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Seewölfe 251 1
Frank Moorfield 1.
„Du mußt jetzt gehen, Liebster“, flüsterte Dorina. „Es kann nicht mehr lange dauern, und sie werden kommen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustoßen würde.“ Ihre großen dunklen Augen, die so gut in das rassige, von langem, schwarzem Haar eingerahmte Gesicht paßten, blickten den jungen Mann ängstlich an. „Ich liebe dich, Dorina“, sagte Sebastiano, und seine Stimme klang plötzlich heiser. „Es fällt mir schwer, von dir wegzugehen.“ Dorinas Gesicht sah traurig aus, aber dennoch kämpfte sie tapfer gegen die Tränen an. Nein, sie durfte nicht weinen, auch wenn der Abschied sie innerlich noch so sehr aufwühlte. Sie durfte Sebastiano das Gehen nicht durch Tränen erschweren. Es war schon schlimm genug für beide, sich für Monate oder Jahre, ja, vielleicht sogar für immer trennen zu müssen. Ihr Gesicht schmiegte sich eng an die Brust Sebastianos. Und zum letzten Male atmete er den Duft ihres Haares, zum letzten Male spürte er ihre vollen, weichen Lippen, die ihn das Leben bisher als etwas Schönes und Wertvolles hatten empfinden lassen. „Es wird nicht für immer sein, Dorina. Ich fühle es, ja, ich weiß es. Der Tag wird kommen, an dem wir wieder beisammen sein werden, denn wir gehören zusammen, so, wie hier in unserer Heimat die Berge und das Meer zusammengehören.“ Dorina nickte stumm. Sie hoffte nur zu sehr, daß diese Worte in Erfüllung gehen würden. Für einen Augenblick schwiegen beide. Die Stille wurde nur vom Blöken der Schafe unterbrochen, die in ihrer Nähe weideten, und vereinzelt auch vom Geschrei der Wildenten, die zu dieser Jahreszeit in großen Schwärmen über Korsika, der „Insel der Schönheit“, hinweg flogen. Sebastiano Tursi wußte, daß er sich jetzt aus den Armen der schönen Dorina losreißen mußte, bei der er sich in den vergangenen fünf Tagen versteckt gehalten hatte. Jetzt mußte es sein, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis seine Verfolger ihn
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hier aufspürten, und dann würde das nicht nur schlimme Folgen für ihn haben, sondern auch für das Mädchen, das er liebte. Außerdem sollte ihm dieser Tag heute die Sicherheit bringen, die er schon so lange herbeisehnte. Nach einem letzten Kuß trennten sich die beiden. Sebastiano, ein junger Mann von höchstens fünfundzwanzig Jahren, mittelgroß und schlank, mit lockigem, schwarzem Haar und einem markanten Gesicht, ließ ein letztes Mal den Blick hinunter auf die silbrig schimmernde Wasserfläche des Golfes von Valinco, an der Westküste der Insel, wandern. Die Sonne stand bereits wie ein glutroter Ball am Horizont – es konnte nicht mehr lange dauern, und die Dämmerung würde ihre zarten, grauen Schleier über die kontrastreiche Landschaft senken. Für Sebastiano war Eile geboten, wenn er die einsame Berglandschaft mit den wenigen Hütten und Häusern noch vor Einbruch der Dunkelheit hinter sich bringen wollte. Er mußte so rasch wie möglich den Strand von Porto Bollo, einem kleinen Dorf, das da unten an der Mündung des Flusses Taravo lag, erreichen. Denn heute war es soweit. Wenn es das Schicksal gut mit ihm meinte, müßte an diesem Abend dort hinter der Kimm das Schiff auftauchen, das ihn in Sicherheit bringen sollte. Sebastiano Tursi spürte, wie ihm das Herz schwer wurde bei dem Gedanken, nicht nur Dorina, sondern auch diese herrliche Insel verlassen zu müssen, diese großartige Bergwelt, mit ihren dichten, aromatisch duftenden Buschwäldern, mit ihren prachtvollen Beständen an Edelkastanien, Kiefern und Weiden. Es war ihm, als müsse er sich von jedem einzelnen der majestätischen Gipfel verabschieden, die bis in den Frühling hinein mit Schnee bedeckt waren. Aber auch die Trennung von den malerischen Stränden und den kleinen, versteckten Dörfern fiel ihm schwer.
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Das Gurren einer Wildtaube riß ihn aus seinen schwermütigen Gedanken. Ein allerletztes Mal wandte er sich zu Dorina um. „Leb wohl!“ sagte er und nahm, als er ging, ihr letztes Lächeln mit auf die Reise ins Ungewisse. Die Dämmerung begann bereits hereinzubrechen, er konnte sein Gehen nicht mehr länger hinausschieben. Als er zwischen den zerklüfteten Felsen verschwand, um den Weg hinunter zur Bucht einzuschlagen, konnte er nicht mehr sehen, wie Tränen in Dorinas Augen schossen. Allein der Selbsterhaltungstrieb sagte ihm, daß er sich jetzt auf das konzentrieren mußte, was vor ihm lag. Er war jung und kräftig und würde die Schwierigkeiten, die das Leben mit sich brachte, schon meistern. Während Sebastiano Tursi den Berg hinuntereilte, hoffte er inbrünstig, daß kein Unglück und keine schlechten Windverhältnisse die Ankunft des Segelschiffes - verzögern würden. Niccolo Borgo, der Kapitän der „Santa Maria Figaniella“, war ein alter Freund seiner Familie, und ein Mann, auf den man sich verlassen konnte. Er war Korse und befehligte im Auftrag eines genuesischen Handelshauses die stattliche Galeone. Seine Handelsfahrten führten ihn, außer zu den Ländern des Mittelmeeres, bis an die Küste Afrikas und der Neuen Welt. Wenn er, Sebastiano, sich erst an Bord dieser Galeone befand, war er zumindest vorerst in Sicherheit vor seinen blutrünstigen Verfolgern. Niemand würde dort das grausame Gesetz der Vendetta, der Blutrache, an ihm vollstrecken. Sebastiano Tursi war beileibe kein Feigling. Er hatte sich bisher allen Problemen und Schwierigkeiten, allen Höhen und Tiefen, die das Leben an ihn herangetragen hatte, mutig gestellt. Doch die Vendetta, die in seiner Heimat bereits seit vielen Jahrhunderten praktiziert wurde, hatte seine Familie bereits stark dezimiert. Er war das einzige, noch lebende männliche Familienmitglied. Und deshalb wollte er fliehen. Er fühlte sich
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verpflichtet, die Familie Tursi vor dem Aussterben zu bewahren. Schon seit Jahren forderte das ungeschriebene Gesetz der Blutrache seine Opfer auf beiden Seiten. In der Familie Tursi hatten bereits der Vater Sebastianos und drei seiner Brüder ihr Leben gelassen. Begonnen hatte alles mit einer falschen Zeugenaussage. Das Familienoberhaupt Giovanni Tursi hatte einem jungen Fischer die Hand seiner Tochter Angela verweigert. Er hatte dafür seine Gründe gehabt. Aus Wut darüber hatte der junge Fischer damals bezeugt, Giovanni Tursi habe Benozzo Ducale, seinen Partner, mit einem Schlag betäubt und über Bord gestoßen, um den Fang für sich allein behalten zu können. In Wirklichkeit war Benozzo Ducale, der mit seiner großen Familie in San Micheli, einem winzigen Bergnest in der Nähe von Porto Bollo gelebt hatte, bei stürmischer See über Bord gespült worden. Und damit hatte das Sterben in beiden Familien begonnen. Die Familie Tursi, die in Porto Bollo lebte, war der Sippe Benozzo Ducales zahlenmäßig weit unterlegen. So war es geschehen, daß Sebastiano Tursi sich zur Flucht entschlossen hatte. Der Vertreter der feindlichen Sippe, die ihm nach dem Leben trachtete, waren Fulvio und Cosimo, die beiden ältesten Söhne der Familie Ducale. Sie waren harte, rauhe Burschen, die ihren Lebensunterhalt mit dunklen Geschäften verdienten. Wegen ihrer Verschlagenheit und Gewalttätigkeit hatten sie in der ganzen Umgebung der Bucht von Valinco einen schlechten Ruf. Sebastiano Tursi stoppte seine Schritte und legte die Hand über die Augen. Er wußte nicht, wie oft er das an diesem Tag bereits getan hatte. Immer und immer wieder tasteten seine Augen die Kimm nach einer Mastspitze ab. Er wußte, daß er verloren war, wenn die „Santa Maria Figaniella“ nicht erschien. Er konnte sich nicht mehr länger verstecken. Die Brüder Ducale hatten geschworen, ihn umzubringen. Sie würden nicht nachlassen, ihn überall mit fanatischem Eifer zu suchen.
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Schon konnte er weiter unten in der Bucht, wo sich das silbrige Band des Taravo in den Golf ergoß, die Mauern von Porto Bollo erkennen. Dort lebte seine Familie und ernährte sich mühsam von der kargen Landwirtschaft. An einen lohnenden Fischfang war nicht mehr zu denken, denn außer ihm gab es keine Männer mehr in der Familie, die auf das Meer hinausfuhren. Sebastiano war gedrückter Stimmung. Er konnte sich nicht einmal von seiner Mutter und seinen Schwestern verabschieden, denn er mußte wie ein Geächteter das kleine Dorf umgehen, um ungefährdet den Strand zu erreichen. Seine Familie war verarmt. Außer der Liebe Dorinas, die oben auf dem Berg in einem winzigen Gehöft bei ihren Eltern lebte, besaß er nichts, was er mit in die Ferne nehmen konnte. Sein ganzer Besitz war das, was er am Leibe trug. Sebastiano hastete über Steine und Geröll, vorbei an Mastixsträuchern, duftendem Lavendel und hochwucherndem Farnkraut. Er durchquerte ein Felsenlabyrinth und erreichte dann die Macchia, den dichten, immergrünen Buschwald, der sich über einen Teil des Berghanges hinunterzog. Die Luft roch frisch und salzig, der Abend brachte eine milde Brise vom Meer herüber. Die Sonne hatte sich fast bis zum Horizont gesenkt und tauchte die Wasserfläche des Golfes von Valinco in einen rötlichen Schimmer. Aber Sebastiano Tursi hatte nicht die Zeit, diesen herrlichen Ausblick zu genießen. Er verhielt gerade neben einer Gruppe von Mandelbäumen, um seine Augen über die endlosen Wassermassen gleiten zu lassen – da sah er das Schiff. Zuerst waren es die Mastspitzen und die großen Rahsegel, die an der Kimm auftauchten, und Sebastiano hoffte sehr, daß sie zur „Santa Maria Figaniella“ gehörten. Wieder und wieder ließ er seine Augen in die Ferne schweifen, doch er täuschte sich nicht. Das Schiff war näher gerückt und hielt unverkennbar auf die riesige Bucht zu.
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Der junge Korse beschleunigte seine Schritte. Sein Herz begann plötzlich wie wild zu pochen. Aber so erleichtert er einerseits war, daß Niccolo Borgo sein Wort gehalten hatte, so sehr bedrückte ihn doch die Tatsache, daß er seine Heimat verlassen mußte. Still und heimlich, wie ein Dieb oder Ehrloser, mußte er sich davonschleichen, wenn er am Leben bleiben wollte. Aus der Ferne hörte Sebastiano die Schiffsglocken glasen. Längst ging er nicht mehr, sondern rannte. Seine nackten Füße eilten über Steine und Geröll. Rasch wechselte er die Richtung, um Porto Bollo zu umgehen. Die Konturen des Segelschiffes waren inzwischen größer und deutlicher geworden. Ruhig und majestätisch lief es in die Bucht ein. Der Weg zum Strand war nicht mehr weit. In wenigen Augenblicken mußte er den unteren Rand des Buschwaldes erreichen. Ein Stück weiter unten konnte er sich bereits in der Deckung der Felsen ans Wasser heranarbeiten, ohne gesehen zu werden. Er hatte jedoch längst die Erfahrung gesammelt, daß die Familie Ducale überall ihre Spitzel hatte. Nirgendwo konnte man sich deshalb in Sicherheit wiegen, zumindest nicht über einen größeren Zeitraum hinweg. Das plötzliche Poltern von Steinen und Geröll ließ Sebastiano herumfahren. Seine Augen weiteten sich, über seinen Rücken fegte ein eiskalter Schauer. Sie waren da. Sie hatten ihn gefunden. Dort oben am Steilhang verschwanden sie blitzschnell hinter einigen Felsblöcken, aber er hatte sie gesehen. Es waren Fulvio und Cosimo Ducale. Ihre wilden, bärtigen Gesichter waren unverwechselbar. Sebastiano zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie versuchen würden, ihn zu töten, sobald sie näher an ihn herangelangt waren. Er brauchte wahrhaftig kein Rechenkünstler zu sein, um sich seine Chancen auszurechnen. Sie waren zu zweit und wahrscheinlich bis an die Zähne bewaffnet. Er war nicht nur allein, sondern er hatte auch keine Waffen, wenn man von
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dem einfachen Buschmesser absah, das er am Gürtel trug. Also kombinierte Sebastiano Tursi blitzschnell, daß er in erster Linie auf seine Beine angewiesen war. Er dachte nicht im geringsten daran, aufzugeben. Gerade jetzt nicht, als die „Santa Maria Figaniella“ mit vollem Zeug in die Bucht segelte. Der junge Korse wußte sehr wohl, daß ihm der Tod dicht im Nacken saß, aber er wußte auch, daß er schnell und geschmeidig sein konnte wie eine Raubkatze, wenn es um sein Leben ging. Rasch wirbelte Sebastiano herum und lief weiter, lief um sein Leben. Er achtete nicht auf spitze Steine und Dornen, die ihm bald blutige Spuren in die Haut rissen und sein Hemd zerfetzten. Er hatte nur ein Ziel vor Augen: den Strand. Er mußte ihn erreichen und notfalls schwimmend versuchen, zum Schiff zu gelangen. An den Geräuschen hinter sich erkannte er, daß ihm die Verfolger auf den Fersen waren. Er nahm sich nicht die Zeit, einen Blick nach hinten zu werfen, denn der Weg war steinig und gefährlich. Er mußte sich voll auf sein Ziel konzentrieren. Einmal stolperte er und stürzte. Aber er raffte sich sofort wieder auf und lief weiter. Daß seine Hose über dem rechten Knie in Fetzen hing, registrierte er nur am Rande. Um die Hose ging es nicht, sondern um ihn — um sein Leben. Die Geräusche hinter ihm wurden lauter. Die Verfolger schienen aufzuholen. Doch plötzlich verstummten sie, und Sebastiano hörte eine rauhe Männerstimme rufen: „Bleib stehen, Tursi, gib auf! Es hat keinen Zweck mehr, wir kriegen dich doch!“ Wie zur Bekräftigung dieser Worte krachte ein Pistolenschuß durch das Gestrüpp. Aber Sebastiano stürmte weiter. Er dachte nicht ans Aufgeben. Auch die Laute hinter ihm, die von raschen Fußtritten auf dem Geröll verursacht wurden, setzten wieder ein. Offenbar waren auch Fulvio und Cosimo Ducale fest entschlossen, ihr Ziel zu erreichen. Als die Verfolger wieder ein Stück aufgeholt hatten, stoppten sie ihre Schritte abermals. Unmittelbar darauf flog am Kopf
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Sebastianos etwas vorbei, und er hörte einen dumpfen Aufprall. Noch im Laufen sah er, was es war – ein Messer, das sich wenige Schritte vor ihm in den Stamm einer Laricio-Kiefer gebohrt hatte. Doch dieser Mordversuch der Brüder Ducale verschaffte ihm nur einen weiteren Vorsprung. Während er von einem mächtigen Felsblock aus hinuntersprang in den weichen Sand des Strandes, sah er, daß die „Santa Maria Figaniella“ ein Stück draußen bereits vor Anker gegangen war. Die Segel waren aufgegeit worden, und einige Männer waren damit beschäftigt, ein Beiboot abzufieren. Sebastiano Tursi sah sein Ziel zum Greifen nahe. Aber er fühlte instinktiv, daß er noch lange nicht gewonnen hatte. Der Tod saß ihm noch immer im Nacken, deshalb jagte er mit Riesenschritten über den breiten Strand, direkt auf das Wasser zu, das den Sand leicht umspülte. Es gab keinen anderen Weg für ihn, er konnte sich nicht wie eine Maus in einem Loch verkriechen. Und hätte er es tun können, dann würden die Brüder Ducale mit Sicherheit vor dem Loch warten, bis er wieder auftauchen mußte. Ihr Haß und das Gesetz der Vendetta trieb sie weiter, rücksichtslos und unaufhaltsam. Das Wasser spritzte auf, als sich Sebastiano mit fliegendem Atem hineinstürzte. Er war, wie die meisten Korsen, die in Küstennähe aufgewachsen waren, ein schneller und geübter Schwimmer. Aber auch Wasser konnte nicht unbedingt vor tödlichen Pistolenkugeln retten. Während der junge Bursche, der um sein Leben schwamm, sah, wie die Männer im Beiboot der „Santa Maria Figaniella“ eilig auf ihn zupullten, erreichten auch Fulvio und Cosimo Ducale den Strand. Während sich Fulvio, der seine Pistole bereits abgefeuert hatte, ein Messer zwischen die Zähne klemmte und sich ins Wasser warf, verhielt Cosimo einen Moment und hob seine Schußwaffe. Die Kugel fuhr dicht neben Sebastiano ins Wasser und riß eine kleine Fontäne hoch. Dann tauchte auch der braunhäutige Cosimo in die Fluten.
