DuMont's Kriminal - Bibliothek
John Dickson Carr (1906-1977) wurde als Sohn schottischer Eltern in Uniontown, Pennsylv...
23 downloads
809 Views
898KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
DuMont's Kriminal - Bibliothek
John Dickson Carr (1906-1977) wurde als Sohn schottischer Eltern in Uniontown, Pennsylvania, geboren. In seinen über 90 Romanen nimmt Carr die Tradition seiner Vorbilder Arthur Conan Doyle und G. K. Chesterton anspielungsreich auf. Der beleibte und biertrinkende Privatgelehrte Dr. Gideon Fell muß einen Vergleich mit den großen Detektiven dieser Autoren nicht scheuen. Von John Dickson Carr sind in der DuMont's Kriminal-Bibliothek bereits erschienen: »Der Tote im Tower« (Band 1014), »Die schottische Selbstmord-Serie« (Band 1018), »Die Schädelburg« (Band 1027), »Fünf tödliche Schachteln« (Band 1034) und »Der verschlossene Raum« (Band 1042).
Scan, Korrektur und Layout
Herry
Herausgegeben von Volker Neuhaus
DuMont Buchverlag Köln
Umschlagmotiv von Pellegrino Ritter Aus dem Amerikanischen von Andreas Graf
© 1933, 1961 by John Dickson Carr © 1986 der deutschsprachigen Ausgabe by DuMont Buchverlag Köln 5. Auflage 1994 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Hag's Nook« bei Harper & Row, Publishers, Inc., New York Satz: Fotosatz Froitzheim, Bonn Druck und buchbinderische Verarbeitung: Clausen & Bosse GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 3-7701-1889-8
Kapitel 1
Das Arbeitszimmer des alten Privatgelehrten erstreckte sich über die volle Länge des kleinen Hauses. Der Raum mit seiner Balkendecke lag einige Fuß tiefer als die Eingangstür; die Sprossenfenster an der Rückseite wurden von einer Eibe beschattet, durch die jetzt die Spätnachmittagssonne ihre Strahlen schickte. Etwas Unwirkliches liegt über der reichen, verschlafenen Schönheit der ländlichen Gegenden Englands, den saftigen dunklen Wiesen, den immergrünen Wäldern, den grauen Kirchtürmen und gewundenen weißen Landstraßen. Einem Amerikaner, der noch das Bild der heimischen, von Verkehrsdünsten umwogten und mit roten Tankstellen gesäumten Betonautobahnen in sich trägt, fällt dies besonders angenehm auf. Es weckt die Vorstellung, daß man hier sogar mitten auf der Straße zu Fuß gehen kann, ohne lächerlich zu wirken. Tad Rampole beobachtete durch die Gitterfenster die Sonne und die dunklen roten Beeren, die in der Eibe schimmerten. Ihn erfaßte das Gefühl, das den Reisenden nur auf den Britischen Inseln überkommen kann - das Gefühl, die Erde sei alt und verwunschen; die Empfindung, all die flüchtigen Bilder, die das Wörtchen »früher« heraufbeschwört, seien Teil der Wirklichkeit. Frankreich ändert sich wie die Mode, es scheint nie älter zu sein als die Hüte der letzten Saison; in Deutschland haben sogar die Legenden, wie mechanisches Spielzeug aus Nürnberg, die Frische eines ratternden Uhrwerks. Doch dieses England mutet auf eine unbegreifliche Weise noch weit älter an als die efeubärtigen Türme, die es trägt; das Glockenläuten bei Einbruch der Dämmerung scheint aus fernen Jahrhunderten herüberzuklingen. Es herrscht eine große Stille, durch die Gespenster huschen und in der Robin Hood noch heute umhervagabundiert. Tad Rampole blickte zu seinem Gastgeber hinüber. Dr. Gideon Fells massiger Körper ruhte in einem tiefen Ledersessel;
5
während er eine Pfeife stopfte, wirkte es, als sinne er belustigt über eine Geschichte nach, die sie ihm soeben zugeraunt hatte. Dr. Fell war nicht sehr alt, doch gehörte er zweifellos zum Inventar dieses Raumes. Wirklich ein Raum, dachte der Gast, wie eine Illustration zu einem Dickensroman. Unter den Eichenbalken und dem rauchgeschwärzten Verputz war es düster und geräumig. Bis unter die hochgelegenen Fenster mit den geschliffenen Scheiben reichten die eichenen Mausoleen der Bücherregale, und man wußte sofort, daß einem alle Bücher in diesem Raum wohlgesonnen waren. Ein Geruch von staubigem Leder und altem Papier lag über allem, als hätten diese würdevollen, alten Bände ihre steifen Hüte abgelegt und sich zum Bleiben eingerichtet. Dr. Fell keuchte ein wenig, selbst bei der leichten Tätigkeit des Pfeifestopfens. Er war sehr beleibt und benutzte beim Gehen stets zwei Stöcke. Der Schopf seines dunklen Haares, das eine weiße Strähne durchzog, wirkte im Gegenlicht der Vorderfenster wie ein Kriegsbanner. Eindrucksvoll und angriffslustig flatterte er ihm durchs Leben voran. Sein Gesicht war breit, rundlich und gerötet, und irgendwo oberhalb zahlreicher Kinnrollen zuckte ein Lächeln. Doch was tatsächlich auffiel, waren seine funkelnden Augen. Er trug einen Kneifer, der an einem breiten schwarzen Band befestigt war; wenn er seinen massigen Kopf vorbeugte, blinzelten die kleinen Augen über den Brillenrand. Er konnte ungestüm und kampflustig sein, dann wieder listig in sich hineinkichern - und irgendwie brachte er bisweilen beides gleichzeitig fertig. »Sie müssen Fell unbedingt einen Besuch abstatten«, hatte Professor Melson zu Rampole gesagt. »Erstens ist er mein ältester Freund und zweitens eine der Sehenswürdigkeiten Englands. Der Mann hat mehr obskure, nutzlose, aber auch faszinierende Kenntnisse als jeder andere Mensch, dem ich bisher begegnet bin. Er wird Sie mit Essen und Whisky abfüllen, bis Ihnen Hören und Sehen vergeht. Er wird endlos erzählen von Gott und der Welt, vorzugsweise aber von Glanz und Gloria des alten England. Er liebt Blasmusik, Melodramen, Bier und Slapstickkomödien. Ein großartiger alter Bursche, Sie werden ihn mögen.« So war es, unbestreitbar. Rampole fühlte sich durch die Herzlichkeit und Natürlichkeit, das absolute Fehlen jedes affektierten Gehabes bei seinem Gastgeber schon fünf Minuten nach dem 6
ersten Zusammentreffen wie zu Hause. Eigentlich sogar schon davor, mußte der Amerikaner eingestehen. Denn bevor Rampole sich einschiffte, hatte Professor Melson bereits an Gideon Fell geschrieben und von diesem einen kaum zu entziffernden Antwortbrief erhalten, der von witzigen kleinen Zeichnungen umrahmt war und mit einigen Versen über die Prohibition endete. Später hatte es dann dieses zufällige Zusammentreffen im Zug gegeben, kurz vor Rampoles Ankunft in Chatterham. Chatterham in Lincolnshire liegt etwa hundertzwanzig Meilen von London entfernt, nicht weit von Lincoln selbst. Als Rampole bei Einbruch der Dunkelheit den Zug bestieg, war er nicht wenig deprimiert, denn dieses große graue London, voller Qualm und zähflüssigem Verkehr, konnte einen wirklich einsam machen. Man spürte diese Einsamkeit, wenn man, von den Strömen vorübereilender Pendler verwirrt, im verrußten Bahnhof umherschlenderte, der vom Staub und dem eisernen Keuchen der Lokomotiven erfüllt war. Die Warteräume sahen schäbig aus, und die Pendler, die kurz vor der Abfahrt in der von Alkoholdunst durchzogenen Bar schnell noch einen Schluck zu sich nahmen, sahen noch schäbiger aus. Verbittert und verschlissen standen sie unter trüben Lichtern herum, die so glanzlos schienen wie sie selbst. Tad Rampole hatte gerade erst das College hinter sich gebracht und war deshalb ängstlich bemüht, nicht provinziell zu wirken. Zwar war er eine ganze Weile in Europa umhergereist, jedoch immer unter behutsamer elterlicher Lenkung: Die Reise sollte sich »lohnen«, ihm war gesagt worden, wann er seine Augen offenzuhalten hatte. Das Ganze war eine Art bewegten Guckkastens gewesen, mit all den Sehenswürdigkeiten, die man auch immer auf Postkarten bewundern konnte - plus zusätzlichen Belehrungen. Auf sich selbst gestellt war er verwirrt, deprimiert und reichlich verstimmt. Mit Schrecken ertappte er sich dabei, wie er unvorteilhafte Vergleiche zwischen diesem Bahnhof und der Grand Central Station anstellte, was, wenn man anerkannten amerikanischen Romanautoren glauben wollte, einfach frevelhaft war. Was soll's, zum Teufel damit...! Er mußte grinsen, als er sich am Bücherstand einen Thriller kaufte und zu seinem Zug trottete. Immer diese Schwierigkeiten beim Jonglieren mit der Währung. Das englische Geld schien aus 7
einer verwirrenden Vielfalt von Münzen zu bestehen, die alle von willkürlichem Wert waren. Das Errechnen der richtigen Summe glich dem Zusammenfügen eines Bilderpuzzles: Beides ließ sich nicht auf die Schnelle erledigen. Und da jede Verzögerung für ihn den Beigeschmack des Linkischen und Tölpelhaften hatte, reichte er gewöhnlich auch für kleinste Beträge eine Banknote hinüber und überließ dem anderen das Denken. Infolgedessen war er dermaßen mit Wechselgeld versorgt, daß es bei jedem seiner Schritte deutlich vernehmbar klimperte. So stieß er auf das Mädchen in Grau. Er stieß im Wortsinne auf sie. Schuld daran war sein Unbehagen, daß er beim Gehen ständig die Geräusche einer wandelnden Registrierkasse von sich gab. Er hatte versucht, seine Hände in die Taschen zu zwängen, um sie auf diese Weise von unten her zu entlasten. Dabei bewegte er sich zwangsläufig in einer Art Krebsgang vorwärts und war insgesamt so in Anspruch genommen, daß er nicht auf den Weg achtete. Er schreckte auf, als er mit jemand zusammenprallte. Er hörte, wie dieser jemand nach Luft schnappte, dann ein »Oh!« in Höhe seiner Schultern. Seine Taschen quollen über. Undeutlich hörte er einen Münzregen auf die Holzbohlen des Bahnsteigs klingeln. Er wurde rot vor Verlegenheit, als er feststellte, daß er sich an zwei zierliche Arme klammerte und in ein unbekanntes Gesicht starrte. Wäre er überhaupt fähig gewesen, irgend etwas zu sagen, hätte es wie »Holla!« geklungen. Dann erholte er sich so weit, daß er das Gesicht wahrnehmen konnte. Das Licht des Waggons erster Klasse, neben dem sie standen, fiel darauf- ein schmales Gesicht mit fragend hochgezogenen Augenbrauen. Sie schien ihn wie von weither zu betrachten, belustigt, doch mit teilnehmendem Schmunzeln um die Lippen. Irgendwie war ihr Hut verrutscht und saß nun mit verwegener Nachlässigkeit auf dem sehr schwarzen und sehr glänzenden Haar. Ihre Augen waren von einem so dunklen Blau, daß sie ebenfalls fast schwarz aussahen. Den Kragen ihres grauen Mantels hatte sie hochgeschlagen, doch der Ausdruck ihres Mundes wurde dadurch nicht verdeckt. Sie zögerte einen Moment. Dann sagte sie mit einem lachenden Unterton: »Ich muß schon sagen! Sind Sie aber reich... Würde es Ihnen etwas ausmachen, meine Arme loszulassen?« Verlegen wurde er sich der verstreuten Münzen bewußt und trat hastig einen Schritt zurück. 8
»Du lieber Gott! Tut mir leid! Was bin ich doch für ein ungeschickter Tölpel. Ich - ist Ihnen etwas hingefallen?« »Meine Handtasche, glaube ich. Und ein Buch.« Er bückte sich und hob ihre Sachen auf. Selbst später, als der Zug schon durch die würzige Dunkelheit dieser angenehm kühlen Nacht rauschte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie ihr Gespräch seinen Anfang genommen hatte. Denn eine rußvernebelte, dämmrige Bahnhofshalle, die vom Rumpeln der Gepäckwagen widerhallt, scheint auf den ersten Blick nicht gerade der geeignetste Ort für so etwas zu sein. Doch irgendwie war sie genau richtig gewesen. Nichts sonderlich Geistreiches wurde gesagt, eher im Gegenteil. Sie standen bloß da und sprachen Worte, und in Rampoles Kopf begann es zu singen. Er machte die Entdeckung, daß beide Bücher, dasjenige, welches er sich gerade gekauft hatte und das, welches er ihr aus der Hand geschlagen hatte, vom selben Autor stammten. Da es sich dabei um Edgar Wallace handelte, wäre dieser Zufall kaum dazu geeignet gewesen, einen Außenstehenden aus der Fassung zu bringen; doch Rampole machte eine große Sache daraus. Er merkte, daß er sich verzweifelt an dieses Thema klammerte, denn er fürchtete, sie könnte jeden Moment verschwinden. Er hatte nämlich gehört, die englischen Frauen seien unnahbar und zurückhaltend. Deshalb fragte er sich, ob sie nur einfach höflich war. Doch da war noch etwas anderes - vielleicht im Ausdruck der dunkelblauen Augen, die zu ihm aufblickten. Sie lehnte sich, nachlässig wie ein Mann, gegen den Waggon, die Hände in die Taschen ihres wolligen grauen Mantels gestopft: eine elegante kleine Person mit einem verschmitzten Lächeln. Und plötzlich hatte er das Gefühl, daß sie ebenso einsam war wie er selbst... Er erwähnte Chatterham als seinen Zielort und erkundigte sich nach ihrem Gepäck. Sie richtete sich auf. Schatten legten sich auf ihr Gesicht. Ihre leicht kehlige Stimme mit dem abgeschliffenen und undeutlichen Akzent klang unschlüssig. Sie sprach leise: »Mein Bruder hat die Koffer.« Erneutes Zögern. »Ich fürchte, er er wird den Zug verpassen. Da ist schon das Signal. Sie steigen besser ein.« Schwach tutete das Horn durch die Halle, es klang hohl. Es war, als würde etwas von ihm gerissen. Eine Spielzeuglok begann zu puffen und zu stampfen, die erbebende Halle blinkte mit allen Lichtern. 9
»Sehen Sie«, sagte er laut, »wenn Sie einen anderen Zug nehmen - « »Beeilen Sie sich lieber!« Rampole fühlte sich plötzlich so hohl wie das Signalhorn. Hastig rief er: »Zur Hölle mit dem Zug! Ich kann einen anderen nehmen. Außerdem fahre ich eigentlich nirgendwo hin. Ich - « Sie mußte ihre Stimme heben, und er sah, daß sie lächelte: strahlend, besserwisserisch und amüsiert. »Unsinn! - Ich fahre auch nach Chatterham. Wahrscheinlich sehen wir uns dann dort. Ab mit Ihnen!« »Sind Sie sicher?« »Natürlich.« »Na gut, in Ordnung. Sie - « Sie deutete auf den Zug, und er schwang sich hinein, als die Räder eben zu rollen begannen. Er reckte den Hals aus dem Korridorfenster, um noch einen kurzen Blick auf sie zu werfen, und vernahm ganz deutlich, wie ihre kehlige Stimme etwas hinter ihm herrief. Sie rief etwas sehr Merkwürdiges: »Wenn Sie irgendwo Gespenster sehen, dann heben Sie welche für mich auf!« Was, zum Teufel, hieß das denn? Rampole starrte auf die dunklen Reihen stehender Waggons, die vorüberhuschten, und auf die schummrigen Lichter des Bahnhofs, die mit den Schwingungen des Zuges zu vibrieren schienen. Er versuchte, den letzten Satz zu verstehen. Er war durch die Worte nicht wirklich beunruhigt, doch sie hatten schon ein wenig, nun - verquer - geklungen. Das war der richtige Ausdruck. Sollte das Ganze ein Witz sein? Oder handelte es sich vielleicht um die englische Version eines verspäteten Aprilscherzes? Einen Augenblick lang wurde ihm heiß unterm Kragen. Nein, zum Donner. So was hätte er doch gemerkt. Ein Schaffner, der in diesem Moment im Korridor vorüberging, bemerkte einen jungen Gentleman, offenbar Amerikaner, der seinen Kopf blindlings aus dem Fenster in einen Wirbelsturm aus Rauch und Asche reckte, um alles mit so tiefen und freudigen Atemzügen einzuziehen, als handle es sich um feinste Gebirgsluft. Seine Depressionen waren verschwunden. Der kleine, schwankende Zug, fast ohne Fahrgäste, gab ihm das Gefühl, er sitze in einem Schnellboot. Die Stadt London war jetzt nicht mehr groß und übermächtig, das Land nicht länger ein Ort der Einsamkeit.
