie sie sich denn sonst fühle, sagte sie, sie habe es sich abgewöhnt, sich 90
zu fühlen, sie werde jeden Tag ihre Pflicht erfüllen, und das gebe ihr ein gutes Gefühl. Diese Frau hat den Einbruch in ihr Selbst- und in ihr Weltverständnis umgehen können, indem sie einfach in die Welt ihres verstorbenen Mannes eingetaucht ist, sein Leben und ihr Leben »zusammengelegt« hat. Die Trauer um den Verlust hat sie nicht bewußt erlebt. Auf meine Frage, ob sie denn ihren Mann nicht ab und zu vermißt habe, sagte sie, sie habe das schon getan, aber immer, wenn sie ihn vermißt habe, habe sie noch mehr für sein Geschäft gearbeitet. Es war schwierig, der Frau klarzumachen, daß ihre psychosomatischen Beschwerden, insbesondere ihre Herzbeschwerden, noch mit dem Verlust ihres Mannes zu tun haben könnten. Sie meinte, das sei nun doch schon lange vorbei – der Tod lag vier Jahre zurück, als die Frau in Psychotherapie überwiesen wurde –, es hätte doch viel früher sein müssen. Sie erklärte sich aber bereit, sich mit ihrem toten Gatten auseinanderzusetzen, wenn das erfolgversprechend sei. Ich bat sie, Photographien aus dem gemeinsamen Leben mit ihrem Mann zu bringen. Sie tat das, begann von ihm zu erzählen, begann sich an verschiedenes zu erinnern und konnte mit der Zeit die Trauer nachholen. Erst nach einer sehr langen Phase, in der Erinnerungen an ihren Mann formuliert wurden, in der sie sich auch bald einmal eingestand, daß sie natürlich auch viele Schwierigkeiten mit ihm gehabt hatte, daß sie sich ihn aber dessenungeachtet sehnlichst wieder herbeiwünsche, weil sie sich 91
so allein und so einsam vorkomme, begann sie zu träumen. Der erste Traum, dessen sie sich erinnerte, war: Eine Leiche wird in einem Sarg durch die ganze Welt geschickt, niemand weiß, wem die Leiche gehört. Niemand will etwas damit zu tun haben. Sie sieht den Sarg und erinnert sich daran, daß der Sarg dem ihres verstorbenen Mannes gleicht. Sie ordnet an, daß der Sarg begraben wird. Die Frau bekennt sich also jetzt dazu, daß ihr Mann gestorben ist, und sie schickt sich an, dafür zu sorgen, daß er begraben wird, daß das Problem befriedet wird. Der Traum zeigt auch sehr klar, daß dieser Tote, auch wenn sie nicht an ihn dachte, doch vorhanden war und durch die ganze Welt geschickt wurde. Das Traummotiv von einem Toten, der plötzlich entdeckt wird, der noch nicht beerdigt ist, ist ein häufiges Motiv. Diese Träume müssen nicht unbedingt etwas damit zu tun haben, daß wir den Tod eines Menschen nicht wahrnehmen wollen; sie können ebensosehr damit zu tun haben, daß etwas in uns selbst leblos, vielleicht auch gestorben ist und daß wir auch da den Beerdigungs- und den Trauerprozeß verpaßt haben. Wenn Trauerarbeit sicher am radikalsten dort gefordert wird, wo wir jemanden verloren haben, den wir liebten, weil in dieser Situation unser Selbst- und Welterleben am tiefsten erschüttert ist, so wird Trauerarbeit doch auch dort gefordert sein, wo wir etwas verlieren, das für uns wichtig war. Helene Deutsch46 war die erste, die 937 vier Patienten 92
beschrieb, die in ihrer Kindheit einen Menschen verloren und nicht getrauert hatten. Sie litten später an verschiedenen depressiven Phasen und hatten auch sonst Schwierigkeiten im Leben. Erst im Laufe der Therapie wurde klar, daß der Grund dafür in diesen Verlusten lag, die nicht betrauert waren. In jedem Fall war das Gefühlsleben von diesem Lebensereignis abgespalten gewesen. Dieser Sachverhalt wurde nach Deutsch von vielen Psychotherapeuten immer wieder nachgewiesen. Dabei ist es nicht nötig, daß der Verlust in der Kindheit stattgefunden hat, er kann ebensogut auch im Erwachsenenalter stattgefunden haben 47. Menschen, die bewußte Trauer vermissen lassen, werden immer als selbstbewußte Menschen beschrieben, die stolz sind auf ihre Unabhängigkeit und ihre Kontrolliertheit, die Gefühlsäußerungen gegenüber abgeneigt sind, die Tränen als unangebrachte Weichheit auffassen und die nach einem Verlust weiterleben, als wenn nichts passiert wäre. Diese Beschreibung, die Bowlby in Anlehnung an Deutsch, Volkan und andere gibt, stimmt mit meinen Beobachtungen überein. Diese Menschen lehnen die Erinnerungen an die Verstorbenen ab, wünschen auch nicht, daß von ihnen gesprochen wird – oder wenn, dann nur, indem zugleich herausgestrichen wird, wie gut sie mit dem Verlust umgehen können. Bowlby 48 beschreibt weiter, daß diese Art Menschen oft zu psychosomatischen Beschwerden neigen, besonders zu Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit, in extremen Fällen manchmal auch zu exzessivem Trinken. Bowlby betont, daß natürlich vielerlei Gründe zu einem Abspalten der Trauerarbeit führen können. Immerhin scheint erwie93
sen, daß es eben der besonders »tapfere« Mensch ist, der die Trauer verdrängt und dann von ihr eingeholt wird, durch Depressionen meistens oder durch ein Gedrücktsein, das vielleicht den Namen Depression noch nicht verdient. In diesem Zusammenhang scheint es mir auch wichtig, zu bedenken, welche Rolle bei Frauen (und Männern!) der Verlust von ungeborenen Kindern spielt. Ein sechsunddreißigjähriger Mann suchte mich auf, weil er unter häufiger Schlaflosigkeit litt und sich auch sonst bedrücktfühlte. Er sagte, es gäbe keinen Grund dafür, er habe eine angemessene Arbeit, die ihm Freude mache, seine Ehe sei gut, er liebe seine Frau und seine zwei Kinder, seine Jugend sei unauffällig gewesen – und das schien auch alles so zu sein. Ich fragte ihn, ob er vielleicht einmal Großeltern verloren hätte, die er lieb gehabt habe. Aber auch das war nicht der Fall, seine Großeltern lebten noch, hochbetagt. Seine Eltern lebten ebenfalls. Er habe nie jemanden verloren. Als er das sagte, zögerte er ein wenig und fügte dann hinzu, seine Frau hätte allerdings vor etwa zwei Jahren eine Fehlgeburt gehabt, sie hätte ein Kind im dritten Monat der Schwangerschaft verloren. Er hätte sich auf das Kind sehr gefreut, aber sie hätten ja zwei gesunde Kinder, und überhaupt, so ein Embryo sei ja doch noch kein Mensch … Als es ihm gelang, einzusehen, wieviel ihm an diesem Kind gelegen war, wie er es schon mit freudigen Emotionen bedacht hatte, wurde ihm klar, daß die Fehlgeburt emotional wirklich ein Verlust gewesen war, der auch betrauert werden darf und muß.
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Eine große Schwierigkeit scheint mir darin zu liegen, daß wir Vorstellungen darüber haben, wann wir trauern dürfen und wann nicht, oder wie lang eine Trauer jeweils angemessen ist. Dieser Mann sagte zunächst: »Um einen Embryo kann man doch nicht trauern wie um einen erwachsenen Menschen, mit dem man lange gelebt hat.« Das scheint einleuchtend zu sein; bedenkt man aber, wie wichtig dieser Embryo für den Mann war, welche Phantasien er mit ihm schon verbunden hatte, wie sehr er sein Leben schon mit diesem Embryo verwoben hatte, dann gilt sein Ausspruch nur bedingt. Es gibt keine Richtlinien, wie lange wir um wen zu trauern hätten: Je mehr wir emotional jemandem oder etwas verbunden sind, desto mehr werden wir trauern müssen. Ein weiteres Beispiel zu einem unbetrauerten Embryo: Eine achtunddreißigjährige Frau suchte die Therapie auf, weil sie sich immer müde fühlte und kein Arzt herausfinden konnte, weshalb sie es war. Sie war verheiratet, kinderlos. Sie gab an, daß es ihr und ihres Mannes Wunsch wäre, keine Kinder in diese Welt zu setzen, und daß sie außerdem Kinder sehr aufregend und aufwendig fände. Im Laufe unserer Gespräche kamen wir darauf, daß sie einmal ein Kind abgetrieben hatte. Sie erwähnte das, als der Jahrestag der Abtreibung war und sie zufällig an diesem Tage eine Stunde mit mir hatte. Sie erwähnte es sehr beiläufig. Mir fiel auf, daß sie es überhaupt erwähnte und daß sie sich den Jahrestag gemerkt hatte. Sie erzählte, sie sei froh gewesen, daß das Kind »weggemacht« worden sei. Ich sagte – ebenfalls beiläufig –, manchmal hätte 95
man ja verschiedene Gefühle der gleichen Situation gegenüber. Sie wehrte ab, behauptete, sie wäre nur froh gewesen, und sie hätte auch nicht etwa Schuldgefühle. In der nächsten Stunde sagte sie mir, sie sei über mich in der letzten Stunde sehr ärgerlich gewesen, ich hätte ihr Schuldgefühle einreden wollen wegen ihrer Abtreibung. Sie wollte darüber nicht mehr länger sprechen, sondern brachte statt dessen ein sehr aktuelles Problem, das sie als dringlich bezeichnete. Etwa zwei Monate später fing sie in einer Therapiestunde plötzlich an zu weinen und sagte, sie hätte sich damals so ungeheuer auf das Kind gefreut, das in ihrem Leib gewachsen sei, sie wäre sich plötzlich wie ein fruchtbarer Acker vorgekommen und hätte ein ganz anderes Körpergefühl gehabt als zuvor, ein ganz anderes Gefühl von sich als Mensch und Frau. Aber sie habe doch nicht ihrem Entschluß, die Schwangerschaft abzubrechen, untreu werden können, ganz abgesehen davon, daß sie wirklich von sich das Gefühl habe, daß sie eine »unmögliche Mutter« geworden wäre. Auch bei dieser Frau ist sichtbar, daß sie nicht realisierte, was die Abtreibung für sie bedeutete, nämlich Verzicht auf etwas, das sie als sehr wesentlich für ihr Leben empfunden hätte, wie das Bild vom fruchtbaren Acker ausdrückt, das sie gebraucht hat. Sie hat sich mit dieser Abtreibung entschlossen, diesen Acker nicht fruchtbar werden zu lassen. Ob sie richtig oder falsch gehandelt hat, steht nicht zur Debatte, aber daß es für sie ein Verlust war, mußte sie einsehen und betrauern. Zudem mußte sie sich auch mit den aggressiven Gefühlen dieser Lebenssituation gegenüber 96
auseinandersetzen. Sie war zornig auf das »Kind«, das sie in die Lage gebracht hatte, töten zu müssen. Nachdem ihr diese aggressiven Gefühle zugänglich waren, konnte sie auch ihre Schuldgefühle zulassen und – als der Situation angemessen – akzeptieren. Eine andere Form des Nicht-wahrhaben-Wollens kann sich dadurch ausdrücken, daß jemand sich um andere Menschen kümmert, die einen Menschen verloren haben, und sich so auf nur verschobene Weise um die eigene Trauerarbeit kümmert. Ein Pfarrer erzählte mir, seine Stärke sei es, in der Seelsorge Menschen zu begleiten, die ihren Partner verloren hätten. Dieser Pfarrer hatte selber seine Frau vor einigen Jahren verloren. Er sagte: »Solange ich mich mit andern Menschen beschäftigen kann, die jemanden verloren haben, so lange geht es mir gut. Wenn mich diese Menschen nicht mehr brauchen, dann werde ich selber sehr traurig, dann werde ich an meine Frau erinnert. Ich darf doch nicht traurig sein, ich weiß doch, daß sie im Jenseits auf mich wartet!« Dieser Pfarrer, der vielen Menschen in ihrer Trauerarbeit hilft, gesteht sie sich selbst nicht zu, da er ja selbst nicht traurig zu sein hat, wenn seine Frau bei Gott ist. Hier scheint mir ein weiteres Problem zu liegen: Es gibt Menschen, die von ihrer Weltanschauung her meinen, nicht trauern zu dürfen. Sie übersehen dabei, daß sie als die Zurückgebliebenen eben trotzdem einen großen Verlust erlitten haben, der ihr ganzes Leben beeinflußt und zunächst auch beeinträchtigt. Was dieser Pfarrer an sich beobachtet, nämlich, daß er sich wohlfühlt, solange er 97
andere in ihrer Trauerarbeit unterstützen kann, leuchtet ein: Solange er andere in ihrer Trauerarbeit begleitet, so lange kann er identifikatorisch mittrauern; brauchen sie ihn nicht mehr, dann müßte er selbst trauern, und das darf er nicht. Die Gefahr bei Menschen, die mit anderen identifikatorisch trauern – und diese Möglichkeit bietet sich Menschen in helfenden Berufen geradezu an –, ist die, daß sie dann zusammenbrechen, wenn niemand mehr da ist, für den sie Sorge tragen können. Es ist natürlich auch möglich, daß sie in dieser identifikatorischen Trauer den andern Menschen zu sehr »bemuttern«, ihn zu sehr von der selbständigen Neuregelung seines Lebens abhalten. Die identifikatorische Trauer kann So verstanden werden, daß man die Seiten in sich, die dringend der Trauerarbeit bedürften, auf einen andern Menschen projiziert und dort stellvertretend Hilfe gibt. Diese Verhaltensmöglichkeit haben wir Menschen natürlich immer, nicht nur, wenn wir Trauerarbeit leisten müssen 49. Bei der Trauerarbeit bietet sich diese Verhaltensmöglichkeit besonders an, weil der Helfer, der auch jemanden verloren hat, besonders gern akzeptiert wird, weil er ja weiß, wie es einem zumute ist. Eine andere Form des Steckenbleibens in der Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens zeigt sich darin, daß Menschen von der großen »Leere« sprechen, die sie seit dem Verlust in sich hätten; diese Leere sei durch nichts aufzufüllen, sie würden leben wie Automaten. Szonn beschreibt in seinem Aufsatz »Trauerarbeit mit dem Katathymen Bilderleben« 50 den Fall einer Mutter, die ihre Tochter mit dem Traktor – unbeabsichtigt – überfahren hatte und die in der Folge an 98
Depressionen litt, besonders dann, wenn der Herbst kam, denn im Herbst lag der Todestag der überfahrenen Tochter. Diese Frau sagte von sich, sie hätte nicht trauern können, sie hätte sich wie leer gefühlt. Die Beratung suchte sie auf, weil die Beziehung zu ihrem zweiten Kind unterdessen schwierig geworden war. Szonn beschreibt, wie er zunächst der Frau das Motiv »Bach« zum Imaginieren gab, in einer zweiten Sitzung dann das Motiv »Weg zum Grab«. Die Frau begann dabei zu weinen, und dieses Weinen scheint der Ausgangspunkt für die Trauerarbeit geworden zu sein. Der Artikel ist leider so kurz gehalten, daß es schwierig ist, zu sehen, was wirklich geschehen ist. Szonn beschreibt, daß in wenigen Sitzungen mit dem Katathymen Bilderleben die Depressionen wesentlich gemildert worden seien, und es ist meines Erachtens wirklich dadurch geschehen, daß der Trauerprozeß in Gang gekommen ist. Mir scheint, daß das Katathyme Bilderleben ein sehr gutes Hilfsmittel sein kann bei der unterbliebenen Trauerarbeit, besonders dann, wenn die Menschen sich »leer« fühlen.
Probleme in der Phase
der aufbrechenden Emotionen
Alle bereits aufgezeigten Probleme können auch so gesehen werden, daß hinter ihnen der Versuch steht, die Phase der aufbrechenden Emotionen zu vermeiden. Dennoch meine ich, daß Menschen, die in der zweiten Phase steckenbleiben, wesentlich anders wirken und an einer völlig anderen Stelle 99
des Prozesses stehen als die, die in der ersten Phase steckenbleiben. Die in der ersten Phase steckenbleiben, sind Menschen, die die Trauer überhaupt vermeiden wollen; die in späteren Phasen steckenbleiben, sind Menschen, die nicht mehr aus der Trauer herausfinden, die chronisch trauern. Auch sie wirken depressiv, aber nicht, weil sie den Schmerz verdrängt haben, sondern weil sie von ihm überwältigt sind, absorbiert sind und immer daran denken müssen und nicht mehr weiter wissen. Genaubesehen blockieren auch sie irgendwie den Trauerprozeß, auch sie geben sich nicht in diesen Wandlungsprozeß hinein, obwohl es aussieht, als wären sie voll darin. Der unausgedrückte Zorn Hans ist neunzehn, er hat vor zwei Jahren seinen Vater verloren; er ist der älteste von drei Geschwistern und ist unversehens zum Familienoberhaupt geworden. Seine Mutter hat es sich angewöhnt, ihn die Dinge zu fragen, die sie zuvor den Vater gefragt hat. Hans ist Schüler, steht vor dem Abitur und hat große Konzentrationsschwierigkeiten. Er meint, diese kämen von seinen Schlafstörungen her. Bis zum Tode des Vaters war er ein sehr guter Schüler gewesen, seither hätten seine Leistungen nachgelassen. In der ersten Zeit nach dem Tod wären die Lehrer nachsichtig gewesen, jetzt seien sie nicht mehr nachsichtig und meinten, er sei zu gedrückt, jetzt müsse er langsam diesen Tod überwunden haben. Ein Pfarrer, den er um Rat gefragt hatte, schickte ihn in die Therapie.
