Donn Cortez
CSI: Miami Tödliche Brandung Das Buch »CSI: Miami – Tödliche Brandung« entstand auf Basis der gleichnamige...
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Donn Cortez
CSI: Miami Tödliche Brandung Das Buch »CSI: Miami – Tödliche Brandung« entstand auf Basis der gleichnamigen CBS-Fernsehserie von Jerry Bruckheimer, Ann Donahue, Carol Mendelsohn, Anthony E. Zuiker, Jonathan Littman, ausgestrahlt bei RTL.
Aus dem Amerikanischen von Frauke Meier
VGS
Erstveröffentlichung bei Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc. New York 2006. Titel der amerikanischen Originalausgabe: »CSI: Miami – Riptide« © 2007 by CBS Broadcasting Inc. and Alliance Atlantis Productions, Inc. CSI: MIAMI in USA is a trademark of CBS Broadcasting Inc. and outside USA is a trademark of Alliance Atlantis Communications Inc. All Rights Reserved. CBS and the CBS Eye design TM CBS Broadcasting Inc. ALLIANCE ATLANTIS with the stylized »A« design TM Alliance Atlantis Communications Inc. Das Buch »CSI: Miami – Tödliche Brandung« entstand auf Basis der gleichnamigen CBSFernsehserie, ausgestrahlt bei RTL. Based on the hit CBS television series »CSI: Miami« produced by CBS Productions, a business unit of CBS Broadcasting Inc. and Alliance Atlantis Productions Inc. Alliance Atlantis and the stylized »A« design are trademarks of Alliance Atlantis Communications Inc. Used under license. All Rights Reserved.
1. Auflage Deutschsprachige Ausgabe: © 2007 vgs verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH, Gertrudenstraße 30-36, 50667 Köln Alle Rechte vorbehalten. Redaktion: Valerie Kurth Lektorat: Ilke Vehling Produktion: Sandra Pennewitz Titelfoto: Coverdesign von Patrick Kang und Coverfotografie von Getty Images Typografie: Achim Münster, Köln Druck: Clausen & Bosse, Leck 978-3-8025-3623-6 www.vgs.de
In den Gewässern vor Miami werden kurz nacheinander 2 grausig zugerichtete weibliche Leichen entdeckt – mit Bissspuren wie von einem Tier, aber auch mit unverkennbar von Menschenhand zugefügten Blessuren. Eine überlebende Augenzeugin berichtet dem CSI-Team um Horatio Caine schier Unglaubliches: Der Angreifer, der versuchte, sie in die Tiefe zu ziehen, habe die Gestalt eines Unterwassermonsters aus einem alten B-Movie gehabt. Um weitere Morde zu verhindern, ermitteln die Kriminaltechniker fieberhaft in verschiedene Richtungen und mit ihnen erhält der Leser mitunter bizarre Einblicke in die Horrorfilmszene, in Fetischund Latexclubs vor allem aber in die Aktivitäten einer militanten Umweltaktivistengruppe, die sich überwiegend aus ehemaligen sowjetischen Kampftauchern rekrutiert. Der 2. Titel des Autors Cortez, 4. Band der Miami-Serie, überzeugt wie schon „Der Preis der Freiheit“ durch Spannung, Tempo, Witz, Originalität und detaillierte Sachkenntnis.
Für Spider und Jeanne Robinson: für ihre Liebe, ihre Anregungen und ihre Unterstützung in all den Jahren.
1
Die Biscayne Bay glitzerte im Licht des späten Nachmittags, und der Himmel über ihr war klar und blau. Von seinem Sitz aus im Heck des Polizeiboots sah Horatio Caine die leuchtenden, hoch aufragenden Umrisse der Innenstadt von Miami. Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite und sah die vielen dunkelgrünen Mangroveninseln, die sich in dem Ozean ausgebreitet hatten und hier und da mit riesigen Seevogelnestern bedeckt waren. Ihm ging durch den Kopf, wie oft er schon solche Aussichten genossen hatte, während er auf dem Weg war zu etwas unbeschreiblich Grässlichem. Eine Art Lohn, dachte er. Dann korrigierte er den Gedanken. Kein Lohn – eine Wiedergutmachung. Detective Frank Tripp schaltete den Motor ab, als das Boot auf den Strand glitt und sich knirschend in den weißen Sand grub. »Da wären wir, Horatio«, sagte Tripp. »Ich bleibe erst mal im Boot – da ist nicht viel Platz für zwei Ermittler.« »Danke, Frank«, antwortete Horatio. Die Insel hatte die Form eines Hügels, war aber sehr klein, vielleicht nur ein paar Dutzend Quadratmeter groß, dafür jedoch dicht bewachsen und ausgestattet mit einem kleinen Streifen Sandstrand. Horatio kletterte vorsichtig aus dem Boot und reichte Doktor Alexx Woods die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. »Verdammte Moskitos«, knurrte sie und zerquetschte ein Exemplar auf ihrem Arm. »Ich verstehe nicht, warum die dich nicht stören.«
»Nach den ersten Hunderttausend Stichen wird man immun«, antwortete Horatio geistesabwesend, denn in seinen Gedanken befasste er sich bereits mit dem Grund ihres Ausflugs. Auf der Mangroveninsel gleich südlich von Miami hatte man die Leiche einer jungen Frau gefunden. Es war kein schöner Anblick. Sie lag auf dem Rücken und trug eine Tauchermaske. Einer ihrer Arme war ausgestreckt und in dem Wurzelgestrüpp der Roten Mangroven verhakt. Die Tauchermaske war voll mit weißem Schaum, sodass ihr Gesicht kaum zu erkennen war, und aus ihrem Mund quoll eine rosarote fleischige Masse hervor. Alexx setzte vorsichtig einen Fuß über die Leiche, zog den anderen hinterher und setzte sich in die Hocke. »Ein Fischer hat sie gefunden«, sagte Horatio. »Sieht aus, als hätte die Flut sie angespült.« »Aber sie müsste auf dem Grund liegen«, antwortete Alexx. Sie hatte ihren Latexhandschuh übergezogen und streckte ihre Hand aus, um sacht den Unterkiefer des Opfers vor und zurück zu bewegen. »Keine Starre der Kiefermuskulatur, aber …« Sie griff nach dem rechten Handgelenk der Toten und hob es vorsichtig an. Der ganze Körper geriet in Bewegung, der Arm war offensichtlich steif. »… in den Hauptmuskelgruppen. Die Haut ist bläulich, und die Leichenstarre beginnt, sich zu lösen. Das bedeutet, dass sie vermutlich seit ungefähr vierzehn Stunden oder so tot ist. Der Bauch ist nicht gebläht, und sie ist auch nicht übergewichtig, also hätte sie gar nicht angespült werden dürfen.« Kohlendioxid, Schwefeldioxid, Ammoniak, Schwefelwasserstoff, Methan – Horatio wusste, dass sich im Magen-DarmTrakt eines verwesenden Leichnams all diese Gase bildeten und eine Leiche wie einen aufgeblasenen Ballon an die Wasseroberfläche steigen ließen. Aber das war ein Prozess, der normalerweise mindestens vierundzwanzig Stunden dauerte.
»Das ist nicht das Einzige, was merkwürdig ist«, sagte Horatio. »Sie trägt eine Tauchermaske, aber keine Flossen, keinen Schnorchel. Nicht einmal einen Badeanzug.« Alexx untersuchte die fleischige Masse, die aus ihrem Mund quoll. »Wirklich merkwürdig ist das …« Sie packte den Leichnam an der Hüfte und drehte ihn herum, sodass die Rückseite zu sehen war. Auch zwischen den Pobacken war eine Menge rohen Fleisches hervorgequollen. »Da sind Fressspuren, vermutlich von Krabben und Seeläusen«, stellte die Ermittlerin fest, »aber ich kann auch Teile ihres Verdauungstrakts identifizieren. Jemand hat ihre Organe nach außen gestülpt.« »Und wer das gewesen ist, hat auch die Leiche hier abgelegt«, sagte Horatio. »Vermutungen?« »Na ja, die Speiseröhren- und Dickdarmteile, die ich sehe, deuten daraufhin, dass sie buchstäblich explodiert ist.« »Plötzlicher Druckabfall?« »In diesem Ausmaß? Vielleicht, wenn jemand sie auf einem Spaceshuttle aus der Luftschleuse gestoßen hätte …« »Ich dachte eher an Tiefseetauchen. Fische explodieren manchmal, wenn sie aus großer Tiefe zu schnell an die Oberfläche schwimmen …« Horatio schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Aber in der ganzen Umgebung gibt es nur seichtes Wasser, keine drei Meter tief.« Er griff nach einer der Hände der Toten und untersuchte sie. »Die Fingernägel sind abgebrochen. Weist auf einen Kampf hin. Und da ist noch etwas unter einem der Nägel.« Mit einer Pinzette zog er einen dunkelblauen Fetzen unter dem Fingernagel hervor und verstaute ihn in einem durchsichtigen Plastikbeutel. »Und was ist mit den Verletzungen an ihren Beinen?« Im unteren Wadenbereich eines ihrer Beine waren mehrere tiefe Wunden zu sehen. Alexx studierte sie und runzelte die
Stirn. »Sieht nach Bissspuren aus«, meinte sie. »Ich kann aber nicht sagen, durch was sie verursacht wurden. Die Form passt nicht zu einem Menschen, und für einen Hai oder einen Barrakuda sind sie zu ebenmäßig. Aber tief – was immer das war, es war stark.« »Also haben wir Bissspuren, die nicht von einem Menschen stammen«, fasste Horatio zusammen, »plötzlichen Druckabfall und eine Leiche, die nicht dort ist, wo sie sein sollte.« Alexx blickte traurig auf die Leiche. »Keiner sollte dort sein, wo sie ist«, sagte sie. Horatio setzte seine Sonnenbrille auf und sah sich in Richtung Festland um. Ein weiteres Boot näherte sich – Delko und Wolfe auf dem Weg zur Untersuchung des Tatorts. »Dann werden wir dafür sorgen müssen, dass wir herausfinden, wo sie davor war.« »Angespülte Wasserleiche, richtig?«, fragte Wolfe. Der junge Kriminalist musste laut sprechen, um das Motorengeräusch des Bootes zu übertönen. »Schätze, du hast schon einige davon gesehen.« Eric Delko nickte mit ernster Miene. »Ja, und ich weiß, dass es ein ziemlich schlimmer Anblick sein kann«, sagte er. »Sie können in Bootsschrauben geraten und angeknabbert werden, denn von einer Krabbe bis hin zu einem Hai nagt alles an ihnen herum. Die Verwesung vollzieht sich sehr schnell und sehr unschön. In Florida kann das Klima manchmal für oder gegen dich arbeiten.« »Das heißt?« »Je mehr Bakterien im Wasser sind, desto schneller zerfällt der Körper. In einer warmen, nassen Umgebung wie einem Sumpf gibt es haufenweise Bakterien. Ich habe Leichen gesehen, die nur vierundzwanzig Stunden im Wasser gelegen haben, aber schon ganz schwarz waren … doch manchmal passiert auch genau das Gegenteil.«
»Sie werden weiß?« »So was in der Art. Man nennt das Verseifung – das kommt nur in warmen und feuchten Umgebungen vor. Subkutanes Fett verbindet sich mit Kalzium und Ammoniak und bildet das Leichenwachs, eine graue Substanz. Eigentlich nichts anderes als …« »Seife«, beendete Wolfe den Satz. »Richtig, ich habe darüber gelesen. Hast du so etwas schon einmal gesehen?« »Es kommt nicht oft vor, aber ja, ich habe es gesehen«, antwortete Delko. »Es verzögert den Zerfallsprozess, ähnlich wie eine Mumifizierung. Aber die Bedingungen der Umgebung müssen stimmen.« Inzwischen hatten sie sich der Mangroveninsel genähert. Der Strand war kaum mehr als ein kleiner Streifen Sand von etwa sechs Metern Länge. Alexx war bereits wieder in das erste Boot geklettert, um Platz zu machen, als ihres anlegte. Horatio, der einen dunkelblauen Anzug ohne Krawatte und ein am Kragen offenes Hemd trug, schaffte es auch an diesem Ort, ebenso viel Autorität auszustrahlen und ebenso sicher zu wirken wie in den Straßen Miamis. »Mister Wolfe, ich möchte Sie hinter der Kamera haben«, sagte er, als seine Mitarbeiter durch das flache Wasser ans Ufer wateten. »Eric, mach dich bereit. Diese Insel sieht nicht so aus, als wäre sie der eigentliche Tatort. Trotzdem könnten wir unter Wasser noch wertvolle Spuren entdecken.« »Schon dabei«, antwortete Delko. Tatsächlich trug er bereits einen Teil seines Taucheranzugs, und als Wolfe sich die Kamera schnappte, zog er den Rest der Ausrüstung an. »Wissen wir schon, wer das Opfer ist?«, fragte Wolfe. Horatio trat neben ihn, damit er mit dem Fotografieren beginnen konnte. »Noch nicht«, antwortete Horatio. »Ich habe Calleigh gebeten, die Vermisstenfälle der letzten achtundvierzig Stunden zu überprüfen.«
»Irgendwelche Theorien?«, erkundigte sich Wolfe, während er mehrere Bilder von den Wunden schoss. »Keine, die einen Sinn ergäben«, gestand Horatio. »Das passt einfach alles nicht zusammen. Ich denke, wir könnten es hier mit einem inszenierten Tatort zu tun haben. Sehen Sie, wie ihr Arm zwischen diesen beiden Wurzeln eingeklemmt ist?« Wolfe beugte sich vor, um genauer hinzusehen. »Ja«, sagte er. »Als hätte jemand verhindern wollen, dass die Flut sie fortspült. Und was ist mit dem Zustand der Leiche? Das ist beinahe …« Seine Stimme verlor sich. »Als hätte jemand in sie hineingegriffen, ihre inneren Organe gepackt und herausgezogen«, führte Horatio den Satz weiter. »Von beiden Seiten …« Tauchen war ein gefährlicher Zeitvertreib. Niemand wusste das besser als Eric Delko, der Taucher des kriminaltechnischen Labors von Miami-Dade. Er hatte mehr Leichen aus versunkenen Autos und Booten gezogen, als er zählen konnte, und jede dieser Leichen erinnerte ihn daran, wie feindselig diese Umgebung war, in der er sich auch jetzt wieder bewegte. Der Ozean vor der Küste von Florida war beinahe wie Miami selbst: warm und einladend, angefüllt mit funkelnder Schönheit und leuchtenden Farben und doch imstande, einen Menschen binnen eines Sekundenbruchteils zu töten. Natürlich war der Ozean nicht überall gleich schön. In dem seichten Gewässer der Biscayne Bay gab es Müll, Plankton und Geröll, aber auch Ablagerungen von den Mangroveninseln. Einiges davon war natürlichen Ursprungs, das meiste jedoch war das Werk von Menschen. Delko bewegte sich vorsichtig, trieb knapp über dem Grund und suchte die wehenden Seegraswiesen nach allem ab, was nicht hierher gehörte. Das Problem war, dass es davon mehr als genug gab. Bierdosen, rostige Rohre und alte Milchflaschenkisten aus Plastik, einige
davon so sehr mit Muscheln oder Schmutz verkrustet, dass sie nur noch an ihrer Form zu erkennen waren. Er bewegte sich kreisförmig um die Insel herum und legte mit Gewichten beschwerte Markierungen aus, um seinen Weg zu kennzeichnen. Er war nicht allein: Er sah Schildkröten, Grätenfische, Schwarze und Rote Zackenbarsche. Krabben und Hummer schwammen ihm aus dem Weg, und Garnelenschwärme schwebten wie gekräuselte rosarote Wolken vorüber. Er hoffte, eine der Flossen des Opfers zu finden, oder vielleicht den Schnorchel. Was aber schließlich seine Aufmerksamkeit erregte, war ein kleiner weißer Fleck. Zuerst dachte er, es wäre nur eine weitere Einkaufstüte, von denen schon allzu viele vorbeigeschwommen waren, aber der Fleck war zu klein und hatte nicht die passende Form. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich der Fleck als Oberteil eines Bikinis. Die Träger sahen aus, als wären sie durchgeschnitten worden. Das Dasein eines forensischen Ermittlers führte, wie Horatio gelernt hatte, zu einer Art zenbuddhistischer Lebenseinstellung. Es war nicht die abgehobene, auf das Jenseits gerichtete Perspektive, sondern die klare Erkenntnis, dass alles in irgendeiner Art miteinander zusammenhing und dass dies auch nachprüfbar war. Das Locard’sche Prinzip besagte, dass immer, wenn zwei Dinge miteinander in Berührung kamen, Teile des einen auf das jeweils andere Objekt übertragen wurden. Horatio wusste, dass das Prinzip der Übertragung und der Spurenbeweise auf beinahe jeden Lebensbereich zutraf. Zwischen physikalischen Objekten gab es eine Verbindung, die von den meisten Leuten nicht bemerkt wurde, aber Horatio hatte ein besonderes Gespür dafür entwickelt, eines, das auf subtile Weise seine gesamte Wahrnehmung verändert hatte. Er konnte nicht zusehen, wie eine
Frau Wein trank, ohne dabei auf die Lippenstiftspuren zu achten, die sie auf dem Glas hinterließ, konnte kein Möbelstück betrachten, ohne auf die Fasern aufmerksam zu werden, die auf dem Polster zurückgeblieben waren. Insgeheim nannte er diese Neigung das Sherlock-Holmes-Syndrom, doch diese Einsicht behielt er für sich. Andere Leute kämen vielleicht auf den Gedanken, Parallelen zu Holmes’ Kokainsucht zu suchen, und im Zusammenhang mit dem, was Horatios Bruder Raymond widerfahren war, war es das Letzte, was Horatio brauchen konnte – ein Gerücht, in dem neben Drogen auch er selbst vorkam. Der Ruf eines Menschen konnte eben auch durch Spurenübertragungen beeinflusst werden. Horatio war umgeben von Leuten, die gut in ihrem Job waren, und er versuchte, gleichermaßen von ihnen zu lernen wie auch seinen Erfahrungsschatz mit ihnen zu teilen. Im Idealfall arbeitete das ganze Team zusammen wie die Bestandteile eines größeren Organismus, und das Wissen und die Fähigkeiten jedes Einzelnen war die Substanz, die von einer Zelle zur anderen weitergetragen wurde. Aber welche Spuren bleiben zurück?, überlegte Horatio, als sich die Fahrstuhltür öffnete und er in das Foyer des kriminaltechnischen Labors von Miami-Dade marschierte. Spuren von uns, nehme ich an. Fetzen der Würde, Flecken der Ehre, Teile der Moral … »Weißt du, Horatio«, sagte Calleigh Duquesne, die neben ihm aufgetaucht war, »jedes Mal, wenn ich dieses Lächeln auf deinem Gesicht sehe, versuche ich, herauszufinden, was in deinem Kopf vorgeht.« »Hattest du Erfolg?« »Nein. Du bleibst undurchschaubar. Aber mit der Toten, die ihr in Biscayne Bay gefunden habt, hatte ich mehr Glück.« »So?« Horatio blieb stehen und drehte sich um. »Du hast einen Namen?«
»Ja«, antwortete Calleigh und strich sich die langen, blonden Haare hinter das Ohr, ehe sie einen Ordner aufklappte und vorlas. »Gabrielle Maureen Cavanaugh. Wurde gestern als vermisst gemeldet – ihrer Mitbewohnerin zufolge hat sie gern allein Wanderungen unternommen und sich ein Picknick zum Mittagessen mitgenommen.« »Wissen wir genau, dass sie unsere Tote ist?« »Die Mitbewohnerin hat sie vor ein paar Minuten identifiziert. Sie ist ziemlich geschockt, will aber mit uns reden. Ich war gerade auf dem Weg zum Befragungsraum – willst du mich begleiten?« »Ich denke schon.« Der Name der Frau lautete Stephanie Wheeler. Sie war eine kleine, mollige Frau mit einer gewaltigen Menge dunklen, purpur gefärbten Haares und einer Brille mit einem dicken schwarzen Rahmen. Sie trug eine auf Kniehöhe abgeschnittene Jeans und ein Hawaiihemd in schreienden Farben. So unpassend es war, in Strandkleidung zu erscheinen, um eine Tote zu identifizieren, so erkannte Horatio doch in den schmerzverzerrten Gesichtszügen der Frau, dass ihre Kleidung das Letzte war, was sie derzeit interessierte. Horatio stellte sich und Calleigh vor und nahm auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz. Calleigh setzte sich neben ihn. »Ich bedauere Ihren Verlust«, begann Horatio das Gespräch. »Wir werden das hier so schnell wie möglich hinter uns bringen.« »Danke«, antwortete Stephanie. Ihre Stimme klang ruhig, aber dann und wann trat eine Träne hervor und rann über ihre Wange. »Sie sagen, Gabrielle war gern allein auf Wanderschaft. Ist sie dabei auch schwimmen gegangen?« »Manchmal«, entgegnete Stephanie. »Dann hat sie eine Tauchermaske und einen Schnorchel mitgenommen, damit sie
unter Wasser sehen konnte. Aber keine Flossen – die mochte sie nicht.« Stephanie blinzelte hektisch. »Sie hat gesagt, es wäre zu lästig, sie mitzuschleppen. Und sie mochte sie einfach nicht.« »Ich verstehe. War sie eine gute Schwimmerin?« »Oh ja. Ich habe ihr gesagt, sie sollte nicht allein schwimmen gehen, aber – sie war sehr eigenständig. Es war unmöglich, sie zu etwas zu überreden, das sie nicht wollte.« Stephanie nickte, als brauchte sie eine Bekräftigung, vor allem für sich selbst. Eine Träne tropfte unbemerkt von ihrem Kinn. Horatio und Calleigh wechselten einen kurzen Blick. »Stephanie«, sagte Calleigh, »hat es in Gabrielles Leben jemanden gegeben, der ihr etwas hätte antun wollen? Ein ehemaliger Freund vielleicht?« Ein leichtes Stirnrunzeln zeigte sich auf Stephanies Gesicht. »Warum? Ich meine – mein Gott, wollen Sie damit sagen, sie wurde ermordet? Ich … ich dachte, ihr Körper würde so aussehen, weil sie im Wasser gelegen hat.« »Wir müssen nur jeder Möglichkeit nachgehen«, erklärte Horatio. »Fällt Ihnen irgendjemand ein, der so etwas getan haben könnte?« »Nein«, sagte sie sofort. »Niemand. Alle mochten Gabrielle. Sie war stur, aber man konnte ihr einfach nicht böse sein. Ich kenne keinen Menschen, der ihr je etwas Böses gewollt hätte.« »Vielleicht jemanden, den sie erst kürzlich kennen gelernt hat? Jemand, der ihr auffallend viel Aufmerksamkeit gewidmet hat? Vielleicht jemand, den sie online kennen gelernt hat?«, hakte Horatio nach. »Nicht, dass ich wüsste. Sie hat den Computer so oder so kaum benutzt, nicht einmal für E-Mails. Sie hatte auch keinen Freund, jedenfalls zurzeit …« Ihre Stimme verlor sich. »Ich glaube, sie wollte auch keinen«, fügte sie dann leise hinzu.
Die Ermittler hatten noch einige weitere Fragen, erfuhren aber nichts von Bedeutung. Gabrielle war jung gewesen, hübsch und beliebt. Sie hatte keine Drogen genommen und sich nicht mit gefährlichen Leuten umgeben. Sie hatte in einem der vielen Hotels von Miami am Empfang gearbeitet. Horatio wollte Calleigh bitten, die Fingerabdrücke des Opfers durch das AFIS laufen zu lassen, aber er hegte den starken Verdacht, dass Gabrielle Cavanaughs einzige böse Tat darin bestanden hatte, dass sie gern ein wenig Zeit allein verbrachte. Bedauerlicherweise, dachte Horatio, gibt es eine Menge Orte, an denen so etwas tödlich enden kann. Und Miami ist einer von ihnen. »Und, Alexx?«, fragte Horatio und streifte ein Paar Handschuhe über. Gabrielle Cavanaughs Leichnam lag vor ihnen auf dem stählernen Autopsietisch, und nachdem die Maske und das Fleisch, das aus ihrem Mund herausgequollen war, entfernt worden waren, sah sie deutlich besser aus. »Was kannst du mir über sie erzählen?« »Todesursache war Ertrinken«, begann Alexx. »Wenn ein Ertrinkender die Luft nicht länger anhalten kann, übernimmt das Atemzentrum des Hirns die Regie – es zwingt ihn, einzuatmen. Das Wasser, das statt der Luft eindringt, reizt die Luftröhre und löst einen Hustenreflex aus. Das treibt die Luft aus der Lunge und lässt das Wasser eintreten. Der Vorgang ist brutal und führt manchmal zum Erbrechen. Sauerstoffmangel löst Bewusstlosigkeit aus, doch dadurch wird der Vorgang nicht unterbrochen, sondern führt zu Krämpfen, unregelmäßiger Atmung und Atemnot. Das ist das Stadium der Dyspnoe. Das eingeatmete Wasser führt in den Bronchien und in der Luftröhre zu einer erhöhten Schleimbildung und mischt sich mit dem Schleim und der restlichen in den Lungen verbliebenen Luft. So entstand der Schaum. Währenddessen zerreißen die Lungenbläschen, ein Vorgang, der auch dann noch weitergeht,
wenn der Körper nicht mehr im Wasser liegt. Das war auch der Grund, warum ihre Tauchermaske voller Schaum war. Als ich ihr Blut untersucht habe, habe ich etwas Überraschendes festgestellt, Horatio. Dieses Mädchen ist nicht in Salzwasser ertrunken.« »Bist du sicher? Auch ohne Untersuchung der Lungen?« »Absolut. Süßwasser hat einen geringeren osmotischen Druck als das Plasma – die Osmose bringt es in großer Geschwindigkeit über die Lungenbläschen in den Blutkreislauf. Das kann sich auf bis zu fünfzig Prozent des Blutvolumens summieren – bei ihr waren es knapp über zweiundvierzig. Sie ist woanders ertrunken.« »Das Gebiet, in dem sie gefunden wurde, ist brackig«, sagte Horatio. »Aber es gelangt durch die Kanäle auch Süßwasser in die Bucht. Was ist mit dem Umstülpen der inneren Organe?« »Der Zustand der Brusthöhle deutet darauf hin, dass sie hinausgedrückt wurden, und ich glaube, ich weiß, wie das passieren konnte.« Sie deutete auf einen kleinen roten Punkt in Höhe des Bauchfells. »Das ist eine Einstichstelle. So klein, dass ich sie erst gesehen habe, als ich sie auf dem Tisch hatte. Ich glaube, ihr wurde etwas unter hohem Druck injiziert. Die Brusthöhle ist ein abgeschlossener Bereich, wenn man genug Gas oder Flüssigkeit hineinpumpt, muss irgendetwas platzen.« »Und das ist es auch«, murmelte Horatio. »Aber es muss post mortem passiert sein, richtig?« »Definitiv. Ihre Lunge musste intakt gewesen sein, um den Schaum produzieren zu können. Über den Zustand der Lunge selbst kann ich dir nicht viel sagen. Sie ist – genau wie der Magen – fleischfressenden Meeresbewohnern zum Opfer gefallen. Aber ich habe eine Blutgasanalyse durchgeführt und erhöhte Kohlendioxidwerte gefunden. Dennoch hat es ein Teil des Gases in ihren Blutkreislauf geschafft, obwohl sie bereits
tot gewesen war. Jemand hat sie mit CO2 vollgepumpt, Horatio. Sie wurde aufgeblasen wie ein Ballon.« »Und das Gas ist dann entwichen, als die offen liegenden Organe durchgebissen wurden«, überlegte Horatio. »Hat ein sexueller Übergriff stattgefunden?« »Risse in der Vagina und genitale Blutergüsse.« »Was darauf hindeutet, dass sie vergewaltigt wurde … hast du Sperma gefunden?« »Nein. Entweder hat er vorzeitig aufgehört oder ein Kondom benutzt.« »Was ist mit den Bissspuren an ihrem Bein?« Alexx schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte, sie stammen nicht von einem Menschen. Aber die Art der Verletzung ist auch sonderbar.« »Was meinst du damit?« »Sieh dir das an«, sagte sie. »Der Biss geht beinahe bis auf den Knochen, und das Fleisch ist zerfetzt – aber wenn der Angreifer so stark war, dann hätte er ihr doch den Wadenmuskel herausgerissen. Er hat angefangen, hat sein Werk aber aus irgendeinem Grund nicht vollendet. Ich habe mir die Wunde näher angesehen und Fremdspuren gefunden, möglicherweise ein Fragment von einem Zahn. Ich habe es zur Spurenanalyse geschickt.« »Gut. Ich werde unsere Tierdatenbank befragen und sehen, ob wir das Muster der Bissspuren identifizieren können. Und vielleicht haben wir Glück und erzielen einen Treffer bei dem DNS-Abgleich.« »Dieser Fall ist ungewöhnlich, Horatio. Was immer dieses arme Mädchen erlebt hat, es war nicht angenehm.« Horatio trat einen Schritt von dem Tisch zurück. Er studierte das ruhige Gesicht von Gabrielle Cavanaugh, versuchte, sich das Opfer während einer jener einsamen Wanderungen vorzustellen. Vermutlich hatte sie ein Buch mitgenommen, einen
Snack, vielleicht auch Sonnenschutzmittel, um sich in die heiße Sonne Floridas zu legen, ohne sich einen Sonnenbrand zu holen. Und wenn es zu heiß wurde, konnte sie sich jederzeit beim Schwimmen abkühlen. »Was sie auch durchgemacht hat«, sagte Horatio leise, »wir werden es herausfinden.« »Was wir suchen«, erklärte Horatio seinen Mitarbeitern, »ist eine Waffe, die unter der Bezeichnung ›Farallon Shark Dart‹ bekannt ist.« Sie hatten sich im Besprechungsraum versammelt. Delko trug ein enges, schwarzes T-Shirt und hielt mit ernster, grüblerischer Miene die Arme vor der Brust verschränkt. Wolfe, in grauem Jackett und hellblauem Hemd, studierte die Tauchermaske und das Bikinioberteil, die einzigen Gegenstände, die sie am Tatort hatten sichern können. Calleigh, gekleidet in eine weite weiße Bluse und eine schwarze Hose, saß vor ihrem aufgeschlagenen Notizbuch und hielt einen Stift in der Hand. »Äh, ich fürchte, das sagt mir nichts, H.«, meldete Wolfe sich zu Wort. »Das ist eine Haiabwehrwaffe«, erklärte Delko. »Eine Kartusche mit verdichtetem CO2 und einer langen, spitzen Nadel an einem Ende. Haie haben bis zu sechsunddreißig Prozent weniger Schmerzrezeptoren als Menschen – eigentlich fühlen sie keinen Schmerz. Will man also einen Hai aufhalten, muss man in Sekundenschnelle reagieren. Der Shark Dart injiziert das Gas in den Körper des Hais, und das presst seine inneren Organe durch Maul und Rektum hinaus.« »Und so hat jemand Gabrielle Cavanaugh getötet«, sagte Calleigh. »Post mortem«, erinnerte Horatio. »Vorher wurde sie vergewaltigt.«
»Die Verstümmelung der Leiche deutet auf Zorn hin«, sagte Wolfe. »Ebenso wie die Platzierung der Toten. Jemand wollte, dass wir sein Werk begutachten.« »Ich bin nicht sicher, ob sie wirklich dort deponiert wurde«, wandte Delko ein. »Solange das CO2 nicht entwichen ist, konnte sie nicht untergehen. Vielleicht hat sie sich auf natürlichem Weg in dem Wurzelwerk der Mangroven verhakt.« »Außerdem wären da noch die Bissspuren«, sagte Horatio. »Gibt es da schon Erkenntnisse, Calleigh?« »Ja«, antwortete sie. »Entscheidend war der Abstand zwischen den Zähnen – eins Komma eins vier Zentimeter. Ob ihr es glaubt oder nicht, die Bissspuren stammen von einem Großen Tümmler.« »Einem Delfin?«, fragte Wolfe. »Das ist selten. Normalerweise greifen die doch keine Menschen an.« »Eigentlich sind Delfine viel gefährlicher, als die Leute glauben«, widersprach Delko. »Sie sind immerhin Raubtiere – ein Killerwal ist eigentlich auch nur ein übergroßer Delfin. Delfine greifen regelmäßig Haie und sogar Schweinswale an.« »Das stimmt«, sagte Horatio. »Die Benutzung von Waffen lässt auf einen menschlichen Täter schließen, aber Delfine können auch ausgebildet werden.« »Das wäre mal etwas ganz Neues«, meinte Calleigh. »Flipper als Attentäter.« »Das ist gar nicht so weit hergeholt, wie es sich anhört«, entgegnete Delko. »Vor einigen Jahren gab es in der Taucherszene ein Gerücht über Delfine, die angeblich von der Navy dazu benutzt wurden, während des Vietnamkriegs feindliche Taucher zu töten. Und ohne taktlos sein zu wollen, Delfine sind sexuell höchst aktive Tiere. Es gibt eine ganze Anzahl von Berichten, denen zufolge sich Delfine mit so einem Verhalten Menschen zugewandt haben, vor allem menstruierenden Frauen.«
»Willst du etwa behaupten, ein Delfin hätte sie sexuell belästigt?« »Die Möglichkeit besteht«, sagte Horatio. »Aber wir sollten uns vorerst auf einen menschlichen Mörder konzentrieren. Eric, ich will, dass du die Küstenlinie an der Biscayne Bay überprüfst, vor allem die Abflussbereiche der Kanäle. Calleigh, du gehst dieser Haiabwehrwaffe nach und besorgst uns eine Liste der Händler. Mr Wolfe, ich möchte Sie im Labor haben, wir haben Spuren unter den Fingernägeln und in der Wunde entdeckt, und ich möchte wissen, was das für Spuren sind und woher sie kommen.« »Und was machst du, Horatio?«, fragte Calleigh. »Seaworld besuchen und ein paar Verdächtige vernehmen?« »Wenn es notwendig ist«, entgegnete Horatio milde. »Denn wer oder was Gabrielle Cavanaugh das angetan hat, ist immer noch da draußen.«
2
Der Highway A1A war wie üblich voller Touristen. Dies war eine Straße, die nur einen Zweck hatte: nämlich die Keys mit dem Rest von Florida zu verbinden. Wie Perlen auf einer Schnur wurden die Keys durch den Verlauf der Straße zusammengehalten. Nur dass die Schnur keine geschlossene Kette bildete, sondern abrupt in Key West endete, der letzten und farbenprächtigsten Perle von allen, wo es exzentrische Bewohner gab und Touristenfallen, in denen es von Ernest Hemingways Lieblingscocktail bis hin zu lebenden Einsiedlerkrebsen einfach alles zu kaufen gab. Horatios Ziel war eine Forschungseinrichtung namens Aquarian Institute und lag auf einer der kleineren Inseln. Er lenkte seinen Hummer vom Highway runter, auf eine schmalere befestigte Straße und folgte ihr. Sie schlängelte sich weiter und weiter durch die dichte, üppige Vegetation, bis sie nach einer letzten Biegung abrupt – keine fünfzehn Meter von der Küste entfernt – endete. Ein weißes Gebäude von der Bauart eines Schuhkartons ragte auf Stelzen über die Brandung hinaus. An das Haus schloss sich ein Landungssteg an, an dem zwei Boote vertäut waren, ein älteres Kajütboot und ein Festrumpfschlauchboot der Marke Zodiac. Horatio stellte den Wagen ab und stieg aus. Das Gebäude hatte viele Fenster, und alle waren mit Wassertropfen bedeckt. Das war ein Phänomen, das Horatio als Budweisereffekt bezeichnete und dem er in Miami häufig begegnete. Die hohen Außentemperaturen und die große Feuchtigkeit, kombiniert mit Innenräumen, in denen die Klimaanlagen mit voller Stärke
liefen, führten zu Kondenswasser auf den Scheiben – ganz ähnlich wie bei einem kalten Glas Bier. Seiner Ansicht nach täten die Leute besser daran, sich an das Klima zu gewöhnen. Jedenfalls war an einem Ort, wo man hinausgehen musste, um sich aufzuwärmen, seiner Meinung nach das Gleichgewicht entschieden gestört. Er schlenderte den kurzen Weg zum Eingang entlang. An der Glastür hingen Aufkleber von Peta, der Humane Society und dem International Fund for Animal Welfare. Er öffnete die Tür und trat ein. Der Eingangsbereich war klein, kaum mehr als eine verglaste Veranda mit einem wackeligen Tresen, auf dem ein Computer stand, und ein paar Plastikstühlen an der Wand. Ein Stapel zerlesener Zeitschriften lag auf einem niedrigen Tisch in der Ecke. Auf dem Titelblatt der obersten Zeitschrift war ein Gerätetaucher mit einem Stachelrochen abgebildet. Gerahmte Fotos von Delfinen, Killerwalen und Belugawalen zierten die Wände. Hinter dem Tresen stand ein Stuhl, doch er war nicht besetzt. »Hallo?«, rief Horatio, aber niemand antwortete. Dann fiel ihm ein gelber Haftnotizzettel an der Vorderseite des Tresens auf, auf dem zu lesen war: »Sollten Sie etwas liefern wollen, ich bin draußen am Zaun. Den Gang runter bis zum Ende, letzte Tür links.« Er folgte den Anweisungen und ging einen kurzen Korridor hinunter durch eine unverschlossene hölzerne Tür, die zu einem überdachten Podest führte. Über eine lange Rampe gelangte man hinunter zu einem Becken, das an drei Seiten durch Betonwände eingeschlossen war, während die vierte aus einem großen Maschenzaun bestand und den Pool vom Ozean trennte. Ein Gefährt auf Rädern mit einer gepolsterten Oberfläche stand am Rand des Beckens. Horatio ging die Rampe hinunter. Als er den halben Weg
hinter sich hatte, tauchte am Beckenrand ein Kopf mit Tauchermaske und Schnorchel auf. Die Frau zog die Maske vom Kopf und rief: »Ja?« Horatio trat an den Rand des Pools. »Guten Tag. Ich bin Lieutenant Horatio Caine. Ich hatte mich gefragt, ob ich ein wenig von Ihrer Zeit beanspruchen dürfte.« Die Frau blickte misstrauisch zu ihm hinauf. Sie hatte hohe, slawisch anmutende Wangenknochen, volle Lippen und von grauen Strähnen durchzogenes, schwarzes Haar. »Was wollen Sie? Ich bin beschäftigt.« Ihr Akzent war russisch, ihr Ton ablehnend. »Ich habe eine Nachricht auf Ihrem Anrufbeantworter hinterlassen, aber ich fürchte, ich konnte nicht auf Ihren Rückruf warten«, erklärte Horatio. »Ich habe ein paar Fragen …« Sie fiel ihm sogleich ins Wort. »Natürlich haben Sie Fragen. Cops haben immer Fragen, das liegt in ihren Genen. Nun, ich habe auch Fragen, und ohne unhöflich sein zu wollen, meine Fragen interessieren mich bedeutend mehr als Ihre.« »Da wäre ich nicht zu sicher«, sagte Horatio gelassen. »Sie kennen meine Fragen bisher noch gar nicht.« Sie legte die Arme auf den Rand des Pools und musterte ihn finster. »Dann mal los, fragen Sie.« »Ich würde mich wohler fühlen, wenn wir das von Angesicht zu Angesicht erledigen könnten.« Sie schürzte die Lippen, dachte kurz nach und zuckte mit den Schultern. »Das bezweifle ich«, sagte sie, »aber wenn Sie darauf bestehen.« Sie legte die Hände flach auf den Beton und stemmte sich aus dem Wasser. Sie plumpste bäuchlings auf den Boden, drehte sich auf den Rücken und setzte sich auf, sodass sie schließlich auf dem Beckenrand saß und ihre Unterschenkel ins Wasser baumelten. Horatio hatte ihre Beine, als sie sich umgedreht hatte, nur für einen kurzen Augenblick zu sehen
bekommen, doch lang genug, um zu erkennen, dass sie Flossen trug – und dass an ihren Unterschenkeln irgendetwas ungewöhnlich war. Als sie die Schnallen öffnete, sah er, was ungewöhnlich war. Sie waren künstlich. Beide Beine endeten kurz über dem Knie. Ihre Prothesen ahmten nicht das Aussehen eines gesunden Beins nach – sie bestanden aus einem mattschwarzen Metall, dessen gekrümmte Einzelteile sich um eine Art Hydraulikzylinder zu schließen schienen. Sie stellte die Prothesen mit den daran befestigten Flossen neben sich. Die mit Schwimmhäuten versehenen Füße erinnerten an eine bizarre Skulptur. Sie schenkte ihm ein feindseliges Lächeln. »Können Sie mir bitte helfen?« Sie deutete mit einem Nicken auf das Gerät neben Horatio. Nun wurde ihm klar, dass es sich um eine Art Rollstuhl handeln musste, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. »Ich bin immer noch dabei, mich daran zu gewöhnen«, sagte sie. »Nicht einfach, da reinzukommen, wissen Sie?« Sie streckte ihm die Arme entgegen wie ein bettelndes Kleinkind, aber das Glitzern in ihren Augen verriet, dass nicht sie diejenige war, die in Verlegenheit geriet. Horatio bückte sich, sah ihr in die Augen und legte beide Hände fest an die Seiten ihres Körpers. Dann richtete er sich wieder auf und hob sie dabei mühelos empor, während ihre Arme locker auf seinen Schultern ruhten. Schließlich setzte er sie vorsichtig auf der gepolsterten Fläche des Rollstuhls ab. Weder sein Griff noch sein Blick ließen das geringste Zaudern erkennen, und er sah, wie sich der Ausdruck ihrer eigenen Augen von bösartiger Freude zu amüsierter Anerkennung bewegte. »Spasibo«, sagte sie. »Einen Moment.« Sie drehte an der Steuerung herum, und ein Elektromotor summte vernehmlich, als der Aufbau des Rollstuhls sich veränderte und eine Rükkenlehne ausfuhr. Sie drückte sich dagegen und sicherte Taille
und Schultern mit Riemen, ehe sie erneut nach der Steuerung griff. Wieder veränderte sich die Form des Rollstuhls, kippte aufwärts und klappte senkrecht auseinander, bis sie endlich eine vollständig aufrechte Haltung eingenommen hatte. »So«, sagte sie. »Von Angesicht zu Angesicht, wenn auch nicht stehenden Fußes. Ich hoffe, Ihre Fragen sind die Mühe wert.« Horatio lächelte. »Kommt darauf an. Was denken Sie über Delfine, die Menschen angreifen?« Sie schnaubte. »Bedauerlich, dass sie es nicht öfter tun. Die verdammten Touristen bezahlen dafür, mit Flipper zu schwimmen. Die denken, Tiere sind so, wie sie sie im Zoo oder im Fernsehen erleben. Wenn die einen Bären sehen, dann schmieren sie ihrem Kind Erdnussbutter auf die Hände, um ein Foto davon zu machen, wie der Bär sie ableckt. Verdammte Trottel.« Sie betätigte einen Joystick an der Armlehne des Rollstuhls, der Stuhl machte kehrt und rollte davon. Horatio musste sich beeilen, um Schritt halten zu können. »Also, worum geht es?«, fragte sie. »Irgendeine neue Tierschutzorganisation, die sich wegen meiner Tümmler beklagt? Darüber, dass ich sie gefangen halte und ihnen schreckliche Dinge antue? Sagen Sie ihnen, ich werde ihnen einen ihrer verdammten Aufkleber abkaufen und ihn an meine Tür kleben.« »Entschuldigen Sie«, sagte Horatio und tat ein paar schnelle Schritte, um ihr den Weg abzuschneiden, ehe sie die Rampe erreichte. »Aber diese Sache ist ein bisschen ernster, Doktor …?« »Zhenko«, sagte die Frau. »Doktor Nicole Zhenko. Also, was ist passiert, und warum soll mich das interessieren?« Horatio atmete einmal tief durch, ehe er antwortete. »Eine Frau ist tot, Doktor Zhenko. An ihrer Leiche wurden an einem der Beine Bissspuren von einem Großen Tümmler gefunden.« »Hah! Lächerlich«, schnappte Zhenko. »Sie müssen sich ir-
ren. Delfine ernähren sich nicht von Kadavern.« »Wir irren uns nicht«, erwiderte Horatio geduldig. »Und dieser Biss wurde ihr vor dem Tod zugefügt, nicht danach.« »Dann meinen Sie also, dieser Delfin hätte tatsächlich jemanden getötet?« Ihr Ton klang weniger streitsüchtig als zuvor, aber nur um eine Nuance. »Sie zernagt wie ein Hai?« »Eigentlich ist sie ertrunken. Da war nur diese eine Bisswunde – eine tiefe Wunde, an ihrem Bein.« »Dann kann es kein Delfin gewesen sein. Es gibt Meeressäugetiere, die Menschen angreifen und töten, indem sie sie unter Wasser ziehen. Vor einigen Jahren gab es einen Fall mit einem Orca, der einen Trainer in einem Aquarium ersäuft hat. Aber ein Delfin würde nicht auf so eine Art angreifen. Gab es großflächige Prellungen an der Leiche? Am Torso, am Bauch?« »Nein. Warum fragen Sie?« »Weil ein Großer Tümmler, der jemanden töten will, nicht zubeißt, sondern rammt. Immer wieder, rums, rums, rums.« Sie legte die Fingerspitzen einer Hand zusammen, sodass ihre Finger einen krummen Kegel bildeten, und stieß sie zur Unterstreichung ihrer Worte gegen die Handfläche der anderen Hand. »Sie rammen ihre Gegner mit der Schnauze. So töten sie auch Haie, und sie greifen im Rudel an, alle auf einmal. So wie bei diesem amerikanischen Unsinn mit all den zerbeulten Wagen, die versuchen, sich gegenseitig auszuschalten.« »Crashcar-Rennen«, sagte Horatio lächelnd. »Genau! Hätte ein Delfin diese Frau getötet, dann hätten Sie überall an ihrem Körper runde Blutergüsse entdeckt. Aber das haben Sie nicht, also müssen Sie sich irren.« Sie fuhr mit ihrem Rollstuhl voran, wechselte dann ruckartig die Richtung und bog nach rechts. Vor einem alten, cremeweißen Kühlschrank, der geschützt unter dem Dach des Podests stand, hielt
sie an und zog die Tür auf. »Ich behaupte nicht, dass der Delfin an ihrem Tod schuld ist«, sagte Horatio. »Ich erzähle Ihnen nur, was wir vorgefunden haben. Die Bisswunde war ungewöhnlich, aber nicht so ungewöhnlich wie das, was hinterher passiert ist.« Er erzählte ihr vom Zustand des Leichnams, während sie in den Kühlschrank hineingriff und schließlich eine große grüne Plastiktüte hervorzog. »Eine Haiabwehrwaffe?«, sagte sie stirnrunzelnd. Sie klappte ein Tablett an der Seite ihres Stuhls auf und legte den Beutel darauf ab. »Ich glaube es nicht …« Sie zögerte, ehe sie widerwillig sagte: »Also schön, vielleicht. Ich dachte immer, das wären nur Märchen, paranoide Fantasien, aber es gibt Leute, die schwören, es sei die reine Wahrheit, und sie hätten es mit eigenen Augen gesehen. Vielleicht haben sie das tatsächlich.« Sie rollte zum Becken zurück, und Horatio begleitete sie. »Was genau wollen sie gesehen haben?«, fragte er. Sie hatte den Beckenrand erreicht und blieb stehen. »Delfine, die von der Navy zum Töten ausgebildet wurden. Man hat ein Gerät, ähnlich einer Haiabwehrwaffe, an ihrem Schnabel befestigt, sodass sie den feindlichen Taucher damit rammen konnten. Man nannte es das Swimmer Nullification Program. Ihre Regierung streitet bis heute ab, dass ein solches Programm je existiert hat.« Sie schnappte sich die Plastiktüte, griff hinein und zog einen etwa dreißig Zentimeter langen Fisch heraus. Den warf sie über dem Becken durch die Luft, und plötzlich schoss in weitem Bogen ein stromlinienförmiger, grauer Leib aus dem Wasser empor. Der Delfin fing den Fisch auf und verschwand wieder im Wasser. »Soweit ich weiß, arbeiten Sie selbst mit Navy-Delfinen«, sagte Horatio und starrte auf das Wasser und auf den schlanken Schatten, der unter der Oberfläche entlangglitt. »Ist das nicht
auch ein Navy-Delfin?« »Aha, Sie haben also Ihre Hausarbeiten gemacht«, sagte sie und warf einen weiteren Fisch in das Becken. »Braucht unser armer Whaleboy ein Alibi? Ich verspreche Ihnen, er war seit einem Jahr nicht mehr im offenen Meer. Davor hatte ihn die Navy, und ich habe keine Ahnung, was zum Teufel die mit ihm gemacht haben. Vielleicht hat er auf Osama Bin Laden gewartet, um mit ihm Schnorcheln zu gehen.« »Vielleicht«, sagte Horatio. »Der Marineoffizier, mit dem ich am Telefon gesprochen habe, hat gesagt, Sie wären dafür zuständig, die Delfine auszuwildern, wenn die Navy sie in den Ruhestand schickt. Ist das sehr kompliziert?« Sie musterte ihn abschätzig. »Kompliziert? Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie haben einen Hund. Einen klugen Hund. Gut ausgebildet. Dieser Hund lebt beinahe sein ganzes Leben bei Ihnen – sagen wir, zehn Jahre. Dann, eines Tages, sagen Sie: ›Ich bin fertig mit dir. Zeit, dass du gehst und dein Leben im Wald verbringst. Aber das ist schon in Ordnung, weil eine nette Dame dir beibringen wird, wie man ein Wolf wird.‹« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist geisteskrank. Aber es ist besser, wenn sie ein bisschen Freiheit erfahren, ehe sie sterben. Und Freiheit, das ist kein Honigschlecken.« »Nein«, stimmte Horatio zu. »Nein, das ist es nicht.« »Ich sehe, Sie bewundern mein Transportmittel«, sagte Zhenko. »Nett, nicht wahr?« Sie gestikulierte mit einer Hand, und Whaleboy reagierte, indem er sich aufrichtete und sich mit den schnellen Flossenschlägen seines Schwanzes rückwärts bewegte. Es sah beinahe aus, als würde er über das Wasser gleiten. Sie belohnte ihn mit einem weiteren Fisch. »Ich habe ein Faible für sinnvolle Technik«, erklärte Horatio. Sie lachte leise. »Sinnvoll und teuer. Ein individuell angefertigter Levo mit V-Track-Kopf- und -Rückenstütze. Wenn
Sie gute Technik wollen, gehen Sie in die Schweiz, das ist alles, was ich dazu sage. Kuckucksuhren oder Rollstühle, die machen die besten.« »Sind Ihre Prothesen auch aus der Schweiz?«, fragte Horatio. Sie warf ihm einen Blick zu, der ihn glauben ließ, einen Fehler begangen zu haben. Aber als sie antwortete, hörte sie sich nicht verärgert an. »Nein. Amerika und Deutschland. Die Prothesenfüße stammen von Otto Bock, die Schäfte von Hanger. Karbonfaserverbund mit polyzentrischer Titan-Schwungphasenkontrolle.« Sie drückte sich kurz und präzise aus. »Natürlich wasserdicht. Ich würde gern auf ein neueres System umsteigen, so etwas wie Endolite Adaptive: hydraulisch-pneumatischer Hybridzylinder, Mikroprozessoren der dritten Generation, adaptronische Sensoren – aber das ist teuer. Vermutlich werde ich stattdessen ein modifiziertes Modell nehmen. Lord RD 1005 ist billiger, aber das Knie ist mit einer magnetorheologischen Flüssigkeitsdämpfung ausgestattet und hat eine Reaktionszeit von einer Millisekunde.« Sie machte eine Kreiselbewegung mit einer Hand, und Whaleboy schoss aus dem Wasser und schlug einen Salto. »Für einen Navy-Delfin kommt er mir ziemlich akrobatisch vor«, sagte Horatio. »Er ist ein gewaltiger Angeber«, entgegnete Zhenko in liebevollem Ton. »Die Navy hat ihm all diese Tricks beigebracht. Er genießt jegliche Aufmerksamkeit, also gönne ich sie ihm. Ich versuche, ihn von den toten Fischen zu entwöhnen, aber lebende will er noch nicht fressen. Der sture Mistkerl ist zu faul, sich seine eigenen Fische zu fangen. Aber das wird er früher oder später auch noch lernen.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Horatio grinsend. »Was kann er sonst noch?« »Sie meinen, außer Minen im Persischen Golf suchen? Ich werde es Ihnen zeigen. Nehmen Sie den Fisch.« Gebieterisch
hielt sie ihm einen Fisch hin, und Horatio griff nach ihm. »Jetzt machen Sie Folgendes«, sagte sie, dann ballte sie die Faust, hob sie über ihren Kopf und riss sie mit Kraft hinunter, als würde sie mit einer imaginären Axt zuschlagen. Horatio tat es ihr nach, und augenblicklich tauchte Whaleboy in die Tiefe und kehrte mit einer leuchtend orangefarbenen Frisbeescheibe im Schnabel zurück. Mit einer knappen Bewegung seines Kopfes warf er sie in Horatios Richtung, der sie reflexartig auffing und lachte. »Für dich, Kumpel«, sagte Horatio und warf dem Delfin den Fisch zu. »Ich bin sicher, du weißt den mehr zu schätzen als ich.« »Das ist alles, was du heute bekommst, du verfressener Torpedo«, rief Zhenko. Whaleboy klappte den Schnabel auf und antwortete mit aufgeregtem Schnattern, ehe er mit einem kurzen Schlag seiner Schwanzflosse wieder abtauchte. »Doktor Zhenko«, sagte Horatio, »wie ich sehe, haben Sie viel Erfahrung mit dem Verhalten von Delfinen und mit ihrer Ausbildung. Ich muss Sie fragen …« Sie ließ ihn nicht ausreden. »Ob jemand wie ich einen Delfin zum Attentäter ausbilden könnte? Dazu, auf Kommando zu töten?« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Die Navy behauptet, sie hätte die Tiere für Wach- und Bergungseinsätze trainiert – wie Wachhunde, gewissermaßen. Sie patrouillieren, und sie bergen Gerätschaften. Delfine können bis zu 535 Meter tief tauchen, und da sie von der Taucherkrankheit verschont bleiben, können sie Gegenstände vom Meeresgrund viel schneller bergen als ein menschlicher Taucher.« »Das Problem mit Wachhunden«, bemerkte Horatio, »ist, dass viele von ihnen beißen.« »Durchaus richtig«, stimmte sie zu. »Die Navy-Ausbilder
haben mir die Handzeichen für ›wirf‹, ›spring‹ und ›tailwalk‹ gezeigt, aber woher soll ich wissen, was sie ihm sonst noch beigebracht haben? Vielleicht kratze ich mich eines Tages an der Nase, und er beißt mir die Kehle durch.« »Der Gedanke scheint Ihnen keine großen Sorgen zu bereiten.« Sie schnaubte verächtlich. »Wozu auch? Wir müssen alle irgendwann sterben, und von Sorgen bekommt man nur Falten. Außerdem«, sagte sie und deutete auf ihre Beinstümpfe, »kommt mir danach nichts mehr so schlimm vor. Das Schlimmste ist mir schon zugestoßen, also zum Teufel damit. Verstehen Sie?« »Eigentlich nicht, nein«, sagte er. »Und ich möchte mich nicht erdreisten, so zu tun, als täte ich es.« Der harte Ausdruck in ihrem Gesicht schwand ein wenig. »Nein. Sie verstehen es nicht. Aber wenigstens versuchen Sie nicht, mich darüber zu belügen. Was sagt man dazu? Ein ehrbarer Polizist.« »Ich tue mein Bestes«, entgegnete Horatio. »Gut, dann werde ich ehrlich zu Ihnen sein. Das Marine Mammal Program – so nennt die Navy das – hat über die Jahre ein paar Delfine verloren. Das geben die bestimmt nicht zu, aber es passiert.« Horatio studierte sie aufmerksam. »Wie verloren?« »Verlegt, verloren, nicht mehr vorhanden. Pffft. Einfach weg. Sie haben sie zu einer Mission rausgeschickt, und sie sind nicht zurückgekommen. Vielleicht haben sie sich in einem Thunfischnetz verfangen, vielleicht hatten sie auch nur keine Lust mehr, Befehle zu befolgen, wer weiß? Aber ich sage Ihnen eines, Mister. Diese Delfine hätten erst gar nicht gefangen werden dürfen.« Sie griff in die Plastiktüte, die auf ihrem Schoß lag, und warf noch einen Fisch in das Becken. »Er sollte auch nicht hier sein. Keiner von ihnen.«
Der nördliche Teil von Biscayne Bay grenzte an Miami Beach. Das Gebiet war stark industrialisiert und musste mit jeglichem Schiffsverkehr zurechtkommen, ganz gleich, ob es sich um Krabbenkutter oder Kreuzfahrtschiffe handelte. Zwar war ein großer Teil der Bucht seicht – kaum tiefer als dreieinhalb Meter –, doch es gab auch tiefere Fahrrinnen, die extra für die Passage größerer Schiffe angelegt worden waren. Delko konnte nur hoffen, dass die Polizeitaucherflaggen all diese Schiffe davon abhalten würden, in sein Suchgebiet einzudringen. Er hatte schon Leichen gesehen, die mit einer Schiffsschraube Bekanntschaft gemacht hatten, und auch er hatte gewiss kein Bedürfnis, in mehreren Einzelteilen auf dem Meeresgrund zu landen. In den tieferen Kanälen lag in größerem Ausmaß Müll herum. Einkaufswagen, Reifen, alte Öfen, alles überzogen von Korallen und Muscheln, die allem eine surreale Schönheit verliehen. Das mag eine Müllhalde sein, dachte Delko, aber immerhin eine interessante Müllhalde. Er suchte nicht mehr nach Flossen – ihrer Mitbewohnerin zufolge hatte Gabrielle Cavanaugh keine benutzt –, aber er hoffte immer noch, das Unterteil ihres Bikinis oder den Schnorchel zu finden. Das Fehlen des Schnorchels gab ihm zu denken. Die meisten Schnorchel waren mit festen Gummischlaufen an der Seite der Maske befestigt. Es war beinahe unmöglich, das eine ohne das andere zu verlieren. Die Mitbewohnerin war sicher, dass Gabrielle ihn mitgenommen hatte, aber bei der Leiche war er nicht gefunden worden. Möglicherweise hatte sie ihn einfach nicht benutzt, als sie tauchen gegangen war, hatte ihn zusammen mit Handtuch und Picknick am Strand zurückgelassen? Was er aber wirklich zu finden hoffte, war die Haiabwehrwaffe. Bei den Modellen, die er bisher gesehen hatte, saß der hohle Pfeil am Ende eines ein Meter zwanzig langen Stabes,
und die CO2-Kartusche reichte nur für einen einzigen Schuss. Der Stab oder die Kartusche hätten bei der Aktion verloren gehen können … je nachdem, wer oder was die Waffe benutzt hatte. Ein Delfin als Mörder. Delko glaubte es einfach nicht. Es war nicht so, dass er in Delfinen eine Art höher entwikkelte, friedfertige Kreatur sah, die dem Menschen durch ihre Intelligenz überlegen war. Er wusste, dass männliche Delfine bisweilen Kälber töteten. Derartige Kindstötungen kamen auch bei anderen Tieren vor. Männliche Löwen töteten häufig den Nachwuchs ihrer Rivalen, um auf diese Weise sicherzustellen, dass nur ihre eigenen Gene weitergegeben wurden. Man hatte bereits beobachtet, wie Delfine Schweinswale getötet hatten, und der einzige Grund dafür schien zu sein, dass die kleineren Tiere Delfinkälbern ähnelten. Dummheit und Mord, dachte Delko, sind nicht notwendigerweise der Spezies Mensch vorbehalten. Nein, Delko hatte kein Problem damit, sich vorzustellen, dass ein Delfin einen Menschen getötet haben konnte. Was ihm zu schaffen machte, war die Haiabwehrwaffe. Delko hatte schon viele inszenierte Tatorte gesehen. Leute versuchten, ein Verbrechen aus Leidenschaft als Raubmord zu tarnen, oder einen Mord als Unfall. Und beinahe jedes Mal übertrieben sie dabei. Ein echter Tatort war chaotisch, verwirrend, widersprüchlich. Es brauchte Zeit und Beharrlichkeit, die Beweise zu entschlüsseln und zu verstehen. Die Logik eines inszenierten Tatorts war hingegen zu eindeutig: Da! Eine Waffe! Da! Ein offener Safe! Da! Dort hat ein Kampf stattgefunden! Horatio hatte Delko gelehrt, solchen Inszenierungen zu misstrauen. Wenn es zu offensichtlich erscheint, steckt vermutlich etwas anderes dahinter. Das war Horarios Meinung, und er behielt meistens recht damit. Unterzog man die Szenerie einer genaueren Betrachtung, kamen gewöhnlich alle möglichen
Ungereimtheiten zum Vorschein. So war die Haiabwehrwaffe in Delkos Augen eine ziemlich absurde Wahl für eine Mordwaffe. Eine Klinge wäre ebenso effektiv und viel einfacher gewesen. Ein Delfin, an dessen Schnabel eine solche Waffe angebracht worden war, konnte diverse Male zustechen, aber es bestand auch die Gefahr, dass die Nadel abbrach. Außerdem war die Haiabwehrwaffe erst zum Einsatz gekommen, als das Opfer bereits tot war – warum? Es passte einfach nicht zusammen. Und dann fand er das Seil. Calleigh hatte beschlossen, sich die Einstichwunde genauer anzusehen. Oder zumindest die Bilder von der Wunde. Wenn der Pfeil erst ante mortem abgeschossen wurde, gab es vielleicht eine Art Abdruck – so wie auch die Mündung einer Schusswaffe oder das Heft eines Messers einen Abdruck hinterließ. Aber da war nichts. Erneut zog sie die Bilder der Bissspuren zurate. Es schien nur eine Bisswunde zu geben. Das war sonderbar, die meisten Raubtiere ließen verschiedene Bisswunden zurück. Das hier sah aus, als wäre einmal zugebissen und nicht wieder losgelassen worden. Sie nahm eine Lupe zur Hand und untersuchte die Bilder genauer. Schon einen Moment später fiel ihr etwas auf, das sie bisher übersehen hatte: Die Risse im Fleisch zeigten alle in Richtung Fuß. Wenn das nicht seltsam ist, dachte sie. Sie wusste, dass manche Vertreter der Meeressäugetiere ihre Beute töteten, indem sie sie schüttelten – Killerwale waren imstande, einen Seehund so stark zu schütteln, dass er regelrecht zerfetzt wurde – aber das hier sah anders aus. Sie versuchte, sich das Geschehen vorzustellen. Seichtes, trübes Wasser, von Sonnenschein durchdrungen.
