Kôji Suzuki
Roman
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Liesen und Katrin Marburger
Am nördlichen Rand eine...
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Kôji Suzuki
Roman
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Liesen und Katrin Marburger
Am nördlichen Rand eines Neubaugebiets, direkt neben dem San‐ keien‐Park gelegen, stand eine Reihe von jeweils 14‐stöckigen Häusern mit Eigentumswohnungen. Obwohl der Gebäudekom‐ plex erst kürzlich errichtet worden war, hatten fast alle Wohnun‐ gen bereits Käufer gefunden. Jedes Haus beherbergte beinahe ein‐ hundert nicht besonders geräumige Eigentumswohnungen, doch die meisten der dort lebenden Menschen hatten ihre Nachbarn noch nie gesehen. Nur nachts, wenn die Fenster erleuchtet waren, schien man sicher sein zu können, dass hier wirklich Menschen lebten. Weiter südlich reflektierte das ölverschmierte Wasser des Meeres die funkelnden Lichter einer Fabrik. An ihren Wänden verlief ein Wirrwarr von Rohren und Kabeln, das an Blutgefäße oder Mus‐ kelgewebe erinnerte. Auf der Vorderfassade der Fabrik tanzten zahllose Lichter wie in der Finsternis glühende Insekten, sodass man dieser bizarren Szenerie eine gewisse Schönheit nicht abspre‐ chen konnte. Ein paar hundert Meter weiter, mitten in dem Neubaugebiet, stand zwischen mit mathematischer Präzision angelegten, bisher noch unbebauten Grundstücken ein vereinzeltes, einstöckiges Haus mit Garage, dessen Eingangstür direkt auf die von Norden nach Süden verlaufende Straße ging. Es war ein ganz gewöhnli‐ ches Eigenheim, wie man es in jeder beliebigen Neubausiedlung fand, doch bis jetzt waren weder die daneben noch die dahinter liegenden Grundstücke bebaut worden. Vielleicht lag es an der schlechten Verkehrsanbindung, dass bisher erst wenige Grundstü‐ cke verkauft worden waren. Folglich wiesen entlang der Straße
immer wieder Schilder darauf hin, dass für diese Grundstücke noch Interessenten gesucht wurden. Verglichen mit dem Gebäu‐ dekomplex mit den Eigentumswohnungen wirkte die Neubau‐ siedlung ziemlich verwaist. Aus einem offenen Fenster im ersten Stock fiel ein Lichtstrahl auf die düstere Straße. In dem Haus brannte kein anders Licht als die‐ ses, das aus dem Zimmer von Tomoko Oishi kam. Die junge Frau trug Shorts und ein weißes T‐Shirt. Sie saß verdreht auf ihrem Ses‐ sel, die Beine in Richtung eines elektrischen Ventilators gestreckt, und war in die Lektüre eines ihrer Schulbücher vertieft. Während sie sich mit dem Saum ihres T‐Shirts ein bisschen halbwegs frische Luft zufächelte, murmelte sie etwas über die elende Hitze vor sich hin, ohne dass sich diese Bemerkung an einen bestimmten Adres‐ saten richtete. Tomoko besuchte die Abschlussklasse einer priva‐ ten Oberschule für Mädchen, und während der Sommerferien hat‐ te sie sich zu viel Freizeit gegönnt, ihre Arbeit vernachlässigt und den Berg der zu erledigenden Aufgaben nicht abgetragen. Sie hat‐ te der Hitze die Schuld daran gegeben, dass sie nicht arbeiten konnte. Tatsächlich aber war der Sommer gar nicht besonders heiß gewesen. Tage mit klarem Himmel waren rar, und sie hatte nicht annähernd so viel Zeit am Strand verbringen können wie in den vorangegangenen Jahren. Doch dann, direkt nach dem Ende des Urlaubs, waren zu allem Überdruss fünf Tage mit perfektem Sommerwetter gefolgt. Das ärgerte Tomoko, und sie verfluchte den makellos blauen Himmel. Wie konnte man von ihr verlangen, bei dieser mörderischen Hit‐ ze für die Schule zu büffeln? Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und drehte dann das Radio lauter. Auf der Fensterscheibe neben ihr ließ sich eine Motte nieder, die aber sofort vom Luftzug des Ventilators erfasst wurde. Nachdem das Insekt weggeflogen und von der Finsternis ver‐
schluckt worden war, erzitterte die Jalousie für einen kurzen Au‐ genblick. Für den nächsten Tag stand in der Schule eine Arbeit an, aber Tomoko Oishi kam einfach nicht weiter. Selbst wenn sie die ganze Nacht lernen würde, hätte sie am Morgen keine Chance, den An‐ forderungen zu genügen. Sie blickte auf die Uhr. Es war fast elf, und sie überlegte, ob sie sich im Fernsehen die Baseball‐Zusammenfassung anschauen soll‐ te. Vielleicht würde sie dabei einen Blick auf ihre Eltern erhaschen, die heute Abend Tribünenkarten in unmittelbarer Nähe des Spiel‐ felds hatten. Aber sie machte sich Sorgen wegen des Tests, da sie sich nichts sehnlicher wünschte, als bald die Universität besuchen zu können. Sie musste die Zulassung einfach bekommen! Welche Hochschule es dann war, spielte keine Rolle, aber eine Universität musste es sein. Und dennoch — was waren das für langweilige Ferien gewesen! Wegen des miesen Wetters hatte sie sich nicht wirklich amüsieren können, und die extreme Luftfeuchtigkeit hat‐ te sie davon abgehalten, sich ernsthaft um ihre Arbeit zu küm‐ mern. Mein Gott, das war mein letzter Sommer auf der Schule. Ich wollte einen triumphalen Abgang hinlegen, und jetzt ist alles vorbei. Das ist das Ende. Um ihre miese Stimmung auszukosten, versuchte sie, ein ergie‐ bigeres Thema als das schlechte Wetter zu finden. Wo bleiben meine Eltern? Was denken die sich eigentlich dabei, ihre Tochter so zurückzulassen, allein mit ihren Schularbeiten, schweißgeba‐ det... Und sie gehen aus und unterhalten sich mit Baseball! Warum ma‐ chen sie sich zur Abwechslung nicht mal über meine Gefühle Gedanken? Ein Arbeitskollege hatte ihrem Vater überraschend zwei Karten für das Spiel der Giants geschenkt, und folglich hatten ihre Eltern heute Abend den Tokyo Dome besucht. Mittlerweile hätten sie
längst wieder zu Hause sein müssen — wenn sie nicht nach dem Match ausgegangen waren. Aber noch war Tomoko mutterseelen‐ allein in dem frisch bezogenen Haus. Angesichts der Tatsache, dass es mehrere Tage lang nicht gereg‐ net hatte, war die Luftfeuchtigkeit unerklärlicherweise extrem hoch, und Tomoko schwitzte am ganzen Leib. Ohne sich dessen bewusst zu sein, schlug sie mit der Hand auf einen ihrer Ober‐ schenkel, doch als sie sie wieder zurückzog, war nichts von einem zerquetschten Moskito oder etwas in der Art zu sehen. Dennoch begann die Haut direkt über ihrem Knie zu jucken. Vielleicht war es ja nur Einbildung. Tomoko hörte ein summendes Geräusch und fuchtelte mit den Händen über ihrem Kopf herum. Eine Fliege. Plötzlich flog das Insekt nach oben, um dem Luftzug des Ventila‐ tors zu entkommen, und schon bald war es nicht mehr zu sehen. Wie hatte eine Fliege in das Zimmer kommen können? Die Tür war geschlossen. Tomoko überprüfte die Fenster, konnte aber beim besten Willen nicht erkennen, wie das Insekt in den Raum gelangt war. Plötzlich bemerkte sie, dass sie Durst hatte, außerdem musste sie auf die Toilette. Irgendwie fühlte sie sich, als bekäme sie schlecht Luft. Zwar war es nicht so, als würde sie ersticken, aber doch so, als drückte ein schweres Gewicht auf ihre Brust. Seit geraumer Zeit hatte Tomoko sich selbst bedauert und gejammert, wie ungerecht das Leben sein konnte, doch jetzt verstummte diese innere Stimme. Während sie die Treppe hinunterging, begann plötzlich ohne ersichtlichen Grund ihr Herz zu pochen. Durch ein Fenster am Fuß der Treppe bohrten sich die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos, deren Licht aber sofort wieder erlosch. Als auch das Motorgeräusch des Wagens in der Ferne verebbte, schien die Finsternis in dem Haus undurchdringlicher zu werden. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verursachte Tomoko einen Riesenlärm, während sie die restlichen
Stufen hinabstieg, und als sie den Flur erreicht hatte, schaltete sie sofort das Licht ein. Nachdem sie uriniert hatte, blieb sie lange Zeit gedankenverloren auf der Toilette sitzen. Noch immer hatte das heftige Herzklopfen nicht nachgelassen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Was war nur mit ihr los? Nachdem sie ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, um wieder zu Kräften zu kommen, stand sie schließlich auf. Mit einem Ruck zog sie Slip und Shorts zusammen hoch. Mama und Papa, ihr solltet besser schnell nach Hause kommen, sagte sie halblaut zu sich selbst. Plötzlich klang ihre Stimme wie die ei‐ nes kleinen Mädchens. Verflucht, mit wem rede ich eigentlich? Es war nicht so, dass sie sich an ihre Eltern wandte und sie bat, nach Hause kommen. Sie wandte sich an jemand anderen... Hey, hör auf, mir Angst zu machen. Bitte... Bevor sie sich dessen bewusst wurde, klang ihre Bitte fast wie ein Flehen. Sie ging zur Spüle in der Küche und wusch sich die Hände, ohne sie anschließend abzutrocknen. Dann nahm sie ein paar Eiswürfel aus dem Gefrierfach des Kühlschranks, ließ sie in ein Glas fallen und goss Coca‐Cola darüber. Nachdem sie das Glas mit einem einzigen Zug geleert hatte, stellte sie es auf die Spüle. Einen Au‐ genblick lang bewegten sich die Eiswürfel in dem Glas noch. To‐ moko erschauderte, und ihr war kalt. Ihre Kehle war noch immer wie ausgedörrt. Sie holte die große Flasche aus dem Eisschrank und füllte ihr Glas erneut. Mittlerweile zitterten ihre Hände. Sie hatte den Eindruck, als befände sich irgendetwas hinter ihr. Irgen‐ detwas... mit Sicherheit kein Mensch. Plötzlich war die Luft um sie herum vom säuerlichen Gestank verwesenden Fleischs erfüllt. Aber da war doch nichts... »Aufhören! Bitte!«, flehte sie laut. Die 15‐Watt‐Neonröhre über der Spüle flackerte, und Tomoko
fühlte sich an abgehackte Atemzüge erinnert. Angeblich war die Neonröhre neu, aber im Augenblick schien sie nicht besonders verlässlich zu funktionieren. Plötzlich bedauerte Tomoko es, nicht den Schalter gedrückt zu haben, mit dem sich alle Lampen in der Küche gleichzeitig einschalten ließen. Aber jetzt war es zu spät, um hinüberzugehen. Sie konnte sich nicht einmal mehr umdrehen. Tomoko wusste, was sich hinter ihr befand: ein im japanischen Stil Fingerichteter Raum mit acht Tatamis‐Matten aus gepresstem Reisstroh — und einem buddhistischen Altar im Erker, der dem Andenken ihres Großvaters gewidmet war. Durch die einen Spalt geöffneten Vorhänge hätte sie das Gras auf den unbebauten Grundstücken und etwas Licht aus den Gebäuden mit den Eigen‐ tumswohnungen sehen können. Mehr sollte es da eigentlich nicht zu sehen geben. Als sie das zweite Glas Cola zur Hälfte ausgetrunken hatte, war Tomoko völlig bewegungsunfähig. Das Gefühl war einfach zu intensiv — es war unmöglich, dass alles nur ihrer Fantasie ent‐ sprang: Sie spürte die Anwesenheit von etwas. Sie war sicher, dass etwas ihren Nacken berührte. Was wäre, wenn...? Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende den‐ ken. Wenn sie es tun würde, wenn sie diesen Weg weitergehen würde, dann würde sie sich erinnern, und sie glaubte nicht, der Angst dann standhalten zu können. Es war vor einer Woche pas‐ siert, vor so langer Zeit, dass sie es schon vergessen hatte. Alles war Shuichis Schuld — er hätte nicht sagen sollen, dass... Später hatte keiner von ihnen widerstehen können. Schließlich waren sie in die Stadt zurückgekehrt, und diese Szenen, diese merkwürdi‐ gen Bilder waren nicht mehr ganz so glaubwürdig erschienen. Irgendjemand musste das wohl witzig gefunden haben. Tomoko bemühte sich, an ein erfreulicheres Thema zu denken, an alles au‐ ßer daran. Aber wenn es... Wenn es wirklich... Schließlich hatte das Tele‐
fon geklingelt, oder etwa nicht? 0 Mama, Papa, wo bleibt ihr nur? »Kommt endlich nach Hause!«, schrie Tomoko. Doch auch nachdem sie diese Worte hervorgestoßen hatte, gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass das unheimliche Phantom ver‐ schwinden würde. Es war hinter ihr, reglos verharrend, beobach‐ tete sie und wartete auf seine Chance. Mit ihren 17 Jahren hatte Tomoko keine Ahnung, was nackte Angst ist, aber sie wusste, dass es Ängste gibt, die durch die Ein‐ bildungskraft verstärkt werden. Bitte, hoffentlich ist das der Grund. Ja, mehr ist es nicht. Wenn ich mich umdrehe, werde ich nichts sehen, absolut nichts. Tomoko wurde von dem Verlangen gepackt, sich endlich umzu‐ drehen. Sie wollte eine Bestätigung, dass nichts hinter ihr lauerte, wollte sich aus dieser Situation befreien. Aber wäre es damit wirk‐ lich getan? Um ihre Schultern herum schien ein teuflischer Kälte‐ schauer aufzusteigen, der ihren Rücken erfasste und schließlich ihre Wirbelsäule hinab zu kriechen begann, tiefer und immer tie‐ fer. Ihr T‐Shirt war von kaltem Schweiß durchtränkt. Ihre körperli‐ chen Reaktionen waren zu stark, als dass sie sie bloß ihrer Einbil‐ dungskraft hätte zuschreiben können. Hat nicht mal jemand gesagt, dass der Körper mehr weiß als der Kopf? Dann meldete sich eine andere Stimme: Dreh dich einfach um, es wird schon nichts sein. Wenn du jetzt nicht deine Cola austrinkst und weiterlernst, hast du bei dem Test morgen keine Chance. In ihrem Glas knackte ein Eiswürfel. Als wäre sie durch dieses Geräusch angespornt worden, wirbelte Tomoko ohne einen weite‐ ren Gedanken herum.
Direkt vor Kimura sprang die Ampel auf Gelb um. Er hätte noch durchfahren können, entschloss sich aber, zu bremsen und sein Taxi etwas näher in Richtung Bordstein zu bugsieren, weil er hoff‐ te, einen Fahrgast aufgabeln zu können, der wie viele der Men‐ schen hier nach Akasaka oder Roppongi wollte. Es war nicht un‐ gewöhnlich, dass die Leute einfach in sein Taxi sprangen, wenn er vor einer Ampel wartete. Zwischen Kimuras Taxi und dem Bordstein schlängelte sich ein Motorrad hindurch, das direkt vor dem Fußgängerübergang zum Stehen kam. Der Fahrer war ein junger Mann in Jeans. Kimura nervten Motorradfahrer, die sich auf diese Art durch den Verkehr schlängelten, und ganz besonders hasste er es, wenn er vor einer Ampel wartete und ein Motorrad sich direkt vor seine Tür stellte und einen potenziellen Kunden am Einsteigen hinderte. Außer‐ dem war er heute schon den ganzen Tag über von Kunden her‐ umgehetzt worden und in entsprechend mieser Stimmung. Er warf einen missgelaunten Blick auf den Motorradfahrer, dessen Gesicht durch das Visier seines Helms nicht zu erkennen war. Ein Fuß ruhte auf dem Bordstein, er hatte die Knie weit gespreizt, und sein Oberkörper bewegte sich angeberisch vor und zurück. In diesem Augenblick kam auf dem Bürgersteig eine junge Frau mit hübschen Beinen vorbei, und der Motorradfahrer wandte den Kopf, um ihr nachzublicken. Aber er hielt mitten in der Bewegung inne. Als sein Kopf sich ungefähr um neunzig Grad gedreht hatte, sah es so aus, als wäre sein Blick auf ein hinter der Frau liegendes Schaufenster gerichtet. Bald war die Frau ganz aus seinem Ge‐ sichtsfeld verschwunden. Der Motorradfahrer schien irgendetwas anzustarren. Das grüne Licht für die Fußgänger begann zu blinken
und erlosch dann. Wer jetzt noch auf der Straße war, musste sich beeilen, und die Passanten hetzten direkt vor Kimuras Kühler vorbei. Niemand hob eine Hand oder kam auf das Taxi zu. Kimu‐ ra ließ den Motor aufheulen und wartete darauf, dass die Ampel auf Grün umsprang. Genau in diesem Moment schien der Motorradfahrer von einem heftigen, krampfartigen Anfall erfasst zu werden. Er riss beide Arme in die Höhe, brach zusammen und krachte mit einem lauten, dumpfen Geräusch gegen die Beifahrertür von Kimuras Taxi. Dann war nichts mehr von ihm zu sehen. Du Arschloch! Der Junge muss das Gleichgewicht verloren haben und umge‐ kippt sein, dachte Kimura, während er die Warnblinkanlage ein‐ schaltete und aus dem Taxi stieg. Wenn die Tür beschädigt war, würde der Typ die Reparatur bezahlen müssen. Jetzt sprang die Ampel auf Grün um, und die Autos hinter Kimuras Taxi fuhren an ihm vorbei auf die Kreuzung zu. Der Motorradfahrer lag mit dem Gesicht nach oben auf der Straße, trat mit den Beinen aus und ver‐ suchte krampfhaft, sich mit beiden Händen den Helm vom Kopf zu reißen. Bevor Kimura sich dem Jungen zuwandte, warf er einen Blick auf seine lebenswichtige Einnahmequelle ‐ das Taxi. Wie erwartet war die Tür durch eine lange, scharfkantige Schramme verunstaltet. »Mist!« Während er sich dem gestürzten Motorradfahrer näherte, gab Kimura ein verärgertes Grunzen von sich. Obwohl der Rie‐ men des Sturzhelms nach wie vor unter dem Kinn geschlossen war, versuchte der Mann verzweifelt, ihn sich vom Kopf zu zerren — und zwar so, als wollte er sich den Kopf selbst vom Hals reißen. Hat er solche Schmerzen? Jetzt wurde Kimura klar, dass es um den Motorradfahrer wirk‐ lich schlimm stehen musste, und er kauerte sich neben ihm nieder.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. Wegen des getönten Visiers des Helms konnte er den Gesichtsausdruck des Manns nicht erkennen. Der Motorradfahrer packte Kimuras Hand und schien ihn um et‐ was zu bitten. Verzweifelt klammerte er sich an Kimura fest, sagte aber nichts. Er machte auch keine Anstalten, das Visier hochzu‐ schieben. Kimura fasste einen Entschluss. »Halten Sie durch, ich ruf den Notarzt.« Während er zu einem Münztelefon rannte, dach‐ te Kimura darüber nach, wie sich ein simpler Sturz von einem ste‐ henden Motorrad zu einer so ernsthaften Sache ausweiten konnte. Der Kerl musste direkt auf den Kopf gefallen sein. Sei kein Idiot, dachte Kimura. Schließlich trägt er einen Helm, oder? Er sieht nicht aus, als hätte er sich einen Arm oder ein Bein gebrochen. Hoffentlich wird das Ganze nicht auch noch unangenehm für mich... Besonders toll wäre es nicht, sollte er sich verletzt haben, als er gegen mein Taxi fiel. Kimura hatte eine böse Vorahnung. Wenn er tatsächlich verletzt ist, ist das dann ein Fall für die Versiche‐ rung? Das hieße, ein Unfallbericht wird gemacht, und das wiederum hieße, dass die Polizei... Nachdem er den Hörer eingehängt hatte, ging er zu dem Mann zurück, der reglos auf dem Boden lag und mit den Händen seine Kehle umschlossen hatte. Einige Passanten waren stehen geblieben und betrachteten den Motorradfahrer mit besorgter Miene. Kimu‐ ra bahnte sich einen Weg durch die Gaffer und sorgte dafür, dass alle mitbekamen, wer den Krankenwagen gerufen hatte. »He, He! Nur die Ruhe. Der Notarzt ist schon unterwegs.« Kimu‐ ra löste den Kinnriemen des Helms, der sich mühelos abnehmen ließ. Irgendwie war es unvorstellbar, dass der Mann damit solche Mühe gehabt und es nicht geschafft hatte. Das Gesicht des Ge‐ stürzten war merkwürdig verzerrt, und seine Miene konnte man nur als geschockt bezeichnen. Er hatte beide Augen weit aufgeris‐
sen, und seine hellrote Zunge steckte hinten in seiner Kehle. Aus seinen Mundwinkeln tröpfelte Speichel. Der Krankenwagen wür‐ de zu spät kommen. Als Kimura dem Motorradfahrer den Helm abgenommen hatte, hatten seine Finger dessen Hals berührt und keinen Puls gespürt. Kimura schauderte. Irgendwie wurde das Ganze immer irrealer. Noch immer drehte sich ein Rad des Motorrads langsam. Aus der Maschine tropfte Öl, das sich zu einer Lache sammelte und dann in den Rinnstein floss. Es ging keinerlei Wind, und der nächtliche Himmel war klar. Über ihren Köpfen sprang die Ampel wieder auf Rot. Kimura stand mit wackligen Beinen auf und hielt sich an der Leitplanke am Rand des Bürgersteigs fest. Dann warf er erneut einen Blick auf den vor ihm Liegenden, dessen auf dem Helm ruhender Kopf fast in einem rechten Winkel zur Seite ge‐ neigt war. Aus welcher Perspektive man es auch sah, es war eine unnatürliche Kopfhaltung. Wir ich das? Habe ich seinen Kopf wie auf ein Kopfkissen auf den Helm gebettet? Und warum? Kimura konnte sich nicht an die letzten Sekunden erinnern. Die weit aufgerissenen Augen des Mannes starrten ihn an. Ein un‐ heimlicher Kälteschauer überlief ihn. Über seine Schultern schien lauwarme Luft zu strömen. Obwohl es ein tropisch warmer Abend war, spürte Kimura, dass er unkontrolliert zitterte.
2 Auf dem grünlichen Wasser des inneren Grabens des Kaiserpala‐ stes reflektierte das Licht des frühen Herbstmorgens. Asakawa Kazuyuki war bereits auf halbem Weg zur U‐Bahn‐Station, über‐ legte es sich aber plötzlich anders, weil er das Gewässer aus der Nähe sehen wollte, das er eben aus dem neunten Stock betrachtet hatte. Die stickige Luft der Redaktionsbüros schien in die unterir‐ dischen Geschosse hinabgesickert zu sein wie der schale Rest einer Flüssigkeit zum Flaschenboden. Asakawa wollte draußen frische Luft schnappen und stieg die Treppen zur Straße hoch. Vor ihm lag das grüne Palastgelände. Obwohl hier die Schnellstraße Nr. 5 und die Umgehungsstraße aufeinander stießen, schienen ihm die Abgase heute nicht besonders gesundheitsgefährdend zu sein. Weil Asakawa die ganze Nacht durchgearbeitet hatte, war er körperlich erschöpft; trotzdem fühlte er sich nicht besonders mü‐ de. Die Tatsache, dass er seinen Artikel zu Ende geschrieben hatte, stimulierte ihn und hielt seine grauen Zellen aktiv. Da er sich schon seit zwei Wochen keinen Tag Pause mehr gegönnt hatte, wollte er den heutigen und den morgigen Tag zu Hause verbrin‐ gen, um sich zu erholen. Er würde es sich einfach nur gut gehen lassen — eine Anordnung vom Chefredakteur höchstpersönlich. Als er aus der Richtung von Kudanshita ein leeres Taxi auf sich zukommen sah, hob Asakawa instinktiv die Hand. Vor zwei Ta‐ gen war seine U‐Bahn‐Dauerkarte für die Strecke Takebashi‐ Shinbaba abgelaufen, und bisher hatte er sich noch keine neue gekauft. Nahm er die U‐Bahn, kostete die Fahrt zu seiner Eigen‐ tumswohnung in Kita Shinagawa vierhundert Yen, entschied er sich für ein Taxi, musste er fast zweitausend Yen berappen. Er hasste den Gedanken, über fünfzehnhundert Yen zu verschleu‐ dern, doch als er an das dreimalige Umsteigen dachte und ihm
dann einfiel, dass er gerade sein Gehalt eingestrichen hatte, kam er zu dem Entschluss, dass er sich den verschwenderischen Luxus dieses eine Mal leisten konnte. Asakawas Entscheidung, an diesem Tag und an dieser Stelle ein Taxi zu nehmen, verdankte sie einer Laune des Augenblicks und war das Resultat einer Reihe harmloser Eingebungen. Als er sich gegen die U‐Bahn entschied, hatte er keineswegs die Absicht ge‐ habt, ein Taxi heranzuwinken. Er war genau in dem Augenblick von der frischen Luft angezogen worden, als sich ihm das unbe‐ setzte Taxi mit der erleuchteten roten Lampe näherte, und genau in diesem Moment hatte ihn der Gedanke an den Kauf einer Fahr‐ karte und das dreimalige Umsteigen glauben lassen, dass er dieser Anstrengung im Augenblick nicht gewachsen wäre. Wenn er da‐ gegen die U‐Bahn genommen hätte, wären zwei Vorfälle mit fast absoluter Sicherheit nie miteinander in Verbindung gebracht wor‐ den. Aber jede Geschichte beginnt mit einem solchen Zufall. Vor dem Gebäude neben dem Kaiserpalast kam das Taxi zö‐ gernd zum Stehen. Der Fahrer war ein kleiner, etwa vierzigjähri‐ ger Mann, dessen gerötete Augen darauf hinwiesen, dass auch er die ganze Nacht durchgearbeitet hatte. Am Armaturenbrett war ein kleines Farbfoto des Taxifahrers befestigt, und daneben stand sein Name: Mikio Kimura. »Kita Shinagawa, bitte.« Angesichts des Ziels seines Fahrgastes hätte Kimura am liebsten einen Freudentanz aufgeführt. Kita Shinagawa lag gleich hinter der Garage seiner Firma in Higashi Gotanda, und da seine Schicht ohnehin zu Ende war, hatte er sowieso die Absicht, jetzt in diese Richtung zu fahren. Augenblicke wie diese, wenn er aufs richtige Pferd setzte und alles in seinem Sinne lief, erinnerten ihn stets dar‐ an, dass er gern Taxifahrer war. Plötzlich fühlte er sich zu einer Unterhaltung aufgelegt.
