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Kapitel I Henry Thresk Der Beginn von dieser ganzen schwierigen Angelegenheit war eine kleine Ansprache, in deren Gewohnheit, sie ihrem Sohn zu halten, Mrs. Thresk verfiel. Sie hielt sie zum ersten Mal spontan, ohne Gedanken oder Absicht. Aber sie sah, dass sie wehtat. Daher benutzte sie sie wieder ‐ um Henry an seinem richtigen Platz zu halten. „Du hast kein Recht zu reden, Henry“, sagte in der harten praktischen Stimme, die ihre Unabhängigkeit so vervollständigte. „Du verdienst deinen Lebensunterhalt nicht. Du bist noch immer von uns abhängig“, und sie fügte mit einem Hauch des Triumphes hinzu: „Merke dir, falls etwas deinem lieben Vater zustoßen sollte, würdest du dich selbst durchschlagen müssen, denn alles ist mir hinterlassen worden.“ Mrs. Thresk meinte nichts Böses. Sie war völlig ohne Vorstellungskraft und hatte kein Zartgefühl, um ihren Platz einzunehmen ‐ das war alles. Menschen und Worte ‐ sie gab sich Mühe, weder das eine noch das andere zu interpretieren, und sie benutzte beides willkürlich. Sie zog nicht mehr in Betracht, dass ihrem Mann etwas zustieß, um ihre Phrase zu zitieren, als sie die Auswirkung verstand, die ihre barbarische kleine Ansprache auf einen ziemlich zurückhaltenden Schuljungen haben würde. Auch half Harry selbst nicht, sie aufzuklären. Er war schlau genug, um die Sinnlosigkeit eines Versuches zu erkennen. Nein! Er blickte sie nur neugierig an und hielt den Mund. Aber die Worte wurden nicht vergessen. Sie erweckten in ihm einen Sinn für Ungerechtigkeit. Denn in dem gewöhnlichen wohlhabenden Kreis, in dem die Thresks lebten, wurde akzeptiert, dass Jungen Unkosten für ihre Eltern waren; und nach allem, wie er argumentierte, hatte er nicht gebeten, geboren worden zu sein. Und daher, nach vielem Nachdenken, sprang in ihm ein Antagonismus gegen seine Familie und eine wilde Entschlossenheit hoch, ihr so wenig wie möglich zu schulden. Es war zweifellos ein voller Anteil an Eitelkeit in dem Entschluss des Jungen, aber der Antagonismus hatte tiefere Wurzeln geschlagen als seine Eitelkeit; 2
und in einem Alter, wenn andere Burschen vage träumten, Admirale und Feldmarschälle und Premierminister zu sein, plante Henry Thresk, zufrieden mit niedrigerem Boden, die Stufen einer guten, aber vollkommen machbaren Karriere. Wenn er das Alter von dreißig erreichte, muss er beginnen, Geld zu verdienen; mit fünfunddreißig muss er auf dem Weg zu Ruhm sein ‐ sein Name muss über den vertrauten Kreis seines Berufes hinausgehen; mit fünfundvierzig muss er ein öffentliches Amt innehaben. Auch stand sein Beruf nicht in Zweifel. Es gab nur einen, der diese Belohnungen einem Mann für seinen Start ins Leben bot, ohne Geld hinzulegen ‐ an der Schranke. Also wurde Henry Thresk rechtzeitig zur Bar gerufen; und als seinem Vater etwas zustieß, war er auf die Schlacht vorbereitet. Eine Bank ging pleite und der Bankrott ruinierte und tötete den alten Mr. Thresk. Von dem Ruin wurde gerade genug zusammengekratzt, um seine Witwe zu erhalten, und ein oder zwei Einstellungsangebote wurden Henry Thresk gemacht. Aber er war so hartnäckig wie er verschwiegen war. Er lehnte sie ab und mit der Hilfe von Schülern, Journalismus und einer gelegentlichen Beschäftigung eines Wahlhelfers schaffte er es, seinen Kopf über Wasser zu halten, bis Informationen langsam hereinzukommen begannen. Bis dahin schienen Mrs. Thresks beleidigende Ansprachen gerechtfertigt gewesen zu sein. Aber im Alter von achtundzwanzig machte er einen Urlaub. Er fuhr für einen Monat nach Sussex hinunter und dort wurde das geordnete Schema seines Lebens bedroht. Es hielt dem Angriff stand; und wieder ist es möglich, zu seinen Gunsten mit einer guten Zurschaustellung von Argumenten. Aber der Angriff bringt trotzdem einen weiteren Ansichtspunkt ins Licht. Umsicht zum Beispiel, mochte der Gegner gedrängt werden, ist sehr wohl in dem gewöhnlichen Lauf des Lebens, aber wenn die großen Augenblicke kommen, will Verhalten eine weitere Inspiration. Eine solche würde diesen Urlaub mit einem Gedanken an Stella Derrick in Betracht ziehen, die während ihrer Durchreise Henry Thresk oft sah. Die tatsächliche Stunde, als die Prüfung kam, geschah an einem der letzten Augusttage.
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Kapitel II Auf dem Bignor Hill Sie ritten entlang der South Downs zwischen Singleton und Arundel, und als sie dorthin kamen, wo die alte Römerstraße von Chichester über Bignor Hill hochsteigt, hob Stella Derrick ihre Hand und hielt an. Sie war damals neunzehn und wurde von anderen, neben Henry Thresk, als hübsch angesehen, der an diesem Morgen an ihrer Seite ritt. Sie war vornehm, doch vernünftig zurechtgemacht, mit blauen Augen unter breiten Brauen, rabenschwarzem Haar und einem bleichen und kristallklaren Gesicht. Aber ihre Lippen waren rot und die Farbe kam leicht in ihre Wangen. Sie zeigte hinunter auf den Weg, der sich von der Bergkuppe über den Rasen neigte. „Das ist die Stane Street. Ich versprach, sie Ihnen zu zeigen.“ „Ja“, antwortete Thresk und nahm langsam seinen Blick von ihrem Gesicht. Es war ein Morgen, reich an Sonnenlicht, laut vor Amseln, und sie schien für ihn ein notwendiger Teil davon zu sein. Sie war lebendig davon und gab eher als sie von seinem Gold nahm. Denn nicht einmal diese fein gemeißelte Nase von ihr konnte ihr etwas von dem Blick einer Statue vermitteln. „Ja. Sie gingen gerade, nicht wahr, diese alten Zenturien?“, fragte er. Er bewegte sein Pferd und stand in der Mitte des Weges und blickte über ein Tal mit Wald und Wiesen zum Halnaker Down, sechs Meilen weit weg im Südwesten. Gerade in der Linie seiner Augen über einem Vorsprung des Hügellandes erhob sich ein hoher feiner Kirchturm ‐ der Kirchturm der Chichester‐Kathedrale, und weiter weg konnte er das Wasser im Bosham Creek wie einen silbernen Spiegel und den Kanal sehen, der sich dahinter silbern kräuselte. Er drehte sich herum. Unter ihm lag das blaue dunkle Waldgebiet von Sussex, und durch es stellte er sich die verborgene Linie der Straße vor, die gerade wie ein Lineal nach London führte. „Kein Herumgehen!“, sagte er. „Wenn ein Hügel im Weg war, kletterte die Straße darüber; wenn es ein Sumpf war, wurde sie hindurchgebaut.“
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Sie ritten langsam den großen Walrücken mit Gras entlang, der sich zwischen den Brombeersträuchern und Flecken mit gelb flammendem Ginster wand. Der Tag war in dieser Höhe noch gerade; und als sich weit weg ein Feld mit langem Gras von einem Ende zum anderen mit der raschen Bewegung von fließendem Wasser bog, erstaunte es sie beide. Und sie begegneten niemandem. Sie schienen in den Morgen einer neuen sauberen Welt zu reiten. Sie ritten höher hinauf zum Duncton Down, und dann sprach das Mädchen. „Also, das ist Ihr letzter Tag hier.“ Er blickte sich um, hinaus zum Meer, ostwärts zu dem Abhang hinunter zu den dunkeln Bäumen von Arundel, rückwärts über das Waldgebiet zu dem hohen Bergrücken von Blackdown. „Ich werde darauf zurückschauen.“ „Ja“, sagte sie. „Es ist ein Tag, um darauf zurückzuschauen.“ Sie ging in ihren Gedanken die Tage dieses letzten Monats durch, seit er zu dem Gasthaus in Great Beeding gekommen war und Freunde ihrer Familie ihren Eltern von seinem Kommen geschrieben hatten. „Es ist der perfekteste von allen Ihren Tagen hier. Ich bin froh. Ich will, dass sie gute Erinnerungen an unser Sussex mitnehmen.“ „Ich werde das tun“, sagte er, „aber aus einem anderen Grund.“ Stella stieß ein oder zwei Fuß vor ihm voran. „Also“, sagte sie, „zweifellos wird der Tempel stickig sein.“ „Auch dachte ich nicht an den Tempel.“ „Nein?“ „Nein.“ Sie ritt eine kleine Weile weiter, während er folgte. Eine große Biene summte an ihren Köpfen vorbei und ließ sich in einem Kelch einer wilden Rose nieder. In einem Niederwald neben ihnen schoss eine Drossel einen Köchervoll klarer Melodie in die Luft. Stella sprach wieder, wobei sie ihren Begleiter nicht ansah, und mit leiser Stimme und tapfer, mit einer süßen Verwirrung ihres Blutes. 5
„Ich bin sehr froh, Sie das sagen zu hören, denn ich hatte Angst, dass ich Sie mehr hatte sehen lassen als ich mich darum hätte kümmern sollen, Sie sehen zu lassen ‐ außer Sie hätten selbst danach getrachtet, es zu sehen.“ Sie wartete auf eine Antwort, wobei sie noch immer ihre Entfernung nur ein oder zwei Fuß weiter vorne hielt, und die Antwort kam nicht. Ein vages Entsetzen begann sie in Besitz zu nehmen, dass Dinge, die nie möglich sein konnten, ihr tatsächlich zustießen. Sie sprach wieder mit einem Zittern in ihrer Stimme und alle Zuversicht war fort von ihr. Fast schien es, dass sie vor sich selbst keine Schande machen sollte. „Es wäre ein wenig demütigend gewesen, sich zu erinnern, wenn da wahr gewesen wäre.“ Dann auf dem Boden sah sie den Schatten von Thresks Pferd hinaufkriechen bis die beiden Seite an Seite ritten. Sie blickte ihn schnell mit einem zweifelnden unschlüssigen Lächeln an und blickte wieder nach unten. Was bedeutete aller Ärger auf seinem Gesicht? Ihr Herz pochte und sie hörte ihn sagen: „Stella, ich muss Ihnen etwas sehr Schwieriges sagen.“ Er legte eine Hand sanft auf ihren Arm, aber sie wand sich frei. Sie schämte sich ‐ sie schämte sich unerträglich. Sie zitterte davon von Kopf bis Fuß. Sie wandte ihm plötzlich ein knallrot gewordenes Gesicht und Augen, in denen Tränen standen, zu. „Oh“, rief sie laut, „dass ich eine solche Närrin gewesen sein sollte!“, und sie taumelte vorwärts in ihrem Sattel. Aber bevor er einen Arm ausstrecken konnte, um sie zu halten, war sie wieder aufrecht, und mit einem Schlag ihrer Peitsche war sie im Galopp davon. „Stella“, rief er, aber sie benutzte umso mehr ihre Peitsche. Sie galoppierte wie verrückt und blind über das Gras, nicht wissend wohin, sich nicht darum kümmernd, sich selbst verabscheuend. Thresk galoppierte hinter ihr her, aber ihr Pferd, von der Peitsche verrückt gemacht und dem Klopfen der Hufe dahinter, hielt den Vorsprung. Er machte sich an die Verfolgungsjagd mit einem Durcheinander an Gedanken in seinem Verstand. „Wenn heute nur zehn Jahre weiter wäre ... Es wäre sozusagen Wahnsinn ... Wahnsinn und Verkommenheit ... Zusammen haben wir überhaupt kein Geld ... 6
Wie sie reitet! ... Sie war nie für Brixton bestimmt. ... Nein, ich auch nicht. ... Warum hielt ich nicht meinen Mund? ... Oh, was für ein Narr, was für ein Narr! Gott sei Dank kamen die Pferde aus einem Mietstall. ... Sie können nicht für immer weitergehen ‐ oh mein Gott! Dort sind Kaninchenhöhlen auf den Downs.“ Und seine Stimme erhob sich zu einem Schrei: „Stella! Stella!“ Aber sie blickte nie über ihre Schulter. Sie floh umso verzweifelter, sich durch und durch schämend! Und die hohe Hügelkette zwischen den Büschen und den Buchen, ihre Schatten flitzten über den Rasen zu einem Bimmeln des Gebisses des Pferdezaumes und dem Donner der Hufe. Duncton Beacon erhob sich weit hinter ihnen; sie hatten die Straße überquert und der Charlton Forest glitt wie dunkles Wasser vorbei, bevor das wahnsinnige Rennen zu Ende ging. Stella wurde sich bewusst, dass Flucht unmöglich war. Ihr Pferd war erschöpft, ihr selbst war schwindelig. Sie ließ ihre Zügel fallen und der Galopp wechselte zu einem Trab, der Trab zu einem Schritt. Sie bemerkte mit Dankbarkeit, dass Thresk ihr Zeit gab. Er war selbst hinter ihr in einen Schritt übergegangen, und ganz langsam kam er an ihre Seite. Sie wandte sich sofort ihm zu. „Das ist ein gutes Land für einen Galopp, nicht wahr?“ „Kaninchenlöcher jedoch“, sagte er. „Sie hatten Glück.“ Er antwortete abwesend. Da war etwas, das nun gesagt werden musste. Er konnte dieses Mädchen, dem er ‐ also, den einzigen Urlaub, den er je gemacht hatte, schuldete, durch einen Irrtum, den sie nach allem nicht gemacht hatte, beschämt nach Hause gehen lassen. Er war tatsächlich sehr nahe, noch mehr zu sagen. Die Neigung war stark in ihm, aber nicht so stark wie die Methoden seines Lebens. Jetzt Heirat ‐ das bedeutete seiner Ansicht nach die Schließung aller Möglichkeiten des Weiterkommens und ein Leben für beide unter ihren Bedürfnissen. „Stella, hören Sie mir einfach zu. Ich will, dass Sie wissen, dass, wären die Dinge anders gewesen, ich über alle Worte hinaus gejubelt hätte.“ „Oh, nicht!“, rief sie. „Ich muss“, antwortete er und sie war still. „Ich will, dass Sie wissen“, wiederholte er stotternd und stammelnd, aus Angst, dass jedes Wort, das zu heilen gemeint war, tiefer dringen sollte. „Bevor ich herkam, gab es 7
niemanden. Seit ich hierher kam, hat es ‐ Sie gegeben. Oh du meine Güte, ich wäre sehr froh gewesen. Aber ich bin unbedeutend ‐ ohne Mittel. Es sind Jahre vor mir, bevor ich etwas sein werde. Ich könnte Sie nicht bitten, sie zu teilen ‐ oder ich hätte es vorher getan.“ „In ihrem Kopf lief der Gedanke: an was für eigenartige unbedeutende Dinge Männer denken! Die frühen Jahre! Würden nicht ihre Schwierigkeiten, ihre Sorgen die wahre Würze des Lebens sein und es erinnerungswürdig machen, schätzenswert? Aber Männer hatten das Recht zu reden. Nicht wieder würde sie das vergessen. Sie beugte ihren Kopf und er fuhr fort, dumme Fehler zu machen. „Für Sie wird es ein besseres Schicksal geben. Da ist das großartige Haus im Park mit seinen niedergebrannten Mauern. Ich möchte das gerne neu aufgebaut sehen, und Sie an Ihrem rechtmäßigen Platz, als seine Herren.“ Und seine Worte hörten auf, als Stella sind abrupt ihm zuwandte. Sie atmete schnell und sie blickte ihn mit Verwunderung in ihrem Ärger an. „Und es schmerzt Sie, das zu sagen!“, sagte sie. „Ja, es schmerzt mich tatsächlich.“ „Was sonst könnte ich sagen?“ Ihr Gesicht wurde sanfter, als sie schaute und hörte. Es war nicht, dass er kaltblütig war oder sich nicht kümmerte. Da war mehr als Unbehagen in seiner Stimme, da war ein sehr wahrer Kummer. Und in seinen Augen sehnte sich sein Herz nach ihr, sie zu sehen. Etwas ihres Stolzes war ihr wieder zurückgegeben. Sie fiel sofort in Einklang mit ihm, aber sie war sich bewusst, dass sie beide Verrat redeten. „Ja, Sie haben recht. Es wäre möglich gewesen. Sie haben Ihren Namen und Ihr Glück zu machen. Ich auch ‐ ich werde heiraten, vermute ich, irgendjemanden“ ‐ und sie lächelte plötzlich ziemlich verbittert ‐ „der mir einen Rolls‐Royce schenkt.“ Und so ritten sie sehr vernünftig weiter. Der Mittag war vorbei. Ruhe war auf diese hohe Welt des Grases und Sonnenlichtes gefallen. Die Vögel waren still. Sie redeten über dies und das, die letzte Krise in Europa und das Wachstum des Sozialismus, alles sehr weise und mit großer Gleichgültigkeit wie wohlerzogene Leute bei einer Dinerparty. Nicht 8
demgemäß hatte Stella gedacht, nach Hause zu reiten, als die Nachricht an diesem Morgen gekommen war, dass die Pferde vor zehn an ihrer Tür sein würden. Sie war mit Träumen aus Gold bekleidet ausgeritten. Sie ritt mit ruinierten Träumen und einer Art Ungläubigkeit zurück, dass auch zu ihr, wie zu anderen Mädchen, all dieser Schmerz gekommen war. Sie kamen zu dem Reitweg, der nach unten durch ein Dickicht von Bäumen zu dem Waldgebiet führte und so auf Great Beeding hinunterstieg. Sie ritten durch die kleine Stadt, an dem Gasthaus vorbei, wo Thresk wohnte, und an den Eisentoren eines Parkes, wo inmitten von Ulmen die geschwärzten Ruinen eines großen Hauses zum Himmel gafften. „Eines Tages werden Sie wieder dort wohnen“, sagte Thresk, und Stellas Lippen zuckten mit einem humorvollen Lächeln. „Ich werde nach heute sehr froh sein, das Haus zu verlassen, in dem ich wohne“, sagte sie ruhig und die Worte verschlugen ihm die Sprache. Er hatte Scharfsinn genug, sie zu verstehen. Die Zimmer würden sie mit Erinnerungen an vergebliche Träume verspotten. Doch blieb er still. Es wäre in jedem Fall zu spät, was er gesagt hatte, zurückzunehmen; und sogar, wenn sie ihm zuhören würde, wäre Heirat nicht gerecht. Er wäre gehemmt, und das, genau zu dieser Zeit in seinem Leben, würde Versagen bedeuten ‐ Versagen für sie nicht weniger als für ihn. Sie müssten vernünftig sein ‐ vernünftig und überlegt, und so würden die großen Preise ihnen gehören. Eine Meile dahinter, eine Meile von gelben Feldwegen zwischen hohen Hecken, kamen sie zu dem Dorf Little Beeding, ein großes Haus und ein paar strohgedeckte Häuschen, die zwischen Rosen und großen Bäumen auf dem Ufer eines kleinen Flusses standen. Dorthin waren der alte Mr. Derrick und seine Frau und seine Tochter gegangen, nachdem das Feuer im Hinksey Park die Ruine vollendete, die unglückselige Spekulationen begonnen hatten; und an dem Tor eines der Häuschen blieben die Reiter stehen und stiegen ab. „Ich werde Sie nach heute nicht mehr sehen“, sagte Stella. „Wollen Sie für einen Augenblick hereinkommen?“ Thresk gab die Pferde einem vorbeigehenden Arbeiter zum Halten und öffnete das Tor.
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„Ich werde Ihre Leute beim Mittagessen stören“, sagte er. „Ich will nicht, dass Sie zu ihnen hineingehen“, sagte das Mädchen. „Ich werde für Sie zu ihnen auf Wiedersehen sagen.“ Thresk folgte ihr den Gartenpfad hinauf, wobei er sich fragte, was es war, das sie ihm zu sagen hatte. Sie führte ihn in ein kleines Zimmer hinten vom Haus, das hinaus auf den Rasen blickte. Dann stand sie vor ihm. „Wollen Sie mich bitte einmal küssen“, sagte sie einfach, und sie stand mit an ihrer Seite herabhängenden Armen, während er sie auf die Lippen küsste. „Danke“, sagte sie. „Wollen Sie jetzt gehen?“ Er ließ sie in dem kleinen Zimmer stehen und führte die Pferde zurück zum Gasthaus. An diesem Tag nahm er den Zug nach London.
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Kapitel III In Bombay Es war erst an einem Tag, spät im Januar, acht Jahre danach, dass Thresk das Gesicht von Stella Derrick wiedersah; und dann war es nur auf einem Porträt. Er stieß auch an einem höchst unwahrscheinlichen Ort darauf. Ungefähr um fünf Uhr an diesem Nachmittag fuhr er aus der Stadt Bombay, hinauf zu einem der großen Häuser auf Malabar Hill, und fragte nach Mrs. Carruther. Er wurde in einen Salon geführt, der über Back Bay zu den großen Gebäuden der Stadt hinausblickte, und in einem Augenblick kam Mrs. Carruther mit ausgestreckten Händen zu ihm. „Also, Sie haben gewonnen. Mein Mann rief mich an. Wir danken Ihnen! Sieg bedeutet uns so viel.“ Die Carruthers waren ein junges Paar, das in dem Augenblick, nachdem sie den größeren Anteil an der großen Firma Templeton & Carruther, Bombayer Kaufleute, geerbt hatten, sich in einer Partnerschaft infolge ein oder zwei sorgloser Phrasen in dem Brief eines Anwalts verstrickt sahen. Der Fall war der große Fall des Jahres in Bombay gewesen. Die Rechtsfrage war fragwürdig gewesen, der Einsatz enorm und Thresk, der drei Jahre zuvor Kronanwalt geworden war, war von den jungen Carruthers aus England geholt worden, um dagegen zu kämpfen. „Ja. Wir haben gewonnen“, sagte er. „Gerechtigkeit wurde heute Nachmittag zu unseren Gunsten gegeben.“ „Sie essen heute Abend mit uns, nicht wahr?“ „Danke, ja“, sagte Thresk. „Um halb neun.“ „Ja.“ Mrs. Carruther gab ihm etwas Tee und plauderte angenehm, während er ihn trank. Sie war blond und hübsch, eine Dame von Enthusiasmus und hoch erhobenen Händen, ganz ohne Wahrnehmung oder Kenntnis, doch mit Macht, zu erstaunen. Denn hin und wieder würde ein kleines schlaues Sprichwort aus dem ruhigen Fluss ihrer Trivialität schimmern und den, der es hörte, sich für einen Augenblick wundern lassen, ob es ihr eigenes war oder ob sie es von 11
einem anderen gehört hatte. Aber es war ihr eigenes. Denn sie maß dem keine besondere Bedeutung bei, wie sie es getan hätte, wäre es eine Bemerkung gewesen, die sie für erinnerungswürdig gehalten hätte. Sie äußerte es bloß und fuhr fort, wobei sie keinen Wert zwischen dem, was sie nun sagte und was sie vor einer Sekunde sagte, bemerkte. Für sie war die ganze Welt ein Wunder und alle Dinge darin gleichermaßen erstaunlich. Außerdem hatte sie kein Gedächtnis. „Ich vermute, da Sie jetzt frei sind“, sagte sie, „werden sie hinauf in die Zentralprovinzen fahren und etwas von Indien sehen.“ „Aber ich bin nicht frei“, erwiderte Thresk. „Ich muss sofort zurück nach England.“ „So bald!“, rief Mrs. Carruther aus. „Nun, ist das nicht schade! Sie sollten den Tajoh sehen, Sie sollten es wirklich! ‐ Bei Mondlicht oder am Morgen. Ich weiß nicht, was am besten ist, und die Bergkette auch! ‐ Die Bergkette von Delhi. Sie dürfen Indien wirklich nicht verlassen, ohne die Bergkette zu sehen. Können die Dinge in London nicht warten?“ „Ja, die Dinge schon, aber die Leute nicht“, antwortete Thresk und Mrs. Carruther war echt betrübt, dass er von Indien abreisen sollte, ohne einer einzigen Reise mit dem Zug. „Ich kann nichts dagegen tun“, sagte er und lächelte zurück in ihre traurigen Augen. „Abgesehen von meiner Arbeit, kommt das Parlament im Februar zusammen.“ „Oh, sicher, Sie sind im Parlament“, rief sie aus. „Ich hatte es vergessen.“ Sie schüttelte ihren blonden Kopf verwundert über die Emsigkeit ihres Besuchers. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das alles schaffen. Oh, Sie müssen einen Urlaub brauchen.“ Thresk lachte. „Ich bin sechsunddreißig, daher habe ich noch ein oder zwei Jahre vor mir, bevor ich das Recht habe, Pause zu machen. Ich werde meinen Urlaub für mein hohes Alter aufsparen.“
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„Aber Sie sind nicht verheiratet“, rief Mrs. Carruther. „Sie können das nicht tun. Sie können nicht bequem alt werden, ohne dass Sie verheiratet sind. Sie werden dann arbeiten wollen, um die Zeit zu überstehen. Sie sollten lieber jetzt Urlaub machen.“ „Sehr gut. Ich werde zwölf Tage auf dem Dampfer haben. Wann fährt er?“, fragte Thresk, als er sich von seinem Stuhl erhob. „Am Freitag und heute ist Montag“, sagte Mrs. Carruther. „Sie haben sicher nicht viel Zeit, irgendwohin zu gehen, nicht wahr?“ „Nein“, erwiderte Thresk und Mrs. Carruther sah sein Gesicht plötzlich überrascht werden. Er hielt eigentlich seinen Atem an; er starrte, nicht länger ihrer Anwesenheit im Raum bewusst. Er blickte über ihren Kopf zu dem prächtigen Klavier, das hinter ihrem Stuhl stand; und sie begann in ihrem Kopf die verschiedenen Ziergegenstände, die es beluden, durchzugehen. Ein Stück indischer Stoff bedeckte den oberen Teil und auf dem Stoff stand eine kleine Gruppe von Dresdner Porzellanfiguren, ein Kristallzigarettenetui, etwas Krimskrams und ein halbes Dutzend Fotografien in Silberrahmen. Es muss eine dieser Fotografien sein, beschloss sie, die ihren Blick eingefangen hatten, die mehr als ihren Blick eingefangen hatten. Denn sie blickte hinauf zu Thresks Gesicht die ganze Zeit, und die Überraschung war fort. Es schien ihr, dass er bewegt war. „Sie haben dort das Porträt einer Freundin von mir“, sagte er und er durchquerte das Zimmer zu dem Klavier. Mrs. Carruther drehte sich herum. „Oh, Stella Ballantyne!“, rief sie. „Kennen Sie sie, Mr. Thresk?“ „Ballantyne?“, sagte Thresk. Für ein oder zwei Augenblicke war er still. Dann fragte er? „Sie ist also verheiratet?“ „Ja, wussten Sie es nicht? Sie ist seit langer Zeit verheiratet.“ „Es ist eine lange Zeit her, seit ich von ihr gehört habe“, sagte Thresk. Er blickte wieder auf die Fotografie. „Wann wurde diese aufgenommen?“
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„Vor ein paar Monaten. Sie schickte es mir im Oktober. Sie ist schön, denken Sie nicht?“ „Ja.“ Aber es war nicht die Schönheit des Mädchens, das entlang der South Downs mit ihm vor acht Jahren geritten war. Da war jetzt mehr Charakter im Gesicht, weniger, viel weniger von der Jugend und nichts von der alten Heiterkeit. Die offene Freimütigkeit war fort. Die großen dunklen Augen, die direkt auf Thresk blickten, als er davor stand, hatten sogar in diesem Porträt etwas der Zurückhaltung und Reserviertheit. Und darunter in einem Kontrast, der ihm erschreckend vorkam, war ihr Name in der festen Handschrift, mit der sie die wenigen Nachrichten geschrieben hatte, die während dieses Monats in Sussex zwischen ihnen hin‐ und hergegangen waren. Thresk blickte wieder zurück auf die Fotografie und nahm dann seinen Platz wieder ein. „Erzählen Sie mir über sie, Mrs. Carruther“, sagte er. „Sie hören oft von ihr?“ „Oh nein! Stella schreibt nicht viele Briefe und ich kenne sie nicht sehr gut.“ „Aber Sie haben ihre Fotografie“, sagte Thresk, „und von ihr unterschrieben.“ „Oh ja. Sie wohnte letzte Weihnachten bei mir und ich ließ sie einfach ihr Porträt machen. Denken Sie bloß! Sie hatte seit Jahren keines machen lassen. Können Sie es verstehen? Sie erklärte, dass sie davon gelangweilt war. Ist das nicht merkwürdig. Jedoch überredete ich sie und sie gab mir eines. Aber ich musste sie zwingen, darauf zu schreiben.“ „Dann war sie letzten Winter in Bombay?“, sagte Thresk langsam. „Ja.“ Und dann hatte Mrs. Carruther eine Idee. „Oh“, erklärte sie, „wenn Sie sich wirklich für Stella interessieren, werde ich heute Abend Mrs. Repton neben Sie setzen.“ „Vielen Dank“, sagte Thresk. „Aber wer ist Mrs. Repton?“ Mrs. Carruther setzte sich auf ihrem Stuhl nach vor. „Also, sie ist Stellas große Freundin ‐ sehr wahrscheinlich die einzige Freundin in Indien. Stella ist so reserviert. Ich verehre sie einfach, aber sie hält mich immer ziemlich hübsch und höflich auf Armeslänge. Falls sie sich je jemandem 14
gegenüber geöffnet hat, ist es Jane Repton. Sie verstehen, Charlie Repton war Steuereinnehmer in Agra, daher fuhren sie hinauf nach Mussoorie wegen des heißen Wetters. Die Ballantynes hatten tatsächlich zufällig den nächsten Bungalow ‐ war das nicht merkwürdig? ‐ daher wurden sie natürlich miteinander bekannt. Ich meine die Ballantynes und die Reptons. ...“ „Aber einen Augenblick, Mrs. Carruther“, sagte Thresk, der den Wortstrom unterbrach. „Habe ich recht, zu vermuten, dass Mrs. Ballantyne in Indien lebt?“ „Aber natürlich!“, rief Mrs. Carruther. „Sie ist tatsächlich jetzt in Indien?“ „Sicher ist sie es!“ Thresk war von der Neuigkeit sprachlos. „Ich hatte keine Ahnung davon“, sagte er langsam und Mrs. Carruther erwiderte süß: „Aber viele Leute leben in Indien, Mr. Thresk. Wussten Sie das nicht? Wir sind nicht das äußerste Ende der Erde. Thresk machte sich daran, seinen Frieden zu machen. Er hatte von Mrs. Ballantyne so lange nicht gehört. Es kam ihm seltsam vor, sich jetzt so plötzlich so nahe von ihr zu finden ‐ das heißt, falls sie nahe war. Er vermied bloß diesen anderen ärgerlichen Trick, Indien zu behandeln, als ob es eine Provinzstadt wäre und all seine Einwohner Nachbarn. Aber er vermied es einfach. Mrs. Carruther jedoch war leicht befriedigt. „Ja“, sagte sie. „Stella hat den Großteil von acht Jahren in Indien gelebt. Sie kam im Winter mit einigen Freunden heraus, machte Captain Ballantynes Bekanntschaft und heiratete ihn fast sofort ‐ im Januar, denke ich, war es. Natürlich weiß ich es nur von dem, was mir erzählt worden ist. Ich war zu der Zeit ein Schulmädchen in England.“ „Natürlich“, stimmte Thresk zu. Er war sich eines kleinen übelnehmenden Stiches bewusst. So schnell hatte Stella diesen Morgen auf den Downs vergessen! Es muss im Herbst desselben Jahres gewesen sein, dass sie hinaus nach Indien gefahren war, und bis Februar war sie verheiratet. Der Groll war ganz ungerechtfertigt, wie keiner besser wie er selbst wusste. Aber er war ein 15
Mann; und Männer können nicht leicht so schnell eine Auslöschung ihrer Bilder aus den Gedanken und Herzen der Damen ertragen, die zugegeben hatten, dass sie sie liebten. Trotzdem drängte er nach Details. Wer war Ballantyne? Was war seine Position? Nach allem war er nicht der Millionär, dem er in einem großzügigeren Augenblick Stella gegeben hatte. Er erwischte sich auf dem Abstieg zur Gemeinheit, darüber zu frohlocken. In der Zwischenzeit murmelte Mrs. Carruther weiter. „Captain Ballantyne? Oh, er ist ein äußerst bemerkenswerter Mann! Älter als Stella gewiss, aber ein Mann von großem Wissen und Einsicht. Die Leute denken sehr hoch von ihm. Sprachen fallen ihm so leicht wie Häkelarbeit einer Frau.“ Dieses Vorbild war Resident in dem Fürstentum Bakuta im Norden von Bombay, als Stella das erste Mal angekommen war. Aber er war nun nach Chitipur in Rajputana umgezogen. Es wurde angenommen, dass er in seinen Mußestunden ein Werk schrieb, das das letzte Wort über die einheimischen Fürstentümer von Zentralindien wäre! Und Mrs. Carruther, in ihrem feinen Herrenhaus auf Malabar Hill, seufzte neidisch über die Position der Ehefrau von einem hohen Beamten von British Raj. Thresk blickte wieder hinüber zu dem Porträt auf dem Klavier. „Ich bin sehr froh“, sagte er höflich, als er noch einmal aufstand. „Aber Sie sollen heute Abend neben Mrs. Repton sitzen“, sagte Mrs. Carruther. „Und sie wird Ihnen mehr erzählen.“ „Danke“, antwortete Thresk. „Ich wünschte nur zu wissen, dass die Dinge bei Mrs. Ballantyne gut gehen ‐ das war alles.“
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Kapitel IV Jane Repton Mrs. Carruther hielt ihr Versprechen. Sie ging selbst mit Henry Thresk hinein, wie sie es immer zu tun vorgehabt hatte, aber sie setzte Mrs. Repton zu seiner Linken, gleich um die Rundung des Tisches. Thresk stahl hin und wieder einen Blick auf sie, als er dem gedämpften Lachen seiner Gastgeberin während des ersten Ganges zuhörte. Sie war eine große Frau und ziemlich stämmig, mit einem angenehmen Gesicht und einem direkten Blick. Thresk schätzte sie auf fünfunddreißig und schrieb ihr eine fröhliche Seele zu. Ob sie mehr war, musste er geduldig abwarten. Er war endlich frei, sich an sie zu wenden, und er begann ohne Einleitung, ohne Verzögerung. „Sie kennen eine Freundin von mir“, sagte er. „Wirklich?“ „Ja.“ „Wer ist es?“ „Mrs. Ballantyne.“ Er bemerkte sofort eine Veränderung in Mrs. Repton. Die Offenheit verschwand aus ihrem Gesicht; ihre Augen wurden argwöhnisch. „Ich verstehe“, sagte sie langsam. „Ich fragte mich, warum ich neben Sie gesetzt wurde, denn Sie sind der Löwe des Abends und es gibt Leute hier von mehr Bedeutung als ich. Ich wusste, dass es nicht wegen meiner beaux yeux ist.“ Sie wandte sich wieder an Thresk. „Also kennen Sie meine Stella?“ „Ja. Ich kannte sie in England, bevor sie hier herauskam und heiratete. Ich habe sie natürlich seither nicht gesehen. Ich will, dass Sie ihr von mir erzählen.“ Mrs. Repton sah ihn mit einem sorgfältigen forschenden Blick an. „Mrs. Carruther hat Ihnen zweifellos gesagt, dass sie sehr gut verheiratet ist.“ 17
„Ja; und dass Ballantyne ein bemerkenswerter Mann ist“, sagte Thresk. Mrs. Repton nickte. „Sehr wohl denn?“, sagte sie und ihre Stimme war eine Herausforderung.“ „Ich bin nicht zufrieden“, erwiderte Thresk. Mrs. Repton wandte ihre Augen zu ihrem Teller und sagte zurückhaltend: „Es könnte mehr als einen Grund dafür geben.“ Thresk gab jeden Versuch auf, ihr auszuweichen. Mrs. Repton war nicht von den Frauen, die leichtfertig ihre Freundinnen preisgab. Ihre Phrase „meine Stella“ hatte überdies eine Welt der Liebe und des Eintretens offenbart. Thresk erwärmte sich für sie deswegen. Er schlug Zurückhaltung in den Wind. „Ich werde Ihnen die wahren Gründe verraten, Mrs. Repton. Ich sah ihre Fotografie heute Nachmittag auf Mrs. Carruthers Klavier und ich fragte mich, ob Glück so viel Charakter in das Gesicht einer Frau gesetzt haben könnte.“ Mrs. Repton zuckte die Achseln. „Einige von uns altern hier schnell.“ „Alter war nicht das Neue, was ich in dieser Fotografie las.“ Mrs. Repton antwortete nicht. Nur ihre Augen erforschten ihn. Sie schien den Stoff, aus dem er gemacht war, zu beurteilen. „Und wenn ich heute Nachmittag ihr Glück bezweifelte, muss ich es jetzt noch mehr bezweifeln“, fuhr er fort. „Warum?“, rief Mrs. Repton. „Wegen Ihrer Zurückhaltung, Mrs. Repton“, antwortete er. „Denn Sie sind zurückhaltend gewesen. Sie sind wachsam gewesen. Ich mag Sie dafür“, fügte er mit einem Lächeln echter Freundlichkeit hinzu. „Darf ich das sagen? Aber vom ersten Augenblick, als ich Stella Ballantynes Namen erwähnte, schulterten Sie Ihre Muskete.“ Weder leugnete noch akzeptierte Mrs. Repton seine Behauptung. Sie blickte ihn weiter an und fort von ihm, als ob sie sich noch immer über ihn nicht sicher wäre, und manchmal holte sie scharf Luft, als ob sie es schon eine große 18
Verantwortung auf sich genommen und sie jetzt bedauert hätte. Am Ende drehte sie sich ihm abrupt zu. „Ich bin verwirrt“, rief sie. „Ich denke, es ist merkwürdig, dass, da Sie Stellas Freund sind, ich nichts von dieser Freundschaft weiß ‐ gar nichts.“ Thresk zuckte die Achseln. „Es sind Jahre, seit wir uns begegneten, wie ich Ihnen erzählte. Sie hat neue Interessen.“ „Sie haben nicht die alten zerstört. Wir erinnern uns an Dinge zu Hause hier draußen. Stella wie der Rest. Na, ich dachte, dass ich ihr ganzes Leben in England kannte, und hier ist ein eindeutiger Teil davon ‐ vielleicht ein sehr wichtiger Teil ‐ über den ich ausgesprochen unwissend bin. Sie hat zu mir von vielen Freunden gesprochen; von Ihnen niemals. Ich frage mich, warum.“ Sie sprach offensichtlich ohne Wunsch, zu verletzen. Doch die Worte schmerzten. Sie sah Thresk rot werden, als sie sie äußerte, und eine unerwartete wilde Hoffnung flammte wie eine Rose in ihrem Herzen: wenn dieser Mann mit dem Verstand und dem Geld und der Beharrlichkeit, der an ihrer Seite saß, sich als der Perseus für ihre schöne angekettete Andromeda herausstellen sollte, weit weg dort im Staat Chitipur! Die Zeilen eines Gedichtes kamen in ihren Sinn. „Ich weiß, die Welt verurteilt die Liebe nicht, Erlaubt meinem Finger zu liebkosen, Die Kontur und Flaumigkeit der Lippen, Vorausgesetzt, es verschafft den Handschuh.“
Angenommen, dass hier an ihrer Seite der Mann war, der auf den Handschuh verzichten würde! Sie blickte wieder Thresk an. Das hagere starke Gesicht deutete darauf hin, dass er hart genug sein könnte, wenn er wollte. Ihr ganzes Leben war in der Unterstützung der Autorität und des Gesetzes verbracht worden. Autorität ‐ das war der Beruf ihres Ehemannes. Aber gerade in dieser Stunde, als sie an Stella Ballantyne dachte, schien Gesetzlosigkeit zu ihr hinaus, begehrenswert wie ein Stern. „Nein, sie hat nicht einmal Ihren Namen erwähnt, Mr. Thresk.“
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Wieder war sich Thresk des kleinen Pulses des Grolls, der in seinem Herzen schlug, bewusst. „Sie hat mich zweifellos vergessen.“ Mrs. Repton schüttelte ihren Kopf. „Das ist eine Erklärung. Es könnte eine andere geben. „Was ist es?“ „Dass sie sich zu sehr an Sie erinnert.“ Mrs. Repton war ein wenig durch ihre eigene Verwegenheit erschrocken, aber es brachte nur ein ungläubiges Lachen von ihrem Begleiter hervor. „Ich befürchte, das ist nicht sehr wahrscheinlich“, sagte er. Da war kein Hinweis auf Begeisterung in seiner Stimme, auch nicht Ärgernis. Falls er sich so fühlte, na, war er nicht weniger als sie wachsam. Mrs. Repton war geneigt, ihre Hände verzweifelt hochzuwerfen. Sie war verwirrt und sie würde, wie sie wusste, wenig Licht darauf bekommen. „Wenn man den Mann nimmt, den man am besten von allen kennt“, pflegte sie zu sagen „weiß man überhaupt nicht, wie er ist, wenn er mit einer Frau allein ist, besonders, wenn es eine Frau ist, der ihr etwas bedeutet ‐ außer die Frau redet.“ Sehr oft redet die Frau und die intimsten und geheimsten Tatsachen werden in einer kleinen Weile von den Hausdächern gerufen. Aber Stella Ballantyne redete nicht. Sie hatte einmal geredet, und nur einmal unter großem Druck zu Jane Repton; aber sogar damals hatte Thresk überhaupt nichts mit ihrer Geschichte zu tun. Thresk drehte sich ruhig zu ihr. „In einem Augenblick wird Mrs. Carruther aufstehen. Ihre Augen sammeln die Frauen ein, und die Frauen sammeln ihre Schuhe ein. Was haben Sie mir zu sagen?“ Mrs. Repton wollte sprechen. Thresk gab ihr Zuversicht. Er schien ein Mann ohne viele Illusionen zu sein, er war kein romantischer Sentimentalist. Sie ging zurück zu dem Gedicht, dessen Zeilen nacheinander durch ihren Kopf während 20
des Essens gejagt waren, als eine Art Begleitung zu ihrer Unterhaltung. Hatte er es herausgefunden? fragte sie sich ‐ „Die Welt und was sie fürchtet.“
So blieb sie zögernd, während Mrs. Carruther in ihre Hände ihre Handschuhe und ihren Fächer nahm. Dort war jedoch eine Frau am anderen Ende des Tisches, die nicht zu reden aufhörte. Sie war inmitten einer Geschichte und beachtete nicht die Zeichen ihrer Gastgeberin. Jane Repton wünschte, sie würde für den Rest des Abends weiterreden und erkannte, dass der Wunsch eine Zeitverschwendung war und sie wurde nervös. Sie musste sich entscheiden, etwas zu sagen, das wahr oder eine Lüge sein sollte. Doch war sie zu zuverlässig, um das Vertrauen ihrer Freundin zu missbrauchen, außer der Verrat bedeutete die Rettung ihrer Freundin. Aber gerade als die Frau am Ende des Tisches zu reden aufhörte, kam ihr eine Eingebung. Sie würde nichts zu Thresk sagen, aber wenn er Augen zu sehen hatte, würde sie ihn dort hinstellen, wo die Aussicht gut war. „Ich habe dies zu sagen“, antwortete sie mit leiser schneller Stimme. „Fahren Sie selbst nach Chitipur. Sie segeln am Freitag, nicht wahr? Und heute ist Montag. Sie können die Reise hin und zurück ganz leicht innerhalb der Zeit machen.“ „Wirklich?“, fragte Thresk. „Ja. Reisen Sie mit dem Nachtpostzug morgen Nacht hinauf nach Ajmere. Sie werden Mittwochnachmittag in Chitipur sein. Das gibt Ihnen dort vierundzwanzig Stunden und Sie können noch immer das Dampfschiff am Freitag erreichen.“ „Sie raten das?“ „Ja, tue ich“, sagte Mrs. Repton. Mrs. Carruther stand vom Tisch auf und Jane Repton hatte kein weiteres Wort mit Thresk an diesem Abend. Im Salon führte ihn Mrs. Carruther von Frau zu Frau, wobei sie ihm für jede zehn Minuten erlaubte. „Er könnte ein Mitglied der königlichen Familie oder ihr Lieblingspekinese sein“, rief Mrs. Repton wütend. Denn nun, das ihr Blut abgekühlt war, war sie nicht sicher, dass ihr Rat gut gewesen war. Die Gewohnheit der Achtung gegenüber 21
Autorität nahm wieder ihren alten Platz in ihr ein. Sie pflanzte vielleicht an diesem Abend den Samen einer sehr bösen Blume. „Ehrbarkeit“ war ihr wie ein großartiges Gedicht vorgekommen, als sie sich an den Esstisch setzte. Hier im Salon begann sie zu denken, dass sie nicht zum täglichen Gebrauch war. Sie wünschte nun eine Unterredung mit Thresk, sodass sie den Rat bagatellisieren könnte, den sie gegeben hatte. „Ich hatte kein Recht, mich einzumischen“, wiederholte sie ständig vor sich hin, während sie mit ihren Gastgebern redete. „Leute bekommen, was sie wollen, wenn sie es genug wollen, ab sie können den Preis nicht kontrollieren, den sie zu bezahlen zu haben. Daher war es nicht mein Recht, mich einzumischen.“ Aber Thresk verabschiedete sich und gab ihr keine Gelegenheit auf ein privates Wort. Sie fuhr ein paar Minuten später mit ihrem Ehemann heimwärts; und als sie den Hügel zum Ufer von Back Bay hinunterfuhren, sagte er: „Ich hatte eine kurze Unterhaltung mit Thresk, nachdem du das Speisezimmer verlassen hast, und was denkst du?“ „Sage es mir!“ „Er bat mich um ein Empfehlungsschreiben an Ballantyne in Chitipur.“ „Aber er kennt Stella!“, rief Jane Repton aus. „Wirklich? Er erzählte mir das nicht! Er sagte einfach, dass er Zeit hätte, Chitipur zu besuchen, bevor er segelte, und bat um eine Zeile an den Resident.“ „Und du hast versprochen, es ihm zu geben?“ „Natürlich. Ich werde es ihm zum Taj Mahal Hotel morgen Früh senden.“ Mrs. Repton war ein wenig erschrocken. Sie verstand überhaupt nicht, warum Thresk um den Brief bat, und da sie es nicht verstand, war sie beunruhigter. Die Bitte schien nicht bloß zu verstehen zu geben, dass er beschlossen hatte, die Reise zu machen, sondern dass während der Stunde, seit sie am Esstisch gesessen waren, er einen bestimmten und ernsthaften Plan gebildet hatte. „Hast du ihm alles erzählt?“, fragte sie ziemlich zaghaft. „Nicht ein Wort“, erwiderte Repton. „Nicht einmal darüber ‐ was in den Hügeln in Mussoorie geschah?“ 22
„Natürlich nicht.“ „Nein, natürlich nicht“, stimmte Jane Repton zu. Sie lehnte sich zurück an das Kissen der Viktoria‐Kutsche. Ein klarer dunkler Sternenhimmel erstreckte sich wundervoll hell über ihrem Kopf. Nach dem heißen Tag wehte ein kühler Wind angenehm auf dem Hügel, und zwischen den Bäumen der Gärten konnte sie die Lichter der Stadt und eines Schiffes hier und dort in der Bucht zu ihren Füßen sehen. „Aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Thresk sie in Chitipur finden wird“, sagte Repton. „Sie werden wahrscheinlich im Lager sein.“ Mrs. Repton setzte sich nach vorn gerichtet. „Ja, das ist wahr. Das ist die Zeit, zu der sie auf ihre Inspektionstour gehen. Er wird sie verpassen.“ Und sofort ergriff sie Enttäuschung. Mrs. Repton war an diesem Abend nicht nach Logik zumute. Sie hatte einen Augenblick Angst gehabt, dass die Zündschnur, die sie gelegt hatte, einen Großbrand herbeiführen würde. Nun, da sie wusste, dass sie nicht einmal Feuer fangen würde, ging sie sofort zu einem leidenschaftlichen Bedauern über. Er war der Mann, glaubte sie, für ihre Stella. Aber er würde nach Chitipur hinauffahren! Alles könnte geschehen! Sie lehnte sich wieder in der Kutsche zurück und rief herausfordernd zu den Sternen. „Ich bin froh, dass er geht. Ich bin sehr froh.“ Und trotz ihres Gewissens hüpfte ihr Herz freudig in ihrem Busen.
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Kapitel V Die Suche Den nächsten Abend verließ Henry Thresk Bombay und am Mittwochnachmittag reiste er mit dem kleinen Schmalspurzug über eine flache gelbe Wüste, die in der Sonne briet und funkelte. Hier und dort markierte ein Flecken Grün und ein paar Hütten einen Bahnhof, und bei jedem sprangen fröhlich gekleidete Einheimische offensichtlich aus dem Nichts und, wobei sie nirgendwo hingingen, drängte sie zum Bahnsteig und stiegen in die Waggons. Thresk blickte ungeduldig durch die beschlagenen Fenster und fragte sich, was er in Chitipur finden sollte, falls er je dorthin käme. Die Hauptstadt dieses Staates liegt abseits von den Hauptverkehrsstraßen und wird von einer Nebenbahnlinie, sechzig Meilen lang, erreicht, die im Privatbesitz des Maharadschas ist und vier Stunden zum Durchqueren braucht. Denn in Chitipur werden die altmodischen Weisen innig befolgt. Moderne Vorstellungen von Geschwindigkeit und Fortschritt mögen die großen zentralen Eisenbahnlinien von Bombay nach Ajmere aufwirbeln. Aber sie halten am Knotenpunkt an. Sie führen nicht entlang der Privatlinien des Maharadschas nach Chitipur, wo er, der direkt von einer bedeutenden und äußerst glaubwürdigen Göttin abstammte, seinen Untertanen Leben spendet und Recht spricht, sogar ohne Unterstützung der Presse. Es gibt wenig Kritik in der Stadt und weniger Arbeit. Eine patriarchalische Ruhe schläft in all ihren Straßen. In Chitipur ist immer Sonntagnachmittag. Sogar unten am See ist, wo die riesigen weißen mehrgeschößigen Paläste ihre dunklen vergitterten Fenster und hohen Balkone betrachten, die sich in stillem Wasser, unvorstellbarem blauem Nichts, spiegeln, was als Energie beschrieben werden könnte, zu sehen. Man sieht vielleicht einen Elefanten, der sich gelassen in den See kniet, während ein Diener seinen Rüssel und seine Stirn mit Backsteinbrocken poliert. Aber der Elefant wird zu wohlerzogen sein, um sein Vergnügen zu trompeten. Oder man bemerkt einen Fischer, der in einem Boot döst, das schwer genug ist, um der Brandung des Atlantiks gewachsen zu sein. Aber der Fischer wird einen nicht bemerken ‐ nicht einmal, obwohl man ihn mit einschmeichelnden Versprechungen von Rupien ruft. Man wird, wenn man lange genug wartet, eine Frau die Stufen mit einem Wasserkrug auf dem Kopf balanciert herunterkommen sehen; und tatsächlich vielleicht zwei Frauen. Aber wenn die 24
Augen auf diesen Wundern verweilt haben, wird man gesehen haben, was für Bewegung und Leben an den Ufern dieser schlafenden Gewässer es gibt. Es war in Übereinstimmung mit der Angemessenheit der Dinge, dass die Stadt und ihr See drei Meilen vom Bahnhof und ganz unsichtbar für den Reisenden sein sollten. Das Hotel jedoch und der Amtssitz waren in der Nähe des Bahnhofs, und es war der Amtssitz, der Thresk aus den Mengen und den Tumult von Bombay gebracht hatte. Er stieg im Hotel ab, und indem er Reptons Empfehlung in einen Begleitbrief legte, sandte er ihn durch einen Träger die Straße hinunter. Dann wartete er; und keine Antwort kam. Schließlich fragte er, ob sein Träger zurückgekehrt war. Eine ganze halbe Stunde, wurde ihm gesagt, und es wurde nach dem Mann geschickt. „Also? Du hast den Brief überbracht?“, sagte Thresk. „Ja, Sahib.“ „Und da war keine Antwort?“ „Nein. Keine Antwort, Sahib“, erwiderte der Mann fröhlich. „Sehr gut.“ Er wartet noch eine weitere Stunde und da noch keine Empfangsbestätigung gekommen war, schlenderte er die Straße selbst entlang. Er kam zu einem großen weißen Haus. Ein Fahnenmast war auf dem Dach, aber keine Fahne wehte ihre Falten heraus. Da war ein Garten um das Haus, der gepflegte, wohl geordnete Garten des englischen Volkes mit einem Rasen und Blumenbeeten, und ein Gärtner bewässerte ihn fleißig mit einem Schlauch. Thresk blieb vor der Hecke stehen. Die Fenster waren alle mit Fensterläden verschlossen, die großen Türen abschlossen; es gab nirgendwo ein Zeichen der Bewohner. Thresk drehte um und ging zurück zum Hotel. Er fand den Träger Wechselkleidung für ihn auf sein Bett auslegen. „Seine Exzellenz ist fort“, sagte er. „Ja, Sahib“, erwiderte der Träger prompt. „Seine Exzellenz ist auf eine Inspektionstour gegangen.“ „Warum dann, um Himmels willen, hast du es mir nicht gesagt?“, rief Thresk. 25
Das Gesicht des Trägers verlor all seine Fröhlichkeit in einer Sekund und wurde eine Maske. Er war ein Madrassee und schwarz wie Kohle. Thresk schien es, dass der Mann sich plötzlich ganz und gar zurückgezogen hatte und nur ein Bild mit lebhaften Augen zurückließ. Er zuckte die Achseln. Es kam bei dem ersten Hauch des Tadels in seiner Stimme, und mit solcher Vollständigkeit, dass es ihm den Schock des Tricks eines Zauberkünstlers gab. Einen Augenblick war der Träger vor ihm, im nächsten war er verschwunden. „Was hast du mit dem Brief getan?“, fragte Thresk und war vorsichtig, dass keine Verzweiflung in seiner Stimme war. Der Träger wurde wieder lebendig, seine weißen Zähne schimmerten in einem Lächeln. „Ich lasse den Brief zurück. Ich gebe ihn dem Gärtner. Alle Briefe werden an seine Exzellenz geschickt.“ „Wann?“ „Vielleicht diese Woche, vielleicht nächste.“ „Ich verstehe“, sagte Thresk. Er stand für ein oder zwei Augenblicke mit seinen Augen auf das Fenster gerichtet. Dann bewegte er sich abrupt. „Wir fahren morgen Nachmittag zurück nach Bombay.“ „Der Sahib wird Chitipur morgen sehen. Es gibt schöne Paläste am See.“ Thresk lachte, aber das Lachen war kurz und bitter. „Oh ja, wir machen morgen die ganze Sache stilvoll.“ Er hatte den Ton eines Mannes, der sich in einem kindischen Netz der Torheit gefangen hat. Er schien gleichzeitig wütend und beschämt zu sein. Trotzdem war er am nächsten Morgen der vollständige Tourist, der Indien in Expressgeschwindigkeit während eines kalten Wetters bereiste. Er besuchte das Museum, er ging durch das Elefantentor in den Basar, er wurde über den See zu den Inselpalästen gerudert; er bewunderte ihre Marmorstufen und ‐säulen und ‐böden und war verwirrt durch die klingelnden blauen Glaskronleuchter. Er tat die korrekte Sache während dieses Vormittags und
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früh an Nachmittag stieg er in den kleinen Zug, der ihn zurück zum Jarwhal‐ Knotenpunkt und zum Nachtpostzug nach Bombay bringen sollte. „Sie werden fünf Stunden in der Anschlussstation warten müssen, Mr. Thresk“, sagte der Manager des Hotels, der gekommen war, um ihn zu verabschieden. „Ich habe etwas zu essen für Sie zusammenstellen lassen, und dort ist ein Dak‐ Bungalow, wo sie essen können.“ „Danke“, sagte Thresk und der Zug fuhr los. Die Sonne war untergegangen, bevor er die Anschlussstation erreichte. Als er auf den Bahnsteig stieg, war die Dämmerung gekommen ‐ die unerwartete Dämmerung des Ostens. Bevor er den Dak‐Bungalow erreicht hatte, hatte sich die Dämmerung zu der Pracht einer indischen Nacht verwandelt. Der Bungalow war leer von Besuchern. Thresks Träger zündete ein Feuer an und bereitete das Essen zu, während Thresk draußen vor die Tür ging und rauchte. Er blickte über eine Ebene zu einer langen hohen Bergkette, wo sich einst eine Stadt dahingezogen hatte. Ihre verlassenen Türme und abbröckelnden Mauern krönten noch immer die Höhe und machten eine Behausung für wilde Tiere und Vögel. Aber sie waren jetzt ganz versteckt und die scharfe Linie der Bergkette wurde gemildert. Auf halbem Weg zwischen der alten Stadt und dem Bungalow leuchteten helle Lichter auf der Ebene und die roten Zungen eines Feuers flackerten im Freien. Thresk war nicht in Eile, zurück zum Bungalow zu gehen. Die erste Kühle der Dunkelheit war fort. Die Nacht war kühl, aber nicht kalt; der Mond war aufgegangen und diese staubige Ebene war ein Ort des Glanzes geworden. Von irgendwo weit weg kam der Klang einer einzelnen Trommel. Thresk speicherte in seinen Gedanken die Schönheit dieser Nacht. Es sollte seine letzte Nacht in Indien sein. Morgen um diese Zeit würde Bombay hinter dem Ufer des Sees versunken sein. Er war nach Rajputana auf eine bestimmte Suche gekommen, und auf den Rat einer Frau hin, deren Urteilsvermögen er zu vertrauen geneigt war. Und seine Suche hatte versagt. Er sollte es selbst sehen. Er würde nichts sehen. Und noch weit weg fuhr das Schlagen dieser Trommel fort ‐ eintönig, traurig, bedeutsam ‐ der wahre Ruf des Ostens hörbar gemacht. Thresk lehnte sich vor auf einem Platz, horchte, schätzte den Klang. Er erhob sich widerwillig, als der Träger kam, um ihm zu sagen, dass das Essen fertig sei. Thresk machte eine lange Runde. Er zeigte zu der Lichtergruppe auf der Ebene. „Ist das ein Dorf?“, fragte er. 27
„Nein, Sahib“, erwiderte der Träger. „Das ist das Lager seiner Exzellenz.“ „Was!“ rief Thresk und schwang auf seinem Absatz herum. Sein Träger lächelte fröhlich. „Ja. Seine Exzellenz, zu dem ich Sahibs Brief trug. Das ist das Lager für heute Nacht. Der Hüter des Bungalows erzählte es mir. Seine Exzellenz lagerte gestern hier und geht morgen weiter.“ „Und du hast es mir nie gesagt!“, rief Thresk aus und er hielt sich zurück. Er stand und fragte sich, was er tun sollte, als plötzlich aus der Dunkelheit ein eigenartiges leises schlurfendes Geräusch, dergleichen er nie gehört hatte, kam. Er hörte ein schweres Atmen und ein sprudelndes Geräusch, und dann in dem Lichtstrahl, der sich vom Fenster des Bungalows ausbreitete, ritt ein Mann in einer scharlachroten Livree auf einem Kamel. Das Kamel kniete hin; sein Reiter stieg ab und als er abstieg, redete er mit Thresks Träger. Etwas ging von Hand zu Hand und der Träger kam mit einem Brief in seiner Hand zurück zu Thresk. „Ein kurzer Brief von seiner Exzellenz.“ Thresk riss den Umschlag auf und fand darin eine Einladung zum Dinner, unterzeichnet mit „Stephen Ballantyne“. „Ihr Brief hat mich diesen Augenblick erreicht“, lautete die Nachricht. „Sie kam mit Ihrem Zug. Ich bin froh, Sie alles in allem nicht verpasst zu haben, und ich hoffe, Sie werden heute Abend kommen. Das Kamel wird sie zu dem Lager bringen und Sie rechtzeitig zu dem Postzug zurückbringen.“ Nach allem war die Suche nicht gescheitert. Nach allem sollte er selbst ‐ was ein Mann innerhalb von zwei Stunden sehen konnte, das Innenleben eines verheirateten Paares sehen. Nicht sehr viel gewiss, aber vielleicht einen Hinweis, ein Zeichen, das ihm offenbaren würde, was es war, das so viel Charakter in Stella Ballantynes Gesicht geschrieben und Jane Repton in Warnungen und Zurückhaltung getrieben hatte. „Ich werde sofort gehen“, sagte Thresk und sein Träger übersetzte die Worte dem Kameltreiber.
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Aber trotzdem blieb Thresk, um den Brief wieder anzusehen. Seine Handschrift auf den ersten Blick, als die unerwarteten Worte vor seinen Augen tanzten, hatte seine Aufmerksamkeit gefangen genommen; sie war so klein, so deutlich zart. Thresks Erfahrung hatte ihn schnell gemacht, Einzelheiten zu bemerken, und langsam, aus ihnen zu schlussfolgern. Doch diese Handschrift verwunderte ihn. Es mochte das Werk einer anspruchsvollen Frau oder eines müßigen Gelehrten sein; so viel Stolz der Schönschreibkunst war da. Es stimmte gewiss mit keinem Bild von Stephen Ballantyne überein, das seine Vorstellungskraft gezeichnet hatte. Er bestieg das Kamel hinter dem Treiber, und für die nächsten paar Minuten verschwanden alle seine Fragen und Verwirrungen aus seinem Sinn. Er klammerte sich einfach an das Handgelenk des Treibers. Denn das Kamel stieß hinunter in die Gräben und schlurfte und torkelte hinauf aus ihnen, kletterte über Erdhügel und glitt die andere Seite davon hinunter, und die ganze Zeit hatte Thresk das Gefühl ungewiss in die Luft, so hoch wie ein Kirchturm, gehoben zu werden. Plötzlich jedoch wurden die Lichter des Lagers groß und das Kamel tappte leise zwischen den Zelten. Es wurde ungefähr zwanzig Yard von einem großen Zelt angehalten. Ein anderer Diener, in weiß mit einer scharlachroten Schärpe über seiner Taille bekleidet, empfing Thresk vom Kameltreiber. Er sprach ein paar Worte in Hindustani, aber Thresk schüttelte seinen Kopf. Dann ging der Mann auf das Zelt zu und Thresk folgte ihm. Er war sich einer merkwürdigen Aufregung bewusst, und erst, als er ihm der Atem stockte, war er sich bewusst, dass sein Herz schnell schlug. Als sie sich dem Zelt näherten, hörte er drinnen Stimmen. Sie wurden lauter, als er es erreichte ‐ eine war die eines Mannes, laut, wutentbrannt, die andere war die einer Frau. Sie war nicht erhoben, aber sie hatte einen herausfordernden Ton darin. Die Worte konnte Thresk nicht hören, aber er kannte die Stimme der Frau. Der Diener hob die Klappe des Zelts. „Huzoor, der Sahib ist hier“, sagte er und sofort verstummten beide Stimmen. Als Thresk im Eingang stand, drehte sich sowohl der Mann als auch die Frau. Der Mann, mit ein wenig Verwirrung in seinem Verhalten, kam schnell auf ihn zu. Über seine Schulter sah er Stella Ballantyne auf ihn starren, als ob er aus dem Grab auferstanden wäre. Dann, als er Ballantynes ausgestreckte Hand 29
nahm, hob Stella rasch ihre Hand mit einer merkwürdigen Geste an ihre Kehle und wandte sich ab. Es war, als ob sie jetzt sicher wäre, dass Thresk vor ihr stand, eine lebende Gegenwart, vor der sie etwas zu verbergen hätte.
