John Grey
Todes-Serenade Ronco Band Nr. 150/11
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stie...
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John Grey
Todes-Serenade Ronco Band Nr. 150/11
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Folgt allein der Spur seines Stammes nach Mexiko hinein und gerät an einen Mann, der sich Sklaven hält. Mann-der-siegt – Apachenkrieger, der nie wieder siegen wird. Mayos – Ebenfalls ein Apachenkrieger, der um die letzte Kugel bittet. Don Cortona – Ein feister, mexikanischer Haziendero, der Spaß daran hat, seine Sklaven auspeitschen zu lassen. Gregg Lovecast – Texanischer Revolvermann und Sklave Don Corlonas. Felipe – Einer der Wächter Don Corlonas, gemein und brutal und darauf aus, Ronco zu zerbrechen.
Todes-Serenade 10. Dezember 1878 Ich reite nordwärts. Was hinter mir liegt, will ich schnell vergessen. Ich hatte geglaubt, mein Ziel fast erreicht zu haben. Eigentlich hätte ich wissen müssen, daß man sich nie zu früh freuen soll. Ich hatte es ja oft genug am eigenen Leibe erfahren. Vor ein paar Tagen noch war ich so verflucht sicher, zu sicher. Einige Tage lang schien Corpus Christi am Golf von Mexiko der Endpunkt meiner langen Flucht zu sein. Es war ein Irrtum. Mein Weg ist nicht zu Ende. Ich kann froh sein, noch zu leben. Vieles an meiner jetzigen Situation erinnert mich wieder an meine Kindheit und Jugend, an das Jahr 1858, als mich nur mein blondes Haar und meine hellere Haut von einem waschechten Apachen unterschied. Damals, im Hochsommer dieses Jahres, hatte ich den Anschluß an meinen Stamm verloren. Die Krieger waren mit dem schwerverletzten Mangas Colorados weitergezogen, der in dem mexikanischen Kaff San Vincente von einem Arzt operiert worden war. Ich war allein. Ich hatte nur eine Fährte von vielen unbeschlagenen Pferdehufen vor mir im Staub. Doch der beständig wehende Wind zerstörte bald auch diese Spur.
1. Ich lehnte den Sharps-Karabiner an einen hüfthohen Felsbrocken. Er glitt daran ab und fiel klirrend zu Boden. Ich achtete nicht darauf, zog den Korken aus meiner Feldflasche, setzte sie an den Mund und trank einen Schluck von dem abgestandenen, lauwarmen Wasser. Nachdem ich die Flasche wieder verkorkt hatte, hielt ich sie an mein rechtes Ohr und schüttelte sie. Sie war fast leer. Ich schaute mich um. Das Land war von der Sonne verbrannt, karg bewachsen, steinig und unwirtlich. Es sah nicht so aus, als würde ich
bald auf Wasser stoßen und die Flasche neu auffüllen können. Schweiß rann mir über Stirn und Wangen. Wind wehte von Süden wie ein Gluthauch der Hölle und trug den Staub in feinen Schleiern über das Land. Seit zwei Tagen war ich unterwegs. Die Fährte vor mir, die die Apachen hinterlassen hatten, wurde schwächer und schwächer. Der ständig wehende Wind zerstörte die Abdrücke der unbeschlagenen Hufe im sandigen Boden. Die Spur führte schnurgerade nach Westen und schien weit vor mir in der Unendlichkeit zu versickern. Die Sonne stand hoch, die Luft flimmerte und es war unerträglich heiß. Ich hängte die Feldflasche an den Gürtel zurück und verschob den schweren Navy-Colt, der schräg in meinem Gürtel steckte und bei jeder Bewegung schmerzhaft gegen meine linke Hüfte drückte. Es war eine fleckige Waffe, die den Glanz der bläulichen Brünierung längst verloren hatte. Der Rahmen trug den Armeestempel. Im Griff steckten ein paar schmale Messingstifte, die ein S und ein H bildeten, vermutlich die Initialen des Soldaten, dem der Revolver einmal gehört hatte. Ich bückte mich und hob den Sharps-Karabiner auf. Lustlos setzte ich mich wieder in Bewegung. Stiche durchzuckten meine Fußgelenke. Meine Mokassins waren nicht für lange Fußmärsche gearbeitet, und ich war das lange Laufen nicht mehr gewöhnt. Meine Fußsohlen schmerzten bei jedem Schritt. Ich biß die Zähne zusammen. Obwohl ich gerade etwas getrunken hatte, war meine Kehle schon wieder trocken. Feinkörniger Sand knirschte zwischen meinen Zähnen. Als ich den Hufschlag hörte, war ich keine zwanzig Schritte gegangen. Ich drehte mich um. In wenigen hundert Yards Entfernung hing eine Staubwolke in der Luft, die rasch näher rückte. Instinktiv begann ich zu laufen. Ich spürte auf einmal keine Schmerzen mehr in den Füßen. Ich lief leichtfüßig, als hätte ich stundenlang gerastet. Weit und breit gab es weder Baum noch Strauch und keine Deckung für mich. Unvermittelt tauchte ein Arroyo vor mir auf. Ich rannte darauf zu.
Als ich die Böschung erreichte, stolperte ich und schlug lang hin. Das Gewehr entfiel meinen Händen und rutschte klirrend über das scharfkantige vulkanische Geröll in das ausgetrocknete Flußbett. Ich selbst fand keinen Halt und stürzte hinterher. Meine Kalikohose zerriß, ich schrammte mir das rechte Knie auf. Mit dem Kopf prallte ich gegen einen Felsbrocken. Dann lag ich auf dem Grund des Arroyos, in den die Sonnenglut Falten und Risse gefressen hatte. In meinen Schläfen hämmerte das Blut. Mühsam raffte ich mich auf. Ich taumelte etwas. Der Hufschlag war lauter geworden. Ich griff nach dem Sharps-Karabiner. Aus dem Schaft war ein handlanger Holzspan gebrochen. Ich fluchte leise und kroch die Böschung hoch, bis ich auf die Ebene hinausschauen konnte. Da entdeckte ich die Reiter. Sie waren schon ziemlich nah und trugen grüne Uniformen. Es waren Rurales. Eine kleine Patrouille nur, vier Mann. Zu viele für mich. Sie hielten am Rand des Arroyos an, kaum fünfzig Yards von mir entfernt. Ich preßte mich hart gegen die Böschung und wagte kaum zu atmen. Der Wind trieb den Klang ihrer Stimmen und einzelne Wortfetzen herüber. Ein Pferd schnaubte. Ich hätte gern ein Pferd gehabt, jetzt, in diesem Moment. Mit einem Pferd wäre alles leichter gewesen. Ich dachte an meinen Braunen, diesen knochigen, häßlichen Armeehengst, der für mich das beste Pferd war, das es auf dieser Welt gab. Irgendeiner der Krieger würde ihn jetzt reiten. Vielleicht Little Friend, vielleicht Schnelltöter oder ein anderer. Es ist schon verrückt, an was man in solchen Situationen denkt. Vor meinem Gesicht war plötzlich eine Spinne. Schwarz, mit dünnen hellen Streifen auf dem fingerkuppengroßen Körper. Sie turnte über das Gestein. Unwillkürlich zuckte ich mit dem Kopf zurück. Die Spinne streifte mich sacht und verschwand zwischen ein paar Steinen. Hufschlag war wieder zu hören. Ich lauschte, bis er leiser wurde und wandte den Kopf. Die Rurales ritten westwärts. Sie hatten mich nicht bemerkt. Erleichtert richtete ich mich auf. Ich strich mir mit der Rechten
eine Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn und wartete noch gut eine Viertelstunde im Arroyo, bevor ich ihn verließ und weiterlief. Von den Rurales war nichts mehr zu sehen. Das kleine Rancho lag in der Dämmerung vor mir. Aus dem Kamin kräuselte sich Rauch. Die rot schimmernde Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben. Im Korral neben dem Haus stand ein Pferd, ein brauner Wallach – genau das, was ich brauchte. Ich schätzte meine Chancen ab. Sie waren nicht schlecht. Das Rancho lag in einer flachen Senke, in der Bäume und Buschwerk wuchsen. Die Abendsonne warf lange Schatten. Ich beobachtete das Anwesen eine Weile. Dann huschte ich in die Senke hinunter. Es gab keine Schwierigkeiten. Nach kaum zehn Minuten lehnte ich an der Rückwand des Stalles. Ich lauschte auf den Hof. Dort war noch immer alles still. Ich faßte den Sharps-Karabiner mit beiden Fäusten und umrundete das einfache Holzgebäude. Ein Eimer klapperte plötzlich, und ich erstarrte. Eine Tür wurde auf gestoßen, dann hörte ich eine Männerstimme und Schritte. Schweiß rann mir in dichten Bahnen über das Gesicht. Dennoch fror ich. Ein paar Mücken tanzten über meinem Kopf, angelockt vom Geruch meines Schweißes. Ich rührte mich nicht. Wieder klapperte ein Eimer. Quietschend bewegte sich die Winde am Brunnen. Ich schob mich vorsichtig weiter vor. Sand knirschte unter Stiefelsohlen. Im selben Moment tauchte an der Stallecke ein Schatten auf. Ein junger Mexikaner stand mir gegenüber. Er war noch keine zwanzig. Auf seiner Oberlippe wuchs dünner Flaum. Er trug ein löchriges Leinenhemd, das offen über seine viel zu kurze Hose hing. In den Händen hielt er einen Korb und mir war klar, daß er von einem nahen Holzhaufen Scheite hatte holen wollen. Seine Augen weiteten sich, als er mich sah. Ich ließ ihm keine Chance. Ich sprang aus dem Stand auf ihn zu. Erst jetzt bemerkte ich die Steifheit meiner Glieder. Sie hatten vom langen Laufen ihre Geschmeidigkeit verloren. Trotzdem war ich schneller als der Mexikaner.
Er ließ seinen Korb fallen und vollführte eine Abwehrbewegung mit beiden Händen. Da stand ich schon vor ihm, riß die Sharps hoch und stieß ihm den Kolben mit aller Kraft in den Leib. Er riß den Mund weit auf. Ein scharfes Keuchen drang über seine Lippen. Die Augen quollen ihm fast aus den Höhlen. Ohne ein Wort beugte er sich nach vorn und preßte beide Hände gegen den Magen. Ich zögerte nicht und schlug ihm den Kolben in den Nacken. Er fiel vor mir in den Staub, schlug mit dem Gesicht am Boden auf und war unfähig, den Sturz abzufangen. Stöhnend wälzte er sich auf die Seite, die Beine fest gegen den Leib gezogen. Sein Gesicht war zu einer Grimasse maßlosen Schmerzes verzerrt. Ich lief an ihm vorbei zu dem Korral. Es waren nur wenige Schritte. Aber mir schien es so, als sei der Weg mehrere Meilen lang. Ich kletterte die Korralstangen hoch und sprang in die Koppel. Das Pferd hob den Kopf. Es schaute mich mißtrauisch an und scheute. Ich roch nach ranzigem Fett, das ich mir als Sonnenschutz auf die Arme und den bloßen Oberkörper gerieben hatte. Der Wallach schien sich daran zu stören. Ich konnte keine Rücksicht darauf nehmen. Er stellte jäh und wirbelte mit den Vorderhufen durch die Luft. Ich sprang hoch und packte das leichte Kopfgeschirr, das er trug. Er schleifte mich mit, als er sich unvermittelt herumwarf, aber ich ließ nicht los. Ich drückte ihm den Kopf nach unten und schwang mich auf den Rücken des Wallachs. * Der Junge fing plötzlich an zu schreien. Es war ein dumpfes, gequältes Brüllen, das sich aus seiner Kehle rang. Er lag noch immer am Boden, wälzte sich vor Schmerzen im Staub und versuchte, auf die Beine zu gelangen. Ich trieb den Wallach an und ritt auf das Tor des Korrals zu. Am Fenster des kleinen Hauses erschien ein Mann. Ich sah das olivbraune Gesicht eines älteren Mexikaners verschwommen hinter den Scheiben, die das Licht der Abendsonne reflektierten. Ich beugte mich auf dem Pferderücken nach vorn und riß die
Verriegelung des Korralgatters auf. Dann trieb ich den Wallach auf den Hof. Er war noch immer widerspenstig und versuchte, sich aufzubäumen. Ich hämmerte ihm die Faust zwischen die Ohren. Da wurde er zahm. Zur selben Zeit sah ich den Mexikaner im Haus mit einem Gewehr am Fenster auftauchen. Ich feuerte mit der Sharps. Der Rückschlag preßte mir den Kolben hart an die Hüfte. Die Fensterscheibe zersplitterte unter der Kugel in tausend Stücke. Der Mexikaner dahinter verschwand. Im nächsten Moment sprang mich der Junge von der Seite an. Sein Gesicht war schweißüberströmt und noch immer gezeichnet von heftigen Schmerzen. In seinen Augen glühte Haß. Er krallte beide Fäuste um mein rechtes Bein. Ich schlug mit der Sharps zu. Die eiserne Kolbenplatte traf den jungen Mexikaner auf den Schädel. Er grunzte wie ein sattes Schwein, als er rücklings zu Boden fiel. Dann ritt ich davon. Weit gelangte ich nicht. Zwei Schüsse peitschten hinter mir. Eine Kugel strich sengend heiß an meinem Kopf vorbei. Die zweite streifte das Pferd an der Flanke. Es warf sich jäh herum und bäumte sich mit schrillem Wiehern auf. Ich hatte nicht damit gerechnet und wurde zu Boden geschleudert. Der Aufprall war hart. Brennend durchzuckte mich der Schmerz. Halbbetäubt kam ich auf die Beine und sah durch einen rötlichen Nebel einen Mann vom Rancho heranlaufen. Ich zog den Navy-Colt aus dem Gürtel, spannte den Hammer und feuerte. Der Mexikaner drehte um und lief zurück. Ich schaute mich nach dem Pferd um. Der Wallach stand in etwa hundert Yards Entfernung und zupfte an den Spitzen des bräunlichen Grases, das am Rand der Senke wucherte. Es hatte wenig Sinn, hinter dem Tier herzulaufen. Ich hob meine Sharps auf, die ich beim Sturz verloren hatte, und lief zum Westrand der Senke. Hinter mir krachte wieder ein Schuß. Die Kugel riß dicht neben mir eine häßliche Furche in den steinigen Boden und wirbelte eine Staubfontäne in die Luft. Ich blieb nicht stehen, erreichte den Rand der Senke und lief auf
die Ebene hinaus. Eine halbe Meile vor mir lag ein Waldgürtel. Die verglühende Sonne berührte bereits die Spitzen der Bäume. Ich rannte so schnell wie noch nie in meinem Leben, und wunderte mich selbst darüber. Noch vor ein paar Minuten hatte ich mir eingebildet, die schmerzenden Füße nicht mehr heben zu können. Wieder krachte ein Schuß. Die Kugel lag schlecht. Ich drehte mich gar nicht erst um. Dann klang Hufschlag auf. Ich hatte gerade die Hälfte der Wegstrecke bis zum Wald zurückgelegt. Ohne anzuhalten wandte ich den Kopf. Im Süden sprengten vier Reiter aus den Hügeln. Sie trugen große Hüte auf dem Kopf und grüne Uniformblusen. Es waren die Rurales, die ich gegen Mittag nach Westen hatte reiten sehen. Offenbar waren sie nicht weit geritten, vielleicht hatten sie mich sogar gesehen, wie ich im Arroyo gelegen hatte, waren weitergeritten und hatten im Hügelland gewartet, um herauszufinden, ob ich allein war oder ob sich weitere Krieger in der Nähe befanden. Ich lief, bis ich kaum noch atmen konnte und Seitenstiche hatte. Die Sonne war bereits zur Hälfte hinter dem Wald versunken, als ich den Waldrand erreichte und ins Unterholz eindrang. Ich warf mich zu Boden, preßte das heiße Gesicht ins kühle Moos und rang nach Atem. Meine Lunge schien zu platzen. Schwarze Punkte flimmerten vor meinen Augen. Mühsam richtete ich den Oberkörper auf. Ich langte nach der Feldflasche am Gürtel, riß den Korken mit fliegenden Fingern heraus und trank, bis sie leer war. Dann griff ich nach dem Gewehr. Ich öffnete die schwarze Ledertasche mit dem Papierpatronen, klappte den Fallblock des Sharps-Karabiners hinunter und schob eine Patrone in den Lauf. Auf der Ebene sprengten die Mexikaner durch die Dämmerung heran. Sie schienen zu glauben, leichtes Spiel mit mir zu haben. Diese Illusion würde ich ihnen nehmen.
2. Sie schossen, obwohl sie mich gar nicht sehen konnten. Die orangefarbenen Mündungsblitze ihrer Gewehre zuckten wie Lichtfinger durch die sich verdichtende Finsternis. Die Reiter stoben
heran, angestrahlt vom roten Glanz der Sonne, so daß sie wie scharf konturierte Schattenrisse wirkten. Ich schoß nur zweimal, und ich zielte genau, denn ich mußte Munition sparen. Mit dem ersten Schuß traf ich ein Pferd in den Kopf. Das Tier stürzte im vollen Galopp und überschlug sich. Der Reiter wurde durch die Luft geschleudert, landete katzengleich auf den Beinen und stürmte schreiend auf den Wald zu. Ich tötete ihn, als er noch zwanzig Yards vom Waldrand entfernt war. Das schwere Sharps-Geschoß wirbelte ihn einmal um die eigene Achse und warf ihn zu Boden. Die drei anderen drehten ab. Ich richtete mich auf, steckte den Navy wieder in den Gürtel, hob die leere Feldflasche auf und schulterte die Sharps. Dann drang ich tiefer in den Wald ein, obwohl meine Füße jetzt wieder heftig schmerzten und meine Knie manchmal vor Schwäche nachgaben. Im Wald war es bereits dunkel. Ich konnte wenig sehen, stieß häufig an Bäume und lief mit dem Kopf gegen tiefhängende Äste und Zweige. Aber ich blieb nicht stehen. Irgendwann erreichte ich eine Lichtung. Das dichte Dach aus Blättern und Zweigen über mir öffnete sich. Ich sah den Himmel, an dem ein paar Sterne blinkten. Es war Nacht. Ich blieb stehen und lauschte in die Dunkelheit. Es knackte im Unterholz. Wind raschelte in den Zweigen. Ein Vogel schrie, und der Flügelschlag einer Eule war zu hören. Es waren vertraute Geräusche, die in die Wildnis gehörten. Sonst war es still. Ich ließ mich auf der Lichtung ins Gras sinken. Das Gewehr und den Colt legte ich griffbereit neben mich. Ich kramte eine von den eisernen Rationen hervor, die ich den toten Soldaten nach dem Kampf auf der Ebene von San Vincente abgenommen hatte. Lustlos kaute ich den harten Zwieback, die getrockneten Früchte, das zähe Trockenfleisch. Ich war zu müde und zu erschöpft, um Hunger zu haben. Kraftlos sackte ich zurück, nachdem ich das karge Essen in mich hineingeschlungen hatte. Flach lag ich im Gras und schaute zum Himmel. Meine Sinne waren überreizt. Bei jedem verdächtig klingenden Geräusch zuckte ich zusammen. Nach und
nach nur wurde ich ruhiger, meine innere Anspannung ließ nach. Die letzten Tage waren ereignisreich gewesen, nachdem wir unseren Feldzug in Texas abgebrochen hatten und mit dem schwerverletzten Mangas Coloradas nach Mexiko zurückgekehrt waren. Die Medizinmänner hatten versagt. Ein mexikanischer Arzt in San Vincente hatte Mangas Coloradas die Kugel aus dem Körper geholt und ihm das Leben gerettet. Nicht freiwillig, o nein. Wir hatten San Vincente erst erobern müssen. Wir, das waren mehrere hundert Krieger verschiedener Apachenstämme unter der Führung von Cochise, dem Oberhäuptling der Chiricahuas. Ich war ein Chiricahua, ein Apache, ein vollwertiger Krieger, obwohl ich erst dreizehn Jahre alt war. Das war alt genug, um bei den Apachen als Mann zu gelten, und ich besaß bereits meinen Medizinbeutel. Ein größenwahnsinniger Major der US-Armee war uns mit einer Kompanie Kavallerie über den Rio Bravo nach Mexiko gefolgt. Wir hatten ihn geschlagen, aber ich war in Gefangenschaft geraten und hatte erst entkommen können, als Rurales aufgetaucht waren und die amerikanische Kavallerie niedergekämpft hatten. Zu diesem Zeitpunkt aber waren die Apachen mit Mangas Coloradas bereits aus San Vincente abgezogen, um einem Kampf mit den Mexikanern aus dem Wege zu gehen, der unter Umständen Mangas Coloradas' Leben doch noch gefährdet hätte. So war ich zurückgeblieben und konnte von Glück sagen, daß ich überhaupt noch lebte. Deshalb war ich jetzt allein unterwegs, allein in Mexiko, in einem Teil des Landes, der mir völlig unbekannt war. Eine üble Situation, aber vorerst nicht zu ändern. Wenn die Sonne aufging, würde ich weiterlaufen, falls die Rurales mir eine Gelegenheit ließen. Ich hoffte, sie würden sich mit einem Toten zufriedengeben, ahnte aber, daß das nicht so sein würde. Und ein Pferd hatte ich immer noch nicht. Es waren also nicht gerade die besten Chancen, mit denen ich ausgestattet war. Aber darüber wollte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht weiter den Kopf zerbrechen. Ich war zu erschöpft, und wenn ich am nächsten Morgen sterben sollte, so wollte ich vorher
wenigstens ausgeschlafen haben. Es stirbt sich schlecht, wenn man müde ist. * Der erste Sonnenstrahl weckte mich. Es raschelte in einem nahen Gebüsch. Ich wälzte mich herum und war auf der Stelle hellwach. Meine Rechte glitt zu dem Navy-Colt, der neben meinem Kopf am Boden lag. Das Metall glänzte feucht vom Tau. Als ich mich mit dem Revolver in der Faust aufrichtete, sah ich einen Hasen davonspringen. Einen Moment juckte es mir im Zeigefinger, ihn abzuschießen. Allein der Gedanke an frisches Fleisch zog mir den Magen zusammen. Aber der Schuß hätte mich verraten. So steckte ich den Revolver zurück in den Gürtel. Ich erhob mich und nahm den Sharps-Karabiner auf. Ich aß ein wenig von dem zähen Trockenfleisch und nahm dann einen kleinen Stein in den Mund, den ich mit der Zunge hin und her bewegte, damit die Speicheldrüsen angeregt wurden und der Durst leichter zu ertragen war. Über der Lichtung zerrissen die Nebelschwaden. Geblendet schloß ich die Augen, als das Frühlicht grell auf mich herunterflutete. Ich schulterte den Karabiner und verließ die Lichtung nach Westen. Nach wenigen Schritten stieß ich auf einen Wildpfad, dem ich folgte. Ich gelangte ohne Schwierigkeiten voran. Nur mein Durst wurde stärker und stärker. Der Stein im Mund half ein wenig, war aber auf die Dauer natürlich kein Ersatz für einen richtigen Schluck Wasser. Wenigstens verhinderte er, daß sich die Mundhöhle entzündete. Kurz vor Mittag, als vor meinen Augen bereits wieder schwarze Punkte tanzten und mein Kopf zu zerplatzen schien, stieß ich auf ein schmales Rinnsal. Ich stürzte mich gierig darauf, beherrschte mich dann aber und trank in kleinen Schlucken. Mein Gesicht war naß, und das Wasser rann mir in unzähligen kleinen Bächen über Kinn, Hals und Oberkörper, als ich mich aufrichtete. Ich fröstelte im ersten Moment, aber es tat gut. Es tat auch gut, daß Gewicht der neu gefüllten Feldflasche am Gürtel zu spüren, als ich weiterging. Kaum eine halbe Stunde später stand ich am westlichen Waldrand.
