Totenplatz
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 164 von Jason Dark, erschienen am 29.11.1994, Titelbild: Nigel Chamberla...
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Totenplatz
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 164 von Jason Dark, erschienen am 29.11.1994, Titelbild: Nigel Chamberlain
Es war ein Ort des Grauens, denn vor einigen hundert Jahren war genau an dieser Stelle eine Familie geköpft worden. Vater, Mutter und zwei Kinder. Aber ihr Henker irrte sich. Die Familie war zwar tot, doch sie lebte trotzdem. Sie hatte im Jenseits keine Ruhe finden können, ebenso wie der Henker. Beide Parteien kehrten zurück. Generationen danach sollte die Hinrichtung noch einmal stattfinden. Und wieder auf dem Totenplatz, wo ein Verein zu einem Grillfest eingeladen hatte. Allerdings mit zwei besonderen Ehrengästen. Suko und mich...
Den Henker störte das Wimmern der Todgeweihten nicht! Es war seine Arbeit, gnadenlos zu sein und das Richtbeil zielgenau zu führen. Die Zeiten waren schlimm. Es gab zu viele Aufrührer, Rebellen und Menschen, die die Ordnung störten. Da mußte schon hart durchgegriffen werden, was die Obrigkeit auch tat. Über sie zerbrach sich der Henker nicht den Kopf. Es oblag ihm, den Urteilsspruch der Richter in die Tat umzusetzen. Auch bei den vier Mitgliedern der Familie Ashford. Sie sollten der Reihe nach die Köpfe verlieren. Derek Ashford, der Vater, war gefaßt. Hochaufgerichtet stand er vor dem Richtklotz. Die Bewacher in seinem Rücken achteten bei ihm auf jede Regung. Neben ihrem Mann hielt sich Madelaine Ashford auf. Eine schöne schlanke Frau, deren Wiege in der Heimat der Gallier gestanden hatte. Von Frankreich aus war sie nach England verheiratet worden. Erst später war es zwischen ihr und ihrem Mann zur großen Liebe gekommen, und aus dieser Ehe stammten zwei Kinder. William, der dreizehnjährige Sohn. Er versuchte, sich ebenso tapfer zu verhalten wie sein Vater. Doch die Tränen ließen sich nicht stoppen. Sie rannen über sein Gesicht und hinterließen nasse Streifen auf der Haut. Cynthia, die elfjährige Tochter, hielt sich bei ihrer Mutter auf. Sie weinte und wimmerte leise. So eng wie möglich hatte sie sich gegen Madelaine Ashford gepreßt. Hin und wieder streichelte die Frau über das blonde Haar des Kindes. Es war kühl in dieser Morgenstunde. Der Nebel lag dünn über den Feldern und Wäldern. Wind wehte kaum und schaffte es auch nicht, den Dunst zu vertreiben. Die Hinrichtung sollte zu keinem Spektakel werden. Sie fand auch nicht in der Öffentlichkeit statt. Der Totenplatz inmitten des Ortes war noch von der Stille der allmählich abklingenden Nacht umgeben. Die Mauern der wenigen Häuser sahen hinter dem dünnen Dunst aus, als würden sie in der Luft schweben. Niemand sollte, niemand durfte zuschauen. Wer sich trotzdem heranwagte, mußte mit drakonischen Strafen rechnen. Die Bewohner hielten sich daran, obwohl jeder wußte, was sich bald hier abspielen würde. Cynthia trug eine kleine Puppe in der rechten Hand. Sie spielte damit. Wie sie selbst von ihrer Mutter gestreichelt wurde, so streichelte sie die Puppe und vermied es, einen Blick auf den Henker zu werfen, der sein Gesicht durch eine schwarze Kapuze verhüllt hatte. Er schaute durch die Schlitze der Augen und auch immer wieder auf die vier bereitgestellten Körbe, in die die Köpfe der Verurteilten hineinfallen würden. Das Urteil brauchte nicht mehr vorgelesen zu werden. Die Ashfords hatten auch auf geistlichen Beistand verzichtet. Sie wußten, daß es einer
Farce gleichkam, denn die hohe Geistlichkeit steckte mit den weltlichen Mächten oft genug unter einer Decke. Auch in diesem Fall war es kaum anders. Die Kirche hatte sich eingeschaltet, und ihre Vertreter hätten die Ashfords auch retten können, wenn die den Mund aufgemacht und geredet hätten. Aber sie hatten geschwiegen. Lieber tot, als ein Verräter an der gerechten Sache zu sein. So hatten sie es sich auf ihre Fahnen geschrieben, und so würden sie auch in den Tod gehen. Zumindest Derek Ashford würde sein Wissen um die Templer mit in die andere Welt nehmen. Zwei Trommler hatte man ebenfalls geholt. Junge Burschen, die in der Nacht getrunken hatten und nebeneinander standen, als würden sie sich gegenseitig festhalten. Der Vertreter des Königs, wie sich der Offizielle großspurig nannte, trat vor und schaute sich die vier Verurteilten noch einmal an. Er war ein widerlicher Mensch. Freundlichverschlagen. Nach oben buckeln, nach unten treten. Als der Name Ashford noch etwas gegolten hatte, da hatte dieser Mann zu den Schleimern gehört. »Ihr hättet es euch ersparen können«, sagte er. »Jetzt ist es zu spät. Für jeden von euch.« »Gehen Sie mir aus den Augen!« Der Mann lachte. »Immer noch nicht das große Maul voll, Ashford?« »Ich hasse Schmeißfliegen wie Sie!« Der Angesprochene spie aus. Abrupt drehte er sich um und nickte dem Henker zu. William Ashford wollte etwas sagen, doch die Worte erstickten bereits in seiner Kehle, denn er sah, wie sich der Henker in Bewegung setzte. Gleichzeitig lösten sich auch zwei Soldaten aus der Reihe hinter den Verurteilten. Der Henker trat neben den Richtklotz, während sich die Soldaten zuerst um Derek Ashford kümmerten. Sie umklammerten ihn an den Schultern und schoben ihn auf den Richtklotz zu. Madelaine verkrampfte sich. Sie streckte ihre Hand aus, um ihren Mann festzuhalten, doch der Griff glitt ins Leere. Noch einmal wandte Derek den Kopf. Er schaute seine Frau an. Es war ein letzter Blick, und er war prall gefüllt mit den Gefühlen, die Derek Ashford seiner Frau entgegenbrachte. Dieser Blick sagte ihr, daß sie für immer zusammenbleiben würden, daß die irdische Gerichtsbarkeit sie nicht trennen konnte. Auch den beiden Kindern war klar, was da geschehen würde. Sie konnten nicht hinschauen. Sie weinten lauter und klammerten sich an ihrer Mutter fest. Derek Ashford war vor dem Richtklotz stehengeblieben. Hochaufgerichtet, keine Spur von Demut in seinen Augen. Er schaffte es
sogar, den Kopf zu drehen und gegen die Augenschitze der Kapuze zu schauen. Der Henker schrak zusammen, als er den Blick des Delinquenten auf sich gerichtet sah. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Die meisten wimmerten oder schrien, dieser Mann aber ging aufrecht in den Tod. Selbst der abgebrühte Henker verspürte ein leichtes Schaudern, das er aber durch Ruppigkeit überspielte und Derek Ashford anherrschte, sich niederzuknien und den Kopf in die Kerbe zu legen. Ashford nickte nur. Dann kam er dem Befehl nach. Stille trat ein. Selbst die allmählich erwachende Natur hielt den Atem 3n. Nichts war zu hören. Kein Vogel schrie oder zwitscherte mehr. Der Eishauch des Todes lag über diesem unheimlichen Richtplatz. Der Henker hatte Erfahrung. Er trat seitlich an den Delinquenten heran. Probehalber hob er sein Richtbeil an und ließ es mit halber Kraft nach unten sausen. Er nickte nach diesem Schlag und war zufrieden. Es würde keine Schwierigkeiten geben, er war ebenso in Ordnung wie die Waffe, deren Klinge er extra gereinigt hatte. Es gab kein Zeremoniell mehr. Das Urteil wurde nicht mehr verlesen. Dafür holte der Henker aus – und schlug zu. Ein dumpfes Geräusch unterbrach die Stille. Der Kopf fiel in den Korb. Schreie der beiden Kinder und der Frau waren zu hören. Die drei Menschen hatten sich abgewendet. Sie konnten das Schreckliche nicht mit ansehen. Madelaine Ashford hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht daran geglaubt, jetzt war es für ihren Mann vorbei, und sie würde diesen Tod ebenfalls erleben. Man holte sie als nächste. Anschließend den Jungen, zuletzt das Mädchen. Man kannte keine Gnade. Die Trommler waren bleich geworden. Sie mußten sich später übergeben, und nur der Henker schaute auf die vier Köpfe in den Körben. Er sah das Blut, er nahm seine Kapuze ab, und auf seinen etwas bläulich schimmernden Lippen erschien ein kaltes Lächeln. Gute Arbeit, das gestand er sich selbst zu. Die Hölle hatte wieder einmal gewonnen… *** An diesem frühen Morgen war Garry McBain unterwegs, um letzte Vorbereitungen zu treffen. Er haßte diese Arbeit, doch als Förster war er dafür verantwortlich, daß die Regeln eingehalten wurden und alles vorbereitet war, damit sich die Jagdgesellschaft wohl fühlte. Man wollte ja nicht schießen, man wollte nur feiern, ein Frühlingsfest mit Freunden und das mitten in seinem Wald. Der Förster ärgerte sich darüber. Er kannte diese Feste. Da wurde gegessen, getrunken, gelärmt, und man ließ oft genug viel Unrat zurück,
um den er und seine Leute sich kümmern mußten, als hätten sie nichts anderes zu tun, denn der Umweltschutz verlangte von ihnen sehr viel. In den letzten Jahren waren die Aufgaben für einen Förster vielfältiger geworden. Er würde auch noch weiterlernen müssen, aber das störte den vierzigjährigen Mann nicht. Mehr ärgerte er sich über diese Gesellschaften, die seiner Ansicht nach nicht in den Wald paßten. Er hatte heimlich gebetet, daß das Wetter sich ändern würde. Leider war ihm dies nicht gegönnt gewesen. Es würde ein schöner Tag werden, sommerlich warm, und ideal für einen Ausflug. Garry lenkte seinen kleinen Geländewagen mit der offenen Ladefläche über den schmalen Feldweg. Er führte direkt am Rand des Waldes entlang. Auf der linken Seite war das Gelände frei. Dort konnte der Blick über ein großes Wiesenstück wandern, über dem zu dieser Tageszeit allerdings eine graue Dunstglocke hing. Die Wiese grenzte an einen kleinen Bach. Danach stieg das Gelände wieder an, bis hin zu einem Waldstück, wo auch mehrere kleine Teiche lagen. McBain war nicht allein gefahren. Auf der Ladefläche hatte es sich Willy bequem gemacht. Willy war ein Rauhhaardackel, ein wilder Geselle, wenn es darauf ankam und der Förster ihn ließ. Ansonsten gehörte Willy eher zu den ruhigen Tieren, der seinem Herrn gehorchte und froh war, wenn er seine Ruhe hatte. Willy sah aus, als hätte er sich zum Schlafen niedergestreckt. Nur manchmal, wenn der Wagen durch eine zu tiefe Furche schaukelte, öffnete er die Augen und schielte in die Höhe. Der Untergrund war eingefurcht. Immer wieder hinterließen die breiten Reifen der Holztransporter ihre Spuren, aber es war der einzige zum Ziel führende Weg. Und das lag dort, wo sich der große Platz ausbreitete. Ein Parkplatz, ein Ort zum Grillen, wo auch die Hütte stand, die an den Seiten offen war, wohl aber gegen Regen schützte, und deren Mittelpunkt, die Grillstelle, von Bänken umsäumt wurde. Dort würde das große Fest am Nachmittag starten, und der Förster bekam ein kantiges Gesicht, als er daran dachte. Er rollte auf den Platz vor der Hütte und stoppte den Wagen. Als das Geräusch des Motors erstarb, blieb Garry zunächst sitzen, um sich an die Stille des Morgens zu gewöhnen. Er mochte sie. Er liebte die Ruhe des Waldes, wo er als Mensch seine Seele baumeln lassen konnte und von keinem anderen Menschen in seiner Meditation gestört wurde. Manche Menschen verglichen die morgendliche Stille des Waldes mit der in einer Kirche. Den Leuten gab der Förster recht. Der Wald hatte etwas von einer Kirche an sich, etwas, das einem Menschen Respekt einflößen konnte, das sehr erhaben war und selbst Garry McBain zu einer gewissen Andacht verleitete.
