Sujata Massey
Tödliche Manga
Rei Shimura, die kalifornische Amateurdetektivin, steht in ihrer Wahlheimat Tokio vor ihr...
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Sujata Massey
Tödliche Manga
Rei Shimura, die kalifornische Amateurdetektivin, steht in ihrer Wahlheimat Tokio vor ihrem bizarrsten Fall: Der renommierten Zeitung Gijin Times laufen die Abonnenten davon. Was liegt näher, als mit kultigen Comics neue Leser zu gewinnen? Die attraktive Rei, angeheuert, dem Blatt aus der Misere zu helfen, sucht in der trendigen Manga-Szene nach Ideen. Schon bald entdeckt sie, wie weit die Begeisterung der jungen Manga-Fans gehen kann: Sie identifizieren sich so bedingungslos mit ihren Helden, daß sie deren Abenteuer nachleben wollen - bis zum bitteren Ende. Im Land der aufgehenden Sonne, wo Jugendkultur und uralte Traditionen aufeinanderprallen, entwickelt die preisgekrönte Autorin einen originellen, atemlos spannenden Krimi. ISBN 3-492-27047-6 Originalausgabe: »The Floating Girl« 2003 Piper Verlag GmbH, München
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1 »Tut's zu weh? Soll ich aufhören?« Ich schüttelte den Kopf, weil der Schmerz vorübergehend nachgelassen hatte. Miss Kumiko trug seufzend weiter warmes, klebriges Zeug auf die Innenseite meines Oberschenkels auf das war ein trügerisch angenehmes Gefühl, denn ich wußte, daß mir noch ein etwa fünfzehn Zentimeter langer Streifen bevorstand. Die Kosmetikerin drückte ein Stück Baumwollstoff auf meinen Oberschenkel, und ich hielt den Atem an, als sie zu ziehen begann. »Ah!« keuchte ich, während sie mindestens hundert Härchen mitsamt Wurzeln ausriß. »Japanische Frauen schreien nicht vor Schmerz«, sagte Miss Kumiko mit fröhlicher Miene. »Nicht einmal, wenn sie ein Kind zur Welt bringen. Bei der Geburt meiner Nichte war meine Schwester ganz still. Sobald der Schmerz zu schlimm wurde, hat sie in ein Taschentuch gebissen. Soll ich Ihnen ein Taschentuch geben?« »Nein, danke. Wir haben's hier ja nicht mit einer Geburt zu tun, sondern mit einer Haarentfernung.« Meine amerikanische Hälfte war dafür verantwortlich, daß ich mich dieser Prozedur unterziehen mußte. Wäre ich zu hundert Prozent Japanerin gewesen, hätte ich das Haarlosigkeitsgen geerbt. Aber ich war eben eine hafu oder hanbunjin oder konketsujin oder welches Wort auch immer Miss Kumiko insgeheim für Menschen gemischter Herkunft verwendete. Meine eigene dumme Eitelkeit hatte mich vor dem Beginn der Badesaison im Juli ins Power Princess Spa geführt. Am Nachmittag erwartete mich noch ein letzter Geschäftstermin, dann konnte ich am nächsten Tag zum Strand fahren. Aber zuerst mußte ich diesen Schmerz ertragen. -3-
»Madam, mir persönlich macht es ja nichts aus, aber die Handpflegerin in der nächsten Kabine hat Probleme«, flüsterte mir Miss Kumiko zu. »Überraschende Schreie von Kundinnen bringen sie möglicherweise aus dem Rhythmus.« »Nun, vielleicht hat's ja einen Grund, wenn Ihre Kundinnen schreien«, sagte ich. »Ja, jetzt hätten wir's!« erklärte Miss Kumiko und klopfte mir etliche Male kurz hintereinander auf den Unterleib. Die ganze Sache war eigenartiger gewesen, als ich erwartet hatte, aber schließlich handelte es sich ja auch um meine erste Haarentfernung in Tokio. Das Leben brachte eben immer neue Erfahrungen mit sich. Ich schlüpfte in meinen Rock und humpelte hinaus zu dem schicken, gänzlich in Schwarz und Weiß gehaltenen Empfangsraum. »Rei Shimura?« rief mir die blond gebleichte Empfangsdame von ihrem modernen Chromschreibtisch aus zu. »Ja?« Ich kam immer noch nicht sonderlich schnell vorwärts, weil die letzten Wachsreste mir die Oberschenkel zusammenklebten. »Wir haben zwei Sorten von Bikinizonen-Epilation, die eine groß, die andere klein«, sagte sie so deutlich, daß ein paar der anderen Kundinnen im Warteraum den Blick von ihrer Zeitschrift hoben. »Bei unserem Telefongespräch haben wir Ihnen den Preis für die kleine Größe angegeben, weil wir dachten. Sie seien Japanerin. Aber Miss Kumiko hat mir soeben mitgeteilt, daß sie für Sie die große gebraucht hat. Das heißt, daß es ein bißchen teurer wird: sechstausend Yen. Ist Ihnen das recht?« Alle Anwesenden schienen sich ein wenig vorzubeugen, um meine verlegene Antwort besser zu verstehen. »Ja«, sagte ich niedergeschlagen. Bei einem Wechselkurs von ungefähr hundert Yen für einen Dollar machte das etwa sechzig -4-
Dollar, mehr als doppelt so viel wie in den Vereinigten Staaten. Während ich das Geld hinlegte, dachte ich, der einzige Trost war, daß Miss Kumiko kein Trinkgeld erwarten würde. Ich befand mich in Japan, und dort honorierte man besonders gute Dienste nicht. Man ging davon aus, daß sie geleistet wurden. Auf diesem schmalen Grat zwischen Schmerz und Vergnügen, Verwirrung und Begreifen wandle ich fast täglich. Ich bin vor vier Jahren vo n San Francisco nach Tokio ausgewandert, um mir dort meinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf japanischer Antiquitäten zu verdienen. Da niemand mich anstellen wollte, mußte ich mir selbst ein Geschäft aufbauen. Manchmal war's ganz schön hart, aber jetzt kann ich mit Stolz sagen, daß ich immerhin nicht mehr unterhalb der Armutsgrenze leben muß. Miss Kumiko käme natürlich nicht auf die Idee, mich auf die Suche nach einer alten Kommode zu schicken, aber viele ältere, wohlhabende Japaner haben es getan. Sogar in einer Zeit der wirtschaftlichen Flaute ist es mir gelungen, ein paar ziemlich gute Geschäfte zu machen. Vom Power Princess Spa setzte ich mich, immer noch humpelnd, in Richtung Gaijin Times in Bewegung, einer englischsprachigen Zeitschrift für in Tokio lebende Ausländer mein neuester Glücksfall. Ihre Chefredakteurin, eine ehrgeizige junge Journalistin namens Whitney Talbot, hatte sich nach der Lektüre eines Artikels über Keramik, den ich für ein japanisches Antiquitätenmagazin geschrieben hatte, an mich gewandt und mich gebeten, weitere solche Artikel zu verfassen, ruhig, wie sie es ausdrückte, »ein bißchen frech«. Ich hatte Bedenken, doch als sie mir die Bezahlung für meinen monatlichen Beitrag nannte, mußte ich es einfach ausprobieren. In meinem ersten Artikel gab ich Ratschläge fürs Feilschen auf den Wochenendflohmärkten vor den Tokioter Shinto-Schreinen. Eigentlich hatte ich darin Anregungen für Interessierte geben wollen, doch schon bald rissen die Anrufe von unsicheren Ausländern nicht mehr ab, die mir Geld boten, wenn ich für sie handelte. Die Sache hatte sich -5-
geschäftlich als voller Erfolg erwiesen. Ich schob meinen kleinen Anflug von Stolz beiseite, als ich das schmale Gebäude betrat, in dem die Sanno Advertising Agency und die Gaijin Times untergebracht waren, und fuhr mit dem Aufzug hinauf in den zweiten Stock, wo alle Wände mattbeige gestrichen waren. Pulsierende Musik aus Lautsprechern zu beiden Seiten der Tür von Gaijin Times war das erste Anzeichen dafür, daß die Zeitschrift versuchte, sich aus ihrem beigefarbenen Umfeld zu lösen. Im Innern befanden sich schokoladenbraune Wände und Tische sowie ein grauer Klumpen auf dem schokoladenbraunerdbeerrot gemusterten Teppichboden. Ich ging näher an den Klumpen heran. Alec Tampole, ein Australier, verant wortlich für die umfangreichen Nachtclubberichte des Magazins, lag ausgestreckt auf dem Boden, die Arme in Form eines »A« vom Körper abgespreizt, die Knie zur Brust hochgezogen. »Was ist los?« fragte ich besorgt und eilte zu ihm. »Ich mache nur meine Pilates-Übungen. Hab' ganz vergessen, daß du heute kommen wolltest, Rye.« Dann schob er die Beine in einer Bewegung über den Kopf, die mich an den Pflug im Yoga erinnerte. »Meinen Namen spricht man wie das englische ray. Wie Sugar Ray«, sagte ich, bemüht, mit Hilfe der Popmusik eine gemeinsame Kommunikationsebene zu finden. »Komm näher, die Musik ist so laut.« Alec senkte, vor Anstrengung ächzend, langsam die Beine. Ich stellte mich so nahe wie möglich neben sein Ohr und brüllte die korrekte Aussprache meines Namens hinein. Er lachte. »Gut, Rye. Ist irgendwas passiert auf dem Weg hierher?« »Nein, wieso? Ist draußen irgendwas los?« -6-
»Nein, das meine ich nicht. Was ist denn das für ein Zeug auf deiner Unterhose?« »Du Mistkerl!« Erst jetzt, natürlich zu spät, merkte ich, daß der Musikfreak der Gaijin Times nur darauf aus gewesen war, bequem unter meinen Rock schauen zu können. Ich machte einen Satz rückwärts. »Immer mit der Ruhe. Heißes Wachs für 'ne heiße Nummer, was?« Als er seine Hüfte noch einmal über seinen Kopf schwang, versetzte ich seinem ausladenden, khakibekleideten Hinterteil einen Tritt. Sein Schmerzensschrei klang wie Musik in meinen Ohren nach, als ich den Empfangsbereich verließ und mich durch das Gewirr kleiner Arbeitsplätze auf den Weg zu meinem nächsten Termin machte.
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2 »Wo ist Whitney?« fragte ich Rika Fuchida, die Praktikantin der Zeitschrift, die barfuß auf Alecs Schreibtisch stand und die Ecke eines Cibo-Matto-Posters anklebte, die sich gelöst hatte. Seltsam, daß Alec nicht hier im Raum war, um Rika zu begaffen. Schließlich war ihr Rock kürzer als meiner. »Hallo Reisan!« Rika war Japanerin, also hatte sie keine Probleme, meinen Namen auszusprechen. »Haben Sie denn nicht gehört, daß Whitneysan nicht mehr hier ist?« »Nein. Arbeitet sie jetzt zu Hause?« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. In zwei Stunden war mein nächster Termin, und ich hatte mit der Chefredakteurin der Gaijin Times über das Thema meines nächsten Artikels reden wollen. Darin sollte es um Ratschläge gehen, wie man eine tansu-Kommode für weniger als tausend Dollar erwarb und restaurierte. Rika schüttelte den Kopf so heftig, daß ihre schicken kurzen Zöpfe hüpften. »Whitney hat gekündigt.« »Nein!« rief ich entsetzt aus. Nun streckte Alec den Kopf zur Tür herein und beteiligte sich an unserem Gespräch. »Sie hat jetzt eine Stelle beim Asian Wall Street Journal. Ist die Karriereleiter raufgefallen, jawohl. Ist gut für uns alle, daß sie die Fliege gemacht hat. Unser Magazin muß endlich 'nen besseren Draht zur japanischen Kultur kriegen. Whitney beherrscht die Sprache, aber sie hat nicht viel Ahnung davon, was im heutigen Japan los ist.« »Wenn das Journal sie angeheuert hat, kann sie nicht so schlecht sein«, sagte ich. Mit ihrem Yale-Studium und ihrer journalistischen Erfahrung war Whitney mir für die Gaijin Times fast schon überqualifiziert vorgekommen. »Mr. Sanno, der Inhaber des Magazins, nimmt an der -8-
heutigen Redaktionssitzung teil. Er wird den neuen Chefredakteur bestimmen.« Alec schien vor Aufregung fast zu platzen. »Aber komm bloß nic ht auf die Idee, dich bei der Sitzung zu produzieren. Ich hab' deinen Lebenslauf gelesen. Die einzige journalistische Erfahrung, die du - abgesehen von deinen Artikeln für die Gaijin Times - hast, ist deine Arbeit für den Johns Hopkins University News-Letter.« »Der Chefredakteurposten interessiert mich nicht«, erklärte ich kühl. Seine Erwähnung des Magazininhabers hatte mich nervös gemacht. Würde Mr. Sanno mich überhaupt als Kolumnistin behalten wollen? Ich war sehr dankbar für die kostenlose Werbung, die die Kolumne in der Gaijin Times für mein Geschäft bedeutete. Meine Einkünfte waren seit dem Erscheinen meiner ersten Artikel um zwanzig Prozent gestiegen. »Die Sitzung geht gleich los«, sagte Rika. »Darf ich bei der Ausgestaltung Ihres Büros eine Pause machen, Alecsan, um den Kaffee zu servieren?« »Ich helfe Ihnen«, erbot ich mich, da ich keine Minute länger neben Alec stehen wollte. Erst als ich zusammen mit Rika kleine Eiskaffeegläser mit Untersetzern auf dem Konferenztisch verteilte, merkte ich, wie dumm ich gewesen war. Ich verhielt mich wie eine eifrige Büroangestellte. Auf die Art würde ich mich dem Inhaber des Magazins nicht als Kolumnistin empfehlen. Ich fragte mich, was in Mr. Sannos Kopf vorging, als er am oberen Ende des ramponierten Stahltisches Platz nahm. Die Belegschaft bestand aus sechs Vollzeitangestellten, einer bunten Mischung junger Leute, die das ganze Spektrum der Einwanderung im Japan des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts aufs trefflichste illustrierte. Da war Joey Hirota, der halb taiwanesische, halb japanische Restaurantkritiker; Norton Jones, Absolvent der Columbia University und nun für das Ressort Innenpolitik zuständig; Toshi Ueda, der kürzlich seinen Abschluß an der Waseda University gemacht hatte und -9-
jetzt der Fotoredakteur war; meine Freundin Karen Anderson, ein früheres Model, das Gewicht zugelegt hatte und jetzt über Modetrends schrieb; der widerliche Alec, Experte für Musik und Unterhaltung sowie Rika Fuchida, Alecs Praktikantin. Sie trugen echte alte Polyester-Sachen aus den Siebzigern und gemusterte Klamotten im Retrolook, Strickpullover und Jersey. Ohrringe schwangen in Mehrfachlöchern, und schwere Ringe und Armreifen klapperten gegen den Tisch, wenn jemand die Hand nach dem Kaffee ausstreckte. Tabakgeruch hing in der Luft, und vor jedem stand ein Aschenbecher, auch wenn noch niemand rauchte, vielleicht weil der Inhaber des Magazins anwesend war. Mr. Sanno war so um die Vierzig, doch statt eines grauen oder marineblauen Anzugs, den man in seinem Alter erwartet hätte, trug er einen auffälligen grünen mit breitem Revers. Er blätterte einen dicken Aktenordner voller Tabellen durch. Zahlen, dachte ich und spürte, wie meine Anspannung wuchs. Vermutlich würde er sich gleich über die Dinge auslassen, die bisher Profit eingebracht hatten, und darüber, was wir ändern müßten. »Ich danke Ihnen, daß ich an der regulären Redaktionssitzung teilnehmen kann. Es ist nett von Ihnen, daß ich Sie trotz Ihrer vielen Arbeit stören darf.« Mr. Sannos Stimme war überraschend hoch. Lag das daran, fragte ich mich, daß ihm das Englischsprechen Mühe machte? Er klang wie jemand, der tagtäglich mit englischen Muttersprachlern zu tun hatte, aber nicht so flüssig wie jene Japaner, die im Ausland gelebt oder studiert hatten. »Kein Problem! Ich persönlich würd' Sie gern öfter hier sehen«, sagte Alec in seiner lauten australischen Art, und ich spürte, wie sich die anderen verkrampften. Alec versuchte, seine Rolle als Übergangsleiter der Redaktion zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen. »Danke, Mr. Tampon«, sagte Mr. Sanno, Alecs Nachnamen bewußt falsch aussprechend. Ich gab mir keine Mühe, mein Lächeln zu verbergen. »Die Führung von Miss Whitney Talbot -10-
wird uns allen fehlen. Aber, wie wir in Japan und China oft sagen, das kanji-Zeichen für Krise besteht aus den beiden Worten Gefahr und Gelegenheit. Diese Herausforderung bietet uns die große Chance, uns weiterzuentwickeln, zu einer höheren Auflage für die Gaijin Times zu gelangen.« Das Lächeln gefror mir auf den Lippen. Mr. Sanno begann schneller über Zahlen zu sprechen, als ich erwartet hatte. »Sie wissen vielleicht, daß die Gaijin Times die einzige Zeitschrift ist, die Sanno Advertising besitzt. Vielleicht interessiert es Sie, warum wir diese Zeitschrift gegründet haben.« Er ließ den Blick über den Tisch schweifen. »Als Inhaber der Gaijin Times können wir unsere Anzeigen darin kostenlos schalten. Unseren Kunden müssen wir natürlich etwas für ihre Anzeigen berechnen, und sie sind damit einverstanden. Wenn ein solcher Kunde beispielsweise ein mexikanisches Restaurant ist, veröffentlichen wir eine Werbeanzeige dafür, und in derselben Ausgabe erscheint eine positive Besprechung von Joey Hirota.« »Mr. Sanno, darf ich etwas dazu sagen? Die Zeitschrift ist mehr als nur ein Werbeblatt. Ich schreibe Artikel über die Bankenkrise, die yakuza, die Zukunft der Diät«, unterbrach Norton ihn. Norton kannte ganz offensichtlich nicht die richtige Etikette für ein Gespräch mit einem japanischen Chef. Ich wechselte einen kurzen traurigen Blick mit Toshi und Rika. Joey Hirota betrachtete immer noch die Hände in seinem Schoß, als wäre es ihm schrecklich peinlich, als Verfasser getürkter Besprechungen entlarvt worden zu sein. Eigentlich hätte mir die Sache mit diesen Besprechungen schon längst klar sein müssen. Ich persönlich hatte noch nie viel von jemandem gehalten, der meinte, in Tokio könne man ein anständiges chimichanga kaufen. »Aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen haben unsere -11-
Anzeigenkunden jedoch weniger Geld zur Verfügung. Um die Zeitschrift am Leben zu erhalten, brauchen wir mehr Abonnenten.« Ich wußte aus eigener Erfahrung, daß es immer schwieriger wurde, als Ausländer in Japan beruflichen Erfolg zu haben. In den vergangenen Jahren waren die Einkünfte von Englischlehrern, Bardamen und anderen drastisch zurückgegangen. Junge gaijin setzten kein allzugroßes Vertrauen mehr in ihre Fähigkeit, sich in Tokio längere Zeit über Wasser zu halten, und so war die Aussicht, daß sie das Risiko eingingen, im voraus sechstausend Yen für die zwölf Ausgaben einer Zeitschrift hinzublättern, gering. »Ich pflichte Ihnen bei, daß wir unsere Abonnentenliste erweitern müssen«, meldete sich Alec zu Wort. »Wir müssen mehr Platz für Musik und Clubs auf unseren Seiten schaffen, für all die Dinge, die die gaijin-Kids an die Sachen erinnern, die sie zu Hause zurückgelassen haben. Ein Cover mit den Beastie Boys oder Mariah Carey würde viel mehr Umsatz bringen als eins mit irgend 'nem Japaner. Finden Sie nicht auch?« »Ich verstehe, was Sie meinen«, erklärte Toshi Ueda aus der Fotoredaktion. Kein Japaner würde je einem anderen Menschen unumwunden erklären, daß er im Unrecht sei, und so hatte ich das Gefühl, daß Toshi etwas vorhatte. »Apropos Musikkultur: Es ist schon interessant, daß sich die Ausgabe mit dem Cover von Namie Amuro besser verkauft hat als jede andere zuvor oder danach.« »Ja. Das beweist, daß japanische Stars den Ausländern durchaus gefallen. Die Fremden kommen in unser Land, weil sie unsere Popkultur bewundern!« sagte Mr. Sanno, dessen Stimme bis dahin so sanft gewesen war, ziemlich vehement - ein Hinweis darauf, daß Alecs laute, japanfeindliche Bemerkung ihn verärgert hatte. Ich sah meine Chance gekommen, meiner eigenen Sache zu -12-
dienen. »Genau. Und Ausländer lieben außerdem auch japanische Antiquitäten. Selbst solche, die nicht viel Geld zur Verfügung haben, kaufen mit Begeisterung alte japanische Möbel.« »Und was ist mit der japanischen Mode?« meldete sich Karen zu Wort. »Warum machen wir unsere Leser nicht auf örtliche Designer aufmerksam, die noch nicht in den großen Kaufhäusern zu finden und deshalb billiger sind?« »Viele gute Ideen.« Mr. Sanno rieb sich das glatte Kinn. »Ich habe versucht, mir Anregungen auf dem japanischen Publikationsmarkt zu holen. Wissen Sie, welche Buchkategorie sich derzeit in Japan am besten verkauft?« »Wirtschaft und Business«, sagte Norton mit einem Gähnen. Mr. Sanno schüttelte den Kopf. »Pornographie«, meinte Alec mit einem anzüglichen Grinsen. »Nein, ich fürchte, es handelt sich um etwas viel Harmloseres.« Rika hob die Hand. Als Mr. Sanno ihr zunickte, sagte sie schüchtern: »Manga« Er lächelte breit. »Genau. Vierzig Prozent aller in Japan verkauften Druckerzeugnisse sind Comics. Junge Dame, würden Sie mir Ihren Namen sagen? Ich glaube, Sie sind mir noch nicht vorgestellt worden.« »Rika Fuchida. Ich bin die Praktikantin vom Showa College...« »Eine gute Schule. Ich habe sie auch besucht.« Mr. Sanno zwinkerte ihr zu. »Gibt's den manga-Club dort noch?« »Ja, ich bin Mitglied.« Mr. Sanno schlug den Aktenordner auf, in dem er zuvor geblättert hatte, und las daraus vor. »Rikachan könnte Ihnen vermutlich sagen, daß es mehrere englischsprachige Zeitschriften für Freunde japanischer Comics -13-
gibt. Aber es existiert noch kein manga in englischer Sprache, der Ausländern etwas über das Leben in Japan beibringt.« Hatte er vor, die Gaijin Times in einen Comic zu verwandeln? Kein Wunder, daß Whitney das Weite gesucht hatte. Keine Reaktion auf den Gesichtern der Anwesenden. Vermutlich waren die anderen genauso schockiert wie ich. »Und wann soll diese Veränderung vor sich gehen?« krächzte Toshi. Wahrscheinlich machte er sich Gedanken darüber, welche Rolle seine künstlerisch wertvollen Schwarzweißfotos in einem Comic-Heft spielen würden. »Artikel und künstlerische Beiträge für die nächsten drei Nummern liegen bereits vor - ja, Miss Talbot war sehr fleißig -, und ich finde, wir sollten sie verwenden. Allerdings würde ich in der nächsten Ausgabe gern mindestens zwei Artikel sehen, die sich mit manga beschäftigen. Außerdem werden wir nach Zeichnern suchen, die ihre Arbeiten einreichen sollen, und pro Nummer zwei oder drei verschiedene Comic-Geschichten veröffentlichen. Wir haben jetzt Juli, also wäre eine vollständige manga-Ausgabe bereits im Dezember möglich. Wenn alle hart arbeiten, können wir es schaffen. Joey wird seine Restaurantbesprechungen in Zukunft in Comic-Form schreiben das eröffnet doch völlig neue Möglichkeiten! So liest der Leser nicht nur über das Essen, sondern sieht es auch. Das gleiche gilt für Sie, Miss Karen. Fotos funktionieren heutzutage nicht mehr so gut.« »Wie bitte?« fragte Karen verwirrt. »Wenn ein Kleid einer Frau nicht schmeichelt, läßt die tatsächliche Abbildung es« - Mr. Sanno machte eine Geste in Richtung von Karens sackförmigem schwarzen Gewand »schlecht aussehen. Fotos erzählen die wahre Geschichte, und die nützt dem Verkäufer nicht immer. Die Comic-Darstellung hingegen kann jedes Kleid hübsch erscheinen lassen.« Ich fühlte mich merkwürdig, als schwebte ich über dem Tisch und erlebte -14-
den Beginn einer Katastrophe mit. Karen hatte ohnehin Probleme, sich mit ihrer Gewichtszunahme abzufinden, und nun lenkte Mr. Sanno auch noch ganz brutal die Aufmerksamkeit aller darauf. Was würde mit uns anderen und der Zeitschrift passieren? Die Gaijin Times war noch nie ein prestigeträchtiges Blatt gewesen, aber wichtige Informa tionen über den japanischen Lebensstil hatte sie bisher immer zuverlässig vermittelt. Ich selbst hatte mit Hilfe der Gaijin Times gleich nach meinem Eintreffen im Land eine Wohnung und einen Job gefunden. Auch über die Haarentfernungsspezialistinnen vom Power Princess Spa hatte ich in einem Artikel von Karen aus der Ausgabe des Vormonats gelesen, fiel mir jetzt ein. Sollte man das alles wirklich für großäugige Androiden mit Wespentaille und Schießeisen auf den Schrott werfen? »Dann werden Sie also vermutlich einen neuen Redakteur einstellen«, sagte Joey niedergeschlagen. »Einen, der sich mit Comics auskennt.« »Wir Japaner geben immer lieber Leuten aus dem eigenen Betrieb den Vorzug«, antwortete Mr. Sanno. »Ich bin mir sicher, daß einer von Ihnen sich hervortun könnte. Heute werden wir erst einmal über ein paar Projekte für uns alle entscheiden, dann sind wir beschäftigt, bis ich hinsichtlich des Redakteurs zu einem Schluß komme.« Es herrschte langes Schweigen; vermutlich machten sich alle Gedanken über mögliche Projekte. »Ich habe von einem amerikanischen Wissenschaftler gehört, einem Experten in puncto Comics für salarymen. Ich könnte mich mit Hilfe von manga mit der sich wandelnden Arbeitsethik in Japan beschäftigen«, schlug Norton vor. »Und Toshi könnte Fotos von salarymen machen, die in der U-Bahn Comics lesen.« »Die Fotos könnten als Vorlage für manga-Zeichnungen dienen«, sagte Mr. Sanno. »Wenn die salarymen häßlich sind, kann man sie in den Zeichnungen besser aussehen lassen. -15-
Meiner Ansicht nach waren in letzter Zeit zu viele Abbildungen häßlicher Menschen in dem Magazin.« Mr. Sanno war selbst nicht gerade ein japanischer Hugh Grant, aber gut, wer konnte das schon von sich behaupten? »Schön, der Gedanke mit den salarymen beschäftigt also erst einmal Norton und Toshi. Aber was ist mit Karenchan?« Mr. Sanno hängte an die Namen aller anwesenden Frauen die Nachsilbe chan an, was so viel wie »klein« bedeutet. Karen empfand das als erniedrigend, das sah ich, denn sie wurde rot. Und sie antwortete hastig, ein weiteres Zeichen dafür, daß er sie aus der Fassung gebracht hatte. »Ich war gerade dabei, eine Story über Cocktailkleider zu schreiben, die die besten Barhostessen der Stadt diesen Herbst tragen. Ich werde mich mit einer Modeillustratorin in Verbindung setzen, die die Kleider zeichnen kann. Die Hostessen sind wirklich sehr attraktiv«, fügte sie hinzu, um weiteren Kommentaren über mangelnde Schönheit zuvorzukommen. »Wie wär's, wenn man bekannte Comic-Figuren mit diesen Kleidern zeichnet?« fragte Rika, die Praktikantin. »Das könnte illegal sein. Betty und Veronica sind wahrscheinlich geschützte Warenzeichen«, sagte ich rasch, damit Mr. Sanno Karen nicht mit einer undurchführbaren Aufgabe belastete. »Nein, hier in Japan ist das anders«, erwiderte Rika. »Japanische manga-Verlage haben nichts dagegen, wenn Amateure ihre Figuren kopieren. Solche Comics von Amateuren heißen dojinshi, und wenn die sich gut verkaufen, so die Meinung der Verlage, ist das die beste Werbung fürs Original.« »Rikachan hat recht.« Mr. Sanno nickte Rika zu, die prompt den Kopf senkte und murmelte, wie unwürdig sie sei. Es war ein perfektes Beispiel japanischer Etikette, das ich genossen hätte, wäre da nicht Mr. Sannos bohrender Blick in meine Richtung -16-
gewesen. »Reichan, ich weiß, daß Sie nicht fest bei uns angestellt sind, aber Sie werden auch an der Umstrukturierung teilnehmen. In Ihrer Kolumne geht es um Antiquitäten und Kunst, daraus ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten.« »Ich weiß sehr wenig über manga«, sagte ich steif. »Mein Wissensgebiet ist das japanische Kunsthandwerk.« »Manga sind die wichtigste Kunstform unserer Zeit«, sagte Mr. Sanno. »Könnten Sie das nicht in Ihrer Kolumne schreiben?« Ich war hin und her gerissen. Am liebsten hätte ich mich von Mr. Sannos dummer Idee mit den Comics distanziert, aber meinen Namen wollte ich doch ganz gern jeden Monat gedruckt sehen. Also sagte ich vorsichtig: »Ich möchte dazu beitragen, daß die Gaijin Times so gut wie möglich wird. Das bedeutet, ich wäre bereit, mich als Mitarbeiterin zurückzuziehen, wenn meine Artikel nicht mehr zum neuen Bild passen.« »Hast du's drauf abgesehen, gefeuert zu werden?« fragte Alec. Allmählich ging er mir wirklich auf die Nerven. »Ich weiß, was Sie tun könnten, Reisan!« meldete sich Rika zu Wort. »Sie sind doch ein sehr ernsthafter Mensch; da könnten Sie einen seriösen Artikel über die Geschichte und die künstlerische Bedeutung von manga schreiben. Wenn es Ihnen gelingt, manga in einem guten Licht darzustellen, sind die Leser besser auf die neue Aufmachung vorbereitet.« »Genau, Miss Fuchida! Helfen Sie doch bitte Miss Shimura bei ihrer Aufgabe.« Rika, die mir mit ihrem Faltenrock, den Kniestrümpfen und Zöpfen gegenübersaß, wirkte eher wie ein Schulmädchen, nicht wie eine Studentin, die bald ihren Abschluß am Showa College machen würde. Aber in diesem Augenblick wurde mir wie vermutlich allen anderen Anwesenden klar, daß sie sich schon bald wie Clark Kent verwandeln würde, allerdings nicht in Superman, sondern in Rika Fuchida, die jüngste Gaijin Times-17-
Chefredakteurin aller Zeiten.
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3 »Neid ist eine Sünde«, murmelte ich am Samstagnachmittag in meinen Arm hinein. »Was sagst du? Die Wellen sind so laut, ich kann dich kaum verstehen.« Takeo Kayama rieb meinen Rücken mit einem superorganischen Sunblocker ein. Auf und ab, hin und her seine Finger, rauh von der Gartenarbeit, erzeugten ein angenehm scheuerndes Gefühl auf meiner Haut. »Ich bin neidisch auf die Praktikantin von der Gaijin Times«, sagte ich lauter. »Bis gestern war sie das hochgelobte Mädchen für alles, und dann ha t sich plötzlich herausgestellt, daß sie so was wie einen Doktor in Comic-Geschichte hat. Sehr merkwürdig ist das alles. Sie hat erst vor ein paar Monaten angefangen, für das Magazin zu arbeiten. In ihrem Lebenslauf stand nichts von Kenntnissen über Comics. Die tauchen genau zum richtigen Zeitpunkt in Gegenwart der richtigen Person auf. Ich frage mich, ob sie von vornherein gewußt hat, was mit der Zeitschrift passieren würde.« »Egal, jedenfalls solltest du dich für sie freuen«, sagte Takeo. »Schließlich hast du auch schon oft genug Glück gehabt. Und ich auch.« »Das stimmt.« Takeo Kayama war einer dieser Glücksfälle in meinem Leben. In den wenigen Monaten, die ich ihn kannte, hatte er eine ganze Menge frischen Wind und Sonne in mein Dasein gebracht. Eigentlich hatte unsere Verbindung etwas Ironisches, denn ich strampelte mich ab, in die Ränge der Kapitalisten aufzusteigen, während Takeo sich in die Gegenrichtung bewegte, weil er auf die Leitung der IkebanaSchule seiner Familie verzichtet hatte, um selbst Pflanzen auf organische Weise anzubauen. -19-
»Kriegst du genauso viel wie immer für deinen Artikel?« fragte Takeo und schraubte den Deckel auf die Tube mit dem Sonnenschutzmittel. Wir waren am Isshiki Beach in Hayama, einer Küstenstadt ungefähr eine Stunde südlich von Tokio, wo Takeos Familie ein Sommerhaus besaß. Die Luft war voller Pingpongbälle, Frisbees und aufgeregter Rufe Hunderter von Schulkindern in ihren kurzen Sommerferien. »Mr. Sanno war so begeistert von Rikas Idee, daß er mich gebeten hat, mehr zu schreiben als sonst. Hinterher hat er mir sogar versprochen, mir mehr dafür zu zahlen. Er möchte einen Artikel, der die Glaubwürdigkeit von manga stärkt.« Ein vorbeiwackelndes Kleinkind kickte dunkelbraunen Sand in die Luft. Ich rückte den Sonnenschirm zurecht, den wir für fünftausend Yen gemietet hatten, und rief mir ins Gedächtnis, daß der Sand aus geologischen Gründen so schmutzig aussah. Isshiki Beach galt als einer der saubersten Strande in der Umgebung von Tokio, weil sich die Sommerresidenz des Kaisers dort befand. Allerdings entdeckte ich ein wenig Gutes verheißendes Bächlein, das sich von der einzigen Außentoilette einen Weg durch den Sand bahnte. »Natürlich mußt du's nicht machen, aber ich glaube, du hättest Spaß dran«, sagte Takeo und brachte so meine Gedanken wieder auf das eigentliche Thema zurück. »Du mußt bloß ein paar Tage lang Comics lesen, dich hinterher an den Computer setzen und deine Eindrücke darüber mit deinem Wissen über Holzschnitte vergleichen.« »Da gibt's zwei Probleme«, sagte ich. »Erstens weiß ich ganz genau, daß die Holzschnittmeister in puncto Kunst und gesellschaftlicher Relevanz viel besser sind. Aber Mr. Sanno möchte das nicht hören. Und zweitens kann ich, das weißt du genausogut wie ich, nicht richtig Japanisch lesen.« Manga für Schulkinder waren im phonetischen hiragana- und katakanaAlphabet geschrieben - beide beherrschte ich -, doch die für Erwachsene wurden fast ausschließlich in kanji verfaßt, jenem -20-
System piktographischer Wortsymbole, das seinen Ursprung in China hat. Ich hatte an der Imbißstube des Strandes die Zeitschrift Morning durchgeblättert und dabei feststellen müssen, daß ich fast nichts davon lesen konnte. »Hmmm, vielleicht lernst du's dann endlich.« Takeo massierte weiter meinen Rücken. Ich sprach Japanisch so gut wie fließend, aber mit dem Lesen und Schreiben hatte ich große Probleme, und das war mir peinlich. Das einzige Gegenmittel bestand darin, jeden Tag ein paar Stunden lang ernsthaft kanji zu lernen, aber am Abend, wenn ich Tokio nach Antiquitäten und passenden neuen Besitzern für sie abgesucht hatte, wollte ich nur noch Romane in englischer Sprache lesen. Takeo sah mich mit ruhigem Blick an. Seine Haut war von der Gartenarbeit kupferbraun. Diese Tätigkeit entsprach eigentlich nicht seiner Herkunft, aber er hatte sich dafür entschieden, um der dominierenden Art seines Vaters zu entkommen. Takeo war erst achtundzwanzig, doch die Arbeit in der Sonne hatte bereits ein paar Falten in die Haut um seine Augen gegraben und Muskeln aufgebaut, die jetzt, als er in seiner schwarzen Badehose neben mir kauerte, deutlich zu sehen waren. »Du weißt doch, wie schwer mir das Lesen fällt«, sagte ich. »Das sagst du immer.« Takeos Stimme war so warm wie der Tag. »Du bist genau wie ich. Ich sollte auch Englisch üben, mach's aber nicht, weil du so gut Japanisch sprichst. Allerdings lebe ich nicht in Amerika, und du bist hier in Japan. Ich helfe dir beim Lesenlernen. Wir nehmen uns die manga gemeinsam vor.« »Aber für dich sollten das Ferien sein«, sagte ich, einerseits dankbar, jedoch auch ein wenig enttäuscht. Ich hatte gehofft, daß dies ein ganz besonderes Wochenende für uns beide werden würde, in dessen Verlauf wir herausfinden könnten, wie sich unsere Beziehung in Zukunft gestalten würde. Deshalb hatte ich -21-
meinem Anrufbeantwortungsdienst mitgeteilt, daß ich bis zum Montag nicht zu erreichen wäre. Ebenfalls deshalb hatte ich eine Kühltasche mit den köstlichsten selbstgekochten Sachen gepackt. Und schließlich hatte ich deshalb... die Enthaarungsaktion über mich ergehen lassen. Während ich so dalag und versuchte, Takeos Gefühle zu erraten, knallte ein Tischtennisball gegen seine Stirn. Ich holte tief Luft, als ein junger Mann mit einem fast schon obszönen String-Tanga zu uns herüberjoggte, um den Ball zu holen. Er entschuldigte sich mit einigen Verbeugungen und verschwand dann wieder, das muskulöse Hinterteil unter einer Ölschicht glänzend. Schon erstaunlich, wie wenig Scham junge Japaner im Hinblick auf ihren Unterleib hatten. Im Gegensatz dazu trugen die meisten Frauen am Strand einteilige Badeanzüge, weil sie ihren Bauch als nichtöffentliche Zone betrachteten. Ich war die einzige in einem Speedo-Bikini, den ich nun schon seit zehn Jahren trug, weil er meinem eigenen Bauch eine gute Form verlieh und das Oberteil Träger hatte, die die Wellen nicht herunterziehen konnten. »Möchtest du schwimmen?« »Weißt du, ich kann's nicht sehr gut«, sagte ich. Als Takeo mich erstaunt ansah, erklärte ich ihm: »Ich schwimme schon, aber du wirst sehen, daß ich mich ziemlich ungeschickt anstelle. Am besten kann ich's auf der Seite. Bis zu den Bojen schaff ich's nicht, falls du da raus willst.« Takeo lächelte mich an. »Wir müssen nirgendwohin schwimmen. Viele Leute planschen bloß im Wasser.« Als ich einen Blick hinaus warf, begriff ich, was er meinte. Viele der Leute im Wasser schienen an einem Fleck zu bleiben, Pingpong zu spielen oder sich einfach nur im Stehen zu unterhalten. »Sind unsere Sachen denn sicher, wenn wir sie hier lassen?« fragte ich und deutete auf meine Strandtasche, in der sich ein -22-
paar Comics und ein bißchen Geld befanden. »Natürlich. Schließlich sind wir hier in Japan!« sagte Takeo lachend und lief in Richtung Wasser, wo ich ihn einholte. Es war wunderbar warm, fast wie in der Badewanne. Er kraulte voraus, und ich schwamm ihm in der Seitenlage ungefähr fünfzig Meter nach, bis ich müde wurde. »Ich muß jetzt eine Pause machen«, rief ich ihm zu und testete mit den Füßen die Tiefe des Wassers: knapp einsvierzig. Wie weit draußen, fragte ich mich, würde es wirklich tief werden? Takeo schwamm mit ein paar schnellen Zügen zu mir zurück, tauchte unter, packte mich an der Taille und zog mich zu sich hinunter, um mir unter Wasser einen Kuß zu geben. Ich tauchte prustend und lachend wieder auf. Über Wasser küßten wir uns weiter. Wir waren noch nicht so la nge ein Paar, und so hatte alles noch etwas Verspieltes. »Dein Bikini gefällt mir«, sagte er und schob die Hand unter den Bund des Unterteils. »Das wagst du nicht«, sagte ich. »Glaubst du wirklich?« Und schon hatte er mein BikiniUnterteil in der Hand. »Wow«, sagte ich und sah mich um. Es schien niemand herzuschauen. Ich hatte schon von der Leidenschaft der Japaner für Sex in der Öffentlichkeit gehört. Aber war das hier die Öffentlichkeit? Niemand konnte richtig sehen, was sich unter der Wasseroberfläche abspielte. Etwas Weiches huschte über die Innenseite meiner Oberschenkel - war das ein Fisch oder Takeo? Ich schlang meine Beine um seine Taille und spürte, wie meine Erregung wuchs. »Entspann dich«, murmelte Takeo und beugte sich über mich. Ich tat, was er mir sagte. Ich schämte mich nicht, laut aufzustöhnen, weil ich wußte, -23-
daß die Brandung meine Stimme übertönte. Doch als wir beide wieder bei Atem waren, sahen wir uns einem Problem gegenüber: Während unserer heftigen Bewegungen hatte sich mein Bikini- Unterteil von Takeos Arm gelöst und war fortgespült worden. Jetzt hatte ich also kein Unterteil mehr und nur zwei Alternativen: Entweder ich stürzte mich selbstmörderisch in die Tokyo Bay oder ich machte mich auf den Weg zurück an den Strand zu den Hunderten picknickender Familien. Die Ironie der Situation wurde mir bewußt: Aufgrund der Haarentfernung würde ich den Fluten immerhin so makellos gepflegt entsteigen wie ein Playgirl in einem Männermagazin. »Ist alles gar nicht so schwierig«, sagte Takeo unter schallendem Gelächter. »Du bleibst im Wasser, und ich gehe raus und kaufe in dem Laden am Strand einen Bikini. Den bringe ich dir dann, damit du ihn unter Wasser anziehen kannst.« »Nein!« lachte ich genauso fröhlich. »Woher willst du einen Bikini wie meinen alten amerikanischen kriegen? Nein, ich glaube, es ist besser, du gibst mir deine Badehose. Die paßt wenigstens zu meinem Oberteil, und außerdem ist der Herrenschnitt modern. Ich gehe raus und kaufe dir eine neue. Möchtest du wirklich wieder eine wie die? Soweit ich weiß, verkauft ein Laden am Strand Tangas.« »Ist das dein Ernst?« fragte er mit vor Entsetzen geweiteten Augen. »Warum, gibt's ein Problem mit der Größe?« fragte ich mit einem spitzbübischen Lächeln. »Rei, du bist wirklich unmöglich! Wenn du mich ohne Badehose allein läßt, bin ich doch splitternackt. Es ist sicherer, wenn du im Wasser bleibst. Du hast wenigstens noch dein Oberteil. Was, wenn jemand mich sieht und mich anzeigt?« »Das ist überhaupt nicht logisch!« Allmählich verging mir die Heiterkeit. -24-
»Schau mal! Womit spielen denn die Jungs da drüben?« Ich sah hinüber, und tatsächlich, etwa sechs Meter entfernt waren ein paar Schuljungen auf kleinen Schwimmbrettern. Einer von ihnen hatte sich mein Bikini- Unterteil wie eine Maske aufgesetzt und benutzte die Beinöffnungen als Löcher für die Augen. »Mein Gott, wie bizarr«, sagte ich. Takeo schwamm sofort zu den Jungen hinüber und unterhielt sich mit ihnen. Ich hörte kein Wort von dem, was er ihnen erklärte, sah aber, wie der Junge Takeo widerwillig das BikiniUnterteil aushändigte. »Danke. Jetzt wissen sie immerhin, daß das Ding mir gehört, was?« brummte ich, als er es mir brachte. »Weißt du was? Als es gegen ihr Schwimmbrett gespült wurde, haben sie's gar nicht für ein Bikini-Unterteil gehalten, sondern für 'ne Batman-Maske.« »Die lesen zu viele Comics«, sagte ich. »Stimmt. Aber ich habe sie in ihrem Glauben gelassen.« »Wahrscheinlich ist das eine Botschaft für mich«, sagte ich. »Wie bitte?« »Ich sollte meine Arroganz gegenüber Comics ablegen. Schließlich haben sie meinen guten Ruf gerettet.«
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4 Zwei Stunden später lagen wir zusammen auf Takeos Futon, Comic-Hefte um uns herum. Während Takeo laut vorlas, mühte ich mich ab, seine Worte ins Englische zu übersetzen und aufzuschreiben. Ich ließ mich leicht ablenken; mein Blick wanderte immer wieder über seinen goldbraunen Rücken hinunter zu seiner weiten Hose mit dem Kordelverschluß. Takeo jedoch, ganz harter Samurai, bestand darauf, zuerst die Übersetzung zu Ende zu bringen, und las mit leiser Stimme weiter. »In einem Krankenhaus im Zentrum von Tokio wurde vor gar nicht langer Zeit am Neujahrstag ein kleines Mädchen geboren. Das Baby hatte fröhliche grüne Augen und ungewöhnliche schwarze Korkenzieherlocken, und so nannte ihre Familie sie Mezurashiko, das besondere Kind.« »Weil Mezurashiko so ganz anders war als die anderen japanischen Kinder, glaubten die Nachbarn, sie sei das Produkt einer Affäre zwischen ihrer Mutter und einem Fremdarbeiter. So mußte sich Mezurashiko während ihrer gesamten Schulzeit Hänseleien und Schikanen gefallen lassen. Niemand ahnte, daß Mezurashikos Vater tatsächlich ein Fremder war - ein gutaussehender Mann vom Mars, der in einer von Tokios heißesten Nächten aus seinem Raumschiff durch das Wohnungsfenster von Mezurashikos Mutter geschlüpft war, um sich des Körpers der nichtsahnenden Frau zu bemächtigen. Die kleine Mezurashiko hatte seine Gene geerbt und besaß unglaubliche Fähigkeiten. Als sie erwachsen war, beschloß sie, manche dieser Fähigkeiten auch zu nutzen.« Ich notierte die Übersetzung, doch meine Gedanken waren anderswo. Wäre ich im Besitz solcher Fähigkeiten gewesen, hätte ich den Raum um uns herum verändert. Das Haus der -26-
Kayamas war eine klassische Villa am Meer, erbaut in den zwanziger Jahren; selten, weil man es nicht abgerissen hatte, aber auch traurig wegen des Zustandes, in dem es sich befand. Viele Schindeln fehlten auf dem hübsch geschwungenen Dach, im Innern waren die Wände voller Wasserflecken, und die tatami-Matten beherbergten ganze Heerscharen von Insekten. Takeo hatte fast den gesamten Sommer hier verbracht. Ich wußte nicht, wie er das aushielt. Natürlich war allmählich zu sehen, was er geleistet hatte - ein Bad mit neuen sanitären Anlagen und einzelne Wände, die für einen neuen Anstrich vorbereitet waren. Ich mußte zugeben, daß er hart arbeitete. Immerhin war sein Futon neu, und er hatte hübsche Baumwollbettwäsche. Aber er brauchte dringend Hilfe bei der Dekoration, wenn man sah, daß die Wände mit Postern gefährdeter Tierarten und Kampfsportlern - offenbar Relikte aus seiner Kindheit - bepflastert und der Boden mit Zeitschriftenstapeln bedeckt war. Ich konzentrierte mich wieder auf die zweihundertseitige Ausgabe von Mars Girl vor mir. Das war etwas ganz anderes als die präzisen, bunten Comics, die ich in den Staaten gelesen hatte. In Mars Girl wurde großer Wert auf den Gesichtsausdruck der Figuren gelegt und der Hintergrund der Szenen vernachlässigt. So gesehen unterschieden sich die zeitgenössischen japanischen Comics sehr von den sorgfältig ausgearbeiteten Holzschnitten des neunzehnten Jahrhunderts. Natürlich hatte ein Künstler in einem sechs mal zehn Zentimeter großen Schwarzweißrahmen nicht allzuviele Gestaltungsmöglichkeiten. Manga unterlagen also grundsätzlich künstlerischen Beschränkungen. »Ich glaube nicht, daß Mars Girl eine Besprechung wert ist«, sagte ich. »Das hast du über Ogre Slayer, Oh! My Goddess und Tokyo Babylon auch schon gesagt«, meinte Takeo, legte den Kopf in den Nacken und leerte den letzten Rest aus einer Dose Asahi -27-
Super Dry Beer. »Deine Übersetzungen haben mir gezeigt, daß die Storys bei diesen Comics viel stärker sind als die künstlerische Seite«, sagte ich. »Aber ich will nicht über die unwahrscheinlichen Abenteuer von Außerirdischen schreiben, die sich mit Japanern einlassen. Das Thema ist ziemlich abgedroschen; die Hälfte der Comics, die wir bis jetzt durchgegangen sind, beschäftigt sich damit. Noch ein Schulmädchen, das vergewaltigt wird, und ich muß kotzen.« »Ich hab' dir sowieso fast bloß shoujo manga gekauft, Mädchen-Comics, weil mir scho n klar war, daß du die mit Gewalt nicht mögen würdest.« »Dann findest du also, daß die Vergewaltigung einer nichtsahnend schlafenden Frau nichts mit Gewalt zu tun hat?« Ich legte das Notizheft weg, in das ich Takeos Übersetzungen geschrieben hatte. Takeo zuckte mit den Achseln. »Manga für Frauen beschäftigen sich manchmal mit ziemlich düsteren Themen. Aber wenn die Leserinnen sie nicht wollten, würden sich die Geschichten auch verändern.« »Ich muß mich schon fragen, was Frauen wollen.« Ich erhob mich, streckte mich und schaute durch die Panoramafenster hinaus auf den Garten und das dahinter liegende Meer. Weil das Haus hoch oben auf einer Klippe stand, konnte ich bis hinunter zum Strand sehen, wo ein Mann gerade für seinen Hund einen Ball ins Wasser warf. Da spürte ich eine Berührung im Nacken und merkte, daß das Takeos Lippen waren. Ich blieb stehen, beobachtete weiter den Mann und den Hund beim Spielen und genoß den Kuß. »Ist es das, was du möchtest?« fragte Takeo sanft. Ich legte den Kopf an seine Schulter und dachte nach. Ich kannte Takeo erst seit ein paar Monaten, zuerst als Freund und jetzt als Geliebten. Ja, ich dachte an ihn, wenn wir zusammen -28-
waren, aber nicht so häufig in seiner Abwesenheit. Dies war unser erstes richtiges gemeinsames Wochenende. Ich wollte, daß es gut lief. »Ich möchte einen ordentlichen Artikel schreiben. Und ich möchte mit dir zusammen sein«, sagte ich, immer noch zum Fenster hinausschauend. »Aber weißt du, die Sache vorhin unter Wasser. Nun, so etwas habe ich noch nie zuvor gemacht. Und ich glaube, ich will's auch nicht noch mal probieren.« »Das war eine meiner Phantasien.« Er drehte mich zu sich herum, so daß ich sein Gesicht sehen konnte. »Die hatte ich viele Jahre, seit meiner Teenagerzeit. Danke, daß du mir geholfen hast, sie zu verwirklichen.« »Tja, vielleicht kannst du dich revanchieren.« Ich lächelte ihn an. »Ich habe auch eine Phantasie.« »Ach ja?« »Darin kommt ein Bett mit sauberen Baumwollaken vor. Und eine Klimaanlage, die leise im Hintergrund summt. Und eine Tür, die ma n verschließen kann.« In jener Nacht schlief ich so gut wie schon lange nicht mehr, eingelullt durch das Geräusch der Wellen. Irgendwann hatten wir die Klimaanlage ausgeschaltet, und die kühle Brise, die um sechs Uhr morgens durch die Fenster hereinblies, fühlte sich wunderbar an. Ich schlüpfte aus dem Bett und schob die Decke über Takeos langen, schmalen Körper. Während ich mich zum Joggen anzog, dachte ich über die letzte Stunde vor dem Einschlafen nach, in der wir uns geliebt hatten. Takeo hatte sich als leidenschaftlich und geschickt erwiesen und Gefühle in mir geweckt, die lange Zeit verschüttet gewesen waren. Das vergangene Jahr hatte ich über den Verlust meines letzten Freundes, eines schottischen Anwalts, getrauert, der irgendwann von Japan genug gehabt und erwartet hatte, daß ich ihn überallhin begleiten würde. Aber ich wollte das nicht ich liebte Hugh, haßte jedoch die Vorstellung, von ihm abhängig -29-
zu sein. Schon bald hörten seine Briefe an mich auf, und ich erfuhr, daß er etwas mit einer anderen Frau angefangen hatte. Doch so wütend ich auch auf Hugh war, ich dachte die ganze Zeit an ihn. Ich hatte mir gesagt, das beste wäre es wohl, mir einen japanischen Freund zu suchen, jemanden, der im Land bleiben würde. Takeo schien sich anfangs in der Kayama-Schule nicht für mich zu interessieren, aber als wir uns dann besser kennenlernten, flogen die Funken. Konnte ich Takeo lieben? fragte ich mich, während ich die hübschen Holztüren des Hauses entriegelte und zurückschob und in den herrlichen Morgen hinaus lief. Wenn ich mit Takeo zusammen war, genoß ich das sehr. Doch während der Arbeit vergaß ich ihn. Das hatte nichts mit anderen Männern zu tun ich dachte voller Abscheu an Alec Tampole von der Gaijin Times. In den vergangenen Monaten hatte ich Arbeit und Vergnügen strikt getrennt. Meine Tätigkeit als Antiquitätenhändlerin und Kunstkritikerin erforderte meine ganze Energie. Ich beendete meine Dehnungsübungen und joggte langsam die unebene Straße am Strand entlang ins Zentrum von Hayama, vorbei an der Mauer, die die Sommervilla des Kaisers vor neugierigen Blicken schützte. Eine Gruppe Polizisten mit versteinerten Gesichtern stand neben einem dunkelgrauen Polizeibus Wache, in dem jeder, der eine Gefahr für die Monarchie darstellte, abtransportiert werden würde. Die kaiserliche Familie weilte jenes Wochenende nicht in der Villa - Takeo meinte, es hätte Riesenstaus gegeben, wenn es so gewesen wäre. »Ich habe den Kaiser und den Kronprinzen einmal am Strand gesehen, als ich sieben war«, hatte Takeo mir erzählt. »Mein Vater hat gesagt, wir sollten weggehen, damit wir sie nicht in Verlegenheit brächten. Er hat gesagt, sie wollten ihre Ruhe -30-
haben. Aber ich habe gewinkt, und der Kronprinz hat zurückgewinkt. Ich war glücklich, obwohl ich an dem Abend ohne Essen ins Bett mußte.« Takeo hatte seinem Vater nicht gehorcht und war bestraft worden. Ich fragte mich, was sein Vater denken würde, wenn er erfuhr, daß sein Sohn und ich ein Paar waren. Ich hatte Masanobu Kayama genau wie Takeo im Zusammenhang mit dem Mord an einer Le hrerin der Kayama-Schule im Frühjahr kennengelernt. Das Verbrechen war aufgeklärt worden, aber es hatte sich eine ganze Reihe peinlicher Enthüllungen ergeben, manche davon über Mr. Kayamas Privatleben. Takeo hatte ich davon nichts erzählt, weil ich keinen Sinn darin sah, einen noch tieferen Keil zwischen Vater und Sohn zu treiben. Ich zwang mich, mich auf das Projekt manga zu konzentrieren, wie ich den Auftrag von der Gaijin Times mittlerweile insgeheim nannte. Ich würde mich an Mr. Sannos Wunsch nach einer Diskussion der Comic-Ästhetik orientieren und gleichzeitig weiter die Einkaufsvorschläge machen, für die meine Artikel bekannt waren. Vielleicht gab es Liebhaber, die japanische Comics sammelten. Ich wußte, daß alte Comics sich in den Vereinigten Staaten für Tausende von Dollar verkauften. Um mehr über den Comic-Markt in Japan zu erfahren, würde ich mich von den einfachen Läden abwenden müssen, in denen Takeo mir die beliebten Mädchen-Comics besorgt hatte, und mich statt dessen in spezialisierten Geschäften und auf Flohmärkten umsehen. Die Straße entlang des Strands war enger geworden, so daß die Kabrios, Busse und Familienwagen langsamer fuhren. Ich joggte weiter in Richtung Morito-Schrein, der, das sagten mir Schilder, nur etwa fünfhundert Meter entfernt lag. Zwischen winzigen Häusern und Strandläden und schließlich unter einem hohen roten Tor hindurch rannte ich auf die religiöse Stätte zu. Shinto-Schreine suchen Japaner auf, um bei Geburten und Hochzeiten den Segen der Götter zu erbitten und zu ihren -31-
Vorfahren zu beten. Ich selbst begab mich normalerweise an Sonntagen dorthin, wenn in Tokio auf ihrem Gelände Flohmärkte abgehalten wurden. Abgesehen von den Antiquitäten liebte ich auch die Buntheit. Ich mochte das frische Orange der Tore und Zierleisten der Schreingebäude und freute mich immer, wenn ich einen Priester in seinem steifen, türkispurpurfarbenen Gewand über das Anwesen schreiten sah. An jenem Morgen war es so früh, daß ich noch keine Priester und Gläubigen entdeckte. Das Geräusch meiner AsicsLaufschuhe auf dem knirschenden Kies war das einzige, was ich hörte, als ich an den verwitterten Holzständen vorbeilief, an denen weiße Papierstreifen befestigt waren, Unglücksorakel, die Schreinbesucher erhalten und dann hier zurückgelassen hatten, um sich zu schützen. Es würde ein klarer, wunderschöner Tag werden; jenseits der Bucht sah ich den Gipfel des Fudschijama, der normalerweise von Wolken verhüllt war. Daß ich Fujisan sah, war ein gutes Omen. Das Projekt manga würde gut laufen. Hier, inmitten von alten Steinen und altem Holz, das Geräusch der Wellen im Ohr, spürte ich es ganz genau.