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Kapitel VI Im Zelt in Chitipur Das Zelt war groß und hoch. Es hatte einen dicken Futterstoff aus mattroter Farbe und einen Teppich, der den Boden bedeckte; gepolsterte Korbstühle und ein paar kleine Tische standen hier und dort; an einer Wand erhob sich ein offenes Schreibpult mit einer Schachtel Zigarrenstumpen darauf; die zwei Gänge zu den Schlafzelten und der Küche waren von Grastrennwänden verborgen, und dazwischen stand ein großes Chesterfield‐Sofa. Es war mit einem Wort, das Zelt von Leuten, die gewohnt waren, wochenlang ihr Zuhause darin zu haben. Sogar die neuesten Bücher waren zu sehen. Aber es war dunkel. Eine einzelne Lampe, die über dem runden Esstisch von der Kreuzstange des Daches schwang, brannte genau in der Mitte des Zeltes; und das war alles. Die Ecken waren schattig; der Futterstoff absorbierte nur die Strahlen und gab keine zurück. Die runde Lichtstelle, die sich unter der Lampe ausbreitete, war hinter Ballantyne, als er sich zum Eingang drehte, daher war sich Thresk von ihm nur als einen schwer gebauten Mann in einer weißen Rauchjacke und gestärktem weißem Hemd bewusst; und es war zu dem gestärkten weißen Hemd, zu dem er sprach, wobei er sich entschuldigte. Er war auch froh, ein oder zwei Sekunden den Augenblick hinauszuzögern, wenn er zu Stella sprechen muss. In ihrer Gegenwart waren seine langen Jahre der Anstrengung und Arbeit ein sehr kleiner Abstand geworden. „Ich musste kommen wie ich war, Captain Ballantyne“, sagte er, „denn ich habe nur bei mir, was ich für die Nacht im Zug brauche.“ „Natürlich. Das ist in Ordnung“, erwiderte Ballantyne mit großer Höflichkeit. Er wandte sich Stella zu. „Mr. Thresk, das ist meine Frau.“ Nun musste sie sich umdrehen. Sie streckte ihre Hand aus, aber sie bedeckte noch immer ihren Hals mit ihrer Linken. Sie gab kein Zeichen des Erkennens und sie sah ihren Besucher nicht an. „Wie geht es Ihnen, Mr. Thresk?“, sagte sie und fuhr schnell fort, wobei sie ihm keine Zeit für eine Antwort ließ. „Wir sind im Lager, wissen Sie? Sie müssen uns einfach so nehmen wie wir sind. Stephen sagte mir erst vor einer Minute, dass 31
er einen Gast erwartete. Sie haben nicht zu viel Zeit. Ich werde mich darum kümmern, dass das Abendessen sofort serviert wird.“ Sie ging schnell zu einer der Grastrennwände, und als sie sie hob, verschwand sie außer Sicht. Es schien Thresk, dass sie gerade einen Vorwand ergriffen hatte, davonzukommen. Warum? fragte er sich. Sie war nervös und bedrückt und in ihrer Sorge hatte sie ohne Erstaunen Thresks Vorstellung zu ihr als Fremder akzeptiert. An diese Beziehung waren er und sie für den Rest seines Aufenthaltes im Lager des Residenten gebunden. Mrs. Repton hatte unrecht gehabt, wenn sie Thresks Bitte auf eine formelle Vorstellung bei Ballantyne einem Plan zugeschrieben hatte, der in seinem Kopf schon reifte. Er hatte keinen Plan, obwohl er einen formte, bevor das Abendessen zu Ende war. Er hatte um den Brief gebeten, weil er glaubwürdig gewünscht hatte, ihrem Rat zu folgen und sie selbst zu sehen. Wenn er Stella besuchte, würde er sie alleine finden; das bloße Einreichen seines Namens würde sie warnen; er würde nichts sehen. Sie würde sich darum kümmern. Er hatte einen Wunsch, Ballantynes Bekanntschaft als Mrs. Ballantynes Freund zu machen. Er könnte diese Freundschaft hinterher behaupten. Nun jedoch hatte Stella in ihrer Verwirrung die Behauptung unmöglich gemacht. Sie war geflohen ‐ es gab kein anderes Wort, das wahrheitsgemäß ihre rasche Bewegung zu der Trennwand beschreiben könnte. Ballantyne jedoch war dadurch eindeutig nicht überrascht gewesen. „Es war Glück für mich, dass ich gestern hier lagerte und um meine Briefe telegrafierte“, sagte er. „Sie erwähnte in Ihrer Nachricht, dass Sie nur vierundzwanzig Stunden für Chitipur hätten, nicht wahr? Daher war ich sicher, dass sie in diesem Zug sein würden.“ Er sprach mit einer langsamen Präzision in seiner Stimme, die er bestrebt war ‐ oder so kam es Thresk vor ‐ zuvorkommend und tief zu halten; und als er sprach, ging er zum Esstisch und kam innerhalb der Lichtstelle. Thresk hatte einen klaren Blick auf ihn. Er war ein Mann mit einem feisten und kräftigen Gesicht, mit einem blauen schweren Kinn und dicken Augenlidern über blutunterlaufene Augen. „Wollen Sie einen Cocktail?“, fragte er und er rief laut, wobei er zu dem zweiten Gang vom Zelt ging: „Quai hai! Baram Singh, Cocktails!“ 32
Der Diener, der Thresk an der Tür begegnete, kam augenblicklich mit zwei Cocktails auf einem Tablett herein. „Ah, du hast sie“, sagte er. „Gut!“ Aber er lehnte das Glas ab, als das Tablett ihm entgegengehalten wurde, lehnte es nach einem langen Blick und mit einer gewissen Heftigkeit ab. „Für mich? Gewiss nicht! Niemals auf dieser Welt.“ Er blickte mit einem Lachen zu Thresk auf. „Cocktails sind für Sie sehr gut, Mr. Thresk, die Sie hier während des kalten Wetters sind, aber wir, die wir hier wohnen ‐ wir müssen vorsichtig sein.“ „Ja, ich nehme es“, sagte Thresk. Aber direkt hinter Ballantyne auf der Anrichte an der Wand des Zeltes, gegenüber von der Wand, wo der Schreibtisch stand, bemerkte er eine Sodasiphonflasche, eine Karaffe Whisky und ein langes Glas, das nicht ganz leer war. Er blickte Ballantyne neugierig an, und als er schaute, sah er ihn erschrecken und mit weit offenen Augen in die trüben Winkel des Zeltes starren. Ballantyne hatte Thresks Anwesenheit vergessen. Er stand dort, sein Körper steif, sein Mund halb offen und Furcht, die aus seinen Augen und aus jeder Linie in seinem Gesicht blickte ‐ völlig lähmende Furcht. Dann sah er Thresk, wie er ihn anstarrte, aber er war zu sehr in Schrecken versunken, um den starrenden Blick übel zu nehmen. „Hörten Sie etwas?“, sagte er flüsternd. „Nein.“ „Ich schon“, und er neigte seinen Kopf auf eine Seite. Für einen Augenblick standen die zwei Männer und hielten ihren Atem an. Und dann hörte Thresk etwas. Es war das Rascheln eines Kleides auf dem Gang hinter der Mattentrennwand. „Es ist Mrs. Ballantyne“, sagte er und sie hob die Trennwand und kam herein. Thresk bemerkte eine scharfe Bewegung des Abscheus in Ballantyne, aber er schenkte ihm keine Beachtung. Seine Augen waren auf Stella Ballantyne gerichtet. Sie trug nun um ihren Hals eine Türkishalskette. Es war eine schwere Halskette von indischer Machart, ziemlich barbarisch und überhaupt nicht schön, aber sie hatte viele Reihen an Steinen und verbarg ihren Hals ‐ genau so 33
sicher wie ihre Hand ihn verborgen hatte, als sie Thresk zum ersten Mal sah. Es war, um ihren Hals zu verbergen, dass sie geflohen war. Er sah, wie Ballantyne zu einer Frau hinaufging, er hörte seine Stimme und bemerkte, dass ihr Gesicht ernst und hart wurde. „Also bist du zur Vernunft gekommen“, sagte er leise. Stella ging an ihm vorbei und antwortete nicht. Es war dann, auf die Frage über die Halskette, dass sich ihre Stimmen erhoben hatten, als er das Lager erreichte. Er hatte Ballantynes laut und dominant gehört, die Stimme eines Tyrannen. Er hatte ihr befohlen, ihren Hals zu bedecken. Stella andererseits war ruhig, aber trotzig gewesen. Sie hatte sich geweigert. Nun hatte sie ihre Meinung geändert. Baram Singh brachte die Suppenterrine eine Sekunde danach herein und Ballantyne hob seine Hände in einer Vorspiegelung des tiefsten Erstaunens. „Nanu, das Essen ist tatsächlich pünktlich! Was für ein Wunder! Auf mein Wort, Stella, ich werde nicht wissen, was ich als Nächstes erwarten soll, wenn du mich auf diese Weise verwöhnst.“ „Es ist gewöhnlich pünktlich, Stephen“, erwiderte Stella mit einem ängstlichen und flehenden Lächeln. „Wirklich, meine Liebe? Ich hatte es nicht bemerkt. Setzen wir uns sofort.“ Auf diesen neckenden Ton begann das Abendessen; und zweifellos hätte er in dem Mund eines anderen Mannes gut gelaunt genug geklungen. Es gab gewiss bis jetzt kein Wort, man konnte es eindeutig sagen, das zu verletzten beabsichtigt war, aber unter der Neckerei war sich Thresk einer Verletzung, einer Bitterkeit bewusst, die durch die Anwesenheit eines Fremden in Schach gehalten wurde. Nicht, dass Thresk seines Anteils davon verschont wurde. Ganz am Anfang kam er, der Gast, für den es ein so seltenes Glück war, Ballantyne kennenzulernen, für den Geschmack der Peitsche herein. „Also konnten Sie tatsächlich vierundzwanzig Stunden Chitipur schenken, Mr. Thresk. Das war äußerst liebenswürdig und umsichtig von Ihnen! Übrigens, was wollen Sie trinken? Unser Keller ist im Lager ziemlich begrenzt. Da ist Rotwein und Whisky‐Soda.“ „Whisky‐Soda für mich, bitte“, sagte Thresk.
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„Und für mich auch. Du nimmst Rotwein, nicht wahr, Stella, Liebes“, und er verweilte auf „Liebes“, als ob er erwartete, später eine Menge Vergnügen aus ihr zu bekommen. Und so verstand sie ihn, denn da kam ein beunruhigter Blick in ihr Gesicht und sie machte eine kleine Geste der Hilflosigkeit. Thresk beobachtete und sagte nichts. „Die Karaffe ist vor dir, Stella“, fuhr Ballantyne fort. Er wandte seine Aufmerksamkeit seinem eigenen Trinkglas zu, in das Baram Singh schon den Whisky eingeschenkt hatte; und sofort rief er ungehalten aus: „Da ist viel zu viel für mich hier! Gütiger Himmel, was kommt als Nächstes!“ Und in Hindustani befahl er Baram Singh, Sodawasser hinzuzugeben. Dann wandte er sich wieder an Thresk. „Aber ich habe keinen Zweifel, dass Sie Chitipur in Ihren vierundzwanzig Stunden ausschöpften, nicht wahr? Natürlich werden Sie ein Buch schreiben?“ „Ein Buch schreiben!“, rief Thresk. Er wurde zu einem Lachen verleitet. „Nicht ich.“ Ballantyne lehnte sich mit einem äußerst ernsten und verwirrten Gesicht vor. „Sie schreiben kein Buch über Indien? Du meine Güte! Hast du das gehört, Stella. Er ist tatsächlich vierundzwanzig Stunden in Chitipur und er wird kein Buch darüber schreiben.“ „Sechs Wochen von Tür zu Tür: oder wie ich einen Esel aus mir in Indien machte“, sagte Thresk. „Nein, danke!“ Ballantyne lachte, machte einen Schluck von seinem Whisky‐Soda und stellte das Glas wieder mit einem gequälten Gesicht hin. „Das ist zu stark für mich“, sagte er und er stand von seinem Stuhl auf und ging hinüber zu dem Flaschenhalter auf der Anrichte. Er warf einen vorsichtigen Blick zu dem Tisch, aber Thresk hatte sie zu Stella vorgebeugt. Sie sagte mit leiser Stimme: „Sie haben nichts gegen ein wenig Neckerei, nicht wahr?“, und mit einem Flehen, das so wehmütig war, dass es Thresk bis ans Herz berührte. „Natürlich nicht“, antwortete er und er blickte hinauf zu Ballantyne. Stella bemerkte eine Veränderung über sein Gesicht kommen. Es war nicht so sehr 35
Erstaunen, das sich dort zeigte, wie Interesse und eine Bestätigung des Verdachtes, den er schon hatte. Er sah, dass Ballantyne heimlich in sein Glas überhaupt kein Soda goss, sondern Whisky aus dem Flaschenhalter. Er kam mit dem Glas randvoll zurück und trank mit Genuss tief daraus. „Das ist besser“, sagte er und mit einem Grinsen wandte er seine Aufmerksamkeit seiner Frau zu, wobei er sie mit seinen Augen fixierte, sie verzückt betrachtete, wie eine große Schlange einen Vogel, der auf dem Boden seines Käfigs zittert. Die Gänge folgten nacheinander und während er aß, peinigte er sie zu seinem Vergnügen. Sie nahm Zuflucht im Schweigen, aber er zwang sie zu reden und verspottete alles, was sie sagte. Stella wurde von ihm eingeschüchtert. Wenn sie antwortete, war es eine gewöhnliche alltägliche Sache, bei der er ihr mit übertriebener Höflichkeit zusetzte, es zu wiederholen. Am Ende wiederholte sie es mit brennenden Wangen und beugte ihren Kopf unter dem brutalen Sarkasmus, mit dem er in Fetzen gerissen wurde. Ein‐ oder zweimal war Thresk an dem Punkt, zu ihrer Verteidigung aufzuspringen, aber sie blickte ihn mit so viel Entsetzen in ihren Augen an, dass er sich nicht einmischte. Er saß und beobachtete und in der Zwischenzeit begann sein Plan in seinem Kopf Form anzunehmen. Es kam eine Pause des Schweigens, während der sich Ballantyne in seinem Stuhl in eine Art Benommenheit zurücklehnte; und inmitten dieser Stille rief Stella mit einer Welt der Sehnsucht in ihrer Stimme aus: „Und Sie werden in dreizehn Tagen in England sein! Daran zu denken!“ Sie blickte sich im Zelt um. Es schien unglaublich, dass jemand solches Glück haben konnte. „Sie fahren direkt vom Jarwhal‐Knotenpunkt hier an unserer Zelttür bis Bombay. Morgen gehen Sie an Bord Ihres Schiffes und in zwölf Tagen danach werden Sie in England sein.“ Thresk lehnte sich über den Tisch. „Wann fuhren Sie das letzte Mal nach Hause?“, fragte er. „Ich bin nie zu Hause gewesen, seit ich heiratete.“ „Niemals!“, rief Thresk aus.
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Stella schüttelte ihren Kopf. „Niemals.“ Sie blickte hinunter auf das Tischtuch, während sie sprach, aber als sie endete, hob sie ihren Kopf. „Ja, ich bin acht Jahre in Indien“, fügte sie hinzu und Thresk sah plötzlich die Tränen in ihren Augen glitzern. Er war nach Chitipur hinaufgekommen, wobei er sich für diesen Vormittag auf den South Downs Vorwürfe machte, ein Vormittag so fern, so zurückhaltend von aller Umgebung, in der er sich befand, dass es zu einem früheren Leben zu gehören schien. Aber seine Vorwürfe wurden nun doppelt quälend. Sie war acht Jahre in Indien gewesen, an diesen brutalen Kerl gebunden! Aber Stella Ballantyne beherrschte sich mit einem Lachen. „Jedoch bin ich darin nicht allein“, sagte sie leichthin. „Und wie ist London?“ Es war bedauerlich, dass gerade in diesem Augenblick Captain Ballantyne wieder aufwachte. „Äh, was!“, rief er mit spöttischer Überraschung aus. „Du hast geredet, Stella, nicht wahr? Es muss etwas außergewöhnlich Interessantes gewesen sein, das du sagtest. Lass es mich hören.“ Sofort zuckte Stella zusammen. Ihr Lebensgeist wurde so eingeschüchtert, dass sie fast den Blick einer dummen Person hatte; sie wurde dumm in dem schieren Entsetzen vor den Sticheleien ihres Ehemannes. „Es war von keiner Bedeutung.“ „Oh, meine Liebe“, sagte Ballantyne höhnisch, „du tust dir selbst unrecht“, und dann wurde seine Stimme grob, sein Gesicht brutal. „Was war es?“, forderte er zu wissen. Stella blickte hierhin und dorthin, wie ein Tier in einer Falle. Dann erblickte sie Thresks Gesicht vor ihrem. Ihre Augen flehten ihn um Schweigen an; sie drehte sich schnell ihrem Ehemann zu. „Ich sagte nur, wie ist London?“ Ein Lächeln breitete sich über Ballantynes Gesicht. 37
„Nun sagtest du das? Wie ist London! Also, warum fragtest du, wie London ist? Wie sollte London sein? Was für eine Antwort erwartetest du?“ „Ich erwartete keine Antwort“, erwiderte Stella. „Natürlich klingt die Frage dumm, wenn man sie in die Länge zieht und sich darüber Sorgen macht.“ Ballantyne schnaubte verächtlich. „Wie ist London? Versuche es wieder, Stella!“ Thresk war zur Grenze seiner Geduld gekommen. Trotz Stellas Flehen unterbrach er und unterbrach scharf. „Es scheint mir keine unnatürliche Frage für eine Frau, sie zu stellen, die London seit acht Jahren nicht gesehen hat. Sagen Sie nach allem, was Sie wollen, für Frauen bedeutet Indien Exil ‐ echtes Exil.“ Ballantyne wandte sich seinem Gast mit einer Entgegnung auf seiner Zunge zu. Aber er überlegte es sich. Er blickte weg und gab sich mit einem Lachen zufrieden. „Ja“, sagte Stella, „wir brauchen Nachbarn nebenan.“ Die Zurückhaltung, die Ballantyne gegenüber Thresk zeigte, diente nur dazu, um ihn gegen seine Frau zu entflammen. „Damit du ihre Kleider in Stücke reißt und ihren Charakter auseinander‐ nimmst“, sagte er. „Macht dir nichts draus, Stella! Die Zeit wird kommen, wenn wir uns zu häuslichem Segen in Camberley für zwei Pennys im Jahr niederlassen werden. Das wird lustig, nicht wahr? Lange Spaziergänge über die Heide und ruhige Abende ‐ alleine mit mir. Du musst dich darauf freuen, meine Liebe.“ Seine Stimme erhob sich zu einer wahrhaften Bedrohung, als er die Zukunft skizzierte, die sie erwartete, und sank dann wieder zurück. „Wie ist London!“, knurrte er und ritt höhnisch auf der unglückseligen Phrase herum. Ballantyne hatte an diesem Abend Glück gehabt. Er war zufällig auf zwei der Banalitäten des gewöhnlichen Gesprächs getroffen, die eine leichte Gelegenheit für den Tyrannen geben. Thresks vierundzwanzig Stunden für Chitipur verschafften die beste Eröffnung. Nur Thresk war ein Gast ‐ nicht, dass das in Ballantynes gegenwärtiger Stimmung eine große Rolle gespielt hätte, aber er war ein Gast, den Ballantyne im Sinn hatte, zu benutzen. Umso 38
beißender sprang er auf Stella herum. Aber dabei warf er Thresk einen flüchtigen Blick zu, in den wahren Mann, der er war; ein Blick, den der Barrister schnell einschätzen sollte. „Wie ist London? Eine Menge London sollen wir uns leisten können! Gott, was für ein Leben vor uns liegt! Frühstück, Mittagessen und Abendessen, Abendessen, Frühstück, Mittagessen ‐ alles zwischen den Nachbarn von nebenan.“ Und daraufhin schleuderte er sich in seinen Stuhl zurück und streckte seine Arme aus. „Gebt mir Rajputana!“, rief er, und sogar durch die Dicke seiner Äußerung klang seine Aufrichtigkeit klar wie eine Glocke. „Man kann sich hier ausstrecken. Die Städte! Lebe in den Städten und du kannst dich kaputtmachen, indem du dich danach sehnst, zu tun, was du willst. Hier kann man es tun. Sehen Sie das, Mr. Thresk? Man kann es tun.“ Und er schlug mit seiner Hand auf den Tisch. „Ich freue mich, ins Lager für zwei Monate, drei Monate am Stück, fortzukommen ‐ auf der Ebene, im Dschungel, allein. Man ist ein König ohne eine Presse. Niemand, der einem nachspioniert ‐ niemand, der klatscht ‐ keine Nachbarn von nebenan. Wie ist London?“ Und höhnisch wandte er sich zurück an seine Frau. „Oh, ich weiß, es passt dir nicht, Stella. Stella ist so gesellig. Stella will Partys. Stella mag Kleider. Stella liebt es, sich mit Perlen zu behängen, nicht wahr, mein Liebling?“ Aber Ballantyne hatte sie heute Abend überstrapaziert. Ihr Gesicht wurde plötzlich rot und mit rascher und heftiger Geste riss sie an der Halskette um ihrer Kehle. Der Verschluss brach, die Perlen fielen mit einem Klappern auf ihren Teller und ließen ihren Hals nackt. Für einen Augenblick starrte sie Ballantyne an, unfähig, seinen Augen zu trauen. So oft hatte er sie zur Zielscheibe seines wilden Humors gemacht, und sie hatte keine Erwiderung geboten. Nun trotzte sie ihm tatsächlich! „Warum hast du das getan?“, fragte er und schob sein Gesicht nahe zu ihrem. Aber er konnte nicht auf sie hinunterstarren. Sie blickte ihm standhaft ins Gesicht. Sogar ihre Lippen zitterten nicht. „Du sagtest, ich solle sie tragen. Ich trug sie. Du verhöhnst mich, weil ich sie trage. Ich nehme sie ab.“
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Und als sie dort saß, mit ihrem erhobenen Kopf, wusste Thresk, warum er sie gebeten hatte, sie zu tragen. Da waren Flecken auf ihrer Kehle ‐ auf jeder Seite ihrer Kehle ‐ die Art von Flecken, die von dem Griff der Finger eines Mannes gemacht wurden. „Gütiger Gott!“, rief er und bevor er ein weiteres Wort sprechen konnte, verging Stellas Augenblick des Trotzes. Sie bedeckte plötzlich ihr Gesicht mit ihren Händen und brach in Tränen aus. Ballantyne schob seinen Stuhl mürrisch zurück. Thresk sprang auf. Aber Stella hielt ihn mit einer Geste ihrer Hand zurück. „Es ist nichts“, sagte sie zwischen ihren Schluchzern. „Ich bin töricht. Diese letzten paar Tage sind heiß gewesen, nicht wahr?“ Sie lächelte matt, wobei sie ihre Tränen unterdrückte. „Es gibt überhaupt keinen Grund“, und sie stand von ihrem Stuhl auf. „Ich denk, ich werde euch für eine kleine Weile verlassen. Mein Kopf schmerzt und ‐ und ‐ ich habe keinen Zweifel, dass ich jetzt eine rote Nase habe.“ Sie machte ein oder zwei Schritte zu dem Gang in ihr Privatzelt, aber blieb stehen. „Ich kann euch verlassen, um alleine miteinander zurechtzukommen, nicht wahr?“, sagte sie mit ihren Augen auf Thresk. „Sie wissen, wie Frauen sind, nicht wahr? Stephen wird Ihnen interessante Dinge über Rajputana erzählen, wenn Sie ihn zum Reden bringen können. Ich werde Sie sehen, bevor Sie gehen“, und sie hob die Trennwand und ging aus dem Raum. In der Dunkelheit des Ganges stand sie für einen Augenblick still, um sich zu beruhigen, und während sie dort stand, trotz ihrer Anstrengungen, brachen ihre Tränen wieder unkontrollierbar hervor. Sie legte ihre Hände fest über ihren Mund, damit der Klang ihres Schluchzens nicht den Tisch in der Mitte des Zeltes erreichen mochte; und mit ihren Lippen, die in aller Aufrichtigkeit den vergeblichen Wunsch flüsterten, dass sie tot wäre, stolperte sie den Gang entlang. Aber der Klang hatte in das große Zelt hineingereicht, und indem er nach dem Schweigen kam, drückte es Thresks Herz zusammen. Er wusste auf jeden Fall von ihr ‐ dass sie nicht so leicht weinte. Ballantyne berührte ihn am Arm. „Sie gebe mir dafür die Schuld.“
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„Ich weiß nicht, dass ich es tue“, antwortete Thresk langsam. Er fragte sich, wie viel Anteil an der Schuld er selbst hatte, er, der mit ihr auf den Downs vor acht Jahren geritten war und sie hatte sprechen lassen und nicht geantwortet hatte. Er saß heute Abend in dem Zelt mit Scham, die in seinem Herzen brannte. „Es war nicht, als ob ich kein Vertrauen in mich selbst hätte“, argumentierte er, ganz unfähig, zu dem Thresk dieser frühen Tage seine Gedanken zurückschweifen zu lassen. „Ich hatte ‐ Unmengen davon.“ Ballantyne hob sich aus seinem Stuhl und torkelte hinüber zu der Anrichte. Thresk, der ihn beobachtete, begann sich zu fragen, warum um alles auf der Welt Stella ihn oder er sie geheiratet hatte. Er wusste, dass ein blinder Mann solche Mysterien an irgendeinem Tag sehen mag und dass ein weiser Mann nicht versuchen wird, sie zu erklären. Doch fragte er sich. Hatte der Ruf des Mannes sie geblendet? ‐ Denn zweifellos hatte er einen, oder war es dieser Intellekt, der einen Niedergang erlitt, als Ballantyne ins Lager mit niemandem, um zu klatschen, ging? Er dachte noch immer über das Problem nach, als Ballantyne zurück zum Tisch schwang und sich daran machte, zu beweisen, obwohl er betrunken war, dass sein Ruf nicht unbegründet war. „Ich befürchte, Stella geht es nicht sehr gut“, sagte er und setzte sich schwer hin. „Aber sie bat mich, Ihnen Sachen zu erzählen, nicht wahr? Also, ihr Wunsch ist mir Befehl. Na, dann mal los.“ Seine Manieren änderten sich ganz und gar, nun, da sie alleine waren. Er wurde vertraulich, intim, freundlich. Er war betrunken. Er war ein grober Mann mit schweren Gesichtszügen und blutunterlaufenen Augen; er unterbrach seine Unterhaltung mit unbehaglichen Blicken in die Winkel des Zeltes, mit solchen Blicken, die Thresk bemerkt hatte, als er mit ihm alleine war, bevor sie sich zum Abendessen setzten; aber er schaffte es trotzdem, über Rajputana mit einer Kenntnis zu sprechen, die Thresk nun verblüffte und ihn ein anderes Mal gefesselt hätte. Ein Besucher mag die Oberfläche von Rajputana sehen, so wie Thresk es hatte, mag seine Marmorpaläste bewundern, seine blauen Seen und die großen gelben Strecken seiner Wüste, aber um etwas über das Leben darunter, in diesem seltsamen geheimnisvollen Land zu wissen, wird wenigen gegeben, sogar jenen, die lange Jahre die britische Flagge über den Ämtern wehen lassen. Trotzdem wusste Ballantyne ‐ sehr wenig, wie er zugab, aber 41
mehr als seine Kameraden. Und betrunken in seinem Verstand tastend, zog er nun diese seltsame Intrige hervor, nun diese schicksalhafte Geschichte, nun die Geschichte wilder Bestrafung, ausgeübt hinter den vergitterten Fenstern, und legte sie nacheinander vor Thresks Augen ‐ seine Friedensangebote. Und Thresk hörte zu. Aber vor seinen Augen stand das Bild von Stella Ballantyne allein in dem dunklen Gang hinter der Grastrennwand, flüsternd mit wilden Lippen ihren Wunsch, dass sie tot wäre; und in seinen Ohren war der Klang ihres Schluchzens. Hier, schien es, war eine andere Geschichte den Annalen Rajputanas hinzuzufügen. Dann klopfte ihm Ballantyne auf den Arm. „Sie hören nicht zu“, sagte er mit einem höhnischen Grinsen. „Und ich erzähle Ihnen gute Dinge ‐ Dinge, die Leute nicht wissen und die ich ihnen nicht erzählen würde ‐ den Schweinen. Sie hören nicht zu. Sie denken, dass ich ein brutaler Kerl gegenüber meiner Frau bin, äh?“ Und Thresk war erschrocken durch den Scharfsinn der Vermutung seines Gastgebers. „Also, ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Ich bin nicht Herr meiner selbst“, fuhr Ballantyne fort. Seine Stimme senkte sich und seine Augen verengten sich zu zwei kleinen hellen Schlitzen. „Ich habe Angst. Ja, das ist die Erklärung. Ich habe Angst, dass, wenn ich nicht allein bin, ich irgendwie Erleichterung suche. Ich kann nichts dagegen tun.“ Und sogar, als er sprach, öffneten sich seine Augen weit und er saß und starrte fest entschlossen auf einen halbdunklen Winkel des Zelts, wobei er seinen Kopf mit leichten ruckartigen Bewegungen von einer Seite auf die andere bewegte, dass er besser sehen mochte. „Da ist niemand dort drüben, äh?“, fragte er. „Niemand.“ Ballantyne nickte, als er seine Lippen mit seiner Zungenspitze befeuchtete. „Sie machen diese Zelte zu groß“, sagte er flüsternd. „Ein großer Fleck in der Mitte und rundherum in den Ecken ‐ Schatten. Wir sitzen hier in dem Lichtfleck ‐ eine helle Markierung. Aber was geht in den Schatten vor sich, Mr. ‐ Wie ist Ihr Name? Äh? Was geht in den Schatten vor sich?“ Thresk hatte keinen Zweifel, dass Ballantynes Furcht echt war. Er schob nicht bloß eine Ausrede für die Szene vor, die sein Gast mit angesehen hatte und bei 42
seiner Rückkehr nach Bombay verbreiten könnte. Nein, er war wirklich verängstigt. Er streute seine Worte mit plötzlichen unerwarteten Schweigepausen ein, während denen er seine Ohren und sein Gesicht anspannte, um zuzuhören, als ob er eine heimliche Bewegung erwartete. Aber Thresk erklärte es durch die Karaffe auf der Anrichte, in der die Höhe des Whiskys an diesem Abend so bemerkenswert gesenkt hatte. Er hatte jedoch unrecht, denn Ballantyne sprang auf seine Füße. „Sie fahren heute Nacht fort. Sie können mir einen Dienst erweisen.“ „Wirklich?“, fragte Thresk. Er verstand schließlich, warum Ballantyne solche Sorgfalt verwendet hatte, ihn zu interessieren und zu amüsieren. „Ja. Und wiederum“, rief Ballantyne, „werde ich Ihnen einen weiteren Blick in Indien gewähren, den Sie nicht kennen.“ Er ging hinauf zur Tür des Zeltes und zog sie zur Seite. „Schauen Sie!“ Thresk, der sich in seinem Stuhl vorlehnte, blickte durch die Öffnung hinaus. Er sah die vom Mond erleuchtete Ebene in einem sanften Nebelschleier, in der Mitte davon die grüne Lampe eines Eisenbahnsignals und dahinter die ferne Bergkette, auf der sich die Ruinen des alten Chitipur hinzogen. „Schauen Sie!“, rief Ballantyne. „Dort ist das ganze Touristen‐Indien in einem: eine Wüste, eine Eisenbahn und eine verlassene Stadt, Schuppen und Tempel, tiefe heilige Teiche und vergessene Paläste ‐ die ganze Trickkiste, die langsam durch Jahrhunderte oben auf dem Gipfel zerbröckelt. Darum kommen die guten Leute heraus, um es im kalten Wetter zu sehen ‐ Jarwhal‐Knotenpunkt und das alte Chitipur.“ Er ließ den Vorhang verächtlich fallen und er schwang zurück, wobei er die Wüste aussperrte. Er mache ein oder zwei Schritte zurück in das Zelt und breitete seine Arme weit auf jeder Seite von ihm aus. „Aber du meine Güte“, rief er energisch, „hier ist das wahre Indien.“ Thresk sah sich im Zelt um und verstand.
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„Ich verstehe“, antwortete er ‐ „ein sehr schlecht erleuchteter Ort, ein großer Lichtfleck in der Mitte und rundherum dunkle Ecken und grimmige Schatten.“ Ballantyne nickte mit einem grimmigen Lächeln auf seinen Lippen. „Oh, Sie haben das gelernt! Also, Sie sollen mir einen Gefallen tun und im Gegenzug sollen Sie in die Schatten schauen. Aber wir werden zuerst reinen Tisch machen müssen.“ Und er rief laut nach Baram Singh.
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Kapitel VII Die Fotografie Während Baram Singh den Tisch abräumte, hob Ballantyne die Schachtel Zigarrenstumpen vom Schreibtisch und hielt sie Thresk entgegen. „Wollen Sie rauchen?“ Thresk jedoch, obwohl er rauchte, hatte sich während seines Aufenthalts in Indien den Geschmack für Zigarrenstumpen nicht angeeignet; und es interessierte ihn, in späteren Zeiten nachzudenken, wie groß seine Verwicklung in den tragischen Ereignissen infolge dieser zufälligen Abneigung folgen sollte. Denn sich dessen bewusst, hatte er seine Pfeife mitgebracht, und er holte sie jetzt aus seiner Tasche heraus. „Diese, wenn ich darf“, sagte er. „Natürlich.“ Thresk füllte seine Pfeife und zündete sie an, Ballantyne seinerzeit zündete einen Stumpen an und stellte die Schachtel wieder auf die Tischplatte, nahe zu einer schweren Reitgerte mit einem Knochengriff, die Thresk nun zufällig zum ersten Mal sah. „Sei schnell!“, rief er ungeduldig Baram Singh zu und setzte sich in den Schaukelstuhl vor dem Schreibtisch, indem er ihn so drehte, um seinen Rücken nicht Thresk am Tisch zugewandt zu haben. Baram Singh beeilte seine Arbeit und verließ das Zelt durch den Gang, der zur Küche führte. Ballantyne wartete mit seinen Augen auf diesen Durchgang gerichtet, bis die Grasmatten‐ trennwand aufgehört hatte, sich zu bewegen. Dann, indem er einen Schlüsselbund aus seiner Tasche nahm, bückte er sich unter den offenen Schreibklappen des Schreibtisches und sperrte die unterste der drei Laden auf. Aus dieser Lade hob er einen scharlachroten Aktenkoffer heraus und war gerade dabei, ihn zum Tisch zu bringen, als Baram Singh leise noch einmal auftauchte. Sofort ließ Ballantyne den Koffer auf den Boden fallen, wobei er ihn so gut er konnte mit seinen Beinen bedeckte.
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„Was zum Teufel willst du?“, rief er, wobei er natürlich auf Hindustani sprach, und mit einer Heftigkeit, die halb aus Wut und halb aus Furcht zu sein schien. Baram Singh erwiderte, dass er einen Aschenbecher für den Sahib gebracht habe, und er stellte ihn auf den runden Tisch an Thresks Seite. „Also, geh raus und komme nicht zurück, bis du gerufen wirst“, rief Ballantyne grob, und in offensichtlicher Erleichterung, als Baram Singh sich wieder zurückzog, nahm er einen langen Zug aus einem frischen Glas mit Whisky‐Soda, das auf der Klappe des Schreibtisches neben ihm stand. Er bückte sich dann noch einmal, um den roten Aktenkoffer vom Boden aufzuheben, aber zu Thresks Erstaunen hörte mitten im Bücken auf. Er blieb mit offenen Händen, um den Koffer zu ergreifen, und sein Körper beugte sich über seine Knie, ganz bewegungslos. Sein Mund war offen, seine Augen starrten und auf seinem Gesicht war ein Blick des schieren Entsetzens aufgedrückt, wie Thresk nie Worte zu beschreiben finden konnte. Für den ersten Augenblick glaubte er, dass der Mann einen Schlaganfall hatte. Seine Gewohnheiten, sein schwerer Körperbau deutete darauf. Die Handlung des Bückens würde ganz natürlich der brechende Druck auf diesem überlasteten Gehirn sein. Aber bevor Thresk aufgestanden war, um sich zu vergewissern, bewegte Ballantyne einen Arm. Er bewegte ihn nach oben, ohne seine Haltung oder sogar die Richtung seiner Augen zu verändern, und er tastete sehr vorsichtig und heimlich entlang der Klappe des Schreibtisches und wieder hinauf die oberste Leiste. Die ganze Zeit starrten seine Augen aufmerksam, aber mit der Aufmerksamkeit der äußersten Furcht, nicht auf den Aktenkoffer, sondern auf den Teppichraum ‐ höchstens zwei Fuß ‐ zwischen dem Aktenkoffer und der Zeltwand. Seine Finger fühlten entlang der Leiste des Schreibtisches und schlossen sich mit einem stillen Halt auf dem Griff des Aktenkoffers. Thresk sprang zu der natürlichen Schlussfolgerung: eine Schlange war unter der Zeltwand hereingekrochen und Ballantyne wagte nicht, sich zu bewegen, damit die Schlange nicht zubeißen würde. Auch wagte er selbst nicht, sich zu bewegen. Ballantyne war eindeutig innerhalb der Reichweite ihrer Giftzähne. Aber er schaute und ‐ dort war nichts. Das Licht war sicher nicht gut, und runter bei der Zeltwand, dicht zum Fußboden, war es schattig und halbdunkel. Aber Thresks Augen waren scharf. Der Raum zwischen dem Aktenkoffer und der Wand war leer. Nichts kroch dort, nichts war aufgerollt.
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Thresk blickte erstaunt Ballantyne an; und als er schaute, sprang Ballantyne von seinem Stuhl mit einem Schreckensschrei auf ‐ der Schrei eines von Panik ergriffenen Kindes. Er sprang mit einer Beweglichkeit, die Thresk nie an einem Mann für möglich gehalten hätte, der so stark gebaut war. Er sprang in die Luft und mit seinem Stock schlug er wie wild ein‐, zwei‐ und dreimal auf den Boden. Dann drehte er sich Thresk zu, jeder Muskel in seinem Gesicht arbeitete. „Haben Sie gesehen?“, rief er. „Haben Sie gesehen?“ „Was? Da war nichts zu sehen!“ „Nichts!“, schrie Ballantyne. Er hob den Koffer auf und legte ihn auf den Tisch, wobei er ihn unter Thresks Hand schob. „Halten Sie das! Lassen Sie nicht los! Bleiben Sie hier und lassen Sie nicht los“, sagte er und indem er das Zelt hinaufrannte, hob er seine Stimme zu einem Schrei. „Baram Singh!“ und als er die Zelttür hob, rief er andere seiner Diener mit Namen. Ohne auf sie zu warten, rannte er selbst hinaus und in einer Sekunde hörte Thresk ihn stark fluchen und draußen vor dem Zelt in panikartigem Ton dicht an dieser Stelle der Wand, an der der Schreibtisch stand, schreien. Das Lager wachte bei dem Lärm auf. Thresk stand beim Tisch und umfasste den Griff des Aktenkoffers, wie er zu tun gebeten worden war. Die Zelttür wurde offen gelassen. Er konnte Lichter blitzen sehen, er hörte Ballantyne Befehle schreien, und seine Stimme nahm ab und wurde laut, als er sich von einer Stelle zur anderen in dem Lager bewegte. Und inmitten des Lärms erschien das weiße verängstigte Gesicht von Stella Ballantyne an der Öffnung ihres Ganges. „Was ist geschehen?“, fragte er flüsternd. „Oh, ich hatte Angst, dass Sie und er gestritten hätten“, und sie stand mit ihrer Hand über ihr Herz gepresst. „Arm?“, rief Thresk. „Worüber reden Sie?“ Ballantyne schaute von der Wand fort zu Thresk, seine Augen ungläubig. „Aber Sie sahen es!“, beharrte er und beugte sich über den Tisch. „Was?“
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„Einen Arm, eine Hand hereingeschoben dort unter dem Zelt, entlang des Bodens, die nach meinem Koffer griff.“ „Nein. Da war nichts zu sehen.“ „Ein magerer brauner Arm, sage ich Ihnen, eine Hand, dünn und zart wie der einer Frau.“ „Nein. Sie träumen“, rief Thresk aus; aber Träumen war ein beschönigender Ausdruck für das Wort, das er meinte. „Träumen!“, wiederholte Ballantyne mit einem rauen Lachen. „Gütiger Gott! Ich wünsche, ich würde es. Kommen Sie. Setzen Sie sich her! Wir haben nicht zu viel Zeit.“ Er setzte sich gegenüber von Thresk und zog den Aktenkoffer zu sich. Er hatte nun genug Gewalt über sich erlangt, um mit ruhiger Stimme zu sprechen. Zweifellos hatte seine Furcht ihn nüchtern gemacht. Aber sie hatte ihn noch immer in ihrem Griff, denn als er den Aktenkoffer öffnete, zitterte seine Hand so sehr, dass er kaum den Schlüssel in das Schloss stecken konnte. Es war jedoch schließlich getan, und indem er unter den losen Papieren auf der Oberfläche fühlte, zog er vom Boden einen großen versiegelten Umschlag hervor. Er untersuchte das Siegel, um sich zu vergewissern, dass sich daran nicht zu schaffen gemacht worden war. Dann riss er den Umschlag auf und nahm eine Fotografie heraus, etwas größer als Kabinettformat. „Sie haben von Bahadur Salak gehört?“, sagte er. Thresk erschrak. „Die Affäre in Umballa, die Aufstände in Benares, der Mord in Madras?“ „Genau.“ „Das ist der Kerl ‐ der Mittlere der Gruppe.“ Thresk hielt die Fotografie zum Licht hoch. Sie stellte eine Gruppe von neun Hindus dar, die auf Stühlen in einem Garten und in einer Reihe der Kamera gegenübersaßen. Thresk blickte auf die zentrale Gestalt mit einem scharfen und professionellen Interesse. Salak war eine wohl bekannte Figur in der indischen Politik des Tages ‐ die Politik der unterirdischen Art. Seit einigen Jahren hatte er Aufruhr mit so viel Gerissenheit und Geschick gepredigt und ausgeübt, dass, obwohl alle Männer sich bewusst waren, dass seine Hand die 48
Fäden der Unordnung zogen, es nie einen überzeugenden Beweis gegen ihn gab. In allen drei Fällen, die Thresk zitiert hatte, und in vielen anderen weniger gut bekannten, waren jene, die für Ordnung verantwortlich waren, sicher, dass er das Verbrechen begangen, den Augenblick für sein Begehen gewählt und den Befehl gegeben hatte. Aber bis vor einem Monat war er durch die Maschen geschlüpft. Vor einem Monat jedoch hatte er seinen Fehler gemacht. „Ja. Es ist ein kluges Gesicht“, sagte Thresk. Ballantyne nickte. „Er ist ein Mahratta Brahmin von Poona. Sie sind die Kerle für den Verstand, und Salak ist ungefähr der Klügste von ihnen.“ Thresk schaute wieder auf die Fotografie. „Ich sehe, dass das Bild in Poona aufgenommen wurde.“ „Ja, und es ist kein außergewöhnliches Ding!“, rief Ballantyne, sein Gesicht wurde plötzlich vor Interesse und Vergnügen rot. Die Begeisterung des Verwalters an seiner Arbeit gewann jetzt die Oberhand über seine Furcht, so wie ein wenig vorher sie die Oberhand über seine Trunkenheit hatte. Thresk blickte nun in das Gesicht eines ganz anderen Mannes, den Mann der intimen Kenntnis und der hohen Fähigkeit, für den feine Belohnungen in Bombay prophezeit wurden. „Die Klügste von ihnen können der Versuchung nicht widerstehen, in der Gruppe fotografiert zu werden. Verbrechen um Verbrechen ist nach Hause zu den indischen Verbrechern sowohl hier als auch in London heimgebracht worden, weil sie in Gartenstühlen sitzen und einen Mann ihre Porträts machen lassen. Nichts wird sie aufhalten. Sie werden nicht lernen. Sie sind wie die Damen der Spielopernbühne. Also, lasst sie weitermachen, sage ich. Hier ist ein Beispiel.“ „Wirklich?“, fragte Thresk. „Sicher wurde diese Fotografie vor langer Zeit aufgenommen.“ „Neun Jahre. Aber er war im selben Spiel. Sie haben den Beweis in Ihren Händen. Da ist eine Gruppe von neun Männern ‐ Salak und seine acht Freunde. Also, von seinen acht Freunden macht jetzt jeder Einbrüche, in einigen Fällen mit Gewalt ‐ dieser zweite Raufbold zum Beispiel, sitzt lebenslänglich ‐ in einigen Fällen ohne, aber in jedem Fall war das Verbrechen Einbruch. Und 49
warum? Weil Salak dort in der Mitte sie darauf ansetzte. Weil Salak vor neun Jahren nicht das hohe Tier war, das er jetzt ist. Weil Salak Geld wollte, um seine Intrigen zu beginnen. Das ist, wie er es kriegte ‐ Einbrüche in ganz Bombay.“ „Ich verstehe“, sagte Thresk. „Salak ist jetzt im Gefängnis?“ „Er ist im Gefängnis in Kalkutta, ja. Aber er wartet auf seinen Prozess. Er ist noch nicht verurteilt. „Genau“, antwortete Thresk. „Diese Fotografie ist gerade jetzt eine wertvolle Sache.“ Ballantyne warf seine Arme bei der Begriffsstutzigkeit seines Gefährten verzweifelt hoch. „Wertvoll!“, rief er spöttisch. „Wertvoll!“ und er lehnte sich auf seinen Ellbogen vor und begann zu Thresk mit einer ironischen Freundlichkeit zu reden, als ob er ein Kind wäre. „Sie verstehen mich nicht ganz, nicht wahr? Aber ein wenig Mühe und alles wird klar und deutlich sein.“ Er kam jedoch auf diese Art des Angriffs nicht weiter, denn Thresk unterbrach ihn scharf. „Hier! Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe. Oh, Sie müssen nicht finster schauen! Sie werde mich für Ihr Vergnügen nicht ködern. Ich bin nicht Ihre Frau.“ Und Ballantyne wechselte nach vergeblicher Mühe, Thresk anzustarren, bis er aufgab, zu einem höflicheren Ton. „Also, Sie sagen, es ist eine wertvolle Sache, sie gerade jetzt zu haben. Ich sage, es ist eine teuflisch gefährliche Sache. Auf der einen Seite ist da Salak, der große nationale Führer, Salak, der Befreier, Salak, der aus seinem Gefängnis in Kalkutta bekundete, dass er nur die rechtmäßigsten konstitutionellen Mittel benutzt hatte, um seine Propaganda voranzutreiben. Und hier auf der anderen ist Salak in seinem Gartenstuhl zwischen den Einbrechern. Keine gute Sache, diese Fotografie zu besitzen, Mr. Thresk. Besonders, weil sie die Einzige ist, die existiert und das Negativ vernichtet worden ist. Daher sind Salaks Freunde natürlich bestrebt, sie zurückzubekommen.“ „Wissen sie, dass Sie sie haben?“, fragte Thresk. 50
„Natürlich. Sie hatten Beweis, dass sie es vor fünf Minuten wussten, als dieser braune Arm unter der Zeltwand sich hervorwand.“ Ballantynes Furcht kehrte wieder zu ihm zurück, als er sprach. Er saß und zitterte; seine Augen wanderten verstohlen von Ecke zu Ecke des großen Zeltes und kamen immer zurück, als ob sie von einer Schlange zu dem Boden bei der Wand des Zeltes gezogen wurden. Thresk zuckte die Achseln. Mit Ballantyne noch einmal über seinen Irrglauben zu diskutieren, wäre die reinste Zeitverschwendung. Er hob wieder die Fotografie auf. „Wie kommen Sie dazu, sie zu besitzen?“, fragte er. Wenn er seinem Gastgeber auf die Weise dienen sollte, wie er vermutete, gefragt zu werden, muss er seine Geschichte kennen. „Ich war Agent in einem Staat, nicht weit weg von Poona, bevor ich hierherkam.“ Thresk stimmte zu. „Ich weiß. Bakutu.“ „Oh?", sagte Ballantyne mit einem scharfen Blick. „Wie wussten Sie das?“ Er war immer beunruhigt, dass irgendwo auf der Welt Klatsch sein Geheimnis nicht flüsterte. „Eine Mrs. Carruther in Bombay.“ “Erzählte Sie Ihnen noch etwas?” „Ja. Sie erzählte mir, dass Sie ein großer Mann wären.“ Ballantyne grinste plötzlich. „Ist sie nicht eine Närrin?“ Dann verließ das Grinsen sein Gesicht. „Aber wie kamen Sie dazu, mit ihr überhaupt über mich zu sprechen?“ Das war eine Frage, die Thresk nicht die geringste Absicht zu beantworten hatte. Er wich ihr ganz und gar aus. „War es nicht natürlich, da ich nach Chitipur fahren sollte?“, fragte er und Ballantyne war beschwichtigt.
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„Also, der Radscha von Bakuta hatte diese Fotografie und er gab sie mir, als ich den Staat verließ. Er kam hinunter zum Bahnhof, um mich zu verabschieden. Er war Poona zu nahe, um sich damit in seiner Tasche wohl zu fühlen. Er gab sie mir auf dem Bahnsteig direkt vor allen Augen, der verdammte Feigling. Er wollte zeigen, dass er sie mir gegeben hatte. Er sagte, dass ich damit in Chitipur sicher sein würde.“ „Chitipur ist weit weg von Poona“, stimmte Thresk zu. „Aber verstehen Sie nicht, dieser Prozess, der in Kalkutta daherkommt, macht den ganzen Unterschied. Es ist bekannt, dass ich sie habe. Es ist jetzt hier nicht sicher, und ich nicht mehr, solange ich sie habe.“ Eine Frage hatte Thresk, seit er den Schreckensblick wieder auf Ballantynes Gesicht hatte erscheinen sehen, verwirrt. Es war klar, dass er in sehr realer Furcht lebte. Er glaubte, dass er beobachtet wurde, und er glaubte, dass er in Gefahr war. Es hatte tatsächlich keinen Versuch gegeben, ihn diese Nacht dessen zu berauben, was er sich vorstellte. Aber trotzdem konnte Salak und seinen Freunden die Aussicht auf das Hervorholen der Fotografie in Kalkutta nicht gefallen und hätten kaum Bedenken, was für Mittel sie unternähmen, es zu verhindern. Warum hatte sie dann Ballantyne nicht vernichtet? Thresk stellte die Frage und war ziemlich erschrocken durch die Antwort. Denn sie präsentierte ihm auf die unerwartetste Weise eine andere und neue Seite des seltsamen und komplexen Charakters von Stephen Ballantyne. „Ja, warum vernichte ich sie nicht?“, wiederhole Ballantyne. „Ich frage mich das selbst“, und er nahm die Fotografie aus Thresks Händen und saß grübelnd, wobei er vor sich hinstarrte. Dann drehte er sie herum und nahm den Rand zwischen seinen Zeigefinger und Daumen, wobei er zögerte, ob er sie nicht sogar in diesem Augenblick in Streifen reißen würde und sie erledigt hätte. Aber am Ende warf er sie auf den Tisch, wie er es viele Male zuvor getan hatte, und rief mit gewaltiger Stimme: „Nein, ich kann es nicht. Das heißt, dass die Kerle über mich Herr sind, und ich werde es nicht. Bei Gott, ich werde es nicht! Ich mag jede Art von brutalem Kerl sein, aber ich bin in diesem Dienst aufgezogen worden. Seit zwanzig Jahren lebe ich darin und durch ihn. Und der Dienst ist zu stark für mich. Nein, ich kann
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diese Fotografie nicht vernichten. Das ist die Wahrheit. Ich würde mich bis zu meinem Sterbetag hassen, wenn ich es täte.“ Er stand abrupt auf, als ob er sich über seinen Ausbruch schämte, und indem er zu seinem Schreibtisch hinüberging, zündete er einen anderen Zigarren‐ stumpen an. „Was wollen Sie dann, dass ich damit tue?“, fragte Thresk. „Ich will, dass sie sie wegnehmen.“ Ballantyne nahm eine spitzfindige Art an, sein Gewissen zu befriedigen, und er war sich dessen bewusst. Er würde das Porträt nicht vernichten ‐ nein! Aber er würde es auch nicht behalten. „Sie fahren direkt zurück nach England“, sagte er. „Nehmen Sie es mit. Wenn Sie nach Hause kommen, können Sie sie an eines der hohen Tiere im indischen Amt übergeben, und er wird sie in ein Schubfach legen, und eines Tages wird sie eine alte Putzfrau finden, die das Büro reinigt, und sie wird sie nach Hause zu ihren Enkelkindern bringen, um damit zu spielen, und eines davon wird sie in das Feuer fallen lassen und dann wird ein Ende damit sein.“ „Ja“, erwiderte Thresk langsam. „Aber wenn ich das tue, wird es in Kalkutta nicht nützlich sein, nicht wahr?“ „Oh“, sagte Ballantyne höhnisch. „Sie haben auch ein Gewissen, äh? Also, ich werde es Ihnen sagen. Ich denke nicht, dass diese Fotografie in Kalkutta gebraucht wird.“ „Sind Sie darüber sicher?“ „Ja. Salaks Freunde wissen es nicht, aber ich.“ Thresk saß noch immer zweifelnd. Sprach Ballantyne die Wahrheit oder sprach er in Furcht? Er stand noch immer bei dem Schreibtisch und blickte hinunter auf Thresk und hinter ihn, sodass Thresk nicht den Ausdruck seines Gesichtes hatte, um ihm zu entscheiden, zu helfen. Aber er drehte sich nicht in seinem Stuhl um, um zu schauen. Denn als er dort saß, dämmerte es ihm, dass die Fotografie genau die Sache war, die er selbst brauchte. Der Plan, der in seinem Kopf den ganzen Abend gewachsen war, der von dem Augenblick an zu wachsen begonnen hatte, als er das Zelt betreten hatte, war nun in jeder 53
Einzelheit vollständig, außer einer. Er wollte eine Ausrede, eine gute Ausrede, die erklären sollte, warum er sein Schiff versäumte, und hier war sie auf dem Tisch vor ihm. Fast hätte er sie abgelehnt! Nun schien sie ihm ein Geschenk des Himmels. „Ich nehme sie“, rief er und Baram Singh erschien leise an dem äußeren Eingang des Zeltes. „Huzoor“, sagte er. „Railgharri hai.“ Ballantyne wandte sich an Thresk. „Ihr Zug wird signalisiert“, und als Thresk aufsprang, beruhigte er ihn. „Es besteht keine Eile. Ich habe Nachricht gesandt, dass er nicht ohne sie abfährt.“ Und während Baram Sing noch immer stand und auf Befehle in dem Eingang des Zeltes wartete, ging Ballantyne rund um den Tisch, hob das Porträt sehr überlegt auf und reichte es Thresk.
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Kapitel VIII Und das Gewehr Thresk, allein in dem Zelt, blickte ungeduldig zu der Grastrennwand. Er wollte ein halbes Dutzend Worte mit Stella allein. Hier war die Gelegenheit, die unerwartete Gelegenheit, und sie entglitt. Durch den offenen Eingang des Zeltes sah er Ballantyne bei einem großen Feuer stehen und Männer sich schnell, gehorsam seiner Stimme, bewegen. Dann hörte er das Rascheln eines Kleides auf dem Gang und sie war im Raum. Er ging schnell auf sie zu, aber sie hielt ihre Hand hoch und hielt ihn auf. „Oh, warum sind Sie gekommen?“, sagte sie und die Blässe ihres Gesichts tadelte ihn nicht weniger als das Bedauern in ihrer Stimme. „Ich hörte von Ihnen in Bombay“, erwiderte er. „Ich bin froh, dass ich gekommen bin.“ „Und mir tut es leid.“ „Warum?“ Sie blickte sich im Zelt um, als ob er ihre Antwort dort finden könnte. Thresk bewegte sich nicht. Er stand in ihrer Nähe und beobachtete ihr Gesicht aufmerksam mit zusammengebissenen Zähnen. „Oh, ich sagte das nicht, um Sie zu verletzen“, sagte Stella und sie setzte sich auf einen gepolsterten Korbstuhl. „Sie dürfen nicht denken, dass ich nicht froh war, Sie zu sehen. Ich war ‐ im ersten Augenblick war ich sehr froh“, und sie sah sein Gesicht aufleuchten, als sie sprach. „Ich konnte nichts dagegen tun. Alle Jahre rollten vorbei. Ich erinnerte mich an die Sussex Downs und ‐ und an die Tage, als wir dort hoch oben über dem Waldgebiet ritten. Erinnern Sie sich?“ „Ja.“ „Wie lange war das her?“ „Acht Jahre.“ Stella lachte wehmütig.
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„Für mich scheint es wie ein Jahrhundert.“ Sie war für einen Augenblick still, und obwohl er eindringlich zu ihr sprach, antwortete sie nicht. Sie wurde zu dem hohen breiten Grashügel mit den merkwürdigen dicken Holzklötzen von Birken auf ihren Gipfeln zurückgetragen. „Erinnern Sie sich an Halnaker Gallop?“, fragte sie mit einem Lachen. „Wir fanden es, als die Ketten nicht oben waren und die ganzen zwei Meilen frei hatten. Gab es je ein solches Gras?“ Sie blickte direkt auf den Schreibtisch, aber sie sah diesen Weg mit geschorenem Rasen im Dunstschleier eines Augustmorgens. Sie sah es im Freien zwischen dem langen braunen Gras aufsteigen und eintauchen. Da war ein Baum auf der linken Seite, genau wo der Reitweg zum ersten Mal eintauchte. Dann verlief er gerade zu den großen Birken und zwischen ihnen zog eine breite Schneise Sonnenlicht durch und bog hinaus zu dem oberen Ende bei der Straße und tauchte wieder zu den zwei Hütten hinunter. „Und die Hügelkette hinter dem Charlton Forest, das ganze Waldgebiet bis Leith Hill in Sicht?“ Sie erhob sich plötzlich von ihrem Stuhl. „Oh, es tut mir sehr leid, dass Sie kamen.“ „Und ich bin froh“, wiederholte Thresk. Die Hartnäckigkeit, mit der er seine Worte wiederholte, fesselte sie. Sie blickte ihn an ‐ war es mit Misstrauen, fragte er sich? Er konnte nicht sicher sein. Aber sicher war ein kleiner harter Ton in ihrer Stimme, der vorher nicht da gewesen war, als sie wiederum fragte: „Warum?“ „Weil ich es nicht hätte wissen sollen“, sagte er in einem schnellen Flüstern. „Ich hätte zurückgehen sollen. Ich hätte Sie hier lassen sollen. Ich hätte es nicht wissen sollen.“ Stella prallte zurück. „Es gibt nichts zu wissen“, sagte sie scharf und Thresk zeigte auf ihren Hals. „Nichts?“ Stella Ballantyne hob ihre Hand, um die blauen Flecken zu bedecken. 56
„Ich – ich fiel und verletzte mich“, stotterte sie. „Er war es – Ballantyne.“ „Nein“, rief sie und sie richtete sich auf. Aber Thresk akzeptierte ihr Leugnen nicht. „Er behandelt Sie schlecht“, beharrte er. „Er trinkt und behandelt Sie schlecht.“ Stella schüttelte ihren Kopf. „Sie stellten Fragen in Bombay, wo wir bekannt sind. Ihnen wurde das nicht gesagt“, sagte sie zuversichtlich. Es gab nur eine Person in Bombay, die die Wahrheit kannte, und Jane Repton, war sie ganz sicher, würde sie nie verraten. „Das ist wahr“, gab Thresk zu. „Aber warum? Weil es nur hier im Lager ist, dass er sich gehen lässt. Er erzählte uns so viel heute Nacht. Sie waren hier am Tisch. Sie hörten es. Er ließ sein Geheimnis entgleiten: niemand, der Geschichten weitererzählt, niemand, der spioniert. In den Städten wird er bewacht. Ja, aber er freut sich auf die Lagermonate, wenn es keine Nachbarn nebenan gibt.“ „Nein, das ist nicht wahr“, protestierte sie und suchte nach Erklärungen. „Er – er hat einen langen Tag gehabt und heute Abend war er müde – und wenn man müde ist – Oh, in der Regel ist er anders.“ Und zu ihrer Erleichterung hörte sie Ballantynes Stimme draußen vor dem Zelt. „Thresk! Thresk!“ Sie kam vorwärts und streckte ihre Hand aus. „Da! Ihr Kamel ist bereit“, sagte er. „Sie müssen gehen! Auf Wiedersehen“, und als sie sie nahm, verklärte sich ihr Gesicht. „Sie sind jetzt ein großer Mann. Ich las von Ihnen. Sie hatten es immer vor, zu sein, nicht wahr? Harte Arbeit?“ „Sehr“, sagte Thresk. „Vier Uhr morgens bis Mitternacht“, und sie erwischte ihn plötzlich am Arm. „Aber es ist es wert.“ Sie ließ ihn los und verschränkte ihre Arme. „Oh, Sie haben alles!“, rief sie neidisch. „Nein“, antwortete er. Aber sie hörte nicht zu.
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„Alles, was Sie verlangten“, sagte sie und fügte eilig hinzu: „Sammeln Sie noch immer Miniaturen? Keine Zeit jetzt dafür, vermute ich?“ Wieder kam Ballantynes Stimme zu ihnen vom Lagerfeuer. „Sie müssen gehen.“ Thresk blickte durch die Öffnung des Zeltes. Ballantyne hatte sich umgedreht und kam auf sie zu. „Ich werde Ihnen aus Bombay schreiben“, sagte er und völliger Unglaube zeigte sich auf ihrem Gesicht und erklang in ihrem Lachen. „Dieser Brief wird mich nie erreichen“, sagte sich leichthin, und sie ging hinauf zu der Tür des Zeltes. Thresk hatte einen Augenblick, während ihr Rücken zugewandt war, und er nutzte ihn. Er nahm seine Pfeife aus seiner Tasche und legte sie leise und schnell auf den Tisch. Er wollte ein Wort mit ihr, wenn Ballantyne aus dem Weg war, und sie war nicht auf der Hut, ihn abzuwehren. Die Pfeife mochte sein Freund sein und ihn ihm geben. Er ging hinauf zu Stella an der Zelttür und Ballantyne, der auf halbem Weg zwischen dem Lagerfeuer und dem Zelt war, blieb stehen, als er ihn erblickte. „Das ist richtig“, sagte er. „Sie sollten gehen“, und er drehte sich wieder dem Kamel zu. So für einen weiteren Augenblick waren sie zusammen allen, aber es war Stella, die ihn ergriff. „Da gehen Sie!“, sagte sie. „Sie müssen gehen“, und im selben Atemzug fügte sie hinzu: „Schon verheiratet?“ „Nein“, antwortete Thresk. „Noch immer zu beschäftigt, vorwärts zu kommen?“ „Das ist nicht der Grund“ – und er senkte seine Stimme zu einem Flüstern – „Stella.“ Wieder lachte sie in offenem und äußerstem Unglauben. „Auch Stella nicht. Das sind bloß Höflichkeit und gute Manieren. Wir müssen den großen Geschöpfen die große Rolle zeigen, die sie in unserem Leben 58
spielen“, und darauf verließ sie plötzlich ihre ganze Tapferkeit. Sie hatte bis dahin ihre Rolle gespielt, sie konnte sie nicht länger spielen. Eine außergewöhnliche Veränderung kam über ihr Gesicht. Das Lächeln, das Lachen glitt herunter wie eine lockere Maske. Thresk sah eine solche Qual der Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit sich in ihren Augen sehnen, wie er nie zuvor, sogar mit seiner Erfahrung an den Gerichtshöfen, nie gesehen hatte. Sie zog sich zurück in den Schatten des Zeltes. „In dreizehn Tagen werden Sie den Kanal hinaufdampfen“, flüsterte sie und mit einem Schluchzen bedeckte sie ihr Gesicht mit ihren Händen. Thresk sah die Tränen zwischen ihren Fingern tröpfeln. Ballantyne am Feuer blickte zurück zu dem Zelt. Thresk eilte zu ihm hinaus. Das Kamel kauerte sich dicht zum Feuer, war gesattelt und bereit. „Sie haben Zeit“, sagte Ballantyne. „Der Zug ist noch nicht da“, und Thresk ging an die Seite des Kamels, wo zwei Stufen für ihn hingestellt worden waren, um aufzusteigen. Er hatte einen Fuß auf der Stufe, als er plötzlich mit seiner Hand an seine Tasche fasste. „Ich habe meine Pfeife zurückgelassen“, rief er, „und ich habe eine Nachtreise vor mir. Ich werde in einer Sekunde zurück sein.“ Er rannte mit aller Geschwindigkeit zurück zum Zelt. Die Behänge an der Tür waren geschlossen. Er riss sie zur Seite und sauste hinein. „Stella!“, sagte er flüsternd und dann blieb er verblüfft stehen. Er hatte sie im äußersten Kummer zurückgelassen. Er fand sie, obwohl die Flecken ihrer Tränen sicher noch auf ihrem Gesicht zu sehen waren, mit einer der Abendvorbereitungen, die in einem Lagerleben natürlich ist, beschäftigt – ruhig, energisch beschäftigt. Sie blickte auf, sobald er der Behang über der Tür gehoben wurde, aber sie senkte ihre Augen im nächsten Augenblick zu ihrer Arbeit. Sie stand beim Tisch mit einer kleinen Rook Rifle in ihren Händen. Sie blickte den Lauf hinunter, wobei sie die Waffe hochhielt, sodass das Licht in die Lücke scheinen mochte. „Ja?“, sagte sie, und mit so viel Gleichgültigkeit, dass sie ihre Augen von ihrer Arbeit nicht hob. „Ich dachte, Sie wären gegangen.“ 59
„Ich ließ meine Pfeife liegen“, sagte Thresk. „Dort ist sie, auf dem Tisch.“ „Danke.“ Er steckte sie in seine Tasche. Von den beiden war er verdutzt und in Verlegenheit, sie war gänzlich entspannt. „Sie sehen meine kleine Rook Rifle an“, sagte sie. „Nein! Stella! Ich habe nur einen Augenblick ‐“ Aber Stella fuhr fort, als ob er nicht gesprochen hätte. „Ich sehe, dass sie sauber und bereit für morgen ist“, und Ballantynes Stimme hörte man mit Dringlichkeit dicht beim Zelt sprechen. „Haben Sie sie gefunden?“, rief er und drängte sich seinen Weg hinein. „Der Zug kommt jetzt in den Bahnhof. Er hat einen zehnminütigen Aufenthalt, aber Sie werden die ganze Zeit und mehr brauchen, und ich will ihn nicht länger aufhalten als nötig ist.“ Er bemerkte Stellas Tätigkeit. „Sie sehen Stellas Gewehr an“, sagte er verächtlich. „Meine Frau ist ziemlich geschickt damit. Sie erlaubt keinen Widerspruch von den Kaninchen, kann ich Ihnen sagen. Komm schon.“ „Ja“, sagte Stella, „es ist Zeit. Noch einmal auf Wiedersehen, Mr. Thresk“, und da war ein leichter Nachdruck in ihrer Stimme. Thresk drehte sich mit einer plötzlichen Hast um. „Auf Wiedersehen“, sagte er und er ging mit Ballantyne hinauf zu der Tür. Aber er sollte diese Nacht ihre Stimme wieder hören, obwohl es nicht zu ihm war, dass sie sprach, denn als sie hinaus ins Freie gingen, sagte sie zu ihrem Ehemann: „Ich vermute, du gehst mit Mr. Thresk zum Bahnhof?“ „Nein“, erwiderte er. „Ich gehe nur, um zu sehen, wie er aus dem Lager geht.“ Es fiel Thresk auf, dass ein Schatten der Enttäuschung über Stellas Gesicht zog, aber in dieser Entfernung und in dem matten Licht war es sich nicht sicher. Der Vorhang schloss sich hinter ihnen und verbarg sie vor dem Anblick.
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Thresk kletterte auf das Kamel hinter dem Treiber, während ein Diener den Kopf des Tieres hielt. „Sitzen Sie fest“, sagte Ballantyne, „oder Sie werden hinuntergeworfen, wenn er aufsteht.“ Das Kamel erhob sich, wobei es sich abschnittsweise entfaltete, während Thresk vor und zurück gerüttelt wurde, wie ein Kind auf einem Schaukelpferd. „Da, Sie sind jetzt in Ordnung“, rief Ballantyne. „Halten Sie sich an und gute Nacht.“ „Gute Nacht“, sagte Thresk. Das Kamel zog hinaus aus dem blendenden Licht des Feuers in den Dunstschleier des Mondlichts. Der Lärm des Lagers fiel hinter ihm ab. Er hörte nur das weiche Tapsen der Füße des Kamels.
