Buch Als Sara aus der Stadt in eine dörfliche Umgebung flieht, um wieder zu sieh zu finden, lernt sie den geheimnisvoll...
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Buch Als Sara aus der Stadt in eine dörfliche Umgebung flieht, um wieder zu sieh zu finden, lernt sie den geheimnisvollen Zadok kennen. Während Zadok sie umschmeichelt und allmählich in seinen Bann zu ziehen versteht, erzählt er ihr die Geschichte von Luca und ihrem Bruder Raphael, die er einst bei sieh aufgenommen hatte. Luca erscheint in seinen Erzählungen als engelsgleiches Wesen, das keinem Menschen gleichgültig sein konnte. Zadok hatte sich in die junge Frau verliebt, doch nun ist sie verschwunden. Sara, die ihr äußerlich ähnlich zu sein scheint, gerät unter dem immer stärker werdenden Einfluss Zadoks in ein Verwirrspiel aus Leidenschaft, Suggestion und dunklen Ahnungen, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Die mysteriösen Andeutungen, die Zadok über Luca und ihren Bruder macht, verdichten sich für Sara allmählich zu der bitteren Einsicht, dass Zadok sie in seinen Abgrund zu ziehen versucht. Während es hinter der kalten und abweisenden Fassade der Dorfgemeinschaft gefährlich zu brodeln beginnt, kommt Sara einem grausamen Geheimnis auf die Spur, das ein lange zurück liegendes Verbrechen, mehrere Tagebücher, drei Krähen und eine hetzende Meute verbirgt. Ein in der Tradition der »série noire« stehender Psychothriller, eine unter die Haut gehende Geschichte um Verrat und Liebe, die mitten unter uns spielen könnte.
Autor
Bettina Gundermann wurde 1969 in Dortmund geboren. Nach der Schule arbeitete sie zunächst als Tanzdozentin, später als freie Journalistin für Zeitungen und Zeitschriften. 2001 erschien ihr erster Roman »lines«. Bettina Gundermann lebt als freie Autorin in Dortmund. 2002 erhielt sie den Literatur-Förderpreis der Stadt Dortmund.
ISBN: 3-485-01039-1 Verlag: nymphenburger Erscheinungsjahr: 2005 Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel scanned by unknown corrected by eboo
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»The killer in me is the killer in you.« Smashing Pumpkins
Vor neunzehn Jahren In der Heiligen Nacht verlässt die junge Ambra ihre Wohnung, rennt sieben Stockwerke hinunter, der Fahrstuhl funktioniert nicht. Sie stößt die Haustür auf und schaut in den Himmel. Sie atmet tief die kalte Abendluft ein und betrachtet die Sterne, sie ist zum letzten Mal in ihrem Leben verträumt. Dann geht sie mit schnellen Schritten los, der Laden schließt bald, er ist der einzige in der Umgebung. Hier kaufen alle, die in den Hochhäusern wohnen. Ambra hat die Milch vergessen. Sie möchte einen Kuchen backen. Der Verkäufer wünscht Ambra schöne Weihnachten und drückt ihre Hand. Er sieht Ambra zum letzten Mal. Auf dem Rückweg wird Ambra von vier bis sechs – sie kann sich später nicht mehr genau daran erinnern – Männern auf den Spielplatz gezerrt. Erst als sie in den Sand geworfen wird, lässt Ambra die Milchtüte fallen. Milchstraße, denkt sie und starrt die Sterne an, während die Männer sich im Wechsel auf sie legen. Wer sie nicht vergewaltigt, applaudiert und kreischt. Danach, nach einer unbestimmten Zeit, zertrümmern die Männer mit einem Baseballschläger Ambras Schienbeine.
Neun Monate später Alle Babys sind gleich Auf der Säuglingsstation überleben nur Luca und ihr drei Minuten jüngerer Bruder Raphael, die zusammen in einem Bettchen liegen, den Rauch, ausgespien von einem mächtigen Feuer, das nach und nach das Krankenhaus auffrisst. In einer schwarzen Nacht. Luca legte im Schlaf ihrem Bruder eine Hand auf Nase und Mund. Sie selbst träumte so heftig, dass sie die Luft anhielt, bis die Retter kamen. Achtzehn Jahre später Die junge Frau wird mit Schweineblut übergossen. Die weißen Flügel, die man ihr auf die Schultern geschnallt hat, färben sich rot. Sie hat einen Strick um ihr rechtes und einen um ihr linkes Handgelenk gebunden. Ihre Beine sehen aus wie zusammengefallen, nach hinten eingeknickt. Sie hängt an ihren Handgelenken, zwischen zwei Bäumen. Ihr weißes, dünnes Kleid ist durchsichtig vom Urin der Männer,
die um sie herumstehen. Mörderin, Mörderin, Mörderin, kreischt das Heer der Rächer. Bis sie stirbt, starrt die Frau die Menge an. Heute Sara läuft durch das Laub, sie denkt, sie werde niemals ankommen. Sara hat sich verlaufen. Sie kennt die Gegend nicht. Sie ist hergekommen, um Ruhe zu finden. Sie hat sich Stille ersehnt. Die Welt ist ihr zu laut geworden. Sara lebt für ein paar Wochen in einem Dorf, das Lärm nicht kennt. Zum ersten Mal seit langem macht sie wieder Spaziergänge. Sie genießt das alles sehr. Sara hatte vergessen, wie sich die Natur anfühlt. Das Rascheln unter ihren Füßen hört sich wie Kindheit an. Es riecht anders, auf dem Land. Sie war ewig nicht außerhalb der Stadt gewesen. Sie hatte vergessen, dass Vögel morgens singen, dass der Herbst anders riecht als der Frühling. Der Lärm kommt zurück, als sie bemerkt, dass sie sich verlaufen hat. Angst ist Lärm. Sie bekommt Angst, niemals mehr zurückzufinden. Es ist ein Samstagabend und Sara findet schließlich eine Landstraße. Sie beschließt, nach rechts zu gehen. Kein einziges Auto. Sie
geht mehrere Kilometer und die Dunkelheit macht ihre Schritte schnell. Saras Angst flattert davon, als sie von weitem die Lichter sieht. Am Rande des Dorfes die Gaststätte. Nur ein Gast. Der hebt langsam seinen Kopf, als sie die Tür aufstößt. In seinem Gesicht nur eine winzige Regung, ein leichtes Zucken, wie ein Wimpernschlag. Sara schaut dem Fremden in die Augen, sie sind grün, ein Lodern darin. Sie setzt sich an einen Tisch. Der Wirt nimmt die Bestellung auf. Sara lehnt ihren Kopf an die Wand, schließt die Augen und atmet tief ein. Als sie ausatmet, sagt der Fremde: »Vier Buchstaben. Dein Name besteht aus vier Buchstaben, habe ich Recht?« Sara öffnet die Augen. »Ja«, sagt sie. »Sie haben Recht.« »Wie heißt du?«, fragt der Fremde. »Sara«, sagt sie. »Du erinnerst mich an Luca«, sagt der Fremde und legt einen Finger auf seine Lippen, als der Wirt Saras Grog bringt. Er schaut sie die ganze Zeit an, auch als der Wirt wieder geht, wendet er den Blick nicht ab. Und auch sie muss ihn anschauen, denn das Lodern in seinen Augen wirkt magisch. »Aber sie trug ihr Haar ganz kurz. Wie ein
Junge sah sie aus. Das stand ihr sehr gut. Luca wusste, was ihr steht. Du solltest dein Haar auch kurz tragen.« »Ich lasse es gerade wachsen«, antwortet Sara. »Woher wussten Sie das mit den vier Buchstaben?« »Man sieht es.« »Man darf nicht immer glauben, was man sieht«, sagt Sara. »Willst du dich zu mir setzen?«, fragt der Fremde. Sie zögert einen Moment, Sara ist müde. Unterhaltungen, denkt sie, wollte ich hier eigentlich nicht führen. Dann hätte ich nicht herkommen brauchen. Dennoch steht sie auf, nimmt ihre Tasse und setzt sich zu dem Fremden. »Sie haben Glück«, sagt Sara. »Mein Vater hätte lieber ein h am Ende gehabt.« »Und Lucas Vater, den, den sie zunächst für ihren Vater gehalten hatte, hätte seine Kinder lieber selbst gezeugt«, sagt der Fremde. »Wer hat sie denn gezeugt? Hatte seine Frau einen Liebhaber?«, fragt Sara. »Seine Frau hatte in einer Heiligen Nacht vier bis sechs Schwänze in ihrem Körper. Welcher ihrer Vergewaltiger war wohl ihr Liebhaber?« Der Fremde lächelt nun sehr warm und Sara schaut auf ihre Hände.
»Sara ohne h«, sagt er, »du brauchst dich nicht zu schämen. Du hast es ja nicht gewusst.« »Ich muss jetzt gehen«, sagt Sara. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, denkt sie. »Sehen wir uns morgen? Du willst doch sicher wissen, wer Luca ist«, sagt der Fremde und steht noch vor Sara auf, wirft Geld auf den Tisch. Im Gehen flüstert er noch: »Frag nach Zadok, fünf Buchstaben: der Gerechte.« Das Land liegt in einem stillen Nebel. Auf dem Feld hinter dem Haus zanken drei Krähen. Sara steht am Fenster, ihr ist eiskalt. Sie hat nicht geschlafen, sie hat einen üblen Geschmack im Mund, ihre Beine fühlen sich schwer an. Das Fenster ist geöffnet, sie hört das Gekreisch der drei Krähen, eine Sonne gibt es nicht. Eine graue, dicke, nasse und kalte Suppe hat alles, was zuvor hell war, verschluckt. Sara geht auf und ab und ist ganz in Gedanken. Ihr Zimmer ist nicht groß, ein kleines Bad gehört dazu, seit einer Woche wohnt sie hier. Sie will sich dagegen entscheiden, aber es zerrt auch in ihr; die Neugier ist das. Ob sie gegen so einen ankommt? Der sie festhält mit seinem Blick, aus diesen Augen mit dem Lodern darin. Ob sie so einem gewachsen ist? Natürlich kann
ich mich noch einmal mit ihm treffen. Bei Tag, denkt Sara. Bei Tag ist es okay. Und ich kann ja jederzeit gehen, sagt sie sich. Sara schließt das Fenster und die Krähen werden leise. Wenn Sara sich einmal entschieden hat, dann ändert sie nur selten ihre Meinung. Das ist manchmal gut. Und manchmal ist es schlecht. Die Frau, der die Pension gehört, kocht jeden Morgen ein Ei für Sara. Sara mag keine Eier. Das hat sie der Frau am ersten Morgen gesagt. Aber die Frau hat es vergessen. Sie hat es dreimal vergessen, dann hat Sara aufgehört, es ihr zu sagen. Jeden Tag, wenn Sara nach dem Frühstück aufsteht, kommt die Frau und sagt: »Aber Kindchen, Sie haben Ihr Ei ja gar nicht gegessen.« »Ich war satt«, sagt Sara dann. Heute Morgen lässt Sara das Frühstücken ganz. Sie bleibt im Bett und wartet auf den Nachmittag. Die Sonne schiebt ein paar Strahlen durch die Suppe, als sie schließlich das Haus verlässt. Die Gaststätte öffnet mittags. Sonntags ist sie um diese Zeit gut besucht. Nach der Kirche geht das Dorf zum Mittagstisch. Am Nachmittag dann, ab drei Uhr, ist die Gaststätte wie ausgestorben. Gesoffen wird
nur zu großen Anlässen. Ansonsten sind die Bewohner eher scheu. Trotzdem liegt in ihrem Schritt ein strammer Stolz. Jetzt ist es vier Uhr, Sara stößt die Tür auf. Der Wirt grüßt wie immer nicht. Sara setzt sich an einen Tisch und öffnet ein Buch. Sie liest jeden Satz mehrmals, schaut immer wieder zur Tür und trinkt bis fünf Uhr zwei Grog. Dann nimmt sie ihren Mut zusammen, ihren Trotz, angeschoben von der Neugierde mit den langen Zähnen und angestachelt von der Erinnerung an das Lodern in diesen Augen. Und wer wohl ist Luca? Sara sagt: »Entschuldigen Sie, wissen Sie, wann Zadok kommt?« Ihre Worte prallen auf den Rücken des Wirts. Der dreht sich nicht um. Tut so, als hätte er Wichtiges zu tun. Tut so, als wäre er taub. Sara wiederholt: »Entschuldigen Sie, wissen Sie, wann Zadok kommt?« »Ich kenne keinen Zadok«, nuschelt der Wirt. Seine Worte kommen kaum um seinen massigen Körper herum, so leise spricht er. »Er war gestern Abend hier, erinnern Sie sich?«, fragt Sara und steht langsam auf. Eine Antwort bekommt sie nicht. »Okay, dann nicht«, sagt Sara, legt das Geld auf den Tresen und geht zur Tür. »Biste von den Bullen?«, fragt der Wirt und
rülpst. Sara hatte die Stadt verlassen, weil sie nicht mehr schlafen konnte. Sie hatte das einige Wochen ausgehalten, dann war es ihr unerträglich geworden. Sie hatte eines Morgens in den Spiegel geschaut und sich nicht mehr erkannt. Sie hatte die U-Bahn nicht mehr ertragen, die Geschäfte, die hohen Häuser, die Menschenmengen, die Autos, den Lärm, den Gestank, die Unruhe, ständig. Ständig diese Unruhe, hatte sie gedacht. Ich werde ganz grau davon. Ihre Augen hatten ohne Unterlass gebrannt und ihr Rücken tat weh; sie war nicht mehr in der Lage gewesen, ein Gespräch zu führen. Ihre Gedanken bestanden aus halben Sätzen. Ihre Freunde begannen sich Sorgen um Saras Wohl zu machen. »Ich kann nicht schlafen«, erklärte sie. »Ich weiß auch nicht, warum.« Sie hatte keinen Hunger und musste sich zwingen zu trinken. Sie stand stundenlang vor dem Fenster und fixierte die Häuserwand gegenüber. »Du musst mal raus«, riet einer. Sara erinnert sich nicht, wer. »Wohin?«, hatte sie gefragt. »Am besten aufs Land. Du wirst sehen, das wirkt Wunder.« »Hallo, Sara ohne h.« Der Satz verbrennt ihren
Nacken; sie bleibt sofort stehen. »Hast du mich gesucht?« Er geht um sie herum. Sie war auf dem Weg zurück gewesen. Sie stehen sich gegenüber. Sara sucht nach einer Antwort, sie bemüht sich sehr. Sie sammelt Kraft, woher auch immer, denn Sara fühlt sich eher schwach. Sie sagt: »Der Wirt kennt Sie nicht.« Sara weiß, das ist keine starke Antwort. »Ach, der Wirt«, sagt er und reißt die Arme empor. »Rauchst du?«, fragt er und zündet sich eine Zigarette an. »Ich versuche aufzuhören«, antwortet Sara. »Du lässt dein Haar wachsen und hörst mit dem Rauchen auf. Das alles steht dir nicht. Weißt du, wann Luca zu rauchen angefangen hat?« »Das interessiert mich nicht.« »Mit elf. Sie sah im Übrigen sehr gut aus, wenn sie sich eine Zigarette anzündete.« Luca sei überirdisch gewesen. Sie schien wie irgendwo ausgeschnitten. Sie selbst habe immerzu ausgeschnitten. Jeden aus seiner Welt. »Hast du Hunger?«, fragt Zadok. Sara hatte keinen Hunger verspürt, jetzt liegt sie mit geschlossenen Augen im Bett. Das Ti-
cken der Wanduhr ist das einzige Geräusch. Unter den Augenlidern brennt es, wie kurz vorm Weinen, wenn man es nicht will. Lieber schlafen als weinen. Nicht wieder schlaflos werden. Hunger? Sara gibt auf und knipst das Licht an, betrachtet kurz die Decke, richtet sich dann auf. Einige Sekunden später klingelt es in Zadoks Haus, er saß bereits am Telefon und als es klingelt, zuckt er nur ganz kurz zusammen, dann lächelt er. »Wir könnten ja morgen frühstücken«, sagt Sara, bemüht um einen belanglosen Ton. »Prima Idee«, antwortet Zadok. »Um zehn Uhr vielleicht?«, sagt Sara. »Traust du dich in mein Haus?«, fragt Zadok. »Das soll wohl ein Witz sein. Natürlich«, sagt Sara. In der Nacht kein einziger Stern. Sara schaut die ganze Zeit den Himmel an, sie hat das Fenster weit geöffnet und inhaliert den Geruch der Nacht. Irgendwann fängt es zu regnen an und das Geräusch übertönt das Ticken der Uhr. Sara schläft mit einem ruhigen Gefühl ein. Sie freut sich auf Zadok. Das Bad ist pink und die Handtücher sind zu weich. Es sind vierundzwanzig Stufen nach unten. Die Frau, der die Pension gehört, steht in der Küche und schüttelt den Kopf. »Frühstück,
Mädchen! Frühstück!«, ruft sie vor sich hin. »Bin satt«, ruft Sara zurück. Eine Metzgerei und die Gaststätte liegen auf dem Weg von der Pension zu Zadoks Haus. Das hat eine breite Einfahrt aus Kies. Es regnet immer noch. Der Morgen ist grau, kalt und in der Lage, ein fürchterliches Gefühl von Einsamkeit auszulösen. Sara wird schneller und hört das Knirschen unter ihren Füßen. Zadok schüttet sich Wasser ins Gesicht. Sara klopft an die Tür. Zadok beginnt: »Wie viel Zeit hast du? Was Schnelles oder das Menü?« Sara entscheidet sich für das Menü. Die Räume sind fast leer. Die Küche ist riesig und das Haus sehr warm. Ein altes Bauernhaus, am Rande des Dorfes. Drei Krähen setzen sich auf das Dach. Zadok gießt Kaffee in große Tassen und reicht Sara den Brotkorb. »Wohnen Sie schon immer hier?«, fragt Sara. »Vermutlich nicht. Aber als Luca kam, da war ich schon da. Die Zeit davor zählt nichts mehr. Ich weiß nicht, was vor Luca überhaupt war. Hast du schon mal geliebt?« »Wer ist Luca? Ihre Frau?« »Pssst«, macht der Fremde. »Große Geschichten brauchen Zeit.«
Er steht auf und geht in ein anderes Zimmer. Es gibt keine Uhr in der Küche. Sara hat keinen Appetit. Sie schaut aus dem Fenster, drei Krähen landen auf dem Kiesweg. »Früher gab es Dutzende. Aber als Luca und ihr Bruder zu mir kamen, flogen alle weg bis auf diese drei. Weißt du, Sara, du solltest wieder mit dem Rauchen anfangen. Diese drei Krähen sitzen hier fest. Sie haben nichts anderes im Sinn, als mich jeden Tag aufs Neue an Luca zu erinnern.« »Sie haben mich erschreckt«, sagt Sara, ohne sich umzudrehen. Zadok setzt sich zu ihr, zündet sich eine Zigarette an. Neben seinem Stuhl steht ein Karton. »Ambras Erbe«, sagt Zadok. »Ambras Mann ist mein Bruder. Sie wohnen in der Stadt. Sie wohnen in der bösen Stadt.« »Die Stadt ist genauso böse wie das Land«, sagt Sara. Die Krähen fliegen mit großem Gezeter weg. Zadok serviert die Vorspeise, nicht ohne zuvor Sara eine Zigarette anzubieten. Ambras Tagebuch Ich bin tot. Habe soeben zwei Babys geboren. Es gibt keinen Gott. Es gibt aber einen Satan. Mit mehreren Körpern. Mit mehreren
Schwänzen. Einer seiner Schwänze hat mir die Brut in den Leib gefickt. Ich bin tot, weil ich nun die Mutter von Satans Kindern bin. Satan hat nur tote Frauen. Und meinen Mann hat er auch getötet. Der hat eine tote Frau am Hals, mit zerstümmelten Beinen, nicht in der Lage, einen Schritt zu tun. Eine tote Frau, die ihm zwei Kinder hinwirft, die er nicht gezeugt hat. Zadok schlägt das Buch zu. »Wenn man erst mal die Vorspeise verdaut hat«, sagt er, »dann rutscht der Rest wie von selbst, glaube mir. Ich liebe diese Menschen hier immer mehr. Zuerst habe ich sie nicht gemocht. So wie du sie nicht magst. Oder verstehst. Du magst sie erst dann, wenn du sie verstehst. Ich würde dieses Dorf niemals mehr verlassen. Wie lange bleibst du hier, Sara?« Warum sie überhaupt hier ist, fragt sich Sara kurz. »Wovon leben Sie?«, fragt sie. »Du traust mir nicht. Ich lebe von Geschichten.« »Schriftsteller?«, fragt Sara. »So was in der Art. Du hast ja noch gar nichts gegessen.« »Das sagt meine Wirtin auch immer.« »Die Leute haben nur Angst vor den Krähen.
Sie haben Angst, dass einer, der wie ein Spatz isst, von den Krähen massakriert wird.« Zadok lacht. Sara lacht auch. Sie entspannt sich. Zadok gefällt ihr. Sie kann sich nicht erinnern, dass jemand sie schon einmal so angeschaut hat. Das macht Sara ein schönes Gefühl im Bauch, da, wo man etwas spürt, ist man verliebt. Sie war lang nicht verliebt. So schnell verliebt es sich nicht, denkt sie. Aber immerhin, immerhin regt sich etwas in mir. »Wie schnell verliebt man sich, Sara?«, fragt Zadok. Ein Gedankenleser ist er, denkt sie. »Von einer Sekunde auf die andere, wenn man Pech hat«, sagt sie. »Wie schnell hasst man jemanden?«, fragt er. Sein Bruder brachte die Kinder, da waren sie zehn Jahre alt, und er sagte, sie müssten mal raus aus der Stadt. Das Mädchen trug einen Karton und der Junge einen Koffer. Das ist euer Onkel, sagte Zadoks Bruder, seid schön lieb. Das Mädchen schaute den Fremden mit großen Augen an, dann legte sie einen Arm um die Schultern ihres Bruders. »Die Kleine fixierte mich, das kann man nicht beschreiben. Ich sah sie zum ersten Mal, ich konnte den Blick nicht von ihr lassen. Das war nicht krank, das war nicht verrückt, das war nicht pervers, es war
nicht anders möglich. Wie soll ich sagen? Sie traf einen Nerv. Das sagt man so oft. Abgenutzt.« Seine rechte Hand fährt durch die Luft. »Sie schickte einen Rausch durch mich hindurch, in sämtlichen Farben. Luca hauchte mir ein neues Leben ein. Ich wusste nicht, dass es neue Leben gibt. Ich dachte, es gibt nur das eine. Raphael hingegen nahm ich, glaube ich, erst wahr, als wir später zusammen an diesem Tisch hier saßen.« Zadok hatte nichts von der Existenz der Kinder gewusst. Er hatte seinen Bruder seit Ewigkeiten nicht gesehen. Und er konnte sich kaum erinnern, wie Ambra aussah. »Ich war zu ihrer Hochzeit geladen. Da habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Ich glaube, Ambra war eine schöne Frau. In jedem Fall waren sie ein hübsches Paar. Voller Mut und Zuversicht. Das ist zig Jahre her.« Zadok hatte vergessen, dass er nicht allein war. Dass es Menschen gab, die sich an ihn erinnern, wenn es drauf ankommt. »Und es kam drauf an. Mein Bruder wusste nichts anderes, als seine Kinder bei mir auszusetzen. Er musste sie loswerden. Es war höchste Zeit. Er tauchte nie wieder auf. Die Kinder fragten nicht nach ihren Eltern. Ich hätte Luca sowieso niemals mehr gehen lassen.«
Zadok lacht, wird wieder ernst, springt auf, geht zum Schrank, zieht eine Schublade auf, nimmt eine Schere daraus, legt sie vor Sara auf den Tisch. »Soll ich dir die Haare schneiden?«, fragt er. »Du bist verrückt«, lacht Sara. »Wunderbar!«, ruft er und klatscht in die Hände. »Dann wären wir jetzt endlich beim Du.« Nachdem sie mit Zadok Musik gehört und literweise Kaffee und später Wein getrunken hat, geht Sara am Nachmittag nach Hause. Sie hat ihm von ihrem Bedürfnis nach Ruhe erzählt. Er hat sie nicht berührt. Sie stellt sich auf dem Weg nach Hause vor, wie das wohl wäre. Sara ist leicht angetrunken, sie fühlt sich sehr wohl und hat überhaupt keine Angst. Noch nie war sie so von Neugierde auf einen Menschen zersetzt gewesen. Noch nie fühlte sie sich derart magnetisch angezogen. »Der hat sie nicht alle, geh da nicht mehr hin«, rät ihre Freundin am Telefon. Oder ihre Bekannte. Sara erinnert sich nicht. »Ich habe nicht so eine Angst vor den Menschen wie du«, antwortet Sara und bekommt Lust auf eine Zigarette. »Du wolltest dich ausruhen«, erinnert ihre Freundin. »Ich bin ausgeruht«, sagt Sara. »Komm früher zurück.« – »Nein.«
Nachdem sie aufgelegt hat, betrachtet sie ihr Leben in der Stadt. Mit geschlossenen Augen liegt sie auf dem Rücken und sieht von oben Sara in der Stadt. Wie Sara nicht mehr klarkommt. Weil sie nicht mehr bei den Gesprächen mithalten kann. Weil sie nicht mehr weiß, wie man sich in Anwesenheit von anderen Menschen verhält. Sara, die sich einen Krankenschein nach dem anderen nimmt. Schlaflosigkeit ist ein Argument. Zumal, wenn man es sieht. Im Gesicht von Sara in der Stadt. Schwarze Ränder. Trüber Blick, wie mit einem Schleim davor. Bluthochdruck. Kettenraucherin. Dünne Nerven. Anstrengend. Sara in der Stadt. Keine Angst vor anderen Menschen, nur vor sich selbst. Sara schläft traumlos in den nächsten Tag. Am Abend sind sie wieder verabredet. In der Kneipe. Da findet ein Fest statt. Irgendein Jahrestag wird gefeiert. Er wollte nicht sagen, welcher. Vor einem Jahr Eine junge Frau mit kurzem Haar wird durch das Dorf gehetzt. Ihre Füße bluten, sie trägt nur ein weißes Hemd. Aus ihrem Mund keucht sie heißen Atem. Die Meute ist grölend hinter ihr her. Mit den Hunden, die sind sehr schnell.
Die Frau versucht, auf einen Baum zu klettern, aber sie rutscht immer wieder ab. Und jetzt packt einer der Hunde ihr rechtes Bein und reißt ein Stück Fleisch raus, er schüttelt knurrend vor Gier den Kopf. Es wird warm an ihrem rechten Bein. Und jetzt ist auch die Meute da, die Frau wird von hinten gepackt und auf den Boden geworfen. Ein Stiefel tritt auf ihren Rücken, das nimmt ihr die Luft, zwei Hände schnallen ihr Flügel um. »Ab in den Himmel mit dir, Engelchen«, zischt einer wie erleichtert in ihr Ohr. Heute Um halb acht klopft es an Saras Tür. Sie war im Tiefschlaf. Es klopft erneut, energischer. »Moment!«, ruft Sara. Die Pensionsfrau steht mit einem Tablett vor der Tür. »Heute wird gefrühstückt, Kindchen. Ich bestehe darauf. Nicht, dass Sie mir wieder heimlich das Haus verlassen, ohne zu frühstücken.« »Massakrieren mich sonst die Krähen?«, fragt Sara. Da zieht die Frau den Kopf ein, streckt die Arme aus, drückt Sara das Tablett in die Hände und schlägt sich mit einer Faust gegen die Stirn, dabei flüstert sie vor sich hin.
»Alles okay?«, fragt Sara. »Frühstücken, Kindchen, frühstücken«, sagt die Frau und verschwindet hektisch die Treppe hinunter. Der Tag beginnt sonnig, Sara sitzt bei geöffnetem Fenster im Bett. Sie ignoriert das Ei, alles andere isst sie auf. Braves Kindchen, denkt sie und muss fast lachen. Sie würde gern Kaffee nachbestellen, aber sie hat keine Lust, über das nicht gegessene Ei zu diskutieren. Sara hat auch keine Lust, darüber nachzudenken, ob sie sich leichtsinnig verhält oder nicht. Denn sie hat gut geschlafen und das allein schon bedeutet einen ungeheuren Wert. Und sie ist wie alle plötzlich Neugierigen, wie alle mit einem Mal Faszinierten, wie alle, die zuvor gelangweilt waren, wie alle, die sich bereits für tot erklärt hatten. Wenn da plötzlich ein Tag sonnig beginnt. Unabhängig vom Wetter. Wenn das Aufwachen mit einem Glücksgefühl beginnt, mit einem aufgeregten Ziehen im Bauch und einem Kopf voller Kraft. Lange steht sie dann vor dem Spiegel und überprüft ihr Gesicht. Lange betrachtet sie ihr Haar. Wieder gewachsen, stellt sie fest. Der Vormittag vergeht im Nu. Sara legt sich wieder hin, sie döst ein wenig, sie steht auf, sie hockt am Fenster, sie würde gern eine rauchen, sie muss darüber lachen, sie betrachtet
die drei Krähen. Sie öffnet das Fenster und klatscht in die Hände. Die Krähen fliegen kreischend auf. Dann duscht sie länger als sonst und steht eine Weile vor ihrem Koffer. Sie hat zu wenig mit. Nur Sachen, die man anzieht, wenn man nicht gesehen werden will. Am Nachmittag hat sie sich entschieden. Und erst am Nachmittag durchschneidet sie ein trauriger Gedanke. Gerade als sie angezogen ist und auf dem Bett sitzt und auf den Abend wartet. Der traurige Gedanke ähnelt den Worten ihrer Freundin am Telefon. Er feuert Zweifel durch Saras Kopf. Kurz schwindet die Kraft, die altbekannte Müdigkeit, die aber niemals den Schlaf brachte, scheint zurück zu sein. Sara schließt die Augen und atmet ein und aus; sie steht auf und verlässt das Zimmer. Sie schleicht die Treppen herunter, verlässt das Haus; dann rennt sie los. Sara rennt durch den Wald, sie rennt ein Stück die Landstraße entlang bis zu den Äckern, kalter Lehm. Dort bleibt sie stehen, ein paar Wolken schieben sich vor die Sonne. Wenn Sara die Augen schließt, dann sieht sie Zadok. Mit dem Lodern in den Augen und dem traurigen Lächeln. Und wenn sie die Augen wieder öffnet, sieht sie ihn trotzdem noch.
Auf dem Weg zurück, langsam, es ist noch so viel Zeit, bemerkt Sara, wie hungrig sie war. Nach einer großen Geschichte. Sie bemerkt erst jetzt, wie ausgehungert sie sich gefühlt hatte. Sie soll sie sich ansehen. Wie sie feiern. Saufen. Brüllen. Auf den Tischen tanzen. »Die zaudern nicht, die sind echt in dem, was sie tun. Da wird nichts vertuscht. Sie geben sich keine Mühe, sich zu leugnen. Sie sind wie ihre Hunde«, beschreibt Zadok die Dorfbewohner. Er und Sara stehen vor der Kneipe, es ist dunkel, ein leichter Wind. »Und das mag ich an ihnen.« »Sollen wir nicht reingehen? Es wird kalt«, sagt Sara. »Das ist unmöglich«, antwortet Zadok. »Warum?« »Es ist zu laut da drin. Da können wir nicht reden.« »Was feiern die denn?« »Eine Tote.« »Die war wohl sehr beliebt«, sagt Sara. Und da lächelt er wieder so, ganz kurz nur, aber sichtbar. Sichtbar schön. Sie lächelt zurück. »Sara. Ich werde mich nie in dich verlieben.«
Das Beste an seinem Haus sind die Wärme, das Licht und der Geruch. Auf dem Tisch stehen drei Kerzen und drei Flaschen Wein. Verschwinde, denkt Sara. Hau ab. Fahr zurück nach Hause. Geht nicht. Muss hier bleiben. Ist nicht anders möglich, denkt sie. »Du bist dreiundzwanzig«, startet er. »Bravo«, macht sie weiter. »Du fängst vermutlich wieder mit dem Rauchen an.« »Niemals«, sagt sie. »Du hast schwache Nerven.« »Falsch«, lügt sie. Zadok hatte den Kindern ein Zimmer eingeräumt. Er hatte viel zu viele Zimmer. Ihr könnt jeder ein eigenes haben, hatte er gesagt. Aber das Mädchen bestand darauf, bei ihrem Bruder zu schlafen. »Luca hatte keine Angst, allein. Sie wollte ihren Bruder beschützen.« »Wovor?« »Vor der Welt.« Dann steht Zadok auf, um Sara ein Häppchen zuzuwerfen: Er bittet sie zum Tanz. Sie macht mit und Zadok denkt, es ist leicht. Es ist leicht. Man muss sich nur den Richtigen aussuchen, genau hinschauen. In die Augen, die verraten alles. Sie verraten, wie viel jemand aushalten
kann. Sie tanzen aus der Küche durch den langen Flur und wieder zurück. Sie stolpern nicht, Zadok tanzt sehr gut. Sie tanzen in den großen Raum gegenüber der Küche, hin zur Musik. Er stellt sie lauter, er lacht kurz, sie starrt ihn an, das will sie. Ihn immer anstarren. Das ist verrückt, denkt sie. »Ein Jahr habe ich auf jemanden wie dich gewartet«, flüstert Zadok in ihr Ohr. Sie drehen sich schneller. Durch den ganzen Raum, in dem nicht ein einziges Möbelstück steht. Nur eine Stereoanlage, mindestens tausend CDs und vier große Boxen. In jeder Ecke eine. Damit die Musik von allen Seiten umarmen kann. Damit Sara sich die Musik durch das Gehirn wischen lässt. Damit sie geschmeidig bleibt. Zadok sprach kaum mit den Kindern. »Aber wenn Luca im Raum war, dann musste ich sie die ganze Zeit beobachten. Sie war überirdisch. Immer knapp über dem Boden, den der normale Mensch unter den Füßen hat. So viel vielleicht nur, aber das reicht. Es reicht vollkommen aus. Als ich nach einer Woche zum ersten Mal mit den Kindern ins Dorf ging, erkannte ich, dass es alle spürten. Ich war kein Einzelfall. Beru-
higend war das. Alle stierten sie an. Luca schnitt die Menschen aus. Aus ihrer Welt. Sie machte das nicht absichtlich. Aber nicht jeder möchte ausgeschnitten werden. Erträgt das. Wie ein Stück Papier durch die Luft gewirbelt zu werden. Nicht jeder erträgt das. Die meisten ertragen es nicht. Es sei ihnen verziehen. Ich verstehe das gut. Die Leute hassten sie. Auf mich hatte sie eine andere Wirkung. Ich ließ mich gern von ihr mitnehmen. Ich war arglos.« Er öffnet die zweite Flasche Wein. »Mit dem Trinken hast du nicht aufgehört?« »Nein.« »Aber mit dem Rauchen.« »Genau.« »Du denkst, ich sei ein Kinderficker.« »Ich sollte gehen.« »Das sagst du oft.« »Ich gehe besser.« »Die eine teilen wir uns noch?« »…« »Ja?« »Okay.« Sie teilen sich die zweite Flasche Wein, draußen wird der Wind ein Sturm. Der fegt durch die Bäume, reißt ihnen die restlichen Blätter
aus und heult über den roten Dächern. Zadok hat eine Art; er macht Sara ganz verwirrt. Fesselnd ist er, als hätte er tausend Arme. Er fährt fort: »Ich kann dich beruhigen. Aber vor allem mich selbst. Hör genau zu.« Er streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn, nimmt einen Schluck, beugt sich nach vorn, die Arme auf dem Tisch. »Ich hielt sie für meine Nichte, sie war ein zehnjähriges Mädchen und es erübrigt sich die Frage, ob ich mich in sie verliebt hatte. Das hatte ich. Aber ich nahm an, es sei auf eine andere Weise als das, was man gemeinhin als verliebt bezeichnet.« Die zehnjährige Nichte hatte diese Kiste unter ihrem Bett stehen. Da waren ein paar schwarze Bücher drin. Das waren die Tagebücher ihrer Mutter. Sie begann eines Abends mit dem ersten. Hast du eine Taschenlampe?, fragte sie Zadok. Er hatte eine. Aber keine Batterien. Kaufst du mir welche?, fragte Luca. Er kaufte ihr welche. Am gleichen Abend lag sie mit der Decke über ihrem Kopf und begann mit Ambras erstem Tagebuch. Ich bin tot. Habe soeben zwei Babys geboren … »Luca begann an ihrem elften Geburtstag mit dem ersten Buch. Sie hatte erkannt, dass ihr Gefühl, als ihr Vater sie zu mir brachte, richtig
war. Sie würde ihre Eltern nicht wiedersehen. Sie und ihr Bruder feierten ihren elften Geburtstag mit mir zusammen. Nicht mit ihren Eltern. Die Kinder waren seit einem halben Jahr bei mir.« »Sie fragte nicht nach ihren Eltern? Und Raphael? Was war mit ihm?« »Raphael sprach kein Wort. Er hatte noch nie gesprochen. Er war physisch gesund. Er hätte sprechen können. Aber er wollte wohl nicht. Wenn ich ehrlich bin, er war sehr blass im Vergleich zu seiner Schwester. Sicher nicht dumm. Aber ganz anders. Schwarz und weiß. Heiß und kalt. Schmerz und …, sag Sara, was ist das Gegenteil von Schmerz? Luca wusste das auch. Deswegen beschützte sie ihn. Sie war übrigens in der Lage, Gedanken zu lesen. Denn sie hatte von früh an einen Blick für die Dinge. Sie nahm die Welt als bedrohlich, als einen immerzu währenden Schmerz wahr. Deswegen musste sie ihren Bruder, der drei Minuten jünger als sie war, beschützen. Sie las also die ersten Seiten des ersten Tagebuchs ihrer Mutter. Sie lag da unter der Decke, das Licht schien hindurch, sonst war es ganz dunkel im Zimmer. Ich stand an der Tür und beobachtete sie. Plötzlich begann das Laken über ihr zu zittern, immer mehr.
