Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Der zweiunddreißigjährige Olaf Lück wird auf seinem Wassergrundstü...
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Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Der zweiunddreißigjährige Olaf Lück wird auf seinem Wassergrundstück ermordet aufgefunden. Tage zuvor fuhr er nach Berlin und überzog dort sein Konto um 60 000 Mark. Was bzw. wer konnte ihn dazu veranlassen, und wer hat ihn getötet? – Das zu klären obliegt wieder dem bewährten Oberleutnant Simosch. Die Recherchen nach dem potentiellen Täter decken ein Geflecht von zwischenmenschlichen Beziehungen auf. Die Vielfalt der unterschiedlichsten Bedürfnisse und Verhaltensweisen, die dadurch ans Licht kommen, lassen etwas von den Schwierigkeiten menschlichen Zusammenlebens ahnen.
Tom Wittgen Delikte Indizien Ermittlungen
Herbstzeitlose
Verlag Das Neue Berlin
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1981 Lizenz-Nr.: 409-160/113/81 ■ LSV7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 480 0 DDR2,-M
1. Dreimal schrillte die Klingel, ehe Direktor Schiffel sich aus dem Lehnstuhl aufrappelte und in den Korridor hinausging. Um seine Schultern lag eine Wolldecke, ein Handtuch baumelte am Arm, und in der Hand hielt er eine Packung Fango-Heilschlamm. „Schön, daß Sie noch kommen, Kollege Creuzmann“, sagte er zu seinem Besucher, der abgehetzt und verschwitzt vor der Tür stand. „Die Bahn…“ Der Direktor winkte ab. „Ist doch nicht der Rede wert. Aber würde es Ihnen etwas ausmachen, die Schuhe vor der Tür zu lassen? Meine Raumpflegerin, wie sich Putzfrauen heutzutage nennen, kündigt mir Arbeit und Freundschaft, wenn ich ihr zuviel zumute.“ Erstaunt betrachtete der Mann seine Schuhe. Wahrhaftig, sie waren eine Zumutung für jeden Fußbodenbelag. Schmutzverkrustet, als habe er einen Acker überquert. Schweigend streifte er sie ab und betrat den Korridor. Der Läufer schmiegte sich weich an seine Fußsohlen. „Den sollten Sie wegnehmen. Ich muß ein Loch in die Wand bohren, da kommt viel Dreck ‘runter.“ „Bitte, erledigen Sie das selbst. An manchen Tagen bedeutet jede Bewegung eine kleine Katastrophe für mich. Ich pflege mich schon den ganzen Abend lang mit einer Heilpackung auf
den Schultern, doch es wird nicht besser.“ Creuzmann rollte den Läufer zusammen und trug ihn ins Wohnzimmer. Dort roch es nach Medizin. Auf dem Teppich lag eine zweite Fango-Packung. Er ließ den Läufer zu Boden gleiten, ging ins Bad, setzte sich auf den Wannenrand und holte mit fahrigen Bewegungen Handwerkszeug aus der Tasche. Nimm dich zusammen, befahl er sich. Denk nur an deine Arbeit. Inzwischen war der Hausherr ins Schlafzimmer verschwunden und kleidete sich um. Nach einer Weile hörte Creuzmann ihn rufen: „Haben Sie überhaupt schon Abendbrot gegessen?“ Der Gedanke an Essen bereitete Creuzmann Übelkeit. Er stand im Türrahmen, die Bohrmaschine in der einen Hand, mit der anderen drückte er gegen den Magen und schluckte. „Danke. Ich mag nichts.“ „Aber Sie werden es mir doch nicht abschlagen…“ Mit hohem, schrillem Geräusch fraß sich der Bohrer in die Wand und übertönte jedes Wort. Die Türglocke hörte Creuzmann erst, als er seine Arbeit kurz unterbrechen mußte. „Es hat geklingelt!“ rief er in den Korridor hinaus. „Endlich! Das wird Herr Lück sein.“ Der junge Mann griff wieder nach der Bohrmaschine, setzte zu tief an und fluchte. Ein mißbilligender Blick traf ihn, dann öffnete Direktor Schiffel die Tür zum zweiten Mal an jenem Abend. Die Frau, die ihn kokett und ironisch zugleich anlächelte, war Anfang Vierzig, sorgsam frisiert, dezent geschminkt. Ein dunkelblaues, maßgeschneidertes Kostüm aus bestem Wollstoff milderte ihre Korpulenz. „Guten Abend, Justus“, sagte sie und stöckelte ins Zimmer. Schiffel nahm ihr die Kostümjacke von den Schultern und legte ihren Modellhut auf die Ablage. „Freut mich, dich zu sehen.“ „Ich habe weniger Grund, mich zu freuen.“ Schnell zog der Direktor die Tür des Wohnzimmers ins Schloß.
„Du gibst mir doch heute den Abschied, nicht wahr?“ „Aber Sabina! Kann ein Mensch sich die Seele aus dem Leibe reißen?“ An ihrem Blick merkte er, daß sie nicht gewillt war, auf seinen Ton einzugehen. „Seele?“ fragte sie ernsthaft zurück. „Hättest du wenigstens Gewissen gesagt.“ „Komm, setz dich. Und entschuldige die Unordnung. Mich hat mein jüngstes Leiden wieder gepackt. Wenn du mich heiraten würdest, hättest du bald einen Pflegefall am Hals.“ „Bitte versuche nicht, mir einzureden, daß ich deshalb den Laufpaß bekomme.“ Sie ließ sich in den Sessel sinken. Er knarrte leise unter ihrem Gewicht. „Ich bin der mütterliche Typ, an den man sich klammert, wenn es nicht weitergeht. Mir scheint, zur Zeit verläuft dein Leben – abgesehen von der Arthrose – wunschgemäß. – Nun, ich gönn’s dir.“ „Mir ist schon klar, was ich dir zu verdanken habe. Aber ich möchte nicht, daß wir uns Ketten anlegen.“ „Wir sind füreinander geschaffen, Justus.“ „Meinst du?“ Wieder ignorierte sie die Ironie seiner Frage und fuhr ernsthaft fort: „Wenn du’s nur fertigbringen könntest, deinem Alter gemäß zu leben.“ „Alter! Ein schreckliches Wort. Wie wir leben, sollte von unserem Wohlbefinden abhängen. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich durch Jugend und Schönheit zu begeistern bin.“ „Das ist nicht einfach Leichtlebigkeit bei dir. Das sitzt tiefer. Ich kenne dich doch, Justus. Du wirst nie Kinder haben, aber du möchtest deine Männlichkeit beweisen. Deshalb vernaschst du diese kleinen Hühner.“ Schiffel schwieg. Die Direktheit dieser Frau hatte ihn schon manches Mal unangenehm berührt. „Warum die Dinge nicht beim Namen nennen?“ fragte sie, sein Schweigen richtig deutend. „Die Arthrose gibt dir einen Vor-
geschmack auf kommende Jahre: ein von Schmerzen gequälter Mann im Lehnstuhl mit Heilschlamm und Wolldecke. Ehe es täglich so sein wird, willst du noch was. Du fürchtest dich vor dem Alter und glaubst an einem Jungbrunnen zu nippen, wenn du ein Mädchen verführst. Nun gut, ich akzeptiere deine Angst und deine Gier nach Jugend.“ Um Schiffeis Mundwinkel zuckte es. „Du bist so großmütig, daß man dich heiligsprechen sollte.“ Sie klatschte ihre gepflegten, fleischigen Hände auf die Armstützen des Sessels. „Zumindest ist zu beachten, daß man mich nicht abschieben kann wie ein sechzehn-, siebzehnjähriges Mädchen. Ich stelle andere Ansprüche an das Leben als du, Justus, aber ich stelle sie.“ „Du bist eine außergewöhnliche Frau. Du sollst dich nicht über mich beklagen. – Und jetzt darf ich uns einen Imbiß servieren.“ Er verließ das Zimmer. Im Korridor lag eine dicke Staubschicht. Sie hat eine fatale Art, einem begreiflich zu machen, was man ihr schuldet. Zu Creuzmann gewandt, fragte er: „Müssen Sie noch lange mit der Bohrmaschine arbeiten?“ „Damit bin ich fertig. Ich hab’s ohnehin gleich geschafft.“ „Fein. Auf jeden Fall“, der Direktor unterbrach sich, warf einen Blick auf die Armbanduhr, „sind Sie zuverlässiger als Ihr Freund Olaf Lück. Er wollte heute abend mit mir den Grundstücksverkauf regeln.“ Das Telefon schrillte. „Na endlich, das wird er sein.“ Als der Direktor im Wohnzimmer verschwunden war, wischte sich Creuzmann den Schweiß von der Stirn.
2. Der Summer ertönte, und eine Stimme knarrte: „Wachtmeister Schulz. Sie wünschen bitte?“
Das Mädchen war schlank und gerade groß genug, um das Ohr gegen die Öffnung zu drücken, aus der die Worte drangen; verzerrt und schwer zu verstehen. Sie lauschte noch, als wieder alles still war. Dann zog sie ein Taschentuch und putzte sich geräuschvoll die etwas zu groß geratene Nase. Auf dem Handrücken, mit dem sie über die Augen wischte, blieb eine nasse Spur zurück. „Hallo!“ Wieder dieses entsetzliche Knarren. Entschlossen drehte sie sich um und sagte laut und deutlich in die Öffnung hinein: „Ich muß jemanden sprechen.“ „Worum handelt es sich?“ „Um meinen Freund Olaf Lück. – Ich will mich mit einem Menschen unterhalten, nicht mit diesem Blechmaul.“ Sekunden später wurde die Klappe der Tür zurückgezogen. In der Öffnung erschien ein junges, pausbäckiges Gesicht. „Na, was gibt’s denn?“ „Eine Vermißtenanzeige. Kann ich die hier auf dem Revier abgeben, oder soll ich gleich zur Kripo?“ „Kommen Sie herein.“ Der Riegel wurde zurückgezogen. Im Korridor standen fünf Jugendliche mit dem Gesicht zur Wand. Ein Polizist tastete ihre Körper ab. Das Mädchen ging an ihnen vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Die Jungen kicherten. Plötzlich wandte sich einer um und rief: „Menschenskind, Manuela! Was hast du denn angestellt?“ Das Mädchen blieb stehen. „Andi?“ „Da staunst du, was? Tja, ich habe angeblich den Park verunreinigt.“ „Ruhe!“ brüllte der Polizist, der ihn durchsuchte. „Hier wird nicht gesprochen!“ In die Stille hinein, die sofort eintrat, fragte das Mädchen: „Andi, weißt du vielleicht, wo Olaf ist?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Kommen Sie, und sprechen Sie hier nicht.“ Der Wachtmeister
zog Manuela schnell in ein Zimmer. „Warum steht Andi im Korridor?“ fragte sie verstört. „Aus Platzmangel. Im Nebenzimmer haben wir Kampfhähne aus dem ,Bierkrug’ einquartiert, im Zimmer davor ist Besuch von Leuten, die nachts in fremden Gärten Spazierengehen. Und Sie setzen sich jetzt auf diesen Stuhl hier und erzählen mir so schnell und präzise wie möglich, was passiert ist.“ „Mein Freund ist verschwunden.“ Der Wachtmeister ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder und seufzte. „Mädchen! Liebe kommt, Liebe geht. Mit Liebhabern ist es ähnlich. Wie lange kennen Sie ihn denn?“ „Wir wohnen seit drei Jahren zusammen. Mit der Liebe ist bei uns alles in Ordnung, und Streit hatten wir auch nicht. Da ist was passiert. Wenn Sie mir nicht helfen, gehe ich zur Inspektion oder zum Präsidium.“ Schulz bemerkte ihre verweinten Augen, sah ihr die schlaflose Nacht an und wußte, daß es der Kummer war, der sie so aggressiv werden ließ. „Na, schütten Sie ruhig hier Ihr Herz aus. Aber vorher möchte ich den Personalausweis sehen.“ „Mein Name ist Manuela Sanitz.“ Sie holte ihren Ausweis aus der Tasche. „Ich arbeite bei der Post.“ „Seit wann ist Ihr Freund verschwunden?“ „Seit gestern abend. Er wollte aufs Grundstück. An den Elbwiesen. Nachts ist er nicht zurückgekommen und heute den ganzen Tag nicht. Noch eine Nacht mach’ ich das nicht mit: die Warterei, die Angst, daß er Hilfe braucht.“ Wieder wurden ihr die Augen feucht. „Vielleicht legt er heute zum Samstag eine Sonderschicht ein im Betrieb.“ „Nein. Am Donnerstag hat er für zehn Tage Urlaub genommen, ist nach Berlin gefahren, gestern mittag wiedergekommen und abends aufs Grundstück ‘raus. Und seitdem ist er verschwunden.“ Während Schulz Personalien und Beschreibung des Vermißten
notierte, vermutete er, ihr Schatz habe sich entweder ein Betthäschen aufs Grundstück geholt oder gönne sich irgendwo anders ein abwechslungsreiches Wochenende. Der Gesuchte, Olaf Lück, war zweiunddreißig Jahre alt und arbeitete als Friseur im Herrensalon „Figaro“. Seine Freundin beschrieb ihn als mittelgroß, Augenfarbe grau, besondere Kennzeichen keine. Das Foto, das sie mitgebracht hatte, zeigte ein blasses, längliches Gesicht, helle Augen, die offen und sympathisch blickten. Der Wachtmeister stutzte, als das Mädchen ihm Lücks Grundstück beschrieb. Ein Wassergrundstück an der Elbe mit Bootsschuppen und Segelboot, über dem Schuppen ein komfortabel eingerichtetes Zimmer. Friseure schienen sich was leisten zu können! „Von wem hat er das Grundstück erworben?“ fragte er, als sei das für seine Ermittlungen von Bedeutung. „Olaf hat’s geerbt.“ „Von den Eltern? Großeltern? Einer Tante?“ Nach seiner Erfahrung würde eine Tante herhalten müssen. „Er hat es von seiner Frau geerbt.“ Ein Weilchen war es still im Raum. Vom Nebenzimmer und vom Flur hörte man gedämpft Stimmen. „Also ist Herr Lück Witwer. Mit zweiunddreißig Jahren schon. Oder noch früher?“ „Der Unfall ist vor zwei Jahren…“ Sie preßte die Lippen aufeinander, den Blick erschrocken auf Schulz gerichtet. Wenn sie auch keine Schönheit ist, sie hat gute, ausdrucksvolle Augen, dachte er. „Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, weil Ihnen das herausgerutscht ist. Bei der Suche nach Vermißten kommen diese Dinge ohnehin ans Licht. Lücks Frau ist also vor zwei Jahren verstorben, aber Sie leben schon seit drei Jahren mit ihm zusammen.“ „Ja, das tun wir.“ „Hören Sie, Fräulein Sanitz, meinen Sie nicht, daß Sie meine
Zeit umsonst verschwenden? Ein verheirateter Mann, der schon seine Frau hintergangen hat, ist während des Urlaubs eine Nacht lang nicht bei Ihnen gewesen, und da laufen Sie gleich zur Polizei?“ „Erstens ist er längst nicht mehr verheiratet. Zweitens war heute mittag dieser Gotenbach bei mir, randvoll geladen mit Wut auf Olaf. Und drittens wollte Olaf auf dem Grundstück nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Er möchte verkaufen. Wir können’s doch nicht halten. Als ich hinkam, um ihn zu suchen, war alles so merkwürdig dort, und Nanni hat sich benommen wie eine Verrückte. Da stimmt was nicht. Und wenn Sie…“ „Wer ist Gotenbach?“ „Olafs Schwager. Er wollte wieder mal Erbschaftsangelegenheiten mit ihm regeln.“ „Und wer ist Nanni?“ „Olafs Pudel. Ich hab’ ihn unten vor dem Revier angebunden.“ „Was war merkwürdig auf dem Grundstück?“ „Zwischen Wasser und Bootsschuppen hat Olaf eine Sitzecke eingerichtet. Sträucher im Rücken, vor der Bank Blumen. Und ausgerechnet dort, wo jetzt die Herbstzeitlose blüht, ist alles zertrampelt. Auf den Blumen lag Laub. Ich sage Ihnen, das sieht Gotenbach ähnlich.“ „Woher kennen Sie Andreas Bieleke?“ „Wen?“ fragte das Mädchen irritiert. „Er hat Sie auf dem Flur angesprochen.“ „Ach so. Den kenne ich nur als Andi. Olaf hat ihn zwei oder dreimal mit zu uns gebracht. Die haben sich in der Eckkneipe kennengelernt. Weiter weiß ich nichts über ihn.“ „Augenblick mal.“ Schulz ging ins Nebenzimmer, wo die Jungen, die im Flur durchsucht worden waren, ihre Ausweise zurückerhielten, sprach ein paar Worte mit Andreas Bieleke und klopfte an die nächste Tür. Mit dem Hauptwachtmeister, der den Kopf heraussteckte, flüsterte er ein Weilchen.
„… deshalb nehme ich an, daß die Verwüstung von Lücks Grundstück auf das Konto deiner Kunden geht,“ Er stieß sein rundes, fleischiges Kinn in die Richtung zweier junger Männer, die vor dem Schreibtisch des Hauptwachtmeisters saßen und gespannt zur Tür blickten. „Ziemlich unwahrscheinlich“, erwiderte der Hauptwachtmeister ebenso leise. „Die haben auf der anderen Elbseite gehaust. Allerdings können sie auch an diesem Ufer gewesen sein, und wir wissen’s nur noch nicht. Fahren Sie hin, und sehen Sie sich um. Auch auf den angrenzenden Grundstücken.“ Auf dem Weg zu den Eibgärten schien es Wachtrneister Schulz, daß Nanni ein überaus nervöser Pudel sei. Entweder drückte er sich ängstlich an Fräulein Sanitz oder zerrte an der Leine und winselte beleidigt, wenn man ihn zurechtwies. Vom Weg her gesehen, war an Lücks Grundstück nichts Auffälliges zu bemerken. Erst als sie sich dem Bootsschuppen näherten, entdeckte Schulz, was das Mädchen als merkwürdig bezeichnet hatte. Die Herbstzeitlose! Prachtvoll blühende Exemplare, geknickt, zertreten. Fast ein Drittel des Beetes war mit Laub bedeckt. Ringsum aber war geharkt worden. „Haben Sie hier geharkt?“ fragte Schulz. „Um Gartenarbeit kümmere ich mich nicht.“ „Dann wird es Ihr Freund gewesen sein.“ „Der wirft doch nicht das Laub auf die Blumen!“ „Vielleicht ist es in der Dunkelheit passiert. Aus Versehen.“ Er ging um das Beet herum, bog die Äste der Haselnußsträucher zurück. „Da ist umgegraben worden.“ „Wohl auch aus Versehen?“ fragte das Mädchen triumphierend. „Umgraben wollte er das abgeerntete Möhrenbeet. Und zum Harken hätte er sich den Weg vorgenommen und das Laub nicht auf die Herbstzeitlose geschüttet. Er wollte das Grundstück verkaufen, lieber Mann, und nicht versauen! – Gib endlich Ruhe. Du machst mich verrückt, Nanni!“ Sie schlug dem Hund mit der Leine aufs Hinterteil.
„Lassen Sie ihn mal los“, forderte Schulz. Fragend sah sie ihn an, gehorchte aber. Der Hund sauste auf das Blumenbeet zu, schnüffelte, durchstöberte das aufgeschüttete Laub und begann zu scharren. Sein Jaulen und Winseln klang wie lautes Weinen. „Nehmen Sie ihn wieder an die Leine.“ Fräulein Sanitz mühte sich, den Hund vom Blumenbeet zu zerren. „Was hat er denn? Können Sie mir vielleicht sagen, was mit dem los ist?“ „Na, warum scharrt ein Hund wohl?“ entgegnete der Wachtmeister unwillig. Er wollte nachdenken, brauchte einen klaren Kopf, um keinen Fehler zu machen, doch die Geschwätzigkeit des Mädchens vernichtete jeden aufkeimenden Gedanken. „Ich habe nämlich keine Ahnung von Hunden. Nanni gehört Olaf. Bloß damit sie mir zu Hause nicht auf den Teppich macht, habe ich sie mitgenommen. Meinen Sie, die schnuppert was?“ „Natürlich.“ „Na, dann hat hier vielleicht jemand eine tote Katze oder ein Karnickel vergraben. Olaf hat ihn erwischt, sie haben sich geprügelt und dabei die Blumen zertreten. Vielleicht ist er ihm nachgelaufen oder…“ Sie setzte sich auf die Bank. „Ja, weiter kann ich’s mir auch nicht denken.“ „Ich geh’ telefonieren“, sagte der Wachtmeister. „Sie bleiben hier und halten den Hund an der Leine. Warten Sie am besten im Zimmer über dem Bootsschuppen, bis ich zurück bin. Es dauert nicht lange.“ Die Ruhe, die ihn umgab, als er dem Lückschen Grundstück den Rücken kehrte, empfand er als körperlich angenehm. Endlich konnte er seine Gedanken ordnen. Fakt war, daß Herrn Lücks Grundstück einen sonderbaren Eindruck machte. Auf die einzigen Blumen, die im Garten blühten, war Laub geschüttet worden, und darunter schien etwas vergraben zu sein. Aber reichte das aus, seine Vorgesetzten zu behelligen oder die Kriminalpolizei anzufordern? Heute, zum Samstag? Würde er sich nicht lächerlich machen, wenn sie womöglich eine tote Ratte
unter dem Blumenbeet hervorzogen? Am liebsten wäre er umgekehrt. Doch was sollte er dem Mädchen erzählen? Daß sie nach Hause gehen und auf ihren Freund warten möchte? Immerhin war der verschwunden, seit er am Abend zuvor dieses seltsam anmutende Grundstück betreten hatte. Natürlich konnte dieser Lück sonstwo stekken. – Vertrackte Geschichte. Der Wachtmeister stand vor der Telefonzelle und zögerte. Dann trat er ein und wählte bedächtig eine Nummer, die er aus seinem Notizbuch ablas. „Guten Tag, Frau Simosch. Hier ist Wachtmeister Schulz. Könnte ich wohl den Karl mal sprechen?“ Und gleich darauf: „Hallo, Karl! Hier ist Reinhard. Ich brauche deinen Rat.“ In Stichworten teilte er die Fakten mit und seine Bedenken. „Das Laub liegt dort, wo es nicht hingehört, und es ist an einer unmöglichen Stelle umgegraben worden. Das alles ergibt keinen Sinn – und doch braucht es nichts zu bedeuten.“ „Melde es trotzdem. Fordere einen Kriminaltechniker an und jemanden von der Arbeitsgruppe Leben und Gesundheit.“ „Und wenn nun nichts weiter herauskommt als eine tote Katze? Herr Lück sich beispielsweise mit einer zweiten Freundin amüsiert?“ „Dann wollen wir froh sein, daß nichts weiter geschehen ist.“ „Gut. Danke.“ Schulz rief sofort die Kriminalpolizei an. Als er den Hörer auflegte, war er erleichtert, die etwas seltsame Meldung hinter sich gebracht zu haben. Aufatmend verließ er die Telefonzelle.
Das Mädchen prallte mit ihm zusammen, erkannte ihn nicht. Als er das Entsetzen in ihren Augen sah, wußte er, was geschehen war. Er packte sie an den Schultern und rief ihren Namen. „Olaf“, stammelte sie, „es ist Olaf. Olaf.“
Immer wiederholte sie die gleichen Worte. Schulz führte sie zum nächsten Haus und klingelte. „Kümmern Sie sich bitte um Fräulein Sanitz. Geben Sie ihr eine Beruhigungstablette. Haben Sie so was im Haus?“ Der Mann nickte. „Sie hat einen Schock. Legen Sie sie auf die Couch. Warm zudecken, bitte. Ich schicke den Arzt her.“ Willenlos ließ sich Manuela Sanitz ins Haus führen. Immer noch leise und für den Mann kaum verständlich, sagte sie: „Es ist Olaf.“ Inzwischen hatte Wachtmeister Schulz in der Telefonzelle wieder Simoschs Nummer gewählt. „Ich bin’s noch mal, Karl.“ Seine Stimme zitterte. „Jetzt dienstlich.“ Oberleutnant Karl Simosch war Leiter der Mordkommission.
3. Simosch lehnte an der Gartentür, mit dem Rücken zu Lücks Grundstück. Er blickte den Weg entlang, der sich in der Dunkelheit verlor, obwohl es erst kurz nach 17 Uhr war. Ungefähr vor zwanzig Stunden mußte hier der Mörder entlanggekommen sein, falls er sich nicht vom Wasser her auf das Grundstück geschlichen hatte. Kühl und regenschwer hing die Luft über den Gärten. Die Büsche standen unbeweglich. Hier und da fiel ein Blatt zu Boden. Durch das Licht der Scheinwerfer im Garten konnte Simosch über die Wiese bis zum Fluß hinuntersehen, wo die Trauerweiden mit schlaffen, spindeldürren Armen nach dem Gras griffen. In den Gärten duckten sich Bootsschuppen und Bungalows unter alten Bäumen. Die Gegend schien um diese Jahreszeit unbewohnt zu sein. Man würde schwerlich feststellen können, wer sich außer Olaf Lück am vergangenen Abend noch hier aufgehalten hatte. Simosch hörte Schritte und drehte sich um. Im Schein der Straßenlaterne sah er einen großen, kräftig gebauten Mann auf sich zukommen. Der Oberleutnant blickte in den Garten zurück.
Unter Tiefstrahlern kniete im weißen Kittel der Arzt vor Lücks Leichnam. Die Kriminaltechniker suchten die Erde ab, maßen aus, notierten, fotografierten. „Um Himmels willen, was ist denn hier geschehen?“ fragte der Mann, der inzwischen herangekommen war. Simosch sah nachdenklich zu ihm auf und schätzte, daß der andere beinahe zwei Meter maß. „Warum interessiert Sie das?“ „Na, hören Sie mal! Sie stehen doch auch hier und sehen zu.“ „Mich muß es interessieren. Mordkommission. Oberleutnant Simosch.“ Einen Augenblick lang schien es, als wolle der Mann davonlaufen. Simosch vertrat ihm mit einem Schritt den Weg. „Sie möchten doch wissen, was geschehen ist.“ Der Mann atmete tief ein und stieß die Luft mit einem zischenden Laut aus. „Ich bin der Schwager von Herrn Lück, dem das Grundstück hier gehört.“ „Ihren Ausweis bitte, Herr Gotenbach.“ „Woher wissen Sie meinen Namen?“ Wieder schien es Simosch, als wäre der andere lieber davongelaufen. Schweigend notierte er dessen Personalien. Als er den Ausweis zurückgab, sagte er: „Sie wohnen in Plauen. Warum sind Sie nach Dresden gekommen?“ „Ich bin Dolmetscher und habe eine Gruppe Ausländer zu betreuen. Bei dieser Gelegenheit wollte ich meinen Schwager sprechen.“ „Hier draußen? Ende Oktober in einem dunklen Bootsschuppen?“ „Er hat ein gemütliches Zimmerchen über dem Schuppen. Seine Freundin sagte mir, daß ich ihn da finden würde.“ Das ist die erste Lüge, dachte Simosch. Wie viele werden noch folgen, und werde ich sie alle so leicht durchschauen wie diese? „Was um alles in der Welt hat mein Schwager mit der Mord-
kommission zu tun?“ „Ihr Schwager ist tot.“ Simosch blickte zu Gotenbach auf. „Er ist erschlagen worden und verscharrt wie ein streunender Hund.“ Sekundenlang drückte Gotenbachs Gesicht Verwirrung aus, dann schien eine tiefe Ruhe über ihn zu kommen. „Wie ein streunender Hund“, wiederholte er abwesend. „Ja, genauso ist er gewesen.“ „Sie haben ihn gehaßt?“ Gotenbach schwieg, sah mit zusammengepreßten Lippen zu dem Leichnam hin, den der Arzt zum Fotografieren freigab. „Warum haben Sie ihn gehaßt, Herr Gotenbach?“ „Das ist eine lange Geschichte.“ „Die Nacht ist auch lang. Wo sind Sie untergebracht?“ „Im ,Newa’.“ „Sie müssen sich zu unserer Verfügung halten. Entweder besuche ich Sie, oder ich schicke Ihnen eine Vorladung. Möchten Sie die Freundin von Herrn Lück sprechen?“ „Ich könnte nicht mal ihren Anblick ertragen.“ Der Oberleutnant gab den Weg frei, und Gotenbach verschwand rasch in der Dunkelheit. Während des Gesprächs war Simosch ein schwach erleuchtetes Fenster am Nachbarhaus aufgefallen. Hin und wieder erkannte er in seinem Lichtschein den Kopf einer alten Frau. Simosch schätzte, daß sie von jenem Fenster einen guten Einblick in Lücks Garten hatte. Er wollte hinübergehen, als Leutnant Ulbricht ihm winkte. „Wir haben eine tadellos erhaltene Schuhspur gefunden. Sie führt am Bootsschuppen vorbei zum Nachbargrundstück. Abdrücke von Frauenschuhen. Größe neununddreißig.“ „Wem gehört das Nachbargrundstück?“ Leutnant Ulbricht, hager, dunkelhaarig, entgegnete mit pfiffigem Gesicht: „Das werde ich Ihnen sicherlich schon morgen erzählen können.“ Simosch wies zu dem Fenster, an dem wieder der weißhaarige
Kopf erschien. „In der nächsten halben Stunde bin ich dort zu finden.“ „Ich könnte auch eine Tasse Kaffee gebrauchen.“ Fröstelnd schlug Olbricht die Arme um den dünnen Leib. Der Oberleutnant wandte sich ab, um ein Schmunzeln zu verbergen, und ging zum Nachbarhaus. Es dauerte geraume Zeit, ehe die Frau ihm öffnete. Ihr linkes Bein war bandagiert, sie benutzte einen Stock. Sie besaß die gesunde Hautfarbe eines Menschen, der sich viel im Freien aufhält. Simosch schätzte ihr Alter auf etwa sechzig Jahre. „Na also, da sind Sie ja. Das Kaffeewasser kocht schon. Mir fällt das Treppensteigen schwer, sonst hätte ich Ihnen den Weg abgenommen.“ Sie brühte Kaffee auf und brachte die Kanne zum Tisch, auf dem schon Zucker und Sahne standen. Doch statt sich zu setzen, humpelte sie zum Fenster und sah auf Lücks Grundstück. „Sie hat ihn also umgebracht.“ Simosch trat zu ihr. „Wer hat ihn umgebracht?“ „Ich weiß ihren Namen nicht.“ Unten verloschen die Lampen, die den Toten in taghelles Licht getaucht hatten. Diese alte Frau konnte beobachten, wie wir ihn ausgegraben haben, aber sie ist völlig gefaßt. Beneidenswertes Nervenkostüm. „Haben Sie gestern abend etwas in Lücks Garten bemerkt, Frau Bachmann?“ „Das erzähle ich Ihnen am Tisch, damit Sie Ihren Kaffee trinken können.“ Sie setzte sich ihm gegenüber. „Ich bin weit und breit die einzige, die bis spät in den Herbst hinein hier draußen wohnt. Mich vertreiben erst die strengen Winterfröste. Gestern nachmittag war ich auf der Couch eingeschlafen. Als ich erwachte, zeigte die Uhr fünf Minuten nach sieben. Ich konnte nicht begreifen, daß ich so lange geschlafen hatte, und ging zum Fenster. Draußen war’s kühl und dunkel. Aber daß eine Frau
an Herrn Lücks Bootsschuppen stand, konnte ich noch erkennen. Ich rief: ,Guten Tag, Frau Doktor Lück!’ Erschrocken drehte sie sich um und guckte einen Augenblick lang in meine Richtung. Dann lief sie quer durch den Garten auf das nächste Grundstück zu, schlängelte sich durch die Hecke und war verschwunden. Da erst fiel mir ein, daß Frau Doktor doch längst tot ist.“ „Sie sah Lücks Frau ähnlich?“ „Eigentlich nicht. Sie hatte nur die gleiche Figur.“ „Würden Sie sie wiedererkennen?“ „Ja, denn ich bin sicher, daß ich sie früher schon einmal gesehen habe. Vor vier oder fünf Jahren kam sie manchmal zu Herrn Randolf.“ „Wer ist das?“ „Der Mann, auf dessen Grundstück sie gelaufen ist. Ich nenne ihn blonder Neger, weil er kräftige Lippen hat und einen hellen Krauskopf.“ „Kennen Sie ihn näher?“ „Nein. Er läßt sich selten sehen. Im Sommer steigt er in sein Boot und bleibt bis zum späten Abend auf dem Wasser. Ich weiß nichts über ihn.“ „Was war Herr Lück für ein Mensch?“ Sie zuckte die Schultern. „Zu mir war er immer freundlich und zuvorkommend, hat mir beim Umgraben geholfen und Kohlen hochgetragen. In letzter Zeit bin ich ihm aber aus dem Weg gegangen, denn ich halte nicht viel von der jungen Frau, mit der er jetzt zusammen lebt. Sie ist so… gewöhnlich, im Vergleich zu Frau Doktor Lück. – Frau Doktor habe ich verehrt. Sie hatte etwas Aristokratisches an sich, nicht zu verwechseln mit hochnäsig. Das war sie nicht. Für jeden hier hatte sie ein gutes Wort, und sie verstand zuzuhören. Aber dann zog sie sich mehr und mehr zurück. Ja, und dann hatte sie diesen Unfall.“ Die letzten Worte betonte die Alte so merkwürdig, daß Simosch aufhorchte. „Was war das für ein Unfall?“ „Ich weiß es nicht. Herr Lück wollte nicht darüber sprechen.