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Kapitel IX Eine Episode in Ballantynes Leben Die Reptons wohnten auf dem Khambala Hill und das Erkerfenster ihres Salons blickte hinunter auf das Arabische Meer und südwärts, die Küste entlang zum Malabar‐Point. In dieser Laibung saß Mrs. Repton einen ganzen Vormittag, wobei sie sich bei ihren Freunden verleugnete. Ein Buch lag offen auf ihrem Schoß, aber ihre Augen waren auf dem Meer. Ein paar Minuten, nachdem die Uhr auf ihrem Kaminsims zwölf geschlagen hatte, sah sie das, wonach sie Ausschau gehalten hatte: den Bugspriet und den schwarzen Bug eines großen Schiffes, das sich unter dem Hügel hervorstieß, und das Wasser, das unter dem Vordersteven schäumte. Das ganze Schiff kam in Sicht, mit seinen Sonnensegeln und safrangelben Schornsteinen, und fuhr in Richtung Nordwesten nach Aden. Jane Repton stand von ihrem Stuhl auf und sah zu, wie es fuhr. Im Sonnenlicht war sein schwarzer Rumpf so scharf auf dem Meer umrissen, seine Leinen und Rundholze waren so gepflegt, dass es wie ein Miniaturschiff aussah, nach dem sie ihre Hand ausstrecken und es schnappen konnte. Aber ihre Augen wurden matt, als sie schaute, sodass es formlos und verzerrt wurde, und lange, bevor das Linienschiff außer Sicht war, war es für sie ganz verloren. „Ich bin töricht“, sagte sie, als sie sich wegdrehte, und sie biss fest in ihr Taschentuch. Dies war Mittag des Freitags, und seit der Dinerparty bei den Carruthers am Montagabend hatte sie abgewechselt zwischen wilden Hoffnungen und Argumenten der Besonnenheit. Aber bis zu diesem enttäuschenden Augenblick hatte sie nicht erkannt, wie völlig die Hoffnungen die Oberhand bei ihr erlangt hatten und wie überspannt sie auf Thresks dringende Befragung von ihr beim Esstisch gebaut hatte. „Sehr wahrscheinlich fand er die Ballantynes überhaupt nicht“, argumentierte sie. Aber er hätte ihr eine Nachricht senden können. Diesen ganzen Morgen hatte sie eine telefonische Nachricht oder ein Telegramm oder eine gekritzelte Nachricht, an Bord des Dampfers und von einem Boten den Khamballa Hill hinaufgeschickt erwartet. Aber nicht ein Zeichen war von ihm gekommen, und
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nun war von dem Schiff, das ihn nach England führte, nichts übrig, außer dem Fleck seines Rauches am Himmel. Mrs. Repton steckte ihr Taschentuch in ihre Tasche und machte sich an die Arbeit ihres Hauses, als der Butler die Tür öffnete. „Ich bin nicht da ‐“, begann Mrs. Repton und unterbrach den Satz mit einem Willkommens‐ und Überraschungsausruf, denn dicht auf den Fersen des Dieners stand Thresk. „Sie!“, rief sie. „Oh!“ Sie fühlte, wie ihre Beine unter ihr schwach wurden, und sie setzte sich abrupt auf ihren Stuhl. „Dem Himmel sei Dank, dass er da war“, sagte sie. „Ich hätte mich auf den Boden gesetzt, wenn er es nicht gewesen wäre.“ Sie entließ den Butler und hielt Thresk ihre Hand entgegen. „Oh, mein Freund“, sagte sie, „dort ist Ihr Dampfer unterwegs nach Aden.“ Ihre Stimme erklang vor Begeisterung und Bewunderung. Thresk nickte nur bedrückt. „Ich habe es verpasst“, erwiderte er. „Es ist ein Pech. Ich habe Klienten, die in London auf mich warten.“ „Sie verpassten es absichtlich“, erklärte sie und Thresks Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln. Er drehte sich weg vom Fenster zu ihr. Er schien plötzlich den Blick eines Jungen zu tragen. „Ich habe die beste Ausrede“, erwiderte er, „die perfekte Ausrede.“ Aber sogar er konnte nicht vorhersehen, wie völlig diese Ausrede ihm dienen sollte. „Setzen Sie sich“, sagte Jane Repton, „und erzählen Sie mir. Sie fuhren nach Chitipur, ich weiß. Von Ihrer Anwesenheit hier weiß ich auch, dass Sie sie dort fanden.“ „Nein“, sagte Thresk. „Tat ich nicht.“ Er setzte sich und blickte wieder direkt in Jane Reptons Augen. „Ich hatte Glück. Ich fand sie – im Lager.“ Jane Repton verstand alles, was die letzten zwei Worte besagten.
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„Ich hätte das gewünscht“, antwortete sie, „wenn ich es für möglich gehalten hätte. Sie redeten mit Stella?“ „Kaum ein Wort allein. Aber ich sah.“ „Was sahen Sie?“ „Ich bin hier, um es Ihnen zu erzählen.“ Und er erzählte ihr die Geschichte seines Abends im Lager, soweit es Stella Ballantyne betraf, und tatsächlich nicht alles davon. Zum Beispiel ließ er ganz und gar zu erzählen aus, wie er seine Pfeife in dem Zelt gelassen und zurückgekehrt war, sie zu holen. Dies schien ihm unwichtig. Auch erzählte er ihr nicht von seiner Unterhaltung mit Ballantyne über die Fotografie. „Er war in Panik. Er hatte Wahnvorstellungen“, sagte er und ließ die Angelegenheit dort. Thresk hatte den Verstand des Anwalts oder eher den Verstand eines Anwalts in der großen Praxis. Er hatte den Instinkt für die wesentliche Tatsache und die Kenntnis, dass sie äußerst deutlich war, wenn sie in einer nackten Einfachheit präsentiert wurde. Er war bemüht, vor Jane Repton darzulegen, was er von dem Leben gesehen hatte, das Stella mit Stephen Ballantyne führte, und sonst nichts. „Nun“, sagte er, als er geendet hatte, „schickten Sie mich nach Chitipur. Ich muss wissen, warum.“ Und als sie zögerte, überwältigte er sie. „Sie können der Untreue Ihrer Freundin gegenüber schuldig sein“, beharrte er, „indem Sie offen zu mir sind. Nach allem habe ich sichergestellt. Ich fuhr nach Chitipur auf Ihr Wort. Ich habe mein Schiff versäumt. Sie baten mich, nach Chitipur zu fahren. Das sagte mir zu wenig oder zu viel. Ich sage, zu wenig. Ich muss jetzt alles wissen.“ Und er erhob sich und stand vor ihr. „Was wissen Sie über Stephen Ballantyne?“ „Ich werde es Ihnen erzählen“, sagte Jane Repton. Sie schaute auf die Uhr. „Sie bleiben lieber und essen mit uns zu Mittag, wenn Sie wollen. Wir werden alleine sein. Ich werde es Ihnen hinterher erzählen. In der Zwischenzeit ‐“, und wiederum stand sie auf. Das Verantwortungsgefühl lag schwer auf ihr. Sie hatte diesen Mann auf einen Gang des Wissens gesandt. Er hatte folglich eine stärkere und wildere Sache getan als sie gedacht hatte, als sie gehofft
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hatte. Sie hatte ein panikartiges Gefühl, dass sie große Mächte in Gang gebracht hatte. „In der Zwischenzeit ‐“, bat Thresk; und sie seufzte erleichtert. Die Festigkeit seiner Augen und seiner Stimme trösteten sie. Seine ruhige Beharrlichkeit gab ihr Mut. Keine ihrer Probleme und Zweifel hatten offensichtlich einen Platz in seinem Sinn. Ein nervöses Pferd in den Händen eines echten Reiters – so dachte sie von sich in Thresks Gegenwart. „In der Zwischenzeit werde ich Ihnen einen Grund geben, warum ich wollte, dass Sie gehen. Die Zeit meines Mannes in Indien ist vorbei. Wir reisen in einem Monat nach England. Wir werden überhaupt nicht zurückkommen. Und wenn wir fort sind, wird Stella ohne einen vertrauten Freund in dem ganzen Land zurückbleiben.“ „Ja“, sagte Thresk. „Das würde nicht gehen, nicht wahr?“, und sie gingen hinein zu ihrem Mittagessen. Während der ganzen Mahlzeit vor den Dienern redeten sie, was in den Zeitungen geschrieben steht. Und von den beiden war sie, die Befürchtungen und Bedenken hatte, umso ungeduldiger, es erledigt zu haben. Sie hatte ihre Neugierde und sie begann, sie zu verzehren. Was hatte Thresk von Stelle gewusst, und sie von ihm, bevor sie nach Indien gekommen und Stella Ballantyne geworden war. Waren sie verliebt gewesen? Falls nicht, warum war Thresk nach Chitipur gefahren? Warum hatte er sein Schiff versäumt und alle seine Klienten drüben in England im Stich gelassen? Wenn ja, warum hatten sie nicht geheiratet – die Idioten? Oh, wie sie alle Antworten auf alle diese Fragen wissen wollte? Und was schlug er nun zu tun vor? Und sie würde nichts wissen, bis sie selbst offen war. Sie hatte sein Ultimatum in seinem Gesicht gelesen? „Wir werden in meinem Wohnzimmer Kaffee trinken. Sie können dort rauchen“, sagte sie und sie führte den Weg dorthin an. „Einen Zigarrenstumpen?“ Thresk lächelte vergnügt. Aber das Vergnügen ärgerte sie, denn sie verstand es nicht. „Ich habe hier eine Havannazigarre“, sagte er. „Darf ich?“ „Natürlich.“ 65
Er zündete sie an und hörte zu. Aber es dauerte nicht lange, bevor sie ausging und er sich nicht rührte, um sie wieder anzuzünden. Der Vorfall, von dem Mrs. Repton Zeugin gewesen war, und den sie nun berichtet hatte, bekleidete Ballantyne mit Schrecken. Thresk hatte das Lager in Chitipur mit einer zornigen Verachtung für ihn verlassen. Die Verachtung kam ganz und gar von seinen Gefühlen, als er in Mrs. Reptons Salon saß. „Ich erzähle Ihnen nicht, was Stella mir anvertraut hat“, sagte Mrs. Repton. „Stella ist loyal, auch wenn es keinen Grund zur Loyalität gibt; und wenn Loyalität ihren Mund nicht geschlossen hielte, würde es Selbstachtung. Ich erzähle Ihnen, was ich sah. Wir waren in Agra zu der Zeit. Mein Mann war dort Steuereinnehmer. Es wurde dort ein Durbar abgehalten und der Radscha von Chitipur kam dazu mit seinen Elefanten und seinen Soldaten, und natürlich kamen auch Captain Ballantyne und seine Frau. Sie blieben bei uns. Sie sollen verstehen, dass ich nichts wusste – absolut nichts – bis zu dieser Zeit. Ich hatte keinen Verdacht – bis zu dem Nachmittag der Endspiele des Poloturniers. Stella und ich gingen zusammen alleine und wie kamen ungefähr um sechs nach Hause. Stella ging nach oben und ich – ich ging in die Bibliothek.“ Sie hatte Ballantyne in einem hohen Lehnstuhl sitzend gefunden, seine Augen glitzerten unter seinen schwarzen dicken Augenbrauen und sein Gesicht war fahl. Er sah sie an, als sie eintrat, aber weder bewegte er sich, noch sprach er, und sie dachte, dass er krank sei. Aber die Karaffe Whisky stand leer auf einem Tisch an seiner Seite und sie bemerkte es. „Wir haben heute Abend einige Leute, die zum Abendessen kommen, Captain Ballantyne“, sagte sie. „Wir werden um acht essen, also sind noch eineinhalb Stunden.“ Sie ging hinüber zu einem Bücherschrank und nahm ein Buch heraus. Als sie sich in dem Zimmer umdrehte, hatte eine Veränderung in ihrem Gast stattgefunden. Leben war in sein Gesicht geflackert. Seine Augen waren argwöhnisch und durchtrieben. „Und warum sagen Sie mir das?“, fragte er mit einer Stimme, die dick und Respekt einflößend war. Sie hatte eine Ahnung, dass er nicht wusste, wer sie war, und dann bekam sie plötzlich Angst. Sie hatte ein Geheimnis entdeckt – sein Geheimnis. Ausnahmsweise einmal in der Stadt hatte er sich gehen lassen. 66
Sie hatte nun eine Hoffnung, dass er sich nicht bewegen konnte und dass er es wusste; er saß so still wie sein Lehnstuhl. „Ich hatte vergessen, es Ihnen zu sagen“, erwiderte sie. „Ich dachte, Sie möchten es im Vorhinein wissen.“ „Warum sollte ich es im Vorhinein wissen wollen?“ Sie hatte sein Geheimnis, er bearbeitete sie mit Fragen, um zu wissen, ob sie es hatte. Sie muss ihr Wissen verbergen. Jeder Instinkt warnte sie, es zu verbergen. „Die Leute, die kommen, sind Fremde in Indien“, sagte sie, „aber ich habe ihnen von Ihnen erzählt, und sie werden erwartungsvoll kommen.“ „Sie sind sehr liebenswürdig.“ Sie hatte leichthin und mit einem Lachen gesprochen. Ballantyne antwortete ohne Ironie oder Belustigung und mit seinen auf ihrem Gesicht gerichteten Augen. Mrs. Repton konnte nicht die Panik erklären, die sie ergriff. Sie hatte in Captain Ballantynes Gesellschaft oft genug zuvor gespeist; er war nun seit drei Tagen in ihrem Haus; sie hatte sein Können anerkannt und hatte ihn nicht besonders gemocht oder verabscheut. Ihr Haupteindruck war gewesen, dass er für Stella nicht gut genug war, und es war ein rein weiblicher und instinktiver Eindruck. Nun hatte er sich ihr als eine gefährliche, bestienartige Kreatur aufgedrängt. Sie wollte aus dem Zimmer gelangen, aber sie wagte es nicht, denn sie war sicher, dass sich ihre sorgfältigen Schritte trotzdem zu einem Laufen ändern würden. Sie setzte sich hin und hatte vor, ein paar Augenblicke zu lesen, sich zu fassen und dann zu gehen. Aber sobald sie ihren Platz eingenommen hatte, nahm ihr Entsetzen zehnfach zu, denn Ballantyne erhob sich flink von seinem Stuhl und ging in einem Kreis im Zimmer herum, mit einem außergewöhnlich leichten und lautlosen Schritt verschwand er hinter ihr. Dann setzte er sich. Mrs. Repton hörte das leichte Reiben der Beine eines Stuhls auf dem Boden. Es war ein Stuhl an einem Schreibtisch dicht beim Fenster und genau an ihrem Rücken. Er konnte jede Bewegung, die sie machte, sehen, und sie konnte nichts sehen, nicht so viel wie die Spitze von einem seiner Finger. Und vor seinen Fingern hatte sie nun Angst. Er beobachtete sie von seinem günstigen Angriffspunkt; sie schien seine Augen auf ihrem Nacken brennen zu fühlen. Und er sagte nichts; und er rührte sich nicht. 67
Es war helles Tageslicht, versicherte sie sich. Sie musste nur das Zimmer zu der Glocke neben dem Kamin durchqueren. Nein, sie musste nur schreien – und sie war sehr nahe zu schreien – die Diener zu Hilfe zu holen. Aber sie wagte nicht, es zu tun. Bevor sie auf halbem Weg zur Glocke war, bevor der Schrei aus ihrem Mund war, würde sie seine Finger dicht an ihrem Hals spüren. Mrs. Repton hatte begonnen, ihre Geschichte mit Widerwillen zu erzählen, wobei sie befürchtete, dass Thresk sie den Nerven einer Frau zuschreiben und lachen würde. Aber er tat es nicht. Er hörte ernst zu; und als sie fortfuhr, lebte dieser Albtraum von einem Abend wieder in ihren Erinnerungen, dass sie ihn nur mit ihren Worten lebendig machen konnte. „Ich hatte mehr als ein bloßes Gefühl der Gefahr“, sagte sie. „Ich fühlte außerdem ein abscheuliches Unbehagen, fast körperliches Unbehagen, was mich glauben ließ, dass etwas Böses in diesem Zimmer, jenseits der Gewalt der Sprache, es zu beschreiben, war.“ Sie fühlte, wie ihre Selbstbeherrschung sie verließ. Falls sie blieb, musste sie ihre Beunruhigung verraten. Sogar jetzt hatte sie immer wieder geschluckt, und sie fragte sich, ob er nicht das Arbeiten ihrer Kehle bemerkt hatte. Sie nahm zusammen, was an Mut übrig war, und indem sie ihr Buch zur Seite warf, erhob sie sich langsam und bedächtig. „Ich denke, ich werde Stellas Beispiel folgen und mich eine Stunde hinlegen“, sagte sie, ohne ihren Kopf Ballantyne zuzuwenden, und sogar, während sie sprach, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte, Stella zu erwähnen. Er würde ihr folgen, um zu entdecken, ob sie zu Stellas Zimmer ginge und ihr erzählte, was sie gesehen hatte. Aber er bewegte sich nicht. Sie erreichte die Tür, drehte den Griff, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Für einen Augenblick versagte ihr dann die Kraft; sie lehnte sich gegen die Wand an der Seite der Tür, während ihr Herz raste. Aber die Furcht, dass er folgen würde, drängte sie weiter. Sie überquerte den Flur und blieb absichtlich vor einem Schrank mit Porzellan am Fuß der Treppe stehen, der an der Wand stand, in der die Bibliothekstür war. Während sie dort stand, sah sie, wie sich die Tür sehr langsam öffnete und Ballantynes bleiches Gesicht an der Öffnung erschien. Sie drehte sich zur Treppe und stieg hinauf, ohne zurückzuschauen. 68
Auf halbem Weg nach oben verbarg eine Wende den Flur vor ihr, und in dem Augenblick, nachdem sie an der Wende vorbei war, hörte sie, wie er hinter ihr her über den Flur ging, wieder mit einer Leichtigkeit des Schrittes, die unheimlich und unmenschlich an einer so schweren und dicken Kreatur schien. „Ich war entsetzt“, sagte sie offen zu Thresk. „Er hatte den Schritt eines Tiers. Ich fühlte, dass ein großer Pavian mich heimlich verfolgte.“ Mrs. Repton kam zu Stella Ballantynes Tür und war vorsichtig, nicht stehen zu bleiben. Sie erreichte ihr eigenes Zimmer, und sobald sie drinnen war, verriegelte sie sie; und in ein oder zwei Augenblicken hörte sie ihn draußen vor den Paneelen atmen. „Und zu denken, dass Stella mit ihm in den Dschungelmonaten jeweils alleine ist!“, rief sie, wobei sie tatsächlich ihre Hände wrang. „Dieser Gedanke war die ganze Zeit in meinem Sinn – ein Gräuel von einem Gedanken. Oh, ich konnte nun den Verlust ihrer Lebensgeister, ihrer Farbe, ihrer Jugend verstehen.“ Bilder von einsamen Lagern und leeren Rasthäusern, weit weg von irgendeiner Behausung in der Stille der indischen Nächte, erhoben sich vor ihren Augen. Sie stellte sich Stella vor, wie sie auf ihrem Ellbogen im Bett aufgestützt, mit weiten Augen vor Entsetzen, horchte und auf die leichten Schritte des betrunkenen brutalen Kerls hinter der Trennwand horchte, wie sie zitterte, wenn sie sich näherten, zurückfiel mit den Schweißtropfen auf ihrer Stirn, als sie sich zurückzogen; und diese Bilder übersetzte sie in Worte für Thresk in ihrem Haus auf dem Khamballa Hill. Thresk war bewegt und zeigte, dass er bewegt war. Er stand auf und ging zum Fenster, wobei er ihr seinen Rücken zuwandte. „Warum heiratete sie ihn?“, rief er aus. „Sie war arm, aber sie hatte ein wenig Geld. Warum heiratete sie ihn?“, und er drehte sich zurück zu Mrs. Repton um eine Antwort. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und sagte: „Das ist eines von den Dingen, die sie mir nie erzählte, und ich lernte sie erst, nachdem sie ihn geheiratet hatte, kennen.“ „Und warum verlässt sie ihn nicht?“ 69
Mrs. Repton hielt ihre Hände hoch. „Oh, die leichte Frage, Mr. Thresk! Wie viele Frauen ertragen die Sache, die ist, weil sie ist? Sogar, um den Ehemann zu verlassen, braucht man eine Kleinigkeit an Lebensgeist. Und was, wenn der Lebensgeist gebrochen ist? Was, wenn man eingeschüchtert ist? Was, wenn man Tag und Nacht in Schrecken lebt?“ „Ja, ich bin ein Narr“, sagte Thresk und er setzte sich wieder. „Es gibt zwei weitere Fragen, die ich stellen will. Redeten Sie je mit Stella“ – der Taufname glitt natürlich aus ihm und nur Jane Repton von den beiden bemerkte, dass er ihn gebraucht hatte – „über diesen Vorfall in der Bibliothek in Agra?“ „Ja.“ „Und gab Sie Ihnen infolgedessen, was Sie ihr erzählten, einen Bericht über ihr Leben mit ihrem Mann?“ Mrs. Repton zögerte, nicht, weil sie länger darüber zweifelte, ob sie die ganze Wahrheit sprechen würde oder nicht – sie hatte sie schon zu weit anvertraut – sondern, weil die Form der Frage sie reizte. Sie war ein wenig zu juristisch für ihren Geschmack. Sie war bestrebt, den Mann zu kennen; sie konnte auf den Barrister ganz und gar verzichten. „Ja“, erwiderte sie, „und nehmen Sie mich nicht ins Kreuzverhör, bitte.“ „Wie bitte?“, sagte Thresk mit einem Lachen, was ihn augenblicklich menschlich machte. „Also, es ist wahr“, sagte Jane Repton in Eile. „Sie sagte mir die Wahrheit – was Sie wissen und mehr. Er entblößte sich, wenn er betrunken war, entblößte sich bis auf die Haut. Denken Sie nur! Stella erzählte mir das und brach zusammen. Oh, wenn Sie sie gesehen hätten! Stella zusammenbrechen – das allein muss ihre Freunde alarmieren. Oh, aber der Blick von ihr! Sie saß neben mir auf dem Sofa und wrang ihre Hände, mit Tränen, die ihr Gesicht hinunterliefen ...“ Thresk erhob sich schnell von seinem Stuhl. „Danke“, sagte er und schnitt ihr das Wort ab. Er wollte nicht mehr hören. Er hielt seine Hand mit einer gewissen Schroffheit entgegen. Mrs. Repton stand auch auf.
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„Was werden Sie tun?“, fragte sie atemlos. „Ich muss es wissen. Ich habe ein Recht dazu, denke ich. Ich habe Ihnen so viel erzählt. Ich hatte große Zweifel, ob ich Ihnen etwas erzählen sollte. Aber ‐“ Ihre Stimme brach und sie endete ihre Bitte lahm genug: „Ich mag Stella sehr.“ „Ich weiß das“, sagte Thresk und seine Stimme war dankbar und sein Gesicht äußerst freundlich. „Also,was werden Sie tun?“ „Ich werde ihr schreiben und Sie bitten, sich mir in Bombay anzuschließen“, erwiderte er.
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Kapitel X Neuigkeiten aus Chitipur Ein langes Schweigen folgte auf seine Worte. Jane Repton drehte sich zum Kaminsims und bewegte einen Ziergegenstand hierhin und einen anderen dorthin. Sie hatte genau diese Konsequenz von Thresks Reise nach Chitipur erwogen. Sie hatte tatsächlich dafür selbst gearbeitet. Sie war offen genug, das anzuerkennen. Trotzdem war seine Ankündigung, ruhig wie er sie gemacht hatte, ein Schock für sie; und als sie sprach, war es eher, um sich zu vergewissern, dass er nicht vorhatte, auf einen unbedachten Impuls hin zu handeln. „Es wird Ihre Karriere zerstören“, sagte sie. „Natürlich haben Sie daran gedacht.“ „Es wird sie ändern“, antwortete er, „wenn sie zu mir kommt. Ich werde natürlich aus dem Parlament austreten.“ „Und Ihre Praxis?“ „Die wird auch zweifellos für eine Weile leiden. Aber auch wenn ich sie ganz und gar verlöre, wäre ich kein armer Mann.“ „Sie haben Geld gespart?“ „Nein. Es hat dafür nicht viel Zeit gegeben, aber seit vielen Jahren habe ich Silber und Miniaturen gesammelt. Ich weiß etwas über sie und die Sammlung ist von Wert.“ „Ich verstehe.“ Mrs. Repton blickte ihn nun an. Oh ja, er hatte sich seinen Vorschlag während der nächtlichen Reisen nach Bombay ausgedacht – kein Zweifel daran. „Stella wird auch leiden“, sagte sie. „Schlimmer als sie es jetzt tut?“, fragte Thresk. „Nein. Aber ihre Position wird zumindest für eine Weile schwierig sein“, und sie kam auf Thresk zu und flehte. 72
„Sie werden rücksichtsvoll wegen ihr sein, für sie? Oh, wenn Sie ein falsches Spiel mit ihr treiben sollten – wie würde ich Sie hassen!“, und ihre Augen blitzten wie Feuer auf ihn. „Ich denke nicht, dass Sie das befürchten müssen.“ Aber er war für sie zu gleichmütig, zu ruhig. Sie war in der Stimmung, Heldentaten zu wollen. Sie verlangte nach Beteuerungen als eine Droge für ihren unruhigen Verstand. Und Thresk stand vor ihr ohne einen. Sie durchsuchte sein Gesicht mit zweifelnden Augen. Oh, da schien für sie keine Zärtlichkeit darin zu sein. „Sie wird– Liebe brauchen“, sagte Mrs. Repton. „Da – das ist das Wort. Können Sie es ihr geben?“ „Wenn sie zu mir kommt – ja. Ich will sie seit acht Jahren“, und dann bekam sie plötzlich keine Heldentaten, aber einen flüchtigen Eindruck einer echten Leidenschaft. Ein schmerzvoller Krampf versetzte sein Gesicht in Zuckungen. Er setzte sich und schlug mit seiner Faust auf den Tisch. „Es war schrecklich für mich, von diesem Lager davonzureiten und sie dort zu lassen – meilenweit weg von irgendeinem Freund. Ich hätte sie mit Gewalt von ihm weggerissen, wenn es auf diese Weise eine einzige Hoffnung gegeben hätte. Aber seine Wachen hätten die Straßen abgesperrt. Nein, das war die einzige Möglichkeit: nach Bombay zu kommen, ihr zu schreiben, dass am ersten Tag, in der ersten Nacht, in der sie hinausschleichen kann, hierher reist und mich wartend vorfindet.“ Mrs. Repton war zufrieden. Aber während er gesprochen hatte, hatte sie eine neue Furcht befallen. „Da ist etwas, woran ich hätte denken sollen“, rief sie aus. „Ja?“ „Captain Ballantyne ist nicht großzügig. Er ist genau die Sorte von Mann, der sich nicht von seiner Frau scheiden lässt.“ Thresk hob seinen Kopf. Eindeutig war ihm diese Möglichkeit nicht mehr in den Sinn gekommen als Jane Repton. Er überdachte sie nun. „Genau die Sorte von Mann“, stimmte er zu. „Aber wir müssen dieses Risiko eingehen – wenn sie kommt.“ 73
„Der Brief ist noch nicht geschrieben“, bemerkte Mrs. Repton. „Aber er wird es“, erwiderte er und dann stand er und konfrontierte sie. „Wünschen Sie, dass ich ihn nicht schreibe?“ Sie mied seine Augen, sie blickte auf den Boden, sie begann mehr als einen ausweichenden Satz; aber am Ende nahm sie seine beiden Hände in ihre und sagte entschieden: „Nein! Schreiben Sie! Schreiben Sie! „Danke!“ Er ging zur Tür und als er sie erreicht hatte, rief sie ihm mit leiser Stimme zu. „Mr. Thresk, was meinten Sie, als Sie wiederholten und wiederholten, wenn sie kommt?“ Thresk kam langsam zurück in das Zimmer. „Ich meinte, dass ich ihr vor acht Jahren einen sehr guten Grund gab, warum sie keinen Glauben in mich setzen sollte.“ Er erzählte ihr das ganz offen und einfach, aber er erzählte ihr nicht mehr als das und sie ließ ihn gehen. Er ging zurück zu dem großen Hotel auf dem Apollo Bund und schickte eine Anzahl an Überseetelegramme nach London, in denen stand, dass er seinen Dampfer verpasst hatte und dass die Arbeit, die auf ihn wartete, in andere Hände gehen müsse. Den Brief an Stella Ballantyne hob er bis zuletzt auf. Er konnte sie in keinem Fall sofort erreichen, da sie im Lager war. Trotz allem, was er wusste, könnte es Wochen dauern, bevor sie ihn las; und er hatte ein Verlangen danach, behutsam in dem Schreiben vorzugehen; aber da waren andere Dinge, die ihn zweifeln ließen, ob sie Glauben an ihn haben würde. Hin und wieder hatte es einen Geschmack der Bitterkeit gegeben. Einst hatte sie sich seinetwegen geschämt, auf Bignor Hill, wo die Stane Street nach Chichester verläuft, und ein zweites Mal vor ihm in dem Zelt in Chitipur. Nein, es war kein leichter Brief, den er zu schreiben hatte, und er brauchte die Nacht und den größeren Teil des nächsten Tages, um sich für seinen Wortlaut zu entscheiden. Er konnte auf keinen Fall vor der Nachtpost abgehen. Er hatte ihn bis sechs Uhr am Abend beendet und er ging mit dem
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Brief in seiner Hand hinunter in das große Foyer, um ihn dort aufzugeben. Aber er wurde nie aufgegeben. Dicht beim Fuß der Treppe stand der Börsenfernschreiber, und als Thresk hinunterging, hörte er das Klicken des Gerätes und sah die übliche kleine Gruppe von Besuchern herumstehen. Es waren hauptsächlich Amerikaner und sie lasen einander die neuesten Preise des Aktienmarktes vor. Etwas von dem Geplauder erreichte Thresks unaufmerksame Ohren, und als er nur zwei Schritte vom Fußboden entfernt war, brachte ihn eine sorglos gesprochene Phrase, zwischen den Werten von zwei Sicherheiten, zum Stehen. Der Sprechende war ein junger Mann mit einem quadratischen Gesicht und dichtem Haar, genau in der Mitte gescheitelt. Er war mit einem grauen Anzug bekleidet und er ließ das Band zwischen seinen Fingern laufen, als es herauskam. Das Bild von ihm wurde während dieses Augenblicks in Thresks Verstand eingeprägt, sodass er es hinterher nie vergessen konnte. „Kupfer geht einen Punkt hinauf“, sagte er, „das ist fein. Wer ist Captain Ballantyne, frage ich mich? United Steel ist sieben Achtel gefallen. Also, das beeinflusst mich nicht“, und so fuhr er fort. Thresk hörte nicht mehr von dem, was er sagte. Er stand und fragte sich, was für Nachrichten auf dem Band von Captain Ballantyne hätten kommen können, der draußen im Lager im Staat Chitipur war, oder wenn es einen anderen Captain Ballantyne gab. Er schloss sich der kleinen Gruppe vor der Maschine an, hob das Band vom Boden auf und ließ seine Augen rückwärts entlanglaufen, bis er zu „United Steel“ kam. Der Satz davon lautete wie folgt: „Captain Ballantyne wurde früh gestern Morgen draußen vor seinem Zelt in der Nähe vom Jarwhal‐Knotenpunkt tot gefunden.“ Thresk las den Satz zweimal und ging dann davon. Die Nachrichten könnten vielleicht falsch sein, aber wenn sie stimmten, war hier eine Revolution in seinem Leben. Es bestand keine Notwendigkeit für diesen Brief, den er in seiner Hand hielt. Der Weg war für Stella, für ihn, geebnet. Nicht für einen Augenblick konnte er vorgeben, etwas zu tun, außer die Nachrichten willkommen zu heißen, mit seinem ganzen Herzen zu wünschen, dass es stimmte. Und es schienen wahrscheinliche Nachrichten zu sein. Da war die Angelegenheit von dieser Fotografie. Thresk hatte es hinaus zum Haus des Gouverneurs am 75
Malabar Point am Morgen seiner Ankunft in Bombay mitgenommen. Er war zu Mrs. Reptons Haus gefahren, nachdem er von dort weggegangen war. Aber er hatte es aus Chitipur einen Tag zu spät mitgenommen, um Ballantyne zu retten. Ballantyne hatte nach allem einen guten Grund, Angst zu haben, während er sie besaß, und die Nachricht war noch nicht zu Salaks Freunden gegangen, dass sie seinen Besitz verlassen hatte. So reimte er sich die Geschichte von Captain Ballantynes Tod zusammen. Der Börsenfernschreiber jedoch mochte vielleicht ein bloßes Gerücht ohne Wahrheit darin herausgetickt haben. Er ging zum Büro und beschaffte sich eine Ausgabe des The Advocate of India – die Abendzeitung der Stadt. Er schaute auf die eingeschobenen letzten Meldungen. Es gab keine Erwähnung von Ballantynes Tod. Auch als er hinunter auf die Kolumnen blickte, konnte er in keinem Absatz eine Aussage finden, dass ihm ein Unglück zugestoßen wäre. Aber andererseits las er, dass er selbst, Henry Thresk, der seinen Fall zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hatte, Indien gestern mit dem Postdampfer Madras in Richtung Marseilles verlassen hatte. Er warf die Zeitung hinunter und ging zur Telefonzelle. Falls die Nachrichten stimmten, war die eine Person, die es wahrscheinlich wusste, Mrs. Repton. Thresk rief in dem Haus auf dem Khamballa Hill an und bat, sie zu sprechen. Die Antwort wurde ihm sofort gegeben, dass Mrs. Reptons Befehle gegeben hatte, dass sie nicht gestört werden sollte. Thresk beharrte jedoch: „Wollen Sie ihr bitte meinen Namen geben – Henry Thresk?“, und er wartete ein Jahrhundert mit seinem Ohr am Hörer. Endlich sprach eine Stimme zu ihm, aber es war wieder die Stimme des Dieners. „Der Memsahib tut es sehr leid, Sir, aber sie kann gerade jetzt mit niemandem sprechen“, und er hörte das Quietschen des Apparates, als der Hörer am anderen Ende scharf aufgelegt und die Verbindung unterbrochen wurde. Thresk kam von seiner Telefonzelle mit einem verwirrten und sehr ernsten Gesicht heraus. Mrs. Repton weigerte sich, ihn zu sprechen! Es war eine Tatsache, eine unerklärliche Tatsache, und es ängstige ihn. Es war unmöglich zu glauben, dass bloße Überlegung während der letzten vierundzwanzig Stunden eine so vollständige Umdrehung in ihren Gefühlen gebracht hatte. Er, zu dem sie leidenschaftlich „Schreiben Sie! Schreiben Sie!“ 76
erst gestern geschrien hatte, konnte kaum von der bloßen Rede mit ihr für irgendeinen Fehler seinerseits ausgesperrt werden. Er hatte nichts getan, hatte niemanden gesehen. Thresk war nun sicher, dass die Nachrichten auf dem Band stimmten. Aber es konnte nicht die ganze Wahrheit sein. Da steckte etwas dahinter – etwas ziemlich Grauenvolles und Schreckliches. Thresk ging zu der Tür des Hotels und rief einen Personenwagen herauf. „Sagen Sie ihm, er soll zu den Khamballa Hills hinauffahren“, sagte er zu dem Portier. „Ich werde ihn wissen lassen, wann er anhalten soll.“ Der Portier übersetzte den Befehl und Thresk hielt ihn an Mrs. Reptons Tür an. „Die Memsahib empfängt heute niemanden“, sagte der Butler. „Ich weiß“, erwiderte Thresk. Er kritzelte auf eine Karte und schickte sie hinein. Es gab eine lange Verzögerung. Thresk stand in der Halle und blickte hinaus durch die offene Tür. Die Nacht war gekommen. Da waren Lichter auf der Fahrbahn, Licht weit unten am Rande des Wassers am Breach Candy, und dort funkelte weit draußen auf dem Arabischen Meer ein Licht. Aber in dem Haus hinter ihm war alles dunkel. Er war zu einem Aufenthaltsort der Trostlosigkeit und der Trauer gekommen; und sein Herz wurde schwer und er wurde mit Vorahnungen attackiert. Endlich in dem Durchgang hinter ihm gab es Schlurfen von Füßen und einen Schimmer von Weiß. Die Memsahib würde ihn empfangen. Thresk wurde in den Salon geführt. Dieses Zimmer war auch unbeleuchtet. Aber die Rollläden waren noch nicht heruntergelassen worden, und das Licht von einer Straßenlaterne draußen verwandelte die Dunkelheit in Zwielicht. Niemand kam nach vor, ihn zu begrüßen, aber das Zimmer war nicht leer. Er sah Repton und seine Frau dicht zusammen auf einem Sofa in einer Nische beim Kamin zusammengekauert. „Ich dachte, dass ich lieber von Bombay heraufkomme“, sagte Thresk, als er in der Mitte des Zimmers stand. Keine Antwort wurde ihm ein paar Augenblicke lang gegeben, und dann war es Repton selbst, der sprach. „Ja, ja“, sagte er, und er stand vom Sofa auf. „Ich denke, wir hätten lieber Licht“, fügte er mit einer merkwürdigen gleichgültigen Stimme hinzu. Er drehte das Licht in dem zentralen Kronleuchter an, der die Ecken des Zimmers im 77
Schatten ließ, wie – die Parallele zwang sich in Thresks Verstand – wie das Zelt in Chitipur. Dann sehr methodisch zog er die Rollläden herunter. Er blickte Thresk nicht an, und Jane Repton auf der Couch rührte sie nie. Thresks Vorahnungen wurden eine schreckliche Gewissheit. Eine böse Sache war geschehen. Er hätte in einem Haus der Toten sein können. Er wusste, dass er hier nicht gewollt war, dass Ehemann und Ehefrau wünschten, alleine zu sein und schweigend seine Anwesenheit übel nahmen. Aber er konnte nicht ohne mehr Kenntnis als er hatte gehen. „Eine Nachricht kam vor einer halben Stunde auf dem Band“, sagte er mit leiser Stimme. „Es berichtet, dass Ballantyne tot sei.“ „Ja“, erwiderte Repton. Er lehnte sich nach vor über einen Tisch und sah hinauf zu dem Kronleuchter, als ob er sich vorstellte, dass sein Licht trüber als gewöhnlich brannte. „Das ist wahr“, und er sprach mit derselben merkwürdigen mechanischen Stimme, die er vorher benutzt hatte. „Dass er draußen vor seinem Zelt tot gefunden wurde“, fügte Thresk hinzu. „Es ist ganz wahr“, stimmte Repton zu. „Es tut uns sehr leid.“ „Leid!“ Der Ausruf brach von Thresks Lippen. „Ja.“ Repton ging von dem Kronleuchter fort. Er hatte nicht einmal Thresk angesehen, seit er das Zimmer betreten hatte; auch blickte er nicht zu seiner Frau. Sein Gesicht war sehr blass und er war nun beschäftigt, einen Stuhl hinzustellen, eine Fotografie zu verschieben, irgendetwas von den kleinen unnötigen Dingen zu tun, die Leute ruhelos tun, wenn ein lästiger Gast im Zimmer ist, der nicht gehen will. „Sie sehen, es sind schrecklich schlechte Nachrichten“, fügte er hinzu. „Was für Nachrichten?“ „Er wurde erschossen, wissen Sie? Das war natürlich nicht in dem Telegramm auf dem Band. Ja, er wurde erschossen – in derselben Nacht, in der sie dort zu Abend aßen – nachdem sie gegangen waren.“ 78
„Erschossen!“ Thresks Stimme wurde zu einem Flüstern. „Ja“, und die lustlose ruhige Stimme fuhr fort und sprach offensichtlich von einer belanglosen Angelegenheit, in der keiner von ihnen Interesse haben könnte. „Er wurde von einer Kugel aus einer kleinen Rook Rifle erschossen, die Stella gehörte und die sie gewöhnlich benutzte.“ Thresks Herz stand still. Ein Bild zuckte vor seinen Augen. Er sah die Innenseite von diesem matt erleuchteten Zelt mit seinem roten Futterstoff und Stella, die bei dem Tisch stand. Er konnte ihre Stimme hören: „Das ist meine kleine Rook Rifle. Ich kümmerte mich darum, dass sie für morgen sauber ist“ Sie hatte so sorglos gesprochen, so gleichgültig, dass es nicht vorstellbar war, dass das, was in ihren Köpfen war, wahr sein könnte. Doch hatte sie nach allem nicht gleichgültiger gesprochen als Repton jetzt sprach; und er hatte großen Kummer. Dann sprang Thresks Verstand zu dem schwachen Punkt in dieser ganzen Verkettung von Mutmaßungen. „Aber Ballantyne wurde draußen vor dem Zelt gefunden“, rief er mit einem kleinen triumphierenden Ton. Aber es hatte keine Rückmeldung in Reptons Antwort. „Ich weiß. Das macht alles so viel schlimmer.“ „Was meinen Sie?“ „Ballantyne wurde am Morgen draußen vor dem Zelt eiskalt gefunden. Aber niemand hatte den Schuss gehört, und es gab Wachtposten am Rand des Lagers. Er war hinausgeschleppt worden, nachdem er tot war oder als er starb.“ Ein tiefer Schrei brach aus Thresk. Der schwache Punkt wurde ganz plötzlich das tödlichste, das schrecklichste Element in dem ganzen Fall. Er konnte den Anklagevertreter hören, wie er sich daranmachte. Er stand für einen Augenblick tief erschrocken. Repton hatte kein weiteres Wort zu ihm zu sagen. Mrs. Repton hatte nicht einmal gesprochen. Sie wollten ihn fort, aus dem Zimmer, aus dem Haus haben. Eine Erkenntnis ließ ihn in die Bedeutung ihres Schweigens. In der Gegenwart dieser Tragödie hatte sie ein schlechtes Gewissen ergriffen. Sie betrachtete sich als eine, die Schaden für Stella geplant hatte. Sie würde Thresk nie für seinen Anteil an der Verschwörung vergeben. 79
Thresk ging ohne ein weiteres Wort, weder zu Repton noch zu seiner Frau, aus dem Zimmer. Was er jetzt auch tat, musste er alleine tun. Er würde nicht mehr in das Haus eingelassen werden. Er schloss die Tür des Zimmers hinter sich, und kaum hatte er sie geschlossen, als er das Schnappen eines Schalters hörte und der Lichtstreifen unter der Tür verschwand. Wieder war Dunkelheit in dem Salon.
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Kapitel XI Thresk greift ein Thresk erreichte sein Hotel mit einigen Worten, die in seinem Kopf klangen, die Jane Repton zu ihm auf Mrs. Carruthers Dinerparty gesprochen hatte: „Man kann jedes einzelne Ding im Leben bekommen, wenn es man es genug will, aber man kann den Preis nicht kontrollieren, den man dafür bezahlen wird. Das werden Sie erst hinterher und nach und nach erfahren.“ Er hatte bekommen, was er wollte – die Karriere von hohem Ansehen, und er fragte sich, ob er nun begann, ihren Preis zu erfahren. Er ging hinauf zu seinem Wohnzimmer im zweiten Stock, wobei er das Foyer und den Aufzug mied und ein kleines Seitenstiegenhaus benutzte, statt des großen zentralen Stiegenhauses. Er war an niemandem unterwegs vorbeigekommen. In seinem Zimmer blickte er auf das Kaminsims und auf den Tisch. Kein Besucher hatte an diesem Tag bei ihm vorgesprochen; kein Brief erwartete ihn. Zum ersten Mal, seit er in Indien gelandet war, war ein Tag vergangen, ohne dass ein Bewohner ihm eine Karte oder eine Einladungsnachricht hinterlassen hatte. Die Zeitungen gaben ihm den Grund. Er war angeblich auf der Madras nach England abgereist. Um sich zu vergewissern, läutete er nach seinem Kellner; keine Nachricht irgendeiner Art war gekommen. „Soll ich im Büro nachfragen?“, fragte der Kellner. „Auf keinen Fall“, antwortete Thresk und er fügte hinzu: „Ich will das Essen heute Abend hier oben serviert haben.“ Es gab einfach eine Möglichkeit, dachte er, dass er vielleicht trotzdem dieser besonderen Zahlung entkommen könnte. Er nahm aus seiner Tasche den nicht abgeschickten Brief an Stella Ballantyne. Es bestand nicht länger ein Gebrauch davon, und sogar seine Existenz war nun gefährlich für Stella. Denn wird er entdeckt, wie sehr sie flehen mochte, dass sie nichts von seinem Inhalt wüsste, könnte ein Motiv für den Tod von Ballantyne daraus geschlossen werden. Es wäre ein falsches Motiv, aber genau die Art von Motiv, das der Mann auf der Straße sofort akzeptieren würde. Thresk verbrannte den Brief sorgfältig auf 81
einem Teller und zerstampfte jeden schwarzen Papierfetzen, bis nichts als Asche übrig war. Dann war für den Augenblick seine Arbeit getan. Er musste nur warten und er wartete nicht lange. Am nächsten Morgen informierte ihn seine Zeitung, dass Inspektor Couslon von der Bombayer Polizei nach Chitipur abgereist war. Der Inspektor war ein junger Mann, seiner Arbeit ergeben, aber er reiste nun auf einer Verpflichtung, die er gerne einem anderen seiner Kollegen übertragen hätte. Er war Stella Ballantyne in Bombay bei einer ihren seltenen Besuchen von Jane Repton begegnet. Er war am selben Tisch mit ihr gesessen und er fand es nicht angenehm, über das tragische Schicksal nachzudenken, das sie nun erfüllen musste. Denn die Fakten waren verhängnisvoll. Bei Tagesanbruch am Morgen des Freitags hatte ein Wachtposten am äußeren Rand des Lagers beim Jarwhal‐Knotenpunkt etwas Schwarzes auf dem Boden im Freien liegen sehen, gleich draußen vor der Tür des großen Zeltes des Beauftragten. Er rannte über den Boden und entdeckte Captain Ballantyne ausgebreitet, mit dem Gesicht nach unten, in dem Smoking‐Anzug, den er die Nacht zuvor beim Abendessen getragen hatte. Der Wachtposten schüttelte ihn sanft an der Schulter, aber die Schlaffheit des Körpers erschreckte ihn. Dann bemerkte er, dass Blut auf dem Boden war, und während er laut um Hilfe rief, rannte er zu dem Wachezelt. Er kehrte mit anderen der einheimischen Wachen zurück und hob Ballantyne hoch. Er war tot und der Körper war kalt. Die Wachen trugen ihn in das Zelt und öffneten sein Hemd. Ihm war durch das Herz geschossen worden. Dann weckten sie Mrs. Ballantynes Ayah und baten sie, ihre Herrin zu wecken. Die Ayah ging in Mrs. Ballantynes Raum und fand ihre Herrin tief schlafend vor. Sie weckte sie und erzählte ihr, was geschehen war. Stella Ballantyne sagte nicht ein Wort. Sie stieg aus dem Bett und indem sie einige Kleidungsstücke überwarf, ging sie in das äußere Zelt, wo die Diener um die Leiche herumstanden. Stella Ballantyne ging ganz nahe und blickte lange Zeit hinunter auf das Gesicht des toten Mannes. Sie war bleich, aber es gab kein Zusammenzucken in ihrer Haltung – keine Angst in ihren Augen. „Er ist getötet worden“, sagte sie endlich; „Telegramme müssen sofort gesendet werden; nach Ajmere um einen Arzt, nach Bombay und an Seine Hoheit den Maharadscha.“ Baram Sing grüßte. 82
„Es ist der Wille Eurer Exzellenz“, sagte er. „Ich werde ihnen schreiben“, sagte Stella ruhig. Und sie setzte sich dort und dann an ihren eigenen Schreibtisch. Der Arzt aus Ajmere traf während des Tages ein, machte eine Untersuchung und telegrafierte einen Bericht an den Hauptkommissar von Ajmere. Dieser Bericht enthielt die drei maßgeblichen Punkte, die Repton Thresk aufgezählt hatte, aber mit noch mehr bedeutungsvollen Einzelheiten. Die Kugel, die Captain Ballantynes Herz durchdrang, war aus Mrs. Ballantynes kleiner Rook Rifle abgefeuert worden, und die explodierte Patrone war noch im Hinterteil. Die Büchse stand aufgestellt an Mrs. Ballantynes Schreibtisch in einer Ecke des Zeltes, als der Doktor aus Ajmere sie entdeckte. Zweitens, obwohl Ballantyne im Freien gefunden wurde, gab es auf dem Teppich innerhalb des Zeltes einen Blutfleck und eine Blutspur von dieser Stelle zur Tür. Es konnte keinen Zweifel geben, dass Ballantyne drinnen getötet wurde. Da war der dritte Punkt, um die Theorie zu beweisen. Weder der diensthabende Wachtposten noch irgendeiner der Diener, die in den angrenzenden Zelten schliefen, hatten das Knacken der Büchse gehört. Es wäre auf jeden Fall laut gewesen, aber wenn die Waffe im Freien abgefeuert worden wäre, wäre sie ausreichend scharf und deutlich gewesen, um die Aufmerksamkeit der wachhabenden Männer zu erregen. Der schwere doppelte Futterstoff des Zeltes jedoch war dick genug, um den Lärm zu dämpfen und zu schwächen, dass er unbemerkt war. Der Bericht wurde in Ajmere geprüft und weitergeleitet. Er brachte nun Inspektor Coulson von der Polizei die Eisenbahn von Bombay hinauf. Er fand Mrs. Ballantyne in der Residenz von Chitipur auf ihn warten. „Ich muss Ihnen sagen, wer ich bin“, sagte er unbeholfen. „Es besteht keine Notwendigkeit“, antwortete sie, „ich weiß es.“ Er ermahnte sie dann auf die übliche Weise und indem er sein Taschenbuch herausholte, fragte er sie, ob sie wünsche, Licht auf den Tod ihres Mannes zu werfen.“ „Nein“, sagte sie. „Ich habe nichts zu sagen. Ich schlief und war im Bett, als meine Ayah in meinen Raum mit der Nachricht von seinem Tod kam.“
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„Ja“, sagte der Inspektor unbehaglich. Dieses Detail, neben dem Schleppen der Leiche aus dem Zelt, kam ihm als der grausamste Teil der ganzen Tragödie vor. Er machte sein Buch zu. „Ich befürchte, es ist alles unzufriedenstellend“, sagte er. „Ich denke, wir müssen zurück nach Bombay fahren.“ „Es ist so wie Eure Exzellenz wünscht“, sagte Stella auf Hindustani, und der Inspektor war über den schlechten Geschmack des Scherzes erschrocken. Er hatte nicht die Kenntnis über ihr Leben mit Ballantyne, das alleine ihm den Schlüssel gegeben hätte, sie zu verstehen. Aber er war kein Narr und ein zweiter Blick auf sie zeigte ihn, dass sie überhaupt nicht im Scherz sprach. Er hatte den Eindruck, dass sie so müde war, dass sie sich in dem Augenblick überhaupt nicht darum kümmerte, was mit ihr geschah. Die Erschöpfung würde zweifellos abklingen, wenn sie erkannte, dass sie um ihr Leben kämpfen musste, aber nun stand sie gleichgültig und widerstandslos vor ihm – sehr wie einer der einheimischen Wachen gewohnt war, vor ihrem Mann zu stehen. Die Worte, die die Wachen benutzten und die Sprache, in der sie sie sprachen, kam natürlich auf ihre Lippen, als die einzigen Worte und die einzige Sprache, die für den Anlass passend waren. „Sie sehen, Mrs. Ballantyne“, sagte er freundlich, „es gibt keinen Grund, einem einzigen Ihrer Diener oder Ihrer Eskorte zu misstrauen.“ „Und es gibt Grund, mir zu misstrauen“, fügte sie hinzu und blickte ihn ruhig und konstant an. Der Inspektor seinerseits blickte weg. Er war ein junger Mann – nicht mehr als ein oder zwei Jahre älter als Stella Ballantyne selbst. Sie beide kamen aus derselben Art von Gesellschaft. Ihre Leute und seine Leute wären vielleicht Freunde in einem angenehmen Dorf auf dem Land in einer der englischen Grafschaften gewesen. Sie war auch hübsch, beunruhigend hübsch, trotz der dunklen Ringe unter ihren Augen und der Blässe ihres Gesichts. Da war eine Zartheit in ihrem Aussehen und an ihrem Kleid, das ihn um Zärtlichkeit bat. Die Bitte war umso stärker, weil es nur auf diese Weise und unbewusst war, dass sie bat. In ihrer Stimme, in ihrer Haltung, in ihren Augen gab es keine Bitte, kein Gebet.
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„Ich bin im Palast gewesen“, sagte er. „Ich habe eine Audienz mit dem Maharadscha gehabt.“ „Natürlich“, antwortete sie. „Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten in den Weg legen.“ Er stand in ihrem eigenen Salon, wobei er bemerkte, mit was für einem Geschick Behaglichkeit mit Anmutigkeit verbunden worden waren, und wie sie dem üblichen Instinkt ihrer Art gefolgt war, hier in diesem Raum ein Stück England zu erschaffen zu versuchen. Durch das Fenster blickte er hinaus auf einen Rasen, der von einem Rasensprenger bewässert wurde, und wo ein Gärtner an der Arbeit war, sich um ein fröhliches Blumenbeet zu kümmern. Dort auch hatte sie den erbärmlichen Versuch gemacht, einen halben Morgen von diesem Land aus gelber Wüste zu einem grünen Garten von England zu verwandeln. Coulson hatte nicht einen Schatten des Zweifels in seinem Sinn, dass Stella Ballantyne dieses Zimmer mit seinen beruhigenden Farben und seinem Ausblick auf den grünen Rasen – im günstigsten Fall – für viele Jahre der Einzelhaft in Poona Gaol tauschen würde. „Werden Sie bereit sein, in einer Stunde zu gehen?“, fragte er grob. „Ja“, sagte sie. „Wenn ich Sie während dieser Stunde unbewacht lasse, werden Sie mir versprechen, dass Sie in einer Stunde bereit zu gehen sein werden?“ Stella Ballantyne nickte. „Ich werde mich jetzt nicht umbringen“, sagte sie und er blickte sie schnell an, aber sie machte sich nicht die Mühe, ihre Worte zu erklären. Sie fügte bloß hinzu: „Ich darf einige Kleider mitnehmen, vermute ich?“ „Was Sie brauchen“, sagte der Inspektor. Und er brachte sie hinunter nach Bombay. Sie wurde formell am nächsten Morgen vor dem Untersuchungsrichter wegen Mordes an ihrem Ehemann angeklagt und für eine Woche zurückgeschickt. Sie wurde um elf Uhr am Morgen zurückgeschickt und fünf Minuten später wurde die Nachricht auf dem Fernschreiber im Taj Mahal Hotel durchgegeben. Innerhalb weiterer fünf Minuten wurde die Nachricht zu Thresk nach oben 85
gebracht. Er hatte Glück. Er war in einem riesigen Hotel, wo die Leute durch die Zimmer für einen Tag flitzen und am nächsten fort sind, und niemand kümmert sich um das Tun seines Nachbarn, ein Ort des Kommens und Gehens wie der Bahnsteig eines großen Bahnhofs. Es gab keinen Platz in ganz Bombay, wo Thresk so leicht unbemerkt gehen konnte. Und er war unbemerkt gegangen. Eine einzige Nachfrage im Büro, es ist wahr, hätte seine Anwesenheit offenbart, aber niemand hatte nachgefragt, da er sich bis dahin Aden nähern sollte. Er war während des Tages in seinem Zimmer geblieben und hatte nur Luft geschnappt, nachdem es dunkel wurde. Dies war in den frühen Stadien der drahtlosen Telegrafie und die Madras hatte keine Anlage. Es könnte sein, dass nach ihm in Aden Nachfragen gemacht werden würden. Er konnte nur mit Jane Reptons Worten, die in seinen Ohren klangen, warten: „Man kann den Preis nicht kontrollieren, den man zu bezahlen haben wird.“ Stella Ballantyne wurde in einer Woche wieder hinaufgebracht und der Fall setzte dann Tag für Tag fort. Der Charakter von Ballantyne wurde dann offen gelegt, seine Brutalitäten, seine Durchtriebenheit. Detail um Detail wurde er zu einer ekelhaften unheimlichen Gestalt, zurückgezogen und gewalttätig, aufgebaut, die wieder in diesem überfüllten Gericht lebte und die Augen der Zuschauer mit einem unbehaglichen Schauer zu der jungen und stillen Frau auf der Anklagebank wandte. Und in diesem Charakter fand die Anklage das Motiv des Verbrechens. Mitgefühl ging manchmal hoch für Stella Ballantyne, aber da waren immer die zwei unerbittlichen Einzelheiten, um sie in Schach zu halten: sie war von ihrer Ayah schlafend gefunden, ruhig erholsam schlafend, innerhalb von ein paar Stunden von Ballantynes Tod; und sie hatte gemäß der Theorie der Krone, in einer Gewalt der Leidenschaft die Kraft gefunden, den sterbenden Mann aus dem Zelt zu schleppen und ihn zu verlassen, um sein Leben unter den Sternen auszuhauchen. Thresk beobachtete den Fall von seinen Gemächern im Taj Mahal Hotel aus. Jede Tatsache, die geeignet war, Mitgefühl für sie zu erwecken, half auch, sie zu verurteilen. Niemand bezweifelte, dass sie Stephen Ballantyne erschossen hatte. Er verdiente, erschossen zu werden – sehr wohl. Aber das gab ihr nicht das Recht, sein Scharfrichter zu sein. Was sollte ihre Verteidigung sein? Eine plötzliche unerträgliche Provokation? Wie würde das in Übereinstimmung mit dem Schleppen seiner Leiche über den Teppich zur Tür stehen? Da war die verhängnisvolle unüberwindbare Tat. 86
Thresk las immer wieder die Berichte von den Verhandlungen nach einem Hinweis in Bezug auf die Art der Verteidigung. Er bekam ihn an dem Tag, als Repton im Zeugenstand aufgrund einer Vorladung unter Strafandrohung von der Krone erschien, um die Gewalt von Stephen Ballantyne zu bezeugen. Er hatte Stella mit verletzten Handgelenken gesehen, sodass sie in der Öffentlichkeit ihre Handschuhe nicht ausziehen konnte. „Was für Verletzungen?“, fragte der Strafverteidiger. „Solche Verletzungen die vielleicht von jemandem gemacht wurden, der ihren Arm verdrehte“, antwortete er und dann erhob sich Mr. Travers, ein junger Barrister, der seinen ersten Sprung in die Öffentlichkeit genoss, zum Kreuzverhör. Thresk las dieses Kreuzverhör durch und stand auf. „Man kann den Preis nicht kontrollieren, den man zu bezahlen hat“, sagte er zu sich. An diesem Tag, als Mrs. Ballantynes Solicitor zu seinem Büro nach dem Gerichtsbeginn zurückkehrte, fand er Thresk auf ihn warten. „Ich wünsche, für Mrs. Ballantyne auszusagen“, sagte Thresk – „Beweis, der sie freisprechen wird.“ Er sprach mit so viel Gewissheit, dass der Solicitor ziemlich erschrocken war. „Und mit so eindeutigem Beweis in Ihrem Besitz ist es erst heute Nachmittag, dass Sie damit herkommen! Warum?“ Thresk war auf diese Frage vorbereitet. „Ich habe eine Menge Arbeit auf mich in London warten“, erwiderte er. „Ich hoffte, dass es vielleicht nicht notwenig für mich wäre, überhaupt zu erscheinen. Nun sehe ich, dass es das ist.“ Der Solicitor blickte Thresk direkt an. „Ich wusste von Mrs. Repton, dass Sie mit Ballantyne an jenem Abend zu Abend aßen, aber sie war sicher, dass Sie nichts von der Angelegenheit wussten. Sie hatten das Zelt verlassen, bevor es geschah.“ „Das ist wahr“, antwortete Thresk.
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„Doch haben Sie einen Beweis, der Mrs. Ballantyne freisprechen wird?“ „Ich denke schon.“ „Wie kommt es dann“, fragte der Anwalt, „dass wir überhaupt nichts von diesem Beweis von Mrs. Ballantyne selbst haben?“ „Weil sie nichts davon weiß“, erwiderte Thresk. Der Anwalt zeigte zu dem Stuhl. Die beiden Männer setzten sich zusammen in dem Büro hin, und es dauerte lange, bevor sie sich trennten. Innerhalb einer Stunde von Thresks Rückkehr vom Büro des Solicitors wartete ein Polizeiinspektor in seinem Hotel auf ihn und kreuzte augenblicklich auf. „Wir wussten bis heute nicht“, sagte er, „dass Sie noch in Bombay sind, Mr. Thresk. Wir glaubten, sie wären auf der Madras, die früh heute Morgen Marseilles erreichte.“ „Ich verpasste sie“, erwiderte Thresk. „Hätten Sie mich gebraucht, hätten sie vor fünf Tagen in Port Said nach mir fragen können.“ „Vor fünf Tagen hatten wir keine Information.“ Die einheimischen Diener von Ballantyne hatten sich von Anfang an in Unwissenheit gehüllt. Sie würden Fragen, die ihnen gestellt wurden, beantworten; sie würden nicht einen Zoll darüber hinausgehen. Das Verbrechen war eine Angelegenheit der Sahibs, und je weniger sie damit zu tun hatten, umso besser, bis sie unter allen Umständen sicher waren, aus welcher Richtung der Wind von der Regierung wehte. Aus ihrer eigenen Initiative heraus wussten sie nichts. Es war jedoch erst durch die Entdeckung von Thresks Brief an Captain Ballantyne, der zerknüllt in einem Papierkorb gefunden wurde, dass seine Anwesenheit in jener Nacht in dem Zelt vermutet wurde. „Es ist merkwürdig“, brummte der Inspektor, „dass Sie von sich aus nicht zu uns kamen, als Sie Ihr Schiff verpasst hatten, und uns erzählten, was Sie wussten.“ „Ich halte es überhaupt nicht für merkwürdig“, antwortete Thresk, „denn ich bin ein Entlastungszeuge. Ich werde aussagen, wenn der Prozess für die Verteidigung eröffnet.
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Der Inspektor war verdutzt und ging fort. Thresks Politik hatte bis dahin Erfolg gehabt. Aber er war ein großes Risiko eingegangen, und nun, da es vorbei war, erkannte er mit starker Erleichterung, wie ernst das Risiko gewesen war. Wenn der Inspektor ihn aufgesucht hätte, bevor er seine Anwesenheit Mrs. Ballantynes Anwalt bekannt gegeben und seine Aussage angeboten hätte, wäre seine Position schwierig gewesen. Er hätte einen anderen guten Grund entdecken müssen, warum er ruhig in seinem Hotel während der letzten Tage gelegen war. Aber das Glück hatte ihn begünstigt. Er hatte es vor allem der Verschwiegenheit der einheimischen Diener zu verdanken.
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Kapitel XII Thresk sagt aus Thresks Befürchtungen waren gerechtfertigt. Die Sympathie für Stella hatte schon nachzulassen begonnen. Die Tatsache, dass Ballantyne draußen vor der Tür des Zeltes gefunden worden war, nahm schon eine schlimme Bedeutung an. Mrs. Ballantynes Strafverteidiger glitt diskret über diesen fatalen Vorfall. Zum Glück, wie es sich nun erweisen sollte, nahm er den Arzt aus Ajmere überhaupt nicht ins Kreuzverhör. Aber da sind immer die Wenigen, die sich der allgemeinen Meinung widersetzen – die Männer und Frauen, die in der Minderheit sind, weil es die Minderheit ist: jene, die die hysterische Verherrlichung von Stella Ballantyne beleidigt hatte; die Enthaltsamen, die Pedantischen, die Gerechten, die Eifersüchtigen, alle waren schnell, diese beunruhigende Tatsache zu ergreifen: Stella Ballantyne hatte ihren sterbenden Ehemann aus dem Zelt geschleift. Es war entweder schiere Gefühllosigkeit oder blinde Wut – man konnte es sich aussuchen. In jedem Fall trübte es das Feuer des Martyriums, das für ein oder zwei Wochen so strahlend auf Stella Ballantynes Stirn gewesen war; und die Wenigen, die so argumentierten, zogen täglich Anhänger an. Und mit der Sympathie für Stella Ballantyne begann das Interesse an dem Prozess auch abzunehmen. Die behördliche Nachforschung drohte, langwierig zu werden. Die Bilder der Zeugen und Hauptzeugen belegten immer weniger Platz in den Zeitungen. In einer weiteren Woche würde der Prozess mit einem Schulterzucken gegenüber dem Gerichtshof kaltlassen. Aber unerwartet wurde die Neugierde wieder aufgerührt, denn an dem Tag, nachdem Thresk den Anwalt aufgesucht hatte, als der Prozess für die Krone am Ende war, bat Mrs. Ballantynes Strafverteidiger, Mr. Travers, um die Erlaubnis, Baram Singh wieder aufzurufen. Die Erlaubnis wurde gewährt und Baram Singh nahm wieder im Zeugenstand Platz. Mr. Travers lehnte sich gegen den Schreibtisch hinter sich und stellte mit der erheblichsten Langsamkeit seine Fragen. „Ich will sie, Baram Singh“, sagte er, „über den Esstisch am Donnerstagabend befragen. Sie deckten ihn?“ 90
„Ja“, erwiderte Baram Singh. „Für wie viele?“ „Für drei.“ Es gab im ganzen Gericht eine Regung. „Ja“, sagte Mr. Travers, „Captain Ballantyne hatte an diesem Abend einen Gast.“ Baram Singh stimmte zu. „Schauen Sie sich im Gericht um und sagen Sie dem Untersuchungsrichter, ob sie hier den Mann sehen können, der mit Captain Ballantyne und seiner Frau an jenem Abend speiste.“ Für einen Augenblick war das Gericht mit dem Lärm von Gemurmel erfüllt. Der Gerichtsdiener rief „Ruhe!“ und das Murmeln hörte auf. Eine Stille der Erwartung füllte den dicht gedrängten Saal, als Baram Singhs Augen langsam an den Wänden entlangreisten. Er senkte sie vor dem Gericht und sogar sein ausdrucksloses Gesicht leuchtete mit einem Blick des Erkennens auf. „Dort“, rief er, „dort!“, und er zeigte zu einem Mann, der direkt unter der Bank des Strafverteidigers saß. Mr. Travers lehnte sich vor und mit einer ruhigen, aber besonders deutlichen Stimme sagte er: „Wollen Sie freundlicherweise aufstehen, Mr. Thresk?“ Thresk stand auf. Für viele dieser Anwesenden – die Müßiggänger, die Leute der Mode, die Suchenden nach prickelnder Erregung, die die öffentlichen Galerien und Gerichte füllen – hatte seine lange Durchführung des Carruther‐ Prozesses zu einer bekannten Figur gemacht. Den anderen war sein Name auf jeden Fall bekannt, und als er auf dem Boden des Gerichts aufstand, ging eine rasche und regelmäßige Bewegung, wie ein Kräuseln des Wassers, durch die Menge. Sie lehnte sich vor, um einen klareren Blick auf ihn zu erlangen, und für einen Augenblick gab es Zischen aufgeregten Flüsterns. „Das ist der Mann, der mit Captain und Mrs. Ballantyne an dem Abend, als Captain Ballantyne getötet wurde, zu Abend aß?“, sagte Mr. Travers. 91
„Ja“, erwiderte Baram Singh. Niemand verstand, was kam. Die Leute begannen sich zu fragen, ob Thresk etwas mit dem Mord zu tun hatte. Die Nachricht war veröffentlicht worden, dass er schon nach England abgereist war. Wie kam es, dass er nun hier war? Mr. Travers seinerseits genoss in vollem Ausmaß die Spannung, die seine Frage erweckt hatte. Durch keinen Tonfall erlaubte er einen Hinweis zu entkommen, ob er Thresk als Feind oder Freund ansah. „Sie dürfen sich jetzt setzen, Sir“, sagte er und Thresk nahm seinen Platz wieder ein. „Wollen Sie uns sagen, was Sie von Mr. Thresks Besuch bei dem Captain wissen?“, fuhr Travers fort, und Baram Singh erzählte ihm, wie ein Kamel zu dem Dak‐Haus beim Bahnhof des Jarwhal‐Knotenpunktes geschickt worden war. „Ja“, sagte Mr. Travers, „und er speiste in dem Zelt. Wie lange blieb er?“ „Er verließ das Lager um elf Uhr auf dem Kamel, um den Nachtzug nach Bombay zu erwischen. Der Captain‐Sahib verabschiedete ihn am Rand des Lagers. „Ah“, sagte Mr. Travers, „Captain Ballantyne verabschiedete ihn?“ „Ja – vom Rand des Lagers.“ „Und dann ging er zurück zu dem Zelt?“ „Ja.“ „Nun will ich Sie zu einem anderen Punkt bringen. Sie bedienten beim Abendessen?“ „Ja.“ „Und gegen Ende des Abendessens verließ Mrs. Ballantyne den Raum?“ „Ja.“ „Sie kam nicht wieder zurück?“ „Nein.“ 92
„Nein. Die beiden Männer wurden dann alleine gelassen?“ „Ja.“ „Nach dem Essen wurde der Tisch abgeräumt?“ „Ja“, sagte Baram Singh, „der Captain‐Sahib rief mich, um den Tisch schnell abzuräumen.“ „Ja“, sagte Travers. „Nun wollen Sie mir sagen, was der Captain‐Sahib tat, während Sie den Tisch abräumten?“ Baram Singh überlegte. „Zuerst bot der Captain‐Sahib eine Schachtel mit Zigarrenstumpen seinem Gast an, und sein Gast lehnte ab und nahm eine Pfeife aus seiner Tasche. Der Captain‐Sahib zündete dann für sich einen Stumpen an und stellte die Schachtel wieder auf die Platte des Schreibtisches.“ „Und danach?“, fragte Travers. „Danach“, sagte Baram Singh, „bückte er sich hinunter, sperrte die unterste Lade seines Schreibtisches auf und drehte sich dann scharf zu mir und sagte mir, dass ich mich beeilen und hinausgehen sollte.“ „Und diesem Befehl gehorchten Sie?“ „Ja.“ „Nun, Baram Singh, betragen Sie den Raum wieder?“ Baram Singh erklärte, dass, nachdem er mit dem Tischtuch hinausgegangen war, er in ein paar Augenblicken mit einem Aschenbecher zurückkehrte, den er neben den Gast‐Sahib stellte. „Ja“, sagte Travers. „Hatte Captain Ballantyne seine Position verändert?“ Baram Singh erzählte dann, dass Captain Ballantyne noch immer auf seinem Stuhl beim Schreibtisch saß, aber dass die Lade des Schreibtisches nun offen war und dass auf dem Boden, dicht bei Captain Ballantynes Füßen ein roter Aktenkoffer war.