Vor mir erstreckte sich eine tellerartige Ebene, auf der kniehohes Büffelgras in dichten Büscheln wuchs. Dazwischen wucherten hüfthohes Dorngestrüpp und blühender Salbei. Hier und da ragten Pecan-Bäume aus dem Land. Eine Meile im Westen buckelten sich grüne Hügel, im Süden erhoben sich kahle, rötlich braune Felsmassive. Die Ebene war menschenleer. Der Wind strich mit leisem Singen durch das hohe Gras. Ich verließ den Schutz des Waldes. Meine Füße schmerzten jetzt wieder. Es war zu ertragen. Die Sonne stand bereits hoch im Mittag. Die Hitze lastete auf dem Land und schien jedes Leben zu erdrücken. Ich hatte das Gefühl, Blei in den Gliedern zu haben. Mit jedem Schritt wurden das Gewehr, der Revolver und die Feldflasche schwerer. Nachdem ich fast eine Stunde in der Hitze dahingetappt war, verspürte ich den Zwang, einfach alles fortzuwerfen. Ich zog fast mit Gewalt die Schultern zurück und bemühte mich, an etwas anderes zu denken. Aber das Gewehr zerrte meinen rechten Arm wie ein Tonnengewicht nach unten. Ich erreichte die Hügel, schleppte mich hinauf und drehte mich um. Da sah ich die drei Reiter. Sie kamen vom Wald her. Es war so, wie ich es mir gedacht hatte. Sie hatten nicht aufgegeben. Sie hatten nur etwas länger gebraucht, um meine Spur zu finden, denn der Waldgürtel war groß, und sie hatten anscheinend die Ränder abgesucht. Ich trank einen Schluck Wasser, drehte mich um und lief ins Hügelland. Eine Gruppe von Pecan-Bäumen tauchte vor mir auf. Ich rannte darauf zu und warf mich dahinter in Deckung. Das Gras wucherte hier besonders hoch. Das Blätterdach der Bäume spendete Schatten. Es war die beste Deckung, die ich in diesem Moment finden konnte. Trotzdem standen meine Chancen mehr als schlecht. Die Rurales waren zu dritt. Ich war allein. Meine Vorräte waren begrenzt. Es gehörte nicht viel Verstand dazu, sich auszurechnen, wer am Ende siegen würde. Aber so leicht sollten sie mich nicht abservieren. Ich würde kämpfen. Die Zeit verstrich zäh. Die Minuten verrannen so träge wie
flüssiges Wachs. Dann hörte ich den Hufschlag, der vom hohen Gras etwas gedämpft wurde. Ich hegte keinen Zweifel daran, daß die Reiter, wenn sie mich vorhin nicht auf dem Hügel gesehen hatten, meine Spur im Gras gefunden hatten. Vielleicht ahnten sie noch nicht, wie nahe sie mir waren, vielleicht hatte ich Glück und konnte sie überraschen. Sie waren plötzlich da. Der erste Reiter tauchte auf einem Hügel auf, bevor ich meine Sharps anlegen konnte. Ihre grünen Uniformen waren staubig und gezeichnet von dunklen Schweißflecken. Die Männer wirkten übermüdet, ihre Pferde abgetrieben und erschöpft. Ich schoß, als sie kaum noch dreißig Yards entfernt waren. Es blieb mir gar nichts anderes übrig. Sie ritten direkt auf meiner Spur. In dem Moment zog der Mann, auf den ich gezielt hatte, sein Pferd herum. Meine Kugel streifte ihn nur leicht am Hals. Er kippte nach hinten. Vor Schreck, nicht vom Anprall des Geschosses. Sein Pferd scheute. Er verlor den Halt im Sattel und stürzte rücklings ins Gras. Im nächsten Moment begannen die beiden anderen Reiter zu feuern. Das heiße Blei pfiff über mich weg. Ich preßte den Kopf tief ins Gras und spürte ab und zu den sengenden Luftzug der Kugeln im Nacken. Rechts und links von mir gruben sich die Geschosse in die Stämme der Pecan-Bäume und splitterten große Späne aus der Rinde. Als sie nachladen mußten, hob ich den Kopf und legte meinen Karabiner an. Ich feuerte und traf eines der Pferde in die Brust. Es brach zusammen und begrub den Reiter unter sich. Der Mann schrie wie am Spieß. Ich feuerte wieder und verletzte ihn am linken Arm. Dann deckten mich die beiden anderen Männer wieder mit Kugeln ein. Ich zog mich ein Stück zurück und blieb direkt hinter dem breiten Stamm eines Baumes liegen. Mir flogen die Späne der Rinde um die Ohren, aber das war nicht gefährlich. Ich trank einen Schluck aus meiner Feldflasche und lud meine Sharps auf. In der Ledertasche mit dem großen US-Stempel steckten jetzt noch fünfzehn Papierpatronen. Der Navy-Colt in meinem Gürtel war noch mit vier Kugeln geladen. Das war meine ganze Munition. Nicht gerade überwältigend. Ich gab mir selber keine Chance mehr.
* Die Rurales verfügten über reichlich Munition, so wie sie mich beschossen. Sie schienen das gleiche von mir zu glauben. Außerdem schienen sie von meiner Treffsicherheit beeindruckt zu sein, denn sie trauten sich nicht näher. Immer, wenn einer von ihnen den Versuch unternahm, sich heranzuschleichen, gab ich einen Schuß ab. Das hielt sie mir vom Leib, und ich sparte Munition. Aber auf die Dauer war das keine Lösung für meine Lage. Die Zeit verstrich. Die Sonne rückte langsam über den Zenit hinaus nach Westen. Meine Glieder wurden mit der Zeit steif vom Liegen. Vor mir rührte sich wieder etwas. Ich hob den Karabiner an die Schulter und zielte in Richtung der Rurales. Die Spitzen des Grases bewegten sich dort. Ein Mann kroch auf allen vieren über den Boden. Ich konnte seinen Weg wenige Yards weit verfolgen, ohne ihn selbst zu sehen. Dann wurde es wieder still. Ich fror plötzlich, obwohl die Sonne noch immer mit unverminderter Kraft vom Himmel brannte. Ich ahnte, was die Mexikaner sich ausgedacht hatten. Im Schutz der Hügel wollte einer in meinen Rücken gelangen. Ich wandte den Kopf und beobachtete die Hügelrücken hinter mir. Da irgendwo mußte gleich einer von den Rurales auftauchen. Mir blieben vielleicht noch zwei Minuten, vielleicht drei oder noch ein paar mehr. Dann hatte ich einen Gegner im Rücken, dem ich schutzlos ausgeliefert war. Ich saß in der Falle. Sie konnte jeden Moment zuschnappen. Es blitzte plötzlich auf einem der Hügel metallisch im Sonnenlicht. Einen kurzen Moment nur. Dann bemerkte ich einen Schatten und sah die Krone eines Hutes. Wenig später schob sich ein Gewehrlauf durch das hohe Gras. Mir war jetzt alles egal. Ich war sicher, daß jetzt alles aus war. Ich wälzte mich auf den Rücken und schoß, ohne zu zielen. Ich traf. Es war wirklich ein reiner Glückstreffer. Das schwere Sharps-Geschoß prallte gegen den Lauf, der auf mich zielte, riß ihn
hoch und wirbelte dem Mexikaner hinter dem Hügel das Gewehr aus den Fäusten. Im selben Moment begannen die beiden anderen wieder zu schießen. Ihre Kugeln schlugen in die Pecan-Bäume oder rissen dicht neben mir lange Furchen in die Grasnarbe. Die peitschenden Detonationen der Karabinerschüsse fingen sich zwischen den Hügeln. Stinkend erhob sich schmutziggrauer Pulverdampf. Hufschlag übertönte den Lärm der Schüsse. Ich ließ meinen Sharps-Karabiner sinken und zählte die Papierpatronen, die noch in der Ledertasche steckten. Es waren vier, und der Hufschlag signalisierte Verstärkung. Für wen, das war für mich keine Frage. Aus den Augenwinkeln sah ich den Mexikaner, der versucht hatte, mich von hinten zu erschießen, auf einem Hügel auftauchen. Er hielt eine doppelläufige Reiterpistole in der rechten Faust. Ich kniete hinter einem Pecan-Baum und schob eine neue Patrone in den Lauf der Sharps. Noch immer kniend feuerte ich aus der Hüfte und traf den Schnapphahn der Pistole. Die Kugel riß den Hahn ab und bohrte sich zusammen mit dem Hahn in die rechte Seite des Mexikaners. Er ließ die Pistole fallen, preßte beide Hände auf die große Wunde, aus der das Blut wie aus einem Schlauch spritzte, und stürzte brüllend zu Boden. Ich hatte nur noch drei Patronen und lud den Karabiner neu auf. Da sprengten zwei Reiter über die Hügel. Ich erhob mich fast augenblicklich und verließ meine Deckung. Die beiden Rurales waren mir egal. Die beiden Reiter waren Apachen. Meine Brüder. Die Rurales erhoben sich ebenfalls und stürmten zu ihren Pferden. Schüsse krachten. Die beiden Mexikaner taumelten. Der Sombrero des einen wirbelte durch die Luft. Dann sackte der Mann kraftlos wie ein Sack Lumpen zu Boden. Der andere schaffte es noch bis in den Sattel. Dort holte ihn eine Kugel ein. Er hielt sich dennoch, ließ sich nach vorn auf den Pferdehals fallen und trieb sein Tier an. Wenig später war einer der Krieger neben ihm und schwang seinen Tomahawk. Ich wandte mich ab und lehnte mich erschöpft mit dem Rücken an einen Baumstamm. Die beiden Krieger sprangen aus den Sätteln. Sie hielten ihre
Gewehre im Hüftanschlag, als sie auf mich zuliefen. Mißtrauisch schauten sie mich an, dann erkannten sie mich und ich sie. Es waren Mimbrenos aus dem Stamm von Mangas Coloradas. * Es waren untersetzte Männer mit breiten Schultern und zerfurchten, narbigen Gesichtern. Sie trugen fadenscheinige Armeejacken, an denen die Rangabzeichen fehlten, und ausgebleichte Kalikohosen. Ihre hochschäftigen Mokassins reichten fast bis zu den Knien. Um die Hüften hatten sie sich Patronengürtel geschnallt. Sie waren staubig wie nach einem langen Ritt. Ich hob matt die rechte Hand und zeigte zu dem Hügel hin, hinter dem der Rurale verschwunden war, den ich verwundet hatte. Einer der Krieger lief wortlos durch das Gras und verschwand hinter dem Hügel. Wenig später ertönte ein Schrei. Ein Schuß krachte. Es wurde wieder still. Ich fror auf einmal wieder. »Wo kommt ihr her?« fragte ich. »Seit ihr hinter den anderen hergewesen?« »Cochise ist weit voraus«, sagte der eine. Er war höchstens achtzehn, sah aber zehn Jahre älter aus und nannte sich »Mann-dersiegt«. »Wir waren auf der Jagd. Grünröcke tauchten auf, viele Grünröcke …« Er schwieg und blickte düster an mir vorbei ins Leere. Ich verstand. Erst jetzt fielen mir die eingetrockneten Blutflecke an der Kleidung der beiden und die Schrammen in ihren Gesichtern auf. »Ihr seid die einzigen, die noch leben?« »Ja.« Der zweite Krieger war zurückgekehrt. Er lud seinen Karabiner, aus dessen Mündung sich ein dünnes Pulverwölkchen kräuselte. Mir fiel auch sein Name ein. Er hieß Mayos. »Wie viele wart ihr?« »Zehn.« »Sind sie hinter euch her?«
»Vielleicht.« Mann-der-siegt wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er blickte mich prüfend an. »Alle denken, daß du tot bist.« »Ich hab's auch schon fast gedacht.« Ich reichte den beiden meine Feldflasche. Sie sahen nicht so aus, als hätten sie in den letzten vierundzwanzig Stunden etwas getrunken oder gegessen. »Was ist mit meinem Pferd, mit meinem Gewehr?« Sie zuckten mit den Schultern. »Little Friend reitet dein Pferd.« Ich war beruhigt. Little Friend würde den Braunen gut behandeln. Außerdem war ich ja bald wieder bei den anderen und würde den Braunen wieder reiten. Das hoffte ich. Das glaubte ich. Ich war sogar fest davon überzeugt. Ich hatte ja jetzt sogar ein Pferd. Von den Tieren der Rurales lebten noch zwei. Der Fußmarsch hatte ein Ende. »Habt ihr Hunger?« Sie nickten. Ich gab ihnen den Rest der eisernen Rationen. »Wie bist du davongekommen?« fragte Mayos. »Als die Mexikaner auftauchten, hatten die Langmesser keine Zeit mehr, auf mich aufzupassen. Als es dunkel wurde, bin ich zur Stadt gelaufen. Da wart ihr fort.« »Mangas Coloradas sollte leben«, sagte Mann-der-siegt. »Ein Kampf wäre nicht gut gewesen in diesem Augenblick. Die Mexikaner waren zu stark.« »Lebt er noch?« fragte ich. »Mangas Coloradas lebt. Aber es geht ihm nicht gut. Der Fiebergeist war in ihm, und Nochalo hat lange getanzt, bis es besser wurde.« »Was wird nun werden?« »Keiner weiß es.« Mann-der-siegt gab mir die Feldflasche zurück. Er sprach mit vollem Mund, denn er stopfte sich gierig die eisernen Rationen hinein. »Vielleicht trennen wir uns wieder. Ein Stamm geht nach dem Süden, einer nach dem Westen. Der Große Geist wird uns sagen, was wir tun müssen.« Ich nickte. Ich war nicht mehr so überzeugt davon – wie ich es noch vor dem gescheiterten Feldzug nach Texas gewesen war –, daß
der Große Geist immer recht hatte. Vielleicht hatte der Große Geist aber doch recht, und Nochalo, unser Medizinmann, war ein bißchen schwerhörig und verstand ihn nicht richtig. »Reiten wir.« Wir gingen zu den Pferden der Mexikaner. Ich suchte mir das beste aus, einen stämmigen Schecken mit einer Rammsnase. Das andere Tier nahm Mann-der-siegt an den Zügel und zog es mit, als wir davonritten und die toten Mexikaner hinter uns zurückließen. Die Sonne stand jetzt schräg über uns und hatte bereits einen rötlichen Schimmer. Ich war froh, wieder im Sattel sitzen zu können. Die Welt sah gleich ganz anders aus. Wir ritten durch das Hügelland und erreichten ein kahles Steppengebiet, als die Sonne unterging. Noch immer war es heiß. Der Wind war im Laufe der letzten Stunden immer schwächer geworden und brachte keine Kühlung mehr. Die baumlose Steppe dehnte sich zu den Horizonten. Die Spur der Apachen, die Tage vorher durch das Land gezogen waren, war nun nicht mehr zu sehen. Das Steppengras, das die unbeschlagenen Hufe der gescheckten Ponys geneigt hatten, hatte sich längst wieder aufgerichtet. Einmal kreuzten wir eine schmale Wagenstraße. Wir ließen sie rasch hinter uns. Es lag uns nichts daran, gesehen zu werden. Als die Sonne hinter den Tafelfelsen im Westen versank, sahen wir eine Hütte vor uns. Sie hatte ein flaches Dach und die Form eines Bauklotzes, den ein Riese achtlos in der Steppe liegengelassen hatte. Sie wirkte wie ein Fremdkörper in dem flachen Land. Wir ritten näher. Wir hielten unsere Waffen schußbereit in den Fäusten. Um uns war alles still. Auch der Wind schwieg. Über einem Mesquitebusch hatte sich ein Mückenschwarm zu einem dichten, zuckenden Gebilde geballt. Es war schwül. Ein Gewitter lag in der Luft. Über dem rotglühenden Sonnenball, der die Tafelfelsen im Westen in feuervergoldete Statuen verwandelte, zogen sich dunkle Wolken zusammen. Die Hütte war aus einem Zweiggeflecht gebaut, das man innen
und außen mit Lehm beworfen hatte, der im Laufe der Zeit hart wie Stein geworden war. Er hatte eine schmutzige, graue, unansehnliche Farbe. Zwei winzige Fenster gähnten uns entgegen wie die leeren Augenhöhlen in einem Totenschädel. Vor der Tür hing eine zerfledderte, löchrige Decke. Hinter der Hütte befand sich ein Brunnen, dessen Einfassung teilweise zerbrochen war. Die Hütte war leer und unbewohnt. Wir fanden keine Spuren, die darauf hingedeutet hätten, daß hier vor kurzer Zeit noch Menschen gewesen waren. Wir stiegen von den Pferden und betraten den Bau. Im Dach waren ein paar Ritzen, durch die der Schein der Abendsonne drang. Die Hütte war einfach eingerichtet. An den Längsseiten standen mehrere einfache Pritschen, mit löchrigen Pferdedecken. In der Mitte standen ein Tisch und vier Stühle. Ein fünfter Stuhl lag am Boden. Ihm fehlte ein Bein. »Ein guter Platz für die Nacht«, sagte Mayos. »Wir können vor Sonnenaufgang wieder aufbrechen«, sagte ich. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper. Die Strapazen der letzten Tage hatten mir ziemlich zugesetzt. Ich sehnte mich geradezu danach, auf einer der wackligen Pritschen zu schlafen. Ich ging wieder hinaus und hobbelte die Pferde an. Mann-der-siegt holte Wasser vom Brunnen und tränkte die Tiere. Ich hatte noch ein wenig von den eisernen Rationen bei mir. Wir aßen alles auf. Am nächsten Tag würden wir ein Stück Wild schießen müssen, um unseren Hunger zu stillen. Die Sonne war untergegangen, als wir uns hinlegten. Zur selben Zeit ertönte in der Ferne der erste Donner. Ich lauschte in die Nacht hinaus, Mann-der-siegt, der auf der Pritsche hinter mir lag, hörte nichts mehr. Er war sofort eingeschlafen. Ich hörte sein schweres Atmen. Es donnerte wieder. Ich wälzte mich herum, schloß die Augen und versuchte, einzuschlafen. Mochte es doch donnern. Wir hatten ein Dach über dem Kopf. Draußen kam plötzlich wieder Wind auf. Er strich mit leisem Singen um die Ecken der Hütte. Mir fiel erst jetzt auf, wie schwül es
auch im Innern des Raumes war. Ich schwitzte stark und konnte nicht still liegenbleiben, weil ich dann das Gefühl hatte, noch mehr zu schwitzen. Ich rollte mich wieder auf den Rücken und starrte in die Finsternis der Hütte. Die zerfledderte Decke vor der Tür bewegte sich im Wind. Abermals rollte der Donner. Diesmal klang er bereits lauter, drohender und schien nähergerückt zu sein. Ein heftiger Windstoß hob die Decke an der Tür, zerrte an ihr und ließ sie für ein paar Sekunden flattern wie einen festgebundenen großen Vogel. Es donnerte. Ich schloß die Augen und drehte mich nach links. Irgendwie schlief ich ein.
3. Mein Bauch war naß. Das Wasser rann in den Bund meiner Kalikohose. Es rann über meinen nackten Oberkörper auf die Pritsche und bildete eine Pfütze auf dem staubigen Holz. Ich schlug die Augen auf und glaubte zu träumen. Ein Tosen und Dröhnen erfüllte die Luft, es donnerte ununterbrochen, als stürze der Himmel ein. Ich richtete meinen Oberkörper auf. Schwere, kalte Wassertropfen trafen meinen Kopf. Sie machten mich erst richtig wach. Ich sprang hoch. Es mußte gerade Mitternacht sein. Draußen regnete es. Über meiner Pritsche befand sich ein breiter Spalt im Dach, durch den das Regenwasser tropfte. Ich schüttelte mich und lief zu einem der Fenster. Eine Wand von Blitzen überzog gerade mit ohrenbetäubendem Knattern den Himmel wie ein Geflecht aus glühenden Spinnenfäden. Mit einem Donnerschlag, der die Erde erzittern ließ, wurde es wieder dunkel, und der Sturm schleuderte den Regen gegen die Hütte. Der Himmel hatte eine grünliche Farbe angenommen, die im Schein der Blitze gespenstisch leuchtete. Hinter mir hörte ich ein Geräusch. Ich drehte mich um. Es war jetzt kühl, und ich fröstelte. Mayos richtete sich von seinem Lager auf. »Was ist los?« fragte er verschlafen.
»Sieh dir das an«, sagte ich. Er erhob sich und tappte müde heran. »Wer weiß, ob wir morgen weiterreiten können«, sagte er. »Wenn es so weiterregnet, werden wir ein Kanu brauchen«, sagte ich. Er verzog sein breitflächiges, faltiges Gesicht zu einem dünnen Grinsen. »Ich sehe mal nach den Pferden.« Ich drehte mich um und ging zur Tür. Mann-der-siegt wälzte sich gerade schnaufend auf die andere Seite und schnarchte wie ein Maultier. Ich zögerte einen Moment, schob dann rasch die alte Decke vor der Tür zur Seite und trat hinaus. Es schüttete wie aus Eimern. Binnen Sekunden war ich völlig durchnäßt. Der Sturm erfaßte mich wie mit tausend Fäusten und preßte mich gegen die Hüttenwand. Der Regen peitschte mir ins Gesicht, so daß ich kaum die Augen offenhalten konnte. Der Boden rings um die Hütte hatte sich in grundlosen Morast verwandelt, in zähen Schlamm, in dem man bis zu den Knöcheln versank. Ich fand die Pferde seitlich der Hütte. Sie hatten sich hier zusammengedrängt. Ihre Flanken zitterten. Als wieder ein Blitz über den Himmel zuckte und für ein paar Sekunden die Nacht taghell erleuchtete, wieherte eines der Pferde schrill. Ich erreichte die Tiere und sprach beruhigend auf sie ein. Ich wußte nicht ob sie mich im Toben des Wetters hören konnten. Sie wichen im ersten Moment vor mir zurück. Eines schnappte nach mir. Ich klopfte ihnen auf die Flanken, lockerte die Stricke zwischen ihren Fesseln und zog sie hinter mir her auf die Hütte zu. An der fensterlosen Wand des Baus war das Dach ein Stück weiter vorgebaut. Hier hobbelte ich die Tiere erneut an. Ihr Fell troff vor Nässe so wie mein Haar, das mir in Strähnen ins Gesicht fiel. Ich verließ die Tiere und kämpfte mich durch den Sturm zurück zur Hüttentür. Es blitzte vor mir, es donnerte. Geblendet schloß ich die Augen und lehnte mich schweratmend an die Adobewand der Hütte. Eine Explosion schien das Universum zu zerreißen. Ich öffnete die Augen wieder und sah einen Blitz über den Himmel rasen, der
irgendwo im Süden in den Boden schlug. Dann wurde es wieder dunkel. Der Donner verhallte. Der Sturm heulte, und der Regen rauschte monoton. Ich nahm das alles sekundenlang nicht mehr wahr. Ich konnte mich nicht rühren. Mit weitaufgerissenen Augen starrte ich in die Regenschleier. Ich beugte schließlich langsam den Kopf vor. Doch ich sah nichts als die Schwärze der Nacht. Einen Augenblick drehte sich alles vor meinen Augen. Ich spürte den Regen nicht mehr, der mir auf Kopf und Schultern prasselte, der mir ins Gesicht, gegen Brust und Rücken peitschte. Im Schein des Blitzes hatte ich schattenhaft Reiter gesehen, Reiter, die sich von Süden näherten. Schemen waren es nur gewesen, unwirklich wirkende Gestalten, die offenbar lange Umhänge oder Regenmäntel trugen. Die Erstarrung fiel jäh von mir ab. Ich tappte durch den tiefen Schlamm, glitt aus, fing mich, stürzte nicht und erreichte die Hüttentür. Mayos stand noch immer am Fenster und schaute mir erwartungsvoll entgegen. Mann-der-siegt war nun auch wach. Er hockte auf seiner Pritsche und hatte das Kinn auf beide Fäuste gestützt. »Hast du die Pferde unter das Dach gestellt?« fragte Mayos. »Ja.« »Enju«, sagte er. »Draußen kommen Männer«, sagte ich. Ich erkannte meine Stimme kaum wieder. Sie klang heiser und hohl. Mit der Rechten strich ich mir das tropfende Haar aus dem Gesicht. Meine Kalikohose klebte mir auf der Haut. Das Leder der Mokassins knarrte bei jedem Schritt. Ich ging zu meinem Lager und nahm den Sharps-Karabiner und den Navy-Colt auf. »Mexikaner?« fragte Mayos. Mann-der-siegt hatte sich erhoben. »Ich weiß nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Als es blitzte, habe ich sie gesehen. Männer auf Pferden.« »Wieviele?«
»Ich weiß nicht.« Mayos schwieg. Er schaute durch die leere Fensteröffnung in den Regen. »Wir bleiben hier«, sagte er. »Hier ist es trocken. Sollen ruhig Männer kommen und versuchen, uns wegzujagen oder zu töten.« »Wir brauchen auch ab und zu was zu essen«, sagte Mann-dersiegt. »Wir bleiben hier, solange es regnet«, sagte Mayos. »Wir haben wenig Munition«, sagte ich. »Sie werden sich nicht lange aufhalten«, sagte Mayos. »Sie wollen Schutz vor dem Wetter haben. Wenn sie merken, daß sie keine Chance haben, einzudringen, werden sie weiterziehen. Vielleicht werden sie zurückkehren, wenn es nicht mehr regnet und der Gott des Donners und des Blitzes nicht mehr zürnt. Dann aber werden wir nicht mehr da sein.« »Hoffentlich«, sagte ich. Vor der Hütte schnaubte ein Pferd. * Ich umkrampfte unwillkürlich den Sharps-Karabiner. Mein Hals war auf einmal trocken. Ich ging zur Tür. Der Sturm draußen wehte mir die alte Decke, die am oberen Türrahmen festgenagelt war, ins Gesicht und trieb einen Schwall Regen hinterher, der mich voll traf, was ich aber kaum registrierte. Ich sah Schatten in den dichten Regenschleiern, konturenlose Schemen, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Wieder schnaubte ein Pferd. Eine rauhe Männerstimme ertönte. Im selben Moment zuckte ein Blitz durch den Regen, der die sturmumtoste Steppe für einen Sekundenbruchteil in gleißendes Licht tauchte. Da sah ich sie ganz deutlich: fünf Männer in langen Regenmänteln mit großen Hüten, die sie tief in die Gesichter gezogen hatten. Mit einem krachenden Donnerschlag wurde es wieder dunkel. Im nächsten Moment sprang direkt vor der Tür ein Mann aus dem Sattel seines Pferdes. Er tat einen großen Schritt auf die Hütte zu. Unter
seinen hochhackigen Reitstiefeln spritzte Schlamm auf. Der Mann schnaufte laut. Er war Mexikaner, hatte ein schmalgeschnittenes Gesicht mit scharfen Zügen und einem mächtigen, sichelförmigen Schnauzbart. Er sah mich erst, als er dicht vor der Tür stand. Wir blickten uns in die Augen. Er war hager, hatte aber breite Schultern. Ich war so groß wie er. Als der knöchellange Regenmantel plötzlich vorn aufklaffte, sah ich die beiden Revolver. Der Mann trug sie in einem BuscaderoGürtel mit zwei Halftern. Sie hatten Griffe aus Elfenbein, in die der mexikanische Wappenadler eingeschnitzt worden war. Die Hände des Mannes zuckten zu den Waffen. Ich stieß den Lauf des Karabiners vor. Trotzdem konnte der Mexikaner den rechten Revolver aus der Halfter reißen, bevor sich die Mündung meines Gewehrs in seinen Leib bohrte. Röchelnd beugte er sich nach vorn. Ich schlug mit dem Lauf auf sein rechtes Handgelenk. Seine Faust öffnete sich. Der Revolver fiel in den Morast vor der Hütte. Dann schlug der Mann jäh mit der Linken zu. Er erwischte mich, obwohl ich auszuweichen versuchte. Er war zäher, als ich geglaubt hatte. Der Schmerz durchfuhr meinen ganzen Körper, als die Faust meinen Hals traf. Mir blieb die Luft weg. Für einen Moment war ich wie betäubt. Die Wucht des Schlages schleuderte mich nach hinten in die Hütte. Ich verlor meinen Sharps-Karabiner und prallte mit dem Rücken hart gegen die Kante des alten Tisches. Ich hatte das Gefühl, mein Rückgrat würde brechen. Der Tisch stürzte krachend um. Ein Bein brach ab. Ich fiel zwischen die Trümmer und konnte mich sekundenlang nicht rühren. Der Schmerz trieb mir das Wasser in die Augen. Ein Schuß krachte dröhnend. Die Detonation fing sich im Raum. Pulverdampf breitete sich stinkend aus. Mann-der-siegt hatte auf die Tür geschossen. Seine Kugel riß ein weiteres Loch in die alte Decke und hatte sonst keine Wirkung. Von draußen ertönten Flüche. Dann belferten zwei Revolverschüsse durch das Fenster herein, an dem Mayos bis vor Wenigen Sekunden noch gestanden hatte. Sie bohrten sich in die gegenüberliegende Wand und rissen handtellergroße
Löcher in den steinharten Lehm. Ich richtete mich auf. Mayos und Mann-der-siegt knieten neben der Tür. Ich kroch auf allen vieren zu meiner Sharps, die auf den morschen Dielen lag, hob sie auf und wandte mich einem der Fenster zu. Draußen war es still, bis auf das Rauschen des Regens und das Heulen des Sturms. Plötzlich begannen sie wieder zu feuern. Ich zog den Kopf ein und ließ mich auf den Boden fallen. Über mir zerhackten großkalibrige Geschosse den Fensterrahmen. Sie schwirrten wie zornige Hornissen durch den Raum und schlugen den Lehmverputz von der gegenüberliegenden Wand. Als ich den Kopf einmal wandte, sah ich, daß Mayos und Mann-der-siegt ebenfalls am Boden lagen und auch die Tür unter Feuer genommen wurde. Die Geschosse fetzten Stücke aus dem spröden Stoff der alten Decke. Es dauerte ein paar Minuten. Dann verhallten die Schüsse im Regen. Eine Stimme ertönte und rief: »Kommt 'raus, ihr Hundesöhne!« Wir schwiegen. Es blitzte draußen. Der Donner folgte augenblicklich. »Wenn ihr nicht 'rauskommt, werden wir euch holen!« rief die Stimme wieder. Wir schwiegen weiter. Sollten sie doch versuchen, uns zu holen. * Sie versuchten es wirklich. Aus den Regenschleiern tauchten sie plötzlich auf. Geduckt huschten sie heran und eröffneten das Feuer, als sie nur noch wenige Schritte von der Hütte entfernt waren. Wir hatten wenig Munition und schossen erst zurück, als wir unserer Sache sicher waren. Ich feuerte, traf aber nicht. Mayos und Mann-der-siegt schossen ebenfalls. Mayos traf einen der Männer. Der lange Regenmantel öffnete sich und flatterte im Sturm hoch wie die Flügel eines schwarzen riesigen Geistervogels. Dann kippte der Mann um. Ein erstickter Schrei brach jäh ab. Es wurde wieder still. Schatten eilten
durch den Regen, Pferde schnaubten. Danach rührte sich nichts mehr. Wir warteten noch eine Viertelstunde und dann noch einmal lange Zeit. Nichts geschah. Das Gewitter zog weiter. Schließlich blieb nur der Regen, der fadendicht fiel und eine zweite Sintflut anzukündigen schien. Auch der Sturm ließ mit der Zeit nach. »Wir sollten verschwinden«, sagte ich. Ich kauerte unter dem einen Fenster am Boden, mit dem Rücken an der Wand. Zwischen den an den Leib gezogenen Knien hatte ich den Sharps-Karrabiner stehen. »Wir reiten, wenn der Regen aufgehört hat«, sagte Mayos. Er hockte neben der Tür. Mann-der-siegt hatte sich wieder zu seiner Pritsche begeben und sich dort niedergelassen. »Wenn der Regen aufhört, kehren die Mexikaner zurück«, sagte ich. »Vielleicht sind sie jetzt schon mit Verstärkung unterwegs.« »Nicht in dem Regen«, sagte Mayos. »Solange es regnet, wird unsere Spur verwischt, wenn wir jetzt reiten«, sagte Mann-der-siegt. »Wenn es erst aufgehört hat zu regnen, ist unsere Spur leicht zu verfolgen.« Mayos schien zu überlegen. »Vielleicht sollten wir doch reiten«, sagte er schließlich. Ich sprang auf. »Ich hole die Pferde.« Ich lehnte den SharpsKarabiner an die Wand und ging zur Tür. Ich war noch immer naß, und es machte mir nichts, wieder in den Regen hinauszugehen. Die Tropfen prasselten kalt und schwer auf meinen Kopf. Sie vertrieben die Müdigkeit, die langsam wieder spürbar wurde und bleiern schwer durch meine Glieder kroch. Ich tappte durch den Morast und stieß mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Ich bückte mich und fuhr mit der Linken in den Schlamm. In der Ferne rollte noch leise der Donner. Ich ertastete einen metallenen Gegenstand und hob ihn auf. Es war der Revolver mit dem Elfenbeingriff, den ich dem Mexikaner aus der Hand geschlagen hatte. Ein Dragon-Colt. Sehr groß und sehr schwer. Er war völlig verdreckt. Ich bezweifelte, daß die Ladungen in der Trommel noch losgehen würden. Aber eine Waffe war eine Waffe.