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Auf meine Frage, wie er denn den Tod des Vaters erlebt habe, sagte er mir, sein Vater sei sehr lange krank gewesen, das hätte wie ein Schatten auf der ganzen Familie gelastet. Eigentlich seien sie alle froh gewesen, daß der Vater gestorben sei. Er hätte eine gute Beziehung zu seinem Vater gehabt, besonders in der letzten Zeit am Krankenbett hätten sie gute Gespräche miteinander geführt. Der Vater hätte ihn auch gebeten, seine Stelle in der Familie etwas zu übernehmen; er habe es gerne getan, es habe ihm Freude gemacht, aber er fühle sich überfordert, er könne kaum mehr mit seinen Freunden irgend etwas unternehmen. All das tönte ganz vernünftig. Hans sprach mit einer wenig modulierten Stimme, wirkte sehr ernst, viel älter als er war. Hier haben wir ein Beispiel vor uns, wie das Leben eines Menschen sich durch den Tod eines nahen Menschen verändern kann. Da wird der Schüler plötzlich »Familienoberhaupt« und fühlt sich – mit Recht – überfordert. Das war ein Aspekt seines Problems. Ein anderer Aspekt war der, daß er nie den Zorn über den Tod seines Vaters ausgedrückt hatte. Hans erzählte, er hätte seit dem Tod seines Vaters eigentümliche Träume. In diesen Träumen sei er immer sehr böse, daß der Vater gestorben sei, und werfe ihm dies auch vor. Ich fragte ihn, wie denn bei ihnen getrauert worden sei. Wie es üblich ist bei einer langen Krankheit, wurde schon recht viel Trauer vorweggenommen. Parkes nennt diese vorweggenommene Trauer »Besorgnisarbeit« 5. Große Veränderungen versuchen wir Menschen jeweils vorweg101
zunehmen, indem wir phantasieren, wie es sein wird. Diese Besorgnisarbeit ersetzt aber nicht die Trauer, denn auch die Phantasie über die endgültige Abwesenheit eines Menschen ist etwas ganz anderes als die reale Abwesenheit, diese radikale, gnadenlose Abwesenheit, die wir in der Phantasie nicht vorwegnehmen können. Immerhin wurde in der Familie von Hans einiges über den Tod des Vaters hinaus noch zu dessen Lebzeiten geordnet, der Vater selber schien einen großen Abschiedsprozeß vom Leben und von seiner Familie hinter sich gebracht zu haben, in dessen Verlauf geweint, getrauert wurde. Auch bei dieser Besorgnisarbeit wurde nie Zorn geäußert. Ich fragte Hans, ob er denn nie über das Schicksal zornig gewesen sei. Er sagte, er sei schon zornig gewesen, er hätte nämlich auch seine Freundin verloren, weil er nie mehr mit ihr zusammen sein konnte, aber es nütze ja nichts, zornig zu sein, wenn man vom »Schicksal geschlagen werde«. Ich versuchte ihm klarzumachen, daß es doch ganz natürlich sei, darüber zornig zu sein, daß er nun so überlastet sei, bei aller Liebe für seinen Vater, auch bei allem Mitleid für ihn, der sein Leben nicht habe beendigen können, wie er es sich gewünscht hätte. Ich sprach zu ihm auch davon, daß man ja auch zornig sein könne, weil ein Mensch so sehr leiden müsse, wie sein Vater gelitten habe, daß man dadurch sogar am Leben sehr irre werden könne. Ich bat Hans, möglichst viele der »Zornträume« zu erinnern zu versuchen. Er tat das, schrieb sie auf, brachte seinen Bruder mit in die Therapie, damit sie zusammen diese Zornträume darstellen konnten. Hans hatte richtig erkannt, 102
daß der Zorn in der Trauerarbeit bei ihnen ausgespart und daß der Vater von der Mutter auch sehr idealisiert worden war. Die Kinder hatten diese Idealisierungen übernommen, obwohl sie natürlich auch andere Erlebnisse mit ihrem Vater gehabt hatten. So stellte es sich für Hans immer mehr heraus, daß der Vater auch sehr egoistisch gewesen war, schon vor dem Einsetzen seiner Krankheit, und daß die Kinder unter diesem Egoismus sehr gelitten hatten. Auch darauf wurde Hans nachträglich sehr zornig. Nach neun solcher »Zornstunden« berichtete Hans, er könne jetzt viel besser schlafen, er hätte nicht mehr so sehr Angst davor, und er hätte vor allem nicht mehr so viele Zornausbrüche wie zuvor. Erst in dieser Phase erzählte er mir, er sei wegen jeder Kleinigkeit »hochgegangen«, und seine Mutter sei sehr betrübt gewesen, daß er sich so sehr verändert habe. Das verwundert nicht, denn sein Zorn war da, aber nicht nur sein Zorn, auch seine Angst. Da der Zorn aber unterdrückt werden mußte, äußerte er sich immer dort, wo sich Hans überfordert fühlte. Natürlich fühlte er sich oft überfordert, nicht nur durch die realen äußeren Anforderungen, sondern auch dadurch, daß er seinen Zorn, seinen Unmut nicht äußern durfte und daß er sich dadurch auch nicht mit den weniger angenehmen Seiten seines Vaters auseinandersetzen konnte. Hinter dem Zorn steckte aber offenbar auch die Angst vor dem Tod. Weshalb hätte er sonst Angst vor dem Schlafen haben sollen, wenn er nicht dieses nächtliche In-den-SchlafVersinken mit der Möglichkeit, nicht mehr aufzuwachen, in Verbindung gebracht hätte ? Hans war zutiefst in seiner Lebenssicherheit beeinträchtigt worden durch die Krank103
heit und den Tod seines Vaters. Es ist ihm schmerzhaft bewußt geworden, daß der Mensch sterblich ist. Gleichzeitig scheinen die Eltern mit der Krankheit des Vaters so umgegangen zu sein, daß sie sie als »Schlag des Schicksals« einfach annahmen, ohne dagegen zu protestieren. Diese Möglichkeit gilt aber nicht für einen achtzehnjährigen jungen Mann; er muß gegen den Tod rebellieren dürfen, damit er das Leben wagt. Die »ewigen« Schuldgefühle Es gehört zu einem normal verlaufenden Trauerprozeß, daß Schuldgefühle wach werden, denn wer könnte schon von sich behaupten, eine Beziehung ohne jedes Versäumnis gelebt zu haben ? Schuldgefühle bekommen angesichts des Todes etwas Radikales, etwas Brutales; kein Gespräch kann sie wegdiskutieren, und vor allem, man kann nichts wiedergutmachen. Alle Wiedergutmachungstheorien scheitern daran, daß der Verstorbene nicht mehr da ist. Gewiß kann man versuchen, sich über das Schuldhafte bewußt zu werden, und es in anderen Beziehungen zu vermeiden suchen, soweit es geht. Aber das Schuldhafte kann nicht vermieden werden, und wenn jemand stirbt, dem gegenüber Schuldgefühle bestehen, dann wird bewußt, was das existentiell bedeutet: ein Mensch zu sein, der schuldig werden muß und von sich selber doch immer meint, er könnte die Schuld vermeiden. Mit Schuldgefühlen gegenüber Verstorbenen habe ich in meiner therapeutischen Praxis sehr viel zu tun, sei 104
es, daß Ratsuchende nicht mehr aus und ein wissen vor lauter Schuldgefühlen, oder sei es, daß die Schuldgefühle verdrängt werden, aber latent vorhanden sind und das psychische Leben immer wieder beeinträchtigen. Schuldgefühle hängen meines Erachtens stark mit dem zusammen, was in der Beziehung zwischen zwei Menschen ungeklärt geblieben ist, natürlich auch mit dem Ideal, das man sich vorgestellt hat in der Beziehung zum Verstorbenen, und der realen Beziehungsform, die man dann gefunden hat. Bei Menschen, die sich um eine Klärung ihrer Beziehung bemüht haben, die sich – gerade das scheint mir wichtig – gegenseitig eingestanden haben, wieviel sie einander immer wieder schuldig bleiben oder schuldig geblieben sind trotz aller Bemühungen, die sich auch eingestanden haben, daß ihre Bemühungen auch Grenzen haben, bei solchen Menschen habe ich immer festgestellt, daß sich ihre Schuldgefühle in Grenzen hielten, sich auch auf Dinge bezogen, die den Menschen nicht existentiell in seinem Kern trafen. Ein Mann, dessen Frau lange Jahre an Krebs litt und der die Krankheit nützte, mit ihr sehr viel über ihre gemeinsame dreißigjährige Partnerschaft zu sprechen, Freuden nochmals nachzuerleben, Enttäuschungen nochmals zu besprechen, auch wenn ihnen beiden das schwerfiel, sagte ein paar Wochen nach dem Tod seiner Frau, er sei sehr dankbar für die vielen Gespräche, die sie noch miteinander hätten führen können. Das einzige Schuldgefühl, das er habe, beziehe sich darauf, daß er ihrem Wunsch, er möge bei ihr im Krankenhaus übernachten, nicht nachgegeben habe, weil er die Scherereien mit dem 105
Pflegepersonal gefürchtet habe. Er denke jetzt oft darüber nach, würde es gerne ändern, aber er könne das nicht. Er empfand sich letztlich doch als lieblos. Aber dieses Schuldgefühl ist von einer ganz andern Qualität als die Schuldgefühle eines fünfundfünfzigjährigen Mannes, der wegen schwerer Depressionen die Therapie aufsuchte. Er erzählte mir in der ersten Stunde, er habe seine Frau vor fünf Jahren verloren, seither leide er andauernd an Schuldgefühlen. Dann schaute er mich prüfend an und sagte: »Herr X., der Psychiater, der mich überwies, meinte, das wären Schuldgefühle, die jeder Grundlage entbehren; das stimmt aber nicht.« Und dann sprach er davon, wie lieblos er zu seiner Frau gewesen sei, daß er sie wie eine Hausangestellte gehalten habe, die ab und zu auch hätte repräsentieren müssen, daß er überhaupt nie zärtlich zu ihr gewesen sei, ihr ständig vorgeworfen habe, sie würde ihre ehelichen Pflichten nicht erfüllen, sie würde überhaupt nichts taugen, obwohl sie viel getaugt hatte. Er sei sicher, er habe sie mit seinem Verhalten in den Tod getrieben. Ihm sei das eine Woche nach der Beerdigung erschreckend klar geworden, da habe er plötzlich gemerkt, was er verloren habe, und daß er nichts mehr ändern könne. Er habe seine erwachsenen Kinder gefragt, ob das stimme, ob er wirklich so unmöglich gewesen sei mit der Mutter. Die Kinder hätten es ihm bestätigt. Seither fühle er sich wie umhergetrieben, er hätte keine ruhige Minute mehr, er fühle sich elend – und schuldig, einfach schuldig. Er wäre bei einem Pfarrer gewesen, der hätte ihn zu trösten versucht, 106
der Trost habe bei ihm aber nicht gewirkt. Er überlege sich, ob es nicht am besten wäre, wenn er sich umbrächte, denn mit einer solchen Schuld herumzulaufen, das sei schrecklich. Sich umbringen wolle er aber auch nicht, weil sonst seine Kinder nicht nur einen brutalen Mann, sondern auch noch einen Selbstmörder als Vater hätten, außerdem fehle ihm der Mut dazu. Er habe schon einmal eine Pistole bereitgehalten, aber er sei feige. Wenn er wenigstens gemordet hätte, dann könnte er jetzt ins Gefängnis gehen, aber er habe ja nur psychisch gemordet, er könne nicht sühnen. Er erzählte, er habe immer den gleichen Traum. Er stehe vor seinem Haus und halte Ausschau nach seiner Frau. Er rufe sie, aber sie komme nicht. Ich habe diesem Mann gesagt, ich könne ihm die Schuldgefühle nicht wegnehmen, ich könne nur versuchen, die Beziehung zu seiner gestorbenen Frau zu klären. Es sei möglich, daß über dieser Klärung seine Schuldgefühle weniger würden. Xaver nahm meine Erklärung, ich könne ihm die Schuldgefühle nicht wegnehmen, gut auf. Er war bereit, auf meine Idee einzugehen, seine Träume zu bearbeiten und zu versuchen, die Beziehung zu seiner Frau zu klären. Allerdings meinte er, er wisse wohl nicht mehr sehr viel von dieser Beziehung. Da irrte er sich allerdings sehr. Xaver war schon zu Lebzeiten seiner Frau von sehr viel Schuldgefühlen geplagt gewesen. Er hatte ein feines Sensorium für die psychischen Vorgänge in seiner Umgebung gehabt, hatte es aber fertiggebracht, immer wieder die Schuld seiner Frau zuzuschieben, auf sie zu projizieren. 107
Im Moment, da seine Frau nicht mehr war, fiel die ganze Schuld auf ihn zurück. Darüber hinaus belud er sich aber auch mit der Schuld, die seiner Frau zugeschrieben werden konnte. Es ist nicht denkbar, daß in einer Beziehung ein Partner allein schuldig wird. Ich veranlaßte den Mann, seine ganze Ehegeschichte zu erzählen. Träume hatte er zu diesem Zeitpunkt keine, außer daß er immer wieder seine Frau suchte und sie nicht fand. Während er mir die ganze Geschichte seiner Ehe erzählte, versuchten wir, die Probleme zu verstehen, die es natürlich immer gegeben hatte. Dabei wurde ihm klar, daß sehr viele seiner Lieblosigkeiten Reaktionen auf eine ihn verunsichernde Art seiner Frau gewesen waren, die ihn immer wieder in Frage stellte. Gesprochen worden war zwischen den beiden überhaupt nicht. Ich schlug Xaver deshalb vor, bei all diesen Erinnerungen sich ein Bild vorzustellen und mit seiner Frau zu sprechen, wie wenn sie noch lebendig wäre. Er fand das kindisch, tat es aber doch und übernahm meistens auch den Part seiner Frau. Auf diese Weise wurde die Beziehung bearbeitet, und seine Frau wurde in seiner Erinnerung immer lebendiger. Er sah auch ein, daß sie nicht der Engel gewesen war, für den er sie jetzt – nach dem Tod – hielt, daß sie aber auch nicht die Hexe gewesen war, für die er sie zu Lebzeiten gehalten hatte. Er selber sah sich jetzt auch nicht mehr nur als Versager, sondern er sah, daß er viel versäumt hatte und dieser Frau und sich viel schuldig geblieben war; aber er sah auch, daß er nicht allein die Schuld daran trug. Als wir beim Erzählen seiner Erinnerungen bei der Krankheit seiner Frau ankamen – nach 108
zweiunddreißig Analysestunden –, begann er, Besorgnisarbeit zu leisten, und als er mir den Tod erzählt hatte, da begann er zu trauern, wie wenn seine Frau erst zu diesem Zeitpunkt gestorben wäre. Es setzte eine Phase der intensiven Auseinandersetzung mit der Frau »im Jenseits« ein. Er begann, die Beziehung, die sie jetzt hatten, zu idealisieren, fing sogar an, ihr Liebesbriefe ins Jenseits zu schicken, – und ich wurde zunehmend ratloser, was ich mit dieser symbiotischen Phase anzufangen hätte. Offenbar hatte er das Bedürfnis, ihre Beziehung noch zu idealisieren, auch liebevolle Gefühle zu erproben. Seine Frau pflegte nämlich, wenn er einmal »romantisch« werden wollte, ihn anzuherrschen, er solle sich doch nicht so weibisch benehmen. Nun genoß er es, in der phantasierten Beziehung zu seiner Frau seine weichen Seiten zu leben, romantisch zu sein. Diese idealisierte, phantasierte Beziehung dauerte ungefähr vier Monate. Dann sagte er mir, seine Frau würde sich in seiner Phantasie zunehmend verändern, sie bekäme immer mehr Züge von ihm selbst, das wundere ihn sehr. Ich deutete ihm das als wesentlichen Fortschritt im Trauerprozeß und sagte ihm, dieser Gefühlsausdruck sei eben eine Möglichkeit von ihm selber geworden, die Trauerarbeit sei abgeschlossen, und er könne mit dieser neuen Möglichkeit weiterleben. Er begann dann eine Beziehung zu einer Nachbarin aufzunehmen, die beiden viel Freude brachte. Er besucht mich jedes Jahr einmal und erzählt mir, wie es um seine Schuldgefühle bestellt ist. Er ist immer noch sehr davon beeindruckt, daß er so schuldig werden konnte, auch wenn er das Ausmaß seiner Schuld nun realer sehen kann und 109
jetzt auch durchaus fähig ist, diese Schuld als auch zu ihm gehörig zu akzeptieren. Allerdings hat die Bearbeitung der Beziehung zu seiner toten Frau viele dieser Schuldgefühle relativiert. Es schien mir wichtig bei der Therapie dieses Mannes, überhaupt nie zu versuchen, ihn zu trösten oder die Schuldgefühle von mir aus zu relativieren, sondern ihn selber suchen zu lassen, wo denn eigentlich die Schuld lag. Ich habe mir während der Behandlung oft gewünscht, der Mensch wäre ein gläubiger Christ, könnte beichten und an die Vergebung glauben – aber er konnte es eben nicht. Menschen, die im Zusammenhang mit Tod und Schuldgefühlen dem Verstorbenen gegenüber zum Psychotherapeuten kommen, können ja oft nicht an die Vergebung glauben. Wenn das Emotionschaos beim Trauern nicht ganz gelebt werden kann, wenn gewisse Aspekte davon ausgespart werden, wie etwa Zorn, aber auch Schuldgefühle, scheint es mir, als ob diese Trauernden in dieser Phase der Trauer, wo Emotionsstürme immer wieder über sie hereinbrechen, hängenbleiben. Oft greifen sie dann zu Medikamenten, weil das Emotionschaos unerträglich wird 52. Gerade Schuldgefühle können aber auch, ohne daß sie verdrängt werden, den Trauernden in diesem Stadium der Trauer festhalten. Schuldgefühle haben offenbar die Wirkung, den Menschen dermaßen in seinem Selbsterleben zu erschüttern, daß er einfach nicht mehr sieht, wie es weitergehen könnte. Wenn die Schuldgefühle so stark sind, dann brauchen diese Trauernden Hilfe von außen. Ich gehe mit 110
Parkes einig, daß in solchen Fällen Medikamente zwar die Einschlafstörungen mindern, das Problem aber nicht lösen können. Wenn Trauer wirklich der Prozeß ist, in dem die Gewohnheiten, die in einer Beziehung zu einem geliebten Menschen bestanden, aufgelöst werden müssen, dann sind eben auch Gefühle von Schuld, die offenbar zu dieser Besiehung gehörten und auch Verhaltensweisen waren, aufzuarbeiten und aufzulösen, auch wenn das zunächst sehr schmerzhaft ist und einen Menschen bis ins Mark seiner Existenz berühren kann. Inwieweit solche Schuldgefühle manchmal auch als verkappte Todeswünsche gegen den Partner, als er noch lebte, zu interpretieren sind, ist fraglich. Bei Xaver könnten sie so gesehen werden. Allerdings ist da auch zu beachten, daß Todeswünsche nicht unbedingt bedeuten, daß der Partner sterben soll. Todeswünsche können auch bedeuten, daß die Beziehung, so wie sie ist, sich verändern muß. Dies wird besonders bei sehr symbiotischen Partnern immer wieder sichtbar. Ich meine aber, daß auch jenseits der Todeswünsche immer wieder Schuldgefühle zu einer Partnerschaft gehören, weil wir niemals unser Ideal von Beziehung leben können, weil wir immer daran schuldig werden. Nach meinen Erfahrungen haben Schuldgefühle im Trauerprozeß meistens damit zu tun, daß die Beziehung zu dem Verstorbenen ungeklärt war, und ebensosehr damit, daß vieles vom eigenen Leben, das eigentlich hätte gelebt werden müssen, in dieser Beziehung nicht gelebt worden ist. Diese Schuldgefühle werden dann oft zu ausschließlich im Zusammenhang mit dem Verstorbenen gesehen. Es 111
geht aber nicht nur um Lebensmöglichkeiten, die man im Zusammenhang mit dem Verstorbenen nicht gelebt hat, sondern auch um ungelebtes Leben, das wirklich nur mit dem eigenen Leben zu tun hat. Demgegenüber scheint es manchem, als könne man das Verpaßte orten, indem man es in Schuldgefühlen dem Verstorbenen gegenüber sieht und damit symbolisch natürlich auch ausdrückt, daß es vorbei und für immer unwiderbringlich ist. Besonders auffällig ist mir das bei einer Analysandin geworden, deren Analytiker sich selbst getötet hatte 53. Diese Analysandin entwickelte sehr starke Schuldgefühle, sie fühlte sich schuldig an diesem Suizid, alleinschuldig. Sicher spielte dabei auch eine Größenphantasie eine Rolle, ein Stück Heroismus, wenn auch »negativer Heroismus«. Da sie so sehr aus der Übertragung zu diesem Manne gelebt hatte, war sie durch seinen Tod extrem bedroht und mußte Größenphantasien kreieren, um überhaupt weiter existieren zu können. Die Schuldgefühle gingen nun aber nicht in die Richtung, daß sie etwa eine besonders aufsässige Analysandin gewesen wäre, was sie bestimmt auch nicht war, oder daß sie alles in allem ein hoffnungsloser Fall gewesen wäre, der den Analytiker über Gebühr beansprucht und ihn hätte irre werden lassen an seinem Beruf – mitnichten. Ihre Schuldgefühle gingen dahin, daß sie sich sagte, sie hätte ihn dadurch in den Tod getrieben, daß sie ihren Wunsch, noch eine Ausbildung zu machen, nicht realisiert habe. Sie entwickelte ein ganzes Gebäude von Schuldgefühlen um dieses Thema und erzählte mir haargenau, weshalb das ihren Analytiker in den Tod getrieben 112
habe. Er habe meinen müssen, sie hätte nun keinen Ausweg mehr. Ein anderes Gebäude von Schuldgefühlen baute sie um eine Beziehungsmöglichkeit zu einer Frau auf, die sie nicht aufzunehmen gewagt hatte, obwohl sie der Analytiker offenbar dazu ermuntert oder zumindest sie nicht davon abgehalten hatte. Außerdem trug nach ihrer Meinung auch dies mit Schuld an seinem Suizid, daß sie sich nicht so oft in die Sonne gelegt hatte, wie er ihr empfohlen hatte. Natürlich kann man diese Schuldgefühle auch aus einer Identifikation mit dem Analytiker begreifen. Die Analysandin verstand sich offenbar als Teil von ihm und versuchte herauszufinden, wie weit es denn an ihr gelegen haben könnte, daß er sich umbrachte. Betrachtet man aber diese Schuldgefühle genauer, dann betreffen sie Entscheidungen, die sie nicht getroffen oder die sie nicht so radikal getroffen hat, wie sie es sich eigentlich gewünscht hätte. Es sind Dinge, die wirklich ihr Leben betreffen und die nicht einmal so unwiderbringlich verloren sind, wie es ein Verstorbener ist. Es sind auch Dinge, die in der Realität kaum Auslöser für einen Suizid sein könnten. Was bei dieser Analysandin so klar sichtbar wird, scheint mir auch bei den Schuldgefühlen anderer Hinterbliebener sichtbar zu sein: Die Schuldgefühle können einerseits wirklich Dinge betreffen, die in der Beziehung nicht aufgegangen sind, die schuldhaft sind; sie können sich aber auch auf Entscheidungen, Verfehlungen dem eigenen Leben gegenüber beziehen.