10
Er hatte etwas Starkes in einem seltsamen Land getrunken und fühlte sich plötzlich jemandem sehr eng verbunden. Das Gepäck! Einen Moment lang erstarrte er, doch dann erinnerte er sich, daß ein Träger die Koffer bereits in einem Abteil in der Nähe verstaut hatte. Das war also in Ordnung. Er spürte, daß der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Der Zug ruckte und schlingerte mit stampfendem Fauchen voran, und als er immer schneller wurde, schickte die Pfeife einen langgezogenen Signalton nach hinten. So hatten Abenteuer zu beginnen. >Wenn Sie irgendwo Gespenster sehen, dann heben Sie welche für mich auf.< Eine heisere Stimme, die irgendwie so klang, als habe ihre Besitzerin auf Zehenspitzen gestanden, wehte den Bahnsteig entlang... Wenn sie eine Amerikanerin gewesen wäre, hätte er sie nach ihrem Namen fragen können. Wenn sie Amerikanerin gewesen wäre... Aber plötzlich merkte er, daß er gar nicht wollte, daß sie Amerikanerin war. Ihre weit auseinanderstehenden blauen Augen, das Gesicht, das nur ein klein wenig zu eckig war, um vollkommen schön zu sein, und der rote, verschmitzt lächelnde Mund: Alles kam ihm auf einmal exotisch und zugleich so echt angelsächsisch vor wie die backsteinerne Zuverlässigkeit von Whitehall. Er mochte die Art, wie sie die Worte betonte, die Andeutung von Spott, die darin mitschwang. Sie wirkte gelassen und frisch, wie jemand, der ausgeruht und zufrieden durch die Gegend schlendert. Als er sich vom Fenster abwandte, hatte Rampole das starke Verlangen, sich mit einem Klimmzug an einer der Abteiltüren hochzuziehen. Er hätte das auch gemacht, wäre da nicht ein sehr mürrischer und sehr steifer Herr mit einer gewaltigen Pfeife gewesen, der, seine Reisekappe auf einer Seite wie ein Barett übers Ohr gezogen, ihn mit glasigen Augen durch das Fenster eines nahen Abteils anstarrte. Die Gestalt glich so exakt der Karikatur eines Engländers, daß Rampole erwartete, der Mann käme heftig schimpfend und schnaubend den Korridor entlanggelaufen, wenn er sähe, daß hier jemand solchen athletischen Aktivitäten frönte. Der Amerikaner sollte bald wieder an diesen Mann erinnert werden. Im Moment war er bloß gut gelaunt und hungrig und brauchte etwas zu trinken. Der Speisewagen weiter vorn fiel ihm ein. Nachdem er sein Gepäck in einem Raucherabteil geortet hatte, bahnte er sich auf der Suche nach etwas Eßbarem seinen
11
Weg durch die engen Korridore. Der Zug ratterte jetzt durch die Vorstädte, quietschend, stampfend und schwankend unter schrillem Kreischen der Signalpfeife. An beiden Seiten glitten beleuchtete Häuserwände vorüber. Der Speisewagen war zu Rampoles Überraschung fast besetzt; man fühlte sich beengt, und es roch stark nach Bier und Salatöl. Als er einem anderen Gast gegenüber auf einen Sitz rutschte, dachte er, daß es da doch mehr Krümel und Flecken gab als nötig. Und erneut verwünschte er seinen Provinzialismus. Der Tisch bebte vom Rattern des Zuges, Lampen klirrten gegen Nickel und Holz, und er beobachtete, wie der Mann gegenüber ein gewaltiges Glas Guinness gekonnt unter seinen ebenso gewaltigen Schnäuzer führte. Nach einem gesunden Schluck setzte der andere das Glas wieder ab und begann zu reden. »Guten Abend«, meinte er leutselig, »Sie sind der junge Rampole, nicht wahr?« Wenn der Fremde hinzugefügt hätte: »Wie ich sehe, kommen Sie aus Afghanistan«, hätte Rampole nicht überraschter sein können. Ein behäbiges Kichern belebte die Kinnrollen des anderen. Er hatte die Angewohnheit, genau so liebenswürdig >Hihihi< zu kichern wie ein Schurke auf einer Varietebühne. Die kleinen Augen strahlten den Amerikaner über einen Kneifer hinweg an, der von einem breiten schwarzen Band gehalten wurde. Das massige Gesicht rötete sich stärker, und sein Haarschopf tanzte im Rhythmus seines Kicherns, vielleicht auch des Zuges, oder von beidem. Er streckte Rampole die Hand entgegen. »Ich bin Gideon Fell, wissen Sie. Bob Melson hat mir von Ihnen geschrieben, und sobald Sie den Wagen betraten, wußte ich: Das muß er sein. Lassen Sie uns darauf eine Flasche Wein leeren, oder besser zwei Flaschen. Eine für Sie und eine für mich, ja? Hihihi. Ober!« Er wälzte sich wie ein mittelalterlicher Feudalherr in seinem Stuhl herum und winkte gebieterisch. »Meine Frau«, fuhr Dr. Fell fort, nachdem er die gargantueske Bestellung aufgegeben hatte, »meine Frau hätte es mir nie verziehen, wenn ich Sie verpaßt hätte. Sie regt sich so schnell auf, wissen Sie, über irgendwelchen Verputz, der im Schlafzimmer von den Wänden fällt, oder über unseren neuen drehbaren Rasensprenger, der erst funktionierte, als der Pfarrer zu Besuch kam: Da hat ihm das Ding eine anständige Dusche verpaßt. 12
Hihihi. Trinken Sie. Ich weiß nicht, was für Wein es ist, danach frage ich nie. Es ist Wein, das langt mir.« »Auf Ihre Gesundheit, Sir.« »Danke, mein Junge. Erlauben Sie mir«, meinte Dr. Fell, wohl in vager Erinnerung an seinen Amerikaaufenthalt, »daß ich Sie so einfach anmache. Nunc bibendum est. Hihi. Also Sie sind Bob Melsons bestes Pferd im Stall, was? >Englische Geschichte< glaube ich, hat er gesagt. Sie wollen Ihren Doktor machen und dann unterrichten?« Rampole kam sich plötzlich, trotz des liebenswürdigen Leuchtens in den Augen des Doktors, wie ein dummer Junge vor. Er murmelte irgend etwas Unverbindliches. »Ausgezeichnet«, sagte der andere. »Bob rühmte Sie sehr. Er meinte nur: >Etwas zuviel Phantasie, der JungeHeuwasserAch, ich war ja auch einmal jungvon den Amerikanern aufgekauft und weggeschafft werden würde. Dieses Schicksal jedenfalls beschwor Mrs. Bundle, die Haushälterin, stets mit so unheilverkündender Stimme, als erzähle sie eine Gespenstergeschichte. Dennoch hegte er finsteren Argwohn gegen die Hausmädchen. Er wußte, daß alle Hausmädchen, kaum daß er ihnen den Rücken zukehrte, von dem Verlangen überwältigt wurden, im Haus herumzuschleichen und Fenster zu öffnen, so daß Landstreicher eindringen konnten. Bis zu Einbrechern verstieg sich seine Phantasie Gott sei Dank nicht. Besonders gewissenhaft durchquerte er mit einer Lampe in der Hand die lange Galerie im oberen Stockwerk; in Kürze würde es regnen. Budges Gemüt war schwer belastet. Nicht von der bevorstehenden Nachtwache des jungen Herrn im Gouverneurszimmer. Das war Tradition, eine seit jeher feststehende Tatsache, wie in Kriegszeiten der Dienst für das Vaterland, den man ebenso stoisch akzeptierte; und wie der Krieg hatte sie ihre Gefahren, das war nun einmal so. Mr. Budge war ein verständiger Mann. Ihm war ebensogut bekannt, daß böse Geister existierten, wie er wußte, daß es Kröten, Fledermäuse und andere unerfreuliche Dinge gab. Doch hegte er den Verdacht, daß selbst die Gespenster in dieser degenerierten Zeit, in der die Hausmädchen zuviel Freizeit hatten, sanft und schwächlich geworden waren. Es war
62
eben alles nicht mehr so wie in den alten Tagen, als sein Vater noch Dienst getan hatte. Doch seine vordringliche Aufgabe war jetzt, dafür zu sorgen, daß bei der Rückkehr des jungen Herrn in der Bibliothek ein anständiges Feuer brannte und dazu ein Teller mit Sandwiches und eine Karaffe Whisky bereitstanden. Nein, seine Gedanken beschäftigten sich mit ernsteren Problemen. Als er in der Mitte der Eichengalerie die Wand mit den Porträts erreichte, machte er, wie üblich, eine kurze Pause und hielt seine Lampe direkt vor das Bild des alten Anthony. Ein Künstler des achtzehnten Jahrhunderts hatte den schwarzgekleideten Anthony gemalt, wie er die Orden auf der Brust und seine Hand auf einem Totenschädel am Tisch saß. Budge hatte noch volles Haar, und er war ein stattlicher Mann. Trotz Anthonys Vergangenheit liebte er es, Ähnlichkeiten zwischen sich selbst und dem blassen, reserviert klerikalen Gesichtsausdruck des ersten Gouverneurs festzustellen. Wenn er das Porträt betrachtet hatte, schritt er stets noch gemessener davon. Niemand würde sein dunkles Geheimnis erraten: daß er nämlich weinte bei den traurigen Passagen der Kinofilme, denen er verfallen war, und daß er sich einmal nächtelang schlaflos hin und her gewälzt hatte in der schrecklichen Furcht, Mrs. Tarpon, die Frau des Apothekers, könnte ihn in diesem Zustand während der Vorführung eines amerikanischen Films namens »Der Weg nach Osten« in Lincoln gesehen haben. Hier besann er sich. Er war fertig mit dem Obergeschoß und ging mit dem würdevollen Schritt eines Gardesoldaten die breite Treppe hinunter. Die Gaslampen in der Eingangshalle brannten gleichmäßig - vielleicht ein leichtes Flackern dort im dritten Glühstrumpf von rechts. Er würde sich nicht wundern, wenn es auch hier demnächst Elektrizität gäbe! Wieder so etwas Amerikanisches! Selbst Mr. Martin war bereits von den Yankees korrumpiert; unbändig war er ja immer gewesen, dabei aber ein wirklicher Gentleman, bis er angefangen hatte, in diesem lauten Kauderwelsch zu reden, das niemand verstehen konnte und das von nichts anderem zu handeln schien als von Bars und Getränken, die nach Piraten benannt und mit Gin gemixt wurden, der doch nur was für alte Weiber und Säufer war. Und sogar einen Revolver trug er, soweit er wußte. »Tom Collins«, das war doch der Pirat? Oder hieß er John Silver? Und dann dieses Zeug, das sie »Sidecar« nannten...
63
Dabei mußte er an Mr. Herberts Motorrad denken. Budge wurde unruhig. »Budge!« rief eine Stimme aus der Bibliothek. Die Gewohnheit straffte seine Haltung und ließ sein Gesicht ausdruckslos werden. Bedächtig stellte er die Lampe auf den kleinen Tisch in der Halle und betrat die Bibliothek mit jenem geziemenden Ausdruck der Ungewißheit, ob er auch richtig gehört hatte. »Sie haben gerufen, Miss Dorothy?« fragte Budge mit offiziellem Gesicht. Obwohl sein Inneres einer säuberlich abgewischten Schiefertafel glich, konnte er doch nicht umhin, eine verwirrende, ja beinahe schockierende Tatsache zu bemerken. Der Wandsafe war geöffnet. Dessen Position hinter dem Porträt von Mr. Timothy, seinem verstorbenen Herrn, war ihm bekannt; doch in fünfzehn Jahren hatte er ihn noch nie so unanständig entblößt und offen gesehen. Er bemerkte dies sogar noch, bevor er seinen Blick automatisch hinüber zum Kamin richtete, um sich zu vergewissern, daß das Holz gut brannte. Miss Dorothy saß, ein Blatt Papier in Händen, in einem der breiten, harten Sessel. »Budge«, sagte sie, »würden Sie Mr. Herbert bitten herunterzukommen?« Er zögerte. »Mr. Herbert ist nicht in seinem Zimmer, Miss Dorothy.« »Würden Sie ihn dann bitte suchen?« »Ich glaube, Mr. Herbert ist nicht im Hause«, sagte Budge so, als habe er einem Problem große Aufmerksamkeit gewidmet und sei nun zu einem Entschluß gekommen. Sie ließ das Blatt in ihren Schoß sinken. »Budge, was um Himmels willen wollen Sie damit sagen?« »Er - äh - hat nichts von einer bevorstehenden Abfahrt gesagt?« »Gott im Himmel, nein ! Wo wollte er denn hin?« »Ich erwähne die Angelegenheit nur, Miss Dorothy, weil ich kurz nach dem Abendessen in seinem Zimmer etwas zu erledigen hatte. Er schien gerade eine Tasche zu packen.« Wieder zögerte Budge. Er wurde unruhig, weil ihr Gesicht einen seltsamen Ausdruck angenommen hatte. Sie erhob sich. »Wann hat er das Haus verlassen?« Budge blickte zur Uhr auf dem Kaminsims hinüber. Die Zeiger wiesen auf 23 Uhr 45. »Ich bin nicht sicher, Miss Dorothy«, gab er
64
zurück. »Sehr bald nach dem Abendessen, glaube ich. Er fuhr auf seinem Motorrad weg. Mr. Martin hatte mich gebeten, ihm eine Fahrradlampe zu bringen, die für seinen - eh - Aufenthalt dort drüben geeignet sei. So kam es, daß ich Mr. Herberts Abfahrt bemerkte. Ich ging gerade hinaus in den Schuppen, um von einem der Räder eine Lampe abzumontieren, und - eh - da fuhr er an mir vorüber...« Komisch, wie Miss Dorothy das aufnahm! Sicher, sie hatte ein Recht, über Mr. Herberts unerhörte Abfahrt, so ganz ohne jemandem ein Wort zu sagen, erregt zu sein, zumal da der Safe zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren offenstand; doch er mochte nicht, daß sie das zeigte. Er fühlte sich wie damals, als er durch ein Schlüsselloch gelauert und gesehen hatte - hastig verdrängte Budge den Gedanken, die Erinnerung an seine Jugendsünden machte ihn verlegen. »Seltsam, daß ich ihn nicht bemerkt habe«, sagte sie und blickte Budge dabei forschend an. »Ich habe doch nach dem Abendessen mindestens eine Stunde vor dem Haus gesessen.« Budge räusperte sich. »Das wollte ich ja gerade sagen, Miss Dorothy, er fuhr nicht die Auffahrt hinunter, sondern über die Weide in Richtung Shooters Lane. Ich bemerkte es, weil ich eine ganze Weile brauchte, um die richtige Lampe für Mr. Martin zu finden, und dabei sah ich, wie er in die Landstraße einbog.« »Haben Sie Mr. Martin davon erzählt?« Budge erlaubte sich, leicht schockiert auszusehen. »Nein, Miss Dorothy!« antwortete er mißbilligend. »Ich übergab ihm, wie Sie wissen, die Lampe, doch schien es mir nicht meine Aufgabe zu sein...« »Danke sehr, Budge. Sie brauchen nicht mehr auf Mr. Martin zu warten.« Er verbeugte sich, wobei er aus den Augenwinkeln noch feststellte, daß die Sandwiches und der Whisky an der richtigen Stelle standen, und zog sich zurück. Jetzt konnte er seine Grammatik wieder lockern, wie einen zu straff gezogenen Gürtel. Er war wieder Mr. Budge. Wie seltsam war doch die junge Herrin. Beinahe hätte er gedacht: »Freches, kleines Ding«, doch das wäre respektlos gewesen. So steif und poliert wirkte sie mit ihrer straffen Haltung und den kühlen Augen. Kein Gefühl, kein Herz. Er hatte sie doch aufwachsen sehen, seit - mal überlegen: Letzten April war sie einundzwanzig geworden -, also seit ihrem sechsten 65
Lebensjahr. Sie war kein so umgängliches oder selbstsicheres Kind gewesen wie Mr. Martin, oder so still und dankbar für jede Aufmerksamkeit wie Mr. Herbert, sondern irgendwie merkwürdig... Er merkte, daß es jetzt häufiger donnerte. Der Widerschein der Blitze drang in die dunkelsten Ecken des Hauses. Wie gut, daß er dieses Kaminfeuer entfacht hatte. Die alte Standuhr in der Eingangshalle mußte aufgezogen werden. Während er das tat, grübelte er weiter darüber nach, was für ein merkwürdiges Kind Miss Dorothy doch gewesen war. Besonders an eine Szene erinnerte er sich: ein Abendessen, er selbst bediente im Hintergrund, der Herr und die Herrin lebten noch. Master Martin und Master Herbert hatten mit ein paar anderen Jungen im Obstgarten von Oldham Krieg gespielt. Als Master Martin davon erzählte, hänselte er seinen Vetter, daß der nicht als Ausguck in die Äste des höchsten Ahornbaumes geklettert war. Martin war stets der Anführer gewesen, Herbert trottete immer nur gehorsam hinterdrein; doch diesmal hatte er es abgelehnt, dem Befehl zu gehorchen. »Ich wollte nicht!« wiederholte er bei Tisch. »Die Äste waren morsch!« »Das war richtig, Bert«, sagte die Herrin in ihrer freundlichen Art. »Sogar im Krieg muß man vorsichtig sein.« Doch die kleine Miss Dorothy, die den ganzen Abend noch nichts gesagt hatte, versetzte alle in Erstaunen, als sie plötzlich leidenschaftlich verkündete: »Wenn ich groß bin, dann werde ich aber einen Mann heiraten, der überhaupt nicht vorsichtig ist!« Dabei blickte sie sehr wild. Sie war von der Herrin getadelt worden, und der Herr hatte nur in seiner trockenen, häßlichen Art in sich hineingekichert. Seltsam, daß er sich ausgerechnet jetzt daran erinnerte... Inzwischen regnete es. Als er mit dem Aufziehen der Uhr fertig war, begann sie zu schlagen. Budge, der gedankenverloren darauf starrte, war überrascht und wunderte sich, weshalb. Mitternacht, die Uhr schlug. Nun, das hatte seine Ordnung, sicherlich. Nein. Irgend etwas war falsch. Im Hintergrund seines kleinen, automatisch funktionierenden Verstandes knirschte etwas. Bedrückt betrachtete er stirnrunzelnd die dem Zifferblatt aufgemalte Landschaft. Aha, jetzt hatte er es! Nur ein paar Minuten zuvor hatte er mit Miss Dorothy gesprochen, und da hatte die Uhr in der Bibliothek auf 23 Uhr 45 gestanden. Die Bibliotheksuhr mußte falsch gehen.