Sie war immer zu gebrauchen. Ich blieb im Regen stehen und wischte mit der Rechten den Schmutz von Lauf, Trommel und Griff. Als ich probeweise den Hammer spannte, knirschte es ein wenig, aber die Mechanik funktionierte noch. Ich ließ den Hammer vorsichtig zurückgleiten und schob den Revolver in den Gürtel. Dann umrundete ich das Haus. Ich lief dreimal um die Hütte herum und blieb schließlich neben dem Brunnen stehen. Verzweiflung stieg in mir auf. Hilflose Wut erfüllte mich. Die Pferde waren nicht mehr da. Sie waren nicht, wie ich anfangs gehofft hatte, nur ein Stück von der Hütte weggelaufen. Sie waren fort, verschwunden. Die Mexikaner hatten sie mitgenommen. Sie würden zurückkehren, und wir hatten keine Chance, ihnen zu entgehen. Ich schlug in meinem Zorn die rechte Faust auf die Brunnenfassung, bis es schmerzte. Dann drehte ich mich langsam um und tappte durch den knöcheltiefen Matsch zur Hütte zurück. Ich trat ein. Neben der Tür blieb ich stehen. Ich fror wieder und zog die Schulter hoch. »Die Pferde …« Meine Stimme war heiser. Ich schmeckte Regenwasser im Mund und spuckte auf den Boden. »Die Pferde sind weg.« Ich hätte kotzen können, so wütend war ich. Wir hatten nicht daran gedacht, daß sie die Pferde mitnehmen konnten. Keiner von uns hatte daran gedacht. Mann-der-siegt erhob sich von der Pritsche. »Wir müssen sofort weiter«, sagte er. Ich nickte. Mayos zögerte noch. Mann-der-siegt aber zog sein Kalikohemd aus und wickelte es um sein Sharps-Gewehr, um die Ladung vor Nässe zu schützen. Sein Oberkörper war breit und ausgeprägt muskulös. Quer über den Leib zog sich eine feuerrote Narbe. »Wir kommen im Regen nicht weit«, sagte Mayos. »Wenn es nicht mehr regnet, kommen wir vielleicht nicht mal mehr aus der Hütte«, sagte Mann-der-siegt.
»Ich glaube auch, daß es besser ist, zu gehen«, sagte ich. Mayos hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Wie ihr wollt.« Er nahm seine Waffen, und ich nahm meine Waffen auf. Dann verließen wir die Hütte. Mann-der-siegt ging voran. Ich trug meine Feldflasche am Gürtel. Die beiden Krieger hatten bauchige Kürbisflaschen bei sich. Wenigstens Trinkwasser besaßen wir, wenn auch unser Munitionsvorrat zur Neige ging und womöglich durch die Nässe, die das Pulver zerstörte, noch mehr reduziert wurde. Wir hatten auch nichts mehr zu essen. Aber als Toter muß man ja auch nichts essen, und wenn ich Mayos anschaute, der neben mir ging, und seinen Gesichtsausdruck sah, hatte ich das Gefühl, schon so gut wie tot zu sein.
4. Als die Sonne aufging, war das Unwetter vorbei. Der junge Tag riß die Regenschleier auf und vertrieb die grauen Wolken. Die Sonne stand im Osten am Himmel wie eine Vollreife, saftige Blutorange. Das Land sah aus wie frisch gebadet. Überall standen riesige, tiefe Pfützen. Gräser und Sträucher glänzten naß und dufteten intensiv. Wir hatten kein Auge dafür. Wir wankten nebeneinander her, übermüdet, erschöpft, mit schmerzenden Füßen. Wir waren über und über mit Schlammspritzern bedeckt, waren im Laufe der Nacht mehr als einmal auf dem lehmigen Boden ausgerutscht und gestürzt. Aber wir waren nicht stehengeblieben. Wir hatten uns immer wieder erhoben und waren weitergegangen. Auch jetzt waren wir noch unterwegs. Wir sprachen nicht miteinander, dazu fehlte uns die Kraft. Es war schon schwer genug, die Augen offenzuhalten. Wie Maschinen stapften wir nach Westen, bewegten wir unsere tonnenschweren Füße. Ab und zu hielt einer an und schaute sich um. Aber noch war von Verfolgern nichts zu sehen. So trotteten wir weiter und hofften, daß uns niemand verfolgen würde und der Regen der Nacht unsere
Spuren so gut verwischt hatte, daß niemand erst den Versuch unternehmen würde, uns zu verfolgen. Wir ließen die Steppe hinter uns. Vor uns lag ein kahles Land, mit kahlen Hügeln und kahlen Tafelfelsen, die sich, mächtigen Grabhügeln gleich, wie Monumente des Todes aus der Landschaft erhoben. Die Sonne trocknete den Boden aus. Morast verwandelte sich in eine spröde Kruste, Schlamm verwandelte sich zu Staub. Die Sonne saugte jeden Tropfen Feuchtigkeit aus der Erde, und der Boden wurde grau wie alter verwaschener Stoff. Der Regen hatte tiefe Rinnen in den Boden gewaschen. Als hier das Wasser verdunstet war, verwandelte sich auch die Erde in den Rinnen zu Staub, und die Schlammkruste platzte auf. Wind strich heran und hob den Staub auf. Er wehte die feinen Staubschleier seitlich gegen uns. Wir atmeten den Staub ein, unsere Kehlen wurden wund. Wir konnten nichts dagegen tun. Die Sonne strebte rasch am Horizont hoch. Von Stunde zu Stunde wuchs ihre Kraft. Die Pfützen der Nacht waren nur noch flache Mulden im ausgelaugten Boden. Ein paar Pflanzen, die der Regen aus dem kargen Land hervorgelockt hatte, verdorrten noch an diesem Vormittag. Wir liefen weiter. Als wir einige Tafelfelsen erreichten, die sich rötlichgrau in den brennenden Himmel reckten, hielten wir an. Mann-der-siegt nahm sein Hemd, in das er in der Nacht die Sharps gewickelt hatte, und streifte es sich wieder über. Es war noch nicht ganz trocken, und die Feuchtigkeit auf der Haut war eine Wohltat für ihn. Wir hockten uns in den Schatten einer überhängenden Felsplatte und sahen eine kleine Krustenechse durch den Sand huschen und in einer Gesteinsspalte verschwinden. Wir tranken ein wenig von dem Wasser, das wir mit uns führten. Unseren Hunger konnten wir nicht stillen. Noch immer war das Land hinter uns menschenleer und von Verfolgern war nichts zu sehen. Vielleicht hatten es die Mexikaner aufgegeben, sich wegen drei Apachen den Hintern wund zu reiten.
Wunschdenken. Wir blieben im Schatten der Felsen sitzen, bis die Sonne den Zenit erreicht hatte. Sie stand jetzt als grellweißer Glutfleck mit verzerrten, verwischten Konturen an einem blaugrauen Himmel. Die Luft flimmerte, und der Wind war heiß, als käme er aus einem Backofen. Wir warteten noch eine Stunde. Dann richteten wir uns wieder auf. Obwohl wir solange gesessen hatten, fühlten wir uns nicht ausgeruht, sondern genauso zerschlagen wie vorher. Nur wurde uns nach der langen Bewegungslosigkeit die Steifheit unserer strapazierten Glieder stärker bewußt. Leicht nach vorn geneigt schritten wir weiter. Die Gewehre in der Rechten, die Wasserflaschen in der Linken. Wir hatten aufgehört zu denken. Es gab in diesem Moment weder Anfang noch Ende für uns. Wir hatten auch kein festes Ziel mehr. Es gab nur noch den Rhythmus unserer eigenen Schritte und das beständige Wehen des heißen Windes, der feine Staubschleier gegen uns peitschte und uns den Atem nahm. * Irgendwann an diesem Tag stießen wir auf ein Wasserloch, einen kleinen Tümpel, in dessen Nähe ein paar Kakteen wuchsen und Dornengestrüpp wucherte. Der Platz erschien uns wie ein Paradies. Hier schossen wir einen Schwarzschwanzeselshasen, der gerade am Wasser hockte. Das war ein großes Glück, denn diese Tiere sind sehr schnell und außerordentlich vorsichtig. Wir entfachten ein Feuer und brieten den Hasen an einem hölzernen Spieß, den Mayos geschnitzt hatte. Das Fleisch reichte natürlich nicht für uns drei aus, aber es stillte den ärgsten Hunger. Als das Feuer niedergebrannt war, lagen wir im Schatten einiger Dornbüsche und ruhten uns aus. Unsere brennenden Füße hatten wir im Wasser gebadet. Es ging uns besser, und wir schöpften wieder Hoffnung. Als die Schatten immer länger wurden und die Sonne schon weit im Westen stand, erhob sich Mann-der-siegt, ging zum Wasserloch
und füllte unsere Wasserflaschen auf. Als er zurückkehrte, blieb er plötzlich stehen. Er spähte über Mayos und mich hinweg nach Osten. »Was ist los?« Ich richtete den Oberkörper halb auf. »Reiter«, sagte Mann-der-siegt. Er hob einmal die Rechte mit den gespreizten Fingern, und dann noch einmal den aufgerichteten Daumen. Sechs Männer also. Ich erhob mich, und Mayos neben mir stand ebenfalls auf. »Wir müssen weiter«, sagte ich. »Das hat wenig Sinn.« Mayos verließ die Vertiefung, in der sich das Wasserloch befand, und blieb auf dem Rand der Senke stehen. Der Südwind umstrich seine gedrungene Gestalt und bewegte Strähnen seines langen, schwarzen Haares. »Wir können nicht schneller laufen als Pferde.« »Wenn wir hier bleiben, geben wir uns selbst auf,« »Hier haben wir Wasser«, sagte Mayos. »Aber keine Deckung«, sagte ich. »Hier ist nur dieses Loch, hier sind nur Sand und Sträucher.« »Im Westen gibt es Felsen«, sagte Mann-der-siegt. »Wenn wir es bis dorthin schaffen, sind wir sicherer.« Mayos schien die Entfernung abzuschätzen, die die Reiter noch bis zu dem Wasserloch zurückzulegen hatten. »Vielleicht schaffen wir es«, sagte er. »Bestimmt«, sagte ich. Mann-der-siegt schulterte wortlos sein Gewehr und verließ die Senke, in der sich das Wasserloch befand. Ich folgte ihm. Mayos ging als letzter. Ab und zu schauten wir uns um. Die Reiter rückten bedrohlich näher. Sie schienen uns nun auch entdeckt zu haben und ihre Pferde zu schärferem Tempo anzutreiben. »Es war ein Fehler, von dem Wasserloch wegzugehen«, sagte Mayos nach einiger Zeit. Mann-der-siegt sagte: »Sei still und lauf!« Ich sagte gar nichts. Ich hatte inzwischen die Spitze übernommen und war den anderen um gut zehn Yards voraus. Wir konnten bereits den Hufschlag der Pferde hinter uns hören.
Ich rang nach Atem und spürte scharfe Stiche in der linken Seite. Ich preßte die linke Hand dagegen und hetzte weiter. Hinter mir hörte ich das Keuchen von Mayos und Mann-der-siegt. Dann erreichte ich die ersten Felsen. Ich warf mich hinter einen hüfthohen, langgestreckten Gesteinsbrocken, ließ meine Feldflasche fallen und warf den Sharps-Karabiner an die Schulter. Schüsse krachten. Die Reiter waren keine hundert Yards mehr entfernt und jagten mit unvermindertem Tempo heran. Sie schossen vom Sattel aus. Staub wirbelte unter den Hufen ihrer Tiere auf und hüllten sie ein. Ich feuerte mit der Sharps, lud nach und feuerte wieder. Ein Mann stürzte aus dem Sattel. Die anderen schwärmten aus. Mayos und Mann-der-siegt stürmten auf meine Deckung zu. Ihre Gesichter waren verzerrt vor Anstrengung. Sie hielten ihre Gewehre schußbereit in den Fäusten. Noch drei Yards, dann hatten sie es geschafft. Mann-der-siegt wurde plötzlich nach vorn gestoßen. Er taumelte auf mich zu. Seine Augen quollen fast aus den Höhlen. Unsagbare Verwunderung lag in seinem Blick. Als er zum zweiten Mal getroffen wurde, wirbelte der Aufprall der Kugel ihn herum. Er stürzte auf die Knie. Sein langes, schwarzes Haar flatterte hoch. Langsam beugte sich sein Oberkörper nach vorn. Der Sharps-Karabiner entfiel seinen Fäusten. Dann stürzte Mannder-siegt aufs Gesicht und begrub sein Gewehr unter sich. Mayos rannte an ihm vorbei. Er erreichte den Felsblock, hinter dem ich lag, und umrundete ihn. Da traf auch ihn eine Kugel. Mayos wurde zur Seite geschleudert. Er ließ sein Gewehr fallen und prallte mit der rechten Schulter hart gegen einen anderen Felsbrocken. Betäubt hockte er am Boden. Blut rann ihm aus der linken Hüfte über den Patronengurt und sickerte in den Stoff seiner Kalikohose. Sein Gesicht glich einer hageren, bizarr geschnitzten Totenmaske. Schmerz flackerte in den Augen, die im Licht der Abendsonne wie geschliffenes Obsidian glänzten. »Schaffst du es?« Ich schaute ihn zweifelnd an. Er sagte kein Wort und nickte schwach. Dann kroch er auf Knien zu mir heran und zog sein Gewehr nach. Er legte es auf den
Felsblock, der uns vor den Schüssen der Mexikaner schützte, und feuerte. Ich schoß auch, und dann hielt ich meine letzte Sharps-Patrone in der Linken. Von vorn preschten die Mexikaner heran – Vaqueros. Hartgesichtige Männer mit großen Hüten und kurzen Jacken, mit weitausladenden Lederchaps, die mit riesigen Silberconchos verziert waren und im Rhythmus des Galopps hin und her flatterten. Ich feuerte den letzten Schuß aus meinem Sharps-Karabiner ab und verletzte einen der Reiter. Er blieb jedoch im Sattel. Fast gleichzeitig wurde neben mir Mayos zum zweiten Mal getroffen. Eine Kugel prallte gegen den Vorderschaft seiner Sharps und wirbelte das Gewehr herum. Während der Lauf gegen meinen Schädel schlug und mich rücklings in den Sand warf, war die Kugel am Metall abgeglitten, hatte das Holz des Schaftes aufgerissen und trieb einen handlangen Splitter in Mayos' rechten Unterarm. Mayos krümmte sich lautlos zusammen. Sein Gesicht war jetzt nur noch eine Fratze des Schmerzes. Mit der Linken umklammerte er das rechte Handgelenk, als wolle er das Blut auffangen, das aus der großen Wunde in den Staub tropfte. Ich richtete mich wieder auf und zog meinen Navy-Colt aus dem Gürtel. Noch waren drei Kammern der Trommel geladen. Die Mexikaner schlugen einen großen Bogen und versuchten, hinter uns zu gelangen. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich war erledigt. »Ronco …« Die Stimme Mayos' riß mich aus meinen Gedanken. Sie klang schwach und brüchig. Schweiß rann ihm in dichten Bahnen über das bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Gesicht. »Ja?« »Ist – ist der Revolver geladen?« »Ja« Der Blick aus seinen fiebrig glänzenden Augen bereitete mir fast körperlich Schmerzen. »Sie werden uns martern«, sagte Mayos. »Sie werden uns zu Tode quälen. Wir haben es oft genug mit ihren Brüdern getan. Jetzt werden
sie sich rächen.« Das Sprechen bereitete ihm unsagbare Mühe. Er war kaum zu verstehen, verschluckte immer wieder einzelne Silben, ganze Wörter. »Ich habe keine Angst«, sagte ich. Aber ich hatte Angst, doch die zeigte ich nicht. Ein Krieger zeigte keine Angst. »Gut so«, sagte Mayos. »Aber sie sollen nicht über uns triumphieren. Sie sollen sich nicht rühmen können, uns getötet zu haben.« Eine Kugel schlug dicht neben mir in den Fels und riß eine tiefe Furche ins Gestein. Ich zuckte unwillkürlich mit dem Kopf zur Seite, um nicht von den aufwirbelnden Steinsplittern getroffen zu werden. »Nimm – deinen Revolver …« Die Stimme Mayos' wurde immer schwächer. Er stöhnte durchdringend und krümmte sich wieder zusammen. »Mach – jetzt Schluß«, flüsterte Mayos. »Schieß! Sei stark! Schieß!« Da erst verstand ich ihn. Er verlangte, daß ich ihn und dann mich tötete, damit wir nicht in die Hände der Mexikaner fielen. Ich zögerte. Hunderte von Gedanken wirbelten in meinem Kopf durcheinander. »Auf was – wartest – du …« Mayos lehnte jetzt mit dem Kopf am Felsen. Speichel tropfte aus seinem Mund in den Staub. Der Speichel war hellrot. »Schieß …« * Ich sah und hörte plötzlich die Mexikaner nicht mehr. In meinen Schläfen hämmerte das Blut, in meinen Ohren war ein Rauschen und Dröhnen wie von einem Orkan. Der Navy-Colt in meiner Rechten wog einen Zentner. Langsam legte ich den Daumen auf den Hahn und zog ihn zurück. Das metallische Klicken, mit dem der Hammer einrastete, durchdrang mich bis ins Mark. Ich hob die Waffe. Meine Rechte zitterte etwas. Ich merkte nicht, daß sich meine Zähne in die Unterlippe gruben. Ich starrte Mayos an und sah sein Leiden. Ich dachte nur daran, daß die Mexikaner ihn noch mehr quälen würden, daß sie ihn künstlich am Leben erhalten
würden, um ihn martern zu können, bis er schließlich starb. In meinem Innern brannte ein wildes Feuer. Ich zielte auf Mayos' Kopf und krümmte den Zeigefinger um den Abzug. Aber ein anderer Schuß krachte. Mayos bäumte sich auf. Ich sah den erleichterten Ausdruck in seinen Augen, die einen Sekundenbruchteil später glasig wurden. Dann kippte sein Körper vor meinen Füßen in den Staub. Fassungslos starrte ich den Navy-Colt an und sah dann den Reiter, der von der Seite heranpreschte. Er hielt eine rauchende KentuckyPistole in der Faust, mit der er Mayos erschossen hatte. Ich feuerte, ohne zu zielen. Die Kugel schlug nur wenige Zoll vor den Hufen des Pferdes in den Sand und schleuderte eine Staubfontäne in die Höhe. Das Pferd wieherte grell, bäumte sich auf und warf sich herum. Es strauchelte und stürzte schwer auf die Seite. Der Reiter hatte im letzten Moment noch seine Füße aus den Steigbügeln ziehen können und rollte über den Boden, während sein Pferd angsterfüllt schnaubend wieder aufsprang. Ich fuhr hoch, drehte mich um und hastete in das Gewirr der Tafelfelsen. Ich erklomm einen Granitblock und kletterte höher. Hinter mir hörte ich Stimmen. Die Mexikaner waren offenbar in meine Deckung eingedrungen und sprangen von den Pferden. Sie suchten mich. Sie würden mich stellen, aber wehren konnte ich mich immer noch. Ich robbte auf allen vieren über die grauen Felsen, die die Hitze des Tages gespeichert hatten. Hinter mir krachten Schüsse. Geschosse prallten gegen die Felsen und schwirrten jaulend als Querschläger davon. Der Himmel über mir färbte sich nach und nach rötlich. Die Dämmerung sank auf das Land. Einen Moment dachte ich an Mayos' Worte und schaute den Navy-Revolver an. Sollte ich mich selbst töten, um allem ein Ende zu bereiten? Ich dachte nur wenige Sekunden darüber nach. Dann drehte ich mich um und feuerte mit dem Navy auf meine Verfolger. Wenn ich sterben sollte, dann im Kampf.