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„Der Captain‐Sahib“, fuhr er fort, „wandte sich an mich mit großem Zorn und trieb mich wieder aus dem Raum.“ „Danke“, sagte Mr. Travers und er setzte sich. Der Anklagevertreter erhob sich sofort. „Nun, Baram Singh“, sagte er mit Strenge, „warum erwähnten Sie nicht, als Sie zuerst in den Zeugenstand gestellt wurden, dass dieser Gentleman an jenem Abend in dem Lager anwesend war?“ „Ich wurde nicht gefragt.“ „Nein, das ist ganz wahr“, fuhr er fort, „Sie wurden nicht gezielt gefragt, aber Sie wurden gebeten, alles zu erzählen, was Sie wussten.“ „Ich mischte mich nicht ein“, erwiderte Baram Singh. „Ich beantwortete die Fragen, die mir gestellt wurden. Außerdem, als der Sahib das Lager verließ, war der Captain‐Sahib am Leben.“ In diesem Augenblick lehnte sich Mr. Travers hinüber zu dem Anklagevertreter und sagte: „Es wird alles deutlich gemacht werden, wenn Mr. Thresk in den Zeugenstand geht.“ Und noch einmal, als Mr. Travers diese Worte sprach, lief ein Rascheln der Erwartung durch das Gericht. Travers eröffnete den Prozess für die Verteidigung am folgenden Morgen. Er war ursprünglich, erklärte er, angewiesen worden, die Verteidigung für die tatsächliche Verhandlung vor den Geschworenen auszusetzen, aber auf seinen eigenen dringenden Rat hin wurde dieser Plan nicht befolgt. Den Fall, den er dem Berufsrichter vorlegen musste, muss daher unfehlbar beweisen, dass Mrs. Ballantyne frei von jeglicher Mittäterschaft in diesem Verbrechen war, dass er fühlte, er würde ihr seine Pflicht nicht erweisen, wenn er es bei der ersten Gelegenheit nicht öffentlich machte. Diese unglückliche Dame hatte schon, wie jeder wissen muss, der sogar die sorgloseste Aufmerksamkeit den Fakten geschenkt hatte, die der Anklage dargelegt worden waren, so viel Kummer und Sorge in dem Verlauf ihres Ehelebens erlitten, dass er fühlte, es wäre nicht gerecht, die Anspannung und Ungewissheit hinzuzufügen, die sogar der Unschuldigste erleiden muss, wenn er zu einer so ernsten Anklage zum Prozess 94
geschickt wurde. Er schlug sofort vor, Mr. Thresk zu rufen, und Thresk stand auf und ging in den Zeugenstand. Thresk erzählte die Geschichte von dieser Dinerparty Wort für Wort, wie es geschehen war, wobei er Nachdruck auf die panische Angst legte, die von Zeit zu Zeit von Stephen Ballantyne Besitz ergriffen hatte, bis zu dem Augenblick, als Baram Singh den Aschenbecher gebracht und die beiden Männer zusammen verlassen hatte, wobei Thresk bei dem Tisch in der Mitte des Raumes und Ballantyne an seinem Schreibtisch mit dem Aktenkoffer auf dem Boden zu seinen Füßen saß. „Dann bemerkte ich einen außergewöhnlichen ängstlichen Blick sein Gesicht entstellen“, fuhr er fort, „und als ich der Richtung seiner Augen folgte, sah ich einen mageren braunen Arm mit der dünnen Hand, so zart wie die einer Frau, sich unter der Wand des Zeltes in Richtung Aktenkoffer winden.“ „Sie sahen das ganz deutlich?“, fragte Mr. Travers. „Das Zelt war nicht sehr hell erleuchtet“, erklärte Thresk. „Auf den ersten Blick sah ich etwas sich bewegen. Ich war geneigt, es für eine Schlange zu halten und auf diese Weise Captain Ballantynes Furcht und die plötzliche Starrheit seiner Haltung zu erklären. Aber ich schaute wieder und ich war dann ganz sicher, dass es ein Arm und eine Hand war.“ Die Aussage brachte die Anwesenden zu einer solchen erregten Anspannung und zu einem so lauten Ausbruch an Gemurmel, dass es eine ganze Minute dauerte, bevor die Ordnung wiederhergestellt war und Thresk seine Geschichte wieder aufnahm. Er beschrieb Ballantynes Suche nach dem Dieb. „Und was taten Sie“, fragte Mr. Travers, „während die Suche gemacht wurde?“ „Ich stand bei dem Tisch und hielt den Aktenkoffer in meinen Händen, wie Ballantyne mich eindringlich zu tun gebeten hatte.“ „Ganz recht“, sagte Mr. Travers; und die Aufmerksamkeit des Gerichts wurde nun auf diese Aktentasche und auf das Porträt von Bahadur Salak gerichtet, das sie enthielt. Die Geschichte der Fotografie, ihre Bedeutung in diesem Augenblick, als Salaks Prozess bevorstand, und Ballantynes Überzeugung der äußersten Gefahr, in die sich ihr Besitzer begab ‐ eine Überzeugung, zweifellos durch den Versuch, sie vor seinen Augen zu stehlen ‐ wurde vor den 95
Berufsrichter gelegt. Er sandte den Fall vor Gericht, wie er verpflichtet war, aber der Urteilsspruch in den Augen der meisten Leute war eine vorhergegangene Entscheidung. Thresk hatte eine Geschichte verschafft, die das Verbrechen erklärte, und Kreuzverhör konnte ihn nicht erschüttern. Es war leicht zu glauben, dass in dem Augenblick, als Thresk sich bei Captain Ballantyne beim Feuer am Rand des Lagers verabschiedete, der Dieb in das Zelt schlüpfte, und als er von Ballantyne entdeckt wurde, entweder bei seiner Rückkehr oder später, ihn mit Mrs. Ballantynes Gewehr erschoss. Es war klar, dass keine Überzeugung erlangt werden konnte, während diese Geschichte das Feld behauptete und zur gegebenen Zeit wurde Mrs. Ballantyne freigesprochen. Von Thresks Rückkehr zu dem Zelt, bevor er das Lager verließ, wurde nichts gesagt. Thresk selbst erwähnte es nicht und der Vertreter der Anklage hatte keinen Hinweis, der ihm helfen könnte, es herauszulocken. So endete der Prozess. Die beliebte Heldin eines Strafprozesses verliert, wie alle Beobachter bemerkt haben werden, ihre Krone der Romantik in dem Augenblicke, in dem sie frei ist; Und dieses Glück erwartete Stella Ballantyne. Thresk sprach am nächsten Tag bei Jane Repton vor und ihm wurde kalt gesagt, dass Stella schon aus Bombay abgereist wäre. Er begab sich zu ihrem Anwalt, der höflich, aber nicht mitteilsam war. Die Reptons, schien es, waren für ihn für die Durchführung des Prozesses verantwortlich. Er hatte keine Kenntnis von Stella Ballantynes Aufenthalt und er zeigte auf einen Stapel Telegramme und Briefe als Bestätigung seiner Worte. „Sie werden alle zum Khamballa Hill hinaufgehen“, sagte er. „Ich habe keine andere Adresse.“ Am nächsten Tag jedoch kam ein kleines Dankesbriefchen an Thresk durch die Post. Es war nicht unterschrieben und ohne Adresse. Aber es war in Stella Ballantynes Handschrift und der Poststempel war Kurrachee. Dass sie ihn nicht zu sehen wünschte, konnte er ganz verstehen; Kurrachee war ein Hafen, von dem Schiffe nach vielen Bestimmungsorten über die Welt segelten. Also hier, schien es, war dieses Kapitel abgeschlossen. Er nahm den nächsten Dampfer Richtung Westen von Bombay, ging in Brindisi an Land und ging zurück an seine Arbeit am Gerichtshof und im Parlament.
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Kapitel XIII Wieder Little Beeding Aber obwohl sie verschwand, war Stella Ballantyne nicht auf der Flucht vor Männern und Frauen. Sie mied sie, weil sie für den Augenblick nicht in ihren Gedanken zählten, außer als mögliche Hindernisse. Sie rannte nicht so sehr davon, wie sie zu dem Ort ihres Begehres rannte. Sie unterwarf sich einem Impuls, mit dem sie nichts zu tun hatten, ein so überwältigender Impuls, dass sogar für die Reptons ihre Überstürzung ein Aussehen von Undankbarkeit trug. Sie fuhr mit Jane Repton nach Hause, sobald sie entlassen wurde, zu dem Haus auf dem Khamballa Hill, und während sie noch in der Kutsche war, sagte sie: „Ich muss morgen Früh wegfahren.“ Sie setzte sich mit einem angespannten und begierigen Blick auf ihrem Gesicht nach vor, und ihre Hände waren fest in ihrem Schoß zusammengepresst. „Es besteht keine Notwendigkeit dafür. Mache es dir bequem bei uns, Stella, für eine kleine Weile, und halte deinen Kopf hoch.“ Jane Repton hatte über diesen Vorschlag mit ihrem Ehemann geredet. Sie beide erkannten, dass die Annahme davon von ihnen ein kleines Opfer zur Folge haben würde. Vorurteil wäre schwierig. Aber sie hatten diese Überlegung in der Loyalität zu ihrer Freundschaft beiseite getan und Jane Repton war ein wenig verletzt, dass Stella ihre Einladung ohne Umstände abwies. „Ich kann nicht. Ich kann nicht“, sagte sie gereizt. „Versuche mich nicht aufzuhalten.“ Ihre Nerven waren am Ende und sie sprach mit einer größeren Heftigkeit als sie wusste. Jane Repton versuchte sie zu überreden. „Wäre es nicht klüger für dich, den Dingen hier gegenüberzutreten, auch wenn es Mühe und Schmerz bedeutet?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Stella noch immer in dem bestimmten Ton von jemandem, der nicht will, dass man mit ihm diskutiert. Ich kümmere mich auch nicht darum. Ich habe gerade jetzt nichts mit Klugheit zu tun. Ich will überhaupt keine Leute. Ich will – oh, wie ich will ‐“ Sie hörte auf und dann fügte sie vage 97
hinzu: „Etwas anderes“, und ihre Stimme verstummte allmählich zu Schweigen. Sie saß ohne ein Wort, ganz prickelnde Ungeduld, während der restlichen Fahrt und fuhr fort, so zu sitzen, nachdem die Kutsche angehalten hatte. Als Jane Repton ausstieg, und sie wachte erschrocken auf und sah auf das Haus, war es, als ob sie ihre Augen vom Himmel zur Erde hinunterbrächte. Sobald sie im Haus war, ging sie direkt hinauf zu Repton. Er hatte seine Frau bei Stella im Gericht zurückgelassen und war vor ihnen nach Hause gekommen. Er hatte kein Wort mit Stella an diesem Tag gesprochen und er hatte jetzt die Zeit nicht, denn er begann sofort mit einer dienstbeflissenen Stimme und einen fieberhaftem Blick in ihren Augen: Repton benutzte nun mehr Takt als seine Frau. Er nahm die Hand der besorgten und aufgeregten Frau und antwortete ihr sehr freundlich: „Natürlich, Stella. Du sollst gehen, wenn du willst.“ „Oh, danke“, rief sie und war befreit, sich an die Schuld zu erinnern, die sie ihren guten Freunden schuldete. „Du musst mich für eine unvernünftige Person halten, Jane! Ich habe kein Wort zu dir über alle deine Freundlichkeit gesagt. Aber – oh, du wirst mich für lächerlich halten, wenn du weißt ‐“ und sie begann in einem Atemzug zu lachen und zu schluchzen. Stella Ballantyne war in Gleichgültigkeit während dieses langen Prozesses versunken, dass ihre Freunde über ihren Tränenausbruch erleichtert waren. Jane Repton führte sie nach oben und brachte sie zu Bett, so, als ob sie ein Kind gewesen wäre. „Da! Du kannst zum Abendessen aufstehen, wenn du magst, Stella, oder bleiben, wenn du willst. Und wenn du uns sagst, was du tun willst, werden wir die Anordnungen für dich treffen und keine Frage stellen.“ Jane Repton küsste sie und ließ sie allein; und es war, während Stella oben schlief, dass Henry Thresk vorsprach und ihm gesagt wurde, dass es keine Neuigkeiten für ihn gäbe. „Zweifellos wird Sie Ihnen schreiben, Thresk, wenn sie wünscht, dass Sie wissen, wie es ihr geht. Aber ich würde damit nicht rechnen, wenn ich Sie wäre“, sagte Jane Repton mit süßer Stimme und mit Augen wie Kieselsteine. „Sie erwähnte Sie nicht, tut mir leid zu sagen, als der Prozess vorüber war.“
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Sie konnte ihm nicht vergeben wegen ihres eigenen Anteils an dem, was sie nun seinen „Verrat“ gegenüber Stella nannte. Sie hatte nicht mehr von der Logikerin in ihrem Aufbau als Thresk von einem Helden. Er hatte unter großer Belastung des Gefühls und der Sympathie begangen, was ihm die ganze Erfahrung und Methode seines Lebens sagte, dass es eines der schlimmsten Verbrechen war. Und nun, da sein Ziel erreicht und Stella Ballantyne frei war, war er in der Stimmung, nur den Schaden zu sehen, den er der Würde des Gesetzes gegenüber angerichtet hatte; er war beklommen; er war nicht durch den Gedanken beunruhigt, dass die Entdeckung ihn absolut ruinieren würde. Das kam ihm tatsächlich nicht in den Sinn. Aber er konnte sich kein Bild von sich in der Robe des Strafverteidigers des Königs machen, wobei er ernsthaft den Zorn des Gesetzes gegen einen anderen Mann behauptete, der genau das, was er getan hatte, getan hat, nicht mehr und nicht weniger. Und daher, als Mrs. Reptons Tür schließlich vor ihm geschlossen und ihm von der Frau, die er gerettet hatte, keine Nachricht gegeben wurde, war er sofort menschlich und heldenhaft genug, ein wenig von seinem Groll auf sie heimzusuchen. Er hatte seit der Nacht in Chitipur überhaupt nicht mit ihr gesprochen: er hatte keine Kenntnis von der Stumpfheit und der Niedergeschlagenheit, in die sie nach ihren Jahren des Elends gefallen war; sie hatte keine Einsicht in die eine zwingende Leidenschaft, die nun ihren Körper und ihre Seele in ihrem Griff hatte. Er wandte sich von der Tür ab und ging zurück zum Taj Mahal. Ein Dampfer würde in zwei Tagen nach Port Said fahren und mit diesem Dampfer würde er reisen. Dass Stella in dem Haus auf dem Khamballa Hill war, bezweifelte er nicht, aber da sie kein Wort oder einen Gedanken für ihn zu erübrigen hatte, konnte er nur seinen Rücken zuwenden und gehen. Stella selbst stand zum Abendessen auf, und nachdem es vorüber war, erzählte sie ihren Freunden von der Sehnsucht, die ihre Seele erfüllte. „Durch den ganzen Prozess“, sagte sie schüchtern mit dem Zusammen‐ schrumpfen von jemandem, der eine sehr geheime Fantasie enthüllt und Angst hat, dass man sich darüber lächerlich macht, „in der Hitze des Gerichts, in der engen Gefangenschaft meiner Zelle, war ich mir nur einer wahren unbesiegbaren Leidenschaft bewusst – den Wind gegen mein Gesicht auf den Sussex Downs zu fühlen. Könnt ihr das verstehen? Bloß die breiten grünen Hügel mit den weißen Kreidehöhlen in ihren Seiten zu sehen und die Wälder, die zu den Tälern hinuntermarschieren wie die römischen Soldaten von 99
Chichester – oh! Ich war verrückt nach dem Aussehen und dem Geruch und den Klängen davon! Es war alles, woran ich dachte. Ich pflegte meine Augen in der Anklagebank zu schließen und ich war in einer Sekunde fort und ritt durch Charlton Forest oder über Farm Hill oder sah hinunter nach Slindon von Gumber Corner und über seinen Wald zum Meer. Und nun, da ich frei bin“ – sie umschloss ihre Hände und ihr Gesicht strahlte – „oh, ich will die Leute nicht sehen.“ Sie streckte jedem ihrer Freunde eine Hand entgegen. „Ich nenne euch nicht Leute, wisst ihr? Aber sogar ihr – ihr werdet verstehen und vergeben und nicht verletzt sein – ich will für eine kleine Weile nicht sehen.“ Der geschlagene Blick von ihr nahm den Stachel der Undankbarkeit aus ihren Worten. Sie stand zwischen ihnen, ihr zartes Gesicht dünn, ihre Augen unnatürlich groß; sie hatte die merkwürdige durchscheinende Schönheit der Menschen, die seit Monaten sterbenskrank gelegen haben. Jane Reptons Augen füllten sich mit Tränen und ihre Hand suchte nach einem Taschentuch. „Sehen wir, was getan werden kann“, sagte Repton. „Da ist natürlich ein kleiner Postdampfer, aber du wirst damit nicht reisen wollen.“ „Nein.“ Repton arbeitete die Segelliste von Bombay und den anderen Häfen an der Westküste von Indien aus, während Stella sich über seine Schulter lehnte. „Schau!“, sagte er. „Das ist der beste Weg. Da ist ein Dampfer, der morgen nach Kurrachee fährt, und wenn du Kurrachee erreichst, wirst du gerade Zeit haben ein deutsches Lloyd‐Schiff zu erreichen, das nach Southampton fährt. Du wirst sicher nicht in zwei Wochen zu Hause sein, aber andererseits wirst du von neugierigen Leuten nicht belästigt.“ „Ja, ja“, rief Stella begierig. „Ich kann morgen fahren.“ „Sehr wohl.“ Repton blickte auf die Uhr. Es war noch immer nicht mehr als halb elf. Er sah, mit was für einem Fieber der Ungeduld Stella verzehrt wurde. „Ich glaube, ich könnte mit dem örtlichen Manager der Linie heute Abend sprechen und deine Reise für dich organisieren.“
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„Wirklich?“, rief Stella. Er hätte ihr eine Krone anbieten können, so hell leuchtete ihr Dank in ihren Augen. „Ich denke schon.“ Er stand von dem Tisch auf und stand und blickte sie an, und dann fort von ihr mit seinen zweifelnd geschürzten Lippen. „Ja?“, sagte sie. „Ich dachte nach. Willst du unter einem anderen Namen reisen? Ich schlage es nicht wirklich vor, nur könnte es dir ‐ Ärger ersparen.“ Reptons Zögern war unangebracht, denn Stella Ballantynes Stolz war ganz angeschlagen. „Ja“, sagte sie sofort. „Ich möchte das tun“, und sowohl er als auch seine Frau verstanden von der bereitwilligen Antwort vollständiger als je zuvor, wie nahe Stella zu der großen leeren Wand am Ende des Lebens gekommen war. Sieben Jahre lang hatte sie ihren Kopf hochgehalten, niemals so viel wie einen Tadel gegen ihren Mann geflüstert, mit der fortwährenden Wachsamkeit das Geheimnis ihres Elends bewahrt. Stolz war ihre Antriebsfeder gewesen; nun war sogar diese zerbrochen. Repton ging aus dem Haus und kehrte um Mitternacht zurück. „Es ist alles erledigt“, sagte er. „Du wirst eine Kabine auf Deck in beiden Dampfern haben. Ich gab deinen Namen im Vertrauen dem Manager hier und er wird sich darum kümmern, dass alles Mögliche für dich getan wird. Es wird sehr wenige Passagiere auf dem deutschen Schiff geben. Die Jahreszeit ist zu früh für Touristen oder die Leute auf Urlaub.“ So schlich sich Stella Ballantyne aus Bombay fort und in fünf Wochen ging sie in Southampton an Land. Dort nahm sie ihren Namen an. Sie reiste in Sussex und blieb für ein paar Nächte in dem Gasthaus, wohin Henry Thresk Jahre zuvor in seinem folgenschweren Urlaub gekommen war. Sie hatte ein wenig Geld – das geringfügige Einkommen, das ihr ihre Eltern bei deren Tod hinterlassen hatten – und sie begann sich nach einem Haus umzusehen. Mit Glück entdeckte sie, dass das Cottage, in dem sie in Little Beeding gewohnt hatte, in ein paar Monaten leer sein würde. Sie nahm es und bevor der Sommer vorüber war, war sie dort wieder eingerichtet. Es war an einem Augustnachmittag, als Stella 101
darin wieder ihr Zuhause machte. Sie ging den gelben Weg entlang, der tief zwischen hohe Erdböschungen gefahren war, wo die Wurzeln von großen Ulmen heraustrieben. Jeder Schritt war für sie vertraut. Der Weg mit vielen Zweigen unter übergreifenden Ästen lief einen steilen Hügel hinunter und kam im Freien bei dem großen Haus mit seinem Säulengang und seinem hellgrauen Stein und seinem wundervollen Garten mit Rasen und Blumen und Zedern heraus. Eine winzige Kirche mit einem schmalen Friedhof und merkwürdigen sorgfältig gepflegten Eibenbüschen stand neben dem Haus und hinter der Kirche fiel der Weg zum Fluss und zu dem Cottage hinunter. Stella ging von Zimmer zu Zimmer. Sie hatte das Cottage einfach und geschmackvoll eingerichtet; die Wände waren hell, ihr Dienstmädchen hatte Blumen gepflückt und sie hingestellt. Draußen vor dem Fenster schien das Sonnenlicht auf einen grünen Garten. Sie war allein. Es war das Nachhausekommen, das sie sich gewünscht hatte. Drei oder vier Monate wurde sie alleine gelassen; und dann eines Nachmittag,s als sie nach einem Spaziergang in das Cottage kam, fand sie eine kleine weiße Karte auf dem Tisch. Sie trug den Namen von Mr. Hazlewood.
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Kapitel XIV Die Hazlewoods In der ruhigen Kleinstadt hatten während der acht Jahre von Stellas Abwesenheit Veränderungen stattgefunden. Es waren jedoch keine bedeutenden Veränderungen und ein Satz kann sie alle symbolisieren –es gab nun Asphalt auf seinen Straßen. Aber in der Gruppe von Häusern eine Meile weit weg am Ende des tiefen Weges war der Fall anders. Mr. Harold Hazlewood war nach Little Beeding gekommen. Er wohnte nun in dem großen Haus, dem das Dorf seinen Namen und tatsächlich seine Existenz schuldete. Er wohnte – und verbreitete Bestürzung unter den Leuten meilenweit herum. „Herr, wie ich wünsche, der arme Arthur wäre nicht gestorben!“, pflegte der alte John Chubble zu schreien. Er hatte mit den West Sussex‐Spürhunden dreißig Jahre lang gejagt und der Name Little Beeding machte sein rotes Gesicht purpurrot. „Da war ein Mann. Aber dieser Kerl! Und zu denken, dass er dieses schöne Haus bekam! Wissen Sie, dass es kaum einen Fasan an dem Ort gibt. Und ich habe sie in den alten Tagen zu Dutzenden vom Himmel heruntergeholt. Also, er hat einen Sohn in der Coldstream‐Garde, Dick Hazlewood, der nicht so schlecht ist. Aber Harold! Oh, reichen Sie mir den Portwein!“ Harold hatte tatsächlich Little Beeding durch einen Zufall während des ersten Sommers, nachdem Stella nach Indien gegangen war, geerbt. Arthur Hazlewood, der Eigentümer und Harolds Neffe, ging mit seiner Jacht in einem Sturm an der Küste von Portugal unter. Arthur war ein Junggeselle und so kam Harold Hazlewood ganz unerwartet in die Position eines Landbesitzers, als er schon in den mittleren Jahren war. Er war ein Witwer und ein Mann von beachtenswertem Standpunkt. Auf den ersten Blick wusste man, dass er nicht wie andere Männer war; auf den zweiten erwartete man, dass er auf seine Unterschiedlichkeit stolz war. Er war lang, ziemlich watschelnd in seinem Gang, mit milden blauen Augen und blondem dünnem Haar, das nun grau wurde. Aber Länge war der Haupteindruck, der durch sein körperliches Erscheinen hinterlassen wurde. Seine Beine, seine Arme, sein Gesicht, sogar sein Haar, außer wenn sein Sohn in der Coldstream‐Garde zufällig zu der Zeit zu Hause war, waren lang. 103
„Ist Ihr Vater verrückt?“, fragte Mr. Chubble einmal Dick Hazlewood. Die beiden Männer waren sich auf der breiten Straße von Great Beeding zu Mittag begegnet und der ältere Sohn, der vor Empörung überschäumte, hatte sich vor Dick gepflanzt. „Verrückt?“, wiederholte Dick nachdenklich. „Nein, ich würde nicht so weit gehen. Oh nein! Was hat er jetzt getan?“ „Er hat aus seiner eigenen Tasche die Geldstrafen aller Leute in Great Beeding bezahlt, die gerade verurteilt worden sind, ihre Babys nicht geimpft zu haben.“ Dick Hazlewood starrte überrascht auf das entrüstete Gesicht seines Gefährten. „Aber natürlich hatte er das getan, Mr. Chubble“, antwortete er fröhlich. „Er ist anti‐alles – alles. Ich meine, was Erfahrung eingesetzt hat oder Vernunft vorschlagen könnte.“ „Außerdem will er die Marine für altes Eisen verkaufen und das Militär abschaffen.“ „Ja“, sagte Dick und nickte liebenswürdig. „Er ist so. Er denkt, dass ohne Militär und ohne Marine wir weniger aggressiv wären. Ich kann es nicht leugnen.“ „Ich würde es tatsächlich nicht denken“, rief Mr. Chubble. „Gehen Sie nach Hause?“ „Ja.“ „Gehen wir zusammen.“ Mr. Chubble nahm Dick Hazlewood beim Arm, und als sie gingen, füllten sie den Weg mit seinen Klagen. „Ich würde denken, Sie können es nicht leugnen. Na, er hat tatsächlich ein Pamphlet geschrieben, um seine Ansichten über das Thema zu bekräftigen.“ „Sie sollten Ihre Sterne segnen, Mr. Chubble, dass es nur eines gibt. Er leidet an Pamphleten. Er schreibt sie und druckt sie und jedes Parlamentsmitglied bekommt eines umsonst. Pamphlete tun für ihn, was die Gicht für andere alte Gentlemen tut – sie tragen von seinem System eine große Anzahl an besorgniserregenden Krankheiten ab. Er ist jetzt bei der Gefängnisreform“, sagte Dick mit einem Lächeln des gründlichen Vergnügens. „Haben Sie ihn darüber gehört?“ 104
„Nein, und ich will es nicht“, explodierte Mr. Chubble. Er schlug heftig gegen einen überhängenden Ast, als ob er der Kopf von Harold Hazlewood wäre, und fuhr mit dem Verbrechenskatalog fort. „Er hielt letzte Woche im Rathaus eine Rede“, und er ruckte seinen Daumen rückwärts in die Richtung der Stadt, die sie verlassen hatten. „Unerträglich nenne ich es. Er denunzierte tatsächlich seine eigenen Landsmänner als eine Rasse von Unterdrückern.“ „Würde er“, antwortete Dick ruhig. „Was sagte ich Ihnen vor einer Minute? Er ist fortschrittlich, wissen Sie?“ „Fortschrittlich!“, spottete Mr. Chubble und dann blieb Dick Hazlewood stehen und betrachtete seinen Begleiter mit einem nachdenklichen Blick. „Ich denke wirklich nicht, dass Sie meinen Vater verstehen, Mr. Chubble“, sagte Dick mit einer leichten Vorhaltung in seiner Stimme, wobei Mr. Chubble ratlos war, ob er es ernst nehmen sollte oder nicht. „Können Sie mir zu ihm den Schlüssel geben?“, rief er. „Kann ich.“ „Dann heraus damit, mein Bursche.“ Mr. Chubble entledigte sich zuzuhören, aber mit einem so sträubenden Ausdruck, dass es klar war, dass keine Erklärung ihn befriedigen konnte. Dick jedoch achtete nicht darauf. Er sprach langsam wie einer, der eine begriffsstutzige Klasse von Schülern schulmeisterte. „Mein Vater wurde prädestiniert geboren, um zu glauben, dass alle Menschen, die er kennt, unweigerlich unrecht haben, und alle Leute, die er nicht kennt, unweigerlich recht haben. Und wenn ich mich geneigt fühle, die Schmähung seines eigenen Landes zu bedauern, tröste ich mich mit der Betrachtung, dass er der standhafteste Freund von England wäre, den England je hatte – wenn er nur in Deutschland geboren worden wäre.“ Mr. Chubble grunzte und ging die Ansprache misstrauisch in seinen Gedanken durch. Machte sich Dick über ihn oder über seinen Vater lustig? „Das ist gelehrt“, sagte er.
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„Ich befürchte, dass es das ist“, stimmte Dick Hazlewood bescheiden zu. „Die Tatsache ist, dass ich jetzt ein Lehrer an der Generalstabsakademie bin und viel von mir erwartet wird.“ Sie hatten das Tor vom Little Beeding‐Haus erreicht. Es war Sommerzeit. Eine gelbe Kiesauffahrt lief gerade zwischen langen breiten Blumenbeeten zur Tür. „Wollen Sie nicht hereinkommen und meinen Vater besuchen?“, fragte Dick unschuldig. „Er ist zu Hause.“ „Nein, mein Bursche, nein.“ Mr. Chubble fügte eilig hinzu: „Ich habe keine Zeit. Aber ich bin sehr froh, Sie getroffen zu haben. Sie sind lange hier?“ „Nein. Nur zum Mittagessen“, sagte Dick und er ging die Auffahrt entlang in das Haus. Im Vorzimmer kam ihm Hubbard, der Butler entgegen, ein alter farbloser Mann mit vornehmen Bewegungen, die langsam schienen und erstaunlich schnell waren. Er sprach in einem freundlichen schnurrenden Tonfall und war genau der Butler für Mr. Harold Hazlewood. „Ihr Vater hat nach Ihnen gefragt, Sir“, sagte Hubbard. „Er scheint ein wenig besorgt zu sein. Er ist in dem großen Zimmer.“ „Sehr wohl“, sagte Dick und er durchquerte das Vorzimmer und das Wohnzimmer, wobei er sich fragte, was für ein neuer Plan für die Regeneration der Welt in dem unverdrossenen Verstand seines Vaters ausgebrütet wurde. Er hatte in Camberley am Tag zuvor ein Telegramm erhalten, das ihn dringend rief, rechtzeitig zum Mittagessen in Little Beeding einzutreffen. Er ging in die Bibliothek, wie es genannt wurde, aber in Wirklichkeit war es das Zimmer, das von jedem benutzt wurde, außer bei zeremoniellen Anlässen. Es war ein großes Zimmer; die Hälfte davon enthielt einen Billardtisch, die andere Hälfte hatte Schreibtische, Sofas, bequeme Sessel und einen Tisch für Bridge. Der Teppich war über einen Parkettboden gelegt, sodass junge Leute, wenn sie dort blieben, ihn aufrollten und tanzten. Es gab Fenster auf beiden Seiten des Zimmers. Hier blickte eine Reihe davon hinunter auf den Abhang des Rasens zu den Zedern und dem Fluss, dort ein großer Erker, der sich zum Grundstück öffnete, einen Ausblick auf eine Ecke der hohen Friedhofsmauer und auf eine Wiese und ein strohgedecktes Cottage dahinter gab. In diesem Erker stand Mr. Hazlewood, als Dick das Zimmer betrat.
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„Ich bekam dein Telegramm, Vater, und hier bin ich.“ Mr. Hazlewood drehte sich vom Fenster mit einem Lächeln auf seinem Gesicht weg. „Es ist gut von dir, Richard. Ich benötigte dich heute.“ Eine sehr echte Zuneigung existierte zwischen diesen beiden, verschieden wie sie an ihrem Körperbau und Verstand waren. Dick Hazlewood war zu dieser Zeit vierunddreißig Jahre alt, ein Offizier von harter Arbeit und Auszeichnung, einer der jüngeren Männer, zu dem die Generäle schauen, um den Verstand in dem nächsten großen Krieg zu versorgen. Er hatte die Religion seines Typs. Um sich körperlich fit für den härtesten Feldzug und geistig fit für die höchsten Probleme der modernen Strategie zu machen und weder über die eine, noch über die andere Strategie zu prahlen – das waren seine Glaubensgrundsätze. Im Aussehen sah er ein wenig jünger aus, geschmeidige, lange Beine, mit einem dünnen braunen Gesicht und grauen Augen, die vor Humor funkelten. Harold Hazlewood war äußerst stolz auf ihn, obwohl er behauptete, dass er seinen Beruf verachtete. Und zweifellos fand er manchmal, dass das bloße gesunde, gut gepflegte Aussehen seines Sohnes ärgerlich konventionell war. Was ganz gesund war, konnte nicht ganz richtig nach der Philosophie des älteren Mannes sein. Für Dick andererseits war sein Vater ein hochgradiges Vergnügen. Hier war ein liebenswürdiger Unschuldiger mit der entzückendsten Illusion, dass er die Welt verstünde. Dick würde seinen Vater stundenweise aus der Reserve locken, aber wie er es bezeichnete, er würde den alten Jungen nicht im Stich lassen. Er stoppte seine Scherze, bevor sie weh zu tun beginne konnten. „Also, ich bin hier“, sagte er. „In was für Schwierigkeiten bist du jetzt geraten?“ „Ich bin in keinen Schwierigkeiten, Richard. Ich gerate nicht in Schwierigkeiten“, erwiderte sein Vater. Er trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. „Ich fragte mich, Richard – du bist das ganze letzte Jahr fort gewesen, nicht wahr? – Ich fragte mich, ob du mir etwas von deinem Sommer geben könntest?“ Dick blickte seinen Vater an. Was um alles auf der Welt führte der alte Knabe jetzt im Schilde? fragte er sich. „Natürlich kann ich. Ich werde in ein oder zwei Tagen meinen Urlaub bekommen. Ich dachte daran, hier und dort etwas Polo zu spielen. Es werden 107
ein paar Matches arrangiert. Dann zweifellos ‐“ Er hörte auf. „Aber schau her, Sir! Du hast mir nicht bloß ein dringendes Telegramm geschickt, um mich das zu fragen.“ „Nein, Richard, nein.“ Jeder andere nannte seinen Sohn Dick, aber Harold Hazlewood niemals. Er war Richard. Von Richard konnte man viel erwarten, das Erwachen einer höheren Natur, eine Ergebenheit der Regeneration der Welt, humanitäre Einstellung, sogar den Kult von allen „antis“. Von Dick konnte man nichts außer Gesundheit und Sauberkeit und ausgelassene Konventionalität erwarten. Daher blieb Captain Hazlewood von der Coldstream‐Garde und dem Stabskorps. „Nein, da war etwas anderes.“ Mr. Hazlewood nahm seinen Sohn am Arm und führte ihn in das Erkerfenster. Er zeigte über das Feld zu dem strohgedeckten Cottage. „Du weißt, wer dort wohnt?“ „Nein.“ „Mrs. Ballantyne.“ Dick legte seinen Kopf auf eine Seite und pfiff leise. Er kannte den allgemeinen Tenor von dieser cause célèbre. Mr. Hazlewood hob protestierende Hände hoch. „Da! Du bist wie der Rest, Richard. Du nimmst die schlechteste Ansicht. Hier ist eine gute Frau, verleumdet und geschmäht. Da ist nichts gegen sie. Sie wurde im offenen Prozess von einem Schwurgericht mit verantwortungsvollen Bürgern unter einem Richter des Höchstgerichts in Indien freigesprochen. Doch wird sie alleine gelassen – wie eine Aussätzige. Sie ist das Opfer von Klatsch und solchem Klatsch, Richard“, sagte der alte Mann ernst, „für Lieblosigkeit, Bösartigkeit und dummer Boshaftigkeit lässt der Klatsch eines Sussex‐Dorfes die beklagenswerten Bemühungen von Voltaire und Swift gänzlich zurück.“ „Vater“, sagte Dick mit einem Kichern. „Hast du vor, mir eine Stiefmutter zu geben?“ „Habe ich nicht, Richard. Eine so abscheuliche Idee kam mir nie in den Sinn. Aber, mein Junge, ich habe bei ihr vorgesprochen.“ „Oh, wirklich!“ 108
„Ja. Ich habe sie auch besucht. Ich ließ eine Karte zurück. Sie ließ eine bei mir zurück. Ich sprach wieder vor. Ich hatte Glück.“ „Sie war zu Hause.“ „Sie gab mir Tee, Richard.“ Richard neigte seinen Kopf auf eine Seite. „Wie ist sie, Vater? Erstklassig?“ „Richard, sie gab mir Tee“, sagte der alte Mann, wobei er beharrlich auf seiner Wiederholung verweilte. „Das sagtest du, Sir, und es war sicher äußerst liebenswürdig von ihr. Aber diese Tatsache wird mir nicht helfen, auch nur das ungewisseste Bild von ihrem Aussehen zu bilden.“ „Aber wird es, Richard“, protestierte Mr. Hazlewood mit einer Nervosität, die Dick sich wieder wundern ließ. „Sie gab mir Tee. Daher, verstehst du nicht, muss ich die Gastfreundschaft erwidern, die ich mit der äußersten Ungeduld tue. Richard, ich schaue zu dir, um mir zu helfen. Wir müssen diese geschmähte Dame verteidigen. Du wirst sie selbst sehen. Sie kommt zum Mittagessen hierher.“ Die Wahrheit war endlich heraus. Doch Dick war sich bewusst, dass er es sehr leicht erraten hätte können. Dies war genau die donquichottische Linie, die vorhergesehen werden konnte, dass sie sein Vater nahm. „Also, wir müssen einfach unsere Augen offenhalten und sehen, dass sie nichts in die Karaffen gleiten lässt, während unsere Köpfe abgewandt sein“, sagte Dick mit einem Kichern. Der alte Mr. Hazlewood legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes. „Das ist genau das, was sie sagen. Nur du meinst es nicht, Richard, und sie schon“, bemerkte er mit einem milden und tadelnden Kopfschütteln. „Ah, eines Tages, mein Junge, wird deine bessere Natur erwachen.“ Dick drückte keine Sorge für die Ankunft dieses Tages aus. „Wie viele von uns sollen bei dem Mittagessen sein?“, fragte Dick.
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„Nur wir zwei.“ „Ich verstehe. Wir sollen die Gefahr in der Familie behalten. Sehr klug, Sir, auf mein Wort.“ „Richard, du verdrehst den Sinn“, sagte Mr. Hazlewood. „Die Nachbarschaft ist zu Mrs. Ballantyne nicht freundlich gewesen. Man hat sie leiden lassen. Die Frau des Vikars zum Beispiel – eine äußerst lieblose Person. Und meine Schwester, deine Tante Margaret auch, in Great Beeding – sie ist, was du nennen würdest ‐“ „Heißes Zeug“, murmelte Dick. „Recht so“, erwiderte Mr. Hazlewood, und er wandte sich seinem Sohn mit einem Blick des scharfen Interesses auf seinem Gesicht zu. „Ich bin mit dieser Phrase nicht vertraut, Richard, aber nicht zum ersten Mal bemerke ich diesen groben und geschmacklosen vulgären Ausdruck, den du zum Überfluss hast und den zu zweifellos auf den Kasernenhöfen aufschnappst und eine Menge überzeugende Bedeutung in alle paar Worte packst.“ „Das ist tatsächlich wahr, Sir“, erwiderte Dick mit einem bewundernswerten Ernst, „und wenn ich vorschlagen dürfte, ein Pamphlet über dieses interessante Thema wäre weniger gefährlich als mit der neusten Ausgabe der Marquise de Brinvilliers zu kokettieren.“ Das Wort Pamphlet war ein Trompetensignal für Mr. Hazlewood. „Ah! Da wir von Pamphleten sprechen, mein Junge“, begann er und ging hinüber zu einem Schreibtisch, der mit Papieren übersät war. „Wir haben nicht die Zeit, Sir“, unterbrach Dick von dem Erker des Fensters. Eine Frau war aus dem Cottage gekommen. Sie entriegelte ein kleines Tor in ihrem Garten, das sie zur Wiese öffnete. Sie überquerte sie. Doch ein anderes Tor gab ihr Eintritt zu dem Garten von Little Beeding. In einem Augenblick verkündete Hubbard: „Mrs. Ballantyne“, und Stella kam in das Zimmer und stand in der Nähe der Tür mit einer gewissen Zurückhaltung in ihrer Haltung und einer zaghaften Wachsamkeit in ihren großen Augen. Sie hatte den Blick eines Rehs. Es schien Dick, dass bei einer abrupten Bewegung sie sich umdrehen und rennen würde. 110
Mr. Hazlewood drängte vorwärts, um sie zu begrüßen und sie lächelte mit einer Wärme und Dankbarkeit. Dick, der sie vom Erkerfenster aus beobachtete, war von der Feinheit ihres Gesichtes, von einem zerbrechlichen Aussehen überrascht. Sie war sehr einfach mit einer Jacke und einem kurzen weißen Rock bekleidet, ihre Schuhe und Handschuhe waren aus weißem Wildleder, ihr Hut war klein. „Und das ist mein Sohn, Richard“, sagte Mr. Hazlewood; und Dick kam hervor aus dem Erker. Stella Ballantyne nickte ihm zu und sagte kein Wort. Sie ging kein Risiko ein, sogar in den Händen des Sohnes ihres Freundes. Falls Annäherungen der Freundlichkeit gemacht werden sollten, mussten sie von ihm gemacht werden, nicht von ihr. Es gab nur einen unbeholfenen Augenblick des Zögerns. Dann streckte Dick Hazlewood seine Hand aus. „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Mrs. Ballantyne“, sagte er höflich und er sah das Blut in ihr Gesicht strömen und die Furcht in ihren Augen abnehmen. Die Nachbarschaft, um Mr. Hazlewood zu zitieren, war nicht freundlich zu Stella Ballantyne gewesen. Sie war auf der Anklagebank gesessen und die Tatsache beeinträchtigte sie. Überdies waren hier und dort Briefe aus Indien gekommen. Das Urteil war unumgänglich, aber – aber – es gab einen Zweifel an seiner Gerechtigkeit. Die volle Strafe – nein. Niemand wünschte es oder hätte es für richtig gehalten, aber etwas dazwischen in dem ordentlichen Geist des britischen Kompromisses wäre nicht verkehrt gewesen. So lief der Klatsch. Überdies sah Stella Ballantyne zu gut aus. Für einige der Frauen war es eine zusätzliche Beleidigung, wenn sie überlegten, was sie vielleicht tragen würde, wenn nur das Urteil anders gewesen wäre. So war Stella für ein Jahr ihrer eigenen Gesellschaft überlassen worden, außer von zwei Besuchen, die die Reptons ihr abgestattet hatten. Zuerst hatte sie die Stille willkommen geheißen, den Frieden ihrer Einsamkeit. Es war ein Balsam für sie. Sie erholte sich wie eine Blume in der Nacht. Aber sie war jung – sie wurde dieses Jahr achtundzwanzig – und als ihre Glieder aufhörten, Bleidinge zu sein und wieder strahlend vor Leben wurden, kam ihr ein Bedürfnis nach Gesellschaft. Sie versuchte, das Bedürfnis auf dem Rasen ihres geliebten Hügelgebietes niederzutrampeln, aber sie versagte. Eine Freundin, um mit ihr die Freuden dieser Sommertage zu teilen! Ihr Blut schrie nach einer. Aber sie war eine Ausgestoßene. Freunde kamen nicht ihres Weges. Daher hatte sie dankbar den 111
alten Mr. Hazlewood in ihrem Haus empfangen und hatte, obzwar mit einiger Furcht, seinen Antrag angenommen, dass sie in dem großen Haus zu Mittag essen und die Bekanntschaft seines Sohnes machen sollte. Sie war nervös am Anfang des Mahles, aber sowohl Vater als auch Sohn bemühten sich, dass sie sich wohl fühlte; und bald redete sie natürlich mit einer Farbe in ihren Wangen und hin und wieder einen Hauch von Lachen in ihrer Stimme. Dick bemühte sich um die Wiederkehr dieses Lachens. Er mochte den klaren Ton und das Schmelzen ihres ganzen Gesichtes in Süße und in zarte Stimmung, was damit kam. Und für eine andere Sache hatte er einen Gedanken und einen wahren, dass es sehr lange her war, seit sie das Vergnügen von gutem Lachen gekannt hatte. Sie tranken ihren Kaffee draußen auf dem Rasen unter dem Schatten einer riesigen Zeder. Der Fluss lief zu ihren Füßen und ein kanadisches Kanu und ein Ruderboot waren dicht bei der kleinen Anlegestelle festgemacht. Das Haus, ein Platz aus grauem Stein mit grauen verwitterten und flechtenfarbenen Schieferplatten erhob seine großen länglichen Rauchfänge in eine durchsichtige Luft. Das Sonnenlicht blitzte auf seine Reihen hoher Fenster – sie waren alle flach am Haus, außer dem einen großen Erkerfenster im Erdgeschoß in der Bibliothek – und Vögel riefen von allen Bäumen. Die Zeit glitt davon. Dick Hazlewood fand sich über seine Arbeit reden, eine Tätigkeit, in die er selten verfiel, und war überrascht, dass sie mit ihm darüber reden konnte. Er bemerkte mit Schrecken, wie es kam, dass sie es wusste. Aber sie redete natürlich und offen, als ob er ihre Geschichte kennen müsse. Einmal entglitt ihr sogar ein Jargon von der Generalstabsakademie. „Sie hatten letzte Woche am Box Hill Manöver, nicht wahr?“, sagte sie, und als er bei der Phrase erschrak, stellte sie sich vor, dass er über das Ausmaß ihrer Information erschrak. „Es stand in den Zeitungen“, sagte sie. „Ich las jedes Wort davon“, und dann für eine Sekunde bewölkte sich ihr Gesicht und sie fügte hinzu: „Ich habe Zeit, verstehen Sie?“ Sie blickte auf ihre Uhr und sprang auf. „Ich muss gehen“, sagte sie. „Ich wusste nicht, dass es so spät ist. Ich habe mich sehr amüsiert.“ Sie zögerte jetzt nicht, ihre Hand anzubieten. „Auf Wiedersehen.“
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Dick Hazlewood ging mit ihr bis zum Tor und kam zurück zu seinem Vater. „Du hast mich gefragt“, sagte er sorglos, „ob ich dir einen Teil des Sommers geben könnte. Ich sehe nicht, warum ich nicht in ein oder zwei Tagen herkommen sollte. Die Polomatches sind nicht so wichtig.“ Die Augen des alten Mannes leuchteten auf. „Ich werde entzückt sein, Richard, wenn du es willst.“ Er blickte seinen Sohn mit etwas wirklich Verzücktem in seinem Ausdruck an. Endlich erwachte dann seine bessere Natur. „Ich glaube wirklich ‐“, rief er aus und Dick unterbrach ihn. „Ja, das mag es sein, Sir. Andererseits vielleicht nicht. Was ganz klar ist, ist, dass ich meinen Zug erwischen muss. Daher, wenn ich den Wagen bestellen dürfte?“ „Natürlich, natürlich.“ Er kam mit seinem Sohn heraus auf die Veranda des Hauses. „Wir haben heute eine feine Sache getan, Richard“, sagte er mit Begeisterung und einem Nicken zu dem Cottage hinter der Wiese. „Haben wir tatsächlich, Sir“, erwiderte Dick fröhlich. „Hast du je ein solches Paar Knöchel gesehen?“ „Sie verlor heute Nachmittag den tragischen Blick, Richard. Wir müssen ihre Verteidiger sein.“ „Wir werden auf diese Weise den Sommer einsetzen, Vater“, sagte Dick und mit seiner Hand winkend wurde er zum Bahnhof gefahren. Mr. Hazlewood ging zurück zu der Bibliothek. Aber „gehen“ ist ein armseliges Wort. Er schien in der Luft zu schweben. Eine große Gelegenheit war zu ihm gekommen. Er hatte seinen Sohn zu seinen Diensten herangezogen. Er sah Dick und sich als Toreros, die mit roten Fahnen in das Gesicht eines Bullen winken, der Konventionalität benannt wurde. Er ging zurück zu dem Pamphlet, mit dem er mit erneuter Begeisterung beschäftigt war, und arbeitete fleißig bis spät in die Nacht.
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Kapitel XV Der große Kreuzzug „Ich war heute Morgen in Great Beeding“, sagte Dick, als er mit seinem Vater beim Mittagessen saß, „und die Rollläden waren oben in Tante Margarets Haus.“ „Sie sind also aus ihrem Urlaub zurück“, bemerkte sein Vater mit einem Zittern in seiner Stimme. Er schaute ängstlich. Dann schaute er verärgert. „Pettifer wird zusammenbrechen, wenn er nicht aufpasst“, rief er gereizt aus. „Kein Mann mit Verstand würde so hart wie er arbeiten. Er hätte dieses Jahr zumindest zwei Monate nehmen sollen.“ „Wir sollten noch immer Tante Margaret am Ende davon besuchen müssen“, sagte Dick ruhig. Er hatte keinen Glauben an Mr. Hazlewoods Kummer über die Überanstrengung von Pettifer. Ein Monat war vergangen seit der Einführung des großen Kreuzzuges, und obwohl überall Gerede reif und Empörung an vielen Orten laut war, war ein gewisser Erfolg gewonnen worden. Aber die ganze Zeit war Mrs. Pettifer fort gewesen. Nun war sie zurückgekehrt. Mr. Hazlewood stand in einiger Bewunderung vor seiner Schwester. Sie war nicht bösartig, aber sie kannte ihre Meinung und drückte sie gewaltsam und ohne Verzögerung aus. Sie war von praktischer begrenzter Natur; sie sah sehr deutlich, was sie sah, aber sie ging mit Scheuklappen und hatte weder Verständnis noch Mitgefühl für jene mit einem größeren Weitblick. Sie war zu dieser Zeit eine Frau von vierzig, angenehm anzusehen und die Frau von Mr. Robert Pettifer, dem Leiter der gut bekannten Anwaltsfirma Pettifer, Gryll und Musgrave. Mrs. Pettifer hatte sehr wenig Geduld für die Eigenarten ihres Bruders aufzubringen, obwohl sie ihm eine ganze Menge mehr als Geduld schuldete. Denn zu der Zeit, etwa zwanzig Jahre zuvor, als sie Robert Pettifer geheiratet hatte, damals bloß ein Juniorpartner der Firma, hatte Harold Hazlewood alleine zu ihr gestanden. Für den Rest der Familie warf sie sich weg; für ihren Bruder tat sie immer eine feine Sache, nicht, weil es eine feine Sache war, sondern weil es eine außerordentliche Sache war. Robert Pettifer jedoch war vorangekommen, und
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obwohl er ein Alter erreicht hatte, wo er seine Freizeit beanspruchen hätte können, brachte ihn der Neun‐Uhr‐Zug noch immer täglich nach London. „Tante Margaret ist trotzdem nicht so ungestüm“, sagte Dick, für den sie einen sehr weichen Platz in ihrem Herzen aufbewahrte. Aber Harold schüttelte seinen Kopf. „Deine Tante, Richard, hatte alle urzeitliche Wildheit der Durchschnittsfrau.“ Und dann wurde das Feuer des Enthusiasten in seinen blauen Augen entzündet. „Ich sage dir, was ich tun werde: ich werde ihr mein neues Pamphlet schicken, Richard. Es hat vielleicht einen humanisierenden Einfluss auf sie. Ich habe einige Probeexemplare. Ich werde ihr heute Nachmittag eines schicken.“ Dicks Augen funkelten. „Ich würde es, wenn ich du wäre, jedoch um sicher zu sein, Sir, wir haben diesen Plan vorher probiert, ohne erstaunliche Wirkung.“ „Wahr, Richard, wahr, aber ich habe mich nie zuvor zu solchen Höhen wie diesen erhoben.“ Mr. Hazlewood warf seine Serviette hin und schritt in dem Zimmer auf und ab. „Richard, ich bin nicht geneigt zu prahlen. Ich bin ein bescheidener Mann.“ „Es ist nur Bescheidenheit, Sir, die großes Werk erlangt“, sagte Dick, als er zufrieden mit seinem Essen fortsetzte. „Aber der Titel dieses Pamphlets scheint mir berechnet, die Sorglosen zu interessieren und die Nachdenklichen anzuziehen. Es wird Die Gefängnis‐ mauern dürfen keinen Schatten werfen genannt.“ Mit einem ausgestreckten Arm schien er die Worte des Titels nacheinander aus seiner Handfläche zu befördern. Dann stand er und lächelte zufrieden und erwartete Applaus. Dicks Gesicht, das die höchste Erwartung gezeigt hatte, fiel langsam in eine tiefe Enttäuschung. Er legte sein Messer und seine Gabel hin. „Oh, komm schon, Vater. Alle Mauern werfen Schatten. Es hängt gewiss von der Höhe der Sonne ab.“ Mr. Hazlewood kehrte zu seinem Platz zurück und sprach freundlich.
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„Die Phrase, mein Junge, ist eine Metapher. Ich entwickle in diesem Pamphlet meinen Glauben, dass ein Verurteilter, sobald er sein Vergehen gesühnt hat, bei seiner Freilassung in genau der Position in der Gesellschaft, die er vorher innehatte, mit all seinen unverminderten Privilegien wiedereingeführt werden sollte.“ Dick kicherte im uneinsichtigsten Entzücken. „Du gehst es, Vater“, sagte er und Enttäuschung kam zu Mr. Hazlewood. „Richard“, protestierte er milde, „ich hoffte, dass ich deine Zustimmung gehabt hätte. Es schien mir, dass eine Veränderung in dir stattfand, dass der Polospieler, der wilde Jäger eines harmlosen kleinen weißen Balles, sich zu einem Menschenfreund entwickeln würde.“ „Also, Sir“, erwiderte Dick, „ich werde nicht leugnen, dass ich neulich zu denken begonnen habe, dass eine gute Menge an deinen Theorien dran ist. Aber du darfst mich am Anfang nicht zu hoch prüfen, weißt du? Ich bin erst in meiner Probezeit. Schicke es jedoch bitte Tante Margaret und – oh, wie ich gerne ihre Bemerkungen darüber hören möchte!“ Eine Idee kam Mr. Hazlewood in den Sinn. „Richard, warum solltest du es nicht selbst heute Nacht hinüberbringen?“ Dick schüttelte seinen Kopf. „Unmöglich, Vater. Ich habe etwas zu tun.“ Er blickte hinaus aus dem Fenster zum Fluss hinunter, der dunkel im Schatten der Bäume floss. „Aber ich werden morgen Früh gehen“, fügte er hinzu. Und am nächsten Morgen ging er früh hinüber nach Great Beeding. Seine Tante hätte das Pamphlet mit der ersten Post erhalten und er wünschte, die erste feine sorglose Begeisterung ihrer Kommentare zu ergreifen. Aber er fand sie eher in einer Stimmung des Elends als der wortreichen Ungeduld. Die Pettifers wohnten in einem großen Haus des 18. Jahrhunderts ganz unten eines ungleichmäßigen Platzes in der Mitte der kleinen Stadt. Mrs. Pettifer saß in einem Zimmer hinten gegenüber dem Garten, mit dem Pamphlet auf einem kleinen Tisch neben sich. Sie sprang auf, als Dick in das Zimmer geführt wurde, und bevor er ein Wort des Grußes äußern konnte, rief sie: 116
„Dick, du bist genau die Person, die ich sehen will.“ „Oh?“ „Ja. Setz dich.“ Dick gehorchte. „Dick, ich glaube, du bist die einzige Person auf der Welt, die eine Kontrolle über deinen Vater hat.“ „Ja. Sogar in meinem Schürzchen lernte ich die große Lektion, dass seine Eltern zu kontrollieren die erste Pflicht des modernen Kindes ist.“ „Sei nicht albern“, entgegnete seine Tante scharf. Dann sah sie ihn genau an. „Ja, ja, du musst einige Kontrolle über ihn haben, denn er lässt dich in der Armee, obwohl die Armee eine seiner Abscheulichkeiten ist.“ „Theoretisch ist es ein großer Kummer für ihn“, erwiderte Dick. „Aber du siehst, mir ist es recht gut ergangen, daher ist er tatsächlich bereit, vor Stolz zu platzen. Jeder sentimentale Philosoph zerbricht sich früher oder später seinen Kopf an seinen eigenen Theorien.“ Mrs. Pettifer nickte beifällig. „Das ist eine Verbesserung deiner letzten Bemerkung, Dick. Es ist wahr. Und dein Vater wird sich seinen Kopf sehr schlimm zerbrechen, wenn du ihn nicht aufhältst.“ „Wie?“ „Mrs. Ballantyne.“ Alle Leichtfertigkeit verschwand aus Dick Hazlewoods Gesicht. Er wurde sofort ernst, argwöhnisch. „Ich habe über ihn gehört“, fuhr Mrs. Pettifer fort. „Er hat sich mit ihr angefreundet – eine Frau, die auf der Anklagebank wegen eines Kapitalverbrechens gesessen ist.“ „Und freigesprochen worden ist“, fügte Dick Hazlewood ruhig hinzu und Mrs. Pettifer brauste auf.
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„Sie wäre nicht freigesprochen worden, wenn ich bei den Geschworenen gewesen wäre. Ein Haufen alberner Männer, die von einem hübschen Gesicht getäuscht werden!“, rief sie und Dick unterbrach: „Tante Margaret, es tut mir leid, dich zu unterbrechen, aber ich will, dass du verstehst, dass ich mit Herz und Seele dabei zu meinem Vater stehe.“ Er sprach sehr langsam und bedächtig und Mrs. Pettifer war ausgesprochen bestürzt. „Du!“, rief sie. Sie wurde blass und Angst veränderte ihr Gesicht so sehr, dass es war, als ob eine tragische Maske darübergezogen worden wäre. „Oh Dick, nicht du!“ „Ja, ich. Ich denke, es ist grausam hart“, fuhr er, mit seinen Augen, die erbarmungslos auf Mrs. Pettifers Gesicht gerichtet waren, fort, „dass eine Frau wie Mrs. Ballantyne, die alle Schrecken eines Prozesses, der Öffentlichkeit, der Anspannung, des drohenden Risikos, dass die Gerechtigkeit scheitern könnte, hinterher die Behandlung einer Aussätzigen erleiden sollte.“ Da war nun für einen Augenblick kein Platz für Wut in Mrs. Pettifers Gedanken. Bestürzung nahm sie in Besitz. Sie wog jedes ruhige feste Wort ab, das von Dick kam, sie schätzte das Gefühl, das ihnen Flügel gab, sie prüfte sein Gesicht, seine Augen. Dick hatte nichts von der Flatterhaftigkeit seines Vaters. Er war ausgeglichen, gewitzt und mit den Konventionen seiner Zeit und seines Berufs. Wenn Dick so sprach, mit so viel Gewissheit und so viel Mitgefühl, nun denn – Sie schrak vor der Schlussfolgerung mit schwerem Herzen zurück. Sie wurde sehr still. „Oh, sie hätte nicht nach Little Beeding kommen sollen“, sagte sie mit leiser Stimme und starrte nun auf den Boden. Es war zu sich selbst, dass sie sprach, aber Dick antwortete ihr und seine Stimme erhob sich zu einer Herausforderung. „Warum sollte sie nicht? Hier wurde sie geboren, hier war sie bekannt. Was sonst sollte sie tun, außer nach Little Beeding zurückzukommen und ihren Kopf hoch zu halten? Ich respektiere ihren Stolz, das zu tun.“ Es gab zweifellos Gründe, warum Stella zurückkommen sollte: aber sie beinhalteten nicht den Grund, warum sie es war. Dick Hazlewood war sich 118
dessen wohl bewusst. Er hatte es erst am Nachmittag zuvor erfahren, als er mit ihr auf dem Fluss war. Aber hielt es für einen zu feinen Grund, ein zu feines Gespinst, um es dem prosaischen Verstand seiner Tante Margaret anzubieten. Mit was für einem Hohn und Unglauben sie es zu Lumpen machen würde! Gründe, so erlesen, waren nicht für sie. Sie könnte sie nie verstehen. Mrs. Pettifer gab ihre Vorhaltungen auf und war dafür, ganz und gar das Thema fallen zu lassen. Aber Dick war hartnäckig. „Du kennst Mrs. Ballantyne nicht, Tante Margaret. Du bist zu ihr ungerecht, weil du sie nicht kennst. Ich will, dass du es tust“, sagte er kühn. „Was!“, rief Mrs. Pettifer. „Du tatsächlich – Oh!“ Empörung raubten ihr die Worte. Sie keuchte. Ja, ich will es“, fuhr Dick ruhig fort. „Ich will, dass du an einem Abend kommst und in Little Beeding zu Abend isst. Wir werden Mrs. Ballantyne überreden, auch zu kommen.“ Es war ein kühner Schachzug und sogar in seinen Augen hatte es Risiken für Stella. Mrs. Pettifer und sie zusammenzubringen, war, so schien es ihm, Erde mit einer zarten Flamme zu vereinen. Aber er hatte großen Glauben an Stella Ballantyne. Lasst sie sich treffen und die Erde könnte schmelzen – wer könnte es sagen. Schlimmstenfalls würde seine Tante sich sträuben, und da waren sein Vater und er selbst, um zu sehen, dass die Borsten nicht stachen. „Ja, komm und iss zu Abend.“ Mrs. Pettifer hatte ihr Erstaunen über die Unverfrorenheit ihres Neffen überwunden. Neugierde hatte ihren Platz eingenommen – Neugierde und Furcht. Sie muss diese Frau selbst sehen. „Ja“, antwortete sie nach einer Pause. „Ich werde kommen. Ich werde auch Robert mitbringen.“ „Gut. Wir werden ein Datum festsetzen und dir schreiben. Auf Wiedersehen.“ Dick ging zurück nach Little Beeding und fragte nach seinem Vater. Der alte Gentleman fügte zu seinen anderen Marotten die eines Sammlers hinzu. Es war der einzige Geschmack, den er hatte, der wirklich produktiv war, denn er besaß eine Sammlung von Miniaturen, gesammelt während seines Lebens, die ein 119
Vermögen gebracht hätte, wenn sie an Christie’s verkauft worden wäre. Er bewahrte sie angeordnet in Schränken in der Bibliothek auf und Dick fand ihn über eine der Laden gebeugt und seine Schätze neu anordnen. „Ich habe Tante Margaret gesehen“, sagte er. „Sie wird Stella hier beim Abendessen kennenlernen.“ „Das wird prächtig sein“, rief der alte Mann begeistert. „Vielleicht“, erwiderte sein Sohn; und am nächsten Morgen erhielten die Pettifers ihre Einladung. Mrs. Pettifer nahm sie sofort an. Sie war nicht müßig gewesen, seit Dick sie verlassen hatte. Bevor er gekommen war, hatte sie auf den Kreuzzug als eine von Harold Hazlewoods erstaunlichen Torheiten geblickt. Aber nachdem er gegangen war, war sie echt entsetzt. Sie sah Dick mit dem hartnäckigen Blick und den harten Augen sprechen, den sie ein‐ oder zweimal zuvor gesehen hatte. Er hatte sich immer, erinnerte sie sich, bei diesen Anlässen durchgesetzt. Sie fuhr herum zu ihren Freundinnen und stelle Nachfragen an. An jedem Haus wurde ihr Schrecken bestätigt. Es war nun Dick, der den Kreuzzug führte. Er hatte sein Polo aufgegeben, er verbrachte seinen ganzen Urlaub in Little Beeding und das meiste davon mit Stella Ballantyne. Er lieh ihr ein Pferd und ritt mit ihr am Morgen, er ruderte mit ihr auf dem Fluss am Nachmittag. Er tyrannisierte seine Freunde, bei ihr vorbeizuschauen. Er fuchtelte mit seiner Freundschaft zu ihr wie mit einer Fahne herum. Liebe mich, liebe mich, meine Stella, war sein neues Motto. Mrs. Pettifer fuhr mit jeder übertriebenen Furcht nach Hause. Dicks Karriere würde ganz und gar ruiniert werden – sogar wenn nichts Schlimmeres geschehen sollte. Jeder Ansicht, die Stella Ballantyne vertreten könnte, schenkte sie keinen Gedanken. Sie war sicher, wovon es sein würde. Stella Ballantyne würde ihren Neffen anspringen. Er hatte gutes Aussehen, eine gesellschaftliche Position, Geld und einen hohen Ruf. Es war die letzte Eigenschaft, die ihm in Stella Ballantynes Augen einen einzigartigen Wert geben würde. Er war nicht einer von diesen mit fliehendem Kinn, die die Bühneneingänge heimsuchen; auch nicht einer von dieser feinen dekadenten Klasse, die danach trachtet, Aufsehen zu erregen, indem sie sich mit Berühmtheiten verbindet. Nein. Von Stellas Gesichtspunkt musste Dick Hazlewood der ideale Ehemann sein.