Er sagte nur, es sei ein Unfall gewesen.“ Sie schwieg, doch in ihrem Blick lag Unglaube. Simosch nahm sich vor, Genaueres zu erkunden. Er erhob sich und trat ans Fenster. „Gestern abend, als Sie die Frau sahen, brannte da Licht im Bootsschuppen oder im Zimmer darüber?“ „Nein. Alles war dunkel.“ „Haben Sie Herrn Lück gesehen?“ Frau Bachmann schüttelte den Kopf. „Kurz vor der Schließzeit hab’ ich’s noch geschafft, zur Bücherei zu kommen. Ich bin eine Leseratte, wissen Sie. Gestern war ich bis Mitternacht in mein Buch vertieft. Vor dem Schlafengehen habe ich noch das Fenster geöffnet. Es war ein wundervoller Sternenhimmel. Weiter ist mir leider nichts aufgefallen.“ „Sie haben mir trotzdem geholfen“, sagte der Oberleutnant. „Und besten Dank für den guten Kaffee.“ Inzwischen war der Leichnam weggebracht worden, Arzt und Kriminaltechniker hatten den Ort verlassen. Wachtmeister Schulz führte Fräulein Sanitz den Gartenweg entlang. Sie nahm ihre Umwelt kaum wahr. „Ich fahre Sie nach Hause“, erklärte Schulz, schob sie in den Polizeiwagen und schlug die Tür zu. „Könnte mich ohrfeigen.“ „Ich dich auch. Du hättest sie nicht allein lassen dürfen oder ihr zumindest verbieten müssen, irgend etwas zu verändern.“ „Was hätte das schon genutzt! Der Hund hat wie verrückt gescharrt, und sie war neugierig. – Ja, ich hätte sie nicht allein lassen sollen.“ „Noch Neuigkeiten?“ Er nickte. „War nicht einfach, in diesem Zustand was aus ihr herauszukriegen. Der Mann, an den Lück verkaufen wollte, heißt Justus Schiffel, Werkdirektor beim VEB Kombinat Tiefbau. Vermittelt hat das Geschäft ein gewisser Dirk Creuzmann, Betriebselektriker im selben Kombinat und Bekannter von
Lück.“ Der Oberleutnant notierte die Namen und lächelte dem Wachtmeister zu. „Na also. Dich kriegen wir noch groß, Junge.“ „Ulbricht hat auch was für dich.“ Der Wachtmeister stieg in den Wagen. Leutnant Olbricht saß in dem kleinen Wohnzimmer über dem Bootsschuppen. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Blechbüchse. „Raten Sie mal, was da drin ist!“ „Ihrem Gesicht nach zu urteilen, faule Eier.“ Vorsichtig hob Olbricht den Deckel ab. „Aber Chef, Geld stinkt doch nicht.“ Aus der Büchse quollen Scheine. Hunderter, Fünfziger, Zwanziger. Simosch zählte. Er kam bis 7000. „Na?“ Olbricht grinste. „So bin ich zu Ihnen.“ „Fingerabdrücke?“ fragte der Oberleutnant. „Nur von Lück.“ Gedankenversunken betrachteten sie die Scheine. Warum hielt Lück hier 7000 Mark versteckt? War das Geld unredlich erworben? Hatte jemand einen moralischen oder rechtlichen Anspruch darauf und sollte es nicht finden? „Lück kann ohne Wissen seiner Freundin eine größere Summe geborgt haben“, mutmaßte Olbricht. „Oder die Frau, die hier Fußspuren hinterließ, hat es gebracht.“ Simosch berichtete, was er im Nachbarhaus erfahren hatte. „Nun wissen wir immerhin, daß der Grundstücksbesitzer nebenan Randolf heißt. Sie müssen ihn befragen und diese Frau finden, die wahrscheinlich seine Geliebte war.“ „Zuerst besuche ich Fräulein Sanitz“, entgegnete der Leutnant entschieden. „Hier draußen war ja kein Wort aus ihr herauszubringen.“ „Fräulein Sanitz“, wiederholte Simosch grübelnd, „Manuela mit Vornamen, nicht wahr?“ Olbricht nickte. „Der Name ist mir nicht unbekannt.“ Simosch blätterte in
seinen Notizen. „Ich hab’s!“ Heftig faßte er Olbricht am Arm. „Der Postraub! Anfang September wurde doch der Postbeamte überfallen und beraubt, der an seinen Verletzungen verstorben ist.“ „Stimmt. Den Fall bearbeitet Hauptmann Rister.“ „Damals war ich dabei, als die Postangestellten vernommen wurden. Unter anderem ein Fräulein Manuela Sanitz.“ „Die Akte wird umfangreicher, der Fall verzwickter, neuerdings führt wieder eine Spur zu Olaf Lück. Und nun kommen Sie und sagen, man hat ihn umgebracht.“ Hauptmann Rister faltete die Hände über dem dicken Schnellhefter. „Wieder? Sie sagen, eine Spur führt wieder zu Olaf Lück?“ fragte Simosch. „Ja doch. Zu Beginn der Ermittlungen sah es ganz danach aus, als sei er unser Mann. Seine Freundin arbeitet bei der Post. Übrigens haben Sie das Mädchen selbst vernommen…“ „Weiß ich“, unterbrach Simosch ihn, „aber dabei ist nichts Bedeutsames herausgekommen.“ „Damals haben wir eine Menge Leute befragen und vernehmen lassen: Postangestellte, Kunden, Familien, die im Hause und in der Nachbarschaft des Postamtes wohnten. Fast alle Abteilungen schickten uns Kriminalisten, doch wie so oft, ist auf Anhieb nichts Konkretes herausgekommen. Aber wir haben Aussage für Aussage geprüft und bei Lücks Freundin wieder eingehakt.“ Rister blätterte in der Akte, fand, was er suchte, und las aus dem Vernehmungsprotokoll vor: „Fräulein Sanitz: Wir verstehen uns prima, Olaf und ich. So ‘ne Rechenschaftslegung, wenn einer mal spät nach Hause kommt, das gibt’s bei uns nicht. Nur wenn ich Überstunden mache, kann es passieren, daß er schimpft. Aber nicht auf mich, sondern auf die Post. Oberleutnant S.: Erzählen Sie ihm von Ihrer Arbeit? Von den
Gepflogenheiten der Abrechnung, des Geldtransportes zur Sparkasse zum Beispiel, oder auch, weshalb Überstunden nötig sind? Fräulein Sanitz: Nee, damit verderben wir uns nicht die Abende. Olaf hat keine Ahnung, wie es auf der Post zugeht. Das merke ich doch an seinen blöden Witzeleien.“ Hauptmann Rister legte das Protokoll in den Hefter zurück. „Belanglos, Sie haben recht. Aber etwas Aufschlußreiches bot sich in keiner Vernehmung. Wir setzten also bei den ,blöden Witzeleien’ an und erfuhren in mühsamer Kleinarbeit folgendes: Lück stellte seiner Freundin nie direkte Fragen nach ihrer Arbeit, doch er horchte sie geschickt aus, unauffällig, in längeren Abständen. Ihr ist das bis heute noch nicht bewußt geworden. Er gab sich besorgt, wenn sie abgespannt nach Hause kam, witzelte über die Christeln von der Post, schimpfte auf Überstunden. Jedesmal ging sie darauf ein und erzählte dabei eine Kleinigkeit. Na, so dachten wir uns das damals.“ Simosch nickte. So wird es gewesen sein. Lück hat ihre Worte gesammelt wie kleine bunte Steine, die eines Tages zusammenpaßten und ein Bild ergaben für ihn. „Was hat Sie denn von seiner Spur abgebracht?“ fragte er. „Sein Alibi.“ „Interessiert mich.“ Rister nickte, blätterte erneut in der Akte, las ein Weilchen. „Er war zum Herrenabend“, sagte er schließlich, „und zwar bei seinem Freund Dirk Creuzmann.“ Simosch rieb sich die Handgelenke. „Das ist bißchen viel auf einmal.“ „Wieso?“ Hauptmann Rister blickte auf. „Die Sache sieht so aus: Ein Postangestellter wird überfallen und getötet. Der Verdacht fällt auf Herrn Lück, dessen Freundin bei der Post arbeitet. Doch sein Freund Creuzmann gibt ihm ein Alibi. Wochen später wird Herr Lück auf seinem Grundstück erschlagen und verscharrt. Im Bootsschuppen hat
er siebentausend Mark versteckt. Seine Freundin meldet ihn bei der Polizei als vermißt und findet dann seinen Leichnam im Garten. Dieses Gartengrundstück aber wollte er verkaufen, und der Mittler zwischen ihm und einem Interessenten ist sein Freund Dirk Creuzmann.“ „Donnerwetter! Drei Personen tauchen in zwei Mordfällen auf, die zeitlich kurz hintereinander geschehen. Und der Verdächtige im Fall eins ist das Opfer im Fall zwei.“ „Wieso haben Sie denn Olaf Lück aufs neue mißtraut?“ fragte Simosch. „Sein Alibi mußten wir erst einmal akzeptieren, doch das hat uns nicht davon abgehalten, uns über seine Gepflogenheiten und seine Vergangenheit zu informieren. Er ist einer der beliebtesten Friseure im Salon ,Figaro’, geschickt, zuvorkommend, liebenswürdig. Lange Zeit war er Junggeselle, brachte sein Geld im Gasthaus und mit Mädchen durch. Dann heiratete er eine Ärztin und kannte keine materiellen Sorgen mehr. Doch schon nach einjähriger Ehe verließ er seine Frau und zog zu Fräulein Sanitz. Seine Frau beging Selbstmord.“ Selbstmord. Simosch sah den Bruder dieser Frau wieder im Schein der Straßenlaterne vor sich. Unberührt vom Tod seines Schwagers, nur verwundert darüber. Seinen Haß auf ihn hatte er eingestanden. Nun galt es herauszufinden, wozu dieser Mann in seinem Haß fähig war. „Hören Sie noch zu?“ fragte der Hauptmann. „Worüber grübeln Sie denn?“ „Über die dritte Tote. Ihr Bruder könnte etwas mit Lücks Ermordung zu tun haben, doch das gehört nicht zu dieser Postraubgeschichte. Entschuldigen Sie.“ „Wir gingen also davon aus, daß mit Frau Doktor Lücks Ableben das Dasein für Ihren Ehemann nicht mehr so einfach war wie bisher. Jetzt hieß es, mit dem Eigenen zu wirtschaften, doch er warf wie bisher das Geld zum Fenster hinaus. Der Nachlaß seiner Frau mußte eines Tages aufgebraucht sein. Lück könnte den Postraub langfristig geplant haben, ohne daß seine
Freundin etwas davon ahnte. Dann hätte ihm allerdings Herr Creuzmann ein falsches Alibi ausgestellt. Herrenabend zu zweit!“ „Vielleicht haben beide Herren an jenem Abend das Postamt besucht?“ vermutete Simosch. „Eben bei dem Punkt waren wir auch angelangt. Außerdem geht mir jetzt folgendes durch den Kopf: Olaf Lück, verdächtig eines Postraubes. Seine Freundin – als Angestellte bei der Post – kennt sich in den Örtlichkeiten und Gepflogenheiten aus. Sein Freund liefert ihm ein – wahrscheinlich – falsches Alibi. Dann wird Olaf Lück umgebracht. Wie gut kennen sich Fräulein Sanitz und Herr Creuzmann? Und – waren sie wirklich Olaf Lücks Freunde?“
4. Der Mann im Treppenhaus zeigte seinen Ausweis. „Kriminalpolizei. Oberleutnant Simosch. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Herr Creuzmann gab die Tür frei. „Tut mir leid, daß ich Sie beim Renovieren störe.“ Simosch blickte sich in dem kahlen Zimmer um. „Ich wollte ohnehin Schluß machen für heute.“ „Ausbauwohnung.“ Der Oberleutnant lächelte verständnisvoll. „So habe ich auch angefangen. Leider mit wenig Begabung fürs Handwerkliche. Sie als Elektriker sind da fein „raus.“ Herr Creuzmann nahm Tapetenreste vom Stuhl, wischte mit dem Ärmel über den Sitz und sagte: „Bitte.“ Simoschs Besuch schien ihn nicht aufzuregen. Er holte sich einen Hocker aus der Kochnische. Als sie sich gegenübersaßen, fragte der Oberleutnant: „Kennen Sie Olaf Lück?“ „Ja.“ Simosch blickte in ein müdes Gesicht. Viel zu müde für einen
Zweiunddreißigjährigen. „Wie lange kennen Sie ihn schon?“ „Von Kindheit an. Wir haben zusammen die Schulbank gedrückt.“ „Was ist er für ein Mensch?“ Schulterzucken. „Hören Sie mal, Sie werden doch etwas über Ihren Freund erzählen können?“ „Bei Menschen kenne ich mich nicht so aus. Wenn Sie mich nach ‘ner Lichtleitung fragen würden…“ Ein Kerl wie ein Bär, gutmütig und nicht raffiniert genug, um den Naiven bloß zu mimen. „Lichtleitung? Das ist eine von meinen schwachen Seiten. Da gibt’s Plus- und Minuspole, nicht wahr? Bei Menschen ist das komplizierter. Man kann’s aber auch auf plus und minus reduzieren. Verstehen Sie? Ich meine, ist Herr Lück überwiegend ein feiner Kerl, oder…?“ Er brach seine Frage ab. Herr Creuzmann nahm sich Zeit mit der Antwort. Er überlegte. „Er ist ein patenter Kerl“, sagte er schließlich, „ganz anders als ich. Er versteht’s, mit Leuten umzugehen. Ich versteh’ bloß, ihre kaputten Leitungen zu reparieren.“ Er lächelte hilflos und sympathisch, fand Simosch. „Ich habe gehört, er geht ziemlich leicht mit Geld um.“ Schulterzucken. Schweigen. „Leihen Sie ihm manchmal etwas?“ Creuzmanns Blick wurde eine Spur wachsamer. „Das war nur einmal. Er hat alles zurückgezahlt“, sagte er schnell. „Jetzt will er sein Grundstück verkaufen?“ Creuzmann nickte. „An Direktor Schiffel aus unserem Betrieb. Ich habe das vermittelt.“ „Und? Die beiden sind sich einig?“ „Ich denke schon.“ „Wann soll der Kauf realisiert werden?“
„Herr Schiffel hat die nötigen Unterlagen beisammen. Gestern abend hat er Olaf bei sich erwartet, aber der ist wohl nicht gekommen.“ „Woher wissen Sie das?“ Die Frage schien Herrn Creuzmann seltsamerweise zu verunsichern. „Weil ich ihm gestern abend ‘ne Lichtleitung in sein neues Bad gelegt habe“, antwortete er brummig. Simosch ließ nicht locker. „So? Und um wieviel Uhr war das?“ Widerwillig nannte Herr Creuzmann ihm die Zeit. „Waren Sie genau zu dieser Stunde mit Direktor Schiffel verabredet?“ Es war die Zeit, zu der Lück ermordet wurde. Weder der Direktor noch der Elektriker konnten gleichzeitig in Schiffeis Wohnung und an den Elbwiesen gewesen sein. Gespannt erwartete der Oberleutnant die Antwort, von der zwei Alibis abhingen. „Na ja, so ungefähr.“ „Ungefähr? Das heißt, Sie haben sich verspätet!“ „Als ich bei Herrn Schiffel klingelte, habe ich gemerkt, daß meine Uhr total falsch ging. Ich muß sie beim Aufziehen aus Versehen verstellt haben.“ „Ist mir auch schon passiert“, sagte Simosch leichthin. Sein Blick schweifte wieder durchs Zimmer, blieb in einer Ecke haften, in der schmutzverkrustete braune Lederschuhe standen. Ich soll also nicht erfahren, wo er gewesen ist, bevor er zu Schiffel kam. Reichte die Zeit aus, um Lück aufzusuchen? Was wollte er von ihm? Ging es um die versteckten 7 000, die wahrscheinlich aus dem Postraub stammten? Bekamen die beiden Streit miteinander? „Besuchen Sie Ihren Freund oft auf dem Grundstück?“ „Im Sommer ab und zu. Zum Bootfahren.“ „Waren Sie gestern dort?“
„War gestern Sommer? Was soll eigentlich die Fragerei?“ „Bin gleich fertig. Ich möchte nur noch wissen, wann Sie Herrn Lück zuletzt gesehen haben.“ „Vor ein paar Tagen. Er hatte Urlaub und wollte nach Berlin.“ „Zu wem?“ „Weiß ich nicht.“ „Ist er allein gefahren?“ „Weiß ich nicht.“ „Schade.“ Simosch stand auf, ging durchs Zimmer und hob die Schuhe auf. „Wenn Sie auch alte Schuhe sammeln“, sagte Creuzmann, „bedienen Sie sich.“ „Ich möchte sie wirklich gern mitnehmen, ins Kriminaltechnische Institut. Sie bekommen sie in den nächsten Tagen zurück.“ „Und warum das alles?“ Der Oberleutnant stellte sich dicht vor ihn hin und sah ihm in die Augen. „Weil Ihr Freund Olaf Lück ermordet worden ist. Weil er in seinem Garten unter einem Beet mit Herbstzeitlose verscharrt wurde.“ Schweigen. Und ein ungläubiger Blick aus Creuzmanns dunklen, ernsten Augen. „Ich muß soviel wie möglich über ihn erfahren und über alle, die ihn gekannt haben. Auch Ihre Fingerabdrücke werde ich nehmen. Und ich ermahne Sie, mir die Wahrheit zu sagen über alles, was Olaf Lück betrifft.“ Langsam, beinahe umständlich packte er die Schuhe ein. „Hat Herr Lück in Schwierigkeiten gesteckt oder sich jemanden zum Feind gemacht? Haben Sie ihn deswegen vielleicht in den vergangenen Tagen besucht, um ihm zu helfen?“ „Ich weiß nichts.“ Langsam stand Creuzmann auf. Etwas Drohendes lag jetzt in seiner Haltung. „Lassen Sie mich allein.“
„Er hatte eine Freundin. Manuela Sanitz. Wie gut kennen Sie das Mädchen?“ „Ich sehe sie selten.“ „Haben Sie eigentlich viele Freunde?“ „Ich hatte nur einen. Nur ihn!“ „Ja, richtig“, sagte Simosch unberührt, „deshalb auch Herrenabend zu zweit.“ Auf Creuzmanns breiter Stirn schwollen die Adern. Sein Atem ging schwer. Panik stand in seinen Augen. „Hier ist eine polizeiliche Vorladung.“ Der Oberleutnant legte einen Zettel auf den Tisch. „Morgen in der Dienststelle nehmen wir alles zu Protokoll. Und da die Quittung für die Schuhe.“ Beim Hinausgehen sagte er mit einem nachdenklichen Blick auf Herrn Creuzmann: „Als sein Freund wissen Sie aber arg wenig über ihn.“
5. Als Simosch die Korridortür aufschloß, goß Christina heißen Tee in ein Glas, tröpfelte Zitrone dazu und vertrat ihrem Mann den Weg zur Küche. „Lokalverbot. Dein Leutnant erwartet dich bei Fräulein Sanitz.“ „Mein Leutnant kann mich…“ „Er war ziemlich durcheinander.“ „Ulbricht verwirrt? Das fehlt noch! Hast du ‘n Schluck Heißes?“ Sie reichte ihm das Teeglas. Er trank im Stehen. „Na, dann bis gleich.“ Er zog ihren Kopf an seine Brust und streichelte ihr Haar. „Bis gleich“, erwiderte sie lächelnd. Und beide wußten, daß „gleich“ ein paar Minuten bedeuten konnte oder etliche Tage und Nächte. Leutnant Ulbricht kam ihm im Flur entgegen. Er wirkte nervös. „Ich komme mit ihr nicht klar“, flüsterte er Simosch zu. Aus dem Wohnzimmer drang verhaltenes Schluchzen. „Sie sitzt da
und weint und… Himmel noch mal! Ich steige lieber mit einem hungrigen Krokodil in die Badewanne, als mich mit einer Frau zu unterhalten, die heult.“ „Was soll sie Ihnen denn verraten?“ „Wir haben bei der Durchsuchung der Wohnung zehntausend Mark in bar gefunden. Versteckt in einer Blechbüchse. Ähnlich wie im Bootshaus.“ „Woher stammt das Geld?“ „Sie sagt, Lück habe es von seiner Frau geerbt.“ / „Warum stopft er es dann in eine Blechdose?“ „Büchse“, korrigierte Ulbricht, und Simosch stutzte. „Gibt es da einen Unterschied?“ „Natürlich. Ich bin nur noch nicht dahintergekommen, welchen. Jedenfalls versteckt er zehn Tausender aus einer Erbschaft und – wollen Sie sich bitte setzen? – hebt sechzigtausend von seinem leeren Konto ab.“ Die letzten Worte sprach er mit gehobener Stimme, rhythmisch betont. Simosch warf ihm einen besorgten Blick zu. „Meiner Frau ist auch aufgefallen, daß Sie heute so seltsam reden.“ Olbricht grinste. „Ich versuch’s noch mal“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „In diesem Haushalt wurden zehntausend Mark versteckt, die angeblich aus einer Erbschaft stammen.“ „Kein Grund, das Geld zu verstecken“, fiel ihm der Oberleutnant leise ins Wort. „Wie wahr! Aber statt’s auf sein Konto einzuzahlen und es Zinsen bringen zu lassen, stopft er die Scheinchen in eine Blechbüchse und hebt von seinem leeren Konto sechzigtausend Mark ab.“ „Also Scheckbetrug.“ „Und das mit dem eigenen Konto! Verrückt. Nun frage ich mich, gibt es Zusammenhänge zwischen dem versteckten Geld und dem Scheckbetrug? Und was weiß Lücks Freundin darüber?“ „Die Zehntausend sind wahrscheinlich ein Teil der Summe, die
Lück durch den Betrug ergaunert hat.“ „Unwahrscheinlich. Die Schecks wurden erst vor ein paar Tagen eingelöst. Aber dieses Geld liegt schon lange hier.“ „Sagt Fräulein Sanitz.“ „Bestätigt der Staub auf der Büchse“, konterte Olbricht. „Wo sind die sechzigtausend Mark?“ „Siebentausend haben Sie im Bootsschuppen gefunden.“ „Bis jetzt nahmen wir an, die stammen aus dem Postraub – falls Lück den begangen hat. Aber selbst wenn es Geld von diesem mysteriösen Scheckbetrug sein sollte, läßt das die Rechnung noch längst nicht aufgehen. Da fehlen noch mindestens kleine dreiundfünfzigtausend Emmchen.“ „Vielleicht hat Lück sie hier und da in Büchsen und Dosen verteilt.“ ,,Danke schön. Ich bin Kriminalist und kein Schatzsucher.“ „Kriminalist sein bedeutet unter anderem, sich in vielen Berufen auszukennen.“ Simosch stieß den Leutnant leicht in die Seite. „Ziehen Sie nicht so eine Leichenbestattungsmiene.“ „Hätte es nicht gereicht, über diesen Mord auf einen ungeklärten Postraub zu stoßen? Muß sich da noch ein Scheckbetrug hineinmurksen? Wer soll denn hier klarsehen!“ „Wir. So im Laufe der Zeit. Kommen Sie jetzt.“ Lücks Freundin saß in gebeugter Haltung, das Gesicht in die Hände gedrückt. „Harter Tag für Sie“, sagte Simosch und berührte leicht ihre Schulter. Ulbricht brachte inzwischen die Büchse mit den gefalteten, fest eingepreßten Geldscheinen. „Das soll einer begreifen!“ Simosch zog dem Mädchen behutsam die Hände vom Gesicht. „Fräulein Sanitz, wir kennen uns doch schon. Wir haben uns damals miteinander unterhalten, als der Postbeamte überfallen wurde. Erinnern Sie sich?“ Sie hob den Kopf und blickte Simosch schweigend an.
„Wir stehen vor einigen Rätseln, und Sie müssen uns helfen, die zu lösen. Sagen Sie, wären diese“ zehntausend Mark zum Beispiel nicht besser auf der Sparkasse aufgehoben gewesen, wo sie obendrein Zinsen bringen?“ Mit traurigen Augen sah sie ihn an, von Tränen verwischte Wimperntusche auf den Wangen. „Wahrscheinlich hatte Olaf Angst, sein Schwager, Gotenbach, könnte dahinterkommen. Der versucht, ihm alles streitig zu machen, was Jana gehört hat.“ „Aber Ihr Freund war doch der offizielle Erbe?“ „Sein Schwager behauptet, Jana hätte ein Testament hinterlassen und ihm das Grundstück und auch Geld vermacht.“ „Aber es gab kein Testament?“ „Was weiß ich.“ Simosch trat an den Tisch, auf dem der Leutnant einen Stadtplan ausgebreitet hatte. Daneben lag ein Scheckheft. „Berlin also“, sagte Simosch. Fast in allen Stadtbezirken Berlins waren die Postämter rot unterstrichen. Eine mit Bleistift gezogene Linie längs der Straßen verband sie miteinander. „Die Fahrtroute.“ Und zu dem Mädchen gewandt, fragte Simosch: „Gehört dieser Plan Ihnen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Olaf wird ihn mitgebracht haben.“ „Nummer zwei.“ Ulbricht legte ein Scheckheft mit der Postscheckkontonummer 6897 auf den Stadtplan. „Heft vier ab Blatt fünf.“ Er sprach wieder verhalten, nur für Simosch hörbar. „Und die fehlenden Blätter? Und Scheckheft eins bis drei?“ fragte der Oberleutnant halblaut zurück. „Sind eingelöst worden. Aber sie waren nicht gedeckt.“ Der Leutnant berichtete, was er in den vergangenen Stunden ermittelt hatte. Beim Postscheckamt Dresden wurde von Herrn Olaf Lück das Postscheckkonto Nummer 6897 eröffnet. Das geschah wenige Wochen nach dem Überfall auf den Postbeamten, zu jener Zeit,
als man Fräulein Sanitz zum zweiten Male nach ihrem Freund befragte. Herr Lück zahlte 50 M ein. Bis wenige Tage vor seiner Ermordung erhielt er insgesamt vier Scheckhefte. In Dresden wurde kein einziger Scheck eingelöst. Doch in Berlin, und zwar in all jenen Postämtern, die auf dem Stadtplan unterstrichen waren, hatte sich Olaf Lück Bargeld auszahlen lassen. Insgesamt waren 68 Barschecks eingelöst worden, das heißt, Lück hatte rund 60 000 Mark erhalten. Außerdem waren ungedeckte Verrechnungsschecks in Höhe von etwa 3 000 M aufgetaucht. Simosch wandte sich wieder an das Mädchen, das teilnahmslos im Sessel saß. „Fräulein Sanitz, wußten Sie, daß Ihr Freund ein Postscheckkonto besitzt?“ „So was hat mich nicht interessiert.“ „Falls es Sie interessiert, wer ihn getötet hat, sollten Sie uns gegenüber etwas aufgeschlossener sein. Wir fragen Sie nicht aus persönlicher Neugier.“ Sie wischte über die Augen und schneuzte sich. „Um seine Finanzen habe ich mich wirklich nicht gekümmert.“ Simosch setzte sich zu ihr. „Aber sie haben doch zusammen gelebt. Da gibt es gemeinsame Ausgaben.“ „Er war nie knauserig. Wenn ich was brauchte, hab’ ich’s gekriegt.“ „Mit wem war er in Berlin?“ fragte Olbricht. Sie lehnte den Kopf zurück, Tränen liefen über ihre große Nase, rannen die Mundwinkel herab und tropften auf den Kragen der Bluse. „Ich bin so müde“, sagte sie, „lassen Sie mich doch in Ruhe. Ich weiß nicht, mit wem er in Berlin gewesen ist, und nicht, was er dort zu tun hatte.“ Plötzlich richtete sie sich auf, und ihre Stimme wurde fester. „Ich bin nicht Jana. Die hat ihn fertiggemacht. Er brauchte nur zur Tür zu gehen, schon ging’s los! Wo willst du hin? Was hast du vor? Wer ist bei dir? Wann kommst du wieder? Sie hat ihm die Luft zum Atmen nicht gelassen!“
Simosch erinnerte sich an Frau Bachmanns Beschreibung der Ärztin. Wahrscheinlich würde er über Jana ebenso wie über Olaf Lück noch etliche widersprüchliche Schilderungen erhalten. Je diffiziler ein Charakter, um so verschiedenartiger die Meinungen über ihn. Simosch achtete darauf, welche Wesenszüge hervorgehoben wurden. Es half ihm, sein Bild über den Sprechenden ebenso zu vervollständigen wie über denjenigen, den es einzuschätzen galt. „Wer war Olafs bester Freund?“ fragte er unvermittelt. „Dirk Creuzmann.“ „Kam er oft hierher?“ Energisches Kopfschütteln. „Olaf ging zu ihm. Creuzer macht sich nicht viel aus mir.“ „Warum?“ „Weil ich Olafs Ehe auseinandergebracht habe – wie er sagt. Bloß, da war nicht viel auseinanderzubringen. Aber von so was hat Creuzer keine Ahnung.“ „Was hat denn Ihren Freund und Herrn Creuzmann verbunden? Doch wohl nicht nur die Gewohnheit, über Jahre miteinander bekannt zu sein.“ „So ‘n ungleiches Paar wie die beiden gibt’s selten. Olaf, der kann was auf die Beine stellen, aber Creuzer muß außer zu seiner Arbeit zu allem angeschubst werden. Hätte Olaf nicht Dampf wegen ‘ner Wohnung gemacht, würde Creuzer noch mit vierzig bei seiner Großmutter hocken.“ „Hat er keine Freundin?“ „Komischerweise kommt der Typ an bei Mädchen, aber er scheut sich vor einer Bindung. Bei Oma war’s wohl bequemer. Olaf hat ihm auch Privatkundschaft besorgt. Er ist ‘n erstklassiger Elektriker und könnte sich ‘ne goldene Nase verdienen, aber eh’ der von sich aus mal an ‘ne Tür klopft…“ „Was hat er denn Ihrem Freund bedeutet?“ „Olaf sagte: ,Auf Creuzer kann ich mich jederzeit verlassen.’„ Mit einem Wink bedeutete Simosch dem Leutnant, Geld, Karte und Scheckheft einzupacken und das Zimmer zu verlassen.
„Wir müssen das beschlagnahmen“, erklärte er Fräulein Sanitz. „Bitte, überlegen Sie noch einmal, mit welchen Personen außer Herrn Creuzmann Ihr Freund in letzter Zeit noch zusammengekommen ist und wer nicht gut auf ihn zu sprechen war.“ Sie nickte. „Übrigens, wußten Sie, daß Herr Lück siebentausend Mark im Bootsschuppen versteckt hatte? In einer Blechbüchse?“ „Nein“, sagte sie gleichgültig. „Was meinen Sie, woher dieses Geld stammt?“ „Vielleicht war es eine Anzahlung von Herrn Schiffel, der das Grundstück kaufen wollte.“ Draußen sagte Ulbricht kopfschüttelnd: „Das ist ein Ding! Scheckbetrug mit dem eigenen Konto. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.“ „Wir gehen zur Dienststelle“, schlug Simosch vor, „und durchdenken die Sache in Ruhe. Morgen früh müssen wir imstande sein, mit unseren Ermittlungen gleich in die richtige Richtung zu marschieren.“ „In meinen Kopf geht heute abend nichts mehr ‘rein.“ Ulbricht schlug fröstelnd den viel zu weiten Mantel um den Leib. „Nicht, bevor ich was im Magen habe. Ich werde immer dürrer.“ „Dafür wird Ihr Hemdkragen immer speckiger. Das wollte ich Ihnen schon den ganzen Tag über sagen. – Kommen Sie mit in die ,Gulaschhütte’. Fühlen Sie sich eingeladen.“ In einer Nische fanden sie Plätze, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Der Oberleutnant bestellte zwei Suppen, Gulasch und Bier. Mit Ulbricht war erst zu sprechen, als er die heiße Suppe verschlungen hatte. „Das war mein Frühstück“, sagte er, „gleich kommt das Mittagessen, und hinterher trinken wir Abendbrot. Feiner Tag heute.“ „Wenn wir nichts Wichtigeres zu tun hätten“, sagte Simosch, „müßten wir uns ernsthaft über Ihren Lebenswandel unterhalten.“
Der Leutnant winkte ab. „Beschäftigen wir uns mit Lück. Der kann doch nicht quer durch Berlin von einem Postamt zum anderen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren sein?“ „Vielleicht hatte er sich einen Leihwagen besorgt oder ein Fahrzeug unbefugt benutzt.“ „Wenn er das Ding allein gedreht hat, kann er sich auch ein Taxi geleistet haben. Bei Scheckbetrug mit dem eigenen Konto unter Vorlage des eigenen Personalausweises hatte er doch ohnehin nichts zu verbergen. – War der überhaupt zurechnungsfähig?“ „Daraufhin können wir ihn nicht mehr untersuchen lassen. Jedenfalls mußte er damit rechnen, daß man ihn nach zwei, drei Tagen festnimmt.“ Der Kellner brachte das Gulasch, sie aßen schweigend. Olbricht, der seinen Teller zuerst geleert hatte, sagte: „Wenn er einen Mittäter gehabt hat, muß was schiefgelaufen sein, und sie haben sich in die Wolle gekriegt.“ Simosch zuckte kauend die Schultern. „Wenn er aber das Ding allein gedreht hat“, spann Olbricht seinen Faden weiter, „ist er der ausgekochteste Kerl, der mir seit langem begegnet ist.“ „Er ist tot.“ „Es ist schon vorgekommen“, redete Ulbricht auf ihn ein, „daß der Tote gar nicht der war, für den man ihn hielt, und daß derjenige, statt tot zu sein, mit viel Geld ein lustig Leben führte.“ „Der Tote war Olaf Lück“, sagte der Oberleutnant. „Und nun bleiben Sie mal mit Ihren Vermutungen im Bereich des Möglichen. Ob er allein war oder nicht, im Grunde kann er nur eines vorgehabt haben: die Republik zu verlassen. Wo hätte er hier unterkriechen können, jahrelang, unter falschem Namen, ohne oder mit gefälschtem Personalausweis?“ „Dabei saß er so schön im gemachten Nest. Freundin, Wohnung, Erbschaft.“
„Hinter das Motiv kommen wir auch noch.“ „Dafür, daß er verduften wollte, spricht auch der Grundstücksverkauf.“ „Ich werde mich mit den zuständigen Leuten in Verbindung setzen. Außerdem prüfen wir jede Möglichkeit, die Lück hatte, um mit einem Wagen nach Berlin und dort von Postamt zu Postamt zu fahren.“ „Wir?“ fragte Olbricht mit übertriebenem Interesse. „Sie“, entschied der Oberleutnant. „Ziehen Sie auch im Salon ,Figaro’ Erkundigungen ein. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie die Gelegenheit für einen Haarschnitt nutzen.“ Olbricht grinste, wurde in der nächsten Sekunde ernst und fragte: „Vielleicht wußte Lück gar nicht, daß kein Geld auf dem Konto war. Was halten Sie davon?“ „Außer ihm hat niemand etwas abgehoben.“ „Das muß nichts besagen. Vielleicht hat jemand nicht eingezahlt. Jemand, auf den er sich verlassen und der ihn angeschmiert hat.“ „Und ermordet.“ Simosch überlegte. „Auch das wäre möglich. Sie fahren Montag früh nach Berlin, und zwar die gleiche Tour wie Lück. Sie sprechen in den Postämtern vor und zeigen die Fotos.“ „Von wem?“ „Von jedem, den wir bis jetzt als Lücks Bekannten ausgemacht haben. Schwager Wolfram Gotenbach, Direktor Schiffel, der sein Grundstück kaufen wollte, Dirk Creuzmann, der den Kauf vermittelt hat, die Freundin Manuela Sanitz. Und – Moment mal…“ Simosch stand auf, ging zum Kellner, der am Nebentisch bediente, und fragte, wo er telefonieren könne. Er wählte die Privatnummer von Wachtmeister Schulz. Eine verschlafene Stimme fragte: „Ja, bitte?“ „Tut mir leid, Reinhard“, sagte Simosch. „Der Schlaf vor Mitternacht soll bekanntlich der gesündeste sein. Aber ich brauche eine Auskunft. Als Lücks Freundin zu dir kam, hattet ihr ein paar Jugendliche aufgegriffen, und einer von denen
kannte Fräulein Sanitz. Wer war dieser Junge?“ „Keine Ahnung.“ Lang anhaltendes Gähnen. „Überleg doch mal.“ Schweigen. „Jetzt hab’ ich’s. Andi war’s. Ja, sie kannte Andreas Bieleke.“ „Durch Lück?“ „Sie sagte, er habe ihn zwei- oder dreimal mit nach Hause gebracht.“ „Weißt du mehr über ihn?“ „Ein junger Mann Anfang Zwanzig. Unsererseits hat nie etwas gegen ihn vorgelegen. Riskiert nur gern die große Lippe. Als die Jungen den Park verschmutzt haben, hing er auch nicht mit drin, fiat aber uns gegenüber den starken Otto gespielt und so dußlig geredet, daß wir ihn einfach mitnehmen mußten. Arbeitet als Kraftfahrer. Wo, das weiß ich nicht aus dem Hut.“ Zu Ulbricht zurückgekehrt, sagte Simosch: „Beschaffen Sie sich Informationen über einen gewissen Andreas Bieleke, und nehmen Sie auch sein Foto mit nach Berlin. Außerdem müssen Sie den Namen von Herrn Randolfs ehemaliger Freundin ermitteln. Versuchen Sie, soviel wie möglich über sie zu erfahren, und besorgen Sie sich auch von ihr ein Foto.“ Sie tranken ihr Bier aus, Simosch zahlte. Der Leutnant sagte seufzend: „Morgen ist Sonntag. Du sollst den Feiertag heiligen!“ „Soviel Freizeit wird Ihnen noch bleiben, daß Sie Ihre Hemden waschen können. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Auf meinem Plan stehen noch ein Direktoren- und ein Barbesuch.“ 6. Das Wort „Kriminalpolizei“ quittierte Justus Schiffel mit einem fragenden Blick und der Aufforderung einzutreten. Der Oberleutnant bedankte sich, legte Mütze und Mantel ab, betrachtete mit Interesse das frisch gebohrte Loch in der Wand und folgte Herrn Schiffel. Auf der Auslegware im Wohnzimmer lag ein dicker, weicher Teppich. Ausgesuchte Stilmöbel, unter ihnen ein besonders
schöner Sekretär, dazu passende Sessel und Couch, mußten jeden Besucher beeindrucken. Doch das Glanzstück war der Ofen aus alten Kacheln mit Landschaftsmalerei. „Er ist rund hundert Jahre alt. Manchmal schaue ich ihn an und denke, er hat trotz seines Alters nichts an Schönheit ein gebüßt – und der Mensch?“ Simosch schwieg, betrachtete nachdenklich den Direktor. Ein Mann mit Charakterkopf. Hohe, breite Stirn, ausgeprägtes Hinterhaupt und kräftiges Kinn. Der Hausherr wies auf einen der Sessel. Simosch nahm Platz und sah zu, wie Herr Schiffel den Sekretär abräumte, der mit Notizen, Zeichnungen und Heftern belegt war. „Sie arbeiten noch am Samstagabend?“ Simosch hatte es selten eilig, den Grund seines Besuches zu nennen. Er ließ die Atmosphäre auf sich wirken. „Manchmal schaffe ich bis in die Nacht hinein“, erwiderte der Direktor und fügte mit einem kleinen Augenzwinkern hinzu: „Ich gehöre zu den Ehrgeizigen, bin zum Leiter avanciert und habe mir vorgenommen, ein guter Chef zu sein. Obwohl krank geschrieben, kann ich die Arbeit nicht lassen. Verraten Sie es niemandem.“ Er legte die Papiere in ein Schrankfach und entnahm einem anderen zwei Römer. „Einen Schluck Rotwein schlagen Sie mir sicherlich nicht ab.“ „Weshalb sollte ich?“ Simosch lächelte. „Auch mein Dienst macht durstig.“ Herr Schiffel brachte eine Flasche Malaga. „Sie möchten ein Grundstück erwerben, Herr Schiffel?“ „Ich habe sogar ein Wassergrundstück mit Bootsschuppen und Segelboot in Aussicht.“ „Wie heißt der Verkäufer?“ „Olaf Lück.“ „Ist der Verkauf schon perfekt?“ „Wir sind uns einig. Doch Herr Lück scheint die Angelegenheit in die Länge zu ziehen.“ „Wieso?“
„Er wollte gestern abend mit allen erforderlichen Unterlagen zu mir kommen. Ich habe bereits in der nächsten Woche einen Termin beim Notar arrangiert. Leider hat Herr Lück unsere Verabredung nicht eingehalten.“ Er hob das Glas, hielt es einen Augenblick lang auffordernd in der Hand, bis auch Simosch zulangte. Dann tranken sie. „Woher kennen Sie Herrn Lück?“ „Durch Vermittlung unseres Betriebselektrikers, Kollegen Creuzmann. Der hat mir den Tip gegeben, und ich habe mich sofort gekümmert. Herr Lück ist übrigens ein ausgezeichneter Friseur. Geschickt, umgänglich, angenehm.“ Mit leichtem Stirnrunzeln fügte er hinzu: „Unerklärlich, weshalb er nicht von sich hören läßt.“ „Herr Lück ist gestern abend getötet worden.“ „Getötet?“ „Man hat ihn auf dem Grundstück, das Sie kaufen wollten, erschlagen und vergraben.“ Aus Schiffels Gesicht war das Blut gewichen. „Das muß nichts mit Ihnen zu tun haben.“ Der Oberleutnant erwartete, daß der Mann sich nun verteidigen und darauf hinweisen würde, wie nutzlos Lücks Tod für ihn sei, doch Herr Schiffel schwieg. „Falls Sie mehr wissen über Herrn Lück und dessen Bekanntenkreis, sollten Sie es mir erzählen.“ Die Bestürzung, die Schiffels Züge überschattete, wich langsam einer tiefen Ratlosigkeit. „Da kann ich Ihnen nicht behilflich sein“, sagte er. „Ich weiß nur eines – falls Herr Lück vor zwanzig Uhr getötet wurde, habe ich kein Alibi.“ „Wo sind Sie denn gewesen?“ „Hier in diesem Zimmer. Mit einer Fango-Heilpackung auf den Schultern, eingehüllt in eine Wolldecke. Ärztlich verordnetes Kampfmittel gegen die Arthrose – und ein Anblick, den man aus Eitelkeit Freunden ebenso erspart wie Fremden. In den letzten Tagen war’s so schlimm, daß mich der Arzt krank schreiben mußte.“
„Hatten Sie Besuch, der bezeugen kann, daß Sie zu Hause waren? Es ist uns eine große Hilfe, möglichst viele Personen, die den Ermordeten kannten, als Täter auszuschließen.“ „Ich verstehe, nur mein Besuch hatte sich verspätet, so daß ich erst gegen zwanzig Uhr fünfzehn ein Alibi aufweisen kann.“ „Wer war der Besucher?“ „Kollege Creuzmann. Ich hatte ihn gebeten, mir eine Lichtleitung in mein umgebautes Bad zu legen.“ „Ist Ihnen gestern abend an Herrn Creuzmanns Benehmen etwas aufgefallen?“ „Schwer zu sagen.“ Schiffel zögerte. „Ich kenne ihn nicht gut genug, um auf Anhieb Unterschiede in seinem Verhalten festzustellen. Er kam mir lediglich nervös vor, sagen wir wie ein Mensch, der eine Sache tut und an eine andere denkt. Das fiel auch meiner Bekannten auf, Frau Lamprecht, die am Abend noch hereinschaute. Sie ist Kaderleiterin in unserem Betrieb und kennt daher den Kollegen Creuzmann auch.“ „Haben Sie ihm eine Abfindung für seine Vermittlung versprochen?“ „Er ist der Freund von Herrn Lück…“ Der Direktor hielt inne. „War sein Freund. Herr Lück meinte, das sei seine Sache, das brächte er in Ordnung.“ „Wissen Sie, ob Herr Creuzmann in den vergangenen Tagen nach Berlin gefahren ist?“ „Ich weiß es nicht. Ich hatte mit mir zu tun.“ „Und Sie selbst? Waren Sie kürzlich in Berlin?“ Mit bedauerndem Lächeln erklärte Herr Schiffel: „Meine Arthrose hat mir nur gestattet, mich mit steifen Schultern bis zum Arzt zu schleppen.“ Simosch erhob sich und dankte für die Auskünfte. Als er an der Tür stand, fragte der Direktor wieder ungläubig: „Olaf Lück, auf seinem Grundstück – vergraben?“ Simosch nickte. „Und zwar von einem, der es eilig hatte.“ Eine der Empfangsdamen an der Rezeption überreichte Si-
mosch das Kuvert. Es enthielt einen Zettel. Sie finden mich an der Bar, stand darauf. Unterschrift: W. Gotenbach. Der Oberleutnant gab seine Garderobe ab und ging auf den Barraum zu. Ein kleiner Mann im schwarzen Anzug mit einem überdimensionalen grellgelben Schlips vertrat ihm den Weg. „Es ist leider überfüllt, mein Herr.“ Simosch hatte selten eine so freundliche Drohung gehört. „Für mich ist immer noch Platz“, sagte er und griff in die Tasche. Der Kleine mißdeutete diese Geste und erwartete einen Geldschein. Simosch schüttelte den Kopf. „Bei mir nicht. Freikarte.“ Er hielt dem Mann seinen Ausweis unter die Augen. Als der gelesen und begriffen hatte, stammelte er: „Um Himmels willen! Darf ich unauffällig jemanden für Sie herausholen?“ „Ziehen Sie nicht so ein Katastrophengesicht“, mahnte Simosch, „was sollen denn Ihre Gäste denken. Also, lächeln und beiseite treten.“ Der Mann zupfte an seinem gelben Schlips, zog den Mund breit und gab mit gesenktem Kopf den Weg frei. Neben der Tür blieb Simosch einen Moment stehen, schloß die Augen und konnte, als er sie wieder aufschlug, in dem schummrigen Licht immerhin schon Menschen von Säulen unterscheiden. Die Säulen umgrenzten eine kleine kreisförmige Tanzfläche, hinter ihnen war der Raum in Nischen geteilt, und nach dem, was Simosch beobachten konnte, boten diese Nischen Möglichkeiten verschiedenartigster Anbahnungsversuche. Manche hielten sie ungeniert für den Ersatz der häuslichen Couch, doch für einige blieben sie Inseln der Einsamkeit. Gotenbach war nicht zu sehen. Auch an der Bar saß er nicht. Die Musiker intonierten eine Melodie, und die ersten Paare drängten zur Tanzfläche. Simosch schlenderte von Säule zu Säule, begleitet von begehrenden Blicken dreier Mädchen, die auf einer dieser Inseln saßen und vergebens auf Befreiung hofften. Der Sänger nahm das Mikrofon zur Hand und pries gliederverrenkend die Vorzüge eines Bettes im Kornfeld. Da
entdeckte der Hauptmann Wolfram Gotenbach. Er saß inmitten einer Schar englisch sprechender junger Damen, sein Blick war verschwommen, das Lächeln, mit dem er die Damen bedachte, wirkte aufgesetzt. Simosch legte ihm die Hand auf die Schulter, nickte den Damen zu und sagte: „Wir wollten miteinander sprechen.“ „Fein.“ Gotenbach leerte sein Glas. „Sie sind betrunken.“ „Um mich betrunken zu finden, kommen Sie zu früh.“ „Who is that?“ fragte eine der Damen, blickte Simosch unverwandt an und fuhr mit der Zunge am Rande ihrer Oberlippe entlang. „My friend.“ Gotenbach grinste. „Kommen Sie. Wir unterhalten uns in Ihrem Zimmer.“ Simoschs Griff wurde fester. „How nice! Your friend is also my friend“, stellte die Dame augenzwinkernd fest. Gotenbach erhob sich. „Please, excuse me, ladies. My friend has got some problems.“ Jetzt war er es, der Simosch die Hand auf die Schulter legte, und dort ließ er sie liegen, bis sie die Tür erreicht hatten. Es sah aus, als schiebe er Simosch aus dem Raum. Der Kleine mit dem grellgelben Schlips staunte ihnen mit offenem Mund entgegen. Im Vorraum nahm Gotenbach die Hand von Simosch und winkte den Mädchen an der Rezeption zu. „Falls Onkel Wolfram morgen um acht nicht am Frühstückstisch sitzt, holt ihn ‘runter!“ Die Mädchen kicherten, nur eine Blondine mit hellen, kühlen Augen sagte ernsthaft: „Ihr Weckruf ist vermerkt, Herr Gotenbach.“ „Sie sind und bleiben die Perle dieses Hotels“, erwiderte der Dolmetscher mit einer leichten Verbeugung und folgte Simosch in den Fahrstuhl, dessen Tür sich vor ihnen öffnete. „So“, sagte er, während sie nach oben glitten, „Ende des heiteren Teils.“ Er atmete tief, die Gesichtsmuskeln strafften sich, sein Blick war plötzlich klar und herausfordernd.