Ich sprang geduckt weiter und lief eine schräge, glatte Felsplatte hinauf. Ich rutschte aus. Alles ging sehr schnell. Ich konnte den Sturz nicht mehr abfangen, verlor den Halt und ließ den Navy fallen. Er rutschte klirrend vor mir her, während ich über das schroffe Gestein abwärts rollte und mir den ganzen Oberkörper aufschrammte. Halbbetäubt richtete ich mich wieder auf. Ich wollte den Navy ergreifen, der keine zwei Schritte entfernt von mir lag. Da hatte mich bereits einer der Mexikaner eingeholt. Er trat mit dem Fuß gegen den Navy. Der Revolver flog hoch und landete in einer Felsspalte. Das Lachen des Mexikaners hallte mir in den Ohren. In letzter Verzweiflung riß ich den Dragoon-Revolver aus dem Gürtel, den ich in der Nacht aus dem Schlamm aufgehoben hatte. Ich konnte den Hammer noch spannen und abdrücken. Aber es löste sich kein Schuß. Der Mexikaner trat auf mich zu. Er hielt ein langläufiges Vorderladergewehr in den Fäusten. Ich schleuderte ihm in hilfloser Wut den Dragoon-Colt entgegen. Er duckte sich lachend. Die Waffe verfehlte ihn und krachte gegen einen Felsen. Der Elfenbeingriff zerbrach in der Mitte. Das war das letzte, was ich sah, bevor mich der Schlag eines Gewehrkolbens traf. Ich konnte nicht ausweichen. Alles ging viel zu schnell. Der Kolben krachte an meinen Schädel. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich hatte keine Kraft mehr in den Beinen und versank in eine finstere Unendlichkeit. Den Tritt, den der Mexikaner mir noch in die Seite versetzte, als ich auf dem nackten Fels lag und mich nicht mehr rührte, spürte ich nicht mehr.
5. Sie hockten im Sand und starrten mich an. Ich hatte Kopfschmerzen und versuchte, den Brechreiz, der in meinem Hals war, zu unterdrücken. Es gelang mir nicht. Ich wälzte mich auf die Seite. Vor meinen Augen drehte sich alles. Das Blut in meinen Schläfen pochte wie verrückt. Mein Magen hob sich, und ich übergab mich. Das
nahm mir alle Kraft. Als ich fertig war, rollte ich wieder auf den Rücken und blieb kraftlos liegen, während mir Erbrochenes an Lippen und Kinn klebte. Ich konnte es nicht abwischen. Meine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Ich hatte nun auch Schmerzen im Leib und versuchte, den fauligen, bitteren Geschmack des Erbrochenen, der in meinem Mund und meinem Hals saß, hinunterzuschlucken. Mir war noch immer übel von dem mächtigen Schlag auf den Kopf. Aber mein Blick wurde nach und nach klarer. Ich schaute die Männer im Sand an. Es waren fünf. Meine Blicke glitten weiter. Im Sand lagen zwei Gestalten. Mayos und Mann-der-siegt. Unweit davon erhob sich ein länglicher, schmaler Steinhaufen. Darunter mußte der sechste Mexikaner liegen. Ich konnte mich nicht erinnern, wer ihn aus dem Sattel geschossen hatte, Mayos oder Mann-dersiegt. Ich war es nicht gewesen. Aber das war jetzt gleichgültig. Die fünf Männer sprachen nicht. Ihre Gesichter hatten im roten Schein der Abendsonne einen kupfernen Farbton. Zwischen ihnen flackerte ein kleines Feuer. In der Glut stand ein verbeulter, rußiger Kessel, in dem ein schwarzes Gebräu sprudelte. Die Männer tranken aus Blechbechern. Ich hatte auch Durst, und ich hatte Hunger. Aber ich erhielt nichts. Sie starrten mich nur an. Die Sonne ging unter. Da erhoben sie sich und schütteten den Rest des Kaffees aus dem Kessel in die Flammen. Es zischte. Einer der Männer stieß die glühenden Scheite auseinander. Dann trat er auf mich zu. Es war derselbe, der mich niedergeschlagen hatte. Er hielt eine der Kürbisflaschen in der Hand, die die beiden Krieger bei sich gehabt hatten. Er kippte sie über meinem Gesicht aus. Das Wasser klatschte mir auf die Stirn, auf Wangen und Kinn und spülte das Erbrochene weg. Ich schloß die Augen und blieb still liegen. Kühl rann das Wasser über meinen Hals und meinen nackten Oberkörper. Ich schlug die Augen wieder auf und sah, daß der Mann die Flasche in den Sand fallen ließ. Dann bückte er sich, packte mich an den Schultern und hob mich auf. Ich preßte die Lippen zusammen,
um nicht vor Schmerz zu schreien. Mein Magen hob sich wieder, aber ich übergab mich nicht mehr. Ich hatte ja auch nichts mehr im Magen. Nur ein bißchen Magensäure drang in meinen Mund. Ich verschluckte mich daran, hustete und glaubte, ersticken zu müssen. Der Mexikaner, der mich gepackt hielt, kümmerte sich nicht darum. Er schleppte mich zu einem Pferd und setzte mich hinauf. Hinter mir stieg er in den Sattel. Auch die anderen Männer hatten ihre Tiere bestiegen. Wir ritten nach Osten. Noch immer sprachen die Männer kein Wort. Ich war überzeugt, daß sie mich auf irgendeine teuflische Weise umbringen würden. Ich bereute bereits, den Ratschlag Mayos' nicht befolgt zu haben. Ich hatte den geladenen Revolver in der Hand gehalten und hätte mir selbst eine Kugel durch den Schädel jagen können. Ich hatte die Gelegenheit verschenkt. Jetzt war es zu spät. Die Mexikaner ritten mit mir vorbei an dem Wasserloch, an dem die Krieger und ich am Tage noch gerastet hatten. Sie ritten mit mir durch den staubigen Wüstenstreifen und wandten sich, als die Steppe vor uns auftauchte, nach Süden. Sie ritten ohne Pause bis Mitternacht. Ich war merkwürdigerweise gar nicht müde. Als sie anhielten, erwartete ich, getötet zu werden. Ich fragte mich, warum sie mich extra so weit mitgeschleppt hatten, fand jedoch keine Antwort. Der Mexikaner hinter mir glitt aus dem Sattel und zerrte mich vom Pferderücken. Er fing mich nicht auf. Ich stürzte kopfüber zu Boden und konnte den Fall nicht abfangen, da meine Hände gefesselt waren. Ich zog den Kopf ein und krümmte mich zusammen. Der Aufprall war trotzdem hart. Die Schmerzen durchzuckten mich, daß ich fast geschrien hätte. Es gelang mir, über die linke Schulter abzurollen. Mühsam wälzte ich mich auf den Bauch und versuchte, auf die Knie zu kommen. Die harte Spitze eines Reitstiefels traf mich ins Kreuz. Diesmal brüllte ich. Ich wurde von der Wucht des Tritts in den Staub geschleudert. Einen Moment war ich wie gelähmt. Ich hatte das Gefühl, meine Wirbelsäule sei gebrochen. Harte Fäuste faßten mich und schleiften mich durch den Sand zu einem Pecan-Baum. Hier ließ mich der Mann, der mich trug, einfach
fallen. Er zerrte meine Beine zu dem Baum und band sie mit einem Lederriemen daran fest. Ich konnte nun auf dem Rücken oder auf der Seite liegen, aufstehen konnte ich nicht. »Gib ihm Wasser!« hörte ich einen Mann auf Spanisch sagen. Es war das erste Mal, daß die Männer miteinander sprachen. Der Mann, der mich gefesselt hatte, ging fort. Ein anderer näherte sich. Er blieb neben mir stehen und schaute auf mich herab. Sein Gesicht kam mir bekannt vor. Es war ein scharfgeschnittenes Gesicht mit einem sichelförmigen Schnauzbart. Plötzlich sah ich alles wieder vor mir: die Gewitternacht in der Weidehütte, die Reiter, die auf einmal aus dem Sturm aufgetaucht waren, und das Gesicht im Licht der zuckenden Blitze, das Gesicht des Mannes, der jetzt neben mir stand. Ich hatte ihm den Revolver aus der Faust geschlagen. Er trug noch immer den Buscadero-Gurt. Aber nur noch in der linken Halfter steckte ein schwerer Dragoon-Colt mit beschnitztem Elfenbeingriff. Rechts trug er jetzt eine andere Waffe, die ich in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Was ich aber erkennen konnte, war, daß er in der rechten Hand eine kurze Reitpeitsche hielt. »Erinnerst du dich, Kleiner?« sagte er plötzlich. Er sprach Spanisch, aber ich konnte ihn verstehen. Ich reagierte nicht. »Soll ich deinem Gedächtnis etwas nachhelfen?« Er schlug so plötzlich zu, daß ich den Hieb nicht kommen sah. Die Peitsche traf mich auf den linken Oberschenkel. Obwohl ich eine Hose trug, war der Schmerz mörderisch. Ich bäumte mich auf und wurde von meinen Fesseln wieder zu Boden gerissen. Ich konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Meine Zähne gruben sich tief in die Unterlippe, so daß Blutstropfen hervorquollen. Ich bemerkte es nicht. Mir stieg das Wasser in die Augen, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Durch Tränenschleier sah ich das Gesicht des Mexikaners wieder vor mir. Er hatte sich gebückt und schaute mir direkt in die Augen. »Erinnerst du dich jetzt?«
Ich versuchte, zu nicken. Es schien mir zu gelingen, denn er schlug nicht noch einmal zu. »In jener Nacht«, sagte er, »ist einer meiner Freunde erschossen worden. Warst du das, Kleiner?« Ich schüttelte den Kopf. »Aber meinen Colt hast du mir geklaut. Und jetzt hast du ihn auch kaputt gemacht. Der Griff ist zerbrochen. Weißt du das?« Ich nickte. »Gut, daß du es wenigstens weißt. Es war ein teurer Revolver, sehr teuer.« Er schlug wieder zu. Wieder ohne Ansatz. Diesmal traf mich die Peitsche auf den nackten Bauch und hinterließ einen blutigen Striemen. Ich konnte die Schmerzen nicht ertragen und schrie. Er schlug wieder zu und wieder. Ich verlor das Bewußtsein. * Sie holten mich mit einem Wasserguß aus der Bewußtlosigkeit zurück in die Welt des Schmerzes. Mein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Ich krümmte mich zusammen und wagte kaum zu atmen, denn jeder Atemzug schien den brennenden Schmerz zu vergrößern. Der Mann mit der Peitsche war weg. Ein anderer Mexikaner kniete neben mir und flößte mir Wasser ein. Er ging nicht gerade geschickt zu Werke. Immer wieder schlug er mir den Flaschenhals gegen die Zähne, bis ich Blut im Mund schmeckte. Wahrscheinlich tat er es absichtlich. Zum Schluß steckte er mir einen Bissen zähes Fleisch in den Mund, wartete gar nicht, bis ich richtig gekaut hatte, und schob gleich einen Kanten hartes Brot hinterher. Ich erstickte fast. Das schien ihn nicht zu kümmern. Er erhob sich, während ich würgte, und ging davon. Ich blieb liegen, schlang Fleisch und Brot hinunter und war allein mit meinen Schmerzen. Irgendwann in dieser Nacht schlief ich ein. Die Mexikaner, die mich gefangen hatten, schliefen längst zu diesem Zeitpunkt. Sie
hatten sich in warme Decken gehüllt. Ich aber fror, denn die Nächte sind kalt in diesem Land. Als sie mich weckten, hatte ich das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein. Vermutlich war es auch so. Ich fühlte mich ausgelaugt und schlapp. Wenn ich mich bewegte, schmerzten die Striemen auf meinem Leib. Ich erhielt wieder einen Kanten Brot, etwas Fleisch und Wasser. Dann schleppte mich derselbe Mann, der mich bereits in der Nacht bewacht hatte, wieder zu seinem Pferd. Der Ritt ging weiter. Es wurde kein Wort mit mir gesprochen, und der Mexikaner, der mich mit der Peitsche geschlagen hatte, kümmerte sich nicht mehr um mich. Die Männer ritten bis zum Mittag. Viehherden tauchten vor uns auf. Felder mit Bewässerungsgräben und Windräder, die das Wasser in die Gräben pumpten, waren zu sehen. Mir war noch immer nicht klar, was die Männer mit mir vorhatten, aber ich begriff, daß wir uns einem Anwesen näherten, einer großen Hazienda. Die Männer, die mich gefangen hatten, waren offenbar Leute des Hazienderos. Die Adobehütte, in der Mayos, Mann-dersiegt und ich während des Gewittersturms übernachtet hatten, gehörte anscheinend zu dem Anwesen. Wir hatten, so schien es, einfach das Pech gehabt, daß in derselben Nacht Leute von der Hazienda unterwegs gewesen waren und in der Hütte hatten Unterschlupf suchen wollen. Sonst wäre alles anders gekommen. Vieles im Leben hängt von Zufällen ab. Es hätte eben in jener Nacht nicht regnen dürfen. Die Sonne überschritt den Zenit, und die Mexikaner waren noch immer mit mir unterwegs. Es war jetzt die Zeit der größten Hitze. Kein Mensch begegnete uns. Niemand arbeitete auf den Feldern oder bewachte die Herden. Es war die Zeit der Siesta. Es war etwa eine Stunde nach Mittag, als ich in der Ebene inmitten von blühenden Feldern Gebäude auftauchen sah. Die hohen Lehmziegelmauern, die das Anwesen umgaben, schimmerten weiß im grellen Sonnenlicht.
Wir näherten uns einer festungsähnlichen Anlage. Überdachte Wachttürme erhoben sich an den vier Ecken des hohen Walls. Ein wuchtiges Portal versperrte jedem den Durchlaß, und über dem Tor standen auf einer Plattform drei Kanonen, deren Mündungen jedem, der den breiten Wagenweg heraufzog, drohend entgegenstarrten. Ich zweifelte plötzlich daran, daß sie mich töten würden. Die Gewißheit, sterben zu müssen, wich einem dumpfen Gefühl der Ungewißheit, das nicht weniger quälend war. Was sollte mit mir geschehen? Ich starrte die hohen Mauern mit den Schießscharten an, und ich schaute auf das Tor, hinter dem für mich in diesem Moment die Hölle lag. Ich war sicher, daß es keinen Ausweg mehr für mich gab, wenn die schwere Bohlentür erst hinter mir zuschwang. Verzweiflung erfaßte mich. Als wir noch knapp hundert Yards von der Mauer entfernt waren, klammerte ich mich mit den Beinen am Pferdeleib fest und warf den Oberkörper jäh nach hinten. Der Mexikaner, der hinter mir im Sattel saß, hatte nicht mit meiner Aktion gerechnet und verlor sofort das Gleichgewicht. Ich spürte seine Arme plötzlich nicht mehr, sah, daß sich seine Hände von den Zügeln gelöst hatten, und hämmerte dem Pferd die Absätze in die Weichen. Das Tier wieherte schrill und jagte mit einem Satz los, der auch mich fast zu Boden geschleudert hätte. Der Mexikaner hinter mir jedoch konnte sich nicht mehr fangen und stürzte rücklings aus dem Sattel. Er schrie mehr vor Wut als vor Schreck. Da sprengte ich schon davon. * Das Pferd raste direkt auf das geschlossene Tor in der Mauer zu. Ich hatte Mühe, Halt zu finden. Meine Hände waren schließlich nach hinten gefesselt. Dann aber gelang es mir, mit dem Druck meiner Schenkel das Tier unter Kontrolle zu bekommen. Der Hengst drehte plötzlich ab, keine zwanzig Yards vom Tor entfernt, und jagte in einem großen Bogen an der Hazienda vorbei auf ein Maisfeld zu.
Ich warf mich nach vorn auf den Pferdehals und hielt mich krampfhaft mit den Beinen fest. Ich wußte, lange würde ich das Tempo nicht durchhalten. Irgendwann würde ich das Gleichgewicht verlieren, oder ich würde versuchen müssen, das Tempo des Tieres zu drosseln. Sonst würde ich unweigerlich stürzen. Schüsse krachten. Heiß strich etwas an meinem Gesicht vorbei. In den Wachttürmen der Hazienda war man auf mich aufmerksam geworden. Die Mexikaner, die mich gefangen hatten, verfolgten mich zu Pferde. Auch sie schossen. Ich erreichte das Maisfeld. Mannshohe Stauden erhoben sich in Reih und Glied vor mir wie eine in Formation angetretene Infanteriedivision. Ich preschte in die Reihe der »Maissoldaten« hinein. Die hohen, starken Stengel mit den schweren Früchten schlugen gegen die breite Brust des Hengstes und meine rechts und links vom Pferderücken hängenden Beine. Die grüne Schale einiger Früchte platzte auf. Goldgelbe Kolben wirbelten durch die Luft. Krachend mähten die Hufe des Hengstes die Stauden nieder. Ich galoppierte quer durch das Maisfeld und bemerkte aus den Augenwinkeln, daß einige Reiter versuchten, das Feld zu umrunden, um mich auf der anderen Seite abzufangen. Ich dirigierte mit Schenkeldruck den Hengst herum und sprengte weiter. Immer noch krachten Schüsse. Ich wurde nicht getroffen. Mein Pferd aber erwischte es, als ich es wieder einmal in eine andere Richtung drängte, um anderen Verfolgern auszuweichen, die von Osten in das Feld einzudringen versuchten. Das Tier unter mir schwankte plötzlich. Es stolperte, lief noch einige Yards und sackte dann zur Seite weg. Ich warf mich aus dem Sattel, um nicht unter dem Pferdeleib begraben zu werden. Die Maisstauden dämpften meinen Fall. Trotzdem blieb ich einige Sekunden halbbetäubt liegen und kämpfte mich dann unter Schmerzen auf die Beine. Von allen Seiten drangen jetzt Männer in das Feld ein. Ich begann zu laufen. Hinter mir blieb eine breite Schneise zurück, die der Hengst geschaffen hatte. Jetzt mußte ich mich allein vorankämpfen. Einfach war es nicht. Immer wieder stolperte ich, und wenn ich stürzte, schlug ich mir die Knie auf oder die Schultern und auch das
Gesicht. Ich schmeckte schon bald Blut im Mund und fühlte, wie ein dünner Blutfaden über meine linke Wange rann. Ich erreichte den südlichen Rand des Feldes. Ich wußte bereits, daß ich verloren hatte. Trotzdem blieb ich nicht stehen. Ich rannte auf eine riesige Weide hinaus. Vor meinen Augen drehte sich alles. Meine Lunge schmerzte. Ich konnte kaum noch atmen. Meine Füße wurden immer schwerer, meine Gedanken immer steifer. Alles, was ich in den letzten Tagen erlitten hatte, steckte in mir und bewies mir nun, daß ich nicht stark genug war, um es zu schaffen. Den Hufschlag der Verfolger hinter mir hörte ich kaum, auch nicht, als er immer lauter wurde. Dann war auf einmal ein Schatten über mir. Ich lief und lief, und ein Schlag warf mich jäh in vollem Lauf nieder. Der Schmerz schien mich zu zerreißen. Ich überschlug mich und blieb liegen. Meine rechte Schulter war gelähmt. Dort hatte mich der Schlag getroffen. Ein Peitschenhieb war es gewesen, ein Schlag mit einer kurzen, kräftigen Reitpeitsche. Die Stimme, die ich hörte, als der Schmerz etwas abklang und meine Sinne wieder funktionierten, kannte ich denn auch. »Pech, Kleiner«, sagte der Mann. »Wirklich Pech. Du bereitest dir nichts als Ärger.« Es war der schnauzbärtige Mexikaner. Er versetzte mir einen Tritt, daß ich ein Stück durch das Gras rollte und nach Luft schnappte. »Steh auf«, sagte er. »Pronto, pronto!« Ich erhob mich. »Und jetzt los«, sagte er. Gedankenschnell zuckte seine linke Hand hoch und krallte sich in mein langes, blondes Haar. Bevor ich etwas tun konnte, drehte der Mann sich um und ging davon. Er riß mir fast die Kopfhaut ab. Er schleifte mich an den Haaren über die Weide zu seinem Pferd. Ich konnte ihm nicht so rasch folgen, stolperte und fiel. Er ließ trotzdem nicht los. Ich dachte, daß ich vor Schmerzen verrückt würde. Da erreichte er sein Pferd und hob mich hinauf. Ich hatte das Gefühl, keine Haare mehr zu besitzen. Der Mexikaner stieg hinter mir auf und ritt zurück zu der
Wagenstraße, die auf die Hazienda zuführte. Hier warteten schon die anderen, die mich feindselig musterten. Sie ritten mit mir durch das nun offene Tor. Jetzt rettete mich nichts mehr.
6. Er war klein und fett, und alle, die mit ihm sprachen, nannten ihn »Don Corlona«. Er hockte allein an einem Tisch, der mindestens zwanzig Personen Platz geboten hätte. Auf dem Tisch standen silberne Schalen. Sie waren mit Früchten gefüllt, die ich teilweise noch nie gesehen hatte. Don Corlona ließ sich von allen Seiten bedienen. Er thronte auf einem reich beschnitzten, gepolsterten Stuhl und hatte einen goldenen Kelch vor sich stehen, in den eine junge Mexikanerin gerade blutroten Wein einschenkte, als ich hereingeführt wurde. Don Corlona zog das Mädchen an sich und kniff ihr mit seinen dicken Wurstfingern in den Busen. Sein aufgeschwemmtes Gesicht war puterrot. Es glänzte vor Schweiß. Das Mädchen kicherte, entwand sich ihm und huschte davon. Der Mexikaner mit dem Schnauzbart trat auf den Haziendero zu. »Hier ist er, Don Corlona.« Der Dicke wandte den Kopf. Jetzt sah ich sein Gesicht erst richtig. Es war ein häßliches Gesicht. Hamsterbacken blähten sich, und Fettwülste wölbten sich um seine Augen, die klein und schmal waren, farblos glitzerten und Heimtücke und Gemeinheit widerspiegelten. Er besaß fast keine Augenbrauen, und bis auf einen schmalen Haarkranz war sein mächtiger Schädel kahl. Die Ohren waren klein und lagen fest am Kopf an. Ein gewaltiges Doppelkinn sprengte fast den Kragen seines blütenweißes Seidenhemdes. Er musterte mich flüchtig. »Hat lange gedauert«, sagte er. Seine Stimme paßte zu ihm. Sie war hell wie das Quieken eines Schweines. »Der Junge ist mit allen Wassern gewaschen«, erwiderte der Mann mit dem Schnauzbart.
»Gringo, eh? Americano?« Don Corlona deutete mit seinen dicken Fingern auf mein blondes Haar. »Ein Apache, Patron. Wahrscheinlich ist er mal von Rothäuten entführt worden. Jetzt ist er längst einer von ihnen. Aber vielleicht ist er noch ganz brauchbar. Er ist ja noch jung.« »Versuchen können wir es ja.« Es wurde Spanisch gesprochen. Ich verstand das meiste, nur den Sinn der Worte kapierte ich nicht. Don Corlona schaute mich plötzlich wieder mit seinen häßlichen, kalten Augen an. »Verstehst du, was ich sage?« Ich warf einen Blick auf den Mann mit dem Schnauzbart. Die Reitpeitsche wippte in seiner Hand. Ich nickte. »Du hast mein Feld zerstört«, sagte Don Corlona. Ich schwieg. »Wie alt bist du?« »Trece verano«, sagte ich. »Dreizehn Sommer.« Ein paar Brocken Spanisch konnte ich bereits. »Alt genug, um zu wissen, daß man ein Feld nicht zerstört. Aus einem Feld wächst Leben, hörst du. Das erhält man, das zerstört man nicht.« Seine Rechte schob sich vor. Er betastete meine Schultern und die Muskeln an meinen Oberarmen, die bereits gut entwickelt waren. Er ließ mich den Mund öffnen und sah meine Zähne an. Dann nickte er befriedigt. »Bringt ihn zu den anderen«, sagte er. »Und vorher gebt ihm fünfundzwanzig mit der Peitsche. Er soll an die Stauden denken, die er umgeknickt hat.« Der Mann mit dem Schnauzbart grinste. Er fuhr mit der Linken wieder in mein Haar und zerrte mich am Kopf herum. Dann führte er mich aus dem saalartigen Raum. Ich hörte noch, daß Don Corlona wieder nach einem Mädchen rief, dann klappte die Tür hinter mir zu. Der Mexikaner führte mich auf den Hof der Hazienda. Es war ein riesiges Anwesen. Die hohe Mauer mit den Türmen umgab ein Gelände von gewiß zweihundert mal einhundert Yards. In der Einfriedung stand ein großes Herrenhaus mit Rosenarkaden und
einem wuchtigen Vorbau, der von Säulen getragen wurde. Neben der Freitreppe zum Portal des Hauses saßen zwei steinerne Löwen. Seitlich des Herrenhauses befanden sich die Unterkünfte für die Vaqueros und die anderen Angestellten sowie Ställe, Scheunen und Lagerhäuser. Sie bildeten einen in sich abgeschlossenen Trakt. Die Pferde der Männer, die mich gebracht hatten, standen noch auf dem Hof. Ein Stallknecht nahm sich gerade ihrer an und führte sie zu einer Tränke. Ich wurde über den Hof geführt, auf dem noch die Hitze des Nachmittags lag. Die Sonne stand bereits weit im Westen und hatte viel von ihrer Kraft verloren. Der Mexikaner zerrte mich hinter die Gesindehäuser. Hier gab es einen kleinen Patio, in dem Wäscheleinen gespannt waren, auf denen bunte Kleidungsstücke hingen. Der Hof war menschenleer, aber ich glaubte, hinter den Fenstern der Lehmziegelgebäude Gesichter zu erkennen. Der Mexikaner, der mich festhielt, stieß einen scharfen Pfiff aus. Wenig später erschienen zwei einfach gekleidete Männer. Einer hielt eine zusammengerollte Büffelpeitsche in der Rechten. Der andere übernahm mich von dem schnauzbärtigen Gunman und führte mich zu einem Holzbock, der mitten im Patio stand. Ich wehrte mich jetzt wieder. Der Mann schlug mich mitten ins Gesicht, bis meine Nase blutete. Da gab ich den Widerstand auf und ließ mich auf den Bock binden. Ich schloß die Augen und spannte alle Muskeln. Ich muß zugeben, daß ich Angst hatte. Nicht vor den Schmerzen, die konnte ich ertragen, aber davor, die Schläge hilflos empfangen zu müssen, nichts tun zu können, ausgeliefert und verloren zu sein. * Als der erste Hieb mich traf, zerbiß ich meine Unterlippe. Beim zweitenmal bäumte ich mich in den Fesseln auf. Die Riemen, die mich an dem Bock festhielten, schnitten in meine Haut an Hand- und Fußgelenken ein. Doch der Schmerz war nichts gegen die Peitschenschläge, die die Haut auf meinem Rücken zerfetzten.