Sein Hund dachte da anders. Als er gegen die hintere Scheibe kratzte, drehte sich Garry um. Zwei treue Augen schauten ihn vorwurfsvoll an. Garry wußte Bescheid. Willy hatte keine Lust mehr, auf der Ladefläche zu bleiben. Er wollte sich bewegen, tat dies aber nur, wenn auch sein Herr ausstieg. Seufzend löste der Förster den Gurt, und ebenso seufzend verließ er sein Fahrzeug. Darauf hatte Willy nur gewartet. Er setzte mit einem Sprung von der Ladefläche, blieb hechelnd und mit wackelndem Schwanz vor Garry stehen und wartete auf die Worte: »Ja, lauf, aber bleib hier!« Willy bellte kurz, es war mehr ein Wuff-Wuff, dann rannte er weg. Aber er hielt sich an die Befehle des Mannes, denn er blieb stets in Blickweite. McBain stemmte die Hände in die Hüften. Noch einmal schaute er sich um, dann drehte er sich der Ladefläche zu und fing damit an, sie zu entladen. Er hätte das auch seinen Mitarbeitern überlassen können, die aber hatten genug mit ihrem eigenen Job zu tun, und so lud er die Grillkohle selbst ab. Getränke und Verpflegung wurde noch gebracht. Er mußte sich nur darum kümmern, daß auch äußerlich alles in Ordnung war. Mit einem Reisigbesen fegte er das Innere der Hütte sauber, er reinigte auch die Bänke von Vogelkot, und er überprüfte auch den gemauerten Abzug über der eigentlichen Grillstelle. Er hätte zufrieden sein können, aber er war es trotzdem nicht. Erst nach einer Weile, als er alles einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, fiel ihm die Stille auf. Es war eine für diese Tageszeit ungewöhnliche Stille. McBain mußte selbst überlegen, was ihn denn so mißtrauisch gemacht hatte. Er verließ das pilzförmige Dach der Grillhütte, stand im Freien und runzelte die Stirn. Plötzlich wußte der Förster Bescheid. Er vermißte sehr deutlich das Singen oder Zwitschern der Vögel. Ihre schrille Musik war ihm so vertraut, aber an diesem Morgen waren sie still. Der Förster konnte sich keinen Reim darauf machen. Weiter entfernt hörte er das Singen oder Zwitschern, aber warum schwiegen die Tiere gerade an diesem Ort? Eine heftige Bewegung irritierte ihn. Als er nach rechts schaute, sah er eine Dohle, die von einem Zweig zum anderen in die Höhe geflattert war, auf ihrem Platz hockenblieb und den einsamen Mann direkt anschaute. Der einzige Vogel in der Nähe. Das war schon seltsam, und McBain wunderte sich ferner, daß Willy noch nicht erschienen war. Er sah ihn auch nicht. Normalerweise hielt er sich immer am Rand der Lichtung auf, manchmal versteckte er sich auch, aber heute war von ihm nichts zu sehen.
Der Förster spitzte den Mund und stieß einen bestimmten Pfiff aus. Es war das Signal für seinen Hund, das kannte er, und der Rauhhaardackel würde in den nächsten Sekunden ankommen. So zumindest war es immer gewesen. Nur an diesem Morgen nicht. Da blieb Willy verschwunden. Und McBain wunderte sich über die kühle Gänsehaut, die plötzlich auf seinem Körper lag. Er wollte sie nicht als Reaktion auf eine gewisse Furcht ansehen, komisch aber war es schon, denn bisher war Willy auf den Pfiff hin immer erschienen. Warum heute nicht? Der Förster rief den Namen seines Hundes zweimal. Ziemlich scharf sogar, aber Willy kam nicht. Er hörte auch keine fremden Geräusche, es war kein Bellen zu vernehmen, mit dem sich Willy immer dann meldete, wenn er etwas Bestimmtes entdeckt hatte. Hier blieb alles still. Der Förster atmete durch die Nase ein. In seinem Magen lag plötzlich ein Klumpen. Bis zu dieser Minute hatte er seinen Wald immer geliebt, mit einem Mal aber mochte er ihn nicht mehr. Er hatte den Eindruck, daß sich dieser Wald gegen ihn stemmen wollte, daß aus seinem Freund ein Feind geworden war. Garry McBain ging einige Schritte vor und schaute hoch zum grünen Dach der Laubbäume. Sie umgaben den Platz zumindest an drei Seiten und setzten sich auch tiefer im Wald fort, der in den letzten Jahrhunderten gewachsen war. In alter Zeit hatten hier in der Nähe einmal Häuser gestanden, ein kleiner Ort nur, kaum der Rede wert. In irgendeinem Krieg war er dann niedergebrannt worden, und man hatte ihn auch vergessen. Selbst der Förster konnte sich nicht mehr an den Namen erinnern, obwohl sich noch einige Legenden über das Geschehen hier gehalten hatten. Es war nicht sein Problem. Garry wollte Willy finden. Verdammt noch mal, dachte er, der Hund ist nie weggelaufen, so etwas tat er nicht. Willy war zu gut erzogen. Er hörte auch kein Bellen oder Jaulen, ein Zeichen dafür, daß Willy etwas passiert war und er sich verletzt hatte. In dieser Umgebung war einfach nichts zu hören. Die Stille lag über dem Wald wieein Tuch. Er löste sich aus der unmittelbaren Nähe der Hütte, um tiefer in den Wald hineinzugehen. Er wollte in die Richtung laufen, in der Willy verschwunden war. Vielleicht war ihm doch etwas passiert. McBain sah seinen Hund bereits im Geist im Gras liegen, verletzt durch irgendeine Waffe, wie auch immer. »Willy!«
Seine Stimme hallte in den schweigenden Wald hinein. Sie versickerte schließlich als Echo zwischen den Bäumen, aber eine Antwort erhielt der Mann nicht. Der Förster wurde allmählich nervös. Die Furcht nahm zu. Er bewegte sich sehr langsam, denn auf keinen Fall wollte er irgend etwas übersehen. Je mehr Zeit verstrich, um so heller wurde es in seiner Umgebung. Die Strahlen der Sonne schafften es, den Dunst verschwinden zu lassen. Sie beleuchteten jetzt den Wald, und Teile des Lichts wurden gefiltert, so daß es auf dem Boden tatsächlich nur einen hellen Flickenteppich hinterließ. Zwar bildeten Gras und Unkraut eine Schicht auf dem Boden, aber er war auch von Laub bedeckt, das unter den Füßen des Försters leicht knirschte. Das Laub zeigte sich in unterschiedlichen Farben. Mal war es dunkler, dann wieder hell. Brauntöne überwogen. Der Förster kannte hier jeden Fußbreit Boden, an diesem Tag aber kam er sich vor, als wäre er ein Fremder, der den Wald zum erstenmal betreten hatte. Die Umgebung war die gleiche geblieben. Dennoch wollte sie ihm nicht gefallen. Jeder Baum stellte plötzlich eine Bedrohung dar. Er kannte die ja, er hatte sie gezeichnet. Er hatte die Bäume bisher als seine Freunde empfunden, und er hatte hin und wieder sogar mit ihnen gesprochen, was den meisten Menschen lächerlich vorkam, nicht aber einem Mann wie McBain, der sich selbst als ein Stück Natur ansah. Heute war alles anders. Da sah er den Wald nicht mehr als seinen Freund oder Verbündeten an, er war für ihn zu einem Feind geworden mit einem mächtigen Maul, das seinen Hund Willy verschluckt hatte. Für ihn war es schlimm. Je tiefer er in den Wald hineinschritt und sich immer mehr dem Rand der Lichtung näherte, um so mehr verstärkte sich der Eindruck einer drohenden Gefahr. McBain fragte sich, ob er sich noch allein hier im Wald befand. Vielleicht lauerte jemand in der Nähe, der ihn beobachtete und auch Willy gefangen hielt. Blitzartig drehte sich Garry um und schaute zurück. Er sah nichts Fremdes. Die Grillhütte stand vor ihm. Auch unter dem Dach entdeckte er keine Bewegung. Wahrscheinlich hatte er sich gewisse Dinge eben nur eingebildet. Aber Willys Verschwinden blieb. Es war unerklärlich. So hatte sein Hund noch nie reagiert. Zudem ärgerte McBain sich, daß er sein Gewehr im Wagen liegengelassen hatte. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn er es bei sich getragen hätte.
Das war nicht zu ändern. Zudem wollte er auch nicht mehr zurücklaufen. Er würde einen Teil des Waldes durchsuchen und… Mit der linken Fußspitze stieß Garry gegen einen auf dem Boden liegenden Gegenstand. Natürlich dachte er an einen Stein, bückte sich – und bekam große Augen. Nein, das war kein Stein. Das war eine Puppe! Garry wollte lachen, denn er wunderte sich, daß ihn ein dermaßen harmloser Gegenstand so stark erschreckt hatte. Die Puppe hatte jemand verloren, ein Spaziergänger, ein Mädchen, ein… Seine Gedanken brachen ab, als er sich bückte und diese Puppe genauer anschaute. Sie war schon seltsam. Er würde sagen, daß sie einfach nicht in die moderne Zeit hineinpaßte. Diese Puppe war ein Relikt aus alter Zeit. Sie mußte seiner ersten Schätzung nach einige hundert Jahre auf dem Buckel haben, und sie war auch so angezogen. Das war auch Unsinn. Wenn sie schon so alt war, hätte sie nicht so gut ausgesehen. Es war eine neue Puppe auf alt getrimmt. Mit dieser Folgerung kam der Mann besser zurecht. Ohne sie berührt zu haben, hatte er gesehen, daß sie nicht aus Horn oder Porzellan bestand, sondern aus Holz. Der Kopf war flach und bestand aus Stoff. Dunkles Haar schmiegte sich an den flachen Schädel. Eine gelbliche Haube verdeckte den größten Teil der Haare, und das Gesicht zeigte nicht viel mehr als Punkte, die einen Mund, die Augen und auch die Nase andeuten sollten. Die Kleidung bestand aus einem grünen, langen Rock, mit zwei gelben Borden über dem Saum, und ein buntes gesticktes Oberteil reichte bis zum Hals der Puppe. Der Förster wunderte sich noch immer über diesen Fund. Er schaffte es nicht, ihn einfach wegzutun. Irgendwie hatte ihn das dumpfe Gefühl überfallen, daß die Puppe eine bestimmte Bedeutung hatte. Seltsamerweise brachte er sie sogar in einen Zusammenhang mit dem Verschwinden seines Hundes, obwohl das Unsinn war. Jedenfalls wollte McBain die Puppe nicht einfach hier liegenlassen. Er hob sie auf. Eine Sekunde später erschrak er. McBain ließ die Puppe los, als wäre sie heiß geworden. Dabei war nicht einmal viel passiert. Sie hatte nur den Kopf verloren. Der Förster hustete, weil er ein Kratzen im Hals verspürte. Er ging einen kleinen Schritt zurück, richtete sich auf und strich über seine Stirn, die schweißfeucht geworden war. Meine Güte, dachte er, das ist ein Ding. Dabei hat sie so kompakt ausgesehen. Wie war es möglich, daß sie...daß sie..., ja, daß sie den Kopf verloren hatte?
