C. H. GUENTER
Tote haben es leicht
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. Im Februar 1943 peits...
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C. H. GUENTER
Tote haben es leicht
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. Im Februar 1943 peitschten verheerende Schneestürme über Westrußlands Steppen. Unter meterhohen Verwehungen erstickte jede Kampftätigkeit. Kaum hörte es auf zu schneien, kam der Frost. In manchen Nächten fiel die Temperatur auf minus 35 Grad. Dann mußten sie unter ihren Panzermotoren Feuer anzünden, um sie in Gang zu bringen. Die Waffen schössen nur, wenn man sie mit Spezialöl behandelte. Daran mangelte es aber im vierten Kriegsjahr. Also behalf man sich mit einer Mischung aus Petroleum, Spiritus und Glyzerin. Ab und zu wagte ein russischer Aufklärer sich über die Frontlinie, wurde aber von den eigenen Messerschmitt-Jägern schnell vertrieben. Aber gegen die Partisanen gab es kein Mittel. Sie krochen nachts aus den Wäldern und Sümpfen, sprengten Telefonmasten, Eisenbahnschienen, Depots und ve rbuddelten Minen auf der Rollbahn. Bei Tagesanbruch verschwanden sie wieder. Man wurde ihrer nicht Herr, obwohl die Jagdkommandos die Dörfer durchkämmten und alles niedermachten, was auf zwei Beinen lief. Wenn wieder Transportzüge und Nachschubkolonnen in die Luft flogen, wurde der Ruf nach den Minenräumern laut. Sie kamen wie eine Armee der Hoffnungslosen. Ausgemergelte Gestalten, unzureichend bekleidet und ausgerüstet, die Rang- und Hoheitsabzeichen hatte man ihnen abgenommen. Von den langen Fußmärschen waren sie schon kaputt, ehe sie mit der Arbeit begannen. Ohne Rücksicht auf Verluste suchten sie nach Minen und Sprengsätzen. Wurde wieder eine Gruppe von einer 3
Explosion hochgeschleudert und zerfetzt, strich der Unteroffizier nur die Nummer in seiner Liste durch. Auf dem Rückmarsch ins Lager wurden sie oft aus dem Hinterhalt beschossen. Das kostete ebenfalls Tote. Zehn oder hundert, das spielte keine Rolle. Den Strafkompanien der deutschen Wehrmacht fehlte es nie an Ersatz. In den Gefängnissen saßen genug Kriminelle, Kommunisten und religiöse Fanatiker. Und die Front lieferte Deserteure. Zurück im Lager gab es dann eine Hungerration. Dünne Suppe und vergammeltes Brot. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. An einem ganz normalen Tag im Februar zog das Strafbataillon mit zweihundertachtzig Mann aus, um die Rollbahn nach Kursk zu entminen. Die Partisanen ve rwendeten neuartige Zünder, und bei Dunkelheit griffen sie an. So kam es, daß fast die Hälfte der deutschen Soldaten draufging. Aber beim Strafbataillon 99 spielte das keine Rolle.
„Die sechste Armee hat kapituliert“, sagte Soldat Koch zu Soldat Berger. „Dann ist Stalingrad also gefallen.“ „Und in unsere Suppe ist eine Ratte gefallen.“ „In Paris steht heute noch Rattenfleisch auf der Speisekarte von Luxusrestaurants“, sagte Berger. „Aber wir sind in der Ukraine, Mensch. Und ich mag keine Ratten.“ „Scheiß drauf“, meinte ein anderer und löffelte das breiartige Gemisch aus Graupen, Bohnen, Unkraut und Kartoffeln. „Von mir aus kann es auch ein toter Hund sein.“ „Katze schmeckt besser. Chinesen mögen Katzen und Schlangen.“ 4
„Untermenschen, diese Schlitzaugen.“ ,,Dafür möge n sie keinen Käse“, bemerkte Berger. „Ich sag’s doch: Untermenschen. Und wenn ich demnächst wieder nach Paris komme, dann bitte nicht Ratte à la Napoleon.“ Soldat Koch schielte in Soldat Bergers Kochgeschirr. „Du hast Tomate drin.“ „Ist Blut.“ Berger hob den Arm. Es hatte ihn erwischt. Kratzer einer Partisanenkugel. Die Wunde war nur notdürftig mit einem alten Lappen verbunden. Sie riß immer wi eder auf. Das Blut sickerte über sein Handgelenk zum Handrücken und von dort in die Suppe. „Hast du ein paar Tropfen übrig?“ fragte Koch. Später sagte er: „Paulus, das Schwein, hat also kapituliert. Dann wird er bei den Russen Marschall.“ „Das war er doch schon.“ Die Barackentür ging auf. Einer von der Wachmannschaft kam herein und schrie: „Schnauze halten. Essen, schlafen. In fünf Stunden ist die Nacht um.“ „Fünf Stunden Schlaf“, rechnete einer der ehemaligen jetzt degradierten Offiziere, „fünf Stunden Mansch, fünfzehn Stunden Minenräumen.“ „Macht fünfundzwanzig“, sagte Mathäus, ein Metzger aus dem Bayrischen, der hinter den Linien eine private Wurstfabrik gegründet hatte. „Wo hast du rechnen gelernt, Seemann?“ „Bei der U-Boot-Waffe.“ „Und warum bist du hier? Aus Tapferkeit vor dem Feind?“ „Nur weil die Torpedos versagten“, erklärte der ExKapitänleutnant. „Jetzt räume ich Minen, die leider nicht versagen. Und das, obwohl meine Ausbildung die 5
Marine eine Viertelmillion gekostet hat.“ „Das war ‘ne halbe Million zuviel“, spottete Koch. „Dreimal sieben gibt fünfundzwanzig. Und ihr könnt mich alle, ihr Idioten. Servus.“ Er stand auf, ließ ungeheuer viel Wind ab und kletterte nach oben auf den Strohsack. Dort kaute er an einem Bissen Kommißbrot.
Sie froren und hungerten und arbeiteten. Wer die Minen und die Partisanen überstand, der kam durch die Ruhr um. Mal lag einer morge ns tot auf der Pritsche oder klappte beim Appell zusammen. Die Toten wurden weggeschafft. Man wußte nicht wohin, und keiner fragte danach. Jeder hatte zu tun, um am Leben zu bleiben, und sei es noch einen Tag, noch eine Woche. Zukunft hatten sie alle keine . Die Ausfallquote war immer hundert Prozent. Es sei denn, sie holten einen ab, weil er Spezialist war, den sie anderweitig nicht ersetzen konnten. So ging es mit dem U-Boot-Kommandanten. Vielleicht hatten sie auch festgestellt, daß die Torpedos wirklich sabotiert worden waren. Oder es hatte im Atlantik Ausfälle gegeben. Ein Kübelwagen brachte ihn nach Shitomir. Unterwegs fegte sie ein russischer RataJäger von der Rollbahn. Alle tot. Der Fahrer, der Adjutant und der U-Boot-Offizier. „Die haben es hinter sich“, sagte Berger. „Sie sind zu beneiden.“ „Und wir haben’s noch vor uns. Freuet euch, ihr Christenheit.“ „Warum“, fragte der Metzger aus Bayern, „Sie sind tot, und ich lebe.“ „Aber wie. Schweinen geht es besser. Die werden gemästet.“ 6
„Ich komme durch“, behauptete Mathäus. „Nach dem Krieg liefere ich die besten Rohwürste in alle Welt.“ „Der Krieg dauert ewig, Mensch.“ Berger senkte seine Stimme. „Die Russen greifen Kursk an. Rostow und Charkow haben sie schon genommen. Jetzt rollt Stalins Panzerwelle.“ „Manstein macht eine Gegenoffensive auf Charkow.“ „Womit?“ fragte Mathäus. „Mit Mathäus Riesenbockwurst im Magen und Knüppeln in der Hand? Die Ganoven von der Intendantur haben meine Fabrik auffliegen lassen. War alles piekfein eingerichtet unter der Erde in einem Grasbunker. Ich habe den halben Mittelabschnitt mit Salami versorgt, im Tauschhandel gegen Schnaps und Zigaretten.“ „Und Goldrubel“, ergänzte einer. „Das hat dir die Feldwebellitze gekostet“ „Weil ich die Bastarde vom Hauptverpflegungsdepot nicht mitmachen ließ“, erklärte Mathäus. Der Kompaniefeldwebel kam herein. „Ruhe! Licht aus! In fünf Stunden ist die Nacht um.“ Für Berger war sie schon nach zwei Stunden um. Sie rissen ihn aus dem Schlaf und holten ihn zum Verhör. Der Offizier trug die Schulterstücke eines Leutnants, aber schwarze Kragenspiegel mit SS-Runen. Also war er Sturmführer. Die Baracke des Lagerkommandanten war überhitzt und im Vergleich zu den Baracken das Grand-Hotel Ritz. Sie hatten sogar elektrisches Licht. Wußte der Teufel, woher. Der junge Lagerkommandant, so glatt und ölig wie sein hingebürstetes blondes Haar, hatte den Ausdruck 7
von Ekel im Gesicht, als er Berger stehen sah. „Sie stinken ja, Mann.“ Berger hatte Angst. Die Angst verstärkte seinen Gestank. Seit Monaten hatte er nicht gebadet, seit Weihnachten keine frische Unterwäsche, statt Socken Fußlappen. Die Seifenration ging drauf, um Hände und Gesicht zu säubern. Haarwäsche war unnötig. Man hatte sie kahlgeschoren wie KZ-ler. Der junge Offizier nippte an einem Glas Kognak und steckte sich eine Aktive an. Eine Juno. Warum ist die Juno rund, fiel Berger dazu ein. Die Reklame hing überall in Berlin an den U-Bahnhöfen. Der Offizier blätterte in einer Akte, aber wohl nur pro forma. Berger gefiel das alles wenig, aber auch dem Sturmführer schien es Unbehagen zu erzeugen. „Berger, Theo. Sind Sie das?“ „Jawohl, Herr Sturmführer.“ „Chemiker. Sogar Doktor der Chemie.“ Berger nickte kaum. „Geboren anno neunzehn in Freiburg.“ „Breisgau“, ergänzte Berger. Der SS-Offizier bekam schmale, boshafte Augen. „Ich weiß, wo Freiburg liegt, Sie Arschloch.“ Er öffnete die Schublade und holte etwas heraus, das Berger seit Tagen vermißte. Sie mußten es bei einer Durchsuchung tief im Stroh gefunden haben. Es war in einen graugrünen Uniformfetzen aus Filz gewickelt. Der Offizier schob es unter die Lampe. Dann zupfte er mit spitzen Fingern den Stoff vom Inhalt. Er war so groß wie ein Stück Friedensseife und schimmerte rosasilbern. Dann hob er ruckartig sein Kinn. Der Lagerkommandant mochte ein in die Jahre gekommener Hitlerjunge sein, aber er verstand etwas von Pausen. Eine geschlagene Minute lang fiel kein Wort. 8
Er blickte den Soldaten Berger an, das Stück Metall, oder was es war, und wieder Berger. – Eine Minute konnte verdammt lange dauern. „Was ist das?“ fragte er leise. „Metall.“ „Was für ein Metall? Es steht ja nicht drauf.“ Berger suchte mühsam nach Erklärungen, die nicht gleich erkennen ließen, daß von diesem Gegenstand sein Leben abhing. Er hatte ihn als allerletzte Reserve mitgenommen. „Edelmetall.“ „Edelmetall, Herr Schneckenschiß, oder was?“ „Edelmetall, Herr Sturmführer.“ „Und was für ein Edelmetall, bitte? Für Gold ist es zu hell, für Silber zu dunkel. Ist es gar Platin?“ Inzwischen hatte Berger sich die Taktik zurechtgelegt und hoffte nur, er könne sie einigermaßen verwirklichen. „Rosegold, Herr Sturmführer. Es hat noch einen hohen Silberanteil.“ „Noch einen hohen Silberanteil. Was heißt das, n-o-c-h?“ „Daß man den Silberanteil noch wegbringen kann.“ „Sie meinen durch Beigabe von mehr Kupfer.“ „Dann wird es rotgold. Aber das meinte ich nicht, Herr Sturmführer.“ Der SS-Offizier hämmerte ärgerlich auf die Tischplatte. „Was, zum Teufel, meinen Sie dann?“ Berger war jung und hatte wenig Erfahrung für überspitzte Situationen wie diese, aber er war intelligent. Normalerweise hätte der Lagerkommandant die Wahrheit von seinen Schlägern aus ihm herausprügeln lassen. Er hätte nicht lange Gespräche geführt, um sich Märchen anzuhören, denn Häftlinge logen prinzipiell im9
mer, um ihre Haut zu retten. „Es hat also noch einen hohen Silberanteil“, nahm der SS-Offizier jenen Satz auf, der ihm wichtig schien. „Aber machen wir erst mal anders rum weiter.“ Ein Soldat kam und fütterte den Kanonenofen mit Birkenholz. „Wie kommen Sie an das Gold, Berger?“ „Es ist mein Eigentum.“ „Sie meinen wie eine Uhr, wie ein Fußpilz, wie Läuse oder Tripper, he?“ „Jawohl, Herr Sturmführer.“ „Der Besitz von Edelmetall in solchen Mengen ist laut Gesetz verboten. Zweitens muß die Herkunft deklariert sein, nämlich durch einen Stempel. Drittens muß erkennbar sein, um was es sich handelt. Wieviel Karat, wieviel Tausendstel fein. Dieser Barren weist nicht einen Kratzer auf.“ „Er war vorher nie im Besitz irgendeiner Bank oder Finanzbehörde, Herr Sturmführer.“ Die Verwirrung des Offiziers schien zu wachsen. Er nahm den Barren auf und wog ihn. „Wie schwer?“ „Ungefähr dreißig Unzen.“ „Unzen, was ist das schon wieder?“ „Gold wird in Unzen gemessen. Eine Unze ist ungefähr einunddreißig Gramm.“ „Verflucht, dann sagen Sie gefälligst auch Gramm und benutzen nicht diesen angloamerikanischen Ausdruck. Wissen Sie überhaupt, wo wir hier sind, Mann?“ „Ziemlich gut“, äußerte Dr. Berger. Der Lagerkommandant hörte offenbar den ironischen Ton nicht heraus. Er war zu sehr mit dem Verhör beschäftigt und damit, daß er ein Ergebnis erzielen mußte. „Woher haben Sie das Gold, Berger?“ Da Berger schwieg, wiederholte er die Frage laut und 10
drohend. „Wenn ich Ihnen das sage“, setzte Berger an, „dann nennen Sie mich einen Lügner. Deshalb sage ich es nicht, Herr Sturmführer.“ „Mann, ich lasse Sie vierundzwanzig Stunden lang Kniebeugen machen. Draußen in der Kälte, ohne Klamotten.“ Doch Berger schwieg. Mehrmals war er nahe daran, seine Taktik zu ändern, aber er versuchte durchzuhalten. Sein Gefühl sagte ihm, daß hier irgend etwas Besonderes vorlag. Der SS-Offizier nahm einen Schluck Tee, steckte sich die nächste Juno an und lehnte sich im Stuhl zurück. „Sie kamen mit diesem Intelligenzlerhaufen an die Ostfront“, wechselte er erneut das Thema. „Mit der Sondereinheit Wolf, genannt nach dem Generalingenieur Professor Doktor Wolf.“ „Sie schnüffelten überall herum. In den verlassenen sowjetischen Rüstungsbetrieben, in Labors und Forschungsanstalten, als ob von diesen Bolschewikenhunden auch nur der Hauch einer kriegswichtigen Technik zu erhalten wäre.“ „Sie bauen erstklassige Nebelwerfer und Panzer“, wandte Berger ein. „Ihre Kanonen und Panzer sind aus erstklassigen Stählen. Metallchemie und Metallurgie sind mein Fachgebiet.“ „Aha“, tat der Lagerkommandeur schlau. „Dachte, das hätte mehr mit Physik zu tun.“ „Die Physik war Fachgebiet meines Mitarbeiters.“ Der Lagerkommandant blätterte in der dünnen Akte. „Meinen Sie diesen Doktor Fritz Schuster? Ihr bester Kumpel, he?“ „Mein zweitbester“, schränkte Berger ein. „Und wer ist Ihr bester? Darf man das erfahren?“ Berger nickte. 11
„Mein erstbester Kumpel bin ich selbst.“ Der SS-Offizier lachte kurz und zackig. „Der beste und der zweitbeste Kumpel, alle beide in Strafbataillonen. Und warum? Wegen Desertation.“ Berger streckte den Oberkörper bolzengerade. „Ich bin nicht desertiert, Herr Sturmführer.“ „Nein, Sie sind nur Kommunist. Schon immer einer gewesen. Sie trugen mit Ihren defätistischen Reden, mit Ihrer Herabwürdigung der Person unseres geliebten Führers zur Zersetzung der Wehrmacht bei.“ Berger zeigte ein unbewegtes Gesicht. Der Lagerkommandant schloß die Akte. „Ich hoffe, dieser Einsatz hier wird Ihnen eine Lehre fürs Leben sein, Berger.“ „Und für den Tod, Herr Sturmführer.“ Nun kam der Lagerkommandeur wieder zu jenem Punkt zurück, der unklar war. „Das Gold hier hat noch einen hohen Silberanteil. Was bedeutet noch?“ Da er keine befriedigende Auskunft erhielt, ließ er den Soldaten Berger abführen und sorgte dafür, daß man ihn in den nächsten Tagen besonders scharf hernahm. Wo sich eine Schikane bot, riefen sie Berger. Berger mußte bei dreißig Grad minus das Eis der Latrine aufhacken, betonharte Birkenstämme kleinsägen, Leichen begraben. In der Küchenbaracke bekam er so spät nur noch kalte Suppe, gar kein Brot und außerdem nur drei Stunden Schlaf. Sie machten ihn total fertig. Wieder rissen sie ihn aus dem todesähnlichen Schlaf der Erschöpfung. Im Büro des Lagerkommandanten saß neben dem Sturmführer ein Zivilist im Ledermantel. Das Verhör 12
ging weiter. Alles wurde noch einmal von vorne durchgefeiert. Bis zu dem kritischen Punkt. Hier setzte der Zivilist an. „Wir haben Ihr Gold untersucht“, sagte er. „Es ist von seltener Feinheit. Kaum Einschluß von Mineralien wie Quarz oder Fremdmetallen. Keine Spur von Quecksilber oder Zyaniden. Wie, zum Teufel, wurde dieses Gold gewonnen? Durch Auswaschen? Durch Platinamalgamation, durch Zyanlaugerei, durch Zinkausfällung, durch Destillation, Oxydation? Wie erreicht man so eine Feinheit? – Antworten Sie, Mann!“ Berger wußte jetzt, warum sie ihn so gequält hatten. Nämlich um ihn aussagebereit zu machen. Doch wenn er jetzt redete, war er ein toter Mann. Also erging er sich in Andeutungen. „Durch eine besondere Synthese.“ „Was für eine Synthese? Wollen Sie andeuten, Sie hätten das Gold aus Blei oder Dreck oder wer weiß was gemacht?“ „Durch die Bergersche Extraktion“, erklärte der Sträfling überraschend selbstbewußt. Der Zivilist war verblüfft, und der SS-Offizier kam überhaupt nicht mehr mit. Er musterte den Zivilisten, den Soldaten und dann das Führerbild, als käme von dort eine Erklärung. „Die Bergersche Extraktion also“, höhnte der Zivilist. „Mit Berger bezeichnen Sie sich selbst, aber was meinen Sie mit Extraktion? Etwas im Sinne von Synthese?“ Berger nickte nicht und verneinte nicht, sondern lächelte nur. „Los, reden Sie, Mann!“ „Nicht zu Ihnen“, entgegnete Berger tollkühn. „Ach, ich bin Ihnen wohl nicht kompetent genug.“ Um den Zivilisten nicht zu beleidigen – er war mit Si13
cherheit ein Nazi-Wissenschaftler – wagte Berger einen riskanten Vorstoß. „Wenn ich rede, dann nur mit Experten.“ „Mit dem Generalingenieur Professor Wolf, he? Den haben wir wegen Sabotage aufgehängt.“ Berger war geschockt, zeigte es aber nicht. „Dann mit einem Mann aus dem Ministerium für Forschung und Rüstung“, forderte er. „Ach, etwa mit dem Herrn Minister.“ „Oder mit seinem Bevollmächtigten“, trieb Berger es auf die Spitze. „Denn eines ist doch klar, meine Herren, was ich Ihnen zu bieten habe, ist kriegsentscheidend. Ich habe es, und Sie haben es nicht. Sie können nur insofern von Glück reden, als jene Zellen meines Gehirns, wo das alles enthalten ist, nicht von einer Mine in den Schnee verspritzt wurden. Und nun bitte ich darum, in meine Baracke gebracht zu werden. Ich habe in den letzten drei Tagen nur wenige Stunden geschlafen. – Oder ich falle hier auf der Stelle um.“ Der Soldat Berger aus der zweiten Gruppe des ersten Zuges der vierten Kompanie im Strafbataillon wurde noch in dieser Nacht nach Shitomir gebracht, wo eine Ju-52 wartete, die ihn nach Berlin flog. Im März eroberte Manstein Charkow zurück. Stalin feuerte seinen Chef des Generalstabs und setzte Wassiljewskij ein. Der formierte die Armeen um und trat im Juli zur Gegenoffensive an. In der gleichen Woche landeten die Alliierten auf Sizilien, Mussolini wurde abgesetzt. Im Süden wurden Catania und Messina genommen. An der Ostfront stürmten die Russen auf Orel, Bryansk und Charkow zu. Sie hielten nun den Dnjepr bis Kiew. In Hamburg begann das Labor von Dr. Berger mit der 14
Arbeit. Was er anforderte, wurde ihm bewilligt. Dazu gehörte auch, daß sie Dr. Schuster in einem Lager ausfindig machten, wo er nahe daran war zu verhungern. In Hamburg diskutierten die Freunde ganze Nächte durch und waren sich bald über eines im klaren: Sie mußten versuchen, das Kriegsende zu überleben. „Bloß keine schnellen Ergebnisse“, riet Dr. Schuster immer wieder, „sonst legen sie uns um.“ „Nie“, erklärte Berger, „werde ich ihnen sagen, wie es wirklich funktioniert.“ Da sie exotische Ausgangsmaterialien brauchten, durften sie kreuz und quer durch das besetzte Europa reisen. Auch für das neutrale Ausland bekamen sie Pässe und Devisen. Sie nutzten es weidlich aus. Sie gaben vor, in Zürich Instrumente, in Madrid dieses und in Portugal jenes Material zu bekommen. Wegen der Devisenknappheit wurden auch Tauschgeschäfte vorgenommen, wie zum Beispiel hochfeste amerikanische Stahllegierungen gegen Kohle. Transporte gingen hin und her. Dann kam der Tag, an dem aus ihren Vakuumöfen und Extraktionsanlagen die ersten Ergebnisse herauskamen. Das Ergebnis wurde begutachtet. Die Experten staunten. Man ermächtigte Berger, die Großproduktion zu planen. Im August flogen Tausende alliierter Bomber ihre Großangriffe auf Hamburg. Die Berger-Labors waren in einem der Lagerhäuser am Hafen untergebracht. Drei Luftminen, eine links, die zweite rechts, die letzte genau auf das Dach gesetzt, machte das Labor dem Erdboden gleich. Neue Bombenteppiche mischten den Schutt mehrmals durcheinander. Magnesiumkanister ließen alles Brennbare in Flammen aufgehen. Die Fronten des Krieges brachen Stück für Stück ein. 15
Die Engländer landeten in Reggio, die Amerikaner in Salerno. Im Osten überquerten die Russen den Dnjepr und griffen den Kuban-Brückenkopf an. Die Wissenschaftler Dr. Berger und Dr. Schuster berührte das nicht mehr. Man fand im Schutt weder ihre Leichname noch ihre Tabellen, Produktionspläne und Formeln. „Sie sind tot“, erklärte der Rüstungsminister anläßlich einer Lagebesprechung im Führerhauptquartier. „Schade. Das war so eine Sache, die die Entwicklung des Krieges beeinflußt hätte.“ „Wir werden ihn so oder so gewinnen“, bemerkte Keitel, der Chef des Stabes. „Es wäre einfacher gewesen.“ „Verlieren ist leicht, Siegen sehr schwer,“ „Ich war immer dafür“, sagte der Rüstungsminister, „das Institut nicht ausgerechnet in Hamburg…“ „In Berlin fallen auch Bomben.“ „… sondern in Italien oder Polen aufzubauen.“ Der Stabschef blickte erst den Minister an und dann auf seine Lagekarten. Der Frontverlauf gab die Antwort. Der Gegner marschierte vorwärts, die deutschen Truppen gingen zurück. Das Ende war eine Frage der Zeit. Wie lange brauchten sie für die zweitausend Kilometer bis Berlin? - Wenn die Russen sich jeden Tag nur fünf Kilometer weiter nach Westen vorkämpften, konnten sie im Frühjahr 1945 in den Vororten der Reichshauptstadt stehen. Jeder hatte diese Rechnung schon angestellt, aber ke iner sprach darüber. Am 2. Mai 1945 kapitulierte Berlin. Eine Woche später die ganze Wehrmacht.
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2. Der Sommer dieses Jahres gestaltete sich abwechslungsreich. Erst kam die Hitze über Europa. Der Algenteppich an den Nordseestränden wuchs bis hinauf zu den norwegischen Fjorden. Die Seehunde starben, die Lachse gingen ein. Es gab Unwetter in Spanien, Überschwemmungen von England bis Bengalen, Vulkanatisbrüche in Südamerika, Erdbeben, Wirbelstürme in der Karibik. Einigermaßen verschont blieb Portugal. Bis dann in einer Nacht die historisch wertvolle Altstadt Lissabons völlig niederbrannte. Gleichzeitig passierte dieser sensationelle Einbruch in die Banco de Lisboa Die zuständigen Beamten der Kriminalpolizei konnten ihn zunächst nicht einordnen. „Diese Bande hat die Panik der Feuersbrunst ausgenutzt“, äußerte der Polizeipräsident am Tatort Sein oberster Fahnder steckte sich die x-te filterlose Zigarette an. Halbgerauchte Stummel markierten seinen Weg. „Nein, so schnell läßt sich das nicht organisieren, Senhor. Die gingen doch mit Bazookas, diesen Panzerraketen, gegen die Mauern vor und mit Sauerstofflanzen gegen die Tresore.“ „Sauerstofflanzen, was ist das? Etwas Ähnliches wie Flammenwerfer?“ fragte der Präsident. „Nur ungefähr zehnmal so heiß“, erklärte der Experte. „Stahl schmilzt da schon beim Hingucken.“ „Oder waren es Terroristen?“ „Die können das auch nicht aus dem Stand heraus.“ „Wer dann?“ „Eine auf Banken spezialisierte Organisation. Daß sie ausgerechnet gestern nacht zuschlug, gerade als der Brand in dem Kaufhaus gegenüber anfing, war reiner 17
Zufall.“ „Oder geplante Ablenkung.“ „Dann müßte der Kaufhausbetreiber mit den Bankräubern unter einer Decke stecken. Das tut er aber nicht. Er ist vielleicht ein Versicherungsbetrüger, aber kein Bankräuber. Dazu gehört mehr Mut oder eine andere Form von Mut.“ „Ist der Kaufhausbesitzer verhaftet?“ „Ja, er sitzt schon.“ „Und die Bankräuber?“ „Wir sind hinter ihnen her, Senhor“, versicherte der Oberfahnder seinem Präsidenten, „mit allem, was wi r haben. Und mit allem, was die Spanier haben. Aber die Täter verfügen über sechs Stunden Vorsprung. Mindestens.“ „Das bringt sie notfalls bis Frankreich.“ „Mit schnellen Autos schon.“ „Diese Leute haben doch von allem das Beste.“ „Die Franzosen wurden bereits um Fahndungshilfe gebeten, Senhor.“ „Na dann bon fortuna“, wünschte der Präsident. „Informieren Sie mich stündlich. Ich bin in Estoril.“ Ja, auf dem Golfplatz, du Arschtüte, dachte der Chef der Kripo. Bei deinen fetten Weibern. Und ich muß hier im Dreck wühlen. Der Präsident stieg in seinen Dienstwagen und der Kripochef durch Staub und Schutt hinunter in den Keller der Bank, „Die haben sogar die Schließfächer ausgeräumt“, sagte der Bankdirektor fassungslos.