»Arbeiten Sie an einer Story?« Als der Taxifahrer diese Frage stellte, blickte Asakawa gerade mit vor Erschöpfung blutunterlaufenen Augen aus dem Fenster, um seine Gedanken schweifen zu lassen. »Was?« Plötzlich war Asakawa wieder voll da. Er fragte sich, woher der Taxifahrer wusste, welchen Beruf er hatte. »Sie sind doch Journalist, oder? Bei einer Zeitung.« »Ja, stimmt. Ich arbeite für ein Wochenmagazin. Aber woher wis‐ sen Sie das?« Mittlerweile fuhr Kimura seit fast zwanzig Jahren Taxi und konnte den Beruf eines Fahrgastes recht gut erraten. Seine Ein‐ schätzung hing davon ab, wo der Fahrgast zustieg, welche Klei‐ dung er trug und wie er redete. Wenn der Betreffende einen inter‐ essanten Job hatte und stolz darauf war, fand es Kimura stets in‐ teressant, sich mit ihm darüber zu unterhalten. »Muss ganz schön hart sein, so früh am Morgen noch zu arbei‐ ten.« »Nein, nein. Ich bin auf dem Weg nach Hause und lege mich gleich ins Bett.« »Na, dann gehtʹs Ihnen wie mir.« Gewöhnlich war Asakawa nicht besonders stolz auf seine Arbeit, doch an diesem Morgen erfüllte ihn die gleiche Genugtuung wie damals, als zum ersten Mal ein Artikel von ihm veröffentlicht worden war. Jetzt hatte er gerade eine Artikelserie abgeschlossen, die eine ziemliche Resonanz hervorgerufen hatte. »Ist Ihre Arbeit interessant?« »Ja, denke schon«, antwortete Asakawa unverbindlich. Manch‐ mal war sie interessant und manchmal nicht, aber im Augenblick hatte er keine Lust, die Frage ausführlicher zu beantworten. Noch immer hatte er nicht den desaströsen Fehlschlag von vor zwei Jah‐ ren vergessen. Er konnte sich deutlich an den Artikel erinnern, an
dem er damals gearbeitet hatte: »Die neuen Götter unserer Zeit«. Vor seinem geistigen Auge sah er noch immer, was für eine schlechte Figur er damals gemacht hatte, als er zitternd vor dem Chefredakteur stand, um ihm zu gestehen, dass seine Karriere als Journalist zu Ende war. Eine Zeit lang herrschte Stille in dem Taxi. Die Kurve neben dem Tokioturm nahm der Fahrer mit beträchtlicher Geschwindigkeit. »Entschuldigen Sie«, sagte Kimura, »aber soll ich die Kanalstraße oder die Keihin Nr. 1 nehmen?« Welche Route geeigneter war, hing davon ab, wo genau das Ziel in Shita Shina‐gawa war. »Nehmen Sie die Schnellstraße, und lassen Sie mich direkt vor Shinbaba raus.« Wenn er das Ziel eines Fahrgastes erst einmal genau kennt, kann sich ein Taxifahrer ein bisschen entspannen. Bei Fuda‐no‐tsuji bog Kimura rechts ab. Jetzt näherten sie sich der Kreuzung, die Kimura seit einem Mo‐ nat nicht vergessen konnte. Im Gegensatz zu Asakawa, der von seinem Fehlschlag verfolgt wurde, war Kimura aber in der Lage, objektiv auf den Unfall zurückzublicken. Schließlich war nicht er dafür verantwortlich gewesen, und folglich musste er sich deshalb auch keiner Gewissensprüfung unterziehen. Es war ausschließlich die Schuld des Motorrad fahrenden Mannes gewesen, selbst äu‐ ßerste Vorsicht seitens Kimuras hätte das Unglück nicht abwenden können. Kimura hatte seine damalige Angst vollständig überwun‐ den. Ein Monat... war das eine lange Zeit? Asakawa war noch im‐ mer in den Klauen der Angst gefangen, die ihn vor zwei Jahren zum ersten Mal heimgesucht hatte. Dennoch hatte Kimura keine Erklärung dafür, warum er immer, wenn er diese Kreuzung überquerte, das dringende Bedürfnis empfand, seinen Fahrgästen zu erzählen, was damals passiert war. Erblickte er im Rückspiegel einen eingeschlafenen Fahrgast, ließ er
von seinem Vorhaben ab. Waren seine Kunden aber wach, erzählte er ausnahmslos jedem bis ins kleinste Detail, was seinerzeit ge‐ schehen war. Es war wie ein Zwang, der ihn an dieser Kreuzung immer aufs Neue überkam. »Vor einem Monat ist mir hier was Schreckliches passiert...« Die Ampel an der Kreuzung sprang von Gelb auf Rot um, als hätte sie nur darauf gewartet, dass Kimura mit seiner Geschichte beginnen konnte. »Auf dieser Welt geschehen jede Menge seltsame Dinge, wissen Sie...« Indem er andeutungsweise auf die Art seiner Geschichte hin‐ wies, versuchte Kimura, das Interesse seines Kunden zu wecken. Asakawa war eingenickt, aber jetzt hob er den Kopf und blickte sich verwirrt um. Kimuras Stimme hatte ihn aus dem Halbschlaf gerissen, und nun versuchte er herauszufinden, wo er eigentlich war. »Sind plötzliche Todesfälle heutzutage häufiger als gewöhnlich? Ich meine, unter jungen Menschen?« »Wie?« Die Wörter hallten in Asakawas Ohren nach. Plötzliche Todesfälle... »Na, es ist nur...«, fuhr Kimura fort. »Ich glaube, es war vor un‐ gefähr einem Monat, als ich genau da drüben in meinem Taxi sitze und darauf warte, dass die Ampel umspringt, und plötzlich kracht dieses Motorrad mitsamt Fahrer gegen meinen Wagen. Der Mann ist nicht während der Fahrt gestürzt — er stand ruhig neben mir... und plötzlich — bumm! Und was glauben Sie, was dann passiert ist? Der Junge war neunzehn, noch nicht auf der Uni. Und er ist gestorben! Ich war völlig überrascht, das kann ich Ihnen versichern. Dann der Notarzt, die Bullen... und mein Taxi beschädigt... er war voll dagegen geknallt. Ziemlich heftige Geschichte, sag ich Ihnen.« Asakawa lauschte schweigend, doch in seiner zehnjährigen jour‐
nalistischen Karriere hatte er einen sechsten Sinn für Geschichten wie diese entwickelt. Instinktiv merkte er sich den Namen des Fahrers und den des Taxiunternehmens. »Auch die Todesumstände waren etwas seltsam. Er hat verzwei‐ felt versucht, den Helm abzunehmen. Naja, er hat eher versucht, ihn sich vom Kopf zu reißen. Er lag auf dem Rücken und hat mit den Beinen um sich getreten. Ich suchte eine Telefonzelle, um einen Krankenwagen zu rufen, aber als ich zurückkam, war er bereits hinüber.« »Wo genau ist das passiert?« Mittlerweile war Asakawa hell‐ wach. »Da drüben.« Kimura zeigte auf den Bürgersteig vor dem Shina‐ gawa‐Bahnhof, der im Stadtteil Takanawa des Bezirks Minato lag. Asakawa prägte sich diesen Sachverhalt genau ein. Für einen Un‐ fall wie diesen wäre also das Polizeirevier von Takanawa zustän‐ dig gewesen. In aller Eile dachte er darüber nach, welche seiner Kontaktpersonen ihm Zugang zur Polizeidienststelle von Taka‐ nawa verschaffen konnte. In Augenblicken wie diesen wusste man es zu schätzen, für eine renommierte Zeitung zu arbeiten. Solche Blätter hatten überall Beziehungen, und manchmal kamen sie so‐ gar besser an Informationen als die Polizei. »Und man hat es als plötzlichen Tod bezeichnet?« Asakawa war sich nicht sicher, ob das ein adäquater medizinischer Terminus war. Mittlerweile hatte er es sehr eilig, ohne sich selbst darüber bewusst zu sein, warum ihn dieser Unfall plötzlich so interessierte. »Das Ganze ist lächerlich, was? Mein Taxi stand vor der Ampel und hat sich nicht vom Fleck bewegt. Er ist einfach dagegen ge‐ knallt. Die Schuld lag ausschließlich auf seiner Seite. Aber ich musste einen Unfallbericht schreiben, und es hätte nicht viel ge‐ fehlt, dann wäre die Geschichte in meiner Versicherungsakte auf‐ getaucht. Glauben Sieʹs mir, das Ganze war eine totale Katastro‐
phe, die mich wie aus heiterem Himmel getroffen hat.« »Erinnern Sie sich, an welchem Tag und um welche Uhrzeit es passiert ist?« »Ha, Sie wittern eine Story, was? Lassen Sie mich mal nachden‐ ken. Es muss am 4. oder 5. September gewesen sein. Ungefähr um elf Uhr nachts.« Kimura hatte gerade ausgesprochen, als er auch schon von Erin‐ nerungen übermannt wurde. Die schwüle Luft, das pechschwarze, zähflüssige, von dem umgestürzten Motorrad heruntertröpfelnde Öl, auf dem sich das Licht der Scheinwerfer spiegelte und das wie ein lebendes Wesen auf den Rinnstein zukroch. Der Augenblick, als seine Sinneswahrnehmung offenbar versagt hatte. Und dann der überraschte Gesichtsausdruck des Toten, dessen Kopf auf den Helm gebettet war. Was war nur so erstaunlich gewesen? Die Ampel sprang auf Grün, und Kimura gab Gas. Hinter sich hörte er einen Stift über Papier kratzen — sein Fahrgast machte sich Notizen. Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte Kimura darüber nach, warum seine Erinnerung so intensiv war. In ihm stieg bittere Galle auf. Er schluckte sie hinunter und kämpfte ge‐ gen Übelkeit an. »Was war die Todesursache?«, fragte Asakawa. »Herzanfall.« Herzanfall? War das die Diagnose des Gerichtsmediziners? Asa‐ kawa glaubte nicht, dass dieser Terminus noch gebräuchlich war. »Ich werde das überprüfen müssen, zusammen mit Datum und Uhrzeit«, murmelte Asakawa vor sich hin, während er sich weitere Notizen machte. »Mit anderen Worten könnte man also sagen, dass keine äußeren Verletzungen erkennbar waren?« »Stimmt genau. Absolut keine. Es war einfach der Schock. Ich meine... Eigentlich hätte ich doch der Geschockte sein müssen, stimmtʹs?«
»Wie bitte?« »Na, der sah aus, als wäre er total geschockt.« In Asakawas Gehirn klickte etwas, doch zur gleichen Zeit ver‐ neinte eine Stimme in seinem Inneren, dass es einen Zusammen‐ hang zwischen den beiden Vorfällen gab. Nur ein Zufall, das ist alles. Vor ihnen tauchte der an der Expresslinie Keihin‐Kyuko liegende Shinbaba‐Bahnhof auf. »An der nächsten Ampel links, dann halten Sie bitte.« Das Taxi bremste, und Asakawa öffnete die Tür. Zusammen mit zwei Tausend‐Yen‐Scheinen reichte er dem Fahrer eine Visitenkar‐ te. »Ich heiße Asakawa und arbeite für das Wochenmagazin dieser Zeitung. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern noch einmal ausführlicher mit Ihnen über diese Sache reden.« »Mir recht«, antwortete Kimura, dessen Stimme Genugtuung verriet. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass dies seine Mission war. »Ich werde mich morgen oder übermorgen telefonisch bei Ihnen melden.« »Soll ich Ihnen meine Nummer geben?« »Nein, lassen Sie. Ich habe mir auch den Namen Ihrer Firma no‐ tiert. Sie ist ja ganz in der Nähe.« Als Asakawa aus dem Taxi ausstieg und gerade die Tür zuschla‐ gen wollte, zögerte er einen Augenblick. Eine namenlose Angst überkam ihn bei dem Gedanken, dass er der soeben gehörten Ge‐ schichte nachgehen würde. Vielleicht sollte ich meine Nase lieber nicht in eine absurde Angelegenheit stecken. Möglicherweise gibt es wieder ein Desaster wie vor zwei Jahren. Aber jetzt war sein Interesse geweckt, und ihm war klar, dass er die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen würde. Folglich entschloss er sich, Kimura noch eine letzte Frage zu stel‐
len. »Sie haben gesagt, dass der Mann sich vor Schmerzen wand und sich den Helm vom Kopf reißen wollte, stimmtʹs?«
3 Asakawas Chefredakteur, Oguri, hörte sich die Geschichte des Journalisten mit finsterer Miene an. Plötzlich erinnerte er sich dar‐ an, wie es vor zwei Jahren um Asakawa gestanden hatte, der da‐ mals Tag und Nacht wie ein Besessener vor seinem Computer hockte, um eine Biografie des Guru Kageyama Shoko zu schrei‐ ben, in die er die Ergebnisse all seiner Recherchen einfließen ließ. Zu dieser Zeit stimmte irgendetwas mit Asakawa nicht, und seine Besessenheit veranlasste Oguri sogar zu dem Versuch, ihn zu ei‐ nem Besuch bei einem Psychologen zu überreden. Ein Teil des Problems bestand darin, dass die Schwierigkeiten mit Asakawa zu diesem Zeitpunkt aufgetreten waren. Vor zwei Jahren waren alle Printmedien von einem beispiellosen Boom des Okkulten heimgesucht worden. Sämtliche Herausgeber und Re‐ daktionen wurden mit Fotos von »Geistern« und Geschichten von übernatürlichen Erfahrungen bombardiert, die sich ohne Aus‐ nahme als fauler Zauber herausstellten. Seinerzeit fragte sich Ogu‐ ri, was mit dieser Welt wohl los sein mochte. Er wusste seiner An‐ sicht nach ziemlich gut, wie die Dinge auf diesem Erdball liefen, doch für dieses Phänomen fiel ihm keinerlei überzeugende Erklä‐ rung ein. Es war absurd, wie viele Möchtegern‐Journalisten plötz‐ lich wie aus dem Nichts auftauchten, um den Zeitungen »Beiträ‐ ge« anzudienen, und es war keine Übertreibung zu sagen, dass seine Redaktionen förmlich unter Bergen von Post begraben wor‐ den waren. Jede Einsendung hatte auf diese oder jene Weise etwas mit dem Okkulten zu tun. Und es erging nicht nur seinem Blatt so. Jeder Zeitungsherausgeber in ganz Japan, der diesen Namen ver‐ diente, war auf dieselbe Weise mit dem unerklärlichen Phänomen konfrontiert. Mit einem Stoßseufzer, der der überflüssigen Zeit‐ verschwendung galt, sichteten sie die eingegangenen Beiträge o‐
berflächlich. Wie nicht anders zu erwarten, waren fast alle Auto‐ rennamen falsch, aber die Artikel schienen von unterschiedlichen Schreibern zu stammen, nicht von ein und demselben. Eine grobe Schätzung ergab, dass ungefähr zehn Millionen Menschen an die eine oder andere Zeitung Briefe geschickt hatten. Zehn Millionen! Die Zahl war Schwindel erregend. Die Geschichten selbst waren nicht annähernd so beängstigend wie die Zahl der Einsendungen. Jeder zehnte Japaner hatte irgendetwas geschickt. Beschäftigte aus den Printmedien — oder deren Angehörige und Freunde — schie‐ nen nicht darunter zu sein. Was ging hier vor? Woher kamen die Berge von Post? Sämtliche Chefredakteure kratzten sich nachdenk‐ lich am Kopf. Dann, bevor jemand des Rätsels Lösung auf die Spur gekommen war, begann die Welle abzuebben. Ungefähr ein halbes Jahr lang hatten sie es mit diesem seltsamen Phänomen zu tun, doch dann war in den Redaktionen plötzlich wieder alles beim Alten, als wäre das Ganze nur ein Traum gewesen. Jetzt gingen keinerlei derartige Beiträge mehr ein. Die Entscheidung, wie das Wochenmagazin eines renommierten Zeitungsverlags auf ein solches Phänomen zu reagieren hatte, lag damals bei Oguri, und er kam zu dem Resultat, dass man es tun‐ lichst ignorieren sollte. Oguri hatte den starken Verdacht, dass der Stein von einer bestimmten Sorte von Magazinen ins Rollen ge‐ bracht worden war, die er als »Käseblätter« bezeichnete. Indem sie Fotos und Geschichten publizierten, heizten sie die Hysterie an, mit der die Öffentlichkeit auf solche Phänomene reagiert, und bauschten das Ganze zu einer monströsen Angelegenheit auf. Na‐ türlich war Oguri bewusst, dass man so nicht alles erklären konn‐ te, aber schließlich musste er versuchen, der Situation irgendwie logisch zu begegnen. Am Ende nahmen die Oguri unterstellten Redakteure zu der Lösung Zuflucht, die ganze mysteriöse Post zu verbrennen. In
ihrer redaktionellen Praxis sah die Welt genauso aus wie zuvor, ganz so, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Sie blieben strikt bei ihrer Richtlinie, nichts Okkultes zu drucken, und schenk‐ ten den anonymen Quellen keinerlei Beachtung. Ob es daran lag oder nicht, die beispiellose Flut von Einsendungen ebbte ab. Aus‐ gerechnet zu dieser Zeit goss Asakawa törichterweise unbeküm‐ mert Öl in die bereits ersterbenden Flammen. Jetzt fixierte Oguri seinen Redakteur erneut mit einem finsteren Blick. War er im Begriff, zum zweiten Mal denselben Fehler zu machen? »Hören Sie gut zu.« Wann immer Oguri nicht wusste, was er sagen sollte, begann er mit dieser Einleitung. »Mir ist klar, was Sie denken, Chef.« »Ich behaupte ja gar nicht, dass es sich nicht interessant anhört, aber wir wissen nicht, was für uns dabei herauskommen wird. Sehen Sie: Wenn das, was dabei rauskommt, auch nur annähernd so aussieht wie beim letzten Mal, würde mir das nicht sehr gefal‐ len.« Beim letzten Mal. Oguri glaubte noch immer, dass der Boom des Okkulten vor zwei Jahren künstlich fabriziert und geschickt in die Wege geleitet worden war. Angesichts dessen, was er deswegen durchgemacht hatte, hasste er das Okkulte, und an dieser Abnei‐ gung hatte sich auch nach zwei Jahren nichts geändert. »Ich versuche doch nicht, dem Ganzen eine mystische Kompo‐ nente anzudichten. Ich behaupte lediglich, dass es kein Zufall ge‐ wesen sein kann.« »Hm, kein Zufall...« Oguri stützte den Kopf auf die Hand und versuchte erneut, sich einen Reim auf Asakawas Geschichte zu machen. Tomoko Oishi, eine Nichte von Asakawas Frau, war am 5. Sep‐ tember um elf Uhr nachts im Haus ihrer Familie in Honmoku ge‐
storben. Todesursache: »plötzliches Herzversagen«. Sie hatte die Abschlussklasse der Oberschule besucht und war erst 17 Jahre alt gewesen. Am selben Tag und zur selben Zeit war ein 19‐jähriger Junge, der eine Vorbereitungsschule für die Universität absolvier‐ te, von seinem Motorrad gestürzt und gleichfalls an einem Herzin‐ farkt gestorben, während er vor dem Shinagawa‐Bahnhof an einer Ampel gewartet hatte. »Für mich hört sich das alles nur nach einem Zufall an. Der Taxi‐ fahrer erzählt Ihnen was von dem Unfall, und Sie erinnern sich an die Nichte Ihrer Frau. Mehr als das können Sie mir nicht anbieten, oder?« »Doch.« Asakawa legte eine Kunstpause ein, um das Interesse des Chefredakteurs zu wecken. »Im Augenblick seines Todes‐ kampfs«, fuhr er dann fort, »hat der Junge auf dem Motorrad ver‐ sucht, sich den Helm vom Kopf zu reißen.« »Und was wollen Sie damit sagen?« »Bei Tomoko war es ähnlich. Als ihre Leiche entdeckt wurde, sah es so aus, als hätte sie heftig an ihrem Kopf gezerrt. Ihre Finger waren total in ihren Haaren verfangen.« Asakawa war Tomoko bei mehreren Gelegenheiten begegnet, und wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter waren ihr ihre Haar äußerst wichtig gewesen. Jeden Tag hatte sie sie gewaschen und gepflegt. Warum sollte eine junge Frau wie sie an ihren heiß ge‐ liebten Haaren zerren? Asakawa wusste es nicht, aber wann im‐ mer er daran dachte, wie sie verzweifelt an ihren Haaren gezogen hatte, stellte er sich im Zusammenhang mit ihrem unbeschreibli‐ chen Entsetzen ein unsichtbares Etwas vor. »Ich weiß nicht... Also, hören Sie gut zu... Sind Sie sicher, dass Sie der Sache unvoreingenommen gegenüberstehen? Man braucht sich doch bloß zwei beliebige Vorfälle herauspicken... Schaut man nur lange genug hin, findet man immer irgendwelche Gemein‐
samkeiten. Sie behaupten, dass beide an einem Herzinfarkt ge‐ storben sind. Folglich müssen beide große Schmerzen gehabt ha‐ ben. Sie zerrt an ihren Haaren, er versucht, sich den Helm vom Kopf zu reißen... Mir scheint das völlig normal zu sein.« Zwar musste Asakawa zugeben, dass man das durchaus so se‐ hen konnte, aber er schüttelte dennoch den Kopf. So leicht würde er sich nicht unterkriegen lassen. »Dann hätten Sie Schmerzen in der Herzgegend gehabt. Warum haben sie aber an ihren Köpfen gezerrt?« »Hören Sie... Hatten Sie schon mal einen Herzinfarkt?« »Nun, bisher noch nicht.« »Und haben Sie sich mal mit einem Arzt darüber unterhalten?« »Worüber?« »Ob Menschen, die einen Herzinfarkt erleiden, an ihren Köpfen ziehen.« Asakawa verstummte. Er war tatsächlich bei einem Mediziner gewesen. Ausschließen kann ich das nicht, hatte der Arzt auf seine Frage erwidert. Das war eine ziemlich schwammige Antwort. Manchmal kommt auch das Gegenteil vor. Manche Leute, die eine Ge‐ hirnblutung oder eine Blutung in den Gehirnmembranen haben, haben Magen‐ und Kopfschmerzen. »Dann hängt es also von dem jeweiligen Individuum ab. Bei ei‐ nem kniffligen mathematischen Problem kratzen sich manche Menschen am Kopf, andere rauchen eine Zigarette. Wieder andere reiben sich vielleicht den Bauch.« Während Oguri in seinem Dreh‐ stuhl herumwirbelte, sprach er weiter. »Tatsache ist, dass wir zu diesem Zeitpunkt nichts weiter sagen können, stimmtʹs? Für diese Art von Geschichten haben wir keinen Platz, auch wenn man be‐ denkt, was vor zwei Jahren passiert ist. Über so was schreiben wir nicht, nicht eine Zeile. Wenn es unser Anliegen wäre, Spekulatio‐ nen zu drucken, na, dann könnten wir es natürlich tun.«
Vielleicht war es tatsächlich so. Vielleicht war es so, wie der Chefredakteur gesagt hatte: ein abstruser Zufall. Letztlich hatte auch der Arzt nur den Kopf geschüttelt, als Asakawa ihn mit sei‐ nen bohrenden Fragen unter Druck gesetzt hatte — reißen sich Menschen bei einem Herzinfarkt die eigenen Haare aus? Der Me‐ diziner hatte die Stirn gerunzelt und mit einem nachdenklichen Hm geantwortet. Seine Miene hatte alles gesagt: Bei seinen Patien‐ ten hatte er noch nie erlebt, dass sich jemand so verhielt. »Gut, ich verstehe.« Im Augenblick blieb Asakawa nichts anderes übrig, als sich zu‐ rückzuhalten. Gelang es ihm nicht, einen plausibleren Zusam‐ menhang zwischen den beiden Vorfällen zu entdecken, würde es sehr schwierig werden, den Chefredakteur zu überzeugen. Er nahm sich vor, die Story fallen zu lassen, falls es ihm nicht gelin‐ gen sollte, irgendeine neue Entdeckung auszubuddeln.