Es wollte ihm nicht in den Sinn, und er mußte sich überwinden, um noch einmal nachzuschauen. Wieder bückte er sich. Diesmal umfaßte er mit spitzen Fingern den Kopf und hob ihn vorsichtig an. Geirrt hatte er sich auch zuvor nicht, denn der Puppenkopf bestand aus Holz. Er war der Fachmann und wußte, daß man ihn aus Lindenholz geschnitzt hatte. Ein kaltes Kribbeln durchdrang seine Fingerspitzen. Es lag sicherlich nicht an der Puppe, sondern mehr an ihm und seiner inneren Einstellung. Er hätte den kleinen Kopf am liebsten fortgeworfen, das wiederum brachte er nicht fertig. Statt dessen schaute er sich den Hals an, weil er wissen wollte, wie der Kopf vom Körper getrennt worden war. Der Förster hatte damit gerechnet, Spuren einer Säge zu finden, aber das war nicht der Fall. Dieser Puppenkopf war mit einem glatten Schnitt vom Körper abgetrennt worden. Als hätte jemand eine Axt oder ein Schwert genommen, dachte McBain und wunderte sich. Er war ein Mensch, der immer Gründe wissen wollte, so auch hier, und er dachte analytisch genug, um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß die Puppe noch nicht lange hier liegen konnte. Sonst hätte die Schnittstelle anders ausgesehen. Was hatte das zu bedeuten? Wer hatte sich hier im Wald aufgehalten und den Kopf der Puppe vom Körper getrennt? Diese Fragen beschäftigten ihn zwar, wichtiger aber waren für ihn ganz andere Dinge. Er wollte und mußte endlich herausfinden, was mit seinem Hund Willy geschehen war. Seltsamerweise glaubte er, wo er jetzt die Puppe gefunden hatte, fest daran, daß er auch seinen Hund entdecken würde. Bei diesem Gedanken wurde ihm nicht gerade besser. Etwas stieg in seiner Vorstellung hoch, an das er lieber nicht denken wollte. Der Förster blieb in der Nähe des Waldrands. Er rechnete fest damit, Willy hier zu finden. Ein unbestimmtes Gefühl gab ihm diese Gewißheit. Sein Herz klopfte schneller, der Magen drückte sich immer mehr zusammen, er spürte auch sein Zittern, als er den Namen des Hundes immer und immer wieder flüsterte, ohne allerdings eine Antwort zu bekommen. Er sah sie statt dessen! Willy lag in einer kleinen Mulde auf der Seite. Aus dieser Entfernung sah es aus, als würde er schlafen, aber das tat er bestimmt nicht, und da war auch noch etwas Dunkles in der unmittelbaren Nähe seines Kopfes. Garry McBain blieb stehen. Er wollte plötzlich nicht mehr weitergehen, um eine endgültige Gewißheit zu erhalten. In seinem Körper hatte sich alles zusammengekrampft, der
Speichel schmeckte undefinierbar, aber er ging trotzdem auf Willy zu. Aus dem offenen Mund strömte der Atem in kleinen Intervallen. Sein Kopf kam ihm so ungewöhnlich schwer vor. Die Gedanken schienen von innen her gegen die Knochen zu hämmern. Am Rand der kleinen Mulde blieb er stehen. Ein bekannter Geruch drang in seine Nase. *** So roch Blut… Der Förster bückte sich. Er sah das dunkle Blut auf dem Boden. In der Nähe des Hundekopfes hatte es sich verteilt. Garry hob den Kopf an – und hielt ihn plötzlich in der Hand! Der Mann erstarrte in dieser Haltung. Er wollte es nicht glauben, er starrte gegen den Schädel, er sah die weit geöffneten Augen, die so leer waren. Man hatte Willy mit einem glatten Hieb den Kopf vom Körper getrennt. Ihm war das gleiche widerfahren wie der Puppe, aber Willy war ein Lebewesen und kein Stück Holz. Etwas sehr Wertvolles war Garry genommen worden, und er schämte sich seiner Tränen nicht. Er hatte an Willy gehangen, die beiden waren richtige Freunde gewesen, und jetzt das hier. Mein Gott! Wer tut so etwas! Garry konnte es nicht fassen. Hätte er jetzt etwas sagen sollen, er hätte keinen Ton hervorbekommen. So blieb er wie eingefroren vor der Mulde hocken, starrte den Kopf seines Hundes an und bekam nicht mit, daß noch Blut aus der Wunde rann und den Weg auch über seinen Arm fand. Sein Gesicht wirkte wie mit Eis bedeckt. Die Haut war bleich geworden, und es dauerte ziemlich lange, bis der Förster wieder in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Willy war tot, daran gab es nichts zu rütteln. Er war weggelaufen – in die Falle des Mörders! Er mußte ihn zudem gespürt haben, sonst hätte er den Schutz seines Herrn nicht verlassen. Aber wen oder was hatte er gespürt? Garry McBain kam damit nicht zurecht. Dabei wußte er sehr genau, daß er an etwas Bestimmtes denken mußte. Es war sehr wichtig für ihn, sich darum zu kümmern. Er konnte von einem logischen Gedankengang sprechen. Ja, die Logik. Im Wagen habe ich einen Spaten, dachte er. Damit werde ich Willy ein Grab schaufeln. Nein, ich nehme ihn mit zurück zum Haus. Er soll dort begraben werden. Alles Unsinn.
Diese Gedanken paßten nicht in die Realität. Andere Dinge waren wichtiger. Er kreiste sie bereits ein, ohne aber zu einem Resultat zu gelangen. Willy war tot. Willy war noch nicht lange tot. Schließlich fühlte er seinen warmen Körper. Genau das war der springende Punkt. Man hatte seinen Hund vor vielleicht einer Viertelstunde getötet. Also hielt sich der verfluchte Killer womöglich noch in der Nähe auf. Der Förster schnellte in die Höhe, als ihm dieser Gedanke gekommen war. Die einzig logische Folge, über die er so lange nachgedacht hatte. Er lauerte sicherlich noch in der Tiefe des Waldes, und als der erste Schwindel verschwunden war, konzentrierte sich Garry McBain auf die Lücken zwischen den Bäumen, in denen das grelle Sonnenlicht wie ein Schleier lag. Blätter und Baumstämme leuchteten in diesen Lichtinseln. Ein Fremder war jedoch nicht zu erkennen. »Du Schwein!« keuchte der Mann. »Du verdammtes Schwein! Wo steckst du?« Er schrie den letzten Satz hinaus, aber seine Stimme verhallte im Wald. Keine Antwort. Nur die Totenstille kehrte an diesen verfluchten Totenplatz zurück. Garry drehte sich langsam um. Er sah die Grillhütte, er sah auch seinen abgestellten Wagen in der Nähe, wo sich ebenfalls nichts bewegte. Es war alles so normal, in nichts unterschied es sich von anderen Tagen, und doch war es anders. Garry stöhnte auf. Er fühlte sich umzingelt, beobachtet aus kalten Mörderaugen, die nur darauf warteten, daß er einen Fehler beging. Und seine Waffe lag im Wagen. Nicht mehr lange, das nahm er sich vor. Aber er wollte auch den Hund nicht einfach liegenlassen, deshalb zog er seine Jacke aus und legte die beiden Teile hinein. Zuerst den Körper, anschließend den Kopf. Sein Gesicht glich einer Maske, als er die Jacke zusammen mit dem Inhalt vorsichtig den Weg zurück zum Wagen trug und beides auf die Ladefläche legte. Das Gewehr befand sich im Fahrerhaus. Der Förster zog die Tür auf und nahm es an sich. Er hängte die Waffe nicht um seine Schulter, sondern hielt sie schußbereit und mit nach vorn gerichteter Mündung fest. Wenn jemand erschien, der ihm Böses wollte, würde er sich blitzschnell zu wehren wissen. Etwas schreckte ihn auf. Er schaute schräg nach rechts in die Höhe. Die Dohle flog dicht über seinen Kopf und auch über den Wagen hinweg, um sich in der Nähe auf einem Ast niederzulassen. Von dort aus beobachtete das Tier den Förster. In der Nähe seines Wagens fühlte er sich auch nicht sicher. Es gab überhaupt keine Stelle hier im Wald, wo ihn dieses Gefühl überkommen
wäre. Hier war einfach alles anders, so düster geworden, so unheimlich, als wäre die Vergangenheit zurückgekehrt, um sich in die Gegenwart hineinzuschieben. Noch immer klopfte sein Herz stärker. Der Schweiß bedeckte seine Stirn. Er kannte den Grund für die Veränderung der letzten Sekunden nicht, aber etwas hatte sich verändert. Hier bahnten sich Dinge an, die für ihn noch nicht zu überblicken waren. Das Licht der Sonne verteilte sich über den Bäumen, als wären sie eine Grenze, die es nicht bis auf den Boden fallen lassen wollten. Warum nicht? Was war anders geworden? Er wollte zur Grillhütte schauen, mußte aber erst um seinen Wagen herumgehen. Der freie Blick. Da sah er ihn! Der Mann stand vor der Hütte, und er sah aus, als wäre er einem Horrorfilm entsprungen. *** Es war ein Henker! Der Förster wollte es kaum glauben, aber es stimmte. Diese Gestalt sah nicht nur so aus wie ein mittelalterlicher Henker, sie war es auch. Über dem Kopf des Mannes hing eine flattrig wirkende Stoffkapuze, in der nur zwei Löcher für die Augen freigelassen worden waren. Die Kleidung des Henkers war dunkel, sie lag eng am Körper an. Sogar einen Wams konnte der Förster erkennen. Und er sah die Waffe des Henkers! Ein gewaltiges Beil mit einem langen Holzgriff. Die Schneide dieser Mordwaffe war sehr breit, damit konnte man schon Hälse durchtrennen. Der Henker stand da. Er tat nichts. Er schaute den Förster nur an, dessen Brustkorb sich unter den schweren Atemzügen hob und senkte. McBain hatte Mühe, noch klar zu sehen. Manchmal verschwand die Gestalt für Sekunden vor seinen Augen. Er hatte Willy getötet! Für McBain gab es keinen Zweifel. Und dieser Henker hatte auch die Puppe gekillt. Hier kamen zwei Dinge zusammen, und eine dritte Tat würde womöglich folgen. Dann bin ich das dritte Opfer! Es schüttelte den Mann durch, als er daran dachte. Von der Gestalt wehten ihm eine Düsternis und Drohung entgegen, mit denen er nicht zurechtkam. Als hätte man ihm einen Gruß aus der Vergangenheit geschickt, und er kam sich noch immer vor wie ein Statist, der an der eigentlichen Handlung nicht teilnahm.
Erst als der Henker sein Beil bewegte, riß dieser Zustand. Die Realität hatte ihn zurückgeholt, und er verfolgte den Schwung der Mordwaffe sehr genau. Sie schwang in seine Richtung, schlug wieder zurück und bewegte sich wie ein Pendel über den Boden. Der Förster wußte nicht, was er tun sollte. Schießen? Auf einen Menschen schießen? Das hatte er noch nie getan, doch er fragte sich auch, ob diese Gestalt überhaupt ein Mensch war oder nur ein Teufel? Er wußte es nicht. In seinen Hosentaschen spürte er den Druck der beiden Puppenteile, er hörte das schon wütende Schreien der Dohle, dann flatterte der Vogel plötzlich hoch. Das Signal für den Henker. Er setzte sich in Bewegung. McBain war so erstarrt und auch gleichzeitig fasziniert, daß er ihn genau beobachtete. Er sah, wie schwerfällig die Gestalt ihr rechtes Bein anhob und den Fuß dann mit einem harten Stampfen auf den Boden zurücksetzte. Das gleiche geschah wenig später mit dem linken Bein, und für den Mann gab es keinen Zweifel, daß er das dritte und nächste Ziel dieser unheimlichen Mordgestalt war. Schießen? Noch immer zögerte der Förster. Der Henker war weniger rücksichtsvoll. Er ging weiter, und bei jedem Schritt schwang auch sein gewaltiges Beil wie ein Pendel nach vom und wieder zurück. Ich muß es tun. Ich muß es tun! Gott verzeih mir! McBains Gedanken rasten durch den Kopf, und das Gehirn gab diese Befehle an seinen rechten Zeigefinger weiter. Er schoß. Der Knall sprengte die Stille. Irgendwo in der Tiefe des Waldes, in die das Echo des Schusses hineinrollte, wurden Vögel gestört, verließen ihre Ruheplätze und flatterten kreischend in die Höhe. Schießen konnte McBain. Einmal im Monat ging er in den Verein, um zu üben, und er hatte’den Henker auch getroffen. Er hatte die Kugel relativ hoch gehalten. Sie war der Gestalt in die Schulter gedrungen und hatte ihn gestoppt. Für einen Moment sah es so aus, als schien er nach rechts zu kippen, doch er blieb stehen. Es sah sogar so aus, als würde er nur kurz seinen Kopf schütteln, um sich so zu erholen. Dann ging er weiter. Das konnte der Förster im ersten Moment nicht fassen. Dieser Henker lief, als wäre nichts geschehen. Als hätte ihn keine Kugel erwischt, sondern nur eine Erbse.