Das Zielfernrohr auf dem Präzisionsgewehr des französischen Polizisten hatte eine normale vierundzwanzigfache Vergrößerung. 18
Er sah damit alles. Das kleine Landgut mit dem aus Feldstein gemauerten Haus unter den Bäumen. Platanen, die schon ihre Blätter verloren. „Sie sind reingegangen“, übermittelte er dem Polizisten neben ihm. „Ein Tor wie bei einer mittelalterlichen Burg.“ „Aber das sind sie.“ „Was macht dich so sicher?“ „Sie wurden von der portugiesischen Grenze ab beschattet. Sie dachten, sie waren schlau. Sie benutzten nicht den Weg an der Küste entlang, sondern überquerten die Pyrenäen. Jetzt fühlen sie sich sicher.“ „Wenn wir uns da nur nicht geschnitten haben. Das sind doch internationale Terroristen.“ „Kaum“, sagte der mit den Augen am Zielfernrohr. „Es sind glatzköpfige, ältere Männer. Nichts als eine Bankräubergang. Jetzt hocken sie drin und feiern den Sieg. Sie fressen, saufen und singen ein Lied darüber, was die Polizisten doch für Idioten sind.“ „Sie pfeifen was auf das, was sie in Lissabon anstellten. Sie denken, diese Scheißbullen machen ihren Job ja doch nur mit der linken Hand.“ „Mit dem kleinen Finger der linken Hand, und der ist außerdem noch krumm. Aber von wegen. Sie sollen sich fundamental geirrt haben.“ Der Scharfschütze nahm das Auge vom Zielfernrohr und griff nach dem Sprechfunkgerät. „Es sind die Autos und die Männer“, gab er durch. „Irrtum ausgeschlossen?“ „Einer mit roten Haaren war dabei.“ „Wer noch?“ „Der andere sah aus wie ein Aasgeier, selbst in der Dämmerung“, ergänzte der Scharfschütze. „Ich spreche noch mit Paris“, entschied der Einsatzleiter. 19
Die Männer von der Spezialabteilung warteten weiter. Sie hatten Zeit. „Die sitzen jetzt drin wie eine Familienrunde bei Kaffee und Kuchen am Sonntagnachmittag“, sagte der Polizist mit dem Präzisionsgewehr. „Aber denen werden wir die Hintern anlüften.“ Es wurde immer dunkler. Das beste Licht, um so eine Unternehmung zu starten, näherte sich dem Ende. Dann kam der Befehl. „Los jetzt! Wir umzingeln sie.“ „Und wenn sie ballern?“ „Seid friedfertig wie Pastoren“, wünschte der Einsatzleiter. „Todesschuß nur, wenn es nicht anders geht. Wir hätten sie gerne lebend. Oder zumindest halbwegs.“ „Also nur Treffer unterhalb der Bauchlinie.“ Die Männer des französischen Sonderkommandos verließen ihre Deckungen. Der Präzisionsschütze schulterte sein Gewehr und nahm die Maschinenpistole. „Schüsse in den Beinbereich also“, sagte der Kollege neben ihm. „Äußerst schmerzhaft.“ „Eine zerschossene Kniescheibe, Mann, das tut weh.“ „Oui, es gibt Schlimmeres als den Tod, mein Lieber.“ „Das langsame Hinsterben.“ Sie schlichen auf das Gehöft zu. Sechzig Mann bildeten einen schwerdurchdringbaren Ring. Sie wußten, daß sie die Bankräuber kriegen würden. Als die lautsprecherverstärkte Stimme die Gangster aufforderte, sich zu ergeben, gingen die Polizisten in Deckung und machten die bewährten Waffen klar: Gewehrgranaten, Blendgranaten, Granatwerfer und Tr änengas.
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Die Bankräuber ergaben sich nicht, sondern schossen zurück. Sie feuerten aus sämtlichen Löchern auf alles, was sich bewegte oder wie ein Ziel aussah. Im Dachfenster hatten sie sogar ein leichtes Maschinengewehr in Stellung gebracht. Die Polizei hatte bis jetzt nur Warnschüsse abgegeben. In einer Feuerpause ertönte noch einmal die lautsprecherverstärkte Stimme des Einsatzleiters. Er machte es psychologisch und riet den Bankräubern nicht etwa zur Aufgabe. Das hätte sie nur zum Lachen gereizt. Er machte sie nachdenklich, indem er ihnen die Lage drastisch schilderte. Er wies darauf hin, daß ein solches Scharmützel gewöhnlich mit Toten und Verletzten endete. Die Toten würden begraben, die Verletzten eingesperrt. Warum also nicht gleich den einfacheren Weg gehen? Bankraub sei eine Sache, bewaffneter Widerstand eine andere. Das verdopple gleich das Strafmaß. In diesem Punkt stimmten die Richter meist den Anträgen der Staatsanwälte zu. Die Antwort war ein gezielter Schuß, der den Einsatzleiter um Haaresbreite verfehlte. So, daß die Bankräuber es hörten, erteilte er seine Befehle: „Zuerst Tränengas. Durch alle Fenster. – Feuer frei!“ So viele Waffen hatten sie aber nicht zur Verfügung. Sie fingen bei den unteren Fenstern an. Das Reizgas stieg erfahrungsgemäß rasch nach oben. Es zog durch alle Ritzen und Kamine. Die Granaten fauchten hinaus. Die erste zerklatschte neben dem Fensterrahmen. Erst die dritte flog hinein. Das MG hörte auf zu feuern. Zweifellos versuchten sie jetzt, die Granate aus dem Haus zu werfen. Aber sie war mit einem Blendsatz gekoppelt. Man sah das grelle 21
Licht zucken. Vor Wut scho ssen die Bankräuber aus allen Rohren. Die Polizisten schickten noch zwei weitere Reizgasgranaten hinterher. Einer der Bankräuber kletterte von hinten auf das Dach, bekam aber einen Treffer ab und stürzte kopfüber in die Jauchegrube. Noch einmal versuchte der Einsatzleiter es über Lautsprecher. „Sie haben drei Minuten Zeit, Ihre Koffer zu packen, Messieurs“, rief er. „Kommen Sie am besten einzeln und mit erhobenen Händen aus dem Haus. Wenn nicht, dann zeigen wir Ihnen jetzt diesen bekannten Westernfilm, wo Indianer eine Farm angreifen. Die Indianer schießen Feuerpfeile auf das Dach, bis das Haus in Flammen steht. Das Haus, in dem Sie sitzen, ist alt und brennt wie Zunder.“ Die drei Minuten waren um. Sie schossen den Brandsatz, der das Ziegeldach durchschlug. Vor die Westseite des Hauses legten sie eine Salve Gewehrgranaten, von denen jede die Wirkung einer geballten Ladung hatte. Wieder kam eine Durchsage über Sprechfunk. „Achtung! Sie versuchen es hinten durch den Keller. Ausbruch. Einer läuft in Richtung Wald.“ Man hörte MPi-Feuer wie das Trommeln eines Spechts. „Erledigt.“ Die letzte Gewehrgranate hatte die Haustür getroffen, sie aus den Angeln gerissen und hochgeschleudert. In Zeitlupe kam sie, sich überschlagend, wie ein grünes Stück Karton herunter. Nun nahmen sie den Ausgang unter Feuer. Einer der Bankräuber lief ihnen genau in die Garbe. „Nummer drei“, sagte der Polizist mit dem Präzisionsgewehr zu dem, der neben ihm lag. „Wie viele sind es?“ „Ich glaube sechs. Zwei Autos voll.“ 22
Dann war es zu dunkel, um noch irgend etwas zu unternehmen. Zwar hatte die Einheit Scheinwerfer, aber die würden die Bankräuber zerschießen. Also feuerten die Polizisten in Minutenabständen Leuchtkugeln hoch. Sie schwebten langsam an Fallschirmen herab und erhellten die Umgebung bizarr. Die Mauern, die Bäume, alles wurde wie ins Riesenhafte vergrößert. Gegen Mitternacht wagten die Bankräuber einen Ausbruch. Das kostete zwei weiteren von ihnen das Leben. Der Einsatzleiter riet dem Rest noch einmal zur Aufgabe. Einer kam herausgewankt. Er taumelte mit erhobenen Händen ins Freie. Hemd und Hose rot von Blut. Er kam nicht weit. Im Hof fiel er vornüber und blieb liegen. Die Polizisten nutzten jeden Vorteil zum Angriff. Sie näherten sich dem Haus und drangen schließlich ein. – Das Haus wirkte wie eine verlassene Festung. Nachdem der Einsatzleiter sich davon überzeugt hatte, daß es keinen Widerstand mehr gab, rief er über Funk den Arzt und den Rettungswagen. Der Arzt stellte den Tod von fünf Männern fest. Der sechste war schwerverletzt und würde den Transport ins Krankenhaus von Lourdes wohl nicht überstehen. Der Einsatzleiter forderte den Hubschrauber an. Aber der letzte Mann der Bande starb auf dem Flug.
Spezialisten der Kripo kamen extra aus Toulouse. Sie identifizierten die Bandenmitglieder. Zur Erleichterung des Innenministers konnten sie nach Paris melden, daß es sich nicht um Terroristen handelte. Drei der Toten stammten aus der Marseiller Unterwelt. Die Herkunft der anderen – es handelte sich um einen Portugiesen, einen Spanier und einen Italiener – 23
würde man mit Hilfe von Interpol herausfinden. Im Haus fanden sie die Plastiksäcke mit der Beute. Die Bande hatte alles mitgenommen, sogar wertlose notarielle Urkunden oder private Papiere. In der Hauptsache aber Banknoten. Einige Millionen portugiesische Escudos. An Devisen etwas weniger. Aber die Dollar, Pfund, Franken und Mark machten auch eine halbe Million aus. Der erbeutete Schmuck bestand aus in Gold oder Platin gefaßten Edelsteinen und wog etwa zehn Kilogramm. Der Wert der Diamanten, Perlen, Rubine und Smaragde war schwer abzuschätzen. „Ist auch nicht so wichtig“, sagte der Kriminalchef von Toulouse. „Schwierig wird es sein, das Zeug seinen Eigentümern wieder zuzuführen.“ „Stammt alles aus Schließfächern.“ „Und wer gibt schon zu, was er in seinem Schließfach liegen hat.“ Sie sortierten Aktien und Testamente aus, suchten die Fetzen eines Romanmanuskriptes zusammen und stellten auch Pässe sicher. Sogar russische. „Fälschungen“, sagte ein Polizeiexperte. „Ein Fall für den Geheimdienst.“ Die Beute wurde sortiert und auf Listen erfaßt. Plötzlich rief jemand mit einer Stimme, die dem Krächzen eines Raben glich: „He, was’n das?“ ,,’ne alte Bibel, was sonst.“ „Eine Bibel aus Blei? Seit wann sind Bibeln aus Blei?“ Die Bibel wog so viel, daß sie der Beamte nur mit Anstrengung aus der Tiefe des Plastiksackes ans Licht bekam. Die Deckel hatten Metallbügel, die von einem Schloß zusammengehalten wurden. „Aufmachen?“ fragte er. 24
„Nein, laß es zu. Ist ein wertvolles Stück. Wir könnten es beschädigen.“ „Aber warum ist es so schwer, verdammt?“ Einer nahm die Bibel hoch und schüttelte sie. Drinnen bewegte sich etwas. Nur wenige Millimeter zwar, aber es klang gedämpft metallisch. „Das ist keine Bibel, sondern eine Kassette.“ „Als Bibel getarnt.“ „Was nun?“ „Aufmachen oder zulassen?“ „Geht uns nichts an.“ „Und wenn es eine Bombe ist?“ „Dann würde etwas ticken.“ „Bomben ticken nur im Kino.“ Der Spezialist für Feinmechanik öffnete sein schmales Lederetui, wie es auch zur Aufbewahrung von Nagelschere und Feile benutzt wurde. Es enthielt Schraubendreher in Uhrmachergröße, Drähte verschiedener Stärken, Sägeblätter und ein Sortiment dünner, zungenartiger Stahlstreifen. Ohne Spuren zu hinterlassen, hatte er das einfache Vorhängeschloß binnen weniger Minuten offen. Sie staunten nicht schlecht. Die Bibel entpuppte sich als eine mit rotem Samt ausgeschlagene Kassette. Dicht bei dicht lagen Goldbarren darin. Immer vier nebeneinander in drei Lagen. Der Teamchef der Spezialisten ließ sich eine Lupe geben, um die Stempel zu entziffern. „Tausend Tausendstel fein“, las er ab. „Glatt wie ein geölter Kinderpopo.“ „Gewicht hundert Unzen.“ „Ungefähr drei Kilo.“ „Hier die Prägung. Dreitausendeinhundert und zehn Gramm.“ „Zwölf Barren mal drei Kilo macht sechsunddreißig 25
Kilo. Wert heute mindestens zwei Millionen Franc.“ „Gegossen im Jahre des Herrn neunzehndreiundvierzig,“ „Im Jahr des Herrn Hitler“, ergänzte der Teamchef. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das der alte NaziHoheitsadler mit Hakenkreuz und Eichenlaub.“ Er reichte den Goldbarren weiter. Die anderen bestätigten es. Die Frage war, was nun? – Zurück in die Bibel, Schloß zu und das Ganze im Container ab nach Portugal zur Banco de Lisboa? „Sieht aus wie ein alter Nazischatz“, sagte der Polizist, der das Schloß geöffnet hatte. „Auf den Banken in aller Welt liegen Fluchtgelder von Diktatoren, Verbrechern und Steuerhinterziehern, Schätze verjagter Könige, Millionen auf vergessenen Nummernkonten, die nie mehr beansprucht werden. Was geht das uns an?“ „Nur der Naziadler gefällt mir nicht.“ „Sind wir die Finanzpolizei?“ gab der Teamchef zu bedenken. „Wir leben manchmal von ihr und sie von uns.“ Im Protokoll wurde vermerkt, daß der Beute zwei Goldbarren zwecks weiterer Nachforschungen entnommen worden seien. Sie stellten eine Quittung mit Datum, Unterschrift und Stempel aus. Die Barren gingen zur Sûrete nach Paris. Einen davon leitete die Sûrete zum deutschen Bundeskriminalamt nach Wiesbaden weiter.
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3. Da seine türkische Putzfrau Badeurlaub in Izmir machte, hatte sie ihre Tochter deligiert. Eine etwa neunzehnjährige Person, so ansehnlich, daß Robert Urban ihre Verweildauer in diesem Gewerbe für äußerst kurz hielt. Sie kehrte das Laub auf der Dachterrasse zusammen und stieg dann ins leere Schwimmbecken, um es zu reinigen. Es war ein warmer Herbsttag. Urban hing faul und lustlos herum, und das Mädchen hatte nichts außer einer weißen Wickelschürze an. Bückte sie sich nach vorne, sah man die Brüste, Spatzentitten, aber nicht ohne. Drehte sie sich um, dann zeigte sie die Oberschenkel bis zum Geht-nicht-mehr. Sie trug die Andeutung eines Höschens, kaum breiter als ein weißer Strick. Urban fühlte den Kick der Erregung. – Aber no, Sir. Erstens, zweitens, drittens… Erstens hätte er diese anatolische Jungfrau danach heiraten müssen. Zweitens war er vom letzten Einsatz her nicht nur angekratzt, sondern wie ein V-8, der auf fünf Zylindern lief, und drittens gab es statt dessen auch noch Whisky. Er drückte sich hoch. Eigentlich ging es schon wieder. Aber er spielte absichtlich den Rekonvaleszenten. Schreibtischarbeit war schlimmer, als den Kopf unterm Arm zu tragen. Mit Whisky im Glas genehmigte er sich zum Nachwürzen noch eine MC-Zigarette. Dann lag er wieder in der Sonne in seinem Penthouse hoch über Schwabing, schielte in den Himmel, der nur hier so weißblau war, und halb zu der niedlichen Türkin hinüber. Als er sicher war, daß sie es darauf abzielte, den be27
rühmten alten Schlüpferstürmer Urbanski scharf zu machen, läutete zum Glück das Telefon. „Schon weitergekommen?“ drängte der Operationschef ungeduldig. „Wie denn? Nur kraft meiner Gedanken!“ „Es gibt sogenannte Fernsprechapparate.“ „Ich bin noch im Krankenstand.“ „Aber der Fall wartet nicht, bis Sie zu genesen geruhen, Nummer achtzehn. Der Vize erkundigt sich dreimal täglich.“ „Übergeben Sie diese lächerliche Goldsache einem anderen.“ „Wir dachten, das sei gerade für einen halbstarken, pardon, halblahmen Agenten die richtige Fingerübung.“ „Und ich denke, das ist eigentlich etwas für die Bundesbank, wenn nicht für die Fahnder des Finanzministeriums.“ Nun nannte Oberst a.D. Sebastian, Operationschef seines Brötchengebers, des Bundesnachrichtendienstes, ihm die neue Ideologie. „Sie stellen sich alle dumm. Sie schieben es von einem Schreibtisch zum nächsten, von einem Haus ins andere, und die Argumente werden dabei immer raffinierter. Inzwischen haben sie sich etwas ausgedacht, das uns leider tief trifft.“ Urban kannte es längst. Weil der Alte ihm die Nachmittagsruhe verdorben hatte, verdarb er ihm jetzt den Stich. „Es ist zweifellos Nazigold. Von einmaliger Reinheit. Vermutlich in einem Geheimlabor der SS zwecks Ve rwendung in einer geheimen Geheimoperation bearbeitet. Und wer konnte damals davon wissen? Nur die Geheimdienste. Admiral Canaris ist tot. Sein militärischer Nachrichtendienst besteht nicht mehr. Die Geheimdienste der SS der Gestapo gingen ebenfalls mit 28
dem deutschen Reich unter. Aber da gab es bekanntlich noch einen exklusiven Verein: die Organisation Gehlen. Damaliger Deckname für Fremde Dienste Ost. Und wir, der BND, sind ihr legitimer Nachfolger. Wer außer uns ist also kompetenter, der Herkunft des Goldes nachzugehen.“ „Wunderbar. Sie haben die Problematik begriffen, Urban.“ „Aber ich bitte Sie. So ein Theater wegen etwas Gold im Gewicht von sechs gemästeten niederbayrischen Gänsen. Wo bleibt da die Relation?“ Der Alte versuchte, es zu erklären. „Es gibt vielleicht noch mehr davon. Und woher stammt es? Gehört es einem Kriegsverbrecher, der weltweit gesucht wird? Bekanntlich laufen einige von diesen Massenmördern noch frei durch die Gegend.“ „Hinken“, verbesserte Urban ihn im ironischem Ton der nicht betroffenen Nachkriegsgeneration. „Sie hinken bestenfalls durch Südamerika.“ „Man wirft uns manches vor, aber am liebsten wirft man uns vor, wir seien gegen Kriegsverbrecher zu lasch, auch wenn sie fast alle tot sind.“ „Aber die Optik muß stimmen“, sagte Urban. „Mord verjährt neuerdings nicht mehr. Ich horche mal rum.“ „Aber bitte nicht mit Sahne.“ „Ich kenne einen“, sagte Urban, „der kennt einen, und der kennt auch wieder einen.“ Damit legte er auf und goß noch einmal nach. Die hübsche Türkin hatte sich in Schweiß gearbeitet. Der weiße Kittel klebte auf ihrer zartbraunen Haut. „Bin fertig“, rief sie. „Kannst dich duschen“, bot er ihr an. „Duschen zu Hause“, sagte sie. „Nie bei fremde Männer.“ 29
Er grinste. Kommt schon noch, dachte er, daß du dich bei fremden Männern duschen wirst. Sie tänzelte von der Terrasse ins Haus. Sie war ein Biest, wie alle Frauen. Hinten in der Diele stellte sie sich so ins Licht, daß er sie sehen mußte. Sie zog den Kittel aus, warf ihn in einen Plastikbeutel, stand nackt da und kämmte sich umständlich, ehe sie sich betont langsam, betont aufreizend langsam, in Jeans und TShirt einfädelte. Urban beschoß, ihre Mama zu bitten, das nächste Mal besser die Großmutter zu schicken.
Urban kannte den pensionierten Bankier Dr. Schmauch nicht um zehn Ecken, sondern nur um eine. Er bewohnte eine Villa in der nächsten Seitenstraße. Sie hatten schon zusammen Schach gespielt. – Den rief er an. Der alte Herr zeigte sich wohlinformiert. Vermutlich hatte er schon mit anderen ehemaligen Reichsbankleuten über das Problem des BND gesprochen. „Also“, begann er mit der leicht zittrigen Stimme des Achtzigjährigen. „Da war schon einiges los in Berlin. Die damalige Regierung, immer knapp an Devisen, mußte ihre Versorgung an rüstungswichtigen Materialien ja irgendwie bezahlen. Sie wissen, was man braucht, um Kanonen, Tanks, Flugzeugmotoren und U-Boote zu bauen. Nämlich Stahl. Und für Stahl benötigt man Chrom, Zinn, Kupfer, Eisenerze. Von Erdöl zur Gewi nnung hochwertiger Schmierstoffe gar nicht zu reden. Die Neutralen nahmen am Ende nur noch Gold als Zahlungsmittel. Man kann ruhig sagen, die Schweden, die Iren, die Schweiz und die Türkei haben sich dabei gesundgestoßen.“ 30
Als der Redefluß von Schmauch ein wenig lahmte, weil dem alten Herrn der Atem ausging, fragte Urban: „Und woher nahm Hitler das Gold?“ „Er erschloß viele Quellen“, wurde Urban informiert. „In den besetzten Ostgebieten gab es Vorkommen. Sie wurden unter Einsatz von Strafgefangenen ausgebeutet. Dann fiel der deutschen Wehrmacht bei den Staatsbanken der eroberten Länder einiges in die Hände. So in Warschau, in Paris, in Oslo, Amsterdam, Brüssel, Belgrad und Athen.“ „Das bekam, er einfach so?“ „Die Beute des Siegers“, nannte Dr. Schmauch es. „Rommel soll in Nordafrika noch auf Goldbestände gestoßen sein, die den Italienern in Tripolis und Tobruk entgingen. Die Japaner bezahlten deutsche Technologie, Flugzeugmotore, Torpedos und Raketenbaupläne ebenfalls in Gold.“ „Da kam schon einiges zusammen.“ „Nicht genug“, schätzte der Ex-Bankier. „Aber auch U-Boote, die bis in den Indischen Ozean operierten, Hilfskreuzer, Blokadebrecher, brachten hin und wieder eine Prise auf, die Gold an Bord hatte. Und nicht zu vergessen, das KZ-Gold.“ Urban wußte, daß man den Juden alles abgenommen hatte, sogar die Goldzähne. Weil es ein Fall war, den er zu lösen hatte, versuchte er, es sachlich zu sehen. „Irgendwo muß es eine Stelle gegeben haben, die das Gold sammelte, schmolz und in Barren goß.“ „Darüber ist mir wenig bekannt“, zierte der ExBankier sich. „Und das wenige?“ hakte Urban nach. „Goldbarren wurden in Frankfurt bei der damaligen Gold- und Silberscheideanstalt in Barren gegossen. Es gab Gerüchte, wonach man in Hamburg ein Labor ein31
richtete – das Berger-Labor.“ Die Frage, ob es Nazifunktionären gelungen sein konnte, solche Goldbarren an sich zu bringen und als letzte Reserve im Ausland zu deponieren, beantwortete der Altbankier zunächst mit einem Lachen. „Aber klar doch. Selbst Eichhörnchen legen Vorräte für den Winter an.“ „Und der nächste Winter kommt bestimmt.“ Nun wußte Urban wieder ein wenig mehr. Aber im Grunde half es ihm nicht weiter. Er stellte eine letzte Frage. „Wo zwölf Barren sind, können auch mehr sein.“ „Ja, zwölfhundert, zwölftausend, was weiß ich.“ „Ein ganzes Nest also.“ „Ich mag Ihren Zynismus, Robert“, erklärte der alte Herr. „Aber sind Sie sich darüber im klaren, was das bedeutet?“ „Es ist wie bei einer Grippeepidemie.“ „Einer steckt den anderen an.“ „Und neuentdeckte Goldbestände, Adern, Quellen, Funde, beeinträchtigen den Goldpreis. Nichts wirkt so stark auf die Weltökonomie, die Weltwirtschaft, wie der Goldpreis.“ Urban hatte diesen Zusammenhang inzwischen durchschaut. „Schön, versuchen wir, ihn hochzuhalten“, sagte er. „Ich habe auch ein paar Kilo im Safe.“ Als das Gespräch beendet war, begann der BNDAgent Nr. 18, Robert Urban, genannt Mister Dynamit, seine Reise nach Portugal vorzubereiten. Das Gold stammte aus einem Raub bei der Banco de Lisboa. Nur dort konnte er weitere Hinweise finden. Vorausgesetzt, sie verschanzten sich nicht hinter dem Bankgeheimnis. Aber es gab Druckmittel, um ihre Mitarbeit zu gewi n32
nen. Das kostete aber leider Zeit. Urbans Gesprächspartner, der Exbanker Dr. Schmauch, war schneller. Er bediente sich der Elektronik und rief in London an. 4. Es war wenige Minuten nach Geschäftsbeginn an der Londoner Metal-Exchange, der größten Metallbörse der Welt. Die siebenundzwanzig Männer, die allein als Händler zugelassen waren, wollten gerade ihre Kaufund Verkauforders bekanntgeben, als der Börsendirektor um Gehör bat. „Gentlemen!“ rief er. „Der Handel mit Gold ist sofort einzustellen.“ Zunächst herrschte Aufregung und Empörung. „In Ihrem eigenen Interesse, Gentlemen.“ Es wurde leise im großen Saal der Metal-Exchange, bis es so still war, daß man in den Nebenräumen das Ticken der elektrischen Schreibmaschinen hören konnte. „Und erst recht die Termingeschäfte, Gentlemen.“ Wie immer, wenn starke Veränderungen der Marktlage zu erwarten waren, machte Lord Rainbow es feierlich. Und vor allem machte er von seiner Macht Gebrauch. „Gentlemen“, fuhr er fort. „Ab sofort wechselt keine Unze Gold mehr ihren Besitzer. Bis auf weiteres.“ Zwischenrufer wurden mit einer arroganten Handbewegung des Börsendirektors stumm gemacht „Hüten Sie sich auch vor illegalen privaten Abschlüssen“, riet er den versammelten, meist in gedämpftes Grau gekleideten Brokern, „indem Sie zu einem bestimmten Termin Gold für einen festen Preis kaufen oder verkaufen. Es kann Sie Kopf und Kragen kosten.“ 33
„Und der freie Handel?“ hörte man Besorgte von hinten. Der Direktor lächelte fein. „Den freien Handel, Gentlemen, schaffen wir uns damit endgültig vom Hals. Denn er wird in Konkurs gehen.“ Nun wäre es an der Zeit gewesen, daß der Direktor seine lizenzierten Händler genauer informierte. Aber er war dazu nicht in der Lage. Seine hektische Reaktion war durch einen Anruf mitten in der Nacht ausgelöst worden. „Gentlemen“, setzte Rainbow wieder an. „Immer hat das Goldgeschäft der Nimbus des Geheimnisvollen umgeben. Was in diesen Minuten hier und jetzt besprochen wird, darf mit keinem Wort nach außen dringen. Sollen sie denken, was sie wollen. Sie werden Dutzende von Gründen auflisten, warum wir den Goldhandel einstellen. Es gibt aber nur einen wirklichen Grund.“ „Doch wohl keine Rücksichtnahme auf die Produzentenländer, Sir?“ Jeder wußte, daß das der letzte Grund gewesen wäre. Die Haupthersteller Canada, die USA, die Sowjetunion und die Südafrikanische Union waren zwar wichtige Geschäftspartner, aber nicht sonderlich hochgeschätzt. „Gentlemen!“ Der Börsendirektor tüpfle mit einem seidenen Taschentuch die Stirn ab. „Ich erhielt Informationen, wonach erhebliche Goldvorräte, die jahrelang, sogar Jahrzehnte lang als verschollen galten, vermutlich wieder in den Markt fließen werden. Sie alle wissen, wieviel Vorsicht und Können es uns bis heute abve rlangte, Angebot und Nachfrage bei Gold im Gleichgewicht zu halten.“ „Kein Wunder, bei der Überproduktion.“ „Nun, es ist uns bisher immer gelungen. Aber wenn die Goldmenge, von der ich sprach, plötzlich zum Ve r34
kauf steht, führt das zu einer Katastrophe. Die Preise werden fallen und fallen, bis Gold nichts mehr wert ist. Und damit schrumpfen auch Ihre satten Gewinne. Für manchen von uns bedeutet das den Ruin. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.“ Was der Direktor forderte, war also gut für sie alle. Einer wollte wissen: „Wie lange soll der Börsenstop gelten?“ „Zunächst einmal für drei Tage“, entschied der Direktor. „Dann sehen wir weiter. Aber vermutlich werden wir den Goldhandel wohl für längere Zeit schließen.“ „Wann wissen wir mehr, Sir?“ Der Direktor versicherte, daß die Börsenleitung alles tun würde, um die frei vagabundierende Goldmenge ausfindig zu machen und mit den Eigentümern zu ve rhandeln. „Danke, Gentlemen“, beendete der Direktor die Konferenz.