4 Asakawa legte auf und blieb eine Weile reglos sitzen, die Hand noch auf dem Telefonhörer. In seinen Ohren hallte der Klang sei‐ ner wegen der Zusage seines Gesprächspartners aufdringlich be‐ geisterten Stimme unangenehm nach. Er hatte das Gefühl, diesen Job nicht mehr zu ertragen. Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung hatte den Anruf über eine Sekretärin entgegen‐ genommen und sich mit einem seiner Position angemessenen, wichtigtuerischen Tonfall gemeldet. Nachdem er sich Asakawas Vorschlag angehört hatte, klang seine Stimme schon etwas freund‐ licher. Vermutlich hatte er zunächst geglaubt, die Zeitung wolle ihn als Anzeigenkunden gewinnen. Doch nach kurzem Nachden‐ ken begriff er offenbar, dass er finanziell davon profitieren konnte, wenn Asakawa einen Artikel über ihn schrieb. Die Reihe »Top‐ Interview« war im September angelaufen. In dieser Serie sollte jeweils ein Unternehmenschef ins Rampenlicht gestellt werden, der seine Firma allein aufgebaut hatte. Thematisch sollten sich die Artikel darauf konzentrieren, welche Hindernisse sich dem Unter‐ nehmer in den Weg gestellt hatten und wie er sie überwunden hatte. Da es ihm gelungen war, einen Termin für das Interview zu bekommen, hätte Asakawa den Hörer eigentlich etwas zufriedener auflegen müssen. Aber irgendetwas lastete schwer auf ihm. Von diesem Banausen würde er doch nur wieder die alten Geschichten über Unternehmenskriege hören, außerdem angeberisches Ge‐ schwätz darüber, was für ein Genie er war, wie er seine Chance beim Schopf gepackt und sich einen Weg zum Gipfel gebahnt hat‐ te. Wenn Asakawa dann nicht beizeiten aufstand und sich verab‐ schiedete, würde dieser Wichtigtuer mit seinen Heldengeschichten kein Ende finden. Asakawa hatte die Nase voll und verfluchte denjenigen, der mit diesem Projekt angekommen war. Er wusste,
dass sein Magazin zum Überleben auf Anzeigen angewiesen war und dass solche Artikel die unerlässliche Voraussetzung dafür waren. Aber Asakawa war es einigermaßen egal, ob sein Unter‐ nehmen Profit machte oder rote Zahlen schrieb. Für ihn zählte einzig und allein, ob seine Arbeit reizvoll war. Ein Job konnte kör‐ perlich noch so bequem sein — wenn keine Kreativität damit ver‐ bunden war, erschöpfte er einen in der Regel trotzdem. Asakawa machte sich auf den Weg zum Archiv, das im vierten Stock untergebracht war. Wegen des Interviews morgen hatte er noch einige Background‐Recherchen zu erledigen, doch etwas anderes beunruhigte ihn mehr. Die Vorstellung einer objektiven, kausalen Verbindung zwischen den beiden mysteriösen Ereignis‐ sen faszinierte ihn. Er wusste nicht einmal, wo er anfangen sollte, aber eine bestimmte Frage hatte sich ihm gerade in dem Moment aufgedrängt, als seine Gedanken sich von der Stimme des Ange‐ bers gelöst hatten. Waren diese beiden unerklärlichen, plötzlichen Todesfälle die einzigen Ereignisse dieser Art, die sich am 5. September um drei‐ undzwanzig Uhr ereignet hatten? Wenn es andere, ähnliche Vorfälle gegeben hatte, waren die Chancen gleich Null, dass es ein bloßer Zufall gewesen war. Asa‐ kawa beschloss, einen Blick in die Ausgaben der ersten September‐ tage zu werfen. Eifrige Zeitungslektüre gehörte zu seinem Job, aber gewöhnlich las er im Lokalteil nur die Überschriften. Folglich gab es eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, dass ihm etwas ent‐ gangen war, und er hatte das Gefühl, dass es sich tatsächlich so verhielt. Irgendwie glaubte er sich zu erinnern, vor ungefähr ei‐ nem Monat in der Ecke einer Lokalteilseite eine merkwürdige Ü‐ berschrift gesehen zu haben. Ein kleiner Artikel, links unten... Er erinnerte sich nur daran, wo der Artikel gestanden und dass er gestutzt hatte. Dann hatte ihn jemand aus der Redaktion gerufen,
und seine Arbeit hatte ihn so beansprucht, dass er nie zur Lektüre des Artikels gekommen war. Mit der Begeisterung eines Kindes, das sich zur Schatzsuche auf‐ macht, begann Asakawa seine Nachforschungen mit der Morgen‐ ausgabe vom 6. September. Er war sicher, dass er irgendeinen An‐ haltspunkt finden würde. Das Lesen alter Zeitungen in düsteren Archiven verschaffte ihm einen psychologischen Auftrieb, von dem bei Interviews mit irgendwelchen Idioten nie die Rede sein konnte. Diese Art der Recherche sagte Asakawa viel mehr zu, als draußen herumrennen und sich mit allen möglichen Leuten he‐ rumschlagen zu müssen. In der Abendausgabe vom 7. September fand er den Artikel, und zwar genau an der Stelle, wo er seiner Erinnerung nach gestanden hatte. Aber er war kürzer, als er geglaubt hatte. Ein spektakuläres Schiffsunglück mit 34 Toten hatte ihn an den Rand gedrängt. Asa‐ kawa nahm seine Nickelbrille ab, steckte die Nase tief in die Zei‐ tung und begann zu lesen. JUNGES PAAR TOT IN MIETWAGEN AUFGEFUNDEN TODESURSACHE RÄTSELHAFT Am 7. September wurden um 6 Uhr 15 morgens ein junger Mann und eine junge Frau tot auf den Vordersitzen eines Wagens aufge‐ funden, der auf einem unbebauten Grundstück in Ashina, Yoko‐ suka, neben einer Landstraße geparkt war. Entdeckt wurden die Leichen von einem Lastwagenfahrer, der zufällig vorbeikam und dann die Polizei von Yokosuka benachrichtigte. Aus dem Formular der Autovermietung ging hervor, dass es sich um einen 19‐jährigen angehenden Studenten aus Shibuya, Tokio, und um eine 17‐jährige Oberschülerin aus Isogo, Yokohama, han‐ delte. Zwei Tage zuvor war das Auto bei einer Leihwagenvermitt‐
lung in Shibuya von dem jungen Mann gemietet worden. Als die Leichen gefunden wurden, waren die Türen verschlos‐ sen, der Schlüssel steckte im Zündschloss. Der Todeszeitpunkt liegt vermutlich zwischen den letzten Stunden des 5. und den frü‐ hen Morgenstunden des 6. September. Da die Fenster hochgekur‐ belt waren, ist davon auszugehen, dass die beiden eingeschlafen und erstickt sind. Die Möglichkeit, dass das Liebespaar durch eine Überdosis Medikamente aus dem Leben scheiden wollte, ist von der Polizei bisher jedoch nicht ausgeschlossen worden. Eine defi‐ nitive Todesursache wurde nicht genannt. Ein Mord wurde bis‐ lang nicht in Betracht gezogen. Mehr stand nicht in dem Artikel, doch Asakawa hatte den Ein‐ druck, fündig geworden zu sein. Zunächst war die tote junge Frau 17 gewesen und hatte eine private Oberschule für Mädchen in Yokohama besucht — genau wie seine Nichte Tomoko. Der ange‐ hende Student, der eine Vorbereitungsschule für die Universität absolviert und den Wagen gemietet hatte, war 19 gewesen — ge‐ nau wie der Motorradfahrer, der vor dem Shinagawa‐Bahnhof gestorben war. Der geschätzte Zeitpunkt des Todes war praktisch identisch mit den anderen, und auch hier war die exakte Todesur‐ sache unbekannt. Zwischen diesen vier Todesfällen musste es irgendeine Verbin‐ dung geben, und allzu viel Zeit sollte es eigentlich nicht beanspru‐ chen, weitere Gemeinsamkeiten herauszufinden. Immerhin arbei‐ tete Asakawa für eine renommierte Zeitung und konnte sich über einen Mangel an Informationsquellen wahrlich nicht beschweren. Nachdem er eine Kopie des Artikels gemacht hatte, trat er den Rückweg zur Redaktion an. Er hatte den Eindruck, gerade auf eine Goldader gestoßen zu sein, und sein Schritt beschleunigte sich automatisch. Er konnte es kaum abwarten, dass der Lift endlich
kam. Yoshino saß an seinem Schreibtisch im Pressezentrum des Rathau‐ ses von Yokosuka und beschrieb hektisch ein Blatt Papier. Wenn die Schnellstraße nicht verstopft war, schaffte man die Strecke vom Tokioter Hauptsitz der Zeitung hierher in einer Stunde. Asa‐ kawa trat hinter Yoshino und sagte: »Wie gehtʹs, Yoshino?« Asakawa hatte Yoshino seit anderthalb Jahren nicht gesehen. »He, Asakawa. Was führt dich nach Yokosuka? Hier, setz dich.« Nachdem Yoshino einen Stuhl an den Schreibtisch herangezogen hatte, drängte er Asakawa, Platz zu nehmen. Yoshino war unra‐ siert, was ihm ein etwas schäbiges Aussehen verlieh, doch gegen‐ über anderen konnte er überraschend aufmerksam sein. »Immer schön fleißig?« »Kann man sagen.« Die beiden kannten sich seit der Zeit, als Asakawa für die Lokal‐ redaktion gearbeitet hatte, bei der auch Yoshino damals beschäf‐ tigt war. Yoshino war mittlerweile 35 Jahre alt. »Ich habe im Büro der Zeitung in Yokosuka angerufen. Man hat mir gesagt, du bist hier.« »Warum bist du gekommen? Brauchst du was von mir?« Asakawa reichte ihm die Kopie des Zeitungsartikels, und Yoshi‐ no starrte ihn außergewöhnlich lange an. Da er den Artikel seiner‐ zeit selbst geschrieben hatte, hätte eigentlich ein flüchtiger Blick darauf seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen sollen. Stattdes‐ sen aber konzentrierte er sich voll und ganz darauf. Die Hand, mit der er sich gerade eine Erdnuss in den Mund schieben wollte, ver‐ harrte reglos in der Luft. Man hatte den Eindruck, als müsste er seinen eigenen Artikel erst einmal wiederkäuen und dann verdau‐ en. »Kind was ist damit?«, fragte Yoshino mit ernster Miene.
»Nichts Besonderes. Ich wollte nur ein paar Details in Erfahrung bringen.« Yoshino stand auf. »In Ordnung. Nebenan können wir uns bei einer Tasse Tee unterhalten. Du kannst natürlich auch etwas ande‐ res nehmen.« »Hast du wirklich Zeit? Bist du sicher, dass ich dich nicht störe?« »Kein Problem. Diese Sache ist interessanter als die, mit der ich mich gerade herumschlage.« Direkt neben dem Rathaus gab es ein kleines Cafe, wo man für zweihundert Yen einen Kaffee bekam. Yoshino setzte sich, drehte sich sofort zur Theke um und bestellte zwei Tassen Kaffee. Dann wandte er sich wieder Asakawa zu und beugte sich dicht zu ihm. »Mittlerweile arbeite ich zwölf Jahre bei der Lokalredaktion, und ich habe eine Menge gesehen. Aber ich bin noch nie über eine so merkwürdige Geschichte wie diese gestolpert.« Nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte, fuhr Yoshino fort: »Also, Asakawa, dies muss ein fairer Informationsaustausch sein. Warum ist das Hauptbüro an dieser Sache interessiert?« Aber Asakawa war nicht bereit, sich in die Karten gucken zu lassen — er wollte seinen Knüller nicht aus der Hand geben. Wenn ein gewiefter Journalist wie Yoshino Wind von der Sache bekam, würde er ihm die Story in null Komma nichts vor der Nase weg‐ schnappen und selbst die Lorbeeren einheimsen. Also entschloss sich Asakawa spontan zu einer Lüge. »Es gibt keinen besonderen Grund. Meine Nichte war eine Freundin des toten Mädchens, und jetzt löchert sie mich wegen Informationen über den Vorfall. Und da ich sowieso gerade in der Nähe war...« Es war eine armselige Lüge, und als Asakawa ein misstrauisches Flackern in Yoshinos Augen zu erkennen glaubte, zuckte er ent‐ mutigt zurück.
»Ach, tatsächlich?« »Na ja, meine Nichte besucht schließlich auch diese Oberschule. Es ist schon schlimm genug, dass ihre Freundin gestorben ist, aber dann sind da noch die besonderen Todesumstände. Ständig nervt sie mich damit. Bitte, weih mich in die Einzelheiten ein.« »Also gut, was willst du wissen?« »Ist die Todesursache jemals eindeutig bestimmt worden?« Yoshino schüttelte den Kopf. »Im Grunde sagen sie nur, dass die beiden einen plötzlichen Herzstillstand erlitten haben. Was den Grund angeht, da haben sie keinen blassen Schimmer.« »Wie siehtʹs mit der Mordvermutung aus? Strangulation zum Beispiel.« »Ausgeschlossen. Beide hatten keinerlei Würgemale am Hals.« »Selbstmord durch eine Überdosis Medikamente?« »Bei der Autopsie wurde nichts festgestellt.« »Mit anderen Worten, der Fall ist nie wirklich gelöst worden.« »Verdammt, nein. Aber es gibt auch keinen Fall. Ein Mord war es nicht, nicht mal ein Unfall. Sie müssen an irgendeiner Krankheit gestorben sein oder wegen einem blöden Zufall. Mehr ist dazu nicht zu sagen, Punkt. Es gab nicht mal eine Untersuchung.« Das waren offene Worte. Yoshino lehnte sich zurück. »Warum haben sie dann die Namen der Toten nicht veröffent‐ licht?« »Sie waren minderjährig. Außerdem gibtʹs die Vermutung, dass sie freiwillig aus dem Leben scheiden wollten.« Jetzt lächelte Yoshino plötzlich, als hätte er sich gerade an etwas erinnert, und beugte sich wieder vor. »Weißt du, was mit dem Jungen los war? Er hatte seine Jeans und seine Unterhose in den Kniekehlen hängen, und mit dem Slip des Mädchens warʹs genau‐ so.« »Koitus interruptus?«
»Ich habʹ nicht gesagt, dass sie schon in Aktion waren. Tatsäch‐ lich waren sie beim Vorspiel. Sie wollten gerade ein bisschen Spaß haben, und genau da ist es passiert.« Um seine Worte zu un‐ terstreichen, klatschte Yoshino laut in die Hände. »Was ist passiert?« Yoshino machte eine Riesenshow aus seiner Geschichte. »Okay, Asakawa, spiel endlich mit offenen Karten. Du hast irgendwas in der Hand, das mit diesem Fall zusammenhängt, stimmtʹs?« Asakawa antwortete nicht. »Dann willst du mich also im Ungewissen lassen?« Vielleicht sollte ich... Nein, ich kann nicht. Noch sollte ich besser nichts sagen. Aber Lügen ziehen bei ihm nicht... »Tut mir Leid, Yoshino. Kannst du nicht noch ein bisschen war‐ ten? Jetzt kann ich dir noch nichts erzählen, aber in zwei oder drei Tagen werde ich es tun. Ich verspreche es dir.« Yoshinos Miene verriet Enttäuschung. »Wenn du es sagst, mein Freund...« Mit einem flehenden Blick versuchte Asakawa Yoshino dazu zu bewegen, mit seiner Story fortzufahren. »Also gut... Wir müssen davon ausgehen, dass irgendetwas pas‐ siert ist. Die beiden ersticken gerade in dem Moment, bevor sie es miteinander treiben wollen? Das ist nicht einmal lustig. Denkbar ist, dass sie vorher Gift genommen hatten und dass es erst jetzt wirkte, aber es gab keinerlei Hinweise darauf. Natürlich gibt es Gifte, die keine Spuren hinterlassen, doch irgendwie kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass zwei Minderjährige solchen Stoff in die Finger bekommen.« Yoshino dachte an den Ort, wo das Auto gefunden worden war. Er hatte ihn persönlich inspiziert und immer noch keine klare Meinung. Der Wagen war auf einem unbebauten, überwucherten Grundstück geparkt worden, in einer kleinen Mulde, direkt neben
der nicht asphaltierten Straße, die von Ashima zum Berg Okusu führte. Vorbeikommende Autofahrer hätten allenfalls gesehen, wie das Licht ihrer Scheinwerfer auf den Rücklichtern des abgestellten Autos reflektierte. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich aus‐ zumalen, warum der junge Mann, der hinter dem Steuer saß, sich für diesen Ort entschieden hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit kamen hier kaum noch Autos vorbei. Zudem boten die Bäume Sichtschutz, und folglich war der Ort das perfekte Versteck für ein mittelloses junges Paar. »Der Kopf des Jungen«, fuhr Yoshino fort, »klemmte zwischen Lenkrad und Seitenfenster, der des Mädchens zwischen dem Bei‐ fahrersitz und der Tür. So sind sie gestorben. Ich habe zugesehen, als man sie aus dem Wagen holen wollte. Die Türen waren kaum auf, da kamen uns die Leichen schon entgegen. Es schien, als hätte sie im Augenblick des Todes irgendwas nach außen gedrückt, eine Kraft, die auch dreißig Stunden nach ihrem Tod noch vorhanden zu sein schien und sich bemerkbar machte, als die Untersu‐ chungsbeamten die Türen öffneten. Kannst du mir folgen? Das Auto war eins dieser zweitürigen Modelle, bei denen man die Tü‐ ren nicht verschließen kann, solange der Schlüssel im Zündschloss steckt. Und der Schlüssel steckte im Schloss, aber die Türen... Na, du verstehst schon, was ich sagen will. Der Wagen war verschlos‐ sen. Es ist schwer vorstellbar, dass irgendwer von außen hinein‐ kam. Und was glaubst du, was für einen Gesichtsausdruck die Toten hatten? Sie wirkten total verängstigt. Ihre verzerrten Mienen spiegelten blankes Entsetzen wider.« Yoshino hielt inne, um Luft zu holen. Es war ein lautes Schluck‐ geräusch zu hören, aber wer von ihnen so schwer an der Geschich‐ te zu schlucken hatte, war unklar. »Denk mal darüber nach. Lass uns nur aus Spaß an der Freude annehmen, es wären ein paar Furcht erregende Bestien zwischen
den Bäumen hervorgebrochen. Die zwei hatten Schiss und haben sich aneinander gedrängt. Selbst wenn der Typ den Helden ge‐ spielt hätte, das Mädchen hätte sich mit absoluter Sicherheit an ihn geklammert. Schließlich waren sie ein Liebespaar. Stattdessen pressen sie sich beide mit dem Rücken gegen die Türen, als woll‐ ten sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich bringen.« Yoshino warf die Hände in die Luft, als wollte er damit seiner Kapitulation Ausdruck verleihen. »Ich kann mir absolut keinen Reim drauf machen.« Hätte es nicht das Schiffsunglück vor der Küste von Yokosuka gegeben, wäre der Zeitungsartikel vielleicht länger gewesen, und in diesem Fall hätten jede Menge Leser versucht, das Puzzle zu‐ sammenzusetzen und Detektiv gespielt. Aber so... Irgendwie schien zwischen den Untersuchungsbeamten und allen anderen, die damals an Ort und Stelle gewesen waren, eine Art Konsens entstanden zu sein. Vermutlich dachten alle mehr oder weniger dasselbe, und jeder stand kurz davor, damit herauszuplatzen, aber keiner tat es. Eine bestimmte Art von Übereinstimmung. Selbst wenn es völlig unwahrscheinlich war, dass die beiden jungen Menschen in exakt demselben Moment an einem Herzinfarkt ge‐ storben waren, und selbst wenn keiner der Anwesenden wirklich daran glaubte, redete sich doch jeder ein, dass das medizinische Märchen stimme und dass es exakt so gelaufen sei. Und dabei ging es nicht darum, dass sie Angst gehabt hätten, als Idioten verlacht zu werden, wenn sie ihrer Meinung Ausdruck verliehen. Vielmehr befürchteten sie, irgendein unvorstellbares Unheil für sich herauf‐ zubeschwören, wenn sie zugaben, dass ihnen die medizinische Erklärung nicht plausibel erschien. Da war es bequemer, sich mit der wissenschaftlichen Erklärung zufrieden zu geben, egal, wie unbefriedigend diese war. Asakawa und Yoshino lief gleichzeitig ein kalter Schauer den
Rücken hinunter. Es war nicht überraschend, dass sie dasselbe dachten. Ihr Schweigen bestätigte die böse Vorahnung, die sich im Inneren der beiden zu bilden begann. Es ist nicht vorbei, es hat gera‐ de erst angefangen. Wie viel wissenschaftliche Kenntnisse die Men‐ schen auch anhäufen mögen, tief in ihrem Inneren glauben sie an die Existenz von etwas, das die wissenschaftlichen Gesetze nicht erklären können. »Als man sie fand... Wo hatten sie da ihre Hände?«, fragte Asa‐ kawa plötzlich. »Auf ihren Köpfen. Oder... Na ja, es sah eher so aus, als wollten sie ihre Gesichter mit den Händen bedecken.« »Zerrten sie an ihren Haaren, etwa so?« Asakawa demonstrierte es seinem Kollegen. »Was meinst du...?« »Zogen sie an ihren Köpfen, oder rissen sie sich die Haare aus, irgendwas in der Art?« »Nein, ich glaube nicht.« »Verstehe. Könntest du mir ihre Namen und Adressen geben, Yoshino?« »Na klar. Aber vergiss nicht dein Versprechen.« Asakawa nickte lächelnd. Yoshino erhob sich und stieß dabei an den Tisch. Ihr Kaffee schwappte auf die Untertassen. Yoshino hat‐ te keinen einzigen Schluck getrunken.
5 Wann immer Asakawa eine freie Minute hatte, untersuchte er die persönlichen Hintergründe der vier Toten, doch seine sonstige Arbeit nahm ihn so in Anspruch, dass er nicht so gut vorankam, wie er gehofft hatte. Ohne dass er es merkte, war eine Woche ver‐ gangen. Jetzt begann ein neuer Monat, und das regnerische Au‐ gustwetter mit der hohen Luftfeuchtigkeit und das heiße Som‐ merwetter des Septembers waren gleichermaßen nur noch ferne Erinnerungen, die vom Herbst verdrängt wurden. Eine Zeit lang geschah nichts. Mittlerweile hatte er es sich zur Regel gemacht, die Seiten mit den Lokalnachrichten gründlich zu lesen, aber er war auf keinen auch nur annähernd ähnlichen Vorfall gestoßen. Oder war etwas Entsetzliches auf dem langsamen Vormarsch, das er nur nicht erkennen konnte? Je mehr Zeit verging, desto mehr war A‐ sakawa geneigt, die vier Todesfälle für Ereignisse zu halten, die nicht das Mindeste miteinander zu tun hatten. Auch Yoshino hatte er seitdem nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich hatte auch er die ganze Geschichte vergessen. Andernfalls hätte er sich bestimmt einmal bei Asakawa gemeldet. Wenn seine Begeisterung für die Beschäftigung mit dem Fall nachließ, zog Asakawa vier Karteikarten aus der Tasche, um sich erneut daran zu erinnern, dass nicht alles nur Zufall gewesen sein konnte. Auf diesen Karten hatte er die Namen, die Adressen der Toten sowie andere einschlägige Informationen notiert. Den verbleibenden Platz gedachte er anderen Bereichen zu widmen: ihren Aktivitäten während der Monate August und September, ihrer Biografie und allen anderen Sachverhalten, die seine Recher‐ chen noch zutage fördern würden. 1. Karteikarte: Tomoko Oishi Geburtsdatum: 21.10.1972
Keisei‐Oberschule für Mädchen, Abschlussklasse, Alter: 17 Jahre Adres‐ se: Motomachi 1‐7, Honmoku, Bezirk Naka, Yokohama 5. September, etwa 23.00 Uhr: stirbt in der Küche im Erdgeschoss des Hauses ihrer Familie, während ihre Eltern ausgegangen sind. Todesursache: plötzli‐ ches Herzversagen. 2. Karteikarte: Shuichi Iwata Geburtsdatum: 26.5.1971 Eishin‐Akademie, erstes Jahr, Alter: 19 Jahre Adresse: Nishi Nakanobu 1‐ 5‐23, Bezirk Shinagawa, Tokio 5. September, 22.54 Uhr: kippt mit seinem Motorrad um und stirbt an der Kreuzung vor dem Shinagawa‐Bahnhof. Todesursache: Herzinfarkt 3. Karteikarte: Haruko Tsuji Geburtsdatum: 12.1.1973 Keisei‐Oberschule für Mädchen, Abschlussklasse, Alter: 17 Jahre Adres‐ se: Mori 5‐19, Bezirk Isogo, Yokohama 5. September, spät nachts (oder in den frühen Morgenstunden des 6.): stirbt in einem Auto neben einer Straße am Fuß des Berges Okusu. Todesursache: plötzliches Herzversa‐ gen. 4. Karteikarte: Takehiko Nomi Geburtsdatum: 4.12.1970 Eishin‐Akademie, zweites Jahr, Alter: 19 Jahre Adresse: Uehara 1‐10‐4, Bezirk Shibuya, Tokio j. September, spät nachts (oder in den frühen Mor‐ genstunden des 6.): stirbt mit Haruko Tsuji in einem Auto neben einer Straße am Fuß des Bergs Okusu. Todesursache: plötzliches Herzversagen. Tomoko Oishi und Haruko Tsuji waren auf dieselbe Oberschule gegangen und Freundinnen gewesen, Shuichi Iwata und Takehiko Nomi hatten dieselbe Vorbereitungsschule für die Universität be‐ sucht und waren vor ihrem Tod ebenfalls befreundet gewesen. So viel war bereits vor Asakawas Recherchen klar, aber diese bestä‐
tigten es zweifelsfrei. Der simplen Tatsache, dass Haruko Tsuji und Takehiko Nomi am Abend des 5. September eine Spritztour gemacht hatten, ließ sich entnehmen, dass sie, auch wenn sie kein wirkliches Liebespaar gewesen waren, doch zumindest miteinan‐ der herumgetändelt hatten. Bei seinen Recherchen hörte Asakawa von ihren Freundinnen, dass Haruko Tsuji sich mit einem jungen Mann aus Tokio traf. Wie auch immer, noch wusste Asakawa nicht, wann und unter welchen Umständen sie sich kennen gelernt hatten. Logischerweise vermutete er, dass auch Tomoko Oishi und Shuichi Iwata ein Liebespaar gewesen waren, aber er konnte keine Beweise dafür finden. Genauso gut war denkbar, dass Tomoko Oishi und Shuichi Iwata sich nie begegnet waren. In diesem Fall stellte sich die Frage, worin das Bindeglied zwischen den vier To‐ ten bestand. Sie schienen zu eng miteinander verbunden gewesen zu sein, als dass dieses unbekannte... Etwas sie rein zufällig her‐ ausgepickt haben konnte. Vielleicht gab es irgendein Geheimnis, das nur diese vier jungen Menschen geteilt hatten, und deshalb waren sie getötet worden... Asakawa versuchte, sich von einer eher wissenschaftlichen Theorie zu überzeugen: Vielleicht hatten sich die vier Toten zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufgehalten und sich mit einem Virus infiziert, das das Herz angriff. Nun mal ganz langsam. Asakawa schüttelte im Gehen den Kopf. Ein Virus, das plötzliches Herzversagen herbeiführt? Scheint ziemlich weit hergeholt zu sein. Er stieg die Treppe hoch und murmelte dabei immer wieder »Ein Virus, ein Virus« vor sich hin. Ja, er sollte es zunächst mit einer wissenschaftlichen Erklärung versuchen. Nur mal angenommen, es gäbe ein Virus, das zu Herzinfarkten führte. Zumindest war das etwas realistischer als die Annahme, dass irgendetwas Übernatür‐ liches hinter all dem steckte, und er gab sich nicht der Lächerlich‐ keit preis. Selbst wenn man bisher noch keinen solchen Virus ent‐
deckt hatte — vielleicht war es erst kürzlich in einem Meteor auf die Erde niedergegangen. Eventuell war es auch als biologische Waffe entwickelt und irgendwie freigesetzt worden. Ausschließen konnte man diese Möglichkeit nicht. Ja, eine Zeit lang würde er von einem Virus ausgehen, auch wenn das seine Zweifel nicht besänftigte. Warum waren die vier mit einem erstaunt‐ schockierten Gesichtsausdruck gestorben? Warum hatten Haruko Tsuji und Takehiko Nomi an den Türen des Kleinwagens geses‐ sen, als könnten sie gar nicht genug Abstand zwischen sich brin‐ gen? Warum hatten die Autopsien keinerlei Resultate erbracht? Die Möglichkeit eines bei der Entwicklung biologischer Waffen entschlüpften Krankheitserregers würde zumindest diese dritte Frage beantworten. Wahrscheinlich hatte es dann einen Maul‐ korberlass gegeben. Wenn er diese Hypothese weiter verfolgte, konnte er davon aus‐ gehen, dass das Virus nicht über die Atemwege übertragen wurde, weil es bisher keine anderen Opfer gegeben hatte. Entweder wur‐ de es so ähnlich wie Aids übertragen, oder es war nicht besonders ansteckend. Doch wichtiger war, wo sich die vier jungen Men‐ schen infiziert hatten. Er musste sich noch einmal um ihre Aktivi‐ täten in den Monaten August und September kümmern und he‐ rausfinden, ob sie irgendwann zur selben Zeit am selben Ort ge‐ wesen waren. Leicht würde das nicht werden, da alle vier äußerst verschwiegen gewesen waren. Wenn ein Treffen zu viert ein Ge‐ heimnis gewesen war, von dem weder Eltern noch Freunde etwas gewusst hatten, wie sollte er es dann herausfinden? Aber er war sicher, dass die vier sich irgendwann zur selben Zeit am selben Ort aufgehalten und irgendetwas gemeinsam hatten. Asakawa öffnete sein Textverarbeitungsprogramm und ver‐ drängte das unbekannte Virus aus seinen Gedanken. Weil er sei‐ nen Artikel heute fertig machen musste, wurde es Zeit, den Inhalt
einer Kassette zusammenzufassen, die er bei seinen Recherchen aufgenommen hatte. Am morgigen Sonntag würde er gemeinsam mit seiner Frau Shizu deren Schwester Yoshimi Oishi einen Besuch abstatten, und dann würde er mit eigenen Augen den Ort sehen, an dem Tomoko gestorben war. Er würde am eigenen Leib spüren, ob noch irgendetwas in der Luft lag. Seine Frau hatte dem Besuch in Honmoku zugestimmt, weil sie ihre ältere Schwester wegen des schmerzlichen Verlusts trösten wollte. Von den wahren Motiven ihres Manns hatte sie keine Ahnung. Asakawa begann schon auf die Tastatur einzuhämmern, als er noch gar kein schlüssiges Konzept für seinen Artikel entwickelt hatte.