Etwas packt Gabrielle Cavanaughs Bein. Es zieht sie unter Wasser. Sie kämpft darum, an die Oberfläche zu kommen, an die Luft, aber es lässt nicht los. Sie tritt im Wasser verzweifelt um sich, ihre Lungen liefern keinen Sauerstoff mehr … »Darum ist das Fleisch nur in einer Richtung zerfetzt«, murmelte sie. »Du hast es selbst aufgerissen, als du versucht hast freizukommen. Du hast versucht, an die Oberfläche zu kommen, aber es hat dich festgehalten.« Mit seiner weißen Farbe stach das Seil aus der Dunkelheit des Wassers heraus. Es war um eine Stange geknotet, die herausragte wie ein Periskop aus den Überresten eines U-Boots … was, wie Delko erkannte, als er näher heranschwamm, auch der Fall zu sein schien. Er nahm sogar die Umrisse eines Kommandoturms einschließlich Schutzgeländer und Luke wahr. Bei näherem Hinsehen erwies sich das alles jedoch als Illusion. Der Kommandoturm war nichts als rostiges Blech, und das Periskop nur ein altes Rohr. Die Luke bestand aus altem Sperrholz. Irgendjemand hatte das wohl für einen gelungenen Scherz gehalten, überlegte Delko. Das ganze Ding war vermutlich einmal auf einem Motorboot befestigt gewesen und von betrunkenen Collegestudenten durch die Bay gesteuert worden, bis ihr Gefährt schließlich mehr oder weniger aus Versehen oder unter Einfluss des Alkohols gesunken war. Es sah aus, als läge es schon seit Jahrzehnten hier unten. Aber das Seil war brandneu, es war nicht einmal lange genug unter Wasser, um wenigstens erste Spuren von Algenbewuchs aufzuweisen. Delko griff zu seiner Kamera und machte einige Fotos aus verschiedenen Winkeln, vor allem von der Stelle, an der das Seil an das Rohr geknotet war. Außerdem waren da noch an einem Ende ein Stahlkarabiner und eine große Metallschnalle, an der man problemlos etwas befestigen
konnte. Delko wickelte das Seil von dem Rohr ab, hielt das Ende fest und ließ sich nach oben treiben. Es war gute dreieinhalb Meter lang und reichte nur halb bis zur Oberfläche. Als Bootsleine konnte es nicht benutzt worden sein. Aber es könnte dazu gedient haben, eine ertrinkende Frau unter Wasser zu halten.
3
Calleigh Duquesne hatte weniger Glück. Sie hatte schnell herausgefunden, dass der Farallon Shark Dart seit einigen Jahren nicht mehr hergestellt wurde, wenngleich bei eBay immer noch ein paar verkauft wurden. Die australischen Behörden hatten offenbar irgendwann ein Problem mit dem Gerät gehabt, das sie für immerhin wichtig genug hielten, um es auf die Liste der illegalen Waffen zu setzen. Sie drehte sich samt Stuhl von ihrem Monitor fort und seufzte. Selbst wenn sie den Pfeil finden sollten, wäre es schwer, die Stichwunde mit der Nadel zu vergleichen – und mit Gas konnte sie keine ballistischen Untersuchungen anstellen. Sie konnte jedoch alle Händler in Florida aufspüren, die irgendwann ein Farallon im Angebot gehabt hatten. Also verbrachte sie die nächsten paar Stunden am Telefon, sprach mit Händlern, die Tauchausrüstungen verkauften, und stellte eine Liste der Kunden zusammen, die eine Haiabwehrwaffe erstanden hatten. Das war eine zeitraubende und frustrierende Aufgabe. Wassersportläden gehörten in Florida zu der Art von Geschäften, die ständig neu eröffnet und wieder geschlossen wurden. Die Hälfte davon führte keine sauberen Bücher und war deshalb auch nicht bereit, irgendwelche Informationen preiszugeben, solange sie keine richterliche Anordnung vorlegen konnte. Sie versuchte abwechselnd, die Leute mit ihrem Südstaatencharme zu bezirzen oder mit ihrer Polizistenstimme einzuschüchtern. Aber dies war ganz einfach einer dieser Tage …
Die erste Person, über die Horatio stolperte, als er ins Labor zurückkehrte, war Eric Delko, der sich im Besprechungszimmer über das Seil beugte. »Hast du das auf dem Grund gefunden?«, erkundigte sich Horatio. »Ja. Festgebunden an einem nachgeahmten Periskop. So eine Art U-Boot-Attrappe, sah aus, als würde es da unten schon seit Jahren liegen und vor sich hin rosten.« Horatio griff nach dem ordentlichen Stapel Fotos auf dem Tisch und blätterte sie durch. »Verstehe … aber das Seil ist offensichtlich neu.« »Multifaser, Polypropylen«, sagte Delko. »Zwölf Litzen, keine Seele. Ich habe den Hersteller gefunden. Diese Art Seil wird vielerorts verwendet, beim Militär ebenso wie in der Industrie. Ich versuche, es weiter einzugrenzen, aber das ist ein großes Gebiet.« Horatio studierte eines der Fotos besonders aufmerksam. »Was ist mit den Knoten?« »Der Stahlkarabiner an dem einen Ende ist mit einem Palstek befestigt, ein einfacher Schifferknoten. Der Knoten, mit dem das Seil am Rohr befestigt war, war deutlich komplizierter – ein türkischer Bund. Wird in der Seefahrt normalerweise mehr zu dekorativen als zu praktischen Zwecken benutzt.« »Und er sieht aus, als würde es eine Weile dauern, ihn zu binden«, überlegte Horatio. »Was bedeutet, dass unser Täter entweder sehr gut im Luftanhalten ist oder eine Tauchausrüstung benutzt hat.« »Das würde passen«, sagte Delko. »Die Haiabwehrwaffe ist schließlich ein Taucherwerkzeug.« »Gute Arbeit, Eric. Ich denke, du hast den eigentlichen Tatort gefunden.« Delko seufzte. »Wohin uns das wohl führt? Es gibt keine Fingerabdrücke, keine Spuren, keine Zeugen, abgesehen von Schildkröten und Fischen.«
»Tja, aber eines wissen wir nun mit Sicherheit«, sagte Horatio. »Wie schlau sie auch sein mögen, Delfine haben diesen Knoten nicht geknüpft.« »Und, Ryan«, fragte Calleigh, »wie war dein Wochenende?« »Nicht schlecht«, sagte Wolfe ohne aufzublicken. Er justierte die Einstellung des Mikrospektrometers und studierte eine Probe des Materials, das Gabrielle Cavanaugh unter ihren Fingernägeln hatte. »Hast du irgendwas Besonderes gemacht?« Calleigh hing in einer Warteschleife, seit sie versucht hatte, ein Wassersportgeschäft in Coconut Grove zu erreichen. »Nein, eigentlich nicht«, murmelte er. »Aha. Ich bin ins Kino gegangen und habe mir den neuen Will-Smith-Film angesehen.« »So, so.« »Leider musste ich nach der Hälfte gehen. Mein Kopf hatte Feuer gefangen.« »Nett …« »Aber die Männer aus dem Ufo haben es gelöscht. Mit ihren Speiseeisstrahlen.« »Welche Geschmacksrichtung?«, fragte er geistesabwesend. »Pistazie.« »Gut, sehr gut«, murmelte er. »Pistazie eignet sich besonders gut zum Feuerlöschen.« »Also schön«, seufzte sie. »Du hörst also zu. Du könntest wenigstens so tun, als würde es dich interessieren.« Er blickte auf. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich, Na ja, ich bin nicht so gut im Plaudern. Das war ich nie. Aber das gleicht sich wieder aus – genau wie beim Hockey.« »Hockey?« »Etwas, worin ich wirklich schlecht bin, das mich aber auch nicht interessiert. Ich werde nie ein großer Hockeyspieler sein,
aber das macht mir nichts aus. Damit gleicht es sich wieder aus.« Calleigh runzelte die Stirn. »Nicht ganz. Du kannst nicht die ganze Zeit nur im Labor verbringen, Ryan – und der Außendienst erfordert auch gewisse Fähigkeiten im Umgang mit Menschen. Du warst Streifenpolizist, du musst das wissen.« »Ja, sicher«, gestand er. »Aber wenn man mit einem Zeugen oder einem Verdächtigen redet, dient das Gespräch immer einem klaren Ziel. Zwanglose Unterhaltungen sind dagegen normalerweise … Na ja, zwecklos. Das habe ich schon als Kind so empfunden.« »Du musst ein echter Kracher bei Geburtstagsfeiern gewesen sein.« »Ich hatte nie viele Freunde. Bücher haben mich immer mehr interessiert als Menschen. Meine Eltern haben eine Weile sogar befürchtet, ich wäre autistisch. Zumindest während meiner Roboterphase.« Calleigh blinzelte verwundert. »Wie bitte? Roboterphase?« Wolfe sah ein wenig verlegen drein. »Daran war eigentlich meine Großmutter schuld. Sie hatte so einen großen Stapel alter Reader’s-Digest-Ausgaben, und immer, wenn wir sie besucht haben, habe ich die Artikel gelesen. Besonders hat mir die Anatomieserie gefallen – du weißt schon, ›Ich bin Joes Hirn‹ oder ›Ich bin Joes Niere‹.« »Ja, an die erinnere ich mich auch. Mein Arzt hatte immer ein paar im Wartezimmer liegen – Reader’s Digest, keine Nieren.« »In einer Ausgabe gab es einen Artikel über einen autistischen Jungen, der sich für eine Maschine gehalten hat. Er hat sich wie eine Maschine verhalten, hat seine Körperteile als mechanisch angesehen und darauf bestanden, wie eine Maschine behandelt zu werden. Ich, Na ja, ich dachte, das klingt irgendwie gut, also habe ich mir überlegt, ich könnte es mal versuchen.«
»Wie alt warst du?« »Acht. Nachdem ich mir eine Woche lang Batterien an den Körper geklebt und eine Menge Pieptöne von mir gegeben hatte, haben sich meine Eltern echte Sorgen gemacht. Sie haben mich zu einem Seelenklempner geschleift, der eine Art Zwangsstörung bei mir festgestellt hat, jedenfalls keinen Autismus.« »Muss schwer für deine Leute gewesen sein. Ich habe einen Cousin, der am Asperger-Syndrom leidet.« Wolfe nickte. »Ja, eine Weile dachten sie, ich hätte das auch. Ich hatte eine ganze Anzahl der Symptome – soziale Beeinträchtigung, hoch entwickelte sprachliche Ausdrucksfähigkeit, obsessive Fixierung auf bestimmte Themen. Du weißt schon, all die Dinge, die einen als versponnenen Langweiler und Streber klassifizieren.« Sie verdrehte die Augen. »Wem sagst du das? Aber ein Streber zu sein ist heute nicht mehr das gleiche Stigma wie früher. Heutzutage ist das in gewisser Weise modern. All diese Dotcom-Millionäre haben das Sozialgefüge ein wenig durcheinandergebracht.« »Klar. Mit so viel Geld wird sogar ein Bill Gates zum Sexsymbol.« »Na ja«, sagte Calleigh nachdenklich, »ich habe kürzlich gelesen, die Fälle von Asperger-Syndrom würden im Silicon Valley jeglichen Rahmen sprengen. Sieht so aus, als würde sich das verantwortliche Gen stärker durchsetzen, wenn beide Elternteile es übertragen können.« Wolfe grinste. »Also verlieben sich zwei sozial gestörte Personen und zeugen kleine Streberkinder?« Sie zuckte mit den Schultern. »Evolution. Dagegen kann man kaum etwas einwenden, nicht wahr?« »Einwenden? Hey, ich ende womöglich selbst irgendwann im Silicon Valley.«
Calleigh seufzte. »Allmählich fühlt es sich an, als wäre dieses Telefon fest mit meinem Ohr verwachsen. Weißt du, Ryan, du bist gar kein so schlechter Gesprächspartner, dir fehlt nur ein bisschen Übung.« »Hätte es einen Kurs dafür gegeben, hätte ich mich eingeschrieben«, sagte er scherzhaft. »Na ja, mir wird nachgesagt, ich sei auf beinahe jedem Gebiet eine äußerst anregende Gesprächspartnerin«, erwiderte Calleigh. »Sogar, wenn ich in der Warteschleife hänge. Also los, lass uns ein bisschen Hockey spielen. Ich bringe sogar den Puck mit.« »Äh … okay.« »Also, Ryan, was hast du dieses Wochenende gemacht?« Er dachte eine Sekunde nach, ehe er antwortete: »Eigentlich nicht viel. Hab meine Waffe gereinigt und ein paar forensische Zeitschriften durchgearbeitet. Dabei habe ich von einem wirklich interessanten Fall in Texas gelesen …« »Keine Fachgespräche«, sagte sie freundlich, aber streng. »Nicht, dass ich es nicht interessant fände, aber unsere Arbeit liefert nicht gerade den passenden Gesprächsstoff für eine Cocktailparty. Hast du denn gar nichts gemacht, was einfach nur Spaß macht?« »Na ja, ich war bei einer Grillparty.« Ihre Miene hellte sich auf. »Wirklich? Mein Dad hat großartige Grillpartys veranstaltet, als ich noch ein Kind war. Was hast du gegessen? Rippchen? Steak? Gute, altmodische Burger?« Er zögerte. »Eigentlich ist es nicht so gut gelaufen. Der Gastgeber hat zu viel Brandbeschleuniger benutzt, um die Kohlen anzuzünden, und der Grill ist lange nicht gesäubert worden. Wir hatten einen heftigen Fettbrand.« »Das ist schade – wurde irgendjemand verletzt?«
»Nein«, sagte er. »Glücklicherweise ist plötzlich dieses Ufo aufgetaucht und hat den Brand gelöscht. Mit seinen Speiseeisstrahlen.« Sie kniff die Augen zusammen und bemühte sich um einen möglichst finsteren Blick, aber er sah sie nur ernsthaft an. Eine Sekunde später gab sie auf und grinste. »Du«, sagte sie scharfzüngig, »bist, wie Daffy Duck sagen würde, erbärmlich. Ich werde jeden weiteren Versuch unterlassen, dich zu zivilisieren, und dich in den sozialen Abgrund zurückstoßen, aus dem du gekommen bist.« »Dafür habe ich einen Treffer«, murmelte Wolfe. Calleighs Ton wurde ernst. »Was hast du entdeckt?« »Eine Art Latex. Auf einer Seite sind feine, weiße Partikel. Ich habe ein paar davon isoliert – die werde ich mir mit dem REM genauer ansehen.« Das Rasterelektronenmikroskop lieferte bis zu hunderttausendfache Vergrößerungen. Es nutzte die Wechselwirkung zwischen den Elektronen eines Elektronenstrahls und dem jeweiligen Untersuchungsobjekt. Außerdem lieferte es Daten über die Zusammensetzung der zu bestimmenden Substanz. Calleigh, das Telefon immer noch ans Ohr geklemmt, trat näher, um gemeinsam mit Wolfe die Anzeige am Monitor zu studieren. »Hydratisiertes Magnesiumsilikat?«, fragte sie. »Talkumpuder.« Wolfe nickte. »Chirurgenhandschuhe?«, schlug sie vor. »Manche von ihnen haben auf der Innenseite Talkumpuder, um das An- und Ausziehen zu erleichtern.« »Ja, aber die Farbe ist merkwürdig«, erklärte er. »Ich denke, das stammt von einem dickeren Material – vielleicht von einem Taucheranzug.« »Gummi anstelle von Neopren? Altmodisch«, erwiderte Calleigh.
»Ich werde versuchen, es weiter einzugrenzen«, sagte Wolfe. »Vielleicht können wir es einem bestimmten Hersteller zuordnen.« »Tja, ich hoffe, du hast mehr Glück als ich – hallo? Ja, ich bin immer noch dran. Wann wird das Boot denn zurück sein? Ja, ich weiß, dass Mobiltelefone unter Wasser nicht funktionieren …« Wolfe lächelte. »Laut der Spurenanalyse handelt es sich bei dem Material, das in der Beinwunde des Opfers gefunden wurde, um EthylCyanoacrylat«, erzählte Wolfe Horatio am Telefon. Wolfe war immer noch im Labor, während Horatio in seinem Hummer saß. »Superkleber?«, fragte Horatio nach. »Nicht irgendein Superkleber. Die Materialdatenbank sagt, es handelt sich bei diesem Kleber um eine spezielle Entwicklung einer Firma namens Cyberbond, einen Sekundenkleber, der dazu gedacht ist, sowohl künstliche Materialien wie Delrin, Nylon, Lexan und andere Polycarbonate als auch natürliche Substanzen wie Gummi oder Leder zu kleben. Er wird vorwiegend im Bereich der Tierpräparation verkauft.« »Was bedeutet, dass unsere Bisswunde vermutlich von einem Tier stammt, das ebenso tot ist wie unser Opfer«, stellte Horatio fest. »Mister Wolfe, sagen Sie Calleigh und Delko, dass ich Sie alle sprechen möchte, sobald ich zurück bin. Wir treffen uns im Konferenzraum.« »Sicher. Was liegt denn an, H.?« »Wenn ich nicht irre, eine Menge Arbeit.« Horatio war unterwegs zum Strand. Er mochte den Ozean. Er war riesig, zeitlos und besänftigend, aber auch gefährlich. Der Ozean erinnerte ihn, so nahm er zumindest an, an den Tod. Er war eine beinahe tröstliche Vision des Unausweichlichen.
Nachdem Delko das Seil entdeckt hatte, hatte Horatio gewusst, wo Gabrielle Cavanaugh sich aufgehalten haben musste, als sie beschlossen hatte, schwimmen zu gehen: Oleta River State Park. Die Mündung des Oleta River war keine fünfzig Meter von Delkos U-Boot-Attrappe entfernt. Horatio hatte im Vorfeld schon über Funk die Anweisung erteilt, das Gebiet zu räumen und abzuriegeln, und angeordnet, dass jeder, der sich in der Gegend aufhielt, seine Sachen mitnehmen sollte. Nun steuerte er den Wagen auf den Parkplatz, der, von einem Streifenwagen abgesehen, inzwischen verlassen war. Zwei Beamte lehnten an der Motorhaube und warteten. Als er aus dem Wagen kletterte und zu ihnen ging, richteten sie sich auf. »Guten Tag, meine Herren«, grüßte Horatio und zeigte ihnen seine Marke. »Sind alle draußen?« Der erste Beamte, ein kleinerer Mann mit einem mächtigen Brustkorb und einem grauen Schnurrbart, nickte. »Yep. Es waren nur zwanzig oder so. Die meisten sind ohne Murren abgezogen, nur ein paar waren ein bisschen verärgert, weil wir sie beim Sonnenbaden gestört haben. Aber sie haben alle ihr Zeug mitgenommen, genau, wie Sie es wollten.« Der andere Cop, ein dürrer, blonder Anfänger mit einer übertrieben ernsten Miene, fügte hinzu: »Sie wollten doch nicht, dass wir irgendjemanden festnehmen, oder?« »Nein«, sagte Horatio. »Was ich suche, wird nirgendwohin gehen – es sei denn, die Flut ist schneller als ich.« Er lief hinaus auf das sandige Ufer. Mitten an einem heißen, sonnigen Tag wirkte die Stille in der nun vollkommen verlassenen Bucht beinahe unheimlich. Wie das Ufer des Styx, dachte er. Vielleicht begegne ich ein paar Geistern beim Volleyballspiel. Auf einer kleinen, grasbewachsenen Landzunge, die sich wie eine Halbinsel in die Bucht schob, fand er im Schatten
einer Dattelpalme, was er gesucht hatte. Ein großes blaues Handtuch, das durch ein Paar Turnschuhe festgehalten wurde, ein kleiner blauer Rucksack und eine halb volle NalgeneTrinkflasche. Er zog ein Paar Handschuhe an und öffnete den Rucksack. Ein Apfel, ein Erdnussbuttersandwich in einer Plastiktüte, ein kleiner Becher mit Heidelbeerjoghurt und ein Plastiklöffel. Shorts, Socken, ein T-Shirt mit einem aufgedruckten Pinguin. Ein Schlüsselbund, eine Sonnenbrille, eine billige Armbanduhr. Eine Taschenbuchausgabe von Oliver Twist. Ihr Portemonnaie fand er in einem ihrer Schuhe – wie kamen die Leute nur darauf, dass das ein sicheres Versteck wäre? –, und das Gesicht, das ihn auf ihrem Führerschein anlächelte, war das gleiche Gesicht wie das, das er auf Alexx’ Autopsietisch gesehen hatte. Er schlug das Buch aufs Geratewohl auf und las laut die erste Zeile, auf die sein Blick fiel: »Die Leidenschaft, etwas zu jagen, ist der menschlichen Brust tief eingepflanzt.« Wie wahr, dachte er. Auch wenn dieses Etwas nur ein bisschen Zeit am Strand zubringen will, um ein gutes Buch zu lesen und vielleicht schwimmen zu gehen – und im Wasser plötzlich ins Visier eines Jägers zu geraten. Er legte das Buch zurück in den Rucksack, drehte sich um und starrte auf das Wasser hinaus. Und nun, überlegte er weiter, sind diesem Jäger wieder andere Jäger auf den Fersen. Beweise, die an einem Tatort gesammelt wurden, bestanden oft aus vielen zusammengesetzten Elementen. Das Gerät, das im kriminaltechnischen Labor dafür eingesetzt wurde, um die einzelnen Komponenten voneinander zu trennen und zu identifizieren, war ein Gaschromatograph-Massenspektrometer oder kurz GC/MS genannt. Wolfe hoffte, es würde helfen, den Latex-
fetzen, der unter Gabrielle Cavanaughs Fingernagel gefunden worden war, in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen. Zuerst löste er ein winziges Stück des Materials in Flüssigkeit auf, die zuvor erhitzt worden war. Mit einer Spritze führte er die Lösung in eine Quarzglasspule ein, die mit dem GC/MS verbunden war und in der mithilfe von Stickstoff die Lösung in Bewegung versetzt wurde. Das Gerät identifizierte die einzelnen Komponenten der Lösung anhand der Geschwindigkeit, mit der sie diese Röhrchen passierten. Dann wurde die Lösung von einer erhitzten Kathode mit Elektronen ionisiert, sodass am Ende elektrisch geladene Fragmente zurückblieben. Diese Fragmente wurden beschleunigt, und anhand ihrer Masse konnte ihr Anteil an der Probe festgestellt werden. Aber das war natürlich nur die halbe Arbeit. Als er fertig war, wusste er zwar, woraus das Latex bestand, hatte es aber damit noch nicht identifiziert. Deshalb ging die Arbeit mit einer Internetrecherche und einer Reihe von Datenbanken weiter. Als Delko eintrat, blickte er auf. »Hey«, grüßte er. »Hey«, antwortete Delko, ging geradewegs zum Vergleichsmikroskop, stellte den Beweismittelkoffer ab, den er bei sich trug, und öffnete ihn. »Was meinst du, worüber Horatio mit uns sprechen will?«, fragte Wolfe. »Wahrscheinlich über den Fall.« Delko nahm zwei große Umschläge aus dem Koffer und zog aus dem ersten vorsichtig Gabrielle Cavanaughs Bikinioberteil hervor. »Denkst du, er hat schon eine heiße Spur?« »Ich schätze, das werden wir sehen, wenn er hier ist. Ich habe gehört, er hat die Sachen des Opfers im Oleta River State Park gefunden.« »Dank dir. Das Seil, das du aus dem Meer gefischt hast, war ein guter Hinweis.«
»Danke mir nicht zu früh«, erwiderte Delko und nahm das Seil aus dem zweiten Umschlag. »Bisher konnte ich noch keine Verbindung zwischen der Toten und dem Seil herstellen. Ich hoffe, dass ich an den Bikiniträgern Werkzeugspuren des Schneidegeräts finde, die mit denen an dem Seil übereinstimmen.« »Viel Glück. Ich habe gerade ein Stück von den Fingernägeln des Opfers durch das GC/MS laufen lassen. Hier ist eine Frage für dich: Was haben Gummi und Kaninchen gemeinsam?« »Einen auffallend hohen Karotinanteil«, antwortete Delko grinsend. »Richtig«, musste Wolfe zugeben. »Hey, du sprichst mit einem Gerätetaucher. Ich habe mehr Zeit mit Gummi im Mund verbracht, als …« »Bitte, keine Details. Auf jeden Fall habe ich alle möglichen Dinge über Gummi erfahren, die ich nie vermutet hätte. Der Kautschukbaum, Hevea brasiliensis, kommt ursprünglich aus Brasilien – daher der Name –, aber dort ist er beinahe ausgestorben. Eine Pflanzenkrankheit hat Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe jeden der Bäume befallen.« »Ja, neunzig Prozent des Gummis kommt heutzutage aus Südostasien«, bestätigte Delko. »Das ist eine der wenigen Gegenden auf der Welt, in denen es genug regnet – Kautschukbäume brauchen pro Jahr eine Niederschlagsmenge von über zweieinhalbtausend Millimetern. Richtig?« »Richtig«, stimmte Wolfe zu. »Okay, gut, kannst du mir auch erzählen, warum Kautschukbäume in Plantagen nur etwa fünfundzwanzig Meter groß werden?« »Ja, kann ich«, sagte Delko lächelnd. »Kohlenstoff. Die Pflanze braucht ihn zum Wachsen, aber er ist auch ein wichtiger Bestandteil des Gummis. Da nur das Kohlendioxid aus der Atmosphäre den Baum mit Kohlenstoff versorgen kann, steht
es, sobald der Baum angezapft wird, für das Wachstum nicht mehr im ganzen Umfang zur Verfügung.« »Na ja, dadurch und durch die Tatsache, dass das Anzapfen das Laubwachstum in den Baumkronen einschränkt, wodurch weniger Kohlendioxid aufgenommen wird … und woher weißt du so viel darüber?« »Was, im Gegensatz zu dir?«, fragte Delko mit Unschuldsmiene. »Ich schätze, das liegt an meiner jahrelangen C.S.I.Arbeit.« »Klar«, erwiderte Wolfe skeptisch. »Jedenfalls werden nur zehn Prozent des natürlichen Kautschuks zu Latex verarbeitet …« »…das aus einer wässrigen Lösung von Cis-Polyisopren besteht, einem linearen Polymer mit einem hohen Molekulargewicht«, ergänzte Delko. »Der tatsächliche Gummianteil liegt bei ungefähr dreißig Prozent.« Dieses Mal zog Wolfe es vor, ihn zu ignorieren. »… einer Substanz, deren biologischer Zweck immer noch nicht vollständig erforscht ist. Kautschukbäume werden alle ein bis drei Tage gemolken und füllen dann gerade mal eine Tasse Latex. Um das Gummi aus der Lösung zu extrahieren, bringt man es mit Ameisensäure zum Gerinnen. Danach kann es auf zwei Arten weiterverarbeitet werden: Gepresst in dreißig Kilo schweren Blöcken …« »Eigentlich sind es dreiunddreißig.« »Oder in Form von Platten, die über Feuer getrocknet werden.« Wolfe hielt inne und sah Delko an. Delko streckte sich, gähnte und bedachte Wolfe mit einem Lächeln. »Langweile ich dich etwa?«, fragte Wolfe. »Nein, nein, ich habe letzte Nacht nur nicht genug geschlafen. Bin ein bisschen durch die Clubs gezogen. Was wolltest du sagen?«
»Ein qualmendes Feuer«, sagte Wolfe. »Der Rauch enthält natürliche Fungizide zur Bekämpfung von Pilzerkrankungen und verleiht dem Latex seine bernsteinfarbene Tönung.« Er verstummte. Auch Delko sagte zunächst nichts. »Interessant«, erwiderte er schließlich. »Also … je nach Qualität weist Latex unterschiedlich ausgeprägte Charakteristika auf. Bewertet wird Latex anhand der Mooney-Skala und des Lovibond-Index, anhand deren Viskosität beziehungsweise Farbe gemessen werden. Ich weiß nicht, in welche Kategorie meine Probe fällt, aber ich kann dir genau sagen, wie viel Karotin, Asche und Hydroxylaminhydrochlorid es enthält. Im nächsten Schritt werde ich die Hersteller kontaktieren und herausfinden, welcher von ihnen Latex in exakt dieser Qualität anbietet. Es sei denn, du hast eine bessere Idee?« »Ich?« Delko tat überrascht. »Hey, ich wüsste nicht einmal, wo ich anfangen sollte. Das ist dein Baby – damit wirst du schon allein fertig.« Wolfe kniff die Augen zusammen und grinste. »Mir ist aufgefallen, dass, obwohl alle Kriminalisten sich auf jedem Gebiet ein bisschen auskennen, manche doch noch ihr Spezialgebiet haben, in dem sie besser sind als andere. Calleigh und Schusswaffen beispielsweise.« »Manche von uns haben sogar mehr als nur ein Spezialgebiet«, erwiderte Delko. »Wie du. Du bist Taucher, aber du hast auch schon forensische Artikel geschrieben über – was war das noch gleich?« Nun war Wolfe an der Reihe, so zu tun, als wisse er von nichts, die Stirn in Falten zu legen und sich am Kopf zu kratzen. »Ach ja – Reifenspuren.« Delkos Grinsen wurde breiter. »Erwischt.« »Was bedeutet, du musst alles darüber wissen, woraus Reifen bestehen. Ergo besitzt du ein umfassendes Wissen über Gummi.«
»Gummi, ja, Latex weniger. Da beschreitest du einen neuen Weg, was mich betrifft.« »Hoffentlich einen, auf dem sich weniger Klugscheißer rumtreiben«, murmelte Wolfe, und Delko lachte. »Also gut«, sagte Horatio. »Was haben wir bisher?« Sein C.S.I.-Team hatte sich im Konferenzsaal versammelt. Calleigh und Wolfe saßen auf der einen, Delko und Frank Tripp auf der anderen Seite. Tripps Anwesenheit war ein wenig ungewöhnlich, offenbar hatte Horatio, der im vorderen Teil des Raums stand, etwas sehr Ernstes im Kopf. Calleigh machte den Anfang: »Der Farallon Shark Dart wird nicht mehr hergestellt, und zwar schon seit ein paar Jahren. Ich habe eine sehr kurze Liste von Leuten zusammenstellen können, die zugeben, dass sie einen besitzen, und ich habe mit der Hälfte von ihnen gesprochen. Bis jetzt war niemand dabei, der auch nur entfernt verdächtig wäre.« »Mach weiter. Eric?« »Sieht aus, als wären die Bikiniträger und das Seil mit derselben Klinge abgeschnitten worden. Über die kann ich aber nur sagen, dass sie extrem scharf sein muss.« »Der Bikiniträger wurde am Rücken zerschnitten, richtig?«, fragte Horatio nach. »Richtig.« »Aber es gab keine Schnittverletzungen am Rücken des Opfers. Der sexuelle Übergriff deutet darauf hin, dass es ante mortem entfernt wurde, entweder als unser Opfer noch geschwommen ist, oder als es ertrunken ist – was bedeutet, dass unser Mörder sich herangeschlichen hat oder sehr gut im Umgang mit der Klinge ist – oder beides. Mr Wolfe, was ist mit den Spuren unter ihren Fingernägeln?« »Latex und auf der einen Seite Talkumpuder. Das Massenspektrometer hat Spuren von Silikon nachgewiesen. Ich bin
immer noch auf der Suche nach dem Hersteller.« »Äh, Horatio?« Tripps direkte Ausdrucksweise passte exakt zu seinem Aussehen und seiner inneren Einstellung. »Ich fahre dir ja nur ungern in die Parade, aber was genau habe ich hier zu suchen? Für mich ist das hier alles nur Hopfen und Gerste – ergibt keinen Sinn, solange ihr kein Bier daraus gebraut habt. Ich meine, ich weiß es zu schätzen, wenn ich auf dem Laufenden gehalten werde, aber …« »Aber dieser spezielle Teil liegt ein wenig außerhalb deines Fachgebiets? Ich weiß, Frank, aber hab Nachsicht mit mir. Ich habe einen sehr guten Grund, dich dazuzubitten.« Horatio hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt, während er sich mit der anderen das Kinn rieb. »Okay. Ich habe heute mit einer Delfinforscherin gesprochen, und sie hat meinen Verdacht mehr oder weniger bestätigt. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein Delfin Gabrielle Cavanaugh getötet hat – es ist sogar höchst unwahrscheinlich, dass ein Delfin überhaupt irgendetwas mit der Geschichte zu tun hat. Der Klebstoff, der in der Beinwunde gefunden wurde, wird normalerweise von Tierpräparatoren benutzt, was bedeutet, dass die Wunde zwar von Delfinzähnen herrührt, diese aber nicht mehr einem Delfin gehören. Sehen wir uns alles Stück für Stück an, deuten die Beweise auf eine Vergewaltigung hin, die als Angriff eines Raubtieres getarnt wurde. Zusammengefasst klingt das Ganze noch beunruhigender …« Horatio reckte einen Finger hoch. »Erstens: Obwohl mindestens drei Waffen benutzt wurden – der Pfeil, das Messer und das falsche Delfingebiss –, wurde keine zum Töten eingesetzt. Sie dienten lediglich als Werkzeuge, was auf umfassende Vorbereitung seitens des Täters schließen lässt. Zweitens: Die gewaltsame und sexuelle Natur des Angriffs, die in einer Schändung der Leiche gipfelt, weist auf ein hohes Maß an Zorn hin.