Vielleicht weinte sie oder der Schreck fuhr durch sie hindurch. Ich ging zurück in die Küche, setzte mich an diesen Tisch hier und zündete mir eine Zigarette an. Als sie auf einmal in der Tür stand. Mit großen Augen und mit einer Schere in der Hand kam sie langsam auf mich zu, barfuß. Die ganze Zeit starrte sie wie durch mich hindurch. Luca?, sprach ich sie an. Sie setzte sich mir gegenüber und legte die Schere auf den Tisch. Schneidest du mir die Haare kurz?, fragte sie. Ihre Haare waren sehr schön und gingen ihr fast bis zum Hintern. Aber es fiel mir schwer, ihr einen Wunsch auszuschlagen. Also schnitt ich ihr die Haare kurz. Kann ich auch eine rauchen?, fragte sie, während sie sich in der Fensterscheibe betrachtete.« Zadok wirft die Hände hoch. »Es stand ihr wunderbar. Sowohl die kurzen Haare als auch das Rauchen. Das konnte sie im Übrigen sofort. Sie hustete nicht ein Mal.« Er greift zur dritten Flasche Wein. »Warum erzählst du mir das alles?«, fragt Sara. »Weil du meine Zuhörerin bist.« »Ich könnte jederzeit …« »Gehen.« »Genau.« »Dann geh doch.« »Okay.« Sara steht auf, zieht den Mantel an
und geht aus der Küche. »Sara«, sagt er. »Du darfst nicht immerzu deine Meinung ändern. Mal magst du mich. Und dann wieder nicht. Du musst dich entscheiden.« »Warum erzählst du mir das alles?«, wiederholt sie. »Weil ich beichten will.« Sara lacht. »Ich bin kein Pfarrer.« »Aber du bist klug und du hörst mir zu und du bist neugierig und du hast keine Angst und ich weiß, dass du richtig bist.« Er steht auf, geht zu ihr hin und streckt ihr eine Hand entgegen. »Na, komm. Sara ohne h. Lass mich nicht im Stich.« Ambras Tagebuch Wir nennen sie Luca und Raphael. Der Junge gibt keinen Ton von sich. Und das Mädchen hat einen durchdringenden Blick. Sie sind seit zwei Tagen zu Hause. Sie mussten länger als ich im Krankenhaus bleiben. Zur Beobachtung. Sie hatten irgendein Fieber. Ich weiß nicht mehr. Sie sind die Einzigen, die den Brand überlebt haben. Ich weiß, wer das Feuer gelegt hat. Ich habe sein Hemd gesehen, als er die Wohnung verließ, und ich habe es gesehen, als er nach Hause kam. Er hat mich fast ent-
schuldigend angelächelt. Satans Brut geht nicht kaputt, habe ich gedacht. Wir kriegen jetzt tagsüber Unterstützung von einer Frau. Weil ich nicht mehr laufen kann und Carlo arbeiten muss. Sie kümmert sich um den Haushalt und die Babys. Sie weiß nichts. Sonst würde sie schreiend das Haus verlassen. Wenn sie wüsste, wen sie da füttert. Und wessen Scheiße sie da wegwischt. Ich trainiere jeden Tag. Zehnmal hintereinander, morgens, mittags und abends denke ich: Die Babys können nichts dafür, die Babys können nichts dafür, die Babys können nichts dafür … Zadok wusste nicht, welche Lektüre Luca von nun an jeden Abend unter der Bettdecke verschlang. »Ich rührte die schwarzen Bücher nicht an. Luca sprach kein Wort darüber. Ich musste mich um eine Schule für die Kinder kümmern. Es war höchste Zeit.« Er fragte Luca, auf was für eine Schule ihr Bruder gegangen ist. Wir waren in der gleichen Klasse, antwortete Luca. Warum fragst du? Denkst du, Raphael ist dumm? Weil er nicht spricht? Weißt du was, Zadok? Ich würde am liebsten auch kein Wort mehr reden. Aber leider bin ich nicht so klug wie Raphael. Zadok meldete die Kinder an. Sind Sie ihr Va-
ter?, fragte die Direktorin. Ihr Onkel, antwortete Zadok. Meine Eltern sind tot, ergänzte Luca. Oh, machte die Direktorin. Und die Kinder waren eingeschult. »Nicht Raphael machte Schwierigkeiten. Die Lehrerin mochte den Jungen. Auch wenn er nicht sprach. Er tat ihr irgendwie Leid. Mitleid ist ein großes Gefühl. Luca war es, die nach einem Monat von der Schule flog. Also war ich nun an den Vormittagen allein mit ihr. Ich nahm mir vor, sie zu unterrichten. Aber es war eigentlich von Anfang an klar, vom ersten Augenblick an, als wir uns das erste Mal gegenüberstanden, war klar, dass Luca es war, die mich unterrichtete.« »Warum ist sie geflogen? Was hat sie getan?« »Sie war für die meisten kaum auszuhalten. Sie stellte die falschen Fragen. Sie hielt nicht den Mund, wenn ihr etwas nicht passte. Sie weigerte sich zu antworten, wenn sie gefragt wurde. Sie redete dann, wenn es ihr passte. Sie machte einen verrückt mit ihrem Blick. Leute mit schwachen Nerven konnten das nicht ertragen. Sie froren, denn Lucas Blick zog dich aus, verbrannte dein Fleisch, ließ dich da stehen, nichts als ein paar Knochen. Die Lehrerin, die Direktorin, die anderen Kinder entschieden sich – wenn man von Entscheidung
sprechen kann –, sie zu hassen. Sie war zu viel. Was soll ich sagen? Ihre Aura?« »Abgenutzt«, sagt Sara. Zadok lacht. Erst leise, dann immer lauter; in der Nacht setzen sich die drei Krähen auf das Dach. Hören den Stimmen zu, die aus dem Fenster, das Zadok jetzt öffnet, schallen. Hören Zadoks Lachen und Saras ruhige Stimme. Hören Zadok reden, reden, reden. Um Kopf und Kragen, flüstert eine der Krähen. Die anderen zwei schlagen mir ihren Flügeln Applaus. Endlich hat er jemanden gefunden, kreischt eine Krähe in das Gelächter der anderen. Und theatralisch reißen sie ihre Schnäbel auf. Zadok lehnt sich zurück. Er strahlt Sara an und fährt sich durchs Haar. »Noch Durst?«, fragt er. Sara kommt erst früh am Morgen heim. Sie schleicht in ihr Zimmer und fällt, so wie sie ist, ins Bett. Sie schläft sofort ein. Sie haben sich nicht verabredet. Aber natürlich wird sie ihn wiedersehen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Das ist einfach, wenn es so ist. Man muss sich nicht entscheiden. Morgen will sie die Pensionsfrau fragen, ob sie Luca kennt. »Heute aber schön frühstücken, Kindchen«,
sagt die Frau, der die Pension gehört. Sara sitzt im Frühstücksraum, vor ihr stehen Kaffee, Brötchen, Wurst, Marmelade und ein Ei. Sie ist der einzige Gast. Die anderen Gäste, ein junges Ehepaar, sind am Vortag abgereist. Sara hatte nicht ein einziges Wort mit ihnen gesprochen. Die Frau ist schon wieder auf dem Weg in die Küche. »Kennen Sie eigentlich Luca?«, fragt Sara. Da erstarrt die Frau im Gehen. Wird wie Stein. Und dann fängt sie fürchterlich zu heulen an und schlägt sich eine Faust gegen die Stirn, mit kleinen, schnellen Bewegungen, wie um einen bösen Fluch daraus zu bannen. Erst als Sara sie anbrüllt: »Verdammt! Hören Sie auf damit!«, wird sie still und wieder warm, aber ihre Haut ist noch faltiger als zuvor. Und ein Büschel Haar ist ihr ausgefallen. Aber sie zuckt ins Leben zurück, aus einem Stein wird wieder ein Mensch. Sie schüttelt ihren Kopf, geht weiter Richtung Küche. »Immer brav essen«, flüstert sie. Die hat sie nicht alle, denkt Sara und steht mit zitternden Beinen auf. Sie lässt das Frühstück unberührt und wankt hoch in ihr Zimmer. Sie duscht, bis das Wasser nicht mehr warm ist. In ein Badelaken gehüllt, legt sich Sara ins Bett. Nach einer Weile steht sie auf, zieht sich an, verlässt das Haus, rennt zur
Kneipe, zieht Zigaretten, rennt zurück, wirft sich aufs Bett und zündet sich eine an. »Wegen der Stille bin ich hier«, flüstert sie. Mindestens hundert Kerzen erleuchten die Räume im Erdgeschoss. Aus seinem Haus fegt Musik. Sara schleicht geduckt an das Fenster heran. Sie sieht ihn tanzen, mit hochgeworfenen Armen, sich drehen und sich selbst umarmen. Er fällt auf die Knie und faltet kurz die Hände, um in der nächsten Sekunde wieder aufzuspringen, hin und her, zwischen Hass und Traurigkeit. Sie will lieber umkehren und ihren Koffer packen, bevor er sie auffrisst. Dazu scheint er in der Lage zu sein. Sie will lieber zurück in die Stadt. Sara in der Stadt. Während sie überlegt und kämpft, zieht Zadok einen Mantel an. Und als sie sich gerade den entscheidenden Ruck geben will, steht er vor ihr. »Du solltest nicht auf dem kalten Boden sitzen«, sagt Zadok. »Du bist nicht meine Mutter«, antwortet Sara, rappelt sich hoch und schlägt sich den Dreck von der Hose. »Und du bist nicht leise genug. Du musst dich noch leiser an mein Haus heranschleichen. So leise, dass ich es nicht höre. Aber so leise kannst du gar nicht sein. Also streng dich beim
nächsten Mal nicht so an und klingle einfach, wenn du mich sehen willst.« »Ich wollte … ich wollte deinen Tanz nicht stören.« »Sara, du bist die höflichste Person, die mir je begegnet ist. Ich bin froh, dass du dich entschlossen hast, dich um mich zu kümmern. Auch wenn du weder ein Pfarrer noch meine Mutter bist.« »Ich bin sicher, Luca hatte auch immer das letzte Wort.« »Genau. Ich habe sie sozusagen …« »Gefressen?« »Du hast Recht, das ist wohl das passende Wort. Ich habe Luca gefressen. Immer wieder. Ich habe sie jeden Tag und nachts in meinen Träumen gefressen. Denn wenn man sie liebte, so wie ich, dann wollte man ihr unbedingt ähnlich sein. Ich wollte ihren Blick. Ihre Logik. Ihre Ernsthaftigkeit; sie war und ist der einzige Mensch, der mir je begegnet ist, der trotz solch einer Ernsthaftigkeit über dem Boden schwebte. Und sie schwebte auch dann noch, als sie mit der Lektüre ihrer Mutter begonnen hatte. Jede dieser Seiten hätte ein anderes Kind todkrank gemacht. Ambras Tagebücher hinterließen zwar Spuren, Lucas langes Haar fiel ihnen zum Opfer und ihre reine Kinderlunge. Ihre
Augen wurden ein wenig dunkler. Aber nicht in dem Ausmaß, das man vermuten hätte können. Als hätte sie es geahnt. Als wäre es eine Bestätigung. Auch schmerzhaft, aber nicht überraschend. Der Stich ins Herz. Sie hat es geahnt. Sie wusste auch, wann der Hund vom Wirt sterben würde. Sie liebte den Hund sehr. Sie sagte, ich hole Zigaretten, und verschwand dann für zwei Stunden. Erst dachte ich jedes Mal, jetzt ist sie weg. Für immer. Aber dann fiel mir ein, dass sie niemals ohne ihren Bruder verschwinden würde. Und ich war in diesen Stunden immer sehr froh, dass es auch Raphael gab. Mein Pfand. Das habe ich damals noch nicht gedacht, aber sehr wohl gespürt. Sie hatte es sich angewöhnt, den Hund lange zu streicheln und dabei zu rauchen. Der Wirt schätzte das nicht sehr. Er mochte das Mädchen nicht. Aber der Wirt ist ein bisschen feige, musst du wissen. Und deshalb traute er sich nicht, sie wegzuscheuchen. Mit Leuten, die besoffen in seiner Kneipe randalieren, kann er umgehen. Und er kann auch zu Fremden sehr barsch sein. Aber er traute sich nicht, seine Worte an Luca zu richten. Dann kam sie zurück und ich sagte, wasch dir die Hände, du
stinkst nach Hund, und sie sagte, der Wirt mag mich nicht. Jedes Mal, wenn ich seinen Hund streichle, wird ihm übel. Er hasst es, wenn ich Zigaretten hole. Dann weiß er, dass ihm fast zwei Stunden lang zum Kotzen sein wird. Der arme Wirt. Wir konnten darüber lachen. Luca und Raphael und ich. Es ging uns sehr gut. Sollen wir reingehen, Sara?« Luca brachte ihm das Tanzen bei. Du tanzt wie ein Trottel, sagte sie. Bist du taub? Du hast so viele CDs und hörst die Musik gar nicht. Da kann ja ein alter Krüppel besser tanzen. Sie sagte, wenn man Musik nicht richtig hört, dann kann man auch nichts anderes hören. Musik sei noch das Leichteste. Und wie lange braucht es, bis man hellsehen kann, Luca?, fragte er sie an dem Abend, als sie während des Essens plötzlich zu weinen anfing. »Ich fragte sie, was los sei. Und Raphael stand auf und nahm sie in den Arm. Das konnte ich noch nicht. Es brauchte viel Zeit, bis ich es wagte, sie in den Arm zu nehmen. Sie sagte, jetzt hat der Wirt den Hund erschlagen. Ich sagte, das glaube ich nicht. Doch, antwortete sie, sah mich zornig an und schlug mit der Faust auf den Tisch. Okay, dachte ich, schaue ich halt nach. Ihr Zorn machte mich wütend. Wenn es nicht
stimmt, dann mach dich auf was gefasst, sagte ich.« Zadok ahnte, dass Luca Recht hatte, das machte ihm Angst. Die drei Krähen begleiteten ihn. Er ging sehr schnell, fast lief er. »Die drei Viecher über meinem Kopf zeterten mir die ganze Zeit die Ohren zu. Es war unerträglich, Sara. Ich hatte Angst, dass Luca Recht hatte. Fast betete ich, der Hund möge noch leben.« Aber als Zadok zu der Gaststätte kam, verbrannte der Wirt gerade seinen Hund. Es stank fürchterlich. »Ich habe gar nichts gesagt. Ich kämpfte gegen dieses mächtige Gefühl. Liebe? Es gibt kein Wort dafür. Weil es keinen anderen Menschen gibt, der so etwas in einem entfachen kann.« Wünsch dir das Hellsehen lieber nicht, sagte Luca. Es bringt mehr Leid als Glück. Du hättest den Wirt auch totschlagen sollen, schrieb Raphael auf einen Zettel. Das hätte ich wohl, antwortete Zadok schwach. »Das ist alles nicht wirklich leicht zu glauben«, sagt Sara. »Aber du glaubst mir?« »Vielleicht macht es keinen Unterschied, ob du lügst oder nicht. Vielleicht ist es mir egal. Dir ist ja auch egal, ob ich dir glaube oder nicht. Du hast von irgendetwas reichlich ge-
fressen und jetzt hast du das Bedürfnis, dich auszukotzen. Fertig.« »Oh lala, Sara. Du bist eine Poetin!« »Hast du ein Foto von dem Wunderkind?« »Ist dir der Zynismus ein Halt?«, fragt er, steht auf und verlässt die Küche, sie hört, wie er die Stufen nach oben geht. Sara stützt ihren Kopf auf ihre Hände. »Das könnte ich dich auch fragen«, flüstert sie. Er legt ein Foto auf den Tisch. »Augen auf«, sagt er. Da sitzt ein dünnes Mädchen, fast durchsichtig, mit kurzen, dunkelbraunen Haaren auf der Bank vor Zadoks Haus. Es trägt eine Jeans und ein dunkelblaues, ausgewaschenes T-Shirt. Es schaut direkt in die Kamera, seine Augen sehen aus wie schwarze Teller. Das Mädchen sieht entspannt aus. Es deutet ein Lächeln an. In seiner rechten Hand hält es eine Zigarette. Es ist Sommer. Es sieht aus, als hätte das Mädchen vier Schatten. Den eigenen. Und die der drei Krähen, die nicht auf dem Foto sind. »In Ordnung«, sagt Sara. »Ich glaube dir.« »Das ist mir egal, weißt du doch«, antwortet Zadok. Sie sehen sich an und dann legt er eine Hand auf ihre. Es blitzt in seinen Augen. Er lacht und reißt sie mit. Sie hält sich den Bauch und wischt sich die Tränen aus den Augen; sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte
Mal so gelacht hat. Das gefällt Sara sehr gut. Und es ist sowieso schon zu spät, das weiß sie. Viel zu weit ist sie schon gegangen. Jetzt gibt es nur noch geradeaus. Er sagt: »Ich koche was.« Sie lehnt ab. »Du wirst doch Hunger haben!« Sie hat keinen Appetit. »Dann guckst du mir beim Essen zu«, sagt er, macht Musik, zündet sich eine Zigarette an, stellt für Sara eine Flasche Bier auf den Tisch. Es wird fast hell, als Sara sich lösen kann. An der Gaststätte zieht sie Zigaretten. Kurz setzt sie sich auf die Stufen. Eiskalt. Irgendwo bellt ein Hund, da ist Sara sich sicher. Sie steht auf, geht schnell zur Pension. Im Wohnzimmer sieht sie die Frau sitzen, ihren Rücken. Sie wiegt sich leicht vor und zurück und spricht leise vor sich hin. Sara schleicht die Treppen hoch, schließt ihr Zimmer auf, geht ins Bad, schaut in den Spiegel. Versucht zu lächeln, muss aber weinen. Verdammt, denkt sie, warum fahre ich nicht nach Hause? Warum bin ich hier? Warum bin ich, verdammt noch mal, hierher gekommen? Was war der Grund? Und weil sie gar so inständig fragt, schenkt ihr die Erinnerung ein paar grau-schwarze Bilder. Sara in der Stadt. Auf dem Weg zum
Arzt, um sich weiterhin krankschreiben zu lassen. Wieder nicht geschlafen. Die Nacht mit dem Versuch verbracht, etwas zu fühlen. Wieder nichts. Versuchen Sie es mit Sport, rät der Arzt. Versuch es mit einer Therapie, sagt eine Freundin. Ich könnte Ihnen auch Medikamente verschreiben, aber damit ist nicht zu spaßen, erklärt der Arzt. Such dir ein Hobby, sagt ein Freund. Sara in der Stadt. In ihrer Wohnung. In der Mitte des Wohnzimmers. Im Chaos. Auf dem Boden verteilt CDs, Bücher, Klamotten, Zeitungen, Teller mit Essensresten, leere Flaschen, volle Aschenbecher. Du musst mal raus, sagt ein Freund. Am besten aufs Land. »Du wirst sehen, das wirkt Wunder«, flüstert Sara und zu ihrem Weinen gesellt sich ein Lachen. Sie schläft ein, sobald sie im Bett liegt. Zur gleichen Zeit liegt Zadok auf dem Fußboden, in seiner Musik. Er liegt auf der Seite, die Beine angezogen, neben sich das Foto. Er streichelt es. Ganz sachte, als wäre es Luca selbst, die er vorsichtig berührt. »Mein armer, armer Engel«, formen seine Lippen, aber kein einziger Laut. Erst im Morgengrauen entfährt seiner Kehle ein dunkler, langer Schrei, das ist der Schmerz. Bei drei öffne ich die Augen, nimmt
sich Sara am Morgen vor. Sie ist seit einer Stunde wach, schafft es aber kaum, die Augen zu öffnen. Sie hört, dass es regnet, und einen leichten Wind. Der Kaffee ist fertig, sein Geruch kriecht unter der Tür durch. Das Telefon klingelt. Saras Hand sucht den Weg. »Kommst du frühstücken?« »Ich schlafe noch.« »Es ist herrliches Wetter.« »Du lügst.« »Und Zadok?«, ruft Sara in die Küche. »Kennen Sie den?« Aber die Wirtin reagiert nicht. Sie zuckt nicht einmal. Als hätte sie nichts gehört. Sara öffnet die Haustür. »Frühstücken, Kindchen!«, ruft die Wirtin. Sofort, wie auf Knopfdruck. Auf einmal wieder da. Mit einer Stimme gesegnet. Dämliche alte Schachtel, denkt Sara. Der Regen kommt von vorn und der Wind wird stärker. Ein paar Dorfbewohner, gehüllt in schwarze Regenmäntel, begegnen Sara auf ihrem Weg. Sie ist die Einzige, die in die andere Richtung geht. Als würde nicht nur der Regen, sondern auch die Menschen von dem Wind getrieben werden. Sara beugt sich nach vorn. Sie hat in der Stadt, in jener langen Zeit der Schlaflosigkeit, schließlich nur noch bei Regen das Haus ver-
lassen. Er spült alles weg, was schmerzt, bildete sie sich ein. Aber sobald sie nach Hause kam oder das Wetter sich änderte, kam es wieder. Mit dem Trocknen kam das nagende Weh zurück. Die Dorfbewohner schätzen dieses Wetter gar nicht. Sie fluchen leise und sobald sie an Sara vorbeigeflogen sind wie große schwarze Vögel, drehen sie sich kurz um und spucken aus. Ein Wort braucht zwei Tage. Ein Satz lediglich einen. Und ein Ereignis, ein Ärgernis, eine Bedrohung, braucht nicht länger als eine halbe Nacht, um sich zu verbreiten. Längst beten sie, diese Frau, die ohne Einladung kam und nicht sofort wieder ging – keiner bleibt hier länger als vier Tage –, möge endlich wieder verschwinden. Nur ihre Kinder, sind sie noch sehr jung sind, verstehen nicht die veränderten Gesten ihrer Eltern. Sie begreifen nicht den Groll in den Gesichtern der Erwachsenen. Sie denken, es sei ihre Schuld. Doch lernen sie schnell. »Hier«, sagt Zadok und reicht ihr eine Hose und ein Hemd. »Das ist nicht nötig.« »Du kannst dich im Bad umziehen«, antwortet er. Das Badezimmer ist dunkelrot gefliest.
Es ist groß, und über dem Waschbecken ist ein Fenster. Der Spiegel hängt an der Wand gegenüber. In dem Regal neben dem Waschbecken liegen ein Kamm, Rasierklingen, ein Rasierer und zwei Zahnbürsten. Drei Krähen beobachten, wie Sara langsam die viel zu großen Sachen anzieht. Das ist ein guter Morgen, denkt sie. Der mit so einem Regen beginnt. Neben dem Badezimmer führt eine Treppe nach oben in die Dunkelheit. Sara hört das Geräusch der Kaffeemaschine, leise geht sie den langen Flur entlang. Sie bleibt in der Küchentür stehen und beobachtet Zadoks Rücken. »Es beruhigt mich«, sagt er, ohne sich umzudrehen, »dass du hier bist.« Als sein Bruder die Kinder brachte, sahen sie verwahrlost aus. Ihre Haare waren struppig und ihre Gesichter dreckig. Zadok setzte die beiden in die Badewanne. Hier bleibt ihr jetzt eine Stunde, sagte er. Ihr stinkt. Zadok nahm an, dass sein Bruder in finanzieller Not war, das war er eigentlich immer gewesen, aber er dachte, dass es nun besonders schlimm sein musste. Lucas und Raphaels Kleidung bestand mehr aus Löchern als aus Stoff. »Trotzdem«, sagt Zadok, »Luca ging aufrecht, sie senkte
nicht den Blick.« Zadok kaufte den Kindern neue Kleidung, was er in Raphaels Koffer fand, war reiner Dreck. »So wie auch Ambras Tagebücher, die Luca so eifrig las. Sie las da jede Menge Dreck, doch leider ließ sie mich nicht daran teilhaben. Sie schien keinen Trost zu brauchen.« Ambras Tagebuch Wenn die Kinder in meiner Nähe sind, verliere ich fast die Nerven. Ich schicke die Frau meist weg. Sie soll viel raus mit ihnen, sage ich ihr. Weil ich ruhebedürftig bin. Und weil Kinder frische Luft brauchen. Und abends soll Carlo sie ruhig halten, ich will sie nicht hören. Carlo kann mit den Kindern gut umgehen. Er reißt sich mehr zusammen als ich. Es könnte ihm sogar gelingen, sie zu mögen, das sehe ich ihm an. Er spricht es ja auch aus, wenn er zu mir sagt, dass er mich nicht mehr erkennt. Dass ich das überwinden soll. Dass die Kinder nun mal da sind. Dass sie nichts dafür können. Ich sei ihre Mutter, Punkt. Aber er liegt ja auch nicht den ganzen Tag auf der Couch mit nutzlosen Beinen und kommt allein kaum aufs Klo. Und er hat auch nicht den Satan in sich gehabt,
durch ihn ist diese Brut nicht gegangen! Er hat nicht diesen Brand im Bauch. Ich weiß auch gar nicht mehr, wie ich war. In dieser Heiligen Nacht wurde meine Freude abgeschlachtet. Ich bemühe mich jedoch, mich zu gewöhnen. Das ist alles, was ich den Kindern geben kann. Zadok legt das Buch beiseite. Er sagt: »Magst du Ambra? Ist sie dir sympathisch? Oder findest du sie abstoßend? Ich beschäftige mich sehr damit. Oder antworte lieber nicht, ich sehe schon, du willst nicht darüber nachdenken. Ich mach dir einen Vorschlag, wir gehen ein bisschen raus, ich zeig dir die Gegend, okay?« Der Weg ins Dorf. »Dieser Weg ist deshalb so gerade, weil die Leute hier Umwege nicht besonders schätzen. Früher war der Weg zwischen meinem Haus und dem Ortseingang sehr kurvig. Sie begradigten ihn, weil man so besser sehen kann, wer von weither kommt. Das ist praktisch, wenn man hinter jeder Biegung einen Feind vermutet. Ich kenne den alten Weg nur von Fotos. Als ich mich entschied zu bleiben, war es schon lange so wie jetzt. Ich kam übrigens, das wird
dich interessieren, aus ähnlichen Gründen wie du an diesen Ort. Ich wollte so viel Ruhe wie möglich. Ich wollte das Tote in mir mit Stille bekämpfen. Oder zumindest mildern. Der Tod kann auch mild sein, so hoffte ich.« Die Gaststätte. »Das ist praktisch und typisch zugleich. Dass am Ortseingang eine Kneipe ist. Denn hier kehren alle ein, die ins Dorf kommen. So hat der Wirt die Möglichkeit, jeden einzuschätzen. Was trinkt der? Wie sieht der aus? Wo kommt der her? Was führt der im Schilde? Wann haut der wieder ab? Hat der vor, länger zu bleiben? Vermutet der Wirt dies, dann wählt er, sobald der Gast zur Tür raus ist, die Nummer deiner Pensionsfrau. Er rät ihr, nicht allzu freundlich zu sein. Aber die arme Frau ist ganz wirr im Kopf, wie du sicher schon festgestellt hast. Sie ist zu jedem freundlich. Es ist ihr nicht auszutreiben. Sie ist, das brauche ich wohl nicht zu erwähnen, nicht besonders beliebt bei den anderen. Aber sie dulden sie. Es mag anders scheinen, aber die Dorfbewohner haben auch ein großes Herz. Und die Alte lebt hier seit ihrer Kindheit, also ist sie eine der Ältesten von
ihnen und etwas von sich selbst schickt man nicht zum Teufel. Ich empfehle dir den Sonntagmittagstisch. Sehr gute Küche. Selbst geformte Klöße, fantastische Bratensauce. Und du kannst dort viele treffen. Ihre Gesichter sind interessant. Sie haben etwas von Hyänen. Magst du Hyänen?« Die Metzgerei. »Die Metzgerei gehört einem Ehepaar, Eltern von drei Jungen. Als Luca hierher kam, waren sie drei, zehn und vierzehn Jahre alt. Sie tragen alle den gleichen Haarschnitt. Hier wird übrigens noch selbst geschlachtet. Schweine und Rinder von den Höfen aus der Umgebung. Die Metzgerei ist eine Goldgrube. Das Ehepaar ist besonders hoch angesehen im Dorf. Trotzdem sind sie nicht überheblich, sie verleihen bei Bedarf kostenlos ihre schärfsten Messer. Die drei Söhne bekamen in der Schule nur die besten Noten, das versteht sich von selbst.« Die Bäckerei.
»Ich mag den Bäcker, er wirkt, als trüge er eine Spur Melancholie in seinem Herzen. Er war übrigens besonders vernarrt in den kleinen Raphael. Solch ein stummes Kind – er fühlte sich dem Junge sehr nahe, ist der Bäcker doch selbst kein Freund von vielen Worten. Er lebt allein direkt über dem Geschäft. Nie bekommt er Besuch. Geht er manchmal in die Kneipe, das kommt selten vor, dann sitzt er meist allein an einem Tisch in einer dunklen Ecke. In der Stadt hätte er sich längst erhängt. Übrigens einer der wenigen, die, was Luca betraf, nicht ganz so überempfindlich reagierten. Er mochte sie vermutlich auch nicht besonders, aber er verspürte diesen Zorn auf sie erst viel später. Und das hatte seinen Grund. Wirklich, der Bäcker ist ein liebenswerter Mann.« Der Laden. »Hier kriegst du alles, was du brauchst. Selten und nur ungern verlassen die Leute hier ihre gewohnte Umgebung. Also ist solch ein Geschäft sehr wichtig, auch wenn es natürlich erheblich teurer ist. Der Laden gehört einer jungen Witwe, eine absolut langweilige Person. Nur deshalb ist sie auch noch hier. Weil sie
sich ohne Schwierigkeiten angepasst hat, als sie vor vier Jahren herkam. Ihr Mann starb vor einem halben Jahr. Ich weiß nicht, wie es kam, dass sie hier landete, wie es kam, dass sie sich hier verliebte. In einen schlaksigen Typen mit stoppeligem roten Haar, in der Mitte von nichts. Vermutlich hatte sie so etwas gesucht. Sara, ich hoffe, so weit würdest du nicht gehen auf deiner Suche nach Ruhe. Der Typ war wirklich ekelhaft, er stank aus dem Mund. Sie ist gar nicht mal hässlich. Sie ist ein wenig gealtert, als ihr Mann starb. Komm, wir schauen sie uns von der Nähe an. Es interessiert mich, was du von ihr hältst. Außerdem können wir dann gleich ein paar Flaschen Wein mitnehmen. Weißt du, Gerüchte streuen, das ist mein liebstes Spiel.« In dem Geschäft. Direkt rechts am Eingang ist eine lange Theke. Über der Kasse hängt ein Vogelkäfig, darin ein Wellensittich mit nur noch wenigen Federn. »Schau«, sagt Zadok und lächelt, »den haben die Krähen für einen Spatz gehalten. Also achte immer schön darauf, genug zu essen!« Der Laden ist lang und schmal. Überall hän-
gen Lampen, es gibt Spielzeug, Lebensmittel, Getränke, Zigaretten, Zeitschriften, Taschenbücher, Windeln und Kleintierfutter. »Guten Tag«, sagt die Frau, die hinter der Theke auftaucht. Sie schaut etwas verwirrt Sara an, dann blickt sie auf ihre Hände. »Ich suche gerade etwas«, sagt sie nach einer Weile, ohne dabei aufzuschauen. »Kann ich Ihnen helfen?« »Wir brauchen Wein.« »Das Wetter ist schlimm.« »Jaja«, sagt Zadok und zieht vier Flaschen Wein aus dem Regal. »Und es soll nicht aufhören.« »Das ist doch gut«, sagt Zadok und betrachtet Sara. »Vielleicht schwemmt das Wasser das Böse heraus.« Die Frau lächelt unsicher. »Darf es noch etwas sein?« Der Wellensittich wiederholt undeutlich: Darf es noch etwas sein? »Ksch«, macht die Frau und fährt mit einer Hand durch die Luft. »Nein, danke«, antwortet Zadok. Die Pension.
»Was soll ich dir dazu sagen? Du weißt sicher mehr als ich. Ich war noch nie in diesem Haus. Luca hat sich einmal in einem der Zimmer eingeschlossen, das ist lange her. Da war sie noch ein kleines Mädchen, elf oder zwölf. Die Pensionsfrau hatte sie die Treppe hochschleichen sehen und war ihr gefolgt. Dann hat sich Luca in einem Zimmer eingeschlossen. Die Frau rief mich an, ich solle das Kind da rausholen, es kämen sicher bald Gäste. Sie wollte sich nicht allzu unbeliebt machen. Das Mädchen in ihrer Herberge bedeutete eine Menge Stress mit der Gemeinschaft. Da kann ich nichts machen, habe ich geantwortet. Sie wissen doch, wie die Kleine ist. Sie kommt irgendwann wieder raus. Haben Sie Geduld. Luca erzählte mir später, dass die Frau sehr freundlich zu ihr war. Sie habe ihr gut zugesprochen und ihr Plätzchen mit auf den Weg gegeben. Aber zugleich, sagte Luca, hatte die eine Angst in den Augen. Ich weiß nicht, Zadok, sagte sie, sehe ich so zum Fürchten aus? Wie sind die Zimmer, Sara?« »Ich kann dir eins zeigen. Und du spielst doch so gern, Zadok, was hältst du davon?« »Ich denke, das ist keine gute Idee. Die Alte hatte bereits einen Herzinfarkt. Sie mag mich,
glaube ich, nicht besonders. Wir würden sie nur ärgern. Du solltest mich besser gar nicht erwähnen.« »Das habe ich bereits. Warum mag sie dich nicht?« »Sie macht mich für ihr schwaches Rückgrat verantwortlich. Sie hadert sehr. Hast du gesehen? Die drei Krähen sind uns gefolgt. Du fragst zu schnell. Wir haben doch Zeit. Hier sind die Tage lang. Und was willst du in der restlichen Zeit deines Aufenthalts tun, wenn du so schnell schon alles weißt? Die Ruhe erträgst du nun sowieso nicht mehr. Und jetzt zeige ich dir den Hochsitz. Da klettern wir rauf und warten auf die Rehe. Was meinst du?« Von den Bäumen fallen dicke Tropfen und das Laub verströmt einen modrigen Geruch. Sie gehen querfeldein. Sie klettern über umgefallene Bäume und steigen über die Wurzeln, die aus der Erde ragen. Die Lichtung ist weit und saftig grün, das Wasser fällt in langen Fäden vom Himmel. Das Gras ist durchnässt, bis auf das Geräusch des Regens ist es still. Sie klettern auf den Hochsitz und setzen sich auf das kalte, feuchte Holz. »Hier ist der beste Platz, sich in Geduld zu üben. Denn es kann lange dauern, bis sich die
Rehe sehen lassen. Wenn du Pech hast, wartest du stundenlang umsonst und gehst dann frierend nach Hause und die Kälte in dir verschwindet eine ganze Nacht lang nicht. Aber wir werden Glück haben, es ist nur eine Frage der Zeit. Ist dir schon kalt?« Zadok entkorkt eine Flasche. Sie schweigen und in Saras Kopf drehen sich bunte Bilder, so, als säßen ihre Gedanken in einem Karussell, sie sind zu schnell, um sie zu halten und länger zu betrachten; das will sie auch gar nicht. Zu sehr staunt sie. Darüber, dass sie mit einem fremden Mann an einem verregneten Herbsttag ein paar Meter über der Erde sitzt und eine Flasche Wein in ihrer Hand hält und darüber, dass sie keine Angst hat und neugierig ist und sich etwas in ihr rührt. Und wie gut das tut, wenn es sich bewegt in der totgeglaubten Seele. Sie teilen sich den letzten Schluck, als ihre Geduld belohnt wird. »Mich wundert«, sagt Sara später, »dass die Leute dich nicht hassen.« Zadok lacht. »Das haben sie, Sara«, sagt er. »Glaube mir, das haben sie bis zum Erbrechen. Aber wir haben uns versöhnt. Ich habe ihnen ein Geschenk gemacht. Ich erzähle dir später davon. Falls es
dich dann noch interessieren sollte.« Sieben Rehe waren auf die Lichtung gekommen, schon nach der ersten Flasche Wein. Das sei ungewöhnlich, hatte Zadok gesagt, dass sie so schnell und zahlreich da sind. Doch Sara war abgelenkt gewesen. Sie sah in eine andere Richtung. Zu den drei Krähen, die direkt neben ihr auf einem Baum saßen. Was Sara an den Vögeln, die sie doch schon so oft gesehen hatte, faszinierte, war die Tatsache, dass auch die drei Krähen die Köpfe zu ihr drehten. Sie stieß Zadok mit dem Ellenbogen in die Seite, aber als er sich drehte, flogen die Krähen laut kreischend auf. Auch die Rehe erschreckten sich, erstarrten eine halbe Sekunde in ihren Bewegungen und rannten dann zurück in den Wald. »Ich glaube, sämtliche Leute, die ich kenne, würden dich auch nicht besonders mögen«, sagt Sara. »Weshalb nicht?« »Weil du ein Schwätzer bist.« »Ein Erzähler.« »Das würden meine Freunde anders sehen.« »Wie viele Freunde hast du, Sara?« Sara in der Stadt. Sie sitzt auf dem Fußboden, mit dem Rücken an der Heizung. Musik häm-
mert aus den Boxen. Sara hält sich die Ohren zu und versucht sich auf das Aufstehen zu konzentrieren. Ich muss die Musik leiser stellen, flüstert sie. Seit einer halben Stunde hält sie sich die Ohren zu und versucht aufzustehen. Sie hatte, bevor sie mit dem Rücken an der Wand heruntergerutscht war und nicht mehr loskam von diesem Fleck, die Wiederholungstaste gedrückt. Das stellt sich jetzt als Fehler heraus. Die laute Musik stört die Konzentration. Sie möchte aufstehen, die Musik abstellen, dann zum Telefon gehen und jemanden anrufen. Aber es fällt ihr keiner ein. Sie würde gern in ihrem Adressbuch nachsehen. Aber sie weiß nicht, wo es ist. Sara in der Stadt. Sie befindet sich in einem inzwischen ihr bekannten Zustand. Sie erträgt es weder allein noch scheint es ihr möglich, mit Leuten zusammen zu sein. Sie habe etliche Freunde, antwortet sie. In jedem Fall eine ganze Hand voll. Und es käme auch nicht auf die Menge an. Er scheine offenbar keinen einzigen zu haben, sonst würde er sie ja wohl nicht dermaßen zuquatschen. Sara weiß gar nicht, was sie so heftig reagieren lässt. Sie fährt fort, sie sei keineswegs einsam, da liege er vollkommen falsch, wenn er annehme, sie sei einsam.