66
Er zog seine goldene Uhr, die in all den Jahren immer richtig gegangen war, aus der Tasche und öffnete sie. Zehn Minuten vor zwölf. Nein, die Bibliotheksuhr war richtig gegangen. Diese alte Standuhr hier, nach der die Hausmädchen alle anderen Uhren im Haus stellten, ging genau zehneinhalb Minuten vor. Budge unterdrückte einen Seufzer. Nun mußte er also, bevor er sich ruhigen Gewissens zu Bett begeben konnte, herumgehen und alle anderen Uhren ebenfalls inspizieren. Die Uhr schlug zum zwölften Mal. Im gleichen Augenblick klingelte das Telefon. Als Budge ging, um den Hörer abzunehmen, sah er Dorothy Starberths bleiches Gesicht in der Bibliothekstür...
Kapitel 7
Sir
Benjamin Arnold, der Chief Constable, saß hinter dem Schreibtisch in Dr. Fells Arbeitszimmer, die knochigen Hände wie ein Schulmeister gefaltet. Trotz der tiefen Bräune seines Pferdegesichtes sah er tatsächlich ein wenig wie ein Schulmeister aus. Sein volles weißes Haar hatte er straff zurückgekämmt, die Augen blickten scharf hinter dem Kneifer hervor. » - dachte ich, es wäre das Beste«, sagte er gerade, »die Sache persönlich zu übernehmen. Eigentlich sollte ein Inspektor aus Lincoln herübergeschickt werden. Aber ich kenne die Starberths und besonders Dr. Fell schon so lange, daß ich dachte, es sei besser, wenn ich selber komme und die Leitung des Falles übernehme. Auf diese Weise können wir vielleicht einen Skandal oder etwas Derartiges vermeiden. Einiges wird natürlich bei der amtlichen Leichenschau publik werden.« Er zögerte und räusperte sich. »Ihnen, Doktor, und Ihnen, Mr. Saunders, ist ja bekannt, daß ich bisher noch niemals Gelegenheit hatte, einen Mordfall zu bearbeiten. Ich bin fast sicher, daß ich bald mit meinem Latein am Ende sein werde. Wenn alles schiefgeht, müssen wir eben Scotland Yard einschalten. Doch solange wir noch unter uns sind, können wir die Sache vielleicht in Ordnung bringen.« Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und es war ein klarer, warmer Morgen. Im Arbeitszimmer war es trotzdem nicht sehr hell. Während einer langen Stille hörten sie draußen im Flur einen Polizisten auf und ab gehen. Saunders nickte schwerfällig. Dr. Fell gab sich finster und mürrisch. Rampole war noch zu müde und benommen, um wirklich aufmerksam zu sein. »Sie-äh-sagten >MordfallMordfall< im eigentlichen Sinn sprechen sollen. Ein Unfall kann ausgeschlossen werden. Doch darauf komme ich gleich noch... Nun, Doktor.« Er richtete sich auf und preßte die Lippen aufeinander. Dann verschränkte er seine Finger und bewegte sich in seinem Stuhl wie ein Dozent, der mit der Behandlung eines wichtigen Themas beginnen will. »Nun, Doktor. Sie haben bereits alles erzählt bis zu dem Zeitpunkt, als das Licht im Gouverneurszimmer erlosch. Was geschah, als Sie hinüberliefen, um nachzusehen?« Schlecht gelaunt pochte Dr. Fell mit einem Stock an den Rand des Schreibtisches. Er kaute an seinem Schnurrbart herum. »Ich bin nicht gelaufen. Danke für das Kompliment, aber so beweglich wie die zwei da bin ich nicht. Hm, nein. Am besten lassen Sie die erzählen.« »Natürlich... Mr. Rampole, ich glaube, Sie entdeckten die Leiche?« Die knappe, offizielle Vorgehensweise dieses Mannes machte Rampole nervös. Er konnte nicht mehr ungezwungen reden und hatte das Gefühl, daß alles, was er sagte, gegen ihn verwendet werden konnte. Justiz! - das war eine gewaltige, zermürbende Sache. Er fühlte sich schuldig, ohne zu wissen, warum. »Das habe ich.« »Dann sagen Sie mir doch bitte: Wie sind Sie darauf gekommen, direkt zum Brunnen zu laufen, anstatt zum Tor und dann hinauf ins Gouverneurszimmer? Hatten Sie Ursache zu vermuten, was geschehen war?« »Ich - ich weiß es nicht. Ich habe schon den ganzen Tag versucht, das herauszufinden. Es ging einfach automatisch. Ich hatte dieses Tagebuch gelesen - die Geschichte von der Legende und all das, deshalb...« Er machte eine hilflose Geste. »Verstehe. Was taten Sie dann?« »Ich war so aus der Fassung, daß ich zurücktaumelte gegen den Felsen und dort sitzen blieb. Dann wurde mir allmählich klar, wo ich mich befand, und ich rief Mr. Saunders.« »Und Sie, Mr. Saunders?« »Was mich angeht, Sir Benjamin«, sagte der Pfarrer und legte volles Gewicht auf den Titel, »ich war schon fast am Eingang des Gefängnisses, als ich - äh - Mr. Rampoles Rufen hörte. Ich hatte 69
es etwas merkwürdig gefunden, daß er direkt zum Hexenwinkel wollte, und versuchte noch, ihm Zeichen zu geben. Aber es war kaum Zeit - äh - zum Überlegen.« Er legte die Stirn in nachdenkliche Falten. »Natürlich. Als Sie über die Leiche stolperten, Mr. Rampole, lag diese neben dem Brunnen, direkt unterhalb des Balkons?« »Ja.« »Wie lag sie? Auf dem Rücken oder auf dem Gesicht?« Rampole überlegte mit geschlossenen Augen. Ihm fiel nichts anderes ein, als daß das Gesicht so naß gewesen war. »Auf der Seite, glaube ich. Ja, ich bin mir sicher.« »Linke oder rechte?« »Ich weiß nicht... Warten Sie. Ja, doch. Es war die rechte.« Unerwartet lehnte sich Dr. Fell vor und klopfte mit dem Stock an den Tisch. »Sind Sie sicher?« wollte er wissen. »Sind Sie sich dessen wirklich sicher, mein Junge? Versuchen Sie sich zu erinnern, man kann sich so leicht täuschen.« Der andere nickte. Doch, ja: den Nacken des Toten fühlen, sich darüber beugen, spüren, daß er voll auf die rechte Schulter geknallt war... Er nickte heftig, um das Bild zu vertreiben. »Es war die rechte Seite«, antwortete er. »Ich kann es ganz sicher beschwören.« »Das stimmt genau, Sir Benjamin«, bestätigte der Pfarrer und legte seine Fingerspitzen aneinander. »Sehr gut. Was taten Sie als nächstes, Mr. Rampole?« »Nun, Mr. Saunders kam herbei, und wir waren uns nicht sicher, was zu tun sei. Wir hatten nur den einen Gedanken, ihn aus der Nässe wegzukriegen. Deshalb planten wir zunächst, ihn hier zum Yew Cottage herüberzuschaffen, wollten aber Mrs. Fell nicht erschrecken und trugen ihn deshalb einfach hinauf in einen Raum im Gefängnis. Ach ja, und wir fanden die Radlampe, die er zum Leuchten benutzt hatte. Ich versuchte noch, sie zu reparieren, aber sie war völlig zerstört.« »Wo befand sich die Lampe? In seiner Hand?« »Nein. Sie lag ein Stück weit entfernt. Es sah aus, als wäre sie vom Balkon geworfen worden. Ich meine, sie lag zu weit weg, als daß er sie hätte festgehalten haben können.« Der Chief Constable trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. Eine Spirale von Falten legte sich um seinen Hals, als er sich zur Seite wandte und Rampole anstarrte. 70
»Dieser Punkt«, sagte er, »könnte von höchster Wichtigkeit sein für die Entscheidung des Untersuchungsrichters, ob hier ein Unfall, ein Selbstmord oder ein Mord vorliegt... Laut Dr. Markley war der Schädel des jungen Starberth eingeschlagen, und zwar entweder von dem Sturz oder einem festen Schlag mit etwas, das gewöhnlich >stumpfer Gegenstand< genannt wird. Sein Genick war gebrochen, und er hatte weitere Quetschungen und Prellungen infolge eines schweren Sturzes. Doch damit können wir uns später beschäftigen... Was geschah dann, Mr. Rampole?« »Ich blieb bei ihm, während Mr. Saunders hinunterlief, um Dr. Fell Bescheid zu sagen und dann nach Chatterham zu Dr. Markley zu fahren. Ich wartete nur, leuchtete mit Streichhölzern und - ich meine, ich wartete einfach nur.« Er zitterte. »Danke Ihnen. Mr. Saunders?« »Dem ist kaum noch etwas hinzuzufügen, Sir Benjamin«, erwiderte der Pfarrer und begann, sich in Einzelheiten zu ergehen. »Ich fuhr nach Chatterham, nachdem ich Dr. Fell gebeten hatte, im Herrenhaus anzurufen und Mr. Budge, den Butler, über das Geschehene zu informieren.« »Dieser Idiot«, erregte sich Dr. Fell. Als der Pfarrer ihn überrascht und leicht schockiert ansah, fügte er hinzu: »Budge, meine ich natürlich. In Krisensituationen ist Budge keine fünf Pence wert. Am Telefon wiederholte er alles, was ich ihm sagte, und dann hörte ich noch, wie jemand aufschrie. Anstatt die Nachricht vor Miss Starberth geheimzuhalten, bis jemand es ihr sanft beibringen konnte, wußte sie es in derselben Sekunde.« »Wie gesagt, Sir Benjamin - natürlich haben Sie recht, Doktor, das war höchst unangemessen -, wie ich also bereits sagte«, stotterte der Pfarrer wie jemand, der es mehreren Leuten zugleich recht machen will, »ich fuhr zu Dr. Markley, hielt aber vorher kurz am Pfarrhaus, um mir einen Regenmantel zu holen. Dann kamen wir zurück und nahmen auch Dr. Fell mit zum Gefängnis. Nach einer kurzen Untersuchung meinte Dr. Markley, man könne nichts tun, als die Polizei zu benachrichtigen. Dann brachten wir den - äh - die sterbliche Hülle in meinem Wagen zum Herrenhaus.« Er schien noch etwas sagen zu wollen, schloß jedoch plötzlich seine Lippen. Eine bedrückende Stille stand im Raum, als hätte keiner mehr die Absicht, noch etwas zu sagen. Der Chief 71
Constable hatte ein großes Taschenmesser geöffnet und begann, einen Bleistift zu spitzen. Das schnelle, kurze Raspeln des Messers auf dem Graphit war so laut, daß Sir Benjamin jäh aufsah. »Sie haben die Leute im Herrenhaus befragt?« wollte er wissen. »Das haben wir«, sagte Dr. Fell. »Sie hielt sich bewundernswert gut. Wir erhielten von beiden, Miss Starberth und Budge, einen klaren, knappen Bericht über alles, was sich gestern abend abgespielt hat. Die anderen Bediensteten haben wir nicht gestört.« »Macht nichts. Ich höre es sowieso lieber von ihnen selbst aus erster Hand. Haben Sie mit dem jungen Herbert gesprochen?« »Haben wir nicht«, antwortete der Doktor nach einer Pause. »Budge zufolge hat er kurz nach dem Abendessen eine Tasche gepackt und das Herrenhaus auf seinem Motorrad verlassen. Er ist bis jetzt noch nicht zurück.« Sir Benjamin legte Messer und Bleistift vor sich auf den Tisch. Unbeweglich saß er da und starrte die anderen an. Dann nahm er seinen Kneifer ab und begann, ihn mit einem zerknitterten Taschentuch zu polieren. Seine vorher so scharfen Augen wirkten mit einem Mal stumpf und eingesunken. »Ihre Andeutung«, sagte er schließlich, »ist absurd.« »Allerdings«, pflichtete der Pfarrer bei und blickte geradeaus. »Lieber Gott, das war keine Andeutung«, polterte Dr. Fell und stieß die Metallspitze seines Stockes auf den Boden. »Sie haben gesagt, Sie wollten Tatsachen hören. Aber Sie wollen gar keine Tatsachen. Sie wollen, daß ich etwas sage wie: >Natürlich gibt es da noch den unbedeutenden Punkt, daß Herbert Starberth nach Lincoln ins Kino gefahren ist, daß er ein paar Sachen mitgenommen hat, um sie in die Reinigung zu bringen und daß er das Lichtspieltheater so spät verlassen hat, daß er zweifelsohne beschlossen hat, die Nacht über bei einem Freund zu bleiben.< Diese Andeutungen wären dann das, was Sie Tatsachen nennen. Ich jedoch berichte die reinen Fakten, und Sie bezeichnen sie als Andeutungen!« »Du liebe Güte!« sagte der Pfarrer nachdenklich, »genau das könnte er aber gemacht haben, wissen Sie.« »Schön«, sagte Dr. Fell, »jetzt können wir ja jedem erzählen, was er getan hat. Aber bezeichnen Sie das bitte nicht als Tatsache, das ist das Entscheidende.« Der Chief Constable wirkte leicht gereizt. »Er hat niemandem erzählt, daß er wegfahren wollte?« 72
»Nein, es sei denn, er hat es jemand anderem als Miss Starberth oder Budge gesagt.« »Aha. Nun, ich werde mit ihnen reden. Jetzt will ich nichts mehr davon hören. Sagen Sie, es gab keine Feindseligkeiten zwischen ihm und Martin, oder?« »Wenn es sie gab, hat er sie jedenfalls bewundernswert gut zu verbergen gewußt.« Saunders strich über sein rundes rosiges Kinn und gab zu bedenken: »Vielleicht ist er ja bereits zurück. Wir sind doch seit gestern nacht nicht mehr drüben im Herrenhaus gewesen.« Dr. Fell brummelte. Sir Benjamin erhob sich mit offensichtlichem Widerstreben und bohrte im Stehen mit der Messerspitze in der Schreibunterlage. Dann machte er eine seiner Schulmeistergesten und preßte erneut die Lippen fest zusammen. »Wenn die Herren nichts dagegen haben, werfen wir jetzt einen Blick ins Gouverneurszimmer. Ich gehe davon aus, daß niemand von Ihnen letzte Nacht dort oben war? ... Gut. Dann können wir ganz unvoreingenommen beginnen.« »Sollte mich wundern«, sagte Dr. Fell. Etwas sagte »Oooo-o!« und sprang hastig zur Seite, als sie das Arbeitszimmer verließen. Am Ende des Flures brachte sich Mrs. Fell in Sicherheit. Dem zerstreuten Gesicht des Polizeibeamten war anzusehen, daß sie mit ihm gesprochen hatte. Der Beamte hielt mit offensichtlicher Verlegenheit einen großen Schmalzkrapfen in der Hand. »Legen Sie das weg, Withers«, schnarrte der Chief Constable, »und begleiten Sie uns. Haben Sie im Gefängnis einen Mann postiert? ... Gut. Kommen Sie.« Sie traten hinaus auf die Straße, allen voran Sir Benjamin, mit seiner flatternden alten Sommerjacke und einem zerknautschten Hut, der ihm schief auf dem Kopf saß. Niemand sprach, bis sie die Anhöhe zum Eingangstor des Gefängnisses hinaufgestiegen waren. Das eiserne Gitter, mit dem es einmal versperrt gewesen war, hing in rostiger Trunkenheit schief in den Angeln. Rampole erinnerte sich, daß es geknarrt und gequietscht hatte, als sie Martin Starberths Leiche hineingetragen hatten. Ein dunkler Gang, kühl und voller Mücken, führte geradeaus. Aus dem Sonnenlicht hier hereinzukommen war, als betrete man ein Brunnenhaus. »Ich bin hier zwar schon ein- oder zweimal gewesen«, sagte der Chief Constable und spähte neugierig umher, »doch ich erinnere 73