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5 Ich lag gerade ausgestreckt im Wohnzimmer auf den ausgetretenen tatami-Matten und kühlte meine Knie mit Eis, als Takeo hereinkam, bekleidet mit einer verknitterten cremefarbenen Leinenhose mit Kordelzug und einem T-Shirt, auf dem stand: RETTET JAPANS DELPHINE VOR DEN BRUTALEN THUNFISCH-FÄNGERN. »Stehst du immer so früh auf? Und was ist mit deinen Knien?« erkundigte er sich und küßte mich auf den Kopf. »Ich laufe am Morgen, weil es da kühler ist, und das Eis benutze ich, damit die Muskeln sich nicht entzünden. Hast du gut geschlafen?« »Großartig, danke. In dem besten Traum, an den ich mich erinnere, war ich Batman und du Mars Girl, und zusammen mußten wir einen kleinen Superhelden zeugen, um das Böse zu besiegen.« »Hoffentlich willst du mir damit nicht sagen, daß das Kondom geplatzt ist«, sagte ich ein bißchen nervös. Ich gab viel auf Träume. Takeo lachte. »Nein. Wo willst du frühstücken, nachdem wir geduscht haben?« »Wie wär's mit hier drin? Haben wir Toast?« Ich liebte die dicken, viereckigen Scheiben leicht süßlichen Weißbrotes, die überall verkauft wurden. »Ich dachte mir, es wäre schön, draußen zu frühstücken. Ungefähr zwei Kilometer die Strandstraße runter gibt's eine europäische Patisserie und gleich daneben einen Laden, der sich auf manga spezialisiert hat. Da könntest du weitere Lektüre für den Strand kaufen.« »Gute Idee«, sagte ich. Allerdings dachte ich weniger daran, -33-
noch mehr von den Comics zu lesen, als daran, mich mit den Angestellten über den Sammlermarkt zu unterhalten. Das Frühstück verlief angenehm; ich freute mich, die Japan Times so weit von Tokio weg einfach auf der Straße kaufen zu können. Es waren sogar ein paar Ausländer da - Italiener, Amerikaner und Australier, die sich ihren café au lait und ihre Croissants in der Nähe unseres Tisches schmecken ließen. Hinterher überquerten wir die Straße, um Animagine, den Comic-Laden, den Takeo erwähnt hatte, zu betreten. Der Name des Geschäfts stand sowohl auf englisch als auch auf japanisch an der Tür, das gine illustriert mit Hilfe des japanischen kanjiZeichens für »Person«, das »jin« gesprochen wurde. Ein gekünsteltputziges Wortspiel, aber selbst für ein Kind - oder jemanden wie mich - leicht zu verstehen. Animagine unterschied sich deutlich von den anderen, meist verwitterten Läden entlang des Strands. Es war in einem kleinen, leuchtend purpurfarben gestrichenen Stahlbetonkasten mit automatischen Türen untergebracht, die sich öffneten, wenn man sich ihnen näherte. Die eisige Luft der Klimaanlage und der Sechziger-Girl-Sound von Puffy empfingen mich. Das populäre Duo hatte die Titelmelodie für ein Fernsehanime-Programm aufgenommen, erfuhr ich aus der Werbung im Schaufenster des Ladens. Bis dahin war mir nicht klar gewesen, daß Plattenstars bereit waren, ihre Fähigkeiten in den Dienst von Zeichentrickfilmen zu stellen. Takeo schlenderte leicht im Takt wippend durch den Laden - er liebte leichte, süßliche japanische Popmusik, während mir japanische Künstler mit einem düstereren, härteren Sound wie zum Beispiel Cornelius lieber waren. Der Laden war voll mit niedrigen Bücherregalen, in denen sich die Comics dicht an dicht aneinanderreihten. Alle manga, die ich kannte, waren in Schwarzweiß gedruckt, doch die Umschläge gestalteten die Künstler schreiend bunt - hier tobten sie sich aus. Vielleicht sammelte man bei den manga nicht das -34-
Innere, sondern die Cover. Ich wanderte zwischen den Regalen hindurch, in denen sich Comics mit Schulmädchen, Baseballspielern, Außerirdischen, herumkaspernden Babys, wuscheligen Tieren und Samurais befanden. Ich war erstaunt über das Verhalten der Kunden in dem Laden. Warum las ein hübsches vierzehnjähriges Mädchen Neon Genesis Evangelion, einen Comic, auf dessen Umschlag Roboter abgebildet waren? Eine Frau in meinem Alter blätterte eine Samurai- Geschichte durch, und ein ungefähr zwanzigjähriger Mann steckte die Nase in ein Heft über Schulmädchen. Ich musterte die Angestellten des Ladens, zwei junge, zottelige Leute unbestimmten Geschlechts, die weite Latzhosen mit ebenso weiten T-Shirts darunter trugen. Als ich näher trat, sah ich den Lippenstift auf dem Gesicht des einen Wesens und kam zu dem Schluß, daß es sich um eine Frau handeln mußte. »Ich hoffe, daß Sie mir helfen können«, begann ich. »Mein Name ist Rei Shimura, und ich schreibe einen Artikel über manga für die Gaijin Times.« »Da sollten Sie sich an den Inhaber wenden«, erklärte ihr zotteliger Kollege, der nun von hinten an uns herantrat. »Er wohnt in Tokio.« »Mich würden aber die Kunden dieses speziellen Ladens interessieren«, sagte ich, weil ich mich vor dem Gedanken an ein ausführliches Gespräch mit einem Geschäftsmann wie Mr. Sanno fürchtete. »Ich würde gern erfahren, welche Meinung die Leute auf der Straße über Sammlerstücke haben.« »Sammlerstücke?« Der Junge ließ das Wort auf der Zunge zergehen. »Sie meinen Zeitschriften, die die Leute heute kaufen? Es ist für jeden Geschmack etwas da. Was möchten Sie?« »Ich will nichts kaufen«, sagte ich geduldig. »Mir wäre es wichtiger zu erfahren, welche der älteren manga für Sammler -35-
interessant sind und welche der neueren in Zukunft etwas wert werden könnten.« »Manga sind nicht wertvoll«, sagte der Junge langsam, als spreche er mit einer Idiotin. »Sie kosten höchstens zweihundert bis tausend Yen. Ein paar Sondernummern und Anthologien gibt's, die sind von vorne bis hinten bunt und kosten bis zu sechstausend Yen. Soll ich Ihnen welche von denen zeigen?« »Nein, danke«, sagte ich mit wachsender Frustration. Vermutlich drückte ich mich falsch aus. »Ich möchte gern mehr wissen über Comics, deren Wert steigt. Sachen, die die jungen Leute aufheben und später mit Gewinn an Sammler verkaufen.« »Niemand hebt Comics auf.« Der junge Verkäufer schüttelte den Kopf. »Die Leute werfen sie weg, wenn sie sie gelesen haben. Sie sind schließlich billig, neh?« »Aber ein paar Leute werden die Comics doch aufheben. Wie sonst wären Auktionen mit wertvollen alten Comic-Heften möglich?« »In Amerika ist das vielleicht so, aber nicht hier«, sagte er. »In Japan haben die Leute keinen Platz, um Comics aufzuheben. Die einzigen, die möglicherweise Hefte aus einer bestimmten Serie zu Hause aufbewahren, sind die dojinshifans, und die machen's auch nur, weil sie die Comics als Vorlage für ihre eigenen Zeichnungen verwenden.« »Ich fürchte, ich weiß nicht, was dojinshi sind«, sagte ich, obwohl Rika von der Gaijin Times sie erwähnt hatte. Ich wollte die Meinung eines Experten hören. »Dojinshi sind Comics mit begrenzter Auflage, gezeichnet von Amateuren«, meldete sich die junge Frau mit einem herausfordernden Blick auf ihren Kollegen zu Wort. »Sie verwenden bekannte Comic-Figuren, denken sich aber neue Abenteuer für sie aus. Bei den dojinshi gibt es zwei Sorten: die Parodien und die Originale. Wofür interessieren Sie sich?« fragte sie. -36-
»Könnten Sie mir das genauer erklären?« Allmählich faszinierte mich das Thema. Sie nickte ernst. »Manga-Parodien werden direkt von bekannten manga-Serien inspiriert. An ihnen ist nichts Ungewöhnliches. Bei den Originalen treten vielleicht dieselben Figuren auf wie in den ursprünglichen manga, aber nicht unbedingt. Sie sind kreativer.« »Mir klingen die Originale interessanter.« Die Verkäuferin biß sich auf die Lippe. »Leider sind die dojinshi in Plastik eingeschweißt, so daß Sie sie sich hier im Laden nicht anschauen können. Die dojinshi-Künstler wollen, daß man ihre Comics kauft.« Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Ich hatte die ganze Zeit nur geredet, ohne selbst irgend etwas zu bieten. »Wenn Sie mir eine Auswahl zeigen könnten, würde ich gern mehrere kaufen.« Die junge Frau sah ihren Kollegen fragend an, und er nickte. »Gut. Wenn das so ist, kannst du ein paar aufmachen, aber nicht alle. Und hinterher mußt du sie wieder in Plastik einpacken.« Ein wenig verärgert darüber, wie herrisch der junge Mann mit seiner Kollegin umsprang, folgte ich ihr einen Gang mit SailorMoon-Rucksäcken entlang. Takeo kauerte auf dem Boden und las die letzten Seiten seiner Zeitung. »Na, macht's Spaß?« fragte er, als ich an ihm vorbeiging»Das weiß ich noch nicht«, antwortete ich. Da die Angestellten mich nicht alle Plastikverpackungen öffnen lassen wollten, beschloß ich, mir die Umschläge genauer anzusehen und die besten auf die Seite zu legen. Das entsprach eher meinen Fähigkeiten als Kunst- und Antiquitätenhändlerin, denn dazu mußte ich nicht lesen können. Als erstes fiel mir an den dojinshi, die die junge Frau mir -37-
reichte, auf, daß sie teurer waren als die regulären Comics und daß die Lektüre sich wegen ihres geringen Umfangs vermutlich in weniger als zehn Minuten bewältigen ließ. Aber die Umschläge waren farbig und auf Hochglanzpappe gedruckt. Sie sahen aus wie Sonderausgaben, nicht wie Massenprodukte. Ich setzte mich auf einen Hocker, um mich genauer mit den Zeitschriften zu beschäftigen, die sie mir gegeben hatte. Manche der Umschläge wiesen eindeutig auf die Geschichte im Innern hin. Ich machte mir nicht die Mühe, die Verpackung eines Heftes zu öffnen, auf dessen Umschlag Sailor Moon auf der Toilette zu sehen war. Das gleiche galt für einen Comic, dessen Cover die blauhaarige Pilotin aus Neon Genesis Evangelien in inniger Umarmung mit einem Jungen am Anfang der Pubertät zeigte. Die Schöpfer solcher Comics gaben sich große Mühe, die Originale nachzuahmen, was nicht so schwierig war, wenn es sich dabei um keine allzu komplizierten Zeichnungen handelte. Der Anblick der Umschläge stimmte mich ein bißchen wehmütig. Gab es für Künstler so wenige Möglichkeiten, daß der einzige Weg zu allgemeiner Anerkennung die Imitation war? Höchstwahrscheinlich ließ sich mit diesen im Selbstverlag herausgebrachten Werken nicht sonderlich viel Geld verdienen. Ich legte ein Heft mit dem Titel Up and Up, Original June Comics beiseite. »Ach, dieJune-Comics! Dann mögen Sie also Liebesgeschichten zwischen Jungen«, sagte die Angestellte ein wenig belustigt. »Jedenfalls habe ich nichts dagegen«, erklärte ich, bemüht, gelassen zu klingen. Was für eine aufregende Entdeckung in einer, wie ich geglaubt hatte, konservativen Gesellschaft. Ich legte noch ein paar weitere Comics beiseite und hielt erst inne, als ich auf ein Heft mit der Figur von Mars Girl stieß. »Diesen dojinshi mag ich«, sagte die Angestellte. »Die Storys -38-
unterscheiden sich deutlich von der eigentlichen Mars GirlReihe. Das Ganze heißt Showa Story.« »Wie clever«, sagte ich voller Bewunderung über eine weitere japanischenglische Doppeldeutigkeit. Der Titel spiegelte den historischen Hintergrund des Comic wider, nämlich die Ära, die im Jahr 1926 begann, die Herrschaft des Showa-Kaisers, im Westen besser bekannt als Kaiser Hirohito. Eine andere Interpretation besagte, daß Comics Geschichten eher bildnerisch darstellten, als sie zu erzählen. »Ich glaube, jetzt würde ich mir die Hefte hier gern ansehen«, sagte ich. Am Kassentisch schlitzte die Verkäuferin die Plastikverpackungen der schmalen Hefte auf und holte sie heraus, als handle es sich um die größten Schätze. Mir machte die Sache einen Riesenspaß, und mit großer Geste wischte ich mir die Hände an einem Papiertaschentuch ab, bevor ich die Comics berührte. In der Liebesgeschichte zwischen Jungen war nicht mehr zu sehen als ein Kuß und eine Umarmung - das Dramatische daran spielte sich vermutlich im Dialog ab; die Zeichnungen waren eher uninteressant. Und für alle Storys galt, daß sich zwischen den verführerischen Umschlägen einfache Schwarzweißseiten mit durchschnittlichen Zeichnungen verbargen. Das Cover der Showa Story war mit der Abbildung eines großäugigen Mars Girl verziert. Mir war aufgefallen, daß das Mädchen einen Sonnenschirm mit einem Muster in der Hand hielt, das vor dem Krieg modern gewesen war. Dieses Detail hatte mein Interesse geweckt. Zu meiner Freude waren die Zeichnungen im Innern in Farbe und einschließlich des Hintergrunds im Detail ausgearbeitet. Die japanischen Häuser und Straßen darin waren in ähnlichem Stil gezeichnet wie alte Holzschnitte. Kleidung und architektonische Einzelheiten zeigten, daß der Künstler die Geschichte von Mars -39-
Girl im Japan der dreißiger Jahre angesiedelt hatte. Für mich überraschend paßten auch die Farben zu dieser Zeit, und sogar das Papier, auf dem der Comic gedruckt war, fühlte sich üppig an - es handelte sich um jenes seidig glänzende Papier, das normalerweise Kunstbänden vorbehalten ist. Doch das hier war lediglich ein Comic, rief ich mir ins Gedächtnis. In der Geschichte machte Mars Girl eine Zeitreise ins Japan der dreißiger Jahre und tauschte ihren hautengen blauen Anzug gegen die die Figur verbergende Robe einer buddhistischen Nonne. Ihre Aufgabe war es, sich als Nonne in einem buddhistischen Tempel auszugeben, wo ein korrupter Priester sich Geld aus den von den Nonnen gesammelten Spenden erschwindelte. Mars Girl fand heraus, daß der Priester dieses Geld in dekadenten Tanzpalästen in der großen Stadt ausgab, und so verkleidete sie sich, um ihn zu fangen, als Tänzerin. Ein Tango und ein Ausweichmanöver vo r dem Messer des bösen Priesters führten am Ende dazu, daß es ihr gelang, das Geld für den Tempel zu retten und den Priester hinter Gitter zu bringen. »Haben Sie noch mehr von den Showa Story-Comics?« fragte ich nach einem weiteren Blick auf den Umschlag, auf dem das Datum »Januar 2000« angegeben war. Das Heft sollte eintausendfünfhundert Yen kosten, also fast fünfzehn Dollar. Ganz schön teuer, aber wenn man bedachte, wie kostspielig das Papier und die Farbkopien waren, sprang vermutlich trotzdem nicht allzuviel Profit für den Künstler dabei heraus. »Tut mir leid, das ist das einzige, das wir haben«, sagte die junge Frau. »Ich wollte letztes Mal, als einer von dem Zirkel da war, mehr haben, aber er hat gesagt, sie hätten Probleme mit dem Druck.« Sie schwieg eine Weile. »Vielleicht kriegen Sie bei einer Manga-Convention noch ein paar ältere Ausgaben. Comiket, die größte im ganzen Land, findet erst im August statt, doch nächstes Wochenende wäre eine kleinere in Zushi, die heißt Comiko.« Ich nahm den Handzettel, den die Verkäuferin mir reichte, -40-
und gab ihr den Showa Story-Comic, den ich kaufen wollte. Ein Wort, das sie erwähnt hatte, verwirrte mich ein wenig: »Was haben Sie mit Zirkel gemeint?« »Die Kids, die die dojinshi machen, bezeichnen sich selbst als Zirkel. Das klingt kreativ und interessant.« »Das heißt, der Comic könnte das Werk mehrerer Künstler sein?« »Ja«, antwortete die Verkäuferin. »Vielleicht haben Sie ja Gelegenheit, sie kennenzulernen.« Ich stellte mir eine Mischung aus Velvet Underground und Bloomsbury Group vor. Zwar würde ich nicht über Antiquitäten schreiben können, aber es bot sich mir die Chance, über die historische Bedeutung von Künstlerzirkeln zu referieren. Allmählich begann die Geschichte mich zu interessieren. »Können Sie mir sagen, wie sich Kontakt mit dem Zirkel aufnehmen läßt?« fragte ich. Sie gähnte und hielt die Hand mit den winzigen DoraemonAbziehbildchen an den Fingernägeln vor den Mund. »Auf der Innenseite des Umschlags steht doch eine Adresse, oder?« Ich sah nach. »Ja. Aber ich muß einen Termin einhalten, da bleibt keine Zeit, Briefe zu schicken. Hätten Sie vielleicht auch eine Telefonnummer?« Nun gesellte sich Takeo zu uns. Zu meiner Überraschung hatte er einen Einkaufskorb mit ein paar Heften in der Hand. Als ich einen Blick darauf warf, konnte ich mir ein kurzes Kichern nicht verkneifen. Es handelte sich um manga zum Thema Gartenbau und Landwirtschaft. »Kayama san.« Der Verkäufer, der mir gegenüber zuvor so unfreundlich gewesen war, verneigte sich. »Wir haben Sie und Ihre Schwester schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Wie geht es Ihnen?« »Gut, und Ihnen, Muranosan?« erwiderte Takeo förmlich. -41-
»Könnte ich die Telefonnummer des Zirkels haben?« versuchte ich es noch einmal, da ich glaubte, jetzt, wo Takeo hinter mir stand, größere Chancen zu haben. »Nun, das geht wahrscheinlich in Ordnung.« Murano kratzte sich an seinem dünnen Ziegenbärtchen und sagte zu der jungen Frau, die mir geholfen hatte: »Michiko, schau doch mal in der Liste nach, ja?« Während Murano und Takeo sich über die Bedingungen fürs Surfen unterhielten, suchte die Verkäuferin im hinteren Teil des Ladens herum. Nach einer Weile kam sie mit einer Tokioter Telefonnummer zurück, die mit Bleistift auf Ogre SlayerBriefpapier notiert war. »Der Künstler heißt Kunio Takahashi, und er hat uns diese Telefonnummer hier hinterlassen.« »Sie haben mir wirklich sehr geholfen«, sagte ich, nahm Takeo die Zeitschriften ab und legte sie zusammen mit dem Mars-Girldojinshi auf die Theke. »Die kommen noch dazu. Wieviel macht's?« »Laß mal«, sagte Takeo und schickte sich an, seine Zeitschriften wieder in die Hand zu nehmen. »Nein, ich bestehe drauf.« Die fünf Comics kosteten zusammen weniger als viertausend Yen, also knapp unter vierzig Dollar, bedeutend mehr, als die meisten anderen Kunden ausgaben. Während meiner Anwesenheit in dem Laden war mir aufgefallen, daß viele Leute nur hereinkamen, um eine halbe Stunde oder so in den Comics zu lesen, und dann wieder gingen, ohne etwas zu kaufen. »Du hast großes Geschick, das zu kriegen, was du mö chtest«, sagte Takeo, als wir draußen waren. »Dein Timing hat mir geholfen. Sie haben mir die Telefonnummer bloß gegeben, weil du hinter mir gewartet hast.« Ich ging auf der Strandstraße zu einer Telefonzelle, die ich zuvor gesehen hatte. Takeo folgte hinter mir, weil der -42-
Gehsteig zu schmal war, als daß wir nebeneinander her gehen konnten. »Das bezweifle ich«, sagte Takeo. »Ich kann Murano, den Typ, der die Heftchen verkauft, nicht sonderlich leiden. Als wir Teenager waren, hat er sich für den tollsten Surfer der Welt gehalten und alle anderen tyrannisiert, die auch aufs Wasser wollten. Wundert mich nicht, daß Murano sich einen leichten Job in der Nähe vom Strand gesucht hat. Er ist ein richtiges Klatschmaul. Jetzt weiß sicher bald die ganze Stadt, daß du hier bei mir bist.« »Und warum ist das ein Problem?« »Ich soll das Haus renovieren, nicht Besucher drin empfangen. Meinem Vater wäre es peinlich, wenn er hören würde, daß ein Gast in dem heruntergekommenen Haus übernachtet hat.« Was für eine japanische Erklärung. Sogar so typisch, daß ich zutiefst argwöhnisch wurde. Schließlich hatte Takeo mich in ein stark frequentiertes Cafe zum Frühstücken ausgeführt. Wo lag plötzlich das Problem? »Wenn du nicht möchtest, daß ich bei dir bleibe, fahre ich wieder«, sagte ich. »Mir hat das Wochenende bis jetzt großen Spaß gemacht, aber ich kann genausogut nach Hause zurückkehren. Zum Abschied könnten wir noch einen Riesenkrach am Bahnhof inszenieren, wenn du auch zu deiner Familie zurück möchtest.« Takeo trat an meine Seite und legte mir die Hand auf den Arm, so daß ich stehenbleiben und ihn ansehen mußte. »Das möchte ich nicht«, sagte er. »Tut mir leid. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie es ist, wenn man einem Clan angehört. Du hast wirklich Glück, Rei.« »Wenn du denkst, daß ich soviel Glück habe, werde ich das doch gleich mal testen«, sagte ich lächelnd. »Ich bin gespannt, ob Kunio Takahashi rangeht, wenn ich anrufe.« -43-
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6 Die blecherne Stimme der Vermittlung erklärte mir, daß die Nummer, die ich gewählt hatte, um Kunio Takahashi zu erreichen, nicht mehr ans Netz angeschlossen sei. In der Befürchtung, daß die Verkäuferin die Nummer falsch notiert hatte, rief ich bei der Auskunft an und erkundigte mich nach der Nummer für die Adresse, die im Impressum des Comic-Hefts stand. Wieder erhielt ich dieselben Zahlen. In Japan sind freie Telefonnummern selten, denn wenn Leute umziehen oder eine neue Nummer bekommen, verkaufen sie normalerweise die alte. Der Handel damit wird von Privatpersonen durchgeführt, nicht von der Telefongesellschaft. Ich selbst hatte meine Telefon- und Faxnummer von meinem Exfreund Hugh gekauft, als dieser von Japan wegzog. Er bekam von mir exakt denselben Betrag, für den er sie seinerzeit erworben hatte, fünfhundert Dollar pro Nummer. Telefonnummern waren in Japan so etwas wie eine Geldanlage für den kleinen Mann. In den vier Jahren, die ich nun schon in dem Land lebte, hatte ich erlebt, daß sie für Summen zwischen fünf- und achthundert Dollar gehandelt wurden. Ich begriff nicht, warum die Nummer des Showa-StoryZirkels nicht mehr ans Netz angeschlossen war. Vermutlich hing das mit einer Panne der Telefongesellschaft zusammen. Das war ärgerlich, denn nun würde ich die Gruppe über die Adresse aufspüren müssen. Und das wäre hier in Japan, wo die Straßen normalerweise keine Namen tragen, gar nicht so leicht. »Niemand zwingt dich, über Showa Story zu schreiben«, hatte Takeo nach meiner Schilderung des Problems gesagt. »Du hast genug Zeit, um noch einmal zu Animagine zu gehen und dir besser erreichbare dôjinshi-Künstler auszusuchen.« Ich schüttelte den Kopf. »Weißt du, dazu bin ich zu rational. -45-
Wenn ein Kunde mich bittet, ein Original von Hiroshiges Holzschnitt Welle für ihn zu finden, erkläre ich ihm, warum das nicht geht. Der Holzschnitt wurde 1842 in limitierter Auflage hergestellt, doch sämtliche Drucke von damals sind jetzt bei ernsthaften Sammlern und Museen. In den Antiquitätenläden und auf den Straßenmärkten ist er nicht aufzutreiben.« Ich schwieg einen Augenblick. »Aber dieses Comic-Heft wurde vor sieben Monaten gedruckt. Da müßte es doch möglich sein, die Leute aufzuspüren, die es gezeichnet haben. Schließlich leben wir in derselben Stadt.« »Wieviel Energie möchtest du in etwas investieren, das für dich nur ein Nebenjob ist?« »Die Kolumne bringt mir ein Drittel meines Monatseinkommens«, sagte ich. »Wahrscheinlich sogar mehr, wenn man die Kunden dazurechnet, die dadurch auf mich aufmerksam werden.« »Aber durch einen Artikel über Comics wirst du keine zusätzlichen Kunden bekommen. Die gehen zu Animagine und den anderen manga-Läden in Japan.« »Wieso stehst du dem Projekt plötzlich so kritisch gegenüber? Gestern wolltest du mir doch noch dabei helfen«, fragte ich ihn. »Ich möchte dir immer noch helfen, aber leider habe ich nicht soviel Zeit, wie ich gern hätte. Ich muß heute nachmittag rauf aufs Dach und ein paar lockere Schindeln auswechseln.« »Gut. Dann fahre ich kurz nach Tokio, um etwas zu überprüfen. Ich bringe was Leckeres für ein spätes Abendessen mit.« Dabei dachte ich an die appetitlichen, mit Schweinefleisch gefüllten shumai- Klößchen, die es an der Yokohama Station, meinem Umsteigebahnhof nach West-Tokio, als Takeaway zu kaufen gab. Shumai waren das einzige Fleischgericht, das ich als Vegetarierin aß. »Aber wir haben noch genügend Reste«, protestierte Takeo, -46-
ein Recycling-Fanatiker. »Es sind schon sechs Gerichte im Kühlschrank. Warum essen wir nicht zuerst die?« »Gut.« Dann beendete ich das Gespräch, indem ich über die Straße eilte, um den herannahenden Bus in Richtung Zushi Station zu erwischen. Wenn ich gewußt hätte, wie spät es am Abend werden würde, hätte ich mich anders verhalten. Ich hätte Takeo zum Abschied einen Kuß gegeben oder ihm zumindest gesagt, er solle die verderblichsten Sachen zuerst essen. Aber wie konnte ich ahnen, wie lange ich brauche n würde? * Um das Shibuya-Viertel macht man am besten einen weiten Bogen, wenn man über zwanzig ist. Nicht, weil die Teenager dort einen verprügeln würden - das können sie mit ihren dreißig Zentimeter hohen Plateausohlen gar nicht -, sondern weil sie sich nicht auf die Autos oder Fußgänger auf der Straße konzentrieren, sondern auf kleine Plastikobjekte, die geradewegs aus einem Science-Fiction-Comic zu stammen scheinen. Sie halten Piepser, Handys und eine Art Sprechfunkgerät in der Hand, um mit anderen Besitzern dieser Spielereien zu kommunizieren. Mit einem solchen Walkie talkie kann man an einen unbekannten anderen ein Signal aussenden und ein bestimmtes Gefühl sowie die Bereitschaft zu einem Treffen ausdrücken. Die zahlreichen Coffee-Shops und Stundenhotels in den Nebenstraßen von Shibuya lassen die Träume der Achtzehnjährigen wahr werden. Mitten in diesem Zentrum der Teenager-Lust befand sich die Büroadresse von Showa Story. Vermutlich waren die Künstler alle noch sehr jung, dachte ich düster, während ich zu einem Polizeihäuschen ging, um mich nach 6-7-22 Shibuya zu erkundigen. Die Tatsache, daß es in Tokio nur sehr wenige Straßennamen gab, führte mich immer wieder zur Polizei. Der diensthabende Polizist kannte das fragliche Gebäude nicht, nahm aber an, daß sich die gesuchte Nummer in derselben -47-
Straße befand wie das Yamato Building, ein niedriges Gebäude nur ein paar Häuserblocks entfernt, in dem ein italienisches Restaurant sowie verschiedene Boutiquen für Teenager untergebracht waren. Diese Information reichte mir. Ich überquerte eine große Kreuzung und betrat hinter dem TokyuKaufhaus eine Straße voller Kleidergeschäfte und Spielsalons mit pachinko-Automuten, ein Spiel ganz ähnlich wie Flipper, das einen Höllenlärm macht. An dem Yamato Building befand sich ein Schild, das es als 6-7-22 Shibuya auswies. Hier also war das Büro des Showa Story-Zirkels. Ein schneller Blick auf das Mieterverzeichnis zeigte mir, daß ich hier das italienische Restaurant und mehrere Turnschuh- und Jeansgeschäfte finden würde, aber nicht Showa Story. Ich beschloß, mir die Läden auf beiden Seiten der Straße genauer anzuschauen, und stellte fest, daß es sich bei der Mehrzahl um Boutiquen, Restaurants und Bars handelte. Ein kleines, heruntergekommenes Bürogebäude erschien mir am vielversprechendsten, doch darin waren lediglich ein Reisebüro, ein Faxgerätereparaturservice sowie eine Sprachenschule untergebracht. Irgendwo mußte Showa Story stecken, aber mir wurde allmählich schwindelig in der Nachmittagshitze. Ich mußte mich abkühlen und meine Füße ausruhen, an denen ich wegen der Gummilatschen, die ich dummerweise trug, Blasen bekam. Also ging ich in einen Coffee-Shop, und nachdem ich mich mit einem Eiskaffee gestärkt hatte, fragte ich die Kellnerin nach dem manga-Zirkel. »Show a Story?« Sie sprach den Namen wie das englische »Zeig eine Geschichte« aus. »Genau. Sie zeichnen Comics und sollen hier in der Gegend arbeiten. Mehr weiß ich nicht.« »Ah. Ich glaube, ich kann Ihnen sagen, wo die sind, aber der Name ist ein bißchen anders. Sie heißen Show a Boy.« -48-
»Ich fürchte, das steht nicht hier in dem Heft, sehen Sie?« Ich zeigte ihr die Seite mit dem Namen und der Adresse der Gruppe. »Ja, die Adresse ist ungefähr auf halber Höhe der Straße, gleich beim Yamato Building. Halten Sie nach einer grünen Tür mit einem Portier Ausschau.« »Kaum zu glauben, daß mir die Tür nicht aufgefallen ist.« »Vielleicht stand niemand davor, woher sollten Sie's dann wissen«, sagte die Kellnerin. »Was für ein Türsteher ist das? Wird der mich reinlassen?« Die Kellnerin lachte. »Bestimmt. Es ist ein Frauenclub, da kann man einen Riesenspaß haben. Wie heißt es so schön? Jede Frau sollte mal einen fremden chinchin sehen.« Die Kellnerin, die ausgesprochen vulgär über die männliche Anatomie sprach, hielt mich offenbar für eine echte Japanerin. Normalerweise hätte mich das gefreut, aber diesmal war es mir peinlich. Ein Striptease-Lokal mit ausländischen Männern? Tja, der Schuppen hieß wohl nicht umsonst »Show a Boy«. Sehr wahrscheinlich war es nicht, daß »Show a Boy« etwas mit dem Showa Story-Zirkel zu tun hatte, aber die Adresse, die die Kellnerin genannt hatte, stimmte. Und der Eiskaffee war anregend genug, mich die Sache genauer ansehen zu lassen. Als ich mich »Show a Boy« näherte, konnte ich kaum glauben, daß es mir beim ersten Mal nicht aufgefallen war. Der Name des Etablissements war auf einer kleinen Messingplakette eingraviert, gleich neben einer glänzend grünen Tür mit der Silhouette eines Mannes, der seinen Zylinder lüftete. Ein paar Mädchen in Schuluniform, die Röcke hochgezogen und die Socken ziehharmonikaförmig um die Knöchel, unterhielten sich mit einem großgewachsenen, gutaussehenden Mann, dessen Haut so braun war wie der Kaffee, den ich gerade getrunken hatte. Der Mann reichte den Mädchen einen Handzettel, worauf sie einander ansahen, zögerten und ein wenig kicherten. Als die Mädchen hineingingen, näherte ich mich dem Mann. -49-
Er winkte mir zu, als kenne er mich schon seit Ewigkeiten. Ich konnte kaum den Blick von seiner Kleidung abwenden, einer glänzenden Sporthose mit Hosenträgern über dem nackten Oberkörper. Wahrscheinlich war er früher beim Militär gewesen, dachte ich, als ich die Tätowierung einer aufgehenden Sonne auf seinem Bizeps sah. »Konnichi wa. Boyzu ga suki ka?« begrüßte er mich in wohltönendem Japanisch, was soviel hieß wie: »Guten Tag. Mögen Sie Jungs?« Vermutlich war dies einer der wenigen japanischen Sätze, die er beherrschte. Um das herauszufinden, antwortete ich in schnellem Japanisch: »Mir sind Männer in Anzügen von Hugo Boss lieber.« Zu meiner Überraschung nahm der Mann seine verspiegelte Sonnenbrille ab, um mich besser sehen zu können. »Cherie, Sie sind mir ja eine«, antwortete er auf englisch mit französischem Akzent und einer Spur von etwas anderem. »Wo kommen Sie her?« fragte ich lächelnd. »Aus dem Senegal, aber davon bitte kein Wort«, flüsterte der Mann. »Die Leute hier halten mich nämlich für einen Sexkünstler aus Los Angeles.« »Wie bitte?« »Ja. Meine Dienste werden zweimal abendlich in Anspruch genommen, am Freitag und Samstag sogar drei oder viermal! Das ist ganz schön anstrengend. Schauen Sie.« Ich nahm den Handzettel, den er mir hinhielt. Er war in japanischer und englischer Sprache verfaßt. Tanzen Sie mit einem Fremden! Show a Boy, gegründet 1993. Erkunden Sie die internationale Tanzkultur mit unseren talentierten Jungs, feuchte Höschen garantiert. Wählen Sie zwischen Harten Cowboys, Geschickten Handwerkern, Rassigen FlamencoTänzern, Unanständigen Adeligen und Black Magic. Wir haben -50-
garantiert nur echte ausländische Boys. Mitgliedschaft für Kundinnen aller Nationen. »Je in'appelle Marcellus«, sagte der Mann. »Ich bin verantwortlich für Black Magic. Meine erste Show heute abend ist um sechs, da haben wir Happy Hour. Die lebenslange Mitgliedschaft bei Show a Boy kostet nur fünfzehntausend Yen. Das Einführungsangebot ist fünftausend Yen, das umfaßt ein Getränk und den Eintritt für einen Abend. Andere Dienstleistungen werden gesondert berechnet.« So, so, andere Dienstleistungen. Ich fragte: »Wie schlimm geht's denn da drin zu?« »Wie schlimm soll's denn zugehen?« fragte Marcellus mit einem anzüglichen Blick. Die Frage hätte ich lieber nicht stellen sollen. Ich sagte mit meiner geschäftsmäßigsten Stimme: »Mein Name ist Rei Shimura, und ich schreibe einen Artikel für die Monatszeitschrift Gaijin Times. Im Moment versuche ich, einen Comic-Zirkel mit dem Namen Showa Story zu finden, der irgendwo hier in der Gegend sein Büro haben soll. Der Titel seiner manga-Reihe klingt doch ganz ähnlich wie Show a Boy, finden Sie nicht auch?« »Sind die Künstler ausländische Jungs?« Marcellus hob eine Augenbraue, die aussah, als habe sich die Enthaarungskünstlerin Miss Kumiko an ihr zu schaffen gemacht. »Nein. Nun, offen gestanden kenne ich weder das Geschlecht noch die Nationalität der Gruppenmitglieder. Ich nehme aber an, daß sie Japaner sind.« »Ein japanischer Mann dürfte hier nicht tanzen«, erklärte Marcellus in bestimmtem Tonfall. »Unsere Kundinnen wollen ihrem Alltag entfliehen. Keine möchte einen Tänzer sehen, der sie an einen salaryman aus dem eigenen Büro erinnert. Unsere Boys sind surreal.« Ich schüttelte den Kopf. »Der Mann, den ich suche, ist -51-
Künstler. Er arbeitet mit dem Stift, nicht mit...« »... dem Penis«, führte Marcellus den Satz für mich zu Ende. »Ich kann Ihnen versichern, daß unser Programm gewagt, aber nicht obszön ist. Wir behalten den String- Tanga an.« »Puh. Das beruhigt mich aber.« Marcellus brach in Lachen aus. »Ich freue mich schon darauf, für Sie zu tanzen, Miss Shimura. Allerdings würde ich Sie bitten, sich etwas Bequemeres anzuziehen, bevor Sie unseren Club betreten. Jeans sind nicht erlaubt, die darf nur der CowboyTänzer tragen.« »Kein Problem, ich habe sowieso kein Interesse. Männliche Tänzer sind nicht mein Ding. Ich suche nach einem Künstler.« Dabei lächelte ich Marcellus an, damit er es mir nic ht übelnahm, daß ich sein Angebot, seine Black-Magic-Show zu sehen, ausschlug. »Tja, aber wie gut die Show ist, merken Sie erst, wenn Sie's ausprobieren. Erzählen Sie mir doch mehr über die ComicZeichner, die Sie suchen. Kennen Sie irgendeinen Namen?« »Nur einen. Kunio Takahashi«, sagte ich und sah, daß er wieder die Augenbraue hob. »Ach, der ist kein Tänzer.« »Aber Sie kennen ihn«, sagte ich rasch. »Woher?« »Er hat die Wände hier gestaltet, als der Club eröffnet wurde. Er kommt nicht mehr her. Unsere mamasan hat am häufigsten mit ihm gesprochen.« Er meinte die Managerin des Clubs. Für Leute in diesem Gewerbe war es üblich, ihre Chefin mama zu nennen. »Wie heißt Ihre mama? Und ist sie heute abend hier?« »Ja, aber Chiyosan ist ziemlich... schwierig. Ich weiß nicht, wie weit Sie kommen, ohne ihr etwas zu geben. Sie ist nun mal so.« »Schade.« Ich hatte nur ein paar Tausend Yen und meine -52-
Kreditkarte in der Tasche meiner Shorts und wollte die eigentlich nicht loswerden. »Ich könnte den Club in meinem Artikel erwähnen. Das wäre kostenlose Werbung.« Marcellus nickte. »Nun, vielleicht interessiert das unsere mama. Ich sage einfach. Sie stehen auf unserer Gästeliste, dann müssen Sie keinen Eintritt zahlen, aber ich habe Ihnen ja schon erklärt, daß Sie hier keine Jeans tragen können.« »Wenn ich jetzt weggehe, habe ich dann später immer noch eine Chance reinzukommen? Auch wenn Sie nicht vor der Tür stehen?« »Chérie, Sie haben meine Garantie. Und die gebe ich nicht jedem.«
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7 Da ich zu ungeduldig war, um bis zu meiner Wohnung im nordöstlichen Teil Tokios zu fahren und mein T-Shirt und meine Shorts auszuziehen, beschloß ich, mir schnell etwas im Tokyu, dem riesigen Kaufhaus an der Shibuya Station, zu kaufen. Ich hörte das Rattern der Züge, als ich mit der Rolltreppe hinauffuhr. Das Tokyu war billiger als Sogo, Mitsukoshi und Isetan und akzeptierte außerdem Kreditkarten. Es kommt selten vor, daß ich mir neue Kleidung leiste, also hätte der Ausflug ein großes Vergnügen für mich werden können, doch ich hatte nur wenig Zeit, um mich umzuschauen. Ich ging sofort in die Nice-Claup-Boutique für junge Leute, die erst vor kurzem umbenannt worden war, nachdem der Hersteller Wind davon bekommen hatte, daß man den ursprünglichen Namen »Nice Clap« auch als »Hübscher Tripper« übersetzen konnte. Ich fand ein modernes rotpurpurfarbenes Reyon-Kleid mit Blumenmuster, das fast bis zu den Knöcheln reichte und so meine Gummilatschen kaschierte. Marcellus hatte sich nicht über mein Schuhwerk geäußert, und ich hoffte, daß es mamasan nicht auffallen würde. Den Gedanken, daß Frauen, die ausgingen, um fast nackte Männer zu begaffen, sich an eine Kleiderordnung halten mußten, fand ich ziemlich albern. Oder, wie Marcellus es ausgedrückt hätte, surreal. Ich bat die Verkäuferin, das Preisetikett abzuschneiden, so daß ich das Kleid gleich anlassen konnte. Dafür wanderten meine Shorts und mein T-Shirt in die Einkaufstüte von Nice Claup. Weil der Kleiderkauf so schnell gegangen war, beschloß ich, mir noch fünf Minuten am Shiseido-Stand im Erdgeschoß zu gönnen. Wenig später verließ ich das Kaufhaus wie eine Rose duftend und aussehend, und das alles für nicht einmal -54-
neuntausend Yen. Was für ein gutes Geschäft! Marcellus war nirgends zu sehen, als ich mich Show a Boy wieder näherte. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß es fast sechs war. Wie schnell der Nachmittag doch vergangen war! Marcellus trat vermutlich schon drinnen auf. Jetzt hatte ich es mit einem anderen Türsteher zu tun, einem blonden Hünen in Lederhosen. Er öffnete die Tür gerade für eine kleine Gruppe von Büroangestellten in pastellfarbenen Kostümen. Ihr Anblick machte mir bewußt, daß es ziemlich exzentrisch wirken würde, wenn ich den Club allein betrat. Nachdem ich tief durchgeatmet und ein gekünsteltes Lächeln auf meine Lippen gezaubert hatte, erklärte ich dem LederhosenBoy, daß ich auf der Gästeliste stehe. Er antwortete mit einem »Jawohl« und hielt mir die Tür auf. Das Show a Boy wurde von einem kurzen, erhöhten Laufsteg mit Lichtstrahlern und Stangen beherrscht, umgeben von kleinen Tischen mit Damastdecken sowie ebenfalls kleinen, aber offenbar bequemen dunkelroten Clubsesseln aus Samt. Die meisten der Tische waren bereits an Frauen unterschiedlichster Altersgruppen vergeben, von Schulmädchen, die Limonade aus der Dose tranken, bis zu Frauen, die meine Mutter hätten sein können und große Cognac-Schwenker vor sich stehen hatten. Die Mehrheit jedoch war - fünf Jahre hin oder her - in meinem Alter und trug moderne Kostüme oder Kleider. Man prostete sich zu, kreischte vor Lachen und rief Freundinnen ein Hallo zu, die gerade zur Tür hereinkamen. Es ging laut und ungehemmt zu; ein solches Verhalten hätte im Büro oder zu Hause entsetzte Blicke zur Folge gehabt. »Madam, darf ich Sie fragen, ob Sie Mitglied unseres Clubs sind?« fragte mich ein blauäugiger blonder Mann mit Smoking, aber ohne Hemd darunter - die nackte Brust war offenbar das Markenzeichen des Clubs - in höflichem Japanisch. Ich schüttelte den Kopf. »Marcellus hat gesagt, es ist in -55-
Ordnung, wenn ich hereinkomme. Ich möchte mit mamasan reden.« »Ach, Sie sind das. Marcellus hat uns schon von Ihnen erzählt. Mein Name ist Nicky, ich werde mich heute abend um Sie kümmern.« Nicky schenkte mir einen freundlichaufmerksamen Blick. So also machten sie hier aus ganz normalen Büroangestellten schmachtende Frauen. »Das ist wirklich nett, Nickysan, aber ich möchte nur...« Als mein Blick auf die Wand hinter seinem Kopf fiel, verstummte ich. Sie war in ihrer vollen Breite und Höhe von sechs mal drei Metern mit einem Gemälde bedeckt. Die Farben brachten den burgunderroten Teppich des Clubs und die smaragdgrünen Tischdecken besonders gut zur Geltung. Das Wandgemälde war bewußt auf die Inneneinrichtung abgestimmt, und das Thema paßte perfekt zum Ambiente. Die erste Abbildung zeigte einen Mann und eine Frau, gekleidet nach der Mode der zwanziger Jahre, die sich mit Martini-Gläsern zuprosteten. Auf der zweiten tanzte ein Paar; die Frau in Tango-Haltung tief nach hinten über den Arm des Mannes gebeugt. Auf der letzten war eine Frau zu sehen, die ihr Abendkleid so weit hochhob, daß ihr Schenkel zum Vorschein kam, während ein vor ihr kniender Mann sich mit ihrem Strumpfband beschäftigte. »Mögen Sie Kunst?« flüsterte Nicky mir ins Ohr. Offenbar hatte er etwas Westliches an mir entdeckt, weil er jetzt Englisch mit Akzent aus dem Mittleren Westen sprach. Normalerweise hätte mich das verwirrt, doch jetzt war ich zu gefangen von einem der tollsten modernen Kunstwerke, die ich in Tokio je gesehen hatte. Das extravagante Wandgemälde stammte ganz offensichtlich vom Showa Story-Zirkel. Der wunderbar detaillierte Hintergrund des Tanzsaals, die geschwungenen Linien der Figuren sowie die Emotionen auf den Gesichtern waren mir schon von dem manga-Heft vertraut, das ich in Zushi erworben hatte. Wer hätte gedacht, daß ein Comic-Künstler, der immer eine Menge Details in einem kleinen viereckigen -56-
Rahmen unterbringen mußte, dazu in der Lage wäre, etwas so Großes zu schaffen. »Ich liebe sie«, sagte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. »Und ich glaube, ich weiß, wer der Künstler ist.« »Ach, niemand Bekanntes. Nur unser Hausmaler«, sagte Nicky. »Das hat einer ganz allein gemalt?« fragte ich. Er nickte. »Der Junge, über den Sie sich mit Chiyo san unterhalten wollen. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihr.« Wieso nur waren die Gäste des Clubs nicht genauso fasziniert von den Wänden wie ich? dachte ich ein wenig enttäuscht, als wir uns auf den Weg zu der Mahagonitheke im hinteren Teil des Raums machten. Mittlerweile hatte die Tanz-Show mit Marcellus begonnen. Er trug den Football- Dress der Oakland Raiders und warf sich in unterschiedliche Football-Posen, während er die Lippen zu den Klängen von »White Lines« bewegte. Wie bizarr, einen solchen Tanz vor den wunderschönen nostalgischen Illustrationen der Liebeswerbung an der Wand zu sehen, die Kunio Takahashi geschaffen hatte. Der Thekenbereich wurde von einer bunten Glaslampe im Tiffany-Stil erhellt. In dem kleinen Lichtkegel, der auf die Holztheke fiel, erkannte ich die Hand einer Frau. Diese Hand war ziemlich rund, doch an den Fingern befanden sich lange, dunkelpurpurfarben lackierte Nägel. Ich blinzelte in die Dunkelheit, um auch den Rest der Frau zu sehen, doch sie war schneller. »So, so, die Lehrerin ist also wieder da.« Die Stimme der mamasan klang rauh, aber nicht unfreundlich. »Ich bin keine Lehrerin mehr.« Jetzt erkannte ich die Frau, die Marcellus Chiyo genannt hatte. Das letzte Mal hatte ich sie fast zwei Jahre zuvor in einem Hostessen-Club westlich der Station Shinjuku gesehen. Damals hatte sie einen anderen Namen -57-
verwendet. Bemüht, ruhig zu bleiben, sagte ich: »Ich schreibe jetzt über Kunst und Antiquitäten. Und soweit ich sehen kann, machen Sie auch etwas anderes.« »Ja, in den schweren Zeiten, die wir gerade durchmachen, haben die Männer weniger Geld für Hostessen-Bars, also habe ich mich auf etwas anderes verlagert. Egal, was in Japan passiert: Frauen werden immer Geld zum Ausgeben haben. Wir haben alles verändert! Und ich nenne mich jetzt Chiyo. Daß Sie mir das nicht vergessen!« Ich konnte gut verstehen, warum Chiyo ihren alten Namen abgelegt hatte, denn als sie ihn noch trug, war sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Ich hatte seinerzeit am Rande mit der Angelegenheit zu tun gehabt; vielleicht war das der Grund für ihre Zurückhaltung mir gegenüber. »Chiyosan, darf ich Ihnen einen Drink spendieren?« fragte ich und setzte mich auf den einzigen freien Hocker an der Theke. Überall waren junge Frauen, die die Haare zurückwarfen, nachsahen, ob sich an den Zähnen ihrer Freundinnen Lippenstift befand, oder riesige bunte Cocktails mit Schirmchen bestellten. Die ausländischen Kellner des Clubs trugen hautenge Sporthosen und über den Kopf nach hinten gezogene T-Shirts, so daß man ihre nackte Brust sah. Die mamasan beugte sich zu mir herüber ins Licht. Sie war mittlerweile über Vierzig, hatte ein aufgedunsenes Gesicht und eine rote Nase. Entweder sie hatte zu viel Zeit in der Sonne verbracht, oder sie war zur Alkoholikerin geworden. »Wir haben eine Auswahl hervorragender spanischer Sherrys. Unseren Kundinnen ist Sherry lieber als Whisky«, schnurrte sie, nahm zwei Gläser und goß goldbraune Flüssigkeit hinein. Es sah ganz so aus, als würde ich auf leeren Magen Alkohol trinken müssen - recht war mir das nicht. »Gibt's auch irgendwelche Snacks hier?« fragte ich. Sie hob die Augenbrauen. »Sie können Joghurt haben, -58-
Schokoladenmousse, Erdbeertörtchen oder Cracker mit Käse.« »Kleine Häppchen für Frauen«, sagte ich lächelnd. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir ein paar Cracker mit Käse herzurichten?« »Nein, kein Problem.« Sie griff unter die Theke und holte einige Packungen Käsecracker, wie man sie an Automaten kaufen konnte, heraus. Ich hatte mir Hoffnungen auf einen Teller Cracker mit echtem Käse, vielleicht Stilton und Brie, gemacht, aber so etwas war hier offenbar nicht zu kriegen. »Itadakimasu.« Ich sprach die traditionelle japanische Dankformel, während ich mit knurrendem Magen die Plastikverpackung öffnete. »Marcellus ist ganz hingerissen von Ihnen.« Chiyo hob ihr Glas mit Sherry an die Nase und roch daran. »Er hat mir erklärt, was Sie wollen, und ich habe ihm gesagt, ich würde mit Ihnen sprechen.« Eine beschwipste junge Frau in einem grünpinkfarben karierten Kostüm wankte zur Theke. »Entschuldigung. Wir feiern hier heute den letzten Abend einer Freundin vor der Hochzeit und haben ihr die Cowboy-Nummer versprochen, aber angeblich ist der Cowboysan krank. Ich kann's gar nicht glauben - vorgestern abend war er doch noch kerngesund! Könnten Sie ihn nicht bitten, daß er trotzdem auftritt?« Chiyo verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Unser Cowboy läßt gerade eine Schönheitsoperation machen, da wäre es kein Vergnügen für Sie, ihn jetzt zu sehen. Gefällt Ihnen Black Magic denn nicht?« »Wir wollten Cowboysan, weil er das Seil hat«, jammerte die junge Frau. Chiyo nickte nachdenklich. »Ach so. Sie wollten sie also zusammenbinden. Dann brauchen Sie nur auf den Auftritt unseres Unanständigen Adeligen zu warten. Er hat ein Halstuch, und wenn Sie auf Ihre Freundin deuten, tut er, was Sie ihm -59-
sagen. Allerdings kostet das extra.« »Setzen Sie's auf meine Rechnung. Vielen Dank!« Die junge Frau strahlte. »Ist sowas denn legal in Shibuya?« fragte ich, als die junge Frau auf ihren Platz zurückgekehrt war. Das Publikum begann rhythmisch zu klatschen, um den Tänzer anzufeuern. »Selbstverständlich. Ich gehe kein Risiko mehr ein. Aber erzählen Sie mir doch von dieser Zeitschrift, für die Sie schreiben, von der Gaijin Times, nicht wahr?« Chiyo fixierte mich mit ihren dick geschminkten, harten Augen. »Werden Sie über den Club berichten?« »Nun, ich interessiere mich hauptsächlich für den Künstler, der Ihr Wandgemälde geschaffen hat.« »Natürlich können Sie die Inneneinrichtung beschreiben, aber vergessen Sie auch nicht, die Tänzer zu erwähnen. Wir brauchen mehr zahlende Kunden.« Ein Blick über die Schulter sagte mir, daß es mittlerweile nur noch Stehplätze gab. Marcellus löste gerade die Verschlüsse seiner engen Football-Hose und ließ die Hüften für die jubelnden Damen kreisen. Ich sah weg, verlegen nicht seinetwegen, sondern wegen des derben Verhaltens der Frauen. Dachte er, daß wir alle so waren? »Kein Problem. Wenn Sie mir dafür einige Informationen über Kunio geben.« Chiyo nahm einen Schluck Sherry und sagte dann: »Kunio hat in der Anfangszeit des Clubs stundenweise für mich gearbeitet.« »Nur als Maler?« fragte ich. »Ja. Er ist zu mir gekommen, als ich letzten Winter das Gebäude für die Eröffnung renovieren ließ. Er sagte, daß er ganz in der Nähe lebt, aber bald umziehen muß. Er sagte, er würde mir Arbeit im Austausch dafür anbieten, daß er weiterhin Post unter dieser Adresse erhalten könnte; er hatte nicht viel Geld. -60-
Ich wollte wissen, welche Arbeiten er erledigen kann, und er hat mir erklärt, er ist Künstler. Da habe ich gesagt: Na schön, wenn du mir die Innenwände gestaltest und im Bedarfsfall Ausbesserungsarbeiten übernimmst, kannst du diese Adresse hier angeben.« »Sie haben einem Fremden einfach so geholfen?« fragte ich. Chiyo war mir nie sonderlich hilfsbereit erschienen. Chiyo lächelte mich ein wenig arrogant an. »Haben Sie den Jungen schon mal gesehen?« »Nein. Allerdings habe ich gehört, daß er attraktiv ist...« »Er ist einfach umwerfend. Ich hätte ihm Geld fürs Tanzen gegeben, obwohl er Japaner ist. Wenn nötig, hätten wir ihn als Chinesen oder Thai ausgeben können. Aber er wollte nicht tanzen. Er sagte, er hat kein Rhythmusgefühl.« Chiyo schnaubte verächtlich, als sei das absolut lächerlich. »Wie alt ist er?« fragte ich. »Zweiundzwanzig, so alt wie ein guter Whisky«, antwortete Chiyo. »Er hat dieses Frühjahr seinen College-Abschluß gemacht - das weiß ich, weil er mir sein Zeugnis ge zeigt hat, als könnte er mich so leichter dazu bewegen, ihn unseren Briefkasten benutzen zu lassen.« Chiyo verdrehte die Augen. »Er sieht aus wie der junge Toshiro Mifune. Und wer könnte dem einen Wunsch abschlagen?« Toshiro Mifune war ein beliebter Schauspieler aus den sechziger Jahren, der in vielen Filmen von Akira Kurosawa mitgespielt hatte. »Wollen Sie damit sagen, daß er die Haare wie ein Samurai trägt?« fragte ich. Chiyo lachte. »Nein, nein. Er hat die Haare rötlichbraun gefärbt, wie viele der jungen Leute heute. Sie fallen ihm in die Stirn wie so einem englischen Filmstar. Aber Toshiro Mifune kommt mir deshalb in den Sinn, weil Kunio gern alte japanische -61-
Kleidung trägt, Sachen aus der Showa-Zeit. So hat er sich mir auch vorgestellt.« »Er trägt solche Sachen beim Malen?« »Nein, beim Malen hatte er nur sehr wenig an. Es ist sehr heiß hier drin, wissen Sie. Shorts und ein T-Shirt mit irgendeiner manga-Figurr.« »Mars Girl vielleicht?« fragte ich. »Mit diesem albernen Zeug kenne ich mich nicht aus«, sagte Chiyo. »Aber seine Kleidung beim Malen hat nur Ärger gebracht, weil ein paar von meinen Tänzern den Blick gar nicht mehr von ihm losreißen konnten. Er wirkt nicht nur auf Frauen.« »Er hat den Gedanken der Verführung perfekt eingefangen.« Ich schaute noch einmal verstohlen zu dem Wandgemälde hinüber, das vor Farben und Gefühlen zu bersten schien. Es war fast so etwas wie eine Mischung aus den Werken des japanischen Künstlers Hashiguchi Goyou und denen des französischen Malers Balthus, die beide außerordentlich eindringliche Gemälde von Frauen, Kindern und deren sozialem Umfeld schufen. Kunio hatte in seiner Wandmalerei die Schönheit und Dekadenz des modernen jungen Lebens in Japan eingefangen, kurz bevor der Krieg alles veränderte. Chiyo schnaubte verächtlich. »Ja, die Wand sieht gut aus, aber eine Weile habe ich mir darüber auch Gedanken gemacht, weil ich dachte, die Japaner, die darauf dargestellt sind, könnten von meinen ausländischen Tänzern ablenken.« »Ihre ausländischen Tänzer scheinen mir genug Aufmerksamkeit zu bekommen«, sagte ich. Ich konnte Marcellus kaum noch sehen, weil drei junge Frauen aus dem Publikum aufgesprungen waren und um ihn herumtanzten. Jetzt wurde mir auch klar, was er zuvor mit »Diensten« gemeint hatte - allzuviel fehlte nicht mehr, dann rissen ihm die Damen das Suspensorium vom Leib. »Ich verlasse mich darauf, daß Sie einen positiven Artikel -62-
über meinen Club schreiben«, sagte Chiyo, deren Blick dem meinen gefolgt war. »Ich muß alle Artikel, die ich verfasse, dem Redakteur vorlegen«, sagte ich mit einem unsicheren Gefühl. »Die Leute von der Zeitschrift wollen, daß ich mich in meiner Story auf manga konzentriere.« »Nun, bemühen Sie sich jedenfalls, meinen Club zu erwähnen, neh?« »Aber zuerst muß ich Kunio kennenlernen«, sagte ich. »Die Informationen, die Sie mir gegeben haben, sind natürlich sehr hilfreich, doch ich muß mit ihm persönlich sprechen.« »Normalerweise wäre das kein Problem. Er kommt jeden Tag her, um seine Post abzuholen, aber heute war er noch nicht da. Ich habe ihn vor drei Tagen das letzte Mal gesehen.« »Glauben Sie, er hat die Stadt verlassen?« fragte ich. »Unter seiner Telefonnummer ist er nicht mehr zu erreichen.« Chiyo schüttelte den Kopf. »Nein, das würde er nie tun, ohne mir Bescheid zu geben. Außerdem ist er gerade erst von einer Reise zu seinen Eltern zurückgekehrt. An jenem Morgen vor ein paar Tagen hat er mir eine Schachtel mit Süßigkeiten von dort vorbeigebracht. Er hat gesagt, er ist müde von der Fahrt und möchte den restlichen Sommer in Tokio bleiben, um sich auf seine Kunst zu konzentrieren.« »Dann hat er sich vielleicht zum Malen in seine Wohnung zurückgezogen?« Ich stellte mein leeres Sherry-Glas mit einem Gefühl des Bedauerns weg. »Ich begreife immer noch nicht, warum er Ihre Adresse verwenden wollte, wenn er eine Wohnung hat.« Doch Chiyos Aufmerksamkeit war nicht mehr auf mich gerichtet. Ich folgte ihrem Blick und sah, daß eins der Schulmädchen ihr Orangen-Soda umgestoßen hatte und nun verzweifelt versuchte, die Flüssigkeit wegzuwischen. -63-
»Nicky«, bellte Chiyo mit einem Fingerschnippen, und der gutaussehende junge Mann im Smoking, der sich in diskreter Entfernung zu uns aufgehalten hatte, ging hinüber, um den Tisch zu säubern. Auf der Bühne hatte Marcellus inzwischen einem dunkelhaarigen Mann Platz gemacht, einer jüngeren, attraktiveren Version von Prinz Charles. Er trug ein Tweedsakko, aber natürlich kein Hemd darunter, und schwang ein Halstuch. Das war also der Unanständige Adelige. Schon erstaunlich, diese kleine Welt, in die ich da hineingestolpert war, in der die Männer tanzten, bedienten und die Frauen umwarben. Und merkwürdigerweise hatte ich nun auch keine Schuldgefühle mehr, wenn ich den Tänzern zuschaute. Dafür hatte der Sherry gesorgt, der mich von innen her wärmte. »Darf ich Sie auf einen zweiten Drink einladen?« fragte Chiyo, die meine Stimmung zu spüren schien. »Es wird allmählich spät.« Es war nach sieben, und ich dachte mit schlechtem Gewissen an Takeo, der auf mich wartete, während ich, umgeben von halbnackten Männern, Alkohol trank. »Auch recht«, sagte Chiyo. »Wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, kann Kunio Sie anrufen, sobald er hier vorbeischaut.« Normalerweise hätte ich ihr meine Nummer sofort gegeben, aber nun zögerte ich. Chiyo hatte in der Vergangenheit Informationen über mich verwendet, um mir zu schaden. Eigentlich glaubte ich, daß wir jetzt auf derselben Seite standen, aber ganz sicher konnte ich mir da nicht sein. »Könnten Sie ihn wohl bitten, diese Nummer anzurufen?« Ich notierte die Nummer von Takeos Strandhaus. Chiyo hob die gezupften Augenbrauen, als sie die Vorwahl sah. »Dann leben Sie also jetzt auf dem Land«, sagte sie. -64-
»Ja«, sagte ich und fragte mich dabei schon, ob ich den nächsten Zug, der von der Shibuya Station losfuhr, noch erwischen würde. Ich wollte Takeo so bald wie möglich erzählen, was ich herausgefunden hatte.
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8 Ich verpaßte den Expreßzug und mußte einen Bummelzug nehmen, der an jedem Bahnhof hielt und meine Geduld auf eine harte Probe stellte. Vom Gleis aus rief ich Takeo an, um ihm zu sagen, er könne mich in etwa zwei Stunden erwarten, doch er ging nicht an den Apparat. Ich hörte nur seine Ansage vom Band, die Anrufer bat, eine Nachricht zu hinterlassen. Unwillkürlich verglich ich Takeos kühlen Tonfall mit der erotischwarmen Stimme der Männer in Chiyos Club. Der Eifer von Marcellus und Nicky hatte mit dem Geld zu tun, das sie für ihre Dienste bekamen. Das war nur natürlich. Auch ich war freundlich gewesen zu Chiyo, einer Frau, die ich eigentlich nicht ausstehen konnte, weil ich etwas von ihr wollte. Jetzt fragte ich mich, ob ich nicht mehr von ihr hätte verlangen sollen - Kunio etwas Komplexeres von mir auszurichten, nämlich: Wenn er mich anriefe, könnte ich ihm helfen, mit seiner Kunst Geld zu verdienen. Mir war beim Anblick von Kunio Takahashis Wandgemälde sofort klar gewesen, daß seine historischen Interpretationen in eine größere Kunstausstellung gehörten. Ich könnte seine Agentin werden, seine Werke in ganz Japan verkaufen und vielleicht weitere Aufträge für große Gemälde in Restaurants oder Bürogebäuden für ihn an Land ziehen. Würde sich für mich ein moralischer Konflikt ergeben, wenn ich zuerst über sein Werk schrieb und dann als seine Agentin arbeitete? Wäre ich für eine richtige Zeitschrift tätig gewesen, ja. Aber bei der Gaijin Times wurde ohnehin nicht so genau zwischen redaktioneller Arbeit und Werbung unterschieden. Mr. Sanno würde sich vermutlich freuen, wenn mein Artikel Kunio zu einem prominenten, kommerziell erfolgreichen Künstler machte. -66-
Natürlich bestand die Möglichkeit, daß Kunio bereits einen Galerieinhaber oder Kunsthändler kannte, der sich für ihn einsetzte. Aber für sehr wahrscheinlich hielt ich das nicht, weil er so arm war, daß er nicht einmal eine eigene Postadresse besaß. Allerdings konnte es durchaus sein, daß er, obwohl noch ohne Agent, nicht bereit war, mit mir zusammenzuarbeiten. Schließlich waren Künstler für ihre Exzentrik bekannt. Ich beschäftigte mich mit Werken von Leuten, die längst das Zeitliche gesegnet hatten, was bedeutete, daß ich mit keinem von ihnen Verhandlungen führen mußte. Nun, das Ganze wäre eine völlig neue Erfahrung für mich. Es hatte keinen Sinn, sich über Fragen Gedanken zu machen, die sich noch nicht beantworten ließen. Ich schlug den Showa Story-Comic auf, den ich vom Strand mitgebracht hatte. Takeo hatte ihn noch nicht für mich übersetzt, und so war ich auf die Bilder angewiesen, um die Geschichte zu erfahren. Diese Story begann im Jahr 2000 mit einem Mars Girl im Teenager-Alter. Sie trug einen roten Overall und beamte sich aus einer unangenehmen Situation mit Schulrowdys ins Weltall hinaus. Nach erfolgreicher Ausbildung auf ihrem Heimatplaneten reiste Mars Girl in einer Raumkapsel zur Erde zurück, ausgerüstet mit unterschiedlichen Waffen, darunter auch ein hübsches Amulett, das sie um den Hals trug. Ab hier wäre es hilfreich gewesen, wenn ich die Dialoge hätte lesen können, weil ich nicht so ganz begriff, welche Kräfte das Amulett besaß. Allerdings verstand ich, daß die Raumkapsel von Mars Girl während der Rückreise in Richtung Erde in Turbulenzen geriet und so in den dreißiger Jahren landete. Damals gab es an der Stelle, die sie verlassen hatte, keine Schule, sondern nur ein Privathaus. Das konnte ich entschlüsseln, weil in der Ecke der beiden Illustrationen dieselbe Adresse - 1-2-8 Nezu - geschrieben stand; Privathaus und Schule befanden sich also am selben Ort. 1-2-8 Nezu. Die Eins der Adresse bezog sich auf die erste -67-
chome oder Sektion einer Gegend im alten innerstädtischen Tokio; die Zwei stand für den Block und die Acht für die Hausnummer. Nezu war in der Nähe von Yanaka, jenem winzigen Viertel voller Süßigkeitenhersteller und buddhistischer Tempel, in dem ich wohnte. Es war geschickt von Kunio, sich Nezu als Schauplatz seiner Geschichte auszusuchen. Nezu und Yanaka waren im Zweiten Weltkrieg nicht zerbombt worden, und so standen dort noch immer viele alte Häuser. Er konnte die echten Gebäude als Vorlagen für seine detaillierten Zeichnungen in den Comics verwenden. In dem Heft, das ich gekauft hatte, behauptete er, daß auf dem Grund und Boden, auf dem sich früher ein Wohnhaus befunden hatte, heute eine Grundschule stand. Soweit ich wußte, gab es in Nezu eine einzige Grundschule, aber die war in einer anderen chome. Comics waren Fiktion; Kunio konnte seine Schule ansiedeln, wo er wollte. Aber seine Genauigkeit in puncto Adressenangabe faszinierte mich. Ich blätterte weiter und sah, wie Mars Girl in eine Versammlung in einem Teehaus platzte und sich unterwürfig für die Störung entschuldigte. Die kanji-Zeichen für diese Entschuldigungen kannte ich, weil ich sie selbst so oft benutzte. In Show a Boy war das anders. Dort entschuldigten sich die Frauen nicht ständig. Chiyo versuchte sich nicht dafür zu rechtfertigen, daß der Cowboy nicht zur Verfügung stand, um die Freundin der jungen Kundin mit dem Lasso einzufangen, und auch die junge Frau entschuldigte sich nicht dafür, daß sie mit ihrer Beschwerde unser Gespräch unterbrochen hatte. In Striptease-Lokalen mußten Frauen sich offenbar nicht vor der Sprachpolizei verantworten. Mittlerweile hatte der Zug Zushi erreicht, die Hayama am nächsten gelegene Haltestelle. Ich stand auf, um auszusteigen, und bedauerte schon fast, Tokio verlassen zu haben. Wenn ich geblieben wäre, hätte ich rasch in Nezu vorbeischauen können, -68-
um herauszufinden, ob die Adresse, die Kunio für die Schule angegeben hatte, stimmte, und um mich zu erkundigen, ob der Künstler sich öfter in dem Viertel blicken ließ. Nach einer Busfahrt und einem zehnminütigen Fußweg wünschte ich mir noch mehr, in Tokio geblieben zu sein. Das Haus von Takeos Familie war dunkel, und als ich an der verschlossenen Tür klopfte, reagierte niemand. Ich mußte dringend auf die Toilette. Daran war der Sherry in Show a Boy schuld. Für den Fall, daß Takeo nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten auftauchte, beschloß ich, die Strandlatrine aufzusuchen, die Quelle des kleinen, schmutzigen Bächleins, das ins Meer mündete. Die Warnung Takeos, ich solle nachts nicht allein am Strand spazierengehen, mußte ich dann leider in den Wind schlagen. »Warum?« hatte ich ihn gefragt. Schließlich wimmelte es in der Gegend von Isshiki Beach von kaiserlichen Garden. Takeo hatte nur etwas von »Strand-Rowdys« gemurmelt. Ich ging auf der Suche nach einem Weg hinein ums Haus herum. In dem ummauerten Garten hatte ich gehofft, einen großen Teil des Wochenendes zu verbringen. Ich schlenderte im Licht der Dämmerung über den überwucherten Rasen mit den kunstvoll zurechtgestutzten Pflaumen- und Maulbeerbäumen. Ganz am hinteren Ende befand sich ein kleiner Zen-Garten mit einigen großen Steinen, einer kleinen Steinlaterne und einer Glyzinie. Das Zentrum bildete ein geharktes Beet aus reinstem weißen Sand, der kaum Ähnlichkeit mit dem schmutzigen vom Strand hatte. Takeo rechte den Sand des Gartens jeden Morgen in die Form perfekter Wellen und beseitigte alle Blätter, die möglicherweise darauf gefallen waren. Ein goldfarbenes Augenpaar beobachtete mich von der Mitte des Sandes aus. Zuerst dachte ich, es gehöre einem Dämon, doch dann merkte ich, daß da eine Katze saß. Ich sah die Katze an, lockte sie aber nicht zu mir. Katzen machen mich unsicher. Ich hörte ein plätscherndes Geräusch - das Tier erleichterte sich -69-
in dem sorgfältig gerechten Zen-Garten. Als es seine Hinterlassenschaft mit Sand zuschüttete, spürte ich mein eigenes Bedürfnis nur noch dringender. Das Küchenfenster stand offen. Vermutlich brauchte ich nur das leichte Fliegengitter beiseitezuschieben, um hineinzugelangen. Das einzige Problem war, daß das Fenster sich ungefähr drei Meter über mir befand. Ich schaute mich nach der Leiter um, die Takeo und die Handwerker fürs Dach benutzt hatten. Hatten sie sich wirklich die Mühe gemacht, sie im Schuppen einzuschließen? Offenbar ja. Ich gab auf, deponierte die kleine Tasche mit der Freizeitkleidung, die ich früher am Tag getragen hatte, vor der Haustür und legte einen Zettel dazu, daß ich einen kurzen Spaziergang machen wolle und wiederkommen werde. Dann setzte ich mich in Richtung Strand in Bewegung. Sobald sich meine Sandalen mit Sand füllten, zog ich sie aus. Hoffentlich, so dachte ich, rührte das feuchte Gefühl an meinen Sohlen tatsächlich nur vom Meerwasser her. Der nächtliche Strand unterschied sich deutlich von dem am Tag. Die Familien und Pingpongspieler waren verschwunden, aber in den offenen Unterständen, die mir schon früher aufgefallen waren, tummelten sich alle mö glichen jungen Leute. Laute amerikanische Seeleute bestellten Drinks mit anzüglichen Namen wie Sex on the Beach für japanische Single-Mädchen; japanische Pärchen schlürften riesige Maitais; kleine Gruppen japanischer Männer mit Sonnenbrillen, ärmellosen Shirts und Tätowierungen tranken Budweiser, ein Importbier, das in Japan so etwas wie ein Statussymbol war. Ein paar Australier riefen mir etwas zu, als ich vorbeiging. Offenbar hielten sie mich für eine Japanerin, die kein Englisch verstand. Normalerweise hätte ich etwas auf englisch zu rückgerufen, weil ein gaijin das Interesse am allerschnellsten dann verlor, wenn er merkte, daß eine Frau seine Sprache konnte. Aber heute schenkte ich ihnen keine Beachtung, weil ich die kaum fünfzehn Meter entfernte -70-
Betonlatrine so rasch wie möglich erreichen wollte. Wegen des Gestanks, der darin herrschte, war ich schon nach wenigen Minuten wieder draußen. Als ich mich der Bar auf der Suche nach einem Ort, an dem ich mir die Hände waschen konnte, näherte, sah ich ein schlankes Mädchen mit Bikini-Oberteil und Shorts, die Haare zu zwei kindischen Pferdeschwänzen zusammengebunden. Irgendwie erinnerte sie mich an Rika, die Praktikantin der Gaijin Times. Als das Lächeln der jungen Frau breiter wurde und sie ihr Erstaunen über diesen Zufall ausdrückte, merkte ich, daß sie tatsächlich Rika war. »Wie schön. Sie zu sehen«, sagte ich, während ich versuchte, mir über meine wirklichen Gefühle klar zu werden. Ihr lächelndes Gesicht erinnerte mich daran, daß ich sie auf Anhieb hatte leiden können. Doch was tat sie hier, eine Stunde vom Büro der Zeitschrift entfernt, nach Einbruch der Dunkelheit an einem eher entlegenen Strand? »Reisan! Das ist ja wunderbar! Ich habe von Ihren Wochenendplänen gehört und beschlossen, auch hierher zu kommen. Gesellen Sie sich zu mir und meinen Freunden auf einen Drink an die Bar?« Rika war so aufgekratzt, daß mir klarwurde, sie mußte schon ziemlich beschwipst sein. »Gern. Aber zuerst würde ich mir gern die Hände waschen.« »Das können Sie an der Bar machen«, sagte Rika. »Hier gibt's Wasser.« Ich folgte der schmalhüftigen Rika zur Bar und kam mir dabei mit meinem langen, über den Sand schleifenden Kleid ein wenig zu fein gekleidet vor. Die Hände wusch ich mir dann schließlich in der Spüle, einem großen, freistehenden Becken mit einem Schlauch. Auch die restliche Einrichtung der Bar war so provisorisch. Vom Strohdach hingen schief ein paar Glühbirnen. Es gab einige große Picknicktische sowie kleinere Tischchen, die aussahen wie große Seilrollen von einem Schiffsdeck. Hayama lag ein paar Kilometer von Yokosuka entfernt, wo die -71-
amerikanische Navy eine Schiffswerft hatte. Vielleicht stammten die Rollen ja tatsächlich von dort und waren hier einer neuen Bestimmung zugeführt worden. Rika war nicht mit jemandem von der Zeitschrift da, sondern umgeben von einer Gruppe Studenten aus dem Showa College, die sie mir so schnell vorstellte, daß ich ihre Namen nicht mitbekam. Unter ihnen befanden sich ein hagerer Junge, der mit den blau lackierten Nägeln seiner langen Finger auf den Tisch trommelte; ein Mädchen mit grünem Kraushaar, vermutlich das Ergebnis ihres Versuchs, es sich mit billigen Mitteln blond zu färben; sowie ein weiterer, bis auf den Grad seiner Alkoholisierung unauffälliger Junge, der Bier auf dem Tisch verschüttete und die ganze Zeit aufgeregt darüber plapperte, daß er an jenem Tag auf einer Drei-Meter-Welle gesurft war und fast dabei umgekommen wäre. Ich sah kopfschüttelnd hinaus auf das stille Meer. Manche Leute nannten die Bucht im Scherz Hayama-See, weil es so wenige Wellen gab. Daß Takeo und seine Freunde hier surften, beeindruckte mich, die ich in Kalifornien aufgewachsen war, nicht sonderlich. An einem echten Strand würden sie das Surfen schnell aufgeben. Rika schenkte mir ein Glas aus dem eisgekühlten Krug mit Asahi-Bier auf dem Tisch ein. »Warum sind Sie allein hier?« fragte sie. »Mein Freund hatte etwas anderes vor. Und Sie?« »Mir macht's Spaß, in der Nacht hierher zu kommen. Ganz in der Nähe gibt's einen sehr guten manga-Laden, der bis spät geöffnet hat.« »Sie meinen sicher Animagine«, sagte ich. »Ja, genau. Woher kennen Sie den?« rief Rika aus. Ich hätte den jungen Leuten erklären können, daß Takeo mich auf den Laden aufmerksam gemacht hatte, aber ich wollte nicht über meinen Freund reden, der mich für die se Nacht ausgesperrt -72-
hatte. Also antwortete ich: »Er ist gleich neben einem Cafe, das ich gern besuche.« »Wir könnten zusammen im Animagine nach Anregungen suchen.« Rika spielte auf das japanische Konzept der Teamarbeit an, während ich lediglich darum bemü ht war, mein Image zu retten. Um ihr ein wenig entgegenzukommen, gestand ich ihr: »Ich war schon drin, um mich... inspirieren zu lassen.« Dann wandte ich mich ihren Begleitern zu, weil mir plötzlich ein Thema einfiel, mit dem ich sie ins Gespräch einbeziehen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit von meinem Projekt ablenken konnte. »Erstaunlich, wie viele junge Männer gern Comics über Schulmädchen lesen.« Der Junge mit den blauen Fingernägeln zuckte mit den Achseln. »Die lesen nur Typen, die einsam sind. Versager. Es hat sogar mal 'nen Kerl gegeben, der war so besessen von der Idee, junge Mädchen zu vergewaltigen, daß er sich die Techniken aus den Comics angeeignet und tatsächlich ein paar Mädchen vergewaltigt und umgebracht hat.« Ich bekam eine Gänsehaut. »Dann seid ihr also nicht der Meinung, daß diese Comics ein sicheres Ventil für solche Phantasien sind?« »Nein«, sagte er. »Warum würden sonst so viele Mädchen in den U-Bahnen begrapscht? Weil es Bücher und manga gibt, in denen so etwas zelebriert wird.« »Reisan, Sie sollten nicht vergessen, daß solche Sex-Comics nur etwa zwanzig Prozent des gesamten Marktes ausmachen.« Rika schienen die sensationslüsternen Schilderungen ihres Freundes peinlich zu sein. »Es gibt so viele andere Arten von manga, über die wir schreiben können, zum Beispiel Serien mit interessanten Geschichten über den Weltraum, das Kochen oder die Musik. Mit ziemlicher Sicherheit erwartet Mr. Sanno so etwas für die Gaijin Times.« -73-
»Er gibt Ihnen eine gute Chance, indem er Ihnen die Leitung des Projekts überträgt«, sagte ich. »Nein, nein, ich bin nur ein kleines Rädchen. Aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zum Gelingen beizutragen.« »Rika weiß nicht sonderlich viel über manga«, mischte sich das Mädchen mit den grün gefärbten Haaren ein. »Gott sei Dank erscheint die Zeitschrift in Englisch und nicht in Japanisch.« »Das stimmt.« Rika wirkte niedergeschlagen. »Ich kenne mich längst nicht so gut aus wie die andern im manga-Cub. Ich werde mich auf ihre Unterstützung verlassen müssen.« Rika tat mir leid, und so sagte ich: »Nun, die Leute von der Zeitschrift finden, daß Rika eine ganze Menge weiß. Sie hatte eine sehr gute Idee für den Artikel, den ich über die künstlerische Bedeutung von manga verfassen soll.« »Haben Sie schon ein paar gute Künstler gefunden, über die Sie schreiben wollen?« fragte Rika. »Ich spiele mit dem Gedanken, mich mit einem dôjinshi mit dem Titel Showa Story zu beschäftigen. Das ist eine Version von Mars Girl, die mir interessanter erscheint als das Original.« »Die Reihe kenne ich!« rief Rika aufgeregt aus. »Der Künstler hat dieses Jahr seinen Abschluß am Showa College gemacht. Er heißt Kunio Takahashi.« »Ach, tatsächlich?« Allmählich fügten sich die Teile des Puzzles zu einem Ganzen. Chiyo hatte den Namen von Kunios Uni nicht erwähnt. Jetzt erhielt der Titel seiner Comics noch eine weitere Bedeutungsebene - er war eine Hommage an die Schule, an der der Künstler studiert hatte. »Da war noch ein anderer Junge aus der Schule in der Gruppe«, sagte Rikas blonde Freundin. »Er ist Amerikaner, und er ist ganz verrückt nach cospray.« »Was ist denn das?« Ich machte mir Notizen. Bis zu diesem -74-
Zeitpunkt hatte ich mir eingebildet, ich käme ganz gut zurecht mit der japanischen Sprache, doch seit dem Beginn meiner manga-Recherchen wurde ich immer wieder mit neuen Herausforderungen konfrontiert. »Cosplay«, sagte Rika mit übertrieben amerikanischem Akzent, trennte die Silben und artikulierte das »L« so deutlich, daß ich das Wort verstand. »Das bedeutet, daß man sich anzieht wie seine Lieblingsfiguren aus den Comics. - Costume plus play, Kostüm plus Spiel. Verstehen Sie jetzt?« »Ja. Klingt ja ganz schön verrückt.« Ich hob die Augenbrauen. »Wissen Sie, wie die Studenten in der Gruppe heißen?« Rika schüttelte den Kopf. »Am College sind jetzt Sommerferien, da wird's ziemlich schwierig werden, sie zu finden. Wenn der Amerikaner im Austauschprogramm ist, verbringt er den Sommer vielleicht sogar zu Hause.« »In der Gruppe ist auch eine Japanerin«, sagte Rikas Freundin. »Ich glaube, ihr Familienname ist Hattori.« »Seiko Hattori?« fragte Rika. »Ja, genau. Seiko Hattori«, sagte Rikas Freundin. »Wunderbar«, sagte ich und notierte mir den Namen. »Ob Kunio wohl auch bei diesen cosplay-Sachen mitmacht? Ich habe gehört, daß er gern altmodische Kleidung trägt.« »Er ist älter als ich, deswegen sind wir uns in der Uni praktisch nicht begegnet«, sagte Rika mit einem kleinen Seufzen. »Aber ich hab' ihn schon mal mit diesen Sachen gesehen. Er schaut wirklich sehr sexy aus.« Alle Frauen, mit denen ich sprach, lobten Kunios gutes Aussehen. Also mußte tatsächlich was an ihm dran sein. Der Junge ist sechs Jahre jünger als du, rief ich mir ins Gedächtnis. Gott, fühlte ich mich alt.
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9 Die Motten flogen ihrem Tod entgegen ins Licht, der Barkeeper hatte keine Bananen mehr für Daiquiris, und der Zeiger der Uhr näherte sich allmählich der Elf. Als Rika sah, wie spät es war, erinnerte sie ihre Freunde daran, daß in weniger als einer halben Stunde der letzte Zug nach Tokio vom Bahnhof Zushi aus abfahren würde. Nachdem der Junge mit den blauen Fingernägeln ein kleines Handy herausgeholt und damit ein Taxi gerufen hatte, das die jungen Leute zum Bahnhof bringen sollte, borgte ich mir dieses Handy, um bei Takeo anzurufen und festzustellen, ob er inzwischen zu Hause war. Aber er meldete sich noch immer nicht. Eine Mischung aus Unsicherheit und so etwas wie Ärger über Takeos Abwesenheit und die verschlossene Tür stieg in mir auf. Natürlich konnte ich über den Strand zurückgehen und vor der Schwelle seines Hauses warten, aber ich wußte, daß ich dort eine ausgesprochen ungemütliche Nacht verbringen würde. Als das Taxi für Rika und ihre Freunde auf der Strandstraße hielt, entschied ich mich deshalb für die einzig vernünftige Vorgehensweise und setzte mich zusammen mit den anderen ins Taxi, um zum Bahnhof zu fahren. Was, wenn Takeo etwas zugestoßen ist? fragte ich mich mit schlechtem Gewissen, während wir vom Taxi zum Bahnhof Zushi rannten, um den letzten Zug zu erwischen, und Rikas Knöchel fast von der sich schließenden Tür eingeklemmt wurde, nachdem sie gerade noch ins Abteil geschlüpft war. Doch es gab kein Zurück mehr. Wir kamen kurz vor Mitternacht am Bahnhof Tokio an und sputeten uns, die U-Bahnen in unsere jeweiligen Wohnviertel zu erreichen. In einer Kultur, die so sehr von Zügen abhing, fand ich es ziemlich unfair, daß auf den meisten Linien die letzten bereits um Mitternacht fuhren. -77-
Das Leben in Japan brachte immer neue Herausforderungen mit sich, und mir war bewußt, daß ich es leichter hatte als die meisten anderen Leute. Rik a und ihre Freunde lebten zusammen mit ihren Eltern in Vororten weit draußen, während meine Wohnung sich in der Nähe der Station Sendagi im nordöstlichen Teil des Tokioter Zentrums befand. Zu Fuß waren es nur zehn Minuten vom Bahnhof zu meinem Apartment im Erdgeschoß eines vor dem Krieg gebauten Hauses. Nach dem Wochenende meiner Abwesenheit empfing mich dort abgestandene Luft, so daß ich sofort die Fenster öffnete, um die Nachtluft hereinzulassen. Ich hatte Gitter vor den Fenstern, ein Schutz, der vermutlich angesichts der ausgesprochen niedrigen Verbrechensrate in meinem altmodischen, an den Friedhof von Yanaka grenzenden Viertel nicht nötig war. An der hinteren Wand des Hauses lehnte beispielsweise schon seit Ewigkeiten ein nicht abgeschlossenes Fahrrad, weil niemand wußte, wer es dort gelassen hatte und es unhöflich gewesen wäre, es einfach zu entsorgen. Ruhe hatte ich am Strand nicht gefunden, und auch meine Zeit mit Takeo war sehr knapp bemessen gewesen. Ich freute mich, wieder zu Hause zu sein. Ich sah mich in dem persimonenfarbenen Raum voll japanischer Antiquitäten um, die ich auf Flohmärkten entdeckt und instand gesetzt hatte. An der einen Wand hing ein alter Kinderkimono, die andere war mit alten Holzschnitten geschmückt. Ich brauchte nur wenige Minuten, um meinen Futon aus dem Schlafzimmerschrank zu holen und auszurollen, sank auf die weiche Unterlage und fragte mich ein letztes Mal, warum Takeo nicht dagewesen war. Am nächsten Morgen um acht erfuhr ich den Grund, als das Telefon neben meinem Bett schrillte. Ich nahm den Hörer von der Gabel, und Takeos laute Stimme schallte mir entgegen. »Dann lebst du also noch! So sicher war ich mir da nicht, nachdem ich deine Sachen vor der Tür gefunden hatte. Auf dem Zettel stand, daß du zurückkommen würdest, aber das hast du -78-
nicht getan, und so habe ich mir schon Sorgen gemacht, daß du vielleicht auf die selbstmörderische Idee gekommen bist, nachts schwimmen zu gehen.« »Nein, nein. Ich hab' die Tasche mit den Sachen um acht vor der Tür abgestellt, weil ich sie nicht zum Strand mitnehmen wollte.« »Zum Strand?« »Die Tür war verschlossen, also bin ich zu der Strandlatrine gegangen und habe dann an der Bar gewartet.« Ich benutzte bewußt dieses Verb, statt zu sagen, ich habe mir dort die Zeit mit Trinken vertrieben. »Ich habe zweimal bei dir angerufen, und als du um elf immer noch nicht daheim warst, bin ich mit dem letzten Zug nach Hause gefahren.« »Wir wollten uns doch gar nicht bei mir im Haus treffen.« »Nein?« fragte ich. »Ich war nicht dort, weil ich dachte, du steigst an der Bushaltestelle beim manga-Laden aus. Das hatten wir doch ausgemacht, oder?« »Das habe ich nicht gewußt!« Allmählich dämmerte mir, was passiert war. Ich war einfach zum Bus gelaufen, ohne mich noch einmal umzuschauen, weil ich so in die Sache mit Showa Story vertieft war. »Als der letzte Bus um halb elf an der Haltestelle angekommen war, bin ich nach Hause gegangen.« Ich war mir ganz sicher, daß wir nicht ausgemacht hatten, uns dort zu treffen. Aber jetzt erinnerte ich mich wieder, daß Takeo mir noch etwas nachgerufen hatte. Ich hatte allerdings nicht verstanden, was. Ich hatte einen schrecklichen Fehler gemacht. »Hast du mir nachgerufen, daß du mich an der Haltestelle abholen würdest, als ich zum Bus gerannt bin?« fragte ich. »Ja. Hast du das vergessen?« »Ich hab' dich gar nicht gehört. Tut mir leid. Ich habe dir vor -79-
der Rückfahrt von Tokio etwas auf Band gesprochen, aber wahrscheinlich hörst du deinen Anrufbeantworter nicht ab, wenn du nicht zu Hause bist.« »Vermutlich gibt's irgendeine Geheimzahl, mit der ich das auch von außerhalb machen könnte, doch die kenne ich nicht.« »Ich hab' sogar mit dem Gedanken gespielt, bei dir einzubrechen«, gestand ich. »Allerdings hab' ich mich dann dagegen entschieden, weil ich nicht wollte, daß du noch mehr Sachen dort reparieren mußt. Du hast schon genug zu tun.« Takeo klang immer noch ein wenig verstimmt. »Ja, ich muß heute wieder rauf aufs Dach, und mit den Malerarbeiten im Innern werde ich wahrscheinlich übermorgen anfangen.« »Das heißt also, daß du diese Woche nicht viel Zeit in Tokio verbringen wirst?« fragte ich. »Stimmt. Ich habe einfach zu viel zu tun«, sagte er und legte auf. Den ganzen Morgen dachte ich darüber nach, was geschehen war. Ständig kam es zwischen den Menschen zu Mißverständnissen, aber mir wurde klar, daß das bei mir besonders häufig so war, und das konnte nur eins bedeuten: Diese Mißverständnisse waren meine Schuld. Da ich nicht viel gegen das gegenwärtige Zerwürfnis tun konnte, kroch ich aus dem Bett, ging wie üblich vor dem Frühstück zum Joggen und wandte mich ansonsten den Tagesaktivitäten zu. Ich hatte vor, bei der Adresse 1-2-8 Nezu, dem Ort, den Kunio in seinem Comic angegeben hatte, vorbeizuschauen, um festzustellen, ob die alte Schule tatsächlich existierte. Das Viertel befand sich auf der anderen Seite der Shinobazudori, der Hauptverkehrsstraße der Gegend, an der zwei U-Bahn-Stationen der Chiyoda- Linie, Sendagi und Nezu, lagen. Ich ging in Richtung der Haltestelle Nezu. Warum hatte -80-
Kunio, wenn er so nahe bei mir wohnte, unbedingt seine Postadresse im südwestlichen Teil Tokios haben wollen? Nun, vielleicht handelte es sich um eine Statusfrage. Eine Adresse im Taito-Bezirk war viel weniger attraktiv als eine im MinatoBezirk, wo Shibuya lag. Ich blieb vor einem Polizeihäuschen stehen, um mich nach dem in der Showa Story erwähnten Häuserblock zu erkundigen. Der Polizist gab mir gern Auskunft. »Ja, natürlich, da war mal eine Schule. Die wurde allerdings noch zu meiner eigenen Schulzeit geschlossen. Jetzt steht dort ein kleines Wohngebäude.« Ich musterte den Polizisten. Er war Anfang Dreißig, vermutete ich, ein bißchen älter als ich und vielleicht acht Jahre älter als Kunio Takahashi. »Kennen Sie jemanden namens Kunio Takahashi, der hier im Viertel wohnt?« »Nicht persönlich... aber wenn er hier wohnt, müßte er eigentlich gemeldet sein. Soll ich das für Sie überprüfen?« »Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht. Ich vermute, daß er in der Gegend um die Schule lebt, falls Ihnen das weiterhilft. Sein Name schreibt sich so.« Dabei streckte ich ihm den Comic hin, weil ich keine Lust hatte, mich an der komplizierten kanjiSchreibweise des Namens zu versuchen. »Chome Nummer acht, stimmt's?« Der Polizist schlug ein dickes Buch voller Adressen und Namen auf, alle in winziger piktographischer kanji-Schrift. »Ich bin mir nicht sicher.« Er meinte eine numerierte Gegend des Viertels, die Teil der Schuladresse war. »Sind die Takahashis alle zusammen aufgelistet?« »Nein. Alle Familieneinträge richten sich nach der Straßenadresse. In der chome gibt es vermutlich mehr als tausend Familien. Ich werde wahrscheinlich einige Zeit -81-
brauchen, um das für Sie zu überprüfen.« Plötzlich bekam ich ein schlechtes Gewissen. »Sie haben so viel zu tun. Ich möchte Ihnen wirklich keine Mühe machen... schließlich bin ich mir nicht ma l sicher, ob dieser Mann in Nezu wohnt.« »Wie Sie meinen«, sagte der Polizist und klappte das Buch zu. »Nun, wenn Sie drauf stoßen sollten, wäre ich Ihnen dankbar«, sagte ich. Ich haßte mich für meine Ambivalenz, hatte aber Angst, daß ich gerade eben meine Chance auf eine Information vertan hatte. Er seufzte. »Na schön, ich sehe für Sie nach. Kommen Sie in zwei Stunden wieder.« Ich beschloß, in der Zwischenzeit zu dem Haus auf dem Anwesen der alten Schule zu gehen. Die Suche nach Kunio gestaltete sich allmählich wie Hänsels und Gretels Orientierung an den Brotkrumen. Oder in dieser Gegend an einzelnen Zeitungsseiten, verrottenden Zwiebeln oder der einen oder anderen weggeworfenen Cola-Dose. 1-2-8 Nezu war eine kleine Nebenstraße westlich des NezuSchreins. Bei den meisten Häusern handelte es sich um alte Hütten mit Blechdächern, auf denen Katzen saßen. Ich fragte mich, was es dort oben so Interessantes für sie gab. Nun, vielleicht war das nur einfach die Art der japanischen Katzen. In Amerika hatte ich nie eine auf dem Dach gesehen. Ich konnte nirgends eine Schule entdecken, sondern nur eine Parkgarage, und allmählich glaubte ich, daß der Polizist sich getäuscht hatte. Neben der Parkgarage befand sich ein kleiner Tofu-Laden - in alten Vierteln konnte man frisch gemachten Tofu kaufen - und links daneben ein Wohngebäude. Über den Balkongeländern der meisten Fenster hingen rote, blaue und pinkfarbene Futons, die sich bunt von dem verrußten Stuckgebäude abhoben. Auf dem Balkon im obersten Stock sah ich einen Futon mit Mars-Girl-82-
Aufdruck. Ein gutes Omen, dachte ich und machte mich auf, das Innere des Hauses zu erkunden. Zum Glück war der Vorraum nicht abgeschlossen. An einer Wand, die dringend einen Neuanstrich hätte vertragen können, hing mit rostigen Schrauben befestigt ein zerbeulter grauer Briefkasten mit etwa zwanzig Fächern. An jedem davon stand ein Nachname. Die Beschriftungen stammten von den unterschiedlichen Mietern und variierten von ordentlicher Maschinenschrift bis zu fast unleserlichem Gekritzel. Den Namen, nach dem ich suchte, erkannte ich sofort: Er stand in klarer Handschrift auf dem Schild für Wohnung 4A. Takahashi, Kunio. Mit ziemlicher Sicherheit war die Wohnung mit dem Mars-Girl-Futon über dem Balkongeländer seine. Und weil die Tür dahinter weit offen gestanden hatte, ging ich davon aus, daß der Künstler zu Hause war.