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Sebastiano konnte nicht zurückblicken, aber er hoffte, seinen Vorsprung halten zu können. Das Beiboot, in dem sich vier Männer befanden, rückte näher und näher. Plötzlich bemerkte er, wie zwei der Rudergasten mit dem Pullen aufhörten und zu ihren Musketen griffen, die sie über die Duchten gelegt hatten. Gleich darauf peitschten zwei Schüsse über ihn weg. Sie mußten für seine Verfolger bestimmt gewesen sein. Die Schüsse hatten nicht getroffen, aber sie führten die Wende herbei. Die Brüder Ducale mußten eingesehen haben, daß sie, nur mit Messern zwischen den Zähnen, keine Chance gegen die Schußwaffen der Männer im Beiboot hatten. Je näher sie an das Boot heranschwimmen würden, desto größer wurde das Risiko für sie. Außerdem konnten sie abschätzen, daß der Vorsprung Sebastiano Tursis nicht mehr einzuholen war. So blieb ihnen keine andere Wahl, als fluchend und zähneknirschend umzukehren. Sebastiano erreichte inzwischen das Boot. Keuchend rang er nach Luft und klammerte sich mit den Händen an das Dollbord. Als ihn Kapitän Borgos Leute in Empfang nahmen, hörte er noch die lauten und wüsten Beschimpfungen, die Fulvio und Cosimo Ducale ihm nachbrüllten. 2. Ein neuer Tag war angebrochen. Das anfängliche Grau am Himmel war längst von der aufgehenden Sonne verscheucht worden, die jetzt die Wassermassen mit gleißendem Licht überschüttete. Die Luft war am frühen Morgen noch frisch und kühl, aber das würde sich recht bald ändern, wenn erst der goldene Glutball höher am Himmel stand. Das Klima im westlichen Mittelmeer war auch in den Wintermonaten meist sonnig und mild, so auch jetzt Ende Oktober. Man schrieb das Jahr des Herrn 1591. Die „Isabella VIII.“ segelte unter ihrem Kapitän Philip Hasard Killigrew bei
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rauhem Wind über Steuerbordbug liegend Nordwestkurs. Noch vor Tagen hatte der Mistral. ein kalter, trockener Fallwind, der besonders im Winter das westliche Mittelmeer heimsuchte, den Seewölfen erheblich zugesetzt. Doch jetzt blies ein leichter, beständiger Wind und brachte den schlanken Rahsegler gut voran. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, kniete neben Ben Brighton auf den Planken des Achterdecks und ließ seine eisblauen Augen prüfend über die Karte wandern, die er vor wenigen Minuten dort ausgebreitet hatte. „Wenn wir diesen Kurs beibehalten“, sagte er dann zu seinem Stellvertreter und ersten Offizier, „wird uns unsere Lady an die Südwestküste der Insel Korsika tragen.“ Ben Brighton nickte. „Zur Insel der Schönheit“, sagte er. „Übrigens ein recht fruchtbares Land. Die Genuesen wissen wohl, warum sie ihre Herrschaft über diese Insel durch viele blutige Kämpfe behauptet haben. Den Franzosen ist es jedenfalls nicht gelungen, sich auf Dauer dort festzusetzen.“ Hasard lächelte. „Kühe, die man melken kann, sind überall begehrt“, sagte er. Dann erhob sich der mehr als sechs Fuß große und breitschultrige Kapitän der „Isabella“ von den Planken und begann damit, die Seekarte wieder zusammenzurollen. Auch Ben Brighton stand wieder auf. Das Leben an Bord der „Isabella“ verlief auch an diesem frühen Morgen völlig normal. Während der Kutscher, ein dunkelblonder, schmalbrüstiger Mann, der als Koch und Feldscher fungierte, das Frühstück für die Mannschaft zubereitete, gingen auch die übrigen Mitglieder der Crew ihrer gewohnten Beschäftigung nach. Will Thorne, der grauhaarige Segelmacher, werkte schon eine Weile in der Segellast herum, und Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, schwang seine mächtige Axt bei Reparaturarbeiten an der Balustrade, die die Back zum Galionsdeck hin abgrenzte. Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, und Smoky, ein Rauhbein, das früher unter Francis Drake als
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Decksältester gefahren war, halfen ihm dabei. Auch Old Donegal Daniel O’Flynn, der Alte mit dem Holzbein und dem verwitterten Gesicht, hatte sich zu ihnen gesellt. Dan O’Flynn, sein Sohn, der unbestritten die schärfsten Augen an Bord hatte, ließ als Ausguck im Großmars seine Blicke über das Wasser gleiten. Er hatte erst vor wenigen Augenblicken Bill, den Moses, dort oben abgelöst. Pete Ballie, ein kleiner, stämmiger Draufgänger mit Fäusten, so groß wie Ankerklüsen, stand am Ruder, und der schwarzhaarige Stückmeister, Al Conroy, stieg mit Big Old Shane, dem ehemaligen Schmied der Feste Arwenack, in die Waffenkammer hinunter, um dessen neuangefertigte Brandpfeile mit der nötigen Pulverladung zu versehen. Die übrigen Männer der Crew, unter ihnen Blacky, Gary Andrews, Stenmark, Matt Davies und Jeff Bowie, waren auf der Kuhl beschäftigt. Der alte O’Flynn, der Ferris Tuckers Reparaturkünste mit kritischen Augen verfolgte, entdeckte plötzlich in einem Winkel an der Balustrade einen Fussel Takelgarn. Mit einer raschen Handbewegung zupfte er ihn weg. „Fädchen am Morgen bringen Kummer und Sorgen“, deklamierte er dann. „Ich habe doch gleich gesagt, daß dieser Tag mit einer trügerischen Stille begonnen hat. So idyllisch kann es nicht bleiben.“ Ferris Tucker stemmte die linke Faust in die Hüfte und warf ihm einen schiefen Blick zu. Mit einem leisen Knurren in der Stimme sagte er: „Du willst doch wohl nicht behaupten, daß wir heute noch auf Grund gehen werden, bloß weil du einen Fussel entdeckt hast, der beim letzten Reinschiff übersehen wurde. Ich muß schon sagen, Donegal, du hörst wieder einmal die Kakerlaken husten.“ Der rauhbeinige Alte legte die Stirn in Falten. Sein Gesicht wirkte wie aus Granit und eisen. „Was sagst du da? Ich soll die Kakerlaken husten hören? Du Holzkopf! Mach mir doch erst einmal vor, wie eine Kakerlake hustet. Hast du das vielleicht
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schon mal gehört, he? Da lachen doch glatt deine verdammten Holzwürmer, die du ständig mit deiner Axt in Scheibchen haust.“ Der rothaarige Riese, der ein Kreuz wie ein Rahsegel hatte, richtete sich auf. Sein spöttischer Blick traf den alten O’Flynn, der für seine düsteren Ahnungen bekannt war. „Natürlich hab ich es schon gehört“, sagte er. „Du etwa nicht? Du bist doch sonst so blitzgescheit und hörst sogar die Wassermänner knurren und die Windsbräute singen. Warum sollten da Kakerlaken nicht husten können? Wenn der Kutscher die lieben Tierchen nicht in die warme Kombüse läßt, kann es doch passieren, daß sie sich erkälten. Oder vielleicht nicht?“ Damit war Old O’Flynn total überfragt. Wütend stieß er mit dem Holzbein auf die Planken, murmelte etwas von „Holzwürmern im Kopf“ und „Fusseln im Hirn“, und begab sich dann auf die Kuhl, Wo Philip und Hasard, die elfjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs, gerade mit dem Schrubben des Decks beginnen wollten. Die beiden „Rübenschweinchen“, wie Edwin Carberry, der Profos der „Isabella“, sie oft zu bezeichnen pflegte, hatten etliche Schlagpfützen mit Seewasser über das Schanzkleid gehievt. Nun griffen sie zu den Holystones, jenen weißen Sandsteinen, mit denen sich unter Verwendung von Wasser und Sand die Decksplanken sehr gut sauberschrubben ließen. „Paßt nur auf“, sagte Old O’Flynn mürrisch, „daß ihr nicht wieder die Fusseln überseht. Fusseln bedeuten nichts Gutes.“ „Was heißt hier ‚wieder’?“ fragte Hasard junior und verbesserte sich rasch, als er das wütende Gesicht des Alten entdeckte. „Ich meine - haben wir die schon mal übersehen, Mister O’Flynn?“ Wenn die Zwillinge ihren Großvater so anredeten, dann gab es meist etwas, was sie gewaltig wurmte. „Jawohl, ihr habt den Fussel übersehen!“ sagte der alte O’Flynn. „Dort vorn an der Balustrade zwischen Back und
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Galionsdeck. Man hätte drüber stolpern können, so groß war er.“ Jetzt kriegte Philip junior einen roten Kopf. „Aber der Fussel kann dort erst nach dem letzten Reinschiff hängengeblieben sein!“ rief er. In seinen Augen funkelte es. „Natürlich kann er das, ihr beiden Blindfische, aber so was sieht man sofort und entfernt es dann. Basta !“ Old O’Flynn stapfte weiter, in der Hoffnung, daß der Kutscher bald mit den Frühstücksvorbereitungen fertig sein würde. Gewöhnlich sah nach einem kräftigen Imbiß die Welt wieder etwas freundlicher aus. Da dröhnte plötzlich ein gewaltiger Schrei über sämtliche Decks. Er hörte sich an wie ein Urschrei, ausgestoßen von einem vorsintflutlichen Seeungeheuer. Hasard junior stieß vor Schreck beinahe seine Pütz um, und Philip ließ augenblicklich den Holystone aus der Hand fallen. Beide wandten sich, wie auch die anderen Crew-Mitglieder in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Als Urheber entpuppte sich Edwin Carberry, seines Zeichens Profos der „Isabella“. Er war ein bulliger Typ mit einem gewaltigen Rammkinn und zernarbtem Gesicht - ein rauher Bursche zwar, aber mit weichem Kern. Trotzdem sah sein Gesicht in diesem Augenblick zum Fürchten aus. Wuchtig wie eine Festung stand der Profos unter der Großmarsrah und rieb sich mit einer mächtigen Pranke den Schädel. „Donner und Wolkenbruch!“ grollte er. „Irgend so eine verdammte Nebelkrähe hat was Hartes fallen lassen. Man sollte dieser Fledermaus eine ganze Muck voll Öl einflößen, damit’s auch weicher geht. Man kriegt ja Beulen auf dem Verstand!“ Offenbar war ihm irgendetwas auf den Kopf gefallen, und da er nach oben blickte, konnte man leicht absehen, daß er Sir John, den karmesinroten Aracanga-Papagei in Verdacht hatte. Zu allem Überfluß begann Sir John in diesem Augenblick auch noch auf seinem Lieblingsplatz, hoch oben auf
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der Vormars, mit den Flügeln zu schlagen und laut zu krächzen. „Alles klar zum Gefecht!“ dröhnte es auf die lachenden Männer herunter. „Nieder mit den Heringen!“ Der Profos, der einst den bunten Vogel im Amazonasgebiet selbst an Bord gebracht hatte, hob drohend die Fäuste. „Laß dich heute nicht mehr in meiner Nähe blicken, du kariertes Suppenhuhn“, wetterte er, „sonst werde ich dir, so wahr ich Edwin Carberry heiße, die Haut in Streifen von deinem - von deinem verdammten Vogelarsch ziehen!“ Und damit schritt er weiter, der Back entgegen. Doch die Ursache seines Ärgers war noch nicht beseitigt. Schon nach den ersten Schritten begann er erneut zu fluchen. Weitere „harte Brocken“ mußten ihn getroffen haben. Nachdem er mit einem ellenlangen Satz alle Heiligen vom Himmel heruntergeholt hatte, bückte er sich, als wolle er auf den Decksplanken nach Spuren suchen. Er wurde sogar fündig. „Ha!“ brüllte er mit Donnerstimme. „Endlich weiß ich, was hier gespielt wird.“ In seinen Händen hielt er plötzlich einige harte, runde Bohnen. Auch den „Rübenschweinchen“ waren einige davon vor die Scheuersteine gepurzelt. Als sie - gleich dem Profos nach oben blickten, erkannten sie, daß Sir John völlig unschuldig war. Dafür aber turnte Arwenack, der Bordschimpanse, laut keckernd in den Wanten herum. Und er schien sich auch noch riesig über seine Treffsicherheit zu freuen, das sah man ihm an. Gerade als der Profos damit beginnen wollte, ihm die fürchterlichen Folgen für seinen „hinterhältigen Luftangriff“ vor Augen zu führen, wurde er von Batuti unterbrochen, der mit steinernem Gesicht über die Kuhl marschierte und seinen linken Arm umklammert hielt. Zwischen seinen Händen tropfte Blut hervor, aus seinem Arm ragte ein riesiger Holzspan. Vergessen war in diesem Augenblick die Attacke Arwenacks, der sich wohl
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heimlich an den Bohnenvorräten des Kutschers bedient hatte. Carberrys Stimme wurde plötzlich um einige Töne milder. Eigentlich war es der zweite, der innere Edwin Carberry, der jetzt die Stimme erhob. „Was ist passiert, du Stint?“ fragte er beinahe liebevoll. „Seit wann spießt du dich selber auf?“ Batuti, der schwarze Riese, rollte nur mit den Augen. Dann eilte er zum Niedergang, um sich so rasch wie möglich vom Kutscher verarzten zu lassen. Und so mancher der Seewölfe, dem schon seit einer Weile der Magen knurrte, begriff in diesem Moment, daß es bis zum Frühstück wohl doch noch etwas dauern würde. 3. Sebastiano Tursi stand am Schanzkleid und warf einen sehnsüchtigen Blick in jene Richtung, in der seine Heimat, die Insel Korsika, am Vorabend hinter der Kimm untergetaucht war. Tief sog er die frische Morgenluft in seine Lungen und richtete dann den Blick nach oben. Bewundernd tasteten sich seine Blicke über die riesigen Segel, die dem Wind genug Widerstand boten, um die „Santa Maria Figaniella“ durch die Wellen rauschen zu lassen. Ja, er mußte sich erst daran gewöhnen, zur See zu fahren. Das Ziel der genuesischen Galeone lag noch in weiter Ferne. Sie hatte Kurs auf die Straße von Gibraltar genommen, um nach deren Passage die afrikanische Küste entlang zu segeln. Dieses Vorhaben war durchaus nicht ungefährlich, denn zahlreiche Piratenschiffe verunsicherten den Mittelmeerraum. Obwohl Sebastiano Tursi, am Wasser geboren, schon als Junge mit seinem Vater und seinen Brüdern aufs Meer hinausgesegelt war, um Fische zu fangen, fühlte er sich auf diesem gewaltigen Schiff, unter all den vielen Männern, die in eingefahrenem Rhythmus ihre Arbeit taten, wie in einer neuen, fremden Welt.
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Wie lange würde es wohl dauern, bis er die malerischen Berggipfel seiner Heimat wiedersehen würde? Nur mit äußerster Mühe war es ihm am gestrigen Abend gelungen, die „Santa Maria Figaniella“ zu erreichen. Und hätten die Männer, die Kapitän Borgo ihm im Beiboot entgegengeschickt hatte, nicht rechtzeitig zu ihren Musketen gegriffen, wäre es fraglich gewesen, ob er die Galeone jemals aus eigener Kraft erreicht hätte. Die Brüder Fulvio und Cosimo Ducale hatten bereits dicht aufgeholt. Die Messer einsatzbereit zwischen die Zähne geklemmt, waren sie hinter ihm hergeschwommen, und Sebastiano wußte nur zu genau, daß er längst kalt und starr irgendwo in den Wellen des Meeres treiben würde, wenn der Capitano nicht Wort gehalten hätte und rechtzeitig erschienen wäre. Jetzt konnte der junge Korse aufatmen. Die Bluträcher saßen ihm nicht mehr im Nacken, und die „Insel der Schönheit“ lag bereits ein ganzes Stück hinter ihm. Was vor ihm lag, war eine fremde, unbekannte Welt voller Gefahren und Überraschungen, über die er in den bisherigen fünfundzwanzig Jahren seines Lebens nur vage Berichte gehört hatte. Bereits jetzt zeichnete das Heimweh einen wehmütigen Zug in sein junges Gesicht, wenn er an Dorina, jenes bezaubernde, schwarzhaarige Mädchen dachte, das er noch gestern in den Armen gehalten hatte. Er wußte - Dorina würde auf ihn warten. Aber würde dieses Warten nicht umsonst sein? Sollte er je in seine Heimat zurückkehren, würden es die Brüder Ducale erfahren und erneut versuchen, die Vendetta, die Blutrache, an ihm zu vollstrecken. Sofort, nachdem man ihn gestern abend erschöpft und mit zerfetzten Kleidern an Bord der „Santa Maria Figaniella“ geholt hatte, waren ihm auf Befehl des Kapitäns frische Kleider gebracht worden. Und bereits nach kurzer Zeit hatte sich sein junger, kräftiger Körper von den Strapazen der Flucht erholt. Heute jedoch sollte
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bereits auf dieser Galeone der Ernst des Lebens für ihn beginnen. Ein lauter Ruf ließ Sebastiano Tursi herumfahren und holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Am Aufgang zum Achterkastell stand Mario Firenze, der stämmige Profos der „Santa Maria Figaniella“. „Signor Tursi“. rief er, „du sollst zum Capitano kommen! Er hat etwas mit dir zu besprechen.“ Der kräftige Mann mit dem braungebrannten Gesicht zeigte mit dem rechten Daumen zum Achterdeck, wo Kapitän Niccolo Borgo an der Schmuckbalustrade stand und durch ein Spektiv blickte. Der Capitano war ein kleiner Mann mit gedrungener Figur, kräftig und muskulös. Wer ihn kannte, wußte, daß er ein quicklebendiger und beweglicher Typ war. Er galt als streng, aber gerecht, und was er versprach, das hielt er auch. Seine kleinen, dunklen Augen waren ständig in Bewegung. Ihnen entging nichts, sie kannten die Galeone in- und auswendig – sehr zum Leidwesen einiger weniger Männer seiner Crew, die es mit ihrer Arbeit nicht allzu genau nahmen. Die überwiegende Mehrheit der Männer an Bord hätte ihn jedoch gegen keinen anderen Kapitän eingetauscht. Er war beliebt, galt als zuverlässig und ordnungsliebend und als menschlich und verständnisvoll. Mit anderen Worten: Er war eine gelungene Mischung zwischen Autoritätsperson und Kamerad. Auch jetzt blickten seine Augen dem jungen Mann entgegen, der mit einem verlegenen Lächeln im Gesicht zum Achterdeck aufenterte. „Sie wollen mich sprechen, Signore?“ sagte Sebastiano Tursi und rieb sich, ein wenig nervös, die Hände an der Hosennaht. Der Capitano nickte und lächelte zurück. „Ich hoffe, du hast dich in der vergangenen Nacht etwas von den Strapazen deiner Flucht erholt, Sebastiano“, erwiderte er. „Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, daß ich froh darüber bin, die Bucht von
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Valinco dank günstiger Windverhältnisse rechtzeitig erreicht zu haben. Es täte mir leid, wenn dir etwas zugestoßen wäre.“ „Auch ich bin sehr froh darüber, Signore“, erwiderte Sebastiano, „und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Sie haben mir das Leben gerettet. Ich weiß nicht, ob es mir aus eigener Kraft gelungen wäre, meine Verfolger abzuschütteln. Ich schulde Ihnen sehr viel, Signore.“ „Schon gut, Sebastiano“, beschwichtigte der Kapitän. „Es war eine Selbstverständlichkeit. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie man sich fühlt, wenn man dem Tod gerade noch einmal ein Schnippchen geschlagen hat. Auch ich empfinde bis zum heutigen Tage Dankbarkeit gegenüber einem Mann, dem ich mein Leben verdanke. Und du sollst wissen, daß dieser Mann dein Vater war.“ „Mein Vater?“ fragte der junge Korse mit verwundertem Gesicht. „Er hat es nie erzählt.“ „Das paßt zu ihm“, stellte der Kapitän fest, „ja, genau das paßt zu ihm. Schade, daß Antonio nicht mehr am Leben ist. Er war immer zurückhaltend und bescheiden, kurzum: ein Mann, auf den man sich in jeder Lebenslage voll verlassen konnte. Ja, das war er. Gott hab ihn gnädig.“ Die Augen des Capitanos schienen weit hinter der Kimm in vergangenen Zeiten versunken zu sein. „Ich bin sehr froh darüber“, fuhr er dann fort, „mich erkenntlich zeigen zu können. Dein Vater und ich waren gute Freunde. Gemeinsam haben wir auf genuesischer Seite gekämpft, als nach dem Frieden von Cateau-Cambrésis Sampiero Corso die Herrschaft der Republik Genua brechen wollte. Und wäre dein Vater mir damals nicht ein so treuer, furchtloser Kamerad gewesen, dann würde ich heute nicht als Kapitän auf der ‚Santa Maria Figaniella` fahren.“ „Ich verstehe, Signore“, sagte Sebastiano, „und ich gestehe, daß ich fast ein wenig beschämt bin, weil ich nun von der Verhaltensweise meines Vaters profitiere. Ich ...“ Der Capitano unterbrach ihn.
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„Das ist kein Grund, sich zu schämen, Sebastiano. Glaube mir, daß ich im Verlauf meines bisherigen Lebens alle Arten von Menschen kennengelernt habe. Und ich glaube, sagen zu können, daß du an Stelle deines Vaters genauso gehandelt hättest. Deshalb will ich gern für dich tun, was in meiner Macht steht. Du wirst dich natürlich damit abfinden müssen, daß du deine Heimat eine Zeitlang nicht wiedersiehst. Aber das muß dir dein Leben wert sein. Hier an Bord meines Schiffes genießt du die gleiche Freiheit und Sicherheit wie jeder andere meiner Männer auch. Ich nehme an, du hast nichts dagegen, hier anzuheuern und dich in die Mannschaft einzugliedern.“ „Natürlich habe ich nichts dagegen, Signore“, beeilte sich Sebastiano zu sagen. „Ich will mir Mühe geben, und ich bin gern bereit, jede Arbeit zu tun, die man mir aufträgt. Ich hoffe nicht, daß Sie von mir enttäuscht sein werden, und ich weiß Ihre Hilfe und Großzügigkeit ganz bestimmt zu schätzen.“ „Schon gut, schon gut“, unterbrach Niccolo Borgo. „Mario Firenze, mein Profos, wird sich um dich kümmern und dich einweisen. Wenn du dich gut in die Gemeinschaft an Bord einfügst, wirst du keine Schwierigkeiten haben. Und nun wünsche ich dir viel Glück, Sebastiano. Mögest du dich wohlfühlen an Bord der ,Santa Maria Figaniella`.“ Der Kapitän wurde durch einen lauten Ruf aus dem Großmars unterbrochen. „Deck!“ schrie der Mann im Ausguck. „Ein Schiff Backbord voraus.“ „Was für ein Schiff?“ brüllte der Profos zurück. „Ein Zweimaster — eine Karavelle! Sie hält direkt auf uns zu, und sie ist sehr schnell ...“ „Welche Flagge?“ schaltete sich der Kapitän ein. „Soweit ich sie erkennen kann—die Flagge Genuas“, tönte es aus dem Ausguck. Die Antwort bewog den Kapitän der „Santa Maria Figaniella“, das fremde Schiff noch etwas näher heran zu lassen.
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Doch später sollte ihm klar werden, daß dies ein Fehler war. Ein sehr folgenschwerer Fehler sogar. Denn als ihm die ersten Zweifel an der Echtheit der Beflaggung aufstiegen, war es bereits zu spät. * Ahmet Aydin, der Türke genannt, stand breitbeinig auf dem Achterdeck der Zweimastkaravelle, die mit Backstagsbrise auf Südostkurs lief. Ein breites, kaltes Grinsen zog über das Gesicht des mittelgroßen, schwergewichtigen Mannes, der einen Bauch vor sich hertrug, als habe man ihm ein Faß Rum in die Hose gesteckt. Der Türke schien die Szene an Bord seines Schiffes zu genießen, denn er selbst hatte sie angeordnet. Sein schwarzes, ungepflegtes Haar, das von einer roten Stirnbinde zusammengehalten wurde, glänzte ölig. Sein sonnengebräuntes Gesicht, in dem man die Falten und Furchen kaum von Narben unterscheiden konnte, glich einer zerklüfteten Felsenlandschaft. Die kleinen Schweinsaugen unter den buschigen Augenbrauen funkelten böse: Schon auf den ersten Blick wirkte Ahmet Aydin alles andere als vertrauenerweckend. Die Segeltuchhose, die den mächtigen Leib umspannte, wirkte schmutzig und zerfranst, und den Stiefeln, die er trug, sah man an, daß sie ursprünglich nicht für ihn bestimmt gewesen waren. An seinem breiten Hüftgürtel baumelte ein gefährlich aussehender Krummdolch, auf der anderen Seite steckte eine Pistole. Und er verstand es auch, mit seinen Waffen umzugehen. Ahmet Aydin hatte die kräftigen Fäuste in die Hüften gestützt, als er seinen Blick über die Kuhl schweifen ließ, wo sich ein Schauspiel anbahnte, das sich schon seit Tagen und Wochen abgezeichnet hatte. Kurz nach dem letzten Glasen hatte sich die Mannschaft der Zweimastkaravelle auf der Kuhl versammelt. „Liberty“, der ursprüngliche Name des Schiffes, war
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kaum noch zu lesen. Und das war dem Türken eigentlich ganz recht. Er legte keinen Wert auf Namen, denn er pflegte schon seit Jahren seine Schiffe je nach Bedarf zu wechseln - indem er sie einfach „eintauschte“. Die Crew der „Liberty“, ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Schnapphähnen und Schlagetots, die der Wind aus allen Himmelsrichtungen zusammengetrieben hatte, erwartete feixend die Vollstreckung einer Auspeitschung. Es handelte sich um eine wüste, verkommene Horde ehrloser Lumpen und brutaler Halsabschneider. Auch Ahmet Aydin war um keinen Deut besser. Schon lange genoß er an den Küsten Korsikas und der benachbarten Inseln, die er unsicher machte, den Ruf, ein brutaler, verschlagener Beutemacher zu sein. An seine Mannschaft stellte er keine besonderen Anforderungen -schon gar nicht, was die Nationalität oder Vergangenheit dieser Halunken betraf. Maßgebend war für ihn lediglich die Tatsache, daß sie mit ihren Waffen umzugehen verstanden und daß sie taten, was er anordnete. Schon bei den geringsten Vergehen an Bord der „Liberty“, einer ehemals unter englischer Flagge segelnden Karavelle, ließ er seine Leute deutlich spüren, wer das Sagen auf diesem Schiff hatte. Sein Profos, ein Grieche namens Aristoteles Salaikis, sah aus wie ein wandelnder Wandschrank. Gerade hatte er Porcelli, den italienischen Koch des Piratenschiffes am Genick gepackt und ihn wie einen gefangenen Hasen über die Kuhl geschleppt, um ihn an den Großmast zu binden. Der kleine, schmächtige Mann hatte keinerlei Chancen gegen den Profos, dessen Muskelpakete ihm das Aussehen eines Gottes verliehen, der gerade vom Olymp heruntergestiegen war - eines häßlichen Gottes allerdings, denn sein breites, zerschlagenes Gesicht glich eher einer Dämonenfratze.