Und drittens: Platzierung und Zustand der Leiche deuten an, dass der Mörder sich viele Gedanken darüber gemacht hat, wie seine kleine Inszenierung interpretiert werden soll.« »Hat er wirklich gedacht, wir würden glauben, ein Delfin hätte das getan?«, fragte Wolfe. »Das ist nicht so weit hergeholt, wie Sie vielleicht denken«, erwiderte Horatio. »Die Forscherin, mit der ich gesprochen habe, hat selbst zugegeben, dass die Möglichkeit besteht, wenn sie auch verschwindend gering ist.« »Wozu all die Mühe, nur um den Verdacht auf Flipper zu lenken?«, fragte Tripp. »Ich meine, suchen wir jetzt jemanden, der speziell Delfine hasst, oder jemanden, der grundsätzlich keine niedlichen Viecher leiden kann? Was kommt als Nächstes? Eine rauchende Waffe im Katzenkörbchen?« »Ich wünschte, es wäre so einfach, Frank«, sagte Horatio. »Aber dieser Täter will den Verdacht nicht auf Delfine lenken, sondern auf die Navy.« Er berichtete, was Zhenko ihm über das Dressurprogramm zur Ausschaltung feindlicher Kampfschwimmer erzählt hatte. »Ein tief sitzender Hass gegen das Militär ist oft das Resultat eigener Erfahrungen«, fuhr Horatio fort. »Unser Täter war früher vermutlich selbst mal bei der Navy. Er plant sorgfältig, er ist gut im Umgang mit dem Messer, er ist skrupellos, und was er tut, erregt ihn sexuell. Der komplizierte Knoten, mit dem er das Seil an dem Rohr befestigt hat, deutet auf eine Vorgehensweise hin, die einem Ritual dient … und ich sehe an euren Gesichtern, dass ihr alle die gleichen Schlüsse zieht wie ich.« Calleigh war diejenige, die es aussprach: »Er ist ein Serientäter.« »Einer, der diesen Mord sehr lange Zeit geplant hat«, sagte Horatio. »Was bedeutet, dass er gerade erst angefangen hat.« »Moment mal«, unterbrach Tripp. »Denkst du wirklich,
dass wir noch mehr Leichen finden werden, deren Innerstes nach außen gestülpt wurde?« »Nicht zwangsläufig«, sagte Delko. »Serientäter neigen dazu, ihre Methoden im Lauf der Zeit zu perfektionieren. Wenn das der erste Mord unseres Täters war, könnte der zweite anders aussehen. Aber ich denke, eines wird sich nicht ändern.« »Er mag das Wasser«, sagte Wolfe. »Darum hat er das Opfer ertränkt und nicht erstochen.« »Das ist richtig.« Horatio nickte. »Er hat Gabrielle Cavanaugh unter Wasser gezogen, hat irgendein Gerät an ihr Bein geklemmt und sie vergewaltigt, während sie ertrunken ist. Danach hat er die Leiche zu der Mangroveninsel gebracht und mit der Haiabwehrwaffe bearbeitet. Das ist ein gefährlicher und kranker Mann, meine Freunde. Er hat eine Menge Mühe auf sich genommen, um seine verdrehten Unterwasserfantasien auszuleben, und er wird sich nicht damit zufriedengeben, es nur einmal zu tun. Das ist der Grund, warum ich dich dabeihaben wollte, Frank. Diese Ermittlung wird sich ausweiten, und wir alle müssen darauf vorbereitet sein.« »Ich bin an Bord, Horatio. Ich werde mit der Küstenwache sprechen – obwohl es sich so anhört, als würden wir eher ein U-Boot brauchen.« »Was wir, trotz Delkos umfassender Bemühungen, nicht haben«, erwiderte Horatio. »Was wir aber haben, ist unsere Ausbildung, unsere Erfahrung und die Beweise. Hoffen wir, dass das reicht, um unseren Täter zu schnappen, ehe er beschließt, wieder schwimmen zu gehen.«
4
Margo Quist liebte das Meer. Sie liebte seinen frischen, salzigen Geruch, sie liebte die Geräusche, die am Strand zu hören waren, während sie allmählich in den Schlaf glitt, sie liebte die Stille in einer ruhigen Lagune und das symphonische Donnern der Wogen bei stürmischem Wetter. Vor allem aber liebte sie es, das Meer zu spüren. Das Wasser vor Miami war so warm, trug so gut, dass man in seiner Umarmung in den Schlaf gesungen wurde und nur noch schlummern mochte … wenn man imstande war, die heiseren Schreie der Möwen, die Signallaute der Kreuzfahrtschiffe und das gelegentliche Aufheulen eines Jetskis auszublenden. Doch all das verstummte – weitgehend –, wenn die Ohren unter Wasser waren, daher zog Margo es vor, auf dem Rücken zu schwimmen und den Kopf in den Nacken zu legen. Sie war eine große und kräftige Frau, wie sie selbst zugeben musste, aber im Wasser war es beinahe so, als wäre sie im Weltraum. Sie war losgelöst von der Gravitation wie der Samen eines Löwenzahns im Wind. Aber sogar dieser Samen musste irgendwann auf die Erde herabsinken … und das verlief, wie Margo erkennen musste, nicht immer auf sanfte Weise. Etwas berührte ihre Hüfte. Sie schwamm allein – eine schlechte Angewohnheit, das wusste sie, aber die Einsamkeit war ein wichtiger Teil der Erfahrung –, und die Berührung reichte, um sie ruckartig und mit einem heftigen Keuchen in
die Wirklichkeit zurückzuholen. In ihrer anfänglichen Panik fürchtete sie, es wäre ein Hai oder ein Stachelrochen. Aber das war es nicht. Es war eine Leiche. »Von einer Frau beim Schwimmen gefunden«, verkündete Frank Tripp. Er und Horatio standen nebeneinander am Bug eines Polizeiboots. Delko legte eine Schlinge um die Leiche und gab der Mannschaft ein Zeichen, sie an Bord zu hieven. »Passt nicht zu dem Muster, auf das ich deiner Meinung nach achten sollte«, sagte Tripp, »aber ich dachte, ich müsste dich trotzdem benachrichtigen.« »Gut gedacht«, sagte Horatio. »Wir sind nicht sehr weit vom Fundort der ersten Leiche entfernt.« »Jedenfalls sind wir immer noch in der Biscayne Bay – aber das Opfer ist männlich. Und ihm hängen auch keine Gedärme zum Mund heraus.« Doktor Alexx Woods wartete, während der Mann an der Winde die Leiche an Bord hievte und auf dem Deck ablegte. »Vorsichtig!«, schnappte sie. »Das, was Sie da reinholen, ist kein Thunfischnetz!« Horatio half ihr, den Haken der Winde von der Schlinge abzunehmen, in der ein Mann mit blauer Badehose, Schwimmbrille und einem von Gas aufgeblähten Bauch lag. Er war Mitte bis Ende dreißig, trug einen kurz geschnittenen braunen Bart und hatte eine große kahle Stelle auf dem Kopf. »Dieses Mal wurde keine Haiabwehrwaffe benutzt«, stellte Alexx fest. »Schusswunde unter dem rechten Arm.« Sie drehte den Leichnam auf die Seite und untersuchte seine Kehrseite. »Keine Austrittswunde. Die Kugel muss immer noch in ihm stecken.« »Keine Taschen in der Badehose, also auch kein Ausweis«, stellte Horatio fest. »Aber ich sehe einen Ehering.«
»Wenn wir Glück haben, hat seine Frau ihn schon vermisst gemeldet«, sagte Tripp. »Es sei denn«, entgegnete Horatio, »es zeigt sich, dass auch sie nicht mehr Glück hatte als ihr Ehemann.« Nach Horatios Erfahrung empfanden sich Serienmörder häufig als überlegen gegenüber normalen Menschen. Und da Menschen ihre Beute waren, verglichen sie sich gern mit Tieren, die imstande waren, einen Menschen zu töten – Wölfe, Bären, Löwen. Das verlieh ihnen ein Gefühl der Größe, umgab ihre Grausamkeit und Brutalität mit einem besonderen Glanz. Sie sahen sich nicht als Mörder, sie waren Jäger, die sich an ihre rechtmäßige Beute heranpirschten. Dachten sie. Horatio hingegen empfand tiefe Befriedigung dabei, denjenigen unter ihnen, die er geschnappt hatte, zu erklären, wo genau sie einem Irrtum unterlagen. »Verrat«, sagte er in so einem Fall zu dem Mörder. »Das ist die einzige Möglichkeit für Sie, Ihre Ziele zu erreichen. Ein Wolf verleitet ein Kaninchen nicht dazu, ihm zu vertrauen, ein Bär spielt einem Lachs keine Freundschaft vor. Sie aber nutzen die gesellschaftlichen Regeln aus, um sich Ihren Opfern zu nähern, und dann schlachten Sie sie zu Ihrem eigenen Vergnügen ab. Nicht, um sich zu ernähren oder überleben zu können. Sie sind kein Jäger – Sie sind eine Krankheit.« Diesen Vorwurf konnte er der großen Mehrzahl aller Serienmörder machen, und er würde stets wissen, dass er damit richtig lag. Ted Bundy hatte Frauen in seinen Wagen gelockt, indem er vorgegeben hatte, er hätte sich den Arm gebrochen. Jeffrey Dahmer hatte Männer mit dem Versprechen von Sex geködert, ihm in seine Wohnung zu folgen. Serienmörder gaben sich als Polizisten aus, als Immobilieninteressenten, als freundliche Autofahrer, die einem Anhalter eine Mitfahrgelegenheit boten – sie taten einfach alles, um ein potenzielles Opfer
in ihren Einflussbereich zu locken. Sie nutzten die gesellschaftlichen Konventionen, um ihr Handeln zu verschleiern. Jedenfalls einige von ihnen. Serienmörder zeigten sich in unterschiedlicher Couleur: organisiert oder desorganisiert, Lustmörder oder Visionär, Missionar oder Hedonist. Manche begingen ihre Verbrechen, um sexuelle Befriedigung zu erlangen, andere aus purem Sadismus. Manche wählten ihre Opfer sorgfältig aus und beobachteten sie über Tage, Wochen, sogar Monate, andere wiederum schlugen impulsiv zu, töteten, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Fand der Mord in einer Situation statt, die der Mörder kontrollieren konnte, kostete er ihn oftmals über einen langen Zeitraum aus, während Morde, die in einer öffentlicheren Umgebung begangen wurden, zumeist schnell und brutal ausgeführt wurden. Aber der Mörder des jetzigen Falls verführte seine Opfer nicht, lockte sie nicht in eine scheinbar harmlose Falle, auch drang er nicht in ihr Zuhause ein und verwandelte nicht den Ort, der einst sicher und vertraut war, in eine Kammer des Schreckens. Stattdessen tötete er sie in seinem eigenen Reich, wo das Opfer nicht einmal schreien konnte. Tatsächlich war es die Umgebung selbst, die Gabrielle Cavanaughs Leben gefordert hatte … eine Umgebung, in der sich der Mörder offensichtlich wohlfühlte. Hier gab es kein Bemühen, harmlos erscheinen zu wollen. Dies war die Tat eines Raubtiers, so gnadenlos und entschlossen wie ein Hai. Gabrielle Cavanaugh war nur ein Gelegenheitsopfer gewesen, ein Opfer, das das Pech gehabt hatte, sich in seine Jagdgründe verirrt zu haben. Horatio nahm an, ihm wäre jeder Schwimmer recht gewesen. Und anders als ein echtes wildes Tier war dieser Jäger nicht an ein Gebiet gebunden. Er konnte die ganze Ostküste entlangwandern, wenn er nur wollte. Horatio seufzte und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Er war im Labor und ging noch einmal Gabrielle
Cavanaughs Sachen durch in der Hoffnung, sie könnten ihm noch etwas verraten. Er griff nach der Tauchermaske und drehte sie in der Hand, betrachtete sie aus jedem Blickwinkel. Er konnte sich ihre geweiteten, verängstigten Augen hinter dem Glas vorstellen, konnte sich vorstellen, wie sie versuchte, ihren letzten Atemzug länger anzuhalten, während dieser furchtbare Fremde schreckliche Dinge mit ihr tat. »Hey, H.« Wolfe kam gerade zur Tür herein. »Irgendwas Neues?« »Nur ein sehr schlechtes Gefühl«, antwortete Horatio. »Wie steht es bei Ihnen?« »Ich analysiere immer noch die Daten von dem Latexfetzen. Bisher kann ich nur sagen, dass es natürliches Latex ist, kein synthetisches, und das Silikon stammt von einem Putzmittel.« »Okay … der Talkumpuder bedeutet vermutlich, dass es direkt auf der Haut getragen wird. Haben Sie nach Hautzellen gesucht?« »Habe ich. Nichts.« Horatio legte die Maske ab. »Nicht verwunderlich. Wir können von Glück reden, dass wir, angesichts der Umgebungsbedingungen, überhaupt Spuren gefunden haben.« »Ja. Ein Unterwassertatort gibt nicht gerade viel her.« »Aber wir haben immer noch die Leiche«, sagte Horatio. »Und ein Mörder wie dieser hier hat eine ganz eigene Handschrift und auch eine spezielle Methode.« Die Handschrift eines Serienmörders bestand in einer Art Markierung, die der Täter am Tatort zurückließ, ein stets gleiches Muster – wie sehr er auch bemüht sein mochte, es zu verbergen, es blieb ein essenzieller Bestandteil der Tat. »Ja, aber seine Handschrift besteht darin, unter Wasser zu morden. Man könnte beinahe sagen, sein Muster beinhaltet, keine Spuren zu hinterlassen.«
»Aber das tut er, Mr Wolfe, das tut er. Er mag unter Wasser morden, aber er lebt nicht unter Wasser. Er atmet die gleiche Luft wie Sie und ich … und früher oder später muss er an die Oberfläche zurück. Wenn er auf dem Trockenen ist, hinterlässt er ebenso viele Beweise wie jeder andere auch – und das sind die Spuren, die wir identifizieren müssen. Das Wasser mag sein Element sein, aber dies …« Horatio deutete mit einer ausholenden Armbewegung auf das Labor »… ist unseres. Die Wahl seiner Opfer mag willkürlich sein, seine Methodik ist es nicht. Und ich versichere Ihnen, sogar ein Tatort, der vom Atlantischen Ozean gesäubert wird, bietet uns noch eine Menge Informationen.« Wolfe nickte. »Da wir gerade von Opfern reden – ist die neue Leiche auch eines von ihnen?« »Schwer zu sagen. Sie passt nicht zum Muster der ersten, aber es werden auch nicht viele Leute erschossen, während sie schwimmen. Nach der Autopsie werden wir mehr wissen. Bisher haben wir den Toten nicht einmal identifiziert.« Alexx blickte die Leiche auf dem Autopsietisch an und schüttelte den Kopf. »Hast so gut auf dich geachtet, und bist trotzdem hier gelandet«, sagte sie traurig. »Ich wette, du bist jeden Tag schwimmen gegangen, nicht wahr? Den Körper dazu hast du. Ein hübsches, gesundes Herz, eine gute Lunge, gut definierte Muskeln … es ist eine Schande.« Horatio hatte sie schon früher zu den Toten sprechen sehen – so häufig, dass es für ihn keine Marotte mehr war, sondern schlicht ein Teil ihrer Arbeitsweise. Sie hörte sich dabei so sachlich und nüchtern an, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn auch die Leichen gesprochen hätten. Und in gewisser Weise würden sie das auch tun. Unter ihrem reglosen, bleichen Äußeren hielten sie alle möglichen
Antworten parat, und Alexx wusste genau, wie sie die Fragen zu stellen hatte. »Todesursache?«, fragte Horatio. »Schusswunde im linken oberen Quadranten des Bauchfellbereichs. Keine punktförmigen Ablagerungen, keine Schussrückstände im Bereich der Eintrittswunde. Das Geschoss ist knapp unter dem zehnten Rippenknorpel eingedrungen, hat die Bauchhöhle durchstoßen, den Dickdarm angeritzt, ist dann durch die Leber, das Zwerchfell und den Herzbeutel gestoßen und hat sich schließlich in den oberen Bereich der Lunge gebohrt. Es steckte im Schlüsselbein – warte nur, bis du das Projektil siehst.« Sie zog einen kleinen, durchsichtigen Plastikbeutel hervor, in dem etwas lag, das aussah wie ein Nagel. »Elfeinhalb Zentimeter lang, dreizehn Komma zwei Gramm schwer. Ich habe keine Ahnung, was das für ein Kaliber ergibt oder was so ein Ding abfeuern könnte«, sagte Alexx. Horatio nahm ihr den Beutel ab und studierte ihn eingehend. »So etwas habe ich auch noch nie gesehen«, gestand er. »Kann das vielleicht von einem Harpunengewehr stammen?« Alexx bedachte Horatio mit einem tadelnden Blick. »Sehe ich etwa aus wie Calleigh?« Horatio lächelte. »Schon verstanden. Ms Duquesne macht keine Autopsien und du keine ballistischen Untersuchungen. Wie steht es mit dem Eintrittswinkel?« »Zweiundfünfzig Grad, aufwärts in Richtung des Kopfes.« »Und die Kugel ist an der Seite eingedrungen. Was eine sehr ungeschickte Stelle ist, um jemanden zu erschießen … es sei denn, er schwimmt über dir.« »Oder unter dir«, fügte sie hinzu. »Er könnte von einem Boot aus erschossen worden sein.« »Richtig. Haben wir ihn schon identifiziert?«
»Ich habe Delko seine Fingerabdrücke geschickt. Er überprüft sie im AFIS.« »Kein Treffer bei den Fingerabdrücken des Opfers«, stellte Delko fest. Er trug einen weißen Laborkittel über dem üblichen T-Shirt und hielt einen dicken Beweismittelbeutel unter dem Arm. Horatio verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »Für einen Fehlschlag machst du einen sonderbar zufriedenen Eindruck.« »Weil es kein kompletter Fehlschlag ist«, entgegnete Delko. Er griff nach dem Beutel und zog eine Schwimmbrille daraus hervor. »Sieh dir die an. Siehst du etwas Außergewöhnliches?« Wie Delko trug auch Horatio Handschuhe und einen Laborkittel, als er nun die Brille an sich nahm und ins Licht hielt. »Ja, ich sehe es. Und unser Opfer hat es auch gesehen. Geschliffene Gläser.« »Ja, inklusive Seriennummer und Markenname auf der Innenseite. Ich habe sie bis zu einem Augenoptiker in Miami zurückverfolgt, und der hat mir einen Namen genannt: David Stonecutter. Bisher hat niemand ihn vermisst gemeldet.« »Kennen wir den nächsten Angehörigen?« »Seine Frau. Ich habe eine Telefonnummer und eine Adresse, aber ich konnte sie bisher nicht erreichen.« »Gute Arbeit«, lobte Horatio und gab ihm die Brille zurück. »Ich möchte, dass du Folgendes tust: Sieh nach, ob die Stonecutters ein Auto haben, und gib eine Fahndung danach raus. Sag ihnen, sie sollen sich vor allem auf Parkplätzen in der Nähe irgendwelcher Badestrände umsehen.« »Verstanden. Was denkst du darüber, H.?« »Ich denke, Eric«, sagte Horatio, »dass Mr Stonecutter nicht allein schwimmen gegangen ist.«
Ein Funkstreifenwagen fand den 2003 er Toyota Yaris auf einem Parkplatz ganz in der Nähe des Crandon Beach Parks auf Key Biscayne. Key Biscayne, eine Barriere-Insel, etwa zehn Kilometer vom Stadtgebiet Miamis entfernt, lag auf der anderen Seite der Biscayne Bay, gegenüber von Coral Gables. Etwas mehr als elf Kilometer lang und gute drei Kilometer breit, schmückte sich die Insel im Süden mit dem Bill Baggs State Park und im Norden mit dem Crandon Park. Horatio nahm den Rickenbacker Causeway, um mit dem Hummer auf die Insel zu gelangen, und traf zusammen mit Delko kurz nach Sonnenuntergang ein. Die letzten Strandgäste wurden soeben von Polizisten vertrieben, die den Bereich absperren wollten. »Dieser Ort unterscheidet sich ziemlich stark von dem anderen«, stellte Delko fest, als sie aus dem Wagen stiegen. »Stimmt«, erwiderte Horatio. »Der Strand im Oleta River State Park ist klein und vergleichsweise abgelegen. Key Biscayne hat dagegen etwa acht Kilometer des beliebtesten Touristenstrands zu bieten … trotzdem habe ich so eine Ahnung.« Der Wagen war verschlossen, und an der Windschutzscheibe prangte ein Strafzettel. »Weitere vierundzwanzig Stunden, und er wäre abgeschleppt worden«, sagte Delko, während er die Augen mit den Händen abschirmte und durch das Fenster der Fahrertür lugte. »Etwas sagt mir, dass das die geringste Sorge der Besitzer sein dürfte«, bemerkte Horatio. »Also schön, wir haben ein großes Gebiet abzudecken. Calleigh und Wolfe sollten in ein paar Minuten ebenfalls hier sein, und wir erhalten zudem Unterstützung von den Kollegen in Uniform. Segmente festlegen, markieren und durchsuchen. Wir schauen nach allem, was aussieht, als wäre es zurückgelassen worden – eine Decke, ein Picknickkorb, ein Rucksack. Die Mülleimer müssen ebenfalls
durchsucht werden – jemand könnte ihre Sachen gefunden und weggeworfen haben.« Horatio sprach mit den Parkangestellten, um sich zu informieren, ob irgendwelche Fundsachen abgegeben wurden. Keiner der Rettungsschwimmer hatte irgendetwas Auffälliges bemerkt, aber sie mussten eingestehen, dass an diesem Tag besonders viel los gewesen war. Horatio ging über den kühler werdenden Asphalt zurück zu seinen Leuten. Calleigh war bereits in ihre Arbeit vertieft, als Horatio zu ihr kam. »Was ist los, H.?« »Wie in Sammamish«, sagte Horatio. »Wie bitte?« »Ein Erholungsgebiet in Washington State. Während der Sommerwochenenden tummeln sich da die Leute auf der Suche nach ein bisschen Entspannung und Sonnenschein. Genau wie hier.« »Klingt irgendwie vertraut, aber ich kann es nicht einordnen.« »Ted Bundy hat sich dort auch gern erholt. Er hat eine Frau direkt von einem vollen Parkplatz entführt, einem Parkplatz wie diesem hier. Das hat ihm so viel Spaß gemacht, dass er zurückgekommen ist, um es noch einmal zu tun – ein paar Stunden später.« »Du denkst, das war unser Täter.« Das war keine Frage. »Ja. Obwohl das Opfer männlich ist, obwohl es erschossen und nicht ertränkt wurde. Ich habe es im Gefühl.« »Tja, wenn er es wirklich war, dann hoffe ich, dass er dieses Mal mehr als nur eine Leiche hinterlassen hat. Ich habe die restlichen Eigentümer eines Farallon Shark Darts aufgespürt, und sie haben alle wasserdichte Alibis.« »Das macht nichts. Wir suchen weiter. Früher oder später werden wir etwas aufstöbern.«
Wolfe war derjenige, der schließlich die Brieftasche im Abfalleimer entdeckte. Sie enthielt weder Kreditkarten noch Bargeld, aber einen zerfledderten Mitgliedsausweis der Miami Public Library, der bestätigte, dass die Brieftasche Janice Stonecutter gehört hatte. Außerdem waren da noch eine halb volle Thermoskanne mit Kaffee, ein Stephen-King-Taschenbuch und ein blaues Sweatshirt. »Anscheinend hat jemand, der den Strand entlangspaziert ist, die Sachen gefunden, vielleicht schon in der letzten Nacht«, sagte Horatio. »Er oder sie hat sich genommen, was er oder sie haben wollte, und den Rest weggeworfen.« »Das verrät uns noch nicht, wo die Stonecutters ins Wasser gegangen sind«, wandte Wolfe ein. »Nein, das tut es leider nicht«, antwortete Horatio. »Aber wir haben nur diese Fundstelle, also nehmen wir an, dieser Mülleimer wäre der Ort, an dem sie zuletzt gesehen wurden. Wir werden eine gerade Linie von hier bis zum Wasser ziehen und dort mit der Suche beginnen.« Womit er natürlich gemeint hatte, dass Delko dort mit der Suche anfangen sollte. Binnen Minuten war der junge Kriminalist umgezogen und im Wasser, wenngleich er ein gutes Stück weit durch das Wasser waten musste, bis es endlich tief genug zum Schwimmen war – vor der Küste lag eine ausgedehnte Sandbank, die sacht in tieferes Gewässer überging. Delko war mit sämtlichen Tauchgebieten der Umgebung vertraut. In Florida war es schon seit langer Zeit üblich, gezielt alte Schiffswracks, Metallstücke, Kalksteinblöcke und anderen Abfall auf dem Meeresgrund zu platzieren – nicht, um den Müll einfach loszuwerden, sondern um künstliche Riffe zu schaffen, an denen Korallen oder Ähnliches sich festsetzen konnte. Das hatte ökologische wie ökonomische Vorzüge, bot es doch nicht nur eine Heimat für die Meeresbewohner, sondern auch eine Unterwasserattraktion für Tauchbegeisterte. Das künstliche Riff
vor Key Biscayne war ein beliebtes Tauchgebiet, und dazu gehörte auch eine Anzahl unterschiedlichster Boote, die irgendwann einmal von der Küstenwache wegen Drogenschmuggels beschlagnahmt worden waren. Immer, wenn Delko einen Frachtraum voller schimmernder Fischleiber sah, fragte er sich unwillkürlich, ob an diesem Platz früher Stapel voller Kokainbündel gewesen waren. Eines der außergewöhnlichsten Dinge, die dort zu finden waren, war jedoch kein Boot, sondern eine 727 mit dem schönen Namen Spirit of Miami. Sie war 1993 in fünfundzwanzig Meter Tiefe platziert worden – angeblich mit einer Zeitkapsel im Inneren. Das künstliche Riff lag mehr als drei nautische Meilen vor der Küste. Delko dachte für einen Moment, er wäre zu weit geschwommen und irgendwie hinter dem Flugzeug gelandet, denn das, was er vor sich sah, musste ein neuer Beitrag zur Vergrößerung des Riffs sein. Ein Wagen ruhte auf dem Meeresgrund. Und nicht irgendein Wagen. Delko kannte sich mit Autos aus, und dies war ein 1957er Chrysler 300C, ausgestattet mit der Art Flossen, die den Anschein erweckten, sie gehörten ins Meer. Er schwamm näher heran, inspizierte den Wagen und leuchtete mit seiner Lampe durch die Fenster in den Innenraum. Ein bleiches Gesicht unter einer Tauchermaske starrte ihm entgegen. Die Leiche einer jungen Frau saß auf dem Fahrersitz, ihre Kleider waren fort, ihr Torso ausgeweidet. Delko hatte das Führerscheinfoto von Janine Stonecutter gesehen und erkannte sie auf Anhieb. Horatio hatte recht behalten. Der Wagen war zu weit von der Küste entfernt, um ihn einfach mit einer Seilwinde herauszuziehen. Sie mussten erst eine Barkasse mit Kran kommen lassen, um ihn aus dem Wasser zu hieven.
Calleigh und Horatio standen am Bug und sahen zu, während Delko die Bergung überwachte. »Wie ist der überhaupt hierhergekommen?«, fragte Calleigh und lehnte sich an die Reling. »Ist das einer dieser KubaUmbauten?« Autos, die noch aus der Prä-Castro-Zeit stammten, wurden bisweilen in Kuba zu Booten umfunktioniert und dazu benutzt, die etwa einhundertdreißig Kilometer von dem Inselstaat bis zur Küste Floridas zu überwinden. »Möglich«, räumte Horatio ein. »Aber falls es so ist, dann ist er an einem wirklich seltsamen Ort gelandet.« »Genau wie unser Opfer. Warum hat er sie bloß hinter das Steuer gesetzt?« »Vielleicht, um zu verhindern, dass die Leiche gefressen wird. Manche Serienmörder kehren zu ihren Opfern zurück, um da weiterzumachen, wo sie aufgehört haben.« »Was für ein unheimlicher Gedanke …« Delko tauchte an der Wasseroberfläche auf und zeigte dem Kranführer den hochgereckten Daumen. Die Winde gab ein lautes, metallisches Geräusch von sich, während sie sich drehte und ihre Last aus über zwanzig Metern Tiefe emporhob. »Es ging noch etwas«, sagte Horatio. »Unser Wassermann hat sein Repertoire erweitert. Er ist hinter Paaren her, bewegt sich durch stark frequentierte Gebiete – und er hat eine Schusswaffe benutzt.« »Ja, davon habe ich schon erfahren«, antwortete Calleigh. »Aber ich habe das Projektil noch nicht zu Gesicht bekommen.« »Irgendeine Idee?«, fragte Horatio. »Du solltest mich besser kennen«, antwortete seine Kollegin mit gespieltem Stirnrunzeln. »Ja, ich habe die eine oder andere Idee – aber ich will nichts darüber erzählen, ehe ich die Kugel nicht vor mir gesehen habe. Beweise überwiegen alle Hypothesen, richtig?«
»Das tun sie«, gab Horatio zurück. In diesem Moment durchbrach der Wagen die Wasseroberfläche. »Und manche Beweise wiegen ein bisschen schwerer als andere«, kommentierte Horatio. »Dieses Geschoss«, erzählte Calleigh, »ist ein wirklich sehr spezielles Miststück. Es wurde von Oleg Kravchenko und Pytor Sazonov entwickelt, die – zusammen mit Wladimir Simonov – 1983 von der Regierung der UdSSR dafür ausgezeichnet wurden.« »Russischer Herkunft?«, fragte Horatio nach. »Darauf kannst du wetten.« Calleigh hielt die Patrone mit einer Pinzette hoch, um sie zu bewundern. Sie und Horatio waren im Waffenlabor, Calleigh thronte auf einem Hocker neben ihrem Arbeitstisch. »Speziell dazu entwickelt, im Wasser abgefeuert zu werden. Weißt du, mit normaler Munition kommt man unter Wasser nicht weit. Das Problem ist nicht der Schuss selbst, sondern die Schussbahn. Durch die Riffelung normaler Feuerwaffen erhält das Geschoss einen Drall, der es im Flug stabilisiert. Das funktioniert nicht mehr so gut, wenn sich die Kugel durch den Wasserwiderstand bewegt. Kravchenko und Sazonov haben sich überlegt, dass sie das Problem umgehen könnten, indem sie die Pfeilform von Harpunen imitieren – und sie hatten recht. Es entsteht eine Kavitationsblase zwischen der Längsachse der Kugel und dem Wasser, die das Geschoss stabil hält.« »Und welche Waffenart braucht man für diese Munition?« »Die Spetsialnyj Podvodnyj Pistolet oder kurz SPP 1. Eine nicht automatische, manuell zu bedienende Handfeuerwaffe mit vier Läufen. Die Läufe sind am Rahmen befestigt wie bei einer Kipplaufflinte. Double-Action-Abzugssystem mit Hahn auf rotierender Unterlage. Fasst vier Vierzig-MillimeterFlaschenhalshülsen mit Rand, von denen jede ein dreizehn
Komma zwei Gramm schweres Stahlgeschoss enthält. Mündungsgeschwindigkeit zweihundertfünfzig Meter pro Sekunde. Treffgenauigkeit und Reichweite hängen von der jeweiligen Tiefe ab. Bei einer Tiefe von fünf Metern liegt die Reichweite bei etwa siebzehn Metern, bei zwanzig Metern Tiefe nur noch bei ungefähr zehn Metern. Schießt man aus dem Wasser heraus, darf man sich glücklich schätzen, wenn man überhaupt irgendetwas trifft.« »Okay, jetzt sind wir also in einem James-Bond-Film«, murmelte Horatio. »Das ist nicht die Art Waffe, die man irgendwo auf der Straße kaufen kann.« »Nein. Sie wurde speziell für Kampfschwimmer entwikkelt«, erklärte Calleigh. »Die russische Marine war sogar so zufrieden mit dem Ding, dass sie außerdem ein Unterwassergewehr entwickelte.« »Auf das unser Mörder hoffentlich keinen Zugriff hat … die russische Schiene ist aber interessant.« »Denkst du, es gibt eine Verbindung zum Mob?« »Zur Russenmafia? Ich nehme an, einer unserer Freunde aus dem Ostblock könnte etwas rübergeschmuggelt haben … aber daran habe ich eigentlich gerade nicht gedacht.« Horatio schüttelte den Kopf. »Wie auch immer, vermutlich ist das nur ein Zufall. Jedenfalls gute Arbeit. Jetzt muss ich mich mit Wolfe und Delko in Verbindung setzen. Mal sehen, wie weit sie mit diesem Chrysler sind.« »Okay, H. Ich werde inzwischen herausfinden, ob ich irgendeine SPP 1 auftreiben kann – manchmal tauchen sie bei eBay auf oder bei irgendwelchen privaten Waffensammlern.« Mit dem Aufzug fuhr Horatio hinunter in die Garage, in der Delko und Wolfe den Wagen untersuchten, den sie aus der Biscayne Bay gezogen hatten. Er war in einem schlechten Zustand: Rost hatte Streifen in das Metall über den Radläufen gefressen, die Reifen waren platt, und ein Kotflügel fehlte
vollständig. Die ganze Garage roch nach schimmligen Polstern. »Also, meine Herren«, begann Horatio, »was könnt ihr mir bis jetzt sagen?« »Na ja, zum einen«, sagte Delko, »hat das Ding trotz seines Aussehens nicht lange dort unten gelegen. Nach dem Muschelund Algenbewuchs würde ich sagen, nicht länger als eine Woche, vielleicht eineinhalb Wochen.« »Und wir wissen auch, wie es dorthin gekommen ist«, sagte Wolfe und hielt einen dicken, kakifarbenen Riemen hoch. »Das hat Delko unter dem Wagen gefunden. Sehen Sie sich die Enden an.« Horatio tat es. »Hmm, nicht nur verkohlt, sondern auch zerfetzt. Explosionsschaden.« »Genau«, sagte Delko. »Wir haben Fasern von den Riemen im Massenspektrometer untersucht und Spuren von Semtex gefunden. Außerdem hat an verschiedenen Stellen des Riemens eine Spurenübertragung stattgefunden. Wir fanden am Ende des Riemens nicht nur Rost und Farbe des Wagens, sondern auch Farbe eines anderen Farbtons und einer anderen Qualität. Wird in der Industrie eingesetzt, vorwiegend für Maschinen oder …« »Fässer«, sagte Horatio. »Ich kann es mir vorstellen. Unser Junge hat ein paar Fässer an dem Wagen festgezurrt und ihn in die Bucht geschleppt – vermutlich irgendwann mitten in der Nacht –, dann hat er Sprengladungen benutzt, um die Gurte durchzutrennen. Der Wagen sinkt, und unser Mann geht seiner Wege.« »Was ist mit den Fässern?«, fragte Wolfe. »Müssten die nicht auch gesunken sein?« »Kommt darauf an, wie groß die Löcher waren, die von der Sprengladung aufgerissen wurden«, sagte Delko. »Wenn unser Freund wusste, was er tat, dann sind die Fässer wohl oben ge-
blieben. Er hätte sie einsammeln und zurückschleppen können.« »Ja, aber wozu die Mühe?«, fragte Wolfe. »Ich meine, er hat sich all die Arbeit gemacht, um den Wagen auf Grund zu setzen – warum lässt er die Fässer nicht einfach sinken oder forttreiben?« »Ja, warum?«, fragte Horatio. »Und die Antwort lautet: Kulisse. Hier geht es um eine Inszenierung, genau wie bei der Szenerie auf der Mangroveninsel. Aber das hier hat er nicht für uns inszeniert. Er hat es für sich selbst getan … und er würde ebenso wenig Fässer herumliegen lassen, wie ein Modedesigner seine Models in Pappkartons stecken würde. Er versucht, eine Stimmung aufzubauen, eine bestimmte Illusion, und dieser Wagen ist ein Teil davon.« »Die Sache mit dem Wagen kann ich irgendwie verstehen«, sagte Delko und nickte. »Ich selbst habe auch ein paar äußerst wertvolle Erinnerungen, die den Rücksitz eines neunzehn Jahre alten Taurus betreffen – aber der stand damals nicht auf dem Grund des Atlantischen Ozeans.« »Vielleicht versucht er ein wichtiges Ereignis in seinem Leben festzuhalten«, meinte Wolfe. »Einen Teil seiner Vergangenheit zurückzuholen.« »Zurückzuholen oder neu zu schreiben«, überlegte Horatio. »Den Wagen zu versenken könnte ein Versuch sein, Kontrolle über eine Situation zu erlangen, in der er früher hilflos war … und ich nehme an, dass dieses spezielle Modell dabei von besonderer Bedeutung war. Eric, ich möchte, dass du den letzten Eigentümer des Wagens auftreibst, finde heraus, was er zu sagen hat. Und geh die Archive durch – sieh nach, ob dieser Wagen oder ein anderer dieses Typs in Florida in ein schweres Verbrechen oder einen Unfall verwickelt war.« »Wie weit soll ich zurückgehen, H.?« »Tja, ich würde nicht weiter zurückgehen als bis 1957.«
Delko nickte grinsend. »Genau.« »Mister Wolfe, Sie arbeiten am Wagen selbst weiter. Ich werde mich erkundigen, was Alexx mir über die Tote sagen kann.« Die Leiche auf dem Autopsietisch bot einen grässlichen Anblick. Der Torso war ausgeweidet, aufgerissen und zerfetzt. Die Schnittwunden auf Armen und Beinen bildeten ein Zickzackmuster. Nur das Gesicht war unberührt geblieben. »Würde ich es nicht besser wissen«, sagte Doktor Alexx Woods leise, »dann würde ich sagen, sie wurde von einem Tier getötet.« »Das wurde sie«, entgegnete Horatio. »Bedauerlicherweise beherrscht diese spezielle Gattung den aufrechten Gang … Todesursache?« »Exsanguination. Sie ist verblutet, Horatio – und das hat vermutlich eine ganze Weile gedauert. Zwölf bis fünfzehn Stunden würde ich sagen.« Horatio legte die Stirn in Falten. »Moment. Das würde bedeuten, sie wurde aus dem Wasser herausgeholt, richtig?« Alexx schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nicht. Einige Bereiche ihrer Lunge sind kollabiert. Das ist ein Symptom eines Sauerstoffkrampfanfalls. Taucher bezeichnen das als den Lorraine-Smith-Effekt. Es ist das, was passiert, wenn man über einen zu langen Zeitraum Sauerstoff unter zu hohem Druck aufnimmt.« »Also hat er sie unter Wasser festgehalten … die Schnittwunden wurden ihr vor ihrem Tod zugefügt, nicht danach?« »Die an den Körpergliedern, ja. Das Ausweiden kam zum Schluss – da war sie bereits tot. An ihrer Wade habe ich die gleiche künstlich herbeigeführte Bisswunde gefunden wie beim letzten Opfer, aber sie ist nicht ertrunken. Sieh es dir an.«
Horatio beugte sich vor und untersuchte die Wunde genauer, dann studierte er die anderen Verletzungen an dem Bein. »Vier parallele Wunden. Immer wieder«, stellte er fest. »Sieht aus wie Krallenspuren.« »Sogar fast exakt«, stimmte Alexx ihm zu. »Aber ich habe keinerlei organisches Material in den Wunden gefunden – und da Krallen aus einzelnen Hornschichten bestehen, die sich ununterbrochen abschälen, müsste man nach so einem Angriff Spuren des Horns in den Wunden finden. Ich würde sagen, das wurde durch ein Metallobjekt von krallenähnlicher Form verursacht.« »Wie das Gebiss, das einen Delfin vortäuschen sollte«, murmelte Horatio. »Wurde sie vergewaltigt?« »Mehr als nur einmal, wenn du mich fragst. Die genitalen Prellungen sind schlimmer als beim letzten Opfer.« Horatio trat einen Schritt vom Autopsietisch zurück, stemmte die Hände in die Hüften, gab einen Moment keinen Ton von sich, studierte nur die Leiche aus zusammengekniffenen Augen. »Horatio?«, fragte Alexx. »Das hier ist das letzte Opfer, Alexx«, sagte Horatio erbittert. »Ich werde nicht zulassen, dass dieser Kerl eine weitere Frau unter Wasser zieht. Er hat sie solange er konnte am Leben gehalten, hat sie in Stücke geschnitten, und sie konnte nicht einmal schreien …« »Sie muss sich gefühlt haben, als wäre sie in der Hölle«, sagte Alexx sanft. »Da kommt der Kerl auch her«, entgegnete Horatio. »Und ich werde dafür sorgen, dass er dort auch wieder landet.«
5
Wolfe brachte seinem Boss eine Menge Bewunderung entgegen. Nicht nur, dass Horatio einen scharfen Verstand hatte und stets bereit war, sich mit größter Hingabe seiner Arbeit zu widmen – er blieb auch unter Druck immer ruhig und gefasst. Wolfe hatte nie erlebt, dass Horatio sich eingeschüchtert gezeigt hätte, ganz gleich wie außergewöhnlich oder fordernd die jeweilige Lage auch sein mochte. Aber das war nicht der einzige Grund, warum er sich an Horatio orientierte. Horatio hielt dem Sturm der Emotionen stand, den ihre Fälle oftmals auslösten. Wenn er den Schmerz der in einen Mord verwickelten Menschen nachempfand, dann mehr als alle anderen. Umgeben von Entsetzen, Verzweiflung und Trauer blieb er stark, und er schien einen unerschöpflichen Vorrat an Mitgefühl zu besitzen. Dergleichen konnte Wolfe nicht von sich behaupten. Seine Fähigkeiten im Umgang mit Menschen waren, wenn nicht völlig mangelhaft, so doch nicht gerade ausgeprägt. Er gab Kommentare ab, wenn er besser den Mund gehalten hätte, er unterbrach andere Leute mitten im Gespräch, er war blind gegenüber gewissen Umgangsformen … bis die nächste Katastrophe eintrat. Er empfand das alles als zutiefst frustrierend. Wolfe verließ sich auf die Wissenschaft, wie sich die meisten Menschen auf den Sauerstoff in ihrer Atemluft verließen, und je mehr Faktoren er in einer Situation quantifizieren konnte, desto glücklicher war er. Bedauerlicherweise war das eine Gleichung, die besagte, dass er im Labor am glücklichsten und unter Men-
schen am unglücklichsten war. Eine Gruppe von Menschen brachte zu viele unbekannte Variablen ins Spiel. Seit er als Teenager darauf aufmerksam geworden war, hatte er sich diesem Problem auf eine methodische, vernunftbetonte Weise genähert und den Prozess sozialer Interaktion studiert und analysiert. Als er jünger gewesen war, hatte er lange Listen angelegt, auf denen alles verzeichnet war: von angemessenen Äußerungen in spezifischen gesellschaftlichen Situationen bis hin zu Themen, die besser vermieden werden sollten. Irgendwann hatte er damit aufgehört, nachdem ihm eine grundlegende Wahrheit bewusst geworden war: Menschliche Wesen sind einfach nicht berechenbar. Das war einer der Gründe, die ihn dazu gebracht hatten, ein Cop zu werden. So wie Wolfe es sah, war es die Arbeit der Polizei, Ordnung in das Chaos zu bringen. Die Polizei sorgte dafür, dass Regeln befolgt wurden. Kriminalist zu sein war noch besser, denn das bedeutete, dass er zur Durchsetzung der Regeln wissenschaftliche Mittel einsetzen konnte – und Naturgesetze waren stets besser quantifizierbar als die von Menschen geschaffenen Gesetze. Dass Horatio sein Boss war, hatte seine Sichtweise verändert. Nun erkannte er, dass es möglich war, beide Bereiche ins Gleichgewicht zu bringen, wenn ihm auch der exakte Mechanismus dazu noch verborgen blieb. Inzwischen studierte er Horatios Arbeitsweise eingehend und eiferte ihm nach, wann immer es möglich war. Was auch bedeutete, dass er sich kleidete wie er. Wie viele Wissenschaftsfreaks hatte Wolfe nie sonderlich auf seine Kleidung geachtet. Als er beim C.S.I. anfing, hatte er bevorzugt ärmellose Sweatjacken und langärmelige T-Shirts getragen. Daraus waren allmählich Sakkos über T-Shirts geworden und schließlich genau die Hemden mit offenem Kragen und die Art Jackett, die Horatio bevorzugte. Die Sache mit
den Designerlabeln hatte Wolfe noch nicht ganz begriffen, aber er arbeitete daran. Als er die deprimierend lange Liste der Sexualstraftäter durchging, ertappte sich Wolfe dabei, über die äußere Erscheinung von Menschen nachzudenken und darüber, wie unzuverlässig diese doch war. Einige der Verbrecher auf der Liste sahen exakt so aus, wie man sich einen Vergewaltiger oder einen Pädophilen vorstellte, andere sahen so harmlos aus wie Kinderpfleger. Man konnte einfach nie wissen. Monster, dachte Wolfe. Würden ihnen Hörner aus der Stirn wachsen oder so was in der Art, dann würden sie uns die Arbeit wesentlich erleichtern. Aber natürlich dachte er ganz ähnlich über Frauen in festen Beziehungen, schlecht gelaunte Revierleiter, kleine Kinder, die im Flugzeug neben ihm saßen und sich jeden Moment übergeben konnten … eigentlich wäre es durchaus angenehm, würden die Leute im Allgemeinen ein Etikett mit sich herumtragen. Er klickte auf einen Namen, worauf der Lebenslauf eines David Posterly angezeigt wurde. Der Kerl war pummelig, hatte eine große Nase, wässrig aussehende Augen und eine Stirnglatze. Sah aus wie ein Bankangestellter. Sein Werdegang umfasste siebzehn Fälle von sexueller Nötigung, darunter neun geringfügige Taten. Offenbar hatte er einen Eiswagen gefahren. Wolfe schüttelte den Kopf. Konnte man so eine Person noch als menschlich bezeichnen, oder machte sich langsam Resignation bei ihm breit? Und wenn er mit diesem Kerl sprechen würde, wie würde der dann wohl rüberkommen? Vermutlich deutlich besser als ich, dachte er. »Hey, Ryan«, grüßte Calleigh, als sie das Computerlabor betrat. »Wie steht’s? Du siehst irgendwie unzufrieden aus.« Er seufzte. »Es ist nichts, nur der Fall – ich frage mich, wozu manche Leute eigentlich imstande sind.«
Sie setzte sich vor einen anderen Monitor und fing an, Tasten zu drücken. »Ja, ich weiß, was du meinst. Diese ganze Unterwasservergewaltigungsgeschichte ist ziemlich gruselig … ich werde in Zukunft schon zweimal darüber nachdenken müssen, auch nur in einen Pool zu steigen.« »Das ist vielleicht gar nicht so weit hergeholt. Ich habe ein paar Fälle von sexueller Nötigung entdeckt, die in Schwimmbädern stattgefunden haben. Vorwiegend unsittliche Entblößung und Berührung – keine Vergewaltigung.« »Denkst du, damit hat unser Täter auch angefangen?« »Ich weiß es nicht. Aber irgendwo musste er schließlich anfangen. Woran arbeitest du?« »An den Krallenspuren. Die Abstände passen zu keinem bekannten Tier, was aber zu Horarios Theorie passt, dass es sich um künstliche Krallen handelt. Allerdings deutet das Verletzungsmuster darauf hin, dass sie am Ende gekrümmt sind – genau wie echte Krallen.« »Der Bursche macht seine Hausaufgaben.« »Das tun wir auch, Ryan. Das tun wir auch.« Delko wühlte sich durch Tonnen von Archivmaterial. Inzwischen war er vertraut mit jedem Tankstellenüberfall, jedem Autounfall und jedem Diebstahl, in den ein 1957er Chrysler 300C verwickelt war – jedenfalls innerhalb von Florida. Er hatte all die Fälle durchgesehen, hatte nachgesehen, ob sich irgendwo ein Umstand finden ließe, der geeignet schien, die Karriere eines Psychopathen in Gang zu bringen – eine Vergewaltigung, die auf einem Rücksitz stattgefunden hatte, ein verkrüppeltes Opfer eines Autounfalls, eine Fahrerflucht oder irgendein anderes Verbrechen. Aber das meiste waren Kleinigkeiten, verbeulte Kotflügel oder Autos, die gestohlen gemeldet wurden. Das Problem, dachte er, während er einen weiteren Bericht las, ist, herauszufinden, was tatsächlich von Bedeutung ist. Eine
Vergnügungstour eines Teenagerpärchens mochte unwichtig erscheinen, aber was war, wenn einer der Teenager von einem misshandelnden Elternteil grausam verprügelt worden war? Und was, wenn das entscheidende Ereignis nie Einzug in die Verbrechensakten gehalten hatte? Seufzend stand er auf und streckte sich. Bisher war ihm nichts Besonderes aufgefallen. Er nahm an, dass jeder der Vorfälle, die er überprüft hatte, irgendwelche Gräueltaten zur Folge gehabt hatte, aber falls dem so war, so lauerte das Grauen an einem Pfad, den er nicht einsehen konnte. Sein Mobiltelefon klingelte. »Delko, C.S.I. Ja. Miss Pershall, danke, dass Sie zurückgerufen haben. Wenn ich recht informiert bin, haben Sie vor ein paar Wochen ein Fahrzeug verkauft, einen 1957er Chrysler? Richtig, den 300C. Ich hatte gehofft, ich dürfte Ihnen ein paar Fragen darüber stellen im Zusammenhang mit einer laufenden Untersuchung … Persönlich wäre besser. Natürlich, ich kann zu Ihnen kommen. Wie ist die Adresse? Aha. Aha … Gut, ich bin in etwa einer Stunde dort. Danke.« Er legte auf. Vielleicht würde er mit der Vorbesitzerin des Wagens mehr Glück haben. »Horatio! Nur eine Minute!« Lieutenant Frank Tripp kam auf ihn zugelaufen, als er gerade in seinen Hummer klettern wollte. »Was gibt es, Frank?« »Ich will mich nur auf dem Laufenden halten. Gibt es schon was Neues über die Kugel?« »Calleigh hat einen Hinweis auf die mögliche Herkunft der Waffe – ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Ein Waffenhändler in Miami Beach, der sich auf Raritäten spezialisiert hat.« Frank nickte. »Ja, ich denke, das war nur eine Frage der Zeit.« Horatio setzte seine Sonnenbrille auf. »Wie kommst du darauf, Frank?«
»Die neue Weltordnung, Horatio. Ehe die Mauer gefallen ist, hat man kaum mal ein paar russische Gesprächsfetzen gehört, und heutzutage hört man Russisch genauso häufig wie Spanisch. Als wäre es nicht schlimm genug gewesen, sich mit der Cosa Nostra und den Kolumbianern herumzuschlagen – jetzt haben wir auch noch ehemalige KGB-Leute auf dem Hals, die ebenfalls am schnellen Geld interessiert sind.« Horatio ließ sich mit der Antwort etwas Zeit. »Dass die Waffe russischer Herkunft ist, bedeutet nicht, dass unser Täter es auch ist, Frank.« Tripp schaute finster drein. »Das habe ich nicht gemeint. Ich habe nichts gegen Russen, Horatio – ich habe was gegen all das Zeug, das mit ihnen ins Land kommt. Hast du gehört, dass die Rote Armee eine Weile nicht genug Geld hatte, um die Soldaten zu bezahlen, die die Atombombensilos bewachen? Die sitzen da draußen mitten im Nirgendwo auf einem Haufen von atomaren Sprengköpfen, für die sie auf dem Schwarzmarkt Millionen von Dollar kassieren könnten, und die armen Kerle werden nicht einmal dafür bezahlt. Damit ist die Katastrophe vorprogrammiert, egal, um welches Land es geht.« »Das ist wahr«, stimmte Horatio ihm zu. »Ich nehme an, wir sollten uns glücklich schätzen, dass wir es nur mit einer einzigen Waffe zu tun haben. Was mir mehr zu denken gibt, ist die Ausbildung, die er braucht, um sie zu benutzen.« »Du denkst, er könnte eine Art Profi sein? Einer, der zu Sowjetzeiten an verdeckten Operationen beteiligt war?« Horatio öffnete die Wagentür. »Alles ist möglich, Frank. Aber unser Täter hat schon versucht, der Navy die Schuld in die Schuhe zu schieben – das ist vielleicht nur ein weiteres Ablenkungsmanöver. Trotzdem wette ich, dass er irgendeinen militärischen Hintergrund hat.« »Ja«, sagte Tripp, »aber von welchem Militär?«
Horatio kletterte in den Hummer. »Wichtiger ist die Frage, welche Waffen er noch hat, die er bisher nicht benutzt hat.« Die Vorbesitzerin des 57er Chrysler wohnte im Westen von Miami, außerhalb von Medley auf einem Grundstück, das man wohlwollend als ländlich bezeichnen mochte. Ein kleines Haus, dessen Zustand gefährlich aussah, lag versteckt in einem von Brombeergestrüpp und einem mit Gras überwucherten Garten. Kudzu rankte um eine Auswahl alter Gerätschaften herum, angefangen von Rollstühlen mit schadhaften Speichen bis hin zu einem rostigen Traktorenchassis und alten Pritschenwagen war alles vorhanden. Hühner rannten aufgeregt herum, als Delko vorfuhr, und ein Pitbull hob seinen massigen Kopf, um ihn gleich wieder gelangweilt wegzudrehen und weiterzudösen. Delko stieg aus dem Wagen und ging die vorderen Stufen empor. Der Hund beobachtete ihn aus einem Augenwinkel heraus, gähnte und offenbarte dabei ein Gebiss, von dem Delko überzeugt war, es würde reichen, um Ziegelsteine zu zermalmen. Er klopfte an die Vordertür. In dem Fenster zu seiner Linken befand sich eine uralte Klimaanlage von der Größe eines Postbriefkastens. Das laute, dumpfe Schnaufen vermittelte den Eindruck, das ganze Haus würde demnächst abheben. Er klopfte noch einmal, lauter. »Hallo?«, rief er. »Miss Pershall?« Er fragte sich, ob er die richtige Adresse hatte. »Ja?« Er drehte sich um. Die Frau stand am Fuß der kleinen Treppe, die er gerade hinaufgegangen war. Sie musste um das Haus herumgekommen sein. Sie trug große schwarze Armystiefel, einen mit Blumen verzierten Hut und ihre Unterwäsche. »Oh, hi«, grüßte Delko.