Er war nicht halb so betrunken, wie Simosch angenommen hatte. Er mußte auf der Hut sein. Dieser Mann hatte das Zeug, ihn aufs Kreuz zu legen. Im Hotelzimmer steckte sich Gotenbach eine Zigarette an, rauchte einige Züge und sagte: „Sie nehmen doch nicht etwa an, ich hätte etwas mit seinem Tod zu tun.“ „Mich interessiert, wie sie zu Ihrem Schwager gestanden haben. Bleiben Sie der Einfachheit halber bei der Wahrheit, Herr Gotenbach. Letztlich kriege ich doch heraus, was gelogen ist. Weshalb sind Sie auf sein Grundstück gekommen? Erzählen Sie mir nicht wieder, seine Freundin hätte Sie hingeschickt. Die wußte nicht, wo er war.“ „Na schön. Ich hatte mich mit Olaf auf seinem Grundstück verabredet.“ „Am Abend, als wir seine Leiche fanden, oder – vielleicht schon einen Tag früher?“ „An jenem Abend und genau um die Zeit, als ich dort aufgetaucht bin.“ „Was wollten Sie von Ihrem Schwager?“ „Erbschaftsangelegenheiten regeln.“ Simoschs Blick zwang ihn weiterzusprechen. „Als er Jana kennenlernte, war er ein Nichts. Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet an ihm einen Narren gefressen hatte.“ „Doch“, sagte Simosch, „Sie wissen. Und für mich ist es wichtig, soviel wie möglich über Herrn Lücks Vergangenheit zu erfahren.“ „Jana war sehr einsam. Seit ihr erster Mann sie verlassen hatte, war sie nur noch für ihre Patienten da.“ „Wer war dieser Mann?“ „Ein Wissenschaftler. Sie hatten ein Kind zusammen. Aber es starb schon als Baby an einem Hirntumor. Danach hat sie nie wieder den Mut zu einem Kind gehabt.“ „Warum hat dieser Mann sie verlassen?“ „Er war Ausländer. Er kehrte in sein Land zurück.“ „Mußte Ihre Schwester damit nicht rechnen?“
„Vielleicht hat sie’s getan und sich überschätzt. Vielleicht wäre vieles anders gekommen, wenn das Kind gelebt hätte. Aber Kind und Mann zu verlieren, das konnte sie nicht verkraften.“ „Hat sie sich sofort Herrn Lück zugewandt?“ Gotenbach schüttelte den Kopf. „Nein. Sie war wie eine Pflanze, um die sich niemand kümmert. Sie welkte dahin. Ja, ich kann es Ihnen mit keinem besseren Wort beschreiben. Sie welkte. Keine Fröhlichkeit mehr, keine Frische, kein Unternehmungsgeist in privaten Dingen, nur Arbeit. Sie vertrat kranke Kollegen, übernahm Nachtdienste. Sie gehörte zur Klinik wie das Skalpell in den Operationssaal, wurde mager, blaß und bekam den strengen, verkniffenen Zug um den Mund. – Zu jener Zeit hatte Olaf Lück einen Unfall…“ Mit der Dunkelheit kam die Angst. Olaf Lück fühlte sich allein. Der Druck im Kopf wurde unausstehlich, Furcht preßte ihm das Herz zu einem schmerzenden Klumpen zusammen. Er tastete nach dem Klingelknopf. Nach einer Weile fühlte er, wie jemand seine verkrampfte Hand zu lösen suchte. Ein Arm schob sich unter seinen Nacken, hob ihn vorsichtig an. Etwas Kühles berührte seine Lippen, Flüssigkeit lief über die Zunge. Er schluckte. Durch einen grauen Schleier hindurch sah er ein Augenpaar auf sich gerichtet. Langsam glitt sein Kopf auf das Kissen zurück. Im Sinken spürte er wieder Angst. Die Augen kamen näher. Ihr Blick strahlte Kraft aus, löste die Beklemmung in ihm und ließ ihn ruhig werden. Langsam formte sich ein Gesicht um die Augen, blaß, energisch und sorgenvoll. Das Gesicht der Mütter. Er nahm es mit in den Schlaf hinüber. Von jener Stunde an hielt dieses Gesicht das Fünkchen in ihm am Glimmen, das die einen Lebenswillen, die anderen Hoffnung oder Zukunftsglauben nennen. Eines Tages bemerkte er mehrere Ärzte und Schwestern neben seinem Bett, lächelnd, zufrieden, ihm und sich Glück wün-
schend. „Mein Name ist Gotenbach“, sagte die Frau im weißen Kittel, deren Gesicht ihm vertraut war. „Wir werden Sie noch ein Weilchen bei uns behalten. Wie lange, das hängt unter anderem auch von Ihnen selbst ab.“ Lücks Zustand besserte sich nur langsam, doch im Rahmen dessen, was die Mediziner als normal bezeichneten. Als er aufstehen durfte, versuchte er, sich nützlich zu machen. Bald war er mit den Schwestern ebenso vertraut wie mit dem Küchenpersonal, er hörte ihren Klatsch über Patienten und Ärzte und bemerkte, daß es über Frau Doktor Gotenbach nichts zu klatschen gab. Ein Kind war ihr gestorben, und sie hatte den Mann verloren. Weiter wußte man nichts über sie. Olaf Lück sah sie häufiger auf der Station als andere Ärzte. Das straff im Nacken verknotete Haar ließ ihr Gesicht streng, die Nase spitz erscheinen. Bemerkenswert waren nur die Augen. Ihm fiel auf, daß sie zwar immer freundlich und voller Güte war, doch nie lächelte. Er stellte sich vor, wie sie spätabends oder erst morgens vom Nachtdienst nach Hause kam, sich erschöpft ins Bett warf, nach viel zu kurzem Schlaf aufstand, schnell etwas aß und wieder ins Krankenhaus eilte. Auch wenn sie keine Schönheit war, erschien es Lück ungerecht, daß das Leben sie so beiseite schob. Ob sie manchmal vor einem Schaufenster stehenblieb? Interessierte sie sich für Filme, für Musik? Wie würde sie reagieren, wenn ein Mann sie ansprach? Am Tag vor seiner Entlassung rief sie ihn zu einem letzten Gespräch zu sich. Als sie ihn verabschieden wollte, sagte er: „Was ich Ihnen zu verdanken habe, wissen Sie besser als ich. Wahrscheinlich vermag kein Mensch eine Gegenleistung für das zu erbringen, was er seinem Arzt schuldet. Wenn ich Ihnen wenigstens eine kleine Freude machen könnte.“ „Sie sind noch längst nicht arbeitsfähig, Herr Lück. Halten Sie sich in den folgenden Wochen ebenso an meine Anweisungen wie hier im Krankenhaus. Dann kann ich bald mit Freude feststellen, daß ich Sie völlig wiederhergestellt habe.“ Un-
vermittelt fragte er: „Hören Sie gern Musik?“ „Ja. Aber die Zeit…“ Sie lächelte entschuldigend. „Noch in dieser Woche komme ich mit einer Karte fürs Konzert oder für die Oper. Sie werden meine Einladung annehmen, nicht wahr?“ „Ein selbstbewußter junger Mann. Der Oberarzt wird Sie in Ihre Schranken weisen. Aber ich danke Ihnen.“ Im Foyer waren schon eine Menge Leute, standen plaudernd in Gruppen, lasen im Programmheft oder warfen verstohlene Blicke in die Wandspiegel. Neben der Kasse kramte eine große, schlanke Frau in ihrer Handtasche. Sie trug einen langen dunkelblauen Samtrock, auf dem rosarote Flammen züngelten, und passend zu dieser Farbe war die Bluse. Ein breites Dekollete gab den Ansatz ihres kleinen festen Busens frei. Das braune Haar war locker hochgesteckt, betonte den Hinterkopf und fiel in weichen lustigen Löckchen über Stirn und Schläfen. „Guten Abend, Herr Lück“, sagte sie. In Gedanken zog er ihr den Arztkittel über. Er scheuchte das feine Lächeln von ihren Lippen, stellte sie sich blaß und verkniffen vor, das Haar stumpf, im Nacken straff verknotet. Zu der Person, die er suchte, wurde sie nicht. Die Augen… Er erkannte sie an den Augen. Ihr eindringlicher Blick konnte die Ärztin nicht verleugnen. Er hatte sich für ihr Kommen bedanken, nach der Arbeit auf der Station fragen wollen, hatte sich Worte und Sätze zurechtgelegt für diese Frau, die er verehrte und zugleich bedauerte. Jetzt nahm er ihre Hand, drückte seine Lippen darauf und murmelte: „Sie sehen bezaubernd aus.“ „Wie haben Sie das nur angestellt? Es war schon abgesprochen, daß ich heute für eine Kollegin den Nachtdienst übernehme.“ „Ich habe ihrem Oberarzt eine ganz einfache Frage gestellt.“ Es klingelte zum zweiten Mal. „Ja?“ „Wie lange er noch braucht, um sein Experiment abzuschlie-
ßen.“ „Welches Experiment?“ „Das wollte er auch wissen. Und ich sagte: Nun, Ihren Versuch, einen Menschen in einen Roboter zu verwandeln.“ „Der Ärmste. Er hat mir persönlich mit einem Gruß von Ihnen die Karte übergeben. Und morgen wird der Dienstplan überprüft. Sie haben auf unserer Station eine Art Rebellion angezettelt.“ Sie lehnte ab, nach dem Konzert noch ein Glas Wein mit ihm zu trinken, versprach aber, sich für diese Einladung zu revanchieren, und ließ sich die Telefonnummer vom Salon „Figaro“ geben. „Es war ein wunderschöner Abend“, sagte sie und ließ vor seiner Nase die Tür ins Schloß schnappen. Im Konzertsaal hatte er sie unauffällig betrachtet. Wie war’s möglich, daß so viel Reiz unter einem Arztkittel einfach verschwinden konnte? Am darauffolgenden Freitag rief sie im „Figaro“ an und lud ihn für Samstag nachmittag zum Kaffee ein – falls er frei sei. Sein Kollege überbrachte ihm die Nachricht nach Feierabend. Olaf Lück war froh, daß er sich nicht sofort entscheiden mußte. Die begehrenswerte junge Frau, neben der er im Konzertsaal gesessen hatte, verwandelte sich für ihn immer wieder in die reizlose Ärztin mit dem abgespannten Gesicht. Laß die Finger davon, sagte er sich. Zeit deines Lebens bist du komplizierten Beziehungen aus dem Weg gegangen und gut gefahren dabei. Er versuchte zurückzufinden zu dem Gefühl der Dankbarkeit und Verehrung für die Ärztin, die ihm in schmerzgepeinigten Nächten beigestanden hatte. Wenn er am Samstag zu ihr ging, würde er sich Zurückhaltung auferlegen. Doch warum sollte er ihr weh tun und sie allein am gedeckten Kaffeetisch sitzen lassen? Es war nichts als der Wunsch, ihr eine kleine Freude zu bereiten, wenn er hinging. Im Grunde seines Herzens wußte er, daß es das erste Nachgeben einer großen Versuchung war.
Sie empfing ihn in einem schlichten Hauskleid. Wie raffiniert es ihre Figur zur Geltung brachte, fiel ihm erst später auf. Den Kuchen hatte sie selbst gebacken, und unwillkürlich dachte er: Das kann sie also auch. Ungezwungen plauderten sie über das, was ihnen in den Sinn kam. Sie bat ihn, eine Platte nach seiner Wahl aufzulegen, falls er eine fände. Mehr als ihre Sammlung interessierte ihn der Stereoplattenspieler. Es war das neueste Modell. Nach dem Kaffee schlug sie noch einen Abstecher zu den Elbwiesen vor. Es war Mai, der Tag ungewöhnlich warm, und eine Stunde im Boot auf dem Wasser würde ihnen guttun. Während sie sich umkleidete, betrachtete Olaf Lück in Ruhe das Zimmer. Stilmöbel, elegant, reizend anzusehen wie sie selbst. Welche Epoche interessierte ihn nicht. Ein Eckschrank. Farbiges Glas. Zinnkrüge. Schrankwand. Schreibtisch. Aquarium. Wie armselig dagegen sein Ausbauzimmer mit zusammengetragenen Möbeln. Sein Geld reichte immer nur zum Leben, für Neuanschaffungen blieb nichts übrig. Und wer nutzte diesen Komfort hier? Die Fische versorgte die Nachbarin. Der Stereoplattenspieler schwieg sicherlich wochenlang. Der Fernseher, klein und schon veraltet, schien als Relikt in der Ecke zu stehen. Es war ein Jammer. Um die Frau, um die ungenutzten Möglichkeiten. Die Gastgeberin stand in der Tür. Weiße Jeans, hellblauer, gut sitzender Pullover, das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, Löckchen in der Stirn, dezent geschminkt. Die Verwandlungen, Dame, Hausfrau, flottes Mädchen, das Vorführen von Wohnung, Grundstück, Boot, geschah das alles unbewußt? Entsprang das dem Drang, in ein paar Stunden Gemeinsamkeit alles hineinzuwerfen, was monatelang versäumt worden war? Ahnte sie nichts von der Verlockung, die von ihr ausging? Vom Grundstück zurückgekehrt, lud sie ihn zum Abendbrot ein, und er saß zum zweiten Mal in ihrer Wohnung. Während sie aus Kristallgläsern Wein tranken, dachte Lück an die
„Scharfe Ecke“, in der er mit seinem Freund Dirk Creuzmann verabredet war. Er, der Friseur Olaf Lück, müßte sich jetzt erheben, einige Dankesworte stammeln und verschwinden. Frau Doktor Gotenbachs Welt war nicht die seine. Er blieb sitzen. Neue Welten konnte man sich erschließen. Aber diese bezaubernde Frau würde am Montag wieder in den weißen Kittel schlüpfen, abends sorgenbeladen und müde in ihre Komfortwohnung zurückkehren oder zum Nachtdienst bleiben. Die Ärztin wird immer der Frau im Wege stehen und die Frau der Ärztin. Mach dir das Leben nicht problematisch, Lück, steh auf, bedanke dich und geh! Doch warum sollte er ihr nicht helfen, aus der Einsamkeit zu finden? Er mußte sich ja nicht zeitlebens an sie klammern, obwohl ihm das im Augenblick recht wünschenswert erschien. Sollten sie nicht zusammenpassen, konnte er sie zumindest wieder an das heranführen, was man das normale Leben einer Frau nennt. – Du hattest noch nie Liebschaften, die Verantwortung von dir forderten. Geh, bevor es zu spät ist. Er erinnerte sich an einen utopischen Film. Eine Gesellschaft in einem Zimmer. Sie wollen es verlassen, doch keinem gelingt es, durch die Tür zu kommen. Eine unsichtbare, magische Kraft hält sie zurück. Lachen anfangs, Erstaunen, dann Hysterie, Vorwürfe, gegenseitiges seelisches Zerfleischen. Er erhob sich fast gleichzeitig mit ihr, tat einen Schritt auf die Tür zu, blieb stehen und umarmte die Frau. Er log nicht, als er sagte: „Ich liebe dich, Jana.“ Es war die Wahrheit eines Augenblicks. Wochen später besuchte Wolfram Gotenbach seine Schwester. Zu dritt verbrachten sie unbeschwerte Ferientage auf Janas Grundstück. Am Montag kehrten sie in die Stadt zurück. „Paß auf“, sagte Olaf Lück unvermittelt zu Jana, die an seinem Arm hing, „jetzt zeige ich dir eine Mustersammlung schöner Männer.“ „Führe mich nicht in Versuchung.“ „Genau das habe ich aber vor.“ Er zog sie zum Schaufenster eines Herrenmodegeschäftes. „Sieh dir das an. Einer immer
schicker als der andere.“ „Die glotzen mit Augen wie geschlachtete Karpfen.“ „Ihre Anzüge, Liebes! Dieser Stoff lebt. Der blaue dort, schau mal genau hin, hat er nicht die Farbe meiner Augen?“ „Wahrhaftig“, bestätigte Jana vergnügt. „Also, warum kaufst du ihn nicht?“ Er küßte sie auf die Nasenspitze und flüsterte ihr ins Ohr: „Die toten Männer gönnen ihn mir nicht.“ „Darauf solltest du es ankommen lassen.“ Jana bat ihren Bruder, vorauszugehen und im Kulturpalast Plätze zu reservieren. Dann betrat sie mit Lück das Herrenmodegeschäft. Am Abend kam Gotenbach noch kurz in die Wohnung seiner Schwester. „Sag mal, wo ist denn Olaf?“ „Ausgegangen.“ „Mit dem Anzug, den du ihm gekauft hast, aber ohne dich?“ „Ich muß zum Nachtdienst.“ Gotenbach nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Mein Gott, und ich habe gedacht, du bist glücklich.“ „Ich bin es“, sagte sie fest. „Wir setzen uns noch fünf Minuten, dann bringe ich dich zur Klinik.“ Er stutzte. „Nanu? Hast du dir einen Kassettenrecorder gekauft?“ „Olaf brachte mich auf die Idee.“ „Olaf! Olaf!“ wiederholte er ärgerlich. „Dein Fernseher war ihm wohl auch nicht gut genug. Mußte ein Farbfernseher sein, nicht wahr?“ „Auf diese Dinge kommt es nicht an. Für mich sind das die schönsten Stunden, wenn ich sehe, daß er glücklich ist bei mir.“ „Zahlt er dir eigentlich Wirtschaftsgeld?“ „Was soll das! Ich verdiene genug.“ „Also sprechen wir davon, worauf es ankommt. Der erste Rausch, nehme ich an, ist verflogen, zumindest bei ihm, und er wird in Zukunft öfter ausgehen ohne dich.“
„Nein, das stimmt nicht“, widersprach sie. „Daß irgendwann der erste Rausch verfliegt, ist normal. Geblieben ist seine tiefe Zuneigung zu mir. So etwas fühlt man doch.“ „Liebe macht blind“, sagte Gotenbach fast ärgerlich. „Jana, euch trennen Welten. Geistig und wohl auch charakterlich.“ „Es heißt auch, Liebe versetzt Berge. Ich werde ihn mehr und mehr in meine Welt ziehen.“ Sie holte ihre Handtasche und nahm den Schlüssel vom Brett. Gotenbach hielt ihr die Tür auf. Da noch genügend Zeit war, gingen sie zu Fuß, und als sie den Stadtverkehr hinter sich hatten, hakte Gotenbach seine Schwester unter. Sie kuschelte sich an ihn. „Jetzt ist mein Leben in Ordnung“, sagte sie, „und jede Veränderung würde mich unsagbar belasten. Außerdem möchte ich nicht mit einem geistig anspruchsvollen Menschen nach Feierabend noch Probleme wälzen. Ich möchte ein paar Stunden lang nichts als Frau sein, und zwar Olafs Frau.“ Er hätte von Thüringen aus direkt nach Plauen fahren können, doch eine innere Unruhe trieb ihn zu seiner Schwester. Abends gegen zwanzig Uhr klingelte es an ihrer Tür. Sie trug ein langes Kleid und einen schmalen goldenen Reif am Arm. „Willst du ausgehen?“ „Nein, ich habe eben das Abendbrot zurechtgemacht. Olaf muß gleich kommen.“ Im Wohnzimmer war der kleine runde Tisch gedeckt, silberne Bestecke, Servietten, heruntergelassene Jalousien, Kerzenlicht. „Meine Güte! Lebt ihr alle Tage so? Und ich sitze in Hotelzimmern herum und lebe aus dem Koffer. – Wo ist Olaf?“ „An der Tür“, sagte sie, als jemand den Schlüssel ins Schloß steckte. Sie ging in den Korridor. „Hallo, Schatz!“ Er legte ihr einen Strauß Rosen in den Arm, hob sie hoch und trug sie ins Wohnzimmer. „Guten Abend, Wolfram.“ Behutsam setzte er Jana in einen Sessel und drückte
Gotenbach die Hand. „Schön, daß du dich mal wieder sehen läßt.“ Jana bat zu Tisch, servierte, Olaf entkorkte eine Flasche Wein. Sie stießen an, tranken, aßen, erzählten. Jana hatte nur Augen für Olaf. „Deine Schwester“, sagte er zu Gotenbach, „ist eine wundervolle Frau. Sie versteht es, eine Welt zu schaffen, in der sich’s leben läßt!“ Sein Blick glitt über die Rokokomöbel, den zinnernen Kerzenständer, die Kristallgläser, die weichen Teppiche. Dann sah er zu Jana, die sich gelöst und glücklich im Sessel rekelte. „Ich empfinde es nur schön, wenn ich das alles mit jemandem teilen kann“, sagte Jana. „Es gibt so viel Egoismus auf der Welt. – Wir haben ein Mütterchen auf der Station, das nach einem Unfall etwas wirr im Kopf geblieben ist. Jetzt will es zu Hause niemand mehr haben. Ich weiß nicht, wohin mit ihr.“ „Für so was gibt’s doch Heime“, sagte Olaf schulterzuckend zu Gotenbach und wandte sich an Jana. „Liebling, du solltest die Ärztin im Krankenhaus lassen,“ Ehe sie etwas erwidern konnte, sprach er schnell weiter. „Manchmal denke ich darüber nach, was du tun würdest, wenn du wie früher allein wärst. Nächtelang grübeln wahrscheinlich und nicht nur über das Leben jener Frau! – Es wird Zeit, daß ich dich ein bißchen in meine Welt herüberziehe. Ich habe nämlich keine Lust, vor Vornehmheit und Zurückhaltung steife Knie zu bekommen.“ Er stellte den Recorder an. Stimmungsmusik. „Heute blau und morgen blau…“ Irritiert blickte Jana auf. „Ein Vorschlag“, sagte Lück und zog sie vom Sessel hoch, „wir gehen tanzen. Wolfram, kommst du mit?“ „Prima Idee.“ „Geht nicht. Ich habe Frühdienst“, sagte Jana. „Ich auch. Bis dahin sind wir zurück.“ Lück küßte sie aufs Haar. Der Stimmungssänger schrie, daß sie alle, alle in den Himmel kämen. „Kommt, Kinder, wir
machen uns ‘ne tolle Nacht.“ „Heute nicht, Olaf. Bitte, ich habe morgen früh sehr komplizierte Untersuchungen durchzuführen.“ „Der verdammte Krankenhauston!“ Lück ließ sie los. „Na gut, Frau Doktor.“ Er deutete eine Verbeugung an und lachte sein unbeschwertes Lachen. Den Recorder schaltete er aus und legte die Ouvertüre zum „Goldenen Pavillon“ auf.
„Ich bin sicher, daß jener Abend ohne meine Anwesenheit anders verlaufen wäre“, sagte Wolfram Gotenbach. „Ja, ja, der goldene Käfig. Er hat geahnt, daß er hineintappt, und war doch zu schwach zu widerstehen“, meinte Simosch. „Aber er hat nicht nur Möglichkeiten gefunden, durch die Gitterstäbe zu schlüpfen, um bei Ihrem Bild zu bleiben, sondern auch, das Geld mitzunehmen, und zwar zu seiner Freundin, jenem Fräulein Sanitz, das er damals schon kannte.“ „Ihre Schwester hat ihn trotzdem geheiratet“, stellte der Oberleutnant fest. „Sie war zu gutgläubig und seiner Raffiniertheit in keiner Weise gewachsen. Er war es, der sie heiraten und Mitbesitzer ihres Vermögens werden wollte. Er würde gehen, weil sie ihn spüren ließe, daß er nur ein Friseur und ihr in keiner Weise ebenbürtig sei – das hat er ihr eingeredet. Daraufhin bekannte sich Jana mit allen Konsequenzen zu ihm. Mit dem Resultat, daß er’s danach noch schlimmer getrieben hat.“ „Erzählen Sie“, forderte Simosch, doch Gotenbach schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will vergessen. Jana ist tot, und er ist jetzt auch tot.“ „Er ist getötet worden. Wer könnte das nach Ihrer Meinung gewesen sein?“ „Ich.“ Gotenbach schob jäh den Stuhl zurück, erhob sich und lief im Zimmer auf und ab. Zu groß und zu wuchtig für ein genormtes Hotelzimmer, stieß er an Möbel und Lampen. „Ich
könnte es gewesen sein. Aber nicht heute oder gestern, sondern damals, als wir Jana in ihrem Zimmer fanden. Quer über dem Bett. Steif und kalt.“ Plötzlich blieb er vor Simosch stehen. „Es ist mir gleich, wer ihn getötet hat. Es ist mir gleich, ob sie denjenigen finden oder nicht. Denken Sie von mir, was Sie wollen, aber ich bin froh, daß er krepiert ist.“ Simosch schwieg, wartete, bis Gotenbach sich beruhigt und wieder hingesetzt hatte. „Warum wollten Sie Ihren Schwager um diese Jahreszeit auf dem Grundstück sprechen und nicht in seiner Stadtwohnung.“ Ein fassungsloser Blick traf Simosch. „Aber – verstehen Sie denn nicht? Wegen dieser Frau, in deren Wohnung Lück jetzt lebt, ist meine Schwester aus der Welt gegangen.“ „Sie wollten Erbschaftsangelegenheiten regeln?“ „Ich wollte ihn bitten, mir Janas Grundstück zu überlassen. Vielleicht finden Sie das sentimental von mir, aber dort war sie glücklich, und der Gedanke, daß er jetzt die andere mit hinnimmt, ist mir unerträglich. Ich war sogar bereit, ihm den vollen materiellen Wert auszuzahlen.“ Auszahlen. Leutnant Olbrichts Vermutung kam Simosch in den Sinn, man könne Lück hereingelegt und nur angeblich Geld auf sein Konto überwiesen haben. Oder wollte Lück das Grundstück zweimal veräußern? Einmal an seinen Schwager, zum anderen an Direktor Schiffel? Wollte er alles auf eine Karte setzen und mit diesem Geld und den sechzigtausend Mark aus dem Scheckbetrug über die Grenze gehen? Jedenfalls hatte Gotenbach im wahrsten Sinne des Wortes eine Mordswut auf Olaf Lück gehabt. „Waren Sie in den letzten Tagen in Berlin?“ „Ich hatte bei der Generaldirektion des Reisebüros zu tun.“ „Sind Sie mit Ihrem Schwager in die Hauptstadt gefahren, oder haben Sie ihn dort getroffen?“ Gotenbach verneinte.
„Und wo haben Sie sich gestern abend aufgehalten?“ „Hier im Hotel.“ Gotenbach blickte auf seine Armbanduhr.’ „Obwohl morgen Sonntag ist, habe ich einen anstrengenden Tag vor mir.“ „Ich auch. Und wenn ich herausfinde, daß Sie gestern abend nicht im Hotel gewesen sind, wird der Tag für Sie obendrein recht ungemütlich werden.“
7. Der Schlaf ist verräterisch. Auf Simoschs Gesicht gab er preis, was der Oberleutnant nie eingestanden hätte: einen angestrengten Arbeitstag und die Mühe, die es ihn kostete, häßliche Erlebnisse zu verkraften. Er war im Lehnstuhl eingenickt. Seine Frau strich ihm übers Haar, und er erwachte. „Ich hätte dir einen besseren Tag gewünscht.“ „Aber Mädchen!“ Simosch rieb sich die Augen und gähnte. „Ich habe wundervolle Stunden verbracht. Ich war an der Elbe auf einem Grundstück, auf dem die Herbstzeitlose blüht, ich habe mit einer alten Dame Kaffee getrunken, anschließend eine Bar besucht, dann bin ich mit einem Herrn auf sein Zimmer gegangen.“ Christina lachte. „So erholsam wie deine Arbeit ist für viele Leute der Urlaub nicht.“ Nachdem Simosch den Dolmetscher verlassen hatte, war er zur Rezeption gegangen. Er wartete, bis er das blonde, ernsthafte Mädchen sprechen konnte, das Gotenbachs Bitte nach einem Weckruf so nüchtern vermerkt hatte. „Ich benötige eine Auskunft. Wann hat Herr Gotenbach abends das Hotel verlassen?“ „Wir überwachen unsere Gäste nicht.“ Ihr Blick war abweisend. „Schade. Zumindest in diesem Fall.“ Sie warf einen kurzen Blick auf seinen Ausweis.
„Ich hatte keinen Spätdienst.“ „Das ist auch wieder schade.“ Er nahm den Ausweis zurück und erkundigte sich, wer ihm etwas über Gotenbachs Aufenthalt an den vergangenen Abenden erzählen könne. Es galt herauszufinden, ob der Dolmetscher am Mordabend das Grundstück seines Schwagers betreten hatte oder nicht. War er dort gewesen, mußte er ihn dazu bringen, die letzten Wochen und Tage seiner Schwester zu beschreiben, ihre Verzweiflung und Olaf Lücks moralische Schuld an ihrem Tod. Mit irgendeinem Satz, einem unbedacht gesprochenen Wort würde er sich gewiß verraten, falls er mit dem Mord belastet war. Am Montagmorgen beauftragte er einen seiner Mitarbeiter, Gotenbachs Alibi, dessen Lebensführung und finanziellen Verhältnisse zu überprüfen. Danach rief er den Kriminaltechniker an. Dirk Creuzmanns Schuhe mußten so schnell wie möglich untersucht werden. Doch der Techniker saß in einer Arbeitsbesprechung. Enttäuscht legte Simosch den Hörer auf, als Leutnant Ulbricht ins Zimmer trat. „Guten Morgen, Chef“, sagte er fröhlich. „Von gut kann keine Rede sein, und der Morgen ist auch bald vorbei, wo haben Sie denn bis jetzt gesteckt?“ „Bei der schönen Annerose. Ich hab’ den halben Sonntag gebraucht, um sie zu finden – die Dame, die so tadellose Schuhabdrücke Größe neununddreißig auf Lücks Grundstück hinterlassen hat. Sie wartet draußen auf ihre Vernehmung.“ „Erzählen Sie, bevor Sie sie hereinführen.“ „Vor fünf Jahren war sie die Geliebte von Lücks Gartennachbar Randolf. Sie ist verheiratet, beschäftigt beim Gartenbauamt, hat einen vierjährigen Sohn. Guter Leumund, Ehe nach außen hin in Ordnung. Keine Beanstandungen auf der Arbeit.“ „Was heißt, Ehe nach außen hin in Ordnung?“ „Das heißt, sie ist länger als acht Jahre verheiratet und war vor fünf Jahren Randolfs Geliebte“, sagte Ulbricht und kom-
mentierte: „Solches kommt vor in der sündhaften Welt.“ „Haben Sie mit Herrn Randolf gesprochen?“ „Ja. Hat bestritten, die schöne Annerose zu kennen. Das machst du nicht mit dem schlauen Oli, hab’ ich mir gesagt und ihm auch. So in etwa. Schließlich hat er’s zugegeben. Aber er behauptet, sie seit damals nicht wiedergesehen zu haben. Darin ist er hartnäckig, geradezu verstockt. Ich bin sicher, er lügt.“ „Wie heißt Annerose mit Nachnamen?“ „Seiffart.“ „Weiß sie, weshalb ich sie sprechen möchte?“ „Nur, wenn es ihr das schlechte Gewissen geflüstert hat. Ich habe nichts verraten.“ „Gut. Holen Sie sie herein.“ Olbricht blieb mit dem Ärmel am Türgriff hängen, sagte leise, aber sehr akzentuiert ein unanständiges Wort, dann komplimentierte er Frau Seiffart ins Zimmer und rückte ihr einen Stuhl zurecht. „Bitte Platz zu nehmen.“ Simosch stellte sich vor, Olbricht ging zum Fenster, lehnte sich gegen die warmen Rippen der Zentralheizung und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. „Möchten Sie?“ Frau Seiffart schüttelte den Kopf. Der Oberleutnant beobachtete sie, seit sie zur Tür hereingetreten war. Sie hatte etwas Robustes an sich und einen entschlossenen, wachsamen Blick. Ihr Alter schätzte er auf Anfang Dreißig. Sie war groß, kräftig gebaut und trug das dunkelblonde Haar kurz geschnitten. „Wir haben Sie hergebeten“, sagte er, „weil wir eine Auskunft von Ihnen benötigen. Sie kennen einen Herrn Lück?“ „Nein, ich kenne niemanden, der Lück heißt“, antwortete sie ruhig. „Ich meine den Gartennachbar von Herrn Randolf.“ „Einen Herrn Randolf kenne ich auch nicht.“ Das fängt ja gut an! Simosch schwieg, wartete, bis die Stille im Raum peinlich wurde. Erfahrungsgemäß irritierte seine Besucher dieses stumme Sichgegenübersitzen, sie wurden nervös,
begannen ihre Worte, die das vorwurfsvolle Schweigen ausgelöst hatten, zu korrigieren. Doch nicht so Frau Seiffart. Sie saß unbeeindruckt, ohne ein Zeichen innerer Erregung. Vom Fenster her sagte der Leutnant: „Das wird Herrn Randolf aber enttäuschen. Er erinnert sich nicht nur gut, sondern auch gern an Sie.“ „Ach so, von dem ist die Rede“, erwiderte sie gleichgültig. „Diese Bekanntschaft liegt schon jahrelang zurück.“ „Damals haben Sie ihn hin und wieder auf seinem Grundstück besucht, und jetzt fällt Ihnen sicherlich auch ein, daß sein Nachbar Lück heißt“, sagte Simosch. „Wir hatten keinen Kontakt zu ihm.“ „Was hatten Sie dann kürzlich an seinem Bootsschuppen zu schaffen? Abends? Im Dunkeln?“ „Was Sie sagen, muß auf einer Verwechslung beruhen.“ Gelassen blickte sie Simosch ins Gesicht. „Es wäre besser, Frau Seiffart, Sie nutzten Ihre Chance.“ „Ich verstehe nicht.“ „Die Chance, sich zu rechtfertigen, weshalb Sie sich auf Herrn Lücks Grundstück aufgehalten haben, als er dort getötet wurde.“ Sie nahm alle Kraft zusammen. „Davon weiß ich nichts.“ „Dann wissen Sie es jetzt und verstehen, weshalb ich auf eine Erklärung dringe.“ „Ich habe Herrn Lück seit Jahren nicht gesehen.“ „Erinnern Sie sich nicht an Frau Bachmann“, fragte Simosch, „die Sie mit Frau Lück verwechselt und deshalb angerufen hat? Außerdem konnten wir Ihre Schuhspuren sichern. Größe neununddreißig.“ „Das ist doch Ihre Größe, nicht wahr?“ fragte Olbricht dazwischen. Ruhig wandte sie sich zu ihm um und nickte. „Wir werden jeden Schuh, den Sie besitzen, mit diesem Abdruck vergleichen“, sagte Simosch. „Ich denke, das ist nicht nötig.“ Olbricht blickte lächelnd auf
ihre Füße. „Sie hatten diese an, stimmt’s?“ „Stimmt.“ Simosch merkte, daß sie nicht schlechthin verstockt war, sondern bewußt und gescheit log. Solange Aussage gegen Aussage stand, blieb sie unbeirrbar bei ihrer Version. Schuhspuren, von der Polizei gesichert, waren vor Gericht ein gültiges Beweismittel. Dagegen kam sie nicht an, also gab sie zu, was unwiderlegbar war. Schnell fragte er: „Was wollten Sie von Olaf Lück?“ „Nichts. Ich hatte mich im Grundstück geirrt. Ich wollte zu Herrn Randolf.“ Ihre Stimme klang völlig unbefangen. Simosch war verblüfft. Bevor er etwas entgegnen konnte, trat der Leutnant auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Na, dann ist ja alles klar“, sagte er mit seiner fröhlichen Stimme. „Sie sind aus Versehen auf Lücks Grundstück geraten, er hat das ausgenutzt und Sie belästigt. Sie haben sich gewehrt und mit dem Stein zu hart zugeschlagen. Es war kein Mord, man wird Sie höchstens wegen Totschlages anklagen können.“ Sie fuhr Olbricht an. „Niemand kann mich anklagen. Ich habe ihn nicht getötet!“ „Wenn Sie sich einen guten Rechtsanwalt nehmen, kommen Sie vielleicht mit Notwehr durch.“ „Fassen Sie mich nicht an. Sie haben kein Recht, so mit mir umzugehen, mir etwas zu unterstellen und mich daraufhin festzuhalten.“ „Wir unterstellen gar nichts“, sagte Olbricht. „Wir verdächtigen Sie und sicherlich nicht zu unrecht.“ Mit einem fragenden Blick zu Simosch fügte er hinzu: „Regeln Sie die Formalitäten? Ich bringe sie inzwischen in die Haftanstalt.“ Simosch nickte, holte umständlich ein Formular aus der Schreibtischlade. Leider war ihm nicht gedient, wenn er sie hierbehielt und sie weiterhin log oder schwieg. „Auf einen bloßen Verdacht hin haben Sie noch lange kein Recht, mich einzusperren.“
„Doch“, sagte Simosch, „so wie die Dinge liegen, kann ich Untersuchungshaft beantragen.“ „Mein kleiner Junge ist allein zu Hause, mein Mann auf Arbeit.“ „Wenn es um Mord geht, kann ich darauf keine Rücksicht nehmen.“ „Es geht nicht um Mord. Ich – ich habe Herrn Lück Geld gebracht.“ „Wieviel?“ fragte Simosch gleichmütig. „Und wofür?“ „Zweihundert Mark. Er hatte es Herrn Randolf geborgt.“ Mit einem Seufzer sagte Ulbricht: „Es ist doch am besten, Sie überdenken die Sache noch einmal, und zwar hier bei uns. Wir lassen Ihnen den ganzen Tag und auch noch die Nacht über Zeit. Vielleicht funktioniert Ihr Gedächtnis morgen früh besser.“ Diese Frau riskierte viel. Was sie zu verbergen suchte, mußte wichtig sein. Wahrscheinlich hatte sie mit Lück etwas ausgehandelt, um das nur er und sie wußten, und jetzt, wo er tot war, sah sie keinen Grund, ihr Wissen preiszugeben. War sie in den Scheckbetrug verwickelt? Hatte sie Lück auf irgendeine Weise hereingelegt, oder war sie gar seine Komplizin gewesen? Sollten sie sich an jenem Abend um Geld gestritten haben? Dann sicherlich um mehr als um zwei Hunderter. „Zwischen Lück und Ihnen spielten weit größere Beträge eine Rolle“, sagte der Oberleutnant. „Doch wir müssen das jetzt nicht ausdiskutieren, wenn Sie nicht dazu aufgelegt sind. Ich werde Ihren Mann benachrichtigen oder eine Nachbarin, damit Ihr Sohn nicht ohne Aufsicht bleibt.“ „Sie sollten vor allem meine Angaben nachprüfen.“ „Zweihundert!“ rief Olbricht. „Meine liebe Frau Seiffart, warum untertreiben Sie so maßlos?“ „Weil – weil das alles keine Bedeutung hat für Sie. Es hängt nicht mit dem Mord zusammen.“ „Das zu beurteilen, müssen Sie uns überlassen.“ „Sie vertun nur Ihre Zeit. Und meine…“
„Warum haben Sie ihm Geld gebracht?“ fragte Simosch sie scharf. „Er hat mich erpreßt.“ „Womit?“ „Das sind ganz private Dinge.“ „Wieviel wollte er denn haben?“ fragte Leutnant Olbricht. „Zweitausend. Ich sollte sie abends ins Bootshaus bringen.“ „Und?“ „Ich habe sie ihm gegeben. Das war alles.“ Simosch erinnerte sich, vor fünf Jahren war sie Randolfs Geliebte gewesen. Hing Lücks Erpressung damit zusammen? Es erschien ihm unwahrscheinlich, daß man diese Frau deswegen um 2000 Mark erpressen konnte. Vielleicht war es wieder eine Finte von ihr, um von der Wahrheit abzulenken. „Sie gaben Herrn Lück das Geld. Was geschah dann?“ „Er hat es in eine Blechbüchse gesteckt. Da lag schon Geld drin. Er hat wohl noch mehreren auf diese Art etwas abgeknöpft. Ich habe ihn einen miesen kleinen Gauner genannt.“ „Das hat er hingenommen?“ „Lachend sogar.“ „Weiter!“ „Er schaltete das Licht aus, damit mich niemand sieht, und ich bin im Dunkeln die Stiege hinunter. In der Nachbarschaft wurde ein Fenster geöffnet, und jemand sprach mich als Frau Lück an. Ich erschrak, denn Frau Doktor Lück ist seit ungefähr zwei Jahren tot. Da bin ich einfach losgerannt.“ „Wohin?“ „Zu Herrn Randolfs Grundstück.“ „Warum nicht zur Straße?“ „Ich wollte dieser unheimlichen Person, die mich als Frau Lück ansprach, so schnell wie möglich aus den Augen kommen.“ Unvermittelt sagte Simosch: „Gehen Sie nach Hause.“ Einen Augenblick lang stutzte sie, stand auf und ließ sich von Olbricht ihre Jacke geben. Sie bewegte sich ungezwungen. Nur auf Wiedersehen sagte sie nicht, als sie das Zimmer verließ. Ein
Kopfnicken war alles, womit sie den Gruß der Kriminalisten erwiderte. „Unheimliches Weib“, entfuhr es Ulbricht, kaum daß sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Bringt mit einer Ruhe, die einen kribbelig machen kann, Lüge um Lüge vor, falls sie nicht gerade eingesteht, was wir schon wissen.“ „Aber was steckt dahinter? Sie erscheint mir gefährlich. Ich werde sie ein Weilchen beobachten lassen. Sobald Sie aus Berlin zurück sind, finden Sie heraus, was sie vor uns verbirgt. Haben Sie Ihre Bilderkollektion zusammen?“ Olbricht nahm seinen Mantel vom Haken, zog ihn an und klopfte auf die Brusttasche. „Sie liegt mir sozusagen am Herzen. In einer halben Stunde startet unser Renner nach Berlin.“ Er wollte aus dem Zimmer, doch der Oberleutnant rief ihn zurück. „Moment mal. Wie laufen Sie denn wieder rum? Nehmen Sie ruhig mal die Hand da weg, ja, von dort, wo eigentlich ein Knopf sitzen müßte.“ „Der ist gestern abend…“ „Dann hatten Sie die ganze Nacht lang Zeit, ihn anzunähen. Ab ins Sekretariat. Melden Sie’s als Notfall.“ Olbricht warf einen zweifelnden Blick auf seinen Vorgesetzten, der auch an jenem Montagmorgen in tadellosem Anzug, cremefarbenem Hemd und Binder erschienen war. „Könnte er nicht wenigstens ein kleines bißchen nachlässig sein, um unsereins zu begreifen?“ brummelte er beim Hinausgehen.
8. Über der Schloßinsel in Köpenick lag Herbststimmung. Am Weißen See fütterten die Berliner Schwäne und Enten, im Pankower Park saßen sie in Mäntel gehüllt auf Bänken, die Gesichter der blassen Herbstsonne zugewandt. Die Hochbeete am Alex zierten Astern und immergrüne Gewächse.
Leutnant Olbricht hätte gern mit den Pankowern ein Weilchen im Park gesessen oder am Weißen See die Enten gefüttert. Es hätte ihm Spaß gemacht, über die Schloßinsel zu spazieren oder am Alex die vorbeihastenden Berliner und Touristen, mit Einkaufsbeuteln und Fotoapparaten behangen, zu betrachten. Doch er mußte zum nächsten Postamt. Postamt Rathausstraße. Und wieder Fehlanzeige. Niemand erinnerte sich an Olaf Lück, der hier vor wenigen Tagen sechs Tausender abgehoben hatte. Der Leutnant hätte es sich denken können, je größer und überlaufener die Postämter, um so weniger Aussicht auf Erinnerung an einen Kunden. Ulbricht schlenderte durch die Rathausstraße. Sollte der Fahrer ruhig ein Weilchen warten. Was wußte der, wieviel Zeit er für seine Nachforschungen brauchte. Postamt, schon das Wort ließ Ulbricht schwermütig werden. Berlin, die Stadt der Postämter. Und er mußte an einem Nachmittag alle aufsuchen, die Olaf Lück und sein Kumpan – es gab einen, davon ließ er sich nicht abbringen – innerhalb von zwei Tagen um etliche tausend Mark erleichtert hatten. Zugegeben, Lück mußte sich anstellen, Geld empfangen, Geld zählen. Olbricht ging vor und zeigte seinen Ausweis. Sesam öffne dich. Ein kurzes Gespräch mit dem Leiter des Postamts und den Angestellten, die an jenen Tagen Schalterdienst gehabt hatten. Einige erinnerten sich an Lück. So ein Blasser mit langem Gesicht. Ja, der auf dem Foto, das ist er. Der war ihnen aufgefallen, weil er sich so gefreut hatte über seine drei oder vier Tausender. Der wollte sich wohl was anschaffen, Fernseher, Möbel, oder einfach mal richtig auf die Pauke hauen. Aber keiner der Postangestellten konnte etwas mit den Fotografien der anderen Verdächtigen anfangen. Sie waren nicht gesehen worden, keiner der Männer und keine der beiden Frauen. Lück war stets allein zum Schalter gekommen. Olbricht stutzte. Ein Schaufenster voller Käse. Weicher, harter, runder, langer, mit Löchern und ohne Löcher. Sogar franzö-
sischer. Wann fand er in Dresden Gelegenheit, solchen Käse zu kaufen? Er kam nicht einmal auf die Idee. Aber hier? Das war etwas anderes. Einen Augenblick lang war er versucht, seinen Ausweis zu mißbrauchen, stellte sich dann aber seufzend an das Ende der Schlange. „Geht schön schnell heute“, sagte die Frau vor ihm, „man bleibt in Bewegung.“ Schnell war das also, wenn man im Schneckentempo auf einen der frei werdenden Körbe zukroch! Doch schon eine Viertelstunde später verließ ein glücklicher Leutnant den Laden, Käse, Trinkfix und Griebenschmalz im Gepäck. Das versprach ein Wochenende! Die Blutwurst, die er Abend für Abend in sich hineinstopfte, konnte sich seinetwegen im Kühlschrank krümmen! Er lief durch eine Passage, rechts Schuhe für die Damen, links Bekleidung für die Herren. Für Damen auch, doch Olbricht warf nur scheue Blicke auf die männlichen Schaufensterpuppen, die so sorgfältig gekleidet waren wie sein Oberleutnant. Vier, fünf akkurate Vorgesetzte, den Blick starr auf Olbricht gerichtet, der mit Einkaufsbeutel, vom Wind zerzaustem Haar und einem Fettfleck am Ärmel – warum verspritzten Knacker ihren Saft so boshaft? – an ihnen vorbeihetzte. „Na?“ fragte der Fahrer und guckte nur den Beutel an. „Erfolg gehabt?“ „Im Postamt nicht.“ Sie fuhren zum Schmuck- und Uhrengeschäft Unter den Linden. Lück hatte dort mit einem Verrechnungsscheck bezahlt. Der Gegenstand, den er gekauft hatte, kostete etwas über 1 000 Mark. Die Verkäuferin konnte sich erinnern, als sie sein Foto sah. Er hatte versucht, mit ihr zu flirten. Und gekauft hatte er einen Damenring. Olbricht wollte mehr über den Flirt wissen. Die Dame gab sich distinguiert und sagte: „Ich habe mich auf nichts eingelassen.“ „Das ist außerordentlich schade“, bemerkte Olbricht mit
seinem treuherzigen Blick, „sonst hätten Sie der Kriminalpolizei einen unschätzbaren Dienst erweisen können.“ Ohne Rücksicht auf ihre Verwirrung – sie war sich noch nicht im klaren darüber, ob sie ernsthaft und sachlich bleiben oder auf Olbrichts leichten Ton eingehen sollte – stellte ihr der Leutnant Frage auf Frage und ersparte ihr keine einzige Antwort. „Wenn er einen Damenring kaufte, woher wußte er da die Größe?“ Die Verkäuferin blickte auf ihre Finger, fühlte wieder den weichen, sanften Druck, mit dem Lück ihre Hand behutsam über den Ladentisch zog. Er steckte ihr einen billigen Ehering an. „Welch eine Fügung. Er paßt. Sie haben die gleichen wunderbaren zarten Finger wie sie.“ Sie wollte die Hand zurückziehen. Er hielt sie fest. „Bitte, legen Sie die Ringe, die in Frage kommen, nicht einfach auf den Ladentisch. Führen Sie sie an Ihrer Hand vor, damit sie leben.“ „Da müßte ich etwas mehr über den Geschmack Ihrer Frau wissen“, sagte sie, bemüht, so unpersönlich wie möglich zu bleiben. „Meine Frau ist tot.“ Die verhaltene Trauer in seiner Stimme weckte ihr Mitleid. Unwillkürlich erwiderte sie seinen Händedruck. „Der Ring ist für die Freundin eines Bekannten. Ein junges Mädchen, dessen Geschmacksrichtung in diesen Dingen noch nicht festliegt. Raten Sie mir.“ Sie lächelte ihn an. „Ich brauche beide Hände, um die Schatulle zu holen.“ „Verzeihung.“ Die Verkäuferin brachte die Schatulle. Vielleicht ist das heute für lange Zeit mein letzter unbeschwerter Abend. Lück lächelte der jungen Frau zu. Sie ist hübsch, aber wenn ich sie einlade, was wird er dann anfangen? Sicherlich erwartet er von mir, daß ich mich um ihn kümmere.