»Verdammt noch mal, das ist nicht wahr!« keuchte der Mann. »Das...das...das darf nicht wahr sein!« Wieder riß er sein Gewehr hoch. Ein kurzes Zielen, dann der nächste Schuß. Abermals war es ein Treffer! Diesmal wuchtete die Kugel nicht in die Schulter, sie durchschlug dicht unterhalb der Kapuze die Brust. Der Schütze konnte sogar das Licht erkennen, das die Kugel hinterlassen hatte, aber der Henker war nicht tot. Er wurde nur kurz in seinem Lauf gestoppt. Der Körper bekam einen Drall nach hinten, dann sackte er zur rechten Seite weg und stützte sich auf der Klinge ab. Er hielt sich. Er schrie und stöhnte nicht. Wenn er litt, dann stumm, aber daran wollte McBain nicht mehr glauben. Diese Gestalt war so nicht zu töten, sie war kein Mensch, man mußte sie schon als übermenschlich ansehen. Und sie setzte ihren Weg fort. Nach dem zweiten Schritt handelte der Förster endlich. Er drehte sich um, riß die Tür seines Autos auf und schleuderte das Gewehr auf die Sitzbank. Dann stieg er selbst ein und startete. Er knirschte mit den Zähnen, als er den ersten Gang einlegte und dann Gas gab. Der Wagen sprang nach vorn. Die Reifen drehten für einen Moment kurz durch, aber er kam von der Stelle, und McBain kurbelte das Lenkrad nach links. Der Henker ging noch immer. Seine Schritte waren länger geworden. Es sah so aus, als würde er bei den Gehbewegungen die Beine stets nach vorn schleudern. Dabei bewegte er auch sein Beil, und die Klinge wirbelte in McBains Richtung. Der war schneller, dennoch kratzte bei einem Schlag das Beil hinten an der Ladefläche entlang. Mehr aber geschah nicht. Im Gegenteil, der Wagen gewann an Tempo, und so konnte McBain zum erstenmal seit einiger Zeit aufatmen. Er warf einen Blick in den Außenspiegel. Noch einmal Glück gehabt. Die Gestalt blieb hinter ihm zurück. Sie nahm die Verfolgung nicht auf. Am Rand der Lichtung war der von zwei Kugeln getroffene Henker stehengeblieben. Noch einmal schwang er sein Beil hoch und ließ es auch senkrecht stehen, als wollte er mit dieser Waffe einen letzten Gruß nachschicken oder dem Flüchtling erklären, daß es zwischen ihnen noch zu weiteren Begegnungen kommen würde. McBain aber war froh, die erste überlebt zu haben…. ***
Schon auf der Fahrt in unser Büro hatte mich Suko einige Male angesprochen und immer wieder davon berichtet, daß es ihm stinken würde, wenn er so etwas tragen würde wie ich. »Wieso?« »Na ja, eine Jacke aus rotem Wildleder?« »Die ist modern.« »Auch gut?« »Sie war preisgünstig. Um die Hälfte gesenkt. Das war ein sogenanntes Schnäppchen.« »Ach so.« Ich warf ihm einen schiefen Blick zu. »Für deine Größe hatten sie nichts, mein Lieber. Da wird erst gar nichts hergestellt, denn die Fabrikanten wissen von vornherein, daß sie diese Kleidung nicht loswerden.« »Dafür mußt du sie ja tragen«, sagte Suko grinsend. »Ich bin gespannt, wie Glenda darauf reagiert.« »Sie wird sich wundern und mir gratulieren.« »Zum letzten Versuch?« »Nein, zum vorletzten.« Zunächst einmal staunten die Kollegen, die wir in der Halle des Yard Building sahen. Sie starrten mich an wie einen Fremden, manche grinsten, andere tuschelten. Ich übersah und überhörte es, stieg in den Lift, wo auch eine Mitarbeiterin mit uns hochfuhr, die sich allerdings mehr für ihren Schnupfen interessierte. Dann betraten wir das Vorzimmer. Ich hatte gehofft, daß sich Glende an diesem Morgen verspätete, doch sie war bereits da. Von Suko nahm sie keine Notiz, obwohl er sie auch begrüßt hatte, sie starrte nur mich an, kam schließlich mit ausgestreckter Hand auf mich zu und schüttelte meine Rechte. »Was ist los?« »Gestatten? Perkins, Glenda Perkins. Ich bin hier als Sekretärin eingestellt und...« »Wieso? Spinn ich…?« »Überhaupt nicht.« »Aber du?« Glenda lachte laut. Suko, der sich im Hintergrund gehalten hatte, prustete. »Toll, John, deine Jacke ist einfach irre. Das ist wirklich eine Schau am frühen Morgen. Ich werde dich nur noch als Dressman ansehen. Laß mal fühlen.« Sie strich mit den Fingerkuppen am Leder entlang, nickte und meinte anerkennend: »Ist ja ein edles Material. Das muß man dir schon lassen.« »Er hat den Fetzen reduziert bekommen«, meldete sich Suko. »Der Verkäufer hat vor Freude geweint, als er die Jacke los wurde. Die Dankesschreiben werden ihn noch erreichen.«
Ich trat einen Schritt zurück, damit ich Glenda und Suko vor mir stehen hatte. »Wißt ihr, was ihr mich könnt?« »Sag es nicht!« rief Glenda. »Ihr könnt mich nicht leiden. Und ich fühle mich in der Jacke wohl.« »Das ist auch am wichtigsten«, erklärte Glenda. »Richtig. Ich werde jetzt in mein Büro verschwinden, einen Kaffee trinken und darüber nachdenken, was ich getan habe, um mit derartigen Kollegen bestraft zu sein.« Glenda lächelte mich hinterlistig an. »Das wirst du nicht, John Sinclair.« Sie sang die Antwort beinahe. »Was sollte mich davon abhalten?« »Sir James.« »Ach.« Sie nickte mir zu und auch Suko. »Er hat bereits nach euch gefragt. Kann sein, daß es wieder Ärger gibt.« »Weiß du weshalb?« »Nein.« »Dann laß lieber die Jacke hier hängen«, meinte Suko. »Vielleicht ist Sir James schon geschockt worden. Nicht daß er nachher noch vom Stuhl kippt.« »Wie besorgt du wieder um mich bist«, sagte ich und war schon auf dem Weg zur Tür Das Grinsen der beiden kriegte ich nicht mit. Ich ging über den Flur und war auch als erster am Büro unseres Chefs, das ich nach dem Anklopfen betrat. Sir James saß hinter dem Schreibtisch. Er telefonierte mit seinem Bekannten oder Freund, denn er duzte ihn. Ich bekam noch mit, daß er sich mit ihm für den Nachmittag verabredet hatte, dann legte er auf und schaute mich an. Ich hatte mich noch nicht gesetzt und lauerte auf einen Kommentar, der meine Jacke betraf, aber Sir James wußte, was sich gehörte. Er hob nur kurz die Augenbraue, um mich anschließend freundlich zu begrüßen und nach Suko zu fragen. »Der kommt.« Ich hatte den Satz kaum ausgesprochen, als der Inspektor das Büro betrat, den spöttischen Blick auf meine Jacke gerichtet, aber er hielt sich mit einer Bemerkung zurück. »Gut, daß Sie beide so schnell gekommen sind, denn ich habe mit Ihnen zu reden.« »Um was geht es, Sir?« »Das ist schwer zu sagen. Es geht um einen Fall, den ich nicht als offiziell angeben kann, der mir allerdings rätselhaft erscheint.« »Handelt es sich um eine private Angelegenheit?« fragte Suko. »Genau.« »Mit einem Hintergrund, der uns interessieren könnte?« »Auch das.«
Wir merkten, daß sich Sir James nicht wohl in seiner Haut fühlte, er überlegte auch, wie er uns gewisse Dinge näherbringen sollte, und er begann damit, daß er nicht nur gewisse Verpflichtungen in seinem Club nachgehen mußte, sondern sich in seinem Leben auch noch anderen Dingen ergeben hatten. So war es üblich, daß er einmal im Jahr, im Herbst, an einer großen Jagd teilnahm. »Bis dahin ist es noch einige Zeit hin«, sagte ich. »Das stimmt genau, aber diese Jagdgesellschaft trifft sich im Frühjahr stets zu einem kleinen Grillfest. Es beginnt am späten Nachmittag und hört in der Nacht auf. Dieses Grillfest findet in einem Wald nordöstlich von London statt. Man kommt zusammen, man ißt, trinkt, man feiert, man unterhält sich.« »Da sollen wir mit hingehen?« fragte ich. »Das wäre nicht schlecht.« Suko und ich schauten uns nur an. Zu sagen hatten wir nichts, und der Superintendent hatte uns beobachtet. Er hatte auch aus unseren Blicken gelesen und erkannt, daß wir vor Begeisterung nicht eben sprühten. »Ich weiß, was Sie denken, aber ich hätte Sie nicht darauf angesprochen, wäre es nicht zu einigen Unregelmäßigkeiten gekommen, die mich sehr nachdenklich gemacht haben.« »Aha«, sagte ich. Sir James ging auf meine Bemerkung nicht ein, sondern sprach zunächst über die Zusammensetzung dieser Jagdgesellschaft, in der sich Männer gefunden hatten, die ihrer Jobs wegen nichteben zu der Masse der Bevölkerung zählten. Es war eine ziemlich elitäre Gesellschaft aus Wirtschaftsleuten, Staatsbeamten und auch Politikern. »Sie feiern also ein Fest im Wdd.« »Richtig, John.« »Was sollen wir dort?« fragte Suko. »Etwas aufklären. Eine Sache, die lächerlich ausgehen kann, bei der möglicherweise auch das Gegenteil eintrifft, denn ich habe hier die Aussagen des mir bekannten Försters Garry McBain vorliegen, dem genau an dem Platz, an dem wii uns versammeln werden, etwas Schreckliches widerfahren ist, über das ich nicht lachen kann, weil ich McBain eben als einen sehr ehrlichen und realistischen Menschen kenne. Ich habe hier das Protokoll vorliegen und möchte es Ihnen zu lesen geben.« Suko bekam ein Blatt gereicht, ich ebenfalls, und wir lasen in den folgenden Sekunden den Text durch. Es ging um eine geköpfte Puppe, um einen ebenfalls geköpften Rauhhaardackel und um einen Henker. Was wir da zu lesen bekamen, konnte man glauben oder nicht. Wenn allerdings Sir James der Ansicht war, keinen Spinner vor sich zu haben, mußte man schon aufpassen.
Wir legten die Blätter fast zur gleichen Zeit wieder zurück und schauten unseren Chef an. Dessen Augen bewegten sich hinter den Brillengläsern. »Sie haben keinen Kommentar abzugeben?« Suko hob die Schultern. »Du, John?« »Nein, im Moment auch nicht. Da ist jemand erschienen, der mit einer Axt tötet.« »Richtig.« »Einen Menschen hat er noch nicht umgebracht. Es ist zwar eine Schweinerei, einem Hund den Kopf abzuschlagen, das aber rechtfertigt unser Eingreifen noch nicht. Vielleicht sollten einige Kollegen das Gebiet durchkämmen und versuchen, diesen komischen Henker zu stellen.« Sir James nickte, wobei er sich noch räusperte. »Daran habe ich auch gedacht, aber diese Männer würden dann nach einer Person suchen müssen, die von zwei Kugeln getroffen worden ist, ohne daß ihr die Schüsse etwas ausgemacht hätten. Sie ging weiter. Sie ließ sich nicht aufhalten. Sie blieb auf den Beinen. Ich hätte Sie auch nicht gebeten, wenn nicht ausgerechnet heute dieses Grillfest stattfinden würde. Es ist der ideale Tag. Fast Wochenende, die Urlaubszeit hat noch nicht begonnen, das Wetter spielt zudem mit, was will man mehr?« »Sie befürchten also, daß dieser Henker dort wieder auftauchen könnte, Sir James?« »Richtig, Suko.« »Dann wären wir so etwas wie Leibwächter.« »Bei einer nicht offiziellen Aktion. Ich weiß, es ist etwas viel verlangt, aber ich möchte auf Nummer Sicher gehen. Sollte etwas Ungewöhnliches passieren, will ich jemand in der Nähe haben, der sich mit gewissen Dingen auskennt.« Ich breitete die Arme aus und fragte Suko. »Was sagst du dazu?« »Na ja, ich habe schon immer gern gegrillt. Allerdings würde ich Shao gern mitnehmen. Ich hatte ihr versprochen, den Abend freizuhalten und...« »Kein Problem«, sagte Sir James. »Wunderbar.« »Wollen Sie auch jemand mitnehmen, John?« »Nein, nein, das lasse ich lieber. Es reicht mir, wenn ich auf Shao und Suko achten muß.« Sir James lächelte, enthielt sich ansonsten eines Kommentars und reichte uns wieder zwei Kopien. Es war die Wegbeschreibung zum Grillplatz, der mit einem Kreuz markiert worden war. Ein zweites Kreuz entdeckten wir nicht weit entfernt. Auf unsere Frage wurde uns geantwortet, daß dort der Förster Garry McBain wohnte, mit dem wir uns unterhalten sollten. »Geht in Ordnung, Sir«, sagte ich. »Weiß der Mann Bescheid?« »Ich werde ihn anrufen.«