»Nur weil ich mir deinen ganzen Scheiß anhöre«, schreit sie, »heißt das noch lange nicht, dass ich nichts Besseres zu tun hätte!« Zadok setzt sich hin, schaut sie betroffen an. »Ach, Sara«, sagt er nach einer Weile. »Ich wollte dich nicht in Rage bringen. Ich verstehe dich gut. Die Erkenntnis, dass man eigentlich immer allein ist, tut weh.« Auch Sara muss sich setzen, denn ihre Beine zittern zu sehr. Sie nimmt sich eine von Zadoks Zigaretten. »Sag nichts«, flüstert sie. Er gibt ihr Feuer. Vielleicht schweigen sie zehn Minuten oder auch drei Stunden. Sara ist sich nicht sicher, wie lange sie dasitzen und eine Zigarette nach der anderen rauchen. Sie weiß nicht, wie lange es dauert, bis sie sich beruhigt hat und eine angenehme Erschöpfung die Wut ablöst. Zadok sagt: »Wir haben die Kirche vergessen. Warst du schon in der Kirche? Ich habe den Pfarrer vergessen. Hast du ihn schon kennen gelernt? Die Leute verwechseln ihn gerne mit Gott. Er sich auch. Er hält viel von sich. Der Pfarrer hat früher in einer großen Stadt gearbeitet. Er ließ sich, da war er noch jung, hierher versetzen, weil er die leere Kirche dort nicht länger ertrug. Er fand schon immer, dass das, was er zu sagen hat, viele Menschen erreichen sollte. Ich glaube, er ist
der einzige Fremde, der nach kürzester Zeit akzeptiert wurde. Und nicht nur das – er wurde ihnen zum Vorbild. Trotzdem, zum Beichten taugt er nichts.« Sara hat keine Lust zu tanzen. Sie könne ihre Zigarette mitnehmen, sagt er. Er nimmt ihre Hand, sie gehen in den anderen Raum. Sie verliert Asche, er stellt die Musik an, zieht sie zu sich heran. Sara schließt die Augen; sie tanzen in den Abend. Die junge Witwe Helena schließt ihren Laden ab und geht nicht wie gewohnt nach oben in ihre Wohnung, um dort zwei Scheiben Brot zu essen, dazu ein Glas Milch. Normalerweise sind ihre Abende immer gleich. Nach dem Essen schaut sie so lange fern, bis ihr die Augen zufallen. Pünktlich um drei Uhr am Morgen wird sie wach und schaltet den Fernseher aus. Danach kann sie meist nicht mehr einschlafen; sie vertreibt sich dann die Zeit mit Selbstgesprächen. Doch heute Abend ist sie unruhig und vermutet, keinen Bissen runterzukriegen, überhaupt keinen Schlaf zu finden und das Alleinsein nicht ertragen zu können. Sie begrüßt den Wirt und nimmt am Tresen Platz. »Wie schön, dich auch mal wieder zu sehen«, sagt der Wirt und zapft ihr ein Bier. »Du siehst
schlecht aus.« »Heute war kein guter Tag«, sagt sie und weicht seiner Hand aus, die sich auf ihre legen will. »Was ist passiert?«, fragt er. »Zadok hat Besuch.« »Das wusstest du noch nicht? Helena, du musst öfter raus. Wir sehen dich ja kaum noch. Du kriegst gar nichts mehr mit.« »Ihr seht mich jeden Sonntag in der Kirche.« »Das reicht nicht«, antwortet er barsch. Und jetzt gelingt es ihm, ihre Hand zu krallen. Er bohrt seine dreckigen Fingernägel in ihre Haut und geht nah an ihr Gesicht heran. »Helena, wir vermissen dich wirklich sehr.« Die beiden haben einen Pakt geschlossen, das hat Helena nicht vergessen. Doch zugleich ist die Scham so groß. Immer wenn sich der Wirt ihres Körpers bedient, sieht sie das Bild ihres Mannes. Als sei der gar nicht tot, sondern liege direkt neben ihr. Sie hat den Kopf zur Seite gedreht und da ist ihr Mann und stiert sie die ganze Zeit an, genau so lange, bis der Wirt fertig ist. Sie weiß sehr wohl, dass der Wirt geduldig mit ihr ist. Dass sie dankbar sein müsste. Denn obwohl sie sich so rar macht, hält er sich an ihren gemeinsamen Schwur. »Vielleicht hätte ich nicht herkommen sol-
len.« »Doch, doch, das war eine gute Entscheidung. Genau richtig. Ich wollte dich sowieso sprechen. So geht es nicht weiter. Du hältst dich nicht an unsere Vereinbarung. Das macht mich wütend, Helena. Ich weiß nicht, was mit dir los ist.« Sie sucht nach einer Antwort, als plötzlich Gäste hereinkommen. Der Wirt lässt ihre Hand los, dreht ihr den Rücken zu, schüttelt sich kurz und begrüßt dann die anderen. Leise steht sie auf und verlässt die Gaststätte. Raphael wurde schnell akzeptiert. Seine Stummheit beruhigte die Leute in dem kleinen Dorf. Ein Kind, das nicht spricht, beschlossen sie, kann nicht viel ausrichten. Zwar war er der Zwillingsbruder dieses widerlichen kleinen Mädchens, aber dafür konnte er schließlich nichts. »Ich finde, das ist der Beweis, dass die Leute hier sehr wohl unterscheiden können und sich Gedanken machen. Aber ist es nicht bemerkenswert, dass sie vollkommen anders empfanden als ich? Zwar hasste ich den Jungen nicht, aber ich ignorierte ihn mehr oder weniger. Um Luca nicht zu verärgern, war ich freundlich zu Raphael, das fiel mir auch nicht weiter schwer, er war ja ein netter Junge.«
»Du hast ein wirklich großes Herz.« »Das stimmt. Ich wusste lange nicht, wie groß es ist.« »Wo sind die Kinder jetzt?« »Es geht ihnen gut, sie sind noch immer zusammen. Sie waren nur kurz getrennt. Sie leben nicht mehr hier.« Dunkle Wolken ziehen an dem Mond vorbei, der ein milchiges Weiß in die Nacht sendet. Es hat aufgehört zu regnen, die drei Krähen lassen sich von dem leichten Wind treiben. Nach einer Weile des Schweigens kriegen sie Lust auf Schmuck. Gemeinsam machen sie kehrt, fliegen gegen den Wind zurück Richtung Ortskern und setzen sich vor das prächtigste Haus im Dorf. Der Metzger und seine Frau Eva stehen sich im Wohnzimmer gegenüber und streiten heftig. Eva strömen Tränen aus den wütenden Augen, ihr Mann wirbelt mit den Armen durch die Luft. Eva trägt ein knielanges, rotes Kleid und eine schwere Kette aus Gold um ihren faltigen Hals. Sie sieht aus, als käme sie von einem Fest. Sie ist die Einzige im Dorf, die jede Woche in die Stadt fährt. Sie kommt immer bepackt zurück. Meist trägt sie jedes ihrer Kleider nur einmal. Danach ist sie es leid und wirft es weg. Die anderen Frauen beneiden Eva. Keine von ihnen kann sich die-
sen Luxus leisten. Doch ist jede für sich neidisch. Niemals würde das eine zugeben; alle sind sie überaus freundlich, wenn sie Eva treffen. Die Krähen fliegen hoch, setzen sich auf die Dachrinne vor dem Fenster des jüngsten Sohnes. Er ist der Grund für den Streit, der im Erdgeschoss ausgefochten wird. Während die beiden älteren Brüder, die auch noch im elterlichen Haus leben und in der Schlachterei arbeiten, zur Zufriedenheit beider Elternteile gediehen sind, macht der Jüngste nur dem Vater Freude. Eva verurteilt es, dass er wiederholt versucht hat, ein Mädchen aus der Schule anzuzünden. »Er meint es nicht so«, sagt der Vater. »Denk an unseren Ruf«, kreischt die Mutter. »Du hättest ihn nicht mitnehmen dürfen, er hat es nicht verkraftet. Er war schon immer schwach. Verstehst du das nicht? Unser Sohn dreht vollkommen durch.« »Du bist hysterisch«, brüllt der Metzger jetzt, denn er ist müde und will endlich seine Ruhe. »Und ich hasse es, wenn du hysterisch bist. Also geh in dein Zimmer und entspann dich. Und merk dir ein für alle Mal: Keiner meiner Jungen ist schwach! Du bist die Schwache, diejenige, die die Nerven verliert und durchdreht!«
Und damit Eva sich auch sicher sein kann, dass er es wirklich ernst meint, hebt der Metzger drohend die Faust. Er vergisst sie nicht, er vergisst sie nicht, flüstern die drei Krähen und betrachten den Jungen, der manisch mit dem Feuer spielt. Dann machen sie sich auf, fliegen durch die Nacht, um wieder in der Nähe von Zadoks Haus zu landen. »Ich bin so müde«, flüstert Sara. »Du kannst bleiben«, antwortet Zadok. »Das wollte ich eigentlich vermeiden«, sagt sie. »Du kannst in Lucas Bett schlafen. Sie würde sicher nichts dagegen haben.« Er nimmt ihre Hand und zieht sie hoch, dann umarmt er sie und durch Saras Körper gleitet eine wohlige Wärme. So bleiben, denkt sie, nicht loslassen. Nicht reden. Die Zeit anhalten. Mich festhalten. Mehr verlange ich nicht. Er sagt: »Komm, ich zeig dir das Kinderzimmer.« Widerwillig löst sie sich und schaut ihn an. Sucht nach etwas in seinem Blick, das Unbehagen auslösen könnte. An ihren Augen erkennst du sie, denkt Sara. Doch sie findet nichts, seine Augen sind gut. Ein Lodern darin. Sie sind warm. Und er riecht fantastisch. Und er hat Humor. Und er
redet nicht drum herum – wie satt hat Sara das Drumherumreden! Als hätte jeder Mensch sieben Leben. Also kein Mensch, sondern eine Katze, die haben sieben Leben. Die können sich Zeit lassen, bevor sie zur Sache kommen. Wie sehr hat sie dieser immer gleiche Humor gelangweilt. Diese Witzchen, dieses Lachen im Kollektiv. Diese ganze verlogene Scheiße! Keine einzige Überraschung in diesem verdammten Leben. Das doch wohl noch nicht vorbei sein dürfte, in dem Alter, das hatte man ihr vorher nicht gesagt. Und da sollten einem nicht automatisch die Gefühle wegsterben. Nach und nach. Kalt wird Sara bei all diesen Gedanken, die Härchen auf ihren Armen richten sich auf. »Sara«, sagt er und stupst sie an. »Bist du wieder in der Stadt?« »Alles okay«, flüstert sie. Man muss die schmale Treppe in die Dunkelheit hochgehen. Das Zimmer liegt am Ende eines langen, schmalen Ganges. Man geht auf ein kleines Fenster zu, dahinter das Licht der Nacht. Zadok stößt die Tür auf, ein Windzug streift aus dem Raum. Er schaltet das Licht an. Das Kinderzimmer.
Ein großes Bett, ein Schrank, ein Tisch und zwei Stühle stehen im Raum. An der Wand gegenüber dem Fenster hängt ein Spiegel, darin spiegelt sich die Nacht. An den Wänden kleben Fotos, Zeitungsausschnitte, Zeichnungen, Collagen. Vor dem Bett steht ein Paar Schuhe. Auf dem Bett neben dem Tisch steht ein Kerzenleuchter mit drei halb abgebrannten, weißen Kerzen. »Ich lasse hier immer das Fenster auf.« »Warum?« »Falls sie sich entscheidet zurückzukommen. Sie soll nicht denken, dass sie nicht mehr willkommen ist. Es ist ein Zeichen für Luca.« »Ich bin zu müde, Zadok. Ich kann dir nicht mehr zuhören. Hast du einen Schlüssel?« »Hast du Angst?« »Ich will nicht gestört werden, ich bin froh, wenn ich schlafen kann.« »Ich kann dir lediglich mit einem Haustürschlüssel dienen. Es gibt keine anderen Schlüssel, ich habe alle weggeworfen. Ich wusste ja nicht, dass ich eines Tages Besuch von dir haben würde. Das ist nun leider nicht zu ändern. Also, was machen wir jetzt? Ich ha-
be nur eine Idee: du glaubst mir, wenn ich dir versichere, deinen Schlaf nicht zu stören. Ist dir das nicht möglich, dann musst du wohl oder übel doch noch gehen.« »Schon gut. Es ist okay. Wo schläft du?« »Ich schlafe nicht.« Daraufhin zieht er die Tür hinter sich zu, Sara lehnt sich von innen dagegen und schließt die Augen. Sie hört die Schritte, die sich entfernen, sie hört einen leisen Wind, der durch den Raum zieht, und wenig später hört sie von unten Musik. Sara rutscht mit geschlossenen Augen an der Tür herunter. Sie umschlingt ihre Beine und legt ihr Gesicht in ihre Arme. So schläft Sara ein. »Was haltet ihr davon?«, grinst Zadok die Krähen an. Der Morgen ist weiß und nass. Er fingert mit seiner schweren Luft, die durch das geöffnete Fenster dringt, an Sara herum. Dadurch wird sie ein wenig wach, sie liegt verbogen auf dem Teppich, beide Füße gegen die Tür gepresst. Frierend und im Halbschlaf lächelt sie über ihr mangelndes Vertrauen, rafft sich dann auf und lässt sich ins Bett fallen. Sie schläft sofort wieder ein.
Mittags wird Sara wach. Zunächst muss sie überlegen, wo sie ist. Dann weiß sie nicht, wie sie ins Bett gekommen ist und wer sie zugedeckt hat. Und erst, als ihr auch das eingefallen ist und sie erneut gelächelt hat, öffnet sie die Augen. Der Mittag hat ein wenig Einsicht mit der Sonne, die so kämpferisch ist. Er lässt ein paar Strahlen durch die weiße Finsternis und gibt den Blick auf die Sachen an den Wänden frei. Die sind Sara in der Nacht nicht aufgefallen. Die Müdigkeit ist zu schwer in ihrem Kopf gehockt. Sie hat nicht bemerkt, dass dies das Zimmer ist, das Auskunft darüber gibt, ob Zadok Märchen erzählt. Eine kindliche Zeichnung von einem großen Haus, eine weitere von einem Mann und zwei Kindern mit freundlichen Gesichtern, am Himmel zwei Engel mit Tränen. Ein Foto von einem zotteligen Hund. Eine Collage, bestehend aus mehreren Dutzend Augenpaaren, ausgeschnitten, vermutlich aus Zeitschriften. Flügel ohne Federn, nur ein Gerüst, ein Skelett aus Draht, aber eindeutig Flügel. Zeitungsausschnitte, die Überschriften sind bunt unterstrichen. Es sind Berichte, manche nur kurze Meldungen, die von besonders außergewöhnlichen Katastrophen handeln. Ne-
ben jeder Katastrophe hängt ein kleines, buntes Bild. Auf jedem Bild eine Sonne. Nur neben der Schlagzeile Wunder: Neugeborenes rettete Zwillingsbruder Leben scheint keine gelbe Sonne. Ein Foto von Zadok und den Kindern. Sara betrachtet es lang. Zadok steht in der Mitte, die Arme über die Schultern der Kinder gelegt. Er strahlt über das ganze Gesicht. Der Junge ist ein wenig kleiner als Luca, die in etwa in dem Alter ist wie auf dem Foto, das Sara bereits kennt. Der Junge sieht schüchtern aus, trotzdem lächelt er. Und Luca. Eindringlicher, fesselnder als auf dem anderen Bild. Luca lächelt nicht, sie grinst nicht, es ist etwas anderes. Es ist wie Licht. Sara geht näher an das Bild. Eigentlich wollte sie sich Zadok genauer ansehen. Aber Luca lässt sie nicht. Sie lässt nicht zu, den Blick von ihr zu wenden. »Ich verstehe, was du meinst«, flüstert Sara. Sie reibt sich die Augen, damit sie aufhört, dahin zu starren. »Du bist eine Langschläferin«, sagt Zadok. Er sitzt rauchend in der Küche. Auf dem Tisch steht das Frühstück. »Und? Gefällt dir das Zimmer? Ist das Bett bequem?« »Ich hab die halbe Nacht auf dem Boden ge-
schlafen.« »Das erschüttert mich. Möchtest du ein Ei?« »Verschone mich.« »Eine Zigarette vielleicht?« »Kaffee.« »Wie lange hast du sie dir angeschaut?« »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Du lügst stümperhaft.« »Danke.« »Ich bin froh, dass du mir endlich glaubst.« Nach drei Tassen Kaffee verabschiedet sich Sara. Er wollte ihr noch erzählen. Er wollte ihr noch aus Ambras Tagebuch vorlesen. »Später«, hatte sie gesagt. Vielleicht am Abend. Oder am nächsten Tag, sie wusste noch nicht. Doch schon am Ende des Kiesweges erkannte sie, dass sie nicht allzu lange warten würde. Sara geht durch den Wald. Ihr Kopf fühlt sich absolut leer an. Selbst die Tränen, die aus ihren Augen fließen, registriert ihr Gehirn nicht. Auch weiß sie nicht, warum sie jetzt zu rennen beginnt. Sie rennt sich atemlos. Dann macht sie sich nass geschwitzt auf den Weg zur Pension. Die Wirtin erwartet sie vor der Tür. »Kindchen«, stammelt sie, hebt langsam einen Arm und legt ihre Hand auf Saras rechte Wange. Sie wischt leicht darüber und zeigt Sara die
nasse Handfläche. »Kindchen, Sie haben ja geweint.« In der Mittagsruhe klopft es an Helenas Tür. Die Mittagsruhe verbringt Helena immer in ihrer Wohnung. Meist sitzt sie die zwei Stunden auf einem Stuhl am Fenster und schaut mit leerem Blick hinunter auf die Dorfstraße. Als es klopft, zuckt Helena nur kurz zusammen. Dann weiß sie, wer es ist, wer es nur sein kann. Gehorsam steht sie auf, streicht ihren Rock glatt und geht zur Tür. Er packt sie mit festem Griff, eine Hand am Hals, die andere zwischen ihren Beinen, und schiebt sie in die Wohnung. Die Tür kracht ins Schloss. Er stinkt nach Alkohol, sein verschwitztes Haar klebt an seinem großen, roten Kopf. Er schiebt sie Richtung Bett und stößt sie darauf. Er reißt ihr Rock und Unterhose herunter und dreht sie auf den Bauch. »So ist’s brav«, sabbert er in ihr Ohr. Es ist, wie es immer ist, seit Helenas Mann gestorben ist. Als er noch lebte, als sie ihn jeden Tag von früh bis spät sah, war es vollkommen anders gewesen. Als er noch lebte, lag er nicht direkt daneben. So wie er es jetzt tut. Sein Bild gemacht aus Helenas Reue und schlechtem Gewissen. Es ist Furcht erregend und
schmerzhaft, es tut in jeder Sehne weh – ein einziges Weh, die Helena, während der Wirt sie fickt. Es ist ein großer Ekel, größer als ein Mensch und größer als ein Haus. »Machst du Kaffee?«, sagt er danach. Sie richtet sich auf, zieht Unterhose und Rock an, streicht sich über die Haare, geht in die Küche. Sie vermeidet den Blick in den Spiegel, öffnet den Schrank, nimmt Kaffee heraus, sucht nach einer Filtertüte, muss sich fast übergeben. »Ist dir was an unserem Gast aufgefallen?«, fragt der Wirt und drückt sich von hinten an Helena. »Ich suche gerade etwas«, sagt sie. »Ist dir aufgefallen, dass sie aussieht wie jemand, den wir kennen? Nur älter und mit langem Haar.« Helena schluckt die heiße, aufsteigende Übelkeit hinunter und findet eine Filtertüte. »Helena?«, zischt der Wirt und kneift ihr fest in den Hintern. »Ich habe dich etwas gefragt.« »Ja«, antwortet sie schwach. »Das ist mir auch schon aufgefallen.« Nach dem wohlverdienten Beischlaf wollte der Wirt eigentlich mit Helena über die Zukunft sprechen. Denn er hat es satt, der Einzige zu sein, der sich an die Abmachung hält. Ur-
sprünglich wollte er ihr drohen, auch sein Versprechen zu brechen und der Dorfgemeinschaft nach und nach von der kleinen Nutte Helena zu erzählen. Aber jetzt, wo er weiß, dass es keiner Gespräche bedarf, dass man sich einfach holen muss, was nicht freiwillig kommt, verliert er die Lust am Drohen. Es ist ihm zu anstrengend. Er muss seine Kneipe aufmachen und er ist etwas weich in den Knien. Also schweigt er, trinkt den Kaffee, stellt die leere Tasse in die Spüle, sagt: »Bis morgen dann«, und geht. Etwas später wankt Helena hinunter in den Laden. Bevor sie die Tür aufschließt und die Rollläden hochzieht, reißt sie dem Wellensittich eine weitere Feder aus. Darf es noch etwas sein?, schreit der Vogel. Sara vor dem Spiegel. Hin- und hergerissen zwischen tosend leicht und tonnenschwer. Sara auf der Suche nach der Nagelschere. Fiebrig. Sara vor dem Spiegel. Mit tränenverschmiertem Gesicht und großen Augen. Die rechte Hand bewaffnet mit der Nagelschere, die linke hält eine Haarsträhne. Und im Kopf kreischt es ja und dann wieder wimmert es nein. Das Telefon klingelt. Sara lässt die Schere fallen, ihr Herz stolpert.
»Zadok?« »…« »Hallo?« »… Sara, ich bin’s. Wir machen uns Sorgen um dich. Ich habe mit ein paar Leuten darüber gesprochen, das durfte ich doch, oder? Und, na ja, wir sind besorgt. Und wir finden alle, dass du zurückkommen solltest.« Am liebsten würde sie auf der Stelle auflegen. Am liebsten würde sie das Telefon gegen die Wand schleudern. Sie will nicht mit dieser Frau, dieser Freundin, dieser Bekannten – was auch immer sie ist – sprechen. Sara ist eigentlich nicht zu sprechen für die Humorlosen und für die Heuchler und für die Drumherumredner und die Fantasielosen und die Nichtfreunde. Die sich sorgen und gute Ratschläge geben. Trotzdem, aus Höflichkeit, nimmt sie ihre Kraft zusammen und sagt: »Es geht mir gut, keine Sorge.« »Was ist mit diesem Typen?« »Zadok.« »Genau. Hat der dich noch mal angegraben?« »…« »Sara?« »Er hat mich nicht angegraben. Das hast du falsch verstanden.« »Sara, ich bitte dich …«
»Ich muss jetzt auflegen.« »Warte …« Bist du traurig?, fragt eine der Krähen. Nein, antworten die anderen zwei. Es klingelt erneut. Sara hält sich die Ohren zu. Als es endlich still ist, öffnet Sara das Fenster, legt sich aufs Bett und schließt die Augen. Ein bisschen Ordnung in das Chaos bringen. Nicht den Boden verlieren. Ruhig atmen und der Stille zuhören. Sie zählt an ihren Fingern ab: Ich gehe, ich gehe nicht und so weiter. Der rechte kleine Finger, der letzte in der Reihe, sagt: Ich gehe nicht. Sara öffnet die Augen, steht langsam auf, nimmt die Schere, legt sie auf den Tisch, geht ins Badezimmer und stellt sich unter die Dusche. Danach zieht sie sich an, fönt ihr Haar, schminkt sich die Augen, verlässt das Haus. »Hallo«, sagt sie, als sie in die Gaststätte kommt. Der Wirt schnaubt hörbar. Sara setzt sich an einen Tisch am Fenster und schlägt ihr Buch auf. Sie hatte sich eigentlich darauf gefreut, sie hatte es extra für ihren Aufenthalt auf dem Land gekauft. Aber bislang ist sie nicht weiter als bis Seite zwanzig gekommen. Sie startet einen neuen Versuch, aber
vergeblich. Er fragt nicht, was ich trinken will, denkt sie. Sie wartet, am liebsten würde sie die Zeit messen, aber sie hat keine Uhr. Nichts, er ignoriert mich, denkt sie. Dieses fette Schwein, was bildet der sich ein? Sie legt das Buch auf den Tisch und zählt bis fünfzig. Dabei starrt sie auf den Rücken des Wirts, der sich noch nicht einmal umgedreht hat. Fünfzig. »Ich hätte gern einen Kaffee und dazu ein Glas Wasser, wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmacht«, sagt sie beherrscht. Er ignoriert sie. Es reicht. Sie steht auf, geht zum Telefon, das in der hintersten Ecke hängt, sucht nach Kleingeld, wirft es in den Schlitz, wählt Zadoks Nummer. Die sitzt ja längst fest in ihrem Hirn. Jemanden anrufen können! Eine Nummer parat haben! Jemanden um Hilfe bitten! Jemanden herbeisehnen! »Zadok? Können wir uns in der Kneipe treffen? Es ist wichtig. Kommst du?« Zufrieden legt sie auf und dreht sich um. An ihrem Tisch sitzt ein Junge, der starrt sie an. »Ein Kaffee, ein Wasser«, sagt der Wirt, Sara zuckt zusammen. »Wie freundlich«, flüstert sie, ohne den Blick
von dem Jungen zu wenden. »Das ist der kleine Jakob«, sagt der Wirt, der immer noch direkt neben Sara steht. »Der Jüngste vom Metzger. Er mag Weiber wie dich nicht.« »Kannst du auch sprechen?«, fragt Sara das Kind. »Du solltest dich verpissen«, sagt der Wirt. Sie versucht, ihre Wut, das Zittern zu unterdrücken. Was es nur noch schlimmer macht. Der Junge kramt in seiner Hosentasche, holt ein Feuerzeug heraus und zündet die Kerze auf dem Tisch an. »Jakob«, mahnt der Wirt. »Du weißt doch, was deine Mutter davon hält.« Dann klopft er ihm freundschaftlich auf die Schulter und verschwindet hinter dem Tresen. »Das ist aber nett von dir«, bemüht sich Sara. »So ist es wirklich viel gemütlicher.« Zadok kommt genau zur rechten Zeit. Eine Sekunde später und der kleine Jakob hätte über den Tisch gelangt, nach Saras Haaren gegriffen und versucht, diese ins Feuer zu halten. Er stößt die Tür auf und bringt Wind mit herein, der das Kerzenlicht löscht. Er stellt sich neben den Jungen, ohne den Wirt anzuschauen. »Hau ab, du Parasit«, sagt er. Sofort springt der Junge auf und stolpert raus. Zadok
setzt sich. »Gibt es Probleme?«, fragt er. Sara deutet mit dem Kopf Richtung Wirt und flüstert: »Erst ignoriert mich das Schwein und dann scheißt er sich in die Hose, weil ich dich angerufen habe. Nur deswegen hat er mich bedient. Und dann sagte er, ich soll mich verpissen, und der Junge saß auf einmal da und …« - »Pssst«, macht Zadok und legt seinen linken Zeigefinger auf ihre Lippen. Dann steht er auf und geht zum Wirt: »Diese junge Frau ist mein Gast. Und solange sie hier ist, behandelst du sie auch so. Hast du das verstanden?« Das tut Sara gut. Das ist ein Schauspiel, ganz für sie. Egal, wie durchgeknallt er ist, egal, was er für kranke Geschichten erzählt, egal, das hier tut dermaßen gut. Das ist wie ein leichtes Abheben vom Erdboden. Als Kind träumte Sara oft zu fliegen. In der Pubertät starb dieser beste aller Träume. Und jetzt ist er wieder da, so hat es sich angefühlt, ganz genau so. Der beste aller Träume ist Wirklichkeit für ein, zwei, drei Sekunden. Reichen vollkommen aus: ein, zwei, drei Sekunden. Das fette Schwein wird dunkelrot im Gesicht. Dem fetten Schwein rinnt der Schweiß aus sämtlichen Poren. Scheiß dir doch in die Hose, du feiges Arschloch, denkt Sara und sieht sich, sanft gelandet, den Wirt an.
»Das, das, äh, Zadok, äh, das wusste ich doch nicht …« »Du sollst nicht lügen!«, brüllt Zadok so laut, dass auch Sara zusammenfährt. Die Stille, die folgt, scheint nur dafür gedacht, um Zadoks Worte widerhallen zu lassen. »Entschuldige«, murmelt der Wirt schließlich. »Nicht bei mir«, sagt Zadok. »Entschuldigen Sie bitte«, sagt der Wirt und schafft es kaum, Sara in die Augen zu sehen. Am liebsten würde sie applaudieren, am liebsten würde sie Zadok um den Hals fallen und ihn küssen und am liebsten würde sie das alles auf Film haben, um ihn sich immer wieder anzusehen, den besten Moment ihres Lebens. Sie richten sich ein. Sie bestellen ein Bier nach dem anderen, sie lassen den Wirt springen. Das macht großen Spaß, Sara kriegt nicht genug. Mit Freude betrinkt sie sich. Sie lachen über alles, er erzählt ihr kleine Geschichten, nichts Tragisches, nichts Bedrohliches. Irgendeinen federleichten Kram. Sie prosten sich zu. Zadok sieht entspannt aus, jünger als sonst. Sara kriegt Bauchweh vom Lachen, sie reibt sich die Tränen aus den Augen. »Ich sag dir was!«, sagt sie leicht lallend. »Ich
liebe das Landleben!« »Aber die Leute, hey, erinnere dich, sind die nicht ein bisschen eigenartig?« »Überhaupt nicht. Alles Gentlemen und Ladies!« Er lacht, dann wird er ernst: »Sara ohne h. Ich bin wirklich außerordentlich froh, dich getroffen zu haben. Und wären wir ausgeschnitten aus der Zeit, aus Vergangenheit und Zukunft, dann würde ich mich wahrscheinlich in dich verlieben.« Und noch mehr Alkohol. »Was hältst du von Musik?«, fragt er nach einer Weile. »Okay.« Zadok gibt ihr Geld und deutet Richtung Musikbox. Ein altes Ding, das überhaupt nicht hierher passt. »Lucas Lieblingsspielzeug.« Sara studiert die Liste. Das meiste kennt sie nicht, viele Schlager, Stücke, die schon vom Titel her scheußlich klingen. »Also, Zadok, ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich davon was hören will. Luca hat aber einen eigenartigen Geschmack.« »Nummer zweiundzwanzig B, das Letzte.« »Da steht nichts.« »Trotzdem. Zweiundzwanzig B.«
Sara wirft das Geld ein, wählt die Nummer und geht zurück an den Tisch. Als sie sich gerade setzen will, fängt die Musik an. »Das gibt’s nicht«, strahlt sie und bleibt stehen. Er grinst sie breit an. »Doch! Das gibt’s!« All tomorrow’s parties. Sie nimmt seine Hand und zieht ihn hoch. Sie tanzen. Der Wirt hält das nicht länger aus, er verzieht sich in die Küche, setzt sich hin und presst seine Hände gegen die Ohren. Luca entdeckte das Stück in Zadoks Sammlung. Sie bekam nicht genug davon. Immer wieder wollte sie es hören. Sie hatte einige Lieblingsstücke, aber dieses stand an oberster Stelle. Am Tag vor ihrem zwölften Geburtstag ging Zadok zur Gaststätte, bestach den Wirt mit einem Haufen Geld und so kam The Velvet Underground in die Musikbox dieser Kneipe in dem kleinen Dorf. In der Nacht vor ihrem Geburtstag sagte Zadok zu den Kindern: Zieht euch an, wir müssen um Mitternacht in der Kneipe sein. Ich will lieber hier feiern, sagte Luca, und Raphael nickte zustimmend. Nichts da, ihr kommt mit, sagte Zadok. Um
zwölf gab er Luca Geld, zweiundzwanzig B, sagte er. Sie stand auf, warf dem Wirt einen zornigen Blick zu und wählte das Stück. Sie tanzten die ganze Nacht. Zadok mit Luca. Luca mit Raphael. Raphael mit Zadok. Jeder für sich. »Wir haben dieses Stück bestimmt tausendmal gehört. Es war perfekt. Es gab so viele perfekte Momente mit Luca. Ich dachte, das hört niemals auf. Wenn du verwöhnt wirst vom Glück, wenn du damit Tag für Tag voll geschüttet wirst, dann vergisst du leicht, dass nichts ewig währt. Nichts. Du hättest sehen sollen, wie sie tanzte. Wie sie sich zum Entsetzen des Wirts auf den Tresen setzte und lachte und wie sie laut mitsang! Sie kannte den kompletten Text. Und dann, so gegen vier, stellte sie sich auf einen der Tische und schrie: Du hast deinen Hund umsonst umgebracht! Denn du wirst mich nie mehr los! Sara, du hättest sein Gesicht sehen sollen!« Sie sind auf dem Weg zu Zadoks Haus. Sara wankt ein bisschen, er legt einen Arm um ihre Schultern. »Sag mir, wo Luca jetzt ist«, ruft sie übermütig. Der Alkohol macht ihren Gedanken Druck, sodass sie nicht mehr überlegt, was sie sagt und was sie besser nicht sagt.
»Ich will sie kennen lernen!« »Ach, Sara. Müssen wir noch mal zu der Lichtung? Hast du noch immer keine Geduld?« »Scheiße! Dann gib mir wenigstens ne Kippe. Ich will rauchen! Ich hab so lange nicht geraucht. Ich muss jetzt rauchen.« Er zündet ihr eine an und wirft einen kurzen Blick nach oben, wo drei Krähen kreisen. Ambras Tagebuch Ich will mich umbringen. Ich weiß noch nicht, wie. Ich kann mich kaum bewegen, wie soll ich mir da das Leben nehmen? Ich brauche ein Messer. Aber ich weiß nicht, wo mein Herz ist. Die Kinder wachsen heran. Ich habe hier lange nicht mehr reingeschrieben. Ich war zu schwach. Es ist auch sowieso alles gleich schrecklich. Carlo hält es nicht mehr aus. Ich bin sicher, er fickt die Kinderfrau. Ich höre eindeutige Geräusche. Mir ist das Recht. Soll er machen. Ich weiß nicht, wie lange ich überhaupt noch in der Lage bin zu schreiben. Ich drehe durch, ich drehe durch, ich drehe durch. Vielleicht ist es dann besser, vielleicht kann ich dann nicht mal mehr schreiben, aber das ist auch egal, es
ist alles egal, alles ist egal. Nicht mehr lange und die Kinder können laufen. Luca spricht schon ein paar Sätze. Raphael kriegt kein einziges Wort raus. Carlo war beim Arzt mit ihm. Lass ihn einschläfern, habe ich gedacht, und Luca auch gleich. Aber gesagt habe ich nichts. Der Arzt sagt, dass Raphael vollkommen gesund sei. Wir sollen ihn verstärkt fördern. Vorlesen, deutlich sprechen usw. Carlo bemüht sich. Ich bin nicht in der Lage, etwas zu tun. Bleibt er halt stumm. Umso besser. Ihn nicht auch noch hören zu müssen. Manchmal krabbelt Luca zu mir. Sie zieht sich an der Couch hoch, geht nahe ran an mein Gesicht und starrt mich an. Sie ist mir unheimlich. Ich schreie dann nach der Frau oder Carlo soll sie holen. Ich will nicht, dass sie mich so anguckt. So, als würde sie sagen: Du bist eine Rabenmutter. Du hast mich nicht verdient. Genauso guckt sie. Als hätte sie etwas Besseres verdient. Sie täuscht sich. Ich bin diejenige, die etwas Besseres verdient hätte. Als dies. Dies Leben. Dies verfluchte Leben. Dieser andauernde Tod. Habe ich nicht verdient! Habe ich nicht verdient! Nachdem Zadok und die Fremde seine Kneipe endlich verlassen haben, muss sich der Wirt
eiskaltes Wasser ins Gesicht schütten. Dann fühlt er sich kräftig genug, abzuschließen und sich auf den Weg zum Pfarrhaus zu machen. Das ist direkt neben der Kirche, den Pfarrer darf man immer aufsuchen. Der Pfarrer ist ein gütiger Mensch. Er holt sich gerade vor dem Spiegel einen runter, als es an seiner Tür klopft. Er erstarrt, wartet. Das darf nicht wahr sein, denkt er. Er lauscht, doch es klopft erneut. Verdammt, flucht der Pfarrer und drückt seinen immer noch steifen Schwanz in die Hose. »Entschuldige die späte Störung«, stammelt der Wirt, wie ein Riesenbaby sieht er aus, völlig verzweifelt. Mit roten Flecken im breiigen Gesicht. Ganz und gar weich sieht dieser große, fette Mann aus. »Aber, aber. Das macht doch nichts. Gott ist immer für dich da, mein Sohn.« Der Wirt tritt ein, der Pfarrer bringt Schnaps. »Was gibt’s?«, fragt er. »Diese Frau, hast du diese Frau schon gesehen? Seit Ewigkeiten treibt sie sich hier schon rum. Zadok sagt, sie sei sein Gast. Aber ich glaube das nicht. Sie haben sich erst vor ein paar Tagen kennen gelernt. In meiner Kneipe, unter meinem Dach. Ich war ja dabei, ich erinnere mich sehr gut. Seitdem treffen sie sich.