Eine Unterkunft hat er auch noch nicht. Die junge Frau bewegte spielerisch die Finger mit den aufgesteckten Ringen. „Ein Rubin, sehen Sie, wie er das Licht bricht? Oder der Saphir?“ Olaf Lück wollte den Saphir betrachten und stieß versehentlich an den Ellenbogen der Kundin, die neben ihm stand. „Pardon.“ „Schon gut.“ Die Stimme klang tief, ein wenig rauchig. Lück sah sich um. Sie war groß, schlank, vollbusig. Er machte aus seiner Bewunderung keinen Hehl. „Können Sie mir nicht raten?“ fragte er. „Wenn das Mädchen jung ist, sollten Sie nichts Protziges nehmen, sondern einen schmalen Reif mit einem kleinen, hellen Stein.“ Die Verkäuferin zog die Ringe ab und legte sie auf eine Samtunterlage. Der Zauber, den Lück auf sie ausgestrahlt hatte, war gebrochen. Geblieben war ein smarter junger Mann, der es verstand, mehreren Frauen zugleich den Kopf zu verdrehen. „Soviel Schönheit, soviel Reiz.“ Lück betrachtete abwechselnd die Ringe und die beiden Frauen. Er wählte einen Goldring mit zartem grünem Stein und sagte zu den Damen: „Ich stehe in Ihrer Schuld. Bitte, seien Sie heute abend meine Gäste. Rotisserie Hotel Stadt Berlin würde ich vorschlagen. Zwar bin ich nicht allein…“ Die Verkäuferin nahm den Scheck entgegen und verglich ihn mit den Angaben in Lücks Personalausweis. Dabei sagte sie: „Das kommt für mich nicht in Frage.“ „Aber… Ich bitte Sie!“ Ohne Lück noch eines weiteren Blickes zu würdigen, bediente sie den nächsten Kunden. „Ein Mann muß wissen, was er will.“ Schade, jammerschade, dachte Olbricht und sagte: „Recht so, ganz recht. Wie hat denn die Kundin reagiert?“ „Sie hat zusammen mit ihm unser Geschäft verlassen. Ob sie
sich einig geworden sind, müssen Sie schon selbst herausfinden.“ Nichts lieber als das. Diese Frau konnte den Weg zu Lücks Helfershelfer weisen. „Die Kundin, weswegen kam sie denn zu Ihnen?“ Falls sie etwas gekauft hatte, war sie für den Leutnant ein Sandkorn in der Wüste, denn dann hatte sie die Ware empfangen, bezahlt, war zur Tür hinaus und verschwunden in der Anonymität der Großstadt. „Sie brachte eine Uhr zur Reparatur.“ „Sicherlich haben Sie Name und Adresse aufgeschrieben?“ Olbricht rechnete im stillen. Am Donnerstag eine zu reparierende Uhr abgegeben, heute ist Mittwoch. Innerhalb einer Woche erhält man sie normalerweise nicht zurück. Hier geht hoffentlich alles ganz normal zu. „Ilona Görner“, sagte die Verkäuferin. Sie hielt eine Karteikarte in der Hand. „Simon-Dach-Straße dreizehn.“ War das ein Tag! Käse, Griebenschmalz, Trinkfix und eine handfeste Spur zu Lücks Kumpanen. Der Leutnant sah so glücklich aus, daß die distinguierte Dame nur zögernd herausbrachte: „Jetzt erinnere ich mich auch, daß sie sagte, es habe Zeit mit der Reparatur. Sie fahre in Urlaub.“ Olbricht stürzte aus dem Geschäft, suchte den Fahrer, der doch noch eine Parklücke erwischt hatte, und rief beim Einsteigen: „Simon-Dach-Straße dreizehn! Fahren Sie wie die Feuerwehr!“ Der Fahrer schüttelte den Kopf. „Aufmerksam und rücksichtsvoll. Wir sind hier Gäste.“ An Görners Wohnungstür drückte Olbricht den Klingelknopf, ließ los, klingelte wieder. Er versuchte es mit verschiedenen Klingelzeichen, dreimal kurz, einmal lang, zweimal lang, einmal kurz, schließlich Dauerton. Aus der Nachbarwohnung drang ein kräftiger Fluch. Die Tür wurde aufgestoßen. Der Mann, der Olbricht wütend anblickte, mochte an die siebzig Jahre alt sein. Er bekam seine Hose nicht zu.
„Von eins bis drei“, wetterte er los, „herrscht hier Mittagsruhe! Lassen Sie sich das gesagt sein, und klingeln Sie nicht alte Leute vom Sofa.“ „Schläft die auch?“ fragte Olbricht mit einem hoffnungsvollen Blick auf das Türschild Ilona Görner. „Auch noch frech werden, was? Verschwinden Sie, sonst hole ich…“ Olbricht war schneller und hielt ihm seinen Ausweis unter die Augen. „Na so was“, sagte der Alte verlegen und mit Neugier in der Stimme: „Die haben wohl was ausgefressen?“ „Wer wohnt denn noch hier?“ „Ihre Mutter.“ „Und wo sind sie?“ „In Sotschi, falls es in der letzten Zeit kein Flugzeugunglück gegeben hat. Also ich würde mich niemals…“ „Wann sind sie los?“ „Samstag.“ „Wissen Sie auch, für wie lange?“ „Für vierzehn Tage. Ich hab’ inzwischen den Kanarienvogel.“ Und mit einem strafenden Blick auf Olbricht: „Sogar der hält Ruhe zwischen eins und drei.“ „Können Sie sich erinnern, ob Fräulein Görner vorige Woche am Donnerstag Besuch hatte? Herrenbesuch?“ „Manchmal kommt ihr Verlobter. Der ist auch mit nach Sotschi. Aber vorige Woche war er nicht da.“ „Und ein anderer?“ „Den hätte die Alte rausgeschmissen.“ Der Mann kicherte. „Und zwar so, daß ich es gehört hätte.“ Als der Leutnant die Straße betrat, begann es zu nieseln. Sotschi! Dort schien gewiß die Sonne, und am Strand spazierte Fräulein Ilona, die sicherlich wußte, was er zu wissen wünschte. Zum Fahrer sagte er: „Klappern wir die restlichen Postämter ab.“ Vom nächsten Telefon aus rief er Simosch an und gab ihm die Beschreibung des Ringes durch, den Olaf Lück Unter den
Linden gekauft hatte.
9. „An den Schuhen“, sagte der Kriminaltechniker, „klebt Erde von jenem Grundstück. Außerdem habe ich Spuren zertretener Herbstzeitlose gefunden. Den schriftlichen Bericht bekommen Sie später.“ Simosch winkte ab, entließ ihn mit einem Dankeschön und wandte sich an Olbricht. „Über Dirk Creuzmann habe ich inzwischen folgendes ermittelt: Er kannte Lück von Kindheit an. Vor Wochen geriet Olaf Lück in eine Routineüberprüfung der Kriminalpolizei. Es ging um den Postraub, bei dem ein Angestellter tödlich verletzt wurde. Der Täter muß sich auf dem Postamt ausgekannt oder einen Tip erhalten haben. Fräulein Sanitz arbeitet dort am Schalter, also wurde auch ihr Freund, Herr Lück, unter die Lupe genommen. Er gab als Alibi an: Herrenabend bei Dirk Creuzmann. Creuzmann hat’s bestätigt. Man verfolgte andere Spuren. Aber die neuesten Ermittlungen deuteten wieder auf Olaf Lück. Wenn er den Überfall begangen hat, wußte sein Freund wahrscheinlich davon und schützte ihn mit einem falschen Alibi. Warum? Nur aus Freundschaft? Oder hatte er materielle Vorteile davon? Zweitens: Dirk Creuzmann ist einen Nachmittag lang in Berlin gewesen, und zwar in der vorigen Woche, als die ungedeckten Schecks eingelöst wurden. Hat er mit Lück zusammengearbeitet? Ihn aus uns noch unbekannten Gründen zu diesem mysteriösen Betrug mit dem eigenen Konto verleitet?“ Drittens: Dirk Creuzmann bestreitet, in letzter Zeit Lücks Grundstück besucht zu haben. Seine Schuhe, die er am Mordabend getragen hat, beweisen jedoch, daß er auf dem Grundstück war. Warum? Ging es vielleicht um die Sechzigtausend aus dem Scheckbetrug? Bekamen die Freunde Streit? Das Geld ist verschwunden. Weiß Creuzmann darüber etwas? Hat er es Lück entwendet?“ „Wir sollten ihn festnehmen“, riet Olbricht.
„Genau das tun wir auch. Und zwar sofort. Der Staatsanwalt ist schon informiert. Ich wollte nur noch das Ergebnis vom KI abwarten.“ „Postraub“, sagte der Leutnant, „dabei wird ein Mensch erschlagen. Später verfeinern sich die Methoden. Statt Raub und Überfall Scheckbetrug. Aber mit dem eigenen Konto! Und der Betrüger wird ermordet.“ „Vielleicht war er ein betrogener Betrüger und Dirk Creuzmann ein falscher Freund. Wir erfahren das in der nächsten Stunde – hoffe ich. Kommen Sie, der Wagen steht bereit.“ „Sie waren doch schon dort“, sagte Olbricht. „Gibt es einen zweiten Ausgang?“ „Ja. Der führt in eine Mausefalle. Hinterhof, umgeben von glatten, hohen Mauern. Sie werden sich trotzdem dort aufhalten, bis ich Sie rufe.“ Als sie in die Straße einbogen, in der Herr Creuzmann wohnte, fuhren sie langsamer. „Er ist da“, sagte Simosch. „Zweiter Stock, drittes Fenster. Eben hat jemand die Gardine bewegt.“ „Das muß nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein“, orakelte der Leutnant. Seinen Schlaf hatten Alpträume zerrissen. Den ganzen Morgen über war die Unruhe nicht von ihm gewichen. Beim Kaffeebrühen lief ihm kochendes Wasser über einen Finger, später fiel ihm die Butterdose aus der Hand. Er wollte ihnen entwischen, falls sie ihn holen kamen. Sein Fluchtweg stand fest. Es galt nur, sie rechtzeitig zu bemerken. Von Unrast getrieben, lief er immer wieder zum Fenster. Er sah den Polizeiwagen in die Straße einbiegen und stand einen Augenblick lang wie gelähmt. In Bruchteilen von Sekunden wurde ihm klar, daß er sich zwar auf ihr Kommen vorbereitet, doch nicht ernsthaft damit gerechnet hatte. Nun blieb ihm nur zu tun, was er sich für diese Situation vorgenommen hatte. Er wandte sich vom Fenster ab und streifte die Gardine. Die Tasche mit dem langen Riemen stand griffbereit und brauchte nur um die
Schultern geschnallt zu werden. Beim Hinausgehen warf Creuzmann noch einen Blick auf den Zettel, der, mit einer Tasse beschwert, auf dem Tisch zurückblieb. Eine halbe Treppe tiefer zwängte sich der Flüchtende durch das Toilettenfenster, bekam die Feuerleiter zu fassen und hangelte hinunter. Von der Mauer sprang er in den Hof des Nachbarhauses und rannte zur Durchfahrt, die zum Hinterhaus führte. Hier waren Wäschetrockenplätze mit niedrigen, zum Teil morschen Holzlatten voneinander getrennt. Dirk Creuzmann übersprang drei Umzäunungen, landete auf einem Spielplatz und lief von dort zur Straße.
Leutnant Ulbricht sah sich in dem kleinen Hof um. Die Mauern waren so glatt und hoch, daß schwerlich einer entkommen konnte. Es sei denn… Sein Blick fiel auf die Feuerleiter, die dicht am Toilettenfenster der zweiten Etage vorbeiführte. Das Fenster stand offen. Er rannte ins Haus, sprang die Treppen hoch, sah die weitgeöffnete Tür, neben der ein Schild mit dem Namen Creuzmann angebracht war, und rief: „Haben Sie ihn?“ „Nur seine Visitenkarte.“ Simosch hielt ihm einen Zettel entgegen. „Dann ist er über die Feuerleiter, als er den Wagen gesehen hat.“ Er nahm den Zettel und las laut und langsam: „Laßt mich in Ruhe. Ich war’s nicht.“ „Na, nun wissen wir’s.“ Ärgerlich zerrte Olbricht an einem Faden, der aus dem Ärmel seines Pullovers hing. Simosch starrte einen Fettfleck auf dem Fußbodenbelag an und knurrte: „So ein Hammel!“ Da Olbricht nicht wußte, ob er oder Creuzmann gemeint war, mahnte er leise: „Haltung, Leute, Haltung.“ „Zu allem muß er angeschubst werden, sagt die Sanitz. Aber wenn er uns nur von weitem sieht, reagiert er. Läuft davon wie ein dummer Junge!“
Olbricht legte den Zettel auf den Tisch zurück. „Vielleicht war er’s wirklich nicht, oder – er weiß mehr, als gut für ihn ist.“ „Genau das befürchte ich.“ Simosch rieb sich die Handgelenke, und sein Blick wanderte verzweifelt an den frisch tapezierten Wänden entlang.
10. Es dämmerte bereits, als der Wagen vor Direktor Schiffeis Haus bremste. Wie immer sagte Schiffel zu seinem Fahrer „Einen schönen Abend noch“ und stieg aus. Plötzlich stutzte er. Aus seiner Küche drang ein schwacher Lichtschein, zitternd hin und her tastend. „Stimmt was nicht, Herr Direktor?“ Der Fahrer saß geduckt im Wagen und sah durch die Scheiben ebenfalls zu Schiffels Küche hoch. „Es ist nichts. Da bricht sich nur ein Lichtschein am Fensterglas.“ Der Fahrer betrachtete die gegenüberliegende Straßenseite. Die Laternen standen so, daß sich ihr Licht in Schiffeis Fenster nicht . spiegeln konnte. Ein Auto oder ein Omnibus waren auch nicht vorübergefahren. „Soll ich nicht lieber mit raufkommen, Herr Direktor?“ „Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt.“ Justus Schiffel schlug die Wagentür zu und betrat den Vorgarten. Er war ein unerschrockener Mann. Mit dem, was kommt, muß man fertig werden, hieß sein Wahlspruch, und bis jetzt war er stets Herr der Situation geblieben. Er spürte keinerlei Angst, nur Neugier, gemischt mit ein wenig Verwunderung. Wer sollte es wagen, in seine Wohnung einzudringen? Ihm fielen drei Möglichkeiten ein: Sabina. Sie konnte ohne sein Wissen einen Zweitschlüssel besitzen. Vielleicht war sie gekommen, um ihm die Hölle heiß zu machen. Ein Einbrecher womöglich. Oder seine neueste Freundin, dieses junge bildhübsche Ding, in das er sich auf den ersten Blick
verliebt hatte. Vielleicht hatte sie ihm nachspioniert – aus Sehnsucht nach ihm. Schiffel lächelte. Na, das wäre eine Überraschung! Doch im Grunde genommen hielt er keine der drei Möglichkeiten für wahrscheinlich. Es gelang ihm, seine Wohnungstür fast geräuschlos zu öffnen. Mit einem Stoß ließ er sie weit nach innen schwingen, gleichzeitig sprang er zur Seite. Alles blieb still. Er betrat den Korridor. „Wer ist hier?“ Seine Stimme klang ruhig, weder Angst noch Drohung schwangen mit. Von der Küche her sagte jemand leise: „Bitte, schließen Sie die Tür. Ich muß mit Ihnen reden.“ Schiffel drückte die Tür ins Schloß. Als er sich umwandte, stand Herr Creuzmann vor ihm. „Sie? Was soll denn das bedeuten?“ „Herr Direktor, ich nehme an, Sie sind der einzige Mensch, der mir helfen kann. Sie sind anständig und fair zu Ihren Leuten, und Ihr Wort gilt etwas.“ „Konnten Sie nicht auf weniger dramatische Art bei mir vorsprechen?“ Schiffel öffnete die Tür zum Wohnzimmer und forderte den Mann mit einer Kopf bewegung zum Eintreten auf. „Also, Herr Creuzmann, was kann ich für Sie tun?“ „Ich muß mich verstecken. Drei Tage ungefähr.“ „Verstecken? Das klingt verdächtig nach Wildem Westen. Nun gucken Sie doch nicht so ängstlich. Wir werden die Sache schon in Ordnung bringen. Wer ist denn hinter Ihnen her?“ „Die Polizei.“ „Weswegen?“ „Olaf Lück ist ermordet worden. Er war mein Freund.“ „Von dieser bösen Sache habe ich schon gehört. Die Polizei war auch bei mir. Vielleicht erscheinen wir alle, die wir Lück gekannt haben, denen ein bißchen verdächtig. Aber das soll uns nicht beunruhigen, junger Mann.“ „Die wissen, daß ich am Mordabend auf seinem Grundstück gewesen bin.“ „So?“ Direktor Schiffels Blick wurde skeptisch.
„Ich habe ihn nicht getötet“, sagte Herr Creuzmann. „Weshalb reißen Sie dann aus?“ „Es spricht einiges gegen mich. Ich muß beweisen, daß ich’s nicht gewesen bin.“ „Wie stellen Sie sich das vor? Illegal in meiner Küche zu leben, bis Ihnen der Bart weiß geworden ist?“ „Ich denke, ich brauche nicht länger als drei Tage.“ „Was hatten Sie denn mit der Taschenlampe in meiner Küche zu suchen?“ fragte der Direktor unvermittelt. „Ich hatte Hunger, bin schon seit Mittag hier.“ Herr Schiffel verließ das Zimmer. „Wohin gehen Sie?“ Creuzmann sprang auf, sah, daß Schiffel die Korridortür abschloß. Den Schlüssel steckte er in die Tasche. „Vorsichtshalber“, sagte Schiffel. „Sie sind einverstanden?“ „Noch sehe ich keinen Sinn in Ihrem Tun. Erzählen Sie der Polizei, was Sie wissen, und warten Sie ab, bis sie den Mörder gefunden haben. Wenn Sie ausreißen, benehmen Sie sich erst recht verdächtig.“ „Heute mittag wollten sie mich holen. Wenn ich erst verhaftet bin, habe ich keine Chance mehr zu beweisen, was ich mitgekriegt habe an jenem Abend.“ „Was meinen Sie denn?“ „Ich habe den Mann gesehen, der Lück umgebracht hat.“ Schweigen. Mißtrauische Blicke aus halbgeschlossenen Augen. Beiderseitiges Belauern. „Sie haben ihn also gesehen“, sagte Schiffel schließlich. „Und nun? Wollen Sie etwa Katz und Maus mit ihm spielen? Warum beschreiben Sie ihn nicht der Polizei?“ „Beschreiben!“ wiederholte Creuzmann erregt. „Denken Sie, die lassen mich laufen, weil ich was von einem großen Unbekannten daherrede? Finden muß ich ihn und der Polizei präsentieren.“ „Wollen Sie ihn mir beschreiben?“
„Er war groß. So ein Zweimetermensch. Er lief auf Lücks Grundstück zu und hat es kurz vor mir erreicht.“ Justus Schiffel trat zu dem Tischchen, auf dem das Telefon stand. „Der zwei Meter große Unbekannte also.“ Er griff nach dem Hörer. „Nein!“ Creuzmann war mit einem Satz bei ihm. „Bitte, geben Sie mir eine Chance! Nicht mal Sie nehmen mir die Geschichte ab. Die Polizei wird mir kein Wort glauben. Aber ich habe einen Plan, wie ich den Mann aufstöbern kann.“ „Seien Sie doch vernünftig, Herr Creuzmann. Sie können nicht im Alleingang und indem Sie der Polizei entgegenarbeiten, einen Mörder dingfest machen. Ich werde gutsagen für Sie, der Polizei beweisen, daß Sie durchaus glaubhaft sind. Ich kenne Sie doch seit Jahren.“ Kopf schütteln. „Bitte, rufen Sie nicht an! Ich brauche nur Zeit. Ich schaffe es!“ Der Direktor runzelte die Stirn. „Wissen Sie eigentlich, was Sie von mir verlangen? Zumindest erschwere ich die Aufklärung eines Verbrechens. Ich decke einen Mörder, falls Sie ihn umgebracht haben. Ich…“ Blitzschnell schlug Creuzmann zu, genau auf die Kinnspitze. Der Direktor sah ihn für den Bruchteil einer Sekunde ungläubig an und sackte zusammen. Creuzmann zog ihm den Korridorschlüssel aus der Tasche, holte aus der Küche ein Messer, zerschnitt die Telefonschnur und verließ die Wohnung. Die Tür hatte er abgeschlossen, den Schlüssel warf er in einen Gully. Draußen war es schon dunkel. Creuzmann lief zur nächsten Haltestelle. In der Ferne tauchte der Bus auf. Creuzmann rannte, schaffte es noch und fuhr zu Lücks Freundin. Er klingelte, blieb auf der obersten Stufe des Treppenabsatzes stehen, die Knie leicht gebeugt, fluchtbereit. Hinter der Tür bellte Olafs Hund. Manuela öffnete, ihre große Nase wurde sichtbar. Vorsichtig steckte sie den Kopf heraus. Sie war nicht geschminkt. Das Haar hing ihr glanzlos und wirr
in die Stirn. „Ja?“ fragte sie, und als sie Creuzmann erkannte: „Tag, Creuzer.“ „Bist du allein?“ Sie nickte. „Hab’ kleine Wäsche. Kannst reinkommen.“ „Zieh dir was über und komm ‘runter.“ „He, wie redest du denn mit mir?“ „Ich warte drüben an der Litfaßsäule. Es geht um Olaf.“ Sie zog die Nase hoch. „Um den geht nichts mehr.“ „Aber um den, der ihn umgebracht hat.“ Sie trat aus der Tür. „Was weißt du?“ „Ich erzähl’s dir unten.“ Er lief die Treppe hinab. „Na schön. Ich wollte sowieso mit dem Hund noch ‘raus.“ Fröstelnd trat er hinter der Litfaßsäule von einem Bein aufs andere. Falls sie Schiffel schon gefunden hatten und der von dem Zweimetermann erzählte, würden sie sicherlich zu Manuela kommen und fragen, ob unter Lücks Bekannten ein langer Kerl gewesen ist. Hoffentlich beeilt sie sich. Als sie aus dem Haus trat, schlenderte er den Bürgersteig entlang, die wenigen Passanten, die in der Nähe waren, im Auge behaltend. Das Mädchen ließ den Hund von der Leine. „Red schon.“ „Du kennst doch Olafs Kumpel?“ „Mehr oder weniger. Die Polizei hat mich auch nach ihnen gefragt.“ „Gibt es einen, der fast zwei Meter groß ist?“ Das Mädchen blieb stehen. „Meinst du etwa seinen Schwager?“ „Was weiß ich. Ich suche einen Zweimetermann.“ „Warum?“ „Ich habe ihn an den Elbwiesen gesehen. An jenem Abend, als Olaf ermordet wurde.“ Sie pfiff nach dem Hund. „Los, wir müssen zur Polizei.“ Creuzmann packte sie am Handgelenk. „Nein!“
„Ich mag nicht so angefaßt werden.“ Sie standen dicht voreinander, und sie sah ihm in die Augen. Er wich ihrem Blick nicht aus, ließ jedoch ihren Arm los. „Was hattest du denn auf dem Grundstück zu suchen?“ fragte sie. „Er hatte mich hinbestellt. Er wollte etwas besprechen mit mir.“ „Was wollte er mit dir besprechen?“ Sie war mißtrauisch geworden. „Manuela, ich weiß es nicht. Olaf war nicht da. Nur dieser Zweimetermann schlich durch die Gegend. Sonst war weit und breit kein Mensch zu sehen.“ „Und warum willst du das nicht der Polizei erzählen?“ „Wenn die spitzkriegen, daß ich bei Olaf war, bin ich ein gebundenes Fressen für die. Dann suchen die gar nicht erst weiter.“ „Da ist was dran!“ Sie nahm den Hund an die Leine. „Olaf hat dich immer als seinen besten Freund angesehen…“ Das war keine Feststellung, sondern eine Frage, hoffnungsvoll und skeptisch zugleich. „So war’s auch. Und ich will den Kerl finden, der an jenem Abend bei ihm gewesen ist. – Du sagst, Olafs Schwager ist so ein Zweimetermann?“ „Ja. Er mochte Olaf nicht. Wegen Jana und – wegen mir.“ „Wo könnte der denn stecken?“ „Versuch’s im ,Newa’. Dort steigt er immer ab, hat Olaf mal gesagt.“ „Danke Manuela. Den finde ich. Verlaß dich drauf. Und geh nicht zur Polizei!“ „Ich weiß nicht“, sagte sie zögernd. „Ich könnte doch bezeugen, daß du sein bester Freund warst. Aber wenn du es nicht willst, geh’ ich nicht hin. Nur, falls sie kommen, setze ich mich nicht in die Nesseln wegen dir.“
11. Auf Oberleutnant Simoschs Schreibtisch lag ein ausführlicher Bericht. Seine Mitarbeiter hatten das Gelände um Lücks Grundstück im weiten Umfang abgesucht. Nach ihren Ermittlungen konnte der Täter auch von der Wasserseite her das Grundstück betreten haben. Die Rowdys, die am gegenüberliegenden Elbufer Gärten verwüstet hatten, bestritten den Diebstahl eines Paddelbootes. Nachweislich war eines abhanden gekommen. Der Oberleutnant hielt es für unwahrscheinlich, daß Lücks Mörder über den Fluß gepaddelt war, denn das wäre weit auffälliger gewesen, als sich im Gebüsch der Gärten zu verbergen. Am Vergißmeinnichtweg hatte ein Trabant gestanden, der keinem der wenigen Grundstücksbesitzer, die zu jener Zeit noch draußen wohnten, gehörte. Besuch erhalten hatte auch niemand. Doch drei Personen hatten den Wagen bemerkt. Einer sprach von einem weißen Trabant, der andere behauptete, es sei ein gelber gewesen, und der dritte schwor, der Wagen habe grün ausgesehen. Auf die Zulassungsnummer hatte keiner geachtet. Simosch ließ sofort alle in diesen Fall verwickelten Personen überprüfen, ob sie im Besitz eines Trabants waren oder sich zur Tatzeit einen ausgeliehen hatten. Kurz nach zwanzig Uhr klingelte das Telefon. Simosch nahm den Hörer ab. „Bitte.“ „Dort bei Oberleutnant Simosch?“ fragte eine jugendliche Frauenstimme. „Am Apparat.“ „Herr Direktor Schiffel ist überfallen worden von einem Mann namens…“ Sie unterbrach sich, Papier raschelte, zweifellos las sie den Namen von einem Notizzettel ab. „… Herrn Creuzmann.“ „Wo ist das passiert?“ „In seiner Wohnung.“ „Halten Sie sich zur Zeit dort auf?“
„Nein.“ Kurz teilte sie mit, daß bei Herrn Schiffel die Telefonschnur zerschnitten wurde und sie vom Nachbarhaus anrufe. „Gut“, sagte Simosch. „Gehen Sie jetzt bitte in Herrn Schiffels Wohnung zurück, und warten Sie dort auf mich. Doch zuvor sagen Sie mir noch Ihren Namen.“ „Frauke Hohstein.“ „Übrigens – ist Herr Schiffel verletzt?“ „Er ist am Tisch aufgeschlagen und hat eine Wunde an der Schläfe.“ „Haben Sie einen Arzt benachrichtigt?“ „Selbstverständlich.“ Selbstverständlich, wiederholte Simosch in Gedanken. Der Stimme nach zu urteilen, gab es nichts, was sie übersehen haben könnte. Zum zweiten Mal, seit er im Mordfall Olaf Lück ermittelte, fuhr er zu Direktor Schiffel. Diesmal war die Tür nur angelehnt. Kratzer und Schrammen neben dem Schloß und am Rahmen zeugten davon, daß sie aufgebrochen wurde, und nicht eben fachmännisch. Das Mädchen, das ihm entgegenkam, mochte ungefähr neunzehn Jahre alt sein. Eine Schönheit. Immer wieder mußte er sie ansehen. Ein herzförmiges Gesicht und etwas schräg stehende Augen, kastanienbraunes Haar, lang und kräftig. Sie führte ihn ins Wohnzimmer. Direktor Schiffel ähnelte einem orientalischen Herrscher, wie er halb liegend, halb sitzend auf die Couch gebettet war, einen turbanähnlichen Verband um den Kopf, Schreibzeug und zwei Bücher ebenso in Griffweite wie ein Tischchen, auf dem ein Samowar stand. Daneben eine Schachtel Pralinen. Auf die Schachtel weisend, fragte Simosch: „Nanu? Hat Ihnen das der Arzt verordnet?“ „Sonderration. Schmerzensgeld sozusagen“, erwiderte Schiffel mit einem Blick zu Frauke Hohstein. Der Oberleutnant zog einen Stuhl heran, nahm Platz und betrachtete den Direktor. Trotz seiner vierzig Jahre, trotz Kopf-
verband und Kissen im Rücken war er auch jetzt noch ein durchaus attraktiver Mann. Schiffel drückte die Hand des Mädchens und sagte zu Simosch: „Meine Nichte ist rührend. Wie ein Licht des Himmels ist sie mir erschienen, als es im wahrsten Sinne des Wortes dunkel um mich wurde.“ Sie beugte sich über ihn, glättete das ohnehin glatte Kopfkissen. „Sprich nicht so viel. Es strengt dich an.“ Ihr tadelnder Blick streifte Simosch. „Laß mich trotzdem erzählen. – Das Klingeln drang mir nur langsam ins Bewußtsein. Ich bin zur Tür getaumelt, konnte sie aber nicht öffnen. Kein Schlüssel mehr da. Dann bin ich wieder ohnmächtig geworden. Da hat Frauke von Nachbarn die Tür aufbrechen lassen.“ Auf die Frage, was Creuzmann eigentlich bei ihm gewollt habe, sagte Herr Schiffel, ab und zu heißen Tee schlürfend: „Er war so ratlos, so in Panikstimmung. Angeblich hat er am Mordabend einen ungefähr zwei Meter langen Mann vor Lücks Grundstück getroffen. Den wollte er finden und der Polizei als Täter präsentieren. Ich versuchte ihm das auszureden. Er schlug mich nieder, als ich in die Nähe des Telefons kam.“ „Sie sollten eine Anzeige wegen Körperverletzung aufgeben.“ Simosch erhob sich. Er hatte es plötzlich eilig. Der Zweimetermann. Simosch sah, wie Wolfram Gotenbach erregt im Hotelzimmer hin und her lief, sich duckend, wenn er dem Türrahmen zu nahe kam. Er wünschte Schiffel gute Besserung. Fräulein Hohstein brachte ihn zur Tür, die nicht verschlossen werden konnte. Im Treppenhaus hörte er sie fragen: „Just, soll ich dir einen Kognak bringen?“ Im Unterbewußtsein nahm er zur Kenntnis, daß sie ihren Onkel Just nannte. Wo konnte Creuzmann Wolfram Gotenbach suchen? Wo Auskunft über ihn erhalten, falls er wirklich hinter ihm her war? Der Oberleutnant beorderte über Funk zwei Streifen-
wagen zum Hotel „Newa“, fuhr zu Lücks Freundin und fragte nach Creuzmann. Sie erzählte von seinem Besuch. „Im Grunde genommen“, sagte sie, „ist es ganz gleichgültig, ob Creuzer sich Olafs Schwager schnappt oder ob Sie ihn erwischen. Wenn der nur kriegt, was er verdient.“ Simosch fuhr zum Hotel „Newa“. Die Streifenwagen hatten sich bereits in der Prager und Leningrader Straße postiert, doch bis jetzt weder Creuzmann noch einen Zweimetermann gesichtet. Simosch befahl ihnen, nur die Straße zu beobachten, ins Hotel wollte er selbst gehen. Was würde geschehen, wenn Gotenbach dahinterkam, daß der Junge etwas wußte? Schreckt einer vor dem zweiten Mord zurück, wenn er glaubt, den ersten damit verheimlichen zu können? Aber konnte Gotenbach denn überhaupt der Mörder sein? Was gewann er durch den Tod seines Schwagers? Ein Wassergrundstück mit Segelboot. Zugegeben, es war schon um Geringeres gemordet worden. Trotzdem wollte Simosch das Motiv Habgier bei Gotenbach nicht als ausreichend erscheinen. Vielleicht Rache. Für ihn trug Lück die moralische Schuld am Tod Janas. Der Wagen bremste vor dem Hotel. Simosch mußte seinen Gedankengang unterbrechen. An der Rezeption stand wieder jene blonde Kollegin, die so ernsthaft auf alles reagierte. „Da bin ich mal wieder. Hat jemand nach Herrn Gotenbach gefragt?“ „Ja, eben. Ein junger Mann, mittelgroß, kräftig, mit dunklem Haar.“ „Was haben Sie ihm gesagt?“ „Daß ich nicht weiß, wo Herr Gotenbach sich aufhält.“ ‘ „Mir verraten Sie es aber.“ „Er ist mit seiner Gruppe in eine Nachtvorstellung gegangen.“ „Wo steckt der junge Mann?“ Sie blickte in Richtung Toiletten. „Da hinein.“ Simosch beugte sich zu ihr und sprach so leise, daß sie an-
gestrengt zuhören mußte: „So, Mädchen, jetzt zeigen Sie mal, was Sie draufhaben. Sie geben mir Gotenbachs Zimmerschlüssel, und wenn der Bursche wieder auftaucht, erzählen Sie ihm, Herr Gotenbach sei gerade gekommen, und nennen ihm die Zimmernummer.“ „Ich weiß nicht…“ „Doch, Sie wissen. Schnell, Mädchen, schnell!“ Er riß ihr den Schlüssel fast aus der Hand, als sie ihn vom Haken nahm, und sprang in den Fahrstuhl. In Gotenbachs Zimmer ließ er die Tür unverschlossen und schaltete Licht an. Einen Koffer, der im Wege stand, stellte er auf den Tisch, zögerte kurz, klappte ihn dann auf. Wäsche, Prospekte, Stadtplan. Und ein Foto. Eine junge Frau, grazil gebaut, mit ernsten ausdrucksvollen Augen. Auf der Rückseite eine Widmung: Für meinen Bruder. Jana. Ungewöhnlich, dachte Simosch, zwei Jahre nach ihrem Tod nimmt er noch ihr Bild auf Dienstreisen mit, obenauf im Koffer. Ein Geräusch an der Tür ließ ihn beiseite treten. Vorsichtig tappten Schritte herein, am Bad vorbei. Blitzschnell griff Simosch zu und bog Creuzmann den Arm nach hinten. Ein unterdrückter Aufschrei, der Mann ging in die Knie. Bevor er begriff, daß nicht Gotenbach ihn gepackt hielt, hatte er die Hände schon wieder vorn, verbunden durch eine stählerne Acht. Er erkannte den Oberleutnant. Ruhig sagte er: „Sie können nichts als die Falschen schnappen.“ „Setzen Sie sich!“ Simosch drängte ihn zu einem Stuhl. „Wir schnappen also die Falschen. Und Sie sind hinter dem Richtigen her. Was wollten Sie in diesem Hotelzimmer?“ „Herrn Gotenbach besuchen.“ „Ist er auch ein Freund von Ihnen?“ „Sie sind mir zuvorgekommen“, sagte Creuzmann, allmählich in Wut geratend. „Ich wollte genau das verhindern, was jetzt geschehen ist.“
Mit einer Bewegung, als wollte er zuschlagen, streckte er Simosch die gefesselten Hände entgegen. „Herr Oberleutnant, Sie haben Ihren Schmuck dem Falschen angelegt.“ „Sie wiederholen sich. Sie können’s mir natürlich so oft erzählen, wie Sie möchten, Tatsachen schaffen Sie damit nicht aus der Welt.“ „Ich hätt’ Ihnen Tatsachen geliefert. Wären Sie mir nicht in die Quere gekommen!“ „Wollen wir doch erst mal mit den vorhandenen Fakten klarkommen, zum Beispiel, daß Sie doch auf Lücks Grundstück gewesen sind. Ihre Schuhe haben es verraten. Was hatten Sie dort zu suchen? Erzählen Sie mir nicht, daß Sie Blumen pflücken wollten. Herbstzeitlose zum Beispiel.“ „Wir waren verabredet. Einfach so. Ich sollte noch mal rauskommen, bevor er die Klitsche verkauft.“ „Warum haben Sie mir das nicht gleich erzählt, als ich Sie danach fragte?“ „Olaf ist ermordet worden. Ich wollte in diese Geschichte nicht reingezogen werden.“ „Sie braucht niemand reinzuziehen“, erwiderte Simosch, „Sie stecken ohnehin bis über beide Ohren drin. Lück ist an jenem Abend getötet worden, als Sie bei ihm waren. Sie haben die Polizei belogen und sind geflüchtet, als wir Sie nochmals sprechen wollten. Und Sie haben Direktor Schiffel niedergeschlagen. Jetzt stehen Sie im Hotelzimmer von Lücks Schwager. War er das Ziel Ihres Amoklaufes, oder wollten Sie noch weiterrennen?“ „Als ich Olaf besuchen wollte, habe ich einen Riesenkerl vor Lücks Grundstück gesehen.“ „Und?“ „Die Gartentür stand offen, aber Olaf war nicht da. Da bin ich wieder gegangen.“ „Wohin?“ „Zu Direktor Schiffel. Eine Lichtleitung legen.“ „Sie hatten also die Zeit eingeplant, die Sie brauchten, um mit
Lück zu sprechen und trotzdem pünktlich um zwanzig Uhr bei Herrn Schiffel zu sein. Aber angeblich haben Sie Ihren Freund nicht angetroffen, sind sofort gegangen und – doch zu spät zu Herrn Schiffel gekommen. Wie paßt denn das alles zusammen?“ Schulterzucken. Sichtliches Bemühen, gleichgültig zu erscheinen. „Die Straßenbahn…“ „Ach ja“, sagte Simosch, „die gibt’s auch noch. An jenem Abend waren Sie bei Schiffel ziemlich nervös.“ „Bloß ärgerlich, weil ich Olaf nicht angetroffen hatte.“ „Warum laufen Sie jetzt hinter seinem Schwager her?“ „Fräulein Sanitz sagte, unter Olafs Leuten gibt’s nur einen Zweimetermann, seinen Schwager.“ „Angenommen, Sie sagen die Wahrheit, und angenommen, Gotenbach hat Lück umgebracht, was glauben Sie denn, was Ihnen jetzt passiert wäre?“ Mit gefesselten Händen strich Creuzmann sich das Haar aus der Stirn. „Nicht jeder geht so leicht in die Knie wie Direktor Schiffel, der Ihnen mit gutem Recht eine Klage wegen Körperverletzung anhängen wird. Sie sind alt genug, um zu kapieren, daß man nicht durch die Straßen rennt oder in fremde Wohnungen und Hotelzimmer eindringt, wenn man etwas über einen Mord weiß. – Wir werden alles nachprüfen. Ihre Geschichten ebenso wie das, was Sie an jenem Tag und Abend getrieben haben, als Ihr Freund ermordet wurde. Kommen Sie.“ Simosch zog ihn vom Stuhl hoch und zeigte auf seine gefesselten Hände. „Das nehme ich Ihnen ab. Ich möchte nicht, daß wir durchs Hotel Reklame laufen für ,Polizeiruf hundertzehn’. Aber machen Sie keine Mätzchen. Vor der Tür stehen Funkwagen, und wir gehen auch alle regelmäßig zum Schießstand.“ Sie fuhren in die Halle hinunter. Der Oberleutnant gab mit freundlichem Kopfnicken Gotenbachs Schlüssel und einen1 zusammengefalteten Zettel an der Rezeption ab – eine polizeiliche Vorla-
dung für Wolfram Gotenbach. Die Blonde nahm ohne ein Wort alles entgegen. Draußen führte Simosch Dirk Creuzmann zum Funkwagen. „Der ist vorläufig festgenommen. Ich beschäftige mich morgen vormittag mit ihm.“ Er blickte ihm nach. Ein unscheinbarer junger Mann, ohne große Lebensansprüche. Schwimmt mit in der Masse, wird plötzlich in einen Strudel von Ereignissen gewirbelt, die er nicht überschauen und einschätzen kann. Er dreht durch, handelt ohne Sinn und Verstand. Simosch fuhr zur Dienststelle.
