John Vornholt Earth 2 Tödlicher Abgrund Roman
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John Vornholt Earth 2 Tödlicher Abgrund Roman
l Alonzo Solace flog - für einen Mann mit einem komplizierten Bruch an seinem rechten Bein war dies gewiß keine einfache Sache. Aber darüber konnte er jetzt nicht nachdenken, denn links und rechts von ihm ragten Canyonwände fast einen Kilometer hoch in den Himmel. Die majestätischen Felswälle hatten die Farbe des Sonnenuntergangs und endeten in gezackten Zinnen, die wie die Finger eines Riesen aussahen. Alonzo konnte den Einfall der rötlichen Sonnenstrahlen zwischen monströsen Felsdurchbrüchen sehen, die wie Ringe für die Finger des Riesen wirkten. Der rauschende Wind dröhnte in seinen Ohren und schnitt ihm ins Gesicht, aber er konnte weiterhin den fernen Klang rauschenden Wassers tief unter sich hören. Der Pilot senkte den Blick und hielt den Atem an. Anderthalb Kilometer unterhalb von ihm schlängelte sich ein blaugrüner, mit Riffen gesprenkelter Fluß durch die Wildnis. Alonzo ließ sich tiefer sinken und konnte eine Stelle erkennen, an der zwei Flüsse zusammenstießen und sich zu schäumenden Stromschnellen vereinigten. Ein Bergrutsch hatte hausgroße Felsbrocken im Flußbett zurückgelassen, und Alonzo konnte fühlen, wie die Gischt auf seine Brust spritzte, denn das Wasser prallte gegen die Felsen und schleuderte dabei Fontänen in die Luft. Die Gefahr des Wassers veranlaßte ihn, seine Flügel schräg zu stellen und höher zu steigen zurück zu den monströsen Klippen. Jetzt hörte er weitere Geräusche donnernden Wassers, kurvte um einen Felsvorsprung und erblickte einen fantastischen Wasserfall. Aus einem Felsloch strömte das Wasser und stürzte so tief und so schnell nach unten, daß es sich auf halbem Wege in Nebel und Regenbögen verwandelte. Alonzo konnte seinen Blick kaum von dem Wasserfall abwenden, so wunderschön war er. Dann verdrehte ein plötzlicher Schwall kühler Luft seinen rechten Flügel und brachte ihn in eine gefährliche Spirallage.
Alonzo besiegte die kurz aufflackernde Panik und beschloß, sich nicht dadurch zu retten, daß er den Traum beendete. Statt dessen konzentrierte er sich darauf, den Fall abzubremsen und eine warme Luftströmung zu finden, die ihn aus dem Gefahrenbereich brachte. Er spannte jeden Muskel im Rücken, in den Schultern und in den Armen, aber sein rechter Flügel - oder sein rechter Arm - schmerzte. Alonzo konnte fühlen, wie er dem schäumenden Wasser einen knappen Kilometer unter ihm entgegenstürzte ... Widerwillig öffnete der Pilot die Augen und sah zwei Frauen, die sich über seine Hängematte beugten und ihn besorgt anblickten. Die eine von ihnen war die schöne, brünette Devon Adair. Bei Dingen, die für sie wichtig waren, legte sie ein besonderes Engagement - einige würden vielleicht sogar von Besessenheit sprechen - an den Tag, aber Alonzo mochte sie. Er hatte etwas übrig für Menschen, die die Zügel fest in die Hand nahmen, und zu denen zählte Devon mit Sicherheit. Bevor sie dreißig Jahre alt geworden war, hatte sie ein großes Vermögen angehäuft - nur um ihr privilegiertes Leben von einem Tag auf den anderen aufzugeben und einen Haufen fremder Leute zweiundzwanzig Lichtjahre weit durch den Weltraum zu diesem Erdbrocken namens G889 zu führen. Und jetzt trieb sie die ramponierten Kolonisten Tausende von Kilometer durch die Wildnis zu einer Sendeanlage, die sie unbedingt erreichen wollte, bevor ein zweites Raumschiff mit kranken Kindern eintraf, die sich auf diesem unbekannten Planeten Heilung erhofften. Devon war aus hartem Holz geschnitzt, aber Alonzo kam mit solchen Menschen gut zurecht. Bei der anderen Frau, Dr. Julia Heller, war er sich da schon weniger sicher. Gewiß, mit ihrem engelhaften Gesicht und dem goldfarbenen Haar sah sie fantastisch aus. Allerdings war ihre makellose Schönheit auf eine Genmanipulation zurückzuführen. Julia hatte dem Piloten niemals etwas getan oder Abfälliges über ihn geäußert. Tatsächlich war Alonzo ihr Vorzeigepatient - und dies war ein Umstand, der ihn maßlos erbitterte; denn er war hier als der Gesündeste von allen angekommen. Was Alonzo vielleicht am