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Das Jammern und Klagen des Koches rührte absolut niemanden an Bord der Karavelle. Im Gegenteil. Jeder gönnte ihm die Abreibung, denn nach der Meinung aller an Bord, war der Fraß, den Porcelli ihnen Tag für Tag vorsetzte, schon längst nicht mehr zumutbar. Darin lag auch der Grund für die Auspeitschung, die Ahmet Aydin angeordnet hatte. Solange die Kakerlaken in der Suppe der Mannschaft schwammen, störten sie den Piratenkapitän nicht. Daß aber zwei dieser Tierchen sein Frühstück vorgekostet hatten, war entschieden zu viel für ihn gewesen. Mit wutschnaubender Stimme hatte er nach Aristoteles Salaikis gebrüllt, und ihn sofort in die Kombüse beordert. Porcelli war vor einigen Monaten ganz einfach zum Kombüsendienst verdonnert worden, weil der vorherige Koch der Zweimastkaravelle bei einem Enterkampf eine Pistolenkugel in den Bauch erhalten hatte. Seitdem hatte sich der schmächtige Italiener im Hinblick auf die eigene Sicherheit krampfhaft bemüht, das, was er in seinen riesigen Töpfen zusammenrührte, einigermaßen schmackhaft zu gestalten. Aber nur selten war ihm das gelungen, denn er hatte die Kunst des Kochens niemals erlernt. Erschwerend kam noch hinzu, daß die Piratenbande aus allen Nationen des Mittelmeerraumes stammte. So war es schon von vornherein eine unmögliche Sache gewesen, jedem nach seinem Geschmack zu kochen. Aber das alles half Porcelli nicht. Was der Kapitän anordnete, das wurde getan. Und selbst der bärenstarke Profos würde niemals wagen, gegen den Türken aufzumucken. Abwartend stand der Grieche da und hielt die „Neunschwänzige Katze“ in der Hand. Es handelte sich um eine Peitsche mit Holzgriff, an dem neun kräftige Lederriemen baumelten. Die Enden der Riemen hatte man verknotet, um die Wirkung noch zu erhöhen. Längst hatte der Profos dem Schiffskoch das Hemd vom Leib gerissen und ihn am
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Großmast festgebunden. Er wartete nur noch auf ein Zeichen des Kapitäns. Darauf brauchte er nicht lange zu warten. Fünfzehn Hiebe wegen der Kakerlaken im Essen — so lautete das Urteil, und sofort begann die Neunschwänzige, unbarmherzig auf den Rücken Porcellis zu klatschen. Die Schreie und das Wimmern des Gepeinigten brachten Salaikis, der die Hiebe laut mitzählte, keineswegs aus dem Konzept. Nach dem zwölften Hieb brach der schmächtige Mann zusammen. Wie leblos hing sein Körper an den Tauen. Trotzdem schlug der Profos weiter zu. Er hörte erst auf, als die Zahl voll war. „In Ordnung!“ brüllte der Kapitän vom Achterdeck. „Vielleicht war es eine Lehre für den verdammten Kakerlakenzüchter.“ Seine Schweinsaugen glänzten kalt. „Wenn ich noch mal eines dieser Viecher in meinem Essen finde, wird er an die Rah gehängt!“ setzte er hinzu. Die Männer, die der Auspeitschung beigewohnt hatten, grinsten nur. Gar mancher von ihnen hatte schon vor dem Schiffskoch mit der Neunschwänzigen Bekanntschaft geschlossen. Sie waren sich im klaren darüber, daß sie zu spuren hatten, sonst würde ihnen genau das gleiche blühen. „Was steht ihr noch hier herum, ihr dreckigen Hunde!“ brüllte Salaikis, der Grieche. „Ihr habt euer Vergnügen gehabt. Und jetzt marsch! Zurück an die Arbeit! Oder wollt ihr, daß uns dieser stinkige Kahn unter den Füßen absäuft?“ Noch immer hielt der Profos die Neunschwänzige Katze in der Hand. Sofort stoben die Männer auseinander, um sich ihrer Arbeit zuzuwenden. Das war tatsächlich nötig, obwohl Salaikis übertrieben hatte. Die Karavelle war beim letzten Überfall auf ein genuesisches Handelsschiff ziemlich angeschlagen worden. Trotzdem war sie funktionstüchtig. „Es wird langsam Zeit, daß wir mal wieder ein kleines Tauschgeschäft vornehmen, meinst du nicht auch, Kapitän?“ sagte der
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Grieche grinsend zum Achterdeck hoch und deutete dabei auf das stellenweise zerfetzte Backbordschanzkleid. „Wir könnten uns ja mal etwas vergrößern, das würde unseren Geschäften bestimmt nicht schaden.“ Der Türke, der noch immer an seinem Platz stand, nickte. „Ja, du hast recht, Salaikis“, sagte er auf die Kuhl hinunter. „Dieser Jammerkasten paßt nicht mehr zu uns. Also werden wir bei passender Gelegenheit zugreifen.“ Die Taktik für einen solchen Schiffstausch war einfach. Man überfiel gutgebaute, neue Schiffe und jagte dann die gekaperte Mannschaft auf dem beschädigten, ausgedienten Piratenschiff davon — sofern man sie überhaupt am Leben ließ. Viele Piratenkapitäne waren jedoch nicht darauf erpicht, lebende Zeugen für ein solches „Tauschgeschäft“ zurückzulassen. „Fein, Kapitän!“ rief der hünenhafte Profos. „Es wird auch langsam Zeit, daß mal wieder was passiert, sonst schlafen die Hurensöhne hier noch ein. Sie müssen unbedingt auf Vordermann gebracht werden.“ In diesem Punkt war Ahmet Aydin, der Piratenkapitän, völlig einer Meinung mit ihm. Wie es schien, sollte der fromme Wunsch des Griechen schon bald in Erfüllung gehen, denn noch vor dem nächsten Glasen der Schiffsglocke meldete der Ausguck eine gutgebaute Galeone an der Kimm. „Na also“, sagte Ahmet Aydin und rieb sich die feisten Hände. „Es scheint heute ein Glückstag für uns zu sein.“ Dann wurde der dicke Mann quicklebendig und verlor keine weitere Zeit. Sofort verschwand der Ausdruck der Genugtuung auf seinem Gesicht, seine Stimme fuhr wie ein Donnergrollen über die Decks der Zweimastkaravelle. „Nicht einschlafen, ihr Hunde!“ brüllte er. „Es gibt Arbeit. Wir können ein neues Schiff gebrauchen. Wer nicht gehorcht, wird an die Rah geknüpft! Macht sofort gefechtsklar und zeigt, was ihr bei mir gelernt habt!“
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Sofort dröhnten Zurufe über das Schiff, und nackte Fußsohlen trampelten in fieberhafter Eile über die Decksplanken. * Der Kapitän der „Santa Maria Figaniella“ hatte das Spektiv ans Auge gesetzt und spähte mit prüfendem Blick zu der Zweimastkaravelle hinüber. Der Wind hatte plötzlich gedreht, und das fremde Schiff, auf dem inzwischen deutlich die Flagge Genuas zu erkennen war, segelte vor dem Wind mit Steuerbordhalsen auf die dicke, etwas schwerfällige Galeone zu. Den Namen des Schiffes konnte Niccolo Borgo nicht feststellen, so sehr er auch den Kieker bemühte. Jetzt erst stiegen ihm erste Bedenken auf. Gehörte es nicht zu den Listen und Tücken von Piraten, falsche Flaggen zu führen, um sich, ohne Argwohn zu erregen, an friedliche Handelsfahrer heranzupirschen? Das war dem kleinen, muskulösen Korsen im Grunde genommen nichts Neues, denn er fuhr seit Jahren zur See und hatte schon einige unliebsame Erfahrungen hinter sich gebracht. Trotzdem widerstrebte es ihm, in der Nähe des genuesischen Herrschaftsbereiches einem Schiff, das unter gleicher Beflaggung fuhr, mit ausgerannten Kanonen zu begegnen. Das konnte schließlich auch auf der anderen Seite zu folgenschweren Mißverständnissen führen und sogar die „Santa Maria Figaniella“ in den Verdacht bringen, ein Piratenschiff zu sein. Der Capitano war ein Mann der Vorsicht. Er haßte voreilige Entschlüsse, weil sie hinterher meist wieder bereut werden mußten. Und war es nicht in erster Linie seine Aufgabe, die mit vielerlei Waren beladene Galeone sicher an ihre Ziele zu bringen? Niccolo Borgo ahnte in diesem Augenblick nicht, daß sich seine bisher bewährte Strategie heute als Fehlschlag erweisen würde. Rasch und wendig segelte die Zweimastkaravelle. heran. Hatten ihre
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Decks bisher merkwürdig leer ausgesehen, so begannen sie sich jetzt zu füllen. Eine Reihe von Gestalten war bereits deutlich zu erkennen, und sie sahen ganz und gar nicht wie harmlose Besatzungsmitglieder eines Handelsschiffes aus. Niccolo Borgo begann es wie Schuppen von den Augen zu fallen. „Mein Gott!“ murmelte er. „Das hätte ich früher erkennen müssen - viel früher.“ Er nahm das Spektiv von den Augen und beugte sich über die Schmuckbalustrade des Achterdecks. „Abfallen!“ brüllte er. „Schiff klar zum Gefecht!“ Mario Firenze, der Profos der „Santa Maria Figaniella“, der gerade zum Achterdeck aufentern wollte, warf seinem Kapitän einen fragenden Blick zu. „Sie meinen ...“ sagte er und sah mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck zu der schnell heranrauschenden Karavelle hinüber. Der Capitano nickte. „Ich glaube nicht, daß ich mich täusche“, sagte er. „Nein, es gibt keinen Zweifel. Das sind Piraten, und sie haben uns bis zu diesem Augenblick gewaltig an der Nase herumgeführt.“ Während er weitere Befehle brüllte, die vom Profos sofort weitergegeben wurden, kam hektisches Leben in die Mannschaft. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Aufgeregte Rufe tönten über die Kuhl, Augenblicke später hörte man bereits das Klirren von Waffen. Die Stückpforten wurden geöffnet, und die Männer begannen damit, die Culverinen auszurennen. Die „Santa Maria Figaniella“, eine dickbauchige Dreimast-Galeone, war mit je drei Siebzehnpfünder-Culverinen auf der Steuerbord- und Backbordseite der Kuhl bestückt. Hinzu kamen noch je eine Culverine auf beiden Seiten des Achterdecks und der Back. Vorn und achtern gab es jeweils noch eine Drehbasse - es handelte sich dabei um kleine Kanonen, die in einem drehbaren Gestell aufgehängt worden waren und somit rasch
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in verschiedene Richtungen schießen konnten. Längst hatte Niccolo Borgo erkannt, daß es seinem schwerfälligen Schiff nicht mehr gelingen würde, die Luvposition, die für Seegefechte günstigste Stellung zum Wind, zu gewinnen. Ein weiterer Blick durch das Spektiv beseitigte seine letzten Zweifel. Auch das Piratenschiff rüstete zum Angriff. Leider hatte es die günstigeren Windverhältnisse. Außerdem war die heranrauschende Zweimastkaravelle kleiner und wendiger als seine Galeone. Was nutzte es da schon viel, wenn die „Santa Maria Figaniella“ größer und besser armiert war. Ein weiterer Nachteil für sein Schiff war, daß man mit dem Abwarten wertvolle Zeit verloren hatte. Die List der Piraten, unter genuesischer Flagge zu segeln, würde ihre Früchte tragen, das war bereits jetzt schon abzusehen. Die Stückpforten der Karavelle waren geöffnet worden. Die Mündungen der Culverinen starrten wie riesige Augen über die glitzernde Wasserfläche. Niemand hatte jetzt noch einen Blick übrig für die strahlende Morgensonne, die die bedrohliche Szene in gleißendes Licht tauchte. Was sich dem Auge Niccolo Borgos und seiner beiden Offiziere, die zum Achterdeck geeilt waren, bot, war eine wüste Piratenhorde, die bereitstand, Beute zu schlagen. Lauernd wie Raubtiere bevölkerten sie die Decks der Karavelle. Es blieb den Männern an Bord der „Santa Maria Figaniella“ keine andere Wahl mehr, als sich dem Piratenangriff zu stellen. Sie mußten aus der bestehenden Situation das Beste herausholen. Besonders der Capitano, der in der Vergangenheit schon einige Angriffe erfolgreich abgewehrt hatte, dachte nicht daran, sein Schiff kampflos an eine üble Horde von Schnapphähnen zu übergeben. Er sah immer noch eine Chance in der besseren Bestückung seines Schiffes, aber er wußte auch, daß dieser Sachverhalt nicht unbedingt kampfentscheidend sein mußte. Eine günstige Windposition, und vor allem
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Schnelligkeit und Wendigkeit, waren auch Vorteile, die nicht zu übersehen waren. Und diese Vorteile genoß im Moment das angreifende Piratenschiff. Auch Sebastiano Tursi, der sich seit dem gestrigen Abend an Bord der „Santa Maria Figaniella“ befand, fieberte, wie die übrigen Männer, dem Angriff entgegen. Bis jetzt fühlte er sich immer noch als Neuling und Fremdling an Bord des Schiffes. Er wußte noch nicht recht, wo er hingehörte, und wo er —auch arbeitsmäßig — seinen Platz hatte. Um nicht unnütz herumzustehen, half er dem Schiffsjungen dabei, auf der Kuhl sowie auf der Back und dem Achterdeck, Sand auszustreuen, damit die Männer, die an den Culverinen standen, während des Kampfes einen besseren Halt auf den Decksplanken hatten. Danach hatte er ein Messer und eine Muskete in Empfang genommen. Längst hatte der schwarzhaarige junge Korse, hinter dem noch gestern die Brüder Ducale her waren, um die Blutrache an ihm zu vollstrecken, bemerkt, daß es auch auf einem Schiff nur eine relative Sicherheit gab. Auch hier mußte man sich, wie er vor Augen sah, seiner Haut erwehren. Und so weit man blickte – man sah nur Wasser und nochmals Wasser. Hier gab es keine zerklüfteten Berge und keine bizarren Schluchten, die Deckung vor dem Feind boten. Hier auf den Weiten des Meeres mußte man sich dem Angreifer stellen, und er war entschlossen, das zu tun. Genauso wie die anderen Männer an Bord der Galeone. Er war schließlich kein Hasenfuß und hatte es bis zum heutigen Tag trotz der fanatischen Bluträcher verstanden, am Leben zu bleiben. Sebastiano verstand es auch, mit herkömmlichen Waffen umzugehen. Das Messer am Gürtel und die Muskete in der Hand verliehen ihm deshalb ein Gefühl der Sicherheit. Die Erregung, die ihn gepackt hatte, als das wüste Geschrei der Piraten zum erstenmal bis zur „Santa Maria Figaniella“ herübergedrungen war, hatte nichts mit Angst zu tun. Nein, Angst hatte er nicht. Er würde seinen Teil dazu beitragen, die Galeone Signor Borgos
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gegen den heimtückischen Angriff zu verteidigen, ja, er würde sie so verteidigen, wie er seine Heimat verteidigen würde, denn zu seiner zweiten Heimat war das Schiff ja gestern geworden. Das Gebrüll der Piraten wurde immer lauter, je näher die Zweimastkaravelle an die „Santa Maria Figaniella“ heransegelte. „Rasch! Macht die Culverinen feuerbereit!“ befahl der Capitano, und sein Profos, Mario Firenze, gab den Befehl sofort mit lauter Stimme weiter. In fieberhafter Eile schoben die Männer Kartuschen aus Segeltuch, in denen sich die Pulverladung befand, in die Geschützrohre. Nachdem das Pulver verdämmt worden war, konnte man damit beginnen, die siebzehn Pfund schweren Eisenkugeln nachzuschieben. Auf dem Piratenschiff, das durch sein raffiniertes Täuschungsmanöver bei den Männern auf der „Santa Maria Figaniella“ eine Zeitlang keinen Argwohn erregt hatte, waren die Gefechtsvorbereitungen sicher längst abgeschlossen. Man hatte ja den Zeitvorteil auf seiner Seite. Inzwischen war deutlich zu erkennen, was die Piraten bezweckten. Der Bug ihres Schiffes war auf die Steuerbordseite der genuesischen Galeone gerichtet. War die Karavelle nahe genug heran, würde sie versuchen, beizudrehen und die „Santa Maria Figaniella“ zu entern. Das Hauptinteresse von Piraten galt meist dem Enterkampf. Deshalb waren sie nicht unbedingt darauf aus, ein Handelsschiff mit wohlgezielten Schüssen auf Grund zu schicken, sondern sie sahen so gut wie immer ihr Ziel darin, das fremde Schiff zu kapern und Beute zu machen. Schließlich mußte bei einem solchen Unternehmen auch etwas heraus-. springen – und das Schlagen von Beute war nun einmal ihr Geschäft. Niccolo Borgo erkannte, daß die Zeit nicht mehr ausreichen würde, um die Galeone in eine günstigere Gefechtsposition zu manövrieren. Er beschloß deshalb, die Karavelle etwas näher heran zu lassen, und ihr, bevor sie voll beidrehen konnte, eine Breitseite gegen den Bug zu setzen.
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Der Bugspriet des Piratenschiffes zielte jetzt auf das Heck der Galeone. Damit war nicht mehr schwer zu erraten, welche Strategie die Kerle verfolgten. Sie würden im richtigen Moment hart abfallen, um beim Beidrehen zunächst an das Heck des Handelsschiffes heranzukommen, denn dort würden sie auf den geringsten Widerstand stoßen. Kapitän Borgo wollte diesen Plänen, so gut es ging, entgegenwirken. Er würde nichts unversucht lassen, um sein Schiff dem Zugriff der Piraten zu entziehen. Um seinen Mund lag plötzlich ein harter Zug. „Hart nach Steuerbord abfallen!“ brüllte er und gab kurz darauf den ersten Feuerbefehl. Mit einem infernalischen Donnern und Krachen entluden sich die insgesamt fünf Siebzehnpfünder-Culverinen an der Steuerbordseite und schickten ihren eisernen Segen zu der Karavelle hinüber. Die schweren Geschütze rollten zurück, und für die nächsten Sekunden zogen grauschwarze Wolken von Pulverdampf über die Decks. Doch wie die Männer jetzt feststellten, war die erhoffte Wirkung ausgeblieben. Eine Kugel hatte ein riesiges Loch in das Vormarssegel gerissen, und eine weitere hatte einen Teil der Balustrade zwischen Back und Galionsdeck weggefegt. Eine Wolke von Holzsplittern ging auf dem Wasser nieder. Doch die übrigen Siebzehnpfünder waren ins Wasser gerast und hatten gischtende Fontänen emporgerissen. Schlagartig herrschte an Bord der „Santa Maria Figaniella“ eine gedrückte Stimmung, denn alle waren sich darüber im klaren, daß ihre Chancen gewaltig zusammengeschmolzen waren. Obwohl man in aller Eile die heißen Geschützrohre auswischte, würde es doch eine gewisse Zeit dauern, bis die Culverinen nachgeladen waren. Bis dahin konnte es dem Piratenschiff bereits gelungen sein, vollends beizudrehen und mit dem Enterkampf zu beginnen.
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Was die Männer auf der Galeone insgeheim befürchteten, trat ein. Die Zweimastkaravelle fiel hart nach Steuerbord ab und schickte sich an, auf Parallelkurs zur „Santa Maria Figaniella“ zu gehen, die nun den Geschützen des Piratenschiffes ein gutes Ziel bot. Das Schiff der Schnapphähne war auf beiden Seiten der Kuhl mit je vier Kanonen bestückt. Bevor die genuesische Galeone, deren Drehbassen mittlerweile die Angreifer mit einem Eisenregen belegten, erneut ihre Culverinen zum Einsatz bringen konnte, wurden die Flüche und das Wutgeschrei der Piraten vom Brüllen ihrer ersten beiden Backbordgeschütze übertönt. Schwarzer Rauch wölkte auf, und eine Kugel krachte mit häßlichem Geräusch in das Heck der „Santa Maria Figaniella“. Die zweite strich haarscharf am Heck vorbei und peitschte das Wasser auf. Gleich danach begannen an Bord der Karavelle Demi-Culverinen und Arkebusen zu krachen, vermischt mit Musketenfeuer. Der Kampf hatte begonnen, die Hölle tobte. An Bord der „Santa Maria Figaniella“ blieb man die Antwort nicht schuldig. Die Männer Kapitän Borgos kämpften mit dem Mut der Verzweiflung. Die Steuerbordgeschütze waren inzwischen nachgeladen worden und stießen erneut mit ungeheurer Wucht die Kugeln aus den Rohren. Das wütende Brüllen der Kerle ließ erkennen, daß man getroffen hatte. Aber wie man rasch feststellte, waren es keine kampfentscheidenden Treffer gewesen. Für eine volle Breitseite hatte sich kein Ziel geboten, weil die Karavelle zwar beigedreht hatte, aber noch mit dem Heck ein Stück hinter der Galeone zurück war. Eine Kugel des Handelsschiffes hatte den Bugspriet des Piratenschiffes weggefegt, eine zweite hatte unterhalb einer Stückpforte ein Loch in die Bordwand gestanzt. Dennoch war die Freude über diese Treffer nur gedämpft. Die Lage, in der sich die „Santa Maria Figaniella“ nach wie vor befand, war äußerst ernst.