12. Die polizeiliche Vorladung war für vierzehn Uhr ausgestellt, doch Herr Gotenbach betrat schon am Morgen Simoschs Dienstzimmer. „Könnten wir unser Gespräch nicht gleich führen?“ fragte er mit einem Blick auf die Armbanduhr. „Eine halbe Stunde habe ich noch Zeit, dann steht für mich Meißen auf dem Programm. Rückkehr neunzehn Uhr.“ „Nein.“ Simosch hätte ihn am liebsten dabehalten. Sein Zögern bei Creuzmanns Festnahme hatte sich verhängnisvoll ausgewirkt. Andererseits konnte er nicht verantworten, einer Gruppe ausländischer Touristen den bezahlten Dolmetscher zu entziehen oder ihnen gar die Fahrt nach Meißen zu blockieren. Bei Gotenbach bestand keine Fluchtgefahr. Noch wußte er nicht, daß die Polizei über seinen Aufenthalt am Mordabend unterrichtet war. Außerdem würde ein Mann in seiner Position nicht einfach davonlaufen. Selbst wenn er etwas auf dem Kerbholz hatte, war es für ihn am vorteilhaftesten, seiner Arbeit nachzugehen und so unauffällig wie möglich zu leben. „Ich erwarte Sie um neunzehn Uhr dreißig in diesem Zimmer“, sagte Simosch. „Entschuldigen Sie, aber das ist, gelinde ausgedrückt, eine Zumutung.“ Gotenbach reckte sich und stieß mit dem Kopf an
die Deckenlampe, die klirrend hin und her schwang. Er trat einen Schritt beiseite. „Wenn ich so eine Tour durchstehen muß, bin ich abends fix und fertig, und um neunzehn Uhr dreißig habe ich noch nicht einmal Abendbrot gegessen.“ Simosch unterschrieb den Passierschein. „Auf Wiedersehen. Neunzehn Uhr dreißig.“ Kopfschüttelnd verließ Gotenbach das Zimmer. Ein Anruf informierte den Oberleutnant darüber, wer von den Verdächtigen am Mordabend einen Trabant benutzt haben konnte. Herr Gotenbach besaß einen hellblauen. Die Zulassungsnummer war in Plauen registriert. Den Wagen fuhr in der Regel seine Frau. Direktor Schiffel besaß zur Zeit keinen Privatwagen. Die Auslieferung seines Wartburgs zog sich hin. Der Kriminalist hatte die Käufer des Wagens aufgesucht, ein älteres Ehepaar, das den Trabant nur zu Wochenendausflügen benutzte. „Wir sind mit Herrn Schiffel übereingekommen“, sagte der Mann, „daß er den Wagen die paar Wochen mitbenutzt, bis er seinen neuen hat. Aber er macht selten Gebrauch davon und zeigt sich großzügig, wenn er damit gefahren ist.“ „Wo steht der Wagen?“ „Zwei Straßen weiter sind Garagen. Durch Herrn Schiffels Vermittlung haben wir eine erhalten. Vorläufig besitzt Herr Schiffel noch den Zweitschlüssel.“ Der Kriminalist nannte ihnen das Datum des Mordabends und fragte, ob der Direktor zu dieser Zeit den Wagen gefahren habe, doch sie wußten es nicht. Für sie war Herr Schiffel eine Vertrauensperson, der sie nicht auf die Finger guckten. Demnach war es auch möglich, daß sein Wagen zur Zeit des Mordes in der Nähe von Lücks Grundstück geparkt hatte. Ein beigefarbener Trabant. Die einen hatten seine Farbe als weiß, die anderen als grün oder hellblau angegeben. Was besagt das schon! Zumindest wurde durch diese Wagengeschichte der Verdacht verstärkt auf Direktor Schiffel gelenkt. Aber vor Lücks Grundstück hatte sich ein Zweimetermann herumgetrie-
ben – wenn man Herrn Creuzmann glauben wollte. Der Oberleutnant ließ Dirk Creuzmann vorführen. „Wir machen jetzt eine Spazierfahrt.“ „Wohin?“ „Zu den Elbwiesen.“ „Weshalb?“ „Sie werden mir genau zeigen, wo Sie den Zweimetermann gesehen haben, von dem Sie meinen, daß er Lücks Schwager sei. Wir werden den Weg so ablaufen, wie Sie das an jenem Abend getan haben, und wir werden auf Lücks Grundstück gehen.“ „Ich kann Ihnen hier alles erklären, aufmalen sogar, wenn Sie wollen.“ „Kommen Sie.“ Er schlang Creuzmann eine Knebelkette um das Handgelenk. „Wenn Sie nicht verrückt spielen, tut das nicht weh und fällt auch nicht auf.“ Creuzmann zog die Schultern hoch und trottete schwerfällig hinter Simosch her. „He! Sie sind kein Kalb, das man zur Schlachtbank fährt!“ „Sie tun’s trotzdem“, sagte Creuzmann. Sie fuhren los. Es war einer jener ungewöhnlich warmen, sonnigen Oktobertage, die den Sommer noch einmal in Erinnerung rufen. Über der Elbe und den Gärten an beiden Ufern hing eine zarte Nebelschicht, doch man ahnte schon den blauen Himmel, den sie bald freigeben würde. So müßte man mit Christina in den Tag hineinfahren können, dachte Simosch, vielleicht am-Sonntag, wenn sich das Wetter hält. Aber nicht diese Strecke, sonst sehe ich nur Lück vor mir und alle, die ihn getötet haben könnten. Der Wagen bog in den Weg zu Lücks Grundstück ein, Simosch gebot dem Fahrer zu halten und forderte Creuzmann zum Aussteigen auf. „Sind Sie hier entlanggekommen?“ „Ja.“ Längs der Elbe wuchsen Trauerweiden. Herr Creuzmann schien noch nie Trauerweiden gesehen zu haben. „Um wieviel
Uhr sind Sie hier entlanggekommen?“ „Gegen achtzehn Uhr dreißig bin ich von zu Hause los. Man braucht ungefähr eine halbe Stunde bis hierher.“ „Wo haben Sie den langen Kerl gesehen?“ „Kurz vor Lücks Grundstück. Ich sag’s Ihnen ja dauernd.“ „Jetzt sollen Sie mir die Stelle zeigen. Ganz genau. Die schöne Elblandschaft können Sie später betrachten.“ Widerwillig lief Creuzmann mit dem Oberleutnant hin und her, korrigierte seine Angaben und hieß den Fahrer, der als Gotenbach fungierte, bald ein paar Meter näher oder weiter entfernt von Lücks Grundstück stehenbleiben. „Wohin ist er gegangen?“ fragte Simosch. „Auf die Gartentür zu.“ „Und Sie?“ „Ich – bin hier abgebogen. Wenn Lück Besuch hat, dachte ich, gehe ich ein andermal zu ihm. Hatte sowieso nicht viel Zeit.“ „Das entlastet Sie nicht gerade. Man könnte auf den Gedanken kommen, Sie hätten etwas vorgehabt, was ohne Zeugen geschehen mußte.“ „Der Gedanke beschäftigt Sie doch die ganze Zeit.“ „Eins zu Null für Sie. Also, Sie wollten ein andermal zu Ihrem Freund. Was haben Sie getan?“ „Ich bin umgekehrt.“ „An Ihren Schuhen klebte Erde von Lücks Grundstück.“ „Ich meine“, er zögerte, „nach ein paar Schritten bin ich umgekehrt, um nachzusehen, ob der Lange wirklich zu Lück ‘rein ist. Das Bootshaus war dunkel, aber die Gartentür stand offen.“ „Kommen Sie.“ Mit gesenktem Kopf ging Creuzmann in kurzen, schwerfälligen Schritten bis zur Tür und blieb stehen. Simosch schob ihn weiter. „Es war offen, und Sie sind ‘rein. – Was ist mit Ihnen? Gehen Sie, los doch!“ „Ich bin nur bis hierher gekommen und dann wieder um-
gekehrt, weil alles dunkel war.“ „Sie sind hinter zu den Blumen gegangen. Auch das haben uns Ihre Schuhe verraten. Aber wahrscheinlich haben Sie in der Dunkelheit die Herbstzeitlose nicht bemerkt.“ „Ich weiß nicht mal, wie das Zeug aussieht.“ „Dann gucken Sie jetzt hin. Vorwärts!“ Er packte Creuzmann, der noch immer störrisch wie ein Esel stehenblieb, am Kragen und zerrte ihn weiter. „Das ist Herbstzeitlose. Von ihrer Pracht ist nicht viel zu sehen, denn Lück wurde hier erschlagen und vergraben. Die aufgewühlte Erde dort – schauen Sie gefälligst hin – da haben wir ihn rausgeholt.“ Dirk Creuzmann würgte. „Mich hat es auch gepackt, als ich ihn gesehen habe. Kein schöner Anblick. Blutverschmiertes Gesicht, Erde darüber. Er lag nicht sehr tief. Sie hatten es eilig, ihn zu erschlagen und einzubuddeln.“ „Das ist nicht wahr!“ Mit einem Aufschrei sprang Creuzmann beiseite. Um ein Haar hätte er Simosch die Knebelkette aus der Hand gerissen. Er lehnte den Kopf gegen die Wand des Bootsschuppens. „Ich kann nicht mehr hinsehen.“ Er zitterte. „Ich wäre beinahe über ihn gestolpert. Er war schon tot. Ich habe ihn nur vergraben.“ Simosch ließ ihm Zeit, sich zu beruhigen. Wenn das stimmte, stand er wieder am Anfang. Aber vielleicht irrte sich Creuzmann und hatte das Grundstück später betreten, so daß dem Zweimetermenschen Zeit geblieben war, Lück zu erschlagen. „Kommen Sie, wir gehen zum Wagen.“ Creuzmann taumelte neben ihm her. Der Fahrer riß die Wagentür auf, Simosch schob den Mann auf den Rücksitz und setzte sich neben ihn. „Zurück zur Dienststelle“, sagte er, und zu Dirk Creuzmann gewandt: „Fangen wir von vorn an. Sie besuchten an einem regnerischen Herbstabend Ihren Freund auf seinem gottverlassenen Grundstück an der Elbe. Warum war er dort, und
warum sind Sie hingegangen?“ „Er wollte nach dem Rechten sehen. Das Grundstück sollte in den nächsten Tagen verkauft werden. Wir haben dort prima Stunden verlebt und hatten die Idee, uns noch mal im Bootshaus zu treffen.“ „Kann sein. Ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Na, machen Sie weiter.“ „Ich hab’s Ihnen doch schon erzählt!“ „Möglicherweise müssen Sie es den ganzen Tag lang und vielleicht auch noch die Nacht hindurch erzählen.“ Creuzmann riß sich zusammen. „Wie Sie wollen. Wenn Ihnen das nicht langweilig wird. – Also, ich seh’ da einen Zweimetermenschen an Lücks Gartentür und gehe in die Seitenstraße ‘rein, um Olaf nicht zu stören, wenn er Besuch hat.“ „Wie lange sind Sie in der Seitenstraße umherspaziert?“ „Ich sagte doch, nur ‘n paar Schritte. Dann dachte ich, vielleicht wollte der Lange gar nicht ‘rein, sondern ist gerade rausgekommen.“ „Sie sind also zu Lücks Grundstück.“ „Ja. Und Olaf lag blutüberströmt im Garten.“ „Sie haben ihn erschlagen.“ „Ich habe ihn nicht erschlagen“, erwiderte Creuzmann dumpf und hoffnungslos. „Dann wissen Sie, wer es getan hat. Sie müssen etwas bemerkt haben.“ „Der Zweimeterklotz war vor mir da. Nur er kann’s gewesen sein. – Denken Sie, ich laufe dem aus Spaß hinterher?“ „Ich denke, daß Sie an jenem Abend die größte Eselei Ihres Lebens begangen haben. Der Lange kann Lück nicht getötet haben in der kurzen Zeit, in der Sie ein paar Schritte in die Nebenstraße gelaufen sind. Zumindest hätten Sie etwas hören müssen: Stimmen, einen Schlag oder einen Schrei.“ „Er kann sich herangeschlichen und ihn hinterrücks erschlagen haben.“
„Das kann sein, ist aber ziemlich unwahrscheinlich“, wiederholte Simosch. In der Dienststelle angekommen, nahm er den Mann wieder an die Knebelkette und führte ihn in sein Zimmer. „Bleiben wir bei Ihrer Version. Sie betreten das Grundstück und sehen Ihren Freund am Boden liegen. Weiter!“ „Ich habe ihn vergraben.“ Creuzmann ließ die Schultern hängen. Sein Mund verzog sich zu einem traurigen Lächeln. „Warum?“ fragte Simosch. „Warum verbuddeln Sie einen Toten, statt zur Polizei zu gehen?“ Creuzmanns Körper straffte sich. Plötzlich schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn. „Warum mußte ich den kennenlernen! Der hat mir nur Unglück gebracht. Ja, ich wollte ihn los sein, umbringen wollte ich ihn. Und dann wollte ich’s wieder nicht. Du sollst nicht töten! Die ganze Zeit über hab’ ich’s gehört in mir, und schon als ich mein Zimmer verließ, wußte ich, daß ich noch einmal mit ihm sprechen würde. Ohne Angst, weil ich doch nichts verbrochen habe und deshalb auch nicht erpreßt werden kann. Da lag er vor mir – und mir war’s, als hätte ich ihn erschlagen. Verstehen Sie, ich habe mit diesem Gedanken gespielt – und schon ist es passiert. Aber ich habe es nicht getan! Als ich ihn sah, wußte ich, daß hätte ich nie fertiggebracht. Dann kam die Angst. Ich dachte, er muß verschwinden, einfach eine Zeitlang nicht aufzufinden sein. Vielleicht nimmt seine Freundin an, daß er weggefahren ist, und läuft nicht gleich zur Polizei. Inzwischen hätte ich den Langen suchen können, der vor mir dagewesen ist. Der muß es gewesen sein. Aber es ist schiefgegangen. Mir geht alles schief.“ „Warum wollten Sie ihn töten?“ fragte Simosch ruhig. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr.“ „Hören Sie, Herr Creuzmann, um Sie steht’s nicht gut. Diese Geschichte ist nicht dazu angetan, Ihre Lage zu verbessern. Erst erzählen Sie, monatelang nicht auf Lücks Grundstück gewesen
zu sein, waren aber an jenem Abend dort, als er ermordet wurde. Ihr Freund! Bis jetzt haben Sie auf dieses Wort wert gelegt, mit einem Male behaupten Sie aber, Sie wollten ihn töten. Doch dann lag er angeblich schon erschlagen auf dem Blumenbeet, und statt sofort zu uns zu kommen, haben Sie ihn verscharrt. – Das ist schlechtweg hanebüchenes Zeug.“ „Es ist die Wahrheit.“ „Die nimmt Ihnen niemand ab, junger Mann> falls Sie nicht glaubwürdige Motive vorbringen. Warum wollten Sie ihn töten? Behaupten Sie nicht, das sei nur Ihre Sache. Vielleicht hatten mehrere das gleiche Motiv.“ Schwerfällig schüttelte Creuzmann den Kopf. „Das ging nur uns beide an. Da hängt kein anderer mit drin.“ „Um so schlimmer, wenn Sie allein einen Grund hatten, ihn zu töten.“ „Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Ich komme doch nicht ‘raus.“ „Das liegt an Ihnen.“ Wieder dieses hoffnungslose Kopfschütteln. „Es ist wie in einem Irrgarten. Ich versuch’s mit diesem Weg und mit jenem, aber ich komme nicht weit. Da ist wieder eine Sackgasse, und an der Wand steht: Du hast ihn getötet.“ „Hat er Sie erpreßt?“ bohrte der Oberleutnant weiter, Creuzmann lachte verzweifelt. „Warum sprechen Sie nicht? Meine Geduld hat Grenzen.“ „Erpreßt! Auch die Geschichte wird mich in kein gutes Licht rücken.“ „Versuchen wir’s trotzdem.“ Creuzmann sah dem Oberleutnant in die Augen. Simosch sagte: „Aus jedem Labyrinth führt ein Weg.“ „Mögen Sie recht haben. – Vor Wochen ist ein Postbeamter erschlagen und ausgeraubt worden. Was würden Sie meinen, wenn ich Ihnen sage, mein Freund war der Täter, und ich habe ihm für den Abend ein Alibi gegeben, ohne zu wissen, um was es ging. Als ich die Wahrheit erfuhr, wollte ich es zurückziehen
und ihn dazu bringen, sich zu stellen. Er drohte mir, bei der Polizei anzugeben, ich hätte es nicht nur gewußt, sondern ihn dazu angestiftet. Ja sogar mitgemacht! Na, ist Ihnen das haarsträubend genug, um gelogen zu sein?“ „Es ist sogar so haarsträubend, daß es wahr sein könnte.“ „Er hat mich in die Enge getrieben, ich wollte ihn umbringen. Dann habe ich mir gesagt, sprich noch mal mit ihm. Aber als ich hinkam, war er tot. Das übrige wissen Sie.“ Simosch schwieg, rieb sich die Handgelenke. Von Hauptmann Rister wußte er, daß der Posträuber ungefähr 15 000 Mark erbeutet hatte. 10000 hielt Lück in seiner Wohnung versteckt, 7 000 in Blechbüchsen auf dem Grundstück. Davon stammten wahrscheinlich 5 000 aus dem Postraub. 2 000 waren von Frau Seiffart ins Bootshaus gebracht worden. Lück hatte sie um Geld, den Freund um ein Alibi erpreßt. Doch wenn diese Rechnung stimmte, dann waren 60000 Mark verschwunden. Die gesamte Summe, die Lück an einem Tag in Berlin abgehoben hatte! Wo war dieses Geld? Das Schweigen machte Creuzmann unsicher. „Sie glauben mir nicht.“ „Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse.“ Und wenn es außer um ein Alibi auch noch um Geld gegangen war zwischen den beiden? Manch einer gab etwas zu, um glaubhaft zu wirken, und verschwieg, was ihn am meisten belastete. „Wo hatte Lück das erbeutete Geld versteckt?“ „Keine Ahnung.“ „Wenn er so gerissen war, wie Sie ihn schildern, könnte er es Ihnen zur Aufbewahrung anvertraut haben. Wäre ihm die Polizei auf die Spur gekommen, hätte er sie zu Ihrer Wohnung gelotst, und das Geld hätte gegen Sie gesprochen.“ „So weit kann sogar ich denken. Die Moneten hätte ich keinen Augenblick lang ins Haus genommen.“ „Vielleicht sollten Sie es auf sein Konto einzahlen, damit es aussieht, als hätten Sie Schulden beglichen.“
„Von dem Geld habe ich nie was zu sehen gekriegt.“ „Sollten Sie aus einem anderen Grunde eine bestimmte Summe für ihn einzahlen?“ „Nein! Warum verbiegen Sie die Geschichte so?“ „Herr Lück hat von seinem Konto sehr viel Geld abgehoben. Doch das Konto war leer. Jemand hat ihn reingelegt – und getötet.“ „Damit habe ich nichts zu tun!“ Angst stand wieder in seinen Augen, wie Menschen sie spüren, die einer unsichtbaren Macht ausgeliefert sind. „Er hat gesagt, daß er mich der Polizei ausliefern will. Mich, der ich nichts getan habe. Er macht seine Drohung sogar im Tod noch wahr. Es führt kein Weg aus dem Irrgarten.“ „Solange Sie nicht die ganze Wahrheit eingestehen, stoßen Sie höchstens auf einen Verbindungsweg zum nächsten Labyrinth. Sie behaupten, mit diesem Scheckbetrug haben Sie nichts zu tun. Eine Beteuerung, die ich in den letzten Tagen oft hören mußte. Heute auf Lücks Grundstück sind Sie weich geworden. Sie gestanden, ihn vergraben zu haben. Vielleicht gestehen Sie das nächste Mal den Mord. – Gehen Sie jetzt.“ „Nach Hause?“ Creuzmann war überrascht. „Wohin Sie wollen. Wenn wir Sie brauchen, werden wir Sie finden.“ Der Mann erhob sich. Den Kopf gesenkt, die breiten, kräftigen Schultern hochgezogen, verließ er wortlos den Raum. Er erinnerte an einen Stier, der die erste Runde in der Arena verloren hat, aber noch keineswegs besiegt ist. Geh nur, dachte der Oberleutnant, zu Hause wird es dich ohnehin nicht halten. Du hast kein Sitzfleisch. Du steckst tief in dieser Sache drin, wirst wahrscheinlich teils zu recht und teils zu unrecht beschuldigt. Das macht dich kribbelig. Du bist viel zu vital, um abzuwarten, bis wir den Fall geklärt haben. Du wirst losziehen, und genau das könnte für uns aufschlußreich sein. Falls du den Scheckbetrug mit Lück zusammen begangen hast, bist du jetzt gewarnt und wirst vielleicht versuchen,
Spuren deines Berlin-Aufenthaltes zu verwischen. Zum Beispiel, indem du zu einem Mädchen fährst, mit dem du in Berlin zusammen gewesen bist. Oberleutnant Simosch ordnete telefonisch Creuzmanns Überwachung an, ließ sich dann mit Hauptmann Rister verbinden und erzählte ihm, was er soeben erfahren hatte. Olbricht kam, um den Oberleutnant zum Mittagessen in die Kantine abzuholen. „Es ist möglich“, sagte Simosch, „daß Sie in den nächsten Stunden oder Tagen nochmals nach Berlin müssen, für den Fall, daß Herr Creuzmann hinfährt.“ „Reisen ist meine Lieblingsbeschäftigung. Hier mag mich ohnehin keiner. Herr Randolf lügt mir die Hucke voll, Frau Seiffart steht ihm nicht nach und läuft vor mir davon, so gut sie kann, und Fräulein Sanitz macht aus ihrer Abneigung auch kein Hehl.“ „Wie weit sind Sie in der Sache Randolf – Seiffart?“ „Keinen Einblick in laufende Ermittlungen! Heute abend, spätestens morgen früh erfahren Sie alles. Aber ich komme auch jetzt nicht, ohne Ihnen etwas Interessantes anzubieten – ein Mordmotiv für Lücks Schwager.“ „Für Gotenbach? ‘raus damit!“ „Er ist total verschuldet. Konnte nicht widerstehen, als man ihm in Plauen ein Einfamilienhaus zum Kauf anbot. Er braucht Geld, aus diesem Grund stritt er sich wahrscheinlich mit seinem Schwager um Janas Erbe.“ „Das ist noch kein Verbrechen“, entgegnete Simosch. „Aber so ein Erbstreit kann sich hinziehen, wie Sie wissen, und er braucht das Geld dringend. Mir scheint, diese Sache ergibt bis jetzt den einzigen glaubwürdigen Zusammenhang zwischen dem Scheckbetrug mit eigenem Konto und Lücks Ermordung. Fräulein Sanitz betont, Gotenbach wollte das Grundstück um jeden Preis haben, war sogar bereit, dafür zu zahlen. Auf Anhieb klingt es widersinnig, daß einer, der Schulden hat, auch noch ein teures Grundstück kaufen will. Doch nehmen wir an,
er hatte seinem Schwager versichert, so um die sechzigtausend Mark seien schon eingezahlt. Er rechnet nicht damit, daß der es sofort abhebt und hinter seinen Betrug kommt…“ „Früher oder später“, unterbrach Simosch ihn, „wäre Lück doch dahintergekommen.“ „Aber dann hätte sein Schwager das Grundstück laut Überschreibung schon besessen. Jedenfalls erfährt Gotenbach, daß Lück hinter seinen Betrug gekommen ist, bringt ihn auf seinem Grundstück um und nimmt das Geld. Bleibt für uns ein mysteriöser Scheckbetrug, eine Leiche und ein ehrenwerter Herr Gotenbach, dem man nichts nachweisen kann, denn es gibt nichts Schriftliches über den Kauf. Außerdem ist es eine Erklärung dafür, warum wir das Geld bei Lück nicht finden.“ „Aber Lück wollte doch an Schiffel verkaufen“, warf der Oberleutnant ein. „Das war noch längst keine perfekte Sache. Vielleicht hatte Lück im Sinn, für das Grundstück zweimal zu kassieren. Angenommen, es stimmt, daß er die Republik verlassen wollte, wie Sie vermuten, um der Strafe für den Postraub zu entgehen, dann spielte es doch keine Rolle, daß er seinem Verbrechen noch ein Gaunerstückchen hinzufügte.“ „Da ist was dran“, murmelte Simosch. „Versuchen wir’s für ein halbes Stündchen zu vergessen?“ fragte Olbricht. „Der Buschfunk meldet, es gibt Kotelett und Letscho.“ Als der Oberleutnant sein Zimmer abgeschlossen hatte, blieb er nachdenklich vor seinem Mitarbeiter stehen. „Besitzen Sie vielleicht noch einen Pullover, der nicht aussieht, als hätten Sie ihn von einem Ringkämpfer im Schwergewicht ausgeliehen?“ „Meine Pullover passen alle tadellos, bevor ich sie in die Waschmaschine stecke“, erwiderte Olbricht. „Aber Sie wollen ja, daß ich sie immerzu in die Waschmaschine stecke.“
13.
Der Leutnant erfuhr, daß Frau Seiffart im Kin-
dergarten sei, um ihren Sohn abzuholen. Er ließ sich den Weg beschreiben und ging ihr entgegen. Vor einer Zoohandlung sah er sie, den Arm um die Schultern eines Jungen gelegt, der die Nase an der Schaufensterscheibe platt drückte. Sie sprach auf ihn ein, erzählte über Fische und Vögel, die er bestaunte. Ihre Gesichtszüge wirkten weicher als in Simoschs Dienstzimmer. Der Leutnant trat hinter sie, und sie erblickte sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Sie wandte sich nach ihm um, nickte ihm einen Gruß zu und sagte zu dem Kind: „Na schön, such dir eines aus.“ Beide verschwanden in der Zoohandlung. Olbricht zögerte einen Moment, dann betrat auch er das Geschäft. Es war ziemlich voll. Vor allem zwischen den Aquarien drängten sich die Leute. In einer Ecke entdeckte er den blonden Wuschelkopf, der mit glücklichem Lächeln Meerschweinchen in einem Aquarienglas beobachtete. Die Mutter des Jungen war nicht zu sehen. „Welches wünschst du dir denn?“ fragte er. „Das braune mit der weißen Nasenspitze.“ Der Junge blickte zu ihm auf. „Magst du auch Meerschweinchen?“ Olbricht sah sich zu Hause im Nachbargarten durch den Zaun langen, bis er die ersten saftigen Blätter Kopfsalat zu fassen bekam. Delikatesse für sein Meerschweinchen. „Und wie.“ Plötzlich stand Frau Seiffart neben ihnen. „Komm, Thomas.“ Den Leutnant würdigte sie keines Blickes, sie faßte den Jungen am Arm und wollte mit ihm zur Tür. Er verzog den Mund. „Du hast gesagt, ich darf mir eines aussuchen!“ „Ja, aber kaufen müssen wir es später. Vati muß erst die Kiste bauen.“ Thomas ließ sich hinausführen. Olbricht folgte ihnen. Draußen wandte das Kind sich nach ihm um. „Er mag auch Meerschweinchen, Mutti. – Kommst du mit zu uns?“ „Mal sehen“, sagte Olbricht. „Dort wohnen wir.“ Er wies auf irgendeine Wohnung in einem
Neubaublock. „Ich bringe dich über die Straße, Thomas, dann läufst du zum Spielplatz, ich kauf uns inzwischen was ein.“ „Tschüs“, rief Thomas, als sie die Straße überquert hatten, und lief los. „Beeilen Sie sich“, sagte die Frau zu Leutnant Olbricht, „ich muß wirklich noch einkaufen gehen.“ „Ich kann Ihnen eine Vorladung geben und morgen in der Dienststelle mit Ihnen sprechen.“ „Wozu solche Umstände?“ entgegnete sie ruhig. „Was Sie auf dem Herzen haben, können Sie gleich ausschütten.“ „Wie Sie wollen.“ Sekundenlang kämpfte der Leutnant mit sich. Es lag ein großes Risiko in dem, was er vorhatte. Ging es schief, würde er wahrscheinlich kein Wort mehr von dieser Frau erfahren. „Nur ob es Ihnen angenehm ist, hier auf der Straße darüber zu reden.“ „Worüber?“ „Über Thomas, Randolfs Sohn.“ Heftig zuckte sie mit dem Kopf, als habe er sie geschlagen. Doch im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder in der Gewalt, und die Maske der Ruhe und Gelassenheit fiel über ihr Gesicht. „Herr Lück hatte es herausgefunden und Sie damit erpreßt.“ „Na gut. Nun wissen Sie es.“ Sie wollte gehen. Olbricht faßte sie am Arm. „Möchten Sie mir Einzelheiten auf der Dienststelle erzählen oder in Ihrer Wohnung?“ „Ich habe überhaupt nicht vor, Ihnen Einzelheiten zu erzählen. Meiner Wohnung bleiben Sie bitte fern.“ Der Leutnant hakte sich einfach unter und ging mit ihr auf ein kleines Cafe zu. „Versuchen wir’s hier.“ Um zwei Plätze an einem separaten Tisch zu bekommen, mußte er der Kellnerin seinen Ausweis zeigen. Er bestellte zwei Tassen
Kaffee. „Seit wann wußte Lück davon?“ „Keine Ahnung. Vor einem Vierteljahr ungefähr, als wir uns auf der Straße trafen, sagte er es mir auf den Kopf zu. Zweitausend wollte er haben, oder mein Mann erfährt die Wahrheit.“ „Sollten Sie nicht ohnehin mit ihm sprechen, Frau Seiffart?“ Ein ungläubiger Blick traf ihn. „Was denn? Will die Polizei mich auch erpressen?“ „Ich bitte Sie!“ „Warum sagen Sie dann so etwas?“ fragte sie verwundert. „Aber – kann man so eine Ehe führen?“ „Sind Sie verheiratet?“ Er schüttelte den Kopf. Über Frau Seiffarts Gesicht glitt ein verstehendes Lächeln. „Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Fast zehn Jahre sind wir verheiratet. Eine lange Zeit! Manches hat sich im Laufe der Jahre geändert. Auch unsere Liebe. Sie ist reifer geworden – und seit wir den Jungen haben, beinahe vollkommen.“ „Eine Liebe, die auf einer Lüge aufbaut?“ warf Olbricht ein. Sie ging darüber hinweg. „Unser größter Wunsch war ein Kind, und wir haben dafür vieles unternommen. Der Arzt ließ mich schließlich wissen, daß bei mir alles in Ordnung sei. Meinem Mann habe ich gesagt, bei uns sei alles in Ordnung…“ Als Olbricht etwas erwidern wollte, bat sie ihn mit einer Handbewegung zu schweigen. „Jeder hat seinen Stolz und seine wunden Stellen. Ihm lag viel daran, seine Männlichkeit zu beweisen.“ „Sie hätten ein Kind annehmen können“, sagte Olbricht. „Auch das habe ich erwogen. Er hätte wohl eingewilligt, mir zuliebe. Aber ich wußte, ein eigenes Kind, das war für ihn etwas anderes.“ Olbricht schwieg, versuchte Verständnis aufzubringen für diese Frau, doch es gelang ihm nicht. Wie konnte man den Men-
schen, der einen liebt und vertraut, derart hintergehen? Sie schien seine Gedanken zu erraten. „Es gelingt Ihnen nicht, mich zu begreifen. Das ist schade. Versuchen Sie, wenigstens tolerant zu sein, und achten Sie mein Geheimnis.“ „Sie sagten, Herr Lück sei schon vor einem Vierteljahr hinter Ihr Geheimnis gekommen. Warum haben Sie ihm das Geld erst in diesen Tagen gebracht?“ „Ich hab’s nicht eher zusammengekriegt. Herr Lück war einverstanden, ein paar Wochen zu warten. An jenem Abend waren wir im Bootshaus auf seinem Grundstück verabredet. Ich habe ihm das Geld gegeben und ihm erklärt, daß es sinnlos sei, mehr von mir zu verlangen. Ich glaube, er hat eingesehen, daß ich nichts weiter beiseite bringen konnte, und versprach, mich in Ruhe zu lassen.“ Sie trank ihren Kaffee aus, setzte die Tasse zurück und fragte: „Darf ich jetzt gehen?“ Kaum hatte sie den Raum verlassen, winkte Olbricht der Kellnerin, zahlte und fuhr zur Dienststelle. Er traf den Oberleutnant in seinem Zimmer an. „Jetzt ist sie mir auch unheimlich“, platzte er heraus und erzählte von seiner Begegnung mit Frau Seiffart. „So?“ fragte Simosch, der mit Interesse zugehört hatte. „Ich finde, jetzt hat sie alles verloren, was undurchsichtig und gefährlich wirkte. Eine Frau, die für ihre Ehe einiges riskiert. So etwas ringt mir Achtung ab.“ Verblüfft starrte Olbricht seinen Vorgesetzten an. „Begreifen Sie denn nicht? So unverblümt, wie sie hier bei uns geschwindelt hat, belügt sie auch ihren Mann.“ „Ich meine, sie hat ihm nur etwas verschwiegen und dadurch seine höchsten Erwartungen erfüllt, die er in die Ehe gesetzt hat.“ „Ich glaube, ich bleibe lieber Junggeselle.“ Simosch lächelte. „Von der Liste der Verdächtigen können wir sie wohl streichen.“ „Das fände ich voreilig. Wer verwegen genug ist, sein Glück
mit Hilfe solcher Winkelzüge aufzubauen wie sie, ist auch verzweifelt genug, ein Verbrechen zu begehen, wenn das Lügengebäude einzustürzen droht. Selbsterhaltung ist noch immer ein triftiger Grund für einen Mord.“ Noch ziemlich erregt, verließ er Simoschs Zimmer. Der Oberleutnant griff wieder nach dem Hefter, der Notizen über Gotenbach enthielt.
14. Punkt neunzehn Uhr dreißig betrat der Dolmetscher Simoschs Zimmer. „Guten Abend. Ich stehe zu Ihrer Verfügung.“ Müde setzte er sich auf den angebotenen Stuhl. „Sie haben mich belogen“, sagte der Oberleutnant. „Sie waren am Mordabend auf Lücks Grundstück.“ Für einen Moment schloß Gotenbach die Augen. Er wirkte so erschöpft, daß Simosch fürchtete, er könne einschlafen und vom Stuhl kippen. Doch er nahm sich zusammen. „Gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft, am Gartentor meines Schwagers, habe ich die Weichen falsch gestellt. Den Schreck, daß Lück ermordet worden war, hatte ich noch nicht überwunden, als ich erklärte, am Vorabend nicht bei ihm gewesen zu sein. Das war unüberlegt, rein instinktiv gehandelt, um jedem Verdacht zu entgehen. Und später konnte ich nicht mehr zurück, wenn ich nicht ganz und gar schuldbeladen erscheinen wollte. Also blieb ich bei der ersten Version. – Aber ich habe ihn nicht getötet.“ „Die Fakten sprechen gegen Sie.“ Gotenbach blickte auf. „Sie sollten mehr sehen als Fakten. Und tiefer. Sozusagen den Boden untersuchen, aus dem sie hervorgegangen sind.“ „Genau das“, erwiderte Simosch, „habe ich vor. Was wollten Sie zur Tatzeit auf Lücks Grundstück?“ „Ihm klarmachen, daß er kein moralisches Recht besitzt, sich
irgend etwas von Jana anzueignen. Er hat sie auf dem Gewissen, und ich bin innerlich noch nicht fertig damit.“ Nach zwei Jahren? Simosch ließ die Frage ungestellt, besann sich auf Menschen, die es ihr Leben lang nicht verwinden konnten, daß ein geliebter Mensch freiwillig in den Tod gegangen war. „Sie sagen, er hat sie auf dem Gewissen. Hatten Sie Ihre Schwester nicht davor gewarnt, bei Lück zu bleiben? Schlug sie Ihre Warnung nicht in den Wind und heiratete ihn trotzdem?“ „Stimmt. Stimmt alles! Er verstand, ihr Vertrauen zu erschleichen und sie auszunutzen.“ „Was geschah nach der Heirat?“ „Um das herauszufinden, habe ich einige Zeit gebraucht. Jetzt kann ich mir ein Bild davon machen.“ Im Salon „Figaro“ stichelten sie. Olaf Lück, der Witwentröster. Olaf Lück, der Gigolo. Paß nur auf, eines Tages, wenn sie ihren Mann gefunden hat, sitzt du vor der Tür. „Jana“, sagte er, „wir kommen nicht ohne Zugeständnisse an die Umwelt aus. So wie wir jetzt leben, das ist nicht gut für dich und für mich auch nicht. Wir sollten uns ganz und gar zueinander bekennen.“ Sie antwortete: „Du hast recht.“ Er war verblüfft darüber, wie schnell sie nachgab, und er schämte sich, daß er in letzter Zeit oft ohne sie ausgegangen war, ihr weh getan hatte, nur um zu zeigen, daß er tun und lassen konnte, was er wollte. Das stimmte ohnehin nicht mehr. Auch er brauchte sie. Stolz registrierte er bewundernde Blicke, die Jana und ihm galten. Würde er jemals wieder in einem Ausbauzimmer mit zusammengeramschten Möbeln wohnen können? Und wie herrlich waren die Wochenenden im Boot auf dem Wasser! Er wollte nicht wieder wie früher am Ufer stehen, ein Frühstücksbrot in der Tasche und die Schar der Segel- und Motorboote an sich vorüberfahren sehen, nah und doch uner-
reichbar für ihn. Das wichtigste aber war, daß Janas Anhänglichkeit seinem Leben Wert gab. Vor seiner Krankheit war es ihm oft unnütz vorgekommen, trotz der Turbulenz, in die er sich gestürzt hatte. Nun war auch der Makel eines Gigolo von ihm genommen. Zum Dank dafür wollte er Jana ein guter Ehemann sein. Eines Tages, als Jana nach Hause kam und sich erschöpft vom Einkaufen aufs Bett fallen ließ, sagte er: „Nein, Frau Doktor Lück, das haben wir nicht nötig. Bei Handwerkern, Liebling, wirkt im wahrsten Sinne des Wortes eine Hand auf die andere ein. Man wird dir ins Haus bringen, was du haben möchtest. Anruf genügt.“ „Das wäre wunderbar“, sagte Jana. „Wir werden mehr Zeit füreinander haben.“ Worte, die ihn verstimmten. Er opferte ihr doch jeden Abend, jede Stunde, die er nicht im Frisiersalon verbringen mußte. Was er unter einem guten Ehemann verstand, traf wohl nicht das, was sie meinte. Längst konnte er nicht mehr wie früher in der „Scharfen Ecke“ nach Feierabend sein Bier trinken, Skat spielen, Witze hören. So wie er sich jetzt kleidete, wäre er dort wie ein Kolibri unter Spatzen aufgefallen. Doch das war nicht das Entscheidende. Er mußte nach Hause eilen, möglichst bevor Jana müde und abgespannt eintraf. Sie brauchte nicht lange, sich zu erholen, aber sie brauchte ihn, seine Nähe! Er nannte es: seine zweite Schicht besorgen. Anfangs machte es Spaß, vor allem, weil ihn die Frau noch immer durch ihren Liebreiz fesselte. Später wurde es Gewohnheit und schließlich lästige Pflicht. Jana achtete streng darauf, daß sie die Klinik pünktlich verließ, und übernahm auch keine Vertretungen mehr. Also saß er Abend für Abend zu Hause, zwischen Silber, Plüsch und Blumen. Sie zwang ihn nicht dazu, sie erwartete es einfach von ihm. Die Unzufriedenheit quälte ihn um so mehr, je weniger er verstand, worüber er eigentlich mißmutig war. Hatte er nicht
sein „schönes Leben“ und eine begehrenswerte Frau? Und doch ertappte er sich dabei, in Erinnerungen zu schwelgen. – Damals mit Creuzer… Damals in der „Scharfen Ecke“. Geld borgen. Wetten. Pferderennen. Nicht eben kultiviert, doch aufregend. Und jetzt? Dieser Tag zum Beispiel, ein Sonntag, später Vormittag, und er lag noch im Bett. Was sollte er sonst tun? Frühschoppen wie früher, das war vorbei. Jana hantierte in der Küche, trällerte, qualifizierte sich zur Konkurrenz für die beste Hotelküche. Konnte sie das nicht auch tun, während er in der Kneipe sein Bier trank? Nein, sie konnte es nicht. Sie erwartete, daß ihr Ehemann „bei ihr war“. Andernfalls gab es Tränen. Sehr diskret geweint. Betreten spürte er, daß sie litt, doch was ihn weitaus mehr beschämte, sie nahm sich zusammen, wollte ihn mit ihren Tränen nicht belästigen. Sie litt still. Sie litt egoistisch. Bei Manuela war das anders. Warum kam ihm jetzt Manuela in den Sinn? Er hatte sie zu jener. Zeit kennengelernt, als er hin und wieder ohne Jana ausgegangen war. Die heulte ordentlich los, wenn sie Grund dazu hatte, und heulte so, daß man sie trösten konnte. – Du hast aber nicht sie, sondern Jana geheiratet, Olaf Lück. Also gewöhne dich daran, daß deine Frau nur ihre Freuden, doch niemals ihren Kummer mit dir teilt. Doch ein paar eigene Freuden könnte sie einem wahrhaftig auch noch lassen! „Jana?“ „Augenblick, Liebling.“ Sie deckte den Tisch. „Jana, warst du schon mal zum Pferderennen?“ „Pferderennen?“ „Ja, Pferderennen. Ich zieh’ mich schnell an, dann rücken wir aus. Man braucht sich da nicht extra feinzumachen.“ „Und das Essen?“ „Später. Wir können dort eine Wurst kaufen. – Jana, das war ‘n feiner Sonntag!“
„Ja, natürlich.“ Wie sie ihre Enttäuschung bezwang! ,Ja, natürlich’, das hieß, ich tue es dir zuliebe, und wenn ich daran zugrunde gehe. Doch er wollte kein Opfer. „Vergiß es!“ Er ging ins Bad. „Aber…!“ „Heute ist kein Pferderennen, das war schon vorige Woche.“ Sie atmete auf, brachte das Essen. Er kam im Bademantel ins Zimmer, war verstimmt. Nicht wegen ihr, sondern weil er sie nachahmte in ihrer Art, die ihm zuwider war. Heute ist kein Pferderennen! Heuchelei, um den anderen zu schonen. „Ich habe dir das cremefarbene Hemd rausgelegt und den braunen Anzug.“ „Mahlzeit“, sagte Lück. „Ich esse doch wohl zu Hause und nicht im Interhotel.“ „Wie du möchtest.“ Jana setzte sich zu ihm. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Seidenkleid. Scham und Stolz kämpften in ihm. Benahm er sich nicht flegelhaft? Was vergab er sich denn, wenn er ihr die Freude machte und ordentlich bekleidet bei Tisch erschien. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben. Er stand auf. „Entschuldige.“ Mit dem beigefarbenen Hemd und der braunen Anzughose kam er zurück. Sie lächelte, gelöst, heiter. Wahrhaftig, es gehörte nicht viel dazu, sie glücklich zu machen. „Für mich“, sagte sie, „brauche ich das alles nicht. Ich tu’s nur für dich.“ Was war nur los in dieser Ehe! Irgend etwas lief hier schief, obwohl jeder für den anderen das Beste wollte. In letzter Zeit denkst du zuviel, Olaf Lück. Im übrigen sind das alles Dinge, über die sich nicht zu streiten lohnt. Mittagessen, Pferderennen! Sieh dir diese Frau an, wie bezaubernd sie ist! „Laß es dir schmecken“, sagte sie. „Wenn du wüßtest, worauf ich Appetit habe.“ „Alles zu seiner Zeit.“ „Jetzt wäre eine gute Zeit.“ Er schob den Stuhl zurück, ging zu ihr, küßte sie. „Jetzt, Jana, jetzt.“
„Wie du möchtest.“ Er fühlte, wie sie gehorsam ihr Kleid aufknöpfte. Die Begierde fiel ab von ihm. „Knöpf dein Kleid nur wieder zu. Wir tun’s wie immer, abends zwischen halb zehn und zehn. Falls du keinen Nachtdienst hast.“ Ihr Blick verriet, wie fassungslos sie war. „Aber Olaf! Mein Beruf verlangt eine gewisse Ordnung in der Lebensführung.“ „Ich habe keine Lust, mit dir zu streiten“, sagte er. Sie gängelte ihn. Auf ihre ganz spezielle Gotenbachsche Art! Er wollte sie nicht unglücklich machen, aber er wollte Olaf Lück bleiben dürfen. Es gab für alles eine Lösung. Ihm würde schon das Richtige einfallen. „Hab ein bißchen Geduld mit mir“, sagte Jana. „Vielleicht hast du recht, und man sollte im Privatbereich nicht so streng nach Programm leben. Es steckt nur so in mir drin.“ „Wir schaffen’s schon.“ „Ich hab’s vorhin nicht so gemeint, als ich sagte, ich tu’s nur für dich. Ich meine nur, wenn ich allein bin, sind mir materielle Dinge kaum etwas wert.“ Worte, dazu gedacht, die Harmonie wieder herzustellen, trotzdem fühlte Olaf Lück Unbehagen. Diese Frau konnte nie mehr allein sein! Hatte er sie deshalb oder trotzdem geheiratet? Ein zweites Mal würde sie es nicht überstehen, verlassen und um ihr Leben betrogen zu werden. Ihn quälte dieses Wissen ebenso wie die Vorstellung, daß der Olaf Lück von einst sich auflösen und als Janas Ehemann neu erstehen sollte. Eines Abends, Jana hatte Nachtdienst, besuchte er Manuela. Sie warf ihm die Tür vor der Nase zu. Er klingelte fünf Minuten lang. Sie kam heraus und gab ihm eine Ohrfeige. Er lachte und zog sie an sich, und sie sträubte sich nicht länger. Als sie Hunger spürten, kochte sie Päckchensuppe. Im Unterrock mit vorgebundener Schürze stand sie am Herd. Olaf trank Bier aus der Flasche. Zwischendurch erzählte er ihr die neuesten Witze
aus dem Friseurladen. Nach dem Essen tanzten sie nach Radiomusik. „Ich hab’ noch ‘ne Platte in petto“, sagte Lück, „mit lauter süßen kleinen Schweinereien drauf. Willst du?“ „Mein Plattenspieler ist zum Teufel“, erwiderte sie, „und Prämie gibt’s erst am Jahresende.“ Olaf sah sich in dem einfach eingerichteten Zimmer um. Sauber, ordentlich, aber keinerlei Komfort. Janas Wohlstand und Manuelas Lebenseinstellung – warum konnte man nicht beides in einem haben? Später, im Bett, fragte das Mädchen: „Warum bist du nicht bei ihr geblieben?“ „Ich kann nicht richtig lachen bei ihr.“ Er kam wieder. Einmal in der Woche, dann öfter. „Laß dich scheiden“, bat Manuela, „damit wir richtig zusammen leben können.“ i5Das ist unmöglich. Sie würde kaputtgehen.“ Als er Manuela wieder besuchen wollte, kam er nach Feierabend nicht erst nach Hause. Am nächsten Morgen lag Jana noch im Bett. Sie sah verweint aus, übernächtig, stellte ihm keinerlei Fragen. „O Gott, ich dachte, du hättest einen Unfall gehabt. Ich war wie gelähmt.“ Dann ging sie ins Bad. Er erklärte ihr nichts. Abends schloß er sie in die Arme. „Jana, ein Mann ist ein Mann. Na, du weißt schon.“ „Wir wollen nicht darüber sprechen.“ „Gut. Aber eines sollst du wissen: Ich werde dich nie verlassen.“ Hoffnung glomm in ihren Augen. Es wird vorübergehen, er kommt zurück. Er vervielfachte seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber, wenn er nach Hause kam, ließ sich mit ihr in Konzerten und im Theater sehen und verschwand wieder. So konnte er leben und Jana auch. Manuela verstand ihn ohnehin. Das Leben besteht aus Kompromissen. Er blieb mehrere Tage fort, mehrere Nächte. Jana sagte noch
immer nichts, doch in ihren Augen las er: Verrat! Olaf Lück, alles, was mir lieb und teuer war, hast du verraten! Nachts gab sie sich seinen Intimitäten mit einer Art Verzweiflung hin, als könne die Gemeinschaft des Fleisches wieder binden, was zerstört worden war. Da geht wieder etwas schief, Olaf Lück. Du weißt es, fürchtest dich davor und wirst es nicht aufhalten. Es war ein bezauberndes Intermezzo. Es klingt aus, ganz langsam… Wieder übernahm Jana Vertretungen. Ihre Haut welkte. Sie magerte ab. Eines Abends, als er mit Blumen und charmantem Lächeln auftauchte, fiel ihre Selbstbeherrschung von ihr ab. Zu lange hatte sie gelitten, zu lange gehofft. „Wenn ich dir wenigstens eine Lüge wert wäre! Irgendeine Ausrede, die Männer so leicht für ihre betrogenen Frauen parat haben. Nicht einmal diese kleine Mühe machst du dir um mich!“ „Jana“, erwiderte er betroffen, „wir wollten doch nicht darüber sprechen. Vergiß mich einfach, wenn ich nicht da bin. Sind wir zusammen, soll es schön sein, so wie es in den besten Zeiten zwischen uns war.“ „Nein! Nein!“ Mit geballten Fäusten schlug sie gegen seine Brust. „Ich bin deine Frau! Ich geh’ kaputt! Komm zurück! Sie ist jünger als ich, nicht wahr? Aber sonst hat sie mir nichts voraus. Sage es, bitte, sage es! Sie kann dir nicht bieten, was ich dir nicht auch bieten könnte!“ „Jana!“ Er streckte die Hände nach ihr aus. „Was ist bloß mit uns geschehen?“ Mit müder Geste winkte sie ab. „Wir reden aneinander vorbei, von Anfang an. Es würde niemals anders werden.“ Ihr Blick war leer. „Ich bin für dich Schmuck, mit dem man seine Eitelkeit befriedigt und mit dem man gelegentlich vor seinen Freunden prahlt. Wir haben uns gegenseitig zu einem Leben verführt, das nicht für uns taugt. Du findest zurück.“ Er wollte etwas erwidern, doch unter ihren Blicken vermochte er keinen klaren Gedanken zu fassen.