mich nicht mehr an die Anordnung der Räume. Doktor, wollen Sie nicht vorangehen? ... Sagen Sie, der Trakt mit dem Gouverneurszimmer ist doch verschlossen, nicht wahr? Angenommen der junge Starberth hat, als er hineinging, die äußere Tür des Raumes abgeschlossen, was machen wir dann? Ich hätte die Schlüssel aus seiner Kleidung mitnehmen sollen.« »Wenn ihn jemand vom Balkon gestoßen hat«, brummte Dr. Fell, »dann können Sie sicher sein, daß der Mörder danach wieder aus dem Gouverneurszimmer heraus mußte. Und er hat auch bestimmt keinen Sprung von fünfzehn Metern aus dem Fenster gewagt. Seien Sie sicher, wir werden die Tür offen finden.« »Scheußlich finster hier drin«, meinte Sir Benjamin. Er reckte seinen langen Hals und wies auf eine Tür zu seiner Rechten. »Dorthin haben Sie den jungen Starberth letzte Nacht gebracht?« Rampole nickte, und der Chief Constable stieß die morsche Eichentür ein wenig auf, um einen Blick hineinzuwerfen. »Nicht viel drin«, verkündete er. »Pah! Verdammte Spinnweben. Steinfußboden, vergitterte Fenster, Kamin, so weit ich erkennen kann. Nicht sonderlich viel Licht.« Er schlug nach ein paar unsichtbaren Insekten vor seinem Gesicht. »Das war der Aufenthaltsraum der Wärter, und daneben lag das Gefängnisbüro«, führte Dr. Fell aus. »Dort war es, wo der Gouverneur seine Gäste verhörte und registrierte, bevor sie in ihre Quartiere gewiesen wurden.« »Jedenfalls ist alles voller Ratten«, sagte Rampole so unvermittelt, daß alle zu ihm hinsahen. Wie schon in der letzten Nacht, umgab ihn wieder der erdige Kellergeruch dieses Ortes. »Alles voller Ratten«, wiederholte er. »Oh, äh - zweifellos«, meinte der Pfarrer . »Nun, Gentlemen?« Sie drangen tiefer in den Gang ein. Die Wände waren schief, die Mauersteine zerbrochen und die Risse zugewachsen mit dunkelgrünem Moos. Ein schönes Typhusloch, dachte Rampole. Mittlerweile konnten sie kaum noch etwas sehen und stolperten voran, wobei sie sich gegenseitig an den Schultern festhielten. »Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen«, grollte Sir Benjamin. »Da vorne ist ein Hindernis - « Etwas schlug mit dumpfem Klirren auf den moosüberzogenen Steinfußboden. Unwillkürlich zuckten sie zusammen. »Handschellen«, sagte Dr. Fell aus dem Dunkel vor ihnen, »Fußeisen und so was. Hängen hier immer noch an den Wänden 74
rum. Wir sind jetzt also im Zellentrakt. Halten Sie Ausschau nach der Tür.« Es war unmöglich, dachte Rampole, sich im Gewirr der Gänge zurechtzufinden, obwohl etwas Licht hereinsickerte, sobald sie die erste der inneren Türen passiert hatten. An einer Stelle stießen sie auf ein stark vergittertes Fenster, das in die anderthalb Meter dicke Mauer eingelassen war und auf einen feuchtkühlen, schattigen Innenhof führte. Der mußte einmal gepflastert gewesen sein, erstickte jetzt aber unter Brennesseln und Unkraut. An einer Seite hingen zerbrochene Zellentüren wie verfaulte Zahne heraus. Seltsamerweise stand genau in der Mitte dieses desolaten Hofes ein riesiger Apfelbaum in voller Blüte. »Der Todestrakt«, sagte Dr. Fell. Danach sprach keiner mehr. Sie forschten nicht mehr nach der Bedeutung bestimmter Dinge, die sie sahen, und fragten auch ihren Führer nicht danach. Kurz bevor sie das Treppenhaus zur ersten Etage erreichten, entdeckten sie im flackernden Licht der Streichhölzer die Eiserne Jungfrau, daneben die Öfen für gewisse Holzkohlefeuer. Das Gesicht der Eisernen Jungfrau zeigte ein schläfriges, sattes Lächeln, und von ihren Lippen herab schaukelten Spinnen in ihren Netzen; Fledermäuse flatterten im Raum umher, so daß sie nicht lange verweilten. Rampole hielt die Hände fest zusammengepreßt. Am meisten störte ihn, daß ständig etwas gegen sein Gesicht strich, und er hatte das Gefühl, als ob ihm etwas den Nacken hinaufkrieche. Und man konnte die Ratten hören. Als sie schließlich vor einer großen, eisenbeschlagenen Tür haltmachten, die zu einer Galerie im ersten Stockwerk führte, wußte er, daß sie es geschafft hatten. Er hatte ein Gefühl, als könne er, nachdem er auf einem Ameisenhaufen gesessen hatte, in ein kühles, klares Wasser eintauchen. »Ist sie offen?« fragte der Pfarrer mit irritierend lauter Stimme. Die Tür knarrte und quietschte, als Dr. Fell sie mit Unterstützung des Chief Constable aufschob. Sie war verzogen und nur sehr schwer über den Steinboden zu schieben. Eine Staubwolke wirbelte auf. Dann standen sie an der Schwelle des Gouverneurszimmers und sahen sich um. »Ich würde sagen, wir sollten nicht sofort hineingehen«, murmelte Sir Benjamin nach längerem Schweigen. »Wie dem auch sei... Hat jemand von Ihnen diesen Raum früher schon einmal
75
gesehen? ... Nein? Das hatte ich auch nicht erwartet. Hm. An der Einrichtung kann sich nicht viel geändert haben, oder?« »Die meisten Möbel sind noch vom alten Anthony«, sagte Dr. Fell. »Der Rest gehörte seinem Sohn Martin, der hier ebenfalls Gouverneur war, bis er im Jahre 1837 - nun, starb. Beide hinterließen Anweisung, den Raum nicht zu verändern.« Es war ein großes Zimmer, jedoch mit ziemlich niedriger Decke. Unmittelbar gegenüber der Tür, in der sie standen, befand sich das Fenster. Diese Seite des Gefängnisses lag im Schatten, außerdem ließen die Efeuranken an der massiven Fenstervergitterung nicht sehr viel Licht hinein. Darunter standen noch Pfützen von Regenwasser auf dem unebenen Fußboden. Ungefähr sechs Fuß links vom Fenster befand sich die Balkontür. Sie war geöffnet und stand fast im rechten Winkel von der Wand ab. Lose Ranken wilden Weines, die beim Öffnen der Türe auseinandergerissen worden waren, hingen vor dem Eingang herunter, so daß von dort kaum mehr Licht hereindrang als durch das Fenster. Offensichtlich hatte sich vor langer Zeit einmal jemand bemüht, diesem düsteren Ort einen Hauch von Gemütlichkeit zu verleihen. Die steinernen Wände waren mit Paneelen aus schwarzem Walnußholz verkleidet, das jetzt aber langsam verrottete. In der Wand zur Linken, genau zwischen einem hohen Schrank und einem Bücherregal voller großer verblaßter Kalbslederbände, war ein gemauerter Kamin eingelassen, auf dessen Sims eine Reihe leerer Kerzenhalter stand. Ein schimmeliger Ohrensessel war vor den Kamin gerückt. Dort, erinnerte sich Rampole, hatte wohl der alte Anthony mit seiner Schlafmütze vor der Glut gesessen, als er das Klopfen an der Balkontüre hörte und die geflüsterte Einladung, doch zu den Toten hinauszukommen... In der Mitte des Zimmers gab es einen alten, dick mit Staub und Schutt bedeckten Schreibtisch, neben dem ein einfacher Holzstuhl stand. Rampole starrte hinüber. Ja, dort im Staub, wo letzte Nacht die Fahrradlampe gestanden haben mußte, war ein schmaler, rechteckiger Abdruck zu sehen. Und dort, auf dem hölzernen Stuhl gegenüber der rechten Wand, dort hatte also Martin Starberth gesessen, den Lichtstrahl auf... Aha. In der Mitte der Mauer auf der rechten Seite befand sich, bündig mit dieser, die Tür zum Tresor oder Safe, oder wie immer er genannt wurde: eine einfache Eisentür, sechs Fuß hoch und halb so breit, jetzt stumpf vor Rost. Unmittelbar unter dem 76
eisernen Griff befand sich eine seltsame Vorrichtung, eine Art flachen Kästchens mit einem großen Schlüsselloch auf der einen Seite und etwas, das einer Metallklappe über einem kleinen Drehknopf glich, auf der anderen. »Die Berichte waren also korrekt«, sagte Dr. Fell unvermittelt. »Ich dachte es mir. Andernfalls wäre es allzu leicht gewesen.« »Was?« fragte der Chief Constable etwas gereizt. Der Doktor wies mit einem Stock hinüber. »Angenommen, ein Einbrecher wollte das Ding knacken. Wenn da nur ein Schlüsselloch wäre, könnte er sich einen Abdruck von dem Schloß machen und einen, wenn auch ziemlich großen Nachschlüssel anfertigen. Aber mit dieser Vorrichtung gelangte er wohl kaum hinein, ohne die ganze Wand mit Dynamit in die Luft zu jagen.« »Mit welcher Vorrichtung?« »Der Buchstabenkombination. Ich hörte, es wäre eine daran. Die Idee ist nicht neu, wissen Sie. Metternich hatte schon so etwas, und Talleyrand spricht von Maporte qu'on peut ouvrir avec un mot, comme les quarante voleurs de Scheherazade. Sehen Sie diesen Knopf mit dem beweglichen Metallding darüber? Das Metallstück verdeckt eine Wählscheibe wie bei einem modernen Safe, außer daß hier an Stelle der Zahlen die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets verwendet wurden. Sie müssen an dem Knopf drehen und das vorher festgelegte Codewort Buchstabe für Buchstabe einstellen, bevor die Tür überhaupt geöffnet werden kann. Der bloße Schlüssel ohne dieses Wort ist nutzlos.« »Vorausgesetzt, jemand wollte das verflixte Ding überhaupt öffnen«, sagte Sir Benjamin. Man schwieg erneut, allen war unbehaglich zumute. Der Pfarrer wischte sich, eine eindeutige Geste, die Stirn mit einem Taschentuch ab und betrachtete ein großes Himmelbett vor der rechten Wand. Es war immer noch mit mottenzerfressener Wäsche und verfaulenden Kissen bezogen; an schwarzen Messingringen hingen Vorhangfetzen vom Betthimmel. Daneben stand ein Nachttisch, darauf ein Kerzenhalter. Wieder mußte Rampole an einige Zeilen aus Anthonys Manuskript denken: Ich hatte meine Kerze für die Nacht geputzt, die Schlafmütze aufgesetzt und wollte im Bett noch etwas lesen, als ich sah, daß sich zwischen meinen Bettlaken etwas bewegte... Schnell wandte der Amerikaner seinen Blick ab. Immerhin hatte nach Anthony noch eine Person in diesem Zimmer gelebt 77
und war dort gestorben. Drüben, neben dem Safe, stand ein verglaster Sekretär mit einer Minervabüste und einer dicken Bibel darauf. Niemand von ihnen, außer vielleicht Dr. Fell, konnte sich von der Vorstellung befreien, man befände sich an einem gefährlichen Ort, wo man sich nur sehr vorsichtig und ohne etwas anzurühren bewegen durfte. Der Chief Constable schüttelte sich. »Na gut«, begann Sir Benjamin grimmig, »da wären wir also. Ich will mich hängen lassen, wenn ich weiß, was wir jetzt tun sollen. Dort hat wohl der arme Kerl gesessen. Da drüben hatte er die Lampe abgestellt. Keine Anzeichen für einen Kampf - nichts zerbrochen - « »Übrigens«, unterbrach ihn Dr. Fell nachdenklich, »ich frage mich, ob der Tresor noch geöffnet ist.« Rampole spürte, daß sich seine Kehle zusammenzog. »Mein lieber Doktor«, meinte Saunders, »glauben Sie, daß die Starberths das billigen... Also, ich muß schon sagen!« Dr. Fell stapfte bereits an ihm vorbei, die Metallspitzen seiner Stöcke klirrten auf dem Boden. Sir Benjamin richtete sich auf und wandte sich scharf an Saunders. »Wir haben hier einen Mordfall, sollten Sie bedenken! Wir müssen nachschauen. Doch halt! - Warten Sie eine Sekunde, Doktor!« Gemessen wie ein Gaul schritt er hinüber, seinen langen Kopf vorgestreckt. Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: »Glauben Sie, daß das klug ist?« »Außerdem bin ich neugierig«, murmelte der Doktor, als ob er den anderen gar nicht gehört hätte, »auf welchem Buchstaben die Kombination jetzt steht. Würden Sie ein wenig zur Seite treten, alter Knabe? Hier... Donnerwetter! Das Ding ist ja frisch geölt!« Er schob die Metallklappe hin und her, während sich die anderen um ihn drängten. »Sie steht auf dem Buchstaben >NBlutigen HandSweeney Todd, der Teufelsbarbier aus der Fleet Street< gesehen? Das sollten Sie mal. War eines der ersten Thrillerstücke, wie sie im frühen neunzehnten Jahrhundert sehr beliebt waren; mit einem teuflischen Barbiersessel, der einen in den Keller hinunterkatapultierte, wo der Meister einem dann in aller Ruhe die Kehle durchschneiden konnte. Aber - « »Einen Augenblick!« rief Sir Benjamin gereizt. »Damit möchten Sie also andeuten, meine Auffassung sei wohl zu weit hergeholt?« »Die Schauerromane im Besonderen«, fuhr Dr. Fell ungerührt fort, »sind voll von solchen - wie?« Er unterbrach sich und blickte auf. »Zu weit hergeholt? Um Himmels willen, nein! Einige der merkwürdigsten Todesfallen hat es ja tatsächlich gegeben, zum Beispiel Neros zusammenklappendes Schiff oder die vergifteten Handschuhe, mit denen Charles VII. ermordet wurde. Nein, nein. Das Unwahrscheinliche daran macht mir nichts aus. Der Punkt ist bloß, Gentlemen, daß Sie keinerlei Grundlage für all
85