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Die Karavelle hatte bisher erst zwei ihrer vier Backbord-Culverinen abgefeuert. Demnach konnte es jeden Moment erneut auf dem Piratenschiff aufblitzen, das mittlerweile so weit beigedreht hatte, daß dem beabsichtigten Enterkampf nicht mehr viel im Wege stand. Während die Männer auf der Galeone keine Gelegenheit ausließen, um den blutrünstigen Gegner abzuwehren, brüllten erneut die Piratengeschütze auf, diesmal aus unmittelbarer Nähe. Offensichtlich hatte man die beiden restlichen Kugeln abgefeuert. In der Zwischenzeit würde man noch mit dem Nachladen der beiden anderen Kanonen beschäftigt sein, die wahrscheinlich im stetigen Wechsel mit den ersten beiden eingesetzt werden sollten. Die „Santa Maria Figaniella“ erhielt einen gewaltigen Stoß, der sie nach Backbord krängen ließ. Teile ihres Steuerbordschanzkleides flogen durch die Luft und klatschten dann ins Wasser. Den zweiten Treffer hatten die Schnapphähne direkt unterhalb der Planken des Achterdecks erzielt. An Bord der Galeone entstand Wuhling. Jede nur greifbare Waffe wurde auf die Piraten abgefeuert. Auf der Kuhl gab es bereits einen Toten und einen Verletzten, und auch auf der Gegenseite hatte der erbarmungslose Kampf bereits seinen Tribut gefordert. Trotzdem waren die Seeräuber bereit zum Entern. Niccolo Borgo wußte, daß dies nicht mehr zu vermeiden war. Das Geschehen konnte niemand mehr aufhalten. Die Piratenkaravelle war überbemannt, Verluste nahm man eiskalt in Kauf. Das Wutgeschrei und laute Gejohle dröhnte unaufhörlich an die Ohren der Handelsfahrer, und die demoralisierende Wirkung blieb nicht aus. Viele der verkommenen Gestalten dort drüben hielten bereits die Enterhaken in der Hand. Borgos Männer gaben jedoch nicht auf, obwohl sie wußten, daß ihre weiteren Chancen gleich Null waren. Die Piraten waren kampferprobt und geübt in allen Listen, Tücken und Raffinessen, die die
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Welt zu bieten hatte. Sie dagegen waren nicht einmal Soldaten, sondern friedliche Handelsfahrer. Allein in Bezug auf die menschliche Seite konnten sie deshalb nicht mit dieser mordlüsternen Meute Schritt halten. Noch immer tobte die Hölle. Es gab Tote und Verletzte auf beiden Seiten. Noch hatten die Schußwaffen den Vorrang, aber schon bald würden die Entermesser, Säbel, Degen und Enterhaken eingesetzt werden. Jeder Mann an Bord der „Santa Maria Figaniella“ konzentrierte sich voll auf den Gegner. Segelmanöver wurden längst nicht mehr durchgeführt, denn jeder hatte begriffen, daß man die Karavelle nicht mehr loswerden würde. Als Niccolo Borgo, der auf dem Achterdeck eine Drehbasse bediente, auf dem Piratenschiff die Gestalt eines wüst aussehenden Mannes mit roter Stirnbinde und einem gewaltigen Rauch erblickte, wußte er, mit wem er es zu tun hatte. Er hatte schon oft von Ahmet Aydin, dem Türken, gehört, der die Gewässer rund um Korsika und dessen Nachbarinseln heimsuchte. Diese Erkenntnis stimmte ihn auch nicht gerade glücklicher. Mit zusammengekniffenen Lippen versorgte der Capitano das Deck des gegnerischen Schiffes mit gehacktem Eisen. Er war fest entschlossen, sein Schiff bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Auch Sebastiano Tursi beteiligte sich furchtlos am Kampf. Bis jetzt hatte er Pistolen und Musketen im Wechsel zum Einsatz gebracht. Die Befehle des Kapitäns und des Profoses waren oft nicht mehr zu verstehen, weil sie vom schaurigen Gebrüll und Geheule der Seeräuber übertönt wurden. Die Schnapphähne waren sich ihres Sieges schon sicher. Daß es auch auf ihrer Seite Tote und Verwundete gab, interessierte diese Kerle nicht. Das war ihr Berufsrisiko, und es mußte in Kauf genommen werden, so wie das Wetter, das an der Kimm heraufzog. Jetzt war es soweit. Die Enterhaken flogen bereits in hohem Bogen herüber und hakten sich an den Resten des
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Schanzkleides fest. Teilweise krachten sie auch durch die Glasfenster des Hecks. Kräftige Hände begannen damit, die Karavelle an die Galeone heranzuziehen. Taue und Strickleitern zischten durch die Luft, und eine ganze Schar von Piraten fing damit an, sich mit der Gewandtheit von Affen zur „Santa Maria Fianiella“ hinüberzuhanteln – Pistolen im Gürtel, Säbel an der Hüfte und Messer zwischen den Zähnen. Die verwegenen Gestalten glichen blutrünstigen Bestien, denen die Mordlust aus den Augen blitzte. Für die Männer des Handelsschiffes, die sich vorwiegend auf den achteren Teil der Galeone konzentrieren mußten, wurde es immer schwerer, das Schiff vor der anstürmenden Horde abzuschirmen. Einige von ihnen wurden in die Kapitäns- und Offizierskammern abkommandiert, um dort an den zertrümmerten Fenstern die enternden Piraten zurückzudrängen. Aber sie schafften es nicht mehr. Der Schweiß lief den Männern bereits in Strömen über den Körper, jeder gab sein Letztes, weil er wußte, daß es hier ums nackte Überleben ging. Auch Sebastiano Tursi hatte seine Pistolen und Musketen längst leergeschossen. Zum Nachladen reichte die Zeit nicht mehr aus, deshalb griff er nach dem Entermesser, das er bis jetzt an der Hüfte getragen hatte. Während der junge Korse ans Schanzkleid des Achterdecks stürmte, um enternde Piraten abzuwehren, zischte eine Pistolenkugel durch die Luft. Sebastiano spürte einen brennenden Schmerz am linken Oberarm, aber er biß die Zähne zusammen. Wahrscheinlich hatte ihn nur ein leichter Streifschuß erwischt, denn sein Arm, an dem es warm hinunterrann, war nach wie vor funktionstüchtig. Er fand auch gar nicht die Zeit, sich um die Verletzung zu kümmern. Obwohl es das erste Seegefecht und der erste Enterkampf war, den er miterlebte, wußte er instinktiv, daß es im Augenblick um Wichtigeres ging als um Hautkratzer und zerfetzte Hemdsärmel. Geschickt gelang es Sebastiano Tursi, mit seinem Messer ein Tau zu kappen. Drei
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Piraten, die sich daran hochhangeln wollten, stürzten mit einem wilden Aufschrei ins Wasser. Während er sich dem nächsten Tau, das an einem Enterhaken befestigt war, zuwandte, hörte er eine laute Stimme von dem Piratenschiff herüberbrüllen. „Gebt auf, ihr lausigen Hunde, sonst verarbeiten wir euch zu Fischfutter!“ Die Stimme ertönte von einem dickbauchigen Mann, der drüben auf dem Achterdeck stand und einen Säbel durch die Luft zischen ließ. Ob das der Piratenkapitän war? Sebastiano vermutete es. Aber er durfte sich nicht aufhalten lassen und mußte auf die Gefahren unmittelbar vor sich achten. Hinter ihm drang das Stöhnen der Verwundeten über die Decks, unterbrochen von Todesschreien auf beiden Seiten. Ein Stück zu seiner Rechten sah er Niccolo Borgo, den Kapitän, der zwei Pistolen in den Händen hielt. Grelle Feuerzungen stachen aus den Mündungen hervor. Und der Capitano hatte getroffen. Zunächst hatte es einen Piraten, der sich an einem Tau vorwärts hangelte, erwischt, und dann griff sich drüben an Bord der Karavelle ein dunkelhäutiger Bursche aufschreiend an die Brust und kippte vornüber ins Wasser. Trotzdem waren die Teufel nicht aufzuhalten. Einer ganzen Reihe war es bereits gelungen, die „Santa Maria Figaniella“ zu entern. Sie kletterten wie die Katzen über das Schanzkleid der Steuerbordseite, quollen durch die Fenster am Heck und stürmten dann das Achterdeck. Der Kampf Mann gegen Mann war längst im Gange. Eingesetzt wurde auf beiden Seiten, was greifbar war. Säbel und Messer zischten durch die Luft, Degen stießen vor, Belegnägel dröhnten dumpf auf manchen Schädel. Borgos Leute kämpften verbissen. Ging eine Waffe verloren, bückte man sich und riß Toten oder Verwundeten die Waffen aus den Händen, um sie wieder zum Einsatz zu bringen. -
Todesschatten am Horizont
Plötzlich unterbrach ein lauter Ruf das Kampfgetümmel. „Ergebt euch, oder euer Kapitän ist tot!“ brüllte ein Muskelmann, breit wie ein Wandschrank. Es handelte sich unverkennbar um Aristoteles Salaikis, den griechischen Profos der Piraten. Sebastiano Tursi fuhr gleich den anderen Männern herum. Die Szene, die sich ihren Augen bot, brauchte die Wende – eine traurige Wende, weil sie die „Santa Maria Figaniella“ zum gekaperten Schiff werden ließ. Zwei finster blickende Burschen hielten Niccolo Borgo an beiden Armen fest. Hinter ihm stand der bullige Kerl, der ihm eine Pistole an die Schläfe gesetzt hatte. Wieder tönte seine Stimme über die Decks. „Das ist meine letzte Warnung!“ schrie er. „Ihr habt keine Chance mehr. Wenn ihr weiterhin Widerstand leistet, wird euer Kapitän als erster sterben. Dann werden die Haie mit euren Überresten gefüttert.“ Der Muskelprotz sprach den genuesischen Dialekt. Zwar nicht perfekt, aber doch verständlich. Sebastiano verstand als Korse nur Bruchteile davon, aber er sah ja vor Augen, um was es ging. Die Männer sahen ein, daß der blutige Kampf verloren war. Außerdem war ihr Capitano sehr beliebt. Niemand wollte sein Leben unnötig aufs Spiel setzen. Das eigene natürlich auch nicht. Gegen die Übermacht der Piraten hätten sie sich sowieso nicht mehr lange halten können. Während die Schnapphähne in lautes Siegesgeheul ausbrachen, ließen sich die Männer der „Santa Maria Figaniella“ resigniert entwaffnen. Man hatte sie von allen Ecken des Schiffes her zusammengetrieben. Viele, die das Massaker überlebt hatten, hielten ihre Blicke nach unten gerichtet. Nur schwer konnten sie ihre ohnmächtige Wut unterdrücken. Die Piraten begannen laut zu jubeln, als auch Ahmet Aydin, ihr Kapitän, auf das gekaperte Schiff überstieg. Zur Begrüßung setzte es für die gefangene Crew der Galeone abwechselnd Fausthiebe und
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Fußtritte, begleitet von höhnischem Gelächter. Das stolze genuesische Handelsschiff war den Piraten in die Hände gefallen. Und es war trotz seiner Beschädigung noch seetüchtig geblieben. Nichts würde dem angestrebten „Schiffstausch“ des Piratenkapitäns mehr im Wege stehen. Es dauerte auch nicht lange und die überlebende Besatzung der Galeone wurde auf die Zweimastkaravelle verfrachtet. Viele wurden zu diesem Zweck einfach über Bord geworfen. Für sie war trotz der geringen Entfernung Eile geboten, denn in der Nähe waren bereits die ersten Dreiecksflossen sichtbar geworden. Die Haie waren bereits da - angelockt durch das Blut der Toten und Verwundeten. Nur mit Mühe schafften es Borgos Leute, auch die zahlreichen Verletzten an Bord der Piratenkaravelle zu bringen. Auf der „Santa Maria Figaniella“ begannen sich inzwischen die Piraten auszubreiten. Sie betrachteten die Galeone ab sofort als ihr Eigentum. Der „Tausch“, den ihr Kapitän gefordert hatte, war in der üblichen Weise über die Bühne gegangen. Während ein Teil der wüsten Kerle damit anfing, das Schiff nach Beute abzusuchen, schleppten andere bereits die ersten Rumfässer auf die Kuhl. Ein lautes Singen und Gegröle begann. Kein Zweifel, zunächst würde eine wüste Siegesfeier beginnen. Ahmet Aydin, der Türke, wußte nur zu gut, was seine Männer von ihm erwarteten. Kapitän Borgo und seine restliche Mannschaft, darunter Sebastiano Tursi, bemühten sich inzwischen, mit der stark beschädigten Karavelle das Weite zu suchen. Wüste Flüche, lautes Gelächter und übler Spott begleiteten sie dabei. Einige Schnapphähne winkten mit Mucks voller Rum hinter ihnen her. Obwohl man Niccolo Borgo und seine Leute wie geprügelte Hunde davongejagt hatte, konnten sie dennoch froh sein, daß man sie überhaupt am Leben gelassen hatte. Nicht immer war Ahmet Aydin, der Türke, bisher so großzügig gewesen.
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Die Männer legten sich voll ins Zeug, um so rasch wie möglich Abstand zu gewinnen, denn niemand garantierte ihnen, daß die Piraten es sich nicht doch noch anders überlegen würden. 4. Ruhig und majestätisch pflügte der ranke Rahsegler die Wellen. Die schnelle Dreimastgaleone, die einst vom besten Schiffsbauer Englands erbaut worden war, brachte es auf eine Größe von zweihundertfünfzig Tonnen. Die mächtigen Rahsegel und das Lateinersegel am Besan verliehen der „Isabella VIII.“ ein stolzes Aussehen. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, einst von der englischen Königin Elizabeth I. zum Ritter geschlagen und mit einem Kaperbrief versehen, stand breitbeinig auf seinem Platz und gab Pete Ballie, dem Rudergänger, knappe Anweisungen. Bill, der Moses, hatte nach dem letzten Glasen der Schiffsglocke Dan O’Flynn im Großmars abgelöst, während ein Großteil der Crew mit seiner gewohnten Arbeit beschäftigt war. Batuti, der riesige Gambia-Neger aus dem Stamme der Mandingo, war inzwischen vom Kutscher, dem Koch und Feldscher der „Isabella“, verarztet worden. Mit viel Geschick und Feingefühl hatte der etwas schmalbrüstige, blonde Mann dem schwarzen Kameraden den langen Holzspan aus dem Arm gezogen und dann peinlichst genau dafür gesorgt, daß auch nicht die kleinsten Splitterreste zurückblieben. Schließlich hatte er die stark blutende Wunde mit einer übelriechenden Flüssigkeit betupft und damit tatsächlich die Blutung zum Stillstand gebracht. Jetzt prangte ein weißer Verband um den schwarzen Arm Batutis, und die ganze Prozedur war fast schon wieder in Vergessenheit geraten. Batuti hatte sich wieder bei Ferris Tucker, dem Schiffszimmermann, eingefunden, um, so gut es eben ging, bei den dringenden Reparaturarbeiten mitzuhelfen.
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Der schwarze Riese war wahrhaftig nicht zimperlich. Da hatte er doch schon ganz andere Dinger verkraftet. Wenn er sich an die Bekanntschaft mit dem Zitteraal erinnerte, die er an der sumpfigen Mangrovenküste der Baja de Marajo, an der Ostküste Südamerikas gemacht hatte, dann War der kleine Unfall hier an Bord doch wirklich nur ein Kinderspiel. Hätten ihn damals nicht Hasard und einige andere Crew-Mitglieder durch ihr rasches Eingreifen gerettet, dann wäre er hilflos im hüfthohen Brackwasser ertrunken oder aber von lauernden Mohrenkaimanen zerfleischt worden. Er war damals wie gelähmt gewesen von der geheimnisvollen Kraft, die der schlangenartige Fisch auf seinen Körper übertragen hatte. Da zog Batuti doch jederzeit einen Holzsplitter im Arm vor. Da wußte man wenigstens, daß die ganze Sache mit rechten Dingen zuging. Außerdem hatte im Gegensatz zu der damaligen Begegnung mit dem „magischen Fisch“ niemand gespottet, sondern alle hatten ihn mitleidsvoll angesehen. Verdammt, er war bestimmt nicht zart besaitet, aber irgendwie hatte es ihm doch gut getan, zur Abwechslung einmal bedauert zu werden. Edwin Carberry, der bullige Profos, hatte bei der ersten sich bietenden Gelegenheit einige der harten, runden Bohnen, mit denen ihn Arwenack, der Bordschimpanse, „beschossen“ hatte, zurückgeworfen. Aber um ein Haar wäre Sir John, der bunte Aracanga-Papagei, Opfer des Angriffs geworden. Kein Wunder, daß der Profos sich prompt von der Vormarsrah herunter sagen lassen mußte, daß er ein „triefäugiger Hering“ und außerdem noch eine „verlauste Bilgenratte“ sei. Der Profos war im Moment jedenfalls bedient, und wer es ermöglichen konnte, nahm an diesem Vormittag doch lieber einen kleinen Umweg in Kauf, um Edwin Carberry nicht vor den Bug zu laufen. Arwenack und Sir John blieben auch wohlweislich hoch oben auf ihren Lieblingsplätzen, denn sie wußten inzwischen nur zu gut, auf welch edlen Körperteil sich der grimmige Profos
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konzentrieren würde, gerieten sie erst einmal in seine Nähe. Philip und Hasard, die beiden Söhne des Seewolfs, hatten in stundenlanger Arbeit einen Teil der Decks auf Hochglanz gebracht. So manche Pütz Seewasser war zu diesem Zweck über das Schanzkleid gehievt worden, und der weiße Scheuerstein sah aus, als sei er ein ganzes Stück kleiner geworden. Die beiden elfjährigen Burschen hatten jedenfalls schon hochrote Gesichter. Bereits dreimal waren sie an diesem Vormittag mit einer Muck zum Wasserfaß geeilt, in Anbetracht der Tatsache, daß dem Kutscher ausnahmsweise eine kräftige Brise Salz zuviel ins Frühstück geraten war. Der Geplagte hatte sich an diesem Morgen in großer Eile befunden einerseits, weil Batuti verarztet werden mußte, andererseits, weil ihm - sinnbildlich gesehen - das Magenknurren der Crew bereits in den Ohren gedröhnt hatte. Jedenfalls waren die Zwillinge in voller Übereinstimmung mit Edwin Carberry, der, ebenfalls vom großen Durst geplagt, der Meinung war, daß man den Kutscher unbedingt mit einem gewissen karierten Körperteil auf seine heiße Kochplatte setzen müsse. Mit einem Grinsen in den sonnengebräunten Gesichtern erinnerten sich die beiden „Rübenschweinchen“ daran, wie die Indianer vom Stamm der Tupinamba, mit denen sie an der südamerikanischen Ostküste Freundschaft geschlossen hatten, über das Steinsalz hergefallen waren, das ihr Vater ihnen geschenkt hatte. „Heiliges Kanonenrohr“, sagte Philip junior, „die müssen doch damals den ganzen Fluß ausgesoffen haben vor lauter Durst.“ Erst die helle Stimme Bills, der hoch oben im Ausguck mit wachen Augen die Kimm abtastete, unterbrach das geschäftige Treiben an Bord der „Isabella“, die Kurs auf die Insel Korsika lief. „Wahrschau!“ brüllte er nach unten. „Mastspitzen an der Kimm, Backbord voraus.“
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Während der Seewolf zum Kieker griff, fiel dem alten O’Flynn unweigerlich der Fussel von heute früh ein. „Fädchen am Morgen bringen Kummer und Sorgen“, hatte er sehr zum Spott Ferris Tuckers deklamiert. Als er jetzt etwas von Mastspitzen hörte, nahm sein verwittertes Gesicht einen gespannten Ausdruck an. Er wollte doch einmal sehen, wer recht hatte. Die Seewölfe blickten zunächst abwartend dem Schiff entgegen, das hinter der Kimm aus dem Wasser zu tauchen schien. Die Sicht war gut, sie wurde an diesem sonnigen Vormittag von keinerlei Dunstschleiern getrübt. „Es scheint sich um eine Karavelle zu handeln“, stellte Philip Hasard Killigrew fest und drehte dabei an der Optik des Spektivs. Nach einem Augenblick des Schweigens fuhr er fort: „Merkwürdig, der Zweimaster scheint ziemlich angeschlagen zu sein. Selbst ein Bugspriet ist nicht mehr zu erkennen. Vom Schanzkleid ist auch nicht mehr viel übriggeblieben.“ Ben Brighton, der Erste Offizier der „Isabella“, war inzwischen neben den Seewolf getreten. Schweigsam musterte er das fremde Schiff, das fast den gleichen Kurs wie die „Isabella“ zu laufen schien. „Du hast recht, Sir“, sagte er dann. „Der Kahn sieht ziemlich mitgenommen aus. Entweder ist er unter die Räuber gefallen, oder es befinden sich welche an Bord. Es wäre nicht das erste Mal, daß man durch vorgetäuschte Hilfsbedürftigkeit versucht, andere aufs Kreuz zu legen.“ Philip Hasard Killigrew schüttelte den Kopf. „Deine Vermutung kann durchaus richtig sein“, sagte er, „aber in diesem Falle zweifle ich doch daran. Die Schäden, die man bis jetzt erkennen kann, stammen mit Sicherheit von einem Gefecht. So etwas kann man nicht vortäuschen. Siehst du übrigens das riesige Loch im Vormarssegel?“ „Hm“, meinte Ben Brighton in seiner besonnenen Art, „ich sehe es jetzt auch. Auch sonst scheint kaum etwas heil geblieben zu sein. Du magst schon recht haben. Was gedenkst du zu unternehmen?“
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„Vorsichtig ist die Mutter der Weisheit“, antwortete der Seewolf. „Wir werden uns auf alle Fälle auf eine unliebsame Begegnung einstellen. Verläuft sie freundlicher als erwartet, dann soll es uns nur recht sein. Die Karavelle läuft übrigens südöstlichen Kurs. Wenn sie ihn beibehält, müßte sie nach einiger Zeit unseren Weg kreuzen.“ Gleich darauf gab er Befehl, die „Isabella“ gefechtsklar zu machen. Die ranke Galeone brauchte an und für sich keine Begegnung zu fürchten, das hatte sich in der Vergangenheit zur Genüge gezeigt. Sie war auf der Steuerbord- und Backbordseite mit je acht Siebzehnpfünder-Culverinen bestückt. Vorn und achtern kamen noch je zwei Drehbassen hinzu, die dem schnellen Feuern dienten. Edwin Carberry, der Profos, gab die Befehle des Kapitäns sofort an die Crew weiter. „Hopp, hopp, ihr blatternarbigen Heringe!“ brüllte er mit Donnerstimme. „Schlaft nur nicht ein, es ist noch lange hin bis zum Abend. Und ihr Rübenschweinchen“, wandte er sich im selben Atemzug den Zwillingen zu, „habt ihr noch immer keinen Sand gestreut? Sollen wir, wenn’s losgeht, vielleicht mit dem Achtersteven durch die Gegend rutschen, was, wie?“ Sein Anheizen wäre gar nicht nötig gewesen, denn jeder an Bord der „Isabella“ wußte genau, wo sein Platz war und was er in kritischen Situationen zu tun hatte. Trotzdem hätte den Männern die längst gewohnte Begleitmusik gefehlt, wenn der Profos seine gutgemeinten Sprüche hinuntergeschluckt hätte. „Was ist los, Blacky, du Stint?“ fuhr Edwin Carberry fort. „Muß ich dir erst eine Kanonenkugel auf dem Tablett servieren, bevor du den Hefekloß endlich in das Rohr kriegst, he? Oder geht es schneller, wenn ich dich dabei unter den Armen kitzle? Kutscher, du Pfannenschwenker, wo bleiben die Kohlebecken? Nur nicht so lahm, ihr Buschgespenster, oder muß ich euch zuerst die Haut in Streifen von euren karierten Affenärschen ziehen, was, wie?“