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Mrs. Pettifer wartete an diesem Abend auf die Rückkehr ihres Ehemannes mit ungewöhnlicher Ungeduld, aber sie war klug genug, ihren Mund zu halten, bis das Abendessen vorüber war und er mit einer Zigarre zwischen seinen Lippen und einem Glas alten Brandy auf dem Tischtuch vor sich zu Liebenswürdigkeit und Entgegenkommen geneigt war. Dann jedoch erzählte sie ihre Sorgen. „Du siehst, dass es gestoppt werden muss, Robert.“ Robert Pettifer war ein hagerer drahtiger Mann von fünfundfünfzig, dessen braunes getrocknetes Gesicht durch eine Art klimatische Veränderung die Farbe der Einbände seiner Gesetzesbücher angenommen zu haben schien. Er war auch ein wenig durch die Geschichte beunruhigt, aber er war von einem offenen und vorsichtigen Gemüt. „Aufgehalten?“, sagte er. „Wie? Wir können Mrs. Ballantyne nicht wieder verhaften.“ „Nein“, erwiderte Mrs. Pettifer. „Robert, du musst etwas tun.“ Robert Pettifer sprang in seinen Stuhl. „Ich, Margaret! Der Herr liebe dich, nein! Ich weigere mich, mich überhaupt in die Angelegenheit einzumischen. Dick ist ein erwachsener Mann und Mrs. Ballantyne ist freigesprochen worden.“ Margaret Pettifer kannte ihren Ehemann. „Ist das dein letztes Wort?“, fragte sie kläglich. „Absolut.“ „Es ist nicht meines, Robert.“ Robert Pettifer kicherte und legte eine Hand auf die seiner Frau. „Ich weiß das, Margaret.“ „Wir werden nächsten Freitagabend in Little Beeding zu Abend essen, um Stella Ballantyne kennenzulernen.“ Mr. Pettifer war erschrocken, er hielt aber seinen Mund. 121
„Die Einladung kam heute Morgen, nachdem du nach London abgefahren warst“, fügte sie hinzu. „Und du hast sie sofort angenommen?“ „Ja.“ Pettifer war sicher, dass sie es hatte, bevor sie ihren Mund öffnete, um ihm zu antworten. „Ich werde am Freitag in Little Beeding zu Abend essen“, sagte er, „weil Harold mir immer ein ausgezeichnetes Glas Vintage‐Port gibt“, und damit ließ er das Thema fallen. Mrs. Pettifer war zufrieden, es in seinem Kopf schwelen zu lassen. Sie war nicht ganz sicher, dass er so verstört war, wie sie wünschte, dass er es wäre, aber dass er auf Dick stolz war, wusste sie, und falls zufällig Unbehagen stark in ihm wurde, naja, würde er früher oder später einen kleinen Satz fallen lassen; und dieser kleine Satz würde wahrscheinlich nützlich sein.
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Kapitel XVI Konsequenzen Die Dinerparty in Little Beeding war eine kleine Angelegenheit. Es waren nur zehn insgesamt, die sich an Mr. Hazlewoods Esstisch setzten, und mit Ausnahme der Pettifers, waren alle, infolge von Dick Hazlewoods Beharren, erklärte Anhänger von Stella Ballantyne. Trotzdem kam Stella zögernd dorthin. Es war das erste Mal, dass sie auswärts gegessen hatte, seit sie Indien verlassen vor fast achtzehn Monaten verlassen hatte, und sie ging dorthin wie zu einer Feuerprobe. Denn obzwar Freunde von ihr anwesend sein würden, um sie zu unterstützen, sollte sie die Pettifers kennenlernen. Die Furcht einflößende Tante Margaret hatte seit einer Woche ihren Schlaf gestört. Es war wegen der Pettifers, dass sie sich sorgfältig ankleidete, weder Schwarz noch Weiß wählte, damit sie nicht etwas Symbolisches in der Farbe ihres Kleides finden sollten und es zu einer Kränkung machten. Sie zog ein Kleid aus blassblauem Satin, mit weißer Spitze besetzt, an, das ihrer Mutter gehört hatte, und sie trug nur eine dünne Goldkette um ihren Hals. Aber sie brauchte an diesem Abend keinen Schmuck. Die Monate der Ruhe hatten ihr ihre Schönheit wiedergegeben, die Aufregung dieses Abends hatte ihrem Gesicht Leben und Farbe gegeben, das komische kleine Herabhängen der Lippen, das so viel Elend und Bitterkeit der Stimmung verraten hatte, war ganz und gar verschwunden. Doch als sie ganz angezogen war und ihr Spiegel sie bat, Mut zu fassen, setzte sie sich hin und schrieb einen Entschuldigungsbrief, wobei sie eine plötzliche Unpässlichkeit äußerte. Aber sie sandte ihn nicht ab. Sogar in dem Schreiben kam ihre Feigheit zurück zu ihr und sie zerriss es, bevor sie mit ihrem Namen unterschrieben hatte. Die Räder der Droschke, die sie zu dem großen Haus bringen sollte, ratterten den Weg hinunter unter ihre Fenster, und indem sie ihren Umhang über ihre Schultern gleiten ließ, rannte sie nach unten. Die Party begann mit ein wenig Befangenheit. Mr. Hazlewood empfing seine Gäste in seinem Wohnzimmer und es hatte die Kühle und Förmlichkeit eines Zimmers, das selten benutzt wurde. Aber die Befangenheit verflüchtigte sich bei Tisch. Die meisten der Anwesenden trachteten danach, Stella Ballantyne sich wohlfühlen zu lassen, und sie war in angenehmer Entfernung von Mrs. Pettifer, mit Mr. Hazlewood an ihrer Seite. Sie war sich bewusst, dass sie unter
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Beobachtung gehalten wurde, und von Zeit zu Zeit ließ sie das Wissen unbehaglich fühlen. „Ich werde beobachtet“, sagte sie zu ihrem Gastgeber. „Sie dürfen sich nichts draus machen“, erwiderte Mr. Hazlewood und das Lächeln kam zurück auf ihre Lippen, als sie rund um den Tisch blickte. „Oh, tue ich nicht, tue ich nicht“, sagte sie mit leiser Stimme, „denn ich habe hier Freunde.“ „Und Freunde, die Sie nicht im Stich lassen werden, Stella“, sagte der alte Mann. „Heute Abend beginnt die große Veränderung. Sie werden sehen.“ Robert Pettifer verwirrte sie tatsächlich mehr als seine Frau. Sie war einfach zu lesen. Sie war steif höflich, ihr Feind. Ein‐ oder zweimal jedoch drehte Stella ihren Kopf, um Robert Pettifers Augen auf sie gerichtet zu finden, mit einem ruhigen forschenden Blick, der nichts von seinen Gedanken verriet. Um die Wahrheit zu zeigen, ihm gefiel ihre Art. Sie war weder trotzig noch unterwürfig, weder laut noch zu still. Sie war durch das Feuer gegangen; das war offenkundig. Aber es war nur offenkundig wegen eines eigenartigen quälenden Blicks, der in ihren dunklen Augen kam und ging. Das Feuer hatte sie nicht ausgetrocknet. Tatsächlich war Pettifer überrascht. Er hatte seine Erwartungen überhaupt nicht formuliert, aber er hatte nicht erwartet, was er sah. Die klaren Augen und die frische zarte Farbe, ihre feste weißen Schultern und ihre Tiefe des Busens zwang ihn, an sie als gesund zu denken. Er begann in seinem Kopf seine Erinnerungen an ihren Prozess durchzugehen, Erinnerungen, die er beflissen war, nicht wiederzubeleben. Halb durch das Abendessen verlor Stella ihr Unbehagen. Die Lichter, das Dahinplätschern des Gesprächs, die Gesellschaft der Männer und Frauen, die fröhlichen Kleider hatten ihre Wirkung auf sie. Es war, als ob nach einem tiefen Eintauchen in dunkles Gewässer sie an die Oberfläche gekommen wäre und ihre Arme der Sonne entgegenschleuderte. Sie hörte auf, die prüfenden Blicke der Pettifers zu bemerken. Sie blickte über den Tisch zu Dick und ihre Augen begegneten sich; und ein solcher Blick der Zärtlichkeit verklärten ihr Gesicht, wie es Mrs. Pettifer blass werden ließ.
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„Diese Frau ist verliebt“, sagte sie sich und war entsetzt. Es war also nicht Dicks gesellschaftliche Position oder der Schutz seines Charakters, die Stella Ballantyne begehrte. Sie war verliebt. Mrs. Pettifer war ehrlich genug, es anzuerkennen. Aber sie wusste jetzt, dass die Gefahr, die sie befürchtet hatte, unendlich geringer war als die Gefahr, die tatsächlich war. „Ich muss es heute Nacht mit Harold aussprechen“, sagte sie, und später, als die Männer aus dem Esszimmer kamen, hielt sie Ausschau nach ihrem Ehemann. Aber zuerst sah sie ihn nicht. Sie war im Wohnzimmer und die breiten Doppeltüren, die zu der großen Bibliothek führten, standen offen. Es war durch diese Türen, dass die Männer gekommen waren. Einige der Gesellschaft waren dort versammelt. Sie konnte das Klicken der Billardkugeln und die Stimmen der Frauen hören, die sich mit denen der Männer vermischten. Sie ging durch die Türen und sah ihren Mann bei Harold Hazlewoods Schreibtisch stehen und offensichtlich in einem kleinen Buch mit Papierschutzhülle vertieft, das er in seiner Hand hielt. Sie ging sofort zu ihm hinüber. „Robert“, sagte sie, „sei heute Abend nicht in Eile zu gehen. Ich muss mit Harold reden.“ „In Ordnung“, sagte Pettifer, aber er sagte es mit so abwesender Stimme, dass seine Frau bezweifelte, ob er ihre Worte verstanden hatte. Sie war dabei, sie zu wiederholen, als sich Hazlewood selbst näherte. „Du siehst dir mein neues Pamphlet an, Pettifer, Die Gefängnismauern dürfen keinen Schatten werfen. Ich hoffe, dass es einen großen Einfluss haben wird. „Nein“, erwiderte Pettifer. „Habe ich nicht. Ich schaute dies an“, und er hielt ein kleines Buch hoch. „Oh, das?“, sagte Hazlewood und wandte sich enttäuscht ab. „Ja, das“, sagte Pettifer mit einem merkwürdigen und nachdenklichen Blick auf seinen Schwager. „Und ich bin nicht sicher“, fügte er langsam hinzu, „dass in kurzer Zeit du es nicht für die wichtigere Publikation von den beiden hältst.“ Er legte das Buch hin und ging wiederum zu dem Billardtisch. Margaret Pettifer blieb. Sie war von den merkwürdigen bedächtigen Worten, die ihr Mann benutzt hatte, beeindruckt worden. War dies der Hinweis, wonach sie 125
Ausschau hielt? Sie nahm das kleine Buch auf. Es war eine Ausgabe von Notes and Queries. Sie öffnete es. Es war eine kleine Zeitschrift aus Fragen zusammengestellt, die Beitragende auf der Suche nach Antworten schickten, und Antworten auf diese Fragen aus der Feder von anderen Beitragenden. Mrs. Pettifer blickte die Blätter durch, in der Hoffnung, auf die Seite zu stoßen, die ihr Mann studiert hatte. Aber er hatte das Buch geschlossen, als er es hinlegte, und sie fand nichts, um seine Bemerkung zu rechtfertigen. Doch hatte er nicht ohne Absicht gesprochen. Davon war sie überzeugt, und ihre Überzeugung wurde im nächsten Augenblick bestärkt, denn als sie sich wieder dem Wohnzimmer zuwandte, blickte Robert Pettifer einmal scharf zu ihr und genauso scharf weg. Mrs. Pettifer verstand den Blick. Er fragte sich, ob sie bemerkt hatte, was in dieser Zeitschrift ihn interessiert hatte. Aber sie verfolgte ihn nicht mit Fragen. Sie beschloss nur, die Ausgabe von Notes and Queries zu einer Zeit zu überprüfen, wenn sie für die Aufgabe mehr Muße aufbringen konnte. Sie wartete ungeduldig, dass die Gesellschaft aufbrach, aber es hatte elf Uhr geschlagen, bevor jemand vorschlug zu gehen. Dann verabschiedeten sich alle auf einmal. Robert Pettifer und seine Frau gingen mit dem Rest hinaus in das Vorzimmer, dass nicht andere, die sie bleiben sahen, auch bleiben würden; und während sie ein wenig abseits von dem allgemeinen geschäftigen Treibens der Verabschiedung standen, sah Margaret Pettifer Stella Ballantyne leichthin die Treppe herunterkommen, und eine gewaltige Wut wirbelte plötzlich in ihrem Kopf und machte sie schwindelig. Sie dachte an alle Probleme und alles Unglück, das diese junge Frau in ihre geordnete Familie brachte, und sie wollte es nicht haben, dass sie unschuldig war. Sie sah Stella mit ihrem offenen Umhang auf ihren Schultern strahlend und glitzernd und schlank gegen die dunklen Täfelungen der Treppe stehen, Jugend in ihrem Gesicht, Vergnügen in ihren funkelnden Augen, und ihre Finger juckten, ihr helles Kleid, ihre Handschuhe, ihre schlanken Satinpantoffeln, die zarte weiße Spitze, die sich an ihren Busen schmiegte, herunterzureißen. Sie kleidete sie in das schwere formlose Gewand, die groben Schuhe und Strümpfe des Sträflings; sie sah sie verzweifelt gegen die Zeit an einer unehrenhaften Aufgabe arbeiten, mit schwarzen und abgebrochenen Fingernägeln. Wenn Sehnsucht das Wunder bewirken hätte können, so wäre Stella Ballantyne zu dieser Stunde gesessen und hätte gearbeitet, alle Farbe aus ihr zu einem hässlichen Grau verblasst, ihre 126
ganze Anmut verdorrt. Mrs. Pettifer wandte sich mit einer so abrupten Bewegung und einem so verstörten Gesicht ab, dass Robert sie fragte, ob sie krank sei. „Nein, es ist nichts“, sagte sie und gegen ihren Willen wurde ihr Blick zurück zu der Treppe gezogen. Aber Stella Ballantyne war verschwunden und Margaret Pettifer holte erleichtert Luft. Sie fühlte, dass in ihrem Augenblick der Leidenschaft Gefahr gewesen war, Gefahr und Schande; und schon genug von diesen beiden Übeln warteten auf sie. Stella war in der Zwischenzeit mit einem Blick zu Dick Hazlewood zurück in das große Zimmer geschlichen. Dann wartete sie einen Augenblick, bis sich die Tür öffnete und Dick hereinkam. „Ich hatte nicht gute Nacht zu dir gesagt“, rief sie aus, wobei sie auf ihn zukam und ihm ihre Hände reichte, „und ich wollte es dir hier sagen, wenn wir alleine wären. Denn ich muss dir für heute Abend danken, dir und deinem Vater. Oh, ich habe keine Worte.“ Die Tränen waren sehr nahe ihren Augen und sie waren in ihrer leisen Stimme zu hören. Dick Hazlewood war schnell, ihr zu antworten. „Gut! Denn es besteht dafür keine Notwendigkeit. Wirst du morgen reiten?“ Stella nahm ihre Hände aus seinen und ging durch das Zimmer zu dem großen Erkerfenster mit seinen Glastüren. „Ich würde es sehr gerne“, sagte sie. „Acht. Ist das zu früh nach heute Nacht?“ „Nein, das ist eine gute Zeit“, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Wir haben den Tag zur besten Zeit und die Welt für uns.“ „Ich bringe dasselbe Pferd vorbei. Er kennt dich, nicht wahr?“ „Danke“, sagte Stella. Sie klinkte die Tür auf und öffnete sie. „Du wirst sie nach mir versperren?“ „Nein“, sagte Dick. „Ich werde dich zu deiner Tür begleiten.“ Aber Stella lehnte seine Begleitung ab. Sie stand in der Tür. 127
„Es besteht keine Notwendigkeit! Sieh, was für eine Nacht es ist!“, und die Schönheit davon kroch in ihre Seele und brachte ihre Stimme zum Verstummen. Der Mond zog am blauen Himmel, eine Scheibe aus glühendem Weiß, die großen Zedern warfen ihre Schatten weit über die hellen Rasen, und nicht ein Zweig rührte sich. „Hör zu“, sagte Stella flüsternd, und der Fluss, der gegen sein Ufer plätscherte, mit nun einem tiefen Schluchzer und nun einem Feenlachen, sang für sie in äußerst musikalischen und klaren Melodien. Diese flüssige Melodie und das Flattern von Vogelschwingen in den Ästen eines Baums waren die einzigen Geräusche. Sie standen nebeneinander, sie sah hinaus über den Garten zu den undeutlichen und perlweißen Hügeln, wobei er auf ihr erhobenes Gesicht und die makellose Säule ihres Halses starrte. Sie standen in einer äußerst gefährlichen Stille. Die Luft kam kühl und frisch in ihre Nase. Stella zog sie mit einem Lächeln ein. „Gute Nacht!“ Sie legte für eine Sekunde ihre Hand auf seinen Arm. „Komm nicht mit mir!“ „Warum nicht?“ Und die Antwort kam in deutlichem Flüstern: „Ich habe Angst.“ Stella schien zu fühlen, dass der Mann an ihrer Seite plötzlich sehr still wurde. „Es ist nur ein Schritt“, fuhr sie schnell fort und sie stieg aus dem Fenster auf den Weg. Dick Hazlewood folgte, aber sie drehte sich ihm zu und hob ihre Hand. „Nicht“, flehte sie; die Stimme war beunruhigt, aber ihre Augen waren ruhig. „Wenn du mit mir kommst, werde ich es dir sagen.“ „Was?“, unterbrach er und die Schnelligkeit der Unterbrechung brach den Bann, den die Nacht auf sie gelegt hatte. „Ich werde dir wieder sagen, wie sehr ich dir danke“, sagte sie leichthin. „Ich werde die Wiese beim Gartentor überqueren. Das bringt mich zu meiner Tür.“ Sie raffte ihren Rock in ihre Hand und überquerte den Weg zum Rand des Grases. 128
„Du kannst das nicht tun“, rief Dick aus und war an ihrer Seite. Er bückte sich und fühlte den Rasen. „Sogar der Rasen ist durchtränkt. Wenn du die Wiese überquerst, wirst du knöcheltief im Tau sein. Du musst versprechen, niemals nach Hause über die Wiese zu gehen, wenn bei uns isst.“ Er sprach, wobei er sie schalt, als ob sie ein aufrührerisches Kind gewesen wäre, und mit so viel Sorge, dass sie lachte. „Du siehst, du bist mir ziemlich kostbar geworden“, fügte er hinzu. Obwohl der Monat Juli war, war sie diese Nacht ganz April, halb in Tränen, halb lachend. Das Lachen zog von ihren Lippen und sie hob ihre Hände zu ihrem Gesicht mit der Schnelligkeit von jemandem, der geschlagen worden ist. „Was ist los?“, fragte er und sie zog ihre Hand weg. „Verstehst du nicht?“, fragte sie und beantwortete die Frage selbst. „Nein, warum solltest du?“ Sie wandte sich ihm plötzlich zu, wobei sie ihr Busen hob und senkte, ihre Hände zusammenpresste. „Weißt du, was für einen Platz ich hier ausfülle, in meinem eigenen Land? Vor Jahren, als ich ein Kind war, gab es eine schweinegesichtige Frau in Great Beeding. Sie wohnte in einem kleinen gelben Cottage auf dem Platz. Es wurde Fremden als eine Sehenswürdigkeit der Stadt gezeigt. Manchmal wurde ihnen ihr Schatten nach der Abenddämmerung zwischen der Lampe und dem Rollladen gezeigt. Manchmal konnte man einen flüchtigen Blick von ihr erhaschen, wenn sie spät nachts die dunklen Gassen dahinschlich. Also, die schweinegesichtige Frau ist fort und ich habe ihren Platz eingenommen.“ „Nein“, rief Dick. „Das ist nicht wahr.“ „Ist es“, antwortete sie leidenschaftlich. „Ich bin die Kuriosität. Ich bin die Monstrosität. Die Städter sind stolz auf mich, ja, genauso stolz wie sie auf sie waren, und ich finde diesen Stolz schwieriger zu ertragen als die Abneigung der Pettifers. Ich stehle mich auch früh am Morgen oder spät, nachdem die Nacht hereingebrochen ist, hinaus. Und du“ ‐ die Leidenschaft der Bitterkeit erlosch aus ihrer Stimme, ihre Hände öffneten sich und hingen an ihrer Seite, ein zärtliches Lächeln leuchtete auf ihrem Gesicht ‐ „kommst mit mir. Du reitest früh mit mir. Mit dir lerne ich, keine Beachtung zu schenken. Du heißt mich in deinem Haus willkommen. Du sprichst mit mir, wie du gerade jetzt gesprochen 129
hast.“ Ihre Stimme brach und ein Freudenschrei entkam ihr, der zu Dick Hazlewoods Herzen ging. „Oh, du sollst mich zu meiner Tür begleiten. Ich werde nicht die Wiese überqueren. Ich werde auf dem Straßenweg herumgehen.“ Sie blieb stehen und machte einen Atemzug. „Ich werde dir etwas sagen.“ „Was?“ „Es ist ziemlich gut, wenn für einen gesorgt wird. Ich weiß es. Es ist mir nie zuvor passiert. Ja, es ist sehr gut“, und sie zog die Worte mit einem tiefen glücklichen Lachen heraus. „Stella!“, sagte er und bei der Erwähnung ihres Namens hob sie ihre Hände an ihr Herz. „Oh, danke!“ Die Vorzimmertür war geschlossen, alle außer einem Wagen waren davongefahren, als sie um die Ecke des Hauses bogen und auf der breiten Auffahrt herauskamen. Sie gingen im Mondlicht mit einem Blumenduft in der Luft, und die großen gelben Kelche der Nachtkerzen schimmerten auf jeder Seite. Sie gingen langsam. Stella wusste, dass sie ihren Schritt beschleunigen sollte, aber sie konnte sich nicht zu mehr bringen, als es zu wissen. Sie suchte, jedes winzigste Detail von diesem Spaziergang in ihr Herz zu nehmen, sodass sie Jahre danach ihn wieder in der Erinnerung gehen könnte und so nie ganz allein wäre. Sie gingen hinaus durch die großen Eisentore und bogen auf den Weg ab. Hier ragten große Ulmen hinüber und nun gingen sie in der Dunkelheit, und nun wieder waren sie in Licht gebadet. Ein Zweig schnalzte unter ihrem Fuß; sogar an eine so kleine Sache würde sie sich erinnern. „Wir müssen uns beeilen“, sagte sie. „Wir tun alles, was wir können“, erwiderte Dick. „Es ist ein langer Weg ‐ dieser Spaziergang.“ „Du fühlst es so?“, sagte Stella, wobei sie ihn versuchte ‐ oh, wie unklug! Aber der der Zauber der Stunde und der Ort waren auf ihr. „Ja“, antwortete er ihr. „Es ist ein langer Weg im Leben eines Mannes“, und er rückte dicht an ihre Seite.
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„Nein!“, rief sie mit plötzlicher Heftigkeit. Aber sie war zu spät wach. „Nein, Dick, nein“, wiederholte sie, aber seine Arme waren um ihr. „Stella, ich will dich. Oh, das Leben ist trübe für einen Mann ohne Frau; ich kann es dir sagen“, rief er leidenschaftlich. „Da sind andere ‐ viele“, sagte sie und versuchte, ihn wegzustoßen. „Nicht für mich“, entgegnete er und er wollte sie nicht loslassen. Ihre Anstrengungen hörten auf, sie vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke, ihre Hände packten seine Schultern, sie stand bebend und zitternd ihm gegenüber. „Stella“, flüsterte er. „Stella!“ Er hob ihr Gesicht und beugte sich hinunter. Dann richtete er sich auf. „Nicht hier!“, sagte er. Sie standen in der Dunkelheit eines Baumes. Er legte seine Arme um ihre Taille und hob sie auf eine freie Stelle, wo das Mondlicht hell und klar schien, und da waren keine Schatten. „Hier“, sagte er und er küsste sie auf die Lippen. Sie warf ihren Kopf zurück, ihr Gesicht zum Himmel erhoben, ihre Augen geschlossen. „Oh, Dick“, murmelte sie, „ich meinte, dass dies nie sein sollte. Sogar jetzt ‐ sollst du es vergessen.“ „Nein ‐ ich könnte es nicht.“ „So sagt man. Aber ‐ oh, es wäre dein Untergang.“ Sie zuckte von ihm weg. „Hör zu!“ „Ja“, antwortete er. Sie stand ihm verzweifelt etwa einen Meter gegenüber, ihr Busen hob und senkte sich, ihr Gesicht nass vor Tränen. Dick Hazlewood rührte sich nicht. Stellas Lippen bewegten sich, als ob sie spräche, aber keine Worte waren zu hören, und es schien, dass ihre Kraft sie verließ. Sie kam plötzlich vorwärts, wobei sie mit ihren Händen wie eine Blinde tastete.
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„Oh du meine Güte“, sagte sie, als er sie fing. Sie gingen zusammen weiter. Sie sprach von seinem Vater, von dem Gerede auf dem Land. Aber er hatte auf alles ein Argument. „Sei nur für kurze Zeit tapfer, Stella. Sobald wir verheiratet sind, wird es keine Schwierigkeiten geben“, und mit seinen Armen um sie war sie bestrebt zu glauben. Stella Ballantyne saß in dieser Nacht lange im Lehnstuhl in ihrem Schlafzimmer, ihre Augen auf das leere Tor gerichtet, in einem Aufruhr der Emotion. Ihr wurde kalt und sie zitterte. Ein lauter Lärm der Vögel barst durch das offene Fenster. Sie ging hin. Der Morgen war gekommen. Sie blickte über die Wiese zu dem stillen Haus von Little Beeding in dem grauen breiter werdenden Licht. Alle Rollläden waren unten. Schliefen sie alle oder wachte jemand wie sie? Sie kam zurück zum Kamin. Im Feuerrost fielen ihre Augen auf einige Fragmente eines Briefes. Sie bückte sich und hob sie auf. Es waren die Fragmente des Absagebriefes, den sie früher an diesem Abend geschrieben hatte. „Ich hätte ihn schicken sollen“, flüsterte sie. „Ich hätte nicht gehen sollen. Ich hätte den Brief schicken sollen.“ Aber das Bedauern war vergebens. Sie war gegangen. Ihr Mädchen fand sie am Morgen auf ihrem Bett in einem tiefen Schlaf liegen und noch immer das Kleid tragen, in dem sie ausgegangen war.
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Kapitel XVII Probleme für Mr. Hazlewood Als Dick und Stella die Auffahrt zu dem Weg dahingingen, wandte sich Harold Hazlewood, der über den Erfolg seiner Dinerparty strahlte, im Vorzimmer an Robert Pettifer. „Nimm einen Whisky‐Soda, Robert, bevor du gehst“, sagte er. Er führte den Weg zurück in das Raucherzimmer an. Hinter ihm gingen die Pettifers, Robert unbehaglich und sich hundert Meilen weit weg wünschend, Margaret Pettifer begierig auf die Schlacht. Hazlewood selbst ließ sich in einen Lehnstuhl fallen. „Ich bin sehr froh, dass du heute Abend gekommen bist, Margaret“, sagte er kühn. „Du hast es selbst gesehen.“ „Ja, habe ich“, erwiderte sie. „Harold, es hat heute Abend Augenblicke gegeben, wo ich hätte schreien können.“ Robert Pettifer wandte sich eilig dem Tisch in der anderen Ecke des Zimmers zu, wo das Tablett mit den Karaffen und den Syphonflaschen hingestellt worden war. „Margaret, Ich verbringe mein Leben in einem Schrei über die Ungerechtigkeit der Welt“, sagte Harold Hazlewood und Robert Pettifer kicherte, als er das Ende einer Zigarre abschnitt. „Es ist merkwürdig, dass ein Akt der Wiedergutmachung dich auf die gleiche Weise bewegen sollte.“ „Wiedergutmachung!“, rief Margaret Pettifer entrüstet. Dann bemerkte sie, dass das Fenster offen war. Sie sah sich im Zimmer um. Sie zog einen Stuhl vor ihren Bruder herauf. „Harold, wenn du für uns keine Rücksichtnahme hast, keine für deine eigene Position, keine für die Nachbarschaft, wenn du um jeden Preis uns diese Frau aufzwingen willst, denkst du nicht, dass du doch einen Gedanken für deinen Sohn erübrigen könntest?“ Robert Pettifer hatte an diesem Abend seine Augen ebenso gut wie seine Frau offen gehalten. Er machte einen Schritt hinunter in das Zimmer. Er war bestrebt, keinen Anteil an der Auseinandersetzung zu nehmen; er wünschte, 133
gerecht zu sein; er war Stella Ballantyne gegenüber günstig geneigt; als er sie ansah, war er sogar ein wenig bewegt. Aber Dick war die erste Überlegung. Er hatte keine eigenen Kinder, er sorgte sich um Dick, wie er sich um seinen eigenen Sohn gesorgt hätte, und wenn er jeden Tag mit dem Zug in sein Büro in London fuhr, dachte er insgeheim, dass eines Tages das Vermögen, das er anhäufte, einen hellen Glanz zu Dicks Karriere hinzufügen würde. Harold Hazlewood schien alleine von den Dreien seine Augen versiegelt zu haben. „Nanu, was um alles auf der Welt meinst du, Margaret?“ Margaret Pettifer setzte sich auf ihren Stuhl. „Wo war Dick gestern Nachmittag?“ „Margaret, ich weiß es nicht.“ „Ich schon. Ich sah ihn. Er war mit Stella Ballantyne auf dem Fluss ‐ in der Abenddämmerung ‐ in einem kanadischen Kanu.“ Sie äußerte jedes frische Detail in einem entrüsteteren Ton, als ob es das Verbrechen erschwerte. Doch dennoch hatte sie es nicht getan. Es gab, schien es, ein den Höhepunkt erreichendes Vergehen. „Sie trug ein weißes Spitzenkleid mit einem großen Hut.“ „Also“, sagte Mr. Hazlewood milde, „ich denke nicht, dass ich etwas gegen große Hüte habe.“ „Sie fuhr mit ihrer Hand durchs Wasser ‐ damit er ihre Schlankheit natürlich bemerkte. Empörend nenne ich es!“ Mr. Hazlewood nickte mit seinem Kopf nach seiner entrüsteten Schwester. „Ich kenne diese Gemütsverfassung sehr gut, Margaret“, bemerkte er. „Sie kann es nicht recht machen. Wenn sie einen kleinen Hut getragen hätte, wäre sie französiert gewesen.“ Aber Mrs. Pettifer war nicht in Stimmung für Streit. „Kannst du nicht sehen, was es alles bedeutet?“, rief sie wütend. „Kann ich. Tue ich“, entgegnete Mr. Hazlewood und er lächelte stolz seine Schwester an. „Die bessere Natur des Jungen erwacht.“
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Margaret Pettifer hob ihre Hände. „Der Junge!“, rief sie aus. „Er ist mindestens vierunddreißig.“ Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl vorwärts und indem sie zum Erker zeigte, fragte sie: „Warum ist dieses Fenster offen, Harold?“ Harold Hazlewood zeigte sein erstes Zeichen des Unbehagens. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Es ist eine heiße Nacht, Margaret.“ „Das ist nicht der Grund“, entgegnete Mrs. Pettifer unerbittlich. „Wo ist Dick?“ „Ich vermute, dass er Mrs. Ballantyne nach Hause bringt.“ „Genau“, sagte Mrs. Pettifer mit einer Welt von Bedeutung in ihrer Stimme. Mr. Hazlewood setzte sich auf und sah seine Schwester an. „Margaret, du willst, dass ich mich unbehaglich fühle“, rief er gereizt aus. „Aber du sollst es nicht. Nein, meine Liebe, du sollst es nicht.“ Er ließ sich wieder zurücksinken und indem er seine Fingerspitzen aneinanderlegte, betrachtete er die Zimmerdecke. Aber Margaret war in Stimmung, auf die Probe zu stellen. Sie schoss ihre Worte nach ihm heraus wie so viele explosive Kugeln. „Freunde zu sein ist eine Sache, Harold. Heiraten ist eine andere.“ „Sehr wahr, Margaret, sehr wahr.“ „Sie sind ineinander verliebt.“ „Unsinn, Margaret, Unsinn.“ „Ich beobachtete sie am Esstisch und hinterher. Sie sind Mann und Frau, Harold. Das ist, was du nicht verstehst. Sie sind keine Illustrationen oder deine Theorien. Frage Robert.“ „Nein“, rief Robert Pettifer aus. Er zündete eilig eine Zigarre an. „Jede Schlussfolgerung, die ich mache, muss rein hypothetisch sein.“ „Ja, wir werden Robert fragen. Komm Pettifer!”, rief Mr. Hazlewood. „Sage uns deine Meinung.” Robert Pettifer kam widerwillig aus seiner Ecke. 135
„Also, wenn du darauf bestehst, denke ich, dass sie sehr freundlich waren.“ „Ah!“, rief Hazlewood triumphierend. „Freunde zu sein ist eine Sache, Margaret. Heiraten ist eine andere.“ Mrs. Pettifer schüttelte ihren Kopf über ihren Bruder mit äußerst gereiztem Bedauern. „Dick sagte unlängst eine scharfsinnige Sache zu mir, Harold.“ Mr. Hazlewood blickte seine Schwester unsicher an. „Ich bin mir darüber sicher“, antwortete er, aber er war vorsichtig, nach keiner Wiederholung der scharfsinnigen Bemerkung zu fragen. Margaret jedoch war nicht in Stimmung, ihn in Ruhe zu lassen. „Er sagte, dass sentimentale Philosophen sich ihre Köpfe an ihren eigenen Theorien zerbrechen. Denke an diese Worte, Harold! Ich hoffe, sie bewahrheiten sich nicht für dich. Ich hoffe es tatsächlich so sehr.“ Aber es war reichlich klar, dass sie keinen Schatten des Zweifels hatte, dass sie sich bewahrheiten würden. Mr. Hazlewood war durch die abschätzige Phrase beleidigt. „Ich bin kein sentimentaler Philosoph“, sagte er wütend. „Gefühlsregung verabscheue ich ganz und gar. Ich habe strenge Ansichten, gebe ich zu.“ „Hast du wirklich“, unterbrach seine Schwester mit einem ironischen Lachen. „Oh, ich habe dein Pamphlet gelesen, Harold. Die Gefängnisse dürfen keinen Schatten werfen und Sträflinge, sobald sie entlassen werden, haben genauso viel Recht, sich an unseren Esstisch zu setzen, wie sie es vorher hatten. Also, du setzt deine Prinzipien in die Praxis um, das will ich sagen. Wir hatten heute Abend eine Veranschaulichung. „Du bist ungerecht, Margaret“, sagte Mr. Hazlewood und stand von seinem Stuhl mit Würde auf. „Du sprichst von Mrs. Ballantyne nicht zum ersten Mal, als ob sie verurteilt worden wäre. Tatsächlich wurde sie freigesprochen“, und wiederum wandte er sich an Pettifer. „Frage Robert!“, sagte er.
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Aber Pettifer war langsam zu antworten, und als er es tat, war es ohne Beruhigung. „J‐Ja“, erwiderte er etwas schleppend. „Zweifellos wurde Mrs. Ballantyne freigesprochen“, und er hinterließ den Eindruck bei den beiden, die ihn hörten, dass mit einem Freispruch das letzte Wort noch nicht gesprochen worden war. Mrs. Pettifer blickte ihn begierig an. Sie entzog sich sofort der Auseinandersetzung. Sie überließ die Fragen nun Harold Hazlewood und Pettifer hatte mit so viel Zögern gesprochen, dass Harold Hazlewood sie nur stellen konnte. „Du bringst Vorbehalte vor, Robert?“ Pettifer zuckte die Achseln. „Ich denke, wir haben ein Recht, sie zu wissen“, beharrte Hazlewood. „Du bist ein Solicitor mit einem großen Geschäft und folglich mit weiter Erfahrung.“ „Nicht von Strafprozessen, Hazlewood. Ich bringe nicht mehr Autorität mit, sie zu beurteilen, wie jeder andere Mann.“ „Doch hast du dir eine Meinung gebildet. Bitte, lass sie mich hören“, und Mr. Hazlewood setzte sich wieder hin und überschlug die Beine. Aber ein wenig Ungeduld war nun in seiner Stimme zu hören. „Eine Meinung ist ein zu starkes Wort“, erwiderte Pettifer wachsam. „Der Prozess fand beinahe vor achtzehn Monaten statt. Ich las die Berichte gewiss Tag für Tag darüber, als ich mit dem Zug nach London fuhr. Aber es waren Zusammenfassungen.“ „Volle Zusammenfassung, Robert“, sagte Hazlewood. „Zweifellos. Der Prozess machte eine ganze Menge Lärm in der Welt. Aber sie waren nicht voll genug für mich. Auch wenn meine Erinnerung an diese Zeitungsberichte klar wäre, würde ich doch zögern, Gericht zu sitzen. Aber meine Erinnerung ist nicht deutlich. Sehen wir, woran ich mich erinnere.“ Pettifer nahm einen Stuhl und setzte sich für ein paar Augenblicke mit gerunzelter Stirn. Versuchte er sich wirklich zu erinnern? Seine Frau stellte sich selbst diese Frage, als sie beobachtete. Oder hatte er ihnen etwas zu sagen,
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was er vorhatte, auf seine eigene vorsichtig sorglose Weise einzuwerfen? Mrs. Pettifer hörte aufmerksam zu. „Die – also – nennen wir sie Katastrophe – fand in einem Zelt in einem Staat von Rajputana statt.“ „Ja“, sagte Mr. Hazlewood. „Es fand nachts statt. Mrs. Ballantyne schlief in ihrem Bett. Der Mann Ballantyne wurde draußen vor dem Zelt im Eingang gefunden.“ „Ja.“ Pettifer hielt inne. „So viele Prozesse haben seither meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen“, sagte er entschuldigend für sein Zögern. Er schien ganz ratlos. Dann fuhr er fort: „Moment mal! Ein Mann hatte am Abend mit ihnen gegessen – oh ja, ich beginne mich zu erinnern.“ Harold Hazlewood machte eine winzige Bewegung und hätte gesprochen, aber Margaret streckte ihm rasche eine Hand entgegen. „Ja, ein Mann namens Thresk“, sagte Pettifer und wieder war er still. „Also“, fragte Hazlewood. „Also – das ist alles, woran ich mich erinnere“, erwiderte Pettifer forsch. Er stand auf und stellte seinen Stuhl zurück. „Außer ‐“, fügte er langsam hinzu. „Ja?“ „Außer dass das Urteil ein vages Gefühl des Zweifels zurückließ.“ „Da!“, rief Mrs. Pettifer triumphierend. „Du hörst ihn, Harold.“ Aber Hazlewood schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Er starrte seinen Schwager mit einer guten Menge an Unbehaglichkeit an. „Warum?“, fragte er. „Warum hattest du Zweifel, Robert?“ Aber Pettifer hatte alles gesagt, was er vorgehabt hatte zu sagen.
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„Oh, ich kann mich nicht erinnern, warum“, rief er aus, „ich habe wahrscheinlich ganz unrecht. Komm, Margaret, es ist Zeit, dass wir nach Hause kommen.“ Er ging hinüber zu Hazlewood und streckte seine Hand entgegen. Hazlewood stand jedoch nicht auf. „Ich denke nicht, dass das ganz fair von dir ist, Robert“, sagte er. „Du zerstörst mein Vertrauen natürlich nicht – ich bin gründlich den Fall durchgegangen – aber ich denke, du solltest mir eine Chance geben, dich zufriedenzustellen, dass deine Zweifel Rechtfertigung haben.“ „Nein, wirklich“, rief Pettifer aus. „Ich weigere mich absolut, mich überhaupt in die Angelegenheit einzumischen.“ Ein Schritt klang auf dem Kiespfad draußen vor dem Fenster. Pettifer hob einen warnenden Finger. „Es ist Mitternacht, Margaret“, sagte er. „Wir müssen gehen“, und als er sprach, stieg Dick Hazlewood durch das offene Fenster. Er lächelte die Gruppe seiner Verwandten mit grimmiger Erheiterung an. Sie trugen sicher einen schuldigen Blick. Er war überrascht, etwas Verlegenheit sogar auf dem Gesicht seines Vaters zu bemerken. „Du wirst deine Tante hinausbringen, Richard“, sagte Mr. Hazlewood. „Natürlich.“ Die Pettifers und Dick gingen hinaus in das Vorzimmer und ließen den alten Mann auf seinem Stuhl, ein wenig geistesabwesend, vielleicht ein wenig beunruhigt. „Tante Margaret, du hast meinen Vater verärgert“, sagte Dick. „Unsinn, Dick“, erwiderte sie und ihr Gesicht errötete. Sie stieg schnell in die Kutsche, um Fragen zu vermeiden, und als sie einstieg, bemerkte Dick, dass sie ein kleines Buch mit einer Papierschutzhülle trug. Pettifer folgte. „Gute Nacht, Dick“, sagte er und er schüttelte seinem Neffen sehr herzlich die Hand. Trotz seiner Höflichkeit jedoch wurde Dicks Gesicht hart, als er zusah, wie die Kutsche davonfuhr. Stella hatte recht. Die Pettifers waren die Feinde. Also, er hatte immer gewusst, dass es einen Streit geben würde, und nun je eher er kam, umso besser. Er ging zurück in das Raucherzimmer und als er die Tür 139
öffnete, hörte er die Stimme seines Vaters. Der alte Mann saß auf seinem Stuhl eingesunken und wiederholte ständig vor sich hin: „Ich werde es nicht glauben. Ich werde es nicht glauben.“ Er hörte sofort auf, als Dick hereinkam. Dick blickte ihn besorgt an. „Du bist müde, Vater“, sagte er. „Ja, ich denke, ich bin es ein wenig. Ich gehe zu Bett.“ Hazlewood beobachtete Dick, wie er hinüber zu dem Ecktisch ging, wo die Kerzen neben dem Tablett standen, und sein Gesicht hellte sich auf. Zum ersten Mal in seinem Leben war das ordentliche gut gepflegte Aussehen seines Sohnes eine wahre Freude für ihn. Richard war von denen, denen das Wohlwollen der Welt viel bedeutete. Er würde es nie leichtfertig wegwerfen. Hazlewood stand auf und nahm eine der Kerzen von seinem Sohn. Er klopfte ihm auf die Schulter. Er wurde ganz entspannt, als er in sein Gesicht sah. „Gute Nacht, mein Junge“, sagte er. „Gute Nacht, Sir“, erwiderte Dick fröhlich. „Es gibt nichts, wie zu den Theorien von einem sich aufzuspielen, nicht wahr?“ „Nichts“, sagte der alte Mann herzlich. „Schau mein Leben an!“ „Ja“, erwiderte Dick. „Und nun schau meines an. Ich werde Stella Ballantyne heiraten.“ Für einen Augenblick stand Mr. Hazlewood vollkommen still. Dann murmelte er lahm. „Oh, wirklich? Wirklich, Richard?“, und er schlurfte schnell aus dem Zimmer.
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Kapitel XVIII Mr. Hazlewood sucht Rat Als Dick aus dem Bett um halb acht stieg, wurde ihm eine beunruhigende Nachricht, eilig und fast unzusammenhängend geschrieben, gebracht. „Dick, ich kann heute Morgen nicht mit dir reiten. Ich bin zu müde ... und ich denke nicht, dass wir uns wiedersehen sollten. Du musst letzte Nacht vergessen. Ich werde immer sehr stolz sein, mich daran zu erinnern, aber ich will dich nicht ruinieren, Dick. Du darfst nicht denken, dass ich so sehr leiden werde ...“ Dick las alles mit einem zärtlichen Lächeln auf seinem Gesicht. Er schrieb eine Zeile als Antwort. „Ich werde kommen und dich um elf sehen, Stella. In der Zwischenzeit schlafe, meine Liebe“, und schickte sie hinüber zu dem Cottage. Dann rollte er sich wieder zurück ins Bett und nahm seinen eigenen Rat an. Es war spät, als er hinunter in das Esszimmer kam und sein Frühstück allein einnahm. „Wo ist mein Vater?“, fragte er Hubbard, den Butler. „Mr. Hazlewood frühstückte vor einer halben Stunde, Sir. Er ist nun bei der Arbeit.“ „Famos“, sagte Dick. „Geben Sie mir einige Würste, Hubbard, was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen sagte, dass ich heirate.“ „Ich würde meinen Kopf bewahren, Sir“, antwortete er mit freundlicher Stimme. „Wollen Sie Tee nehmen?“ „Danke.“ Dick sah aus dem Fenster. Es war ein Morgen mit klarem Himmel und Sonnenlicht, ein ganz ordentlicher Morgen für diesen ersten aller bemerkenswerten Tage, von denen einer nach dem anderen ihm besonders gehören wird. Er war nun von den Göttern. Die Welt war sein Besitz oder er hielt sie eher zu treuen Händen für Stella. Sie benahm sich gut; Dick Hazlewood war zufrieden. Er aß ein großes Frühstück und während er in die Bibliothek schlenderte, zündete er seine Pfeife an. Dort war sein Vater und beugte sich über seine Zeitungen an seinem Schreibtisch vor dem Fenster, fleißig wie eine 141
Biene zweifellos an einer neuen Schwärmerei, die bestimmt war, seine Nachbarn wütend zu machen. Lasst ihn weitermachen! Dick lächelte gütig den Rücken des alten Mannes an. Dann runzelte er die Stirn. Es war merkwürdig, dass sein Vater ihm keinen guten Morgen gewünscht hatte, merkwürdig und ungewöhnlich. „Ich hoffe, Sir, dass du gut geschlafen hast“, sagte er. „Habe ich nicht, Richard“, und noch immer war ihm der Rücken zugewandt. „Ich lag wach und überlegte mit einiger Sorgfalt, was du mir letzte Nacht erzählt hast über – über Stella Ballantyne.“ In der letzten Zeit war sie einfach Stella für Harold Hazlewood gewesen. Der Zusatz Ballantyne war bedeutungsvoll. Er ersetzte Freundschaft durch Formalität. „Ja, wir kamen überein, ihre Sache zu verteidigen, nicht wahr?“, sagte Dick fröhlich. „Du machtest einen guten Schritt letzte Nacht vorwärts, ich machte einen anderen.“ „Du machtest einen langen Schritt, Richard, und ich denke, du hättest mich zuerst zu Rate ziehen sollen.“ Dick ging hinüber zu dem Tisch, an dem sein Vater saß. „Weißt du, das ist genau, was Stella sagte“, bemerkte er und er schien die Bemerkung für ziemlich unverständlich zu halten. Mr. Hazlewood schnappte nach jeder Unterstützung, die ihm angeboten wurde. „Ah!“, rief er aus und zum ersten Mal an diesem Morgen sah er seinem Sohn ins Gesicht. „Da jetzt, Richard, siehst du!“ „Ja“, erwiderte Richard unerschütterlich. „Aber ich konnte ihr alle Befürchtungen nehmen. Ich konnte ihr sagen, dass du unsere Heirat mit deinem ganzen Herzen willkommen heißen würdest, denn du würdest sie als einen Triumph für deine Prinzipien und als ein sicheres Zeichen ansehen, dass meine bessere Natur endlich gründlich wach war.“ Dick ging von dem Tisch weg. Das Gesicht des alten Mannes wurde länger. Falls er überhaupt ein Philosoph war, war er ein Philosoph in einer kläglichen Lage,
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denn er bekam seine Theorien an ihm selbst getestet, er sollte das Experiment sein, durch das sie bewiesen oder nicht bewiesen werden sollten. „Zweifellos“, sagte er mit einer bedauernswerten Stimme. „Recht so, Richard. Ja“, und er ertappte sich an den vagen Hoffnungen der Verzögerung. „Es besteht natürlich keine Eile. Zum einen will ich dich nicht verlieren ... Und dann hast du an deine Karriere zu denken, nicht wahr?“ Mr. Hazlewood fand sich hier nun auf soliderem Boden und lehnte sein Gewicht darauf. „Ja, da ist deine Karriere.“ Dick kehrte zu seinem Vater zurück, Erstaunen auf seinem Gesicht. Er sprach als einer, der seinen Ohren nicht trauen konnte. „Aber sie ist in der Armee, Vater! Erkennst du, was du sagst? Du willst, dass ich an meine Karriere in der Britischen Armee denke?“ Beständigkeit hatte jedoch für Mr. Hazlewood in diesem Augenblick keine Reize. „Genau“, rief er. „Wir wollen dem gegenüber nicht voreingenommen sein – nicht wahr? Nein, nein, Richard! Oh, ich höre die feinsten Dinge über dich. Und sie treiben heutzutage die jungen Männer voran. Du musst nicht auf graue Haare warten, bevor du zu einem General gemacht wirst, Richard, daher müssen wir ein Auge auf unsere Aussichten halten, äh? Und aus diesem Grund wäre es vielleicht ratsam“ – und die Augen des alten Mannes fielen von Dicks Gesicht zu seinen Zeitungen – „ja, es wäre sicher ratsam, deine Verlobung für eine Weile eine Privatangelegenheit zwischen uns drei bleiben zu lassen.“ Er hob seine Füllfeder auf, als ob die Angelegenheit beschlossen und die Diskussion zu Ende wäre. Aber Dick bewegte sich nicht von seiner Seite. Er war der Stärkere der beiden und in einer kleinen Weile wanderten die Augen des alten Mannes wieder hinauf zu seinem Gesicht. Da war ein Blick, den Margaret Pettifer vor einer Woche gesehen hatte. Dick sprach und die Stimme, die er benutzte, war merkwürdig und Respekt einflößend für seinen Vater. „Es darf keine Heimlichtuerei geben, Vater. Ich erinnere mich, was du sagtest: für lieblose Verleumdung ist ein englisches Dorf nicht zu schlagen. Unser Geheimnis würde innerhalb von einer Woche bekannt sein, und zu versuchen, es zu bewahren, würden wir Misstrauen hervorrufen. Nichts könnte mehr 143
Stella schaden als Geheimnistuerei. Folglich könnte nichts mir mehr schaden. Ich leugne nicht, dass die Dinge ein wenig schwierig werden. Aber darüber bin ich sicher“ – und seine Stimme, obwohl sie noch immer ruhig war, erklang tief vor Zuversicht – „unsere einzige Chance ist, unsere Köpfe hochzuhalten. Keine Geheimnistuerei, Vater! Meine Hoffnung ist, ein Leben, das sehr bekümmert gewesen ist, Trost und ein wenig Glück wissen zu lassen.“ Mr. Hazlewood hatte nicht mehr zu sagen. Er musste seinen Göttern abschwören oder seinen Mund halten. Und seinen Göttern abschwören – nein, das konnte er nicht tun. Er hörte in seiner Fantasie die ganze Nachbarschaft lachen – er sah, wie ein Meer an Gelächter ihn überwältigte. Er zitterte, als er daran dachte. Er, Harold Hazlewood, der von den Erfindungen der Gesellschaft emanzipierte Mann, gefangen wie ein dummer zappelnder Fisch im Netz seiner eigenen Theorien! Nein, das darf niemals sein. Er stürzte sich in seine Arbeit. Er sah den Katalog seiner Miniaturen durch und in einer Minute begann er seinen überladenen Schreibtisch abzutasten und zu durchsuchen. „Jeder versucht mich heute Morgen zu behindern“, rief er zornig. „Was ist los, Vater?“, fragte Dick und legte die Times hin. „Kann ich helfen?“ „Ich schreib eine Frage an Notes and Queries über die Marie Antoinette‐ Miniatur, die ich bei Lord Mirlitons Verkauf erwarb, und es gab eine Antwort in der letzten Ausgabe, eine sehr vollständige Antwort. Aber ich kann sie nicht finden. Ich kann sie nirgendwo finden“, und er warf seine Zeitungen herum, als ob er sie bestrafte. Dick half bei der Suche, aber außer ein oder zwei Kopien von Die Gefängnismauern dürfen keinen Schatten werfen war überhaupt keine Publikation zu finden. „Warte ein bisschen, Vater“, sagte Dick plötzlich. „Wie sieht Notes and Queries aus? Die einzigen Anmerkungen und Fragen, die ich las, sind in einem rosaroten Papier enthalten. Sie sind sehr amüsant, aber sie handeln nicht von Miniaturen.“ Mr. Hazlewood beschrieb das Aussehen der kleinen Zeitschrift. „Also, das ist sehr außergewöhnlich“, sagte Dick, „denn Tante Margaret nahm sie letzte Nacht mit.“ 144
Mr. Hazlewood sah seinen Sohn mit blankem Erstaunen an. „Bist du sicher, Richard?“ „Ich sah sie in ihrer Hand, als sie in ihre Kutsche stieg. Mr. Hazlewood schlug mit seiner Faust auf den Tisch. „Es ist äußerst ärgerlich von Margaret“, rief er aus. „Sie hat kein Interesse für solche Angelegenheiten. Sie ist, wenn ich das Wort benutzen darf, keine Virtuosin. Sie tat es einzig, um mich zu ärgern.“ „Also, ich frage mich“, sagte Dick. Er blickte auf seine Uhr. Es war elf Uhr. Er ging hinaus in das Vorzimmer, hob einen Strohhut auf und ging über die Wiese zu dem strohbedeckten Cottage am Flussufer. Aber während er ging, fragte er sich noch immer, warum um alles auf der Welt Margaret diese harmlose kleine Zeitschrift vom Schreibtisch seines Vaters genommen hatte. „Pettifer steckt dahinter“, schlussfolgerte er. „Da ist ein listiger Kerl für dich. Ich werde bei Onkel Robert meine Augen offen halten.“ Er war in der Nähe des Cottage. Nur ein Geländer trennte seinen Garten von der Wiese. Hinter dem Garten stand ein Fenster offen und in dem Zimmer sah er das Flattern eines fliederfarbenen Kleides. Von dem Fenster der Bibliothek beobachtete Mr. Hazlewood seinen Sohn, wie er das Gartentor öffnete. Dann sperrte er eine Lade von seinem Schreibtisch auf und holte einen versiegelten Umschlag heraus. Er brach das Siegel und zog aus dem Umschlag ein Bündel Zeitungsausschnitte. Es waren die wortgetreuen Berichte von Stella Ballantynes Prozess, der Tag für Tag in der Times of India abgedruckt worden war. Er hatte vor Monaten nach ihnen schicken lassen, als er unbekümmert die Verteidigung von Stella Ballantyne auf sich genommen hatte. Er hatte sie mit einer wachsenden Begeisterung gelesen. So hart hatte sie gelebt; so schattenlos war ihre Unschuld. Er wandte sich nun mit einer anderen Stimmung zu. Pettifer war von den englischen Zusammenfassungen mit einem vagen Gefühl des Zweifels zurückgelassen worden. Mr. Hazlewood respektierte Robert Pettifer. Der Anwalt war vorsichtig, bedacht, emotionslos – Eigenschaften, für die Hazlewood instinktiv wenig Sympathie hatte. Aber andererseits war er nicht an Händen und Füßen an Vorurteile gebunden. Er konnte in seinen Urteilen liberal sein. Er hatte einen genug klaren Verstand, um zu trennen, was für einen Grund er zu sagen hatte, und die Anmaßung der 145
Konvention. Angenommen, dieser Pettifer hatte trotzdem recht! Dem alten Mann wurde das Herz schwer. Dann muss diese Hochzeit tatsächlich verhindert werden – und die Wahrheit muss bekannt gemacht werden – ja, weit bekannt. Er selbst war betrogen worden – wie viele andere Männer vor ihm. Es war nicht lächerlich, betrogen worden zu sein. Er blieb trotzdem seinen Prinzipien treu. Da war sicher sein Pamphlet, Die Gefängnismauern dürfen keinen Schatten werfen: das gab ihm einen unbehaglichen Stich. Aber er beruhigte sich. Da argumentiere ich, dass, sobald das Vergehen gesühnt worden ist, alle Privilegien wiederhergestellt werden sollten. Aber wenn Pettifer recht hat, hat es keine Sühne gegeben.“ Diese Freizeichnungsklausel war ihm zu hoch. Er drückte die Position nicht einmal zu sich selbst so aus. Er kleidete sie in andere und hochtrabende Worte. Es war trotzdem eine Art Konvention, Freispruch als den Beweis der Unschuld zu akzeptieren. Aber in seinem Hinterkopf, vom Anfang bis zum Schluss, gab es eine gewaltige Furcht vor der Figur, die er selbst abgeben würde, wenn er sich weigerte, der Hochzeit aus irgendeinem Grund, außer der von Stella Ballantynes Schuld, zuzustimmen. Für Stella selbst, der Frau, hatte er an diesem Morgen keine Freundlichkeit zu erübrigen. Gestern strömte er davon über. Denn gestern war sie ein weiterer Beweis für die Welt gewesen, wie hoch darüber er sich erhob. „Da Pettifer zweifelt“, sagte er sich, „muss es eine Schwachstelle in diesem Prozess geben, die ich in der Hitze meiner Sympathie übersah“, und um diese Schwachstelle zu entdecken, las er wieder jedes gedruckte Detail davon, von dem Morgen, als Stella das erste Mal vor dem Untersuchungsrichter erschien, bis zu dem anderen Morgen einen Monat später, als das Urteil gefällt wurde. Und er fand keine Schwachstelle. Stellas Freispruch war offensichtlich aufgrund des Beweises. Es gab viel zu zeigen, was für Provokation sie erleiden musste, aber es gab keinen Beweis, dass sie sich ihr ergeben hatte. Im Gegenteil, sie hatte so lange erduldet, die Mutmaßung muss sein, dass sie weiter bis zum Ende erdulden würde. Und es gab anderes Beweismaterial – eindeutiges Beweismaterial von Thresk gegeben, was nicht geleugnet werden konnte. Mr. Hazlewood legte seine Zeitungsausschnitte wieder in die Lade; und er war ausgesprochen unzufrieden. Er hatte auf ein anderes Ergebnis gehofft. Es gab nur einen Punkt, der ihn verwirrte, und der hatte nicht wirklich mit dem 146
Prozess zu tun, aber er verwirrte ihn so sehr, dass er sich zur Mittagszeit hinausschlich. „Richard“, sagte er, „ich kann nicht verstehen, warum mir der Name Thresk so bekannt vorkommt.“ Dick blickte schnell seinen Vater an. „Du hast die Berichte des Prozesses wieder gelesen.“ Mr. Hazlewood blickte verwirrt. „Und ein sehr natürlicher Prozessverlauf, Richard“, erklärte er. „Aber während ich über den Prozess las, fand ich, dass mir der Name Thresk in einer anderen Verbindung bekannt war, aber ich kann mich nicht erinnern, was für eine Verbindung es ist.“ Dick konnte ihm nicht helfen, noch war er zu dieser Zeit über das Versagen des Gedächtnisses seines Vaters beunruhigt. Er war beschäftigt zu realisieren, dass hier ein weiterer Feind von Stella war. Da er seinen Vater kannte, war er nicht sehr überrascht, aber er fand es für vernünftig, ohne Verzögerung anzugreifen. „Stella wird heute Nachmittag zum Tee herüberkommen“, sagte er. „Wird sie, Richard?“, erwiderte der Vater und drehte sich unbehaglich auf seinem Stuhl. „Sehr gut – natürlich.“ „Hubbard weiß übrigens von meiner Verlobung“, fuhr Dick unerbittlich fort. „Hubbard! Du meine Güte!“, rief der alte Mann. „Es wird schon im ganzen Dorf verbreitet sein.“ „Ich würde mich nicht wundern“, erwiderte Dick fröhlich. „Ich sagte es ihm, bevor ich dich heute Morgen sah, während ich frühstückte.“ Mr. Hazlewood blieb für eine Weile still. Dann platzte er gereizt heraus: „Richard, da ist etwas, worüber ich mit dir ernsthaft sprechen muss: die Verspätung deiner Stunden am Morgen. Ich habe es mit großem Bedauern bemerkt. Es ist nicht den Dienern gegenüber rücksichtsvoll und es kann für dich nicht gesund sein. Solche Trägheit muss auch deiner Meinung nach entnervend sein.“ 147
Dick unterließ es, seinen Vater zu erinnern, dass er gewöhnlich vor sieben außer Haus war. „Vater“, sagte er sofort ein Modell der Bescheidenheit, „ich werde mich bemühen, mich zu bessern.“ Mr. Hazlewood verbarg seine Verlegenheit zur Teezeit unter einem Vorwand von Überarbeitung. Er habe eine Menge zu tun – nur einen Augenblick für eine Tasse Tee – nicht mehr. Es sollte eine Versammlung des Grafschaftsrates am nächsten Morgen geben, wo eine äußerst wichtige Frage von kleinen Anteilen zur Diskussion aufkommen soll. Mr. Hazlewood hielt die stärksten Ansichten. Er war beschäftigt, sie in die kleinstmöglichste Anzahl von Worten zu formen. Sich kurz fassen, anschaulich sein – das war die ganze Kunst des öffentlichen Sprechens. Mr. Hazlewood plauderte fieberhaft fünf Minuten lang: er war plappernd hereingekommen, er ging plappernd hinaus. „Das ist in Ordnung, Stella, siehst du“, sage Dick fröhlich, als sie alleine gelassen wurden. Stella nickte. Mr. Hazlewood hatte kein Wort der Anerkennung ihrer Verlobung gesagt, aber sie hatte heute Morgen ihren kleinen Kampf gemacht. Sie hatte sich ergeben und sie konnte es nicht erneuern. Sie hatte drei elende Stunden verbracht und vernünftige Argumente formuliert, warum letzte Nacht vergessen werden sollte. Aber der Anblick ihres Geliebten, der über die Wiese kam, hatte ihr Herz so hüpfen lassen, dass sie nur ein paar Phrasen herausstottern konnte. „Oh, ich wünsche, du wärest nicht gekommen!“, hatte sie wiederholt und wiederholt, und die ganze Zeit hüpfte ihr Blut vor Freude, dass er es war. Sie hatte am Ende versprochen, festzustehen, an seiner Seite zu stehen und tapfer zu sein – was nach allem nur der Aufruhr der Woche war. So hatte er es ausgedrückt und so war sie begierig, es zu glauben. Mr. Hazlewood, beschäftigt jedoch, sich als etwas darzustellen, fand an diesem Abend Zeit, mit seinem Personenwagen nach Great Beeding zu fahren, und als der Londoner Zug im Bahnhof einfuhr, war er auf dem Bahnsteig. Er blickte bange auf die Passagiere, die ausstiegen, bis er Robert Pettifer sah. Er ging sofort zu ihm hinauf.
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„Was um alles auf der Welt machst du hier?“, fragte der Anwalt. „Ich kam absichtlich, um dich abzufangen, Robert. Ich will mit dir privat sprechen. Mein Wagen ist hier. Wenn du mit mir einsteigen willst, kann ich dich langsam nach Hause fahren.“ Pettifers Gesicht änderte sich, aber er konnte nicht ablehnen. Hazlewood war aufgeregt und nervös; von seiner gewöhnlichen Selbstgefälligkeit gab es nicht länger eine Spur. Pettifer stieg in den Wagen, und als er vom Bahnhof losfuhr, fragte er: „Was ist jetzt los?“ „Ich habe über das, was du letzte Nacht gesagt hast, nachgedacht, Robert. Du hattest ein vages Gefühl des Zweifels. Also, ich habe die wortgetreuen Berichte des Prozesses in Bombay hier in diesem Umschlag und ich will, dass du sie sorgfältig durchliest und mir deine Meinung sagst.“ Er hielt den Umschlag entgegen, als er sprach, aber Pettifer steckte seine Hände in seine Hosentaschen. „Ich werde sie nicht anrühren“, erklärte er. „Ich weigere mich, mich überhaupt in die Angelegenheit einzumischen. Ich sagte letzte Nacht mehr als ich beabsichtigte.“ „Aber du sagtest es, Robert.“ „Dann ziehe ich es jetzt zurück.“ „Aber du kannst nicht, Robert. Du musst weitergehen. Etwas ist heute geschehen, etwas sehr Ernstes.“ „Oh!“, sagte Pettifer. „Ja“, erwiderte Mr. Hazlewood. „Margaret hat wirklich mehr Einsicht als ich ihr zugestand. Sie erklären zu heiraten.“ Pettifer saß aufrecht in dem Wagen. „Du meinst, Dick und Stella Ballantyne?“ „Ja.“
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Und für eine kleine Weile war es still in dem Wagen. Dann fuhr Mr. Hazlewood fort zu jammern. „Ich vermutete nie etwas Derartiges. Es versetzt mich, Robert, in eine sehr schwierige Lage. „Ich kann das ganz verstehen“, antwortete Pettifer mit einem grimmigen Lächeln. „Es ist wirklich das einzige tröstende Element in der ganzen Angelegenheit. Du kannst deinen Zustimmung nicht verweigern, ohne als Narr dazustehen, und du kannst sie nicht geben, während du Zweifel in Bezug auf Mrs. Ballantynes Unschuld hast.“ Mr. Hazlewood war jedoch nicht ganz vorbereitet, diese Definition seiner Lage zu akzeptieren. „Du schöpfst die Möglichkeiten nicht aus, Robert“, sagte er. „Ich kann ganz gut meine Zustimmung verweigern und öffentlich verweigern, wenn es vernünftige Gründe gibt zu glauben, dass in diesem Prozess ein ernsthafter Justizirrtum besteht.“ Mr. Pettifer blickte scharf auf seinen Begleiter. Die Stimme nicht weniger als die Worte fesselten seine Aufmerksamkeit. Dies war nicht der Mr. Hazlewood von gestern. Der Verteidiger war zu einer Figur der Gemeinheit zusammengeschrumpft. Harold Hazlewood wäre froh, diese vernünftigen Gründe zu entdecken; und er wäre sehr verbunden, wenn Robert Pettifer die Verantwortung auf sich nehmen würde, sie zu entdecken. „Ja, ich verstehe“, sagte Pettifer langsam. Er war halb geneigt, Harold Hazlewood zu überlassen, seinen Weg aus seinen Schwierigkeiten selbst zu finden. Er war immerhin alles seine Fabrikation. Aber andere und weitreichendere Überlegungen begannen auf Pettifer zu lasten. Er zwang sich, das Thema von Hazlewoods Eitelkeiten und Verwicklungen ganz und gar auszulassen. „Sehr gut. Gib mir die Zeitungsausschnitte! Ich werde sie durchlesen und ich werde dich meine Meinung wissen lassen. Ihre Absicht zu heiraten ändert vielleicht alles – meine Sichtweise ebenso wie deine.“ Mr. Pettifer nahm den Umschlag in seine Hand und stieg aus dem Wagen, sobald Hazlewood ihn angehalten hatte. 150
„Du hast zu der Verlobung keine Einwände erhoben?“, fragte er. „Ein Wort zu Richard heute Morgen. Von keiner großen Wirkung, befürchte ich.“ Mr. Pettifer nickte. „Gut. Ich würde zu niemandem etwas sagen. Du kannst gegenwärtig keine geschlossene Linie nehmen, und die Zähne zu fletschen wäre die schlechteste vorstellbare Politik. Heute ist Donnerstag. Wir treffen uns am Samstag. Gute Nacht“, und Robert Pettifer ging fort zu seinem eigenen Haus. Er ging langsam, während er sich über das ewige Mysterium wunderte, durch das dieser eigenartige Mann und diese eigentümliche Frau einander aus der Menge aussuchen. Er schuldete den größeren Teil seines Vermögens dem Mysterium, wie viele andere Anwälte. Aber heute Abend hätte er gerne eine gute Portion davon abgegeben, wenn dieser Vorgang der Auswahl auf eine vernünftigere Weise geordnet werden könnte. Liebe? Die Anziehung der Geschlechter? Ja, zweifellos. Aber warum diese zwei Exemplare von Geschlechtern? Warum Dick und Stella Ballantyne? Als er sein Haus erreichte, eilte seine Frau ihm entgegen. Schon hatte sie die Neuigkeiten. Da war eine Aufregung in ihrem Gesicht, die nicht misszuverstehen war. Die sinnlose althergebrachte Phrase des Triumphes so bereit auf den Lippen von denen, die Böses prophezeit haben, zitterte auf ihren. „Sage es nicht, Margaret“, sagte Pettifer sehr ernst. „Wir sind zu einem Pass gekommen, wo leichte Worte uns irreführen. Hazlewood ist bei mir gewesen. Ich habe hier die Berichte des Prozesses. Margaret Pettifer gebot ihrer Zunge Einhalt und sie aßen zusammen fast in völligem Schweigen. Pettifer bekam methodisch sein eigene Ansichtsweise deutlich in seinem Kopf, sodass, was er auch tat oder riet, er sicher sein konnte, hinterher nicht davon abzuweichen. Er wog seine Vorlieben und seine Hoffnungen ab, und als die Diener das Esszimmer verlassen hatten, hatte er seine Zigarre angezündet, hatte er den Fall seiner Frau dargelegt.