»Gut. Dann sehen wir uns heute nachmittag auf dem kleinen Fest.« Ich stand auf. »Ach so, John, da wäre noch etwas.« »Ja, Sir...« »Haben Sie sich eine neue Jacke gekauft?« Ich stand da und wußte nicht, was ich sagen sollte. Es war plötzlich still geworden. Vielleicht hörte ich auch deshalb Sukos Prusten, das wohl ein Lachen sein sollte, und auch in den Augen meines Chefs blitzte der Schalk. »Nein, Sir, die habe ich nicht gekauft. So etwas bekommt man nachgeworfen, wenn man sich Schuhe holt.« »Ich dachte es mir schon. Hätte mich auch gewundert, wenn Sie dafür Geld ausgegeben hätten, John.« Das war wirklich die Härte. Eine derartige Bemerkung hätte ich dem Alten gar nicht zugetraut. Aber ich nahm mir vor, mich nicht beirren zu lassen. Ich würde die Jacke behalten, und ich beruhigte Sir James. »Zur Grillfete werde ich etwas anderes anziehen. Dann komme ich in Tracht.« Bevor Sir James auf diese Bemerkung noch eine Antwort geben konnte, hatte ich das Büro bereits verlassen. Suko folgte mir. Als ich sein Grinsen sah, ballte ich die rechte Hand nur zur Faust. »Denk daran, die Linke ist tödlich. Die Rechte aber ist unerforscht.« »Klar, ich zittere jetzt schon...« *** Uns empfing ein Mann, den man mit gutem Gewissen als einen Naturburschen hätte ansehen können. Die gesunde Gesichtsfarbe paßte zu dem braunen Haar, der offene Blick seiner grauen Augen, der kräftige Händedruck und auch die Country-Kleidung, die er trug, lag voll im Trend. Das Haus im Blockhüttenstil paßte ebenfalls zu ihm, der Wald war nicht weit, die Wiesen und Weiden ebenfalls nicht, und im Wasser eines kleinen Teichs schwammen Goldfische. Suko und ich waren nur zu zweit gekommen. Wir hatten Shao das Angebot zwar unterbreitet, sie aber hatte abgelehnt, denn sie hätte sich in dieser Gesellschaft nicht wohl gefühlt, was durchaus verständlich war. Auch ich hatte meine Schwierigkeiten mit den oft blasierten Typen, bei denen einer den anderen immer wieder übertreffen wollte. Der Tag hatte sich wunderbar entwickelt. Von einem blauen Himmel lachte die Sonne, aber auch sie konnte den ängstlichen Eindruck des Försters nicht vertreiben. Wir nahmen auf der Terrasse Platz, und McBain hatte uns etwas zu trinken angeboten. Seine Frau war nicht da, sie war unterwegs, um
einzukaufen, was ihm auch ganz lieb war, denn so konnten wir ungestört reden. »Was wissen Sie?« fragte er uns. »Wir kennen das Protokoll.« »Das ist nicht viel.« »Stimmt.« »Glauben Sie mir denn?« Suko übernahm die Antwort. »Sonst wären wir nicht hier bei Ihnen.« »Ja, das stimmt«, murmelte er. »Und ich hatte ja etwas Zeit, um über gewisse Dinge nachzudenken.« Er strich über sein Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich mich richtig verhalten habe. Ich wandte mich einfach an Scotland Yard, denn ich habe Ihren Chef kennengelernt und schätze ihn auch sehr. Jemand hat mir bei einer Jagd erzählt, mit welchen Fällen sich Sir James beschäftigt, und das alles fiel mir wieder ein. Deshalb hoffe ich, das Richtige getan zu haben.« »Da brauchen Sie sich wohl keine Sorgen zu machen«, sagte ich und fuhr fort. »Sie sind sicher, daß Sie diesen Henker gesehen haben, ebenso wie die Puppe und Ihren toten Hund?« »Natürlich.« Er nickte. »Ich kann Ihnen den Beweis zeigen. Meinen Hund leider nicht, dafür die Puppe. Willy habe ich begraben, aber die Puppe befindet sich hier.« Er stand auf und ging bis zu einer Fensterbank. Dort saß die Puppe in einem Winkel. Wir hatten sie bisher noch nicht entdeckt. Er nahm sie an sich und trug sie sehr vorsichtig zu uns. Dann legte er sie auf den Tisch. In diesem Augenblick löste sich der Kopf, der nur locker am Rumpf befestigt war. Er rutschte noch ein Stück über die Tischplatte und blieb mit dem Gesicht nach oben liegen. »Das ist sie!« Zuerst schaute sich Suko die beiden Teile an. Den Kopf, auch den Körper, er nickte und reichte mir beides. »Du wirst es sehen, John, das ist glatt durchtrennt worden. Als hätte jemand zugehackt.« »Ja, der Henker!« flüsterte McBain. Ich nahm die Puppe in die Hand. Leicht war sie nicht. Sie bestand aus massivem Holz, und ich konnte mir vorstellen, daß sie auch einige Jahre auf dem Buckel hatte, vielleicht sogar Jahrhunderte. »Und sie haben die Puppe nie zuvor gesehen?« erkundigte ich mich bei dem Förster. »Nein, nie. Sie ist neu für mich.« »Kennen Sie denn ein Kind, das sie verloren haben könnte?« erkundigte sich Suko. McBain schüttelte den Kopf. »Auch nicht. Welches Kind spielt heute noch mit einer derartigen Puppe? Schauen Sie sich dieses kleine Kunstwerk doch an. Ich würde sagen, daß sie ein Relikt aus der Vergangenheit ist. Nicht aus der heutigen Zeit und auch nicht
nachgemacht. Ich habe mich mit Holz beschäftigt und kann das in etwa beurteilen.« Er legte die Puppe wieder auf den Tisch. Suko tippte sie an. »Es ist also die einzige Spur, die wir haben.« »Ja.« »Ihr Hund ist ebenfalls gestorben. Man hat ihm also den Kopf abgehackt«, sagte ich. Der Förster schluckte. »Mit einem glatten Schnitt.« Er schüttelte sich. »Wie bei der Puppe.« Wir standen vor einem Rätsel. Ob es aber in unser Gebiet hineinreichte, das wußten wir nicht. Eine kopflose Puppe ist nicht unbedingt eine Spur, die auf schwarzmagische Kräfte hindeutet. Dazu zählte natürlich auch der geköpfte Hund. »Bleibt der Henker«, sagte ich. »Genau.« »Und sie haben ihn an der Grillhütte gesehen?« »Erst auf der Lichtung, dann an der Hütte. Er hat mich ja verfolgt.« Garry McBain schwitzte wieder. »Himmel, ich habe zweimal auf ihn geschossen, und er lief trotzdem weiter.« »Auch getroffen?« fragte ich. »Natürlich, auch das. Ich habe sogar gesehen, wie die Kugeln einschlugen.« »Kann er nicht verletzt gewesen sein und sich verkrochen haben? Ich meine, ein Jagdgewehr ist nicht unbedingt eine Waffe für den Krieg, und die Aufprallwucht der Kugeln...« Der Förser winkte mit beiden Händen ab. »Das ist nicht der richtige Weg, Mr. Sinclair. Sie müssen mir schon glauben. Dieses Gewehr, also wenn die Kugeln zielgenau sitzen, haben Tiere und Menschen keine Chance. Dieser Henker ging trotzdem weiter, nachdem er die Geschosse geschluckt hatte. Eine andere Formulierung fällt mir dazu wirklich nicht ein.« Wir schwiegen. Ich ließ meinen Blick über das Gelände streifen. Wir saßen auf den wuchtigen Holzstühlen im Garten. Zum Schutz gegen die Sonne war kein Schirm aufgespannt worden. Schatten spendeten die ausladenden Äste einer herrlichen Buche. »Die Grillfete beginnt am Nachmittag – oder?« fragte Suko. »Ja.« »Wann müssen Sie hin?« McBain hob die Schultern. »Ich werde als einer der ersten dort sein. Es kommt eine Firma, die sich auf Grillfeste spezialisiert hat. Die Leute bringen alles mit. Essen und Getränke. Um diese Dinge brauche ich mich nicht zu kümmern.« »Haben wir Zeit genug, um zuvor noch einmal hinzufahren?« wollte ich wissen. »Immer.«
»Dann sollten wir uns den Platz einmal anschauen.« »Ja«, murmelte McBain, »schauen wir uns den Totenplatz gemeinsam an. Mir fiel kein anderer Name für die Lichtung ein.« Mein Freund schob seinen Stuhl wieder näher an den Tisch heran. »Wir fahren mit meinem Wagen. Der ist für dieses Gelände geeigneter«, schlug McBain vor. Dagegen hatten wir nichts. Suko und ich aber blieben jäh stehen, denn beide hatten wir die dünne Kinderstimme gehört. »Ich will meine Puppe...« *** Zuerst taten wir nichts. Ohne uns abgesprochen zu haben, reagierten wir gleichzeitig, spitzten die Ohren, schauten in die Höhe, dann in die Runde, und McBain, dem unser Verhalten aufgefallen war und der sich soeben umgedreht hatte, schüttelte den Kopf. »Was ist denn mit Ihnen los?« Ich legte als Antwort einen Finger auf meine Lippen. Sekunden verstrichen, in denen sich auch McBain zurückhielt. Schließlich hob ich die Schultern. »Da scheine ich mich doch getäuscht zu haben.« »Wir beide?« fragte Suko. Genau das war es. Wir hatten die dünne Kinderstimme gehört, die nach ihrer Puppe verlangte. Der Förster kam auf uns zu. »Irgend etwas stimmt doch nicht mit Ihnen. Sie hätten sich mal sehen müssen. Sie wirkten wie eingefroren, als sie hier neben den Stühlen standen.« Ich hob die Schultern. »Das mag schon hinkommen, und es gab auch einen Grund.« »Welchen denn?« »Wir hörten die Stimme eines Kindes, das seine Puppe zurückverlangte. Eben diese Puppe.« Ich deutete auf den geköpften Gegenstand. »Wie?« McBain stierte ebenfalls hin. Er kriegte plötzlich eine Gänsehaut. »Die Stimme eines Kindes?« »So ist es.« »Hier gibt es kein Kind. Wir haben keine eigenen.« »Genau das ist das Problem.« »Dann haben Sie sich geirrt.« »Haben Sie sich auch geirrt, als Sie den Henker sahen?« fragte Suko leise. McBain verdrehte die Augen. »Verdammt, da habe ich mich nicht geirrt.« »Wir auch nicht.« Der Förster schaute in die Luft. Er deutete noch mit den Händen in die verschiedenen Richtungen. »Hier ist doch nichts. Niemand hält sich
versteckt. Auch im Baum nicht.« Jetzt wußten wir wenigstens, was er uns andeuten wollte. »Sichtbar nicht«, sagte Suko. Die Arme des Försters sanken wieder nach unten. Er staunte dabei. »Was soll das denn heißen, Inspektor? Denken Sie vielleicht an etwas Unsichtbares?« »Es ist möglich.« McBain überlegte. Er sah dabei aus wie jemand, der nicht wußte, ob er lachen oder weinen sollte. Schließlich entschied er sich dafür, die Schultern zu heben. »Zwei gegen einen. Aber ich glaube Ihnen nicht nur deshalb, sage ich mal.« »Das ist nett.« Ich lächelte. »Sollen wir fahren? Bleibst es dabei?« »Ja, es bleibt dabei«, erklärte ich. »Zeigen Sie uns mal diesen berühmten Totenplatz.« Diesmal hielt uns keine Stimme auf, als wir gingen. Ich machte den Schluß dieser Dreierreihe und schaute noch einmal zurück in den Garten. Ich sah den Baum, unter dem wir gesessen hatten, ich sah auch die Sitzgruppe und den Tisch ebenfalls. Auf ihm lag die kopflose Puppe. Ich stutzte. Bewegte sie sich? Stieg sie hoch? Bewegte sich auch der Kopf? Wurde er auf den Körper zugeführt – wie von nicht sichtbaren Händen geleitet? Für einen sehr langen Augenblick hatte ich zumindest den Eindruck. Oder bildete es mir ein. Jedenfalls blieben die Puppe und der Kopf schließlich dort liegen, wo sie auch ihre Plätze gefunden hatten. So richtig überzeugt aber war ich nicht. Ich stieg als letzter in den Geländewagen und sah Sukos fragenden Blick auf mich gerichtet. »Es war nichts«, murmelte ich und schloß die Tür. Mein Freund glaubte mir nicht. *** Helen McBain fühlte sich fast wie immer, als sie die Stadt verlassen hatten. Nämlich richtig wohl, denn das Gedränge und Geschiebe, die Suche nach einem Parkplatz, die Hetze beim Einkauf, all das war nichts für die zweiunddreißigjährige Frau, die früher einmal als Gärtnerin gearbeitet hatte, dann ihren späteren Mann kennenlernte, als er sein Praktikum in der Gärtnerei absolvierte und besonders glücklich darüber gewesen war, daß er auch einen Job als Förster gefunden hatte. Zudem hatte man ihnen noch ein Haus zugeteilt, daß Helens Geschmack nach ideal lag.