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Die angeschlagene Zweimastkaravelle war inzwischen leicht nach Steuerbord abgefallen, um näher an die „Isabella“ heranzukommen. Philip Hasard Killigrew und Ben Brighton, die noch immer ihren Platz auf dem Achterdeck einnahmen, hatten mittlerweile die genuesische Flagge entdeckt, die am Großmars wehte. Als nächstes stach ihnen ein weißes Tuch ins Auge, das auf dem heransegelnden Schiff hochgezogen wurde. „Damit wollen sie friedliche Absichten demonstrieren“, meinte Ben Brighton. „Oder gar keine Absichten“, gab der Seewolf zurück. „Sie sind nicht sicher, mit wem sie es zu tun haben und wollen daher von vornherein einer Auseinandersetzung aus dem Weg gehen. Da sie ebenfalls Kurs auf Korsika laufen, ist anzunehmen, daß sie ihr angeschlagenes Schiff dort reparieren wollen.“ Die „Isabella“ war inzwischen bereit, einem Angriff entsprechend zu begegnen. Alle Männer waren auf Stationen. Lediglich die Stückpforten waren noch geschlossen. Trotzdem waren die Seewölfe hellwach und jederzeit bereit, blitzschnell die Culverinen auszurennen, wenn es erforderlich werden sollte. Vorerst verzichteten sie jedoch darauf, denn sie wollten ja nicht, wie der Profos es ausdrückte, mit Kanonen auf Spatzen schießen. Außerdem waren auf der heransegelnden Karavelle keinerlei Anzeichen für eine Gefechtsvorbereitung zu erkennen. Wie Schnapphähne sahen die Männer, die man nun schon erkennen konnte, auch nicht gerade aus. Man beschloß deshalb, die weitere Entwicklung abzuwarten. Auf der Zweimastkaravelle, an der ein Name nicht mehr zu entziffern war, gab man durch Zeichen zu verstehen, daß man zu einer Verständigung bereit war. Gleich darauf wurden die Segel aufgegeit. „Wir sollten darauf eingehen“, sagte der Seewolf. „Der Kahn sieht wirklich schlimm aus, und die Besatzung scheint weitere Probleme unbedingt vermeiden zu wollen.“
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Darauf gab Hasard den Befehl, die Segel ins Gei zu hängen. Wenig später wurde auf der Zweimastkaravelle ein Boot abgefiert, das mit drei Männern besetzt wurde. Es hielt direkt auf die „Isabella“ zu. Gepullt wurde es von zwei Rudergasten, die sich kräftig in die Riemen legten. Ein dritter Mann, von kleiner, gedrungener Gestalt, stand aufrecht im Boot und schwenkte eine weiße Fahne. Als das Boot auf Rufweite heran war, tönte die Stimme des Mannes zur „Isabella“ herüber. „Ich bin Kapitän Niccolo Borgo!“ rief er. „Bitte an Bord kommen zu dürfen.“ Philip Hasard Killigrew ließ über das Backbordschanzkleid eine Jakobsleiter ausbringen. Kurz darauf betrat der Kapitän der Zweimastkaravelle die „Isabella“. Erst jetzt sahen die Seewölfe, daß die Uniform des Kapitäns verschmutzt war. Teilweise klebte Blut daran, an einigen Stellen war sie zerrissen. „Ich bin Philip Hasard Killigrew“, stellte sich der Seewolf vor. „Das hier ist Mister Brighton, mein Erster Offizier. Was führt Sie zu uns? Hatten Sie Schwierigkeiten?“ „Das kann man wohl sagen, Sir“, erwiderte Niccolo Borgo in holprigem, aber verständlichem Englisch. Sein Mund verzog sich dabei zu einem erbitterten Lächeln. „Ich bin erleichtert darüber, daß Sie mich empfangen haben“, fuhr er fort. „Denn wie Sie inzwischen sicherlich festgestellt haben, ist das Schiff dort drüben gar nicht mehr in der Lage, sich groß zur Wehr zu setzen. Außerdem liegt es auch ganz und gar nicht in unserer Absicht, irgendjemanden anzugreifen.“ „Sie sprechen von ‚diesem Schiff’, Capitano“, sagte Hasard. „Ist es nicht Ihr Schiff?“ Der Besucher schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Ich bin Korse und Kapitän der ‚Santa Maria Figaniella`, einem friedlichen Handelsschiff, das unter genuesischer Flagge segelt. Es ist erst wenige Stunden her, daß wir von dieser Karavelle, einem Piratenschiff, heimtückisch überfallen wurden. Eine
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ganze Reihe meiner Leute wurde verwundet, einige sind bei dem Gefecht und dem anschließenden Enterkampf gefallen. Die Piraten haben uns durch eine List hereingelegt, so daß wir zum Schluß keine Chance mehr gegen sie hatten. Sie haben unser Schiff gekapert und uns auf ihrer beschädigten Karavelle wie Hunde davongejagt. Jetzt sind wir unterwegs nach Korsika, das wir erst am gestrigen Abend verlassen haben.“ „Dann haben wir wohl denselben Weg“, sagte Hasard. „So ist es“, erwiderte Niccolo Borgo. „Wenn Sie von hier aus auf direkten Ostkurs gehen, erreichen Sie den Golf von Valinco. Übrigens, Sir“, der kleine, muskulöse Kapitän schluckte, „Ihr Name ist Killigrew. Philip Hasard Killigrew ...“ Erst jetzt huschte ein Ausdruck des Begreifens über sein Gesicht. „Sind Sie ...?“ Hasard lächelte. „Ja. Man nennt mich den Seewolf.“ Niccolo Borgo trat reflexartig einen Schritt zurück. Nicht aus Angst, sondern eher aus Bewunderung. „Verzeihung, Sir“, sagte er, „daß ich Sie nicht früher erkannt habe, aber wir haben in den vergangenen Stunden einiges hinter uns gebracht. Ich —ich habe schon viel von Ihnen gehört, denn Spanien liegt ja nicht allzu weit von hier entfernt. Ihr Ruf der Fairneß, auch gegenüber den Spaniern, ist sogar hier im Mittelmeerraum bekannt. Ich gestehe aufrichtig, daß ich mich sehr erleichtert fühle, gerade an Bord Ihres Schiffes zu stehen. Die Gewässer rund um Korsika und die Nachbarinseln werden in letzter Zeit durch Ahmet Aydin, einem türkischen Piratenkapitän, stark verunsichert. Auch wir verdanken diesem rücksichtslosen Halunken unsere Niederlage und können trotzdem froh sein, daß wir noch am Leben sind. Die Karavelle kann keine weiteren Schwierigkeiten mehr verkraften, denn sie hat auch noch ein riesiges Leck auf der Backbordseite. Wenn Sie denselben Weg haben, Sir, wäre ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn wir Ihr Geleit in
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Anspruch nehmen dürften. Zumindest, bis wir den Golf von Valinco erreicht haben. Dort könnten wir versuchen, die Karavelle so weit flott zu kriegen, daß wir damit zu unserem Ausgangshafen zurückkehren können.“ „Gern, Capitano“, sagte Hasard. „Warum sollten wir nicht in Sichtweite segeln, wenn wir einen Weg haben.“ Der Seewolf hatte längst erkannt, daß er es mit einem ehrlichen Handelsfahrer zu tun hatte, der in erhebliche Schwierigkeiten geraten war. Er betrachtete es deshalb als seine Pflicht, ihm, so gut es ging, zu helfen. „Es sind höchstens noch vierzig Seemeilen bis in den Golf von Valinco“, setzte Niccolo Borgo mit hoffnungsvollem Blick hinzu. „Die Sache geht in Ordnung“, sagte Hasard. „Am besten, wir segeln gleich weiter. Brauchen Sie zunächst noch irgendwelche Hilfe? Sie haben doch Verwundete an Bord?“ „Das schon, Sir, aber wir haben sie inzwischen nach besten Kräften versorgt. Unser Feldscher ist uns, der Madonna sei Dank, erhalten geblieben, sonst hätte es für einige recht schlimm ausgesehen.“ „Gut“, sagte Hasard. „Wir werden auf Korsika Wasser und frischen Proviant übernehmen und vielleicht auch einige Dinge einkaufen. Wie ich unseren Schiffszimmermann kenne, wird er während unseres Aufenthalts bestimmt dabei helfen, die Karavelle wenigstens in einen brauchbaren Zustand zu versetzen.“ Während Ferris Tucker, der rothaarige Riese zustimmend nickte, fuhr der Seewolf fort: „Sollte uns dieser Türke, der sich ja, wie Sie sagen, meist in den Gewässern um Korsika aufhält, irgendwo begegnen, können wir ja mal mit ihm reden, ob er bereit ist, Ihr Schiff freiwillig wieder herauszurücken.“ In den eisblauen Augen des Seewolfs blitzte es bei diesen Worten gefährlich auf. Doch gleich danach zog wieder ein Lächeln über sein markantes Gesicht. Niccolo Borgo schienen auf jeden Fall mehrere Steine gleichzeitig vom Herzen
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gefallen zu sein, als er sich zu der Karavelle zurückpullen ließ. Kurz darauf nahmen beide Schiffe Kurs auf den Golf von Valinco. Besonders Philip und Hasard, die elfjährigen Zwillinge, waren gespannt auf die Insel Korsika. Dort sollte es, wie sie gehört hatten, viele Berge und Banditen geben, aber es sollte auch eine ungemein schöne Insel sein. Vor allem Mister Brighton hatte von einer „Insel der Schönheit“ gesprochen. „Insel der Schönheit“, zitierte Hasard junior. „Das klingt sehr poetisch.“ „Was ist poetisch?“ fragte Philip junior. „Kannst du dich nicht deutlich ausdrücken?“ „Das schon“, gab Hasard zurück. „Nur hast du anscheinend Schimmel auf dem Verstand. Ein Poet ist ein Dichter, falls du das noch nicht wissen solltest.“ „Aha“, sagte Philip. „Soll das vielleicht heißen, daß es auf Korsika viele Dichter gibt?“ „Weiß ich nicht“, erwiderte Hasard lakonisch, „vielleicht!“ Der Profos, der auf dem Weg zum Achterdeck war, mischte sich in ihr tiefsinniges Gespräch. „Ho, darf man die Gentlemen beim Dichten stören, was, wie? Oder gibt es sonst an Bord nichts mehr zu tun?“ „Wir haben über die Kultur von Korsika geredet“, sagte Hasard mit einem beleidigten Gesichtsausdruck. „Ha?“ fragte Ed Carberry. „Über die was?“ „Über die Kultur“, sagte der Bengel mit einem überlegenen Grinsen. „Das ist — das ist ... Na, jedenfalls gehört das Dichten dazu. Übrigens, Mister Carberry, kannst du auch dichten?“ „Ich und dichten?“ fragte Carberry erstaunt. „Klar, kann ich das. Das ist doch wirklich keine Kunst, oder?“ „Dann versuch’s doch mal, Mister Carberry, Sir.“ „Natürlich, hört nur zu, ihr Stinte —hm.“ Der Profos kratzte sich nachdenklich an den Bartstoppeln, wohl wissend, daß er wahrscheinlich etwas zu rasch auf die Frage des Bengels eingegangen war.
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„Na, was ist, Mister Carberry?“ fragte Philip ungeduldig. „Hm, na also“, sagte der Profos, „das geht ungefähr so ...“ Die Stimme des Seewolfs, der auf dem Achterdeck stand, unterbrach ihn. Ed Carberry atmete hörbar auf. „Ihr seht ja“, sagte er zu den beiden, „man kommt gar nicht dazu, eine Denkpause einzulegen und — und, ho, jetzt hab ich’s!“ Und er deklamierte: „Rutsch mir mal den Buckel runter, und heb dich weg, du faule Flunder!“ Ein breites Grinsen auf dem zernarbten Gesicht des Profoses verriet, daß er mächtig stolz auf seinen Vers war. Dann begab er sich auf den Weg zum Achterdeck, wo der Seewolf bereits auf ihn wartete. Das Gelächter der „Rübenschweinchen“ dröhnte über die Kuhl. „Aber ich kann auch dichten, Mister Carberry, Sir!“ rief Hasard junior hinter dem Profos her. „Das geht so: Ein Affenarsch, ganz bunt kariert, wird vom Profos gern aufpoliert ...“ Bevor die Verblüffung auf dem Gesicht Ed Carberrys in andere, wohlbekanntere Züge überging, kratzten die beiden Bengel die Kurve. Sie wagten sich erst wieder ans Schanzkleid der „Isabella“, als sie —fast auf Rufweite von der Zweimastkaravelle entfernt — in die malerische Bucht von Valinco einlief. Was jedoch weder die „Rübenschweinchen“ noch sonst jemand an Bord des ranken Seglers ahnte, war die Tatsache, daß sich dort drüben auf der Karavelle ein junger Mann befand, der der korsischen Küste mit sehr gemischten Gefühlen entgegenblickte. Sebastiano Tursi sah nicht den tiefblauen Himmel, der sich im Wasser spiegelte und die Berge seiner Heimat in gleißendes Licht tauchte. Was er am Horizont heraufschweben sah, waren finstere Schatten, Schatten des Todes. 5.
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Die kleinen kastenförmigen Häuser des Fischer- und Bauerndorfes Porto Bollo schmiegten sich an der Küste eng zusammen, als suchten sie Schutz im Schatten der bizarren Berge, die im Hintergrund der Insel in den Himmel aufragten. Das Dorf lag direkt an der Mündung des Flusses Taravo, der seine Fluten in die riesige Bucht von Valinco, im Südwesten der Insel Korsika, ergoß. Die Seewölfe registrierten im Hafen von Porto Bollo eine ganze Reihe von Piers, die aber zumeist von kleineren Schiffen und Fischereibooten benutzt wurden. Philip Hasard Killigrew war sich noch nicht im klaren darüber, ob er riskieren konnte, mit der „Isabella“ direkt bis an eine Pier heranzugleiten. Er ließ deshalb Smoky ständig die Tiefe loten. Zunächst waren es noch sieben Faden, dann nur fünf, und so wurde die Wassertiefe ständig geringer. Lediglich die kleinere Karavelle, die weniger Tiefgang als die „Isabella“ hatte, wagte sich bis in die Nähe eines Piers. Diese bestanden fast ausschließlich aus grob gezimmerten Holzstegen, die vom Strand her ein Stück in das Wasser der Bucht hinausragten. Als die Tiefe beträchtlich zurückgegangen war, ließ Hasard die „Isabella“, deren Segel bereits aufgegeit waren, vor Anker gehen. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, hatte bereits die nötigsten Werkzeuge zusammengepackt, mit denen er der zerschossenen Karavelle zu Leibe rücken wollte. Natürlich hatte er auch seine gefährlich aussehende Zimmermannsaxt nicht vergessen. Mit einem verlegenen Blick sah er den Seewolf an. „Dich bedrückt doch was, Ferris“, sagte Hasard. „Nun komm schon, rück nur heraus damit!“ „Nun ja, Sir, ich meine - ich denke ...“ Im Gegensatz zu sonst wirkte der rothaarige Riese wie eine Jungfrau, die vorn Bräutigam zur Hochzeit abgeholt wird. „Bist du krank, Ferris? Soll ich vielleicht den Kutscher rufen lassen?“ fragte der
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Seewolf verwundert. Er war von seinem Zimmermann durchaus nicht gewohnt, dass er wie ein armer Sünder herumdruckste. „Um Gottes willen, nein!“ sagte Ferris Tucker. „Nur das nicht. Es ist im Grunde genommen ganz einfach, Sir, Ich denke nur an das Gespräch zwischen dir und .dem Kapitän des Seelenverkäufers da drüben. Du sagtest, wenn wir den Piraten begegnen würden, dann würden wir dem Capitano sein Schiff wieder zurückholen. Ich meine ich meine, würdest du dann auch den Piraten das Schiff da drüben wieder zurückgeben?“ Nun war es heraus. Es ging zwar nicht um eine weltbewegende Frage, aber immerhin hatte sie doch den tüchtigen Schiffszimmermann der „Isabella“ gewaltig beschäftigt. Hasard lachte. „Wenn das alles ist, was dich bedrückt hat, Ferris, da kann ich dich beruhigen. Warum sollten wir den Schnapphähnen das Schiff zurückgeben? Damit sie noch mehr Unheil anrichten können? Das wäre ja das gleiche, als würde man einem Meuchelmörder das Messer in die Hand drücken. Nein, mein Lieber, die Burschen jagen wir zum Teufel, wenn wir je auf sie treffen sollten, und das Schiff kann meinetwegen Kapitän Borgo - gewissermaßen als Entschädigung - behalten. Wir wollen doch wohl nicht den Halsabschneidern noch Vorschub leisten, oder?“ „Natürlich nicht“, sagte Ferris Tucker grinsend und war plötzlich wieder der alte. „Na, dann auf in den Kampf, Jungs!“ setzte er hinzu. „Da wollen wir dem Capitano mal zeigen, wie man eine solch kaputte Kiste wieder flott kriegt.“ Dem Seewolf zugewandt sagte er noch: „Jetzt schmeckt die Arbeit noch mal so gut, Sir.“ Der Riese packte sein Werkzeug zusammen und sah sich tatendurstig um. „Was ist los? Wer macht mit?“ Das war wieder eine Entscheidung, die Hasard als Kapitän treffen mußte. „Nun“, sagte er, „wir wollen doch nicht, daß sich unser Zimmermann an diesem Wrack übernimmt. Einen solchen
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Burschen kriegen wir nie wieder. Also werden ihm einige dabei helfen. Wie wärs mit dir, Blacky? Sam und Bob, ihr habt euch auf diesem Gebiet auch schon als recht brauchbar erwiesen, und du, Big Old Shane, wärst auch nicht gerade fehl am Platze: Morgen wechseln wir dann, damit jeder mal die ‚Insel der Schönheit’ bewundern kann.“ Die Männer waren sofort einverstanden und rüsteten sich für ihren Einsatz, zumal sich von der Karavelle bereits ein Boot löste und auf die „Isabella“ zuhielt. Inzwischen bestimmte Hasard die Männer, die ihn beim ersten Landgang begleiten sollten. Da es einiges einzukaufen gab, mußte natürlich auch der Kutscher mit von der Partie sein. Außerdem sollten Ed Carberry, Batuti, Dan O’Flynn, Smoky, Matt Davies und Stenmark, der Schwede, mit ihm nach Porto Bollo hinüberpullen. Der Rest der Crew sollte unter dem Kommando von Ben Brighton auf der „Isabella“ verbleiben. Aber morgen oder übermorgen sollten auch sie an der Reihe sein. Die Zwillinge natürlich auch, die nur mit Mühe auf den morgigen Tag vertröstet werden konnten. Bis zum Einbruch der Dunkelheit vergingen höchstens noch drei Stunden. Der Seewolf beschloß deshalb, sich in der verbleibenden Zeit ein wenig in Porto Bollo umzusehen. Vielleicht fand man noch die Gelegenheit, einige Sachen zu bestellen, die dann morgen an Bord gebracht werden konnten. Außer Frischfleisch, Gemüse und Obst Wollte Philip Hasard Killigrew auch bestimmte Mengen der berühmten Gewürzkräuter Korsikas einkaufen Lavendel, Thymian, Rosmarin und Wacholder. Als der Landtrupp mit dem Beiboot auf eine Pier zupullte, erschloß sich den Männern ein malerisches, kleines Dorf. Ein breiter Streifen mit einem hellen Sandstrand zog sich an der Küste entlang. Dahinter lag Porto Bollo zu Füßen eines Berges, der die Welt an dieser Stelle abzuriegeln schien.
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Natürlich war die Ankunft der beiden Segelschiffe nicht unbemerkt geblieben, obwohl es gar nicht so selten geschah, daß ein Segler vor Anker ging, um Waren an Bord zu nehmen. Die Bevölkerung von Porto Bollo hatte sich längst darauf eingestellt. Die Piers bevölkerten sich im Handumdrehen mit Neugierigen, Geschäftstüchtigen und mit Gestalten, die nur wenig vertrauenerweckend aussahen. Als sie das Boot vertäut hatten, deutete der Profos auf einen verkommen aussehenden Burschen, der an der Pier herumlungerte und die Fremden mit stechendem Blick musterte. „Heiliger Bimbam“, sagte er, „der Kerl sieht ja aus wie ein Ochsenfrosch. Wenn der das Maul aufreißt, können zwei Galeonen nebeneinander hineinsegeln.“ Wenig später erreichten sie die erste Station ihres Landganges. Sie bestand aus einer weißgetünchten Kneipe, die durch ihre kleinen Fenster den Blick auf die Bucht freigab. Sie war so günstig placiert, daß kein durstiger Seemann sie verfehlen könnte. Der kleine, dicke Wirt, der eine Schürze um seinen gewaltigen Bauch gebunden und die feisten Hände in die Hüften gestützt hatte, stand bereits im Eingang und blickte den neuen Gästen erwartungsvoll entgegen. Mit überschwenglichen Worten und einem freundlichen Grinsen auf dem Vollmondgesicht empfing er die Männer der „Isabella“. Da er kein Englisch verstand und die Seewölfe weder den genuesischen noch den korsischen Dialekt beherrschten, einigten sie sich schließlich auf Spanisch, das der Wirt zumindest notdürftig sprach. In der Kneipe roch es nach Schweiß und Rotwein. Die dicke, muffige Luft überlagerte die grobgezimmerten Tische und Holzbänke, die um diese Zeit nur mäßig besetzt waren. Meist füllte sich der große Raum erst gegen abend, und man konnte dann das Lachen, Kreischen und Grölen bis hinunter zum Strand hören. Erfahrungsgemäß erfuhr man jedoch an solchen Örtlichkeiten am schnellsten, wo
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man seinen Proviantbedarf am besten decken konnte. Meist waren die Wirte auch gleichzeitig gerissene Händler, die vor Anker liegende Schiffe mit dem Nötigsten versorgten. Deshalb hatte auch der erste Weg der Seewölfe dem schmalen, langgestreckten Haus gegolten, das der wohlbeleibte Enrico sein eigen nannte. Nachdem sich die Männer an einem der Tische niedergelassen hatten, bestellte sich jeder einen Humpen vom besten Rotwein. Das Bild, das sich ihren Blicken bot, war typisch für Kneipen dieser Art. Am Nachbartisch saß ein alter, hagerer Mann mit ausgemergeltem Gesicht und grauen Bartstoppeln gegen die Wand gelehnt. Sein Blick war glasig, seine knochige Hand hielt den Griff des Humpens umklammert, der vor ihm auf dem Tisch stand. Zwei Tische weiter saßen einige Burschen, die nicht gerade nach Fischern und Bauern aussahen, beim Würfelspiel. Eine kleine, rundliche Frau mit strähnigen Haaren saß kreischend und kichernd dazwischen und hatte absolut nichts gegen die gierigen Hände, die ihre prallen Schenkel betatschten. Im Eingang erschien plötzlich der verkommene Kerl, der bei der Ankunft der Seewölfe an der Pier herumgelungert hatte, und den der Profos im Hinblick auf sein Aussehen als „Ochsenfrosch“ klassifiziert hatte. Er nahm am Nebentisch, an dem der alte Mann mit dem glasigen Blick saß, Platz. Es dauerte nicht lange, und er hielt dessen Humpen in den Händen und trank ihn aus. Irgendwie mußte es ihm gelungen sein, den Griff des Betrunkenen zu lockern. Der dicke Wirt watschelte heran und stellte den Rotwein auf den Tisch. „Es ist mein bester Wein“, sagte er. „Wirklich ein guter Tropfen.“ Dienernd verbeugte er sich, bevor er fortfuhr: „Ich gehe doch sicher richtig in der Annahme, daß die Signori auch einige Einkäufe für ihr stattliches Schiff tätigen möchten.“ „Ganz recht“, sagte Hasard. „Wir brauchen Proviant und einige andere Kleinigkeiten.
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Können Sie uns einen Händler empfehlen?“ „Oh, das ist kein Problem“, sagte der Dicke dienstbeflissen. „Sie können so ziemlich alles bei mir erhalten, was Seefahrer brauchen. Lediglich Frischfleisch, Obst und Gemüse werden Sie am besten auf dem Markt kaufen. Die günstigste Zeit dafür ist der morgige Vormittag. Aber alles andere können Sie zu guten Preisen von mir beziehen.“ Er warf sich stolz in die Brust. „Na gut“, sagte der Seewolf. „Wir werden wohl noch miteinander ins Geschäft kommen. Du hast es gehört, Kutscher. Was den Kombüsenbereich betrifft, wirst du dich wohl morgen auf dem Markt umsehen müssen. Die Zwillinge können dir dabei helfen, es wird ihnen bestimmt Spaß bereiten.“ Der Kutscher nickte zufrieden. Er wußte längst, was er für seine Proviantkammer alles brauchte. In seiner Eigenschaft als Feldscher war er auch an einer Reihe von Kräutern interessiert, die es mit Sicherheit auf Korsika gab. Ed Carberry stellte seinen Humpen genüßlich auf die dicke Holzplatte zurück. „Ein ganz annehmbares Gesöff“, stellte er befriedigt fest. „Da könnte man sich durchaus dran gewöhnen. So was zum Frühstück, und der Kutscher sieht den ganzen Tag über nur fröhliche Gesichter.“ „Das kann ich mir lebhaft vorstellen“, gab der Kutscher grinsend zurück und starrte dann verblüfft auf den verlotterten Kerl, der sich am Nebentisch aus dem Humpen des Betrunkenen bedient hatte. Der „Ochsenfrosch“ hatte sich erhoben und, war an ihren Tisch getreten. Mit einem hämischen Lachen griff er nach dem Humpen des Kutschers. Bevor die Seewölfe begriffen, was geschah, soff er ihn in einem Zug leer. „Danke, Signore“, sagte er dann in einem schauderhaften Englisch. „Der Wein ist wirklich gut.“ Dann wollte er sich dem Ausgang zuwenden. Aber er hatte die Rechnung ohne den Profos der „Isabella“ gemacht.