„Jana, es war Liebe. Du weißt es. Aber es ist alles schiefgegangen. Wir müssen damit fertig werden.“ „Ja“, sagte sie. „Jeder auf seine Weise.“ „Wir fanden sie an ihrem ersten Hochzeitstag“, schloß Gotenbach. „Ich wollte ihnen meinen Glückwunsch bringen. Es öffnete niemand, aber der Nachbar behauptete, sie sei zu Hause. Wir haben die Tür aufgebrochen…“ „Und Lück?“ fragte der Oberleutnant. „Den habe ich erst am nächsten Tag im ,Figaro’ erreicht.“ „Und zwei Jahre später wollen Sie ihm seine moralische Schuld klarmachen.“ „Auch zehn Jahre später würde ich das noch versuchen. Er hat ihr den Mann vorgespielt, der sie begreift und ihr Geborgenheit geben kann.“ „Sie behaupten also, ihn nicht angetroffen zu haben.“ „Als ich das erstemal am Bootshaus stand, war alles dunkel. Ich nahm an, er sei noch nicht gekommen, und bin weitergegangen, den Weg, den ich oft mit Jana entlangspaziert bin.“ Gotenbach sprach ruhig und eindringlich. „Wie lange waren Sie ungefähr unterwegs?“ „Dreißig bis vierzig Minuten. Wohl eher vierzig.“ „Und dann?“ „Bin ich zum Grundstück zurück. Es war immer noch alles dunkel, doch die Gartentür stand offen. Ich ging ein Stück den Gartenweg entlang und rief nach ihm. Da niemand antwortete und weder im Bootsschuppen noch im Zimmer darüber Licht brannte, bin ich wieder gegangen.“ Um diese Zeit hatte Dirk Creuzmann den Leichnam schon verscharrt, falls er nicht log. „Ist Ihnen im Garten etwas merkwürdig vorgekommen?“ „Um Einzelheiten zu erkennen, war es zu dunkel. Die Haselnußsträucher und die Sitzbank konnte ich nur schemenhaft sehen. Mich überkam plötzlich eine unsinnige Wut auf dieses erinnerungsträchtige Gestrüpp. Ich hätte es herausreißen mögen
und die Bank zerhacken, auf der meine Schwester so gern saß. Am folgenden Abend versuchte ich nochmals, Lück anzutreffen – und bin Ihnen begegnet.“ „Sie hatten Ihrem Schwager sogar Geld geboten, um das Grundstück zu bekommen. Haben Sie etwas auf sein Konto eingezahlt oder ihm versprochen einzuzahlen?“ Gotenbach schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht, worauf das hinaus soll. Ich habe mich nie um sein Konto gekümmert.“ „Er hat sechzigtausend Mark abgehoben, obwohl nur fünfzig Mark drauf waren. Und das Geld ist verschwunden.“ „Scheckbetrug?“ Gotenbach schien überrascht. „Ja. Mit dem eigenen Konto. Ihr Schwager mag leichtlebig gewesen sein, aber schwachsinnig war er nicht. Ihn hat jemand hereingelegt und getötet, um an das Geld zu kommen.“ „Damit habe ich nichts zu tun“, meinte Gotenbach abweisend. „Aber Geld brauchen Sie dringend.“ „Nicht mehr als jeder andere.“ „Ihr Schuldenberg ist seit dem Hauskauf beängstigend hoch.“ Sekundenlang stand Panik in Gotenbachs Blick. Dann sagte er ruhig: „Nach allem, was ich Ihnen erzählt habe, müßte Ihnen klargeworden sein, daß zwischen meinem Schwager und mir kein Vertrauensverhältnis bestand. Hätte ich ihn veranlaßt, Geld abzuheben, wäre er argwöhnisch genug gewesen, seinen Kontostand genau zu prüfen.“ Da ist was dran, überlegte Simosch. Entweder ist Olaf Lück als Erpresser erpreßt worden oder auf jemanden hereingefallen, den er für absolut zuverlässig hielt.
15. Wieder war es spät geworden, doch Simosch spürte keine Müdigkeit. Er döste ein Weilchen im Schaukelstuhl, aß mit seiner Frau Abendbrot und war ziemlich wortkarg. Seine Gedanken umkreisten Lück und alle, die mit ihm in letzter Zeit zu tun hatten. Trotzdem spürte er, daß
Christina ihm etwas mitteilen wollte. Doch sie hielt sich zurück, weil er wieder mal nur mit dem Hintern zu Hause war. Sein Gewissen warf ihm vor, kein guter Ehemann zu sein, zumindest nicht der, den eine Frau wie Christina verdiente. Es ließ aber auch nicht zu, den Kopf mit Problemen zu belasten, die nicht zum Mordfall Lück gehörten. Sein Gewissen sprach mit gespaltener Zunge. Zum Teufel mit ihm. Er wurde noch einsilbiger, dachte, Olbricht habe womöglich recht, wenn er nicht heiraten wollte, solange er Kriminalist war. Christina legte ihre Hand auf seine Rechte. „Wir brauchen nicht heute abend darüber zu sprechen. So wichtig ist es nun auch wieder nicht.“ Das war Christina. Feinfühlig bis zur Hellseherei. So war sie schon damals gewesen, als er sie kennenlernte. Sekretärin des Hauptbuchhalters eines Warenhauses, und ebenso wie dieser stand sie eine Zeitlang unter Mordverdacht. Auf Simosch hatte sie ehrlich und souverän gewirkt. Manchmal ein wenig geheimnisvoll. Sie spürte, wann die Kriminalisten allein sein wollten, wann sie Unterlagen brauchten oder einen starken Kaffee. An dem Mord war sie unschuldig. Aber Simosch ging sie nicht mehr aus dem Sinn. Er stand auf und küßte sie. Ein Bierglas fiel um. Es war ohnehin leer. „Olbricht ist ein Esel.“ „Lade ihn trotzdem hin und wieder zum Abendbrot ein, sonst hast du bald einen fähigen Leutnant gehabt.“ Sie stellte das Bierglas hin und schenkte ein. Simosch aß und trank mit gutem Appetit weiter. Als Christina abgeräumt hatte, holte er Papier und Füller. In die Mitte des ersten Bogens schrieb er Lücks Namen. Von ihm aus zog er sternförmig sechs feine Striche, die jeweils wiederum zu einem Namen führten. Dirk Creuzmann, langjähriger Freund des Ermordeten. Mögliches Motiv: Er war hintergangen und erpreßt worden, ein falsches Alibi zu liefern.’ Zur Zeit des Scheckbetruges war er in
Berlin und am Mordabend am Tatort gewesen. Wolfram Gotenback, Schwager des Ermordeten. Mögliches Motiv: Haß auf den Mann, der seine Schwester in den Tod getrieben hatte, und er brauchte Geld, um seine Schulden zu bezahlen. Gotenbach hatte sich ebenfalls in Berlin und zur Mordzeit am Tatort aufgehalten. Annerose Seiffart, Zufallsbekanntschaft des Ermordeten. Mögliches Motiv: Lück hatte sie um 2 000 Mark erpreßt, und sie mußte damit rechnen, daß es nicht bei dieser Summe bleiben würde. Auch sie war am Mordabend auf Lücks Grundstück gewesen. Manuela Sanitz, Freundin des Ermordeten. Sie war eine Vertrauensperson für ihn gewesen. Mögliches Mordmotiv: Bereicherungssucht. Ihr konnte er das Geld anvertraut und sie gebeten haben, es nach und nach auf sein Konto einzuzahlen. Zur Zeit des Scheckbetrugs war sie nicht in Berlin gewesen und bestritt, sich am Mordabend auf dem Grundstück aufgehalten zu haben. Hinter ihren Namen setzte Simosch ein Fragezeichen. Justus Schiffel, Direktor des Betriebes Industrierationalisierung des VEB Tiefbaukombinates. Durch Vermittlung von Herrn Creuzmann mit dem Ermordeten bekannt geworden. Er wollte dessen Grundstück kaufen. Mögliches Mordmotiv: Bereicherungssucht. Schiffel litt an Arthrose. Von einem Berlin-Besuch war nichts bekannt. Am Mordabend hatte er angeblich mit Heilschlamm auf den Schultern zu Hause gesessen. Allerdings konnte er seinen ehemaligen Trabant benutzt haben, um zu Lücks Grundstück zu fahren. Auch dieser Name verdiente ein Fragezeichen. Andreas Bieleke, flüchtige Bekanntschaft des Ermordeten. Kraftfahrer. Er konnte Lück nach Berlin gefahren haben. Mordmotiv: Bereicherungssucht. Über ihn wußte man am wenigsten, was Simosch durch ein dickes Fragezeichen hinter dem Namen demonstrierte. Waren diese sechs Personen, die in irgendeiner Beziehung zu Lück
standen, untereinander bekannt oder befreundet? Herr Creuzmann, Betriebselektriker im Werk 5, arbeitete nach Feierabend für Direktor Schiffel. Außerdem kannte er Manuela Sanitz. Sein Verhältnis zu Andreas Bieleke mußte noch geklärt werden. Creuzmann hatte den Direktor mit Lück bekannt gemacht. Simosch stutzte. Ausgerechnet der stiernackige Creuzmann, der zu allem angeschubst werden mußte, mit dreißig noch bei der Großmutter lebte, dem Lück Privatkundschaft besorgte, weil er selbst zu schwerfällig dazu war. Herr Gotenbach kannte nur die Freundin seines Schwagers. Fräulein Sanitz war durch Lück auch mit Creuzmann und Bieleke bekannt geworden. Bieleke hatte Lücks Freundin zweimal gesehen. Frau Seiffart stand mit keinem der anderen in irgendeiner Beziehung. Der Oberleutnant nahm einen zweiten Zettel und schrieb Zeitplan darauf. 18.30 Uhr – Frau Bachmann öffnet das Fenster und sieht Frau Seiffart. Im Bootsschuppen brannte kein Licht. Lebte Lück noch? 18.30 Uhr – Dirk Creuzmann verläßt seine Wohnung. 19.00 Uhr – Dirk Creuzmann trifft auf Lücks Grundstück ein, bemerkt Gotenbach und verschwindet in einer Seitenstraße. 19.05 Uhr – Gotenbach verläßt Lücks Grundstück. 19.10 Uhr – Creuzmann betritt Lücks Grundstück. Er findet ihn erschlagen im Garten liegen. Er sucht nach Spaten und Harke, gräbt, wirft den Toten in die Vertiefung, schüttet Erde über ihn und harkt ringsum. 19.45 Uhr – Creuzmann verläßt Lücks Grundstück. 19.50 Uhr – Gotenbach betritt das Grundstück seines Schwagers zum zweiten Mal, trifft ihn nicht an und geht wieder. 20.15 Uhr – Creuzmann trifft mit einer Viertelstunde Ver-
spätung bei Direktor Schiffel ein. Der Mörder mußte zwischen Frau Seiffarts Verschwinden und Creuzmanns Kommen bei Lück gewesen sein. Zwischen 18.30 Uhr und 19 Uhr. Falls Frau Seiffart ihn nicht getötet hatte. Wer von den dreien, die angeblich nicht auf Lücks Grundstück waren, hat für diese Zeit kein Alibi? Schiffel, Bieleke, Fräulein Sanitz? Litt Direktor Schiffel wahrhaftig an Arthrose? Hatte Lücks Freundin wirklich in der Wohnung gesessen und auf ihn gewartet? Und Bieleke? Wo war er gewesen? Simosch überflog noch einmal die beiden Blätter, die ihn durch Namen, Buchstaben, Zahlen und verbindende Striche an flott geführte Aufzeichnungen im Chemieunterricht erinnerten. Wer verbindet sich mit wem? Wer stößt sich ab, greift sich an, wird ausgeschieden? Und warum? Vor allem: Warum? Kurz vor Mittag kam Leutnant Ulbricht und berichtete, daß Olaf Lück vor Tagen mit der Bahn nach Berlin gefahren sei. Dort hatte er vor längerer Zeit telefonisch einen Leihwagen bestellt, ihn gegen zehn Uhr abgeholt und am folgenden Tag um zwölf Uhr ordnungsgemäß zurückgebracht. Seine Papiere einschließlich der Fahrerlaubnis waren in Ordnung gewesen, und er war allein zur Leihstelle gekommen. „Ich bezweifle nur“, bemerkte Olbricht, „daß er den Wagen selbst durch Berlin kutschiert hat. Er besaß doch kaum Fahrpraxis. Wer weiß, wann der das letzte Mal am Steuer gesessen hatte.“ „Wahrscheinlich zur Fahrprüfung. Und die hat er wohl in der Hoffnung abgelegt, eines Tages in den Wartburg zu steigen, für den seine Frau angemeldet war.“ Nach dem Mittagessen fuhr Simosch zu Frau Lamprecht. Die Kader- und Gewerkschaftsleitung des VEB Tiefbau war in einer Baracke untergebracht, fernbeheizt, die Gänge mit Läufern ausgelegt. Da Simosch sich telefonisch angemeldet
hatte, wurde er schon erwartet. Im Zimmer roch es nach frisch gebrühtem Kaffee. Frau Lamprecht in weißer Bluse und tadellos sitzendem Kleiderrock, der ihre Figur streckte, trat auf Simosch zu und reichte ihm eine fleischige, gepflegte und mit Ringen geschmückte Hand. Simosch sah nur den Schmuck. Am Mittelfinger ein Goldring mit Zuchtperle, am Ringfinger umschloß das Gold einen Stein von der Farbe ihres weinroten Kleiderrockes. Ob sie einen grünen Stein trägt, wenn sie grün gekleidet geht? Bislang hatte ihn nie interessiert, ob eine Frau echten oder imitierten, zu ihrer Kleidung passenden Schmuck trug. Doch seit er von Olbricht die Beschreibung des Ringes kannte, den Lück in Berlin gekauft hatte, schaute er den Frauen buchstäblich auf die Finger. Telefonisch hatte er der Kaderleiterin mitgeteilt, daß er über Direktor Schiffel und den Kraftfahrer Andreas Bieleke einige Auskünfte wünsche, doch auf ihrem Tisch lag nur ein schmaler Hefter. Sie schlug ihn auf. „Andreas Bieleke. Als ich die Kaderakte las, habe ich mich an jenen Tag erinnert, an dem wir ihn einstellten. Das war vor ungefähr zwei Jahren. Wir suchten damals Kraftfahrer für PKW und LKW. Bieleke bewarb sich persönlich bei mir. Er hatte seine Lehre als Kfz-Schlosser beendet, wollte aber nicht in seinem Beruf arbeiten. Ich sagte zu ihm: ,Herr Bieleke, Sie haben einen Traumberuf, nach dem sich viele junge Leute sehnen. Warum wollen Sie ihn an den Nagel hängen?’ Er antwortete, er besitze die Fahrerlaubnis für alle Klassen und er müsse auf die Landstraße. Wem es nicht im Hintern kribbelt, wenn er eine Straße und einen Lastwagen sieht, der könne das nicht verstehen. Ich beriet mich mit dem Einsatzleiter, der wollte ihm schließlich einen personengebundenen PKW anvertrauen. Für einen Lastwagen sei er noch zu jung und zu unerfahren. Doch da hätten Sie Bieleke erleben sollen! Das wäre ja, als habe er sich für die Titelrolle des ,Lohengrin’ beworben und dürfe statt dessen,
hinter den Kulissen stehend, den Schwan über die Bühne ziehen! Singt übrigens gern, der Bieleke, nicht Wagner, aber immerhin.“ Sie stand auf, schenkte Kaffee ein und reichte Simosch eine Tasse. Simosch dankte. „Das heißt also, Sie haben ihm doch einen LKW anvertraut. Mußten Sie es bereuen?“ „Er hat uns moralisch ein bißchen unter Druck gesetzt“, gestand sie lächelnd, „von wegen Chancen für die Jugend, Verantwortung übertragen und ähnliches. Hat ein ziemlich großes Mundwerk, der Andreas. Das steht nie still. Redet er nicht, dann singt er. Manchmal spinnt er regelrecht.“ Sie blätterte in dem dünnen Hefter und fuhr fort: „Aber er ist ein erstklassiger Kraftfahrer, zuverlässig, immer einsatzbereit, und er kann auf Grund seiner Ausbildung Schäden am Wagen selbst beheben. Schon mehrfach hat er Prämien erhalten, und sein Kollektiv ist mit dem Titel ,Kollektiv der sozialistischen Arbeit’ ausgezeichnet worden.“ „Wissen Sie etwas über seinen Umgang?“ Sie nippte an ihrem Kaffee, tupfte mit einer bereitliegenden Serviette die Lippen ab und schüttelte den Kopf. „Da müßten Sie schon den Einsatzleiter oder seine Kollegen fragen.“ Der Oberleutnant lenkte das Gespräch auf Direktor Schiffel. Das Telefon klingelte, und Frau Lamprecht sagte mehrmals in die Sprechmuschel „Wunderbar – ganz großartig“ und beteuerte, sie werde für dieses Ereignis ihren Haushaltstag nehmen. In ihrem Blick lag ein stiller Triumph. „Das Chippendalezimmer“, erklärte sie Simosch und legte den Hörer auf. „Entschuldigen Sie meine Erregung, aber ich habe das Chippendalezimmer bekommen. Groß sind die Chancen nicht, wenn eine Annonce in der Zeitung steht, doch es hat geklappt.“ „Wie schön für Sie.“ Der Oberleutnant überlegte, wie lange die Frau gespart haben mochte, um sich so ein Zimmer leisten zu können. Sie schien
die Richtung seiner Gedanken zu erraten. „Ich rauche nicht, mache mir nichts aus Alkohol und habe leider keine Kinder. Doch ich schwärme für drei Dinge: Stilmöbel, gute Stoffe und schmackhaftes Essen.“ Simosch sah Frau Sabina Lamprecht nach getaner Arbeit, nach gut getaner Arbeit zweifellos, in maßgeschneiderter Kleidung am reichgedeckten Tisch sitzen. Allein. Umgeben von Chippendalemöbeln. Erfüllung ihres Lebens? „Sie wollten noch etwas über Direktor Schiffel hören, nicht wahr?“ Simosch nickte. „Den Blick in seine Kaderakte kann ich mir ersparen, wir sind zusammen aufgewachsen. Nachbarskinder. Eine Zeitlang konnten wir uns allerdings nicht sehen. Justus bekam als Vierzehnjähriger Lungentuberkulose. Das war damals noch eine gefährliche Krankheit. Fast zwei Jahre lebte er in Krankenhäusern und Sanatorien, wurde aber als völlig geheilt entlassen. Diese Zeit ist kein Gesprächsstoff für ihn. Als er herauskam, holte er im Selbststudium nach, was er an Unterricht versäumt hatte, legte das Abitur ab und ging zum Studium. Unsere Wege haben sich immer wieder gekreuzt. Am schönsten war es, wenn wir uns zu Hause trafen. Da stellte sich sofort die alte Vertrautheit wieder ein. Später heiratete Justus eine attraktive, empfindsame Frau. Die Ehe blieb kinderlos. Sie leben seit langem getrennt, und seine Frau hat kürzlich die Scheidung eingereicht. – Übrigens habe ich mich dafür eingesetzt, daß er Werkdirektor in unserem Kombinat wird, denn er besitzt fachliche Qualifikationen, Arbeitsbesessenheit und Menschenkenntnis. Nur wie er sein Privatleben führt, das ist mir etwas fremd. Ich sehe da keine Linie. Wahrscheinlich tut er einfach, was ihm in den Sinn kommt.“ Simosch sah ihn, einem Pascha ähnlich, auf der Couch sitzen, sich mit sichtlichem Wohlbehagen von der schönen Frauke bedienen lassend. Ein Leben, das Simosch natürlicher erschien
als einsame Selbstbespiegelung zwischen Chippendalemöbeln. „Ist Herr Schiffel krank?“ fragte er. „Ja. Nichts Lebensgefährliches wie die Tuberkulose damals. Arthrosis. Er konnte sich kaum noch bewegen, bekam Ketazon gespritzt und mußte einen Monat lang Abend für Abend mit einer heißen Fango-Packung auf den Schultern, in Decken eingehüllt, im Sessel sitzen. Selbstverständlich sah ich ab und zu nach meinem ehemaligen Nachbarskind… Der Schmerz zerrte an ihm. Mit steifer Schulter stieg Justus Schiffel in die Straßenbahn und griff haltsuchend nach oben. Er hätte aufschreien mögen und biß die Lippen zusammen. Vor ihm saß ein junges Mädchen, rotblond, zierlich. Sie las. Justus Schiffel schätzte sie nicht älter als siebzehn. Ihre Haut war zart und ohne Falten. Sie hatte etwas rührend Unschuldiges an sich. Möglicherweise hat sie nichts als Bücher im Kopf, dachte Schiffel, und ist in Liebesdingen unerfahren. Den ersten Mann aber hat eine Frau für immer im Blut. An ihm mißt sie alle anderen. Sie klappte das Buch zu. Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht, als sie sich erhob. Sie wies auf den frei gewordenen Platz. „Bitte, setzen Sie sich.“ Der Schmerz machte ihn steif. Oder war es die Enttäuschung? Die niederschmetternde Erkenntnis, daß ein junges Mädchen nichts weiter in ihm sah als einen leidenden, alternden Mann. Er sank auf den Sitz, murmelte danke und fühlte sich elend. Ein Angstgefühl stieg in ihm auf. War das Leben für ihn vorbei? Stand er an der Schwelle des Alters? Jetzt schon, in den Jahren, die man die besten des Mannes nennt? Er mühte sich, die Angst zu bändigen. Nein, er würde sich nicht gehenlassen. Mit Abseitsstehen war er noch längst nicht dran. Vielleicht mußte er andere Mittel wählen als früher, um eine Frau zu beeindrucken. Er blickte sich nach dem Mädchen um. Mit einer Hand umklammerte sie die Rücklehne eines Sitzes,
mit der anderen hielt sie das aufgeschlagene Buch und las im Stehen. Justus Schiffel berührte sie leicht am Arm. „Entschuldigen Sie, ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten. An der nächsten Station muß ich aussteigen. Ich wohne nicht weit von der Haltestelle entfernt, aber im Augenblick geht es mir nicht gut. Würden Sie mich nach Hause begleiten?“ „Ja, natürlich.“ Sie steckte ihre Lektüre in die Tasche und half ihm aufzustehen, stützte ihn beim Aussteigen und nahm seinen |Arm. Langsam führte er sie zu seinem Haus. „Jetzt würde uns beiden ein Kaffee guttun, nicht wahr? Oder nehme ich Ihre Zeit zu sehr in Anspruch?“ „Ach wo, die Bücherei ist bis abends geöffnet. Bleiben Sie sitzen, ich brühe den Kaffee auf, sagen Sie mir nur, wo ich ihn finde.“ Schiffel konnte ihr stundenlang zusehen. Diese natürliche Anmut in jeder Bewegung. „Zur Bücherei wollen Sie?“ fragte er, als sie am Kaffeetisch saßen. „Spannende Lektüre für trübe Stunden?“ Er zwinkerte ihr zu, und sie mußte lachen. „Nein! Ich lese augenblicklich nur Fachliteratur.“ „Sie studieren?“ Er fragte mit gut dosierter Ehrfurcht. „Medizin. Erstes Semester.“ „Bewundernswert. Aber sagen Sie, wäre es nicht einfacher, die Bücher zu kaufen und griffbereit im Hause zu haben?“ „Einfacher schon, aber was ich brauche, gibt es oftmals nicht. Und was vorhanden ist, hat Preise, die man als Student nicht zahlen kann. Eine Sammlung von Fachbüchern wird das erste, was ich mir von meinem Gehalt zulege.“ „Das erste wird sein“, sagte Schiffel mit freundlicher Skepsis, „daß Sie Ihren Jugendfreund heiraten, den Beruf an den Nagel hängen und mit Ihrem Mann schimpfen, wenn er abends Fachbücher liest.“ Ihre grünlichen Augen leuchteten. „Nein, ich habe Ideale.“ „Das ist das Vorrecht der Jugend. Leider macht sie heutzutage nicht oft Gebrauch davon.“
Sie versprach, ihn wieder zu besuchen, wenn sie zur Bücherei ging, und hielt ihr Versprechen. Justus Schiffel hatte inzwischen die wichtigsten Bücher für sie erstanden. „Ich achte junge Menschen, die ihren Idealen leben.“ „Sie haben selbst welche“, sagte sie beeindruckt, „sonst würden Sie das nicht tun.“ An jenem Tag plagte ihn die Arthrose weniger. Schiffel spürte, das Mädchen war durch seine Großzügigkeit ebenso betroffen wie durch sein verändertes, attraktives Äußeres. Er ließ ihr Zeit. Sie besuchten Vorträge, Museen, unternahmen Wochenendausflüge, durchstöberten Antiquariate, die sie zumeist mit einem Paket Fachbücher verließen. Schiffel brillierte mit Charme und Großmut, genoß den Reiz ihrer Jugend und ihrer Unschuld. Noch hatte ihn das Leben! Ein Vierteljahr später lernte er die neunzehnjährige Frauke Hohstein kennen, den attraktiven Eisberg, wie er sie im stillen nannte. Sie war ein würdiges Objekt seiner Verführungskunst. „Er gibt Frauke Hohstein als seine Nichte aus“, bemerkte Simosch. Ein nachsichtiges Lächeln spielte um Frau Lamprechts Mundwinkel. „Beinahe wäre ich auch darauf reingefallen, dann habe ich begriffen, daß ein Mann wie er das Gesicht wahren muß.“ „Leidet er noch immer unter dieser Arthrose?“ Sie nickte. „So eine Geschichte heilt wohl nie ganz aus. Da spürt der Patient jeden Wetterumschlag und darf sich keinerlei Belastung aussetzen. Vorige Woche mußte Kollege Schiffel wieder krank geschrieben werden.“ „Haben Sie ihn besucht?“ „Am Freitagabend.“ „Um wieviel Uhr?“ „Das weiß ich wirklich nicht mehr.“ „Bitte, überlegen Sie. Es ist für mich ebenso wichtig wie für
Herrn Schiffel.“ „Ein Alibi also? – Ich fürchte, damit kann ich nicht dienen. Als ich kam, war Kollege Creuzmann dabei, eine Lichtleitung ins Bad zu legen. Justus ist demnach schon eine Zeitlang zu Hause gewesen. Außerdem hatte ihn an jenem Abend seine Krankheit ziemlich arg gepackt.“ „Was meinen Sie, könnte Herr Schiffel eine Spazierfahrt oder einen Spaziergang unternommen haben? Zu den Elbwiesen zum Beispiel?“ „Wenn er an Arthrose leidet“, versicherte sie, „kann er vor Schmerz nicht aufrecht gehen. Fragen Sie sicherheitshalber unseren Orthopäden, bei dem er in Behandlung ist.“ „Wissen Sie, ob er an den Tagen vorher zu Hause war? Oder könnte er weggefahren sein?“ „Gewiß nicht weiter als bis zum Arzt“, sagte sie. Der junge Mann, der den Wagen wusch, sang. Wenn er mit dem englischen Text nicht zurechtkam, behalf er sich mit Taritata. Der Oberleutnant wünschte ihm einen guten Tag und stellte sich vor. „Sind Sie Herr Bieleke?“ „Das ist ja zum Lachen“, erwiderte der junge Mann, drehte den Schlauch ab und lehnte sich, den Kopf in die Hand gestützt, gegen den LKW. „Nicht, daß ich der von Ihnen gesuchte Herr Bieleke bin, sondern daß Sie mich überhaupt aufsuchen. Die anderen mußten auch schon zur Kripo. Ich war nicht mal mit von der Partie, als die im Park den Thälmann angepinkelt haben, aber wenn mir so gewesen wäre, hätte ich mich wohl auch hinter seinem Sockel verdrückt, statt die stinkende Kloake aufzusuchen, die sich Bedürfnisanstalt nennt. – Also, ich versichere Ihnen, die Jungens haben sich nichts dabei gedacht. Zumindest nichts Politisches. Aber das Ereignis wird hochgejubelt übers Revier bis zur Kripo. Ja wenn’s nicht gerade der Thälmann gewesen wäre. – Fünf Meter weiter steht der Zille. Hätten sie den vielleicht… Mann-o-Mann! Aber niemand ist
auf die Idee gekommen, den Jungens eine Ordnungsstrafe aufzubrummen. Jedem zehn Mark von der Lehrlingsrente ab, und ich sage Ihnen, die lassen keinen Pup mehr im Park.“ „Besten Dank für Ihre detaillierte Unterweisung“, unterbrach Simosch ihn. „Die wird bei Gelegenheit weitergeleitet. Ich ermittle im Fall Olaf Lück. Mordkommission.“ „Du kriegst die Tür nicht zu!“ Bieleke setzte sich auf das Trittbrett seines Wagens, rückte beiseite und lud Simosch zum Sitzen ein. „Bitte, wenn Sie wollen.“ Der Oberleutnant stellte nur einen Fuß aufs Trittbrett und sah Bieleke schweigend an. Verhältnismäßig klein war der Junge, was er nach Simoschs Meinung durch sein großes Mundwerk wettzumachen suchte. Er trug in der Mitte gescheiteltes, über die Ohren fallendes Haar. Ungeniert sah er zu Simosch auf. „Sie möchten etwas über Olaf Lück wissen? Über Tote soll man nur Gutes reden, und für mich war Lück eine Niete.“ „Wieso?“ „Jeder haut mal übern Strang oder läßt ein Mädel sitzen und all so ‘n liederliches Zeug. Aber der heiratet, sahnt ab und bringt’s mit der nächsten durch. So was ist für mich kein Mann, sondern ‘ne Niete.“ „Trotzdem waren Sie mit ihm befreundet, haben ihn sogar in seiner Wohnung besucht.“ „Na wennschon, Mann! Ich hab’ bei ihm paar Schlager auf meine Kassetten überspielt.“ „Wo haben Sie Olaf Lück kennengelernt?“ „In der ,Scharfen Ecke’. Da sind immer welche von uns.“ „Kennen Sie Dirk Creuzmann?“ „Sagt mir nichts.“ „Lücks Freund. In Ihrem Alter. Dunkelbraunes Haar, kräftiger Körperbau, Betriebselektriker hier im Werk. Sie rufen ihn Creuzer.“ „Sagt mir immer noch nichts.“ „Haben Sie Lücks Schwager, einen gewissen Herrn Gotenbach, kennengelernt?“
„Nein. Ich war doch nicht Olafs Busenfreund! Ich war nur zweimal mit dem Recorder bei ihm.“ „Aber Direktor Schiffel kennen Sie.“ „Den vom Werk fünf? Als ich mal für die fahren mußte, war er noch nicht Direktor, aber ich kenne ihn.“ „Sind Sie ihm vergangene Woche begegnet, hier oder anderswo? Tagsüber, abends?“ „Seit Monaten ist der mir nicht zu Gesicht gekommen.“ „Wo waren Sie in der vorigen Woche am Donnerstag und Freitag?“ „Moment.“ Der Junge zog ein Notizbuch aus der Gesäßtasche. „Donnerstag in Berlin.“ „Mit Lück?“ „Mit Lück?“ fragte er zurück. „Daß ich nicht lache! Mit dem hier.“ Er schlug mit dem Handrücken gegen den LKW. „Olaf Lück wollte auch nach Berlin. Hat er sich nicht an Sie gewandt?“ „Ich hätt’s nicht gemacht. Privat immer, aber so.“ „Wo haben Sie in Berlin übernachtet?“ „Im ,Berolina’ war für mich ein Zimmer reserviert, aber ich habe abbestellt. Die Kumpels brauchten Freitag morgen das Material, da bin ich nachts noch zurück. Am Freitag schlief ich bis elf, und am Nachmittag hatte ich eine Fahrt nach Pirna.“ „Und abends?“ „Bin ich in die ,Scharfe Ecke’ auf ein Helles und kurz nach zehn Uhr in die Falle.“ „Ab wann waren Sie in der Gastwirtschaft?“ „Mann, wieso wollen Sie denn von mir ein Alibi? – Ich war ab acht Uhr in der Kneipe.“ „Und wo zwischen achtzehn Uhr dreißig und zwanzig Uhr?“ „Da haben wir die Bescherung! Zu Hause bei Muttern natürlich, aber Mutter war in ,Serpico`. Amerikanischer Kollege von Ihnen. Also kein Alibi.“ Simosch schwieg. „In der Zeitung stand, daß es auf Lücks Grundstück passiert
ist. Ich weiß nicht mal, wo das liegt. An Ihrer Stelle würde ich bei seiner Freundin anklopfen. Zweimal war ich dort, und jedesmal hatten die sich in der Wolle. Das letzte Mal hat er ihr sogar eine geklebt.“ „Na und?“ sagte Fräulein Sanitz. „Wenn er mir paar runtergehauen hat, hatte ich’s verdient. Das war unsere Art, Unstimmigkeiten aus der Welt zu schaffen.“ „Worüber gab es denn Unstimmigkeiten?“ fragte Simosch. Sie wandte den Kopf zur Seite. „Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr.“ „Für uns schon. Also?“ „Nichts Ernsthaftes.“ Sie wischte mit dem Handrücken über die Augen. „Ernsthaft haben wir uns sowieso nie in die Wolle gekriegt. Manchmal war ich mit dem Aufräumen nicht ganz so fix, wie er das von Jana her kannte, und wenn er mich Schlampe genannt hat, bin ich laut geworden. Dann hat’s eben mal ‘ne Ohrfeige gegeben.“ „Ihr Freund hat sowohl bei Ihnen als auch bei seiner Frau geschlafen. Waren Sie nie eifersüchtig?“ „Doch, aber ich hab’s mir nicht anmerken lassen. Er hat mich geliebt und wollte Jana nicht weh tun. Sie hatte ihn ganz schön am Gängelband.“ „Immerhin war sie seine Frau“, wies Simosch sie zurecht, „und Sie haben sich mit der Grausamkeit der Jugend in ihre Ehe gedrängt.“ „Dann ist man im Alter wohl anders grausam. Sie hatte kein Recht, Olaf mit ihrem Wohlstand zu verführen und ihn von sich abhängig zu machen!“ „Als Ihr Freund aus Berlin zurückkam, gab es da auch eine Szene zwischen ihnen?“ „Weshalb? Er war gut gelaunt und fuhr gleich aufs Grundstück, um nach dem Rechten zu sehen.“ „Und Sie?“ „Na, ich bin hiergeblieben. – Eine scheußliche Nacht. Diese Warterei.“
„Sie können ihm ebensogut nachgefahren sein.“ Ihr Blick wurde ungläubig. „Wozu denn das? Ich habe ihn nie kontrolliert, geschweige denn nachspioniert. Als er nicht kam, war ich zuerst ärgerlich, dann besorgt.“ „Vielleicht haben Sie ihn nicht kontrolliert, wenn Sie wußten, daß er zu anderen Frauen gegangen ist, aber in jener Nacht ging es nicht um Frauen, sondern um Geld, um sehr viel Geld.“ „Nun kommt wieder das Märchen, Olaf wäre es gewesen, der den Postangestellten niedergeschlagen und das Geld genommen hat“, sagte sie gereizt. „Meinetwegen erzählen Sie es den ganzen Tag lang, ich glaub’s trotzdem nicht.“ „Ich spreche von mehr als den paar Tausend aus dem Postraub. Ich meine sechzigtausend. Er hat sie aus Berlin mitgebracht und muß – sie am Abend, als er getötet wurde, bei sich gehabt haben.“ „Sechzigtausend?“ Empört, als habe ihr Simosch einen unanständigen Witz erzählt, rief sie: „Woher sollte er denn so viel Geld gehabt haben?“ Statt einer Antwort fragte der Oberleutnant: „Was wollte Ihr Freund in Berlin?“ Manuela erhob sich mit einer müden Geste und ging zur Tür. „Ich koch uns Kaffee.“ „Sie bleiben hier!“ Simoschs Ton ließ keine Widerrede zu. „Ich möchte nicht Ihren Kaffee, sondern eine sachliche und wahre Antwort auf meine Frage.“ „Jedesmal, wenn mich einer von Ihnen sieht, fragt er: Was hat Olaf in Berlin gewollt. Ich sage jedesmal: Ich weiß es nicht. Und das ist die Wahrheit.“ „Die Wahrheit ist“, erwiderte Simosch, „daß Olaf Lück in Berlin von Postamt zu Postamt gefahren ist und insgesamt sechzigtausend Mark abgehoben hat.“ „Wovon denn abgehoben?“ fragte sie spöttisch. „Von seinem eigenen Konto, auf dem nur fünfzig Mark eingezahlt waren.“
„Das ist die unglaublichste Geschichte, die ich je gehört habe!“ Ein mißtrauischer Blick streifte Simosch. „Falls Sie mich mit diesem Blödsinn aus der Reserve locken wollen – ich habe nichts in Reserve.“ Sie ging zum Schrank. „Jetzt brauche ich einen. Trinken Sie mit?“ Simosch schüttelte den Kopf. Sie trank ihr Glas rasch leer. „Er sagte, er habe in Berlin ein lohnendes Geschäft in Aussicht. Fünf Riesen würden für ihn abfallen.“ „Überlegen Sie weiter. Vielleicht kommen Sie noch darauf, was für ein Geschäft das gewesen ist.“ Sie drehte das leere Glas in der Hand und dachte nach. Als sie es auf den Tisch setzte und Simosch ins Gesicht blickte, fragte sie: „Sechzigtausend? Das wissen Sie genau?“ Der Oberleutnant nickte. „Ich habe ihm schon die Fünftausend nicht abgenommen.“ „Die er in Berlin verdienen wollte?“ „Bevor er losfuhr, sagte er: ,Ich will jemandem einen Gefallen tun. Dabei springen fünf Tausender ‘raus für mich.’„ „Weiter!“ „Weiter nichts. Ich habe ihm ins Gesicht gelacht und gesagt: Übernimm dich bloß nicht. Und er hat mitgelacht.“ „Aber er hatte sechzigtausend, als er nach Hause kam“, fuhr Simosch fort. „Sie können es gewußt haben und ihm ins Bootshaus nachgefahren sein.“ Fräulein Sanitz griff noch einmal nach der Kognakflasche, schob sie aber wieder zurück. „Begreifen Sie eigentlich, daß ich Olaf geliebt habe? Anders als Jana, aber geliebt. Ohne Vorwürfe, ohne Selbstmitleid, ohne einen Gedanken ans Sterben, wenn’s mal aus ist mit uns beiden. Wenn ich gewußt hätte, daß er den Postangestellten berauben wollte, hätte ich ihn davon abgehalten. Und wenn ich gewußt hätte, daß der Gefallen, den er jemanden tun will, ein sechzigtausend schweres krummes Ding ist, hätte ich ihn auch davon abgehalten. Ich hatte keinen Grund, ihn umzubringen, nicht wegen einer anderen Frau und nicht wegen sech-
zigtausend Mark. Ich wollte noch ein paar Jahre mit ihm leben!“ Plötzlich ließ sie den Kopf auf die angewinkelten Arme fallen und schluchzte. „Scheißgeld. Scheißleben.“
16. Der Fluchtweg war mit großer Wahrscheinlichkeit ermittelt worden. Der Mörder war vom Wasser her gekommen, nicht, wie man anfangs vermutete, über den Fluß, sondern längs des Ufers. Geschützt durch Weiden und überhängende Sträucher, konnte er unbemerkt an Lücks Grundstück heranfahren, am Steg sein Boot festmachen und aussteigen. Wußte Lück, daß er kam? Oder war er noch im Bootshaus gewesen und hatte ihn nicht bemerkt? Als Lück erschlagen auf dem Beet mit Herbstzeitlose lag, war sein Mörder wieder ins Boot gestiegen und etwa fünfhundert Meter flußaufwärts gefahren. Dort hatte er das Boot verlassen, es leck geschlagen und versenkt. Die Kriminaltechniker hatten es wieder gehoben. Unklar blieb, ob der Täter von dieser Stelle aus zum Vergißmeinnichtweg gelaufen und dort in den Trabant gestiegen war, den einige Siedler gesehen hatten. Wenn diese Theorie stimmte, und die Kriminaltechniker schworen darauf, konnten Creuzmann, Gotenbach und Frau Seiffart schwerlich als Täter in Frage kommen. Creuzmann hatte das Grundstück von der Straße aus betreten, sonst hätte er Gotenbach nicht sehen können. Frau Seiffart war in Randolfs Garten geflüchtet. Unwahrscheinlich, daß sie danach zurückgekehrt, zum Bootssteg gegangen und mit dem Boot flußaufwärts gefahren war. Blieben Lücks Freundin, Andreas Bieleke und Justus Schiffel. Der Oberleutnant fuhr zum dritten Mal zu Direktor Schiffel. Er mußte ihn entweder aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen oder etwas Handfestes finden, um die Ermittlung auf ihn zu konzentrieren. Schon im Hausflur hörte Simosch
Weinen, das hohe, hemmungslose Schluchzen eines Mädchens. Als Simosch klingelte, kam Herr Schiffel zur Tür, im grauen Anzug, ausgehbereit. Er bat den Oberleutnant ins Wohnzimmer und bot ihm einen Kognak an. Mit einem kleinen Zwinkern zu Simosch hin sagte er: „Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Meiner Nichte geht es nicht besonders gut.“ Dann hörte Simosch ihn besänftigend auf das Mädchen einreden. Ihr Schluchzen wurde leiser. Doch plötzlich rief sie: „Am Telefon war eine Mädchenstimme! Und ich habe dir geglaubt!“ Während Schiffel sie wiederum zu beruhigen suchte, blickte sich der Oberleutnant im Zimmer um. Neben dem Sekretär stand eine halbvoll gepackte Reisetasche, ein Handtuch flüchtig darübergeworfen. Justus Schiffel war beim Packen gestört worden. Auf dem geöffneten Sekretär lag eine Fahrkarte. Simosch erhob sich, jedes Geräusch vermeidend, ging um den Tisch herum und betrachtete das Billett. Als Zielbahnhof war Moosdorf angegeben. Simosch grübelte, doch der Name sagte ihm nichts. Nebenan war es still geworden. Schritte im Korridor, die Tür schlug zu. Der Oberleutnant gelangte noch auf seinen Platz und konnte das Kognakglas zur Hand nehmen, als Direktor Schiffel wieder eintrat. Schiffel setzte sich zu seinem Gast. Bevor er ihm zuprostete, fragte er: „Was kann ich für Sie tun?“ Statt einer Antwort bemerkte Simosch: „Ihre Nichte hängt sehr an Ihnen, nicht wahr?“ Der Direktor lachte ein herzhaftes, befreiendes Lachen. „Sie haben die Angelegenheit doch längst durchschaut. Sie ist ungeheuerlich stolz und hat mich wohl nur akzeptiert, weil sie in mir einen Gott gesehen hat. Nun ist sie auf eine kleine menschliche Schwäche gestoßen.“ „Wollten Sie heiraten?“ „Zumindest glaubte sie, daß es für mich nur noch sie auf der
Welt gibt. Aber ich mag mich nicht noch einmal binden.“ „Sie hätten sich an der Seite dieser langgliedrigen Schönheit noch immer gut ausgenommen“, meinte Simosch. „Schmeichelhaft. Aber ich bin zu erfahren, um mich selbst zu betrügen. Es ist nicht der Altersunterschied, sondern die Vorstellung, an jemanden gebunden zu sein, Rücksichten zu nehmen, statt nach eigenem Dafürhalten zu leben. Gefühle zu unterdrücken und zu verbiegen ist nicht meine Sache. Auch will ich nicht täglich die Unzulänglichkeiten des Partners vor Augen haben und ihm die eigenen Blößen darbieten.“ „Klingt ziemlich pessimistisch.“ „Das wäre es, wenn ich aus der Erfahrung nichts gelernt hätte. Aber ich habe es geschafft, mein Dasein nach meinem Gutdünken einzurichten.“ „Wird das nicht zu strapaziös“, fragte Simosch, „zeitlich, finanziell und auch nervlich?“ Sie tranken ihre Gläser leer, und der Direktor schenkte nach. Simosch spürte, daß es Schiffel zu reden drängte. Vielleicht war das für ihn eine Art Rechtfertigung dem Mädchen gegenüber, dem er ziemlich unverblümt die Tür gewiesen hatte. Möglicherweise animierte ihn auch nur die Gelegenheit, einem Fremden, Unbeteiligten gegenüber seine Ansichten auszubreiten. Vor jungen Mädchen war das wohl ebensowenig möglich wie im Gespräch mit Arbeitskollegen. Frau Lamprecht aber, die ganz gern ihre Einsamkeit mit ihm geteilt hätte, kannte ihn mindestens so gut wie er sich selbst. „Es ist nicht strapaziös“, gab Schiffel zurück, „sondern phantastisch, interessant! Nichts ist so todbringend wie Eintönigkeit. In der Arbeit ebenso wie im Privatleben. In der Arbeit kann ich diesem Übel entgehen, indem ich improvisiere, Einfälle verwirkliche, Entscheidungen treffe, täglich Umgang mit dem Unsicherheitsfaktor Mensch habe. Aber in der Ehe? Man kennt jede Geste, jede Gefühlsregung des anderen. Alles ist eingefahren auf vorgeschriebenen Geleisen, und man weiß, wie man die Weichen zu stellen hat. Zumeist rasten sie automatisch ein. Kein
Platz für Phantasie, Romantik, Abenteuer. Und dann lernen Sie einen jungen Menschen kennen, der sich selbst noch ein Rätsel ist. Glauben Sie, es ist ein großes Erlebnis, wenn man ihm hilft, seine eigene Natur zu erkennen und – auszuleben. Was den Zeitaufwand betrifft, darüber würden Sie anders denken, wenn Sie erst einmal durch Krankheit Zeit verloren hätten! Viel Zeit, gute Zeit! Wochen- und monatelang ans Bett oder den Sessel gefesselt. Ich möchte die Zeit, die mir noch bleibt, dazu nutzen, dem Rätsel Frau wieder und wieder zu begegnen.“ Er hob sein Glas, und Simosch tat ihm Bescheid. „Nervliche Belastung… gewiß, wenn man kein Sadist ist, gehen einem Frauentränen aufs Gemüt. Trotzdem sind sie nichts gegen eheliche Eifersucht! Aber genug jetzt. Sie sind gewiß nicht gekommen, um sich meine Lebensmaximen anzuhören.“ Eigentlich doch, dachte Simosch, aber das mußt du nicht wissen. Nur schade, daß man nicht auf jede Frage eine Antwort erhält.