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Probleme in der Phase des Suchens
und Sich-Trennens Die Analysandin Silva, deren Analytiker Hand an sich gelegt hatte, ging durch eine sehr intensive Phase des Suchens. Sie bemerkte zum Beispiel, er wäre bestimmt von seiner Frau nur einfach versteckt worden, weil sie eifersüchtig gewesen sei. Sie besuchte einmal die Witwe, um feststellen zu können, ob nicht doch noch etwas von ihm zu entdecken sei. Sie ging zum Grab, um zu sehen, ob sie ihn dort fühlen könne. Sie suchte ihn in seinem Lieblingscafé, an seinem Ferienort. Das waren Nachforschungen, die sie sich zu seinen Lebzeiten nie erlaubt hätte. Nun, da er gestorben war, wurde sie richtig herumgetrieben, und sie trieb sich auch herum, um ihn zu suchen. Sie fand ihn nur in ihren Träumen. Da war er, höflich, zurückhaltend, etwas gehemmt, und hörte ihr zu. In einem Traum fragte sie ihn, wie sie ihn denn zurückbekommen könne. Er winkte mit der Hand ab und verschwand. Silva deutete sich diesen Traum als Aufforderung ihres Analytikers, sich auch das Leben zu nehmen. Sie entwickelte eine ganze Theorie, daß das die einzige Möglichkeit sei, bei ihm zu sein. Während sie diese Theorie entwickelte und ihn suchte, ohne etwa auf die Aspekte der Trennung einzugehen, die in den Träumen auch vorhanden waren und auf die ich sie aufmerksam zu machen versuchte, entwickelte sie eine Übertragung auf mich. Als ihre Theorie voll entwickelt war, sagte sie in einer Analysestunde plötzlich: »Die ganze Theorie nützt 114
jetzt nichts mehr; wenn ich ihm nachfolge, dann verliere ich ja Sie. Und das ertrage ich jetzt auch nicht mehr.« Die Gefahr des Suizids scheint mir in der Phase des Suchens am stärksten zu sein. Auch wenn sehr wenige Menschen nach einem Todesfall wirklich Suizid begehen, glaube ich doch, daß die Gefahr des Nachsterbens in dieser Phase tatsächlich sehr groß ist. Ich meine mit Nachsterben, daß man dem Sterben keinen Widerstand entgegensetzt. Es gibt eine Untersuchung von Parkes, in der er nachweist, daß Witwer in den ersten sechs Monaten nach dem Tod ihrer Frau um 40 Prozent häufiger sterben, als statistisch zu erwarten wäre 54. Das bedeutet doch wohl, daß das Leben in dieser Situation als weniger attraktiv empfunden wird als der Tod, was unter Umständen auch zum Suizid führen könnte. Brown und Harris 55 weisen nach, daß Menschen, die in ihrer frühen Jugend einen Elternteil verloren haben, mehr dazu neigen, bei dem späteren Verlust eines Partners heftiger zu reagieren, und unter Umständen auch leichter Suizid begehen als andere, die nicht so sehr geprägt sind durch einen frühen Verlust. Das ist einleuchtend. Wer schon früh einen Verlust eines Elternteils hinnehmen mußte oder auch eines kindlichen Freundes oder einer Freundin, der hat schon sehr früh erlebt, daß auf das Leben kein Verlaß ist, daß alles vergänglich ist. Wird nun ein nächster Verlust erlebt, werden diese Gefühle wieder aufbrechen, und das kann dazu führen, daß man versucht ist auszuprobieren, ob denn auf den Tod Verlaß sei. Bei Silva entwickelte sich die Situation zunächst so, daß sie mir sehr übelnahm, daß ich kein Mann war. Sie meinte, 115
wenn ich ein Mann wäre, hätte sie nicht so sehr um ihren Analytiker trauern müssen, dann hätte sie mich einfach gegen ihn »austauschen« können. Sie konnte mich nicht gegen ihn austauschen – und mußte also trauern. Sie versuchte aber, mich immer wieder auszutauschen – und gerade daran konnten wir ihre Beziehung zu ihrem früheren Analytiker erkennen. Er war offenbar selbst sehr depressiv gewesen – die Analysandin Silva suchte ihn auch auf, weil sie unter depressiven Verstimmungen litt –, und Silva hatte es sich angewöhnt, ihn jeweils lange nach seinem Befinden zu fragen und ihm etwas zu bringen, was ihn in seiner Depression etwas erheitern könnte. Ich frustrierte sie enorm, indem ich ihr erklärte, nicht von ihr aufgemuntert werden zu wollen, sondern daß ich vorhätte, mit ihr an ihren Problemen zu arbeiten. Sie empfand mich als roh und brutal. Sie konnte aber sehen, welche Strategien sie ihrem Analytiker gegenüber angewendet hatte, wie sehr sie versucht hatte, die Starke zu spielen, und wie sehr sie dadurch ihre Schwächen hatte verdecken müssen. Sie sah auch, daß sie sich damit eigentlich überfordert hatte. Sie hatte zwar äußerlich um Hilfe gebeten, dann aber alles versucht, um den Analytiker in die Rolle des Hilfesuchenden zu drängen. Das war eine Strategie, die sie natürlich nicht nur in der analytischen Beziehung anwendete. Mit dieser Strategie konnte sie sich immer vor sich selbst verstecken, fühlte sich aber doch überfordert und litt dementsprechend an verschiedenen psychosomatischen Beschwerden. Zwar ließ sie es auch da nicht zu, daß sie gepflegt wurde, aber immerhin ließ sie es zu, daß sich 116
ihre Familie Sorgen um sie machte und Mitleid hatte. Sie wurde sich nun aber nicht nur über die Strategien bewußt, die sie anwendete, sie wurde sich auch bewußt darüber, wie geduldig und gewährend ihr früherer Analytiker gewesen war, wie sehr sie das überhaupt faszinierte, wenn jemand so gewährend sein konnte, nicht sofort helfen mußte, sondern sich helfen lassen konnte. Wir einigten uns darauf, daß das eine Seite des alten Analytikers sein könnte, die sie doch bei sich selbst zu realisieren versuchen könnte. Einige Träume unterstützten unsere Idee, und sie versuchte, diese Seite wirklich etwas mitleben zu lassen. Es gab ihr ungeheuren Auftrieb, als sie spürte, daß sie diese Seiten wirklich leben konnte – ansatzweise, gewiß, aber in sichtbaren Ansätzen. Bei Silva ist natürlich die Phase des Sich-Trennens hinausgeschoben, weil die Übertragung auf mich stattfindet. Aber sie wird unweigerlich kommen und zu bestehen sein. Die Gefahr in dieser Phase scheint mir wirklich die zu sein, daß das Suchen zwar auf alle Fälle stattfindet – wer sich einmal in den Trauerprozeß begeben hat, der sucht, ohne daß ihn jemand dazu auffordern müßte, er findet vielleicht auch –; schwierig wird es aber mit dem Sich-Trennen. Gerade in Situationen, in denen man in der Therapie »Trauerhilfe« leistet, kann es passieren, daß diese Trauerarbeit an der Stelle, wo der Trauernde vom Verstorbenen getrennt werden müßte, steckenbleibt. Ein dreißigjähriger Mann, Philipp, hat seine Mutter verloren. Er hatte vorher eine enge Beziehung zu ihr gehabt, hatte mit 117
ihr gelebt. Er war ihr einziger Sohn. Die Mutter gab sich offenbar sehr »mütterlich«, sie bemutterte ihn bis zu ihrem Tod intensiv. Jedermann glaubte, er werde nun eine starke Trauerreaktion zeigen. Er zeigte aber überhaupt keine Trauerreaktion. Er wanderte zunächst aus nach Neuseeland. Als Kaufmann konnte er dabei Angestellter seiner Firma bleiben. Zunächst reiste er in der Welt umher, schien die Freiheit zu genießen, trat dann seine Stelle in Neuseeland an. Eines Tages nahm er – ohne irgend jemanden zu benachrichtigen – ein Flugzeug nach Europa und wies sich selbst in eine psychiatrische Klinik ein mit der Begründung, er könne seine Arbeit nicht mehr erledigen, er habe nur seine Stelle verlassen, bevor man ihn ohnedies hinausgeworfen hätte; er könne nicht mehr denken, sich nicht mehr konzentrieren; er habe keine Freude mehr, kenne keinen Menschen auf der Welt, er habe genug. In der Klinik gefiel es ihm dann aber nicht, er habe da zu wenig Ruhe. Der Psychiater riet ihm, zu mir zu gehen – und er kam. Er hatte, wie sich herausstellte, seinen Vater schon verloren, als er fünf Jahre alt gewesen war. Seine Schwestern waren damals zehn- und zwölfjährig gewesen. Der Vater war mit siebenundsechzig Jahren gestorben; die Mutter war damals neununddreißig. Er könne sich an seinen Vater nicht mehr erinnern, außer daß er vom Vater einen Ball bekommen habe, weil er sich so schön ruhig verhalten und den Vater nicht beim Zeitunglesen gestört habe. Er sagte von sich, er sei überhaupt ein ganz ruhiger Mann, er ecke niemals an; alle Leute, bei denen er gearbeitet habe, hätten ihn geschätzt; er sei wohl tüchtig, aber nicht allzu tüchtig, er sei gerade gut für eine mittlere Position, das wisse er, und mehr wolle 118
er nicht. Zu seinen Schwestern habe er nur eine ganz oberflächliche Beziehung. Sie sähen in ihm den kleinen Bruder, den man herumkommandieren könne. Er lasse sich nicht gerne herumkommandieren. Seine Mutter hätte ihn nicht herumkommandiert. Im übrigen habe er keine Erinnerung an seine Mutter, er habe die Erinnerung ganz verloren, als er ins Flugzeug gestiegen sei. Das sei ja jetzt vorbei. Er wolle jetzt eine Frau kennenlernen und heiraten. Wohnen wolle er im Haus seiner Mutter, seine Schwestern hätten ihm das Haus in Ordnung gehalten, während er in Neuseeland gewesen wäre; es sei alles noch so wie vor Mutters Tod, er könne also wieder in seinem Zimmer wohnen. Auf meine Frage, ob er denn die Wohnung nicht umgestalten wolle, sagte er mir, das sei vollkommen überflüssig, er fühle sich sehr wohl darin, und er heirate nur eine Frau, die sich auch sehr wohl darin fühlen könne. Mir war klar, hier einen Menschen vor mir zu haben, der nicht getrauert hatte. Es war unendlich schwer, an ihn heranzukommen. Er fühlte nichts, er wollte nichts außer einer Frau zum Heiraten, er brachte keine Träume, er hatte keine Phantasie. Er hatte auch keine Probleme. Höflich saß er in seinem Stuhl und wartete, was ich mit ihm vorhatte. Ich begann mit ihm von seinem Vater zu sprechen. Anhand von Photos aus seiner früheren Kinderzeit begann er, sich doch an einige Züge seines Vaters zu erinnern. Er wurde immer lebendiger, wenn er von seinem Vater sprach. Er begann, bei Freunden seiner Eltern nach seinem Vater zu fragen, auch bei seinen Schwestern. Er stellte fest, daß sein 119
Vater ein sehr geheimnisvoller Mensch gewesen sein müsse, jedermann hätte eine andere Idee von ihm. Er begann, die verschiedenen Sichten von seinem Vater aufzuschreiben, und fing auch an, sich seinen Vater in der Phantasie vorzustellen. Er machte in der Phantasie Reisen mit seinem Vater, hielt Streitgespräche mit ihm über politische Angelegenheiten. Er hatte nämlich herausgefunden, daß sein Vater einer Partei angehört hatte, die er zutiefst verachtete. Er konnte stundenlang mit seinem Vater debattieren und empfand auch die Ansichten, die sein Vater äußerte, als ganz echt, ganz real. Es ging äußerlich eine starke Veränderung mit ihm vor: Er wurde sehr aktiv, begann, sich in Vereinen zu betätigen, räumte die Wohnung um, begann auch, die Möbelstücke in den Keller zu stellen, die ihm nicht so sehr gefielen. Für mich war es sehr schwierig, den richtigen Zeitpunkt zu finden, in dem ich ihm sagen konnte und mußte, daß der Vater, mit dem er so sehr intensiv lebte, eigentlich eine innere Figur von ihm selber wäre, daß der wirkliche Vater gestorben wäre – und vermutlich auch noch betrauert werden müßte. Einerseits fand ich es therapeutisch sehr sinnvoll, daß dieser junge Mann, der nie eine Beziehung zu seinem Vater und offenbar auch keine Ersatzväter gehabt hatte, nun über seine Imagination eine Beziehung zu seinem Vater aufbauen, sich mit ihm identifizieren konnte und nun sehr viel sicherer in seiner Identität wirkte. Anderseits meinte ich doch, daß dieser Zustand eigentlich sich nicht immer weiter fortsetzen könnte, daß die Ablösung ja auch stattfinden sollte, damit er wirklich zu sich selber käme und 120
wir schließlich das Problem mit seiner Mutter bearbeiten könnten. Von seiner Mutter hatten wir überhaupt noch nicht gesprochen. Ein Traum kam zu Hilfe: Philipp, der ganz selten (räumte und diese Träume jeweils äußerst vage beschrieb, rief mich an einem Morgen an, er müsse sofort zu mir kommen, er habe einen grauenhaften Traum gehabt: »Ich bin mit meinem Vater zusammen. Ich habe meinen Vater ungeheuer gern und drücke das aus, indem ich mich an ihn lehne und ihn zärtlich umfange. Der Vater sagt: Das ist schon recht, Bub, aber jetzt mußt du mich wieder gehen lassen.« Philipp weinte, als er den Schluß des Traumes erzählte, und sagte mir, es käme ihm vor, als wäre sein Vater diese Nacht gestorben; er hätte aber auch noch Schuldgefühle, denn die Worte seines Vaters hätten so geklungen, als hätte er ihn belästigt, als hätte er schon längst seine Beziehung zu ihm verändern müssen. Ich erklärte ihm, daß jetzt sicher die Trennung nicht zu früh sei und daß er jetzt wohl die Phasen der Trauer durchmachen werde, die ich ihm beschrieben hatte. Er war erleichtert darüber, daß ich offenbar wußte, was mit ihm geschehen würde. Er hielt sich dann aber nicht so sehr an meine schematische Darstellung des Trauervorganges. Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens kam nicht mehr vor, die Phase des emotionalen Chaos dauerte sehr lange, verbunden mit den Versuchen, wieder in die imaginative Beziehung zu seinem Vater einzutauchen, diese dann aber 121
wieder zu lassen, weil er doch spürte, daß diese Art der Beziehung für ihn nicht mehr möglich war. Ich versuchte ihm zu zeigen, daß dieser Vater, mit dem er lange Phantasiereisen gemacht hatte, mit dem er debattiert hatte, doch ein Persönlichkeitszug von ihm selber sei. Neun Monate nach diesem Traum begann er, dies zu realisieren, und wurde dadurch auch ruhiger. So richtig »glauben« konnte er das erst, als ein Freund seiner Eltern ihm sagte, er gleiche immer mehr seinem Vater. Er begann nun sehr intensiv, sich in seinen Ähnlichkeiten zum Vater zu sehen, aber auch in seinen Besonderheiten, die ihn vom Vater trennten und unterschieden. Dabei fanden immer wieder starke Identifikationsphänomene mit seinem Vater statt. Er wußte, daß sich sein Vater das erste Mal mit fünfunddreißig Jahren verheiratet hatte. Philipp war nun überzeugt, daß auch er mit fünfunddreißig Jahren das erste Mal heiraten werde. Er nahm für sich auch fraglos an, daß auch er zweimal heiraten werde wie sein Vater. Sehen wir schon hier die Schwierigkeiten in der Fähigkeit, sich vom toten Vater zu trennen, was ja auch einschlösse, dessen Leben nicht einfach als Lebensplan für sich selbst zu übernehmen, dann wurde das erst recht ungeheuer schwierig, als wir – in ganz ähnlicher Weise – begannen, uns mit der verstorbenen Mutter auseinanderzusetzen. Die Mutter hatte er ja regelrecht aus seinem Leben gestrichen; »das ist jetzt vorbei« – damit hatte er ihren Verlust abgetan. Es war ihm in der Zwischenzeit längst klar geworden, daß seine Reise nach Neuseeland mit dem Tod der Mutter zu tun gehabt hatte und daß sein psychi122
scher Zusammenbruch auch die Folge davon war, daß er die Trauer vermieden hatte. Zunächst machte Philipp große »Fortschritte« in den Erinnerungen an die Mutter. Immer mehr fiel ihm zu seiner Mutter ein. Er begann zu sehen, wie sie ihn herumkommandiert hatte, sehr viel subtiler als die Schwestern -und vor allem natürlich mit sehr viel mehr Liebe und mit sehr viel mehr Ansprüchen auf Liebe. Er machte ausgedehnte Imaginationen mit seiner Mutter, machte ihr Vorwürfe, beteuerte aber auch, daß er sie nie verlassen werde, daß er nur eine Frau heiraten werde, die ihr gleich sei. Philipp suchte die Photos aus der Jungmädchenzeit seiner Mutter hervor und begann, sich nach Mädchen umzuschauen, die seiner Mutter glichen. Diese jungen Frauen wollten aber nichts von ihm wissen. Ich sagte ihm, das bedeute wohl, daß er nicht mit dieser Voraussetzung und Bedingung an die Mädchen herankommen könne, daß er sich doch lieber spontan fragen solle, ob ihm eine Frau gefalle oder nicht. Als sich Beziehungen ergaben, stellte Philipp immer nach etwa vier Wochen fest: Sie ist wieder nicht so, wie es meine Mutter gern hätte. Und: Wenn ich in meiner Imagination einen Abend mit meiner Mutter verbracht habe, dann fühle ich mich besser, als wenn ich einen Abend mit einem Mädchen verbracht habe, Sexualität hin oder her. Mir war klar, daß Philipp mit seiner Mutter weiterleben wollte, daß er mit ihr weiterhin eine Einheit sein wollte und daß sein Versuch, ein Mädchen zu finden, das seiner Mutter ähnlich sein sollte, niemals zu einer Beziehung führen konnte. Durch das Scheitern der Beziehungen konnte er immer noch mit der Mutter symbiotisch bleiben. 123
Ich erzählte ihm ein Märchen, von dem ich meinte, daß es aufzeigt, wie das Verharren bei jemandem, der schon gestorben ist, einen vom Leben wegziehen kann. Die Ehegatten 50a Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die lebten in Frieden und Eintracht miteinander und hatten sich so gern, wie es besser nicht möglich war. Als sie so lebten, redeten sie einmal miteinander, und der Mann sagte zu der Frau: »Wenn ich sterbe, wirst du dir einen anderen Mann nehmen.« Und die Frau sagte darauf: »Und du nimmst dir sicher eine andere Frau, du bleibst nicht ledig.« Aber einer glaubte dem anderen nicht. Dann machten sie miteinander aus, daß weder er noch sie wieder heiraten wollten. Da starb die Frau. Erst lebte der Mann eine Weile ohne Frau, weil er überhaupt nicht wieder heiraten wollte. Als aber eine Zeit vergangen war, dachte er: »Was soll ich um sie trauern? Ich heirate wieder.« Und er nahm sich eine Frau. Schon wollte er sie zur Trauung führen, da fiel ihm ein: »Ach, ich will doch zu meiner Frau gehen und ihr Lebewohl sagen, die Tote um Verzeihung bitten.« Er ging hin und verbeugte sich am Grabe: »Verzeih mir! Ich gehe zur Trauung, ich heirate wieder.« Da öffnete sich das Grab – die Braut war bei der Kirche stehengeblieben, während der Mann seine verstorbene Frau besuchte –, und sie rief ihn zu sich: »Komm, komm, fürchte dich nicht, komm hierher!« Sie rief ihn ins Grab und sagte zu ihm: »Weißt du nicht, daß wir uns versprochen hatten, daß der nicht wieder heiraten sollte, der übrigbliebe?« Und sie forderte ihn auf, auf dem Sarg zu sitzen. »Trinkst du 124
Wein?« sagte die Frau im Grabe zu ihm. Und sie gab ihm einen Becher, und der Mann trank. Dann wollte er fortgehen. Aber sie bat: »Bleib noch hier und laß uns vertraulich plaudern!« Sie goß ihm einen zweiten Becher ein, und der Mann trank wieder. Dann stand er wieder auf und wollte gehen, aber wieder sagte sie: »Laß uns noch plaudern!« Und der Mann blieb und plauderte. – Zu Hause hielten sie eine Andacht, weil sie glaubten, der Mann sei gestorben. Die Braut wartete und wartete und ging schließlich zu ihren Eltern zurück. – Und sie gab ihm den dritten Becher, und immer noch bat sie ihn zu bleiben. Endlich ließ sie ihn fort: »Geh nun hin!« sagte sie. Da ging der Mann fort. Er kam zur Kirche, aber da war kein Pfarrer mehr, nichts mehr – und er selbst war grau wie ein alter Wiedehopf, weil er dreißig Jahre im Grabe gewesen war. Philipp war sehr nachdenklich, nachdem ich ihm dieses Märchen erzählt hatte. »Sie meinen wohl, ich hätte auch schon graue Haare ?« fragte er mich traurig. Dann fiel ihm plötzlich ein, daß er sich überhaupt nicht an die Begräbnisfeierlichkeiten erinnern könne, es sei also absurd, zu meinen, er sitze im Grab seiner Mutter. Er sei überhaupt noch nie an ihrem Grab gewesen, er wisse überhaupt nicht, ob seine Schwestern die Mutter nicht einfach verborgen hätten. Er nahm mir übel, daß ich ihm dieses Märchen erzählt hatte, und begann sich intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was denn überhaupt beim Begräbnis geschehen sei. Mit einer seiner Schwestern besuchte er auch einmal das Grab der Mutter; er fand aber, da sei überhaupt nichts, da sei die Mutter bestimmt nicht. 125
Es folgten die Ferien. Ich hatte Philipp schon Wochen vorher darauf vorbereitet, daß ich in die Ferien gehen würde. Angesichts seiner Trennungsprobleme erwartete ich, daß ihm die Unterbrechung der Therapie sehr unangenehm sein würde. Philipp reagierte zunächst sehr verständig; wir besprachen, wie er mich allenfalls erreichen könne, er betonte, daß er das natürlich nur im äußersten Notfall tun würde. In der letzten Woche vor den Ferien aber kam er in die Sitzung, war sehr mürrisch und weinerlich und sagte dann plötzlich: »Ich verbiete Ihnen, in die Ferien zu gehen! Wenn Sie trotzdem gehen wollen, müssen Sie mir eine Therapeutin beschaffen, die genau so ist wie Sie.« Mir fiel sofort ein, daß er eine Frau haben wollte, die genau so sein sollte, wie seine Mutter war, daß er nun die Mutter offenbar auf mich übertragen hatte; jetzt wollte er mit mir symbiotisch bleiben, ich durfte ihn nicht verlassen, diese Trennung durfte nicht stattfinden, es sei denn, ich hätte ihm die Möglichkeit für eine »gleichwertige« Symbiose geboten. Mir wurde nun auch klar, daß er seiner Mutter eigentlich übelgenommen hatte, daß sie ihm eben keinen »gleichwertigen« Ersatz gestellt hatte, daß sie gestorben war, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, eine symbiotische Beziehung mit einer Frau einzugehen, die für ihn gleichwertig gewesen wäre. Er hatte von seiner Mutter etwas erwartet, und er erwartete jetzt noch von der toten Mutter, daß sie seinen Wunsch erfüllen könnte. Anderseits erwartete er aber bereits von mir als Therapeutin, daß ich mich so verhalte, wie seine Mutter sich hätte verhalten sollen. Ich durfte nicht weggehen, und 126
vermutlich wollte er letzt bereits von mir, daß ich ihm eine Frau beschaffte. Wir diskutierten das Verbot, in die Ferien zu gehen, das ihm einerseits auch absurd erschien. Philipp kam selber darauf, daß er sich eben von mir nicht trennen wolle, er habe sich in seinem Leben nämlich schon viel zu oft von jemandem getrennt. Er fügte dann auch gleich hinzu, falls er je eine Frau finden werde, dann dürften sie keine Sekunde voneinander getrennt sein. Ich versuchte, ihm diese Trennungsangst als die Angst zu erklären, ich könnte auch einfach weggehen, sterben, er wäre dann wieder allein. Für diesen Fall müßte ich Vorsorgen und ihm einen gleichwertigen Ersatz verschaffen. Ich versuchte, ihm zu erklären, daß sich seine symbiotischen Wünsche von der Mutter wegverlagert und auf mich übertragen hätten. Da sagte er sarkastisch: »Dann sitzen wir wenigstens nicht mehr miteinander im Grab, sondern in Ihrer Praxis, das ist doch immerhin ein Fortschritt.« Ich entgegnete ihm, da ich aber nicht die Frau im Grabe sei, ginge ich trotzdem in die Ferien. Er atmete auf und sagte, er hätte auch große Schuldgefühle bekommen, wenn ich seinetwegen hier geblieben wäre. Das zeigte mir, daß seine symbiotischen Bedürfnisse mit großen Schuldgefühlen verknüpft waren. Er schien selber zu spüren, daß er durch diese Bedürfnisse dem Leben im Weg stand. Nach den Ferien sagte er mir, er hätte nun festgestellt, daß er von mir sehr gut getrennt sein könne; die Situation, wie sie im Märchen dargestellt sei, sei nun aufgehoben, und er gedenke die Therapie abzuschließen. Ich fragte ihn, 127