Die Frau wirkte weder verlegen noch überrascht. Sie war sehnig und gebräunt. Auf ihrem Körper prangte eine kunstvolle Tätowierung in Form eines von Flammen eingerahmten Vogels, dessen Schwingen nach oben zeigten und ihre Brüste wie geschwungene Klammern einschloss. Ihr Büstenhalter war aus schwarzer Spitze, und sie trug weiße Herrenboxershorts anstelle eines Slips. Delko schätzte ihr Alter auf Mitte dreißig. Das Haar unter dem Hut war kurz geschnitten und sehr schwarz. »Sie müssen der Cop sein«, sagte sie. Ihre Stimme klang rau und kehlig wie die einer langjährigen Raucherin – aber er kannte sie bereits von dem Telefongespräch. »Ich bin Bonnie Pershall.« Wenn es ihr nichts ausmacht, macht es mir auch nichts aus, dachte er. »Danke, dass Sie bereit waren, mit mir zu sprechen«, sagte er. »Kein Problem.« Ihm fiel auf, dass sie älter war, als er zuerst angenommen hatte. Sie mochte über eine beachtliche körperliche Fitness verfügen, aber die Fältchen um Augen und Mund verrieten sie doch. Mitte vierzig, möglicherweise. »Macht es Ihnen was aus, wenn wir uns hinten unterhalten?«, fragte sie. »Ich bin gerade sehr beschäftigt.« »Sicher«, sagte er und folgte ihr um die Hausecke und in den Garten hinter dem Haus, der, wie sich herausstellte, in einem besseren Zustand war als der Vorgarten. Das Gras war gemäht, unter einem Sonnenschirm fand sich ein Tisch mit passenden Stühlen auf einer gepflasterten Terrasse – und dann war da noch das Motorrad. Delko pfiff unwillkürlich. »Eine alte Indian, richtig?« Das Motorrad stand auf einer blauen Plane. Um die Maschine herum verteilten sich verchromte Maulschlüssel und anderes Werkzeug.
»Eine 1953er Chief, 1340 Kubik mit Teleskopgabel. Das letzte Herstellungsjahr von dem Schwergewicht, ehe der Laden dichtmachte.« »Nett«, sagte er. »Sind Sie Mechanikerin?« »Schätze, so könnte man das nennen«, entgegnete Bonnie Pershall. Sie ging zu dem Tisch, bückte sich und fischte eine Dose Coors aus dem Kühlschrank. Sie bot, wie Delko zugeben musste, von hinten einen ebenso beeindruckenden Anblick wie von vorn – sie trug tätowierte Engelsflügel auf dem Rücken, ebenso groß und detailgenau wie die Schwingen auf der anderen Seite. »Ich bastele gern an Motoren herum, manchmal werde ich sogar dafür bezahlt«, erklärte Pershall, richtete sich auf und öffnete die Dose mit einer Hand. »Wollte das Ding gerade ein bisschen aufmotzen.« Ihre Stimme klang vollkommen ungezwungen. »Ich werde nicht viel von Ihrer Zeit beanspruchen. Ich würde nur gern etwas über die Person erfahren, die Ihnen den 1957er Chrysler abgekauft hat.« »Klar. Das war schon irgendwie merkwürdig, um die Wahrheit zu sagen. Der Kerl hat mich angerufen – keine Ahnung, wo der meine Nummer herhatte – und gesagt, er hätte einen alten Chrysler in meinem Vorgarten gesehen. Hat mich gefragt, was ich dafür will, aber nicht, ob er überhaupt fahrbereit ist oder irgendwas in der Art. Wollte nur wissen, ob die Scheiben noch in Ordnung wären, und das waren sie.« »Das hört sich allerdings sonderbar an«, gab Delko zu. Er hatte Block und Stift zur Hand genommen und machte sich Notizen. »Oh, das war nicht der sonderbare Teil. Wir haben uns auf einen Preis geeinigt, und er hat mich gefragt, ob ich mit Bargeld einverstanden bin. Ich habe gesagt, das wäre in Ordnung. Am nächsten Tag habe ich die ganze Summe in einem Um-
schlag in meinem Briefkasten gefunden – keine Nachricht, kein gar nichts. Während ich die Kohle gezählt habe, hat das Telefon geklingelt, und er war dran. Hat gesagt, er wäre vorbeigekommen, während ich nicht hier war, und hätte sich gedacht, er könnte das Geld ja dalassen, damit ich den Wagen nicht an jemanden anderen verkaufe. Die alte Rostlaube hat da draußen während des größten Teils meiner Ehe und sämtliche Jahre nach der Scheidung rumgestanden – alles in allem gute zehn Jahre –, und sie war nie das, was man als heiß begehrt bezeichnen könnte.« »Ja, das ist merkwürdig«, erwiderte Delko. »Es wird noch merkwürdiger. Sehen Sie, wir haben versucht, einen Termin zu vereinbaren, damit er den Wagen abholen konnte, und er hat immer wieder einen bestimmten Zeitpunkt vorgeschlagen, bis er sich dann plötzlich erinnert hat, dass er da doch schon was vorhatte. Irgendwann haben wir dann einen Termin gefunden, der für uns beide in Ordnung war. Na ja, ich komme eines Nachts – ich arbeite in dieser Bar drüben in Hialeah – nach Hause, und der Wagen ist weg. Im Nachhinein ist mir dann aufgegangen, dass dieses ganze Hin und Her wegen des Termins vor allem damit zu tun hatte, dass er herauszufinden wollte, wann er mich nicht zu Hause antreffen würde.« »Also sind Sie ihm nie begegnet.« »Nein. Schätze, ich hätte das Geld behalten und den Wagen als gestohlen melden können, aber er hat sich wohl gedacht, dass ich mir die Mühe nicht machen würde. Und wissen Sie was, da hat er richtig gedacht. Ich war einfach froh, dass das Ding weg war.« Delko nickte und notierte ein paar weitere Dinge. »Ich nehme an, den Umschlag, in dem das Geld war, haben Sie nicht mehr?« »Tut mir leid – hab ihn weggeworfen. Hatte keinen Sinn, das Ding aufzubewahren.«
»Für Sie jedenfalls nicht. Ich bekäme das Ding gern in die Finger.« Sie sah ihn mit einem amüsierten Blick an, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich aber offenbar anderes. Delko verstand dennoch: Gibt es sonst noch etwas, das Sie gern in die Finger bekommen würden? »Tja«, sagte Delko, bemüht, sein Lächeln nicht in ein Grinsen zu verwandeln. »Fällt Ihnen außerdem noch irgendetwas ein?« Nun lachte sie endgültig laut auf. »Klar«, sagte sie und sah ihm direkt in die Augen. »Eine ganze Menge.« »Das wäre?« »Erst einmal – ist der Kerl gefährlich?« Das war nicht die Frage, mit der er gerechnet hatte, aber er musste zugeben, dass es vermutlich die wichtigste Frage war, die sie stellen konnte. »Ich kann Ihnen über unsere laufenden Ermittlungen nicht viel sagen«, antwortete er zurückhaltend. »Aber sollten Sie ihm noch einmal begegnen, dann sollten Sie außerordentlich vorsichtig sein. Ich glaube nicht, dass das passiert – denn ich glaube, er hat bereits, was er von Ihnen wollte. Und er hat sich eine Menge Mühe gegeben, keine Spuren zu hinterlassen, daher sehe ich keinen Grund, warum er zurückkommen sollte.« »Okay. Zweite Frage: Würde ich mir Sorgen um meine Sicherheit machen, würde das Policedepartment mir dann jemanden zum Händchenhalten schicken?« Er tat sein Bestes, sein Grinsen unter Kontrolle zu halten. »Das Miami PD hat die Interessen der Allgemeinheit stets im Blick. Sollen Sie irgendwelche … Sorgen haben, dann können wir uns gern darüber unterhalten.« »Schön«, sagte sie und hob die Bierdose an die Lippen. »Denn im Moment fühle ich mich gerade ein bisschen besorgt …«
Miami war, wie Horatio sehr genau wusste, eine Stadt der Extreme. Dazu gehörte auch das Alter der Einwohner: Manchmal schien es, als wären alle entweder unter dreißig oder im Rentenalter. Horatio war an diesen Eindruck gewöhnt … aber gelegentlich traf er auf ein Musterexemplar, das sogar ihn noch überraschen konnte. Der Eigentümer von Max’s Military Curios sah aus, als hätte er schon im Bürgerkrieg gekämpft. Er war gut ein Meter fünfzig groß, und sein krummer Rücken verlieh ihm die Gestalt eines Fragezeichens. Sein kahler Kopf war von Leberflekken überzogen, seine Ohren und seine Nase waren enorm groß, und die lockeren Hautlappen, die unter seinem Kinn baumelten, verdeckten beinahe den Adamsapfel. Er trug ein Hawaiishirt in schreienden Farben, schreiend in einer Lautstärke, die einen verkaterten Menschen vermutlich auf der Stelle umgebracht hätte, und brüllte in sein Mobiltelefon, als Horatio den Laden betrat. »Nein, nein, nein! Mich interessiert nicht, wem das Ding gehört hat. Ich habe hier so viele Steinschlossgewehre, ich könnte die Bastille alleine stürmen! Sagen Sie ihm, das ist mein letztes Angebot, und wenn er es nicht annimmt, dann wünsche ich ihm viel Glück bei der Suche nach einem anderen Arschloch mit zu viel Geld und ohne jeden Verstand.« Horatio sah sich um. Der Laden war genauso sonderbar wie die anderen Antiquitätengeschäfte, in denen volkstümelnde Handwerkskunst mit obszönem Pomp zur Schau gestellt wurde. Das Bemühen, Altes und Authentisches anzubieten, sollte mit einer großzügigen Ausstattung erreicht werden. Das führte normalerweise zu einem Zehntausend-Dollar-Beleuchtungssystem, sorgsam angeordnet, um einen antiken Schrank oder eine Kommode von ihrer schönsten Seite zu zeigen, die vermutlich irgendjemand ein Jahrhundert früher gezimmert hatte. In Max’ Fall diente das Licht dazu, eine Vitrine voller Pistolen
aus dem Zweiten Weltkrieg zu beleuchten. An den Wänden hingen japanische Schwerter aus dunkel lackiertem Holz, Musketen und die obligatorischen Winchestergewehre. Max – zumindest nahm Horatio an, dass der Mann Max war – stand hinter einem Tresen mit gläserner Oberfläche, in dem reihenweise Medaillen und Militärinsignien aus den verschiedensten Ländern zu sehen waren, verliehen von den unterschiedlichsten Regimes, darunter auch ein paar, mit denen Horatio nicht gerechnet hätte. Er studierte sie gerade, als Max sein Gespräch endlich beendete und sagte: »Und? Haben Sie schon etwas gefunden?« »Sie haben da eine interessante Sammlung«, stellte Horatio fest. Max schlurfte zu ihm hinüber und folgte seiner Blickrichtung. »Ich weiß, was Sie denken«, sagte er und tippte mit einem Finger seiner runzligen Hand auf das Glas. In der Vitrine waren Eiserne Kreuze, SS-Aufnäher und allerlei Medaillen mit eingeprägten Hakenkreuzen zu sehen. »Wie kommt ein alter Jude wie ich dazu, so ein Zeug zu verkaufen, hmm? Welches Recht habe ich dazu? Sollte ich das Zeug nicht in den Müll werfen oder verbrennen oder irgendwas?« Er wartete Horatios Antwort nicht ab. »Ich werde Ihnen sagen, welches Recht ich habe. Meine Schwester, meine beiden Brüder, meine Eltern – die geben mir das Recht. Sie sind in Lagern gestorben, jeder von ihnen, und die Nazis haben bis hin zu ihren Zahnplomben alles gestohlen, was ihnen gehört hat. Ich bin 1937 da weg, bin losgezogen, um mein Glück zu machen, und ich habe sie nie wiedergesehen. Diese Mistkerle haben mir das alles genommen, also schätze ich, ist es in Ordnung, wenn ich mir wenigstens ein bisschen Geld zurückhole.« »Keine besondere Wiedergutmachung«, bemerkte Horatio. »Und? Leistet die Pest Wiedergutmachung? Oder ein Heuschreckenschwarm? Vielleicht, wenn man versichert ist, aber
die Versicherungen zahlen meistens auch nur einen Dreck. Höhere Gewalt nennen die das dann – ziemlich niederträchtige Gewalt, wenn Sie mich fragen – aber eigentlich meinen sie, die Sache wäre zu groß, um dafür aufzukommen. Den Holocaust sehen die meisten Leute nicht so, sie denken, jeder in dem Land hätte sich in einen Hannibal Lecter verwandelt, aber das ist nicht wahr. Es war wie in einer Fabrik, in der plötzlich jeder die Aufgabe hatte, Juden umzubringen. Das klingt verrückt, aber so war es. Von einem Moment zum nächsten waren wir keine Menschen mehr, so, als hätten wir uns über Nacht in Brennholz verwandelt. Und wer interessiert sich schon für Brennholz?« Auf diese Frage gab es keine gute Antwort. Horatio versuchte nicht einmal zu antworten, er sah den Mann nur ruhig an und wartete darauf, dass er fortführe. »Jedenfalls«, sagte Max, »gebe ich alles, was ich für dieses Zeug kriege, der Jewish Defense League. Auf diese Weise ist es am Ende vielleicht doch noch zu etwas gut. Aber ich erzähle ihnen nicht, woher das Geld kommt. Wozu soll ich Kummer verbreiten?« »Lobenswert«, sagte Horatio und zeigte Max seine Marke. »Aber eigentlich bin ich mehr an russischer als an deutscher Ware interessiert.« »Sowjetrussisch? Davon habe ich haufenweise. Viel zu viel, um die Wahrheit zu sagen. Seit die Mauer gefallen ist, ist all das Zeug aus den Beständen der Roten Armee wie eine Lawine über mich hereingestürzt. Ich hätte einen Extraladen dafür aufmachen können, wenn ich gewollt hätte, was ich nicht tue. Einer macht schon genug Ärger.« »Soweit ich weiß, ist eine ganz besondere Schusswaffe durch Ihre Hände gegangen – eine Pistole, die für den Unterwassereinsatz entwickelt und von der sowjetischen Marine eingesetzt wurde.«
Max runzelte die Stirn. »Meinen Sie eine SPP 1? Das hoffe ich, denn ich habe noch nie eine von den Halbautomatischen zu Gesicht bekommen. Aber diese Pistole habe ich einmal verkauft. Ist so ungefähr sechs, sieben Monate her, denke ich.« »An wen?« »Eine Sekunde, ich werde in meinen Unterlagen nachsehen.« Er schlurfte zum Ende des Tresens. Horatio rechnete damit, dass er anfangen würde, einen uralten, verstaubten Aktenschrank zu durchwühlen, aber stattdessen zog er einen schwarzen Samtvorhang zur Seite, hinter dem ein Computer in einer kleinen Nische zum Vorschein kam. Max betätigte in schneller Folge einige Tasten und murmelte etwas Unverständliches. »Tut mir leid, das habe ich nicht ganz verstanden«, sagte Horatio. »Nichts, nichts, ich verwünsche nur Bill Gates und all seine Nachfahren. Das Ding ist so langsam, ich könnte mich erkälten und sterben, während ich warte. Ah, da ist es ja. Ich habe die Waffe vor sieben Monaten an einen Mann namens Avery Barlow verkauft. Alle erforderlichen Papiere wurden ordnungsgemäß ausgefüllt. So weit keine Probleme.« »Na ja, ein Problem gibt es schon, Max«, antwortete Horatio. »Sehen Sie, wir haben keine Akten über diese Waffe – ein Kollege von mir hat Sie durch einen Vorgang bei eBay aufgespürt. Tatsächlich gibt es keinen registrierten Eigentümer einer SPP 1 in Florida.« »Ach so, Na ja, wissen Sie, bei gewissen Waren stimmen die Papiere nicht immer exakt mit der Realität überein. Was ich zu sagen versuche, ist, dass ich kein passendes Formular für eine Unterwasserpistole finden konnte, also habe ich ein bisschen gepfuscht.« Horatio schüttelte den Kopf. »Würden Sie mir bitte erklären, was genau das bedeutet?«
»Ich habe sie als Makarov geführt. Hey, es ist immer noch eine russische Waffe.« »Ich werde einen Ausdruck Ihrer Verkaufsunterlagen brauchen, Max.« »Sicher, sicher, ich helfe doch gern. Es ist ja nicht so, als würde ich versuchen, mit irgendwas davonzukommen, wissen Sie – ich meine, der Verkauf war legal, seine Hintergrundüberprüfung war auch in Ordnung.« »Dann hoffen wir mal«, sagte Horatio, »dass alles andere an Mr Barlow auch in Ordnung ist.« Damals, in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als George Merrick nach seiner Vorstellung eine Stadt im mediterranen Baustil errichten wollte, die später Coral Gables hieß, holte man das Rohmaterial für die Plätze, die Brunnen und Esplanaden aus einem nahe gelegenen Kalksteinbruch. Und als die Straßen und Häuser wuchsen, wuchs auch der Steinbruch zu einem hässlichen, felsigen Loch ohne offensichtlichen Nutzen. Und jetzt, sinnierte Wolfe, ist dieses felsige Loch im National Register of Historic Places verzeichnet. Was doch so ein bisschen Wasser ausmachen kann … Natürlich war ›ein bisschen Wasser‹ nicht ganz zutreffend, aber dreitausendeinhundertzweiundzwanzig Kubikmeter H2O aus einer artesischen Quelle schon eher. Ganz zu schweigen von der mit Palmen bewachsenen Insel in der Mitte, den dreistöckigen Aussichtstürmen, den im spanischen Stil erbauten Säulengängen und der Loggia. Der Venetian Pool, wie die Anlage heute hieß, besaß sogar Korallenhöhlen und zwei Wasserfälle. Aber Wolfe war nicht hier, um die sorgsam erbaute Schönheit zu bewundern. Das Thema, das er hier zu erörtern gedachte, war weit weniger erfreulich, und er hoffte, er konnte das
Gespräch hinter sich bringen, ohne dabei jemandem auf die Zehen zu treten. Er traf sich mit dem Manager, einem Mann namens Anthony Osella, an dem schmiedeeisernen Tor, das zu der Anlage führte. Osella entriegelte das Tor und ließ ihn ein. Die offizielle Öffnungszeit begann erst in etwa einer Stunde. Er folgte Osella, einem schlanken Mann in einem weißen Leinenanzug, zu einem schattigen Tisch am Wasser. Wie es schien, hatte der Mann Büroarbeiten erledigt – ein Kaffeebecher, der das Logo der Badeanlage trug, schützte einen Stapel Formulare davor, von der warmen Brise davongeweht zu werden. Osella setzte sich und gab Wolfe ein Zeichen, ebenfalls Platz zu nehmen. Der Manager hatte ein schmales Gesicht, eine Hakennase und einen Ziegenbart, der so akkurat geschnitten war, dass er an eine Pfeilspitze erinnerte. Seine Augen versteckten sich hinter einer verspiegelten Sonnenbrille, aber sein Lächeln wirkte offen und freundlich. »Danke, dass Sie mich empfangen«, sagte Wolfe. Er nahm einen Organizer und einen kleinen Kunststoffstift zur Hand, um sich Notizen zu machen. »Aber nicht doch. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie außerhalb unserer Öffnungszeiten gekommen sind. Das ist ein heikles Thema, und ich ziehe es vor, niemanden in Panik zu versetzen.« »Ich verstehe«, erwiderte Wolfe und zögerte kurz. »Also, dieser … Vorfall. Ich habe den Polizeibericht gelesen, aber ich würde gern Ihre Version der Geschichte hören.« Osella nickte, und das Lächeln wich aus seinem Gesicht. »Es war im letzten März. Wir haben hier viele, viele Gäste – hunderttausend im Jahr. Wir gestatten keinen Alkoholkonsum, trotzdem können wir nicht vermeiden, dann und wann auf Störenfriede zu stoßen. Die Rettungsschwimmer wissen, wie sie
damit umzugehen haben, also ist das kein Problem. Aber diese Sache … nun ja, das ist nicht ganz so einfach.« »Nein, wohl nicht.« »Wir haben hier viele verschiedene Bereiche – den Wasserfall, das Sportbad, die Insel und die Höhlen. Wenn es um die Sicherheit geht, sind wir sehr sorgfältig.« »Davon bin ich überzeugt«, antwortete Wolfe geduldig, obwohl er im Stillen wünschte, Osella würde endlich zum Thema kommen. »Aber wir können nicht ständig alles im Auge haben. Und was dieser Mann getan hat … nun ja, es ist schwer zu beweisen.« »Und was hat er genau getan?« »Laut der Frau, die sich beschwert hat, hat er sie … beobachtet. Er hat eine Schwimmbrille getragen und angeblich so lange im hinteren Bereich einer Höhle gewartet, bis eine junge Frau hereingekommen ist. Wenn man von draußen kommt, dauert es einen Moment, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Ich bin überzeugt, viele der Frauen haben ihn überhaupt nicht bemerkt. Jedenfalls hat er dann wohl die Luft angehalten und ist untergetaucht. Das Wasser reicht bis zur Taille, also ist es tief genug, sich vollständig zu verstecken, wenn man sich auf den Grund kauert.« »Und da hat er dann einfach gesessen?« »Ja. Aber von dort hatte er eine sehr gute Aussicht, wenn Sie verstehen. Und aus sehr geringem Abstand. Ich weiß nicht, wie lange er das schon gemacht hat, bis wir ihn erwischt haben – einer unserer Kassierer hat allerdings gesagt, er sei schon seit einigen Wochen regelmäßig hergekommen.« »Aber mehr hat er nie getan.« »Nein. Er hat nie eine der Frauen berührt. Er hat nicht einmal mit ihnen gesprochen.« Osella griff nach seinem Kaffeebecher und umfasste ihn mit beiden Händen. »Ich habe ihn natürlich aufgefordert zu verschwinden.«
»Und das hat er getan?« »Oh ja. Er war klein, aber sehr gut gebaut, und ich hatte befürchtet, er würde Schwierigkeiten machen, aber das war nicht der Fall. Er hat nur genickt und ist ohne Widerworte gegangen.« »Hört sich an, als hätte er beinahe damit gerechnet, erwischt zu werden.« »Vielleicht. Abgesehen von der Schwimmbrille hat er auch einen Gürtel mit eingearbeiteten, stabilen Taschen getragen. Soweit ich es erkennen konnte, war es ein Bleigurt, wie ihn Taucher verwenden.« »Um der Kraft des Auftriebs entgegenzuwirken«, sagte Wolfe. »Oder um auf dem Boden eines Schwimmbeckens sitzen zu bleiben und zu spionieren.« »So sieht es aus.« Hatte Osella gerade doch noch das Gesicht verzogen? »Können Sie mir sagen, wie er ausgesehen hat?« »Er war weiß, etwa ein Meter dreiundsiebzig groß, ziemlich muskulös, Ende dreißig bis Anfang vierzig. Sein Haar war rotblond und sehr kurz geschnitten. Sauber rasiert. Sein Gesicht … na ja, da war nichts Auffälliges, keine Narben oder so was. Seine Augen habe ich nie richtig gesehen, daher weiß ich nicht, welche Farbe sie haben.« »Irgendwelche Narben oder Tätowierungen am Körper?« Osella legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Soweit ich mich erinnere, nicht. Ich weiß noch, dass seine Badehose eine mattgrüne Farbe hatte – ich wollte ihn mir einprägen, für den Fall, dass er zurückkommt.« »Ehering oder anderer Schmuck?« »Ich glaube nicht, nein.« Wolfe kritzelte etwas auf die Oberfläche des Organizers. »Gut … Denken Sie, Sie könnten später aufs Revier kommen und sich ein paar Verbrecherfotos ansehen? Es wäre durchaus
möglich, dass er vor diesem Vorfall irgendwann mal verhaftet worden ist, und es würde uns sehr helfen, wenn Sie ihn identifizieren könnten.« Osella nickte. »Natürlich. Hat der Mann … irgendwas angestellt?« »Es ist noch zu früh, etwas dazu zu sagen … das ist nur eine Spur, der wir nachgehen. Aber ich kann Ihnen verraten, dass das ein Teil einer laufenden Ermittlung ist, und wir die Angelegenheit sehr ernst nehmen.« Osella versprach, noch an diesem Nachmittag vorbeizukommen. Wolfe dankte ihm und erhob sich. Na ja, dachte er, so schlecht ist das gar nicht gelaufen. »Sollte der Mann wieder auftauchen, so werde ich Sie natürlich umgehend informieren«, sagte Osella. »Hätte ich ihn für gefährlich gehalten, dann hätte ich ihn festgehalten und die Polizei gerufen.« »Es wäre schwer geworden, ihm kriminelle Absichten nachzuweisen«, erklärte Wolfe. »Im Grunde hat er kein Gesetz gebrochen.« »Offenbar nicht«, sagte Osella. »Dennoch …« »Ja, ich weiß«, sagte Wolfe. »Es ist unheimlich. Hockt da wie ein Unterwassertroll in dieser Höhle auf dem Grund, und seine Augen sind nur ein paar Zentimeter entfernt von irgendeiner fremden Frau und ihrer …« Wolfe unterbrach sich, als er Osellas Gesichtsausdruck sah. Er murmelte noch eine schnelle Verabschiedung, machte kehrt und eilte davon. Verdammt. Und dabei habe ich so gut angefangen. »Eine Makarov?«, rief Calleigh. »Das ist nicht einmal annähernd …« Sie schnappte sich die ausgedruckten Unterlagen, die Horatio in der Hand hielt, und musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Eine IJ-70-18H? Die hat ein zehnschüssiges zweireihiges
Stangenmagazin – da gibt es nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer SPP 1! Kein Wunder, dass ich sie nicht finden konnte.« »Aber das hast du«, widersprach Horatio. »Trotz der schlampigen Buchführung des Händlers. Und jetzt haben wir auch eine Adresse.« »Sieht so aus«, murrte Calleigh. »Haben wir den Burschen schon besucht?« »Noch nicht, aber genau das wollte ich gerade tun. Willst du mich begleiten?« Sogleich hellte sich Calleighs Miene auf. »Ach Horatio, du weißt, wie man einem Mädchen das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein.« Avery Barlow lebte in einem anonymen Appartementhaus mit verspiegelten Fensterscheiben an der Collins Avenue, mitten in dem Gebiet, das vorwiegend von Hotels und Eigentumswohnungskomplexen besiedelt war und von den Einheimischen als Miami Modern oder MiMo bezeichnet wurde. Horatio und Calleigh gingen zusammen mit einer blonden Frau, die mit mehreren Einkaufstüten und einem Kinderwagen kämpfte, auf die Tür zu. Horatio hielt die Tür für die Frau auf, was ihm ein herzliches »Dankeschön« einbrachte. Calleigh lächelte das Baby in dem Kinderwagen an, was ihr lediglich einen verdatterten Blick aus großen Augen eintrug. Der Aufzug brachte sie in die vierzehnte Etage. Barlows Tür war ganz am Ende, genau da, wo der Korridor vor einem deckenhohen Fenster endete, von dem aus man Biscayne Bay überblicken konnte. Horatio sah hinaus auf das blaugrüne Wasser, auf dem die weißen Segel kleinerer Boote wie spitze Zähne aus dem Wasser aufragten, und fragte sich, was dieser Ausblick wohl kosten mochte. Er klopfte an die Tür. Calleigh stand rechts von ihm und hielt sich knapp außer Sichtweite.
»Ja?« Die Stimme klang ärgerlich und misstrauisch, die Tür blieb geschlossen. Horatio hielt seine Marke vor den Spion. »Miami-Dade Police, Mr Barlow. Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen.« Die Tür öffnete sich. Ein kleiner, gut gebauter Mann in Jogginghose und Sandalen stand mit einem blauen Handtuch um den Hals vor ihnen. Auf seiner Kopfhaut sah man ein paar Rasiercremeflecken. Offensichtlich hatte er sich gerade den Kopf rasiert. »Worum geht es?«, fragte er mit einem aggressiven Unterton. »Um eine Waffe, die Sie in Max’s Military Curios gekauft haben«, erklärte Horatio. »Genauer gesagt, um eine russische SPP 1.« Er starrte sie nur ausdruckslos an. »Was für eine Pistole?« »Eine SPP 1, eine Waffe, die speziell für den Unterwassereinsatz entwickelt wurde«, sagte Calleigh. Der Mann runzelte die Stirn. »Ich besitze nichts dergleichen. Sie müssen sich irren.« Er machte Anstalten, die Tür zu schließen. Horatio presste die Hand gegen das Holz und hielt die Tür fest. »Derjenige, der sich im Irrtum befindet, sind Sie, Mr Barlow. Ich habe Ihren Namen auf einem Waffenverkaufsformular, und das reicht für einen Durchsuchungsbefehl. Wollen Sie jetzt mit mir reden oder lieber erst, nachdem ich jeden Quadratzentimeter Ihrer Wohnung durchsucht habe?« Der Mann starrte ihn völlig gelassen an. »Ich sagte schon, ich besitze keine derartige Waffe, und es gibt auch kein Stück Papier, das so etwas beweisen würde. Also viel Glück mit dem Durchsuchungsbefehl. Sie werden es brauchen.« Er knallte die Tür zu. »Charmant«, sagte Calleigh. Horatio nickte gedankenverloren. »Und ganz nebenbei verdächtig.«
6
»In ihrer Unterwäsche?«, fragte Wolfe skeptisch. »Ich schwöre bei Gott«, sagte Delko grinsend. Sie waren wieder in der C.S.I.-Garage und untersuchten erneut den Chrysler. Bonnie Pershall hatte sich, nachdem sie sich eine Weile mit Delko unterhalten hatte, erinnert, dass sie Fotos von dem Wagen besaß, und hatte sie für ihn herausgesucht. Wolfe und Delko verglichen die Fotos mit dem Fahrzeug, um nachzusehen, ob der Mörder irgendetwas verändert hatte. »Toll«, fand Wolfe. »Du bekommst die heiße, halb nackte Frau, und ich schaffe es, mich vor dem Manager einer Badeanstalt selbst in Verlegenheit zu bringen.« »Reines Glück«, tröstete Delko. »Außerdem haben wir uns nur unterhalten – vorwiegend über Motoren. Du weißt schon, was Motorenthusiasten eben für interessant halten.« »Sicher doch.« »Ja, sie findet, dass die Grenze zwischen Mensch und Maschine immer mehr an Bedeutung verliert. Wenn sie auf ihrem Motorrad fährt, ist das für sie eine Erweiterung ihres eigenen Daseins. Und sie wollte wissen, wie ich darüber denke.« »So? Und was hast du gesagt?« Delko lachte. »Ich habe ihr gesagt, dass ich das manchmal ähnlich sehe, wenn ich einen richtig langen Tauchgang mache. Wenn man ein Kreislauftauchgerät benutzt, kann man tagelang da unten bleiben …« Die meisten Tauchausrüstungen hatten ein »offenes System«, das die ausgeatmete Luft des Tauchers vollständig an
das Wasser abgab. Durchschnittlich verbrauchte der Mensch nur ungefähr ein Viertel des eingeatmeten Sauerstoffs, der Rest wurde zusammen mit Kohlendioxid und Stickstoff wieder ausgeatmet. Ein Kreislauftauchgerät fing den ausgeatmeten Sauerstoff auf und filterte das giftige CO2 in einem Gefäß mit Atemkalk. Der recycelten Luft musste nur eine geringe Menge an neuem Sauerstoff hinzugefügt werden, um die Zeit, die ein Taucher unter Wasser verbringen konnte, erheblich zu verlängern. »Nach einer Weile«, erzählte Delko, »fühlt man sich, als wäre man schon sein ganzes Leben lang da unten. Als wäre die Ausrüstung, mit deren Hilfe man atmet, ein natürlicher Bestandteil der eigenen Lunge.« »Puh«, machte Wolfe. »Ich bemühe mich neuerdings, weniger technikorientiert zu agieren, und jetzt stelle ich fest, dass alle anderen die Gegenrichtung einschlagen.« »Vielleicht kreuzen sich die Wege irgendwo in der Mitte. Jedenfalls kann ich keinen großen Unterschied zwischen den Fotos und dem Wagen sehen. Falls er etwas verändert hat, kann ich es nicht erkennen.« »Lass mal sehen.« Wolfe nahm ihm die Fotos ab und studierte sie. »Hmmm … eine Abweichung gibt es jedenfalls.« »Die wäre?« »Der Wagen riecht viel unangenehmer.« Horatio hörte sie schon, ehe er sie sah. Er verstand zwar kein russisch, aber er erkannte eine Schimpftirade, wenn er sie hörte. »Ja was dostal! Ту durak! Wo ist er? Ich will ihn sprechen, oder ich fahre Ihnen mit dem verdammten Ding über die Füße.« Horatio näherte sich dem Empfangstresen, an dem die erboste Nicole Zhenko jeden zur Schnecke machte, der sich in Hörweite befand. Ihr Levo-Rollstuhl war aufgerichtet, und
deshalb war sie in der Tat ein wenig größer als der Sergeant, den sie anbrüllte, ein gepeinigt wirkender Mann, der einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand hielt. »Doktor Zhenko?«, sagte Horatio. »Gibt es irgendein Problem?« »Problem?«, geiferte sie und drehte sich, begleitet von einem elektrischen Summen, zu ihm um. »Das! Das ist das Problem!« Sie hielt eine Zeitung in der Hand, die sie ihm mit aller Kraft entgegenwarf. Horatio ließ die Zeitung an seinem Brustkorb abprallen, bückte sich dann gänzlich ungerührt und hob sie vom Boden auf. Er sah erst die eine, dann die andere Seite an, ehe er den Artikel entdeckte, der sie so geärgert hatte. Horatio runzelte die Stirn. »K tschjortu denken Sie …« Er hielt einen Finger hoch, um sie zum Schweigen aufzufordern, während er den Artikel rasch überflog. Erstaunlicherweise zeigte die Geste Wirkung. Sie wartete volle drei oder vier Sekunden, bis er wieder aufblickte. »Sie können solche Dinge nicht einfach verbreiten. Sie …« »Doktor Zhenko, das ist das erste Mal, dass ich davon lese. Und ich versichere Ihnen, ich bin darüber auch nicht erfreut – aber ich denke nicht, dass wir weiterkommen und Fakten erhalten, wenn wir hier herumstehen und uns gegenseitig anschreien.« »Ha! Es gibt keine Fakten, nur Lügen und Unterstellungen.« »So sieht es aus«, sagte Horatio geduldig. Sie hatte schon wieder eine ganze Lunge voller Luft parat, um den nächsten lautstarken Gefühlsausbruch vom Stapel zu lassen, doch nun hielt sie inne und studierte ihn argwöhnisch. »Sie wussten wirklich nichts davon?« »Statt hier zu stehen und über meine Schuld oder Unschuld zu diskutieren«, sagte Horatio, »schlage ich vor, wir gehen in
mein Büro, und ich beweise Ihnen, dass ich nichts damit zu tun habe.« Sie nickte grollend. Horatio machte kehrt und lief den Korridor hinunter zu seinem Büro, hinter sich hörte er das Surren des Rollstuhls. Kaum waren sie beide in seinem Büro, da lehnte er sich an seinen Schreibtisch, um den Artikel noch einmal in Ruhe zu lesen. »Und?«, fragte sie bissig. »Wo ist der Beweis?« »Zunächst einmal«, sagte er vorsichtig. »Welchen Grund könnte ich haben, zu behaupten, ein Delfin hätte einen Badegast ermordet?« »Keine Ahnung. Das ist einfach lächerlich.« »Ja, das ist es. Zu diesem Schluss sind mein Team und ich auch gekommen, und seither ermitteln wir in eine ganz andere Richtung.« »Das steht nicht in der Zeitung.« »Was in der Zeitung steht, ist unvollständig und höchst spekulativ. Würde ich eine derartige Geschichte an die Presse weitergeben, meinen Sie nicht, ich würde ihnen wenigstens ein paar Fakten liefern, die eine solch bizarre Theorie stützen würden?« »Es wäre idiotisch, es nicht zu tun.« »Exakt. Diese Story lässt uns wie blutige Anfänger dastehen. Hört sich das nach etwas an, das ich gern gedruckt sehen möchte?« Sie musterte ihn finster. »Ich weiß es nicht. Vielleicht haben Sie einen Grund dafür, vielleicht wollen Sie wie ein Idiot dastehen. Aber das ist mir egal. Nicht egal ist mir aber, dass plötzlich halb Miami sich einbildet, Delfine würden Menschen zum Abendessen verspeisen.« »Ihnen gefällt das nicht? Aber heißt es nicht: ›Aus Furcht entsteht Respekt‹? Das ist doch genau das, was Ihre Freunde
von der Animal Liberation Alliance sagen.« Horatios Stimme klang immer noch ruhig, doch in seinen Augen lag ein forschender Ausdruck. Sie ließ sich etwas Zeit, ehe sie antwortete, und nun klang ihre Stimme eher wachsam als feindselig. »Ich verstehe. Sie haben mich also überprüft, wie es sich für einen guten Polizisten gehört.« »Gute Ermittlungsarbeit bringt gute Ergebnisse … auch wenn diesen Ergebnissen jegliche ethische Grundlage fehlt.« Sie bedachte ihn mit einem harten, angespannten Lächeln. »Sie wollen mit mir über Ethik diskutieren? Tut mir leid, dafür habe ich keine Zeit. Aber Sie sollten nicht den Fehler begehen, zu denken, meine Ethik wäre die gleiche wie die der ALA. Ich habe mich schon vor langer Zeit von diesen Idioten gelöst.« »Aber erst, nachdem Sie verhaftet wurden.« »Das war eine Demonstration gegen den Einsatz von Schleppnetzen. Wissen Sie, wie viel Schaden diese Dinger anrichten? Das ist, als würde man mit einer Dreschmaschine über den Meeresgrund fahren und alles vernichten, was darin hängen bleibt.« Horatio musterte sie kühl. »Also haben Sie beschlossen, selbst ein bisschen Schaden anzurichten.« »Diese Boote zu versenken war nicht meine Idee – das war alles Anatoly. Danach war ich mit ihm fertig, mit der ganzen Gruppe. Man kann Wahnsinn nicht mit Wahnsinn bekämpfen.« »Das ist dann wohl Anatoly Kazimir, der Gründer und Leiter der Gruppe, richtig? Der hat auch schon eine recht beachtliche Strafakte: Zerstörung von Privatbesitz, illegaler Besitz von Explosivstoffen, Widerstand bei der Festnahme. Irgendwie hat er es allerdings geschafft, nicht hinter Gitter zu landen.« Sie schnaubte. »Bis jetzt, meinen Sie wohl. Früher oder später wird er etwas unglaublich Dummes tun, und dann werden
ihn sämtliche Anwälte der ACLU nicht mehr rauspauken können.« »Aber Sie würden so etwas natürlich nicht tun.« »Ich bin Wissenschaftlerin, keine Revolutionärin.« »Und ich bin Polizeibeamter – einer, der nicht dumm genug ist, um wirre Gerüchte durch die Presse zu verbreiten.« Sie musterte ihn. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Also schön, wir wissen beide, wer wir sind. Aber wenn diese Story nicht von Ihnen stammt, von wem dann?« »Das ist eine sehr gute Frage«, antwortete Horatio und verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Artikel bezieht sich auf eine anonyme Quelle. Ich nehme an, der Tipp kam vom Mörder selbst.« »Ich glaube, ich verstehe. Er will – wie sagt man – dem Delfin die Schuld in die Schuhe schieben.« »Es sieht ganz so aus, ja …« Sie betätigte den Joystick an der Armlehne des Rollstuhls und rollte so nahe an Horatio heran, dass die Räder erst kurz vor seinen Schuhen stillstanden. »Also gut, ich glaube Ihnen«, sagte sie. »Sie sind zu klug, um so etwas Dummes zu tun. Nehme ich jedenfalls an.« »Das hat sich beinahe wie eine Entschuldigung angehört.« Ihr Lächeln wirkte eher kläglich als entschuldigend. »Besser kann ich es nicht. Da, wo ich herkomme, gab es nur zwei Arten von Polizisten: klug und korrupt oder ehrlich und dumm. Ich kenne vorwiegend Angehörige der ersten Art – die anderen leben nicht lange genug, um Freundschaft mit einem zu schließen.« »Manchmal ist es in Miami ähnlich … aber ich habe es bisher geschafft, zu überleben.« Sie seufzte. »Das ist schlimm. Dieser verdammte Artikel ist immer noch da, und ich habe niemanden mehr, den ich deswegen anschreien könnte.«
»Ich könnte ihn offiziell dementieren, aber das würde lediglich den Eindruck vermitteln, wir hätten irgendetwas zu verbergen.« »Und was dann?« »Zeitungsgeschichten sind wie ein Feuer – je mehr Luft Sie ihnen geben, desto größer werden sie. Aber ohne Brennstoff sterben sie von ganz allein.« »Einfach ignorieren?« Sie dachte darüber nach. Dann machte sie abrupt kehrt und rollte auf die Tür zu. Dort hielt sie inne und sah sich noch einmal zu ihm um. »Vermutlich haben Sie recht. Aber sollte ich irgendeinen verflixten brutalen Bauerntrampel dabei erwischen, wie er auf einen Großen Tümmler schießt, dann werde ich ihn mit einem gefrorenen Fisch zu Tode prügeln.« »Wissen Sie«, bemerkte Horatio, »für jemanden, der sich erst noch an sein neues Gefährt gewöhnen muss, sind Sie ziemlich flink mit dem Teil.« »Ich lerne schnell«, gab sie zurück und rollte hinaus. Horatio lächelte. »Ich auch, Doktor Zhenko, ich auch.« »Schlechte Neuigkeiten, Horatio«, sagte Calleigh. »Avery Barlow hat seine angebliche Makarov wenige Tage nach dem Kauf als gestohlen gemeldet.« »Also können wir ihn nicht einmal auffordern, die Waffe vorzulegen, die zumindest den Papieren nach ihm gehören sollte.« Horatio und Calleigh saßen in dem Büro, Horatio hinter dem Schreibtisch, Calleigh auf dem Stuhl davor. Horatio nahm nachdenklich einen großen Schluck von seinem Kaffee. »Und«, sagte Calleigh weiter, »wir wissen nicht, ob das überhaupt die Waffe ist, die wir suchen. Ich meine, die SPP 1 ist nicht sehr verbreitet, aber es gibt bestimmt mehr als nur eine da draußen.«
»Wir werden es auf eine andere Weise versuchen. Sollte er unser Mann sein, dann ist er vermutlich auch irgendwo im System – Militärakte, vorangegangene Straffälligkeit, vielleicht eine Taucherlizenz. Finden wir heraus, was es herauszufinden gibt, und versuchen es noch einmal.« »Schon dabei«, sagte Calleigh und erhob sich von ihrem Stuhl. »Den Baum schütteln und sehen, was herunterfällt, richtig?« »Du schüttelst den Baum, und ich werde ein paar Kettensägen besorgen.« Wolfe kam Calleigh entgegen, als sie das Büro verließ. Er nickte ihr kurz zu, ehe er Horatio ansprach: »H.? Haben Sie eine Minute für mich?« »Gewiss, Mr Wolfe. Was gibt es?« »Ich habe heute mit dem Manager des Venetian Pool gesprochen. Er kommt später vorbei, um sich die Verbrecherkartei anzusehen und zu schauen, ob er den Mann identifizieren kann, der unter Wasser Frauen beobachtet hat. Ich habe überlegt …« »Ja?« »Na ja, als ich mit ihm sprach, habe ich … eine unangemessene Bemerkung von mir gegeben. Nichts«, beeilte er sich zu erklären, »Beleidigendes, nur … na ja, es war nicht gerade professionell, schätze ich.« »Und?« »Na ja, ich dachte, es wäre vielleicht besser, wenn jemand anderes mit ihm sprechen würde. Calleigh und Delko sind beide beschäftigt, also …« »Also wollten Sie mich fragen, ob ich das übernehmen kann?« »Können Sie?« Horatio lächelte. »Ich kann schon … aber ich werde nicht. Der Umgang mit der Öffentlichkeit ist ein Teil des Jobs, Mr Wolfe, Sie müssen weitermachen. Richtig?«
»Richtig, H.«, gab Wolfe zu. »Außerdem habe ich heute Nachmittag noch eine Verabredung mit einem Spezialisten für Zähne.« »So? Sie haben Probleme mit einem Zahn?« »Mit einem ganzen Gebiss voller Zähne, Mr Wolfe.« Die Szene in Psycho, die Horatio stets als die irritierendste empfunden hatte, hatte nichts mit der Dusche zu tun. Es waren stattdessen die Szenen, in denen ein lächelnder Norman Bates sein Bestes tat, um den Gästen seines Hotels zu Diensten zu sein, während im Hintergrund die toten, glasigen Augen der Tiere, die er ausgestopft hatte, vor sich hin starrten. Das Geschäft nannte sich Mt. Trophy Taxidermy. Es befand sich in einer Ladenzeile in Liberty City, der wohl schlimmsten Gegend in ganz Miami. Rostige Eisengitter vor dem Schaufenster waren der Käfig eines zähnefletschenden ausgestopften Grizzly, über dem ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen und vorgereckten Klauen den Eindruck vermittelte, er würde geradewegs von einem gemalten blauen Himmel herabstürzen. Horatio trat ein, und das Klingeln einer Glocke über der Ladentür ertönte. Der Laden war nicht groß, aber jeder Quadratzentimeter war vollgestopft mit toten Tieren in unterschiedlichen Positionen: Rotluchse zeigten die Zähne, Eichhörnchen hielten Wache auf einem Stück Treibholz, und Bergziegen standen Schulter an Schulter neben Dickhornschafen. Zahlreiche Fische, angefangen von Speerfischen bis hin zu Barrakudas, schmückten die Wände, und Falken und Habichte baumelten an unsichtbaren Fäden von der Decke. Die Luft war heiß und stickig, der einzige Laut war das Heulen einer Sirene aus der Ferne, das dem Jaulen einer gehetzten Kreatur glich. Horatio sah sich langsam in dieser Menagerie des Todes um. Es gab keinen Verkaufstresen, nur einen Kartentisch, auf dem eine altmodische Registrierkasse stand.
»Hallo?«, rief er. Keine Antwort. Ein Rabe stierte unheilvoll von einem lackierten Baumstumpf auf ihn herab und sah aus, als warte er nur auf eine letzte Gelegenheit, um noch einmal »Nimmermehr« zu krächzen. Horatio ging zu der Registrierkasse und suchte nach einem Hinweis auf etwas, das nicht längst gestorben war. Da war eine Tür in der hinteren Wand, und an der Tür hing ein Schild, auf dem stand: »Wünschen Sie Bedienung, so nennen Sie dem Geier laut und deutlich Ihr Anliegen.« Und tatsächlich hockte ein Truthahngeier auf einem Regalbrett neben der Kasse, den Schnabel zu einem stummen Schrei aufgerissen. Horatio sah genauer hin und erkannte die kleine Linse, weit hinten im Rachen des Geiers. Er zog seine Marke hervor und zeigte sie dem Vogel. »Lieutenant Horatio Caine«, sagte er. »Ich möchte mit jemandem über Delfinzähne sprechen.« Der Geier antwortete nicht. Horatio wartete. Ein lautes Klicken ertönte, und die Tür wurde entriegelt. Langsam ging sie auf und gab den Blick auf eine umfangreiche, bebrillte Frau in den Sechzigern frei, deren Haar zu einem Dutt frisiert war. Sie trug eine fleckige Metzgerschürze aus Plastik über einem karierten Hemd und einer Jeans und hielt eine Akkubohrmaschine in der Hand. »Tja, ich wusste immer, der Tag würde kommen«, verkündete sie seufzend. »Nehmen Sie mich mit, Officer, ich habe es getan. Ich habe sie alle getötet.« »Äh …« »Nein, warten Sie – ausgestopft, das wollte ich sagen. Ich habe sie alle ausgestopft.« Sie lächelte strahlend. »Tut mir leid, aber das wollte ich schon immer mal sagen. Sie haben keine Ahnung, wie lange man manchmal warten muss, um eine Zeile Text loszuwerden.«
»An Orten wie diesem«, entgegnete Horatio, »kann ich mir vorstellen, dass das eine lange Zeit ist.« Sie deutete mit der Bohrmaschine auf ihn und sagte: »Keine Sorge, sie ist nicht geladen. Ich bin Hattie Klezminster. Wie war das mit den Delfinzähnen?« Die Frau hat weniger Ähnlichkeit mit Norman Bates als mit Kathy Bates, dachte Horatio. »Ms Klezminster …« »Hattie, bitte.« »… wir führen Ermittlungen in einem Mordfall durch, in dem ein künstliches Delfingebiss benutzt wurde. Mehrere Leute haben mir Sie als die Expertin empfohlen, mit der ich sprechen sollte.« »Ha! Ich schätze, ich habe so etwas wie einen Ruf auf diesem Gebiet. Aber ich sollte Ihnen besser gleich sagen, dass die Geschichte, ich hätte John Wayne ausgestopft und in Stellung gebracht, nichts weiter als eine Legende ist. Na ja, jedenfalls das mit dem Ausstopfen.« Sie strahlte ihn an. »Schön, wenn wir also fachsimpeln wollen, dann sollten wir es dort tun. Kommen Sie mit nach hinten.« Er folgte ihr durch die Tür. Auf der anderen Seite befand sich eine Werkstatt, die leicht drei- oder viermal so groß war wie der Ausstellungsraum. Fackelähnliche Wandlampen hingen an den bemalten Wänden, die aussahen, als wären sie aus jenen großen, grauen, grob behauenen Steinen erbaut worden, die man sonst im Keller eines Schlosses finden konnte. Alles, was herumlag, hätte ebenso gut in einen Kerker gepasst: Schädel jeglicher Größe und Form, von der langen, schmalen Schnauze eines Krokodils bis hin zu dem gehörnten, massigen Kopf eines Bisons. Zerstört wurde die Illusion durch eine Anzahl Elektrowerkzeuge, zu denen sogar eine Bandsäge gehörte. Auf den Tischen sah Horatio Tierkadaver in den verschiedensten Stadien der Rekonstruktion. Hattie ging geradewegs zu einem Schrank und öffnete ihn.