Ich zählte mit bis zehn. Dann wußte ich vor Schmerzen nicht mehr, ob ich noch lebte, oder ob ich bereits tot war. Ich wußte nicht, ob ich schrie. Ich hatte jegliche Kontrolle über mich verloren. Mein Körper hing schlaff in den Fesseln, während der Peitschenriemen immer wieder zischend die Luft durchschnitt und auf meinen Rücken klatschte, eine neue Strieme hinterließ und zurückfuhr, um erneut für einen weiteren, furchtbaren Schlag geschwungen zu werden. Ich konnte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr denken. Ich hatte keine Kraft mehr und keinen Willen. Irgendwann war alles vorbei. Selbst das merkte ich nicht. Ein Mann zerschnitt meine Fesseln. Ich plumpste wie ein Sack durch das Haltegitter des Bocks auf den sandigen Boden. Mit dem Gesicht nach unten blieb ich im Dreck liegen, unfähig, auch nur ein Glied zu rühren. Männerstimmen drangen wie durch dicke Mauern an mein Ohr und vermischten sich in meinem Bewußtsein zu einem dumpfen Stimmenbrei. Jemand riß an meinem Haar. Ich hörte das Klappern einer Schere. Schließlich meinte ich, ertrinken zu müssen, als ein Eimer Wasser über mir geleert wurde. Ich verlor das Bewußtsein. * Das erste, was ich wahrnahm, als ich erwachte, war der Gestank. Ein Gestank nach Schweiß, Schmutz, Essenresten; Fäulnis und Urin. Ich öffnete die Augen. Dunkelheit umgab mich. Ich wagte nicht, mich zu rühren, denn ich hatte das Gefühl, nur noch aus rohem Fleisch zu bestehen, und war sicher, wahnsinnige Schmerzen bei jeder Bewegung zu haben. Ich lag auf dem Bauch. Das wurde mir erst nach und nach bewußt. Vorsichtig hob ich den Kopf. Der Schmerz, der mich nach dieser Bewegung durchfloß, war erträglich. Die Schleier vor meinen Augen wichen. Sehen konnte ich trotzdem nichts. Ich mußte mich in einem Keller befinden.
Die Luft war feucht und schwül. Das Atmen war eine Qual. Ich nahm die Ausdünstung menschlicher Körper wahr, hörte das Schnarchen von Männern und deren schwere Atemzüge. Noch immer begriff ich nicht, wo ich mich befand. Mir fiel nur nach und nach wieder ein, was geschehen war. Ich dachte an die beiden toten Krieger, die draußen in der Wüste lagen und bestimmt längst ein Fraß der Geier geworden waren. Ich dachte auch an die Apachen, an die Chiricahuas, zu denen ich gehörte, an Little Friend, meinen Blutsbruder, und an Black Hawk und Cochise. Ich dachte an meinen Braunen, den knochigen Armeehengst, und an vieles andere. Mein Kopf war voll davon. Der Schmerz vertrieb all die Gedanken, als ich mich bewegte. Ich stöhnte laut. Unweit von mir setzte plötzlich das Atmen eines Schläfers aus. Ich hörte ein leises Klirren. Wenig später stand jemand neben mir. Instinktiv zog ich mich zusammen und erwartete Schläge. Da war in der Dunkelheit schon ein heller Fleck dicht neben mir, ein Gesicht. »Silencio, Amigo«, flüsterte eine Stimme. »Ganz ruhig. Bist du in Ordnung?« Ich stöhnte wieder und fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Krampfhaft suchte ich nach den spanischen Brocken, die ich kannte. »Si«, sagte ich leise. »Schmerzen.« »Klar, Amigo. Die Peitsche ist nicht aus Samt und Seide wie die Anzüge von Don Corlona.« Der Mann neben mir war ohne Zweifel älter als ich. Es ärgerte mich, daß ich nichts von ihm sehen konnte. »Ich habe Öl, Campanero«, sagte er. »Öl ist gut. Du kannst morgen schon wieder laufen, wenn ich dich damit eingerieben habe.« Ich sagte nichts. Er faßte das als Zustimmung auf. Ich fühlte, daß er mir eine kühle, fettige Flüssigkeit auf meinen zerschundenen Rücken goß. Dann verrieb er sie mit seinen Händen. Wenn er über die Striemen strich, zuckte ich jedesmal zusammen. Aber ich schrie nicht und gab auch sonst keinen Laut von mir. Und je länger der Mann mir das Öl auf den Rücken rieb, um so besser fühlte ich mich. »Ich bin Janos«, sagte er auf einmal. Ich hörte, wie er eine Flasche verkorkte. »Wenn du bis morgen früh still liegenbleibst, geht es dir
viel besser.« »Wo bin ich?« Es bereitete mir Mühe, zu sprechen. Aber es ging immerhin schon wieder. »Auf der Hazienda von Don Corlona«, sagte Janos. »Und warum?« »Por dios, Compadre, um zu arbeiten, um zu schuften, um für Don Corlona im Dreck zu wühlen, damit er noch fetter wird.« »Du auch?« »Ich auch und alle Männer hier im Keller. Fünfzig Männer.« »Dann – dann sind wir alle – Sklaven.« »Si, Esclavo, Amigo. Allesamt. Du auch.« »Ich – ich bin ein Apache …« preßte ich mühsam über meine zerbissenen Lippen. »Ein Chiricahua läßt sich nicht versklaven.« »Das haben fast alle gesagt, Amigo.« Obwohl Janos nur flüsterte, hörte ich die Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme. »Ich bin ein Mischling. Mein Vater ist Schmied in Gualda, meine Mutter war eine Mimbreno-Squaw. Don Corlonas Pistoleros haben mich einfach von der Straße in Gualda mitgenommen. Mein Vater hat versucht, mich herauszuholen. Sie haben ihn mit Hunden davongejagt. Der Alkalde von Gualda hat ihn für vier Wochen eingesperrt, weil er sich beschwert und verlangt hat, daß die Gendarmen mich befreien. Ein Mischling hat keine Rechte. Niemand fragt, was aus ihm wird. Glaubst du, daß es bei einem kleinen blonden Apachen anders ist? Es sind noch andere Apachen hier, und sie sind alle folgsame, brave Peones für Don Corlona geworden. Die Peitsche klopft jeden weich, oder er stirbt. Die meisten leben lieber und gehorchen. Wir können doch nichts dagegen tun. Don Corlona ist mächtig und reich. Wir sind arme Schweine.« »Ich bin kein Sklave«, sagte ich. »Compadre«, sagte Janos leise. »Sie haben dir fünfundzwanzig übergezogen. Wenn du ihnen Ärger bereitest, erhältst du morgen vielleicht noch einmal fünfundzwanzig, dann fünfzig, und dann vielleicht hundert. Dann bist du tot …« Ich schwieg. Janos schwieg. Die Zeit versickerte in der Stille und in der Finsternis des Raumes. Es ging mir schon besser, und ich dachte über das nach, was ich gehört hatte.
»Bleib still liegen, laß das Öl einziehen«, hörte ich Janos auf einmal sagen. Dann ging er und schien sich wieder auf seine Pritsche zu legen. »Morgen«, hörte ich ihn noch flüstern, »kriegst du deine Kette, Amigo.« »Meine Kette … Was für eine Kette?« »Morgen kriegst du deine Kette.« Ich fror plötzlich und dachte an Janos' Worte. Ich war jetzt ein Sklave, ein Rechtloser, nicht viel mehr, als ein Tier, nicht besser als ein Maulesel, der einen Wagen zog und die Peitsche erhielt, wenn er nicht lief. Tränen rannen plötzlich aus meinen Augen und über meine Wangen. Tränen der Wut, einer wilden, hilflosen Wut darüber, daß ich mich in der Wüste nicht erschossen hatte. Jetzt war es zu spät. Ich schloß die Augen und dachte an den Tag, als ich zu den Apachen gekommen war. Auch damals hatte es ausgesehen, als sei nun alles für mich vorbei. Aber damals hatte ich mir geschworen, stark zu sein, durchzuhalten, die Zähne zusammenzubeißen und zu überleben. Ich hatte es geschafft. Ich war akzeptiert worden. Ich war selbst zum Apachen geworden, zum Krieger. Auch diesmal mußte ich stark sein. Ich mußte ertragen, was mich erwartete, ich mußte durchhalten. Nur dann hatte ich eine Chance. Ich durfte nicht zerbrechen. Ändern konnte ich jetzt nichts. Ich mußte auf meine Stunde warten. Sie würde kommen, wenn ich stark blieb. * Noch vor Sonnenaufgang betraten Wärter unser Verlies. Sie hielten Büffelpeitschen in den Fäusten und jagten uns auf den Hof hinaus. Jetzt sah ich die Männer, deren Los ich von nun an teilen sollte. Magere, abgearbeitete Gestalten, die sich leicht gebeugt bewegten. Die meisten trugen außer einfachen Sandalen und abgewetzten Hosen nur noch löchrige, schmutzige Unterhemden. Ihre Blicke waren starr, müde und voller Angst. Wenn sie die Stimmen der Wärter hörten, liefen sie schneller. So
schnell sie es eben konnten – mit einer Kette, die zwischen ihren Fußgelenken hing, um die sich Eisenmanschetten spannten. Die Ketten waren etwas länger als ein halber Yard. Damit konnte man gerade noch normale Schritte gehen, nicht aber schnell laufen oder gar rennen. Ich sah Männer verschiedener Hautfarbe. Ich sah Mischlinge von Indianern und Mexikanern, von Negern und Mexikanern. Ich sah reinrassige, ebenholzfarbene Neger, Mexikaner, Apachen, die in ihrer gebrochenen Haltung in nichts an meine Brüder, die Chiricahuas, erinnerten, und auch ein paar Amerikaner. Es waren etwa fünfzig, wie Janos gesagt hatte. Janos … Ich versuchte, ihn zu finden, doch ich erkannte ihn nicht wieder, und hatte auch keine Zeit, nach ihm zu fragen. Einer der Wärter walzte auf mich zu, als ich aus dem Verlies auf den Hof trat und fröstelnd im Frühnebel die Schultern hochzog. Noch bereitete mir jeder Schritt Qualen, und mein Rücken war steif und verhärtet, als hätte ich einen Tausend-Meilen-Ritt hinter mir, den ich ohne jede Pause zurückgelegt hätte. Der Wärter überragte mich um Haupteslänge und war so breit wie ein Schrank. Er packte mich wortlos am linken Oberarm und schleppte mich zu einer kleinen Schmiedewerkstatt hinüber, die sich am westlichen Rand des inneren Patio befand. Hier stand ein herkulischer Neger neben einem Amboß, über dem eine Kette lag. Meine Kette. Als ich vor ihm stand, bemerkte ich, daß auch er eine Kette zwischen den Fußgelenken trug. Auch er war ein Sklave. »Rechtes Bein«, sagte der Wärter hinter mir und versetzte mir einen Stoß. Ich hob zögernd meinen rechten Fuß auf den Amboß. Der Neger zog den Blasebalg, und in der Feuerstelle zuckten die Flammen hoch. Das Gesicht des Negers war starr wie eine Maske, als er mir eine eiserne Manschette um das rechte Gelenk legte und mit einer Zange zwei Stahlnieten in die Glut hielt. »Am Anfang scheuert es ein bißchen«, sagte der Neger mit
ausdrucksloser Stimme. »Wenn du erst mal nur kleine Schritte gehst, ist es nicht so schlimm. Mit der Zeit gewöhnst du dich daran.« Ich sagte nichts, aber ich wußte, daß ich mich nie daran gewöhnen würde. Er zog die glühenden Nieten aus dem Feuer, steckte sie in die Öffnungen der Manschette und schlug mit dem Hammer zu. Er tat es sehr geschickt und schnell. Trotzdem war der Schmerz groß, der durch meine Knöchel schoß. Der Neger warf zwei weitere Nieten in die Glut. Ich mußte den linken Fuß heben. Das bereitete jetzt schon Mühe, denn die Kette spannte sich zwischen meinen Beinen. Der Neger schlug auch die Nieten in die zweite Manschette ein. Ich starrte darauf. Für einen Moment verschwammen die Konturen vor meinen Augen. Mir schwindelte. Alles erschien mir wie ein böser Traum, und ich wartete darauf, endlich aufzuwachen. Aber es war kein Traum, es war Wirklichkeit. Ich war ein Sklave. Die Kette bewies es. Und die harte Stimme des Wärters bewies es, der mir einen Schlag mit dem Stiel seiner Peitsche versetzte. Ich stolperte nach vorn und schrie. Fast stürzte ich. »Pronto, pronto, Freundchen«, hörte ich ihn sagen. »Beweg dich. Wir werden dir schon das Laufen beibringen.« Ich ging einen Schritt und stürzte der Länge nach in den Staub, nachdem ich über die Kette gestolpert war. Das Lachen des Aufsehers erfüllte mich mit Wut. Ich wollte aufspringen und mich herumwerfen, doch es wäre ja sinnlos gewesen. Ich erhob mich wieder und ging zu den anderen Sklaven hinüber. Jetzt versuchte ich es mit kleinen Schritten, wie der Neger in der Schmiedewerkstatt es mir gesagt hatte. Die Eisenmanschetten scheuerten an meinen Fußgelenken und hatten mir schon nach ein paar Schritten die Haut aufgerieben. Die anderen Männer waren in drei Reihen angetreten. Die Aufseher schritten die Front ab und zählten nach. Ich stand neben einem baumlangen Amerikaner. Er war sehr hager, und seine Schultern hingen etwas nach vorn. Sie trugen die schmalen Narben von Peitschenstriemen. Ich konnte das sehen, denn
er trug nur eine ärmellose Weste über dem Oberkörper. Seine Arme waren nackt und nicht sehr muskulös. Sein Haar war dunkelbraun und kurzgeschoren. Als ich das sah, fiel mir plötzlich ein, daß die Aufseher, nachdem sie mich ausgepeitscht hatten, auch mit meinem Kopf etwas getan hatten, was ich nicht richtig aufgenommen hatte. Ich faßte mit der Rechten zu meinem Kopf hoch. Im selben Moment schrie einer der Aufseher einen Befehl. Drei Kastenwagen ohne Planen rollten auf den Hof. Ich hörte nicht, was der Aufseher rief. Ich stand wie gelähmt da und tastete mit der Hand über meinen Kopf. Sie hatten mir mein Haar abgeschnitten. Ich tastete über struppige, unregelmäßig geschnittene Haarbüschel, die wirr von meinem Kopf abzustehen schienen. Die Haare berührten gerade noch meine Ohren. Ich kam mir nackt vor. War bis jetzt nur Zorn und Verachtung für die Männer, die mich eingefangen, mißhandelt und versklavt hatten, in mir gewesen, so fühlte ich nun Haß in mir. Sie hatten mich gejagt. Sie hatten meine Gefährten getötet. Sie hatten mich gefangen und geschlagen. Sie hatten mich bis zur Bewußtlosigkeit ausgepeitscht, sie hatten mir eine Kette angelegt, und sie hatten mir das Haar abgeschnitten. Das war mehr, als ich ertragen konnte. Bei den Apachen war ich zum Kämpfer geworden, zum Krieger. Ich hatte gelernt, frei zu entscheiden. Mein freier Wille war gestärkt worden, und ich hatte gesehen, wie die Apachen um die Erhaltung ihrer Freiheit kämpften, wie sie für ihre Ehre kämpften, auch wenn es ein aussichtsloser Kampf war. Ich trug den Stolz der Apachen in mir, ihren Kampfgeist und ihren Freiheitswillen. Ich fragte mich, wie Little Friend an meiner Stelle handeln würde. Ein Mexikaner stand auf einmal vor mir. Einer der Aufseher, groß, bullig, mit einem fast quadratischen Schädel und kleinen, tückischen Augen. »Brauchst du eine besondere Einladung?« Ich ließ die rechte Hand sinken und schaute mich um. Die anderen Sklaven waren nicht mehr da. Sie saßen auf den drei Wagen. Ich
stand ganz allein im Hof. »Schläfst du noch?« Der Aufseher verzog seinen dünnlippigen Mund zu einem häßlichen Grinsen. »Wir kriegen dich wach, Bastardo.« Er holte mit dem Peitschenstiel aus. Diesmal ließ ich mich nicht überrumpeln. Der Haß in mir war zu groß. Ich bückte mich und rammte ihm den Kopf in den Leib. Er schnaufte. Sein Hieb streifte mich kraftlos an der linken Schulter. Da hatte ich mich schon wieder aufgerichtet und schlug ihm die geballte Rechte mit aller Kraft ins Gesicht. Aus seiner Nase quoll augenblicklich Blut. Gequält heulte er auf. Ich trat ihn gegen das Schienbein und riß ihm die Peitsche aus der Hand. Als ich ihm den Stiel über den Schädel drosch, brach er vor mir zusammen. Ich sah rot und vergaß meine Situation. Ich dachte nur an die Peitschenhiebe vom Vortag und daran, daß sie mich geschoren hatten. Dann hob ich die Peitsche und schlug auf den Wärter ein. Die Haut über seinem linken Auge platzte auf. Er blutete. Ich hielt nicht inne, sondern schlug weiter. Meine ganze Wut entlud sich. Als sich der dünne Riemen einer zehn Fuß langen Büffelpeitsche um mein rechtes Handgelenk wand, war es zu spät. Ein heftiger Ruck schnürte mir das Blut im Handgelenk ab und warf mich auf den Boden. Ich ließ die Peitsche fallen, und schon trafen mich die Schläge. Zwei Aufseher stürmten heran und prügelten mich. Sie schlugen zu, ohne darauf zu achten, wo sie mich trafen. Ich wand mich im Staub und versuchte verzweifelt, ihren Schlägen auszuweichen. Sie jagten mich auf die Beine und trieben mich zu einem der Wagen. Blut rann mir aus dünnen Rißwunden, die die Peitschen hinterlassen hatten, über den Oberkörper. Ich stolperte über meine Kette, denn ich versuchte zu rennen, und die Kette riß mir unbarmherzig die Beine unter dem Körper weg. Ich stürzte hart und wurde wieder hochgeprügelt. Einer der Männer auf dem Wagen reckte mir den Arm entgegen. Ich griff danach und wurde von ihm hochgezerrt. Ein letzter Schlag erwischte mich auf dem Rücken. Dann ließen sie von mir ab. Ich sank keuchend und stöhnend zwischen die Männer, die dicht an dicht
auf dem Wagen hockten und mit ausdruckslosen Gesichtern an mir vorbeistarrten, mit Augen, in denen Furcht flackerte. Auf einmal verstand ich sie. Sie hatten das, was ich erlebt hatte, auch mitgemacht. Sie waren genauso geschlagen, genauso gedemütigt worden, immer und immer wieder, bis sie eingesehen hatten, daß sie keine Chance hatten. Ich hatte auch keine Chance. Der Aufseher, den ich zu Boden geschlagen hatte, kam zu sich und rappelte sich auf. Er bewegte sich unsicher zu einem Pferd und kletterte schwerfällig in den Sattel. An seiner Stirn klebte verkrustetes Blut. Er sprach kein Wort mit den anderen Aufsehern. Die Wagen rollten an. Sie fuhren aus dem kleinen inneren Patio hinaus auf den großen Vorhof des Herrenhauses. Gerade rissen die Frühnebelschleier auf. Das Tor in der Mauer öffnete sich. Die Wagen rollten hindurch und die Wagenstraße hinunter, auf der sie mich am Vortage hergebracht hatten. Irgendwo in dem schönen großen Herrenhaus hockte jetzt wahrscheinlich Don Corlona, der Fettsack, in einem seiner riesigen Säle, an einem seiner kostbar beschnitzten Tische, aß von seinen goldenen und silbernen Tellern und tastete den wehrlosen Mädchen, die ihn bedienen mußten, den Busen ab. Wir indessen fuhren hinaus auf die Felder, wir Sklaven. Ich sage »wir«, denn es nutzte gar nichts mehr, daß ich mich innerlich unvermindert dagegen sträubte, ein willenloses Arbeitstier zu sein. Ich gehörte dazu und mußte mein Los ertragen, so gut es ging. Der Ausbruch auf dem Hof, der heftige Widerstand gegen den Aufseher, war ein schwerer Fehler gewesen. Ich mußte mich beherrschen, ich mußte mich einfach dazu zwingen. Ich hatte nichts davon, totgeschlagen oder zum Krüppel geprügelt zu werden. So verdarb ich mir selbst alles. Die Sonne ging auf. Die letzten Nebelfetzen trieb der Wind davon. Es wurde rasch warm. Schweiß rann mir über den Körper und in die Peitschenstriemen. Es brannte höllisch, aber ich ertrug es. Von jetzt an, das schwor ich mir, würde ich alles ertragen. Was sie auch mit mir treiben würden, ich würde den Mund halten und es hinnehmen.
Sie sollten glauben, mich zerbrochen zu haben.