6 Shizu hatte ihre Eltern einen Monat lang nicht gesehen. Seit dem Tod von Tomoko fuhren sie so oft wie möglich aus Ashikaga nach Tokio, und zwar nicht nur, um ihre Tochter zu trösten, sondern auch, um sich selbst trösten zu lassen. Erst heute verstand Shizu das. Als sie die ausgemergelten, vom Kummer gezeichneten Ge‐ sichter ihrer Eltern sah, drohte ihr das Herz zu brechen. Einst hat‐ ten ihre Eltern drei Enkelkinder gehabt: Tomoko, die Tochter ihrer ältesten Tochter Yoshini, Kenishi, den Sohn ihrer zweiten Tochter Kazuko, und Shizus Tochter Yoko. Ein Enkel von jeder ihrer drei Töchter — ganz so häufig kam das nicht vor. Tomoko war ihr er‐ stes Enkelkind gewesen. Ihre Mienen hatten sich jedes Mal aufge‐ hellt, wenn sie sie sahen, und sie hatten es genossen, sie zu ver‐ wöhnen. Jetzt waren sie so deprimiert, dass man unmöglich sagen konnte, ob ihre Trauer oder die ihrer Tochter größer war. Vermutlich sind Enkel etwas sehr Wichtiges. In diesem Jahr war Shizu dreißig Jahre alt geworden. Um die Gefühle ihrer Schwester zu verstehen, konnte sie sich nur an deren Stelle versetzen. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie ihr Kind ver‐ loren hätte? Aber tatsächlich hinkte der Vergleich zwischen Yoko, die erst anderthalb Jahre alt war, und Tomoko, die mit 17 gestor‐ ben war. Sie wusste noch nicht, dass die Liebe zu einem Kind mit jedem Jahr wuchs. Etwa um drei Uhr nachmittags begannen sich Shizus und Yoshinis Eltern auf die Heimfahrt nach Ashikaga vorzubereiten. Shizu konnte ihre Überraschung kaum verbergen. Warum hatte ihr Mann, der sonst immer starke berufliche Belastungen vor‐ schützte, diesmal von sich aus den Besuch bei ihrer Schwester vorgeschlagen? Derselbe Mann, der nicht bei der Beerdigung des
armen Mädchens gewesen war, weil er angeblich unbedingt einen Termin einhalten musste. Jetzt war es schon fast Essenszeit, und Asakawa ließ keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass ihm an einem baldigen Aufbruch lag. Er war Tomoko nur ein paar Mal begegnet, und wahrscheinlich hatten sie sich nie sehr lange unter‐ halten. Mit Sicherheit wurde er nicht durch schmerzliche Erinne‐ rungen an die Tote aufgehalten. Shizu tippte Asakawa aufs Knie. »Ich glaube, es wird langsam Zeit, mein Lieber...«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Sieh dir Yoko an. Sie ist müde. Vielleicht sollte sie lieber hier ein Schläfchen machen.« Sie hatten ihre Tochter mitgenommen, und normalerweise war dies die Zeit für ihren Mittagsschlaf. Es stimmte, Yoko hatte zu blinzeln begonnen ‐ wie immer, wenn sie müde wurde. Aber wenn sie ihre Tochter hier schlafen ließen, mussten sie noch min‐ destens zwei Stunden bleiben. Worüber sollten sie sich mit Tomo‐ kos trauernden Eltern zwei Stunden lang unterhalten? »Sie kann doch im Zug schlafen«, sagte Shizu mit gesenkter Stimme. »Als wir das zum letzten Mal versucht haben, war Yoko total aufgeregt, und die ganze Zugfahrt war grauenhaft. Nein, besten Dank.« Wann immer Yoko inmitten einer Menschenmenge ermüdete, war sie unglaublich aufgeregt. Sie schlug mit ihren winzigen Ar‐ men und Beinen um sich, schrie aus vollem Hals und machte ihren Eltern das Leben schwer. Schimpfte man mit ihr, wurde alles nur noch schlimmer. Beruhigen konnte man sie allenfalls, wenn man versuchte, sie irgendwie zum Schlafen zu bewegen. In solchen Situationen wurde sich Asakawa der Mienen der Umstehenden bewusst, und er begann zu schmollen, als litte in erster Linie er unter dem Gekreische seiner Tochter. Die anklagenden Blicke der
anderen Zugreisenden riefen bei ihm Erstickungsgefühle hervor. Shizu zog es vor, ihren Mann nicht noch einmal in einer solchen Stimmung erleben zu müssen, wo seine Wangen — um nur ein Beispiel zu nennen — vor lauter Nervosität zuckten. »Also gut, wenn du meinst.« »Großartig. Dann wollen wir mal sehen, ob wir nicht oben ein Plätzchen finden, wo sie schlafen kann.« Yoko lag mit halb geschlossenen Augen im Schoß ihrer Mutter. »Ich kümmere mich darum«, sagte Asakawa, während er mit dem Handrücken eine Wange seiner Tochter liebkoste. Aus sei‐ nem Mund klangen diese Worte seltsam, da er seiner Frau anson‐ sten kaum mit dem Baby half. Vielleicht hatte er ja jetzt, als Zeuge der Trauer von Eltern über den Verlust eines Kindes, seine Mei‐ nung geändert. »Was ist denn mit dir los? Langsam wirdʹs unheimlich.« »Mach dir keine Sorgen. Sieht so aus, als würde Yoko sofort ein‐ schlafen. Lass mich nur machen.« Shizu streckte ihm das Kleinkind entgegen. »Danke. Ich wünsch‐ te nur, du wärst immer so hilfsbereit.« Während Asakawa seine Tochter an die Brust drückte, begann Yoko das Gesicht zu verziehen, doch noch bevor sie zu schreien anfangen konnte, war sie eingeschlafen. Mit dem Baby im Arm stieg er die Treppe hoch. Im ersten Stock gab es zwei im japani‐ schen Stil eingerichtete Räume, doch Tomokos Zimmer ähnelte dem eines Jugendlichen aus der westlichen Welt. Nachdem er Yo‐ ko in einem der im traditionellen Stil gehaltenen Räume, der nach Süden ging, auf den Futon gelegt hatte, war es nicht nötig, dass Asakawa noch bei seiner regelmäßig atmenden und fest schlafen‐ den Tochter blieb. Er verließ den Raum und lauschte an der Treppe, was unten vor sich ging. Dann betrat er Tomokos Zimmer, wobei er ein leichtes
Schuldgefühl hatte, weil er in die Privatsphäre des toten Mäd‐ chens eindrang. War das nicht genau das, was er sonst verab‐ scheute? Aber es diente ja einem guten Zweck — dem Kampf ge‐ gen das Böse. Er musste nur über seinen Schatten springen. Noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, empfand er Abscheu gegenüber seiner Neigung, jeden beliebigen Grund — und sei er auch noch so trügerisch — zu nutzen, um seine Hand‐ lungen »rational« zu begründen. Zugleich protestierte eine andere Stimme, es sei ja nicht so, als schreibe er einen Artikel: Er wolle einfach nur herausfinden, wann und wo die vier Jugendlichen zusammen gewesen waren. Tut mir Leid, Tomoko. Asakawa zog die Schreibtischschubladen auf, fand aber nur das, was man bei jeder anderen Oberschülerin auch gefunden hätte, wenn auch ordentlich arrangiert: drei Schnappschüsse, einen Schachtel mit Trödel, Briefe, einen Notizblock, ein Nähkästchen. Hatten ihre Eltern diese Schubladen nach Tomokos Tod schon einmal geöffnet? Es sah nicht so aus. Wahrscheinlich war sie von Natur aus ordentlich gewesen. Asakawa hoffte, ein Tagebuch zu finden — dadurch würde er sehr viel Zeit sparen. Heute habe ich mich mit Haruko Tsuji, Takehiko Nomi und Shuichi Iwata getroffen, und wir... Wenn er doch nur einen solchen Eintrag finden würde... Er nahm ein Notizbuch vom Bücherregal und blätterte es durch. Schließlich fand er hinten in einer Schublade tatsächlich ein sehr kleinmädchenhaftes Tagebuch, in dem es aber nur auf den ersten paar Seiten ein paar Einträge gab, die allerdings älteren Datums waren. Auf dem Regal neben dem Schreibtisch standen keine Bücher, sondern nur ein Schränkchen für Kosmetika. Asakawa zog die Schublade auf: Ein paar billige Accessoires, jede Menge nicht zu‐ einander passender Ohrringe. Offenbar hatte Tomoko die Ange‐ wohnheit gehabt, von jedem Paar einen Ohrring zu verlieren. Ein
Taschenkamm, in dem noch ein paar dünne schwarze Haare hin‐ gen. Als Asakawa den prall gefüllten Einbauschrank mit Tomokos Kleidung öffnete, stieg ihm der Duft des Mädchens in die Nase. Auf den Bügeln hingen farbenfrohe Kleider und Röcke. Offen‐ sichtlich hatten seine Schwägerin und ihr Mann noch nicht be‐ schlossen, was sie mit den Kleidungsstücken anfangen sollten, die noch den Geruch ihrer Tochter verströmten. Erneut lauschte Asa‐ kawa, was unten vor sich ging. Er war nicht sicher, wie seine Gastgeber reagieren würden, wenn sie ihn hier erwischten. Er hör‐ te niemanden nach oben kommen — seine Frau und ihre Schwe‐ ster unterhielten sich offenbar. Nacheinander durchsuchte Asaka‐ wa sämtliche Taschen der Kleidungsstücke in dem Einbauschrank: Taschentücher, abgerissene Kinokarten, Kaugummipapier, Papier‐ servietten, eine Klarsichthülle für Ausweise. Darin fand Asakawa eine Dauerkarte für die Strecke Yamate‐Tsurumi, einen Schüler‐ ausweis und einen Mitgliedsausweis, auf dem eine teilweise unle‐ serliche Unterschrift stand — sowieso Nonoyama. Hinsichtlich des Vornamens war er sich unschlüssig — vielleicht Yukir. Die Hand‐ schrift verriet nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Warum hatte Tomoko den Mitgliedsausweis eines ande‐ ren in der Klarsichthülle für ihre Ausweise? Plötzlich hörte er Schritte die Treppe hinaufkommen. Nachdem er die Karte in die Tasche gesteckt hatte, ließ er die Klarsichthülle wieder dort verschwinden, wo er sie gefunden hatte. Dann schloss er den Kleiderschrank und trat gerade in dem Moment in den Flur, als seine Schwägerin oben auf der Treppe stand. »Entschuldigung, gibtʹs hier oben eine Toilette?« Asakawa kehrte demonstrativ hervor, dass er es eilig hatte. »Gleich da drüben, am Ende des Flurs.« Seine Schwägerin schien keinen Verdacht zu haben. »Schläft Yoko wie ein braves Mäd‐
chen?« »Ja. Tut mir Leid, dass wir dir solche Scherereien machen.« »Nicht der Rede wert.« Yoshini verbeugte sich leicht und trat dann in einen der im japanischen Stil Eingerichteten Räume, wobei sie mit einer Hand die Schärpe ihres Kimonos hielt. Im Badezimmer zog Asakawa den Mitgliedsausweis aus der Ta‐ sche, auf dem »Ferienklub Pazifik« stand. Unten auf der Karte fanden sich Nonoyamas Name, seine Mitgliedsnummer und die Gültigkeitsdauer des Ausweises. Auf der Rückseite waren in klei‐ ner Schrift fünf Bedingungen für die Mitgliedschaft abgedruckt, außerdem der Name der Firma samt Adresse: Ferienklub Pazifik AG, Kojimachi 3‐5, Bezirk Chiyoda, Tokio, Tel.‐Nr.: (03) 261‐4922. Wenn Tomoko den Mitgliedsausweis nicht gefunden oder geklaut hatte, musste sie ihn sich von diesem Nonoyama ge‐ liehen haben. Und warum? Natürlich wegen der Einrichtungen des Ferienklubs. Welche hatte sie genutzt — und wann? Von hier konnte Asakawa nicht anrufen, deshalb verließ er das Haus unter dem Vorwand, Zigaretten zu kaufen. Draußen rannte er zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer. »Pazifik Ferienklub, kann ich Ihnen helfen?«, meldete sich die Stimme einer jungen Frau. »Ich wüsste gern, welche Einrichtungen Ihres Klubs ich nutzen kann, wenn ich Mitglied werde.« Die Frau antwortete nicht sofort. Vielleicht gab es so viele Ange‐ bote, dass sie nicht alle aufzählen konnte. »... wenn ich beispielsweise für einen Kurztrip mit Übernachtung aus Tokio kommen würde«, fügte er hinzu. Wahrscheinlich wäre es den vier jungen Leuten nicht ohne weiteres möglich gewesen, ohne Wissen ihrer Eltern eine Reise mit zwei oder drei Übernach‐ tungen zu machen. Da Asakawa bis jetzt noch nichts herausge‐ funden hatte, musste er davon ausgehen, dass die vier wahr‐
scheinlich nur einen Kurztrip mit einer Übernachtung gemacht hatten. Wenn Tomoko ihren Eltern vorgelogen hatte, dass sie eine Nacht im Haus einer Freundin verbringen würde, wäre ihr das wahrscheinlich mit Leichtigkeit gelungen. »In unserem Pazifikland in Süd‐Hakone halten wir jede Menge Angebote für unsere Kunden parat«, sagte die Frau in geschäfts‐ mäßigem Tonfall. »Was für Freizeitaktivitäten bieten Sie dort genau an?« »Golf, Tennis, Jagen, Fischen. Natürlich haben wir auch einen Swimmingpool.« »Kann man dort auch übernachten?« »Ja. Neben einem Hotel gibt es im Pazifikland auch unser Block‐ hüttendorf, wo Unterkünfte gemietet werden können. Soll ich Ih‐ nen unseren Prospekt schicken?« »Ja, bitte.« Asakawa versuchte, sich als zukünftigen Kunden zu präsentieren. So hoffte er, aus der Frau leichter Informationen her‐ ausholen zu können. »Sind das Hotel und die Blockhütten auch für Nichtmitglieder zugänglich?« »Ja, aber sie kommen nicht in den Genuss der günstigeren Preise für Klubmitglieder.« »Verstehe. Können Sie mir die Telefonnummer geben? Vielleicht sehe ich mir das mal vor Ort an.« »Wenn Sie wünschen, kann ich sofort für Sie reservieren...« »Nein, nein. Vielleicht fahre ich irgendwann mal dorthin und entscheide mich spontan, mir alles anzusehen. Geben Sie mir bitte die Telefonnummer?« »Einen Augenblick bitte.« Während er wartete, zog Asakawa ein Notizbuch und einen Stift aus der Tasche. »Sind Sie bereit?«, fragte die Frau. Dann diktierte sie ihm zwei elfstellige Telefonnummern. Die Vorwahlnummern waren lang,
die Feriendörfer mussten am Ende der Welt sein. »Nur für alle Fälle — wo liegen Ihre anderen Ferienklubs?« »In unseren Erholungsparks am See Hamana und bei Hamajina in der Präfektur Mie haben wird dasselbe Serviceangebot im Pro‐ gramm.« Viel zu weit weg! Das musste für das schmale Budget von Schü‐ lern viel zu teuer gewesen sein. »Verstehe. Ihre Ferienklubs scheinen alle am Pazifik zu liegen, wie der Name Ihrer Firma schon sagt.« Nun begann die Angestellte all die fabelhaften Vorteile aufzu‐ zählen, in deren Genuss man als Mitglied des Ferienklubs Pazifik kam. Aus Höflichkeit hörte Asakawa eine Weile zu, doch dann schnitt er ihr das Wort ab. »Großartig. Den Rest kann ich sicher Ihrem Prospekt entnehmen. Ich gebe Ihnen jetzt meine Adresse, dann können Sie ihn mir zusenden.« Nachdem er seine Anschrift durchgegeben hatte, hängte er den Hörer ein. Angesichts der at‐ traktiven Offerte begann er, darüber nachzudenken, ob es viel‐ leicht eine gute Idee wäre, Mitglied zu werden, aber er war sich nicht ganz sicher, ob er es sich leisten konnte. Yoko schlief bereits seit über einer Stunde, und Shizus Eltern mussten nun wieder in Ashikaga sein. Als Asakawa im Haus sei‐ ner Schwägerin eintraf, spülte seine Frau in der Küche für ihre Schwester, da diese, noch geschwächt durch ihre Trauer, selbst der kleinsten Belastung nicht gewachsen war. Asakawa brachte das restliche Geschirr aus dem Wohnzimmer in die Küche. »Was ist denn heute mir dir los? Du benimmst dich so seltsam«, sagte Shizu, ohne mit dem Spülen aufzuhören. »Du bringst Yoko ins Bett und hilfst in der Küche. Schlägst du ein neues Kapitel un‐ seres Ehelebens auf? Hoffentlich bleibtʹs dabei.« Asakawa war in Gedanken versunken und wollte nicht gestört werden. Der Name seiner Frau bedeutete »still«, und er hoffte,
dass sie tatsächlich den Mund halten würde. Wahrscheinlich brachte er sie am wirkungsvollsten zum Schweigen, wenn er ein‐ fach nicht antwortete. »Ach, übrigens, hast du die Windeln gewechselt, bevor du sie hingelegt hast? Schließlich wollen wir ja nicht, dass im Haus mei‐ ner Schwester etwas durchsickert.« Asakawa zeigte sich desinteressiert. Er war damit beschäftigt, die Wände der Küche zu studieren. Hier war Tomoko gestorben, man hatte sie zwischen Glasscherben und einer Lache Coca‐Cola ge‐ funden. Das Virus musste genau in dem Moment zugeschlagen haben, als sie die Flasche Cola aus dem Eisschrank geholt hatte. Asakawa öffnete den Kühlschrank und ahmte dabei Tomokos Be‐ wegungen nach. Er stellte sich vor, ein Glas in der Hand zu halten, und tat so, als würde er daraus trinken. »Was in aller Welt ist mit dir los?« Shizu starrte ihn mit offenem Mund an, aber Asakawa ließ sich nicht stören. Noch immer das imaginäre Glas in der Hand haltend, blickte er hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er eine Glastür, die das Wohnzimmer von der Küche trennte. Auf ihr reflektierte das Licht der über der Spüle angebrachten Neonröhre. Die Glastür spiegelte aber nur das Licht der Neonröhre, nicht die Mienen der beiden Menschen auf dieser Seite. Wahrscheinlich lag das daran, dass es draußen immer noch hell und das Wohnzimmer lichtdurchflutet war. Wenn die andere Seite der Glasscheibe dunkel und diese Seite hell war, wie in der Nacht, als Tomoko hier gestanden hatte... Dann wäre die Glastür ein Spiegel gewesen, in dem das Geschehen in der Küche zu sehen gewesen war. Tomokos von Entsetzen verzerrte Miene musste darin zu erkennen gewesen sein. Beinahe konnte sich Asakawa die Glasscheibe als einen Zeugen vorstellen, der alles gesehen hatte. Glas konnte transparent oder reflektierend sein, was von dem je‐ weiligen Zusammenspiel von Helligkeit und Dunkel abhing. Asa‐
kawa bewegte sein Gesicht näher an die Glasscheibe heran, als würde ihn etwas anziehen, doch da tippte ihm seine Frau auf die Schulter. Und genau in diesem Augenblick begann ihre Tochter oben zu schreien. »Yoko ist aufgewacht.« Shizu trocknete sich mit einem Handtuch die Hände ab. Normalerweise schrie ihre Tochter nicht so nach dem Aufwachen. Shizu eilte in den ersten Stock. Sie war gerade verschwunden, als ihre Schwester den Raum betrat. Asakawa reichte ihr die Mitgliedskarte. »Die habe ich unter dem Klavier gefunden«, bemerkte er zwanglos, um dann Yoshinis Reaktion abzuwarten. Yoshini nahm die Karte und drehte sie um. »Seltsam. Wie kommt die hierher?« Sie hob irritiert den Kopf. »Könnte Tomoko sie sich von einer Freundin oder einem Freund geliehen haben?« »Aber den Namen habe ich noch nie gehört. Ich glaube nicht, dass sie...« Yoshini blickte Asakawa mit wachsender Besorgnis an. »Das scheint wichtig zu sein. Ich schwöre, dass mein Mädchen...« Ihre Stimme versagte. Selbst die kleinste Kleinigkeit ließ ihre Trau‐ er wieder durchbrechen. Asakawa zögerte mit seiner Frage, stellte sie dann aber doch. »Ist es... Ist es denkbar, dass Tomoko und ihre Freunde diesen Ferien‐ klub während der Sommerferien besucht haben?« Yoshini schüttelte den Kopf — sie vertraute ihrer Tochter. Tomo‐ ko hatte nicht zu den Mädchen gehört, die erklärten, bei Freun‐ dinnen zu übernachten, und dann etwas anderes taten. Außerdem hatte sie für ihre Prüfungen gelernt. Asakawa verstand Yoshinis Gefühle und beschloss, keine weiteren Fragen über Tomoko zu stellen. Keine vor den Abschlussprüfungen stehende Schülerin würde ihren Eltern erzählen, dass sie mit ihrem Freund eine Blockhütte in einem Ferienklub mieten wolle. Sie hätte zu einer
Lüge Zuflucht genommen und ihren Eltern erzählt, sie werde mit einer Freundin in deren Wohnung lernen. Ihre Eltern hätten nichts erfahren. »Ich suche den Besitzer der Karte und gebe sie ihm zurück.« Yoshini senkte schweigend den Kopf. Da rief ihr Mann aus dem Wohnzimmer, und sie stürmte aus der Küche. Tomokos Vater saß vor einem kürzlich errichteten buddhistischen Altar und sprach zu einem Foto seiner Tochter. Seine Stimme klang auf schockierende Weise fröhlich, und Asakawa musste deprimiert zur Kenntnis nehmen, dass er den Tod seiner Tochter offensichtlich nicht wahr‐ haben wollte. Man konnte nur inständig hoffen, dass er den Schock irgendwie überwinden würde. Eines jedenfalls hatte Asakawa herausgefunden. Falls Nonoyama Tomoko den Mitgliedsausweis tatsächlich geliehen hatte, hätte er oder sie bei der Nachricht von Tomokos Tod Kontakt zu ihren Eltern aufgenommen, um die Rückgabe der Karte zu erbitten. A‐ ber Tomokos Mutter wusste nichts von dem Ausweis, den No‐ noyama schwerlich vergessen haben konnte. Die Mitgliedsbeiträge waren zu hoch, um sich einfach mit dem Verlust der Karte abzufinden. Was ergab sich daraus? Asakawa reimte sich das Ganze so zusammen: Nonoyama hatte die Karte einem der drei anderen geliehen — Shuichi Iwata, Haruko Tsuji oder Takehiko Nomi. Irgendwie war sie dann in Tomokos Besitz gelangt. Nonoyama musste doch Kontakt zu den Eltern der Person aufgenommen haben, der er den Mitgliedsausweis geliehen hatte, und dann hatten diese die Sachen ihres Sprösslings durchsucht, ohne etwas zu finden, denn die Karte war hier. Wenn Asakawa sich an die Familien der drei anderen Verstorbenen wandte, wür‐ de es ihm vielleicht gelingen, Nonoyamas Adresse herauszube‐ kommen. Am besten sollte er sie noch heute Abend anrufen. Fand er auf diese Weise keinen Anhaltspunkt, war es unwahrscheinlich,
dass er anhand der Karte eruieren konnte, wann und wo die vier Jugendlichen zusammen gewesen waren. Auf jeden Fall wollte er Nonoyama treffen und sich anhören, was er oder sie zu sagen hat‐ te. Wenn es sein musste, würde er schon einen Weg finden, an‐ hand von Nonoyamas Mitgliedsnummer seine Adresse in Erfah‐ rung zu bringen. Eine direkte Nachfrage beim Ferienklub Pazifik würde ihm wahrscheinlich nicht weiterhelfen, aber er war sicher, dass er durch die Beziehungen seiner Zeitung zu einem Resultat kommen würde. Irgendjemand rief nach ihm; die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Liebster...« Die verwirrte Stimme seiner Frau ver‐ mischte sich mit dem Schreien des Babys. »Kannst du einen Augenblick nach oben kommen?« Asakawa kam wieder zu sich. Plötzlich war er nicht einmal mehr sicher, worüber er die ganze Zeit nachgedacht hatte. Das Schreien seiner Tochter klang irgendwie seltsam, und als er die Treppe hi‐ naufstieg, verstärkte sich dieser Eindruck noch. »Was ist denn?«, fragte Asakawa vorwurfsvoll. »Mit Yoko stimmt irgendwas nicht. Ihr Geschrei klingt anders als sonst. Glaubst du, dass sie krank ist?« Asakawa legte eine Hand auf die Stirn seiner Tochter. Fieber hat‐ te sie nicht, aber ihre kleinen Hände zitterten. Das Zittern erstreck‐ te sich auf den ganzen Körper. Yokos Gesicht war gerötet, und ihre Augen waren fest zusammengekniffen. »Wie lange dauert das schon?« »Es liegt bestimmt daran, dass sie aufgewacht ist und allein war.« Das Baby schrie oft, wenn es allein aufwachte. Kam Shizu gleich herbeigeeilt, um es in ihren Armen zu wiegen, beruhigte es sich schnell wieder. Wenn ein Baby schrie, wollte es etwas, aber was... Yoko schien ihnen etwas sagen zu wollen, es lag nicht daran, dass