das Unwahrscheinliche haben. Damit bleiben Sie weit hinter den Detektivgeschichten zurück. Die mögen zwar zu einer unwahrscheinlichen Schlußfolgerung kommen, doch immer gelangen sie dorthin kraft gesunder, einwandfreier, wenn auch unwahrscheinlicher Beweise, die jedoch offen ausgebreitet vor uns liegen. -Woher wissen Sie eigentlich, daß sich irgendeine >Kassette< im Tresor befand?« »Schön, das wissen wir nicht. Aber - « »Genau. Und kaum haben Sie die Kassette, schon kriegen Sie die Inspiration von einem darin liegenden Papier. Dann nehmen Sie das Papier und schreiben Anweisungen darauf. Der junge Starberth fällt den Balkon runter, die Kassette wird Ihnen lästig, und Sie schmeißen sie ihm hinterher. Prächtig! Damit haben Sie nicht nur die Kassette und das Papier hervorgezaubert, sondern beides auch sofort wieder verschwinden lassen - und schon ist der Fall komplett. Das heißt doch wirklich, uns was vom Pferd zu erzählen, wie unsere amerikanischen Freunde das nennen würden! So geht es nicht.« »Nun gut«, versetzte der Chief Constable starrköpfig. »Sie können ja, wenn Sie wollen, den Balkon untersuchen. Ich bin mir allerdings mächtig sicher, daß ich das nicht tun werde.« Dr. Fell zog sich hoch. »Oh, das mache ich schon. Beachten Sie bitte, daß ich nicht gesagt habe, es gäbe keine Todesfalle. Sie könnten recht haben«, fügte er hinzu. Eindringlich blickte er starr geradeaus. »Doch ich möchte daran erinnern, daß wir lediglich eines mit absoluter Sicherheit wissen, nämlich daß der junge Starberth unter dem Balkon lag und sein Genick gebrochen war. Das ist alles.« Sir Benjamin lächelte in seiner verkniffenen Art, wobei er die Mundwinkel eher nach unten als nach oben zu ziehen schien. Ironisch sagte er: »Es freut mich, daß Sie wenigstens ein gutes Haar an meinen Überlegungen lassen. Ich habe zwei sehr überzeugende Theorien des Todesfalls entwickelt, die beide auf einer Falle basieren - « »Und beide sind Mist!« sagte Dr. Fell. Er hatte bereits die Balkontür ins Auge gefaßt und schien besorgt zu sein. »Vielen Dank.« »Oh, macht nichts, « murmelte der Doktor verdrossen. »Ich beweise es Ihnen, wenn Sie es wollen. Beide Theorien basieren doch darauf, daß der junge Starberth angeblich auf den Balkon 86
gelockt wurde, und zwar entweder (A) von den im Tresor gefundenen Instruktionen oder (B) durch den Trick einer Person, die den Safe berauben wollte und deshalb Starberth hinausschaffte, um den Balkon diese schändliche Arbeit machen zu lassen. Nicht wahr?« »Sehr richtig.« »Gut. Dann versetzen Sie sich doch einmal in die Lage des jungen Starberth. Sie sitzen am Tisch, wo er saß, mit Ihrer Fahrradlampe neben sich; ob so nervös, wie er war, oder so ruhig, wie Sie jetzt vielleicht sind, ist egal. Haben Sie das? Sehen Sie diese Szene?« »Vollkommen, danke sehr.« »Mit welcher Absicht auch immer, Sie gehen hinüber zur Tür, die seit Gott weiß wie vielen Jahren nicht mehr geöffnet worden ist. Sie versuchen also nicht nur, eine fest verschlossene Tür zu öffnen, sondern Sie wollen hinaus auf einen Balkon gehen, wo die Nacht schwärzer als Pech ist... Was tun Sie?« »Nun, ich nehme die Lampe und - « »Genau. Das ist es. Das ist die ganze Geschichte. Sie halten die Lampe, während Sie die Tür öffnen, und Sie leuchten, noch bevor Sie einen Fuß hinausgesetzt haben, raus auf den Balkon, um zu sehen, was Sie erwartet... Gut, aber genau das hat unser Opfer nicht getan. Wenn auch nur durch eine Ritze dieser Tür Licht gefallen wäre, hätten wir das von meinem Garten aus sehen müssen. Das haben wir aber nicht.« Schweigen. Sir Benjamin schob mißmutig seinen Hut von einem Ohr aufs andere. »Donnerwetter!« murmelte er, »das klingt ja recht vernünftig. Und dennoch, sehen Sie, irgend etwas daran stimmt nicht. Ich sehe jedenfalls keine natürliche Möglichkeit, wie der Mörder in diesen Raum gelangt sein könnte, ohne daß Starberth geschrien hätte.« »Ich auch nicht«, sagte Dr. Fell, »wenn Sie das irgendwie tröstet. Ich...« Verwirrt unterbrach er sich und starrte die eiserne Balkontür an. »Oh Gott! Oh Bacchus! Bei meinem alten Hut! Das gibt's doch nicht.« Er stelzte hinüber zur Tür. Zuerst kniete er nieder und untersuchte dort, wo beim Öffnen der Tür Dreck- und Steinbröckchen herabgefallen waren, den staubigen, schmutzigen Boden. Er fuhr mit seiner Hand darüber. Dann erhob er sich und betrachtete die
87
Außenseite der Tür. Er drückte sie ein Stück weit zu und examinierte das Schlüsselloch. »Eindeutig mit einem Schlüssel geöffnet«, murmelte er. »Hier ist ein frischer Kratzer im Rost, wo er abgerutscht ist.« »Dann hat Martin Starberth die Tür also doch geöffnet?« bellte der Chief Constable. »Nein. Nein, das glaube ich nicht. Das war der Mörder.« Dr. Fell sagte noch etwas, was aber nicht mehr zu verstehen war, weil er durch das herabhängende Efeu hinaus auf den Balkon getreten war. Die Zurückgebliebenen sahen einander verlegen an. Rampole hatte vor dem Balkon sogar mehr Angst als eben noch vor dem Tresor. Trotzdem schob er sich näher, Sir Benjamin an seiner Seite. Als er sich umblickte, sah er, daß der Pfarrer eingehend die Titel der Kalbslederbände in den Regalen rechts des Kamins studierte; nur widerstrebend schien er sich von dort lösen zu können, obgleich sich seine Füße schon in Richtung des Balkons bewegten. Rampole zerrte die Weinranken zur Seite und trat hinaus. Der Balkon war nicht breit und stellte kaum mehr als einen Steinsaum am Fuße der Tür dar, der hüfthoch von einer Balustrade eingefaßt war. Als er und Sir Benjamin neben den Doktor getreten waren, war kaum noch Platz auf dem Balkon. Niemand sprach. Die Morgensonne schien noch nicht über das Gefängnis hinweg. Die steil abfallende Mauer, der Hügel und der Hexenwinkel zu ihren Füßen lagen noch im Schatten. Etwa acht Meter tiefer sah Rampole den Rand der Klippe über Schlamm und Strauchwerk hinausragen, darauf das Dreieck der Steinblöcke, die früher den Galgen getragen hatten. Durch die kleine Tür dort unten hatte man die Verurteilten aus der Folterkammer herausgeführt, wo der Schmied ihnen vor dem letzten Gang die Eisen abgeschlagen hatte. Von hier oben aus hatte Anthony alles beobachtet, in seinem neuen scharlachroten Anzug und dem betreßten Hut. Als er sich vorbeugte, sah er zwischen den Föhren die gähnende Öffnung des Brunnens. Obwohl der im tiefsten Schatten lag, glaubte er doch, den grünen Schleim auf dem Wasser viele Meter tiefer genau erkennen zu können. Da war diese klaffende, von eisernen Spitzen umsäumte Grube, gut fünfzehn Meter unter dem Balkon. Jenseits davon lagen die nördlichen Wiesen bereits in hellem Sonnenlicht, sie 88
waren übersät mit weißen Blumen. Man hatte einen guten Blick über die Ebene, die mit ihren Heckenreihen einem wogenden Schachbrett glich, auf die weiße Straße, den glitzernden Fluß, die hellen Häuser zwischen den Bäumen und den Kirchturm. Frieden. Heute waren die Wiesen nicht schwarz von Gesichtern, die einer Hinrichtung zusehen wollten. Rampole sah, wie ein Heuwagen die Straße entlangschaukelte. » - sieht doch stabil genug aus«, hörte Rampole Sir Benjamin sagen, »und wir bringen schließlich ein ganz nettes Gewicht auf. Ich mag trotzdem nirgendwo herumfummeln. Vorsicht! Was machen Sie denn da?« Dr. Fell wühlte vorsichtig im Efeu hinter der schwarzen Balustrade. »Das hier wollte ich schon immer mal untersuchen«, sagte er, »doch ich hätte nie gedacht, daß ich tatsächlich einmal die Gelegenheit dazu haben würde. Hm. Das würde hier wohl kaum Spuren hinterlassen, oder doch?« murmelte er bei sich. Es folgte das Rascheln von reißendem Efeu. »Ich wäre vorsichtiger an Ihrer Stelle. Selbst wenn - « »Ha!« rief der Doktor und keuchte triumphierend. »Heißa! Trink Heil - wie der Trinkspruch der alten Sachsen hieß. Diese Knöpfe auf den Augen! Hätte nie gedacht, daß ich es tatsächlich entdecken würde. Doch hier ist es. Hi. Hihihi!« Er wandte ihnen sein strahlendes Gesicht zu. »Schauen Sie hier, am äußeren Rand der Brüstung. Da ist eine ausgeschabte Stelle, in die mein Daumen paßt. Und hier eine andere, nicht ganz so tiefe Rille an der uns zugewandten Seite.« »Und was ist damit?« wollte Sir Benjamin wissen. »Ich würde lieber nicht daran herumfummeln. Man weiß nie.« »Ein historischer Fund, das müssen wir feiern. Kommen Sie, meine Herren. Ich glaube nicht, daß es hier draußen sonst noch was gibt.« Als sie das Gouverneurszimmer wieder betraten, sah ihn Sir Benjamin mißtrauisch an. Er fragte: »Wenn Sie was gesehen haben - ich, zum Teufel, jedenfalls nicht. Was soll diese Kerbe denn mit dem Mord zu tun haben?« »Überhaupt nichts, Mann! Das heißt«, sagte Dr. Fell, »nur indirekt. Allerdings, wenn es diese beiden Rillen im Stein nicht gäbe... Trotzdem, ich weiß es noch nicht genau!« Er rieb sich die Hände. »Hören Sie. Erinnern Sie sich noch an den Wahlspruch 89
des alten Anthony? Er hatte ihn auf seinen Büchern stehen, in seine Ringe geprägt und Gott weiß, was sonst noch. Ist er Ihnen jemals aufgefallen?« »Soso«, meinte der Chief Constable und kniff die Augen zusammen, »damit kehren wir also wieder zum alten Anthony zurück, was? Nein. Habe ich nie gesehen, den Wahlspruch. Und vorausgesetzt, Sie haben nicht noch einen anderen Vorschlag, machen wir besser, daß wir hier rauskommen und statten dem Herrenhaus einen Besuch ab. Kommen Sie! Was hat es also damit auf sich?« Dr. Fell warf einen letzten Blick in den düsteren Raum. »Das Motto«, sagte er, »lautete Omnia mea mecum porto - all meine Habe trage ich bei mir. Na? Denken Sie mal darüber nach. Wie war's jetzt mit einer Flasche Bier?«
Kapitel 9
Ein gewundener Kiesweg. Graue Tauben, die mißtrauisch unter den Ulmen umherstolzierten. Ein kurzgeschorener Rasen und die Schatten von Vögeln unter der Sonne. Das schlichte, hohe Haus aus dunkelroten Ziegeln, mit weißen Blenden und einer weißen Kuppel, die von einer vergoldeten Wetterfahne gekrönt wurde, war seit den Tagen der Königin Anne in Würde gealtert. Bienen summten irgendwo, und der süße, schwere Geruch von Heu lag in der Luft. All das hatte Rampole vergangene Nacht nicht wahrgenommen. Es hatte geregnet, als der Ford des Pfarrers hier vorgefahren war und er mit Saunders den leichten Körper, der schon steif wurde, diese Stufen hinaufgetragen hatte. Eine prachtvolle Eingangshalle hatte sich vor ihnen aufgetan, als seien sie mit ihrer tropfenden Last plötzlich vor tausend Zuschauern auf eine hell erleuchtete Bühne gestoßen worden. Als er nun mit seinen Begleitern die Auffahrt hinaufging, schrak er innerlich davor zurück, ihr wiederzubegegnen. Ja, so war es gewesen: auf eine Bühne geschubst, ohne Text, verwirrt und fehl am Platz; entblößt, wie manchmal in bösen Träumen. Sie hatte nicht in der Eingangshalle gewartet. Nur der Butler - wie hieß er doch gleich? - hatte mit leichter Verneigung dort gestanden, die Hände gefaltet. Er hatte im Büro eine Couch vorbereitet. Sie war aber sofort aus der Bibliothek gekommen. Ihre geröteten Augen hatten erkennen lassen, daß sie einen schrecklichen Weinkrampf gehabt hatte. Doch war sie ruhig und preßte mit ausdruckslosem Gesicht ein Taschentuch. Er hatte nichts gesagt. Was, zum Teufel, hätte er auch sagen sollen? Jedes Wort, jede Geste - alles hätte doch nur plump und schwerfällig aussehen können. Er wußte nicht, warum; es hätte einfach so ausgesehen. Er hatte nur erbärmlich in der Tür gestanden, mit durchnäßten Flanellhosen und Tennisschuhen, und war, so schnell er konnte,
91
wieder verschwunden. Er erinnerte sich noch an seinen Abgang: Es hatte eben zu regnen aufgehört, und die Standuhr schlug Eins. In seiner Erbärmlichkeit hatte er sich, wie ihm jetzt wieder einfiel, an dieser kleinen Sache festgeklammert: Der Regen hörte um ein Uhr auf. Der Regen hörte um ein Uhr auf. Das mußte er sich merken. Warum? Nun, egal Nicht, daß er irgendwie Trauer über den Tod von Martin Starberth empfunden hätte. Er hatte ihn nicht mal gemocht. Es war das, wofür er stand: das Verlorene und Verzweifelte im Gesicht des Mädchens, als sie hereinkam, um ihren Toten zu betrachten. Wie sie ihr Taschentuch knetete, das kurze Zucken im Gesicht, wie bei einem Schmerz, der zu groß ist, um noch ertragen zu werden. Der elegante Martin hatte merkwürdig ausgesehen im Tod: Er trug ein Paar alter grauer Hosen und eine zerrissene Tweedjacke... Wie würde es Dorothy jetzt gehen? Er bemerkte die verschlossenen Läden und den Trauerflor an der Tür und fröstelte innerlich. Budge öffnete ihnen und wirkte erleichtert, als er den Chief Constable erkannte. »Ja, Sir«, sagte er, »soll ich Miss Dorothy holen?« Sir Benjamin sog an seiner Unterlippe. Ihm war unbehaglich. »Nein, im Moment noch nicht. Wo ist sie?« »Oben, Sir.« »Und Mr. Starberth?« »Ebenfalls oben, Sir. Die Leute vom Bestattungsinstitut sind hier.« »Sonst noch jemand?« »Ich glaube, Mr. Payne ist auf dem Weg hierher, Sir. Und Dr. Markley wollte kommen, Sir. Er sagte mir, daß er Sie sehen wollte, Sir, sobald er seine Morgenrunde beendet habe.« »Aha. Verstehe. Übrigens, Budge... diese Leute vom Begräbnisinstitut: Ich möchte die Kleidungsstücke sehen, die Mr. Starberth letzte Nacht getragen hat, und den Inhalt der Taschen, verstanden?« Bugde neigte seinen leicht platten Kopf zu Dr. Fell. »Ja, Sir. Dr. Fell erwähnte diese Möglichkeit bereits letzte Nacht. Ich nahm mir die Freiheit, alles aufzubewahren, ohne irgend etwas aus den Taschen zu holen.« »Gut, Mann. Holen Sie das Zeug und bringen Sie es in die Bibliothek... Und - äh - Budge!«
92