»Jack Daniels ist mein bevorzugtes Gift für ein Gespräch mit einem Polizisten«, verkündete sie, legte die Bohrmaschine ab und nahm eine Flasche und ein Glas aus dem Schrank. »Sie auch?« »Nein, danke.« »Hab auch nicht damit gerechnet. Was soll’s, ich wollte nur höflich sein.« Sie schenkte sich einen Kurzen ein, stellte die Flasche wieder zurück und schloss den Schrank. »Was für ein Glück, dass Sie kein Reporter sind, sonst hätte ich den Absinth rausholen müssen«, erklärte sie. »Und der letzte Klempner, der hier aufgetaucht ist, ist immer noch in der Reha.« Sie trank einen damenhaften Schluck aus ihrem Glas. Horatio sah sich mit einem gedankenverlorenen Lächeln auf den Lippen in dem Raum um. »Genau der richtige Ort … aber ich muss sagen, gemessen an der Nachbarschaft kommen mir Ihre Sicherheitsmaßnahmen ein bisschen lax vor.« »Machen Sie sich um mich keine Sorgen, ich habe jeden im Umkreis von sechs Blocks in die Flucht getrieben. ›Die Tierfriedhofsfrau‹ nennen die mich. Und der letzte Crackjunkie, der meinte, ein Rotschwanzbussard wäre ein hübsches Souvenir, hat eine große Überraschung erlebt.« Sie kicherte. »Ich lasse nie Geld in meiner Kasse liegen, aber wenn Sie versuchen, eines meiner Ausstellungsstücke zu stehlen, geht ein Zehntausend-Watt-Stroboskoplicht los, und das Gebrüll von Godzilla läuft in einer Endlosschleife mit der Lautstärke eines Flugzeugtriebwerks. Wollen Sie es sehen? Ich habe mindestens drei Vorfälle auf Band.« »Schon in Ordnung …« Horatio rieb sich den Hinterkopf. »Wegen der Delfinzähne …« »Genau. Welche Art? Zügeldelfin, Weißseitendelfin, Borneodelfin, Langschnäuziger Gemeiner …« »Großer Tümmler.«
»Ah, Tursiops truncatus. Auch ›Flaschennase‹ genannt. Wussten Sie, dass damit eine gewöhnliche, altmodische Ginflasche gemeint ist? Vielleicht war Jack doch nicht die richtige Wahl … Rückenflosse dunkel und sichelförmig. Runde Melone – das ist die Stirn –, spitze Flossen, dunkler Rücken. Der Oberkiefer hat zwischen vierzig und zweiundfünfzig Zähnen, der Unterkiefer zwischen sechsunddreißig und achtundvierzig. Die Zähne selbst sind scharf und konisch und haben einen Durchmesser von etwa einem Zentimeter. Und sie setzen sie auch ein, aber nicht nur bei Fischen – Delfine können bei Konkurrenzkämpfen während der Paarungszeit richtig brutal werden. So halten die Forscher sie auch auseinander.« »Durch ihr Verhalten?« »Durch ihre Narben. Haben Sie je eine Delfinhaut aus der Nähe gesehen? Die haben mehr Dellen, Kerben und Kratzer als ein dreißig Jahre alter Volvo in einer miesen Wohngegend.« Horatio nickte. »Und wie kompliziert wäre es, solche Zähne nachzubauen?« Sie nahm noch einen Schluck und grinste ihn über den Rand ihres Glases hinweg an. »Zuerst werde ich Ihnen etwas zeigen und Ihnen eine Frage stellen«, sagte sie, ging zurück in den Ausstellungsraum und winkte ihm zu, ihr zu folgen. »Dort«, sagte sie und deutete auf einen Fuchshai, der an der Wand hing, eine Trophäe von etwa zwei Metern Länge. Die spitze Nase und die enorme Rückenflosse vermittelten den Eindruck von einem übergroßen Punkmoskito mit schillerndem Irokesenschnitt. »Sagen Sie mir – wie viel Prozent dieses Fisches sind Ihrer Meinung nach künstlich?« Horatio studierte ihn eingehend. »Fünfundachtzig Prozent?«, sagte er. Sie lachte. »Damit liegen Sie näher an der Wahrheit als die meisten anderen. Versuchen Sie es mit hundert.« »Also ist das gar kein Fisch.«
»Nein. Es ist eine Nachbildung – sozusagen das Tofu der Tierpräparation. Fiberglasverstärktes Polyesterharz mit bemalter Oberfläche. Hält ewig, und kein echter Fisch muss dafür sein Leben lassen. Beliebt bei den Leuten, die die Viecher fangen und wieder schwimmen lassen.« »Ich verstehe. Wie sieht es mit der Anfertigung eines funktionstüchtigen Modells aus?« »Sie meinen, etwas, das wirklich beißen kann? Na ja, alles ist möglich. Lassen Sie mich Ihnen noch was anderes zeigen.« Sie kehrten in die Werkstatt zurück. Hattie ging zu einem großen Holzschrank, fischte einen Schlüssel aus der Tasche und entriegelte das Schloss. Dann öffnete sie mit großer Geste die Doppeltür, und im Schrank leuchtete ein Strahler auf. »Und?«, fragte sie mit einem schelmischen Ausdruck in den Augen. »Was denken Sie?« »Ich denke«, sagte Horatio, »dass Sie die Reaktion der Leute ebenso genießen wie die Herstellung Ihrer Kunstwerke.« Die Kreaturen, die in dem Schrank ausgestellt waren, waren nie in irgendeinem Land herumgekrochen, geschwommen oder gewatschelt. Stattdessen waren sie direkt aus einem Albtraum entsprungen. Auf einem runzligen Affenkörper thronte der Kopf eines Schweins. Ein menschlicher Fötus mit Hörnern, gespaltenem Schwanz und Reptilienaugen schwamm in einem Glas in einer grünlich schimmernden Flüssigkeit. Eine zweiköpfige Schildpattkatze – ein Kopf wütend fauchend, während der andere fragend auf die Seite gelegt war – hielt einen geflügelten Skorpion mit der Pfote fest. Ein Chihuahua mit Tentakeln anstelle von Beinen nutzte selbige, um eine Auswahl verschiedener Knochen zu umklammern – von denen einige erschreckend menschlich aussahen. »Kunstwerke, was?«, sagte Hattie. »Danke. Ich habe schon
weniger freundliche Reaktionen erlebt.« Sie lächelte, aber in ihren Augen lag ein Funkeln, das zuvor nicht da gewesen war. Sie wirkte nicht mehr wie eine leicht exzentrische Großmutter, sondern wie etwas vollkommen anderes. Horatio verspürte plötzlich ein dringendes Bedürfnis, die Hand an die Waffe zu legen. Er trat näher, bückte sich und musterte die Exponate mit kritischem Blick. »Äußerst detailgenau«, sagte er. »Ich nehme an, das sind Kombinationen aus natürlichem und künstlichem Ausgangsmaterial?« »Yep. Mit Animationen habe ich bisher noch nicht herumgespielt, aber ich behalte auch das im Auge. Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie weit man schon mit ein bisschen Fantasie und technischem Können gehen kann.« »Ziemlich weit, würde ich sagen«, murmelte Horatio. »Sind derartige Stücke in Ihrer Branche üblich?« »Na ja, jeder Präparator hat seine Fabeltiere oder ein dreiköpfiges Eichhörnchen irgendwo im Schrank versteckt, aber das macht eigentlich nur einen sehr kleinen Teil des Geschäfts aus. Die meisten Leute, die Gefallen an dem Zeug finden, landen irgendwann beim Zusammenbau von japanischen Monstermodellen, oder sie konstruieren Spezialeffekte. Ich bin wohl eher ein recht komischer Vogel, ich arbeite mit echten Tieren, aber ich lasse mir immer gern etwas einfallen, um Mutter Natur zu verbessern.« Sie lachte und trank einen weiteren Schluck. »Na schön, verbessern ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck.« »Also ist ein funktionierendes Delfingebiss durchaus nicht unrealistisch.« »Teufel, nein. Geben Sie mir die Zeit und das Geld, und ich fertige Ihnen wahrscheinlich gleich einen ganzen funktionierenden Delfin an. Allerdings hätte meiner vermutlich Fledermausflügel und eine Löwenmähne.« »Wie viele Tierpräparatoren kennen Sie in dieser Gegend,
die die Fähigkeit oder das Interesse hätten, das funktionstüchtige Gebiss eines Großen Tümmlers zu bauen?« Sie nahm noch einen Schluck, und dieses Mal leerte sie das Glas. »Mal sehen … ich werde die Verbandsliste durchgehen müssen, aber vermutlich kann ich Ihnen problemlos ein halbes Dutzend Namen nennen. Tierpräparatoren bearbeiten mehr Fische als sonst irgendwas, also gibt es hier in Florida eine Menge Arbeit für uns.« Horatio zog eine Karte aus der Tasche und reichte sie ihr. »Ich wüsste es wirklich zu schätzen, wenn Sie mir diese Liste so schnell wie möglich beschaffen könnten.« »Klar«, sagte sie vergnügt, warf einen Blick auf die Karte und ließ sie in ihre Tasche gleiten. »Das Geschäft ist zurzeit so oder so ziemlich tot.«
7
»Statistisch gesehen«, sagte Wolfe, »werden die meisten Vergewaltigungen von Männern zwischen fünfundzwanzig und vierundvierzig begangen.« Er und Delko aßen im Auntie Bellums zu Mittag, einem altmodischen Diner, nicht weit vom kriminaltechnischen Labor entfernt. Wolfe gestikulierte mit seinem überbackenen Käsesandwich, um seine Worte zu unterstreichen, während Delko vorsichtig an seinem heißen Café con leche nippte. Drei fingerhutgroße Tacitas kubanischen Kaffees mit Häubchen aus weißem, gezuckertem Milchschaum standen vor ihm. »Ja, und das Verhältnis von schwarzen zu weißen Vergewaltigern ist annähernd fünfzig-fünfzig – ebenso wie das Verhältnis der Vergewaltiger, die ihre Opfer kannten oder nicht kannten«, sagte Delko. »Was, statistisch gesehen, bedeutet, dass diese Zahlen weitgehend nutzlos sind. Es gibt einen schwachen Hinweis darauf, dass Vergewaltiger ihre Opfer in ihrer eigenen ethnischen Gemeinschaft suchen, ist aber nicht ausreichend belegt.« »Na ja, vielleicht nicht hundertprozentig«, meinte Wolfe. »Aber es hilft uns trotzdem, uns ein besseres Bild zu machen.« Er aß einen Bissen von seinem Sandwich. »Denk immer daran, was Mark Twain gesagt hat«, sagte ihm Delko. »›Es gibt drei Sorten von Lügen: Lügen, gemeine Lügen und Statistiken.‹ Der sogenannte typische Vergewaltiger ist, laut Statistik, ein zwanzigjähriger Mann aus einem sozioökonomisch schwachen Umfeld, der bereits wegen Verbrechen aus Habgier wie beispielsweise Raub vorbestraft ist – das
jedenfalls behaupten die Daten der Rechtsorgane. Andere Quellen sagen, die Anzahl der Vergewaltiger, die ihre Opfer kannten, läge eher bei achtzig Prozent – die restlichen zwanzig Prozent seien schlicht nie angezeigt worden.« »Aber das sind keine verlässlichen Daten«, konterte Wolfe. »Das sind lediglich Spekulationen.« »Spekulationen von Leuten mit Erfahrung«, verbesserte Delko. »Die Zahlen stammen von Leuten, die in Hilfseinrichtungen für Vergewaltigungsopfer arbeiten.« »Das ist nicht gerade eine objektive Quelle.« »Vergewaltigung ist auch kein passendes Thema für eine objektive Betrachtung.« »Nein, aber wir sollten objektiv sein.« Wolfe schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, meiner Meinung nach ist es schlimmer, ermordet als vergewaltigt zu werden, aber als ich diese Ansicht das letzte Mal in Gegenwart einer Frau zum Ausdruck gebracht habe, hätte sie mir beinahe das Licht ausgeknipst.« Delko stellte seine Kaffeetasse ab und leerte eines der kubanischen Tässchen. »Was für eine Überraschung. Gehst du eigentlich nie mit Frauen aus?« »Eigentlich bin ich da gerade mit einer ausgegangen.« Delko grinste. »Ja, ich schätze, dass war ein bisschen zu viel des Guten. Sieh mal, unser Job als Kriminalisten verlangt von uns, Informationen zu sammeln und Daten auszuwerten, aber das bedeutet nicht, dass wir Maschinen sind. Objektivität ist eine Sache, Menschlichkeit eine ganz andere. Du darfst nie vergessen, warum wir das tun.« Delko sah sich um und deutete schließlich mit dem Finger auf zwei Teenager in einer Sitznische. »Siehst du die Mädchen? Für uns sind sie Fremde, richtig? Vermutlich werden wir sie nie kennen lernen und nie ein Wort mit ihnen wechseln, aber wenn wir unseren Job so erledigen, wie es von uns erwartet wird, dann machen wir ihr Leben sicherer. Das ist nicht quantifizierbar, nicht messbar – aber
manchmal, nach einem langen Arbeitstag, hilft so ein Gedanke dabei, leichter einzuschlafen.« Wolfe starrte ihn an, nahm einen Bissen von seinem überbackenen Käsesandwich, kaute nachdenklich und schluckte. »Du willst also sagen«, resümierte er schließlich, »dass es okay ist, vor dem Einschlafen an minderjährige Mädchen zu denken.« »Bist du sicher, dass dir die Dame, mit der du verabredet warst, nicht doch das Licht ausgeknipst hat?« Delko kippte den nächsten Café cubano hinunter. Wolfe legte die Stirn in Falten. »Wusstest du, dass Koffein eigentlich gar nicht anregt?« »Ganz meine Meinung. Das ist eher Lebensenergie.« »Ernsthaft. Koffein blockiert lediglich die Rezeptoren für Adenosin, das die Produktion von Neurotransmittern reguliert. Und nicht einmal das tut es umfassend – täte es das, wäre es ein Beruhigungsmittel.« »Ich ziehe trotzdem nach wie vor ernsthaft in Erwägung, jeden umzuhauen, der sich zwischen mich und die erste Tasse Kaffee am Tag stellt.« »Ja, schön, ich würde dir aber nicht raten, mehr als das zu trinken, was vor dir steht. Studien haben ergeben, dass nach einem Konsum von vier Tassen starken Kaffees das Koffein anfängt, die Phosphodiesterase zu hemmen. Man wird müder, nicht wacher.« »Das mag bei jemandem zutreffen, der nicht Manns genug ist. Ich trinke das Zeug schon so lange, dass meine Toleranzgrenze alles andere als normal ist.« »Also bist du abhängig.« Delko seufzte übertrieben. »Ich kann es nicht leugnen. Zu meiner Verteidigung, euer Ehren, führe ich an, dass ich mit Coke, Pepsi und Mountain Dew aufgezogen wurde.« »Du kannst dich darüber lustig machen, so viel du willst, es ist trotzdem eine Droge. Ein hartgesottener Koffeinjunkie wie
du braucht vermutlich zehn- bis fünfzehnmal so viel wie am Anfang. Lässt du ihn weg, bekommst du Entzugssymptome: Kopfschmerzen, Erschöpfung, Depression, zunehmende Muskelverspannungen, Lethargie, sogar Erbrechen.« »Zehn- bis fünfzehnfache Dosis?« Delko zuckte mit den Schultern. »Damit kann ich leben. Nach langjähriger Heroinabhängigkeit braucht ein Süchtiger das Zehntausendfache seiner Anfangsdosis – wenn ich anfange, so viel Kaffee in mich hineinzuschütten, hast du meine Erlaubnis einzuschreiten.« »Jedenfalls wirst du nicht schwer zu finden sein. Ich suche einfach nach einem Kerl mit einer Blase von der Größe eines VW-Käfers.« »Ja, und der Aufmerksamkeitsspanne eines Kolibris. Wäre nett, wenn unser Täter so leicht zu erkennen wäre … Du hast gesagt, du hättest jemanden hergebeten, um sich Verbrecherfotos anzusehen?« »In etwa einer Stunde. Er hat einen Spanner in einer öffentlichen Badeanstalt erwischt – schätze, das passt zu dem Profil unseres Täters.« »Ein Gefühl sagt mir, dass er tatsächlich einer von dieser Sorte ist.« »Vielleicht. Aber an über zwanzig Prozent der Vergewaltigungen ist mehr als nur ein Täter beteiligt.« Die Tasse auf halbem Wege zum Mund, hielt Delko abrupt inne. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich meine, das ist so ein … einmaliges Verbrechen, mir ist nie der Gedanke gekommen, dass daran mehr als ein Täter beteiligt sein könnte. Hast du das H. gegenüber schon erwähnt?« »Noch nicht. Eigentlich bin ich erst während unserer Unterhaltung darauf gekommen. Denkst du, ich liege richtig?« »Keine Ahnung. Aber vielleicht sollten wir einige der Beweise noch einmal überprüfen und sehen, ob etwas passt.«
»Du weißt, was das bedeutet?« »Was?« »Statistiken sind gar nicht so schlecht.« Horatio brachte einen guten Teil des Tages damit zu, mit Tierpräparatoren zu sprechen und die Liste abzuarbeiten, die Hattie Klezminster ihm gefaxt hatte. Die meisten arbeiteten mit Fischen, ein paar auf dem Gebiet der Spezialeffekte, aber keiner von ihnen hatte je ein funktionstüchtiges Delfingebiss angefertigt. Sein interessantester Gesprächspartner war ein Mexikaner namens Felipe Segredo. Felipe war mehr oder weniger im Ruhestand, fertigte aber immer noch dann und wann ein besonders hochwertiges Stück an. Er war, wie er sagte, in Guadalajara weithin bekannt. Dort hatte er sich in den Achtzigern den Ruf erworben, für die ganz großen Nummern im Drogengeschäft Maßarbeit zu liefern. »Nicht, was Sie denken«, versicherte er Horatio. »Ich meine, es war nicht so, dass ich einen Wasserbüffel ausgehöhlt hätte, damit sie Kokainpackungen reinstopfen konnten. Nein, es ging nur ums Prestige. Irgendwer hat eines meiner Stücke gesehen, einen Löwen, den ich für die Auslage eines Kaufhauses gemacht hatte, und wollte ihn auf der Stelle kaufen. Ein paar Tage später rief mich jemand an, der behauptete, er wäre ein Freund dieses Mannes, und wollte etwas Größeres – einen Bengaltiger. Und ehe ich michs versah, war ich schon dabei, einen ausgewachsenen indischen Elefanten mit einer eingebauten Bar samt Spülbecken zu basteln.« Horatio fragte ihn, woher er gewusst hatte, womit seine Kunden ihr Geld verdienten, und Felipe lachte. »Wissen Sie, wenn Sie irgendwohin fahren, um etwas auszuliefern, und Sie stehen plötzlich vor einem Haus von der Größe eines Einkaufszentrums, und fünf Kerle mit Maschinenpistolen klopfen
Sie von Kopf bis Fuß ab, ehe Sie reingehen, dann ist es nicht so schwer, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und natürlich haben sie immer bar bezahlt.« Aber diese Zeiten, so sagte Felipe, waren lange vorbei. Heutzutage war er mehr mit der Herstellung von Nachbildungen als mit der Präparation echter Tiere beschäftigt, und seine Kunden waren überwiegend Sportfischer, keine Drogenhändler. »Die meisten von den Jungs sind heute vermutlich tot oder hinter Gittern«, sagte er gut gelaunt. »Aber ich, ich bin immer noch da. Mit mir gibt sich der Sensenmann nicht ab, und wissen Sie, warum? Berufsehre – eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.« Wieder lachte Felipe lauthals. Horatio lächelte nur. Calleigh Duquesne wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte Machart und Modell jeder einzelnen Waffe nennen, die sie jemals in ihren Händen gehalten hatte. Sie konnte alle wichtigen Schusswaffenproduzenten der Welt aufzählen und die meisten der weniger wichtigen ebenso. Aber Fotokopierer waren ihr Untergang. Sie maß das unerbittliche Gerät, das vor ihr stand, mit finsterem Blick. Es war nicht so, dass sie Probleme gehabt hätte, zu begreifen, wie ein Kopierer funktionierte – oder wie er hätte funktionieren sollen –, denn das war ziemlich einfach. Calleigh kam mit jeder Art technischer Geräte gut zurecht. Sie konnte ein Fax ebenso leicht verschicken wie sie einen Datensatz hochladen, eine Waffe auseinanderbauen und wieder zusammensetzen konnte, ohne darüber viel nachzudenken. Aber Fotokopierer hassten sie. Sie wusste, dass das kein vernünftiger Gedanke war. Sie wusste, dass es völlig unsinnig war. Nichtsdestotrotz hatte sie selbst mit angesehen, wie ein Kopierer in aller Ruhe fünfzig
Kopien eines dreihundert Seiten umfassenden Dokuments ohne Probleme geordnet ausgespuckt hatte, nur um kurz darauf sein Leben auszuhauchen, als sie versuchte, ein einziges Blatt zu kopieren. Sie hatte den Versuch, das Phänomen zu verstehen, längst aufgegeben. Inzwischen versuchte sie nur noch, dem Problem aus dem Weg zu gehen. »Eine Kopie!«, zischte sie das sture Ding an. »Mehr brauche ich nicht. Danach lasse ich dich in Ruhe. Aber wenn du dich mit mir anlegst, dann schwöre ich, werde ich dich persönlich mit der gesprächigeren Seite einer SIG Sauer P 220 bekannt machen.« »Ähem«, machte Horatio. Sie wirbelte herum. »Oh, äh, hi, Horatio«, stammelte sie. »Bist du schon lange da?« »Na ja, ich war nicht dabei, als die Auseinandersetzung begann, aber ich bin früh genug gekommen, um die Todesdrohungen zu hören.« Sie errötete. »Ich weiß, dass das albern ist«, sagte sie. »Aber wenn ich ihm nicht drohe, dann nimmt mich das verdammte Ding nicht ernst.« »Das«, sagte Horatio, »wäre ein schwerer Fehler seinerseits – oder seiner Teile, je nach Lage des Falles.« »Danke. Wie dem auch sei, ich glaube, ich habe etwas über Avery Barlow.« Sie reichte ihm einen Bogen Papier. »Sieht aus, als würde unser Mr Barlow nicht nur verschiedene außergewöhnliche Waffen sammeln, er verkauft sie auch. Er hat sein eigenes Online-Geschäft und handelt mit allem möglichen Kram: Messer, Schwerter, Blasrohre, was immer du willst. Und das ist alles legal – jedenfalls in Florida.« »Aber?« »Aber einige der Dinge, die er verkauft, sind in anderen Staaten verboten. New York beispielsweise verbietet den Verkauf von Kampfsportwaffen wie Wurfsternen und Nunchakus,
aber genau so etwas bietet er auf seiner Website an. Ich denke, New York ist ein viel zu großer Markt, um ihn ignorieren zu können, also wird er auch dorthin liefern.« »Was uns nur helfen würde, wären wir selbst auch in New York.« Calleigh lächelte. »Richtig. Was uns aber hilft, ist ein Freund von mir namens Danny Fortrenzo, ein Polizist aus Queens, den ich vor zwei Jahren auf einer Konferenz kennen gelernt habe und der ein begeisterter Ninjutsu-Anhänger ist – du weißt schon, diese Kampfsportart, die angeblich von den Ninjas benutzt wurde. Jedenfalls sammelt er genau das Zeug, das Barlow verkauft, also habe ich ihn angerufen. Er hat sich ein bisschen für mich umgehört und ein paar Leute gefunden, die behaupten, sie hätten verbotene Waffen von Barlows Website gekauft – unter anderem KGB-Messer.« Horatio erwiderte ihr Lächeln. »Die in Florida ebenso illegal sind wie in New York. Haben wir noch etwas mehr, um die Geschichte abzusichern?« »Das wollte ich gerade kopieren. Die Authentifizierung ist Sammlern sehr wichtig, also liefert Barlow ihnen die Dokumente, wann immer es möglich ist. Was du da in der Hand hast, ist ein Formular, das Danny mir geschickt hat, und darin steht, dass dieses spezielle KGB-Messer einmal dem Sohn von Bruce Lee gehört hat.« »Dein Freund legt ein ungeheueres Tempo vor«, stellte Horatio fest. »Nun ja, ich habe ihn nicht gefragt, wer der Käufer des Messers ist … aber das Dokument beweist, dass Barlow im Besitz einer illegalen Waffe gewesen ist. Wer sie jetzt hat, geht nur New York etwas an.« »Aber die Person, die es verkauft hat, bleibt in unserem Zugriffsbereich«, sagte Horatio. »Gute Arbeit. Das sollte reichen, um uns einen Durchsuchungsbefehl zu beschaffen – und
ich wette, Mr Barlow hat mehr als nur eine Sache in seiner Wohnung, die dort nicht sein sollte.« Horatio wartete immer noch auf den Durchsuchungsbefehl, als Wolfe in seinem Büro erschien. »H. ich glaube, ich habe etwas«, sagte er. »Der Manager des Venetian Pool hat gerade den Typen identifiziert, der die Frauen unter Wasser beobachtet hat. Ezekial Redfield, eine Vorstrafe wegen sexueller Nötigung, eine wegen Einbruchs.« Horatio war schon auf den Beinen. »Haben wir eine Adresse?«, fragte er, als er auf den Korridor hinauslief. »Ja. North Miami. In der Nähe der Biscayne Bay.« »Dann holen wir ihn uns mal …« Delko untersuchte den Wagen noch einmal Zentimeter für Zentimeter. Während er das tat, versuchte er, sich den Ablauf der Ereignisse mit zwei Angreifern vorzustellen. Okay, haben sie sie beide zusammen angegriffen, oder hatte jeder seine spezielle Aufgabe? Die rostige, zerbeulte Blechmasse erinnerte ihn an ein totes Weichtier oder eine Krabbe, und der Gestank, den sie verströmte, verstärkte diesen Eindruck. Er kniete auf dem Vordersitz und strich mit der Hand über die Unterseite des Armaturenbretts. Der Angriff ist im Vorfeld von einer oder mehreren Personen geplant worden, die sich mit dem Tauchsport auskennen. Sie hätten die Aufgaben untereinander aufteilen und sich Gedanken über die verschiedenen möglichen Szenarien machen müssen. Beim Tauchen gab es mehr als eine Alternative, und Delko kannte die Regel eines erfahrenen Tauchers: Berücksichtige alle Möglichkeiten im Voraus, sonst wird es kein Später geben.
Das Haus in der Mitte der Häuserzeile war wie ein faulender Zahn in einem freundlichen Lächeln. Die Nachbarhäuser waren weder groß noch teuer, aber sie waren gepflegt: rote Schindeldächer in gutem Zustand, gemähte und gewässerte grüne Rasenflächen. Ezekial Redfields Anwesen hingegen war heruntergekommen und schmutzig und lechzte nach einem neuen Anstrich. Der unkrautüberwucherte Vorgarten wurde von einem Holzzaun begrenzt, dem bereits etliche Latten fehlten. Ein Tor gab es nicht. Schmutzige, fleckige Vorhänge waren durch die Fenster erkennbar, die der Straße zugewandt waren, und das Moos, das auf dem Dach wuchs, war dicker als die Dachpfannen selbst. »Geben Sie acht«, warnte Horatio, als er und Wolfe auf die Veranda traten. Er pochte an die hölzerne Tür, wartete einen Moment und pochte noch einmal. Keine Reaktion. Dann hörten sie es beide. »Ist das … Plätschern?«, fragte Wolfe. Also, einer bleibt mit einer zusätzlichen Druckluftflasche auf dem Grund. Der andere geht auf die Jagd. Sie suchen sich eine Stelle mit genug Publikumsverkehr aus, um sicher zu sein, dass früher oder später ein potenzielles Opfer auftaucht. Nichts unter dem Armaturenbrett. Delko beugte sich herab und richtete die Taschenlampe unter die Sitze. Nein, das funktioniert nicht. Es ergibt mehr Sinn, wenn sie zusammen auf die Jagd gehen – sie können ihr Opfer dann viel schneller packen und unter Wasser ziehen. Und sie müssen ihr irgendwie den Lungenautomaten anlegen, während sie in Panik und kurz vorm Ertrinken um sich schlägt. Nichts unter den Sitzen – genau wie bei der letzten Untersuchung des Wagens. Er stieg aus, dachte eine Sekunde nach und kletterte auf den Rücksitz.
Irgendwie schaffen sie es, ihr das Mundstück in den Mund zu drücken und sie weit genug zu beruhigen, dass sie ihre Lage begreift. Wie kommunizieren sie mit ihr? Taucher benutzten gern Unterwasserschreibtafeln mit passenden Stiften. Die mussten die Vergewaltiger auch haben. Horatio hämmerte an die Tür. »Miami-Dade Police!«, brüllte er. »Öffnen Sie die Tür. Sofort!« Wolfe zog seine Pistole eine Sekunde nach Horatio. Horatio griff nach dem Türknauf. Die Tür war unverschlossen. Langsam drückte er sie mit einer Hand auf. Als die Tür offen war, wurde das Plätschern lauter, beinahe wild. Horatio trat in das Haus, bewegte sich schnell, aber vorsichtig. Er hielt die Glock ruhig in der Hand, den Finger am Abzug. Es gab eine Art Eingangsbereich mit einem Tisch, der vor alten Zeitungen und Werbebotschaften überquoll. Das Plätschern kam aus einem Zimmer auf der rechten Seite, das von einem kleinen Korridor abzweigte. Horatio signalisierte Wolfe, er möge bleiben, wo er war. Dann schlich er den Korridor hinunter. Nun, da er im Haus war, hörte er noch ein anderes Geräusch: ein tiefes, pulsierendes Summen. Der Rest des Szenarios war grausam, aber einfach. Sie mussten sich abgewechselt haben, einer bemächtigte sich des Opfers, der andere hielt Wache oder kehrte zu einem Boot zurück. Sie mussten gewartet haben, bis ihr Tod unmittelbar bevorstand, ehe sie ihr die Schnittwunden beigebracht hatten, schließlich sollten keine Haie angelockt werden. Moment mal. Sie hätte bereits durch den Biss der Delfinzähne geblutet. Wozu etwas benutzen, das die Aufmerksamkeit der Haie erregt, wenn man doch zwei Paar Hände hat, um sie von Anfang an in Schach zu halten?
Er runzelte die Stirn. Irgendwie passte das alles nicht zusammen … Der Geruch im Heck des Wagens war aus irgendeinem Grund noch schlimmer als vorn. Delko fragte sich, wo sie die Sauerstofftanks aufbewahrt hatten, vorn oder hinten – sie mussten sie in der Nähe gehabt haben, um schnell nach ihnen greifen zu können. Vermutlich vorn, sodass der geräumigere hintere Teil des Wagens frei blieb. Frei für unsagbare Gräueltaten. Die Wut in seinem Bauch überraschte ihn. Delko hatte sich schon früher mit furchtbaren Verbrechen befassen müssen, aber das hier war anders – und er wusste warum. Tauchen war eine Aktivität, die für ihn eine Art Ruhe bedeutete, einer besonderen Art des Friedens. Selbst wenn er eine Reihe Toter bergen musste, die an einem Anker festhingen, konnte er eine gewisse Distanz zu dem Schrecken beibehalten. Das lag nur zum Teil an seiner professionellen Einstellung. Ebenso sehr lag es an dem Gefühl der Kontrolle: Unter Wasser musste er die Umgebung beherrschen, sonst würde die Umgebung ihn beherrschen. Nun war dieses Gefühl der Kontrolle befleckt worden, verdorben. Der oder die Mörder hatten es dazu benutzt, Schmerz und Tod hervorzurufen. Er fühlte sich wie ein Bildhauer, der gerade jemanden entdeckte, der mit seinem Meißel gemordet hatte. Das beste Wort für den Anblick, der sich Horatio darbot, als er, die Waffe vorgestreckt, um die Ecke schaute, lautete bizarr. Das einzige Möbelstück im Raum war ein riesiges Aquarium mit einer Kapazität von mehreren Hundert Litern. An dem bis auf Bauchhöhe reichenden Gefäß stand eine Leiter – die Art, die auch für Kinderhochbetten benutzt wurde. Illuminiert wurde das Ganze durch mehrere grün leuchtende Strahler auf
der anderen Seite des Raums, deren Licht in das Becken eindrang und ihm eine Silhouette dessen zeigte, was sich darin befand. Das pulsierende Summen stammte von einem Drucklufterzeuger, der über zwei dicke schwarze Schläuche die Sauerstoffversorgung der Beckenbewohner sicherstellte: ein nackter Mann und eine nackte Frau. Das Plätschern stammte von den Beinen der Frau, die aus dem Wasser herausragten und sich energisch bewegten. Horatio trat näher, zog seine Marke hervor und pochte an das Glas, was ihm eine prompte Reaktion einbrachte: Sie hörten sofort damit auf, das zu tun, was sie getan hatten, und starrten ihn mit aufgerissenen Augen durch das Glas der großen Integral-Tauchermasken an. Sie lösten sich voneinander, tauchten auf, und der Mann nahm die Maske ab. »Was zum Teufel tun Sie in meinem Haus?«, brüllte er wütend. Die Frau behielt die Maske auf und gab Horatio so das Gefühl, von einer Art Unterseealien studiert zu werden. »Wie es scheint, unterbreche ich eine Runde Synchronschwimmen«, sagte Horatio. »Sie müssen Ezekial Redfield sein.«
8
Ezekial Redfield sah aus wie beschrieben: klein, kraftvolle Statur und kaum ein Millimeter rotblondes Haar auf dem Kopf. Er trug ausgebeulte rote Shorts, ein Miami-Dolphins-Trikot und weiße Turnschuhe, als er im Revier auftauchte, und Horatio überlegte immer noch, ob das Trikot Redfields Versuch war, Schläue zu demonstrieren. Er starrte Horatio aus blassblauen Augen unter gerunzelter Stirn an und lümmelte sich auf der anderen Seite des Tisches auf seinen Stuhl wie ein widerspenstiger Highschoolschüler. Horatio erwiderte den Blick, ehe er das Strafregister betrachtete, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Mister Redfield. Wie es scheint, haben Sie eine gewisse Affinität zum Wasser.« Redfield lächelte. Der Anblick war ausgesprochen unschön und offenbarte krumme, nikotinfleckige Zähne. »Wassersport? Ne. Golddusche und so ein Zeug. Damit habe ich nichts am Hut. Ich bin aquaphil.« »Genau … und Ihre ›Aquaphilie‹ schließt sexuelle Nötigung mit ein, richtig?« »Haben Sie nicht aufgepasst, Cop? Mit Nötigung hatte das nichts zu tun – sie war voll dabei, Mann. Hat ‘ne Meerjungfrau in sich, so viel steht fest.« »Ich sprach«, sagte Horatio, »von einer ihrer früheren Aktivitäten.« »Hey, das war alles nur ein Irrtum, ja? Nur ein Missverständnis.« »Die junge Dame, die die Beschuldigungen gegen Sie erhoben hat, war da anscheinend anderer Meinung.«
»Ja, schön, und sie hat diese Beschuldigungen wieder fallen lassen, also ist alles in Ordnung.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht zustimmen, Mr Redfield. Und die Vorstrafe für den Einbruch – in ein Aquariengeschäft? – sagt mir, dass diese kleine Marotte mehr ist als irgendein Hobby. Ich würde sagen, es ist eher eine Art Besessenheit.« Redfield studierte ihn unter halb geschlossenen Lidern. »Ich erwarte gar nicht, dass das jemand versteht.« »Dann helfen Sie mir doch dabei.« »Sie wollen es wissen? Okay, ich werd’s Ihnen sagen. Da gibt es kein großes Geheimnis. Es ist nicht so, dass ich von einem Fisch belästigt worden wäre oder so was. Ich mag einfach das Wasser. Ich mag schwimmen. Ich mag, wie alles klingt, so gedämpft und trotzdem hallend. Ich mag das Gefühl von etwas Warmem, etwas Feuchtem, das jeden Zentimeter meiner Haut berührt. Das macht mich an. Ist das so schlimm?« »Nein«, sagte Horatio. »Das ist es nicht. Aber die sexuelle Nötigung einer Rettungsschwimmerin, während man versucht, sie zu ertränken, schon.« »Hey, Sie verstehen das wirklich nicht. Ich wollte sie nicht ertränken. Ich war derjenige, der am Ertrinken war.« »Dem Bericht zufolge haben Sie vorgegeben, Sie wären in Schwierigkeiten, und sie dann untergetaucht, als sie Ihnen zu Hilfe gekommen ist.« »Es ist normal, dass Ertrinkende in Panik geraten und ihren Retter unter Wasser drücken.« Horatio fiel auf, dass Redfield nicht leugnete, dass er genau das getan hatte. »Ist es auch normal für einen Ertrinkenden, Bewusstlosigkeit vorzutäuschen und dann die Retterin zu pakken, während sie gerade bei der Mund-zu-Mund-Beatmung ist?« »Ich war bewusstlos. Ich wusste nicht, was ich tat.«
»Wissen Sie, Ezekial, das klingt beinahe überzeugend … wäre es nicht schon Ihr dritter Versuch dieser Art gewesen.« Redfield zuckte grinsend mit den Schultern. »Schätze, ich bin einfach kein guter Schwimmer.« »Trotzdem haben Sie eine Tauchlizenz.« »Zum Teufel, mit Flossen und einer Tauchausrüstung kann jeder schwimmen.« »Tatsächlich? Sind Sie in letzter Zeit in der Biscayne Bay getaucht? Sagen wir, in der Gegend vom Oleta River State Park oder vor Key Biscayne?« »Vielleicht. Ich tauche oft, überall in der Gegend.« Horatio nickte. »Aber Leute bringen Sie nicht überall um.« Redfields Mund klappte auf, aber kein Ton kam über seine Lippen. Horatio legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor. »Ich erzähle Ihnen, was jetzt passiert. Meine Leute durchkämmen Ihr Haus gerade mit einem sehr feinzinkigen Kamm. Sie handeln auf richterliche Anordnung und sind angewiesen, Ihren Computer, Ihre Tauchausrüstung und alles, was scharf ist, zu konfiszieren. Sie werden das alles untersuchen, und ich denke, sie werden Beweise dafür finden, dass Sie Gabrielle Cavanaugh, David Stonecutter und Janine Stonecutter ermordet haben.« Redfield fand endlich seine Stimme wieder. »Was? Das ist … das ist lächerlich! Ich bin kein Mörder! Ich … ich bin das Gegenteil!« Seine Antwort war seltsam genug, dass Horatio zögerte. »Was genau soll das bedeuten?«, fragte er. Und nun sah Redfield nicht mehr nur verschreckt aus, sondern überdies auch verlegen. »Sehen Sie, einem Aquaphilen reicht es nicht, sich vom Wasser antörnen zu lassen. Einige von uns, Na ja, wir haben auch Fantasien über das Ertrinken. Aber das ist eine passive
Geschichte, kapiert? Das habe ich mit diesen Rettungsschwimmerinnen machen wollen. Ich wollte keiner von ihnen etwas antun, das schwöre ich bei Gott. Ich wollte nur …« Er unterbrach sich und sah furchtbar elend aus. »Ich wollte einfach nur unter Wasser von einer schönen Frau gehalten werden.« Horatio musterte ihn aufmerksam. »Falls Sie unschuldig sind«, sagte er, »dann macht es Ihnen doch sicher nichts aus, mir eine DNS-Probe zu überlassen, oder?« »Nein, natürlich nicht.« Horatio hatte seine Ausrüstung dabei. Er öffnete den Koffer, zog ein paar Handschuhe hervor, streifte sie über und griff nach dem Tupfer. »Oh bitte, seien Sie damit sehr vorsichtig«, sagte Redfield nervös. »Keine Sorge, ich habe das schon öfter gemacht«, entgegnete Horatio, stand auf und ging um den Tisch herum. Redfield hielt eine Hand hoch. »Nein, ich meine die Handschuhe – halten Sie die bloß fern von mir, es sei denn, Sie möchten sich gern mit jemandem abgeben, der einen allergischen Schock erleidet. Ich bin hochgradig allergisch gegen Latex.« Horatio hielt inne. »Ist das so?«, fragte er mit sanfter Stimme. »Harter Tobak«, sagte Calleigh. »Er war wirklich allergisch, ja?« »Seinen medizinischen Unterlagen zufolge«, sagte Horatio. Er und Calleigh waren in seinem Hummer unterwegs, um Avery Barlow einen Durchsuchungsbefehl zu präsentieren. »Ja, Latex gehört zu den Dingen, auf die die Leute wirklich schlimm reagieren können, ähnlich wie Erdnüsse oder Schalentiere«, wusste Calleigh. »Latex selbst ist eine seltsame Substanz.