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Der Kutscher, der wie von einer Tarantel gestochen von seinem Platz hochfahren wollte, wurde von Carberry mit einem sanften Knurren auf die Bank zurückgedrückt. „Laß mich mal, Kutscher“, sagte er. „Für Ordnung und gutes Benehmen bin immer noch ich zuständig. Wenn dieses triefäugige Rübenschwein hier meint, es könne uns einfach für dumm verkaufen, ha, dann wird es aber Zeit, daß es einmal den Profos der ‚Isabella’ kennenlernt.“ Edwin Carberry tauchte wie ein Gigant hinter dem Tisch auf. „Komm her, du hinkende Kanalratte!“ rief er und packte den Kerl, der gerade verschwinden wollte, an dem Fetzen, der früher einmal ein Hemdkragen gewesen war. Er drehte ihn wie eine Puppe um die eigene Achse, bis er ihm die Rückseite zuwandte. Unmittelbar darauf donnerte der Stiefel Carberrys wie eine Kanonenkugel gegen den Achtersteven des Schnorrers. Der Kerl flog wie von der Sehne geschnellt durch die offene Tür und landete, eine lange Rutschspur hinterlassend, im hellen Sand des Strandes. Der Profos wischte sich die Hände ab und setzte sich wieder auf die Holzbank. „Kannst dir ja einen neuen Humpen kommen lassen“, sagte er grinsend zum Kutscher, „aber halt ihn diesmal fest.“ Vom lauten Kreischen der Molligen, die am Tisch der Würfelspieler saß, wurde er unterbrochen. Carberry nahm es zum Anlaß, Dan O’Flynn aufmunternd zuzugrinsen. „Na, du Stint, willst du nicht auch mal dieser Seekuh einen Klaps auf den Achtersteven geben, was, wie?“ „Um Himmels willen, nein!“ stieß Dan O’Flynn hervor. „Ich bin ja gewiß kein Kostverächter, aber — nun ja, da könnte ich ebenso gut einem Elefanten die Hinterbacken tätscheln.“ Die Männer lachten brüllend, zumal Dan ein bestürztes Gesicht schnitt. Sie ließen sich Zeit in der Kneipe. Die Nacht würde sowieso bald hereinbrechen, und den Hauptteil ihrer Geschäfte mußten sie ohnehin auf den nächsten Tag verschieben. Auch Ferris Tucker würde es
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mit seinen Gehilfen bestimmt nicht in einigen Stunden schaffen, die Schäden an dem Piratenschiff auszubessern. Das konnte durchaus noch zwei oder drei Tage dauern. Der Eingang der Kneipe verdunkelte sich plötzlich und Niccolo Borgo betrat mit zwei seiner Männer den Raum. Sofort rückten die Seewölfe an ihrem Tisch zusammen, um den neuen Gästen Platz einzuräumen. „Ich wußte, daß ich Sie hier finden würde, Sir“, sagte der Capitano mit freudigem Gesicht. „Ihr Zimmermann, dieser Mister Tucker, übrigens ein äußerst tüchtiger Mann, sagte mir, daß Sie Einkäufe zu erledigen hätten. Ich bin Ihnen wirklich zu großem Dank verpflichtet, ja, ich fühle mich fast beschämt. Darf ich Sie wenigstens zu einem Humpen Wein einladen?“ Dazu ließen sich die Seewölfe nicht zweimal auffordern. Wenig später erzählte Niccolo Borgo, der Kapitän der „Santa Maria Figaniella“, ausführlich von dem Piratenüberfall: Und er vergaß auch nicht, über das Schicksal Sebastiano Tursis zu berichten, der sich noch immer an Bord der Karavelle befand. „Ich habe ihm nicht erlaubt, von Bord zu gehen“, sagte er, „obwohl es andererseits verständlich ist, daß es ihn zu seiner Familie zieht. Aber in diesem kleinen Nest weiß jeder gleich, was gespielt wird, und ich möchte nicht, daß ihm etwas zustößt. Das bin ich seinem toten Vater schuldig.“ Niemand bemerkte während des Gespräches die haßerfüllten Augen, die durch das offene Fenster in den Raum starrten. Es befand sich in unmittelbarer Nähe jenes Tisches, an dem die Männer ins Gespräch vertieft waren. Die Augen gehörten zu einem Gesicht, das dem zerlumpten Kerl das Aussehen eines Ochsenfrosches verlieh. Ja, es war jener Bursche, den der Profos mit Wucht aus der Kneipe befördert hatte. Der Capitano nahm einen Schluck von seinem Wein. „Übrigens“, fuhr er dann fort, „die Familie Tursi, die hier in Porto Bollo lebt, hat mich
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und einige meiner Leute zu einem Essen eingeladen —aus Dankbarkeit gewissermaßen. Ich kann es nicht abschlagen, es wäre sonst eine Kränkung für diese einfachen, aber ehrlichen Menschen. Ich selbst bin Korse und verstehe sie deshalb sehr gut. Wir bereiten diesen leidgeprüften Leuten, die durch die Vendetta, mit Ausnahme Sebastianos, bereits alle männlichen Familienangehörigen verloren haben, eine große Freude, wenn wir ihre Einladung annehmen. Als ich von Ihrer großzügigen Hilfe berichtet habe, wurde die Einladung auf Sie und Ihre Männer erweitert. Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie die Einladung annehmen, Sir. Es handelt sich hier um einen sehr ernsten Menschenschlag, aber die Leute verstehen es auch, zu feiern. Warum sollten wir es eigentlich nicht? Wenn ich an mein Schiff denke, krampft sich mir das Herz zusammen, aber andererseits kann ich von Glück sagen, daß ich mit dem Großteil meiner Männer am Leben geblieben bin. Und das ist wahrhaftig auch Grund genug, sich zu freuen.“ „Wir nehmen die Einladung dankend an, Capitano“, sagte der Seewolf. „Oder habt ihr was dagegen, Männer?“ Die Antwort war vielstimmig, aber eindeutig. „Und was geschieht mit diesem Sebastiano Tursi?“ fragte Stenmark, der Schwede. „Es wäre schon verdammt merkwürdig, wenn wir bei seiner Familie feiern würden, während er sich auf dem Seeräuberschiff versteckt halten muß.“ Hasard grinste. „Wir werden schon einen Weg finden, ihn nach Hause zu bringen, ohne daß ihm gleich ein Messer zwischen die Rippen gestoßen wird.“ Das Froschgesicht am Fenster verschwand, als die Seewölfe nach ihren Humpen griffen, um mit Kapitän Borgo und seinen beiden Offizieren anzustoßen. * Die Abenddämmerung brach herein und die ersten grauen Schleier senkten sich als
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Vorboten der Nacht über die Insel und über das silbrig schimmernde Band des Taravo, der in den Golf von Valinco floß. Ein Stück flußaufwärts, dort, wo sich der Taravo zwischen steilen Bergen und felsigen Schluchten hindurchzwängte, lag San Micheli, ein winziges Bergnest, dessen Häuser wie kleine, weiße Kästen am Berghang klebten. Von den Häusern San Michelis bis hinunter zum Flußufer wucherte die üppige Macchia, der Buschwald, in dem sich Mandel- und Eukalyptusbäume ein Stelldichein gaben mit Buchen, Kiefern und Edelkastanien. Das Haus der Familie Ducale lag etwas abseits vom Dorfzentrum an einem Steilhang, der einen herrlichen Ausblick hinunter ins Tal bot, durch das sich die Fluten des Taravo wälzten. Es war weder ein großes noch ein schönes Haus, dennoch zählte die Familie Ducale nicht zu den sogenannten armen Schluckern. Der Grund dafür lag im dunkeln. Niemand in San Micheli würde es wagen, offen über die finsteren Quellen zu sprechen, aus denen Fulvio und Cosimo Ducale ihre Einkünfte bezogen. Die Berge Korsikas waren hoch und seine Schluchten tief. Sie bargen manche Geheimnisse, über die man am besten den Mund hielt. Die beiden ältesten Söhne der Familie Ducale saßen schweigend und mit düsteren Gesichtern an einem Tisch. Der Schein einer Tranfunzel verbreitete trübes Licht und ließ den schweren Rotwein in den Humpen schwarz erscheinen. Von draußen tönte das Geblöke der Schafe herein, und vereinzelt hörte man das aufgeregte Gackern eines Huhnes, das von seinem Besitzer in den Stall getrieben wurde. Plötzlich klopfte es hart an den hölzernen Fensterverschlag des Raumes. „Fulvio, Cosimo, macht auf!“ rief eine Männerstimme. Dann klopfte wieder eine Hand gegen das Holz. Die beiden Brüder blickten sich an. Dann erhob sich der bärtige Fulvio und ging zum Fenster hinüber, um den hölzernen Verschlag aufzustoßen.
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„Bist du es, Damiano?“ fragte er mit rauher Stimme. „Warum bist du so außer Atem? Was gibt es?“ „Ich habe gute Nachrichten“, keuchte der Mann vor dem Fenster. „Was ich zu berichten habe, wird euch bestimmt interessieren.“ „Dann komm herein“, sagte Fulvio. „Wir sind ungestört, die Frauen sind in der Küche beschäftigt.“ Er schloß das Fenster wieder, und während sich Cosimo Wein nachgoß, ging Fulvio zur Tür und öffnete. Damiano trat in den Raum. Er machte einen abgerissenen, verwegenen Eindruck. Seine Kleidung wirkte etwas zerlumpt, aber in erster Linie war es sein häßliches Gesicht, dem er sein Junggesellendasein bis zum heutigen Tag verdankte. Sein Mund zog sich von einem Ohr bis zum anderen – wie bei einem Frosch. „Setz dich!“ sagte Fulvio. „Welche Nachrichten hast du?“ Damiano begann zu grinsen. „Der Weg war weit“, sagte er betont langsam, „und ich mußte mich mächtig beeilen, um euch noch rechtzeitig zu erreichen. Meine Kehle ist völlig ausgetrocknet ...“ „Laß das Geschwätz!“ herrschte ihn Fulvio an und griff nach dem Weinkrug, um dem Besucher einzuschenken. „Sauf, so viel du willst“, fuhr er fort, „aber sag endlich, was los ist. Du bist doch nicht den weiten Weg gerannt, nur um dich mit Wein vollaufen zu lassen?“ „Er ist da!“ sagte der Kerl mit dem Froschgesicht unvermittelt. „Wer?“ „Wer wohl! Sebastiano Tursi.“ „Wie? Was sagst du da?“ Die Gesichter der Brüder Ducale waren für einen Augenblick wie erstarrt. Dann wandelten sich die Züge, und sie glichen plötzlich sprungbereiten Raubkatzen. „Lügst du auch nicht, Damiano?“ fragte Fulvio mit einem lauernden Blick. Sein wettergebräuntes Gesicht mit den dunklen Augen und dem schwarzen, buschigen Bart wirkte plötzlich verzerrt. „Wehe“, flüsterte er dann, „wenn du uns nur um des Weines willen Märchen erzählst ...“
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„Aber nein, Fulvio, wo denkst du hin. Du kennst mich doch. Es stimmt, was ich sage. Er ist da. Ich weiß, das klingt im Augenblick vielleicht etwas unglaubwürdig, weil er erst gestern abend Porto Bollo an Bord eines Schiffes verlassen hat. Aber glaube mir, er ist heute zurückgekehrt.“ „Wo ist er?“ „Auf einem Schiff. Aber es ist ein anderes Schiff, nicht das, mit dem er gestern davongesegelt ist. Zwei fremde Schiffe, eine außergewöhnlich schöne Galeone und eine halbwracke Karavelle sind heute in die Bucht eingelaufen. Er muß sich auf der Karavelle befinden.“ „Woher willst du das wissen?“ „Ich habe ein Gespräch belauscht, und zwar in Enricos Kneipe. Dabei habe ich es erfahren.“ Der Ochsenfrosch berichtete den Brüdern Ducale haarklein, was er gesehen und gehört hatte. Fulvio hieb mit der Faust auf die Tischplatte, daß die Humpen zu tanzen begannen. „Der Hund!“ stieß er hervor. „Diesmal wird er uns nicht mehr entwischen. Wir müssen die Zeit nutzen, Cosimo, bevor sich Tursi wieder mit dem Schiff davonstiehlt. Diesmal kann er uns nicht entgehen. Wir werden uns etwas einfallen lassen, ja, verdammt, wir müssen es versuchen, sonst lachen hier alle über uns.“ Cosimo räusperte sich und spuckte ungeniert auf den Fußboden. „Du hast recht, Fulvio“, sagte er. „Aber was willst du unternehmen? Das Schiff können wir nicht kapern, das schaffen wir nicht. Und unsere Kumpane können wir auch nicht aus den Bergen zusammenholen, dafür würde die Zeit nicht ausreichen. Wie willst du also an ihn heran?“ „Blödian !“ zischte Fulvio erregt. „Hast du nicht gehört, was Damiano erzählt hat? Er wird noch heute abend das Schiff verlassen und seine Familie aufsuchen — wahrscheinlich unter dem Geleitschutz der Schiffsbesatzungen. Und er wird mit Sicherheit noch in derselben Nacht an
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Bord zurückkehren, um sich dort versteckt zu halten. Das ist unsere Chance! Er darf das Schiff nicht mehr erreichen, wir müssen bereits vorher zuschlagen. Hör zu, Cosimo...“ Fulvio Ducale entwickelte einen Plan, einen heimtückischen, todsicheren Plan, der es ihnen noch in dieser Nacht ermöglichen sollte, die Blutrache an Sebastiano Tursi zu vollstrecken. Während sich die beiden Brüder Pistolen und Messer in die Gürtel schoben und beschlossen, doch noch einige Freunde in San Micheli aufzutreiben, kippte Damiano, der Ochsenfrosch, einen Humpen Wein nach dem anderen in sein großes Maul. 6. Den Seewölfen gingen bald die Augen über, als sie sich an dem reich gedeckten Tisch niederließen. Obwohl diese einfachen Menschen alles andere als wohlhabend waren, hatten sie sich nicht zurückhalten lassen, alles aufzubieten, was sie besaßen. Da die Familie Tursi auch noch befreundete Nachbarn zum Essen eingeladen hatte, herrschte in dem kleinen Raum bald lautes Stimmengewirr. Ed Carberry, Batuti, Dan O’Flynn, Smoky, Matt Davies sowie Stenmark und der Kutscher hatten den Seewolf und Niccolo Borgo von der Kneipe aus bis zur Pier begleitet, vor der die Zweimastkaravelle geankert hatte. Als wenig später Sebastiano Tursi, der schwarzhaarige junge Mann, mit dem Capitano und zwei weiteren Männern von der Karavelle abgeentert war, hatten sie den jungen Burschen in ihre Mitte genommen, so daß er kaum zu sehen gewesen war. Gewissermaßen hatten sie einen lebendigen Schutzwall um ihn gebildet und ihn so sicher in sein Elternhaus gebracht. Verlegen hatten sich die rauhen Männer abgewandt, als Sebastiano von seiner Mutter und seinen Schwestern begrüßt worden war. Immer und immer wieder hatte die alte, in Schwarz gekleidete Frau
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Niccolo Borgo und Philip Hasard Killigrew ihre Dankbarkeit bekundet. Als der Tisch mit einer Fülle von bekannten und unbekannten Leckerbissen bestückt wurde, begann sich die zunächst etwas gedrückte Stimmung schlagartig zu heben, und die Männer atmeten erleichtert auf. „Donnerwetter!“ entfuhr es dem braunäugigen Matt Davies, dessen Haar durch ein grausiges Erlebnis mit Haien vorzeitig ergraut war. „Wenn ich das so überblicke, dann komme ich mir vor, wie bei meiner eigenen Hochzeit.“ Stenmark, der blonde Schwede, bog sich vor Lachen. „Du und Hochzeit“, prustete er, „die zarte Braut möchte ich mal sehen, die unter den Liebkosungen deines prächtigen Eisenhakens das Kichern anfängt:“ „Na, wenigstens kann sie mir nicht davonlaufen, wenn ich sie an den Haken lege“, sagte Matt grinsend. Er war sich seines Schönheitsfehlers sehr wohl bewußt, denn dort, wo andere die rechte Hand hatten, trug er eine Spezialmanschette, die unten in einem Metallring mit spitzgeschliffenem Haken auslief. Diese Prothese hatte sich bisher jedoch als ein sehr brauchbares Werkzeug und als gefürchtete Waffe erwiesen. Als Sebastianes Schwestern weitere Schüsseln hereinbrachten, verstummten die Männer und ließen ehrfürchtig die Blicke über die kulinarische Pracht wandern. Da gab es würzig duftenden Schinken, herrlich geräucherte Würste sowie Coppa, eine korsische Spezialität, die aus geräucherter Schweineschulter bestand. In den riesigen Schüsseln dampfte eine Suppa di Pesce, eine erlesene Fischsuppe aus verschiedenen Fischarten der korsischen Gewässer, die mit geriebenem Käse und geröstetem Brot angerichtet wurde. Außerdem lagen für den Abschluß der Mahlzeit verschiedene Käsearten wie Formaghiu in Cerbella und Forrnaghiu Maccu bereit. Letzterer bestand aus abgelagertem und sehr stark gewürztem Ziegenkäse.
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Natürlich hatte man auch den duftenden Rotwein nicht vergessen. Die Talglichter, die den Raum erhellten, schufen eine gemütliche Atmosphäre, in der jeder seine Sorgen für einige Stunden vergessen konnte. Edwin Carberry war zunächst sprachlos, als er all die Köstlichkeiten vor sich sah. Dann sagte er: „Reiß die Ankerklüsen auf, Kutscher! Hier siehst du mal, was man in einer richtigen Kombüse zustande bringen kann. Ha, du Stint, schau nur genau hin, damit du es nicht wieder vergißt. Allein der Anblick streichelt einem schon den Magen.“ Der Kutscher warf ihm einen giftigen Blick zu. „Das könnte dir so passen, du gefräßiger Klotz“, flüsterte er. „Du scheinst zu vergessen, daß auch diese Leute nicht jeden Tag so leben. Und, verdammt noch mal, da soll nur einer sagen, aus meiner Kombüse sei bisher noch nichts Ordentliches herausgekommen!“ Die Männer grinsten. Sie wußten nur zu genau, daß der Kutscher ein recht guter Koch war, der stets aus dem, was ihm zur Verfügung stand, etwas Schmackhaftes zusammen- zauberte. Die Mahlzeit zog sich lange hin. Die Schüsseln und Töpfe leerten sich nach und nach, und auch der Weinpegel in den irdenen Krügen ging spürbar zurück. Angeregte Gespräche und lautes Lachen ließen das Leben im Haus der Familie Tursi pulsieren. Auch Niccolo Borgo, der Kapitän der gekaperten „Santa Maria Figaniella“, gab sich sehr gelöst. Und Sebastiano Tursi konnte noch immer nicht fassen, daß das Schicksal ihn noch einmal kurz nach Hause zurückgeführt hatte. Nur ein Gedanke mischte in dieser Nacht einen bitteren Wermutstropfen unter seinen Wein – der Gedanke an Dorina. Wie gern hätte er das Mädchen, das er liebte, noch einmal in die Arme geschlossen. Aber wie sollte sie da oben in den Bergen erfahren haben, daß er, vielleicht nur für Stunden, zurückgekehrt war? Es half nichts. Sebastiano hatte längst gelernt, das Leben mit all seinen Höhen
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und Tiefen zu bewältigen. Es tat deshalb gut, einige Stunden im Kreise der Angehörigen und guter Freunde zu verbringen. * Der Besuch bei der Familie Tursi hatte sich länger hingezogen, als erwartet. Als sich die Seewölfe und auch Kapitän Borgo mit seinen beiden Offizieren auf den Weg zurück zu ihren Schiffen machten, tauchten am Horizont bereits die ersten hellen Schatten auf, die einen neuen Tag ankündigten. Die Stimmung war nach wie vor gelöst und heiter. Die Männer hatten Sebastiano wieder in ihre Mitte genommen, um ihn unbeschadet an Bord der Karavelle zurückzubringen. Die Dunkelheit begann langsam dem Tageslicht zu weichen. Zunächst schien im ersten zarten Morgengrauen alles friedlich zu sein. Während der Tau die Zweige der Büsche und Sträucher netzte und eine frische, angenehme Brise von der Bucht heraufzog, schien ganz Porto Bollo noch zu schlafen. Die kleinen, engen Gassen waren wie leergefegt. Dort, wo tagsüber quirliges Leben herrschte, lag noch immer eine angenehme, fast trügerische Stille. Es begann urplötzlich. Die Männer hatten gerade eine schmale Gasse verlassen, die direkt auf den Strand mündete, da krachten Pistolenschüsse durch die Nacht. Dem Ersten Offizier Niccolo Borgos hing plötzlich ein Teil der Hose in Fetzen, und Matt Davies, der Mann mit der Hakenprothese, fühlte einen brennenden Schmerz seine linke Hüfte entlangrasen. Eine weitere Kugel wirbelte gegenüber den Piers den hellen Sand in die Luft. Sofort warfen sich die Männer, die im Moment ohne Deckung waren, in den Sand und rissen auch Sebastiano mit sich herunter. So zeichneten sich wenigstens ihre Silhouetten nicht so stark gegen die am Horizont auftauchende Helligkeit ab. „Ist jemand verletzt?“ zischte Hasard. „Nein“, lautete die vielstimmige Antwort.
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„Und was ist mit dir, Matt?“ „Nicht der Rede wert, Sir“, flüsterte der Hakenmann. „Nur ein winziger Hautkratzer an der Hüfte.“ Der Seewolf atmete auf. „Ed, Batuti, Dan und Stenmark, ihr kommt mit mir“, sagte er. „Die anderen sehen zu, daß sie Sebastiano sicher an Bord bringen.“ „Darf man sich Ihrem Trupp anschließen, Sir?“ tönte die Stimme Niccolo Borgos herüber. „Natürlich, Capitano.“ Während Hasard und die von ihm benannten Männer aufsprangen und geduckt auf den Torbogen zuliefen, hinter dem der kleine Dorffriedhof lag, und hinter dem die Mündungsflammen aufgeblitzt waren, hoben sich auf der entgegengesetzten Seite, nahe den Piers, plötzlich zwei kleine Boote, die kieloben lagen, seitlich etwas an. Dann krachten weitere Pistolenschüsse zu den Männern herüber. Es grenzte an ein Wunder, daß niemand getroffen wurde. In diesem Augenblick durchschaute der Seewolf die Strategie der Bluträcher. Wahrscheinlich hatten sie einige Kumpane aufgetrieben, die die Aufgabe hatten, die Begleiter Sebastiano Tursis durch Schüsse vom Friedhof aus abzulenken und in eine falsche Richtung zu locken. Die Brüder Ducale selbst hatten sich wahrscheinlich dort drüben unter den Booten verschanzt, um Sebastiano in der allgemeinen Verwirrung zu ermorden. Aber der Seewolf reagierte schnell. „Capitano!“ sagte er. „Nehmen Sie Dan und Stenmark mit und schauen Sie nach, wo sich die Heckenschützen versteckt haben. Wahrscheinlich hocken sie dort drüben auf dem Friedhof. Aber seien Sie vorsichtig, ich brauche meine Männer noch. Ed, Batuti, ihr bleibt bei mir. Wir schauen dort drüben zwischen den Booten nach. Vielleicht können wir den beiden Ducales den Weg abschneiden. Sie haben dann nur noch die Wahl, ins Wasser zu springen oder uns entgegenzutreten.“ „Aye, aye, Sir!“ schnaubte Edwin Carberry. „Kaufen wir uns die
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ungewaschenen Rübenschweine. Ho, die werden sich wundern, wenn ich ihnen erst einmal die Haut in Streifen von ihren verdammten Affenärschen abziehe!“ Der Profos der „Isabella“ war in seinem Element. Seine Augen blitzten gefährlich, sein gewaltiges Rammkinn schob sich wie ein Amboß vor. Dann nahmen die Seewölfe die Boote, bei denen die Schüsse aufgeblitzt waren, unter Feuer, obwohl sie sie nur undeutlich erkennen konnten. Prompt erfolgte auch aus der Nähe der Boote die Antwort in Form von weiteren Pistolenkugeln. Dann blieb alles still. Offenbar hatten die Kerle ihre Pistolen leergeschossen, und Zeit zum Nachladen verblieb ihnen nicht. „Jetzt müssen sie aus ihren Mauselöchern kriechen“, sagte Philip Hasard Killigrew und registrierte vier dunkle Gestalten, die zwischen den kieloben liegenden Booten auftauchten. Die Klingen ihrer Messer glänzten im ersten Morgengrauen, aus ihren Kehlen ertönte ein lautes Wutgeschrei. Die Brüder Ducale, die sich unter diesen Gestalten befanden, schienen von dem Gedanken, Sebastiano Tursi zu töten, besessen zu sein. Ein erbitterter Kampf begann. Auch Sebastiano Tursi hatte sein Messer aus dem Gürtel gerissen, um sich ins Getümmel zu stürzen. Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, rollte mit den Augen. Das bedeutete hei ihm nicht immer etwas Gutes. Eine Messerklinge, die ihm entgegenzuckte, blockte er blitzschnell ab und trat dem Burschen die Waffe aus der Hand. Irgendwo flog sie in hohem Bogen in den Sand. Dann packte er den Kerl mit einer raschen Bewegung und hievte ihn über seine mächtigen Schultern. Einen Augenblick später krachte der Angreifer mit einem Aufschrei auf den Boden. Während Hasard gerade einem bärtigen Kerl die Faust unter das Kinn setzte, so daß er mit den Armen in der Luft rudernd zurücktaumelte, geriet einer der Burschen dem Profos in die Hände.