Etwas braut sich zusammen, ich mache mir Sorgen.« »Wovor fürchtest du dich, mein Freund?«, fragt der Pfarrer, nimmt das Kreuz von der Wand und legt es auf den Tisch. »Zadok fällt auf dieses Weib rein. Sie bringt uns Unglück, da bin ich sicher. Sie sieht aus, sie sieht aus, wie, wie …«, der Wirt beginnt zu schluchzen. »Sieht sie wie das Böse aus?«, fragt der Pfarrer und bekreuzigt sich. Dann küsst er das Kreuz und hält es seinem Gast hin. Mit beiden Händen packt der danach, presst es sich an die Brust. »Vater unser im Himmel«, beginnt der Pfarrer zu flüstern. Einen ganz besonders scharfen Hass empfand der Pfarrer für Luca. Denn sie lenkte die Gemeinschaft ab. Die Gemeinschaft sollte sich auf ihn konzentrieren. Die Menschen sollten seinen Worten lauschen und vor seinem Blick erzittern. »Aber wenn Luca draußen war, dann zog sie jegliche Aufmerksamkeit auf sich. Wie sehr der Pfarrer darunter litt, wurde an einem Sonntag klar, an dem Luca den Wunsch äußerte, in die Kirche zu gehen. Ich sagte, was soll der Scheiß? Aber sie bestand darauf. Ich kann
auch allein dahin, sagte sie. Niemals, habe ich gesagt. Da lasse ich dich nie und nimmer allein hin. Also gingen wir, ganz die fromme Kleinfamilie, eines Sonntags in die Kirche. Ich war wirklich nicht begeistert. Raphael war es offenbar egal. Aber Luca, sie sang und tanzte. Ich weiß wirklich nicht, was sie erwartete.« Als sie die Kirche betraten, der Gottesdienst sollte gerade beginnen und alle anderen waren schon da, verstummte der Pfarrer und alle drehten sich um, gleichzeitig, als seien sie eins. Erschütterung in ihren Gesichtern. Zum einen hatten sie Zadok noch nie zuvor in Gottes Haus gesehen. Aber dass er es wagte, dieses Kind mitzubringen, das ertrugen sie kaum. »Nach Minuten der Stille ließ Luca meine Hand los und ging nach vorn. In der Mitte des Ganges, keine Spur von Unsicherheit. Raphael sah mich fragend an, ich zuckte mit den Schultern. Etwa einen halben Meter vor dem Pfarrer blieb sie stehen. Und je länger sie so dastand und dem Pfarrer in die Augen schaute, darin las, desto mehr geriet der Pfarrer ins Schwitzen. Er versuchte, ihrem Blick standzuhalten, er wollte sich keine Blöße geben, er konnte doch nicht vor versammelter Mannschaft schlappmachen. Und während sie ihn anschaute, stu-
dierte, durch seine Augen hindurch in sein Hirn blickte, während sie ihn und sein Wesen in sich aufnahm, wie auch immer sie das anstellte, fühlte der Pfarrer sich wie bei einem langen Lauf durch eine heiße Wüste und nirgendwo Wasser in Sicht, nur Sonne und Sand und unerträgliche Hitze. Und nichts anderes ist möglich, als zu rennen. Tiefrot wurde er und schwitzte, fast bekam der Pfarrer einen Kollaps, aber Luca hatte Erbarmen, drehte sich um, kam zurück zu mir, sie lächelte traurig. Ich ließ Raphael stehen und ging ihr entgegen. Ich umarmte sie zum ersten Mal. Meine kleine Luca, sie sah so unendlich traurig aus. Winzig klein, wie sie in der großen Kirche auf mich zukam. Meine Güte, da musste ich sie umarmen. Genug, sagte ich, jetzt gehen wir besser. Sie nickte nur müde. Auf dem Weg zurück schwiegen wir. Erst als wir wieder zu Hause waren, sagte sie: Zadok, auch der Pfarrer hasst mich. Du musst mich beschützen. Du musst mich immer beschützen, damit ich Raphael beschützen kann. Versprichst du mir das?« Zadok gerät ins Stocken, hastig trinkt er einen großen Schluck. Eine einzelne Träne perlt aus seinem linken Auge. »Ich habe es ihr versprochen. Ich habe es ihr
sogar geschworen. Ich habe nicht gelogen. Ich wollte sie für immer, bis zu meinem Tod beschützen. Denn ich habe nie einen Menschen mehr geliebt als meine kleine Luca. Nicht meine Mutter, nicht meinen Vater, nicht meinen Bruder, keinen Freund habe ich jemals so sehr geliebt wie dieses Kind. Dieses Kind hat mich an das Leben glauben lassen. Das hatte zuvor noch niemand geschafft.« Sara, vom Alkohol und den Ereignissen des Tages schläfrig, betrachtet fasziniert die Träne, die jetzt langsam Zadoks Wange herunterrollt. Vorsichtig legt sie ihr eine Fingerspitze in den Weg. Die Träne löst sich auf Saras Haut auf. »Und Frauen? Hast du noch nie eine Frau so sehr geliebt?«, fragt sie und zieht ihre Hand zurück. »Nie. Ich habe mir ein-, zweimal eingebildet zu lieben, über alle Maße zu lieben. Aber ich habe mich getäuscht. Und du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber auch Sex vermochte nicht, ein nur annähernd betörendes Gefühl in mir auszulösen. Nichts, was mir bekannt ist, ist vergleichbar mit dem, was Luca entfachte. Es gibt keine Farbe, mit der ich dieses Gefühl beschreiben könnte, es gibt keinen vergleichbaren Geschmack, keinen Geruch.« »Dann musst du dich, jetzt wo sie weg ist,
wirklich fürchterlich fühlen.« »Jede Pore ist eine klaffende Wunde. Aus jedem Organ schießt ununterbrochen schwarzes, dickes Blut. Mein Gehirn suggeriert mir in einem fort, dass ich falle. Ich falle ständig. Ich krieche auf dem Boden, meine Knie sind bis auf die Knochen abgewetzt.« Worte, die Saras angenehme Betrunkenheit erdolchen. Worte, die die Müdigkeit verscheuchen. Sara rappelt sich hoch, reibt sich die Augen. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir helfen kann«, flüstert sie. Ich habe mehr Tränen als du, denkt sie, schnappt sich ihren Mantel und verlässt das Haus. Ihre Tränen fallen in die Nacht. Er folgt mir nicht. Natürlich folgt er mir nicht. Was habe ich erwartet? Was erwarte ich dauernd? Ich bin das Erwarten satt, warum höre ich nicht auf damit? So stolpert Sara mit verschwimmendem Blick die Landstraße entlang. Die Laternen leuchten nicht, war hier noch nie Licht? Das Schlimmste: Sie versteht ihn. Vielleicht nicht völlig, aber welchen Menschen versteht man auch schon ganz? Sie kennt seine Augen, sie sieht darin seine Verzweiflung. Sie hat Lucas Licht auf dem Foto gesehen, sie konnte ja selbst kaum wegschauen, widerstehen. Ich verstehe ihn. Aber das ändert nichts, das
ändert nichts, verdammt, ich kann ihm nicht helfen, ich komme nicht nah genug heran, er hält mich auf Abstand. Luca steht dazwischen. Und eigentlich hätte nun, an dieser Stelle ihres Gedankenstroms, die Eifersucht ihren großen Auftritt haben müssen. Doch die Eifersucht ist viel zu träge. Damit hat die Traurigkeit die ganze Bühne für sich. Das nutzt die Traurigkeit gerne aus. Also macht sie sich groß, noch größer, weitet sich aus, nimmt die ganze Bühne, den ganzen Raum in Beschlag. An der Gaststätte vorbei, geschlossen. An dem Laden vorbei, dunkel. Weiter, weiter, die Traurigkeit macht den Körper ja so schlapp. Sara schleicht nur noch. Nach Ewigkeiten endlich die Pension. Vor der Tür ein letzter Kraftakt: Sara dreht sich langsam um, wischt die Tränen aus ihren Augen, bückt sich, greift nach einem Stein und wirft ihn nach den Krähen. Lachend fliegen sie hoch. Sie wird viel zu früh wach und fühlt sich gelähmt. Zaghaft versucht sie, eine Hand zu bewegen. Im Haus ist es ganz ruhig, kein Kaffeegeruch, keine Schritte in der Küche. Der Tag reibt sich noch den Schlaf aus den Augen, nur zögerlich zieht er sich das Morgengrauen an. Sara sucht nach einem Gedanken, das dauert
eine Weile, in ihrem Gehirn scheint nichts zu sein als zäher Brei. Der erste Gedanke dann: Sara in der Stadt. Sie steht an einer Bushaltestelle. Mindestens vier Busse haben schon gehalten, ihre Türen zischend geöffnet und geschlossen und sind dann weitergefahren. Es ist Frühling, warm, die meisten Menschen sind gut gelaunt. Sara hat sich gerade von ihrem Freund getrennt. Oder er von ihr, da ist sie sich nicht sicher. Der letzte Frühling ist schon lange her. Aber sie erinnert sich an ihre Gedanken. Sara im Frühling in der Stadt dachte: Um diese Jahreszeit trennt man sich nicht. Das ist gegen sämtliche Regeln. Man verliebt sich. Man küsst sich. Man ist zu zweit und nicht allein. Aber zum Verlieben tauge ich nicht! Und zum Lieben schon mal gar nicht! Ich tauge nicht zum Lachen und ich tauge nicht zum Weinen. Es war Frühling, als alle ihre Gefühle starben. Nach Stunden endlich nahm sie einen Bus. Sie fuhr nach Hause. Dann kam auch schon bald der Sommer, in dem wurde Sara vollkommen ausgehöhlt und der Schlaf wurde ihr geraubt. Saras Hand und Kopf lassen sich jetzt bewegen. Sie wagt einen Blick aus dem Fenster. Dann betrachtet sie eine Weile ihren geöffneten Koffer. Ich muss in die Stadt, denkt sie. Ich brauche neue Klamotten. Vielleicht
sollte ich gar nicht zurückkommen. Vielleicht ist es sowieso vorbei. Es ist noch lange nicht vorbei. Mittag. Der Wirt klopft an Helenas Tür, der Metzger beobachtet fasziniert seinen Jüngsten, wie er wie besessen auf eine kleine Katze einschlägt, die Frau des Metzgers ist in der Stadt, sie braucht dringend eine neue Frisur, der Bäcker spricht ein Gebet für Raphael, die Pensionsfrau hat es aufgegeben, an Saras Tür zu klopfen, sie hat das Tablett schließlich vor das Zimmer auf den Boden gestellt, am Mittag macht sich Zadok auf den Weg. Der Pfarrer begegnet ihm wie zufällig. »Guten Tag, Zadok, wie geht es dir?« Zadok antwortet nicht und geht weiter. »Du solltest vorsichtig sein«, rät der Pfarrer. »Die Menschen sind nicht gut.« Am Mittag klingelt es. Vielleicht neue Gäste, denkt Sara, sie liegt immer noch im Bett. Die Pensionsfrau steht mühsam auf und öffnet. »Spar dir das«, flüstert Zadok, als die Frau sich zu bekreuzigen beginnt. Er schiebt sie zur Seite, sie fällt fast hin. Er steigt die Treppen hoch und öffnet jede Tür. Dann sieht er das Frühstückstablett. Er schiebt es mit dem Fuß weg und klopft an die Tür. Sie zuckt kurz, als sie
seine Stimme hört. »Sara, mach auf. Ich muss dich sprechen. Bitte.« »Hat sie jetzt einen zweiten Herzinfarkt?«, fragt Sara mit einem schwachen Lächeln, als sie sich in ihrem Zimmer gegenüberstehen. Nichts ist besser als diese Umarmung. Nichts zuvor und nichts was kommen wird. Nichts ist richtiger, als so zu stehen, eng umschlungen, und alle Gedanken fliegen weg. Das ist das Einzige. Dafür hat sich alles gelohnt. Für diese Umarmung und er lässt sie noch immer nicht los. Einzig die Angst, dass es vorbeigeht. Sara, durchströmt von bunten Gefühlen, packt wortlos ihren Koffer. Zadok steht am Fenster und raucht. Die Pensionsfrau lebt noch. Doch sie steht völlig erstarrt. »Ich ziehe aus«, sagt Sara und legt Geld auf den Tisch. »Es hat mir sehr gut bei Ihnen gefallen.« »Aber sie mag nun mal keine Eier«, fügt Zadok hinzu. Der Wirt ist fertig und tätschelt Helenas Hintern, Helena reißt dem Wellensittich eine Feder aus, der Bäcker öffnet ebenfalls sein Geschäft, er ist ganz verweint. Eva kommt mit neuer Frisur zurück, die sie jetzt schon hasst,
die Pensionsfrau steht noch bis zum Abend an die Wand gepresst, mit voll gepisster Hose. Auf der Straße ein paar Menschen, hinter ihren Augäpfeln, an der Stelle, wo das Licht in den Körper strahlt, blitzen scharfe Messer. Die wollen Sara zerfetzen, als sie Hand in Hand an ihnen vorbeigehen. Zadok trägt ihren Koffer. »Ignoriere sie, Sara ohne h«, sagt er und drückt kurz ihre Hand. Die Kinder waren dreizehn, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer zu sehen bekamen. »Luca hatte mich schon oft damit voll gejammert, sie hätte Angst zu sterben, bevor sie einmal das Meer gesehen habe. Du stirbst nicht so schnell, hatte ich gesagt. Aber sie ließ nicht locker. Sie sprach sogar ein paar Wochen kein Wort mehr mit mir. Ich unterhielt mich dann mit dem stummen Raphael. Was hat sie?, fragte ich ihn. Hat sie ihre Tage, bist du da vielleicht informiert? Was soll das? Das Meer ist am Arsch der Welt, ich hasse es zu reisen. Aber Raphael zuckte bloß mit den Schultern. Natürlich, es war wirklich nicht überraschend, kriegte sie mich klein. Zur Strafe weckte ich sie mitten in der Nacht. Du kannst jetzt wieder sprechen, Miststück, flüsterte ich in ihr Ohr. Wir fahren jetzt zu deinem beschissenen Meer.
Sie war außer sich vor Freude. Sie beschenkte mich reich, ich wurde ganz benommen davon. Sie brachte mich zum Taumeln mit ihrem Glück, das aus ihr herausplatzte. Sie gab mir tausend Küsse, sie sprang mir auf den Rücken, sie tanzte durch das ganze Haus. Raphael saß verschlafen im Bett und grinste mich an. Er streckte einen Daumen hoch und applaudierte mir leise zu.« Sie fuhren eine Nacht und einen halben Tag. Sie hatten alle Fenster heruntergekurbelt und hörten die ganze Zeit Musik. Mal saß Luca neben ihm, dann saß sie mit Raphael hinten und redete auf ihn ein. Dann saß Raphael neben Zadok und gestikulierte wild. »Sie stürzte aus dem Auto, noch bevor wir standen. Hast du sie noch alle?, schrie ich ihr hinterher. Sie hörte das gar nicht. Luca raste wie gejagt über die Straße, im Laufen zog sie ihre Schuhe aus, der Sand war heiß und sie lief noch schneller. Luca umarmte das ganze Meer, so stürzte sie sich hinein. Es trieb mir Tränen in die Augen.« Am Abend, Raphael schlief schon, schenkte Luca Zadok den Horizont. Wir drei werden für immer zusammenbleiben, sagte sie. Uns trennt niemand mehr. Sie saßen da, wo das Meer den Strand ableckt.
Es war noch sehr warm und sie waren wohl die Einzigen. »Wir waren die Einzigen auf der Welt, ich nahm es hin, dass sie Raphael mitrechnete.« Sie tranken Wein und rauchten, Luca begann die Sterne zu zählen. Bei tausend gab sie auf und ließ ihn sitzen. Als er später einen Blick in das Zimmer warf, in dem die Kinder schliefen, sah er, wie sie eng umschlungen dalagen. Sie atmeten im gleichen Rhythmus. »Ich hätte mich gern neben Luca gelegt, aber es war nur Platz für zwei. Ich hätte sie nicht angerührt, du brauchst mich nicht so anzusehen. Ich wollte bloß neben ihr liegen und ihren Atem spüren. Aber es gab nur Platz für zwei.« Als es zu dem Zwischenfall kam, waren sie schon eine Woche an dem Ort am Meer. »Es war ein besonders heißer Tag, wir lagen am späten Nachmittag am Strand und dösten. Wir waren träge und ahnten nichts Böses – Raphael und ich ahnten nichts Böses. Ich öffnete gerade die Kühlbox, um mir ein weiteres Bier zu genehmigen, als Luca plötzlich hochschreckte. Was ist los?, fragte ich. Sie antwortete nicht und rannte los, Richtung Wasser. Dann rannte sie zurück, an unserer Decke vorbei, ich wollte sie packen, aber sie versetzte
mir einen Tritt. Sie blieb vor einem jungen Paar stehen, völlig aufgelöst stand sie da und keuchte. Ihr Kind!, schrie sie dann so unerwartet, dass es um uns still wurde. Das Meer rauschte nicht mehr, die typischen Strandgeräusche verstummten, es wurde schlagartig ruhig. Ihr Kind ist ertrunken. Ich stand auf, die Geräusche setzten wieder ein, ich ging zu ihr. Was sagst du denn da?, stammelte ich. Die Frau und der Mann saßen immer noch auf ihrer Decke und schauten Luca mit großen Augen und offenem Mund an. Um sie herum lagen Sonnenöl und Sonnenbrillen, zwei Bücher, Eimer, Schaufeln und ein kleines Boot. Dann sprang die Frau auf und rannte zum Wasser. Chaos brach aus. Geschrei, ein einziges Geschrei, überall rannten Leute herum. Nur Luca stand bewegungslos. Ich packte sie, hob sie hoch, trug sie zu unserem Platz. Wir müssen los, sagte ich zu Raphael. Wir saßen schon im Auto, als sie den Körper des Kindes fanden. Wir mussten schnell weg. Sie würden Luca, meine kleine Luca, ausfragen. Ausquetschen. Wie eine Frucht. Was hast du gesehen? Warst du in der Nähe des Kindes? Warum hast du nicht eher Hilfe geholt? Kannst du selbst schwimmen? Warst du mit dem Kind zusammen im Wasser? Wenn nicht, woher wusstest
du dann, dass es ertrunken ist? Ich musste Luca vor den Fragen, die sie nicht hätte zufrieden stellend beantworten können, retten. Sie hätten sie mir weggenommen. Sie hätten sie in eine Heilanstalt gesteckt. Mein kleines Mädchen. Denn sie hätte ihnen das Gleiche wie mir gesagt. Und im Gegensatz zu mir hätten sie nicht versucht sie zu verstehen. Weil sie sie nicht gemocht hätten. Geschweige denn geliebt. Sie hätten ihr kein Wort geglaubt. Luca sagte: Meine Augen waren geschlossen, ich hörte den Wellen zu. Ich dachte an gar nichts. Dann wurde mir kalt, dabei war es ja ganz warm. Erst stellten sich die Haare in meinem Nacken auf und dann an den Armen und Beinen. Es wurde immer kälter. Dann hörte ich nichts mehr, auch nicht das Meer. Es war ein paar Sekunden ganz still. Ich hatte die Augen immer noch geschlossen. Und dann hörte ich, wie dem Kind das Leben entwich.« Sara schläft mit dem Kopf auf Zadoks Brust ein. Er hat eine Decke auf dem Boden ausgebreitet. Sie liegen in einer Musik, die sie nicht kennt. In ihrem Traum begrüßt sie Luca. Luca steht am Ende eines langen, kurvigen Weges. Trotzdem sieht Sara sie schon von weitem. Luca winkt ihr zu, ihr Haar ist lang, es
reicht ihr bis zum Hintern. Doch sosehr Sara auch läuft, sie kommt Luca nicht näher. Im Traum denkt sie: Das ist so ein beschissener Lauftraum. Trotzdem wird sie nicht wach. Stattdessen kommt jetzt Luca unendlich langsam auf sie zu. Ich kann nicht mehr lang, denkt Sara in ihrem Traum, in dem sie noch immer rennt. Du musst schneller gehen, denkt sie. Ich kann nicht, flüstert Luca. Als sie mitten in der Nacht aufwacht, ist Zadok nicht mehr bei ihr. Eine einzige Kerze brennt auf der Fensterbank. Sara steht auf, ihre Muskeln schmerzen, leise geht sie in die Küche. Sie trinkt Wasser und setzt sich an den Tisch. Was mache ich nur?, denkt sie. Aber sie ist des Zweifelns müde und macht sich deshalb auf die Suche nach ihrem Gastgeber. Sie klopft an die Badezimmertür. Nichts. Sie zögert, bevor sie die Treppe in die Dunkelheit hochsteigt. Ihre Muskeln lockern sich langsam, sie ist jetzt hellwach. Am Ende des Flurs die Nacht. Schaut durch das kleine Fenster, zieht sie an. Sara öffnet das Fenster und beugt sich vor. Nichts. Nur Dunkelheit und ein leichter Wind. Noch nicht einmal Regen, stellt sie enttäuscht fest. Luca, denkt sie dann und schließt das Fenster, sie klopft an die Kinderzimmertür. Nichts. Vorsichtig und in Zeitlupe
öffnet Sara die Tür einen Spalt. Sie schaltet das Licht an und wartet. Zadok?, fragt sie leise, als könne er sich im Schrank versteckt haben oder unter dem Bett liegen. Doch nichts. Sara schließt die Tür nicht, sie setzt sich aufs Bett und betrachtet die bunten Bilder und Schnipsel an den Wänden. Sie versucht, die Schuhe, die vor dem Bett stehen, anzuziehen, aber sie sind zu klein. Ihr wird ein wenig kalt und deshalb geht sie wie automatisch, als gäbe es überhaupt keine andere Möglichkeit, zu dem Foto. Da stehen sie immer noch. Zadok und Raphael und Luca. Und Lucas Licht wärmt Sara auf, darüber ist sie nicht einmal überrascht. Und weil ihr so warm wird und weil sie sich in diesem Blick wohl fühlt, überhört sie Zadoks Schritte. Erst als er hinter ihr steht und seine Hände auf ihre Schultern legt, wird Sara zurück in das Bild, aus dem sie kam, geklebt. »Ich habe dich gesucht«, sagt sie. »Du bist ja eiskalt«, sagt er. »Ich friere aber nicht.« »Ich war im Wald, ich hatte Sehnsucht nach einer besonderen Stelle dort.« »Die Lichtung? Waren viele Rehe da?« »Nein, nein, nicht die Lichtung. Komm, wir gehen runter. Du hast doch sicher Hunger.«
»Was für eine Stelle?«, fragt sie auf dem Weg in die Küche. »Wenn du brav isst, zeige ich sie dir. Aber du darfst keine Fragen stellen. Es ist ein Ort, an dem man besser schweigt.« »Ich habe keinen Hunger.« Er lacht und wirft die Arme empor: »Tja, dann kann ich dir auch nicht helfen. Dann wirst du wohl an Neugierde sterben, da wärst du nicht der erste Mensch.« Also isst sie zwei belegte Scheiben Brot, ein halbes Hähnchen und Salat. Dazu trinkt sie eine halbe Flasche Wein. Sie raucht zwischen den Bissen. Sie schaut ihn die ganze Zeit an. Er hält ihrem Blick ohne weiteres stand. »Ich weiß wirklich nicht, warum hier alle so scharf darauf sind, dass ich ständig esse«, sagt sie und wischt sich den Mund ab. »Wer so tief schläft wie du, der muss auch essen. Ich bin sicher, deine Träume rauben viel Energie.« Sie lacht auf: »Das ist mir neu, dass ich tief schlafe. Ich weiß gar nicht, was das bedeutet. Es ist viel zu lange her.« »Ungefähr eine Stunde.« »Gehen wir jetzt?« »Wir müssen auf das Licht warten. Sonst siehst du ja gar nichts.«
»Du warst doch auch im Dunkeln dort.« »Ich sehe im Dunkeln. Das hat mir Luca beigebracht.« »Natürlich. Ich habe nichts anderes erwartet.« »Ich kann es dir leider nicht vermitteln. Ich bin kein guter Lehrer. Außerdem braucht es viel Zeit. Jahre. Und ich glaube nicht, dass wir so viel Zeit kriegen.« »Wofür brauchte sie dann eine Taschenlampe, um die Tagebücher zu lesen?« »Weil Lesen im Dunkeln nicht funktioniert. Aber ich sprach vom Sehen. Was denkst du, wie viel Zeit wir haben? Für Luca bekam ich rund acht Jahre. Für meine Eltern bekam ich sieben Jahre, für meinen Bruder drei. Und für dich bekomme ich vielleicht nur ein paar Wochen Zeit. Es ist, wie es ist. Wer auch immer die Zeit aufteilt … Mit wem hast du die meiste Zeit deines Lebens verbracht?« Mit dir, will sie fast ausspucken. Doch sie besinnt sich. »Weiß nicht, mit meinen Eltern vermutlich. Warum hattest du mit deinen Eltern nur sieben Jahre? Haben deine Eltern dich auch ausgesetzt?« »Weil ich im Alter von sieben Jahren aufhör-
te, sie wahrzunehmen. Ab meinem siebten Geburtstag lebte ich lediglich noch unter einem Dach mit ihnen. Sonst nichts. Ich hätte genauso gut allein wohnen können. Mit sieben begann ich mich nach etwas zu sehnen, das größer war als meine Mutter oder mein Vater. Das außerhalb unserer Wohnung auf mich zu warten schien. Etwas, das größer war als Freundschaften oder in die Schule gehen oder Kindergeburtstage oder in den Urlaub fahren. Es hatte keine Gestalt, ich konnte es nicht benennen. Ich versuchte es zu malen, aber es gelang mir nicht. Ich zerriss jede Zeichnung sofort wieder. Dann versuchte ich, Worte dafür zu finden. Aber auch das war nicht möglich. Dieses Etwas war eine ungeheure Sehnsucht, die, vielleicht gerade weil sie so unbestimmt war und so plötzlich in mir ausbrach, alles andere um mich herum mehr oder weniger auslöschte.« Zadok zündet eine Zigarette an und steckt sie Sara zwischen die Lippen. Er lacht: »Meine Eltern verwirrte das natürlich. Und wäre ich ein paar Jahre später geboren worden, hätten sie mich sicher sofort zu einem Psychiater geschickt, aber das war damals noch nicht so angesagt.« Er zündet sich auch eine Zigarette an und in-
haliert tief. »Na ja, wer weiß, vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht hätte ein Psychiater ja meine Sehnsucht, diesen Flächenbrand, löschen können. Es ist schwer vorstellbar, aber immerhin möglich. Dann wäre ich sicher nicht hierher gezogen. Dann wäre ich Luca vielleicht gar nicht begegnet. Weil ich zu beschäftigt gewesen wäre. Weil ich nicht mit frischer Landluft hätte dienen können. Weil ich einen ordentlichen Beruf hätte und weil ich jeden Tag mindestens acht Stunden diesen ordentlichen Beruf ausüben würde. Und dann hätte ich vielleicht eine Frau und Kinder. Und die Kinder hätten sicher Meerschweinchen und so weiter … Und selbst wenn ich Luca begegnet wäre, sie hätte vielleicht nichts ausgelöst. Auch schwer vorstellbar, aber auch möglich. Wer weiß, was der Doktor mit mir angestellt hätte? Aber es gab keinen Doktor. Jahre später kam ein Kind. Und als ich es sah, wurde mir klar, worauf ich gewartet hatte, was ich seit meinem siebten Lebensjahr ersehnt hatte. Luca stieß sozusagen auf höchst fruchtbaren Boden.« Zadok drückt seine Zigarette aus, zündet sich eine neue an und greift zu einem der schwarzen Bücher. Ambras Tagebuch
Ich werde nicht so richtig verrückt. Ich kann immer noch Notizen kritzeln. Ich sehe aus wie eine Greisin. Carlo hat mir neulich einen Spiegel gebracht. Guck dich an, hat er gebrüllt. Dabei brüllt er nur ganz selten. Und hinterher tut es ihm Leid, das sehe ich ihm an. Wenn er mich mal anbrüllt, weil er nicht anders kann, dann tut es ihm sofort danach Leid. Das ist ja auch nicht schwer. Ich bin schließlich eine bemitleidenswerte Person! Ich habe mir die Ohren zugehalten. Aber bevor ich die Augen schließen konnte, hatte ich mich schon gesehen. Ich sehe aus wie eine verwahrloste, magere Greisin mit toten, toten, toten, toten, toten, toten, toten, toten, toten, toten, toten, toten Augen. Deswegen fickt er ja auch die Kinderfrau. Ich bin mir inzwischen sicher. Ich habe es ihm auch gesagt. Er hätte mir fast eine geknallt. Aber er hat sich zurückgehalten. Hat auch nicht geschrien, vielleicht wollte er sich das schlechte Gewissen sparen. Du drehst durch, hat er nur ganz ruhig und leise gesagt. Na, so was! Da hat er sich aber geirrt. Wunschdenken ist das. Und Wünsche, selbst die allerbilligsten, erfüllen sich nicht. Er wünscht sich, dass ich durchdrehe. Dann kann er diese Leute kommen lassen, die einen
wegsperren. Dann kann er genüsslich die Kinderfrau ficken. Ich bin ja nicht mehr zu ficken. Das hat mir der Satan gründlich ausgetrieben. Hat mir das Ficken ausgefickt. Carlo hat Pech. Wünsche erfüllen sich nicht!!! Die Kinder stinken. Ich muss die Luft anhalten, wenn sie ins Zimmer kommen. Luca hört nicht auf, mich anzustarren. Sie schafft es immer wieder, unbemerkt in mein Zimmer zu kommen. Sie weiß genau, dass sie das nicht darf. Aber sie ignoriert dieses Verbot. Sie starrt mich an, bis endlich jemand kommt und sie wegbringt. Wenn sie so neben mir steht und mich anstarrt, kann ich noch nicht einmal um Hilfe schreien. Sie macht mir große Angst. »Es werde Licht«, flüstert Zadok, schlägt das Buch zu und pustet die Kerzen aus. Die Luft riecht nach Regen. Der Weg ist ihr bekannt, er führt zum Wald, der so groß ist, dass er Menschen verschlucken kann, wenn sie sich in ihm verirren. Sie schweigen eine Weile, am liebsten würde sie Zadoks Hand halten, aber er hat seine Hände in den Manteltaschen vergraben. Er schaut stur nach vorn, Falten auf der Stirn. »Ist es doch die Lichtung?« »Nein.«
»Aber es ist doch der Wald?« »Ganz genau.« »Warten wir da wieder geduldig auf Wild, vielleicht diesmal auf Häschen?« Ein plötzlicher und fester Griff in ihrem Nacken zwingt sie, das Kinn zu heben und lässt ihren Atem stocken. Genauso schnell lässt er sie auch wieder los. »Spinnst du? Was soll der Scheiß, verdammt?«, brüllt sie ihn an, noch voller Schreck. »Du willst alles sehen. Du willst alles hören. Du kommst ja immer wieder. Du bist sogar bei mir eingezogen. Und ich will es dir ja auch erzählen und ich will dir so viel wie möglich zeigen, aber dann verarsch mich nicht. Sonst hau ab. Verschwinde! Es gibt auf diesem Weg nichts zu lachen!« »Wie bitte? Du spinnst doch total! Du bist derjenige, der mir seinen Scheiß andreht! Du hast mich gefragt, ob ich dir zuhöre! Du bist zu mir gekommen und hast gebettelt: Bitte, Sara ohne h – das kannst du dir in Zukunft auch sparen, dieses scheiß Sara ohne h – das geht mir nämlich auf die Nerven! Bitte, bitte, Sara ohne h, mach doch die Tür auf und bitte, bitte, lass mich doch nicht im Stich …« »Okay. Es reicht.« »Es reicht noch lange nicht. Du hast mich zu
Tode erschreckt! Pack mich nie wieder so an! Hast du mich verstanden?« Er nickt. Eine knallen möchte sie ihm. Wegrennen, Sara?, fragt es in ihrem Kopf. Hallo, Sara, es ist noch gar nicht richtig hell und du bist mit einem Irren allein in der Nähe eines Menschen fressenden Waldes – wegrennen? Und dann?, klopft es an einer anderen Stelle, die sitzt in ihrer Brust. Sara? Was machst du dann? Ich sag’s dir. Du machst dich lächerlich. Und wie kommst du an deine Sachen? Und was machst du dann? Was machst du anschließend? Nach Hause fahren? Weil er sich einen Spaß erlaubt hat, der nicht lustig war? Kontakt abbrechen? Nach Hause? Wo war das gleich, Sara? Wo noch mal war dein Zuhause? Sie schlägt sich reflexartig eine Hand gegen die Stirn. »Ich fang schon an wie die Pensionsfrau«, flüstert sie. »Du hast Recht; Ich möchte, dass du mir zuhörst. Und ich wollte dir keine Angst machen, wirklich nicht.« »Du hast mir nicht verraten, auf was für einem scheiß Weg wir sind und dass man hier nicht lachen darf.« »Ich dachte, das spürt man?«
Sie lacht kurz auf. »Wirklich? Sorry, Zadok. Ich gehöre zu einem der vielen Menschen auf der Welt, die nicht hellsehen können.« »Okay. Ich will nicht mit dir streiten. Ich werde dich nicht mehr anfassen.« Na, siehst du?, fragt es in Saras Brust. Was du angerichtet hast? Mit deinem hysterischen Verhalten? Jetzt fasst er dich gar nicht mehr an. »Lass uns weitergehen«, flüstert sie mit gesenktem Kopf. »Ist Rauchen erlaubt?« Es ist weiter, als sie gedacht hatte. Und es ist nichts Besonderes zu erkennen. Die Stelle befindet sich, so kommt es Sara vor, mitten im Bauch des Waldes. Vor einem Jahr Der Metzger nimmt seine Jungs mit. Bewaffnet mit einem scharfen Messer und einem Benzinkanister holen sie den Pfarrer ab und machen sich mit ihm gemeinsam auf den Weg in den Wald. Sie finden die Stelle schnell. Sie wägen kurz ab, ob man doch noch für sie beten sollte. Aber es ist ihnen zuwider. Mörde-
rin, erinnert der Pfarrer fast grinsend. Sie durchschneiden die Seile, der Leichnam kniet kurz nieder, seine Knie berühren den Boden, bevor er ganz fällt. Die Männer schweigen und bemerken nicht, wie sich Jakobs Augen weiten, wie sein Mund sich öffnet, wie ihm der Speichel daraus tropft. Sie sehen nicht, dass der Junge ins Wanken gerät, wie er sich an einen Baum lehnen muss. Weil er erst jetzt erkennt, wie dieses Spiel vor ein paar Tagen ausgegangen ist. Erst jetzt begreift, was in jener Nacht geschehen ist. Es hatte Spaß gemacht, diese ekelige Frau zu jagen. Es hatte Spaß gemacht, mit den Erwachsenen zusammen die Frau anzupissen. Aber der Tod. Der Tod, der war dem kleinen Jakob nicht in den Kopf gekommen. Jakob weiß, wie tote Schweine aussehen und wie Rinderleichen riechen. Aber einen toten Menschen hat er bis zu diesem Tag noch nicht gesehen. Der Schock weitet nicht nur seine Augen, macht nicht nur seinen Mund schlaff und gefühllos; der Schock, der ihn durchfährt, verändert ihn für immer. Wie hypnotisiert folgt er seinem Vater, seinen Brüdern und dem Pfarrer, die den Leichnam, in eine Folie gewickelt, durch den Wald schleifen. Sie kommen zu einer Lichtung. Dort verbren-
nen sie die Leiche. Es seien diese beiden Bäume. Und es sei der Boden darunter. Es sei die Luft, die man hier atme, was diese Stelle so außergewöhnlich mache, erklärt Zadok. Dann streicht er mit beiden Händen über die Rinde der Bäume. Er hält ihr die Handflächen hin: »Riechst du sie?«, fragt er. Lautes Klopfen an ihrer Tür reißt Helena am frühen Morgen aus ihrem Gespräch mit sich selbst. Zitternd bleibt sie sitzen und hält die Luft an. Es klopft erneut, lauter noch und voller Wucht. Sie steht auf und öffnet die Tür. Der Pfarrer versetzt ihr einen Stoß gegen die Brust, sie kippt zurück. Er greift ihr ins Haar und reißt ihren Kopf in den Nacken. »Bist du eine kleine Hure?«, zischt er in ihr Ohr. Sie versucht den Kopf zu schütteln, aber das ist nicht möglich. »Keine Sorge, er hat dich nicht verraten.« Der Pfarrer deutet mit der freien Hand nach oben: »Er hat es mir gesagt.« Ja. Sie will Buße tun. Nein. Sie will nicht, dass es alle erfahren. Ja. Sie hat verstanden. Nein. Sie will nicht, dass sie fortgejagt wird. Nein. Sie hat kein anderes Zuhause. Ja. Sie bläst ihm
einen. Es geht recht schnell. Der Pfarrer ist das nicht gewohnt, kannte nur seine eigenen Hände, die ihm Erleichterung verschafften. Wusste ja gar nicht, wie das ist. Wie unbeschreiblich das ist. Er schließt die Hose und gibt Helena, immer noch knieend, einen Klaps auf den Kopf. »Wusste ich doch, dass du eine Hure bist. Helena, dafür wirst du aber noch oft büßen müssen.« Nachdem sie ihren Mund ausgewaschen hat, geht sie nach unten, um den Laden aufzuschließen. Jetzt sind es zwei, jetzt sind es zwei, jetzt sind es zwei, pocht es in ihren Schläfen und von dort strahlt es aus in ihren ganzen Körper, jetzt sind es zwei … Sie öffnet den Käfig, packt den Wellensittich und zerquetscht ihn mit einer Hand. Sie muss aufgeheitert werden, sie ist noch immer blass von seinem Zorn. Sie hat kein einziges Wort mehr gesprochen. Sie hat noch nicht mal eine Frage gestellt, sie stellt doch so gern Fragen, diese Frau, der dringend die Haare geschnitten werden müssen. Stünde es ihr doch viel besser. Aber zunächst muss sie aufgeheitert werden.
Er muss ihr Vertrauen zurückgewinnen. Sonst kommt sie ihm womöglich doch noch abhanden, bevor er alles erzählt, bevor er die vollständige Beichte abgelegt hat. Und dies scheint seine letzte Chance. Also reißt er sich zusammen, das fällt ihm keineswegs leicht. Schließlich war er innerhalb weniger Stunden zweimal an dieser Stelle gewesen. Das raubt enorm Kraft, das tut unendlich weh. »Ist es für Alkohol zu früh?«, fragt er und lächelt sie an. Schweigen. »Ja, du hast Recht. Es ist noch nicht mal Mittag. Was hältst du davon, wenn wir heute Abend in die nächste Stadt fahren und ausgehen? Ich lade dich zum Essen ein. Wenn du willst, gehen wir anschließend tanzen. Ich war ewig nicht in der Stadt.« Schweigen. Da nimmt er sie mit beiden Händen und zieht sie zu sich und hält sie fest umarmt. Erst noch wehrt sie sich ein bisschen, aber dann ergibt sie sich. Und er lässt sie nicht los, so lange, bis sie ihn auch umarmt. Ein Grinsen fährt ihm durchs Gesicht. Er streichelt vorsichtig ihren Kopf, den sie an seine Brust drückt. Er gibt ihr genug Zeit, sich zu besinnen. Seine Hand rutscht vorsichtig an ihrem Hinterkopf herunter, er spielt ein wenig mit ihrem Haar und
jetzt schließt auch Zadok die Augen, das Grinsen entgleitet ihm. Er hat Luca im Arm. Fast fällt er nach vorn, er hält sich an Sara fest. Fast schießen ihm die Tränen aus den Augen, er drückt Sara noch fester. Luca, denkt er. Meine kleine Luca. Drei Krähen landen im beginnenden Regen vor dem Fenster. Sie sitzen nahe beisammen und reiben ihre Köpfe aneinander. Dann hackt plötzlich eine Krähe auf die anderen beiden ein. Die beiden attackierten Vögel kreischen, schlagen mit den Flügeln, dann fliegen sie alle drei wieder weg. Später stellt er die Musik brutal laut. Das Dorf erzittert. Zadok, denkt der Bäcker. Er leidet, er leidet noch immer. Raphael, denkt der Bäcker dann und muss weinen. Sie jagen durchs Haus. Sie hat sich erholt. Ihr genügt eine feste Umarmung. Es ist ja so einfach, denkt Zadok. Man muss sich nur den Richtigen aussuchen. Dann ist es so einfach. Sie lacht auch wieder. Sie ist so gut im Verzeihen. Fast empfindet er Sympathie für sie. Am Nachmittag schminkt sie sich und steht dann lange vor ihrem Koffer. Sie weiß nicht, was sie anziehen soll. Nichts dabei zum Ausgehen. Zum Eingeladenwerden, geschweige denn zum Tanzen. Sara schließt die Augen und versucht
sich zu erinnern, was sie in der Stadt getragen hat, wenn sie ausging. Aber es ist zu lange her, sie weiß es nicht mehr. Sara in der Stadt. Auf dem Boden, auf dem Bett, im ganzen Schlafzimmer verstreut liegt der Inhalt ihres Kleiderschranks. Sara in der Stadt mittendrin. Sie steht wie erstarrt, nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Telefon klingelt erneut. Sie ist bereits zwei Stunden zu spät. Sie war mit ein paar Leuten verabredet gewesen. Man hatte sie angerufen, man hatte ihr gesagt, dass sie unbedingt mitkommen soll. Sie hatte sich überreden lassen. Sie hatte sich in die Badewanne gelegt, ihre Haare gewaschen, sich geschminkt, die Augen schwarz, den Mund viel zu rot. Dann war sie ins Schlafzimmer gegangen. Und dann hat sie nach und nach, erst langsam, dann immer schneller all ihre Sachen aus dem Schrank gezerrt und durch das Zimmer geschleudert. Und nichts war recht und nichts gefiel ihr und auch die Leute, mit denen sie verabredet war, die ungeduldig warteten, gefielen ihr nicht mehr und als dann kein einziges Teil mehr im Schrank hing, erstarrte sie. Ihr Lippenstift war verschmiert, sie war nass geschwitzt, ihre Haare hingen müde herunter, ihre Augen
brannten. Sara in der Stadt. Nicht mehr in der Lage auszugehen. Zadok hat sie beobachtet, Zadok hat verstanden, er klopft leise an die geöffnete Tür. »Ich habe nichts anzuziehen«, sagt sie, ohne ihn anzusehen. »Das macht nichts. Ich kaufe dir etwas in der Stadt.« »Das will ich nicht.« Das macht Spaß: mit einem Lächeln und schwungvoll aus der Umkleidekabine zu kommen und sich vor ihm zu drehen. Das kennt man sonst aus schlimmen Filmen. Aber in echt ist es fantastisch. Das macht ihr Spaß, wie er sie ansieht, wie er sie anlächelt. Das hat gar nichts Angst Einflößendes mehr. Es macht Spaß, weil die Verkäuferin mit rotem Kopf und verärgertem Gesicht in der Ecke steht. Es macht Spaß, mal wieder in der Stadt zu sein. Das hätte Sara nie, nie, nie für möglich gehalten. Ich liebe ihn, denkt sie kurz. Er macht mich heil. Sara in seinen Händen. »Das ist es!«, ruft er und klatscht in die Hände. »Das steht dir wunderbar!« Sie lässt es gleich an, dabei ist es viel zu kalt,
die neuen Schuhe trägt sie bereits. Frieren ist wunderbar, wenn man ewig nicht gefroren hat. Lieben ist wunderbar, wenn man ewig nicht geliebt hat. Angst haben ist großartig, wenn man dachte, man hat vor nichts mehr Angst. Jetzt sitzen sie in einem kleinen Restaurant und trinken Wein. Schwarze Wolken tauchen das kleine Dorf noch vor dem Abend in Dunkelheit. Nachdem einer beobachtet hatte, wie Zadok mit dieser Frau im Auto wegfuhr, dauerte es keine halbe Stunde, bis alle anderen informiert waren. Sofort rief der Pfarrer zur Versammlung. Die Gemeinschaft macht sich bereit. Helena schließt den Laden ab. Jetzt kommt sowieso keiner mehr. Wenn zur Versammlung gerufen wird, gehen alle hin. Wer nicht teilnimmt, muss eine gute Entschuldigung haben. Versammlung bedeutet Anwesenheitspflicht. Das hat ihr ihr verstorbener Mann erklärt, als sie neu im Dorf war. Versammlung bedeutet, dass etwas passiert ist, über das man dringend sprechen muss. Die letzte ist über ein Jahr her. Seitdem ist nichts Wichtiges passiert. Würden der Wirt oder der Pfarrer – jetzt sind es zwei, jetzt sind es zwei – das Schweigen brechen, dann gäbe es auch eine Versammlung. Eine
ohne Helena. Und das würde nichts Gutes bedeuten. Für Helena. Der Regen platzt aus den prall gefüllten Wolken. Helena zieht ihren schwarzen Regenmantel an und bindet ein schwarzes Tuch um ihren Kopf. Einmal Witwe, immer Witwe, denkt sie. Einmal Hure, immer Hure, denkt sie. Witwe, Hure, Witwe, Hure … Der Metzger und seine Frau streiten. Wie immer geht es um Jakob. »Er bleibt hier«, sagt Eva. »Ich will mit!«, kreischt Jakob. »Du bleibst bei deinen Brüdern«, sagt Eva. »Wenn er unbedingt will, dann kommt er mit!«, beendet der Metzger die Diskussion. Schweigend geht Eva ins Bad, um ihre Haare in Form zu bringen, um sich zu schminken. Mit zusammengepressten Lippen spachtelt sie Make-up über ihre Falten. Werden täglich mehr, werden täglich tiefer. Ist wichtig, gut auszusehen, ist wichtig, besser als die anderen auszusehen. Wohlhabendste Familie im Dorf, darf mich nicht gehen lassen, denkt sie. Nichts anmerken lassen. Alles Falsche überschminken, überschmücken, überlächeln. Kopf hoch, gerader Rücken, gestrafft. Brust heben. Das Alter, das grausige, wegdenken. Nicht an den gestörten Jüngsten denken, nicht an den Ehemann, der ihr Wort ignoriert. Nur an Gu-
tes denken. Ans Geld beispielsweise oder an die zwei großen Söhne. Die machen sich doch prächtig, arbeiten fleißig, widersprechen nicht. Hast ja doch nicht alles falsch gemacht. Hast ja auch Gutes gemacht. Es ist alles nicht deine Schuld, Eva, flüstert sie ihrem Spiegelbild zu. Und nachdem sämtliche Falten übermalt sind und der Mund größer scheint und die Wimpern lang, verharrt sie noch. Und je länger sie sich in die Augen sieht, desto ruhiger wird sie. Eva meditiert. Dazu bedarf es nur ein paar beruhigender Gedanken. Neue Schuhe gilt es zu imaginieren, neue Handtaschen, neue Kleidungsstücke, neue Kosmetik. An nichts anderes denken, das hat bislang immer geholfen. Voller Vorfreude spült der Wirt schnell noch ein paar Gläser. Gleich geht’s zur Versammlung. Wir werden schon eine Lösung finden. Es gibt immer eine Lösung. Und ich sehe Helena, denkt er. Anschließend gehe ich ihr nach. Anschließend besorg ich es ihr die ganze Nacht. Doch erst die Pflicht: Die Frau muss weg. Zadok muss gerettet werden. Er bringt uns noch alle in Teufels Küche. Zadok weiß ja gar nicht, was er tut. Er redet zu viel. Hatte sich doch so gut gemacht. Und jetzt das. Wird schon eine
Lösung geben. Und dann das Vergnügen. Der Pfarrer wird später erklären, dass es lange dauert, bis ein Mensch den richtigen Weg nicht mehr verlässt. Es ist gut, wird er sagen, zumindest schon einmal kurz auf dem rechten Weg gewandelt zu sein. Seid milde mit Zadok, wird er sagen. Und insgeheim: Er hat uns alle in der Hand. Und bei diesem Gedanken, den er niemals aussprechen darf, weil ihm alle Macht entgleiten würde, bei diesem Gedanken wird er leicht erschauern und gegen seine Tränen ankämpfen müssen. Um stark zu bleiben, wird er dann ein Gebet befehlen. Doch noch steht er klein und mager vor seinem großen Spiegel, darüber hängt Jesus am Kreuz und sieht müde herab. Der Pfarrer räuspert sich. »Meine Lieben. Ich bin froh, dass ihr so schnell auf meine Einladung reagiert habt. Wie ihr, bin auch ich erschüttert, dass diese Versammlung ohne Zadok stattfinden muss. Und ich sage euch …« An dieser Stelle unterbricht er seine Probe. Noch einmal. Die Arme hoch, die Hände empor, Größe vorgaukeln: »Und ich sage euch«, wiederholt er nun mit fester Stimme, »fürchtet euch nicht. Diese Frau ist keine Gefahr. Zadok ist nicht dumm.« Doch er hat uns alle in der Hand – wieder dieser Gedanke. Dieser ermattende Gedanke, der
macht, dass die Arme nach unten fallen. Der macht, dass der Pfarrer sich wie ein Wurm fühlt. Wie ein kleiner, nichtsnutziger Wurm. »Er hat uns alle in der Hand«, flüstert er und eine kaltnasse Angst krabbelt wie ein schnelles Insekt sein Rückgrat hoch. Alle machen sich bereit. Als würden sie aus Gräbern steigen, verlassen sie ihre sicheren Häuser. Auf den wenigen Straßen, im dunklen Regen, sieht man sie ziehen. Aus allen Richtungen kommen sie und strömen zum Gotteshaus. Große, schwarze Vögel mit nach vorn gestreckten Köpfen und schmalem Blick für sich. Jeder Einzelne. Nichts als den Blick für sich. Und Jesus lächelt mild. Aber fliegen können sie nicht!, kreischen die drei Krähen, die über dem Dorf ihre Kreise ziehen. Dies ist alles für sie. Der ganze Tag war es und die Nacht ist es auch. Er macht seinen Ausrutscher tausendfach gut. Er strahlt sie an, macht ihr Komplimente. Das treibt ihr die Röte ins Gesicht. Er ist charmant, er macht sich außerordentlich gut. Er weiß, welche Wirkung seine Augen haben können, und er weiß, wie man mit traurigen Menschen verfährt. Dennoch ist er dankbar, dass Sara es ihm so erleichtert.