meisten an Julia haßte, war die Tatsache, daß sie ihn ausschließlich als Patient betrachtete und in ihm nicht den gutaussehenden Mann sah, für den er sich hielt. Im Gegensatz dazu lief Devons Sohn Uly, der als Krüppel auf G889 angekommen war, jetzt wie ein junges Reh durch die Gegend. Irgendwie schien alles durcheinandergeraten zu sein. Julia musterte den Piloten wie ein Biologe, der eine Mikrobe studiert. »Sie haben wieder geträumt, nicht wahr?« »Und wenn ich geträumt habe?« knurrte er. »Jeder muß ein Hobby haben. Mit meinem gebrochenen Bein ist das so ziemlich alles, was ich tun kann.« Wie gewöhnlich war Devon direkter. »Was haben Sie also geträumt? Von der Sendeanlage und New Pacifica? Von Terrianern oder Grendlern? Kamen Menschen in ihrem Traum vor?« Alonzo lächelte wehmütig. »Kein einziger - nur dieser absolut unglaubliche Ort. Und ich bin geflogen.« Er hob zur Demonstration die Arme und stellte fest, daß sein rechter Arm immer noch schmerzte. »Geflogen«, wiederholte Julia unschlüssig und wandte sich Devon zu. »Nicht alle seine Träume bedeuten, daß die Terrianer Kontakt mit ihm aufnehmen. Vielleicht hatte er lediglich einen schönen Traum.« »Ja«, erwiderte Alonzo nachdenklich. »Aber bevor ich hierher kam, hatte ich nie solche Träume - tatsächlich hatte ich überhaupt nie Träume. Ich weiß nicht, wo sich dieser Ort befindet, aber ich hoffe, daß wir ihn nie zu sehen bekommen.« »Warum hoffen Sie das, wenn er so wunderschön ist?« fragte Devon. Alonzo kicherte. »Wenn Sie diesen Ort jemals sehen, werden Sie mich das nicht mehr fragen, glauben Sie mir.« Devon schenkte ihm ein Lächeln, was bei ihr selten vorkam. »In Ordnung, Solace, genug Zeit im Traumland verbracht. Ich werde Danziger helfen, den TransRover zu beladen und das Lager abzubrechen«, erklärte sie und begab sich mit der ihr eigenen Entschlossenheit auf den Weg.
Dr. Julia Heller jedoch blieb neben Alonzos Hängematte stehen und lächelte ihn aufmunternd an. »Es freut mich, daß Sie normale Träume haben, ich mache mir nicht nur über Ihr Bein, sondern auch über Ihre Gemütsverfassung Gedanken.« »Zur Hölle mit meiner Gemütsverfassung«, murrte Alonzo. »Meinem Gemüt fehlt nichts, das nicht durch ein paar Leibesübungen kuriert werden könnte.« Er seufzte und ließ sich in seiner Hängematte zurücksinken. Verdammt, er kam sich vor wie ein Baby in Windeln! Und warum, zur Hölle, mußte es gerade eine so gutaussehende Ärztin sein, die ihn ansah wie ein hilfloses Kleinkind? »Versprechen Sie, brav zu sein?« fragte Julia. »Ja«, brummte Alonzo. »Ganz wie Sie wünschen, Frau Doktor.« Sie tätschelte seine Schulter. »Ich muß auch zusammenpacken. Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen jemand Ihr Frühstück bringt.« Der Pilot blickte Julia nach, als sie zum Lager hinüberging, das am Abend zuvor aufgeschlagen worden war. Er sah sich um und registrierte, daß alle beschäftigt waren mit der Zubereitung des Frühstücks, dem Verpacken von Vorräten, dem Zusammenfalten der Zelte oder der Feinabstimmung der mit Sonnenenergie angetriebenen Fahrzeuge. Einige, zum Beispiel John Danziger, gingen zügig und effizient zu Werke, während andere, etwa Morgan Martin, nur das Allernötigste taten. Mehr als alles andere wünschte sich Alonzo, diesen nutzlosen Bürokraten nicht mehr sehen zu müssen. So sehr er sich auch bemühte, es zu vergessen, er machte Morgan immer noch für seinen Unfall verantwortlich. Der Verletzte wandte seine Aufmerksamkeit von dem Dutzend gesunder Menschen, dem Roboter Zero sowie dem Cyborg Yale ab und blickte in die entgegengesetzte Richtung. So weit das Auge reichte, sah er nichts als Berge und dichte Wälder. Aber trotz der ungetrübten Majestät der Landschaft konnte es jeden Augenblick dazu kommen, daß Terrianer aus dem Boden auftauchten, Kobas ihre Stachel auf sie abfeuerten oder Grendler nur auf eine Gelegenheit lauerten, ihnen das letzte Hemd zu stehlen.