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„Hör zu, Margaret! Du kennst deinen Bruder. Er ist immer in Gegensätzen. Er schwingt von einem zum anderen. Er ist nun entsetzt, dass diese Hochzeit stattfinden sollte.“ „Kein Wunder“, schaltete sich Mrs. Pettifer ein. Pettifer machte kein Kommentar über die Bemerkung. „Daher“, fuhr er fort, „ist er bestrebt, dass ich in diesen Berichten einen soliden Grund zu glauben entdecken sollte, dass das Urteil, das Stella Ballantyne freisprach, ein ernsthafter Justizirrtum war. Denn ein solcher Grund muss Gewicht haben.“ „Natürlich“, sagte Mrs. Pettifer. „Und wird ihn rechtfertigen – das ist seine Hauptüberlegung – öffentlich seine Zustimmung zurückzuhalten. „Ich verstehe.“ Erst vor einer Woche hatte Dick selbst bemerkt, dass sentimentale Philosophen eine Gabe hatten, sich ihren Kopf gegen ihre eigenen Theorien zu zerbrechen. Die Worte hatten sich gerechtfertigt, eher als sie erwartet hatte. Mrs. Pettifer war über Harold Hazlewoods rasche Änderung nicht mehr als ihr Ehemann überrascht. Harold, ihrer Meinung nach, war ein Gefühlsmensch, und Sentimentalität war wie eine Tanne – eine Sache ohne tiefe Wurzeln und leicht auszureißen. „Aber ich stehe nicht auf diesem Standpunkt, Margaret“, fuhr ihr Ehemann fort und sie blickte ihn bestürzt an. Sollte er nun Verteidiger werden, er, der erst gestern gezweifelt hatte? „Und ich will, dass du dir überlegst, ob du mir zustimmen kannst. Da ist mit der Frau selbst zu beginnen, Stella Ballantyne. Ich sah sie gestern zum ersten Mal, und um ganz ehrlich zu sein, ich mochte sie, Margaret. Ja. Es schien mir, dass nichts trotz allem von der Abenteurerin an ihr war. Und ich war beeindruckt – ich werde weitergehen, ich war bewegt – der staubtrockene Anwalt, der ich bin, durch etwas – Wie soll ich es ausdrücken, ohne lächerlich zu erscheinen?“ Er hielt inne und suchte in seinem Vokabular und gab die Suche auf. „Nein, das Beiwort, das mir gestern beim Esstisch in den Sinn kam, und mir noch immer als das einzig Wahre zu sein scheint – ich war
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durch etwas an dieser Frau der tragischen Erfahrungen bewegt, die merkwürdig jungfräulich war.“ Eine schnelle Bewegung wurde von Margaret Pettifer gemacht. Die Wahrheit der Beschreibung ihres Ehemanns war eine Offenbarung, so genau war sie. Darin lag Stella Ballantynes Charme und ihre Macht, Verteidiger und Freunde zu schaffen. Die Geschichte war einem bekannt, das Elend ihrer Ehe, der Verdacht auf ein Verbrechen. Man erwartete eine Frau von Abenteuern, und siehe, da stand vor einem eine mit „etwas Jungfräulichem“ in ihrem Äußeren und ihrer Art, die ihren sanften und unwiderstehlichen Anreiz machten. „Ich anerkenne dieses Gefühl von mir“, fuhr Pettifer fort, „und ich versuche es, zur Seite zu legen. Und indem ich es zur Seite lege, frage ich mich und dich, Margaret, dies: Hier ist eine Frau, die eine ziemlich schlimme Zeit durchgemacht hat, die unglücklich gewesen ist, die auf der Anklagebank gesessen ist, die freigesprochen worden ist. Ist es ganz gerecht, dass, wenn sie endlich in einen Friedenshafen getrieben ist, zwei Privatleute wie Hazlewood und ich es auf uns nehmen sollten, das Urteil zu überprüfen und es vielleicht rückgängig machen? „Aber da ist Dick, Robert“, rief Mrs. Pettifer. „Da ist Dick. Sicher ist er unser erster Gedanke.“ „Ja, da ist Dick“, wiederholte Mr. Pettifer. „Und Dick ist mein zweiter Punkt. Ihr macht euch alle um Dick von der gesellschaftlichen Sichtweise – der externen Sichtweise Sorgen. Also, wir müssen das in Betracht ziehen. Aber wir sind verpflichtet, ihn ebenso als den Mann anzusehen. Vergiss das nicht, Margaret! Also, ich finde diese beiden Sichtweisen identisch. Aber unsere Nachbarn nicht. Nicht wahr?“ Mrs. Pettifer war verdutzt. „Ich verstehe nicht“, sagte sie. „Ich werde es erklären. Vom gesellschaftlichen Standpunkt ist was wirklich bedeutend in Bezug auf dick? Dass er zum Essen ausgehen sollte? Nein. Dass er Kinder haben sollte? Ja!“ Und hier schaltete sich Mrs. Pettifer wieder dazwischen.
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„Aber es müssen die richtigen Kinder sein“, rief sie aus. „Besser, dass er keine haben sollte als er Kinder haben sollte ‐“ „Mit einem erblichen Makel“, stimmte Pettifer zu. „Zugegeben, Margaret. Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass Stella Ballantyne tat, wofür sie angeklagt wurde, sind wir trotz aller Urteile auf der Welt verpflichtet, dieser Ehe entgegenzuwirken. Ich gewähre es. Wegen dieser Überzeugung lehne ich den Einspruch ab, dass wir zu der Frau ungerecht sind, den Prozess neu zu überprüfen. Es gibt weitgehendere, größere Überlegungen.“ Das waren die ersten Worte des Trostes, die Mrs. Pettifer gehört hatte, seit ihr Ehemann zu erklären begann. „Ich bin so froh, das zu hören.“ „Ja, Margaret“, entgegnete Pettifer trocken. „Aber bitte stelle dir die Frage (es ist dort, wo, nach meiner Denkweise, sich die gesellschaftlichen und persönlichen Elemente verbinden): falls diese Hochzeit abgesagt wird, wird Dick überhaupt heiraten?“ „Warum nicht?“, fragte Margaret. „Er ist vierunddreißig. Er hat zweifellos viele Gelegenheiten zu heiraten gehabt. Er muss es gehabt haben. Er sieht gut aus, ist wohlhabend und ein guter Kerl. Dies ist das erste Mal, dass er hat heiraten wollen. Wenn er hier enttäuscht wird, wird er es wieder versuchen?“ Mrs. Pettifer lachte, bewegt durch die Herabsetzung ihres eigenen Geschlechts, das Frauen ihres Typs so oft haben. Es lag an den Männern, das Taschentuch zu werfen. Kein Zweifel, aber es würde einen Ansturm geben, es aufzuheben! „Witwer, die ihren Frauen ergeben gewesen sind, heiraten wieder“, argumentierte sie. „Ein Punkt für mich, Margaret!“, entgegnete Pettifer. „Witwer – ja. Sie vermissen so viel – die Gewohnheit eines Hauses mit einer Frau als Herrin, die Gesellschaft, die Ordnung, oh, tausend kleine, aber wichtige Dinge. Aber ein Mann, der ein Junggeselle geblieben ist, bis er vierunddreißig ist – das ist eine andere Sache. Wenn er sein Herz in diesem Alter ernsthaft zum ersten Mal an eine Frau hängt und sie nicht bekommt, ist das die Art von 154
Mann, der, sagt mir meine Erfahrung – ich drücke es einfach aus, Margaret – sich eine oder mehrere Geliebte nimmt, aber keine Ehefrau!“ Mrs. Pettifer ließ der weltlichen Kenntnis ihres Mannes den Vortritt, aber sie klammerte sich an ihr eines deutliches Argument. „Nicht könnte schlimmer sein“, sagte sie offen, „als dass er eine schuldige Frau heiraten sollte.“ „Gewährt, Margaret“, erwiderte Mr. Pettifer unerschütterlich. „Nur angenommen, dass sie nicht schuldig ist. Da sind du und ich, reiche Leute, und niemand, dem wir unser Geld hinterlassen können – niemand, der deinen Namen weiterträgt – niemanden, für den wir uns interessieren, dem wir mit meiner Arbeit und dem Vermögen deines Bruders nützen – niemand von der Familie, um ihm Little Beeding zu übergeben.“ Sie beide waren still, nachdem er gesprochen hatte. Er hatte ihre eine große Sorge angesprochen. Margaret selbst hatte ihre Wurzeln tief in der Erde von Little Beeding. Es war abscheulich für sie, dass das geschätzte Haus je an Fremde übergehen sollte, wie es tun würde, falls der letzte Zweig der Familie versagte. „Aber Stella Ballantyne war sieben Jahre verheiratet“, sagte sie schließlich, „und da waren keine Kinder.“ „Nein, das ist wahr“, erwiderte Pettifer. „Aber es heißt nicht, dass bei einer zweiten Ehe es keine geben wird. Es ist eine Chance, ich weiß, aber ‐“, und er stand von seinem Stuhl auf. „Ich glaube ehrlich, das ist die einzige Chance, die du und ich haben werden, Margaret, mit der Kenntnis zu sterben, dass unser Leben ganz und gar nicht vergebens war. Wir haben unsere kleine Fackel angezündet. Ja, und sie brennt fröhlich genug, aber was hat es für einen Sinn, wenn nicht am bestimmten Meilenstein es keinen anderen von uns gibt, um sie zu nehmen und weiterzutragen?“ Er stand und sah auf seine Frau mit einem wehmütigen und ernsten Blick auf seinem Gesicht hinunter. „Dick ist am Alter der jugendlichen Schwärmerei vorbei. Wir können nicht erwarten, dass er von einer Leidenschaft in die andere taumelt; und er ist nicht leicht bewegt. Daher hoffe ich ganz aufrichtig, dass diese Berichte, die ich nun 155
lesen werde, es mir ermöglichen werden, kühn zu Harold Hazlewood zu gehen und zu sagen: ‚Stella Ballantyne ist so schuldlos dieses Verbrechens wie du oder ich.‘“ Mr. Pettifer hob den großen Umschlag auf, den er auf den Tisch neben sich gelegt hatte, und trug ihn fort zu seinem Arbeitszimmer.
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Kapitel XIX Pettifers Plan Am Samstagmorgen fuhr Mr. Hazlewood früh nach Great Beeding hinüber. Seine Ungeduld war während der letzten paar Tage so gewachsen, dass sein Schlaf nachts gestört war und am Tag konnte er nicht still bleiben. Die Neuigkeit von Dicks Verlobung mit Stella Ballantyne war nun auf dem ganzen Land bekannt und die Verantwortung dafür wurde auf Harold Hazlewoods Schultern gelegt. Denn Verantwortung war die allgemeine Bedeutung, Verantwortung und Ärger. Ein paar kühne und freundliche Leute gingen sofort Stella besuchen; eine beträchtliche Anzahl diskutierte ernsthaft und lang und breit an ihren Teetischen, ob sie nach der Hochzeit vorsprechen sollten. Aber im Großen und Ganzen war das Urteil ein entrüstetes Nein. Schande wurde auf die Nachbarschaft gebracht. Little Beeding würde unmöglich sein. Dick Hazlewood lachte nur über die Befangenheit seiner Bekannten, und wenn drei von ihnen eilig in Great Beeding die Straße überquerten, um Stella und ihn selbst zu meiden, sagte er gutmütig: „Sie sind wie eine schlecht ausgebildete Kompanie von schlechten Soldaten. Lass einen von ihnen aus den Rängen brechen und sie strömen alle davon, um nicht zurückgelassen zu werden. Du wirst sehen, Stella. Einer von ihnen wird kommen und der Rest wird übereinanderstolpern, um in dein Wohnzimmer zu gelangen. Wie viel er glaubte, was er sagte, fragte Stella nicht nach. Sie hatte eine Gabe des Schweigens. Sie ging nur ein wenig näher zu ihm und lächelte, damit keiner denken sollte, dass sie die Beleidigung bemerkt hatte. Der einzige Mann mit einem Wort, der Anzeichen von Abnutzung zeigte, war Mr. Hazlewood selbst. So stark war sein Kummer, dass er vor dem Sarkasmus seiner Schwester keine Furcht hatte. „Ich ‐ denke daran!“, rief er in bemitleidenswerter Verwirrung aus, „tatsächlich bin ich der öffentlichen Meinung gegenüber feinfühlig geworden“, und Mrs. Pettifer nahm Abstand von den Bemerkungen, die zu machen sie sich sehr danach sehnte. Sie war im Arbeitszimmer, als Harold Hazlewood hereingeführt wurde, und Pettifer hatte sie gebeten zu bleiben.
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„Margaret weiß, dass ich diese Berichte gelesen habe“, sagte er. „Setz dich, Hazlewood, und ich sage dir, was ich denke.“ Mr. Hazlewood nahm Platz gegenüber des Gartens mit seiner alten roten Ziegelmauer, auf der eine purpurrote Klematis wuchs. „Du hast dir also eine Meinung gebildet, Robert?“ „Eine.“ „Was ist es?“, fragte er begierig. Robert Pettifer legte die Handflächen auf die Ausschnitte von den Zeitungen, die vor ihm auf seinem Schreibtisch lagen. „Dies ‐ kein anderes Urteil hätte wahrscheinlich von den Geschworenen gefällt werden können. Aufgrund der Beweise, die bei dem Prozess in Bombay vorgelegt wurden, wurde Mrs. Ballantyne richtig und zwangsläufig freigesprochen.“ „Robert!“, rief seine Frau aus. Sie hatte auch auf die gegenteilige Meinung gehofft. Was Hazlewood selbst betrifft, das Sonnenlicht schien diesen Garten sterben zu lassen. Er fuhr mit seiner Hand über seine Stirn. Er erhob sich halb, um zu gehen, als Robert Pettifer wieder sprach. „Und doch“, sagte er langsam, „bin ich nicht zufrieden.“ Harold Hazlewoods setzte sich wieder. Mrs. Pettifer machte einen tiefen Seufzer der Erleichterung. „Der Hauptzeuge der Verteidigung, der Zeuge, dessen Aussage den Freispruch sicher machte, war ein Mann, den ich kenne ‐ ein Barrister namens Thresk.“ „Ja“, unterbrach Hazlewood. „Ich bin über diesen Mann verwirrt gewesen, seit du ihn vorher erwähntest. Sein Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“ „Ich werde dir das in einer Minute erklären“, sagte Pettifer und seine Frau lehnte sich plötzlich auf ihrem Stuhl vorwärts. Sie unterbrach nicht, aber sie saß mit einem Blick der großen Erwartung auf ihrem Gesicht. Sie wusste nicht, ob Pettifer sie leitete, aber sie war nun sicher, dass es zu einem sorgfältig überlegten Ziel war.
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„Ich habe mehr als einmal Thresk selbst mit einem Fall betraut. Er ist ein Mann von höchstem Ruf an der Schranke, freimütig, ehrlich; er genießt eine große Praxis, er ist im Parlament mit einer großen Zukunft im Parlament. Mit einem Wort, er ist ein Mann mit allem zu verlieren, wenn er als Zeuge in einem Prozess löge. Und doch ‐ bin ich nicht unzufrieden.“ Mr. Pettifers Stimme sank zu einem leisen Murmeln. Er saß an seinem Schreibtisch und starrte hinaus vor sich durch das Fenster. „Warum?“, fragte Hazlewood. Aber Pettifer antwortete ihm nicht. Er schien die Frage nicht zu hören. Er fuhr in der leisen ruhigen Stimme fort, die er vorher benutzte, eher wie einer, der zu sich selbst redete als zu einem Kameraden. „Ich möchte sehr gerne Mr. Thresk ein oder zwei Fragen stellen.“ „Warum tust du es dann nicht?“ rief Mrs. Pettifer aus. „Du kennst ihn.“ „Ja.“ Mr. Hazlewood unterstützte eifrig seine Schwester. „Da du ihn kennst, bist du genau der Mann.“ Pettifer schüttelte seinen Kopf. „Es wäre eine Unverschämtheit. Denn obwohl ich Dick wie einen Sohn ansehe, bin ich nicht sein Vater. Du schon, Hazlewood, du schon. Er würde mir nicht antworten.“ „Würde er mir antworten?“, fragte Hazlewood. „Ich kenne ihn überhaupt nicht. Ich kann nicht zu ihm gehen und fragen, ob er die Wahrheit sagte.“ „Nein, nein, du kannst das nicht tun“, antwortete Pettifer, „auch habe ich nicht vor, es zu tun. Ich will meine Fragen selbst auf meine eigene Weise stellen und ich dachte, dass du ihn herunter nach Little Beeding holen könntest.“ „Aber ich habe keine Ausrede“, rief Hazlewood und Mrs. Pettifer verstand endlich den Plan, den ihr Ehemann im Sinn hatte, der zur Vollendung gewachsen war, seit der Nacht, als er in Little Beeding zu Abend gegessen hatte. „Ja, du hast eine Ausrede“, rief sie und Pettifer erklärte, was es war.
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„Du sammelst Miniaturen. Vor einiger Zeit kauftest du eine von Marie Antoinette beim Verkauf von Lord Mirliton. Du stelltest eine Frage in Bezug auf ihre Echtheit in Notes and Queries. Sie wurde beantwortet ‐“ Mr. Hazlewood unterbrach aufgeregt: „Von einem Mann namens Thresk. Darum kam mir der Name bekannt vor. Aber ich konnte mich nicht erinnern.“ Er wandte sich seiner Schwester zu. „Es ist deine Schuld, Margaret. Du hast meine Ausgabe von Notes and Queries mitgenommen. Dick bemerkte es und erzählte es mir.“ „Dick!“, rief Pettifer erschrocken aus. Aber der Schrecken verging. „Er kann nicht erraten haben, warum.“ Mrs. Pettifer war klar über den Punkt. „Nein. Ich nahm die Zeitschrift wegen einer Bemerkung, die Robert zu dir machte. Dick hörte es nicht. Nein, er kann nicht vermutet haben, warum.“ „Denn es ist wichtig, dass er keinen Verdacht haben sollte, was ich vorschlage, dass du tun solltest, Hazlewood“, sagte Pettifer ernst. „Ich schlage vor, dass wir eine Lektion von den Prozessen eines anderen Landes lernen sollten. Es funktioniert vielleicht, vielleicht nicht, aber meiner Meinung nach ist es unsere einzige Chance.“ „Lass mich hören!“, sagte Hazlewood. „Thresk ist eine Autorität in altem Silber und in Miniaturen. Er hat selbst eine wertvolle Sammlung. Sein Rat wird von Leuten in der Branche gesucht. Du weißt, was Sammler sind. Hole ihn herunter, um deine Sammlung zu sehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass du einen Fremden eingeladen hast, die Nacht für diesen Zweck in deinem Haus zu verbringen, nicht wahr?“ „Nein. „Und die Einladung ist oft angenommen worden?“ „Also ‐ manchmal.“ „Wir müssen hoffen, dass es dieses Mal sein wird. Hole Thresk herunter nach Little Beeding mit dieser Ausrede. Dann konfrontiere ihn unerwartet mit Mrs. Ballantyne. Und lass mich dort sein.“ 160
So war der Plan, den Pettifer vorschlug. Eine Zeit des Schweigens folgte auf sein Wort. Sogar Mr. Hazlewood, im höchsten Grad seiner Sorge, schreckte davor zurück. „Es würde wie eine Falle aussehen.“ Mr. Pettifer klopfte ungeduldig auf seinen Tisch. „Lass uns offen sein, um Himmels willen. Es würde nicht nur wie eine Falle aussehen, es wäre eine. Es wäre überhaupt keine schöne Sache zu tun, aber da ist diese Heirat!“ „Nein, ich könnte es nicht tun“, sagte Hazlewood. „Sehr gut. Es gibt nicht mehr zu sagen.“ Pettifer selbst hatte keine Vorliebe für den Plan. Es war ursprünglich seine Absicht gewesen, Hazlewood wissen zu lassen, dass, wenn er in Verbindung mit Thresk gelangen wollte, es ein Mittel gab, durch das er es könnte. Aber die Tatsache von Dicks Verlobung hatte ihn noch weiter getragen, und nun, da er die Beweise des Prozesses sorgfältig gelesen hatte, war eine echte Sorge in seinem Sinn. Pettifer klebte die Ausschnitte in einen frischen Umschlag zu und gab sie Hazlewood und ging mit ihm hinaus zur Tür. „Natürlich“, sagte der alte Mann. „Wenn deine Rechtserfahrung, Robert, dich zu denken bringt, dass wir berechtigt wären ‐“ „Aber tut es nicht“, war Pettifer schnell einzuwenden. Er erkannte die Absicht seines Schwagers, den Misskredit des Tricks auf seine Schultern zu werfen, aber er wollte nichts davon wissen. „Nein, Hazlewood“, sagte er fröhlich, „es ist kein Plan, den ein erstklassiger Anwalt wahrscheinlich einem Klienten empfehlen würde.“ „Dann befürchte ich, dass ich es nicht tun könnte.“ „In Ordnung“, sagte Pettifer mit seiner Hand auf dem Schnappriegel der Haustür. „Thresks Anwaltsbüro ist in King’s Bench Walk.“ Er fügte die Nummer hinzu. „Ich könnte einfach nicht daran denken“, wiederholte Hazlewood, als er über den Bürgersteig zu seinem Wagen ging. 161
„Vielleicht nicht“, sagte Pettifer. „Du hast den Umschlag? Ja. Wähle einen Abend gegen Ende der Woche, ein Freitag wird deine beste Gelegenheit sein, ihn zu kriegen.“ „Ich werde nichts der Art machen, Pettifer.“ „Und lass mich wissen, wann er kommt. Auf Wiedersehen.“ Der Wagen brachte Mr. Hazlewood fort, der noch immer protestierte, dass er für einen Augenblick nicht wirklich daran denken konnte. Aber er dachte eine Menge darüber während der nächsten Woche darüber nach, und seine Laune besserte sich nicht. „Pettifer hat die feineren Ränder seiner Natur abgerieben“, sagte er sich. „Es ist schade ‐ sehr schade. Aber dreißig Lebensjahre in einem Anwaltsbüro müssen zweifellos diese Wirkung haben. Ich bedaure sehr, dass Pettifer sich vorgestellt haben sollte, dass ich mich zu einer solchen Intrige herablassen würde.
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Kapitel XX Auf den Downs Sie gingen hinauf über die steile Kreidestraße, die die Parkmauer zu der Kuppe des kegelförmigen Hügels über der Rennbahn umsäumt. Eine Grasböschung bewacht eine Höhle wie ein flacher Krater auf dem Gipfel. Sie ritten auf dem Rand herum, waren nun gegenüber des schwarzen Abhangs von Charlton Forest über dem Tal nach Norden, sahen nun hinaus über die Ebene und Chichester. Dreißig Meilen weit weg über dem Meer schimmerten die Kreideklippen der Isle of Wight unter dem Dach aus dunklem Torf. Es war noch nicht neun am Morgen. Später würde der Tag fade bis zu Mittag ansteigen; nun hatte er das Wunder und die Stille der großen Anfänge. Ein matter Nebel wie ein Schleier an den Rändern des Himmels und eine Frische der Luft machte die Welt magisch für diese zwei, die hoch über dem Waldgebiet und dem Meer ritten. Stella blickte nach unten zu dem silbernen Aufleuchten des breiten Wassers westlich vom Chichester‐Kirchturm. „Diesen Weg kamen sie, vielleicht an einem Tag wie diesen“, sagte sie langsam, „diese alten Zenturien.“ „Deine Gedanken gehen zurück“, sagte Dick Hazlewood mit einem Lachen. „Nicht so weit wie du denkst“, rief Stella und plötzlich nahmen ihre Wangen Feuer an und ein Lächeln machte in ihnen Grübchen. „Oh, ich wage heute an viele Dinge zu denken.“ Sie ritt den steilen Grasabhang hinunter zu der Rennbahn, mit Dick an ihrer Seite. Es war der erste Morgen, dass sie seit der Nacht der Dinerparty in Little Beeding zusammen geritten waren. Mr. Hazlewood bestellte in diesem Augenblick seinen Wagen, damit er in die Stadt fahren und erfahren konnte, was Pettifer in den Ausschnitten aus den Zeitungen entdeckt hatte. Aber sie waren sich ganz unbewusst von dem Komplott, das gegen sie ausgeheckt wurde. Sie gingen vorwärts unter den hohen Buchen und sahen nach den großen Wurzeln, die sich über ihren Weg erstreckten, und redeten ein wenig. Ein offener Weg zwischen Holzpfosten führte sie nun auf den Rasen und gab ihnen die Freiheit des Hügellandes. Sie sahen niemanden. Bei den Lerchen und Feldwegen hatten sie die Welt für sich; und im Schatten unter den Hecken funkelte der Tau noch immer im Gras. Sie verließen den langen Arm von 163
Halnaker Down zu ihrer Rechten, seine alte Mühle, die am Rand hochragte wie ein Leuchtturm auf einer Klippe des Meeres, und indem sie die Hauptstraße überquerten, ritten sie eine schmale Lichtung zwischen Buchen und Nussbäumen und kleinen Eichen und Wildrosenbüschen entlang. Offene Plätze kamen wieder; unter ihnen waren der Wald und das Grünland von Slindon und das tiefe Gras von Dale Park. Und so kamen sie in die Nähe von Gumber Corner, wo die Stane Street über Bignor Hill klettert. Hier hielt Dick Hazlewood an. „Ich schlage vor, wir kehren um.“ „Nicht heute“, sagte Stella und Dick wandte sich ihr überrascht zu. Immer vorher hatten sie an dieser Stelle angehalten und immer auf Stellas Wunsch hin. Entweder war sie müde oder musste nach Hause oder hatte Briefe zu schreiben ‐ immer hatte es eine Ausrede und keinen Grund gegeben. Dick Hazlewood hatte zu glauben begonnen, dass sie diese Stelle nicht überschreiten wollte, dass das Hügelland darüber hinaus eine Art Tom Tiddlers Grundstück, das sie nicht übertreten wollte. Er hatte sich gefragt, warum, aber sein Instinkt hatte ihn vor Fragen gewarnt. Er hatte an dieser Stelle immer sofort umgedreht, als ob er die Ausrede glaubte, die sie bereit hatte. Stella bemerkte das Erstaunen auf seinem Gesicht; und die Röte stieg ihr wieder in ihre Wangen. „Du wusstest, dass ich nicht darüber hinausgehen würde“, sagte sie. „Ja.“ „Aber du wusstest nicht, warum?“ Da war ein dringlicher Ton in ihrer Stimme. „Ich vermutete“, sagte er. „Ich meine, ich spielte mit Vermutungen ‐ oh, nicht ernsthaft“, und er lachte. „Dort verläuft die Stane Street zum großen North Wall. Diese Straße hinauf marschierten die Römer und zurück über diese Straße kehrten sie zu ihren Galeeren im Wasser dort bei Chichester zurück. Ich stelle mir vor, dass du in jenen Tagen lebtest, eine Boadicca vom Weald, die ihr Herz gegen ihren Willen auf einen flotten Kapitän des alten Roms gehängt hatte, der hier auf der Kuppe von Bignor Hill lagerte. Du schlichst dich von deinen eigenen Leuten nachts davon, um ihn unten auf dem Weg zu treffen. Dann kam Woche um Woche, als die Straße von dem Trampeln der Soldaten ertönte, die von
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London nach Lichfield und dem North Wall zurückkehrten, um am Bord ihrer Schiffe nach Gallien und Rom zu gehen.“ „Sie nahmen meinen Kapitän mit?“, rief Stella und lachte mit ihm über die Vorstellung. „Ja, so lief meine Fabel. Er sehnte sich nach dem Zirkus und dem Theater und nach den geschminkten Damen, daher ging er bereitwillig.“ „Das Scheusal“, rief Stella. „Und so brach ich mein Herz bei einem dekadenten Schürzenjäger in glänzendem Messinggewand und erinnere mich dreizehn‐ hundert Jahre danach in einem anderen Leben! Danke, Kapitän Hazlewood!“ „Nein, du erinnerst dich eigentlich nicht daran, Stella, aber du hast ein Gefühl, dass du um die Stane Street herum einst eine große Demütigung und Unglück erlitten hast.“ Und plötzlich ritt Stella schnell an ihm vorbei, aber in einem Augenblick wartete sie auf ihn und zeigte ihm ein lächelndes Gesicht. „Du siehst, ich habe heute die Stane Street überquert, Dick“, sagte sie. „Wir reiten weiter nach Arundel.“ „Ja“, antwortete Dick, „meine Geschichte wird nicht reichen“, und er erinnerte sich an einen vor einer halben Stunde von ihr gesprochen Satz: „Meine Gedanken gehen nicht so weit zurück wie du denkst.“ Auf jeden Fall war sie heute emanzipiert, denn sie ritten weiter, bis am Ende eines langen sanften Abhangs der großen Bogen des Tors im Arundel Park in einer Reihe von hohen dunklen Bäumen schimmerte.
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Kapitel XXI Der Brief ist geschrieben Aber Stellas Zuversicht hielt nicht lange an. Mr. Hazlewood war ein Kind beim Schwindeln; und Tag für Tag nahmen seine Ängste zu. Seine Freunde stritten mit ihm ‐ seine Torheit und Schwäche waren die Themen ‐ und er musste den Streit abwehren, obwohl seine Gedanken jedes Wort, das sie benutzten, widerhallten. Niemals wurde ein Mann zu einer so bemitleidenswerten Tiefe des Elends durch die Ausübung seiner eigenen Theorien gebracht. Er saß zu der Stunde an seinem Schreibtisch und vergrub sein Gesicht zwischen seinen Papieren, falls Dick in das Zimmer kam, mit einer großen Zurschaustellung an Beschäftigung. Er konnte es kaum ertragen, über die Heirat seines Sohnes nachzudenken, doch Tag und Nacht musste er daran denken und nach Hilfsmitteln suchen, die dem Problem ein Ende setzen mochten und ihn wieder mit hoch erhobenem Haupt gehen ließen. Aber da waren nur die zwei Hilfsmittel. Er muss über seine Befürchtungen sprechen, dass es einen Justizirrtum gegeben hatte, und diese Vorstellung verbat seine Eitelkeit; oder er muss Pettifers Vorschlag annehmen, und davor schrak er fast ebenso zurück. Er begann die Anwesenheit von Stella Ballantyne übel zu nehmen und er zeigte es. Manchmal verriet ihn eine so übermäßige Freundlichkeit, dass sie fast hysterisch war; gewöhnlicherweise ein Unbehagen und eine Anspannung. Er mied sie mit allen Mitteln, wie er nur konnte; wenn er sie nicht ganz meiden konnte, war eine geschäftliche Ausrede immer auf seinen Lippen. „Dein Vater hasst mich, Dick“, sagte er. „Er war mein Freund, bis ich sein eigenes Leben berührte. Dann war ich in einer Sekunde bei ihm schlecht angeschrieben.“ Dick wollte nichts davon hören. „Du warst überhaupt nie schlecht angeschrieben, Stella“, sagte er und tröstete sie so gut er konnte. „Wir wussten, dass es einen kleinen Kampf geben würde, nicht wahr? Aber das Schlimmste davon ist vorüber. Du schließt täglich Freundschaften.“ „Nicht mit deinem Vater, Dick. Ich gehe bei ihm zurück. Seit dieser Nacht ‐ es ist nun vor drei Wochen ‐ als du mich von Little Beeding nach Hause gebracht hast.“ 166
„Nein“, rief Dick, aber Stella nickte düster. „Mr. Pettifer aß an diesem Abend hier. Er ist ein Feind von mir.“ „Stella“, protestierte der junge Hazlewood, „du siehst überall Feinde“, und daraufhin brach Stella mit einem zitternden beunruhigten Gesicht aus. „Ist es wundervoll? Oh, Dick, ich könnte dich nicht verlieren! Vor einem Monat ‐ vor dieser Nacht ‐ ja. Nichts war gesagt worden. Aber jetzt! Ich könnte nicht, ich könnte nicht! Ich habe oft gedacht, es wäre besser für mich sofort zu gehen und dich nie wiederzusehen. Und ‐ und ich habe versucht, dir etwas zu sagen, Dick, so viele Male.“ „Ja?“, sagte Dick. Er hakte sich bei ihr ein und hielt sie fest an sich, wie um ihr Mut und Sicherheit zu geben. „Ja, Stella?“, und er stand sehr still. „Ich meine“, sagte sie und blickte auf den Boden „dass ich versucht habe, dir zu sagen, dass ich nicht so sehr leiden würde, wenn wir uns trennten, aber ich könnte das nie tun. Meine Lippen zittern so, ich könnte nie die Worte sprechen.“ Dann ging ihre Stimme in ein Lachen über. „Zu denken, dass du in einem Haus mit jemand anderem wohnst! Oh nein!“ „Du brauchst darüber keine Angst haben, Stella.“ Sie waren im Garten von Little Beeding und sie gingen über die Wiese zu ihrem Cottage und redeten sehr ernst. Mr. Hazlewood beobachtete sie heimlich vom Fenster der Bibliothek. Er sah, dass Dick flehte und sie zweifelnd hing; eine große Zorneswoge brauste über ihn, dass Dick sie überhaupt anflehen sollte, er, der alles gab ‐ sogar seine eigene Zukunft. „King’s Bench Walk“, murmelte vor sich hin und nahm aus der Lade seines Schreibtisches ein Stück Papier, auf die er die Adresse geschrieben hatte, damit er sich nicht vergessen würde. „Ja, das ist die Adresse“, und er sah sie lange Zeit sehr zweifelnd an. Angenommen, dass seine Verdächtigungen richtig waren! Sein Herz wurde bei der Annahme schwer. Sicher wäre er berechtigt, eine Falle zu stellen. Aber er schloss die Lade heftig und wandte sich vom Schreibtisch ab. Sogar seine Pamphlete waren in seinen Augen trivial geworden. Er war mit wahrer Leidenschaft und echten Fakten von Angesicht zu Angesicht gebracht worden, er war aus seinem Kloster geholt worden und
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blinzelte jämmerlich in vollem Ausmaß des Tageslichts. Wie lange konnte er es ertragen? fragte er sich. Die Frage wurde für ihn genau an dem Abend geklärt. Er und sein Sohn nahmen ihren Kaffee auf einer gefliesten Terrasse beim Rasen nach dem Abendessen ein. Es war eine dunkle ruhige Nacht mit einem klaren goldenen Sternenhimmel. Über die Wiese schienen die Lichter in die Fenster von Stellas Cottage. „Vater“, sagte Dick, nachdem sie für eine Weile in angespanntem Schweigen gesessen hatten, „warum magst du Stella nicht mehr?“ Der alte Mann polterte als Antwort: „Die Frage eines Anwalts, Richard. Ich erhebe sehr stark dagegen Einwände. Du nimmst an, dass ich aufgehört habe, sie zu mögen.“ „Es ist äußerst offenkundig“, sagte Dick trocken. „Stella hat es bemerkt.“ „Und sich bei dir natürlich beklagt“, rief Mr. Hazlewood ärgerlich. „Stella beklagt sich nicht“, und dann beugte sich Dick vor und sprach mit voll ruhiger Stimme, die sein Vater zu fürchten begonnen hatte. Da klang darin so viel des wahren Gefühls und der Entschlossenheit. „Es kann jetzt keinen Rückzieher geben. Wir sind beide darüber übereingekommen, nicht wahr? Stell dir für einen Augenblick vor, dass ich der Erste wäre, der sein Vertrauen an eine Frau herausstellte, die andere verdächtigten, indem ich mich mit ihr verlobe, und mich dann ihren Verdächtigungen anschließe, indem ich die Verlobung löse! Angenommen, dass ich das tun würde!“ Mr. Hazlewood erlaubte seinen Sehnsüchtigen, ihn auf Abwege zu bringen. Für einen Augenblick hoffte er. „Also?“, fragte er begierig. „Du würdest nicht sehr viel von mir halten, nicht wahr? Nicht du noch irgendein Mann. Ein Schweinehund ‐ das wäre das Wort, das einzige Wort, nicht wahr?“
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Aber Mr. Hazlewood weigerte sich, diese Frage zu beantworten. Er schaute hinter sich, um sich zu vergewissern, dass keiner der Diener in Hörweite war. Dann senkte er seine Stimme zu einem Flüstern. „Was, wenn Stella dich betrogen hat, Dick?“ Es war zu dunkel für ihn, um das Lächeln auf dem Gesicht seines Sohnes zu sehen, aber er hatte die Antwort gehört, und die Dreistigkeit davon machte ihn wütend. „Sie hat das nicht getan“, sagte Dick. „Wenn du dir über nichts sicher bist, Sir, bist du vielleicht über das, was ich dir jetzt sage, ganz sicher. Sie hat das nicht getan.“ Er blieb für ein paar Augenblicke still und wartete auf eine Erwiderung, und da er keine bekam, fuhr er fort: „Da ist etwas anderes, worüber ich mit dir sprechen wollte.“ „Ja?“ „Das Datum der Hochzeit.“ Der alte Mann bewegte sich heftig auf seinem Stuhl. „Es besteht keine Eile, Richard. Du musst herausfinden, wie es deine Karriere beeinträchtigen wird. Du bist so lange in Little Beeding, wo wir sehr wenig von der Außenwelt hören. Du musst deinen Colonel konsultieren.“ Dick Hazlewood wollte auf dieses Argument nicht hören. „Meine Hochzeit ist meine Angelegenheit, Sir, nicht die des Colonels. Ich kann keinen Rat annehmen, denn wir beide wissen, was er sein würde. Und wir beide schätzen ihn zu seinem richtigen Preis, nicht wahr?“ Mr. Hazlewood konnte nicht antworten. Wie oft hatte er gegen die Meinungen der eleganten weltlichen Menschen geschimpft, die Vorteile in einer Kolonne addiert und aus ihrer Überlegung die Verdienste des höheren Lebens ausgelassen.
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„Es wäre gegenüber Stella nicht fair, sollten wir sie bitten zu warten“, fuhr Dick fort. „Jede Verzögerung ‐ denke, was daraus gemacht wird! Ein Monat oder sechs Wochen von jetzt an, das gibt uns genug Zeit.“ Der alte Mann stand abrupt von seinem Stuhl mit einem vagen Wort auf, dass er darüber nachdenken würde, und ging in das Haus. Er sah wieder die Liebenden, wie er sie an diesem Nachmittag nebeneinander langsam zu Stella Ballantynes Cottage hatte gehen sehen; und das Bild sogar im Rückblick war unerträglich. Die Hochzeit darf nicht stattfinden ‐ doch war sie so nahe. Ein Monat oder sechs Wochen! Mr. Hazlewood hob seine Füllfeder auf und schrieb endlich den Brief an Henry Thresk, wie Robert Pettifer immer sicher gewesen war, dass er es tun würde. Es war die einfachste Art von Brief, nur eine Minute zu schreiben. Er erwähnte nur seine Miniaturen und lud Henry Thresk nach Little Beeding ein, sie zu sehen, wie mehr als ein Fremder zuvor gebeten worden war. Die Antworten, die Thresk auf die Fragen in Notes and Queries gegeben hatte, wurden als eine Anweisung eingesetzt und Thresk wurde eingeladen, seinen eigenen Tag zu wählen und für die Nacht in Little Beeding zu bleiben. Die Antwort kam postwendend. Thresk würde am Freitagnachmittag der nächsten Woche nach Little Beeding kommen. Er war in der Stadt, denn das Parlament tagte dieses Jahr lange. Er würde Little Beeding kurz nach fünf erreichen, sodass er eine Gelegenheit hätte, die Miniaturen bei Tageslicht zu sehen. Mr. Hazlewood eilte mit den Neuigkeiten zu Robert Pettifer hinüber. Seine Lebensgeister waren mit einem Sprung gestiegen. Schon sah er die Nachbarschaft der störenden Gegenwart von Stella Ballantyne befreit und sich fröhlich seine mannigfaltigen Beschäftigungen aufnehmen. Robert Pettifer jedoch sprach in einer ganz anderen Tonart. „Ich bin nicht so sicher wie du, Hazlewood. Die Punkte, die mich beunruhigen, sind wahrscheinlich ganz einfacher Erklärungen fähig. Ich hoffe für meinen Teil, dass sie so erklärt werden.“ „Du hoffst es?“, rief Mr. Hazlewood. „Ja. Ich will, dass Dick heiratet“, sagte Robert Pettifer. Mr. Hazlewood war jedoch nicht entmutigt. Er fuhr zu seinem Haus zurück und zählte die Tage, die vor Thresks Ankunft vergehen mussten, und fragte sich, wie er es schaffen sollte, seine Hochstimmung vor den scharfen Augen seines 170
Sohnes zu verbergen. Aber er fand, dass es keine Notwendigkeit für ihn gab, sich über diesen Punkt Sorgen zu machen, denn genau an diesem Morgen sagte Dick beim Mittagessen zu ihm: „Ich denke, dass ich heute Nachmittag in die Stadt hinauffahre, Vater. Ich könnte dort für ein oder zwei Tage sein.“ Mr. Hazlewood war entzückt. Kein anderer Vorschlag hätte so gut in seinen Plan passen können. Die bloße Tatsache, dass Dick fort war, würde die Leute veranlassen, an der freudigen Gelegenheit Unglücksfälle und Streitigkeiten zu mutmaßen. Vielleicht hatten die Liebenden wirklich gestritten. Vielleicht hatte Richard seinen Rat angenommen und war fort, seine Vorgesetzten zu Rate zu ziehen. Mr. Hazlewood prüfte das Gesicht seines Sohnes begierig, aber erfuhr nichts daraus; und er war zu erschöpft, um irgendwelche Fragen zu stellen. „Selbstverständlich, Richard“, sagte er sorglos, „fahre nach London! Du wirst bis nächsten Freitag zurück sein, vermute ich.“ „Oh ja, davor. Ich werde in meiner eigenen Wohnung bleiben, daher, wenn du mich brauchst, kannst du mir ein Telegramm schicken.“ Dick Hazlewood hatte eine kleine eigene Wohnung in einem Mietshaus in Westminster, die diesen Sommer sehr wenig von ihm gesehen hatte. „Danke, Richard“, sagte der alte Mann. „Aber ich werde sehr gut zurechtkommen, und ein paar Tage Abwechslung werden dir zweifellos guttun.“ Dick grinste seinen Vater an und fuhr an diesem Nachmittag ohne ein Wort des Abschieds an Stella Ballantyne fort. Mr. Hazlewood stand im Vorzimmer und sah ihn mit großer Erleichterung in seinem Herzen gehen. Alles schien sich endlich zu seinem Vorteil zu entwickeln. Er musste sich einfach erinnern, wie vor so wenigen Wochen er gedrängt hatte, dass Richard seinen Sommer in Little Beeding verbringen und bei dem edlen Werk zu helfen, Stella Ballantyne gegen Ignoranz und Unvernunft zu verteidigen. Aber die Gewissensbisse dauerten nur einen Moment. Er hatte einen Fehler gemacht, wie alle Männer gelegentlich tun ‐ ja, sogar scharfsinnige und nachdenkliche Leute wie er selbst. Und der Fehler wurde schon repariert. Er blickte über die Wiese an diesem
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Abend auf die erhellten Rollläden von Stellas Fenster und wartete auf einen Abend, wenn diese Fenster dunkel und das Cottage ohne Bewohner wäre. „Sehr bald“, murmelte er vor sich hin, „sehr bald.“ Er hatte jetzt keine Gewissensbisse wegen ihr, nicht eine einzige Vermutung, wohin sie gehen würde und was sie aus ihrem Leben machen würde. Seine eigene Verteidigung und ihre waren nun ein Fehler von ihr geworden. Er wünschte ihr nichts Schlechtes, argumentierte er, aber in einer Woche darf es dort kein Licht geben, das hinter diesen Rollläden scheint.
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Kapitel XXII Ein Weg aus der Falle Mr. Hazlewood war sehr froh, dass Richard fort in London während dieser Woche war. Aufregung hielt ihn fiebrig und das Fieber wuchs wie die Anzahl der Tage sich verringerte, bevor Thresk kommen sollte. Er wäre nie imstande gewesen, sein Geheimnis zu bewahren, hätte jede Mahlzeit ihn unter die Augen seines Sohnes gesetzt. Er war auch frei von Stella selbst. Er begegnete ihr nur einmal an dem Montag und dann war es auf dem tiefen Weg, der zur Stadt führt. Es war ungefähr fünf Uhr am Abend und sie fuhr im offenen Einspänner heimwärts. Mr. Hazlewood hielt ihn an und ging zur Seite. „Richard ist fort, Stella, bis Mittwoch, wie Sie zweifellos wissen“, sagte er. „Aber ich will, dass Sie herüber zum Tee kommen, wenn er zurückkommt. Wird Ihnen Freitag passen?“ Sie hatte ein wenig verängstigt geblickt, als Mr. Hazlewood dem Fahrer zugerufen und die Kutsche angehalten hatte; aber bei seinen Worten strömte das Blut in ihre Wangen und ihre Augen leuchteten und sie streckte ihre Hand impulsive hervor. „Oh, danke“, rief sie. „Natürlich werde ich kommen.“ Seit langer Zeit hatte er nicht mit so freundlicher Stimme und einem so ungetrübten Gesicht zu ihr gesprochen. Sie war hocherfreut über die Veränderung an ihm und zeigte ihm solche Dankbarkeit, wie sie nur jenen gegeben wird, die einen großen Dienst leisten, so stark war ihre Sehnsucht, Dick nicht seinem Vater zu entfremden. Aber sie war eine scharfsinnige Beobachterin unter dem Druck ihres bösen Schicksals: und sobald der Augenblick der Freude vergangen war, begann sie sich zu fragen, was die Veränderung herbeigebracht hatte. Sie beurteilte Mr. Hazlewood als einen von diesen schwachen und überschäumenden Charakteren, die im Groll halsstarriger werden können als andere, wenn ihr Stolz und ihre Selbstachtung eine Verletzung bekommen. Sie war in letzter Zeit den Windungen seiner Gedanken gefolgt. Sie schrieb das Ergebnis offen sich selbst zu.
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„Er hasst mich. Er hält mich in Schrecken.“ Warum dann die plötzliche Veränderung? Sie war in der Stimmung, bei Abenddämmerung loszugehen, und als eine kleine Nachricht am Freitagmorgen in Mr. Hazlewoods Handschrift zu ihr hinübergebracht wurde, war sie mit einer unbestimmten Ahnung erfüllt. Die Nachricht war freundlich in ihrem Wortlaut, doch für sie hatte sie ein bedrohliches und unheimliches Aussehen. War ein Schlag gegen sie geplant? Sollte er heute Nachmittag ausgeteilt werden? Dick kam um halb fünf von einem Dorfkricketmatch, um sie abzuholen. „Bist du bereit, Stella? Gut! Denn wir können nicht sehr viel Zeit erübrigen. Ich habe eine Überraschung für dich.“ Stella fragte ihn, was es war, und er antwortete: „Da ist ein Haus in Great Beeding zu verkaufen. Ich denke, dass es dir gefallen wird.“ Stellas Gesicht wurde sanft mit einem Lächeln. „Überall, Dick“, sagte sie, „überall auf der Erde.“ „Aber hier am liebsten“, antwortete er. „Nicht davonlaufen ‐ das ist unsere Politik. Wir machen unser Zuhause in unserem eigenen südlichen Land. Ich organisierte es, dich zwischen halb sechs und sechs heute Abend hinüber zum Haus zu bringen.“ Sie gingen hinüber nach Little Beeding und wurden von Mr. Hazlewood willkommen geheißen. Er kam heraus, um ihnen im Garten entgegenzugehen und die Nervosität machte in verspielt und ausgelassen. „Wie geht es Ihnen, Stella?“, fragte er. „Aber es besteht keine Notwendigkeit zu fragen. Sie sehen reizend aus, und auf mein Wort, Sie werden jeden Tag jünger. Was für ein hübscher Hut! Ja, ja! Wollen Sie Tee machen, während ich die Pettifers anrufe? Sie scheinen spät dran zu sein.“ Er hüpfte davon mit einer Munterkeit, die ziemlich lächerlich war. Aber Stella sah ohne Vergnügen zu, wie er ging. „Ich stehe wieder in Gunst“, sagte sie zweifelnd.
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„Das sollte dich nicht bekümmern, Stella“, erwiderte Dick. „Doch tut es das, denn ich frage mich, warum. Und ich verstehe diese Teeparty nicht. Mr. Hazlewood war so eindringlich, dass ich sie nicht vergessen sollte. Vielleicht jedoch bilde ich mir Probleme ein.“ Sie schüttelte sich von ihrer Vorahnung frei und folgte Dick in das Wohnzimmer, wo der Kessel kochte und das Teeservice aufgedeckt war. Stella ging zu dem Tisch und öffnete die kleine Mahagoniteebüchse. „Wie viele kommen, Dick?“, fragte sie. „Die Pettifers.“ „Meine Feinde“, sagte Stella und lachte leichthin. „Und du und mein Vater und ich.“ „Fünf insgesamt“, sagte Stella. Sie begann den Tee in den Teekessel abzumessen, aber hörte plötzlich mitten in der Arbeit auf. „Aber da sind sechs Tassen“, sagte sie. Sie zählte sie wieder, um sich zu vergewissern, und sofort wurden ihre Befürchtungen wieder geweckt. Sie wandte sich an Dick, ihr Gesicht ganz blass und ihre großen Augen dunkel vor Vorahnungen. So wenig wurde jetzt benötigt, um sie zu beunruhigen. „Wer ist der Sechste?“ Dick kam näher zu ihr und legte seine Arme um ihre Taille. „Ich weiß es nicht“, sagte er sanft; „aber was kann es für uns bedeuten, Stella? Denke, meine Liebe!“ „Nein, natürlich“, erwiderte sie, „es kann keinen Unterschied machen“, und sie tauchte ihren Teelöffel noch einmal in die Teebüchse. „Aber es ist ein wenig merkwürdig, nicht wahr ‐ dass dein Vater dir gegenüber nicht erwähnte, dass es noch einen anderen Gast gibt?“ „Oh, Moment mal“, sagte Dick. Er sagte mir, dass es heute hier einen Gast geben würde, aber ich vergaß es ganz. Er sagte es mir beim Mittagessen. Da kommt ein Mann aus London herunter, um einen Blick auf seine Miniaturen zu werfen.“
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„Seine Miniaturen?“ Stella goss das heiße Wasser in den Teekessel. Sie stellte den Kessel wieder auf seinen Platz und schloss die Teebüchse. „Und Mr. Hazlewood sagte dir nicht den Namen des Mannes“, sagte sie. „Ich fragte ihn nicht“, antwortete Dick. „Er hat oft Sammler unten.“ „Ich verstehe.“ Ihr Kopf war über den Teetisch gebeugt: sie war mit ihrem Teekochen beschäftigt. „Und ich wurde insbesondere gebeten, heute Nachmittag zu kommen. Ich hatte heute Morgen eine Nachricht, um mich zu erinnern.“ Sie blickte auf die Uhr. „Dick, wenn wir dieses Haus heute Nachmittag ansehen sollen, solltest du dich lieber umziehen, bevor die Gäste kommen.“ „Das ist wahr. Werde ich.“ Dick ging zur Tür und er hörte Stella flink hinter sich herkommen. Er drehte sich um. Da war so viel Beunruhigung auf ihrem Gesicht. Er nahm sie in seine Arme. „Dick“, flüsterte sie, „schau mich an. Küss mich! Ja, ich bin mir deiner sicher“, und sie klammerte sich an ihn. Dick Hazlewood lachte. „Ich denke, wir sollten ziemlich glücklich in dem Haus sein“, und sie ließ ihn mit einem Lächeln los, wobei sie ihre eigenen Worte wiederholte: „Überall, Dick, überall auf der Erde.“ Sie wartete, wobei sie ihn zärtlich nachsah, bis die Tür geschlossen war. Dann bedeckte sie ihr Gesicht mit ihren Händen und ein Schluchzer brach von ihren Lippen. Aber im nächsten Augenblick riss sie ihre Hände weg und schaute sich wild im Zimmer um. Sie rannte zum Schreibtisch und kritzelte eine Notiz; sie steckte sie in einen Umschlag und klebte den Kuvertverschluss sicher zu. Dann läutete sie die Glocke und wartete ungeduldig mit hüpfendem Herzen, bis Hubbard zur Tür kam. „Haben Sie geläutet, Madam?“, fragte er. „Ja. Ist Mr. Thresk schon angekommen?“ Sie versuchte, ihr Gesicht zu kontrollieren, um mit sorgloser und gleichgültiger Stimme zu sprechen, aber ihr war schwindelig und das Zimmer drehte sich vor ihren Augen.
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„Ja, Madam“, antwortete der Butler; und es schien Stella Ballantyne, dass sie wieder auf der Anklagebank saß und das Urteil gesprochen hörte. Nur dieses Mal war es gegen sie gerichtet. Dieser komische alte schlurfende Butler wurde eine Schicksalsgestalt, seine dünne und piepsende Stimme äußerte ihre Verurteilung. Denn hier ohne ihr Wissen war Henry Thresk und sie wurde gebeten, ihm mit den Pettifers als Zeugen zu begegnen. Aber es war Henry Thresk, der sie vorher gerettet hatte. Sie klammerte sich nun an diese Tatsache. „Mr. Thresk traf vor ein paar Minuten ein.“ Bevor der alte Hazlewood aus dem Haus gekommen war, um sie zu begrüßen! Kein Wunder, dass er in solcher Hochstimmung war! Sehr wahrscheinlich war diese große Zurschaustellung an Freundlichkeit und Willkommen nur gemacht, um sie im Garten für ein paar notwendige Augenblicke zu halten. „Wo ist jetzt Mr. Thresk?“, fragte sie. „In seinem Zimmer, Madam.“ „Sie sind ganz sicher?“ „Ganz.“ „Wollen Sie ihm diese Nachricht bringen, Hubbard?“, und sie hielt sie dem Butler entgegen. „Gewiss, Madam.“ „Wollen Sie sie sofort bringen? Geben Sie sie bitte in seine Hände.“ Hubbard nahm die Nachricht und ging aus dem Zimmer. Niemals war er ihr so hinhaltend und langsam vorgekommen. Sie starrte auf die Tür, als ob ihr Blick die Täfelungen durchbohren könnte. Sie stellte sich vor, wie er die Treppe mit Füßen, die bei jedem erneuten Schritt mehr schlenderten, hinaufging. Jemand würde ihn sicher aufhalten und fragen, für wen der Brief bestimmt war. Sie ging zur Tür, die auf den Flur führte, öffnete sie und horchte. Niemand kam die Treppe hinunter und sie hörte keine Stimmen. Dann über ihr klopfte Hubbard an eine Tür, ein Schnappschloss klickte, als die Tür geöffnet wurde, ein hohles, kreischendes Geräusch folgte, als die Tür heftig geschlossen wurde. Stella ging zurück in das Zimmer. Der Brief war übergeben worden; in diesem Augenblick las Henry Thresk ihn; und mit schwerem Herzen begann sie zu spekulieren, in 177
welcher Stimmung er ihre Nachricht erhalten würde. Henry Thresk! Die unglückliche Frau raffte sich auf, sich an ihn zu erinnern. Er war in letzter Zeit undeutlich für sie geworden. Wie viel wusste sie von ihm? fragte sie sich. Einst vor Jahren hatte es einen Monat gegeben, währenddessen sie sich täglich mit ihm getroffen hatte. Sie hatte ihm ihr Herz gegeben, doch hatte sie wenig oder nichts von dem Mann erfahren. Sie hatte nicht einmal seine Bekanntschaft gemacht. Das hatte sich ihr an einem denkwürdige Morgen auf der Kuppe von Bignor Hill erwiesen, als die Demütigung sie so tief ergriffen hatte, dass erst während dieses letzten Monats sie geheilt worden war. Im höchsten Grade ihres Lebens hatte Henry Thresk entschieden, nicht sie, und er war für sie ein Fremder. Sie schlug ihre armseligen Flügel vergebens gegen diesen ironischen Takt. Niemals hatte sie getan, was sie erwartet hatte. Auf Bignor Hill, im Gericht in Bombay, hatte er sie gleichermaßen überrascht. Was würde er entscheiden? Was hatte er entschieden? „Ja, er wird jetzt entschieden haben“, sagte Stella zu sich; und eine gewisse Ruhe fiel auf ihre beunruhigte Seele. Was auch immer sein sollte, wurde nun bestimmt. Sie ging zurück zum Teetisch und wartete. Henry Thresk hatte nicht viel von Romantik in seinem Charakter. Er war ein beschäftigter Mann, der das Beste aus den Belohnungen machte, die die Jahre ihm brachten und jeden Tag die Tür dem Tag, der vergangen war, vor der Nase zuschlug. Er verdiente seinen Lebensunterhalt in der intellektuellen Ausübung seines Berufs und seiner Mitgliedschaft des Unterhauses. Auf die Tiefen der Emotionen hatte er einen Deckel geschlossen. Doch hatte er sich mit einem vagen Widerwillen nach Little Beeding auf den Weg gemacht; und sobald sein Wagen durch Hindhead gefahren und in das Waldgebiet von Sussex eingetaucht war, war der Widerwille zu einem bestimmten Bedauern gewachsen, dass er noch einmal in dieses Land kommen sollte. Seine Erinnerungen waren an eine undeutliche ferne Zeit, so undeutlich, dass er kaum glauben konnte, dass eine sehr enge Beziehung zu den jungen, sich abmühenden Mann hatte, der dort seinen ersten echten Urlaub verbracht hatte. Aber der junge Mann war er selbst gewesen und er hatte seine Gelegenheit hoch oben in dem Hügelland von Arundel verpasst. Worte, die Jane Repton in Bombay gesprochen hatte, kamen zurück zu ihm an diesem Sommernachmittag wie ein Refrain zu dem ständigen Summen in seinem Ohr.
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„Man kann bekommen was man will, solange man es genug will, aber man kann den Preis nicht kontrollieren, den man zu bezahlen haben wird.“ Er hatte Little Beeding erst ein paar Augenblicke, bevor Dick und Stella in den Garten gekommen waren, erreicht. Er war von Hubbard in die Bibliothek geführt worden, wo Mr. Hazlewood saß. Von den Fenstern hatte er sogar das strohgedeckte Cottage gesehen, wo Stella Ballantyne wohnte, und seinen winzigen Garten, fröhlich mit Blumen. „Es ist äußerst liebenswürdig von Ihnen zu kommen“, hatte Mr. Hazlewood gesagt. „Seit wir unsere kleine Korrespondenz hatten, bin ich bestrebt gewesen, Ihre Meinung über meine Sammlung einzuholen. Jedoch wie um alles auf der Welt Sie es schaffen, Zeit zu finden, überhaupt eine Meinung über das Thema zu finden, ist äußerst verwirrend. Ich öffne nie die Times, ohne Ihren Namen in einigen wichtigen Fällen auftauchen zu sehen.“ „Und ich, Mr. Hazlewood“, erwiderte Thresk mit einem Lächeln, „öffne nie meine Post, ohne ein Pamphlet von Ihnen zu erhalten. Ich bin nicht der einzige aktive Mann auf der Welt.“ Sogar in dem Augenblick wurde Mr. Hazlewood vor Freude über die Schmeichelei rot. „Kleine Überlegungen“, rief er mit bescheidenster Missbilligung, „entwickeln sich mehr oder weniger zur Vollständigkeit ‐ darf ich das sagen? ‐ in der Ruhe des ländlichen Lebens, Funken von der winzigen Flamme meines Mitternachtsöls.“ Er hob ein Pamphlet von einem Stapel bei seinem Schreibtisch auf. „Sie haben vielleicht Interesse, Die Gefängnismauern anzusehen.“ Thresk zuckte zurück. „Ich habe meines, Mr. Hazlewood“, sagte er förmlich. „Jeder Mann in England sollte eines haben. Kein Mann in England hat ein Recht auf zwei.“ Mr. Hazlewood zitterte ziemlich vor Befriedigung. Hier war ein angesehener Mann von der Außenwelt der Angelegenheiten, der seine Werke kannte und sie schätzte. Offensichtlich hatte er also recht, diese wenigen Biegungen und Windungen zu nehmen, die ihm einen freien Sinn versichern würden, seinen
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Arbeiten nachzugehen. Er sah jedoch hinunter auf das Pamphlet, und seine Befriedigung war verglichen damit eine Kleinigkeit. „Ich bin nicht ganz sicher, dass dies mein bestes Werk ist“, sagte er zaghaft ‐ „ein wenig gefährlich vielleicht.“ „Würden Sie das sagen?“, fragte Thresk. „Ja, tatsächlich.“ Mr. Hazlewood hatte das Gehabe von jemandem, der ein beachtliches Zugeständnis machte. „Der Titel ist ungenau. Die Gefängnismauern dürfen keinen Schatten werfen.“ Er wiederholte den Satz mit einer gewissen Inbrunst. „Der Rhythmus ist vielleicht nicht falsch, aber die Metapher ist nicht wahr. Mein Sohn zeigte sie mir auf. Wie er sagt, alle Mauern werfen Schatten.“ „Ja“, sagte Thresk. „Das Problem ist zu wissen, wohin und auf wen der Schatten fallen wird.“ Mr. Hazlewood war durch die sorglosen Worte erschrocken. Er kam schwer auf die Erde. Alles war noch nicht ganz für den kleinen Trick bereit, der ausgedacht worden war. Die Pettifers waren nicht eingetroffen. „Vielleicht möchten Sie Ihr Zimmer sehen, Mr. Thresk“, sagte sie. „Ihre Tasche ist zweifellos nach oben gebracht worden. Wir werden uns die Miniaturen nach dem Tee ansehen.“ „Ich werde entzückt sein“, sagte Thresk, als er Hazlewood zur Tür folgte. „Aber Sie dürfen von mir nicht zu viel Kenntnis erwarten.“ „Oh!“, rief sein Gastgeber lachend. „Pettifer sagt mir, dass Sie eine große Autorität sind.“ „Dann hat Pettifer unrecht“, sagte Thresk und hielt inne. „Pettifer? Pettifer? Ist er nicht ein Solicitor?“ „Ja, er sagte mir, dass er sie kenne. Er heiratete meine Schwester. Sie kommen beide zum Tee.“ Damit führte er Thresk zu seinem Zimmer und verließ ihn dort. Das Zimmer war über der Veranda des Hauses und blickte hinunter auf die kurze Auffahrt zu den Eisentoren und dem Weg. Es war ein vertrauter Boden für Thresk oder eher für 180
den anderen Mann, mit dem Thresks einzige Verbindung ein dumpfes Pochen in seinem Herzen war, ein seltsames Unbehagen und eine Unannehmlichkeit. Er lehnte sich aus dem Fenster. Er konnte den Fluss zwischen den Grasböschungen am Boden des Gartens hinter sich hören. Er würde ihn während der Nacht hören. Dann klopfte es an der Tür, und er bemerkte es nicht sofort. Es wurde wiederholt und er drehte sich um und sagte: „Herein!“ Hubbard näherte sich mit einem Briefchen auf dem Silbertablett. „Mrs. Ballantyne bat mich, Ihnen das sofort zu geben, Sir.“ Thresk starrte den Butler an. Der Name war so passend zu seinen Gedanken, dass er nicht glaube, dass er geäußert worden war. Aber das Silbertablett wurde ihm entgegengehalten und die Handschrift auf dem Kuvert beseitigte seine Gedanken. Er hob ihn auf, sagte „Danke“ mit geistesabwesender Stimme und wartete, bis die Tür wieder geschlossen wurde und war allein. Das letzte Mal, als er diese Handschrift gesehen hatte, war vor achtzehn Monaten. Eine kleine Dankesschrift, mit Tränen verwischt und hastig hingekritzelt und ohne Adresse versehen, war ihm in Bombay ausgehändigt worden. Sie war nun hier in Little Beeding und seine Beziehung zu dem jungen, am Hungertuch nagenden Barrister vor zehn Jahren wurde aktuell und nah. Er riss das Kuvert auf und las. „Seien Sie vorbereitet, mich zu sehen. Seien Sie vorbereitet, Neuigkeiten von mir zu hören. Ich werde mit Ihnen hinterher reden, wenn Sie wollen. Das ist eine Falle. Seien Sie so freundlich.“ Er stand für eine Weile mit dem Brief in seiner Hand und spekulierte über seine Bedeutung, bis die Räder des Wagens knirschten auf dem Kies unter seinem Fenster. Die Pettifers waren gekommen. Aber Thresk war nicht in Eile, hinunterzugehen. Er las die Nachricht mehrere Male durch, bevor er sie in seiner Briefmappe versteckte und die Treppe hinunterging.
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Kapitel XXIII Methode aus Frankreich In der Zwischenzeit wartete Stella Ballantyne unten. Sie hörte Mr. Hazlewood im Vorzimmer die Pettifers mit der falschen Jovialität begrüßen, die ihm so schlecht stand; sie stellte sich das scheue Nicken und die Blicke vor, die ihnen sagten, dass die Falle richtig gestellt war. Mr. Hazlewood führte sie in das Zimmer. „Ist der Tee fertig, Stella? Wir werden nicht auf Dick warten“, sagte er und Stella nahm ihren Platz am Tisch ein. Sie hatte ihren Rücken zur Tür, durch die Thresk eintreten würde. Sie hatte keinen Zweifel, dass so ihr Stuhl absichtlich gestellt worden war. Er würde in dem Zimmer und in der Nähe des Tisches sein, bevor er sie sah. Er würde keinen Augenblick haben, sich auf die Überraschung ihrer Anwesenheit vorzubereiten. Stella horchte nach dem Klang seiner Schritte im Vorzimmer; ihr fiel kein einziges Thema ein, um darüber zu reden, außer der Anwesenheit dieser zusätzlichen sechste Tasse; und die dufte sie nicht erwähnen, wenn der Spieß gegen ihre Widersacher umgedreht werden sollte. Erstaunen muss ihrerseits sichtbar sein, wenn Thresk hereinkam. Aber sie war nicht allein, die Unterhaltung schwierig zu finden. Verlegenheit und Erwartung wogen auf beiden Parteien, sodass sie plötzlich zu sprechen begannen und gleichzeitig aufhörten. Pettifer jedoch fragte, ob Dick Kricket spielte, und gab so Harold Hazlewood eine Gelegenheit. „Nein, das Match war früh vorbei“, sagte der alte Mann und er ließ sich in seinem Lehnstuhl nieder. „Ich habe das Thema Kricket studiert“, sagte er. „Sie?“, fragte Stella mit einem überraschten Lächeln. Schindete er bloß Zeit, fragte er sich. Aber er hatte den Anschein der Zufriedenheit, mit der er gewöhnlich seine ausführlichen Abhandlungen begann. Ja. Ich betrachte unseren nationalen Zeitvertreib nicht unter der Aufmerksamkeit eines Philosophen. Ich habe zwei Theorien über das Spiel geformt.“ „Ich bin mir sicher darüber“, warf Robert Pettifer ein.