ob er einen Zusammenhang sehen könne zwischen seiner Abreise nach dem Tod der Mutter nach Neuseeland und seinem Wunsch, die Therapie an dieser Stelle abzubrechen. Er sagte mir darauf, er sähe die Parallele zwar schon, aber sie sei nicht ganz stimmig, er hätte sonst gleich nach meiner Abreise in die Ferien wieder nach Neuseeland verreisen oder eben die Therapie abbrechen müssen. Das hätte er aber nicht getan, sondern vielmehr noch lange über das Märchen nachgedacht, und er sei auch die ganze Zeit sehr böse gewesen, weil nun in Sachen »Frau« wieder nichts gelaufen wäre. Er würde sich also nicht mehr ganz gleich verhalten wie zuvor, sondern schon ein wenig besser. Das gab ich ihm gerne zu und erwähnte, daß Aggressionen mir gegenüber ja auch etwas Neues seien, seiner Mutter gegenüber habe er sich ja kaum Aggressionen erlaubt. Sein Wunsch nach Abbruch der Therapie sei auch eine Aggression, allerdings müsse er sich fragen, ob diesmal wirklich »Neuseeland« erreichbar sei, das in unserer Arbeit als Symbol für den Neuanfang galt, für ein Land, das dem Unbewußten abgerungen ist, neuer Boden, den man betreten und nutzbar machen kann. Ich selber spürte einen großen Widerstand, hier die Therapie abzubrechen, zumal es mir klar schien, daß sein Impuls, die Therapie abzubrechen, eine Reaktion war im Sinne: »Bevor du mich wieder verläßt, verlasse ich dich.« Ich sagte ihm das und ließ ihn auch wissen, daß es mir sehr weh tun würde, wenn er jetzt die Therapie abbräche, da ich das Problem der Symbiose unbedingt mit ihm lösen wolle, daß ich ihn aber nicht dazu zwingen könne. Diese meine Mitteilung befriedigte ihn sichtlich. Er setzte 128
sich sehr entspannt in seinem Stuhl zurück und sagte dann, er werde es sich alles nochmals überlegen. Hätte ich ihm vorgeschlagen, das Problem seiner fehlenden Beziehung zu einer Frau zu lösen, dann hätte er vermutlich keine Bedenkfrist gebraucht. Nun brachte ich auch ins Gespräch, daß er vermutlich seiner Mutter den Vorwurf mache, ihm keine Frau gesucht zu haben, und daß er stellvertretend jetzt auch mir böse sei, weil ich ihm keine Frau beschaffe. Diese Bemerkung machte ihn sehr nachdenklich. Er gab zu, im Flugzeug einen eigentümlichen Satz immer wiederholt zu haben: »Wenn du mir eine Frau gesucht hast, dann fahre ich zurück.« Ob das wohl mit dieser unbewußten Erwartung, seine Mutter müsse ihm eine Frau verschaffen, zu tun habe. Er denke übrigens immer noch, daß sie ihm ja auch aus dem Jenseits einen Wink geben könne. Von mir erhoffe er sich in dieser Angelegenheit wenig, ich würde ja immer wieder betonen, wie wesentlich es sei, seine Entscheidungen selber zu treffen. In den nächsten Stunden sprach er nicht mehr davon, die Therapie abbrechen zu wollen, sondern machte mir einerseits Vorwürfe, daß ich ihn verlassen hätte, anderseits zeigte er auf einmal Interesse für das Märchen der »Ehegatten«. Auf ihn wirkte sehr quälend, daß im Märchen überhaupt keine Rettungsmöglichkeit angedeutet war. Ich versuchte ihn darauf hinzuweisen, daß diese Symbiose dadurch zustande gekommen war, daß die beiden Ehegatten im vorhinein jede Veränderung hatten vermeiden wollen und nicht einmal bereit gewesen waren, den Tod als die 129
Veränderung des Lebens überhaupt zu akzeptieren. Trocken entgegnete er: »Das war bei mir auch einmal so.« Wir sprachen nun darüber, daß die Aggression in dieser Beziehung, die das Märchen schildert, überhaupt ausgeblendet war – sich dann allerdings in Todesphantasien äußerte –, und betonten die Wichtigkeit der Aggression als Möglichkeit, Distanz zu schaffen, sich abzugrenzen und seine eigenen Bedürfnisse anzumelden. Philipp atmete auf. Aggressionen hatte er unterdessen bereits entwickelt. Das Märchen schildert einen beginnenden Trauerprozeß: Der Zurückgebliebene trauert und wendet sein Interesse schließlich einer neuen Frau zu. Dann aber wird der Mann von seinen Erinnerungen gepackt, er bekommt Schuldgefühle, weil er sich verändert, weil er das Versprechen, das er einmal gegeben hat, nicht halten kann. Und so erfolgt ein Rückfall, eine Regression bis ins Grab. Die Tote kann nicht tot sein, der Lebendige kann nicht leben, es kann nicht vorbei sein, was vorbei ist; die Aggression im Sinne des entschiedenen Handelns fehlt auch hier. Und so versitzt der »treue« Mann seine Jahre im Grab. Statt Abschied zu nehmen, wirklich Abschied zu nehmen, auch die Schuld auf sich zu nehmen, daß er ein anderer geworden ist und nun anders denkt als zuvor, zerstört er sein eigenes Leben. Philipp sprach davon, daß er eigentlich mit seiner Reise nach Neuseeland diesen Abschied hätte vollziehen wollen, daß er es aber falsch angepackt und nur äußerlich vollzogen habe, was er auch innerlich hätte vollziehen müssen und wozu er natürlich damals niemals imstande gewesen wäre, da diese intensive Mutterbindung bestand. Aufgrund des 130
frühen Todes seines Vaters und der unbewältigten Trauer um ihn war weder Identifikation mit dem Vater noch Ablösung von ihm möglich, was bewirkte, daß er unselbständig in der »Obhut der Mutter« verblieb. Es folgte eine Phase, in der Philipp sehr traurig war. Er war sich sehr bewußt geworden, daß seine Mutter wirklich gestorben war, daß sie nicht mehr da war und ihm so auch nicht helfen konnte, eine Frau zu finden. Auch war ihm klar, daß eine Frau, wie seine Mutter es war, sich nicht finden ließe. An Trennungserlebnissen mit mir lernte er, daß Abschied nehmen nicht heißt, daß der andere Mensch stirbt. Langsam bekam er Vertrauen in eine gewisse Kontinuität des Lebens und der Beziehungen. Er träumte oft von einer mütterlichen Frau, die er aber ausdrücklich nicht mit seiner Mutter identifizierte. Einer dieser Träume mag stellvertretend für weitere stehen, die in diese Richtung weisen: »Ich sitze auf einem Stein und denke angestrengt über etwas nach. Immer, wenn ich meine, ich hätte das Resultat, vergesse ich wieder, worum es gegangen ist. Da kommt eine alte Frau, älter als meine Mutter und mit einer altmodischen Frisur. Sie gibt mir Brot zu essen, und ich verstehe gar nicht, weshalb ich überhaupt so angestrengt nachdenken mußte.« Angestrengt nachdenken muß er, weil er unterdessen ein Mädchen gefunden und mit ihm eine lose Beziehung angeknüpft hat. Diese Beziehung aktiviert die ganze Symbioseproblematik mit seiner Mutter wieder. Nachdem er zunächst Schuldgefühle gehabt hatte, weil er durch diese 131
Beziehung der Mutter und mir »untreu« geworden war, diese Schuldgefühle aber durch einen weiteren Traum aufgelöst worden waren, in dem Vater und Mutter ihm zu seiner Wahl des Mädchens gratulierten, geriet er nun in eine sehr symbiotische Beziehung zu diesem Mädchen selbst. Das zeigte sich vor allem darin, daß er seiner Freundin verbot, auch nur für ein paar Tage allein wegzugehen, daß er außerordentlich eifersüchtig war und, wenn sie je Meinungsverschiedenheiten hatten, tagelang verunsichert war und grübelte, ob das nun die richtige Frau für ihn wäre oder nicht. Der Traum scheint mir insofern eine Antwort auf diese Frage zu geben, als er ausdrückt, daß er weniger nachdenken als vielmehr Brot essen, handfeste Nahrung annehmen und einnehmen soll. Ich sehe in dem alten Mütterchen die Möglichkeit, sich selber gegenüber mütterlich ernährend sein zu können, im Gegensatz zum selbstquälerischen Nachdenken. Zu »Brot essen« kam dem Träumer in den Sinn, daß seine Mutter von gewissen Dingen jeweils gesagt habe, es sei so einfach zu handhaben wie »Brot essen«. Diese Aussage und der emotionale Gehalt des Traums gaben Philipp die Gewißheit, daß er sich zu viel Sorgen mache, daß er ruhig etwas mehr vertrauen dürfe. Ich versuchte ihm klarzumachen, daß er, bedingt durch seine Lebensgeschichte, immer die Tendenz haben werde, sich symbiotisch an seinen Partner zu klammern, von ihm alles zu erwarten, und daß er sich deshalb immer wieder dafür bereit halten müsse, sich auch wieder vom Partner trennen zu können, wenn die Zeit für eine Trennung gekommen sei. 132
Nachdem sich Philipp verheiratet und in einer andern Stadt eine Stelle angeboten bekommen hatte, entschlossen wir uns, die Therapie abzuschließen. Wir gaben uns für die Beendigungsphase der Therapie drei Monate Zeit, weil es sich voraussehen ließ, daß sich bei einem Menschen mit einem derartigen »Abschiedskomplex« eine Trennung nicht sehr leicht vollziehen würde. Das hatte sich schon angekündigt in den jeweiligen Trennungsnöten vor den Ferien und in geringerem Ausmaß auch in den Trennungsschwierigkeiten am Ende einer Stunde, die sich darin zeigten, daß Philipp versuchte, durch Aufbringen irgendeines sehr wichtigen Problems das Ende der Sitzung hinauszuzögern. Philipp war zunächst sehr traurig und jammerte, es wäre doch immer dasselbe im Leben: Da ginge man Bindungen ein, nur um dann doch wieder getrennt zu werden; eigentlich hätte er sich besser in Neuseeland umbringen sollen. Doch dann lachte er und meinte, es wäre doch zu sonderbar, er hätte doch jetzt viel mehr Freude am Leben und sogar eine Frau. Im nächsten Satz beschwerte er sich darüber, daß ich ihm damals überhaupt nicht geholfen hätte, eine Frau zu finden, wie er es sich eigentlich vorgestellt hatte. Er hätte übrigens auch sehr darunter gelitten, daß er nicht einfach bei mir habe wohnen können während der Therapie. Das wäre sein Wunsch gewesen: bei mir zu wohnen, mit mir in die Ferien zu gehen. Wir sprachen in diesem Zusammenhang nochmals über die Zeit, in der er die Beziehung zur toten Mutter auf mich übertragen hatte, und wie schwierig das für ihn gewesen war, aber auch wie wichtig. Er formulierte seine 133
Enttäuschungen darüber, daß ich nie dazu bereit gewesen wäre, ihn einfach als Sohn in jeder Situation zu »retten«, wie er sich ausdrückte. Er sprach über Situationen, in denen ich ihn geärgert hatte, weil ich ihn als Kind behandelt hätte; anderseits beklagte er sich darüber, daß ich ihn manchmal überfordert hätte. Doch überlegte er jeweils, ob er die Mutter auf mich projiziert oder ob ich ihn wirklich enttäuscht hatte. Ich klammerte auch nicht aus, wie ich selbst diese Situationen jeweils erlebt hatte, und sagte ihm auch, wo ich meinte, wirklich Fehler gemacht zu haben. Er konnte jetzt gut ertragen, daß ich auch Fehler gemacht hatte, ja er schien sich sogar darüber zu freuen. Er lernte mich als realen Menschen zu sehen mit meinen Möglichkeiten und mit meinen Grenzen. Beiläufig erwähnte er, er könne jetzt auch an seiner Frau die Schwächen besser ertragen. Wir durchlebten nochmals miteinander die Phasen der Therapie, wobei die Phase des Nachtrauerns um seinen Vater nur am Rande erwähnt wurde. Wir sprachen darüber, was die Therapie nun gebracht und was sie nicht gebracht hatte: Philipp neigte immer noch dazu, Beziehungen, auch die zu seinen Vorgesetzten, symbiotisch zu gestalten und von diesen Vorgesetzten dann auch zu viel zu verlangen. Philipp hatte von sich erwartet, am Schluß der Therapie ein Mann zu sein, »den nichts mehr umwirft«. Er konnte am Ende der Therapie mit seinen symbiotischen Bedürfnissen, mit seinen Trennungsängsten und Trennungsproblemen gut umgehen, aber natürlich blieb er sehr sensibel in dieser Beziehung, reagierte schon auf Trennung, wenn kaum jemand sonst überhaupt daran dachte, daß da Tren134
nung gesehen werden könnte. So war zum Beispiel für ihn der Geburtstag ein sehr schwieriger Tag, weil er sich von seinem »alten« Lebensjahr trennen mußte. Bemerkte er seine schleichende Traurigkeit, dann fiel ihm ein, daß eine Trennungssituation vorlag; er trauerte bewußt, war wütend über die Vergänglichkeit und war danach wieder in besserer Stimmung. Ein wesentliches Ergebnis der Therapie war für Philipp, daß er das Gefühl bekommen hatte, sich von mir trennen zu können, und eigentlich die Gewißheit, daß er mich nicht wirklich verlieren würde; denn er fühlte, daß die Therapie ein Teil seines Lebens geworden war, daß er sich unsere Art, während der Therapie seine Probleme anzugehen, sie zu befragen, zu eigen gemacht hatte. Noch wichtiger aber war ihm, daß ihm durch seine Träume, und zwar durch sehr eindrückliche Träume, in schwierigen Situationen klar geworden war, daß er nicht immer alles allein entscheiden mußte, und daß er deshalb nicht mehr vor zuviel Verantwortung und Überforderung in irgendeine symbiotische Beziehung zurückflüchten mußte. In seinen Träumen erlebte er neue Seiten von sich, die ihm sehr wichtig wurden und die für ihn eine ungeheure Öffnung bedeuteten und bewirkten und ihm das Gefühl gaben, viel mehr von seiner eigenen Tiefe getragen zu sein, als ihn seine Mutter zu tragen vermochte und auch ich als Therapeutin es vermocht hätte. Diese Phase des Bedenkens der Therapie und des Abschiednehmens war immer auch durchsetzt von Trauergefühlen, und zwar von beiden Seiten, von Philipp und auch von mir her. Ich hatte das Gefühl, mit Philipp einen langen 135
Weg zurückgelegt zu haben. Ich hatte viel von ihm über Trauer gelernt, über das lähmende Gefühl, das sich über einen Menschen legt, der nicht trauern kann. Durch ihn bin ich immer wieder gezwungen worden, mich mit Symbiose zu beschäftigen, mit Wegen, die aus der Symbiose herausführen. Die Therapie zu beenden war für mich auch ein Opfer, das aber gebracht werden mußte, weil der Prozeß abgeschlossen war. Das Beenden der Therapie war bei Philipp – stärker als ich es bei andern Analysanden erlebt habe – mit dem Erleben von Sterben verbunden. Es war geradezu ein Prüfstein, ob er es nun ertragen konnte, einen Menschen loszulassen, der ihm etwas bedeutet hatte, und sich selber darüber nicht zu verlieren, sondern sich dabei bewußter zu erleben als einer, der trotz der immer wieder nötig werdenden Abschiede sich binden will, mit anderen Menschen verbunden weiterleben will, also letztlich leben will, auch wenn der Tod schon immer eine wichtige Rolle dabei spielt. Erst das Wagnis, eine neue Beziehung einzugehen, ist die Probe darauf, ob der Trauerprozeß bestanden ist. Ich habe diese Abschlußsphase der Therapie eingehender geschildert, weil mir scheint, daß das Beenden einer Therapie in weiterem Zusammenhang auch mit Abschiednehmen, mit Sterben im weitesten Sinn, zu tun hat und daß diese Phase gerade bei Menschen, die Probleme mit dem Trauern und mit dem Abschiednehmen haben, besonders beachtet werden muß, damit der Abschluß der Therapie nicht wieder zu einem neuen Erlebnis dessen wird, daß man Menschen einfach verliert und sich selbst mit. 136
Symbiose und Individuation Es gehört zu jedem Trauerprozeß, daß der Trauernde entweder den Verstorbenen zu finden hofft oder in irgendeiner Weise versucht, mit ihm zu verschmelzen, um so das zunächst durch den Verlust unerträglich gewordene Leben weiterzuführen oder aber durch selbstgewählten Tod oder Phantasien darüber die Vereinigung mit dem Menschen, der einen verlassen hat, herbeizuführen. In jedem Fall geht es hier um Verschmelzung mit dem verlorenen Menschen, um den Versuch, den Verlust ungeschehen zu machen und so weiterzuleben, als wäre nichts geschehen. Bei Philipp wurde diese symbiotische Tendenz mit seiner Mutter besonders sichtbar, dann auch in der Übertragung auf mich. Volkan 56 legt bei der Beschreibung seiner Methode der Kurztherapie bei Menschen, die nicht gedauert haben und die aus diesem Grunde Depressionen, psychosomatische und auch psychotische Reaktionen zeigen, besonderes Gewicht darauf, daß man in einer ersten Phase der Therapie klar zu unterscheiden versucht zwischen dem, was zum Verstorbenen gehört, und dem, was zum Trauernden gehört. Es ist der Versuch, die symbiotische Verschmelzung aufzuheben und sich vom Verstorbenen abzugrenzen. Unter Symbiose verstehe ich das Verschmelzen eines Menschen mit einem andern Menschen, einer Gruppe mit bestimmten Ideen, einem Land, einem Toten usw. Dieses Verschmelzen kann so weit gehen, daß alles Trennende aufgehoben zu sein scheint; im Gemeinsamen schwelgt 137
man miteinander und läßt nichts aufkommen, was diese Gemeinsamkeit trüben könnte. Dieses Eins-Sein mit dem andern, diese vermeintliche Ur-Geborgenheit, ist eine Schein-Geborgenheit, die immer wieder aufrechterhalten werden muß, meistens um den Preis der totalen Anpassung. Im speziellen Fall der Symbiose eines Trauernden mit seinem verstorbenen Partner heißt das, daß sich nichts ändern darf mit dem Tod des Partners, daß der Trauernde vielleicht sogar eine Beziehung, die nicht ganz symbiotisch werden konnte, solange der Partner lebt, nun endlich in eine Vollsymbiose auswachsen lassen kann, weil der Partner nicht mehr seine eigenen Ansprüche stellt. Nach meiner Beobachtung sind es aber nicht nur Trauernde, die zu Lebzeiten schon dazu tendierten, eine symbiotische Beziehung zu ihrem Partner zu haben, die nun zu dieser Verschmelzung mit dem Verstorbenen tendieren, sondern für fast jeden Trauernden scheint es zunächst ein Stadium symbiotischer Verschmelzungssehnsucht zu geben, das er durchlaufen muß. Es stellt sich in diesem Zusammenhang natürlich die Frage, wie sehr ein Trauernder dadurch, daß er in seinem Selbst- und Welterleben erschüttert ist, das Bedürfnis hat, sich als »ganz« zu erleben. Die Sehnsucht des Menschen nach »Eins-Sein«, sei dies nun mit sich, mit etwas Göttlichem, mit dem Kosmos, diese Sehnsucht, die wir ja ohnehin gerne auf den Partner projizieren, wird in dieser Situation der Zerrissenheit erst recht auf den toten Partner gerichtet. Damit ist viel erreicht – vermeintlich: Der Verstorbene kann mitleben, das Erleben des »Eins-Seins« mit sich und dem 138
Partner ist vorübergehend erhalten, das Leben muß nicht verändert werden. Aber gerade dadurch kommt der Trauerprozeß zum Stillstand und führt zu verschiedenen psychischen Porblemen, insbesondere aber zu Depressionen 57. Durch den Vergleich mit der Phase der »normalen Symbiose« im Leben eines Menschen müßte es möglich sein, Hinweise zu bekommen, wie die zu lang anhaltende symbiotische Verflechtung mit dem Verstorbenen gelöst werden könnte. Mahler 58 beschreibt immer wieder die Phase der »normalen« Symbiose des Säuglings, etwa vom zweiten Lebensmonat an, in der der Säugling sich so verhält, als ob er und die Mutter »ein allmächtiges System darstellten – eine Zweiheit innerhalb einer gemeinsamen Grenze«. Dieser Symbiosephase des Säuglings folgt die Loslösephase, innerhalb derer wieder eine Annäherung erfolgt. Was Mahler für den Säugling beschreibt, scheint mir ein allgemein gültiger Lebensrhythmus zu sein: Den Phasen von vermehrtem Symbiosestreben folgen immer wieder Phasen der Loslösung und der Individuation, wobei Loslösung nach Mahler, Pine und Bergman59 das Auftauchen aus der Verschmelzung meint und Individuation das Erringen von individuellen Merkmalen. Innerhalb der Loslösephase findet oft auch eine Phase der Wiederannäherung statt, als müßte man sich versichern, daß es immer noch einen Weg zurück gibt. Auf einer neuen Entwicklungsebene, auf die man durch das Erringen der individuellen Eigenschaften gekommen ist, besteht das Bedürfnis nach Symbiose wieder, und sie sollte gelebt werden dürfen als optimale Symbiose, als Voraussetzung für erneute Loslösung und Individuation 139
– und dies nicht nur im Säuglingsalter. Symbiotische Tendenzen sind in unserem alltäglichen Leben so vielfältig und so häufig zu sehen, daß wir Symbiose nicht einfach nur unter dem Aspekt der Pathologie betrachten, sondern annehmen dürfen, daß einerseits Symbiotisch-Sein und anderseits Entwicklung aus der Symbiose in Richtung Individuation wirklich einem Lebensrhythmus entspricht. Deshalb scheint es mir wichtig, die Symbiose nicht einfach zu vermeiden, sondern zu versuchen, sie optimal zu leben. Schon beim Kleinkind gilt ja, daß eine optimale Symbiose die Voraussetzung für eine optimale Ablösung und Individuation ist. In unserem Zusammenhang stellt sich nun die Frage, ob denn der Trauernde, der mit dem Weggegangenen symbiotisch sein will, ein solcher Mensch ist, dem es in seinem Leben nicht gelungen ist, eine Form der optimalen Symbiose zu leben, oder ob er einfach aus seiner großen Erschütterung heraus das Bedürfnis nach einer Symbiose hat. Es scheint so zu sein, daß gerade das Erwerben immer neuer individueller Eigenschaften den Menschen einsam und selbständig machen kann und daß gerade diese Individuation in ihm Symbiosesehnsüchte weckt. Von diesem Gedanken her ist verständlich, daß das Erleben des Ver-lusts einer geliebten Person einen Schritt in Richtung Individuation erzwingt und dadurch die Sehnsucht nach Symbiose weckt. Da es kein freudig gewählter und aus eigenem Impuls erreichter Schritt der Loslösung ist, muß damit gerechnet werden, daß zunächst ein Schritt zurück getan wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß unsere 140
kollektiven Jenseitsvorstellungen sehr nahe bei unseren Symbiosevorstellungen liegen. Das Paradies etwa, in dem alle miteinander in Frieden leben, ist wohl ein Bild, das auch hinter unseren Symbiosesehnsüchten liegt, oder denken wir etwa an Ausdrücke wie: »In die ewige Herrlichkeit eingehen«, »von einem größeren Ganzen aufgenommen werden«, um dann »aufgehoben« zu sein. Hinter den kollektiven Jenseitsvorstellungen und hinter dem Streben nach Symbiose steht die Sehnsucht nach Aufgehobensein, nach Geschütztsein, nach Ruhe, nach Verschmelzung mit etwas Größerem, das uns aufnimmt. Sogar in der existentialistischen Anschauung, nach der der Mensch mit seinem Tod zu einem »Ding unter Dingen« wird, scheint mir dieses Moment noch vorhanden zu sein 60. Wir können also den Gedanken an den Tod offenbar nur ertragen, wenn wir uns gleichzeitig vorstellen, daß der Tod uns mit etwas verschmelzen läßt, das uns übersteigt. So ist es nicht verwunderlich, daß wir auch beim Erleben von Tod als Trauernde uns nach Symbiose sehnen. Immerhin wäre dann doch ein Unterschied zwischen den verschiedenen Trauernden zu sehen. Bedenken wir doch, daß sich der, der Trauern als einen Prozeß versteht, aus dieser Phase der Symbiose in Richtung auf neue Individuation hin bewegen kann, daß er dadurch aber auch wieder beziehungsfähig wird; ein anderer aber verharrt im Zustand der Symbiose und kommt sich dabei immer trauriger und sinnentleerter vor, da eine symbiotische Verbindung eben nur zur richtigen Zeit und für die Dauer einer Phase Kraft und Schutz bieten kann. 141