Sara in der Stadt. Mit Zadok. Zu allem bereit. Schwebend, das tut gut. Schweben ist das Beste überhaupt. Die Musik kracht ihr in den Schädel. Sie tanzt sicher schon seit Stunden. Er steht am Tresen und wenn sie überprüft, ob er auch noch da ist, sie nicht verlassen hat, dann prostet er ihr zu. Die ganze Zeit beobachtet er sie, das gefällt ihr so gut. Alles, was sie braucht: Jemanden, der nicht geht, jemanden, der sie genauso anlächelt, jemanden, der ihr durch einen völlig überfüllten, verschwitzten Raum hindurch zuprostet. Jemanden, der sie beobachtet, wenn sie tanzt. Ich bin da, denkt Sara voller Freude, ich bin lebendig. Trotzdem. So schnell, versucht sich Sara einzureden, kriegt er mich nicht. Er winkt ihr zu, sie drängt sich zu ihm. Es scheint ihr eine Ewigkeit her, dass so viele Menschen um sie herum waren. Aber es stört nicht, es ist perfekt. Sie hat Lust, sich mit Zadok zu zeigen. Er reicht ihr ein buntes Getränk mit Strohhalm und steckt ihr eine Zigarette zwischen die Lippen. »Alles klar?«, fragt er nah an ihrem Ohr und sein Atem macht ihr sofort, augenblicklich eine Gänsehaut am ganzen Körper. Sara hat ihn sehr wohl verstanden, aber: »Was? Ich verstehe dich nicht! Es ist so laut!«
Er grinst und kommt wieder ganz nah zu ihr, streicht vorsichtig ihre Haare zurück: »Du solltest dir deine Haare abschneiden lassen. Am besten von mir. Ich bin da sehr geübt. Aber im Verlieben, Sara, bin ich wirklich nicht gut. Also reize mich nicht.« Dann nimmt er ihr Gesicht mit beiden Händen und küsst sie auf die Stirn. Nach weiteren Cocktails wird sich Sara von Zadok in einem Hotelzimmer mitten in einer fremden Stadt die Haare schneiden lassen. Das hat der Kuss, ein winziger, federleichter Kuss geschafft. Sara weiß das jetzt noch nicht. Aber die Erkenntnis wird ihr am nächsten Tag ins Hirn kriechen, wenn sie sich erschrocken im Spiegel betrachtet und ungläubig durch das kurze Haar streicht. Erst noch wird sie es dem Alkohol zuschieben. Doch dann wird sie sich erinnern. Sie wird sich erinnern, dass dies ganz allein ein einziger Kuss verschuldete. Sie trinkt hastig aus, nimmt seine Hand und zieht ihn auf die Tanzfläche. Sara, totgeglaubt, ist wieder am Leben. Sie tanzen eng umschlungen, sie tanzen mit einem Meter Abstand, alle Menschen um sie herum werden unsichtbar. Der Morgen trägt einen gräulichen Mantel. Zadok und Sara verzichten darauf, das Licht einzuschalten. Er schiebt einen Stuhl in die
Mitte des Raums. Sie kichert und fühlt sich sehr betrunken. »Wenn das scheiße aussieht, bringe ich dich um!«, sagt sie, um eine ernsthafte Stimme bemüht. »Du kannst mir vertrauen.« »Das ist mir neu.« »Bereit?« »Wie gesagt, ich bringe dich um.« Zadok lacht und stellt sich hinter sie. »Was immer du willst, Sonnenschein.« Dann die Schnitte der Schere nahe an Saras Kopf. Ein angenehmes Geräusch und viel lauter als das kurze, zuckende Gefühl: Er hat mich. In der Gemeinschaft beruhigt es sich leichter. Der Pfarrer hat seine Sache gut gemacht. Ein Profi, überzeugend in seiner Rede, aufrecht wie ein Pfau stand er vor seiner Gemeinde und ließ sich von seiner eigenen Angst nichts anmerken. Er konnte sie überzeugen, dass es besser ist, noch abzuwarten, keine zu schnellen Schlüsse zu ziehen. »Fürchtet euch nicht, denn Ihr habt nichts Unrechtes getan«, beendete er seine Rede. Und glaubte sich fast. Es entging ihm nicht, dass der Wirt nach der Versammlung Helena folgte.
In Zadoks Kopf ein heftiger Drang, eine aufbrausende Unruhe: Er hatte Recht. Sie sieht aus wie Luca. Genauso hätte Luca ausgesehen, in ein paar Jahren. Nur ein Unterschied: Sara ist nicht magisch. Trotzdem. Rein äußerlich, zum Verwechseln, diese Ähnlichkeit; von weitem ein und dieselbe Person. Genauso schmal, genauso blass, inzwischen kurzes Haar, inzwischen eine ähnlich gerade Haltung. Zadok erinnert sich, wie er sie zum ersten Mal gesehen hat. Er hatte sie einige Tage beobachtet, bevor sich die Gelegenheit ergab, sie anzulocken. Er hatte sie das erste Mal im Wald gesehen, beim Spazierengehen. Sie war so in sich versunken, dass sie ihn nicht bemerkte. Ein ganzes Jahr des Leidens lag an diesem Tag auf Zadok. Gleich neben dem Leid wohnte der Zorn, ein unermesslicher Zorn. Und eine der Stimmen, die seit einem Jahr in seinem Kopf flüsterten, sagte: Dies ist dein Mensch, deine letzte Möglichkeit. Und eine andere Stimme zischte: Schau sie dir doch an, sie sieht aus wie Luca. Immer mehr Stimmen wurden laut und drängten ihn: Dies wird dir Erleichterung verschaffen, du wirst sehen, du wirst sehen … »Ich hatte Recht«, sagt er. Sara fühlt sich verkatert, auf dem Weg zurück ins Dorf hatte sie geschlafen. Zadok stellt den Motor aus und be-
trachtet sie mit einem traurigen Lächeln. »Die kurzen Haare stehen dir ausgezeichnet.« Sara gähnt und streckt ihren Rücken: »Dann hast du ja Glück gehabt. Ich lasse dich am Leben.« Ambras Tagebuch Jeden Tag wundere ich mich, dass die Zeit vergeht. Dass, obwohl ich mich kaum rühre, die Zeit weitermacht. Ich sehe es an dem unaufhörlichen Gedeihen dieser beiden Ausgeburten. Man lässt mich meist allein. Endlich scheinen sie zu begreifen, dass ich keinen Wert auf Gesellschaft lege. Die Kinderfrau traut sich schon lang nicht mehr in meine Nähe. Sie weiß genau, dass ich alles weiß. Carlo macht sich auch immer seltener die Mühe, mich zu besuchen. Und Raphael, dieses kleine, stumme Ding, bekam von seiner Schwester eingetrichtert, dass er mich lieber meiden soll. Sie ist die Einzige, die es nicht lassen kann. Obwohl sie inzwischen sprechen kann, sagt sie zu mir kein einziges Wort. Sie steht vor mir und betrachtet mich. Unerträglich. Mit ihrem Bruder spricht sie viel. Ich höre sie, obwohl sie flüstert. Sie
sagt, er soll nicht in mein Zimmer kommen. Dass ich Menschen hasse. Und dass ich nicht schön aussehe. Dass es ihm nur Angst einjagen würde. Lass sie lieber in Ruhe, sagt sie. Die Kinder müssen weg. »Mein Bruder dachte, mit den Jahren wird es besser. Er nahm an, seine Frau würde sich an die Kinder gewöhnen. Dass sie sie eines Tages lieben würde, so wie er es inzwischen tat, hatte er sich längst aus dem Kopf geschlagen. Nur, weil er so an seinen Kindern hing, quälte er seine Frau zehn lange Jahre. Doch letztlich, das wissen wir ja längst, war die Liebe zu seiner Frau stärker. Oder die Angst um seine Kinder. Manchmal frage ich mich, ob sie noch da wären, wenn ich die Bücher eher gelesen hätte. Wenn ich eher informiert gewesen wäre. Aber es ist müßig, es gibt keine Antwort. Wie auch immer – Ambra hatte Recht. Die Kindern gediehen prächtig – an den Kindern siehst du am deutlichsten, wie die Zeit krepiert.« Zadok lacht und öffnet eine weitere Flasche Wein. Sie sitzen in der Küche, Sara trinkt ihren Kater weg. Da ihre Sehnsucht stetig wuchert, wird auch ihre Neugierde größer. »Luca wurde schlagartig eine junge Frau. Ei-
nes Tages, ich weiß nicht mehr, wie alt sie war, sah ich, wie sie nachdenklich vor dem Spiegel stand. Ich erinnere mich, dass Raphael nicht da war, vermutlich in der Schule. Luca hatte den ganzen Morgen nicht mit mir gesprochen. Man merkt, wessen Schwester du bist, provozierte ich sie. Trotzdem, kein Wort. Und dann diese Szene vor dem Spiegel. Ich weiß nicht, vielleicht wusste sie sogar, dass ich sie beobachtete, aber sie ließ sich nichts anmerken. Oder sie war wirklich zu vertieft. Sie verlor ihren Kinderblick an diesem Tag. Aber sie verlor nicht, wie man nun annehmen könnte, ihre Gabe. Irgendwann drehte sie ihren Kopf zur Seite, schaute mich an. Was fällt dir auf, Zadok?, fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern. Sieh genau hin!, herrschte sie mich an. Luca war verständlicherweise immer ein wenig cholerisch gewesen. Wer so scharf sieht, wer wahrnimmt wie sie, wer so viel weiß, selbst die Zukunft ahnt, wer das Entweichen eines Lebens hört, wer, kaum geboren, ein anderes Leben rettet, wer nebenbei erfährt, von welchen Gedanken die Mutter gequält wird – solch ein Mensch muss zwangsläufig cholerisch sein. Wie sollte ein einziger Mensch sonst diesen Druck, diesen permanenten Druck ertragen? Schrei mich nicht an!, schrie ich zurück.
Komm her. Du musst genauer hinschauen, sagte sie etwas ruhiger. Also ging ich ganz nahe an sie heran. Sie streckte mir ihr Gesicht entgegen. Du musst es doch sehen, Zadok, sagte sie mit zitternder Stimme. Es muss dir doch etwas auffallen. Es brauchte ihre Tränen, bis ich erkannte, was sie meinte. In den darauf folgenden Tagen war sie kaum wiederzuerkennen. Sie verfluchte ihr Leben, sie verfluchte ihre mickrige, viel zu kurze Kindheit, sie wollte dauernd in meiner Nähe sein. Gleichzeitig begann sie jedoch, mit ihrem Hintern zu wackeln, wenn sie Zigaretten holen ging, obwohl ich ihr das verbot.« Lucas Charme reifte genauso wie ihr Körper. Sie wurde unwiderstehlich. Für die Leute im Dorf bedeutete das, sie noch mehr zu hassen, und für Zadok bedeutete es, sie noch mehr zu lieben. »Glaube mir, mit jeder Faser wehrte ich mich dagegen. Jeden Tag aufs Neue trichterte ich mir ein: Sie ist deine Nichte. Sie ist immer noch ein Kind. Du musst wissen, Sara, ich bin ein großer Moralist!« Er lacht. Du musst wissen, Sara, diese Geschichte nimmt kein gutes Ende. Du musst wissen, Sara, diese Geschichte ist auch deine Geschichte. Du musst wissen, Sara, jeder macht sich seine
Moral selbst zurecht. Wie ein feines Bett, zetern drei Krähen auf dem Dach. »Ich bin müde, ich gehe nach oben«, sagt Sara. »Gern. Aber bitte glaube mir, ich habe sie nicht angerührt, ich habe sie niemals angerührt.« »Es ist gut, Zadok. Ich habe dich verstanden.« Sara lächelt müde und umarmt ihn kurz. Natürlich hat sie mich verstanden, denkt Zadok, als er sich erneut zu der Stelle im Wald aufmacht. Sie ist verliebt, es ist nicht zu übersehen, sie kann nicht anders, als mich verstehen. Er beginnt zu flüstern: »Was bleibt ihr auch sonst? Ein kleiner, trauriger Klumpen, der sie war. Als sie kam, war sie am Boden. Natürlich versteht sie mich, sie will ja nicht verlieren, was sie zu haben glaubt. Die kleine, dumme Sara. Kann sich ja nicht ausmalen, was wirkliche Liebe bedeutet. Hat ja keine Ahnung, was das heißt, sich dermaßen zu verzehren, wie das ist, wenn das Herz gezerrt ist. Aber sie sieht ihr ähnlich, sie sieht ihr so verdammt ähnlich. Luca. Meine kleine Luca. Meine kleine Luca.« Nach dem Monolog ein schneller Lauf. Im Takt dazu das Flüstern der Krähen, die Zadok gern begleiten: Mach sie fertig, sie gehört
dir, sie will es nicht anders, in deinem Herzen ist nur Platz für Luca. Und dann schreien sie laut lachend: Und für Raphael, wir sind zu dritt, immer zu dritt. Keine Luca ohne Raphael, das weißt du doch, das weißt du doch! Die Pensionsfrau, nach langer Krankheit das erste Mal wieder auf den Beinen, öffnet das Fenster im obersten Stock und stürzt sich hinaus. Aber die Pensionsfrau hat Pech. Sie bricht sich nur das Rückgrat. Sie wird es, wenn sie wieder bei Bewusstsein ist, als Strafe deuten. Sara ist zu tief in einem furchtbaren Traum, als dass sie sofort durch Zadoks Stimme aufwachen könnte. Der Schauplatz ist ein riesiger Raum, ganz und gar grau. Sara sitzt in der Mitte, an einen Stuhl gefesselt, so fest, dass sie sich kaum bewegen kann. Ein Streifen Klebeband verhindert ihren Schrei. Sie sitzt mit weit aufgerissenen Augen da und sieht zu, wie dem Engel, der vor ihr steht, die Flügel verbrennen. Der Engel starrt sie mit ebenso entsetztem Blick an. Auch er schreit nicht, hat nur den Mund weit aufgerissen. Es riecht nach verbranntem Fleisch und Sara weiß, dass sie die Nächste ist. Sie weiß, sie wird nach dem Engel
brennen. »Hey, Sara, es ist etwas Furchtbares passiert!« Sie reagiert nicht. Er rüttelt sie. »Sara, wach auf.« Mit einem lauten Schlag wird es gleißend hell in Saras Traum. Sie schnellt mit einem lang gezogenen Schrei hoch. »Schlecht geträumt?« Er streicht ihr über die Stirn. »Du bist ja ganz verschwitzt, was hast du geträumt?« »Ich … ich kann mich nicht erinnern. Es war fürchterlich, ich hatte solch eine Angst. Ich weiß nicht, wovor. Aber ich konnte nichts tun. Ich konnte aus irgendwelchen Gründen nichts tun.« »Dann ist gut, dass ich dich geweckt habe. Träume, die man so schnell vergisst, sind sowieso nichts wert. Hör zu, es ist etwas passiert. Ich habe noch einen Spaziergang gemacht und dann hörte ich die Sirene. Ich bin ins Dorf gerannt. Vor der Pension stand der Rettungswagen. Die Pensionsfrau ist aus dem Fenster gesprungen. Vermutlich stirbt sie.« »Das ist nicht wahr.« »Doch.« »Warum hat sie das getan?« »Ich habe dir doch gesagt, dass sie schwache Nerven hat.«
»Das Gleiche behauptest du auch von mir.« »Hast du denn nie über Selbstmord nachgedacht?« »Nein. Nie, nie ernsthaft …« Sara in der Stadt. Sie liegt in der Badewanne und schäkert mit dem Tod. Warmes Wasser macht die Sache schnell. Ist das gut? Ist das schlecht? Wenn es vielleicht das Einzige ist, was nicht dumpf ist? Ist es dann nicht besser, die ganze Sache in die Länge zu ziehen? Aber was ist mit den Schmerzen, mit den körperlichen Schmerzen? Was, wenn die unerträglich sind? Wenn nur körperlicher Schmerz da ist und sonst – wie gewohnt – weiterhin nichts? Wenn es so sein sollte, wäre warmes Wasser hilfreich. Sara in der Stadt. Liegt so lang in ihren Gedanken, bis das Wasser kalt ist. Mit blauen Lippen legt sie sich irgendwann ins Bett. Er streicht ihr erneut über die Stirn. »Du lügst.« Sara in der Stadt. Ein anderer Tag, irgendwann, in irgendeiner Jahreszeit. Vor ihr aufgereiht eine Armee von Flaschen, daneben Schachteln mit Tabletten. Über dem Küchentisch hängt eine nackte Glühbirne mit dunklem Licht. Ein kleiner Vogel sitzt auf dem Baum vor Saras Küchenfenster. Er beobachtet sie mit
schiefem Kopf, das Fenster ist weit geöffnet. Sara in der Stadt. Spielt ein seltsames Spiel. Sie denkt, wenn du bei hundert nicht weggeflogen bist, fange ich an. Sie zündet sich eine Zigarette an und lässt das Streichholz bis zu ihrem Finger abbrennen. Sie flüstert: eins, zwei, drei, … Der kleine Vogel ist bei hundert noch immer da. Er hat sich nur einmal kurz bewegt, den Kopf zur anderen Seite geneigt und sich dabei aufgeplustert. Der erste Soldat wird geköpft. Vier Tabletten in den Kopf gesteckt. Kopf, denkt Sara, nicht Mund. In den Kopf schüttet sie sich den Alkohol und in den Kopf stopft sie sich die Tabletten und in den Kopf hinein inhaliert sie den Qualm der Zigaretten. Das macht den kleinen, zuvor so trägen Vogel wohl unruhig. Sara in der Stadt. Lächelt fast, wie der Vogel sich so plötzlich munter putzt, das ist beinah komisch. Saras seltsame Spielregeln beinhalten eine Variante für Anfänger. Diese lautet: Und wenn der Vogel jetzt doch noch wegfliegt, dann höre ich auf. Ich mache so lange weiter, bis er wegfliegt. Das ist fair. Das ist nicht feige, das ist immer noch fair. Russisches Roulett ist auch nicht feige. Und da stehen die Chancen ja wohl noch besser. Der putzt sich für die Nacht. Der pennt auf seinem Ast ein und sieht mir beim Sterben zu.
Hoffentlich kotze ich dich nicht voll, du dämlicher Vogel! Diese Variante hat manch einem Anfänger das Leben gerettet. So auch Saras. Der Vogel putzte sich für seinen Abflug. Er wartete nur noch eine halbe Flasche und eine weitere Hand voll Tabletten ab. Das brachte lediglich einen langen, tiefen, schwarzen Schlaf, der erst am übernächsten Tag, in welcher Jahreszeit auch immer, endete. »Ich lüge nicht, ich habe nie ernsthaft darüber nachgedacht.« »Du lügst nicht nur, du tust es so schlecht, dass es lächerlich ist.« »Du kannst mich mal.« »Ich würde gern.« »Verdammt, hör auf damit. Was wird mit der Pension passieren?« »Das interessiert dich doch einen Scheißdreck, Ich habe keine Lust, mich mit dir über Scheißdreck zu unterhalten.« »Worüber möchtest du dich denn gern unterhalten, Zadok? Über deine kleine, scheiß Lolitageschichte? Ich weiß, darüber unterhältst du dich gern mit mir. Was bezweckst du eigentlich damit? Was soll das alles?« Schlag sie!, raten ein paar Stimmen in Zadoks Kopf. Er widersteht. Kleine, scheiß Lolitageschichte hat sie gesagt, hau ihr die
Fresse blau!, hetzen die Stimmen. Er steht abrupt auf, fährt sich durchs Haar, wirft ihr einen Blick zu, der sie zucken lässt, und verlässt das Zimmer. Und Sara, noch ganz verschwommen von ihren Bildern von Sara in der Stadt, bleibt zusammengekauert im Bett sitzen. Als ihr Blick auf das Flügelskelett fällt, erinnert sie sich an ihren Traum. »Diese Zeitungsartikel«, fragt sie später, nachdem sie sich nach unten getraut hat, »was haben die zu bedeuten?« Er beachtet sie nicht, stur wendet er ihr den Rücken zu und beginnt, Gemüse zu zerkleinern. »Okay, dann nicht, ich dusch dann mal.« Sie verharrt noch einige Sekunden, er antwortet nicht. Sie schließt sich im Badezimmer ein und als sie sich im Spiegel betrachtet, erschrickt sie. Sara hat sich noch nicht an ihre neue Frisur gewöhnt. Und jetzt denkt sie, dass sie vielleicht überschnappt: Wie konnte ich mir meine Haare abschneiden lassen? Eine warme, weiche Übelkeit brodelt in ihrem Magen. Sara kotzt in das Waschbecken. Ich darf nicht so viel saufen, redet sie sich ein. Ich bin tatsächlich lächerlich, denkt sie. Er hat Recht, ich lüge stümperhaft.
Nach der Dusche fühlt sie sich besser. Sie geht wieder nach unten. Laute Musik schallt aus dem großen Raum. Zadok steht noch immer in der Küche und kocht. »Ich mache einen Spaziergang. Vielleicht bist du danach wieder in der Lage, mit mir zu sprechen«, sagt sie und verlässt das Haus. Es gibt zwei Möglichkeiten, ein wenig Erleichterung zu erlangen. Lautes Schreien im Wald, aber Saras Hals ist wund. Und schnelles Rennen immer geradeaus, Sara rennt. Außer Atem und tatsächlich ein wenig leichter im Kopf bleibt sie vor der Pension stehen. Längst wurde das gesamte Haus durchsucht, aber das weiß sie nicht. Längst haben die Ängstlichen jedes einzelne Zimmer durchsucht. Man befürchtete, diese immerzu freundliche Alte, dieses verwirrte Weib, habe irgendwo einen Hinweis hinterlassen. Nicht mehr Herrin ihrer Sinne, wie schon ewig bekannt. Aber dennoch – als eine von ihnen – geduldet. Jetzt ist sie vielleicht endlich tot. Aber was, wenn sie irgendwo einen sentimentalen Hinweis hinterlassen hat? Was, wenn die Bullen kommen und den Hinweis finden würden? Was dann? Mit Schweiß auf der Stirn und flatternden Bewegungen durchwühlten sie jede Ecke des Hauses. Aber ihr
Blick war zu fahrig. Und die Alte war weniger irr als angenommen. Sie hatte die Nachricht für Sara tatsächlich gut versteckt. Sara öffnet vorsichtig die Tür. Der Geruch des Hauses erinnert sie daran, wie sie das erste Mal eintrat. Das scheint Jahre her. »Hallo?«, fragt sie vorsichtig. Natürlich antwortet niemand. Zuerst geht sie in die Küche, dann in das Wohnzimmer, wo die Pensionsfrau oft in einem viel zu großen Sessel gesessen hat. Dann steigt Sara die Treppen hoch, öffnet die Tür des Zimmers, in dem sie gewohnt hat, und bleibt eine Weile mitten im Raum stehen. Ein schwerer Druck lastet in ihrer Kehle. Sie öffnet das Fenster. Mit geschlossenen Augen inhaliert sie die kalte, feuchte Luft. Danach geht sie in das kleine Badezimmer. Sie verharrt vor dem Spiegel: »Vielleicht hätte ich lieber hier bleiben sollen«, flüstert sie sich zu. Ohne Idee, warum sie überhaupt noch einmal hierher gekommen ist, beschließt Sara zurückzugehen. Und nachdem sie das Fenster geschlossen und sich noch einmal kurz auf das Bett gesetzt hat, verlässt sie den Raum. Sara ist schon an der Haustür, als ihr etwas einfällt. Also kehrt sie um und steigt erneut die Treppen nach oben. Seit sie ausgezogen ist, fehlt ihr
Buch, das sie doch extra für den Aufenthalt auf dem Land gekauft hatte. Sie geht noch einmal in das Zimmer, öffnet die Schublade des Nachttischs, den Kleiderschrank und legt sich schließlich auf den Boden – und tatsächlich – unter dem Bett liegt ihr Buch. Anstelle ihres Lesezeichens steckt ein kleiner, sorgsam gefalteter, weißer Zettel zwischen den Seiten zwanzig und einundzwanzig. Darauf in zittriger, winziger Schrift: Eine Krähe hackt den anderen die Augen aus. Zadok sitzt am Tisch und isst. »Wo du immerhin wieder in der Lage bist, mich anzusehen, vielleicht sprichst du ja dann auch wieder mit mir?«, sagt sie und setzt sich ihm gegenüber. »Du bist wunderbar«, sagt er. »Wie bitte?« »Du bist schön und du bist ein wunderbarer Mensch.« »Mir war, als hättest du vorhin noch etwas anderes gedacht.« »Ich habe beschlossen, dir nichts mehr zu erzählen. Bitte pack deine Koffer und geh.« Ungerührt, als hätte er etwas völlig Belangloses gesagt, isst er weiter und lächelt sie an. »Das meinst du nicht ernst!«, antwortet sie eindeutig zu schnell und entsetzt.
Er lacht, wischt sich den Mund ab und steht auf. »Lust auf ein Glas Sekt?« Er hat aber nichts Belangloses gesagt. Er kann nicht einfach zum Sekt übergehen. Was er gesagt hat, treibt lärmende Gefühle durch Sara. Wie festgewachsen sitzt sie da, muss sich fast am Tisch festhalten, starrt ihn an, wie er seinen Teller wegräumt, zwei Gläser und eine Flasche auf den Tisch stellt, sie noch immer anlächelt. Was er gesagt hat, war eine Drohung. Ihn nicht mehr sehen. Nicht mehr aus dem Rahmen fallen. Nicht mehr ausgeschnitten sein! – So würde er es nennen. Allein sein, im altbekannten, leeren Nichts namens Leben. Keine Nächte mehr durchtanzen, durchreden, keiner mehr, der sie so ansieht. Keiner mehr, der sie so in den Arm nimmt. Keiner mehr, der sie gefangen nimmt mit einer ungeheuren Kraft. Sara will fast betteln. Will fast weinend auf seinen Schoß kriechen und betteln, er möge sie nicht wegschicken. Will fast flüstern: Liebst du mich denn nicht? Liebst du mich nicht auch ein kleines, kleines bisschen? Habe mir doch die Haare schneiden lassen. Bin doch bei dir eingezogen. Höre doch deinen Geschichten zu. Höre doch deinen ganzen kranken Geschichten zu. Schick mich nicht weg, Zadok. Erzähl mir ruhig von Luca. Vielleicht
liebst du mich am Ende der Geschichte. Nur, schick mich nicht weg. Ich weiß, verdammte Scheiße, nicht, wohin. Er reicht ihr ein Glas: »Auf Luca!« Du musst sie ein wenig quälen, dann wird sie schon verstehen. Dann wird sie schon verstehen, wie es ist. Du musst ihr zeigen, wie es ist. Sie soll es am ganzen Leib spüren. Nie wieder soll sie so sein wie zuvor. Es soll schlimmer kommen als zuvor. Sie weiß nicht, wie es ist. Sie denkt, zuvor war es schlecht. Zuvor war es im Vergleich dazu fabelhaft! »Und jetzt auf uns! Ich wollte nie, dass du gehst.« Da die arme, verwirrte Sara immer noch wie festgefroren sitzt und ihn ungläubig anstarrt, greift Zadok tiefer in die Zuckertüte: »Sara, ich weiß, es ist etwas kompliziert mit uns. Das liegt an verschiedenen Dingen. Zum Beispiel daran, dass ich mich nicht in dich verlieben will. Und du machst es mir wirklich nicht leicht.« Schwarz ist die Liebe. Rot ist der Hochmut. Verwandelt sich ein Mensch in ein kleines, zutrauliches Tier, dann trägt dieser Vorgang die Farbe grau-blau. Die Lüge ist beige und die Angst ist gleißend weiß. Trauer ist rosé und Engelsflügel bestehen aus Draht. Eifersucht
trägt die Farbe der Angst. Ein Fest, mit allem, was dazugehört: eine Frau und ein Mann, mehrere Flaschen Sekt, Musik, Tanz! Das alles in einem Licht von tausend Kerzen. Zucker, so viel, dass es klebt. Aber es fühlt sich gar nicht klebrig an. Ein Pakt zwischen Männern. Darauf trinken wir noch einen. Warum nicht zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen? Sentimental vom Schnaps, haben sich der Wirt und der Pfarrer ausgesprochen. Aber keiner darf es wissen! Das ist doch Ehrensache. Und was soll schon passieren? Der Pfarrer hat nichts zu befürchten, ihm werden sie immer mehr Glauben schenken als dem Wirt. Und der Wirt hat nichts zu befürchten, denn er darf in dieser Hinsicht tun und lassen, was er will. Helena ist die Einzige in diesem kleinen Nebenspiel, die etwas zu befürchten hat. Als würde sie es ahnen, liegt sie zitternd im Bett, aber sie ahnt ja nichts. Helena zittert wegen einer anderen Angst. Diese Angst sucht sie nun heim, weil sie über eine Flucht nachdenkt. Die Idee war einfach da gewesen und es ging nicht anders, Helena musste sie zu Ende denken. Zunächst noch war dies eine gute Idee: einfach eines Nachts die Sachen zusammenzupacken und
abzuhauen. Aber dann kamen schneller als gewünscht die Zweifel und mit ihnen riesige Portionen Angst. Die Angst beschert Helena die schlimmsten Bilder. Sie sieht sich durch das Dorf rennen, wie einst das Mädchen durch das Dorf rannte. Sie hat seine Augen nicht vergessen. Sie kann sich sehr gut daran erinnern, welch trauriges Entsetzen daraus blickte. Helena hatte schließlich in der zweiten Reihe gestanden. Da war ihr Mann noch lebendig, er hatte einen Arm um sie gelegt und war ebenso fasziniert wie sie selbst gewesen. Sie kann sich aus mehreren Gründen sehr gut an diese Nacht vor über einem Jahr erinnern. Sie hatte zuvor noch nie einer Hinrichtung beigewohnt und zugleich hatte sie auch noch nie ihren Mann betrogen. Das hatte sich im Alkoholrausch, beim Fest danach, völlig überraschend ergeben. Die Gemeinschaft war in dieser Nacht so zusammengeschweißt gewesen, es fühlte sich alles so sicher an. Helena fühlte sich zum ersten Mal dazugehörig und mächtig. Sie, die sich zuvor doch noch niemals in ihrem Leben mächtig gefühlt hatte. Und irgendwann in den frühen Morgenstunden waren alle weg gewesen, auch ihr Mann. Und sie hing immer noch am Tresen und trank. Berauscht von diesen unbekannten Gefühlen begann sie mit dem
Wirt zu flirten. Wenig später vögelte er sie in der Küche. Es gefiel ihr, jetzt ein eigenes, verwegenes Geheimnis zu haben. Wie ein Filmstar fühlte sich Helena für eine sehr kurze Zeit. Die Angst jedoch wird ihr von dem anderen Geheimnis durch die Knochen getrieben: Ich gehöre auch nicht dazu, ich bin noch nicht lang genug hier, wenn mich einer von den beiden bei meiner Flucht erwischt – es wird mich sicher jemand erwischen, denn ich bin vom Pech verfolgt –, dann werden sie nicht lange zögern. Sie werden eine Versammlung halten und dann werden sie wissen, was sie mit mir zu tun haben. Ich bin keine von ihnen. Als mein Mann noch lebte, war ich eine von ihnen. Aber ich bin es nicht mehr. Ich bin so fremd, wie diese Kinder es waren. Und wenn sie mich auch während der Flucht nicht bemerken, dann finden sie mich später. Ich bin zu ungeschickt, mich zu verstecken. Die suchen und die finden mich. Die haben nichts anderes im Sinn. Es macht ihnen Spaß. Lieber Gott, ich schwöre, mir hat das keinen Spaß gemacht, lieber, lieber Gott. Und jetzt fällt sie bebend auf die Knie, die Hände zum Gebet gefaltet, und in dem Moment klopft es schwer an ihre Tür. Erst verharrt sie noch, doch dann sagt ihr eine Stimme, sie solle Buße tun. Mechanisch öffnet sie die Tür.
Es ergibt sich so leicht, wie es sich ergibt, dass Honig von einem Löffel fließt. Es trägt auch die Farbe des Honigs, es hat einen ähnlichen Geschmack und es riecht fantastisch. Die Zärtlichkeit ist kaum zu ertragen und doch soll das bitte niemals im Leben mehr enden. Das Haus, das Dorf, die Stadt, die verdammte ganze Welt müsste in Flammen aufgehen, so fühlt es sich an, als Sara mit Zadok schläft. Wenn etwas so schön ist, denkt sie später vom Glück betört, dann ist es auch echt. Aus jeder Pore würde sie bluten, wenn sie wüsste, dass sie sich irrt. Aber der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Nach einer Weile des Atemholens und auf die Erde Zurücksegelns findet Zadok zuerst Worte. Er streicht ihr mit einer Fingerspitze über die Wange: »Äußerlich ähnelst du zwar Luca, aber im Wesen bist du wie ich.« Sie unterdrückt den plötzlichen Drang loszuheulen. Sie möchte schreien, dass sie weder Luca noch er ist. Dass sie Sara ist. Von ihr aus auch Sara ohne h. Und dass er endlich zum Ende kommen soll, damit alles gut ist und alle Gespenster vertrieben sind. Es war doch so grausam schön, das muss doch länger halten.