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„Und ich habe zwei Verbesserungen erfunden, obwohl ich sofort zugebe, dass sie bis zu einem aufgeklärteren Zeitalter als unseres warten muss. Erstens“ ‐ und Mr. Hazlewood fuchtelte mit einem Zeigefinger in der Luft ‐“sollte das Spiel mit einem weichen Ball gespielt werden. Es gibt einen gegenwärtigen Anflug von Gewalt darüber, was den Gebrauch eines weichen Balls gänzlich beseitigen würde.“ „Gänzlich“, stimmte Mr. Pettifer zu und seine Frau rief ungeduldig aus: „Unsinn, Harold, Unsinn!“ Stella fiel nervös in die Unterhaltung ein. „Gewalt? Nanu, sogar Frauen spielen Kricket, Mr. Hazlewood.“ „Ich kann nicht, Stella“, entgegnete er, „die Ansicht akzeptieren, dass das, was Frauen tun, notwendigerweise richtig sein muss. Es gibt gegenteilige Beispiele.“ „Ja. Ich stoße auf einige davon in meinem Büro“, sagte Robert Pettifer grimmig; und wieder schien Verlegenheit auf die Gesellschaft herabzusteigen. Aber Mr. Hazlewood war bei einem Lieblingsthema. Seine Augen glitzerten und der Zweck der Zusammenkunft verschwand für einen Augenblick aus seinen Gedanken. „Und zweitens“, fuhr er fort, „die Verlierer sollten angesehen werden, das Spiel gewonnen zu haben.“ „Ja, das muss richtig sein“, sagte Pettifer. „Auf mein Wort, du bist in Form, Hazlewood.“ „Aber warum?“, fragte Mrs. Pettifer. Harold Hazlewood lächelte sie wie ein Kind an und erklärte: „Denn durch das Annehmen dieses Systems würde man etwas tun, um den Rivalitätsgeist auszurotten, den Wunsch zu gewinnen, den Ehrgeiz, jemand anderen zu schlagen, was die Grundlage der Hälfte unserer Probleme ist.“ „Und all unseres nationalen Erfolges“, sagte Pettifer.
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Hazlewood klopfte seinem Schwager auf die Schulter. Er blickte ihn nachsichtig an. „Du bist ein Tory, Robert“, sagte er und deutete dieses Argument mit einem, das bloße Sinnlosigkeit war, an. Er hatte noch immer seine Hand auf Pettifers Schulter, als sich die Tür öffnete. Stella sah an der Veränderung in seinem Gesicht, dass es Thresk war, der eintrat. Aber sie bewegte sich nicht. „Ah“, sagte Mr. Hazlewood. „Kommen Sie herüber und nehmen Sie eine Tasse Tee. Thresk kam vorwärts zu dem Tisch. Er schien sich ganz und gar unbewusst zu sein, dass die Augen der beiden Männer auf ihm waren. „Danke. Ich möchte gerne eine“, sagte er und bei dem Klang seiner Stimme drehte sich Stella Ballantyne auf dem Stuhl herum. „Sie!“, rief sie und der Schrei war in einer Tonhöhe der Freude und des Willkommens. „Natürlich kennen Sie Mrs. Ballantyne“, sagte Hazlewood. Er sah Stella sich vom Stuhl erheben und ihre Hand Thresk mit glühender Farbe auf ihre Wangen entgegenstrecken. „Sie sind überrascht, mich wiederzusehen“, sagte sie. Thresk nahm höflich ihre Hand. „Ich bin entzückt, Sie wiederzusehen“, antwortete er. „Und ich, Sie zu sehen“, sagte Stella, „denn ich habe nie die Gelegenheit gehabt, Ihnen zu danken“, und sie sprach mit so viel Offenheit, dass sogar Pettifer in seinen Verdächtigungen erschüttert war. Sie wandte sie an Mr. Hazlewood mit einer Parodie der Entrüstung. „Wisse Sie, Mr. Hazlewood, dass Sie eine sehr grausame Sache getan haben?“ Mr. Hazlewood war ausgesprochen aus der Fassung durch das Versagen seines Komplotts gebracht, und als Stella ihn so direkt angriff, zweifelte er nicht, dass sie seinen Verrat erahnt hatte. „Ich?“, keuchte er. „Grausam? Wie?“
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„Mir nicht vorher zu sagen, dass ich einen so guten Freund von mir treffen sollte.“ Ihr Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln, als sie hinzufügte: „Ich hätte mir zu seinen Ehren mein bestes Kleid angezogen.“ Zweifellos trug Stella die Ehre dieser Begegnung davon. Sie hatte sofort die Schlacht auf Hazlewoods eigenem Boden mit Mut vorangetrieben und ihn überwältigt und verwirrt. Aber das Ende war noch nicht. Mr. Hazlewood wartete auf seinen Sohn Richard, und als Richard erschien, rief er aus: „Ah, hier ist mein Sohn. Lassen Sie mich ihn Ihnen vorstellen, Mr. Thresk. Und da ist die Familie.“ Er lehnte sich zurück, mit einem Lächeln in seinen Augen, wobei er Henry Thresk beobachtete. Robert Pettifer beobachtete auch. „Die Familie?“, fragte Thresk. „Ist Mrs. Ballantyne eine Verwandte von Ihnen?“ „Sie wird es“, sagte Dick. „Ja“, erklärte Mr. Hazlewood, der noch immer strahlte und wachsam war. „Richard und Stella werden heiraten.“ Eine Pause folgte, die kaum wahrnehmbar war, bevor Thresk wieder sprach. Aber er hatte sein Gesicht unter Kontrolle. Er nahm den Schlag ohne zusammenzufahren. Er wandte sich mit einem Lächeln an Dick. „Manche Männer haben das ganze Glück“, sagte er und Dick, der in verwirrt angesehen hatte, rief: „Mr. Thresk? Nicht der Mr. Thresk, dem ich so viel schulde?“ „Genau der Mann“, sagte Thresk und Dick strecke ihm ernst seine Hand entgegen. „Danke“, sagte er. „Wenn ich an das schreckliche Netz des Zweifels und der Anmaßung denke, in das Stella verstrickt war, sage ich Ihnen, dass es mir sogar jetzt kalte den Rücken runterläuft. Wenn Sie mit Ihren Fakten nicht vorwärtsgekommen wären ‐“ „Ja“, warf Thresk ein. „Wenn ich mit meinen Fakten nicht vorwärtsgekommen wäre. Aber ich konnte sie nicht gut für mich behalten, nicht wahr?“ Und ein paar weitere Worte wurden gesagt und dann erhob sich Dick aus seinem Stuhl. 185
„Die Zeit ist um, Stella“, und er erklärte Henry Thresk: „Wir müssen uns heute Nachmittag ein Haus ansehen.“ „Ein Haus? Ja, ich verstehe“, sagte Thresk, aber er sprach langsam und es war nur ein leichter zweifelnder Tonfall in seiner Stimme zu hören. Stella hörte ihn; sie hörte ihn, als ihre zwei Widersacher nichts bemerkten. „Aber, Dick“, sagte sie schnell, „wir können die Inspektion verschieben.“ „Nicht von mir aus“, erwiderte Thresk. „Es besteht dafür keine Notwendigkeit.“ Er sah Stella nicht an, während er sprach und sie sehnte sich danach, sein Gesicht zu sehen. Sie musste genau wissen, wie sie bei ihm stand, was er von ihr dachte. Sie wandte sich impulsiv an Mr. Hazlewood. „Ich bin nicht gefragt worden, aber darf ich zum Abendessen kommen? Sie verstehen, ich schulde Mr. Thresk eine Menge.“ Mr. Hazlewood war für den Augenblick ratlos. Er hatte nicht die Hoffnung verloren, dass zwischen jetzt und der Abendessenszeit Erklärungen gegeben werden würden, die Stella Ballantyne ganz und gar aus Little Beeding verbannen würden. Aber er hatte keine Ausrede bereit und er stotterte heraus: „Natürlich, meine Liebe. Habe ich Sie nicht gefragt? Ich muss es vergessen haben. Natürlich erwarte ich, dass Sie heute Abend mit uns speisen. Margaret wird zweifellos hier sein.“ Margaret Pettifer hatte wenig Anteil an der Unterhaltung am Teetisch genommen. Sie saß in steifer Feindseligkeit und sprach nur, wenn die Höflichkeit es gebot. Sie nahm die Einladung ihres Bruders einsilbig an. „Danke“, sagte Stella und stand Henry Thresk gegenüber und blickte ihm direkt in die Augen, aber wagte nicht, besonderen Nachdruck auf die Worte zu legen: „Dann werde ich Sie heute Abend sehen.“ Thresk las in ihrem Gesicht ein Gebet, dass er seine Hand halten sollte, bis sie eine Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. Sie wandte sich ab und ging mit Dick Hazlewood aus dem Zimmer. Der alte Mann erhob sich, sobald die Tür geschlossen wurde.
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„Nun könnten wir einen Blick auf die Miniaturen werfen, Mr. Thresk. Du wirst uns entschuldigen, Margaret, nicht wahr?“ „Natürlich“, antwortete sie auf ein Nicken von ihrem Mann. Die beiden Männer gingen durch die Türen in die große Bibliothek, während Thresk sich von Mrs. Pettifer förmlicher verabschiedete; und als Hazlewood die Laden seines Schrankes öffnete, sagte Pettifer flüsternd: „Das war ein ziemlich guter Fehlschlag, muss ich sagen. Und es war auch meine Idee.“ „Ja“, erwiderte Hazlewood mit leiser Stimme. „Was denkst du?“ „Dass sie kein Geheimnis teilen.“ „Du bist also zufrieden?“ „Ich sagte das nicht“, und Thresk selbst erschien in der Tür und ging hinüber zum Schreibtisch, auf den Hazlewood gerade eine Lade gelegt hatte, in der Miniaturen angeordnet waren. „Ich bin Ihnen nicht begegnet“, sagte Pettifer, „seit Sie für uns in dem großen Birminghamer Testamentsprozess führten.“ „Nein“, antwortete Thresk, als er seinen Platz am Tisch nahm. „Es war nicht ganz so ein zäher Kampf, wie ich erwartete. Sie verstehen, es gab wirklich nicht einen zuverlässigen Zeugen für die Verteidigung.“ „Nein“, sagte Pettifer grimmig. „Wenn es ihn gegeben hätte, wären wir geschlagen worden.“ Mr. Hazlewood begann, diese und jene Miniatur seiner Sammlung hervorzuheben, wobei er sich über Thresk beugte, als er das tat. Es schien, dass die beiden Sammler in ihrem gemeinsamen Hobby ganz vertieft waren, bis Robert Pettifer das Zeichen gab. Dann begann Mr. Hazlewood: „Ich bin sehr froh, Sie kennen zu lernen, Mr. Thresk, für Gründe ganz außerhalb meiner Miniaturen.
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Er sprach mit einer merklichen Unbeholfenheit, doch Henry Thresk missachtete es gänzlich. „Oh!“, sagte er sorglos. „Ja. Da ich Richards Vater bin, bin ich natürlich beinahe an allem interessiert, was ihn angeht ‐ den Prozess von Stella Ballantyne zum Beispiel.“ Thresk beugte seinen Kopf hinunter über das Schubfach. „Recht so“, sagte er. Er zeigte zu einer Miniatur. „Ich sah diese bei Christie’s und begehrte sie selbst.“ „Wirklich“, fragte Mr. Hazlewood und er bot es fast wie eine Bestechung an. „Nun, Sie sagten aus, Mr. Thresk.“ Thresk hob nie seinen Kopf. „Sie haben zweifellos die Aussage gelesen, die ich abgab“, sagte er und blickte von diesem zarten Schmuckstück des Kunstmalers zu jenem. „Sicher.“ „Und da Ihr Sohn mit Mrs. Ballantyne verlobt ist, vermute ich, dass Sie damit zufrieden waren“ ‐ und er hielt inne, um seinen nächsten Worten eine Kleinigkeit an Bedeutung zu geben ‐ „wie die Geschworenen es waren.“ „Ja, natürlich“, stotterte Mr. Hazlewood, „aber ein Zeuge, denke ich, beantwortet nur die Fragen, die ihm gestellt werden.“ „Das stimmt“, sagte Thresk, „wenn er ein kluger Zeuge ist.“ Er nahm eine der Miniaturen aus der Lade und hielt sie ans Licht. Aber Mr. Hazlewood war nicht abzuschrecken. „Und nachfolgende Überlegungen“, fuhr er hartnäckig fort, „könnten andeuten, dass alle Fragen, die Licht auf den Prozess werfen könnten, nicht gestellt worden waren.“ Thresk legte wieder die Miniatur in die Lade vor sich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er blickte nun Hazlewood direkt an. „Es war nicht, nehme ich an, um mir diese Fragen zu stellen, dass Sie freundlich genug waren, Mr. Hazlewood, mich zu bitten, meine Meinung über Ihre 188
Miniaturen zu geben. Denn das wäre, mir eine Falle gestellt zu haben, nicht wahr?“ Hazlewood starrte Thresk mit der höflichen Unschuld eines Kindes an. „Oh nein, nein“, erklärte er und dann strahlte ein einschmeichelndes Lächeln auf seinem langen Gesicht. „Nur, da Sie hier sind und da so viel für mich ‐ für das Glück meines Sohnes ‐ auf dem Spiel steht, hoffte ich, dass Sie uns vielleicht ein oder zwei Antworten geben könnten, die die Zweifel einiger misstrauischen Leute zerstreuen könnten. „Wer sind sie?“, fragte Thresk. „Nachbarn von uns“, erwiderte Hazlewood und darauf schritt Robert Pettifer nach vor. Er war zurückhaltend und still bis zu diesem Augenblick geblieben. Nun sprach er kurz, aber er kam auf den Punkt: „Ich zum einen.“ Thresk wandte sich mit einem Lächeln Pettifer zu. „Ich dachte es. Ich erkannte Mr. Pettifers Hand in allem darin. Aber er sollte wissen, dass eine plötzliche Konfrontation von verdächtigen Personen mit unerwarteten Zeugen, in den Ländern, wo die Methode ausgeübt wird, vor dem Prozess stattfindet; nicht wie Sie sie naiverweise heute Nachmittag organisierten, zwei Jahre, nachdem das Urteil gefällt worden war. Robert Pettifer wurde rot. Dann blickte er wunderlich über den Tisch zu seinem Schwager. „Wir sollten lieber reinen Tisch machen, Hazlewood.“ „Ich denke es“, sagte Thresk freundlich. Pettifer kam einen Schritt näher. „Wir haben unrecht“, sagte er offen heraus. „Aber wir haben eine Entschuldigung. Unsere Sorge ist sehr groß. Hier ist mein Schwager, um anzufangen, dessen ganzes Glaubensbekenntnis des Lebens gewesen ist, die Autorität des konventionellen Mannes zu verhöhnen ‐ gegen die bestehende Meinung loszuziehen. Mrs. Ballantyne kommt zurück von ihrem Prozess in Bombay, um sich wieder in Little Beeding häuslich einzurichten. Hazlewood verteidigt sie – nicht um ihretwillen, sondern um seiner Theorien
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willen. Es schmeichelt seiner Eitelkeit. Nun kann er beweisen, dass er nicht wie die anderen ist.“ Mr. Hazlewood genoss diese gnadenlose Analyse seines Charakters nicht. Er wand sich auf seinem Stuhl, er äußerte ein Protestgemurre. Aber Robert Pettifer hielt ihn ab und fuhr fort: „So bringt er sie zu seinem Haus. Er wirbt für sie. Er wirft ihr seinen Sohn in den Weg. Sie hat Schönheit – sie hat manchmal mehr als Schönheit – sie steht abgesondert als eine Frau, die durch das Feuer gegangen ist. Sie hat sehr gelitten. Man betrachte es wie man will, sie hat über alle Maßen gelitten. Sie hat hübsche ehrerbietige Weisen, die ihre unausweichliche Anziehungskraft bei Frauen wie bei Männern machen. Mit einem Wort. Hazlewood bringt den Ball ins Rollen und er geht über die Reichweite hinaus.“ Thresk nickte. „Ja, ich verstehe das.“ „Schließlich verliebt sich Hazlewoods Sohn in sie – nicht ein Junge, wohlgemerkt“, sondern ein Mann, der das Recht eines Mannes beansprucht, zu heiraten, wenn er liebt. Und sofort erwacht in Hazlewood der konventionelle Mann.“ „Du meine Güte, nein“, warf Harold Hazlewood ein. „Aber ich sage ja“, fuhr Pettifer unerschütterlich fort. „Der konventionelle Mann erwacht in ihm und schreit laut gegen die Hochzeit. Dann bin da ich. Ich mag Dick. Ich habe kein Kind. Er wird mein Erbe sein und ich bin nicht arm. Er macht es gut in seinem Beruf. Ein Ausbilder im Stabskorps in seinem Alter zu sein, bedeutet harte Arbeit, Eifer, Fähigkeit. Ich freue mich auf eine große Karriere. Ich mag ihn sehr. Und – verstehen Sie mich, Mr. Thresk“ – er drosselte seine Rede und wog sehr sorgfältig seine Worte ab – „Ich würde nicht sagen, dass er Stella Ballantyne nicht heiraten würde, nur weil Stella Ballantyne unter einer ernsthaften Anklage gestanden hat, deren sie freigesprochen worden ist. Nein, ich mag so formell, wie mein Schwager denkt, sein, aber ich halte einen weiteren Glauben als das. Aber ich bin nicht zufrieden. Das ist die Wahrheit, Mr. Thresk. Ich bin nicht sicher darüber, was in diesem Zelt in dem fernen
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Chitipur geschah, nachdem sie fortgeritten waren, um den nächtlichen Postzug nach Bombay zu erwischen.“ Robert Pettifer hatte sein Geständnis einfach und mit einiger Würde getan. Thresk blickte ihn für ein paar Augenblicke an. Fragte er sich, ob er die Fragen beantworten könnte? Zögerte er durch Groll über den Streich, der ihm gespielt worden war? Pettifer konnte es nicht sagen. Er wartete angespannt. Thresk schob seinen Stuhl plötzlich zurück und kam hinter dem Tisch hervor. „Stellen Sie Ihre Fragen?“, rief Mr. Hazlewood freudig und Thresk erwiderte kalt: „Muss ich. Denn wenn ich nicht sofort Ihren Verdächtigungen zustimme, sind sie doppelt so viel, was sie waren. Aber ich bin nicht erfreut.“ „Oh, wir praktizierten ein wenig Diplomatie“, sagte Hazlewood, indem er seine Beleidigung leicht machte. „Diplomatie!“ Zum ersten Mal leuchtete ein Zornesschimmer in Thresks Augen auf. „Sie haben mich durch einen Trick zu sich nach Hause geholt. Sie haben Ihre Position als mein Gastgeber missbraucht. Und außerdem sollte ich einer Frau Schaden zufügen, der das Leben nichts außer Schaden zugefügt hat. Ich sollte in diesem Augenblick aus Ihrer Tür gehen.“ Er wandte Harold Hazlewood seinen Rücken zu und setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Robert Pettifer. Ein kleiner runder Tisch trennte sie. Pettifer, der auf einer Couch saß, nahm aus seiner Hosentasche den Umschlag mit den Zeitungsausschnitten und breitete sie auf dem Tisch vor sich aus. Thresk rekelte sich zurück auf seinem Stuhl. Es war offensichtlich, dass er keinen Schrecken vor Pettifers Untersuchung hatte. „Ich stehe Ihnen zu Diensten“, sagte er.
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Kapitel XXIV Thresk erklärt Das Nachmittagssonnenlicht strömte golden und klar in das Zimmer. Draußen vor den offenen Fenstern war der Garten von den Vögeln laut und der Fluss murmelte zwischen seinen Ufern. Henry Thresk schloss seine Ohren gegen die Musik. Trotz seines ungezwungenen Äußeren fürchtete er den Zusammenstoß, der nun folgen sollte. Pettifer kannte er als einen durchtriebenen Mann. Er sah ihm zu, wie er methodisch seine Zeitungsausschnitte vor sich anordnete. Pettifer mochte wohl einen schwachen Punkt in seiner Geschichte finden, den er selbst vielleicht nicht entdeckt hatte; und was für einen Kurs er hinterher zu nehmen vorhatte, war er hier und jetzt entschlossen, noch einmal Stellas Schlacht zu schlagen. „Ich muss nicht zu den Fakten des Prozesses zurückgehen“, sagte Pettifer. „Sie sind zweifellos frisch genug in Ihrem Gedächtnis. Ihre Theorie, wie ich sie verstehe, läuft wie folgt: Während Sie Ihr Kamel am Rand des Lagers bestiegen, um zu dem Bahnhof zurückzukehren, und Ballantyne war an Ihrer Seite, schlich sich der Dieb, dessen Arm Sie beide unter der Zeltwand gesehen hatten, der nicht wusste, dass Sie nun die Fotografie von Bahadur Salak hatten, die er zu stehlen wünschte, unbemerkt in das Zelt, hob die Rook Rifle auf ‐“ „Die bei Mrs. Ballantynes Schreibtisch stand“, warf Thresk ein. „Lud sie‐ “ „Die Patronen lagen offen in einer Lade.“ „Und erschoss Ballantyne bei seiner Rückkehr.“ „Ja“, stimmte Thresk zu. „Zusätzlich müssen Sie sich merken, dass, als Captain Ballantyne etwa eine Stunde später gefunden wurde, Mrs. Ballantyne im Bett war und schlief.“ „Recht so“, sagte Pettifer. „Kurz und gut, Mr. Thresk, Sie verschafften für das Verbrechen ein vernünftiges Motiv und Beweismaterial von einem Kriminellen. Und ich gebe zu, dass auf Ihre Zeugenaussage die Geschworenen das einzige Urteil entgegneten, das möglich zu fällen war.“ 192
„Was beunruhigt Sie dann?“, fragte Henry Thresk und Pettifer erwiderte trocken: „Verschiedene Punkte. Hier ist einer – ein geringfügiger. Falls Captain Ballantyne von einem Dieb erschossen wurde, der auf frischer Tat beim Diebstahl ertappt wurde, warum sollte der Dieb Gefangennahme und Tod riskieren, indem er Captain Ballantynes Leiche hinaus ins Freie schleppte? Es scheint mir das Letzte, was wir natürlich tun würden.“ Thresk zuckte die Achseln. „Ich kann das nicht erklären. Es ist vielleicht möglich, dass, da er die Fotografie nicht fand, er in blinde Wut fiel und sie mit Gewalt gegenüber dem toten Mann befriedigte.“ „Tot oder sterbend“, korrigierte Mr. Pettifer. „Es scheint an diesem Punkt einen kleinen Zweifel gegeben zu haben. Aber Ihre Theorie ist ein wenig schwach, nicht wahr? Ungesehen davonzukommen, wäre sicher der erste beherrschende Gedanke des Diebes? „Überlegen, wie Sie und ich es hier ruhig tun, an unserem Fall, in diesem Zimmer, haben Sie zweifellos recht, Mr. Pettifer. Aber Verbrecher werden gefangen, weil sie nicht ruhig überlegen, wenn sie gerade ein Verbrechen begangen haben. Das Benehmen eines Mannes, dessen Verstand durch diesen Zustand beeinflusst wird, kann nicht immer durch irgendwelche Gesetze der Psychologie erklärt werden. Er ist vielleicht in wilder Panik. Er führt sich vielleicht wie ein Verrückter auf, oder wie ein Kind in einem Wutanfall. Und wenn meine Erklärung schwach ist, ist sie nicht schwächer als die einzige andere Hypothese: dass Mrs. Ballantyne selbst ihn in das Freie schleppte.“ Mr. Pettifer schüttelte seinen Kopf. „Ich bin nicht sicher. Ich kann einen Zustand des Entsetzens an der Ehefrau verstehen, Schrecken über das, was sie getan hatte, was diese Tat nicht nur möglich, sondern fast unausweichlich machen würde. Ich erhebe keine Ansprüche, eine fantasiereicher Mann zu sein, Mr. Thresk, aber ich versuchte, mich in die Lage der Ehefrau zu versetzen“; und er beschrieb mit einer Lebhaftigkeit, auf die Szene Thresk nicht vorbereitet war, als er sie sah.
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„Sie geht zu Bett, sie zieht sich aus und geht zu Bett – sie muss das tun, falls sie entkommen soll – sie macht ihr Licht aus, sie liegt wach im Dunkeln und unter demselben Dach, in ihrer Nähe, auch im Dunkeln, liegt der Mann, den sie getötet hat. Nur ein kleiner Durchgang trennt sie von ihm. Da sind keine Türen – wohlgemerkt, Mr. Thresk – keine Türen zu versperren und zu verriegeln, nur ein Graswandschirm, den man mit seinem Zeigefinger hochheben könnte. Würde nicht jeder kleine Knacks und jedes Geräusch und jeder Atmen, deren die ruhigste Nacht voll ist, ihr wie das Nahen des toten Mannes vorkommen? Der schwächste Luftzug würde wie ein Luftzug sein, der durch das Schwingen des Grasvorhanges gemacht wurde, wenn er heimlich angehoben wurde – angehoben von dem toten Mann. Nein, Mr. Thresk. Die Ehefrau ist einfach die eine Person, die ich mir vorstellen könnte, die die sinnlose barbarische Gewalttat tun würde, die Leiche ins Freie zu schleppen – und sie würde es tun, nicht aus Grausamkeit, sondern weil sie es muss oder verrückt wird.“ Thresk horchte ohne eine Bewegung zu, bis Robert Pettifer geendet hatte. Dann sagte er: „Sie kennen Mrs. Ballantyne. Hat sie die Kraft, die sie gehabt haben musste, um einen schweren Mann über den Teppich eines Zeltes zu schleppen und ihn nach draußen zu werfen?“ „Nicht jetzt, nicht vorher. Aber gerade in dem Augenblick? Sie argumentierten, Mr. Thresk, dass es unmöglich ist, vorherzusehen, was Menschen unter der unmittelbaren Kenntnis, dass sie ein Kapitalverbrechen begangen haben, tun werden. Ich stimme zu. Aber ich gehe ein wenig weiter. Ich sage, dass sie auch eine körperliche Stärke zur Schau stellen, mit der es sonst unmöglich wäre, sie zu entlasten. Furcht verleiht sie ihnen.“ „Ja“, unterbrach Thresk schnell, „aber sehen Sie nicht, Mr. Pettifer, dass Sie die Existenz einer Emotion in Mrs. Ballantyne voraussetzen, was die Fakten beweisen, dass sie ohne – Furch, Panik gewesen ist? Sie wurde ruhig schlafend in ihrem Bett von der Ayah gefunden, als sie kam, um sie am Morgen zu rufen. Es gibt darüber keinen Zweifel. Die Ayah war niemals für einen Augenblick über diesen Punkt erschüttert. Die Verbrechenspsychologie ist eine merkwürdige und überraschende Studie, Mr. Pettifer, aber ich weiß von keinem Fall, wo Schrecken als ein schlafender Luftzug agiert hat.“
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Mr. Pettifer lächelte und wandte sich insgesamt von der Frage ab. „Es ist, wie ich sagte, ein geringfügiger Punkt, und vielleicht einer, von dem jede Art von Einmischung unsicher sein würde. Es interessierte mich. Ich lege keinen großen Nachdruck darauf.“ Er tat den Punkt sorglos ab, zu dem kurzzeitigen Vergnügen von Henry Thresk. Die Kunst, der Niederlage zu entkommen, war mit größerem Geschick ausgeübt worden. Thresk verlor einen Teil seiner Angst, aber nichts von seiner Wachsamkeit. „Nun jedoch kommen wir zu etwas ganz anderem“, sagte Pettifer, der ein wenig näher zu seinem Tisch ruckte und seine Augen auf Thresk richtete. „Der Prozess für die strafrechtliche Verfolgung verlief so: Stephen Ballantyne war, obwohl ein Mann von großer Begabung, ein heimlicher Trunkenbold, der seine Frau in der Öffentlichkeit demütigte und sie insgeheim schlug. Sie hatte Angst vor ihm. Sie trug bei mehr als einer Gelegenheit die Zeichen seiner Gewalt; und in dieser Nacht in Chitipur, wahrscheinlich in Panik und sehr wahrscheinlich unter äußerster Provokation, schnappe sie ihre Rook Rifle und setzte der ganzen schlimmen Angelegenheit ein Ende.“ „Ja“, stimmte Thresk zu, „das war der Prozess für die Krone.“ „Ja, und während der Sitzung bei der Befragung des Untersuchungsrichters, bevor Sie auf den Schauplatz kamen, wurde diese Theorie deutlich entwickelt.“ „Ja.“ Thresks Zuversicht verschwand so schnell wie sie gekommen war. Er erkannte, wohin Pettifers Fragen führten. Es gab ein eindeutig schwaches Glied in seiner Geschichte und Pettifer hatte es bemerkt und prüfte es. „Nun“, fuhr der Solicitor fort – „und das ist der wichtige Punkt – was ließ die Antwort auf diese Anklage während jener Tage, bevor Sie auftauchten, ahnen?“ Thresk beantwortete die Frage schnell, falls es Antwort genannt werden konnte. „Die Verteidigung hatte keine Antwort formuliert. Ich kam vorwärts, bevor der Prozess für die Krone endete.“ 195
„Ganz recht. Aber Mrs. Ballantynes Verteidiger nahm die Zeugen für die Anklage ins Kreuzverhör – wir dürfen das nicht vergessen, Mr. Thresk – und aus dem Kreuzverhör ist es ganz klar, was für eine Antwort er machen würde. Er hatte vor, nicht zu leugnen, dass Mrs. Ballantyne ihren Mann erschoss, sondern zu plädieren, dass sie ihn in Notwehr erschoss.“ „Oh!“, sagte Thresk, „und wo finden Sie das?“ Er hatte selbst keinen Zweifel, in was für einem Teil des Prozessberichts ein Beweis von Pettifers Behauptung entdeckt werden sollte, aber er machte eine glaubwürdige Zurschaustellung des Erstaunens, dass jemand überhaupt diese Meinung haben sollte. Pettifer wählte eine Kolumne der Zeitung von seinen Ausschnitten. „Hören Sie zu“, sagte er. „Mr. Repton, ein Freund von Mrs. Ballantyne, wurde von der Krone auf eine unter Strafandrohung vor Gericht geladen und er bezeugte, dass, während er Steuereinnehmer in Agra war, er mit seine Ehefrau von den Ebenen zum Hügelbahnhof von Mussoorie während eines heißen Wetters hinaufging. Die Ballantynes gingen zur selben Zeit hinauf und bewohnten einen Bungalow neben dem der Reptons. Eines Nachts wurde in Reptons Haus eingebrochen. Er ging hinüber zu Ballantyne am nächsten Morgen und riet ihm in der Gegenwart seiner Ehefrau, mit einem Revolver unter dem Polster zu schlafen.“ „Ja, ich erinnere mich daran“, sagte Thresk. Er hatte tatsächlich Grund, sich gut daran zu erinnern, denn es war gerade dieser von Repton gegebene Beweis, mit seiner klaren Bedeutung der Linie, die die Verteidigung zu nehmen vorhatte, die ihn in Eile zu Mrs. Ballantynes Solicitor gesandt hatte. Pettifer fuhr fort, indem er Reptons Worte langsam und mit Nachdruck vorlas. „,Mrs. Ballantyne wurde dann blass und indem sie hinter mir in den Garten wie verstörte Frau lief, rief sie: „Warum sagtest du ihm, dass er das tun soll? Es wird eines Nachts meinen Tod bedeuten.’ Diese Aussage, Mr. Thresk, wurde beim Kreuzverhör von Mrs. Ballantynes Verteidiger herausgelockt, und es konnte nur bedeuten, dass er vorhatte ein Plädoyer auf Notwehr zu eröffnen. Ich finde es ein wenig schwierig, diese Absicht mit der Geschichte, die sie nachträglich erzählten, in Einklang zu bringen.“
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Henry Thresk seinerseits wusste, dass es nicht bloß schwierig war, es war tatsächlich unmöglich. Mr. Pettifer hatte die Beweismittel mit einer akkuraten Diskriminierung gelesen. Das Plädoyer auf Notwehr war hier zu ahnen und es war einfach die Gewissheit, dass die Verteidigung vorhatte, auf einen Urteilsspruch zu vertrauen, der Henry Thresk selbst in den Zeugenstand in Bombay gebracht hatte. Vorausgesetzt, alles war von Stephen Ballantyne und dem Leben, das seine unglückliche Frau geführt hatte, bekannt war, wäre die Verteidigung gut gewesen, außer einer einzigen Tatsache – die Entdeckung von Ballantyne Leiche draußen vor dem Zelt. Kein Plädoyer auf Notwehr könnte das sicher abdecken. Thresk selbst wunderte sich darüber. Es schlug auf öffentliche Sympathie, es schien die Tat einer gefühllosen und rachsüchtigen Person zu sein. Daher war er mit der Geschichte dahergekommen. Aber Mr. Pettifer sollte es nicht wissen. „Es gibt drei Dinge für Sie, sich zu erinnern“, sagte Thresk. „Erstens ist es zu früh anzunehmen, dass Notwehr das Plädoyer sein sollte. Annahmen in einem Fall dieser Art sind sehr gefährlich, Mr. Pettifer. Sie mögen zu einer nicht mehr gutzumachenden Ungerechtigkeit führen. Wir müssen uns an die Tatsache halten, dass kein Plädoyer für Notwehr je formuliert wurde. Zweitens, Mrs. Ballantyne wurde nach Bombay in einem Zustand eines vollkommenen Zusammenbruchs gebracht. Ihr Eheleben war für sie eine Tortur gewesen. Sie brach am Ende davon zusammen. Sie war allem gegenüber, was geschehen mochte, gleichgültig.“ Pettifer nickte. „Ja, ich kann das verstehen.“ „Es folgte, dass ihre Ratgeber auf deren eigene Initiative hin agieren mussten.“ „Und der dritte Punkt?“, fragte Pettifer. „Also, es nicht so sehr ein Punkt wie eine Meinung von mir. Aber ich halte sie stark. Ihr Verteidiger handhabte den Fall falsch.“ Pettifer schürzte seine Lippen und grunzte. Er klopfte mit einem Finger ein‐ oder zweimal auf den Tisch vor sich. Er blickte zu Thresk, als ob alles nicht ganz gesagt war. Harold Hazlewood, dem die Position eines vernachlässigten Zuhörers selten und widerwärtig war, sah eine Gelegenheit zur Einmischung. „Die drei Punkte sind wahrscheinlich nicht sehr überzeugend“, sagte er. 197
Thresk wandte sich ihm kalt zu: „Ich versprach, solche Fragen zu beantworten, wie Mrs. Pettifer sie mir stellt. Ich tue das. Ich unternehme es nicht, den Wert meiner Antworten hinterher zu diskutieren.“ „Nein, nein, ganz recht“, murmelte Mr. Hazlewood. „Wir sind sehr dankbar, bin ich sicher“, und einmal mehr überließ er Pettifer das Argument. „Dann komme ich zu der nächsten Frage, Mr. Thresk. Zu einem bestimmten Augenblick in dieser Untersuchung setzten Sie sich aus eigenem Antrieb mit Mrs. Ballantynes Verteidiger in Verbindung und boten Ihre Aussage an?“ „Ja.“ „Ist es nicht merkwürdig, dass die Verteidigung nicht von Anfang an mit Ihnen in Verbindung trat?“ „Nein“, erwiderte Thresk. Hier war er entspannt. Er hatte seine Pläne gut in Bombay vorgebracht. Mr. Pettifer könnte weiter Fragen bis Mitternacht über diesen Punkt stellen. Thresk konnte ihm begegnen. „Es war überhaupt nicht merkwürdig. Es war nicht bekannt, dass ich überhaupt ein Licht auf die Angelegenheit werfen könnte. Alles, was zwischen Ballantyne und mir geschah, geschah, als wir alleine waren; und Ballantyne war nun tot.“ „Ja, aber Sie hatten an diesem Abend mit den Ballantynes zu Abend gegessen. Sicherlich ist es merkwürdig, dass, seit Sie in Bombay waren, Mrs. Ballantynes Verteidiger Sie nicht aufsuchten.“ „Ja, ja“, fügte Mr. Hazlewood zu, „sehr merkwürdig in der Tat, Mr. Thresk – da Sie in Bombay waren“, und er blickte zur Zimmerdecke hoch und legte die Fingerspitzen aneinander, seine ganze Haltung eine selbstsichere Frage: „Beantworten Sie das, wenn Sie können.“ Thresk drehte sich ungeduldig herum. „Ist es Ihnen nicht in den Sinn gekommen, Mr. Hazlewood, dass es nicht merkwürdiger ist, dass die Staatsanwaltschaft nicht sofort an mich herantrat?“ „Ja“, sagte Pettifer plötzlich. „Diese Frage hat mich auch beunruhigt“, und Thresk drehte sich wieder zurück. 198
„Sie sehen“, erklärte er. „Es war nicht bekannt, dass ich überhaupt in Bombay war. Im Gegenteil, ich sollte irgendwo auf dem Roten Meer oder dem Mittelmeer, unterwegs zurück nach England sein.“ Mr. Pettifer schaute erstaunt hoch. Die Aussage war neu für ihn und falls sie stimmte, verschaffte sie eine natürlich Erklärung einiger seiner Hauptverwirrungen. „Lassen Sie mich das verstehen!“, und da war eine Veränderung in seiner Stimme, die Thresk schnell entdeckte. Da war weniger Feindseligkeit. „Gewiss“, antwortete Thresk. „Ich verließ das Zelt gleich vor elf, um den Postzug nach Bombay zu erreichen. Ich sollte direkt nach England zurückkehren. Der Grund, warum Ballantyne mich bat, die Fotografie von Bahadur Salak mitzunehmen, war, dass, da ich direkt vom Zug an Bog ging, für mich keine Gefahr bestehen konnte. „Warum gingen Sie dann nicht direkt an Bord?“, fragte Pettifer. „Ich werde es Ihnen sagen“, erwiderte Thresk. „Ich überlegte die Angelegenheit auf der Reise hinunter nach Bombay, und ich kam zu dem Schluss, dass, da die Fotografie vielleicht bei der Verhandlung in Salaks Prozess benötigt wurde, ich sie lieber zum Haus des Gouverneurs in Bombay bringe. Aber das Regierungsgebäude ist draußen am Malabar Point, vier Meilen von den Kais entfernt. Ich nahm die Fotografie selbst heraus und ich versäumte das Schiff. Aber da war eine Anzeige in den Zeitungen, dass ich abgereist war, und tatsächlich der Konsul von Marseille an Bord in diesem Hafen kam, um nach mir um Anweisungen von der indischen Regierung zu fragen. Mr. Pettifer lehnte sich zurück. „Ja, ich verstehe“, sagte er nachdenklich. „Das macht einen Unterschied – einen großen Unterschied.“ Dann saß er wieder aufrecht und sagte scharf: „Sie waren also in Bombay, als Mrs. Ballantyne von Chitipur hinuntergebracht wurde?“ „Ja.“ „Und als der Prozess für die Krone begann?“ „Ja.“ 199
„Und dann wurden die Zeugen der Krone ins Kreuzverhör genommen?“ „Ja.“ „Warum warteten Sie dann die ganze Zeit, bevor Sie hervortraten?“ Pettifer stellte die Frage mit eine triumphierenden Miene. „Warum, Mr. Thresk, warteten Sie bis zu dem Augenblick, als Mrs. Ballantyne eindeutig einer besonderen Verteidigungslinie übergeben werden sollte, bevor Sie verkündeten, dass Sie das Geheimnis aufklären könnten? Sieht es nicht eher aus, als ob Sie versteckt geblieben waren, für den Fall, dass die Anklage zusammenbrach, und wären erst vorgetreten, wenn Sie bemerkten, dass morgen auf Notwehr plädiert, das Abfeuern der Rook Rifle zugegeben und ein schreckliches Risiko eines Schuldspruchs eingegangen worden wäre?“ Thresk stimmte ohne einen Augenblick des Zögerns zu. „Aber das ist die Wahrheit, Mr. Pettifer“, sagte er und Mr. Pettifer sprang auf. „Was?“ „Bedenken Sie meine Lage“ – Thresk zog seinen Stuhl dicht zu dem Tisch herauf – „ein Barrister, der begann eine dieser großen Praxen zu haben, das Gericht, das am Montag in London eröffnet, Akten, die auf mich warteten, Fälle, die ich schon beraten hatte, standen bevor. Ich hatte schon zwei Wochen verloren. Das war schlimm genug, aber wenn ich mit meiner Geschichte vorträte, müsste ich in Bombay nicht nur zwei Wochen warten, sondern bis der ganze Prozess zu Ende wäre, wie ich es am Ende tun musste. Natürlich hoffte ich, dass die Staatsanwaltschaft zusammenbrechen würde. Natürlich schritt ich nicht ein, bis es absolut notwendig im Interesse der Gerechtigkeit war, dass ich es sollte.“ Er sprach so ruhig, es gab so viel Vernunft an dem, was er sagte, dass Pettifer nur überzeugt sein musste. „Ich verstehe“, sagte er. „Ich verstehe. Ja. Das ist nicht zu bestreiten.“ Er blieb für ein paar Augenblicke still. Dann schob er seine Papiere zusammen und gab sie wieder zurück in das Kuvert. Es schien, dass seine Untersuchung vorüber war. Thresk stand von seinem Stuhl auf. „Sie haben mir keine weiteren Fragen zu stellen?“, fragte er. „Eine weitere.“ 200
Pettifer kam um den Tisch herum und stand vor Henry Thresk. „Kannten Sie Mrs. Ballantyne, bevor Sie nach Chitipur fuhren?“ „Ja“, erwiderte Thresk. „Hatten Sie sie in letzter Zeit gesehen?“ „Nein.“ „Wann hatten Sie sie das letzte Mal gesehen?“ „Vor acht Jahren in dieser Nachbarschaft. Ich verbrachte einen Urlaub in der Nähe. Ihr Vater und ihre Mutter waren am Leben. Ich hatte sie seither nicht gesehen. Ich wusste nicht einmal, dass sie in Indien und verheiratet war, bis es mir in Bombay erzählt wurde.“ Thresk war auf diese Frage vorbereitet. Er hatte die Wahrheit bereit und er sprach sie offen aus. Mr. Pettifer wandte sich von Hazlewood ab, der ihn erwartungsvoll anschaute. „Wir haben nichts mehr zu tun, Hazlewood, außer Mr. Thresk zu danken, unsere Fragen beantwortet zu haben, und uns bei ihm zu entschuldigen, sie gestellt zu haben.“ Mr. Hazlewood war ausgesprochen verdutzt. Nach allem also musste die Hochzeit stattfinden; das Komplott hatte schmählich versagt, die großen Fragen, die Stella Ballantyne aus Little Beeding verbannen sollten, waren gestellt und beantwortet worden. Er saß wie ein Mann, der von Unheil heimgesucht wurde. Er stotterte widerwillig ein paar Worte heraus, denen Thresk wenig Beachtung schenkte. „Sie sind also zufrieden?“, fragte er Pettifer; und Pettifer zeigte ihm unerwartet ein herzliches und gutmütiges Gesicht. „Ja. Lassen Sie mich Ihnen sagen, Mr. Thresk, dass, seit ich diesen Fall zu studieren begann, ich immer weniger gewünscht habe, dass er kaum Bedeutung für Mrs. Ballantyne haben sollte. Als ich diese Beweiskolumnen las, nahm die schwere Figur von Stephen Ballantyne wieder Leben an, aber ein sehr unheilvolles Lebens; und wenn ich Stella ansehe und denke, was sie während der Jahre ihres Ehelebens durchgemacht hatte, während wir es hier zu Hause 201
gemütlich hatten, kann ich nur einen Schauer des Unbehagens fühlen. Ja, ich bin zufrieden und ich bin froh, dass ich zufrieden bin“, und mit einem Lächeln, das plötzlich sein trockenes ausgedörrtes Gesicht erhellte, streckte er Henry Thresk seine Hand entgegen. Es war vielleicht ebenso gut, dass die Fragen vorüber waren, denn sogar, während Pettifer sprach, hörte man Stellas Stimme im Vorzimmer. Pettifer hatte gerade Zeit, den Umschlag mit den Ausschnitten in eine Lade zu stecken, bevor sie in das Zimmer mit Dick kam. Sie war gezwungen worden, die drei Männer zusammen zu verlassen, aber sie hatte es befürchtet. Während dieser einen Stunde der Abwesenheit hatte sie einen lebenslangen Schrecken und Angst durchgemacht. Was würde ihnen Thresk erzählen? Was erzählte er ihnen jetzt? Sie war wie eine, die unten wartete, während eine Notoperation oben im Operationssaal durchgeführt wurde. Sie war mit Dick zurück nach Little Beeding geeilt, und als sie in das Zimmer kam, streiften ihre Augen angespannt von Thresk zu Hazlewood, von Hazlewood zu Pettifer. Sie sah den Einsatz mit Miniaturen auf dem Tisch. „Sie bewundern die Sammlung?“, sagte sie zu Thresk. „Sehr“, antwortete er und Pettifer nahm sie am Arm und mit einer freundlichen Stimme, die sie ihn vorher nie gebrauchen hatte hören, sagte er: „Nun erzählen Sie mir über Ihr Haus. Das ist viel interessanter.“ Stella blickte ihn zweifelnd an. „Sie wollen es wirklich wissen?“ „Ja“, antwortete er. „Wird es euch gefallen, wenn ihr verheiratet seid?“ Es gab nicht länger eine Möglichkeit des Zweifels. Durch ein Wunder hatte die Stunde der Anspannung ihren Feind zu einem Freund verwandelt. Ihre Probleme waren also wirklich vorüber? Konnte sie schlafen, ohne jede Stunde vor Schrecken aufzuwachen, dass dieses wundervolle Glück, dass zu ihr gekommen war, nicht mehr als ein Traum, eine Rauchfahne sein sollte? Sie fühlte sich schwach. Für einen Augenblick schien es ihr, dass sie fallen musste; und sie wäre gefallen, aber der Arm Pettifers brachte sie ins Gleichgewicht und stützte sie.
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„Setzen Sie sich“, sagte er freundlich und er setzte sie auf die Couch hinter ihm. „Ich weiß. Sie haben eine Zeit der Angst gehabt, Stella. Sie dürfen uns nicht zu sehr Vorwürfe machen. Schauen Sie auf und reden Sie mit mir! Sie werden meine Nachbarin werden. Erzählen Sie mir über das Haus!“ Stella schaute zu ihm mit glänzenden Augen auf, und auf ihren Wangen, die blass geworden waren, blühten langsam wieder die Rosen. „Dort ist ein hoher Garten, der direkt über den Hinksey Park blickt“, sagte sie, „wo ich einst vor Ewigkeiten wohnte. Es gibt zwei Badezimmer – ist das nicht prächtig in einem kleinen Haus?“ Und dann über das Zimmer hörte sie das Kratzen eines Luzifers und Worte wurden gesprochen, die ihre Befürchtungen in einer überwältigenden Legion zu ihr zurückbrachten. „Also, Sie rauchen eine Pfeife?“, sagte Dick Hazlewood zu Thresk, und Thresk, als er das Zündholz an den Tabak im Pfeifenkopf setzte, bemerkte: „Ah! Sie wussten das nicht, Captain Hazlewood? Ich bin ohne meine Pfeife verloren. Früher, als ich sie zurückgelassen habe, bin ich unter allen möglichen Umständen zurückgekommen, sogar bei dem Risiko, einen Zug zu versäumen. Aber Sie wussten das nicht, Captain Hazlewood?“ Die Worte waren auf Sie gezielt, waren so gesprochen, dass sie sie hören mochte. Sie setzte sich und zitterte. Mr. Pettifer war zufrieden; ha, aber da war jemand anderer hier, der ihr eine Warnung durch das Zimmer schickte, mit der sie zu rechnen hatte.
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Kapitel XXV In der Bibliothek Henry Thresk führte an diesem Abend Mrs. Pettifer zum Abendessen hinein und sie hielt ihn für einen guten Gesellschafter. Er versuchte sie tatsächlich stoßweise zu unterhalten, aber seine Gedanken waren woanders. Er war in großer Aufregung und Sorge wegen Stella Ballantyne, die gegenüber von ihm, auf der anderen Seite des Tisches, saß. Sie trug keine Spuren der Betroffenheit, die seine Worte vor zwei Stunden verursacht hatten. Sie war in einem schlanken Kleid aus schimmerndem Blau gekommen, mit ihrem kleinen Kopf erhoben, einem Lächeln auf ihren Lippen und heller Farbe auf ihren Wangen. Thresk kannte sie kaum, er musste sich immer wieder sagen, dass dies die Stella Ballantyne war, die er hier und in Indien gekannt hatte. Sie war nicht das Mädchen, das mit ihm auf dem Hügelland geritten war und einen Monat seines Lebens sehr unvergesslich und einen Tag zu einer schamvollen Erinnerungen gemacht hatte. Auch war sie nicht die geplagte Kreatur von dem Zelt in Chitipur. Sie war eine Frau, die sich ihrer Mittel sicher war, strahlend in ihrer Schönheit, zuversichtlich, dass das, was sie trug, ihre Farbe war und ihr ihren Wert gab. Doch ihre Sorge war größer als Thresks, und oft während des Verlaufes dieses Abendessens, wenn sie seine Augen auf ihr ruhen fühlte, wurde ihr Herz vor Furcht schwer. Sie suchte nach dem Essen seine Gesellschaft, aber sie hatte keine Gelegenheit auf ein privates Wort mit ihm. Der alte Mr. Hazlewood kümmerte sich darum. Einen Augenblick muss Stella singen, in einem anderen muss sie Rubberbridge spielen. Er hatte jedenfalls seine Feindseligkeit nicht abgelegt und vermutete ein Verständnis zwischen ihr und seinem Gast. Sie kam durch das Zimmer zu Henry Thresk. „Und Sie bleiben bis morgen?“, fragte sie und Thresk antwortete mit einem Lachen: „Ich wünsche, dass ich es könnte. Aber ich muss einen frühen Zug nach London erwischen. Sogar heute Nacht ist meine Tagesarbeit nicht vorüber. Ich muss ein oder zwei Stunden über einem Schriftsatz sitzen.“ Stella erhob sich zur selben Zeit wie Mrs. Pettifer.
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„Ich hoffte, dass Sie hinüberkommen und mein kleines Cottage morgen Früh sehen könnten“, sagte sie. Thresk zögerte, als er ihre Hand nahm. „Ich möchte es sehr gerne sehen“, sagte er. Er war in einer sehr großen Schwierigkeit und war sich nicht sicher, dass ein Brief nicht der bessere, wenn auch der feigere Ausweg war. „Wenn ich die Zeit finden könnte.“ „Versuchen Sie es“, sagte sie. Sie konnte nicht mehr sagen, denn Mr. Hazlewood war an ihrem Ellbogen und Dick wartete, um sie nach Hause zu bringen. Es war eine dunkle klare Nacht; ein Sternenhimmel über der Erde, aber da war kein Mond, und obwohl Lichter hell schienen, sogar in einer großen Entfernung, gab es Schimmer von der Straße unter ihren Füßen. Dick hielt sie fest in seinen Armen an der Tür ihres Cottage. Sie war sehr still und passiv. „Du bist müde?“, sagte er. „Ich denke schon.“ „Also, der heutige Abend hat das Letzte von unseren Problemen gesehen, Stella.“ Sie antwortete nicht sofort. Ihre Hände klammerten sich um seine Schultern und mit ihrem Gesicht an seiner Jacke flüsterte sie: „Dick, ich könnte nicht weitermachen ohne dich. Ich könnte es nicht. Ich würde es nicht.“ Da war ein Hauch leidenschaftlicher Verzweiflung in ihrer Stimme, die ihre Worte für ihn plötzlich schrecklich machten. Er nahm sie und hielt sie ein wenig von sich, wobei er in ihr Gesicht blickte. „Was sagst du, Stella?“, fragte er streng. „Du weißt, dass nichts zwischen uns kommen kann. Du brichst mein Herz, wenn du so redest.“ Er zog sie wieder in seine Arme. „Wartet dein Mädchen auf dich?“ „Nein.“ „Rufe sie dann, während ich hier warte. Lass mich das Licht in ihrem Zimmer sehen. Ich will, dass sie heute Nacht bei dir schläft.“
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„Es besteht keine Notwendigkeit, Dick“, antwortete sie. „Ich bin heute Nacht entspannt. Ich sagte mehr als ich beabsichtigte. Ich schwöre dir, es besteht keine Notwendigkeit.“ Er hob ihren Kopf und küsste sie auf die Lippen. „Ich vertraue dir, Stella“, sagte er sanft; und sie antwortete ihm mit einer leisen zitternden Stimme von so viel Zärtlichkeit und Liebe, dass er beruhigt war. „Oh, du darfst, meine Liebe, du darfst.“ Sie ging hinauf zu ihrem Zimmer und drehte das Licht auf und setzte sich auf ihren Stuhl, genau wie sie es nach dem ersten Abendessen in Little Beeding getan hatte. Sie hatte damals alle diese Probleme vorhergesehen, die sie seither befallen hatten, aber sie schien sie durchlaufen zu haben – bis heute Nachmittag. Dort drüben in der Bibliothek des großen Hauses war Henry Thresk – der Fremde. Sehr wahrscheinlich schrieb er ihr in diesem Augenblick. Wenn er nur zugestimmt hätte, am Morgen herüberzukommen und ihr die Gelegenheit zu geben, ihn inständig zu bitten! Sie ging zu dem Fenster und als sie den Rollladen hochzog, lehnte sie ihren Kopf hinaus und blickte über die Wiese. In der Bibliothek stand eines der langen Fenster offen und der Vorhang war nicht zugezogen. Das Zimmer war voller Licht. Henry Thresk war dort. Er war ihr heute Nachmittag behilflich wie er ihr in Bombay behilflich war, das zweite Mal hatte er den Sieg für sie gewonnen; aber im nächsten Augenblick hatte er sie gewarnt, dass noch nicht das Ende war. Er würde ihr einen Brief senden, sie hatte keinen Zweifel daran. Sie hatte auch keinen Zweifel, was der Brief bringen würde. Ein Geräusch erhob sich von dem Kiespfad unter ihrem Fenster an ihr Ohr – das Geräusch einer leichten unfreiwilligen Bewegung. Stella zog sich heftig zurück. Dann lehnte sie sich hinaus und rief leise: „Dick.“ Er stand ein wenig links vom Fenster außer Reichweite des Lichts, das auf die Dunkelheit von dem Zimmer hinter ihr herausströmte. Er bewegte sich nun vorwärts. „Oh, Dick, warum wartest du?“ „Ich wollte sicher sein, dass alles in Ordnung ist, Stella.“ 206
„Ich gab dir mein Wort, Dick“, flüsterte sie und sie wünschte ihm wieder gute Nacht und wartete, bis der Klang seiner Schritte gänzlich verklungen war. Er ging zurück zu dem Haus und fand Thresk noch immer in der Bibliothek. „Ich will Sie nicht unterbrechen“, sagte er, „aber ich muss Ihnen wieder danken. Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich Ihnen schulde. Sie ist ziemlich wundervoll, nicht wahr. Ich fühle mich plump neben ihr, sage ich Ihnen. Ich könnte so nicht mit jemand anderem reden, aber Sie sind so mitfühlend.“ Henry Thresk hatte nicht mehr als einem Grunzen geantwortet. Er saß und schlitzte seinen Schriftsatz mit einem blauen Bleistift auf, die ganze Zeit, als Dick Hazlewood sprach und wünschte, dass er zu Bett gehen würde. Dick jedoch war unverfroren. „Sahen Sie eine Frau, die so gut in einem blauen Kleid aussah? Oder auch in einem schwarzen? Da ist eine Art bemaltes Ding, das sie auch manchmal trägt. Also, vielleicht sollte ich lieber zu Bett gehen.“ „Ich denke, es wäre klug“, sagte Thresk. Der junge Hazlewood ging hinüber zu dem Tisch in der Ecke und zündete seine Kerze an. „Sie werden das Fenster schließen, bevor Sie zu Bett gehen, nicht wahr?“ „Ja.“ Hazlewood füllte für sich ein Glas Gerstenwasser und trank es, wobei er Henry Thresk über den Rand betrachtete. Dann ging er zu ihm zurück, während er seine Kerze in seiner Hand trug. „Warum heiraten Sie nicht, Mr. Thresk?“, fragte er. „Sie sollten es, wissen Sie. Männer verwildern, wenn sie es nicht tun.“ „Danke“, sagte Thresk. Der Ton war nicht herzlich, aber bloße Worte waren für Dick Hazlewood in diesem Augenblick eine Einladung. Er setzte sich und stellte seine angezündete Kerze auf den Tisch zwischen Thresk und sich. „Ich bin vierunddreißig Jahre alt“, sagte er und Thresk warf ein, ohne von seinem Kanzleipapier aufzublicken: 207
„Von Ihrem Konversationsstil finde ich das sehr schwierig zu glauben, Captain Hazlewood.“ „Ich habe vierunddreißig vollständige Jahre von je zwölf Monaten vergeudet“, fuhr der ekstatische Captain fort, der zu denken schien, dass genau an dem Tag seiner Geburt er seine Seelenverwandte erkannt haben würde. „Nur mit der Welt dahinzuckeln, ein Wunder über eines und nicht ein halbes Auge, um es wahrzunehmen. Sie wissen.“ „Nein, tue ich nicht“, bemerkte Thresk. Er hob die Kerze und hielt sie Dick entgegen. Dick stand auf und nahm sie. „Danke“, sagte er. „Das war sehr freundlich von Ihnen. Ich sagte Ihnen ‐ nicht wahr? ‐ für wie mitfühlend ich Sie hielt.“ Thresk war nicht gefeit gegen die Hartnäckigkeit seines Gesellschafters. Er brach in Lachen aus. „Gehen Sie zu Bett?“, bat er inständig und Dick Hazlewood erwiderte: „Ja.“ Plötzlich änderte sich sein Ton. „Stella hatte einen sehr guten Freund an Ihnen, Mr. Thresk. Ich bin sicher, dass sie noch immer einen hat“, und ohne auf eine Antwort zu warten, ging er nach oben. Sein Schlafzimmer war in der Nähe der Vorderseite in der Seite des Hauses. Es verfügte über einen Ausblick auf die Wiese und zu dem Cottage und er freute sich zu sehen, dass alle Fenster von Stella dunkel waren. Die Bibliothek war außer Sicht, hinten um die Ecke, aber ein greller Lichtschein von der offenen Tür breitete sich über den Rasen aus. Hazlewood blickte auf seine Uhr. Es war gerade Mitternacht. Er ging zu Bett und schlief. In der Bibliothek trachtete Thresk danach, seine Gedanken auf das Schriftstück zu konzentrieren. Aber er konnte nicht und er warf es schließlich zur Seite. Es sollte ein Brief geschrieben werden, und bis er geschrieben und erledigt war, würden seine Gedanken nicht frei sein. Er ging hinüber zum Schreibtisch und schrieb ihn. Aber es dauerte eine lange Zeit im Entwurf und die Uhr auf der Kirchturmspitze schlug eins, als er endlich fertig und versiegelt war. „Ich werde ihn am Morgen am Bahnhof aufgeben“, beschloss er und er ging zum Fenster und schloss es. Aber als er es berührte, kam eine Gestalt, eingehüllt in einem dunklen Umhang aus der Dunkelheit auf der Seite und
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schritt an ihm vorbei in das Zimmer. Er schwang herum und sah Stella Ballantyne. „Du!“, rief er aus. „Du musst verrückt sein!“ „Ich musste kommen“, sagte sie und stand gut vom Fenster weg, in der Mitte des Zimmers, als ob sie dächte, er würde sie hinaustreiben. „Ich hörte dich sagen, dass du lange hier sitzen würdest.“ „Wie lange hast du dort draußen gewartet?“ „Eine kleine Weile ... Ich weiß es nicht ... Nicht sehr lang. Ich war mir nicht sicher, dass du alleine warst.“ Thresk schloss das Fenster und zog den Vorhang davor. Dann durchquerte er das Zimmer und versperrte die Türen, die in das Esszimmer und auf den Flur führten. „Es gab keine Notwendigkeit für dich, zu kommen“, sagte er mit leiser Stimme. „Ich habe dir geschrieben.“ „Ja.“ Sie nickte. „Darum musste ich kommen. Diesen Nachmittag sprachst du darüber, deine Pfeife zurückgelassen zu haben. Ich verstand“, und als er den Brief aus seiner Tasche zog, prallte sie zurück. „Nein, er ist nie geschrieben worden. Du hattest nur die Absicht, ihn zu schreiben. Sag das! Du bist mein Freund.“ Sie nahm nun den Brief von ihm und zerriss ihn immer wieder. „Siehst du! Er ist überhaupt nie geschrieben worden.“ Aber Thresk schüttelte nur seinen Kopf. „Es tut mir sehr leid. Ich sehe heute Nacht die gequälte Frau von dem Zelt in Chitipur. Es tut mir sehr leid“, und Stella bemerkte das Bedauern in seiner Stimme. Sie ließ den Umhang von ihren Schultern fallen; sie war gekleidet wie sie es beim Abendessen vor einigen Stunden gewesen war, aber ihr ganzer Glanz war fort, ihre Wangen zitterten, ihre Augen flehten verzweifelt. „Leidtun! Ich wusste, es würde dir leidtun. Du bist nicht hart. Du könntest es nicht. Du musst Tag für Tag so vielem begegnen, das mitleiderregend ist. Man kann mit dir reden und du wirst verstehen. Das ist meine erste Chance, die erste wirkliche Chance, die ich je hatte. Harry, die allererste.“
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Thresk blickte zurück über die Jahre von Stella Ballantynes unglücklichem Leben. Es traf ihn wie ein Schock, dass das, was sie sagte, die nackte Wahrheit war; und Reue folgte hart auf den Fersen des Schocks. Dies war ihre erste wirkliche Chance und er selbst war verantwortlich, dass sie nicht früher gekommen war. Die erste Chance eines Lebens, das zu leben wert war ‐ und es lag in seinen Händen, ihr zu geben, und er hatte sich geweigert, es vor Jahren auf Bignor Hill zu geben. „Ist tatsächlich wahr“, gab er zu. „Aber ich bitte dich nicht, es aufzugeben, Stella.“ Sie blickte ihn begierig an. „Nein! Du hättest das verstanden, wenn du meinen Brief gelesen hättest, statt ihn zu zerreißen. Ich bitte dich nur, deinem Geliebten die Wahrheit zu sagen.“ „Er kennt sie“, sagte sie mürrisch. „Nein!“ „Er weiß es! Er weiß es!“, protestierte sie, ihre Stimme hob sich zu einem leisen Weinen. „Pst! Du wirst gehört“, sagte Thresk und sie horchte für einen Augenblick ängstlich. Aber da war kein Geräusch von jemandem, der sich in dem Haus rührte. „Wir sind hier sicher“, sagte sie. „Niemand schläft über uns. Harry, er kennt die Wahrheit.“ „Wärest du jetzt hier, wenn er es täte?“ „Ich kam, denn heute Nachmittag schienst du mir zu drohen. Ich verstand nicht. Ich konnte nicht schlafen. Ich sah das Licht in diesem Zimmer. Ich kam, um dich zu fragen, was du meintest ‐ das ist alles.“ „Ich werde dir sagen, was ich meinte“, sagte Thresk, und Stella, mit ihren Augen auf ihn gerichtet, sank auf einen Stuhl. „Ich ließ meine Pfeife im Zelt in der Nacht zurück, als ich mit euch zu Abend aß. Dein Liebhaber, Stella, weiß das nicht. Ich kam zurück, um sie zu holen. Er weiß das nicht. Du bist bei dem Tisch gestanden ‐“ und Stella Ballantyne unterbrach ihn, um die Worte auf seinen Lippen zum Verstummen zu bringen.