Im Büro brauchte Rainbow einen Scotch. „Ohne Eis, ohne Wasser“, bat er seinen Sekretär. „Eine Katastrophe, Sir Rainbow.“ „Zu einer Katastrophe wäre es gekommen, wenn mich Doktor Schmauch aus München nicht angerufen hätte.“ Der Sekretär servierte den Drink und wirkte nachdenklich. „Schmauch… Schmauch, müßte ich den Namen kennen, Sir?“ „Er war im Krieg ein hohes Tier bei der deutschen Reichsbank. Ich machte ihn in einem Gefangenenlager für prominente Nazis ausfindig, versorgte ihn mit Lebensmitteln und holte ihn heraus. Er hatte nie mit Nazigreueln, nur mit Geld zu tun. Und auch mit Gold natürlich.“ 35
„War er nicht später bei der Deutschen Bundesbank?“ „Und einige Jahre Vorstandsvorsitzender der größten Großbank.“ „Na dann.“ Der Sekretär fragte nicht weiter. Er kannte Lord Rainbow. Der Chef brauchte einen Ansprechpartner und würde von selbst am Thema bleiben. „Was halten Sie davon? Sie sind doch ein kluger Cambridgeabsolvent, Willy?“ Für ein Statement kannte der Sekretär noch zu wenig Details. Der Börsendirektor lieferte sie. „Die Nazis hatten immer Probleme, gegen Ende des Krieges sogar schier unlösbare, kriegswichtige Rohstoffe ins Land zu bringen. Die Neutralen forderten ab 1943 Zahlung in Gold. Also erfaßten die Nazis praktisch jeden Verlobungsring und jeden Manschettenknopf bei der Bevölkerung. Der Besitz größerer Mengen von Gold wurde unter Strafe gestellt, die besetzten Gebiete nach Gold durchkämmt. Das gesammelte Gold wurde eingeschmolzen und auf irgendeine Weise gestreckt. Einzelheiten des Verfahrens wurden nie bekannt. Da das Dritte Reich aber für seine hochorganisierte Vorratshaltung berühmt war, müssen wir annehmen, daß das mühsam zusammengekratzte Gold nicht restlos ausgegeben wurde. Andererseits wurde es auch nie gefunden.“ „Also liegen die Bestände noch irgendwo.“ „Eine sogenannte frei vagabundierende Menge.“ „Welche Menge, Sir?“ „Von zehn bis tausend Tonnen ist alles möglich“, seufzte Rainbow. „Bei letzterer Größenordnung würde es verteufelt gefährlich, Sir“, bemerkte der studierte Weltökonom. „Deshalb ließ ich vorerst den Handel mit Gold einstellen.“ Der Sekretär, jung, scharfsinnig und sachlich, äußerte 36
daraufhin: „Und wenn Mister Schmauch sich irrt?“ Der Börsenchef nahm seinen Scotch mit zum Fenster und schaute hinunter in die Lombard Street. Rechts wölbte sich die Kuppel der St. Pauls Cathedral, links sah man die Türme des Tower. Dazwischen ein Stück Themse, heute ein schmutziges Braungrau. Der Direktor leerte seinen Scotch und drehte sich um „Schmauch besitzt Informationen aus einer Quelle, die sich selten irrt. Goldbarren mit Datum und Nazistempel wurden gefunden.“ „Warum nicht. Davon mag es hier und dort noch einige geben, Sir.“ „Der Barren stammt aus einer größeren Partie.“ „Und woher stammt er bitte, Sir?“ „Soviel dem Kollegen Schmauch bekannt wurde, aus einem Bankraub im Ausland.“ Der Sekretär pflegte aufmerksam die Zeitungen zu lesen und die Nachrichtensendungen von BBC abzuhören. „Lissabon“, tippte er. „Vermutlich.“ „Eine Großbank. Sollen sich doch die Großbanken darum kümmern.“ Das Gesicht des Börsendirektors faltete sich zusammen wie der Balg einer Ziehharmonika, wenn der Spieler die Luft herausdrückt. „Sie wissen doch, Willy, daß die Großbanken sich weitgehend aus dem Goldhandel heraushalten. Den haben sie uns und den risikofreudigen Kleinbanken überlassen.“ „Warum eigentlich?“ fragte der Sekretär, de r das nie verstanden hatte. Der Direktor konnte diese Frage zwar beantworten, er tat es aber nicht, denn ihm fehlten die Beweise. In den vergangenen dreißig Jahren war es ihm trotz steter Be37
mühungen nie gelungen, die Beweise für die Zurückhaltung der Großbanken in diesem Geschäftsbereich zu erhalten. „Das“, sagte er, „ist ein anderes Buch Moses.“ „Mosis“, verbesserte sein Sekretär ihn, denn im Genitiv veränderte die Endung sich von es in is. Als interessiere ihn das nicht im geringsten, ordnete der Börsendirektor folgendes an: „Versuchen Sie, S.T. ausfindig zu machen.“ „Simon Tompson, Sir?“ „Ja, den Detektiv, diesen Versicherungs- und Wirtschaftsschnüffler.“ „Er soll in letzter Zeit viel für die Amerikaner gearbeitet haben, Sir.“ „Egal für wen“, wandte Sir Rainbow ein. „Ich brauche ihn.“ „Das ist wie im Film, Sir. Dreht einer erst mal in Ho llywood, ist er für Europa nicht mehr bezahlbar.“ „Unsere Partner werden zahlen“, hoffte der Lord. „Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Ich denke, Kosten sind jetzt zweitrangig. Also her mit S.T.“ Er goß sich selbst Scotch ein und steckte sich eine Zigarre an. Aber beides mundete ihm heute nicht sonderlich. Der Scotch schmeckte wie billiger Fusel und die Havanna wie gewickeltes Haferstroh.
„Aber nicht in der Börse“, hatte Sir Rainbow gefordert. Dreißig Stunden später traf er mit dem Wirtschaftsdetektiv Simon Tompson in der Villa einer Freundin hinter Kensington Gardens zusammen. Rainbow kannte den Schnüffler. Er wirkte sympathischer, als er war. Tompsons neidvoller Blick, mit dem er die prunkvolle 38
Einrichtung des Stadtpalais musterte, ließ auf seine niedere Herkunft schließen. Er stammte aus der finstersten Ecke von Soho, hatte vor wenigen Jahren noch eine Jugendbande angeführt, war mit Glück dem Gefängnis entgangen, war in den Polizeidienst eingetreten, hatte sich ausbilden lassen und war dann wegen einer undurchsichtigen Geschichte gefeuert worden. – Ein für Detektive typischer Berufsweg. Ein hungriger Bursche, clever und schlau, mit dem Körper eines Athleten, dem es nicht an Mut fehlte. Der Ruf, er sei brutal und habe eiserne Ellbogen, hatte ihn groß gemacht. Mit einstudiertem Grinsen ging er auf Rainbow zu. „Hallo, alter Junge!“ Allein dafür hätte ihm der Börsendirektor gern einen Tritt in den Hintern verpaßt. Aber er brauchte ihn. Mit Staunen nahm er auch eine deutliche Veränderung an Tompson wahr. Er wirkte gepflegt, trug einen besseren Anzug, teurere Handmade-Schuhe als Rainbow selbst und ein seidenes Hemd. Dazu einen FünfzigPfund-Schlips und am Arm eine Cartier-Uhr. Die gesunde Nizza-Bräune verstärkte die Arroganz seines Auftritts. „Wußte ja, daß wir mal wieder zusammenkommen. Was kann ich für Sie tun, alter Junge?“ ,,’ne Menge, alter Junge“, antwortete Rainbow, aber in einem Ton, der den Detektiv aufhorchen ließ. Fortan nannte er den weißhaarigen Lord nie wieder alter Junge. Der Diener servierte Tee und Gebäck. Die Gräfin empfahl sich. Die hohen Flügeltüren schlossen sich. Die Herren waren allein. Vorsichtig begann der Börsenchef, den Schnüffler einzuweihen. Der hatte aber schon Wind von der Sache bekommen. Tompson wirkte nicht erstaunt. Eher so, als habe er 39
längst mit diesem Auftrag gerechnet. „Auf gut britisch“, sagte er, „ich soll also das Nest, in dem die Dracheneier liegen, suchen.“ „Gefährliche Eier. Allerdings aus Gold“, ergänzte der Lord. Der Detektiv entblößte seine neuen weißen Zähne unter dem schwarzen Schnurrbart. „Verstanden, Sir.“ Tompson witterte hohe Honorare und unterstrich sein Entzücken mit den geschmeidigen Bewegungen einer Katze. Plötzlich wußte der Lord, was ihm an Tompson mißfiel. Es war die platte Nase. Indem er darüber frohlockte, daß er an diesem smarten Burschen einen Makel entdeckt hatte, der ihn für ewig kennzeichnen würde, verlor er seine Steifheit ihm gegenüber. „Wo werden Sie ansetzen, Tompson?“ „Mit Ganoven, Sir, kommt man meist besser zurecht als mit sogenannten honorigen Leuten. Ich beginne immer in der Unterwelt.“ Tompson erhielt die nötigen Informationen, soweit sie der Börsendirektor zu liefern imstande war. Schließlich kamen sie zum heikelsten Punkt, zu der Honorarfrage. Der Detektiv nannte seine Forderung. Rainbow holte Luft durch die Zähne. „Sie sind aber kostbar geworden.“ „Ja, mit meinem Preis ging es liftartig nach oben. Und zwar seit meinem letzten Fall, als ich schon für tot galt und dann wieder auftauchte und die Siegestrophäe in der Hand hielt.“ „Den abgeschlagenen Kopf des Direktors der Staatlichen Atom-Union meinen Sie.“ „Eines Betrügers und Verräters, Sir.“ „Nun, er konnte sich nicht mehr verteidigen.“ 40
„Ich hatte die Beweise, Sir. Und seitdem bin ich das, was man ein As nennt.“ Sie einigten sich bei der horrenden Summe von fünfzigtausend Pfund Anzahlung plus Spesen der Luxusklasse. Bei erfolgreichem Abschluß des Auftrags wurden weitere fünfzigtausend Pfund oder drei Prozent Gewinnbeteiligung, je nach Wahl Tompsons, fällig. Der Kontrakt wurde auf einem Briefbogen skizziert, unterzeichnet und kam in den Safe der Gräfin. „Denn offiziell haben wir nichts miteinander zu tun“, bedingte der Lord sich aus. „Wann sehen wir uns wieder?“ fragte Simon Tompson. Der Börsendirektor kritzelte eine sechsstellige Telefonnummer auf ein Stück Papier. „Da bin ich abends fast immer zu erreichen.“ Der Detektiv verstand. „Dann haben wir uns also zum letzten Mal gesehen, Sir.“ Der Lord nickte. „Ja, hier und heute, alter Junge.“ Er verzichtete darauf, den Schnüffler zur Tür zu bringen. Das überließ er dem Butler von Lady Summerforth. 5. Mit einem kratzigen Dreitagebart, entzündeten Lidern und Ringen unter den Augen kam Robert Urban in Lissabon an. Am nächsten Morgen, nach acht Stunden Schlaf, waren die Ringe weg, die Entzündung abgeklungen, und rasiert hatte er sich auch. Doch als er die Verwüstung bei der Banco de Lisboa sah, wurde ihm klar, daß es nicht darauf ankam, in we lcher äußerlichen Verfassung man diesen Schutthaufen 41
betrat. Nur die solide Eisenkonstruktion hatte das Gewölbe über der Schalterhalle gerade noch daran gehindert, herunterzukrachen und das ganze Haus abbruchreif zu machen. „Sie werden es wieder aufbauen“, sagte der Mann vom portugiesischen Geheimdienst, der Urban begleitete. „Aber erst muß der Schutt weg.“ „Bitte nicht, bevor ich fertig bin.“ Der Portugiese lachte gequält „Hoffen Sie etwa, Spuren zu finden, Dinamita amigo?“ „Nur einen Gesamteindruck.“ „Wenn es Spuren gab, dann sind sie gesichert und im Protokoll.“ in das sie ihm wohl keinen Einblick erlauben würden, fürchtete Urban. – Ein Nachteil, wenn man nicht Polizist oder Interpolmann war. – Zweifellos überwogen die Vorteile, einem Nato-Geheimdienst anzugehören. Aber bei Bankraub wie hier war das Bundeskriminalamt die bessere Adresse als der Bundesnachrichtendienst. Die Bestätigung dafür lieferte Urban das Gespräch mit dem portugiesischen Kollegen. Auch ihn hatte man nur unzureichend informiert. „Um was geht es eigentlich?“ Der Portugiese fluchte. Beim Klettern über die Trümmer war sein blauer Trenchcoat grau verstaubt Urban holte den Goldbarren aus seiner Burberrytasche. „Um das da.“ „Wo stammt das her?“ „Aus dem Keller dieses Instituts vermutlich.“ „Hier war es nur zwischengelagert, schätze ich.“ „So kann man es nennen.“ „Und woher stammt es?“ „Das würde ich gerne wissen. Deshalb bin ich hier, 42
Capitao.“ „Sagten Sie nicht Nazigold?“ „Richtig.“ „Dann ist die Herkunft doch wohl klar.“ Der Portugiese schüttelte den Kopf. „Oder doch nicht?“ „Keinesfalls wurde es in der Bank von Lissabon eingeschmolzen und zu Barren gegossen.“ „Verstehe. Es geht um den Eigentümer.“ „Zumindest um den Besitzer,“ „Und wie er dazu kam – wann und auf welche We ise.“ Urban wandte sich an einen der Bauingenieure und ließ sich zeigen, wie man in den Safekeller gelangte. Die Lifte gingen nicht, man mußte über verschüttete Nottreppen und Leitern nach unten klettern. In den Kellern stand Wasser, Die Pumpen waren ausgefallen und der Fluß, der Tejo, drückte Grundwasser bis hierher. „Die Explosion hat die wasserdichte Betonwanne, mit der die Safes geschützt wurden, aufgerissen.“ Dicke, mit Draht spiralig umwickelte Rohre saugten rüsselartig das Wasser ab. Das Stampfen der Feuerwehrpumpen drang bis in die Tiefe. Die tonnenschwere Tür des Hauptsafes sah aus wie der mit einer Blechschere aufgeschnittene Deckel einer Konservendose. Die Schließfächer, rings um die Wände bis zur Decke reichend, glichen offenen Taubenschlägen. Man hatte Kabel heruntergelegt und Atelierlampen aufgestellt. Der Erkennungsdienst war noch immer bei der Arbeit. „Gut und gern tausend Schließfächer“, stöhnte der portugiesische Capitao. „Und aus einem davon stammt das Gold.“ „Aber aus welchem?“ 43
„Nicht aus den kleinen, eher aus den großen.“ „Bleiben noch mindestens hundert.“ „Schon ein paar weniger.“ „Leider steht der Name nicht darauf.“ Urban schaute sich um. „Aber die Nummer.“ „Zu jeder Nummer gehört ein Name. Doch ehe man uns Einblick in die Listen gibt, stellen die portugiesischen Banken lieber ihre Geschäftstätigkeit ein.“ Urban wußte, wie Banken ihre Geheimnisse verteidigten. Offiziell war es unmöglich, diese Linie zu durchbrechen. Je offizieller man wurde, desto hartnäckiger wehrten sie sich und verwiesen auf die Gesetzeslage. Urban steckte sich eine Zigarette an, schaute sich um und traf einige Feststellungen. „Nummer zweihundert bis dreihundert sind die großen Safes.“ „Was nützt das?“ „Ein Blick in die Namensliste, und ich sitze schon wieder im Flugzeug nach München.“ „Namen, Namen – suchen Sie einen bestimmten Namen?“ „Einen Namen und ein Datum.“ „Sie meinen, die Barren Hegen schon längere Zeit hier?“ „Eine halbe Ewigkeit.“ Sie stiegen nach oben und nahmen den Te rmin beim Chef des Hauses wahr. Der Generaldirektor empfing sie mit der in südliche n Ländern üblichen Höflichkeit. Aber sonst kam wenig. Sein dickes Gesicht hatte schmale Lippen, die schwe igen konnten. Und jetzt, nach der Katastrophe, die seine Zentrale heimgesucht hatte, spielte noch ein trauriger Zug um den Mund. Urban hatte sein Anliegen vorgetragen, und der Di44
rektor sagte: „Bedaure, Senhores.“ „Es geht wahrscheinlich um illegales Gold“, erklärte Urban, „und es ist zu fürchten, daß dieses Gold nur der Teil einer großen Partie ist. Die Spitze eines goldenen Eisberges sozusagen. Das alles könnte die internationalen Finanzen in Unordnung bringen.“ Lächelnd winkte der Direktor ab. „Und der Bruch unserer Prinzipien, was den Kundenschutz betrifft, würde unseren Ruf nachhaltig in Unordnung bringen, Senhores. Ich kann nichts für Sie tun.“ Sie gingen – ohne Ergebnis. Der Portugiese sagte: „Auch wo ein Wille ist, ist nicht immer ein Weg.“ „Sie unterschätzen meinen Willen“, entgegnete Urban. In früheren Zeiten, als Listen noch von unterbezahlten Schreibkräften geführt wurden, machte man sich an eben solche heran und besorgte sich mit finanziellen Angeboten die Kopien. Im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung mußte man andere Wege beschreiten. Binnen kurzem wußte Urban, daß der Zentralcomputer der Banco de Lisboa noch intakt war. Man hatte ihn in einem modernen, klimatisierten Bürogebäude an der Avenida da India installiert. Dort liefen alle Datenleitungen der Nebenstellen im In- und Ausland zusammen. Die Computerleute, Systemanalytiker, Programmierer, Techniker, waren hochbezahlte Spezialisten. Es hätte zu lange gedauert, einen von ihnen zu kaufen. Urban beschritt also einen anderen Weg. – Den zweiten Weg, auf dem man an geheime Daten herankam. Er suchte einen begabten Hacker, wenn möglich den besten Mann dieses elektronischen Sports, in Portugal. 45
Da er leidlich Portugiesisch sprach, erfuhr er in einem Elektronik-Laden die Adressen mehrerer Computerclubs. Oft bestanden sie nur aus dem Vorsitzen und drei Mitgliedern. Aber es war wie beim Schach. Alle waren fanatische Spieler. Und wie leidenschaftliche Schachspieler gerne ein wertvolles Brett mit kunstvollen, aus Elfenbein geschnitzten Figuren besessen hätten, ging es den Computerfans um immer bessere, technisch raffinierte Computer. Die kosteten aber Geld. Das hatten sie meistens nicht. Sie beschafften es sich durch Kopieren von Programmen und Computerspielen, mitunter auch von Videos. Das war illegal. Und mehr als illegal war auch das Eindringen in fremde Systeme nicht. Das machte Urban dem angeblich genialsten Freak auf diesem Gebiet klar. „Tausend Dollar“, bot er. „Wofür?“ Urban sagte es. „Das ist heiß, Senhor.“ „Tausend Dollar sind auch nicht eben eiskalt.“ „Und wenn ich Sie verpfeife?“ „Dann verpfeifst du dich mit, mein Junge.“ „Also strengste Geheimhaltung.“ „Absolute.“ „Fünftausend Dollar“, forderte der Hacker. Sie einigten sich bei fünfzehnhundert, was Urban ohnehin bezahlt hätte. Dann legte der Hacker los. Urban schaute ihm eine Weile über die Schulter, was den Hacker irritierte und Urban langweilte. „Bis morgen.“ „Ich ruf dich an, Mann.“ „Die Liste der Schließfachmieter. Okay.“ „Nummer zweihundert bis dreihundert.“ Urban fuhr ins Hotel. Noch immer war er von seiner 46
Top-Form meilenweit entfernt. Es waren nicht nur die Blessuren des letzten Einsatzes in der Antarktis, die ihm zusetzten, sondern die Erkenntnis, daß alles, was er machte, im Grunde für die Katz war. Immer wieder hörte er die Worte eines sterbenden britischen Kameraden: Ich habe meine Gesundheit geopfert, mein Leben eingesetzt – für die Fehler von Idioten. Wen er damit meinte, das wußte Urban nur zu gut. Er hatte es nie öffentlich ausgesprochen, um nicht als Ve rleumder belangt zu werden, denn Staatspräsidenten, Premierminister, Generäle und Kardinale waren ve rdammt empfindlich auf diesem Gebiet. Empfindlicher jedenfalls, als ein Metzger, dem man sagte, daß seine Würste nichts taugten. Das war es, was Urban zusetzte. Die gefährlichsten Einsätze, befohlen aus fadenscheinigen Gründen, endeten stets mit verdammt schäbigen Ergebnissen. Er versuchte es zu verdrängen. Aber es fiel ihm immer schwerer. Und weil Krankheiten meist psychologischen Ursprungs waren, kam er nicht so recht in Form. – Er hatte häufig Kopfschmerzen. Vor die Wahl gestellt, sie mit Bourbon zu vertreiben oder mit Mütterchen Thomapyrin zu beseitigen, griff er zu dem wirksameren Mittel. Er drückte eine kleine weiße Tablette aus dem Folienstreifen und würgte sie hinunter. Trocken. Dann legte er sich hin und wartete. Es war so schön, wenn Schmerz und Depression nachließen. Aber sie bohrten sich bis tief in seine Träume. Nicht der Zimmerkellner weckte ihn, sondern ein pikkeliger Typ mit fettigen Jesushaaren, einem vor Urzeiten hellblauen T-Shirt und fransigen Jeans. „He, Senhor“, flüsterte er. 47
„Wie kommst du da rein, Junge?“ „Wer durch das Datennetz der Banken marschiert, marschiert auch in ein Hotelzimmer, Senhor.“ Wie der Hacker in diesem Aufzug an der Vier-SterneRezeption vorbeigekommen war, interessierte Urban weniger als das, was er mitbrachte. Der Computerfreak zog einen Sessel heran, setzte sich und breitete einen Packen fleckiger Ausdrucke vor Urban aus. Seine Augen glänzten. Vermutlich stand er unter Speedy Gonzales. Anders war so ein Labyrinth wohl gar nicht zu knacken. „Schau dir das an, Senhor.“ Urban las. „Also, ich bin da folgendermaßen reingekommen.“ Er berichtete, wie er es geschafft hatte, die Unter-, Mittel- und Übercodes zu knacken. Für Hacker zählte nicht nur das Ergebnis, sondern der Weg dorthin. „Du bist ein Genie“, sagte Urban und ging die Namen der Liste, die Daten und die Kennworte durch. Sie lieferten ihm den ersten Hinweis. Eine Reihe bekannter deutscher Namen waren darunter. Großindustrielle, Bankiers, Adlige, Stars aus dem Showgeschäft und Verleger. Namen, die man sofort mit Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt oder München in Ve rbindung brachte. Hier hatten die Herren also einen Teil ihrer Millionen dem Zugriff von Fiskus und Quellensteuer entzogen. – Urban las die Namen illustrer Dynastien von Erben, die ihre Aktienpakete versilbert und den Erlös weltweit verstreut hatten. Unter anderem auch in Lissabon. Ein Erpresser hätte mit dieser Liste für den Rest seines Lebens ausgesorgt gehabt. Bei der Wahl der Codeworte hatten die Schließfachinhaber wenig Fantasie entwickelt. Offenbar handelte es sich um die Kosenamen ihrer Frauen, ihrer Hunde oder 48
Landsitze. Meist waren die Schließfächer in den Jahren nach 1960 angemietet worden. Nur drei Mietverträge stammten aus der Kriegs zeit. Das Fach 256 gehörte einem gewissen David Stern. Kennwort Rio. Unter der Rubrik Sonstiges stand: geleert. Der zweite Schließfachinhaber, der Urbans Neugier entfachte, war ein gewisser Helmut Adam. Legationsrat der deutschen Botschaft. Kennwort Carolas Magnus. In der Rubrik für Vermerke fand Urban den Eintrag: geleert im Auftrag der Alliierten-Kommission für Verwertung von Besitz des ehemaligen deutschen Reiches im Ausland. Und dann der letzte. Schließfach Nr. 289. Inhaber Dr. Theo Berger. Hamburg. Eröffnet im August 1943. Das alles war säuberlich von handgeschriebenen Akten auf EDV übertragen und abgespeichert worden. Der Name Berger war schon von Bankier Schmauch erwähnt worden. Urban hätte gerne mehr über diesen Dr. Theo Berger erfahren. „Für jedes der Schließfächer muß ein separater Mietvertrag abgeschlossen worden sein“, sagte er, „mit genaueren Angaben zur Person. Glaubst du, daß das zu finden ist?“ Der Hacker hatte sich aus der Whiskyflasche bedient und sich wieder in dem weißen Ledersessel niedergelassen. „Wenn es abgespeichert wurde, dann schon“, meinte er. „Glaubst du, daß man die Einzelverträge in das elektronische Archiv eingab?“ „Kaum“, schätzte der Hacker. „Zuviel Arbeit. Nimmt auch zuviel von der Speicherkapazität weg. Man hat das eher mikrofotographiert.“ „Und an die Mikrofilme kommen wir nicht ran.“ 49
„Nicht per Computer“, schränkte der Hacker ein. „Bis jetzt gibt es noch keine technische Möglichkeit, Mikrofilme digital zu übertragen. Das funktioniert nur über Telefax – oder…“ „Oder was?“ fragte Urban. „Man könnte mal etwas versuchen. Aber das ist gefährlich.“ „Und wie war’s mit einem Problemzuschlag?“ „Dann ist es immer noch gefährlich, aber reizvoller, Senhor.“ Der Hacker dachte nach, nahm noch einen Bourbon und fantasierte dann halblaut: „Nehmen wir an, ich formuliere es als Anfrage einer spanischen Bank. Sie braucht Einzelheiten über Dr. Theo Berger, Hamburg. Er hat angeblich ein Schließfach in Madrid. Den Unterlagen ist zu entnehmen, daß er mit der Banco de Lisboa ebenfalls in Geschäftskontakt steht. Berger unterhält größere Konten, auf denen seit Jahren keine Bewegungen mehr stattfanden. Man hat eine Adresse, aber von dort kommt die Post stets zurück. Man bittet um Hilfe, den Kunden ausfindig zu machen. Daraufhin werden die Portugiesen die Unterlagen heraussuchen. Natürlich auch den alten Schließfachmietvertrag. Gegenseitige Unterstützung ist bei Banken üblich.“ „Und dann?“ „Ja, was dann?“ fragte der Hacker. „Dann laufen die Informationen über Telefon, Telefax oder Telex nach Madrid. Vielleicht auch über Datenfernleitung. Aber dann haben wir sie noch immer nicht. – Wie kommt man also an sie heran?“ Es war ziemlich kompliziert, und vielleicht lohnte es sich auch gar nicht. Urban schnippte mit dem Finger. „Ich hab’s“, rief er. „Wir nennen keine spanische 50
Bank, sondern eine deutsche. Vielmehr wir geben vor, die Anfrage käme von einer deutschen Bank. Wir geben der Lisboa eine Telefonnummer und eine Telexnummer nach München. Sie gehören aber keiner Bank, sondern…“, Urban sagte nicht: dem Bundesnachrichtendienst, statt dessen „… einem guten Freund von mir,“ „Si, Senhor, versuchen Sie es“, schlug der Hacker vor. „Aber der Text der Anfrage muß professionell abgefaßt sein. Im internationalen Banken-Englisch.“ Urban leitete es in die Wege. In der Zentrale in Pullach saßen Fachleute, die wußten, wie solche Fernschreiben zu formulieren waren. Der Hacker bekam sein Extra-Honorar, und Urban wartete. Nach vierundzwanzig Stunden voller Ungeduld und mehreren Gesprächen mit dem Hauptquartier kam Urban zu der Überzeugung, daß die getürkte Anfrage wohl zu keinem Ergebnis führen würde. Er buchte seinen Rückflug, packte die Reisetasche und bezahlte die Hotelrechnung. Draußen wartete schon das Taxi, als er von der Rezeption ans Telefon gerufen wurde. München war dran. Sebastian persönlich. „Sie hätten auch als Betrüger beträchtlichen Erfolg“, raunzte der Alte. „Die Banco de Lisboa hat unsere Anfrage beantwortet, treu und brav.“ „Ist sie brauchbar?“ „Das müssen Sie entscheiden. Der Mieter von Schließfach zweihundertneunundachtzig heißt Doktor Theo Berger. Chemiker. Geboren neunzehn-neunzehn in Freiburg. Kennwort: Breisgau. Tag der Eröffnung: vierzehnter August dreiundvierzig. Letzter Zugriff: Juli neunundfünfzig.“ „Ist ja schon dreißig Jahre her.“ „Keine Adresse außer der Hamburger. Labor Doktor 51
Berger. Hamburg. Alter Wall und die Nummer.“ „Dort wird er kaum noch zu finden sein.“ „Insofern nicht, als das Haus bei einem Großangriff auf Hamburg total zerbombt wurde.“ „Wie sieht es in den alten Archiven aus? Rubrik Drittes Reich, Forschung und Rüstung, Abteilung Chemie.“ „Da haben wir sofort nachgeblättert. Negativ.“ „Auch nicht unter Geheim?“ „Nicht einmal unter geheime Reichssache, was damals das höchste der Gefühle gewesen sein dürfte.“ „Ich buche meinen Flug um“, entschied Urban, „nach Zürich, oder noch besser nach Basel. Von Basel aus kann ich in einer Stunde in Freiburg sein.“ Er hängte auf und ließ sich das Büro der Swiss Air geben. 6. Die ehrwürdige Albert-Ludwig-Universität, gegründet 1457, hatte ihrer Bibliothek neue Räume spendiert. Es roch nicht mehr nach Papier, Pergament und Leder, sondern nach Farbe, Kunststoff und dem Lysolduft von Kliniken. Das Mädchen im Sekretariat war freundlich, aber kühl. Die dicke Brille erweckte den Eindruck, als hätte sie Fischaugen. Das verstärkte noch die betonte Sachlichkeit. Urban mußte seinen Paß zeigen. „Ich suche eine Doktorarbeit.“ Wortlos schob sie ihm einen Zettel hin. Er füllte ihn aus. Das Mädchen las die Informationen und tippte sie in den Computer. Doch vorher blickte sie Urban ein wenig schief an. „Erst interessiert das hundert Jahre lang keinen, dann stehn sie plötzlich Schlange danach.“ 52
„Das ist meistens so.“ „Sie sind schon der zweite in dieser Woche.“ „Und wer war der erste?“ „Keine Auskunft.“ Urban erhielt eine Nummer. „Drüben bei der Ausgabe. Sie müssen warten. Bitte der nächste.“ Urban rauchte eine Zigarette, bis seine Nummer aufgerufen wurde, vielmehr bis an der Diodenanzeige seine Nummer rot aufleuchtete. Am Schalter stand wieder eine Bibliothekarin. „Dissertation Theodor Berger.“ Urban wurde die gedruckte, vielleicht hundert Seiten starke Doktorarbeit gegen Quittung übergeben. Er las: DIE MOLEKULAREN VERÄNDERUNGEN GOLDHALTIGER SUBSTANZEN DURCH THERMOMETALLURGISCHE EINFLÜSSE „Aha“, sagte er. „Hier unterschreiben“, bat die Bibliothekarin. „Mit hinausnehmen dürfen Sie das Exemplar nicht. Wir haben nur das eine.“ „Fotokopieren ist erlaubt?“ „Im Nebenraum.“ Urban ging hinüber. Er hörte schon die Kopierer sirren und klappern, als er stehenblieb, umkehrte und die Arbeit von Berger zurückgab. „Ging aber schnell.“ „Es ging leider gar nicht.“ „Was mißfällt Ihnen?“ „Blättern Sie mal durch“, bat er. Recht unwillig tat die Bibliothekarin, um was Urban sie gebeten hatte, dann starrte sie ihn mit offenen Lippen an. „Das darf doch nicht…“ Er hob beide Hände. 53
„Sie nehmen doch nicht an, daß ich in diesen zwanzig Sekunden aus bedruckten Seiten unbedruckte gemacht habe. Ich wüßte auch gar nicht wie.“ Sie blätterte von vorne nach hinten und wieder nach vorn. „Aber irgendeiner muß das wohl…“ „Und es war vorbereitet“, befürchtete Urban. „Ja, aber wer… und warum sollte einer das tun?“ „Um die Arbeit verschwinden zu lassen. Ganz einfach.“ „Ich muß den Direktor rufen.“ „Tun Sie das“, riet Urban. „Und am besten auch die Polizei. Ich brauche nämlich den Namen der Person, die in dieser Woche nach der Dissertation Berger fragte und sie gegen leere Seiten austauschte.“ „Das werden wir schnell haben.“ Die Bibliothekarin schaute in einem Buch nach, telefonierte, nickte und wandte sich dann an Urban. „Sie sind nicht zufällig von der Kripo?“ „Bundesnachrichtendienst.“ „Der Name des Ausleihers ist Dinah Wickman, Studentin der Chemie.“ „Ausländerin?“ „Wir haben viele Ausländer hier immatrikuliert. Eine Amerikanerin.“ „Wohnhaft?“ „Boston.“ „Nein, hier in Freiburg. Sie wird ja nicht im Dom schlafen.“ Allmählich wurde die Angestellte nervös. „Studentenheim natürlich.“ Urban graste alle Freiburger Studentenwohnheime ab. In keinem gab es eine Dinah Wickman. Sie konnte aber auch die Nationalität und ihren Namen geändert haben. Mit Hilfe der Polizei fand Urban gegen abend die Gesuchte. Sie wohnte privat bei einer Witwe, Ecke Friedrichstraße-Karlsplatz. 54
Die Amerikanerin Dinah Wickman, Studentin im siebten Semester, beschwor hoch und heilig, noch nie die Bibliothek der Universität betreten zu haben. Aber man habe ihr möglicherweise kurzfristig den Ausweis entwendet. Die Gegenüberstellung am nächsten Morgen ergab, daß die Amerikanerin die Wahrheit sagte. Die Studentin, die Bergers Doktorarbeit zweimal ausgeliehen hatte, sah anders aus, Sie war dunkelhaarig, hatte eine Ponyfrisur, war schlank und eher nachlässig gekleidet. Urban gewann den Eindruck, daß die Spur heiß wurde. Warum sonst hätten sich plötzlich mehrere Leute um einen Mann gekümmert, der heute siebzig Jahre alt war und in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts irgendein Traktat über Goldverarbeitung verfaßt hatte. Noch einmal fuhr Urban bei der Uni-Bibliothek vorbei. „Haben Sie die alten Dissertationen nicht auf Mikrofilm?“ „Erst ab dem Jahr neunzehnhundertfünfundfünfzig.“ „Warum.“ „Weil vorher kaum etwas anfiel und die Universität erst in diesem Jahr ein Mikrofilmgerät anschaffen konnte.“ Urban unterdrückte ein unschönes Wort, das seine Enttäuschung ausdrückte. Da war er nun eine Woche lang und fünftausend Kilometer weit einer Sache nachgerannt, und hier prallte er gegen den Bock. „Es gibt keine Liebe mehr unter den Menschen“, bemerkte er, „Keiner hilft dem anderen.“ „Und wer hilft mir?“ fragte die Angestellte. „Was haben Sie für Probleme?“ 55
„Mein Auto kommt nicht mehr durch den TÜV.“ „Wenn es nur das Auto ist. Ich komme auch nicht mehr durch den TÜV“, erwiderte Urban, „wegen dieser verdammten Berger-Arbeit.“ „Moment mal“, unterbrach die Angestellte ihn, „mit Berger war doch noch etwas.“ Urban klammerte sich jetzt an jeden Strohhalm. „Also seine Schuhgröße nützt mir wenig.“ „Jemand fragte nach der Kommilitonenliste. Ich habe es mir gemerkt, weil es im gleichen Jahr war, als der Einmarsch in Österreich passierte. Ich sah darüber eine Sendung im Fernsehn, und dann verlangte ein Mädchen die Liste aus dem Jahr neunzehnhundertachtunddreißig.“ „War sie schlank, dunkelhaarig, so mit Pony?“ Die Angestellte blickte reichlich erstaunt. „Genau.“ Urban bekam die Liste. An manchen Universitäten wurden sie sogar gedruckt und geheftet. – Es war die Originalliste. Wenn man sie ans Licht hielt, fand man im Papier kleine Vertiefungen, als hätte jemand zwei Namen durch eine Fingernagelkerbe markiert. Der eine Name war Theo Berger, der andere Fritz Schuster. Den Unterlagen war ferner zu entnehmen, daß Schuster im selben Jahr wie Berger promoviert hatte. Er war ebenfalls Jahrgang 1919 und in Freiburg geboren. Versehen mit diesen Daten rief Urban im Hauptquartier an. Sie forschten nach. Das Ergebnis haute ihn schier um. Dr. Fritz Schuster hatte bis 1959 in Freiburg einen Lehrstuhl innegehabt und war dann freiwillig emeritiert. Er war also von seiner Lehrtätigkeit auf eigenen Wunsch entpflichtet worden. – Warum so früh, mit kaum vierzig Jahren? – Und das zu der gleichen Zeit, 56
als Dr. Bergers letzter Zugriff zu seinem Schließfach in Lissabon erfolgt war. Urban gab Pullach Dampf, daß sie Dr. Schuster ausfindig machten, falls er noch lebte. Wenige Stunden später kam die nächste verblüffende Information. Professor Dr. Fritz Schuster lebte ganz in der Nähe, im Schwarzwald. Urban fuhr sofort hin.