»Ja, Sir?« »Falls Sie Miss Starberth sehen sollten«, sagte Sir Benjamin nervös, »teilen Sie ihr mein tiefstes - äh - Sie verstehen? Ja.« Er zögerte, dieser aufrichtige Polizeioffizier, und errötete leicht, weil ihm das wohl wie eine >Irreführung von Freunden< erschien. »Und ich würde gerne Mr. Herbert Starberth sehen, sobald es genehm ist.« Budge blieb ungerührt. »Mr. Herbert ist bis jetzt noch nicht zurück, Sir.« »Oh, ja! Verstehe. Gut, dann holen Sie jetzt die Kleidungsstücke.« Sie betraten die abgedunkelte Bibliothek. In einem Trauerhaus, wo die Gefühle aufgewühlt sind, behalten allein die Frauen einen klaren Verstand; Männer, wie diese vier, sind sprachlos und ungeschickt. Saunders war der einzige, der Anzeichen innerer Ruhe zeigte. Er hatte seine glatten Manieren wiedergewonnen und sah so salbungsvoll aus, als wollte er das Gebetbuch aufschlagen und daraus vorlesen. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Gentlemen«, sagte er. »Ich glaube, ich sehe einmal nach, ob mich Miss Starberth empfängt. Dies ist eine schwere Prüfung, eine schwere Prüfung; und wenn ich etwas Beistand leisten kann...« »Schon recht«, sagte der Chief Constable mürrisch. Als der Pfarrer weg war, begann er, auf und ab zu gehen. »Natürlich ist es eine schwere Prüfung. Aber warum, zum Teufel, darüber reden? Ich schätze so was nicht.« Rampole stimmte ihm von Herzen zu. Sie standen alle nervös in dem großen, ehrwürdigen Raum herum; Sir Benjamin öffnete einige Läden. Zart tönten silbrige Stundenschläge von der großen Uhr in der Eingangshalle herüber. In dieser Bibliothek sah alles alt, solide und traditionsgebunden aus. Da stand ein Globus, den nie jemand drehte, die Regale steckten voll mit Werken anerkannter Autoren, die niemand je las, und über dem Kaminsims hing ein ausgestopfter Schwertfisch, den (davon war man überzeugt) niemand je gefangen hatte. In einem Fenster hing, wie ein Amulett gegen Hexen, eine Glaskugel. Budge kam bald zurück mit einem Wäschebeutel über dem Arm. »Alles da«, verkündete er, »mit Ausnahme der Unterwäsche. Nichts wurde aus den Taschen entfernt.« 93
»Danke Ihnen. Bleiben Sie, Budge. Ich möchte Ihnen gerne einige Fragen stellen.« Dr. Fell und Rampole kamen herüber, um zuzusehen, wie Sir Benjamin den Beutel auf den Tisch in der Mitte legte und begann, die Sachen nacheinander herauszuholen. Eine graue Jacke, die vor Dreck starrte, abgewetzt und mit aufgerissenen Nähten. Einige Knöpfe fehlten. »Aha«, murmelte der Chief Constable und griff in die Taschen. »Eine Zigarettendose - recht hübsch, mit - sieht nach amerikanischen Zigaretten aus. Ja. Lucky Strike. Eine Streichholzschachtel. Eine Taschenflasche mit Brandy, zwei Drittel voll. Das war es auch schon.« Er kramte weiter. »Ein altes Hemd, nichts in der Tasche. Socken. Hier die Hose, ebenfalls reparaturbedürftig. Er hat gewußt, daß es eine staubige Angelegenheit werden würde, in diesem Gefängnis herumzustolpern. Hier steckt seine Brieftasche.« Sir Benjamin zögerte. »Ich glaube, ich werfe doch besser einen Blick hinein. Hm. Eine Zehnschillingnote, zwei Pfundnoten und ein Fünfer. Briefe, alle an ihn, abgeschickt in Amerika, amerikanische Briefmarken. >Martin Starberth, Esqu., 470 West 24. St. N.Y.< Hm. Glauben Sie, irgendein Feind könnte ihm aus Amerika hierher gefolgt sein...?« »Ich bezweifle es«, sagte Dr. Fell. »Die können Sie weglegen.« »Ein Notizbuch voller Eintragungen. >A & SGood RoysterersRoaring CaravansOedipus RisesBloomingdalesGood -< Was soll das alles?« »Wahrscheinlich Bestellungen«, sagte Rampole. »Er erzählte mir, er sei im Verlagsgeschäft tätig. Sonst noch was?« »Eine Anzahl Karten. >Der Freiheits-ClubValhalla Cordial Shop, We Deliver 342 Bleecker - « »Ist in Ordnung«, meinte Rampole. »Ich verstehe.« »Das war's. Damit hätten wir Brieftasche und Kleidung. Warten Sie! Donnerwetter! Hier steckt seine Uhr. Läuft noch. Der Körper dämpfte die Wucht des Falls und die Uhr - « »Lassen Sie mich sehen«, schaltete sich Dr. Fell plötzlich ein. Er drehte die flache goldene Uhr um, deren Ticken laut und vernehmlich durch den stillen Raum tönte. »In den Romanen«, fuhr er fort, »ist die Uhr des Toten immer äußerst vorteilhaft 94
zerstört und bringt den Detektiv auf eine falsche Todeszeit, weil der Mörder die Zeiger natürlich anders eingestellt hat. Sehen Sie also hier die Ausnahme aus dem wirklichen Leben.« »Ich verstehe«, versetzte der Chief Constable. »Doch warum sind Sie daran so interessiert? In unserem Mordfall spielt doch die Todeszeit überhaupt keine Rolle.« »Oh doch!« sagte Dr. Fell. »Eine größere, als Sie denken. Momentan zeigt die Uhr fünfundzwanzig Minuten nach zehn.« Er spähte zu der Uhr auf dem Kaminsims hinüber. »Die Uhr dort zeigt auf die Sekunde genau ebenfalls fünfundzwanzig Minuten nach zehn... Budge, wissen Sie zufällig, ob diese Uhr richtig geht?« Budge nickte. »Ja, Sir. Sie geht richtig. Das weiß ich genau, Sir.« Der Doktor zögerte, sah den Butler scharf an und legte die Uhr hin. »Sie blicken verflixt ernst drein, Mann« sagte er. »Warum sind Sie denn so sicher?« »Weil letzte Nacht etwas Ungewöhnliches passiert ist, Sir. Die Standuhr in der Eingangshalle ging zehn Minuten vor. Ich - äh bemerkte es zufällig, als ich sie mit der Uhr hier drinnen verglich. Daraufhin ging ich rund, um alle anderen Uhren im Haus zu überprüfen. Normalerweise stellen wir unsere Uhren nach der Standuhr, Sir, und ich dachte - « »Sie haben also nachgeschaut«, fragte Dr. Fell. »Sie haben auch die anderen Uhren überprüft, ja?« »Wieso - ja, Sir«, sagte Budge leicht erschrocken. »Und? Gingen sie richtig?« »Das, wenn ich so sagen darf, Sir, ist das Komische an der Sache. Alle gingen richtig. Alle, außer der Standuhr. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es dazu kam, Sir. Jemand muß sie verstellt haben. In der Aufregung und Eile hatte ich noch keine Möglichkeit, der Sache nachzugehen...« »Was soll das alles?« wollte der Chief Constable wissen. »Nach dem, was Sie mir erzählt haben, erreichte der junge Starberth das Gouverneurszimmer doch Schlag elf. Seine Uhr stimmt, alles stimmt...« »Ja«, sagte Dr. Fell. »Das ist es ja eben, was alles so falsch werden läßt, wissen Sie. Eine Frage noch, Budge. Gibt es eine Uhr in Mr. Martins Zimmer?«
95
»Ja, Sir. Ein große Wanduhr.« Dr. Fell nickte einige Male, als ginge er mit sich selbst zu Rate. Dann schlurfte er zu einem Sessel und ließ sich seufzend darin nieder. »Fahren Sie fort, alter Knabe. Ich stelle vielleicht in den komischsten Augenblicken jede Menge blöder Fragen, und wahrscheinlich werde ich das noch den ganzen Tag lang bei jedem Ihrer Zeugen machen. Ertragen Sie mich bitte, ja? - Eh, Budge! Wenn Sir Benjamin mit Ihnen fertig ist, möchte ich, daß Sie die Person ausfindig machen, die die Uhr in der Eingangshalle verstellt hat. Das ist ziemlich wichtig.« Der Chief Constable trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf den Tisch. »Sind Sie sicher, daß Sie jetzt fertig sind?« fragte er. »Wenn nicht - « »Nun, ich könnte noch darauf hinweisen«, antwortete der Doktor und hob seinen Stock, »daß der Mörder mit Sicherheit etwas aus diesen Kleidungsstücken entwendet hat. Was wohl? -Natürlich die Schlüssel, Mann! All die Schlüssel, die er gehabt haben muß. Die haben Sie ja nicht gefunden, oder?« Sir Benjamin schwieg und nickte nachdenklich. Mit einer entschlossenen Geste wandte er sich dann an Budge. Erneut kauten sie dieselben unergiebigen Einzelheiten durch, die sie schon in der vergangenen Nacht erfahren hatten. Rampole wollte das nicht noch einmal hören. Er kannte die schlichten Fakten schon, die Dr. Fell dem Butler entlockt hatte. Er wollte Dorothy Starberth sehen. Der Pfarrer würde jetzt oben bei ihr sein und sie wie ein frommer Heizer mit tröstenden Platitüden zuschaufeln, in der Annahme, die Tröstung hänge von der Menge des Gesagten ab. Er konnte sich genau vorstellen, wie Saunders seine konventionellen Sätze in genau jener glatten, gedankenlosen Manier aufsagte, bei der Frauen dann »Sie sind mir ja so eine Hilfe!« murmeln und sich für das Zartgefühl bedanken können. Warum schwiegen die Menschen nicht in Gegenwart des Todes? Warum stammelten sie immer wieder diesen Unsinn wie: »Er-siehtso-natürlich-aus, nicht?« und all die anderen Bemerkungen, bei denen die Frauen bloß wieder anfangen zu heulen? Einerlei. Ihm mißfiel die Vorstellung, daß Saunders (der diese Rolle auch noch genießen würde) da oben so freundlich und brüderlich mit ihr tat. Budges berufsmäßig gelassene Miene ging ihm ebenfalls auf die Nerven und dieser gelackte Satzbau und 96
diese makellosen Aussprüche, als kämen seine Worte aus einer Sprechmaschine. Schlechtes Benehmen oder nicht - er konnte hier nicht länger herumsitzen. Was die anderen auch darüber denken mochten, er mußte näher bei ihr sein. Damit schlüpfte er aus dem Zimmer. Aber wohin jetzt? Wohl nicht nach oben, denn das wäre doch ein wenig des Guten zuviel. Er konnte aber auch nicht in der Halle herumschleichen, als suche er den Gaszähler. Gab es eigentlich Gaszähler in England? Na ja. Er schlenderte in den hinteren Teil der dämmrigen Halle und entdeckte in der Nähe der Treppe eine halbgeöffnete Tür. Eine Gestalt stand dort im Gegenlicht - Dorothy Starberth winkte ihm zu. Als er im Schatten der Treppe vor ihr stand und ihre Hände ergriff, spürte er, daß sie zitterte. Anfangs hatte er Angst, ihr ins Gesicht zu sehen, weil er trotz des Kloßes in seinem Hals herauszuplatzen fürchtete: »Ich habe dich enttäuscht, aber ich hätte dich nicht enttäuschen dürfen!« Aber das zu sagen - nein! Oder er könnte ihr, hier im schützenden Schatten neben dem sanften Ticken der alten Uhr, erklären: »Ich liebe dich.« Der Gedanke an das, was er noch alles sagen könnte, traf ihn mit stechendem Schmerz. Doch es fielen keine Worte. Nur die Uhr murmelte in dieser stillen Kathedrale; in ihm aber rief es: Großer Gott, warum muß es bloß all diesen Unsinn geben, diese Pflicht zu Stärke und Selbstvertrauen, und das noch bei jemandem wie ihr? So möchte ich sie nicht. Ihren zarten Körper, den ich jetzt in meinen Armen halten könnte, würde ich beschützen und behüten. Und ihr Flüstern klänge für mich wie ein Kriegsruf in der Nacht. Gegen diesen Schutz könnte ihr nicht einmal die Hölle etwas anhaben, denn ich hielte sie für immer fest. Aber ihm war klar, daß er diesen Überschwang jetzt zügeln mußte. Das war ja doch nur verrücktes, lächerliches Zeug, was er da phantasierte. Aus diesem Gewirr seiner Träume allerdings drang jetzt sein unbeholfenes Selbst, das sagte: »Ich weiß...« Ein törichtes Flüstern, als er ihre Hand streichelte. Dann fanden sie sich irgendwie hinter der Tür wieder, in einem kleinen Arbeitszimmer mit heruntergelassenen Markisen. »Ich habe gehört, wie du hereinkamst«, sagte sie mit leiser Stimme, »und ich hörte auch, daß Mr. Saunders die Treppe
97
heraufkam, aber ich wollte nicht mit ihm reden. Deshalb ließ ich ihn von Mrs. Bundle aufhalten und kam über die Hintertreppe herunter. Sie wird ihm schon die Ohren vollquatschen.« Sie setzte sich auf ein altes Roßhaarsofa, ihr Kinn in die Hände gestützt, die Augen schwer und ohne Glanz. Sie schwiegen. Der verschlossene, dämmrige Raum war drückend schwül. Als sie mit einer kleinen verkrampften Geste wieder zu reden begann, berührte er ihre Schulter. »Wenn du lieber nicht reden willst...« »Ich muß aber reden. Es scheint schon Tage her zu sein, daß ich das letzte Mal geschlafen habe. Und ich muß gleich auch noch da hinein, um die ganze Sache mit denen nochmal durchzukauen.« Sein Griff wurde fester. Sie hob den Kopf. »Du mußt mich nicht so ansehen«, sagte sie sanft. »Glaubst du mir, daß ich Martin nie sonderlich gern gemocht habe? Das ist es nicht, sein Tod, meine ich. Er hat nie einem von uns besonders nahe gestanden, weißt du. Eigentlich sollte ich mich schlimmer fühlen, als ich es tue.« »Nun, dann...« »Beides ist aber gleich schlimm!« rief sie mit erhobener Stimme. »Entweder, wir können nichts daran machen und sind verhext, verdammt, wir alle; es liegt im Blut. Vergeltung. Ich habe nie daran geglaubt und werde es auch nicht glauben. Oder - « »Schluß damit. Du mußt dich zusammenreißen.« »Oder - vielleicht auch beides. Wie sollen wir wissen, was alles im Blut eines Menschen steckt? In deinem oder meinem oder dem von irgend jemand? Vielleicht gibt es Mörderblut genausogut wie Gespenster... Ist die Tür auch zu?« »Ja.« »Jeder von uns, ach - « Ihre Stimme wurde unsicher, und sie preßte die Hände zusammen, als könne sie nichts mit ihnen anfangen. »Ich könnte ja dich töten. Ich würde vielleicht die Pistole aus der Schreibtischschublade dort nehmen, weil ich gar nicht anders könnte, und plötzlich...« Sie zitterte. »Wenn diese ganzen Leute nicht zum Selbstmord verdammt waren oder vom Schicksal persönlich vom Balkon gestoßen wurden oder von Gespenstern, ich weiß nicht - dann war irgend jemand dazu verdammt, sie zu töten aus unserer Familie...« »Du mußt aufhören damit! Hörst du! Sieh mal - « 98