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10 Ich drückte auf die Klingel von Wohnung 4A, und die Tür ging einen Spalt weit auf. Sie schien nicht verschlossen zu sein. Ich drückte noch einmal auf die Klingel und rief: »Mr. Takahashi?« Keine Reaktion. Auch nicht nach fünf Minuten. Was sollte ich bloß tun? Vermutlich hatte Kunio Takahashi seine Wohnung verlassen, ohne die Tür zuzuziehen. In einem Viertel wie Nezu konnte man das ohne weiteres machen. Aber er konnte auch drinnen liegen, vielleicht sogar verletzt. Ich bewegte mich von seiner Tür weg und drückte auf die Klingel der daneben liegenden. Hinter dem Spion wurde es dunkel, und eine Stimme krächzte: »Ja?« »Ich versuche, Mr. Kunio Takahashi zu finden.« Dabei straffte ich die Schultern, weil ich mir bewußt war, daß ich durch den Spion beobachtet wurde. »Wissen Sie, ob Wohnung 4A die seine ist?« »Meinen Sie den gutaussehenden jungen Mann?« fragte mich die Stimme mit merkwürdigem Akzent. Ich verdrehte die Augen. »Ja, genau.« »Klar ist das seine. Klingeln Sie einfach bei ihm. Das machen viele junge Frauen.« In der Stimme schwang jetzt so etwas wie Langeweile mit. Wie die Person, die dazugehörte, wohl aussah? Ihre Neugierde mich genauer anzuschauen, hielt sich vermutlich in Grenzen, wenn Kunio Tag und Nacht Besuch bekam. »Ich habe schon geklingelt, aber er reagiert nicht. Allerdings glaube ich nicht, daß er ausgegangen ist, denn die Tür steht ein wenig offen. Meinen Sie, er könnte verletzt sein?« -84-
»Sie geben wohl nicht so schnell auf.« Jetzt wurde die Tür langsam geöffnet, und vor mir stand eine ziemlich merkwürdige Gestalt, eine Person meines Alters, die sowohl männliche als auch weibliche Merkmale zu besitzen schien. Sie trug eine lavendelfarbene Acrylperücke, hatte ein fahles Gesicht wie eine Kabuki-Figur und leuchtend blaue Augen, und der sinnliche Körper steckte in einem blauen Nylon-Gymnastikanzug mit hohem Kragen. Der silberfarbene Lame-Rock reichte bis zum Boden, so daß ich die Füße nicht sah. Das mußte ein Transvestit sein, dachte ich. In Roppongi hätte ich mit so etwas gerechnet, aber nicht hier in Nezu. In meiner Zeit in Tokio hatte ich schon viele exzentrische Männer kennengelernt, doch dieser hier übertraf alle. Ich machte den Mund auf, mir durchaus bewußt, daß ich eine förmliche Begrüßung hätte aussprechen sollen, aber völlig überwältigt von der Tatsache, daß die alte Dame, mit der ich eigentlich gerechnet hatte, ein junger Mann war. »Ich heiße Rei Shimura«, sagte ich, »und bin hier, weil ich über Kunio Takahashi schreiben möchte.« »Sie erkennen mich also nicht?« fragte der Mann lächelnd. Seine weißen, ganz und gar ebenmäßigen Zähne halfen meinem Gedächtnis auf die Sprünge. »Sie waren doch im Show a Boy... Sind Sie Nicky?« Der Mann fiel mir wieder ein, dessen Stimme mich genauso gewärmt hatte wie der Sherry. »Ich sehe nicht die ganze Zeit wie Mars Girl aus, aber heute muß ich zu einem wichtigen Treffen.« Ich zählte zwei und zwei zusammen. »Dann gehören Sie also zu Kunios manga-Zirkel. Sie sind der Amerikaner! Studieren Sie am Showa College?« »Früher, ja«, sagte Nicky. »Aber in dem Club verdiene ich so viel Geld, daß ich beschlossen habe, ein bißchen Ferien von der Schule zu machen. Ich bin nach Korea geflogen, und Chiyosan -85-
hat sich um die Formalitäten gekümmert, damit ich eine Arbeitsgenehmigung bekomme. Ich liebe Japan. Ich könnte für immer hierbleiben.« »Und was ist mit dem Mädchen in Ihrer Gruppe?« fragte ich. »Seiko Hattori?« Seine geschminkten Augen wurden groß. »Haben Sie mit der auch schon gesprochen?« »Nein, noch nicht«, sagte ich. »Verkleidet die sich auch als Mars Girl?« Nicky kicherte. »Nein, die hat's eher mit den Tieren, also zieht sie sich an wie die läufige Hündin von Mars Girl.« »Aha.« Ich konnte nicht über seinen frauenfeindlichen Witz lachen. Er paßte so gar nicht zu seiner ausgesuchten Höflichkeit gegenüber den Kundinnen des Clubs am Abend zuvor. »Darf ich Sie was fragen? Sie arbeiten doch im Show a Boy; sind Sie auf die schlaue Idee gekommen, die dortige Adresse für Ihren Zirkel zu verwenden?« »Ja, der Name des Comic und die Adresse sind auf meinem Mist gewachsen.« Er lachte, als halte er das für besonders geistreich. »Ich habe Kunio gesagt, er soll Chiyo wegen der Adresse fragen, weil ich nicht wollte, daß sie was von meinem Interesse an manga erfährt. Sie mag's nicht, wenn wir außerhalb der Arbeit Hobbys haben.« »Klingt nicht besonders fair«, sagte ich. »Aber egal, ich würde gern mit Kunio sprechen. Wann können Sie ihn mir vorstellen?« »Sind Sie sicher, daß Sie das packen?« spottete Nicky. »Die Preise für Kunios Werke sind ganz schön raufgegangen. Sagen Sie Ihrem Boß, daß er es schon ernst meinen muß, wenn er ihn haben will.« »Natürlich meinen wir es ernst«, platzte es aus mir heraus. »Aber Journalisten zahlen nicht bar für Interviews! Unsere Artikel sind kostenlose Werbung. Nach dem Erscheinen -86-
bekommt Ihr Comic sicher neue Leser. Wie hoch ist die Auflage übrigens?« »Ungefähr zweitausend Stück. Wir verkaufen die Hefte über manga-Läden und an Abonnenten.« »Viel ist das aber nicht.« »Für dôjinshi schon! Wir sind eine der erfolgreichsten Gruppen.« »Mein Artikel könnte Ihre Popularität erhöhen«, sagte ich. »Stellen Sie mir Kunio vor, ja?« Nicky sog die Luft zwischen den Zähnen ein, was auf japanisch so viel hieß wie »keine Chance«. »Ich habe ihn eine ganze Weile nicht gesehen. Er ist zu seinen Eltern gefahren.« »Von der Reise ist er schon wieder zurück. Er hat Chiyo Süßigkeiten mitgebracht.« »Tatsächlich? Tja, ich habe ihn jedenfalls nicht gesehen. Erst gestern habe ich seine Orchideen gegossen. Wenn ich mir's recht überlege, irgendwie hat's in der Wohnung anders ausgeschaut.« Nicky hatte also einen Schlüssel zu der Wohnung und obendrein die Erlaubnis, sie zu betreten. Was war ich doch für ein Glückspilz. »Warum gehen wir nicht rein und sehen uns um?« schlug ich vor. »Ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn ich weiß, daß alles in Ordnung ist mit ihm.« Nicky wippte auf den Fersen vor und zurück. »Es wäre ein Vertrauensbruch meinem Freund gegenüber, wenn ich Sie hineinließe. Andererseits: Wenn er wieder da ist, hat er vielleicht das Geld drinnen deponiert.« »Wie bitte?« »Tja, ich verdiene wegen meiner Arbeit im Club viel mehr als er. Wahrscheinlich bin ich blöd. Ich hab' ihm fünfzigtausend Yen für die Fahrt zu seinen Eltern geliehen. Er hat gesagt, er -87-
bringt mir das Geld von seinen Eltern. Davor hab' ich ihm auch schon was gegeben.« Kunio steckte in Geldschwierigkeiten; das erklärte, warum die Telefonnummer, die er mir gegeben hatte, nicht mehr ans Netz angeschlossen war. Ich hob die Augenbrauen. »Dann hätten wir ja beide 'nen guten Grund, in die Wohnung zu gehen, oder?« Nicky holte einen Schlüssel mit Mars-Girl- Anhänger von einem unordentlichen Tisch. »Nur für eine Minute. Ich komme mit Ihnen, damit Sie nichts anstellen.« Er schlüpfte in Teva-Sandalen, um die paar Schritte bis zu Kunios Tür zu gehen, die er aufdrückte. In dem Raum dahinter standen alle Fenster offen, so daß es blendend hell war. Von außen hatte das Gebäude so düster gewirkt, daß ich nicht mit einem Künstleratelier darin gerechnet hatte, aber ge nau so sah Kunios Wohnung aus. An den Wänden klebten überall Skizzen für Mars-Girl-Geschichten. Die Skizzenseiten waren alle so groß wie die Comic-Heft-Seiten. Hier hingen bestimmt genügend Entwürfe für drei Hefte, alle in der richtigen Reihenfolge und alle im richtigen Maßstab, so daß ich die einzelnen Bilder von der Stelle aus, an der ich stand, nicht erkennen konnte. Es ergab sich der Gesamteindruck eines bunten Schachbretts, die Farben ganz ähnlich wie die des Wandgemäldes im Show a Boy. Lediglich die kleine Kochnische im Raum und die halboffene Tür zu dem kleinen Bad waren ausgespart. »Hab' ich mir schon gedacht. Er ist nicht da«, sagte Nicky und schlüpfte aus seinen Sandalen, um in die Mitte des Raumes zu treten. Also besaß er trotz seiner rüden Ausdrucksweise doch so etwas wie Anstand. »Der Futon hängt draußen auf dem Balkon«, sagte ich. »Das bedeutet, daß er letzte Nacht hier geschlafen hat.« Ich ging hinaus auf den Balkon und zog den Futon gerade; obwohl er mit einer großen Klammer am Geländer befestigt war, sah er aus, als -88-
hätte der Wind ihn fast heruntergeweht. Als ich ihn berührte, stellte ich erstaunt fest, daß er ein wenig feucht war. Ich kehrte in die Wohnung zurück, wo ich ein schnurloses Telefon auf dem Boden entdeckte. Die Basisstation dazu stand auf einem Tischchen neben der Tür. Die Nummer auf einem Mars-Girl-Sticker, der auf dem Fuß klebte, entsprach der, die ich bei Animagine erhalten hatte. Ich legte den Hörer auf die Station und hob dann gleich wieder ab, um herauszufinden, ob das Wählzeichen ertönen würde. Aber wie erwartet tat es das nicht. Auf dem Schreibtisch lagen weitere Zeichnungen, und in den offenen Schubladen einer tansu- Kommode befanden sich Papiere und Künstlerbedarf. Auf dem niedrigen Beistelltischchen sah ich ein paar Zeitungen, ein MarsGirldôjinshi, der mir bis dahin nicht aufgefallen war, sowie eine halbvolle Dose Asahi Super Dry Beer. Nicky nahm die Dose in die Hand und trank einen Schluck daraus. »Fast nicht abgestanden. Hat er wahrscheinlich gestern abend aufgemacht. Das heißt also, daß er wieder in der Stadt ist und genug Geld hat, um sich Bier zu kaufen, aber nicht genug, um seine Schulden bei mir zu begleichen. Mehr als siebenhundert Yen habe ich hier noch nicht gefunden.« »Auf dieser Zeitung steht auch das Datum von gestern«, sagte ich. Ich nahm das dôjinshi in die Hand und begann, ihn durchzublättern. Da war Mars Girl wieder in ihrer ganzen violettfarbenen Haarpracht und mit einem Kostüm genau wie dem von Nicky. Ich überflog die Zeichnungen und merkte, daß es sich um die an den Wänden von Kunios Wohnung handelte. Offenbar hatte er seine Originale kopiert und mit einem einfachen Plastikumschlag versehen statt mit dem üblichen Hochglanzkarton. Ich versuchte, der Geschichte zu folgen: Mars Girl lebte im Japan der dreißiger Jahre bei einer Familie, die sie für eine -89-
merkwürdige Cousine vom Land zu halten schien und sie bat, auf einem alten Herd Reis zuzubereiten. Doch daraus wurde ein Problem, denn im All waren genau wie im modernen Japan elektrische Reiskocher die Norm. Nachdem sie es mit unterschiedlichen Reis-Wasser-Verhältnissen probiert hatte, schlich Mars Girl sich aus dem Haus, um Reis in einem Restaurant zu kaufen. Dort begegnete sie Gangstern, die vom Inhaber Schutzgelder erpressen wollten. Mit ein paar schnellen Karateschlägen jagte sie die Ganoven in die Flucht, aber der finsterste von ihnen entpuppte sich als Karatemeister, überwältigte und entführte sie in einer Fahrrad-Rikscha. Der Gangster gab dem Fahrer Geld, damit er sie an einem einsamen Ort unter einer Brücke am Sumida River allein ließ. Auf den folgenden fünf Seiten wurde Mars Girl dann aus ihrem Kimono gewickelt, und die nächste Zeichnung zeigte eine Dampflok, die durch einen Tunnel fuhr. Mars Girl wurde also vergewaltigt ein typisches Comic-Szenario. Meine Laune verbesserte sich ein wenig, als ich sah, daß Mars Girl die Beine um den Kopf des Ganoven schlang und ihm das Genick brach. Mit ein bißchen Sojasauce zeichnete sie die Umrisse des Planeten Mars als ultimative Demütigung auf sein Gesicht, bevor sie ihn zum Fluß hinunterschleifte und die Leiche hineinwarf. Die blutrünstige Geschichte endete damit, daß Mars Girl in der Rikscha ein abgepacktes Essen fand, das sie natürlich mit nach Hause nahm und dort als ihr eigenes Werk präsentierte. »Mädchen vom La nd brauchen manchmal ganz schön lange, um eine Mahlzeit zuzubereiten, aber die schmeckt dann dafür wunderbar«, lobte der Vater der Familie, während Mars Girl immer wieder auf typisch japanische Weise beteuerte, sie sei eine schrecklich schlechte Köchin. Es wunderte mich, daß ich so viel von der Geschichte verstand. Nach einer Weile hob ich den Blick und stellte fest, daß ich allein in der Wohnung war. Wo steckte Nicky? Ich rief seinen Namen und ging hinüber zu seiner Wohnung. -90-
Er reagierte schon bald auf mein Klopfen. »Dann sind Sie also fertig mit Lesen«, sagte er mit einem Blick auf das Heft in meiner Hand. »Was halten Sie davon?« »Nun, in künstlerischer Hinsicht ist das Wandgemälde besser als der Comic, aber ich habe trotzdem vor, über die Comics zu schreiben. Als erstes könnte ich Sie zum Beispiel fragen, wieviel Einfluß der Zirkel auf die inhaltliche Gestaltung der dôjinshi hat.« »Normalerweise gern, aber ich muß zu einer Matinee.« »Sie wollen ins Kino?« Er kicherte. »Nein. Ich treffe mich mit meiner geilen japanischen Freundin.« »Herzlichen Dank für die Information«, sagte ich so sarkastisch wie möglich. »Japanischamerikanische Frauen tun mir irgendwie leid.« Nicky musterte mich nachdenklich. »Sagen wir's doch mal ganz offen: Man könnte Sie fast für eine Japanerin halten, aber Ihre Persönlichkeit stimmt einfach nicht. Hier wird's Ihnen mit Sicherheit nicht gelingen, jemanden für sich zu interessieren, denn Sie haben Grenzen und die Japanerinnen nicht. Japanische Mädchen sind pervers. Die machen Sachen, die können Sie sich gar nicht vorstellen.« Darauf hätte ich die unterschiedlichsten Dinge erwidern können. Nicky glaubte wie so viele ausländische Männer, die ich in Tokio kennengelernt hatte, daß japanische Frauen eine merkwürdige Mischung aus emotionaler Re inheit und sexueller Bereitwilligkeit ihr eigen nannten, die sie zu den idealen Gespielinnen machte. Mir war klar, daß Nicky mich aus der Fassung bringen wollte, indem er mir signalisierte, er wisse, was für eine Frau ich sei. Nun, die Frauen zu verstehen war schließlich sein Job. »Klingt fast so, als wäre die Sache mit dem Strippen besser -91-
als das Studieren«, sagte ich. »Ja. Ich tanze für sie, und sie stecken mir Geldscheine in den Slip. Und wenn sie mich vor meinem Auftritt ausführen - wir nennen solche Verabredungen dohan -, zahlen sie das Hotelzimmer, die Drinks und die Geschenke, einfach alles.« »Sie sprechen von Karrierefrauen?« fragte ich ungläubig. »Du lieber Himmel, nein! Zu uns kommen keine Karrierefrauen, das ist ja das Tolle! Meine Kundinnen sind die Mädels, die Sie im Club gesehen haben: Studentinnen, Büroangestellte, Hausfrauen. Altersmäßig ist ein Unterschied von zwanzig Jahren möglich, aber sobald man erst mal drin ist, sind sie alle gleich.« Jetzt gelang es mir nicht mehr, meinen Ekel zu verbergen. Daß ich das Gesicht verzog, brachte ihn zum Lachen. »Egal, ich treffe mich bald mit den anderen Leuten vom Zirkel und erzähle ihnen, daß Sie sich für unsere Comics interessieren. Dann werden wir ja sehen, ob sich was ergibt.« »Eigentlich möchte ich mich nur mit Kunio unterhalten«, sagte ich. Vom Flur drang ein lautes Knallen herein, das mich zusammenzucken ließ. »Klingt fast so, als wäre Kunio nach Hause gekommen«, sagte Nicky. Wir gingen zusammen in den düsteren Flur hinaus, und tatsächlich: Jetzt war Kunios Tür geschlossen. Nicky versuchte, den Knauf zu drehen. »Mach auf!« brüllte er und schlug gegen die Tür. Keine Reaktion. »Das ergibt keinen Sinn. Vorher war die Tür unverschlossen, und jetzt ist sie zugesperrt«, sagte ich. »Haben Sie meinen Schlüsselring mit raus genommen?« -92-
Ich zuckte noch einmal zusammen. »Ihren Schlüsselring?« »Ja, den hab' ich gewohnheitsmäßig mit hinein genommen. Der muß jetzt da drin sein. Wie ärgerlich.« »Tut mir leid«, sagte ich. »Soll ich einen Schlüsseldienst anrufen?« »Machen Sie sich nicht die Mühe. Ich will seine Pflanzen sowieso nicht mehr gießen, jetzt, wo ich weiß, daß er wieder da ist. Außerdem muß ich los. Meine Freundin kann's nicht leiden, wenn ich zu spät komme. Da zückt sie schon mal die Peitsche.« Während Nicky das sagte, ging er im Zimmer herum und füllte eine Kinder-Lunchbox mit Mars-Girl-Aufdruck mit UBahn- und Telefonkarten, Geld sowie einem Lippenstift. Dann scheuchte er mich aus der Wohnung. Von der Tür aus sagte er: »Ich treffe mich heute nachmittag wahrscheinlich mit einem weiteren Mitglied des Zirkels. Ich werde die betreffende Person fragen, ob sie sich mit Ihnen unterhalten möchte. Aber das tue ich nur, wenn Sie mir versprechen, daß ich Sie anrufen kann. Kommen Sie nicht mehr in den Club oder hierher, ja?« »Gut.« Ich reichte ihm meine Visitenkarte. »Ich sehe, was ich machen kann. Doch wenn unser Comic tatsächlich in Ihrer Zeitschrift erscheint, wollen wir Geld dafür sehen.« »Da muß ich zuerst mit den Verantwortlichen reden«, sagte ich. »Bis bald.« Nicky segelte in einer Wolke aus Taft und süßlichem Parfüm an mir vorbei, ein perfekter She-Boy unterwegs zu seiner Verabredung. Erst als er die Treppe schon zur Hälfte hinunter gegangen war, merkte ich, daß ich den Original-Entwurf der Mars-Girl-Story in der Hand hielt. Und der Schlitz unter Kunios Wohnungstür war zu schmal, als daß ich ihn hätte hindurchschieben können. Schließlich nahm ich ihn mit, weil ich Nicky, wenn er anrief, -93-
ja sagen konnte, daß ich ihn hatte. Die Angelegenheit mit der verschlossenen Tür war merkwürdig. Hatte Nicky auf den Knopf an dem Türknauf gedrückt, so daß die Tür nach dem Zuschlagen versperrt war? Vielleicht, um mein Gehen zu beschleunigen? Es war gefährlich, fremde Männer zu Hause zu besuchen; das hatten mir meine Tante und meine Mutter sowie ungefähr hundert weitere Menschen in meinem achtundzwanzigjährigen Leben immer wieder gesagt. Jetzt mußte ich ihnen tatsächlich zustimmen.
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11 Als ich nach Hause kam, blinkte das Licht an meinem Anrufbeantworter. Ich spielte das Band in der Hoffnung auf eine Nachricht von Kunio Takahashi ab. Doch statt seiner hörte ich Takeos Stimme, der sich dafür entschuldigte, daß er ein paar Stunden zuvor so eingeschnappt gewesen war. »Ich war durcheinander, weil ich dachte, dir ist was passiert. Schließlich wäre es nicht das erste Mal. Bitte ruf mich zurück, sobald du Zeit hast.« Ich war gerührt. Da ich Takeos Handy-Nummer nicht auswendig wußte, suchte ich nach meinem Adreßbuch. Komisch. Das Büchlein war nicht in meinem Rucksack und auch nicht auf dem Telefontischchen. Ich versuchte, mich zu erinnern, wann ich es das letzte Mal gebraucht hatte, und irgendwann fiel mir die Strandbar in Hayama ein. Ich hatte die Nummer von Takeos Ferienhaus nachgesehen und dann mit dem Handy von Rikas Freund angerufen. Hatte ich das Adreßbuch an der Bar vergessen? Wenn ja, lag es jetzt entweder irgendwo im Sand oder war im Fundbüro der Polizei in Hayama abgegeben worden. An den Namen der Bar erinnerte ich mich nicht, aber Rika konnte mir da sicher auf die Sprünge helfen. Allerdings war es Sonntag, und ich würde sie erst am folgenden Morgen um neun erreichen, wenn das Büro der Gaijin Times öffnete. »Reisan! Warum sind Sie denn nicht hier?« flüsterte Rika in den Hörer, nachdem ich meinen Namen gesagt hatte. »Wieso sollte ich?« fragte ich verwirrt zurück. »Ich rufe nur an, um zu fragen, ob Sie den Namen der Bar kennen, in der wir Samstagnacht waren. Ich glaube, ich habe mein Adreßbuch dort -95-
vergessen.« »Sie heißt Bojo. Aber hören Sie zu: Mr. Sanno ist heute hier. Er möchte erfahr en, wie die laufenden Projekte vorankommen.« »Ach? Aber heute ist doch erst Montag.« »So ist das nun mal, wenn ein japanischer Chef die Sache in die Hand nimmt, Reisan. Dann müssen wir gambaru - das heißt alles geben.« »Wenn er mir gesagt hätte, daß ich ins Büro kommen soll, hätte ich das getan. Doch er hat nichts erwähnt...« »Ja, Sie sind Freiberuflerin, das ist in diesem Fall ein Nachteil. Wir regulären Angestellten gehen am Montag natürlich immer ins Büro. Aber ich muß jetzt aufhören, Alecsan winkt mich ins Konferenzzimmer zurück. Noch eine letzte Frage: Darf ich Mr. Sanno über den Stand Ihres Projekts informieren? Ich würde ihm gern erzählen, worüber wir uns neulich abend am Strand unterhalten haben.« Ich erklärte ihr, es sei gefährlich, Mr. Sanno eine Story zu versprechen, wenn ich möglicherweise nicht in der Lage war, sie zu liefern. »Können Sie nicht einfach sagen, ich bin dabei, einen vielversprechenden dôjinshi-Künstler aufzuspüren?« »Ich werd's versuchen«, sagte Rika. »Ja, das ist eine gute Idee. Ich sage ihm, daß Sie angerufen haben, um sich zu entschuldigen, weil Sie mitten in einem sehr wichtigen Interview mit Kunio sind.« »Bitte erwähnen Sie seinen Namen nicht, weil...« Weil's vielleicht nicht klappt, hatte ich vorgehabt zu sagen, doch Rika hatte sich bereits mit einem »Auf Wiedersehen« verabschiedet. Ich war meinem Adreßbuch noch kein bißchen näher gekommen, und so beschloß ich, den Nachmittag sinnvoll zu nutzen, während ich darauf wartete, daß Takeo oder Kunio mich anrief. Ich machte mich daran, die Wohnung aufzuräumen und dabei all jene Telefonnummern und Adressen zu sammeln, die -96-
ich auf irgendwelchen Zetteln notiert hatte. Erstaunlich, wie unordentlich ich war. Ich fand Nummern auf der Rückseite zerrissener Umschläge und Speisekarten aus Restaurants, viele davon ohne zugehörigen Namen. Kunios Wohnung war viel ordentlicher gewesen als meine. Auf dem Tisch hatte ich nur wenige Dinge gesehen, nicht ein Durcheinander aus Notizen und Zeitschriften und leeren Tellern wie bei mir. Fast hätte man den Eindruck haben können, daß er sich aus dem Staub gemacht hatte - obwohl das nicht sein konnte. Ein von Natur aus ordentlicher Mensch würde eine halbvolle Bierdose keinen halben Tag auf dem Tisch stehen lassen, sondern sie wegwerfen. Und der Futon war feucht gewesen. Offenbar hatte ihn jemand über Nacht draußen gelassen, wo er vom Regen naß geworden war. Niemand würde einen Futon draußen lassen, wenn er zu Hause schlief. Was also war passiert? Ich stellte mir ein mögliches Szenario vor: Nicky war spät in der Nacht heimgekommen, und Kunio hatte ihn von seiner eigenen Wohnung aus gehört. Vielleicht hatte er sich schnell verdrückt, um einer Konfrontation über das geliehene Geld aus dem Weg zu gehen. Nein, dachte ich, Kunio mußte die Wohnung bereits tags zuvor verlassen haben. Sonst hätte er seinen Futon hereingeholt. Ich machte mir Sorgen, obwohl es eigentlich keinen guten Grund dafür gab. Auch um Takeo hatte ich mir Sorgen gemacht, weil er am Samstagabend nicht zu Hause gewesen war, und ihm war nichts passiert. Kunio war ein erwachsener Mann, der selbst auf sich aufpassen konnte. Daß er die Nacht nicht in seiner Wohnung verbracht hatte, hing vermutlich mit einer der Bewunderinnen zusammen, von denen Nicky gesprochen hatte. Egal, wo er in der vergangenen Nacht gewesen war - es bestand die Möglichkeit, daß er bei Show a Boy vorbeigeschaut -97-
hatte, um seine Post abzuholen. Ich rief die Auskunft an, um mir die Nummer des Clubs geben zu lassen, und wählte sie in der Hoffnung, daß nicht ausgerechnet Chiyo rangehen würde. »Hai«, hauchte ein Mann mit rauher Stimme. »Hallo, ist Marcellus da?« fragte ich. »Im Moment ist niemand da. Mit wem spreche ich?« Niemand außer dir, dachte ich. Ich zögerte eine Weile, bevor ich sagte: »Ich hätte eine Frage zu dem Künstler, der die Wände bemalt hat.« Schweigen, dann: »Warum?« War das Kunio am anderen Ende der Leitung? Ich wählte meine Worte mit Bedacht. »Wenn er vorbeikommt, um seine Post zu holen, würde ich mich gern mit ihm unterhalten. Es geht um eine ausgezeichnete Möglichkeit, bekannter zu werden, um mehr als nur einen Zeitschriftenartikel.« »Vielleicht will er gar keine Publicity. Das habe ich jedenfalls gehört.« »Wollen Sie damit sagen, ein junger Mann, der gerade das College abgeschlossen hat, will mit der Arbeit, die er liebt, kein Geld verdienen?« Ich lachte leise, damit es klang wie ein Scherz. Irgendwie mußte ich mich bei dem merkwürdigen Kerl einschmeicheln, wer auch immer er war. »Im Leben gibt's wichtigere Dinge als Geld. Wenn Sie das nicht wissen, tun Sie mir leid.« Während ich noch nach einer passenden Antwort suchte, legte er auf. Der Mann am anderen Ende der Leitung war mit ziemlicher Sicherheit Kunio gewesen. Aber egal, wie schnell mich die UBahn auch nach Shibuya bringen würde, wenn ich bei Show a Boy ankam, wäre er schon verschwunden. Die andere Möglichkeit war, zu seiner Wohnung zu fahren, doch wenn er mich dort traf, ging er vielleicht noch mehr auf Distanz. Ich -98-
stieß einen Seufzer aus. Falls Kunio sich weigerte, sich interviewen zu lassen, konnte ich den Artikel auch ohne seine Mithilfe schreiben. Aber vermutlich hatte Rika Mr. Sanno schon mitgeteilt, daß ich ein Porträt über Kunio verfassen wollte. Wie peinlich, wenn ich dann nicht in der Lage wäre, etwas abzuliefern. Ich machte mir eine Tasse Darjeeling und setzte mich, um über das Für und Wider der Alternativen nachzudenken. Nach einer Weile kam ich zu dem Schluß, daß die Nachrichten, die ich bei Nicky und Chiyo hinterlassen hatte, eigentlich ausreichen mußten, Kunio bei seiner Entscheidung zu helfen, ob er mich anrufe n wollte oder nicht. In der Zwischenzeit würde ich versuchen, einen anderen Interview-Partner aufzutun - einen begabten Künstler, dem es recht wäre, wenn seine Arbeiten in einem Hochglanzmagazin besprochen würden. Statt wieder zu Animagine hinauszufahren, würde ich mich in einem manga-Laden in Tokio umsehen. Ein vielversprechender Ort für eine solche Suche wäre Harajuku, ein boomendes Viertel mit kleinen Läden, die die Teenager anlockten wie eine offene Dose mit Thunfisch die Katzen. Mit der U- Bahn lag die Gegend in westlicher Richtung nur eine halbe Stunde entfernt, aber die altersmäßige Verteilung der Bevölkerung war dort völlig anders als im restlichen Tokio. Hier konnte man nicht gemütlich durch die Straßen schlendern, sondern wurde von einer Woge blauuniformierter Teenager im schulpflichtigen Alter weggerissen. Fast kam ich mir vor wie in einem der Schulmädchen-Comics, die ältere Männer so gern lasen, aber keinem Mann hätte es gefallen, in dieser sich bewegenden Masse von kleinen Soldatinnen mit Pferdeschwänzen gefangen zu sein, die ob einer Ronald-McDonald-Figur auf einer Bank vor dem Hamburger-Laden in Entzückensschreie ausbrachen. Zwei Sicherheitskräfte schützten Ronald vor der Menge. Die Figur war eine Gefahr für alle Fußgänger, dachte ich säuerlich, als mich die Flut der Mädchen wieder erfaßte. Nur hin -99-
und wieder kamen wir alle zum Stehen, wenn ein paar der Teenager sich aus der Masse lösten, um sich fotografieren zu lassen oder in Plattenläden zu laufen. »Entschuldigung, weißt du, wo...«, versuchte ich einen Teenager zu fragen, der eine Tasche mit dem Emblem von Doreamon in der Hand hielt, einer Roboterkatze aus einer bekannten Fernsehserie, aber die Mädchen kreischten so laut, daß er mich nicht hörte. Zum Glück war ich ein paar Zentimeter größer als die meisten der Teenager, so daß ich eine Boutique mit Schaufensterpuppen entdeckte, die Kostüme von Comic-Helden und -Heldinnen trugen. Ich löste mich aus der Menge, entschuldigte mich bei dem Dutzend Mädchen, gegen die ich dabei stieß, und versuchte, gegen den Strom zu schwimmen, um das Geschäft zu erreichen. »Wissen... Sie... wo ich einen manga-Laden finden kann?« fragte ich ein wenig atemlos, als ich endlich vor der Verkäuferin des Geschäfts stand, die ein Tigerfellkostüm à la Urusei Yatsura - ein weiblicher Dämon aus einer früheren anime-Sendung im Fernsehen - trug. »Hier in der Gegend gibt's keinen solchen Laden mehr. Aber wir hätten einen Coffee-Shop zu bieten, der heißt Anime Kissa«, antwortete sie. »Hat der was mit manga zu tun?« fragte ich, weil das Wort anime auf Fernsehen und Video hindeutete, nicht auf gedruckte Texte. »Ja. Wenn Sie dort für vierhundert Yen einen Kaffee oder Tee trinken, können Sie zwei Stunden lang die vorrätigen Hefte lesen. So bleibt man auf dem laufenden mit den Serien.« »Dann kann ich also keine Comics mit raus nehmen?« fragte ich. »Nein. Aber wer will schon kaufen, was er gratis haben kann?« sagte sie mit einem fröhlichen Lachen. »Das schärft mir -100-
meine Mutter auch immer ein, allerdings nicht im Zusammenhang mit manga.« Zwei Häuserblocks entfernt bog ich bei einem Laden mit alten Jeans auf der Suche nach Anime Kissa links ab. Eine schmale Tür führte in einen Raum, der so verraucht war, daß ich einen Hustenanfall bekam. Es sah dort fast aus wie in einer Bücherei, weil an allen Wänden Regale voller Comics standen. Keiner der anwesenden Teenager und Büroangestellten hob den Blick, als ich eintrat. Ich ging zu den Regalen, um sie mir systematisch anzuschauen. Den in japanischer und englischer Sprache abgefaßten Regeln neben der Tür entnahm ich, daß ich erst dann ein Getränk erwerben müßte, wenn ich die manga meiner Wahl an einen Tisch mitnahm. Und sobald eine Kellnerin meine Bestellung dann notiert hätte, würden die zwei Stunden beginnen. Wenn ich weitere Getränke oder sogar etwas zu essen orderte, konnte ich noch länger bleiben. Ich bewegte mich rasch an den zahllosen kommerziellen Comics vorbei in Richtung der wenigen Regale mit dôjinshi im hinteren Teil. Dort fand ich einen Showa Story-Comic mit einem interessanten Umschlag, auf dem Mars Girl an Deck eines alten Schiffs der Kaiserlichen Marine landete. Dieses Heft wählte ich zusammen mit etwa einem Dutzend anderer Amateur-Arbeiten aus, suchte mir einen leeren Tisch für eine Person und begann zu lesen. Das heißt, ich übersprang die kanji, die ich nicht kannte, einfach, so daß ich die Comics ungefähr in der gleichen Geschwindigkeit bewältigte wie die Leute um mich herum. Gleichzeitig trank ich zwei Eiskaffee und aß ein Stück Kürbis-Käsekuchen. Statt der interessanten Impulse, die ich mir durch meine Lektüre erhoffte, fand ich nur langweilige Kopien beliebter Serien, die durch Sexszenen aufgepeppt worden waren. Das einzige Heft, das mir gefiel, war die Showa Story. -101-
Ich bemerkte, daß mehr Gäste des Anime Kissa kommerzielle Comics lasen als dôjinshi. Ich war die einzige gewesen, die etwas aus dem Regal mit den dôjinshi geholt hatte. Lediglich auf einem anderen Tisch lag ein solcher Comic, und zwar vor einem kettenrauchenden jungen Mann mit Sonnenbrille, Zeitung und Eiskaffee. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn um ein Interview zu bitten - Kennen Sie Showa Story? Warum mögen Sie dôjinshi'? -, aber da merkte ich, daß sein Blick nicht auf das Heft gerichtet war, sondern in meine Richtung. Vielleicht saß irgendein interessanter Mensch hinter mir. Ich drehte mich unauffällig um, doch an dem Tisch hinter mir war nur ein salaryman mit einer Ausgabe von Jump. Nun, möglicherweise war der Mann mit der Sonnenbrille schwul und wollte die Aufmerksamkeit des salaryman auf sich ziehen. Ich erhob mich und brachte ein paar der dôjinshi, die ich bereits überflogen hatte, zurück. Als ich mich wieder setzte, senkte ich den Kopf, um mich dem nächsten Heft zu widmen, behielt den Mann mit der Sonnenbrille aber trotzdem im Auge. Er schlenderte zu den Regalen mit den kommerziellen Comics hinüber und machte sich dann, genau, wie ich es erwartet hatte, auf den Weg zu den dôjinshi. Es interessierte ihn also, was ich gelesen hatte. Bei den Heften, die ich ins Regal zurückgestellt hatte, handelte es sich um aufreizende Parodien von Sailor Moon und Neon Genesis Evangelien, um dôjinshi, über die ich nicht schreiben wollte, weil die künstlerische Gestaltung nicht originell genug war und das, was ich von der Handlung verstand, voller Klischees und sexueller Eindeutigkeiten steckte. Ich wollte nicht, daß der Mann mit der Sonnenbrille sah, was ich las, und beschloß, das Lokal zu verlassen. So unauffällig wie möglich zog ich meine Handtasche auf den Schoß und zählte das Geld ab, das ich der Kellnerin für den Eiskaffee und den Käsekuchen dalassen würde. Dann schob ich das Geld auf den Tisch neben mir und tat die folgenden fünf -102-
Minuten so, als lese ich weiter Comics. Mir fiel ein, daß die Verkäuferin von Animagine mir gesagt hatte, der Durchschnittsjapaner benötige zehn Minuten, um einen Comic zu lesen, und an diese Regel hielt ich mich. Schließlich klappte ich das Heft zu und erhob mich, um mir ein neues aus dem Regal zu holen. Ich spürte, daß der Mann mich beobachtete, aber ich tat so, als merke ich es nicht, und kehrte wieder zu meinem Platz zurück, wo ich den neuen Comic aufschlug. In dem Moment, in dem der Mann ans Regal trat, um nachzusehen, welchen dôjinshi ich zurückgestellt hatte, verschwand ich aus dem Coffee-Shop. Ich rannte ein paar Meter die Straße entlang und schlüpfte dann in ein Elektronikgeschäft, wo ich hinter StereoLautsprechern versteckt durchs Fenster beobachten konnte, ob der Mann vorbeikam. Obwohl ich ihn nicht entdeckte, war mir bewußt, daß er sich in der Masse der Teenager verbergen konnte, die sich jetzt fast alle auf den Weg zur Station Harajuku machten. Es war halb sechs, Zeit, nach Hause zu fahren, etwas zu essen und Hausaufgaben zu machen. Wie viele der Eltern ahnten wohl, daß ihre Kinder ihre Nachmittage mit Shopping in Harajuku vergeudeten, statt die Tutorenkurse zu besuchen? Außerdem wären diese Eltern mit Sicherheit nicht erfreut gewesen über die Männer, die die Teenager-Kunden von animeCottee-Shops begafften. Der Mann mit der Sonnenbrille konnte natürlich auch Kunio Takahashi gewesen sein, was hieß, daß er keine Gefahr darstellte, aber auch, daß ich die Chance auf ein Interview vertan hatte. Und die schwarzen Haare des Mannes mit der Sonnenbrille deuteten vielleicht nur darauf hin, daß Kunio nun nicht mehr rotbraun gefärbt war, wie von Chiyo beschrieben, sondern sich auf seine natürliche Haarfarbe besonnen hatte. Im hinteren Teil des Ladens dröhnten aus einem Fernseher die Abendnachrichten, während ich auf den Mann wartete. Möglicherweise hatte er überhaupt nicht vorgehabt, mir zu -103-
folgen. Schließlich war ich berühmt für meine Überreaktionen. Ich lauschte auf die Nachrichten, und plötzlich wurde mir bewußt, wie viele Menschen in Japan ernste Probleme hatten. Der japanische Nikkei- Index war wieder um zwei Punkte gefallen... dreißig Kinder waren an Kolibakterien aus Lunchpaketen erkrankt... ein Mann war im Sumida River tot aufgefunden worden. Ein Mann war im Sumida River tot aufgefunden worden. Plötzlich hatte ich kein Interesse mehr, die Straße zu beobachten, ging in den hinteren Teil des Ladens und stellte mich vor den Bildschirm, um den schmutzig grünbraunen Fluß zu betrachten. Ich war schon einmal dort gewesen, denn ich glaubte ihn zu kennen. Oder doch nicht? Das Viertel, in dem er sich befand, lag ein wenig näher bei Kunios Wohnung als bei meiner. Also kannte ich ihn vielleicht doch nicht. Der örtliche Fischer, der die Leiche gefunden hatte, sprach mit einem Reporter. Mit zitternder Stimme sagte er: »Er hatte ein merkwürdiges Zeichen auf dem Gesicht. Zuerst dachte ich, das ist Blut, aber jetzt glaube ich, es war Tinte.« »Das könnte das Zeichen einer Bande sein«, sagte der Reporter, der den Fischer dazu bringen wollte, daß er ihm beipflichtete. »Das weiß ich nicht. Jedenfalls war das kein normaler Mann. Das hat man an den Kleidern gesehen. Außerdem war er Ausländer, hatte blonde Haare.« »Erklären Sie die Sache mit der Kleidung doch bitte genauer!« ermutigte der Reporter ihn. »Er hatte einen blauen Gymnastikanzug an. Ein merkwürdiger Fremder - ein junger Mann, gekleidet wie eine Frau, mit silberfarbenem Rock und hochhackigen Schuhen.« »War die Leiche voll bekleidet oder teilweise nackt?« fragte der Reporter. »Kamera aus«, rief eine andere Stimme aus dem Hintergrund. -104-
Ein Polizist hatte zu spät gemerkt, daß das Interview geführt wurde, und warf dem Reporter vor, er mische sich in die polizeilichen Ermittlungen ein. Die Angst, die ich zuerst empfunden hatte, machte einer neuen Platz. Nicht Kunio war ermordet worden, sondern sein Nachbar Nicky.
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12 Ich ging aus dem Elektronikgeschäft hinaus und tauchte, traurig und ein wenig betäubt von den Nachrichten, in das geschäftige Leben von Harajuku ein. Auch wenn Nicky ein frauenfeindlicher Widerling gewesen war, hatte er den Tod nicht verdient. Und wenn ich ihm zu seiner »Matinee« und seinem anschließenden Treffen mit seinen Comic-Freunden gefolgt wäre, hätte er noch am Leben sein können. Vor der Station Harajuku befand sich eine kurze Fußgängerbrücke, die hinüber zum Yoyogi Park führte. An der Brücke unterhielten sich junge Leute in genauso bunten Kostümen wie dem von Nicky, lauschten Musik aus Ghettoblastern oder schauten in einen winzigen, batteriebetriebenen Bildschirm. Das waren also die cosplay, von denen Rika gesprochen hatte. Sie wirkten wie HalloweenFeiernde, die aussehen wollten wie Transvestiten, letztlich zu putzig, um echt zu sein. Ich näherte mich einem als Sailor Moon verkleideten Jungen in der Matrosenuniform der bekannten Comic-Heldin. »Tut mir leid, dich zu stören, aber ich wollte fragen, ob ihr schon die Nachrichten gehört habt... über einen als Mars Girl verkleideten jungen Mann, der gestorben ist?« Der Junge glotzte mich unter seinen dicken falschen Wimpern hervor an. »Ich spiele nicht Mars Girl, sondern Sailor Moon.« »Das sehe ich.« Ich blieb stehen, überrascht darüber, daß er nicht das geringste Interesse am Tod eines seiner ComicFreunde zeigte. »Ich habe versucht, mit den Mitgliedern eines dôjinshi-Zirkels in Kontakt zu kommen, der seine eigene Version des Mars-Girl-Comic publiziert.« »Ach, Sie meinen Showa Story«, sagte Sailor Moon ein wenig -106-
freund licher. »Wir kennen bloß das Mädchen aus der Gruppe. Sie verkleidet sich als Hund.« »Genau die möchte ich finden«, sagte ich, weil ich schon merkte, daß er mir nicht helfen konnte, Kunio aufzuspüren. »Seiko hat immer zu tun, obwohl sie den Comic nicht selbst zeichnet. Sie ist für den Druck verantwortlich.« »Kannst du mir beschreiben, wie sie aussieht?« fragte ich. »Sind Sie pervers oder was?« Er bedachte mich mit einem zweifelnden Blick, als sei ich mit meiner Jeans und meinem TShirt viel exzentrischer als er selbst mit seiner Uniform. Na ja, in seinen Augen wahrscheinlich schon. »Ich muß doch wissen, wie sie aussieht, wenn ich sie finden will«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Ach ja, stimmt. Nun, sie hat ein langes gelbes Fell und Schnurrhaare. Dazu trägt sie ein schwarzes Hundehalsband aus Leder. Sie fällt einem sofort auf.« »Und wie sie ohne das Kostüm aussieht, weißt du nicht?« »Nein, so erkennen Sie sie nicht. Ich hab' sie einmal ohne Kostüm erlebt, aber da sieht sie aus wie jedes andere japanische Mädchen!« »Hast du schon mal was von Männern gehört, die sich als Mars Girl verkleiden?« fragte ich Sailor Moon ohne große Hoffnung auf eine vernünftige Antwort. »Seikosan hat mir erzählt, daß der amerikajin in ihrer Gruppe Mars Girl spielt. Ich glaube, er heißt Nikko oder so ähnlich.« Nicky. Ich spielte mit dem Gedanken, Sailor Moon zu sagen, daß Nicky meiner Ansicht nach tot war. Sicher wußte ich das allerdings nicht, und ich wollte keine falschen Gerüchte in die Welt setzen. Also bedankte ich mich bei Sailor Moon und schaute mich eine Weile nach Seiko in ihrem gelben Hundekostüm um. Nach zwanzig Minuten gab ich auf und machte mich auf den Weg zu meinem nächsten Ziel, Show a -107-
Boy. Als ich dort ankam, stand Marcellus vor der Tür und teilte wieder Handzettel an Passantinnen aus. »Miss Rei, warum die Scheu, nun schaun Sie doch vorbei«, reimte er munter vor sich hin, als er mich sah. Sein fröhlicher Tonfall sagte mir, daß er nicht wußte, was passiert war. »Ich habe schlechte Nachrichten«, begann ich. »Dann werden Sie also in Ihrem Artikel nicht für unseren Club werben können? Auch kein Problem, cherie. Ich bringe die Sache mit mamasan schon in Ordnung.« »Nein, nein, es geht um einen der Männer, die hier arbeiten«, sagte ich. »Suchen Sie immer noch nach Kunio? Ich habe Ihnen doch bereits erklärt, daß er Maler ist, kein Tänzer...« »Ich spreche von Nicky.« Marcellus war ein Kollege von Nicky, und so mußte er meiner Ansicht nach von der Sache erfahren. »Er ist noch nicht da. Vielleicht setzt Chiyo ihn vor die Tür; sie ist fuchsteufelswild, weil er zu spät kommt.« Marcellus hob theatralisch die Augenbrauen. »Nun, ich finde, sie sollte zur Polizei gehen. Ich habe gerade in den Nachrichten gesehen, daß ein Ausländer im Sumida River gefunden wurde.« »In Tokio gibt es jede Menge Ausländer«, sagte Marcellus, allerdings mit zitternder Stimme. »Das ist sicher nicht Nicky. Er wird jede Minute kommen.« »Hoffentlich täusche ich mich. Aber als ich ihn heute vormittag gesehen habe, trug er ein spezielles Kostüm, und der Mann, über den sie im Fernsehen berichtet haben, trug das gleiche. Ein Mars-Girl-Kostüm.« Während ich redete, hatte Marcellus die Hand mit den Flugblättern weiter ausgestreckt gehalten. Als eine junge Passantin jetzt einen Zettel nehmen wollte, geriet er aus dem -108-
Gleichgewicht. Er entschuldigte sich bei ihr, und als sie außer Hörweite war, fragte er mich: »Haben Sie sein Gesicht gesehen?« »Nein. Die Leiche war zugedeckt. Sie oder irgend jemand sonst, der Nicky gut kennt, sollte zur Polizei gehen.« »Aber ich kann nicht! Das ist zu gefährlich.« Gefährlich. Offenbar litt er im Hinblick auf die Polizei unter Paranoia. »Verstehe«, sagte ich. »Ich weiß, daß es kein Vergnügen ist, mit der japanischen Polizei zu tun zu haben. Vielleicht fällt mir jemand anders ein... ach ja, man hat mir noch einen Namen aus dem dôjinshi-Zirkels.el genannt: Seiko Hattori.« »Ach, das Mädchen, das sich wie ein Hund verkleidet?« fragte Marcellus. Er wußte eine ganze Menge über Showa Story, das merkte ich jetzt. »Klingt, als würden Sie sie kenne n. Könnten Sie ihr vorschlagen, daß sie zur Polizei gehen soll?« »So gut kenne ich sie nicht. Seikosan ist manchmal in den Club gekommen, um die Show zu sehen. Aber mamasan wollte sie nicht dahaben, also hat sie ihr Lokalverbot gegeben.« »Wow. Könnten Sie mich irgendwie mit Seiko in Kontakt bringen?« Marcellus wand sich. »Ich weiß nur, daß sie im Showa College die gleichen Kurse besucht hat wie Nicky.« »Nun, vielleicht könnte sie helfen, ihn zu identifizieren.« »Sie machen sich so viele Gedanken, Reisan«, sagte Marcellus mit sanfter Stimme. »Warum? Haben Sie ihn auch geliebt?« »Nein, natürlich nicht.« Ich spürte, wie ich rot wurde. »Ich habe ihn nur heute schon gesehen und frage mich, ob ich irgend etwas hätte tun können, um ihn vor dem Tod zu bewahren.« »Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß er tot ist«, sagte -109-
Marcellus besänftigend. »Wahrscheinlich kommt er bald, und dann lachen wir alle über Ihre Sorge.« »Ich würde nicht lachen«, sagte ich. »Nicht, wenn jemand gestorben ist.« Marcellus kritzelte etwas auf einen Handzettel und gab ihn mir. »Rufen Sie mich morgen vormittag zu Hause an. Dann sage ich Ihnen, ob er gekommen ist, ja?« »Danke.« Als ich mich zum Gehen wandte, hoffte ich nur, daß Marcellus recht hatte und meine Ängste unbegründet waren. Ich lebe nun lange genug in Tokio, um ein paar gute Freunde zu haben, an die ich mich in Notfällen wenden kann. Interessanterweise sind die meisten von ihnen Männer. Der wichtigste von ihnen ist Richard Randall, mein bester Freund und Exmitbewohner, der den Sommer damit verbrachte, japanische Touristen durch London und Paris zu führen. Die anderen sind Ishidasan, ein Antiquitätenhändler, der Fälschungen auf hundert Meter Entfernung erkennt, und mein Cousin Tsutomu »Tom« Shimura, Arzt am St. Luke's Krankenhaus, der immer wieder Frieden stiftet zwischen mir und meinen japanischen Verwandten. Und schließlich kenne ich auch noch Lieutenant Hata, der für die Tokyo Metropolitan Police im Roppongi District arbeitet. Lieutenant Hata verkehrt immer noch auf einer so förmliche n Ebene mit mir, daß ich nicht einmal seinen Vornamen weiß. Die Tatsache jedoch, daß ich ihm bereits bei ein paar Fällen beigestanden hatte, würde ihn mit ziemlicher Sicherheit dazu bringen, meinen Anruf entgegenzunehmen. Wahrscheinlich war es besser, mich mit ihm in Verbindung zu setzen, bevor ich die Sache mit Kunio und Seiko weiterverfolgte. Als ich wieder zu Hause war, suchte ich in meiner Sammlung von Visitenkarten, bis ich die eselsohrige fand, die der Lieutenant mir ein Jahr zuvor gegeben hatte. Darauf stand ein Vorname, doch ihn zu entziffern, reichten meine kanji-110-
Kenntnisse nicht. Ich rief im Revier an und erfuhr, daß Lieutenant Hatas Schicht am Nachmittag geendet hatte, also bat ich die Sekretärin, ihm zu sagen, er möge sich gleich am nächsten Morgen bei mir melden. Dann war ich allein mit mir. Ich leerte eine Dose Asahi Super Dry Beer und marschierte rastlos von Zimmer zu Zimmer - was nicht lange dauerte, weil meine Wohnung winzig ist - und dachte über den Stand der Dinge nach. Der Fernseher lief, und ich zappte hin und her, bis um elf endlich die Nachrichten kamen. In allen Nachrichten war die Leiche vom Sumida River der erste Punkt der Berichterstattung. Der Ausländer war noch immer nicht identifiziert, wurde aber jetzt als Europäer zwischen zwanzig und dreißig beschrieben. Als die Nachrichten zu Ende waren, schlug ich das ComicHeft auf, das ich aus Kunios Wohnung mitgenommen hatte. Wie unheimlich, daß der Kampf von Mars Girl an einem Fluß stattgefunden hatte und schließlich ein Mann darin gelandet war. Ich sah mir die fünf Seiten mit den Szenen, in denen Mars Girl sich gegen den Angreifer wehrte, genauer an: rote Brücke, grünschwarzes Wasser. Der Ort wirkte ganz anders als das moderne, aber heruntergekommene Viertel, in dem die Leiche entdeckt worden war. Ich wandte mich wieder dem Bildschirm zu, wo ein Reporter gerade die angebliche Entstellung des Gesichts beschrieb. Ein merkwürdiger Kreis war mit dunkelroter Tinte auf die Stirn des Toten gemalt worden, und der Fischer, der ihn gefunden hatte, zeigte dem Reporter die Zeichnung, die er davon gefertigt hatte. Das Zeichen ähnelte jenem, das Mars Girl auf die Stirn des getöteten Ganoven in dem Comic aufgetragen hatte. Der Mörder bezog sich also auf die Geschichte in Kunios Comic. Entweder er war in Kunios Wohnung gewesen und hatte sich die Entwürfe an den Wänden angesehen, oder er war das Heft durchgegangen, -111-
das ich in Händen hielt. * »Shimurasan, Sie haben mir in der Zeit, die wir uns nun kennen, schon viele ungewöhnliche Theorien vorgestellt, aber diese hier ist bis jetzt die merkwürdigste.« Am Dienstagmorgen stand Lieutenant Hata neben mir auf einem Ladedock über einem sandigen Abschnitt beim Sumida River, wo die Leiche des Ausländers gefunden worden war. Hata hatte den Blick auf einen abgesperrten Teil des Geländes gerichtet, wo die Polizei noch immer mit Hilfe von Metalldetektoren, Sieben und allen möglichen anderen Geräten nach Hinweisen suchte. Welche Ironie des Schicksals, diese von Kopf bis Fuß in ihre dunkelblauen Uniformen gekleideten Strandgutsammler zu beobachten, wo ich noch vor kurzem zwischen den Halbnackten am Strand von Hayama gelegen hatte. »Meine merkwürdigen Theorien stimmen manchmal nicht«, sagte ich. »Aber wenn ich etwas weiß, das vielleicht helfen würde, fallen immer Sie mir als erster ein, dem ich es erzählen könnte.« »Danke«, sagte der Lieutenant. »Sie wollten mir das ComicHeft zeigen?« Ich reichte es ihm, aufgeschlagen auf der Seite mit der Szene, in der der Tod des Gangsters dargestellt wurde. »Ja, die Szene ist ähnlich«, sagte Lieutenant Hata und blätterte um. »Wie unheimlich. Alle Zeichnungen des Gesichts zeigen die Abbildung des Planeten auf der Stirn.« »Dann haben Sie also die Stirn des Mordopfers gesehen?« fragte ich, bemüht, nicht Nickys Namen zu erwähnen. Fast war es, als könnte ich, wenn ich ihn nicht aussprach, Unheil von ihm abwenden. »Nur auf Fotos. Der Planet auf der Stirn des Mannes ist längst -112-
nicht so schön stilisiert wie in dem manga.« »Wollen Sie damit sagen, daß die echte Zeichnung nicht wie das Werk eines anime-Künstlers aussieht?« Der Lieutenant zuckte mit den Achseln. »Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin kein Kunstexperte.« Darauf stürzte ich mich sofort. »Ich sage Ihnen, was ich von den künstlerischen Fähigkeiten des Mörders halte, wenn ich die Leiche anschauen darf.« Bereits zum zweiten Mal bekundete ich mein Interesse daran, in die Leichenhalle zu gehen. Bei Lieutenant Hatas Anruf am Morgen hatte ich ihm erklärt, daß ich eine Leiche identifizieren wolle. Doch zu meiner Bestürzung hatte er erwidert, er halte das nicht für eine gute Idee. Ich habe Nicky nicht lange genug gekannt, um ihn nach polizeilichen Maßstäben zweifelsfrei erkennen zu können. Wieder einmal waren mir die Hände gebunden, weil ich nicht Teil einer japanischen Gruppe war. »Shimurasan, Sie wissen, daß ich jemanden, der kein enger Verwandter des Toten ist, nicht zur Identifikation heranziehen kann. Allerdings kann ich Ihre Neugierde angesichts der Geschichte in diesem Comic verstehen.« »Ich bin eigentlich gar nicht so scharf drauf, die Leiche zu sehen«, sagte ich mit einer Mischung aus Verärgerung, Ungläubigkeit und Verletztheit. »Aber da sich sonst niemand gemeldet hat, bin ich Ihre beste Karte.« Lieutenant Hata schüttelte den Kopf. »Wieso haben Sie eigentlich das Gefühl, daß jeder Mord in Tokio mit Ihnen zu tun hat?« »Weil ich dieses Heft hier habe, das offenbar das einzige seiner Art ist.« Ich deutete auf den Mars-Girldôjinshi. »In einem manga-Coffee-Shop hat mich ein ziemlich zwielichtiger Mann beobachtet, der weiß, daß ich mich für Showa Story interessiere. Ich könnte ruhiger schlafen, wenn Sie ihn aufspüren und fragen würden, warum er hinter der Sache her ist.« -113-
»Wollen Sie damit sagen, daß der Künstler, der den Comic gezeichnet hat, Ihrer Meinung nach der Mörder ist?« fragte Lieutenant Hata. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe eher überlegt, ob der Mörder die Mitglieder von Nickys Zirkel kennt. Nicky wollte gestern nicht, daß ich ihn begleite und sie treffe. Vielleicht wußte er, daß das gefährlich werden könnte.« »Der Spur kann ich erst nachgehen, wenn die Leiche eindeutig identifiziert ist. Ihre Vorschläge halte ich für sehr gut. Aber solange ich keine Belege habe...« »... sind Ihnen die Hände gebunden«, sagte ich mit Bitterkeit in der Stimme. Es schien nur einen Weg zu geben: Ich mußte jemanden finden, der sich genug aus Nicky machte, um in die Leichenhalle zu gehen. Ich hatte auch schon eine Idee, wer dieser Jemand sein konnte, doch bei meinem Glück sagte sie vermutlich nein.
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13 Rika war erfreut über meine Einladung zum Lunch gewesen. »Geht's um die manga-Story« fragte sie, als ich sie nach meinem Treffen mit Lieutenant Hata im Büro der Gaijin Times abholte. Alec Tampole war unterwegs, um ein Interview mit Harry Connick Jr. zu bekommen. Das bedeutete, daß ich mit Rika verschwinden konnte, ohne ihn um Erlaubnis bitten zu müssen. Rika war immerhin offiziell nach wie vor Alecs Assistentin. »Ja«, sagte ich. »Es wird allmählich kompliziert, und ich brauche Ihre Hilfe. Aber das sollten wir in dem Nudel-Lokal besprechen.« Wir gingen durch Jimbocho, jene Gegend in Kanda, in der es von wunderbaren kleinen Büchergeschäften nur so wimmelte. Dort hatte ich schon viele glückliche Stunden auf der Suche nach alten illustrierten Büchern verbracht, den Vorläufern der manga und dôjinshi. Die Sonne schien, und Werbedamen von Virginia Slims - hübsche junge Frauen in grünweißen Kostümen - versuchten, uns Gratispäckchen Zigaretten in die Hand zu drücken. »Schade, daß Sie sich Ihr Geld so verdienen müssen«, sagte ich zu einer der jungen Frauen und mußte dabei an den verrauchten manga-Coffee-Shop denken. »Sie tragen zum frühzeitigen Tod mancher Menschen bei.« »Gratis! Viel Spaß damit!« wiederholte die Frau, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Rika nahm die Zigaretten und sagte, als wir ein paar Schritte von der jungen Frau entfernt waren: »Ich werde die Zigaretten auch nicht rauchen, aber ich mußte sie nehmen, um nicht das Gesicht zu verlieren. Reisan, Sie haben sie in Verlegenheit -115-
gebracht!« »Ich bin im Moment sehr empfindlich«, sagte ich. »Unter anderem aus diesem Grund brauche ich Ihre Hilfe.« Das Restaurant, das wir nun betraten, servierte somen-Nudeln in einem Kaltwasserbad. Die Methode grenzte ans Geniale: In die lange Theke war ein »Fluß« in einem Metallbett eingelassen, mit Düsen wie bei eine m Whiripool. Die Nudeln trieben an den Gästen vorbei, die mit dem hinteren Ende ihrer Stäbchen versuchen mußten, sie aus dem Wasser zu holen. Kleine Schalen mit Saucen sorgten dafür, daß die Nudeln je nach dem persönlichen Geschmack gewürzt werden konnten. Für weniger als sieben Dollar pro Portion war das ein Essen, das sogar ich mir leisten konnte. »Wollen wir Englisch sprechen?« fragte ich Rika in meiner Muttersprache. Sie lächelte. »Natürlich! Aber bitte lachen Sie nicht über mein schlechtes Englisch.« »Keine Sorge. Rika, Sie haben allen von der Gaijin Times gesagt, daß ich Kunio Takahashi wegen seiner Zeichnungen für Showa Story interviewen möchte, oder?« »Ich mußte etwas sagen, und da habe ich versucht, es so gut wie möglich klingen zu lassen. Ich habe den besonderen künstlerischen Wert dieses Comic geschildert, und Mr. Sanno war sofort begeistert von der Idee. Es soll die Titelgeschichte werden.« Rika suchte in ihrer Tasche herum und holte ein kleines viereckiges Metallgerät heraus. Als sie auf den Knopf daran drückte, wurde die Anzeige hell. »Was ist denn das?« fragte ich. »Haben Sie so etwas noch nie gesehen? Das ist ein elektronisches Notizbuch. Darauf kann ich mir Dinge notieren, das ist gut für die journalistische Tätigkeit«, sagte Rika. »Aha. Das Problem sieht folgendermaßen aus: Kunio ist -116-
verschwunden, und sein Nachbar - ein gewisser Nicky, der auch zum kreativen Kreis von Showa Story gehörte - ist tot. Das glaube ich zumindest.« »Nicky Larsen?« fragte Rika. »Das ist doch der Ausländer, der im College immer mit Kunio zusammengesteckt hat. Wieso denken Sie, daß er tot ist?« Ich erzählte Rika, wie ich in Kunios Wohnung gewesen war und Nicky getroffen hatte. Dann beschrieb ich ihr das bizarre Kostüm von Nicky und sagte ihr, daß ich seine Mars-GirlKleidung an der Leiche in den Abendnachrichten wiedererkannt hatte. Rika gab alles in ihr elektronisches Notizbuch ein. Schließlich fragte sie: »Und warum möchte die Polizei nicht, daß Sie Nicky identifizieren?« »Die Beamten sind der Ansicht, daß ich ihn nicht gut genug kannte, um beurteilen zu können, ob er es wirklich ist.« »Ich habe ihn auch nur ein paar Mal öfter getroffen als Sie und ihn noch nie in dem Mars-Girl-Kostüm gesehen. Ich kenne ihn nur männlich.« Sie schwieg einen Augenblick. »Das ist doch das richtige Wort, oder? Männlich?« »Ja. Ihre Verbindung zum College könnte sehr hilfreich sein. Wenn Sie bei der Polizei anrufen, läßt man Sie sicher in die Leichenhalle. Sie sollten allerdings lieber nicht erwähnen, daß Sie ihn nur ein paar Mal gesehen haben.« Rika schwieg eine ganze Weile, und ich fragte mich, ob ihr der Gedanke an den Anblick einer Leiche vielleicht zu viel war. Ich hatte bis dahin insgesamt drei Tote gesehen und den Anblick nie mehr vergessen. Das unerwartete Miauen einer Katze rief in mir Erinnerungen an eine Frau mit wunderschöner heller Haut wach. Ein bestimmtes Toyota-Modell ließ mich an einen Mann mittleren Alters, zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, denken. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, daß eine junge und naive Frau wie Rika dieselben Erfahrungen machte -117-
wie ich. Schließlich sagte Rika: »Es überrascht mich, daß Sie mit mir in dieses Lokal gegangen sind und mich nun darum bitten, Ihnen bei der Identifizierung einer Leiche zu helfen. Worum werden Sie mich wohl noch bitten?« »Tut mir leid«, sagte ich. »Sie müssen's nicht tun.« »Nun, es freut und überrascht mich, daß Sie mich gefragt haben. Ich hatte das Gefühl, daß Sie... nun, daß Sie die Story allein schreiben möchten. Sie wollten meine Hilfe nicht, obwohl mich das Thema interessiert.« Ich sah Rika an. »Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Wir werden überhaupt keinen Artikel über Showa Story schreiben können, wenn plötzlich alle drei Mitglieder der Gruppe tot oder verschwunden sind.« »Aber genau deswegen müssen wir ihn schreiben! Jetzt wird die Sache richtig aufregend. Wenn sich herausstellt, daß Nicky tot ist und Kunio unauffindbar, haben wir genügend Informationen für eine Story, die viel besser ist als alles, was in der Asahi Shinbun oder der Japan Times erscheinen kann.« Ich hatte sie in die Sache eingeweiht, weil ich ihre Hilfe bei der Beantwortung einer Frage benötigte, doch nun merkte ich, daß sie auf etwas anderes hinauswollte. »Wissen Sie, Rika, ich schlage nicht gern Kapital aus dem Elend anderer.« »Das liegt daran, daß Sie keine Journalistenausbildung haben, Reisan! Und ich habe sie!« Sie drückte auf eine Taste ihres elektronischen Notizbuchs, das daraufhin laut piepste, wie um ihre Aussage zu unterstreichen. Ich hob hilflos die Hände. »Nun, ich teile mir gern die Lorbeeren für einen Artikel mit Ihnen, falls es überhaupt dazu kommt. Aber zuerst muß die Leiche identifiziert werden.« »Ja, das stimmt. Wir müssen sicher wissen, daß es ein Mordopfer gibt. Und das hoffe ich wirklich!« -118-
»Rika!« rief ich entsetzt aus. »Ich dachte, Sie können Nicky leiden.« »Ist Ihnen klar, daß diese Story mir zu einem Job bei MTV Asia oder bei CNN verhelfen könnte?« Sie gab sich keinerlei Mühe, ihren Ehrgeiz zu verbergen. Zuerst widerte mich das an, doch dann fiel mir wieder ein, wie ich selbst ein paar Jahre zuvor gewesen war. Nach meiner Übersiedelung nach Japan hatte ich unbedingt eine Anstellung in einem Museum haben wollen, und ich hätte fast alles getan, um meine Bewerbung dafür interessant zu machen. Das Sammelsurium meiner gegenwärtigen Tätigkeiten war lediglich eine Verlegenheitslösung, weil ich meinen Traumjob nicht bekommen hatte. Der Gedanke daran ließ mich erkennen, daß der Artikel über Showa Story meiner Karriere in der Kunstwelt nicht in der gleichen Weise förderlich sein würde wie frühere. Aber wenn ich dranblieb, erhielt ich wenigstens eine Antwort auf die Frage, ob es tatsächlich Nicky war, der da in der Leichenhalle lag. »Wenn Sie bei der Polizei anrufen, sollten Sie meinen Namen nicht erwähnen«, instruierte ich sie. »Wahrscheinlich genügt es, wenn Sie sich als Studentin vorstellen, die Nicky mehrfach gesehen hat. Es könnte natürlich sein, daß die Beamten mehr über Sie erfahren wollen. Sie sind im Regelfalle sehr argwöhnisch.« Rika spielte mit ihrem Pferdeschwanz. »Das ist kein Problem. Ich sage einfach, daß wir uns vom Comic-Club des Showa College kennen. Ich muß ihnen ja nicht erzählen, daß ich an einem Artikel für die Gaijin Times arbeite, wenn sie nicht danach fragen.« »Ich hätte noch eine Bitte.« Ich schwieg einen Augenblick, um nach den richtigen Worten zu suchen. »Sie müssen ganz ehrlich sein bei der Identifizierung der Leiche. Wenn Sie nicht sicher sind, daß es sich tatsächlich um Nicky handelt, müssen -119-
Sie das sagen. Ich wäre nicht enttäuscht.« »Ja, wir könnten den Artikel über Showa Story auch ohne eine Leiche machen«, sagte Rika fröhlich. »Dann würde sich die Geschichte eben auf unsere Suche nach den Mitgliedern des Zirkels konzentrieren.« Die einzige Lücke in Rikas Argumentation bestand darin, daß wir am Ende des Artikels eine Quelle angeben müßten. * Ich war es nicht gewöhnt, einem anderen die Zügel zu überlassen. Das machte mich nervös. Ich blieb bei Rika, während sie vom Restaurant aus bei der Polizei anrief. »Ich würde gern bei Ihnen vorbeikommen und die Leiche identifizieren«, sagte Rika ganz laut, und ich sah, daß ein paar der Gäste sie neugierig anstarrten. Gott sei Dank hatten wir den größten Teil unserer Unterhaltung an der Nudeltheke in Englisch geführt. »Sie sagen, ich soll's versuchen!« erklärte sie mir voller Freude, nachdem sie aufgelegt hatte. »Ich gehe gleich nach der Arbeit rüber in die Leichenhalle. Um halb sechs soll ich dort sein. Wahrscheinlich kann ich Sie kurz darauf anrufen, um Ihnen mitzuteilen, wie's ausgegangen ist. Werden Sie zu Hause sein?« »Ja«, sagte ich, wohl wissend, daß ich wieder in meiner Wohnung auf und ab marschieren würde wie am Abend zuvor. Aber es wäre das beste. So konnte ich die Nachrichten im Fernsehen verfolgen und sehen, ob die Polizei der Presse mitteilte, daß die Leiche identifiziert war. »Gut, dann machen wir es so. Reisan, ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, daß Sie mir mit dieser Story bei meiner Karriere helfen. Sie sind wirklich unglaublich nett.« Wir verabschiedeten uns vor dem Nudellokal, und ich machte mich auf den Weg zum JapanRail- Bahnhof von Kanda. Zuerst -120-
schaute ich mich allerdings noch in ein paar der Antiquariate um. Dort blätterte ich in einem Taschenbuch mit Wasserflecken, in dem sich Holzschnitte in Schwarz-Weiß befanden, die eine Geschichte mit Kommentaren neben jedem Bild erzählten. Ich sah einen Mann und eine Frau über die Seiten stolpern, und irgendwann fiel der Kimono gerade so weit auseinander, daß man die Wölbung ihrer Brust erkennen konnte. Diese geschmackvolle Illustration ähnelte thematisch den modernen manga, die ich in Animagine entdeckt hatte, doch Papier und Drucktechnik verrieten mir, daß das Buch im späten neunzehnten Jahrhundert gedruckt worden war. Als ich für den Band bezahlte, fiel dem Händler das Showa Story-Heft auf, das aus meiner Tasche lugte. »Das ist aber hübsches Papier. Darf ich einen Blick darauf werfen?« fragte er. »Natürlich.« Ich reichte ihm das Heft, und zu meiner Überraschung roch er daran. »Ah«, seufzte er. »Das beste.« »Es ist wie das Papier von Kunstbänden, stimmt's?« fragte ich. »Genau. Dieses Papier, es heißt übrigens Contessa, wird in Singapur hergestellt. Es ist säurefrei, und man würde es eher bei Kunstbüchern als bei Comics erwarten. Aber hier in Tokio kann man alles kriegen, wenn man das nötige Kleingeld hat.« »Wie wü rden wohl College-Studenten Anfang Zwanzig an solches Papier kommen?« fragte ich. »Hmmm.« Er blätterte das Heft durch. »Es ist fotokopiert das sieht man an der ein bißchen schlechteren Auflösung. Es wurde mit einem Farbkopierer gemacht. Dazu muß man in einen Copy-Shop. Der fragliche hatte vermutlich eine Auswahl qualitativ hochwertiger Papiere vorrätig.« Ich dankte dem Händler für seine Informationen, wußte aber, -121-
daß das Abklappern aller Tokioter Copy-Shops ein logistischer Alptraum wäre - selbst wenn es mir gelang, diejenigen vorneweg auszusondern, die kein Contessa-Papier hatten. Außerdem war ich mir nicht so sicher, ob die Theorie des Händlers, das Papier stamme aus einem solchen Shop, stimmte. Seiko, Nicky und Kunio hatten schließlich Verbindungen zum Showa College. Sie konnten das Papier gut und gern aus der Kunstfakultät haben. Ich ging nach Hause, um mich in einem Bad mit den blauen Salzen von Hakone, einem Geschenk meiner Tante, zu entspannen, und wollte mich gerade abtrocknen, als das Telefon klingelte. »Rikasan?« sagte ich hastig, nachdem ich den Hörer abgehoben hatte. Ich entschied mich bewußt für die respektvolle Nachsilbe san statt des liebevolleren, aber auch ein wenig herablassenden chan, das die anderen Mitarbeiter der Gaijin Times ihr gegenüber verwendeten. »Leider nicht, Rei«, hörte ich die Antwort auf japanisch. Zuerst zuckte ich zusammen, weil ich glaubte, der mysteriöse Anrufer könne Kunio sein. Doch als die Männerstimme mich dann fragte, warum ich nicht zurückgerufen habe und wohin ich verschwunden sei, merkte ich, daß ich es mit dem verzweifelten Takeo zu tun hatte. »Ich wollte wirklich mit dir sprechen, habe aber mein Adreßbuch am Strand verloren«, sagte ich. »Und warum hast du dann nicht in der Schule angerufen? Dort hätte man dir meine Handy-Nummer geben können.« Takeo klang verärgert. Mir fiel keine Entschuldigung ein, und so sagte ich einfach nur: »Tut mir leid, ich bin froh, daß du anrufst.« »Kann ich vorbeikommen?« »Ja, aber wir müssen erst mal hierbleiben, ich erwarte einen Anruf. Es geht um den Artikel.« -122-
»Bis bald«, sagte er, wieder freundlicher.
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14 Eine halbe Stunde später stand Takeo vor meiner Tür. Zur Abwechslung hatte er seinen Range Rover einmal zu Hause gelassen und war mit der U-Bahn gefahren. »Ich hatte ja gar keine Ahnung, daß du weißt, wie man mit der Chiyoda- Linie zu mir kommt«, sagte ich und küßte ihn erst, nachdem ich die Tür geschlossen hatte, damit die Nachbarn keinen Grund hatten, sich über mein laszives Verhalten aufzuregen. Als wir uns wieder voneinander ge löst hatten, sagte Takeo: »Ich sollte die U-Bahn öfter nehmen. Es ist toll, zwischen all diesen Körpern eingeklemmt zu stehen und dabei die ganze Zeit an den deinen zu denken. Danke, daß du nichts angezogen hast.« Er ließ die Finger über den leichten Baumwollstoff meines Morgenmantels gleiten. »Tja, ich hab' gerade gebadet und wollte mich gleich wieder anziehen...« »Aber wieso denn? Hier, die sind für hinterher. Ich hab' dir deine Lieblingstörtchen mitgebracht, die mit Buttercreme und Mandarinenschnitzen.« Er reichte mir eine fahlgrüne Schachtel mit dem Logo des Mitsukoshi-Kaufhauses. Er wirkte fröhlich und entspannt, als er noch an der Tür aus seinen Birkenstock-Sandalen schlüpfte und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. »Takeo, laß uns die Törtchen gleich essen. Ich stell' das Teewasser auf, oder hättest du lieber Sake?« Ich löste mich aus seiner Umarmung. »Seit wann machen wir die Teezeremonie miteinander?« Takeo lachte. »Was hast du vor? Möchtest du eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen?« -124-
Ja, dachte ich. Ich würde gern die Zeit um einen Tag zurückdrehen, als Nicky mir sagte, er müsse zu einer Matinee, und ich könne ihn nicht begleiten. Ich hätte trotzdem mitkommen sollen, denn vielleicht hätte ihm meine Anwesenheit das Leben gerettet. Offenbar hatte ich ein Geräusch von mir gegeben, denn Takeo fragte besorgt: »Was ist denn los?« »Ich sitze hier und warte auf schlechte Nachrichten.« Dabei beobachtete ich, wie er in den kombinierten Wohn-, Eß- und Küchenraum ging. Obwohl ich am Morgen aufgeräumt hatte, standen auf der Arbeitsfläche trocknendes Geschirr, Obst und Utensilien zum Teekochen herum. Und auf dem niedrigen Teetischchen, an dem ich aß und den größten Teil meiner Geschäfte tätigte, lag überall Papier - Zeitungen, die Showa Story-Geschichte aus Kunios Wohnung sowie mein neuester Fund, das Buch mit den Holzschnitten aus dem neunzehnten Jahrhundert. »Darf ich?« fragte Takeo und stellte die Schachtel mit den Süßigkeiten auf dem alten Buch ab. »Lieber nicht, das Ding ist ziemlich wertvoll.« Ich ging neben ihm in die Hocke und zog das Buch unter der Schachtel heraus. Es war an einer Stelle mit freizügigen Sexszenen aufgeschlagen. Die Frau darin hatte eine schlanke, realistisch gezeichnete Figur, abgesehen davon, daß sie gänzlich unbehaart war - ach, die japanische Ästhetik! -, dafür hatte aber ihr Partner ein Organ von der Größe einer vollreifen Zucchini. Takeo blinzelte. »Wow, hast du dir's anders überlegt? Willst du einen Artikel über historische erotische Comics schreiben? Eine tolle Idee!« »Nein, das Buch ist für mich. Das heißt, ich will's nicht für den Artikel benutzen, den ich für die Gaijin Times verfasse, aber vielleicht lerne ich selber was daraus.« Als ich merkte, wie zweideutig sich das anhören mußte, fügte ich hinzu: »Ich meine, -125-
ich hoffe, mit Hilfe des Buches mehr über die populäre Kultur der Meiji-Zeit zu erfahren.« Takeo lächelte mich an. »Da kann ich dir auch was beibringen. Es gibt einen wunderbaren alten Text mit dem Titel Das Kopfkissenbuch, den ich mir aus der Bibliothek meines Vaters geholt habe. Teile davon kenne ich auswendig.« »Du bist wirklich pervers!« sagte ich lächelnd, obwohl ich überhaupt nicht in der Stimmung war. »Ich packe jetzt lieber die Törtchen aus. Ich möchte nicht das Risiko eingehen, daß Flecken auf das alte Papier kommen.« Mit einer schnellen Handbewegung schob ich die Törtchen in meinem kleinen Küchenbereich auf einen blauweißen ImariTeller und erwärmte ein wenig Sake auf dem Herd, um ihn hinterher in ein Tongefäß zu gießen. Sake schmeckte gut zu Süßigkeiten, anders als Asahi Super Dry Beer. Dann stellte ich alles auf ein altes rotschwarzes Lacktablett mit zwei kurzen Füßen, das man als Tischchen nutzen konnte, und trug es zu Takeo hinüber. In meiner Nervosität verhielt ich mich wie eine Kurtisane. Als ich mit der Gabel einen Bissen von den Törtchen nahm, fiel mir ein Mandarinenschnitz auf die Vorderseite meines Morgenmantels. Takeo ließ seine Hand zwischen meine Brüste gleiten, um ihn aufzufangen. »Endlich kriege ich eine Chance«, murmelte er und schob mich rückwärts auf die tatami-Matten. »Noch nicht«, sagte ich und rollte weg. Takeo stieß einen tiefen Seufzer aus. »Tut mir leid, Rei. Ich bin sehr unaufmerksam. Wahrscheinlich kannst du dich im Moment nur auf den Anruf konzentrieren.« »Ja. Ich warte auf wichtige Informationen. Entschuldige, aber ich komme mir vor, als würde ich gleichzeitig in mehrere Richtungen springen.« -126-
»Du hoffst, daß dieser Comic-Künstler dich anruft. Kunio Takahashi«, sagte er in angespanntem Tonfall. Ich schüttelte den Kopf. »Er hat kein Interesse an einer Kooperation. Ich warte auf einen Anruf von Rika, der Praktikantin, von der ich dir schon erzählt habe. Wir sind jetzt an einem neuen Aspekt der Sache dran. Ich glaube, ich sollte dir sagen, worum's geht.« Nun übernahm Takeo die Rolle des Gastgebers und schenkte mir ein Glas Sake ein. »Gratuliere, daß du deine Neidgefühle Rika gegenüber überwunden hast. Du hättest dir gar keine Gedanken machen müssen, stimmt's?« »Wenn die Angelegenheit bloß so simpel wäre«, sagte ich und nahm einen Schluck von dem Sake, den ich in einer sehr alten Destillerie in dem Bergort Takayama erworben hatte. Er schmeckte ein wenig nach Kiefernnadeln, und ich wollte ihn schnell servieren, bevor der Geschmack verflog. Wie passend, daß ich zeremoniellen Alkohol trank, während ich auf Nachrichten über Leben und Tod wartete. »Heißt das, daß du immer noch wütend auf Rika bist?« »Nein.« Ich zeigte Takeo den Artikel der Asahi Evening News über den toten Ausländer. »Hast du davon schon gehört?« »Ja.« Takeo verzog das Gesicht. »Eine schwulenfeindliche Aktion. Ich dachte, so was gibt's nur in den Vereinigten Staaten. Hier sind solche Zwischenfälle ziemlich ungewöhnlich.« »Ich glaube nicht, daß das was mit Schwulenhaß zu tun hatte. Der Tote war als Mars Girl verkleidet. Männer, die sich als weibliche Figuren aus den Comics verkleiden, tun das normalerweise, weil ihnen diese Figuren gefallen, nicht, weil sie selbst Frauen sein wollen.« »Mars Girl? War das einer von den Comics, die wir zusammen übersetzt haben?« fragte Takeo. »Ja. Der kommerzielle Comic ist die Vorlage für die dôjinshi, -127-
die ich später entdeckt habe.« »Ach so, du sprichst von dem dôjinshi, den du bei Animagine gekauft hast. Das konnte ich gar nicht mehr übersetzen, weil du's mitgenommen hast.« »Ich habe noch ein weiteres Heft von Shoiva Story, einen Prototyp, der mir gestern in die Finger gekommen ist. Das Problem sieht folgendermaßen aus: Die Umstände des Todes von dem jungen Mann, den ich erwähnt habe, sind identisch mit der Geschichte in diesem Prototyp.« »Wow. Und was willst du jetzt unternehmen?« »Ich habe Rika in die Leichenhalle geschickt, damit sie versucht, den Toten zu identifizieren.« »Warum bist du nicht selber hin?« »Lieutenant Hata ist der Meinung, daß ich Nicky nicht oft genug gesehen habe, um ihn zweifelsfr ei zu identifizieren, aber in Wirklichkeit hat's wahrscheinlich damit zu tun, daß ich Ausländerin bin«, sagte ich, ein wenig verletzt. »Rika hat Nicky auch nicht öfter getroffen als ich, doch sie nimmt die Polizei ernster, weil sie Japanerin ist.« »Nun werd mal nicht paranoid«, sagte Takeo lächelnd. »Nicht alle Leute sind dir gegenüber mißtrauisch.« »Warum kann ich dann ohne japanischen Bürgen keine Wohnung mieten? Und warum muß ich immer meinen Ausländer-Ausweis dabeihaben?« fragte ich wütend. »Der Reporter im Fernsehen hat gesagt, der tote Ausländer hätte diesen Ausweis nicht bei sich getragen. Das hat ihn noch perverser erscheinen lassen.« »Die Sache mit dem Ausländer-Ausweis wird sich bald ändern«, sagte Takeo. »Wahrscheinlich hatte der Mann eine Arbeitsgenehmigung genau wie du. Während meines Studiums in den Vereinigten Staaten durfte ich dort nicht arbeiten. Ist das vielleicht fair?« -128-
»Aber du mußtest doch auch gar nicht arbeiten«, sagte ich. »Ich bitte dich! Ich wollte damals arbeiten, und ich will es heute.« Takeo stellte seinen Becher mit Sake ab. »Mir ist es gar nicht recht, daß ich mich mit der Renovierung unseres Hauses über Wasser halten muß, bloß weil mein Vater mich nicht für geeignet hält, die Schule zu übernehmen.« »Natürlich bist du geeignet«, sagte ich. »Aber er kann sich einfach nicht mit deinen Idealen anfreunden.« Das Telefon klingelte, und ich sprang auf. »Ich habe Neuigkeiten, Rei.« Es war Rika, und sie klang sehr aufgeregt. »Haben Sie die Leiche gesehen?« »Es war schrecklich da drin, Reisan. Ich bin nur deshalb nicht in Ohnmacht gefallen, weil ich mich auf die Notizen für den Artikel konzentriert habe.« »Sie haben sich also Einzelheiten eingeprägt?« »Ja, doch ich hatte auch mein elektronisches Notizbuch dabei. Zuerst wollte der Beamte nic ht, daß ich es benutze, aber dann habe ich ihm gesagt, ich muß ein Mantra eingeben, damit mir nicht schlecht wird, und da hat er mich gelassen.« Ganz schön clever. Wieder kroch dieses Neidgefühl in mir hoch. »Das Notizbuch hat mir sehr geholfen, weil ich die Details aufschreiben und später mit dem Eintrag im Jahrbuch vergleichen konnte. Ich habe den Coroner sogar gebeten, Nickys Lippe für mich hochzuziehen, damit ich seine Zähne sehen konnte, doch die Totenstarre hatte bereits eingesetzt.« »Igitt«, sagte ic h. »Ich erinnere mich ganz genau, daß Nicky tolle Zähne hatte, und das war bei diesem Mann auch so. Das habe ich den Beamten erklärt, und sie waren beeindruckt. Sie haben mir sogar angeboten, das Laken ganz wegzuziehen, damit ich mehr von -129-
seinem Körper sehen konnte. Ich glaube, sie dachten, wir wären ein Paar gewesen, und ich würde seine Geschlechtsteile kennen.« »Rika! Sie haben doch abgelehnt, oder?« »Nein, nein. Sie waren ganz begeistert, mich dazuhaben, aber auch ein bißchen mißtrauisch. Sie haben mich gefragt, wo ich am Nachmittag war, doch natürlich hatte ich ein ausgezeichnetes Alibi - ich hatte Telefondienst im Praktikum. Ich habe die Gaijin Times nicht erwähnt, weil sie mir als Angehörige der Presse vielleicht nicht mehr vertraut hätten. Ich habe statt dessen Sanno Advertising angegeben. Es ist ja sowieso alles dasselbe Unternehmen.« Eine elegante Lüge, die Rika im Gegensatz zu mir vermutlich nicht allzuviel Kopfzerbrechen machte. Ich konnte nur hoffen, daß der Schwindel nicht später aufflog und uns beiden schadete. »Könnten wir aufs eigentliche Thema zurückkommen? Haben Sie die Leiche erkannt?« Rika seufzte. »Ja, er war's. Das sage ich übrigens nicht, weil's gut für unseren Artikel ist. Ich bin mir ganz sicher, daß der Tote der ausländische Student von unserem College ist.« »Und was ist passiert, als Sie den Beamten gesagt haben, was Sie denken?« »Sie haben mir geglaubt und mir erzählt, sie hätten einen Hinweis bekommen, daß es sich bei dem Toten um Nicky Larsen handeln könnte. Sie warteten nur noch auf einen Zeugen, der in der Lage wäre, ihn zweifelsfrei zu identifizieren.« »Haben sie Ihnen viele Fragen gestellt?« »Nun, nachdem ich ihnen mitgeteilt hatte, daß Nicky nicht mein Freund war, wollten sie wissen, ob ich irgendwelche Studenten kenne, die mehr mit ihm zu tun hatten. Ich habe nein gesagt.« »Und was ist mit Kunio Takahashi und Seiko, dem Mädchen, -130-
das sich als Hund verkleidet?« »Wenn die Polizei die beiden verhaftet, können wir sie nicht mehr interviewen«, sagte Rika. »Ich würde vorschlagen, daß wir das zuerst erledigen.« »Ich bin ja wirklich kein großer Fan der Tokioter Polizei, aber manches sollte sie schon erfahren«, stotterte ich, als ich merkte, daß Takeo aufgehört hatte, Sake zu trinken, und sich voll und ganz auf unser Gespräch konzentrierte. Rika und ich unterhielten uns auf Englisch; Rika hatte in dieser Sprache begonnen, vermutlich deshalb, weil sie von den Leuten in der Nähe der Telefonzelle nicht verstanden werden wollte. Takeo konnte hervorragend Englisch. Wahrscheinlich machten ihn die Dinge, die ich über die Polizei gesagt hatte, neugierig. Ich warnte Rika noch einmal: »Vielleicht findet dieses Interview mit Kunio Takahashi überhaupt nie statt. Er hat mir ausrichten lassen, daß er nicht interviewt werden möchte.« Jetzt setzte Takeo sich kerzengerade hin und machte mir mit der Hand ein Zeichen, das aussah, als hebe er einen Telefonhörer von der Gabel. Ich verstand: Er wollte mithören, was Rika sagte. Doch ich schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen das Wort »später«. Er sah mich verwirrt an; offenbar konnte er Englisch nicht von den Lippen ablesen. »Wir haben Mr. Sanno gegenüber eine Verpflichtung«, jammerte Rika. »Er erwartet einen Artikel über Showa Story. Wir müssen liefern, was er verlangt.« »Treffen wir uns doch morgen zum Lunch, um uns über die Sache zu unterhalten«, sagte ich in jenem besänftigenden Tonfall, den ich hin und wieder bei meinem Vater gehört hatte, wenn ein verzweifelter Patient aus seiner psychiatrischen Praxis ihn zu Hause anrief. »Und danke noch einmal, daß Sie so mutig waren, in die Leichenhalle zu gehen. Ihnen hat man die Identifikation geglaubt.« -131-
Schweigen. »Ich bin um eins da«, sagte Rika nur noch, bevor sie auflegte, ohne sich zu verabschieden.