Die Karawane der Kolonisten versuchte, am Tag zwanzig Kilometer zurückzulegen, schaffte dieses Tagesziel jedoch aufgrund des unwegsamen Geländes nur selten. Außerdem wurden sie immer wieder durch Begegnungen mit unbekannten Tieren und den geheimnisvollen Bewohnern dieses Planeten aufgehalten. Und wer wußte schon, was sie bis zu ihrem Ziel New Pacifica sonst noch an unliebsamen Überraschungen erwartete? Alonzo hatte Devon und Julia nichts davon gesagt, aber die rötliche Sonne, die zwischen den Felsdurchbrüchen in dem Canyon seines Traums geflimmert hatte, sah derjenigen, die in diesem Augenblick hinter den Bäumen aufging, verdammt ähnlich. Wenn er schon Träume hatte, warum träumte er dann nicht von den Doppelsonnen Aurelias, einem seiner Lieblingsraumhäfen zum Ausruhen und Entspannen? Warum verfolgte ihn ausgerechnet dieselbe rote Sonne, die er hier auf G889 real vor sich sah? »Alonzo«, rief eine jugendliche Stimme den Piloten aus seinen Gedanken. Er wandte den Kopf und sah True, John Danzigers knabenhafte zehnjährige Tochter, ein selbstbewußtes Kind, das für den Patienten eine Schüssel Spirovinaeintopf in der Hand hielt. Alonzo lächelte sie an, denn von der ganzen albernen Bande hatte er sie am liebsten. »Hallo, True«, erwiderte er und nahm ihr die Schüssel aus den Händen. »Wie läuft's?« True machte ein finsteres Gesicht. »Uly ist wieder mit Ihrem ATV unterwegs. Aber wir haben ihn bereits aufgefordert, zurückzukommen.« »Es ist nicht mein ATV, ich würde sehr gerne zu Fuß gehen.« Das Mädchen schlug die Augen nieder, und Alonzo bedauerte seine schroffe Antwort augenblicklich. »Ich wollte nicht unfreundlich sein«, versuchte er einzulenken. »Ich weiß. Dr. Heller hat uns gesagt, daß Sie sich vielleicht nicht wohl fühlen.« »Ja, ja«, knurrte er. »Ich wünschte, sie würde mich nicht als eine solche Belastung ansehen.«
»Das tut sie nicht«, gab True zurück. »Niemand tut das. Letzten Endes sind Sie unsere einzige Verbindung zu den Terrianern.« Alonzo klopfte mit den Fingerknöcheln gegen seine Beinschiene. »Das ist eine größere Belastung als dieses elende Bein, glaub mir. Na, schaffen wir heute unsere zwanzig Kilometer?« True deutete auf das weite, unbekannte Land, das sich vor ihnen ausbreitete. »Kommt darauf an, was wir da draußen vorfinden.« »Ja«, bestätigte Alonzo nachdenklich und sah den kilometerhohen Canyon aus seinen Träumen vor sich. »Hoffen wir, daß wir Glück haben. Außerdem mußt du dich nicht mit mir beschäftigen. Ich denke, dein Dad könnte ein bißchen Hilfe gebrauchen.« »He, ich unterhalte mich gerne mit Ihnen. Sie sind so was wie unser Guru.« Alonzo verdrehte die Augen. »Also wirklich. Ich bin nur ein idiotischer Pilot mit einem gebrochenen Bein. Nach all diesen Sprüngen mußte das Gesetz der Wahrscheinlichkeit eines Tages bei mir zuschlagen.« True machte sich auf den Weg zu dem lastwagengroßen TransRover, wirbelte dann aber noch einmal herum. »Ich warte darauf, daß wir zusammen Spazierengehen können, Alonzo!