sie nur verstimmt war. Sie hatte die winzigen Hände krampfhaft gegen das Gesicht gepresst. Das war es — Yoko schrie aus Angst. Jetzt wandte sie ihr Gesicht ab und öffnete die geballten Fäuste. Sie schien auf etwas zeigen zu wollen. Asakawa schaute in die Rich‐ tung, sah ein Kopfkissen und hob dann den Blick. Etwa dreißig Zentimeter unter der Decke hing die kleine Maske eines hannya — eines weiblichen Dämons. War das Kind wegen der Maske ver‐ ängstigt? »Sieh mal«, sagte Asakawa, während er mit dem Kinn auf die Wand wies. Die beiden Eheleute starrten die Maske an, dann wandten sie sich einander zu. »Ausgeschlossen... Sie soll Angst vor einem Dämon haben?« Asakawa stand auf, nahm die Maske von der Wand und legte sie mit dem Gesicht nach unten auf eine Kommode, sodass Yoko sie nicht mehr sehen konnte. Sofort hörte das Baby zu schreien auf. »Was ist denn, Yoko? Hat der böse Dämon dir Angst gemacht?« Shizu schien erleichtert zu sein, den Grund für die Angst ihrer Tochter herausgefunden zu haben. Zufrieden schmiegte sie ihre Wange gegen die des Kindes. Dagegen war Asakawa nicht so leicht zu beruhigen — aus irgendeinem Grund wollte er keine Mi‐ nute länger in diesem Zimmer bleiben. »Lass uns nach Hause fahren«, drängte er seine Frau. Noch am selben Abend, direkt nach ihrer Rückkehr vom Besuch bei den Oishis, rief Asakawa die Familien Tsuji, Nomi und Iwata an, und zwar in dieser Reihenfolge. Bei jedem der Telefonate frag‐ te er, ob ein Bekannter ihres Kindes wegen des Mitgliedsausweises eines Ferienklubs angerufen habe. Sein letzter Gesprächspartner, Shuichi Iwatas Mutter, hatte eine lange, weitschweifige Antwort parat: »Es hat jemand angerufen und versichert, dieselbe Ober‐ schule wie Shuichi besucht zu haben. Er war älter und behauptete, meinem Sohn den Mitgliedsausweis geliehen zu haben, den er
jetzt zurückhaben wolle... Aber obwohl ich jeden Winkel des Zimmers meines Sohns durchsucht habe, habe ich die Karte nie gefunden. Seitdem mache ich mir darüber Gedanken.« Asakawa erkundigte sich schnell nach Nonoyamas Telefonnummer, legte auf und wählte sofort erneut. Nonoyama hatte Shuichi Iwata am letzten Augustsonntag in Shi‐ buya kennen gelernt und ihm seinen Mitgliedsausweis geliehen — ganz wie Asakawa vermutet hatte. Iwata hatte ihm erzählt, er wol‐ le mit einer Schülerin wegfahren, auf die er es abgesehen habe. Die Sommerferien sind fast vorbei, vorher will ich mich noch mal anständig amüsieren. Sonst schaffe ich es nicht, mich dahinter zu klemmen und für die Prüfungen zu büffeln. Nonoyama hatte nur gelacht. Du Idiot, wenn man die Vorberei‐ tungsschule für die Universität besucht, hat man kein Recht auf Som‐ merferien. Der letzte Augustsonntag war der 26. gewesen — wenn sie ir‐ gendwo übernachtet hatten, musste es am 27., 28., 29. oder 30. Au‐ gust gewesen sein. Wie es mit den Vorbereitungsschulen für die Universität aussah, wusste Asakawa nicht, aber die Oberschulen begannen auf jeden Fall am 1. September wieder mit dem Unter‐ richt. Vielleicht lag es an der langen in ungewohnter Umgebung ver‐ brachten Zeit, dass Yoko sofort neben ihrer Mutter einschlief. Als Asakawa an der Schlafzimmertür lauschte, hörte er die beiden regelmäßig atmen. Neun Uhr abends... eigentlich die Zeit, wo auch Asakawa sonst an ein bisschen Entspannung dachte. Bis seine Frau und seine Tochter fest schliefen, gab es aber für ihn in der kleinen Eigentumswohnung keinen Platz, wo er arbeiten konnte, ohne sie zu stören. Asakawa holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und
schenkte sich ein Glas voll. Heute schmeckte es ihm besonders gut. Durch den Fund des Mitgliedsausweises hatte er definitiv Fort‐ schritte gemacht. Es bestand eine realistische Möglichkeit, dass Shuichi Iwata und die anderen drei sich irgendwann zwischen dem 27. und dem 30. August in einem Dorf des Ferienklubs Pazi‐ fik aufgehalten hatten; am wahrscheinlichsten war das Blockhüt‐ tendorf im Pazifikland in Süd‐Hakone. Nur diese Einrichtung des Klubs lag geografisch nahe genug, um wirklich in Frage zu kom‐ men. Denn Asakawa konnte sich nicht vorstellen, dass eine Grup‐ pe normaler Schüler in einem Hotel abstieg. Wahrscheinlich hatten sie wegen Geldknappheit mit Nonoyamas Mitgliedsausweis eins der Ferienhäuschen gemietet. Für Klubmitglieder kosteten die Blockhütten nur fünftausend Yen pro Nacht, sodass jeder nur etwas über tausend Yen hatte berap‐ pen müssen. Die Telefonnummer des Blockhüttendorfs hatte Asakawa griff‐ bereit. Er legte sein Notizbuch auf den Tisch. Am schnellsten ging es wahrscheinlich, wenn er direkt den für die Vermietung zustän‐ digen Verwalter anrief und fragte, ob sich dort eine vierköpfige Gruppe aufgehalten und den Mitgliedsausweis von Nonoyama benutzt habe. Aber am Telefon würde man ihm nie eine solche Auskunft erteilen. Wenn jemand innerhalb eines solchen Unter‐ nehmens zum Verwalter eines Dorfs mit Ferienhäuschen aufge‐ stiegen war, hatte man ihm mit Sicherheit beigebracht, dass es seine Pflicht war, Vertraulichkeit zu wahren. Selbst wenn Asaka‐ wa sich als Journalist einer großen Zeitung zu erkennen gab und die Gründe für seine Fragen nannte, würde der Verwalter telefo‐ nisch nichts preisgeben. Asakawa dachte darüber nach, das örtli‐ che Büro seiner Zeitung anzurufen, damit sie einen Anwalt baten, einen Blick ins Gästebuch zu werfen. Juristisch gesehen, war so ein Verwalter nur der Polizei oder Anwälten gegenüber verpflichtet,
sein Gästebuch herauszurücken. Natürlich konnte Asakawa auch versuchen, sich als Polizist oder Rechtsanwalt auszugeben, aber wahrscheinlich würde das sofort auffliegen, und dann bekam sei‐ ne Zeitung Ärger. Sicherer und effektiver wäre es, sich an die Spielregeln zu halten. Doch dann würde es mindestens drei oder vier Tage dauern, und langes Warten war Asakawa verhasst. Er wollte es jetzt wissen. Mittlerweile hatte er eine so große Leidenschaft für den Fall ent‐ wickelt, dass er eine dreitägige Wartepause nicht ertragen hätte. Was um alles in der Welt würde bei dieser Geschichte heraus‐ kommen? Wenn die vier jungen Leute sich wirklich Ende August in dem Blockhüttendorf im Pazifikland aufgehalten hatten und wenn dieser Anhaltspunkt es ihm ermöglichte, das Rätsel der To‐ desfälle zu lösen... Was konnte es denn gewesen sein? Ein Virus. Doch Asakawa war bewusst, dass er bloß deshalb von einem Virus ausging, weil er sich nicht von dem Gedanken an irgendein myste‐ riöses Etwas einschüchtern lassen wollte. Bis zu einem gewissen Grad ergab es auch einen Sinn, in Gedanken die Macht der Wis‐ senschaft aufmarschieren zu lassen, um das Übernatürliche nie‐ derzuhalten. Es führte zu nichts, wenn er versuchte, ein ihm un‐ verständliches Geschehen mit unverständlichen Wörtern zu be‐ kämpfen. Er musste den Fall in seiner Sprache erfassen. Asakawa erinnerte sich an seine schreiende Tochter. Warum war sie so verängstigt gewesen, als sie heute Nachmittag die Dämo‐ nenmaske gesehen hatte? »Hast du ihr irgendwann mal Dämonen gezeigt?«, hatte Asakawa seine Frau im Zug gefragt. »Wie bitte?« »Du weißt schon, vielleicht in Bilderbüchern. Hast du ihr dabei irgendwie klar gemacht, dass sie sich vor Dämonen fürchten muss?« »Quatsch. Warum sollte ich?« Damit war die Unterhaltung im Zug beendet gewesen. Shizu
machte sich keine Sorgen — ganz im Gegensatz zu Asakawa. Die‐ se tiefe, spirituelle Angst unterschied sich von der üblichen aner‐ zogenen. Der Mensch hatte schon immer mit der einen oder ande‐ ren Angst gelebt, seit er die Wälder verlassen hatte. Angst vor Donner, Taifunen, wilden Tieren, Vulkanausbrüchen... Wenn ein Kind zum ersten Mal ein Gewitter erlebte, fürchtete es sich instink‐ tiv, und das war nur verständlich. Der Donner war real, er existier‐ te. Aber... Aber was war mit Dämonen? In einem Lexikon würde man lesen, Dämonen seien imaginäre Monster oder die Geister der Toten. Wenn Yoko Angst vor dem Dämon gehabt hatte, weil er Furcht erregend aussah, hätte sie sich genauso vor einer Godzilla‐ figur ängstigen müssen, denn die sollte schließlich Furcht einflö‐ ßend aussehen. Im Schaufenster eines Kaufhauses hatte Yoko ein‐ mal eine raffinierte Godzilla‐Nachbildung gesehen. Weit davon entfernt, verängstigt zu sein, hatte sie das Monster gespannt und mit vor Neugier glühenden Augen angestarrt. Wie konnte man das erklären? Mit Sicherheit wusste Asakawa nur, dass Godzilla, wie immer man es auch sah, ein imaginäres Monster war. Aber was war mit Dämonen...? Sind Dämonen eine japanische Spezialität? Nein, es gibt sie auch in anderen Kulturen. Teufel... Das zweite Bier schmeckte schon nicht mehr so gut. Gibt es noch etwas, wovor Yoko sich fürchtet? Allerdings, die Dunkelheit. Sie hat fürchterliche Angst vor der Dunkelheit. Mit absoluter Sicherheit wird sie nie allein in einen un‐ beleuchteten Raum gehen. »Yoko«, das »Sonnenkind«. Aber die Fin‐ sternis existierte, am anderen Pol des Lichts. Selbst jetzt, wo Yoko in den Armen ihrer Mutter in einem dunklen Zimmer schlief.
Mittlerweile regnete es deutlich stärker, und Asakawa stellte seine Scheibenwischer auf Höchstgeschwindigkeit ein. In der Gegend von Hakone konnte das Wetter jeden Moment umschlagen. In Odawara war der Himmel noch blau gewesen, doch je tiefer er in die Berge kam, desto höher wurde die Luftfeuchtigkeit, und wäh‐ rend der Fahrt zum Pass hinauf hatte er es schon mehrmals mit Regen und Windböen zu tun gehabt. Wäre es Tag gewesen, hätte er anhand der Wolkenformationen über dem Berg Hakone Speku‐ lationen über das Wetter anstellen können. Aber er fuhr abends und musste sich darauf konzentrieren, was im Licht seiner Scheinwerfer auftauchte. Erst als er einmal anhielt und einen Blick auf den dunklen Himmel warf, fiel ihm auf, dass die Sterne ver‐ schwunden waren. Nachdem er im Bahnhof Tokio‐Mitte in den Kodama‐Hochgeschwindigkeitszug gestiegen war, hatte er die Stadt noch im Dämmerlicht daliegen gesehen, doch als er dann am Bahnhof Atami den Leihwagen mietete, spähte schon der Mond gelegentlich durch Lücken in der Wolkendecke. Jetzt war aus dem feinen Nieselregen ein Platzregen geworden, und dicke Tropfen hämmerten gegen seine Windschutzscheibe. Die Digitaluhr über dem Tachometer zeigte 19:32 an, und Asa‐ kawa rechnete schnell nach, wie lange er bisher gebraucht hatte. Abfahrt Tokio 17 Uhr 16, Ankunft in Atami 18 Uhr 07. Als er den Bahnhof verlassen und die Formulare für den Leihwagen ausge‐ füllt hatte, war es halb sieben. Auf einem Markt kaufte er zwei Instant‐Nudelsuppen und eine kleine Flasche Whisky, und nach‐ dem er sich dann seinen Weg durch ein Labyrinth von Einbahn‐ straßen gebahnt hatte und die Stadt endlich verließ, war es sieben Uhr.
Jetzt tauchte vor ihm ein Tunnel auf, dessen Eingang durch grel‐ le, orangefarbene Lampen markiert wurde. Am anderen Ende des Tunnels, auf der Straße von Atami nach Kannami, sollte er eigent‐ lich bald die ersten Hinweisschilder für das Pazifikland in Süd‐ Hakone sehen können. In dem Tunnel änderte sich das Geräusch des Windes, und das Innere des Wagens wurde in orangefarbenes Licht getaucht. Asakawa spürte, dass ihm seine innere Ruhe ab‐ handen kam, und das machte ihn wütend. Aus der entgegenge‐ setzten Richtung kamen ihm keine Autos entgegen. Auf der mitt‐ lerweile trockenen Windschutzscheibe quietschte das Gummi sei‐ ner Scheibenwischer, und Asakawa schaltete sie ab. Um acht müsste er sein Ziel eigentlich erreicht haben. Obwohl die Straße völlig verwaist war, hatte er keine rechte Lust, Vollgas zu geben. Ohne sich dessen ganz bewusst zu sein, fürchtete sich Asakawa vor seinem Ziel. Am Nachmittag, exakt um 16 Uhr 20, hatte Asakawa beobachtet, wie das Faxgerät in seinem Büro gemächlich ein Blatt Papier aus‐ spuckte ‐ die Antwort aus dem Büro seiner Zeitung in Atami. A‐ sakawa erwartete eine Faxkopie der entsprechenden Seite aus dem Gästebuch des Verwalters des Feriendorfs im Pazifikland, die ihn darüber informieren sollte, wer dort zwischen dem 27. Und dem 30. August eine Blockhütte gemietet hatte. Sein Wunsch ging in Erfüllung, und Asakawa führte einen kleinen Freudentanz auf. Er hatte den richtigen Riecher gehabt. Vier Namen kannte er: Nonoyama, Tomoko Oishi, Haruko Tsuji und Takehiko Nomi. Am 29. August hatten die vier die Blockhütte B‐4 gemietet und dort die Nacht verbracht. Shuichi Iwata hatte sich unter Nonoyarnas Namen eingetragen. Jetzt wusste er, wann und wo die vier jungen Leute zusammen gewesen waren — am Donnerstag, dem 29. Au‐ gust im Pazifikland in Süd‐Hakone, in Blockhütte B‐4. Exakt eine Woche vor den mysteriösen Todesfällen.
Asakawa hatte auf der Stelle zum Hörer gegriffen und die Num‐ mer des Verwalters gewählt, um für den heutigen Abend selbst die Blockhütte B‐4 zu mieten. Morgen war lediglich eine Redakti‐ onssitzung für elf Uhr angesetzt, sodass Asakawa die Nacht in Hakone verbringen und ohne Hektik pünktlich zurück sein konn‐ te. Okay, ich bin also wirklich auf dem Weg. Ich fahre zu dem Dorf. Dem Ort, wo alles seinen Anfang genommen haben muss. Asakawa konnte es gar nicht abwarten, doch selbst in seinen wil‐ desten Träumen hätte er sich nicht vorstellen können, was ihn er‐ wartete. Am anderen Ende des Tunnels stand ein Mauthäuschen. »Gehtʹs hier direkt zum Pazifikland?«, fragte Asakawa den Angestellten, während er ihm drei Hundert‐Yen‐Münzen in die Hand drückte. Da er die Karte etliche Male studiert hatte, wusste er nur allzu gut, wo sein Ziel lag, aber er hatte den Eindruck, als wäre es schon sehr lange her, dass er zuletzt mit einem anderen Menschen ge‐ sprochen hatte, und irgendetwas in ihm sehnte sich danach. »Gleich kommt ein Schild, da biegen Sie links ab.« Asakawa nahm die Quittung entgegen. Bei so wenig Verkehr schien es kaum Sinn zu machen, hier jemanden zu postieren. Wie lange stand der Mann wohl schon in seinem Mauthäuschen? Weil Asakawa keinerlei Anstalten machte, wieder Gas zu geben, warf ihm der Angestellte einen misstrauischen Blick zu. Mit einem gezwungenen Lächeln fuhr Asakawa langsam los. Von der Freude, die er angesichts seiner Entdeckung noch vor ein paar Stunden empfunden hatte, war jetzt nichts mehr übrig geblieben. Vor seinem geistigen Auge glaubte Asakawa die un‐ scharfen Bilder der exakt eine Woche nach ihrem Aufenthalt in der Blockhütte Verstorbenen zu sehen. Jetzt ist es noch Zeit umzukehren,
schienen sie ihm höhnisch zuzuflüstern. Aber für Asakawa gab es mittlerweile kein Zurück mehr, da sein Reporterinstinkt geweckt war. Andererseits konnte er nicht leugnen, dass er sich vor einem Alleingang fürchtete. Wenn er Yoshino angerufen hätte, wäre es durchaus denkbar gewesen, dass dieser sich sofort zur Mitarbeit bereit erklärt hätte. Aber Asakawa hielt es letztlich für keine be‐ sonders gute Idee, einen Kollegen an seiner Seite zu haben. Was er bis jetzt herausgefunden hatte, war schriftlich festgehalten und auf einer Diskette gesichert. Er brauchte jemanden, der ihm nicht in die Quere kommen, sondern ihm einfach helfen würde, und da gab es schon jemanden... Asakawa kannte einen Mann, der aus reiner Neugier mitmachen würde, einen Uni‐Lehrbeauftragten mit einer halben Stelle, der jede Menge Zeit hatte. Das war der Richti‐ ge. Aber er war... etwas schwierig. Asakawa war nicht sicher, wie lange er seine problematische Persönlichkeit ertragen konnte. Jetzt sah er am Berghang das Schild für das Pazifikland — keine Neonreklame, sondern eine schlichte weiße Tafel mit schwarzen Buchstaben. Hätte er zufällig gerade weggeguckt, als seine Scheinwerfer über das Schild strichen, wäre es ihm völlig entgan‐ gen. Er bog ab und fuhr zwischen terrassenförmig angelegten Fel‐ dern den Berg hoch. Angesichts der Tatsache, dass die Straße zu einem Ferienklub führte, war sie ziemlich schmal, und Asakawa dachte schon, es wäre eine im Niemandsland endende Sackgasse. Wegen der steilen Straße und den finsteren Kurven musste er ei‐ nen Gang zurückschalten. Hoffentlich kam ihm niemand entgegen — zwei Autos passten hier nicht aneinander vorbei. Erst jetzt bemerkte Asakawa, dass der Regen aufgehört hatte. Offensichtlich herrschten östlich und westlich des Tanna‐ Gebirgskamms unterschiedliche Wetterverhältnisse. Wenigstens war die immer weiter ansteigende Straße doch keine Sackgasse. Nach einer Weile sah Asakawa hier und da Sommer‐
häuser am Straßenrand. Plötzlich tauchten elegante Laternen auf, die Straße wurde zweispurig, die Asphaltdecke deutlich besser. Diese abrupte Veränderung überraschte ihn. Sobald er sich auf dem Gelände des Pazifiklands befand, wirkte alles luxuriös. War‐ um dann dieser zugewachsene Trampelpfad, auf dem er herge‐ kommen war, wo man mit jeder Haarnadelkurve immer nervöser wurde? Das zweistöckige Gebäude auf der anderen Seite des großzügi‐ gen Parkplatzes beherbergte ein Informationszentrum und ein Restaurant. Ohne weiteres Nachdenken parkte Asakawa vor dem Haus und ging auf die Eingangshalle zu. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es Punkt acht war — exakt nach Plan. Von ir‐ gendwoher hörte er das Geräusch aufspringender Bälle. Unterhalb des Informationszentrums lagen vier Tennisplätze, wo sich im gelblichen Flutlicht mehrere Paare verausgabten. Asakawa wollte nicht in den Kopf, warum man an einem Donnerstagabend mitten im Oktober diese weite Strecke zurücklegte, nur um eine Partie Tennis spielen zu können. Weit unterhalb der Tennisplätze sah man in der Ferne die Lichter von Mishima und Numazu in der Dunkelheit funkeln. Die pechschwarze Leere dahinter war die Bucht von Tago. Das Restaurant war durch eine Glaswand vom Informationszen‐ trum getrennt. Als er durch die Scheibe blickte, erwartete Asaka‐ wa die nächste Überraschung. Angeblich schloss das Restaurant um acht Uhr, doch an den Tischen saßen noch etliche Familien und Gruppen junger Frauen. Irritiert fragte sich Asakawa, was hier los war. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass all diese Menschen auf derselben Straße wie er hergekommen waren. Viel‐ leicht hatte er sozusagen den Hintereingang benutzt. Irgendwo musste es eine besser beleuchtete, hellere Straße geben. Aber er hatte genau den Weg genommen, den ihm die Angestellte des
Ferienklubs am Telefon beschrieben hatte. Ungefähr nach der halben Strecke der Straße von Atami nach Kannami biegen Sie links ab und fahren dann von dort den Berghoch. Genau das hatte Asakawa getan. Wahrscheinlich gab es doch keine andere Zufahrtsstraße. Asakawa nickte zwar, als man ihm mitteilte, dass der Zeitpunkt für die letzten Bestellungen bereits verstrichen sei, aber er betrat das Restaurant trotzdem. Unter den großen Panoramafenstern lag ein gut gepflegter Rasen, der sanft in Richtung der beiden Städte abfiel. In dem Restaurant wurde die Beleuchtung absichtlich ge‐ dämpft — wahrscheinlich damit die Gäste die Aussicht auf die fernen Lichter besser genießen konnten. Asakawa hielt einen vor‐ beikommenden Kellner an und fragte ihn nach dem Weg zu dem Feriendorf. Der Angestellte zeigte zurück in Richtung der Ein‐ gangshalle. »Folgen Sie der Straße etwa zweihundert Meter nach rechts, dann sehen Sie das Büro des Verwalters.« »Gibtʹs da einen Parkplatz?« »Sie können vor dem Büro parken.« So einfach war das. Asakawa hätte sich auch auf sich selbst ver‐ lassen können und den Weg problemlos gefunden. Andererseits war ihm klar, warum ihn das moderne Gebäude so angezogen und warum er sogar das Restaurant aufgesucht hatte. Er fand es irgendwie behaglich. Während der ganzen Fahrt hatte er sich fin‐ stere, primitive Blockhütten vorgestellt — gleichsam als perfekten Hintergrund für ein Szenario a la Freitag, der 13. —, doch das Ge‐ bäude mit dem Restaurant hatte nichts davon. Als er sich der Tat‐ sache gegenübersah, dass die Errungenschaften der modernen Wissenschaft auch bis hierhin vorgedrungen waren, fühlte Asa‐ kawa sich irgendwie beruhigt und gestärkt. Beunruhigend war nur die Straße, die aus der Welt unterhalb des Berges nach hier