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15 Als ich den Hörer aufgelegt hatte, fragte Takeo sofort: »War er das?« »Hast du nicht durch das, was ich gesagt habe, mitbekommen, wer's ist?« fragte ich zurück. »Ich hab' nur die Hälfte gehört.« »Rika sagt, der Tote ist Nicky. Das hat sie nicht nur am Gesicht gesehen, sondern auch an ein paar anderen Einzelheiten wie zum Beispiel den Zähnen. Es gibt jede Menge Ausländer mit gepiercten Ohren, aber nicht alle von ihnen haben gute Zähne.« Takeo hob die Augenbrauen. »Dann hast du also recht gehabt. Du wirst zu einer richtigen Kriminalreporterin.« »Ich will nicht über den Mord schreiben«, sagte ich. »Eigentlich könnte ich die ganze Sache Rika überlassen, doch dann...« »Bekommst du vielleicht nie wieder einen Auftrag von der Gaijin Times«, führte Takeo den Satz für mich zu Ende. »Und ich brauche das Geld. Auch wenn Rika und ich im Augenblick beide als Verfasserinnen des Artikels vorgesehen sind. Aber zweihundertfünfzigtausend Yen geteilt durch zwei ist immer noch ziemlich gut.« Beim gegenwärtigen Kurs wäre mein Anteil umgerechnet fast tausendzweihundert Dollar. »Steht Rika als Praktikantin überhaupt ein Gehalt zu?« fragte Takeo. »Sie sollte froh sein, wenn sie als Rechercheurin erwähnt wird. Ich würde ihren Gang in die Leichenhalle als RechercheHilfe bezeichnen. Und du bist die Verfasserin des Artikels.« »Ich weiß bloß nicht, ob ich mich auf eine Sache einlassen soll, von der ich keine Ahnung habe. Hier geht's nicht mehr um -133-
Antiquitäten.« »Aber die Geschichte hat immer noch mit Kunst zu tun«, meinte Takeo. »Warum schreibst du keinen Artikel über die Showa Story-Geschichte und erwähnst ganz beiläufig, daß der talentierte Künstler leider nicht für ein Interview zur Verfügung stand und sein Kollege auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen ist? Pack die Angelegenheit einfach so an, wie du dir das vorstellst.« Von Freunden erwartete man eigentlich etwas anderes, dachte ich ein bißchen verstimmt. Sie wollten, daß man sich aus Problemen heraushielt und sicher zu Hause unter der Bettdecke, in ihren Armen, blieb. Hugh jedenfalls war so gewesen. Takeo füllte meinen halbvollen Becher ganz mit Sake. »Also, wo wollen wir anfangen?« »Ich glaube, ich habe die Handlung des manga von Animagine verstanden, aber würdest du mir bei einer detaillierten Übersetzung des Prototyps helfen, den ich gefunden habe?« »Ich dachte schon, du würdest nie fragen.« Eineinhalb Stunden später hatte ich eine genaue Übersetzung im Laptop. Die Handlung - Mars Girl versucht, ein Essen zu kaufen, um die Familie, bei der sie lebt, davon zu überzeugen, daß sie kochen kann - entsprach im wesentlichen dem, was ich den Zeichnungen entnommen hatte. Takeo übersetzte die langen Passagen der Hintergrundgeschichte, die ich nicht verstand. Mars Girl wurde aus dem Jahr 2000 in die frühen dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts versetzt, um ein schreckliches historisches Ereignis zu verhindern. Ihre Auftraggeber vom Mars schickten sie zu einer Mittelschichtfamilie in der Stadt, der sie erzählte, sie sei eine lange verloren geglaubte Cousine vom Land. Während Mars Girl herauszufinden versuchte, was sie tun mußte, um Japan zu retten, bemühte ihre Gastfamilie sich festzustellen, wer sie wirklich war. Die Mutter hegte die -134-
Hoffnung, daß sie sich als wunderbare Putzhilfe entpuppen würde, und wunderte sich immer wieder über das klägliche Unvermögen der jungen Frau. Der Vater hielt Mars Girl für eine hübsche Gespielin, aber sie wehrte seine ungeschickten Annäherungsversuche mit Humor ab. Der junge Sohn fürchtete, Mars Girl könne ihm sein Erbe streitig machen, also begann er, heimlich so oft wie möglich Insekten in ihr Essen und ihr Bett zu tun. »Armes Mars Girl!« rief ich, völlig von der Geschichte gefangen, aus. »Sie sollte sich eine eigene Wohnung nehmen.« »Im Japan der dreißiger Jahre? Völlig unmöglich«, sagte Takeo. »Außerdem heißt es in der Story, daß sie die Familie und die ganze Gesellschaft vor einer großen Gefahr beschützen muß. An dem Tag, an dem Mars Girl aus dem Haus ging, um gekochten Reis zu kaufen, den sie als ihren eigenen ausgeben wollte, begegnete sie einem Gangster, der den Inhaber des Restaurants bedrohte.« Beim ersten Überfliegen der Geschichte war ich davon ausgegangen, daß der Gangster Geld wollte. Doch in Takeos Übersetzung wurde klar, daß er den Restaurantinhaber zwingen wollte, einer neuen politischen Partei eine Schutzsteuer zu zahlen. »Die Partei in dem Comic ist noch extremer als die konservativen Imperialisten, die Japan in den Krieg trieben«, murmelte Takeo. »Im nächsten Bild erklärt der Gangster die Überzeugung der Partei, daß Kaiser Hirohito keinen Anspruch auf den Thron hat. Die Parteimitglieder fordern Geschäftsleute zur Zahlung von Geld auf, damit der Boß ihrer Organisation eine Streitkraft aufbauen und den Kaiser stürzen kann.« »Ganz schöner Quatsch«, sagte ich. »Aber es könnte durchaus so passiert sein. Viele Geschäftsleute mußten vor dem Krieg - und auch heute noch, ein halbes Jahrhundert später - regelmäßige Zahlungen an -135-
Gangster leisten, um ihre Läden vor Diebstahl und ihre Familien vor Gewalt zu schützen. Und angenommen, diese Zahlungen verteilten sich nun nicht mehr auf unterschiedliche Kleinkriminelle, sondern gingen an eine zentrale Stelle?« »Tja, dann hätten wir einen sehr, sehr reichen Mann«, sagte ich. »Ein mächtiger Mann voller Ehrgeiz und mit Verbindungen zum Militär könnte eine Menge bewirken. Denk bloß an Yukio Mishima.« Takeo meinte den berühmten Schriftsteller, der zusammen mit einem Kader von rechtsgerichteten Armee-Offizieren Anfang der sechziger Jahre das Hauptquartier der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte eingenommen hatte. Der Umsturzversuch endete damit, daß Mishima sich mit Hilfe eines seiner Berater umbrachte. »Also wurde Mars Girl geschickt, um die politische Gangsterpartei aufzuhalten«, sagte ich. »Genau.« Takeo fuhr mit der Handlung der Geschichte fort wie der Gangster Mars Girl entführte, um sie zu vergewaltigen, und wie sie ihn dann erwürgte und schließlich seine Leiche in den Fluß warf. Hinterher nahm sie den Reis, den der Gangster aus dem Restaurant mitgenommen hatte, und brachte ihn ihrer Familie, die ausnahmsweise ganz angetan war von ihren Kochkünsten. »Mars Girl erkennt, daß der Gangster, den sie besiegt hat, nur einer von vielen ist, die Gelder für die neue Partei eintreiben wollen. Ihre Mitglieder haben das Militär unterwandert. In der letzten Szene, in der sie die Reisschalen spült, fragt sie sich, ob sie eine n Weg finden kann, um Japan wirklich zu retten. Die Geschichte wird im nächsten Heft fortgesetzt.« »Wie soll das gehen, wenn der Zeichner verschwunden und ein anderer Angehöriger seines Zirkels tot ist?« fragte ich. »Na ja, die meisten Leser werden sich wo hl wieder der -136-
kommerziellen Mars Girl-Serie zuwenden.« »Mir gefällt die hier besser als die kommerzielle. Ich weiß nicht, wie du auf diese Geschichte gekommen bist, Rei, aber sie ist toll. Normalerweise lese ich keine Comics, doch diesen hier würde ich kaufen.« »Er ist mir wegen der künstlerischen Gestaltung aufgefallen«, sagte ich und erinnerte mich wieder, wie ich das Heft in seiner Plastikverpackung zuerst bei Animagine gesehen hatte. »Allerdings spricht mich auch das Außerirdischenthema an. Ein bißchen erinnert es mich an meine eigene Situation.« Ich war natürlich längst nicht so stark wie Mars Girl, besaß jedoch Kräfte, die sich von denen der Japaner unterschieden. Als Fremde nahm ich Unsicherheiten und Spannungen wahr, die sie nicht sehen konnten. Und in japanischen Augen hatte ich meine Verhaltensweisen tatsächlich auf einem anderen Planeten gelernt. »Ich bin froh, daß du nicht wieder ins All zurück mußt«, sagte Takeo, beugte sich zu mir herüber, um mir einen Kuß zu geben, und fügte hinzu: »Ich fahre morgen nach Hayama. Möchtest du mitkommen?« Mit echtem Bedauern sagte ich: »Ich würde gern, aber ich bin schon mit Rika verabredet. Doch wenn du in Hayama bist, könntest du mir einen kleinen Gefallen tun.« Ich erzählte ihm, daß ich mein Adreßbuch vermutlich an der Strandbar vergessen hatte. »Wie heißt die Bar?« fragte Takeo. »Bojo. Es ist so ein Freiluftding mit Strohdach und komischen Tischen - sie sehen aus wie von einem Schiff.« »Bojo!« rief Takeo aus. »Ich kann's nicht fassen, daß du allein dahin gegange n bist.« »Wieso?« »Sind dir denn die Männer mit den dunklen Sonnenbrillen -137-
nicht aufgefallen? Die tragen sie sogar in der Nacht. Und die Tätowierungen hast du auch nicht gesehen?« »Willst du damit sagen, daß das Bojo ein Gangster-Treff ist?« Ich konnte mir ein ungläubiges Lächeln nicht verkneifen. »Genau. Du hältst die Gangster-Handlung in dem Comic für unrealistisch, aber ich kann dir sagen, daß sie durchaus was mit der Wirklichkeit zu tun hat. Die Typen hängen am Strand rum. Alle tun so, als würden sie sie nicht sehen, aber sie sind an der Bar. Hast du gemerkt, daß der Schuppen keine ganz normalen japanischen Gäste hat? Nur Ausländer, die nicht wissen, wie gefährlich es dort ist.« »Du brauchst nicht hinzugehen«, sagte ich. »Ich kann genausogut anrufen, um rauszufinden, ob sie mein Adreßbuch gefunden haben. Was ist denn die Vorwahl für Hayama?« »Nullviersechsacht. Aber glaubst du, die haben draußen im Freien einen Telefonanschluß?« »Keine Ahnung. Ich werde ja hören, was die Auskunft mir sagen kann«, erklärte ich, während ich schon die Nummer wählte. »Hallo? Ich hätte gern die Nummer des Bojo, einer Bar am Isshiki-Strand.« Aber es gab keinen Eintrag. Jedes Schulmädchen hatte heutzutage ein eigenes Handy, dachte ich verärgert, aber eine Bar wie das Bojo schien weder einen Telefonanschluß noch eine Toilette zu brauchen. »Ich gehe für dich hin«, sagte Takeo. »Nein. Du hast gesagt, Männer mit Sonnenbrillen verunsichern dich.« Plötzlich fiel mir der Mann mit der Sonnenbrille in dem anime-Coffee-Shop wieder ein. »Was ist, Rei?« Takeo schien zu spüren, daß ich mit den Gedanken abgeschweift war. »Ich gebe ja ungern zu, daß du recht hast. Ich sollte vorsichtiger sein.« -138-
»Ich hole das Adreßbuch für dich«, sagte Takeo. »Wirklich, ich schaffe das allein...« Takeo schnitt mir das Wort mit einem leidenschaftlichen Kuß ab, der so abrupt endete, wie er begonnen hatte, und kurz darauf war er bereits aus der Tür.
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16 Am Mittwochmorgen wachte ich ein bißchen später als üblich auf und schaltete sofort den Fernseher ein, wo gerade eine reißerisch aufgemachte Nachrichtensendung lief. Das Thema: Nicky Larsen. Die Polizei hatte nun doch die kostümierte Leiche am Ufer des Sumida River identifiziert. Der Nachrichtensprecher gab noch weitere Details: Mr. Larsen hatte an der University of Minnesota im Hauptfach Japanisch gelernt und war 1998 nach Japan gekommen, um am Showa College weiterzustudieren. Er begeisterte sich für japanische Comics, und das bizarre Kostüm, das er bei seinem Tod trug, war das von Mars Girl. Die Leute von der Polizei hatten die Geschichte also herausgegeben, und die Presse hatte schnell reagiert. Aber die Journalisten wußten nicht, daß Nicky zum Showa Story-Zirkel gehörte, nur daß er ein Comics-Fan war. Das bedeutete, daß ich ihnen gegenüber einen Vorteil hatte. Trotzdem war ich ein wenig neidisch darauf, wie rasch die Reporter dieser Story auf die Spur gekommen waren. Nun erschien auf dem Bildschirm das Hauptquartier von Dayo, dem Comic-Verlag, der das Original-Mars Girl herausbrachte, die Vorlage für Showa Story, Mr. Mori, der Sprecher des Unternehmens, sah mit seinem dunkelgrauen Anzug aus wie viele andere salarymen um die Fünfundvierzig auch. Von einem Blatt Papier, das er in Händen hielt, verlas er mit monotoner Stimme eine Erklärung. »Es ist traurig, daß ein Bewunderer von Mars Girl gestorben ist. Besonders schmerzlich ist die Angelegenheit, weil Mr. Nicky Larsen viele Kilometer aus seiner Heimat Amerika angereist war, um sich an der Erfolgsserie von Dayo zu erfreuen. Unser Ziel bei Dayo ist es, Comics zu veröffe ntlichen, die unterhalten und bilden.« Mr. Moris Gesicht zuckte; das sah -140-
aus, als glaube er selbst nicht so recht, was er sagte, oder als müsse er gleich niesen. »Leider verletzen die jungen Leute, die ihre eigenen Comics mit unseren Figuren gestalten, das Urheberrecht. Die Künstler von Dayo, die das echte Mars Girl schaffen, arbeiten sehr hart. Unsere Bemühungen werden gefährdet, wenn Nachahmer Geld für nicht autorisierte Versionen unserer Serie verlangen.« Mr. Mori verbeugte sich, wobei seine Halbglatze zum Vorschein kam, und dann folgte ein Werbespot auf dem Bildschirm. Während eine Frau von den Vorzügen eines Toilettenreinigers schwärmte, versuchte ich, die eigentliche Botschaft dessen, was Mr. Mori gesagt hatte, zu entschlüsseln. Offenbar benutzte Dayo Nickys Tod, um sich gegen die Urheberrechtsverletzungen von Showa Story zu wehren. Mir erschien das ziemlich kaltblütig, und es überraschte mich. Rika hatte in der Redaktionskonferenz gesagt, daß Comic-Verlage sich über solche Fragen keine Gedanken machten. Kannte sie sich auf diesem Gebiet tatsächlich aus... oder war dies wieder ein Beispiel für ihre eleganten Lügen? Konnte es sein, daß Dayo irgendwie mit Nickys Tod zu tun hatte? Kunio war plötzlich verschwunden, angeblich, um Geld für die Begleichung seiner Schulden zu organisieren. Hatte er das Geld in Wahrheit dazu nutzen wollen, eine Einigung mit Dayo zu erzielen? Wenn ja, warum hatte er dann die gesamte finanzielle Belastung selbst übernommen und sie sich nicht mit Seiko und Nicky geteilt? Ich ging zum Joggen, später als üblich, was bedeutete, daß ich nicht wie sonst die morgendlichkühle Luft einatmete, sondern warmen, feuchten Nebel, und die Hitze, die vom Pflaster aufstieg, mir die Fußsohlen verbrannte. Als ich eine Nachbarin sah, die ihren Golden Retriever spazieren führte, fiel mir Seiko Hattori ein, die junge Frau aus dem manga-Zirkel, die sich angeblich als die Hündin von Mars Girl verkleidete. Ich hörte -141-
früher als gewohnt mit dem Laufen auf, und statt wie an den anderen Tagen ein Aquarius oder Pocari Sweat zu trinken, entschied ich mich für einen kalten Georgia Coffee aus dem Automaten vor der Station Sendagi. Ich hatte genug Kleingeld in der Tasche meiner Shorts, um mit der Chiyoda-Linie zum Showa College zu fahren. Vor einiger Zeit war ich anläßlich eines Filmfests an einem dunklen Winterabend schon einmal in dem College gewesen. Das Gebäude hatte auf mich eher wie ein moderner Bürokomplex und nicht wie ein Ort der Wissenschaft gewirkt. Das war die Schuld des Architekten; in den boomenden achtzige r Jahren hatte man in ganz Tokio weiße, quadratische Gebäude hochgezogen, die ziemlich schnell grau werden und nicht gerade ein Schmuck für die Gegend sind. Schade, denn der Campus war mit Sicherheit einmal hübsch gewesen. Das College war 1928 gegründet worden, kurz nach der Thronbesteigung von Kaiser Hirohito. Der Kaiser hatte sich sehr für Meereskunde interessiert, und so genoß dieses Institut an der Uni einen besonderen Status. Das ursprüngliche Museum für Meeresbiologie gehörte noch immer zu den Hauptattraktionen des College. Es handelte sich um ein rundes Gebäude mit Fenstern, die aussahen wie Bullaugen. Es war alt und ein bißchen merkwürdig und gewann deshalb natürlich sofort mein Herz. Auf einem Lageplan vor dem Museum waren winzige Fotos von den verschiedenen Gebäuden der einzelnen Institute zu sehen. Das Wort »Kunst« konnte ich allerdings nirgends entdecken. Vielleicht war dieses Institut, ja in einem anderen Gebäude, zum Beispiel dem der Kommunikationswissenschaften, untergebracht. Das würde ich im Sekretariat erfragen. Ich ließ den Blick noch einmal über den Plan schweifen und erkannte unter den kanji-Zeichen auch das Symbol für »Zulassungsstelle«. Ich folgte dem betonierten Weg dorthin. -142-
Wie Rikas Freund mir schon gesagt hatte, war das reguläre Semester zu Ende, so daß auf dem Gelände Ruhe herrschte. In den Fahrradständern warteten keine Räder, und auf den Stufen saßen auch keine Studenten. Mit meinen Shorts und dem ärmellosen Shirt war ich die einzige, die irgendwie studentisch aussah. Ein paar ältere Herrschaften im Anzug gingen mit Aktentaschen vorbei - wahrscheinlich Professoren, die sich in den Sommerferien mit ihren Forschungsprojekten beschäftigten. Es war nach neun, also wäre das Sekretariat vermutlich geöffnet. Ich betrat den malvenfarbenweißen Raum des Büros und erhielt, bevor ich irgend etwas sagen konnte, ein in japanischer Sprache verfaßtes Formular. Offenbar handelte es sich um eine Voranmeldung. Die Sekretärin, eine Frau mittleren Alters mit freundlichem Gesicht, die ihre Brille an einem Kettchen um den Hals trug, winkte mir zu, um mir zu bedeuten, daß ich mich auf einen der Polsterstühle setzen sollte. Ich blieb stehen und sagte: »Ich hätte gern ein paar Informationen über Studenten... und die Kunstfakultät.« »Wir haben hier keine Kunstfakultät«, sagte die Sekretärin. »Manche Studenten beschäftigen sich als Hobby damit, und natürlich gibt es auch Clubs. Dieses besondere Interesse könnten Sie in dem Anmeldeformular angeben.« »Und wo sind die Kunstclubs untergebracht?« fragte ich. »Im ersten Stock des Gebäudes der Studentenvereinigung. Aber das hat leider jetzt im Sommer geschlossen. Könnten Sie Ende August wiederkommen?« »Nun, ich bin eigentlich nur zu Besuch aus Amerika da«, sagte ich, nicht ganz der Wahrheit entsprechend. Doch vermutlich sah die japanische Regierung mich ohnehin lieber als Besucherin, nicht als dauerhaft im Land Lebende. »Ah so desu ka! Wir haben eigene Programme für ausländische Studenten. Ihr Japanisch ist so gut, daß ich gar nicht gemerkt habe - ich habe Ihnen das falsche Formular -143-
gegeben...« Sie begann nervös in Ordnern herumzusuchen. »Bitte machen Sie sich keine Mühe«, sagte ich. »Allerdings würde es mir sehr helfen, wenn ich eine Studentin kennenlernen könnte, von der ich gehört habe, daß sie sich für die gleichen Dinge wie ich interessiert.« »Nun, die Bitte ist ziemlich ungewöhnlich, aber Sie sind von so weit her gekommen, da werde ich in der Verwaltung nachfragen, ob man Ihnen helfen kann.« Sie schien erleichtert darüber zu sein, daß sie die Verantwortung abschieben konnte. »Wie heißt diese Studentin denn?« »Seiko Hattori.« »Kennen Sie nur ihren Namen oder auch ihr Hauptfach?« »Nun, ich habe gehört, daß sie im manga-Club ist.« Die Sekretärin runzelte die Stirn. »Die Programme der japanischen Universitäten für Ausländer stellen hohe Anforderungen an die Studenten. Wer nur nach Japan kommt, um sich mit manga zu beschäftigen, ist möglicherweise sehr enttäuscht über seine College-Erfahrungen. Wir hatten so einen Amerikaner; der Dekan möchte nicht, daß sich dieser Fall wiederholt.« »Ja, da haben Sie recht. Meinen Sie diesen Jungen, über den in den Nachrichten berichtet wurde, Nicky Larsen?« »Er ist so in den manga aufgegangen, daß er das Studium aufgegeben hat. Tja, und dann sowas!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich rufe gleich in der Verwaltung an. In der Zwischenzeit können Sie die Publikationen der Studentenvereinigung anschauen.« Auf einem Regal entdeckte ich das Jahrbuch des Showa College. Da der Schweiß vom Joggen inzwischen getrocknet war, wagte ich es, auf einem der kleinen malvencremefarbenen Stühle Platz zu nehmen. Der Stuhl erinnerte mich an die -144-
Sitzgelegenheiten für wartende Kunden in Banken - entworfen für Grundschüler und so winzig, daß man sich ganz klein vorkam angesichts der Autorität hinter dem Schalter. Die Sekretärin hatte mich offenbar als jung genug für das Studienanfängerprogramm eingeschätzt, was vermutlich als Kompliment zu bewerten war, doch mein Interesse für Comics hatte nicht gerade ihre große Freude geweckt. Ich blätterte das Jahrbuch durch; zum Glück hieß die mangaGruppe Comic Club, so daß ich keine Schwierigkeiten hatte, das Wort zu lesen. Zwei Reihen von Studenten grinsten in die Kamera, manche mit Kostümen, manche hielten zwei Finger wie Hasenohren über den Kopf ihres Vordermannes. Bevor ich mir die Gesichter genauer ansah, suchte ich im Text nach den Namen Nicky Larsen, Kunio Takahashi und Seiko Hattori. Der blonde Nicky war nicht schwer zu finden, denn er überragte alle anderen. Er trug einen flotten langen Ledermantel. Kein Wunder, daß Chiyo ihn für den Club engagiert hatte. Kunio Takahashi links von ihm hatte einen offenbar alten Smoking sowie die dazu passenden Schuhe und Handschuhe an. Auf der Nase hatte er eine Sonnenbrille, so daß ich von seinem Gesicht eigentlich nur das spitze Kinn erkennen konnte, das ein bißchen an einen Kobold erinnerte. Er sah selbst fast wie eine Comic-Figur aus. Ich überlegte, ob er möglicherweise der Mann mit der Sonnenbrille gewesen war, der mich ein paar Tage zuvor in dem anime-Coffee-Shop beobachtet hatte. Das Foto war zu klein, als daß ich das mit Sicherheit hätte sagen können, und es handelte sich auch um ein anderes Sonnenbrillenmodell, aber Kunio hatte ungefähr die Größe des Mannes aus dem CoffeeShop. Warum trug Kunio auf dem Bild eine Sonnenbrille? fragte ich mich verärgert. Wie ungerecht. Auf der anderen Seite von Kunio stand Seiko Hattori. Vielleicht, so dachte ich, war sie - alle behaupteten ja, Kunio sei so attraktiv - eine seiner Freundinnen gewesen. Schließlich hatte Nicky etwas Anzügliches über ihr -145-
Hundekostüm gesagt. Sah ganz so aus, als verbinde die beiden eine interessante Vergangenheit. Auf dem Foto hielt Seiko die Hände flach gegen die Oberschenkel gepreßt und lächelte selbstbewußt in die Kamera. Sie hatte langes, glattes schwarzes Haar und ein rundes hübsches Gesicht. Mit anderen Worten: Sie sah wie die meisten japanischen Studentinnen oder Büroangestellten aus, die mir auf der Straße begegneten. In einer Menschenmenge hätte ich sie nicht erkannt. Im hinteren Teil des Jahrbuchs suchte ich nach einem Register, um festzustellen, ob sich noch weitere Fotos von Seiko und Kunio in dem Band befanden, aber ein solches Register gab es nicht. Statt dessen entdeckte ich Seite um Seite Werbeanzeigen in englischer und japanischer Sprache, die den Absolventen des College und den unterschiedlichen Clubs gratulierten. Auf einigen Seiten wurde das Volleyball- Team gelobt, eine besonders auffällig aufgemachte gratulierte den Mitgliedern des Presse-Clubs, unter ihnen auch Rika Fuchida. Im Kleingedruckten ganz unten stand, daß ihre Eltern für die Anzeige gezahlt hatten. Nun, das war in den Jahrbüchern von amerikanischen High-Schools und Colleges auch so. Eine Anzeige mit einem lächelnden Mars Girl samt Diplom beglückwünschte den Comic Club im Namen des Hattori Copy Shop. In der Werbung waren die Namen der dazugehörigen Studenten aufgeführt: Kunio, Nicky, Seiko und noch zwanzig andere. Einen Namen, den ich darunter erwartete, entdeckte ich nicht: den von Rika. Beim Anblick der Anzeigen stellten sich mir zwei Fragen: Erstens, ob die Leute vom Hattori Copy Shop irgendwie mit Seiko Hattori in Verbindung standen. Und zweitens, warum Rika nicht auf dem Foto des manga-Clubs war. Rika hatte Mr. Sanno erklärt, sie sei im manga-Club des Showa College aktiv, aber offenbar spielte sie darin doch keine so große Rolle, genau wie ihre Freunde am Strand gesagt hatten. -146-
»Nicht verfügbar«, sagte die Sekretärin plötzlich. »Hmmm?« Ich war so in meine eigenen Gedanken vertieft gewesen, daß ich nicht ihren ganzen Satz gehört hatte. Und im Japanischen mußte ich immer sehr genau lauschen, um den Satz auch zu verstehen. »Offenbar hat Seiko Hattori hier Englisch im Hauptfach studiert, aber sie ist nicht mehr bei uns eingeschrieben.« »Hat sie einen Abschluß gemacht?« fragte ich. »Nein, sie hat nach dem dritten Studienjahr aufgehört. Unser Programm dauert vier Jahre.« Sie seufzte. »Wir sind ein privates College, und es gibt nur wenige Stipendien. Vielleicht haben ihre Eltern es sich angesichts der Wirtschaftskrise nicht mehr leisten können, ihr das Studium zu finanzieren.« Drei Mitglieder des dôjinshi-Zirkels, und alle drei nicht mehr im College. Irgendwie kamen mir Zweifel, daß das etwas mit der Wirtschaftskrise zu tun hatte. »Nicky hat das Studium auch nach dem dritten Jahr abgebrochen, stimmt's?« »Nun, offiziell war er dieses Jahr bei uns eingeschrieben«, sagte die Sekretärin. »Aber er ist nicht zu den Kursen erschienen.« »Sie wissen aber eine Menge über Nicky Larsen, ohne in der Verwaltung nachfragen zu müssen.« »Wie Sie sich vorstellen können, sind wir sehr bestürzt gewesen, als er gestorben ist. Wir haben erst vor ein paar Tagen von seinem Tod erfahren. Aber wir denken an ihn.« »Haben Sie ihn denn persönlich gekannt?« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat sich von den USA aus bei uns beworben, deshalb bestand kein Grund für ihn, in die Zulassungsstelle zu kommen. Für ihn ist das Büro für ausländische Studenten zuständig, aber das hat im Sommer geschlossen.« -147-
»Soweit ich weiß, hatte er einen japanischen Freund namens Kunio Takahashi, der kürzlich seinen Abschluß gemacht hat.« »Sie interessieren sich aber sehr für Studenten, die nicht mehr bei uns eingeschrieben sind, neh?« Hoppla. Ich hatte mich zu weit vorgewagt und lief Gefahr aufzufliegen. »Nun, diese Namen hat man mir gesagt«, meinte ich. »Kann ich das Einschreibungsformular mitnehmen? Und dieses Jahrbuch gefällt mir sehr - könnte ich das kaufen?« »Das kriegt man bei der Studentenvereinigung, aber das Büro hat geschlossen. Sie könnten's ja in dem Laden probieren, der es gedruckt hat. Der Hattori Copy Shop ist gleich hier in der Nähe, direkt neben der Station Takadanobaba.« Hattori Copy Shop, derselbe Laden, von dem die Glückwunschanzeige für den Comic Club stammte. Wunderbar. Ich bedankte mich mit einem Lächeln und machte mich auf den Weg zur U-Bahn-Station. Der Copy-Shop war nicht schwer zu finden; es handelte sich um einen kleinen Laden mit einem großen Schild im Schaufenster, auf dem stand: KOPIEN JETZT! NUR 5 YEN. Am liebsten wäre ich gleich hinein gegangen, aber es waren nur noch zwanzig Minuten bis zu meiner Mittagsverabredung mit Rika. Tja, so ist das, wenn man so spät aufsteht, dachte ich, verärgert über mich selbst. Rika hatte viel zu tun im Büro der Zeitschrift, also schuldete ich es ihr, pünktlich zu sein. Ich informierte mich auf dem Zettel an der Tür des Copy-Shop über die Öffnungszeiten und eilte davon. * Rika traf fast gleichzeitig mit mir in dem Lokal ein, und wir fanden gerade noch einen Tisch, bevor der große mittägliche Ansturm begann. Wie immer wurde sofort serviert. Das Ziel des Restaurants schien es zu sein, die Leute abzufüttern und so rasch wie möglich wieder loszuwerden. In manchen Lokalen waren nicht einmal Gespräche erlaubt, um den Vorgang noch weiter zu -148-
beschleunigen. Die Tatsache, daß Rika und ich uns unterhielten, brachte uns ein paar böse Blicke von Leuten ein, die an der Tür auf das Freiwerden eines Tisches warteten. »Ich bin heute in Ihrem College gewesen«, sagte ich zwischen zwei Bissen Tofu. Ich hatte nicht das gleiche wie am Vortag essen wollen und mich für dieses köstliche kalte Gericht mit Sojasauce entschieden. »Wieso hatten Sie Zeit, zu meinem College zu fahren? Ich dachte. Sie sind damit beschäftigt, unseren Artikel zu schreiben«, sagte Rika. »Nicky und Kunio haben das Showa College besucht. Finden Sie nicht, daß es sich da anbietet, sich auf dem Campus umzuschauen, um mehr für den Artikel zu erfahren?« Rika winkte ab. »Im Moment sind Ferien.« »Die Zulassungsstelle hat geöffnet. Ich habe das Jahrbuch gesehen.« Rikas Blick flackerte. »Haben Sie ein Foto von Kunio und Nicky bekommen?« »Ich konnte das Jahrbuch leider nicht mitnehmen, habe aber gesehen, daß auf dem Foto vom manga-Club nicht nur die beiden waren, sondern auch Seiko Hattori. Sie habe ich darauf allerdings nicht entdeckt.« »Ich hatte mehr mit dem Presse-Club zu tun. Haben Sie mein Bild dort nicht gesehen?« fragte Rika. Wie sollte ich sie dazu bringen, alles zuzugeben? Ich beschloß, ganz direkt zu fragen: »Waren Sie überhaupt im manga-Club?« Rika mußte husten. »Nun, eigentlich nicht, aber ich bin ein großer Fan. Ich war auf den Partys vom Club.« Jetzt begriff ich. Rikas Freunde am Strand hatten also recht gehabt, Rika wußte tatsächlich nicht viel über manga. Ich sagte nichts, wartete ab, was von ihr kommen würde. -149-
Nach ungefähr einer halben Minute sprudelten die Worte dann nur so aus Rikas Mund. »Bei der Redaktionssitzung habe ich erwähnt, daß ich Mitglied im manga-Club bin, weil ich Leute darin kenne. Das macht mich praktisch zum Mitglied.« »Verstehe.« Allmählich erfuhr ich mehr über die rührige kleine Praktikantin. Ich sah sie einen Moment an und spürte, daß ihr nicht sonderlich wohl war in ihrer Haut. Wahrscheinlich würden wir nicht weiterkommen, wenn ich sie in die Enge trieb. »Unterhalten wir uns doch über etwas anderes, das mich interessiert, die Verbindung zu den Ganoven. Mein Freund Takeo meint, die Strandbar, in der wir beide waren, ist ein Gangster-Treff. Stimmt das?« »Sagen Sie dieses Wort nicht!« flüsterte Rika. Ich vergaß immer, daß man das Wort yakuza nicht in der Öffentlichkeit aussprechen sollte, weil vielleicht einer der Gangster es hörte und wütend wurde. Aber da ich Englisch redete, hatten vermutlich die wenigsten mitbekommen, worüber wir uns unterhielten. Rika nahm einen großen Schluck Wasser und sagte dann: »Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich bin ein ganz normales japanisches Mädchen!« Dann hatte Rika also, als ich das Bojo als Treffpunkt der yakuza bezeichnete, gedacht, ich halte sie für eine Verbrecherin. Das war so lächerlich, daß ich am liebsten laut gelacht hätte, doch ich hielt mich zurück. »Das weiß ich«, sagte ich. »Die meisten Leute, die solche Bars auf einen Drink besuchen, gehören nicht dazu. Aber an dem Abend waren einige Männer mit Sonnenbrillen und Tätowierungen da. Ich war leider zu weit weg, um einen genaueren Blick auf ihre Hände werfen zu können.« Die Hände verrieten Angehörige der yakuza, die sich einen -150-
Schnitzer erlaubt hatten. Die Strafe für Fehlverhalten in der japanischen Unterwelt, so hieß es, seien abgeschnittene Finger. »Ich gebe mein Bestes für diesen Artikel«, sagte Rika. »Ich habe mir eine nackte Leiche angeschaut und eine ganze Menge Notizen für Sie gemacht. Aber einen von denen interviewe ich nicht. Es besteht keine Verbindung zwischen der Bojo Bar und diesem Artikel, nur die, daß wir uns dort über unsere Pläne unterhalten haben.« Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und dachte, ja, es wäre tatsächlich einfacher, auf ein Interview mit einem Gangster zu verzichten. Warum nur hielt ich es für nötig? »Rika, Sie wissen, daß ich Japanisch nur sehr schlecht lesen kann«, sagte ich. »Doch wenn ich Holzschnitte erwerbe, sehe ich mir das Siegel des Künstlers in der unteren rechten Ecke an. Weil ich mich schon so lange damit beschäftige, kenne ich diese Siegel besser als die meisten anderen Leute, wenn auch nicht so gut wie richtige Experten. Der Reporter in den Nachrichten war der Meinung, daß es sich bei dem Zeichen auf Nickys Stirn um das einer Gangster- Bande handeln könnte. Auf die Idee wäre ich nicht gekommen, aber sie ergibt Sinn. Nicky hat im Show a Boy gearbeitet, einem Striptease-Lokal mit einer sehr strengen mamasan. Möglicherweise hat sie Gangster angeheuert, die ihn umbringen sollten, oder diese Gangster, die sich für den Club interessieren, haben ihn getötet, um sie zu warnen.« »Und wieso sollte man dann fremde Männer am Strand interviewen?« fragte Rika sofort. »Warum gehen wir nicht zu der mamasan und sprechen mit ihr?« »Nun, vielleicht tue ich das«, sagte ich. »Wir könnten eine ganze Menge Dinge tun. Da Sie die nötigen Verbindungen haben, könnten Sie Seiko Hattori aufspüren, während ich der Sache mit den Gangstern nachgehe.« »Vor solchen Interviews sollten wir bei der Zeitschrift nachfragen. Vielleicht ist Mr. Sanno nicht damit einverstanden. -151-
Der Zweck der Gaijin Times besteht darin, Dinge zu verkaufen, nicht darin, im Sandstrand versteckte Messer auszubuddeln.« »Hmmm, wirklich ein netter Vergleich«, sagte ich. »Darf ich den in dem Artikel verwenden?« »Erst, wenn wir mit Mr. Sanno gesprochen haben.« »Das hieße aber, daß wir Alec übergehen«, erklärte ich. »Ich rede zuerst mit Alec und warte dann, bis Mr. Sanno gute Laune hat.« Allmählich verlor ich die Geduld. »Rikasan, das klingt fast so, als wollten Sie den Artikel nicht mit mir machen.« »Bitte lassen Sie mir Zeit, Reisan. Ich würde Mr. Sanno gern meine Beschreibung der Leiche einschließlich meiner Skizze von dem Zeichen auf seiner Stirn geben. Nur dann wird er begreifen, warum Sie unbedingt Verbrecher interviewen wollen.« Mir wurde flau im Magen bei dem Gedanken daran, wie blutrünstig der Artikel werden würde, und daß die Leute höchstwahrscheinlich ihr Vergnügen daran hätten. In Japan war die Mordrate so niedrig, daß jedes einzelne dieser Verbrechen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Ich hatte ja gesehen, wie aufgeregt die Leute im Fernsehen auf den Fund der merkwürdig kostümierten Leiche am Flußufer reagiert hatten. »Na schön. Während ich darauf warte, daß Sie eine Antwort einholen, beschäftige ich mich weiter mit Hintergrundrecherchen. Aber noch eins: Sind Sie wirklich sicher, daß die Leiche, die Sie gesehen haben, Nicky ist?« fragte ich. So ganz wohl war mir immer noch nicht bei dem Gedanken, eine Reihe möglicherweise gefährlicher Interviews nur auf der Basis von Rikas Identifizierung zu führen. Hätte ich Rikas Schilderung von körperlichen Details des Toten doch nur bei Lieutenant Hata überprüfen können! Aber schließlich konnte ich ihm nicht sagen, daß ich sie geschickt hatte, oder? -152-
»Ich bin mir sicher, daß es Nicky war«, sagte Rika und tätschelte mir zur Beruhigung die Hand. »Vertrauen Sie mir denn nicht?«
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17 Nachdem ich mich von Rika verabschiedet hatte, wollte ich noch zwei Dinge erledigen: Einen Besuch beim Hattori Copy Shop, der wahrscheinlich bis zum frühen Abend geöffnet hatte, und ein Gespräch mit Marcellus. Da er bereits am Nachmittag im Club erscheinen mußte, wandte ich mich zuerst diesem Punkt zu, duckte mich in eine Telefonzelle der NTT und holte aus meiner Tasche den Zettel, auf dem Marcellus mir seine Privatnummer notiert hatte. »Haben Sie schon Kaffee getrunken?« fragte ich, als Marcellus sich mit einem verschlafenen hai oder hi meldete. Es war schwierig festzustellen, in welcher Sprache er mich begrüßte, weil das englische und das japanische Wort gleich klangen. »Wer spricht da?« fragte Marcellus. »Rei. Sie erinnern sich doch noch an mich, oder? Wir haben vor dem Club miteinander gesprochen. Ich würde gern mit Ihnen über Nicky reden. Sind Sie allein?« »Oui. Ich bin froh, daß Sie anrufen. Neulich konnte ich mich nicht mit Ihnen unterhalten, weil die mamasan mich ständig im Auge hat. Sie ist nervös.« Nun war klar, daß ich Chiyo noch einmal aufsuchen mußte. »Glauben Sie, daß sie etwas mit Nickys Tod zu tun haben könnte? Und was ist mit Kunio?« »Ich dachte. Sie wissen nicht genau, ob Nicky tot ist. Haben Sie etwas Neues erfahren?« Ich erzählte ihm von Rikas Gang zur Leichenhalle. »Natürlich gibt es in Tokio auch andere Männer, die so aussehen, aber die Kleidung, die guten Zähne und die blonden Haare deuten auf Nicky hin«, sagte ich. -154-
»Ich glaube Ihnen«, sagte Marcellus mit leiser Stimme. »Mein Gott, wie traurig. Er war wie ein Bruder für mich. Mein amerikanischer Bruder. Er hat mir alles über Rap-Musik und Breakdance beigebracht. Meine Bühnennummer verdanke ich ihm.« »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich möchte nicht mitbekommen, was Chiyo sagt, wenn sie das erfährt«, erklärte Marcellus. »Sie hat kein Herz. In der Zeit, in der Nicky verschwunden war, hat sie ihn verflucht. Ihrer Meinung nach ist er zu einem Club in Roppongi übergewechselt, der unsere Tanz-Show imitiert. Chiyo denkt, Nicky hat keine Loyalität der Gruppe gegenüber; sie hält ihn für einen gaijin der übelsten Sorte.« »Nun, jetzt wird sie seinen Namen im Fernsehen oder in den Zeitungen sehen. Wahrscheinlich bekommt sie dann Schuldgefühle wegen all der schlimmen Dinge, die sie gesagt hat.« »Vielleicht auch aus anderen Gründen«, meinte Marcellus mit düsterer Stimme. »Was meinen Sie damit? Hat das etwas mit der Gefahr zu tun, die Sie neulich erwähnt haben?« Langes Schweigen. »Ich muß überlegen, was ich Ihnen erzählen kann«, sagte Marcellus schließlich. »Glauben Sie, daß Nickys Tod etwas mit der yakuza zu tun haben könnte?« »Bitte sprechen Sie dieses Wort nicht aus!« rief Marcellus in den Hörer. Erstaunlich, wie japanisch seine Reaktionen geworden waren. »Na schön, dann eben Gang. Wissen Sie, ob solche Gruppen etwas mit dem Club zu tun haben?« »Nein! Unsere Gäste sind ganz normale Frauen. Sie würden mich gern vergewaltigen, aber kriminell sind sie nicht, nur -155-
Frauen, ganz naturelle.« »Und was ist mit den Besuchen außerhalb der Show-Zeiten?« »Darüber kann ich nicht sprechen.« »Ich möchte nur herausfinden, ob jemand, der in Ihrem Club war, Nicky umgebracht hat. Wenn Sie mir nichts erzählen wollen, sollten Sie zumindest für Ihre eigene Sicherheit sorgen.« Marcellus stieß ein verächtliches Schnauben aus und sagte: »Ma chérie, als ich in dieses Land kam, habe ich es für das sicherste der Welt gehalten. In einem Touristenführer hatte ich ein Foto von einem japanischen Dorf am Meer mit freundlichen älteren Damen gesehen, die Gemüsekörbe auf den Straßen hin und her trugen. Vergle ichen Sie das bitte mit meinem jetzigen Arbeitsplatz, wo die jungen Damen mir jeden Abend die Kleider vom Leib zu reißen versuchen. Das wirkliche Japan war ein großer Schock für mich.« »Verstehe«, sagte ich. »Könnten Sie eine Weile aus der Stadt verschwinden?« »Ich habe eine nette Frau kennengelernt, die sich sehr darüber freuen würde.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das Problem ist nur, daß ich als Sex-Künstler mehr verdiene als mit Fischen am Meer. Ich trage Handschellen aus Gold. Comprendstu? « Ja, ich verstand. Ich mußte daran denken, wie Takeo sich durchschlagen würde, wenn er nicht das Haus seiner Eltern in Hayama renovieren könnte. Er war ein bißchen zu dünn für einen Auftritt im Show a Boy. Was konnte ein Mann ohne echte Alternativen unternehmen? Würde er sich möglicherweise dem Verbrechen zuwenden? * Ich verließ die Telefonzelle, in der es mittlerweile heiß wie in der Sauna war, weil die Juli-Sonne darauf knallte. Mein Baumwoll-Strickkleid, das vor dem Mittagessen noch so frisch und adrett gewesen war, klebte mir nun am Körper. Ich sah aus, -156-
als wäre ich beim Schwimmen gewesen. Um mich ein wenig zu regenerieren, stellte ich mich neben die Lüftung im U-BahnWaggon, dem einzigen kühlen Ort, den ich während meiner kurzen Fahrt zum Hattori Copy Shop finden konnte. Bevor ich den Bahnhof verließ, überprüfte ich mein Aussehen in einem kleinen Spiegel über einem Wasserspender auf dem Gleis. Gott sei Dank wirkte ich wieder einigermaßen präsentabel. Dann ging ich zum Bahnhofskiosk, weil ich irgend etwas kaufen mußte, das ich fotokopieren konnte. In meinem Rucksack steckten zwei Ausgaben von Showa Story, aber ich wollte das Schicksal lieber nicht herausfordern, indem ich sie verwendete. Schließlich entschied ich mich für die asiatische Ausgabe von Newsweek. Ich näherte mich dem Copy-Shop und sah schon von außen durchs Fenster, daß keine Kunden auf der kleinen Reihe von Stühlen warteten. Hinter der Theke befanden sich Kopierer und zwei Angestellte, ein Mann mittleren Alters sowie eine junge Frau. Die beiden unterhielten sich; als ich die Tür öffnete, hörte ich, daß sie sich stritten. Der Mann drohte der Frau mit dem Finger, und sie wich zurück. Als die Glocke an der Tür bimmelte, zuckte die Frau zusammen und verschwand ohne einen Blick auf mich in den hinteren Te il des Ladens. Ich sah gerade noch, daß sie schulterlanges Haar hatte, ein wenig pummelig war und Pepe Jeans trug. Vermutlich war sie unter Dreißig, aber mit letzter Sicherheit konnte ich das nicht sagen. Handelte es sich bei der Frau um Seiko? Der Mann, der nach wie vor an der Theke stand, nickte mir zu, begrüßte mich mit einem irasshaimase, dem üblichen Gruß für Kunden, die ein Geschäft betreten, und sah mich erwartungsvoll an. Ich sagte: »Hattorisan?« »Ja. Was kann ich für Sie tun?« »Ich muß ein paar Artikel kopieren«, sagte ich. »Und ich -157-
würde dafür gern ein sehr gutes Papier verwenden.« »Wir haben viele qualitativ hochwertige Papiere. Ich kann Ihnen unser Angebot zeigen.« Er ging zu einem Regal und holte Muster heraus. »Welche Qualität hätten Sie sich denn vorgestellt?« »Im Idealfall ein Papier, das Contessa heißt.« »Ach, das ist besser für Kunstbücher, und außerdem hat es Übergröße. Wollten Sie nicht bloß ein paar Artikel kopieren?« »Ja, aber in den Artikeln kommen Farbfotos vor«, sagte ich rasch. »Und die müssen gut werden.« »Tut mir leid, das Contessa-Papier ist mir ausgegangen, doch ich könnte es innerhalb eines Monats besorgen. Vermutlich ist das zu lang.« Er sah mich mit einem spöttischen Blick an, und ich fragte mich, ob er meine lahme Erklärung durchschaut hatte. »Ja, das ist allerdings zu lang«, pflichtete ich ihm bei. »Was könnten Sie mir sonst noch anbieten? Ach, und noch etwas: Sind Sie Seikos Onkel?« »Ich bin ihr Vater«, sagte Mr. Hattori. »Kennen Sie sie?« »Flüchtig«, sagte ich nach kurzem Zö gern, weil ich merkte, daß das raschelnde Geräusch aus dem hinteren Teil des Ladens, das bis dahin unser Gespräch begleitet hatte, plötzlich aufhörte. »Arbeitet Seikosan hier?« »Ja. Ich sage ihr, daß Sie hier gewesen sind.« »Ach, wie schön, daß sie im Laden ist. Könnte ich mit ihr sprechen?« »Sie ist gerade in der Mittagspause. Ich richte ihr einen Gruß von Ihnen aus, wenn Sie mir Ihren Namen verraten.« Es war halb drei, nicht unbedingt die übliche Mittagszeit für Japaner. Aber vielleicht wurde hier mittags durchgearbeitet, weil gerade dann die Kunden frei hatten und zum Kopieren kommen konnten. »Wollen Sie Ihren Namen hinterlassen?« fragte mich Mr. -158-
Hattori. »Rei Shimura«, sagte ich und reichte ihm die Visitenkarte von Rei-Shimura-Antiquitäten. Nun, vielleic ht fand Seiko meinen Besuch interessant genug, um mich später anzurufen. »Sie handeln also mit Antiquitäten. Jetzt verstehe ich Ihr Interesse an qualitativ hochwertigen Kopien. Soll ich einen Werbehandzettel für Sie entwerfen?« Nun klang seine Stimme ein bißchen freundlicher. »Nein.« Wie dumm von mir, daß ich nicht einfach ein paar Fotos meiner Stücke mitgebracht hatte. »Es handelt sich um einen Zeitschriftenartikel für einen Sprachkurs, den ich nebenbei unterrichte.« »Tja, hier hätte ich einige Papiere, die ganz ähnlich sind wie das Contessa. Aber Sie verstehen wahrscheinlich, daß ich dafür mehr als fünf Yen verlangen muß.« »Hätten Sie irgendwelche Papiere um die zwanzig Yen?« Allzuviel Geld wollte ich für die Kopien dann doch nicht ausgeben, weil ich mich der Buchhaltung der Gaijin Times gegenüber würde verantworten müssen. »Hier hätte ich etwas, das sich für Reproduktionen in Fotoqualität eignet. Es kostet dreißig Yen pro Seite. Sie wollen doch Farbkopien, oder?« »Ja.« Ich blätterte die Newsweek auf der Suche nach einem Artikel durch, den es sich lohnte zu kopieren, und fand einen über die Bemühungen der Polizei, japanische Verbrecherbanden in den Griff zu bekommen. Wahrscheinlich, so dachte ich, wäre es am plausibelsten, eine Story zu kopieren, die mit Japan zu tun hatte. »Wieviele Kopien?« Da ich die Sache mit dem Sprachkurs erwähnt hatte, konnte ich nicht nur eine Kopie machen, doch ich wußte, daß die Sache mich so oder so eine Menge Geld kosten würde. -159-
»Zwei.« Als ich seinen enttäuschten Gesichtsausdruck sah, fügte ich hinzu: »Es ist ein sehr kleiner Kurs.« »Dann ist der Englischunterricht also kein einträgliches Geschäft mehr?« fragte Hattori, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. »Vor zehn Jahren war das noch lukrativ, aber jetzt nicht mehr.« Seiko studierte im Hauptfach Englisch, hatte mir die Sekretärin in der Zulassungsstelle des College erklärt. Ob Seikos Vater sie auch deshalb dazu gebracht hatte, das Studium abzubrechen, weil sie sich mit Englisch beschäftigte? Ich reichte Mr. Hattori die Zeitschrift, aufgeschlagen an der Stelle, an der sich der Artikel mit den japanischen Gangstern befand. Ich merkte, wie seine Augen größer wurden, als sein Blick darauf fiel. Er sah mich an. Ich lächelte. Mr. Hattori trat in den hinteren Teil des Ladens, um die Farbkopie für mich zu machen. Es dauerte ungefähr eine Minute, während derer er mit dem Rücken zu mir stand, als wolle er mich entmutigen, ihm weitere Fragen über Seiko zu stellen. Diese Zeit nutzte ich, um mich in dem Geschäft umzuschauen. An den Wänden hingen gerahmte Muster von Fotokopien und Druckarbeiten. Obwohl ich nirgends ein Showa Story-Cover entdeckte, war ich mir ziemlich sicher, daß sie hier entstanden waren. Vielleicht hatte Seiko die Seiten heimlich kopiert, ohne daß ihr Vater es mitbekam. Möglicherweise hatte sie den ganzen Vorrat an Contessa-Papier dafür aufgebraucht. »Gut, das wär's. Eine Farbkopie kostet zweihundertfünfzig Yen, dazu kommen sechzig Yen für das Spezialpapier sowie die Steuer - zusammen macht das fünfhundertachtundachtzig Yen.« Ich gab Mr. Hattori das Geld und verlangte eine Quittung, so daß ich mir das Geld von der Gaijin Times wiederholen konnte. »Danke für Ihren Besuch, Miss Shimura.« Er steckte die -160-
Kopien in eine rotweiß gestreifte Tüte von genau der richtigen Größe. Irgendwie kam mir das Muster dieser Tüte bekannt vor. Ich hatte es schon einmal gesehen. »Gern geschehen«, sagte ich und nahm die Tüte. »Ach, übrigens: Wann könnte ich Seiko Ihrer Meinung nach persönlich hier antreffen?« »Sie hat immer viel zu tun. Schwer zu sagen.« Vermutlich würde sie immer gerade unterwegs sein, wenn ich hereinkäme. Ich verließ den Laden, Seiko kein bißchen näher als zu Beginn meiner Unternehmung. An der hinteren Seite des Ladens entdeckte ich einen Toyota Town Ace Van auf dem Parkplatz. Ich ging in die Hocke, um mein Notizbuch aus dem Rucksack zu holen und mir die Nummer aufzuschreiben. Vielleicht konnte ich mit Hilfe dieser Nummer die Privatadresse der Hattoris herausbekommen. Ich hörte Schritte und hob den Blick. Wenn das Mr. Hattori war, mußte ich mir schnell eine Erklärung einfallen lassen. Doch es war die junge Frau mit schulterlangem Haar und rundlicher Figur, die ich zuvor gesehen hatte. Sie trug eine rot gestreifte Baumwollhemdbluse über ihrer Jeans, die zum Muster der Tüte paßte, in die vorhin Mr. Hattori meine Fotokopien gesteckt hatte. Die junge Frau erinnerte mich sehr stark an das Foto von Seiko Hattori im College-Jahrbuch, allerdings ohne den selbstbewußten, glücklichen Gesichtsausdruck, dafür aber mit einem blauen Auge. Sie schaute über die Schulter zurück zum Copy-Shop und beschleunigte ihre Schritte. Nun überquerte sie den Parkplatz, auf dem ich hinter dem Van kauerte, bemerkte mich jedoch nicht, weil sie in ihrem großen Rucksack nach etwas suchte. Etwas Gelbes blitzte auf, vielleicht gelbes Fell - konnte das ihr Hundekostüm sein? Sie stopfte das Ding wieder zurück, holte eine Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. Als ich ihr zu folgen begann, drehte Seiko sich um, sah mich -161-
an und schlenderte weiter zur Straße. Vielleicht kam es öfter vor in diesem Viertel, daß Fußgänger wegen des Mangels an Gehsteigen die Abkürzung über den Parkplatz des Copy-Shop nahmen. Jetzt blieb Seiko an einem Fußgängerüberweg stehen. Als sich eine Lücke zwischen den vorbeifahrenden Autos auftat, ging sie über die Straße. So etwas machte man in Japan normalerweise nicht. Man überquerte die Straße erst dann, wenn eine kitschige Melodie anzeigte, daß keine Gefahr bestand. Ich beeilte mich, sie einzuholen; als ich den Fußgängerüberweg erreichte, ertönte gerade die erwähnte Melodie, und ich konnte hinüber. Plötzlich wurde Seiko schneller und begann zu laufen. Vielleicht hatte sie Angst vor jemandem, den sie in der Menge gesehen hatte - oder ihr Vater hatte sie vor mir gewarnt. Hätte ich meine bewährten Asics getragen und nicht meine BallyPumps, wäre es kein Problem für mich gewesen, ihr nachzurennen. Aber die Schuhe behinderten mich so sehr, daß ich mich schnell gehend durch die Menschenmassen kämpfen mußte. Allmählich bekam ich Kopfschmerzen. Es war ein langer Tag gewesen, und ich hatte nicht damit gerechnet, daß er mit dieser Verfolgungsjagd enden würde. Nun erreichte Seiko eine Bushaltestelle, der sich gerade ein Bus näherte. Natürlich dachte ich, sie lief nicht vor mir weg, sondern wollte nur den Bus erwischen. Zum Glück wartete eine lange Schlange an der Haltestelle, so daß ich den Bus noch erreichte. Ich stieg ein, so darauf versessen, Seiko aufzuspüren, daß ich vergaß, eine Fahrkarte mit der Einsteigehaltestelle zu lösen. Ein Schulkind erinnerte mich daran. »Entschuldigung«, murmelte ich und ging nach hinten durch. Seiko saß auf einem Platz am Fenster, das Gesicht halb hinter einem Comic-Heft verborgen. Sie trug immer noch die Sonnenbrille, vermutlich, um ihr blaues Auge zu verstecken. Ich blieb im Gang neben Seiko stehen und hielt mich an -162-
einem Griff fest. Eine korpulente ältere Frau, die vor mir in der Schlange gestanden hatte, saß neben Seiko. Die beiden schenkten einander wie in Bussen üblich keine Beachtung. Vor Besteigen des Busses hatte ich gehofft, daß ich Seiko zu ihrem Haus folgen könnte, wenn sie ausstieg, um sie später vielleicht doch noch zu interviewen, doch jetzt merkte ich, daß es eine sehr, sehr lange Fahrt werden konnte, denn auf der Leuchtanzeige über dem Fahrer war die Endhaltestelle angegeben, die Station Shinjuku. Ich räusperte mich und sagte: »Entschuldigung.« Doch nicht Seiko hob den Blick, sondern die ältere Frau neben ihr. »Auch wenn Sie schwanger sind«, sagte sie ganz laut, »habe ich genausoviel Anrecht auf diesen Sitzplatz wie Sie.« Die anderen Fahrgäste drehten sich neugierig nach uns um. »Ich möchte Ihren Sitz gar nicht. Ich würde nur gern die junge Frau begrüßen...« »Als ich schwanger war, habe ich mich gepflegt«, sagte die Frau. »Ich habe keinen schmutzigen Kimono getragen. Und als die Babys dann da waren, ist es mir auch immer wichtig gewesen, sauber zu sein.« Vermutlich spielte sie damit auf mein ziemlich verknittertes Kleid an. Mich machte das eher wütend als verlegen. »Ich bin nicht schwanger!« flüsterte ich so laut ich konnte. Am liebsten hätte ich die Frau eine obatarian genannt, eine Bezeichnung, die die japanischen Wörter für »Großmutter« und »Bataillon« miteinander verband und eine rücksichtslose Rentnerin beschrieb, aber das traute ich mich nicht. Endlich hob Seiko den Blick, senkte ihn aber sofort wieder auf ihr Heft, in dem die Sexszenen ausgesprochen graphisch dargestellt waren. Vielleicht handelte es sich um Showa Story, doch ich würde mich nicht weiter hinabbeugen, um das festzustellen. »Hattorisan?« flüsterte ich. -163-
Seiko sah nicht auf. »Ich kenne einen Ihrer Freunde.« Noch immer keine Reaktion. »Kann Sie denn nicht hören?« fragte die obatarian und klatschte dabei laut in die Hände, so daß sich wieder alle nach uns umdrehten. Allmählich eskalierte die Sache; die Fahrgäste würden später am Essenstisch ihrer Familie eine Geschichte erzählen können. Endlich hob Seiko den Blick von ihrem Heft und betrachtete sowohl die alte Frau als auch mich voller Verärgerung. »Sie sind doch Seiko Hattori, oder?« fragte ich. Sie nickte zögernd. »Ich bin ein großer Fan von Showa Story«, sagte ich. »Könnte ich Ihnen ein paar Fragen dazu stellen?« »Wer sind Sie?« Ihre Stimme klang rauchig, nicht piepsig wie die der meisten anderen Mädchen ihres Alters. Mit hoher Stimme zu sprechen, war gleichbedeutend mit Freundlichkeit, Effizienz und Weiblichkeit. Doch die von Seiko war sexy, wie bei einer Nachtclub-Sängerin, nicht gerade das, was ich bei einem rundgesichtigen Mädchen mit gestreifter Hemdbluse erwartet hätte. »Ich heiße Rei. Ich habe im CopyShop nach Ihnen gefragt, doch Ihr Vater hat gesagt, daß Sie nicht da sind.« Ich griff in meinen Rucksack und reichte ihr meine Visitenkarte. »Es ist unhöflich, vor dem Gesicht anderer Leute herumzufuchteln«, rügte mich die obatarian, die zwischen mir und Seiko saß. »Soll ich Ihnen auf einen Silver Seat helfen?« fragte Seiko die alte Frau mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme. In dem Bus gab es mehrere Sitzplätze für ältere Menschen, silberfarben wie die Haare dieser Menschen. Auf Schildern darüber stand, sie müßten älteren oder behinderten Fahrgästen überlassen werden. -164-
Diese Plätze waren nebeneinander in Richtung Gang angeordnet, so daß die älteren Leute nicht über die Füße anderer Fahrgäste steigen mußten, wenn sie hinauswollten. »Ara! Wie unhöflich!« rief die obatarian aus, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Seiko formte mit den Lippen »Chotto matte«. - »Warten Sie.« Ich trat einen Schritt in den Gang zurück, damit weder die ältere Frau noch Seiko sich behindert fühlte. Seiko schlug ihr Comic-Heft zu und steckte es in ihren Rucksack. Ein paar Minuten später drückte sie auf die Klingel, um dem Fahrer zu signalisieren, daß sie aussteigen wollte. Dann nickte sie mir zu. Sie wollte, daß ich ihr folgte. Seiko machte eine kleine Verbeugung vor der obatarian, um sich für die Störung zu entschuldigen, und erhob sich. Ich hielt den Atem an, weil ich mit weiteren Beschimpfungen rechnete. Statt ebenfalls aufzustehen, schob die obatarian nur die Knie ein wenig zur Seite, so daß Seiko über sie hinwegklettern mußte, um hinauszukommen. »Die jungen Leute heute!« brummte die alte Frau. Seiko zahlte den Fahrpreis mit einem Ticket von einem kleinen Streifen, den sie in ihrer Brieftasche hatte. Das deutete darauf hin, daß das Haus ihrer Familie sich nicht allzuweit von dieser Bushaltestelle befand. Wir traten auf eine breite Straße, die an die Universität grenzte, an der Takeo studiert hatte. Genau wie im Showa College waren auch hier gerade Sommerferien. Die Gegend sah ruhiger und besser aus als die, in der ich wohnte. Seiko sah mich unsicher an. Ich konnte mir schon vorstellen, was in ihrem Kopf vorging: Ich habe sie gebeten, mit mir auszusteigen. Und was mache ich jetzt? Ich sagte: »Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?« »Mir wäre ein Drink lieber«, sagte sie. -165-
»Gern.« Allmählich hatte ich das Gefühl, nicht der Angestellten eines Copy-Shop gegenüberzustehen, sondern einer femme fatale. Seiko führte mich in eine Seitenstraße mit einem kleinen Platz, auf dem sich schicke Restaurants von der Sorte befanden, die drohten, das alte Tokio zu verdrängen. Es gab einen Royal Host Coffee-Shop sowie ein Kentucky Fried Chicken. Seiko deutete in Richtung Henry Africa, ein auf koloniales Afrika getrimmtes Lokal. »Die haben jetzt Happy Hour.« Ich war froh, daß ich meine Brieftasche mitgenommen hatte, denn bei den Preisen im Henry Africa würde ich meine Kreditkarte brauchen, das wußte ich noch vom letzten Mal. Vermutlich war das Henry Africa mit seiner englischsprachigen Speisekarte für Japaner so etwas wie der Hauch der großen weiten Welt. Ich selbst hatte ja während meiner Jugend in San Francisco auch zahlreiche Stunden in japanischen Restaurants verbracht und von meinem zukünftigen Leben geträumt. Die Klimaanlage in dem Lokal, in dem sich nur einige salarymen und ausländische Geschäftsleute aufhielten, war voll aufgedreht. Ein blonder, blauäugiger junger Ausländer deutete, ohne zu lächeln, auf die Bar. Wahrscheinlich dachte er, wir seien hier, um Männer kennenzulernen. Doch ich schüttelte den Kopf und sagte auf englisch: »Uns wäre ein ruhiger Tisch im hinteren Teil des Lokals lieber.« Als er mein Englisch hörte, hob er leicht die Augenbrauen und führte uns wortlos zu einem Tisch. Ich mußte an Show a Boy mit seinen ausländischen Tänzern denken, deren ausschließliche Aufgabe es war, die japanischen Frauen zu umschmeicheln. Nun, vielleicht mußte man diesem jungen Mann hier einfach nur ein gutes Trinkgeld geben. Ich ging in die Toilette, um mich ein wenig frisch zu machen. Als ich zurückkam, sah ich, daß Seiko zwei Gläser Sherry für uns geordert hatte. Leider stellte sich heraus, daß ich den meinen -166-
nicht mehr zurückschicken konnte, und so schob ich ihn ihr hin und bat den Kellner, mir einen Eiskaffee zu bringen. »Sie trinken keinen Alkohol?« fragte Seiko, als der Kellner weg war. »Nun, ich fühle mich im Augenblick nicht so gut.« Eigentlich ging es mir eher darum, einen klaren Kopf zu bewahren. »Aus welchem amerikanischen Bundesstaat kommen Sie?« fragte Seiko mich nun im Plauderton. »Aus Kalifornien.« Das kannten alle Japaner. Normalerweise wiederholten sie den Namen des Staates und seufzten dann wehmütig. Beverly Hills 90210 und Baywatch hatten sehr zum verklärten Image Kaliforniens im Ausland beigetragen. Doch Seiko seufzte nicht. Sie reagierte überhaupt nicht. »Danke, daß Sie sich zu einem Gespräch mit mir bereit erklärt haben«, sagte ich. »Ich würde Sie gern für einen Artikel in der Gaijin Times interviewen. Haben Sie schon von der Zeitschrift gehört?« Sie nickte. »Ja. Mein amerikanischer Freund vom Showa College hat die Zeitschrift manchmal gelesen. Da sind Restaurant-Kritiken drin, stimmt's? Wollen Sie einen Artikel über Copy-Shops schreiben?« »Nein. Die Geschäftsleitung möchte die Zeitschrift auf manga umstellen. Deshalb würde ich mich gern mit Ihnen über Showa Story unterhalten.« »Wie haben Sie mich aufgespürt?« Seiko spielte an dem Silberring in ihrem Ohr herum. Sie hatte fünf Löcher im linken Ohrläppchen und drei im rechten. »Das Showa College hat mir einige Informationen gegeben. Sie studieren nicht mehr dort?« »Mein Vater hat mich gezwungen, das Studium abzubrechen«, sagte sie ohne jede Gefühlsregung. Sie hatte das Studium abbrechen müssen, genau wie Nicky. -167-
Kunio hatte seine Wohnung verlassen müssen. Vor irgend etwas hatten sie Angst. Ich fragte: »War er wütend, weil Sie unbedingt Englisch studieren wollten?« »Nein. Als ich vor zwei Jahren damit angefangen habe, hatte mein Vater genug Geld, doch jetzt...« »Ja. Die Wirtschaft läuft nicht gut«, sagte ich. »Aber es ist ganz schön hart, daß Sie mit dem Studieren aufhören mußten. Ich habe gehört, daß Sie zu einer Gruppe von Studenten gehörten, die Showa Story gemacht haben.« »Showa Story ist gestorben«, sagte Seiko. »Das wollte ich Ihnen nicht im Bus vor all den Leuten erklären. Ich glaube. Sie haben keinen Stoff mehr für einen Artikel.« »Könnten Sie mir etwas über die Geschichte der Gruppe erzählen?« fragte ich. »Kuniosan, der für die künstlerische Seite zuständig ist, hat vor zweieinhalb Jahren begonnen, die Comics zu zeichnen. Ich habe ihn vor ungefähr eineinhalb Jahren im manga-Club kennengelernt und ihm beim Druck geholfen. Nicky, unser Amerikaner, hatte die Ideen für die Storys und wollte die Übersetzung übernehmen.« »Und wo steckt Nicky jetzt?« »Er ist tot«, herrschte Seiko mich an. »Wissen Sie das denn nicht?« »Nun, ich war mir nicht so sicher, ob Sie darüber Bescheid wissen...« »Wie hätte mir das entgehen können? Es kommt doch ständig in den Nachrichten.« Sie vergrub das Gesicht in den Händen, und einen Moment bebten ihre Schultern. Doch dann hob sie den Blick und sah mich an. »Vor ein paar Tagen hat Nicky mir erzählt, daß eine Reporterin uns interviewen will. Das waren also Sie?« Ich seufzte. »Eigentlich bin ich Antiquitätenhändlerin, aber -168-
manchmal schreibe ich für die Gaijin Times über Antiquitäten und Kunst. In der Ausgabe vom letzten Monat finden Sie einen Artikel von mir, wenn Sie mir nicht glauben.« »Es gibt so viele Comics! Wieso sind Sie ausgerechnet auf unseren gekommen?« fragte sie ein wenig verärgert. »Ich möchte über Showa Story schreiben, weil mich Kunio Takahashis Werk interessiert. Es ist außergewöhnlich. Tja, und dann ist Nickys Tod dazwischen gekommen.« Ich schwieg, weil ich nicht so genau wußte, wie sie meine Rolle in dem Drama sah. »Falls ich die Aufmerksamkeit auf die Gruppe gelenkt haben und so mitschuldig an der Tragödie sein sollte, tut mir das leid. Doch wenn ich an der Story dranbleibe und die Umstände von Nickys Tod darstelle, liest sie vielleicht jemand, der mithilft, Nickys Mörder zu fassen. Wir können ihn zwar nicht mehr ins Leben zurückholen, aber dafür sorgen, daß der Killer zur Strecke gebracht wird.« »Sie haben recht. Ich sollte wirklich an Nicky denken.« Seiko schob den Finger unter den Rand ihrer Sonnenbrille. Vermutlich wischte sie eine Träne weg oder wollte mich das zumindest glauben machen. »Aber sprechen wir erst einmal über etwas anderes. Ich habe Kunio Takahashi nie persönlich kennengelernt. Wie ist er?« fragte ich. »Nun, alle sagen, er sieht sehr gut aus«, murmelte Seiko. »Mein Typ ist er nicht, also kann ich das nicht beurteilen. Aber ich halte ihn für einen sehr cleveren, berechnenden Jungen.« »Ach.« »Tja, er hat immer die besten Bedingungen für alles rausgehandelt. Ich weiß jetzt, daß er mich nur in den Zirkel aufgenommen hat, weil er gratis kopieren wollte, und zwar auf sehr gutem Papier.« »Haben Sie die Hefte heimlich im Laden Ihres Vaters kopiert?« Seiko schüttelte den Kopf. »Nein. Mein Vater wollte -169-
uns helfen. Er hat die Hefte für uns hergestellt, und dafür bekam er von uns den Gewinn aus ihrem Verkauf.« Ein hübscher Deal - fast ein bißchen wie die Beziehung zwischen Sanno Advertising und der Gaijin Times, dachte ich. »Könnte Kunio Nicky umgebracht haben? Waren sie unglücklich, haben sie sich gegenseitig Konkurrenz gemacht oder etwas Ähnliches?« Seiko schüttelte wieder den Kopf »Wir haben alle Kunios Begabung bewundert. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß Nicky und ich die technische Seite erledigt haben, die Übersetzung, die Verteilung, den Druck. Wir haben ihm wirklich geholfen. Wir lieben beide manga, aber wir können sie nicht zeichnen. Also brauchten wir jemanden, der das konnte. Außerdem wußte er jede Menge über Geschichte, das hat er studiert. Das war eine große Hilfe bei den Illustrationen.« »Glauben Sie, daß Kunio tot ist?« Das war ein ziemlich abrupter Themenwechsel, aber da sie in der Vergangenheit über Kunio sprach, fürchtete ich, daß sie das gleiche dachte wie ich. »Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, bin mir jedoch sicher, daß alles in Ordnung ist. Er fällt immer auf die Füße und kriegt, was er will.« Ich mußte an die Ängste denken, die Marcellus mir gestanden hatte. »Kennen Sie einen Mann namens Marcellus?« fragte ich. »Aus Afrika?« Sie klang überrascht. Ich nickte. »Er ist Tänzer in dem Club, in dem Nicky auch beschäftigt war. Sie waren Freunde, aber ich glaube, Marcellus hat einen schlechten Einfluß auf Nicky ausgeübt. Er hat ihm gesagt, er soll das College abbrechen, um mehr arbeiten und mehr Geld verdienen zu können. Mir hat das weh getan, denn Nicky hätte das College nicht verlassen müssen wie ich.« -170-
»Ich kenne den Club. Die mamasan hat erwähnt, daß sie Ihnen Hausverbot erteilt hat.« »Schreckliche Frau.« Seiko biß sich auf die Lippe. »Sie mag nur Mädchen, die in großen Gruppen kommen. Ich war immer allein, das hat sie mißtrauisch gemacht, und sie hat mich vor die Tür gesetzt.« Seiko erzählte mir nicht alles, das spürte ich. Dennoch beschloß ich, mich wichtigeren Fragen zuzuwenden. »Was ist mit Dayo, dem Verlag, der Mars Girl herausbringt?« fragte ich. »Wollte der Sie daran hindern, weitere Comics zu veröffentlichen?« »Ach, das fragen Sie wegen des Interviews im Fernsehen«, antwortete sie. »Wir haben nie eine Beschwerde von dem Verlag bekommen. Aber Kunio hat mir erzählt, er hätte einen Brief von denen erhalten. Als Nicky ihn sehen wollte, hat Kunio sich geweigert, ihn ihm zu zeigen. Kunio hat Nicky und mir nicht immer alles erzählt. Als manga-Zirkel hat die Sache gut funktioniert, doch sehr eng befreundet waren wir nicht.« »Jedenfalls ist es schön, daß Sie bereit sind, sich mit mir zu unterhalten«, sagte ich. Mir war aufgefallen, wie sie das »Nicky und mir« ausgesprochen hatte. Allmählich bekam ich den Verdacht, daß sie Nicky geliebt hatte. »Ich möchte Ihnen so viele Fragen stellen.« Seiko erstarrte. »Ich muß zurück. Ich bin weggerannt, weil ich mich mit meinem Vater gestritten habe und einen Drink brauchte. Aber jetzt muß ich zurück.« »Wohnen Sie noch bei ihm?« fragte ich. Seiko nickte. »Deswegen muß ich mich bei ihm entschuldigen. Ich kann nirgendwo sonst hin.« Ich hatte ein ungutes Gefühl. »Sind Sie bei ihm wirklich sicher, Seiko? Woher haben Sie das blaue Auge?« »Ich habe kein blaues Auge. Wieso sagen Sie so etwas -171-
Verrücktes?« »Ich habe Sie ohne Sonnenbrille gesehen. Mir hat auch schon mal jemand ein blaues Auge verpaßt.« Ich wählte meine Worte mit Bedacht, weil ich wollte, daß sie mein Mitgefühl spürte. »Bitte lassen Sie uns über etwas anderes sprechen«, sagte Seiko. »Hat Ihr Vater Sie geschlagen?« fragte ich mit sanfter Stimme. »Haben Sie Ihre Arbeit im Copy-Shop seiner Ansicht nach nicht richtig gemacht? Oder war er der Meinung, daß Sie zu sehr um Ihren gaijin-Freund trauern?« »Nein! Ich weiß ja nicht, was Sie für eine Journalistin sind, aber die Frage hat bestimmt nichts mit Kunst und Showa Story zu tun...« »Und wie wär's mit der yakuza?« Ich flüsterte das Wort, weil ich inzwischen wußte, wie die Leute darauf reagierten. »Ich habe einen Artikel über japanische Gangsterbanden zum Kopieren in Ihren Copy-Shop gebracht, und Ihr Vater hat einigermaßen schockiert darauf reagiert.« Seiko stand auf. »Wo wollen Sie hin?« fragte ich, als mir klar wurde, daß ich zu forsch gewesen war. »Auf die Toilette«, sagte sie und packte ihre Handtasche. Da wußte ich, daß sie nicht mehr zurückkommen würde. »Bitte, es tut mir leid. Ich würde mich gern noch ein bißchen mit Ihnen unterhalten...« Aber sie ließ mir keine Chance, riß die schwere Holztür des Lokals auf und verschwand.