Es war ein Schwarzwaldhaus am Hang zwischen Tannen, und ein Mann, hager, weißes Haar, Adlernase, Körper und Geist gleichermaßen beweglich. Alles wie aus dem Heimatroman. Was ihn von Einstein unterschied, waren vier Dinge. Er selbst führte sie scherzhaft auf. „Gemeinsam habe ich mit Einstein das Studium der Mathematik und der Physik. Was Einstein und ich je veröffentlichten, ist für neunundneunzig Prozent der Menschheit unverständlich. Ich bin ebenfalls höchst unsportlich, das heißt, geistige Klimmzüge fallen mir leichter.“ „Und was unterscheidet Sie von Einstein?“ fragte Urban. Die Antwort gab der Professor erst in seinem holzgetäfelten Erkerzimmer. „Ich spiele nicht Geige“, zählte Schuster auf, „bekam nie den Nobelpreis, war nie in den USA und bin nicht im vergangenen Jahrhundert geboren.“ „Wenn es nur das ist“, kommentierte Urban. Sie tranken Tee und kamen betont langsam zum Thema. Urban machte es mit Anschleichen, denn Schuster kam ihm vorsichtig, wenn nicht gar mißtrauisch vor. „Es geht um Theo Berger.“ 57
„Er war mein bester Freund.“ „Schon an der Universität?“ „Nein, schon früher. Wir liebten beide Glenn Millers und Benny Goodmans Swingmusik, Jazz, Schnürsenkelkrawatten und all diese verbotenen Dinge. Und wir haßten die Nazis. Berger war Kommunist. Ich hingegen mochte die Nazis nicht, weil sie diese komischen Stiefelhosen trugen, in denen sich üble Körpergase halten.“ Urban fühlte, daß man Schusters Aussagen nicht allzu ernst nehmen durfte. Zumindest mußte man zwischen den Zeilen lesen. „Waren Sie nur Kommilitonen?“ „Nein. Berger rettete mir das Leben.“ „Im Krieg?“ „Ich möchte nicht mehr darüber sprechen.“ Urban blieb hartnäckig. „Was wissen Sie von seinem Hamburger Labor?“ Es schien, als zucke der alte Herr zusammen und greife nur zur Teetasse, um es zu überbrücken. „Wenig.“ „Das Labor wurde zerbombt.“ „Richtig. Und Berger kam dabei um.“ „Aber nicht wirklich.“ In den Zügen Schusters flackerte Schadenfreude. „Er war gar nicht im Labor, als es in Schutt und Asche fiel. Aber er nutzte es aus, für tot zu gelten, und ging nach Spanien.“ „Woher wissen Sie das?“ „Ich hörte, daß er in Barcelona lebe.“ „Lebt er noch heute dort?“ „Oder in der Schweiz. Er hatte Vermögen und mehrere Wohnsitze.“ „Woher stammt das Vermögen?“ Der Professor hob die knochigen Schultern. „Fragen Sie mich lieber nach der Quadratur des 58
Kreises.“ Es war eine angenehme Unterhaltung. Urban erfuhr dieses und jenes, aber im Grunde nur ein paar dürftige Mosaiksteinchen. „Was suchen Sie?“ fragte Professor Schuster. „Was führt Sie zu mir?“ „Das würde ich lieber für mich behalten“, gestand Urban. „Darf ich wiederkommen, wenn ich noch Fragen habe?“ „Jederzeit“, wurde ihm zugesichert. Bevor Urban ging, zog ihn der weißhaarige Wissenschaftler ans Fenster seines Erkers. Man hatte einen weiten Blick über das Tal und den Fluß und sah auch von der Straße ein gutes Stück. „Könnte es sein“, fragte Schuster, „daß man mich beobachtet?“ „Was veranlaßt Sie zu dieser Annahme?“ „Ein taubenblauer Volkswagen. Ein Käfer.“ „Vor Ihrem Haus?“ „Weiter oben, wo die Straße aus dem Wald kommt. Er stand mehrmals da. Letzte Woche und auch am Dienstag. Heute nicht.“ „Wer saß drin?“ „Ein Mädchen schlich an meinem Haus vorbei. Schlank, dunkel, in Hosen.“ „Die Nummer des Autos?“ „Junger Freund“, begann Schuster. „Mit Siebzig trübt das Auge ein. Sollte ich ein Fernglas benutzen, um Dinge zu erkennen, die mich eigentlich kalt lassen?“ Immerhin hatte er es erwähnt. Ganz so cool ließ es ihn also nicht. Die Sonne war nur ein heller Punkt im Grau des Himmels, als Urban durch den Garten zum Tor ging. Volkswagen, blau, überlegte er. Junge Frau, schlank, dunkelhaarig. – Die Dame sollte eigentlich zu finden sein. 59
Als Urban die schäbigste und billigste aller Studentenbuden betrat, starrte er in den Lauf einer Pistole. Er tat, als nähme er die Kanone ernst, obwohl es nur eine vier Millimeter Schreckschuß war, aus der man Platzpatronen feuern konnte, bestenfalls eine Gaspatrone zum Betäuben von Hunden oder Silvesterkracher. „Damit kommt noch unerlaubter Waffenbesitz hinzu“, sagte er und setzte sich. Wütend, fast verzweifelt, warf das Mädchen die Spielzeugwaffe auf das Bett und fluchte. „Alles Scheiße. So eine Scheiße. Warum faß ich immer nur in Scheiße.“ „So was haftet einem an.“ „Es setzt sich fest“, jammerte sie unter Tränen, „und läßt einen nie mehr los.“ Vergebens suchte sie in ihrer durchgewetzten Jeanshose nach einem Taschentuch. Urban reichte ihr eines aus Papier. Während sie sich den zerfließenden Lidstrich abtupfte, schaute Urban sich um Die Dachstube bekam nur durch das Giebelfenster Licht und hatte einen Kanonenofen, dessen Rohr mit Knie quer durch den Raum führte. Nicht einmal fließenden Wasser gab es. Sie mußte sich in einer Porzellanschüssel, wie man sie früher benutzt hatte, waschen. Unter dem Bett stand ein Nachttopf. Sie war zweifellos eine bettelarme Studentin und lebte mit dem Minimum. Immerhin war das Zimmer sauber und ordentlich aufgeräumt. Alles hatte seinen Platz, war waagerecht oder senkrecht geordnet. „Schon besser?“ fragte er englisch sprechend. „Nein.“ „Vielleicht können wir uns mal überlegen, was wir tun.“ „Vielleicht können wir mal“, höhnte sie. „Alles fromme Sprüche. Das höre ich immer. Überall, wohin 60
ich komme. Aber keiner hilft. Ich stelle mich noch an den Bahnhof und gehe anschaffen.“ Urban riskierte eine harte Frage. „Hat der andere Job nichts eingebracht?“ Sie fuhr herum. „Welcher Job?“ „Tun Sie nicht so. Was glauben Sie, warum ich hier bin. Und wovon konnten Sie sich den Volkswagen leisten?“ „Der hat zweihundert Mark gekostet“, erklärte sie. Sie starrte in den matten Spiegel, richtete das Haar und begann es zu bürsten. Urban trat hinter sie. „Die Sache mit Bergers Dissertation.“ Sie atmete tief wie jemand, der zu einer Lügengeschichte ansetzte. Urban packte sie bei den Schultern und drehte sie so heftig herum, daß die nackten Brüste unter dem T-Shirt hüpften. „Das war kriminell“, sagte er. „Geben Sie es zu. Wenn nicht, dann sind Sie schnell weg und raus.“ „Oder im Knast“, ergänzte sie ironisch. „Bevor wir Ausländer durchfüttern, legen wir ihnen nahe, Leine zu ziehn“, erklärte Urban. „Sie sind da in eine heiße Sache geraten, die ungefähr zehn Nummern zu groß für Sie ist. Helfen Sie uns, und wir drücken beide Augen zu.“ Sie musterte ihn abschätzig, wie ein Verurteilter den Henker, von dem nur eines sicher war, daß er den Tod brachte. „Fragen Sie. Fangen Sie an.“ „Sie heißen Mary Anne Connolly.“ „Genannt Anne.“ „Sie besorgten sich Bergers Dissertation, fotokopierten die Titelseite und die ersten zehn, hefteten zu Hause 61
leere Blätter zusammen und vertauschten das Ganze. Warum? Warum wollten Sie die Arbeit Bergers ve rschwinden lassen?“ „So lautete mein Auftrag“, gestand sie. „Wohin schickten Sie Bergers Arbeit?“ „Nach London. Postlagernd.“ „Was bekamen Sie dafür?“ „Tausend Pfund. Davon kann ich sechs Monate leben.“ „Von wem? Wer ist der unbekannte Spender?“ Sie zögerte und zog das T-Shirt, das links tief herabhing, gerade. „Er rief mich an, fand wohl irgendwie heraus, daß ich in Freiburg studiere und ein armes Schwein bin. Ein klarer Auftrag. Und tausend Pfund sind ja ziemlich eindeutig, oder?“ „Ein Mann?“ „Wer sonst wohl.“ „Er muß Zugang zu Informationen besitzen, die nicht jeder erhält. Er wußte, daß Berger in Freiburg promoviert hatte und kannte das Thema seiner Doktorarbeit. Er wußte ferner, daß Sie hier studieren und ziemlich mittellos sind.“ „Ziemlich“, sagte sie, „ist übertrieben. Ich gehe total auf dem Zahnfleisch, Mister. Reden wir doch mal Klartext. Es gibt in London eine Hilfsorganisation für britische Studenten in Europa. Von dort bekam er meine Adresse.“ Urban begann den Unbekannten einzukreisen. „Landsmann von Ihnen?“ „Mit Akzent, als hätte er einige Zeit in den USA gelebt.“ „Wie alt ungefähr?“ „Mitte Dreißig. Sonore Stimme, überzeugend, charmant. Aber, zum Teufel, warum fragen Sie nicht nach 62
seinem Namen?“ „Kommt noch. Ich wollte Ihr Gedächtnis erst auf To uren bringen.“ „Tompson“, gab sie preis. „Simon Tompson.“ „Und Sie glauben, der Name ist echt?“ „Ich glaube schon.“ „Warum sollten Sie das Material postlagernd schikken? Er vermied es, Ihnen seine Adresse zu nennen.“ „Irrtum. Die Sache sei fast völlig legal, sagte er. Aber die Dissertation müsse, wenn sie noch existiere, vom Tisch. Er ist Privatdetektiv. Spezialist für Wirtschaftskriminalität.“ Urban machte keine Notizen, obwohl mit dem, was er erfuhr, einiges anzufangen war. „Die Dissertation Bergers war ihm nicht genug.“ „Er wollte wissen, wo Berger lebt. Ich sollte nach Studenten seines Jahrgangs suchen.“ „Und fanden Professor Schuster.“ „Es kostete verdammt viel Mühe.“ „Und brachte noch mal tausend Pfund, he?“ „Nur fünfhundert. Schuster war lange Jahre mit Berger befreundet. Nach dem Krieg trennten sich ihre Wege. Ich beobachtete Professor Schuster.“ Urban mußte die Energie dieser zarten Person bewundern. „Tagsüber Vorlesungen, nachts beobachten. Bravo.“ „Zwischendurch Seminare, die Arbeit im Labor und dieser und jener Job.“ „Essen, trinken, schlafen nicht zu vergessen.“ Sie lachte bitter. „Tee, ab und zu das, was man hier eine Leberwurstsemmel nennt, wenn es hochkommt, eine Pfannenpizza.“ „Null Zeit für Discos.“ Sie machte eine Bewegung, die wegwerfender war als 63
ein Ausschütteln der linken Hand. „Tanzen, Flirts, Kerle, bumsen. Not for me.“ „Klare Verhältnisse. Okay, Anne, das war’s dann.“ Schon im Gehen, die Hand am Türgriff, fragte er noch: „Meldet sich Tompson wieder?“ „Nein“, antwortete sie. „Was macht Sie so sicher?“ „Er hat, was er braucht. Weitere Nachforschungen nach Berger über Schuster sind unnötig. Er hat Berger in Spanien ausfindig gemacht.“ „In Barcelona?“ fragte Urban. Sie wußte es nicht genau, und er glaubte ihr. Für Tompson gab es keinen Grund, sie tiefer als nötig einzuweihen. „Und was wird jetzt?“ wollte sie wissen. „Nichts“, sagte er. „Polizei?“ „Sie sind ein zu kleiner Fisch, Anne, keine Sorge. Ihre verbrecherischen Umtriebe werden vorerst nicht weiterverfolgt. Aber…“ Sie drehte sich aus langfaserigem Tabak eine Zigarette. Das Ding wurde eher eine Trompete. Beim Anstekken flammten die Tabakenden ab. „Aber ich habe zu kooperieren“, spottete sie, „brav und folgsam.“ „Das ist das mindeste. Sollten Sie für Tompson noch dies und jenes erledigen, höre ich davon.“ „Und bitte, wer ist ich, Sir?“ Urban nannte seinen Namen und gab ihr zwei Telefonnummern. Seine private und die des grauen Apparates auf dem Schreibtisch im BND-Hauptquartier. „Wir hören voneinander.“ „Besser nie“, hoffte sie. Er hatte Verständnis dafür, daß sie von diesem Aus64
flug ins Spionagegeschäft genug hatte, und ging. Der nächste Schritt war vorgezeichnet. 7. Simon Tompson mietete, nachdem er Ibiza mit Lord Rainbows Motoryacht angelaufen hatte, einen Lieferwagen. Mit dem ging er auf Inselrundfahrt. Es war ein kleiner Seat Kombi. Hinten hatte er Platz für drei Männer und ein paar Säcke. Ja richtig, die Säcke. Tompson erstand große schwarze Mülltüten aus Plastik und Werkzeug. Stemmeisen, Schraubendreher, verstellbare Schlüssel und eine Metallsäge. Nun kam das Wichtigste. Die geeigneten Leute. Mit seinem Riecher für arm und reich fand er eine Bodega, wo Typen herumhingen, die im Sommer wenig und jetzt gar keine Arbeit hatten. Er nahm nicht die ganz jungen und nicht die ganz alten. Er nahm auch nicht die mit vom Wein glänzenden Augen, sondern solche, denen zwei Gläser für einen Nachmittag genügten. Im übrigen ging er nach den Händen. Tompson setzte sich an die Bar. Mit seinem recht ordentlichen Spanisch kam er mit einem Fischer ins Gespräch. „Ich suche drei kräftige Männer“, sagte er, „Schneller Job, gute Bezahlung.“ Dabei schaute er sich um. „Was Illegales, Senor?“ „Nein, nur schmutzig.“ „Wann?“ „Heute oder morgen nacht.“ „Es wird regnen.“ „Schadet nichts. In einer Stunde sind wir fertig.“ „Willst du ein Lager ausräumen oder eine von den 65
Ausländervillen plündern?“ „Wir bleiben im Freien.“ „Was bringt es?“ „Hunderttausend Peseten für jeden.“ Das war genug, aber nicht soviel, daß es nach Bankraub roch. Der Spanier hob die Hand und bog einen Finger ab. Weil ihm einer fehlte, blieben drei. „Tres Companeros.“ Tompson nickte. „Wann und wo?“ „Hier. Sagen wir dreiundzwanzig Uhr.“ „Da ist noch ‘ne Masse los, Senor.“ „Schön, dann eine Stunde nach Mitternacht. Ich habe Wagen und Werkzeug.“ Tompson legte als Vorkasse drei Zehntausender auf den Tisch. Der Spanier nahm sie und schob sie unter seine Baskenmütze. Dann steckte er sich den Zigarettenstummel noch einmal an.
Es regnete. Sie wurden naß bis auf die Haut, obwohl es nicht länger als zehn Minuten dauerte, die Marmorplatte abzuschrauben. Spanier wußten, wie man die Tumbas, die Sargfächer, in den Beinhäusern öffnete. Es war das vierte Grab von links in der dritten Reihe von unten. Etwa die Hälfte dieser mit Hunderten von Schubfächern versehenen Betonwand – sie bildete einen Teil der südlichen Friedhofsmauer – war noch leer. Einer der Spanier las die Bronzeschrift auf der Platte. „Doctor Theodor Berger. – Kein Spanier.“ „Deutscher“, sagte Tompson. „Wie kommt der dann in diese Grabreihe? Die ist nur für Einheimische reserviert.“ „Gibt Ausnahmen“, meinte ein anderer. „Mit einem 66
vergoldeten Arsch kriegst du überall ein hübsches Plätzchen mit Meeresblick.“ Sie zogen den Sarg heraus. „Vorsicht! Langsam ablassen“, flüsterte Tompson. Daß es hier um Grabräuberei, Grabschändung oder ähnliches ging, war ihnen allen klar. Aber keinen kümmerte es. „Und nun, Senor?“ „Aufmachen, den Sarg.“ Er war aus Eiche, verschraubt und noch recht gut erhalten, obwohl er schätzungsweise vor fünfundzwanzig Jahren gefüllt und hier verwahrt worden war. Im Schein der Lampen suchten sie die Schrauben, fanden einige und drehten sie mühsam heraus. Aber der Deckel ließ sich nicht abheben, Also setzten sie Stemmeisen an. Das Holz des Dekkels federte und gab krachend nach. Sie hoben den Dekkel ab. „Wem schlecht wird, der soll weggucken“, riet Tompson und leuchtete hinein. Der Tote war nicht mehr zu identifizieren. Tompson holte die Säcke. Einer mußte sie aufhalten, ein anderer streifte Plastikhandschuhe über und begann, den Sarginhalt in die Säcke zu füllen. Schädel, Anne, Hände, Beine und was vom Rumpf noch übrig war, alles in Einzelteilen. Dabei fiel etwas zu Boden. Sie hoben es auf. Tompson drängte zur Eile. ,,Den Sarg völlig leeren.“ Sie ließen nichts zurück. Keinen Knochen, keinen verlederten Hautfetzen, keinen Fingernagel. Aber unten am Boden klebte schwarzer Sirup. „Stinkt nicht mal.“ „Verfault und verkäst“, sagte einer. Sie fällten zwei Säcke. Tompson überzeugte sich, daß 67
außer dem schwarzen Leichensirup nichts im Sarg zurückblieb. ,,Die Säcke zubinden und zum Auto.“ „Und der Sarg?“ „Deckel drauf, zurück ins Fach.“ Es ging nicht lautlos. Aber wer trieb sich bei diesem Sauwetter nachts um zwei Uhr schon auf Friedhöfen herum. Zum Schluß setzten sie die Marmorplatte wieder vor die Öffnung der Tumba, drehten die vier Bolzen hinein und setzten die stilisierten Bronzeblüten auf die Vierkantköpfe. Tompson leuchtete alles sorgsam ab. „Der Regen weicht die Erde auf, meinte einer der Spanier, „da bleiben keine Spuren zurück, Senor.“ Tompson fuhr sie in die Stadt hinunter und zahlte die Männer aus. „Danke für die Mühewaltung“, sagte er. „Wir wissen von nichts“, versicherten sie, „und Sie, Senor, halten wohl auch dicht.“ „Wenn es dämmert“, sagte der Engländer, „bin ich auf See.“ Zwei Tage später – es war ein Sonntag – machten Friedhofsbesucher eine grausige Entdeckung. Sie meldeten es dem Totengräber. Der sagte es dem Priester, und der rief die Station der Guardia an. Am Montag fuhren zwei Beamte vorbei und ließen sich vom Totengräber zeigen, um was es sich handelte. „Vom Namen dieser Grabplatte fehlt ein Buchstabe“, sagte der Alte, „das R.“ „Na und. Die fallen schon mal ab. Das kommt vor.“ „Die Bronzebuchstaben werden im Marmor verdübelt und mit Marmorzement befestigt. Nein, das kommt nie 68
vor. Und wenn es vorkommt, dann nach hundert Wintern“, entgegnete der Totengräber. „Ist das alles, Gonzales?“ Der Totengräber griff in die Tasche. „Das ist der Buchstabe. Er lag links von der Platte vor dem Unkraut.“ „Irgendwohin muß er ja gefallen sein, oder?“ „Aber ja, Comandante“, sagte der Alte. „Es fiel aber noch mehr herunter. Nämlich das da.“ Er faßte hinter die Brennesseln und holte etwas länglich Weißes mit unregelmäßigen Verdickungen am Ende hervor. „Sieht aus wie ein abgekiefter Knochen.“ „Wie ‘ne Haxe vom Schwein“, bemerkte der andere Polizist. „Ich bin seit vierzig Jahren Totengräber“, erklärte der alte Gonzales. „Das ist der Knochen eines Menschen.“ Ehe der Comandante sich entschloß zu handeln, fragte er: „Liegen die öfter hier herum?“ „Nur wenn wir die Erdgräber ausheben, stoßen wir auf alte Knochen. Die werden aber eingesammelt.“ Die Polizisten fuhren zur Station zurück. Der Comandante telefonierte und bekam von einer Dienststelle des Gerichts, die sich mit derartigen Vorfällen befaßte, die Order, der Sache nachzugehen. Das Kastengrab Berger, Nr. 4 Reihe drei, wurde geöffnet. Man fand den Sarg beschädigt und leer. Aber keine Täterspuren. Nicht am Sarg, nicht am Marmor. Auch der Spürhund fand nichts. Die Polizei fotografierte den leeren Sarg, und die Beamten protokollierten alles. „Buchstabe und Knochen sind beschlagnahmt“, entschied der Comandante. Beides kam in eine Plastiktüte und an die Tüte ein 69
Zettel. Mit der nächsten Dienstpost ging das Ganze, nach Palma de Mallorca und von dort weiter nach Barcelona Die Guardia stellte noch weitere Ermittlungen an, ohne sonderlichen Erfolg. Die Arbeitslosen in den Bodegas schüttelten die Köpfe. Sie hielten dicht. Keiner hatte etwas gesehen oder gehört. Schließlich wurde der Hafenmeister angerufen. Es mußten doch wohl Schiffe in der fraglichen Zeit einund ausgelaufen sein. „Eigentlich nur die Fähre, ein Frachter mit Lebensmitteln und Heizöl und eine Privatyacht“, lautete die Auskunft. „Name der Yacht? Name des Eigners, Herkunft, wo registriert?“ fragte die Polizei. Der Hafenmeister schaute in seiner Kladde nach. „Die Yacht heißt Rainbow. Regenbogen. Sie ist beim Königlich Britischen Yachtclub registriert, liegt aber drüben in Palma de Mallorca. Eigner ist Lord Charles Rainbow.“ „Und wer ist dieser Rainbow?“ „Der Generaldirektor der Londoner Metallhandelsbörse. Er besitzt auch ein Landgut auf Mallorca.“ „Millionär, he?“ „Mit Sicherheit, Senor.“ „Dann“, lautete die Entscheidung des Comandante, „kommt er für Grabschändung und Leichenraub wohl nicht in Betracht.“ „Ganz ohne Zweifel, Comandante“, sagte der Hafenmeister von Ibiza.