Sehr einsam, aber nicht zu versteckt. Man konnte aus dem Fenster schauen, und der Blick fiel über das flache Land, bis hin zu den ersten Vororten der Millionenstadt London, die relativ nah war, aber trotzdem so weit entfernt lag. Wie gesagt, sie fühlte sich fast wie immer. Dieses eine Wort fast hatte seine besondere Bedeutung für die Frau bekommen, denn seit dem gestrigen Tag hatte sich bei ihnen einiges verändert. Ihr Mann war nach Hause gekommen und hatte eine schier unglaubliche Geschichte erzählt, über die Helen zuerst hatte lachen wollen, später aber seht ernst geworden war, weil sie ihren Mann kannte. Der erzählte viel und gern, aber er blieb stets auf dem Boden der Tatsachen. Was er jedoch erlebt hatte, das grenzte schon an Spuk und Magie. Das war einfach unheimlich und unerklärlich. Dabei hatte Willy sein Leben verloren. Auch Helen hatte um den Hund getrauert, denn er war ihrer beider Liebling gewesen. Sie würden sich einen neuen Hund besorgen müssen, aber erst später, nach diesem verdammten Grillfest, das Helen schon mehr als einmal verflucht hatte. Sie mochte einige der sogenannten einflußreichen Persönlichkeiten nicht, die daran teilnahmen. Es würde vorbeigehen, aber es würde zumindest für sie und ihren Mann unter anderen Vorzeichen ablaufen. Sie war nur froh gewesen, daß man Garry nicht ausgelacht hatte, als er sich mit seinen Problemen an die Polizei gewandt hatte. So etwas konnte auch leicht passieren. Man hatte ihm geglaubt, und ein gewisser Sir James hatte versprochen, etwas in die Wege zu leiten, das sie beruhigen sollte. Zwei Spezialisten waren angesagt. Helen rechnete damit, daß sie schon da waren, wenn sie zurückkam. Das Gedränge und die Menschen lagen hinter ihr. Der frische Sommerwind wehte durch den Wagen und fing sich auch in ihren blonden Haaren, die sie vorn mit einem Stirnband gebändigt hatte. Im Nacken waren sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jedem Windstoß in die Höhe flatterte. Sie fuhr den Golf auch deshalb gern, weil er ihr persönlicher Wagen war. Er machte sie unabhängig, denn ihr Mann war oft genug unterwegs. Überhaupt war es Helen in den letzten Monaten ziemlich einsam in dem Haus vorgekommen. Es konnte mit dem stärker gewordenen Wunsch nach Kindern zusammenhängen. Bisher hatten sie und ihr Mann davon abgesehen, aber allmählich wurde es Zeit. Schließlich lief die Zeit immer weiter, und beide wurden nicht jünger. Das Haus lag an einer schmalen Straße. Allerdings versetzt. Zwischen Straße und Haus befand sich ein leerer Platz, auf dem ein dunkler BMW parkte. Helen stoppte ihren Golf neben dem Flitzer. Der Besuch aus London war also eingetroffen. Ihr Mann würde froh sein, und sie atmete ebenfalls auf,
denn was Garry durchgemacht hatte, das mußte einfach aufgeklärt werden. Das Haus war aus Stein und Holz gebaut worden. Die untere Hälfte bestand aus roten Ziegelsteinen, zu denen die braunen Balken gut paßten. Helen holte den Korb aus dem Wagen, in dem die Flaschen mit Orangensaft und Milch standen, und schloß die dicke Bohlentür nicht auf, weil sie davon ausging, daß ihr Mann mit seinen Besuchern im Garten auf der Terrasse saß. Dort ließ es sich besser plaudern. Stutzig wurde Helen allerdings, als der Geländewagen nicht mehr auf seinem Platz stand. Sie ging trotzdem um das Haus herum. Über den kleinen Plattenweg und vorbei an zahlreichen Obststräuchern erreichte sie den Garten, wo sie sofort stehenblieb, denn auf der Terrasse standen zwar die Sitzmöbel, ansonsten aber war sie leer. Keine Menschen. Helen ging hin. Sie sah die benutzten Gläser noch auf dem Tisch stehen, und sie entdeckte auch die Puppe dazwischen, deren Kopf eine Fingerlänge vom Körper entfernt lag. Der Anblick ließ Helen schaudern, denn sie brachte ihn in Verbindung mit ihrem toten Hund. Im Korb war noch Platz, um die benutzten Gläser einzuladen. Während sie das tat, überlegte sie, wo ihr Mann mit seinen Besuchern wohl stecken könnte. Möglicherweise waren sie zum Grillplatz gefahren. Natürlich, das mußte es sein, schließlich wollten sich die Polizisten einen Eindruck vom Tatort verschaffen. Helen ging ins Haus. Sie nahm den Seiteneingang, schloß die Tür nicht auf, denn ihr Mann hatte vergessen, die Tür abzuschließen, was Helen ärgerte. Auch in dieser Gegend war man vor lichtscheuem Gesindel nicht sicher. Einmal hatten sie böse Erfahrungen mit zwei jugendlichen Ausbrechern gemacht, die Garry glücklicherweise mit seiner Waffe in Schach hatte halten können, während Helen die Polizei alarmiert hatte. Im Haus selbst war es still. Die Frau runzelte die Stirn, als sie in die Küche ging. Nicht etwa, weil ihr die Stille seltsam vorgekommen wäre, sie war immer vorhanden, wenn ihr Mann unterwegs war, aber diese Stille empfand Helen als anders. Beklemmend möglicherweise, und das änderte sich auch nicht, als sie die Küche betrat. In ihr hatte sie viel Platz. Sie paßte wegen ihrer Rustikalität in dieses Landhaus. Ansonsten war sie sehr modern eingerichtet. Der Frau fehlte es an nichts. Helen öffnete die Tür des großen Kühlschranks und begann damit, die Milchflaschen hineinzustellen, räumte noch andere Dinge um, schuf so
Platz für den Orangensaft und wollte die Tür wieder schließen, als sie das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein. Da war jemand… Sie wartete, doch es war niemand zu hören, der auf leisen Sohlen durch das Haus schlich. Die Stille hatte sich nicht verändert. Dafür aber ihr Gefühl. Sie holte tief Luft, schloß die Kühlschranktür und drehte sich langsam um. Aus dieser Position hervor konnte sie einen Blick auf die offenstehende Küchentür werfen. Da war niemand. Helen atmete tief durch. Ich will mich nicht verrückt machen lassen, dachte sie. Es ist alles in Ordnung, nur ich bin es nicht. Keiner außer mir hält sich im Haus auf. Nur beruhigten sie die Worte nicht. Der Schweiß auf ihrer Stirn war trotz allem dichter geworden. Auch ihr Herz klopfte schneller. Sie befand sich an einem Punkt, wo es ihr kaum noch Spaß machte, sich in diesem Haus aufzuhalten. Darüber ärgerte sie sich. In der Küche war niemand, das stand fest. Hier unten waren noch der Wohnraum, das kleine Bad, und es gab den Durchgang zum Anbau, der auch als Stall verwendet werden konnte und schon Tieren Unterschlupf geboten hatte, die im Winter verletzt vor der Kälte Zuflucht gesucht hatten. Das alles gehörte zu einem Försterhaus, das alles war normal, aber nicht die zarte Mädchenstimme. »Ich will meine Puppe zurück...« Helen McBain hatte sich schon zwei Schritte von ihrem Kühlschrank fortbewegt, als sie die Stimme hörte, und diesmal hatte sie sich nicht getäuscht. Sehr deutlich, beinahe von allen Seiten kommend hatten die Worte ihre Ohren erreicht. Und sie hatten sehr traurig geklungen, als hätte die Sprecherin etwas verloren, an dem sie mit großer Sehnsucht hing. Die Puppe… Und zwar die Puppe, die draußen auf dem Tisch der Tenasse lag und geköpft worden war. Helen erschrak über ihre eigenen Gedanken, während ihre Blicke durch die Küche streiften, ohne allerdings die geheimnisvolle Sprecherin entdecken zu können. »Ich will meine Puppe...« Da – wieder! Helen schloß für einen Moment die Augen. Sie spürte den Kloß im Hals. Gleichzeitig blockierte etwas ihre Gedanken, als wären diese ein Strom, der durch ein Stauwehr aufgehalten wurde. Eine Kinderstimme bat um eine Puppe. Es gab kein Kind in der Nähe. Sie
lebten sehr einsam. Die nächsten Nachbarn waren weit entfernt. Sie hätten lange laufen müssen, um das Haus zu erreichen, und Kinder hatten die auch keine. Helen wollte sich auch nicht vorstellen, daß sich ein fremdes Kind verlaufen hatte, obwohl es nicht ausgeschlossen war, denn diese Gegend war auch bei Spaziergängern beliebt. Die Frau hatte einen Fuß nach vorn geschoben. Sie achtete auf jedes fremde Geräusch, aber sie hörte nur den eigenen Schlag ihres Herzens und ärgerte sich dann darüber, daß beim nächsten Schritt der Stoff ihrer Jeans in Oberschenkelhöhe gegeneinander rieb und so ein schabendes Geräusch entstand, das zumindest ihr laut vorkam. Ein Blick zum Fenster. Dort war auch nichts. Nein, das Kind mußte sich im Haus aufhalten. Irgendwo in den unteren Räumen, wenn überhaupt. Sie dachte auch an die Stereoanlage, die vielleicht eingeschaltet war. Nein, das war nicht möglich. Dann hätte sie auch jetzt Musik oder Stimmen vernommen, denn niemand war da, der die Anlage hätte ausschalten können. Und sie fragte sich auch, weshalb sie keine Angst verspürte, sondern eher das Gefühl der Spannung und Neugierde. Sie selbst konnte es kaum beschreiben. Da war eine Wand vor ihr, in die sie aber hineingehen konnte, und sie würde sich öffnen. Mit leisen Schritten bewegte sich die Frau auf die Tür zu. Sie hatte sich endlich überwunden, der Wohnraum öffnete sich. Sie schaute nach rechts zum großen Fenster. Der Garten dahinter, der Tisch mit der Puppe, die Möbel, der Steinfußboden, auf dem sich die Teppiche verteilten, dann die Treppe, die vom Wohnzimmer aus in die obere Etage führte, denn dieses Haus bildete eine Einheit. Alles das kam bei ihr zusammen, alles war vertraut, sie konnte darüber lächeln, die Augen schimmerten, als sie den Mund bewegte und ein leises »Hallo...« rief. Wo blieb die Antwort? Noch hörte sie nichts. Sie hatte auch nichts gesehen. Aber irgendwo mußte das Kind doch sein. Es war da. Die Bewegung auf der oberen Hälfte der Treppe glich mehr einem Huschen. Da war ein heller Schatten, gleichzeitig auch dunkel. Helen kam mit der eigenen Beschreibung nicht zurecht. Ein Phänomen, an das sie bisher nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Aber es war da. Auf der Treppe stand jemand und ging nicht mehr weiter. Es sah aus, als wollte die Gestalt abgeholt werden. Helen McBain tat auch keinen Schritt mehr. Sie stand einfach nur da und staunte. Etwas hatte sich verändert. Da war eine Kraft, die sie regelrecht umfloß, umspielte, und diese Kraft konnte von ihr nicht erklärt werden. Sie mußte hingenommen werden, sie war einfach wunderbar, klar, rein
und anders. Helen war fasziniert und trotzdem durcheinander. So dauerte es eine Weile, bis sie sich zurechtfand und endlich in der Lage war, auch Einzelheiten aufzunehmen. Geist oder Mensch? Ein Kind stand auf der Treppe ein Mädchen, aber bei ihm floß beides zusammen, so daß es Helen schwerfiel, sich zu entscheiden. Andererseits war es auch nicht wichtig. Ein nettes Mädchen. Es trug ein dunkles Kleid mit einem Blumenmuster. Von der Schnittform her hatte das Kleid Ähnlichkeit mit lern der Puppe, ansonsten gab es zwischen den beiden keine Gemeinsamkeiten. Aber die Gestalt war da, sie lächelte auch. Der kleine Mund paßte zu dem runden Gesicht mit den blonden Haaren. Helen räusperte sich. Sie hatte sich selbst innerlich auf Vordermann gebracht. Das mußte sie auch tun, um eine Frage stellen zu können. »Wer bist du…?« Drei Worte, die versickerten. Helen wartete gespannt auf die Antwort. Noch war sie nicht sicher, ob sie ihr gegeben würde, aber das Mädchen sprach tatsächlich. »Ich bin Cynthia...« Helen McBain schloß für einen Moment die Augen. Cynthia – der Name klang in ihrem Kopf nach. Sie konnte damit nichts anfangen, und sie wußte auch nicht, ob sie einen Menschen oder einen Geist vor sich hatte. Jedenfalls war alles so anders und fremd geworden. »Cynthia?« wiederholte Helen. »Ja.« »Mehr nicht…?« »Doch!« wisperte es. »Doch...« »Was denn noch?« »Ich bin tot...« *** Es war wirklich nicht viel Zeit vergangen, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Da ich nicht zu fahren brauchte, hatte ich Muße gehabt, mich umzuschauen, und ich mußte mir eingestehen, daß es sich in dieser Gegend wunderbar leben ließ, falls man die Einsamkeit liebte. Hier war die Natur äußerlich perfekt. Sie umgab den Menschen wie ein Rahmen, in dem er wunderbar den Wechsel der Jahreszeiten erleben konnte, und auch für einen Weekend-Trip eignete sich die Umgebung wunderbar. Die Grillhütte lag ideal. Im Wald, auf einer großen Lichtung, von der Straße her gut zu erreichen, leider auch für Autos, denn die Lichtung bot genügend Parkplätze. Hier würde also die Jagdgesellschaft erscheinen und die Ruhe des Waldes stören, was mir überhaupt nicht gefiel.