Um diese Fragen näher zu bedenken, scheint es mir notwendig, den Begriff der »optimalen Symbiose« etwas zu erläutern. »Optimal« ist eine Symbiose dann, wenn ein Mensch Verschmelzungserlebnisse haben kann, aus denen er gestärkt hervorgeht, so daß er mit neuen Verhaltensmöglichkeiten und einem neuen Selbsterleben sich den wechselnden Anforderungen des Lebens wieder stellen kann. Eine optimale Form von Symbiose finden wir zum Beispiel bei den Mystikern. Das mystische Erlebnis ist ein Verschmelzen des Mystikers mit dem Göttlichen, das Aufgehen in einem größeren Ganzen. Diese Sehnsucht des Mystikers wird übrigens oft auch als Todessehnsucht beschrieben. Der Mystiker sehnt den Tod herbei, um bei seinem Gott sein zu können. Das hinderte aber viele Mystiker nicht daran, trotz oder gerade wegen ihres Gottesbezuges autonome Persönlichkeiten im psychologischen Sinne zu sein, die unerschrocken unter den Menschen wirkten, unerschrokken wohl eben gerade deshalb, weil sie diese Verschmelzungserlebnisse hatten, die das Gefühl von Geborgenheit, Bedeutsamkeit, Klarheit vermitteln. So sagt Paulus im Brief an die Philipper 6: »Es zieht mich nach beiden Seiten hin. Ich habe das Verlangen, aufzubrechen und mit Christus zu sein; denn das wäre weitaus das Bessere; das Verweilen im Fleisch aber ist notwendiger um euretwillen.« Beispielhaft in diesem Zusammenhang scheint mir auch Teresa von Avila zu sein: sie beschreibt ein mystisches Erlebnis 62: »Als ich einmal gerade dabei war, den Hymnus ›Veni Crea142
tor Spiritus‹ zu beten, überkam mich eine so ungestüme Verzückung, daß sie mich fast meiner Sinne beraubt hätte, ein Erlebnis, an dem ich ganz und gar nicht zweifeln kann, da es zu öffentlich war. Dabei vernahm ich die Worte: ›Ich will nicht, daß du noch mit Menschen Umgang pflegst, sondern nur noch mit Engeln.‹ Mich versetzte das in großen Schrecken.« Dieses mystische Erlebnis erscheint mir als ein Verschmelzungserlebnis samt der Versuchung, in der Symbiose zu verharren. (»Ich will nicht, daß du noch mit Menschen Umgang pflegst.«) Der Schrecken scheint Teresa wieder in die Welt zurückzuführen und ihr wohl auch den Unterschied aufzuzeigen zwischen ihrer mystischen Verschmelzung und ihren Aufgaben, die sie auf dieser Welt sieht und die sie mit einer ungeheuren Energie und Zielstrebigkeit verfolgt. Wir können Teresa nicht den Vorwurf machen, sie sei nur symbiotisch und nicht individuiert gewesen. Vielleicht haben die Mystiker die Symbiose dort gelebt, wo sie größte Lebensintensität bringt und die Kleinheit und die Gebrechlichkeit des Menschen wirklich aufhebt, wo aber anderseits das zu lange Verweilen in der Symbiose nicht möglich ist, da sich religiöse Erfahrung, Gotteserfahrung wesensgemäß jeder Fixierung entzieht, unverfügbar bleibt, also keine Gefahr für Abgrenzung und Individuation bedeutet. Geht es doch dem Mystiker auch darum, diese Welt gemäß seiner Vision für seinen Gott zu öffnen, transparent zu machen und zu verändern. Optimale Symbiose könnte also dort gelebt werden, wo 143
es einem Menschen gelingt, die kleinkindliche Sehnsucht nach der Mutter in Sehnsucht nach Transzendenz und in die Möglichkeit zu verwandeln, mit diesem Transzendenten zu verschmelzen und, welchen Namen er immer dieser Transzendenz geben mag, daraus Kraft zu beziehen, um sich so autonom wie möglich in seinen alltäglichen Gegebenheiten zu bewegen. Vielleicht könnte man auch das Bedürfnis nach Größenphantasien und nach Grandiosität, das in der Narzißmus-Diskussion 63 so stark betont wird, als Bedürfnis nach symbiotischem Verschmelzen mit Transzendentem verstehen, das dem Menschen eine »natürliche« Größe gäbe, was er angesichts seiner Endlichkeit nötig hat. Bei diesem Verschmelzen mit Transzendenz muß nicht der Mensch seine Grandiosität beweisen und darunter leiden, daß er die Ansprüche nicht erfüllt; er hat teil an Großem, von dem er sich aber unterscheidet. Eine optimale Symbiose kann auch in Erotik und Sexualität erlebt werden. Es geht um ein Verschmelzen mit einem anderen Menschen, um ein Aufheben der Ich-Grenzen, um ein Aufgehen in einem größeren Ganzen. Meyer 64 sieht im mystischen und im erotischen Erleben sowie auch in der Entfremdungserfahrung antizipatorische Phantasien über den Tod. Kriterien dafür sind: Verlust der Ich-Grenzen, Erschütterung der Ich-Identität, Stillstand der Zeit. Diese Erfahrungen werden bald mehr unter Angst, bald mehr unter Faszination als Ausweitung der Persönlichkeit erlebt 65. Meyer schließt sich George Bataille 66 an, wenn er sagt, daß durch die Realitäten des Todes und der Individualität ein diskontinuierliches Moment ins 144
Leben des Menschen kommt, während angesichts der Vergänglichkeit gerade die Sehnsucht nach Kontinuität wächst. Eben diese Kontinuität wird in der Erotik und auch im mystischen Erleben erreicht. Dabei müssen aber Entgrenzung und Begrenzung in einen Rhythmus zueinander kommen, einander ablösen. Dieses Erleben der Kontinuität, des Eins-Seins, das ich eine optimale Symbiose nenne, bringt Meyer in Zusammenhang mit Tod und verweist damit auf das große Thema, das die Weltliteratur durchzieht: Liebe und Tod 67. Im Moment des tiefsten Ganzheitserlebnisses, des größten Gefühls von Lebendigkeit wird auch die Anwesenheit des Todes gespürt, denn es wäre kein Erlebnis der Ganzheit, wenn nicht Leben und Tod miteinander darin erfahrbar wären. Rilke drückt diese Erfahrung in seinem Gedicht »Schlußstück« 68 aus: »Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Mundes. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.« Ähnliche Grenzerfahrungen, die mit erotischen oder mystischen Verschmelzungserlebnissen vergleichbar sind, können nach Meyer auch ganz spontan auftreten, etwa in einem Traum 69. Jung würde in diesem Zusammenhang vom Erlebnis des »Selbst« sprechen70, das »Selbst« verstanden als die Einheit und Ganzheit der Persönlichkeit, die weit über 145
das bewußte Erleben hinausgeht und die in besonderen Momenten, sei es in einem Traum, sei es anhand einer Begebenheit im Alltag, erfahren werden kann als Entgrenzung des Ich, als Gefühl der Ganzheit, auch der Zeitentgrenzung, so daß die ganze Vergangenheit und die ganze Zukunft in diesem Moment, der zeitlos erlebt wird, da ist. Dieses Erlebnis der Ganzheit gibt ein Gefühl des Getragenseins, des Ergriffen-Seins, der Bedeutsamkeit. Das »Erwachen« aus diesem Erlebnis macht das Erlebnis nicht zunichte, aber die Einsamkeit des Ich, das Zurückgeworfensein des Ich auf sich selbst wird nun schmerzlich erfahren; die Trauer um den Zustand der Ganzheit setzt ein, die Sehnsucht nach der entschwundenen Erlebnisfülle, damit verbunden auch die Sehnsucht nach Tod als einer möglichen Wiedergewinnung der verlorenen Ganzheit. Es ist eine Grundeinsicht Jungscher Psychologie, daß eine Spannung besteht zwischen dem Erlebnis des »Selbst«, der Ganzheit, des Verschmolzenseins mit etwas, das mich übersteigt, das Bedeutung gibt, ergreift und ergriffen macht, und dem Erlebnis des Ich, das sterblich ist, wenig Kontinuität hat; das Ich, das mit diesem »Selbst« in Beziehung stehen muß, sich aber von der Faszination des »Selbst« nicht lähmen lassen, nicht etwa einer Todessehnsucht einfach nachgeben darf, sondern sich realisieren muß und kann. Aus diesem Grund, scheint mir, hat Jung auch keinen Todestrieb postuliert wie Freud. Man könnte vielleicht sagen, daß in diesem Konzept des »Selbst« die größtmögliche Libidosteigerung, der größtmögliche Drang zum Leben hin mit der Erfahrung von »Tod« vereinigt ist. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten 146
von Grof und Halifax. Sie arbeiteten therapeutisch mit unheilbaren Krebskranken. Dabei untersuchten sie die Wirkungsweise des LSD bei diesen Patienten. Sie stellten fest, daß sich bei jenen Patienten dramatische Veränderungen der Vorstellung von Tod und der Stellung zum Tod ergaben, die unter der Wirkung der Droge »das Erlebnis vom Ichtod machten, die Erfahrung der Wiedergeburt und der kosmischen Einheit« 7. Der Tod verlor etwas von seinem Schrecken, die Möglichkeit einer Kontinuität über den Tod hinaus war für sie denkbar geworden, sie »entwickelten einen starken Glauben an die letztendliche Einheit der ganzen Schöpfung« 72. Diese »kosmischen Visionen« kann man wohl mit dem Erlebnis des »Selbst«, so wie Jung es immer wieder beschreibt, in Verbindung bringen 73. Symbiose mit dem »Selbst« hätte also einen heilenden und sinngebenden Aspekt. Den Weg aus dieser Symbiose finden wir leicht, wir fallen nämlich unfreiwillig immer wieder aus ihr heraus wie aus dem religiösen Erlebnis. Gerade deshalb kann die Sehnsucht nach dieser Symbiose gefährlich sein. Ich sehe in der Drogensucht eine solche Sehnsucht nach der Symbiose mit dem »Selbst«. Die Symbiose wird aber nicht nur dort gelebt, wo ich sie für optimal halte, weil der Rhythmus von SymbiotischSein, Sich-Loslösen und dann Sich-Weiterentwickeln gewährleistet ist. Wir übertragen vielmehr unsere Sehnsucht nach Symbiose auf alle möglichen Beziehungen. Ich halte sie auch dort nicht für falsch; problematisch wird es erst, wenn die Ablösung nicht erfolgt, meistens aus dem Grun147
de nicht, weil man das Gefühl hat, nicht genug Lebenssteigerung durch diese Symbiose bekommen zu haben, weil vielleicht ein Anspruch an Ganzheit gestellt wird, der in einer Symbiose nicht erfüllt werden kann. Der Weg aus der Symbiose ist auch solchen Menschen schwer gemacht, denen eine Symbiose nie zugestanden wurde. Ein Kind, das nicht mit der Mutter verschmelzen darf, wird Schwierigkeiten mit der Entwicklung der Autonomie haben, ebenso wie ein Kind, dessen Mutter es nicht aus der Symbiose entlassen will 74. Solche Erfahrungen werden einen Einfluß auf die Trennungserlebnisse und auf das Streben nach Autonomie im späteren Leben haben. Da das Streben nach Symbiose einerseits sowie nach Lösung und Individuation anderseits ein immerwährender Rhythmus psychischer Entwicklung im Menschen ist, wären Schritte zur Individuation immer dann gefährdet, wenn eine Symbiose zu wenig zugelassen wird. Das kann auch heißen, daß sie am falschen Ort gesucht wird. Es könnte sein, daß wir unsere symbiotischen Bedürfnisse viel zu ausschließlich von einem Menschen erfüllen lassen wollen und so vielleicht das Bedürfnis der Verschmelzung mit etwas Transzendentem auf den Partner projizieren. Sicher ist es so, daß gerade durch das Erlebnis der Liebe die Verschmelzung mit etwas Transzendentem erfahren werden kann; aber es ist nicht der Partner selbst, der diese Sehnsucht erfüllen muß, es liegt in der Beziehung zum Partner, daß dieses transzendente Erleben aufscheinen kann. Wenn wir aber den Partner als den Menschen sehen, der uns unsere symbiotischen Bedürfnisse erfüllen muß, dann verlangen wir von ihm eine Größe und 148
etwas Absolutes, das ihn überfordert 75. Damit ist aber der Rhythmus von Symbiose, Loslösung und Individuation gestört, denn dann werden Zeiten von Loslösung, also von Distanz zum Partner, Zeiten, in denen man neue Züge entdecken kann, nur als Defizit erlebt, während sie gerade die Voraussetzung bieten könnten, um im alten Partner das Transzendente in einer neuen Art zu erfahren. Es könnte also sein, daß dann, wenn die Befriedigung der symbiotischen Bedürfnisse am falschen Ort erwartet wird, die Phasen der Loslösung und der Individuation nur schwer zu erreichen sind. Es stellt sich natürlich die Frage, ob solche Menschen, die eine optimale Symbiose zulassen können, zugleich die Menschen sind, deren Trauererlebnisse ungestört verlaufen. Meines Wissens sind darüber noch keine Untersuchungen angestellt worden. Ein weiterer Grund für das Verweilen in der Symbiose mit dem verstorbenen Partner wird die Angst vor der Zukunft sein. Wenn das Trauererlebnis wirklich eine starke Veränderung des Selbst- und des Welterlebens bedeutet, und darüber besteht wohl kein Zweifel, wenn wir zudem bedenken, wie chaotisch die Emotionen des Trauernden sind, dann ist es nicht verwunderlich, daß zunächst der Rückzug in die Symbiose angetreten wird. Dahinter steht ein sehr richtiger Impuls: Wenn wir die Symbiose mit etwas Transzendentem in unserem Selbsterleben als ein Gefühl von Ganzheit erleben, als ein Gefühl von Aufgehobensein und von größter Lebenssteigerung, dann wäre es richtig, diesen Zustand zu suchen, um nachher den Trauerprozeß leichter durchstehen zu können. Durch die symbiotische 149
Verschmelzung könnte sich der Trauernde vergewissern, daß er irgendwo in seinen menschlichen Möglichkeiten auch aufgehoben ist, daß er auch ein »Gehaltener« ist und daß er als letztlich Gehaltener, der die Möglichkeit der Lebenssteigerung hat, nun in den Strudel der Trauergefühle gerät, die Trennung vollziehen muß, Abschied nehmen muß, sich von unendlich vielen liebgewordenen Gewohnheiten trennen muß. Aber auch hierbei kann die Symbiose am falschen Ort gesucht werden: nämlich mit dem Verstorbenen, mit dem Leben, das vorbei ist. Es ist so, als würden wir beim Suchen nach einem Objekt, mit dem wir symbiotisch verschmelzen können, immer zu kurz greifen und dadurch natürlich immer unbefriedigt bleiben. Eine weitere Problematik, die bewirken kann, daß sich ein Mensch in der symbiotischen Beziehung mit dem Verstorbenen »versitzt«, ist darin gegeben, daß dieser Mensch sich schon zu oft trennen mußte. Philipp gab als Grund dafür, daß er mich nicht in die Ferien gehen lassen wollte, an, er habe sich schon zu oft getrennt in seinem Leben. Brown und Harris 76 wiesen, wie schon erwähnt, in einer Untersuchung nach, daß besonders Menschen, die in ihrer Kindheit einen ihnen nahestehenden Menschen verloren hatten, in der Folge viel sensibler als andere auf weitere Verluste und Trennungen reagierten und auch viel eher neurotische Symptome, insbesondere Depressionen entwickelten. Das symbiotische Verweilen beim Verstorbenen bewirkt, daß keine neuen Bindungen eingegangen werden müssen und dürfen; dadurch bleibt man auch von erneuten Trennungen verschont. Man begegnet also der Verlustangst, indem 150
man sich ängstlich an das klammert, was bereits verloren ist. Dabei wird man emotional ausgetrocknet, das Leben wird leer, ohne Sinn. Gibt es aus diesen symbiotischen Beziehungen, die keinen Lebensanreiz mehr bieten, die nur noch ein Gefängnis sind, die keine Entwicklung mehr zulassen, Auswege ? Weil die symbiotische Beziehung mit dem Verstorbenen zu einem Gefängsnis geworden ist, sowohl innerlich wie meistens auch äußerlich, da äußerlich oft eine soziale Isolierung eintritt, weil die Außenwelt diesen symbiotischen Bezug nicht akzeptiert, suchen die dermaßen in ihrer Trauer blockierten Menschen Hilfe. Die Wohnungen, die seit dem Tod des Betrauerten nicht verändert wurden, sind ein Bild für den Lebensstillstand des Trauernden. Die Ausstoßung aus der symbiotischen Situation erfolgt auch hier, wie meines Erachtens bei allen symbiotischen Beziehungen, gerade dadurch, daß die Symbiose übertrieben wurde. Um mit dem Verstorbenen symbiotisch bleiben zu können, wird dieser meistens sehr idealisiert. Dadurch werden die Aggressionen abgespalten, der Trauernde wird depressiv und sucht Hilfe. Indem Hilfe gesucht wird, tritt ein anderer Mensch ins symbiotische System ein. In solchen Fällen wird meistens die Hilfe eines Therapeuten gesucht. Die Therapie kann natürlich auf vielfältige Art versucht werden. Volkan, ein Spezialist auf dem Gebiet des »Nachtrauerns«, der dieses Nachtrauern in Kurztherapie (ungefähr 32 Stunden in zwei Monaten) durchführt, legt Wert darauf, daß in einer ersten Phase sofort unterschieden wird zwischen dem Verstorbenen und sich selbst. Er bringt also selber ein Stück Aggression in den 151
Prozeß hinein, indem er diese Trennung radikal fordert. Bei Philipp hatte sich die symbiotische Situation mit seiner Mutter auf mich übertragen. Da ich mich nicht benahm, wie er es von mir als seiner »Ersatzmutter« erwartete, löste das viele Aggressionen aus. Er wurde aber auch stark mit den Seiten konfrontiert, die in der symbiotischen Situation nicht hatten mitleben können. Dies ergab sich einfach dadurch, daß ich ein anderer Mensch bin, als es seine Mutter war, mit anderen Erwartungen, anderen Werten. Bei Philipp war sicher wichtig, daß er sich zunächst durch die Identifikation mit seinem Vater männlich verstärkt fühlte. Der Weg aus der Symbiose war bei ihm ein harter, langwieriger Weg, weil er durch seine überstarke Mutterbindung ohnehin schon zu symbiotischem Verweilen neigte. Der frühe Tod des Vaters dürfte diese Neigung verstärkt haben, zusammen wohl mit dem Wunsch der Mutter, diesen Sohn anstelle des Vaters bei sich zu behalten, ihn also in seinem Autonomiestreben zu beschneiden. In einigen Fällen ist mir aufgefallen, daß in der Phase des Suchens, Findens und Sich-Trennens eine kurze symbiotische Phase mit dem verstorbenen Partner eintrat. Dieser wurde zum inneren Gesprächspartner, der sich aber mit der Zeit immer mehr veränderte und zu einer inneren »Begleitfigur« wurde, mit der der Trauernde auch wieder symbiotisch werden konnte. Besonders eindrücklich wurde mir das in der Therapie mit einer zweiundvierzigjährigen Frau, die sehr stark an ihrem Vater gehangen, ihn bis zu seinem Tod gepflegt und nie eine Beziehung zu einem anderen Menschen aufgenommen hatte. Sie wurde mir von 152
einem Arzt wegen »Herzbeschwerden« überwiesen, für die keine körperliche Ursache gefunden werden konnte. Sie lebte in der Überzeugung, daß ihr Vater vom Jenseits aus für sie sorgen würde, daß ihr Leben so weitergehen könne wie bisher und daß das Trauern der andern Menschen eigentlich lächerlich sei. Diese hätten eben nicht genug Vorstellungskraft, um eine Beziehung über den Tod hinaus halten zu können. In ihren Träumen tauchte der Vater auf, der immer öfter von einer jungen Frau begleitet war, die zwar der Träumerin einerseits glich, anderseits aber auch so etwas wie eine »Gegenfigur« darstellte, die sich so benahm, wie sich die Träumerin nie benommen hätte. Diese Traumfrau setzte sich mit dem Vater auseinander, tanzte ekstatisch, flirtete mit Männern – kurz, tat all das, was die Träumerin, im Andenken an ihren Vater, ihrem Vater zuliebe, nie getan hatte. Diese Traumfrau strömte Kraft aus und wurde zu einer ganz wichtigen Gestalt für die Träumerin. Diese Traumfrau führte sie in jene Bereiche des Lebens ein, die zuvor durch die symbiotische Beziehung zum Vater ausgespart worden waren. Aus der Tochter wurde eine Frau, die symbiotische Beziehung zum Vater löste sich auf. Und dann fühlte die Träumerin, daß sie nun den Vater wirklich verloren, aber dafür unendlich viel an Leben gewonnen hatte. Diese inneren Begleitfiguren, die meistens gleichgeschlechtlich mit dem Träumer sind, bringen oft das Stück Leben mit, das in der symbiotischen Situation vermieden worden ist; sie sind deshalb angstauslösend, gleichzeitig aber auch sehr belebend. Es sind jene Seiten, die nicht ge153
lebt werden durften und die sich zunächst als überzeugende Bilder in den Träumen manifestieren und zum Leben verleiten können. Hinter diesen Figuren steckt eine ungeheure Kraft. Diese inneren Begleitfiguren erinnern an magische Helfer in den Märchen 77, an Brudergestalten, wie etwa Gilgamesch und Enkidu 78. Diese magischen Helfer, die im Märchen zunächst dargestellt werden als Tote, die den Lebenden noch etwas schuldig geblieben und deshalb nicht beerdigt sind, werden zu hilfreichen Gestalten, sobald jemand sie ausgelöst hat, sobald jemand dafür sorgt, daß der Tote wirklich tot sein darf, sobald die Ablösung eintritt. Zum Dank dafür verwickeln sie den Helden ins Leben, verhelfen ihm zu einer großen Ausweitung seiner Persönlichkeit – und werden dann nicht mehr gebraucht. Sie stellen sowohl Seiten des Helden dar, die er zunächst vom Leben ausgespart hat, wissen aber offenbar auch, was das Schicksal des Helden von diesem will. Sie stellen einen Aspekt dar, der weit über das Gewöhnlich-Menschliche hinausgeht, und werden als schicksalhaft erlebt. So werden diese Figuren auch in den Träumen erlebt, und sie haben die Fähigkeit, den Träumer gerade in das Leben zu verwickeln, das er bisher vermieden hatte. Sie bringen meistens neue Verhaltensmöglichkeiten ein, Risikobereitschaft, eine gesunde Aggression, Lebensfreude und Freude am Körper und dadurch natürlich eine Steigerung des Selbsterlebens, die bewirkt, daß der Weg zurück in die Symbiose nicht mehr ständig gesucht werden muß. Der ausgelöste oder abgelöste Tote wird im Märchen zum »dankbaren Toten«, zum hilfreichen Begleiter. Das wird er auch in den Träumen, 154
und das wird er auch im alltäglichen Erleben. Oft ist in diese innere Begleitfigur auch die Person des Analytikers mitverwoben. In diesen Fällen scheint es mir wichtig zu sein, daß die Ablösephase der Therapie mit besonderer Sorgfalt wahrgenommen und gestaltet wird, damit die Trennung vom Therapeuten als Stärkung erlebt werden kann, damit Freude darüber erfahren werden kann, daß nun so viel Autonomie gewonnen ist, das Leben wieder ohne Hilfe bewältigen zu können. Es ist aber auch wichtig, daß der Träumer diesen inneren Begleiter als eine Gestalt erkennt, die für eine bestimmte Zeit die Aufgabe hat, ihn ins Leben zu verwickeln und ihn dadurch zu entwickeln, daß diese Gestalt aber ihrerseits eine psychische Wirklichkeit ist, über die nicht einfach verfügt werden kann, die auch wieder verschwinden wird, daß also auch hier Trennung notwendig sein wird. Sicher ist es so, daß immer wieder solche inneren Führergestalten auftauchen, wenn wir sie brauchen, daß wir sie aber nicht dabei behaften dürfen, uns immer in derselben Gestalt zu erscheinen. Gerade das tut der Mensch, der stärkere symbiotische Bedürfnisse hat: Er will auch mit diesen Figuren symbiotisch verschmelzen, was für eine gewisse Zeit sicher richtig ist und eine Lebenssteigerung mit sich bringt. Wenn aber dieser Mensch keine Veränderung zulassen will, wird auch die innere Begleitfigur, die zunächst voll Leben und voll Kraft war, zu einem leblosen Bild, das allenfalls noch viele Vorschriften und Regeln ins Leben hineinbringt. Es gilt auch hier, den Rhythmus von Symbiose, Loslösung und Individuation zu wahren. 155
Es ist keineswegs so, daß nur der Trauernde in Gefahr wäre, sich in der Symbiose zu »versitzen«, bei dem zu bleiben, was vorbei ist, was nicht mehr verändert werden kann und nicht mehr verändert werden muß. Es ist vielmehr so, daß die Symbiose immer als Schutz gegen die Veränderung des Lebens gesucht wird; die Angst vor der ständigen Veränderung, vor dem ständigen Abschied-nehmen-Müssen, vor dem ständigen »Sterben-Müssen« läßt uns das Bleibende suchen, das wir dann mehr als nur bleibend haben wollen. Diese Angst läßt uns die symbiotische Beziehung suchen, die uns vor dem natürlichen Rhythmus des Lebens »retten« soll. Die Neigung des Trauernden, sich in eine symbiotische Beziehung mit dem Verlorenen zurückzuziehen, scheint mir existentiell am deutlichsten zu zeigen, daß wir gegen die radikale Aufforderung zur Veränderung das allzu lange Verweilen in der symbiotischen Situation setzen, das wir oft auch mit einem ungeeigneten »Wirt« gestalten wollen. Es wäre also unbedingt notwendig, daß wir jene optimale Symbiose finden könnten, die uns wirklich eine Ausweitung unserer Person und damit eine Steigerung unserer Lebendigkeit erlaubt und nicht die Einengung bewirkt, wie sie in vielen symbiotischen Situationen durch Anpassung erzwungen wird.