Von einem aus London angereisten Experten ließ der Wirtschaftsdetektiv Simon Tompson den Inhalt der 70
Müllsäcke prüfen. Nach der ersten groben Durchsicht fragte der Experte: „Worauf kommt es eigentlich an, Sir?“ „Auf etwas für Leichen Untypisches“, erklärte Tompson. „Und das wäre?“ „Irgendwelche Notizen, Formeln, Mikropunkte, ve rsteckt in einer Uhr, einem Ring, in einer Körperhöhle, einem Goldzahn oder anderswo. Vielleicht sogar unter einem Zehennagel.“ Der Experte streifte die Gummihandschuhe über und suchte weiter. „Vergessen Sie nicht, wie er starb, Mister Tompson.“ „Und wie starb er?“ „Es war ein Unfall.“ „Woran erkennen Sie das?“ „Nun, an Verbrennungen, die die Struktur der Haut beeinträchtigten und bei den Knochen zu extrem rascher Verkalkung führten. Abgesehen davon, daß kaum ein Knochen ganz ist wie bei einem, der im Bett stirbt.“ „Ihre Sache“, Thompson wurde ungeduldig. „Bringen Sie es mir. Es ist wichtig. Was dieser Mann entdeckte, ist von großer Bedeutung. Es muß irgendwo zu finden sein. Wenn nicht bei seiner Leiche, dann anderswo. Aber bevor ich an anderen Stellen we itersuche, muß ich sicher sein, daß er es nicht mit ins Grab nahm.“ Die Analyse des Sarginhaltes dauerte zwei Tage. Dabei machte der Experte eine Entdeckung, die er Tompson nicht verschwieg. „Es wäre mir lieber gewesen“, sagte der Detektiv, „Sie hätten Notizen über ein bestimmtes metallurgisches Verfahren gefunden, als das.“ „Tut mir leid, Sir.“ „Ich danke Ihnen jedenfalls, daß Sie diesen nicht eben appetitlichen Auftrag übernommen haben, Doktor.“ 71
Bevor er sich verabschiedete, gab der Experte Tompson noch einen Rat. „Ich an Ihrer Stelle würde mich so schnell wie möglich von der Leiche trennen, Sir.“ „Das werde ich“, versprach Tompson. Er setzte den Experten in Palma ab, fuhr dann noch einmal hinaus, um die zwei Müllsäcke, mit Grundgewichten versehen, über Bord zu werfen. Dann ließ er sich nach Barcelona bringen und nahm das nächste Flugzeug in die Schweiz. 8. Links der Ramblas, vom Hafen aus gesehen, traf sich noch immer die Unterwelt von Barcelona. In den Bars gaben Ganoven, Huren und Matrosen den Ton an. Der BND-Agent Robert Urban suchte dieses Milieu auf, da es unumgänglich war. Ob er sich auf ProminentenPartys bewegte oder in Gangsterkreisen, es kam nur darauf an, daß er weiterkam. Bei der katalanischen Bürokratie war er an eine Mauer gestoßen. Nun versuchte er es andersherum. Er suchte einen Mann mit gutem Draht zu den Behörden. Dabei geriet er an einen, der sich Pedro Fernandez nannte. „Kennst du jemand, der Kontakt zur Administration hat?“ „Zu welcher Behörde?“ fragte der Mann, dessen Haut so gelb war wie der Safranreis in seiner Paella. „Paßamt. Einwohneramt, Standesamt und Polizei“, zählte Urban auf. „Ist das alles?“ „Und zu Zeitungen vielleicht.“ Der andere hatte ein Stückchen Muschelschale zwischen die Zähne bekommen und puhlte sie mit den 72
Fingern heraus. „Bißchen viel auf einmal.“ „Kennst du einen oder nicht?“ „Muß nachdenken.“ Urban ließ etwas springen und bekam die Adresse einer Bar, wo ein gewisser Ramon verkehrte. Als er hinkam, war Ramon nicht da. Es dauerte eine Weile. Endlich erschien er und hörte Urban zu. „Wozu brauchst du den Kontakt zur Officina habitante?“ „Ich suche einen bestimmten Mann.“ „In Barcelona? Schau im Telefonbuch nach oder im Adreßbuch.“ „Hab ich schon. Er steht nicht drin.“ „En Illegaler?“ „Vielleicht ist er längst tot.“ „Name?“ Urban blieb vorsichtig. „Den erfährst du, wenn du mir einen bringst, der mir weiterhilft.“ „Warum fragst du nicht selbst bei den Behörden?“ „Die stellen noch dümmere Fragen als du, Amigo“, sagte Urban. Ramon zwang seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Es sah aus, als würde man einen Regenschirm zusammenfalten. „Schiß vor der Polizei, he?“ „Vielleicht“ Urban ließ auch hier etwas springen. „Kann ich dich anrufen, Companero?“ „Mir ist es lieber, ich rufe dich an.“ „Bien“, sagte der Spanier. Urban bekam eine Nummer. Der Spanier wollte sehen, was er tun konnte. Als sie sich trennten, sagte er: 73
„Klingt fürchterlich einfach, aber da steckt was dahinter. Um sauber zu sein, ist die Sache zu leicht.“ „Überlaß mir das“, bat Urban. „Viaja con diablo!“ rief der andere. „Ach, geh zum Teufel.“ Urban schlenderte durch die Gassen zu den Ramblas, wo noch mehr Leben herrschte als um zwölf Uhr mittags. Er hoffte, daß sein Trick zog. Es wäre überhaupt kein Problem gewesen, mit Hilfe seines erstklassigen Kontakts zum spanischen Geheimdienst alle Informationen zu erhalten, die er über Theo Berger brauchte. Bis zurück ins Jahr des Herrn, als in Europa der Frieden ausgebrochen war. - Aber er wollte mehr. Er wollte Simon Tompson. Vom Archiv im Hauptquartier Pullach hatte er erfahren, daß dieser Tompson eine ganz gerissene Type war. Sie hatten nicht viel über den Engländer, aber was sie hatten, das genügte. Nun hoffte Urban, daß Tompson ebenso wie er in Barcelona nach Dr. Berger suchte. Tompson würde sich wahrscheinlich der Unterwelt bedienen. Wenn er nun dasselbe tat, mußten sich ihre Bemühungen irgendwo kreuzen. Und es gab immer einen, dem das auffiel. Der informierte dann entweder ihn oder Tompson. Daraufhin würde Tompson ebenso reagieren wie er. Einer würde dem anderen eine Falle stellen. In diese Falle wäre Urban gerne hineingestolpert. In der Hoffnung, daß es funktionierte, suchte er sein Hotel auf, das Arycasa. Er schlief ein paar Stunden und rief dann die Nummer an, die der Spanier ihm gegeben hatte. Am Apparat war eine Frau. Sie hatte das satte Organ älterer Damen mit kräftigen Brüsten. „Ich weiß, um was es geht“, sagte sie. „Ich kann Ih74
nen helfen. Geben Sie mir den Namen der betreffenden Person.“ Urban zögerte, wie man es von ihm wohl erwarten durfte. „Sind Sie selbst bei einer Behörde tätig, Senora?“ „Mein Sohn. Es kostet ihn ein, zwei Telefonate.“ „Und was kostet es mich?“ „In jedem Fall zweihunderttausend. Ob mit oder ohne Erfolg. Zahlbar an Ramon. Jetzt den Namen bitte.“ „Berger, Theodor, Chemiker.“ „Wann soll er hier gelebt haben?“ „Ab fünfundvierzig ungefähr.“ „Geboren?“ „Anno neunzehn in Deutschland.“ „Ah, ein alter Companero. Wird erledigt, Senor. Wenn er hier jemals seinen Schatten warf, dann finden wir ihn.“ „Bis wann?“ „Rufen Sie gegen Abend wieder an, dann sage ich Ihnen, wo Ramon Sie trifft.“ „Gracias!“ Urban legte sich lang und dachte nach. Er kannte die Unterwelt und hoffte, sie würde funktionieren. Vielleicht saß irgendwo in der Stadt Tompson, der britische Schnüffler, und wartete auf dieselbe Information wie er. Gegen Abend meldete er sich wieder bei der Nummer. Die Senora mit der dröhnenden Altstimme hatte ihn schon erwartet. „War schwierig“, erklärte sie, „aber wir haben alles. Steht auf einem Zettel in einem Umschlag. Den Umschlag gegen zweihunderttausend Pesetas.“ Urban feilschte nicht am Preis herum. „Das war ausgemacht.“ „Sie treffen Ramon wie beim ersten Mal, aber diesmal vor der Bar, dreiundzwanzig Uhr. Seien Sie pünktlich.“ 75
„Sie können sich darauf verlassen“, versprach Urban. Er war wenige Minuten vor der Zeit da. Wie gewöhnlich orientierte er sich aus Distanz und Deckung, ob die Luft rein war. Es war nicht völlig ausgeschlossen, daß Tompson schneller reagierte als er. Doch er entdeckte nichts Auffälliges. Nur ein Streifenwagen der Polizei rollte langsam durch die Gassen. Als der Zeiger der Rolex über 23.00 Uhr ruckte, sah er einen Mann aus der Bar treten. Es war Ramon, der Kontaktmann Nummer zwei. Er stand da, schaute sich um und steckte sich eine Zigarette an. Urban eilte auf ihn zu. Kaum hatte Ramon ihn erkannt, begrüßte er ihn mit einer theatralischen Bewegung. – Ein Signal. – Urban merkte es zu spät. Plötzlich war er umringt. Die Männer hatten irgendwo im Dunkel der Gassen gelauert. Aber sie hatten keine Waffen. Urban nahm es jederzeit mit drei Gangstern auf, wenn der Kampf mit Fäusten, Handkanten und Füßen ausgetragen wurde. Doch ein Wort, ein einziges Wort, hinderte ihn daran, aus dem Ring dieser Männer gewaltsam auszubrechen. „Polizei“, sagte Ramon. Urban musterte sie. Sie sahen aus wie Undergroundagenten, der Szene angepaßt, getarnt als Zuhälter, Dealer und Taschendiebe. Einer zeigte seine Dienstmarke. „Und wer sind Sie?“ fragte Ramon. „Das sage ich nur Ihrem Vorgesetzten.“ „Gracias, wir wissen bereits, wer Sie sind: Kommen Sie mit.“ Sie legten ihm Handschellen an. Der Streifenwagen tauchte wieder auf. Sie drückten Urban nach hinten. Zwei Mann eskortierten ihn in die Präfektur. 76
Urban verhielt sich wie ein Kriegsgefangener. Die beantworteten jede Frage mit Namen und Erkennungsnummer. Urban nannte nur einen Namen. „Sie sind Deutscher?“ „Mein Name ist Robert Urban.“ „Woher kommen Sie?“ „Mein Name ist Robert Urban.“ Sie hatten in ihren Fahndungsbüchern nachgeblättert. Dort stand er nicht drin. Das wußte er. Also hatten sie etwa anderes gegen ihn vorliegen. „Sie suchen einen gewissen Doktor Theodor Berger.“ „Mein Name ist Robert Urban.“ „Waren Sie am Wochenende in Ibiza?“ „Mein Name ist Robert Urban“, sagte er. „Und ich muß Coronel Erneste Segovia sprechen.“ „Doch nicht den obersten Chef unseres Geheimdiensts in Madrid?“ „Mein Name ist Robert Urban.“ „Sind Sie Detektiv, von Interpol oder Agent? So reden Sie doch, Mann!“ Er wiederholte seinen Spruch. Sie führten ihn ab und ließen ihn in einer U-Haftzelle schmoren. Tut mir leid, dachte Urban, die Angelegenheit ist nichts für untere Instanzen. In vierundzwanzig Stunden bekam er einmal Kaffee und einmal trockenes Brot. Er konnte einen Anwalt anfordern, verzichtete aber darauf und wartete lieber. Um dreiundzwanzig Uhr hatten sie ihn verhaftet. Inzwischen war es noch einmal dreiundzwanzig Uhr geworden und dann früher Morgen. Nach dreißig Stunden im Knast hämmerten Schritte über den Flur. Die Tür wurde aufgesperrt. Der Wärter trat herein. „Sie sind frei, Senor.“ Er bekam zurück, was sie ihm abgenommen hatten. 77
Er quittierte den Empfang. Ein Aufseher begleitete ihn durch eine Reihe von Gitterschleusen. Als Urban schon den Hof des Untersuchungsgefängnisses zu sehen glaubte und den Torbogen, der zum Ausgang führte, wurde er in einen Nebenraum gebeten. Er war kahl und kalt wie eine Gruft. – Immerhin zierte ihn die Anwesenheit eines Menschen. Am Fenster stand ein Mann, mittelgroß, sehr schlank, Maßanzug in Dunkelblau. Der Stoff glänzte wie Seide. Langsam drehte er sich herum. Coronel Segovia, elegant wie immer, egal ob in Zivil oder in Uniform, gebügelt und geschniegelt bis zu den Fingerspitzen. Sie waren Freunde. Sie umarmten einander stumm. „Du kommst spät“, sagte Urban. „Warum hast du mich nicht vorher informiert?“ „Du warst nicht erreichbar.“ „Ja, hatte in Nordafrika zu tun.“ „Ich dachte, es muß auch so gehen.“ „Und warten konntest du nicht.“ „Um das Rennen zu verlieren?“ „Es hat dich zwei Tage zurückgeworfen. Mein Büro hätte dir die Wege geebnet.“ Urban erläuterte dem dunkeläugigen Segovia, der sich wieder ein Oberlippenbärtchen hatte wachsen lassen, scharf gestutzt wie die Koteletten, seine Taktik. „Ich hoffte, mein Weg könnte sich auf diese Weise mit denen eines gewissen Tompson kreuzen,“ „Schätze, du stehst verdammt allein auf der Kreuzung.“ „Sieht so aus.“ Der Chef der Brigada investigación schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das ging in die Hose. Aber nicht nur das. Muß ein ernstes Wort mit dir reden, Roberto.“ „Fang mit dem Schlimmsten an“, bat Urban. 78
Sie waren Freunde seit einem Jahrzehnt, wenn nicht länger. Sie kannten sich wie Brüder. Jeder war in der Lage, den anderen genau zu berechnen. Trotzdem mußte Segovia seine Routinefragen stellen. „Wo warst du am letzten Wochenende?« „In Freiburg.“ „Mit Sicherheit nicht auf Ibiza?“ Urban verstärkte nur seinen Gesichtsmuskelschaden, den manche ein impertinentes Grinsen nannten. „Man verdächtigt dich nämlich, auf dem alten Friedhof der Insel ein Grab geschändet zu haben.“ „Welches Grab?“ „Theodor Berger steht drauf.“ „Mist“, fluchte Urban. „Dann hat Tompson also bereits zugeschlagen.“ „Jemand leerte den Sarg von Theodor Berger aus und nahm den Inhalt mit. Dämmert dir etwas?“ „Noch nicht.“ Segovia stieß die Hände unter dem Sakko in die Hosentaschen. „Im Sarg war aber nicht die Leiche von Berger.“ Urban hätte sich gern gesetzt, doch es gab nicht einmal einen Hocker im Raum. „Nicht von Berger?“ „Man fand einen Knochen. Vom Unterschenkel oder so. Einwandfrei ein weiblicher Knochen. Er stammt von einer Frauensperson, die nicht älter als fünfundzwanzig Jahre war. Mithin wohl kaum ein Stück von Berger.“ „Aber Berger steht auf dem Grabstein.“ „Grabplatte“, verbesserte Segovi a. „Wie ist das möglich?“ „Man kann es sich nur wie folgt erklären: Berger kam bei einem Busunfall ums Leben. Der Bus war voll besetzt und stürzte von einer Bergstraße den Abhang mehrere hundert Meter tief hinunter. Dort explodierte er und 79
brannte völlig aus. Man identifizierte die Leichenteile mühsam nach der Teilnehmerliste an der Sightseeingtour sowie anhand von Gebissen, Skelettgrößen und so weiter. Die Anzahl der Leichen stimmte jedoch nicht mit der der Fahrgäste laut Liste überein. Kein Wunder nach der Explosion und dem Brand. So geriet in Bergers Sarg eine Frauenleiche.“ „Und wo ist Berger, bitte?“ „In einem anderen Sarg. Die Särge wurden in die Heimatländer der Toten überführt. Nach ganz Europa.“ „Dann hat Tompson also nicht Bergers Leiche.“ „Und er fand auch nicht, was er suchte. Denn er suchte am falschen Ort.“ Urban dachte schon, das sei genug. Eigentlich reichte es ihm auch. Die Verhaftung, die Zelle und jetzt Segovias Eröffnung. Aber sein Gehirn funktionierte und war noch nicht zufrieden. „Angenommen, Berger ist gar nicht tot“, warf Urbans Gehirn aus. „Dann kam ihm die Geschichte von dem Busunfall ziemlich gelegen. Es scheint so, als sei er untergetaucht. Wir fahnden nach ihm.“ „Es heißt, er lebe in der Schweiz.“ „Es heißt auch, er lebte in Barcelona.“ „Und in der Schweiz“, beharrte Urban. Allmählich schien die Kälte des Raumes dem Spanier zu mißfallen. Sie verließen das Gefängnis und nahmen in Segovias Dienstwagen, einem gepanzerten älteren Mercedes, Platz. „Kauf mir was zu essen“, bat Urban. Der Spanier ließ die schalldichte Trennscheibe zum Fahrer hochgleiten. „Erst einmal muß ich dir den Magen verderben“, sagte Segovia. „Warum bist du hier? Und hinter was bist du her?“ 80
Urban hatte so unbegrenztes Vertrauen zu Coronel Segovia wie der Spanier zu ihm. Er berichtete, was er wußte. Was er sich nicht erklären konnte, war das spürbar wachsende Interesse des BIS-Chefs an der Sache. Auch seine Fragen kamen immer genauer. „Das Gold stammt also aus der Kriegszeit?“ „Dem Stempel nach zu urteilen.“ „Berger hatte damit zu tun?“ „Auf jeden Fall.“ „Was war Bergers Tätigkeit im Krieg?“ „Er war Chemiker.“ „Auch in Rußland?“ „So weit führen meine Erkenntnisse noch nicht zurück.“ Segovia fragte von der anderen Seite her. „Ist es Gelbgold, Rotgold, Rosegold oder Weißgold?“ „Ziemlich helle rosa Barren. Warum willst du das so genau wissen? Was hat Spanien damit zu tun?“ Nun schenkte Segovia ihm sein Vertrauen und erzählte eine kurze Geschichte. „Wir suchen noch immer unseren Staatsschatz.“ „Den haben doch die Russen.“ „Sie streiten es ab.“ „Wie können sie das?“ staunte Urban. „Ist es nicht bewiesen, daß die Kommunisten im Bürgerkrieg mit dem spanischen Goldschatz Stalins Waffenlieferungen bezahlten?“ „Das ist die Wahrheit“, stimmte Segovia ihm bei, „obwohl die offizielle Version heute anders lautet. Gewisse Historiker, die auf der sowjetischen Seite stehen, behaupten, das Gold sei 1937 vor Francos Truppen nach Moskau in Sicherheit gebracht worden. – Oder als Pfand für die Schulden, die man nach dem Krieg abtragen wollte.“ 81
„Es wurde auf Schiffe verladen und ging auf die Reise nach Moskau“, erinnerte Urban sich. Segovia nickte. „Aber es ist wie in der Geschichte mit den Ladendieb. Man erwischte ihn und warf ihm vor, eine Tüte mit einem Pfund Bonbons geklaut zu haben. In der Tüte waren aber nur vierhundert Gramm, weil er die anderen schon gelutscht hatte. Das stritt er jedoch ab. Aber mit vierhundert Gramm konnte es die gestohlene Tüte nicht sein. – Auf unser Gold übertragen, ergibt sich folgende Situation: Die damalige Regierung schickte soundso viele Tonnen Barrengold nach Moskau. Es kam aber weniger Gold dort an. Also, so behauptet man heute, könne es das spanische Gold nicht gewesen sein. Natürlich ein totaler Schwachsinn.“ „Schwachsinn ist in der Politik durchaus üblich“, äußerte Urban. „Ich würde sogar behaupten, daß es den Normalzustand darstellt. Ich kenne eure Schwierigkeiten mit Moskau wegen des Staatsgoldes. Die Frage ist also: Wo kam die Fehlmenge hin, wo versickerte sie, welcher Funktionär hat sie für sich abgezweigt.“ „Gut mitgedacht“, lobte der Spanier. „Deshalb nun meine Frage. Kann das von der SS unter der Mitwi rkung von Berger umgeschmolzene Gold aus Rußland und somit aus den ehemals spanischen Goldbeständen stammen?“ „Wenn ja, erfährst du es als erster“, versprach Urban. „Wo lag es versteckt, wer veruntreute es damals? Wenn wir das beweisen können, fällt die sowjetische Theorie, das Gold sei nicht unseres, in sich zusammen.“ Auch unter Freunden wusch eine Hand die andere. Urban war Segovia einen Diens t schuldig. - Das würde er nicht vergessen. Sie fuhren in ein Restaurant, das nur Einheimischen bekannt war. Einmal ging Segovia telefonieren. 82
Nach dem Dessert, einem Salat aus exotischen Früchten, wie Urban ihn noch nie zuvor gekostet hatte, brachte der Kellner die Rechnung. Er servierte sie auf einem silbernen Tablett. Urban wollte sie übernehmen. Segovia war schneller. Urban schielte auf die Rechnung und stutzte. „Die haben hier Preise“, bemerkte der Coronel seufzend. „Das ist nicht die Rechnung“, sagte Urban. „Aber ein Rechnungsformular.“ „Was kommt heraus, wenn man eine Stadt, eine Straße und eine Hausnummer zusammenzählt?“ „Als Endsumme die Adresse von Dr. Berger“, antwortete der Spanier ohne Wimpernzucken. Urban bekam den Zettel und steckte ihn in die Reverstasche seines Glenchecksakkos. „Prima Arbeit.“ Segovia hob sein Glas. „Prima Wein. Salud!“ Urban stand jetzt unter Zeitdruck, vermied aber jede Hast. Sie gingen noch in diese und jene Bar und abschließend in einen Flamencoclub. Urban rechnete aus, daß er mindestens zwölf Stunden brauchte, um in die Schweiz zu kommen. – Wie er Tompson, diesen Bastard einschätzte, war der wieder einmal vor ihm da. Deshalb telefonierte er, als er zwischendurch auf die Toilette ging. 9. Die Villa war in einer Zeit erbaut worden, als die Architekten noch nicht wahrhaben wollten, daß der Klassizismus in den Jugendstil überging. Sie hatten Elemente 83
beider Richtungen vermischt, mitunter nicht ganz glücklich. Aber was vor der Jahrhundertwende ein Greuel gewesen sein mochte, nannte man heute schön. Noch schöner war die Lage. Es war das beste Viertel von Lausanne, am Westhang, hoch über dem Genfer See mit Blick bis zu den Savoyer Alpen. Am schönsten war der Wertzuwachs des Parkgrundstückes. Vor vierzehn Jahren für neunzigtausend Franken erstanden, wäre heute das Zwanzigfache damit zu erzielen gewesen. Aber der Eigner dachte nicht daran zu verkaufen, obwohl er die Villa selten genug nutzte. Sie war so gut wie unbewohnt. In einer Seitenstraße parkte ein taubenblauer Volkswagen mit deutscher Nummer. Ein Mädchen, etwa zweiundzwanzig Jahre alt, schlank, dunkelhaarig, stieg in die Villa ein. Die Engländerin Mary Anne Connoly schloß die Vo rhänge und machte Licht. Seit dem frühen Nachmittag suchte sie die BergerVilla ab. Da sie Vandalismus haßte und so wenig Spuren wie möglich hinterlassen wollte, brachte sie jede Schublade, jedes Buch in den Regalen, jeden Sessel, jedes Kissen wieder in die vorherige Lage. Sie achtete ferner darauf, daß jede Vase, jede Lampe millimetergenau an den Platz zurückkam, den sie vorher eingenommen hatte, daß die Bilder und Spiegel nach der Abnahme wieder gerade hingen und die Teppichfransen wie gekämmt aussahen. Einen Safe fand sie nicht, weder in den Wänden hinter den Bildern noch in einem der schweren Schränke. Aber im Schreibtisch fand sie Geld. Es lag in der zwe iten Schublade rechts. Gebündelte Banknoten. Dollar und Schweizer Franken. In einer Banderole steckten hundert Hundertdollarnoten, in der anderen Franken, 84
hundert Fünfziger. Erst wollte sie aus jedem Paket einige Scheine nehmen, steckte dann aber beide Bündel in ihre Umhängetasche. Der Eigentümer bemerkte es ohnehin nicht mehr. Eine Schublade tiefer fand sie Briefe, Fotos und einen länglichen blauen Umschlag mit Bankauszügen. Der Kontostand von Dr. Berger bei der Credit Lausannais interessierte die Engländerin zunächst wenig. Das änderte sich beim zweiten Rundgang durch das Haus. Sie fand nämlich im Postkasten einen Brief der Bank. Er war vor vier Wochen abgeschickt worden. Vermutlich enthielt er den monatlichen Saldo. Anne Connoly legte ihn zurück in den Kasten an der Haustür und las nun doch das dicke Paket der Auszüge. Die Zahl in der Habenspalte rechts ließ ihr Herz ein wenig zucken. Vor allem bei dem Gedanken an ihr eigenes Konto. – Allein bei dieser Bank hatte Berger ein Guthaben von nahezu sieben Millionen Franken. Wie sie feststellte, kamen monatlich zehntausend Dollar, umgerechnet etwa fünfzehntausend Franken, hinzu. Plus Zinsen. Denn die von der Bank abgebuchten laufenden Nebenkosten waren geringer als die Zinsgutschriften. Die einlaufenden Zahlungen stammten von einer Bank in Kanada, der International Commercial & Production, abgekürzt IC&P, mit Hauptsitz in Montreal Mit einemmal erweckten auch die Fotos ihre Neugier. Wo immer sie aufgenommen worden waren, bei Gesellschaften, an exotischen Stränden, bei der Elefantenjagd oder vor dem Hintergrund einer Raffinerie, immer waren neben anderen Personen dieselben zwei Männer zu sehen. Den einen kannte sie. Sie hatte ihn in Freiburg im 85
Auftrag Tompsons beschattet. Wenn der eine Professor Schuster war, mußte der andere Berger sein. Zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit. Die beiden hatten vieles gemeinsam. Auch die Größe und das hagere, fast asketische Aussehen. Nur ihre Haare unterschieden sich wie eine Bürste von einem Staubwedel. Der mit der Bürste war wohl Berger. Die Engländerin suchte etwas Trinkbares. Sie fand den eichenen Berner Schrank mit dem Besten gut bestückt. Sie goß Cognac in ein Glas und steckte sich eine Zigarette an, wurde aber am Genuß gehindert. Erst ließ sie ein Geräusch nach links herumfahren, dann eine Stimme nach rechts. Sie wunderte sich, daß ihr dieser Mann so rasch nachgekommen war. Doch dann wunderte sie sich nicht mehr. „Keine Bewegung“, sagte Simon Tompson in einem ordinären American-English, „oder ich müßte dich totmachen, Connoly.“
Immerhin erlaubte er, daß sie sich setzte. Sie mußte auf dem Sofa gegenüber Platz nehmen. Nicht einen Augenblick nahm er den Lauf seines 38er Colt Automatic aus ihrer Richtung. Sie balancierte das Cognacglas in der einen, die Zigarette in der anderen Hand. „Ich bin kein Artist“, rief sie, „Wie kommst du hierher?“ „Mit dem Auto.“ „Hattest es verdammt eilig, he? Der Kotflügel hinten links ist eingedellt.“ „Ein Auffahrunfall.“ „Woher hast du diese Adresse, Connoly?“ „Von Schuster“, log sie. 86
Er schien wütend zu werden. „Und warum hast du sie mir nicht gegeben? Warum muß ich diesen dreckigen Umweg über Spanien machen?“ „Du warst nicht erreichbar, Simon.“ Er glaubte ihr kein Wort. „Und geldhungrig wie du bist, du lausige Hure, dachtest du, fahren wir schnell mal nach Lausanne, vielleicht findet sich etwas in der Hütte.“ „Darf ich das Glas wegstellen?“ „Nein.“ „Dann gib mir Feuer.“ „Ich kleb dir eine, wenn du nicht mit der Wahrheit…“ Er sprach nicht weiter. Ihm war, als habe er etwas gehört. „Der Kühlschrank“, sagte sie. „Ist er an?“ „Keine Ahnung.“ „Wahrscheinlich doch“, sagte der Detektiv. „Los, steh auf!“ Er tastete sie ab, grapschte ihr an den Busen und zwischen die Beine, fand aber keine Waffe. In den Taschen waren nur Zigaretten und Feuerzeug. Da fiel sein Blick auf ihre Umhängetasche. „Schau ruhig nach“, sagte sie in der Hoffnung, er würde es nicht tun. „Da ist der ganze Schmuck drin.“ Er nahm die Tasche und wog sie. Sie kam ihm etwas zu schwer vor. Also zog er den Reißverschluß auf und kippte den Inhalt zu Boden. „Nur etwas Kleingeld, he?“ Sie fühlte sich ertappt und zuckte mit den Schultern. „Was hast du noch alles gefunden?“ Kontoauszüge.“ „Und was ist damit?“ „Er war Millionär. Und jeden Monat kommt frisches 87
Geld dazu.“ Stets die Waffe auf Anne Connoly gerichtet, ging er zum Schreibtisch und überzeugte sich selbst. „Alle vier Wochen zehntausend Dollar von einer kanadischen Bank in Montreal. Interessant.“ „Finde ich auch.“ „Und wofür wohl?“ „Das mußt du mir erklären, Mister Oberschlau.“ Er stieß die Banknotenbündel mit dem Fuß in Richtung Kamin. „Wolltest rasch mal absahnen, Connoly.“ „Von einem Toten. Wen kümmert das schon.“ Er hob die Braunen, ein Zeichen, daß er sich wunderte. „Woher weißt du, daß er tot ist, Connoly?“ „Du selbst hast es gesagt.“ „Du lügst.“ Er holte aus und ohrfeigte sie, daß sie taumelte. Der Cognac im Glas ergoß sich über ihren Arm. „Ich habe das nie behauptet.“ „Dann weiß ich es von Schuster.“ Er nahm ihr die Zigarette aus den Fingern und rauchte sie selbst an. Dabei setzte er sich auf eine Sesselbacke. „Nein. Berger ist nicht tot.“ „Bist du sicher?“ „Möglicherweise möchte er für tot gelten, ist es aber nicht. Im Sarg in Ibiza liegt ein anderer. Genaugenommen eine andere. Was man nach dem Unfall eben zusammenkratzte, um auf die ungefähre Zahl der Busfahrgäste zu kommen.“ „Wo ist Berger dann…?“ „Seit Jahren schon untergetaucht,“ „Und warum?“ Simon Tompson lachte lauthals. „Er hat einen Grund, der für jeden ein Motiv abgäbe zu verschwinden. Er drehte irgend etwas mit Gold. 88
Vielleicht hat er ein Verfahren entwickelt, aus einem Barren zwei zu machen. Ich weiß es nicht Noch nicht. Da aber für die Weltwirtschaft nichts schlechter wäre, als die künstliche Vermehrung eines raren Naturproduktes, war man wohl hinter ihm her. Man schaltete ihn aus oder…“, der Detektiv blätterte die Bankauszüge durch wie ein Buch, „… oder man hat ihn gekauft.“ Er warf die Auszüge zurück in die Schublade und setzte Anne Connoly den Lauf des 38er gegen die Schläfe. „Jetzt machen wir zärtliche Musik, Baby. Wer hat dich herbestellt, und was hast du gefunden?“ Ihre Lider zuckten. „Es ist, wie ich sagte“, beharrte sie. Er bohrte ihr den Lauf unter den Pony. „Ich schwöre es“, bekräftigte sie ihre Aussage. ,Ja, daß du eine geldgeile Hure bist. Aber mit Tompson machst du das nicht. Raus mit der Wahrheit, oder ich mache dich luftdurchlässig.“ Sie blieb trotzig. „Und wenn ich sterben muß. Ich habe nichts zu sagen.“ „Sterben“, drohte Tompson, „wäre zu einfach. Es gibt Schlimmeres, Connoly.“ Wieder das kleine Knacken aus der Küche, als schalte der Kühlschrank sich ein oder aus. Aber plötzlich begann der Kühlschrank zu sprechen. „Stimmt, Tompson“, sagte er. „Es gibt Schlimmeres als zu sterben.“ Der Detektiv fuhr herum und feuerte. Unter anderem war er auch ein prämierter Pistolenschütze und traf knapp einen Fingerbreit daneben. Das aber nur, weil Robert Urban keine Zielpuppe war, son89
dern beweglich, und blitzschnell reagiert hatte. Tompson beschränkte sich auf den einen Schuß. Er fürchtete offenbar, die restlichen fünf Kugeln noch dringend zu brauchen. Er warf sich hin und rollte in Deckung, bis er flach hinter dem schweren Clubsessel lag. Der hochbeinige Sessel bot ein Schußfeld von etwa vierzig Grad Winkelbreite. Tompson glaubte, die Position des Gegners zu kennen. Aus der Stellung der Lichtquelle schloß er auf die Fallrichtung des Schattens und damit auf den Mann selbst. Er zielte drauf und zog durch. – Und der Schatten war weg. Getroffen! dachte Tompson. Er war so sehr von dieser Hoffnung erfüllt und von dem Wunsch, diesen Burschen – er ahnte, wer er war – auszuschalten, daß er etwas vergaß. Er hatte die Anwesenheit von Anne Connoly völlig aus der Kalkulation verloren. Er nahm sie erst wieder wahr, als es zu spät war und sie eine schwere Steingutvase auf seinem Hinterkopf zerschmetterte. Jeden durchschnittlichen Schädel hätte dieser Treffer stark beeinträchtigt. Aber es gab immer Punkte, wo ein Treffer stärker und weniger stark wirkte. Die Vase war in Stücke gegangen, hatte aber wohl schon einen Sprung gehabt. Nach einer Schrecksekunde gelang es Tompson, den Schock zu überwinden. Er wälzte sich herum und schoß. Diesmal aber weit daneben. Gerade als die Kugel den Lauf verließ, traf eine Schuhsohle seinen Arm und hämmerte ihn in den Teppich. Die Waffe entglitt seiner Hand. Tompson sah den Gegner über sich. Sie waren sich nie begegnet. Aber er kannte ihn von Fotos und von Dutzenden von Stories und Anekdoten, die man über diesen Mister Dynamit verbreitete. Er hatte ihn benei90
det, bewundert, fast verehrt. Das wich jetzt alles dem verzweifelten Wunsch, nicht besiegt zu werden. Was Tompson an Energie aufbrachte, konzentrierte er in die Beine und stieß sie dem Gegner in den Leib. Das blieb nicht ohne Wirkung. Urban schleuderte gegen den Schreibtisch. Die Lampe fiel zu Boden. Nach diesem wirksamen Angriff kam Tompson hoch, stürzte aber geradezu in Urbans Faust. Der Treffer am Brustbein ließ ihn zusammenklappen. Urban setzte mit der Handkante nach. Als Tompson sich wie elektrisiert aufrichtete, erwischte Urban ihn voll am Kinn. Tompson kreiselte herum und stürzte. Aber noch einmal hatte er Glück. Es fiel auf die Lampe. Sofort war es dunkel. „Licht!“ schrie Urban. Etwas polterte, dann ein Fluch. Tompson war wieder auf den Beinen und riß ein Messer vom Gummiband an der Wade. Mit dem Messer in der Hand orientierte er sich im Grau, das durch die Vorhänge drang, und flüchtete. Er war von hinten durch den Park hereingekommen. Dieser Weg würde wohl frei sein. Er hatte schon die Treppenstufe erreicht, die von der Halle durch den Rundbogen in den Küchentrakt führte, als das Licht anging. „Geben Sie auf, Tompson“, forderte Urban, Tompsons Waffe im Anschlag. Tompson wußte jetzt, wer dieser Mann war. Er kannte seine Art zu kämpfen. Daß Urban nie, fast nie, nein überhaupt nie mit einer Waffe auf Menschen schoß, war in Profikreisen oft belächelt worden. Man hatte es zu erklären versucht, hatte sowohl die Tiefenpsychologie wie die Vergangenheit der Deutschen bemüht, aber es war nun einmal so, daß dieser Urban, obwohl ein erstklassiger Schütze, von Schußwaffen nie Gebrauch 91
machte. Deshalb ging Tompson das Risiko ein. Er drehte sich herum und warf das Messer. Die ausgewogene Klinge sirrte wie ein verchromter Propeller durch die Wohnhalle und traf Urban im Oberarm. Anne Connoly eilte ihm zu Hilfe. Sie entriß ihm die Waffe und feuerte damit auf den Engländer. – Doch da war Tompson schon im Flur und tastete sich im düsteren Licht des trüben Tages zur hinteren Tür. Erst einmal im Park, war er in Sicherheit. Er schlug Haken wie ein flüchtender Hase, flankte hinten über die Mauer und rannte um sein Leben. Später erreichte er ohne weitere Probleme seinen Jaguar.