Sie zieht sich still an und vermeidet, ihm in die Augen zu sehen. »Ich muss etwas trinken«, flüstert sie zu Boden. Ihre Knochen schmerzen, als sie in die Küche geht. Sie lagen nicht im Honig, sie lagen auf hartem Parkett. Sie reicht ihm eine Flasche Bier und bleibt vor ihm stehen. »Prost«, sagt sie tapfer. »Du darfst ruhig weinen.« »Lass mich.« »Komm zu mir, meine Schöne, lass mich nicht im Stich.« »Hör auf, mich mit Luca zu vergleichen.« »Ach, Sara, das ist doch rein äußerlich, komm her.« Sie legt sich zu ihm. Er streichelt ihren Kopf, der auf seiner Brust liegt. Mit nichts anderem als dieser Äußerlichkeit hat Zadok vor ein paar Minuten geschlafen. An niemand anderen als an Luca hat er gedacht. Was er sich nie vorzustellen gewagt hatte, hat er soeben getan. Das zumindest haben ihm seine vielen Stimmen eingeflüstert. »Das war ganz wunderbar«, flüstert er und küsst Saras Haar. In dieser Nacht finden die Liebenden keinen Schlaf mehr. Und nach dem Tanz und nach dem Essen und nach der Stille kommen sie zurück zu den
Worten. Zu den gefährlichen Worten, in der Lage, alles zunichte zu machen wie ein fürchterlicher Blizzard. »Übrigens«, fängt sie an. »Die Pensionsfrau hat mir etwas geschenkt.« »Ein Ei?« »Ein falsches Sprichwort.« »Das da lautet?« »Rate.« »Wer anderen …« »Falsch.« »Ich kenne nur das.« »Das glaube ich nicht.« »Ich schwöre.« »Los, streng dich an. Das tust du doch sonst auch.« »Schwarze Katze von rechts …« »Das ist kein Sprichwort, das ist Aberglaube.« »Bist du abergläubisch?« »Lenk nicht ab.« »Du lenkst mich ab.« Er steckt ihr eine Weintraube in den Mund. »Okay«, sagt sie. »Ich gebe dir einen Tipp. Es hat in der Tat etwas mit Tieren zu tun.« »Was war eher da? Das Huhn oder das Ei?« »Ach Scheiße, es geht um ein Sprichwort!« »Ach Scheiße, dann sag es mir.« »Es hat etwas mit deinen Lieblingstieren zu
tun.« »Die Ratten verlassen zuerst das sinkende Schiff.« »Vergiss es.« Nach der absoluten Schwärze gelangt sie in einen Tunnel aus dichtem Nebel, der das Atmen schwer macht. Der Tunnel ist lang und außerhalb des Tunnels flüstern Stimmen. Sie liegt auf dem Bauch und kann sich abwärts der Lendenwirbelsäule nicht bewegen. Ihre schwere, anstrengende Aufgabe ist es, den Tunnel zu durchqueren. Sie zieht sich Stück für Stück mit den Armen vorwärts. Es dauert Stunden. Immer wieder will sie umkehren, aber irgendwann ist die andere Seite näher und je mehr sie dem Licht entgegenkriecht, desto deutlicher werden die Stimmen. Die Frau, die aus dem Fenster gesprungen ist, kommt zurück. Ob sie Angehörige habe, wird man sie bald fragen. Ja, wird sie lügen. Ob man die benachrichtigen solle, wird man fragen. Ja, wird sie antworten. Luca fing spät mit dem Ausschneiden von Katastrophen an, sie war fast vierzehn. Sie klebte die Sonnen daneben, weil sie befand, dass es
viel mehr Licht und Wärme auf der Welt braucht. »Ich zog sie auf, sie sei keine VoodooZauberin, aber sie ignorierte mich und nahm die Sache ernst. Luca war voller Anteilnahme, sie hatte ein ausgeprägtes Schmerzgefühl. Wie kann jemand unter Schmerzen schweben? Wie hat sie das gemacht? Wie ist es einem Kind möglich, das Verrotten der Welt zu betrachten und gleichzeitig zu schweben? Was macht man mit solch einem Kind?« »Man liebt es oder man hasst es.« »Und es gibt nichts dazwischen.« Er steht auf, zieht sich an und stellt sich ans Fenster. Nach einer Weile dreht er sich zu ihr um: »Richtig müsste es heißen: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.« In den frühen Morgenstunden gleitet Sara in einen betäubenden Schlaf. Kein Traum, kein Gefühl, keine Regung in ihrem Gesicht. Und am Mittag, als es an Zadoks Tür klopft, schläft sie noch immer. Er öffnet die Tür, und ein Mann fragt nach Sara. »Ich kenne keine Sara«, sagt Zadok. Der Mann erklärt, dass die Pensionsfrau sie als einzige Verwandte angegeben habe und dass sie sie sehen wolle. Wo man Sara finden könne. »Wie gesagt, ich kenne sie
nicht. Und geben Sie nicht allzu viel auf das Gerede dieser armen alten Frau. Sie ist schon lang nicht mehr bei sich.« »Ja«, antwortet der Mann. »Das haben wir uns auch schon gedacht.« Der Mann zieht endlich ab. Aufgebracht hetzt Zadok durch die Wohnung. Stapft die Treppen hoch und wieder runter, geht ins Badezimmer, schlägt eine Faust gegen die Wand, unterdrückt mit großer Mühe, nur um Sara nicht zu wecken, einen Schrei; schließlich verlässt er das Haus. Eine seiner zornigen Stimmen fällt ihm aus dem Mund: »Diese Geschichte erzähle ich. Diese Geschichte gehört mir. Sara gehört mir. Diese Geschichte nimmt mir nicht ein altes, krankes Weib weg. Warum ist sie nicht tot? Das könnte ihr so passen. Mich hat auch keiner gewarnt! Für mich gab es auch keine Rettung.« Und dann endlich, als er sich weit genug entfernt hat, brüllt er auf. Solch ein Leid, solch ein Zorn, solch eine Verzweiflung in diesem Jammergeschrei! Wer von euch klagt noch? Zaghaft hebt der Bäcker einen Finger. Seine Trauer ist herzzerreißend. Ohnmächtig war er gewesen, als er erfuhr, dass Raphael von seiner Schwester
getötet worden war. Während sich bei den anderen eine große Erleichterung einstellte, empfand der Bäcker nichts als Trauer um diesen Jungen. Der Bäcker hatte schon seit frühester Kindheit einen imaginären Freund, einen, der ihm seelenverwandt war. In Raphael glaubte er zum ersten Mal einen wirklichen Verbündeten, einen aus Fleisch und Blut, gefunden zu haben. Einen, der auch nicht sprechen mag. Erst viel später als die anderen empfand auch er Hass auf Luca. Jedoch übertrumpfte dieser Hass auf eine Tote niemals die Trauer um den Jungen. Dazu hat der Bäcker, ein melancholischer Mann, nicht genug Platz in seinem Herzen. Einige behaupten, das Brot schmecke salziger, seit die Kinder nicht mehr da sind. Im Alter von siebzehn Jahren begann Luca das Ende der Geschichte zu ahnen. Sie wurde zunehmend nervös, aber sie hatte kein deutliches Bild vor Augen. »Es schien, dass ihr Blick versagte, wenn es um ihr eigenes Unglück ging. Das kann ich natürlich nur im Nachhinein sagen. Ich wusste ja nicht, was kommen würde. Vor allem aber ließ sie Raphael kaum aus den Augen. Ich habe Angst um ihn, gestand sie mir eines Abends. Das hast du doch schon immer gehabt, antwortete ich. Aber jetzt ist es
schlimmer, sagte sie.« Er macht eine Pause, nervös steht er auf und geht hin und her. Abrupt bleibt er in der Mitte des Raumes stehen und flüstert. »Und wenn ich dir jetzt sage, dass das Schwesterchen mit dem Brüderchen rummachte, was würdest du dann denken, Sara? Würdest du nicht auch annehmen, dass ihre Angst ein Vorwand war?« »Wie bitte?« »Nichts.« »Du willst also sagen, dass …« Er macht einen Schritt auf sie zu und legt eine Hand auf ihren Mund. »Psst. Es war nichts weiter als eine Idee.« Er küsst sie flüchtig und setzt sich ihr gegenüber. »Na ja«, traut Sara sich nach dem Schweigen. »Wohin die Liebe halt fällt.« Er lacht auf und seine rechte Faust fällt laut auf die Tischplatte. Sara zuckt zusammen. »Ja, Sara! Ganz genau! Wohin die Liebe fällt! Aber du verstehst doch sicher, dass ich das nicht dulden konnte. Unter meinem Dach! Bruder und Schwester! Für die ich die Verantwortung hatte, schließlich nahm ich an, es seien die Kinder meines Bruders.« »Die Eifersucht springt dir aus den Augen, Zadok.« Seine Faust löst sich, Finger für Finger öffnet
er langsam seine Hand, um dann mit einem plötzlichen Schlag über den Tisch alles zu Boden zu werfen. Gläser, Flaschen und der Aschenbecher zerschmettern auf den Fliesen. Er presst Wort für Wort heraus, dabei starrt er ihr in die Augen, als wolle er sie beschwören, und ein Gemisch aus Angst und Faszination klettert an Saras Wirbelsäule hoch. »Jetzt hörst du mir mal zu. Ich habe den Kindern alles gegeben. Ich habe ihnen Jahre meines Lebens geschenkt. Ich habe dafür gesorgt, dass sie nicht verhungern, ich habe sie nie angelogen, ich habe sie vor den anderen in Schutz genommen. Ich machte mich damit wirklich nicht beliebt. Und nun ein paar erfrischende Details, damit du endlich verstehst, was ich dir sage. Nehmen wir einen schönen Tag im Sommer. Die Sonne scheint von früh bis spät und die Vögel singen fröhliche Lieder. Es ist noch früh und ich sitze hier auf diesem Stuhl und trinke Kaffee. Ich überlege, was ich mit den Kindern unternehmen könnte. Ich denke darüber nach, mit ihnen zum See zu fahren. Der Tag, an dem Luca wie gebannt vor dem Spiegel stand und dann in Tränen ausbrach, liegt schon eine ganze Weile hinter uns. Gegen sechs Uhr kommt sie zu mir. Sie trägt ein weißes T-Shirt von mir. Guten
Morgen, sage ich. Sie antwortet nicht, es ist sowieso schon sehr warm und jetzt, als sie da steht, nach dem Schlaf, noch nicht ganz aus ihren Träumen gelandet, wird es kochend heiß. Sie setzt sich auf meinen Schoß und gibt mir einen Kuss auf den Mund. Dann schaut sie mich an, so wie sie halt die Menschen anschaut, sodass es einen entrückt, und sie sagt: Zadok, findest du mich nicht schön? Natürlich bist du schön, antworte ich und versuche aufzustehen. Aber die Prüfung soll heute besonders hart sein. Sie legt ihre Arme um meinen Hals und kommt so nahe an mein Gesicht, dass sich unsere Nasenspitzen berühren. Sie flüstert: Ich werde mich niemals in dich verlieben.« Er macht eine Pause und fällt in sich zusammen. Zusammengesunken, als hätte man die Luft aus ihm gelassen, sitzt er da und schaut auf den Boden. Ein paar seiner Tränen fallen auf Saras Füße. »Aber was nützen Unwetterwarnungen, wenn man bereits auf hoher See ist?«, flüstert er. Ich werde mich niemals in dich verlieben, hallt es in Sara wider. Ein altbekannter Satz, schon fast vergessen, schon gut verdrängt. Auch ihre Augen beginnen zu brennen, aber sie kneift sich in den Unterarm, da ist die Haut weich und empfindlich, auf dass der Schmerz
die Tränen aufhalten möge. »Das kam dir doch entgegen. Du wolltest dich doch auch nicht in sie verlieben«, sagt sie vorsichtig. Er steht auf, greift ihre rechte Hand, die in den linken Unterarm gekrallt ist, und zieht sie hoch. »Komm mit«, zischt er und zerrt sie hinter sich her. Warum widerspreche ich nicht? Warum reiße ich mich nicht los? Warum lasse ich mir das gefallen? Er verliebt sich ja nicht in mich. Er hat es doch gesagt. Warum habe ich das vergessen? Was ist los? Verdammt, warum lass ich mir das hier gefallen? Weil es unerheblich ist, beantwortet ein sanftes Rauschen in Saras Brust ihre Fragen. Sara in der Stadt. Der Morgen ihres Geburtstages, sie weiß nicht, der wievielte. Sie beschließt, im Bett zu bleiben. Vor ihrem Fenster ist der Tag grau. Am Nachmittag schellt es an ihrer Tür. Sie öffnet nicht. Sie ist damit beschäftigt, eine Spinne an der Zimmerdecke zu betrachten. Jemand schellt Sturm, Sara steht mühsam auf, geht in den Flur, klettert auf einen Stuhl und stellt die Klingel ab. Danach legt sie sich wieder in ihr Bett. Sie findet die Spinne nicht mehr und würde gern in Tränen ausbrechen. Zadok stößt die Kinderzimmertür auf und zieht Sara in den Raum. »Schau sie dir an, das
hast du doch schon ausgiebig getan. Los, schau sie dir noch einmal an.« »Zadok, bitte …« »Hättest du dieses Kind geliebt oder gehasst?« »Es ist nur ein Foto.« »Du hättest sie ebenso geliebt.« Die Schritte zählen, nicht umdrehen, nichts auf seine Worte geben, nicht auf die Gefühle achten, zur Besinnung kommen. Nur geradeaus, vielleicht ist irgendwo eine Haltestelle. Das Gepäck vergessen, das Buch – extra gekauft – vergessen, Seite zwanzig, eine Krähe hackt den anderen die Augen aus, egal. Geradeaus. Er schreit noch immer hinter ihr her, nicht darauf achten, die Ohren zuhalten, es reicht, sie kann nicht mehr. Verdammt, wo ist sie vor tausend Jahren aus dem Bus gestiegen, wo war diese Haltestelle? Sara geht und geht. Es ist windig und es regnet ein bisschen, aber der Regen tut nicht gut, denn der Regen kann nichts wegwischen, er hat keinerlei Macht. Irgendwann verblasst seine Stimme, er geht ihr nicht hinterher. Das ist gut. Das ist schlecht. Das ist gut … Die Haltestelle, still und einsam.
Sie setzt sich auf die nasse Bank. Der Bus kommt nach Stunden. er Bus fährt Sara in die Stadt. Jetzt hast du es verschreckt, das arme Ding, heucheln die Krähen Mitleid. »Ihr hättet sie fressen sollen, sie ist so dünn«, sagt Zadok. Willkommen, hier leuchten die Laternen auch nachts, hier spielt sich das wahre Leben ab, hier kennst du jeden Weg und eine Menge Leute, die sich um dich sorgen. Freue dich, du bist daheim! Im altbekannten Dreck. Fühlt sich das nicht fabelhaft an? Asphalt statt Schlamm unter den Füßen. Geräusche, überall, ein fast vergessener Gestank, willkommen! Drei Dinge hat sie nicht zurückgelassen: den Schlüssel, ihr Portemonnaie, ihr Handy. Sara schließt die Haustür auf und geht nach oben. Sie schließt die Wohnungstür auf. Sie macht kein Licht, das ist nicht nötig, hier kennt sie sich aus. Siehst du, denkt sie, auch ich kann im Dunkeln sehen. Dabei steigt sie über die Flaschen, Aschenbecher, CDs, Kleidungsstücke und Bücher. In der Mitte des Wohnzimmers macht sie Halt. »Es ist nicht unerheblich!«, heult Sara in trotziger Verzweiflung auf. »Mit mir macht man so
was nicht!« Doch. Man macht so was mit Sara. Bald, in ein paar Tagen, wird ihr Handy klingeln. Und sie wird erleichtert sein, sie wird sich gerettet fühlen, aus dem Sumpf gezogen, der sie sofort und augenblicklich würgt. Sie reißt das Fenster auf, es mangelt an Luft. Dann marschiert sie durch die Wohnung und tritt gegen alles, was ihr im Weg steht. In jedem Zimmer macht sie jetzt Licht, will sich das Chaos ihres armseligen Lebens ansehen. Aus Scherben besteht das. Aus einem Meer aus Scherben und Dreck. Und die Liebe drückt ihr noch mehr die Luft ab, schnell spricht sie einen Fluch aus, der gilt Zadok. In so einen verliebt man sich nicht, als hätte sie es nicht gewusst. In einen, der die Balance nicht halten kann zwischen Schmerz und Freude. Man lässt sich besser nicht auf einen ein, der einen hochhebt und im nächsten Moment auf den Boden klatschen lässt. Sie streift ihre Schuhe ab und legt eine CD ein, es ist mitten in der Nacht. Sie weiß sehr wohl, dass man mitten in der Nacht besser keinen Lärm macht. Weil die Gefahr besteht, dass es dann wütend an der Tür schellt und klopft und dass die Bullen nicht lange auf sich warten lassen, wenn sie nicht reagiert. Sie hat das oft ge-
nug ausprobiert. Aber für Vernunft ist nun wirklich keine Zeit, kein Platz in Saras Kopf. Barfuß watet sie durch die Scherben auf dem Boden und durch den Lärm der Musik. Es bedarf keinerlei Magie, um über zerbrochenes Glas gehen zu können. Im Bett gelandet, zieht sie die Decke über den Kopf und umarmt sich fest. Das elende Weib ist weg. Die Nachricht verbreitet sich über Nacht. »Seht ihr«, predigt der Pastor seinen Schafen. »Zadok ist nicht dumm!« Der jedoch sieht das anders. Die Stimmen ändern sich, seine Gedanken wechseln den Kurs. Zadok versucht, sich zu konzentrieren: Warum noch mal kam es zu diesem lächerlichen Streit? Weshalb ist sie weggerannt? Was war es gleich, was ihn so in Rage gebracht hatte? Eine Ortsbegehung wird vielleicht helfen. Zadok steigt die Treppen hoch und geht in das Kinderzimmer. Er stellt sich vor das Foto. Sie wollte es sich nicht anschauen. Sie sagte, es sei nur ein Foto. Er hat ihren Kopf in beide Hände genommen und sie gezwungen, das Bild länger anzusehen. Er sagte: »Löse dich von ihrem Blick, du musst genauer hinschauen. Du musst dich von ihren Augen trennen, los, gib dir Mü-
he. Schau dir den Rest an. Ich habe es auch erst spät entdeckt. Ich war genauso geblendet wie du. Du musst die Hitze, die sie verursacht, nicht beachten.« Sara sagte: »Hör auf, du tust mir weh. Verdammt, Zadok, lass mich.« Aber er hielt sie fest. Sie zerkratzte seine Handgelenke, um sich aus dieser Position zu befreien. Aber er ließ sie nicht los, festigte seinen Griff. Endlich sah sie es auch. »Ihre Hand!«, schrie sie. Und da ließ er Sara frei. Sie drehte sich um, gab ihm eine schallende Ohrfeige und dann noch eine und rannte weg. Zadok hinterher. Sie schon raus. Er brüllte: »Komm zurück! Ich brauche dich! Du hast es auch gesehen!« Aber sie blieb nicht stehen. Er verwünschte sie. Doch nach der Rage kam die Ruhe, sie ließ Zadok taumeln. Was hast du getan?, hauchte die Stille. Jetzt, am frühen Morgen, fällt es ihm ein. Er hat sie nicht gut behandelt, das war dumm, ein arger Fehler. Wie kriegt er sie zurück? Und während die anderen Dorfbewohner den ersten erleichterten Tag seit langem begrüßen, ist Zadok mit nichts anderem beschäftigt, als sich Worte zurechtzulegen, die Sara zurückbringen können. Am liebsten würde er sich die
Hände abhacken. Dabei ist es so leicht, das müsste er doch wissen. Ist ein Mensch erst durch die Farbe grau-blau gegangen, dann ist es nicht schwer, ihn zurückzulocken wie ein kleines, zutrauliches Tier. Und erst wenn dieses kleine Tier in ein wirklich gleißendes Weiß gestoßen wird, hat es die Chance, sich zu wehren. Weder die Eifersucht noch die Angst haben Sara bislang so sehr geblendet. Sie wartet bereits auf seinen Anruf. Nach einer fürchterlichen Nacht sitzt sie am Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt. Ihre Füße schmerzen, aber das ist nicht schlimm. Sie hat nicht geschlafen, das kennt sie gut. Nur hat es diesmal einen anderen Grund. Nicht die Leere, sondern eine Fülle an Gefühlen bringt sie zur Verzweiflung. Sehr wohl verfügt sie noch über einen Verstand, der trägt einen grauen Anzug, ist hager und ernst. Er hebt ständig einen Finger und fuchtelt damit vor ihrem Gesicht herum, er erklärt das immer Gleiche: Dieser Mann ist ein Psychopath. Er neigt zum Jähzorn. Er missachtet die Regeln. Du hast ihm gesagt, dass er dich nie wieder so anfassen soll, und er tat es trotzdem. Zadok hat einen Hirnschaden und ist besessen von diesem Kind. Er missbraucht dich für sei-
ne seltsamen Geschichten. Der Verstand ist weitsichtig, aber seine Augen sind schlecht, er verfügt über keinerlei Geruchssinn, er kann weder schmecken noch tasten und er besitzt kein wild pochendes Herz. Der Verstand hört zwar jedes Wort, aber er gaukelt vor, alle klängen gleich. »Und das ist nicht wahr, der Verstand irrt sich«, sagt Sara. Er hat sie schon einmal beruhigen können. Er ist einfach mit ihr in die Stadt gefahren, hat ihr schöne Sachen gekauft, ist mit ihr essen gegangen und hat seinen Charme tanzen lassen; es war gar nicht schwer. Aber jetzt ist sie weg und mit diesen Methoden ist es sicher nicht mehr getan. Da muss Zadok aufbrüllen über seine Dummheit und er muss gegen eine Wand rennen und Gläser zerschmettern und sich selbst in den Magen boxen. So sehr wimmert Zadok nach Erlösung. Ruf sie an, kreischen die Krähen und flattern aufgeregt vor seinem Fenster. Das Telefon klingelt am Abend, Sara sitzt immer noch am Küchentisch. In Zeitlupe steht sie auf und geht dem Klingeln nach. Sie findet ihr Handy im Bett und dort bleibt sie auch liegen. Sie zählt bis drei, dann geht sie ran. Der Ver-
stand brüllt: Eine Idiotin bist du!, und zieht sich zurück. »Hallo?«, sagt sie schwach. »Sara …« »Was willst du?« »Wo bist du?« »In der bösen Stadt.« »Kommst du zurück?« »…« »Sara?« »Ich kann nicht.« »Was soll ich tun?« »Lass mich.« »Sag mir, wo du wohnst. Ich komm zu dir.« »Hör auf. Du machst mich fertig. Ich will dich nicht sehen.« »Okay. Ich verstehe dich. Du wirst mir fehlen.« Dann legt er auf und Sara wirft das Handy gegen die Wand. Zadok setzt sich mit einem Lächeln auf die Bank vor seinem Haus. Sie wird ihn anrufen, sie wird zurückkommen. Luca hat ihm das Zuhören beigebracht. Du musst auf die Stimme achten, sagte sie, und auf den Klang jedes einzelnen Wortes, so erkennst du die Lügen und die Wahrheiten.
Lucas Lügen hat er nicht erkannt, dazu war er zu schlecht. Er hat viel zu spät gemerkt, dass sie mit ihrem Bruder eine Flucht plante. Dass sie weg wollte von ihm, der sie mehr liebte als sein Leben. Er hat auch nicht erkannt, dass sie nicht seine Nichte war, er musste es erst lesen. Aber bei Sara ist es leicht – so wie bei ihm. Und bei dir, Zadok, sagte Luca und warf sich lachend um seinen Hals, ist es ganz besonders leicht. Dich durchschaut man sofort. Sein Lächeln verschwindet, weil er Lucas Stimme hört, sie sagt: Ach, Zadok! Du liebst mich zu sehr. Vergiss nicht, dass ich die Tochter deines Bruders bin. Er antwortete: Du bist ein Kind. Sie sagte: Nein, schon lang nicht mehr. Er sagte: Ich liebe dich wie ein Kind. Sie nahm seine Hände, beugte sich vor und antwortete: Du lügst. Du liebst mich wie eine Frau. Dann machte sie eine Pause, in der sie in seinen Kopf schaute mit ihrem Röntgenblick. Sie sagte: Du liebst mich mehr als alles auf der Welt, du solltest dich vorsehen. Starke Liebe ermöglicht starken Hass. Tatsächlich hat Sara gelogen. Sie will zu ihm, aber ihr Stolz lässt es noch nicht zu. Irgendwann am nächsten Tag, nach zwei weiteren schlaflosen Nächten, fällt es ihr blass und aus-
gehungert ein: Sie braucht ja ihre Sachen. Sie trinkt eine Flasche Wein, dann ruft sie an. »Hallo«, sagt Sara. »Deine Sachen«, sagt er. »Du scheinst auch hellsehen zu können.« »Ich würde es eher logisches Denken nennen.« »Kannst du sie mir schicken?« »Dazu bräuchte ich deine Adresse.« »Ich will dich nicht sehen.« »Okay.« Sie nennt ihre Adresse. Bevor sie noch etwas sagen kann, verabschiedet er sich und legt auf. Sara geht zum Fenster, sie bleibt dort weinend bis zum Abend stehen. Drei weitere Tage vergehen, bis Zadok sich in sein Auto setzt und zu Sara fährt. Sie ist winzig und kalkweiß. Ihre Augen gleichen schwarzen Tellern. Sie sieht aus wie tot. Sara ist nicht in dem Zustand, sich zu wehren. Deshalb kann er sie zu sich heranziehen und behutsam umarmen. Sie ähnelt mehr und mehr meiner kleinen Luca, denkt Zadok und riecht an Saras Haar. »Gut, dass ich gekommen bin«, flüstert er. »Du musst dringend etwas essen.«
Sie liegt im Bett, während er die Fenster aufreißt und ihre Wohnung aufräumt, einkaufen geht und ihr Essen kocht. Sie schaut ihn stumm an, während er sie füttert. »Sei froh, dass es hier keine Krähen gibt. Sie hätten dich gefressen.« »Es gibt kaum noch Spatzen«, sagt Sara. »Bleib bei mir.« »Du brauchst mich nicht.« »Du irrst dich. Ich brauche dich dringend.« Sara kündigt ihren Job telefonisch, es fällt ihr nicht schwer. Sie hat sich die Lippen rot geschminkt, er hat ihr erneut die Haare geschnitten. Sie hat ihn beobachtet, wenn er mit ihr schlief, und er hat ihrem Blick standgehalten. Sie hat gesagt, nenn meinen Namen, und er hat nicht Luca gesagt; er hat es sich verbissen. Seit einer Woche ist er bei ihr und lässt sie nicht aus den Augen. Er päppelt sie hoch; sie ist ein kleines, zutrauliches Tier mit großen, staunenden Augen, dessen Leben so ganz und gar in seinen Händen liegt. Es fällt ihr nicht schwer zu kündigen, es fällt ihr nicht schwer, sämtliche Telefonnummern aus ihrem alten Leben zu löschen. Sara liebt Zadok mehr als alles andere. Ein gleißendes Weiß erleuchtet bereits grin-
send den Horizont. Das Dorf ist in Unruhe. Er kommt zurück, er bringt sie mit! Schleppt sie erneut an, dieser Idiot! Sie sind zurück, sie sind zurück, kreischen drei Krähen ohne Unterlass. Das glückliche Paar: Feiert Tag und Nacht. Keine Sekunde ohne Musik. Das Dorf hält sich erschrocken die Ohren zu. Es ist zu beobachten, dass das glückliche Paar hin und wieder das Haus verlässt, ohne vorher die Musik auszustellen, und lachend durch den Wald läuft. Es ist nicht zu übersehen, dass das glückliche Paar viel Spaß hat. Die Gemeinschaft betet. So haben sie Zadok lang nicht gesehen, das macht Angst. Dass er so glücklich ist; großes Glück erweicht das Hirn. Es macht gesprächig – er wird doch nicht? Helena hat von allen am wenigsten Angst, denn vielleicht wäre das doch die Rettung für sie? Wenn die Polizei käme und alle einsperren würde? Dann wäre sie allein in einer sicheren Zelle, es würde keiner an ihre Tür klopfen, sie durch die Wohnung hetzen und ihr die Kleider vom Leib reißen, sodass es ihre Haut gleich mit zerreißt. Wenn alle eingesperrt wären, dann wäre sie in Sicherheit. Es ist nicht zu überhören, dass es Zadok und der Fremden gut geht, sie verbergen ihr La-
chen nicht. Die Fremde lacht zu laut, sie ähnelt Luca zu sehr, die hat der Idiot ja auch geliebt. Dabei haben sie ihn ausgiebig gewarnt. Sie haben ihn mit jedem Blick gewarnt, dass dieses Kind vom Teufel ist. Doch ein Sturkopf klebt auf Zadoks Hals. Arrogant, ignorant, verblendet, dumm: keiner von ihnen, noch nie gewesen. Man versammelt sich nun regelmäßig. Man berät und betet. Zusammen sind wir stark, komme, was wolle, versichern sie sich und fühlen sich allein. Und jeder für sich allein geht noch einmal diese Nacht durch: Nachdem Zadok in die Gaststätte gestürzt war und erzählt hatte, was passiert war, brauchte die Verbreitung dieser Nachricht nur zehn Minuten; man versammelte sich sofort. Dann zogen sie los. Die Tür stand auf, keiner von ihnen war zuvor in Zadoks Haus gewesen. Sie drängten die Treppe hoch, Luca muss wohl hochgeschreckt sein, sie waren nicht leise. Denn als sie in das Kinderzimmer kamen, stand das Fenster weit offen und sie war nicht mehr da. Sie stürmten hinaus mit großem Gebrüll und ihre Hunde nahmen die Spur auf, dann jagten sie die Mörderin durch die Nacht. Das war ein großartiges Spektakel! Und an dieser Stelle ihrer Erinnerungen sind
sie nur kurz erleichtert, weil ihnen einfällt, dass sie eine Mörderin war. Doch je mehr sie sich Unschuld einzureden versuchen, desto größer wird ihre Angst. Wird man sie getrennt verhören? Werden alle die Nerven behalten? Wird man sie fragen, ob das Mädchen bewaffnet war? Ist Selbstjustiz vielleicht doch verboten? Wie viele Jahre bekommt man dafür? »Das einzig Verlässliche ist die Musik«, sagt Zadok und zieht Sara zu sich. Sie tanzen in einem goldenen Licht und der Raum wird zu einem Saal und Sara zu einer Braut. Drei Krähen sind zu Gast, sie haben am Fenster Platz genommen. Wer dagegen ist, möge reden oder für immer schweigen. Eine Krähe kreischt auf. Zadok lässt Sara stehen und öffnet mit einem Ruck das Fenster. Die Krähen flattern auf. »Diese verdammten Viecher sollen uns in Ruhe lassen«, sagt er. »Es sind doch nur Vögel«, antwortet Sara. Seit acht Tagen ist sie hier, zurück auf dem Land. Seit er bei ihr aufgekreuzt ist und sie geholt hat, hat er nicht mehr von Luca gesprochen. Jetzt liebt er mich auch, jetzt liebt er mich auch, denkt Sara. Er hat das Kinderzimmer
abgeschlossen. »Es gibt dort nichts mehr zu sehen«, sagte er. Sie schläft in seinem Bett, er wartet jedes Mal, bis sie eingeschlafen ist, dann steht er leise auf und streicht durch das Haus. Sein Kopf brennt und er sehnt sich nach Schlaf, er erträgt es kaum, sie schlafen zu sehen und es selbst nicht zu können. Die Kraft lässt nach, die Sehnsucht nach Ruhe zerbeißt sein Herz. Aber er weiß, trotz der Anstrengung, dass der Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Es kommt auf das richtige Timing an, man darf nichts dem Zufall überlassen. Sie wird eines Tages nach dem Ende der Geschichte fragen. Dann, wenn sie sich ganz sicher ist, wenn sie sich eingerichtet hat, wenn sie nicht mehr am Glück zweifelt. Zwar sieht sie aus wie Luca, immer mehr, aber im Wesen ist sie wie er. Sie lügt schlecht. Sie hat schwache Nerven. Sie kommt aus einer Leere, die ihr unerträglich war. Sie stürzt sich auf das Glück. Sie gibt sich auf für einen anderen Menschen. Doch zugleich lauert ein Zorn in ihr, Zadok ist sich sicher. Mit diesen Händen, wird er sagen und sie dabei anlächeln, mit diesen Händen habe ich den Jungen getötet. Und mit diesem Mund, wird er sagen und das Lächeln wird ihm entgleiten und sie wird sehen, wie er um sie weint, um seine kleine Luca noch immer weint.
Mit diesem Mund habe ich die Meute aufgehetzt. Und mit diesen Beinen, wird er sagen und vor ihr niederknien, mit diesen Beinen bin ich nicht losgerannt, um sie zu retten. Doch noch fragt Sara nicht. Ahnen wird sie, dass da ein Ende wartet, das sich nicht gut anfühlen wird. Tief verborgen zwischen Herz und Kehle sitzt diese Ahnung, aber sie ist noch klein und zurzeit schläft sie meist. Der erste Schnee wird dann fallen und sie wird barfuß vor ihm stehen mit aufgerissenen Augen. Ihr Leben wird aus ihr herausfahren und sie wird den Glauben an etwas, das größer ist als das gewohnt mickrige Leben, verlieren. Ein Mensch ohne Hoffnung wird sie dann sein und die Suche wird auch für sie ein Ende haben. Das wird ihren Zorn wecken. Und dann wird sie ihn verstehen und dann … »Weißt du was?«, sagt Zadok, als sie sich von hinten an ihn presst und ihre linke Wange zwischen seine Schulterblätter legt. »Manchmal ist es besser, die Suche hört nie auf.« Sie dreht ihn sachte um, stellt sich auf die Zehenspitzen und lacht, sie sagt: »Zadok, kannst du dich denn nie entspannen?« Ihr Lachen fällt zu Boden, sie küsst ihn hastig. Er nimmt ihre Hände und schaut sie an. Er sagt: »Ach Sara, du schläfst in letzter Zeit zu
gut, das macht mich ganz irr. Du solltest lieber mehr Zeit mit mir verbringen.« Liebe duftet zart und warm, ihr Geruch umschließt das Herz mit weichen Händen. Sara riecht an seinem Haar und dann an seiner Stirn. Sie vergräbt ihr Gesicht in seinem Nacken, sie schweben zu Boden. Der kleine Jakob steht vor dem Fenster, hinter dem sich das Paar liebt. Aufgebracht ist er hierher gerannt, er hat das große, angstvolle Gerede der anderen nicht mehr ausgehalten. Jakob hat einen Kanister mit Benzin und zehn Feuerzeuge bei sich. Lediglich der Anblick dieser zwei Menschen auf dem Fußboden, nackt und in sich verschlungen, hält ihn von seinem Vorhaben ab. Die erste Geilheit seines Lebens, die nichts mit Tod zu tun hat, tost in ihm. »Da draußen ist jemand«, flüstert Sara und richtet sich auf. »Jakob«, antwortet Zadok und fährt mit seiner Zunge über ihren Bauch. »Woher weißt du das?« »Kinder erkenne ich am Geruch, das weißt du doch.« Sie lacht auf und schiebt ihn beiseite. »Los, schick ihn weg, den kleinen Spanner.« Er lächelt sie an: »Lass ihn doch. Ist doch nur
ein Blag.« »Dann schick ich ihn weg.« »Tu, was du nicht lassen kannst, meine Schöne.« »Hau ab, du scheiß Spanner!«, schreit sie. Dann folgt eine kurze Stille, sie grinsen sich an, als sie hören, wie Jakob erschrocken wegrennt. Ihr Lachen schallt ihm nach. Schon lange ist Jakob nicht mehr so gerannt, mit rotem Kopf. Den Kanister hat er stehen lassen, vor lauter Schreck. »Der Junge träumt von brennenden Engeln«, sagt Zadok später. Sie schieben sich gegenseitig Fleisch in den Mund. Wenn sie nicht kauen oder die Finger des anderen ablutschen, rauchen oder trinken sie. »Deswegen zündelt er so gern.« »Das nennst du zündeln? Wenn er Leute anzünden will?« »Hast du auch schon von brennenden Engeln geträumt?« »Nein, nie. Warum?« »Die meisten hier tun es. Ich dachte, vielleicht hat es etwas mit der Luft zu tun.« »Obwohl, warte«, sie schiebt seine Hand, die ihr ein Stück Brot in den Mund stecken will,
zurück. Sie sieht ihn erschrocken an, das ist beinah niedlich. Er muss sich ein Lachen verbeißen. Fast verschluckt er sich daran. »Ja?«, fragt er. »Nichts.« »Nichts gibt es nur in den Toden vor und nach dem Leben.« »Dieses Skelett da oben«, sagt sie. »Ja?« »Das sind Flügel.« »Exakt.« »Träumst du auch von Engeln, Zadok?« »Meine Schöne, ich träume von dir.« »Hör auf damit.« »Natürlich träume ich von Engeln. Aber in meinen Träumen brennen sie nicht.« »Was sind das für Flügel?« »Ein Erinnerungsstück. Lass uns tanzen.« Eva, die Frau des Metzgers, packt ohne ein Geräusch ihren Koffer. Sie ist krank vor Angst. Ein Leben im Gefängnis ist schlimmer als alles andere. Da vergammelt man, auch äußerlich. Man teilt sich eine Dusche mit allen und darf keinen Schmuck tragen, ganz sicher nicht. Es stinkt schlimmer als in der Schlachterei, weil im Gefängnis nicht frisch getötetes Fleisch abhängt, sondern verfaulende, ungepflegte Menschen. Ein Schwung Übelkeit schießt Eva
durch die Speiseröhre. Die allgemeine Hysterie hat es sich in Eva gemütlich gemacht. Eva ist ein gefundenes Fressen für die Angst. Wenn Eva sich nicht sicher fühlt, dann steht sie alle drei Minuten vor dem Spiegel und überprüft ihr Make-up. Sie richtet hektisch ihr Haar und betrachtet ihre Figur. So dauert das Kofferpacken recht lang. Ihr Mann platzt herein, mit einem Schnauben im ganzen Gesicht. Er verstellt den Weg zwischen Koffer und Spiegel. »Was machst du da?«, brüllt er. Sie will an ihm vorbei, wie ferngesteuert, er greift sie mit beiden Händen und rüttelt sie, das dumme Weib. Das die Nerven verliert – von wegen, der Sohn ist gestört! – sie ist diejenige, die am Ende noch alle verrät. Er wiederholt scharf: »Was machst du da?« »Packen. Schminken. Gehen.« »Du gehst nirgendwohin.« Er packt sie im Genick und knallt ihre Stirn gegen die Wand, sie taumelt zu Boden. Der Metzger setzt sich aufs Bett, er legt seinen Kopf in die Hände und rauft sich das Haar. Die Angst, die Angst, sie macht sie alle dünn. Auch wenn der Bäcker schweigt, so ist er noch lange nicht taub oder blind. Er weiß sehr wohl, was alle befürchten: Dass Zadok mit der Frau redet, die wie Luca aussieht, nur ein bisschen
älter, dass er über das Ereignis redet. Sie haben Angst, dass Zadok die Nerven verliert, so wie sie selbst es gerade tun. Auch der Bäcker fürchtet sich, er fürchtet sich davor, reden zu müssen. Die Langeweile bleibt ihr vom Hals. Sonst kam sie so schnell und verdarb alles. Die Langeweile trug mit erhobenen Händen ein Schild, darauf war zu lesen: LEERE! Die Leere nahm gern als Beweis für ihre Existenz die Langeweile als Boten. Das übte auf Sara große Wirkung aus. Aber diesmal nicht. Diesmal Tag und Nacht Fülle, ohne Unterlass. Natürlich vergisst Sara trotz dieser Fülle eine bestimmte Frage nicht. Natürlich hat sie schon oft darüber nachgedacht, ihm diese Frage nach dem Ende der Geschichte zu stellen, in besonders guten Momenten, wenn sie eng umschlungen liegen, wenn sie zusammen lachen, wenn er ihren Rücken massiert oder sie nur schweigend anschaut. Doch noch ist die Befürchtung, sie könne etwas hören, was ihr nicht gefällt, es könne wieder zu einem Streit kommen, größer als ihre Neugierde. Was ist mit diesen Kindern passiert? Und wie stand er wirklich zu Luca? Liebt er sie noch immer mehr als alles andere? Wird er sie eines Tages vergessen?