oben führte. Und die Tatsache, dass so viele Leute zum Tennis‐ spielen und zum Essen hierher kamen. Warum ihn das beunruhig‐ te, wusste er freilich nicht genau. Es war nur... irgendwie wirkte hier alles ziemlich irreal. Da auf den Tennisplätzen und im Restaurant noch einiges los war, hatte er eigentlich erwartet, auch aus den Blockhütten fröhli‐ ches Stimmengewirr zu hören, aber als er vom Rand des Parkplat‐ zes aus über das Tal blickte, konnte er nur sechs der zehn zwi‐ schen den Bäumen auf dem sanft abfallenden Abhang stehenden Blockhütten erkennen. Von dem schwachen Licht der Straßenla‐ ternen abgesehen, gab es darunter nur noch den finsteren Wald. Aus der Blockhütte drang kein Licht nach draußen. Nr. B‐4, wo Asakawa die Nacht verbringen würde, schien sich auf der Grenz‐ linie zwischen dem finsteren und dem schwach erleuchteten Be‐ reich zu befinden — zu sehen war nur der obere Teil der Tür. Asakawa öffnete die Tür des Büros und trat ein. Er hörte einen Fernseher plärren, sah aber niemanden. Der Verwalter saß in ei‐ nem links liegenden, im japanischen Stil eingerichteten Hinter‐ zimmer und hatte Asakawa nicht bemerkt. Asakawas Blick war durch die Theke versperrt, er konnte nicht ganz in den Raum hi‐ neinsehen. Offensichtlich sah der Verwalter nicht das Fernsehpro‐ gramm an, sondern einen Spielfilm auf Video, und zwar einen aus westlicher Produktion. Asakawa hörte die englischen Dialoge, während er das flackernde Licht des Fernsehers betrachtete, das sich weiter vorn in einem Einbauschrank spiegelte, in dem Video‐ kassetten ordentlich aufgereiht waren. Er legte die Hände auf die Theke und rief nach dem Verwalter. Sofort steckte ein kleiner Mann Mitte sechzig den Kopf durch die Tür, der Asakawa mit einer Verbeugung begrüßte. »Oh, willkommen.« Das muss derselbe Mann sein, der sofort bereit war, meinem Kollegen aus dem Büro in Atami und dem
Rechtsanwalt das Gästebuch zu zeigen, dachte Asakawa, während er den Verwalter freundlich anlächelte. »Ich habe reserviert. Auf den Namen Asakawa.« Der Mann schlug sein Buch auf und bestätigte die Reservierung. »Ihre Blockhütte ist Nr. B‐4. Können Sie hier bitte Ihren Namen und Ihre Adresse eintragen?« Da er Nonoyomas Mitgliedsausweis gerade zurückgeschickt hat‐ te und ihn folglich nicht benutzen konnte, trug Asakawa sich un‐ ter seinem richtigen Namen ein. »Sind Sie allein?«, fragte der Verwalter misstrauisch. Offensicht‐ lich hatte er noch nie einen Kunden gehabt, der allein gekommen war. Kam man nicht in den Genuss der ermäßigten Mitgliedstari‐ fe, war es für eine Person sogar günstiger, sich für das Hotel zu entscheiden. Nachdem der Verwalter ihm ein paar Bettlaken ge‐ reicht hatte, wandte er sich zu dem Einbauschrank um. »Wenn Sie möchten, können Sie ein Video ausleihen. Die meisten populären Filme haben wir im Angebot.« »Sie verleihen Videos?« Asakawa ließ seinen Blick wie nebenbei über die Kassetten gleiten: Jäger des verlorenen Schatzes, Krieg der Sterne, Zurück in die Zukunft, Freitag, der 13. Alles populäre ameri‐ kanische Streifen, vor allem Sciencefiction‐Filme, auch viele Neu‐ erscheinungen. Wahrscheinlich wurden die Blockhütten meistens von Gruppen junger Leute gemietet. Für Asakawa war nichts Ver‐ lockendes dabei. Außerdem war er ja angeblich hier, um in Ruhe arbeiten zu können. »Nein, danke, ich habe Arbeit mitgebracht.« Er hob seinen Lap‐ top vom Boden hoch und präsentierte ihn dem Verwalter, der jetzt zu verstehen schien, warum sein Gast allein erschienen war. »Geschirr ist da?« fragte Asakawa für alle Fälle. »Und alles, was man sonst noch braucht?« »Ja. Sie können alles benutzen.«
Allerdings benötigte Asakawa nur einen Kessel, um Wasser für seine Instant‐Nudelsuppen zum Kochen zu bringen. Nachdem er die Laken und den Schlüssel entgegengenommen hatte, erklärte ihm der Verwalter den Weg zur Hütte B‐4. »Fühlen Sie sich wie zu Hause«, fügte er seltsam formell hinzu. Bevor er den Türknopf berührte, zog Asakawa Gummihandschu‐ he an, die er aus Gründen seines Seelenfriedens mitgebracht hatte, gleichsam als Wunderwaffe gegen unbekannte Viren. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, schaltete er im Vorraum das Licht an, und eine Hundert‐Watt‐Birne beleuchtete ein geräumiges Wohnzimmer. Tapezierte Wände, Teppich, großes Sofa, Fernseher, Essecke... Alles war neu, alles funktional arrangiert. Asakawa zog seine Schuhe aus und trat in das Wohnzimmer. An einer Seite des Raums gab es einen Balkon, im Erdgeschoss und im ersten Stock kleine Räume im japanischen Stil. Für eine einzelne Person war das Ganze etwas zu luxuriös. Asakawa zog die Vorhänge auf, öff‐ nete die Schiebetür aus Glas und ließ die Nachtluft herein. Der Raum war absolut sauber, ganz so, als wollte er Asakawas Erwar‐ tungen Lügen strafen. Plötzlich hatte er das Gefühl, ohne jedes Resultat nach Hause zurückfahren zu müsse. In dem an das Wohnzimmer angrenzenden Raum überprüfte Asakawa den Schrank. Nichts. Er legte Hemd und Hose ab, hängte seine Straßenkleider auf einen Bügel und zog einen bequemen Jogginganzug an. Anschließend ging er die Treppe hoch, um einen der dortigen, im japanischen Stil eingerichteten Räume in Augen‐ schein zu nehmen. Zuerst schaltete er das Licht ein. Du benimmst dich wie ein Kind, dachte er sarkastisch. Bevor es ihm überhaupt bewusst geworden war, hatte er schon jede einzelne Lampe in der ganzen Blockhütte angeknipst. Jetzt war wahrlich alles ausreichend beleuchtet. Asakawa öffnete
vorsichtig die Tür des Badezimmers. Während er es untersuchte, ließ er die Tür einen Spalt weit offen stehen. Das alles erinnerte ihn an die Rituale, mit denen er als Kind die Angst zu verbannen ge‐ sucht hatte. Damals hatte er in den Sommernächten zu viel Angst gehabt, um allein ins Bad zu gehen, und er ließ die Tür auf und bat seinen Vater, vor der Toilette Wache zu stehen. Eine ordentliche Duschzelle hinter einer Milchglasscheibe. Keine Spur von Dampf, und vor und in der Badewanne war alles pulvertrocken. Es musste schon eine Weile her sein, dass hier jemand gewohnt hatte. Asa‐ kawa zog die Gummihandschuhe aus, die an seinen verschwitzten Händen klebten. Im Wohnzimmer kam die kühle Bergluft durch die offene Schiebetür und bauschte die Vorhänge. Er holte Eiswürfel aus dem Kühlschrank, gab sie in ein Glas und füllte dieses dann zur Hälfte mit dem Whisky, den er in Atami gekauft hatte. Eigentlich wollte er ihn mit Leitungswasser verdün‐ nen. Doch dann zögerte er. Während er den Wasserhahn zudrehte, überzeugte er sich davon, dass ein Whisky on the rocks jetzt ange‐ brachter war. Er hatte nicht den Mut, irgendetwas aus diesem Raum in seinen Mund gelangen zu lassen. Immerhin war es schon sorglos genug gewesen, die Eiswürfel in das Glas zu kippen, aber er glaubte zu wissen, dass Mikroorganismen extreme Hitze oder Kälte nicht mochten. Er ließ sich auf das Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein. Irgendein aktuelles Pop‐Idol sang. Asakawa begann zu zappen. Eigentlich hatte er gar nicht vor fernzusehen, und deshalb stellte er den Ton leise und öffnete seine Tasche, aus der er eine Video‐ kamera holte, die er dann auf den Tisch stellte. Sollte irgendetwas Seltsames passieren, wollte er es auf Band haben. Asakawa nahm einen Schluck Whisky, nur einen kleinen, aber schon der machte ihm Mut. In Gedanken ließ er noch einmal alles Revue passieren, was er bisher herausgefunden hatte. Wenn er hier heute Nacht
keinen Anhaltspunkt fand, konnte er seinen geplanten Artikel vergessen. Andererseits wäre das vielleicht auch besser, denn wenn die Erfolglosigkeit seiner Suche bedeutete, dass er sich nicht mit dem Virus infizierte... Schließlich hatte er Frau und Kind. Er wollte nicht sterben, nicht auf irgendeine seltsame Art und Weise. Asakawa legte die Füße auf den Tisch. Also, worauf wartest du?, fragte er sich. Bist du nicht besorgt? He, solltest du nicht Angst haben? Vielleicht hat es der Todesengel auf dich abgesehen. Sein Blick irrte nervös durch den Raum, und es war Asakawa nicht möglich, dauerhaft einen Punkt an der Wand zu fixieren. Er hatte das Gefühl, dass die Vorstellungen seiner Fantasie sich phy‐ sisch manifestieren würden, wenn er zu lange einen bestimmten Punkt anstarrte. Von draußen kam ein kälterer Wind in den Raum als noch vor‐ hin. Als Asakawa die Schiebetür schließen und die Vorhänge zu‐ ziehen wollte, warf er einen flüchtigen Blick in die Finsternis. Di‐ rekt vor sich sah er das Dach von Hütte B‐5, und in ihrem Schatten war die Dunkelheit noch undurchdringlicher. Auf den Tennisplät‐ zen und im Restaurant waren viele andere Menschen gewesen, doch hier war Asakawa allein. Er zog die Vorhänge zu und blickte auf die Uhr — 20 Uhr 56. Noch war er keine halbe Stunde in der Hütte, doch es kam ihm so vor, als wäre er schon eine Stunde oder noch länger hier. Seine bloße Anwesenheit war nicht gefährlich, oder? Wie viele Menschen hatten hier schon in dem halben Jahr gewohnt, seit die Ferienhäuser errichtet worden waren? Schließ‐ lich waren sie nicht alle unter rätselhaften Umständen gestorben. Nach seinen Recherchen waren es nur diese vier gewesen. Viel‐ leicht würde er auf weitere Opfer stoßen, wenn er intensiver nach‐ forschte, aber für den Augenblick schien es keine weiteren Todes‐ opfer gegeben zu haben. Folglich war seine Anwesenheit kein
Problem. Das Problem war, was die vier Jugendlichen hier getan hatten. Also, was haben sie gemacht? Asakawa modifizierte seine Frage etwas. Was könnten sie gemacht haben? Bisher hatte er nichts gefunden, was ein Anhaltspunkt sein konn‐ te — weder im Badezimmer, noch im Schrank, noch im Kühl‐ schrank. Selbst wenn er davon ausging, dass es etwas gegeben hatte — der Verwalter hätte es bei der Endreinigung weggewor‐ fen. Und das hieß, dass er besser mit dem Verwalter sprechen soll‐ te, statt hier weiter Whisky zu trinken. So würde er Zeit sparen. Nachdem Asakawa das erste Glas geleert hatte, goss er sich beim zweiten eine kleinere Portion ein. Er konnte es sich nicht leisten, sich zu betrinken. Deshalb streckte er den Drink mit viel Eis und diesmal auch mit Leitungswasser. Sein Gefahrenbewusstsein musste schon ein bisschen nachgelassen haben. Plötzlich kam er sich töricht vor. Er war vorzeitig aus seinem Büro verschwunden und hatte den ganzen langen Weg hierher zurückgelegt... Er nahm seine Brille ab und wusch sich das Gesicht. Dann blickte er in den Spiegel und sah das Gesicht eines Kranken. Vielleicht hatte er sich ja schon mit dem Virus infiziert. Nachdem er den Whisky hinun‐ tergekippt hatte, schenkte er sich ein weiteres Glas ein. Als Asakawa aus der Küche mit der Essecke zurückkam, be‐ merkte er ein auf dem Regal neben dem Telefon liegendes, dickes Notizbuch, eine Art Gästebuch, auf dessen Deckel Erinnerungen stand. Er blätterte ein bisschen darin herum. Samstag, 7. April Nie werde ich diesen Tag vergessen. Warum? Das ist ein G‐e‐h‐e‐i‐m‐n‐i‐s. Yuichi ist wundervoll. Ha, ha! NONKO
In vielen Gasthäusern, Bed and Breakfast ‐ Unterkünften etc. lagen diese dicken Kladden aus, in denen die Gäste ihre Erinnerungen und Eindrücke niederschreiben konnten. Auf der nächsten Seite fand Asakawa die plumpe Zeichnung eines Elternpaars. Musste ein Familientrip gewesen sein, natürlich auch am Wochenende. Der Eintrag lautete auf Samstag, den 14. April: Papa ist dick, Mama ist dick, also bin ichʹs auch. Asakawa blätterte weiter. Irgendetwas drängte ihn, gleich die Sei‐ ten am Ende des Buchs aufzuschlagen, aber er ließ keine Seite aus. Wenn er sich nicht an die chronologische Abfolge hielt, würde ihm möglicherweise etwas Wichtiges entgehen. Da es wahrscheinlich viele Gäste gab, die keinerlei Eintrag hin‐ terließen, konnte Asakawa es nicht mit Sicherheit sagen, doch er hatte den Eindruck, dass vor dem Beginn des Sommers nur Wo‐ chenendgäste hierhergekommen waren. Danach wurde die Zeit zwischen den Einträgen immer kürzer. Ab Ende August gab es eine kontinuierliche Reihe von Notizen. Sonntag, 19. August Schon wieder ist ein Sommerurlaub vorbei, und diesmal war er nervig. Ich bin ein armes Schwein. Will mir nicht jemand helfen und mich retten? Ich habe ein Motorrad mit hundert Kubikzenti‐ metern und sehe ziemlich gut aus. Eine gute Partie! A.Y. Es schien so, als hätte dieser Typ das Buch für eine Art Kontaktan‐ zeige genutzt. Vielleicht suchte er auch nur eine Brieffreundin. Irgendwie empfanden viele Gäste hier offenbar dasselbe. Waren es Paare, ging das eindeutig aus ihren Einträgen hervor, waren es
Singles, so schrieben sie darüber, wie sehr sie sich nach Gesell‐ schaft sehnten. Wie auch immer, für Asakawa eine interessante Lektüre. Mitt‐ lerweile war es neun Uhr. Wieder blätterte er eine Seite um. Donnerstag, 30. August Seien Sie gewarnt: Wenn Sie keine guten Nerven haben, sollten Sie sich dies besser nicht ansehen. Sie werden es bereuen. (Teuflisches Gelächter) SA. Mehr stand da nicht. 30. August — das war der Tag, nachdem die vier Jugendlichen hier übernachtet hatten. Wahrscheinlich standen die Initialen »S.I.« für »Shuichi Iwata«. Dieser Eintrag war völlig anders. Was hatte er zu bedeuten? Sollten Sie sich dies besser nicht ansehen... Was in aller Welt war mit dem Wörtchen dies gemeint? Asakawa klappte das Buch zu und betrachtete es von der Seite. An einer Stelle des Buchblocks lagen die Seiten nicht ganz dicht auf‐ einander, und Asakawa schlug es genau an der Stelle auf. Wieder stachen ihm die ominösen Worte ins Auge: Seien Sie gewarnt: Wenn Sie keine guten Nerven haben, sollten Sie sich dies besser nicht ansehen. Sie werden es bereuen. (Teuflisches Gelächter) S.I. Warum ließ sich das Buch ausgerechnet an dieser Stelle so bereitwillig aufschlagen? Nach kurzem Nachdenken kam Asakawa zu der Schlussfolge‐ rung, dass die vier jungen Leute das Buch vielleicht aufgeklappt und die Seiten mit einem relativ schweren Gegenstand beschwert hatten, und deshalb ließ es sich noch immer an dieser Stelle auf‐ schlagen. Vielleicht war das, womit sie die Seiten beschwert hat‐ ten, jenes ominöse dies, das man sich besser nicht ansehen sollte. Ja, das musste es sein. Ängstlich blickte Asakawa sich um. Dann nahm er jeden Zenti‐
meter des Regals neben dem Telefon in Augenschein. Er sah nichts, nicht einmal einen Stift. Nachdem er wieder auf dem Sofa Platz genommen hatte, fuhr er mit seiner Lektüre fort. Der nächste Eintrag stammte vom 1. Sep‐ tember, einem Samstag, doch darin stand wieder nur das Übliche. Ob die Gruppe von Schülern, die zu diesem Zeitpunkt hier abge‐ stiegen war, sich dies angesehen hatte, ließ sich daraus jedenfalls nicht entnehmen, und auch die restlichen Seiten gaben keinerlei Aufschluss. Asakawa klappte das Buch zu und zündete sich eine Zigarette an. Wenn Sie keine guten Nerven haben, sollten Sie sich dies besser nicht ansehen... Mit dies musste irgendetwas Beängstigendes gemeint sein. Er öffnete das Buch aufs Geratewohl und drückte leicht auf die Seiten — es musste ein relativ schwerer Gegenstand gewesen sein, der verhindert hatte, dass es selbstständig wieder zuklappte. Ein oder zwei Fotos von irgendwelchen Geistern beispielsweise hätten dazu nicht ausgereicht. Vielleicht eine Wochenzeitung oder ein gebundenes Buch... Wie auch immer, irgendetwas, das man sich ansehen konnte. Vielleicht sollte er den Verwalter fragen, ob er nach der Abfahrt der Gäste am 30. August etwas Merkwürdiges gefunden hatte. Aber ob der Verwalter sich überhaupt erinnern würde? Doch wenn sein Fund seltsam genug gewesen war... Als Asakawa gerade aufstehen wollte, fiel sein Blick auf den Videore‐ korder. Der Fernseher lief noch immer. In einem Werbespot für Haushaltsgeräte jagte gerade eine berühmte Schauspielerin ihren Mann mit dem Staubsauger. Ja, eine VHS‐ Videokassette kann vielleicht verhindern, dass das Buch wieder zuklappt, und vielleicht hatten die vier eine. Als Asakawa seine Zigarette ausdrückte, erinnerte er sich an die Videos im Büro des Verwalters. Vielleicht hatten die vier Verstor‐ benen einen besonders interessanten Horrorfilm gesehen und ihn
den nächsten Gästen empfehlen wollen, etwa nach dem Motto: Hey, der hier ist cool, unbedingt anschauen. Wenn das alles war... A‐ ber halt. Warum hatte Shuichi Iwata dann nicht einfach den Na‐ men des Streifens genannt, wenn es wirklich nur darum ging? Wenn er beispielsweise jemandem mitteilen wollte, Freitag der 13. sei ein großartiger Film, hätte er dann nicht den Titel erwähnt? Vielleicht war mit dies etwas gemeint, das keinen Namen hatte und folglich nicht präzise bezeichnet werden konnte. Lohnte es sich, das zu überprüfen? Sicher war, dass Asakawa keinerlei Zeit zu verlieren hatte, und da er bisher keine anderen Anhaltspunkte gefunden hatte und ihn das bloße Herumsitzen und Nachdenken auch nicht weiterbrach‐ te... Er verließ die Blockhütte, ging die steinerne Treppe hinab und stieß kurz darauf die Tür des Büros auf. Wie bei seinem ersten Besuch war auch diesmal nichts von dem Verwalter zu sehen, und wieder hörte Asakawa aus dem Hinter‐ zimmer den Fernseher plärren. Wahrscheinlich hatte sich der Typ entschlossen, seine Arbeit in der Stadt aufzugeben und den Rest seiner Tage im Schoß von Mutter Natur zu verbringen. Also hatte er den Job als Verwalter in diesem Feriendorf angenommen,. aber die Arbeit stellte sich als todlangweilig heraus, und jetzt glotzte er tagein tagaus Videos... So etwa stellte Asakawa sich die Lage des Verwalters vor, der diesmal schon seinen Kopf durch die Tür des Hinterzimmers steckte, bevor sein Gast sich melden musste. »Vielleicht sollte ich doch ein Video ausleihen«, sagte Asakawa. Ein bisschen klang sein Tonfall so, als müsste er sich entschuldi‐ gen. »Nur zu, suchen Sie sich einen Film aus«, verkündete der Ver‐ walter mit einem zufriedenen Grinsen. »Die Leihgebühr beträgt dreihundert Yen.« Asakawa ließ den Blick flüchtig über die Titel gleiten, um einen
beängstigenden Horrorfilm zu finden. Tanz der Totenköpfe, Der Ex‐ orzist, Das Omen. Während seiner Studentenjahre hatte er diese Filme alle gesehen. Das warʹs? Es mussten doch ein paar Streifen dabei sein, die er noch nicht kannte. Sein Blick schweifte von ei‐ nem Ende des Regals zum anderen, fand aber auf Anhieb nichts. Also begann er, die Titel der zweihundert Videos systematisch zu studieren. Und dann sah er, im untersten Fach des Regals, ganz in einer Ecke, eine Videokassette ohne Schutzhülle, die zudem noch auf die Seite gekippt war. Alle anderen Kassetten steckten in Schutzhüllen mit Bildern und den imposanten Logos der Filmfir‐ men, doch auf dieser klebte nicht einmal ein Etikett. »Was ist das da?« Ohne Beschriftung konnte Asakawa seine Fra‐ ge nicht präziser stellen. So blieb ihm nur, mit dem Finger auf die Kassette zu zeigen. »Häh?«, fragte der Verwalter stirnrunzelnd. Er blickte ziemlich einfältig aus der Wäsche, als er nach der Kassette griff. »Das? Das ist gar nichts.« Ich frage mich, ob er weiß, was auf dem Band ist, dachte Asakawa. »Kennen Sie den Film?« »Mal sehen.« Irgendwie schien der Mann nicht zu kapieren, was diese Kassette hier verloren hatte. »Wennʹs Ihnen nichts ausmacht, würde ich dieses Band gern aus‐ leihen.« Nach kurzem Zögern schlug sich der Verwalter auf den Ober‐ schenkel. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Sie lag in einer der Hütten herum. Ich dachte, es wäre eine Kassette von uns, und deshalb habe ich sie mitgenommen. Aber...« »Sie haben sie nicht zufällig in Nr. B‐4 gefunden?«, erkundigte sich Asakawa bedächtig. Jetzt hatte er die entscheidende Frage gestellt. Lachend schüttelte der Verwalter den Kopf »Ich habʹ keinen blas‐
sen Schimmer. Ist schon etwas länger her.« »Haben Sie... diesen Film gesehen?«, hakte Asakawa nach. Wieder ein Kopfschütteln, aber das Lächeln war jetzt ver‐ schwunden. »Nein.« »Also, ich nehm das Video.« »Wollen Sie ein Fernsehprogramm aufnehmen?« »Nun ja, ich...« Der Verwalter starrte auf die Kassette. »Hier, sehen Sie. Die Si‐ cherheitszungen an der Rückseite sind rausgebrochen worden. Die Kassette kann nicht mehr überspielt werden.« Vielleicht lag es am Alkohol, aber allmählich hatte Asakawa die Nase voll. Ich sag doch, dass ich das Video ausleihen will, also gibʹs mir schon, dachte er genervt. Aber wie betrunken er auch sein mochte, er war einfach nicht der Typ, der andere zur Schnecke machte. »Bitte. Ich bringe die Kassette auch gleich wieder zurück.« Asakawa verbeugte sich höflich, aber offensichtlich konnte der Verwalter nicht verstehen, warum sein Gast ein solches Interesse an dieser Kassette hatte. Vielleicht war ja etwas Interessantes dar‐ auf, dass irgendjemand zu löschen vergessen hatte... Jetzt bereute er es, sich die Kassette damals nicht angesehen zu haben, und am liebsten hätte er das auf der Stelle nachgeholt. Andererseits konnte er seinem Gast schlecht einen Wunsch abschlagen, und deshalb reichte er Asakawa die Kassette. Der griff sofort nach seiner Brief‐ tasche, doch der Verwalter gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt. »Schon in Ordnung, die gibtʹs umsonst. Dafür kann ich Ihnen schlecht Geld abknöpfen, oder?« »Besten Dank, ich bringe sie schnell wieder zurück.« »Aber beeilen Sie sich, falls der Film interessant sein sollte!« Die Neugier des Verwalters war geweckt. Die anderen Videos hatte er alle mindestens einmal gesehen, und deshalb war sein Interesse
daran in den meisten Fällen erlahmt. Wieso hab ich mir die Kassette bloß nicht angesehen? Damit hätte ich zwei Stunden totschlagen können. Ach, egal, wahrscheinlich ist sowieso nur eine bescheuerte Fernseh‐ sendung auf dem Band. Der Verwalter war sicher, dass das Video sehr schnell wieder bei ihm landen würde.