7. »Du begehst viele Fehler«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich erkannte sie gleich und wandte den Kopf. Das Gesicht eines Mischlings schaute mich an. Seine Haut war olivbraun und sein Haar tiefschwarz. Seine Züge erinnerten an einen Apachen. »Janos?« Er nickte. »Ich bin Ronco«, sagte ich. »Wenn du dich nicht zusammenreißt, werden wir dich bald begraben«, sagte Janos. »Du wärst nicht der erste.« Ich schwieg. »Glaub nicht, daß wir nicht alle am Anfang versucht hätten, uns zu wehren«, sagte er. Ich schaute wieder nach vorn. Er redete leise. Niemand sollte ihn hören, und niemand von den Aufsehern, die neben dem Wagen ritten, sollte sehen, daß wir uns unterhielten. »Es gibt keinen, dem es nicht gutgetan hätte, zu sehen, wie du den fetten Felipe verdroschen hast.« Ich antwortete nicht. »Einige waren harte Brocken«, sagte Janos. »Sie haben es so versucht wie du. Sie sind tot. Don Corlona hat mit ihnen seine Äcker gedüngt.« »Wie viele sind geflohen?« Ich bewegte meine Lippen kaum beim Sprechen. Ich wandte auch den Kopf nicht. »Vielleicht drei oder vier.« Janos hüstelte. Einer der Aufseher schaute herüber. »Niemand weiß es genau. Versucht haben es mehr.« Janos sprach jetzt noch leiser. »Gejagt wurden sie alle. Ein paar sind nicht zurückgekehrt. Vielleicht haben die Aufseher sie eingefangen und von den Hunden zerreißen lassen, vielleicht haben sie es auch geschafft.« »Es geht also«, sagte ich. Janos schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich glaube, wir werden dich bald begraben.« Ich antwortete wieder nicht. Es gab nichts zu sagen. Janos war
zerbrochen worden. Vielleicht war er einmal anders gewesen. Jetzt war er nur noch ein lebendiges Bündel Muskeln und Knochen, ohne eigenen Willen. Auf ihn konnte ich nicht setzen. Gab es überhaupt einen unter den Männern, mit denen ich auf dem Wagen hockte, auf den ich setzen konnte? Sahen sie nicht alle abgestumpft aus? Ich würde sie kennenlernen. Ich würde erfahren, was sie dachten, wenn sie überhaupt noch dachten. Ich würde nicht so werden wie Janos. Die Wagen schwenkten vom breiten Weg ab auf einen schmalen Pfad, der zwischen den Feldern hindurchführte. Sie rollten bis zu einem Windrad, das aus einem Brunnen Wasser in die schmalen Bewässerungsgräben auf den Feldern pumpte. Hier hielten sie an. Die Aufseher sprangen aus den Sätteln. Sie knallten mit den Peitschen. »Bajar!« schrien sie. »Bajar! Bajar! Pronto! Absteigen, schnell!« Wir sprangen von den Wagen. Unsere Ketten klirrten. Sie klirrten bei jedem Schritt, den wir taten. Wir mußten neben den Wagen Aufstellung nehmen. Von einem vierten Wagen, der uns langsam gefolgt war, wurden Körbe abgeladen. Der Aufseher, den ich in der Hazienda geschlagen und den Janos Felipe genannt hatte, teilte sie aus. Er drückte jedem von uns einen Korb in die Hand. Vor mir blieb er etwas länger stehen. Er musterte mich eingehend. Ich verhielt mich abwartend. »Hier hast du deinen Korb«, sagte er. Er hielt mir den grob geflochtenen Korb entgegen. Ich griff danach. Da ließ er ihn fallen und schlug mir ohne Ansatz die rechte Faust in den Leib. Ich hatte nicht die Chance, auszuweichen. Ich nahm den Schlag voll. Mein Magen schien zu zerreißen. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund, als ich mich unwillkürlich zusammenkrümmte. Grellfarbene Punkte tanzten vor meinen Augen. Ich preßte die Hände auf den Magen und schnappte nach Luft. Felipe schlug mich ins Gesicht. Mein Kopf wurde hochgerissen. Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten und kippte nach
hinten um. »Du scheinst mir etwas schwächlich zu sein«, hörte ich wie aus endlos weiter Ferne die Stimme des Aufsehers. Sie troff vor Hohn. »Aber wir päppeln dich schon hoch. Die Arbeit auf dem Feld ist gesund. Sie stärkt die Glieder. Du wirst noch mal froh sein, daß du hier gelandet bist.« »An die Arbeit!« rief ein anderer Aufseher. »Bis zum Abend müssen die Felder abgeerntet sein.« Schwielige Hände hoben mich auf und drückten mir meinen Korb in die Hand. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich wankte benommen mit den anderen auf das Feld. Es war ein Kartoffelacker. Ein paar Gefangene zogen mit Pflügen voraus und pflügten den Boden um. Wir anderen schritten durch die Furchen und sammelten die Kartoffeln ein. Ich tappte die ersten Yards wie in Trance, bis ich die Schmerzen und die in mir aufsteigende Betäubung überwunden hatte. Dann befand ich mich in der mir zugewiesenen Furche und ging Schritt um Schritt gebückt voran, wie die Männer links und rechts neben mir. Über uns stieg die Sonne immer höher. Gnadenlos brannte sie auf uns herunter. Bald war der Durst kaum noch zu ertragen. Eine Mahlzeit hatte es auch noch nicht gegeben. Ich hatte nach einer Stunde das Gefühl, einmal um die ganze Welt gelaufen zu sein. Ich spürte meine Füße nicht mehr. Mein Kopf schien anzuschwellen wie ein Ballon. Nach zwei Stunden mußte ich mich alle zehn Yards aufrichten, weil ich meinte, sonst kopfüber in die Furche zu stürzen und mich nicht mehr erheben zu können. Wie oft ich bereits meinen vollen Korb zurück zum Feldrain getragen und in einen Wagen geleert hatte, wußte ich längst nicht mehr. Anfangs hatte ich gezählt. Jetzt war ich selbst dazu zu schwach. Die Aufseher gingen am Rand des Feldes auf und ab. Sie tranken häufig aus ihren Wasserflaschen, sprachen miteinander und setzten sich abwechselnd in den Schatten einiger Bäume mit weitausgreifendem Geäst. Ab und zu gingen sie auch über das Feld
und teilten Peitschenhiebe aus. Danach arbeiteten alle, so erschöpft sie auch sein mochten, jedesmal schneller. Auch ich, denn ich war sicher, daß ich in meinem jetzigen Zustand keine weiteren Mißhandlungen würde ertragen können, ohne Schaden zu nehmen. * Wir hockten am Feldrand neben den Wagen, die uns hergebracht hatten. Die Sonne stand am Zenit, und die Luft war wie Glut. Wenn wir einatmeten, schmerzten uns die Lungen. Ein Feuer brannte ein Stück abseits von uns. An einem Dreibein hing ein großer Topf über den Flammen. Wir hielten einfaches Eßgeschirr in den Händen und erhoben uns, als wir gerufen wurden. Nur die Aussicht, endlich Essen zu erhalten, hielt uns in diesem Moment aufrecht. Den meisten ging es so wie mir. Sie schwankten, knickten immer wieder in den Knien ein und sahen so bleich aus wie wandelnde Leichen. Es dauerte endlos lange, bis die an die Reihe kamen, die hinten standen. Ich stand sehr weit hinten. Der letzte in der Reihe kippte plötzlich um. Keiner kümmerte sich um ihn. Er hatte ein puterrotes Gesicht und versuchte ein paarmal, wieder aufzustehen. Es gelang ihm schließlich. Ich drehte mich noch einmal nach ihm um. Dann war ich an der Reihe und hielt dem Aufseher, der die dünne Rübensuppe austeilte, meinen Blechteller hin. Es war Felipe. Er grinste mich böse an. »Hunger, wie?« Er fuhr mit der großen Kelle, die er in der Rechten hielt, in den Topf und rührte darin herum. »Wer schwer arbeitet, soll auch gut essen. Gib deinen Teller her. Du sollst nicht klagen müssen.« Er schöpfte dampfende Suppe aus dem Topf und schob die Kelle über meinen Teller. Auf einmal zitterte er, und die Kelle fiel zu Boden. Die dampfende Suppe versickerte im Sand. »Tut mir leid, Amigo.« Felipe grinste noch immer. Ich sah wieder den Haß in seinen Augen. »Manchmal habe ich so ein dummes Zittern in den Armen und kann die Kelle nicht mehr halten. Jetzt ist
deine Ration beim Teufel, und leider gibt es nur eine Ration für jeden.« Ich wollte ihn anspucken, aber ich verkniff es mir. Ein anderer Aufseher versetzte mir bereits einen Stoß. »Geh weiter. Schlaf nicht ein.« Benommen taumelte ich zwei Schritte weiter. Ein weiterer Aufseher griff in einen Korb und drückte mir einen Kanten Brot in die Hand. Ich preßte ihn rasch gegen den Leib, damit ihn mir niemand wegnahm, und hastete weiter in den Schatten der Bäume, wo schon die anderen saßen. Hier ließ ich mich ins Gras sinken. Janos sah mich traurig an. Er sagte kein Wort, während er in seiner dünnen Suppe löffelte. Ich brach ein Stück von dem Brot ab und kaute. Ich kaute länger darauf, als es notwendig gewesen wäre, um mir die Illusion zu verschaffen, daß es mehr sei, als es war. Neben mir saß der große Amerikaner, der schon am Morgen in der Hazienda neben mir gestanden hatte. Er hatte seinen Teller bereits geleert und kaute nun wie ich auf dem trockenen, harten Brot. »Du bist keine Rothaut«, sagte er plötzlich. Er war Texaner. Sein Slang war unverkennbar. Er sprach mich auf Englisch an. »Ich bin ein Apache«, sagte ich. »Rede nicht«, erwiderte er. »Dein Haar ist blond, deine Haut ist hell. Außerdem sprichst du Englisch.« »Ich spreche ebensogut den Apachendialekt, wenn nicht besser.« »Das glaube ich dir aufs Wort. Deshalb kriegst du noch lange keine rote Haut. Wie haben die Schinder dich gefangen?« »Ich habe den Anschluß an meinen Stamm verloren.« Es tat mir gut, sprechen zu können. Der Texaner gefiel mir. Er schien sich nicht mit seiner Lage abgefunden zu haben. Er erweckte nicht den gebrochenen, ängstlichen Eindruck wie die anderen. Bei ihm entdeckte ich Züge, die ich von meinen indianischen Brüdern kannte: Er war stolz und hart. »Bei dem Gewitter vor ein paar Nächten haben zwei Krieger und ich uns in einer Hütte verkrochen. Anscheinend gehörte die zur Hazienda.« »Alles, auf fünfzig Meilen im Umkreis, gehört zur Hazienda«,
sagte der Mann. »Wir sind dort entdeckt und dann gejagt worden«, fuhr ich fort. »Die beiden Krieger haben sie erschossen. Mich haben sie mitgeschleppt.« »Du bist noch jung. Sie haben gedacht, dich zu einen brauchbaren Sklaven erziehen zu können. Wie heißt du?« »Ronco.« »Bei den Apachen?« »Nein. Ich hieß immer schon Ronco.« Meine Stimme klang jetzt etwas heftiger. »Wer so einen Namen hat, stammt von einem Kaktus ab.« Der Texaner grinste. »Das ist sicher eine lange Geschichte. Ich will sie nicht wissen. Reg dich nicht auf. Ich heiße Gregg Lovecast.« Ich schlang den Rest meines Brotes hinunter. Satt war ich nicht, aber es ging mir schon besser. »Du siehst nicht so aus, als wolltest du lange hierbleiben.« Der Texaner hatte seine Stimme plötzlich gesenkt. Er blickte mich scharf an. »Entweder scharren sie mich bald ein, oder ich bin wieder frei.« »Die erste Möglichkeit ist wesentlich leichter zu erreichen.« Lovecast lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baum, unter dem wir saßen. »Ich habe dich beobachtet. Gestern abend schon, als sie dich halbtot in den Keller gebracht haben. Du bist ein harter Brocken. Du hast bei den Apachen eine Menge gelernt.« »Ich bin ein Krieger«, sagte ich. »Ich habe Augen im Kopf.« Er blickte auf meinen Medizinbeutel. »Vor ein paar Monaten noch hätte ich einen Burschen wie dich sofort aus dem Sattel geschossen.« »Ich hätte nicht anders gehandelt – wenn ich dir begegnet wäre.« Er grinste wieder. »Klar. Aber jetzt sitzen wir zusammen in der Scheiße. Jetzt müssen wir zusammenhalten, wenn wir 'rauswollen. Mit den anderen ist nichts mehr anzufangen. Aus denen ist das letzte bißchen Rückgrat, das sie je besessen haben, längst 'rausgeprügelt worden. Das sind keine Männer mehr. Das sind Würmer. Die werden bis an ihr Lebensende auf allen vieren vor den Greasern herkriechen und Staub fressen. Soweit bin ich noch nicht, und soweit will ich's
auch nicht kommen lassen. Mit dir ist das genauso, wie?« »Sicher. Und warum bist du noch nicht weg, wenn du so denkst?« »Sieh dich um. Allein schafft das kein Schwein. Man braucht einen Partner dazu.« Er blickte mich wieder scharf an. »Auf einen wie dich hab ich gewartet. Haben die Rotfelle dich mit auf Kriegszüge genommen?« »Sag nicht Rotfelle«, sagte ich. »Sonst schneide ich dir die Gurgel durch, sowie sich eine Gelegenheit ergibt. Ich weiß, wie man kämpft, ich bin unter Cochise geritten.« Er pfiff durch die Zähne. »Wie alt bist du?« »Dreizehn Sommer«, sagte ich. Lovecast kriegte große Augen. »Ich hab dich für siebzehn gehalten.« Jetzt grinste ich, obwohl mir gar nicht danach war und ich noch immer verdammte Schmerzen hatte. »Wie haben sie dich gefangen?« fragte ich. »Ich hab bei einer hübschen kleinen Revolution mitgespielt.« Lovecasts Gesicht war plötzlich ernst. »Söldner, verstehst du? Ein paar Kerle mit einer Menge großer Ideen haben Leute wie mich angeheuert. Nun, es ging schief. Mich haben sie geschnappt, hier in der Provinz, in der Don Corlona das Sagen hat. Er braucht immer Arbeiter. Deshalb bin ich nicht gehenkt worden.« »Du bist ein Revolvermann?« »Ich schieße ganz gut.« Ich schaute ihn voll an. »Wir beide schaffen es«, sagte ich. »Das denke ich auch. Wir hauen zusammen ab.« »Wann und wie?« »Die Zeit wird kommen. Wir können nichts vorbereiten. Dazu werden wir zu gut bewacht.« »Wasser fassen!« schrie einer der Aufseher. Lovecast erhob sich. »Steh auf, bevor Felipe dich wieder verprügelt. Wir kriegen jetzt noch Wasser. Einen Becher mittags, einen abends. Paß auf, daß Felipe deinen nicht wieder verschüttet. Ich gebe dir nichts ab. Es ist zu wenig für einen Mann, geschweige denn für zwei.« »Wie soll ich wissen, wann es soweit ist, wenn wir nichts
verabreden?« »Ich kenne mich hier aus«, sagte Lovecast. »Du noch nicht. Ich weiß, wann die Gelegenheit günstig ist und geb dir Nachricht. Ich kenne das Land, hab ja lange genug für diesen fetten Corlona darin herumgewühlt. Wenn ich es allein schaffen könnte, wäre ich schon weg, aber ich brauche einen Partner, der nicht gleich aus den Stiefeln kippt. Du bist der richtige. Die Wärter sind harte Burschen, und sie haben Hunde. Es wird schwer, und man muß schon einiges durchgestanden haben, um es zu schaffen.« »Ich hab eine Menge durchgestanden.« »Du hörst von mir. Sei darauf gefaßt, daß es jeden Tag losgehen kann. Halt die Klappe und denk dran, daß du dich auf keinen von den anderen Typen verlassen kannst. Wir bleiben im Gespräch, Ronco.« »Bleiben wir«, sagte ich. Er ging schnell weiter, denn Felipe tauchte in unserer Nähe auf und spielte mit seiner Peitsche. Es gelang mir, in einem dichten Pulk der Gefangenen an ihm vorbeizugelangen, so daß er keine Gelegenheit hatte, mich »zufällig« zu schlagen. Ich erhielt mein Wasser und trank es schnell aus. Als die Arbeit dann weiterging, war ich noch immer durstig und hungrig. Aber ich hielt bis zum Abend durch. * Die Sonne war schon fast untergegangen, als wir wieder auf der Hazienda eintrafen. Als wir in den inneren Patio der Sklavenunterkünfte rollten, sah ich die Frauen, die im oberen Teil der Gebäude untergebracht waren. Sie nahmen die Wäschestücke von den Leinen und wurden von zwei Wärtern ins Haus gejagt, als unsere Wagen eintrafen. Die Männer auf den Wagen johlten und schrien Obszönitäten. Felipe und die anderen Aufseher ritten heran und schlugen mit ihren Peitschen wahllos auf die Männer ein, die daraufhin rasch wieder still wurden. Ich duckte mich, so streifte mich nur ein Hieb. Die Wagen hielten an. Die Aufseher stiegen von den Pferden. Sie knallten mit den Peitschen. Wir sprangen von den Wagen und stellten uns in Dreierreihen auf.
Sie zählten uns wieder, obwohl sie genau wußten, daß keiner fehlte. Auf dem Hof lag noch brütend die Tageshitze, und sie wußten, daß sie uns quälten, wenn sie uns noch eine Viertelstunde in der Hitze stehen ließen. Danach trieben sie uns in eines der Lehmziegelgebäude. Wir gingen an einem Stapel Blechteller vorbei und an Blechbechern. Jeder nahm sich einen Teller und einen Becher und begab sich zu einer Feuerstelle am Ende des großen Raumes. Hier erhielten wir wieder Rübensuppe und Brot. Diesmal teilte ein anderer Aufseher die Suppe aus. Ich erhielt meine vollständige Ration und nahm an dem langgestreckten Tisch Platz, wo sich auch die anderen Gefangenen niederließen. Die Suppe war dünn, aber heiß. Sie wärmte den Magen an. Ich löffelte gierig und fiel dann über mein Brot her. Felipe war auf einmal da. Er schlenderte am Tisch entlang und blieb mir gegenüber stehen. »Schmeckt's?« Ich krampfte die Rechte um meinen Löffel und blickte ihn ruhig an. »Ja.« »Bueno. Du lebst dich langsam bei uns ein. Wir sind eine große Familie, nicht wahr, Companeros?« Er blickte sich um. In seinen kleinen, tückischen Augen glitzerte es. Keiner widersprach. »Komm mit, Muchacho, ich habe eine Arbeit für dich.« Ich biß ein Stück von meinem Brot ab und hielt es hoch. Ich hatte noch nicht die Hälfte davon verzehrt. »Sofort«, sagte ich. »Nein, gleich«, sagte er. Er schlenderte um den Tisch herum. Ich war sitzengeblieben, und er blieb hinter mir stehen. »Eines mußt du noch lernen, Muchacho«, sagte Felipe, »daß einer wie du springt, wenn ich auch nur den Mund auf tue.« Er trat gegen meinen Stuhl. Ich ließ das Brot fallen und klammerte mich am Tisch fest. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, daß der Stuhl unter mir umkippte und ich zu Boden fiel. Ich zitterte vor Haß, als ich mich aufrichtete, aber ich riß mich zusammen, denn ich sah Felipe an der Nasenspitze an, daß er nur darauf wartete, daß ich mich wehrte. Dann würde er mich
totschlagen. Daran hegte ich keinen Zweifel. »Los«, sagte Felipe. Seine Stimme klang sanft. Er grinste mich an. Die anderen Sklaven schauten alle herüber. Sie hatten Angst. Sie hatten immer Angst, wenn einer von ihnen Ärger mit einem Aufseher hatte. Sie befürchteten, daß alle darunter zu leiden haben würden. Ich griff nach meinem Brot. »Liegenlassen«, sagte Felipe. »Du kannst nachher essen.« Ich ließ das Brot liegen und ging vor ihm her. Wir traten auf den Patio hinaus. Felipe sprach kein Wort. Er schnaufte wie eine Lokomotive. Er schwitzte stark. Ich blieb stehen. »Vorwärts, Kleiner, immer nur vorwärts«, sagte er. Er führte mich auf den Hof vor dem Herrenhaus. Hier drückte er mir einen Rutenbesen in die Hände. »Feg den Hof, und zwar gründlich. Ich prüf es hinterher.« Ich hätte ihm an die Gurgel fahren können. Aber ich tat es nicht. Ich nahm den Besen und fegte den Hof. Es gab nichts zu fegen. Der Hof wurde vermutlich mehrmals am Tag gefegt. Weder Papierschnitzel noch Zigarettenstummel waren irgendwo zu sehen. Aber ich tat, wie Felipe es mir aufgetragen hatte. Er sollte glauben, mich kleingekriegt zu haben. Er würde mich nicht mehr schlagen und damit eine Voraussetzung für meine Flucht schaffen. Ich fegte den feinen hellen Sand auf dem Hof hin und her, von der einen Ecke zur anderen und wieder zurück. Es wurde dunkler, aber ich fegte, obwohl meine Knie immer wieder nachgaben. Ich stützte mich von Minute zu Minute fester auf den Besenstiel, und meine Arme bewegten sich von Minute zu Minute langsamer. Dann sah ich Felipe kommen. Ein zufriedenes Grinsen lag auf seinem häßlichen Gesicht.
8. Das Portal des Herrenhauses öffnete sich. Ein kleiner, fetter Mann erschien auf der Freitreppe. Don Corlona persönlich. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, der seinen Hängebauch nicht kaschieren konnte. Der Anzug war mit einer Goldborte eingefaßt. Auf dem Kopf trug Corlona einen wagenradgroßen
Sombrero. Flankiert von zwei Revolvermännern stieg er die Treppe hinunter. Als er sich näherte, sah ich, daß sich eine schwere goldene Kette über seinen Wanst spannte. Eine Taschenuhr hing daran. Er zog sie hervor und warf einen Blick darauf, dann watschelte er zwischen seinen Gunmen auf das Tor zu, wo gerade eine Kutsche ausrollte. Die beiden Revolvermänner kannte ich. Sie hatten mich gejagt. Der eine war jener schnauzbärtige Mann, der mich mit der Reitpeitsche geschlagen hatte. Er schaute herüber. Ich tat so, als sähe ich ihn nicht und konzentrierte mich auf den Rutenbesen. Da blieb er stehen. »He!« rief er. Ich fegte weiter, ohne aufzuschauen. »He, Bastardo!« rief er. Ich hob den Kopf. »Komm her«, sagte er. »Schnell.« Ich tat, was er sagte. Den Besen schleifte ich in der Linken mit. Zehn Schritte vor den Männern blieb ich stehen. Don Corlona hatte seine rosigen, fetten Hände auf dem Rücken übereinandergelegt. Er sah aus wie eine Kugel auf Beinen, und diese Beine waren dazu noch krumm und sehr kurz. Er war kleiner als ich. Der große Sombrero unterstrich das noch. Er sah aus wie ein häßlicher, fetter Zwerg, ein sehr reicher und mächtiger Zwerg. Weder Macht noch Reichtum machten ihn schöner, aber sie ließen ihn weniger lächerlich erscheinen. »Ist das der kleine Gringo, den ihr gestern gefangen habt?« Da war wieder seine helle, quiekende Stimme. Er musterte mich von oben bis unten. »Si, Patron. Das ist er.« Der Schnauzbart starrte mich noch immer an. »Tritt näher.« Ich ging noch drei, vier Schritte und blieb dann wieder stehen. »Warum verbeugst du dich nicht, wenn dein ehrenwerter Patron vorbeigeht, he?« Ich schaute in die eisigen, gefühllosen Augen Corlonas. Mir wurde heiß und kalt. Da hatte ich mir fest vorgenommen, den Sklaventreibern des Mexikaners keinen Anlaß zu geben, mich zu
schlagen, und nun unterlief mir dieser idiotische Fehler. »Ich – habe nicht daran – gedacht …« stammelte ich. »Nun, in Zukunft wirst du daran denken«, sagte Don Corlona. »Wenn du mich siehst, kniest du nieder, comprende?« »Si, Senor.« »Patron heißt das. Knie nieder!« schrie der schnauzbärtige Gunman. »Si, Patron.« Ich sank auf die Knie nieder. Der Zorn trieb mir das Blut in den Kopf. Corlona deutete das jedoch anders. »Er schämt sich«, sagte er befriedigt. »Seht ihr, wenigstens schämt er sich.« »Dazu hat er auch allen Grund.« »Was hängt da an seinem Hals?« fragte Don Corlona. »Sein Medizinbeutel, Patron«, sagte der Revolvermann. »Medizinbeutel? Por dios, dies ist ein christliches Haus.« »Si, Patron.« »Dieser indianische Geisterkram, diese Götzenverehrung hat unter meinem Dach nichts zu suchen.« Don Corlona lief rot an. Ich kniete noch immer am Boden. Mein Herz schlug etwas schneller. Ein flaues Gefühl erfüllte meinen Magen. Felipe war plötzlich da. Er hatte sich im Hintergrund gehalten. Jetzt dienerte er eifrig und rieb sich nervös die Hände. »Der Junge trägt noch diesen, äh, diesen Medizinbeutel!« Corlona starrte Felipe mit unverhohlener Verachtung an. »Ich habe es übersehen, Patron.« »Übersehen? Muß ich denn für alles selber sorgen? Wofür schmeiße ich euch jeden Monat viele gute Pesos in den Rachen?« »Ich werde das in Ordnung bringen, Patron.« »Unverzüglich, Felipe, unverzüglich.« Corlona drehte sich um und watschelte davon. Die beiden Gunmen folgten ihm. Felipe dienerte noch immer, obwohl der Haziendero es nicht mehr sehen konnte. Felipe dienerte noch, als Corlona in seine Kutsche am Tor einstieg, das Tor sich öffnete und die Kutsche hinausrollte. Ich richtete mich wieder auf, nahm den Besen und fegte weiter, als sei nichts geschehen, als sei Felipe gar nicht da. Aber er war da, und er machte sich schnell bemerkbar.
»Hör auf zu fegen«, sagte er. Ich hob den Kopf und stützte mich auf den Besen. Felipe stand vielleicht drei Schritte von mir entfernt. Er hatte die muskelbepackten Arme vor der Brust verschränkt. »Nimm dieses Ding ab«, sagte er. »Welches Ding?« »Du weißt genau, was ich meine.« »Ich verstehe schlecht Spanisch«, sagte ich. Mir wurde wieder abwechselnd heiß und kalt. Meine Nerven vibrierten geradezu. Ich mußte mich beherrschen. Ich durfte jetzt nicht durchdrehen. »Du verstehst sehr gut, Muchacho«, sagte Felipe. Er trat einen schnellen Schritt auf mich zu. Ich wich gleichzeitig zurück und ließ den Besen fallen. Felipe stolperte über den Stiel und stürzte vor mir in den Staub. Im ersten Moment wollte ich mich herumwerfen und fortlaufen. Dann blieb ich stehen. Ich wäre doch nicht weit gelangt. Überall waren Mauern. Mit hängenden Schultern stand ich da, während Felipe sich langsam aufrichtete. Auf einem der Wachttürme lachte ein Posten und rief herüber, ob Felipe besoffen sei. Felipe verzog keine Miene. Seine Gesichtszüge schienen zu Stein erstarrt zu sein. Er klopfte sich mit beängstigender Sorgfalt den Staub von der Kleidung. Dann schaute er mich an. »Du bist sehr ungeschickt.« Mit zwei Schritten stand er vor mir. Diesmal blieb ich stehen. »Nimm den Medizinbeutel ab.« »Nein«, sagte ich. Von mir aus konnte er mich totschlagen. Den Medizinbeutel würde ich nicht abnehmen. Ich dachte an Gregg Lovecast, den langen Texaner. Er würde sich einen anderen Partner suchen müssen. Ich hatte vieles geschluckt und war bereit gewesen, noch mehr hinzunehmen, um möglichst unbehelligt zu bleiben und für einen Fluchtversuch fit zu sein. Meinen Medizinbeutel aber würde ich nicht opfern. Die Folgen meiner Widerspenstigkeit konnte ich mir ausrechnen. Felipe schlug urplötzlich zu. Er schlug mit der offenen Hand. Die Ohrfeige riß mir fast den Kopf ab. Ich sah Sterne und überschlug
mich beinahe. Betäubt blieb ich liegen. Durch dichte Schleier sah ich Felipes Gesicht vor mir. Er hatte sich gebückt. Ich spürte seine Finger an meinem Hals. Verzweifelt bäumte ich mich auf. Felipe schlug wieder zu. Dann ging er davon, groß, breit und stark. Ich lag am Boden, schmeckte Blut im Mund, spuckte aus und stemmte mühsam den Oberkörper hoch. Meine Muskeln und Sehnen zitterten vor Schwäche, in meinem Kopf drehte sich alles. Die linke Wange und das linke Ohr, die von den Schlägen getroffen worden waren, brannten. Noch mehr aber brannte der Haß in mir. Er verzehrte mich fast und gab mir die Kraft, wieder auf die Beine zu kommen. Ich konnte kaum noch denken und schaute hinter Felipe her, der über den Hof schritt. Ich tastete dorthin, wo mein Medizinbeutel gehangen hatte, und in diesem Moment schwor ich mir, Felipe zu töten. * Es war dunkel geworden. Fackeln und Laternen brannten hier und da. Ich hob den Besen auf und ging zu den Lehmziegelhäusern des Gesindes hinüber. Hier lehnte ich den Besen gegen eine Wand. Dann betrat ich das Haus, in dem wir vorhin gegessen hatten. Der große Raum mit dem langen, schmalen Tisch war leer. Das Feuer in der Kochstelle brannte noch. Ich ging zu dem Platz, an dem ich gesessen hatte. Der Rest meines Brotes war natürlich nicht mehr da. Irgendein anderer hatte ihn gegessen. Mir knurrte der Magen. Ich trat an die Kochstelle. Daneben stand das Wasserfaß. Ich griff nach einem Becher neben dem Herd und wollte ihn füllen. Das Faß war leer. Da sah ich im Feuer etwas Unförmiges brennen. Ich trat näher und beugte mich über die offene Herdplatte. Ich erkannte Fellstreifen und ein verkohltes Bündel. Mein Herz schlug wieder schneller. Meine Blicke flogen umher. Ich fand, was ich suchte, einen Feuerhaken. Ich nahm ihn und fuhr damit in die Glut. Als ich das Bündel mit der Spitze des Feuerhakens berührte, fiel es auseinander. Eine Flamme zuckte auf und verzehrte den Fellstreifen.