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18 Endlich hatte ich es geschafft, ein Mitglied des Showa StoryZirkels zu interviewen, Seiko dann aber gleich verscheucht. Konnte man das Erfolg nennen? Mit meiner Kreditkarte zahlte ich dreitausend Yen, also ungefähr achtundzwanzig Dollar, für die beiden Gläser Sherry und meinen Eiskaffee. Der einzige Trost war, daß Seiko in ihrer Eile das Comic-Heft vergessen hatte. Ich steckte es in meine Einkaufstüte. »Wollen Sie schon gehen? Wie schade«, sagte der Kellner, während er mir zusah, wie ich das Heft einpackte. Wahrscheinlich hätte er es gern selbst gelesen. Sobald er sich unbeobachtet glaubte, nahm er jedenfalls einen Schluck von meinem unangetasteten Sherry. So etwas taten nur Ausländer; Japaner verabscheuten es genausosehr, sich das Essen mit jemandem zu teilen, wie sie es haßten, sich mit irgend jemandem zu streiten. Das hatte mir Seikos Verhalten bewiesen. Auf der Straße entdeckte ich eine leuchtend grüne NTTTelefonzelle und wählte dort Takeos Handy-Nummer, die ich mir endlich auswendig gemerkt hatte. War das ein Zeichen dafür, daß ich mich emotional auf ihn einließ? Er hob den Hörer nach dem zweitenmal Klingeln ab. »Hallo, Rei! Du rätst nicht, wo ich bin.« »Auf dem Dach?« Er lachte. »Nein. Ich bin gerade mit dem Wagen auf dem Weg in die Stadt, um Farbe zu kaufen. Die Arbeiter machen das Dach fertig, und ich kümmere mich um das Innere. Was machst du?« »Ich beiße mir selbst in den Hintern.« »Heh?« »Das heißt, ich ärgere mich über mich selbst. Ich habe Seiko -173-
sie gehört zu dem Comic-Zirkel - interviewt und sie durch meine Fragen verscheucht.« Nun piepste es in der Leitung, um mir zu signalisieren, daß das Guthaben auf meiner Telefonkarte bald aufgebraucht sein würde. »Wir werden gle ich unterbrochen«, sagte ich zu Takeo. »Bist du in einer Stunde in deiner Wohnung?« »Ja.« »Dann komme ich zu dir, nachdem ich...«Da wurde das Gespräch unterbrochen. Ich fuhr mit der U-Bahn nach Hause und überlegte dabei die ganze Zeit, wie ich mich Seiko gegenüber geschickter hätte verhalten können. Als ich in meiner Wohnung war, blinkte der Anrufbeantworter. Ich hoffte, Seikos Stimme zu hören, doch es war Rika, die mir erzählte, daß Mr. Sanno ganz begeistert sei über unsere Recherchen für den Artikel und daß er am nächsten Morgen um zehn mit mir sprechen wolle. Na großartig. Allmählich übernahm die Gaijin Times mein ganzes Leben. Mit einem möglichen Interessenten für meine Antiquitäten hatte ich mich schon seit Tagen nicht mehr getroffen. Für ein paar neue Kunden hätte ich mich auf den Flohmärkten umsehen müssen, und einige alte Kunden wollten, daß ich für sie eine Auktion in Kyoto besuchte. Ich konnte ihnen allen nur versprechen, ich würde sämtliche Aufträge nach Ablieferung des Artikels erledigen. Ich hatte etliche Telefonate getätigt und war gerade dabei, ein bißchen Ordnung in der Wohnung zu schaffen, als es an der Tür klopfte. Ich machte auf, und vor mir stand Takeo mit farbverschmierter Jeans und T-Shirt. Er drückte mir eine hübsch eingepackte Box aus dem Sushi- Laden ein paar Häuser weiter in die Hand. »Ich wußte nicht, ob du schon was gegessen hast.« »Das habe ich völlig vergessen«, sagte ich. »Kein Wunder, daß ich so kaputt bin.« -174-
»Nun erzähl mal.« Takeo ging in die Kochnische und richtete, nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, die Sushi hübsch auf einem rechteckigen Teller an. »Ich habe mich mit Seiko getroffen. Sie arbeitet im CopyShop ihres Vaters. Außerdem hat sie ein blaues Auge und will nicht sagen, wer sie geschlagen hat. Als ich sie das gefragt habe, ist sie weggelaufen.« »Du glaubst, daß der Mörder sie geschlagen hat und sie nur mit knapper Not entkommen ist?« »Nein. Ich glaube eher, daß es ihr Vater war - sie haben sich gerade gestritten, als ich in den Laden kam. Aber sicher weiß ich das natürlich nicht. Meine aggressive Frage hat sie verschreckt. So ziemlich das einzige, was ich durch das Interview erfahren habe, ist, daß sie Kunio nicht sonderlich leiden konnte und daß er in direktem Kontakt zu Dayo, dem Verlag, der das Mars GirlOriginal herausbringt, stand.« »Das ist doch gar nicht so schlecht.« Takeo schenkte kalten Gerstentee aus einem Krug ein, den er in meinem Kühlschrank gefunden hatte. Ich half ihm, alles zum Teetischchen zu tragen. Es würde eine hübsche leichter aber doch proteinreiche Mahlzeit werden. »Itadakimasu.« Takeo sprach die traditionellen Dankesworte und griff nach einem mit Lachs belegten Sushi. »Sagst du auch allein itadakimasu?« fragte ich. »Natürlich. In vielen Bereichen bin ich sehr locker, aber wenn's ums Essen ge ht, muß alles seine Ordnung haben. Wenn ich den Dank spreche, habe ich irgendwie das Gefühl, eine Verbindung mit anderen Menschett herzustellen. Sagst du den Dank auch?« Ich schüttelte den Kopf. »Nur, wenn ich jemanden zum Essen hierher eingeladen habe, aber nicht, wenn ich allein bin.« »Allein zu essen ist deprimierend.« -175-
»Stimmt«, sagte ich. »Also, Seiko hat etwas getan, dass mir selbst sehr schwer gefallen ist - sie ist allein in den Showa-BoyClub gegangen. Die Atmosphäre dort zielt auf ganze Rudel wildgewordener Frauen ab. Chiyo war's gar nicht recht, daß Seiko allein aufgetaucht ist, und hat ihr Hausverbot erteilt. Ich würde gern erfahren, was Seiko Schreckliches angestellt hat. Außerdem habe ich ein neues Showa Story-Heft«, sagte ich. »Das hat Seiko in dem Lokal vergessen. Na, ist das nicht Glück?« »Mit Glück kenne ich mich nicht so aus. Vielleicht hat sie das Heft absichtlich zurückgelassen.« Takeo klang immer noch ein bißchen mißmutig. »Ich glaube nicht, daß ich dir bei der Übersetzung von dem Heft helfen muß. Dein Lesen wird immer besser.« »Doch, mir wäre es sehr lieb, wenn du mir beim Übersetzen hilfst«, sagte ich. »Aber ich muß dich warnen - soweit ich das beurteilen kann, ist das Ding um etliches obszöner als die anderen.« »Tja, dann werde ich mich eben durchquälen müssen«, sagte Takeo mit einem Augenzwinkern. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, nachdem er das Heft durchgeblättert hatte. »Ich weiß nicht, wieviel du davon übersetzt haben willst. Der Text ist schrecklich.« »Ich notiere alles, was du sagst, allein ist mir das zu schwierig.« Ich holte das Notizbuch heraus, das ich für den Artikel angelegt hatte. »Gut. Aber sieh dir das Ding erst mal allein an.« Takeo legte den Comic auf das Teetischchen, so daß ich ihn von dort nehmen mußte. Fast wie etwas Schmutziges, dachte ich, als ich vorsichtig das abgegriffene Heft aufschlug. Die Geschichte begann während des Krieges, ungefähr fünf Jahre später als die des vorhergehenden Comic. Mars Girl suchte nun nach einem Fabrik-Job, um so der Familie zu helfen, -176-
bei der sie lebte. Auf den ersten Seiten machte sie sich in einem taillierten, wadenlangen Kleid, das ihre Gastgeberin aus einem alten Futon-Bezug geschneidert hatte, auf die Arbeitssuche. Kunio war es perfekt gelungen, die Kleidung sowie die Armut der Zeit darzustellen. »Die Handlung erscheint mir bis jetzt die spannendste von allen«, sagte ich. »Wart mal ab«, sagte Takeo. Meinte Takeo, die Geschichte würde noch phantastischer werden? Ich blätterte weiter und folgte Mars Girl in eine Autofabrik. »Mars Girl fragt: Gibt es hier einen Arbeitsplatz für mich?« übersetzte Takeo. Der Vorarbeiter antwortet: Sie haben zu wenig Kraft, um an den Maschinen zu arbeiten. Mars Girl denkt: Ich bin stärker als die meisten Soldaten. Wenn die bloß wüßten.« Niedergeschlagen ging Mars Girl mit gesenktem Kopf von Fabrik zu Fabrik. Entweder es gab dort keine Arbeit, oder sie hatte nicht die richtigen Qualifikationen. Während ich in dem Comic las, mußte ich an meine ersten jämmerlichen Versuche denken, eine Arbeit in Japan zu finden. Allerdings blieben mir aus gutem Grund viele Türen verschlossen: Ich konnte nicht lesen. Mit dem Problem hatte ich auch jetzt noch zu kämpfen; deshalb mußte Takeo mir bei dem Artikel helfen. Ich las weiter. Mars Girl stand nun vor einer Rekrutierungsstelle der Armee, über deren Tür ein Spruchband hing. »Arbeit... Frauen... heißt das Arbeit für Frauen?« fragte ich. Ich las von jeder Zeile so viel laut, wie ich schaffte, und bat Takeo, den Rest für mich zu übersetzen. »Genau. Und dann betritt sie das Büro, bekommt eine Tasse Tee und wird von einem Mann, einem Major der Armee, befragt. Sie wirken irgendwie fremd... kommen Sie aus einem -177-
anderen Land? fragt der Offizier Mars Girl. Nein, ich bin Japanerin, antwortet sie. In der Sprechblase über ihrem Kopf sind ihre Gedanken zu lesen: Was soll ich denn sonst sagen? Daß ich auf einem anderen Planeten geboren wurde?« Das brachte mich zum Lächeln. So hatte ich mich während meiner Zeit in Japan auch schon oft gefühlt. »Leben Sie bei Ihrer Mutter und Ihrem Vater? fragt der Offizier weiter. Mars Girl antwortet: Nein, sie sind tot. Im Augenblick wohne ich bei meiner Tante und meinem Onkel. Ich muß Geld für den Haushalt verdienen, las Takeo vor. »Der Offizier sagt: Gut. Ich kann Ihnen da eine gute Arbeit anbieten. Allerdings müßten Sie reisen. Kost und Logis sind frei, das heißt, daß Sie Ihren gesamten Verdienst nach Hause schicken können. Jetzt steckt Mars Girl in der Zwickmühle. Sie hat Angst, Tokio zu verlassen, weil sie glaubt, daß man sie vom Mars dorthin geschickt hat, um das Leben im Viertel ihrer Familie zu schützen. Sie fragt: Bedeutet das, daß ich Soldatin werde? Der Offizier lacht. Nein, nein. Sie sind so etwas wie eine Dienstmagd für die Offiziere. Wir haben Erholungsheime in ganz Asien. Sehr lange wü rden Sie die Arbeit nicht machen können, aber Sie bekämen gutes Geld dafür, und außerdem hätten Sie das Vergnügen, Ihrem Land zu dienen.« »Welche politische Überzeugung hat Mars Girl?« fragte ich Takeo. »Davon ist hier nie die Rede. In der Sprechblase von Mars Girl steht: Es ist meine Pflicht, das Essen für meine Gastfamilie zu finanzieren. Ich muß die Arbeit annehmen.« Auf den nächsten Seiten begegnete Mars Girl anderen Frauen, die zu dem Job beim Militär transportiert wurden. Alle waren jung und unterernä hrt. Manche von ihnen stammten aus Korea, das sah ich an den traditionellen Kleidern mit den langen Röcken. -178-
Als ich umblätterte, fiel mein Blick auf das Erholungsheim, eine schäbige Villa über dem Meer. Möglicherweise handelte es sich um die Insel Okinawa, denn es waren Palmen zu sehen, und in dem Erholungsheim gab es Frauen, die die traditionellen Batickleider von Okinawa trugen. »Und wieso so viele Frauen für ein Haus?« fragte ic Takeo. »Da hat Kunio offenbar doch einen Fehler gemacht.« Die bereits anwesenden Frauen wiesen ihre Kolleginnen ein und sagten ihnen, sie sollten sich ausziehen. Hier zeigte Kunio ganz unverhüllt ihre Nacktheit, allerdings nicht voyeuristisch, sondern mit gutem Blick für ihre ausgezehrten, kränklichen Körper. »Die Zeichnung hier erinnert mich an die deutschen Expressionisten, die auch die Greuel des Krieges darstellten, wie zum Beispiel Käthe Kollwitz«, sagte ich voller Bewunderung. »Ich kenne nicht so viele westliche Künstler wie du«, sagte Takeo. »Ihr habt immerhin einen echten Miró an der Wand«, sagte ich, als mir ein Gemälde einfiel, das ich vor einer Weile im Tokioter Penthouse seiner Familie gesehene hatte. »Ja, aber der hängt da nur, weil Blumen drauf sind. Unsere Kunstwerke beschränken sich auf florale Themen, das ist dir doch sicher aufgefallen, oder?« sagte Takeo ein wenig müde, bevor er sich wieder der Übersetzung des Comics zuwandte. »Die jungen Frauen bekommen dünne Morgenmäntel zum Anziehen, und man weist ihnen verschiedene Zimmer zu. In jedem davon liegen mehrere schmutzige Futons auf dem Boden. Als Mars Girl nach den Arbeitszeiten am nächsten Tag fragt, knallt ein Offizier die Tür zu und versperrt sie von außen. Du solltest nicht so frech sein, warnt eine ihrer Zimmergenossinnen sie. Wir müssen doch wissen, wann der Arbeitstag beginnt, und mit so dünner Kleidung können wir nicht arbeiten. Ich möchte meine Unterwäsche zurück! -179-
erklärt Mars Girl.« »Ich glaube, ich weiß, was jetzt kommt«, sagte ich. »Ja, genau, es geht um Prostitution. Ganz schön schwer zu verdauen, die Geschichte.« Ich blätterte um. Nun brauchte ich Takeos Übersetzungen nicht mehr, weil die Handlung eindeutig war. Zwei Soldaten betraten das Zimmer und überlegten kurz, welches der Mädchen sie zuerst vergewaltigen wollten. Mars Girl beschloß, ihre Leidensgenossinnen zu verteidigen, merkte aber zu spät, daß sie das Amulett, das sie sonst immer bei sich hatte, nicht um den Hals trug. Und ohne dieses Amulett besaß sie keine Superkräfte mehr, sondern nur noch die einer ganz normalen Frau. Nun wurde die Vergewaltigung der Frauen in allen entsetzlichen Einzelheiten dargestellt. Japanische Künstler bildeten die Geschlechtsteile immer übertrieben groß ab, so hätte ich eigentlich nicht überrascht sein dürfen. Trotzdem wurde mir übel. Die Mädchen waren so hilflos gegenüber den Soldaten, die ihnen Gewalt antaten und sie demütigten. Ich schob das Heft weg und schloß die Augen, um das Bild von Mars Girl zu verdrängen, auf dem sie den Mund zum Schreien öffnete und ihr ein Soldat den Penis hineinrammte. »Immerhin hat die Geschichte ein Happy-End. Mars Girl bekommt ein paar von den sexuellen Foltergeräten der Soldaten in die Finger und richtet ein Blutbad an«, sagte Takeo. Ich schüttelte den Kopf. »Ist das nicht so ähnlich wie in dem anderen Comic, den wir uns gemeinsam angesehen haben? Da wurde Mars Girl doch auch fast vergewaltigt. Das hasse ich an dieser Serie. Wenn Mars Girl eine Heldin mit übernatürlichen Kräften ist, die die ganzen Männer verprügeln kann, warum kommt sie dan immer wieder in solche Vergewaltigungssituationen?« »Was Seiko wohl von dem Heft hält?« sagte Takeo. -180-
»Interessante Frage. Was, wenn die Grundlage dieses Comics etwas mit ihren persönlichen Erlebnissen zu tun hat? Vielleicht hat sie eine Großtante oder eine andere Verwandte, die ihr diese Geschichte erzä hlt hat.« Ich schüttelte den Kopf. »Solche Informationen über Trostfrauen stehen nicht in Geschichtsbüchern, die CollegeStudenten lesen würden.« »Vergiß nicht, daß es sich um Fiktion handelt«, sagte'l Takeo. »Was meinst du damit? Willst du behaupten, daß Angehörige des japanischen Militärs Frauen nicht entführten und auf schlimmste Weise mißbraucht haben?« »Doch, doch, natürlich glaube ich, daß das alles passiert ist. Aber dieser Comic hier ist Fiktion. Ich meine, er stammt aus der Feder von Studenten, nicht aus der von Historikern. Irgendwie ist er unheimlich... Er soll nicht nur dafür sorgen, daß man eine Gänsehaut bekommt, sondern den Leser auch sexuell erregen.« Ich schloß die Augen, um mich besser konzentrieren zu können. Das, was Takeo gesagt hatte, erinnerte mich an etwas anderes. Ich öffnete die Augen wieder. »Als ich mich mit Nicky unterhalten habe, hat er mir gegenüber die sexuell abartigen Dinge erwähnt, die die japanischen Frauen gern mit ihm machen würden. Ich habe damals lieber nicht nachgefragt. Jetzt überlege ich, ob er sadomasochistische Praktiken gemeint haben könnte, denn darum geht's bei diesen Vergewaltigungsgeschichten ja wohl.« Takeo beugte sich zu mir herüber und ließ seine Hände über mein Gesicht gleiten. »Nachdem du diese Geschichte gelesen hast, schwörst du dem Sex wahrscheinlich für immer ab. Oder hast zumindest von Männern die Schnauze voll.« Ich lächelte ihn an. »Du bist nicht so. Ohne dich könnte ich mir das Leben nicht vorstellen.« Das letzte Mal war ich nicht in der Stimmung für Berührungen gewesen, weil mich die Nachricht von Nickys Tod -181-
beschäftigt hatte. Doch nun wollte ich alles nachholen. Ich küßte Takeo leidenschaftlich, schmeckte das wasabi in seinem Mund, spürte, wie mir warm wurde. Ich war überrascht, als er zurückwich. »Ahm, ich muß heute noch nach Hayama zurück«, sagte er. »In dem Haus ist einfach zu viel zu tun.« »Du kannst doch noch nicht gehen!« »Nun, eigentlich wollte ich nur die Farbe holen, nachsehen, wie's dir geht, und wieder zurückfahren, Rei.« Nun bekam er große Augen, weil ich bereits mein Kleid ausgezogen hatte und dabei war, den Verschluß meines Büstenhalters zu öffnen. »Ich werde jetzt duschen«, sagte ich, stand auf und schlüpfte aus meinem Slip. »Und du könntest auch eine Dusche vertragen. Dann fühlst du dich frischer auf der Heimfahrt.« Als ich mich in der Dusche bückte, um die Wassertemperatur einzustellen, spürte ich seine Hände auf meinen Hüften. Er war nackt, genau, wie ich gehofft hatte. Ich duschte ihn mit dem Brauskopf ab, und dann kam ich dran. Diesmal war der Sex völlig anders; ich wußte nicht, ob das an dem Comic lag, den wir gerade gemeinsam gelesen hatten, aber jedenfalls stellte ich fest, daß ich nicht mit Takeo sprechen und auch keine sanften Berührungen wollte. Wir gingen nicht grob miteinander um, doch die Leidenschaft und Geschwindigkeit waren neu und sehr, sehr erregend. Als wir uns gegenseitig abtrockneten, merkte ich, daß das Badfenster sperrangelweit offen gestanden hatte. Wahrscheinlich hatte man unsere Lustschreie noch vorne im Tofu- Laden gehört. Ich flüsterte Takeo zu, wie peinlich mir das war, doch er lachte nur leise. »Alle Japaner haben irgendwann im Bad Sex miteinander. Jetzt bist du noch ein Stückchen japanischer, mein Schatz.« »Ich weiß nicht so recht«, sagte ich und ging in mein kleines Schlafzimmer voran, in dem die Fenster geschlossen waren und die Klimaanlage auf vollen Touren lief. Dort warf ich ihm ein -182-
Handtuch zu. »Was war das eben? Es war anders als sonst, irgendwie wilder. Existiert dafür ein eigenes japanisches Wort? Es gibt doch auch so viele verschiedene Ausdrücke für Regen.« »Ja, es gibt ein Wort, aber das möchte ich dir nicht beibringen. Es paßt einfach nicht zu dir.« »Wieso?« »Du hast erst neulich selber gesagt, daß dir Klimaanlage und frische Laken lieber sind. Und sanfte Küsse, soweit ich das beurteilen kann.« »Mußt du wirklich gehen?« Mir gefiel der Gedanke, jetzt allein zu sein, überhaupt nicht. »Ich muß im Morgengrauen aufstehen, um den Malern zu helfen«, sagte er. »Hey, warum kommst du nicht einfach mit?« »Das geht nicht. Ich habe morgen früh eine Besprechung in der Gaijin Times. Wir haben also beide etwas vor.« »Weißt du, viele Leute wohnen in Hayama und fahren jeden Tag zur Arbeit nach Tokio. Eigentlich ist das ideal«, sagte Takeo, während er seine Jeans zuk nöpfte. »Führe mich nicht in Versuchung«, sagte ich, während ich überlegte, ob Takeo lediglich vorschlug, daß ich am nächsten Morgen hinausfahren könnte, oder ob er an eine dauerhaftere Lösung dachte. »Tja, so einfach ist das nicht.« Er lächelte mich voller Zärtlichkeit an, und das machte mir die Entscheidung nicht leichter. »Rei, ich denke während der Fahrt an dich. Das sagen die Leute immer, aber ich meine es auch so. Paß auf dich auf.« »Ja, das verspreche ich«, sagte ich, schloß die Tür hinter ihm und schob alle drei Riegel vor.
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19 Als ich am nächsten Morgen das Konferenzzimmer der Gaijin Times betrat, sah ich auf den ersten Blick, daß sich die Machtverhältnisse verschoben hatten. Mr. Sanno saß noch immer am Kopfende des Tisches, doch rechts neben ihm war nun Rika. Und auf der anderen Seite von Rika befand sich ein leerer Platz für mich, noch so nahe bei Mr. Sanno, daß ich das Egoiste-Parfüm deutlich roch, mit dem er sich großzügig eingesprüht hatte. Rika wirkte ein bißchen blaß um die Nase; vielleicht war ihr übel von dem Geruch. Jedenfalls konnte ich keine Spur mehr von ihrer Hektik und Aggressivität der vergangenen zwei Tage entdecken. Sie saß zusammengesunken auf ihrem Stuhl wie ein kleines Mädchen. Der schräge Dutt im Pebbles-Stil sowie das eingegangene pinkfarbene T-Shirt mit Belldandy aus dem Oh! My Goddess-Comic darauf ließen sie noch kindlicher erscheinen. Ich hatte mich an jenem Morgen für ein Kleid entschieden, das mich meiner Meinung nach in einer Konfliktsituation stärken würde. Es handelte sich um ein enges schwarzes Futteralkleid aus dem Sechziger-Jahre-Fundus meiner Mutter, das mich ausnahmsweise einmal so schlank wie Rika aussehen lassen würde. Es war genial geschnitten, ganz schlicht und elegant, fast wie eines von Michael Kors. Das hatte mir jedenfalls Karen, die Moderedakteurin, mit der ich befreundet war, bei meinem Eintreffen ein paar Minuten zuvor gesagt. »Du siehst aus wie eine Büroangestellte«, neckte sie mich. »Hättest du nicht besser was Praktischeres angezogen? Man geht momentan davon aus, daß du die Ermittlungen in einem Mordfall leitest.« »Und wie hätte ich erscheinen sollen? Mit einer Sonnenbrille und einer Polizeijacke?« Ich gab mir keine Mühe, meine -184-
Verärgerung zu verbergen. Ein bißchen hing das damit zusammen, daß mein enges Kleid mir das Sitzen zur Qual machte. Unglücklicherweise bemerkte Mr. Sanno mein mürrisches Gesicht. »Hallo, Miss Shimura«, sagte er. »Ihr Artikel über Kunst hat sich in eine Kriminalgeschichte verwandelt. Sie haben wirklich einen Riecher für Neuigkeiten.« »Nein, nein. Das war wohl eher eine Abfolge unglücklicher Ereignisse«, erwiderte ich, weil es unhöflich gewesen wäre, das Lob anzunehmen. »Gratulation - man hat mir gesagt, daß Sie mit Nicky Larsen gesprochen haben. Das wird ein richtiger Coup, das Interview mit dem Mordopfer nur wenige Stunden vor seinem Tod.« »Ich habe mir nichts von dem, was er gesagt hat, notiert«, mußte ich gestehen. »Als wir uns unterhalten haben, dachte ich, er ist nur der Nachbar des Künstlers Kümo.« »Für mich hört sich das immer noch wie ein Interview an«, meinte Alec Tampole, der am hinteren Ende des Tisches mit einer nicht angezündeten Mild Seven herumspielte, die Zigarette aber nun weglegte und mich mit einem Gesichtsausdruck ansah, der mir nicht gefiel. »Ich kann nicht genau zitieren, was er gesagt hat, wenn ich keine Aufzeichnungen habe.« »Hast du denn kein Gedächtnis?« fragte Alex herablassend. »Natürlich könnte ich eine Zusammenfassung geben, aber sehr ehrlich erscheint mir das nicht. Nicht ohne Notizen.« »Der Mann ist nicht mehr am Leben und kann dem, was Sie schreiben, also auch nicht widersprechen«, erklärte Mr. Sanno ziemlich gefühllos. »Das heißt, das dürfte kein Problem werden.« »Schreib's in Dialogform«, schlug Alec vor. »Zusammenfassungen lesen sich nie besonders gut.« -185-
Ich stieß Rika an. Sie hatte Journalistik studiert, da konnte sie doch sicher irgendein Handbuch zitieren, um ihnen nachzuweisen, daß sie mir unlauteres Verhalten vorschlugen. Aber Rika war nur eine kleine Praktikantin. Kein Wunder, daß sie schwieg. »Rika hat sich in der Leichenhalle Notizen gemacht«, sagte ich, um sie in das Gespräch mit einzubeziehen. »Sie hat wertvolle Aufzeichnungen in ihrem elektronischen Notizbuch.« »Rikachans Aufgabe ist der Telefondienst«, sagte Mr. Sanno, für meinen Geschmack ziemlich kühl. Eine Woche zuvor hatte er Rika noch angestrahlt, als sie von ihren Comic-Kenntnissen erzählte. »Tja, da wären ein paar Interviews auf Gebieten zu erledigen, von denen ich keine große Ahnung habe«, sagte ich. »Jemand müßte mit den Verantwortlichen von Dayo über Showa Story reden. Schließlich handelt es sich um eine Nachahmung des kommerziellen Comics.« Ich sah Norton an, unseren Fachmann für Wirtschaftsfragen. Norton schüttelte den Kopf. »Normalerweise könnte ich natürlich helfen, aber ich muß einen Artikel über die wirtschaftliche Bedeutung von manga termingerecht fertig bekommen. Ich glaube nicht, daß ich euch Mädels beistehen kann. Tut mir leid.« Bevor ich ob seiner Verwendung des Wortes »Mädels« für Rika und mich wütend werden konnte, meldete sich Mr. Sanno zu Wort. »Wenn Sie zu viel zu tun haben, Nortonsan, wird Reichan sich mit diesem Aspekt beschäftigen.« Er ließ den Blick über den Tisch schweifen und wandte sich schließlich Karen zu. »Wie steht's mit der Kleidung des Mordopfers? Könnte man daraus einen Modeartikel machen?« Ich sah, wie Karen zusammenzuckte. »Ich fürchte, die Leute könnten das für... geschmacklos halten«, sagte sie nach einer -186-
Weile. »Unsinn. Und setzen Sie sich mit einigen unserer Anzeigenkunden in Verbindung. Sagen Sie ihnen. Sie werden versuchen, Ihre Läden in Ihrem Artikel zu erwähnen. Das wirkt sich positiv auf den Umsatz aus.« »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Karen. »Soweit ich weiß, gibt's in Harajuku ein paar Boutiquen, die sich auf diese Mode spezialisiert haben.« »Ich mache Fotos von Leuten, die sich als Mars Girl verkleiden«, erbot sich Toshi, unser Fotograf. »Man könnte auch Bilder machen bei Comiko, das ist die Comic-Convention dieses Wochenende. Dort tauchen sicher viele Künstler und Comic-Freunde auf«, erklä rte ich den Anwesenden, die mich alle ausdruckslos ansahen. »Vielleicht hat irgend jemand von denen Nicky gekannt und besitzt Fotos von ihm, die während früherer Conventions aufgenommen wurden.« »Warum haben Sie Kunio Takahashi nicht interviewt? Ist er nicht der wichtigste Aspekt der Geschichte?« fragte Mr. Sanno. »Möglicherweise erscheint er auch dort«, sagte ich, weil ich nicht zugeben wollte, daß ich das Interview mit Kunio, das Rika am Montag erwähnt hatte, nicht liefern konnte. »Außerdem werde ich mit den Leuten von Dayo über die Haltung des Verlags gegenüber Showa Story sprechen.« »Sehr gut. Das heißt, daß alle außer Alec beschäftigt sind«, sagte Mr. Sanno. »Es könnte sein, daß Nickys Tod etwas mit organisiertem Verbrechen zu tun hat«, sagte ich, ein wenig hinterhältig. »Alec mit seiner langjährigen Erfahrung bei dieser Zeitschrift wäre doch sicher in der Lage, einen seiner Kontaktmänner von der yakuza zu interviewen.« Alle sahen Alec, den Möchtegernleiter der Redaktion, an. Er -187-
revanchierte sich mit einem gekünstelten Lächeln. »Weil du selbst zu viel Angst davor hast?« »Nein, weil wir als Team arbeiten sollen!« »Nun, ich glaube, daß ich auf einer höheren Ebene tätig bin. Vielleicht könnte ich das Projekt leiten, ein Auge auf alles haben.« »Na schön«, sagte Mr. Sanno und würdigte ihn dabei kaum eines Blickes. »Für die, die's noch nicht wissen: Die Artikel sind in einer Woche fällig. Spätestens am Donnerstag.« »Aber was ist mit den Gangstern?« fragte ich. »Den Aspekt sollten wir auf jeden Fall berücksichtigen. Aber bitte seien Sie vorsichtig, Miss Shimura«, sagte Mr. Sanno. Plötzlich luden alle ihre Arbeit bei mir ab. Es wunderte mich, daß die Männer in der Belegschaft abgesehen von Toshi, unserem Fotografen, nicht bereit waren, bei dem vermutlich interessantesten Artikel mitzuwirken, der jemals in der Gaijin Times erschienen war. »Warum?« fragte ich Rika hinterher in der Damentoilette. »Die ausländischen Journalisten können nicht Japanisch lesen«, antwortete Rika ein wenig amüsiert. »Als Sie die Kopien von dem Showa Story-Comic ausgeteilt haben, hatten sie alle Panik. Sie wollen nicht, daß Mr. Sanno erfährt, wie wenig sie abgesehen von Pizza-Lokal- und CD-Besprechungen können.« »Ich lese auch nicht so viel Japanisch«, sagte ich. Rika sah mich nachdenklich an. »Trotzdem wissen Sie mehr als jeder andere über diese Story. Sie gehört Ihnen. Ich glaube. Sie wissen sogar mehr, als Sie sagen. Möglicherweise haben Sie auch bei der Sitzung Informationen zurückgehalten.« »Wenn ich etwas von Seiko erwähnt hätte, wäre nie mand bereit gewesen, sie zu interviewen.« »Ja, das Interview brauchen wir. Ich werde versuchen, das zu übernehmen. Ihnen zu helfen, Reisan.« -188-
»Sie?« Fast hätte ich Rika gesagt, daß ich Seiko bereits getroffen hatte, und zwar mit katastrophalen Folgen, aber ich tat es nicht. Es stimmte schon: Ich hielt Informationen zurück. »Gut«, sagte ich und fragte mich dabei, ob Rika zwei und zwei zusammenzählen und den Hattori Copy Shop aufspüren würde. Dann verließ ich die Toilette und betrat den Aufzug, um ins Erdgeschoß hinunterzufahren. Doch im Innern stand bereits Alec Tampole. »Hallo«, sagte ich und quetschte mich neben ihn. Er bewegte sich ein wenig, so daß seine Hand meine Hüfte berührte. »Hübsches Kleid. Na, trägst du überhaupt Strümpfe drunter?« »Mir war nicht klar, daß es bei der Gaijin Times Kleidervorschriften gibt.« »Gibt's auch nicht«, sagte er, schwer atmend. »Aber Verhaltensvorschriften.« »Ach, wirklich? Ich hab' noch gar keine schriftlichen Regeln gesehen.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr und hoffte, daß diese Fahrt mit dem Lift nicht so lange dauern würde. »Es handelt sich um ungeschriebene Regeln. Aber jeder, der auch nur einen Kurs in Journalistik besucht hat, kennt die Regel, daß man sich zuerst seine Sporen verdient haben muß, bevor man erfahreneren Leuten sagen kann, was sie tun sollen.« »Du klingst ja ganz wie ein japanischer Manager. Wirklich komisch. Insbesondere weil du nicht mal sonderlich viel Japanisch kannst.« Das hatte gesessen. Er wurde rot und brüllte: »Ich weiß, was du außerhalb dieses Gebäudes treibst. Glaub mir, ich habe meine Quellen. Und ich würde dir raten, daß du aufpaßt.« Er versetzte mir einen kleinen Stoß, als die Aufzugtür sich öffnete. Ich schob ihn zurück und stieg aus. -189-
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20 Ich versuchte, Mr. Mori, den Pressesprecher von Dayo Publishing, telefonisch zu erreichen, bevor ich selbst zu dem Verlag fuhr. Er gab jedoch gerade Interviews, und die Sekretärin, die mein Gespräch entgegennahm, konnte mir nicht sagen, wann er mich zurückrufen oder vielleicht sehen konnte. Das erinnerte mich an ein Erlebnis, das ich mit einem wunderbaren Set lackierter Tabletts aus der Edo-Zeit gehabt hatte: Der Eigentümer wollte sie lieber an ein international bekanntes Museum als an einen reichen Sammler verkaufen. Ich erschien zu den Verkaufsgesprächen mit dem Scheitel auf der falschen Seite und trug eine geborgte Brille - kurz, ich wollte wie eine Wissenschaftlerin aussehen. Bei dem Treffen sprach ich ausschließlich Englisch und erwähnte ein paarmal beiläufig ein »japanisches Lebensstil- Tableau«, in dem die Tabletts Verwendung finden sollten. So gelang es mir, die Tabletts für einen Kunden zu erwerben, dessen Namen ich wegen seines außergewöhnlichen Reichtums hier nicht erwähnen möchte. Das »Lebensstil- Tableau« entpuppte sich dann später als Mittagessen, zu dem ich eingeladen war. Ich hatte nicht einmal lügen müssen. Und zu Dayo nahm ich nun den Prototyp des noch unveröffentlichten Showa Story-Comic mit. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn irgend jemandem von Dayo zeigen würde, hatte ihn aber ohnehin noch in meinem Rucksack, weil ich geradewegs aus der künstlerischen Abteilung der Gaijin Times kam. Kurz zuvor hatte der Art Director Farbkopien zur Illustration meines Artikels gemacht, des Artikels, den ich am folgenden Donnerstag abgeben mußte. Schon der Gedanke daran verursachte mir ein flaues Gefühl im Magen. Dayo Publishing befand sich im zweiten und dritten Stock -191-
eines geräumigen, glänzend grünen Büroturms mitten in Tokio. Als ich in die gedämpfte Stille der Räume trat, an deren Wänden die vergrößerten Cover der Comic-Bestseller hingen, fühlte ich mich plötzlich unsicher. Hier würde mir der Scheitel auf der falschen Seite nicht helfen. Die Dame am Empfang, die meine private Visitenkarte entgegennahm, trug ein modernes, gänzlich makelloses Polyesterkleid, das mir bewußt machte, daß mein Leinenfutteralkleid, das ich nun schon ein paar Stunden anhatte, mittlerweile verknittert war wie eine Papiertüte. An den Wänden konnte ich nirgends ein Mars Girl-Cover entdecken. Wie das, wenn sie sozusagen zum Familiensilber des Verlages gehörte? Einem Impuls gehorchend, sprach ich Englisch. »Könnte ich mich bitte mit Mr. Mori unterhalten? Ich komme von der Gaijin Times...« »Gaijin Times?« Die unglaublich dünnen Augenbrauen der Frau hoben sich. »Es handelt sich um eine Zeitschrift in englischer Sprache...« »Ja, ja, ich weiß.« Sie hob beide Hände. »Bitte setzen Sie sich doch. Ich lasse Ihnen einen Tee kommen.« Ich setzte mich erstaunt auf ein unbequemes rotes Sofa in Lippenform, während sie telefonierte. Kaum eine Minute später erschien eine koboldartige junge Frau in purpurfarbenem Polyesterhosenanzug mit einer Porzellantasse dampfendem Darjeeling. Ich hörte, was die Dame am Empfang nun ins Telefon flüsterte. »Von einer der großen ausländischen Zeitungen... Ja, von der Times... Ich weiß nicht genau, ob es die Times in London oder die New York Times ist... Ja, das tue ich.« Ich bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, daß ich lauschte. Offenbar hatte die Dame an der Rezeption bei meiner Vorstellung nicht verstanden, daß Gaijin Times der Name meiner Zeitschrift war, sondern ihn wortwörtlich als »Times für -192-
englischsprechende Ausländer« übersetzt. Deshalb dachte sie, es handle sich um eine in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten publizierte Times. Nun wollte sie meine geschäftliche Visitenkarte, um sich über diesen Punkt klar zu werden. Das Problem konnte ich nur lösen, indem ich ihr die mit dem Aufdruck REI SHIMURA ANTIQUITÄTEN und den Adressen in Tokio und San Francisco überreichte. Die Adresse in San Francisco gehörte meinen Eltern; ich benutzte sie nur, um anzugeben. Ich erklärte der Dame am Empfang: »Ich bin Korrespondentin hier und verfasse Artikel über Kunst für die Times. Wäre es möglich, mehr über Mars Girl zu erfahren?« Sie tippte mit ihrem perfekten, pinkfarbenen Fingernagel gegen ihr Kinn. »Sie würden gern mit der für die Reihe verantwortlichen Person sprechen?« »Ja.« »Normalerweise hätte Morisan Sie empfangen, aber im Augenblick unterhält er sich mit den Vertretern der örtlichen Presse über eine andere Ange legenheit. Deshalb schicke ich Sie direkt in die künstlerische Abteilung.« Sie legte meine Visitenkarte in die Mitte ihres Schreibtischs, nahm erneut den Telefonhörer von der Gabel und sprach ein paar Worte hinein, darunter auch etwas, das sich anhörte wie Ros Angeres Timezu.« Los Angeles Times. Zu dem Schluß war sie offensichtlich anhand der kalifornischen Adresse gekommen. »Herzlichen Dank«, sagte ich in simpelstem Englisch. Je einfacher ich mich ausdrückte, desto weniger Dinge würde sie mich fragen. Die meisten Japaner lassen sich nicht auf komplizierte englische Unterhaltungen ein, weil sie Angst haben, Fehler zu machen. Und diese junge Frau mit ihren perfekten Augenbrauen und Fingernägeln sowie dem faltenfreien Kleid fürchtete Fehler vermutlich noch mehr als -193-
andere Angestellte. Sie hatte nicht direkt nach dem Namen der Zeitung gefragt, für die ich arbeitete, sondern Rückschlüsse aus der Adresse gezogen. San Francisco befand sich zwar nicht unbedingt in der Nähe von Los Angeles, aber immerhin im selben Bundesstaat. Nun erschien die koboldartige junge Frau in dem purpurfarbenen Hosenanzug wieder, um mich in die künstlerische Abteilung zu führen, die ein Stockwerk höher war. Ich hatte schon gehört, daß die »kreativen« und »geschäftlichen« Zweige von Werbeagenturen und Mediengesellschaften oft getrennt operierten. Doch die künstlerische Abteilung in diesem Verlag war alles andere als ein fröhlicher, kreativer Dschungel. Hier standen Reihen von ordentlichen Zeichentischen, über die sich die Angestellten beugten, und dazwischen Computer. Diese Abteilung hätte gut und gern in einer Bank sein können, wenn man sich statt der legeren Kleidung der Zeichner hier einfach dunkelblaue Anzüge dachte. Wir wurden von einer Frau Mitte Zwanzig empfangen, die so etwas wie einen Hosenanzug trug - Hot Pants mit einer Polyesterjacke im selben Pinkton. An den Beinen hatte sie eine weiße Strumpfhose. Während sie uns in den Konferenzbereich dirigierte - es handelte sich um zwei purpurfarbene Leder-Têteà-Têtes -, wurde mir zu meiner Überraschung mitgeteilt, daß diese Frau keine einfache Angestellte war, sondern Hiroko Shima, die Chefredakteurin für Mars Girl und drei weitere manga-Serien. Toll, denn auf dem Posten hatte ich eigentlich einen Mann erwartet. »Dann interessieren sich die Leute in den Vereinigten Staaten also für Mars GirH« fragte mich Hiroko Shima in ausgezeichnetem Englisch mit einer Spur kalifornischem Akzent. »Ja, sie kommt überall auf der Welt - oder sollte ich sagen im ganzen Universum? - gut an«, antwortete ich mit einem kleinen -194-
Lachen. »Ich versuche herauszufinden, warum sie so beliebt geworden ist, daß andere Künstler in Japan den Comic imitieren.« »Ja, Sie haben recht mit Ihrer Äußerung über das breite Interesse an manga, besonders an den Serien, die fürs Fernsehen bearbeitet wurden. Ich habe ein Jahr an der UC Riverside studiert«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Dort gab es so viele anime-Clubs, daß ich mich gar nicht entscheiden konnte, welchem ich beitreten sollte. Also habe ich mich bei allen eingeschrieben. Für das Studium war das nicht besonders gut.« Ich fiel in ihr glockenhelles Lachen ein. Hiroko führte das Gespräch bewußt unbekümmert, damit ich das Gefühl bekam, in ihr eine Verbündete gefunden zu haben. »Zeichnen viele Frauen Comics? Soweit ich weiß, sind zahlreiche Fans Frauen«, sagte ich, immer noch lächelnd. Ich war sehr froh, daß Mr. Mori keine Zeit gehabt hatte, sich mit mir zu treffen. Bei Hiroko hielt ich die Wahrscheinlichkeit, das zu bekommen, was ich wollte, für höher. »Etwas mehr als die Hälfte unserer Comic-Zeichner sind Frauen. Nur Frauen können einen Comic schaffen, der Frauen interessiert.« Ich hakte nach: »Und was ist mit den Schulmädchen-Comics, in denen die jungen Frauen vergewaltigt werden?« Hiroko winkte mit ihrer manikürten Hand ab. »Das ist ein altes Mißverständnis. Natürlich gibt es in bestimmten Reihen ein bißchen Sex. Diese Reihen werden von Männern und Frauen gleichermaßen geschrieben. Allerdings sind die von Frauen ein wenig gefühlvoller und romantischer... Wollen Sie das übrigens für Ihren Artikel verwenden?« »Warum nicht? Ich finde das, was Sie sagen, faszinierend. Aber wenn Sie mir die Schöpferin von Mars Girl vorstellen, kann ich mich ganz auf sie konzentrieren. Oder handelt es sich -195-
um einen Mann?« »Ja, warum nicht«, sagte sie. »Manami Oida ist heute hier. Sie hat sich die Reihe vor sechs Jahren ausgedacht; sie ist zuerst zusammen mit anderen Comics in einer Sammlung erschienen. Ein Jahr später haben wir ihr die Chance zu einem monatlichen Mars Girl-Heft gegeben.« »Mit ihr würde ich mich gern unterhalten, ja. Herzlichen Dank!« erklärte ich voller Enthusiasmus. »Sie kommt nur zwei Nachmittage pro Woche in den Verlag und arbeitet sonst in einem Büro gleich in der Nähe ihrer Wohnung. Sie haben Glück, daß heute Donnerstag ist. Sie ist nur montags und donnerstags da.« »Funktioniert das? Ich könnte mir vorstellen, daß der Entwurf eines monatlich erscheinenden Hefts ein Fulltime-Job ist. Arbeiten andere hier auch auf Teilzeitbasis?« Hiroko schüttelte den Kopf. »Nein, die anderen sind jeden Tag hier. Sie erledigen die Routinearbeiten - den Textteil, die Umschläge und ähnliches. Sie haben nicht an der Entstehung der Geschichten teil. Sie können sich vielleicht vorstellen, daß die Verfasser dieser Geschichten die wichtigste Stellung innehaben. Die Zeichnungen in unseren Comics sind ziemlich einfach und klar - es sind die fesselnden Abenteuer von Mars Girl, die unsere Leser dazu bringen, die Hefte immer wieder zu kaufen.« »Ich muß gestehen, daß ich nicht alle Mars Girl-Hefte gelesen habe, die bisher herausgekommen sind«, sagte ich. »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken. Die Reihe erscheint seit fünf Jahren monatlich, das heißt, inzwischen gibt es sechzig Hefte. Sie haben vermutlich Besseres zu tun.« »Lesen Sie denn jedes Heft?« fragte ich. Hiroko nickte. »Ja. Mars Girl ist eine von meinen Lieblingsserien. Mir gefällt, daß sie so viel Kraft hat, daß sie innerhalb der traditionellen japanischen Struktur lebt, sich aber -196-
immer wieder wehrt.« »Hat Mars Girl je eine Zeitreise unternommen und Verbrechen in einer anderen Epoche aufgeklärt?« »Nein. Unsere Version - das Original-Mars-Girl - ist in der Zukunft angesiedelt. Sie ist eine Frau aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert. Sie hat das Herz einer typischen Japanerin, dazu aber übermenschliche Kräfte. Man kann sie nicht töten. Wenn sie die Treppe hinuntergestoßen wird, springt sie sofort wieder auf und kämpft weiter. Würden wir das nicht alle gern können?« Ich veränderte meine Taktik. »Was halten Sie von der Version aus Showa Story, in der Mars Girl Abenteuer in Japan vor dem Zweiten Weltkrieg besteht?« Hiroko schlug die Beine übereinander, so daß ihre Hot Pants noch ein wenig weiter hochrutschten. Offenbar handelte es sich dabei um eine Bewegung, die sie bei solchen Gesprächen öfter einsetzte. Vielleicht konnte sie die Männer damit ablenken, aber mich beeindruckte sie nicht. Sie fragte: »Wieso interessieren Sie sich für Showa Story?« »Nun, ich bin so etwas wie Kunstkritikerin.« »So etwas wie?« wiederholte sie, um etliches frostiger. »Mein Spezialgebiet ist japanische Kunstgeschichte, und in meinem Artikel soll es unter anderem darum gehen, wie manga aus Holzschnitten entstanden. Deshalb habe ich Sie nach Mars Girl in einer Welt vor dem Zweiten Weltkrieg gefragt.« »Das, was ich Ihnen jetzt sage, dürfen Sie nicht schreiben, ja?« Hiroko sah mich flehend an. Ich nickte, obwohl ich wußte, daß Rika mit diesem Versprechen nicht einverstanden gewesen wäre. Doch mir war es wichtiger, Dinge zu erfahren, als sie gedruckt zu sehen. »Um die Frage zu beantworten, die Sie mir, glaube ich, eigentlich stellen wollen - was halten wir davon, daß Showa -197-
Story unsere Comic-Figur benutzt: Nun, wir wissen schon geraume Zeit davon. Viele dôjinshi-Gruppen gestalten ComicHefte mit unterschiedlichen Dayo-Figuren. Wir schenken dem normalerweise keine Beachtung, weil sie nicht genug Exemplare produzieren und verkaufen, um unseren Marktanteil zu gefährden. Aufgrund meiner Erfahrungen in studentischen manga-Clubs würde ich außerdem sagen, daß solche dôjinshi auch positive Resultate zeitigen können. Wenn Mars Girl cool genug ist, um Nachahmer zu inspirieren, dann ist sie ziemlich cool. Bis jetzt war Showa Story so etwas wie Gratiswerbung für uns.« »Wissen Sie, ob irgend jemand von Dayo mit dem Showa Story -Zirkel Kontakt aufgenommen hat?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben Besseres zu tun.« »Und die Reaktion Ihres Pressesprechers? Er hat im Fernsehen angedeutet, daß er das Vorgehen des Showa-StoryZirkels für Plagiat hält.« »Der Mordfall hat die Mars Girl-Reihe in schlechtem Licht erscheinen lassen. Wir müssen klarstellen, daß unser Mars Girl nichts mit ihrem Mars Girl zu tun hat. Wir können uns keine Kontroversen wie seinerzeit bei Pokémon leisten. Davon haben Sie doch gehört, oder?« »Natürlich!« Ein paar Jahre zuvor hatten mehrere hundert Kinder in Japan, die im Fernsehen eine Episode der Zeichentrickserie Pokémon gesehen hatten, Anfälle bekommen. Auf der ganzen Welt hatte es daraufhin Diskussionen darüber gegeben, ob die Ursache ein stroboskopischer Effekt oder aber die düsterere Seite japanischer Zeichentrickserien gewesen sei. »Ich sage Ihnen das alles nur, weil ich nicht möchte, daß in Los Angeles Artikel erscheinen, die sich über die Übel japanischer Comics auslassen. Und ich bin so direkt, damit Sie die Situation besser begreifen.« Hiroko sah mich mit ernstem Blick, ohne jede Spur von Koketterie, an. -198-
»Ich kann Ihnen versichern, daß nie solche Artikel aus meiner Feder in Los Angeles erscheinen werden«, sagte ich. »Aber eine letzte, theoretische Frage hätte ich noch: Wäre ein Verlag verärgert über einen Copy-Shop, der nicht autorisierte dôjinshi herstellt? Könnte der Verlag den Inhaber des Ladens wegen Verletzung des Urheberrechts belangen?« »Nein. Ich habe Ihnen ja schon zu erklären versucht, daß die Veröffentlichung von dôjinshi uns grundsätzlich nicht stört. Wie Mr. Mori gesagt hat, ist es natürlich nicht wirklich gerecht, daß die Leute steuerfreien Profit aus der Verwendung unserer Figuren schlagen, aber so ist das nun mal. Allerdings bin ich ziemlich bestürzt über den Mord, der mit unserer Figur in Verbindung steht. Und der Amerikaner, der gestorben ist, tut mir leid. Eine Tragödie, finden Sie nicht auch?« Kaum zu fassen, wie mitteilsam sie war. Während ich noch darüber nachdachte, piepste das Handy an ihrem coolen weißen Lackledergürtel. Sie hielt es ans Ohr. »Hat Oidasan Zeit? Ich hätte hier eine Journalistin, die sich gern mit ihr unterhalten würde«, sagte sie. Ich beobachtete ihr Gesicht, während sie ein paarmal »ja« sagte und schließlich das Gespräch beendete. »Sie können mit der Schöpferin von Mars Girl sprechen. Aber bitte stellen Sie ihr keine Fragen, die sie in Verlegenheit bringen könnten. Sie ist sehr schüchtern.« Ich hob fragend die Augenbrauen, äußerte mich aber nicht weiter dazu, als wir durch ein Labyrinth von ComputerArbeitsplätzen in einen Bereich gingen, in dem dicht an dicht Zeichentische standen. Zuerst hielt ich die etwas rundliche Frau mittleren Alters mit der dicken Brille für eine Besucherin, weil sie neben der coolen Hiroko so hoffnungslos altmodisch wirkte. Doch als sie den Bleistift auf ihren Zeichentisch legte und ich einen Blick auf eine Mars-Girl-Skizze auf einem Blatt Papier erhaschte, wurde mir klar, daß es sich um die Künstlerin -199-
höchstpersönlich handeln mußte. Sie begrüßte mich lächelnd. »Wir sehen uns heute zum erstenmal, Miss Shimura. Mein Name ist Manami Oida. Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Das war die japanische Standardbegrüßung. Aus ihrem Mund klangen die Worte genau richtig. Hiroko hatte sie nicht verwendet, denn sie war jung und modern wie viele der Frauen, die ins Show a Boy gingen - das genaue Gegenteil von Manami Oida mit ihrer weißen Polyesterbluse und dem schwarzen Wollrock. Ich sprach selbst die passende Grußformel aus und wandte mich dann dem eigentlichen Thema zu. »Viele Menschen bewundern Ihre Serie«, begann ich. »Nein, nein! Wir geben uns große Mühe, jungen Lesern amüsante Geschichten zu bieten, aber heutzutage entstehen immer mehr neue Comics. Ich glaube nicht, daß wir wirklich so bekannt sind.« »Vielleicht haben Sie gehört, daß ein paar Ihrer Fans Ihre Figur imitieren.« »Ja, Showa Story. Ich habe schon viele Hefte davon gekauft. Sie sind einfach wunderbar! Viel besser als unser eigenes Produkt, finden Sie nicht auch?« fragte Manami Oida strahlend, und ihre Chefin Hiroko lächelte säuerlich dazu. Vermutlich paßte es ihr nicht zu hören, daß das Mars Girl- Imitat besser sein sollte als das Original. »Nun, das kann ich nicht beurteilen«, sagte ich. »Als Studenten haben sie für die Arbeit daran auch so viel Zeit sie wollen.« »Ich habe der Showa Story-Gruppe einmal einen Brief geschickt und den drei jungen Leuten dazu gratuliert. Aber vermutlich hatten sie kein Interesse an einer Korrespondenz mit einer Frau meines Alters, denn ich habe nie eine Antwort -200-
erhalten.« War Manami wirklich aufrichtig? Sie war einfach zu nett. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und sagte: »Ich habe gehört, daß jemand von Dayo Kunio Takahashi einen Brief geschickt hat. Vielleicht waren Sie das.« »Darum geht's also!« rief Hiroko aus. »Um einen Mann namens Kunio Takahashi, nicht um Nicky Larsen?« »Ich habe den Brief nicht an Takahashisan gerichtet«, sagte Manami Oida. »Aber wenn er der verantwortliche Künstler ist, würde ich ihn gern kennenlernen. Könnten Sie das für mich arrangieren?« »Ich wünschte, ich könnte es«, sagte ich. »Aber die einzige lebende Angehörige der Gruppe, die ich bisher aufspüren konnte, ist Seiko Hattori. Und meines Wissens zeichnet sie nicht.« »Ich bin immer auf der Suche nach talentierten Künstlern für die Gestaltung meiner Serie. Das habe ich auch in meinem Brief geschrieben. Wenn Takahashisan sein Talent in unsere Dienste stellen würde, käme Mars Girl vielleicht wieder unter die ersten fünf.« »Bis letztes Jahr hatte Mars Girl die fünfthöchste Auflage aller monatlichen Comics«, erklärte Hiroko. »Im Moment stehen wir an zehnter Stelle. Könnten Sie in Ihrem Artikel einfach nur schreiben, daß wir unter den ersten zehn sind?« »Ja, natürlich«, sagte ich und notierte deutlich sichtbar »unter den ersten zehn« auf meinem Block. »Und wieviel würde ein Künstler verdienen, der für Sie zeichnet?« Die beiden Frauen wechselten einen Blick. »Nun, so genau weiß ich das nicht«, sagte Manami Oida. »Etwa ein Fünftel dessen, was der Schöpfer der Serie bekommt. Zeichnen ist eine wichtige Tätigkeit, aber längst nic ht so kreativ wie die des geistigen Schöpfers.« -201-
Sonderlich verführerisch dürfte das für Kunio nicht geklungen haben, dachte ich. Hier war ich vermutlich in einer Sackgasse gelandet. Ich mußte das Thema wieder auf Nicky bringen. »Oidasan, wieviele Jahre beschäftigen Sie sich schon mit Comics?« »Siebzehn«, antwortete sie. »Früher habe ich Kinderbücher illustriert, aber dann habe ich mich den manga zugewandt, weil das eine regelmäßigere Beschäftigung ist. Ich habe sehr große Freude daran.« »Und wo denken Sie sich die Zeichnungen aus?« fragte ich. »In meiner Heimatstadt Kurihama. Dort ist es sehr angenehm. Würden Sie gern mein Atelier sehen?« »Nun, ich habe nur montags Zeit.« Sie preßte die Lippen zusammen. »Montags komme ich immer nach Tokio, zu Redaktionssitzungen und ähnlichem.« »Dauern die den ganzen Tag?« »Ich treffe so gegen halb zehn morgens hier ein und muß mindestens bis drei bleiben.« »Waren Sie letzten Montag, also am siebzehnten, auch so lange hier?« Hiroko mischte sich ein. »Ich glaube. Sie haben jetzt genug Fragen gestellt. Sie muß wieder an die Arbeit.« »Ja, ich habe wirklich viel zu tun«, entschuldigte sich Manami Oida. »Letzten Montag war ich von halb zehn bis sechs im Büro. Wir hatten so viel Arbeit, daß wir nicht einmal Zeit für eine Mittagspause fanden.« * Zehn Minuten später war ich am Bahnhof Tokio. Während ich auf die U-Bahn wartete, dachte ich über das nach, was ich über das Verhältnis zwischen Dayo Publishing und Kunio Takahashi erfahren hatte. Kunio hatte den Brief von Manami Oida geöffnet und vor den anderen Mitgliedern des Zirkels ein wenig damit -202-
geprahlt. Eine andere Verbindung bestand nicht. Eine Lautsprecherdurchsage teilte mir mit, daß sich die Türen gleich schließen würden, und so sprang ich in den Zug und machte mich auf den Heimweg nach Westen. Zu dieser Tageszeit fuhren nur ein paar Studenten und Hausfrauen mit der Marunouchi-Linie. Weil so viel Platz war, taten die Menschen gedankenlose Dinge, stellten ihre Einkaufstüte auf den Sitz neben sich oder streckten die Beine aus, so daß man sich nicht zu ihnen setzen konnte. Insgesamt gab es also genauso wenige Sitzplätze wie während der Rushhour. Ich blieb stehen, weil der einzige verfügbare Sitzplatz sich neben einem Mann mit einer Baumwollmaske vor dem Gesicht befand und ich nun wirklich keine Erkältung gebrauchen konnte, denn schließlich mußte ich in einer Woche meinen Artikel abliefern. Der Termin jagte mir deshalb so große Angst ein, weil ich selbst für die simpelste Kolumne über Antiquitäten fünf Tage zum Schreiben und Überarbeiten brauchte. Und bei dem Artikel über Showa Story hatte ich noch nicht einmal die Recherchen abgeschlossen. Als wir in die Station Kasumigaseki einfuhren, sah ich eine ganze Horde von Regierungsangestellten auf dem Gleis warten. Die Menge schien undurchdringlich zu sein, doch aus Erfahrung wußte ich, daß sie sich in zwei ordentliche Hälften aufteilen würde, damit die Fahrgäste problemlos aussteigen konnten. Mit mir verließen ziemlich viele Leute den Zug, denn hier in der Gegend befanden sich zahlreiche Regierungseinrichtungen. Mit den Augen suchte ich nach Hinweisschildern zur Chiyoda-Linie, die ich brauchte, um nach Hause zu kommen. Ich war so sehr darauf konzentriert, daß ich fast in die Lücke zwischen Zug und Gleis gefallen wäre, als jemand mich von hinten stieß. Ungewöhnlich beherzt packte mich ein mit einem blauen Anzug bekleideter Bürokrat am Arm. Ich bedankte mich bei ihm, doch er war bereits in den Zug eingestiegen. Die japanische Etikette verlangte, daß man über Hilfeleistungen für andere nicht sprach. -203-
Ich ging weiter, eingehüllt in die sommerliche Hitze, die so drückend war wie eine kratzende Heizdecke. Als ich mich mit meinen Stöckelschuhen die Treppe zur Chiyoda-Linie hinaufquälte, merkte ich schon, daß es draußen noch heißer sein würde. Das schlimmste am Sommer in Tokio war die Feuchtigkeit. Wäre ich doch zusammen mit Takeo am Strand in Hayama gewesen! Aufgrund meines unbequemen Kleides konnte ich mich nicht ganz so schnell fortbewegen wie alle anderen. Falls ich es jemals die Treppe hinauf schaffen würde, nahm ich mir vor, würde ich das Kleid einem Second-Hand-Laden zum Verkauf überlassen. Zwar würde meine Mutter mir das nie verzeihen, aber so konnte das einfach nicht weitergehen. Die meisten Leute, die zusammen mit mir im Zug gewesen waren, befanden sich mittlerweile eine halbe Treppe höher als ich. Wie peinlich für mich, eine achtundzwanzigj ährige Frau, von Männern im Alter meines Vaters überholt zu werden. Nur einer ging genauso langsam wie ich, der Mann mit der Erkältung. Als ich mich dem oberen Ende der Treppe näherte, glaubte ich zu hören, daß er meinen Namen sagte. Er war stehengeblieben. Ich nickte, trat aber aus Angst vor einer möglichen Ansteckung nicht an ihn heran. Ich sah voller Unbehagen, wie er sich einen Schritt näherte, und wich zurück, doch da schnellte schon seine Faust vor und traf mich am Kinn. Ich wurde nach hinten geschleudert, flog durch die Luft, die Treppe hinunter. Ich traf auf den Betonstufen auf und rollte bis ganz an ihren Fuß. Da ich Angst um meine lädierten Knie hatte, zog ich die Beine fest an den Körper, ohne einen Gedanken an meinen Hals, meinen Nacken oder meinen Rücken zu verschwenden. Und irgendwann landete ich dann auf etwas Weichem. Ein weiches, pelziges Tier hatte meinen Sturz aufgefangen. Ein großer Hund. Nein, das muß ein Traum sein, dachte ich, als -204-
ich in die Augenlöcher meiner Retterin starrte. Japanische Augen voller Tränen sahen mich an. Seiko Hattori hatte mich aufgefangen.