2 Das Band war zurückgespult. Es war eine handelsübliche Kassette mit 120 Minuten Spielzeit, wie man sie an jeder Ecke kaufen konn‐ te. Wie der Verwalter gesagt hatte, waren die Sicherheitszungen an der Rückseite herausgebrochen worden, sodass das Band nicht ohne weiteres überspielt werden konnte. Asakawa schaltete den Videorekorder an, legte die Kassette ein, hockte sich im Schneider‐ sitz vor den Bildschirm und drückte auf »Play«. Das Band begann zu laufen. Er setzte große Hoffnungen darauf, dass auf diesem Video der Schlüssel verborgen war, mit dem er das Rätsel der vier Todesfälle lösen konnte. Beim Einschalten hatte er sich vorge‐ nommen, sich mit einem Anhaltspunkt zufrieden zu geben — mit irgendeinem Anhaltspunkt. Das hier kann ja nicht gefährlich sein, dachte er. Welchen Schaden sollte man schon nehmen, wenn man sich ein Video ansah? Wirre Geräuschfetzen ertönten, und verzerrte Bilder flackerten über den Bildschirm, doch als Asakawa den richtigen Kanal ge‐ funden hatte, stabilisierte sich das Bild. Dann wurde die Matt‐ scheibe pechschwarz. Offensichtlich begann hier der Film. Ein Ton war nicht zu hören. Asakawa fragte sich schon, ob die Kassette defekt sei, und bewegte sein Gesicht dicht vor den Fernseher. Wieder schossen ihm Iwatas Worte durch den Kopf. Seien Sie ge‐ warnt: Wenn Sie keine guten Nerven haben, sollten Sie sich dies besser nicht ansehen. Sie werden es bereuen. Warum sollte er es bereuen? So etwas war für Asakawa nichts Neues, er hatte in der Lokalredakti‐ on gearbeitet. Was für entsetzliche Bilder er gleich auch sehen mochte — Asakawa war sicher, dass er es nicht bereuen würde, das Video gesehen zu haben. Mitten auf dem schwarzen Bildschirm glaubte Asakawa nun einen
winzigen Lichtpunkt flackern zu sehen. Dann wurde der Punkt nach und nach größer und sprang von einer Seite zur anderen, um schließlich in der linken Ecke zu verharren. Der Lichtpunkt löste sich in verästelte Linien auf, zu einem zerfetzten Knäuel, dessen Fäden wie Würmer über den Bildschirm krochen und sich schließ‐ lich zu Worten formierten, die allerdings nichts mit den gewöhnli‐ chen Credits von Filmen zu tun hatten. Die krakeligen Schriftzüge wirkten, als wären sie mit einem weißen Pinsel auf pechschwarzes Papier aufgetragen worden. Dennoch schaffte es Asakawa ir‐ gendwie, die Worte zu entziffern: SEHEN SIE DIESES VIDEO BIS ZUM SCHLUSS. Ein Befehl, der sofort verschwand und den näch‐ sten Worten Platz machte. WERDEN SIE GEFRESSEN VON... Die letzten Worte konnte Asakawa nicht identifizieren, aber gefressen zu werden war kein besonders angenehmer Gedanke. Es schien, als hätte hinter dem ersten Satz noch ein »oder sonst« stehen müs‐ sen. Schalten Sie dieses Video nicht mitten drin aus, oder sonst wird etwas passieren — es war eine Drohung. WERDEN SIE GEFRESSEN VON... Die milchweißen Wörter be‐ gannen zu wuchern und das Schwarz vom Bildschirm zu ver‐ drängen. Es war ein äußerst abrupter Wechsel zu einem unregel‐ mäßigen Weiß, einer unnatürlichen Farbe, und es schien, als wür‐ den auf einer Leinwand blitzschnell mehrere Schichten davon ü‐ bereinander aufgetragen wie Gedanken. Das Unbewusste quälte und wand sich, fand einen Ausweg und brach hervor — vielleicht war es auch das Pulsieren des Lebens selbst. Gedanken hatten E‐ nergie und nährten sich an der Finsternis. Seltsamerweise verspür‐ te Asakawa keinerlei Verlangen, die Stopp‐Taste zu drücken. Er hatte keine Angst vor etwas, das ihn auffressen würde, und dieses intensive Ausströmen von Energie vermittelte ihm ein angeneh‐ mes Gefühl... Auf dem monochromen Bildschirm platzte etwas Rotes, und zur
gleichen Zeit hörte Asakawa den Boden unter sich grollen. Das Geräusch schien aus irgendeiner undefinierbaren Richtung zu kommen. Oder aus allen Richtungen gleichzeitig, sodass er schon glaubte, die ganze Blockhütte würde erbeben. Irgendwie hatte er nicht den Eindruck, als käme das Geräusch aus den winzigen Lautsprechern des Fernsehers. Das Rot explodierte und verlief wie eine zähflüssige Masse, die manchmal den ganzen Bildschirm ein‐ nahm. Schwarz, weiß, jetzt rot. Bisher war das Ganze nur eine ra‐ sche Abfolge von Farben, irgendein realistisches Bild hatte er noch nicht gesehen. Nur abstrakte Gedanken, die durch diese wech‐ selnden Farben intensiv in sein Gehirn eingebrannt wurden. Tat‐ sächlich war das Ganze ermüdend. Und dann, als hätte jemand in den Gedanken des Zuschauers gelesen, verschwand die rote Farbe vom Bildschirm, auf dem jetzt eine bergige Landschaft erschien. Schon auf den ersten Blick erkannte Asakawa einen Vulkan, der vor dem Hintergrund eines blauen Himmels weißen Rauch aus‐ spie. Die Kamera schien irgendwo am Fuß des Berges zu stehen, wo der Boden mit schwarz‐bräunlichen, scharfkantigen Lavabrok‐ ken übersät war. Wieder wurde die Mattscheibe in Finsternis getaucht. Der blaue Himmel verschwand abrupt, und dann, ein paar Sekunden später, schien aus der Mitte des Bildschirms eine scharlachrote, nach un‐ ten fließende Flüssigkeit zu spritzen. Eine zweite Explosion... Die aufgeworfene Masse brannte rötlich, und bald konnte Asakawa schwach die Silhouette des Berges erkennen. Aus zuvor abstrakten Bildern wurden jetzt konkrete. Dies war ganz offensichtlich ein Vulkanausbruch, ein Naturphänomen, eine Szene, für die man eine rationale Erklärung hatte. Die aus dem Schlund des Vulkans ausgespiene Lava schlängelte sich durch kleine Schluchten ins Tal. Wo stand die Kamera? Wenn die Bilder nicht aus der Luft aufge‐ nommen worden waren, sah es ganz so aus, als würde die Kamera
gleich von dem Lavastrom erfasst. Das Grollen der Erde wurde so lange lauter, bis der ganze Bildschirm von I.ava ausgefüllt zu sein schien, doch dann wechselte die Szenerie auf einen Schlag. Es gab keinerlei Kontinuität zwischen den Szenen, nur unvermittelte Wechsel. Jetzt tauchten vor einem weißen Hintergrund fette schwarze Buchstaben mit verschwimmenden Rändern auf, aber irgendwie gelang es Asakawa schließlich, das japanische Schriftzeichen für das Wort »Berg« zu erkennen. Umgeben war es von schwarzen Spritzern, als wäre es nachlässig mit einem tropfenden Pinsel auf‐ getragen worden. Das Schriftzeichen stand da, und es gab nicht das geringste Flimmern. Dann ein weiterer plötzlicher Szenenwechsel. Zwei rollende Würfel auf dem gewölbten Boden einer Bleischüssel. Der Bildhin‐ tergrund war weiß, die Schüssel schwarz, einer der Würfel rot. Exakt die drei Farben, die ihm bei diesem Video schon so oft be‐ gegnet waren. Die Würfel rollten geräuschlos und blieben schließ‐ lich liegen: eine Eins und eine Fünf. Ein roter und fünf schwarze Punkte auf den weißen Würfeln... Was hatte das zu bedeuten? In der nächsten Szene erschien zum ersten Mal ein Mensch. Eine alte Frau mit faltigem Gesicht saß auf zwei auf dem Boden liegen‐ den Tatamis. Ihrer Hände ruhten auf den Knien, ihre linke Schul‐ ter war etwas vorgereckt. Sie sprach vor sich hin und starrte starr geradeaus. Ihre Augen waren unterschiedlich groß — wenn sie blinzelte, sah es aus, als zwinkerte sie. Sie sprach einen für Asakawa fremdartigen Dialekt, und deshalb konnte er nur ungefähr jedes vierte Wort verstehen: ... deine Gesundheit... immer nur... heimgesucht. Verstanden?... Nimm...in Acht... wirst du ein Kind... Hör jetzt auf eine alte Frau, du... brauchst du dir keine...
Nachdem die alte Frau mit ungerührtem Gesichtsausdruck ihre Litanei heruntergebetet hatte, verschwand sie vom Bildschirm. Etliche Worte hatte Asakawa nicht verstanden, aber er hatte den Eindruck, dass sie ihm zur Vorsicht geraten und ihn vor etwas gewarnt hatte. Zu wem sprach diese alte Frau — und worüber? Jetzt erschien des Bild eines Neugeborenen auf der Mattscheibe. Von irgendwoher hörte Asakawa den ersten Schrei des Babys, und wieder war er sicher, dass er nicht aus den Lautsprechern kam. Er kam ganz aus der Nähe, von unterhalb seines Gesichts. Die Stim‐ me klang sehr real. Auf dem Bildschirm sah er jetzt Hände das Neugeborene halten. Die linke Hand lag unter dem Kopf des Ba‐ bys, die rechte auf seinem Rücken. Es waren wunderschöne Hän‐ de. Völlig von dem Bild gefangen genommen, bemerkte Asakawa plötzlich, dass seine Hände exakt dieselbe Position eingenommen hatten. Das Geschrei des Babys ertönte irgendwo unter seinem Kinn. Konsterniert zog Asakawa die Hände zurück. Er hatte etwas gefühlt, etwas Warmes und Nasses, das an Fruchtwasser oder Blut erinnerte. Außerdem hatte er das Gewicht von Fleisch auf sich lasten gefühlt. Er riss seine Hände auseinander, als wollte er je‐ mand zur Seite stoßen, und hielt sie dann dicht vors Gesicht. Ein Geruch haftete an ihnen, der schwache Geruch von Blut. Stammte es aus der Gebärmutter, oder... Seine Hände fühlten sich nass an, doch tatsächlich waren sie nicht einmal feucht. Erneut blickte er auf die Mattscheibe, wo das Baby jetzt nicht mehr schrie, sondern einen friedvollen Gesichtsausdruck angenommen hatte. Das Zit‐ tern seines Körpers hatte sich auf den Unterleib ausgedehnt, und selbst der kleine Penis zitterte. Szenenwechsel. Asakawa sah hundert praktisch nicht zu unter‐ scheidende menschliche Gesichter, von denen jedes Hass und Feindseligkeit ausdrückte. Die Gesichter wirkten, als wären sie auf
eine ebene Fläche aufgemalt. Jetzt wichen sie nach und nach in die Tiefe des Raums zurück, und je kleiner die Köpfe wurden, desto mehr Gesichter waren insgesamt zu sehen. Eine Unmenge Gesich‐ ter ohne Körper. Ihr Gebrüll machte einer Menschenmenge alle Ehre, und es hielt an, während die einzelnen Gesichter kleiner wurden und sich ihre Anzahl vervielfachte. Asakawa hatte den Eindruck, von einer großen Menschenmenge kritisiert und belei‐ digt zu werden. Fröhlich willkommen geheißen wurde er von die‐ ser Masse mit Sicherheit nicht. Endlich verstand er ein Wort: »Lügner!« Dann ein anderes: »Betrüger!« Mittlerweile waren es ungefähr tausend Gesichter. Sie glichen nur mehr schwarzen Par‐ tikeln, die nach und nach den ganzen Bildschirm füllten, bis dieser schließlich so aussah, als hätte man den Fernseher ausgeschaltet. Die Stimmen waren damit allerdings immer noch nicht ver‐ schwunden, und Asakawa konnte es nicht mehr ertragen. Diese aggressive Kritik, direkt an seine Adresse gerichtet... Zumindest war das sein Eindruck. Nach dem nächsten Szenenwechsel sah er einen Fernseher auf einem Holztischchen. Es war ein altmodisches Modell mit einem kleinen Bildschirm, einem runden Drehknopf zur Sendereinstel‐ lung und einer Zimmerantenne. Kein Theater auf dem Theater, sondern ein Fernseher in einem Fernseher. Bisher war auf dem TV‐Gerät auf der Mattscheibe noch nichts zu sehen, aber da neben dem Drehknopf ein rotes Lämpchen glühte, schien es eingeschaltet zu sein. Dann begann der Bildschirm auf dem Bildschirm zu flak‐ kern, schien sich zu stabilisieren und flackerte dann erneut — diesmal mit zunehmender Geschwindigkeit. Schließlich erschien ein verschwommenes Wort: »sada.« Das Wort wackelte und ver‐ zerrte sich, bis es kurz an das englische »sad« erinnerte. Dann schien es mit einem nassen Lappen weggewischt zu werden, wie Kreide auf einer Tafel.
Während er zusah, bekam Asakawa nur noch mühsam Luft. Er hörte sein Herz schlagen und spürte das Blut in seinen Adern pul‐ sieren. Ein Geruch, eine Berührung, ein bittersüßer Geschmack auf der Zunge. Es war seltsam — irgendetwas stimulierte seine Sinne, irgendein weiteres Medium neben den Geräuschen und Bildern, die ihm plötzlich so erschienen, als erinnerte er sich an sie. Schlagartig tauchte das Gesicht eines Mannes auf dem Bild‐ schirm auf. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Bildern wirkte dieser Mann definitiv lebendig, er strömte sogar eine energische Vitalität aus. Asakawa begann, Hass auf ihn zu empfinden, ob‐ wohl er nicht die geringste Ahnung hatte, warum er diesen Men‐ schen hassen sollte. Besonders abstoßend war er nicht. Seine Stirn wich ein bisschen zurück, aber ansonsten sah er eigentlich eher gut aus. Aber in seinem Blick lag etwas Gefährliches. Es waren die Augen eines Raubtiers, das sich seiner Beute näherte. Sein Atem ging abgehackt, sein Blick war nach oben gerichtet, und sein Kör‐ per bewegte sich rhythmisch. Hinter dem Mann standen vereinzelt Bäume, durch deren Zweige das Licht der nachmittäglichen Sonne fiel. Jetzt senkte der Mann den Blick und schien dem Betrachter direkt in die Augen zu schauen. Eine Zeit lang starrten sich Asa‐ kawa und der Mann an. Das Gefühl der Atemnot wurde intensi‐ ver, und plötzlich wollte Asakawa am liebsten den Blick abwen‐ den. Der Mann sabberte, seine Augen waren blutunterlaufen. Die Kamera zoomte auf seine Halsmuskeln, dann verschwand das Bild links von der Mattscheibe, auf der jetzt eine Weile nur noch die schwarzen Schatten der Bäume zu erkennen war. Aus irgendeiner bodenlosen Tiefe begann ein Schrei aufzusteigen. Zur gleichen Zeit tauchten die nackten Schultern des Mannes wieder auf, dann sein Hals, schließlich wiederum sein Gesicht. Auf seiner rechten Schulter klaffte ein tiefer, mehrere Zentimeter langer, blutiger Riss. Die Kamera schien Bluttropfen anzusaugen, die größer und größer
wurden, bis sie schließlich das Objektiv trafen und die Sicht ver‐ schwimmen ließen. Zweimal wurde der Bildschirm schwarz, fast so, als würde er blinzeln, und als die Mattscheibe dann wieder hell wurde, war alles rot. Jetzt hatte der Mann einen mörderischen Blick. Das Gesicht kam näher, ebenso die Schulter, wo man durch die klaffende Wunde ein Stück des Knochens sehen konnte. Asa‐ kawa fühlte einen starken Druck auf seiner Brust lasten. Wieder sah er Bäume, der Himmel rotierte. Sonnenuntergang, das Ra‐ scheln verdorrter Gräser... Erde, Gräser, dann wieder der Himmel. Irgendwo hörte er ein Baby schreien, ohne sich sicher zu sein, ob es der kleine Junge von eben war... Schließlich wurden die Ränder des Bildschirms schwarz. Nach und nach schob sich die Finsternis in die Mitte, um nur noch Raum für einen hellen Kreis zu lassen. Jetzt waren Finsternis und Licht klar voneinander getrennt. Ein kleiner, runder Mond inmitten von Finsternis, und in dem Mond war das Gesicht eines Mannes zu erkennen. Ein faustgroßer Klumpen unbestimmter Substanz löste sich von dem Mond und prallte irgendwo mit einem dumpfen Geräusch auf. Noch einer, dann noch einer. Bei jedem dumpfen Krachen begann das Bild zu wackeln. Das Geräusch von Fleisch, das zerschmettert wurde, schließlich absolute Finsternis. Doch selbst dann blieb noch ein Puls, zirkulierendes Blut. Die Szene schien kein Ende zu nehmen, die Finsternis ewig anzudauern. Dann erschienen wieder Worte, ganz wie zu Beginn des Videos. In der ersten Szene waren die Schriftzüge fast unleserlich gewesen, wie die eines Kindes, das schreiben lernte. Jetzt waren es besser lesbare weiße Buchstaben, die in den Bildvordergrund rückten und dann wieder zu ver‐ schwinden begannen: Wer diese Bilder sieht, ist dazu verdammt, exakt eine Woche nach diesem Augenblick zu sterben. Wenn du nicht sterben willst, musst du den An‐
weisungen genau folgen... Asakawa schluckte und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Fernseher, wo sich gerade ein weiterer Szenenwechsel vollzog — ein radikaler Wechsel. Auf dem Bildschirm erschien ein Werbe‐ spot, ein ganz gewöhnlicher, alltäglicher Werbespot. Eine romanti‐ sche Szenerie an einem Sommerabend, eine Frau in einem leichten Baumwollbademantel auf einer Veranda, ein Feuerwerk am Nachthimmel — ein Spot für ein Mittel gegen Moskitos. Nach un‐ gefähr dreißig Sekunden war der Film zu Ende, und Asakawa wartete auf den nächsten, doch plötzlich befand er sich wieder in dem Video: Finsternis, die letzten Spuren sich auflösender Worte. Mit ein paar Störgeräuschen endete das Band. Asakawa traten die Augen aus den Höhlen. Er spulte das Band ein Stück zurück und spielte die Szenenfolge noch einmal ab: Die Unterbrechung durch den Werbespot kam im wichtigsten Mo‐ ment. Auch nachdem er die Stopptaste gedrückt und den Fernse‐ her ausgeschaltet hatte, starte Asakawa weiterhin auf die Matt‐ scheibe. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet. »Was zum Teufel...?« Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Eine unverständliche Szene nach der anderen. Begriffen hatte er nur, dass jeder Betrachter dieses Videos in genau einer Woche sterben würde. Und ausgerechnet die Stelle, wo erklärt wurde, wie man dieses Schicksal vermeiden konnte, war mit dem Werbespot überspielt worden. Wer hat die entscheidende Szene überspielt? Die vier Toten? Asakawas Unterkiefer zitterte. Hätte er nicht gewusst, dass die vier jungen Leute gleichzeitig gestorben waren, hätte er nur ge‐ lacht und das Ganze als absoluten Schwachsinn abgetan. Aber er wusste es. Sie waren eines rätselhaften Todes gestorben — wie vorhergesagt.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Fast wäre Asakawa das Herz aus der Brust gesprungen. Er nahm den Hörer ab und hatte dabei den Eindruck, als würde ihn irgendein Etwas aus der Finsternis beobachten. »Hallo?«, stieß er schließlich krächzend hervor, aber auf eine Antwort wartete er vergebens. Irgendetwas wirbelte in einem dunklen, engen Raum herum. Da war ein dumpfes Grollen, als würde die Erde beben, und in der Luft hing der Geruch feuchter Erde. Eines seiner Ohren fühlte sich eiskalt an, und Asakawa stan‐ den die Nackenhaare zu Berge. Der Druck auf seine Brust nahm zu, und aus dem Inneren der Erde schienen Käfer über seine Knö‐ chel und seine Wirbelsäule hinaufzukrabbeln. Durch den Hörer wären ihm fast unaussprechliche Gedanken und lange angestauter Hass entgegengeschlagen, aber Asakawa knallte ihn schnell auf die Gabel. Eine Hand vor dem Mund, rannte er zur Toilette. Ein eisiges Frösteln lief seinen Rücken hinauf und hinab, Wellen von Übelkeit überkamen ihn. Dieses Etwas am anderen Ende der Lei‐ tung hatte nichts gesagt, doch Asakawa wusste, was beabsichtigt war: eine Bestätigung. »Sie haben es gesehen. Sie wissen, was das bedeutet. Tun Sie, was man Ihnen gesagt hat. Sonst...» Asakawa übergab sich in die Toilette. Viel kam nicht, nur der Whisky, vermischt mit bitterer Galle, die seine Augen schmerzen ließ und in seiner Nase wehtat. Er hoffte, die eben gesehenen Bil‐ der gleich mit loswerden zu können, wenn er nur alles erbrach. »Und wenn nicht, was ist dann? Ich weiß es nicht! Was willst du von mir, was soll ich tun?« Er saß schreiend auf dem Boden vor der Toilette und versuchte, sich nicht von seiner Angst überwältigen zu lassen. »Die vier Ju‐ gendlichen haben das Band an der Stelle gelöscht, wo das Wichtig‐ ste kommt... Ich weiß es nicht! Hilf mir!«
Er konnte nichts anderes tun, als sich zu entschuldigen. Asakawa rannte aus dem Badezimmer, ohne im Spiegel zu bemerken, wie furchtbar er aussah. Zurück im Wohnzimmer, verbeugte er sich demütig in alle Richtungen. Dabei war ihm nicht bewusst, dass er Mitleid zu erregen und Sympathien zu gewinnen versuchte. Nachdem er über der Spüle gegurgelt, ausgespien und etwas Was‐ ser getrunken hatte, spürte er einen Luftzug. Die Vorhänge vor der Schiebetür bewegten sich. Ich dachte, ich hätte alles zugemacht. Asakawa war sicher, die Schiebetür fest geschlossen zu haben, bevor er die Vorhänge zugezogen hatte. Er erinnerte sich genau. Noch immer zitterte er. Ohne jeden Grund tauchte vor seinem geistigen Auge das Bild nächtlicher Wolkenkratzer auf. Die be‐ leuchteten und unbeleuchteten Fenster bildeten ein Schachbrett‐ muster, manchmal sogar Schriftzeichen. Sah man die Gebäude als riesige, längliche Grabsteine, dann waren die Lichter Grabinschrif‐ ten. Das Bild verschwand, aber die Vorhänge bauschten sich noch immer in der Brise. Hektisch holte Asakawa seine Tasche aus dem Schrank und warf seine Sachen hinein. Hier konnte er keine Sekunde länger bleiben. Mir ist egal, was die anderen denken. Wenn ich hier bleibe, werde ich die Nacht nicht überstehen. Über die Woche, die mir noch bleibt, brauche ich dann gar nicht mehr nachzudenken. Noch immer im Jogginganzug, trat Asakawa in den Vorraum. Bevor er das Haus verließ, versuchte er, zu einem rationalen Denken zurückzufinden. Renn nicht einfach kopflos vor Angst davon, denk lieber über einen Weg nach, wie du dich retten kannst! Ein spon‐ taner Überlebensinstinkt meldete sich: Asakawa ging zurück ins Wohnzimmer und nahm die Videokassette aus dem Rekorder, die er dann in ein Handtuch wickelte und in seiner Tasche verstaute. Mehr als das Video hatte er nicht in der Hand, er durfte es nicht
hier liegen lassen. Vielleicht konnte er sich retten, wenn es ihm gelang, das Rätsel der Szenenabfolge zu lösen. Aber im blieb nur eine Woche. Er blickte auf die Uhr — 22 Uhr 18. Er war sicher, dass er um 22 Uhr 04 Videorekorder und Fernseher ausgeschaltet hatte. Plötzlich schien ihm die Zeit immer wichtiger zu werden. Er legte den Schlüssel auf den Tisch und verließ die Blockhütte, ohne alle Lampen auszuknipsen. Ohne beim Büro des Verwalters anzu‐ halten, rannte er zu seinem Wagen, wo er sofort den Schlüssel ins Zündschloss stieß. »Allein schaffe ich das nicht. Ich muss ihn um Hilfe bitten.« In Selbstgespräche vertieft, fuhr Asakawa los, doch er konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Wie stark er das Gaspedal auch nach unten drückte, er schien nicht wirklich an Geschwindigkeit zu gewinnen. Es war, als würde man in einem Traum gejagt und als könnte man sich nur in Zeitlupe bewegen. Wieder und wieder blickte er in den Rückspiegel, aber der dunkle Schatten, der ihn jagte, war nirgends zu sehen.