Ich spürte einen Stich im Herzen und ließ den Schürhaken sinken. Langsam wandte ich mich um. Felipe stand am Eingang. Er hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und grinste mir durch den Raum entgegen. »Was willst du hier?« Ich schluckte. Ich durfte ihm keine Schwäche zeigen. Er hatte mich zu oft gedemütigt. »Ich wollte mein Brot holen, und mein Wasser.« »Gegessen wurde vor einer Stunde«, sagte Felipe. »Danach hat niemand von euch Bastardos hier mehr etwas zu suchen. Die Wasserrationen sind alle aufgeteilt. Warum bist du nicht pünktlich bei der Austeilung gewesen?« Wieder kroch der Haß in mir hoch. Ich ballte die Hände zu Fäusten und bemerkte, daß ich den Schürhaken noch in der Hand hielt. Er war vorn gekrümmt und spitz. Er war schwer, solide und handgeschmiedet. Eine feine Waffe. Damit konnte ich Felipe ohne weiteres den Schädel einschlagen. Ich zweifelte nicht daran, daß ich dazu fähig war. Ich war sicher, daß es mir sogar Spaß bereitet hätte. Aber ich tat es nicht. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Ich legte den Schürhaken an seinen Platz zurück und ging mit müden Schritten durch den Raum zur Tür. Felipe stand noch immer da und grinste mich an. »Ein Wunder, daß das Feuer noch brannte«, sagte er. »Muß was ganz besonderes drin gebrannt haben.« Ich sagte kein Wort und ging an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. »Verschwinde in dein Quartier«, sagte er. »Nach Sonnenuntergang hat keiner von euch mehr auf dem Hof zu sein.« Ich ging zum Kellereingang, wo ein Wachtposten stand. Felipe ging mir nach. »Hier gibt es keinen Götzendienst«, sagte er. »Merk dir das.« Ich antwortete nicht. Er sprach weiter: »Warum sagst du nichts, he? Du hast doch gesehen, daß es dein Medizinbeutel war, der im Feuer verbrannt ist.« »Ich hab's gesehen«, sagte ich, ohne mich umzudrehen. »Es macht dir gar nichts aus, he?« »Nein«, sagte ich.
»Sehr schön, Compadre, mucho bueno. Du wirst dich schon eingewöhnen.« Felipe blieb stehen. Wir hatten den Kellereingang erreicht. Er nickte dem Wachtposten zu. »Laß ihn 'rein. Er ist neu. Beim nächstenmal gib ihm fünfundzwanzig mit der Peitsche.« Er schien milde gestimmt zu sein. Ich hatte die ganze Zeit erwartet, daß er mich schlagen würde. Ich traute ihm noch immer nicht und hatte die Schultern hochgezogen und alle Muskeln gespannt, als ich an dem Wachtposten vorbeiging. Aber es passierte wirklich nichts. Ich hörte Felipe hinter mir leise lachen. Ich fragte mich, ob er auch noch so lachen würde, wenn ich ihn tötete. Ich stolperte die ausgetretenen Steinstufen in den großen Kellerraum hinunter, in dem die Pritschen für uns Sklaven dicht an dicht standen. Meine Kette klirrte über die Stufenkanten. Ich war zum Umfallen müde. Jetzt, als ich die ständige Bedrohung hinter mir gelassen hatte, merkte ich es erst. Es gab kein Glied, das ich nicht spürte. Ich fand meine Pritsche sofort wieder. Janos saß auf der Kante seines Lagers und schaute mich müde an. Bitterkeit lag in seinem Blick. Ich suchte Gregg Lovecast und sah ihn am anderen Ende des Raumes. Er beachtete mich nicht. »Ich habe geglaubt, sie würden dich wieder hereintragen«, sagte Janos leise. »Als du nach dem Essen nicht zurückkamst … Wir dachten, Felipe wollte dich nur um dein Brot und dein Wasser bringen.« »Hat er auch«, sagte ich. »Ich habe den Hof gefegt.« »Du hast ihn verprügelt«, sagte Janos. »Alle haben es gesehen. Felipe ist ein Schwein. Was er heute mit dir angestellt hat, war nur der Anfang. Du wirst dich noch wundern.« Ich antwortete nicht. »In zwei Wochen hat er dich so weit, daß du ihm die Füße küßt, wenn er dich in Ruhe läßt.« »Ich werd's schon schaffen.« »Wo ist dein Medizinbeutel?« Janos beugte sich vor und starrte mich an. »Weg«, sagte ich, heftiger als notwendig. Ich bereute es gleich darauf, denn was konnte Janos schließlich dafür. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte nicht fragen sollen.« Er blickte
einen Moment zu Boden. »Du hast heute mit Lovecast gesprochen«, sagte er dann. »Das ist kein guter Mann. Er bringt dich geradewegs unter die Erde.« »Da landet jeder mal.« Janos sah mich stumm an. Trauer lag in seinem Blick. Ich streckte mich auf der Pritsche aus. Janos tat mir leid. Er war nicht hart genug. Vielleicht war das sogar gut. Er würde die Sklaverei überleben, weil er sich nicht dagegen wehrte, auch innerlich nicht. Lovecast und ich konnten nur zugrunde gehen. * Es verging fast eine Woche. Jeden Tag wurden wir auf die Felder hinausgefahren, um die Erntearbeiten zu erledigen. Es war eine schlimme Zeit für mich. Felipe schikanierte mich, wo er nur konnte. An manchen Tagen stopfte ich heimlich rohe Kartoffeln auf dem Feld in mich hinein, um nicht vor Hunger umzufallen. Wenn ich von Schlägen hätte satt werden können, hätte ich vermutlich sogar Fett angesetzt. In der ganzen Zeit sprach ich nicht ein Wort mit Gregg Lovecast. Wir waren peinlich bemüht, uns aus dem Wege zu gehen. Kein Mensch konnte auf die Idee verfallen, daß wir etwas planten. Am fünften Tage war ich so weit, daß ich Felipe am liebsten mit meinem Suppenlöffel umgebracht hätte. Eine andere Waffe stand mir nicht zur Verfügung. Felipe hatte meine zweite Wasserration verschüttet, freundlich grinsend und abwartend, ob ich endlich reagieren würde, damit er mich totschlagen konnte. Er hatte auch schon meine erste Ration verschüttet, und ich hatte an diesem Tag noch nicht einen Tropfen Wasser erhalten. Ich reagierte nicht, denn ich war sicher, daß ich ohnehin verdursten würde, und das war mir immer noch lieber, als totgeprügelt zu werden. Mit geschwollenem Gaumen marschierte ich in das Quartier. Als ich die Steinstufen hinunterklirrte, stand Lovecast vor mir. »Morgen«, sagte er nur. »Sieh unter deiner Decke nach. Wie geht's mit deinen Beinen?« »Ich kann es aushalten«, sagte ich. Meine Fußgelenke waren leicht
entzündet. Die Eisenmanschetten scheuerten die Haut über den Knöcheln immer wieder auf. Lovecast wandte sich wortlos ab und schlenderte zwischen den Pritschen hindurch zu seinem Lager. Hier ließ er sich nieder, streckte sich aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ich ging zu meiner Pritsche und lüftete die Decke so, daß niemand beobachten konnte, was ich tat. Unter der Decke stand ein flaches Schälchen mit Wasser. Ich fragte mich, wie Lovecast es fertiggebracht hatte, es hereinzuschmuggeln. Dankbar trank ich das Wasser. Es waren nur wenige Schlucke, aber sie waren für mich geradezu eine Erlösung. Außerdem erleichterte mir die Gewißheit, daß die Quälerei morgen endlich vorbei sein sollte, das Ertragen des Durstes, den ich noch immer hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie die Flucht, die Lovecast morgen starten wollte, vonstatten gehen sollte. Trotzdem fühlte ich mich nicht unsicher. Wenn die Flucht gelang, lagen die Schrecken der Hazienda des Don Corlona hinter mir. Scheiterte sie, war ich tot, und das erschien mir immer noch besser als das unwürdige Sklavendasein. In dieser Nacht schlief ich tief und fest. Am nächsten Morgen trieben uns Felipe und seine Wärter wie stets vor Sonnenaufgang ins Freie. Die Wagen standen schon bereit. Wir stiegen auf und verließen die Hazienda. Es war ein grauer Morgen. Erst am frühen Vormittag klarte es auf. Die Wagen waren mehr als zwei Stunden unterwegs, bis sie ihr Ziel erreichten. Gregg Lovecast mußte davon gewußt haben, und als ich das Gelände sah, in dem wir aussteigen mußten, verstand ich, warum er sich entschlossen hatte, gerade heute die Flucht zu versuchen. Ich hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, mit ihm zu sprechen. Bei der Herfahrt hatte er auf einem anderen Wagen gesessen. Aber eine richtige Planung wäre ohnehin unmöglich gewesen. Wir waren nie ganz allein, und das Verhalten der Aufseher war nicht berechenbar. Wir mußten zufrieden sein, wenn uns die äußeren Bedingungen bei unserem Vorhaben entgegenkamen. Das Gelände war hügelig und unübersichtlich, und wir waren weit genug von der Hazienda entfernt, so daß die Aufseher bei einer
Verfolgung nicht so schnell Hilfe holen konnten. Bis die Revolvergarde Don Corlonas und die Bluthunde unsere Spur aufgenommen hatten, besaßen wir bereits einen erheblichen Vorsprung. Wir waren zum Straßenbau eingesetzt. Don Corlona wollte eine Kutschenlinie gründen. Dazu sollte von der großen Überlandstraße aus ein Wagenweg bis in eine zwei Meilen entfernte Kleinstadt angelegt werden. Es war eine Sauarbeit. Mehrere Pflüge rissen den Boden auf. Wir anderen sammelten die Steine auf und räumten sie aus dem Weg, wieder andere schoben schwere Handwalzen. Bis zum Mittag passierte nichts. Wider Erwarten war der Tag doch noch heiß geworden. Wir hockten erschöpft am Wegesrand und nahmen unsere Mahlzeit ein. Ich schaute zu Lovecast hinüber. Er nickte mir kaum merklich zu. Ich verstand. Er hatte das Essen noch abwarten wollen, weil wir kaum in der Lage sein würden, Proviant mitzunehmen. Nach dem Essen begannen wir mit der seitlichen Befestigung des Weges, der bereits hundert Yards weit ins Hügelland reichte. Wir benutzten die Steine dazu, die wir vorher aufgesammelt und zu großen Haufen aufgetürmt hatten. Lovecast war, als wir unser Eßgeschirr zusammengetragen hatten, dicht an mir vorbeigegangen. Er hatte mir zugeflüstert, daß ich versuchen sollte, in die Nähe des Wagens zu gelangen. Es standen drei Wagen auf dem breiten Fahrweg. Aber nur bei einem standen noch die Pferde im Geschirr. Ich war sicher, daß dies der Wagen war, den Lovecast meinte, und durchschaute auch nun, was er vorhatte. Zu Fuß hätten wir von vornherein keine Chance gehabt. Unsere Ketten hinderten uns am Laufen. Mit dem Wagen aber konnten wir zumindest einen Durchbruch schaffen. Ich arbeitete neben Janos und einigen anderen. Wir wälzten einige große Steine zum Weg hinüber. Ich schob meinen Spaten tief unter den Stein und hebelte ihn dann mit aller Kraft hoch. Der Stiel brach. Genau das hatte ich erwartet und gehofft. Janos erschrak, und ich tat auch sehr erschrocken. Als ich mich mit dem abgebrochenen Stiel in der Hand umwandte, stand bereits ein
Aufseher neben mir. Es war ein bulliger, stupider Mann namens Gonzales, der wie eine Maschine alle Befehle ausführte, die Felipe ihm erteilte. »Idiot«, sagte er. Er stierte auf den Stiel, als könne der weltgeschichtliche Umwälzung auslösen. »Blöder Hammel.« Er hob seine Peitsche und schlug zu. Ich hatte das erwartet. Der Schlag war heftig. Ich stürzte nieder, und ich brauchte keine Schmerzen zu markieren. »Hol dir einen neuen«, sagte Gonzales. »Du kriegst eine Woche lang kein Abendessen, und heute abend gibt es zehn mit der Peitsche.« Ich erhob mich und wankte zu dem Wagen hinüber, auf dem Ersatzwerkzeuge lagen. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß im selben Moment Gregg Lovecast einen anderen Aufseher ansprach und von diesem in die Büsche rechts der Wagenstraße geschickt wurde, die sich keine zehn Yards entfernt von dem Wagen befanden. Ich bewegte mich langsam. Im Moment beobachtete mich keiner der Aufseher. Ich warf den zerbrochenen Stiel auf den Wagen und suchte in den Werkzeugen herum. Da sah ich Lovecast hinter den Büschen auftauchen. Er winkte mir zu und deutete auf den Bock. Ich schaute mich rasch um und verschwand auf die den Aufsehern und anderen Sklaven abgewandte Seite des Wagens. Als ich den Bock erreichte und mich hinaufschwang, sprang Lovecast gerade aus dem Gesträuch und schlug einen Aufseher nieder, der mitten auf der Straße stand, kaum fünf Yards vom Wagen entfernt, und gar nicht bemerkt hatte, was hinter seinem Rücken vorgefallen war. Der Texaner zerrte dem Mann den Revolver aus dem Gürtel und riß Messer und Gewehr an sich. Im selben Moment knallte ich mit der Peitsche und trieb das Gespann an. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Die Flucht hatte begonnen. Es gab kein Zurück mehr. Lovecast hüpfte mir mit grotesken Sprüngen, die seine Kette gerade noch zuließ, entgegen. Er schleuderte das Gewehr und den Revolver auf den Bock und krallte sich am Peitschenhalter fest. Der Wagen rollte immer schneller. Ich schrie und gebrauchte die Peitsche. Lovecast zog sich herauf. Schweißüberströmt hockte er sich auf den Boden des Bocks und nahm das Gewehr hoch.
9. Von der Baustelle rannten die Aufseher heran. Sie schrien und schwenkten ihre Peitschen. Einige hatten ihre Revolver gezogen. Lovecast feuerte, ohne zu zögern. Er traf einen der Aufseher in den Kopf. Der Mann hatte kein Gesicht mehr, als er zusammenbrach. Ich knallte mit der Peitsche und schlug mit den Zügeln auf die Rücken der Gespannpferde ein. Wir rasten um eine Biegung. Der Wagen geriet ins Schlingern. Lovecast verlor den Halt und fiel mit dem Rücken gegen mich. Die beiden Hinterräder rutschten vom Weg. Ich hielt den Atem an. Wenn sie in der weichen Böschung versanken, war alles aus. Die Räder wirbelten Sand auf, drehten sich wie wild, bekamen nach einer mir endlos erscheinenden Spanne von wenigen Sekunden wieder festen Untergrund, und der Wagen rollte auf den Weg zurück. Lovecast rappelte sich auf. Sein Gesicht war verzerrt. Er umklammerte noch immer das Gewehr. Schüsse krachten von der Seite und hinter uns. Geschosse bohrten sich in den Wagen, in die Seitenbracken, in die Rücklehne des Bocks. Ich kauerte mich auf den Boden des Bocks, ohne die Zügel loszulassen, ohne aufzuhören, die Pferde anzutreiben. Da tauchte Felipe seitlich vor dem Wagen auf. Ich sah ihn und hätte ihm nie zugetraut, daß er so laufen konnte. Trotz seiner Massigkeit bewegte er sich leichtfüßig und schnell. Er hatte keine Waffe bei sich, nur seine Peitsche, und die nutzte ihm jetzt nichts. Sein kantiges Gesicht war rot. Er schwenkte die muskulösen Arme und schrie. Ich dachte an meinen Schwur und trieb die Pferde an. Die Peitsche klatschte auf ihre Rücken. Felipe stürmte auf die Straße. Er hob beide Arme und versuchte, die Pferde aufzuhalten. Noch trennten uns zwanzig Yards von ihm, noch zehn, noch fünf … Da endlich sprang er zur Seite und versuchte gleichzeitig, sich den Pferden ins Geschirr zu werfen. Die Tiere scheuten. Sie wichen zur Seite aus. Einen Moment sah es so aus, als würden sie die Straße
verlassen und einen flachen Hang hinunterrasen, auf dem der Wagen bei der Geschwindigkeit, in der wir im Augenblick dahinfuhren, bestimmt umgekippt wäre. Ich zerrte mit aller Kraft an den Zügeln. Meine Arme schmerzten, aber ich behielt die Kontrolle über das Gespann. Ich dachte an meinen Schwur, dachte an den Tag, an dem Felipe meinen Medizinbeutel verbrannt hatte, und als er zum zweitenmal versuchte, das Geschirr der Pferde zu greifen, riß ich die Zügel nach links. Der Wagen schwenkte mit. Felipes Schrei ging im Donnern der Hufe unter. Die Pferdeleiber rammten ihn. Er stürzte, ging im aufwirbelnden Staub unter und fiel unter die trommelnden Hufe. Ich preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und zwang die wild scheuenden Tiere, weiterzulaufen. Der Wagen schwankte und neigte sich leicht nach rechts, als er Felipe überrollte. Der Schrei des Aufsehers brach ab. Dann war unser Weg frei. Wir rasten weiter und ließen die Baustelle immer weiter hinter uns. Einmal drehte ich mich kurz um. Da sah ich, daß die Aufseher an der Stelle standen, wo Felipe lag. Dann schaute ich wieder nach vorn. Ich durfte die Straße nicht aus den Augen lassen. Der Wagen fuhr noch immer viel zu schnell und war nicht einfach zu lenken. Gregg Lovecast richtete sich jetzt auf und hockte sich neben mich auf die Bockbank. Er hatte aufgehört zu schießen und legte das Gewehr quer vor sich auf die Knie. Mit knarrender Stimme begann er zu singen. Er schaute mich von der Seite an, lachte und rief: »Wir haben es geschafft, Kleiner, hörst du? Wir haben es geschafft!« »Nenn mich nicht Kleiner«, sagte ich, ohne meinen Blick von der Straße zu nehmen. Er lachte und schlug mir auf die Schulter. »Gleich biegt der Weg nach Osten ab. Fahr immer weiter geradeaus nach Süden.« Ich antwortete nicht. Vor mir tauchte wirklich eine Wegbiegung auf. Ich zügelte das Gespann etwas. Polternd rollte der Wagen vom Weg. Steiniges, karges Land tauchte vor uns auf. Der Wagen verlor an Fahrt. Die Pferde waren erschöpft. Seit wir den Weg verlassen hatten, war es schwerer für sie geworden. »Wohin?« rief ich gegen den Lärm der donnernden Hufe und der
rasenden Räder. »Immer geradeaus. Du wirst es schon sehen.« Ich fragte nicht weiter. Ich verließ mich auf ihn. Er hatte bis jetzt gewußt, was er tat, und er kannte das Land. Erst jetzt ließ in mir die innere Anspannung nach. Erst jetzt begriff ich richtig, was geschehen war. Wir hatten es geschafft. Die Flucht war geglückt, zumindest der erste Teil. Keine Schikanen, keine Peitschenhiebe mehr. Frei! Die Luft war voller Staub, aber ich atmete sie als freier Mann ein, es schien nicht mehr dieselbe Luft zu sein wie in der Hazienda des Don Corlona. Ich dachte auch an Felipe. Er war sicher tot. Ich hatte ihn getötet, wie ich es geschworen hatte. In mir war jedoch weder Haß noch Befriedigung. Ich war sicher, daß Felipe den Tod hundertfach verdient hatte. Freuen konnte ich mich nicht darüber. »Kapierst du jetzt, daß man es nur zu zweit schaffen konnte?« sagte Lovecast neben mir. Ich schaute ihn wortlos an. »Einer mußte den Wagen fahren, und der andere mußte die Aufseher zum Teufel jagen. Hätte ich mir allein einen Wagen geschnappt, hätten sie mich schnell vom Bock geschossen. Und weglaufen kann keiner mit diesen Ketten.« Er hob die Beine leicht an. Seine Kette klirrte. »Wir müssen sie loswerden«, sagte ich. »Werden wir«, sagte er. »Werden wir schon.« »Woher hast du gewußt, daß wir heute so weit von der Hazienda entfernt arbeiten würden?« »Ich hab gehört, wie Felipe es Gonzales erzählt hat. Die Frage war nur, ob ein Wagen zur Verfügung stehen würde.« »Danke für das Wasser«, sagte ich. »Das Wasser?« Er runzelte die Stirn. »Ach so. Reiner Selbsterhaltungstrieb, verstehst du? Felipe hatte dein Wasser vergossen. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, daß du heute vor Durst nicht mehr hochkommst.« »Felipe ist tot«, sagte ich.
Er zog die Augenbrauen hoch. »Bravo, Kleiner«, sagte er. »Der Teufel ist dein Kleiner«, sagte ich. »Ich heiße Ronco.« Mit der Linken ließ ich plötzlich die Zügel fahren und langte blitzschnell zu seinem Gürtel hinüber. Einen Sekundenbruchteil später schaute er in die Mündung des Revolvers, den er dem Aufseher abgenommen hatte. Da kriegte er große Augen. »Schon gut«, sagte er. »Nimm das Ding weg. Das ist geladen.« »Das will ich hoffen.« »Nimm es weg«, wiederholte er. »Ohne mich hättest du es nicht geschafft«, sagte ich. »Und ich hätte es nicht ohne dich geschafft. Also hör auf, Stunk zu machen. Wir sind beide aufeinander angewiesen, auch jetzt noch. Oder glaubst du nicht, daß Corlona uns verfolgen wird?« »Sicher wird er das.« Der Texaner nahm mit spitzen Fingern den Revolver in Empfang und verstaute ihn wieder in seinem Gürtel. »Er muß es sogar, um den anderen zu beweisen, wie sinnlos eine Flucht ist. Aber er kriegt uns nicht.« »Das ist noch nicht raus.« »Verlaß dich ganz auf mich. Bis die Hunde die Spur aufnehmen können, werden mindestens drei Stunden vergehen.« Das Land vor uns wurde immer hügeliger. Berge tauchten auf. Ich fuhr weiter geradeaus und lenkte den Wagen zwischen den Erhebungen hindurch. Wir fuhren jetzt in einem normalen Tempo, so daß die Pferde nicht zu sehr strapaziert wurden. Ich bemerkte Wagenspuren und folgte ihnen. Wir fuhren auf ein Felsmassiv zu. Lovecast zeigte auf einen Durchlaß im Hügelland, auf den sich die alten Spuren zuschlängelten. Wenig später hielten wir in einem Steinbruch an. »Endstation für den Wagen, Klei … Ronco.« Lovecast grinste und sprang vom Bock. »Steig ab und schirr die Pferde aus.« Ich schaute ihm nach, wie er über den großen Ladeplatz des Steinbruchs ging. Seine Kette klirrte in der Stille besonders laut. Er strebte einer Holzhütte zu, die unterhalb der ersten Bruchstelle stand. Ich stieg ab und nahm das Gewehr mit, das Lovecast auf dem Bock liegengelassen hatte. Hinten auf der Ladefläche befanden sich ein paar Spaten, sonst nichts. Ich schirrte die Pferde aus und wartete.
Lovecast hämmerte mit einem Stein gegen das Schloß der Hütte. Es sprang schließlich auf, und der Texaner verschwand im Innern. Es war heiß hier. Die Sonne stand schräg über dem Steinbruch. Der hellgraue Fels speicherte die Hitze und strahlte sie zurück. Die Luft war stickig. Ich schwitzte stark und hatte Durst. Lovecast erschien wieder an der Hüttentür. Er fluchte laut, ließ die aufgebrochene Tür offenstehen und kehrte mit müden Schritten zurück. * »Es ist alles weg«, sagte er. »Zum Teufel, es ist nichts mehr da.« Ich verstand kein Wort. »Was ist weg?« Lovecast antwortete nicht. Er schlurfte zum Wagen und hockte sich auf das linke Vorderrad. Tiefe Falten durchschnitten jetzt sein Gesicht, das grau war vom Staub. Ich mußte ähnlich aussehen. »Vor vier Wochen«, sagte er, »haben wir hier Steine gebrochen. Der Steinbruch gehört Corlona. Die Treppe vor seinem Haus wurde erneuert. In der Hütte dort waren die Werkzeuge untergebracht – Spitzhacken, schwere Meißel, Hammer und so.« »Wegen unserer Ketten?« »Genau. Wir kommen doch mit den Dingern nicht weit. Wir brauchen Werkzeuge, um sie aufzusprengen.« »Die Werkzeuge sind nicht mehr da?« »Nichts mehr«, sagte er. Er spuckte auf den Boden. »Die Hütte ist völlig leer. Dabei – ich dachte, wegen des Wegebaus werden bald wieder Steine gebraucht, und die Werkzeuge lägen noch hier.« »Das war wohl nichts«, sagte ich. Er starrte mich wütend an. Dann sprang er plötzlich auf und lief um den Wagen herum. Er riß einen der Spaten herunter und schlug damit auf seine Kette ein. Er erreichte lediglich, daß sich das Spatenblatt verbog. Fluchend schleuderte er den Spaten zu Boden. »Steh doch nicht so 'rum!« schrie er. »Wir müssen die Dinger loswerden.« Er zog den Revolver und zielte auf die Kette. »Laß das lieber bleiben«, sagte ich. Er hob den Kopf. »Damit kriege ich sie kaputt.«
»Bestimmt. Aber dann haben wir keine Waffen mehr.« Er steckte den Revolver schweigend in den Gürtel zurück. »Vielleicht wohnen Leute in der Gegend«, sagte ich. »Farmer.« »Vielleicht.« Er schob die Hände in die Hosentaschen. »Wir müssen weg«, sagte er. »Sie finden garantiert die Wagenspur und wissen, wohin wir gefahren sind.« »Aber ohne Wagen«, sagte ich. »Wir haben die beiden Pferde. Wir können reiten. Das geht schneller.« »Sicher. Auf die eine oder andere Weise gelangen wir schneller in die Hölle.« Lovecast schlenderte zu mir herüber. Er hatte sich beruhigt. »Ein Stück oberhalb von hier gibt es eine Quelle. Während wir hier geschuftet haben, habe ich oft Wasser geholt.« Er nahm eines der Tiere am Kopfgeschirr und zog es hinter sich her. Wir verließen den Steinbruch und stiegen einen flachen Hang hinauf. Die Ketten behinderten uns sehr. Wir fanden schlecht Halt auf dem glatten Fels, rutschten oft aus und fielen hin, weil wir nur kleine Schritte machen konnten. Schließlich erreichten wir einige Krüppelkiefern, der Weg wurde leichter, und wir standen bald vor einer kleinen Quelle. Das Wasser war kristallklar und eiskalt. Wir tranken, bis wir meinten, unsere Bäuche würden platzen. Danach ließen wir die Pferde saufen. Als wir dann weiterzogen, sah die Welt schon wieder anders aus. Am Spätnachmittag verließen wir das felsige Gelände und bestiegen die beiden Zugpferde. Es waren schwere, stämmige Tiere mit breiten Rücken, nicht sehr schnell, aber besser als gar nichts. Wir mußten uns, der Ketten wegen, seitlich auf den bloßen Rücken setzen und uns im Kopfgeschirr festklammern. Es war eine unbequeme Haltung. Wir rutschten alle paar hundert Yards ab und mußten erneut aufsteigen. Aber wir gelangten voran. Als es Abend wurde, lag eine grasbewachsene Ebene vor uns. Wir gönnten den Pferden eine Ruhepause von zwei oder drei Stunden und ritten dann weiter. Wir hatten keine Zeit zu verschenken. Es ging um unser Leben. Es war gegen Mitternacht, als wir auf ein Rancho stießen. Es lag am Fuße eines Hügels, auf dem ein Waldgürtel begann, der sich weit nach Westen in die Nacht erstreckte.