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„Ho, du verlauste Bilgenratte!“ rief der Profos, dann schlugen seine mächtigen Pranken erbarmungslos zu. Und als sich der Kerl wieder aus dem feuchten Sand hochrappeln wollte, schnappte ihn Ed Carberry am Kragen und an der Hose, hob ihn an, und ließ ihn, Anlauf nehmend, hin und her pendeln. Im richtigen Moment ließ er los, und der Bursche flog mit ausgebreiteten Armen, wie eine fette Wildgans, ins Wasser der Bucht. „Hat noch jemand seinen dreckigen Hals nicht gewaschen und möchte ein Bad nehmen?“ brüllte Ed. Aber niemand meldete sich freiwillig. Außerdem hatten die anderen Angreifer auch schon genug. Gerade hatte der Seewolf seinen Gegner, Fulvio Ducale, zu Boden geschmettert. Wenig später rappelten sich die Kerle von ihren jeweiligen Plätzen hoch und liefen keuchend davon. Einer von ihnen hinkte beträchtlich. Aber derjenige, den der Profos ins Wasser befördert hatte, kroch wie eine nasse Ratte an Land und schickte sich an, hinter seinen Kumpanen herzulaufen. Einige Male noch drehten sie sich um, um wüste Drohungen auszustoßen. Trotzdem verringerten sie ihr Tempo nicht. Sie schienen wohl doch begriffen zu haben, daß sie heute nicht mehr an Sebastiano Tursi herankommen würden. Während man den jungen Korsen zu der Zweimastkaravelle brachte, tauchten drüben an der Friedhofsmauer Stenmark und Dan’ O’Flynn auf. In ihrer Mitte führten sie einen zerlumpten Burschen mit sich, der auch den übrigen Seewölfen, vor allem Edwin Carberry, sehr bekannt schien. „Meinen frommen Augen bleibt heute aber auch gar nichts erspart“, knurrte der Profos. „Wenn ich diesen Ochsenfrosch noch einige Male zu sehen kriege, fange ich schon selber an zu quaken. Wo habt ihr denn dieses Buschgespenst aufgelesen?“ „Er hatte sich im Friedhof versteckt“, sagte Dan O’Flynn. „Die anderen sind uns leider entwischt. Sir“, wandte er sich an Hasard,
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„könnte es nicht sein, daß uns diese Ratte gestern abend belauscht hat?“ „Das ist höchstwahrscheinlich der Fall“, erwiderte Hasard, „woher sonst sollten die Brüder Ducale so schnell erfahren haben, daß Sebastiano Tursi zurückgekehrt ist? Wo ist übrigens Kapitän Borgo geblieben? Er hatte sich euch doch angeschlossen.“ Dan O’Flynn sah sich suchend um. „Ist er — ich meine, ist er noch nicht zurückgekommen? Wir dachten, er sei schon vor uns umgekehrt, weil es nichts mehr zu tun gab. Mit dieser Kakerlake hier sind wir schließlich allein fertig geworden. Der Kerl kann sich ja kaum noch auf den Beinen halten, ich schätze, der Wein fließt ihm bald zu den Ohren raus.“ Hasard wurde augenblicklich ernst. „Der Capitano!“ sagte er. „Wir müssen sofort nach ihm suchen. Bei uns ist er nicht aufgetaucht. Wenn ihr ihn ebenfalls aus den Augen verloren habt, dann stimmt etwas nicht.“ Eine böse Ahnung kroch in ihm hoch. Sollte Niccolo Borgo vielleicht von den Burschen überwältigt worden sein? Wenn es gewisse Ziele zu erreichen galt, wäre ein Kapitän immer eine wirkungsvolle und brauchbare Geisel. Oder sollte ihm gar Schlimmeres zugestoßen sein? „Wir müssen sofort etwas unternehmen“, beschloß der Seewolf. „Ich kann mir nicht denken, daß sich Kapitän Borgo irgendwo verkrochen hat. Das würde absolut nicht zu diesem aufrechten Mann passen. Verlieren wir also keine Zeit! Unser hübscher Freund hier wird uns bestimmt sagen, wohin sich die Kerle verzogen haben.“ Der Profos betrachtete diese Worte als Aufforderung, seines Amtes zu walten. Damiano, der Kerl mit dem Froschgesicht, grinste dämlich, als Ed Carberry drohend wie ein Racheengel vor ihn hintrat. Der Profos hatte die gewaltigen Fäuste in die Hüften gestemmt. „Na, du Ochsenfrosch“, sagte er mit sanfter Stimme, „reißt du dein breites Maul freiwillig auf, oder muß ich dir die faulen Zähne erst mit der Faust auseinanderstemmen, was, wie?“
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Damiano glotzte den Profos nur dumm an. Er schien zum Reden keine große Lust zu haben. „Hör zu, du grünkarierte Vogelscheuche“, fuhr Ed fort. „Ich zähle jetzt bis drei, dann wirst du die Futterluke öffnen, oder ich drehe dich um die eigene Achse und setzte dir auch noch den anderen Fuß gegen den Achtersteven. Diesmal fliegst du aber in Richtung Wasser, wenn’s genehm ist. Also los! Eins - zwei ...“ Der Profos brauchte nicht weiterzuzählen. Das dämliche Grinsen auf dem Froschgesicht Damianos verschwand augenblicklich. Wahrscheinlich war sein Erinnerungsvermögen zurückgekehrt, und der Gedanke an das, was ihm am Abend zuvor in der Kneipe des dicken Enrico zugestoßen war, schien ihn zu ernüchtern. „Sie - sie haben den anderen Kerl mitgenommen“, sagte er in seinem schauderhaften Englisch. Der Teufel mochte wissen, wo er es gelernt hatte. „Wer denn, mein Herzchen?“ fragte der Profos. „Wirst du es sagen, oder muß ich dich erst am Kinn graulen, was, wie?“ „Luigi und Matteo“, sagte Damiano. „Sie sie waren meine Begleiter.“ „Wo werden sie den Capitano hinbringen?“ schaltete sich der Seewolf ungeduldig ein. Der Ochsenfrosch zuckte mit den Schultern. Aber als der Profos anfing, sich die Hände zu reiben, sagte er eilig: „Wahrscheinlich nach San Micheli. Oder sie bringen ihn in die Berge. Ich weiß es nicht, ehrlich, ich weiß es nicht genau.“ „Aber du weißt, wo die Familie Ducale ihren Stammsitz hat“, sagte Hasard drohend. „Du warst dort, um Sebastiano Tursi zu verraten, nachdem du uns belauscht hattest. Deshalb wirst du uns sofort zu den Ducales bringen.“ Damiano nickte schicksalsergeben. Die Angst vor den Seewölfen war im Moment jedenfalls größer als die Angst vor den Brüdern Ducale. So begab sich Hasard zusammen mit Ed Carberry, Batuti, Stenmark und Dan O’Flynn auf den Weg. Damiano hatten sie in ihre Mitte
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genommen, für ihn gab es keine Möglichkeit, zu entwischen.“ Matt Davies und Smoky würden an Bord der „Isabella“ zurückkehren, sobald Sebastiano Tursi sicher an Bord der Karavelle eingetroffen war. Und das war auch gut so, sonst würde man sich auf der „Isabella“ sorgen, wenn niemand zurückkehrte. Außerdem waren die Schießerei und das Handgemenge an den Piers mit Sicherheit auf beiden Schiffen gehört worden. Die Seewölfe hatten inzwischen ihre Pistolen nachgeladen und ihre Messer im Gürtel verankert. Sie trauten es sich durchaus zu, den Bluträchern die Geisel abzujagen. „Und das alles wegen dieser verdammten Ven ... Wie heißt das Ding?“ fragte Ed Carberry, als sie flußaufwärts marschierten, dem kleinen Bergnest San Micheli entgegen. „Du meinst die Vendetta“, sagte der Seewolf lächelnd. „Leider werden wir den Menschen hier diesen blutigen Brauch nicht abgewöhnen können. Die Blutrache ist ein uraltes, ungeschriebenes Gesetz, durch das schon ganze Familien ausgerottet worden sind.“ Der Profos murmelte irgendetwas von „hirnverbrannt“ und von „Land-Haien“, und beschränkte sich dann darauf, den froschgesichtigen Damiano auf Trab zu halten. 7. Es war bereits hell geworden, als die fünf Seewölfe mit ihrem „Gefangenen“ den Buschwald durchquerten, der sich den Hang hinaufzog bis nach San Micheli. Jetzt galt es vorsichtig zu sein, wenn sie nicht schon vorzeitig bemerkt werden wollten. Hasard hoffte, daß man Niccolo Borgo nicht schon irgendwo in den Bergen versteckt hatte, denn für Fremde war es fast eine Unmöglichkeit, die zahlreichen Schlupfwinkel korsischer Banditen aufzustöbern. Er vermutete, daß man den Kapitän der „Santa Maria Figaniella“ zunächst in San Micheli versteckt halten
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würde, um ihn erst in der kommenden Nacht in die Berge zu schaffen. Denn auch bei der Ankunft der Brüder Ducale und ihrer Kumpane mußte es schon hell gewesen sein, Mit Erleichterung registrierte der Seewolf, daß das Haus der Brüder Fulvio und Cosimo Ducale etwas abseits des Dorfzentrums lag, und zwar direkt oberhalb der Grenze des Buschwaldes. Das würde es ihnen ermöglichen, das Dorf zu umgehen. Sie wollten vermeiden, auch noch die übrigen Einwohner des winzigen Bergnestes gegen sich aufzubringen, denn die Mentalität dieser Menschen war ihnen fremd, und sie rechneten damit, daß die anderen Bewohner im Ernstfall die Familie Ducale unterstützen würden - sei es aus einem gewissen Zusammengehörigkeitsgefühl heraus oder aber aus Angst. Je mehr sich die Männer dem weißgetünchten Gebäude näherten, das inmitten eines Olivengartens lag, desto nervöser wurde Damiano. Sein Froschgesicht begann zu zucken. Man sah ihm deutlich an, daß er Angst hatte. Der Marsch durch die frische Morgenluft schien ihn ernüchtert zu haben. „Ich — ich könnte ja jetzt wieder verschwinden“, schlug er vor, „mich. braucht ihr doch nicht mehr.“ „Nichts da, du Bilgenratte“, knurrte der Profos. „Du bleibst bei uns, bis wir sicher sind, daß du uns nicht an der Nase herumgeführt hast. Wie sollte ich dir denn die Haut in Streifen von deinem karierten Affenarsch ziehen, wenn du dich irgendwo verkriechst, was, wie?“ Seine mächtige Faust packte den verluderten Kerl am Kragen und schob ihn vor sich her. Die Fenster des Hauses waren durch einfache Holzläden verschlossen. Doch das war Hasard nur recht, denn seine Strategie war längst festgelegt. „Batuti und Dan schleichen mit dir ans Haus heran“, sagte er zu Damiano. „Sie werden sich links und rechts des mittleren Fensters postieren, während du an den Laden klopfst und um Einlaß bittest.“ Zum Profos gewandt fuhr er fort: „Wir beide
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warten an der Tür, bis sie geöffnet wird. Stenmark wird hier in Deckung bleiben, um uns notfalls Feuerschutz zu geben.“ „Aye, aye, Sir“, sagten die Männer, während Damiano vor. Angst schluckte, so daß sein Adamsapfel auf und nieder hüpfte. Er sah jedoch ein, daß ihm keine andere Wahl blieb. Das größte Problem sah er erst noch vor sich, denn die Zeit würde kommen, da er sich bei den Brüdern Ducale herausreden mußte. Die nächsten Tage und vielleicht sogar Wochen würden reichlich trocken für ihn werden, darüber war er sich schon jetzt im klaren. Unbemerkt gelang es Batuti und dem jungen O’Flynn, mit Damiano in der Mitte, an das Fenster zu gelangen. Sie drückten sich auf beiden Seiten des Verschlages flach gegen die weißgetünchte Mauer. Der Seewolf und der Profos postierten sich inzwischen an der grobgezimmerten Haustür. Damiano pochte nun zögernd gegen den Laden. „Fulvio, Cosimo — ich bin’s, Damiano!“ rief er dann mit leicht zitternder Stimme. „Macht auf!“ Eine Zeitlang geschah nichts, dann wurde plötzlich der Holzverschlag von innen aufgestoßen. Ein bärtiges Gesicht erschien in der Fensteröffnung. „Was ist mit dir, du Lumpenhund? Wo kommst du jetzt her, was willst du schon wieder? Scher dich zum Teufel!“ „Aber Fulvio“, jammerte Damiano, „ich kann doch nichts dafür, daß es schiefgegangen ist. Du weißt doch, daß ich nicht gelogen habe, schließlich hast du Sebastiano selbst gesehen. Leider wurde ich niedergeschlagen, deshalb bin ich erst jetzt hier.“ „Hör auf zu jammern und komm rein. Wir können es uns heute nicht leisten, im Dorf Aufsehen zu erregen. Warum, das wirst du sehen, wenn du im Haus bist. Vorwärts, Cosimo wird dir die Türe öffnen!“ „Ich bin schon unterwegs“, tönte eine Stimme aus dem Raum. Fulvio Ducale griff zum Fensterladen, um ihn wieder zuzuziehen. Doch das schaffte er nicht mehr.
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Damiano, das Froschgesicht, wurde plötzlich von einer riesigen schwarzen Hand zur Seite gefegt. Dann stieß die Pranke nach vorn in die Fensteröffnung, erwischte den völlig überraschten Fulvio am Kragen und zog ihn — bevor er begriff, was mit ihm geschah — mit unwiderstehlicher Gewalt in die Enge des Fensterrahmens. Erst jetzt erkannte er, daß es ein riesiger Neger war, der ihn gepackt hatte. Nachdem der Überraschungsmoment etwas abgeklungen war, versuchte Fulvio Ducale, sich zur Wehr zu setzen. Doch auf der anderen Seite des Fensters zuckte eine Hand, die einen Pistolenlauf umklammert hielt, nach unten — direkt auf seinen Schädel. Obwohl draußen die Sonne aufging, sah der bärtige Fulvio plötzlich leuchtende Sterne. Dann hing sein Oberkörper schlaff und kraftlos über dem Fenstersims. Sein Bruder, Cosimo, hatte im selben Augenblick die Haustür geöffnet, um Damiano hereinzulassen, doch wie er zu seiner grenzenlosen Überraschung feststellte; hatte sich das Froschgesicht offenbar verdoppelt. Jedenfalls blockierten zwei kräftige Gestalten die Tür, und Cosimo Ducale starrte in die Mündung einer Pistole und eines Radschloßdrehlings. Eine kleine, kugelrunde Frau, die mit wirren Haaren und langem Nachthemd im Hintergrund auftauchte, und bei der es sich wohl um die Mutter der beiden Burschen handelte, stieß einen schrillen Schrei aus und preßte dann entsetzt die Hand auf den Mund. „Still und keine dummen Tricks!“ sagte Hasard mit schneidender Stimme. Die eisblauen Augen des schwarzhaarigen, mehr als sechs Fuß großen Mannes ließen erkennen, daß er keinen Widerspruch dulden würde. Das Gesicht Cosimos wirkte plötzlich haßverzerrt. Er begriff augenblicklich, wen er da vor sich hatte. Das angeschwollene Auge und die Zahnlücken, die er sich im ersten Morgengrauen an den Piers von Porto Bollo eingehandelt hatte, erinnerten
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ihn nachhaltig an diesen Mann. Aber gleichzeitig erkannte er auch, daß er im Moment keine Chance hatte. Gegen die Waffen in den Fäusten der Fremden konnte er nichts ausrichten. Fulvio! schoß es Cosimo durch den Kopf. Hoffentlich würde Fulvio noch etwas unternehmen können. Aber diese schwache Hoffnung verlor sich rasch, als er, von Philip Hasard Killigrew und Edwin Carberry in den Raum zurückdirigiert, seinen Bruder wie leblos über dem Fenstersims liegen sah. Durch das offene Fenster erblickte er zwei grinsende Gesichter — ein schwarzes und ein weißes. Auch die Pistolenläufe, die in den Raum gerichtet waren, verdeutlichten ihm, was die Stunde geschlagen hatte. Hasard atmete auf, als er in einer Ecke des langgestreckten Raumes Niccolo Borgo erkannte, den man auf einen Stuhl gefesselt hatte. Außerdem war der Kapitän der „Santa Maria Figaniella“ mit einem schmutzigen Stück Tuch geknebelt worden. Seine kleinen, dunklen Augen blitzten, als er den Seewolf und seinen Profos erblickte. „Binde ihn los, Ed“, sagte der Seewolf, „vor allem, nimm ihm den dreckigen Fetzen aus dem Mund.“ Ed Carberry sah den Capitano mitleidsvoll an, während er ihn von dem Knebel befreite. „Pfui Teufel“, sagte er, „dieser Drecklappen paßt bestimmt nicht als Dessert auf das gute Essen bei den Tursis.“ Kopfschüttelnd zog der Profos sein Messer und zerschnitt die Fesseln, die den Capitano auf einem alten, wackligen Stuhl festgehalten hatten. „Danke, Sir!“ schnaufte Niccolo Borgo, nachdem er sich von dem Stuhl erhoben hatte. „Wie ich sehe, gerate ich immer tiefer in Ihre Schuld. Aber ich konnte wirklich nichts dagegen tun. Ich wurde in der Dunkelheit von einem Kerl, der plötzlich hinter einem Grabstein auftauchte, niedergeschlagen. Offenbar wollte man mich als Geisel benutzen, um an Sebastiano zu gelangen. Es tut mir aufrichtig leid, daß Sie wegen mir noch
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solche Umstände in Kauf nehmen mußten.“ Er lächelte verbindlich, während er sich die schmerzenden Handgelenke rieb. „Schon gut, Capitano“, sagte Hasard. „Sie hätten für mich das gleiche getan.“ Wenig später hatten die Seewölfe die gesamte Familie Ducale, einschließlich Fulvios und Cosimos, in die Küche gesperrt. Dort gab es nur winzige Fenster, durch die niemand hindurchkriechen konnte. Als der Seewolf den schweren Riegel vorschob, hatte er sich davon überzeugt, daß es dort genug zu essen und zu trinken gab. Den Leuten konnte dort nichts passieren, denn es würde mit Sicherheit einige Stunden dauern, bis sie jemand aus ihrem Gefängnis befreite. Nach einem Fußmarsch von fast zwei Stunden erreichten die Männer Porto Bollo. Niemand war ihnen gefolgt, und Hasard rechnete auch nicht mehr damit, daß die Brüder Ducale einen weiteren Angriff oder Überfall riskieren würden. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann der „Isabella“, rechnete damit, daß die notwendigsten Reparaturarbeiten noch heute abgeschlossen werden konnten. Dem Seewolf war das recht, und er beeilte sich, die erforderlichen Einkäufe zu erledigen. Der dicke Enrico, der immer in seiner Kneipe anzutreffen war, ließ ihm alles, was das Herz begehrte, an Bord schaffen. Die „Isabella“ würde am nächsten Tag getrost den kleinen Fischerhafen von Porto Bollo verlassen können. 8. Bereits in den frühen Morgenstunden nahm Philip Hasard Killigrew seinen Platz auf dem Achterdeck ein. Er hatte recht behalten. Die Bluträcher hatten sich inzwischen nicht mehr blicken lassen, nur Damiano, der Kerl mit dem Froschgesicht, war noch einmal wie ein geprügelter Hund an den Piers vorbeigeschlichen. Gestern, unmittelbar nach der Befreiung Niccolo Borgos, schien er sich in Luft aufgelöst zu haben.