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Sterben ins Leben hinein –
die »abschiedliche« Existenz Bis jetzt habe ich Trauer vor allem unter dem Aspekt des Trauerns um den Verlust eines geliebten Menschen bedacht. Allerdings glaube ich, daß Sterben nicht nur in dieser radikalen Form von uns Menschen erlebt wird, sondern in unendlich vielfältigen Formen, und daß immer dann, wenn ein Verlust uns betrifft, wenn wir uns von etwas trennen müssen, das Trauern notwendig ist. Viele Autoren sind sich darüber einig, daß verhinderte oder unterdrückte Trauer dazu führt, die Welt als bedeutungslos, die eigene Existenz als wertlos und die Zukunft als hoffnungslos zu erleben, daß also Störungen in Richtung depressiver Reaktionen erfolgen. Wenn wir beim Tod eines geliebten Menschen mitsterben, dann ist der Trauerprozeß mit seinen Emotionen die Möglichkeit, uns selber als Abgelöste, aber auch als Verbundene mit der Geschichte dieses Verstorbenen wieder neu zu finden. Wenn wir uns aus irgendeinem Grunde diesem Trauerprozeß entziehen, dann bleiben wir zurück als Menschen, die nicht mehr ganz sind, die nur noch zu einem Teil lebendig sind. Dies hat wiederum eine Wirkung auf unser Selbsterleben und damit auch auf unser Selbstwertgefühl. In dieser Situation ist es natürlich, daß wir uns in eine symbiotische Beziehung zurückziehen, in etwas, was zuvor war, die Trauer also verweigern oder überhaupt verweigern, weiter den Platz in der Welt einzunehmen, der uns gehört. In Mitscherlichs Buch »Die 157
Unfähigkeit zu trauern« 79 wird Loewenfelds prägnante Formulierung zitiert, »daß eine Störung dieser Trauerarbeit beim einzelnen dessen seelische Entwicklung, seine zwischenmenschlichen Beziehungen und seine spontanen und schöpferischen Fähigkeiten behindert« 80. In einem Artikel »Zur auslösenden Situation der Depression« beschreibt Ute Dieckmann 8, wie eine Gruppe von Analytikern, die sich mit dieser Fragestellung beschäftigt hatte, herausfindet, daß es sich »beim Ausbruch einer Depression immer um einen nicht verarbeiteten Verlust« handelt. Brown 82 und seine Mitarbeiter weisen darauf hin, daß Personen, die ohnehin schon ein schlechtes Selbstwertgefühl haben, Verluste nicht ertragen können, weil diese Verluste noch einmal ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigen, und daß sie, wegen dieses schlechten Selbstwertgefühls, depressive Reaktionen zeigen. Einen direkten Zusammenhang zwischen Verlust und Depression sehen sie nur, wenn jemand seine Mutter oder Pflegeperson vor dem elften Lebensjahr verloren hat. Da Tod wirklich eine Realität ist, geht es in unserem Leben immer auch um Trennung, um Abschiednehmen. Wir müssen nicht nur die andern Menschen in den Tod hinein freigeben, wir müssen auch geliebte Menschen ins Leben hinein freigeben, freigeben für einen andern Menschen, wir müssen auch Aspekte von uns sterben lassen, wenn ihre Zeit um ist, wir müssen auf Liebgewordenes in unserem Leben verzichten, wenn die Zeit dafür vorbei ist. Wenn wir das nicht tun, dann bleiben wir an Vergangenem hängen, was bedeutet, daß wir uns vor der Zukunft verschließen, daß wir nicht mehr wirklich weiterleben. Deshalb müssen wir 158
lernen, ins Leben hineinzusterben und mit dieser Art von Sterben umzugehen. Das Abbrechen einer Beziehung, ohne daß der Partner stirbt, kann ähnliche Verzweiflung auslösen, kann ähnlich unser Selbsterleben erschüttern wie der reale Tod. Am deutlichsten scheint mir das bei Ehepartnern sichtbar zu sein, die sich nach langjähriger Ehe scheiden lassen. Wie bei jedem anderen Verlust eines Menschen werden auch hier alle Verlustmomente sichtbar; auch hier wird das Selbsterleben verändert, das Welterleben verändert, auch hier ist dort, wo zuvor Beziehung oder zumindest Streit war, Leere. Die soziale Veränderung ist sehr groß: Einem geschiedenen Menschen wird von der sozialen Umgebung noch viel weniger als einem verwitweten zugestanden, daß er trauern darf; er soll nun froh sein, daß »das« vorbei ist, und froh in die Zukunft schreiten. Andere wiederum finden, Sich-scheidenLassen sei ohnehin unschicklich, man müsse dann halt die Konsequenzen tragen. Geschiedene werden nicht nur nicht ermutigt zu trauern, sie werden, wenn sie es tun, geradezu mit Verachtung gestraft. Dabei haben diese Menschen wirklich auch ihren Partner verloren. Auch wenn vielleicht die Aussicht besteht, irgendwann einmal mit diesem Partner wieder zu einer freundschaftlichen Beziehung zu finden, ist die Zeit der ehelichen Beziehung für die meisten doch unwiederbringlich vorbei. Zudem kommt das Erlebnis des Scheiterns hinzu, das auch verkraftet werden muß. Eine achtunddreißigjährige Frau ließ sich nach ihrer zwanzigjährigen Ehe mit einem Alkoholiker scheiden, weil sie einfach 159
nicht mehr aushielt, daß sie arbeiten mußte, während er das Geld vertrank. Außerdem schlug er sie, war aber nüchtern ein sehr zärtlicher Mensch voller Schuld- und Schamgefühle, der ihr immer wieder ein besseres Leben versprach. Kinder hatten sie keine. Nach der Scheidung wurde die Frau zunehmend gedrückter. Ihre Freunde fanden das unmöglich, meinten, sie müsse doch froh sein, daß das alles vorüber sei. Sie war aber nicht froh. Sie fand, sie sei durch diese Scheidung ganz aus ihrem Leben herausgerissen, sie wisse nicht mehr, woför sie lebe. Sie habe nur daran gedacht, daß sie das Leben mit ihrem Mann nicht mehr aushalte, sie halte aber das Leben ohne ihn auch nicht aus. Sie erzählte einen Traum, in dem ihr Mann gestorben war und sie sehr um ihn getrauert hatte. Ich sagte ihr, ihr Mann sei doch in gewisser Weise auch gestorben, und wir wollten doch um diese Beziehung trauern. Die Frau erzählte gerne von ihrem Leben mit diesem Mann, von den vielen schrecklichen Szenen, aber auch von vielen sehr glücklichen Stunden. Sie neigte dazu, ihren Mann zu idealisieren, was aber jeweils wieder kompensiert wurde entweder durch Träume, in denen er ganz und gar nicht ideal auftrat, oder aber durch Zusammenkünfte im realen Leben, bei denen ihr schlagartig bewußt wurde, daß sie sich ein Idealbild von ihm aufgebaut hatte. Es gelang ihr, zu zeigen, welche psychische Dynamik zwischen ihnen abgelaufen war: Sie hatte im Grunde genommen einen schwachen Mann haben wollen, damit sie diejenige sein konnte, die ihm half; sie hatte aber auch Schuldgefühle deswegen und ließ 160
sadistische Impulse ihres Mannes deshalb ohne weiteres über sich ergehen. Wir versuchten, ihren Mann auch als eine innere Figur von ihr selbst zu verstehen, als einen Persönlichkeitszug von ihr. Das war sehr fruchtbar, für sie aber auch sehr schmerzhaft. Dadurch, daß das Leben mit diesem Mann für sie »verständlich« wurde und in seinen durchaus auch positiven Seiten als einmalig und wertvoll betrachtet werden konnte, dadurch auch, daß sie einsah, daß sie selbst diese hilfsbedürftige Seite, die bei Enttäuschung zur Flasche greift oder sonst irgendwie den Kummer verdrängt, irgendwie in sich hatte, konnte sie sich mit diesem Lebensabschnitt und auch mit dem Abschluß dieses Lebensabschnittes durch Scheidung versöhnen. Wichtig in diesem Zusammenhang scheint mir, daß die Trauerarbeit auch dazu führte, daß die Frau die Erfahrungen, die sie mit ihrem Mann gemacht hatte, weiterhin nicht einfach auf alle anderen Männer übertragen mußte. Es war in dieser Therapie natürlich nicht nur um Trauerarbeit gegangen; es waren auch die komplexhaften Hintergründe ihrer Partnerwahl beleuchtet worden. Radikal kann die Forderung des »Sterbens ins Leben hinein« durch einen Traum an den Menschen herangetragen werden. Eine fünfzigjährige Frau suchte mich mit dem folgenden Traum erstmals auf, »zu Tode erschrocken«, wie sie sagte: »Ich bin in meinem Geschäft, sitze in meinem Büro und bin, wie in Realität, der Chef. Ich öffne einen Brief, der mit einem altmodischen Siegel unterzeichnet ist. Im Brief steht, daß ich 161
zum Tode verurteilt bin. Ich weiß, daß dagegen nichts mehr unternommen werden kann. Ich bin furchtbar erschrocken, beginne schnell, noch alles mögliche fürs Geschäft zu ordnen, damit nachher nicht ein zu großes Chaos entsteht. Plötzlich lehne ich mich ganz entsetzt zurück und denke: Da wirst du morgen sterben und weißt nichts Besseres zu tun als die Geschäftsangelegenheiten zu ordnen. Ich erwache, voll Todesangst und voll Entsetzen über mich, daß ich mit der gewährten Zeitspanne nichts anfangen kann.« Die Frau sagte mir zu Beginn unseres Gesprächs über den Traum, sie hätte nie das Bedürfnis gehabt, Psychotherapie zu suchen. Aber mit diesem Traum habe sie das Gefühl, es tun zu müssen, denn sie sei doch jetzt zum Tod verurteilt, und damit könne sie offensichtlich nichts anfangen. Mir schien der Traum auszudrücken, daß sie – wie wir alle – zum Tode verurteilt ist und offensichtlich daran denken sollte. Ich nahm den Traum als Hinweis darauf, daß das Leben nicht unendlich lange dauert. Die Träumerin hatte das Gefühl, die Urkunde käme aus einer andern Welt, jedenfalls handle es sich um eine sehr altmodische Sache. Ich dachte an irgendeine Autorität und überlegte mir, ob der Traum auch Ausdruck für eine Aggression sein könnte, die sich gegen sie selbst richtet. Mir schien dann der Gedanke des Bedrohtseins dadurch, daß wir endlich sind, zumal auch beim Alter der Frau, doch sinnvoller zu sein. Daß der Tod eine altmodische Sache ist, stimmt natürlich – und eine Autorität ist er auch. Natürlich hatte die Frau Angst, an irgendeiner unheilbaren Krankheit zu leiden, von der 162
sie noch nichts wußte, denn sie befand sich in einem sehr guten Gesundheitszustand. Wir sprachen dann über ihr Entsetzen darüber, daß sie überhaupt nichts zu tun wußte, als die Dinge für das Geschäft zu ordnen. Es stellte sich heraus, daß diese Frau für ihr Geschäft lebte, alles andere kam erst lange nach dem Geschäft. Sie hatte immer wieder Freundschaften mit Menschen, aber da sie sich für ihr Geschäft mehr interessierte als für Beziehungen, blieben diese Verbindungen unverbindlich. Die Frau erschrak darüber, daß sie viele Aspekte des Lebens offenbar entwertet und ihr Geschäft darüber überbewertet hatte. Wir einigten uns darauf, daß die große Perspektive des Traumes sie einmal darauf aufmerksam machen wollte, daß auch sie sterblich sei, daß die sofortige Veränderung, die Konsequenz aus der Sterblichkeit für den Moment die sei, daß die »Nur-Chefin« sterben müsse, daß in ihrem Leben auch andere Momente mitberücksichtigt werden sollten. Als ich das sagte, brachte die Frau von sich aus Ideen dazu, was sie alles tun könnte; sie hatte Bedürfnis nach Kontakt mit Menschen, mit der Natur usw. Die Frage nach einer tödlichen Krankheit ließen wir einfach im Raume stehen – als eine Möglichkeit, die immer da ist. Die Frau war übrigens nicht krank; auch heute, fünf Jahre nach diesem Traum, erfreut sie sich guter Gesundheit. Der Traum scheint mir ein typischer Traum zu sein, der von einem Menschen fordert, seine einseitige Position aufzugeben, sich selber damit auch ein Stück weit aufzugeben, damit andere Persönlichkeitszüge, die bisher nicht entwikkelt wurden, sich entwickeln können. Selbstverständlich 163
ging das auch bei dieser Frau nicht ohne Trauer. Immerhin mußte sie eine vollständige Umwertung der Werte ertragen, sich selber in Situationen kennenlernen, denen sie bedeutend weniger gewachsen war, zudem mußte sie ihr Geschäft so führen, daß es trotzdem sich behaupten konnte, durfte sich aber anderseits nicht wieder so damit identifizieren, daß sie damit gänzlich symbiotisch wurde. Es gibt Träume, die noch direkter vom eigenen Tod handeln. Ein dreißigjähriger Mann träumte: »Ich lag in meinem Bett. Die ganze Familie war um mich versammelt. Ich dachte mir: Ich werde wohl sterben. Ich schaute zu, wie ich starb. Ich fühlte, wie das Blut aus meinem Gesicht wich und wie alle um mich herum zu schluchzen anfingen. So ist es also, dachte ich – und war befriedigt über die Trauerreaktion der Familie. Plötzlich sah ich, daß ich auch am Bett stand, in meiner Cordhose, die meiner Mutter so fremd ist, und daß ich mir selber zuschaute, wie ich starb. Ich wurde ganz verwirrt, begann zu weinen und wachte auf.« Eigentümlich an diesem Traum ist, daß das Traum-Ich doppelt vorhanden ist, als der, der stirbt und auch ein wenig stolz darauf ist, und als der, der in der Cordhose zuschaut. Daß der Träumer die Cordhose erwähnt, zeigt, daß sie eine Bedeutung hat. Er sagt schon im Traum, daß es die Hose ist, die seiner Mutter fremd ist. Diese Hose dürfte eine Art des Sich-Behauptens in der Welt sein (die Hose anhaben), die der Mutter fremd ist. Die Hose war Symbol für einen eigenen Entschluß, war es doch die erste Hose, die er gegen den 164
Willen der Mutter kaufte. Der junge Mann, der der Mutter nicht fremd ist und der auch angemessen aufgenommen ist im Kreise der Familie, stirbt. Dieser Traum zeigt meines Erachtens eine Persönlichkeitsveränderung an, allerdings auch, daß der Analysand einen Sinn für einen guten Abgang hat, daß er also gerne im Mittelpunkt steht. Vermutlich ist es gerade dieses ImMittelpunkt-stehen-Wollen, verbunden mit der Anpassung an die Familie, bis hin zu den Kleidern, die er trägt, das jetzt radikal verändert werden muß. Auch wenn sich der Traum nicht so tragisch anhört und man das Gefühl behält, daß ihn der Tod nicht so sehr erschreckt haben kann, da er noch Zeit hat, die Qualität des Trauerns seiner Familienangehörigen anzusehen, dürfen wir uns doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Traum das Bild des Sterbens gebraucht, der radikalen Trennung, verbunden mit Angst, die uns alle befällt, wenn wir an Tod denken. Es könnte also sein, daß ihn diese Persönlichkeitsveränderung, die mir schon vollzogen zu sein scheint – er muß kaum mehr etwas dafür tun –, doch recht traurig stimmt. Die Familie des Träumers war eine Familie, die sich sehr gegen außen abschloß und dafür nach innen sehr viel Kontakt pflegte. Was nicht erlaubt war, war die Öffnung nach außen. Dieser »Familientopf« engte ihn natürlich mit der Zeit ein, und es war in der Tat sowohl für den Träumer als auch für die Familie außerordentlich schmerzhaft, Autonomie zu entwickeln. Die Mutter sprach auch davon, sie habe ihren Sohn verloren. Der Sohn selber geriet in eine große Identitätskrise, als er sich nicht mehr fraglos mit den Werten 165
und Ansichten seiner Familie identifizierte. Die Ablösung war für ihn sehr schmerzhaft. Eine solche radikale Ablösung kann sich im Traum auch anders darstellen. Ein fünfunddreißigjähriger Mann träumt: »Es ist ein Trauergottesdienst. Ich bin in der Kirche. Trauergäste ziehen an mir vorbei. Ich bin mit meiner Frau und meinen drei Kindern da, mein Vater ist irgendwo, die Brüder sind auch da mit ihren Frauen. Ich suche meine Mutter, ich finde die Mutter nicht. Ich erkundige mich nach ihr. Man sagt mir, sie sei doch gestorben, ihretwegen werde die Trauerfeier abgehalten, sie sei an einem Herzschlag gestorben. Ich bin sehr traurig, denke aber, das sei doch noch ein schöner Tod.« Daß im Traum Mütter und Väter gestorben sind und auch betrauert werden, kommt sehr häufig vor. Es ist im allgemeinen ein Ablösungstraum, der anzeigt, daß die Phase des Sohn-Seins oder des Tochter-Seins vorbei ist. Daß dann diese Väter oder Mütter sterben müssen, zeigt meistens an, daß bei den Söhnen und Töchtern die Sehnsucht nach rückwärts sehr groß ist, daß also wirklich ein radikales Abschiedsbild gewählt werden muß. Bei diesem Träumer handelte es sich um einen stark muttergebundenen Mann. Die Mutter hatte ihn mit der Drohung an sich gebunden, sie würde krank werden oder gar sterben, wenn er sich je von ihr abwenden sollte. Der Träumer hatte dann trotzdem zu heiraten gewagt, eine Frau, die seiner Mutter nicht sonderlich gefiel. Da dies aber schon 166
bei seinen Brüdern so war, beeindruckte es ihn nicht so sehr. Der Träumer hatte eine zweijährige Therapie wegen Angstzuständen und Leistungsproblemen hinter sich, als er den Traum vom Tode der Mutter brachte. Das Problem mit seiner Mutter war dabei intensiv durchgesprochen worden. Am meisten ärgerte es ihn, daß die Mutter ihn immer noch beunruhigen konnte, wenn sie androhte, krank zu werden, falls er nicht dann zu ihr käme, wann sie es wollte. Als wir den Traum von der Beerdigung seiner Mutter besprachen, sagte der Träumer sofort, wenn der Traum wahr wäre, würde er sich nicht mehr immer erpressen lassen und würde sich viel besser fühlen. Er war erstaunt darüber, daß ihn im Traum der Tod der Mutter zwar berührte, niemals aber »fast umbrachte«, wie er auf Grund seiner Erpreßbarkeit immer vermutet hatte. Sein Kommentar war: »Wenn meine Mutter nicht mehr da wäre, dann könnten wir Männer endlich einmal erwachsen sein, und dann müßten wir auch erwachsen sein.« Wir einigten uns darauf, daß das wohl die Hauptbotschaft des Traums an ihn sei, daß er erwachsen sein könne und müsse. Allerdings tröstete sich der Träumer damit, daß ein plötzlicher Tod auch ein schöner Tod sei. Man könnte sich also auch überlegen, inwiefern er Todeswünsche seiner Mutter gegenüber und gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hat, so daß er sie wenigstens einen schönen Tod sterben läßt. Dieser Aspekt ist sicher auch im Traum enthalten. Außerdem ist zu bedenken, daß ein Trauergottesdienst stattfindet, also ein kollektives Ritual, das für ihn Gültigkeit hat. Für mich stellt sich da die Frage, ob es vielleicht auch 167
wesentlich wäre, bei solchen Übergängen aus der Zeit, als er noch »Sohn« war, nun zum Vater und Ehemann – er betont ja, daß er seine Familie dabei hat – ein Ritual zu haben. Allerdings betrifft das Ritual im Traum weniger seine Initiation zum Mann als den Tod der Mutter. Aber das ist wohl kaum zu trennen. Manchmal kommt es auch vor, daß Anteile, Wesensseiten von einem selbst sterben und man sie begraben muß. Eine vierunddreißigjährige Frau träumt: »Ich bin in meiner Wohnung. Plötzlich höre ich: Pippi Langstrumpf ist gestorben, Pippi Langstrumpf ist gestorben. Mich erfaßt eine ungeheure Trauer. Das kann doch nicht sein, das darf doch nicht wahr sein, Pippi Langstrumpf ist doch unsterblich. Ich bin ganz aufgelöst und erwache. Ich finde es eigentümlich, daß mich der Tod von Pippi Langstrumpf so bewegt. Ich schlafe wieder ein. Es ging darum, daß Pippi Langstrumpf beerdigt werden sollte. Jemand sagte, das müsse sehr geschickt gemacht werden, sonst würde sie bestimmt wieder von den Toten auferstehen. Ich fragte, ob denn das so schlimm wäre. Der Mann, der sprach, ein gesetzter, ruhiger Mann, sagte: Sie gefährdet die Ehen und die Liebe.« Dieser Frau fiel zu Pippi Langstrumpf ein, daß diese für sie eine sehr wichtige Figur sei, ein Symbol für ein Mädchen, das einfach alles tun könne, dem nie etwas schiefgehe, das von einer unerhörten Frechheit sei – dennoch falle es kaum jemandem ein, sie frech zu nennen. Sie sei aber auch sehr 168
weichherzig und hilfsbereit, aber in kein Schema zu pressen und habe einen Hang zur absoluten Freiheit. Das sei für sie alles sehr faszinierend. Ihr Mann findet diese Seite an ihr allerdings weniger faszinierend, außerdem sei sie ja keine Pippi Langstrumpf, und jedesmal, wenn sie versuche, Pippi Langstrumpf zu spielen, gehe irgend etwas schief. Diese Seite in der Frau stirbt also im Traum, und die Träumerin ist sehr traurig darüber. Eine kindlich omnipotente weibliche Seite, die mit allem und jedem spielt, stirbt, sie muß diese Seite von sich preisgeben. Wie ernst dies ist, scheint mir der zweite Traum in der gleichen Nacht zu bestätigen. Es genügt nicht, daß Pippi Langstrumpf gestorben ist, sie muß auch noch begraben werden, sie muß ganz in die Erde zurückgegeben werden. Eine noch größere Trennung ist gefragt als im ersten Traum der Nacht. Nun weiß man aber, daß das sehr geschickt zu erfolgen hat, da die Gefahr sehr groß ist, daß sie wieder ins Leben zurückkehrt. Das ist auch aus der Frage der Träumerin ersichtlich. Sie fände es offenbar nicht so schlimm, wenn Pippi Langstrumpf wieder ins Leben zurückkäme. Schlimm fände es dieser gesetzte, ruhige Mann, von dem die Träumerin sagt, sie kenne ihn nicht, aber diese ruhige Art habe ihr ungemein gefallen. Der Mann scheint ein Gegenpol zu Pippi Langstrumpf zu sein, der Hüter von Ehe und Liebe. Für die Träumerin war es vom Traum her zwingend, daß sie von ihrer Pippi Langstrumpf Abschied nehmen mußte. Es war ihr auch klar, daß Pippi einen sehr kindlichen und manchmal auch kindischen Zug an ihr verkörperte. Für sie entsprach dem Traum ein Gefühl, als wäre ein Teil von ihr gestorben. Sie 169