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21 »Alles in Ordnung? Mein Gott, das war meine Schuld! Ich hab' gesehen, daß Sie sich schwertun mit dem Gehen - ich hätte Ihnen schon früher helfen sollen!« Während die Sanitäter mich untersuchten und mich schließlich auf eine Trage legten, hörte Seiko nicht auf zu reden. Und auch ich redete, um uns beide zu beruhigen. »So schlimm war der Sturz auch wieder nicht. Aber ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nicht von selbst gefallen bin, sondern gestoßen wurde.« »Reisan, es war niemand da, das habe ich Ihnen doch bereits erklärt.« Mittlerweile hatte Seiko den Kopf des Hundekostüms abgenommen, so daß ich ihr Gesicht sehen konnte. »Waren Sie im selben Zug wie ich?« »Ja, in dem Abteil hinter dem Ihren. Die Visitenkarte mit Ihrer Adresse, die Sie mir gestern gegeben haben, hat mich neugierig gemacht. Und heute morgen bin ich Ihnen von Ihrer Wohnung zur Gaijin Times und dann zu Dayo Publishing gefolgt.« »In dem Hundekostüm?« Wieso war mir das nicht aufgefallen? »Nein, ganz normal gekleidet. Offenbar sehe ich aus wie alle anderen japanischen Frauen, denn Sie haben mich nicht bemerkt.« Seiko lächelte matt. »Ich trage das Kostüm immer im Rucksack bei mir und habe es gegenüber von Dayo in der Toilette des Dunkin' Donuts angezogen. Als ich gesehen habe, daß Sie das Dayo-Gebäude betreten, habe ich mir gedacht, da würde ich auch gern mal reingehen, und zwar im Kostüm des Mars-Girl-Hundes, damit die Leute dort mich sofort als Fan erkennen.« -206-
»Verstehe. Und dann sind Sie doch nicht reingegangen?« »Nein. Als ich mich dazu durchgerungen hatte, kamen Sie schon wieder heraus, und Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatten Sie etwas herausgefunden. Also habe ich beschlossen, Ihnen im Zug zu folgen, bin jedoch im nächsten Abteil geblieben, weil ich dachte, Ihnen kommt's sicher merkwürdig vor, wenn Sie von jemandem in einem Hundekostüm angesprochen werden.« »Haben Sie im Zug einen jungen Ausländer mit einem Pornofor-Pyros-T-Shirt gesehen?« Mir war eingefallen, daß Alec zu unserer morgendlichen Sitzung in der Gaijin Times ein solches Konzert-T-Shirt getragen hatte. »Nun, ich habe nicht so genau aufgepaßt, aber ich glaube, es waren mehrere Ausländer im Zug. Haben Sie sie denn nicht bemerkt?« »Nein. Ausländer fallen mir genausowenig auf wie typische Japaner.« Ich versuchte zu lachen, doch mir tat alles weh. Am liebsten hätte ich meinen Rücken massiert, aber das war gefährlich, denn vielleicht hatte meine Wirbelsäule durch den Sturz Schaden genommen. Zuerst mußte ich mich röntgen lassen. Der Gedanke, daß ich dauerhaft beeinträchtigt, ja, vielleicht sogar gelähmt sein könnte, war schrecklich. Ich unterdrückte ein Schluchzen und fragte Seiko: »Haben Sie einen Japaner mit einer Gesichtsmaske gesehen? Mit so einem Ding, das die Leute tragen, wenn sie erkältet sind?« Seiko zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich habe nicht bemerkt, daß irgend jemand Sie berührt hätte, aber auf der Treppe waren mehrere Leute... Ich war zu sehr damit beschäftigt. Sie zu fangen, als daß mir das aufgefallen wäre.« »Dann haben Sie mich also gerettet. Seikosan, ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll.« In Wahrheit war ich immer noch ein bißchen verwirrt über die Ereignisse. Etwas, das Hiroko über Mars Girl gesagt hatte, schoß mir durch den Kopf: -207-
Auch wenn sie die Treppe runtergestoßen wird, springt sie sofort wieder auf und kämpft weiter. War die Anspielung auf den Comic eine Warnung an mich gewesen? Waren die Leute von Dayo über meinen Besuch bestürzter gewesen, als sie sich hatten anmerken lassen? Oder steckte Alec dahinter? »Der Bahnhofsvorsteher ist entsetzt, daß ein solcher Unfall in seinem Zuständigkeitsbereich passieren konnte. Er möchte wissen, ob Sie in ein bestimmtes Krankenhaus möchten«, sagte Seiko. Das verschwitzte Gesicht des Bahnhofsvorstehers tauchte über mir auf. Mit ziemlicher Sicherheit hatte er Angst, daß ich ihn auf Schadenersatz verklagen würde. »Ja, ins St. Luke's International Hospital. Mein Cousin arbeitet dort. Schon merkwürdig: Da habe ich mich eben noch davor gefürchtet, mir eine Erkältung einzufangen, und nun muß ich ins Krankenhaus. Dort wird man sich jedenfalls um mich kümmern. Und Sie können sich wieder dem widmen, was Sie eigentlich vorhatten.« »Aber Reisan, Sie sind in Gefahr!« »Nicht mehr.« Auch wenn sie die Treppe runtergestoßen wird, springt sie sofort wieder auf und kämpft weiter. »Sei Roka Byouin«, sagte Seiko zu den Sanitätern, das war die japanische Aussprache des Krankenhausnamens. »Soll ich bei der Gaijin Times anrufen und den Leuten dort sagen, daß Sie verletzt sind?« »Nein.« Doch dann überlegte ich es mir anders. »Nun, vielleicht sollten Sie doch dort Bescheid sagen. Möglicherweise werde ich unter den gegebenen Umständen nicht in der Lage sein, den Artikel fertigzustellen.« »Wirklich?« Seiko bekam große Augen. »Gibt's denn niemanden, der Ihnen dabei helfen könnte?« »Doch, eine Frau fällt mir ein.« Ich gab ihr Rikas Namen und -208-
Telefonnummer. Das verschaffte Rika Gelegenheit, Seiko ebenfalls zu interviewen. »Die kenne ich doch«, sagte Seiko. »Sie war auf demselben College wie ich. Ich dachte nicht, daß sie schon den Abschluß gemacht hat.« »Hat sie auch nicht. Sie macht gerade ein Ferienpraktikum«, sagte ich. »Ach.« Seikos Gesicht blieb ernst. »Dann kennen Sie Rika also. Wie ist sie denn so?« fragte ich, doch es war keine Zeit für eine Antwort mehr, weil die Sanitäter mich nun aus dem Bahnhof transportierten. Seiko legte meinen Rucksack neben mich auf die Trage. Es war mir peinlich, endlose Treppen hinaufgetragen zu werden - die Leute sahen mich verstohlen an und wandten sich dann gleich wieder ab, als schockiere der Anblick einer Verletzten sie. Vielleicht hing das damit zusammen, daß ich jung war und sie vermuteten, ich sei auf die Gleise gesprungen. Es gab immer mehr Selbstmorde in Japan, und eine junge Frau wie ich, die möglicherweise Pech in der Liebe oder im Berufsleben gehabt hatte, war durchaus eine potentielle Suizidkandidatin. Die Sanitäter ließen Seiko nicht im Notarztwagen mitfahren, sie legte den Weg zum St. Luke's aber mit der U-Bahn zurück und stieß zu mir, nachdem alle Röntgenaufnahmen durchgeführt waren und ich sie mir zusammen mit dem Radiologen Dr. Natsuki sowie meinem Cousin anschaute. »Du bist wirklich wie eine Katze. Hast wohl neun Leben, neh?« sagte Tom. Die Röntgenbilder zeigten, daß weder meiner Wirbelsäule noch meinem Kopf etwas passiert war. Meine Schmerzen rührten von einer Muskelzerrung am Rücken sowie Prellungen her, die sich erst in den folgenden achtundvierzig Stunden zu voller Pracht entwickeln würden. »Ich weiß nicht, ob ich mein Überleben deinem medizinischen Können oder unseren guten Genen zu verdanken -209-
habe«, sagte ich zu meinem Cousin. Tom arbeitete als Arzt in der Notaufnahme des St. Luke's. Das war eine ziemlich angesehene Stellung für einen Mann von erst vierunddreißig Jahren, doch sie forderte auch ihren Tribut. Tom war zu vielen Überstunden verpflichtet, und wenn er hinterher nach Hause zu seinen Eltern fuhr, mußte er sich von ihnen immer wieder anhören, er solle doch endlich heiraten. Tom erklärte ihnen, er sei zu beschäftigt, um eine Frau glücklich machen zu können. Er verbrachte neunzig Prozent seiner Zeit in der Notaufnahme, und so war es kein Wunder, daß wir uns seit Monaten nicht mehr gesehen hatten. Dr. Natsuki schien das zu ahnen, denn nachdem er mir ein Fläschchen Valium zur Muskellockerung gegeben hatte, verschwand er, so daß ich Gelegenheit hatte, mich mit Tom und Seiko zu unterhalten. »Erzähl mir vo n dem Mann, der das getan hat. Der Beamte, der dich begleitet hat, schien nichts zu wissen.« »Das liegt wahrscheinlich daran, daß er das, was ich ihm gesagt habe, nicht zu Protokoll nehmen wollte«, sagte ich ein wenig verbittert. »Der Bahnhofsvorsteher hat dem Polizisten erklärt, ich sei ein wenig verwirrt durch den Unfall. Obwohl ich genau weiß, daß jemand mich gestoßen hat, behauptet er, niemand habe einen Angreifer gesehen. Und dann hat er Seiko befragt.« »Was ist mit dem blauen Fleck hier?« fragte Tom und berührte mein schmerzendes Kinn. Da meldete sich Seiko zu Wort: »Ich glaube, der blaue Fleck war nicht sofort zu sehen. Tut mir leid, aber ich kann einfach nicht sagen, daß ich den Mann gesehen habe. Als Sie die Treppe runtergerollt sind, habe ich mich nur noch darauf konzentrieren können, Sie aufzufangen.« »Danke«, sagte Tom. »Sie haben meine Cousine vor schweren Verletzungen, vielleicht sogar vor dem Tod, bewahrt.« »Ein rabenschwarzer Tag«, sagte ich. »Beim Aussteigen aus -210-
dem Zug wäre ich fast aufs Gle is gefallen. Ich dachte, das liege an meiner Geistesabwesenheit, aber jetzt glaube ich, daß jemand, vielleicht der Mann mit der Maske, mich geschoben hat.« »Eine Maske? So eine, wie Bankräuber sie tragen?« fragte Tom. »Nein, nein, kein Räuber. Eine von den Gesichtsmasken, die die Leute tragen, wenn sie eine Erkältung oder eine Allergie haben. Sieht fast so aus wie die Dinger, die du im OP anhast...« »Aha. Aber was ist dir abgesehen von der Maske noch aufgefallen? Was für Augen hatte er? Wie sah seine Haut aus? Welche Kleidung und welche Schuhe trug er? Hatte er irgendwelche Tätowierungen?« Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, erinnerte mich aber an keine Einzelheiten. »Keine Ahnung. Offen gestanden bin ich ihm ausgewichen, weil ich nicht angesteckt werden wollte. Ich kann nicht mal sagen, ob er westliche oder asiatische Augen hatte. Und gekleidet war er wohl ganz normal. Wenn er einen schicken Anzug oder eine Arbeiterkluft angehabt hätte, wäre mir das vermutlich aufgefallen.« »Wie alt war er?« »Er hatte dichtes Haar, deshalb würde ich sagen, er ist unter Fünfzig, doch vielleicht hat er eine Perücke getragen. Jedenfalls ist er die Treppe ziemlich langsam rauf, was darauf hindeuten könnte, daß er älter ist, es sei denn natürlich, er hätte seine Geschwindigkeit der meinen angepaßt.« »Mit was für Leuten gibst du dich denn in letzter Zeit ab?« fragte Tom. Ich verdrehte die Augen. »Mit Männern, die nachts als Stripper arbeiten und sich tagsüber als Comic-Figuren verkleiden. Ich schreibe einen Artikel für die Gaijin Times.« »Klingt anders als die Story neulich über den Heiwajima-211-
Antiquitätenmarkt.« Ich zuckte mit den Achseln. »Im Moment sind bei der Zeitschrift Veränderungen im Gange, und das gleiche gilt für meinen Antiquitätenhandel. Ich muß den Artikel schreiben, damit ein bißchen Geld aufs Konto kommt.« »Vergiß das Geld. Dein Leben ist mehr wert als ein paar tausend Yen.« Mr. Sanno hatte mir mehr als nur ein paar tausend Yen geboten, nämlich die Möglichkeit, die Umstände von Nickys Tod aufzuklären, den ich vielleicht sogar hätte verhindern können. Ich schuldete es ihm, den Mörder zu finden. »Ich werde mich erkundigen, ob der behandelnde Arzt es für sinnvoll hält, daß du einige Tage im Krankenhaus bleibst. Ich persönlich bin der Meinung, daß dein Zustand ausgezeichnet ist, aber ich glaube, du solltest nicht allein nach Hause fahren. Ich frage erst gar nicht, ob du zu meinen Eltern möchtest, denn als du das letzte Mal bei uns warst, bist du einfach weggerannt, und das hat meine Mutter ganz schön aus der Fassung gebracht.« Das war eineinhalb Jahre zuvor gewesen. Bei der Erinnerung daran mußte ich lächeln. »Diesmal kann ich auf mich selbst aufpassen. Aber ich möchte jetzt nach Hause.« »Tut mir leid, Rei, ich habe Dienst und kann dich nicht begleiten. Hast du jemand anders?« Seiko meldete sich mit zitternder Stimme zu Wort: »Ich muß heute nachmittag im Copy-Shop arbeiten und bin schon eine halbe Stunde zu spät dran. Mein Vater ist bestimmt wütend. Tut mir wirklich leid, daß ich Sie nicht begleiten kann, Rei.« »Kein Problem. Ich muß nur noch kurz auf die Toilette, und hinterher denke ich weiter darüber nach, wen ich bitten könnte, mit mir zu kommen. Richard wäre ideal gewesen, aber leider ist der im Moment in Kanada.« -212-
»Soll ich dir ein Glas Wasser geben? Du solltest jetzt allmählich die erste Valium-Tablette nehmen.« Ich verzog das Gesicht. »Das Zeug hat Marilyn Monroe umgebracht! Das nehme ich nicht.« »Brauchst du auch nicht unbedingt«, sagte Tom und hob die Augenbrauen. »Wenn Ibuprofen dir als Schmerzmittel reicht, dann nimm das.« »Die Tabletten, die ich wegen meinem Knie schlucke? Wunderbar. Die brauche ich nicht mal zu kaufen, weil ich genügend zu Hause habe.« »Wenn Sie nichts dagegen haben, Reisan, würde ich jetzt gern gehen«, sagte Seiko. »Ich rufe Sie an, um zu hören, wie Sie sich fühlen.« »Vielen, vielen Dank, Seiko.« Ich verneigte mich vor ihr und Tom und verschwand dann schleunigst in Richtung Toilette. Als ich zurückkam, war Tom nicht mehr da. Ich fand ihn in der Notaufnahme, wo er sich gerade mit einer Schwester unterhielt. Erst jetzt wurde mir mit schlechtem Gewissen bewußt, wieviel von seiner Zeit ich in Anspruch genommen hatte. Eigentlich wäre er als Verantwortlicher für die Notaufnahme nicht verpflichtet gewesen, meine Behandlung zu überwachen, doch er hatte es getan, weil er mit mir verwandt war. Tom schnippte mit den Fingern und sagte: »Wie wär's mit Takeo Kayama? Könnte der dich nicht abholen? Triffst du dich noch mit ihm?« »Ja, aber er kann wahrscheinlich nicht kommen, weil er vierzig Kilometer von hier das Ferienhaus seiner Familie renoviert.« »Nun, das bedeutet immerhin, daß er erreichbar ist. Was hat er für eine Telefonnummer?« »Das weiß ich nicht«, log ich. -213-
»Na schön, dann muß ich eben doch meine Mutter anrufen...« »Bitte nicht«, bettelte ich. »Ach, da fä llt mir jemand ein. Ruf doch diese Nummer hier an.« Ich holte den Handzettel von Show a Boy aus meinem Rucksack, den ich im Wartebereich des Krankenhauses abgelegt hatte. »Die handgeschriebene Nummer auf der Rückseite gehört einem Freund von mir. Er heißt Marcellus. Um diese Tageszeit ist er bestimmt zu Hause.« Ich hatte die Augen geschlossen, nur ein paar Minuten, wie ich dachte, als ich die Stimme von Marcellus hörte. »Ich bin sehr froh, daß Sie mich angerufen haben, Monsieur Dr. Tomsan«, murmelte Marcellus mit ausgesuchter Höflichkeit. Mit halbgeschlossenen Augen sah ich, daß er einen von seinen auffälligen Gymnastikanzügen aus Nylon trug, an dem die Beine mittels Klettverschluß befestigt waren. Jetzt befanden sie sich an Ort und Stelle; niemand hätte geahnt, daß es sich um ein Tanzkostüm handelte. »Es ist wirklich freundlich von Ihnen, daß Sie Zeit gefunden haben, sich um meine Cousine zu kümmern. Sie... neigt zu Unfällen«, sagte Tom ein wenig gestelzt. Vermutlich hatte er noch nicht gemerkt, daß mein Freund, der Englisch mit französischem Akzent sprach, eigentlich aus Afrika stammte. »Ich brauche nur jemanden, der sie zu ihrer Wohnung begleitet und dann den Nachbarn sagt, daß sie sich um sie kümmern sollen. Ich übernehme die Kosten für das Taxi, weil sie im Moment nicht mit der U-Bahn fahren sollte.« »Sind Sie sich denn sicher, daß Sie sie entlassen können? Sie ist doch bewußtlos!« flüsterte Marcellus. Wahrscheinlich wirkte ich so auf der Warteliege, die Augen halb geschlossen. Nun schlug ich sie auf und sagte zu Marcellus: »Mir geht's gut. Es ist wirklich nett, daß Sie gekommen sind. Hoffentlich halte ich Sie nicht von der Arbeit ab.« »Drei Uhr. Ich bringe Sie schnell zu Ihrer Wohnung, spreche mit den Nachbarn und mache mich dann auf den Weg zur -214-
Arbeit. Ich muß in einer Stunde anfangen.« »Reicht die Zeit? Ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten«, sagte Tom. »Kein Problem. Miss Shimura ist eine sehr gute Freundin, und ich erachte es als Kompliment, daß Sie mich gebeten hat, ihr zu helfen.« Marcellus ließ seinen ganzen Charme spielen, und Tom wurde ein bißchen ruhiger. Er rief ein Taxi für uns und winkte uns nach, bis wir außer Sichtweite waren, wie es alle höflichen Japaner tun. Ich ließ mich seufzend in den Sitz sinken. Endlich war der Alptraum vorbei. Marcellus streichelte meine Hand. »Wie schrecklich das alles ist! Glauben Sie, es hat mit Nickys Tod zu tun?« »Ja. Deshalb wollte ich auch mit Ihnen sprechen. Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, wenn wir erst gar nicht zu meiner Wohnung fahren, sondern gleich zu Show a Boy. Ich möchte Chiyo zeigen, daß ich keine Angst habe. Möglicherweise ist sie ja in die Sache verwickelt.« »Dann denken Sie also immer noch, daß sie hinter Nickys Tod steckt?« »Im Moment beschäftigt mich eigentlich nur der Gedanke, wer hinter mir her ist. Alec Tampole, dieser widerliche australische Redakteur von der Gaijin Times, hat mich heute vor dem Verlassen des Gebäudes bedroht, und auch Rika, die Praktikantin, die mir bei den Recherchen für den Artikel hilft, scheint mich nicht sonderlich leiden zu können. Außerdem mache ich mir Gedanken über Seiko - was für ein Zufall, daß sie an Ort und Stelle war, als ich die Treppe runtergefallen bin. Obwohl mir natürlich klar ist, daß sie mich nicht gestoßen haben und dann runtergerannt sein kann, um mich aufzufangen. Vielleicht waren zwei Leute an der Sache beteiligt.« »Möglicherweise eine ganze Bande. Klingt nach den yasan«, sagte Marcellus. »Nun, das ist meiner Meinung nach Chiyos Terrain«, sagte -215-
ich. »Sie gehört nicht zu ihnen«, widersprach Marcellus. »Das habe ich Ihnen doch schon erklärt.« Das Taxi hielt vor dem Club. Ich behielt Toms Geld in der Tasche, um es ihm später wiederzugeben, und zahlte mit meinem eigenen. Als wir den Club betraten, spürte ich die veränderte Atmosphäre. Die Gäste waren noch nicht da, und ein paar der Jungs saßen mit Saft oder Limonade an der Theke und unterhielten sich. Das Gespräch brach unvermittelt ab, als ich eintrat. »Hey, wir haben noch nicht geöffnet«, sagte der junge Mann mit der Lederhosennummer. »Ich möchte mit Chiyosan sprechen.« »Ach, jetzt erinnere ich mich wieder an Sie.« Der Lederhosen-Boy taxierte mich mit einem Blick. »Am Tag vor Nickys Tod haben Sie auch Fragen gestellt.« »Aber damals ging's nicht um Nicky.« »Egal: Sie stellen Fragen, und er stirbt.« Der Tänzer hatte eisblaue Augen, mit denen er mich fixierte, bis ich den Blick abwandte. »Hans, es ist okay«, mischte sich Marcellus ein. »Wo ist mamasan?« »Sie trinkt gerade ihren Sherry«, antwortete Hans. Ich nickte Hans kurz zu und begleitete Marcellus. »Sind Sie sich sicher, daß Sie das tun wollen?« flüsterte Marcellus mir zu. »Ich habe Angst, daß Sie nach Ihrem Unfall noch nicht genug Kraft für so etwas haben.« »Mir geht's gut. Ich habe nur ein paar blaue Flecken.« Marcellus öffnete eine Tür. Dahinter lag Chiyo ausgestreckt auf einer Chaiselongue, ein großes Glas Sherry auf einem Tischchen neben sich, den Telefonhörer am Ohr. -216-
»Ja, ja«, sagte sie gerade. »Wir haben Ihre Reservierung für morgen abend aufgenommen. Sechzehn Leute. Thema Evangelion. Kommen Sie kostümiert, den Rest übernehmen wir.« Nach weiteren Bestätigungen, die sie mit gekünstelt höflicher Stimme aussprach, legte sie auf und wandte sich mit finsterem Blick mir zu. »Shimura, Sie sehen schrecklich aus. Wie können Sie es wagen, den Club in einem so schmutzigen Kleid zu betreten? Marcellus, wieso stehst du nicht draußen vor der Tür? Was ist los?« »Ich sehe so aus, weil jemand mich eine Treppe hinuntergestoßen hat. Vielleicht in Ihrem Auftrag.« Marcellus hatte sich mittlerweile verdrückt, so daß Chiyo und ich allein waren. Chiyo schnurrte: »Warum sollte ich so etwas tun?« »Weil Sie nicht wollen, daß ich nach Nickys Mörder suche. Vielleicht arbeitet er in diesem Club oder ist ein Freund von Ihnen oder etwas Ähnliches.« Sie schnaubte verächtlich. »Wirklich erstaunlich, daß Sie nicht gleich mich verdächtigen! An dem Tag war die Polizei auch bei mir und hat mich befragt. Einfach lächerlich. Natürlich hatte ich ein Alibi.« »Sie würden nie selbst töten, sondern Leute von der yakuza beauftragen.« Chiyo lachte, ein langes, ekliges Gackern. »Meine Kleine, Sie haben wirklich eine lebhafte Phantasie! Ich bin Geschäftsfrau, keine Kriminelle.« »Gangster sind hier durchaus schon gesichtet worden.« Sie zuckte mit den Achseln. »Meine Tänzer haben die Männer, die die regelmäßigen Zahlungen bei mir und fast allen anderen Etablissements der Gegend einfordern, vermutlich schon gesehen. Die Männer sind Erpresser. Wenn sie erfahren, -217-
daß einer der Tänzer sich illegal hier aufhält, verfolgen sie ihn und versprechen ihm, seine Papiere gegen Geld in Ordnung zu bringen. Sie sind wie Zecken, saugen sich überall fest.« »Sind Sie mit Ihren Zahlungen auf dem laufenden?« Als sie mich verständnislos ansah, sagte ich: »Sind sie aus irgendeinem Grund wütend auf Sie? Mir ist der Gedanke gekommen, daß sie Nicky umgebracht haben könnten, um Sie zu warnen.« »Nie und nimmer!« rief Chiyo aus. »Ich habe ein Kontenbuch, genau wie bei der Bank. Bei jeder Zahlung drücke ich meinen persönlichen Stempel hinein, und sie setzen den ihren daneben.« Wie organisiert das alles ablief! Es war tatsächlich wie in der Bank. Einem anderen Gedankengang folgend, fragte ich: »Ist Kunio in der Zwischenzeit dagewesen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe jede Menge Briefe für ihn. Neulich habe ich in seiner Wohnung angerufen, aber die Nummer ist nicht mehr ans Netz angeschlossen.« »Das habe ich letzte Woche auch festgestellt. Warum haben Sie die Briefe nicht der Polizei gegeben?« »Warum sollte ich? Sie interessiert sich für Nicky, nicht für Kunio. Hätten Sie die Briefe gern? Ich habe keine Verwendung dafür.« Chiyo schlüpfte in Pantoffeln und trippelte zu ihrem Schreibtisch hinüber. Dort öffnete sie eine Schublade und holte eine in Papier mit Brokatmuster gewickelte Schachtel heraus. »Sie möchten sie doch, stimmt's?« »Nun, ich hätte nichts dagegen, einen Blick darauf zu werfen, aber... aber ist das in Japan legal?« Sie mußte lachen. »Sie sind schon ein merkwürdiges Mädchen, daß Sie sich so viele Gedanken über das Gesetz machen. Hier, nehmen Sie sie alle. Aber bitte vergessen Sie nicht, daß ich viel zu tun habe. Ich möchte nicht, daß Sie wieder -218-
hier auftauchen, um Fragen zu stellen. Sie haben nie mit mir gesprochen, und Sie haben auch nie Briefe von mir bekommen. Verstanden?« »Ja, aber eine letzte Frage hätte ich noch, über eine junge Frau namens Seiko Hattori. Sie haben Ihr Hausverbot erteilt. Warum?« Chiyo stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie war Nickys Freundin.« »Ach, nicht nur irgendeine Bekannte?« Ich hatte mir schon gedacht, daß Seiko in Nicky verliebt ge wesen war, aber wegen ihres eher durchschnittlichen Aussehens war ich davon ausgegangen, daß er ihre Gefühle nicht erwidert hatte. »Wenn sie hier war, hat er sie ziemlich schlecht behandelt, doch sie hätte ihn fast mit den Augen aufgefressen. Das ist auch den anderen Gästen aufgefallen. Und natürlich haben die Frauen sich darüber geärgert. Es war schlecht fürs Geschäft. Als Seiko dann nicht mehr gekommen ist, war Nicky auch nicht mehr abgelenkt und hat seinen Auftritt mit seinem üblichen Charme absolviert.« Ich nahm die Schachtel, in der sich außer den Briefen auch einige zurückgeschickte Hefte von Showa Story befanden. »Danke. Ich kann mir nicht erklären, wieso Sie mir plötzlich helfen.« »Die Polizei unternimmt nicht viel, wahrscheinlich, weil sie meine Jungs für Abschaum hält. Ein gaijin-Freak mit Kleid und Perücke - um den ist's doch nicht schade. Unserem Land kann's nur nützen, wenn solche ausländischen Jungs verschwinden, die sich tagsüber als manga-Helden verkleiden und in der Nacht japanische Frauen verderben«, sagte Chiyo mit leiser, eindringlicher Stimme. »Der Club und die Jungs sind mir wichtig. Vor weniger als zwei Jahren haben Sie sich schon einmal in meine Angelegenheiten eingemischt, und das hat zur Schließung meines Geschäfts geführt. Aber Sie haben auch -219-
einem von meinen Mädchen das Leben gerettet. Das werde ich Ihnen nicht vergessen.« »Noch einmal danke«, sagte ich, verblüfft über Chiyos Worte und die Tränen, die sie mit ihrer feisten Hand wegwischte. »Haben Sie noch Kontakt zu dem Mädchen?« »Ja, heute abend kommt sie hier vorbei«, sagte Chiyo. »Sie hat jetzt einen guten Job und bringt ein paar Kolleginnen mit, die sich die Show ansehen wollen. Sie sagt, es ist schön, einmal von Männern bedient zu werden, nach all den Jahren, in denen sie ihnen zu Diensten sein mußte.« »Sagen Sie ihr doch einen schönen Gruß von mir«, sagte ich. »Ja. Ich muß Sie nicht hinausbegleiten, oder? Die Schachtel kann Ihnen einer von den Jungs tragen.« »So schwer ist sie nicht«, sagte ich und verabschiedete mich mit einem kurzen Winken von ihr.
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22 Das Telefon klingelte, als ich mit dem Taxi zu meiner Wohnung zurückkehrte. Es war Tom. »Rei, endlich. Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht«, sagte er. »Bin grade zur Tür rein.« »Wie bitte? Du hast zwei Stunden vom Krankenhaus bis zu deiner Wohnung gebraucht?« »Ich, äh, hab' den Fahrer gebeten, einen Umweg zu machen, weil ich vorher noch ein paar Sachen besorgen mußte, damit ich mich am Abend zu Hause ausruhen kann.« »Wunderbar. Ich werde gerade ausgerufen und muß los.« Tom legte auf. Ich nahm ein Bad und schluckte eine Ibuprofen-Tablette mit einem Glas Milch. Das Valium, das Dr. Natsuki mir mitgegeben hatte, holte ich gar nicht erst heraus, denn ich wollte einen klaren Kopf haben. Ich ordnete die Post von Kunio in Stöße. Auf dem ersten landeten die drei Hefte von Showa Story, die die Post nicht hatte ausliefern können. Ich versuchte, die Adressen zu entziffern, an die sie geschickt worden waren, aber darüber befand sich der Poststempel, und so konnte ich letztlich nur die Namen der Städte - Kawasaki und Tokio - sowie die zugehörigen Postleitzahlen lesen. Es handelte sich ausschließlich um Hefte der Ausgabe, die ich bei Animagine erworben hatte. Auf den zweiten Stoß legte ich einen Brief von einem Geschäft für Künstlerbedarf, einen von einer Reinigungsfirma sowie einen von einer Versicherung. Ich fand lediglich einen einzigen mit einem handbeschrifteten Umschlag. Er war rotweiß gestreift und kam mir bekannt vor. -221-
Hattori Copy Shop. Du lieber Himmel, dachte ich. Sah ganz so aus, als hätte Seiko Kunio einen Brief geschrieben. Trotz meiner Müdigkeit suchte ich in der Tüte, in der sich meine Kopien aus dem Copy-Shop befanden, nach der Quittung. Wie zu erwarten, stand darauf die Telefonnummer des Ladens. Ich wählte diese Nummer und war erleichtert, als ich eine Frauenstimme hörte. »Seikosan?« fragte ich. »Nein, ich bin ihre Mutter. Mit wem spreche ich denn?« Die Frau am anderen Ende der Leitung klang müde, aber nicht unfreundlich. »Ich bin eine flüchtige Bekannte und habe etwas, das Seiko gehört und das ich ihr gern zurückgeben würde.« »Sie ist morgen vormittag ab zehn wieder im Laden. Dann können Sie mit ihr sprechen.« »Ich müßte wirklich noch heute mit ihr reden...« »Morgen vormittag ist sie da«, sagte Mrs. Hattori und legte auf. Ich starrte den Brief an. Wie gern ich ihn doch geöffnet hätte! Aber ich wußte, daß das in den Vereinigten Staaten gegen das Gesetz verstieß und wahrscheinlich auch in Japan. Außerdem würde ich keine Informationen verwenden, an die ich unrechtmäßig gekommen war. Seiko hatte gesagt, daß sie Kunio nicht sonderlich gut leiden konnte. Hatte sie ihm deshalb geschrieben? Weil sie nicht persönlich mit ihm sprechen wollte? Ich hielt den Brief gegen das Licht und versuchte zu erraten, was sich in dem schmalen Umschlag befand. Das Papier war sehr leicht. Trotz meiner Neugierde gelang es mir irgendwann einzuschlafen, doch am Morgen fühlte ich mich schrecklich. Die Spuren meines Sturzes waren allmählich auf meinem Körper zu -222-
sehen - blaue Flecken an Rücken und Hinterteil sowie an einem Arm und einem Bein. Und noch einer am Kinn, wo der Schlag des Mannes mich getroffen hatte. Nun spielte ich doch mit dem Gedanken, das Valium zu nehmen, verwarf ihn aber wieder. Ich mußte meine Sinne beieinander halten. Aus Gewohnheit zog ich leichte Baumwollshorts und ein TShirt an, merkte jedoch dann, daß ich zu große Schmerzen zum Joggen hatte. Also machte ich mir eine Kanne Tee, und sobald ich mich ein wenig gestärkt hatte, wählte ich die Nummer des Bahnhofsvorstehers von Kasumigaseki, um ihn zu fragen, ob man den Mann, der mir einen Kinnhaken versetzt hatte, bereits aufgespürt habe. »Sind Sie die Dame, die die Treppe hinuntergefallen ist?« »Hinuntergefallen ist nicht der richtige Ausdruck. Ich bin gestoßen worden.« »Niemand hat eine Person gesehen, auf die Ihre Beschreibung paßt. In unserem Bericht steht, daß eine Frau namens Rei Shimura wegen ihrer zu hohen Schuhe ausgerutscht und gefallen ist.« »Tja«, sagte ich bitter, »dann sollte ich vermutlich Anzeige gegen meine Schuhe erstatten.« Doch der Bahnhofsvorsteher ließ sich nicht provozieren, sondern sagte: »Die Beamten von der Metropolitan Police waren gestern hier und haben gesagt, es gebe keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen.« »Aber ich bin Opfer dieses Verbrechens geworden, also muß ich es wissen.« Der Bahnhofsvorsteher brummte etwas und legte auf. Meine Laune war nicht die allerbeste, als ich die Nummer von Lieutenant Hata wählte. Es war erst acht. Er hielt sich bereits im Büro auf, konnte aber gerade nicht ans Telefon kommen. Ich erklärte der Sekretärin, ich habe wichtige Informationen, und sie -223-
versprach mir, ihm zu sagen, daß er zurückrufen solle. Dann räumte ich mein Teetischchen ab, damit ich das Material für meinen Artikel darauf ausbreiten konnte. Auf der einen Seite lagen ein Stapel Showa Story-Hefte sowie Takeos Übersetzungen, auf der anderen die Notizen, die ich von den Interviews gemacht hatte. In der Mitte befand sich Seikos Brief an Kunio. Ich starrte ihn so lange an, daß ich wäßrige Augen bekam. Erst als ich ein Klopfen an meiner Tür hörte, hob ich den Blick. »Wer ist da?« fragte ich, bevor ich meine Riegel zurückschob. »Alec und Rika«, antwortete mir Rikas helle Stimme. Ich sah auf meine Uhr. Es war tatsächlich erst Viertel nach acht. Alec Tampole und Rika Fuchida zusammen? Vor meiner Wohnung? Ich öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus. »Was für eine Überraschung.« »Willst du uns nicht reinlassen?« fragte Alec. Ich bedachte ihn mit einem kühlen Blick. »Lieber nicht. Augenblick, ich hole bloß meine Sachen, dann können wir uns hinaussetzen.« »So, so. Wen versteckst du denn da drinnen? Den Typ vielleicht, der dir den Kinnhaken verpaßt hat?« sagte Alec mit lauter Stimme. »Reisan, alles in Ordnung? Ihr Gesicht...«, rief auch Rika aus. »Nein, es ist nicht alles in Ordnung. Ich habe gestern auf der U-Bahn-Treppe einen Unfall gehabt.« Nun sagte ich auch schon »Unfall« wie der Bahnhofsvorsteher, stellte ich entsetzt fest, nur weil ich die Aufmerksamkeit der beiden von meiner Person ablenken wollte. Als ich mich auf der Suche nach den Hausschlüsseln umwandte - ich wollte die Tür abschließen, solange ich draußen wäre -, marschierte Alec schnurstracks in meine Wohnung, und Rika folgte ihm. -224-
»Was für eine hübsche Wohnung, Rei!« rief Rika aus. »Die Einrichtung ist wirklich außergewöhnlich. Alecsan, von Rei könntest du dir zeigen lassen, wie man ein Wohnzimmer gestaltet. Die Wand hier ist interessant. Ist das ganz normale Farbe?« »Es ist eine Lasur drüber«, sagte ich. Rika war also in Alecs Wohnung gewesen, und sie tauchten um Viertel nach acht morgens gemeinsam bei mir auf. Das konnte nur bedeuten, daß sie miteinander schliefen und offenbar auch kein Geheimnis daraus machten. Alec trug ein frisches Chemical-Brothers- TShirt, doch Rika hatte immer noch dieselben Sachen wie am Vortag an - das Belldandy-T-Shirt sowie ihre Jeans. Die Haare hatte sie am Oberkopf zu einem Kleinmädchendutt zusammengefaßt, der Rest fiel ihr frei auf die Schultern. Sie waren feucht, als habe sie sie vor noch nicht allzulanger Zeit gewaschen. Wie lange das wohl schon geht? fragte ich mich, während ich ein paar Fenster öffnete, weil ich wußte, daß man mich dann im Notfall hören würde. Ganz hatte ich den Gedanken, daß Alec möglicherweise derjenige gewesen war, der mich in der Station Kasumigaseki die Treppe hinuntergestoßen hatte, noch nicht ad acta gelegt. Und aus der Wohnung werfen konnte ich die beiden nun, da sie schon einmal drin waren, ja auch schlecht. Rika machte es sich auf den Sitzkissen beim Teetischchen bequem und betrachtete die Kanne mit dem immer noch heißen Tee. »Was für ein Tee ist denn da drin?« »Darjeeling«, sagte ich ziemlich unfreundlich und holte zwei Tassen aus meiner Kochnische. »Milch und Zucker für mich, meine Liebe«, sagte Alec. Dabei glitt sein Blick über die Sachen, die auf dem Tischchen lagen. »Schön, daß du so hart an der Story arbeitest, Rei. Ich hatte schon Sorge, du machst bloß 'ne große Show, und es ist nichts dahinter.« -225-
»Wenn dir das Kopfzerbrechen macht, warum hast du dich dann gestern, als es um die Berichte ging, nicht freiwillig gemeldet?« schoß ich zurück. »Du solltest nicht vergessen, daß ich Redakteur bin, nicht Reporter. Genauso wie ich eben ein Liebhaber bin und kein Kämpfer«, sagte Alec lachend. »Weiß Mr. Sanno, was für ein großartiger Liebhaber du bist?« fragte ich. »Wir sind hie r in Japan. Sexuelle Belästigung - seku hara heißt das hier - ist lediglich eine andere Form des Vorspiels. Stimmt's, Rikachan?« »Seh, Alecsan. Sag keine solchen Sachen«, meinte Rika, die mittlerweile begonnen hatte, die Sachen auf meinem Tisch durchzusehe n. »Gehen wir rüber zum Fenstersitz, damit die Papiere keine Flecken bekommen«, sagte ich und empfand dabei ein überwältigendes Gefühl der Scham und auch der Trauer für Rika. Ihr Verhältnis zu Alec war unerträglich, doch sie interpretierte es wahrscheinlich als Schritt in die richtige Richtung. Der nächste auf ihrer Liste war vermutlich Mr. Sanno. »Was ist denn das für ein Brief an Kunio?« fragte Rika und hielt den Umschlag hoch, den ich noch immer nicht geöffnet hatte. »Nun, es ist eben ein Brief an Kunio. Wenn ich ihn treffe, gebe ich ihn ihm...« »Aber machen wir ihn doch zuerst auf.« Rika schlitzte den Umschlag auf, bevor ich sie daran hindern konnte. »So...« Sie zog ein dünnes Blatt Papier heraus. »Na, viel ist das ja nicht gerade. Nur eine Rechnung.« Nun verlor ich die Geduld. »Wer hat Ihnen erlaubt, den Brief zu öffnen? Legen Sie ihn sofort hin!« »Die Rechnung ist für Papier und Fotokopien. -226-
Fünfundzwanzigtausend Yen, zu zahlen von Kunio Takahashi und Nicky Larsen an den Hattori Copy Shop. Mein Gott, wie langweilig. Und ich dachte, es wäre was Interessantes drin, zum Beispiel ein Schreiben von unserem Mörder!« Rika warf den Brief weg. »Ist Ihnen eigentlich klar, daß Sie möglicherweise gegen das Gesetz verstoßen, wenn Sie einen nicht für Sie bestimmten Brief öffnen?« fragte ich. »Und wer sollte das melden?« fragte Rika zurück. Alec schnaubte verächtlich. »Eine tolle Reporterin bist du nicht gerade.« Ich atmete ein paarmal tief durch. »Vielleicht nicht. Aber wenn du ohnehin kein Vertrauen in mich hast, kann ich das, was ich bis jetzt herausgefunden habe, ja gleich der Tokyo Metropolitan Police mitteilen.« »Ha, ha, wie witzig!« rief Alec aus. »Du und Rika, ihr werdet die Story an Land ziehen und sie nicht den Behörden überlassen.« »Wenn ihr nicht sofort meine Wohnung verlaßt, werde ich genau das tun.« Da klingelte das Telefon. Na toll. Ausnahmsweise hoffte ich nicht, Kunios oder Takeos oder Seikos Stimme zu hören. Ich hob den Hörer ab und sagte: »Hallo?« »Hata hier.« Er klang ein wenig außer Atem. »Tut mir leid, daß ich nicht gleich selbst dran war, aber wir mußten unsere Morgenübungen machen.« »Lieutenant Hata. Wie schön, Ihre Stimme zu hören«, sagte ich laut und sah Alec und Rika an. »Ach was, das sagst du doch bloß so.« Alec lächelte spöttisch. »Willst du selber mit ihm sprechen?« fragte ich Alec. »Was ist los, Shimurasan? Alles in Ordnung?« fragte Lieutenant Hata. -227-
»Ja, alles in Ordnung, Lieutenant. Einen Augenblick, bitte.« Ich legte die Hand über das Mundstück des Hörers und sagte zu Alec und Rika: »Wenn ihr nicht geht, erzähle ich ihm alles.« Rika und Alec wechselten einen Blick. »Wir kommen zu spät, wenn wir jetzt nicht gehen«, sagte Rika, um sich elegant aus der Affäre zu ziehen. »Na schön. Aber wir unterhalten uns bald mal über die Story, ja? Tschüs.« Alec machte sich nicht die Mühe, die Tür hinter sich zu schließen. »Entschuldigung«, sagte ich zu Lieutenant Hata. »Ich hatte gerade ungebetene Gäste.« Ich seufzte. »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Shimurasan. Sie hatten recht hinsichtlich der Identität des Toten vom Fluß. Vielleicht haben Sie schon durch die Zeitung von der Identifizierung erfahren?« »Ja«, sagte ich. »Was wollen Sie mir mitteilen? Ich habe gehört, daß Sie etwas zu Ihren Gästen gesagt haben. Sind sie weg?« »Ja, aber können Sie mir zuerst eine Frage beantworten? Wie gehen die Ermittlungen voran?« »Wir sind immer noch damit beschäftigt, Hinweise vom Tatort zu untersuchen«, sagte Lieutenant Hata. »Ich würde gern mehr darüber erfahren, wieso Sie überhaupt dachten, das Mordopfer zu kennen.« Ich antwortete ausweichend: »Nun, ich habe Nicky Larsen während eines Besuchs in einem Club namens Show a Boy in Shinjuku kennengelernt.« »Solche Clubs besuchen Sie?« fragte Lieutenant Hata verblüfft. »Im Rahmen von Recherchen für einen Artikel, den ich schreiben soll«, sagte ich. »Ich habe Nicky an einem Samstagabend gesehen und dann noch einmal am Montagmorgen, an dem Tag, als er getötet wurde. Ich habe aus -228-
Versehen an seine Wohnungstür geklopft. Eigentlich wollte ich zu seinem Nachbarn und ihn für meine Kunst- und Antiquitätenkolumne in der Gaijin Times interviewen.« »Ja, ja. Ich weiß, daß Sie für die Zeitschrift schreiben. Wann genau haben Sie ihn getroffen? Von Rechts wegen sollte ich Sie zur Befragung ins Revier holen.« Jetzt lief alles ein bißchen rasanter, als mir lieb war. Ich sagte: »Ich habe ihn um zehn Uhr morgens gesehen. Aber um auf das andere Thema zurückzukommen: Ich arbeite an einem Projekt, das locker mit Nicky und hauptsächlich mit seinem vermißten Nachbarn Kunio Takahashi zu tun hat. Ich habe überall Nachrichten für Mr. Takahashi hinterlassen, doch die einzige Reaktion darauf war, daß ich gestern in der Station Kasumigaseki angegriffen wurde.« »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?« herrschte Lieutenant Hata mich an. »Mein Gott, was ist denn passiert? Alles in Ordnung?« »Nun, man hat mich nicht ausgeraubt oder begrapscht oder was man sonst in einem Bahnhof erwarten würde. Ich war gerade aus dem Zug ausgestiegen, und als ich die Treppe hinaufging, rief ein Mann ein paar Schritte vor mir meinen Namen und versetzte mir dann einen Kinnhaken. Ich fiel die Stufen hinunter, wo mich schließlich jemand auffing.« »Warum gibt es darüber keinen Polizeibericht?« fragte Hata. »Haben Sie denn dem Bahnhofsvorsteher nicht gesagt, daß er uns anrufen soll?« »Der Bahnhofsvorsteher hat behauptet, nach Meinung der Metropolitan Police sei das Ganze ein Unfall gewesen.« »Wir brauchen die Aussage der Person, die Sie aufgefangen hat«, sagte Hata. »Haben Sie seinen Namen?« »Ihren Namen«, berichtigte ich ihn. »Mit ihr zu sprechen ist Zeitverschwendung. Sie sagt, sie hat andere Leute auf der Treppe wahrgenommen, aber der Mann, der mir den Schlag -229-
versetzt hat, ist ihr nicht aufgefallen.« »Vielleicht hat das etwas mit der yakuza zu tun«, murmelte Hata. »Hat er wie ein Gangster ausgesehen?« »Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, wie er aussah, aber soweit ich mich erinnere, war er ein ganz normaler Mann mit dunklen Haaren, mittelgroß. Von denen gibt's jede Menge.« Unter ihnen auch Alec Tampole und Mr. Hattori. Ich mußte herausfinden, wie groß Kunio Takahashi war. »Wie alt war er? Konnten Sie sein Gesicht denn nicht erkennen?« »Er trug eine Maske, so ein Ding, das man bei Erkältungen und Allergien aufsetzt. Aber seine Augen... keine Ahnung.« Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: »Irgendwie fällt mir dazu immer wieder die Farbe Schwarz ein.« »Glauben Sie, es handelt sich um einen Afrikaner? Nicky Larsen war mit einem afrikanischen Tänzer befreundet.« »Nein, nein«, sagte ich. »Ich glaube eher, die Stelle, an der die Augen sich hätten befinden sollen, war schwarz. Jetzt hab' ich's: Er trug eine schwarze Sonnenbrille! Genau wie der Mann in dem anime-Coffee-Shop!«
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23 Lieutenant Hata brauchte eine ganze Weile, meine Begeisterung über meine wiedergewonnene Erinnerung zu dämpfen, indem er mir erklärte, daß viele Leute Sonnenbrillen trugen und ich nicht unbedingt demselben Mann zweimal begegnet sein mußte. Außerdem wies er mich darauf hin, daß auch eine stämmige Frau mit kurzem Haar oder einer kurz geschnittenen Perücke mit einem Mann verwechselt werden konnte. »Würden Sie bitte aufs Revier kommen und eine offizielle Aussage machen?« fragte Lieutenant Hata. »Wir haben eine Spezialeinheit für organisiertes Verbrechen, die sich vermutlich sehr für Ihre Geschichte interessieren würde.« »Wieso sind Sie so sicher, daß es etwas mit organisiertem Verbrechen zu tun hat?« fragte ich und mußte dabei an Chiyo denken, die gesagt hatte, sie müsse der yakuza Schutzgeld zahlen, das heiße aber nicht, daß sie dazugehöre. »Das Zeichen auf der Stirn äl ßt auf eine Bande schließen«, sagte Lieutenant Hata. »Für mich ist das keine eindeutige Folgerung. Übrigens: Wenn Sie einen Gangster aufspüren wollten, wohin würden Sie dann gehen?« »Ich würde mir von einem meiner Informanten einen Treffpunkt vorschlagen lassen. Warum?« »Ach, ich bin nur neugierig.« »Shimurasan, falls Sie die Absicht haben sollten, das Hauptquartier irgendeiner der Banden aufzusuchen, möchte ich Ihnen sagen, daß das eine sehr schlechte Idee ist. Sie haben keine Ahnung, auf was Sie sich da einlassen.« »Heißt das, daß es besser wäre, sich auf neutralem Boden zu -231-
treffen?« »Nein! Das beste wäre es, sich überhaupt nicht zu treffen. Wann kommen Sie aufs Revier?« Dazu hatte ich nun wirklich keine Lust. Es war eine Sache, Lieutenant Hata für den Angriff auf mich zu interessieren, aber ganz etwas anderes war es, wenn er alle Informationen durchging, die ich für meinen Artikel gesammelt hatte. Obwohl ich wollte, daß der Mörder gefaßt wurde, mußte ich diesen Artikel in den folgenden Tagen verfassen. Also würde ich Lieutenant Hata so viele Informationen wie möglich überlassen, ohne ihm meine Unterlagen zu geben. Wahrscheinlich war es am vernünftigsten, ich machte für alle Fälle Fotokopien davon. »Ich komme morgen«, sagte ich. »Zuerst habe ich einen geschäftlichen Termin.« Nachdem wir aufgelegt hatten, packte ich meine Notizen zusammen und trottete um die Ecke zum Family Mart, dem kleinen Laden meines Freundes Mr. Waka. Leider war nicht er da, sondern nur ein unfreundlicher junger Mann, vermutlich ein neuer Angestellter, der mir erklärte, der Kopierer sei kaputt, mir aber keine weitere Hilfe anbot. Ich ging wieder auf die Straße hinaus und spielte mit dem Gedanken, meine Kopien im Hattori Copy Shop zu machen, wo ich mich auch noch einmal mit Seiko unterhalten könnte. Aber das Risiko, daß sie beim Kopieren einen Blick in meine Unterlagen warf, war zu groß, und so beschloß ich, im 7-Eleven zu kopieren - doppelt, das eine Set zum Verstecken in dem Geheimfach meiner tansu-Kommode in meiner Wohnung und das andere für die Arbeit an meinem Artikel. Die Originale stellte ich ins Regal, für den Fall, daß die Polizei danach fragte. Als ich schließlich wieder zu meiner Wohnung zurückging, war ich ziemlich zufrieden mit mir. Mittlerweile war es nach zehn Uhr, und Seiko wäre im Laden. Ich wählte die Nummer; Seiko hob bereits beim ersten Klingeln ab. -232-
»Ich würde Ihnen gern noch weitere Fragen stellen«, sagte ich hastig. »Außerdem habe ich das Showa Story-Heft, das Sie bei unserem ersten Treffen in dem Lokal vergessen haben. Wollen Sie's zurück?« »Nein, ich habe genug Hefte«, sagte sie mit leiser Stimme. »Wie geht es Ihnen? Sind Sie vom Krankenhaus gut nach Hause gekommen?« »Ja, danke der Nachfrage. Ich würde mich gern noch einmal mit Ihnen unterhalten. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich etwas über Rika Fuchida wissen wollte, als man mich ins Krankenhaus gebracht hat.« Statt auf das zu reagieren, was ich gesagt hatte, meinte sie: »Hm, das wird schwierig. Ich muß wegen der Comiko dieses Wochenende eine Menge Überstunden mache n.« »Dann gehen Sie also zu der Convention?« »Ja. Sehen wir uns dort?« »Auf jeden Fall. Bis dann.« Ich legte auf. Dann rief ich Takeo im Ferienhaus seiner Eltern an. »Ach, hallo, Rei.« Er war ein bißchen außer Atem. »Ich bin grade dabei, das neue Bad einzubauen. Wie geht's dir?« »Mmm, ganz gut.« Ich wollte ihn nicht durch die Geschichte im Bahnhof beunruhigen, noch nicht, denn irgendwann, wenn er mich sah, würde ich ihm ohnehin alles erklären müssen. »Ich möchte dich wirklich nicht von der Arbeit abhalten, aber ich hätte da eine Bitte: Könnte ich wohl zu dir rauskommen? Ich weiß, du hast zu tun, doch ich verspreche, daß ich dich nicht stören würde.« »Kein Problem. Ich hole dich vom Bahnhof ab - keine Mißverständnisse diesmal, okay?« »Okay. Euer Haus ist die ideale Basis für einen Besuch der manga-Convention. Möglicherweise werde ich den ganzen Tag dort verbringen. Ich habe gehört, daß Seiko Hattori hingeht, -233-
dann könnte ich sie da interviewen.« »Ich dachte, sie will nicht mit dir reden«, sagte Takeo. »Ist sie nicht einfach aus dem Lokal weggerannt, in dem sie mit dir war?« »Wir haben uns danach wieder getroffen, und gerade vorhin haben wir miteinander telefoniert. Sie hat sich als gute Quelle entpuppt. Ich kann nicht nur die Sache mit ihr weiterverfolgen, sondern auch die Geschichte mit den Gangstern.« »Die Geschichte mit den Gangstern?« fragte Takeo nervös. »Ich würde mich gern mit jemandem aus dem Milieu des organisierten Verbrechens über Nickys Tod unterhalten, um herauszufinden, ob das Zeichen auf Nickys Stirn von einer Gang sein könnte. Dazu brauchte ich die Meinung eines Experten.« »Und wo findest du deiner Ansicht nach einen solchen Experten?« »In entspannter Atmosphäre, zum Beispiel am Strand gleich bei eurem Haus. Wenn ich vorsichtig bin, kann mir nichts passieren.« »Hör zu, ich versuche wirklich, dir zu helfen, soweit es geht, aber so etwas kann ich nicht arrangieren! Meine Familie hat nichts mit der yakuza zu tun. Das haben wir in der Vergangenheit auch schon büßen müssen.« Darüber hätte ich gern mehr erfahren, doch das mußte warten. Statt dessen sagte ich: »Ich muß einen von den Typen auftreiben. Und ich glaube, es wäre sinnvoller, mich entspannt bei einem Flirt und einem Bierchen mit einem von ihnen zu unterhalten, als an die Tür eines Büros in einem schäbigen Gebäude zu klopfen.« »Trotzdem ist das gefährlich. Wenn du es schon unbedingt versuchen mußt, kannst du mir dann wenigstens versprechen, das Interview so zu führen, daß ich dich dabei sehen kann? Ich möchte sicher sein, daß alles in Ordnung ist.« -234-
Ich nickte. »Du könntest ja an einem der Nebentische sitzen. Vorausgesetzt natürlich, du starrst uns nicht die ganze Zeit an.« »Na schön, das könnten wir morgen erledigen.« Takeo klang resigniert. »Ich muß im Haus weiterarbeiten. Und wenn du gerade niemanden interviewst, kannst du hier schreiben.« Das klang nicht schlecht. Das einzige Problem war möglicherweise, daß Hayama sich so weit vom Büro der Gaijin Times entfernt befand. Ich machte mir immer noch Gedanken über Rika und die Rolle, die sie bei den Ereignissen gespielt hatte. Nun, vielleicht war es doch gar nicht so übel, nicht immer verfügbar zu sein.
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24 Das richtige Gepäck für meinen kurzen Aufenthalt in Hayama auszusuchen, war gar nicht so einfach. Wahrscheinlich würde ich meine Aufzeichnungen, meinen Laptop sowie all die anderen Dinge brauchen, die mit meinem Artikel zu tun hatten. Eigentlich hatte ich keine Lust, meinen Bikini einzupacken, doch vermutlich mußte ich einen tragen, wenn ich vorhatte, am Strand Gangster anzusprechen. Und noch schlimmer: Bei meiner morgendlichen Dusche stellte ich fest, daß die Haare in der Bikinizone wieder nachwuchsen. Tja, soviel also zu Miss Kumikos teurer Enthaarungstortur. Ich experimentierte mit einer mysteriösen japanischen Enthaarungscreme, die sich schon seit ungefähr einem Jahr in meinem Badezimmerschränkchen befand, und die ich erst kurz bevor ich zur U-Bahn rannte, wegwischte. Die Fahrt ging zur Station Tokio, wo ich in den letzten JR-Zug jener Stunde in Richtung Zushi umstieg. Das alles ging so schnell, daß ich keine Zeit hatte, an meine unangenehmen Bahnhofserlebnisse der jüngsten Vergangenheit zu denken. Während der einstündigen Fahrt merkte ich, daß ich die Enthaarungscreme nicht ordentlich abgewischt hatte. Eigentlich sollte sie nach Zitrone riechen, aber offen gestanden stank sie. Die Leute neben mir bedachten mich mit bösen Blicken, sogar noch, nachdem ich das Fenster geöffnet hatte. Als ich ankam und vor dem Bahnhof Takeo in seinem Range Rover warten sah, hatte ich schon Kopfweh von der blöden Creme. »Was ist denn mit dir passiert?« fragte Takeo aus dem Wagen heraus. »Mir hat gestern jemand im Bahnhof einen Kinnhaken verpaßt. Deswegen wollte ich auch zu dir kommen.« Daß ich außerdem Lieutenant Hata und seinen möglichen Fragen über -236-
meinen Artikel ausweichen wollte, verschwieg ich ihm lieber. Takeo sprang aus dem Wagen und rannte auf die Beifahrerseite, um die Tür zu öffnen. »Vorsichtig! Und bitte erzähl mir alles ganz genau.« Als ich das getan hatte, schüttelte er den Kopf. »Ich bin froh, daß du mich angerufen hast. Aber ich hätte dich auch in Tokio abgeholt, wenn ich von dem Angriff im Bahnhof gewußt hätte. Woher willst du wissen, daß dir niemand hier heraus gefolgt ist?« »Tja, das weiß ich nicht.« Ich seufzte tief. »Doch ich gehe mal davon aus, daß es sich bei dem Angriff um eine einmalige Warnung gehandelt hat.« »Ich glaube, wir sollten die Fenster hochkurbeln. Hier riecht's irgendwie nach Chemie«, sagte Takeo, als er losfuhr. »Sind wahrscheinlich irgendwelche Straßenbauarbeiten in der Gegend.« Wieso machte ich mir Gedanken über meine Bikinizone, wenn ich im Gesicht überall blaue Flecken hatte? Was für einen Sinn hatten solche Schönheitsrituale in einer solchen Zeit überhaupt? Sie helfen mir, ruhiger zu werden, sagte ich mir, schaute zum Fenster hinaus, versuchte, mich zu entspannen und etwas von meiner Umgebung mitzubekommen. Rund um den Bahnhof Zushi gab es schmale Straßen mit kleinen Läden, in denen man Haushaltsund Strandwaren erwerben konnte. Ein paar Schilder begrüßten Besucher der manga-Convention. Junge Leute mit kunstvoll gegelten Frisuren wurden von schürzenbekleideten Frauen, die die Gehsteige fegten, mit neugierigen Blicken und auch einmal einem Lächeln bedacht. »Ich glaube, wir können die Fenster wieder aufmachen. Wir sind vorbei an der Baustelle«, sagte ich nach ein paar Häuserblocks zu Takeo. »Es ist wirklich nett von dir, daß ich zu dir kommen kann. Hoffentlich werde ich in der Lage sein, die -237-
Zeit gut zu nutzen. Im Zug habe ich ein bißchen geschrieben, aber das hat mir nur gezeigt, wieviel Arbeit noch vor mir liegt.« »Nun, je weiter du dich vorwagst, desto gefährlicher wird's für dich. Mein einziger Trost ist, daß jemand, der einen Blick in deine Notizen wirft, sowieso nichts versteht. Deine Handschrift ist einfach unmöglich!« Takeo hatte sich während eines längeren Staus, verursacht durch einen Lastwagen, der auf der schmalen Straße nach rechts abbiegen wollte, mein Notizbuch angesehen. »Sobald wir bei dir zu Hause sind, nehme ich den Laptop«, sagte ich. »Im Moment weiß ich immer noch nicht so genau, ob ich die ganze Sache als Artikel über Kunst oder als Kriminalgeschichte verkaufen soll. Inzwischen hat es so viel Gewalt gegeben, daß es fast schon ein bißchen lächerlich ist, sich über Kunios meisterhafte Darstellung der Dekadenz in der Showa-Zeit auszulassen.« »Könntest du den Kunstteil nicht einfach kürzer halten, zum Beispiel irgendeinen Kunstfuzzi bitten, sich die Comics anzusehen und seine Meinung dazu zu sagen?« »Nun, das ginge wahrscheinlich. Aber eigentlich wollte ich es in meinen eigenen Worten ausdrücken. Weißt du, ich hatte diese Phantasie, Kunio zu entdecken und der Kunstwelt zu präsentieren. Aber jetzt hat sich herausgestellt, daß er eine solche Präsentation überhaupt nicht braucht. Die Schöpferin des Mars Girl-Originals wollte Kunio nämlich anheuern. Doch er hat ihr gar keine Beachtung geschenkt.« »Glaubst du denn wirklich, daß Kunio noch am Leben ist?« fragte mich Takeo mit einem Seitenblick. »Denkst du, daß er ermordet wurde?« »Warum sonst sollte es so schwer sein, ihn zu finden?« Takeo klang ungeduldig, ob das am Verkehr oder an meiner Begriffsstutzigkeit lag, wußte ich nicht. Natürlich war mir auch schon der Gedanke gekommen, daß Kunio tot war. Aber diesen -238-
Gedanken wollte ich nicht zulassen. Von dem Augenblick an, als ich seine wunderbaren Zeichnungen gesehen hatte, war er in meinem Kopf zu einer Phantasiefigur geworden. Und all die Frauen, die von seiner Attraktivität und seinem Charme schwärmten, gossen nur noch weiter Öl ins Feuer. Anfangs hatte ich lediglich vorgehabt, ihn aufspüren, nach Nickys Tod wollte ich ihn retten. Doch jetzt, wo Takeo das Offensichtliche aussprach, wehrte ich mich dagegen. »An dem Nachmittag meines Gesprächs mit Nicky habe ich im Club Show a Boy angerufen«, sagte ich zu Takeo. »Ein Mann hat sich gemeldet. Als er meinen Namen hörte, hat er mich gefragt, ob ich die Reporterin bin, die Kunio sucht. Als ich ja sagte, hat er mir erklärt, daß Kunio seines Wissens kein Interesse daran hat, an dem Artikel mitzuwirken. Ich glaube, der Mann könnte Kunio selbst gewesen sein.« »Wieso nicht einer von den anderen Tänzern?« fragte Takeo. Ich schüttelte den Kopf. »Die Tänzer sind alle Ausländer, aber der Akzent, die Intonation und Wortwahl des Mannes waren eindeutig japanisch.« »Kunio arbeitet nicht in dem Club. Er hat die Wände gestaltet und ist dann wieder verschwunden. Wieso glaubst du, daß eine Verbindung besteht?« Darauf fiel mir auch keine gute Antwort ein. Wir kamen schneller voran, als wir die neueren, breiteren Straßen in Richtung Hayama erreichten. Ich streckte mich genüßlich und vergaß fast den Schmerz von meinem Sturz. In den folgenden ein oder zwei Tagen konnte ich abwechselnd Recherchen über Gangster und Comics erledigen und intensive Gespräche mit Takeo führen. Mit ihm unterhielt ich mich gern über meine Arbeit, weil er schwierige Fragen stellte. Außerdem wußte ich es zu schätzen, daß er mich ermutigte, mit der Story weiterzumachen. Anfangs hatte ich ihm das fast ein bißchen übel genommen, doch inzwischen wußte ich, daß ich diese -239-
Ermutigung brauchte. »Du schreibst ja gar nicht mehr in dein Notizbuch«, sagte Takeo, als er sah, daß ich ihn anlächelte. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie sehr du mir hilfst«, sagte ich. »Es ist kein großes Opfer für mich, ein paar Tage mit dir zu verbringen. Schließlich bin ich arbeitslos.« Steckte hinter Takeos lockerem Geplänkel eine Spur Traurigkeit? Obwohl ich sein Gesicht genau betrachtete, konnte ich das nicht feststellen. Er wirkte so attraktiv und entspannt wie immer, doch seine Worte erinnerten mich daran, daß ich nicht die einzige war, die in den folgenden Tagen ein bißchen Zuspruch brauchen würde.
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25 Als wir in die Kiesauffahrt einbogen, fiel mir sofort das neue Dach auf, das mit wellenförmigen blauen Schindeln gedeckt war. Ich konnte nirgends mehr Lücken oder aus diesen Lücken sprießendes Unkraut entdecken. Als ich Takeo zu seiner Leistung gratulierte, senkte er bescheiden den Kopf. »Wir haben zu dritt daran gearbeitet. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, daß ich so viele von den alten Schindeln wegwerfen mußte. Die neuen sehen hübsch aus, aber ich hasse es, Abfall zu produzieren.« Wenige Minuten später sah ich, daß er die alten Schindeln ordentlich hinter dem Haus gestapelt hatte. »Kann man die wiederverwerten?« fragte ich. »Nicht für ein Dach. Aber vielleicht, wenn man sie zerbricht zur Beschwerung von Dingen. Allerdings sind die Kanten ziemlich scharf. Man könnte sich daran schneiden.« Ich bückte mich, um eine der Scherben genauer zu betrachten. »Wenn du sie noch weiter zerkleinerst, könnte ein Künstler sie in einem Mosaik verarbeiten.« »Das ist eine gute Idee.« Takeo ging um den Stapel herum. »Ich dachte mir, ich gestalte die Mauer zur Straße hin neu. Möglicherweise gelingt es mir, mit den Blautönen ein Muster hinzukriegen, ein Muster aus Blau und Grau.« »Eine sehr japanische Farbkombination«, sagte ich, wickelte eine Scherbe in ein Taschentuch und steckte alles in die Außentasche meines Rucksacks. Ich würde versuchen, einen harmonisierenden Stoff zu finden, und Schonbezüge für die Gartenstühle nähen. In einem Gefäß wuchs Pampasgras, neben der Tür standen Sonnenblumen; alles sah aus, als habe eine Frau bei der -241-
Gestaltung mitgeholfen. Doch Takeos Mutter war tot, und mit seiner Schwester Natsumi verstand ich mich aufgrund der Ereignisse vom vergangenen Frühjahr nicht besonders gut. Die Blumen stammten nicht aus dem Garten. Ich hatte sie schon einmal an einer anderen Stelle gesehen. »Sind das Blumen, die gleich beim Animagine am Straßenrand wachsen?« »Ja. Ich hab' mir ein paar davon geholt.« »Schön, daß du noch Blumenarrangements machst«, sagte ich. »Am liebsten mit Materialien, die ich in der freien Natur finde«, sagte er. »Neulich habe ich erfahren, daß unsere Ikebana-Schule einen Vertrag mit einem Singapurer Pflanzenzüchter abgeschlossen hat, der einen ziemlich üblen Chemie-Cocktail benutzt, um seinen Orchideen einen besonderen Glanz zu verleihen. Ich würde diese Pflanzen nicht mal mit Handschuhen anfassen und finde, daß auch die Arbeiter, die sich darum kümmern, das nicht tun sollten. Aber mein Vater ist der Meinung, daß wir Orchideen brauchen, und läßt sich nicht vom Gegenteil überzeugen. Nach der Auseinandersetzung bin ich raus aufs Land gefahren.« »Hast du deinem Vater von mir erzählt?« fragte ich. »Nein. Ich habe ihm nur gesagt, daß ich am Haus arbeiten würde.« Also hatte er nicht den Mut besessen, mich zu erwähnen, wahrscheinlich deshalb, weil sein Vater bestimmt etwas dagegen gehabt hätte, daß ich im Haus der Familie schlief. Ich erinnerte mich an Takeos Angst vor Klatsch, als sein Schulfreund uns zusammen im Animagine gesehen hatte. Die Kayamas waren große Fische in einem kleinen Teich und mußten auf ihren Ruf achten. »Laß uns reingehen«, sagte Takeo. Im Innern schaltete er sofort die neue Klimaanlage an. Während sie leise zu brummen -242-
anfing - japanische Klimaanlagen sind viel geräuschärmer als ihre großen, wuchtigen amerikanischen Entsprechungen -, sah ich mich um. Takeo hatte seit meinem letzten Besuch den Schimmel, die Spinnweben und die toten Insekten von den rauhen Wänden gekratzt. Die neuen, gelb grünen tatami-Matten auf dem Boden verströmten einen starken Grasgeruch. Das Haus war gründlich geputzt worden und wirkte jetzt viel ansprechender. Hier und da mußte noch gestrichen werden, doch im großen und ganzen war Takeo gut vorangekommen. »Ich spiele mit dem Gedanken, ein paar von den Wänden zu entfernen. Das Haus hat zu viele kleine Räume, die nicht genutzt werden. Ich würde gern den Garten von der Küche aus sehen können.« Takeo ging mit raschen Schritten durch die Zimmer, schob Türen zurück und zeigte mir die Wände, die in sanften Naturfarben - steingrau, moosgrün, fahlblau - gestrichen worden waren. Das Gefühl der Offenheit und Weite verstärkte sich noch durch die frischen Papierschirme an den Fenstern, durch die man das Meer und den Garten betrachten konnte. Auf dem Rundgang fiel mir auf, wie schön Takeo die Wände bemalt, wie geschickt er offenbar alte Fliesen in den Boden des Badezimmers integriert und wie hübsch er die alten Möbel poliert hatte. Ein Teil der Möbel würde neu arrangiert werden müssen, worauf ich mich freute, weil Takeo sagte, ich solle ihm dabei helfen. Ein einziger Raum auf der vorderen Seite des Hauses sollte dauerhaft leer bleiben. Darin befand sich lediglich ein alter vergoldeter buddhistischer Altar mit der verblichenen Farbfotografie einer wunderschönen Frau. Auf dem Teller vor dem Bild stand ein kleiner Kristallkelch mit einer goldfarbenen Flüssigkeit. Ich nahm den Geruch von Pflaumen wahr, konnte aber keine entdecken. »Ist das der Altar für deine Mutter?« fragte ich. »Ja«, sagte Takeo. »Ich habe deine Sachen übrigens in dasselbe Zimmer gestellt wie das letzte Mal. Möchtest du dich ein bißchen ausruhen, während ich das Essen mache?« -243-
»Du machst das Essen?« fragte ich. »Ja. In den Tagen allein hier draußen habe ich ein bißchen experimentiert.« Ich beschloß zu duschen, um die letzten Reste von der Enthaarungscreme loszuwerden, und zog dann, weil ich später noch zum Strand wollte, meinen Badeanzug und darüber ein TShirt an. Anschließend verdeckte ich die blauen Flecken im Gesicht sowie an Armen und Beinen mit Makeup. Schließlich setzte ich mich auf einen Stein im Zen-Garten, um meine Haare zu trocknen, während Takeo das Essen in der Küche zubereitete. Für einen japanischen Mann, der nicht von Berufs wegen kochte, war es ziemlich ungewöhnlich, für eine Frau das Essen zu machen. Da er jedoch darauf bestand, aber auch ein bißchen nervös gewirkt hatte, schaute ich ihm lieber nicht über die Schulter. Und was ich Takeo nicht gesagt hatte: Mir tat alles weh, nicht nur das Steißbein, das ich mir bei dem Sturz vom Vortag geprellt hatte, sondern auch der Kopf. Hoffentlich war das Ibuprofen in meinem Rucksack. Ich ging direkt vom Garten durch die Schiebetüren in das moosgrüne Schlafzimmer von Takeo. Auf den neuen tatami-Matten befanden sich bereits Stapel von Zeitschriften für Inneneinrichtung und Gartengestaltung. Das Doppelbett, auf dem die Laken noch ordentlich gefaltet lagen, ruhte auf einem niedrigen, lackierten Podest. Takeo hatte mittlerweile meine Sachen ausgepackt und mein Deo, meine Haarbürste, die Feuchtigkeitscreme sowie mein Makeup auf einer tansu-Kommode arrangiert. Das Ibuprofen war noch in meinem Rucksack, doch als ich es heraushotte, stellte ich fest, daß das Valium fehlte. Hatte Takeo es entfernt? Normalerweise nahm er abgesehen von einem Glas Bier oder Sake hin und wieder keinerlei Betäubungsmittel zu sich. Hatte er die Tabletten die Toilette hinuntergespült, um mich daran zu hindern, daß ich sie schluckte? -244-
Ich ging mit dem Ibuprofen in die Küche, um ihn zu fragen.
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26 Mit der Renovierung der Küche war Takeo zur Hälfte fertig. Ein paar alte Elemente wie zum Beispiel den abgetretenen Korkboden und die riesige Küchentansu mit den Dutzenden blauweißer Teller wollte er behalten. Dazu kamen ein neuer Gasherd mit Backrohr und bald - das hatte er mir erzählt - eine deutsche Spülmaschine. Es war eine professionelle Küche, und unter normalen Umständen hätte ich mich voller Freude darin umgesehen, doch während ich im Garten gewesen war, hatte sich jemand zu Takeo gesellt. Takeo lehnte an der Arbeitsfläche und führte ein, wie es schien, höchst emotionales Gespräch mit einer jungen Frau. Sie stand mit dem Rücken zu mir - ein schmaler, goldfarbener Rücken, der, abgesehen von den Trägern des Tops, nackt war. Ihr glatter schwarzer Pagenkopf endete in ihrem Nacken. Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, vermutete ich, daß es hübsch war. Plötzlich hätte ich mir gewünscht, nicht geradewegs aus der Dusche gekommen zu sein, mit halbtrockenen Haaren und langem T-Shirt über dem Bikini. »Du mußt sie rauswerfen!« sagte die Frau. »Vater flippt aus, wenn er erfährt, daß sie hier ist.« Nun erkannte ich die Stimme. Sie gehörte Takeos Zwillingsschwester Natsumi. Takeo hatte also keine Freundin vor mir geheimgehalten. Eigentlich hätte ich erleichtert sein sollen, doch ich war es nicht, weil ich mit Natsumi auf Kriegsfuß stand. Die Aussicht, daß ihr Bruder heiraten könnte, bedrohte ihre eigene Stellung innerhalb der Familie. Takeo hatte mich zwar nie gefragt, ob ich ihn heiraten wolle, aber sie hatte mir gegenüber das Thema ein paar Monate zuvor angeschnitten. »Ich bin doch schon enterbt. Was Schlimmeres kann mir nicht passieren«, sagte Takeo verärgert und mit erhobener Stimme, -246-
um das Rauschen des Wassers aus dem Hahn zu übertönen. »Ich will die Schule nicht le iten«, jammerte Natsumi in einem Tonfall, der eher nach einer Acht- als nach einer Achtundzwanzigjährigen klang. »Du könntest deine Stellung so leicht wiedererlangen, wenn du bereit wärst, dich mit ihm auszusöhnen. Du packst es einfach nicht richtig an.« »Wasabi, bitte.« Ich spielte mit dem Gedanken, mich unauffällig zu verdrücken, doch es war bereits zu spät. Natsumi hatte sich in Richtung Kühlschrank umgedreht, um die Zutat zu holen, die ihr Bruder brauchte, und mich dabei entdeckt. »Wie lange stehst du schon da?« fragte sie mich. Ich betrachtete Natsumi, die immer so gepflegt war, daß ich mir in ihrer Gegenwart nachlässig vorkam. An jenem Tag hatte Natsumi ihre Augenbrauen frisch gezupft und trug einen leuchtend scharlachroten Lippenstift, der sie wie einen Filmstar aus den fünfziger Jahren aussehen ließ. Zu dem winzigen Top hatte sie eine gestreifte Radierhose an. Ihre Oberschenkel hatten den Umfang meiner Oberarme. Natsumi war immer schon schlank gewesen, aber nun wirkte sie schon fast anorexisch. »Ich bin erst seit einer Minute hier an der Tür«, sagte ich. »Und ich habe lediglich gehört, daß ich nach Hause fahren soll.« Takeo hätte fast das Bambussieb mit den Nudeln fallen lassen. Er mußte sogar ein paar soba mit der Hand auffangen, damit sie nicht auf dem Boden landeten. »Keine Sorge«, sagte Takeo, nachdem er die Nudeln in eine Schale geschüttet hatte. »Meine Schwester wird uns die gemeinsame Zeit hier nicht verderben. Ich habe mindestens genauso viele Beweise für ihr schlechtes Verhalten wie sie für meines.« Ich bin ohne Geschwister aufgewachsen, und darüber habe ich mich als Kind immer bei meinen Eltern beklagt. Im -247-
Erwachsenenalter jedoch hat sich meine Einstellung geändert. Streitereien zwischen Verwandten schienen meist heftiger und schlimmer zu sein als zwischen nicht verwandten Leuten. Daß ich Bruder und Schwester, die immerhin einmal im Bauch derselben Mutter gewesen waren, zusehen mußte, wie sie aufeinander losgingen, trieb mir den Schweiß ins Gesicht. »Ich bleibe ein paar Tage hier, und heute abend kommt ein Freund. Ich brauche meine Ruhe!« Natsumi setzte sich auf einen Bambushocker und schlug die schlanken Beine übereinander. »Offiziell bist du doch nicht mal in Japan.« Takeo hob die Sauce mit kräftigen Bewegungen unter die Nudeln. »Du wolltest dich mit dem Blumenlieferanten in Singapur treffen.« »Ich kann mit meiner hellen Haut nicht in die grelle Sonne von Singapur. Zuerst muß ich ein paar Tage hier vorbräunen, damit ich mir dort keinen Sonnenbrand hole.« »Soll das heißen, du hast einen Geschäftstermin aus Eitelkeit verschoben?« fragte Takeo. Für mich bedeutete das, daß Natsumi sich wahrscheinlich nachmittags am Strand aufhalten würde, um braun zu werden, während ich versuchte, Kontakt mit den Gangstern aufzunehmen. Na wunderbar. Mit ziemlicher Sicherheit würde sie in unser Gespräch hineinplatzen und alles verderben. Ich öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Evian heraus, weil ich immer noch die Schmerztablette in der Hand hatte, die ich schlucken wollte. »Das ist meine persönliche Wasserflasche!« protestierte Natsumi sofort. »Entschuldigung.« Ich stellte die Flasche zurück und ging zu der neuen Edelstahlspüle, um mir ein Glas Wasser aus dem Hahn zu holen. Besonders lecker war japanisches Leitungswasser nicht gerade, aber es schadete auch nicht. »Warum entschuldigst du dich, Rei?« Takeo klang wütend. »Sie ist unhöflich, nicht du.« -248-
Ich gab mir Mühe, die Sache aus Natsumis Perspektive zu sehen. Was, wenn ich die Tochter des Hauses gewesen und nach Hause gefahren wäre, um ein paar ruhige Tage zu verbringen, und dort eine junge Frau angetroffen hätte, die ich nicht ausstehen konnte? Ein ganz schöner Schlag ins Kontor, ja. »Wenn sie bleibt, dann nur unter bestimmten Bedingungen«, brummelte Natsumi ihren Bruder an. »Ich bin selbst hier. Du kannst mir die Bedingungen persönlich mitteilen«, sagte ich. »Ich möchte in dem pfirsichfarbenen Zimmer gleich beim Bad schlafen. Da es sonst keine fertigen Räume gibt, wirst du vermutlich ins Hotel gehen.« »Kein Problem. Ich übernachte sowieso im Zimmer deines Bruders«, sagte ich mit einem triumphierenden Lächeln. »Das kannst du nicht machen! Nicht im Haus unserer Mutter!« kreischte Natsumi. »In unserem Haus«, berichtigte Takeo sie. »Und wo soll dein Freund heute nacht schlafen?« »Den wollte ich in dem grünen Zimmer unterbringen...« Takeo schüttelte den Kopf. »Das ist doch nicht zu fassen. Du weißt ganz genau, daß das mein Zimmer ist.« »Du verdirbst mir das Wochenende hier.« Ein bißchen tat Natsumi mir leid, und so sagte ich: »Fangen wir einfach noch mal von vorn an, ja? Hallo. Würdest du gern mit uns essen?« Sie schüttelte den Kopf. »Sojasauce bindet zu viel Wasser. Ich habe meine eigene Reformkost mitgebracht, die ich später essen werde. Wenn irgend jemand anruft, bringt mir das Telefon.« Nun packte Natsumi ihre Flasche Mineralwasser und marschierte aus der Küche. »Ich muß mich für sie entschuldigen«, sagte Takeo, als wir uns schließlich setzten, um die kalten Nudeln zu essen. Die -249-
Sojasauce hatte Takeo mit geriebenen Erdnüssen verfeinert; sie schmeckte so gut, daß ich nicht genug davon kriegen konnte. »Ich habe versucht nachzuvollziehen, wie deine Schwester die Sache sieht«, sagte ich. »Mit ziemlicher Sicherheit habe ich ihr die Zeit hier verdorben.« »Manchmal frage ich mich, ob Natsumi heute anders wäre, wenn unsere Mutter länger gelebt hätte. Weißt du, sie hatte einfach keine guten weiblichen Vorbilder.« Beim Tod von Takeos Mutter waren er und Natsumi noch sehr klein gewesen. Sie wuchsen in einem Tokioter Penthouse auf, umgeben von speichelleckerischen Bediensteten, mit einem Vater, der die meiste Zeit abwesend war. Als ich Takeo kennengelernt hatte, war mir schon sehr bald klar geworden, wie sehr der Verlust seiner Mutter ihn schmerzte. Natsumi und ich hatten uns von Anfang an nicht ausstehen können, also wußte ich nicht, wie sie damit zurechtkam, keine Mutter mehr zu haben. Allerdings konnte ich mir vorstellen, daß auch sie bisweilen unter Traurigkeit litt. »Wer weiß«, sagte ich und spießte ein paar Nudeln mit der köstlichen Sauce auf. »Natsumi ist eine sehr feminine Frau, spricht aber auch ganz klar aus, was ihr nicht paßt - ist das in Japan nicht typischer für Männer als für Frauen? Vielleicht hat sie sich dieses Verhalten von deinem Vater abgeguckt. Oder von dir.« Takeo hatte bisher nur in seinem Essen herumgestochert und legte jetzt seine Stäbchen weg. »Hoffentlich nicht von mir. Ich habe ja nichts dagegen, wenn jemand seine Meinung sagt, aber er sollte damit niemanden verletzen.« »Ist das auch der Grund, warum du deinem Vater wegen der Orchideen aus Singapur nic ht widersprochen hast?« fragte ich. »Warst du der Ansicht, daß du ihn damit verletzt?« »Das ist schwer zu erklären«, sagte Takeo. »Ich kenne ihn einfach zu gut. Es hat keinen Sinn, über etwas zu streiten, wenn -250-
er am Ruder ist. Da ist es leichter, die Sache von außen zu beobachten.« Takeo nahm einen Schluck kalten Gerstentee. »Die Renovierung dieses Hauses macht mir großen Spaß. Manchmal träume ich davon, mich den Rest meines Lebens hier zu verkriechen. Aber ich weiß nicht, ob ich dich dafür begeistern könnte.« Ich wurde rot, und das lag nicht an der Wasabi-Paste, die mir in die Nase stieg. War es Takeo ernst mit mir? Doch selbst wenn, mußte ich noch die Sache mit dem Valium klären. »Ich wollte dich etwas fragen. Es geht um etwas, das ich eingepackt habe, aber nicht mehr finden kann. Vielleicht hast du es ja gesehen.« »Was ist es denn?« fragte Takeo ganz sachlich. »Ein Fläschchen mit Valium- Tabletten.« Er sah mich entsetzt an. »Rei, ich hatte ja keine Ahnung, daß du Beruhigungsmittel nimmst. Ist das Leben im Moment so schwierig für dich?« »Nein«, sagte ich. »Der Arzt im St. Luke's hat sie mir zur Muskellockerung verschrieben. Ich habe noch keine genommen. Sie waren in meinem Rucksack, doch jetzt sind sie verschwunden.« Takeo schüttelte den Kopf. »Ich habe deine Sachen ausgepackt, weil ich wollte, daß du dich hier zu Hause fühlst, aber deinen Rucksack habe ich nicht angerührt. Hoffentlich hat meine Schwester sich nicht daran zu schaffen gemacht.« Irgendwie war ich erleichtert. »Wenn sie sich mir gegenüber plötzlich ganz entspannt und freundlich verhält, wissen wir, daß sie's war. So schlecht wäre das doch gar nicht.« »Der Gedanke daran, daß sie Beruhigungsmittel nehmen könnte, erschreckt mich«, sagte Takeo. »Ich kann nicht einfach hier herumsitzen und abwarten. Was hältst du davon, zum Strand zu gehen und den Gangster aufzuspüren? Ich finde, das -251-
klingt weniger gefährlich, als hier zu bleiben.« »Gut. Laß uns gehen«, sagte ich. Meine Stimme klang fröhlicher, als mir eigentlich zumute war.