Niemand weiß genau, aus welchem Grund die Pflanzen das Zeug produzieren – manche Wissenschaftler denken, es wäre ein Schutz vor Verletzungen, andere sagen, in Gummi und anderen Kohlenwasserstoffverbindungen würde deshalb Kohlenstoff gebunden, um atmosphärisches CO2 und planetarische Biomasse auszubalancieren. Es gibt sogar eine Theorie, die besagt, dass die Isopren-Emissionen einer latexproduzierenden Spezies der Abwehrstoff ist, mit dem Mutter Natur das Ozon bekämpft.« »In diesem Fall scheint sich Mutter Natur allerdings keine allzu großen Gedanken über Ezekial Redfield zu machen. Etwa ein Prozent des natürlichen Flüssiglatex besteht aus Proteinen, und diese Proteine können drei Arten der Immunreaktion auslösen: Irritation, verzögerte Überempfindlichkeitsreaktion und sofortige Überempfindlichkeitsreaktion. Rate, woran unser Junge leidet.« »Ich denke, ich nehme Tor drei.« »Bingo. Die Latexallergene binden sich an die Rezeptoren der körperlichen Abwehrstoffe, was zu einer massiven Ausschüttung von Histaminen führt – das wiederum führt zu Ausschlag, Augenreizungen, Anschwellen von Lippen und Zunge, Atemnot, Schwindelgefühl, Bauchschmerzen, Brechreiz, Hypotonie, Schock … und zum Tod.« Horatio schüttelte den Kopf. »Er ist so empfindlich, er hat schon merkwürdig geatmet, als ich den Koffer aufgemacht habe.« »Das lag vermutlich an der Maisstärke deiner Handschuhe«, überlegte Calleigh. »Die meisten medizinischen Produkte werden mit Ammoniak behandelt, und wenn bei der Vulkanisation das Material dreißig Minuten lang auf einhundertdreißig Grad Celsius erhitzt wird, bilden sich in dem Puder, mit dem die Innenseite der Handschuhe bestäubt ist, Proteine.« »Jedenfalls kann er das Zeug auf keinen Fall in der Nähe seiner Haut vertragen«, stellte Horatio fest. »Trotzdem ist er durch die Allergie als Verdächtiger noch nicht vollständig aus-
geschlossen. Wolfe hat eine Theorie, nach der es mehr als einen Angreifer geben könnte, und in diesem Fall könnte die Latexprobe, die wir gefunden haben, von dem zweiten Täter stammen. Er überprüft gerade Redfields Alibi.« Sie parkten vor Barlows Appartementhaus und stiegen aus. Frank Tripp war bereits dort und wartete mit dem Durchsuchungsbefehl auf sie. »Horatio, Calleigh.« Er grüßte sie mit einem Nicken. »Bereit, wenn ihr es seid.« Als Avery Barlow dieses Mal die Tür öffnete, hielt sich Horatio nicht mehr mit Höflichkeiten auf. Er zeigte ihm lediglich den Durchsuchungsbefehl und sagte: »Verlassen Sie die Wohnung, Mr Barlow. Wir werden eine kleine Inventarliste Ihrer Handelsware anfertigen.« Barlow ergriff den Durchsuchungsbefehl und trat auf den Korridor. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte er. Calleigh und Horatio betraten die Wohnung. Sie war geräumig und mit asiatischen Accessoires dekoriert: rote Seidenlaternen, weiße Reispapier-Paravents und niedrige Sofas, deren Satinbezug von aufgedruckten Drachen geziert wurde. Horatio musterte die japanischen Schwerter, die an der Wand hingen, und fragte sich, ob Barlow sie von Max gekauft hatte. »Ein Tachi und ein Ödachi«, sagte Calleigh. »Das Tachi ist etwas länger und stärker gebogen als das traditionelle Wakizashi. Es wurde von der Kavallerie benutzt. Das Ödachi hat einen verlängerten Griff, weil es über den Rücken getragen wurde. Je nach Schmied wurde der Stahl, der für diese Schwerter benutzt wurde, bis zu fünfundsechzigtausendmal gefaltet.« »Aber der Wert des Schwerts sagt nichts über den Wert des Besitzers aus«, erinnerte Horatio. »Sehen wir mal, was er in den anderen Zimmern hat.«
Dass Barlow sein Geschäft von seiner Wohnung aus führte, wurde offensichtlich, als sie das Gästezimmer betraten. Es war vom Boden bis zur Decke vollgestopft mit Waffen: Macheten, Armbrüste, Streitäxte, einfach alles von mittelalterlichen Schwertern über Florettklingen bis hin zu Messern, Gummiknüppeln und Panzerwesten. »Ich sehe keine Schusswaffen«, stellte Calleigh fest. »Aber ich sehe einen verdächtigen Abdruck im Teppich gleich neben der Tür.« »Als wäre erst vor kurzem etwas Schweres von dort entfernt worden. Wie es scheint, hat unser letzter Besuch Mr Barlow ein wenig nervös gemacht. Er hat den Teil seines Warenbestands, den wir fragwürdig finden könnten, verschwinden lassen, aber das bedeutet nicht, dass hier nichts mehr zu finden ist. Machen wir uns an die Arbeit.« Delko suchte eine Botschaft. Die Frage lautete, ob Janice Stonecutter lange genug allein gewesen war, um eine zu hinterlassen. Er war immer noch in der Garage und untersuchte den Wagen. Sollte es zwei Angreifer gegeben haben, hatte sie vermutlich keine Gelegenheit bekommen, denn dann hätten sie sich dabei abgewechselt, ihr sadistisches Vergnügen mit ihrem Opfer bis zur letzten Sekunde auszukosten. Aber sollte es nur einen gegeben haben, standen die Chancen gut, dass er sie allein gelassen hatte, um irgendwann in den zwölf bis fünfzehn Stunden an die Oberfläche zurückzukehren. Natürlich musste er sie auf irgendeine Weise gefesselt haben, einerseits, um sie daran zu hindern, sich selbst umzubringen, andererseits, um ihr die Flucht zu vereiteln. Aber wie? Er erinnerte sich an das weiße Seil, das er gefunden hatte, das Seil, das an dem nachgeahmten U-Boot befestigt gewesen war. Vielleicht war auch sie mit einem solchen Seil gefesselt
worden, auf eine Weise, die es ihr unmöglich gemacht hatte, sich zu rühren. Doch ihr Peiniger hatte aufgrund seiner Absichten einige rein mechanische Faktoren berücksichtigen müssen – Faktoren, über die Delko lieber gar nicht nachgedacht hätte, die aber in Erwägung gezogen werden mussten. Ganz sicher waren ihre Hände gefesselt gewesen. Aber selbst, wenn sie das nicht gewesen wären, womit oder worauf hätte sie schreiben können? Um eine Botschaft im Metall zu hinterlassen, hätte sie ein Werkzeug gebraucht, das sie nicht hatte. Delko untersuchte die Polsterung, aber sie war mit Leder bezogen, und dieses Leder war zu fest, es ohne Probleme zu zerkratzen. Damit blieb nur … Delko zog sein Mobiltelefon hervor und rief Alexx an. »Mister Barlow«, begann Horatio. »Ich freue mich sehr, dass Sie nun doch endlich beschlossen haben, mit uns zu kooperieren.« »Ja, Sie sind ein wahrer Musterbürger«, kommentierte Frank Tripp. Auf der anderen Seite des Tisches begegnete Avery Barlow dem Sarkasmus der beiden Männer mit einer Miene, die gelangweilte Geringschätzung zum Ausdruck brachte. »Ich möchte lediglich diese Sache aufklären, damit ich mich wieder um mein Geschäft kümmern kann, klar?« Er war sogar gekleidet wie ein Geschäftsmann und trug einen dreiteiligen, blassgrünen Seidenanzug, eine Schneiderarbeit, die so hochwertig war, dass Horatio sich des Gefühls, nachlässig gekleidet zu sein, nicht erwehren konnte. Barlows rasierter Kopf sah aus wie frisch gewachst – was er, wie Horatio dachte, vermutlich auch war. Über einem Ohr prangte eine frische Schnittwunde. »Ja, die unerlässliche, lebensnotwendige Arbeit eines Waffenhändlers«, sagte Horatio. »Sie mögen einen Teil Ihrer Ware vor uns versteckt haben, Mr Barlow, aber Ihre Zeit im illegalen
Waffenhandel ist vorbei. Wir werden Sie von jetzt an genau im Auge behalten, und soweit ich weiß, werden Sie schon bald Besuch aus dem Büro des stellvertretenden Staatsanwalts von Queens erhalten.« Barlow schüttelte den Kopf. »Dann schätze ich, werde ich vorsichtig sein müssen, was?« »Sie können mehr tun als das. Geben Sie uns die Informationen, die wir brauchen, dann können wir unsere Freunde aus NYC vielleicht überreden, Milde walten zu lassen. Die hiesigen Behörden können da eine Menge erreichen.« Barlow lächelte. »Dabei geht es wohl um die SPP 1, richtig? Die Unterwasserpistole, die Sie gesucht haben.« »Das ist richtig.« Barlow seufzte. »Schätze, ich kann Ihnen ein paar Informationen über den Verbleib der Waffe liefern. Wenn ich Ihnen die Information gebe, können Sie mir dann zusichern, dass ich nicht wegen falscher Angaben bei der Erstattung der Diebstahlsanzeige belangt werde?« »Falls«, grollte Tripp, »besagte Information korrekt ist, sehe ich kein Problem.« »Dann denke ich, kann ich Ihnen helfen«, sagte Barlow aalglatt. »Ich habe die Waffe.« Horatio musterte ihn eingehend, ehe er antwortete. »Und Sie sind bereit, uns die Waffe auszuhändigen?« »Sicher. Hab ja kein Verbrechen damit begangen.« Alexx öffnete die Schublade. »Janice Stonecutter«, sagte sie zu Delko. »Ich habe mein Bestes getan, um sie wieder zusammenzuflicken, aber sie war ziemlich arg zerschnitten.« Sie zog das Tuch zurück, mit dem die Leiche bedeckt war. Delko nickte. »Ja. Ich will dir nicht zu nahe treten, Alexx, aber ich denke, du könntest etwas übersehen haben. Etwas, das alle übersehen haben.«
Die hochgezogenen Brauen in Alexx’ Gesicht verrieten ihm, dass sie sich über diese Feststellung nicht gerade freute. »Und was genau suchst du?« »Die letzten Worte einer toten Frau«, murmelte Delko. »Abgesehen davon, dass es sich vielleicht nicht um Worte handelt.« Mit der beleuchteten Lupe, die er in der Hand hielt, wanderte er langsam über den Torso der Toten und untersuchte die Nähte, die ihn durchzogen. Es waren so viele, dass ihre Haut aussah wie eine Flickendecke aus Fleisch und Blut. »Mir ist eingefallen, dass Janice lange Fingernägel hatte. Wir haben unter ihren Nägeln nichts gefunden, aber das heißt nicht, dass sie sie nicht benutzt hat. Ich denke aber, sie hat sie nicht gegen ihre Angreifer eingesetzt, sondern an ihrem eigenen Körper.« »Du meinst, sie hat sich eine Botschaft in die eigene Haut geritzt?« »Ja. Das war das einzige Werkzeug und die einzige Schreiboberfläche, die sie hatte. Je nachdem, wie sie gefesselt war, konnte sie nur einen begrenzten Teil des eigenen Körpers mit den Fingern erreichen. Und wäre das ein Bereich außerhalb ihres Torsos gewesen, dann hättest du es bestimmt gesehen.« »Hmpf«, machte Alex nur geringfügig besänftigt. »Also denkst du, es war ihr Bauch.« »Sag du es mir«, entgegnete Delko. Er hielt die Lupe ruhig und winkte ihr zu, selbst einen Blick hindurchzuwerfen. Sie tat ihm den Gefallen. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie beschämt aus. »Eric, es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie ich das habe übersehen …« »Hey, mir ist es zuerst auch nicht aufgefallen, weißt du noch?«, entgegnete Delko. »Halten wir uns lieber nicht mit Schuldzuweisungen auf. Die Frage lautet, was hat sie versucht, uns mitzuteilen?«
»Kommt darauf an, was das Symbol darstellt.« Der Kratzer, den Delko gefunden hatte, hatte die Form eines X mit einer vertikalen Linie in der Mitte. Wenn man nicht direkt danach suchte, verschwand es einfach in der Menge ihrer Verletzungen. »Oh, ich weiß, was es darstellt«, sagte Delko erbittert. »Was ich nicht weiß, ist, was es bedeutet.« »Die gute oder die schlechte Neuigkeit zuerst?«, fragte Calleigh. Sie war mit Horatio im ballistischen Labor, wo sie soeben die Untersuchung von Barlows Pistole abgeschlossen hatte. »Ich nehme die schlechte«, antwortete Horatio. »Das ist nicht die Waffe, die benutzt wurde, um David Stonecutter zu töten«, sagte Calleigh. »Ich glaube nicht, dass diese Waffe überhaupt in jüngster Zeit benutzt wurde. Und wenn es auch möglich ist, dass Avery Barlow uns einfach die falsche Waffe angedreht hat, können wir doch nicht beweisen, dass es mehr als eine davon gibt.« »In Ordnung … aber wenn das nicht die Mordwaffe ist – warum hat er sie dann als gestohlen gemeldet?« »Vielleicht hat er einfach eine Gelegenheit gesehen, sich die schlampige Buchführung eines anderen zunutze zu machen. Die Waffe wird aus seinem Warenbestand gestrichen, und er kann sie verkaufen, ohne die Einnahme zu verbuchen.« »Das ist eine Möglichkeit. Und die gute Nachricht?« »Während er gerade in kooperativer Stimmung war, habe ich Mr Barlow nach dem Farallon Shark Dart gefragt. Als er erfahren hat, dass die Dinger nicht illegal sind, war er bereit, mir ein paar Informationen über ein oder zwei dieser Waffen zu liefern, die durch seine Hände gegangen sind.« »Hast du Adressen von ihm bekommen?« Mit einem Lächeln zog sie eine kurze Liste aus der Tasche ihres Laborkittels. »Ja.«
»Na schön«, sagte Horatio. »Vielleicht erweist sich Mr Barlow ja doch noch als tugendhafter Bürger.« Horatio war nicht überrascht, als die Ermittlungen ins Stocken gerieten. Das hatte nichts mit der Sorgfalt seiner Ermittler zu tun oder mit einem Mangel an Beweisen. Es lag schlicht daran, dass viele der Spuren scheinbar in eine Sackgasse geführt hatten. Aber Horatio wusste es besser. Ezekial Redfield hatte ein Aquarium in Georgia besucht, als die Stonecutters ermordet worden waren, aber sein Verbleib in der Zeit von Gabrielle Cavanaughs Ermordung war weniger überzeugend. Sich zu Hause Arielle, die Meerjungfrau 2 anzusehen konnte kaum als wasserdichtes Alibi durchgehen, obwohl Horatio annahm, dass Redfield vermutlich auch in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte. Avery Barlow behauptete, seine Geschäfte größtenteils von seiner Wohnung aus zu erledigen, und er war online gewesen, als Gabrielle Cavanaugh verschwunden und Janice Stonecutter gefoltert worden war. Seine Computerdaten schienen seine Angaben zu untermauern. Was die drei Farallon Shark Darts betraf, die Barlow geund verkauft hatte, so waren zwei von ihnen außer Landes gegangen, einer nach Europa und der andere nach Südamerika. Der letzte war an einen mürrischen, siebzehnjährigen Punkrocker in Little Haiti verkauft worden, der Horatio die Waffe nur widerstrebend übergab, nachdem dieser ein überaus höfliches Gespräch mit ihm geführt hatte. Der Bengel hatte den Schaft bis auf einen kurzen Handgriff gekürzt und mit Isolierband umwickelt, sodass eine Stoßwaffe daraus wurde. Calleigh untersuchte sie, um ganz sicherzugehen, aber ein einziger Blick verriet ihr, dass der volle CO2-Kanister eine sichere Rostverbindung mit dem
Rahmen eingegangen war und dass das Gerät vermutlich nie benutzt worden war. Und dann hatte Delko Horatio gezeigt, was er entdeckt hatte. Horatio studierte das Foto mit dem Mal auf Janice Stonecutters Bauch und sagte: »Du hast recht. Die Verletzung ist nur oberflächlich und ganz anders als der Rest.« »Erkennst du es?«, fragte Delko. »Das tue ich. Es ist ein Buchstabe des kyrillischen Alphabets, wenn ich auch nicht weiß, welcher.« »Der kyrillische Buchstabe Ж wird im Englischen durch ›Zh‹ transkribiert«, erklärte Delko. »Wie in ›Zhivago‹.« »Und«, entgegnete Horatio erbittert, »wie in Doktor Nicole Zhenko.« So ist das, wenn man in einem Fall nicht weiterzukommen scheint, dachte Horatio. Man muss nur die richtigen Fäden ziehen, schon steht man wieder am Anfang. Calleigh hatte es gern ordentlich. Sie mochte es, wenn ihre Waffen gereinigt, geölt und ordnungsgemäß verstaut waren und ihre Munitionskästen sortiert und sauber beschriftet und wie ihre Papierzielscheiben in der richtigen Schublade lagen. Wenn sie nicht mit einem Fall beschäftigt war, widmete sie jede Woche einen Teil ihrer Zeit ausschließlich der Pflege ihres Arbeitsplatzes und sorgte dafür, dass alles an seinem Platz war. Arbeitete sie jedoch an einem Fall, so folgte sie gänzlich anderen Prioritäten – und trotzdem versuchte sie immer noch, die Ordnung zu wahren. Sie war gerade dabei, ein wenig aufzuräumen, als Wolfe hereinkam und sie fragte, ob sie eine Minute für ihn opfern könnte. »Sicher, Ryan«, sagte sie, während sie einen Aktenordner in eine Schublade legte und die Lade schloss. »Was gibt es?« »Ich habe zwei verschiedene Dinge zu erledigen, und wollte fragen, ob du mir eines davon abnehmen könntest?«
»Habe ich die freie Auswahl?« Er zögerte. »Eigentlich hatte ich gehofft …« Sie seufzte. »Lass mich raten. Eine Sache findet im Labor statt, die andere im Außendienst?« »Na ja …« »Ich übernehme das Labor.« Er lächelte. »Gut. Genau darum habe ich dich bitten wollen.« Sie musterte ihn misstrauisch. »Warte mal, das ging zu einfach. Entweder hast du vor, Verdächtige in einem Striplokal zu vernehmen, oder die Laborarbeit beinhaltet irgendwas ausgesprochen Abstoßendes.« »Nein. Eigentlich will ich nur nach Verdant Springs, um mit einer Frau über eine mögliche sexuelle Nötigung zu sprechen.« »Und die Laborarbeit?« »Ein Vergleich von handelsüblichen Latexproben mit dem Fetzen, den wir unter Gabrielle Cavanaughs Fingernägeln gefunden haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Okay, ich begreife es nicht. Du verzichtest freiwillig auf echte wissenschaftliche Arbeit, um stattdessen ein Gespräch mit einer Fremden zu führen? Was ist passiert?« Wolfe zuckte mit den Schultern. »Ich folge nur Horatios Rat. Der Umgang mit der Öffentlichkeit ist Teil unseres Jobs, richtig?« »Absolut. Ein Vorschlag gefällig?« »Der wäre?« »Versuch, die Aliens und ihre Eiscremestrahlen nicht zu erwähnen. Die Leute sehen einen dann immer so komisch an.« Horatio verbrachte nicht viel Zeit in seinem Büro, aber jetzt saß er hinter dem Schreibtisch. Die Lampen hatte er nicht eingeschaltet, sodass nur durch die Schlitze in den Lamellenrollos
Licht in den Raum eindrang. Er hielt die Hände vor das Gesicht, die Fingerspitzen aneinandergelegt, und starrte gedankenverloren ins Nichts. Wie andere Ermittler auch hoffte Horatio, möglichst viele Antworten zu kennen, ehe er anfing, Fragen zu stellen. Die Nachforschungen, die er ursprünglich über Doktor Zhenko angestellt hatte, hatten vorwiegend dazu gedient, ihren Status als Wissenschaftlerin zu ergründen, weder ihre Vergangenheit als Aktivistin noch der Verlust ihrer Beine waren in den Artikeln, die er bei diesen Nachforschungen gefunden hatte, erwähnt worden. Erst nach ihrer ersten Begegnung hatte er ein bisschen tiefer gegraben – teils aus Neugier, teils aus einem instinktiven Gefühl heraus – und einige dunklere Details aus ihrer Vergangenheit ans Licht befördert. Ihre Beine hatte ihr ein Tigerhai bei einem Tauchgang in der Nähe des Great Barrier Reef in Australien abgebissen. Die zweifache Amputation oberhalb des Knies hatte nicht gereicht, sie vom Wasser fernzuhalten, aber sie hatte ihre Prioritäten verändert. Nach dem Haiangriff hatte sie sich der Animal Liberation Alliance angeschlossen, einer Gruppe militanter Tierschützer, deren Vorgehensweise an Ökoterrorismus grenzte. Eine Grenze, die offenbar vor zwei Jahren überschritten worden war, als gleich mehrere Mitglieder während einer Demonstration im Fischereihafen festgenommen wurden. Jemand hatte Sprengladungen am Rumpf von sieben Schleppnetzbooten angebracht, jemand, der sich sowohl mit dem Tauchen auskannte wie auch mit dem Vorgang einer Unterwasserexplosion. Doktor Zhenko hatte genügend Taucherfahrung, aber – soweit Horatio es beurteilen konnte – keine Erfahrung mit dem Umgang von Sprengstoff. Der Mörder, den Horatio jagte, musste nicht notwendigerweise einen militärischen Hintergrund haben, er hatte eher eine tiefe Abneigung gegen die Navy.
Er … oder sie. Dass Doktor Zhenko nicht gerade erfreut darüber war, wie die Navy mit Delfinen umging, war offensichtlich. Und bis jetzt gab es, abgesehen von den Vergewaltigungen, keinen Beweis dafür, dass der Mörder männlich sein musste. Doktor Zhenko hatte bereits demonstriert, dass sie im Umgang mit ihren Prothesen äußerst souverän war. Und Vergewaltigung hatte, wie Horatio wusste, weniger mit sexueller Erleichterung zu tun als mit der Ausübung von Gewalt und Kontrolle. Zwar gab es nur wenige weibliche Serienkiller, aber sie existierten. Und einer jener Auslöser, die einen Serienmörder dazu trieben, das Reich der Fantasie zu verlassen und tatsächlich zu morden, war ein traumatisches Ereignis – beispielsweise eine Arbeitsstelle zu verlieren, einen Partner, ein Elternteil. Auch ein Körperglied? Horatio hörte Stimmen hinter der Tür. Polizisten und Büroangestellte, die über Fälle diskutierten, sich einfach nur unterhielten und dann und wann vernehmlich lachten. Darunter lag das permanente Summen der Klimaanlage. In der kühlen, muffigen Dunkelheit fühlte er sich beinahe, als wäre er unter Wasser.
9
Horatio parkte den Hummer und stieg aus. Auf dem Bürgersteig hielt er inne und setzte seine Sonnenbrille auf. Die Hitze, die von dem Zementboden aufstieg, gab ihm das Gefühl, auf einem Backblech zu stehen. Für einen Moment musterte er das Gebäude, vor dem er stand, und versuchte, ein Gefühl für diesen Ort zu entwickeln. Das Hauptquartier der Animal Liberation Alliance war in einem Gebrauchtwarenladen mit einer hölzernen Tür untergebracht, deren gelbe Farbe bereits abblätterte. Neben der Tür befand sich ein schmutziges Fenster, auf dem in verblassendem Grün die Worte »ALA Gebrauchtwarenhandel für wohltätige Zwecke« zu lesen waren. Jenseits der Glasscheibe waren einige wenige Gegenstände zu sehen: ein Weidenkorb voller Golfschläger, einige Key-West-T-Shirts, eine Auslage mit Sonnenbrillen und ein paar leblose Pelztiere, allerdings aus Plüsch und nicht ausgestopft. Horatio zog die Tür auf und ging hinein. Im Inneren war es heiß, die Luft drückend und stickig. Staub schwebte schwerfällig durch die Luft, zu träge, um zu tanzen. Der Raum selbst war lang und schmal und vollgestopft mit Kleiderregalen und auf dem Boden liegenden Pappkartons, die vor Baseballkappen mit Werbeschriftzügen und billigen Tüchern überquollen. Alles hüllte sich in den Gestank von altem Polyester, als hätte jemand eine Art Insektenspray versprüht, das in erster Linie dazu diente, alles abzuwehren, was nicht alt war. Eine Vitrine diente gleichzeitig als Ladentisch. Auf ihr stand eine Registrierkasse und hinter ihr ein gelangweilt ausse-
hender Mann. In der Vitrine lagen verschiedene Uhren, Ringe und Ketten, die nicht so aussahen, als wären sie das Glas wert, das sie schützte. Der Mann war in den Vierzigern, hatte ein langes, blasses Gesicht, dünnes braunes Haar, das einen mit Sommersprossen überzogenen Kopf umrahmte, und einen großen Mund mit schmalen Lippen. Er trug ein ausgewaschenes orangefarbenes T-Shirt, braune Shorts und Nylonsandalen und war allein in dem Geschäft. Neben der Registrierkasse lag ein Stapel Fotokopien. Horatio ergriff eines der Blätter und studierte den Text. Der erwies sich als wirres Pamphlet gegen die Ausbeutung von Tieren, zu dem auch körnige Schwarz-Weiß-Bilder aus Schlachthäusern und ein detaillierter Bericht über die Praktiken der Rindfleisch-, Geflügel- und Pelztierindustrie gehörten. Er endete mit der Bitte um Spenden und einem Hinweis, wohin die Spenden geschickt werden sollten. »Wir führen keine tierischen Produkte welcher Art auch immer«, verkündete der Mann hinter dem Ladentisch. »Kein Leder, keine Pelze, nicht einmal Wolle.« »Lobenswert«, sagte Horatio, schlug seine Jacke zurück und offenbarte die Marke, die an seinem Gürtel steckte. »Und Sie sind?« »Malcolm. Torrence«, antwortete der Mann, dessen Ton nun ein wenig kälter und formeller klang. »Gibt es ein Problem?« »Das kommt ganz darauf an, Malcolm. Ich suche einen Kollegen von Ihnen – Anatoly Kazimir. Ist er hier?« Torrence gab ein trockenes, grunzendes Gelächter von sich. »Nein. Nein, das ist er nicht. Er ist schon eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen, und er wird noch eine ganze Weile lang nicht auftauchen.« »Und was«, fragte Horatio, »soll das bedeuten?« »Es bedeutet, dass er nicht da ist.«
Horatio lächelte. Es war kein besonders frohes Lächeln, aber Malcolm schien das nicht zu stören. »So viel habe ich verstanden, Malcolm. Da seine Abwesenheit ein Loch in meinem Terminkalender hinterlässt, möchten Sie vielleicht seinen Platz einnehmen.« Malcolm stierte ihn aus Augen an, so ausdruckslos, als wären sie aus Glas. »Was ich im Sinn hatte«, fuhr Horatio fort, »war ein nettes, langes Fragespiel mit leicht modifizierten Regeln, und das bedeutet, dass ich Ihnen so viele Fragen stelle, wie mir einfallen … und Sie werden bestraft, wenn Sie eine falsche Antwort geben.« Horarios Lächeln wurde noch etwas breiter. »Ich würde dieses Spiel lieber mit Mr Kazimir spielen, aber wenn er nicht verfügbar ist, nehme ich an, werden Sie mir genügen müssen.« »Okay, verstanden. Aber ich habe etwas zu sagen, ehe ich Ihnen erzähle, wo er ist.« »Nur zu.« »Ihr Jungs seid alle gleich. Große Kanonen in Lederholstern. Wenn man an einem Cop kratzt, findet man einen Cowboy unter der Oberfläche, einen lauten Großkotz, der ständig auf irgendwas schießen will. Ihr denkt alle, ihr stündet am oberen Ende der Nahrungskette – aber das tut ihr nicht.« Horatio musterte ihn kühl, sagte aber nichts. »Wissen Sie, was dort steht?«, fuhr Malcolm fort. »Würmer. Die Würmer essen uns alle, mein Freund. Sogar Sie.« »Dann hoffe ich, sie mögen Gebratenes«, entgegnete Horatio, »denn ich überlege ernsthaft, mich einäschern zu lassen. Also – wo ist Anatoly Kazimir?« Und Malcolm erzählte es ihm. »Dass du Janice Stonecutters Nachricht gefunden hast, war gute Arbeit«, sagte Calleigh, die im Labor damit beschäftigt
war, Wolfes Latexproben für die Untersuchung vorzubereiten. »Danke«, sagte Delko und schlüpfte in seinen Laborkittel. »Ich glaube allerdings nicht, dass Alexx sehr erfreut darüber war.« »Ach, die ist nur wütend auf sich selbst. Manchmal konzentrieren wir uns so sehr auf die verborgenen Details, dass die offensichtlicheren Informationen dabei verloren gehen. Das ist uns allen schon passiert. Ich denke, sie nimmt das nur ein bisschen zu persönlich.« »Hoffen wir, dass sie es nicht an mir auslässt. Im Pausenraum hat sie mir einen Blick zugeworfen, der Wodka hätte gefrieren lassen können. Woran arbeitest du?« »Ich versuche, herauszufinden, woher das Stück Latex stammt, das wir unter Gabrielle Cavanaughs Fingernagel gefunden haben.« »So? Ich dachte, Wolfe würde das machen.« »Er folgt einer Spur im Zusammenhang mit einer Frau, die Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde. Wusstest du, dass Opium auch so etwas wie Latex ist?« Delko ging zu ihr und begutachtete die Proben, die sie auf dem Tisch ausgelegt hatte. »Ja, man macht Schnitte in die Samenkapseln und fängt die Flüssigkeit auf, die hinausläuft. Ähnlich, wie man es bei Kautschukbäumen macht. Warum? Denkst du, unser Mörder ist auch ein Junkie?« »Nein, ich werfe nur mit Belanglosigkeiten um mich«, sagte sie vergnügt. »In der Schule war ›Mit-meinem-Wissen-ummich-Werfen‹ mein Lieblingssport.« »Meiner war ›Mich-in-der-Pause-mit-Mädchen-unterhalten‹, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Na ja, jedenfalls ohne in große Schwierigkeiten zu geraten.« Delko grinste. »Jedenfalls«, sagte Calleigh mit hochgezogenen Brauen, »gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, Latex zu formen. Um Schaumgummi, Gummifäden und Klebgummi müssen wir uns nicht kümmern, also bleiben uns noch drei Möglichkeiten.
Die erste Methode ist das Tauchen: Eine Form aus Porzellan oder Glas wird erst in Kalziumnitrat und dann in ein Latexbad getaucht und danach getrocknet und vulkanisiert. So entstehen Handschuhe, Ballons und Kondome.« »Ob es dabei je zu Verwechslungen gekommen ist?« »Ich hoffe nicht. Wenn ich mir das nächste Mal Handschuhe anziehe, möchte ich weder Noppen noch ein Spermadepot an der Fingerspitze vorfinden. Die zweite Methode ist das Gießverfahren. Es wird dazu benutzt, Formen herzustellen, mit denen Gegenstände angefertigt werden, die aus Materialien bestehen, die schon bei niedrigen Temperaturen fest werden – Gips beispielsweise. Das ist in vielerlei Hinsicht sehr nützlich, hauptsächlich für die Produktion von Spielzeug, aber auch für archäologische Abdrücke oder fürs Theater.« »Und wenn man größere Mengen braucht?« »Dann werden daraus Platten oder Folien gepresst, beispielsweise für den Einsatz in der Bekleidungsindustrie.« »Und die dritte Möglichkeit?« »Flüssiglatex. Es vulkanisiert automatisch bei Raumtemperatur, und der Hauptbestandteil ist gutes altes H2O. Eine typische Zusammensetzung wäre etwa vierunddreißig Prozent natürlicher Latexsaft, fünfundsechzig Prozent Wasser und null Komma drei Prozent Ammoniak. Ammoniak wird zugesetzt, um den pH-Wert stabil zu halten und es besser lagern zu können. Nach fünf bis zehn Minuten ist es möglich, es anzufassen, nach einer Stunde ist es durchgetrocknet und nach ungefähr vier Stunden vulkanisiert. Es haftet dauerhaft an allem, was porös genug ist, um es aufzusaugen.« »Gut. Was ist mit der Farbe?« »Latex ist normalerweise durchscheinend, aber man kann es in jeder beliebigen Farbe einfärben. Sieh es dir selbst an.« Sie deutete auf das Vergleichsmikroskop und den Objektträger, den sie gerade erst eingelegt hatte.
Delko warf einen Blick darauf. »Dunkelblau und glänzend«, sagte er. »Genau wie die Probe, die du gerade dazugelegt hast. Sieht für mich nach einem Treffer aus.« »Das denke ich auch«, bestätigte sie. »Es ist eine Handelssorte mit dem Namen Supatex Pearlsheen. Sehr markant. Ich werde schauen, ob ich eine Liste ihrer Vertriebsstellen bekommen kann. Und was machst du gerade?« »H. will, dass ich Hintergrundinformationen über eine Gruppe beschaffe, die sich Animal Liberation Alliance nennt – offenbar unterhalten die irgendwelche Verbindungen nach Russland.« »Das kommt davon, wenn man mehrere Sprachen beherrscht.« Delko grinste. »Na ja, du weißt doch, was man so sagt: Ту detka, eto mnje do huja.« Calleigh zog die Brauen hoch. »Ich weiß zwar nicht, was das bedeutet«, sagte sie, »aber irgendwie glaube ich auch nicht, dass ich es wissen will.« Die Stationsschwester, die die Druckkammertherapiepatienten des South Miami Hospital betreute, war eine kleine, schwarze Frau in fortgeschrittenem Alter, deren weißer Schopf an eine Pusteblume erinnerte. Horatio wies sich aus, sagte ihr, zu wem er wollte, und folgte ihr den Korridor hinunter zu einer Tür, auf der ein großes Schild den Gebrauch offener Flammen untersagte. Dahinter befand sich ein hellgelber Metallzylinder von der Größe eines Cadillacs. An einem Ende des Zylinders gab es eine runde Luke für den Einstieg. Seitlich war ein rechteckiges Steuerpult angebracht, und gleich daneben gab ein gekrümmtes Plexiglasfenster den Blick in das Innere frei. Allerdings wurde die Plexiglasscheibe zum größten Teil von einem Fernseher verdeckt, der, mit dem Bildschirm dem Zylinder zugewandt,
auf einem rollbaren Tisch stand. Inmitten des scharfen Geruchs medizinischer Desinfektionsmittel verströmte gerade eine Seifenoper ihren melodramatischen Duft. Horatio trat näher und schob den Fernsehtisch aus dem Weg. Der Patient in der Überdruckkammer, ein stämmiger Mann mit einem struppigen schwarzen Bart, blickte ihn ebenso erstaunt wie verärgert an. Horatio unterdrückte das Verlangen, an das Glas zu pochen und Führerschein und Fahrzeugschein zu verlangen. »Hallo, Mr Kazimir«, sagte Horatio und zeigte ihm seine Marke. »Ich bin Lieutenant Horatio Caine. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.« Der Mann zuckte mit den Schultern. Er trug einen weißen Baumwollschlafanzug und lag, mit dem Rücken aufgerichtet, auf einer Bettdecke. Durch den Druck in der Kammer klang seine Stimme hoch und quietschend. Ein russischer Akzent prägte seine Aussprache, und Horatio kam sich vor, als würde er mit einer Figur aus einer alten Rocky-and-Bullwinkle-Folge sprechen. »Warum nicht«, quäkte der Mann. »Ich habe so oder so nichts Besseres zu tun.« »Soweit ich weiß, hatten Sie einen Tauchunfall.« »Das war kein Unfall, das war Dummheit. Zu viele Dinge auf einmal.« »Es tut mir leid, aber ich verstehe Sie nicht. Welche Dinge?« Kazimir kratzte sich unter dem Kinn. »Tauchen Sie?« »Ich selbst nicht, nein.« »Beim Tauchen muss man vieles bedenken. Viele Tabellen, viele Diagramme: Tiefe, Aufenthaltsdauer unter Wasser, Aufstiegszeit, Atemgaszusammensetzung. Den Teil mache ich gut. Aber man muss auch an sich selbst denken – wie man sich fühlt, wie müde man ist, wie viel man geschlafen hat. Den Teil beherrsche ich weniger gut.«
»Was genau ist passiert?« »War Tauchen bei den Tenneco Towers. Kennen Sie die? Bohrinseln, drei Stück. Die hat man mit Schleppkähnen aus dem Golf von Mexiko geholt und 1985 versenkt. Ein wunderschöner Tauchplatz – Tassenkorallen, überall auf sämtlichen Trägern. Wenn sie sich bei Nacht öffnen, sehen sie aus wie brennende Blumen. Hunderte Fischarten – Barrakudas, Seriolafische, Bullenhaie. Der tiefste Turm liegt beinahe sechzig Meter tief – das ist schon technisches Tauchen. Ich habe so etwas schon früher gemacht, aber dieses Mal ging es mir nicht so gut. Ich dachte, ich hätte mich vielleicht erkältet oder etwas Verdorbenes gegessen. Wie sich herausstellte, habe ich einfach nicht gut genug aufgepasst.« »Und sich dabei die Dekompressionskrankheit eingefangen.« Die Taucherkrankheit, wie es umgangssprachlich hieß, wurde durch Stickstoffblasen verursacht, die zu schnell aus dem Körpergewebe austraten. Nach jeweils zehn Meter Tiefe nahm der Druck um rund ein Bar zu, wovon mehr als drei Viertel auf den Stickstoff entfielen. Je mehr der Druck stieg, desto mehr Stickstoff wurde im Blut gelöst und drang dabei in Muskeln und Organe vor. Horatio hatte einmal gehört, wie Delko den Vorgang mit dem Kohlendioxid in einer Flasche Sprudelwasser verglichen hatte: Solange die Flasche nicht geöffnet wurde, war das CO2 in der Flüssigkeit unsichtbar, nahm man aber den Deckel ab, fiel der Druck in der Flasche abrupt ab, und das Gas stieg blasenförmig an die Oberfläche. »Ein Taucher, der zu schnell auftaucht«, hatte Delko ihm erklärt, »das ist, als hätte man die Flasche vor dem Öffnen geschüttelt. Der ganze Körper scheint zu brodeln – das mag sich anhören, als würde es lediglich kitzeln, aber so ist es nicht.« Kazimir schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »Es war meine Schuld. Na ja, meine und die der verdammten Na-
vy-Tabellen. Aber jeder Taucher sollte klug genug sein, sich nicht darauf zu verlassen.« »So? Denken Sie, die Navy trägt einen Teil der Schuld?« Kazimir rieb sich die Schläfen mit Daumen und Zeigefinger. »Diese nedodelannyj Kopfschmerzen bringen mich noch um«, grummelte er. »Wissen Sie, was das Schlimmste an der Taucherkrankheit ist? Man wird oblom. Ich kenne da einen Taucher. Sein einziges Symptom war, dass er ein absoluter Pidaras geworden ist. Ist gefeuert worden, seine Frau hat ihn verlassen, und die Leute haben gedacht, er wäre verrückt. Dann haben sie ihn in so eine Kammer wie diese gesteckt, und plötzlich war er wieder ganz vernünftig.« »Ich hoffe, Sie leiden nicht unter neurologischen Symptomen.« »Ich? Nein, ich war schon ein Pidaras, bevor ich hier gelandet bin.« Kazimir kicherte, ein unheimlicher, dünner Laut. »Aber man kann nie wissen. Mein Erinnerungsvermögen funktioniert nicht mehr, seit ich hier angekommen bin.« Der Mann lächelte scheinbar aufrichtig, aber Horatio erkannte eine Ausrede, wenn er sie hörte. »Dann werde ich es nicht überstrapazieren«, sagte er. »Wie lange sind Sie schon hier?« »Im Krankenhaus? Beinahe eine Woche. Ich muss nur ein paar Stunden am Tag in der Kammer verbringen, aber ich werde mindestens zwei Monate lang nicht tauchen können. Fliegen auch nicht.« Horatio nickte. Kazimir konnte auf keinen Fall für einen der Überfälle verantwortlich sein, aber das bedeutete nicht, dass er nicht trotzdem darin verwickelt sein konnte. »Und was ist mit Ihren Aktivitäten in der ALA? Werden die auch darunter leiden müssen?« Kazimirs Lächeln wurde breiter. »Ah, endlich rücken Sie mit der Sprache heraus. Wissen Sie was, Mr Lieutenant? Die-
ser Unfall hat mich fertiggemacht. Ich denke, ich werde einfach hierbleiben, werde sicher in meiner kleinen Metallschale verharren und mich in einen Einsiedlerkrebs verwandeln. Und ich werde nicht länger wütend auf all die bösen Menschen auf der Welt sein.« Der Spott in seinen Worten verlor durch die hohe, quäkende Stimme deutlich an Gewicht. Horatio ertappte sich dabei, ein Lächeln bekämpfen zu müssen, und er ermahnte sich in Gedanken, nicht zu vergessen, warum er gekommen war und mit dem Mann hatte sprechen wollen. »Wissen Sie, Mr Kazimir, ich finde, das ist schwer zu glauben. In Bezug auf den Tierschutz haben Sie eine ebenso lange wie farbenfrohe Geschichte vorzuweisen – manche Leute würden sagen, Sie machen sich mehr Sorgen um Tiere als um Menschen.« »Soll das eine Beleidigung sein? Tiere folgen immer ihrer Natur. Menschen? Pah. Ich würde es jederzeit lieber mit einem wilden Tier aufnehmen als mit einem zivilisierten Artgenossen.« Für einen Moment litt Horatio unter dem machtvollen Gefühl, er stritte sich mit einer militanten Mickymaus. »Wilde Tiere benutzen keinen Sprengstoff, um ihre Ideen rüberzubringen, Mr Kazimir.« »Ich bin nicht daran interessiert, Ideen zu erklären, Mr Lieutenant. Was ich will, ist Veränderung. Echte Veränderung. Und das erreicht man nicht, wenn man nur mit Petitionen und Plakaten winkt.« »Ich kenne ein paar Bürgerrechtsaktivisten, die anderer Meinung wären, aber das ist im Moment nicht wichtig. Wichtig für Sie, Anatoly, ist, dass ich nicht Ihrer Meinung bin.« Kazimir winkte nur ab und drehte sich weg. Horatio schlug mit der flachen Hand an das Plexiglas. Der Aufprall war laut genug, um Kazimirs Blick wieder zurückzuholen. Horatio beugte sich herab und sah ihm lange und tief in die Augen.
»Ich werde mit Ihnen nicht über Ethik streiten, Anatoly. Ich mag keine Bomben, und Leute, die Bomben legen, mag ich noch weniger. Machen Sie noch so einen Fehler wie den mit den Fischerbooten, und ich werde hinter Ihnen her sein.« Der Blick, mit dem Kazimir ihn bedachte, wirkte eher irritiert als eingeschüchtert. »Das mit den Booten ist lange her. Warum sind Sie wirklich hier?« »Ich bin gekommen, um Ihnen ein Geschenk zu machen«, sagte Horatio, zog ein Stück Papier aus der Innentasche, faltete es auseinander und drückte es flach an die Plexiglasscheibe. »Eine gerichtliche Anordnung zur Aushändigung der Mitgliederliste der ALA. Sehen Sie? Wie sehr Sie auch den Rechtsstaat missachten mögen, für uns zivilisierte Typen kann er durchaus nützlich sein.« Die Frau, mit der Wolfe sich unterhalten wollte, lebte nicht im Stadtgebiet von Miami, sondern ein Stück weit die Küste hinauf in einer kleinen Stadt namens Verdant Springs. Keiner der Hummer des Departments war verfügbar, also begnügte er sich mit einer mittelgroßen Limousine aus dem Fuhrpark und kämpfte sich durch eine scheinbar endlose Flut langsam fahrender Wohnmobile und vierradgetriebener Fahrzeuge, die Boote auf Anhängern nach sich zogen. Die Klimaanlage des Wagens funktionierte nicht richtig, sie pumpte nur heiße, feuchte Luft herein, sonst geschah nichts. Das Fahren mit zwei heruntergelassenen Scheiben war nur eine marginale Verbesserung. Schon lange, bevor er sein Ziel erreicht hatte, war er erhitzt und verschwitzt und mindestens zweimal von Kamikazeinsekten an der Stirn getroffen worden. Das kühle, blaue Nass des Atlantiks neben der Straße zog ihn magisch an, und schließlich steuerte er auf eine Tankstelle zu, kaufte sich eine Flasche gekühlten Eistee von der Größe eines Wassereimers und schüttete die Hälfte des Inhalts in sich hinein.
Der Name der Frau lautete Eileen Bartstow, und sie lebte am Stadtrand. Ihr Garten war klein und gepflegt, ihr Haus ein Wohnwagen von doppelter Breite mit einem Sockel aus Holz und einem Satz Betonstufen vor der Eingangstür. Der Wohnwagen selbst war in Sonnengelb und Eierschalenweiß gestrichen, und hinter den Fenstern hingen Vorhänge mit einem Rosenmuster. Als Wolfe klingelte, hörte er die ersten Takte von »Raindrops Keep Falling on My Head« im Inneren erklingen. Die Tür wurde geöffnet. Auf der Schwelle stand eine Frau in den Dreißigern, deren blondes Haar zu einem Knoten auf dem Hinterkopf hochgesteckt war. Sie trug ein blassrosafarbenes leichtes Sommerkleid, Flip-Flops und einen argwöhnischen Gesichtsausdruck. »Ja?« »Mrs Bartstow? Mein Name ist Wolfe. Ich komme vom kriminaltechnischen Labor von Miami-Dade«, sagte er. »Es heißt Miss. Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?« Er zog seinen Ausweis hervor und zeigte ihn ihr. Sie studierte ihn äußerst ernsthaft und nickte dann. »Kommen Sie rein.« Sie führte ihn in einen kleinen kombinierten Koch- und Essbereich gleich jenseits der Tür und stellte einen Holzstuhl für ihn auf. »Möchten Sie Kaffee?«, fragte sie. »Nein, danke.« Er setzte sich, schlug die Akte auf, die er mitgebracht hatte, und nahm einen Stift zur Hand. Sie schenkte sich aus der Kanne eine Tasse Kaffee ein, schüttete Milch und Zucker hinein und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Die kleine Küche war sauber und aufgeräumt und mit einer Art von Holzoptikoberfläche verkleidet, die in den Siebzigern modern gewesen war. Der Tisch hatte eine rötliche Resopalplatte mit Holzmaserung und passte exakt zu den Arbeitsflächen. »Also«, sagte sie, »wenn ich richtig informiert bin, wollen Sie mit mir über das Monster sprechen.«
Wolfe nickte. »Ja, das Monster«, sagte er in ernsthaftem Ton. »Na ja, ich bin froh, dass doch noch irgendjemand der Sache nachgeht. Inzwischen könnte das Ding jemanden getötet haben.« »Ich muss mich für die langsame Arbeit des Departments entschuldigen«, sagte Wolfe. »Gewöhnliche Polizisten sind nicht immer dazu ausgebildet, mit den eher … absonderlichen Fällen umzugehen.« »Aber Sie schon?« »Ich habe eine wissenschaftliche Ausbildung, Ma’am.« Das schien sie zu beruhigen. »Also gut. Ich schätze, Sie werden mit mir wohl noch einmal über das sprechen wollen, was passiert ist – das wollen Sie doch, richtig? Den Fall noch einmal durchgehen.« »Das wäre ein guter Anfang, ja.« Sie trank einen großen Schluck Kaffee. »Okay. Also, es ist drei Monate her. Ich war mit ein paar Freunden unterwegs. Wir wollten am Strand bei Poker Cove grillen.« Wolfe zog seine Notizen zurate. »Das waren Glen Fairgrove, Jake Landry, Elke Cummins und Fern Kwan, richtig?« »Ja. Es war ein warmer Tag, darum haben einige von uns beschlossen, schwimmen zu gehen. Wir hatten für alle Fälle unsere Badesachen mitgenommen. Fern und Glen sind ins Wasser gegangen, Elke und Jake sind am Strand geblieben. Fern und Glen haben herumgealbert, sich gegenseitig nass gespritzt und so, also dachte ich, ich schwimme ein bisschen weiter hinaus. Ich bin eine gute Schwimmerin, wissen Sie?« »Davon bin ich überzeugt.« »Ich war vielleicht fünfzig Meter weit draußen, als es passiert ist. Genau da, wo das Wasser anfängt, wirklich tief zu werden. Der Boden fällt dort ziemlich steil ab …« Sie unterbrach sich und sah plötzlich sehr aufgewühlt aus.
»Und dann?«, hakte Wolfe nach. »Etwas hat mich gepackt«, sagte sie. »Eine Hand – nein, eine Klaue. Es hat mich unter Wasser gezogen.« »Konnten Sie das … Ding sehen?« »Ja. Alle haben gesagt, ich wäre bestimmt nur verwirrt gewesen und unter Wasser könne man gar nicht richtig sehen – Na ja, ich möchte, dass Sie sich etwas anschauen. Nur eine Sekunde, ich bin sofort zurück.« Abrupt stand sie auf und verließ den Raum, nur um einen Moment später mit einem Gegenstand in der Hand zurückzukehren, den sie vor Wolfe auf den Tisch warf. »Da«, sagte sie trotzig. »Sieht die aus, als würde irgendwas mit ihr nicht in Ordnung sein?« ›Die‹ war eine Schwimmbrille. Wolfe untersuchte sie eingehend und sah, dass die Gläser weder gefärbt noch verkratzt waren und auch die Versiegelung in Ordnung war. »Nein, Ma’am«, gab er zu. »Die habe ich getragen, als mich dieses Ding unter Wasser gezogen hat. Sie ist nicht weggerutscht. Es war ein heller, sonniger Tag, und das Wasser war so klar wie … na ja, so klar wie meine Sicht.« »Und was haben Sie gesehen?« Sie blickte ihm in die Augen, und plötzlich erkannte Wolfe Zorn in ihnen, nicht nur auf ihren Angreifer, sondern auf all die Leute, mit denen sie es seither zu tun bekommen hatte, all die, die dachten, sie würde übertreiben oder sich etwas einbilden oder schlicht und einfach lügen. »Ich habe ein Monster gesehen«, sagte sie rundweg. »Es hatte eine glänzende dunkelblaue Haut wie eine Art Fisch. Es hatte eine große stachelige Rückenflosse auf dem Kopf, Flossen an Armen und Beinen und Füßen und lange, gekrümmte Klauen an den Händen. Der Kopf war … Na ja, er hatte riesige, vorstehende Augen und einen Mund voller rasiermesserscharfer Zähne. Der Rücken war rund, beinahe wie bei einem Wal.«
Wolfe dachte sehr genau über seine nächsten Worte nach, ehe er vorsichtig fragte. »Hat einer Ihrer Freunde es auch gesehen?« »Nein. Ich war zu weit von ihnen entfernt. Hätte ich nicht gerade erst Luft geholt und die Geistesgegenwart besessen, den Atem anzuhalten, wäre ich vermutlich ertrunken – oder Schlimmeres.« Ihre Stimme klang ruhig, aber ihre Hände spannten sich so fest um den Kaffeebecher, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Was ist dann passiert?« »Es hat nach mir gegriffen. Es war unter mir und hat mich runtergezogen – und dann hat es mit einer Klaue nach mir geschlagen. Hat meinen Badeanzug zerrissen und vier Schnittwunden an meinem Bauch hinterlassen.« »Waren die Verletzungen schlimm? In der Akte wird keine medizinische Untersuchung erwähnt …« »Sie waren nicht so schlimm, wirklich. Nichts, was hätte genäht werden müssen, und ich kann Ihnen heute nicht einmal mehr genau sagen, wo sie waren. Aber damals haben sie ziemlich geblutet.« »Okay. Und dann?« »Ich habe nach ihm getreten. Gegen den Kopf, so kräftig ich konnte. Es hat losgelassen, und ich bin zur Oberfläche geschwommen. Ich weiß nicht, wie tief unten ich war – so tief kann es nicht gewesen sein, weil da immer noch eine Menge Licht war –, aber der Rückweg an die Oberfläche schien ewig zu dauern. Als hätte es mich meilenweit in die Tiefe gerissen, als hätte ich längst meinen letzten Atemzug getan …« Ihre Stimme verlor sich. Dann schüttelte sie kurz den Kopf und ließ ein vages, verlegenes Lächeln aufblitzen. »Es tut mir leid, das klingt so melodramatisch. Ich neige dazu, das alles in meinem Kopf immer wieder durchzuspielen, und jedes Mal scheint es ein bisschen schlimmer und gleichzeitig weniger
real zu sein. Wie ein Albtraum, der einen immer wieder und wieder heimsucht.« »Schon in Ordnung. Brauchen Sie vielleicht ein bisschen Zeit? Wir könnten eine Pause machen.« »Nein, nein, mir geht es gut.« Wieder nahm sie einen tiefen Schluck aus ihrem Kaffeebecher, und das schien sie zu beruhigen. »Als ich wieder an der Oberfläche war, habe ich nach Luft geschnappt, tief eingeatmet und schreiend wieder ausgeatmet. Alles, woran ich denken konnte, war, dass ich die anderen wissen lassen musste, was passiert war. Nicht, weil ich dachte, sie könnten mir helfen – ich wusste einfach, dass ich sie warnen musste, damit sie fliehen konnten. So, als hätte mich ein Grizzlybär angegriffen oder so. Ist das nicht merkwürdig?« »Ich halte das eher für äußerst selbstlos«, sagte Wolfe. »Vielleicht. Jedenfalls war mein zweiter Gedanke, dass ich dem Ding nicht entkommen konnte – einem Hai kann man nicht davonschwimmen, nicht wahr? Also habe ich, obwohl ich Angst hatte, noch einmal tief Luft geholt und bin wieder untergetaucht.« Wolfe blinzelte. »Wie hat es reagiert?« »Ich schätze, ich habe es überrascht. Ich bin irgendwie abgetaucht und habe mich dann gedreht, um es anzusehen. Es hat da sozusagen im Wasser gestanden und mich beobachtet. Wissen Sie, so, wie es ein Fisch tun würde. Es hat sogar den Kopf von einer Seite zur anderen gedreht, als würde es mich erst mit einem und dann mit dem anderen Auge ansehen. Ich – Sie werden bestimmt lachen, aber ich habe die Fäuste hochgenommen. Sie wissen schon, so, wie man das vor einem Faustkampf macht. Ich habe keine Ahnung, was ich damit erreichen wollte.« »Sie haben Ihren Instinkten gehorcht«, sagte Wolfe. »Kampf oder Flucht. Ich denke, Sie haben die richtige Ent-
scheidung getroffen – wie Sie schon sagten, einem Hai kann man nicht davonschwimmen. Aber Sie können ihn davon überzeugen, dass Sie mehr Ärger machen, als ein Abendessen wert ist.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das getan habe. Aber Fern und Glen haben mich schreien gehört und sind sofort rübergeschwommen, und ich denke, ich habe das Ding gerade lange genug verwirrt, dass es nicht gemerkt hat, dass sie kamen. Es … Na ja, es hat mich noch eine Sekunde lang angesehen, und dann hat es kehrtgemacht und ist weggeschwommen. Als meine Freunde bei mir waren, war es verschwunden.« Wolfe warf einen Blick auf die Akte, blätterte kurz darin und entnahm ihr mehrere Blätter. »Wie ich sehe, hat Miss Kwan eine Aussage gemacht, aber Mr Fairgrove war nicht bereit dazu.« »Fern hat mir geglaubt, Glen nicht«, sagte sie kalt. »Jedenfalls nicht so sehr, dass er deshalb seinen guten Ruf aufs Spiel setzen wollte. Der hat gedacht, wenn er seinen Namen unter irgendein offizielles Schriftstück setzt, wäre er als eine Art Irrer gebrandmarkt.« »Äh … ja. Miss Bartstow, ich bringe das nicht gern zur Sprache, aber über einen Teil Ihrer Aussage haben wir bisher noch nicht gesprochen.« Sie seufzte verzweifelt. »Ich weiß, ich weiß.« Sie blickte ihn lange und forschend an. »Also schön, sprechen Sie es aus.« »Äh … Sie behaupten, es war … anatomisch korrekt?« Sie legte die Stirn in Falten, als wäre das nicht das, was sie von ihm zu hören erwartet hatte. »Das ist richtig. Ich konnte es wirklich gut sehen, als wir uns gegenüber waren – und es war erregt.« »Ist das der Grund, warum Sie Anzeige wegen sexueller Nötigung gestellt haben?«
»Ja. Ich weiß nicht, was es so stimuliert hat – das Aufreißen des Badeanzugs, mich unter Wasser zu ziehen, vielleicht sogar das Blut im Wasser –, aber als ich gesehen habe, in welchem Zustand es war, wusste ich, was es wollte.« Wolfe räusperte sich. »Und war es … normal?« »Menschlich, meinen Sie? In Größe und Form, ja. Aber es war genauso glänzend blau wie der Rest dieser Kreatur, und da war kein einziges Haar. Und falls es Hoden hatte, dann habe ich sie nicht gesehen.« Wolfe nickte. Für einen Moment studierte er Eileen Bartstow, ließ nicht allein ihre Worte auf sich wirken, sondern auch den Eindruck, den er von ihr als Mensch gewonnen hatte. Sie wirkte ein wenig altmodisch, ein wenig reserviert, aber nicht exzentrisch oder unausgeglichen. Sie machte nicht den Eindruck, als gehöre sie zu den Frauen, die sich nach Aufmerksamkeit sehnten oder sich damit wohlfühlten. Aber sie kam ihm in gewisser Weise vertraut vor. Als Streifenpolizist hatte er schon früher Fälle von sexueller Nötigung bearbeitet. Er hatte die verschiedensten Reaktionen seitens der Opfer erlebt: Wut und Schock, Furcht und Fassungslosigkeit, Schuldgefühle und Scham. Aber häufiger als alles andere hatte er eine merkwürdige Mischung aus verschiedenen Empfindungen erlebt, eine Art wütender Verlegenheit, und das war die Emotion, die ihm auch von Eileen Bartstow entgegenschlug. Das und eine erschöpfte Resignation – sie erwartete nicht, dass er ihr wirklich glauben würde. Aber das tat er. »Miss Bartstow, unter den Skeptikern der Grenzwissenschaften gibt es eine Redensart: Ungewöhnliche Behauptungen erfordern ungewöhnliche Beweise. Ich habe diese Aussage immer für irreführend gehalten – ob eine Behauptung ungewöhnlich ist oder nicht, ist schlicht subjektiv, während Beweise
immer objektiv sind. Unabhängig von der jeweiligen Behauptung bleibt ein Beweis stets ein Beweis.« Sie musterte ihn argwöhnisch, und er fügte hastig hinzu: »Jedenfalls, was ich sagen will, ist, dass ich glaube, Sie sagen die Wahrheit, aber was ich glaube oder nicht glaube, ist absolut bedeutungslos. Was zählt, sind die Beweise. Und wie ungewöhnlich Ihre Behauptungen auch klingen mögen, wenn es so geschehen ist, werden die Beweise Ihre Geschichte stützen – und ich ebenfalls.« »Nur, dass ich keine Beweise habe.« »Vielleicht haben Sie doch welche. Haben Sie diesen Badeanzug noch, den das Ding zerrissen hat?« Sie dachte eine Sekunde nach und sagte: »Ja. Ich glaube, ich habe ihn noch. Ich wollte ihn wegwerfen, aber … einen Moment.« Wieder stand sie auf und verließ die Küche. Als sie zurückkam, hatte Wolfe bereits einen großen Plastikbeutel auf den Tisch gelegt und ein paar Handschuhe angezogen. Er nahm ihr den Badeanzug ab, hielt ihn hoch und musterte ihn kurz. Er sah weniger zerrissen als zerschnitten aus: zerschnitten von mehreren, sehr scharfen parallelen Klingen. Wolfe packte ihn in den Beutel, den er sogleich versiegelte. »Ich werde ein paar Tests damit durchführen«, erklärte er. Nun war sie es, die ihn studierte. »Ich weiß, wie sich das alles anhört«, sagte sie. »Und wäre das nicht etwas, das ich gesehen habe, dann hätte ich es meinen Freunden gegenüber wohl nicht erwähnt und erst recht keine Anzeige erstattet. Aber dieses Ding hat mich angegriffen, und wenn es mich angegriffen hat, dann wird es auch andere angreifen. Wenn jemand sterben würde, nur weil ich Angst hatte, den Mund aufzumachen – und zwar deshalb, weil ich befürchtet hätte, für verrückt gehalten zu werden –, dann hätte ich nicht mehr mit mir leben wollen.« »Sie haben das Richtige getan«, versicherte Wolfe. »Jeder hat Angst davor, einen Narren aus sich zu machen. Aber Sie
haben absolut recht, dass man es riskieren muss, wenn man Leben retten will.«
10
»Also gut, Leute«, sagte Horatio. Er stand am Kopfende des Konferenztisches, während seine Mitarbeiter um den Tisch herum Platz genommen hatten. »Sehen wir mal, was wir haben. Eric?« »Die Animal Liberation Alliance ist seit 1990 aktiv«, begann Delko. »Gegründet von Anatoly Kazimir, einem ehemaligen Sowjet-Bürger, der es Anfang der achtziger Jahre geschafft hat, aus Russland rauszukommen. War eine Weile bei Greenpeace, aber seine Ansichten waren zu radikal, also ist er gegangen, ehe sie ihn rauswerfen konnten. Es gibt ein Gerücht, demzufolge er den Franzosen Informationen geliefert haben soll, um es ihnen heimzuzahlen.« »Meinst du damals, als die Rainbow Warrior versenkt wurde?«, fragte Calleigh. »Das hört sich nicht nach etwas an, worin ein Umweltschützer verwickelt sein könnte, ganz egal, wie extrem seine Ansichten sind.« »Kazimir ist knallhart«, sagte Delko. »Es gibt nicht allzu viele Hintergrundinformationen über ihn, aber er war angeblich beim KGB und außerdem ein ausgebildeter Kampftaucher. Den Leuten zufolge, mit denen ich mich unterhalten habe, liebt er nicht nur Tiere – er hasst auch Menschen.« »Das stimmt mit dem Eindruck überein, den ich von ihm bekommen habe«, sagte Horatio. »Irgendwelche Hinweise darauf, dass er wegen sexueller Übergriffe aufgefallen wäre?« »Nicht in diesem Land«, antwortete Delko. »Vielleicht damals in Russland, aber das werden wir nie erfahren.« »Was ist mit der Organisation selbst?«, fragte Horatio.