Diese Geschichte gehört zu Zadok. Und wenn du ihn ganz kennen willst, dann musst du auch ihr Ende wissen, wispert die Neugierde in Saras Ohren. Ich ertrage aber nicht sehr viel, flüstert Sara. Die Fülle besteht aus mindestens tausend Gefühlen, die meisten sind ihr unbekannt. Das heiße Rauschen kannte sie nicht, sie wusste zuvor nicht, wie es sich anfühlt, voll und ganz von einem Menschen hingerissen zu sein. So sehr, dass man vor dem Schlaf fast beten möchte, dass es bitte nie aufhört. Denn das Alte ist bekannt, daher hat es einen noch größeren Schrecken. »Vielleicht hast du Recht«, sagt Sara. »Vielleicht ist es wirklich besser, wenn die Suche nie aufhört.« Helena steht in ihrem Laden, eingebettet in die Vorstellung, gerettet zu werden. Sie fixiert den leeren Vogelkäfig und ist darin so sehr versunken, dass sie fast ausprobieren möchte, ob sie hineinpasst und die Tür von innen verschließen kann. Winzig auf der Stange zu hocken und ein bisschen hin- und herzuschaukeln – das wäre was. Und keiner kommt mehr an sie heran! Helena lacht kurz auf, schließt dann – viel zu früh – den Laden ab und steigt hoch in ihre Wohnung. Diese Wohnung riecht nicht
mehr nach ihr. Diese Wohnung riecht nach Bestrafung, beißend. Es ist ungewöhnlich, aber die Sonne scheint schon den ganzen Tag. Es ist früher Nachmittag. Helena wäscht ihr Gesicht mit eiskaltem Wasser. Wenn ich aussehe wie eine Hure, denkt sie, dann wird mir keiner ein Wort glauben. Erst als ihr Gesicht schon brennt, beginnt die Nacht. Geduckt und winzig wie ein Vögelchen ohne Federn schleicht sie, ohne Licht zu machen, die Treppe hinunter. In Zeitlupe öffnet sie die Tür; die Angst, entdeckt zu werden, macht Helena klamm. Doch alle Gedanken wären umsonst gewesen, die ganze Hoffnung wäre dahin, wenn sie jetzt umkehrte. Sie lauscht hinaus, es ist still. Von weitem nur das Kreischen der schwarzen Vögel. Aber keine Schritte und kein Atem, nass und bedrohlich, und an dem Atem hängen immer Arme und immer Beine und immer ein Schwanz. Und der Atem fickt sie immer von allen Seiten, sie wusste gar nicht, dass sie so viele Seiten hat. Aber sie hört jetzt keinen Atem, der war erst gestern da, er kam zu zweit. Heute werden sie müde sein, die ganze Nacht sind sie bei ihr geblieben, heute werden sie müde sein. Eine Nacht Pause ist nicht selten, vielleicht hat sie Glück, vielleicht sind sie erschöpft. Noch immer im Treppen-
haus stehend, kramt Helena nach einer Situation, in der sie mutig war und ein bisschen groß. Und dann fällt es ihr wieder ein. In der zweiten Reihe hat sie gestanden. Sie schließt leise die Tür hinter sich. Die Wolken haben ein Erbarmen, sie schieben sich vor den Mond. Ihre Schuhe trägt sie in der einen Hand und mit der anderen formt sie eine tapfere Faust. Und wäre ihr Mut nicht so winzig – schon nach den ersten drei Schritten, sie hat mitgezählt, verlässt er sie fast –, dann könnte sie einfach wegrennen. Doch für über hunderttausend Schritte reicht er nicht. Für über hunderttausend Schritte in eine fremde Stadt, immer die Angst auf ihren Schultern hockend, ist dieser kleine Mut nichts wert. Hilf mir, hilf mir, bettelt es in Helenas Hirn, das nicht die geringste Idee hat, wer ihr wobei helfen soll. Ach, wenn das Kreischen der drei Viecher, irgendwo in der Nacht, nicht wäre. Es wird ja lauter und lauter, je mehr sie sich Zadoks Haus nähert. Und wenn doch das donnernde Pochen in den Schläfen nicht wäre. Und jedes Mal, wenn sie einen Fuß vor den anderen setzt, macht das einen ungeheuren Krach. Und wären ihre Ohren nur nicht so abgelenkt vom eigenen Atem, sie würde vielleicht rennen. Denn der Zorn des Wirts, der vor verschlossener Tür steht, ist dröhnend.
Es gibt in diesem Dorf keinen mehr, der hören wird, wie Helena das Leben entweicht. Zadok und Sara sitzen sich gegenüber und pokern. Er hat es ihr soeben beigebracht und es gefällt ihr gut. Besonders dann, wenn er sie anlächelt oder ihr mit beiden Händen durch die Haare fährt. Wenn er sagt: »Du bist so schön.« Sie sagt. »Ich lasse mein Haar wieder wachsen.« »Mach, was du willst.« »Wie findest du mich dann?« »Spiel weiter, du willst die Wahrheit nicht wissen.« »Ich hasse dich.« »Das wäre mir neu.« »Du bist ein arrogantes Schwein.« Das ist leicht, so zu reden, mit einem Lachen in den Worten. Fast will Sara es wagen, fast will sie sagen: Liebst du mich wirklich? Nicht nur, weil ich aussehe wie diese Luca, die ich nicht kenne. Los, sag mir, wo sie jetzt ist. Ob sie eines Tages zurückkommt und ob ich dann nichts mehr zähle. Wen von uns beiden schickst du dann weg? Sag mir, ob du sie mehr liebst als mich. Und dann würde Sara lügen: Sag es mir ruhig, ich bin nicht eifersüchtig. »Woran denkst du?«, fragt er und steht lang-
sam auf. »Ich … ich frage mich gerade …« »Ja?« Ob ich die Antworten ertragen würde, denkt sie. Sie sagt: »Ob wir nicht noch einen Spaziergang machen? Ich brauche ein bisschen Luft.« »Keine Partie mehr?« »Nein, lieber nicht.« Sie steht auf und sucht nach einer Musik, einer, die sie ablenken kann, die sie wieder leicht macht. Es soll eine Musik sein, die sie die lästigen Fragen verdrängen lässt. Eine Musik, die es schafft, an gute Antworten zu glauben. »Suchst du was Bestimmtes?«, fragt Zadok. Etwas gegen Angst, denkt sie. Sie sagt: »Etwas zum Ausflippen.« »Also nicht an die Luft?« »Doch, danach.« Ein Tanz verhindert in dieser Nacht, dass Helenas Leben gerettet wird. Weinend erschlägt der Wirt sein liebstes Spielzeug. Danach, ohne zu zögern, rennt er zum Pfarrer, nass und stinkend trommelt er an die Tür. »Sie wollte uns verraten«, wimmert der Wirt. »Ich habe sie beobachtet, sie war auf dem Weg
zu Zadok. Ich bin mir ganz sicher, sie hätte uns alle verraten. Ich wollte sie nur warnen, ich wollte sie nicht töten. Es ist einfach passiert, ich hatte so eine Wut, ich habe zu fest draufgeschlagen, ich wollte sie nur ein bisschen warnen, mehr nicht, ich wusste nicht, ich wusste ja nicht, dass sie so schnell stirbt …« Der Wirt fasst sich zitternd an den Kopf. »Hat sie sich gewehrt?«, fragt der Pfarrer gefasst. »Nein, nein, sie hat noch nicht mal geschrien.« »Hat dich jemand gesehen?« »Nein, es war zu dunkel.« »Wo ist sie?« »Ich habe sie ein Stück in den Wald geschleppt und Laub auf sie gelegt, aber da kann sie nicht bleiben, da wird sie entdeckt. Scheiße, scheiße, ich wollte sie wirklich nicht …« »Gott wird dir verzeihen«, sagt der Pfarrer und entschuldigt sich. Er schließt sich im Badezimmer ein, er macht kein Licht, setzt sich auf den Wannenrand und versucht sich zu konzentrieren. Stattdessen bricht er in Tränen aus, er schluchzt und muss sich zurückhalten, nicht laut aufzuheulen. Es sind Tränen aufrichtiger Traurigkeit, die aus des Pfarrers Augen strömen. Er ist wirklich er-
schüttert über diesen Verlust. Hätte er doch nie den Unterschied zwischen Onanie und wahrhaftigem Sex kennen gelernt. Es ist schwer, auf etwas zu verzichten, das so sehr gefiel. Es dauert, bis der Pfarrer sich beruhigen kann. Als er zurückkommt, sitzt der Wirt noch immer am Tisch und rauft sich das Haar. Der Pfarrer zieht seinen Mantel an. »Reiß dich zusammen, wir müssen sie da wegschaffen, bevor es hell wird.« Starr steht der Wirt auf, wirft einen Blick auf seine Handflächen. »Meine Güte«, flüstert er. »Was habe ich getan?« Mit einem plötzlichen Zorn packt der Pfarrer den Wirt an den Schultern: »Du hast eine Hure getötet«, zischt er. »Und jetzt reiß dich zusammen, hast du mich verstanden?« Gehorsam nickt der Wirt und folgt dem Gottesmann in die Nacht. Sie nehmen das Auto des Hurenmörders und fahren zu der Stelle, wo Helena liegt. Sie laden sie in den Wagen, sie ist noch warm. Ohne Licht fahren sie an Zadoks Haus vorbei und aus dem Dorf. Drei Krähen folgen ihnen still. Sara wacht am frühen Morgen auf, ein leiser Nieselregen verschleiert das schwache Licht.
Wie immer ist Zadok bei Saras Aufwachen nicht anwesend. Sie zieht sich eines seiner TShirts über und geht in die Küche. »Du schläfst nie«, sagt sie und setzt sich auf seinen Schoß. Wie oft hat Luca genau dasselbe gemacht. Wie oft ist sie direkt nach dem Aufwachen zu ihm gekommen und hat sich mit ihrem warmen Schlafgeruch auf seinen Schoß gesetzt. Wie oft hat sie ihm einen Kuss gegeben, so wie Sara es jetzt macht. Auf den Mund, auf die Stirn, auf die Wange, auf die Nase. Und jedes Mal hat sie ihm doch nichts anderes mitgeteilt, als dass sie ihn auch liebt. Wie oft hat Zadok sich im Zaum gehalten. »Du weißt, wie quälend das ist«, flüstert er und umarmt Sara. »Ich wünschte, ich könnte dich davon erlösen.« Zadok umklammert sie fester. Das wirst du, denkt er. Die Zeit ist eine Sprinterin. Sie fegt durch die kurzen Tage des Herbstes. Helenas Laden bleibt drei Tage lang geschlossen, da wundern sich die Dorfbewohner, wo sie wohl ist. Länger als drei Tage ist sie bislang noch nicht krank gewesen, wenn überhaupt, sie war doch eigentlich nie krank, die Helena,
sie ist doch immer eifrig, hat sich von Anfang an bemüht, hat ihrem Mann viel Freude gemacht, der ist ja richtig aufgeblüht, wurde beinah sympathisch, von Anfang an hat sie im Laden geholfen. Zwar wirkt sie in letzter Zeit merkwürdig, kommt selten raus, vielleicht ist sie über seinen Tod noch nicht richtig weg, aber so lang kann das doch nicht dauern, das muss doch längst aufgehört haben, vielleicht ist sie ja doch krank, man müsste mal fragen, aber ist es wichtig? Oder ist es egal? Eigentlich fehlt sie nicht so sehr, aber es wäre schon hilfreich, zu wissen, was mit ihr ist, nicht, dass sie noch irgendetwas Dummes macht. Aber die Helena doch nicht, sie ist zu dumm für Dummes, besonders schlau ist sie nun wirklich nicht. Dem fünften Tag, an dem Helena ihren Laden nicht geöffnet hat, folgt ein Sonntag. Das Dorf geht in die Kirche. Der Pfarrer schaut in fragende Augen. Er reckt sich, so gut es noch geht, hebt ein wenig das Kinn und beginnt. Er wisse, welche Frage sie stellen wollten. Und er würde sie ihnen beantworten. Danach sollten sie für Helena beten. Und während sie dann mit geschlossenen Augen für Helena beten, dass man sie bald wieder aus der Heilanstalt entlassen möge, dass sie ihren Weg wieder finden möge, stiert
der Wirt voller Ehrfurcht dem Pfarrer in die Augen. Nach einiger Zeit glaubt keiner mehr an Helenas Rückkehr. Wenn sie tatsächlich, wie vom Pfarrer beschrieben, sogar in einer Zwangsjacke abtransportiert wurde, dann wird man sie wohl kaum in Kürze wieder entlassen. Dass Helena sie verraten könnte, davor fürchtet sich niemand. Wer einmal in der Klapse ist, denken sich die Leute, dem glaubt man nicht. So berät sich die Gemeinschaft schon bald, wer das Geschäft übernehmen wird. Nur zwei hadern an jedem einzelnen Abend. Nicht der Mord verursacht den beiden ein Unbehagen, es ist die Aussicht auf langweilige, unbefriedigte Nächte, die die beiden erschaudern lässt. Interessanter als Helenas Verschwinden ist schon bald die Frau des Metzgers. Sehr wohl fällt den Leuten Evas Veränderung auf. Ihr Wagen wurde verkauft, sie fährt nun nicht mehr in die Stadt. Sie verlässt kaum mehr das Haus und wenn, dann ist sie meist in Begleitung ihres Mannes. Wenn man sie anspricht, senkt sie den Blick, oft trägt sie eine Sonnenbrille, und das in der inzwischen andauernden Dunkelheit des Herbstes. Eva hat ohne ihre
Kostüme, ohne ihre Friseurbesuche, ohne ihre Schminke und ihren Schmuck keinerlei Kraft mehr. Oft liegt sie regungslos im Bett; in ihr ist ein wilder Trommelwirbel. Am Schlagzeug sitzen im Wechsel die Angst und die Erinnerung, die wiederum bringt die Angst, so tauschen sie den Platz und werden immer lauter. Wenn Eva dann manchmal schreit, wird der Lärm von ihrem Mann beendet. Müsste doch die Zeit die Erinnerung der Dorfbewohner verblassen lassen. Stattdessen werden die Gedanken an jene Nacht immer schärfer. Das eifrige Gejaule der Hunde wird lauter, die Kälte dieser Nacht vor über einem Jahr kehrt in ihre Gelenke zurück, einige von ihnen riechen erneut den Gestank der Pisse. Die Sicherheit, in der sich die Dorfbewohner wähnten, kommt ihnen in diesen Tagen abhanden. Bisweilen zuckt dem einen oder anderen eine schwache Idee durch den Kopf. Was, wenn Zadok stürbe? – Ein lächerlicher Gedanke, schnell wird er gestrichen. Denn Zadok verströmt ein beängstigendes Gemisch aus Mut, Macht und Unnahbarkeit. Mit seinem Stolz hat er eine Mauer aus Eis um sich herum gebaut. Da traut sich keines dieser Lämmer ran. Also legen sie zitternd ihre Hände in den
Schoß und senken den Blick. Manchmal, gerade in den Nächten, rennt die Zeit so schnell, dass ihre Hufe donnern. »Ein Gewitter«, flüstert Sara. Sie sitzen seit Stunden zusammen und zählen auf, was sie aneinander lieben. Es gibt in diesem Dorf keinen mehr, der Zadoks Lügen sieht. Das Grollen des Himmels macht die Leute nervös. Sie werden davon geweckt, müssen sich dann wieder erinnern. Dann kreucht erneut die Angst in ihre Köpfe. Ab da reagiert dann jeder ein bisschen anders, so wie auch jedes Schwein, das geschlachtet wird, ein bisschen anders reagiert, wittert es den Tod. Der Bäcker hat einen leichten Schlaf, er wird als Erster vom Donner geweckt. Es dauert nicht lang, bis er sich an einem kleinen Holztisch sitzen sieht. Ein grelles Licht in seinen Augen, sodass er kaum etwas von dem Mann, der ihm gegenübersitzt, erkennen kann. Lebhaft ist das Bild, das er nun sieht: Die schwere Eisentür wird aufgeschlossen, zwei weitere Männer kommen herein. Sie zwingen ihn, über Raphael zu sprechen. Und wenn sie sehen, dass er dazu nicht in der Lage ist, weil er ja sowieso kaum in der Lage ist zu sprechen, und schon gar nicht über dieses Kind, dann schlagen sie ihn, bis er vom
Stuhl fällt. Dann treten sie auf ihn ein. Sprechen Sie! Sprechen Sie!, schreien die drei Männer. Und immer neue, große Männer kommen. Der Bäcker wird in seinem Bild immer kleiner, sie schlagen ihn zu einem kleinen Hund zusammen. Erneut ein Donner. Der Bäcker springt auf und kriecht unter das Bett. Und der Jüngste des Metzgers, Jakob. Längst weiß er, wovor den Erwachsenen bangt. Wie ein Detektiv hat er sich an die offenen Türen und Fenster herangeschlichen und ihr aufgeregtes Flüstern belauscht. Von einem grellen Blitz, der durch seine geschlossenen Lider schießt, wird er aus dem Schlaf gerissen; er zählt, bei vier donnert es, dann ist das Gewitter nah. Wohin kommen die Kinder, die dabei waren? Nur Erwachsene, sein Vater, seine Mutter, seine Brüder, die kommen ins Gefängnis. Aber Kinder nicht, das weiß Jakob ganz genau. Die kommen dann mit anderen Kindern zusammen in ein Heim, wo sie nichts dürfen und immer bewacht werden. Genauso wie in einem Gefängnis. Und da darf man nichts mit hinnehmen. Höchstens drei Sachen, aber bestimmt kein Feuerzeug. Dabei ist es wichtig, dass immer ein Feuerzeug in Jakobs Nähe ist, am besten in der geschlossenen Hand liegt. Ja-
kob steht auf und klettert in den Kleiderschrank, dahin, wo seine Feuerzeuge sind. Drei Krähen fliegen durch das geöffnete Fenster und setzen sich auf Jakobs Bett. Du kleiner Scheißer, du kleiner Scheißer, zischen sie. Der Wirt träumte gerade von Helena. Das war ein guter Traum, sie lebte noch und öffnete ihm die Tür, er riss ihr die Kleider vom Leib, da kracht es direkt über seinem Haus, er fährt hoch. Noch zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Geilheit und Ernüchterung, steht er auf. Er stellt sich ans Fenster, der Schlaf verlässt seinen Körper, seinen Kopf. Die ganze Nacht hindurch lässt das donnernde Krachen der rennenden Zeit den Dorfbewohnern keine Ruhe. Nur zweien ist der Lärm kein Schrecken. Sie liegen nackt in einem Berg aus Kissen. Sara glüht und Zadok ist eiskalt, aber Saras Glühen ist so heiß, dass sie seine Kälte gar nicht spürt. »Was ist deine größte Angst?«, fragt sie. »Dass ich dich verliere«, antwortet Zadok. Sein Plan, gebaut aus tausend Stimmen der Verzweiflung, ist aus Beton; das Lügen ist ihm ein Leichtes. Ist ja keine Luca, die da vor ihm liegt, an deren nackten Hintern er sich presst, deren Haar seine Nase kitzelt. Ist ja keine, die ihre Gabe hat.
Weißt du was?, sagte Luca. Du bist einer, der ohne weiteres töten kann. Sie sagte das, als sie neben ihm auf der Bank vor dem Haus saß und mit ihm gemeinsam auf den Sonnenaufgang wartete. Er hielt ihre Hand, sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, er hatte zuvor irgendetwas gesagt. Er kann sich nicht erinnern. Es wurde in dem Moment belanglos, als Luca das sagte. Sie hatte eine Ruhe in der Stimme, sie sagte es wie: Ich esse auch gern Schokolade, ich bin gern mit dir zusammen, heute geht es mir sehr gut. Er schob sie beiseite und stand auf, seine Stimme zitterte ein wenig, er sagte: Wie kommst du auf so was? Die Menschen sind mir viel zu gleichgültig, als dass mich einer so in Rage bringen könnte, dass ich ihn töten würde Ach, Zadok, seufzte sie und stand ebenfalls auf. Sie strich sich mit einer Hand durch das Haar und rieb dann mit vier Fingern ihre Schläfen. Sie ging einen Schritt auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen, mit einer Hand um seinen Nacken zog sie seinen Kopf nach unten und roch an seiner Wange. Wie ich darauf komme? Ich rieche es, flüsterte sie und ging dann, bevor die Sonne aufgegangen war, ins Haus. »Ich muss ein bisschen raus«, sagt Zadok und
richtet sich auf. »Ich komm mit«, sagt Sara. »Nein, das ist …« »Ich will aber.« »Meine Schöne, ich brauche nur ein wenig frische Luft.« »Du willst allein sein.« »Ist das ab jetzt verboten?« Er lächelt sie an. »Natürlich nicht. Du bist ein freier Mann. Ich mach uns inzwischen etwas zu essen, okay? Lass dich nicht vom Blitz treffen, verbranntes Fleisch stinkt.« Er küsst sie auf die Stirn, sein Magen zieht sich zu einem festen Ball zusammen, er greift nach seinem Mantel. Sein Magen drückt eine scharfe Flüssigkeit nach oben. »Bis später«, sagt er schwach und stürzt aus dem Haus. Jeder seiner Schritte ist ein Schmerz, als würde unter der Erde ein Vieh mit verdreckten Zähnen hausen, das, sobald er einen Fuß auf den Boden setzt, ein Stück Fleisch aus seinen Sohlen reißt. Er versucht es mit rennen, Zadok rennt schnell, aber der Schmerz verringert sich nicht. Er bleibt abrupt stehen, beugt sich nach vorne und übergibt sich würgend. Danach ist es besser, er lässt sich erschöpft fallen. Doch das Verebben der körperlichen Schmerzen lässt den Chor in seinem Kopf irritierend laut
werden. Über ihm ein Blitz, ganz nah, verbranntes Fleisch stinkt, darauf der krachende Donner, der Chor kreischt dagegen an, schneller und schneller werden die Stimmen, alle singen sie durcheinander, aber im Refrain sind sie sich einig, verbranntes Fleisch stinkt. Zadok hält sich die Ohren zu und stößt einen lang gezogenen Schrei in die Dunkelheit. Drei Krähen, amüsiert von dieser Nacht, landen neben ihm. Sie legen ihre Köpfe schief und lachen nur leise, als Zadok versucht, nach ihnen zu treten. Du triffst nicht, du triffst nicht, kichern sie. Sara zieht sich sein T-Shirt an, geht in die Küche, entzündet zwei Kerzen und erst als sie vor dem geöffneten Kühlschrank steht, lässt eine plötzliche Neugierde sie innehalten. Diese Nacht ist nicht zum Schlafen gemacht. Sara schaut kurz aus dem Fenster, geht in den anderen Raum, schaut von dort hinaus und hetzt dann, ohne zu überlegen, ob es gut sein könnte oder schlecht, die Treppen hinauf. Sie schließt die Kinderzimmertür auf und legt sich vor Lucas Bett. Mit einer Hand zieht sie eines der Bücher aus der Kiste. Sie blättert es schnell durch, bis zur letzten Seite in Ambras letztem Tagebuch.
Ambras Tagebuch Dies ist ein Feiertag in dem Leben einer, die seit Jahren krepiert. Heute endlich bringt er die Kinder weg. Er hat Erbarmen mit einer Sterbenden. Es gibt nun nichts mehr zu sagen. Sara schließt das Buch und verstaut es wieder unter dem Bett. Sie geht zu dem Foto, sie betrachtet Luca, erst die Augen, dann ihre Hände, ihre gekreuzten Finger, man muss genau hinschauen, muss sich von ihren Augen lösen, Zadok hat Recht. Dann sieht man – ganz klein und wie hinter einem Nebel – die zwei gekreuzten Finger ihrer linken Hand. Sara zwingt sich, das Zimmer zu verlassen. Der erste Schnee wird bald fallen, die Wolken füllen sich bereits. Sie überlegt zum ersten Mal seit langer Zeit, jemanden anzurufen, während sie zerstreut ein Essen kocht. Jemanden, den sie mal kannte, von früher, aus der Stadt. Irgendeinen. Sie überlegt sogar, welche Nummern sie auswendig kann. Vor ihren Augen schwirren Zahlen, die sie in irgendeine Reihenfolge zu bringen versucht. Das Wasser kocht, die Spaghetti jetzt
in den Topf geben, 2419 …, salzen, Tomaten waschen, 2458 …, in kleine Stücke schneiden, … es gibt noch viel zu sagen, sie kennt das Ende nicht, 67507 …, es wird immer im Weg sein. Luca wird immer im Weg sein, solange Sara das Ende nicht kennt. Das ist klar, das ist jetzt wieder so entsetzlich klar. Brodelnd kocht das Wasser über, Sara rutscht mit dem Messer ab und schneidet sich. Ihr Blut vermischt sich mit dem Tomatensaft. Sie schneidet weiter, aus ihren Augen schießen Tränen, sie kann sie noch nicht mal abwischen, nur die Tomaten zerkleinern, in immer kleinere Stücke. Zadok erwischt sie nicht, konzentriert sich nur noch darauf, sie zu treffen. Er ist bereits aufgestanden und rennt ihnen hinterher. Immer wieder flattern sie ein Stück hoch und lassen sich erneut nur wenige Meter von ihm entfernt nieder. Sie können sogar rückwärts fliegen; die drei Krähen lassen Zadok nicht aus den Augen. Er schreit jetzt nicht mehr, er hat ja kaum noch Luft zum Atmen. Schlappschwanz, Schlappschwanz, rufen die Krähen. Und würde man ihn von weitem beobachten, man würde denken, Zadok vollführe einen eigenartigen Tanz. Ein lang gezogenes Grollen weckt den Pfarrer, der bis jetzt noch schlief. Er tastet mit seiner
Hand über das Kissen neben ihm. Beruhigt schläft er wieder ein. Keiner hat den Strick gestohlen, mit dem er sich erhängen will. Der kommende Tag streift bereits ein schwaches Licht über, als Zadok zurückkommt. Sara sitzt am Tisch, vor ihr eine halbe Flasche Rotwein, in der Spüle ein Klumpen Spaghetti. Die Lichter der beiden Kerzen sind schon erloschen, als Zadok sich ihr gegenübersetzt. Saras Hände sind mit einem Rot verklebt, sie liegen vor ihr auf dem Tisch, sie sitzt aufrecht und schaut ihn traurig an. »Wo ist dein Lächeln?«, fragt er leise. »Das Essen ist verkocht«, antwortet sie. »Ich habe mich verlaufen«, sagt er. »Ich mich auch«, antwortet sie. Die Zeit kommt nicht außer Atem, im Gegenteil, sie wird schneller und schneller. Sie zieht ihr langes, helles Haar durch die dunklen Tage und schwarzen Nächte. Ihr Gefolge sind dichte Wolken, die jedes Leuchten der Sterne verschlucken. Sara ist nervös, sie geht oft allein spazieren, sie zündet sich eine Zigarette an der nächsten an und auch ihr Schlaf, der so wohltuend war, macht sich rar. Wenn Zadok aufsteht, weil er
glaubt, sie schlafe, rollt sie sich zusammen und zerbeißt sich den Mund. Ihre Unterhaltungen sind knapp. Sara ist voll und ganz damit beschäftigt, sich auf sämtliche Antworten gefasst zu machen. Sie versucht, sich das Schlimmste auszumalen. Das Schlimmste, das sie sich ausmalen kann, ist, dass er sagt, er liebe Luca immer noch. Und dass er nur darauf warte, dass sie eines Tages zurückkommt. Zadok beobachtet sie voller Spannung. Ihre Nervosität lässt es in seinem Kopf leise knistern. Zadok sucht einen geeigneten Ort für das gleißende, das erhoffte, das herbeigesehnte Weiß. In der Nähe eines Messers, eines Schraubenziehers, einer Schere, in der Nähe eines eiskalten und tiefen Sees im Wald, einer Schlucht. Die Zeit schaut während ihres Laufs auf die Tage und Nächte herab, erhascht da und dort einen Blick, aber als hätte sie etwas zu verlieren oder als habe die Zeit ein Ziel, rast sie weiter, manchmal so schnell, dass sie fliegt. Er schneidet ihr die Haare. »Ein letztes Mal«, hatte er gesagt. »Wenn es dir solch eine Freude macht«, hatte sie geantwortet und traurig mit den Schultern gezuckt. »Obwohl es dir so besser steht, kannst du sie
ja dann für immer wachsen lassen.« »Das werde ich.« Er füttert sie mit Kartoffelbrei. »Worüber auch immer du dir den Kopf zerbrichst, du darfst das Essen nicht vergessen. Ich mache mir Sorgen um dich«, hatte er gesagt. »Das brauchst du nicht, ich habe keinen Hunger«, hatte sie geantwortet und sich ins Bett gelegt. Er ging in die Küche und kam eine halbe Stunde später mit einem Topf Kartoffelbrei wieder. Er küsste sie auf den Nacken und auf die Brust und auf den Bauch, er streichelte ihre geschlossenen Augen und zog ihr das TShirt aus und flüsterte ihr Liebesschwüre – die Lüge ist beige – ins Ohr. Er machte sie warm und weich und schlief mit ihr. Dann sagte sie. »Okay, gib mir was zu essen.« Er tanzt mit ihr. »Ich will nicht tanzen, lass mich«, hatte sie gesagt und wollte den Raum verlassen. »Komm, einen Tanz nur. Komm, du liebst das Stück doch auch«, antwortete er. »Wirklich nicht, ich mag nicht«, sagte sie. Er stellte sich ihr in den Weg, schaute ihr in die Augen und sagte: »Sara ohne h, wenn du nicht mehr mit mir tanzt, dann brauche ich auch die ganze Musik nicht mehr.« Dann ging er mit
ein, zwei, drei schnellen Schritten zu den Regalen, holte mit beiden Händen aus, zerrte CDs heraus und schmetterte sie auf den Boden. »Hör auf«, schrie sie und hielt seine Arme fest. Sie zog ihn zu sich und tanzte mit ihm. Nur genug Zeit muss vergehen, dann gibt es Erleichterung, ein wenig Erleichterung, das ist fast immer so. Wer glaubt, den Druck kaum mehr auszuhalten, wer des Nachts vielleicht einen Strick streichelt oder in einen Schrank klettert, wer vielleicht unters Bett krabbelt, der zweifelt zuweilen an der Heilkraft der Zeit. Doch wer eisern durchhält, wird meist belohnt. Der Druck wird schwinden, der Alltag wird sympathisch winken, eine Jahreszeit nach der anderen wird vergehen, die Gespräche werden wieder ganz die alten sein, diese große Angst (erinnert man sich überhaupt noch daran) wird zu einer lächerlichen Episode. In den folgenden Jahren wird vielleicht der eine oder andere beim ersten Schnee den Blick zum Himmel heben. Und vielleicht wird sich dann mancher an eine junge Frau mit kurzen Haaren erinnern. Aber natürlich würde niemals jemand solch einen Gedanken auszusprechen wagen. Große Irrtümer sind nicht gestattet. Feinde werden niemals Helden.
Es ist ein früher Morgen, zwischen Nacht und Tag. Der Himmel zieht ein unschlüssiges Grau an, wankt noch zwischen schwarz und weiß. Sara wird von seinem Geruch wach, sie schlägt ungläubig die Augen auf: Er liegt tatsächlich neben ihr und schläft. Sie hält die Luft an, so sieht sie ihn das erste Mal. Schlafend. Und weil sie ihn, schon wenn er wach ist, so sehr liebt, liebt sie ihn jetzt mit einem scharfen Stich in ihrem Bauch noch mehr. Zwei Tränen tropfen aus ihrem rechten Auge. Sara steht leise auf, sie sieht aus wie eine Schlafwandlerin, aber sie ist wach. Sie schwebt zum Fenster und öffnet es. Die Luft ist eiskalt. Der Himmel wird sich entscheiden müssen, denn Sara sagt jetzt leise: »Wenn es heute schneit, dann frage ich ihn. Und wenn es heute nicht schneit, dann frage ich ihn nie.« Der Himmel wird Zadok zu Hilfe kommen. Sie nimmt leise ihre Sachen und zieht sich in der Küche an, dann verlässt sie das Haus. Während Sara durch das Dorf geht, schaut sie immer wieder zum Himmel. Vielleicht ist er doch eher dunkel als hell, das wäre vielleicht besser, denkt sie, vielleicht wäre das viel besser; Feigheit ist giftgrün. Vor der Gaststätte macht sie Halt und setzt
sich auf die Stufen. Bellt da ein Hund? Sie steht wieder auf, wirft Geld in den Zigarettenautomaten und stört damit den leichten Schlaf des Wirts. Aufgeschreckt springt er aus dem Bett und kriecht zitternd zum Fenster – jetzt holen sie mich, jetzt holen sie mich, denkt er, der sich nachts wie ein Mörder fühlt. Vorsichtig richtet er sich auf und wagt einen kurzen Blick auf die Straße. Die Angst suggeriert ihm drei Sekunden lang, dass Luca zurück ist, lässt ihn drei lange Sekunden glauben, Tote könnten auferstehen, nur um sich zu rächen. Und wenn es einem Toten gelingt, warum dann nicht auch zweien? Innerhalb von drei Sekunden scheißt der Wirt sich in die Hose. In der vierten Sekunde wird ihm klar, dass es Zadoks Gast ist. Und über diesen ist er zum ersten Mal erleichtert. Der Wirt sieht Sara zum letzten Mal. Drei Krähen begleiten sie auf dem Weg zurück. Riechst du etwa nicht den Schnee?, kreischen sie ungeduldig. Und: Versprochen ist versprochen. Sie kommt zurück, er schläft immer noch, hat sich bloß umgedreht. Sara zieht ihren Mantel und die Schuhe aus und setzt sich rauchend auf den Boden. Während sie ihn betrachtet, ist sie ein letztes Mal in ihrem ganzen Leben leicht.
Bei ihrer siebten Zigarette schlägt er die Augen auf und blickt sie direkt an. »Du hast dein Lächeln zurück?«, fragt er. Sara wird es ab jetzt nie mehr wiederfinden. »Hast du Hunger?«, fragt sie. Die Tafel ist gedeckt: Was für eine Mahlzeit! Alles ist aufgetischt, was die Schränke hergaben. Ein Essen für Verliebte! Ein Essen für das Glück! Eine Henkersmahlzeit! Heute gibt es Sekt. Wir stoßen vor jedem Schluck an. Wir wissen nicht, wie das Wetter wird. Sie lutscht sich die Finger ab und trinkt gierig ihr Glas aus. Sie steht auf, betrachtet den Himmel und setzt sich wieder hin. Sie stopft sich ein Stück Fleisch in den Mund. »Es freut mich«, sagt er, »dass du wieder wie ein Mensch isst. Auch wenn du dabei aussiehst wie ein Schwein.« Sie schluckt den Bissen hinunter, schenkt sich ein neues Glas ein und hebt es kurz an. »Glaubst du, dass es heute schneit, Zadok?«, fragt sie und leert das Glas in einem Zug. »Es kommt darauf an, was du dir wünschst.« »Ich kann kein Wetter machen.« »Du kannst mehr, als du denkst«, antwortet er und küsst ihre Hand. Ganz gegen Saras Wunsch füllen sich die
Wolken mit Schnee, plustern sich auf und dehnen sich in alle Richtungen, sie senken sich zur Erde durch ihre Last. Erst fällt aus jeder Wolke nur eine einzige Flocke heraus, keiner hätte sie bemerkt. Doch sie haben ein Loch in die Wolkenhaut gerissen und jetzt fängt es richtig an zu schneien. Sara und Zadok sind beim Dessert. »Hast du dir Schnee gewünscht?«, beginnt Sara und wischt sich den Mund ab. »Aber ja. Ich liebe Schnee, du nicht?« »Dann bist du derjenige, der das Wetter macht.« »Na so was, eine Neuentdeckung!« »Sollen wir in das Kinderzimmer gehen?«, fragt sie. Zadok, Zadok, flüstert es heiser in seinem Kopf, es ist so weit. Es ist so weit, drei Krähen jubilieren. Sie gehen dicht nebeneinander die Treppen hoch, ihre Arme berühren sich. Sara würde gerne nach seiner Hand greifen, aber sie lässt es. Hinter dem Fenster am Ende des Flurs tobt ein wilder, weißer Tanz. Sie öffnet die Tür und zündet eine der Kerzen an. Sie stellen sich vor das Foto. »Was meinst du damit, man muss auf ihre gekreuzten Finger achten? Was hat das zu bedeuten?«, fragt Sara.
Ein kurzes Lachen bricht aus ihm heraus, ein Lachen, das nicht der Heiterkeit entspringt, eines, das, könnte man es kosten, sehr bitter schmecken würde und sich zugleich nach Erleichterung anhört. »Was das zu bedeuten hat?«, sagt er beherrscht. »Sara, was haben zwei gekreuzte Finger wohl zu bedeuten? Zwei gekreuzte Finger, die man auf den ersten Blick nicht sieht, die sich hinter einem Nebel verstecken? Sie brechen den Schwur, sie verleugnen alles, was man auf den ersten Blick zu sehen glaubte. Dieses Bild ist das Bild einer Lüge.« Er reißt das Fenster auf: »Man erstickt hier fast!«, ruft er. »Das Zimmer ist so voller Lüge, dass man daran zu ersticken droht!« Sara würde bereits jetzt gerne rufen: »Okay, es reicht. Ich habe schon genug gehört.« Sie wirft einen verzweifelten Blick nach draußen und sagt sich jetzt: Sobald es aufhört zu schneien, höre ich auf zu fragen und halte ihm den Mund zu, ich halte einfach seinen Mund zu. Aber es wird ja nicht aufhören zu schneien, es wird die nächsten drei Tage nicht aufhören. Er habe dieses Mädchen niemals angerührt. Luca sei es gewesen, die seine Nähe immer mehr gesucht habe. Er habe sich zusammengerissen, es habe ihm Schmerzen bereitet, aber
sein Name sei Zadok und das bedeute »der Gerechte«. Der Gerechte ficke keine Kinder und er ficke auch keine Blutsverwandten, das wisse sie doch. Der Gerechte wirft die Arme empor und spricht Wort für Wort: »Ich sagte dir bereits, dass ich nicht unmoralisch bin!« Luca sei ihm immer näher gekommen, sie habe sich auf seinen Schoß gesetzt am frühen Morgen, das habe er doch erzählt, ob sie sich nicht erinnere, und sie habe ihn geküsst und habe seine Hand genommen, wenn sie spazieren gingen. Das Leben habe sie ihm geschenkt, ein wirkliches Leben. Aber dann, kurz vor Lucas achtzehntem Geburtstag, krachte plötzlich eine ungeheure Neugierde auf Zadok. Sie krallte sich an seinem Schädel fest und bohrte ihre giftigen Finger in seinen Kopf und ließ ihn nicht mehr los. »Luca und Raphael waren nicht zu Hause. Sie begleitete ihren Bruder bei einem Spaziergang zu der Lichtung. Habe ich dir erzählt, dass sie die Rehe betören konnte? Sie musste nicht wie wir stundenlang auf dem Hochsitz verharren und sich still verhalten. Sie musste sich nicht in Geduld üben. Ihre bloße Anwesenheit lockte die Rehe an. Sie hat nie versucht mir zu erklären, wie sie das macht. Lern erst mal tanzen, sagte sie. Ich versuchte mich von dieser Neu-
gierde, von der ich nicht wusste, woher sie auf einmal kam und warum sie so hartnäckig war, abzulenken. Ich überlegte, was ich den beiden zum Geburtstag schenken könnte. Ich dachte natürlich vor allem über ein Geschenk für Luca nach. Ich dachte an tausend Blumen und einen Koffer voller Kleider, ich dachte an ein Regal mit allen Büchern, die ich ihr wünsche, und an einen Schrank mit Musik, die sie noch nicht kennt. Aber immer wieder lenkte mich ein anderer Gedanke ab: Die schwarzen Bücher. Nie hatte ich einen Blick hineingeworfen. An diesem Tag konnte ich mich nicht mehr erinnern, warum ich das nie getan hatte. Ich ging hier hoch und zog die Kiste hervor. Während ich die ersten Seiten las, begann in mir ein Feuer zu brennen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine tiefe Freude mich erfasste. Ich konnte kaum weiterlesen, immer nur die ersten Seiten. Sie ist nicht meine Nichte, sie ist nicht die Tochter meines Bruders, sie ist eine völlig Fremde, so gesehen, sie ist auch kein Kind mehr, sie wird bald achtzehn – meine Güte! – schon achtzehn, sie hat mir Zeichen gegeben, die ganze Zeit, sie hat mich darauf vorbereitet, dass wir bald ein wirkliches Liebespaar sind. Was sage ich? Liebespaar! Das ist zu schwach, viel zu schwach. Eins! Wir wer-
den für immer eins sein. Sie liebt mich. Ich liebe sie. Wir sind frei. Warum hat sie es mir nicht längst gesagt?« Zadok unterbricht seine Rede und nimmt Saras Hände. »Hab keine Angst, du musst keine Angst haben«, flüstert er. Sara merkt jetzt, wie hart sich ihr Gesicht anfühlt. »Entspann dich, meine Schöne«, sagt er, streichelt ihr zweimal lächelnd über die Wange, ihr wird eiskalt. Er habe sich zwingen müssen, ruhig zu bleiben. Am liebsten wäre er zur Lichtung gerannt und hätte Luca umarmt und hochgehoben. Es war nicht schwer gewesen, Luca hochzuheben, schwebte sie doch sowieso schon. Am liebsten hätte er sie überall geküsst und gerufen: Warum hast du es mir nicht gesagt? Wolltest du mich überraschen? Aber er wollte nicht die Rehe verscheuchen. »Man kann es in dieser Vollständigkeit nur einmal erleben. In dieser Vollständigkeit, deren Ende vorprogrammiert ist, weil sie zu groß ist, als dass ihre Säulen, die du in überschäumendem Glück gebaut hast, sie tragen könnten. Aber für ein paar Stunden war es komplett. Wir waren in Sicherheit, Luca und ich. Es gab nun kein ›dagegen‹ mehr. Nur ein ›dafür‹. Zum ersten Mal stellte ich mir vor, mit ihr
zu schlafen. Ich hatte zum ersten Mal keine Angst mehr, sie könnte mich eines Tages verlassen. Die Gewissheit um unsere gemeinsame Zukunft besetzte mich. Und, Sara? Weißt du, was nur kommen kann, wenn du ganz oben bist? Wenn du es endlich, endlich geschafft hast, Ruhe zu finden? Das Leben ist ein böses Tier, es ist in der Lage, dir das Gehirn auszulutschen, um es dann, verseucht von Gift, in deinen Kopf zurückzuspucken. Luca und Raphael kamen von ihrem Spaziergang zurück, ich erwartete sie vor dem Haus. Ich sah, dass sie sich an den Händen hielten, ich versuchte, es nicht zu beachten. Trotzdem verursachte dies den ersten, scharfen Riss. So schnell kann das gehen. So schnell kriegst du die Angst zurück. Als sie mich sahen, ließ sie ihn los und rannte zu mir. Das hat sie gemacht, weil sie es verborgen halten wollte. Das weiß ich jetzt! Bruder und Schwester! Dass sie es mit ihrem Bruder trieb, das weiß ich erst jetzt.« Zadok klatscht unvermittelt in die Hände. »Ich habe Durst. Ich hole uns etwas.« Er verlässt das Zimmer. Sara kommt ins Wanken. Sie setzt sich auf das Bett, ihre Hände sind schweißnass, ihre Haare, ihre Stirn. »Beruhige dich«, murmelt sie. Meine Güte, denkt sie. Meine Güte, Zadok. Ihre Beine sind wie ge-
lähmt. Vielleicht würde sie ja sonst wegrennen. Er kommt mit zwei Gläsern und einer eiskalten Flasche zurück. Er reicht ihr ein Glas und stellt sich ans Fenster. »Luca umarmte mich. Sie hatte rote Wangen und strahlte mich an. Zehn Rehe waren da, sagte sie und gab mir einen Kuss. Raphael ging mit gesenktem Blick an uns vorbei ins Haus. Natürlich fiel es ihm schwer. Er war sicher zerfressen von Eifersucht. Das stand mir noch bevor. So schnell, wie die Sicherheit gekommen war, so schnell wurde sie in den folgenden Tagen von immer eindeutigeren Zeichen zerstört. Ich verwarf meine erste Idee, ihr sofort zu sagen, dass ich in den Büchern gelesen hatte. Ich wollte sie zunächst in diesem neuen Licht betrachten, in diesem Licht der Freiheit. Doch was ich nun beobachten musste, war eine komplett andere Luca. Sie distanzierte sich. Am Abend fragte sie mich, was ich getan hätte, als sie mit Raphael bei der Lichtung war. Nachgedacht, antwortete ich. Du hast dich verändert, sagte sie. Wie meinst du das?, fragte ich. Etwas ist mit deinen Augen passiert. Freust du dich über irgendetwas?, fragte sie und rück-
te ein wenig von mir weg. Ich freue mich über dich, sagte ich, das weißt du doch. Sie stand auf und schüttelte leicht den Kopf. Sie sah mich aus ihren riesigen Augen an. Luca sagte: Mir wird so kalt. Vielleicht bin ich krank. Ich lege mich hin. Gute Nacht. Sie gab mir nicht wie gewohnt einen Kuss. Sie rauchte nicht eine letzte Zigarette. Sie drehte sich bloß um und ging. Luca ließ mich mit meiner rasenden Vorfreude auf unsere gemeinsame, rechtmäßige Liebe zurück. Sie hätte mir genauso gut ins Gesicht spucken können. Ich nahm mir vor, so zu tun, als wäre alles wie zuvor. Aber es war nicht mehr wie vorher. Alles schien so leicht und doch wurde es viel schwerer. Luca war nicht wiederzuerkennen. Ich konnte nicht schlafen und blieb in der Küche sitzen. Ich dachte, vielleicht ist sie wirklich krank. Am nächsten Morgen war Raphael der Erste, der zu mir kam und sich einen Kaffee einschenkte. Er grinste mich stumm an. Im Nachhinein weiß ich, dass er gut Lachen hatte. Als sie dann endlich aufwachte und sich zu uns gesellte – sie sah überhaupt nicht krank aus –, gab sie Raphael einen Kuss und mir nicht. Mir warf sie lediglich ein kaltes Hallo entgegen.