»Lass uns erst das Video ansehen«, sagte Ryuji Takayama grin‐ send. Asakawa und Ryuji saßen im ersten Stock eines Cafes in Rop‐ pongi. Es war Freitag, der 12. Oktober, 19 Uhr 20 abends, und es waren fast 24 Stunden vergangen, seit Asakawa das Video gese‐ hen hatte. Für den Freitagabend und Roppongi, das populärste Vergnügungsviertel der Stadt, hatte er sich in der Hoffnung ent‐ schieden, dass durch die fröhlichen Stimmen der Frauen um ihn herum seine Ängste verfliegen würden. Aber es schien nicht zu funktionieren. Je mehr er darüber redete, desto lebhafter spielten sich die Ereignisse des gestrigen Abends vor seinem geistigen Au‐ ge noch einmal ab, und seine Ängste wurden nur noch größer. Zwischendurch glaubte Asakawa sogar flüchtig, irgendwo in sei‐ nem Körper würde ein mysteriöser Fremdkörper lauern und sich seiner bemächtigen. Ryujis elegantes Oberhemd war bis zum Kragen zugeknöpft, und seine Krawatte schien ziemlich fest geknotet zu sein, doch er machte keinerlei Anstalten, sie zu lockern und den obersten Knopf aufzumachen. Deshalb war die Haut über dem Kragen am Hals ein bisschen geschwollen. Besonders bequem wirkte das nicht. Und dann seine knochigen Gesichtszüge — auf jemanden, der ihn nicht kannte, wirkte selbst sein Lächeln irgendwie eklig. Ryuji fischte einen Eiswürfel aus seinem Glas und steckte ihn sich in den Mund. »Hast du eben nicht zugehört?«, zischte Asakawa. »Ich hab doch gesagt, dass es gefährlich ist.« »Und was soll das Ganze dann? Du willst doch, dass ich dir hel‐ fe, oder etwa nicht?« Noch immer lächelnd, zermalmte Ryuji den
Eiswürfel zwischen seinen Zähnen. »Es gibt Möglichkeiten, wie du mir helfen kannst, ohne das Vi‐ deo zu sehen.« Ryuji ließ schmollend den Kopf hängen, doch das schwache Grinsen umspielte noch immer kaum merklich seine Lippen. Plötzlich wurde Asakawa von Zorn gepackt. »Du glaubst mir nicht, stimmtʹs?«, rief er hysterisch. »Du glaubst mir kein Wort!« Asakawa hatte das Video gesehen, und es war, als hätte er ohne jeden Verdacht eine Briefbombe geöffnet. Folglich konnte er Ryujis Gesichtsausdruck nur als Provokation interpretieren. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er so große Angst gehabt. Und es war noch nicht vorbei. Noch sechs Tage. Wie eine sanfte Seidenschlin‐ ge schnürte ihm die Angst langsam die Kehle zu. Ihn erwartete der Tod, und sein Joker wollte unbedingt dieses Video sehen! »Du brauchst hier keine Szene zu machen. Ich habe keine Angst — hast du ein Problem damit? Hör zu, Asakawa, ich habʹs dir schon mal gesagt: Ich bin einer von den Typen, die sogar beim Weltuntergang in der ersten Reihe sitzen würden, falls das mög‐ lich sein sollte. Ich will wissen, wie es mit dieser Welt beschaffen will, ich will den Anfang und das Ende kennen, alle ihre großen und kleinen Rätsel. Würde mir jemand anbieten, sie mir zu erklä‐ ren, würde ich für dieses Wissen gern mein Leben hergeben. Dabei hast du mich ja unsterblich gemacht — vermutlich erinnerst du dich.« Natürlich erinnerte sich Asakawa, und gerade deshalb hatte er sich Ryuji gegenüber offenbart. Asakawa hatte damals die Idee für eine Reihe von Features ge‐ habt. Vor zwei Jahren, mit dreißig, hatte er sich zu fragen begon‐ nen, was wohl andere junge Japaner in seinem Alter dachten und welche Träume sie hatten. Die Idee war, Dreißigjährige aus den verschiedensten Berufen und sozialen Schichten herauszupicken
— von einem Bürokraten aus dem Wirtschaftsministerium, einem Stadtrat von Tokio und einer Führungspersönlichkeit aus einem Top‐Unternehmen bis hin zum normalen Mann von der Straße. Alle sollten umfassend in ihrer Persönlichkeit dargestellt werden, von den persönlichen Daten, an denen der Leser Interesse hatte, bis hin zu den einzigartigen Zügen ihres Charakters. An einer ex‐ ponierten Stelle der Zeitung wollte Asakawa regelmäßig analysie‐ ren, was es hieß, im zeitgenössischen Japan dreißig Jahre alt zu sein. Und ganz zufällig fand sich unter den zehn bis zwanzig Kandidaten, die für diese Artikelserie in Frage kamen, ein alter Klassenkamerad Asakawas: Ryuji Takayama. Seine offizielle Posi‐ tion war die eines Lehrbeauftragten des Philosophischen Instituts der Fakultät für Literatur an der Fukuzawa‐Universität, die eine der besten privaten Hochschulen des Landes war. Die Vorarbeiten erledigte Asakawa damals höchstpersönlich, und er reihte den Beruf des Geisteswissenschaftlers in das Spektrum von Professio‐ nen ein, die er in seiner Artikelserie behandeln wollte. Aber Ryuji war ein viel zu großer Individualist, der nicht als Repräsentant für dreißigjährige Geisteswissenschaftler taugte. Schon auf der Ober‐ schule war er ein schwieriger Charakter gewesen, doch jetzt, nachdem er seiner Persönlichkeit in den Jahren an der Universität den letzten Schliff gegeben hatte, schien er nur noch rätselhafter geworden zu sein. Nach dem Abschluss seines Medizinstudiums hatte er sich für ein Graduiertenstudium in Philosophie entschie‐ den und in dem Jahr promoviert, als die Artikel erscheinen sollten. Zweifellos hätte er von seinem Können her seinerzeit die erste freie Stelle als fester Dozent verdient, aber da gab es die unglück‐ selige Tatsache, dass ältere Kandidaten vor ihm auf der ʹWarteliste standen und dass vakante Positionen strikt nach Alter vergeben wurden. Also hatte er sich für die Teilzeitstelle als Lehrbeauftrag‐ ter entschieden und gab jetzt zwei Seminare über Logik an seiner
alten Alma Mater. In diesen Tagen näherte sich die Forschung in der Philosophie immer mehr den exakten Wissenschaften an, und es ging nicht mehr darum, sich mit törichten Fragen zu amüsieren, wie der Mensch denn leben solle. Spezialisierte man sich heutzutage auf Philosophie, so hieß das insbesondere, sich einer Art Mathematik ohne Zahlen zu widmen. Überdies hatte es schon bei den alten Griechen Philosophen gegeben, die zugleich Mathematiker waren. So ein Typ war auch Ryuji. Die Fakultät für Literatur zahlte sein Gehalt, doch sein Gehirn arbeitete wie das eines Naturwissen‐ schaftlers. Zusätzlich zu seinem Spezialwissen verfügte er aber auch über außergewöhnlich große Kenntnisse auf dem Gebiet der Parapsychologie. Asakawa sah darin einen Widerspruch. Für ihn war Parapsychologie, die Beschäftigung mit dem Übernatürlichen und dem Okkulten, das exakte Gegenteil von Wissenschaft. Ryujis damalige Antwort lautete: Ganz im Gegenteil. Die Parapsychologie ist einer der Schlüssel, mit dem sich die Struktur des Universums entziffern lässt. Es war ein heißer Tag mitten im Sommer gewesen, und ge‐ nau wie heute hatte Ryuji ein gestreiftes, langärmliges und bis oben zugeknöpftes Hemd getragen. Ich will Zeuge sein, wenn die Menschheit ausgelöscht wird, hatte Ryuji damals gesagt. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Alle diese Idioten, die ständig vom Weltfrieden schwafeln, sind einfach zum Kotzen. Seinerzeit stellte Asakawa ihm etwa Fragen wie diese: Erzähl mir etwas über deine Träume von der Zukunft. »Wenn ich der Auslöschung der Menschheit von einem Hügel aus zusehen könnte«, hatte Ryuji ruhig geantwortet, »würde ich ein Loch buddeln und darin wieder und wieder ejakulieren.« »Bist du sicher, dass ich das aufschreiben soll?«, hakte Asakawa nach. Damals hatte Ryuji nur schwach gelächelt, genau wie jetzt, und
dann genickt. »Gestern Abend habe ich es wieder getan.« Wieder? So erfuhr Asakawa von Ryujis drittem Opfer; von seinem ersten wusste er bereits seit ihrer Zeit auf der Oberschule. Damals lebten beide im Bezirk Tama in Kawasaki, einer Industriestadt zwischen Tokio und Yokohama, und mussten mit öffentlichen Verkehrsmit‐ teln zur Schule fahren. Jeden Morgen war Asakawa schon eine Stunde vor Unterrichtsbeginn in der Schule, weil er sich noch auf den Lehrstoff vorbereiten wollte. Von den Putzfrauen einmal ab‐ gesehen, war Asakawa stets der Erste. Im Gegensatz dazu schaffte Ryuji es kaum jemals, überhaupt pünktlich zu kommen. Er war gleichsam gewohnheitsmäßig zu spät. Doch eines Morgens, direkt nach dem Ende der Sommerferien, als Asakawa wie üblich früh in der Schule auftauchte, sah er Ryuji wie benommen auf seinem Tisch sitzen. »Was ist denn mit dir los?«, fragte Asakawa. »Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal so früh hier gesehen habe.« »Kann sein«, kam die knappe Antwort. Ryuji starrte durch das Fenster auf den Schulhof, als wäre er in Gedanken irgendwo an‐ ders. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Wangen gerötet, und außerdem roch er nach Alkohol. Da sie sich nicht besonders nahe standen, war das Gespräch für Asakawa damit beendet. Er schlug sein Schulbuch auf, um mit der Vorbereitung auf den Un‐ terricht zu beginnen. »Hör zu, ich möchte, dass du mir einen Ge‐ fallen tust...«, sagte Ryuji, während er Asakawa auf die Schulter klopfte. Ryuji war ein absoluter Individualist. Er bekam immer gute Zensuren, und außerdem war er ein erstklassiger Leichtath‐ let. Alle in der Schule bewunderten ihn. Dagegen war Asakawa ein völlig unauffälliger Typ, und wenn Ryuji ihn um einen Gefallen bat, war das eine durchaus positive Überraschung.
»Ich möchte, dass du bei mir zu Hause anrufst«, sagte Ryuji, der Asakawa übertrieben vertraut einen Arm um die Schulter legte. »Kein Problem, aber warum?« »Du musst nur anrufen und nach mir fragen.« »Nach dir fragen?«, erkundigte sich Asakawa stirn‐ runzelnd. »Aber du bist doch hier.« »Mach dir darüber keine Gedanken. Ruf einfach an, okay?« Also tat Asakawa, was Ryuji von ihm verlangte. »Ist Ryuji da?«, fragte er, als dessen Mutter sich am anderen Ende meldete. Er blickte seinen Klassenkameraden an, der direkt neben ihm stand. »Tut mir Leid, aber er ist bereits zur Schule gefahren«, erwiderte Ryujis Mutter ruhig. »Verstehe«, sagte Asakawa nur, bevor er auflegte. »War das so in Ordnung?« Noch immer hatte Asakawa nicht recht begriffen, was das Ganze eigentlich sollte. »Klang ihre Stimme, als wäre irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte Ryuji. »Hörte sie sich irgendwie nervös an?« »Nein, eigentlich nicht.« Bisher hatte Asakawa die Stimme zwar noch nie gehört, aber besonders nervös hatte sie nicht gewirkt. »Keine aufgeregten Stimmen im Hintergrund oder sonst was Auffälliges?« »Nein, nichts Besonderes. Hörte sich so an, als wären sie beim Frühstück.« »Also gut. Danke,« »He, was ist eigentlich los? Warum hast du mich darum gebe‐ ten?« Ryuji wirkte etwas erleichtert. Er legte seinen Arm um Asaka‐ was Schultern und zog ihn dicht zu sich heran. »Sieht so aus, als könntest du ein Geheimnis für dich behalten und als könnte ich dir vertrauen«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Also werde ich es dir
erzählen. Heute Morgen habe ich eine Frau vergewaltigt.« Asakawa war so geschockt, dass es ihm die Sprache verschlug. Ungefähr um fünf Uhr morgens war Ryuji in das Apartment einer jungen Studentin eingedrungen und hatte sie vergewaltigt. Beim Verlassen der Wohnung warnte er sie, dass er es nicht tatenlos hinnehmen würde, falls sie die Polizei benachrichtigte. Anschlie‐ ßend war er direkt in die Schule gekommen, und jetzt machte er sich Sorgen, dass die Polizei vielleicht schon im Haus seiner Eltern war. Durch Asakawas Anruf hatte er das herausfinden wollen. Danach sprachen Asakawa und Ryuji ziemlich häufig miteinan‐ der. Natürlich erzählte Asakawa niemandem etwas von Ryujis Verbrechen. Im nächsten Jahr belegte Ryuji beim Leichtathletik‐ Bezirkssportfest im Kugelstoßen den dritten Platz, und im Jahr darauf schrieb er sich an der Fukuzawa‐Universität für Medizin ein. Dagegen musste Asakawa in diesem Jahr die Aufnahmeprü‐ fung für die Universität seiner Wahl wiederholen, weil er beim ersten Versuch gescheitert war. Beim zweiten Mal schaffte er es, und er konnte an einer renommierten Universität Literatur studie‐ ren. Jetzt, im Cafe in Roppongi, war sich Asakawa durchaus darüber im Klaren, was er wollte. Tatsächlich wünschte er sich, dass Ryuji sich das Video ansah. Dessen Wissen und Erfahrung würden von keinem großen Nutzen sein, wenn er nur von dem ausgehen konn‐ te, was Asakawa ihm über das Video erzählte. Andererseits war es ethisch gesehen falsch, jemanden in diese Sache zu verwickeln, um seine eigene Haut zu retten. Er steckte in einem Zwiespalt. Aber er wusste, wie er sich entscheiden würde, wenn er die beiden Mög‐ lichkeiten gegeneinander abwog. Keine Frage, er wollte seine Ü‐ berlebenschancen verbessern. Und dennoch... Plötzlich stellte er sich — wie schon so häufig — die Frage, warum er überhaupt mit Ryuji befreundet war. In seinen zehn Jahren als Zeitungsreporter
war er unzähligen Leuten begegnet, und doch war Ryuji der ein‐ zige Mensch, den er jederzeit anrufen und zu einem Drink einla‐ den konnte. Nur zu ihm hatte Asakawa eine solche Beziehung. Lag es daran, dass sie Klassenkameraden gewesen waren? Wohl kaum, er hatte jede Menge Klassenkameraden gehabt. Irgendet‐ was in der Tiefe seines Wesens sprach auf Ryujis exzentrischen Charakter an, aber Asakawa hatte das Gefühl, diesen Sachverhalt selbst nicht richtig zu begreifen. »Komm, lass uns keine Zeit verlieren. Dir bleiben doch nur noch sechs Tage, oder?« Ryuji packte Asakawas Arm und drückte ihn fest. »Los jetzt, zeig mir das Video. Denk doch daran, wie einsam ich sein werde, wenn du ins Gras beißt, weil wir Zeit vertrödelt haben.« Während er mit einer Hand noch immer rhythmisch Asakawas Arm drückte, bohrte Ryuji seine Gabel in ein bisher noch nicht angerührtes Stück Käsekuchen. Er begann zu essen und schmatzte dabei laut. Ryuji hatte die Angewohnheit, mit offenem Mund zu essen, und Asakawa konnte den unangenehmen Anblick nur schwer ertragen. Die knochigen Gesichtszüge, der untersetzte Körperbau, die schlechten Manieren... Und jetzt, während er den Käsekuchen saß, fischte er gleichzeitig noch ein Eisstück aus sei‐ nem Drink, um es geräuschvoll zu zermalmen. In diesem Augenblick begriff Asakawa, dass er dennoch außer Ryuji niemanden hatte, auf den er sich wirklich verlassen konnte. Ich habe es mit einem bösartigen Phantom zu tun, mit einer unbekann‐ ten Größe. Kein normaler Mensch kann allein damit fertig werden. Wahrscheinlich gibt es außer Ryuji niemanden, der sich das Video anse‐ hen kann, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Wenn man einen Schlauen fangen will, darf man keinen Dummen schicken. Es gibt keinen anderen Weg. Was kümmert es mich, wenn Ryuji dabei draufgeht? Wenn jemand sagt, dass er der Auslöschung der Menschheit beiwohnen
will, verdient er kein langes Leben. Auf diese Weise versuchte Asakawa vor sich zu rechtfertigen, dass er Ryuji in diese Geschichte hineinzog.
2 Die beiden Männer nahmen ein Taxi. Wenn die Straßen nicht ver‐ stopft waren, schaffte man es in weniger als zwanzig Minuten von Roppongi zu Asakawas Wohnung in Kita Shina‐gawa. Im Rück‐ spiegel sahen sie die Stirn des Fahrers, der das Taxi lässig mit einer Hand lenkte und keinerlei Anstalten machte, sich mit seinen Fahr‐ gästen zu unterhalten. Wenn man es genau bedachte, hatte die ganze Geschichte mit einem redseligen Taxifahrer begonnen. Hät‐ test du damals nicht das Taxi genommen, würdest du jetzt nicht so tief in der Patsche sitzen, dachte Asakawa, als er die Ereignisse von vor zwei Wochen Revue passieren ließ. Jetzt bedauerte er es, dass er sich damals, auch wenn es nervig gewesen wäre, nicht für die U‐Bahn entschieden, die Fahrkarte gekauft und auch das lästi‐ ge Umsteigen in Kauf genommen hatte. »Können wir in deiner Wohnung eine Kopie von dem Video zie‐ hen?«, fragte Ryuji. Seines Berufs wegen hatte Asakawa zwei Vi‐ deorekorder, doch einer davon war schon ziemlich alt und funk‐ tionierte nicht hundertprozentig. Aber mit einer Kopie würde es keine Probleme geben. »Ja, natürlich.« »Okay, dann möchte ich dich bitten, die Kopie so schnell wie möglich zu machen. Ich will mir das Video in Ruhe in meiner Wohnung ansehen.« Der hat wirklich gute Neroen, dachte Asakawa. In seiner gegenwär‐ tigen Gemütsverfassung fand er Ryujis Worte ermutigend. Sie beschlossen, etwas eher auszusteigen und die letzten paar Schritte zu Fuß zu gehen. Es war zehn vor neun, und deshalb be‐ stand die Möglichkeit, dass Shizu und Yoko noch nicht schliefen. Kurz vor neun badete Asakawas Frau ihre kleine Tochter regel‐ mäßig. Dann brachte sie sie ins Bett und legte sich neben sie, damit
Yoko besser einschlafen konnte. Allerdings dämmerte Shizu dabei selbst weg, und wenn sie erst einmal schlief, bekam niemand sie mehr aus dem Bett. In einem nutzlosen Versuch, mehr Zeit mit ihrem Mann verbringen zu können, war Shizu dazu übergegan‐ gen, Asakawa durch Zettel auf dem Küchentisch zu bitten, sie wieder zu wecken. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, folg‐ te Asakawa ihren Anweisungen in der Annahme, dass sie es ernst meinte. Er schüttelte sie, doch sie wachte nicht auf. Bei einem et‐ was energischeren Versuch fuchtelte sie mit ihren Händen herum, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. Dabei runzelte sie die Stirn und gab verärgerte Geräusche von sich. Dann war sie halb wach, doch die Sehnsucht nach Schlaf war sehr viel stärker als die nach Asakawa, und so gab er auf und trat den Rückzug an. Schließlich versuchte er es gar nicht mehr, ob mit oder ohne Zettel, und schließlich lagen auch keine Zettel mehr auf dem Tisch. Jetzt war es ein ehernes Gesetz, das Shizu und Yoko um neun Uhr a‐ bends gemeinsam ins Bett gingen, und heute war das auch besser so. Shizu hasste Ryuji, und irgendwie hatte Asakawa vollstes Ver‐ ständnis dafür. Deshalb hatte er sie auch nie nach dem genauen Grund gefragt. Ich bitte dich, bring diesen Typ nicht mehr in unsere Wohnung... Noch immer erinnerte sich Asakawa an den angewi‐ derten Gesichtsausdruck seiner Frau, als sie diesen Satz gesagt hatte. Aber jetzt zählte nur, dass er das Video nicht vor Shizus und Yokos Augen abspielen konnte. Im Haus war es dunkel und still, und der Duft des heißen Bade‐ wassers und der Seife drang bis in den Flur. Offensichtlich waren Shizu und Yoko gerade ins Bett gegangen, vermutlich mit Hand‐ tüchern unter den nassen Haaren. Asakawa lauschte an der Schlafzimmertür, um sich zu vergewissern, dass die beiden schlie‐ fen, dann führte er Ryuji ins Esszimmer. »Dann ist die Kleine also im Bett?«, fragte Ryuji mit einem An‐
flug von Enttäuschung. »Pst!«, mahnte Asakawa, der einen Finger auf die Lippen legte. Wahrscheinlich war es nicht, dass sie Shizu geweckt hatten, ande‐ rerseits konnte Asakawa nicht seine Hand dafür ins Feuer legen, dass sie nicht unbewusst wahrnahm, dass etwas Ungewöhnliches passiert war, und plötzlich im Türrahmen stand. Nachdem Asakawa Aus‐ und Eingänge der beiden Videorekor‐ der mit Kabeln verbunden hatte, legte er die Kassette ein. Bevor er auf »Play« drückte, blickte er Ryuji noch einmal an, als wollte er ihn fragen, ob er sich das wirklich antun wolle. »Stimmt was nicht?«, drängelte Ryuji, dessen Augen starr auf den Bildschirm gerichtet waren. »Mach endlich.« Nachdem Asa‐ kawa ihm die Fernbedienung in die Hand gedrückt hatte, stand er auf und ging zum Fenster. Er hatte keine Lust, sich das noch ein‐ mal anzusehen. Tatsächlich hätte er sich das Video eigentlich wie‐ der und wieder anschauen sollen, um es mit kühlem Kopf zu ana‐ lysieren, aber er brachte nicht die Willenskraft dazu auf. Er wollte nur wegrennen. Asakawa trat auf den Balkon und rauchte eine Zigarette. Nach der Geburt von Yoko hatte er seiner Frau versprochen, nicht mehr in der Wohnung zu rauchen, und dieses Versprechen hatte er auch noch nie gebrochen. Obwohl sie schon drei Jahre verheiratet wa‐ ren, lief es in der Beziehung zwischen Asakawa und seiner Frau noch immer ziemlich gut. Nachdem sie ihm diese wunderbare Tochter geschenkt hatte, konnte er einfach nicht gegen die Wün‐ sche seiner Frau handeln. Vom Balkon aus spähte er in den Raum. Durch die Milchglas‐ scheibe flackerte das Bild des Fernsehers. Hier auf dem Balkon, im sechsten Stock eines Hauses in der Innenstadt, umgeben von drei vertrauten Menschen, war das Video nicht so Furcht erregend wie seinerzeit in der Blockhütte, wo er ganz allein gewesen war. Doch
selbst wenn Ryuji das Video jetzt mehr oder weniger unter den‐ selben Bedingungen sah, würde er wahrscheinlich nicht den Kopf verlieren und zu schreien beginnen oder etwas in der Art. Vermut‐ lich entlockte ihm das Video nur Gelächter und Flüche, und wahr‐ scheinlich schaute er sogar mit einem bedrohlichen Blick auf dem Bildschirm. Nachdem Asakawa seine Zigarette ausgedrückt hatte, ging er wieder ins Zimmer zurück. Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür vom Esszimmer zum Flur, und Shizu stand im Pyja‐ ma vor ihnen. Verwirrt griff Asakawa nach der Fernbedienung und drückte sofort die Stopptaste. »Ich dachte, du schläfst.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Ich habe Geräusche gehört.« Auf dem Fernseher waren wirre Bildfetzen zu sehen, aus den Lautsprechern drangen Störgeräu‐ sche. Mit einem misstrauischen Blick wanderten Shizus Augen zwischen dem Fernseher und den beiden Männern hin und her. »Geh wieder ins Bett!«, sagte Asakawa in einem Tonfall, der kei‐ ne Widerrede zuließ. »Wenn sie Lust hat, sollte sie sich zu uns setzen«, sagte Ryuji, der noch immer im Schneidersitz vor dem Fernseher hockte. Am lieb‐ sten hätte Asakawa ihn angeschrien, doch stattdessen haute er nur mit der Faust auf den Tisch. Shizu griff erschrocken nach der Türklinke, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Dann be‐ dachte sie Ryuji mit einer angedeuteten Verbeugung. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand. Zwei Männer, spät am Abend, die in der Dun‐ kelheit Videos ein‐ und ausschalteten... Asakawa war klar, was seine Frau dachte. Ihr verächtlicher Blick war ihm keineswegs ent‐ gangen, und diese Verachtung galt weniger Ryuji, sondern viel‐ mehr den männlichen Instinkten im Allgemeinen. Asakawa be‐ dauerte, dass er ihr nichts erzählen konnte.
Ganz wie Asakawa vermutet hatte, war Ryuji kein bisschen auf‐ geregt, nachdem er das Video gesehen hatte. Summend spulte er das Band zurück, um es dann durch Vorspulen, langsamen Vor‐ lauf und gelegentliches Drücken der »Pause«‐Taste stellenweise noch einmal eingehender zu studieren. »Na, sieht ganz so aus, als würdest du ziemlich in der Patsche sitzen. Dir bleiben noch sechs Tage, mir wenigstens sieben.« Seine Stimme klang, als wäre er geradezu glücklich, bei diesem Spiel mitspielen zu dürfen. »Also, was sagst du dazu?«, fragte Asakawa. »Kinderkram.« »Wie bitte?« »Hast du dir als Kind nicht ähnliche Scherze erlaubt, etwa Freun‐ den unheimliche Bilder gezeigt und ihnen prophezeit, das Unheil würde eintreten? Oder Kettenbriefe? Irgendwas in der Art?« Natürlich hatte Asakawa damit seine Erfahrungen gemacht. »Worauf willst du hinaus?« »Auf nichts Spezielles. Ich habe nur gesagt, wie das Ganze auf mich wirkt.« »Ist dir nicht doch etwas aufgefallen?« »Hm. Die Bilder an sich sind nicht besonders Furcht erregend. Es scheint sich um eine Kombination von realistischen und abstrak‐ ten Sequenzen zu handeln. Gäbe es da nicht die Tatsache, dass tatsächlich vier Menschen auf die in dem Video vorhergesagte Weise gestorben sind, könnten wir uns mit einem verächtlichen Schnauben begnügen und das Ganze als absurd ad acta legen. Bist du nicht meiner Meinung?« Asakawa nickte. Das war das Problem: Die Vorhersage auf dem Band traf zu. »Zunächst müssen wir uns die Frage stellen, warum diese armen Narren gestorben sind. Aus welchem Grund? Für mich gibt es
zwei Möglichkeiten. Die letzte Szene des Videos prophezeit, dass der Betrachter zum Tode verdammt ist, und dann — direkt da‐ nach — kam wahrscheinlich eine... Na, lass es uns in Ermangelung eines besseren Wortes einfach mal eine >ZauberformelAidsschwarzer VorhangrealistischenIch habe ein Gespenst gesehen!He, he.die Sadako YamamuraunuduSuchen wir uns ein kühles Plätzchen im Schatten, an dem wir uns unterhalten können.Ich habe Durst. Mein Hals ist ganz trok‐ ken. Ich bringe dich um!DuDu