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„Es gab keinen Grund, warum er es wissen sollte“, rief sie aus. „Es hat nichts mit dem, was passierte, zu tun. Wir wissen, was geschah. Da war ein Dieb“ ‐ und Thresk drehte sich ihr mit einem solchen Blick des schieren Erstaunens auf seinem Gesicht zu, dass sie zögerte und ihre Stimme zu einem Gemurmel von Worten erstarb ‐ „ein magerer brauner Arm ‐ eine Hand, zart wie die einer Frau.“ „Es gab keinen Dieb“, sagte er ruhig. „Da war ein Mann, der vom Trinken fantasierte, der sich einen einbildete. Da warst du mit den Flecken auf deinem Hals und dem unaussprechlichen Elend in deinen Augen und einem kleinen Gewehr in Ihren Händen. Da war niemand sonst.“ Sie hörte zu argumentieren auf; sie hatte gerade mit einem halsstarrigen Gesicht und einem Entschluss vor sich hin geblickt, sich um jeden Preis an ihre Chance des Glücks geklammert. „Komm, Stella“, flehte Thresk. „Ich sage nicht, dass di es jedem sagen sollst. Ich sage, sage es ihm. Denn wenn du es nicht tust, werde ich es.“ Stella starrte ihn an. „Du?“, sagte sie. „Du würdest ihm sagen, dass du zurück in das Zelt gekommen bist und mich gesehen hast?“ „Oh, viel mehr ‐ dass ich bei dem Prozess log, dass die Geschichte, die deinen Freispruch sicherte, falsch war, dass ich sie erfand, um dich zu retten. Dass ich sie heute Nachmittag wieder erzählte, um dir eine Chance zu geben, dich aus einer unmöglichen Situation herauszuziehen.“ Sie blickte Thresk für einen Schreckensmoment an. Dann änderte sich ihr Ausdruck. Eine Welle der Erleichterung spülte über sie hinweg; sie lachte in Thresks Gesicht. „Du versuchst, mir Angst zu machen“, sagte sie. „Nur kenne ich dich. Erkennst du, was es für dich bedeuten würde, falls es je wirklich bekannt wäre, dass du bei dem Prozess gelogen hast?“ „Ja.“ „Deinen Ruin. Deinen absoluten Ruin.“
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„Schlimmer als das.“ „Gefängnis!“ „Vielleicht. Ja.“ Stella lachte wieder. „Und du würdest das Risiko eingehen, die Wahrheit bekannt werden zu lassen, indem du es einer Person erzählst. Nein, nein! Ein anderer vielleicht ‐ nicht du! Du hast dein ganzes Leben einen Traum gehabt ‐ aus der Unbekanntheit aufzusteigen, in der Welt voranzukommen, die höchsten Positionen innezuhaben. Alles und jeder ist zu dieser Erfüllung geopfert worden. Oh, wer sollte es besser wissen als ich?“, und sie schlug scharf ihre Hände zusammen, als sie diesen bitteren Schrei äußerte. „Du hast dich spät hingelegt und bist früh aufgestanden und du bist vorangekommen. Also, bist du der Mann, der seine ganze Arbeit und seinen Erfolg wegwirft, nun, da sie die Erfüllung erreichen? Du bist in dem Streitwagen. Wirst du heruntersteigen und an den Rädern gebunden laufen? Wirst du aufstehen und sagen ‚Es gab einen Prozess. Ich leistete einen Meineid‘? Nein. Ein anderer vielleicht. Nicht du, Harry.“ Thresk hatte keine Antwort auf diese Anklage. Alles davon stimmte, außer ihrer Schlussfolgerung, und es war keine Neuigkeit für ihn. Er machte sich keine Mühe, sich zu verteidigen. „Du bist nicht sehr großzügig, Stella“, erwiderte er liebenswürdig. „Denn falls ich log, rettete ich dich durch die Lüge.“ Stella wurde durch die Worte beruhigt. Ihre Stimme verlor ihre Härte, sie streckte in einer Entschuldigung ihre Hand aus und legte sie auf seinen Arm. „Oh, ich weiß. Ich sandte dir ein kleines Dankesbriefchen, als du mir meine Freiheit gabst. Aber es wird für mich nicht viel von Wert sein, wenn ich verliere ‐ wofür ich jetzt kämpfe.“ „Also benutzt du jede Waffe?“ „Ja.“ „Aber diese eine zerbricht in deiner Hand“, sagte er förmlich. „Die Sache, die du für unglaublich hältst, dass ich sie tue, werde ich trotzdem tun.“ 212
Stella blickte ihn verzweifelt an. Sie konnte nicht länger bezweifeln, dass er seine Worte meinte. Er war wirklich entschlossen, sich und sie zu opfern. Und warum? Warum sollte er eingreifen? „Du hast mich an einem Tag gerettet, um mich am nächsten zu vernichten“, sagte sie. „Nein“, erwiderte er. „Ich denke nicht, dass ich das tun werde, Stella“, und er erklärte ihr, was ihn antrieb. „Ich hatte keine Ahnung, warum Hazlewood mich hierher bat. Hätte ich es vermutet, ich sage es offen, hätte ich mich geweigert zu kommen. Aber ich bin hier. Die Schwierigkeiten sind wieder an meiner Tür, aber in einer neuen Form. Da ist dieser Mann, der junge Hazlewood. Ich kann ihn nicht vergessen. Du wirst ihn mit Hilfe einer Lüge, die ich erzählte, heiraten.“ „Er liebt mich“, rief sie. „Dann kann er die Wahrheit ertragen“, antwortete Thresk. Er zog einen Stuhl gegenüber von dem, auf dem Stella saß. „Ich will, dass du mich verstehst, wenn du willst. Ich will nicht, dass du mich für barsch und grausam hältst. Ich log auf meinen Schwur im Zeugenstand. Ich verletzte meine Traditionen, ich schlug meinen Glauben in meiner Berufsehre, und ein solcher Glaube bedeutet eine Menge für jeden Mann.“ Stella rührte sich ungeduldig. Was für Worte waren das? Traditionen? Berufsehre! „Ich lege keinen Wert darauf, Stella, aber sie zählen“, fuhr Thresk fort. „Und ich sage dir, dass sie zählen, denn ich werde hinzufügen, dass ich diese Lüge morgen wieder sagen würde, wäre der Prozess morgen und du in einem Gefängnis. Ich würde sie wieder sagen, um dich wieder zu retten. Ja, um dich zu retten. Aber wenn du gehst und – lass mich es sehr deutlich sagen ‐ diese Lüge zu deinem Vorteil benutzt, na, dann bin ich verpflichtet, ‚stopp‘ zu rufen. Verstehst du das nicht? Du benutzt die Lüge, um einen Mann zu heiraten und ihn in Unwissenheit über die Wahrheit zu lassen. Du kannst das nicht tun, Stella! Du wärest selbst unglücklich, wenn du es dein ganzes Leben lang tätest. Du würdest dich für keinen Augenblick sicher fühlen. Du würdest von einer Furcht heimgesucht werden, dass er eines Tage die Wahrheit erfahren würde, und nicht von dir. Oh, ich bin mir sicher darüber.“ Er fasste ihre Hände und drückte sie ernst. „Sage es ihm, Stella, sage es ihm!“ 213
Stella Ballantyne stand mit einem eigenartigen Blick auf ihrem Gesicht auf. Ihre Augen halb geschlossen, als ob sie eine Vision der vergangenen Schrecken aussperrte. Sie drehte sich Thresk mit einem weißen Gesicht zu und ihre Hände ballten sich. „Du weißt nicht, was in dieser Nacht geschah, nachdem du davongeritten bist, um deinen Zug zu erwischen.“ „Nein.“ „Ich denke, du solltest es wissen ‐ bevor du zu Gericht sitzen“, und so endlich in dieser ruhigen Bibliothek unter den Sussex Downs wurde die tragische Geschichte jener Nacht erzählt. Für Thresk, als er zuhörte und beobachtete, lebten die Schrecken wieder in den Augen und der gedämpften Stimme von Stella Ballantyne, die dunklen Wände schienen zurückzufallen und sich aufzulösen. Die monderhellte Ebene des fernen Chitipur erstreckte sich vor ihm zu dem dunklen Hügel, wo die alte stillen Paläste zerbröckelten; und auf halbem Weg zwischen ihnen und den grünen Signallichtern der Eisenbahn glühte das Lager wie traubenartige Lichter einer Kleinstadt. Aber Thresk erfuhr mehr als die Fakten. Die Quelle des Tuns wurde ihm nun enthüllt; die Frau offenbarte sich, dunkle Plätze wurden hell gemacht; und er beugte sich unter einer neuen Bürde der Reue.
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Kapitel XXVI Zwei Fremde „Du bist zurück zu dem Zelt gekommen“, begann sie, „und seither hast du missverstanden, was du gesehen hast. Denn dies ist die Wahrheit: ich hatte vor, mich selbst zu töten.“ Thresk war erschrocken, wie er es nicht erwartet hatte; und eine große Welle der Erleichterung wogte über ihn und hob seine Seele. Hier war die einfachste Erklärung, doch war sie ihm nie in den Sinn gekommen. Immer war er von der Vorstellung bedrängt worden, wie Stella ruhig beim Tisch stand, überlegt ihr Gewehr zum Gebrauch vorbereitete, immer hatte er diese Vision mit dem Tod von Stephen Ballantyne in einen schrecklichen Zusammenhang gebracht. Er bezweifelte nicht, dass sie jetzt die Wahrheit sprach. Als er sie anblickte und die Qual auf ihrem Gesicht sah, konnte er es nicht bezweifeln. Einen so bestimmten Vorsatz, wie er sich vorgestellt hatte, hatte es nicht gegeben, und Erleichterung trug ihn zu Mitleid. „Also ist es dazu gekommen?“, sagte er. „Ja“, erwiderte Stella. „Und du hattest deinen Anteil, es dazu zu bringen ‐ Du, der zu Gericht sitzt.“ „Ich!“, rief Thresk aus. „Ja, du sitzt zu Gericht. „Ich bin nicht allein. Nein, ich bin nicht allein. Ein Verbrechen wurde begangen? Dann musst du deinen Anteil der Schuld auf dich nehmen.“ Thresk fragte sich vergebens, was sein Anteil war. Er hatte vor Jahren eine feige Sache ein paar Meilen von dieser Stelle entfernt begangen. Er hatte nie aufgehört, sich für die Feigheit Vorwürfe zu machen. Aber dass sie gelebt und gearbeitet hatte, wie eine geheime Krankheit, bis sie ihn am Ende zu einem ganz unbewussten Mittäter an dieser Mitternachtstragödie gemacht hatte, einen Teilnehmer an seiner Schuld, falls es Schuld gab ‐ war hier wieder neu für ihn. Aber die Erkenntnis, die ihre ersten Worte ihm gegeben hatten, dass all diese Jahre er nie die Wahrheit von ihr bekommen hatte, hielt ihn nun
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demütig. Er hörte auf, Richter zu sein. Er wurde Schüler, und als Schüler antwortete er ihr. „Ich bin bereit, sie auf mich zu nehmen.“ Er setzte sich auf eine gepolsterte Bank, die hinter dem Schreibtisch stand, und Stella setzte sich an seine Seite. „Als wir uns trennten ‐ an jenem Morgen ‐ war es im Wohnzimmer dort drüben in meinem Cottage. Wir trennten uns, du, um bei deiner Arbeit voranzukommen, Henry, ich, um an dich zu denken, wie du vorankämest, Henry, ich, um zu denken, wie du ohne mich an deiner Seite vorankämest. Dort lag ein Brief auf dem Tisch, ein Brief aus Indien. Jane Repton hatte ihn geschrieben und sie bat mich, hinaus zu ihr wegen des kalten Wetters zu kommen. Ich ging. Ich war ein junges Mädchen, einsam und sehr unglücklich, und wie junge Mädchen es oft tun, die einsam und sehr unglücklich sind, trieb ich in die Ehe.“ „Ich verstehe“, sagte Thresk mit gedämpfter Stimme. Die schreckliche Überzeugung wuchs nun in ihm, unheimlich wie das Anbrechen eines stürmischen Tages, dass die Feigheit, die er auf Bignor Hill gezeigt hatte, sie ganz und gar zerstörte und ihn überhaupt nicht verletzte. „Ja, ich verstehe. Da beginnt mein Anteil.“ „Oh nein. Noch nicht“, antwortete sie. „Dann sprach ich, wenn ich hätte still sein sollen. Ich ließ mein Herz hinausgehen, wenn ich es bewachen hätte sollen. Nein, ich kann dir keinen Vorwurf machen.“ „Du hast trotzdem das Recht.“ Aber Stella wollte sich jetzt nicht entschuldigen, und nicht bei ihm auf irgendeine Raffiniertheit oder Schliche. „Nein: ich heiratete. Das war meine Angelegenheit. Ich wurde geschlagen – verachtet – lächerlich gemacht – von einem Mann in Schrecken versetzt, der heimlich trank und seine ganze Trunkenheit für mich aufbewahrte. Das war auch meine Angelegenheit. Aber ich hätte weitermachen können. Sieben Jahre lang hatte es angedauert. Ich ließ mich in einer trüben Gewohnheit des Elends nieder. Ich hätte weitermachen können, tyrannisiert und gequält zu werden,
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wäre nicht eine kleine Sache geschehen, um mich über den Abgrund zu stoßen.“ „Und was war das?“, fragte Thresk. „Dein Besuch bei mir in Chitipur“, erwiderte sie und die Worte nahmen ihm den Atem. Nanu, er war nach Chitipur gereist, nur um sie zu retten. Er lehnte sich begierig nach vor, aber sie erwartete ihn. Sie lächelte ihn mit einer nachsichtigen Vergebung an. „Oh, warum bist du gekommen? Aber ich weiß es.“ „Wirklich?“, fragte Thresk. Hier hatte sie auf jeden Fall unrecht. „Ja. Du bist wegen dieser einen schwachen, weichen Stelle der Empfindsamkeit gekommen, die in allen von euch ist, dem Stärksten, dem Härtesten. Ihr seid jahrelang stark. Ihr seid jahrelang allein. Dann kommt der sentimentale Augenblick und wir sind es, die leiden, nicht ihr.“ Und tief in Thresks Sinn war das Entsetzen der Fehler, die Leute in Unwissenheit voneinander begehen und die Sterblichen verletzen, die Fehler begehen. Er hatte Stella missverstanden. Hier missverstand sie ihn und missverstand ihn auf eine eigenartige Weise zu ihrer Gefahr und ihrem Ruin. „Du bist dir darüber sicher?“, fragte er. Sie hatte keinen Zweifel – nicht mehr Zweifel als er von dem Grund gehabt hatte, warum sie stand und das Gewehr vorbereitete. „Ganz“, antwortete sie. „Du hattest von mir in Bombay gehört und es kam über dich, dass du sehen wolltest, wie für die Frau, die du liebtest, nach all diesen Jahren gesorgt wird: ob sie ihre hübsche Art behielt, ob sie dich vermisste – ah, vor allem, ob sie dich vermisste. Du wolltest in einer milden harmlose Flamme die Asche der alten Romanze entfachen, deine Hände daran für eine halbe Stunde wärmen, den Geschmack der schwachen und angenehmen Erinnerungen wiedererlangen und dann zu deinem eigenen Platz und an Ihre eigene Arbeit zurückgehen, unberührt und unverletzt.“ Thresk lachte laut vor Bitterkeit über den Fehler, den sie gemacht hatte. Doch konnte er ihr keine Vorwürfe machen. Da war eine gewisse kluge Einsicht, die, obwohl sie sie in diesem Fall irreführte, in einem anderen Fall wahr hätte sein können. Er erinnerte sich an ihren Unglauben an allem, was er zu ihr in diesem 217
Zelt in Chitipur gesagt hatte; und er war durch die Ironie der Dinge und der blinden und schwachen Hilflosigkeit der Menschen aufgebracht, um sie zu bekämpfen. „Also, darum kam ich nach Chitipur?“, rief er. „Ja“, antwortete Stella ohne eine Sekunde zu zögern. „Aber ich konnte nicht unberührt und unverletzt gelassen werden. Du bist gekommen und alles, was ich verloren hatte, kam mit dir, kam mit einem lebhaften Ansturm heller unerträglicher Erinnerungen.“ Sie legte ihre Hände über ihre Augen und Thresk durchlebte wieder jenen Abend in dem Zelt in der Wüste, aber mit einem neuen Verständnis. Sein Verstand wurde erleuchtet. Er sah die Welt wie ein Gefängnis, in dem jedes Lebewesen von seinem Nachbarn durch die undurchdringliche Mauer der Unfähigkeit zu verstehen abgeschossen wird. „Erinnerungen an Sommer hier“, fuhr sie fort, „an Freundinnen, an Leckerbissen und angenehme Dinge, an Tage des großen Glücks, als es gut war – oh, so gut! – am Leben und jung zu sein. Und du fuhrst zu allem zurück, direkt mit dem Nachtpostzug nach Bombay, direkt vom Bahnhof an Bord Ihres Schiffes. Oh, wie es wehtat, dich davon sprechen zu hören, mit einem beiläufigen angenehmen Wort über Exil und Nachbarn von nebenan!“ Sie umschloss ihre Hände vor sich, ihre Finger arbeiteten und zuckten. „Nein, ich konnte es nicht ertragen“, flüsterte sie. „Die Schläge, der Hohn, die Verachtung, beschloss ich, sollten in dieser Nacht zu einem Ende kommen, und als du mich mit dem Gewehr in meiner Hand gesehen hast, hatte ich vor, es zu beenden.“ „Ja?“ „Und dann passierte das Dümmste. Ich konnte die kleine Schachtel mit Patronen nicht finden.“ Stella beschrieb ihm, wie sie hierhin und dorthin im Zelt herumgelaufen war, Laden öffnete, in Taschen schaute und nervöser und beunruhigter mit jeder Sekunde, die verging, wurde. Sie hatte so wenig Zeit. Ballantyne hatte nicht vor, mit Thresk bis zum Bahnhof zu gehen. Er beabsichtigte bloß, seinen Gast hinter dem Rand des Lagers zu verabschieden. Und es musste alles vorüber und getan sein, bevor er zurückkam. Sie hörte, wie Ballantyne Thresk zurief, fest zu sitzen,
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während das Kamel aufstand; und noch immer hatte sie sie nicht gefunden. Sie hörte Thresks Stimme gute Nacht sagen. „Die letzten Worte, Harry, wollte ich auf der Welt hören. Ich dachte, dass ich auf sie warten würde, und auf den Augenblick, der dann dahingeschwunden war. Aber ich hatte die Patronen nicht gefunden und so begann die Suche wieder.“ Thresk, der sie beobachtete, als sie wieder diese verzweifelten Minuten durchlebte, wurde nach Chitipur zurückgetragen und schien in das Zelt zu sehen. Er hatte ein schreckliches Bild vor seinen Augen, von einer gejagten Frau, die wild von Tisch zu Tisch sauste, mit einem weißen, bebenden Gesicht und Lippen, die unzusammenhängend plapperten, und fiebrigen Händen, die nervös herausschossen, Bücher und Ziergegenstände umwarfen – in einer vergeblichen Suche nach einer Schachtel Patronen, um sich damit umzubringen. Sie fand sie endlich hinter der Whiskyflasche und fasste nach ihr mit einem großen Seufzer der Erleichterung. Sie trug sie hinüber zu dem Tisch, auf den sie das Gewehr gelegt hatte, und als sie in den Lauf stieß, stand Stephen Ballantyne in dem Eingang des Zeltes. „Er beschimpfte mich“, fuhr Stella fort. „Ich hatte die Halskette abgenommen. Ich hatte dir die Flecken auf meinem Hals gezeigt. Er beschimpfte mich dafür und er fragte mich grob, warum ich mich nicht erschösse und ihn von einer Närrin befreite. Ich stand, ohne ihm zu antworten. Das machte ihn immer verrückt. Ich tat es nicht absichtlich. Ich war lustlos und langsam geworden. Ich stand einfach und blickte ihn dumm an und in einem Wutanfall rannte er auf mich mit seiner erhobenen Faust zu. Ich zuckte zusammen, er machte mir Angst, und dann, bevor er mich erreichte – ja.“ Ihre Stimme verklang in einem Flüstern. Thresk unterbrach nicht. Es gab mehr für sie zu erzählen und einen schrecklichen Vorfall zu erklären. Stelle fuhr in einem Augenblick fort, wobei sie gerade vor sich schaute, und mit aller Leidenschaft der Furcht fort aus ihrer Stimme. „Ich erinnere mich, dass er stand und mich für eine kleine Weile albern ansah. Ich hatte Zeit zu glauben, dass nichts geschehen war, und um froh zu sein, dass nicht geschehen war, und um große Angst vor dem zu haben, was er mir antun würde. Und dann fiel er hin und lag ganz bewegungslos.“
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Es schien, dass sie nicht mehr zu sagen hatte, dass sie die unerklärliche Sache unerklärt lassen wollte; und sogar Thresk verdrängte es aus seinen Gedanken. „Es war also ein Unfall“, rief er. „Nach allem, Stella, war es ein Unfall.“ Aber Stella saß stumm an seiner Seite. Ein Kampf fand in ihr statt und spiegelte sich in ihrem Antlitz wider. Thresks begierige Freude wurde gedämpft. „Nein, mein Freund“, sagte sie schließlich, langsam und sehr besonnen. „Es war kein Unfall.“ „Aber du hast in Furcht abgefeuert.“ Thresk ergriff nun diese Alternative. „Du hast in Notwehr geschossen, Stella, ich machte in Bombay einen groben Fehler.“ Er rückte fort von ihr in seiner Erregung. „Es tut mir leid. Oh, es tut mir sehr leid. Ich hätte überhaupt nicht vortreten sollen. Ich hätte ruhig bleiben und deinen Verteidiger seinen Fall entwickeln lassen sollen, wie er es tat, auf Notwehr. Du wärest freigesprochen worden – und richtigerweise freigesprochen. Du hättest das Mitgefühl von jedem gehabt. Aber ich kannte deine Geschichte nicht. Ich hatte Angst, dass die Entdeckung von Ballantyne draußen vor dem Zelt dich ruinieren würde. Ich wusste, dass meine Geschichte nicht versagen könnte, dich zu retten. Daher erzählte ich sie. Aber ich hatte unrecht, Stella. Ich beging einen groben Fehler. Ich fügte dir großen Schaden zu.“ Er stand nun vor ihr und eine so schmerzliche Qual ertönte in seiner Stimme, dass Stella durch sie bewegt war, ihre Pläne zu verwerfen. So hatte sie vorgehabt, die Geschichte zu erzählen, falls sie je dazu getrieben wurde. So hatte sie sie erzählt. Aber nun streckte sie eine zaghafte Hand aus und fasste ihn an seinem Arm. „Ich sagte, ich würde dir die Wahrheit erzählen. Aber ich habe sie nicht ganz erzählt. Es ist so schwer, nicht eine kleine letzte Sache zurückzuhalten. Höre mir zu“, Und mit gebeugtem Kopf und ihrer Hand, die sich noch immer verzweifelt an seinem Arm festklammerte, machte sie die endgültige Enthüllung. „Es ist wahr, dass ich verrückt vor Furcht war. Aber es gab nur einen kleinen Augenblick, als ich wusste, was ich tun würde, als es mich traf, dass der Weg, den ich zuvor gewählt hatte, der falsche war und dieser neue Wege der richtige. Nein, nein“, rief sie, als Thresk sich bewegte. „Sogar das ist nicht alles. 220
Dieser Augenblick – man konnte ihn kaum in Zeit messen, doch für mich war er eindeutig genug und ist in meinem Gedächtnis deutlich eingebrannt, denn währenddessen machte er einen Rückzieher.“ „Was?“, rief Thresk. „Sage es nicht, Stella!“ „Ja“, antwortete sie. „Währenddessen machte er einen Rückzieher, da er wusste, was ich zu tun vorhatte, genau wie ich es plötzlich wusste. Es war ein Augenblick, als er mich anjammerte – ja, das ist das Wort – mich um Barmherzigkeit anjammerte.“ Sie hatte nun die Wahrheit gesagt und sie ließ ihre Hand von seinem Ärmel fallen. „Und du? Was hast du getan?“, fragte Thresk. „Ich? Ich wurde verrückt, denke ich. Als ich ihn dort liegen sah, verlor ich meinen Kopf. Das Zelt war mit großen Feuerflecken bedeckt, die vor meinen Augen wirbelten und schmerzten. Eine Kraft, größer als meine, nahm mich in Besitz. Ich war verrückt. Ich schleppte ihn hinaus aus dem Zelt – ohne Grund – das ist die Wahrheit – ohne Grund überhaupt. Kannst du mir das glauben?“ „Ja“, erwiderte Thresk bereitwillig genug. „Ich kann das wohl glauben.“ „Dann brach etwas“, fuhr sie fort. „Ich fühlte mich schwach und betäubt. Ich schleppte mich zu meinem Raum. Ich ging zu Bett. Klingt das sehr schrecklich für dich? Ich hatte nur einen klaren Gedanken. Es war vorüber. Es war alles vorüber. Ich schlief.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, ihre Hände fielen an ihre Seite, ihre Augen schlossen sich. „Ja, ich schlief tatsächlich.“ Eine Uhr, die auf dem Kaminsims tickte, schien in der Stille der Bibliothek immer lauter zu werden. Das Geräusch davon drängte sich Thresk auf. Es weckte Stella. Sie öffnete ihre Augen. Vor ihr stand Thresk mit ernstem und sehr mitleidsvollem Gesicht. „Nun antworte mir wahrheitsgetreu“, sagte Stella, und als sie sich nach vor lehnte, richte sie ihre Augen auf ihn. „Wenn du mich noch immer liebst, würdest du, wenn du diese Geschichte kennst, ablehnen, mich zu heiraten?“ Thresk blickte über die Jahre seines unglücklichen Lebens und sah sie als das Spiel eines boshaften Schicksals. 221
„Nein“, sagte er. „Ich würde es nicht.“ „Warum sollte mich dann Dick nicht heiraten?“ „Weil er diese Geschichte nicht kennt.“ Stella nickte. „Ja. Da ist der Makel in meiner Bitte an dich, ich weiß. Du hast ganz recht. Ich hätte es ihm erzählen sollen. Ich sollte es ihm jetzt erzählen“, und plötzlich fiel sie auf ihre Knie vor Thresk, die Tränen barsten aus ihren Augen und mit einer Stimme, gebrochen vor Leidenschaft, schrie sie: „Aber ich wage es nicht – noch nicht. Ich habe es versucht – oh, mehr als einmal. Glaube mir das, Harry! Du musst es glauben! Aber ich konnte es nicht. Ich hatte nicht den Mut. Du wirst mir ein wenig Zeit geben, nicht wahr? Oh, nicht lange. Ich werde es ihm aus meinem eigenen freien Willen erzählen – sehr bald, Harry. Aber nicht jetzt – nicht jetzt.“ Das Geräusch ihres Schluchzens und der Anblick ihres Kummers ging Thresk zu Herzen. Er hob sie vom Boden auf und hielt sie fest. „Es gibt einen anderen Weg, Stella“, sagte er sanft. „Oh, ich weiß“, antwortete sie. Sie dachte an die kleine Flasche mit den Veronaltabletten, die bei ihrem Bett standen, nicht zum ersten Mal in dieser Nacht. Sie hörte nicht auf zu überlegen, ob Thresk auch diesen Weg im Sinn hatte. Es kam ihr so natürlich; es war so leicht, ein so einfacher Weg. Sie dachte nie, dass sie es missverstand. Sie war zu dem Ende des Kampfes gekommen; die Schlacht war gegen sie gegangen; sie erkannte es; und nun ohne Klage beugte sie ihr Haupt vor dem letzten Schlag. Die ererbte Gewohnheit der Unterwerfung lehrte sie, dass der Augenblick für Befolgung gekommen war und gab ihr die Würde der Geduld. „Ja, ich vermute, ich muss diesen Weg nehmen“, sagte sie und sie ging zu dem Stuhl, über den sie ihren Umhang geworfen hatte. „Gute Nacht, Harry.“ Aber bevor sie den Umhang über ihre Schultern geworfen hatte, stand Thresk zwischen ihr und dem Fenster. Er nahm den Umhang aus ihren Händen.
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„Es hat zu viele Fehler gegeben, Stella, zwischen dir und mir. Es darf keine mehr geben. Hier sind wir – bis heute Nacht Fremde, und weil wir Fremde sind und es nie wussten, verderben wir das Leben des anderen.“ Stella blickte ihn verwirrt an. Sie hatte Thresk in dieser Nacht unvorstellbare Wahrheiten über sich selbst gelehrt. Sie sollte nun etwas von dem inneren geheimen Mann kennenlernen, das die äußeren Aufmachungen des Erfolges verbarg. Er führte sie zu einem Sofa und setzte sie an seine Seite. „Du hast eine Menge harte Dinge zu mir gesagt, Stella“, sagte er mit einem Lächeln – „die meisten davon wahr, aber einige nicht. Und die unwahren Dinge hättest du nicht gesagt, wenn du es je riskiert hättest, dich einer Frage zu stellen. Warum ich wirklich meinen Dampfer in Bombay verpasste.“ Stella Ballantyne war erschrocken. Sie machte einen Rateversuch, aber stockte in der Äußerung davon, so schlecht passte es bei ihrer Einschätzung von ihm. „Du hast es absichtlich verpasst?“ „Ja. Ich kam nicht nach Chitipur wegen einer sentimentalen Reise“, und er erzählte, wie er ihr Porträt in Mrs. Carruthers Salon sah und von dem Elend Ihrer Ehe erfuhr. Ich kam, um dich fortzuholen.“ Und wieder starrte ihn Stella an. „Du? Du bedauertest mich so sehr? Oh, Harry!“ „Nein, ich wollte dich so sehr. Es ist wahr, dass ich alles für den Erfolg opferte. Ich leugne nicht, dass er es wert ist, ihn zu haben. Aber Jane Repton sagte etwas zu mir in Bombay, das so wahr ist – man kann kriegen was man will, wenn man es genug will, aber man kann den Preis nicht kontrollieren, den man zu bezahlen haben wird. Ich weiß, meine Liebe, dass ich einen zu hohen Preis bezahlte. Ich trampelte etwas nieder, das besser zu haben wert wäre.“ Stella stand plötzlich auf. „Oh, wenn ich das in der Nacht in Chitipur gewusst hätte! Was für einen Unterschied es gemacht hätte!“ Sie wandte sich rasch von ihm ab. „Hättest du es mir nicht sagen können?“ 223
„Ich hatte keine Gelegenheit. Ich hatte keine fünf Minuten mit dir allein. Und Du hättest mir nicht geglaubt, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte. Ich ließ meine Pfeife zurück, um zurückzukommen und es dir zu sagen. Ich hatte dann nur die Zeit, dir zu sagen, dass ich schreiben würde.“ „Ja, ja“, antwortete sie und wieder barst der Schrei aus ihr: „Was für einen Unterschied es gemacht hätte! Bloß gewusst zu haben, dass du mich wirklich wollten!“ Sie hätte nie dieses Gewehr aus der Ecke genommen und nach den Patronen gesucht, um sich umzubringen! Was auch immer sie zugestimmt hätte oder nicht, fortzugehen und Thresks Zukunft zu ruinieren, sie hätte ein wenig Glauben gehabt, womit sie weitermachen und der Welt entgegentreten sollte. Wenn sie es nur gewusst hätte! Aber oben auf der Kuppe von Bignor Hill war ein Schlag versetzt worden, unter dem ihr Glaube geschwankt hatte, und er hatte nie eine Chance zur Erholung. Sie lachte herb. Das Herz ihrer Tragödie war ihr nun offenbart worden. Sie sah sich als das Spielzeug der Götter, die herumsaßen wie grausame Rüpel und ein hilfloses Tier quälten und dumm über seine Leiden lachten. Sie wandte sich wieder an Thresk und hielt ihre Hand entgegen. „Danke. Du hättest dich für mich ruiniert.“ „Ruin ist ein großes Wort“, antwortete er und indem er noch immer ihre Hand hielt, zog er sie wieder hinunter. Sie gab widerwillig nach. Sie missverstand vielleicht seinen Charakter, aber als die Gefühle und Empfinden geweckt wurden, hatte sie die unfehlbare Einsicht ihres Geschlechts. Sie war dadurch jetzt gewarnt. Sie blickte Thresk mit entsetzten Augen an. „Warum hast mir das alles erzählt?“, fragte sie angespannt, bereit zur Flucht. „Ich will dich vorbereiten. Es gibt einen Ausweg aus den Problemen – der ehrliche Weg für uns beide: reinen Tisch zusammen zu machen und zusammen zu nehmen, was folgt.“ Sie war nun auf ihren Beinen und fort von ihm in einer Sekunde. „Nein, nein“, rief sie erschrocken und Thresk missverstand den Grund des Entsetzens.
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„Du kannst nicht mehr vor Gericht gestellt werden, Stella. Das ist vorüber. Du bist freigesprochen worden.“ Sie wartete ab. „Aber du?“ „Ich?“, und er zuckte mit den Schultern. „Ich trage die Folgen. Ich bezweifele, dass sie so schwer sein würden. Es würde einiges Mitgefühl geben. Und hinterher wäre es, als ob du von Chitipur nach Bombay heruntergekommen wärest und dich mir wie geplant angeschlossen hättest. Wir können das Beste aus unseren Leben zusammen machen.“ Da war so viel Aufrichtigkeit in seiner Art, so viel Einfachheit, dass sie ihn nicht anzweifeln konnte, und die Unermesslichkeit des Opfers, das er zu mache vorbereitet war, überwältigte sie. Es war nicht nur der Skandal und das Familiengericht, das er nun bereit war, herauszufordern. Er war über den in Bombay vorgesehenen Plan hinausgegangen. Er war bereit, mit ihr Hand in Hand in die äußere Dunkelheit zu gehen, alles hinzulegen, für das er schonungslos gearbeitet hatte. „Du würdest das für mich tun?“, sagte sie. „Oh, du beschämst mich!“, und sie bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen. „Du hast deinen Kampf für einen Stand in der Welt aufgegeben – das ist, was du willst, nicht wahr?“ Er flehte und sie zog ihre Hände fort von ihrem Gesicht. Er glaubte das? Er stellte sich vor, dass sie nur für einen Namen, eine Position in der Welt kämpfte? Sie starrte ihn verblüfft an und zwang sich zu verstehen. Da er wichtig genug genommen hatte, um unverheiratet zu bleiben, da die Kenntnis des Fehlers, den er gemacht hatte, bitterer mit jedem Jahr geworden war, war er leicht in den anderen Irrtum gefallen, dass sie nie aufgehört hatte, ihn für wichtig zu nehmen. „Wir werden etwas aus unserem Leben machen, keine Angst“, sagte er. „Aber diesen Mann wegen seiner Position zu heiraten, und er es nicht weiß – oh, meine Liebe, ich weiß, wie du getrieben wirst – aber es wird nicht funktionieren! Es wird nicht funktionieren!“ Sie stand eine kleine Weile schweigend. Nacheinander hatte er ihre Verteidigungen niedergerissen. Sie konnte kaum die Güte auf seinem Gesicht 225
ertragen und sie wandte sich von ihm ab und setzte sich ein kleines Stück weiter weg auf einen Stuhl. „Bleib dort stehen, Harry“, sagte sie. Eine merkwürdige Gelassenheit war ihrer Erregung gefolgt. „Ich muss dir etwas erzählen, was ich vorgehabt hatte, vor dir zu verbergen – das Letzte, was ich zurückgehalten habe. Es wird dir wehtun, befürchte ich.“ Dann kam eine Veränderung auf Thresks Gesicht. Er wappnete sich, einem Schlag zu begegnen. „Fahre fort.“ „Es ist nicht wegen seiner Position, dass ich mich an Dick klammere. Ich will ihn behalten – ja – um seinetwillen. Ich will nicht, dass er durch die Heirat mit mir mehr verliert als er muss“, und ein Verstehen kam über Henry Thresks Gesicht. „Du machst dir dann etwas aus ihm! Du machst dir wirklich etwas aus ihm?“ „So sehr“, antwortete sie, „dass, wenn ich ihn nun verliere, ich die ganze Welt verlieren würde. Du und ich können nicht dorthin zurückgehen, wo wir vor neun Jahren standen. Du hattest damals deine Chance, Harry, wenn du gewünscht hättest, sie zu nehmen. Aber du wünschtest sie nicht, und diese Art von Chance kommt nicht oft wieder. Andere wie diese – ja. Aber nicht ganz die Gleichen. Es tut mir leid. Aber du musst mir glauben. Wenn ich Dick verliere, würde ich die ganze Welt verlieren.“ Bis dahin hatte sie sehr besonnen gesprochen, aber nun stockte ihre Stimme. „Das ist meine einzige armselige Entschuldigung.“ Das unerwartete Wort weckte Thresk zur Nachfrage. „Entschuldigung?“, fragte er, und mit ihren Augen in Furcht auf ihn gerichtet fuhr sie fort: „Ja. Ich beabsichtigte, dass Dick mich öffentlich heiratet. Aber ich sah, dass sein Vater vor der Hochzeit zurückschrak. Ich bekam Angst. Ich erzählte Dick von meinen Befürchtungen. Er verscheuchte sie. Ich ließ sie ihn verscheuchen.“ „Was meinst du?“, fragte Thresk.
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„Wir heirateten heimlich in London vor fünf Tagen.“ Thresk äußerte einen leisen Schrei und in einem Augenblick war Stella an seiner Seite, ihre ganze Haltung fort. „Oh, ich weiß, dass es falsch war. Aber ich wurde gejagt. Sie waren alle wie ein Wolfsrudel hinter mir her. Mr. Hazlewood hatte sich ihnen angeschlossen. Ich wurde in eine Ecke gedrängt. Ich liebte Dick. Sie hatten vor, ihn ohne Mitleid mir zu entreißen. Ich klammerte. Ja, ich klammerte.“ Aber Thresk stieß sie zur Seite. „Du hast ihn reingelegt“, rief er. „Ich wagte nicht, es ihm zu erzählen“, flehte Stella und wrang ihre Hände. „Ich wagte nicht, ihn zu verlieren.“ „Du hast ihn reingelegt“, wiederholte Thresk; und bei dem wütenden Tonfall in seiner Stimme fand sich Stella wieder. „Du klagst mich an und verurteilst mich?“, fragte sie ruhig. „Ja. Tausendmal ja“, rief er wütend aus, und sie antwortete mit einer anderen Frage, beflügelt auf einem Hauch von Ironie: „Weil ich ihn reinlegte? Oder weil ich – ihn heiratete?“ Thresk war still. Er erkannte die Wahrheit, die in dem Unterschied angedeutet wurde, er wandte sich ihr mit einem Lächeln zu. „Ja“, antwortete er. „Du hast recht, Stella. Es ist, weil du ihn geheiratet hast.“ Er stand für einen Augenblick in Gedanken. Dann mit einer Geste der Hilflosigkeit hob er ihren Umhang auf. Sie beobachtete seine Handlung und als er auf sie zukam, schrie sie: „Aber ich werde es ihm jetzt sagen, Harry.“ Auf eine Weise schuldete sie es diesem Mann, der sich so sehr aus ihr etwas machte, der so für Opfer vorbereitet war, falls Opfer helfen könnte. Dieser Morgen auf dem Hügelland wurde nun aus ihrer Erinnerung gefegt. „Ja, ich werde es ihm jetzt sagen“, sagte sie begierig. Da Henry Thresk auf dieses Bekenntnis einen solchen Wert legte, na, so wahrscheinlich würde es auch Dick, ihr Ehemann, tun. 227
Aber Thresk schüttelte seinen Kopf. „Was hat es jetzt für einen Sinn? Du gibst ihm keine Chance. Du kannst ihn nicht frei geben“; und Stella war wie zu Stein verwandelt. Alle Argumente schienen sich früher oder später zu dieser einen bedrohenden Alternative zu wenden, der diese Nacht schon zweimal ihre Akzeptanz aufgezwungen hatte. „Ja, ich kann, Harry, und ich werde es, ich verspreche es dir, wenn er frei zu sein wünscht. Ich kann es ganz leicht tun, ganz natürlich. Jede Frau könnte es. So viele von uns nehmen Dinge, um uns schlafen zu lassen.“ Es war keine Überheblichkeit in ihrer Stimme oder Art, sondern eher eine verzweifelte Anerkennung von Fakten. „Gütiger Gott, du darfst nicht daran denken!“, sagte Thresk heftig. „Das ist ein zu großer Preis zu bezahlen.“ Stella schüttelte wehmütig ihren Kopf. „Man hört es, Harry“, antwortete sie mit einer unbeschreiblichen Wehmütigkeit, „dass Frauen alles tun, um den Mann, den sie lieben, zu behalten. Sie tun eine große Menge – ich bin ein Beispiel – aber nicht immer alles. Manchmal läuft die Liebe ein wenig stärker. Und dann sehnt sie sich danach, dass der Geliebte alles bekommen soll, was er haben will. Wenn Dick seine Freiheit will, werde ich auch dann wollen, dass er sie bekommt.“ Und während Thresk ohne Worte, um ihr zu antworten, stand, klopfte es an der Tür. Es war sanft, fast verstohlen, aber es erschreckte sie beide wie ein Donnerschlag. Für einen Augenblick standen sie steif. Dann reichte Thresk Stella schweigend ihren Umhang und zeigte zum Fenster. Er begann laut zu sprechen. Ein oder zwei Worte enthüllten Stella Ballantyne seinen Plan. Er probte eine Rede, die er bei Gericht vor den Geschworenen halten sollte. Aber der Griff der Tür ratterte und nun hörte man die Stimme des alten Mr. Hazlewoods. „Thresk! Sind sie da?“ Wieder zeigte Thresk zu dem Fenster. Aber Stella bewegte sich nicht. „Lass ihn herein“, sagte sie ruhig und mit einem Blick auf sie sperrte er die Tür auf. 228
Mr. Hazlewood stand draußen. Er war diese Nacht nicht zu Bett gegangen. Er hatte seine Jacke ausgezogen und trug nun einen Hausrock. „Ich wusste, dass ich heute Nacht nicht schlafen würde, daher blieb ich auf“, begann er, „und ich dachte, dass ich hier Stimmen hörte.“ Über Thresks Schulter sah er Stella Ballantyne aufrecht in der Mitte des Zimmers stehen, ihr leuchtendes Kleid der einzige helle Farbfleck. „Sie hier?“, rief er zu ihr und Thresk machte Platz für ihn, um einzutreten. Er näherte sich mit einem triumphierenden Blick in seinen Augen.“ „Sie hier – in diesem Haus – mit Thresk? Sie überredeten ihn, seinen Mund zu halten.“ Stella begegnete standhaft seinem Blick. „Nein“, erwiderte sie. „Er überredete mich, die Wahrheit zu sagen, und er hat Erfolg gehabt.“ Mr. Hazlewood lächelte und nickte. Da war kein Großmut in seinem Triumph. Ein Schuljunge hätte mehr Ritterlichkeit dem Gegner gezeigt, der unten war. „Sie gestehen dann? Gut! Richard muss es gesagt werden.“ „Ja“, antwortete Stella. „Ich beanspruche das Recht, es ihm zu sagen.“ Aber Mr. Hazlewood spottete bei dem Vorschlag. „Oh du meine Güte, nein!“, rief er. „Ich lehne die Forderung ab. Ich werde jetzt direkt zu Richard gehen.“ Er hatte tatsächlich zwei Schritte zu der Tür gemacht, bevor Stellas Stimme plötzlich laut und gebieterisch ertönte. „Seien Sie vorsichtig, Mr. Hazlewood. Nachdem Sie es ihm gesagt haben, wird er zu mir kommen. Seien Sie vorsichtig!“ Hazlewood blieb stehen. Gewiss stimmte das. „Ich werde es Dick morgen sagen, hier in Ihrer Gegenwart“, sagte sie. „Und wenn er es wünscht, werde ich ihn frei geben und keinen von euch je wieder belästigen.“
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Hazlewood sah Thresk an und wurde überzeugt, zuzustimmen. Überlegung zeigte ihm, dass es der bessere Plan war. Er selbst würde anwesend sein, wenn Stella sprach. Er würde sich darum kümmern, dass die Wahrheit ohne Ausschmückungen erzählte wurde. „Sehr gut, morgen“, sagte er. Stella warf den Umhang über ihre Schultern und ging hinauf zu dem Fenster. Thresk öffnete es für sie. „Ich werde dich bis zur Tür begleiten“, sagte er. Der Mond war nun aufgegangen. Er hing tief mit den Ästen eines Baumes, wie das Gitterwerk über sein Gesicht; und auf dem Garten und der Wiese lag dieses unirdische Licht, das fällt, wenn eine monderhellte Nacht beginnt, in den Ansturm der Morgendämmerung zu ertrinken. „Nein“, sagte sie. „Ich möchte lieber alleine gehen. Aber tu etwas für mich, willst du? Bleibe morgen. Sei hier, wenn ich es ihm sage.“ Sie würgte ein Schluchzen hinunter. „Oh, ich werde einen Freund brauchen, und du bist so liebenswürdig.“ „So liebenswürdig!“, wiederholte er mit einem Hauch von Bitterkeit. Könnte es ein tödlicheres Lob von den Lippen einer Frau geben? Du bist liebenswürdig; man wird auf seinen Platz in der breiten Masse von Männern gestellt; man ist ausgelöscht. „Oh ja, ich werde bleiben.“ Sie stand für einen Augenblick auf den Steinplatten draußen vor dem Fenster. „Wird er vergeben?“, fragte sie. „Du würdest es. Und er ist nicht so sehr jung, nicht wahr? Es sind die Jungen, die nicht vergeben. Gute Nacht.“ Sie ging den Weg entlang und über die Wiese. Thresk sah ihr zu, wie sie ging, und sah das Licht in ihrem Zimmer angehen. Dann schloss er das Fenster und zog den Vorhang vor. Mr. Hazlewood war gegangen. Thresk fragte sich, was der morgige Tag bringen würde. Nach allem hatte Stella recht. Die Jungen konnten hart sein. Ja, er war froh, dass Dick Hazlewood Mitte dreißig war. Für sich selbst – nun, kannte er sein Geschäft. Es sollte liebenswürdig sein. Er drehte die Lichter ab und ging zu Bett. 230
Kapitel XXVII Das Letzte „Sechs, sieben, acht“, sagte Mr. Hazlewood und zählte die Briefe, die er schon seit dem Frühstück geschrieben und auf das Tablett gelegt hatte, das ihm Hubbard entgegenhielt. Er war ein ganz anderer Mann heute Morgen von dem Mr. Hazlewood von gestern. Er strahlte selbstgefällig und gelassen. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blickte milde den Butler an. „Es muss eine Antwort auf das Problem geben, das ich auf Sie schob, Hubbard.“ Hubbard runzelte die Stirn in Gedanken und es gelang ihm nur, hundertzehn Jahre alt auszusehen. Er hatte den melancholischen Blick eines mausernden Vogels. Er schüttelte seinen Kopf und ließ ihn hängen. „Zweifellos, Sir“, sagte er. „Aber soweit Sie betroffen sind“, fuhr Mr. Hazlewood forsch fort, „können Sie kein Licht darauf werfen?“ „Nicht einen Schimmer, Sir.“ Mr. Hazlewood war enttäuscht und bei ihm war Enttäuschung Gereiztheit. „Das schaut Ihnen nicht ähnlich, Hubbard“, sagte er, „denn manchmal, nachdem ich tagelang über ein merkwürdiges und verwirrendes Rätsel gegrübelt habe, haben Sie es in dem Augenblick gelöst, in dem ich es Ihnen gestellt habe.“ Hubbard ließ seinen Kopf noch tiefer hängen. Er begann den Kopf wie eine anerkennende Verbeugung hängen zu lassen, aber vergaß, den Kopf wieder zu heben. „Es ist sehr gütig von Ihnen, Sir“, sagte er. Er schien durch die Güte von Mr. Hazlewood bedrückt zu sein. „Doch sind Sie nicht klug, Hubbard! Überhaupt nicht klug. „Nein, Sir. Ich kenne meinen Platz“, erwiderte der Butler und Mr. Hazlewood für mit ein wenig Neid fort. 231
„Sie müssen eine so wundervolle Gabe der Einsicht haben, die Sie direkt zu der inneren Bedeutung der Dinge führt.“ „Es ist einfach Hausverstand, Sir“, sagte Hubbard. „Aber ich habe ihn nicht“, rief Mr. Hazlewood. „Wie kommt das?“ „Sie brauchen ihn nicht, Sir. Sie sind ein Gentleman“, erwiderte Hubbard und trug die Briefe zur Tür. Dort jedoch blieb er stehen. „Ich bitte um Verzeihung, Sir“, sagte er, aber ein neues Paket von Die Gefängnismauern ist heute Morgen eingetroffen. Soll ich es auspacken?“ Mr. Hazlewood runzelte die Stirn und kratzte sein Ohr. „Also – äh – nein, Hubbard – nein“, sagte er mit ein wenig Unbehagen. „Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, dass Die Gefängnismauern nicht fast einer meiner Fehler ist. Wir alle machen Fehler, Hubbard – irgendwo, wo es nicht bemerkt wird.“ „Gewiss, Sir“, sagte Hubbard. „Ich werde es unter dem Schatten der Südmauer verbrennen.“ Mr. Hazlewood blickte erschrocken auf. War es möglich, dass Hubbard sich über ihn lustig machte? Der bloße Gedanke war unglaublich und tatsächlich schlurfte Hubbard mit so viel Demut aus dem Zimmer, dass Mr. Hazlewood ihn entließ. Er ging über den Flur zum Esszimmer, wo er Henry Thresk mit seinem Frühstück herumspielen sah. Keine Verlegenheit lastete auf Mr. Hazlewood heute Morgen. Er sprudelte vor guter Laune über. „Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Mr. Thresk“, sagte er, „für die Seite, die Sie gestern Nachmittag einnahmen. Sie waren für uns ein Fremder in diesem Haus. Ich verstehe ihre Position.“ „Ich bin nicht ganz so sicher, Mr. Hazlewood“, sagte Thresk trocken, „dass ich Ihre verstehe. Meinerseits habe ich meine Augen die ganze Nacht nicht geschlossen. Sie andererseits scheinen gut geschlafen zu haben.“ „Habe ich tatsächlich“, sagte Hazlewood. „Ich war von einer Anspannung erleichtert, unter der ich seit einem Monat gelitten habe. Meine Zustimmung zu Richards Hochzeit mit Stella Ballantyne aus keinem anderen Grund verboten zu haben, als diesem gesellschaftlichen Vorurteil, wäre eine vollständige, 232
erstaunliche Umkehr meiner ganzen Theorie und meines Lebensvollzugs. Ich wäre ein Objekt der Lächerlichkeit geworden. Die Leute hätten über den Philosophen von Little Beeding gelacht. Ich habe ihr Gelächter diesen ganzen Monat gehört. Nun jedoch, sobald die Wahrheit bekannt ist, wird niemand sagen können ‐“ Henry Thresk blickte von seinem Teller entgeistert auf. „Haben Sie vor, zu sagen, Mr. Hazlewood, dass, nachdem Mrs. Ballantyne ihre Geschichte erzählt hat, Sie vorhaben, diese Geschichte öffentlich zu machen?“ Mr. Hazlewood starrte Henry Thresk verblüfft an. „Aber natürlich“, sagte er. „Oh, Sie können nicht daran denken!“ „Aber ich tue es. Ich muss es tun. Es steht so viel auf dem Spiel“, erwiderte Hazlewood. „Was?“ „Die ganze Beständigkeit meines Lebens. Ich muss es klar machen, dass ich nicht aus Vorurteil oder Misstrauen oder Furcht vor dem, was die Welt sagen wird oder was irgendwelche der konventionellen Gründe, die andere Menschen leiten mögen, handle.“ Für Thresk war diese Anschauungsweise schrecklich; und es gab dagegen kein Argument. Es wurde angeregt durch die schreckliche Eitelkeit einer beschränkten, geistlosen Natur, und Thresks Erfahrung hatte ihm niemals etwas Schwierigeres zu bekämpfen oder zu überwältigen gesehen. „Also, um Ihres Rufes nach Beständigkeit willen wollen Sie eine sehr unglückliche Frau Schande und Verleumdung tragen lassen, die ihr sehr leicht erspart werden könnte? Sie könnten tausend Ausreden finden, die Hochzeit abzubrechen.“ „Sie drücken den Fall sehr schroff aus, Mr. Thresk“, sagte Hazlewood. „Aber Sie haben meine Position nicht in Betracht gezogen“, und er ging aufgebracht zurück zur Bibliothek.
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Thresk zuckte mit den Schultern. Nach allem, wenn Dick Hazlewood Stella seinen Rücken zuwandte, würde sie die Beleidigung nicht hören oder die Schande erleiden. Dass sie die dunkle Reise unternehmen würde, wie sie erklärt hatte, konnte er nicht bezweifeln. Und niemand könnte sie daran hindern – nicht einmal er selbst, obwohl sein Herz brechen würde, wenn sie sie unternähme. Alles hing von Dick ab. Er erschien ein paar Minuten danach frisch von seinem Ritt, glühend vor guter Laune und Zufriedenheit. Aber der Anblick von Thresk überraschte ihn. „Hallo“, rief er. „Guten Morgen. Ich dachte, Sie würden gehen, um den Zug um acht Uhr fünfundvierzig zu erreichen.“ „Ich fühlte mich faul“, antwortete Thresk. „Ich schickte einige Telegramme ab, um meine Verpflichtungen zu verschieben.“ „Gut“, sagte Dick und er setzte sich an den Frühstückstisch. Als er eine Tasse Tee ausgoss, sagte Thresk: „Ich denke, ich hörte, dass Sie über dreißig sind.“ „Ja.“ „Dreißig ist ein gutes Alter“, sagte Thresk. „Es sieht zurück auf die Jugend“, antwortete Dick. „Das ist genau, was ich meine“, bemerkte Thresk. „Stört es Sie, wenn ich eine Zigarette rauche?“ „Überhaupt nicht.“ Thresk rauchte und während er rauchte, redete er, nicht sorglos, doch vorsichtig, nicht um seinen Fall zu betonen. „Jugend ist eine reizende Sache hochtrabender Worte und ungestümer Gedanken, aber wie viele andere anmutige Dinge, kann sie sehr hart und sehr grausam sein.“ Dick Hazlewood blickte genau und schnell auf seinen Gesellschafter. Aber er antwortete zwanglos: „Sie sollte großzügig sein.“
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„Und sie ist es – an sich“, erwiderte Thresk. „Großzügig, wenn ihre Sympathien beteiligt sind, großzügig solange, wie alles damit gut geht: großzügig, weil sie des Triumphes zuversichtlich ist. Aber ihre Großzügigkeit ist keine Angelegenheit des Urteils. Sie kommt nicht von einem weiten Ausblick auf eine Welt, wo eine Menge für alles gesagt wird. Es ist eine Angelegenheit der körperlichen Gesundheit.“ „Ja?“, sagte Dick. „Und einmal beleidigt, einmal verletzt, findet die Jugend es schwierig zu vergeben.“ Bis dahin hatten die beiden Männer über ein abstraktes Thema diskutiert, ohne eine unmittelbare Anwendung auf sich selbst. Aber nun lehnte sich Dick über den Tisch mit einem Lächeln auf seinem Gesicht, was Thresk nicht verstand. „Und warum sagen Sie das heute Morgen zu mir, Mr. Thresk?“, fragte er scharf. „Ja, es ist eine ziemliche Unverschämtheit, nicht wahr?“, stimmte Thresk zu. „Aber ich sah spät gestern Nacht in einen Rechtsfall, in dem unwiderrufliche und schreckliche Dinge geschehen werden, wenn es keine Vergebung gibt.“ Dick nahm sein Zigarettenetui aus seiner Tasche. „Ich verstehe“, bemerkte er und zündete ein Streichholz an. Beide Männer standen vom Tisch auf und an der Tür drehte sich Dick um. „Ihr Rechtsfall hat natürlich noch nicht angefangen“, sagte er. „Nein“, antwortete Thresk, „aber er wird es sehr bald.“ Sie gingen in die Bibliothek und Mr. Hazlewood begrüßte seinen Sohn mit einer Lebhaftigkeit, die seit Wochen von seinem Gehabe abwesend gewesen war. „Bist du heute Morgen geritten?“, fragte er. „Ja, aber Stella nicht. Sie schickte eine Nachricht herüber, dass sie müde sei. Ich muss hinübergehen und sehen, wie es ihr geht.“ Mr. Hazlewood stellte sich schnell dazwischen: „Es besteht keine Notwendigkeit, mein Junge; sie kommt heute Morgen hierher.“ 235
„Oh!“ Dick sah seinen Vater erstaunt an. „Sie sagte gestern Abend kein Wort davon zu mir ‐ und ich brachte sie nach Hause. Ich vermute, sie sandte darüber auch eine Nachricht?“ Er blickte von einem zum anderen seiner Gefährten, aber keiner antwortete. Etwas Unbehaglichkeit war tatsächlich in ihnen beiden offensichtlich. „Oho!“, sagte er mit einem Lächeln. „Stella kommt herüber und ich weiß nichts darüber. Mr. Thresk ist faul, daher bleibt er in Little Beeding und einen Vortrag beim Frühstück gehalten. Und du, Vater, scheinst in bemerkenswerter Stimmung zu sein.“ Mr. Hazlewood ergriff die Gelegenheit, die Überlegungen seines Sohnes zu unterbrechen. „Bin ich, mein Junge“, rief er. „Ich ging heute Morgen auf den Feldern und ‐“ Aber er kam nicht weiter mit seinen Übertreibungen, denn der Klang von Mrs. Pettifers Stimme ertönte laut im Vorzimmer und sie platzte in das Zimmer „Harold, ich habe nur einen Augenblick. Guten Morgen, Mr. Thresk“, rief sie in einem Atemzug. „Ich habe dir etwas zu sagen.“ Thresk war durcheinander. Angenommen, dass Stella kam, während Mrs. Pettifer hier war! Sie darf nicht in Mrs. Pettifers Gegenwart sprechen. Irgendwie muss man Mrs. Pettifer loswerden. Keine solche Sorge jedoch störte Mr. Hazlewood. „Sag es, Margaret“, sagte er und lächelte sie freundlich an. „Du kannst mich heute Morgen nicht ärgern. Ich bin wieder der Alte“, und Dicks Augen wandten sich scharf auf ihn. „Meine ganze Macht der Beobachtung ist zurückgekehrt, mein altes Interesse an dem großen dunklen Rätsel des menschlichen Lebens ist wiedererwacht. Der Verstand, der fleißige, aktive Verstand, nimmt heute seine Arbeit auf und stellt Fragen, untersucht Probleme. Ich stand früh auf, Margaret“, er fuchtelte mit seinen Händen wie einer, der eine Rede hielt, „und und als ich auf den Feldern zwischen den Kühen ging, zwang sich mir eine äußerst merkwürdige Spekulation auf. Wie kommt es, fragte ich mich ‐“
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Es schien, dass es Mr. Hazlewood beschieden war, niemals einen Satz an diesem Morgen zu vollenden, denn Margaret Pettifer knallte an dieser Stelle ihren Regenschirm auf den Fußboden. „Hör auf zu reden, Harold, und hör mir zu! Ich habe mit Robert gesprochen und wir ziehen jede Widerstand gegenüber Dicks Heirat zurück.“ Mr. Hazlewood war verblüfft. „Du, Margaret ‐ du von allen Leuten!“, stammelte er. „Ja“, erwiderte sie entschlossen. „Robert mag sie und Robert ist ein guter Frauenkenner. Das ist eine Sache. Dann glaube ich, das Dick St. Quentins nehmen wird; nicht wahr, Dick?“ „Ja“, antwortete Dick. „Das ist das Haus, das wir uns gestern ansahen.“ „Also, es ist keine zweihundert Meter von uns entfernt und es wäre für keinen von uns angenehm, wenn Dick und Dicks Frau Fremde wären. Daher gebe ich nach. Da, Dick!“ Sie ging durch das Zimmer und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Ich werde heute Nachmittag Stella anrufen.“ Dick wurde rot vor Freude. „Das ist prächtig, Tante Margaret. Ich wusste, dass du in Ordnung bist, weißt du? Du machst zuerst natürlich ein Getue, aber dir wird vergeben.“ Mr. Hazlewood gab ein so vollständiges Bild des Entsetzens ab, dass Dick ihn nur bedauern konnte. Er ging hinüber zu seinem Vater. „Nun, Sir“, sagte er, „lass uns dieses Problem hören.“ Der alte Mann war gegen die Einladung nicht gewappnet. „Wirst du, Richard“, rief er aus. „Du bist genau der Mann, der es hört. Deine Tante, Richard, hat einen zu praktischen Sinn für solche Spekulationen. Es ist ein äußerst merkwürdiges Problem. Hubbard versagte ganz, Licht darauf zu werfen. Ich selbst bin, gebe ich zu, verwirrt. Und ich frage mich, ob ein frischer junger Verstand uns zu einer Lösung verhelfen kann.“ Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter und nahm ihn dann beim Arm.
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„Der frische junge Verstand wird einen Erfolg haben, Vater“, sagte Dick. „Schieß los.“ „Ich ging auf den Feldern, mein Junge.“ „Ja, Sir, zwischen den Kühen.“ „Genau, du bringst es auf den Punkt. Wie kommt es, fragte ich mich ‐“ „Das ist genau dein alter Stil, Vater.“ „Jetzt ist er es nicht, Richard, nicht wahr?“ Mr. Hazlewood ließ Dicks Arm sinken. Er freundete sich mit dem Thema an. Er fing Feuer. Er nahm die Haltung eines Redners an. „Wie kommt es, dass mit dem Fortschritt der Wissenschaft und dem Fortschritt der Zivilisation eine Kuh heute nicht mehr Milch gibt als am Beginn der christlichen Ära?“ Mit ausgebreiteten Armen fragte er nach einer Antwort und die Antwort kam. „Ein frischer junger Verstand kann dieses Problem in zwei Augenblicken lösen. Es ist, weil das Gesetz der Natur es verbietet. Das ist dein Problem, Vater. Das ist der große Rückzug zu sentimentalem Enthusiasmus. Es ist immer gegen das Gesetz der Natur.“ „Dick“, sagte Mrs. Pettifer, „durch ein außergewöhnliches Wunder bist du mit Hausverstand gesegnet. Ich bin weg.“ Sie ging in einem Wirbelwind davon wie sie gekommen war, und es war Zeit, dass sie ging, denn während sie die Tür schloss, kam Stella Ballantyne aus ihrem Cottage, um die Wiese zu überqueren. Dick war der Erste, der das Tor klicken hörte, als sie es aufklinkte und in den Garten ging. Er machte einen Schritt auf das Fenster zu, aber sein Vater unterbrach und ausnahmsweise mit echtem Nachdruck. „Nein, Richard“, sagte er. „Warte mit uns hier. Mrs. Ballantyne hat uns etwas zu erzählen.“ „Ich dachte es“, sagte Dick ruhig und er kam zu den anderen zwei Männern zurück. „Lasst mich verstehen.“ Sein Gesicht war ernst, aber ohne Zorn oder Verwirrung. „Stella kehrte gestern Nacht hierher zurück, nachdem ich sie nach Hause gebracht hatte?“ „Ja“, sagte Thresk. 238
„Um Sie zu sehen?“ „Ja.“ „Und mein Vater kam herunter und fand euch zusammen?“ „Ja.“ „Ich hörte Stimmen“, unterbrach Mr. Hazlewood eilig, „und daher kam ich natürlich herunter.“ Dick wandte sich an seinen Vater. „Das ist in Ordnung, Vater. Ich dachte nicht, dass du am Schlüsselloch horchtest. Ich mache keinem Vorwürfe. Ich will genau wissen, wo wir sind ‐ das ist alles.“ Stella fand die kleine Gruppe auf sie warten, und indem sie vor ihnen stand, erzählte sie ihre Geschichte wie sie sie letzte Nacht Thresk erzählt hatte. Sie ließ nichts aus, noch zögerte sie. Sie hatte gezittert und einen großen Teil der Nacht über die Feuerprobe, die vor ihr lag, geweint, aber nun, da sie dazu gekommen war, war sie tapfer. Ihre Fassung erstaunte Thresk tatsächlich und erfüllte ihn mit Mitleid. Er wusste, dass die Wurzeln ihres Herzens bluteten. Nur ein‐ oder zweimal gab sie ein Zeichen von dem, was diese paar Minuten sie kosteten. Ihre Augen irrten trotzdem zu Dick Hazlewoods Gesicht. Er beobachtete Stella die ganze Zeit, die sie sprach, aber sein Gesicht war eine Maske, keine Geste oder Bewegung gab einen Hinweis auf seine Gedanken. Als Stella geendet hatte, fragte er gefasst: „Warum erzähltest du mir nicht alles am Anfang, Stella?“ Und nun drehte sie sich zu ihm in einem Ausbruch der Leidenschaft und Reue. „Oh, Dick, ich versuchte, es dir zu erzählen. Ich entschloss mich so oft, dass ich es würde, aber ich hatte nie den Mut. Ich bin schrecklich zu tadeln. Ich verbarg alles vor dir ‐ ja. Aber oh, du bedeutetest mir so viel ‐ du selbst, Dick. Es war nicht deine Position. Es war nicht, was du mit dir brachtest, die Freundschaft anderer Leute, die Wertschätzung anderer Leute. Es war bloß du ‐ du ‐ du! Ich sehnte mich danach, dass du mich wolltest, wie ich dich wollte.“ Dann fasste sie sich und hörte auf. Sie tat genau das, was sie beschlossen hatte, nicht zu
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tun. Sie flehte, sie machte Ausflüchte. Sie richtete sich auf, und mit einer Würde, die ganz mitleidsvoll war, flehte sie nun gegen sich selbst. „Aber ich bitte nicht um dein Mitleid. Du bist nicht barmherzig sein. Ich will keine Barmherzigkeit, Dick. Das hat für mich keinen Sinn. Ich will wissen, was du denkst ‐ nur was du wirklich und aufrichtig denkst ‐ das ist alles. Ich kann alleine bleiben ‐ wenn ich es muss. Oh ja, ich kann alleine bestehen.“ Und als Thresk sich rührte und bewegte, da er wohl wusste, auf welche Weise sie meinte, alleine zu bestehen, wandte Stella ihm ihre Augen warnend, ja sogar bedrohend, zu. „Ich kann ganz leicht alleine bestehen, Dick. Du darfst nicht denken, dass ich so sehr leiden würde. Ich würde es nicht! Ich würde es nicht ‐“ Trotz ihrer Beherrschung brach ein Schluchzen aus ihrer Kehle und ihr Busen hob und senkte sich, und dann ging Dick Hazlewood an ihre Seite und nahm ihre Hand. „Ich unterbrach dich nicht, Stella. Ich wollte, dass du jetzt alles erzählst, ein für allemal, sodass keiner von uns drei je wieder ein Wort darüber erwähnen muss.“ Stelle blickte Dick Hazlewood verwundert an und dann brach ein Licht über ihr Gesicht wie der Morgen. Sein Arm glitt um ihre Taille und sie lehnte sich plötzlich schwach an ihn, fast ohnmächtig werdend. Mr. Hazlewood sprang bestürzt von seinem Stuhl auf. „Aber du hörtest sie, Richard!“ „Ja, Vater, ich hörte sie“, antwortete er. „Aber du siehst, Stella ist meine Frau.“ „Deine ‐“ Mr. Hazlewoods Lippen weigerten sich, das Wort zu aussprechen. Er fiel wieder zurück auf seinen Stuhl und senkte sein Gesicht in seine Hände. „Oh nein!“ „Es ist wahr“, sagte Dick. „Ich habe eine Wohnung in London, wie du weißt. Ich fuhr letzte Woche nach London. Stella kam am Montag hoch. Es war mein Tun, mein Wunsch. Stella ist meine Ehefrau.“ Mr. Hazlewood stöhnte laut. „Aber sie hat dich reingelegt, Richard“, und Stella stimmte zu.
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„Ja, ich habe dich reingelegt, Dick. Ich habe es“, sagte sie kläglich und sie zog sich aus seinem Arm. Aber er fasste nach ihrer Hand. „Nein, hast du nicht.“ Er führte sie hinüber zu seinem Vater. „Das ist, wo ihr beide euren Fehler macht. Stella versuchte mir in jener Nacht etwas zu erzählen, als wir von diesem Haus zu ihrem Cottage zurückgingen, und ich bat sie, mich zu heiraten. Sie hat es oft während der letzten Wochen versucht. Ich wusste sehr wohl, was es war ‐ bevor du dich gegen sie wandtest, bevor ich sie heiratete. Sie legte mich nicht rein.“ Mr. Hazlewood wandte sich verzweifelt an Henry Thresk. „Was sagen Sie?“, fragte er. „Dass ich sehr froh bin, dass Sie mich herbaten, um meinen Rat über Ihre Sammlung zu geben“, antwortete Thresk. „Ich war gestern geneigt, eine andere Ansicht Ihrer Einladung anzunehmen. Aber ich tat, was ich vielleicht vorschlagen darf, dass Sie tun sollten. Ich akzeptierte die Situation.“ Er ging hinüber zu Stella und nahm ihre Hände. „Oh, danke“, rief sie. „Danke.“ „Und jetzt“ ‐ Thresk wandte sich an Dick ‐ „wenn ich in einen Bradshaw schauen könnte, könnte ich den nächsten Zug nach London herausfinden.“ „Sicher“, sagte Dick und er ging hinüber zum Schreibtisch. Stella und Henry Thresk wurden für einen Augenblick alleine gelassen. „Wir werden dich wiedersehen“, sagte sie. „Bitte!“ Thresk lachte. „Zweifellos. Ich gehe nicht hinaus in die Nacht. Du weißt meine Adresse. Wenn du Mr. Hazlewood nicht fragst. Es ist King’s Bench Walk, nicht wahr?“ Und er nahm den Fahrplan aus Dick Hazlewoods Hand.
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