17. Der Oberleutnant behielt recht, Creuzmann konnte keine Ruhe finden. Sein Zimmer war eingerichtet, er hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Doch die innere Erregung, die ihn seit Lücks Tod quälte, beherrschte ihn noch immer. Gleichgültig ließ ihn alles, was nicht mit dem Mord zusammenhing. Statt in der „Scharfen Ecke“ sein Bier zu trinken, saß er zu Hause und grübelte. Er dachte nach über sich, sein Leben, in dem sich nichts Sensationelles ereignet hatte, bis an jenem Abend, als Lück ihn um ein Alibi erpreßte. Erpreßte, ohne etwas gegen ihn in der Hand zu haben. Mit kurzen, festen Schritten durchquerte Creuzmann sein Zimmer, auf dem Rücken die Hände ineinander verkrampft, Kopf und Nacken nach vorn geschoben, als gelte es, eine Wand
zu durchrennen. Was war er nur für ein Mensch? Bei der Arbeit brauchte er keinen Tag, um festzustellen, ob einer etwas taugte oder nicht. Aber er hängte sich an einen Olaf Lück. Jahrelang. Er wußte, daß Lück auf Janas Kosten lebte, sah, daß er nach ihrem Tod noch immer weit mehr ausgab, als er verdiente, doch er fragte nicht, wunderte sich nicht einmal. Ich kann ein Schaf nicht von einem Wolf im Schafspelz unterscheiden, dachte er. Wie sollte er denjenigen finden, der noch gerissener, noch kaltblütiger als Lück gewesen war? Für ihn war jeder freundliche Mensch, der seine Arbeit tat und abends ein Bier mit ihm trank, ein Kumpel. Er hatte viele Kumpels. Unter den Pelz geguckt hatte er keinem. Zweifellos waren die Kriminalisten weitaus schlauer als er, und doch wußten sie noch immer nicht, wer Lücks Mörder war. Da tappten sie im dunkeln. Creuzmann fürchtete, sie würden den ersten besten festhalten, den sie griffen. Er hatte ihnen Gotenbach zugeschoben. Sie sagten: Er kann seinen Schwager nicht umgebracht haben, nicht in den paar Minuten, in denen Creuzmann ihn aus den Augen verloren hatte. Ihn, Lücks Freund, hielten sie gepackt, weil er erpreßt worden war, weil Enttäuschung und Haß in ihm fraßen, weil er Lück hatte töten wollen. Er mußte sich aus ihrem Griff befreien. Sechs Uhr morgens. Noch lag Dunkelheit über der Stadt. Scheinwerfer vorbeieilender Autos tasteten über den Asphalt. Stadtbahnzüge fuhren donnernd in die Halle, Lautsprecher kündeten Fernzüge an. Es herrschte der übliche Bahnhofslärm. Herr Creuzmann trat aus der Halle, beobachtete ein Weilchen die heranrollenden und abfahrenden Taxis und ging zu Fuß in Richtung Alexanderplatz. Die Morgenkühle drang durch seine Kleidung, leichter Nieselregen fiel. Creuzmann schlug den Mantelkragen hoch und vergrub die Hände in den Taschen. Er hätte mit der S-Bahn zum Alex fahren und dort in die UBahn umsteigen können, doch er hatte Zeit. Der Mann, den er aufsuchen wollte, verließ nicht morgens das Haus, um einer
geregelten Arbeit nachzugehen. Der Regen wurde heftiger. Creuzmann stieg am Alex die Stufen zur U-Bahn hinunter und fuhr zwei Stationen in Richtung Pankow. Dann ging er zu Fuß weiter und bog in die Sredzkistraße ein, vorbei am Berliner Möbelmarkt. Ein paar Häuser weiter blieb er stehen, sah sich um. Die Straße war fast menschenleer. Zwei Frauen traten aus dem Nachbarhaus, schimpften über das Wetter und spannten ihre Schirme auf. Gegenüber schlenderte ein langer, schlaksiger Kerl vorbei, den unbedeckten Kopf tief zwischen die Schultern gezogen. Herr Creuzmann drückte die Klinke nieder und betrat das Haus. Über ihm wurde eine Tür zugeschlagen. Schritte kamen die Treppe herunter. Creuzmann ging zum Hinterausgang und verbarg sich zwischen den Mülltonnen. Als es still war, stieg er zur dritten Etage, knipste Licht an und sah, daß der Name, den er suchte, als Zweitname noch am Türschild stand: Willi Dahl. Vom vierten Stockwerk aus beobachtete er, ob die Wohnung, an der „Dahl“ stand, jemand betrat oder verließ, doch es blieb alles still. Halb acht Uhr steckte jemand an der Tür, neben der er sich postiert hatte, einen Schlüssel ins Schloß. Ein Mann, vom Husten gequält, trat heraus. Creuzmann sprang die Stufen hinunter. Der Alte konnte ihn nicht gesehen haben! Doch auf der Straße lief er direkt auf ihn zu, hustend, das Taschentuch gegen den Mund gepreßt. Herr Creuzmann verbarg sich in einer Durchfahrt. Der Mann kam näher. In seine Richtung! Plötzlich verschwand er, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, im nächsten Hauseingang. Als die Tür zuschlug, bemerkte Creuzmann das Schild: Staatliche Arztpraxis… Um acht Uhr stieg er wieder zu Dahls Wohnung hoch und klingelte. Drinnen klappte eine Tür. Als weiter nichts geschah, drückte er den Knopf noch einmal. Eine Männerstimme rief: „Ja doch! Moment!“ Dann wurde die Spüle der Toilette gezogen. Kurz darauf kam jemand zur Tür. Der Mann, der vor ihm stand, mochte an die sechzig Jahre sein. Grausträhniges
Haar, das Gesicht faltig, um die Mundwinkel schlaff. Ein müder Alter, den man aus dem Morgenschlaf gerissen hatte. „Was wollen Sie?“ Er hielt den Handrücken vor die Lippen, weil er das Gähnen nicht unterdrücken konnte. Dabei sah er mißmutig auf seinen Besucher. Dieser Blick löste in Creuzmann ein Alarmsystem aus. Vor diesem Menschen mußte er auf der Hut sein. Der betrachtete ihn mit Augen, die wachsam waren, wissend und listig. Sie straften die Müdigkeit Lügen. „Ich wollte zu Herrn Dahl“, sagte Dirk Creuzmann. „So früh am Morgen?“ Er fragte ohne Vorwurf, nur Verwunderung war in seiner Stimme. „Es ist immerhin schon acht.“ Der Mann raffte den Morgenrock über der Brust zusammen, als fröstelte ihn. „Was Sie nicht sagen! Schon acht.“ Er trat beiseite. Im Halbdunkel des Korridors ballte Creuzmann die Hände. „Sind Sie Herr Dahl?“ „Sie haben sich noch gar nicht vorgestellt“, entgegnete der Mann statt einer Antwort. Einer Eingebung folgend, sagte Herr Creuzmann: „Ich bin Olaf Lück.“ Der Mann nickte und wies auf eine Tür. „Sie können hier warten. Herr Dahl muß jeden Augenblick kommen. Er kommt meistens um acht.“ „Und wer sind Sie?“ „Der Wohnungsinhaber. Lehmann. Mein Name steht an der Tür.“ „Ich komme später noch mal.“ Creuzmann wandte sich um. „Da kann er wieder fort sein“, sagte Herr Lehmann. „Er kommt immer um acht, aber ich glaube nicht, daß es schon so spät ist.“
„Glauben Sie, was Sie wollen.“ Er griff nach der Türklinke. „Warum regen Sie sich auf, junger Mann? Wir schaffen die Sache aus der Welt. Ich rufe die Zeitansage an.“ Der Alte verschwand in einem Zimmer, dessen Tür er einen Spalt offenließ. Herr Creuzmann hörte das leise Surren der Wählerscheibe. Einmal, zweimal, dreimal, viermal… Er riß die Korridortür auf und rannte die Treppe hinunter. Vor dem Haus prallte er auf einen Passanten, lang, dürr, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Creuzmann war ihm schon morgens auf der Straße begegnet. Triefend vor Nässe, in einem viel zu weiten Mantel, dem ein Knopf fehlte. „Verdammte Vogelscheuche!“ Er wollte ihn beiseite schieben. Ein leichter Schmerz zuckte durch seine Schultern, ließ ihn wie festgewachsen stehen, die Hände auf dem Rücken. „Guten Morgen, Herr Creuzmann“, sagte der Dürre, der ihn festhielt. „Ich bin Leutnant Olbricht von der Kriminalpolizei. Wir fahren jetzt zu Oberleutnant Simosch. Und keine Sperenzien, bitte.“ „Arbeitet der da oben für euch?“ „Während der Fahrt nach Dresden können wir uns übers Wetter unterhalten oder über Fußball. Vorausgesetzt, Sie ziehen nicht zu sehr gegen Dynamo Dresden vom Leder.“
18. Creuzmann trank gierig aus dem Wasserglas, das Simosch ihm bot. Lange Reden war er nicht gewohnt. Ihm dörrte die Kehle aus. Doch er wollte sprechen. Zu stark drückte die Last, die er sich selbst aufgebürdet hatte, indem er die Wahrheit verschwieg. „Ich wollte nur das Geld“, sagte Lück, „aber keinem Menschen etwas tun. Zuerst ging alles nach Plan…“
„Olaf“, unterbrach Creuzmann ihn, „erzähl’s mir nicht. So ein Geständnis, das kostet Kraft. Spar sie dir auf.“ „Du meinst…? Nein, das hieße auf meinen Verstand verzichten.“ „Der Mann ist tot, ob du’s gewollt hast oder nicht.“ „Dieser Tod war so sinnlos“, entgegnete Lück. „Ich will nicht, daß auch mein Leben noch sinnlos wird. Zugegeben, ich sitze arg in der Klemme, aber ich komme ‘raus, verlaß dich drauf. Ich muß nur verschwinden.“ „Sie finden dich.“ „Nicht, wenn du mir hilfst. Du weißt eine Adresse.“ „Das ist keine Lösung.“ „Es ist die einzige.“ „Ich kenne den in Berlin nicht. Hab’s nur vom Hörensagen. Das ist viel zu unsicher.“ „Unsicher ist es hier.“ „Es ist nicht einmal seine Adresse. Er wohnt drüben, kommt nur besuchsweise her…“ „Und nimmt jemanden mit auf der Rückreise.“ „Wahrscheinlich hat er das ein einziges Mal riskiert für einen, der ihm nahesteht. Aber für Fremde…“ „Die das tun, treiben’s berufsmäßig.“ „Vergiß es.“ „Dann gehen wir beide ab für den Postraub. Und du zusätzlich für den Mann, der erschlagen wurde. Ich hab’s mit angesehen. Ich traue mir sogar zu, daß die Polizei das Geld aus dem Postraub bei dir findet.“ „Er hat Sie also nicht nur um ein Alibi, sondern auch um die Adresse erpreßt“, sagte Simosch. „Fünf Tausender sollte ich für Name und Adresse bekommen oder der Polizei als Mörder präsentiert werden.“ „Hat er Sie an jenem Abend, als er getötet wurde, mit dem Geld auf seinem Grundstück erwartet?“ Creuzmann nickte.
Von den 7 000 im Bootsschuppen waren also 5 000 für Creuzmann bestimmt gewesen. 2 000 hatte Frau Seiffart gebracht. „Sie wollten ihm die Adresse geben?“ „Ich wollte ihn töten. Ich wollte ihm die Adresse überlassen. Ich wollte keines von beidem. Nur sprechen mit ihm. Was er getan hatte, ging nicht in meinen Kopf, und nicht, was er noch tun wollte.“ „Warum sind Sie gestern nach Berlin gefahren?“ „Sie sagten, er habe sein eigenes Konto um sechzigtausend Mark überzogen. Wozu? Er brauchte das Geld für seinen Fluchthelfer, nahm ich an. Aber der war wohl noch kaltblütiger als Olaf und hat ihn umgebracht. Ich wollte herausfinden, ob an meiner Vermutung was dran ist.“ „Sie wollen zuviel ohne uns herausfinden, Herr Creutzmann, das versuchte ich Ihnen schon in Gotenbachs Hotelzimmer klarzumachen. Warum haben Sie mir nur die halbe Wahrheit über Lücks Erpressungsversuche erzählt?“ „Es ist nicht gut, solche Adressen zu wissen.“ „Es ist nicht gut, in einem Mordfall gegen die Polizei zu arbeiten. Sie sagen, Lück hat Sie um die Adresse des Fluchthelfers erpreßt, und im nächsten Satz, Lück hat das Geld für ihn abgehoben und ist von ihm getötet worden. Woher wußte er denn Namen und Anschrift, wenn Sie dichtgehalten haben?“ „Damals, als er sagte, die Adresse, oder der Mörder bist du, da bin ich Hals über Kopf nach Berlin gefahren, um herauszufinden, ob diese Adresse überhaupt noch existiert. Und auch, um zu sehen, ob man mit dem Mann ins Geschäft kommen kann. Von Ihnen habe ich erfahren, daß Olaf ungefähr zur gleichen Zeit in Berlin war. Olaf ist gerissen, wie ich jetzt weiß. Ich dachte, er könnte mir gefolgt sein und die Adresse ausbaldowert haben.“ Bis zu einem bestimmten Punkt erschien Creuzmanns Geständnis akzeptabel und paßte in das Bild, das Simosch sich von der Sache machte: Lück will die Republik verlassen, um der Strafe für den Raubüberfall zu entgehen. Er überzieht sein eigenes
Konto um 60000 Mark, damit er seinem Fluchthelfer etwas bieten kann. – Ab hier stimmte etwas nicht. Der Fluchthelfer Dahl aus Berlin war kurz vor Lücks Ermordung festgenommen worden. Man beobachtete seine Wohnung noch. Dahl schied als Mörder aus. Doch warum hob Lück 60000 ab, wenn er keinen Fluchthelfer wußte? Oder hatte er zu spät von dessen Verhaftung erfahren? Wo steckte dann das Geld? Hatte es der zweite Mann, der mit ihm in Berlin war? Wer war dieser zweite Mann? Noch immer dieselben Fragen. Noch immer dieselben Verdächtigen. „Eine verrückte und gewagte Idee ist das schon“, sagte Simosch, „fünfzig Mark auf ein Postscheckkonto einzahlen und sechzigtausend abheben. War Lück der Mann für solche Ideen, oder stammte der Einfall von einem anderen?“ „Ich überlege schon die ganze Zeit. Jemand hat wahrhaftig so etwas zum besten gegeben. Aber das war nur Spinnerei, so wie man sagt, ich müßte mal im Lotto gewinnen oder eine Erbschaft machen. Außerdem hatte derjenige nichts mit Lück zu tun – nehme ich an.“ „Wie heißt er?“ „Weiß ich nicht. Kenn’ ihn nur flüchtig. Aber damals saß er in der ,Scharfen Ecke’. Dort habe ich ihn schon mehrmals gesehen.“ „Sie würden ihn also wiedererkennen“, stellte Simosch fest. „Klar.“ „Herr Lück verkehrte ebenfalls in der ,Scharfen Ecke’?“ „Ja. Vor seiner Ehe und danach auch wieder.“ „Wir gehen heute abend zusammen hin. Heute und so lange, bis Sie ihn entdecken.“ Creuzmann grinste. „Nach`n paar Tagen werden wir die einzigen sein, die dort sitzen.“ „Wieso?“ „Das Publikum hat ‘nen Riecher für Polizisten. Aber den braucht man nicht mal, wenn Sie dort auftauchen, geschniegelt und gebügelt.“
„Wir können auch anders“, sagte Simosch. „Da ist noch was. Ich habe heute Nachtschicht. Und der, den Sie suchen, sitzt zu den unterschiedlichsten Zeiten dort.“ „Danke für den Hinweis. Um wieviel Uhr wird geöffnet?“ „Elf.“ Olbricht muß mit ihm hingehen. Auch wenn er noch so triumphiert, weil seine Schlamperei plötzlich einen Sinn bekommt. Er ließ den jungen Mann hinausbringen und telefonierte mit dem Leutnant. Minuten später trat Olbricht ins Zimmer. Hellblaues Hemd, grau und rot gestreiften Schlips und graues Sakko. Die Bügelfalte in der schwarzen Hose scharf wie frischgeschliffene Messer. Blitzblanke Schuhe. Ein Biedermann von Kopf bis Fuß. Sein Lächeln war zurückhaltender als sonst. Simosch stöhnte. „Ich hatte Leutnant Olbricht herbefohlen.“ „Zur Stelle.“ „Ich meine den mit den ausgebeulten Hosen und dem Pullover, der aussieht wie von einem Ringer im Schwergewicht geborgt.“ „Den gibt’s nicht mehr.“ „Den Pullover?“ „Den Olbricht.“ „Was ist denn in Sie gefahren!“ rief Simosch verzweifelt. „Ich werde es Ihnen erklären“, sagte der Leutnant mit ungewöhnlichem Ernst. „Sie haben mich oft ermahnt, nicht so schmuddelig herumzulaufen, aber ich hab’s nicht beachtet. Auf Olis schlaues Köpfchen kommt’s an, habe ich mir gesagt, und darauf, daß ich ganz aufgeh’ in meiner Arbeit. Aber heute, als ich den Creuzmann festgenommen habe, hat der mich mit einem verächtlichen Blick als , Vogelscheuche’ bezeichnet.“ „Das ist Beleidigung einer Amts…“ „Es war die Wahrheit“, fiel der Leutnant seinem Chef ins Wort. „Und so weit, meine ich, darf es nicht kommen, daß jemand einen Kriminalisten mit Recht Vogelscheuche nennt.“ Er zupfte an seinem Binder. „Wenn sich eine Schlange in ihrer neuen
Haut so fühlt wie ich, fühlt sie sich nicht besonders wohl“, gestand er. „Aber was sein muß, muß sein.“ „Im Augenblick muß es sein, daß Sie Ihren alten Pullover wieder hervorkramen. Legen Sie den Binder ab, und ziehen Sie den Pullover übers Hemd. Das genügt.“ Während Ulbricht seinen Pullover holte, grübelte der Oberleutnant über die seltsame Wirkungsweise von gutgemeinten Ermahnungen und verächtlich hingeworfenen Beleidigungen. Am dritten Tag saß Simosch selbst mit dem Elektriker in der „Scharfen Ecke“. Nach dem zweiten Bier meinte er: „Kommen Sie nicht auf die Idee, sich auf unsere Kosten gute Tage zu machen.“ „Gut nennen Sie das? Ich wollte meinen Resturlaub im Thüringer Wald und nicht in einer Eckkneipe verbringen.“ Wieder betraten zwei Männer das Lokal. Der Oberleutnant erkannte Andreas Bieleke. Auch Bieleke entdeckte ihn, trat an den Tisch und streckte ihm die Hand hin. „Nanu?“ fragte er verwundert. „Pst“, machte Simosch. „Sie werden doch ein kleines Geheimnis bewahren können?“ „Würde mich trotzdem interessieren“, flüsterte Bieleke, „ob Sie in diesen heiligen Hallen hinter Totschlägern oder Parkpupsern her sind.“ „Manchmal weiß man’s selbst nicht genau“, erwiderte der Oberleutnant. Bieleke ging zum nächsten Tisch. „Ich komm’ mir ziemlich verscheißert vor“, sagte Herr Creuzmann böse. „Was haben Sie denn?“ „Kein Verständnis dafür, daß Sie mich drei Tage lang hierherschleppen, damit ich Ihnen jemanden suche, den Sie besser kennen als ich.“ „Der war’s?“ Simosch hatte Mühe, gelassen zu bleiben. „Damals stand ich am Tresen, weil ich nur ein Bier kippen wollte,
und am Tisch daneben saß dieser Junge. Der hört sich gern reden. Einer hatte zwei Mark achtzig im Lotto gewonnen, und den haben sie mächtig aufgezogen. Zwischendurch ließ dieser Typ seinen Einfall los. Man müßte ein Konto eröffnen, meinte er, zwanzig Mark einzahlen und, sobald man die Scheckhefte besitzt, Geld abheben. Große Summen und flott hintereinander. Einer sagte: ,Wenn du mit deiner Tasche voll Papier nach Hause kommst, sitzt schon die Kripo bei dir im Sessel.’ Und dieser Kauz meinte: ,So bald nicht. Zumindest wäre ich eine Nacht lang ein reicher Mann. Vielleicht auch noch den nächsten Tag über, denn bei der Post geht’s nicht so schnell.’ Die letzten Worte hat er gesungen! Fest steht, daß keiner seinen Einfall ernst genommen hat. Er selber auch nicht.“ „Und wo saß Herr Lück an jenem Abend?“ fragte der Oberleutnant. „Der war nicht hier. Das weiß ich genau.“ „Gehen Sie nach Hause. Aber wenn Sie zum dritten Mal ver suchen, mir ins Handwerk zu pfuschen bringe ich Sie auf Nummer Sicher.“ „Bin ich ‘raus aus der Sache?“ „Keiner ist ‘raus. Wenn Sie eine saubere Weste haben, braucht Sie das nicht zu beunruhigen.“ „Na dann – ‘n schönen Abend noch.“ Creuzmann ging zur Tür. Der Oberleutnant winkte dem Kellner, bestellte zwei Bier und setzte sich zu Andreas Bieleke.
19. „Mir stellt sich die Sache in zwei Varianten dar“, erklärte Simosch seinem Leutnant. „Erstens, Olaf Lück hat sein Fünfzigmarkkonto bewußt um sechzigtausend überzogen, weil er nach drüben wollte. Zweitens, Lück hat unbewußt sein Konto überzogen und angenommen, sechzigtausend zu besitzen. Aber warum hat derjenige ihn so hereingelegt? Jeder weiß
doch, daß Kontoüberziehungen in kurzer Zeit ans Licht kommen.“ „Deshalb hat er Lück ja auch umgebracht“, bemerkte Olbricht. „Also geplanter Mord. Motiv: Bereicherungssucht.“ „Nur – aus welchem Grunde sollte denn jemand sechzigtausend Mark an ihn zu zahlen haben?“ fragte der Leutnant verwundert. „Lück kann ihn erpreßt haben.“ „Mit einer solchen Summe?“ Olbricht war skeptisch. „Das wäre denkbar. Nach dem Tod seiner Frau ist Lück in materielle Bedrängnis geraten und mußte sich entweder bescheiden oder Geld auf unredliche Art erwerben. Er hat eine Post ausgeraubt, einen Beamten getötet und versucht, die Sache seinem besten Freund in die Schuhe zu schieben, falls der ihm nicht hilft, über die Grenze zu kommen. Er hat sich doch auch an Jana geklammert, weil er ahnte, daß es mit ihm bergab geht, wenn er sein ,schönes Leben’ aufgibt.“ Der Leutnant warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „In einer halben Stunde fahre ich nach Berlin zu Fräulein Görner. Heut kommt sie aus Sotschi zurück. Hoffentlich kann sie sich noch an jenen Tag erinnern, an dem sie im Juweliergeschäft von Lück eingeladen wurde.“ „Hoffentlich will sie sich daran erinnern. Nach vierzehn Tagen Urlaub mit ihrem Verlobten!“ „Dem schlauen Oli wird was einfallen.“ Der Leutnant erhob sich, schloß den Knopf an seinem Sakko und strich einen Fussel von der Hose. „Ich habe mich schon richtig dran gewöhnt“, sagte er schmunzelnd. Solange der Mordfall Olaf Lück noch nicht geklärt war, behielt Simosch alle Verdächtigen im Blickfeld. Fräulein Sanitz ging ihrer Arbeit auf der Post nach, lud keine Freunde ein und verließ die Wohnung nur, um einzukaufen oder den Pudel auszuführen. Sie war schmal und blaß ge-
worden, um ihre Mundwinkel grub der Kummer die ersten Falten. Direktor Schiffe! hatte den letzten Tag der Krankschreibung zu einem Ausflug genutzt. Nun leitete er wieder energiegeladen und umsichtig die Abteilung Industrierationalisierung des VEB Tiefbau. Creuzmanns Lebensweise zeigte keinerlei Auffälligkeit. Frau Seiffart schien aufzuleben, seit die Polizei sie nur noch aus der Ferne beobachtete. Das Mißtrauen ihres Mannes war verflogen. Wahrscheinlich würde er niemals dahinterkommen, auf welche Weise er Vater geworden war. Und das war gut so, fand der Oberleutnant. Andreas Bieleke kurvte mit seinem LKW auf Autobahnen und Fernverkehrsstraßen, singend und schwatzend. Zwischen den Fahrten gab „er seine Einfälle in der „Scharfen Ecke“ zum besten. Der Dolmetscher hatte die englische Reisegruppe verabschiedet und war einen Nachmittag lang in Berlin-Schönefeld gewesen, um niederländische Touristen zu empfangen. Sie blieben nur zwei Tage in Dresden. Danach wollte Gotenbach nach Plauen fahren, um einen Abend mit der Familie zu verbringen und den Koffer neu zu packen. Alltagsleben. Jeder von denen, die Lück getötet haben konnten, war mehr oder weniger beliebt und geachtet. Keiner mit dem Kainszeichen auf der Stirn. Und doch war einer darunter, der es trug, übertüncht mit dem Anstrich einer soliden Lebensweise. Als das Telefon klingelte, hoffte der Oberleutnant, daß ihn Olbricht aus Berlin anriefe. „Hier ist Besuch für Sie“, meldete der Wachhabende. „Ein junger Mann namens Andreas Bieleke.“ Simosch bat, ihn heraufzuschicken. Die Mütze in der Hand, schlenderte Bieleke zur Tür herein und blieb vor Simoschs Schreibtisch stehen. „Tag.“ Er streckte dem
Oberleutnant die Hand hin. „Nehmen Sie Platz“, sagte Simosch. „Soviel Zeit hab’ ich nicht. Bin schon auf ‘ner Tour. Leg’ nur mal zehn Minuten Gewerkschaftspause ein, weil Sie so scharf drauf sind zu erfahren, wem ich meine grandiosen Wie-kommeich-zu-Geld-Ideen verraten habe. So richtig drüber gequasselt habe ich nur in der Kneipe. Und dann den ganzen Quatsch vergessen. Aber jetzt weiß ich wieder, wann mir dieser Einfall gekommen ist. Ich war gerade neu eingestellt worden und mußte vierzehn Tage lang Herrschaften kutschieren, bevor sie mir einen LKW gaben. Einmal war ich mit Kollegen Schiffel unterwegs, der jetzt Direktor ist und nach dem Sie mich neulich gefragt haben. Auf dieser Fahrt kam mir die Erleuchtung, wie man schnell reich werden könnte, und ich mußte es auch gleich erzählen.“ „Wie hat denn Ihr Fahrgast darauf reagiert?“ Bieleke lachte unbefangen. „Wie jeder vernünftige Mensch. Er hat’s als Spaß aufgefaßt.“ Wieder klingelte das Telefon. „Das war alles. Tschüs.“ Bieleke ging zur Tür. Die Hand über die Sprechmuschel haltend, rief Simosch ihm nach: „Ich muß Sie bitten, niemandem von dieser Unterredung zu erzählen.“ „Geht in Ordnung.“ Andreas Bieieke verließ den Raum. Am Apparat sagte eine rauchige Frauenstimme: „Hotel Newa.“ Simosch sah im Geiste das ebenmäßige Gesicht mit den kühlen Augen. „Er hätte heute abreisen müssen.“ „Richtig“, sagte Simosch. „Er bleibt. Seine Frau ist gekommen.“ „Überraschend?“ „Gewiß. Es liegt ein Gewitter in der Luft.“ „Sind sie auf dem Zimmer?“ „Er ist mit dem Wagen fort.“
„Wieso Wagen?“ fragte Simosch irritiert. „Sie ist mit dem hellblauen Trabant gekommen.“ „Ach ja. Besten Dank auch.“ Simosch legte auf. Er fuhr zum „Newa“. Das Mädchen an der Rezeption nickte ihm kaum merklich zu, und er betrat den Fahrstuhl. „Was ist denn?“ fragte ärgerlich eine Frauenstimme, als er an Gotenbachs Zimmertür klopfte. Simosch trat ein. Die Frau saß im Sessel, die Füße auf der gegenüberliegenden Couch. Ihr Kinn war auf die Brust gesunken. Sie bot ihm Platz an und hob nur den Kopf, als sie sagte: „Ich bin hundemüde.“ Über Simoschs Besuch schien sie sich nicht zu wundern. Da Simosch nichts entgegnete, betrachtete sie ihn mit schläfrigen Augen. „Es ist wegen Lück, nicht wahr? Ich hab’s eben erst von meinem Mann erfahren.“ „Wie war ihr Verhältnis zu Herrn Lück und seiner Frau?“ „Viel habe ich von den beiden nicht gehalten.“ „Warum nicht?“ „Sie hatten keinerlei Verwandtschaftssinn.“ „Ihre Schwägerin sehnte sich nach einem ruhigen Familienleben.“ „Warum ist sie dann nie zu uns gekommen? Mein Mann hing an ihr. Wir hätten auch zusammenziehen können. In Dresden oder in Plauen. Da hätte sie eine Familie gehabt und ihr Geld nicht diesem Windhund hinterherzuwerfen brauchen.“ Sondern in euer Haus investieren, ergänzte Simosch im stillen. „Können Sie etwas über Herrn Lück erzählen, das uns weiterhilft? Einen Verdacht, eine Feindschaft, die Ihnen bekannt ist, eine Drohung, die gegen ihn ausgesprochen wurde.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, daß er die ganze Zeit über auf Janas Kosten gelebt hat. Zuletzt war sie so verzweifelt, daß sie aus der Welt gegangen ist.“ „Gab es mit Herrn Lück ernsthafte Auseinandersetzungen um
das Erbe?“ „Mein Mann hat Ihnen alles erzählt. Mir bleibt nur, die Akzente etwas zu verrücken. Ich war es, die versucht hat, Lück zu übertölpeln. Wir boten ihm mehr Geld als der andere Käufer, hatten aber vor, es nicht zu überweisen, wenn er uns das Grundstück überschrieben hat. Moralisch ist das vielleicht nicht ganz einwandfrei, aber wenn man bedenkt, wie der mit Jana umgesprungen ist.“ „Warum stellen Sie sich so bloß?“ „Weil ich zwei und zwei zusammenzählen kann. Im Gegensatz zu Wolfram. Den haben die Ereignisse der letzten Tage verwirrt. Sie suchen Lücks Mörder und denken, es war jemand, der ihm viel Geld versprochen und nicht bezahlt hat. Aber Lück ist auf unser Angebot nicht eingegangen. Sie können alle Papiere und Unterlagen prüfen. Unseren Namen werden Sie nicht finden.“ Das mochte alles stimmen, konnte aber auch Methode sein, um glaubhaft zu wirken. Fakt war Gotenbachs Verschulden, sie mußten recht schnell zu einer größeren Summe kommen. Fakt war auch Gotenbachs Haß auf seinen Schwager. „Wo ist Ihr Mann jetzt?“ fragte Simosch. Sie nahm die Füße von der Couch und angelte nach den Pantoffeln. Dabei warf sie dem Oberleutnant einen kurzen Blick zu. „Der ist bei Direktor Schiffel.“ „Die beiden kennen sich?“ Wir erfuhren durch Olaf, daß er das Grundstück samt Boot kaufen wollte.“ Ein Geräusch an der Tür ließ sie verstummen. Wolfram Gotenbach betrat das Zimmer. Als er den Oberleutnant bemerkte, sagte er unwillig: „Nanu?“ „Heute ist Ihr Abreisetag. Es war ausgemacht, daß Sie zu mir kommen, bevor Sie nach Plauen zurückfahren.“ „Ich hätte Sie jetzt angerufen.“ Gotenbach zog den Mantel aus.