Das sah auch der Förster. Ihm gefiel wohl mein Gesichtsausdruck nicht. Er hatte das Fahrzeug gestoppt und noch beide Hände auf dem Lenkrad liegen. »Was haben Sie, Mr. Sinclair?« »Nicht viel. Ich habe nur nachgedacht. Dabei ist mir eingefallen, daß es wohl nicht gut sein kann, wenn hier einige Typen herumtoben und der Geruch von Gegrilltem die Lichtung überzieht.« »Danke.« Er schlug mir auf die Schulter. »Sie haben mir aus der Seele gesprochen.« Wir stiegen aus. Es war das Eintauchen in eine warme Frühsommerwelt. Die Sonne hatte sich hoch an den Himmel gereckt. Das frische Grün der Bäume bildete über unseren Köpfen ein Dach, und auf dem Waldboden sahen wir den Fleckenteppich aus Licht und Schatten. Auch Suko hatte den Wagen verlassen. Leider drückte er die Tür zu. Wir kamen uns vor wie Eindringlinge, die eine natürliche Ruhe gestört hatten. »Hier also haben Sie den Henker gesehen, Garry.« »Ja.« »Wo genau?« Er winkte, und wir gingen hinter ihm her. Es war eigentümlich still. Mir fehlte das Zwitschern der Vögel. Das sah ich nicht als normal an. Erst als der Förster einen bestimmten Platz erreicht hatte, blieb er stehen. Er bewegte einen Arm im Halbkreis. »Hier genau«, sagte er, »hier hat er gestanden.« Zu sehen war nichts. Die Gestalt hatte nichts hinterlassen. Auch in der Nähe entdeckten wir keine Spuren. »Wie ging es dann weiter?« fragte ich. Der Förster nahm sich Zeit für die Antwort. »Ich habe Ihnen ja berichtet, welch ein Schrecken mich überfiel. Ich sah ihn, und er sah mich. Dann wollte er mich töten. Ich habe geschossen, ich habe ihn auch zweimal getroffen, ohne ihn allerdings aufhalten zu können. Schließlich mußte ich fliehen.« »Ja, danke.« Suko und McBain schauten zu, wie ich mit kleinen Schritten mehrere Kreise ging, den Blick gesenkt. Manchmal konnte man noch sehen, wo etwas oder jemand erschienen war. Da zeigte der Boden dann verbrannte Stellen, das war hier nicht der Fall. »Ich habe mal von einem Geisterjäger gelesen, Mr. Sinclair, der kam an den Ort des Geschehens oder an den Tatort und hat da seine Instrumente aufgebaut.« »Wie meinen Sie das?« »Wie soll ich sagen?« McBain hob die Schultern und kam auf mich zu. »So Meßgeräte. Ampere- oder Voltmeter. Oszillographen, was weiß ich nicht alles. Auch einen Computer. Sie haben nichts, gar nichts. Wie wollen Sie dann feststellen, daß hier etwas geschehen ist?«
Ich konnte verstehen, wenn er so redete und gab eine lockere Antwort. »So etwas kann ich nicht aufbauen. Es fehlt ja eine Steckdose, um die Geräte anzuschließen.« Zuerst war McBain erstaunt, dann aber mußte er lachen und sprach davon, daß es ihn freute, daß auch wir einen entsprechenden Humor hatten. Ich wollte mir die Lichtung anschauen, die eigentlich keine war, denn zum Feldweg hin hatte sie sich geöffnet. Unter dem Pilzdach der Grillhütte blieb ich stehen. Sie war ziemlich groß. Hier hatten zahlreiche Personen Platz. In der Mitte stand der große Grill, das heißt die Feuerstelle. Der Grill selbst schwebte darüber, denn wer hier sein Fleisch briet, der legte es auf einen Schwenkgrill. Ich verließ die Grillhütte an der gegenüberliegenden Seite und schaute zum Rand der Lichtung, wo die Laubbäume ziemlich dicht standen und auch Unterholz in den freien Räumen zwischen ihnen wuchs. Dichter Farn, Gestrüpp, all das gehörte zu einem gesunden Wald. Das akzeptierte ich auch, nur die Stille gefiel mir nicht, und auf die sprach mich Suko an. Er brauchte nicht einmal laut zu reden, seine Stimme hallte auch so über die Lichtung. »Keine Vögel singen, John...« »Ich weiß.« »Dann ist es noch hier...« Als ich mich umdrehte, ging ich gleichzeitig von der Grillhütte weg. Der Förster hatte kurz zuvor von einem Geisterjäger erzählt, der seine Instrumente aufgebaut hatte, um übersinnliche Wesen aufzuspüren. Mit den Dingen konnte ich nicht dienen, ich mußte mich mehr auf einen bestimmten Indikator verlassen, auf mein Kreuz. Das zog ich hervor. Es hatte sich leicht erwärmt, und ich wußte, daß es nicht an den Strahlen der Sonne lag. Die Erwärmung des Kreuzes hatte einen anderen Grund. Zudem kam sie von innen. Meine Sinne schalteten auf Alarm. Nicht einmal im negativen Sinne. Ich freute mich darauf, der Lösung des Rätsels möglicherweise einen Schritt näher zu kommen. Als ich die Hand mit dem Kreuz bewegte, fiel ein Sonnenstrahl auf das Metall und ließ es schimmern. Der Blitz verfing sich im Geäst eines Baumes, er war mir vorgekommen wie geleitet. »John, was ist?« Ich winkte ab, als ich Sukos Frage hörte. Diese Geste kannte er, und er wußte, daß ich nicht mehr gestört werden wollte. Ich hörte ihn mit dem Förster flüstern. Wahrscheinlich gab er dem Mann eine Erklärung. Ich aber ging weiter. Dabei bewegte ich mich am Rand der Lichtung entlang. Ich wollte mein Kreuz nicht unbedingt mit einer Wünschelrute vergleichen, so ähnlich aber kam es mir schon vor, denn ich hatte die
rechte Hand ausgestreckt, das Kreuz lag flach auf den Fingern, wobei ich hin und wieder mit dem Daumen über das Metall rieb, um herauszufinden, ob es sich an gewissen Stellen noch mehr erwärmte. Das war nicht der Fall. Es blieb aber leicht temperiert. Hier war etwas. Ich mußte nur herausfinden, wo es sich verborgen hielt. Ich konnte auch jetzt nicht einordnen, ob die Kraft positiv oder negativ war. Hier kam einiges zusammen. Aus Erfahrung wußte ich, daß sich hier eine bestimmte Macht konzentriert hatte. Ich blieb stehen. Den Grund kannte ich selbst nicht. Ich war einfach meinem Gefühl nachgegangen, sah vor mir die Lichtung, entdeckte auch Suko neben dem Förster stehend und hatte plötzlich den Eindruck, als wären die Perspektiven um einiges verschoben oder verzerrt. Sie waren da, aber sie sahen nicht mehr so aus, wie ich sie gern gehabt hätte. Nah und weit. Wie zwischen Scherben stehend, zwischen Prismen oder Linsen. Ich wußte nicht, ob auch sie etwas gemerkt hatten, ich für meinen Teil spürte die Veränderung auch anhand des Kreuzes, denn nun sandte es mir die Signale. Auf einmal waren Stimmen da. Sie schwebten über die Lichtung. Ein geheimnisvolles Flüstern, als wären Laubblätter dabei, gegeneinander zu reiben. Und das Rascheln erwischte meine Ohren wie eine geheimnisvolle Botschaft. Ich legte den Kopf zurück, um gegen den Himmel zu schauen. Durch das Filigran der Zweige schaute ich in die Höhe. Da hatte sich nichts verändert, es erschien kein Geist, kein Engel, aber aus dem Augenwinkel bekam ich links von mir eine Bewegung mit. Mein Kopf zuckte herum! Da sah ich die Gestalten! Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Damit hatte ich nicht gerechnet. Eine Frau, ein Mann und ein Junge, beinahe noch ein Kind. Sie schauten mich an und sahen aus, als wären sie einer fernen Vergangenheit entsprungen… *** Genau in diesem Augenblick dachte ich an den Henker! Er war der springende Punkt gewesen. Seinetwegen waren wir hier erschienen. Ich hatte gehofft, ihn hier auf der Lichtung zu treffen. Das aber war nicht geschehen. Statt des Henkers mit der Kapuze standen hier drei andere Gestalten, die feinstofflich sein mußten, es aber
irgendwie nicht waren, denn sie wirkten so, als wären sie angezogen worden, wie für diesen Auftritt geschaffen. Der Mann trug eine enge rlose, die an den Knien endete. Strümpfe verdeckten seine Waden. Auf dem Kopf saß eine flache Mütze etwas zur rechten Seite geneigt. Über die Schulter hatte er sich noch einen Mantel gehängt, dessen Saum etwa in Hüfthöhe endete. Sein Gesicht war scharf geschnitten, auf der Oberlippe wuchs der schmale Bart wie ein dunkler Streifen. Die Frau neben ihm hielt seine Hand fest. Ihr Gesicht wies eine große Ähnlichkeit mit dem des Jungen auf; Die gleichen Lippen, der fast identische Ausdruck der Augen, das alles traf zusammen, und so kamen mir die drei Personen vor wie eine Familie aus dem Geisterreich. Sie wollten etwas. Ich war ihre Kontaktperson. Über mich oder mein Kreuz waren sie angelockt worden, und als ich sie jetzt länger sah, da stieg seltsamerweise in mir nicht mal das Gefühl der Angst hoch. Nein, ich brachte ihnen eine gewisse Neugierde entgegen, denn ich war gespannt darauf, in welchem Kessel ich da gerührt hatte. Ich mußte etwas vermengt und sie geholt haben, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Noch sprachen sie nicht. Sie schauten mich an. Ich blickte zurück in ihre blassen Gesichter, die zwar zu ihnen paßten, die mich trotzdem störten, vielleicht deshalb, weil sie wegen ihrer Kleidung so echt wirkten. Das hier waren keine feinstofflichen Nebelgestalten, sie mußten in einem anderen Reich existiert haben, in einer Region zwischen den Welten. Waren sie so existent, daß ich sie auch anfassen konnte? Es kam auf einen Versuch an. Während ich auf sie zuging, erinnerte ich mich daran, daß der Henker durchaus vorgehabt hatte, den Förster umzubringen. Als war er auch in einer gewissen Art und Weise stofflich gewesen. Hier kam vieles zusammen, für das ich noch keine genaue Erklärung fand. Die aber würde ich mir holen. Sie bewegten sich nicht und ließen mich kommen. Hinter ihnen baute sich der Wald auf. Für mich glich er mehr einer Theaterkulisse. Wahrscheinlich deshalb, weil dieses Fremde in die normale Natur seinen Einzug gehalten hatte. Ich lächelte. Eine Reaktion sah ich auf den Gesichtern nicht. Sie wirkten wie gepudert und schauten mich nur an. In den Augen lag ein unbestimmter Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. War es Mißtrauen, war es Abwarten? Kam dort noch mehr zusammen? Ich wußte es nicht, das Rätsel blieb, und ich ging einen weiteren Schritt nach vorn. »Stop...«
Das war die Stimme. Das Flüstern, der durch ein geheimnisvolles Wispern ausgesprochene Befehl, und er schaffte es tatsächlich, mich zu stoppen. Sie hatten die Initiative übernommen. Sie wollten in diesem Fall etwas von mir, und ich wartete ab. Wer sprach, fand ich nicht heraus. Jedenfalls überraschten mich die folgenden Worte. Ich hatte sogar den Eindruck, für einen Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Du hast das Kreuz. Ich sehe, ich spüre es. Du hast das Kreuz des Hector de Valouis...« *** Auch im Haus des Försters hielt sich jemand auf, der von der letzten Erklärung überrascht worden war. Helen McBain hatte den Namen des Mädchens verstanden, aber sie hatte auch die anschließende Erklärung nicht vergessen. Ich bin tot! Sie war also tot, und doch stand sie vor ihr. Das bedeutete für Helen, daß sie Besuch aus dem Totenreich bekommen hatte. Als sie dies überriß, da war ihr plötzlich klar, was sie hier erlebte, und das ging über ihr >FassungsvermögenGenußMusik< spielte. Zuvor aber konnten wir vielleicht Informationen sammeln. Bisher hatte die Frau geschwiegen. Plötzlich aber sagte die: »Es war ein so grausiger Abschied.« »Wie meinen Sie das?«