trauerte und fand etwa drei Monate später in einem Traum wiederum eine Pippi Langstrumpf, die aber viel Dieser Frau fiel zu Pippi Langstrumpf ein, daß diese für sie eine sehr wichtige Figur sei, ein Symbol für ein Mädchen, das einfach alles tun könne, dem nie etwas schiefgehe, das von einer unerhörten Frechheit sei - dennoch falle es kaum jemandem ein, sie frech zu nennen. Sie sei aber auch sehr weichherzig und hilfsbereit, aber in kein Schema zu pressen und habe einen Hang zur absoluten Freiheit. Das sei für sie alles sehr faszinierend. Ihr Mann findet diese Seite an ihr allerdings weniger faszinierend, außerdem sei sie ja keine Pippi Langstrumpf, und jedesmal, wenn sie versuche, Pippi Langstrumpf zu spielen, gehe irgend etwas schief. Diese Seite in der Frau stirbt also im Traum, und die Träumerin ist sehr traurig darüber. Eine kindlich omnipotente weibliche Seite, die mit allem und jedem spielt, stirbt, sie muß diese Seite von sich preisgeben. Wie ernst dies ist, scheint mir der zweite Traum in der gleichen Nacht zu bestätigen. Es genügt nicht, daß Pippi Langstrumpf gestorben ist, sie muß auch noch begraben werden, sie muß ganz in die Erde zurückgegeben werden. Eine noch größere Trennung ist gefragt als im ersten Traum der Nacht. Nun weiß man aber, daß das sehr geschickt zu erfolgen hat, da die Gefahr sehr groß ist, daß sie wieder ins Leben zurückkehrt. Das ist auch aus der Frage der Träumerin ersichtlich. Sie fände es offenbar nicht so schlimm, wenn Pippi Langstrumpf wieder ins Leben zurückkäme. Schlimm fände es dieser gesetzte, ruhige Mann, von dem die Träumerin sagt, sie kenne ihn nicht, aber diese ruhige Art habe ihr ungemein gefallen. 170
Der Mann scheint ein Gegenpol zu Pippi Langstrumpf zu sein, der Hüter von Ehe und Liebe. Für die Träumerin war es vom Traum her zwingend, daß sie von ihrer Pippi Langstrumpf Abschied nehmen mußte. Es war ihr auch klar, daß Pippi einen sehr kindlichen und manchmal auch kindischen Zug an ihr verkörperte. Für sie entsprach dem Traum ein Gefühl, als wäre ein Teil von ihr gestorben. Sie trauerte und fand etwa drei Monate später in einem Traum wiederum eine Pippi Langstrumpf, die aber viel größer war als die »echte« und die von der »echten« vor allem die Spontaneität bewahrt hatte. Jede größere Veränderung in unserem Leben kann durch das Bild des Todes und manchmal auch der Wiedergeburt symbolisiert werden, je nachdem, welcher Aspekt mehr betont ist. Eine zweiundzwanzigjährige Frau träumt in der Nacht vor ihrer Hochzeit: »Ich gehe in meinem Brautkleid in die Kirche. Es ist niemand dort, ich bekomme Angst. Ich werde von einer dunklen Frau am Arm geführt, die ganze Kirche ist stockdunkel. Sie bedeutet mir, mich hinzulegen. Ich merke, daß ich mich in einen Sarg legen muß. Ich habe sehr Angst, wage aber nicht zu widersprechen. Ich habe Angst, daß die mich auch noch begraben werden. Ich schließe die Augen und denke: Ich warte jetzt, bis Roman (ihr zukünftiger Mann) kommt. Ich schlafe ein. Als ich erwache (im Traum), da ertönt Orgelmusik, und ich schreite am Arm von Roman zum Altar. Ich komme mir vor, als hätte ich ein Leben verschlafen zwischen dem Tag gestern und heute.« 171
Die Träumerin erzählte, sie sei im Sarg sehr traurig gewesen, sie hätte richtige Todesangst gehabt, gleichzeitig aber auch das Gefühl, daß dagegen nichts mehr zu machen sei. Der Traum scheint mir klar darauf hinzudeuten, daß die Hochzeit für diese Frau Eintritt in eine vollkommen neue Lebenssituation bedeutet. Der Übergang ist dargestellt durch die Aufforderung, sich in den Sarg zu legen, also sich dorthin zu legen, wohin der Gestorbene gehört. Sie schläft im Sarg ja auch noch ein – erwacht dann und aufersteht zur Verbindung mit ihrem Mann. Der Traum kann als psychische Initiation in den Stand der Ehefrau gesehen werden: Die Initiation geht von einer dunklen Frau aus, findet in Kirche und Sarg statt, an Orten, wo der bergende Charakter der Höhle, also letztlich der Schoß der Großen Mutter, ahnbar wird. Diese Initiation ist mit großer Angst verbunden. Es wird in diesem Traum besonders deutlich, daß eine alte Situation verlassen wird, ohne daß schon die neue in Sicht wäre; Roman erscheint erst, als diese Frau den möglichen Tod schon angenommen hat. Dieser Traum wurde außerhalb einer Therapie geträumt und von der Braut an ihrem Hochzeitstag erzählt, mit dem Hinweis darauf, sie habe offenbar unterschätzt, wie anders ihr Leben nun sein werde. Mir scheint der Traum auch darauf hinzudeuten, daß die Träumerin den Beginn des neuen Lebensabschnittes ernst nehmen muß und daß sie bewußt auch ein wenig um den zu Ende gegangenen Lebensabschnitt trauern darf. Wir nehmen nicht nur von Lebensabschnitten Abschied, von Elternfiguren, von Aspekten unserer Persönlichkeit; 172
wir nehmen auch Abschied von Ich-Idealen und Lebensentwürfen. Es ist wohl das Erlebnis eines jeden Menschen, daß er sich in seiner Jugend Ideale aufgebaut hat, ohne sich darüber klar zu sein, was für ihn erreichbar und was unerreichbar ist. Bei neurotischen Menschen klafft oft zwischen den gesteckten Zielen und den vorhandenen Möglichkeiten ein riesengroßer Graben. Ziel der Therapie ist es dann, Ziele und Möglichkeiten des Erreichens einander anzunähern. Das ist oft ein sehr schmerzhafter Prozeß, mit viel Trauer darüber verbunden, daß man nicht erreicht, was man sich vorgenommen hat oder was einem als Ideal hingestellt worden ist. So hatte ein dreißigjähriger Mann sein Leben bisher im wesentlichen damit verbracht, sich sehr viele Kenntnisse anzueignen, ohne irgendeinen Berufsabschluß ins Auge zu fassen, weil er meinte, eines Tages würden dann »alle seine Energien zusammenschießen«, all sein Wissen sich verbinden zu einer Erkenntnis, die noch kein Mensch gehabt habe. Nun träumte er: »Alexander der Große ist gestorben. Ich bin ganz geschlagen von dieser Mitteilung, weine und benehme mich, als wäre ich selbst gestorben.« Der Träumer war noch sichtlich erschüttert, als er mir diesen Traum erzählte. Alexander der Große war für ihn eine Gestalt, mit der er sich gern identifizierte. So hätte er sein mögen: ein Philosoph, ein Feldherr, ein Staatsmann. In der Phantasie des Träumers bekam Alexander auch noch 173
viele Fähigkeiten, die er nicht unbedingt gehabt haben mag. Diese »Größe« stirbt im Traum, was wohl auch heißt, daß diese Größenphantasie, die Identifikation mit dieser Größenphantasie, sterben muß. Das war für den Träumer sehr schmerzhaft. Sicher fühlte er sich auch entlastet, als er emotionell begriffen hatte, daß er kein Alexander werden müsse, doch fühlte er sich auch erheblich weniger bedeutsam. Der Tod ragt immer ins Leben hinein. Ständig verlieren wir etwas, müssen wir loslassen, verzichten, uns voneinander trennen, etwas aufgeben. Immer wieder ist das Leben verändert, müssen wir Vertrautes verlassen, uns den Veränderungen stellen. Aber wir verlieren nicht nur, wir gewinnen auch. Das Leben, das abläuft, gibt uns die Gelegenheit, gerade durch die vielen Veränderungen unser Wesen aufzufalten, zu entfalten. Gleichzeitig müssen wir immer wieder Aspekte von uns zurücklassen und neue Aspekte an uns erfahren lernen. Ein wirkliches Zurücklassen ist es natürlich nicht, auch wenn wir uns von einem Menschen trennen müssen, der gestorben ist. Das Leben mit ihm, die Erlebnisse mit ihm sind in unserer Erinnerung gegenwärtig, gehören zu uns, machen unser Leben auch aus. Auch das Erlebnis der Trauer um diesen Menschen macht unser Leben aus –, es gehört auch zu uns. Wenn wir zu trauern verstehen, dann ist dies vielleicht gerade die Möglichkeit, Wesentliches an uns zu erfahren. Entscheidend scheint mir die Erfahrung in der Trauerarbeit, daß wir Trennungen nicht nur ertragen können, sondern daß sie durch die Trauer hindurch dazu führen, uns selbst wieder neu zu erleben, auch mit neuen Wertungen: als 174
Menschen, die auch durch Trennungen nicht zerbrechen, die innerlich doch immer wieder getragen sind, die, gerade als Erschütterte, sich auf das Wesentliche zurückbesinnen. Der Tod eines geliebten Menschen ist das Erlebnis einer Grenzsituation. Diese Grenzsituation betrifft uns, wir können uns in ihr durch niemanden vertreten lassen. Deshalb ist sie ein Moment im Leben, in dem unser Dasein innerhalb der größten Gegensätze des Lebens gefordert ist und uns erlebbar wird. Auch wenn Tod unvermeidbar ist und uns ständig begleitet, sind doch unser Leben, unsere Bindungen, unsere Geschichte ebenso gewiß wie der Tod. Der Tod ragt in Gestalt der ständigen Veränderung in unser Leben herein. Leben angesichts des Todes muß »abschiedlich« gelebt werden; wir müssen immer bereit sein, Abschied zu nehmen, uns zu verändern, und immer auch bereit sein, unsere Geschichte als Geschichte von unendlich vielen Veränderungen in uns aufleuchten zu lassen, als die Ausfaltung unserer Identität. Weischedel83 schreibt: »Die Abschiedlichkeit ist die gemäße Antwort des Skeptikers (dessen, dem alles fraglich ist. Anmerkung von mir) auf den Anblick der Vergänglichkeit, die alles Wirkliche bestimmt und durchherrscht«. 84 »Abschiedlichkeit« bei Weischedel meint, ständig von dem Abschied zu nehmen, in dem man sich aufhält 85, wobei Weischedel an eine doppelte Abschiedlichkeit denkt: an diejenige im Blick auf sich selbst und an diejenige im Blick auf die Welt. Die »Abschiedlichkeit« als Grundhaltung des Menschen angesichts dessen, daß wir sterben müssen, will Weischedel mit den Grundhaltungen der »Offenheit« und 175
der »Verantwortlichkeit« zusammensehen. Zur »Offenheit« gehört für Weischedel: Wahrhaftigkeit, Sachlichkeit, Geltenlassen und Toleranz; »Verantwortlichkeit« schließt nach seinem Verständnis Solidarität, Gerechtigkeit und Treue ein. Diese Grundhaltungen fußen nach ihm auf Grundentschlüssen: Er entschließt sich zum Skeptizismus (alles ist fraglich), zur Freiheit (»Besitz eines Spielraums für ein Wählenkönnen, innerhalb dessen der Mensch von sich selber her über sich selbst bestimmen kann« 86), zum Dasein (der Skeptiker entzieht sich nicht der fraglich gewordenen Welt durch Selbstmord) und zur Gestaltung des Daseins (nicht sich treiben lassen, sondern das Dasein gestalten). Weischedel meint, daß zur »Abschiedlichkeit« eine durchgängige Distanz des Menschen zu sich und zur Welt gehört. Sosehr mir sein Gedanke der Abschiedlichkeit gefällt, der Gedanke an eine ständige Wandlung, sosehr mir auch einleuchtet, daß zur »Abschiedlichkeit« die Fähigkeit gehört, Distanz zu nehmen, sowenig glaube ich daran, daß das durchgehende Distanznehmen dem Leben angesichts des Sterbenmüssens gerecht wird. Ohne Bindungsbereitschaft scheinen mir Trennung und Abschiedlichkeit überflüssig zu sein. Auch wenn Weischedel sagt, der abschiedlich existierende Mensch werde keine Träume von Ewigkeit und Unsterblichkeit träumen 87, scheint mir das keineswegs ausgemacht, sondern eher ein Wunschtraum von ihm zu sein. Hier verläßt er zumindest die Ebene des offenen Fragens, die Voraussetzung für seine Schlüsse ist. Als Skeptiker muß er auch das offen, fraglich sein lassen. Gerade dann, wenn wir die »Abschiedlichkeit« sehr ernst nehmen, wird sich 176
die Sehnsucht nach »Dauer«, nach Symbiose, nach etwas Bleibendem im Menschen melden. Auch wenn ich mich als ständig werdender Mensch erfahre und weiß, daß ich mich unendlich oft verändern werde, werde ich mich doch nie als jemand anderen als eben »mich« erfahren, außer in pathologischen Zuständen. Mir scheint das Erlebnis der Identität doch als gesichert zu gelten. Angesichts von Trennung meine ich aber auch, daß das Bedürfnis nach Bindung des Menschen nicht zu übergehen ist. Es gibt nicht nur den Tod, es gibt auch die Liebe. Wenn Abschiedlichkeit so radikal gefordert wird, dann muß auch Bindung wichtig sein, und dann muß darüber hinaus wichtig sein, daß der Mensch sich gehalten weiß, sei es, daß er im Laufe des Lebens gelernt hat, eine ihn stützende, akzeptierende Umgebung zu introjizieren als etwas, das ihm aus der eigenen Persönlichkeit entgegenkommt, sei es, daß er darüber hinaus erfährt, daß seine Psyche ihn übersteigt, daß er in der Transzendenz gründet und er symbiotisch mit dieser Transzendenz sein kann, die lebenssteigernde Wirkung hat. Der kann sich trennen, der auf weitere Bindungen vertraut, der kann abschiedlich existieren, der immer wieder weiß, daß er sich niederlassen kann. Das Bild des Nomaden bietet sich dafür an: der Nomade, der immer wieder weggeht, sich aber auch immer wieder niederläßt auf Zeit; was aber das Lebensnotwendigste für ihn ist, das nimmt er mit. Abschiedlich zu existieren fällt uns schwer. Es fällt uns schwer, immer wieder Trennungen anzunehmen. Wir wehren uns gegen die Veränderung, versuchen sie zu leugnen, 177
wo sie schon längst eingetreten ist. Wehren wir uns gegen den Tod? Gegen das Hereinragen des Todes ins Leben? Dabei ist ja gerade das Stehenbleiben der Tod. Um den Tod nicht sehen zu müssen, negieren wir ihn und seinen Trabanten, die Veränderung – und dann sind wir unversehens tot. Becker 88 schreibt dazu: »Der Mensch muß mit dem Leben bezahlen, er muß täglich bereit sein, zu sterben, sich den Risiken und Gefahren dieser Welt auszusetzen und sich von ihr verschlingen und verbrauchen zu lassen. Anderenfalls ist man am Ende selber wie tot, weil man verzweifelt bemüht war, dem Leben wie dem Tod zu entrinnen. So interpretieren moderne, existen-tialistische Psychiater die Depression.« Becker bezieht sich auf Medard Boss 89. Wenn man nicht bereit ist, abschiedlich zu existieren, den Tod ins Leben einzubeziehen, dann droht die Depression. Auch Bek-ker verknüpft die Unfähigkeit, Verluste zu ertragen, Veränderungen zu ertragen, mit Neigung zu Depression. Es bedarf also immer wieder des Opfers dessen, was wir meinen erreicht zu haben und zu sein, damit wieder etwas Neues ins Leben treten kann. Wir müssen aber auch die Gewißheit haben, daß Dasein immer wieder gestaltet werden kann, daß wir trotz der ständigen Veränderungen kreativ sein können, ja daß gerade diese Veränderungen Aspekte der Kreativität sind. Wir brauchen aber auch das Gefühl der durchgängigen Identität mit uns selbst, damit wir den Mut haben, uns immer wieder auch von uns zu distanzieren und vertrauensvoll 178
das Unbekannte an uns herantreten zu lassen. Diese Identität möchte ich bestimmen als Gefühl des Einsseins mit sich selber, als gewordener und werdender Mensch, die sich aus dem Geöffnetsein seines Ich nach innen und nach außen immer wieder neu formt. Jede dieser Neuformungen ist ein Zusatz zu schon Bestehendem, ist eine Verhaltensmöglichkeit mehr, die an sich selbst beobachtet, die erlebt werden, auf die man sich verlassen kann. Identität setzt eine Beziehung zu sich selber, zum Körper, zur eigenen Tiefe und zur Umwelt voraus. Die Beziehungen zu den andern Menschen, unsere Bindungen, sind ein wesentlicher Aspekt unserer Identität, die ich »Beziehungsidentität« nennen möchte, weil sie sowohl vielfache Bezogenheit voraussetzt als auch beziehungsfähig macht 90. Es bedarf also der Rückbindung an uns selbst, an einen transzendenten Hintergrund in uns, von dem wir uns getragen fühlen, wie auch des Wissens um die Bindungsfähigkeit an Menschen, denen wir vertrauen, und des Zutrauens in unsere eigene Gestaltungskraft des Daseins, um abschiedlich existieren zu können. Ist es da verwunderlich, daß wir es vorzögen, nicht abschiedlich existieren zu müssen, auch wenn sich dann das Leben gegen uns wendete ? Natürlich gibt es auch die polare Lebensphilosophie: Wir lassen uns das Leben entgleiten, der Tod ist uns ja eh gewiß. Nichts ist dann wirklich wichtig, alles bleibt »flüchtig«, die Gestaltung des Daseins ist nicht attraktiv. Es gibt viele mögliche Abwehrformen gegen unsere Vergänglichkeit, etwa die »Geschäftigkeit wider den Tod«, die Scheler 9 sehr stark herausstellt mit seiner These, daß die 179
Menschen Fortschritt – um des Fortschreitens willen – an die Stelle des Glaubens an das ewige Leben gestellt hätten. Andere Formen der Abwehr können darin gesehen werden, daß wir beispielsweise versuchen, den Tod zu überwinden, und hoffen, ihn eines Tages wirklich zu besiegen, oder anderseits in der Weigerung, sich überhaupt ins Leben hineinzubegeben, im Stehenbleiben auf einer kindlichen Entwicklungsstufe. Eine andere Möglichkeit ist die Identifizierung mit dem Tod als dem »unzerstörbaren Zerstörer«. Diesen Aspekt der Abwehr gegen die Sterblichkeit möchte ich herausgreifen, sowie die Tendenz zur Entwertung alles Lebenden, die damit zusammenhängt. Mary Williams 92 vertritt die interessante These, daß SadoMasochismus als eine »Methode« angesehen werden kann, mit der Todesangst fertig zu werden. Sie sieht im Sadismus eine kontraphobische (angstbannende) Identifikation mit dem Tod als Zerstörer. Das Opfer ist sterblich, der Täter kann sich in der Ekstase der Unsterblichkeit erleben. Der Sadist identifiziert sich mit dem Tod als »dem unzerstörbaren Zerstörer«, die Sterblichkeit wird auf das Opfer projiziert. Der Masochist identifiziert sich mit dem sterblichen Opfer und projiziert auf den anderen den unverwundbaren Zerstörer, den Retter, der ihn von der Sterblichkeit erlösen wird. Williams sieht im Masochismus eine kontraphobische Reaktion auf unbewußten Sadismus. Sadismus und Masochismus bezeichnet sie als das am meisten perverse Beziehungsmuster. Die These von Williams leuchtet ein. Es bleibt natürlich die Frage, was denn geschehen muß, daß ein Mensch 180
genötigt ist, sich mit dem »unzerstörbaren Zerstörer« zu identifizieren, um den Gedanken an die Sterblichkeit aushalten zu können. Es muß dies ein Mensch sein, der in seinem Identitätserleben schwer gestört ist, vermutlich gerade durch Trennungen, die er nicht verkraftet hat. Sadisten leiden in der Regel an starken Ohnmachtsängsten, die sie durch Machtgebaren kompensieren. Angesichts des Todes sind wir letztlich ohnmächtig. Die Versuchung, sich mit dem »unzerstörbaren Zerstörer« zu identifizieren, liegt nahe. Mir scheint, daß die These von Williams für die Therapie von Menschen mit stark sadistischen Über-Ich-Anteilen sehr brauchbar und entlastend ist. Wenn hinter diesen sadistischen Über-Ich-Anteilen der Tod verborgen ist, dann wird das persönliche Problem auch zu einem Menschheitsproblem; das Problem bekommt einen letzten Ernst. Ich frage mich, inwiefern Destruktivität überhaupt auch aus einer solchen Identifikation mit dem Tod als Zerstörer herrührt. Mit dem Hinweis auf Sado-Masochismus als Beziehungsmuster schneidet Williams das ganze Problem der Verdrängung des Todes in den Beziehungen an. Sie postuliert, daß es bei starker Verdrängung des Todes von beiden Partnern zu einem sado-masochistischen Beziehungsmuster kommt, wo der eine der Zerstörer ist, der andere der Zerstörte. Die Rollen sind vermutlich austauschbar. Willi93 stellt fest, daß die »anal-sadistische Kollusion« in unserer Gesellschaft die häufigste Form von Ehekonflikten darstellt. Die sado-masochistische Kollusion ist ein Aspekt 181
davon. Unter Kollusion versteht Willi das Zusammenspiel von Partnern, die einen gleichartigen, unbewältigten Grundkonflikt haben. Nach der These von Williams wäre das die Verdrängung des Todes. Die Partner spielen ihre Rollen, als würden sie sich eigentlich ergänzen, dabei ist jede der Rollen nur eine Variante der anderen, meistens eine polarisierte Variante. In unserem Beispiel: Beiden geht es um Unsterblichkeit und Sterblichkeit; der Sadist identifiziert sich mit dem »unzerstörbaren Zerstörer« und projiziert die Sterblichkeit auf das Opfer, beim Opfer ist es umgekehrt. Das Grundproblem ist dasselbe. Weil aber das Grundproblem dasselbe ist, kann es sein, daß die Verhaltensmöglichkeit des Partners, auch wenn man sie für sich selbst noch so sehr ausgeschlossen hat (in der Hoffnung, daß dadurch der Partner einen von dem Grundkonflikt »erlösen« könne), als eigene Verhaltensmöglichkeit durchbricht, gerade weil man sie so lange verdrängt hat. Die Phantasie vom gegenseitigen Erlösen kann dann nicht mehr aufrechterhalten werden, man muß dann vielmehr den Grundkonflikt bearbeiten, hier den Grundkonflikt, der aus der Tatsache der Sterblichkeit und dem Wunsch nach Unsterblichkeit erwächst. In der sado-masochistischen Kollusion geht es um Herrschaft und Unterlegenheit, es geht um Macht, um Bemächtigen und um Über-sich-verfügen-Lassen. Es stellt sich die Frage, ob die These von Williams ausgeweitet werden darf auf alle Autoritätsprobleme, auf alle Probleme von Macht. Interessanterweise vertritt Wilke 94 die These, daß es in der Analyse von Menschen, die an Autoritätsproblemen leiden, von besonderer Bedeutung ist, daß eine Ausein182