„Daß Sie bei Herrn Schiffel waren, weiß ich von Ihrer Frau.“ „Sie hat mich ja hingeschickt.“ Er ließ sich auf die Couch fallen, die unter seinem Gewicht knarrte. „Meine Frau denkt immer an das Nächstliegende, Praktische“, stellte er ohne Vorwurf fest. „Wieso war es das Nächstliegende?“ „Wir wollten uns vergewissern, ob er auch nach Olafs Tod noch an dem Grundstück interessiert ist.“ „Was? – Sie wollten es doch um jeden Preis für sich haben. Für Sie zählte doch nur der Erinnerungswert.“ Gotenbach fuhr sich mit nervöser Geste durchs Haar. Er mied Simoschs Blick. „Seit Lücks Tod ist das Grundstück kein Streitobjekt mehr. – Meine Frau hat wohl recht, wenn sie meint, daß wir es verkaufen sollten.“ „Denn Sie brauchen Geld“, ergänzte Simosch, „ziemlich viel sogar. Wir sind schon einmal kurz darauf zu sprechen gekommen. – War der Hauskauf eigentlich Ihr Einfall oder der Ihrer Frau?“ Gotenbach saß mit gesenktem Kopf wie ein gescholtener Schuljunge. Seine Frau erhob sich und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es sah aus, als wollte sie ihn beschützen. „Es war sein Einfall. An Geld hat er dabei nicht gedacht. Dummerweise habe ich nachgegeben. Nun besitzen wir ein hübsches Haus, wie er es sich erträumt hat, und versuchen, an diesem Traum festzuhalten. Er ist sentimental genug, auch Janas Grundstück noch zu kaufen. Fürs Geschäftliche fehlt ihm jeder Sinn. Da muß ich ein bißchen ausgleichend wirken.“ Der Oberleutnant wandte sich an Gotenbach. „Wie sind Sie, mit dem Direktor verblieben?“ „Er will kaufen, sobald die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen und das Grundstück freigegeben hat.“ „Frau Gotenbach, seit wann sind Sie in Dresden?“ „Ungefähr seit zwei Stunden.“ „Kommen Sie direkt aus Plauen?“
„Nein. Ich habe eine anstrengende Dienstreise hinter mir. Schon auf der Hinreise wollte ich meinen Mann besuchen, aber er war nicht da, und ich bin weitergefahren.“ „Wann war das?“ Sie nannte ihm das Datum. Es war der Abend, an dem Lück ermordet wurde. „Wissen Sie, wo Ihr Mann sich aufhielt?“ Sie zuckte die Schultern. „Auf dem Grundstück seines Schwagers. Zur gleichen Stunde, als er getötet wurde.“ Mit einer müden Bewegung nahm sie die Hand ihres Mannes. „Du bist ein angesehener Dolmetscher und Fremdenführer. Warum bist du ansonsten nur so ein Pechvogel?“ Simosch verließ das Hotel. In der Dienststelle lag ein Zettel auf seinem Schreibtisch: Anruf von Leutnant O. Kundin trifft erst mit dem Abendzug ein, O. meldet sich morgen früh wieder. Noch eine Nacht Ungewißheit. Schiffel oder Gotenbach – einer von beiden log um sein Leben.
20. Gegen sechs Uhr klingelte das Telefon. Simosch schreckte aus einem verworrenen Traum auf. „Guten Morgen. Tut mir leid, so früh zu stören.“ „Hauptsache, Sie haben etwas erreicht.“ Simosch unterdrückte ein Gähnen. „Pech auf der ganzen Linie“, verkündete Olbricht. „Hier herrschen orkanartige Stürme.“ „Den Wetterbericht kann ich im Radio anhören. Wer war der zweite Mann?“ Olbricht räusperte sich. „Wie Sie aus dem Wetterbericht wissen, konnte gestern in Berlin-Schönefeld kein Flugzeug landen. Die Maschine, mit der Fräulein Görner eintreffen sollte, ist in Prag gelandet. Von da aus ist die Dame mit dem Zug nach
Berlin gefahren und erst am späten Abend angekommen. Ich habe sie trotzdem noch befragt, aber Sie hat sich damals nicht mit Olaf Lück getroffen. Zwar war sie nicht abgeneigt, doch dann kamen ihr Bedenken. Aber sie hatte Besuch vom Lande. Ihre sechzehnjährige Cousine, die ist zu dem Rendezvous gegangen.“ „Allein? Ein Landei in Berlin? Und das hat die Cousine zugelassen?“ „Na, na! Wo leben wir denn?“ rief Ulbricht. „Übrigens, ich war auch skeptisch, aber Fräulein Görner sagte, die interessiert sich nur für Männer mit Charakterköpfen. Sie will Kunstmalerin werden, speziell Porträts, und sie hat das Zeug dazu. Den jungen Mann, von dem ihr die Cousine erzählte, wollte sie sich gern ansehen.“ „Wie heißt dieses Mädchen?“ „Angelika Kelm. Jetzt ist die Frage, soll ich eine Landpartie unternehmen, bei der vielleicht nichts weiter ‘rausspringt, als daß Fräulein Keim meinen Charakterkopf porträtiert? Falls sie nur mit Lück ausgegangen ist und den zweiten Mann nicht zu Gesicht gekriegt hat, sind wir so klug wie vorher.“ „Sie müssen sie trotzdem aufsuchen. Vielleicht hat sie irgend etwas bemerkt, was uns weiterhilft. Wo wohnt sie?“ „Das Nest heißt Moosdorf. Liegt auf dem halben Wege nach Dresden. Also…“ „Moment mal!“ rief Simosch. Der Name Moosdorf weckte eine seltsame Unruhe in ihm. Wo war er auf diesen Namen gestoßen? „Ist noch was?“ fragte Olbricht. „Ja, zum Kuckuck. Aber ich komm’ nicht drauf, wenn ich nicht mal eine Minute lang nachdenken kann!“ Moosdorf. Das Wort kreist in seinem Kopf, und plötzlich stand es auf einer Fahrkarte. In Schiffels Zimmer. Nebenan hatte Frauke Hohstein geschluchzt. „Hallo! Sind Sie noch dran?“ „Bin ganz Ohr“, sagte Olbricht.
„Fahren Sie sofort nach Moosdorf, und bringen Sie Angelika Kelm zu unserer Dienststelle. Sie brauchen ihr nur ein Foto vorzulegen – Schiffels. Und vergessen Sie nicht, nach dem Ring zu fragen. Lück hat für die Freundin seines Freundes einen Ring gekauft.“ Bevor der Leutnant etwas erwidern konnte, legte er den Hörer auf. Die Müdigkeit war verflogen. Er ging ins Bad, duschte, kleidete sich an, frühstückte, ohne sich auch nur einer der gewohnten morgendlichen Verrichtungen bewußt zu werden. Er aß, was ihm unter die Finger kam. Schweigend beobachtete ihn seine Frau. Simoschs Gedanken weilten bei Schiffel, wanderten von ihm zu Lück. Mörder und Opfer. Was war geschehen? Von der ersten Begegnung an hatte er Direktor Schiffel seine Sympathie nicht versagen können. Trotz der etwas leichtfertigen Lebensweise. War der Mord von Anfang an eingeplant? Leben auf Kosten anderer. Olaf Lück hatte in Schiffel wohl seinen Meister gefunden. Das Gefühl innerer Verwirrung hielt an. Simosch fuhr zum Staatsanwalt, um Haftbefehl und Durchsuchungsanordnung für Schiffeis Wohnung zu erwirken. Wodurch konnte sich dieser intelligente, selbstbewußte Mann in eine Zwangslage gebracht haben, aus der er nur durch einen Mord herauszufinden glaubte? Oder war das Selbstbewußtsein nur Maske? Fraß an ihm ein krankhaftes Geltungsbedürfnis, das er, Simosch, für praktischen Verstand, gepaart mit einem Schuß Lebenslust, gehalten hatte? Warum wühlte es Simosch so auf, daß Justus Schiffel als Täter entlarvt wurde? Wäre er bei einem anderen gelassener geblieben? Im Grunde war er jedesmal bestürzt, wie tief ein Mensch sich verirren konnte. Gegen Mittag kam Olbricht. „Sie hat ihn erkannt“, sagte er triumphierend und legte Schiffels Foto auf den Schreibtisch. „Aber er heißt nicht Justus Schiffel, und er arbeitet auch nicht beim VEB Tiefbau.“
„Sondern?“ „Er nennt sich Richard Waldheim, und er arbeitet freischaffend als Fotograf.“ „Was ist das für ein Mädchen?“ „Eine Madonna!“ „Die auf einen Lebemann hereinfällt.“ „Das ist ja das Tragische an der Sache“, erwiderte Olbricht, „daß eine Sechzehnjährige mit dem Gesicht einer Madonna nichts weiter ist als eine dumme Gans.“ „Halten Sie an sich“, mahnte Simosch. „Sie werden schon sehen. Soll ich sie hereinholen?“ „Moment noch. Besitzt sie den Ring?“ „Hat ihn besessen. Schiffel-Waldheim besuchte sie vor ein paar Tagen und hat ihn ihr wieder abgeschwatzt. Eine kleine Änderung war anzubringen.“ „Der schlaue Fuchs. – Na, holen Sie sie schon!“ Olbricht ging hinaus und rief ihren Namen. Lautlos kam sie ins Zimmer. Sie war nicht größer als eins sechzig, ungewöhnlich schlank, das schwarz glänzende Haar fiel ihr in einer großen weichen Welle auf die Schultern. Ihre Haut war weiß, ohne krank auszusehen. Simosch stellte sich vor und bat sie, Platz zu nehmen. Sie blieb stehen und fragte: „Was ist mit Herrn Waldheim?“ Ihre Stimme war ernst und ruhig. Das einzige, was Simosch an ihr nicht gefiel, war der naive, fast schwärmerische Blick. „Wir werden uns über ihn unterhalten“, sagte er, „sobald Sie Platz genommen haben.“ Sie setzte sich auf den Stuhl, schlug die Beine übereinander, gut geformte, schlanke Beine. „Wann haben Sie ihn kennengelernt und wo?“ Simosch kam hinter dem Schreibtisch hervor und gab ihr Schiffels Foto. Aufmerksam sah sie es an. Um ihre Mundwinkel lag ein kleines Lächeln. Wahrhaftig, eine Madonna. Simosch stellte sie sich in Schiffels Armen vor. Eine dumme Gans, hatte Olbricht
gesagt. Als sie antwortete, war sie noch immer in Schiffels Konterfei versunken. „Ihr Freund weiß schon über alles Bescheid.“ Olbricht, der wieder am Fenster an der Heizung lehnte, räusperte sich. „Trotzdem müssen Sie es mir noch einmal erzählen. Ich bin hier sozusagen der Chef.“ Sie hob ihre langen schwarzen Wimpern. „Damals war ich bei meiner Cousine in Berlin zu Besuch. Sie müssen wissen, daß mein Hobby Porträtmalerei ist. Später soll es mein Beruf werden. In Moosdorf habe ich alle skizziert, die es wert sind, und mich auf Großstadtgesichter gefreut, lebensgewandt, abgehetzt oder einsam.“ Fragend sah sie Simosch an. „Deshalb bin ich zu dem Rendezvous mit dem jungen Mann gegangen, den meine Cousine kennengelernt hatte.“ „Wo haben Sie sich mit ihm getroffen?“ „Im Hotel ,Stadt Berlin’, im Foyer. Plötzlich stand er neben uns.“ Sie warf einen Blick auf das Foto. „Weiter“, drängte Simosch. Schiffel hatte sich unter eine Gruppe Touristen gemischt, deren Koffer soeben in die Halle getragen wurden. Noch war er sich nicht schlüssig, ob er den Abend allein oder mit jenem unbekannten Mädchen verbringen sollte, das Olaf Lück für ihn eingeladen hatte. Er erwog das Für und Wider. Das Mädchen war in einem kleinen Hotel untergebracht. Wenn es ihm gelang, unbemerkt in ihr Zimmer zu schlüpfen, brauchte er sich um die kommenden Stunden nicht zu sorgen. Er selbst hatte sich nirgends angemeldet. Niemand konnte ihm beweisen, in Berlin gewesen zu sein. Ziemlich unwahrscheinlich, daß man auf das Mädchen stieß. Sie würde in ihr gottverlassenes Nest zurückkehren, und alles Weitere kam auf ihn an. Außerdem, wenn er nachts durch die Straßen streifte oder sich in einem Park versteckte, war er vor
keiner Polizeistreife sicher. Selbst im Halbdunkel einer Nachtbar konnte er von jemandem entdeckt werden, wenn es der Zufall wollte. Die Entscheidung fiel, als er das Mädchen sah. Er trat zu ihr, nickte Lück zu, nahm ihre schmale weiße Hand und führte sie langsam an seine Lippen. „Richard Waldheim. Ich reihe mich ein in die Schar Ihrer Bewunderer.“ Er hielt ihre Hand noch ein Weilchen fest und sah ihr in die Augen. Komplimente war sie nicht gewohnt. Er konnte sie wahrhaftig damit beeindrucken! Noch eine kleine Zugabe, dann Rückzug andeuten. Hoffentlich kapierte Lück, was zu tun war. „Sie sind zu beneiden, Olaf. – Sehen wir uns morgen beim Frühstück?“ „Aber Richard“, sagte Lück verwundert, „warum wollen Sie nicht bleiben?“ „Das wäre geradezu verführerisch, aber…“ „Kein Aber. Kommen Sie, wir gehen in die Rotisserie. Etwas Gegrilltes, ein Glas Sekt.“ „Danke.“ Schiffel verbeugte sich leicht und trat einen Schritt zurück. Er hatte mit Lück abgesprochen, daß sie weder gemeinsam essen noch längere Zeit beieinanderstehen wollten. „Ich habe schon zu Abend gegessen.“ Während ihres Disputs blickte das Mädchen abwägend von einem zum anderen. Als Schiffel sich mit einem bedauernden Blick von ihr verabschieden wollte, sagte sie schnell: „Ich habe auch schon gegessen.“ „Vielleicht könnten Sie sich zu einem kleinen Verdauungsspaziergang entschließen?“ fragte er. „Ich kenne Berlin nicht.“ „Dann werde ich Sie führen. Kommen Sie, Olaf.“ Lück streckte abwehrend beide Hände aus. „Wollen Sie, daß ich verhungere?“ fragte er mit komischem Entsetzen. Und zu dem Mädchen gewandt: „Ich weiß Sie jetzt in guten Händen.“
„Leben Sie wohl, und – Sie sind mir gewiß nicht böse?“ Lachend schüttelte Lück den Kopf und ging. Schiffel betrat mit ihr die Straße. Sie vergrub die Hände in den Manteltaschen und achtete auf gebührenden Abstand. Wahrscheinlich überkam sie jetzt Angst vor der eigenen Courage. Am Haus der Elektroindustrie erklärte er ihr die ausgestellten optischen Geräte, Kameras, Tele- und Weitwinkelobjektive. „Ein wenig verstehe ich von diesen Dingen. Von Berufs wegen.“ „Sie sind Fotograf?“ Er nickte. „Freischaffend.“ „Das finde ich interessant.“ „Nach Berlin bin ich gekommen, um einen größeren Auftrag entgegenzunehmen und Fotomaterial einzukaufen.“ Er fachsimpelte ein wenig, gerade so viel, daß sie spürte, ihm ging die Arbeit über alles. Langsam verlor sie ihre Beklommenheit. „Ich habe ein ähnliches Hobby. Ich male Porträts. Später soll’s mein Beruf werden.“ „Na, da haben Sie sich aber etwas vorgenommen!“ Leichte Enttäuschung. „Trauen Sie mir das nicht zu?“ „Aber nein. So war’s nicht gemeint. Ich dachte nur daran, daß Ihr Beruf ebenso wie meiner Idealismus verlangt. Man kann nicht morgens um acht Uhr ein Büro betreten und beginnen Geld zu verdienen. Man muß Menschen studieren. Das Unbewußte in ihnen zum Ausdruck bringen, wenn man sie porträtiert. Das ist harte Arbeit.“ „In Moosdorf spricht niemand so zu mir.“ Unter einer Straßenlaterne blieb sie stehen, trat dicht an ihn heran. „Am liebsten würde ich Sie malen.“ Er wich einen Schritt ins Dunkel aus. „Darin bin ich etwas eigenartig“, sagte er, „hoffentlich verstehen Sie es richtig, aber ich lasse mich von niemandem malen, dessen Arbeiten ich nicht kenne.“ „Ja“, sagte sie lebhaft. „Ich winke auch immer ab, wenn ein
Fremder versucht, mich zu fotografieren. Aber wollen Sie sich ein paar Skizzen von mir ansehen?“ „Ich muß leider morgen früh schon abfahren.“ „Ich habe einige im Hotel.“ „Dann nichts wie hin! Oder sind Sie müde?“ „Ach wo. Und Sie?“ „Zwei Künstler, zwei Nachtschwärmer!“ Sie lachten. Unbemerkt vom Portier, gelangte er in ihr Zimmer. Ihre Skizzen bewiesen Talent. Nur daß die Gesichter alle etwas von ihrer eigenen Naivität ausdrückten. „Erstaunlich, was Sie schon vorzuweisen haben, und doch scheint mir, dichten Sie in ein Gesicht hinein, statt herauszulocken, was sich dahinter verbirgt. Und warum? Weil Sie sich davor scheuen, Gefühle darzustellen. Gefühle, die Sie selbst in sich verdrängen…“ Am Morgen schenkte er ihr den Ring. Eigentlich war er für Frauke gedacht. „Zur Erinnerung“, sagte er. „Doch das soll kein Abschied sein. Sobald es meine Zeit erlaubt, besuche ich dich, und wenn es die Umstände ermöglichen, hole ich dich nach Dresden.“ „Vorige Woche“, sagte der Oberleutnant, „war er bei Ihnen. Doch er hat nicht Sie, sondern den Ring geholt. Warum?“ „Er wollte ihn enger machen lassen.“ „Hatten Sie ihn darum gebeten?“ „Auf so etwas kommt Herr Waldheim von allein.“ „Eigentlich hat der Ring doch ganz gut gepaßt, nicht wahr?“ Sie schwieg betreten. „Es tut mir leid“, murmelte Simosch, „es tut mir ganz verdammt leid, aber ich muß Ihnen Ihre Illusionen zerstören. Fräulein Kelm, Sie müssen diesen Mann vergessen.“ „Warum?“ „Er heißt weder Richard Waldheim, noch ist er Fotograf.“ Simosch drückte ihr Lücks Bild in die Hand. „Wer ist das?“ „Herr Lück, durch den ich mit Herrn Waldheim bekannt
wurde.“ „Herr Lück ist tot. Sie werden möglicherweise vor Gericht bezeugen müssen, daß Sie ihn mit dem angeblichen Herrn Waldheim zusammen im Interhotel ,Stadt Berlin’ gesehen und gesprochen haben. Sobald wir den Ring gefunden haben, müssen Sie ihn als denjenigen identifizieren, den Herr Schiffel Ihnen geschenkt hat.“ Sie begriff nichts. „Herr Schiffel ist der Mann, der sich Ihnen als Richard Waldheim vorgestellt hat“, sagte Simosch. „Herr Lück ist tot?“ fragte sie von weit her. „Er ist umgebracht worden.“ Simosch zögerte, sagte dann aber: „Alles deutet darauf hin, daß Herr Schiffel ihn getötet hat.“ Entsetzen schlich in ihr Gesicht, drängte die Arglosigkeit aus ihren Zügen, ihr Mund wurde schmal. Schrei doch, dachte Simosch, schrei oder weine, spring auf und schlage um dich. Plötzlich rutschte sie vom Stuhl. Olbricht sprang hinzu, ehe sie am Boden aufschlug. Simosch rief einen Wachtmeister, bat um Wasser und befahl, den Polizeiarzt zu holen. Auf die zusammengeschobenen Sessel der Besucherecke betteten sie das ohnmächtige Mädchen. „Armes Ding“, sagte Olbricht, „allein dafür möchte ich diesen Gauner hinter Schloß und Riegel bringen.“ „Was haben Sie ihren Eltern erzählt?“ „Daß wir sie in einer wichtigen Angelegenheit als Zeugin brauchen.“ „Sie bleiben bei ihr. Ich erledige Schiffels Festnahme. Falls er leugnet, mit Lück in Berlin gewesen zu sein, brauchen wir das Mädchen zur Gegenüberstellung. Hoffentlich schafft sie das.“ Im Tiefbaukombinat wurde er abgewiesen. Direktor Schiffel sei in einer wichtigen Sitzung. Produktionsberatung. Einen Moment zögerte er. War es günstiger, Schiffel von einem Polizeibeamten aus der Sitzung holen zu lassen oder erst mit der Ka-
derleiterin zu sprechen? Wenn sie den Direktor bat herauszukommen, gab es weniger Aufsehen. „Na, so ein Glück, daß Sie mich noch antreffen“, sagte sie, als er das Zimmer betrat. „Ich mußte ein Einstellungsgespräch führen, sonst wäre auch ich längst in der Produktionsberatung.“ An jenem Tag trug sie ein veilchenblaues Kostüm. An der linken Hand steckte der Ring mit dem weinroten Stein. „Ich brühe uns einen Kaffee, ja? Da plaudert sich’s besser.“ „Dazu ist heute keine Zeit, Frau Lamprecht.“ Der Oberleutnant blieb an der Tür stehen. „Ich muß Sie um zwei Dinge bitten: Holen Sie so unauffällig wie möglich Direktor Schiffel aus der Sitzung, und fahren Sie mit uns in seine Wohnung. Ich möchte, daß Sie als Zeugin bei der Durchsuchung zugegen sind.“ Sie stützte ihren fleischigen Arm auf die Schreibtischkante. „Ich verstehe nicht recht…“ Simosch erklärte ihr mit wenigen Worten den Grund. Sie brauchte Zeit, diese Nachricht in den Kopf zu bekommen. „Justus ist zwar leichtlebig, aber kein Mörder. Außerdem war er viel zu krank, um nach Berlin zu fahren.“ „In jenen Tagen war seine Krankheit simuliert. Es ging ihm so gut, daß er einer sechzehnjährigen Schülerin ihr Talent für die Malerei entdecken half. Nachts, in ihrem Hotelzimmer.“ „Hat er schon wieder so ein Hühnchen vernascht!“ rief sie aufgebracht. Sie holte ihren Mantel. Simosch war ihr behilflich. Dabei beschäftigte ihn die Tatsache, daß sie sich noch immer gegen die Erkenntnis sträubte, in Schiffel mehr als einen Don Juan zu sehen. „Wie habe ich gehofft, er würde eines Tages vernünftig werden und zu einer Lebensweise finden, die seinem Stand und Alter entspricht!“ „Begreifen Sie doch, Frau Lamprecht, es geht nicht um seine Liebschaften. Er hat einen Menschen getötet.“ Ihr Blick war noch immer ungläubig.
Simosch sprach weiter auf sie ein. „Er brauchte Geld, viel Geld, um so mehr, je älter er wurde. Er konnte nicht mehr ausschließlich mit seiner Persönlichkeit beeindrucken und mit seinem Charme verführen, er brauchte auch Geld für Geschenke. Herr Schiffel hat Olaf Lück getötet und ihm sechzigtausend Mark abgenommen.“ Sie ließ sich auf den Stuhl fallen. Ihr Mantel, der noch nicht zugeknöpft war, schleifte am Boden. „Lassen Sie mich“, sagte sie, „ich kann Ihnen nicht helfen.“ Doch als Simosch gehen wollte, hielt sie ihn zurück.“Das alles ist erwiesen?“ „Was wir an Beweisen noch brauchen, werden wir in seiner Wohnung finden.“ Schwerfällig erhob sie sich. „Gut, ich komme mit. Sagen Sie mir, was ich tun soll.“ Der Oberleutnant bat sie, so unbeschwert wie möglich Direktor Schiffel aus dem Sitzungszimmer zu holen. Als Schiffel heraustrat, ließ Simosch ihn von zwei Polizisten festnehmen. Erstaunt sah ihn der Direktor an. Nichts an ihm verriet eine Spur von Schuldbewußtsein. Ernst sagte er: „Ich bitte Sie um eine Erklärung, Oberleutnant.“ Simosch teilte ihm mit, wessen er verdächtigt wurde. „Das ist absurd.“ Schiffel ließ sich ohne ein weiteres Wort abführen. Unterwegs wandte er sich nach dem zweiten Wagen um, der ihnen folgte und in dem Sabina Lamprecht saß. Er fragte: „Warum kommt Frau Lamprecht mit?“ „Als Zeugin bei der Durchsuchung Ihrer Wohnung. Einen zweiten Zeugen werden wir in der Nachbarschaft finden.“ „Das hätten Sie ihr ersparen sollen“, sagte Schiffel gleichgültig. Simosch ließ den Direktor nur ins Haus, damit er die nötigsten Sachen packen konnte. Sie fanden einen Nachbarn als zweiten Zeugen und begannen mit der Durchsuchung der Wohnung. Als der Oberleutnant mit Schiffel abfahren wollte, hörte er die laute, empörte Stimme eines Polizisten aus dem Wohnzimmer
dringen. Er übergab Schiffel einem Wachtmeister und riß die Tür auf. „Was ist denn los?“ „Sie hat versucht, etwas beiseite zu bringen. Als Zeugin kann ich sie hier nicht länger dulden.“ Er wies auf Frau Lamprecht, die kreideweiß neben Schiffels Sekretär stand. Beschämt blickte sie zu Boden. Ihre Arme baumelten wie zwei Anhängsel, mit denen sie nichts anzufangen wußte. „Das da wollte sie hinter meinem Rücken einstecken.“ Der Polizist reichte Simosch einen zusammengefalteten Zettel. Eine Quittung über etliche tausend Mark, ausgestellt für ein Chippendalezimmer, auf den Namen Justus Schiffel. „Holen Sie sich noch jemanden aus der Nachbarschaft“, ordnete Simosch an und sagte zu Frau Lamprecht: „Kommen Sie.“ Müde folgte sie ihm in den Korridor, in dem der Polizist mit Schiffel wartete. Sie vermied es, ihn anzusehen. Der Oberleutnant hielt Schiffel die Quittung hin. „Sie haben das Chippendalezimmer gekauft?“ „Aber das ist doch nicht verboten.“ „Justus“, fragte sie, den Blick noch immer gesenkt, auch die Stimme gehorchte ihr nicht recht, „woher hattest du das Geld?“ „Danach hast du doch nie gefragt, Sabina.“ Seine Stimme war ohne Vorwurf, klang sogar ein wenig amüsiert. „Du hast das Chippendalezimmer gewollt. Ein Tribut, den ich deiner Persönlichkeit zu zollen hatte. Ich wußte, daß mit diesem achtbaren Geschenk deine Selbstachtung steigen würde. Also habe ich mein Gewissen entlastet und dich den Fehlschlag, mich in Fesseln zu legen, leichter ertragen lassen.“ Jetzt sah sie ihm in die Augen. „Hast du ihn umgebracht, Justus?“ „Aber Sabina! Laß dich doch nicht ins Boxhorn jagen. Es wird sich alles aufklären.“
Sie wandte sich ab und lief aus dem Haus. „Warten Sie doch!“ rief Simosch ihr nach. „Wir bringen Sie mit dem Wagen zurück.“ „Nein, danke. Danke, ich möchte wirklich nicht.“ Sie lief schneller. „Ab zur Dienststelle“, befahl Simosch, und die Polizisten führten Schiffel zum Wagen. Justus Schiffel leugnete. Er sprach ruhig und gelassen. Was man ihm vorwarf, schien ihn nicht zu berühren. Er war nicht in Berlin gewesen, er hatte von Herrn Lücks Geldabhebungen keine Ahnung, und er hatte ihn nicht getötet. Der Oberleutnant ließ Angelika Kelm hereinführen. Entschlossen ging sie auf Schiffel zu. „Diesen Mann habe ich zusammen mit Herrn Lück in der Halle des Interhotels ,Stadt Berlin’ gesehen.“ Ihr Anblick brachte Schiffel aus der Fassung. „Warum bist du hierhergekommen?“ Schweigend hielt sie seinem Blick stand. Der Oberleutnant atmete auf. Er hatte befürchtet, Schiffel würde ihre Bekanntschaft abstreiten. Da außer Lück die beiden niemand zusammen gesehen hatte, wäre es schwer gewesen, ihm eine Beziehung zu ihr nachzuweisen. Die Fahrkarte nach Moosdorf, das einzige Indiz, existierte auch nicht mehr. „Das übrige können wir ihr ersparen.“ Der Wachtmeister führte das Mädchen hinaus. „Sie haben ihr den Ring geschenkt, den Olaf Lück mit einem ungedeckten Verrechnungsscheck gekauft hat.“ „Nun gut, ich war in Berlin und habe ihre Bekanntschaft gemacht. Ich sah keinen Grund, Ihnen das auf die Nase zu binden. Herrn Lück habe ich nicht gesehen und weiß weder von einem Ring noch von Verrechnungsschecks.“ „Wovon wollten Sie eigentlich das Grundstück bezahlen?“ „Von einer Erbschaft.“
„Es gibt keine Erbschaft.“ „Es gibt nur keine Unterlagen darüber. Wir haben das damals ohne Formalitäten geregelt.“ Auf jede Frage des Oberleutnants wußte er eine Antwort, mehr oder weniger glaubhaft, doch nie eindeutig zu widerlegen. Nach zwei Stunden Vernehmung ließ Simosch ihn abführen. Kaum war er allein, klingelte das Telefon. Leutnant Olbricht, der die Wohnungsdurchsuchung leitete, meldete sich. „Wir haben’s gefunden. Glatt fünfzigtausend. Zehntausend hat er wohl schon verjubelt. Der Ring liegt auch dabei.“ „Wo hatte er’s versteckt?“ fragte Simosch. „In der Wand. Buchstäblich eingemauert. Hübsch mit Tapete überklebt und ein Bild davorgehängt.“ „Danke“, sagte Simosch. „Beschlagnahmen Sie, was zu beschlagnahmen ist, versiegeln Sie die Wohnung, und kommen Sie her.“ Über seinen Erfolg spürte er keine Freude. Jetzt, wo alles vorbei war und die Spannung der vergangenen Tage sich löste, fühlte er sich erschöpft und angewidert. Er wartete, bis Olbricht kam, das beschlagnahmte Geld und den Ring auf dem Schreibtisch ausbreitete, dann ließ er Justus Schiffel wieder vorführen. Schiffel verfärbte sich. Er schien plötzlich einem anderen Zeitablauf unterworfen zu sein und innerhalb von Minuten um Jahre zu altern. Rücklings tastete er nach dem Stuhl, den Olbricht ihm hinschob. „Was Menschen verstecken“, sagte Simosch, „können Menschen auch wiederfinden. Hier liegen Beweise, die jedes Gericht überzeugen, ganz gleich, ob sie gestehen oder nicht.“ Schiffel ließ sich langsam auf den Stuhl nieder. „Seit ich als junger Mensch aus dem Sanatorium entlassen wurde, hatte ich Angst, das Leben zu versäumen. Ich hungerte nach Leben, und je mehr ich davon verschlang, um so größer wurde dieser Hunger.“ „Wie haben Sie Olaf Lück dazu gebracht, von seinem leeren Konto so viel Geld abzuheben?“
„Er war sehr empfänglich für Geld, und der Einfall, den irgendein Kraftfahrer mir vor längerer Zeit unterbreitete, ohne sich etwas dabei zu denken, ließ sich mit ihm ziemlich reibungslos verwirklichen. Ein Zufall führte uns zusammen. Mein Friseur war krank geworden, und man hatte mir als Vertretung Herrn Lück empfohlen. Ein smarter junger Mann und doch nicht gerissen genug, um sich nicht durchschauen zu lassen. Ohne Einzelheiten zu wissen, spürte ich, daß er irgendwie in der Klemme saß. Vor allem schien er eine größere Summe Geld zu brauchen. Vielleicht, dachte ich, ist er der Mann, den ich suchte. Hinter seinem Rücken zog ich Erkundigungen über ihn ein, erfuhr, daß seine Frau, von der er finanziell gut versorgt worden war, vor zwei Jahren Selbstmord begangen hatte und er bei einer Postangestellten lebte, eine unbedeutende Person mit unbedeutendem Einkommen. Kein Wunder, daß er mit der Zeit in Schwierigkeiten geriet. Beim nächsten Friseurbesuch ließ ich durchblicken, daß auch ich meine Probleme habe…“ Lück mußte verschwinden. Der Postangestellte, den er niedergeschlagen hatte, war an den Verletzungen gestorben. Seit Janas Tod schien seine Glückssträhne zu Ende zu sein. Sogar sein Freund, auf den stets Verlaß gewesen war, weigerte sich, ihm die Adresse eines Fluchthelfers zu geben. Er mußte dafür sorgen, daß Creuzmann sich nicht mehr lange weigerte. Der Mann, der ihn über die Grenze bringen sollte, würde nicht billig sein. Außerdem wollte er Manuela nicht blank sitzenlassen. Mitnehmen konnte er sie nicht. Eines Tages saß Herr Schiffel in seinem Kundensessel. Lebemann. Umgänglich. So recht wußte Lück nicht, was er von ihm halten sollte. Geld schien für ihn kein Problem zu sein, trotzdem deutete er Schwierigkeiten an. Dem Friseur gegenüber selbstverständlich sehr dezent. Wenn man wollte, konnte man seine Äußerungen als bloße Konversation bewerten, als Leut-
seligkeit vielleicht, um zu beweisen, daß man eben auch sein Päckchen zu tragen hatte. Lück fand es lohnenswert, mehr über ihn zu erfahren. Manchmal ergaben sich Vorteile, wenn man um die Schwierigkeiten seiner Mitmenschen wußte. Er horchte herum… Als Schiffel Olaf Lück eingeladen hatte, fühlte der Gastgeber sich nicht in Form. Die Arthrose machte ihm wieder zu schaffen. Doch er nahm sich zusammen, konzentrierte sich auf seinen Gast. „Es geht doch nichts über eine gemütliche Wohnung, mit Geschmack eingerichtet“, sagte Lück. Wehmütig dachte er an Janas Zimmer zurück. Die Stilmöbel waren zu Geld geworden, das Geld war ihm und Manuela durch die Finger geronnen. „Da wären wir schon beim Thema“, sagte Schiffel. „Meine Frau – wir leben getrennt – droht, mir bei der Scheidung meinen Besitz streitig zu machen. Sie will die Hälfte von allem. Mein einziger Vorteil ist, daß sie die Höhe meines Vermögens nicht genau kennt. Mit Hilfe eines guten Rechtsbeistandes schafft sie es natürlich dahinterzukommen.“ „Auch vor Rechtsbeiständen kann man seine kleinen Geheimnisse wahren“, sagte Lück leichthin. „Das schon, aber dazu braucht man fremde Hilfe. Leider.“ „Nein“, erwiderte Lück, als habe er den Sinn der Worte nicht verstanden, „nur Fremde nicht in die eigenen Angelegenheiten gucken lassen! Man sollte auf einen Freund zurückgreifen, auf jemanden, der zuverlässig ist und bei dem man sich gelegentlich revanchieren kann.“ „Trotzdem ist es peinlich, ja mehr als das, wenn man sich jemandem derart ausliefern muß. Andererseits finde ich es ungerecht, mein Vermögen, das ich mir schwer erarbeitet habe, mit einer ungeliebten Frau zu teilen.“ „Das kann ich verstehen. Glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage, wenn ich Ihnen versichere: Das kann ich verstehen. Doch ich meine, es gibt für jedes Problem auch eine Lösung.“
„Hoffentlich sind Sie da nicht zu optimistisch. Es muß alles in Grenzen bleiben. Mehr als fünftausend für diese Lösung aufzuwenden, bin ich nicht imstande.“ „Finanzielle Probleme sind oft belastend und doch nicht allein ausschlaggebend. Zum Beispiel mein Wassergrundstück mit Boot und Bootsschuppen, zugegeben, ich möchte es vorteilhaft verkaufen, aber mir liegt auch sehr viel daran, es in guten Händen zu wissen. Es soll von dem neuen Besitzer gepflegt und geliebt werden, so wie meine Frau und ich es gepflegt und geliebt haben.“ „Ein Wassergrundstück! Lieber Herr Lück, das ist ein Kleinod. Das verkauft man nicht.“ „Ich werde es in Zukunft nicht mehr nutzen können.“ Schiffel horchte auf. „Sie wollen weg aus dieser Gegend? Weg von unserer gepriesenen Elbe?“ „Es gibt noch andere Flüsse in Deutschland.“ „Lassen Sie das Grundstück doch ein, zwei Jahre brachliegen. Hauptsache, Sie können zu jeder Zeit darauf zurückgreifen.“ „Nein“, entgegnete Lück, „ich habe mich entschieden. Ich möchte mich endgültig davon trennen.“ Schiffel mühte sich, sein wachsendes Interesse an diesem Gespräch nicht allzu deutlich werden zu lassen. Legte er Lücks Worte falsch aus, oder wiesen sie wahrhaftig in eine bestimmte Richtung? Endgültig vom Grundstück trennen. Leben an anderen Flüssen in Deutschland… „Haben Sie schon nach einem Käufer annonciert?“ „Die Angelegenheit derart publik zu machen, halte ich nicht für angebracht.“ Nach einer Weile fragte der Direktor: „Wäre Ihnen geholfen, wenn ich mich als Käufer bewerbe?“ „Das wäre geradezu ein Glücksfall.“ „Doch das setzt voraus, daß ich über mein Vermögen voll verfügen kann.“ „Käufer und Verkäufer finden immer einen Weg, sich zu einigen, wenn ihnen an einem Geschäft etwas liegt“, bemerkte
Lück. Schiffel fand, er könne sich einen Schritt weiter vorwagen und seinem Gast den Plan erläutern. „Wie gesagt, meine Frau kennt die Höhe meines Vermögens nicht. Ich suche jemanden, auf dessen Konto ich Geld überweisen kann und der es später für mich wieder abhebt.“ „Wahrhaftig eine vertrauliche Angelegenheit.“ „Die ebenso geheimbleiben muß wie der Grundstückskauf. Stellen Sie sich vor, meine Frau erfährt vor der Scheidung, daß ich mir ein Wassergrundstück kaufen will! Ich habe ohnehin schon Bedenken, daß sie unsere Beziehungen ausspionieren könnte. Wir sollten uns nicht mehr zusammen sehen lassen.“ „Für mich sind Sie nicht einmal ein Kunde. Ich habe Ihnen nur vertretungsweise die Haare geschnitten. Das wäre doch gelacht, wenn es uns nicht gelingen sollte, für fünftausend Mark ein Problem zu lösen.“ Wenn er darauf eingeht, überlegte Lück, verdiene ich im Handumdrehen das Geld, das ich Creuzmann für die Adresse versprochen habe. Jetzt wußte Schiffel, Lück brauchte das Geld dringend. Und wenn er es hatte, würde er verschwinden. „Ich steh’ zu meinem Versprechen.“ Er ließ eine leichte Unwilligkeit in diesem Satz mitschwingen. Wie konnte man an seinem Wort zweifeln! „Und ich schlage vor, daß uns Ihr Freund Creuzmann, mein Betriebselektriker, miteinander bekannt macht. Ich werde ihm andeuten, daß ich für Bekannte ein Grundstück suche.“ „Die Sache hat noch einen kleinen Haken“, sagte Olaf Lück. „Ich besitze überhaupt kein Konto.“ „Dann eröffnen Sie eines. Und zwar ein Postscheckkonto. Beantragen Sie gleich die Scheckhefte, das ist wichtig.“ Er zog 100 Mark aus der Brieftasche. „Zahlen Sie die Hälfte davon ein, und lassen Sie mich Ihre Kontonummer wissen. Ich überweise dann sofort die Sechzigtausend.“
„So schnell wie möglich, denn ich möchte meine Angelegenheit demnächst regeln.“ „Sind Sie schon terminlich gebunden?“ „Das nicht, aber Sie wissen ja, manchmal ziehen sich die Dinge hin, manchmal überschlagen sie sich.“ „Warum sind Sie mit nach Berlin gefahren?“ fragte Simosch. „Ich wollte, daß alles an einem Nachmittag geschieht. Dazu brauchte man einen Wagen. Lück besaß kaum Fahrpraxis, also habe ich chauffiert. Außerdem – sechzigtausend, das ist eine große Versuchung. Er hätte durchbrennen können damit, sich absetzen nach drüben, wie er es vorhatte. Jedenfalls fürchtete ich etwas in dieser Richtung und ließ ihn nicht aus den Augen.“ „Warum haben Sie ihn getötet?“ „Ich wollte es nicht. Glauben Sie mir, ich wollte es wirklich nicht. Immer wieder hat er mir erzählt, er verschwindet, sobald er das Geld hat. Aber er hatte noch nicht einmal Verbindung mit den entsprechenden Leuten aufgenommen! Erst auf der Rückfahrt von Berlin nach Dresden habe ich es aus ihm herausbekommen. Er ahnte nicht, daß jeder Scheck, den er ausgeschrieben hatte, ungedeckt war und daß man ihn in wenigen Tagen festnehmen würde. Ich bin in Panik geraten. Von jener Stunde an war er eine Gefahr für mich. Für meine Existenz!“ „Das war er von Anfang an. Sie haben nicht erst während der Rückfahrt von Berlin nach Dresden gewußt, wie weit Sie eventuell gehen müssen.“ „Hätte er sich abgesetzt, wäre doch alles tadellos verlaufen!“ „Herr Schiffel“, sagte der Oberleutnant kalt, „Olaf Lück war leichtsinnig, nicht Sie. Sie waren von Anfang an berechnend. Die Angst, vom Leben nicht genug mitzukriegen, ließ Sie eine Praxis entwickeln, Ihr Dasein auf Kosten anderer zu genießen, aber Sie konnten dabei stets das Risiko abwägen. Selbst wenn Lück einen Fluchthelfer gehabt hätte, ein Mann wie Sie rechnet damit, daß solche Leute von einer Stunde auf die
andere hochgehen können. Auch mußten Sie darauf gefaßt sein, daß Lück noch an der Grenze festgenommen wird. Die einzige Möglichkeit, ihn als Risikofaktor auszuschalten, war, ihn zu töten.“ Schiffel beugte sich vornüber und stützte den Kopf in die Hände. „Es gibt Gedanken, die man einfach nicht zu Ende denken kann.“ „Sie durchdenken alles bis zum Ende.“ „Irgendwann wurde mir klar, daß ich in einen reißenden Strom gesprungen war. Ich konnte mich nicht einfach aufrichten und an Land gehen, ich mußte weiter.“ Bei der nächsten Vernehmung fragte Oberleutnant Simosch nach Einzelheiten der Mordtat. Schiffel bestätigte, was sie durch die Ermittlung zusammengereimt hatten. Er war mit seinem ehemaligen Trabant zu den Elbwiesen gefahren, von der Wasserseite her auf Lücks Grundstück gelangt und hatte sich hinter den Büschen versteckt. Lück hatte ihm gesagt, daß er am Abend hingehen und nach dem Rechten sehen wollte. Als er in die Nähe der Büsche kam, schlug Schiffel ihn hinterrücks mit einem Eisenrohr nieder. Auf dem Wasserweg verließ er das Grundstück, versenkte das Boot und fuhr mit dem Wagen davon. Unterwegs warf er die Eisenstange in einen Müllcontainer. Zu Hause angekommen, packte er sich in den Lehnstuhl, und zum ersten Mal simulierte er die Arthrose, die ihn oft in Panikstimmung versetzt hatte. Als Simosch ihm von Lücks Ermordung erzählte, war sein Erschrecken echt, wenn auch nicht darüber, daß man Lück erschlagen, sondern daß man ihn im Garten vergraben aufgefunden hatte. Alle Fragen, die der Oberleutnant stellte, beantwortete Schiffel ruhig und gefaßt. Nur seine Augen verrieten die Verzweiflung eines Spielers, der va banque gespielt und verloren hat.