„Nur ein Kratzer“, sagte Urban. „Was ist ein Kratzer“, fragte Anne, „und was ist ein Streifschuß?“ „Ich würde sagen, wenn der Kratzer tiefer ist als eine Fingerbreite.“ „Dann ist das ein Streifschuß“, stellte sie fest. Sie desinfizierte, tamponierte und machte einen festen Verband. „Du kannst das“, staunte er. „Nach dem Abitur arbeitete ich in einem Hospital. Dachte, sie würden mir das Medizinstudium finanzieren. War leider ein Irrtum. Ich kam aus der Provinz und gehörte der falschen Partei an. Nämlich gar keiner.“ Sie rauchte eine Zigarette und trank einen Cognac. Urban brauchte einen Doppelten. „Du hast alles mitgehört?“ fragte sie. „So gut wie. Ich sah ihn kommen und eindringen.“ „Wäre fast zu spät gewesen.“ „Hättest du ihm gestanden, daß ich dich anrief und 92
dich bat, dir die Villa anzusehen?“ „Ich bin weniger tapfer als feige“, erklärte sie. „Ich gehöre zu jener Schicht des Volkes, die für Heldentum stets schlecht belohnt wurde. Ja, ich hätte es ihm wohl gesagt.“ Sie erwähnte die Fotos und Briefe von Schuster an Berger. „Sie waren Freunde“, erwähnte Urban. „Willst du sie alle durchlesen?“ „Kaum“, sagte er. „Bin verdammt geschafft. Tausend Kilometer an einem Stück.“ „Gehn wir schlafen?“ Das verblüffte ihn. „Wir?“ Sie nickte. Dann schien ihr etwas einzufallen. „Ob er wiederkommt?“ „Tompson?“ Urban nickte. „Er kommt wieder. Aber nicht hier und heute.“ „Ob man uns stört?“ „Berger?“ „Sein Gärtner, seine Putzfrau, irgendwer.“ „Na wenn schon.“ „Du hast die Ruhe weg, Urban.“ „Muß man. Aber du hast Angst, Connoly.“ Sie nickte. „Meine Nerven flattern ein bißchen. Innerlich. Waren doch ziemlich außergewöhnliche Ereignisse, oder? Ich bin Chemikerin, vielmehr möchte ich es werden, und keine Polizistin oder Agentin.“ Sie hatte rote Finger, rot von seinem Blut, und sie tat etwas, das ihn wunderte. Sie steckte jeden Finger in den Mund und schleckte ihn ab. „Du hast gutes Blut. Nicht zu süß und nicht zu salzig.“ 93
„Du verstehst etwas von Blut?“ „Die Farbe hat mich gereizt. Und was mich reizt, das muß ich versuchen, schlucken, haben.“ Er stand auf und deutete auf das Sofa. „Ich nehme das da.“ „Oben gibt es prima Betten.“ Er überlegte. „Dann findest du mich oben, falls etwas los ist. Aber hab keine Angst, Urbanski paßt schon auf.“ „Vielibus dankibus“, sagte sie. „Und das Geld dort?“ Urban schaute sich um und grinste. „Ich sehe kein Geld.“ „Noch mal vielibus dankibus.“ „Bittibus“, sagte er. Sie glaubte wohl, er verstehe kein Latein. Gegen Abend wallte vom See herauf Dunst, der zu Nebel wurde. Das graue Licht wurde dadurch noch trüber, aber nicht so, daß Urban nicht sah, wie sie hereinkam und wie wenig sie anhatte. – Sie hatte gar nichts an. Dadurch wirkte sie noch schmaler, kleiner und zarter. Der Kontrast des haselnußbraunen Haares zu der hellen Haut war ein wenig zu scharf. Aber wenn man sie gut fütterte und aufpäppelte, konnte ein Prachtweib daraus werden. Er stellte sich schlafend und wartete. Dann fühlte er, wie sie näher kam und wie ihre kleine Brust seinen Mund berührte. Er öffnete die Lippen, ließ den spitzen Hügel eindringen, spielte mit der Zunge daran und saugte ein wenig. Dabei umarmte er sie. Die Verspannung ihrer Rückenmuskeln verriet ihm, daß sie immer noch Angst hatte. „Bittibus“, flüsterte sie. 94
Er machte Platz und ließ sie unter die Decke. „Ich schlafe immer nackt“, sagte sie. „Ich nur zu Hause.“ Trotzdem hatte er nicht viel an, und sie war flink bei der Hand, ihn auch davon zu befreien. „Hast du geblinzelt?“ fragte sie. Er gab es zu. „Und ich bin nackt.“ „Schamlos bist du.“ „Findest du Engländerinnen schön?“ „Die schönen sind sehr schön“, erklärte er. „Ganz besonders schön sogar,“ „Die blonden?“ „Die dunklen auch. Nur gibt es weniger davon.“ „Mich“, sagte sie. „Hast du Kolonialblut in dir?“ „Schwarzes aus Wales.“ Dann erzählte sie. „Mein Großvater war Bergmann wie sein Vater. Bei uns behauptet man, der feine Kohlenstaub dringe in die Haut ein und nach einer Generation ins Blut. Bei der dritten Generation vererbt sich die Schwärze.“ „Nichts daran auszusetzen“, äußerte Urban. „Ich mag das.“ „Aber die begehrtesten Frauen sind wir nicht. Die Polin sagt man, sei die Schönste.“ „Was nützt es“, bedauerte er. „Man kommt so selten hin.“ Sie streichelte seine Brust, suchte nach dem Flaum und fand keinen. „Rasierst du ihn ab?“ „Die Natur hat davon abgesehen, mich zum Affen zu machen.“ Sie streichelte ihn weiter zu den Hüften hin, auf die Mitte zu. Dann stieß sie einen Schrei des Entzückens aus. 95
„He, du bist ja ein Schlimmer.“ „Deine Schuld, Connoly.“ „Findest du mich eigentlich reizvoll, Urban?“ „Mindestens wie eine Polin.“ „Und wer ist in Westeuropa die Schönste? Die Spanierin?“ „Die italienischen Mädchen, obwohl man bei ihnen damit rechnen muß, daß irgendwo eine schwarze Warze auftaucht. Und sei es am Popo.“ „Nicht so schlimm, oder?“ „Gar nicht.“ Sie machte immer neue Entdeckungen an ihm. und plapperte munter weiter. „Und wer ist außerhalb Europas die Schönste? Die Amerikanerin?“ „Sie trimmen sich nur auf schön. Aber wenn du sie genau anschaust, sehen sie alle aus wie Eisenhower.“ „Du bist unverschämt, Urban. Wer ist also die Allerschönste und die Beste? Die Frauen in der Südsee, in Bangkok, die Chinesin?“ „Die Beste fürs Bett?“ Sie wälzte sich auf ihn. Es war ein angenehmes Gefühl von Schwere, als ginge es mit der Achterbahn in die Kurve. „Angenommen, du müßtest dir in Asien eine Frau nehmen, schön, damenhaft, gebildet, ich meine im Sinne von Tradition und Kultur, elegant, ein wenig exotisch, aber mit der Gewißheit, daß sie sich in jeder Gesellschaft sicher bewegt, wen würdest du…?“ Er dachte nach. „Wahrscheinlich eine Inderin.“ Sie lachte laut. Ihre Angst schien verflogen zu sein. „Oder eine aus Wales.“ „Eine Inderin oder einen Bergmannsbalg aus Wales“, bestätigte er. 96
Das reizte sie dermaßen, daß sie es genau wissen wollte. „Ich bin keine Jungfrau mehr“, gestand sie. „Gleich wirst du es merken.“ „Jungfrau, das fehlte noch“, tat er entsetzt. Und dann wurde es ganz wild. Aber er hatte es schon immer gewußt. Diese englischen Mädchen aus Wales. Eine heiße Tscherkessin war nichts dagegen. Und sie mochten nicht nur Dollars, sondern auch gut bestückte Männer. Mit Liebe gingen sie vielleicht sparsam um, mit Gefühlen gar nicht. Die ließen sie heraus wie Louis Armstrong die Töne aus seiner Trompete. „Das war es“, flüsterte sie. „Das war es wirklich und endgültig.“
Als es dunkel wurde, trennten sie sich. Urban brachte Anne Connoly zu ihrem tauben-blauen VW. „Wie geht es bei dir weiter?“ wollte sie wissen, „In München.“ „Nachforschungen?“ „Wer hinter der IC&P-Bank steckt“, deutete er an. „Sieht man sich wieder?“ „Bestimmt.“ In Lausanne gingen jetzt die Lichter an. „Was mache ich, wenn Tompson auftaucht?“ „Lächeln“, riet er ihr. Sie sperrte den Käfer auf und warf ihre Tasche hinein. Er wartete, bis sie anließ und sah den verbeulten Kotflügel. „Das war beim letzten Mal noch nicht.“ „Ein Auffahrunfall“ „Zu stark gebremst, he?“ Ich bremse nie“, sagte sie, „gebe immer nur Gas. Die 97
müssen gepennt haben, diese Kanaken.“ Mit einemmal kam ihm der Verdacht, es könnte kein Zufall gewesen sein. „Wer waren die?“ „Verdammt, warum springt er nicht an“, fluchte sie. „Ausländer?“ „Ja, aus Polen, aber keine Mädchen.“ „Wie kommst du auf Polen?“ drängte er. „Sie sprachen Englisch mit slawischem Akzent. Können auch Russen gewesen sein. Sie gaben mir zweihundert Mark für den Schaden und luden mich zum Essen ein.“ „Und du nahmst an?“ „Klar. Zwei nette Kerle. Wir unterhielten uns einen ganzen Abend lang glänzend.“ Die Sache mißfiel ihm immer mehr. „Und du hast ihnen eine Menge erzählt, oder?“ „Am Ende war ich ziemlich betrunken.“ „Du hast ihnen von London erzählt, von deinem Studium, wie schwer es ist, mit dem Geld auszukommen, wie man Geldquellen auftut. Dies und jenes.“ „Klar“, gestand sie arglos. „Was man eben so redet.“ Urban glaubte sie warnen zu müssen. „Das war kein zufälliger Auffahrunfall“, fürchtete er. „Die Burschen wollten dich kennenlernen.“ „Unsinn, warum sollten sie das wollen?“ „Um dich auszuhorchen.“ „Du spinnst.“ Sie ließ noch einmal an. „Paß in Zukunft besser auf.“ „Du auch. Hüte dich vor Frauen wie Anne Connoly.“ Der Motor jaulte auf Touren. „Ich werde es beherzigen“, versprach er und blickte ihr nach. Der Motor rasselte. Die Ventile brauchten längst eine 98
Einstellung. Ihre Kennzeichenbeleuchtung flackerte, und das Rücklicht brannte nur links auf dem intakten Kotflügel. Mit zwanzig hat man’s leicht, dachte er, oder wenn man gestorben ist. 10. Simon Tompson hatte etwas von einem Mittelstürmer. Er liebte den Angriff und blieb immer am Ball, auch wenn er fürchten mußte, vor dem Tor hart gelegt zu werden. Doch bis zur Schußposition fehlten noch viele Schritte. Einer davon führte ihn nach Paris in die Rue Garotte Nr. 17 zu einem gewissen Fernand Amboise. Schon vom Hotel aus hatte er sich bei dem Journalisten angemeldet. Amboise hatte jahrelang als Reporter an allen Kriegsschauplätzen dieser Welt in vorderster Linie gestanden. Von dort lieferte er seine Berichte. Bis eine Mine ihm das linke Bein wegriß. Jetzt schrieb er Bücher. „Wissen Sie“, sagte er zu dem Besucher, auf der Te rrasse seiner Seineuferwohnung ätzend, „als mir die Vietnam-, die Libanon- und Afghanistanthemen ausgingen, befaßte ich mich mit dem Geheimdienst. Geheimdienste sind wie gewisse Pflanzen, die in Trockengebieten wachsen, wie die Wüsten-Tamariske zum Beispiel. Ihre Wurzeln reichen bis in fünfzehn Meter Tiefe hinab. Nun, die Tamariske braucht Wasser, die Geheimdienste Informationen. Gräbt man erst einmal nach diesen Geheimdienst-Wurzeln, gerät man automatisch in die Ve rgangenheit.“ „Und so entstand Ihr letztes Buch.“ „Richtig. Über die Geheimwaffen und Geheimoperationen im Zweiten Weltkrieg.“ 99
„Deshalb bin ich hier“, kam Tompson zur Sache. Der invalide Schriftsteller trug zu Hause weder die Prothese, noch benutzte er die Krücken. Er hüpfte einbeinig zurück in seine Dachwohnung und machte Drinks. „Cognac, Scotch, Wodka? Mit Wasser, mit Eis oder ohne?“ „Scotch pur“, bat Tompson. Wie ein Artist, die Gläser auf einem Tablett balancierend, hüpfte Amboise wieder heraus, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Er federte alles mit dem Ellbogengelenk ab. „Und Sie“, wollte er wissen, „was tun Sie den ganzen Tag?“ Er hatte nicht danach gefragt, als Tompson anrief und sein Anliegen äußerte. Offenbar gehörte er zu jenen Menschen, die gerne Gäste hatten. Aber jetzt, nachdem sie sich beschnuppert hatten, wollte er wissen, was Tompson so trieb. „Ich bin Privatdetektiv, Monsieur.“ „Gewiß von der teuren Sorte.“ „Von der guten.“ „Klar, die Klasse bestimmt den Preis. Und die haben Sie. Erkennt man an Ihren Outfit. Ja, mit dem Wesen und Unwesen der Privatdetektiverei werde ich mich auch einmal befassen. Schön, daß ich Sie kennenlerne, Tompson.“ Sie tranken. Der Scotch war besser, als man in Frankreich erwarten durfte. „Was kann ich für Sie tun?“ „Ich kenne Ihr Buch“, äußerte Tompson. Mit dem Mißtrauen des Autors fragte der Franzose: „Kennen Sie es, oder haben Sie es gelesen?“ „Jede Zeile.“ „Aber?“ 100
„Es gibt kein Aber“, gestand der elegante Engländer. „Ich war hingerissen. Vom ersten bis zum letzten Kapitel. – Nur…“ „Also doch eine Einschränkung. Kritisieren Sie ruhig, ich höre mir das gerne an. Ich mag Kritiken, wenn sie amüsant sind.“ „Keine Kritik, Monsieur“ erwiderte Tompson. „Ich bin nur gekommen, um Ihr Gedächtnis oder Ihr Archiv anzuzapfen. Ich nehme an, dort schlummern noch Dinge, die Sie nicht preisgaben. – Oder erst in einem zwe iten Buch.“ Der Autor schaute über die Seine zum Montpar-nasseViertel hinüber. An der Kuppel des Pantheon schien sich sein Blick festzusaugen. „Das ist zutreffend. In der Tat habe ich Sachen im Archiv, die ich aus zweierlei Gründen noch nicht veröffentlichen möchte: Einmal, weil sie noch zu dünn sind. Es gibt also zu wenig Fakten, Beweise, Einzelheiten. Und zum anderen sind es Fälle, die zu heiß sind, zu brisant, mit unabsehbaren Auswirkungen bis zum heutigen Tage. Sie könnten mich persönlich beeinträchtigen. Schließlich bin ich ein in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkter Krüppel, ohne Orden, Pension und Invalidenrente.“ Die Hoffnung Tompsons, hier weiterzukommen, wuchs. Er sagte geradeheraus, um was es ihm ging. „Ich recherchiere in einer Angelegenheit, bei der er möglicherweise um Goldfälschung ging.“ „Gold kann man nicht fälschen, nur Geld“, lautete die Entgegnung von Fernand Amboise. „Es sei denn, es würde dazu eine Methode erfunden.“ „Von einem genialen Chemiker, meinen Sie. Non, Monsieur, ich fürchte auf diesem Gebiet wurde schon alles versucht.“ Tompson erklärte, daß er durchaus die Meinung von 101
Amboise teile, andererseits gebe es Hinweise, denen man nachgehen müsse. „Hinweise, auf wen?“ „Den deutschen Chemiker Dr. Theo Berger.“ „Wann arbeitete er und wo?“ „Im Auftrage der SS, vermutlich in Hamburg.“ „Warum suchen Sie nicht an der Elbe weiter?“ wollte der Franzose wissen. „Weil alle Spuren bei den Bombenangriffen der Alliierten im Sommer dreiundvierzig verbrannten.“ Der Franzose nahm einen Schluck Cognac, steckte sich seine Pfeife an, blickte wieder über die Seine, die träge, aber auch schimmernd wie Bronze in Richtung Sonnenuntergang zog. „Davon höre ich zum ersten Mal.“ „Sie haben also nichts davon in Ihrer hintersten Archivecke?“ faßte der Engländer nach. „Doch. Und zwar von den Geldfälschungen der Nazis, von ihren Dollar- und Pfundnoten, die so gut waren, daß sie ihr weltweites Agentennetz damit bezahlten. Davon sind heute noch Banknoten im Umlauf. Ich weiß von den Goldhamsterungen der Nazis, daß sie jeden Quadratkilometer des besetzten Feindgebietes danach absuchten, und daß die ganze Bilanz nicht stimmt. Hochgerechnet gaben sie mehr Gold aus, als sie zusammenkratzten. Trotzdem soll es immer noch unentdeckte Goldbestände geben. Wo kommen sie her, wenn die Kassen leer waren?“ „Vielleicht gibt uns die Berger-Affaire die Antwort.“ Der Franzose wurde nachdenklich. „Muß da mal nachbohren. Aber das kann dauern. Monatelang, jahrelang. Vielleicht kommt auch niemals ein Ergebnis zustande.“ Als Tompson den Eindruck gewann, daß Amboise wirklich nicht mehr wußte, verabschiedete e r sich. 102
Der ExJournalist bat ihn noch um seine Adresse. Er wollte sich melden, wenn er etwas hörte. Mit Sicherheit würde er sich aber melden, um Tompson als Wirtschaftsdetektiv zu interviewen. „Wegen eines neuen Buches. Ich deutete es an.“ „Ich bin Ihnen einen Gefallen schuldig“, sagte Tompson. „Merci, daß Sie mich empfangen haben, Monsieur.“ Mist, dachte er, als er mit dem Lift nach unten fuhr. Eitler Schreiberling, nur sensationsgeil, diese Burschen. Alles Mist, nichts als Mist. Vom Hotel aus hörte er seinen Anrufbeantworter in London ab. Lord Rainbow, der Direktor der Metallbörse, hatte sich gemeldet. Seine schnarrende Stimme klang ein wenig ungehalten. „Wo, verdammt, stecken Sie, Tompson? Warum, ve rdammt, hört man nichts von Ihnen? Man hört nur, daß Sie in Spanien rauschende Feste feiern. Bitte umgehend melden. Wenn Sie schon nicht auf Grund stoßen, vielleicht habe ich etwas für Sie. Also dann bis demnächst.“ Das war die wichtigste Durchsage. Tompson schaute auf die Uhr. Es war die Stunde zwischen Tee und Dinnerzeit. Vielleicht bekam er den alten Knacker. Tompson versuchte es in Rainbows Büro, in seinem Stadtpalais, bei seiner alten Freundin, Lady Summerforth. Stets kamen nur Angestellte an den Apparat. Schließlich verlor Tompson die Geduld. Er versuchte es in Rainbows Club und erwischte ihn. „Ich erhielt Ihren Zwischenbericht“, sagte der Lord. „Berauschend ist das Ergebnis auch nicht.“ „Der Rausch kommt meistens langsam und unmerklich“, sagte Tompson. „Sie hatten etwas für mich, Sir.“ 103
„Ja, Sie kriegen Konkurrenz, mein Lieber.“ „Die hatte ich immer, Sir.“ „Diesmal Leute mit Bandagen. Russen und Südafrikaner.“ „Damit war zu rechnen“, tat der Detektiv es ab. „Russen wollen ihr Gold exportieren, ebenso die Leute am Kap der guten Hoffnung. Wenn es am Markt krieselt, und das ist der Fall, seitdem Sie den Handel für eine Woche einstellten, werden sie nervös und schicken ihre Agenten aus.“ „Seien Sie auf der Hut, Tompson.“ „Woher haben Sie diese Information, Sir?“ „Der Wind hat sie mir zugetragen“, scherzte der Lord. Tompson fand das arrogant, ebenso die Wortwahl des Adligen. Er gab es ihm zurück. „Auch mir hat der Wind etwas erzählt, alter Junge.“ Damit brachte er den Börsenpräsidenten hoch, erregte aber auch dessen Neugier. „In Ihrer Funktion als Grabräuber“, höhnte Rainbow. „Ich glaube“, setzte Tompson an, „man spielt uns hier eine Komödie vor. Nein, eine Komödie ist das nicht, eher eine billige Klamotte.“ „Schwank lautet die korrekte Bezeichnung dafür“, verbesserte Rainbow ihn. „Und der Schwank läuft darauf hinaus, daß Dr. Theo Berger, der in Ibiza begrabene, noch lebt. Und zwar lebt er als sein Freund Dr. Fritz Schuster we iter.“ Rainbow reagierte nicht. Er atmete nur hörbar. Tompson fuhr fort: „Wer nach dem Unfall ins Grab wanderte, war möglicherweise nicht Berger, sondern Schuster. Berger ergriff damit die Chance, ein für allemal zu verschwinden. Er hatte immer Feinde, wurde immer von Leuten angegangen, denen es um sein Erbe ging.“ „Welches Erbe?“ 104
„Das konnte mir auch ein Experte in Paris nicht beantworten. Aber es muß da etwas geben. Warum sonst würden sich alle Geheimdienste für diesen Goldfund in Lissabon interessieren.“ „Das… das wäre ja eine Spur.“ „Eine Spur, die dicker wird und nicht dünner.“ „Wohin führt sie?“ „Zurück nach Germany“, vermutete To mpson. „In Richtung Black Forest.“ „Schwarzwald?“ „Zum Umfeld jenes Mannes, der sich Schuster nennt, aber Berger sein könnte.“ „Dann nichts wie die Nase an den Boden und ran an das Wild“, verlangte der Börsenpräsident. „Vielleicht“, verkündete Tompson, „packen wir es in den nächsten Tagen, alter Junge.“ „Gute Jagd“, wünschte ihre Lordschaft. „Aber nicht vergessen, daß noch andere Weidmänner auf der Pirsch sind.“ Nachdem er aufgelegt hatte, machte Tompson Schluß für heute. Die sechshundert Kilometer bis Freiburg schaffte er mit seinem Jaguar mühelos zwischen Frühstück und Tea time. Das hatte Zeit bis morgen. Er ging ins Badezimmer, gurgelte den faden Geschmack aus dem Mund und strich sich mit der Hand über die Wangen. Es kratzte ein wenig. Glatt war beautiful, aber Frauen liebten angeblich mehr das Rauhe. Selbst bei gedämpftem Licht hatte er den Eindruck, daß er wie ein Aasgeier aussah. 11. „Das wird wieder eine SechsunddreißigtausendStunden-Woche“, stöhnte Urban. „Irgend jemand muß in diesem Land die Arbeit ja 105
tun“, bemerkte der Typ von der EDV-Abteilung. – Er war grau wie Klopapier, aber auch so wichtig. „Heb dir die Sprüche auf, bis du mir das Ergebnis bringst“, sagte Urban. Er saß herum und wartete ungeduldig. Erst in seinem Büro, in der Operationsabteilung, dann wieder in der Klimakammer der EDV. Es war zum Gelbsuchtkriegen. Beim Bundeskriminalamt, bei Interpol und hier im BND-Hauptquartier flüsterten die Computer permanent. Aber auch auf die Elektronik war nicht immer Verlaß. Urban fuhr noch eine Etage tiefer ins Basement, in die technisch wissenschaftliche Abteilung, der Professor Stralman vorstand. Der weißhaarige Gelehrte kaute an seiner kalten Pfeife und sann, im Sessel lehnend, irgendwelchen wunderschönen Formeln nach. Urban schilderte ihm mit dürren Worten sein Problem. Dies nicht, weil er von Stralman Hilfe erwartete, sondern um die Nervosität abzubauen. „Es fehlt irgend etwas“, sagte er. „Ich kann nicht sagen was. Es fehlt etwas wie der Buchstabe R im chinesischen Alphabet.“ „Alles steht niedergeschrieben“, meinte Stralman mit Lateinlehrergehabe. „Man muß nur wissen wo.“ „In Bibliotheken“, tat Urban es ab, „in Büchern toter Leute.“ „Wenn ich recht verstanden habe, geht es um die Struktur dieser IC&P. Tut mir leid, ich bin kein Bankfachmann.“ „Die Banker wissen auch nicht viel.“ „Und die Finanzexperten?“ „Immer nur Tralala, Wenn man einen Schluck Wasser haben will, ist der Eimer leer.“ „An wie vielen Fronten kämpfst du, Junge?“ 106
Urban hob zwei Hände. „Von irgendeiner Seite kommt bestimmt etwas. Hab Vertrauen.“ „Mißtrauen ist besser“, meinte Urban. „Kann man aus Dreck eigentlich Gold machen?“ Stralman nahm die Pfeife aus dem Mund und den Zwicker ab. „Aus Dreck nicht, aber aus gewissen Chemikalien, in denen Gold in irgendeiner Form gelöst ist. Leider käme das Verfahren teuerer, als wenn man danach gräbt.“ „Die Welt produziert im Jahr sechzig Millionen Feinunzen.“ Stralman bestätigte es. „Sie buddeln alles aus der Erde wie zu Zeiten der alten Ägypter.“ „In ungefähr dreihundert Gruben.“ „Vorwiegend in Südafrika, der Sowjetunion, in Kanada und den USA.“ „Sie versuchen, nicht mehr zu produzieren, als die Industrie abnimmt. Um den Preis zu halten. Lieber schließen sie ganze Bergwerke.“ „Sie nennen es dann Ausfall von Schürfmengen durch Erdbeben, Überschwemmungen, Unfälle oder Streik.“ „Schon zwei Prozent zuviel lassen die Preise in den Keller fallen.“ „Das kommt immer wieder vor.“ „Alle haben sie verdammt Angst, es könnte mehr bergab als bergauf gehen.“ Stralman nickte abermals. „Diese Gefahr besteht immer.“ ,Jetzt ganz besonders, wenn Nazigoldmengen auftauchen. Da genügen wenige Tonnen. Und was ist das schon? Es paßt in zwei Container. Gold wiegt schwer.“ „Das wäre das eine“, grenzte Stralman ab. Urban bekam große Ohren. 107
„Und das andere?“ Stralman versuchte, es zu erklären. Dabei klopfte er seine Pfeife aus. „Der Goldpreis reguliert sich durch Angebot und Nachfrage. Preisbasis sind nicht allein die Schürfkosten. Wenn der Preis darunterliegt, machen die Bergwerke einfach dicht. Die Bergwerke arbeiten nur dort rentabel, wo das Gold in einem bestimmten Prozentsatz im geförderten Gestein vorkommt. Sinkt der Prozentsatz ab, lohnt es sich nicht mehr. Gold gibt es fast überall. Sogar in der Luft und im Wasser. Nur eben in verschwindend geringen, mitunter nur mo lekularen Mengen. Käme nun einer daher und fände eine Methode, selbst kleinste Spuren Goldes billig, sehr billig, aus jeder nur denkbaren Materie herauszuholen, dann wäre das das goldene Ei des Kolumbus. – Allerdings würde der Mann nicht lange überleben. Die Goldsyndikate sind mächtiger als die Diamantensyndikate. Man würde so eine Entdekkung sofort stoppen. Ein für allemal.“ „Wie das ewige Streichholz“, ergänzte Urban. „Das ist zwar nur ein hübsches Märchen, aber es ist damit zu vergleichen.“ Urban stützte sich auf den Schreibtisch, um Stralman näher zu sein, und senkte seine Stimme. „Angenommen, Dr. Berger hat so etwas gefunden.“ „Dann hätte er es nicht überlebt.“ „Es war Krieg, und die deutsche Armee schützte ihn.“ „Und nach dem Krieg?“ „Tauchte er ab.“ „Und heute?“ Stralman hob eine seiner buschigen Brauen. „Ist er vermutlich tot.“ „Na bitte.“ „Oder er stellt sich nur tot.“ „Mit so einem Patent in der Tasche versucht jeder 108
groß rauszukommen.“ „Es sei denn…“, setzte Urban an. „Es sei denn was?“ „Er hätte es längst an die Syndikate verkauft.“ Stralman versuchte zu folgen. „Dann wäre er ein wirklich schlaues Kerlchen. Und schlaue Kerlchen sind Wissenschaftler selten. Ebensowenig wie Schriftsteller je brauchbare Politiker werden.“ An der Tür wurde geklopft. Der toilettenpapiergraue Typ aus der EDV kam herein. „Der Sieg ist unser“, rief er und winkte mit einem Computerausdruck. Urban überflog ihn. „Schau, schau“, bemerkte er. „Die Internationale Wirtschafts- und Produktenbank in Montreal, genannt IC&P, ist hiermit durchleuchtet. Sie gehört vier Großaktionären. Den USA, der Südafrikanischen Union und, man höre und staune,…“ „Den Russen“, ergänzte Stralman. „Dann ist sie die Hausbank der Goldhersteller.“ „Von der IC&P fließen monatlich zehntausend Dollar auf Dr. Bergers Schweizer Konto.“ „Seine Rente.“ „Abfindung. Lebenslänglich zahlbar für nicht genutzte Patente, schätze ich.“ Der EDV-Mann strahlte wie eine Weihnachtskerze. „Ist das was?“ „Na ja“, meinte Urban. „Den Nobelpreis bekommst du nicht dafür.“ „Hier ist auch keiner niemals mit nichts zufrieden, Leute.“ Maulend ging der Graukittel hinaus. „Nach wie vor fehlt das R im chinesischen Alphabet.“ „Es liegt an deiner Übervorsicht, Junge.“ Für Urban war das kein Vorwarf, eher ein Kompli109
ment für praktizierten Scharfsinn. Urban mußte einen von Stralmans fürchterlichen Schnäpsen schlucken, dann erst durfte er gehen. „Du bist mager geworden, Junge“, entließ der Professor ihn. „Nur ein wenig Untergewicht.“ „Das kostet gleich Autorität.“ „Ich werde tüchtig futtern“, versprach Urban. In Gedanken war er schon anderswo. Aber wie sich herausstellte, lieferten auch die alten Akten über Geheimprojekte der deutschen Wehrmacht und der SS keine Hinweise.