andersetzung mit Tod und Sterblichkeit stattfindet. Die Erfahrung, daß keine Autorität vor dem Tod verschont bleibt, relativiert diese; die Erfahrung, daß man selbst auch sterblich ist, relativiert einen selbst. Macht als Kampf gegen die Sterblichkeit, letztlich als den Versuch zu verstehen, sich mit dem Tod zu identifizieren, könnte erklären, weshalb das Machtstreben so stark ist, und es könnte auch erklären, weshalb Verlust von Macht als so einschneidend erlebt wird: Macht und abschiedliche Existenz vertragen sich nicht; die Macht ist auf Haben aus, auf Halten dessen, was gewonnen ist. Wenn nun Macht wirklich gegen die Abschiedlichkeit konzipiert ist, dann verlieren wir, wenn wir Macht verlieren, nicht nur etwa Einflußnahme, Geld usw., sondern wir werden daran erinnert, daß Leben vergeht, daß es keine »Methode gegen den Tod« gibt, die sicher ist. Im gleichen Zusammenhang sehe ich das Entwerten, sei es das Entwerten seiner selbst oder das Entwerten der Welt, des Lebens überhaupt. Es erscheint mir als die regressive Form des Versuchs, Macht über den andern oder auch Macht über die Welt und das Leben zu gewinnen, indem ich den andern entwerte und die Welt entwerte. Ich bin dann mächtig. Es ist nicht die rivalisierende, tätige Form der Machtanhäufung, es ist eine Form der Macht, die über sich und die andern den Schleier des »Unwerts« legt. Dahinter steht auch eine Identifikation mit dem Tod als dem Zerstörer; umgekehrt verbirgt sich dahinter aber auch das Problem, daß das Leben nicht angenommen werden kann auf neue Möglichkeiten hin, die als Konsequenz der Sterblichkeit des Menschen ergriffen werden müssen. 183
Weil dieser Aspekt des Abschiednehmens ausschließlich als schmerzlicher Verlust empfunden wird, legt sich eine Stimmung der Abschiedlichkeit wie Reif über das ganze Leben, alles wird banal und relativ. Das Gegenstück zum Entwerten, das Idealisieren, hat die gleichen Wurzeln. Liegt im Entwerten das Wissen darum, daß alles vergänglich ist, ohne daß die Konsequenz daraus gezogen wird, nämlich wirklich »abschiedlich« zu leben und dadurch der Versuchung zu entgehen, daß das Leben banal wird, so liegt im Idealisieren ebensosehr das Wissen darum, daß das Leben vergänglich ist. Doch wird hier verzweifelt versucht, allem und jedem eine Bedeutung zu geben, die ihm nicht zukommt. Durch die Bedeutsamkeit ist dann die Angst vor dem Hinfälligwerden zumindest vorübergehend gebannt. Angesichts der Abwehrformen gegen den Tod wird klar, daß abschiedlich zu existieren, wie es einem Leben, das begrenzt ist, gemäß wäre, uns große Angst macht und uns dazu bringt, eine Position für uns zu suchen, die »sicher« ist – bis hin zu der Identifikation mit dem Tod als dem »unzerstörbaren Zerstörer«. Daran wird wiederum sichtbar, wie sehr die Verschmelzung mit etwas Transzendentem gesucht wird. Bei der Verschmelzung mit dem Tod als dem »unzerstörbaren Zerstörer« erfolgt die Verschmelzung nur mit einem Aspekt des Todes, mit dem des »Zerstörers«. Der Tod wird damit seiner transzendenten Qualität wesentlich beraubt, auf »Überschaubares« reduziert. Die Sehnsucht nach der Symbiose mit etwas Transzendentem mag bei diesem Verschmelzen mit dem Tod als »Zerstörer« auslösend sein; da der Tod aber »reduziert« wurde, kann auch das Er184
lebnis der Symbiose keines der Entgrenzung sein. Deshalb kann die Symbiose damit zwar das Gefühl von »Macht« vermitteln, nicht aber das Gefühl der Lebendigkeit, der Geborgenheit. Die daraus resultierende Einstellung zum Leben (zum Beispiel Sado-Masochismus) ist meist todbringend, mit einer Vorliebe für Gewalt, für das Unlebendige. Erich Fromm 95 spricht in diesem Zusammenhang von Nekrophilie als einer Lebensorientierung, die nicht das Lebendige, sondern das Tote liebt, nicht das Wachstum, sondern die Destruktion: »Die Nekrophilie stellt eine grundsätzliche Orientierung dar; sie ist genau jene Antwort auf das Leben, die in völligem Gegensatz zum Leben steht; sie ist die morbideste und gefährlichste unter allen Lebensorientierungen, deren der Mensch fähig ist. Sie ist eine echte Perversion: Obwohl man lebendig ist, liebt man nicht das Lebendige, sondern das Tote, nicht das Wachstum, sondern die Destruktion. Wenn der nekrophile Mensch es wagt, sich über seine Gefühle Rechenschaft abzulegen, dann drückt er das Motto seines Lebens mit den Worten aus: ›Es lebe der Tod‹.« Bedenken wir, wie viele Depressive unter ihrem sadistischen Über-Ich leiden, dann müssen wir die Zunahme der depressiven Krankheiten auch unter dem Aspekt der partiellen Identifizierung mit dem Tod als dem Zerstörer sehen. Das Problem der Verschmelzung mit dem Tod als dem unzerstörbaren Zerstörer besteht darin, daß die kreativen Kräfte, die dem entgegengesetzt sind, nicht genützt werden 185
können. Fromm setzt der nekrophilen Orientierung des Menschen die biophile Orientierung entgegen. Biophil ist der Mensch, der das Leben liebt, der lieber etwas Neues schafft, als Altes bewahrt, der lieber das Abenteuer des Lebens wagt, als Sicherheit zu suchen. Natürlich ist kaum jemand nur nekrophil oder nur biophil. Nur biophil sein würde auch wieder heißen, den Tod ausblenden. Ganz abgesehen davon sind viele schöpferische Leistungen auch von einer Destruktion begleitet, setzen sie doch neue Werte und zerstören damit alte, sei dies nun mehr im kollektiven oder im individuellen Erleben. Indem wir schöpferisch leben, tragen wir dem Tod durchaus Rechnung: Das Annehmen von Veränderungen, das Ertragen von Verunsicherung, die Fähigkeit, »loszulassen« und auf eine neue Idee zu warten, diese dem Bekannten so zu verknüpfen, daß das Bekannte entweder ausgeweitet oder anders betrachtet werden muß: das sind wesentliche Aspekte des Schöpferischen; es sind aber auch wesentliche Aspekte der Lebenskunst überhaupt 96. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß für Jung das Therapieziel darin besteht, einen Menschen schöpferisch zu machen 97. Aber auch andere Therapeuten, wie etwa Rogers 98 und Landau, messen der Kreativität innerhalb der Therapie einen großen Wert bei. Es ist richtig, wenn Gordon in ihrem Buch »Dying and Creating« 99 (Sterben und Schaffen) die These aufstellt, daß die psychologische Einstellung, die ein gutes Sterben ermögliche, zugleich auch die Einstellung sei, die kreative Arbeit begünstige. Es ist die Haltung des immer wieder 186
Sich-Trennens von Gewohntem, das Trauern und das Vertrauen darauf, daß sich wieder etwas Neues ergibt. Das Problem Tod wird in jeder Therapie wichtig. Unsere Beziehung zum Tod, unsere Ängste, unsere Abwehrmechanismen, unsere Bilder vom Tod, die symbolische Bedeutung, die er hat und die wir ihm geben, beeinflussen unser Leben. Das gilt wohl auch unter kollektiven Perspektiven. Dunne 00 stellt die These auf, daß die ägyptische Kultur deshalb so lange existieren konnte und so stabil war, weil der Gedanke an den Tod in keiner Weise verdrängt wurde, weil man im ständigen Gedenken an den Tod lebte, und zwar in der Hoffnung auf die Hilfe der Götter und auf ein gutes Jenseits. Wenn wir aber von Tod sprechen, dann müssen wir auch von der Trauer sprechen. Das Trauern um einen Menschen, den wir liebten, ist der Extremfall des Hereinragens des Todes ins Leben und kann uns deshalb am deutlichsten klarmachen, wie sehr der Tod unser Leben verändern kann, wie sehr er unser Selbst- und Weltverständnis aufbricht, wie sehr »abschiedliche Existenz« von uns gefordert wird – und wie weh diese tut. Der Extremfall zeigt uns aber auch, daß Trennungen, so schwer sie uns fallen, nicht nur Verlust bedeuten, sondern auch Herausforderung zur größtmöglichen Selbstverwirklichung. Die Verarbeitung des Verlustes wird von Träumen inten diert. Nach Abschluß der Trauerarbeit kann ein Mensch, wissend darum, daß der Tod ihm jederzeit wieder den geliebten Menschen wegnehmen kann, eine neue Bindung eingehen. 187
Dieser Extremfall des Verlusts, dieser Extremfall der Begegnung mit dem Tod kann uns den Blick schärfen für unsere alltäglicheren Begegnungen mit dem Tod, sei es, daß wir uns verändern müssen, sei es, daß wir Verluste hinnehmen müssen. Der Tod ist nicht ein einmaliges Ereignis, er ragt immer schon ins Leben hinein, fordert immer schon Veränderung. Die abschiedliche Existenz ist die Antwort darauf. Zum abschiedlichen Existieren gehört das Wissen um die Geschichte, die wir haben, um unsere innerste Identität, das Wissen darum, daß es auch für uns Erlebnisse von Ganzheit, von Kontinuität gibt in der Symbiose mit etwas Transzendentem; das Wissen schließlich, daß wir der Vergänglichkeit die schöpferische Gestaltung entgegensetzen können. Aber auch bei unseren alltäglicheren Begegnungen mit dem Tod scheint mir das Trauern wichtig zu sein. Wir unterschätzen sonst seine Wichtigkeit und unsere Verletzung. An der Emotion der Trauer, so paradox es klingt, können wir »gesunden«, denn sie bewirkt Wandlung. Wir können den Tod sehen als jene Macht, die uns ständig antreibt, uns zu wandeln. Der Gedanke der Wandlung kann ein faszinierender Gedanke sein, aber der Preis der Wandlung ist Trennung, ist Verlust. Wenn wir das übersehen, auch in Psychotherapien, wo es ja so sehr um Wandlung geht, findet kaum Wandlung statt: denn nur die Emotion der Trauer bewirkt Wandlung, läßt wirklich Abschied nehmen und macht den Menschen bereit für neue Beziehungen.
Anmerkungen . Augustinus, A.: Confessiones III, 4, 9; 6, ; Dreizehn Bücher Bekenntnisse, übertr. von Carl Johann Perl, mit Anm. von Adolf Holl. 2.Aufl. Paderborn 964, S. 77 ff. 2. Lindemann, E.: The Symptomatology and Management of Acute Grief. Am. J. Psychiat. 0, 44, 944. 3. Parkes, C. M.: Vereinsamung. Die Lebenskrise bei Partnerverlust. Rowohlt Taschenbuch 730, Hamburg 978. 4. Bowlby, J.: Loss, Sadness and Depression. Hogarth Press, London 980.Bowlby referiert eine Untersuchung an 60 Personen, die ihren Partner verloren haben, drei Jahre nach dem Todeserlebnis. Eine einzige Person hatte in dieser Zeit Selbstmord begangen (S. 5 f.). 5. Vgl. Wiplinger, F.: Der personal verstandene Tod. Alber, Freiburg 980. 6. Marcel, G.: Gegenwart und Unsterblichkeit. Verlag Knecht, Frankfurt a. M. 96, S. 287. 7. Parkes, C. M., a. a. O. 8. Die Shiva, die sieben Trauertage, die nach dem Tod eines Verwandten eingehalten werden und während derer man im Heim des Verstorbenen sitzt, betet, vom Verstorbenen spricht, dem Hauptleidtragenden alle Pflichten abnimmt und ihn einfach Wärme und Fürsorge spüren läßt. 9. Kuhn, R. zit. in Parkes, C. M., a. a. O., S. 5. 0. Schultz, H. J., Hrsg.: Einsamkeit. Kreuz Verlag, Stuttgart 980. . Vgl. auch Parkes, C. M., a. a. O., S. 77.
189
2. Kübler-Ross, E.: Interviews mit Sterbenden. Kreuz Verlag Stuttgart, 2. Aufl. 980. Kübler-Ross beschreibt in diesem Buch fünf Phasen, die ein Mensch durchmacht, wenn er erfährt, daß er an einer Krankheit leidet, die zum Tode führt: . Phase: Nicht-wahrhaben-Wollen, 2.Phase: Zorn, 3.Phase: Verhandeln, 4.Phase: Depression, 5.Phase: Zustimmung. Kübler-Ross beschreibt die Phase der Depression so, daß der Kranke Abschied nimmt und trauert, weil er von so vielen Abschied nehmen muß. Diese Stadien, die KüblerRoss beschreibt, scheinen mir auch auf den Trauerprozeß der Hinterbliebenen übertragbar zu sein. 3. Vgl. Parkes, C. M., a. a. O., S. 55ff. Bowlby, J., a. a. O., S. 85. 4. Brief über den Tod Carolines vom 2. Oktober 809 an Immanuel Niethammer, hrsg. von J. L. Döderlein, Stuttgart-Bad Cannstadt, 975. Zit. in: Scherer, G.: Das Problem des Todes in der Philosophie. Wissenschaftl. Buchgesellschaft, Darmstadt 979, S. 79. 5. Marcel, G., a. a. O. S. 238. Kritik dieser Aussage: Wiplinger, F., a. a. O. S. 02 ff. 6. Vgl. Bowlby, J., a. a. O., z. B. S. 85, Parkes, C. M., a. a. O., z. B. S. 203. 7. Kübler-Ross, E., a. a. O. 8. Vgl. etwa Freud, S.: Trauer und Melancholie. In: Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe Bd. III. Conditio Humana, Fischer, Frankfurt a. M. 975, S. 94ff. Parkes, C. M., an verschieden Orten, z. B. S. 26. Meyer, J. E.: Todesangst und das Todesbewußtsein der Gegenwart. Springer, Berlin 979, S. 55. 190
9. So erwähnt Parkes, daß Witwen, die solche Träume hatten, in denen sie mit ihrem Partner zusammentrafen, signifikant weniger Schlafstörungen hatten als solche, die diese Träume oder Phantasien nicht hatten. Vgl. Parkes, C. M., a. a. O., S. 75. 20. Vgl. Bowlby, J., a. a. O., z. B. S. 5, 82. 2. Kasack, H.: Die Stadt hinter dem Strom. Suhrkamp, Frankfurt 947, 972. 22. Zur Deutung auf der Subjekt- und auf der Objektstufe ein Zitat von C. G. Jung: »Ich nenne jede Deutung, in der die Traumausdrücke als mit realen Objekten identisch gesetzt werden können, eine Deutung auf der Objektstufe. Dieser Deutung gegenüber steht diejenige, welche jedes Traumstück, zum Beispiel alle handelnden Personen, auf den Träumer selbst bezieht. Dieses Verfahren heißt die Deutung auf der Subjektstufe.« Jung, C. G.: Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie (Jahrbuch für Psychoanalytische und Psychopathologische Forschung, Band V, 93, S. 52/53). Rascher, Zürich 955, als selbständiges Buch erschienen. 23. Parkes, C. M., a. a. O., S. 78. 24. Freud beschreibt die Trauerarbeit: »Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet ?... Die Realitätsprüfung hat gezeigt, daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen … Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.« Freud, S., a. a. O., S. 98 f. Paula Heimann sagt zum Begriff der Trauerarbeit: »Stufe um Stufe, Schritt für Schritt erinnert sich der Trauernde an seine Erlebnisse mit dem Liebesobjekt unter dem Diktat 191
der Realität, daß er dieses Objekt verloren hat, daß solche Erlebnisse nicht mehr zu haben sind. So wird das Erinnern ein stückweises, fortgesetztes Zerreißen der Bindung an das geliebte Objekt und damit ein Erlebnis von Rissen und Wunden im Selbst des Trauernden. In der Trauerarbeit werden die Schmerzen aller vergangenen Verluste wiederholt .. Gegen die Versuchung, sich der schmerzvollen Trauerarbeit nicht zu unterziehen und mit dem Objekt verbunden zu sterben, bedarf es eines gesunden Narzißmus, demzufolge das Am-Leben-Bleiben und Genesen hohen Wert besitzen und Belohnung sind für das Durchstehen der Trauerarbeit.« Heimann, P.: Bemerkungen zum Arbeitsbegriff in der Psychoanalyse. In: Psyche 20, S. 32 ff., 966. 25. Scheler, M.: Tod und Fortleben, Ges. Werke, Bd. 0, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. . Bern 957. 26. Bowlby, J., a. a. O. Parkes, C. M., a. a. O. 27. Kübler-Ross, E., a. a. O., S. 99 f. 28. Bowlby, J., a. a. O. 29. Bowlby, J., a. a. O., S. 85. 30. Parkes, C. M., a. a. O., S. 203. 3. Parkes, C. M., a.a.O. Bowlby, J., a. a. O., S. 90. 32. Grof, S., Halifax, J.: Die Begegnung mit dem Tod. Klett/ Cotta, Stuttgart 980, S. 57. 33. Vgl. Aries, Ph.: Geschichte des Todes. Hauser, München 980, S. 24 ff. 34. Görer, G.: Death, Grief and Mourning. Camelot Press, London 965. 192
35. Parkes, C. M., a. a. O., S. 63 f. 36. Brown, G. W., Harris, T., Copeland, J. R.: Depression and Loss. Brit. J. Psychiat. 30, -8, 977. 37. Parkes, C. M., a. a. O., z. B. S. 50. 38. Kast, V.: Das Assoziationsexperiment in der therapeutischen Praxis. Bonz, Fellbach/Stuttgart 980, S. 5 ff. 39. Jung, C. G.: Die transzendente Funktion. In: Dynamik des Unbewußten. WW8, Rascher, Zürich 967, S.9. Erstmals veröffentlicht 96. 40. Vgl. Parkes, C. M., a. a. O., S. 77, Bowlby, J., a. a. O., S. 97, Gorer, G., a. a. O. 4. Parkes, C. M., a. a. O., S. 87. 42. Freud, S., a. a. O. 43. Freud, S., a. a. O., S. 99. 44. Jacobson, E.: Depression. Suhrkamp, Frankfurt 977. 45. Jacobson, E., a. a. O., S. 23. 46. Deutsch, H.: Absence of Grief. Psychoanalyt. Quart. 6, 2–22, 937. 47. Vgl. etwa Studien von Volkan, V.: Typical Findings in Pathological Grief. Psychiat. Quart. 44, 23-250, 970. 48. Bowlby, J., a. a. O., S. 53. 49. Vgl. Schmiedbauer, W.: Die hilflosen Helfer. Rowohlt, Hamburg 977. 50. Szonn, G.: Trauerarbeit mit dem Katathymen Bilderleben. In: Leuner, H., Hrsg.: Katathymes Bilderleben. Huber, Bern/Stuttgart 980, S. 263-27. Das Katathyme Bilderleben, von H. Leuner entwickelt, ist 193
ein Tagtraumverfahren. Der Versuchsperson wird dabei, in entspanntem Zustand, aufgetragen, sich in einen gewissen Vorstellungsinhalt hineinzubegeben und diese Vorstellungen sich entwickeln zu lassen. Der Imaginierende ist meistens emotional stark beteiligt. Je entspannter der Imaginierende ist, um so farbiger, lebendiger werden seine Imaginationen, um so stärker ist die emotionelle Beteiligung. Leuner und seine Mitarbeiter benutzen Standardmotive, wie etwa die Wiese, den Bach usw. für ihre Imaginationen. Diese Motive können natürlich erweitert werden, wie es Szonn in der Arbeit mit der Frau tat, die nicht trauern konnte. 50a. in: Finnische und Estnische Märchen, Märchen der Weltliteratur, Diederichs-Verlag, Köln-Düsseldorf 962. 5. Parkes, C. M., a.a.O., S. 9. 52. Parkes, C. M., a. a. O., S. 90–93. 53. Vgl. Lord, R., Ritvo, S., Solnit, A. J.: Patients’ Reaction to the Death of the Psychoanalyst. In: Int. J. Psycho-Anal. 59, 89, 978. 54. Parkes, C. M., Benjamin, B., Fitzgerald, R. G.: Broken Heart: A Statistical Study of Increased Mortality Among Widowers. Brit. med. J. , 740–743, 969. 55. Brown, G. W., Harris, T., Copeland, J. R., a. a. O. Die Untersuchung ist ausführlich referiert in: Bowlby, J., a. a. O., S. 250-262. 56. Volkan, V.: A Study of a Patient’s »Re-Grief-Work«. In: Psychiat. Quart. 45/, 255-273, 97. 57. Vgl. Volkan, V., a. a. O. Bowlby, J., a. a. O. Brown, G. W., Harris, T., Copeland, J. R., a. a. O. 58. Mahler, M.: Symbiose und Individuation. Klett, Stuttgart 972, S. 4. 194
59. Mahler, M., Pine, F, Bergman, A.: Die psychische Geburt des Menschen. Fischer, Frankfurt a. M. 978. 60.Simone de Beauvoir: Une mort très douce. Gallimard, Paris 964.
6.Apostel Paulus: Brief an die Philipper , 23-24. 62.Teresa von Avila: Vita 24, 7. 63. Kohut, H.: Narzißmus. Suhrkamp, Frankfurt 973. Kohut, H.: Die Heilung des Selbst. Suhrkamp, Frankfurt 979. Kernberg, O.: Borderline Störungen und pathologischer Narzißmus. Suhrkamp, Frankfurt 978. 64. Meyer, J. E., a. a. O., S. 34. 65. Meyer, J. E., a. a. O. 66. Bataille, G.: Der heilige Eros. Luchterhand, Darmstadt 963. 67.Das Thema Liebe und Tod dominiert z. B. das Werk von Ingeborg Bachmann: Die Liebe hat einen Triumph
und der Tod hat einen,
die Zeit und die Zeit danach.
Wir haben keinen. Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. Doch das Lied überm Staub danach wird uns übersteigen. Ingeborg Bachmann, Werke. Hrsg.: Koschel, Ch., von Weidenbaum, J., Münster, C. Piper, München 978. Verdichtet im 5. Lied der »Lieder auf der Flucht«, Bd. I, S. 47.
68. Rilke, R. M.: Werke in 3 Bänden. Insel Verlag, Frankfurt 966, Bd. I, S. 233. 195
69. Meyer, J. E., a. a. O., S. 49. 70. Jung, C. G.: Psychologische Typen. Rascher, Zürich 92, 960, S. 52ff. 7. Grof, S„ Halifax, J., a. a. O., S. 55. 72. Grof, S., Halifax, J., a. a. O., S. 55. 73. Vgl. Jung, C. G.: Mysterium Coniunctionis. Rascher, Zürich 968, WW 4/ und 4/2, besonders 4/2, S. 324ff. 74. Vgl. Mahler, M., a. a. O. 75. Vgl. Rank, O.: Beyond Psychology. Dover Publications, New York 958, S. 96. Erstmals publiziert 94. 76. Brown, G. W., Harris, T., Copeland, J. R., a. a. O. 77. Vgl. die Märchen vom dankbaren Toten, z. B. »RothaarigGrünäugig«, aus: Märchen aus Kurdistan, Märchen der Weltliteratur. Diederichs 978. 78. Das Gilgamesch-Epos. Reclam, Stuttgart 958. 79. Mitscherlich, A. und M.: Die Unfähigkeit zu trauern. Piper, München 967. 80. Mitscherlich, A. und M., a. a. O., S. 9. 8. Dieckmann, U.: Ein archetypischer Aspekt in der auslösenden Situation der Depression. In: Analyt. Psychol. 5, 974, 97-2. 82. Brown, G. W., Harris, T., Copeland, J. R., a. a. O. 83. Weischedel, W.: Skeptische Ethik. Suhrkamp, Frankfurt 980. 84. Weischedel, W., a. a. O., S. 96. 85. Weischedel, W., a. a. O., S. 94. 86. Weischedel, W., a. a. O., S. 37. 196
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Ende eBook: Kast - Trauern