Sie nickte nur sanft, strich mit den Fingerspitzen über ihre Augenlider und blickte auf. »Glaubst du, daß Herbert Martin getötet hat?« »Nein! Nein, natürlich nicht. Und es war auch nicht dieser Gespensterquatsch. Außerdem weißt du genau, daß dein Vetter Martin niemals hätte töten können. Er bewunderte ihn. Und er ist solide und zuverlässig - « »Er hat manchmal mit sich selbst gesprochen«, sagte das Mädchen dumpf. »Ich erinnere mich jetzt, er sprach mit sich selbst. Die Stillen sind es, vor denen habe ich Angst. Das sind diejenigen, die verrückt werden, wenn es sich wirklich um verseuchtes Blut handelt... Er hatte große rote Hände. Und seine Haare wollten einfach nicht liegenbleiben, so sehr er sie auch glattstrich. Er war so zart gebaut wie Martin, aber seine Hände waren viel zu groß. Er hat immer versucht, wie Martin auszusehen. Ich frage mich, ob er Martin vielleicht gehaßt hat?« Ein kurzes Schweigen, während sie an den Nähten des Sofas herumzupfte. »Ständig versuchte er, etwas zu erfinden, was aber niemals funktionierte. Eine neue Buttermaschine zum Beispiel. Er hielt sich für einen Erfinder. Von Martin wurde er immer ausgelacht.« Plötzlich standen Gestalten im dunklen Zimmer. Rampole sah zwei Figuren im Sonnenuntergang mitten auf einer Straße stehen, sehr ähnlich in ihrer Erscheinung und doch so wesensverschieden. Martin betrunken, eine Zigarette im Mundwinkel. Herbert linkisch und mit stumpfen Gesichtszügen, einen schlechtsitzenden Hut genau auf der Mitte des Kopfes. Man fühlte, wenn Herbert jetzt rauchte, dann würde ihm die Zigarette exakt in der Mitte des Mundes stecken und nur peinlich zittern. »Jemand hat gestern abend den Safe in der Bibliothek geöffnet«, sagte Dorothy Starberth. »Das ist etwas, was ich Dr. Fell gestern erzählt habe. Ich habe ihm vieles nicht gesagt, was wichtig gewesen wäre. Ich habe ihm auch nicht berichtet, daß Herbert beim Abendessen viel aufgeregter war als Martin... Es war Herbert, der den Bibliothekssafe geöffnet hat.« »Aber - « »Martin kannte die Kombination nicht. Er war zwei Jahre weg und hatte gar keine Gelegenheit dazu. Die einzigen, die sie kannten, waren ich selbst, Mr. Payne - und Herbert. Ich sah das Ding gestern abend offenstehen.« 99
»Fehlte etwas?« »Ich glaube nicht. Es wurden keine Wertsachen darin aufbewahrt. Seit Vater sich dieses Arbeitszimmer hier einrichtete, hat er den Safe nicht mehr benutzt. Ich bin sicher, daß er ihn jahrelang nicht geöffnet hat, und von uns anderen auch keiner. Er war bloß vollgestopft mit alten Papieren. Es ist nichts entwendet worden, jedenfalls nichts, was mir aufgefallen wäre. Ich habe aber etwas gefunden.« Er fragte sich, ob sie hysterisch wurde. Sie erhob sich vom Sofa, öffnete den Sekretär mit einem Schlüssel, der um ihren Hals hing, und zog ein vergilbtes Stück Papier heraus. Als sie es ihm reichte, unterdrückte er das Verlangen, sie in seine Arme zu schließen. »Lies!« sagte sie atemlos. »Dir vertraue ich. Den anderen werde ich nichts erzählen. Ich muß es jemandem sagen... Lies!« Verwirrt betrachtete er das Blatt. »3. Februar 1895. Meine Abschrift der Verse - Timothy Starberth«, stand in verblaßter Tinte darüber. Sie lautete: Er klassisch übern Himmel fährt; Wenn Alpha ruft nach seinem Ende, Wo Newgate-Kittchen wallbewehrt Schifft Charon darauf Diesseits' Wende. Homer von Trojas Unglück sang Dort scheint die Sonn' um Mitternacht, Ist mondbesternt und macht schön bang: Der Kors' ward hier zur Welt gebracht! Wo ruht dein aschzerstäubt' Gebein? Dein Fuß stößt dran, du bist erstaunt, Zur Krippe weist Kometenschein. Der Kelten blinder Sänger raunt: Wohl schwarzen Todes Boten sind. Nimm Ost-Süd-West: wer's findt, gewinnt! »Tja«, murmelte Rampole über die Zeilen gebeugt, »sehr schlechte Verse, die, soweit ich sehe, nicht den geringsten Sinn ergeben. Aber das trifft auf eine Menge Gedichte zu, die ich gelesen habe.., Was ist das?« 100
Sie blickte ihn fest an. »Siehst du das Datum? Der dritte Februar war Vaters Geburtstag. Er wurde 1870 geboren und war 1895 also -« »Fünfundzwanzig Jahre alt!« entfuhr es Rampole. Beide schwiegen, und Rampole starrte die rätselhaften Verse mit allmählich erwachendem Verständnis an. All die wilden Vermutungen, die er und Sir Benjamin angestellt hatten und die Dr. Fell doch so heftig verspottet hatte, nahmen wieder Gestalt an. »Jetzt werde ich dir mal weiterhelfen«, schlug er vor. »Wenn das stimmt, dann befand sich das Original dieses Papiers - es heißt hier ja >meine Abschrift - im Tresor des Gouverneurszimmers. Stimmt's?« »Das muß es also sein, was die ältesten Söhne sich ansehen sollten.« Sie nahm ihm das Blatt aus der Hand, als würde sie es hassen. Sie hätte es zerknüllt, wenn er nicht den Kopf geschüttelt hätte. »Ich habe darüber nachgedacht und wieder nachgedacht«, sagte sie. »Das ist die einzige Erklärung, die ich sehe. Ich hoffe, sie stimmt. Ich hatte mir so viele grausige Dinge vorgestellt, die im Safe sein könnten. Aber das hier ist genauso schlimm. Unsere Leute sterben weiter.« Er setzte sich aufs Sofa. »Wenn es da oben ein Original gegeben hat, dann ist es jetzt verschwunden.« Ruhig und ohne etwas auszulassen erzählte er ihr von ihrem Besuch im Gouverneurszimmer. »Das hier«, fügte er dann hinzu, »ist in irgendeiner Weise ein Kryptogramm. Es muß eines sein. Könnte wohl irgendwer Martin getötet haben, bloß um hier dranzukommen?« Diskret wurde an die Tür geklopft, und die beiden erschraken wie Verschwörer. Dorothy legte einen Finger auf die Lippen und verschloß das Blatt hastig im Schreibtisch. »Herein«, sagte sie. In der Öffnung der Tür erschien Budges glattes Gesicht. Falls er überrascht war, Rampole hier vorzufinden, so ließ er sich nichts anmerken. »Entschuldigen Sie, Miss Dorothy«, sagte er. »Mr. Payne ist soeben angekommen. Sir Benjamin würde Sie, wenn es Ihnen recht ist, gerne in der Bibliothek sprechen.«
101
Kapitel 10
Kurz zuvor mußten in der Bibliothek scharfe Worte gefallen sein. Soviel war der herrschenden Spannung und Beklommenheit und der leichten Rötung auf Sir Benjamins Gesicht klar zu entnehmen. Er stand mit dem Rücken zum leeren Kamin, die Hände hinter sich gefaltet. Mitten im Raum stand, wie Rampole jetzt sah, sein spezieller Liebling: der Anwalt Payne. »Ich kann Ihnen sagen, was Sie jetzt tun, Sir«, sagte Sir Benjamin. »Sie setzen sich wie ein vernünftiger Mensch dorthin und machen Ihre Aussage dann, wenn ich Sie darum bitte. Nicht eher.« In Paynes Kehle rasselte es. Rampole sah, wie sich seine kurzgeschnittenen weißen Nackenhaare aufrichteten. »Sind Sie mit dem Gesetz vertraut, Sir?« krächzte er. »Ja, Sir, das bin ich«, entgegnete Sir Benjamin. »Zufällig bin ich selbst Jurist. Würden Sie nun bitte meinen Anweisungen Folge leisten, oder soll ich - « Dr. Fell hüstelte. Er nickte matt Richtung Tür und zog sich, als Dorothy Starberth eintrat, aus dem Sessel hoch. Payne wandte sich abrupt um. »Ah, kommen Sie nur herein, meine Liebe«, sagte er und schob ihr einen Sessel hin. »Nehmen Sie Platz, ruhen Sie sich aus. Sir Benjamin und ich«, seine weißen Augen funkelten den Chief Constable an, »haben mit Ihnen zu reden.« Er verschränkte seine Arme und rührte sich nicht weg von der Seite ihres Sessels, wo er sich wie ein Wächter postiert hatte. Sir Benjamin fühlte sich ganz und gar nicht wohl. »Sie wissen natürlich, Miss Starberth«, begann er, »was wir alle bei dieser tragischen Angelegenheit empfinden. Ich kenne Sie und Ihre Familie lange genug; und ich glaube, daß ich darüber keine weiteren Worte verlieren muß.« Sein ehrliches, altes Gesicht sah freundlich und betrübt aus. »Ich bedränge Sie zu
102
diesem Zeitpunkt nur ungern. Doch wenn Sie sich in der Lage fühlen, ein paar Fragen zu beantworten...« »Sie sind nicht verpflichtet, etwas zu sagen«, warf Payne ein. »Denken Sie daran, meine Liebe.« »Natürlich sind Sie nicht verpflichtet«, stimmte ihm Sir Benjamin zu und zügelte seinen Ärger. »Ich wollte Ihnen nur eventuelle Unannehmlichkeiten bei der späteren gerichtlichen Untersuchung ersparen.« »Natürlich«, sagte das Mädchen. Sie saß ruhig da, die Hände in den Schoß gelegt, und wiederholte nun die Geschichte, die sie bereits in der vergangenen Nacht erzählt hatte. Kurz vor neun war das Abendessen zu Ende gewesen. Sie hatte versucht, Martin zu unterhalten und seine Gedanken von der bevorstehenden Sache abzulenken. Doch er war bedrückt und erregt gewesen und sofort auf sein Zimmer gegangen. Wo Herbert sich aufhielt? Sie wußte es nicht. Sie war nach draußen gegangen, wo es etwas kühler war, und hatte eine knappe Stunde lang vor dem Haus gesessen. Dann war sie hinüber ins Arbeitszimmer gegangen, um einen Blick in die Haushaltsabrechnung des Tages zu werfen. In der Halle hatte sie Budge getroffen, der ihr mitteilte, daß er eine Radlampe hinauf in Martins Zimmer gebracht habe, wie dieser es verlangt hätte. Während der folgenden halben oder dreiviertel Stunde war sie einige Male kurz davor gewesen, zu Martin hinaufzugehen. Doch dieser hatte verlangt, in Ruhe gelassen zu werden. Er war beim Abendessen mürrisch und übelgelaunt gewesen, deshalb hatte sie von ihrem Vorhaben Abstand genommen. Vielleicht fühlte er sich besser, wenn niemand seinen Nervenzustand mitbekam. Ungefähr um zwanzig vor elf hatte sie gehört, daß er sein Zimmer verließ, herunterkam und aus der Haustür ging. Sie war ihm nachgerannt und hatte die Seitentür erreicht, als er gerade die Auffahrt hinunterging. Sie hatte ihm etwas hinterhergerufen in der Furcht, er könne zuviel getrunken haben. Er hatte sogar geantwortet und ein paar Worte genuschelt, die sie aber nicht verstehen konnte. Seine Sprechweise war schwerfällig, doch wirkte er recht sicher auf den Beinen. Dann war sie ans Telefon gegangen und hatte bei Dr. Fell angerufen, um ihm mitzuteilen, daß Martin losgegangen war. Das war alles. Ihre ruhige, kehlige Stimme stockte kein einziges Mal während der Erzählung, und ihre Augen blieben fest auf Sir
103
Benjamin gerichtet. Ihr auch ohne jeden Lippenstift voller und roter Mund schien sich dabei kaum zu bewegen. Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück und starrte ins Sonnenlicht, das durch eines der geöffneten Fenster hereindrang. »Miss Starberth«, sagte Dr. Fell nach einer Weile, » haben Sie wohl etwas dagegen, wenn ich Ihnen eine Frage stelle? - Danke sehr. Budge hat uns erzählt, daß gestern abend die Uhr draußen in der Eingangshalle falsch ging, alle anderen Uhren jedoch richtig. Wenn Sie sagen, er habe das Haus zwanzig Minuten vor elf verlassen, meinen Sie dann die Zeit auf dieser Uhr oder die richtige Zeit?« »Wieso - « Erstaunt blickte sie zuerst ihn, dann ihre Armbanduhr und dann die Uhr auf dem Kaminsims an. »Wieso, die richtige Zeit natürlich! Da bin ich mir ganz sicher. Ich habe die Uhr in der Halle überhaupt nicht beachtet. Ja doch, die richtige Zeit.« Dr. Fell ließ sich zurückfallen, während das Mädchen ihn mit leichtem Stirnrunzeln ansah. Sichtlich von dieser erneut angesprochenen Nebensächlichkeit irritiert, hatte Sir Benjamin damit begonnen, auf dem Kaminvorleger auf und ab zu gehen. Es war ihm anzumerken, daß er sich zu bestimmten Fragen aufgerafft, aber durch die Unterbrechung des Doktors seine Entschlossenheit wieder verloren hatte. Endlich wandte er sich um. »Miss Starberth, Budge hat uns bereits von Herberts völlig unerklärlicher Abwesenheit erzählt...« Sie senkte den Kopf. »Denken Sie bitte nach! Sind Sie sicher, daß er nicht doch die Möglichkeit einer plötzlichen Abreise erwähnt hat? Können Sie sich keinen Grund für eine solche Reise vorstellen?« »Keinen«, sagte sie und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Sie brauchen nicht so förmlich zu sein, Sir Benjamin. Ich weiß ebenso gut wie Sie, was das bedeutet.« »Gut, also, um offen zu sein: Die Geschworenen werden dies bei der gerichtlichen Untersuchung vermutlich sehr nachteilig auslegen, es sei denn, er kehrte augenblicklich zurück. Und selbst dann verstehen Sie? Hat es in der Vergangenheit irgendwelchen Streit zwischen Herbert und Martin gegeben?« »Niemals.« »Oder in jüngster Zeit?« »Ungefähr einen Monat nach Vaters Tod ist Martin abgereist«, antwortete sie und verschränkte ihre Finger. »Wir haben ihn erst 104
vorgestern, als wir ihn von seinem Schiff in Southampton abholten, wiedergesehen. Es hat niemals die geringste Spannung zwischen ihnen gegeben.« Sir Benjamin war in sichtlicher Verlegenheit. Er blickte zu Dr. Fell, als wolle er sich von diesem soufflieren lassen. Doch der Doktor sagte nichts. »Im Moment«, fuhr er fort und räusperte sich, »fällt mir nichts weiter ein. Das ist alles - äh - sehr verwirrend. Wirklich, äußerst verwirrend. Wir möchten Sie natürlich nicht länger quälen, wenn Sie sich also gerne zurückziehen möchten...« »Danke. Aber wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte das Mädchen, »ziehe ich es vor hierzubleiben. Das ist - nun, ich will eben hierbleiben.« Payne klopfte ihr auf die Schulter. »Ich werde mich um das Weitere kümmern«, sagte er zu ihr und nickte dem Chief Constable mit trockener, boshafter Befriedigung zu. Sie wurden unterbrochen. Aus der Halle draußen war ein unruhiges, flüsterndes Gemurmel zu hören und dann eine schrille Stimme, die so plötzlich mit dem Ton einer sprechenden Krähe »Unsinn!« krächzte, daß sie erstarrten. Lautlos glitt Budge herein. »Wenn es recht ist, Sir«, sagte er dem Chief Constable, »bringt Mrs. Bundle eines der Hausmädchen, das etwas über die Uhr weiß.« » - jetzt aber los!« zeterte die Krähenstimme. »Sie marschieren jetzt geradewegs hier herein, junge Dame, und erzählen es ihnen. Das sind mir ja feine Zustände, wirklich feine Zustände sage ich, wenn wir nicht mal in diesem Haus Leute beschäftigen, die die Wahrheit sagen... Wirklich... Pop!« beschloß Mrs. Bundle ihre Rede und machte mit ihren Lippen ein Geräusch, als würde ein Korken aus einer Flasche gezogen. Sie kam zur Tür hereingestürmt und eskortierte ein zu Tode erschrockenes Hausmädchen. Mrs. Bundle war ein kleine, dürre Frau mit Seemannsgang und einem Spitzenhäubchen, das über leuchtenden Augen und einem grauen Gesicht von so außergewöhnlicher Bosheit hing, daß Rampole sie anstarrte. Aus einem verstaubten Gesicht funkelte sie alle an, doch schien sie weniger jeden einzelnen von ihnen zu verdammen, als über tiefem Unrecht zu brüten. Dann blickte sie starr geradeaus, wobei sie seltsam schielte. 105