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Noch immer beschäftigte den Seewolf ein Gerücht, das er noch gestern in Enricos Kneipe vernommen hatte. Man munkelte dort, daß Ahmet Aydin, der Türke, und seine Schnapphähne ein Stück weiter südlich der Bucht von Valinco in irgendeiner kleinen, verschwiegenen Bucht ein Versteck hätten. Angeblich war sein Schiff dort von Fischerbooten gesehen worden. Hasard hatte sich deshalb entschlossen, bevor er Korsika verließ, zusammen mit der Zweimastkaravelle, die notdürftig repariert worden war, ein Stück auf südlichem Kurs die korsische Küste entlang zu segeln. Sollte man an dem Gerücht etwas Wahres sein, läge es immerhin im Bereich des Möglichen, die „Santa Maria Figaniella“ zu finden. Mit lauter Stimme befahl der Seewolf, den Anker zu hieven und die Segel zu setzen. Auf der Karavelle, die früher einmal „Liberty“ geheißen hatte, tat man das gleiche. Wenig später pflügten die beiden Segler die Wellen des Golfes von Valinco. Drüben an den Piers hatten sich einige Leute eingefunden, die ihnen mit Tüchern und Händen nachwinkten. Hasard konnte am Schanzkleid der Karavelle die schlanke Gestalt Sebastiano Tursis erkennen. Sein Winken galt einem schwarzhaarigen, jungen Mädchen, das am Strand aufgetaucht war. Mit Sicherheit handelte es sich um Dorina, über die während des Essens bei der Familie Tursi gesprochen worden war. Der Seewolf hätte in diesem Moment gewettet, daß dort drüben auf dem Mädchengesicht, das in immer weitere Ferne rückte, heiße Tränen ihre Spuren zogen. Die weißen Häuser von Porto Bollo wurden achteraus immer winziger, bis sie völlig mit der bizarren Landschaft zu verschmelzen schienen. * Die „Isabella VIII.“ und die Zweimastkaravelle unter dem Kommando Niccolo Borgos durchquerten mit Backstagsbrise auf südlichem Kurs die
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Bucht von Valinco in Richtung auf den Golf von Roccapina. Obwohl man bereits Ende Oktober im Jahre 1591 schrieb und der Winter auch die „Insel der Schönheit“, wie Korsika oft genannt wurde, erreicht hatte, war das Wetter mild und sonnig. Philip Hasard Killigrew, der an der Schmuckbalustrade des Achterkastells stand, richtete seinen Blick nach oben, als ein Schwarm Wildgänse wie eine graue Wolke unter dem tiefblauen Himmel entlangzog. Eigentlich war es nur diese Erscheinung, die daran erinnerte, daß der Winter begonnen hatte. Um diese Zeit suchten viele Vögel, von einem geheimnisvollen Drang beherrscht, wärmere Gebiete im Süden auf. Die Karavelle befand sich in Sichtweite der „Isabella“, ebenso die korsische Küste, die sich am Capo Senetosa als riesige Landformation zwischen den Golf von Valinco und den Golf von Roccapina schob. Eigentlich sah an diesem Tag alles recht friedlich aus — das Land, das Backbord voraus lag, und auch die See, deren Wasserfläche sich im Licht der Oktobersonne spiegelte. Nichts geschah. Ein Glasen der Schiffsglocke löste das andere ab, und die Seewölfe gingen ihrer gewohnten Arbeit nach. Erst ein lauter Ausruf Dan O’Flynns, der, mit einem Spektiv waffnet, in den Großmars aufgeentert war, unterbrach die trügerische Stille und erinnerte die Crew daran, daß das Leben voller Gefahren war. „Sir!“ rief Dan mit heller Stimme aus dem Ausguck. „Wenn mich meine Augen nicht täuschen, sehe ich Mastspitzen Backbord voraus. In dieser kleinen Bucht dort drüben, muß sich ein Schiff versteckt haben. Um ein Haar hätte ich es nicht wahrgenommen, denn man sieht wirklich nur die Mastspitzen.“ Die Aufmerksamkeit der Seewölfe konzentrierte sich voll auf die nahe Küste, an der eine Bucht die andere ablöste. Oft waren die Einfahrten kaum zu erkennen. Erst als man sich seiner Sache völlig sicher war, ließ Hasard der Karavelle
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entsprechende Signale geben, und Niccolo Borgo ließ antworten, daß man verstanden habe. Sofort befahl Hasard dem Rudergänger, Pete Ballie, hart nach Backbord abzulaufen und auf die Bucht zuzuhalten. Erst als man nahe an die Einfahrt herangesegelt war, konnte man auch mit bloßem Auge Mastspitzen erkennen. Der Rest des Schiffes, das dort vor Anker liegen mußte, wurde durch gewaltige Felsvorsprünge verdeckt. Der Seewolf wußte im Moment nicht, ob er die Entdeckung des Schiffes dem Zufall oder den außergewöhnlichen scharfen Augen Dan O’Flynns zu verdanken hatte. Wahrscheinlich beidem. Von jetzt an begannen sich die Ereignisse zu überstürzen. „Alle Mann auf Stationen und klar Schiff zum Gefecht!“ brüllte Philip Hasard Killigrew, und alles weitere lief wie von selbst. Die Crew der „Isabella“ war eine perfekt eingespielte Mannschaft. Deshalb erzeugte ein solcher Befehl in der Regel zwar ein geschäftiges Treiben an Bord, aber keine Hektik. Jeder der Männer, von den elfjährigen Zwillingen angefangen bis hin zum Seewolf, wußte, was er zu tun hatte. Und er tat es — rasch und zielstrebig. Während Al Conroy, der Waffen- und Stückmeister der „Isabella“, befahl, die Stückpforten zu öffnen, raste Bill, der Moses, in die Kombüse und half dem Kutscher, die Kupferbecken mit den glühenden Holzkohlen an Deck zu bringen. Die Zwillinge waren eifrig damit beschäftigt Sand auf der Kuhl auszustreuen, um den Männern an den Culverinen zu einer besseren Standfestigkeit zu verhelfen. Ben Brighton und Ed Carberry begaben sich an die achteren Drehbassen, während der Kutscher und Old O’Flynn den Platz an den vorderen Drehbassen einnahmen. Ferris Tucker wandte sich der Schleudervorrichtung zu, die er selbst erfunden hatte und mit der man verheerende Flaschenbomben, die mit Eisen, Nägeln und Glassplittern gefüllt waren, abfeuern konnte. Big Old Shane
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und Batuti spannten erwartungsvoll ihre riesigen Bogen, um, falls nötig, ihre gefürchteten Brand- und Pulverpfeile von den Sehnen schnellen zu lassen. In einer wahren Rekordzeit war die „Isabella“ gefechtsklar. Auch drüben, an Bord der Zweimastkaravelle, ließ das Treiben darauf schließen, daß Niccolo Borgo registriert hatte, was die Stunde schlug, denn längst hatte man die in der Bucht ankernde Galeone als die „Santa Maria Figaniella“ identifiziert. Also war doch etwas dran an den Gerüchten, überlegte der Seewolf. Die Piraten legten wahrscheinlich von Zeit zu Zeit — vor allem nach fetten Beutezügen oder wenn ihr Schiff reparaturbedürftig war—hier an. An der zerklüfteten Küste gab es bestimmt genug Verstecke, in die man die Beute schaffen konnte. Die Piraten schienen sich in der versteckten, kaum wahrnehmbaren Bucht völlig sicher zu fühlen, denn bis jetzt war an Bord der „Santa Maria Figaniella“ alles still geblieben. Offenbar hatte man die heransegelnden Schiffe noch gar nicht bemerkt. Wahrscheinlich war der Großteil der Schnapphähne an Land gegangen. An Bord hatte man so, wie es aussah, nur wenige Männer als Wache zurückgelassen. Und auch diese wenigen schienen sich auf angenehmere Weise als mit Arbeit die Zeit zu vertreiben. „So ist es richtig!“ Edwin Carberry lachte. „Die Rübenschweine schlafen noch, oder sie sitzen noch über dem Frühstück. Ho, die sagen sich wohl auch, daß ihnen ein dicker Bauch vom Essen lieber ist als ein krummer Buckel vom Arbeiten.“ Doch es dauerte nicht mehr lange, bis man die beiden Segler, die lautlos in die Bucht geglitten waren, bemerkte. Als sich die beiden Schiffe teilten, um die ankernde Galeone in die Zange zu nehmen, entstand an Bord der „Santa Maria Figaniella“ eine wilde Hektik. Gestalten eilten hin und her, Befehle wurden gebrüllt, und schon wenig später wurden die Stückpforten hochgezogen und die Culverinen ausgerannt.
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Wie der Seewolf mit einem zufriedenen Lächeln feststellte, schafften es die Kerle nicht mehr, die Anker zu hieven, um mit dem Schiff manövrierfähig zu sein. Wahrscheinlich waren sie zu wenige, so daß alle Hände für die Waffen gebraucht wurden. Auch wenn sich nur ein kleiner Teil der Schnapphähne an Bord befand, würden sie sich doch zur Wehr setzen, darüber war sich der Seewolf im klaren. Zumindest würden sie aus allen Rohren feuern, um das Schiff nicht kampflos übergeben zu müssen, sonst würde sie ihr Kapitän, Ahmet Aydin, später an die Rah hängen lassen, das wußten sie nur zu genau. Drohend blickten die Culverinen der Steuerbordseite den heransegelnden Schiffen entgegen,, aber für eine Breitseite bot sich noch kein rechtes Ziel, weil sich die Angreifer noch in einem leicht schrägen Winkel zu der „Santa Maria Figaniella“ befanden. Obwohl die Piraten zu wissen schienen, daß sie kaum eine Chance hatten, das sich anbahnende Gefecht unbeschadet zu überstehen, wollten sie doch nichts unversucht lassen. Deshalb brach augenblicklich die Hölle los. Ein wildes Brüllen und Fauchen erfüllte die stille, malerische Bucht. Die Piraten hatten je eine Culverine auf dem Achterdeck und auf der Back abgefeuert. Die siebzehn Pfund schwere Kugel, die das achtere Geschütz ausgespien hatte, galt der „Isabella“, die andere der Karavelle. Die Ladungen der drei Culverinen auf der Kuhl hatte man sich wohlweislich noch aufgespart. Die Piraten hatten verdammt gut gezielt, wie Hasard feststellte. Die Kugel, die der „Isabella“ zugedacht war, klatschte zwar wirkungslos ins Wasser, aber das zweite Geschoß saß dafür umso besser. Es krachte der Zweimastkaravelle, auf der Niccolo Borgo seine Befehle brüllte, in den Bug und hinterließ ein gewaltiges Leck. Gleich darauf begannen die Drehbassen der „Santa Maria Figaniella“ zu dröhnen, vermischt mit vereinzeltem Musketenfeuer.
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Hasard ließ sofort stärker nach Backbord abfallen, um die Geschütze einsetzen zu können. Trotzdem gab er den Befehl, die genuesische Galeone, die sich die Piraten durch einen blutigen „Schiffstausch“ unter den Nagel gerissen hatten, möglichst nicht zu versenken, Der Capitano sollte sein Schiff, wenn auch nicht ohne Beschädigungen, zurückerhalten. Dennoch fand der Seewolf, daß es an der Zeit war, eine Antwort zu den Piraten hinüberzuschicken. Auf sein Nicken hin gab Al Conroy den Feuerbefehl für die Drehbassen, und sofort begannen diese leichten, ausschwenkbaren Geschütze damit, ihren Eisenhagel auf die Reise zu schicken. Hasard sah vom Achterdeck aus, wie kurz nacheinander drei der verkommenen Gestalten auf den Decks der „Santa Maria Figaniella“ die Arme nach oben warfen und auf die Planken kippten. Noch während die „Isabella“ nach Backbord abfiel, brüllten an Bord der Karavelle zwei Geschütze auf. Eine Kugel schlug mit Getöse in das Heck der „Santa Maria Figaniella“, und die, andere fegte dicht über die Kuhl weg, ohne jedoch größeren Schaden anzurichten. „Es muß ein beschissenes Gefühl für den Capitano sein, auf sein eigenes Schiff feuern zu müssen!“ rief Ben Brighton dem Profos, Edwin Carberry, zu, der mit ihm bei den achteren Drehbassen auf Station war. „Aber Hut ab, er nimmt das Risiko in Kauf.“ Die Backbordseite der Karavelle war den Piraten jetzt voll zugewandt. Offensichtlich trug sich Niccolo Borgo mit der Absicht, den Schnapphähnen eine Breitseite zu verpassen. Aber die Piraten kamen ihm zuvor, denn es war unschwer für sie gewesen, die Absichten Borgos zu erraten. Mit einem Krachen und Bersten entluden sich die drei Kanonen auf der Steuerbordseite der „Santa Maria Figaniella“ und schleuderten mit unheimlicher Wucht ihre Ladungen der Karavelle entgegen.
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Wie die Männer auf der „Isabella“, die die genuesische Galeone bisher absichtlich geschont hatten, feststellten, donnerte die Breitseite voll in die Bordwand des ehemaligen Piratenschiffes und hinterließ drei riesige Löcher in Höhe der Wasserlinie. „Verdammt!“ entfuhr es dem Seewolf. „Das wird die Karavelle nicht verkraften, sie wird auf Grund gehen.“ Er hatte recht damit, denn das Schiff krängte bereits nach Backbord über. Doch Niccolo Borgo schien die Stellung halten zu wollen, solange es nur ging. Während auf der Steuerbordseite der früheren „Liberty“ die Beiboote ins Wasser gebracht wurden, nahmen er und seine Männer die Galeone weiterhin unter Feuer. Sie schossen mit allem, was ihnen zur Verfügung stand. Nur die Culverinen auf der Backbordseite waren nicht mehr einsatzfähig, weil das Schiff bereits krängte. Die Mündungen der Geschützrohre standen in einem leichten Winkel zur Wasserfläche. Hier nun sprang der Seewolf in die Bresche. Seine Männer hatten nur auf ein Zeichen von ihm gewartet, und augenblicklich entluden sich vier der acht Steuerbord-Geschütze der „Isabella“. Pulverdampf wolkte auf, die schweren Kanonen rollten auf den Holzlafetten zurück, bis die von den Brooktauen aufgefangen wurden. Die Wirkung blieb nicht aus, obwohl der Winkel, in dem sich die beiden Schiffe zueinander befanden, noch etwas ungünstig war, was die Treffsicherheit betraf. Ein Teil des Schanzkleides der „Santa Maria Figaniella“ flog in Fetzen, und die Hälfte des Besanmastes landete im Wasser. Die übrigen Eisenkugeln strichen haarscharf über das Deck und zerstörten einen Teil der Takelage. Ein lautes Wutgeheul der Piraten war die Antwort. Offensichtlich hatten sie es nicht geschafft, die Geschütze des immer noch vor Anker liegenden Schiffes nachzuladen, weil sie zur Zeit völlig unterbemannt waren. Sie schossen dafür jedoch wie die
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Teufel mit ihren Drehbassen und Musketen. Die Seewölfe mußten sich sehr wohl in acht nehmen, wenn sie nicht dem Sehrotund Eisenhagel zum Opfer fallen wollten. Big Old Shane, der mit seinem Bogen auf Station war, schaffte es nicht mehr rechtzeitig, in Deckung zu gehen. Eine Musketenkugel streifte seinen linken Oberschenkel und riß eine blutige Schramme ins Fleisch. „Da – drei Boote Backbord voraus!“ brüllte in diesem Augenblick Dan O’Flynn und deutete auf einen Nebenarm der Bucht, der sich irgendwo in den Felsen verlor. Drei größere Boote mit je acht bis zehn Mann an Bord waren plötzlich dort aufgetaucht. Obwohl die Kerle wie verrückt pullten, um so rasch wie möglich zu ihrem Schiff zu gelangen, hatten sie zusätzlich Segel gesetzt. Einige davon hoben ihre Musketen und Pistolen und feuerten mit lautem Wutgeschrei auf die „Isabella“. Im ersten Boot befand sich ein dickbauchiger Kerl mit schwarzen Haaren und roter Stirnbinde. Es war Ahmet Aydin, der Piratenkapitän. Er und seine Halsabschneider hatten den Kanonendonner gehört und sich sofort kräftig in die Riemen gelegt, zumal sie sich sowieso schon auf dem Rückweg befunden hatten. „Schneiden wir ihnen den Weg ab!“ befahl der Seewolf, und die „Isabella“ begann, sich zwischen die herangleitenden Boote und die „Santa Maria Figaniella“ zu schieben. Auf ein Zeichen Philip Hasard Killigrews hin ließ Al Conroy das Feuer auf die Boote eröffnen. Der Kutscher und Old O’Flynn ließen die Eisenstücke der vorderen Drehbassen haarscharf über die Piratenköpfe hinwegstreichen. Was sie damit bezweckt hatten, gelang. Die Schnapphähne entschlossen sich zur Flucht. Ihre Pistolen und Musketen waren längst leergeschossen und ließen sich auch so rasch nicht mehr aufladen. Sonst hatten sie außer ihren Messern keine weiteren Waffen in den Booten.
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Ahmet Aydin, dem Türken, blieb somit keine andere Wahl, als die Boote wenden zu lassen. Er hatte sehr wohl erkannt, daß es in der gegenwärtigen Situation ein leichtes für die Galeone wäre, sie alle zusammenzuschießen. Der Seewolf hingegen lächelte grimmig. „So leicht werdet ihr nicht davonkommen“, murmelte er. „Wenn ihr die Boote behaltet, werdet ihr nur neues Unheil damit anrichten.“ Batuti, dem schwarzen Mann aus Gambia, juckte es in den Fingern. „Feuer, Sir?“ fragte er. „Soll ich den Kakerlaken den Wind aus den Segeln nehmen?“ „Jawohl, Batuti, Feuer frei für deinen Bogen!“ Der riesige Neger grinste. „Ich werde Feuerchen machen auf Booten, damit Affenärsche von Piraten nicht frieren.“ Er drückte eine Pfeilspitze kurz in die glühende Holzkohle, dann blies er kurz darauf und legte das Geschoß, das mit zwei Unzen Pulver geladen worden war, auf den Bogen. Die Muskeln an den Oberarmen Batutis traten hervor, als er ihn spannte. Sekunden später zischte der Pfeil los und begann durch den Luftzug verstärkt zu glimmen. Fast im selben Moment bohrte sich das Geschoß in das Segel des ersten Piratenbootes. Die Pulverladung entzündete sich und explodierte mit lautem Krachen. Das Segel wurde zerfetzt und begann samt dem Mast zu brennen. Die Piraten waren einen Augenblick lang starr vor Schrecken: Dann sprangen sie mit lautem Gebrüll ins Wasser und versuchten krampfhaft, der Küste entgegenzuschwimmen. Auch ihr Kapitän hatte das Boot verlassen, Und das war sein Glück, denn nach wenigen Sekunden flog bereits die erste Flaschenbombe Ferris Tuckers in das nun leere und brennende Boot. Die nachfolgende Explosion zerriß es in tausend Stücke, So mancher der davonschwimmenden Piraten kriegte durch die umherfliegenden Holzstücke noch eine Beule mit auf die Reise. Da auch Big Old Shane trotz seiner Verwundung wieder zum Bogen gegriffen
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hatten, um Batuti Schützenhilfe zu leisten, waren auch die anderen beiden Piratenboote noch an der Reihe. Zum Schluß blieben nur noch Holztrümmer übrig, und die Schnapphähne schwammen um ihr Leben. Hasard stellte fest, daß auch von der „Santa Maria Figaniella“ keine Gegenwehr mehr erfolgte. Die Burschen hatten wohl eingesehen, dass sie keine Chance mehr hatten, als Sieger aus diesem Gefecht hervorzugehen. Als sie dann noch mit ansehen mußten, was mit den Booten ihrer Kumpane geschah und wie ihr Kapitän mit eiligen Schwimmstößen das Weite suchte, da hielt auch sie nichts mehr an Bord „ihres“ Schiffes. Kurzerhand sprangen sie auf der Backbordseite ins Wasser und schwammen ebenfalls auf die Küste zu, um sich dort irgendwo in den Felsen zu verkriechen. Gerade wollte der Seewolf den Befehl zum Beidrehen und Entern der „Santa Maria Figaniella“ geben, da legte sich die Zweimastkaravelle vollends zur Seite und ging innerhalb kürzester Zeit mit einem lauten Gurgeln und Zischen auf Tiefe. Wie Hasard beobachtet hatte, waren alle Mann, einschließlich Niccolo Borgos, von Bord gegangen und hatten die Boote besetzt. Der Capitano ließ direkt auf die „Santa Maria Figaniella“ zupullen. Er war auf jeden Fall mit seinen Leuten in Sicherheit. Als die Seewölfe und die Männer Borgos das Schiff übernahmen, fanden sie außer einigen Toten lediglich zwei Männer vor, die an Bord geblieben waren und ihnen waffenlos gegenübertraten. Wie sich herausstellte, waren die beiden, als damals die Karavelle „Liberty“ gekapert worden war, von Ahmet Aydin in die Piratenmannschaft gepreßt worden. Der eine, weil er ein guter Schiffszimmermann war, der andere, weil die Kombüse neu besetzt werden mußte. Jetzt hatten die beiden Männer die sich bietende Gelegenheit genutzt, um sich von der wüsten Piratenhorde abzusetzen. Die Mannschaft Niccolo Borgos hob ein lautes Freudengeheul an, als sie sich
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wieder an Bord ihres eigenen Schiffes befand. Und in den Augen des Capitanos schimmerte es feucht, als er Philip Hasard Killigrew die Hand drückte. „Sie haben mir mein Schiff wiedergegeben“, sagte er. „Ich danke Ihnen, Sir.“ „Nun, Sie haben auch tapfer ihren Teil dazu beigetragen“, sagte der Seewolf. „Und ich glaube, Ihre Leute werden noch eine Weile damit beschäftigt sein, die Schäden zu beheben. Aber in ein bis zwei Tagen wird das erledigt sein, und Sie werden Ihren ursprünglichen Kurs fortsetzen können. Von den Piraten dürfte keinerlei Gefahr mehr drohen. Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben, als sich zu Fuß einen Weg durch die korsischen Berge zu suchen. Außerdem dürften sie inzwischen völlig waffenlos sein.“ „Ich kann es noch nicht fassen“, murmelte Niccolo Borgo, „ja, Sir, ich kann es wirklich noch nicht fassen.“ 9. Als die „Isabella“ zwei Tage später die kleine, versteckte Piratenbucht verließ, winkten Niccolo Borgo, Sebastiano Tursi und die übrigen Besatzungsmitglieder der „Santa Maria Figaniella“ lange hinter dem ranken Rahsegler der Seewölfe her. Die Crew der „Isabella“ hatte neue Freunde gefunden. Die beiden Männer, die auf dem Piratenschiff verblieben waren, hatte Kapitän Borgo in seine Mannschaft übernommen. Und das hatte sich auf ganzer Linie ausgezahlt. Sie wußten genau zu berichten, wo sich das Versteck des Türken befand, in dem er stets seine Beute untergebracht hatte. Während ein Teil der Mannschaften beider Schiffe damit beschäftigt war, die Gefechtsschäden zu beseitigen, hatte sich Hasard mit einem großen Landtrupp auf den Weg zu der Höhle gemacht. Auf diese Weise erhielt Niccolo Borgo nahezu alles zurück, was man ihm bei der Kaperung seines Schiffes weggenommen hatte. Der Rest wanderte in den Bauch der „Isabella“.
Frank Moorfield
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Und es war nicht wenig, was Ahmet Aydin im Laufe der Zeit zusammengerafft hatte. Auch die Seewölfe winkten zurück, als sie aus der kleinen Bucht segelten. „Freut mich, Sir“, sagte Ferris Tucker, für den es in den letzten Tagen in seiner Eigenschaft als Schiffszimmermann sehr viel Arbeit gegeben hatte. „Ja, es freut mich wirklich, Sir, daß der Capitano sein Schiff zurückerhalten hat. Und wenn der Türke seine Karavelle wiederhaben will, dann muß er zusehen, wie er sie vom Grund der Bucht heraufholen kann.“ Der Seewolf grinste. „Nur schade“, sagte er, „daß wir nicht mehr für Sebastiano Tursi tun konnten. Aber die Vendetta können wir leider nicht abschaffen oder ändern, das liegt nicht in unserer Macht. Doch der junge Korse wird zunächst in Sicherheit sein, und ich bin
Todesschatten am Horizont
davon überzeugt, daß der Capitano mit ihm einen recht brauchbaren Mann an Bord genommen hat.“ „Das glaube ich auch, Sir“, knurrte Edwin Carberry, der inzwischen aufs Achterdeck aufgeentert war. „Und was die verdammten Bluträcher betrifft, so müßte man diesen Rübenschweinen nur mal anständig ein Tauende über den Achtersteven klatschen. Dann würden sie schon merken, daß es ohne Blutvergießen so viel schöner auf dieser Welt ist.“ Der Profos wandte sich zur Kuhl hinunter. „Los, hopp, hopp, ihr lahmen Säcke, geht etwas mehr an den Wind!“ brüllte er. Im selben Augenblick streichelte er liebevoll Sir John, den karmesinroten Aracanga-Papagei, der von der Vormarsrah heruntergeflattert war und sich auf seine breite Schulter gesetzt hatte...
ENDE