Sie wollte lieber etwas mit ihrem Bruder allein unternehmen. Fast wäre ich ihnen gefolgt, doch ich nutzte die Zeit, mich in ihrem Zimmer umzusehen. An diesem Tag betrachtete ich lange das Foto. An diesem Tag sah ich zum ersten Mal ihre gekreuzten Finger.« Stopp, denkt Sara. Es reicht. Es reicht für alle Tage und für alle Zeiten. Ich kann nicht mehr. Ich will nach Hause, irgendwohin, wo es warm ist. Mach das Fenster zu und halt deinen Mund, denkt sie, aber ihre Lippen sind wie verklebt. »Passen dir die Flügel?«, fragt er sie. Sie schaut ihn nicht an und schüttelt viel zu langsam den Kopf. Er hat das Ding schon von der Wand genommen und hält es ihr hin. Hör auf, denkt sie, das ist krank. Hör auf und nimm mich in den Arm oder sag, dass du Spaß machst, sag, dass du ein anderer bist. Dass ich mich nicht geirrt habe, los, hilf mir, leg dieses verdammte Drahtgestell weg. Es erinnert mich an einen schlechten Traum. Aber er hört ja Saras Gedanken nicht; er schnallt ihr die Flügel auf den Rücken. »Wunderbar siehst du aus«, flüstert er und küsst sie lächelnd auf die Stirn. Sara erwacht mit einem wütenden Blick, sie springt auf, reißt sich die Flügel ab und wirft sie auf den
Boden. »Verdammt, Zadok! Was soll der Scheiß? Was ist denn los mit dir?« Er schaut sie verstört an: »Aber Sara, du hast mich doch gefragt. Du willst es doch wissen. Du willst doch die Wahrheit wissen. Hältst du das nicht aus? Ich dachte, du liebst mich so sehr? Dann musst du es doch aushalten, es gehört zu mir, meine Vergangenheit gehört zu mir wie die Gegenwart, willst du denn immer nur einen kleinen Teil von mir? Ist deine Liebe so winzig? Habe ich mich in dir geirrt? Also bitte, dann hättest du nicht fragen sollen. Du musst dich schon entscheiden. Kannst du dich denn nie entscheiden?« »Ich habe dich nicht darum gebeten, mir dieses Ding umzuschnallen.« »Aber es steht dir doch so gut, mein Engel. Und du hast dich nicht gewehrt.« »Du machst mir wirklich Angst.« Da ändern sich auf einen Schlag seine Augen und sie erkennt ihn kurz wieder, das freut ihr Herz, das dankbar für jede Beruhigung ist, und sei sie noch so kurz. Erneut ein Blick aus dem Fenster, da draußen stürmt es jetzt, der Schnee hat bereits alles weiß gefärbt. Es hört nicht auf, es sieht überhaupt nicht danach aus. »Sara, du musst keine Angst vor mir haben. Ich kann dir diese Geschichte nur auf meine
Art erzählen.« »Okay, sorry, ich wollte dich nicht unterbrechen. Es ist nur, dass … ich weiß nicht, deine Augen … Ich habe dich nicht wiedererkannt.« Kleinlaut wird sie jetzt. So wird das nichts, so wird das nichts. Wenn sie jetzt kleinlaut wird und betroffen guckt – los, weiter im Text, Zadok! Zadok sagt: »Hier, trink noch was.« Er füllt ihr Glas und steckt ihr eine brennende Zigarette zwischen die Lippen. Sie sitzen jetzt nebeneinander auf dem Bett. Er habe sich gut zugeredet, habe sich gesagt, dass dieses Foto nichts zu bedeuten hat. Dass Luca aus Versehen die Finger kreuzte. »Doch die Zeichen wurden so deutlich, dass es immer weniger Zweifel gab. Als Luca und Raphael von ihrem Ausflug zurückkamen, sagte sie, sie habe Lust, in die Stadt zu fahren, das hätten wir doch lange nicht mehr gemacht. Sie sagte, komm, Zadok, sei nicht so faul, ich langweile mich zu Tode, lass uns ein bisschen Spaß haben in der bösen, bösen Stadt. Das sagte sie immer: Böse, böse Stadt. Ich sagte, in Ordnung, dann mal los, wir machen uns chic. Sie fiel mir zum Dank um den Hals und jubelte, so war sie immer, wenn man ihr einen Wunsch erfüllte, aber diesmal ließ sie mich sofort wieder los, nur eine kurze Umarmung, ein Hauch
von einer Umarmung. Wir verließen das Haus. Sie sah umwerfend aus, umwerfender denn je, sie sah aus wie meine Frau, mein Mensch, mein einzig möglicher Mensch. Der Abend in der Stadt war ein Fehler. Luca betrank sich in Höchstgeschwindigkeit und tanzte zu jedem Stück, Raphael und ich saßen stumm in der Ecke und schauten zu. Jeder Kerl wollte sie ficken, das war nicht zu übersehen. Ich zitterte vor Eifersucht. Ich war mir ja noch nicht sicher, dass mein ärgster Rivale direkt neben mir saß. Meine Güte! Luca gehörte mir, alles war gut. Sie war erwachsen, sie war nicht die Tochter meines Bruders, sie war meine Frau, sie gehörte zu mir, wir mussten es bloß aussprechen. Ich hätte sie geheiratet, ich hätte jeden ihrer Wünsche erfüllt, ich war der einzig Richtige für Luca. Und sie war der einzig richtige Mensch auf dieser verfluchten Welt für mich. Sie war es, die mir Leben eingehaucht hatte …« Zadok zuckt zusammen, er sieht aus, als würde er gleich weinen. Saras Herz rast wieder. Er ist krank, krabbelt es durch Saras Gehirn, er ist ein kranker Mann. Du musst jetzt gehen. Los! Geh! Sie betrachtet ihre nackten Füße. Geht!, denkt sie. Aber ihre Füße wollen nicht. Willst du denn vorschnell aufgeben? Willst du denn nicht an deiner Liebe festhal-
ten? Willst du nicht demjenigen, den du liebst, ein paar Chancen mehr geben? Und hat es denn etwa aufgehört zu schneien? Das war doch der Deal! »Verzeih«, sagt er. »Es geht schon wieder.« Er legt eine Hand auf ihr Bein und schaut sie an. Das fühlt sich nicht gut an, seine Hand ist kalt. »Der Abend in der bösen, bösen Stadt endete mit einer Schlägerei. Ich bin auf einen Typen losgegangen, der sie permanent angemacht hatte. Wir wurden rausgeworfen und Luca beschimpfte mich auf dem Weg zu unserem Hotel. Du bescheuerter Wichser!, schrie sie. Was ist in dich gefahren? Was für ein brutales Arschloch bist du eigentlich? Luca war, wie schon gesagt, ziemlich betrunken. Das waren wir inzwischen alle und dann spielt sich so was schnell hoch. Trotzdem war das zu viel. Ich hätte sie ohrfeigen können. Später wartete ich die ganze Nacht, dass sie aus ihrem Zimmer kommen und mir die Chance geben würde, mich zu entschuldigen. Ich wartete vergebens. Luca entfernte sich in einem rasenden Tempo von mir. Ich war mir noch immer nicht im Klaren, dass das ganz allein mit Raphael – diesem lästigen Anhängsel – zu tun hatte. Der Weg zurück war qualvoll. Es war zwei Ta-
ge vor ihrem Geburtstag, ich hatte noch immer kein Geschenk. Wir sprachen kein Wort. Sie sah mich nicht einmal an. Als wir ins Haus kamen, wollte sie sofort nach oben gehen, aber ich hielt sie zurück. Was?, zischte sie und riss sich los. Entschuldige, sagte ich. Okay, sagte sie und ging. Ich blieb vor der Treppe stehen. Ich blieb mindestens drei Stunden dort stehen, in denen ich mehr und mehr jene Zeichen zu deuten begann, die sie von mir wegzuführen schienen. Dann schlich ich die Treppe hoch.« Die Tür sei geschlossen gewesen. Er habe wie ein Kind, das nicht schlafen kann und zu seinen Eltern will, davor gehockt und sie belauscht. Sie habe sehr leise gesprochen, aber er habe jedes Wort verstanden. Denn seine Ohren seien gut, sie selbst habe sein Gehör geschult. Du musst auf die leisesten Töne achten, habe sie oft gesagt. Er hörte ihre Worte also ganz genau: Raphael, wir müssen hier weg, wir müssen Zadok verlassen. Zadok springt auf, Sara zuckt zusammen. »Nur so kann es sein, wenn dir jemand das Herz bei lebendigem Leibe rausreißt, wenn du es wahrhaftig mitkriegst. Du wirst nicht vorher ohnmächtig, du liegst da und siehst zu, wie dir der Brustkorb aufgerissen wird und wie das Blut in einer Fontäne herausschießt und wie
dann dein Herz gepackt und aus dir herausgerissen wird. Deine einzige Rettung ist der Hass, nur der Hass ist in der Lage, den Schmerz zu mildern. Ein wenig nur, aber das ist schon viel.« Er lehnt sich an die gegenüberliegende Wand und bemüht sich, ruhiger zu atmen. Da hast du Recht, ahnt Sara bereits. Er sei nach dem ersten Schock, so müsse man das wohl im Nachhinein bezeichnen, schnell zu dem Schluss gekommen, dass Luca es mit ihrem Bruder trieb. Er habe die Zeichen hervorgekramt, die dafür sprachen: Blicke fielen ihm ein, die ständige Besorgnis um ihren Bruder erschien in einem neuen Licht, das Lächeln, das sie Raphael immer geschenkt hatte, hatte plötzlich eine völlig neue Bedeutung. »Sie hat mir nichts von den Tagebüchern gesagt, weil sie mich die ganze Zeit verarscht hat. Sie hat mich dazu benutzt, dass ich sie und ihren Bruder durchfüttere, bis sie groß sind. Sie hat mich scharf gemacht, damit ich geschmeidig bleibe. Sie hat mir Liebe vorgeheuchelt, dabei war ihre Liebe längst vergeben. Ihre perverse Liebe. Ich hätte sie niemals angerührt, niemals, weil ich sie für meine Verwandte hielt! Und sie vögelt inzwischen mit ihrem Bruder! Wann wohl hat sie damit angefangen?
Wie alt war sie da? Sieben? Zehn? Zwölf? Sie hat ja auch früh geraucht und gesoffen, da wird sie doch sicher auch schon früh damit begonnen haben, ihren Bruder zu ficken, oder was denkst du?« Sara schaut nicht einmal mehr zum Fenster hinaus, um zu sehen, ob es noch schneit. Es ist ihr mittlerweile egal. »Sara?« »Ja?« »Noch ein Gläschen?« »Ja.« »Geht’s dir gut?« »Ja.« »Das freut mich. Ich wusste, ich habe mich nicht in dir geirrt! Ich habe mich richtig entschieden.« Ihre Lider fühlen sich schwer an, als sei sie kurz vorm Einschlafen. Das ist nicht normal, denkt sie, denn ich bin so unendlich weit vom Schlaf entfernt. Sara gibt sich alle Mühe, ihren Blick zu heben. Nur gut, dass er kurz seinen Mund hält, gut, dass er ihr Zeit gibt, ihn zu betrachten. Zunächst eins und dann das andere. Zunächst der Ton: die veränderte Stimme, gehetzt, als hätte er nur auf ihre Frage gewartet, als wäre ihm nichts anderes so wichtig gewesen, wie ausführlich darauf zu antworten.
Und dann das Bild: Ist das Zadok? Ist diese Fratze sein Gesicht? Sara steht auf, sie geht zu ihm, sie muss ihn aus der Nähe betrachten. Sind das Zadoks Augen? Wo ist das Lodern darin? Sie hebt vorsichtig eine Hand und möchte eigentlich über seine Wange streichen, aber sie legt sie auf ihren Mund. Diese Gestalt, kalt und zersetzt von irgendeiner Krankheit, kann nie und nimmer Zadok sein; diese Gestalt möchte Sara lieber nicht anfassen. Sie geht einen Schritt zurück. Sie fragt leise: »Wie meinst du das? Dass du dich richtig entschieden hast?« Und jetzt beides zusammen. Ton und Bild: Er bricht in Lachen aus, krümmt sich, richtet sich wieder auf, Tränen fließen aus seinen Augen. Zadok ruft: »Weil du so bist wie ich! Du kannst auch nicht genug kriegen, egal von was, du bist genauso weich wie ich. Gleich und Gleich gesellt sich gern. Deswegen. Punkt.« Und dann prustet er wieder los, Sara wankt und setzt sich auf das Bett. »Zadok«, flüstert sie, »warum lachst du?« Er reißt die Arme hoch, legt den Kopf in den Nacken und brüllt: »Na, weil ich dich so liebe!« Kurz verharrt er, dann schaut er sie wieder an: »Weiter?« »Natürlich«, flüstert sie.
In dem Moment, als er hörte, was Luca zu ihrem Bruder gesagt hatte, sei ein Fieber in ihm ausgebrochen. Er sei auf allen vieren zurück zur Treppe gekrochen und habe sich am Geländer hochziehen müssen. Dann sei er so leise wie möglich, das sei nicht leicht gewesen, denn das Fieber schwächte ihn extrem, nach unten gegangen. Er sei aus dem Haus gehastet und habe sich auf die eingeschneite Bank gesetzt. Dort habe er darauf gewartet, dass das Fieber abkühle. »Aber das tat es nicht, im Gegenteil, es wurde immer schlimmer, es schickte mir Stimmen, die habe ich noch immer in meinem Kopf, hier sind sie drin, hier. Erst dachte ich, da sei nichts, es sei lediglich etwas in meinen Ohren kaputtgegangen. Doch dann konzentrierte ich mich und hörte ganz deutlich die ersten Worte. Wie auch immer, mein Fieber stieg. Ich weiß nicht, wie lange ich dasaß. Irgendwann stand Luca vor mir. Sie rauchte eine Zigarette und strich über meinen Kopf. Was machst du denn hier draußen?, fragte sie und lächelte mich an. Und als ich nicht antwortete, legte sie eine Hand auf meine Stirn und sagte: Deine Stirn ist ja eiskalt. Ich habe aber Fieber, sagte ich. Luca lachte: Nein, du hast kein Fieber. Aber du kriegst welches, wenn du noch lange hier
sitzt. Dann ging sie wieder rein. Ich blieb fast die ganze Nacht dort sitzen. In diesen Stunden fielen mir Geschenke für die Kinder ein.« Wenn niemand spricht, so wie jetzt, dann hört man den Schnee vom Himmel fallen. Ein leises, weiches Geräusch. »Und, Zadok?«, sagt Sara, »was hast du den Kindern geschenkt?« Er rutscht mit dem Rücken an der Wand herunter und bleibt mit angezogenen Beinen sitzen. In völliger Ruhe zündet er sich eine Zigarette an und schaut sie an. »Ist dir kalt?«, fragt Zadok. »Ja.« »Von innen oder von außen?« »Beides.« »Mir war nicht kalt, ich fror die ganze Nacht nicht. Ich fror auch innerlich nicht, meine Angst war kochend heiß. Wir scheinen uns doch ein wenig zu unterscheiden.« »Ich weiß nicht, was du damit meinst.« »Unerheblich, vergiss es. Ich ging erst am Morgen, als mir die Geschenke eingefallen waren, ins Haus. Wusstest du, dass Stimmen wie Insekten sein können? Sie wimmeln durch deinen Kopf und sind zuweilen sehr anhänglich. Wenn du sie erst einmal am Halse hast, kannst du sie kaum mehr verscheuchen. Sie
kommen immer wieder. Ich machte einen Plan. Ich nehme an, den ersten echten Plan in meinem Leben. Und da ich so emsige Berater hatte, wusste ich recht schnell, wie ich es am besten mache. Wenn du eine Hellseherin überraschen willst, dann musst du schon ein wenig planen, weißt du? Du musst schneller sein als sie, was fast unmöglich ist, gerade dann, wenn ihr Bruder einen wichtigen Part hat, gerade dann. Die zweite, sicherere Möglichkeit ist, zu warten, bis sie tief schläft. Dann ist selbst eine Hellseherin machtlos. Du musst dich ins Zimmer schleichen und versuchen, sie trotz der Dunkelheit zu sehen. Das dauert eine Weile, du darfst nicht zu nahe heran, weil Luca dich sonst riecht oder deinen Atem spürt. Einen tiefen Schlaf erkennst du an den Träumen. Alle Träume, die du vergisst, finden in tiefem Schlaf statt. Wenn Luca fürs Vergessen träumte, dann sah ich ihr das an. Ich wusste also schnell, wie die Überraschung funktionieren könnte, und musste nur noch den Tag überstehen und auf den Abend warten. Sie ging ja inzwischen gerne früh zu Bett. Ich sagte dir, warum, erinnerst du dich? Natürlich erinnerst du dich! Denn das ist ja die erste BruderSchwester-Fick-Geschichte deines Lebens! Nicht wahr?«
Nicht wahr, Sara? Sara? Was macht Sara? Sie hat den Kopf zur Seite gedreht und blinzelt, denn ein immer greller werdendes Weiß hat sie gepackt, daran muss sie sich erst gewöhnen. Ihre Augen tränen, mit verschwommenem Blick betrachtet sie drei Krähen, die auf der Fensterbank Platz genommen haben und damit beginnen, aufeinander einzuhacken. »Gegen Mittag kam Luca herunter, sie sah verwirrt aus. Gut geschlafen?, fragte ich und ließ mich von ihr küssen. Es bedurfte einiger Selbstbeherrschung, ich brauchte sehr viel Kraft für diesen Tag. Sie sagte, sie habe von einem Engel geträumt. Es sei ein entsetzlicher Traum gewesen, sie fühle sich schlecht. Ich habe ihr eine Zigarette gereicht und ihr einen Kaffee gekocht. Sie hat mich ertappt, dachte ich, verdammt, wie sollte es eine Überraschung werden, wenn sie es jetzt schon ahnte? Ich gab mich unbekümmert, sie betrachtete mich mit traurigen Augen. Dein Bruder schläft noch?, fragte ich. Er liest, sagte sie. Und dann flüsterte sie irgendetwas mit gesenktem Kopf, ich verstand sie nicht. Was hast du gesagt?, fragte ich. Sie hob den Kopf und sagte: Ich habe meine Wünsche aufgezählt, die hättest du doch hören müssen.«
»Zadok«, flüstert Sara, »diese Viecher …« »Was für Viecher, Sara?« »Sie hacken die ganze Zeit aufeinander ein.« Die drei Krähen unterbrechen ihren Kampf und legen den Kopf schief. Zadok schaut zum Fenster: »Sie sind doch ganz friedlich.« »Scheuch sie weg!« »Das kann ich nicht.« »Bitte!« »Du musst es tun.« Da reißt Sara den Mund weit auf und stößt einen langen, tiefen Schrei aus. »So funktioniert es nicht«, lächelt Zadok sie an. »Sie sind noch immer da.« Sara springt auf, macht einen Schritt zum Fenster und fuchtelt mit den Armen. Die Krähen fliegen auf und verlassen das Zimmer, sie ziehen Kreise vor dem Fenster. »Sie werden wiederkommen«, sagt Zadok. »Dann müssen wir das Fenster schließen.« »Hast du Angst vor Krähen?« »Nein.« »Was macht dich dann so nervös?« »Nichts, alles in Ordnung. Alles bestens …« Sie unterbricht sich, hebt das Flügelgestell auf und reicht es Zadok. »Hier«, sagt sie. »Dir steht es doch sicher am allerbesten.«
»Du irrst dich, es ist zu klein für mich.« »War das Lucas Geschenk?« Er strahlt sie an und nickt mit leuchtenden Augen: »Du bist so klug, Sara ohne h. Scharfsinnig, könnte man sagen. Du hast Recht, das war auch ein Geschenk. Der Pfarrer hat es ihr gebaut. Ein talentierter Bastler, dieser Mann, leider sieht es nicht mehr so hübsch aus wie am Anfang. Aber nackt, ohne Federn hat es auch einen gewissen Charme, nicht wahr?« »Er hat Luca Flügel geschenkt? Er hat sie doch gehasst.« »Darf man nur aus Liebe schenken?« Sie stehen sich gegenüber, in der rechten Hand hält Sara noch immer das Flügelskelett. Er sieht sie fragend an: »Weiter?« Und sie denkt: Solange ich stehen kann, kann ich auch gehen und solange ich gehen kann, kann ich auch rennen und solange ich rennen kann, atme ich, solange ich atme, lebe ich. Solange ich lebe, liebe ich dich. Das geht nie wieder weg, egal, was du tust, das wird nie weggehen, es war zu deutlich. Wärst du doch niemals in mein Leben gekommen! Und sie denkt weiter: Dafür sollte ich dich hassen. Was schenke ich dir, wenn ich dich hasse? Was schenke ich
dir, wenn ich dich liebe? »Natürlich«, sagt sie. »Weiter.« Der Tag sei im Nachhinein betrachtet belanglos gewesen. Er erinnere sich, dass es ein grauer, stürmischer Tag war und sie nicht das Haus verließen. Um die zähen Stunden durchzustehen, habe er sich ausgiebig mit der Zubereitung eines mehrgängigen Menüs beschäftigt. »Raphael war die meiste Zeit hier oben und las. Luca kam ab und zu in die Küche und schaute mir über die Schulter. Es war ein langsamer Tag. Ich hatte den Sturm, der draußen fegte, auch in meinem Kopf. Es war wohl eine Art Melancholie, die mich den Tisch festlich decken ließ. Wir haben doch erst morgen Geburtstag, sagte Luca. Geburtstag kann man immer feiern, antwortete ich und sah sie dann das letzte Mal lachen. Wir aßen schweigend. Luca schien gelangweilt, Raphael aß schnell auf und ging dann wieder hoch. Wie erwartet, hatte Luca keine Lust reinzufeiern. Sie gähnte und sagte, sie wisse auch nicht, es ginge ihr einfach nicht gut, sie sei in letzter Zeit immer so müde. Sie umarmte mich und sagte: Stoß um zwölf auf uns an. Wir feiern morgen, okay? Jetzt ging sie ihre Flucht planen, da war ich mir sicher. Ich konnte sie vor mir sehen, wie
sie auf dem Schoß ihres Bruders saß, mit hochgeschobenem Rock, und wie er eine Hand auf ihrer Brust hatte und eine an ihrem Arsch, mit dem konnte sie ja so schön wackeln, das sagte ich doch schon … Ich konnte sie mir vorstellen, wie sie sich über mich lustig machten. Ich habe sie lachen hören.« Er habe lange warten müssen, bevor er die Treppe hochschleichen konnte. »Die Tür war nur angelehnt, ich hörte ihren Atem. Ich schlich in das Zimmer, meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, ich betrachtete sie. Wenn sie etwas träumte, das sie vergessen würde, dann war ihr Gesicht vollkommen entspannt. Auf ihrer rechten Wange, direkt neben ihrem Mundwinkel, bildete sich ein winziges Grübchen, das hatte sie nur, wenn sie sehr tief schlief. Raphael lag neben ihr, ich berührte ihn leicht und als er die Augen aufschlug, legte ich ihm einen Finger auf den Mund und gab ihm ein Zeichen, er solle mir folgen. Wir gingen hinunter in die Küche, er sah mich fragend an. Ein verschlafener, stummer Junge, der absolut nichts Bemerkenswertes an sich hatte. Ein kleiner, unbedeutender Wurm, den man mit dem Fuß zertreten kann. Ich sagte: Ich habe eine Überraschung für Luca, doch da-
zu brauche ich deine Hilfe. Raphael nickte und setzte sich. Glaubst du an Gott, Raphael?, fragte ich ihn. Er sah mich erstaunt an und zuckte mit den Schultern. Dann schüttelte er den Kopf. Ich sagte: Das ist schade, vielleicht würde es dir helfen. Weißt du denn nicht, was dein Name bedeutet? Er nickte, griff nach einem Stift und schrieb Gott heilt auf meine Hand. Ich war beeindruckt, wirklich, das hätte ich ihm nicht zugetraut. Was jetzt folgt, ist nicht leicht zu erklären, doch ich bemühe mich, es dir so deutlich wie möglich zu beschreiben.« Er macht eine Pause, hebt langsam seine Hände, die Handflächen nach oben. Zadok sagt: »Diese Hände wurden nun riesengroß, sie wurden zu Pranken, meine Finger wurden lang und in sie hinein schoss mein ganzes Blut, meine ganze Kraft, mein Zorn, meine Angst, meine Verzweiflung, meine Eifersucht, meine Verlorenheit. Mit diesen Händen packte ich seinen Hals und mit diesen Fingern umschloss ich ihn ganz. Er reagierte erst gar nicht, er wehrte sich nicht, er dachte wohl, Luca würde ihm helfen, aber Luca schlief. Er versuchte zu schreien, aber es fehlte ihm schon die Luft dazu. Das geht ganz schnell, das wuss-
te ich nicht, wusste ich zuvor nicht, dass es so schnell geht, dass es nicht viel mehr ist, als eine misslungene Bleistiftzeichnung auszuradieren.« Der Sound eines Pressluftbohrers in Saras Kopf. Ein heftiger Schmerz in ihrer Brust, eine heiße Übelkeit in ihrem Bauch. Sie hat sich geirrt, man ist noch lange nicht in der Lage zu gehen, nur weil man stehen kann. Ihre Augen sind weit geöffnet, ein paar Tropfen Schweiß rinnen an ihrer linken Schläfe herunter. Saras Hände sind Fäuste, ihre Fingernägel bohren sich in ihr eigenes Fleisch. Saras Gehirn, verzweifelt schreiend, sucht nach raschem Trost. Das ist nicht wahr, ist die einzige Rettung. »Das ist nicht wahr«, sagt Sara also mit heiserer Stimme. »Doch, das ist es.« »Du bist kein Mörder.« Er lächelt leicht. »Doch, das bin ich.« Er geht einen Schritt auf sie zu. »Bleib stehen!«, ruft sie. Zadok bleibt stehen und zündet sich eine Zigarette an. Sara will zu ihrer Mutter, wann wollte sie das zuletzt? Sie will zurück in die Stadt, sie will ein paar Blumen kaufen und damit ihre Mutter besuchen. Sie will sagen, ich hatte einen furchtbaren Albtraum, kann ich auf deinen Schoß?
Und sie will, dass ihre Mutter ihren Kopf streichelt, stundenlang und ihr eine Brühe kocht und sagt: Ja, das ist ein schlimmer Traum. Aber wie kommt Sara in die Stadt, wenn sie kaum noch Luft zum Atmen hat? Er stößt den Rauch aus und sieht sie an. »Möchtest du auch eine Zigarette, Sara?« Nein, will sie nicht, ihr ist nicht danach. »Okay, dann nicht. Hast du dich entschlossen, erneut mit dem Rauchen aufzuhören? Du willst dir doch auch deine Haare wieder wachsen lassen! Hast du dich bereits dazu durchgerungen, mich zu hassen? Na so was! Sara! Das kann doch nicht sein. Du liebst mich doch so sehr! Denkst du etwa, du seiest auch nur einen Millimeter größer als ich, denkst du das? Willst du wissen, warum ich dich die ganze Zeit gefickt habe?« Aufhören! Genug! Die Ohren zuhalten – geht nicht – die Arme sind starr. Kein einziges Wort soll er mehr sagen. Er fällt vor ihr auf die Knie. Sara zuckt zusammen. Zadok schaut zu ihr hoch, seine Stimme klingt nun, als sei sie kurz vorm Ersticken: »Es kommt auf das richtige Timing an, musst du wissen. Ich bin zuerst hochgerannt und habe die Kinderzimmertür von außen verschlossen. Ich glaube, Luca war bereits aufge-
wacht. Ich meine, sie im Bett aufrecht sitzen gesehen zu haben, aber es ging so schnell. Ich wusch mir die Hände, ich muss wirklich angenommen haben, dass sie an meinen Händen erkennen könnten, dass ich lüge, aber selbst dann hätten sie sicher nicht die Party verpassen wollen. Aber das ist ja reine Spekulation, zurück zu den Tatsachen! Als ich aus dem Haus stürmte, schaute ich noch einmal zu ihrem Fenster hoch. Ich habe sie dort stehen sehen, obwohl das Zimmer ganz dunkel war. Luca strahlte bis zuletzt. Ich rannte ins Dorf und hatte Glück. Ein paar Leute waren schon in der Gaststätte. Dann würde es schneller gehen, bis sie kommen würden.« Er sei in die Gaststätte gestürzt, mit Schweiß auf der Stirn, mit einem Gefühl, dass er sämtliche Organe auskotzen müsse, und er habe geschrien: Sie hat ihren Bruder umgebracht! Mein Gott! Luca hat Raphael umgebracht! Der Wirt habe ein Glas fallen lassen und alle hätten ihn angestarrt. Zadok habe die Sekunden gezählt, bis sich ein Grinsen in ihren Gesichtern abzeichnete. Genau vier Sekunden seien es gewesen. In diesem Moment habe er erkannt, dass sein Plan aufgegangen war. Zadok habe dann einmal kurz genickt und noch während er sich umdrehte, sah er, wie der
Wirt zum Telefon griff. Dann sei er zurückgerannt. Ihr Fenster war nun schwarz, er habe sich neben Raphaels Leiche gesetzt und gewartet. Aus Lucas Zimmer sei kein Laut gekommen. Er habe nicht lange dort sitzen müssen. »Es dauerte knapp eine halbe Stunde, bis ich das aufgeregte Bellen der Hunde hörte. Ich hatte die Haustür offen stehen lassen, ich wollte sie wirklich nicht aufhalten. Sie stürmten in mein Haus, sie riefen: Wo ist die Schlampe? Der Pfarrer trug diese Flügel in seiner Hand. Der Bäcker erstarrte kurz, als er den toten Raphael dort liegen sah. Ich stand auf und ging zur Pensionsfrau. Ich legte ihr, weil sie zu zweifeln schien, den Schlüssel in die Hand und sagte: Sie ist oben. Na, dann los!, schrie die Menge wie aus einem Mund, und Eva, die Frau des Metzgers, gab der Alten einen Stoß. Dann stürmten sie – der Pfarrer und die Alte voran – die Treppe hoch. Ein Gepolter war das! Als würde eine Herde wild gewordener Pferde meine Treppe zertrümmern. Nach kurzer Zeit kamen sie wieder heruntergerannt. Sie ist weg!, schrien sie. Aber wir kriegen sie! Dann verließen sie krachend und genauso schnell, wie sie gekommen waren, mein Haus. Zurück blieb eine sonderbare Stil-
le. Diese Stille wehte eine milde Luft in mein Haus, sodass ich mich setzen musste. Sie haben meiner kleinen Luca übel mitgespielt, weißt du? Sie haben sie lange gehetzt und sie hatte ja gar keine Schuhe an, ihre Füße müssen geblutet haben, aber Schuhe sind sicher hinderlich, wenn man aus einem Fenster fliegen will. Ich bin mir sicher, dass sie nicht geklettert, sondern geflogen ist. Sie ist so schnell gerannt, das haben sie mir hinterher erzählt. Luca konnte zwar die Rehe betören und sie konnte es riechen oder schmecken oder was auch immer, wenn ein Hund starb oder ein Kind. Aber sie konnte nicht diese bissigen, aufgehetzten Köter davon abhalten, ihr ein Stück Fleisch aus dem Bein zu reißen. Sie erzählten mir, sie habe sie bis zuletzt angestarrt. Sie habe nicht einmal den Blick gesenkt, während sie sie lynchten. Weißt du was? Während sie ihr das alles antaten, saß ich in einer freundlichen Stille und betrachtete ihren toten Bruder. Und ich stellte mir nur eine Frage. Was denkst du? Wird sie gewusst haben, dass Raphael bereits auf sie wartete?« Zadok steht langsam auf. »Weißt du, warum ich dich gefickt habe, Sara?« Die Krähen kommen zurück, sie setzen sich
wieder auf die Fensterbank. Eine Krähe hackt den anderen die Augen aus, fällt Sara ein. Draußen tobt der Schnee und in Sara wechseln die Farben. »Drei Krähen«, sagt Zadok. »Das sind Luca, Raphael und ich. Oder bist eine der Krähen vielleicht du? Und die anderen beiden sind Luca und ich? Die Drei ist eine hassenswerte Zahl, nicht wahr? Zumindest dann, wenn du nicht teilen magst. Die Drei steht zwischen der Eins und der Zwei, nicht dahinter, es müsste doch eins, drei, zwei heißen. Meine Drei war Raphael und deine Drei ist Luca. Sie steht für immer zwischen uns. Und das, obwohl sie schon über ein Jahr tot ist. Merkst du, wie es ist, wenn einem alles entrissen wird? Fühlst du, wie es ist, wenn du die ganze Zeit belogen wurdest? Sag, wie fühlt es sich an, wenn ich dir sage, dass ich dich tatsächlich nur gefickt habe, weil du ihr so ähnlich siehst! Meiner Luca. Glaubst du etwa, ich hätte jemals an dich gedacht? Du solltest wirklich lernen, dich auf deine innere Stimme zu verlassen. Hat deine innere Stimme dir denn nie geflüstert, dass ich dich niemals lieben würde? Habe ich es dir nicht sogar selbst laut und deutlich gesagt? Erinnerst du dich nicht? Aber natürlich kam es auch auf deinen Charakter an. Ich habe gesehen, dass du bereit
bist, genauso unter der Liebe zu schrumpfen wie ich. Du kleines, armes Tier. Hungrig nach ein paar Streicheleinheiten, ach, und so dermaßen gelangweilt vom Leben. Solch einen Appetit auf etwas Großes!« Er streckt den Arm aus und streicht kurz mit dem Handrücken über Saras Wange. »Der Zorn ist ein großer Schmerz, nicht wahr?«, flüstert er und lächelt sie an. Ein starkes Bedürfnis, sich tausendmal zu waschen oder, noch besser, sich zu häuten, überkommt Sara. Das Wissen, diesen Dreck, der an ihr haftet, niemals mehr loszuwerden, legt sich schwer in ihren Kopf. Kein Messer, kein Schraubenzieher, keine Schere in der Nähe, ein Fehler in Zadoks Plan. Er geht zu dem geöffneten Fenster, die Krähen machen ihm Platz. Er setzt sich zu ihnen auf die Fensterbank, zwei rechts von ihm und eine links. Und dahinter die Nacht, durch die der Schnee immer schneller tanzt. Eine eigenartige Melodie in Sara, schnelle, flirrende Bilder, ihr Atem wird so langsam, stirbt sie jetzt? Sie schließt die Augen, ihr Mund öffnet sich, sie atmet einmal tief ein, sie vernimmt in weiter Ferne sein Lachen. Sara öffnet die Augen, sie sieht in seine, darin ist ein Lodern. Zwei Schritte – nicht drei – auf ihn
zu. Zwei Finger – nicht drei –, die seine Augen nicht verfehlen. Die Hand muss nur ganz ruhig sein und die Finger lang genug, von all dem Ekel, der in sie hineinschießt. Mit voller Wucht und begleitet von einer sanften Musik bohren sich Saras Fingerspitzen tief in Zadoks Augen, da hört er auf zu lachen. Mit der anderen Hand gibt sie ihm einen Stoß gegen die Brust. Der Schnee ist schon tief genug, um das Geräusch seines aufprallenden Körpers sanft klingen zu lassen. Zadok irrte sich nicht. Auch dieser Plan ging auf. Er bekommt seine Genugtuung, seine Erlösung. Eine Frau mit kurzem Haar rennt durch den Schnee. Drei Krähen begleiten sie.