Damit seine Gedanken nicht rotierten wie ein Prope ller, dessen Flügel niemals fliegen konnten, weil sie an der Motorachse festgeschraubt waren, dachte Urban über Stralmans Goldtheorie nach. – Gold kommt überall vor, sogar in der Luft, im Wasser, in jeder Handvoll Dreck. Aber leider nur in mikroskopischen Mengen. Wenn es gelingt, sie billiger herauszufiltern, ist das das goldene Ei des Kolumbus. Die Frage lautete: Hatte Berger eine Methode gefunden? Ganz einfach, man brauchte nur Berger fragen. Aber was war mit Berger? War er tot, lebte er, war er abgetaucht? Wohin? Hatten die anderen ihn nicht längst gefunden? Die anderen, die kein Gold in der Erde liegen hatten. Sunnyboy, dachte Urban, schmink es dir ab, ehe du in ein Depri-Loch fällst. Schmink es dir ab, an Berger ranzukommen. Schmink dir das für immer und ewig und alle Zeiten ab. Sein Telefon ging. Es war der schwarze Hausapparat. Er hängte aus. „Hier Zentrale. Da will Sie einer sprechen.“ 110
„Wer?“ „Er verweigert die Nennung seines Namens. Es sei aber wichtig. Und nur für Sie persönlich.“ „Stell mal durch.“ Seitdem sie die neue Anlage installiert hatten, knackte es nicht mehr. Aber für gute Ohren klang der Grundton anders. Durch leises, fernes Rauschen dröhnte seine Stimme, die mit Lautstärke und Festigkeit über senile Zittrigkeit hinwegzutäuschen versuchte. „Hier Berger.“ Urban schluckte, daß die Kehle schmerzte. „Welcher Berger?“ „Dr. Theodor Berger. Stellen Sie sich nicht so unwi ssend, junger Mann.“ Urban war selten perplex. Diesmal schon. Aber er faßte sich leidlich. Vermutlich ein dummer Scherz. „Dann bin ich Michelangelo.“ Nun nannte der Anrufer einige Daten. „Goldbarren, Schließfach zwei-neun-acht, Banco de Lisboa. Naziadler neunzehnhundertdreiundvierzig. Ich habe in Freiburg studiert. Dissertation über die molekulare Veränderung goldhaltiger Substanzen durch thermometallurgische…“ „Danke“, unterbrach Urban, immer noch geschockt. „Was kann ich für sie tun?“ Der Anrufer antwortete ruhig und klar. „Ich fühle mich verfolgt.“ „Von wem?“ „Seit vierzig Jahren bin ich zum erstenmal wieder in Gefahr. Ich erkenne Leute, die mir nach dem Leben trachten, am Geruch.“ „Wo sind Sie, Doktor?“ „Ich habe bei Nacht und Nebel mein Haus verlassen. Ich brauche Ihre Hilfe. Urban.“ „Woher wissen Sie…“ 111
„Das erzähle ich Ihnen alles, wenn wir uns treffen. Allerdings wird es nicht viel zu erzählen geben. Sie werden alles wissen, sobald Sie mich sehen.“ „Wo sind Sie jetzt?“ Der Anrufer nannte eine Telefonzelle in der Schweiz. „Ich bin alt, krank und am Ende“, jammerte er, obwohl er sich die besten Ärzte und den Aufenthalt in einem Spitzensanatorium leisten konnte. „Mein Haus gleicht einer mittelalterlichen Burg, die belagert und angegriffen wird“, fuhr Berger fort. „Das bilden Sie sich nur ein, Doktor.“ „So ist es überall. Auch in Lausanne. Einbrecher suchten meine Villa heim. Ich entdeckte Spuren. Mir macht man nichts vor.“ Urban hörte auf, ihm die Angst auszureden. Er wollte diesen Mann haben. Möglichst unversehrt und möglichst schnell. „Wir tun alles, was für Ihre Sicherheit nötig ist, Doktor.“ „Und das wäre?“ „Ich komme und hole Sie da raus“, versprach Urban. „Nennen Sie mir einen Treffpunkt.“ Es dauerte wenige Sekunden. Berger flüsterte nur noch. „Vor der Telefonzelle bewegt sich etwas. Eine Limousine. Leute steigen aus.“ Dann erleichtert. „Nein, sie gehen in das Mövenpick-Restaurant.“ „Haben Sie einen Wagen?“ fragte Urban „Ja, meinen Rolls-Royce.“ „Auch nicht gerade eine schlichte Tarnung“, bemerkte Urban. „Können Sie mir ein Stück entgege nkommen?“ „Ich nehme die Autobahn von Basel nach Norden.“ „Treffpunkt Karlsruhe.“ „Zu weit. Ich bin müde, fertig, kaputt“, lautete der Einwand. 112
„Schaffen Sie es bis zum Autobahnrasthaus Munzigen?“ „Ich werde wohl müssen. Bis wann können Sie da sein?“ Urban rechnete. Bis Freiburg hatte er locker fünfhundert Kilometer. Aber sein 633-CSi-BMW, zwar schon ein Veteran, marschierte noch wie ein junger. „In vier Stunden.“ „Sagen wir fünf.“ „Ist mir lieber.“ „Also um zweiundzwanzig Uhr.“ „Ich bin da“, versprach Urban. „Wie erkenne ich Sie?“ „Ich warte im Restaurant“, sagte Berger. „Sie erkennen mich schon. Ich bin ganz sicher. Todsicher.“ Hoffentlich nicht, dachte Urban. Der alte Mann saß in der hintersten Ecke des Rasthauses vor einem Glas Tee. Sie erkennen mich schon, hatte er behauptet. Urban wußte jetzt, warum er so sicher gewesen war. Urban setzte sich zu ihm. „Hallo, Dr. Schuster“, grüßte er leise. Der Freiburger Einstein nahm die Brille ab, setzte sie aber rasch wieder auf. „Berger“, verbesserte er Urban. „Aber keinen Namen bitte. Die Wände haben Ohren.“ Ehe Urban den Katalog mit seinen vielen Fragen öffnete, wollte er wissen, was passiert sei. Berger faßte es in Landserdeutsch. „Man hat sich auf mich eingeschossen.“ „Wer?“ „Nun, mit einem hellblauen VW fing es an. Dann ka113
men noch andere finstere Gestalten hinzu. Sie trieben sich in der Nähe meines Hauses herum. Sie riefen an, angeblich, um mich besuchen zu wollen. Der eine sprach englisch, der zweite englisch mit Russenakzent und der letzte englisch wie Prinz Bernhard der Niederlande.“ „Sie meinen Afrikaans.“ „Ja, dieses Burenholländisch der Südafrikaner“, fuhr Dr. Berger fort. „Ich konnte sie abwimmeln, aber bald stand einer in meinem Garten. Was kümmern diese Killer sich um den Begriff Hausfriedensbruch. – So machte ich, daß ich wegkam. Hinten raus, den Berg hinauf durch den Wald. Meinen Wagen hatte ich vorsichtshalber schon am Vormittag im Wald geparkt.“ „Und warum riefen Sie nicht die Polizei?“ erkundigte Urban sich. Berger lächelte. „Weil Sie für mich die höhere Instanz sind, weil ich Sie kenne und weil ich Vertrauen zu Ihnen habe, Oberst Urban.“ Urban bestellte Kaffee und einen Kognak dazu. „Sie haben uns getäuscht, Dr. Berger. Aber wie konnten Sie Ihre nähere Umwelt täuschen?“ „Sie meinen, was mein Schlüpfen in Schusters Rolle betrifft“, verstand Berger ihn richtig. ,,Das war leicht. Wir hielten uns nach dem Krieg meist im Ausland auf. Als Schuster bei dem Busunfall ums Leben kam und bis zur Unkenntlichkeit verbrannte, nahm ich den Rollenwechsel vor.“ „Wurden Sie schon damals verfolgt?“ „Wenn erst einmal durchsickert, daß jemand ein Ve rfahren entdeckte, Gold aus Dreck zu extrahieren, dann ist sein Leben nicht mehr viel wert.“ „Tote haben’s da leichter“, bemerkte Urban nicht ohne Zynismus. 114
„Denn Tote sagen nichts weiter. – Andererseits rettete das von mir zweiundvierzig entwickelte Verfahren mein Leben.“ „Eins nach dem anderen“, bat Urban. „Sie sprachen von einem Verfahren. Um was handelt es sich dabei?“ Berger versuchte, es in anschauliche Bilder zu fassen. „Überall zum Beispiel ist Alkohol. Sogar im Gemüse, im Kinderzwieback, in der Muttermilch. Aber nur in geringen Mengen. Ebenso verhält es sich mit Gold. Auch die Luft, die wir atmen, enthält Gold. Diese Mikrospuren zu extrahieren, darin besteht das Problem. – Die bisher bekannten Verfahren sind um ein Vielfaches teuerer als das, was dabei herauskommt.“ „Also Goldgewinnung aus praktisch nichts“, kommentierte Urban. „Darauf läuft es hinaus. Der Traum der Menschheit ist Goldmachen. Der Trick am Berger-Verfahren ist die Vergasung der jeweiligen Materie. Extrahiert wird das Gold dann in einer von mir entwickelten TurboZentrifuge. Ähnlich wie die Isotopentrennung bei der Atombombenherstellung.“ „Und Sie konnten das Verfahren in der Praxis erproben?“ „Dem in einem verlassenen russischen Rüstungslabor heimlich hergestellten Goldbarren verdanke ich mein Leben. Eine Situation, die ich mit meiner heutigen Lage vergleichen möchte.“ „Erzählen Sie“, bat Urban. Berger geriet geradezu in Begeisterung, als er fortfuhr: „Daß mein Verfahren funktionierte, machte mich natürlich hochmütig und selbstsicher, machte mich zum King. Schon als Student und Antifaschist konnte ich meinen Schnabel nicht halten. Nun riß ich Witze über den Gröfaz, lästerte über alles und jeden. Neidische 115
Kollegen aus dem wissenschaftlichen Team des General Wolf schwärzten mich an. Ich wanderte in ein Straflager und mußte Minenfelder räumen. Dies unter Partisanenbeschuß bei fünfunddreißig Grad Kälte, verlaust, hungernd und frierend. Was mich rettete, war der Goldbarren. Wunderschönes, reines Rosegold. Den fanden die SS-Leute bei einer Barackenkontrolle in meinem Strohsack. Es folgten Gespräche und Verhöre. Mit Brutalität versuchten sie, mein Schweigen zu brechen. Als ich dachte, jetzt stellen sie dich an die Wand, saß da ein Mann aus Berlin. Er holte mich raus. Ich bekam ein Labor in Hamburg und forderte meinen Freund Dr. Schuster, der in einer ähnlichen Bredouille steckte wie ich, als Assistenten an. Wir reisten quer durch Europa, um geeignete Grundstoffe zu kaufen. Sie müssen wi ssen, auch bei Dreck gibt es Unterschiede. In einem ist mehr Gold, im anderen etwas weniger. Dann, im August dreiundvierzig, wurde unser Labor zerbombt. Aber da hatten wir unser Heu schon in der Scheune.“ „Sprich, in einem Safe in Lissabon.“ „Und anderswo“, gestand Berger. „Natürlich lagen wir nicht unter den Trümmern in Hamburg. Wir hörten Radio London ab und wußten rechtzeitig, daß sie mit viertausend Bombern kommen würden. – Aber wir ließen die Nazis in dem Glauben, wir wären tot. Dabei saßen wir längst in Spanien.“ Urban hätte interessiert, wie es dann weitergegangen war, aber Berger sagte: „Die Vergangenheit holt dich ein. Dieser verfluchte Bankeinbruch in Lissabon wirbelte alles wieder hoch. Jetzt ist die Hölle los. Fünfundvierzig Jahre lang wurde ich in Ruhe gelassen. Ich erkaufte meine Ruhe teuer. Mit der Holding der größten Goldproduzenten der Welt, einer Bank in Kanada, schloß ich ein Abkommen. Sie zahlten mir eine Millionenabfindung und garantierten 116
mir bis an mein Lebensende monatlich zehntausend Dollar. Ich verpflichtete mich dafür, mein Verfahren nie weiterzugeben oder auszuwerten.“ „Hoffentlich gibt es keine Unterlagen“, äußerte Urban. „O doch.“ Berger deutete auf seinen Kopf. „Hier drin.“ Manches hatte Urban schon gewußt. Vieles hingegen war neu. „Die Leute, die jetzt hinter Ihnen her sind, kommen offenbar von einer anderen Fakultät.“ Berger leerte seinen Tee und löffelte den nicht aufgelösten Zucker heraus. „Bin da nicht so sicher. Vielleicht hörte man in Kanada einiges und schickte Agenten los, die dafür sorgen sollen, daß ich mich an den Vertrag halte. Es gibt immerhin eine Menge Gerüchte. Sogar die MetalExchange in London hat für eine Woche den Goldhandel eingestellt.“ Urban steckte sich eine MC an. Wie er es tat, schien zu zeigen, daß er an Bergers Aussagen zweifelte. „Und niemand soll je erfahren haben, daß nicht Berger starb, sondern Schuster? Sie lebten nahtlos als Dr. Schuster weiter.“ „Wir besitzen eine gewisse Ähnlichkeit.“ „Die Gefahr der Entdeckung in Freiburg war doch groß. Hier wimmelt es von alten Freunden. Warum ließen Sie sich dort, wo Sie geboren wurden und studierten, nieder?“ Berger winkte ab, als sei das kein Problem gewesen. „Ich kehrte erst zurück, als ich sicher sein konnte, daß keiner von unseren alten Bekannten noch am Leben war. Ich recherchierte das sehr genau.“ „Und Ihre alte Haushälterin?“ „Auch sie war gestorben, als ich zurückkam.“ 117
„Sie bewohnen noch Schusters Elternhaus.“ „Schuster und ich haben uns gegenseitig als Erben eingesetzt. Aber Sie glauben mir nicht, Urban.“ „Es klingt alles zu fantastisch“, gestand Urban. „Ich bemühe mich aber darum, es als Tatsache hinzunehmen.“ „Und ich liefere Ihnen die Beweise.“ Berger stand auf. „Liegt alles draußen in meinem Wagen.“ „Das hat Zeit“, erklärte Urban. „Erst sollten wir die Taktik des weiteren Vorgehens entwickeln.“ „Nein, das hat keine Zeit“, reagierte Berger trotzig wie alle alten Männer. „Vertrauen ist die Basis. Was habe ich davon, wenn Sie mich für einen Hochstapler oder für was weiß was halten. Sie würden immerzu denken: Warum machen wir uns diese Mühe für einen Theatergag?“ „Ich glaube Ihnen, Doktor.“ „Ich besitze eine Sammlung von Fotos und Dokumenten.“ Urban wollte ihn zurückhalten, aber er riß sich los. Stur wie einer, den man durch Mißtrauen beleidigt hatte und der sich nun reinwaschen wollte. Urban sah ihn durch das Eckfenster des Rasthauses quer über den weiten Parkplatz hasten. Es nieselte. Berger hatte nicht einmal den Mantel mitgenommen. Er ging an den Tanksäulen vorbei auf ein Ungetüm von Limousine zu. Sie stand etwa dort, wo das Licht der Tiefstrahler allmählich ins Dunkel überging. Der Lack der langen Motorhaube des Rolls Royce glänzte. Die Wassertropfen warfen das Halogenlicht zurück wie Brillantenglitzern. Das Heck hingegen verschwamm im Schatten. Berger eilte auf den Rolls zu, sperrte auf, beugte sich 118
hinein und betätigte offenbar die Hydraulik. Hinten hob sich der mächtige Kofferraumdeckel. Berger hatte den Kragen seiner Wildlederjacke hochgeschlagen, machte sich im Kofferraum zu schaffen und haute den Deckel zu. Mit einer Mappe unter dem Arm, oder war es ein schwarzer Aktenkoffer, kam er wieder nach vorne, setzte sich in den Wagen und schaltete die Beleuchtung ein. Urban steckte sich eine Goldmundstück-MC an und wartete. Als er die Zigarette geraucht hatte, wurde ihm bewußt, daß fast zehn Minuten verstrichen waren. Berger saß noch immer bei geöffneter Tür in seinem riesigen Luxusautomobil. Urban rief der Kellnerin. Er wollte noch einen Espresso bestellen, überlegte es sich anders und bezahlte. „Alles?“ fragte sie. Er legte einen Zehner hin und ein Fünfmarkstück. Sie nahm es, bedankte sich, und Urban schlüpfte in den Burberrys. Ein nicht näher bestimmbares Gefühl trieb ihn an. Draußen rannte er los. Warum kam Berger nicht zurück? Warum saß er so lange in seinem Auto? Fummelte er erst an den Bewe isen herum? Warum hatte er die Tür offen gelassen bei dieser Kälte? Urban sah, daß Bergers linkes Bein ins Freie hing. Dann war er da. Die fünfzig Meter hatten ihn nicht außer Atem gebracht und seinen Herzschlag kaum erhöht. Aber jetzt, als er das sah, ging sein Puls schneller. Berger hatte den Aktenkoffer vor sich zwischen Oberkörper und Lenkrad. Der Koffer war offen und leer. Berger schien hineinzustarren. Das würde er eine Ewigkeit lang tun, ohne eine Antwort zu erhalten, wohin das Material gekommen war. Niemand würde es 119
ihm je erklären, denn er lebte nicht mehr. Ein Kopfschuß, genauer ein Schläfenschuß, rechts hinein, hatte ihn getötet. – Der Einschuß war sauber, rund, kleiner als ein Hosenknopf. Berger blutete kaum. Urban ging um den Rolls herum. Die Tür rechts war geschlossen, aber nicht versperrt. Von hier mußte der Killer gekommen sein. Man hatte keinen Schuß gehört. Erstens regnete es, zweitens fuhren ständig Autos herein und wieder weg. Und Profikiller arbeiteten mit Schalldämpfer. Urban versuchte die Lage zu analysieren. Sie waren Berger bis hierher gefolgt und hatten ihn zum Schweigen gebracht, indem sie den Sitz der Patente, sein Gehirn, zerstörten. Killer hockten nach der Tat nicht im Regen im Gebüsch und warteten, sondern machten, daß sie wegkamen. Wohin? – Mit größter Wahrscheinlichkeit in Bergers Villa Die suchten sie ab. – Aber eine große Villa auf den Kopf stellen, das kostete Zeit. Urban zog Berger vollends herein und auf den Beifahrersitz. Hier durfte man ihn nicht finden. Die Affäre mußte diskret abgewickelt werden. Bloß nichts an die große Glocke hängen. Das richtige Verhalten in solchen Situationen war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Urban lehnte Berger in die rechte Ecke, suchte den Zündschlüssel und fand ihn auf der Bodenmatte. Dann schloß er die Tür, ließ an und fuhr los. Keiner entgeht seinem Schicksal, dachte Urban. – Und wie sieht deines aus in den nächsten Stunden? Gut, daß er es nicht wußte.