»Nicht groß, alles in allem gerade ein Dutzend Mitglieder: ein paar Russen, ein paar Amerikaner, die übrigen sind Europäer. Alle handverlesen von Kazimir. Wenn man der ALA beitreten will, braucht man eine Einladung und nicht zuletzt einen ziemlich eindrucksvollen Lebenslauf – und ich rede nicht von einem akademischen Grad in Ökologie. Die meisten haben einen militärischen Werdegang hinter sich.« Horatio nickte nachdenklich. »Darf ich das bitte mal sehen?« Delko reichte ihm den gewünschten Ordner, und er blätterte die Seiten durch. »Also hat sich unser Mr Kazimir seine private Söldnertruppe aufgebaut, um es mit den bösen Mächten der Menschheit aufzunehmen … und auch wenn Anatoly nicht unser Wassermann sein kann, besteht doch eine gute Chance, dass es einer seiner Rekruten ist. Gut gemacht, Eric. Calleigh, was hast du für uns?« Calleigh räusperte sich und sagte: »Das Latexmuster, das wir unter den Fingernägeln des ersten Opfers gefunden haben, stammt von einer speziellen Sorte, die unter dem Namen Supatex Pearlsheen vertrieben wird. Sie wird vor allem in der Bekleidungsindustrie verwendet.« »Jacken und Stiefel?«, fragte Wolfe. »Das ist ein ziemlich weites Feld.« »So schlimm ist es nicht«, sagte Calleigh. »Diese spezielle Qualität und Farbe wird tatsächlich vorwiegend in einem sehr kleinen Nischenmarkt verkauft. In Miami gibt es nur einen Händler, der dieses Produkt führt, und ich habe vor, ihm heute noch einen Besuch abzustatten.« Delko grinste bereits, aber Wolfe konnte den beiden nicht folgen. »Was für ein Nischenmarkt?«, fragte er. »Fetischprodukte«, antwortete Calleigh. »Mit den Stiefeln liegst du ganz richtig, aber es gibt nicht viele Leute, die hüfthohe Schnürstiefel mit fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen tragen. Oder auch Latexbodys, Latexkorsetts oder Latexstringtangas.«
»Je nachdem, wen man so kennt«, kommentierte Delko. »Oder wie viel man zuzugeben bereit ist«, konterte Calleigh. »Jedenfalls sieht es so aus, als hätte unser Mörder einen Latexfetisch, also dachte ich, ich sollte mich mal in der Szene umsehen.« »Es gibt eine Szene?«, fragte Wolfe staunend. »Eine obszöne Szene«, antwortete Delko. »Vergiss nicht, diesen Club in der Lincoln Road aufzusuchen.« »Oh?«, machte Horatio. »Gibt es irgendetwas, das du uns mitteilen möchtest, Eric?« Delko hielt abwehrend beide Hände hoch. »Oh nein«, sagte er. »Ich ziehe so etwas nur an, wenn ich vorhabe, unter Wasser zu gehen. Habt ihr überhaupt eine Vorstellung davon, wie heiß Latex ist?« »Nein, Eric, ich weiß es nicht«, entgegnete Calleigh zuckersüß. »Wie heiß ist es denn genau?« Delko lachte. »Ich sage nur, dass die Feuchtigkeit in Miami allein reicht, um einen umzubringen. Und der einzige Grund, warum ich diesen Club kenne, ist, dass da jeden Freitagabend genug Leute in PVC vor der Tür stehen, um das Rohmateriallager einer Kondomfabrik aufzufüllen.« »Na ja. Ich werde jedenfalls direkt zur Quelle vorstoßen«, sagte Calleigh. »Der Laden nennt sich Sintight Boutique – anscheinend bieten sie auch Maßanfertigungen an.« »Gut«, sagte Horatio. »Mister Wolfe – soweit ich weiß, haben Sie einen kleinen Ausflug die Küste hinauf unternommen?« Wolfe verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Das ist richtig. Ich habe mit einer Frau über einen sexuellen Übergriff gesprochen, der drei Monate zurückliegt. Damals hat niemand die Sache ernst genommen, wegen der Details, aber ich denke, es könnte unser Wassermann gewesen sein.«
»Und wie sehen diese Details aus?«, fragte Horatio. Wolfe zögerte, ehe er sagte: »Sie behauptet, sie wäre von einem Monster angegriffen worden.« Er lieferte ihnen einen kurzen Überblick über das, was Eileen Bartstow ihm erzählt hatte. Als er fertig war, hatten sowohl Delko als auch Calleigh einen merkwürdigen Gesichtsausdruck aufgesetzt, und Horatio hatte die Stirn in Falten gelegt. »Ich weiß, dass sich das komisch anhört«, gab Wolfe zu. »Aber es wäre möglich, dass das unser Täter war, nur kostümiert. Latex wird doch auch für Masken und Make-up benutzt, richtig?« »Die Möglichkeit besteht definitiv«, sagte Horatio. »Aber das ist nicht das Problem. Sie sagten, der Angriff hätte in der Nähe von Verdant Springs stattgefunden?« »Richtig.« »Und das Monster hatte lange Klauen, einen gekrümmten Rücken und eine stachelige Rückenflosse auf dem Kopf?« »Ja«, entgegnete Wolfe erstaunt. »Woher wissen Sie das?« »Doktor Horrors Freitagnachtfestival«, sagte Calleigh mit Bedauern. »Ja, da habe ich es auch gesehen«, sagte Delko. »Junge, der hat wirklich ein paar Ekelgestalten zusammengestellt, was?« »Wovon sprecht ihr?«, fragte Wolfe. »Sie sprechen von Verdant Springs wahrem Ruhm«, sagte Horatio. »Ein Billigfilmchen mit dem Titel Kreatur aus der Tiefe ist dort in den Fünfzigern gedreht worden.« »Sie bereiten sich gerade darauf vor, das fünfzigjährige Jubiläum zu feiern«, erklärte Delko. »Das wird ein richtiges Festival mit T-Shirts, Breitwandvorstellungen des Films und allem, was dazugehört. Und das Monster, das du beschrieben hast, sieht exakt so aus wie der Star des Films.« »Erstaunlich, dass du den Film nicht kennst«, sagte Calleigh. »Haben Wissenschaft und Science-Fiction in deiner Jugend nicht zusammengehört?«
Wolfe runzelte die Stirn. »Meine Eltern haben mir nicht erlaubt, Horrorfilme zu sehen, als ich ein Kind war. Nach dieser ganzen Robotergeschichte … wie auch immer.« »Hat die Frau denn nichts davon erwähnt?«, hakte Calleigh nach. »Nein«, sagte Wolfe. »Ich nehme an, sie dachte, wenn sie es erwähnt, hört sich die ganze Geschichte endgültig nach einem Versuch an, Aufmerksamkeit zu erregen.« »Das Drum und Dran ist jedenfalls vorhanden«, sagte Horatio. »Aber das heißt nicht, dass diese Geschichte irrelevant wäre. Mr Wolfe, Sie haben mit ihr gesprochen. Wie lautet Ihre professionelle Meinung dazu?« Horarios Blick ruhte auf Wolfe, und plötzlich wurde dem jungen Kriminalisten bewusst, dass er im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand. Er zögerte, schluckte. Dann sagte er: »Sie sagt die Wahrheit. Das jedenfalls sagt mir mein Gefühl.« »Also gut«, antwortete Horario. »Gehen Sie der Sache nach. Wenn unser Wassermann seinen ersten Auftritt vor drei Monaten in Verdant Springs hatte, dann gibt es vielleicht auch eine Verbindung zu der Kinoversion.« »Ich habe sogar einen wichtigen Beweis«, verkündete Wolfe und erzählte den anderen von dem Badeanzug. »Leicht zu fälschen«, gab Delko zu bedenken. »Trotzdem«, sagte Horatio, »sollten wir ihn mit den anderen Klauenspuren vergleichen und sehen, was dabei herauskommt.« Horatio beugte sich über den Tisch. »Also gut. Was wir bis jetzt haben, ist ein Mörder mit einer Unterwasserfixierung, einem Faible für Latex und einem Groll gegen das Militär. Mr Wolfe, Sie rollen den Verdant-Springs-Fall auf. Calleigh, du folgst der Latexspur. Delko, du und ich, wir werden die Mitgliederliste der ALA Stück für Stück durchgehen und uns jede einzelne Person ganz genau ansehen.«
Horatio richtete sich wieder auf und legte die Hände an die Hüften. »Und nicht vergessen: Dieser Mann ist intelligent, äußerst organisiert und sadistisch. Er wird nicht aufhören, solange ihn niemand dazu zwingt – aber das, Herrschaften, werden wir tun.« Der Name der Frau war Ingrid Ernst. Sie war in den Dreißigern, trug ihr dunkles Haar militärisch kurz, hatte einen drahtigen Körperbau und einen verkniffenen Gesichtsausdruck. Sie saß Horatio gegenüber an dem Tisch im Vernehmungszimmer und strahlte einen kalten, unwiderruflichen Hass aus, der einen krassen Widerspruch zu ihrer Bereitschaft bildete, herzukommen und mit den Ermittlern zu reden. Horatio nahm an, dass sie Konfrontationen liebte, und er tat gerade sein Bestes, ihr die Freude zu verwehren. »Ms Ernst«, sagte er und legte dabei so viel Ruhe und Freundlichkeit in seine Stimme, wie er nur konnte. »Danke, dass Sie gekommen sind, um mit uns zu sprechen.« »Besser, als mich in Handschellen herschleifen zu lassen«, entgegnete sie frostig. Ihr deutscher Akzent war zwar kaum wahrnehmbar, verlieh ihren Worten aber eine scharfe Kontur. Die Arme hielt sie vor dem Körper verschränkt, und ihre Hände umklammerten ihre Ellbogen, als wünschte sie, es wären Pistolen. »Oh, das tun wir nur mit Verbrechern«, erklärte Horatio. »Ich fürchte, dafür sind Sie nicht qualifiziert – ziviler Ungehorsam spielt nicht in derselben Klasse wie Diebstahl oder Mord, nicht wahr?« »Natürlich nicht«, schnappte sie. »Aber meine Aktivitäten sind politischer Natur, was bedeutet, ich bin es gewohnt, von den Vertretern der Obrigkeit schikaniert zu werden.« »Nun, ich werde das nicht tun«, unterbrach er sie keineswegs unhöflich. »Eigentlich geht es auch gar nicht um die ALA an sich.«
»Was soll das heißen? Wovon sprechen Sie?«, verlangte sie zu erfahren. »Ich spreche von jemandem, der die Dinge ein wenig zu weit getrieben hat, Ms Ernst. Jemandem mit einer enormen Wut auf die Menschheit, der sich unter Wasser mehr zu Hause fühlt als an Land, so sehr, dass man schon von Besessenheit sprechen kann. Kennen Sie jemanden, auf den diese Beschreibung zutrifft, Ms Ernst?« Plötzlich änderte sich ihre Haltung. Sie lachte und lehnte sich zurück. »Ich bin Deutsche. Ich weiß alles über Besessenheit. Sie müssen schon etwas ausführlicher werden.« »Also gut. Ich denke an eine höchst ungesunde Art der Besessenheit – eine, die sich durch Gewalttaten äußert. Insbesondere durch Mord und Vergewaltigung.« Ihr Zynismus verschwand. »Mord und Vergewaltigung? Sie müssen ziemlich verzweifelt sein, wenn Sie eine Frau darüber befragen.« »Frauen haben sich bekanntermaßen schon an allen möglichen Widerwärtigkeiten beteiligt«, sagte Horatio. »Aber Ihr Geschlecht ist für mich nicht so wichtig wie Ihr Werdegang. Sie haben es geschafft, wegen Ihrer Aktivitäten bei PETA rauszufliegen, was nicht ganz einfach ist.« »Pelze tragende Prominente mit Farbe zu bewerfen ist etwas für naive Kinder«, sagte sie. »Und es hat nicht annähernd die gleiche Wirkung wie eine tote Kuh im Wohnzimmer.« »Besonders, wenn die Bewohner im Juli für zwei Wochen weggefahren sind«, fügte Horatio hinzu. »Aber deshalb sind Sie nicht hier. Ich verstehe Ihren Zorn auf bestimmte Teile der Gesellschaft … aber ich glaube nicht, dass sich dieser Zorn auch auf unschuldige junge Frauen bezieht.« Ein Ordner lag vor Horatio auf dem Tisch. Er schlug ihn auf, nahm zwei Fotos heraus und schob sie zu ihr hinüber. Sie betrachtete sie scheinbar ungerührt, aber Horatio sah, wie sich
ihre Augen ein wenig weiteten und wie sie kaum merklich nach Luft schnappte. »Die Person, die ich suche, ist für den Tod dieser beiden Frauen verantwortlich«, sagte Horatio. »Sie hat eine erotische Fixierung auf Unterwasseraktivitäten, einen Hass auf das Militär – besonders gegen das Marine Mammal Program der Navy – und eine sexuelle Affinität zu Latex. Ich habe gute Gründe anzunehmen, dass diese Person etwas mit Ihrer Gruppe zu tun haben könnte. Falls es irgendetwas gibt, das Sie mir mitteilen möchten, versichere ich Ihnen, dass ich Ihre Informationen strikt vertraulich behandeln werde.« »Sie denken, einer von uns ist dafür verantwortlich?« »Ich weiß, wie schwer Ihre Überzeugungen wiegen, Ms Ernst, und ich glaube, alle Angehörigen Ihrer Gruppe teilen diese Hingabe an Ihr gemeinsames Ziel. Aber Sie sind immer noch alle Menschen … und Sie wissen besser als irgendjemand sonst, zu welchen Grausamkeiten Menschen imstande sind.« Für einen Moment schwieg sie, dachte über seine Worte nach, ehe sie antwortete: »Vermutlich. Und es stimmt auch, dass man nie wirklich wissen kann, was in einem anderen vorgeht. Sollte aber einer meiner Kameraden diese Art von dunklem Punkt in sich tragen, dann weiß er ihn gut zu verstecken. Aber vielleicht bin ich auch nicht besonders gut geeignet, um das zu beurteilen.« »Und warum nicht?« »Wegen meiner sexuellen Präferenz für Frauen, und die habe ich klar zum Ausdruck gebracht. Ich halte eine gewisse Distanz zu den Männern in meiner Gruppe, und die Frauen – jedenfalls die meisten – halten eine gewisse Distanz zu mir. Und um Ihre nächste Frage zu beantworten, ich habe derzeit keine Liebhaberin, die der Gruppe angehört.« »So? Wie steht es mit ehemaligen Mitgliedern?« »Da waren ein oder zwei.«
»Gehört dazu auch Doktor Nicole Zhenko?« »Ich weiß nicht, warum das wichtig sein sollte.« »Vielleicht ist es das nicht. Ich bin lediglich daran interessiert, mit Leuten zu sprechen, die Doktor Zhenko gut kennen.« »Hah! Zhenko bleibt gern für sich, das war schon immer so. Ich denke, sie hat die Gruppe nicht aus politischen Gründen verlassen, sondern weil niemand von uns unter Wasser atmen kann.« »Das ist eine seltsame Bemerkung«, stellte Horatio fest. »Würden Sie mir das erklären?« »Die meisten Leute wären ein bisschen verunsichert, wenn ihnen der Ozean die halben Beine genommen hätte – Zhenko war schon wieder im Wasser, ehe die Verbände abgenommen wurden. Haben Sie diese neuen Beine gesehen? Sie kann keinen Schritt damit laufen, aber das ist ihr egal. Solange sie schwimmen kann, ist sie glücklich und zufrieden.« »Ich verstehe. Also hatte Doktor Zhenko keine Probleme mit Ihren Methoden?« »Sie wollte Veränderung, genau wie wir alle. Was die Methoden betrifft …« Sie zuckte mit den Schultern. »Sie ist Russin, sie ist Wissenschaftlerin. ›Weniger Theorie, mehr Praxis‹ hat sie immer gesagt.« »Die pragmatische Herangehensweise«, bemerkte Horatio. »Die ist mir auch nicht ganz fremd.« »Wenn Sie wirklich die Absicht haben, die Person aufzuhalten, die das getan hat«, sagte sie und zeigte auf die Fotos, »dann sind wir keine Gegner. Ich habe mich der ALA angeschlossen, um Not und Leid zu lindern. Ich bin nicht blind gegenüber dem Unglück anderer.« Sie bedachte ihn mit einem schiefen Lächeln. »Auch nicht, wenn es sich um Zweibeiner handelt.« »Dann tun Sie mir den Gefallen und halten Sie die Augen offen«, bat Horatio. »Ich bitte Sie nicht, Ihre Kameraden
auszuspionieren – seien Sie einfach ein bisschen wachsam. Ich möchte nicht, dass noch jemand sterben muss, Ms Ernst.« »In dem Punkt, Lieutenant Caine«, entgegnete sie, »sind wir einer Meinung.« Der einteilige Badeanzug auf dem Leuchttisch wies drei lange, parallele Schnitte in Taillenhöhe auf. Wolfe maß den Abstand zwischen zwei Schnitten, als ihm bewusst wurde, dass er so keine genauen Daten erhalten würde. Das Material war nicht in gedehntem Zustand. Er wühlte sich durch die laboreigene Schaufensterpuppensammlung, bis er einen weiblichen Torso gefunden hatte, der annähernd die richtigen Maße hatte, und steckte ihn in den Badeanzug. Der Abstand zwischen den Schnitten war nicht ganz ebenmäßig, aber wenn die Klauen auf Finger aufgesetzt waren, war nichts anderes zu erwarten. Als Nächstes untersuchte er den Stoff selbst, studierte ihn auf mikroskopischer Ebene und stellte fest, dass die Schnitte von einer extrem scharfen Klinge verursacht wurden. Und der Abstand zwischen den Schnitten war der gleiche, wie bei den Wunden in Janice Stonecutters Körper. Horatio studierte den Mann auf der anderen Seite des Tisches eingehend, ehe er das Wort ergriff. »Mister Torrence«, sagte er. »So sehen wir uns wieder.« Malcolm Torrence starrte ihm mit unverhohlener Geringschätzung entgegen. »Der einzige Grund, warum ich hier bin«, sagte er, »ist, dass Anatoly mich darum gebeten hat.« »Dann befolgen Sie also nur Befehle?«, gab Horatio zurück. »Nun, das ist erstaunlich. Laut Ihrer Akte waren Sie während Ihrer Zeit beim Militär weniger kooperativ.«
»Ich habe kein Problem damit, Befehle zu befolgen. Es kommt nur darauf an, wer die Befehle erteilt.« »Ich verstehe. Wie steht es mit Fragen?« »Nur zu.« »Fangen wir damit an, wo Sie in den letzten paar Tagen waren.« Torrence’s Alibi war nicht annähernd so nachvollziehbar wie das von Kazimir. Er behauptete, er sei zu den Zeiten, in denen Cavanaugh und die Stonecutters ermordet wurden, allein gewesen, bot aber an, Kinokarten vorzulegen, die seine Behauptung untermauern sollten. »Ich gehe gern allein in die Nachmittagsvorstellungen«, sagte er. »Doppelvorstellungen, wenn es welche gibt.« »Hört sich für mich an einem sonnigen Tag wie Zeitverschwendung an«, sagte Horatio. Torrence schnaubte. »Darum gehe ich nachmittags ins Kino, um der Sonne zu entkommen. Zu hell und zu heiß. Da ziehe ich jederzeit ein dunkles, klimatisiertes Kino vor.« »Aha. Ich brauche diese Karten, Mr Torrence. Ist es nicht ein Glücksfall, dass Sie sie aufbewahrt haben?« Horatio lächelte, Torrence nicht. Delko zog seine Notizen zurate, ehe er etwas sagte. »Mister Fiodr Cherzynsky … spreche ich das korrekt aus?« »Da«, sagte der Mann. Er lächelte Delko freundlich zu, als er Platz nahm und es sich mit auf dem Tisch aufgestützten Ellbogen bequem machte. »Stets gern zu Diensten.« »Wir wissen Ihr Erscheinen zu schätzen. Wie lange gehören Sie schon der ALA an?« Der Mann rieb sich das Kinn, während er über die Frage nachdachte. Er war Ende vierzig und hatte einen knochigen Körper, der an eine Vogelscheuche erinnerte. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, die Nase war auffällig, und er hatte
einen spitzen Haaransatz sowie pechschwarzes Haar. »Ich arbeite jetzt seit etwa neun Jahren oder so Vollzeit mit ihnen zusammen«, sagte er. Bis auf einen kaum hörbaren russischen Akzent war sein Englisch perfekt. »In welcher Funktion?« »Öffentlichkeitsarbeit.« »Klingt nach harter Arbeit.« Fiodr zuckte mit den Schultern. »Eine Herausforderung ist es sicher. Aber ich glaube an das, was sie tun, also ist das für mich beinahe so etwas wie ein Liebesdienst.« »Auch dann, wenn sie gegen Gesetze verstoßen?« »Manchmal müssen Gesetze gebrochen werden. Immerhin war es auch einmal legal, Sklaven zu besitzen.« Delko wusste, er sollte sich nicht in eine politische Diskussion verwickeln lassen, aber er konnte nicht widerstehen. »Halten Sie es für richtig, Sklaverei mit Tierschutz zu vergleichen?« »Nein, eigentlich nicht. Wir haben die Sklaven nicht geschlachtet, um sie als Nahrung zu verwenden.« Delko verkniff sich eine Entgegnung. »Sie kümmern sich also um Presseerklärungen, geben Interviews, so was in der Art?« Fiodr nickte. »Es ist meine Aufgabe, unsere Sache in der Öffentlichkeit zu präsentieren«, erklärte er. »Bevor ich dazugestoßen bin, hat sich Anatoly darum gekümmert, aber er hat sich nicht darum geschert, was die Öffentlichkeit von der Organisation denkt. Ich habe mein Bestes getan, um das zu ändern.« »Hatten Sie Erfolg?« Fiodr lächelte. »Unsere Website verzeichnet jeden Monat ein paar Tausend Zugriffe. Die Leute sind das Gerede leid, sie wollen Taten sehen.« »Sie sollten sich gut überlegen, was Sie sich da wünschen«, sagte Delko. »Denn weniger Gerede hieße, dass Sie Ihren Job los wären.«
»Ach, ich werde schon über die Runden kommen«, sagte Fiodr, und in seinem Ton schlug sich ein Hauch des Amüsements nieder. Ja, ich wette, das wirst du, dachte Delko. Nach seiner Erfahrung fanden Pressesprecher immer irgendeinen größeren Fisch, an den sie sich dranhängen konnten. »Ich muss wissen, wo Sie sich an den folgenden Tagen aufgehalten haben.« Als die Befragungen abgeschlossen waren, trafen sich Horatio und Delko im Frühstücksraum, um ihre Ergebnisse auszutauschen. Delko schlang einen Bagel hinunter, während Horatio sich eine Tasse Kaffee einschenkte. »Also, was denkst du?«, fragte Horatio. Delko kaute und schluckte den Bissen hinunter, ehe er antwortete. »Mal sehen. Die meisten Mitglieder, mit denen ich gesprochen habe, können ein solides Alibi vorweisen. Ich muss noch ein paar Sachen überprüfen, aber der Einzige, der wirklich wackelig erscheint, ist Cherzynsky. Er behauptet, er wäre die ganze Zeit über zelten gewesen. Allein.« Horatio zog sich auf der anderen Seite des Tisches einen Stuhl heran und blies in seinen Becher, um den Kaffee abzukühlen. »Ja, ich habe eine ähnliche Situation bei einem Mann namens Malcolm Torrence. Er sagt, er wäre im Kino gewesen, aber wir wissen beide, wie einfach es ist, sich eine Karte zu kaufen und zum Hinterausgang hinaus zu verschwinden.« »Richtig. Man muss nur darauf achten, dass es ein Film ist, den man schon kennt, damit man später nicht dumm dasteht. Ich nehme an, keiner der Filme, die er gesehen haben will, hat von randalierenden Unterwassermonstern gehandelt?« »Nein, es waren lediglich ein paar gewöhnliche Komödien und Action-Streifen.« Horatio nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. »Alles in Ordnung, H.?«
Horatio massierte sich die Schläfe mit dem Zeigefinger. »Ja, bestens. Mit Fanatikern zu reden bereitet mir immer Kopfschmerzen.« »Ich weiß, was du meinst. Sie wirken wie ganz vernünftige, intelligente Leute, bis man einen bestimmten Punkt anspricht und sie plötzlich diesen Ausdruck in den Augen bekommen.« Delko schüttelte, den Kopf. »Danach ist jedes vernünftige Gespräch zu Ende.« »Statt eine Unterhaltung zu führen, ist man einer Hetzrede ausgesetzt«, sagte Horatio. »Objektivität ist nicht gerade eine Stärke dieser Leute.« »Hey, ich bin auch für den Tierschutz«, sagte Delko. »Ich halte nichts von Tellereisen oder Schleppnetzen oder davon, Seehundbabys einfach zu erschlagen – aber ich würde keine Bombe benutzen, um meinen Standpunkt darzulegen.« »Na ja, die ALA hat bisher niemanden umgebracht«, merkte Horatio an. »Zumindest nicht, soweit wir es wissen. Die Frage ist, welches ihrer Mitglieder – falls es einer von ihnen war – beschlossen hat, diesen letzten, endgültigen Schritt zu überwinden.« »Ja. Und ob er es wieder tun wird.« »Nein, Eric«, widersprach Horatio und nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee. »Die Antwort auf diese Frage kennen wir bereits. Was wir nicht wissen, ist, wo und wann … und wer das nächste Opfer sein wird.«
11
Wolfe erkannte, dass er, wäre er je in die Stadt Verdant Springs hineingefahren, statt schon am Stadtrand vor Eileen Bartstows Haus Halt zu machen, vermutlich ganz anders auf ihre Geschichte reagiert hätte. Der riesige aufblasbare Fischmann über dem Geschäft des hiesigen Fahrzeughändlers sah unbestreitbar vertraut aus. Und das war auch nicht der einzige Ort, an dem die Meereskreatur zu sehen war. Seine vorquellenden Augen starrten ihm von Wandplakaten und Wimpeln entgegen, die an zahlreichen Straßenlaternen baumelten. In dem Schaufenster eines Drugstores gab es außerdem noch die Plüschtier-Version des Monsters. »Ver …fischt noch mal«, murmelte er. Er parkte den Wagen, stieg aus und betrachtete eines der Plakate. Es warb für das Kreatur-aus-der-Tiefe-Meeresfestival, das in der nächsten Woche beginnen sollte. Nicht allein, dass das hiesige Kino den Film rund um die Uhr vorführen würde, es wurde auch eine gesonderte 3-D-Version angekündigt, gefolgt von dem Erscheinen der Schauspieler persönlich. Das Kino wurde als Zentrale der Veranstaltung genannt. Wolfe notierte sich die Adresse und setzte sich wieder in den Wagen. Verdant Springs war nicht groß, gerade ein paar Tausend Einwohner. Es besaß eine Hauptstraße, gesäumt von ein paar Restaurants, einem mittelgroßen Supermarkt, ein paar Buchhandlungen, Bars und einem Motel. Wolfe konnte gut verstehen, warum dieser Ort daran interessiert war, Kapital aus seinem kurzen Augenblick des Ruhms zu schlagen. Alles war
willkommen, um ein paar Leute zu verleiten, Geld für Essen und Unterhaltung auszugeben – vielleicht wurde das hier sogar verzweifelt gebraucht. Das Kino war einfach zu finden. Es war ein altes Ziegelgemäuer mit einem großen Vordach im Broadway-Stil, auf dessen Vorderfront stand: »Demnächst! Kreatur aus der Tiefe Meeresfestival!«. Jenseits der Eingangstür bedrohte eine lebensgroße, detailgetreue Pappfigur des Monsters die potenzielle Kundschaft. Wolfe stellte den Wagen ab und ging zum Kartenschalter. Der Platz war nicht besetzt, aber durch das Glas der Eingangstür konnte er eine Frau mit einem rot-weiß gestreiften Rock sehen, die den verblassten roten Teppich in der Lobby saugte. Wolfe klopfte an das Glas, bis sie aufblickte. Dann hielt er seine Marke an die Scheibe. Sie schaltete den Staubsauger ab, kam herbei und schloss die Tür auf. »Bitte?« »Ich möchte mit der Person sprechen, die für das Festival verantwortlich ist«, sagte Wolfe. Die Frau, eine junge Latina mit Zahnspange, schenkte ihm ein metallisches Lächeln und sagte: »Mister Delfino, klar, ich sage ihm, dass Sie hier sind.« Sie eilte davon und ließ Wolfe allein in Gesellschaft der lebensgroßen Pappgestalt zurück. Neugierig studierte er die Figur. Sie hatte ein großes Froschmaul voller spitzer Zähne, hervortretende schwarze Augen und Kiemen, die wie Farnwedel aus seinem Hals hervorstachen. Eine stachelige Rückenflosse wölbte sich über den Kopf wie ein Irokesenhaarschnitt, und weitere Flossen zogen sich über die Unterarme, die Unterschenkel und den Rücken. Füße und Hände hatten Schwimmhäute, und aus Fingern und Zehen stießen lange Klauen hervor. Überlappende Schuppen bedeckten Brust und Bauch des Monsters.
»Beeindruckend, nicht wahr?«, sagte eine Stimme hinter ihm. Wolfe drehte sich um und sah einen rundlichen Mann mit fortschreitender Glatze näher kommen. Er trug eine braune Cordhose und eine blaue Strickjacke. Noch im Gehen streckte er die Hand aus, und Wolfe schüttelte sie. »Ich bin Leroy Delfino«, sagte der Mann. Er hatte ein breites Gesicht, und sein lächelnder Mund war beinahe so groß wie der des Monsters. »Und das ist natürlich unsere Meereskreatur – oder Gilly, wie wir ihn nennen.« »Ryan Wolfe vom kriminaltechnischen Labor von MiamiDade«, stellte Wolfe sich vor. »Ich hatte mich gefragt, ob wir uns ein paar Augenblicke unterhalten könnten. Über – Na ja, über Gilly, denke ich.« Delfino lachte. »Tja, die Vorbereitungen für das Festival halten mich ziemlich auf Trab, aber ich kann mir immer etwas Zeit nehmen, um über ihn zu reden. Kommen Sie mit in mein Büro.« Er führte Wolfe durch die Lobby, und beide stiegen eine mit rotem Teppich ausgelegte Treppe hinauf zu einem kleinen Raum neben der Kammer des Filmvorführers. In dem Raum war gerade genug Platz für einen kleinen Schreibtisch, zwei Stühle, einen Trinkwasserspender und einen Aktenschrank. An den Wänden versprachen altmodische Filmplakate in verglasten Rahmen mörderische, blutrünstige Gewalttaten, begangen von so berühmten Monstern wie Godzilla oder dem Wolfsmenschen. Delfino zwängte sich mit geübter Leichtigkeit auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und füllte einen Keramikbecher, der die Kopfform der Meereskreatur hatte, mit Wasser auf, ehe er Wolfe fragte, ob er auch etwas trinken wollte. Wolfe lehnte ab und nahm den anderen Stuhl. »Also, welches Interesse haben Sie an unserer berühmten Amphibie?«, fragte Delfino und umschloss den Becher mit seinen dicken Fingern.
»Es geht weniger um die Figur als um die Leute, mit denen sie sich umgibt«, sagte Wolfe. »Leute wie Eileen Bartstow.« Er achtete genau auf Delfinos Reaktion. Der Mann blinzelte und seufzte. »Oh Junge«, sagte er dann. »Das ist … bedauerlich.« »Was meinen Sie?«, fragte Wolfe in neutralem Ton. »Sehen Sie, Miss Bartstow hat mit unserem Festival gar nichts zu tun«, sagte Delfino nachdrücklich. »Ich habe die Geschichte gehört, und die ganze Sache widert mich an.« »Tatsächlich? Ich hätte gedacht, Sie würden Freudensprünge machen, wenn sich so eine Chance für kostenlose Werbung ergibt.« Delfino schüttelte den Kopf. »Das hat sie vermutlich auch gedacht. Oder vielleicht der Kerl, der diesen sogenannten Angriff inszeniert hat. Ich weiß es nicht. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass das eine blöde Idee war.« »Und wessen Idee war es?« »Ich weiß es nicht. Ehrlich. Ich meine, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn, oder? Getreidekreise zu machen, nachdem irgendjemand gesagt hat, er hätte ein UFO gesehen, falsche Fußabdrücke in Bigfoot-County zu hinterlassen – das kann ich ja alles verstehen. Aber wir sprechen über einen Film. Niemand hat je behauptet, Gilly wäre real.« »Eileen Bartstow schon.« »Aber ihre Kreatur sieht nicht einmal genauso aus. Sie sagt, es hat Genitalien, um Gottes willen. Das ist … Na ja, es ist einfach falsch.« Wolfe bemerkte eine Art der Empörung, wie sie nur ein ergebener Fan aufbrachte, der miterleben musste, wie das Objekt seiner Wertschätzung beschmutzt wurde. »Tja, vielleicht versucht jemand, die Meereskreatur dem 21. Jahrhundert anzupassen.« »Wissen Sie, darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Delfino. Er kippte etwas von seinem Wasser in seine
Kehle, offensichtlich blind gegenüber jeglicher Ironie. »Es gibt alle paar Jahre Gerüchte über eine Neuverfilmung, und das ist genau die Art von Werbegag, die sich so ein Studio hätte einfallen lassen können. Aber alle meine Kontakte im Showbiz schwören, dass niemand an so etwas arbeitet – und außerdem, wo ist die Presse? Die Geschichte hat es nicht einmal in unsere Lokalzeitung geschafft, ob Sie es glauben oder nicht. Die Leute fühlten sich von der Sache alle nur irgendwie … Na ja, peinlich berührt. Schauspieler für einen billigen Science-FictionFilm zu sein ist eine Sache, aber zu glauben, man würde in einem leben, ist eine andere.« Wolfe musste zugeben, dass Delfinos Worte einen Sinn ergaben. Für einen gelungenen Werbegag hätte die Presse mehr darüber berichten müssen, und niemand schien besonders daran interessiert zu sein, was Eileen Bartstow widerfahren war. »Können Sie sich einen anderen Grund vorstellen, warum sie so etwas behaupten sollte?«, fragte Wolfe. »Sie ist nicht verrückt, falls Sie das meinen. In einer kleinen Stadt wie dieser kennt jeder jeden, und Eileen war immer so normal wie jeder andere auch.« »Könnte sie durch diese Behauptung irgendeinen Vorteil für sich erzielen?« Delfino zuckte mit den Schultern. »Sie betreibt kein Geschäft in diesem Ort, also ist ihr der Tourismus egal. Soweit ich weiß, hat sie auch nicht versucht, die Geschichte zu verkaufen, obwohl es natürlich möglich ist, dass sie insgeheim doch mit irgendjemandem ein Geschäft gemacht hat. Sollte das aber so sein, dann hält sie sich in dem Punkt erstaunlich bedeckt.« Wolfe runzelte die Stirn. Eileen Bartstow hatte auf ihn nicht den Eindruck eines Menschen gemacht, der die Öffentlichkeit sucht. »Wenn sie nicht diejenige war, die die Sache inszeniert hat, wer könnte es dann Ihrer Meinung nach gewesen sein?«
Delfino lächelte reumütig und bohrte sich den Daumen in die Brust. »Ihr Hauptverdächtiger kann nur ich sein. Ich organisiere das jährliche Festival, ich besitze alle Arten von Erinnerungsstücken, ich kann den ganzen Film aus dem Gedächtnis rezitieren – ›Guter Gott! Es ist eine Art Fischmann!‹ –, aber wäre ich schuldig, dann hätte ich bessere Arbeit geleistet. Ich hätte die Sache online verbreitet, hätte Interviews gegeben, hätte versucht, CNN herzuholen, ich hätte getan, was immer möglich gewesen wäre. Und mein Gilly hätte bestimmt keinen großen blauen Ständer gehabt.« »Oder eine Frau mit rasiermesserscharfen Klauen angegriffen?« Delfino schaute erschrocken drein. »Das Ding hat wirklich versucht, ihr etwas anzutun?« »Das sagt sie jedenfalls. Die ganze Geschichte trägt Züge eines fehlgeschlagenen Werbegags. Etwas, das ganz anders geplant war, als es dann geendet ist.« Delfino blickte ihm direkt in die Augen. »Hören Sie, ich schwöre Ihnen – ich weiß nicht, was an jenem Abend in Poker Cove passiert ist. Ich weiß nicht einmal, ob überhaupt etwas passiert ist. Alles, was ich sicher sagen kann, ist, dass ich nichts damit zu tun hatte.« »Nehmen wir an, ich glaube Ihnen, und wenn auch Miss Bartstow keinen Grund hat zu lügen, wer bleibt dann noch übrig?« Delfino dachte einen Moment über die Frage nach. »Na ja, normalerweise würde ich sagen, das klingt nach einem Schüler- oder Studentenstreich, aber ich weiß es nicht. Was nützt ein Streich, wenn man nicht damit prahlen kann? Und das Ganze auch noch unter Wasser zu inszenieren erscheint mir doch sehr aufwendig – immerhin ist er eine Amphibie. Es wäre viel einfacher gewesen, die ganze Geschichte an Land aufzuziehen.«
Es sei denn, es war nicht inszeniert, dachte Wolfe. Es sei denn, Eileen Bartstow war ganz einfach zur falschen Zeit am falschen Ort … und unser Wassermann hat beschlossen, die Situation auszunutzen. »Wer in dieser Stadt teilt sonst noch Ihr Interesse an, äh, Gilly.« »Tja, eine Menge Geschäftsleute haben ein starkes Interesse an ihm – Andenkenläden verkaufen T-Shirts, Schlüsselringe, alle möglichen Dinge in dieser Art, das hiesige Diner bietet sogar einen Gillburger an – aber niemand ist so interessiert an ihm, wie ich es bin. Da müssen Sie schon nach Miami gehen und den Fanclub besuchen.« »Dann werde ich das wohl tun müssen.« Delfino nannte ihm den Namen des Präsidenten und gab ihm die Kontaktdaten. Wolfe dankte ihm für seine Hilfe und erhob sich. »Nur eine Sekunde«, sagte Delfino, öffnete eine Schublade und wühlte kurz darin herum. »Ah, da haben wir ihn ja.« Er zog eine bewegliche Plastikfigur von Gilly heraus, etwa zwanzig Zentimeter groß, gefertigt aus durchscheinendem grünen Kunststoff, die er Wolfe reichte. »Hier, nehmen Sie die mit.« »Ich kann wirklich keine Geschenke annehmen«, erklärte Wolfe. »Sehen Sie darin kein Geschenk«, sagte Delfino grinsend, »sondern einen Hinweis auf Ihren Verdächtigen.« Wolfe ging die Treppe hinunter, stieg in seinen Wagen und hängte die Figur an den Rückspiegel. »Okay, Junior«, sagte er zu dem glubschäugigen Gesicht. »Dann lass uns mal deinen großen Bruder suchen.« Den fand Wolfe eine Stunde später in North Miami in der Ecke eines DVD-Geschäfts, das sich auf besondere Filme spezialisiert hatte, in der Abteilung für »Sci-Fi-Klassiker«. Zehn Minuten
später saß Wolfe in einem Café vor einem großen Glas Eiswasser, legte die DVD in das Laufwerk seines Laptops und setzte sich die Kopfhörer auf. Die gemurmelten Gespräche um ihn herum traten in den Hintergrund, als die Unheil verkündende, orchestrale Titelmusik wie die steigende Flut langsam anschwoll. Kreatur aus der Tiefe war in Schwarz-Weiß gedreht worden, was sich nicht als Defizit, sondern als Vorteil herausstellte. Denn dadurch tauchte der Zuschauer ganz in die Atmosphäre des Unheimlichen ein, aber vielleicht lag das auch nur an der Aura eines Films, der aus einer anderen Epoche stammte. Wie vielen Monsterfilmen lag auch diesem eine recht einfache Geschichte zugrunde: Die natürliche Umgebung der Meereskreatur war durch die Menschheit aus dem ökologischen Gleichgewicht gebracht worden, und so verließ Gilly sein nasses Heim, um Vergeltung zu üben. Wolfe durchlitt die langsame Eröffnungssequenz, die Belehrungen der ›Wissenschaftler‹, die für das Verständnis der Handlung nötig waren, die Inszenierung der romantischen Nebenhandlung und die humorige Auflockerung. Aber als die Handlung des Films in die Domäne der Meereskreatur wechselte, änderte sich alles. Der Film war in erster Linie wegen der Quellen, die der Stadt ihren Namen gegeben hatten, in Verdant Springs gedreht worden. Sie verliehen dem Wasser eine kristallene Klarheit, wodurch die Bilder besonders realistisch erschienen. Diese Darstellung verstärkte das Gefühl der Fremdheit, beinahe so, als hätte man die leuchtend bunten Korallen und die Fische irgendwo auf einem fernen Planeten gefilmt. Horatio studierte sein Spiegelbild, als er wartete. Eine grüne Muräne schwamm auf der anderen Seite der Glasscheibe heran und schaute ihn an. Ihr Maul besaß rasiermesserscharfe Zähne,
öffnete und schloss sich, während ihre Kiemen gleichmäßig arbeiteten. »Hey, Kumpel«, sagte Horatio. »Was erzählt man sich so bei euch? Sind in letzter Zeit irgendwelche Psychopathen aufgetaucht?« Die Muräne konnte ihm keine Antwort geben, und Horatio hoffte, er würde mit seiner Kontaktperson mehr Glück haben. Das Treffen im Miami Seaquarium war nicht Horatios Idee gewesen, aber Emilio Augustino hatte immer schon einen ganz speziellen Sinn für Humor besessen. Horatio nahm an, dass das mit seiner Zugehörigkeit zur internationalen Gemeinschaft der Agenten zusammenhing. Emilio behauptete, Kubaner zu sein, aber sein Russisch war tadellos – ebenso wie sein Deutsch, sein Polnisch und sein Tschechisch. Etliche Gerüchte kursierten um ihn: Er wäre ein ehemaliger KGB-Agent, ein Maulwurf der CIA oder ein in Ungnade gefallener ehemaliger Vertrauter von Castro persönlich. Was immer er war, er war imstande, Informationen aus kubanischen Quellen zu beschaffen, die Horatio selbst nicht anzapfen konnte … und er schuldete Horatio einen Gefallen. Wenige Minuten später traf er ein, ein großer, dunkelhaariger Mann in einer hellgelben Hose und einem locker sitzenden weißen Leinenhemd, der eine schwarze Mappe mit einem Reißverschluss unter dem Arm trug. Er bedachte Horatio mit einem strahlenden Lächeln und schüttelte ihm die Hand. »Mister Caine – ein Vergnügen wie stets.« »Schön, Sie zu sehen, Emilio«, erwiderte Horatio. »Ich hoffe doch sehr, es hat Ihnen nicht zu viele Schwierigkeiten bereitet.« Emilio zuckte mit den Schultern. »Schwierigkeiten? Das würde Arbeit voraussetzen, die ich, wie Sie wissen, geflissentlich meide. Nein, durch eine Reihe höchst seltsamer Zufälle ist die Information, um die Sie gebeten haben, direkt in meinem Schoß gelandet. Ich hatte zu dem Zeitpunkt gerade Kaffee
getrunken und konnte es knapp vermeiden, mich zu verbrühen.« Er schüttelte mit Trauermiene den Kopf. »Aber Sie haben immer mehr Glück als ich. Ich nehme an, das kommt davon, wenn man seine ganze Karriere auf dem Unglück anderer aufbaut.« Es war nicht klar ersichtlich, ob er Horatio meinte oder sich selbst – Emilio hüllte sich gerne in Mehrdeutigkeiten wie andere Leute in Mäntel. »Mein Mitgefühl«, sagte Horatio lächelnd. »Ich hoffe, diese Beinahe-Tragödie hatte keine Auswirkungen auf die Qualität der Information.« »Oh, ich denke nicht. Die Quelle mag ein wenig schwer fassbar sein, aber sie ist stets äußerst zuverlässig.« Er öffnete den Reißverschluss der schwarzen Tasche und zog ein paar Papiere hervor. »Ich werde Sie natürlich nicht fragen, wozu Sie diese spezielle Information brauchen.« »Und ich werde Sie natürlich nicht fragen, woher Sie sie haben«, entgegnete Horatio und nahm die Papiere an sich. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, aber …«. »… aber da ich nichts getan habe, das irgendwelche Auswirkungen nach sich ziehen könnte, wäre Ihr Dank verschwendet«, beendete Emilio den Satz, und sein Lächeln wurde noch breiter. »Wirklich, dieser ganze Austausch hat nicht die geringste Bedeutung – welcher Art auch immer.« »Es ist beinahe so, als wären wir eigentlich gar nicht hier«, sagte Horatio. »Tatsächlich fühle ich bereits, wie meine Erinnerung an dieses nicht stattgefundene Ereignis verblasst, noch während wir miteinander sprechen.« »Dann sollten wir vielleicht Lebewohl sagen. Oder wir werden so vergesslich, dass wir schließlich als zwei Fremde enden, die nichts miteinander teilen als ein verlegenes Schweigen.« »Peinlich. Besonders vor dem Fisch.« »Ja, der Fisch. Auf Wiedersehen, Mr Caine.« »Leben Sie wohl, Emilio.«
Der Mann drehte sich um und ging davon. Horatio setzte sich auf eine Bank und fing an, die Papiere durchzusehen. »Schau an«, murmelte er schon einen Moment später. »Wenn das nicht interessant ist.« Der Film überraschte Wolfe mehr als einmal. Die Meereskreatur selbst war, wie Wolfe zugeben musste, ein wahrhaft beeindruckendes Monster. Sie wirkte absolut fremdartig und doch in ihrer Umgebung vertraut. Ein großer Teil des Films spielte sich unter Wasser ab, und sowohl Bildgestaltung wie auch Choreografie waren so kunstvoll, dass der Film bisweilen an eine Dokumentation erinnerte. Und er war tatsächlich unheimlich. Nicht auf die Art, wie es bei den meisten modernen Horrorfilmen der Fall ist, sondern auf eine sehr eindringliche Art, die dem Zuschauer das Gefühl vermittelte, etwas Furchtbares befände sich knapp außerhalb seines Blickfelds. In einer Szene glitt die lange Klauenhand des Monsters langsam aus einer dunklen Tintenwolke hervor, in einer anderen sah man den Schatten seines schuppigen, mit Piranhazähnen ausgestatteten Mauls hinter einem Wasserfall auftauchen. Besonders bedrohlich waren die Nacktszenen der Hauptdarstellerin – aufwendig von unten gefilmt, sodass nur ihre Silhouette zu erkennen war –, während sie in einer mondbeschienenen Bucht schwamm. Dann plötzlich tauchte die Meereskreatur auf. Sie folgte ihr, ahmte jede ihrer Bewegungen nach, und es entstand ein schauriges Wasserballett, das unverkennbar eine sexuelle und bedrohliche Atmosphäre besaß. Die Einstellung endete, ohne dass er sie tatsächlich berührt hätte, aber es war offenkundig, dass er sich danach sehnte. Bis zu diesem Moment war das Monster nur im Wasser gezeigt worden. In der nächsten Szene stieß es an die Oberfläche und ging – offensichtlich von Verlangen getrieben – an Land,
nur um dort zu stürzen und sich, um Atem ringend, die Brust zu halten. Die Kiemen an seinem Hals vibrierten, Wasser quoll hervor, und dann lag die Kreatur reglos da. Ein Augenblick verging. Plötzlich öffneten sich die Kiemen erneut, aber nun kam kein Wasser heraus, sondern Luft, begleitet von einem Zischen. Rhythmisch schlossen und öffneten sie sich, als das Monster sich seiner neuen Umgebung anpasste. Dann stemmte es sich auf die Beine … und lief mit noch unsicheren Bewegungen fort, auf der Suche nach dem Objekt seiner Begierde. »Vergiss es, Kumpel«, murmelte Wolfe. »Sie schwimmt in einem anderen Genpool.« Als ihm klar wurde, wem das Monster zuerst begegnen würde, hätte Wolfe am liebsten laut aufgestöhnt. Warum nannte man das die ›Straße der Liebenden‹?, dachte er. Es ist immer der erste Ort, den der Mörder heimsucht – man sollte es die ›Mordgasse‹ nennen. Das junge Paar parkte unter den Bäumen, blind gegenüber der drohenden Gefahr, und neckte sich in der typischen Art und Weise der damaligen Zeit, als die sexuelle Revolution noch in ferner Zukunft lag. Die Kamera lieferte dem Zuschauer einen Blickwinkel, aus dem heraus das sich nähernde Monster zu erkennen war. Wolfes Augen weiteten sich. Sein Finger ruckte vor, drückte auf eine Taste und hielt das Bild an. Das angespannte, drückende Gefühl in seinem Magen, unter dem er bereits litt, seit er herausgefunden hatte, dass er hinter einem fiktiven Monster her war, verschwand. An seine Stelle trat die erwartungsvolle Aufregung, die er stets hatte, wenn ein Fall sich plötzlich offen vor ihm ausbreitete. Die Akte, die Emilio Augustino für Horatio aufgetrieben hatte, war eine englische Übersetzung der sowjetischen Militärakte von Doktor Nicole Zhenko.