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27 Ich nahm die Sonne nbrille ab und legte sie auf den runden Tisch vor mir, um unauffällig mein Aussehen in den spiegelnden Gläsern zu überprüfen. Mein MAC-Lippenstift schimmerte matt, mein blauer Fleck war mit Makeup verdeckt, und die Haare hatte ich mit Takeos Super Hard Gel nach hinten gekämmt. Dazu trug ich meinen bewährten Sportbikini, weil ich gehört hatte, daß Gangster ausländische Marken mochten. Das Speedo-Zeichen befand sich sowohl auf dem Ober- als auch auf dem Unterteil und war kaum zu übersehen. Allerdings war dieses Markenzeichen so ziemlich das einzige, was für mich sprach, denn ich hatte auch keinen größeren Brustumfang als die Mehrzahl der Japanerinnen, und meine Taille sowie meine Hüften waren sogar noch ein bißchen breiter als die ihren. Takeo, der eine modische schwarze Badehose und dazu ein ziemlich abgerissenes Greenpeace- T-Shirt trug, saß ungefähr zehn Meter von der Theke entfernt und nippte hin und wieder an einem Bananen-Milchshake, während er an seiner schriftlichen Übersetzung des Showa Story-Comic arbeitete. Neben ihm lag das Fernglas, mit dem er sonst Vögel beobachtete, damit er in regelmäßigen Abständen nachsehen konnte, ob seine Schwester sich am Strand aufhielt. Um locker und ein bißchen verrucht zu wirken, hatte ich mir etwas bestellt, das wie ein Tequila Sunrise aussah, aber alkoholfrei war. Der Drink schmeckte wie der Erdbeerlippenstift, den ich als Teenager verwendet hatte. Ich fühlte mich ohnehin an damals erinnert in meiner Verlegenheit, meinem Versuch, mich hinter Markennamen zu verstecken und mich mutiger zu geben, als ich eigentlich war. Wie war ich nur auf die Idee gekommen, einfach einen der beiden dauergewellten Männer am Nachbartisch anzusprechen, die sich -253-
angeregt miteinander unterhielten und Mild Sevens rauchten? Sie hatten zwar den Blick gehoben, als ich Platz nahm, mir dann aber keine Beachtung mehr geschenkt. Das hatte mich davon überzeugt, daß sie die Richtigen waren. Ich hatte sogar zu Takeo hinübergeschaut, der die Augenbrauen hob, was ich als Bestätigung meiner Vermutung interpretierte. Fang ein ganz normales Gespräch an, sagte ich mir. Die Unterhaltung neulich mit Rikas Freunden hat sich doch auch völlig natürlich entsponnen. Doch da hatte Rika uns vorgestellt. In Japan war die Vorstellung ein Muß. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Takeo mir mit einer Geste bedeutete, ich solle meine Sonnenbrille aufsetzen. Im Haus hatten wir ausgemacht, daß ich versuchen würde, wie die kleine Schwester eines Gangsters zu wirken. So leicht war das nicht, weil ich nie Geschwister gehabt hatte. Ich setzte die Sonnenbrille auf und suchte in meinem Rucksack nach etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregen würde. Ich hatte den Mars Girl-Comic dabei, den ich bei Dayo Publishing bekommen hatte. Ihn legte ich nun vor mich auf den Tisch und tat so, als lese ich. Dabei kicherte ich laut, um sie dazu zu bringen, daß sie herüberschauten, doch sie taten es nicht. So ging das fast zehn Minuten lang. Wenn es so weiterlief, würden sie die Bar verlassen, bevor ich den Mut aufbrachte, sie anzusprechen. Allmählich stieg mir auch der Rauch ihrer Zigaretten in die Nase. Am liebsten wäre ich gegangen. Ich erhob mich und holte mir an der Theke noch einen Fruchtsaft-Cocktail. »Ich schaffe das nicht«, flüsterte ich Takeo zu, ohne ihn anzusehen. »Schade«, flüsterte er zurück. »Ich hab' den Barkeeper nach den beiden gefragt, und er hat gesagt, ich soll mich von ihnen fernhalten. Ich glaube, das heißt, daß sie genau das sind, was du vermutest.« -254-
Ich nickte unglücklich und ging mit dem Drink zurück zu meinem Tisch. Dabei dachte ich über die unterschiedlichen Möglichkeiten nach: Natürlich konnte ich einfach meinen Drink verschütten, aber da die beiden Nike- Trainingsanzüge trugen, machte ich sie damit vielleicht wütend. Ich konnte sie auch um eine Zigarette bitten, doch es würde schrecklich peinlich werden, wenn ich mir dann die Lunge aus dem Leib hustete. Ich kannte nur die höflichen Formeln, die jeder Japanisch-Lernende und jedes nette Mädchen beherrschten. Hmmm, dachte ich. Vielleicht klappte das ja. Ich setzte mich und schlug die Beine übereinander, so daß nicht zu sehen war, wie kräftig meine Oberschenkel vom Joggen geworden waren. Dann schaute ich den Mann, der mir am nächsten saß, direkt an und rief aus: »Mein Gott, das ist ja eine Ewigkeit her!« Als die beiden Männer mich verständnislos musterten, sagte ich: »Sie sind doch Freunde von Tanakasan. Ich bin's, Reiko!« Im letzten Augenblick hatte ich noch eine Nachsilbe an meinen Namen gehängt, um mich nicht völlig auszuliefern. »Tanakasan kennt Sie?« brummte einer der Männer. »Klar. Wir sind gute Freunde.« Ich strahlte ihn an. Jeder Japaner kannte einen Tanakasan, denn Tanaka war einer der häufigsten Familiennamen überhaupt. Die beiden Männer wechselten einen Blick. Jetzt waren sie in der Zwickmühle: Sie mußten mich als Freundin von Tanakasan begrüßen, denn wenn dieser hörte, daß sie unfreundlich zu mir gewesen waren, würde er sie vielleicht rügen. Der Mann, der mir am nächsten saß und gerade einen Schluck Bier trank, hatte eine Drachen-Tätowierung auf dem Bizeps. Im Mund des anderen blitzte ein Goldzahn. »Ahm, schön. Sie wiederzusehen«, sagte der Mann mit der Tätowierung. »Was ist denn das für ein rosafarbenes Zeug, das Sie da trinken? Hätten Sie nicht lieber ein Bier?« -255-
Wunderbar, er wollte mich auf einen Drink einladen. Ich hatte es fast geschafft. Als die Männer dem Barkeeper ein Zeichen gaben, noch ein Glas zu bringen, sah ich, daß Takeo die Hand über sein eigenes Glas hielt. Er hatte Angst, daß sie mir etwas in das Getränk schütten könnten. Mit der angemessenen Vorsicht, aber immer noch ein bißchen verrucht, sagte ich: »Mir sind harte Sachen lieber. Könnte ich Sie auf einen Tequila Sunrise einladen?« Sie wechselten einen Blick. Hatte ich etwas möglicherweise Mißverständliches gesagt? »Sie sind nicht aus Japan, stimmt's?« fragte der Mann mit dem Goldzahn fast schon freundlich. »Natürlich bin ich aus Japan, aber ich habe ein paar Jahre in den Staaten gelebt - hat Tanakasan Ihnen das denn nicht erzählt?« »Nein«, sagte der Mann mit der Tätowierung und wechselte einen weiteren vielsagenden Blick mit seinem Freund. »Hier ist es gar nicht so leicht für mich«, sagte ich. »Ich bekomme keine normale Arbeit.« Genau wie ihr, fügte ich in Gedanken hinzu. »Und was machen Sie?« Goldzahn musterte meinen Körper lächelnd. Ich verstand, was er andeutete, daß ich als Bardame arbeitete oder noch Schlimmeres. »Ach, dies und das«, sagte ich. »Außerdem möchte ich mehr über Japan erfahren. Lesen Sie manga?« Ich hielt mein ComicHeft hoch. »Als Kind habe ich sie gelesen, aber jetzt haben wir tagsüber keine Zeit mehr für so etwas. Unser Job ist ziemlich hart. Wenn wir frei haben, entspannen wir uns lieber am Strand und bewundern die Wellen und die hübschen Frauen.« Goldzahn grinste. »Ich habe gehört, daß auch in den simpelsten Comics noch -256-
eine ganze Menge Symbole stecken.« Mein Puls beschleunigte sich, als ich das Heft auf einer Seite mit einer Abbildung des Mars-Symbols, das sich auf Nickys Stirn befunden hatte, aufschlug. »Zum Beispiel hier, der Planet Mars. Ein Fernsehreporter hat gesagt, er ist das Zeichen eines Cla ns.« »Sie kommen wohl vom Mars! Ich geh' mal aufs Klo.« Der Mann mit der Tätowierung erhob sich und verschwand. Goldzahn strahlte mich an. »Na, Schätzchen, wo waren wir stehengeblieben?« »Wie peinlich. Habe ich etwas Falsches gesagt?« Plötzlich wurde mir bewußt, auf welch gefährlichem Terrain ich mich bewegte. »Wir sind's bloß nicht gewöhnt, daß uns Mädchen ansprechen. Du würdest doch viel besser zu dem Typ da drüben passen. Der liest auch einen Comic.« Ich sah über die Schulter und tat überrascht, als ich Takeo erblickte. »Nun, der weiß bestimmt nicht Bescheid über die, äh, geschäftliche Seite der Dinge.« »Nein, ha ha ha!« Goldzahn legte die Hand auf meinen Oberschenkel. Es waren noch alle Finger dran, und er trug einen Diamantring. »Da könnte ich dir ein paar Geschichten erzählen.« Ob Takeo von seinem Platz aus mitbekam, was passierte? Nein, denn die karierte Tischdecke, unter der sich alles abspielte, hing ziemlich weit herunter. Am liebsten hätte ich die Hand des Mannes weggeschlagen, doch dann wäre das Gespräch zu Ende gewesen. Also ließ ich seine Hand, wo sie war. Ich sah den Mann mit gerunzelter Stirn an. »Nun, was meinen Sie? Inoffiziell natürlich.« »Natürlich. Was zwischen uns abläuft, bleibt unter uns. Gehen wir, neh? Ich zahle die Rechnung.« Dank meiner euphemistischen Ausdrucksweise kam ich noch -257-
schneller als befürchtet vom Regen in die Traufe. Aber jetzt konnte ich nicht einfach einen Rückzieher machen. Ich mußte weiter um den heißen Brei herumreden, um aus der Situation herauszukommen. »Ojisan«, sagte ich, bewußt die Bezeichnung »Großvater« wählend, obwohl er wahrscheinlich auch nur zwanzig Jahre älter war als ich, »bitte. Ich wollte Ihnen lediglich eine geschäftliche Frage stellen, eine Frage, auf die Sie vielleicht nicht einmal eine Antwort haben.« »Du willst also übers Geschäft reden.« Sein Lächeln verschwand. »Ach, deshalb hat Tanakasan dich geschickt. Du versuchst, bei uns reinzukommen, stimmt's? Ich weiß, daß die Mädchen heute alles probieren.« »Nein, nein, ich möchte nur wissen, ob dieses Symbol hier in Ihrer Branche bekannt ist.« Er lachte. »Nein. Wir haben ein Symbol, das viel besser zu unserem Job paßt als ein Planet, oder soll das ein Pfannkuchen sein?« »Nun... nun, ich fürchte, ich kenne Ihr Symbol nicht.« »Aber es ist doch Tanakas Geschä ft. Er ist unser Vorgesetzter.« Allmählich wurde Goldzahn argwöhnisch. »Warum zeichnen Sie's mir nicht auf?« Ich holte einen Stift aus meinem engen Bikini-Oberteil. Goldzahn folgte der Bewegung meiner Hand mit lüsternem Blick, nahm den Stift sofort und zeichnete auf die Serviette eine Katze, die ihr Junges zwischen den Zähnen trug. »Das sieht aus... wie das Logo von einem bekannten Lieferservice.« »Genau! Wir liefern Pakete, sechs Tage die Woche. Und heute haben wir frei.« Ich starrte ihn an. »Heißt das, daß das Ihre Branche ist?« »Ein harter Job, was?« Er lachte. -258-
»Dann arbeiten Sie ja für ein ganz normales Unternehmen.« »Natürlich! Und wir verdienen ordentlich dabei. Mein Freund und ich haben ein Haus hier unten am Strand gemietet. Das würde ich dir gern ze igen.« »Nein, danke. Ich hab' zu viel zu tun«, sagte ich und tätschelte seine Hand kurz, bevor ich sie von meinem Oberschenkel nahm. Sie hinterließ einen leichten Schweißfilm, den ich am liebsten sofort abgewaschen hätte. »Wieso denn plötzlich so kühl?« fragte Goldzahn. »Ahm, würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie verwechselt habe?« »Aber natürlich. Reikosan, ich bin den ganzen Tag hier am Strand, wenn du dir doch noch überlegen solltest, eine kleine Rast mit mir einzulegen. Du bist ein bißchen wirr. Und du weißt nicht, was gut ist für dich.« »Egal, ich möchte noch kurz ins Wasser, bevor ich gehe. Sayonara!« Ich kehrte an meinen Tisch zurück und legte einen Tausend-Yen-Schein unter mein leeres Glas. Dann rannte ich so locker wie möglich über den heißen Sand in Richtung Wasser. Was für ein Trottel ich doch gewesen war, Leute vom Zustellservice für Gangster zu halten! Das Wasser der Hayama-Bucht war viel wärmer als das des Pazifiks, das ich aus meiner Jugend kannte, und viel ruhiger. Hier gab es weder Rettungsschwimmer noch Bojen, die den Bereich, in dem keine Gefahr drohte, markierten. Dazu bestand kein Anlaß. Sagten die Ausländer nicht scherzhaft »HayamaSee« dazu? Ich gab mich ganz dem Genuß hin, als das Wasser mir bis zu den Oberschenkeln reichte und ich Goldzahns Schweiß abwaschen konnte, legte mich auf die Seite, schwamm ins tiefere Wasser hinaus und drehte mich dann auf den Rücken. Wenn von Zeit zu Zeit eine Welle kam, ritt ich darauf. Das reichte mir in puncto Surfen. -259-
Würde Takeo sich ir gendwann zu mir gesellen? Er trug eine Badehose. Vielleicht war er noch nicht bei mir, weil er nicht wollte, daß Goldzahn und sein Kollege merkten, daß wir zusammengehörten. Schließlich hatte er Goldzahns Aussage, er arbeite für einen Zustelldienst, nicht mitbekommen. Ha. Takeo hatte behauptet, an dem Strand wimmle es nur so von Gangstern; wahrscheinlich waren sie alle bloß Leute vom Lieferservice und Verkäufer, die einfach gut aussehen wollten. Wie dumm von mir, daß ich die beiden Männer angesprochen hatte! Nur gut, daß Takeos Schwester nicht Zeugin dieser peinlichen Szene geworden war. Ich machte eine Fußbewegung - mein Knöchel schien sich in Algen verfangen zu haben. Als das nichts half, begann ich, Wasser zu treten, und versuchte, mich so zu befreien. Do ch auch diese lockere Bewegung bewirkte nichts. Der Druck auf meinen Knöchel verstärkte sich. Ich wurde unter Wasser gezogen.
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28 Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, brachte aber keinen Ton heraus und schluckte statt dessen Wasser. Eine tolle Schwimmerin war ich noch nie gewesen, doch ich hatte gedacht, daß ich zumindest in der Lage sei, Wasser zu treten. Irgendwie war dabei etwas schief gegangen; durch meine panischen Bewegungen hatte ich einen Krampf im Fuß bekommen. So also war das mit dem Ertrinken. Ich öffnete die Augen in dem trüben Wasser und konnte nichts erkennen. Nun berührte mein Kopf den Meeresboden; tiefer als einsachtzig konnte das Wasser hier nicht sein. Hätte ich mir nicht wenigstens einen interessanteren Ort zum Ertrinken aussuchen könne n? Inzwischen glaubte ich nicht mehr, mich in Algen verfangen zu haben - das, was mich festhielt, hatte einen Haken, fast wie der Griff eines Regenschirms. Plötzlich kamen mir James-BondFilme in den Sinn, in denen die Verbrecher Haken an den Armen hatten statt Hände. O Gott, dachte ich. Vielleicht war das wieder der Mann mit der Sonnenbrille. Ein menschlicher Arm berührte meinen Körper. Bitte mach, daß das ein anderer Schwimmer ist, der mir helfen will, und nicht der Mann mit der Sonnenbrille, der vorhat, mich auf den Meeresboden hinunterzudrücken. Da zogen mich unvermittelt zwei starke Arme hoch;mein Gesicht war aus dem Wasser, meine Füße standen auf dem Boden. Die Stelle, an der wir uns befanden, war nicht tief: keine einsachtzig, wie ich zuvor vermutet hatte, sondern höchstens einsdreißig. Ich hustete. Es war mir egal, daß meine Nase in Gegenwart eines Fremden lief; wie schön, am Leben zu sein! Ich wischte mir die Augen ab, und mein Blick fiel auf einen Mann mittleren Alters, den ich nie zuvor gesehen hatte. Jedenfalls glaubte ich das. Ich versuchte, mich an den Mann mit -261-
der Sonnenbrille zu erinnern. Wahrscheinlich war er jünger gewesen als dieser hier, aber ganz sicher konnte ich mir da nicht sein. Ich hustete noch einmal heftig und bewegte dabei den Kopf zur Seite, so daß ich mich nach anderen Schwimmern umsehen konnte, die meine Hilfeschreie hören würden. Ungefähr drei Meter von uns entfernt schossen Teenager mit Wasserpistolen aufeinander. Sie waren so in ihr Spiel vertieft, daß sie meine Nöte gar nicht bemerkt hatten. Mittlerweile wußte ich, daß nicht Algen mich hinuntergezogen hatten, sondern das gebogene Stück eines Schnorchels. Der Mann steckte den unteren Teil des Dings jetzt seelenruhig in den Mund. »Alles in Ordnung?« fragte er im Plauderton. Das hörte sich an, als hätte er eine Zigarre im Mund. »Ja, danke«, antwortete ich ganz automatisch. Er hatte ein flaches, unattraktives Gesicht, schmale Augen, eine Pockennarbe an der Stirn und nur noch wenige Haare auf dem Kopf. Das war nicht Kunio Takahashi, so viel stand fest. Er hob die Hand über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und sah mich mit kühlem Blick an. »Sie haben am Strand die Falschen gefragt«, sagte er. »Ich kann Ihnen sagen, was Sie wissen wollen.« Dann gehörte er also tatsächlich zur yakuza. Obwohl noch alle Finger an seiner Hand waren. Das bedeutete nur, daß er bisher keine Fehler gemacht hatte. Immer noch Wasser spuckend, sagte ich: »Das glaube ich nicht. Sie wollen mir doch weh tun, nicht mir helfen.« »Ich habe lediglich versucht, Ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. An der Bar bin ich Ihnen nicht aufgefallen.« Der Mann sprach höflich, mit einem leichten Akzent aus der KansaiRegion. Er klang ganz anders als die Arbeiter, die ich für Gangster gehalten hatte. »Sie hätten mich fast umgebracht«, sagte ich. -262-
»Nein«, widersprach er mir. »Meine Auftraggeber haben kein Interesse daran, Ihnen irgend etwas zu tun.« »Und wer hat mir im Bahnhof den Schlag versetzt?« »Wir nicht. Ich sage noch einmal, daß ich hier bin, um Ihnen zu helfen.« Ich hustete ein letztes Mal und meinte dann: »Ich habe den Eindruck, daß Ihre Hilfe mich von der Wahrheit ablenken soll.« »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß meine Organisation nichts mit dem Tod von Nicky Larsen zu tun hatte«, fuhr der Gangster ungerührt fort. »Wenn so ein Auftrag erteilt worden wäre, hätte man ihn ordentlich ausgeführt. Die Leiche wäre nicht am Ufer des Sumida River angeschwemmt worden, wo ein Fischer sie finden konnte.« Kaum zu fassen, daß ich mitten in der Bucht von Hayama ein solches Gespräch mit einem fast kahlen Mann führte! Nun sah ich aus den Augenwinkeln eine Welle herannahen - nicht riesig, aber groß genug, um mich von diesem seltsamen Typen wegzubringen. Als sie uns erreichte, ließ ich mich hineinfallen und ungefähr sechs Meter weit in Richtung Ufer tragen. Kaum spürte ich den Boden wieder unter den Füßen, tauchte auch schon der Mann neben mir auf. Es gab kein Entrinnen. »Sie haben gerade gesagt«, erklärte ich mit völlig ruhiger Stimme, als hätte ich nicht gerade zu entkommen versucht, »daß Leichen wirklich verschwinden, wenn Ihre Organisation am Werk ist. Ist das auch mit Nickys Freund Kunio Takahashi passiert?« »Takahashisan ist ein begnadeter Künstler«, sagte der Gangster. »Mein Boß ist der Meinung, daß er einmal zu den ganz Großen des Landes gehören könnte. Wir würden ihn nicht verlieren wollen.« »Was soll das heißen? Sie würden ihn nicht verlieren wollen? Gehört er zu Ihnen?« fragte ich. -263-
»Nein. Ich habe nur meine Hochachtung vor seiner Arbeit zum Ausdruck gebracht. Er hat noch viele Jahre großen künstlerischen Schaffens vor sich. Aber er ist arm und hat keinerlei Verbindungen. Wir würden ihn gern schützen, wenn wir in der Lage wären, ihn zu finden.« Aha, deshalb hatte er also Kontakt zu mir aufgenommen. Ich sah ihn an und sagte: »Ich weiß nicht, wo er steckt.« »Das ist mir klar«, sagte der Gangster mit müder Stimme. »Ich war an dem Abend, an dem Sie sich mit den CollegeStudenten über Ihre Suche nach Kunio Takahashi unterhalten haben, im Bojo. Es war deutlich zu spüren, daß Sie ihnen etwas verschweigen, und so habe ich mir das kleine Buch ausgeliehen, das Sie immer bei sich tragen, um Ihre Informationen zu überprüfen. Aber es stehen nur die Adressen von Verwandten und Freunden drin.« Ich verstand die Botschaft: Wir wissen, wen wir bedrohen müssen, wenn Sie nicht kooperieren. »Könnte ich das Adreßbuch zurückhaben?« fragte ich. »Natürlich. Aber wenn es Ihnen recht ist, erst später, denn ich habe es nicht ins Wasser mitgenommen.« »Ich möchte Sie etwas fragen: Haben Sie mich im animeCoffee-Shop beobachtet?« »Nein. Was ist passiert? Vielleicht kann ich Ihnen helfen, wenn Sie bedroht werden.« »Sie sind mir schon ein verrückter yakuza.« Das Wort war mir herausgerutscht, doch er lächelte nur darüber. Allmählich ging er mir auf die Nerven. Im einen Moment drohte er mir, im andern gab er sich fast väterlich. Wahrscheinlich bezeichnete man solche Verbrechergruppen deshalb manchmal als »Familien«. »Ich bin fünfundvierzig und ein ganz normaler Japaner.« Der Mann hob die Hände in einer gekünstelt unschuldigen Geste. »Ich trainiere das Baseball- Team meines Sohnes, spende Geld für ein Altersheim und säubere einmal im Monat den Friedhof -264-
im Viertel. Zur Arbeit fahre ich im Cadillac, aber zu Hause habe ich nur einen Subaru Justy. Wir führen nicht alle ein Leben wie die Typen im Film.« »Ihr Lebensstil interessiert mich nicht«, sagte ich. »Ich würde lieber erfahren, ob es eine andere Verbrecherbande gibt, die für Nicky Larsens Tod verantwortlich sein könnte.« »Nein«, sagte er. »Wir haben Erkundigungen eingezogen. Das war nicht das Werk von Profis. Das Mal auf Larsens Stirn war das Symbol von Mars Girl, nichts weiter.« Aus den Augenwinkeln sah ich einen hochgewachsenen, schlanken Mann zu uns herauswaten. Ich glaubte die zotteligen Haare zu erkennen, die ihm jetzt naß am Gesicht klebten. »Ihr Freund schwimmt zu uns raus. Hoffentlich wird er nicht schnell nervös«, sagte der Gangster zu mir. »Nein, eigentlich nicht«, antwortete ich. Dabei spürte ich, wie mein Puls zu rasen begann. »Überlegen Sie sich genau, was Sie ihm über unser Gespräch erzählen. Ich möchte nicht, daß er glaubt, jemand, der Ihnen geholfen hat, wollte Sie verletzen.« »Nicht über das, was ich Takeo sagen werde, sollten Sie sich Gedanken machen, sondern darüber, was ich für die Leser der Gaijin Times schreibe.« Ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Wir erwarten sogar, in dem Artikel erwähnt zu werden. Dies ist ein weiterer Grund, warum ich hier bin. Sie wollten Informationen. Und wir würden Sie bitten, den Leuten mitzuteilen, daß wir für diesen jämmerlichen kleinen Mord nicht verantwortlich sind. Ihre Zeitschrift ist klein, aber wenn Sie meine Worte veröffentlichen, berichten auch alle anderen japanischen Zeitungen darüber.« »Wie soll ich Sie zitieren, wenn ich gar nicht weiß, wer Sie sind?« »Man nennt mich den Fisch. Ich habe nicht genug Zeit, um -265-
Ihnen mehr zu erzählen, und außerdem haben Sie mir ja gesagt, daß Sie sich nicht für meinen Lebensstil interessieren. Sie können Ihren Lieutenant von der Polizei über den Fisch befragen, wenn Sie wollen. Er wird mich kennen.« Dann verneigte er sich leicht, zog die Schnorchelmaske über die Augen und schwamm weg. Ich spürte etwas Stechendes an meinem Oberschenkel, vielleicht hatte eine Qualle mich berührt. Ohne weiter darauf zu achten, sah ich dem Fisch nach, der sich ganz ruhig durchs Wasser bewegte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, ein Hai inmitten ahnungsloser Badender. Nun näherte Takeo sich mir mit lautem Planschen. »Alles in Ordnung?« prustete er. »Ich hab' durchs Fernglas gesehen, daß du Schwierigkeiten hast, aber zum Glück war ja jemand da, um dir zu helfen. Wer war denn der gute Samariter?« »Seinen Namen hat er mir eigentlich gar nicht gesagt.« Wie sonst sollte ich es ausdrücken? »Es hat mich sowieso überrascht, daß du dich ins tiefere Wasser vorgewagt hast. Du hast mir doch letztes Mal erzählt, daß du nicht besonders gut schwimmen kannst.« Ich sah Takeo an. Er hatte also nicht gemerkt, daß mein Retter mich zuvor unter Wasser gezogen hatte. Die Erinnerung an die kalten Augen des Fisches führte mich zu dem Entschluß, Takeo nichts davon zu sagen, jedenfalls noch nicht. Mit einem matten Lächeln meinte ich: »Das Wasser war nur ungefähr eineinhalb Meter tief. Das eigentliche Problem lag darin, daß ich einen Krampf bekommen habe. Und der hat mich in Panik versetzt.« »Verstehe. Komm, laß uns ganz langsam zum Ufer gehen. Wieso bist du denn so ins Wasser gerannt? Ich dachte, du wolltest mir nach dem Interview sagen, wie's weitergeht.« »Mir war plötzlich ziemlich heiß. Und außerdem sollten die Typen von der Bar nicht sehen, daß ich schnurstracks zu dir gehe. Sie haben sowieso schon vermutet, daß wir -266-
zusammengehören«, sagte ich. »O je, jetzt verstehe ich. Ich wäre sofort zu dir hinausgekommen, aber da ist meine Schwester aufgetaucht. Als ich gesehen habe, daß du in Gefahr bist, habe ich ihr erzählt, daß ich mich abkühlen muß.« Als wir den Strand erreichten, hob Takeo sein Fernglas auf, das er ordentlich in ein Handtuch eingewickelt am Strand abgelegt hatte. Er hob es an die Augen und suchte damit den Strand ab. »Die Typen, mit denen du dich vorhin unterhalten hast, sind immer noch an der Bar. Wir sollten zum Haus zurückgehen, aber laß uns ein bißchen Abstand halten, damit sie nicht wissen, daß wir zusammen sind. Und wenn wir zu Hause sind, würde ich gern hören, was du erfahren hast.« »Gut«, sagte ich. Mir war es ganz recht, allein nach Hause zurückzukehren, weil ich dann unterwegs überlegen konnte, wieviel ich ihm erzählen würde. Eigentlich wollte ich ehrlich sein, doch es hatte keinen Sinn, ihm mehr zu verraten, als er wissen mußte. Nach dem Gespräch mit dem Fisch war ich mir ziemlich sicher, daß die yakuza tatsächlich nicht für den Tod von Nicky verantwortlich waren. Aber das erklärte das Interesse des Fisches an Kunio Takahashi nicht. Irgendeine Verbindung mußte es geben.
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29 Eine Stunde später hatte ich das Salzwasser abgewaschen und eins meiner Lieblingssonnenkleider angezogen, ein langes Teil, das bis auf die Seitenschlitze ziemlich dezent war. Ich nippte an einem Glas kaltem Gerstentee. Eigentlich wäre alles wunderbar gewesen, wenn ich gewußt hätte, wieviel ich Takeo von dem, was vorgefallen war, erzählen sollte. Mein erster Impuls wäre es natürlich gewesen, ihm alles zu sagen: daß die beiden Männer, mit denen ich mich in der Bar unterhalten hatte, bei einem Zustelldienst arbeiteten, daß mein Gespräch mit ihnen jedoch von einem richtigen Gangster belauscht worden war, der mich unter Wasser gezogen und mich hinterher gerettet hatte, um mir dann mitzuteilen, daß das organisierte Verbrechen Tokios nichts mit Nicky Larsens Tod zu tun hatte. Dann kam mir die Idee, Takeo glauben zu machen, daß die beiden Männer in der Bar mir das alles erzählt hatten. Ich konnte ja die Wahrheit sagen, ohne etwas vom Fisch zu erwähnen, genau wie er es mir aufgetragen hatte. Ich hatte die merkwürdige Begegnung mit ihm überlebt und würde ihn vermutlich nie wiedersehen. Wahrscheinlich wäre ich auch gar nicht in der Lage, ihn mit trockenen Haaren und Anzug wiederzuerkennen. Für mich war der Fisch ein Hai, der mich eine Weile umkreist hatte und dann für immer verschwunden war. Nun erholte ich mich von den Aufregungen des Tages in dem wunderschönen Moos- und Steingarten der Kayamas. Das Haus lag so hoch, daß man das Wasser sehen konnte, und die Seiten des Gartens, die an die Grundstücke anderer Leute angrenzten, wurden von alten, in Form geschnittenen Büschen gesäumt. Die Tatsache, daß man hier sitzen konnte, ohne etwas von anderen -268-
Menschen zu sehen oder zu hören, erschien mir wie der höchste Luxus. Meine Gedanken wurden jäh von Natsumi Kayamas Stimme unterbrochen, die ich hinter dem Fenster entdeckte. Sie wirkte zaundürr in ihrem einteiligen grünen Anzug, wie sie vor ihrem Bruder stand und etwas von ihm verlangte. Geld. Sie wollte sich fünfzehntausend Yen von ihm borgen, weil sie vorhatte, ihren Gast in ein koreanisches Grill-Restaurant einzuladen, das keine Kreditkarten akzeptierte. »Vergiß nicht, daß du mir schon vierzigtausend schuldest«, sagte Takeo. »Vom vorletzten Wochenende. Da hast du mir erzählt, du gehst in ein russisches Restaurant, das keine Kreditkarten akzeptiert.« »Ich geb' dir's zurück, sobald ich an einem Geldautomaten vorbeikomme und... ich bringe fürs Frühstück morgen ein paar von den Croissants mit, die du so gern ißt.« »Aus einem koreanischen Grill- Restaurant?« »Nein. Ich mach' einen Umweg zu deinem albernen Lieblingscafe.« »Danke. Komm nicht so spät zurück, ja?« »Sag mir nicht, was ich tun oder lassen soll. Ich bin zwei Minuten älter als du«, sagte Natsumi fröhlich lachend und ging. Als Takeo mit einem Glas Tee in der Hand zu mir heraustrat, lächelte er. »So, jetzt haben wir einen hübschen langen Abend ganz für uns«, murmelte er. »Aber du hast ihr doch gerade gesagt, daß sie nicht so lang wegbleiben soll.« »Das habe ich gesagt, damit sie wütend wird und noch später nach Hause kommt als sonst. So funktioniert meine Schwester eben.« »Aha. Reversion würde mein Vater das nennen.« -269-
Takeo zog einen Teak-Stuhl an den Stein heran, auf dem ich saß, setzte sich rittlings darauf und beugte sich zu mir vor. »Bis jetzt hast du mir nicht viel von deinem Vater erzählt.« »Er ist Psychiater, arbeitet in der Forschung und hat auch eine eigene Praxis. Als Kind konnte ich mich glücklich schätzen, wenn ich ihn jeden Tag eine oder zwei Stunden zu Gesicht bekommen habe. Die Stunden waren wertvoll für mich. Ich liebe ihn sehr.« »Das Wort Liebe nehmen wir in unserer Familie nicht in den Mund.« »Wie schade.« Ich streckte die Hand aus und drückte die seine. »Na ja, immerhin hat dein Vater dir seine Hochachtung und Zuneigung bewiesen, indem er dir bei der Gestaltung dieses Hauses freie Hand läßt.« »Was meinst du damit?« Takeo sah mich fragend an. »Nun, ihm gehört das Haus doch. Aber es entspricht ganz und gar deinem Geschmack. Du hast es so verändert, daß es offen und hell ist.« »Das Haus gehört nicht ihm.« Takeo grinste mich an. »Nein?« »Nein. Es ist von der Seite meiner Mutter in unsere Familie gekommen und gehört deshalb Natsumi und mir. Meinem Vater gehört das andere Sommerhaus in Hakone, und das mag er auch lieber. Es ist abgeschiedener.« »Aber du hast vor diesem Sommer nie etwas an diesem Haus gemacht?« »Stimmt. Bis jetzt hatte ich keine Gelegenheit dazu. Zuerst war ich zu jung, und dann hatte ich zuviel Arbeit. Tja, und jetzt lerne ich bei der Renovierung das eine oder andere.« »Nun begreife ich, warum das Haus dir so am Herzen liegt.« »Nein«, erwiderte Takeo. »Ein Haus ist lediglich eine Unterkunft. Du liegst mir viel mehr am Herzen.« -270-
Takeos Lippen berührten die meinen, nicht leicht, wie er es bis dahin immer gemacht hatte, sondern leidenschaftlich. Was für ein schönes Gefühl, sich in einem Garten mit Blick aufs Meer so zu küssen. Die Zikaden übertönten das Geräusch unseres schweren Atems. Takeo strich mit den Fingern über einen blauen Fleck an meinem Arm. »Tut's arg weh?« »Es sind bloß ein paar blaue Flecken; es ist nichts gebrochen«, sagte ich schicksalsergeben, nahm Takeos Hand und küßte jeden Finger einzeln. Seine Hand war sauber, aber rauh. Ich stellte mir vor, wie diese Finger über meinen Körper glitten, und bekam eine wohlige Gänsehaut. Danach redeten wir nicht mehr viel, gingen hinein, um die üblichen Säuberungsrituale im Bad vorzunehmen, und dann weiter in Takeos Schlafzimmer. Sein Futon war frisch bezogen. Das und die Tatsache, daß er eine ungeöffnete Packung Kondome in eine alte Lackschachtel für Süßigkeiten am Fuß des Futons gesteckt hatte, rührte mich. Takeo schob die Hand in mein Haar und drückte mich aufs Kissen. Dann küßte er meine Wange und meinen Hals. Er schaffte es nicht, den Gürtel von meinem Morgenmantel zu lösen. Und ich war zu erregt, um mich mit dem winzigen Knoten herumzuärgern, und so behielt ich das Ding einfach an. Wir waren gerade fertig, als die alte Großvateruhr im vorderen Flur sieben schlug. Es hatte alles weniger als eine halbe Stunde gedauert. Ich fühlte mich entspannt, aber nicht wirklich befriedigt, weil ich die ganze Zeit nicht hatte vergessen können, wie nahe mir der Fisch gekommen war. Ich fragte mich, ob er wußte, wo ich im Moment war und was ich gerade getan hatte. »Woran denkst du?« fragte Takeo und strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Ach, an nichts«, log ich. -271-
Takeo schlüpfte aus dem Bett und zog seinen Morgenmantel an. Er hatte einen wunderschönen Körper - schmal, aber nicht wirklich dünn. Wieder spürte ich Erregung in mir aufflackern, doch ich wußte, daß es angesichts me iner wachsenden Furcht keinen Sinn hatte. »Ich würde vorschlagen, daß wir uns Sushi kommen lassen, wenn wir uns gewaschen haben«, sagte Takeo. »Ich habe einen Bärenhunger.« »Ich auch«, sagte ich leise. Wahrscheinlich merkte er nicht, daß sich mein Hunger noch auf etwas anderes bezog. Natsumi hätte es mit ziemlicher Sicherheit gefreut zu sehen, wie ich mich in jener Nacht neben Takeo hin und her wälzte. Ich lag wach und lauschte auf das Quaken der Frösche draußen. Irgendwann nach Mitternacht hörte ich das Geräusch einer knarrenden Tür. »Natsumi«, sagte Takeo. »Endlich.« Ich hatte gar nicht gemerkt, daß er ebenfalls nicht schlafen konnte. Er war so ruhig gewesen. »Stehst du auf, um mit ihr zu reden?« fragte ich. »Ich glaube nicht. Ich bin froh, daß sie wieder da ist. Weißt du, ich mache mir tatsächlich Sorgen um sie.« Nun war draußen im Flur eine Männerstimme zu hören. »Wo sind sie?« Ich streckte die Hand nach Takeo aus, doch der stolperte bereits über meinen Rucksack in Richtung Tür. »Geh nicht!« flüsterte ich. »Vielleicht ist es gefährlich. Laß uns lieber zum Fenster raus.« »Hier lang?« Die undeutliche Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. »Es ist mein Haus. Du kannst in jedes Zimmer.« Takeo und ich atmeten gleichzeitig aus. Die Frauenstimme klang weinerlich. -272-
»Sie hat jemanden mit nach Hause gebracht!« sagte Takeo entsetzt. Ich setzte mich auf. »Sie hat doch gesagt, daß ein Freund von ihr kommt.« Takeo legte mir schweigend die Hand auf den Arm. »Du bist schön. Tres belle«, hörte ich die Männerstimme wieder, und dann Natsumis Kichern. »Marcellus!« flüsterte ich Takeo zu. Als er mich fragend ansah, fügte ich hinzu: »Er klingt wie der Tänzer aus dem Senegal. Laß mich rausgehen und mit ihm sprechen. Es ist wichtig für meinen Artikel.« »Warum kann das nicht bis morge n warten... wenn du wieder anständig angezogen bist?« »Bis dahin ist er verschwunden«, sagte ich. »Das soll ja offensichtlich ein One night-Stand werden. Bei sowas sind Frühstück und längere Gespräche nicht inklusive.« »Wie wär's mit einem Bad?« fragte Natsumi Marcellus mit belegter Stimme. »Ich würde dir gern den Rücken schrubben.« »Das Holz um die Wanne herum ist noch nicht versiegelt«, murmelte Takeo. »Wenn's naß wird, ist alles kaputt.« So also konnte man Takeo auf Trab bringen: Wenn man drohte, seine Re novierungsarbeiten zu ruinieren. Ich zog die Knie an den Körper und beobachtete ihn, wie er den Morgenmantel anzog. »Bleib hier, Rei«, sagte er, bevor er den Raum verließ. Ich antwortete nicht, weil ich nicht vorhatte, mich an seine Anweisung zu halten. Statt dessen schlüpfte ich in Shorts und TShirt und schob das große Fenster zum Garten zurück. Mein Plan war es, vor dem Haus zu warten. Vermutlich würde Marcellus sich bald verkrümeln, wenn er fertig wäre. Merkwürdig, der Gedanke, daß jemand, den ich für einen vertrauenswürdigen Freund gehalten hatte, sich mit Natsumi -273-
Kayama zusammentat. Er gefiel mir gar nicht. Im Garten war es herrlich kühl, und die Zikaden, die wir schon ein paar Stunden zuvor gehört hatten, liefen nun zu Hochform auf. Ihr Lärm übertönte fast das fröhliche Rufen auf der anderen Seite des Hauses. Motorräder brausten die Straße entlang, eins nach dem anderen. Bousouzoku, die japanische Version amerikanischer Motorradgangs, machten viele Großstädte unsicher. Es überraschte mich nicht, daß eine Horde bousouzoku an den Strand gekommen war. Ich warf einen Blick auf meine Uhr: drei Uhr zweiunddreißig. Vermutlich hatte die Bar am Strand gerade geschlossen, und die bousouzoku waren auf dem Weg nach Hause. Wegen des Lärms draußen fiel es mir schwer mitzuverfolgen, was sich im Haus tat. Während ich wartete, versuchte ich, die Schnaken abzuwehren, die sich über diese unerwartete nächtliche Mahlzeit im Schein der Außenlampe freuten. Ein lauter Knall ließ mich zusammenzucken. War das die Fehlzündung eine s Motorrades gewesen? Ich lauschte auf die dröhnenden Motoren und fragte mich dabei, ob das Tor zum Anwesen der Kayamas geschlossen war. Es klang fast, als bewege sich eins der Motorräder auf der Auffahrt. Ich ging hinunter, wild entschlossen, wie die selbstbewußte Hausherrin zu wirken. Als ich an den Hortensienbüschen am Knick des Weges vorbeikam, sah ich den Strahl der Scheinwerfer. Meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich: Natsumi hatte das Tor offen gelassen, und eine Gruppe von Motorrädern brauste herein. Die hübschen Flußkiesel auf dem Weg spritzten in alle Richtungen. Die Fahrer trugen Helme mit Visieren, so daß ich ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Ich versteckte mich in den Hortensienbüschen, in die sie aus Angst um ihre glänzenden Maschinen wahrscheinlich nicht fahren würden. Das erste Fahrzeug bewegte sich rasend schnell in Richtung -274-
Haus und wendete dort abrupt. Die nächsten beiden folgten seinem Beispiel. Nur eines sauste über den Rasen in Richtung Moosgarten. Takeo hatte mir erklärt, wie lange es dauerte, bis das Moos wuchs, und daß sogar ein Mensch, der darauftrat, es für immer zerstören konnte. Sollte ich den Moosgarten verteidigen? Während ich noch versuchte, meinen Mut zusammenzunehmen, schleuderte der Motorradfahrer bereits ein braunes Päckchen auf das samtige Grün.
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30 Konnte in dem Päckchen Sprengstoff stecken? Ich sprang aus meinem Versteck hinter den Büschen und rannte zum Haus, und zwar zum vorderen Teil, um möglichst weit weg vom Moosgarten und dem Paket zu sein, obwohl ich nicht wußte, ob Natsumi die Tür offen gelassen hatte und ob ich sie vor der Motorradgang erreichen konnte. Als ich an den abgestellten Maschinen vorbeihastete, rief mir jemand mit betrunkener Stimme zu: »Hey, große Schwester!« Ich zwang mich zu einem Lächeln und rannte noch schneller. Als ich nur noch ungefähr drei Meter von der Haustür entfernt war, ging sie auf, und eine riesige dunkle Gestalt, lediglich mit einer Duschhaube und einem Handtuch bekleidet, trat heraus. »Marcellus, passen Sie auf!« rief ich auf englisch. Doch Marcellus blieb mit gespreizten Beinen an der Tür stehen. Er trug eine verspiegelte Sonnenbrille, die ihn ziemlich furchteinflößend wirken ließ. Marcellus war kräftig gebaut und hatte eine Brust- und Armmuskulatur, die man nur vo m Gewichtheben bekommt. »Was zum Teufel ist da los?« brüllte Marcellus in seinem Bühnenakzent, einer merkwürdigen Mischung aus FranzösischSenegalesisch-Kalifornisch. Der vorderste Motorradfahrer rief seinen Begleitern etwas zu und ließ seine Maschine bedrohlich aufheulen. Ich fürchtete das Schlimmste: zehn Männer in Lederkluft und mit Helmen gegen einen Mann mit einem Handtuch. Doch zu meiner Überraschung lenkte der vorderste Fahrer seine Maschine nur kurz auf uns zu, machte dann eine Kehrtwende und brauste schließlich wieder in Richtung Tor. Die anderen taten es ihm gleich, und bereits zwei Minuten später -276-
waren alle verschwunden. Nur noch der Kies überall sowie der schreckliche Gestank nach Motorenöl erinnerten an sie. Ich wankte die Stufen zu Marcellus hoch. »Gott sei Dank sind sie weg. Keine Ahnung, wie Sie das gemacht haben.« »In diesem Land haben alle Männer Angst vor mir, wenn sie mein Gesicht sehen.« Er klang traurig, und ich streckte meine Hand aus, um die seine zu drücken. »Wo warst du?« fragte Takeo, der mit einer Teekanne aus dem Haus trat. Er trug noch immer den Morgenmantel und darunter seine Pyjamahose. Takeo sah aus wie ein Familienvater und runzelte die Stirn, als er sah, daß ich die Hand von Marcellus hielt. »Wir haben jetzt keine Zeit für Tee«, sagte ich zu Takeo. »Im Moosgarten liegt möglicherweise Sprengstoff. Wir müssen hier weg.« »Bist du dir sicher? Ich mache mal die Lichter im Garten an und schaue nach.« Takeo ging ins Haus zurück, wo er die Teekanne vorsichtig abstellte, während ich vor Ungeduld bebte. Dann betätigte er eine Reihe von Lichtschaltern am Eingang, und überall im Garten, auch in dem Teil mit dem Moos, in den der Motorradfahrer das Päckchen geworfen hatte, wurde es hell. »Ich möchte mir die Sache aus sicherer Entfernung ansehen. Am besten vom Dach aus.« Er nahm das Fernglas, das er sonst zur Beobachtung von Vögeln benutzte, von dem Tischchen im Flur. »Rei, du könntest schon mal das schnurlose Telefon bereithalten für den Fall, daß wir die Polizei rufen müssen.« »Du kannst die Polizei nicht rufen, weil die Nachbarn das sicher sofort Vater erzählen«, sagte Natsumi, die, lediglich mit einem hauchdünnen pinkfarbenen Babydoll-Nachthemd bekleidet, in den Flur getreten war und sich die Augen rieb, als habe sie schon seit Stunden geschlafen und wäre nicht erst zwanzig Minuten zuvor zusammen mit Marcellus zu Hause eingetrudelt. Der nächtliche Überfall hatte sich zu einer ziemlich -277-
bizarren Pyjama-Party entwickelt. Takeo schlüpfte in Gummistiefel und marschierte zu der Seite des Hauses, von der aus man den Moosgarten sehen konnte. Die Aluminiumleiter, die er für die Arbeit auf dem Dach benutzte, lag auf ein paar Steinen; wir stellten sie gemeinsam ans Haus, das zum Glück nur etwas mehr als sieben Meter hoch war. Takeo kletterte genauso sicher hinauf wie die Feuerwehrleute bei ihren alljährlichen Vorführungen in meinem Viertel, aber ich war dennoch nervös. »Das Ding sieht aus wie ein brauner Umschlag.« Takeo stellte das Fernglas schärfer und sagte ein paar Sekunden später: »Jetzt seh' ich's ganz genau. Es handelt sich um ein kleines Päckchen, das mit Klammern zusammengeheftet ist.« »Ein Päckchen? Mein Gott, wie albern, deswegen alle aus dem Bett zu holen. Rei, hol's doch, wenn du dir solche Sorgen machst«, sagte Natsumi. »Es könnte gefährlich sein. Ich mache das«, erbot sich Marcellus und setzte sich mit schwingenden Hüften in Bewegung. Er war einfach durch und durch Tänzer. »Paß auf«, rief Natsumi ihm mit zärtlicher Stimme nach. Ob mir die Hand beim Öffnen des Päckchens weggerissen wurde, war ihr völlig egal, aber dem Fremden, den sie irgendwo aufgegabelt hatte, sollte nichts passieren. »Hat Marcellus dir schon von seinem Job erzählt?« fragte ich sie mit unschuldigem Gesichtsausdruck. »Davon braucht er mir nicht zu erzählen. Mir ist das egal, weil ich nicht nach einem Ehemann suche wie manch andere hier.« Wahrscheinlich hätte es sie gefreut zu wissen, wie unsicher die Beziehung zwischen Takeo und mir noch war. Ich achtete nicht auf ihr spöttisches Lächeln und konzentrierte mich voll und ganz auf den Garten. Ich konnte Marcellus nicht mehr sehen, und das beunruhigte mich ein wenig. Was wohl in dem -278-
Päckchen war? Eine Giftgaskapsel? Eine Schlange? Oder etwas noch Schlimmeres? Doch schon ein paar Sekunden später kam Marcellus zurück, das Paket vorsichtig in beiden Händen haltend. Er musterte es so eingehend, daß er gegen meinen Lieblingsfelsen stieß. Dabei löste sich das Handtuch von seinen Lenden. Natsumi kreischte sofort: »Schau nicht hin!« »Das seh' ich nicht zum erstenmal«, herrschte ich sie an, und ihr fiel das Gesicht herunter. Zu spät fiel mir Takeo auf dem Dach ein, der jedes Wort mitbekam. Als ich den Blick zu ihm hob, musterte er mich finster. »Kein Problem, kein Problem«, sagte Marcellus, erhob sich und band sich das Handtuch ohne jede Verlegenheit wieder um die Hüften. Takeo kam in Windeseile die Leiter herunter. »Lassen Sie mich das Päckchen ansehen. Es könnte immer noch gefährlich sein.« Marcellus hielt es mir hin und sagte: »Es ist für Sie. Ihr Name steht drauf.« »Woher kennst du überhaupt ihren Namen?« fragte Natsumi. »Erklären Sie's, wenn Sie wollen«, sagte ich zu Marcellus, doch er machte sich nicht die Mühe. »Ich finde, Spezialisten von der Polizei sollten das Ding unter die Lupe nehmen, bevor du's aufmachst«, sagte Takeo. »Wieso denn?« fragte ich. »Weil es hier in der Gegend nur so von Bomben-Experten wimmelt. Du weißt doch, daß die Villa des Kaisers gleich in der Nähe ist. Deshalb hat immer ein Team mit Hunden Bereitschaft.« Ich warf einen Blick auf den Umschlag, den Marcellus vor dem Hauseingang abgelegt hatte. Er war dick, also befand sich vermutlich ein Heft oder Buch darin. Ich überlegte, welche -279-
Dinge auf eine Briefbombe hinwiesen - Ölspuren an dem Kuvert, Schießpulverreste -, konnte aber nichts Derartiges entdecken. Mein Name war nicht mit der Hand auf den Umschlag geschrieben, sondern aus ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzt. Das »S« und das »A« in meinem Familiennamen kamen mir bekannt vor. Könntest du mir mal eben das Showa-Story-Heft bringen?« bat ich Takeo. »Ja, aber bitte beschäftige dich auch mit dem Gedanken an die Bomben-Experten«, sagte er. Als er mir das Heft überreichte, sah ich, daß meine Vermutung stimmte. Das »S« und das »A« stammten aus dem Impressum von Showa Story. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Comic-Künstler wissen, wie man eine Bombe bastelt«, sagte ich und zeigte Takeo die Buchstaben. Marcellus und Natsumi hatten sich mittlerweile in den Moosgarten verzogen, um sich dort zu streiten. »Das heißt also, daß du's aufmachen willst.« Takeo stieß einen tie fen Seufzer aus. »Darf ich dir wenigstens die zum Schutz geben?« Er reichte mir ein Paar Gartenhandschuhe sowie ein kleines, sichelähnliches Werkzeug, mit dem er normalerweise das Unkraut beseitigte. Ich zog die Handschuhe an und riß mit der Sichel den Umschlag auf. Ich erkannte den abgegriffenen grünen Einband sofort. Es war mein Adreßbüchlein. Takeo starrte es an. »Das kommt mir bekannt vor. Habe ich das nicht schon mal irgendwo gesehen?« »Ja. Es ist mein Adreßbuch.« »Das ich aus der Bojo-Bar holen sollte?« »Ja.« Ich blätterte das Buch durch, um zu überprüfen, ob noch alles drin war. Obwohl der Fisch meine Adresse kannte, hatte er -280-
beschlossen, das Büchlein auf höchst spektakuläre Weise zu Takeos Haus bringen zu lassen. Wollte er mir einen Beweis seiner Macht liefern? »Vielleicht sollte ich das Marcellus zeigen«, sagte ich. »Warum? Wieso schenkst du ausgerechnet einem Liebhaber von Natsumi dein Vertrauen?« »Weil Marcellus mit der Sache zu tun hat. Er ist in demselben Club Tänzer wie Nicky.« »Dann ist der Freund von Natsumi also... Tänzer?« Takeo sah mich verwirrt an. Ich nickte. Takeo atmete tief durch. »Jetzt verstehe ich, wieso du seinen... äh... Körper schon gesehen hast.« »Genau.« Gott sei Dank mußte ich jetzt nichts mehr erklären. »Die Adresse des Showa-Story-Büros hat sich als die eines Clubs für Frauen entpuppt. Und Marcellus tritt dort auf.« »Eigentlich sollte ich mir über solche Dinge keine Gedanken machen«, sagte Takeo. »Aber irgendwie wäre es mir doch lieber, wenn meine Schwester sich einen Maler oder einen Taxifahrer aussuchen würde, nicht jemanden, der sein Geld damit verdient, sich vor wildfremden Menschen auszuziehen.« »Tänzer verdienen gut«, sagte ich. »Wahrscheinlich mehr als du oder ich. Aber die Arbeitsbedingungen sind alles andere als angene hm.« Ich mußte daran denken, wie Chiyo mit ihren langen Fingernägeln ungeduldig auf die Theke getrommelt und Nicky angebrüllt hatte, er solle einen verschütteten Drink aufwischen. Und daran, daß Chiyo sich letztlich keine Sorgen über Nickys Verschwinden gemacht, sondern sich nur darüber aufgeregt hatte, daß Nicky möglicherweise abgehauen war, um in einem anderen Club zu arbeiten. Wir setzten uns an den niedrigen Teetisch aus Walnußholz im Wohnzimmer. Als ich weiter in meinem Adreßbuch blätterte, -281-
fiel ein Foto von Takeos Range Rover heraus, auf dem das Nummernschild deutlich zu sehen war. »Daher haben die Typen mit den Motorrädern also gewußt, wo du wohnst«, sagte ich. »Sie haben dich beobachtet und Erkundigungen über deine Adresse eingezogen.« »Als ich letzten Samstag vom Fliesengeschäft nach Hause gefahren bin, standen am Straßenrand ein paar Männer mit Kameras. Sie trugen alle eine schwarze Lederkluft. Ich dachte, wahrscheinlich sind das Zeitschriftenreporter aus der Stadt.« Da betraten Marcellus und Natsumi den Raum. Sie hielten Händchen, und Natsumi kicherte. Die beiden hatten sich also offenbar wieder versöhnt. Marcellus trug jetzt die Baumwollyukata, die zuvor ich angehabt und dann im Bad aufgehängt hatte. »Und die Typen sind sofort vor dir weggelaufen!« rief Natsumi, ohne Marcellus aus den Augen zu lassen. »Warum haben sie das deiner Meinung nach getan?« »Die Menschen hier haben Angst vor Leuten aus anderen Kulturen«, antwortete Marcellus. »Mir machst du keine angst, sondern nur Freude.« Einen Moment verschwand Natsumis Gesicht kokett hinter dem glatten Vorhang ihrer Haare. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und bedachte Marcellus mit einem Lächeln. Ich sah Takeo an. Er wirkte angespannt. Hatte das noch andere Gründe als den, daß seine Schwester dabei war, mit einem Nachtclubtänzer ins Bett zu gehen? Vermutlich beschäftigte Takeo auch der Gedanke, daß Gangster sich über ihn informiert hatten. Sollte ich ihm nun vom Fisch erzählen? Aber jetzt, in Gesellschaft von Marcellus und Natsumi, war nicht der richtige Augenblick dafür. Zuerst wollte ich den beiden ein paar Fragen stellen.
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31 »Wo warst du letzten Samstag?« fragte ich Natsumi, doch zu meiner Überraschung antwortete Marcellus. »Ich hab' im Club getanzt. Das mache ich immer am Samstag. Ich bin he ute nur hier, weil ich diese Woche noch keinen Abend frei hatte.« »Letzten Samstag haben wir uns kennengelernt«, sagte Natsumi mit leuchtenden Augen. Marcellus und Natsumi hatten sich also schon gekannt und sich für dieses Wochenende verabredet. Takeos und meine Anwesenheit hatte ihre Pläne fast vereitelt. Doch ich wollte noch etwas anderes erfahren. »Natsumi, warst du letztes Wochenende auch hier in Hayama? Hast du da irgendwelche Männer in schwarzer Lederkluft gesehen?« »Nein, wie gesagt, dies ist mein erster Aufenthalt hier seit Ewigkeiten. Ich gehe jetzt in mein Zimmer. Es ist ziemlich spät.« »Ich weiß nicht, was du vorhast, Rei«, sagte Takeo in kühlem Tonfall, »aber ich gehe nicht ins Bett. Natsumi, jemand ist hier in unser Anwesen eingedrungen, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Es ist meine Pflicht, wach zu bleiben und aufzupassen, daß nicht noch jemand hereinkommt.« »Ich bleibe mit dir auf«, sagte ich. »Mein Gott, seid ihr paranoid!« Natsumi verdrehte die Augen. »Die Typen haben den Umschlag gebracht, mehr wollten sie nicht. Das denkst du doch auch, Marcelluschan, oder?« Ich sah Marcellus an, der sich in dem zu kleinen Morgenmantel unwohl zu fühlen schien. Mit leiser Stimme, die so gar nicht zu seinem kräftigen Körperbau paßte, sagte er: »Ich -284-
kenne diese Männer nicht, aber wahrscheinlich gehen Gangster tatsächlich so vor, ja. An meinem Arbeitsplatz bin ich auch schon Zeuge etlicher dramatischer Briefübergaben geworden.« »Darüber würde ich gern mehr hören«, sagte Takeo. »Könnten Sie sich ein paar Minuten setzen und uns davon erzählen?« Jetzt wirkte Marcellus noch nervöser. »Sagen Sie mir zuerst, was in dem Umschlag war?« »Ich fürchte, das ist vertraulich«, sagte Takeo. »Mein Adreßbuch«, sagte ich im gleichen Augenblick. Takeo stieß einen tiefen Seufzer aus. Ich wandte mich an ihn: »Marcellus war so mutig, das Päckchen zu holen, da soll er auch erfahren, was drin ist.« »Dann haben die Motorradfahrer also etwas gebracht, was Ihnen gehört, Rei?« fragte Marcellus. »Kommst du nicht mit in mein Zimmer?« fragte Natsumi spitz. »Später, cherie. Ich möchte zuerst den Grund für dieses ganze Durcheinander erfahren.« »Nun, ich bin zu müde für so etwas. Ich ruhe mich in meinem Schlafzimmer aus«, verkündete Natsumi. Als Marcellus nicht reagierte, stieß sie einen ebenso tiefen Seufzer aus wie zuvor Takeo, bevor sie den Raum türenschlagend verließ. Ausnahmsweise einmal merkte man, daß die beiden Zwillinge waren. Takeo öffnete die Türen eines alten Paulownia-Schränkchens und holte eine Flasche Sake sowie drei kleine Gläser heraus. »Für mich keinen Alkohol«, sagte Marcellus naserümpfend. »Alkohol dehydriert und ist schrecklich für die Haut.« »Ich nehme einen«, sagte ich, denn ich brauchte etwas, das mir half, mich von dem Schreck mit den Motorradtypen zu -285-
erholen. Ich ging in die Küche, um ein Glas Mineralwasser für Marcellus und Eiswürfel für Takeo und mich zu holen. Normalerweise trank man Sake warm, doch ich hatte mittlerweile entdeckt, wie gut er mit Eis schmeckte, vor allem in der Sommerhitze. Während ich an dem kühlen Schnaps nippte, fragte ich Marcellus: »Würden Sie mehr von den Gangstern erzählen, die Sie im Club erlebt haben? Sahen Sie tatsächlich wie Ganoven aus oder eher ganz unauffällig?« Dabei mußte ich an den Fisch denken. »Diejenigen, die aussehen wie Ganove n, kommen jeden Monat vorbei, um Geld einzutreiben, aber am Anfang war das nicht so. Als erster ist ein Mann mittleren Alters im Anzug aufgetaucht.« »Um welche Uhrzeit? Waren die Tänzer schon da?« fragte ich. »Nicky war nicht da, falls Sie das meinen. Es war irgendwann am frühen Nachmittag. Ich hatte an dem Tag Dienst, und so habe ich ihn reingehen sehen. Es hat mich interessiert, was einen salaryman dazu bringen könnte, bei uns vorbeizuschauen anfangs habe ich gedacht, er ist der Ehemann von einer unserer Kundinnen. Der wütende Ehemann.« Marcellus lächelte wehmütig. »Aber ich habe mich getäuscht. Bei dem Gespräch, das ich gehört habe, ging's nur ums Geschäft.« »Erinnern Sie sich noch an den Wortlaut?« fragte Takeo. »Offen gestanden, nicht so genau, weil es mir schwerer fällt, das Japanisch von Männern als das von Frauen zu verstehen.« »Was meinen Sie damit?« hakte Takeo nach. »Mich scheinen Sie doch auch zu verstehen.« »Japanische Männer verwenden in der Umgangssprache rauhere Ausdrücke«, erklärte ich Takeo. »Verbformen, die Ausländer in der Sprachenschule nicht gleich lernen.« -286-
»Stimmt, Reisan. Und mir fällt es noch schwerer, weil wir uns im Club sehr, sehr höflich mit den Damen unterhalten müssen. Das wird dann unsere ganz normale Ausdrucksform. Trotzdem habe ich aufgepaßt, so gut es ging. Soweit ich es mitbekommen habe, hat der Mann etwas von Steuern gesagt; daß Chiyo mit dem Club Geld verdient, das sie bei der Steuer nicht angibt.« »Stimmt das?« fragte ich. »Nun, wir Jungs dürfen das Trinkgeld, das die Frauen uns geben, behalten. Außerdem ist da ein Hinterzimmer, in dem sich manchmal sehr... private Dinge abspielen. Wir händigen Chiyo die Hälfte dessen aus, was wir von den Frauen bekommen. Ich glaube nicht, daß sie das Geld bei der Steuer angibt. Wie sollte sie das auch erklären?« »Verstehe«, sagte ich und schwieg einen Augenblick. »Nicky hat gern in dem Hinterzimmer gearbeitet, stimmt's?« Marcellus hob die Augenbrauen. »Ja, sehr. Ihm hat's gefallen, daß er für seinen Spaß auch noch bezahlt wurde. Ich habe mich geweigert, so etwas zu tun. Chiyo hatte Verständnis dafür.« »Zurück zu den Gangstern«, sagte Takeo. Offenbar konnte er mit dem Thema männliche Sexualität, dem wir uns so abrupt zugewandt hatten, nicht allzuviel anfangen. »Was soll ich sagen?« Marcellus stieß einen Seufzer aus. »Chiyo hat mit dem Mann im Anzug vereinbart, ihm Geld zu geben. Wahrscheinlich zahlen viele Leute in der schwebenden Welt solche Gelder.« In der schwebenden Welt. Das hatte ich schon eine ganze Weile nicht mehr gehört. Es handelte sich um einen historischen Ausdruck für das Geschäft der Kurtisanen, ihrer Kunden und der Mittelsmänner, die sie zusammenbrachten. Marcellus und seine Kollegen waren vermutlich die letzten Nachkommen der Kurtisanen. »Viele Japaner haben Probleme mit der yakuza«, sagte Takeo. »Die Kayama-Schule mußte sich auch gegen sie wehren.« -287-
»Sprechen Sie von der Schule, die Ihre Schwester leiten wird?« fragte Marcellus. »Sie haben also schon rausgefunden, wieviel sie wert ist.« Takeo klang, als hätten sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet. »Das hat sie mir sofort gesagt«, erklärte Marcellus. »Letzten Samstag war eine ganze Gruppe Lehrerinnen aus der IkebanaSchule Ihrer Familie bei uns im Club, um zu feiern.« »Welche Probleme hatten denn die Kayamas mit dem organisierten Verbrechen?« fragte ich, um das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zu bringen. »In der Zeit meines Großvaters und meines Vaters haben die yakuza-Bosse immer wieder versucht, eine Partnerschaft, wie sie das nennen, mit ihnen aufzubauen, das heißt Geld in die Schule zu investieren und dafür an den Gewinnen beteiligt zu werden. Aber meine Familie hat sich sogar in der schweren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geweigert, auf den Vorschlag einzugehen. Zur Strafe haben die Gangster dann eine meiner Großtanten entführt.« »Wie schrecklich«, sagte ich. »Mein Großvater hat sich geweigert, das Lösegeld zu zahlen. Er hätte es getan, wenn es sich nur um Geld gehandelt hätte. Aber die Leute von der yakuza haben wieder eine Partnerschaft gefordert. Da konnte er unmöglich zustimmen. Und meine Großtante mußte dafür büßen.« Ich wagte nicht, Takeo zu fragen, was passiert war. Er nahm einen Schluck Sake und sagte: »Die Gangster haben sie vergewaltigt. Daraufhin hat die Familie sie in ein Sanatorium in der Schweiz geschickt, aber es war Krieg, und so gab's Probleme während der Reise, und sie starb. Manche meiner Verwandten behaupten, es sei ein Unfall gewesen, doch mein Vater glaubt, daß sie Selbstmord begangen hat.« »Rache«, murmelte Marcellus. »Vielleicht wurde Nicky -288-
umgebracht, weil Chiyosan etwas getan hat, das der yakuza nicht paßte?« »Ja, vielleicht hat sie sich geweigert, weiter Schutzgelder zu bezahlen, und die yakuza hat ihr durch den Mord an Nicky eine Warnung zukommen lassen!« rief ich so aufgeregt aus, daß ich mein Sake-Glas umstieß. Takeo fing es auf und sagte: »Immer mit der Ruhe. Du warst doch von Anfang an der Meinung, daß der Mord mit dem Comic-Zirkel zu tun hat. Wenn das wegfällt, geht deine Story flöten.« Da hatte Takeo recht. Wenn kein Zusammenhang mit den Comics bestand, bekam ich auch kein Geld von der Gaijin Times. Aber war das angesichts der schrecklichen Dinge, die sich ereignet hatten, so wichtig? Vielleicht war es tatsächlich nur der Auftrag der Motorradfahrer gewesen, mein Adreßbuch mit dem Foto zu bringen, doch durch ihre Anwesenheit auf dem Anwesen der Kayamas hatten sie mir bewiesen, daß ich auch dort nicht in Sicherheit war. Außerdem hatte die Geschichte mit Takeos Großtante mir etwas Wertvolles genommen. So viele Jahre hatte ich mich mit japanischen Antiquitäten und der alten Kultur des Landes beschäftigt - deshalb gefiel mir die ShowaStory-Serie so gut. Aber in den Heften wurden auch Vergewaltigungen in allen Details dargestellt, und nun, da ich wußte, daß Takeos Großvater die Leute von der yakuza nur gegen einen hohen Preis hatte abwehren können, gewannen diese Illustrationen plötzlich eine andere Bedeutung für mich. »Das einzige, was zählt, ist die Wahrheit«, sagte Marcellus mit leiser Stimme. »Nicht irgendeine Story.« »Genau«, sagten Takeo und ich unisono, aber ich hatte bereits den egoistischen Wunsch ausgesprochen, einen Artikel zu verfassen, der mir Geld einbringen würde, und das hatte Marcellus verschreckt. Er war aufgestanden, hatte die yukata ein wenig enger um seinen Körper geschlungen und war in -289-
Richtung Natsumis Zimmer marschiert. Ich rannte ihm nach und packte den Ärmel seines Morgenmantels. Er blieb stehen. »Was?« fragte er fast ein wenig verärgert. »Warum schlafen Sie mit Natsumi?« fragte ich. »Wollen Sie das in Ihrem Artikel verwenden?« Marcellus wich einen Schritt von mir zurück. »Nein, das verspreche ich Ihnen. Ich möchte das bloß wissen, weil wir Freunde sind.« »Aus dem gleichen Grund, aus dem Sie mit ihrem Bruder zusammen sind, cherie. Um finanziell zu überleben.« Ich wurde rot. »Das stimmt nicht!« »Nicht?« Marcellus seufzte. »Tja, dann haben Sie Glück. Wenn ich mich mit Frauen verabrede, verdoppelt sich mein Gehalt. Aber nach einer Nacht wie der heutigen überlege ich es mir vielleicht doch anders und bleibe bloß bei der Tanzerei.« »Gute Nacht«, sagte ich mit sanfter Stimme, und er ging in Natsumis Zimmer, um mit ihr zu schlafen, wie ich dachte, doch ein paar Minuten später hörte ich ein gleitendes Geräusch. Vermutlich hatte er seine Bemerkung, er wolle sich von nun an ganz aufs Tanzen konzentrieren, ernst gemeint. »Etwas hast du mir verschwiegen«, sagte Takeo, nachdem wir es uns auf seinem Futon bequem gemacht hatten. Mittlerweile war es sechs Uhr früh, und wir glaubten beide nicht mehr, daß die bousouzoku noch einmal zurückkehren würden. »Ich bin müde und fast nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Könnten wir morgen darüber reden?« fragte ich gähnend. »Es ist bereits morgen. Ich möchte mehr über den Gangster erfahren, der mit dir gesprochen und dir gesagt hat, daß er nichts mit Nickys Tod zu tun hat.« »Sie behaupten, sie hätten nichts damit zu tun, aber nach der -290-
Show heute nacht - wer weiß?« »Jetzt sagst du sie aber vorher war von einem einzelnen Mann die Rede. Das verstehe ich nicht ganz. Du hast dich in der Bar mit zwei Männern unterhalten, von denen ich dachte, daß sie dir diese Information gegeben haben. Doch nun geht's plötzlich um einen Mann. War der überhaupt an dem Tisch?« »Man hat mir aufgetragen, dir im Augenblick nichts Genaues zu verraten.« »Du verschweigst mir also tatsächlich etwas!« rief Takeo aus. »Ich glaube... er dachte, du würdest den Kopf verlieren und Rache nehmen. Weißt du, ich war in einer nicht ganz ungefährlichen Situation.« Takeo starrte mich an. »Heißt das, daß deine Schwierigkeiten im Wasser etwas mit der yakuza zu tun hatten?« »Ja«, gab ich zu. »Ein Gangster hat mich unter Wasser gezogen, allerdings nur, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nachdem er mich wieder auf die Beine gestellt hatte, haben wir uns ein paar Minuten unterhalten. Am Schluß hat er mir mitgeteilt, daß er mir mein Adreßbuch wiedergeben würde, das er aus der Bar mitgenommen hatte. Daß er die bousouzoku schicken würde, um es mir zu bringen, habe ich nicht geahnt.« »Ich habe die ganze Sache durchs Fernglas beobachtet«, Takeo klang frustriert, »aber lediglich gesehen, daß du mit einem ganz durchschnittlich wirkenden Mann sprichst. Ich dachte, vielleicht versucht er, sich mit dir zu verabreden, aber was anderes habe ich nicht vermutet.« »Er ist ein ganz normaler Familienvater. Es ging ausschließlich ums Geschäft. Er wußte, hinter welchen Informationen ich her war, und wollte klarstellen, daß er nichts mit Nickys Tod zu tun hatte. Er hat sogar gesagt, ich könnte ihn in meinem Artikel zitieren.« »Aber mir dürftest du nichts verraten?« -291-
»Genau. Wahrscheinlich wollte er keine Szene am Strand.« »Wie einfühlsam«, sagte Takeo und verzog das Gesicht. »Wieso glaubst du, daß er Nicky nicht umgebracht hat? Wenn du mich fragst, hätte er die besten Qualifikationen für einen solchen Mord.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube ihm. Er hat gesagt, er findet es schrecklich, wie unprofessionell der Mord ausgeführt wurde. Er hätte es anders angepackt.« »Allmählich wird die Sache ganz schön unheimlich, Rei.« »Tja, allerdings.« Ich schwieg eine Weile. »Heißt das, daß wir noch weiter aufbleiben?« »Du schläfst jetzt«, sagte Takeo. »Du mußt in zwei Stunden auf der Comic-Convention sein. Ich nicht.«
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32 An jenem Morgen rappelte ich mich um zehn vor acht verschlafen vom Futon hoch. Zu meiner Überraschung war Natsumi bereits wach und aß Croissants mit ihrem Bruder. Wie vermutet, hatte Marcellus die Nacht nicht mit ihr verbracht, sondern war kurz nach dem Gespräch mit uns verschwunden. Natsumi erklärte uns, dies sei das letzte Mal, daß wir mit einem ihrer Freunde reden durften, weil wir ihnen offenbar schlechte Dinge über sie erzählten, die sie die Flucht ergreifen ließen. Takeo fuhr sich mit der Hand durch die Haare und seufzte; nach einer schlaflosen Nacht sah er aus wie eine aufgewärmte Leiche. Ich trank eine kleine Tasse starken Kaffee, den Takeo mir gekocht hatte, und machte mich dann auf den Weg zum Bus nach Zushi, denn Takeo war eindeutig zu müde, um mich zu chauffieren. Die Fahrt zum Zushi Convention Center, auf dem 1999 FÜR SIE GEBAUT eingemeißelt stand, dauerte nur fünfzehn Minuten. Das Zentrum selbst wirkte elegant, aber die leger gekleideten Besucher in Jeans, T-Shirts und Kostümen von Comic-Figuren trugen zu einer lockeren Atmosphäre bei. Als ich die überfüllte Eingangsha lle betrat, kam ich mir vor wie angetrunken. Die Leute mit ihren bunten Kostümen sahen aus, als stammten sie aus einem Technicolor-Film. Ich wartete hinter drei Leuten, die sich als Igel verkleidet hatten - wahrscheinlich handelte es sich um beliebte Figur en aus einer Comic-Serie -, und schätzte, daß es ungefähr eine halbe Stunde dauern würde, bis ich die Kasse erreichte, und eine weitere, bis ich an dem Tisch anlangte, an dem alle Besucher sich in ein Gästebuch eintragen mußten. Ein Mann mittleren Alters mit mürrischem Gesicht, der mir irgendwie bekannt vorkam, schlenderte rechts an mir vorbei. -293-
Zwei Minuten später sah ich ihn mit einem Programm und einer Info-Mappe wieder zurückkommen. Er hatte das alles erhalten, ohne sich anstellen zu müssen. »Entschuldigung«, rief ich ihm ein wenig verärgert nach. »Wieso haben Sie die Sachen gekriegt, ohne sich anstellen zu müssen?« »Weil ich von der Presse bin.« Er zeigte auf das Plastiknamensschild, das um seinen Hals hing. »Ach«, sagte ich. Erst jetzt wußte ich, woher ich ihn kannte: von der Boulevard-Sendung News to You. Als ich zu sprechen aufhörte, war er schon etwa sechs Meter von mir entfernt. Eigentlich, dachte ich, war ich genauso von der Presse wie er, denn immerhin hatte ich einen Auftrag von der Gaijin Times. Ich zog meine Jeans gerade, als ließe sie das präsentabler erscheinen, und machte mich auf den Weg zu dem abgesperrten Bereich, aus dem er gekommen war. Dort zeigte ich meine Visitenkarte mit dem Aufdruck »Rei Shimura Antiquitäten« vor und erklärte die Sache mit meinem Zusatzverdienst bei der Gaijin Times einem jungen Japaner, der einen wattierten Kimono trug und aussah wie ein Sumo-Ringer. Hinter ihm standen drei weitere Angestellte, alle in ähnlich bizarrer Kleidung, die damit beschäftigt waren, das Programm zu studieren. »Kamera?« fragte der Sumo-Ringer mich. »Natürlich.« »Kann ich sie sehen?« »Klar.« Ich holte meine bewährte Polaroid aus meinem Rucksack. Der Mann nahm sie mir ab und legte sie in ein kleines Fach, das aussah wie ein Safe. »Kameras sind bei der Convention verboten.« Er reichte mir eine Marke aus Plastik, die ich ungläubig anstarrte. »Holen Sie die Kamera bitte ab, bevor Sie das Gelände verlassen. Alle -294-
Sachen, die nach Ende der Convention noch hier sind, werden einer wohltätigen Organisation gestiftet.« »Aber der Fotograf unserer Zeitschrift kommt auch! Er heißt Toshi Ueda...« »Ja«, sagte einer der anderen Männer. »Er war schon da, doch als wir ihm die Kamera abnehmen wollten, hat er beschlossen, die Convention nicht zu besuchen.« Dann war ic h also ganz allein. Mit einem leichten Gefühl der Panik sagte ich: »Diese Convention hier beschäftigt sich doch mit Visuellem. Wie soll ich das ohne Kamera einfangen?« Mit eisiger Stimme antwortete er: »Sind Sie schon mal auf einer unserer Conventions gewesen?« »Nein, aber ich würde unsere Leser gern darauf aufmerksam machen.« »Wir brauchen keine Publicity. Wenn Sie vor zwei Jahren hier gewesen wären, hätten Sie mitbekommen, daß ein paar Leute Fotos von unseren Fans gemacht und sie am Computer zu pornographischen Bildern bearbeitet haben. Seitdem sind Kameras bei uns verboten.« »Wenn Ihnen Ihre Fans so am Herzen liegen, sollten Sie sie nicht so lange am Eingang warten lassen«, sagte ich. »Ein paar von Ihren Angestellten könnten sich mit den Besuchern beschäftigen, statt Kataloge zu lesen.« »Für welche Zeitschrift, haben Sie gesagt, arbeiten Sie?« Der junge Mann erhob sich, und nun hatte ich den Eindruck, daß sein Kimono vielleicht doch nicht wattiert war. Er konnte es mit jedem amerikanischen Türsteher vor einer Disco aufnehmen. »Ah, vielen Dank.« Ich verdrückte mich mit meinem Programm, und er wandte sich einem Reporter der Hiragana Times zu. War mein panisches Verhalten meinem Schlafmangel zuzuschreiben? * -295-
Die Messehalle war wie ein »L« geformt und voller bunter manga-Auslagen. Musik aus Fernseh-Zeichentrickserien, die den Comic-Künstlern als Inspiration dienten, dröhnte aus den Lautsprechern über unseren Köpfen. Was für eine merkwürdige Welt, dachte ich, in der ein erwachsener, als Windelbaby verkleideter Mann sich vor einem glänzenden Silberroboter verbeugte! Wirklich schade, daß keine Kameras erlaubt waren. Ich machte mich auf die Suche nach dem Showa Story-Stand. Der Nummer im Programm hatte ich entnommen, daß er sich am Knie des »L« befand. Als ich eine attraktive junge Frau mit blauem Gymnastikanzug und fließendem silberfarbenem Umhang, auf dem der Planet Mars abgebildet war, entdeckte, beschloß ich, ihr zu folgen - vielleicht war sie wie ich zum Showa Story-Stand unterwegs. Je weiter ich in die Messehalle vordrang, desto dichter wurden die Menschenmassen, so dicht, daß ich nicht einmal mehr die Tische sehen konnte, sondern nur noch Ausschnitte der bunten Plakate dahinter. Mars Girl blieb immer wieder stehen, um die Comic-Hefte auf den unterschiedlichen Tischen zu betrachten. Sie hatte es überhaupt nicht eilig, zum Stand von Showa Story zu kommen. Irgendwann merkte ich dann, daß wir am Knie des »L« vorbei waren, wo er sich befinden mußte. Möglicherweise war sie nicht dort stehengeblieben, weil sie ihn schon besucht hatte. Ich beschloß, die junge Frau anzusprechen, und näherte mich ihrem linken Ohr, das mit einem zierlichen Perlenstecker geschmückt war. Wie seltsam: ein ganz konventioneller Ohrring bei einem Comic-Fan. Nun, viele der Fans schienen junge Fraue n aus der Mittelschicht zu sein. Ich sagte leise zu ihr: »Entschuldigung, waren Sie schon am Showa Story-Stand?« Sie wandte sofort den Kopf ab und versuchte, in der Menge unterzutauchen. Normalerweise wäre ich ihr nicht gefolgt, doch ich hatte ihr Gesicht gesehen. -296-
Auch das schwere Makeup konnte nicht verbergen, daß es sich bei dem Mars Girl, dem ich gefolgt war, um Rika handelte.