Bleiches Mondlicht lag über dem kleinen Anwesen und spiegelte sich in den Fensterscheiben. Die Korrals seitlich vom Haus waren leer. Es ging uns nicht gut. Der Hunger fraß in unseren Eingeweiden. Auch Durst hatte sich wieder eingestellt. Wir hatten starke Rückenschmerzen von der Sitzhaltung beim Reiten. Zudem steckte uns die Müdigkeit bleiern in den Knochen. Zeichen der Übermüdung zeigten sich schon bei mir und auch bei Gregg Lovecast. Wie hungrige Wölfe starrten wir durch die Nacht auf das Rancho. Dort gab es Leben, dort gab es Fleisch und Wasser, vielleicht auch Kaffee, bestimmt sogar. Dort gab es duftendes weiches Heu zum Schlafen oder auch frischbezogene, weiche Betten. Außerdem besaß der Ranchero sicher Werkzeuge, mit denen wir uns von den Ketten befreien konnten. Alles, was wir brauchten und uns wünschten, lag vor uns. Wir brauchten nur zuzupacken. Ich schaute zu Lovecast hinüber. Der Texaner zog den Revolver hinter dem Hosenbund hervor und ließ klickend die Trommel rotieren. »Wenn wir hinreiten, hört man uns«, sagte ich. Meine Stimme klang heiser vom vielen Staub, den ich während des Ritts geschluckt hatte. Da ich ihn nicht hatte hinunterspülen können, war mein Hals so rauh wie ein Reibeisen. »Klar. Wir gehen zu Fuß. Steig ab.« »Nichts lieber als das.« Ich rutschte vom breiten Rücken meines Pferdes, das ebenfalls völlig ausgepumpt war. Die Flanken des Tieres glänzten vor Schweiß. Ich klopfte ihm auf den Hals und hielt mich einen Augenblick lang an ihm fest, um nicht umzufallen. Ich war in den Knien eingenickt und brauchte jetzt ein paar Sekunden, um wieder Kraft zu sammeln. Dann setzte ich mich steifbeinig in Bewegung. Ich holte Lovecast, der mir ein paar Schritte voraus war, rasch ein. Das Pferd zog ich am Kopfgeschirr hinter mir her. Bei jedem Schritt klirrten unsere Ketten. Das Rancho lag schlafend im Mondlicht. Es regte sich kein Leben. Als wir einen der Korrals erreichten, ließen wir die Pferde stehen. Wir bückten uns und hoben unsere Ketten leicht an. Wir hielten sie nun fest, als wir weitergingen, so daß sie nicht mehr klirren konnten.
Als wir den Stall erreichten, sahen wir im Schatten des weit überhängenden Daches einen Zwinger vor uns. Der Schreck durchfuhr uns wie Eis. Wir preßten uns gegen die Stallwand und wollten uns zurückziehen. Da sprang in dem Käfig ein Schatten hoch. Im nächsten Moment begann wie rasend ein Hund zu bellen.
10. Im Haus flammte ein Licht auf. Der Hund bellte noch immer wie verrückt. Es war ein großes Tier, das sich wütend gegen die Gitterstäbe seines Zwingers warf. Der Texaner hob den Revolver. »Verdammter Köter!« keuchte er. Ich zog ihm den Arm mit der Waffe herunter und begann zu laufen. Es war mir jetzt egal, ob die Ketten an den Füßen klirrten. Lovecast folgte mir. Wir liefen, so schnell wir es mit unseren Ketten vermochten, an dem Zwinger vorbei zum Haupthaus hinüber. Der Hund drehte fast durch. Als ich den Zwinger passierte, warf ich einen kurzen Blick hinein. Der Hund war fast so groß wie ein Kalb. Er hatte die Lefzen hochgezogen und ein mächtiges Gebiß gefletscht. In seinen Augen schimmerte es rötlich. Da ging bereits die Tür des Haupthauses auf, und im selben Moment erreichten der Texaner und ich das Haus und preßten uns an die Außenwand. Wir hielten den Atem an und lauschten. Wir hörten Schritte. Ein Mann schrie auf Spanisch: »Ist da jemand?« Seine stimme ging im Lärm des Hundes unter. Dann schien der Mann die beiden Pferde zu entdecken. »Wer ist da?« schrie er. »Madre mio, ich laß den Hund 'raus!« Nervosität schwang in seiner Stimme mit. Wir hörten wieder Schritte. Ein Schatten tauchte an der Ecke des Hauses auf. Der Texaner sprang unvermittelt vor. Ich folgte ihm augenblicklich. Der Ranchero blieb wie angewurzelt stehen, als wir vor ihm auftauchten. Er war ein mittelgroßer Mann mit breiten Schultern und einem sauber gestutzten Kinnbart. Jetzt trug er nur eine Leinenhose mit breiten Hosenträgern. Sein Oberkörper war nackt. Das Haar
stand ihm wirr vom Kopf ab. Er schien aus tiefstem Schlaf geweckt worden zu sein. Er hielt ein Vorderladergewehr in den Fäusten. Das nutzte ihm jetzt auch nichts. Lovecast preßte ihm die Mündung des Revolvers gegen die Brust. Ich trat von der Seite heran und nahm ihm das Gewehr aus den Händen. Er ließ es widerstandslos geschehen. »Ins Haus«, sagte Lovecast. Er versetzte dem Mann mit dem Revolver einen Stoß. Der nickte hastig und drehte sich um. Ich hatte bereits die Tür erreicht und trat über die Schwelle. Im Flur des Hauses brannte eine trübe Petroleumfunzel. Am Ende des Gangs führte eine Treppe nach oben. Von dort ertönte eine Frauenstimme: »Was ist los, Eduardo? Warum bellt der Hund so?« Ich lief zur Treppe und stieg ein paar Stufen hinauf. Oben stand eine Mexikanerin mit lose fallendem Haar und in wallendem Nachthemd. Als sie mich erblickte, stieß sie einen Schrei aus. Neben ihr tauchten zwei Jungen auf. Der eine war in meinem Alter, der andere zwei Jahre älter. Ich sagte: »Kommen Sie 'runter!« Ich winkte mit dem Gewehr. Sie taten es wirklich. Ich ging rückwärts die Treppe hinunter und wartete im Gang, während die Frau und die beiden Jungen die Treppe herunterstiegen. Zur selben Zeit stieß der Texaner den Ranchero zur Tür herein. Der Mann hatte die Hände im Nacken gefaltet. Er war blaß und hatte Angst, genau wie seine Familie. »Sind noch mehr Leute im Haus?« Lovecast zielte mit dem Revolver die Treppe hoch. »Nein, Senor, nur Felicia und meine beiden Söhne«, sagte der Mexikaner. »Wenn du lügst, werden deine Söhne dafür bezahlen«, sagte Lovecast. »Wo ist die Küche?« Die Frau ging voraus. Wir traten in einen mittelgroßen Raum, in dem sich eine Kochstelle und eine primitive Wasserpumpe befanden. Auf Lovecasts Befehl ließ sich die Familie an dem einfach gezimmerten Tisch nieder. Wir zogen uns Stühle an die Tür und setzten uns. Draußen verstummte das Gebell des Hundes.
»Wir haben Hunger«, sagte Lovecast. »Wir wollen etwas zu essen. Seien Sie so freundlich, und geben Sie uns was, Senora.« Die Frau erhob sich, ging zum Herd und fachte Feuer an. Ich stellte das Gewehr zwischen meine Beine und hielt es mit beiden Händen fest. Die Aussicht, gleich etwas zu essen zu erhalten, ließ die innere Anspannung abklingen. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte ich. »Wir tun Ihnen nichts, wenn Sie sich ruhig verhalten.« Der Mexikaner antwortete nicht. Die beiden Jungen starrten mich mit großen Augen an. Ich mußte furchtbar aussehen, mit den unregelmäßig geschnittenen Haaren, dem hohlwangigen Gesicht, den blutigen Kratzern und Striemen auf dem Körper und den verdreckten Hosen. »Du hast bestimmt Schmiedewerkzeuge hier, Hombre, stimmt's?« fragte Lovecast. »Ich hab dich was gefragt!« »Ich habe einen Amboß hier und ein paar Werkzeuge«, sagte der Mann. »Großartig.« Der Texaner lehnte sich zurück und steckte den Revolver ein. »Du wirst uns behilflich sein, Amigo. Wir haben ein paar Schwierigkeiten.« Er hob die Füße mit der Kette etwas an. »Wir sind Don Corlona weggelaufen, verstehst du? Und wir möchten nicht mehr so gern dahin zurück.« Die Frau an der Kochstelle drehte sich jäh um. Ihre Hände zitterten plötzlich. Im Gesicht des Mannes spiegelte sich Angst – eine andere Angst als bei unserem Erscheinen. »Bitte, Senores …« Er richtete sich halb auf. »Sitzenbleiben!« sagte Lovecast. Der Mexikaner sank auf seinen Stuhl zurück. »Ich – ich gebe Ihnen, was Sie wollen, Senores, aber bitte gehen Sie. Gehen Sie schnell!« »Wir gehen, wenn es uns paßt«, sagte Lovecast. »Jetzt wollen wir essen.« »Sie erhalten Essen, Senores. Meine Frau wird Ihnen Vorräte zusammenpacken. Wir werden ihre Pferde füttern, und ich befreie Sie auch von den Ketten. Aber gehen Sie noch in dieser Nacht.« »Wir sind müde, Amigo.« Lovecast schüttelte den Kopf. Ich hielt mich da 'raus. Ich hörte schweigend zu. Lovecast hatte
recht. Wir brauchten ein bißchen Ruhe, die Pferde auch. »Don Corlona wird uns das Haus über dem Kopf anzünden lassen«, sagte der Mexikaner. »Ich bin ein ehrenwerter Mann, Senores. Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen. Ich muß mit Don Corlona leben. Wenn er erfährt, daß Sie bei mir waren, läßt er mich einsperren, nimmt meine Söhne als Zwangsarbeiter mit und steckt meine Frau zu seinen Mägden.« »Sei still«, sagte Lovecast. »Wir haben auch Angst. Wir sind schlimmer dran als du. Wenn wir erwischt werden, fressen uns Don Corlonas Hunde.« Die Frau stellte das Essen auf den Tisch. Spiegeleier und Maisbrot, dazu gebratenen Speck. So etwas hatte ich seit Jahren nicht gegessen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, und als ich mich erhob, um zum Tisch zu gehen, krümmte ich mich fast vor Schmerzen zusammen vor lauter Hunger. »Aufstehen!« befahl Lovecast. »Zum Fenster. Dort bleibt ihr und stellt keinen Blödsinn an.« »Wir leisten keinen Widerstand, Senores, bestimmt nicht.« Der Mexikaner erhob sich und zog seine beiden Jungen und die Frau mit. Nebeneinander blieben sie an der Rückwand der Küche stehen, während wir uns an den Tisch setzten und über das Essen herfielen. Lovecast hatte den Revolver griffbereit neben seinem Teller liegen. Wir aßen alles auf, und zum erstenmal seit langem fühlte ich mich wieder richtig satt. »Leg dich hin«, sagte Lovecast, als ich fertig war. »Such dir einen Schlafplatz, und schlaf ein paar Stunden. Wenn du mich ablösen sollst, weck ich dich.« Ich nickte wortlos und ging hinaus. Ich ging die Treppe hinauf und fand die Kammer der beiden Jungen. Wenig später lag ich zum erstenmal seit Jahren wieder in einem richtigen Federbett. Es war kein schlechtes Gefühl, auch wenn ich zu müde war, um es richtig zu genießen. * Als Lovecast mich weckte, war ich längst noch nicht ausgeschlafen.
Seine Stimme trieb mich aus dem Bett und die Treppe hinunter. Er wartete in der Küche auf mich, wo immer noch die Familie um den Tisch herum saß. Lovecast drückte mir den Revolver in die Hand und ging. Die Familie bereitete mir keine Schwierigkeiten. Es war eine leichte Wache, langweilig fast. Ich ließ mir von der Frau einen starken Kaffe kochen, der den Rest der Müdigkeit, der noch in meinen Gliedern steckte, rasch vertrieb. Nach zwei oder drei Stunden graute endlich der Morgen. Ich erhob mich von meinem Stuhl und streckte die steifen Glieder. »Kommen Sie mit, Senor«, sagte ich. Ich hielt den Revolver in der Hand. Rückwärts verließ ich die Küche. Der Mexikaner stand vom Tisch auf, strich seiner Frau über den Kopf, nickte seinen Söhnen zu und folgte mir. Ich war sicher, daß weder die Frau noch die Söhne irgend etwas unternehmen würden, solange wir den Vater in der Gewalt hatten. Ich konnte sie unbeaufsichtigt in der Küche zurücklassen. Der Mexikaner ging den Gang hinunter. Ich folgte ihm mit meiner klirrenden Kette, blieb an der Treppe stehen und rief nach Lovecast. Er erwachte sofort und antwortete. Da ging ich mit dem Mexikaner hinaus. Auf dem Hof hingen die grauen Nebelschwaden. Es war kühl, die Luft war klamm. Der Ranchero ging vor mir her zum Stall. Der Hund im Zwinger fing wieder an zu bellen. Er hörte erst auf, als der Mexikaner beruhigend auf ihn eingeredet hatte. Dann öffnete er die Stalltür. Seitlich vom Eingang entdeckte ich eine Feuerstelle, einen Blasebalg und einen Amboß. Gerade riß der Nebel auf, als der Texaner aus dem Haus trat. Er trug das Gewehr bei sich, das ich dem Ranchero in der Nacht abgenommen hatte. Er ging zum Brunnen, zog einen Eimer Wasser herauf und wusch sich flüchtig. Ich stellte das rechte Bein auf den Amboß. Der Mexikaner holte wortlos einen starken Meißel und einen klobigen Hammer. Ich schaute ihn ernst an. Der Revolver lag schwer in meiner rechten Faust. Er hielt den Hammer fest gepackt und trat näher. Er hätte mein Vater sein können. Ich dachte für einen Moment daran,
aber das gehörte nicht hierher. »Vergessen Sie nicht, daß ich den Revolver habe«, sagte ich. »Ich halte ihn auf Ihren Kopf gerichtet. Schlagen Sie mit Ihrem Hammer nicht daneben.« Er schüttelte stumm den Kopf und setzte den Meißel auf die Nahtstelle der eisernen Manschette an meinem rechten Fußgelenk. Dann schlug er mit dem Hammer zu. Fest und präzise. Ich biß die Zähne zusammen und hatte das Gefühl, er würde meinen Knöchel zerschlagen. Ich verfluchte Don Corlona und seine ganze Sippschaft sowie seine Vorfahren und seine möglichen Nachkommen. Dann klirrte die Manschette zu Boden. Ich hob den linken Fuß auf den Amboß. Das Gefühl, nun endgültig wieder frei zu sein, wog die Schmerzen auf. Mit blutenden Knöcheln stand ich dann neben dem Amboß und schaute zu, wie Gregg Lovecast befreit wurde. Als seine Kette fiel, klang Hufschlag von Süden auf. Hundegebell hallte durch den jungen Morgen. Schemenhaft jagten Reiter durch die Nebelfetzen. Der Hund im Zwinger des Rancho begann wie wild zu kläffen. Der Mexikaner stieß einen erstickten Schrei aus. Die Angst sprang ihn an wie ein wildes Tier. Verzweifelt stürzte er sich mit dem Hammer auf Lovecast. Er wußte, wer da heranritt. Er wußte, was geschehen würde, wenn den Männern Don Corlonas nicht beweisen konnte, daß er uns nur unter größtem Zwang geholfen hatte. Ich drehte mich um und rannte um das Haus herum und den Hügel hinauf auf den Waldgürtel zu, der hier begann. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Lovecast den Hieb des Mexikaners mit der Linken abwehrte und ihm die rechte Faust ins Gesicht knallte. Der Ranchero stürzte rücklings gegen den Amboß. Lovecast riß das Gewehr an sich und hetzte hinter mir her. Ich erreichte den Waldrand und drehte mich um. Da sah ich die Reiter. Der schnauzbärtige Revolvermann war dabei. Er führte die Häscher an. Eine Meute Hunde jagte voraus. Lovecast hatte sich geirrt. Unser Vorsprung war längst nicht so groß gewesen, wie er geglaubt hatte. Don Corlonas Leute hatten schneller reagiert, und mit den Hunden war es leicht gewesen, unsere Fährte zu verfolgen.
Lovecast hastete den Hügel hoch. Hinter ihm krachten Schüsse. Ich sah, wie die Hunde losgelassen wurden. Lovecast drehte sich plötzlich um. Sein Gesicht war vor Verzweiflung verzerrt. Er feuerte die einzige Ladung des Gewehres ab. Ich sah den schnauzbärtigen Revolvermann im Sattel zusammenzucken und nach vorn sinken. Im nächsten Moment erreichten die Hunde den Texaner, der wie ein Baum auf dem Hang stand und das Gewehr am Lauf gepackt hielt. Er schwang es wie eine Keule und zerschlug dem ersten Tier den Schädel. Der zweite Hund riß ihn nieder. Ich schoß instinktiv mit dem Revolver und traf den Hund in die Seite. Er wurde zu Boden geschleudert. Dann warfen sich die restlichen Tiere auf Lovecast und rissen ihn zu Boden. Jetzt schrie er, und ich wandte mich ab. Helfen konnte ich ihm nicht mehr, keiner hätte es gekonnt. Ich hörte das Splittern von Knochen, hielt mir die Ohren zu und stürmte blindlings in den Wald. Meine Beine schmerzten noch, erst recht meine Knöchel. Aber das spürte ich in diesen Augenblicken nicht. Ich lief so leichtfüßg, als hätte ich wochenlang nichts anderes getan. Als ich einmal stehenblieb, um Atem zu schöpfen, hörte ich, daß Reiter in den Wald eindrangen. Ich stürmte weiter. Sie sollten mich nicht noch einmal fangen. Sie sollten mich nicht noch einmal in Ketten legen und zur Sklavenarbeit zwingen. Diesmal würde ich nicht zögern. Wenn ich keine Chance hatte, würde ich mich selbst erschießen, bevor ich zurück in die Hazienda von Don Corlona ging. Ich lief, stolperte und stürzte. Der Revolver fiel mir aus der Hand und rutschte unter ein Dornengebüsch. Ich fluchte vor Wut und richtete mich auf die Knie auf. Hinter mir hörte ich Hundegebell und Hufschlag. Sie rückten näher, die Hunde waren den Reitern voraus. Ich streckte meinen rechten Arm in den Dornenbusch. Die Dornen rissen lange Schrammen und Kratzer in meine Haut. Das Blut quoll in dünnen Tropfen heraus. Ich packte den Revolver, hob ihn auf und lief weiter. Da hörte ich bereits die Hunde unweit hinter mir durch das Unterholz brechen. Ein stählerner Ring schien sich um meine Brust zu legen und mehr
und mehr zusammenzuziehen. Die Luft wurde mir knapp, mein Herz hämmerte. Vor mir lichtete sich das Dickicht. Ich dachte an den Texaner Gregg Lovecast und an sein Ende. So sollte es mir nicht gehen. Ich brach durch das Dickicht und lief auf eine Lichtung hinaus. Die Sonne war aufgegangen. Die Nebelschleier hatten sich aufgelöst. Grell fiel das Tageslicht auf die Lichtung. Ich blieb stehen und wandte mich um. Ich war bereit, zu kämpfen und mir die letzte Kugel selbst in den Kopf zu jagen. * Ein Hund tauchte am Rand der Lichtung auf, ein großes Tier mit kurzem, grauen Fell. Als es mich sah, zog es die Lefzen hoch und fletschte die Zähne. Knurrend schlich es heran. An anderen Stellen im Wald bellten die übrigen Hunde; ich hörte Männer schreien und das Krachen und Bersten im Unterholz, wenn sie mit ihren Pferden hindurchjagten. Der Hund blieb fünf Yards entfernt von mir stehen. Er schien mich abzuschätzen. Sein Körper war von Narben gezeichnet. Er war ein erfahrenes Tier, das sicher nicht zum erstenmal menschliches Wild zur Strecke brachte. Plötzlich sprang er auf mich los und stieß ein wildes Knurren aus. Ich sprang zurück, stolperte und fiel auf den Rücken. Der Hund flog heran, ein Bündel geballter Kraft. Mordlust glühte in seinen Augen, Blutgier. Ich sah das mächtige Gebiß mit den spitzen Reißzähnen und feuerte im Liegen. Der Hund wurde im Sprung getroffen. Die Kugel fuhr ihm von unten ins Herz. Er stürzte wie ein Stein ins Gras und streckte alle viere von sich. Ich richtete mich auf, ein wenig benommen. Wieder näherte sich Hundegebell. Im selben Augenblick tauchte ein großer Schatten am Rand der Lichtung auf. Dann sprengte ein Reiter heran. Es war ein drahtiger, untersetzter Mexikaner, der wie angewachsen im Sattel saß. Er trug einen langen Umhang, den er vermutlich in der Kühle der Nacht umgelegt hatte. Jetzt waren
Dornenzweige und kleinere Äste und Blätter darin hängengeblieben, und an mehreren Stellen war der Stoff zerrissen. Ich hörte dicht hinter ihm weitere Reiter, die von meinem Schuß angelockt worden waren. Und ich hörte die Hunde. Ich setzte alles auf eine Karte. Mein Revolver krachte, als der Mexikaner sein Gewehr auf mich anschlug. Ich hatte meinen Glückstag, denn ich traf ihn in den Leib. Er stürzte kopfüber aus dem Sattel und überschlug sich, bevor er im Gras landete und sich dort brüllend herumwälzte, die Hände auf den Magen gepreßt, während ihm das Blut durch die Finger rann. Ich kümmerte mich nicht um ihn, sondern sprang seinem davonpreschenden Pferd in den Weg. Es war ein kräftiges, geschecktes Tier, wie Apachen es ritten. Es trug einen silberbeschlagenen Sattel, an dessen Seite ein großes Haumesser in einer Lederscheide steckte. Dahinter befanden sich die Sattelrolle und eine Feldflasche. Das Tier scheute vor mir. Ich schnellte hoch, zerrte es am Zügel zu mir herum und schwang mich in den Sattel. Als ich die Lichtung verließ, erreichten gerade die anderen Verfolger den Platz. Ihre Schüsse störten mich nicht. Es war mir egal, ob mir tiefhängende Zweige ins Gesicht peitschten. Ich hatte meine allerletzte Chance ergriffen und wollte sie nutzen. Im Höllentempo jagte ich durch den Wald. Das Pferd, das ich erwischt hatte, war gut. Es war zäh und ausdauernd, und es war nicht launisch. Irgendwann an diesem Vormittag erreichte ich den Waldrand und galoppierte über eine baumlose Steppe nach Westen. Als ich gegen Mittag anhielt, war von meinen Verfolgern nichts mehr zu entdecken. Ich rastete zwei Stunden, bis die größte Tageshitze vorüber war, und ritt darin weiter bis zum Abend. Von einem Tafelfelsen aus schaute ich zurück über das weite Land, über dem der rötliche Schimmer des Abendhimmels lag. Ich sah keine Menschenseele. Ich hatte es geschafft und war endgültig frei. Bis Mitternacht rastete ich und brach dann wieder auf – nach Westen, denn dort waren die Apachen, meine Brüder …
ENDE
Vorschau Die drei Petroleumfässer rollten die Straße hinunter – genau dorthin, wohin Ronco sie haben wollte und die Banditen hinter ihren Deckungen hockten. Dann stürmte er aufs Dach des Stores und zerschoß mit der schweren Büffelbüchse das eine Faß. Das Petroleum lief aus. Und dann schleuderte er die brennende Fackel hinunter, und die Hölle brach los. Bis zur Höhe der Dächer erhob sich der Flammenturm und beleuchtete taghell die Straße – Büchsenlicht für Ronco und die Männer, die ihre Stadt verteidigten. Die Banditen sprangen aus ihren Deckungen. Schüsse peitschten durch die flammenerhellte Nacht, Schatten taumelten über die Gehsteige, Flammenlanzen stießen auf sie zu, wischten sie weg, zerhackten menschliches Leben … Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 151 dieser großen deutschen WesternSerie:
Der letzte Trumpf