« »Ich auch!« Alonzo lächelte und winkte dem Mädchen zu. Dann beobachtete er von seinem Ruheplatz aus, wie True zu ihrem Vater schlenderte, der an dem TransRover herumhantierte. Kurz darauf gingen die beiden quer durchs Lager zu Devon, Yale, Julia und den anderen Mitgliedern dieser unglückseligen Truppe, die sich auf den Abmarsch vorbereiteten. Obgleich hier Blinde die Blinden führten, machte dieser zusammengewürfelte Haufen Alonzo doch irgendwie Hoffnung. Wer wußte es schon? Vielleicht konnten sie diesen Kontinent ja durchwandern und zu der Sendeanlage gelangen, bevor das zweite Kolonistenschiff eintraf. Oder auch nicht, dachte Alonzo. Manchmal erinnerte ihn diese auf einem fernen Stern gestrandete Karawane an einen Vers aus einem uralten Bluessong: Wenn wir kein Unglück hätten, hätten wir auch kein Glück.
Das Glück war während der Tagesreise zum größten Teil mit ihnen, zumindest nach Yales Einschätzung. Yale war ein Cyborg mit dunkler, ledriger Haut, zum Teil Mensch, zum Teil Maschine. Die meiste Bionik war während seiner dreißigjährigen Dienstzeit für Devon Adair und ihre Familie hinzugefügt worden. Devon hatte beträchtliche Summen aufgewandt, damit er in erstklassigem Zustand blieb, und ihn letzten Endes damit am Leben erhalten. Immer wenn sich Yale alt fühlte, führte er sich vor Augen, daß er alt war ... sehr alt! Die meisten Menschen betrachteten ihn als Museumsstück. Der Cyborg konnte sich an Bruchstücke seiner Vergangenheit erinnern, auch an die Zeit, in der er noch ganz Mensch gewesen war; aber er tat dies äußerst ungern, denn dieser Mensch war ein Krimineller gewesen. Die Erinnerungen der letzten Zeit, seit er als Devons Lehrer arbeitete, waren weitaus angenehmer, und er zog es vor, sie als seine Vergangenheit anzusehen. Yale hatte viel Zeit zum Nachdenken, während er in dem SandRail über das unebene Terrain holperte, wobei das Fahrzeug ständig stachlige Büsche niederdrückte und artistisch um Bäume herumkurvte. Der Cyborg wäre imstande gewesen, die Steuerung des mit Sonnenenergie angetriebenen Buggys selbst zu übernehmen, aber dazu bestand keine Veranlassung. Die meiste Zeit ließ er Zeros schalenförmigen Kopf fahren. Zero, ihr Allzweckroboter, hatte als einzige mechanische Hilfskraft die Plünderung der Frachtkapsel durch die Grendler überlebt. Und das war auch gut so, dachte Yale, denn ein Zero reichte vollkommen aus. Zeros Kopf war an einer speziellen Armatur vorne im SandRail installiert worden, und während der ganzen Fahrt sang dieser Kopf: »Michael, row the boat ashore. Alleluya! Michael, row the boat ashore. Alleluya! The River Jordan is deep and cold. Alleluya! Chills the body but not the soul. Alleluya!« Yale unterbrach ihn. »Mein lieber Zero, du singst dieses Lied jetzt seit zehn Kilometern. Es enthält vielleicht zwei Dutzend Worte, von denen die meisten >Halleluja< lauten. Meinst du, daß du vielleicht mal ein anderes Lied singen könntest?«
»Kennen Sie >Kumbaya