Sie schaute mich nicht an. »Wissen Sie – dieser Henker schlug zu. Einfach so. Er schlug ihr den Kopf ab. Sie hat nicht mal etwas sagen können, und dann waren sie einfach verschwunden, als hätte es sie nie zuvor gegeben.« »Aber sie waren hier«, sagte ich. »Waren sie das wirklich, Mr. Sinclair? Manchmal wünsche ich mir, ich hätte alles nur geträumt, aber ich weiß leider sehr genau, daß ich es nicht geträumt habe. Dieses Kind wollte seine Puppe zurück. Das hat es nicht geschafft. Warum wollte ihm der Henker die Puppe nicht überlassen? Und warum ist es überhaupt hier erschienen?« »Das wissen wir auch nicht, Mrs. McBain«, sagte Suko. »Aber die Stimme haben auch wir gehört. So unwahrscheinlich es auch klingen mag, Sie und wir haben Besuch aus dem Geisterreich bekommen. Nennen Sie es auch Reich der Toten, aber finden Sie sich bitte damit ab, daß es so etwas auch gibt.« »Natürlich«, murmelte Helen, »ich habe es ja selbst erlebt. Dennoch komme ich damit nicht zurecht.« Sie strich über ihr Gesicht und schaute in die Baumkrone über uns. »Ich frage mich, ob es das Ende gewesen ist.« »Welches Ende?« »Erlebe ich eine Wiederholung?« »Sie meinen, das Kind würde noch einmal zurückkehren, um die Puppe zu holen?« »Ja, Inspektor.« Das war nicht mal schlecht gedacht, denn damit rechneten auch wir. Wenn ich ehrlich sein sollte, hielten wir uns auch deshalb im Haus des Försters auf, um dies bestätigt zu bekommen. So warteten wir quasi auf die Rückkehr des Kindes, denn nur Cynthia konnte uns Informationen geben. Ich glaubte nicht daran, daß sie nur allein ihre Puppe zurückhaben wollte. Da steckte sicherlich mehr dahinter. Suko schaute Mrs. McBain traurig an. »Das steht leider nicht in unserer Macht.« Damit gab sich Helen nicht zufrieden. Sie überlegte, ihre Hände drückte sie dabei zusammen, und die Stirn legte sie in Falten. »Wir sind ja wohl alle nicht darüber informiert, was uns noch erwartet. Keiner kann in die Zukunft schauen, aber sollte Cynthia noch einmal zurückkehren wollen, wäre es Ihnen nicht möglich, ihre Rückkehr zu beschleunigen? Ich meine, könnten Sie das Kind nicht locken, herbeirufen, wie auch immer? Ginge das nicht?« Das hatte ich vor. Auch Suko schien ähnlich zu denken, als er mir zunickte. Und Helen McBain lächelte plötzlich. »Nun, Mr. Sinclair, worüber denken Sie nach?« »Über genau das Problem?« »Dann liege ich nicht so schrecklich falsch mit meinem Wunsch.«
»Überhaupt nicht. Es wird nur sehr schwer werden. Wir müssen davon ausgehen, daß dieses Kind, wie immer es auch sein mag, einen eigenen Willen hat. Ich glaube nicht, daß es erscheint, wenn wir einfach nur seinen Namen rufen. Nein, nein, das wird uns kaum gelingen. Es ist deshalb wichtig für uns, eine Möglichkeit zu finden, den Kontakt aufzunehmen. Wir müssen gewissermaßen einen Kanal aufbauen, eine Strecke, die in die andere Welt führt.« »In das Reich der Geister, meinen Sie?« »So ungefähr.« Wir sahen, daß sich die Haut am Hals bewegte. Helen schluckte. Was sie und wir so locker dahingesprochen hatten, bedeutete in Wirklichkeit sehr viel für sie. Bisher mochte sie von den Kontaktaufnahmen gehört und gelesen haben, nun aber wurde sie selbst damit konfrontiert, und das war immer etwas anderes. Sie würde sich diesen Problemen stellen müssen, was bestimmt nicht einfach war. »Bisher habe ich nie so recht daran geglaubt. Ich ahne wohl, daß es gewisse Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die...nun ja, Sie kennen den Spruch. Ich habe zudem Bücher gelesen, die dieses Thema am Rande streiften. Bei mir ist da einiges zusammengekommen, aber ich hätte nie gedacht, daß ich persönlich mit diesen Dingen einmal konfrontiert werden würde. Der Ruf in die Geisterwelt.« Sie schlug gegen ihre Stirn. »Das ist ja der reine Wahnsinn. Da...da...komme ich nicht mit, aber ich will es probieren, weil ich einfach den Eindruck habe, daß es ungemein wichtig ist.« »Da haben Sie recht.« »Hier bei mir bleiben können Sie auch nicht, denke ich. Sie müssen ja zu meinem Mann.« »Ja, wir werden Gäste bei der Party sein. Deshalb bleibt uns auch nicht viel Zeit.« »Wird der Henker ebenfalls dort erscheinen?« Auf diese Frage gaben ihr weder Suko noch ich eine Antwort. Dafür griff ich nach der Puppe. Ich nahm den Körper in die Hand, den flachen Kopf ließ ich liegen. Der Puppenkörper bestand aus Holz. Ich fühlte ihn unter dem Kleiderstoff, der ebenfalls noch aus alter Zeit stammte. Mir kam er temperiert vor, handwarm, was durchaus an den Strahlen der Sonne liegen konnte, die den Körper getroffen hatten. Vier Augen beobachteten mich. Suko schaute gelassen zu, Helen mit einer Mischung aus Skepsis, Neugierde und Abwehr. »Können Sie sich vorstellen, weshalb Cynthia immer wieder nach ihrer Puppe gerufen hat?« flüsterte sie. »Nein, nicht genau.« »Sie muß sie sehr geliebt haben.« »Stimmt. Aber reicht das?« »Wie meinen Sie das?«
»Ganz einfach. Es kann durchaus sein, daß es noch eine andere Verbindung gibt, als eben diese ungewöhnliche Liebe zwischen den beiden. Oder liege ich da falsch?« »Ich weiß es nicht.« »Das möchte ich herausfinden. Vielleicht gelingt es uns ja, daß die Puppe und Cynthia miteinander Kontakt bekommen und die eine dafür sorgt, daß die andere hier erscheint.« Um Helens Lippen huschte ein Lächeln. »Das wäre ein Wahnsinn«, sagte sie. Ich schaute in die Puppe hinein. Da der Kopf mit einem glatten Schnitt vom Körper getrennt worden war, saß die Hälfte des Halses noch auf dem Körper und die andere am Kopf. Innen steckte eine Mischung aus Lumpen und Stroh; nichts Ungewöhnliches. Ich schaute mir den Kopf an. Das Gesicht war bemalt. Auf dem hellen Holz zeichnete sich der rote Mund besonders gut ab. Ich sah auch die Augen und die Nase. Der Maler hatte es geschafft, mit wenigen Punkten und Strichen dieser Puppe ein nettes Gesicht zu geben. Das machte keine Angst, das flößte dem Besitzer Vertrauen ein. Ich tat dann etwas, das zumindest Helen McBain verwunderte. Sie bekam große Augen, als sie sah, wie ich die Kette über den Hals streifte und das Kreuz freilegte. Sie war von diesem Kreuz fasziniert und holte tief Luft. »Kennen Sie das?« fragte ich sie. »Nein, ich habe es nie gesehen.« »Es ist für mich wichtig«, sagte ich. »Möglicherweise kann es uns den Weg zeigen.« »Wohin?« »Zur Lösung. Sie kennen das Mädchen, wir kennen die Eltern des Mädchens und dessen Bruder. Und diese Familie Ashford kennt auch das Kreuz. Deshalb ist es möglich, daß dieses Kreuz auch Cynthia bekannt ist. Ich kann Ihnen jetzt keine genaue Erklärungen geben, Sie und wir müssen dem Kreuz vertrauen, das auch der Familie Ashford gewesen ist, wenn auch durch einen anderen Träger.« Helen nickte. Dennoch lagen ihr zahlreiche Fragen auf der Zunge, aber sie beherrschte sich. Ich legte das Kreuz auf den Gartentisch. Für einen Moment schien es zu explodieren, sich aufzulösen im Licht der Sonne. Das aber war ein Irrtum. Es sah nur so aus, weil es von einem Sonnenstrahl erwischt worden war, der seinen Weg durch das Laub gefunden hatte. Vier Augen schauten mir gespannt zu. Ich faßte zuerst den Kopf mit zwei Fingern an und schob es auf den oberen, kurzen Balken des Kreuzes zu. Als es zur Berührung kam, nahm ich die rechte Hand wieder zurück und
griff mit der linken zum Puppenkörper. Ihn brachte ich bis an die Unterseite des Kreuzes heran. Der Kopf lag oben, der Körper unten. Das Kreuz bildete ein neues Mittelteil. Sollte die Puppe in einer sehr starken Verbindung zu ihrer Besitzerin stehen, so war es durchaus möglich, daß diese Verbindung durch das Kreuz noch aktiviert wurde. Dann mußte sie die Kraft spüren, die positiven Wellen, für die Grenzen keinen Bestand hatten. Wir warteten. Auch ich mußte zugeben, daß mich ein Gefühl der Spannung umklammert hielt. Obwohl äußerlich nicht viel passierte, war dieser Vorgang ungemein wichtig für den Fortgang des Falles. Die Verbindung zwischen den beiden Zeitebenen existierte. Ich mußte sie nur so stärken, daß auch wir mit einbezogen werden konnten. Und darauf warteten wir. Noch geschah nichts. Ich hörte Suko atmen, dann sprach er mich leise über den Tisch hinweg an. »Was hältst du davon, wenn du es aktivierst?« »Nicht viel.« »Warum nicht?« Ich hob leicht die Schultern. »Es könnte sein, daß die Kraft dann zu stark wird.« Er schwieg. Auch die Frau des Försters sagte kein Wort. Sie stand unter Druck, wir sahen es ihr an. Immer wieder bewegte sich ihr Hals, als sie schluckte. Ich ließ das Kreuz nicht aus den Augen. Auch schaute ich auf den Kopf der Puppe. Weder er noch der Körper strahlten auf, zum Zeichen, daß etwas geschehen war. Sollte ich mich so geirrt haben? »Sie ist da!« Helen McBain schrak zusammen, als sie den Satz sagte. »Ja, sie ist da. Ich spüre es. Sie befindet sich in unserer Nähe, aber sie traut sich nicht aus dem Unsichtbaren hervor. Sie lauert, sie wartet, sie will uns erscheinen und dann zuschlagen.« Helen stand auf. Es kratzte, als sie den schweren Stuhl zurückschob. Sie strich mit einer gedankenverlorenen Bewegung über ihre Stirn, dann über das Haar, schluckte einige Male und schaute an uns vorbei, schräg gegen den Himmel, als würde sie dort eine Erscheinung erkennen. Ich drehte mich nicht um, stellte allerdings fest, daß mein Freund Suko die Stirn gerunzelt hatte und ebenfalls dorthin schaute. Da mußte sich etwas tun. »Sie ist da...« Helen bekam die Worte kaum hervor. Sie schüttelte sich dabei, preßte die Hand auf die Brust, und bevor ich das Mädchen noch sah, hörte ich seine Stimme. »Ihr habt meine Puppe...« Da erst wußte ich, daß ich Erfolg gehabt hatte. Cynthia kam…
*** Für einen Moment blieb ich noch sitzen. Dann drehte ich mich auf dem Stuhl sehr langsam nach links, denn aus dieser Richtung hatte ich die Stimme gehört. Cynthia hatte nicht laut gesprochen, die Botschaft war nicht mehr als ein Flüstern gewesen, und dies setzte sich irgendwie auch optisch um, denn wir sahen sie nicht wie einen normalen Menschen mit einem normalen Körper, sondern irgendwie anders. Durchscheinend, als wäre sie ein Geist. Im Garten malte sich der schwache Umriß eines Mädchens ab. Es war ein hübsches Kind mit einem runden Gesicht. Es sah nicht einmal altertümlich aus, es wirkte auf mich zeitlos, denn auch heute zog man den Kindern oft lange Kleider an. Nur waren die Kinder, die normal lebten, nicht so blaß wie diese kleine Person. Das runde Gesicht zeigte eben die leichenhafte Blässe, als wäre die Haut mit einem dünnen Kreidestab eingerieben worden, der sich überall verteilte. Selbst die Lippen wiesen kaum einen roten Farbton auf, sie blieben blaß, und ich konzentrierte mich auf die Augen. Sie waren aus der Distanz nicht genau zu erkennen. Zudem hielt sich die Kleine im Licht der Sonne auf. Sie wirkte dort wie ein heller, körperloser Schatten. Kam sie, kam sie nicht? Sie zögerte, denn sie war durcheinander. Etwas paßte ihr nicht. Kopf und Körper der Puppe waren voneinander getrennt. Zwischen beiden lag das Kreuz. Die Puppe hatte jetzt eine völlig neue Verbindung bekommen, die zugleich so etwas wie einen Kanal darstellte, der zwei Ebenen miteinander verband. Cynthia wollte die Puppe. Ich ging davon aus, daß ich sie nicht aufhalten konnte. Zusätzlich wurde sie noch von den Kräften meines Kreuzes angezogen. Ihre Eltern kannten meinen Talismann. Ich fragte mich, ob er auch dem Mädchen bekannt war. Wir warteten. Drei Augenpaare richteten sich auf die Erscheinung, die immer noch zögerte, abwartete und dabei ihren Körper nie so richtig unter Kontrolle bekam. Er bewegte sich in seinem Innern. Mal nahm er besser erkennbare Umrisse an, dann verwischten sie wieder, als wollten sie sich mit den hellen Sonnenstrahlen vereinigen. Ich hoffte auf mein K)reuz. Dessen Kraft mußte einfach reichen, den Drang des Geisterkindes noch zu verstärken. Cynthia bewegte sich. Ich atmete auf, als sie auf die Terrasse zulief. Dabei nahmen wir es hin, daß kein einziger Laut zu hören war. Wenn wir jemals einen Geist erlebt hatten, so war das Nähergleiten dieses Kindes dafür der beste Beweis.
Helen McBain konnte ihren Blick ebenfalls nicht von dem Kind abwenden. Site war von diesem Anblick fasziniert. Was sich in ihrem Kopf abspielte, war sicherlich ungeheuerlich. Die Gedanken mußten sich dort überschlagen, denn sie erlebte etwas, das allen Naturgesetzen widersprach. Und doch dachte sie an den Henker, denn sie flüsterte: »Er ist nicht da. Cynthia hat auch noch ihren Kopf. Er sitzt wieder auf dem Körper. Mein Gott, das ist unbegreiflich.« Im Prinzip war es das auch. Aber wir wollten es auch nicht begreifen, vorerst nicht. Wir nahmen einfach hin, daß dieses kleine Wesen auf uns zukam. Die Puppe lag noch immer auf dem Tisch. Am schmaleren Rand blieb Cynthia stehen. Wir sahen sie deutlich, aber wir konnten sie auch >riechenversprochen