»Hier ist sie«, sagte Mrs. Bundle. »Und ich meine, wie die Dinge stehen, könnten wir alle ebensogut in unseren Betten ermordet oder von den Amerikanern aufgekauft werden. Ist genau das Gleiche. Immer wieder hab' ich zu Mr. Budge gesagt, Mr. Budge, hab' ich gesagt, merken Sie auf meine Worte, nichts Gutes kommt daher, wenn man mit den Gespensters rumfackelt. Ist nicht nach der Natur, hab' ich gesagt, daß ein Lehmkloß - und das sind wir doch alle - immer versucht, die Gespenster beim Bart zu packen. Jawoll. Pop! Man könnte ja meinen, wir wären alle Amerikaner. Pop! Und diese Geister, die - « »Natürlich Mrs. Bündle, natürlich«, sagte der Chief Constable beschwichtigend. Dann wandte er sich dem kleinen Hausmädchen zu, das in Mrs. Bundles Griff zitterte wie die Jungfrau in den Klauen einer Hexe. »Sie wissen etwas über die Uhr, - äh - ?« »Martha, Sir. Ja, Sir. Wirklich.« »Erzählen Sie uns davon, Martha.« »Sie kauen Kaugummi, zum Teufel mit ihnen«, rief Mrs. Bundle mit solch wildem Unmut, daß sie einen Hopser tat. »Wie?« meinte der Chief Constable. »Wer?« . »Sie nehmen Torten und bewerfen damit Leute«, sagte Mrs. Bundle. »Bah. Pop! Pfui Teufel!...« Die Haushälterin schien an dem Thema festhalten zu wollen. Sie sprach jetzt, wie es schien, nicht mehr von Gespenstern, sondern von den Amerikanern, die sie im folgenden als »scheußliche Cowboys mit Strohhüten« bezeichnete. Ihr Monolog, bei dem sie mit der einen Hand ein Schlüsselbund schüttelte und mit der anderen Martha, war von leicht nebulösem Inhalt, was aber an der Unfähigkeit der Zuhörer liegen mochte, zu unterscheiden, wann sie sich auf Gespenster und wann auf Amerikaner bezog. Sie hatte gerade eine These vorgetragen, deren Thema offenbar die unhöfliche Angewohnheit der Gespenster war, sich aus Siphons mit Sodawasser zu bespritzen, als Sir Benjamin genügend Mut gefaßt hatte, um dazwischenzugehen. »Nun, Martha, fahren Sie bitte fort. Sie waren es, die die Uhr verstellt hat?« »Ja, Sir. Aber er hat es mir befohlen, Sir, und - « »Wer hat das befohlen?« »Mr. Herbert, Sir. Wirklich. Ich gehe gerade durch die Halle, als er aus der Bibliothek kommt und auf seine Uhr blickt. Und da sagt er zu mir: >Martha, diese Uhr geht zehn Minuten nach. 106
Stellen Sie sie richtige sagt er. Sehr scharf. Verstehen Sie. Ich war so baff, völlig von den Socken. Er und scharf mit mir reden und alles. Tut er sonst nie. Und er sagt: >Schauen Sie auch die anderen Uhren nach, Martha. Stellen Sie sie richtig, wenn sie falsch gehen. Denken Sie dran!Was machen Sie denn da?< und als ich es ihm erzähle, da sagt er: >Lassen Sie die Uhren in RuheSind Sie bewaffnet, Lestrade?< >Ich bin bewaffnet!< Sogar reichlich.« »Du, ich warne dich! Ich komme mit!« rief sie und griff nach seinem Arm. »Gut, dann zieh deinen Mantel über. Ich weiß nicht, wie lange dieser kleine Spaßvogel da oben noch wartet. Wo wir gerade dabei sind, am besten nehme ich wohl eine Taschenlampe mit. Der Doktor hat hier gestern abend eine hingelegt, fällt mir ein... Also los.« »Liebling«, hauchte Dorothy Starberth, »ich wußte, daß du mich mitnehmen würdest.« 129
Aufgeweicht und dreckbespritzt stapften sie über den Rasen zur Weide hinüber. Am Zaun hatte sie einige Schwierigkeiten mit ihrem langen Regenmantel. Als er sie hinüberhob, spürte er einen Kuß auf seiner nassen Backe. Allmählich ließ der Jubel, endlich diese Person im Gouverneurszimmer zu stellen, etwas nach. Das hier war kein Spaß. Es war eine widerliche, gefährliche Arbeit. Er wandte sich im Dämmerlicht um. »Schau«, sagte er, »du gehst jetzt wirklich besser zurück. Wir machen das hier nicht zum Vergnügen, und ich möchte nicht, daß dir etwas zustößt.« In der Stille hörte er den Regen auf seinen Hut tropfen. Nur dieses einsame Licht schimmerte durch die Regenwand, flackerte weiß über der Wiese. Als sie antwortete, klang es leise, kühl und entschlossen. »Das weiß ich ebensogut wie du. Aber ich will es wissen. Außerdem mußt du mich mitnehmen, denn du findest doch gar nicht allein zum Gouverneurszimmer, wenn ich dir nicht den Weg zeige. - Schach und Matt, mein Lieber.« Sie begann, ihm voran die Böschung hinaufzustapfen. Er folgte ihr und zischte dabei mit seinem Knüppel durch das aufgeweichte, hohe Gras. Beide schwiegen, doch das Mädchen keuchte, als sie das Tor des Gefängnisses erreichten. So weit entfernt vom Kaminfeuer mußte man sich schon einige Male selbst versichern, daß es absolut nichts Übernatürliches in diesem altertümlichen Gebäude der Folter und des Henkens gab. Rampole drückte auf den Knopf der Taschenlampe. Der weiße Strahl drang in den glitschiggrünen, übelriechenden Tunnel, tastete ihn ab, schwankte, bewegte sich dann langsam vorwärts. »Glaubst du«, flüsterte das Mädchen, »daß es wirklich der Mann ist, der - ?« »Du gehst besser zurück, ich sag' es dir!« »Denk dir was Originelleres aus«, flüsterte sie mit schwacher Stimme. »Ich hab' zwar Angst, aber wenn ich zurückgehen müßte, hätte ich noch mehr Angst. Gib mir deinen Arm und dann zeige ich dir den Weg. Vorsichtig. - Was er wohl da oben macht? Er muß doch verrückt sein, so was zu riskieren.« »Glaubst du, er kann uns kommen hören?« »Oh nein. Jetzt noch nicht. Es ist noch meilenweit bis dahin.« Ihre Schritte klangen hohl wie tröpfelndes Sickerwasser. Rampoles Licht hüpfte. Mißtrauisch wurden sie von kleinen Augen 130
beobachtet, die hastig verschwanden, wenn der Strahl in dunkle Winkel leuchtete. Mücken umschwirrten ihre Gesichter, und irgendwo in der Nähe mußte auch Wasser sein, denn das Quaken von Fröschen - ein rauher, gutturaler Chor - drang zu ihnen herüber. Rampole befand sich also ein weiteres Mal auf dieser endlosen Reise, wand sich durch enge Korridore und verrostete Türen, steinerne Treppen hinunter und wieder hinauf. Als der Strahl der Lampe auf das Gesicht der Eisernen Jungfrau fiel, flatterte etwas durch die Dunkelheit. Fledermäuse. Das Mädchen duckte sich, und Rampole schlug wütend nach ihnen. Er hatte sich verschätzt, der Stock klirrte auf Eisen und schickte ein hallendes Scheppern zum Dach hinauf. Aus einer flatternden Wolke schrillte das Quieken der Fledermäuse als Antwort herüber. Rampole spürte, wie ihre Hand an seinem Arm zitterte. »Wir haben ihn gewarnt«, flüsterte sie. »Ich habe Angst! Jetzt haben wir ihn gewarnt... Nein, nein, laß mich nicht hier! Ich muß bei dir bleiben. Wenn das Licht hier ausgeht... Diese garstigen Viecher, beinahe spüre ich sie in meinen Haaren...« Obwohl er ihr beruhigend zuredete, fühlte er das heftige Pochen seines eigenen Herzens. Wenn es wirklich Tote gab, dachte er, die in dem steinernen Gebäude, wo sie gestorben waren, umgingen, dann hatten sie bestimmt genau solche leeren, spinnwebverhangenen Grimassen wie die Eiserne Jungfrau. Der Schweißgeruch dieser alten Folterkammer schien noch immer über den Gegenständen zu liegen. Er biß die Zähne zusammen, als habe er eine Bleikugel dazwischen, wie es die Soldaten zu Anthonys Zeiten taten, um die Schmerzen bei einer Amputation zu betäuben. Anthony... Vor ihnen erschien ein Licht. Sie bemerkten es, sehr matt, ganz am Ende einer Flucht von Stufen, die zu jenem Korridor führten, von dem das Gouverneurszimmer abging. Jemand trug eine Kerze. Rampole knipste sein Licht aus. Er spürte, daß Dorothy im Dunkeln zitterte, als er sie hinter sich zog und dann entlang der linken Wand, den Knüppel frei in der Rechten, die Treppe hinaufzusteigen begann. Mit kalter Klarheit wußte er, daß er keine Furcht vor einem Mörder hatte. Liebend gerne sogar würde er mit seinem Stock auf den Schädel eines Mörders einschlagen.
131
Was jedoch die kleinen Drähte in seinen Knien straffte und vibrieren ließ und seinen Magen so kalt werden ließ wie einen ausgewrungenen Putzlappen, das war die Angst, es könnte doch jemand anderes sein. Einen Moment lang fürchtete er, das Mädchen hinter ihm würde aufschreien. Und er wußte, daß er auch geschrien hätte, wenn dort drüben im Kerzenlicht ein Schatten aufgetaucht wäre und dieser Schatten einen dreispitzigen Hut getragen hätte... Von oben ertönten Schritte. Offenbar hatte der andere sie kommen hören, glaubte nun aber, sich geirrt zu haben; denn das Geräusch verschwand wieder in Richtung Gouverneurszimmer. Irgendwo tappte ein Stock... Stille. Langsam, endlose Minuten lang, schlich Rampole die Treppe hinauf. Ein matter Lichtschein drang aus der geöffneten Tür des Gouverneurszimmers. Er steckte die Taschenlampe ein und ergriff Dorothys kalte, feuchte Hand. Seine Schuhe quietschten, doch die Ratten quietschten ebenfalls. Er glitt den Flur entlang und spähte um die Ecke der Tür. In einem Halter auf dem Schreibtisch brannte eine Kerze. Davor saß bewegungslos Dr. Fell, das Kinn in die Hand gestützt, einen Stock gegen sein Bein gelehnt. An die Wand hinter ihm warf die Kerze seinen Schatten, der Rampole seltsamerweise an eine Statue Rodins erinnerte. Unter dem Baldachin auf Anthonys altem Bett saß, auf die Hinterpfoten aufgerichtet, eine große graue Ratte, die mit blitzenden, höhnischen Augen zu Dr. Fell hinüberblickte. »Kommt rein, Kinder«, sagte Dr. Fell, kaum zur Tür aufblickend. »Ich muß gestehen, ich war sehr beruhigt, als ich merkte, daß ihr es seid.«
Kapitel 13
Rampole
ließ den Stock durch seine Hand gleiten, und die Metallspitze klirrte auf den Boden. Er mußte sich abstützen; er sagte: »Dr. - « und stellte fest, daß sich seine Stimme in eine völlig verrückte Tonart verschoben hatte. Das Mädchen lachte und hielt sich die Hand vor den Mund. »Wir dachten - «, sagte Rampole und schluckte. »Ja«, nickte der Doktor. »Ihr dachtet, ich wäre der Mörder oder ein Gespenst. Ich hatte allerdings befürchtet, daß Ihr meine Kerze vom Yew Cottage aus sehen könntet und herüberkämt, um nachzuschauen. Es gab leider keine Möglichkeit, das Fenster zu verhängen. Mein liebes Mädchen, Sie setzen sich wohl besser. Ich bewundere Ihre Nerven. Was mich angeht - « Er zog einen altertümlichen Derringer-Revolver aus der Tasche und wog die schwere Waffe nachdenklich in der Hand. Er keuchte und nickte wieder. »Weil wir es mit einem, wie ich glaube, sehr gefährlichen Mann zu tun haben. Hier, setzt euch, Kinder.« »Aber was machen Sie hier, Sir?« wollte Rampole wissen. Dr. Fell legte die Pistole neben die Kerze auf den Tisch. Er zeigte auf etwas, das nach einem Stapel handgeschriebener verfaulter und verschimmelter Folianten aussah, und auf ein Bündel brüchiger brauner Briefe. Mit einem großen Taschentuch wischte er sich den Staub von den Händen. »Da ihr nun einmal hier seid«, polterte er, »können wir uns gemeinsam daranmachen. Ich habe hier herumgewühlt - nein, mein Junge, setzen Sie sich nicht aufs Bett. Es enthält allerlei Unerfreuliches. Hier, auf den Rand des Tisches. Und Sie, meine Liebe« - zu Dorothy - »können sich diesen Stuhl hier nehmen. Die anderen sind noch voller Spinnen. Anthony hat natürlich Rechnungsbücher geführt«, fuhr er fort. »Ich dachte mir, vielleicht könnte ich sie finden, wenn ich ein
133
wenig hier herumsuche. Die Frage ist doch, was Anthony vor seiner Familie versteckt hielt. Ich glaube, daß wir hinter einer alten, sehr alten Geschichte her sind. Wieder einmal die Geschichte eines verborgenen Schatzes.« Dorothy, die sich in ihren nassen Regenmantel kauerte, wandte sich langsam um und blickte zu Rampole hinüber. Dann sagte sie: »Ich wußte es. Das habe ich doch gesagt. Und als ich dann diese Strophen fand - « »Ach, das Gedicht!« grunzte Dr. Fell. »Ja. Ich werde später einen Blick darauf werfen. Mein junger Freund hier erwähnte es bereits. Doch wenn man einen Hinweis auf Anthonys wirkliche Tätigkeit finden will, muß man nur sein Tagebuch aufmerksam lesen. Er haßte seine Familie. Er schrieb, sie würden noch dafür bezahlen, daß sie seine Gedichte verspottet hatten. Deshalb versteckte er in seinen Versen eine verborgene Bedeutung, um sie zu verspotten. Ich bin zwar kein besonders guter Buchprüfer, doch hieraus ist klar zu erkennen«, er klopfte auf die Folianten, »daß er ihnen von seinem Riesenvermögen reichlich wenig Bares hinterlassen hat. Natürlich konnte er sie nicht ruinieren, denn das Land - die größte Einnahmequelle - war ein unveräußerliches Majorat. Doch ich glaube fast, er hat trotzdem eine gigantische Summe abzweigen und verbergen können. Goldbarren? Tafelsilber? Juwelen? Ich weiß es nicht. Erinnern Sie sich, im Tagebuch erwähnt er öfter >Dinge, die man kaufen kann, um sie zu vernichten; mit >sie< meinte er seine Verwandten. Außerdem schreibt er: >Ich habe meine Schönen sicherAll meine Habe trage ich bei mir< - >Omnia mea mecum porto