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12. Simon Tompson öffnete die Dachkammer mit einem krummgebogenen, dünnen Schraubendreher. Der Schlüssel steckte innen und fiel zu Boden. Aber davon erwachte Anne Connoly nicht. Erst als er den weißen Kegel der Taschenlampe in ihre Augen richtete, fuhr sie erschrocken hoch. Er preßte die Hand auf ihre Lippen. „Einen Ton, du Miststück, und ich versohle dir das nackte Hinterteil.“ Da sie ohne Nachthemd zu schlafen pflegte, zog sie die Decke bis zum Hals. „Was willst du noch?“ „Wir spielen jetzt Pfadfinder.“ „Ich bin dir nichts schuldig.“ „Doch“, entgegnete er. „Sühne. Mit deiner Hilfe hätte er mich beinahe gekriegt. Weißt du, wen du da an deinen Busen läßt? Mister Dynamit, den schärfsten Hund der Branche. Tut wie ein Heiliger, ist scheißfreundlich wie Franziskus zu den Vögeln und räumt mit eiserner Faust alles ab. Dieser Bursche geht über Leichen.“ „Du etwa nicht?“ Er holte aus und ohrfeigte sie, daß ihr Kopf zur Seite flog. „Los, aufstehen, anziehen! Es geht los.“ Sie verließ das Bett, suchte den Slip, streifte ihn über, zog Pullover, Jeans, Socken und Schuhe an. „Fertig.“ „Nimm eine Jac ke mit. Ist kalt draußen.“ „Besorgt?“ fragte sie. „Besorgt wie ein Handwerker, der darauf achtet, daß sein Werkzeug in Ordnung ist.“ Leise, um in dem alten Haus niemand zu wecken, schlichen sie die Treppe hinunter. 121
Um die Ecke stand sein Jaguar. Sie rückte von ihm weg in die linke Ecke, denn wie alle englischen Wagen war der Jaguar rechts gesteuert. „Wohin?“ „Zu Schuster.“ „Jetzt, um Mitternacht?“ „Der Himmel“, sagte Tompson, „und die Hölle sind durchgehend geöffnet.“
Simon Tompson brauchte die Connoly, aber er hatte kein Vertrauen zu ihr. Sie mußte ihn durch Nacht und Regen zur SchusterVilla lotsen. Als sie angekommen waren, bestand er darauf, daß sie bei ihm blieb. „Ich traue dir zu, daß du diesen Dynamit antelefonierst“, zischte er. „Los, komm mit! Und zieh die Schuhe aus, wenn wir im Haus sind.“ Das Tor stellte kein Hindernis dar. Sie kletterten einfach darüber. Die Haustür war nur angelehnt. Zu hören war nichts. Tompson ließ seinen Lichtkegel wandern. Im Parterre sah es so aus, als wäre eine Horde Hunnen hindurch- und weitergezogen. Schübe lagen am Boden, der Inhalt der Schränke ebenso. Polster waren aufgeschlitzt und bis zu den Daunen durchwühlt worden. Die Messer hatten auch vor Gemälden und Tapeten nicht haltgemacht. Selbst hinter der Holzverschalung und unter den Teppichen, in der Schaumstoffisolierung des Kühlschranks und in den U-Rohren der Abflüsse war gesucht worden. Tompson löschte seine Lampe. „Die haben nichts ausgelassen.“ „Wer war das?“ flüsterte die Connoly. „Ich weiß es.“ 122
„Sie sind weg.“ „Oder sie hörten uns kommen, warten jetzt und ve rpassen uns eine Kugel.“ Sie gingen durch die Halle in die angrenzende Bibliothek. Die Regale waren ausgeräumt. Tausend Bücher lagen aufgeblättert am Boden. „Wie die Wilden“, sagte Tompson fassungslos. „Warum?“ „Weil sie Angst haben.“ „Wovor?“ „Schuster könnte Bergers Patente haben.“ „Auf diese wenig subtile Art findet man keinen Mikrofilm. Und heute bringt man doch alles Wichtige auf Mikrofilm.“ „Still“, zischte Tompson. Es war ihm, als habe er etwas gehört. Er ließ mehrere Minuten verstreichen, zog das Mädchen an sich und flüsterte ihr ins Ohr. „Okay, Mikrofilme. Und wo verwahrt man die?“ „Im Safe.“ Er schaltete die Lampe wieder ein, leuchtete die Wände ab und diesmal auch den Bauernschrank. Er enthielt tatsächlich einen Tresor. Sein Inhalt, Geld, ein paar Goldmünzen und Papiere, lag herum. „Entweder sie fanden, was sie suchten…“ „Dann sind sie fort.“ „Wenn sie noch in der Nähe sind, fanden sie nichts.“ Durch eine im Schwarzwälder Stil eingerichtete Trinkstube kamen sie wieder ins Treppenhaus. Die Stufen knarrten, als sie sich nach oben tasteten. Plötzlich stieß Tompsons Fuß gegen etwas Weiches, so als würde er auf einen Kartoffelsack treten. Für Sekunden ließ er die Lampe aufblitzen. Am Treppenabsatz lag ein menschlicher Körper, seltsam zusammengekrümmt. Graue Hose, schwarzer 123
Blazer. Tompson drehte den Mann um. Der Einschuß mitten ins Herz hatte auf dem Teppich einen roten Stempel von Blut hinterlassen. „Mein Gott“, hörte er die Connoly stöhnen. „Kennst du ihn?“ „Der Bursche, der meinen VW anfuhr. Versuchte wohl, an mich heranzukommen.“ „Gibt nur zwei Möglichkeiten. Russe oder Südafrikaner.“ „Russe“, sagte sie. „Bleib hinter mir.“ Sie erreichten das Obergeschoß, und dann war es Tompson, als vernehme er das Atmen eines Menschen. Er riß das Mädchen mit sich an die Wand und erstarrte zu Marmor. Mündungsblitz und der Knall kamen aus verschiedenen Richtungen. Tompson spürte am Zucken von Anne, daß sie getroffen worden war. Mit weit von sich gestrecktem Arm richtete er die Lampe dorthin, wo der Schütze stehen mußte, und seinen Reserve-Smith & Wesson hielt er parallel dazu. Mit dem Daumen der linken Hand betätigte er den Schieber an der Lampe. Mit dem Zeigefinger der Rechten zog er ab. Er schoß dreimal so schnell, wie die Mechanik der Waffe es zuließ. Als die dritte Kugel den Lauf verlassen hatte, wußte er, daß dort nichts war als ein Spiegel, und wenn es hoch kam, ein reflektierender Schatten. Neben dem Klirren des Glases vernahm er ein scharfes Sirren. Gleichzeitig spürte er den Faustschlag unterhalb seines Herzens. Es hatte ihn erwischt. 124
Er kannte das anfangs taube, später schmerzende Gefühl, wenn eine Kugel sich durch Haut, Gewebe und Knochen wühlte. Aber dieser Treffer hatte etwas Besonderes an sich. Die Kugel hatte ein lebenswichtiges Zentrum berührt. Wieder totale Stille und Dunkelheit. Tompson wartete. Ein Scharren. Nein, das Schleifen einer Sohle. Nein, das Knirschen von Sand. – Alles nur Wahnvorstellungen. Und dann diese Stimme in einem holländisch gefärbten Englisch: „Zu spät, Tompson!“ „Idiot“, sagte der Engländer. „Was seid ihr bloß für Idioten. Wir haben die gleichen Ziele.“ „Wer weiß.“ Dazu ein überhebliches Lachen. „Ich weiß es. Jetzt weiß ich alles.“ Tompson wurde mit einemmal übel. Er würgte es hinunter und antwortete: „Gibt nichts Neues zu wissen, Mann. Nur, daß Berger lebt. Aber er versteckt sich hinter Schuster.“ „In diesem Irrtum“, sagte der andere, „sollen du und alle anderen krepieren.“ Er schoß noch einmal. Tompson spürte, wie es ihn wieder traf. Aber diesmal haftete der kurze eisblaue Blitz aus der Waffe des Gegners auf seiner Netzhaut wie auf einer fotografischen Platte. Und in sein Ohr drang das hechelnde Gelächter. Er hatte noch drei Schuß in der Trommel. Die fetzte er wütend in die Richtung, wo der Südafrikaner stand, mit einer Streuung von soviel Grad, daß er sicher sein konnte, ihn getroffen zu haben. Ein Schrei. Stille. Tompson hörte das Lachen nicht mehr. Nur ein Röcheln drang an sein Ohr. Dann der dumpfe Fall eines sich die Treppe hinab überschlagenden Körpers. 125
Tompson preßte die Hand auf die Wunde unter dem Herzen und fühlte die warme, klebrige Feuchtigkeit seines eigenen Blutes. Er tastete sich weiter, fand den Schalter und machte Licht. Die Connoly lehnte noch an der Wand und sank zeitlupenhaft langsam in die Knie, „Reiß dich zusammen!“ Wie ein Mexikaner, unbeweglich im Schatten seines Sombreros, blieb sie am Boden hocken. Er machte die Lidprobe. Kaum noch Reaktion. Er taumelte und fing sich am Treppengeländer. Der Mann, der ihn so schwer verletzt hatte, daß er fürchtete, es nicht zu überleben, lag da und grinste mit gefletschten Zahnen. Tompson faßte ihm in den Sakko und fand einen Paß. – Südafrikanische Union. „Man hätte sich verständigen können, du Bastard.“ Der andere starrte ihn an und sagte noch etwas. „Du gehst auch bald hinüber, Tompson.“ ,,Den Gefallen erweise ich dir nicht, Mann.“ „Dann lebt nur noch einer. Mister Dynamit. Den holen wir uns ebenfalls noch.“ Er schloß die Augen, sein Kopf kippte zur Seite. Seine Hände entkrampften sich. Rechts ließ er die Waffe los, eine unförmige Armeepistole, und links ein Stück zusammengeknülltes Papier. Tompson versuchte, es zu lesen. Aber was darauf geschrieben war, verschwamm vor seinen Augen. Sie hatten sich mit Flüssigkeit gefüllt. Er versuchte sie trockenzuwischen, aber es gelang ihm nicht Wenn das, was er in der Hand hielt, die Lösung war, dann kam sie verdammt spät. Zum Teufel, nun war sie ihm so nahe, doch leider unlesbar. Er kam sich vor wie ein Analphabet. 126
Aber es lag wohl daran, daß es zu Ende ging. Die Buchstaben waren zu klein. Er konnte sie nicht mehr entziffern. Aber den großen Mann, der plötzlich in der Halle stand, erkannte er wohl. ,,Du hast gewonnen“, sagte Tompson. Urban schaute sich um, ging nach oben und kehrte zurück. „Fünf“, sagte Urban. „Kannst du nicht zählen? Es sind nur vier Tote.“ „Und Berger.“ „Berger“, murmelte Tompson mühsam. Trotzdem klang es wie eine zweifelnde Frage. „Berger.“ „Er lebte in Schusters Rolle.“ „Umgekehrt ist es richtig.“ „Er hatte angeblich Beweise.“ „Fälschungen“, erklärte Tompson. „Zwar lag etwas im Sarg, man hatte alle möglichen Leichenteile auf alle möglichen Särge verteilt, Hauptsache die Zahl der Särge stimmte mit der Zahl der toten Busfahrgäste überein, aber…“ Urban faßte sich in Geduld, denn Tompson hatte schon große Mühe zu sprechen. „Aber unsere südafrikanischen Freunde wußten es besser.“ Er gab Urban das Papier. „Was ist darauf?“ Urban hielt es ans Licht und sagte es ihm. „Zwei Namen. Zwei Fingerabdrücke.“ „Berger und Schuster.“ „Richtig. Dazu ihre Prints.“ „Die werden sie wohl überprüft haben. Als sie sicher waren, daß der Tote doch Berger sein mußte und Schuster sich nur als Berger ausgab, um die Rente zu kassieren und die anderen Vermögenswerte, gerieten sie in Unruhe. Wer so etwas macht, dachten sie, der wird auch eines Tages zum Erpresser.“ „Wenn Berger aber alles im Kopf hatte und mit in die 127
Gräber nahm“, wandte Urban ein. „Schuster war sein Vertrauter. Sie wollten es genau wissen und sichergehen.“ Urban schaute sich um. So wie es hier aussah, hatten sie Erfolg gehabt. Aber wer die Formeln hatte, gab sie gewiß nicht weiter. „Und“, fragte er, „was nun?“ „Wer weiß“ sagte Tompson. Urban beugte sich über ihn, untersuchte seine Verletzungen. Tompsons Züge verzerrten sich. Nicht zu einem Grinsen, sondern vor Schmerzen. „Du weißt es auch nicht, Tompson.“ „Wer weiß“, sagte Tompson noch einmal. Wenige Minuten später war auch er tot. Bevor Urban die Polizei anrief, telefonierte er mit seinem Hauptquartier in Pullach. 13. Der BND würde in Zusammenarbeit mit dem BKA und den zuständigen Polizeistellen versuchen, das Massaker in der Schwarzwaldvilla zu vertuschen. Das wurde rasch entschieden. Urban brauchte sich um nichts mehr zu kümmern. Nur um seine eigene Sicherheit. Jetzt mußte er den eigenen Kopf retten. Denn soviel stand fest: Sie beseitigten alle Zeugen und würden nicht ruhen, bis auch der letzte zum Schweigen gebracht worden war. Immer nannten sie ihn den Trickreichen. Aber jetzt, als es um ihn selbst ging, fiel ihm nichts ein. Er war eine hohe Karte in diesem Spiel, das As sogar. Aber wie brachte man ein As aus dem Spiel, ohne damit zu stechen? Während er noch immer den Zettel mit den Namen 128
und den Fingerabdrücken in der Hand hielt, beschloß er, den wichtigsten Schritt zu tun. Er suchte ein Stück Kohlepapier, nahm es mit hinaus und holte sich alle zehn Fingerabdrücke des Toten im Rolls Royce. War es nun Berger oder war es Schuster? Ein mühsames Unterfangen ohne richtiges Werkzeug. Aber er kam mit brauchbaren Prints zurück. – Leider nicht mit dem Beweismaterial aus Bergers Aktenkoffer. Er fand es weder im Chevrolet des Südafrikaners, noch im Citroen des Russen. Im Haus verglich er die Fingerabdrücke. Als Visitenkarte eines Menschen waren sie immer verläßlich. Die Wahrheit traf ihn nicht unerwartet. Tompson hatte Andeutungen gemacht. Berger war schon lange tot. Schuster hatte seine Rolle übernommen und abkassiert. Diese Papillaren des Toten im Rolls stimmten mit denen unter Schusters Namen überein. Wußte der Teufel, wie sie sich die Fingerabdrücke beschafft hatten. Aber Geheimdienste wie der Südafrikas verfügten natürlich über genug Möglichkeiten. Damit war auch die Idee geboren, wie er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. – Durch einen Bluff. Bei dem toten SAU-Agenten fand Urban ein Notizbuch mit einer Reihe von Namen, Telefonnummern und Sonstigem. Unter anderem befand sich dabei ein recht guter Steckbrief Schusters, seine Adresse und wie man von Freiburg aus hinkam. Dazu ein Vermerk: Auf Haushälterin achten. Kommt morge ns um 9.00 Uhr, geht meist nach 18.00 Uhr. Hat Mittwoch frei. Heute war Mittwoch. Die Burschen hatten professionell gearbeitet. Ein Profi kam gegen Amateure meist recht mühelos an. Aber ein Profi war meist der anderen Profis Untergang, 129
Urban fand noch zwei vierteilige Nummern mit der Landesvorwahl für Südafrika und der Stadtvorwahl Johannesburg. Die dritte Nummer war verschlüsselt, allerdings sehr primitiv. Mit dem arabischen Code, wie man es nannte. Die Nummer war einfach von rechts nach links hingeschrieben worden. Sie begann ebenfalls mit 00 27 11. Urban nahm an, daß es sich bei den unverschlüsselten Nummern um den Privatanschluß des Toten handelte. Ein Blick auf die Uhr. Johannesburg lag auf dem Längengrad von Leningrad, Ankara und Kairo. Zeitve rschiebung eine Stunde. Wenn es in Freiburg sieben Uhr war, hatte in Johannesburg die Arbeit schon begonnen. Urban gab noch eine Stunde dazu, während der er sich in Pullach über die aktuellen Namen und Dienstränge führender südafrikanischer Geheimdienstleute informierte. Dann begann er zu wählen. Nach mehreren Versuchen kam er durch. Eine Firma meldete sich. Die übliche Tarnmaßnahme. „Bitte Captain van Haagen.“ „Für wen, bitte?“ „Tompson. Simon Tompson.“ „Warten Sie“, hieß es. Und nach einer halben Minute: „Bitte warten Sie weiter.“ „Ich rufe ja nur aus London an“, sagte er, „und habe jede Menge Zeit. Aber sagen Sie van Haagen, es sei wichtiger als alles, was er in den letzten zehn Jahren zu hören bekam.“ Offenbar entstand fünfzehntausend Kilometer weiter südlich eine gewisse Hektik. „Bedaure, Captain van Haagen ist nicht erreichbar. „ „Dann geben Sie mir Brigadier Piet Gelderen. Er ist doch sein Stellvertreter, oder?“ 130
Das waren die zwei Namen, die Urban hatte. Mit einem davon mußte es doch funktionieren. Reine Nervensache. Und dann war Captain van Haagen doch zur Stelle. „Mister Tompson“, sagte er. „Was können wir für Sie tun?“ „Für mich wenig“, antwortete Tompson alias Urban, „aber für Ihren toten Agenten Colonel Dongen sehr viel. Er war in Freiburg auf Dr. Berger angesetzt. Jetzt ist er alle.“ „Wir haben keinen Fall Berger und keinen Mann in Europa.“ „Dann“, erwiderte Urban, „ist dieser Colonel Carell Dongen wohl der Installateur, der zufällig dazwischenkam, als ein sowjetischer Agent Dr. Berger alias Schuster erschoß, woraufhin er den Russen erschoß, als dieser wiederum ihn erschoß. Es gibt hier noch mehr Tote. Zum Glück konnte ich diesem Massenmord entgehen.“ Der Südafrikaner schien von der Nichtwisserspur einzulenken. „Und wer sind Sie, Mister Tompson?“ „Der bekannte britische Wirtschaftsdetektiv, auf den Ihr Agent unter anderen angesetzt war. Carell Dongen war auch auf den deutschen BND-Agenten Mister Dynamit angesetzt. Aber von dem drohte keine Gefahr, also ließ er von ihm ab.“ Der Südafrikaner wirkte mißtrauisch. „Hört sich recht kühn an, was Sie da erzählen. Aber wie wollen Sie je beweisen, was Sie von sich geben?“ „Beweisen, beweisen“, entgegnete Urban, der sich als Tompson ausgab. „Die Villa im Schwarzwald liegt voller Leichen. Vielleicht machen Sie sich die Mühe und verfolgen in den nächsten Tagen die Berichte europäischer Zeitungen, Captain.“ „Wir wissen von alledem nichts“, behauptete van 131
Haagen. „Das wird keiner glauben“, bemerkte Urban unerschütterlich. „Egal, ob man Dongen als Ihren Agenten identifiziert oder nicht, ich weiß, daß er einer ist. Ich besitze seinen Paß, sein Notizbuch und einige andere Unterlagen. Wenn ich damit an die Öffentlichkeit gehe, sehe ich düster für das ohnehin schmutzige Image Ihres Staates, Mjnheer.“ Der Südafrikaner war jetzt warmgefahren. Urban merkte es an seiner Neugier. „Was haben Sie sonst noch, Tompson?“ „Alles.“ „Was bedeutet alles?“ „Alles worauf Sie brennen, Captain. Und ich bin als einziger Überlebender auch der einzige, der es hat.“ „Das Bergersche Extraktionsverfahren etwa?“ „Auch das.“ „Das glauben wir nicht, Berger legte nichts Schriftliches nieder.“ Urban versuchte nach Tompsons Art zu lachen, so als ob Hühner gackerten. „Ich kann ja lesen, Captain. Ich verstehe nicht alles, aber Doktor Bergers Erfindung läuft darauf hinaus, die Rohprodukte zu vergasen und in einer Turbozentrifuge die leichten von den schweren Bestandteilen zu trennen. Die Goldbestandteile fliegen weiter, weil sie schwerer sind, und sammeln sich an den Zentrifugenwänden, während die leichten Teile ins Freie entweichen. Der Witz ist die Vergasung. Leider bin ich kein Chemiker. Das alles ist mir zu hoch.“ „Was“, fragte der Südafrikaner, „wollen Sie dafür?“ „Ich will nicht unverschämt sein, Mijnheer. Nur eine Million Dollar.“ Der Mann in Südafrika war nicht mehr zu hören. „Jetzt ist er weg“, murmelte Urban für sich. 132
„Nein, legen Sie nicht auf, Tompson. Ich bin noch da.“ Es kam zu Störungen. Einmal war van Haagen so weit weg, als würde er in den Weltraum hinausgeschleudert, dann kam er wieder zurück. Nur ein ganz normaler Schwund auf dem Weg zum Satelliten und zurück. „Das ist eine Stange Geld“, sagte der Captain. „Das Sie sich von Ihren Partnern, den Kanadiern, den Russen und den USA zurückholen. Vielleicht sogar ein Vielfaches davon.“ Der Captain zögerte noch immer. „Sie sind wirklich der einzige, der das Material besitzt?“ „Garantiert, Captain.“ „Und dieser BND-Agent Mister Dynamit?“ „Verdammt, das erwähnte ich doch schon“, brauste der falsche Tompson auf. „Der BND ist schon seit Wochen ausgestiegen. Außerdem, ist Urban ein kranker Mann. Krank und fertig. Er gab auf.“ „Sind Sie sicher?“ „Absolut. Von ihm droht keine Gefahr. Die haben die Sache nie ernst verfolgt.“ Nun entschloß der Südafrikaner sich. „Okay.“ „Was okay?“ „Wir sind dabei.“ „In bar“, forderte Urban. „Wo?“ „Neutraler Ort“, schlug Urban vor. „Schweiz.“ „Zürich?’ „Einverstanden. Hauptsache, Sie bringen die Summe rasch auf die Beine.“ „Also bleibt es bei Zürich.“ „Nicht in der Stadtmitte.“ „Wo dann? Ich habe keine Karte hier.“ 133
Urban wollte sich wieder melden. Er tat dies dreißig Minuten später. „An der Straße von Zürich nach Bremgarten. Hinter der Ortschaft Rudolfstetten kommt ein mehrere Kilometer langes Stück, das durch Wald und Wiesen führt. Ein kleiner Fluß quert die Straße. Von der Brücke ab nach Südwesten warte ich an einer günstigen Stelle.“ „Was für ein Fahrzeug?“ „Jaguar, britisch. Grün. Kennzeichen T-OM-eins.“ Blinksignal?“ „Nein. Ich parke ohne Licht. Dann bis zweiundzwanzig Uhr heute nacht.“ „In dieser Zeit schaffen wir das nicht.“ „Sie schaffen es“, beharrte Urban, gab aber noch drei Stunden zu. „Dann morgen, null zwei Uhr.“ „Das wird verdammt eng“, fluchte der Südafrikaner. „Ihr Problem, Captain.“ Urban legte auf. Er war sicher, daß die Südafrikaner kommen würden. Ob es allerdings der Geldbote war, den sie schickten, stand in Frage. – Aber er war ja auch nicht Tompson. So dringend hatte er die Übergabe nur gemacht, weil Leichen sich nicht ewig frisch hielten. Es ging Urban nur um eines. Nämlich die Südafrikaner von Mister Dynamit abzulenken. Er hoffte, daß ihm das gelungen sei. Er packte den toten Tompson in den Kofferraum seines grünen Jaguars, warf eine Decke darüber und dann zwei Reisetaschen darauf, die er in der Villa und in den anderen Fahrzeugen fand. So brachte er den Toten über die Grenze. Zweifellos hätte es einige Probleme gegeben, wenn die Schweizer Zollbeamten den Toten gefunden hätten. 134
Aber sie wären nichts gewesen im Vergleich zu der Jagd der Südafrikaner auf ihn, wenn Tompson ihn nicht als invalide Null bezeichnet hätte. Urban fehlte die berufsmäßige Distanz eines Beerdigungsunternehmers zu der Ware Leiche. Aber er ve rsuchte, nicht daran zu denken, was er drei Meter entfernt mitführte. Hinter Basel nahm er ein ausgiebiges Frühstück, in Baden tankte er, und in Zürich mietete er ein Hotelzimmer. Nicht im Storchen oder im Baur au Lac, wo man ihn kannte, sondern in einem Altstadthotel. Den Wagen hatte er im Parkhaus abgestellt. Er legte sich hin. In der Hoffnung, er habe alles bedacht, nichts übersehen und es würde funktionieren, entspannte er. Am Abend brauchte er Bewegung. Er schlenderte durch die Stadt, allerdings mit Sonnenbrille, den Mantelkragen hochgestellt und mit Hut. In einem Bistro nahm er Quiche lorraine und ein Glas Wein. Dann ging er, was er schon lange nicht mehr getan hatte, ins Kino. Sie gaben Casablanca in einer Spätvorstellung. Eine ungeheuer gute Liebesschnulze. Trotzdem schlief er beinahe ein. Um Mitternacht war der Film zu Ende. Es regnete. In einer Bar kippte er zwei Bourbon. Er holte den Jaguar aus dem Parkhaus, rollte die Limmat entlang zum See und näherte sich langsam dem Treffpunkt. Urban kannte die Straße nach Bremgarten nicht, er hatte sie nur von der Hunderttausender-Karte abgelesen. Gute Karten waren meist zuverlässig. Hinter Rudolfstetten auf Bremgarten zu kamen Wiesen und Wälder, Kurven, Steigungen und Gefalle. Bei Tag gewiß eine liebliche Landschaft. 135
Er fuhr langsam. Die Holzbrücke tauchte auf, dahinter kam eine Kurve und oben im Wald eine Abzweigung. Er fuhr weiter, fand jedoch nichts Besonderes. Also wendete er und wählte eine Stelle aus, die ihm geeignet schien. Es herrschte kaum noch Verkehr. Er parkte den grünen Jaguar so, daß er mit dem Heck zur Straße zeigte. Man konnte die Nummer gut lesen. Dann löschte er die Lampen, stieg aus, holte die Leiche aus dem Kofferraum und setzte sie, wie es sich bei einem in England zugelassenen Jaguar gehörte, auf der rechten Seite hinter das Lenkrad. Es kostete einige Mühe, denn die Leichenstarre war voll eingetreten. Als er Tompson soweit hatte, saß er bolzengerade da. 1.45 Uhr. Mach’s gut, du Bastard, dachte Urban, fahr zur Hölle. Abseits der Straße, im Wald, gedeckt von einer Böschung, nahm Urban Deckung. Wenn er außerordentliches Pech hatte, dann würden die Südafrikaner mit einer Million Dollar antanzen und das Geschäft mit Tompson abzuwickeln versuchen. Doch die Chance, daß sie fair handelten, stand weniger hundert zu eins als vielmehr tausend zu eins. Urban kannte die Handlungszwänge bei Geheimdiensten. In diesem speziellen Ge schäft ging es darum, etwas aus der Welt zu schaffen. Nicht es in die Hand zubekommen, sondern für immer zu vernichten. Er verkniff sich eine Zigarette und zählte die Autos. Alle fünf Minuten etwa kam eines. Die Schweizer waren eben doch seriöse Leute. Um diese Stunde langen sie zu Haus im Bett und trieben sich nicht auf den Straßen herum. 136
Ein Milchtanker brummte von Bremgarten her. Es war schon 2.05 Uhr. Eine Limousine wischte vorbei, der nächste war ein Kombi. Dann ein Lieferwagen. Wohl ein Bäcker, der seine frischen Croissants ausfuhr. Aber er ließ sich Zeit. War ja erst 2.15 Uhr. Doch dann kam der Lieferwagen zurück. Sehr langsam und wendete weiter oben erneut. Als er zum dritten Mal die Stelle passierte, wußte Urban das es nur das Südafrikanische Ko mmando sein konnte. Der Lieferwagen hielt an. Mit laufendem Motor. Im Fahrerhaus wurde eine Lampe eingeschaltet. Der Kegel erfaßte das Heck des Jaguar und tastete es ab. Urban vernahm Stimmen. „Okay… that’s all right.“ Die Männer schienen zufrieden zu sein. Doch plötzlich fuhren sie weiter. Minuten später kamen sie wieder. Urban wußte warum. Sie wollten nach getaner Arbeit so rasch wie möglich nach Zürich. Zürich war eine Großstadt. Dort tauchte man leichter unter als auf dem Land, das im Süden von hohen Bergen umgeben war. Der Wagen bremste. Nun ging alles schnell. Die Tür schwang auf, einer sprang heraus mit etwas Langem unter dem Arm. Es sah aus wie ein Ofenrohr. Er nahm es auf die Schulter und tauchte in den Straßengraben. Der Motor des Lieferwagens heulte auf. Sekunden später zischte etwas wie ein defekter Preßluftschlauch. Wo der Mann mit dem Ofenrohr im Graben lag, wurde es hell, orangerote Stichflammen vermischten sich mit Dampf. Alles im selben Augenblick. Vorne aus dem Rohr fuhr etwas heraus, raste an Urban vorbei auf den Jaguar zu. Mit rasanter Geschwindigkeit bohrte sich die Rakete, das Bazookageschoß, die panzerbrechende 137
Granate, in das edle Automobil. Schmetterndes Krachen, Blech zerbeulte kreischend. Unter Urban bebte die Erde. Er preßte sich gegen den Waldboden, das Gesicht im Farnkraut. Mindestens drei Kilo TNT im Sprengkopf, dazu achtzig Liter Superbenzin hatten die Detonation ausgelöst. Für Tompson war es egal. Tot ist tot. Der Jaguar platzte auseinander, Trümmer wirbelten brennend hoch. Die Flammen loderten knatternd im Wind. Droben auf der Straße heulte der Motor. Urban blickte wie fasziniert in das Feuerwerk. Als er sich abwandte, war der Lieferwagen längst weggefahren. Er stand auf, klopfte sich Moos, Nadeln und Erde vom Mantel und marschierte in Richtung Zürich. Er hielt sich seitlich der Straße und schaute sich immer wieder um, wie Lots Weib nach dem brennenden Gomorra. Er sah es nur noch glühen, aber den Gestank hatte er noch lange in der Nase. In Rudolfstetten nahm er den ersten Bus. Urban hoffte, die Gefahr für seine Person abgewendet zu haben. Aber sicher war er nicht. Solange er lebte, bestand die Möglichkeit, daß sie ihn für den Mann hielten, der Bergers Geheimnis kannte. – Nichts zu ändern, dachte er, nur Tote haben es leicht Er fuhr nach München zurück. Es gab keine großartigen Gratulationen. Über Fälle wie diesen schwieg man besser. Schlußbericht, Akte zu, abgelegt, Archiv. Gegen Abend, als Urban administrativ und auch privat den Fall abgeschlossen hatte, bat der Vizepräsident ihn in sein Chefbüro. 138
Wie stets bei besonderen Anlässen stand eine Flasche spanischer Cognac bereit. Der Vize musterte seinen Agenten. „Sie sind unzufrieden, Urban.“ „Na ja“, scherzte Urban gequält. „Besser arm dran als Arm ab. Alles bescheuert, völlig hirnlos.“ „Mehr war nicht herauszuholen. Schwamm drüber.“ „Schwammibus drüberbus“, sagte Urban ein wenig bitter. „Ist das lateinisch?“ „Eine besondere Art von britischem Lateindialekt.“ „Und wo haben Sie den gelernt?“ Urban antwortete nicht. „Sie wollen nicht darüber reden. Vielleicht richtig so, Bob.“ Urban goß sich vom spanischen Cognac ein, obwohl er ihn nicht sonderlich schätzte. Deshalb kam auch alles wieder hoch. „Schweigen ist immer gut, Bob.“ Daraufhin äußerte Urban etwas, das ziemlich genau seine Meinung und das Ende der Affäre Berger ausdrückte. „Aber was Besseres“, sagte er, „wäre besser.“ ENDE
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