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33 »Ach, wunderbar, daß Sie auch hier sind!« plapperte Rika drauflos, hörte aber sofort auf, als ich sie am Oberarm packte. »Der Besuch dieser Messe war mein Auftrag. Was machen Sie hier? Ist Alec auch da?« »Nein. Schade, daß Sie neidisch auf unsere Liebe sind, Reisan.« »Neidisch?« Ich hielt den Atem an. »Nein. Mir ist die Sache eher peinlich für Sie. Hat er Sie dazu gezwunge n? Sie könnten sich beschweren.« »Ich habe den ersten Schritt getan«, sagte Rika kühl. »Und er weiß nicht, daß ich hier bin. Ich habe im letzten Augenblick beschlossen herzukommen und Ihnen zu helfen.« »Im letzten Augenblick... in diesem Aufzug?« Ich deutete auf ihr Kostüm. »Die Kostüme gibt's im nächsten Raum. Wollen Sie auch eines? Ich bin schon seit zwei Stunden hier, also weiß ich, wo alles ist. Ich habe sogar ein paar Interviews geführt.« Sie holte kurz das elektronische Notizbuch aus der Handtasche, die sie unter dem Umhang quer über dem Körper trug. »Wußten Sie, daß Toshi wieder gehen mußte, weil die Organisatoren der Comiko keine Fotografen wollen?« »Nein«, sagte Rika. »O je, jetzt erinnere ich mich wieder. Ein paar als Igel verkleidete Leute haben versucht, einem jungen Mann in Jeans die Kamera wegzunehmen. Ich habe nicht so genau hingeschaut, aber nun, wo Sie's sagen: Der Junge hatte einen Pferdeschwanz, wie unser Toshi.« »Die Convention hier entpuppt sich immer mehr als Tortur«, brummte ich. Daß das auch mit meinem Schlafmangel zu tun hatte, würde ich Rika nicht erzählen. Ich kaufte ihr nicht ab, daß -298-
sie sich erst im letzten Augenblick entschieden hatte, die Convention zu besuchen. Die Frage war nur, ob sie mir lediglich die Story abknöpfen wollte oder andere, mir nicht bekannte Pläne hatte. »Dann waren Sie also schon am Tisch von Showa Story?« fragte ich. »Mm. Ich hab' jede Menge Material.« »Wo?« »Hier.« Sie klopfte auf ihr elektronisches Notizbuch. »Ach so, Sie meinen, wo Sie Ihre Notizen speichern. Ich wollte wissen, wo der Tisch ist.« »Ach, da war ich noch nicht. Er soll irgendwo in der Mitte sein.« Sie machte eine vage Handbewegung. »Haben Sie denn nicht versucht, ihn zu finden?« »Eigentlich wollte ich gerade hin. Aber ich habe so lange im Kostümbereich gebraucht. Ich habe dort jede Menge Interviews mit Leuten gemacht, die sich selbst cosplay nennen. Nicky war bei seinem Tod auch cosplay.« Wieder glaubte ich ihr nicht ganz, nickte jedoch und sagte: »Nun, ich werde mich weiter nach dem Tisch umsehe n. Wenn ich mich nahe genug an der Wand halte, entdecke ich ihn vielleicht.« Rika wich mir nicht von der Seite. »Sie müssen aufpassen, Reisan. Auf Ihre Gesundheit aufpassen.« »Das Plakat da vorn, das sechste von rechts, sieht das nicht aus wie Mars Girl?« »Nein, das ist aus der Space Boy-Serie. Tut mir leid.« Wir kamen ungefähr fünfzehn Meter voran, doch wegen der vielen Mädchen um uns herum erschien es mir weiter. Mehr als die Hälfte der Fans waren junge Schülerinnen und Studentinnen. Ich dachte, ich fiele eigentlich gar nicht aus der Reihe. Aber dann erinnerte ich mich, daß ich ja nicht mehr an der Uni war. -299-
Rika paßte viel besser hierher als ich. Ich schaute sie ein wenig verärgert über die Schulter hinweg an, und sie lächelte zurück. »Wir finden den Tisch schon, Reisan, keine Panik.« Ich sah ein letztes Mal in mein Programm. Der Showa StoryStand befand sich angeblich zwischen den Tischen von Rainhow Moon und Hedgehog. Ich wußte, daß ich an den hedgehogs, den Igeln, bereits vorbeigekommen war. Das sagte ic h Rika, und wir drehten um und wandten uns diesen beiden Tischen zu. Auf dem dazwischen lagen Stapel von Comic-Heften. »Soll hier nicht der Stand von Showa Story sein?« fragte ich. »Abgesagt«, antwortete ein Igel zweifelhaften Geschlechts mir fröhlich. »Wir verwenden den Tisch als Ablage für unsere Sachen. Kunio hat gesagt, das geht in Ordnung.« »Sehen Sie, ich habe den Tisch also gar nicht zu finden brauchen!« rief Rika fast ein bißchen erfreut aus. »Dann machen wir einfach wieder Interviews mit den Fans.« »Gute Idee«, sagte ich sofort. »Und in einer Stunde könnten wir uns am Pressetisch treffen, ja?« Ich winkte ihr zum Abschied zu, und als sie außer Hörweite war, beugte ich mich zu dem Igel vor. »Wieso ist Kunio hier auf der Messe, wenn er nicht an seinem Stand ausstellt?« »Das habe ich ihn nicht gefragt«, antwortete der Igel. »Uns hat's allerdings gefreut, den Zusatzplatz zu kriegen. Haben Sie Hedgehog schon mal gelesen? Wir parodieren Doraemon. Unsere Geschichten haben ein anderes Tier, machen aber genausoviel Spaß.« »Wie lange ist es her, daß er mit Ihnen gesprochen hat?« »Ungefähr eine halbe Stunde. Er hat gesagt, die Sache mit Nicky hat ihn dazu veranlaßt, seinen Stand aufzugeben. Es hat ihn ganz schön geärgert, daß die Organisatoren ihm das Geld -300-
nicht zurückgeben wollten.« »Trägt er ein Mars-Girl-Kostüm?« »Nein, eine Uniform der alten Kaiserlichen Marine.« Offenbar hatte ich ein schockiertes Gesicht gemacht, denn der Igel fügte hinzu: »Er sagt, es gibt eine Figur in einer seiner Geschichten... ein Offizier, der Mars Girl in ein Haus von zweifelhaftem Ruf schickt.« »Die Geschichte kenne ich«, sagte ich. »Wenn Sie mit Kunio san sprechen wollen, könnten Sie Seiko Hattori fragen, wo er ist. Sie ist auch hier, verkleidet als Hund.« »Entschuldigung, kann man hier Band zwei kaufen?« mischte sich ein Kunde in unser Gespräch, und der Igel wandte sich sofort ihm zu. »Aber natürlich. Ein Heft kostet sechshundert Yen, aber wenn Sie vier kaufen, macht's nur noch fünfhundert Yen pro Heft.« Ich hatte erfahren, was ich wissen wollte, und stürzte mich wieder in die Menge. Ob Rika auch ein Interview mit einem Angehörigen des Showa Story-Zirkels gemacht hatte? Ich bezweifelte es. Vermutlich hatte sie die Zeit damit verbracht, Kostüme anzuprobieren. Ich sah in meinem Programm nach, wo sich der Kostümbereich befand, und bahnte mir einen Weg zwischen den Ninjas und Häschen und Schulmädchen hindurch. Als ich dort eintraf, sah ich schon die Kleiderständer mit den Kostümen. Viele von ihnen sahen getragen aus, besonders die Schuluniformen, die astronomisch teuer waren. »Fetischisten sind ganz scharf auf die«, erklärte mir die Frau, die für die Kostüme zuständig war. Sie selbst trug kein Kostüm, nur schwarze Leggings und ein T-Shirt. »Nehmen Sie auch Kreditkarten?« fragte ich in der Ho ffnung, meine Auslagen von der Gaijin Times zurückfordern zu können. »Nein, leider nur Bargeld. Hmmm, welche Serie mögen Sie?« -301-
»Ich brauche nur irgendein Kostüm, damit man mein Gesicht nicht erkennt«, sagte ich. Die Frau schürzte die Lippen. »Mir wär's lieber, wenn Sie sich ein Kostüm aus einer Serie aussuchen, die Sie mögen. Das machen die meisten Leute.« Ich bedachte sie mit einem gekünstelten Lächeln. »Ich mag Showa Story, aber es gibt hier auf der Messe schon ein Mars Girl, und ich will nicht wie sie aussehen.« »Tatsächlich?« »Ja, Sie haben ihr doch das Kostüm verkauft.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Ich habe lediglich ein Mars-Girl-Kostüm mitgebracht, und das hängt noch hier.« Ich sah mir das Kostüm an, ein einteiliger Anzug mit rundem Ausschnitt. Rika hatte ein Kostüm in derselben Farbe getragen, allerdings mit hohem Kragen. Beide hatten einen silberfarbenen Umhang. Irgendwie tat es mir leid, entdeckt zu haben, daß Rika mich wieder einmal angelogen hatte. Natürlich hatte ich das schon vermutet, aber jetzt war ich mir ganz sicher. »Nun, was halten Sie davon?« fragte die Frau mich, die mir das Kostüm vor die Nase hielt. »Gibt's dazu eine Maske oder sowas Ähnliches?« Ich wollte unbedingt mein Gesicht verbergen. »Die Männer, die sich als Mars Girl verkleiden, müssen natürlich spezielles Makeup tragen, aber Sie als Frau haben da kein Problem. Sie brauchen keine Maske«, sagte sie. »Tja, dann würde ich lieber als Katze gehen.« Das wuschelige blaue Katzenkostüm an dem Ständer hatte auch eine Gesichtsmaske. Die Frau sah mich lange an und schüttelte dann den Kopf. Schließlich sagte sie: »Sie können Katzen doch gar nicht -302-
leiden.« »Woher wissen Sie das?« fragte ich wütend. Was für eine Messe war das hier - eine für übersinnliche Comics? »Fans von Kittie Pie mögen Showa Story nicht. Showa Story ist eine brutale, ziemlich abgedrehte Serie, und Kittie Pie ist einfach nur süß. Die beiden Reihen passen nicht zusammen. Ich habe noch nie einen dôjinshi-Fan erlebt, dem beides gefallen hätte.« »Tja«, sagte ich, nun auf englisch, »ich bin Ausländerin. Wir sind für alles offen.« Die Frau musterte mich genau, während ich einen Blick auf das Preisetikett für das Kittie-Pie-Kostüm warf. Es sollte ungefähr einhundertfünfzig Dollar kosten. Vielleicht lohnte es sich doch nicht, für so ein teures Wuschel- Acryl- Teil zu kämpfen, das ich nie wieder anziehen würde. »Nehmen Sie das Mars-Girl-Kostüm«, wiederholte die Frau. »Das kostet nur die Hälfte von dem Kittie-Pie-Kostüm, und Sie gehen damit auf Nummer Sicher.« »Was meinen Sie mit auf Nummer Sicher?« Ich bekam eine Gänsehaut. Kannte sie die ganze Geschichte? »Ich will damit sagen, daß es ein sicherer Kauf ist. Es wird Ihnen passen, und wenn Sie wirklich Ihr Aussehen verändern wollen, kann ich Ihnen einen Ermäßigungscoupon für Haar und Makeup bei Power Princess Spa geben. Die haben nämlich einen Stand hier. Na, wie wär's?« fragte die Frau. »Sie können's hinter dem Vorhang anprobieren.« »Na schön.« Ich verschwand hinter dem bunten LameVorhang. Viel Zeit hatte ich nicht zum Überlegen, denn ich wollte mich so schnell wie möglich verkleiden. Der einteilige Anzug war so eng, daß sich darunter fast mein Frühstück abzeichnete, und der Umhang reichte kaum über den deutlich sichtbaren Bund meines Slip. Ich war eine wandelnde -303-
Modesünde, nicht nur wegen meiner abgetragenen AsicsLaufschuhe. »Suteki!« rief die Frau aus - »ach, wie süß!« -, als ich hinter dem Vorhang hervortrat. Ich zuckte zweifelnd mit den Achseln. Letztlich konnte ich nur hoffen, daß mich das Makeup herausriß. Wieder einmal hatte ich kein Glück, denn eine der beiden Frauen am Makeup- und Haarstand war Miss Kumiko. »Shimurasan, heute machen wir keine Enthaarungen«, erklärte sie mit einem mißbilligenden Blick, als sie mich sah. »Nun, ich brauche auch nur ein Makeup.« Verlegen darüber, daß eine Gruppe von Pocket Monsters Miss Kumiko gehört hatte, reichte ich ihr den Ermäßigungscoupon. »Ach so. Wie waren Sie mit der Behandlung in unserem Hibiya-Salon zufrieden? Sind die Haare schon nachgewachsen?« fragte mich Miss Kumiko mit lauter Stimme. »Nein, nein. Aber heute hätte ich gern künstliche Haare. Könnten wir uns darüber unterhalten?« Widerwillig lieh Miss Kumiko mir eine lavendelfarbene Perücke, die mir bis zur Taille reichte. Dann schminkte sie mein Gesicht in einem schauerlichen Pinkton, der aber immerhin meinen blauen Fleck völlig überdeckte. Nachdem auch noch der grelle Eyeliner und der Kußmund aufgetragen waren, hatte ich keinerlei Ähnlichkeit mehr mit mir selbst. Nun sah ich wie Mars Girl aus. Nein, wurde mir zu meinem Schreck bewußt, eigentlich wie der tote Nicky, der sich als Mars Girl verkleidet hatte. Meine amerikanische Nase und Wangenknochen erinnerten stärker an die seinen, als ich gedacht hatte. Ich gab Miss Kumiko zweitausendfünfhundert Yen und trat noch einmal in die Eingangshalle. Jetzt war plötzlich alles anders. Fremde lächelten mich an wie Freunde. Ein junger Mann und seine beiden Freundinnen im Mars-Girl-Kostüm blieben -304-
stehen, um sich mit mir zu unterhalten. Der Mann machte mir wegen meiner Schuhe ein Kompliment, was mich zum Lachen brachte. Ich fragte sie, ob sie irgendwo Seiko in ihrem Hundekostüm oder Kunio mit seiner alten Marineuniform gesehen hatten. »Im nächsten Raum ist ein Typ mit einer blauen Uniform«, sagte der junge Mann. »Ich glaube, er hat sich die verschiedenen dôjinshi-Tische angeschaut.« »Ist der Mann sehr gutaussehend?« fragte ich. Der junge Mann grinste. »Keine Ahnung, mein Typ ist er nicht. Aber wahrscheinlich schon.« Diese Information reichte mir, um mich noch einmal auf den Weg in den anderen Raum zu machen, wo ich verzweifelt nach einer Uniform Ausschau hielt, die nichts mit Schulmädchen oder jungen zu tun hatte. Schließlich entdeckte ich einen kräftigen Männerrücken in einer sorgfältig gebügelten marineblauen Jacke. Dazu trug der Mann die passende Hose, blank polierte schwarze Schuhe sowie eine Offiziersmütze. Von hinten hatte das nicht viel Ähnlichkeit mit den Uniformen in Showa Story, aber schließlich war auch mein Mars-Girl-Kostüm alles andere als perfekt. Als ich näher kam, bemerkte ich, daß der Umformierte sich gerade mit einer als Mars Girl verkleideten Frau unterhielt. Ich verstand zwar nicht, was die beiden sagten, bekam jedoch mit, daß der Mann ihr am Ende des Gesprächs eine Visitenkarte reichte. Gut gemacht, Kunio, dachte ich. Als der Mann sich umdrehte, wurde mir sofort klar, daß ich mich getäuscht hatte. Das war nicht Kunio, sondern Lieutenant Hata, und die blaue Uniform, die ich für die eines MarineAngehörigen gehalten hatte, entpuppte sich als eine der Polizei.
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34 Lieutenant Hata nickte mir zu und musterte dabei mein Kostüm. Erst jetzt wurde mir bewußt, daß er die Rei Shimura, die er ins Revier bestellt hatte, darunter nicht erkennen konnte. Ich nickte zurück und ging schnell weiter. »Äh, Miss«, rief er mir nach. »Könnte ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen? Ich suche nach jemandem, den Sie möglicherweise kennen.« »Wie?« sagte ich unverbindlich. Je weniger Japanisch ich sprach, desto eher hielt er mich für eine Einheimische. »Sie heißt Rei Shimura, eine Frau japanischamerikanerischer Herkunft.« »Kann mit dieser Perücke nichts hören«, sagte ich laut und nickte ihm noch einmal zu, bevor ich mich in die Menschenmenge stürzte. Zitternd dachte ich: Mein Gott, das war knapp. Wie schrecklich, daß Lieutenant Hata nach mir suchte. Bedeutete das, daß er mich verdächtigte? Doch selbst wenn es sich nach wie vor nur um die Befragung handelte, konnte diese Tage dauern. In Japan hatte die Polizei nämlich das Recht, Leute zu Befragungszwecken bis zu zehn Tage festzuhalten. Ich schlich weiter, froh darüber, daß so viele Menschen da waren und auch noch ein paar Mars Girls, die Lieutenant Hata aufhalten konnte. Als ich mich dem Pressetisch näherte, sah ich dort Rika geduldig warten, das elektronische Notizbuch gegen ihren flachen Bauch gepreßt wie einen Fruchtbarkeitstalisman. »Toll!« rief sie aus, als sie mein Kostüm erblickte. Ich reagierte nicht auf ihr zweifelhaftes Kompliment, sondern fragte: »Haben Sie Kunio gefunden?« »Nein, aber ich glaube, ich habe zwei seiner Fans aufgespürt. -307-
Beide sind wie wir als Mars Girl verkleidet, doch sie wollten mir kein Interview geben. Vielleicht, weil sie dem Zirkel angehören«, fügte sie hinzu. »Das wage ich zu bezweifeln«, sagte ich. »Die einzigen noch lebenden Mitglieder des Zirkels tragen ein Hundekostüm beziehungsweise eine Uniform. Was mich an Ihr Kostüm erinnert. Das haben Sie nicht hier gekauft, sondern schon vorher. Sie hatten von Anfang an vor, diese Convention zu besuchen, stimmt's?« Rika wurde rot. »Alec fand, daß es eine gute Idee wäre.« »Dann sind Sie ihm gegenüber also loyal. Sagen Sie, wie weit würden Sie für ihn gehen?« Rika erstarrte zur Salzsäule. »Schon interessant, daß Sie hier auftauchen, genau wie Sie an dem Tag nach dem Angriff auf mich in meiner Wohnung aufgetaucht sind.« Jetzt bewegte die Salzsäule ihre Lippen. »Was meinen Sie mit Angriff? Sie sagten doch. Sie hätten einen Unfall gehabt. Wieso erzählen Sie plötzlich solchen Unsinn? Offenbar sind Sie verwirrt. Kommen Sie, ruhen Sie sich aus. Ich suche einen Platz für Sie.« Jemand, der das Gespräch belauschte, würde denken, daß Rika lediglich darauf bedacht war, mir zu helfen. »Wir haben zu viel zu tun«, sagte ich verärgert. »Wir sollten getrennt weiterarbeiten. Bis jetzt haben wir keine Fotos, keine Interviews mit Künstlern, einfach gar nichts. Die Sache hier ist ein ziemlicher Reinfall.« »Na schön«, sagte Rika und verbeugte sich ihrerseits verärgert, bevor sie wegmarschierte. * Die Auseinandersetzung mit Rika - falls man meine hitzigen Anschuldigungen und ihre angespannten Reaktionen darauf so -308-
nennen konnte - hatte mir neue Energie verliehen. Ich stürzte ein Pocari Sweat hinunter und begann, weiter in den Hallen herumzugehen. Dabei versuchte ich zu denken wie ein Insider. Warum würden die Mitglieder eines dôjinshi-Zirkels zu einer manga-Convention kommen, wenn nicht, um ihre Comics an den Mann zu bringen? Nun, vielleicht, um jemanden zu finden. Der Gedanke schoß mir durch den Kopf, als ich sah, wie sich kaum drei Meter von mir entfernt ein junger Mann in Jeans vor einem anderen jungen Mann verbeugte und ihm dann eine Visitenkarte reichte. Conventions waren Treffpunkte für Menschen aus den unterschiedlichsten Gegenden. Vielleicht suchten Kunio und Seiko angesichts der Geldknappheit des Zirkels nach einem Investor. Oder nach jemandem, der Nicky ersetzen konnte. Ich ging zurück zum Hedgehog-Tisch. Als ich den gesprächigen Igel anlächelte, der mir zuvor so freundlich geholfen hatte, und dieser mich nur verständnislos ansah, merkte ich, daß er mich in dem Mars-Girl-Kostüm nicht erkannt hatte. »Entschuldigung, ich bin Rei Shimura, die Frau, die Sie vorhin nach Showa Story gefragt hat«, sagte ich. »Oh, die Verkleidung ist wunderbar!« Sein Lachen klang erfreut. »Haben Sie Kuniosan gefunden?« »Nein. Aber ich habe nachgedacht...« Ich schwieg eine Weile, weil ich nicht so genau wußte, wie ich es ausdrücken sollte. »Kommen auch wirklich wichtige Leute auf diese Convention?« »Aber ja. Unsere Fans sind die wichtigsten Leute der Welt.« »Ich meine, außer Ihren Fans. Besuchen auch Geschäftsleute diese Convention? Leute, die Geld in die Produktion einer dôjinshi-Szene stecken würden?« Der Igel kratzte sich das stoppelige Kinn. »Eh to... Jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Leute, die einen dôjinshi -309-
entdecken und den Künstlern dabei helfen, Geld zu verdienen.« »Ja. Welche Leute wären das?« »Nun, wir machen alles selber. Wir haben Teilzeit-Jobs, um Papier und andere Dinge zu finanzieren. Manche anderen Zirkel müssen den Druck ihrer Comics nicht bezahlen, aber dafür gehen ihre Gewinne zur Deckung der Kosten direkt an den Drucker.« »Aha.« Seikos Vater gehörte der Hattori Copy Shop. Aber er hatte Kunio Takahashi eine Rechnung über Druckkosten geschickt, also konnte es sich nicht um eine solche Vereinbarung gehandelt haben, auch wenn er selbst das behauptet hatte. »Ich weiß nicht, ob heute irgendwelche Drucker da sind. Offen gestanden, glaube ich nicht, daß sie sich so auf die Suche nach manga-Künstlern machen, weil wir mit unseren Comics eher Verluste als Gewinne einfahren.« Mir fiel die Stimme am Telefon wieder ein, die mir erklärt hatte, Kunio habe kein Interesse daran, Geld zu verdienen. Nicky jedoch hatte mir von Kunios Schulden erzählt. »Wieviel hat die Miete für diesen Tisch hier gekostet?« fragte ich den Igel. »Mmmm. Zehntausend Yen für das ganze Wochenende. Wenn wir Glück haben, bekommen wir das durch den Verkauf von Heften wieder herein. Aber die letzten Male haben wir immer Verlust gemacht.« »Sie sind also nur aus Liebe zu Ihrer Kunst hier«, sagte ich. »Wir lieben nicht die Kunst, sondern manga.« »Herzlichen Dank, daß Sie mir so viel Zeit geopfert haben. Ich würde Ihnen gern einen Ihrer Comics abkaufen«, sagte ich. »Wunderbar! Ich würde Ihnen empfehlen, daß Sie mit dem ersten Heft der Serie anfangen. Soll ich's für Sie signieren?« »Ja, gern.« -310-
Ich holte einen Tausend-Yen-Schein aus meinem Rucksack, um das Heft zu bezahlen. Als er mir vierhundert Yen zurückgab, fragte ich: »Könnte ich eine Quittung haben? Ich glaube, ich kann das als Spesen berechnen.« »Tut mir leid, aber das geht nicht. Wir sind kein richtiges Geschäft und zahlen keine Steuern.« Ich hatte völlig vergessen, was Hiroko, die verantwortliche Redakteurin von Dayo Publishing, mir über die dôjinshi erzählt hatte, nämlich daß ihr eigenes Unternehmen den Gewinn versteuern mußte, die Amateure jedoch sämtliche Einkünfte behalten konnten. Ich nahm das Heft und entfernte mich von dem HedgehogStand.. Dabei dachte ich über das nach, was ich erfahren hatte. Nicky hatte die geschäftliche Seite für den Zirkel geregelt. Hatten am Ende Steuerprobleme zu seinem Tod geführt? Jetzt mußte ich mich entscheiden, in welche Richtung ich weitergehen wollte. In einem verdunkelten Raum anime-Filme anzuschauen, würde mir vermutlich nicht allzuviel nutzen, und auch meine Anwesenheit beim Kostümwettbewerb erschien mir nicht sonderlich sinnvoll. Also beschloß ich, zur Hauptbühne zu schlendern, wo der sogenannte Freestyle Draw Room in vollem Gange war. Der Conferencier, ein junger Mann um die zwanzig mit grellblond gefärbten Haaren, erklärte gerade übers Mikrofon den laufenden Wettbewerb. Das Publikum schlug eine bekannte manga-Figur vor, und der Künstler auf der Bühne hatte zwei Minuten Zeit, um sie zu zeichnen. Anschließend bewertete das Publikum Originalität und Genauigkeit, zwei Kriterien, die sich meiner Meinung nach widersprache n. Für die erste Runde sollte eine junge Frau in Schuluniform die Figur wählen. »Ah, nun, wie war's mit Sailor Moon?« sagte sie. Ich hätte gelangweiltes Aufstöhnen von den Hunderten animefans erwartet, die im Schneidersitz rund um sie herum -311-
saßen, hörte aber nur höflichen Applaus. Also skizzierten die drei Künstler auf der Bühne mit Feder, Marker oder Bleistift Sailor Moon, das Schulmädchen mit den riesigen Augen. Alle zeichneten die Zöpfe und das Gesicht von Sailor Moon ganz ähnlich - hier ging's offensichtlich um die Genauigkeit. Die Originalität bewiesen die jungen Leute durch das, was Sailor Moon tat. Eine Künstlerin gestaltete sie mit einer aufs Publikum gerichteten Waffe; ein anderer mit hochgewehtem Rock; der dritte an einer Staffelei, wie sie gerade sich selbst zeichnete. Der Künstler mit der sich selbst skizzierenden Sailor Moon war zwar nach den zwei Minuten noch nicht ganz fertig, erhielt aber den meisten Applaus. Ich hingegen war der Meinung, daß die Darstellung des Schulmädchens mit der Waffe am besten war, auch wenn das Thema mich eigentlich abstieß. Die Künstler signierten ihre Werke und rissen sie von den Staffeleien. Ein paar Leute eilten nach vorn, um die Blätter aufzusammeln. Sammler konnten sich für alles begeistern, sogar für unveröffentlichte manga. Ich sah zu, wie noch ein paar andere Comic-Helden ihre zwei Minuten im Rampenlicht bekamen. Zwei der drei Künstler gewannen immer wieder. Die einzige, die sich nie durchsetzen konnte, war die junge Frau, die alle Figuren mit einer Waffe in der Hand zeichnete. Langsam verlor sie den Mut, das sah man an ihren hängenden Schultern und daran, daß sie nicht mehr so schnell zeichnete. Allmählich hatte ich genug von dem Wettbewerb, und so erhob ich mich, um zu gehen. Rund um mich herum hatten alle die bunten Comic-Blätter auf dem Boden ausgebreitet. Ein bißchen erinnerte mich das an die Handtücher am Strand von Isshiki. Applaus, es hatte also wieder jemand gewonnen. Nun bat der Conferencier erneut jemanden aus dem Publikum, ein Thema vorzuschlagen. -312-
»Du, du«, sagte eine junge Frau neben mir und deutete auf mich. Du lieber Himmel. Daß ich aufgestanden war, ließ sie offenbar glauben, ich wolle einen Vorschlag machen. Na schön, warum nicht. »Mars Girl«, sagte ich. »Sie hat Mars Girl gesagt!« rief das Mädchen neben mir nach vorn. »Na, was haltet ihr davon?« fragte der Conferencier die Künstler. »Könnt ihr es mit der mächtigen Fremden aus dem All aufnehmen?« Jetzt mußte ich bleiben. Allerdings ging ich näher an die Bühne heran, damit ich die Werke der Künstler besser sehen konnte. Ich hielt der jungen Frau die Daumen, die immer wieder verlor, aber es sah nicht so aus, als würde sich diesmal etwas ändern - ihr Mars Girl spießte sich selbst mit einem langen, scharfen Bajonett auf. Ein beunruhigendes, brutales und schlampig gezeichnetes Bild. Der Künstler, der erotische Themen favorisierte, stellte sie dar, wie sie Strümpfe anzog, und der dritte, der die erste Runde mit Sailor Moon gewonnen hatte, skizzierte ein strahlendes Mars Girl, das zwei Finger zum Siegeszeiche n erhob. Natürlich gewann das letzte - warum zum Teufel fanden die Leute so etwas gut? Nun, die Zeichnung war präzise ausgeführt, aber das Thema der reine Kitsch. Bei dem Künstler handelte es sich um einen großgewachsenen, schmalen jungen Mann, der gekleidet war wie ein salaryman. Vielleicht sahen so die dôjinshi-Künsüer aus, die irgendwann von den wichtigen Verlagen angeheuert wurden, dachte ich, als die Fans um mich herum versuchten, das fertige Bild aufzufangen, das er von der Bühne zu ihnen herunterwarf. Moment. Das waren doch die perfekten Illustrationen für die Convention, auf der man keine Fotos machen durfte. Ich drängte mich nach vorn, um mitzubekommen, welche Fans die -313-
Zeichnungen auffingen. Ich würde sie ihnen abkaufen müssen. Jetzt erhob sich ein junger Mann mit weißer Jacke und einer vom Alter verschossenen Hose. Er hatte ein elegant geschwungenes Kinn, verbarg die Augen jedoch hinter einer gebogenen Sonnenbrille. Er ging schnurstracks zu der jungen Frau, die das Bild mit dem Bajonett skizziert ha tte. Wie um ihre Zeichnung genauer zu betrachten, nahm er die Sonnenbrille ab und ließ sie locker von einer Hand baumeln. Mit der anderen griff er nach der Darstellung des sich selbst aufspießenden Mars Girl. Ich konnte den Gesichtsausdruck der jungen Frau sehen. Sie schien hingerissen, wurde rot und blinzelte nervös. Zwar sagte sie kein Wort, aber ihre Lippen öffneten sich wie zum Kuß. Eine solche Reaktion konnte nur einer hervorgerufen haben: Kunio Takahashi.
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35 Die Begegnung dauerte nur einen kurzen Moment, und als der Conferencier das Publikum bat, neue Vorschläge für Zeichnungen zu machen, hatte Kunio die Brille schon wieder aufgesetzt und marschierte in Richtung Ausgang. Ich lehnte mich locker gegen die Tür, damit er mich bitten mußte, beiseite zu treten, wenn er hinaus wollte. Während er auf mich zukam, entrollte er das Bild und betrachtete es. Mir fällt es schwer, beim Gehen einen Stadtplan zu studieren, aber Kunio hatte offenbar kein Problem, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Ich glaubte zu sehen, wie er beim Anblick der Zeichnung leicht die Nasenflügel blähte, und fragte mich, ob das bedeutete, daß sie ihm nicht gefiel. Als Kunio noch knapp zwei Meter von mir entfernt war, nahm er die Sonnenbrille ab, als wolle er mein Kostüm mustern. Dabei sah ich zum erstenmal sein ganzes Gesicht, die hohen, wohlgeformten Wangenknochen und die dunklen Augen mit den samtigen Wimpern, die er offenbar mit Mascara geschminkt hatte. Die rotbraunen Haare hatte er an der Seite gescheitelt, und ein perfekter Pony hing ihm in die Stirn. Alle Mädchen hatten gesagt, er sehe einfach toll aus. In meinen Augen jedoch war er nur eine androgyne Puppe, eine Comic-Figur. Kunio verbeugte sich mit einem charmanten Lächeln leicht vor mir. Wahrscheinlich, so dachte ich, würde er mir gleich ein Kompliment für mein Kostüm machen. Er wirkte wie jemand, der anderen schmeichelte, genauso, wie er es mit ziemlicher Sicherheit bei der Zeichnerin getan hatte. »Entschuldigung«, sagte er mit sanfter Stimme, doch ich rührte mich nicht von der Stelle. Er versuchte es noch einmal. -315-
»Ah, Entschuldigung. Würden Sie mich bitte vorbeilassen?« »Warum haben Sie die Zeichnung genommen?« fragte ich. Verbal war er gar nicht so charmant, wie ich erwartet hatte. »Weil ich Mars Girl mag.« Er trat einen Schritt näher auf die Tür zu. »Sie sammeln wohl alles über Mars Girl, jetzt, wo Ihr dôjinshi am Ende ist?« fragte ich. Kunio blinzelte kurz und betrachtete mich dann genauer. »Sie erkennen mich nicht«, sagte ich. »Haben wir irgendwann mal zusammen Tee getrunken?« Das war ein japanischer Euphemismus dafür, wenn zwei Leute miteinander gingen. »Nein, tut mir leid.« »Ihre Zähne sehen amerikanisch aus«, sagte er. »Na, das wäre doch schon ein Hinweis.« Jetzt hatte ich fast Spaß an dem Spielchen. Er setzte seine Sonnenb rille wieder auf. »Nun sagen Sie schon, wer sind Sie?« Die Leute draußen hämmerten gegen die Tür, weil sie hereinwollten. Doch ich wich nicht, denn ich hatte vor, mich weiter mit Kunio zu unterhalten. »Mein Name ist Rei Shimura«, sagte ich schließlich. »Ich habe mehrere Nachrichten für Sie hinterlassen, daß Sie mich anrufen sollen.« »Ach!« Er biß sich auf seine sinnliche Unterlippe. »Heute schauen Sie aber anders aus.« Heute schauen Sie aber anders aus. Also hatte er mich schon einmal gesehen. - Er war der Mann mit der Sonnenbrille, der mich am Nachmittag von Nickys Tod in dem anime-CoffeeShop beobachtet hatte. Vielleicht hatte er mich auch die Treppe im Bahnhof hinuntergestoßen. Wenn er die Sonnenbrille trug, war sein Gesichtsausdruck undurchdringlich. -316-
»Woher wissen Sie so viel über japanische Geschichte, über Trostfrauen, organisiertes Verbrechen und die anderen Dinge?« »Nicky hat in Amerika japanische Geschichte studiert und uns davon erzählt. Ich wußte nicht, ob das alles tatsächlich stimmt, aber es war guter Stoff für Comics«, sagte Kunio. »Also hätten Sie sich auf ihn konzentrieren sollen, nicht auf mich.« »Aber Sie haben das künstlerische Talent«, sagte ich. »Ich finde Ihre Comic-Zeichnungen und das Wandgemälde im Show a Boy einfach toll und dachte, vielleicht könnte ich eine Ausstellung für Sie organisieren. Sie könnten auf der Basis der besten Illustrationen aus Ihren Comics provokante Gemälde schaffen.« »Provokante Gemälde? Das ist doch Quatsch. Ich möchte bloß Comics zeichnen.« »In einem Comic-Heft haben Sie nicht viel Platz für die Entfaltung Ihrer Kreativität. In einem Wandgemälde wie dem im Show a Boy können Sie die ganze Bandbreite Ihrer Fähigkeiten zeigen. Meiner Meinung nach war dieses Wandgemälde vielversprechend, jedoch nur ein Vorgeschmack auf das, was Sie noch schaffen könnten.« »Die Arbeit in dem neuen Format hat Spaß gemacht, aber...« Er schüttelte den Kopf. »Wie oft, glauben Sie, wird mir jemand eine nackte Wand wie die zur Verfügung stellen können? In einer Stadt wie Tokio, in der sowieso kein Platz ist?« »Sie könnten auf Leinwand arbeiten«, schlug ich vor. »Wer soll sich denn das leisten? Ich habe kein Geld.« »Aber jetzt, nach Nickys Tod, geht's Ihnen doch finanziell besser.« »Wie bitte?« »Sie hatten sich Geld von ihm geliehen.« »Das habe ich ihm zurückgezahlt.« »Nicht vor seinem Tod«, sagte ich. »Das weiß ich, denn ich -317-
war in dem Haus, in dem Sie wohnen, und da hat er sich über Sie beklagt.« Kunio schwieg eine Weile. Dann streckte er plötzlich den Arm aus, drückte die Tür auf und tauchte in die Menge der auf der anderen Seite wartenden Fans ein. »Hey«, rief ich ihm nach und folgte ihm. Doch die Menschenmenge, die sich mittlerweile auf der anderen Seite der Tür angesammelt hatte, drängte mir entgegen. Ich kam mir vor wie ein Surfer auf einer immer höher werdenden Welle. »Haltet den Mann in Weiß auf!« rief ich. Warum nur hatte ich Kunio meinen Namen verraten? Nun, ich hatte eine Reaktion von ihm gewollt und auch bekommen, wenn auch nicht die gewünschte. Immer mehr Leute wurden auf meine Rufe aufmerksam. »Oh, ein Rollenspiel!« kreischte jemand begeistert. »Mars Girl, dürfen wir mitmachen?« fragte mein Igelfreund mit lauter Stimme. »Ja, natürlich!« antwortete ich, ohne Kunio aus den Augen zu lassen. »Aber haltet den Mann in Weiß auf.« Jetzt verwandelte sich die Welle in eine Springflut. Ich wurde von den Ninja, den Sailor Moons und den Pocket Monsters mitgerissen, die alle der schlanken, weißgekleideten Gestalt den Flur hinunter folgten. Inmitten der bunten Menge glaubte ich, etwas Blaues zu entdecken. Ja, ein Mann um die dreißig in Polizeiuniform hatte sich ebenfalls ins Getümmel gestürzt: Lieutenant Hata. »Polizei!« rief er. »Alle stehen bleiben. Hören Sie sofort auf zu rennen!« Die Leute folgten seinem Befehl, was zu zahlreichen Kollisionen fü hrte. Es war wie in einer vollbesetzten U-Bahn, die urplötzlich anhielt. Ich wurde hin und her geschoben, und irgend jemand zerrte an meiner Mars-Girl-Perücke. Ein -318-
Mädchen fiel auf mich; ich verlor Zeit, als ich den Schmutz abklopfte und ihre Entschuldigung erwiderte. Irgendwann hatten sich dann alle wieder hochgerappelt und beklagten sich über die gewaltsame Beendigung eines so tollen Rollenspiels. »Schade, daß Sie das Spiel hier drin nicht durchführen konnten, Shimurasan«, sagte der Igel in bedauerndem To nfall. »Wollen wir's draußen noch einmal versuchen, sagen wir in ein paar Stunden? Vielleicht am Strand?« Lieutenant Hata mischte sich mit lauter Stimme in unser Gespräch ein. »Shimurasan, Sie sind also doch da! Sind Sie verantwortlich für diesen Aufruhr?« »Das war nicht meine Absicht«, sagte ich, ein wenig verzweifelt. Konnte er mich dafür ins Gefängnis stecken? »Ich wollte nur Kunio Takahashi nicht aus den Augen verlieren.« »Ach, tatsächlich?« Er klang aufrichtig erstaunt, vielleicht sogar ein bißchen neidisch. »Wir wollen hier keinen Aufruhr. Die Comic-Fans hatten versprochen, sich anständig zu benehmen, neh? Aber sie haben sich nicht an die Abmachung gehalten«, meldete sich ein Mann mittleren Alters unmittelbar hinter Lieutenant Hata zu Wort. Vermutlich gehörte er zu den Organisatoren der Convention. »Die Gruppe war nicht schuld, obwohl sie natürlich gedankenlos gehandelt hat«, sagte der Lieutenant. Mit lauterer Stimme fügte er an die Fans gewandt hinzu: »Gehen Sie jetzt bitte alle wieder dorthin zurück, woher Sie gekommen sind. Und fangen Sie nicht wieder zu rennen an. Selbst in einem Notfall sollten Sie ganz ruhig zum nächsten Ausgang gehen.« »Wer einmal draußen war, darf nicht mehr rein«, sagte der Organisator. »Und Sie, junge Frau, müssen die Halle sofort verlassen.« Jetzt sahen alle mich an. In der Menge entdeckte ich Rika. Sie wirkte entsetzt, ob meinetwegen oder weil sie wußte, daß gerade eben unser Artikel geplatzt war, konnte ich nicht sagen. -319-
»Sie müssen die Halle verlassen«, wiederholte der Organisator. Lieutenant Hata räusperte sich. »Tut mir leid, Shimurasan, dazu ist er dem Gesetz nach berechtigt.« »Aber ich trage ein Kostüm. Ich muß erst meine richtige Kleidung holen.« »Dazu ist keine Zeit. Zuerst muß hier die Ordnung wiederhergestellt werden.« Mittlerweile waren die SumoRinger, die offenbar als Sicherheitskräfte arbeiteten, aufgetaucht. Diesmal wirkten sie noch bedrohlicher auf mich. Ich glaubte, so etwas wie Mitleid in Lieutenant Hatas Blick zu entdecken, doch er sagte lediglich: »Die Hallenbetreiber haben das Recht, jemandem den Zutritt zu verweigern. Ich begleite Sie nach draußen. Ich wollte Ihnen ja sowieso noch ein paar Fragen stellen...« »Vergessen Sie's«, sagte ich wütend und preßte die InfoMappe für die Convention gegen meinen blauen einteiligen Anzug. Dann machte ich mich auf den Weg zum Ausgang. Eine hohe Stimme hinter mir rief: »Reisan, ich hole Ihre Kleidung für Sie. Wo haben Sie sie gelassen? Bitte machen Sie sich keine Sorgen.« Das war Rika, die mir wie immer folgte. »Soll ich wirklich glauben, daß Sie mal was für mich tun? Außerdem mache ich mir keine Sorgen um meine Kleidung«, herrschte ich sie an. »Aber Sie haben doch gesagt - oh!« Sie bekam große Augen. »Das war also nur eine Ausrede, um in der Halle bleiben zu können.« Mittlerweile war ich fast beim Ausgang. Mit eisiger Stimme erklärte ich ihr: »Tja, nun liegt die Story wohl in Ihren Händen.« »Sagen Sie das nicht!« rief Rika aus. »Wir arbeiten zusammen. Sie sind die sempai und ich die kohai.« Das waren traditionelle Ausdrücke für Vorgesetzte und Untergebene. -320-
»Sie bleiben doch und führen die Sache zu Ende, oder?« fragte ich ein wenig verbittert. »Ich versuche es.« Der Sumo-Ringer, der uns gefolgt war, hielt die Tür für mich auf. Es blieb mir nichts anderes übrig, als hindurchzugehen.
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36 Wie immer am Wochenende herrschte in Hayama und Zushi reger Verkehr. Ich wartete schwitzend zusammen mit zahlreichen anderen Leuten an einer Bushaltestelle. Das Kostüm klebte mir am Leib. Die wenigen Conventionbesucher, die neben mir standen, würdigten mich keines zweiten Blickes, doch die Strandbesucher waren fasziniert. Surfer stießen ihre Freunde in die Rippen und unterhielten sich flüsternd darüber, ob ich mein Kostüm aus einem Badehandtuch geschneidert hatte. Ich starrte unverwandt auf die Straße und wünschte mir nichts sehnlicher, als daß der Bus käme. Als sich schließlich einer näherte, mußte ich leider feststellen, daß er in die falsche Richtung unterwegs war, zum Bahnhof Zushi, nicht zur Villa des Kaisers. Ich beschloß, zu Fuß zu gehe n. So konnte ich weiter nach Kunio Takahashi Ausschau halten. Aber ich sah keinen jungen Mann in weißer Marine-Uniform, lediglich Leute auf Motorrädern oder in Autos. Was war nur aus dem alten Japan geworden, in dem die Menschen kilometerweit zu Fuß gegangen waren? Allmählich wurde die Hitze unter meinem engen Nylondreß unerträglich, und ich war völlig durchnäßt. Jetzt wirkte das Ding wirklich obszön. So würde kein Busfahrer mich mehr in sein Gefährt lassen. Es blieb mir also tatsächlich nichts anderes übrig, als den ganzen Weg bis zu Takeos Haus zu Fuß zu gehen. Mir war so heiß, daß ich an einem Automaten stehenblieb, um mir ein Pocari Sweat zu kaufen, das ich in rasender Geschwindigkeit hinunterstürzte. In dem Automaten befand sich eine Öffnung für die leeren Dosen, doch die war bereits bis obenhin voll. -322-
Auf meinem weiteren Weg suchte ich nach einem Abfalleimer, in den ich die Dose werfen konnte, und entdeckte auch tatsächlich einen an der nächsten Straßenecke, der zwar schon ziemlich voll war, bei dem ich aber die Dose noch auf den Rand stellen konnte. Als ich näher kam, fiel mir etwas Wuscheliges darin auf, eine Hundemaske aus Acryl. Seiko Hattoris Kostüm kam mir in den Sinn. War sie vor kurzem hier vorbei gekommen? Und wenn ja, warum hatte sie dann den oberen Teil ihres Kostüms in den Abfalleimer geworfen? Es war ein merkwürdiger Ort, an dem sie sich des Kopfes entledigt hatte: knapp einen halben Kilometer von der Messehalle, aber lediglich einen Steinwurf vom Eingang zum Strand entfernt. Er gehörte zum Isshiki Beach, allerdings nicht zu dem Ende in der Nähe von Takeos Haus, also kannte ich ihn nicht. Ich warf einen Blick auf die Hundemaske und lauschte auf die Brandung. Vermutlich würde jemand, der zum Strand wollte, die schwere Maske wegwerfen. Ich wartete auf eine Lücke im Verkehr und überquerte die Straße. * »Schau dir die an!« Die Leute drehten sich kichernd nach mir um, als ich den Strand betrat. Jungen und Mädchen auf ihren Handtüchern glotzten mir mit offenem Mund nach. Vielleicht hätte ich die Perücke wegwerfen sollen. Ich hatte es nicht getan, weil sie nur geliehen war und ich hoffte, sie zurückgeben und die Leihgebühr dafür zurückbekommen zu können. »Da drüben findet eine Convention statt«, flüsterte eine Frau, die gerade Sonnencreme in die Schultern ihres kleinen Kindes massierte, ihrem Mann zu. »Heute sind ganz schön viele von denen unterwegs.« Ich sprach sie an: »Haben Sie einen Hund gesehen? Ich meine, einen als Hund verkleideten Menschen?« -323-
Die Frau hielt sich erschreckt die Hand vor den Mund, als wolle sie so ihre Verlegenheit verbergen. Der Mann herrschte mich an: »Leute wie Sie kennen wir nicht. Der Strand hier ist für Familien, neh?« Ich hätte antworten können, daß es gar nicht nötig war, Leute wie mich zu kennen, daß es reichte, mir zu sagen, ob sie einen als Hund verkleideten Menschen gesehen hätten, doch das hatte keinen Sinn. Wie praktisch wäre jetzt Takeos Fernglas gewesen, mit dem ich den Strand hätte absuchen können. Ich trottete mit wippender Perücke durch den Sand. Nun kam ich mir wirklich wie eine Außerirdische vor. Ich ging den ganzen Strand ab, ohne Kunio zu entdecken, und beschloß, dem Ufer in Richtung von Takeos Haus zu folgen. Dann ersparte ich mir immerhin die kichernden Bemerkungen der Leute, die sich weiter oben sonnten. Ich schlüpfte aus meinen Asics- Laufschuhen und steckte sie in meinen Rucksack. Wenn ich barfuß im Wasser planschte, waren immerhin meine Füße kühl. Inzwischen hatte ich fast den Teil erreicht, in dem sich die Bojo-Bar befand. Zu nahe wollte ich ihr nicht kommen, weil ich keine Lust hatte, dem Fisch zu begegnen. Da sah ich im Wasser einen Mann stehen; sein Profil kam mir irgendwie bekannt vor. Er trug ein Unterhemd und eine weiße Hose und ging langsam im Kreis herum, als suche er nach etwas. Jetzt erkannte ich ihn an seinen eleganten Bewegungen. Es war Kunio Takahashi. In dem Mars-Girl-Kostüm würde er mich seinerseits sofort erkennen, also setzte ich mich in den Sand und öffnete den Reißverschluß des Anzugs. Darunter trug ich einen schwarzen Büstenhalter von Jockey und einen schwarzen Slip. Sah gar nicht so viel anders aus als mein Speedo-Bikini. Ich wusch das Makeup im seichten Wasser ab und holte dann sicherheitshalber das scharfe Schindelstück aus dem Rucksack, das ich die ganze -324-
Zeit mit mir herumgetragen hatte. Während ich auf Kunio zuging, erinnerte ich mich daran, wie ich früher einmal Alpträume gehabt hatte, in denen ich plötzlich vor wildfremden Menschen in der Unterwäsche dastand. Doch hier fiel ich damit weniger auf als in meinem Mars-GirlKostüm. Inzwischen war ich noch ungefähr sechs Meter von Kunio entfernt, und er hatte mich nicht bemerkt. Wenn er mich sah und floh, würde ich ihm folgen. Vielleicht war er anfangs schneller als ich, aber ich bezweifelte, daß er so viel Ausdauer besaß wie ich. Außerdem trug ich sportliche Unterwäsche und er eine lange Hose, die ihn beim Laufen behindern würde. Ich war noch etwa drei Meter von Kunio weg, als er mich wahrnahm. Er stemmte die Hände in die Hüften und sah mich an. »Wieder so ein billiges Rei-Shimura-Kostüm. Wen spielen Sie denn diesmal?« »Mich selbst«, sagte ich. »Ich bin die Frau, die Sie in dem anime-Coffee-Shop beobachtet und im Bahnhof gestoßen haben. Aber diesmal kriegen Sie mich nicht so leicht unter.« »Ich war in dem Coffee-Shop, ja, aber in keinem Bahnho f. Doch wahrscheinlich glauben Sie mir das sowieso nicht - Sie denken, daß ich ihn umgebracht habe. Tragen Sie deshalb die Waffe mit sich rum?« Ich sah das Schindelstück an und reichte es ihm. »Nein, das denke ich nicht. Inzwischen bin ich der Überzeugung, daß Sie mich zum erstenmal gesehen haben, als ich in dem Haus war, in dem Sie wohnen, und daß Sie derjenige waren, der die Tür zu Ihrem Apartment zugeschlagen hat, damit ich mich nicht weiter umschauen konnte. Sie haben sich Sorgen gemacht und sind mir deshalb den ganzen Tag gefolgt. Und aus diesem Grund können Sie Nicky nicht umgebracht haben, denn zum Zeitpunkt seines Todes waren Sie zusammen mit mir in dem Coffee-Shop.« »Meinen Sie, die Polizei glaubt das?« -325-
»Vielleicht. Besonders wenn Sie ihr dabei helfen, den Mörder aufzuspüren«, sagte ich. Er ließ den Blick über den Strand schweifen. »Sie wissen, wer Nicky ermordet hat«, sagte ich. »Ist sie hier?« »Bis vor kurzem, ja«, sagte er mit leiser Stimme. »Paßt genau«, sagte ich. »Wie haben Sie Chiyo die Sache mit Showa Story mitgeteilt?« Kunio wühlte mit den Zehen im Sand. »Das war ein Fehler. Ich habe sie um Hilfe gebeten und ihr gesagt, ich könnte mir kein Postfach leisten, weil wir den ganzen Gewinn unserem Drucker geben müßten. Wahrscheinlich hat sie's ihne n daraufhin gesagt.« »Heißt das, sie hat's der yakuza gesagt?« fragte ich. Das Geräusch der Wellen übertönte unser Gespräch. »Die sind doch hinter uns her, oder? Ich habe merkwürdige Fan-Briefe von einem Mann namens Fisch bekommen. Mir wurde ganz komisch im Magen bei der Lektüre, weil er mich darin als einen der ganz Großen Japans bezeichnet hat. Er wollte, daß ich manga zeichne, in denen ich die GangsterTradition glorifiziere. Können Sie sich vorstellen, was für Gefühle das in mir erzeugt hat?« »Der Fisch hat Nicky nicht umgebracht. Er würde nichts tun, was Mars Girl schadet, weil er weiter aus der Serie Profit schlagen möchte.« »Wie das?« »Offenbar hat die yakuza so etwas wie Steuern von Seiko Hattoris Vater kassiert - weil er Ihre manga druckte und den Gewinn für sich behielt. Die Gangster beteiligen sich gern an halblegalen Geschäften. Früher haben sie sich hauptsächlich an die schwebende Welt gehalten, aber heute interessieren sie sich sogar für einen Copy-Shop, der dôjinshi druckt.« -326-
»Ich hätte schon vo r einem Jahr aufhören können«, sagte Kunio mit trauriger Stimme. »Die Verantwortlichen bei Dayo Publishing wollten mich anheuern. Aber ich war stolz und wollte meine eigene Arbeit weitermachen.« »Noch eine Frage«, sagte ich. »Nicky und Seiko. Ich begreife einfach nicht, was er an ihr gefunden hat. Er hätte doch jede haben können.« »Sie meinen jemanden mit einem schöneren Körper als Seiko?« »Nein.« Ich wurde rot, als mir bewußt wurde, daß ich im Augenblick selbst nur Unterwäsche trug. »Nicky hat mir auch gesagt, daß ich ihm leid tue, weil sich in Japan vermutlich kein Mann für mich interessieren würde.« Kunio lächelte müde. »Die Sexszenen in Showa Story sind Ihnen doch vermutlich aufgefallen, oder?« »Tja, in den späteren Ausgaben waren ziemlich viele, das stimmt.« »Nicky hat sich die Geschichten ausgedacht. Ich habe sie nur gezeichnet.« »Ach?« »Er war wirklich pervers. Nicht viele Mädchen hätten das mitgemacht, was er gern mochte. Aber Seiko war verrückt nach ihm. Sie hätte alles für ihn getan, hat er gesagt.« »Ach«, sagte ich noch einmal. »Und was wußte ihr Vater davon?« »Er wußte nicht, daß sie eine sexuelle Beziehung mit Nicky hat«, antwortete Kunio. »Wenn er es geahnt hätte, wäre er sehr wütend geworden. Die meisten Väter wollen, daß ihre Töchter rein und unschuldig bleiben. Aber Seiko war nicht rein und unschuldig, sondern zerbrechlich.« Zerbrechlich war nicht gerade das erste Wort, das mir zu Seiko eingefallen wäre, denn sie war ziemlich kompakt gebaut -327-
und hatte im Bus einen erotischen Comic gelesen. Wie eine Mimose war sie mir nicht vorgekommen. »Ich habe draußen vor dem Strand in einem Abfalleimer eine Hundemaske gesehen. Warum hat Seiko ihr wertvolles Kostüm weggeworfen?« »Das hat sie mir nicht gesagt. Sie hat mich vor ungefähr fünfzehn Minuten verlassen, nachdem sie sich bei mir entschuldigt und sich von mir verabschiedet hatte.« »Wo wollte sie hin?« fragte ich verwirrt. »Keine Ahnung. Sie hat mich bei der Convention ausrufen lassen, und dann haben wir ausgemacht, uns hier zu treffen. Wahrscheinlich war das für sie am günstigsten.« »Wieso sollte es für sie günstiger sein, sich hier zu treffen, als bei der Convention?« Ich schaute kopfschüttelnd aufs Wasser. »In welche Richtung ist sie verschwunden?« Kunio kratzte sich am Kinn. »Nun, wir saßen am Strand, und sie hat an einer der kleinen Buden Eis und Limonade für uns beide bestellt. Sie sagte, ich soll sie in bittersüßer Erinnerung behalten, weil unsere Zusammenarbeit an Showa Story die bittersüßeste Zeit ihres Lebens gewesen ist. Dann ist sie einfach aufgestanden und gegangen, mit ihrer Limonade. Ich konnte ihr nicht folgen, weil ich die Rechnung bezahlen mußte. Mein Geld hat nicht ganz gereicht, aber die Kellnerin war nett und hat mir den Rest geschenkt. Mir war's ziemlich peinlich, daß so etwas ausgerechnet passieren mußte, wo wir beide kostümiert sind. Das wirft ein schlechtes Licht auf uns manga-Fans.« »Ich verstehe, was Sie meinen.« Etwa sechzig Meter von uns entfernt entdeckte ich etwas Gelbes. Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen. »Sind Sie ein guter Schwimmer?« fragte ich Kunio. Er schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Ich bin in den Bergen aufgewachsen und hatte keine Gelegenheit, es zu -328-
lernen.« »Dann rufen Sie den Notarzt. Ich glaube, ich gehe rein.« »Wo rein?« »Ins Wasser. Ich denke, Seiko ist drin.« Normalerweise wäre ich langsam losgelaufen, doch jetzt rannte ich, so schnell ich konnte. Je näher ich an das gelbe Ding herankam, desto mehr ähnelte es einem Pelzmantel. Nein, es war ein Hundekostüm aus Acryl. Ordentlich daneben ausgebreitet lagen ein Hundehalsband und Schuhe sowie ein leeres Trinkglas und ein kleines Fläschchen mit der Aufschrift »Valium« und meinem Namen darauf. Offenbar hatte Seiko die Tabletten aus meinem Rucksack genommen, als ich im St. Luke's auf der Toilette gewesen war und mein Cousin Tom sich wieder um seine Patienten gekümmert hatte. Ich begann zu zittern, denn jetzt wußte ich, daß mein erster Gedanke richtig gewesen war: Seiko hatte wahrscheinlich Selbstmord begangen. Ich ließ den Blick übers Wasser schweifen und sah unge fähr tausend Köpfe mit glattem, glänzend schwarzem Haar. Ich hielt Ausschau nach einem Kopf, der sich abseits von den anderen bewegte, weit draußen, jenseits der Bojen. Ich rannte ins Wasser, weil ich wußte, daß meine Beine mich schneller voranbringen würden als meine Arme. Als das Wasser mir bis zur Taille reichte, wurde ich langsamer, legte mich auf die rechte Seite und begann zu schwimmen. Dabei verfluchte ich mich selbst dafür, daß ich das Kraulen nie richtig gelernt hatte. Ich trat eine Weile Wasser, um Kraft zu schöpfen. In der Ferne glaubte ich, einen schwarzen Punkt zu entdecken. War das Seiko? Ich wandte meine Aufmerksamkeit den Leuten rund um mich herum zu, ein paar jungen Männern auf Wasserskiern, einem schmusenden Pärchen und einigen Schuljungen, die sich um ein -329-
Schwimmbrett stritten. Ich sah mir das Brett genauer an. Es erinnerte mich an das, das ich in meiner Schulzeit benutzt hatte - ein tolles Ding, wenn man weit hinaus will, aber den Kopf immer über Wasser behalten möchte. Ich winkte den Kindern zu und rief ihnen mit fröhlicher Lehrerinnenstimme zu: »Hallo, Kinder. Habt ihr schon gehört, daß es am Strand Gratiseis gibt?« »Eis?« Japanische Kinder reagierten Fremden gegenüber im Regelfalle nicht argwöhnisch. »Mein Freund Kunio Takahashi, der Mann mit der weißen Hose vorne im flacheren Teil, hat allen ein Eis versprochen, die zu ihm kommen. Aber ich müßte mir euer Schwimmbrett borgen, während ihr am Ufer seid.« Dort würden sie auch merken, wie wenig Geld Kunio hatte. Vielleicht würden sie sogar die Polizei holen, und genau die brauchte ich, wenn ich wieder aus dem Wasser wäre. »Das ist mein Schwimmbrett!« rief einer der Jungen. »Ja, ja, ich passe gut drauf auf.« Ich hatte es mir bereits unter den Arm geklemmt und machte mich auf den Weg nach draußen. Schon nach weniger als einer Minute konnte ich die Rufe der Jungen kaum noch hören. Ich nahm nur das Geräusch meiner eigenen Kickbewegungen wahr. Das Adrenalin verlieh mir Kräfte, von denen ich bisher nichts geahnt hatte, und ich kam zügig voran. Doch alle paar Minuten schleuderte mich eine Welle ein paar Meter zurück. Ich klammerte mich an den Gedanken, daß die Wellen auch Seiko zurückwarfen. Der Abstand zwischen uns war jetzt gar nicht mehr so groß, nur ungefähr fünfzehn Meter. Sie schwamm langsam, und wenn ihr Kopf und ihre Schultern über dem Wasser auftauchten, sah ich ihr schulterlanges Haar. Ich wartete einen Augenblick der Ruhe ab und rief dann: »Seiko, warten Sie!« -330-
Sie schaute über die Schulter zu mir zurück und begann, Wasser zu treten. Seiko wirkte sehr, sehr müde. Da ich den japanischen Ausdruck für »Wasser treten« nicht kannte, sagte ich: »Bewegen Sie sich weiter. Ich helfe Ihnen.« Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ich merkte, daß ihre Bewegungen hektischer wurden. Sie stürzte sich mit einem lauten Platschen nach vorn und begann, noch weiter hinaus zu schwimmen. Während ich ihr folgte, dachte ich über die Ereignisse nach. Kunio hatte Chiyo gegenüber erwähnt, daß seine Gewinne an den Hattori Copy Shop gingen. Chiyo hatte das ihrerseits dem Fisch erzählt, und der hatte dem Vater »Steuern« abgenötigt. Seiko wußte davon und versuchte nun als Strafe dafür, daß sie das Problem verursacht hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Seiko bewegte sich mittlerweile nur noch müde. Ich paddelte, so schnell ich konnte. Wenn sie unterginge, würde ich sie nicht bis ans Ufer schleppen können. Da kam eine weitere, ziemlich große Welle auf mich zu. Seiko bemerkte sie nicht. Als sie auf sie traf, wurde ihr nackter Körper hochgeschleudert wie eine billige Plastikpuppe. Ich streckte mich, damit die Welle über mich hinweg rollte. Der Lärm war ohrenbetäubend. Als ich wieder auftauchte, sah ich ungefähr sechs Meter von mir entfernt eine Hand aus dem Wasser ragen. Ich paddelte hin, so schnell ich konnte, ließ selbst das Schwimmbrett los und versuchte, Seiko darauf zu hieven. Ich hatte erwartet, daß sie sich wehren würde, doch ihr Körper hing schlaff in meinen Armen. Zum Glück war sie nicht tot. Sie hustete, als hätte sie Unmengen Wasser geschluckt, hatte aber die Auge n geschlossen. Vermutlich hatte das Valium zu wirken begonnen. Nun lag's an mir, sie in Sicherheit zu bringen. Die Chancen standen schlecht, denn ich war eine schlechte Schwimmerin und -331-
sollte eine Frau retten, die selbst bewegungsunfähig war und möglicherweise sogar Mund zu-Mund-Beatmung benötigte. Meine einzige Hilfe war das Schwimmbrett. Wassertretend gelang es mir, das Brett unter ihre Brust zu schieben, über das sie nun hing wie ein Betrunkener über einen Tisch. Für mich war auf dem Brett kein Platz mehr ; mir blieb nur, es mit einer Hand festzuhalten und uns beide mit langsamen Schwimmbewegungen in Richtung Ufer zu bringen. Die größte Gefahr waren weitere Wellen - ich wußte nicht, ob wir es beide schaffen würden, uns an dem Brett festzuklammern. Wir befanden uns immer noch in mehr als einsfünfzig tiefem Wasser, aber allmählich tauchten die ersten Schwimmer auf. Ich hob eine Hand, um ihnen zuzuwinken, doch niemand bemerkte mich. Wenn ich näher heran wäre, würde ich rufen. Da hörte ich hinter uns wieder das mir inzwischen vertraute Brausen einer Welle, einer großen Welle. Seiko lag sicher auf dem Brett, konnte sich jedoch nicht daran festhalten. Ich kletterte unbeholfen auf sie, so daß ich sie zwischen mir und dem Brett festklemmte. Kleine Kinder, die so gut wie nichts wogen, hatten ihren Spaß an so etwas; bei zwei erwachsenen Frauen war es gar nicht so leicht. Offenbar kam Seiko wieder zu sich, denn sie begann zu stöhnen, als die Welle auf uns traf. Ich war vollauf damit beschäftigt, mich an dem Brett festzuhalten, das die Welle mitsamt Seiko wegzuspülen drohte. Dann waren Seiko und das Brett plötzlich verschwunden. Als ich selbst zur Ruhe kam, landete meine Nase im Sand. Die Welle hatte uns in flaches Wasser geschleudert. Ich erhob mich mit zitternden Knien. Seiko lag noch immer auf dem Brett, nicht weit von mir entfernt. Nur ein paar Schritte, dann wären wir beide in Sicherheit. Ich bückte mich und zog sie auf den Strand.
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37 Auch nachdem das Wasser aus Seikos Lungen war, konnte sie wegen der vom Valium verursachten Müdigkeit mit niemandem sprechen, sondern schlief ein. Alle Retter und Polizeibeamten und manga-Fans, die sich versammelt hatten, waren enttäuscht. Während sie sich am Strand um uns drängten, sah ich ein wenig von uns entfernt einen Mann mit Halbglatze und Badehose stehen - den Fisch. Er machte das Friedenszeichen zu mir herüber und ging dann langsam in Richtung Straße, wo ich einen Cadillac mit langem Flossenheck warten sah. Er stieg hinten ein, und der Wagen fuhr los. Ich fragte mich, wieviel der Fisch von den Ereignissen im Wasser und am Strand mitbekommen hatte. Lieutenant Hata wies mich an, nach Hause zu gehen, mich auszuruhen und ihn am nächsten Morgen im Krankenhaus zu treffen. Am nächsten Morgen betraten wir gemeinsam das Krankenzimmer von Seiko. Die Sonne schien hell auf ihr bleiches Gesicht. In Japan gab es angeblich ein Gesetz, das vorschrieb, daß es in jedem Krankenzimmer Fenster gab, so daß die Patienten die heilenden Kräfte der Sonne genießen konnten. Doch Seiko halfen ihre Strahlen offenbar nicht viel, denn sie bedeckte das Gesicht mit den Händen, als sie mich sah. »Es tut mir so leid«, sagte sie. Lieutenant Hata schaltete einen Kassettenrecorder ein und fragte: »Was genau tut Ihnen leid?« »Daß ich Ihnen, Reisan, so viele Schwierigkeiten gemacht habe. Ich war mit meinem Vater im Bahnhof, als er Ihnen auf der Treppe den Schlag versetzt hat. Aufgefangen habe ich Sie, weil ich fürchtete, Sie könnten sterben. Ich habe die ganze Zeit -334-
gewußt, was passiert ist.« »Dann hat also Ihr Vater Nicky Larsen umgebracht?« fragte ich. »Nein, nein! Ich war's. Ich mußte es tun.« »Er hat Sie gezwungen?« fragte ich ungläubig. »Beeinflussen Sie sie nicht«, flüsterte Lieutenant Hata mir zu. Jetzt sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Chiyo hatte dem Fisch und seiner Gruppe unabsichtlich verraten, daß ein dôjinshi-Künstler ihren Club als Postadresse verwendete. Anlaß waren offen auf der Theke herumliegende Briefe für Showa Story gewesen, über die der Fisch sich erkundigt hatte, weil er eine neue Einnahmequelle witterte. Als erstes hatte er von Kunio Geld gefordert, doch der hatte ihm erklärt, daß alle Gewinne des Zirkels zur Deckung der entstandenen Kosten an den Drucker gingen. Daraufhin hatte der Fisch seine Taktik geändert und das Geld von Mr. Hattori verlangt. Mr. Hattori hatte große Angst bekommen und Kunio eine Rechnung geschickt, um zu beweisen, daß er mit Showa Story nichts verdiente. Außerdem hatte er Seiko gezwungen, das College abzubrechen, und ihr gesagt, sie solle den Zirkel auflösen. Kunio hatte als Japaner die Drohung sofort verstanden und seine Wohnung eine Weile verlassen, weil er keine Lust hatte, von der yakuza verfolgt zu werden. Doch Nicky mit seiner amerikanischen Vorstellung vom Kapitalismus hatte sich geweigert, klein beizugeben. Er wollte alle bereits existierenden Ausgaben von Showa Story übersetzen und die Reihe auf dem amerikanischen Markt verkaufen. Außerdem hatte er vor, weitere Hefte auf den japanischen Markt zu werfen. Er hatte sogar gedroht, die Geschichten selbst zu zeichne n, falls Kunio es nicht machen würde. »Sie befanden sich also in einer sehr schwierigen Situation«, sagte Lieutenant Hata am Ende von Seikos Schilderung. »Ja. Wenn die yakuza sich in das Geschäft meines Vaters -335-
eingemischt hätte, wäre sein Leben ruiniert ge wesen! Und das meiner Mutter auch! Wenn Nicky doch nur wie Kunio aufgehört hätte! Aber Nicky war ein typischer Ausländer. Gutaussehend und charmant, doch er konnte sich nicht an andere anpassen. Ihm war nur seine eigene Person wichtig.« Ich überlegte, ob Seikos Urteil über Ausländer auch auf mich zutraf. Sah Takeo mich so? War das Problem bei der Gaijin Times meine Schuld? »Was ist am Montag, dem Tag von Nicky Larsens Tod, passiert?« fragte Lieutenant Hata. »Ich habe im Copy-Shop meines Vaters gearbeitet und ihm gesagt, daß ich an dem Tag zwischen eins und drei frei brauchte.« Seiko sagte das ziemlich hastig, als wolle sie ihr Geständnis so schnell wie möglich loswerden. »Ich habe ihm erklärt, ich würde gern an einer Präsentation von neuen Fotokopier-Ausrüstungen in Akihabara teilnehmen. Er war ganz angetan von der Idee.« »Aber Sie sind in der Zeit mit Nicky zusammen gewesen«, sagte ich. »Ja. Meine Familie hat einen Wagen, mit dem bin ich zu Nickys Wohnung gefahren. Nicky wollte es immer im Auto machen. Das ist wohl eine alte amerikanische Tradition. Stimmt das, Reisan?« Ich wurde rot. »In Filmen schon, aber im wirklichen Leben wahrscheinlich eher nicht. Das Risiko ist zu groß.« »Nicky hat das Risiko geliebt. Ich nicht.« Seiko weinte eine Weile leise vor sich hin. »Er hat's besonders gern gehabt, im Augenblick... wissen Sie, im Augenblick der höchsten Lust... ein paar Sekunden nicht zu atmen.« »Was genau ist während Ihrem letzten Treffen mit Nicky passiert?« fragte Lieutenant Hata weiter. »Er hat mich gebeten, einen Strumpf eng um seinen Hals zu -336-
ziehen. Wir hatten das mindestens schon zehnmal gemacht. Er fand das im Wagen so schön und wollte unbedingt, daß ich einen meiner Strümpfe benutze.« »Wo war der Wagen dabei abgestellt?« »Neben einem leeren Lagerhaus am Fluß. Ich wußte, daß es nicht mehr genutzt wird, weil wir früher immer Waren dort abgeholt haben, aber jetzt ist es geschlossen. Deswegen habe ich es für einen sicheren Ort für die Liebe gehalten.« Wieder weinte sie. »Als er dann soweit war, hat er mir mit der Hand ein Zeichen gegeben. Ich habe an dem Strumpf gezogen, und plötzlich sind mir alle meine Probleme bewußt geworden: die Schwierigkeiten meines Vaters mit der yakuza, Nickys Sturheit. Und ich wußte, daß sie alle in dem Augenblick verschwinden würden, in dem Nicky nicht mehr atmete.« Sie schwieg und schaute ziemlich lange aus dem Fenster. Dann sah sie mich an. »Ich habe überlegt, wie es wäre, wenn ich weiter an dem Strumpf zöge. Erst eine Minute später habe ich gemerkt, daß ich es tatsächlich getan hatte. Seine Augen waren weit offen, aber sie sahen nichts mehr. Und er atmete auch nicht mehr.« »Du lieber Himmel.« Ich verbarg das Gesicht hinter den Händen, weil ich es nicht mehr aushielt, sie anzuschauen. »Ich bin aus dem Auto und auf der Suche nach eine m Telefon in das unverschlossene Lagerhaus gerannt, um den Notarzt zu rufen. Aber natürlich habe ich kein Telefon gefunden. Dann bin ich wieder zum Wagen zurück, in dem die Leiche lag. Da wurde mir bewußt, daß ich nun eine Mörderin war, daß mein Vater mich den Leuten von der yakuza überlassen konnte, damit ich für sie arbeitete und sie kein Geld mehr von ihm forderten.« »Ist das dann tatsächlich passiert?« »Nein, nein. Als ich mich ein bißchen beruhigt hatte, habe ich eine Plane aus dem Abfall vor dem Lagerhaus geholt, zum Wagen getragen und Nicky darin eingewickelt - so konnte ich -337-
ihn zum Flußufer zerren und ihn hineinrollen. Hinterher bin ich zum Copy-Shop gefahren. Mein Vater hat mich gefragt, wo das Informationsmaterial von der Demonstrationsveranstaltung für Fotokopierer in Akihabara ist, und ich habe geantwortet, das hätte ich vergessen. Er hat gesagt: Du warst mit diesem Amerikaner zusammen, stimmt's? Das spüre ich genau. Dann hat er mich geschlagen; das war das blaue Auge, das Sie gesehen haben. Anschließend habe ich ihm gesagt, er braucht sich nie wieder Gedanken über Nicky machen, und er hat gemeint: Gut, daß du mir endlich zuhörst.« Seiko schwieg eine Weile. »Kurz danach kamen im Fernsehen die ersten Berichte über Nickys Tod. Wahrscheinlich hat mein Vater geahnt, daß im Wagen was passiert war, weil er ihn am nächsten Tag reinigen ließ. Aber er hat mir keine Fragen gestellt. Ich glaube, er denkt, ich hab's getan, um unsere Familie zu retten.« Fast wie ein Unfall, dachte ich. Totschlag mit Beseitigung der Spuren. Neugierig geworden, fragte ich Seiko: »Und warum haben Sie ihm das Mars-Girl- Zeichen auf die Stirn gemalt?« »Das war nicht ich, sondern er selber. In solchen Momenten hat er uns gern beide angemalt. Ich habe mir die Stirn im Fluß abgewaschen. Hätte ich mich nur gleich ertränkt. Jetzt werde ich sowieso hingerichtet, stimmt's?« »Die Todesstrafe wird im allgemeinen nur bei kaltblütigem Mord angewandt«, sagte Lieutenant Hata. »Natürlich kann ich nicht für den Richter sprechen, der sich mit Ihrem Fall beschäftigen wird. Aber ich werde ihm mitteilen, daß Sie alles sofort gestanden haben.« Ich verließ das Krankenhaus an jenem Nachmittag und sah Seiko nie wieder. Sie wurde in ein Polizei-Krankenhaus verlegt. Es hieß, sie solle wegen Totschlags, nicht wegen Mordes, angeklagt werden. Merkwürdigerweise erlangte Seiko so etwas wie Kultstatus. Die Tatsache, daß ihr Vater sie wegen ihrer Beziehung mit -338-
einem ausländischen Jungen geschlagen hatte, machte die Geschichte mit Seiko und Nicky zu einer romantischen Liebestragödie. Das hatte ich mit meinem Artikel für die Gaijin Times, den ich innerhalb von drei Tagen im Eiltempo verfaßte, eigentlich nicht vorgehabt. Ich lieferte die Story termingerecht ab, erklärte Mr. Sanno aber, daß er sie nur bekommen würde, wenn Alec und Rika keinerlei Einfluß darauf nehmen dürften. Ich traute den beiden einfach nicht über den Weg. Rika und Alec regten sich natürlich darüber auf - von Karen erfuhr ich, daß sie sich deswegen sogar trennten. Als Rikas Zeit als Praktikantin endete, wurde sie nicht ermutigt, sich noch einmal bei der Gaijin Times zu bewerben. Alec hatte wie immer Glück und behielt seinen Job. Ob Rika es sich das nächste Mal besser überlegte, bevor sie mit jemandem in einem japanischen Büro ins Bett ging? Am Ende überarbeitete dann Norton Jones, unser langweiliger, ein wenig aufgeblasener Wirtschaftsredakteur, meinen Artikel. Er bat mich, ein paar Punkte genauer auszuführen, und formulierte den ersten Absatz neu, aber ansonsten blieb alles genau so, wie ich es verfaßt hatte. Nickys und Seikos Geschichte wurde zur Cover-Story des nächsten Monats, und mit Kunio Takahashis Genehmigung erschienen in dieser Ausgabe auch Proben seiner besten Arbeiten für Showa Story. Mr. Sanno beschloß, eine vollständige japanische Übersetzung meines Artikels neben der englischen Version abzudrucken, und so kauften zum allerersten Mal auch Japaner die Zeitschrift. Als von der Ausgabe zweihunderttausend Stück abgesetzt wurden, erklärte Mr. Sanno, er habe ein Erfolgsrezept entdeckt. Japaner wollten auch gern lesen können, was Ausländer über sie sagten - besonders wenn es eine einfache Übersetzung davon gab. Und so sollten immer mehr Übertragungen der englischsprachigen Artikel ins Japanische die Gaijin Times zusammen mit der mangaldee zu einem begehrten Blatt machen. -339-
Eine Woche nach Veröffentlichung des Artikels rief Kunio mich an. Angesichts der wunderbaren Publicity hatte er beschlossen, daß ich ihn als Agentin vertreten sollte. Er wollte die Gunst der Stunde nutzen. Doch ich erklärte ihm, ich habe vor, mich wieder meinem eigentlichen Interesse, nämlich dem Verkauf von Antiquitäten, zuzuwenden und nicht mehr über moderne Kunst und Künstler zu schreiben, weil mir das zu gefährlich sei. Als ich Takeo von dieser Unterhaltung mit Kunio erzählte, umarmte er mich und sagte: »Heißt das, du machst dir etwas aus Holz und Papier? Aus den einfachen Dingen, aus denen einfache japanische Häuser gebaut sind?« »Aber natürlich«, sagte ich und küßte ihn. »Mein Lebenswerk ist die Einrichtung von Häusern.« »Jetzt, wo ich mit diesem Haus fertig bin, denke ich daran, noch ein anderes zu machen. Die Immobilienpreise sind im Augenblick so weit im Keller, daß ich tatsächlich ein altes Haus kaufen, es renovieren und dann verkaufen könnte.« Ich schüttelte den Kopf. »Ein Haus wie dieses wird es nicht noch mal geben. Und es gehört deiner Familie! Wie kommst du nur auf einen solchen Gedanken?« »Das heißt ja nicht, daß ich das hier aufgeben will«, sagte er. »Das könnte ich auch gar nicht. Schließlich gehört es zur Hälfte Natsumi.« »Ach ja, stimmt«, sagte ich mit einem Stirnrunzeln. »Jedenfalls werde ich die Sache mit dem Erwerb anderer Häuser erwähnen, wenn mein Vater heute abend zum Essen kommt.« »Du hast ihn doch nicht hierher eingeladen, obwohl du wußtest, daß ich hier sein würde, oder?« »Aber natürlich. Er hat gesagt, er ist zutiefst beeindruckt von deinem Artikel - besonders weil es dir gelungen ist, unseren -340-
Familiennamen und unser Haus darin nicht zu erwähnen.« »Nun, ich habe keinen Sinn darin gesehen, über die Dinge zu schreiben, die sich auf eurem Grund und Boden ereignet haben, denn ich möchte ja nicht, daß es zu einer Touristenattraktion wird.« Dann würde ich also Takeos Vater am Abend sehen. Bedeutete das, daß ich kochen mußte? Ziemlich erledigt fragte ich: »Was ißt dein Vater denn gern?« »Ganz ruhig. Ich habe Sashimi aus dem besten Lokal der Stadt bestellt. Die werden eine halbe Stunde, nachdem wir fertig sind, geliefert.« »Fertig womit?« fragte ich. Als Takeo aus seinen Shorts schlüpfte, konnte ich es mir denken.
Dank An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei all den Freunden bedanken, die mich mit japanischen Comics bekannt gemacht und dafür gesorgt haben, daß das Schreiben dieses Buches eine große Freude für mich war: J. D. Considine in Baltimore sowie Akemi Narita und ihre Tochter Aki in Yokohama. Außerdem schulde ich den guten Freunden aus meinem örtlichen Schriftstellerkreis und Susanne Trowbridge, Manami Amanai und Chris Belton, dem in Tokio lebenden Romanschriftsteller und Übersetzer, Dank. Meinen Agenten Ellen Geiger und Dave Barbor von Curtis Brown sowie meinen Freunden von HarperCollins, besonders Carolyn Marino, Betsy Areddy, Robin Stamm und Gene Mydlowski, noch einmal Dankeschön für ihre Flexibilität, ihre Liebenswürdigkeit und -341-
ihre guten Ideen. Einen großen Teil dieses Buches habe ich während eines Aufenthalts in Indien verfaßt, wo mir meine Verwandten, besonders Rekha Banerjee, Hemantika Puri und Padamaben und A. V. Parikh, immer zur Seite standen. Danke auch an diejenigen, die dafür gesorgt haben, daß das Leben zu Hause weiterlief: Claire und Karin Banerjee, Subir Banerjee und Manju Parikh sowie Sam, Harriot, Alex und Don Massey. Des weiteren möchte ich mich bei den Angestellten von Parikh Steel Calcutta, vor allem bei Jawaharlal Joshi und Neelam Mishra, bedanken, die meiner Muse erlaubten, sich auf ihren Computern auszutoben. Pia Massey, meiner kleinen Tochter, herzlichen Dank dafür, daß sie mir eine so große Freude ist. Danke auch an Rose Anne Ullrich, Jingkun Zhu und Tamara Clark, daß sie mir das Schreiben ermöglicht haben. Und der tiefste Dank gebührt meinem Mann Tony Massey, der mich wieder sicher in die Vereinigten Staaten zurückgebracht hat.
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