Sie war gleich nach dem Mauerfall in die Vereinigten Staaten emigriert. Davor war sie Kampftaucherin mit einem Universitätsabschluss in Meeresbiologie. Der Akte zufolge hatte sie außerdem Erfahrungen mit Spionage und dem Einsatz von Tieren bei militärischen Operationen. Angenommen, das Programm der Sowjets stellte eine Parallele zu dem der Navy dar, dann weiß sie mehr über sogenannte Delfinsoldaten, als sie zugibt, dachte Horatio. Und ihr Hintergrund als Agentin wirft noch mehr Fragen auf. Je mehr Horatio über Nicole Zhenko herausfand, desto weniger verstand er ihren Werdegang. War sie eine Delfinforscherin mit einem militärischen Hintergrund, eine verärgerte ehemalige Tierschutzaktivistin oder eine sowjetische Saboteurin, die versuchte, die Navy zu unterminieren? Er starrte die Glaswand des großen Aquariums an. Das Main Reef Aquarium enthielt zwei Komma acht Millionen Liter Wasser, in dem es vor Meeresgetier nur so wimmelte: Cobias, Zackenbarsche, Unechte Karettschildkröten. Grün eingefärbte Marmorsäulen am Boden vermittelten den Eindruck, die Fische würden durch die Trümmer einer alten, versunkenen Stadt schwimmen. Horatio fragte sich, wie so häufig während einer Ermittlung, ob der Mörder auch hier gesessen und die gleiche Szenerie betrachtet hatte. Fragte sich und stellte sich vor, was ihm zu diesem Zeitpunkt durch den Kopf gegangen sein könnte. Ihm – oder ihr. Als der Abspann des Films lief, wusste Wolfe einige wichtige Dinge, die er zuvor nicht gewusst hatte. Das Erste und Wichtigste war, dass Eileen Bartstow nicht gelogen hatte … aber sie hatte ihm auch nicht ganz die Wahrheit erzählt. Er beschloss, nach dem Grund zu fragen.
Sie öffnete die Tür, noch ehe die Klingel die ersten Takte von »Raindrops Keep Falling on My Head« spielen konnte, gekleidet in einen abgetragenen blauen Frotteebademantel und Pantoffeln. »Mister Wolfe«, sagte sie zögerlich. »Ich wollte gerade – bitte, kommen Sie rein.« Er tat es, aber dieses Mal setzte er sich nicht auf den Stuhl, den sie ihm anbot. »Es wird nicht lange dauern«, erklärte er. »Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass ich mich mit Ihrem Fall befasst habe.« »Und?«, fragte sie in resigniertem Ton. »Da gibt es ein paar Dinge, die Sie in Ihrem Bericht nicht erwähnt haben.« Sie starrte ihn eine Sekunde lang an, und ein ärgerlicher, wissender Ausdruck schlug sich in ihren Zügen nieder. »Oh, jetzt verstehe ich. Der Witz ist viel lustiger, wenn man ihn von langer Hand vorbereitet und die Pointe dann mit rechtschaffener Miene abliefert.« »Was?« »Okay, geben Sie es mir«, sagte sie. »Sie werden mir gleich erzählen, Sie hätten Probleme, einen Durchsuchungsbefehl für das Meer zu bekommen. Oder Sie hätten versucht, dem Verdächtigen die Fingerabdrücke abzunehmen, aber Sie hätten keine wasserfeste Tinte auftreiben können. Nur zu, ich kenne sie alle.« Er runzelte die Stirn. Dann zog er seine Marke hervor und hielt sie ihr hin. Sie musterte sie misstrauisch, rührte sich aber nicht. »Nehmen Sie sie«, sagte er. »Bitte.« Seufzend nahm sie die Marke in die Hand. »Sehen Sie sich die Marke genau an«, forderte Wolfe sie auf. »Denken Sie, dass sie gefälscht ist?« Sie betrachtete die Marke, wog sie in ihrer Hand. »Nein«, sagte sie widerwillig. »Das denke ich nicht.«
»Sich fälschlich als Polizist auszugeben ist ein ernstes Vergehen«, sagte Wolfe. »Ich bin ein echter Polizist, und ich nehme meine Arbeit ernst. Ich bin nicht Teil irgendeines ausgefeilten Scherzes – eigentlich bin ich gekommen, um herauszufinden, ob Sie versuchen, mich hinters Licht zu führen.« Sie gab ihm die Marke zurück. »Vor der Polizei eine falsche Aussage zu machen ist auch ein ernstes Vergehen – glauben Sie mir, das durfte ich mir oft genug anhören. Also schön, wir meinen es beide ernst.« »Warum haben Sie dann nicht erwähnt, dass Ihr Angreifer eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Filmmonster hat, für das diese Stadt bekannt ist?« Sie kniff die Augen zusammen. »Sie meinen das Ding, von dem jeder schon gehört hat? Das, dessen Gesicht in der ganzen Stadt klebt?« »Genau das, ja.« »Wissen Sie«, sagte sie, »eine ähnliche Frage habe ich mir in Bezug auf Sie gestellt. Zuerst dachte ich, Sie würden mich wirklich ernst nehmen … aber als ich später darüber nachgedacht habe, ist mir klar geworden, dass Sie mich verarscht haben müssen. Als hätten Sie Angst gehabt, ich würde ausflippen, wenn Sie andeuteten, mein Angreifer wäre nicht real. Oder Sie haben Ihr ganzes Leben in einer Höhle verbracht und wussten wirklich nicht, was ich da beschrieben habe.« Wolfe fühlte, wie sich seine Wangen röteten. »Nur, weil in meinem kulturellen Wissen ein paar Lücken klaffen, heißt das nicht, dass ich in einer Höhle gelebt habe«, sagte er. Sie studierte ihn einen Moment lang. Dann lächelte sie. »Sie machen Witze«, sagte sie. »Sie wussten es wirklich nicht?« »Nicht zu dem Zeitpunkt«, sagte er. »Sie dürfen meinen überfürsorglichen Eltern die Schuld geben und Reader’s Digest.« »Wie bitte?«
»Nichts«, sagte er, grinste und schüttelte den Kopf. »Sagen wir einfach, ich habe seit unserer letzten Unterhaltung ein paar Nachforschungen angestellt und meine kulturelle Datenbank was die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts betrifft aktualisiert.« Sie lachte. »Okay, machen wir das. Bedeutet das, dass Sie mich wirklich ernst genommen haben und dass Sie es jetzt nicht mehr tun?« »Nein«, sagte Wolfe. »Es bedeutet, dass ich Sie weiterhin ernst nehme – und wenn ich nach Miami zurückkehre, werde ich nicht der Einzige sein.« Horatio schlenderte noch eine Weile durch das Seaquarium. Er achtete kaum auf seine Umgebung. Er musste das, was er gerade erfahren hatte, verarbeiten, und wenn er wieder im Labor war, würden andere Dinge seine Aufmerksamkeit erfordern. Hier konnte er sich ganz im Inneren des Gebäudes verlieren, in der anonymen Menge der Touristen und Schulkinder. Irgendwann fand er sich dann doch draußen wieder, auf einer der Brücken, die zum Kinderspielplatz führten. Er lehnte sich an das Geländer und blickte hinab in das von Algen bedeckte Wasser des Betongrabens. Erbaut im Jahr 1955 war dies eine der ersten Attraktionen des Seaquariums gewesen: der Haikanal. Ammenhaie, manche gute neunzig Kilo schwer, schwammen träge durch ihr kreisförmiges Areal. Horatio wusste, dass sie zur Fütterungszeit deutlich mehr Energie zeigten, nämlich dann, wenn die Mitarbeiter des Seaquariums große Brocken rohen Fleisches ins Wasser warfen und einen Blutrausch auslösten, wie ihn die meisten Leute niemals zu sehen bekamen. Man musste schon die Haiwoche des Discovery Channel erwischen, um diese Art von Chaos zu sehen. Oder sich aus dem DVD-Handel eine DVD des Weißen Hai besorgen.
Aber, dachte Horatio, der die kleinen Kinder beim Rennen, Brüllen und Spielen auf dem Spielturm beobachtete, während ein paar Meter entfernt gefährliche Raubfische durch das Wasser glitten, man kann sich natürlich auch eine eigene Version zulegen.
12
In Calleighs Augen erinnerte South Beach an einen Spielplatz für Erwachsene, die unter einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom litten. Wie sehr die Spielzeuge auch glitzern und glänzen mochten, man musste ständig für Nachschub sorgen, damit niemand sich langweilte. Clubs und Restaurants – besonders am Ocean Drive und an der Collins Avenue – schienen sich in einem Zustand permanenter Veränderung zu befinden, waren ständigen Umgestaltungen oder Modernisierungen oder Eigentümerwechseln unterworfen, und jeder konkurrierte mit jedem als neueste und angesagteste Attraktion Miamis. Trotz dieser steten Veränderungen schien es ein paar Fixpunkte zu geben, in denen sich nur langsam etwas veränderte. Das galt vor allem für die Geschäfte, die dieselbe Kundschaft bedienten. Bars, die sich einer bestimmten Klientel verschrieben hatten, befanden sich oftmals im selben Häuserblock, und Restaurants, die sich auf eine Küche spezialisiert hatten, lagen meist nicht weit von einem Konkurrenzunternehmen entfernt. Die Washington Avenue verlief zwei Blöcke weiter im Westen parallel zu dem Küstenabschnitt am Ocean Drive. Hier gab es viele moderne Nachtclubs, Fresstempel und Hotels, aber nicht alle waren das, was man als glanzvoll bezeichnen könnte. Der Abschnitt, den Calleigh aufzusuchen gedachte, wies eine Präferenz für Erwachsenenbuchhandlungen, Stripclubs und Pornovideoläden auf. Die Sintight Boutique befand sich mitten im Block zwischen einem Herrenclub und einem Parkhaus. Die Fassade bestand
aus roten Ziegelsteinen. Ein leuchtend pinkfarbenes Neonschild hing über der schweren, fensterlosen Holztür mit einem schmucken Messinggriff. Sie öffnete und trat ein. Das Innere des Ladens war lang und schmal, wurde jedoch schnell zu einem größeren Verkaufsraum. Auf der rechten Seite verlief über die ganze Wandlänge ein Glastresen, während links vom Boden bis zur Decke die Waren präsentiert wurden. Ein Schienensystem mit verschiedenfarbigen Lampen lieferte punktgenaue Beleuchtung – auch in die schattigen Nischen unter der hohen Decke. Der Mann hinter dem Tresen thronte auf einem Hocker und las ein Buch. Er war in den Zwanzigern, trug eine Lederhose und ein schwarzes Seidenhemd. Sein Haar war kurz, braun und ordentlich frisiert, und er hatte einen schmalen Schnurrbart und am Kinn einen Ziegenbart. Zwei silberne Kegel ragten gleich unter der Unterlippe zu beiden Seiten des Ziegenbarts hervor und erinnerten an verchromte Hörner auf dem Kopf eines winzigen, haarigen Teufels. Er blickte auf, als sie eintrat, doch er sagte nichts. Stattdessen musterte er sie mit nichtssagender Miene. Sie blickte ihm in die Augen und lächelte, und er erwiderte das Lächeln. »Hi«, sagte er. Seine Stimme war tief, sein Ton vage amüsiert, als bilde ihr Erscheinen die Pointe zu irgendeinem ausgeklügelten Witz, den er ihr gleich erklären würde. »Hallo«, sagte sie und zögerte, ergriffen von einem seltsamen Gefühl, nicht ganz im Gleichgewicht zu sein. »Ich bin Calleigh Duquesne vom kriminaltechnischen Labor von Miami-Dade. Ich hatte mit der Eigentümerin gesprochen, einer Ms Keller?« »Ja, Cynthia erwähnte, dass Sie kommen würden. Sie ist im Moment nicht da«, erklärte der Mann. »Ein modischer Notfall bei einem unserer Kunden.« »Oh, Na ja, wann wird sie denn …?«
»Schon in Ordnung«, sagte er und legte sein Buch weg. »Cynthia hat mir gesagt, worum es geht. Ich kann Ihre Fragen beantworten.« Er kletterte von seinem Hocker, trat aber nicht näher. »Wenn Ihnen das genügt.« »Das hoffe ich«, erwiderte Calleigh. »Ich muss ein paar Dinge in Erfahrung bringen, die man nicht in irgendwelchen Fachbüchern findet. Und als ich es im Internet versucht habe, bin ich auf das Problem gestoßen, dass es dort zu viele Informationen gibt und die meisten von ihnen falsch sind. Ich brauche einen echten, erfahrenen Menschen, mit dem ich mich unterhalten kann.« »Ich denke, diesen Anforderungen sollte ich genügen«, sagte er. »Ich bin Archer. Kann ich Ihre Marke sehen?« »Natürlich«, antwortete Calleigh und löste die Marke von ihrem Gürtel. Dann trat sie vor, damit er sie sich genauer ansehen konnte. Er studierte sie eingehend, ohne sie jedoch zu berühren, trotzdem zeigte er ein gewisses persönliches Interesse. Archer blickte auf und sah ihr wieder in die Augen. Seine waren dunkelbraun, beinahe schwarz, umrahmt von langen Wimpern. »Danke«, sagte er. »Ich habe schon einige Fälschungen zu sehen bekommen.« »Tja, ich kann Ihnen versichern, dass meine echt ist.« Ihre Worte klangen ein wenig trotzig, und sie ermahnte sich im Stillen, sich zusammenzureißen. Es war wichtig, während einer Befragung die Oberhand zu behalten, anderenfalls würde man nur das erfahren, was der Befragte eh bereit war zu erzählen. »Das sehe ich«, sagte Archer. »Ihre Marke ist viel beeindruckender als die, die wir verkaufen.« »Sie verkaufen – Polizeimarken?« »Natürlich keine echten. Nur Modelle für Rollenspiele.« »Ich verstehe.« Für ihre Ermittlungen war das eigentlich nicht von Bedeutung, aber sie konnte nicht widerstehen zu fragen: »Gibt es das oft?«
»Leute, die sich wie Polizisten verkleiden? Klar. Aber wir verkaufen mehr davon an Frauen als an Männer.« Er legte eine Hand flach auf den Tresen und schwang sich locker zu ihr hinüber. Er bewegte sich mit der lässigen Anmut eines Athleten. »Entschuldigen Sie«, sagte er und griff an ihr vorbei zu einem Kleiderständer an der Wand. Er zog einen Bügel mit einem Kostüm hervor, bestehend aus einem kurzen schwarzen Rock, Netzstrümpfen, einem blauen Uniformhemd mit einer an der Tasche befestigten Marke, einer Spiegelglassonnenbrille und einer dunkelblauen Dienstmütze. »Oh ja, die Standardausrüstung der Akademie«, sagte Calleigh. »Aber natürlich musste man seine eigenen Stöckelschuhe mitbringen.« Er lächelte. »Die Accessoires sind dabei immer am teuersten. Man kann mehr Geld für ein gutes Paar Handschellen ausgeben als für das ganze Kostüm.« »Ich habe meine eigenen, danke«, sagte Calleigh. »Aber ich bin überzeugt, Sie verfügen über eine ausgezeichnete Auswahl.« Sie kam sich schon albern vor, als sie die Worte aussprach, aber ihm schien nichts dabei aufzufallen. »Also«, fragte er höflich, »warum sind Sie hier?« Sie blinzelte. »Gummi«, sagte sie. Sofort wünschte sie, sie hätte eine andere Formulierung gewählt, aber so war es herausgekommen, und nun hing das Wort gewissermaßen in der Luft wie ein riesiges aufgeblasenes Kondom. »Was möchten Sie wissen?«, fragte er in einem Ton, so unbeeindruckt, als hätte sie ihm eine steuerrechtliche Frage gestellt. Aber, überlegte sie, er muss ja sachlich bleiben. Das hier ist sein Arbeitsplatz – er wird jeden Tag von allen möglichen Leuten ausgefragt. Vermutlich hat er schon viel merkwürdigere Fragen gehört als die, die ich zu bieten habe. »Eigentlich geht es nicht um Gummi im Allgemeinen, sondern um Latex. Latex für Endverbraucher, sozusagen.«
Seine Brauen wanderten um eine Spur aufwärts. »Endverbraucher?« »Nicht im prophylaktischen Sinn«, erklärte sie. »Das ist nicht die Art Latex oder End … Ich meine, Endverbraucher war nur eine Art Fachterminus … was ich meine, ist ein bisschen perverser. Verdammt.« Sie unterbrach sich. Atmete tief durch. »Hören Sie, kann ich noch mal von vorn anfangen?« Er lächelte wieder und zeigte ihr dabei seine ausgesprochen ebenmäßigen weißen Zähne, zwischen denen nur die spitzen Eckzähne hervorstachen. »Bitte. Ich kann kaum erwarten, was Sie als Nächstes sagen werden.« Sie atmete langsam tief durch. »Okay. Ich untersuche einen Fall, bei dem die Beweise auf eine Person deuten, die ihre sexuelle Neigung mit Latex auslebt. Fetischwaren. Supatex Pearlsheen, blau, eine Latexqualität, die es in Miami ausschließlich bei Ihnen gibt.« »Ich verstehe. Kommen Sie mit.« Er machte kehrt und ging in den hinteren Bereich des Ladens. Calleigh stierte ihm eine Sekunde lang hinterher, ehe sie sich zwang, den Blick ein wenig höher zu heben und ihm zu folgen. Im hinteren Bereich vergrößerte sich der Laden. An den Wänden hingen Kleiderstangen und Spiegel mit kunstvoll vergoldeten Rahmen. In der Mitte des Raums standen mehrere Schaufensterpuppen auf einem Podest – eine in einer Schulmädchenuniform, eine andere in einer Schwesterntracht aus glänzendem weißen PVC und dazwischen eine männliche Puppe, die Lederweste und lederne Beinschützer trug. Alle stierten mit leerem Blick auf einen langen, niedrigen Tisch, auf dem eine vierte Puppe lag. Sie hatte Arme und Beine ausgestreckt und war an die vier Ecken des Tisches gefesselt. Eine Gasmaske bedeckte ihr Gesicht, und ihr Körper steckte in einem
leuchtend roten Latexanzug samt Kapuze, Handschuhen und Stiefeln. Calleigh brauchte eine Sekunde, bis ihr bewusst wurde, dass die Figur außerdem unter einer dünnen Lage transparenten Kunststoffs gefangen war, der sich an jede ihrer Kurven dicht anschmiegte. »Sieht aus, als hätten Sie vergessen, bei dieser da die Folie zu entfernen«, sagte Calleigh. »Das ist ein Vakuumbett«, erklärte Archer. »Man benutzt eine Pumpe, um sämtliche Luft im Inneren abzusaugen, dadurch wird die darin liegende Person fest versiegelt.« »Und die Gasmaske verhindert, dass der Benutzer erstickt.« »Richtig. Und wenn Sie auf Atemkontrolle stehen, können Sie sie dazu benutzen, die Sauerstoffmenge zu regulieren, die Ihr Spielgefährte erhält.« »Nennen Sie mich altmodisch, aber ich finde Luft ist ein Sonderzubehör, auf das man nicht verzichten sollte.« »Das ist nichts für jeden«, sagte Archer. »Eine Menge Leute treiben sich nur aus modischen Gründen in der Szene herum. Wir führen eine Menge Latex- und PVC-Waren.« Er deutete auf die Wand auf der rechten Seite, an der übereinander zwei lange Kleiderstangen angebracht waren, an denen glänzende, vorwiegend schwarze Kleidungsstücke hingen. »Rot ist unsere zweithäufigste Farbe, gefolgt von Weiß. Es gibt auch ein paar transparente Stücke und solche in Pink oder Purpur, aber Blau ist nicht so gefragt.« »Aber Sie führen es, richtig?« »Oh ja. Eine Farbe wie diese wird normalerweise allerdings eher für die Maßfertigung benötigt.« Er zog einen Ledervorhang zur Seite, hinter dem ein kleiner Raum zum Vorschein kam, in dem mehrere Materialrollen an einer Wand herumstanden, ebenso ein Zuschneidetisch und eine Nähmaschine. »Die meisten maßgefertigten Stücke werden hier genäht«, erklärte er.
Calleigh ging an ihm vorbei in den Raum hinein, beugte sich vor und inspizierte eine der Rollen. Das Material war von einem glänzenden, beinahe schillernden Blau, das vage an Fischschuppen erinnerte. »Das sieht aus wie das Zeug«, murmelte sie. »Stört es Sie, wenn ich davon eine Vergleichsprobe mitnehme?« »Bedienen Sie sich«, sagte Archer. »Latex ist ein interessantes Material. Als natürliches Polymer ist es einer der wenigen Gummistoffe, die weder in fester noch in flüssiger Form giftig sind.« Calleigh blinzelte. Hat er das gerade wirklich gesagt, überlegte sie, oder bin ich in einen von Wunschdenken gesteuerten Tagtraum abgeglitten? »Abgesehen natürlich von dem Allergieproblem«, fuhr er fort. »Man weiß immer noch nicht, welches Protein genau dafür verantwortlich ist, aber soweit ich informiert bin, gilt eines mit einem Molekulargewicht von 14,6 kDa als wahrscheinlichster Kandidat.« Sie richtete sich auf, drehte sich um und schenkte ihm ein Lächeln, in dem sich eine Spur Argwohn bemerkbar machte. »Für jemanden, der in einem Sexshop arbeitet, verfügen Sie über ein erstaunliches Wissen, Mr Archer.« »Nur Archer. Oder Mr Bronski, falls Ihnen das lieber ist.« »Mm. Also … Archer, Sie haben vollkommen recht, Latex ist eine außergewöhnliche Substanz. Kennen Sie sich mit all den anderen Materialien hier auch so gut aus?« »Ich weiß ein paar Dinge darüber. Ich bin von Natur aus neugierig, und ich habe ein gutes Gedächtnis. Wie Latex ist es ohne Verformung dehnbar und kann zu seiner Ausgangsform zurückkehren – das gute Gedächtnis, meine ich. Latex schrumpft während der Vulkanisation, aber nur um drei oder vier Prozent. Bei der Vulkanisation wird Schwefel zugesetzt, der über einen Zeitraum mehrerer Monate zur Vernetzung der
Moleküle beiträgt, sodass das Material sich langsam zu einer der dehnbarsten Gummiarten entwickelt. Und zu einer der gefühlsechtesten.« »Wie das hier?«, fragte sie und zog einen Beweismittelbeutel aus der Tasche. »Man kann es bis auf tausend Prozent der Ausgangslänge dehnen, aber es ist nicht sehr widerstandsfähig. Öle, Ozon, sogar ultraviolettes Licht können zum Zerfall führen. Das ist einer der Gründe, warum wir den Raum hier nur so schwach ausleuchten.« Calleigh sah sich um und nahm eine Nähschere vom Tisch, um eine Ecke des Materials abzuschneiden. »Und ich dachte, der Grund dafür wäre die Atmosphäre im Laden.« Er zuckte mit den Schultern. »Die Kundschaft, die wir bedienen, kann auf großes Trara tatsächlich gut verzichten. Niemand kauft gern Fetischware unter fluoreszierenden Lichtern und einem Schild, auf dem in großen orangefarbenen Lettern ›Räumungsverkauf!‹ steht.« »Ich schätze, das ist der Grund, warum ich ein Problem damit habe«, sagte Calleigh, legte die Probe in den Umschlag und verstaute ihn in ihrer Tasche. »Ich meine, niemand ist so schwer ernst zu nehmen wie die Leute, die genau das von einem erwarten.« Dieses Mal glich sein Lächeln beinahe einem Grinsen. »Da stimme ich Ihnen zu. Und glauben Sie mir, niemand ist verzweifelter darauf angewiesen, ernst genommen zu werden als eine Hundert-Kilo-Frau, die versucht, sich in einen hautengen Catsuit zu zwängen.« »So? Sie werden sich doch nicht hinter ihrem Rücken über Ihre Kunden lustig machen?« »Überhaupt nicht. Ich versuche nur, ein Gleichgewicht zu halten. Perversion ohne einen gewissen Sinn für Humor ist, als würde man Leute beobachten, die ohne Musik tanzen – irgendwie absurd und sinnlos.«
»Das Beobachten oder das Tanzen?« »Ich selbst bin eher ein Tänzer als ein Beobachter … wie steht es mit Ihnen?« »Ich … ich schätze, ich ziehe es vor, zuzusehen«, sagte sie lächelnd. »Immerhin gehört das Beobachten zu meinem Job.« Das letzte Wort betonte sie ein bisschen mehr als den Rest. Er griff den Hinweis dankbar auf. »Nun, Beobachten ist eine Möglichkeit zu lernen.« »Und Fragen stellen ist eine andere«, erwiderte sie. »Beispielsweise: Führen Sie eine Liste der Kunden, für die Sie Maßanfertigungen machen?« »Eigentlich nicht.« Sie runzelte die Stirn. »Was meinen Sie mit ›eigentlich‹?« »Trotz der Tatsache, dass Fetischkultur sich mehr und mehr etablieren konnte, ist das für manche unserer Kunden noch immer ein heikles Thema, und das kann sogar Material für eine mögliche Erpressung liefern. Aus diesem Grund führen wir offiziell keine Aufzeichnungen, in denen die Namen und Adressen unserer Kunden aufgeführt werden.« Er betonte das Wort ›offiziell‹ so, wie sie das Wort ›Job‹ betont hatte, aber sein Gesichtsausdruck wirkte nicht streitlustig, sondern eher ein wenig herausfordernd. »Also, wenn es keine Liste gibt, wird mir ein Durchsuchungsbefehl wohl nicht weiterhelfen«, sagte sie. »Sagen wir beispielsweise ein Durchsuchungsbefehl, der mir den Zugriff auf Ihre Computerdateien gestatten würde.« »Ich fürchte, Sie würden nur Ihre Zeit verschwenden. Gäbe es irgendwelche persönlichen Informationen, würde ein intelligenter Mensch sie nicht im Computer speichern – oder irgendwo innerhalb der Geschäftsräume.« »Nein, ich nehme an, das würde er nicht«, sagte sie. »Man würde sie so aufbewahren, dass sie sicher, aber schnell abrufbar wären – beispielsweise auf einem E-Mail-Account. Zu
schade, dass diese Accounts relativ einfach aufgespürt werden können.« »Nicht, wenn man weiß, was man tut. Und die richtigen Vorsichtsmaßnahmen ergreift.« »Automatische Datenlöschung? Sie wären überrascht, was wir alles von gelöschten Festplatten herunterholen.« »Auch dann, wenn die Hardware in Singapur steht?« Sie seufzte. »Okay, okay. Ich kann Sie also nicht zwingen, mir die Information zukommen zu lassen.« »Im Grunde können Sie nicht einmal beweisen, dass die Information existiert.« Sie kniff die Augen zusammen. »Mir zu sagen, ich könnte irgendetwas nicht beweisen, ist ein Fehler.« »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er. Sie musterte sein Gesicht auf der Suche nach einem Ausdruck des Spotts, aber er schien es ernst zu meinen. »Also schön«, sagte sie. »Hören Sie, Archer, ich verstehe, dass Sie versuchen, die Privatsphäre Ihrer Kunden zu schützen, aber ich versuche das Leben von Menschen zu schützen. Die Information, über die Sie verfügen, könnte durchaus einen Mord verhindern.« Nun musterte er sie eingehend. Nach einer Weile nickte er. »Wissen Sie, viele Leute haben ein sehr negatives Bild von der Fetischszene. Sie denken, jeder, der extreme sexuelle Vorlieben pflegt, müsse böse oder krank sein. Das ist die gleiche Haltung, die lange Zeit gegenüber der Homosexualität geherrscht hat. Aber ich sehe diese Leute jeden Tag. Sicher, manche neigen zu einer überzogenen Selbstdarstellung, aber die meisten sind einfach nur ganz normale Leute. Sie wollen niemandem ihre Vorlieben aufzwingen. Sie wollen nur spielen.« »Das war keine moralische Beurteilung.« Er hielt eine Hand hoch, und sie verstummte.
»Wissen Sie, was das wichtigste Element bei dieser Art von Perversion ist? Das sind nicht die Peitschen oder Ketten oder Lederballknebel – das ist Vertrauen. Wir spielen gern mit Fesseln, wir lassen uns verhauen, und wir verkleiden uns, aber nichts davon geschieht, solange sich die Leute, die daran beteiligt sind, nicht sicher genug fühlen, um derartige Risiken überhaupt einzugehen. Man muss jemandem vertrauen, um sich fesseln und wehtun zu lassen – oder sich auch nur in bestimmten Kostümen zu zeigen. Vertrauen ist etwas, das in unserer Gemeinschaft sehr ernst genommen wird … und ich bin eine der Personen, denen diese Leute jeden Tag ihr Vertrauen schenken.« »Ich verstehe«, sagte sie. »Ich habe meiner Arbeit gegenüber eine ähnliche Haltung.« »Eine Information weiterzugeben ist gefährlich. Würden Sie die Information erhalten, nach der Sie suchen, dann würde sie nicht bei Ihnen bleiben – sie würde Teil Ihrer Ermittlungen werden. Und von dem Moment an hätten alle möglichen Leute Zugriff darauf. Leute, die den Menschen, die mir ihr Vertrauen schenken, vielleicht weniger Verständnis entgegenbringen.« Er wollte ihr helfen. Calleigh wusste es, konnte es in seinen Augen sehen, an seiner Körperhaltung. Aber ebenso sicher wusste sie, dass er es nicht tun würde – nicht, solange sie ihm nicht irgendeine Form von Garantie liefern konnte. »Die Information, die ich brauche, ist sehr spezieller Natur«, sagte sie vorsichtig. »Mit größter Wahrscheinlichkeit handelt es sich um einen Kunden, der ein maßgefertigtes Stück aus blauem Supatex Pearlsheen bestellt hat. Das kann nicht auf allzu viele Ihrer Kunden zutreffen.« »Vertrauen besteht aus mehr als nur Fragen und Antworten«, sagte er sanft. »Das ist ein sehr persönlicher Austausch. Ich weiß, was Sie brauchen – aber was bieten Sie mir dafür?« Sie blickte ihm ruhig in die Augen. »Was wollen Sie?«
Er lächelte, aber es war ein nachdenkliches Lächeln, kein lüsternes. »Gute Frage. Ich denke, ich möchte eine Art Versicherung, aber ich werde erst darüber nachdenken müssen, welcher Art diese Versicherung sein könnte.« Sie seufzte. »Okay. Ich gebe Ihnen meine E-Mail-Adresse. Melden Sie sich, wenn Sie eine Entscheidung getroffen haben.« Sie zog eine Karte hervor und wollte sie ihm übergeben, doch sie glitt ihr aus den Fingern, als er die Hand danach ausstreckte, und landete auf der kunststoffversiegelten Figur in dem roten Latexanzug. Calleigh bückte sich, um die Karte aufzuheben – und als sie nach der Karte griff, sah sie, dass sich der Brustkorb der Figur bewegte. Abrupt richtete sie sich wieder auf und erkannte, dass ein Augenpaar sie vollkommen ruhig aus dem Inneren der Gasmaske heraus beobachtete. »Das ist … ein Mensch«, sagte sie. »Ja«, sagte Archer. »Die meisten Leute ziehen es vor, das Vakuumbett nackt zu erleben, aber sie steht auf schweres Gummi – mehrlagig.« »Ist das eine … Dienstleistung Ihres Hauses?« Er lachte leise. »Nicht ganz. Latex ist teuer, darum hat sie angeboten, eine bestimmte Anzahl von Stunden als lebendige Auslage für uns tätig zu sein – im Gegenzug kann sie den Anzug behalten. Sie macht dabei eigentlich das bessere Geschäft – sie kann eine ihrer Fantasien ausleben und ein qualitativ hochwertiges Stück behalten.« »Warum benutzen Sie dafür nicht einfach eine Puppe?« Er zuckte mit den Schultern. »Weil sie eine von uns ist. Wenn wir nicht zusammenhalten, wie sollen wir dann überleben?« »Sie meinen Solidarität?« »Ja«, sagte er schlicht. Calleigh reichte ihm die Karte, und er nahm sie an sich. »Ich verspreche, mich zu melden«, sagte er.
»Gut«, entgegnete sie und hatte das Gefühl, dass Archer Bronski ein einmal gegebenes Versprechen kaum brechen würde – und dass er im Gegenzug das Gleiche von ihr erwartete. Doktor Nicole Zhenko geht schwimmen. Dort, im Wasser, fühlt sie sich am lebendigsten, sie fühlt sich heimisch. Sie hat einen großen Teil ihres Lebens in diesem Element verbracht, und sie empfindet seinen Bewohnern gegenüber eine Verbundenheit, die ihre zwischenmenschlichen Beziehungen unbeholfen erscheinen lässt – nicht, dass sie je das gewesen wäre, was man gemeinhin unter einer geselligen Person versteht. Sie hat versucht dazuzugehören, Freundschaften aufzubauen, Beziehungen einzugehen – mit beiden Geschlechtern –, aber sie hatte von jeher Kontaktschwierigkeiten. Es ist, als wäre die Luft zu dünn, um den Sinn ihrer Worte zu tragen, als wäre zwischen ihr und dem Rest der Menschheit ein Vakuum, eine Leere, die nicht überbrückt werden kann. Sie hat es versucht, aber jede Brücke, die sie erbaut, wird irgendwann von der Glut ihres Zorns in Brand gesetzt. Aber unter Wasser gibt es keine Flammen, nur kühles Blau, düsteres Grün und unendliche Stille. Sogar die räuberischen Kreaturen sind hier geschmeidig und graziös, erwecken eher den Eindruck von Kunstwerken als den biologischer Objekte. Das ist der Ort, wo sie hingehört, das ist ihr wahres Zuhause. Denn auch sie ist eine räuberische Kreatur. Sie hat ihre Fähigkeiten bei einer Spetsialnoye Nazranie erworben, einer Truppe für spezielle Aufgaben, die einer sowjetischen Marineeinheit angeschlossen war, die für die Ausbildung von Delfinen und Belugawalen verantwortlich war und sich mit deren militärischem Einsatz befasste. Sie ist versiert in allen Bereichen des Kampftauchens, von Unterwasserangriffen bis hin zur Steuerung kleiner, für kurze Reichweiten ausgeleg-
ter U-Boote, mit denen die Taucher in ihr jeweiliges Zielgebiet kamen. Bei Bedarf kann sie binnen Sekunden aus dem Wasser auftauchen, einem Posten die Kehle durchschneiden und dabei weniger Geräusche verursachen als ein flacher Stein, der über das Wasser hüpft. Jedenfalls konnte sie das, bevor sie ihre Beine verlor. Jetzt ist ihr Übergang aus dem nassen Element auf trockenes Land ein langsamer, unbeholfener Prozess. Sie braucht technische Hilfsmittel, um sich zu bewegen, technische Hilfsmittel, um sich aufzurichten, damit die Leute nicht ständig auf sie herabblicken. Jetzt ist sie immer wütend, sogar die Tiefen des Atlantiks reichen nicht mehr, um das Feuer zu löschen, das in ihrem Inneren lodert. Seltsamerweise ist sie nicht wütend auf den Tigerhai, der ihr das rechte Bein über dem Knie abgerissen hat, und gleich darauf zurückgekehrt ist und ihr auch das andere Bein nahm – er hatte nur getan, wozu er geschaffen war, worauf Millionen Jahre der Evolution ihn vorbereitet hatten. Als er ihre Beine verschlungen hatte, hatte er sie zu einem Teil einer komplexen Lebensstruktur gemacht. Es war ein Übergangsritus gewesen, einer, durch den sie sich zutiefst geehrt fühlte. Sie war durch diesen Verlust nicht behindert, sondern hatte eine Chance erhalten, eine Möglichkeit zur Transformation. Die Möglichkeit, etwas Übermenschliches zu werden. Und sie hatte akzeptiert. Die Fußteile ihrer Prothesen konnten flexibel eingestellt werden, was ihr unter Wasser eine größere Bewegungsfreiheit gestattete als zuvor mit ihren eigenen Beinen. Ihre neuen bluteten auch nicht, sie krampften nicht, waren immun gegen Blasenbildung, Fußpilz und sogar Knochenbrüche. Karbonfaserverbundstoffe waren widerstandsfähiger und leichter als Knochen, und die gebogene Form nutzte fünfundneunzig Prozent der Energie, die sie aufbringen konnte.
Das war die zweite Phase ihrer Transformation. Sie hatte sie unausweichlich dazu geführt, weitere Veränderungen in Betracht zu ziehen. Veränderungen ihrer Werte, ihres Berufslebens und ihrer Selbstsicht. Ihr Körper selbst hatte sich verändert, und sie passte nicht mehr in ihr eigenes Leben. Ihre neue Gestalt hatte neue Prioritäten, neue Bedürfnisse … aber vielleicht waren sie auch gar nicht so neu. Vielleicht waren sie so alt wie die Begierden im Hirnstamm eines Hais, so alt wie das Bedürfnis zu jagen, zu töten und zu essen. Vielleicht waren es aber gar keine primitiven Bedürfnisse, sondern etwas, das viel weiter entwickelt war: ein Gefühl der Verantwortung, der Verpflichtung. Die moralischen Imperative einer neuen Lebensform, die besser entwickelt war als die zankenden, selbstsüchtigen Affen, von denen sie abstammte. Eine Lebensform, die verstanden hatte, dass die Ozeane das Blut des Planeten bildeten … ein Blut, das selbst nach Blut rief, nach Blut verlangte. Sie gleitet über die Bootswand und in das Wasser hinein. Der Latexanzug, den sie trägt, ist von ganz besonderer Machart, in den gewölbten Rücken ist ein geschlossenes Kreislauftauchgerät eingearbeitet, das ihr erlaubt, über einen langen Zeitraum unter Wasser zu bleiben. Mundstück, Luftschläuche, all die Dinge, die üblicherweise außen liegen, sind verborgen unter einer Lage aus schimmerndem blauen Latex, die nun ihre zweite Haut geworden ist. Ihre Beine sind nicht ihre einzigen Prothesen: die kunstvoll geformte Maske, die Flossen an ihren Körpergliedern, die Handschuhe mit den rasiermesserscharfen Klingen an den Fingerspitzen – das alles ist nun ein Teil von ihr. Und der künstliche Phallus, der in grotesker Weise aus ihren Lenden aufragt, ist mehr als nur ein Symbol, er ist eine Waffe, eine, die es ihr gestattet, angemessen zu strafen, denen Gewalt anzutun, die der See Gewalt antun …
»Nein«, murmelte Horatio. »Nur die Frauen wurden vergewaltigt. Und wozu die mühsame Versenkung des Wagens?« »Tut mir leid, wenn ich störe, H.«, sagte Wolfe, der auf der Schwelle zu Horarios Büro stand. »Aber ich glaube, diese Frage kann ich beantworten.« Horatio stieß sich mit dem Stuhl vom Schreibtisch ab und stand auf. »Ich habe mir gerade ein mögliches Szenario durch den Kopf gehen lassen«, sagte er. »Wie war das mit dem Wagen?« »Sehen Sie sich das an.« Wolfe reichte Horatio einen Computerausdruck. »Das ist eine Vergrößerung eines Einzelbilds aus dem Film Kreatur aus der Tiefe.« Das Schwarz-Weiß-Bild zeigte zwei Teenager auf den Vordersitzen eines Wagens in einem kleinen Wäldchen. Obwohl das Bild offensichtlich bei Nacht aufgenommen worden war, erkannte Horatio den Wagen sofort – ein 57er Chrysler 300C, das gleiche Modell wie das, in dem Janice Stonecutters Leiche gefunden worden war. »Gut gemacht, Mr Wolfe«, sagte Horatio lächelnd. »Demnach nehme ich an, dass Ihr Ausflug die Mühe wert war.« »Eileen Bartstow hat die Wahrheit gesagt. Sie wurde von jemandem angegriffen, der ein genaue Kopie des Anzugs aus diesem Film getragen hat – eine Nachahmung, die so real wirkte, dass sie glaubte, sie hätte es mit einem echten Monster zu tun.« »Das hatte sie«, murmelte Horatio und studierte das Bild. »Also ist das Szenario, das unser Wassermann nachzuahmen versucht, nicht historischer, sondern cineastischer Natur. Haben Sie noch weitere Parallelen entdeckt?« »Na ja, die Bucht, in der Bartstow angegriffen worden ist, ist einer der Orte, an dem einige Szenen des Films spielen – aber das ist noch nicht alles. Erinnern Sie sich an die U-BootAttrappe, an der das Seil befestigt war? In dem Film gibt es eine Szene, in der die Meereskreatur ein U-Boot der Navy angreift und versenkt.«
»Was bedeutet, dass wir uns die Trümmer genauer ansehen müssen. Ich setze Delko darauf an.« Horatio zog sein Mobiltelefon hervor. »Äh …H.?« »Ja?« »Kann ich es ihm sagen?« Horatio hielt inne. Dann klappte er grinsend sein Telefon zu. »Nur zu. Aber vergeuden Sie nicht zu viel Zeit damit, sich an seinem Unglück zu weiden.« Die E-Mail wartete schon auf Calleigh, als sie ins Labor zurückkam. Liebe Ms Duquesne, ich habe lange über Ihre Bitte nachgedacht. Meine Hauptsorge ist, wie ich erkennen musste, nicht die Weitergabe privater Daten. Sie sind offensichtlich intelligent genug, um Ihre Quellen zu schützen, wenn es notwendig ist. Mehr Sorgen bereitet mir Ihre Haltung. Bitte nehmen Sie das nicht persönlich. Sie haben mich größtenteils äußerst respektvoll und höflich behandelt. Solange sich unser Gespräch auf einer hypothetischen Ebene bewegt hat, schienen Sie bereit zu sein, sich unvoreingenommen zu verhalten, wie es sich für eine Wissenschaftlerin und Ermittlerin gehört. Aber alternative Modelle menschlichen Sexualverhaltens bilden einen Themenkreis, der sich einer leidenschaftslosen Diskussion verschließt. Tatsächlich ist Leidenschaft die eigentliche Essenz der Sache. Ihre Reaktion auf Rs Anwesenheit in dem Vakuumbett war ehrlich und entmutigend. Es ist verstörend, mit einer außergewöhnlichen sexuellen Situation konfrontiert zu werden, vor allem, wenn man nicht damit rechnet. Als Kriminalistin wissen Sie jedoch, dass ein einziges Vorkommnis kaum als repräsentativ
betrachtet werden kann, und ich würde es zutiefst bedauern, sollte Ihre künftige Einstellung auf diesem einen Beispiel aufbauen. Daher möchte ich Sie einladen, Ihren Erfahrungshorizont zu erweitern, indem Sie einem kulturellen Ereignis beiwohnen – ausschließlich als Beobachterin, nicht als Teilnehmerin. Der Nachtclub Szexx veranstaltet jede Woche eine Fetischnacht. Forscher jeder Richtung sind willkommen, doch die meisten gehören der Riege der Gummi- und Latexgläubigen an. Zuschauer sind gewöhnlich nicht zugelassen. Dies ist eine Feier unserer Gemeinde, kein Aquarium – aber ich glaube, der Wunsch nach Verständnis vonseiten einer Kriminalistin ist wertvoll genug, um jegliche Bedenken in Bezug auf Voyeurismus auszuschließen. Angemessene Kleidung ist erforderlich, ein freizügiges (oder kostspieliges) Kostüm hingegen nicht. Es werden auch Anhänger von Klinikspielen zugegen sein – folglich wird ein einfacher Laborkittel über Ihrer normalen Kleidung ausreichend sein. Bitte verstehen Sie die Einladung in dem Geiste, in dem ich sie verfasst habe. Ihr nachzukommen wird nicht allein demonstrieren, dass Sie imstande sind, meiner Gemeinde vorurteilslos und ohne Misstrauen zu begegnen, es wird Ihnen auch Erkenntnisse einbringen, die Sie, dessen bin ich sicher, als wertvoll ansehen werden – Erkenntnisse, die, das verspreche ich, für Sie verfügbar sind, sobald ich Ihre Antwort erhalte. Ihr Archer Bronski Calleigh musste die Zeilen zweimal lesen. Dann seufzte sie und drückte auf ›ANTWORTEN‹. »Was tue ich nicht alles für meinen Job«, murmelte sie. Woher sie sich wohl ein Stethoskop würde leihen können, fragte sie sich.
13
Der Haufen aus verrostetem und korrodiertem Metall auf dem Boden der Garage des kriminaltechnischen Labors hatte wenig Ähnlichkeit mit einem Unterseeboot. Horatio, die Hände in die Hüften gestemmt, umrundete alles mit gemächlichen Schritten und versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl auf dem Meeresgrund ausgesehen hatte. Delko kniete in einem Overall am Boden, vermaß die Wrackteile und übertrug die Daten in einen Organizer. »Ich kann nicht glauben, dass mir das entgangen ist«, murrte er leise. »Mach dir keine Vorwürfe, Eric«, beruhigte Horatio. »Es sieht aus wie irgendein Müllhaufen – einer, der offenbar schon lange Zeit dort unten gelegen hatte.« »Nicht so lange, wie du vielleicht denkst«, entgegnete Delko düster. »Ich habe die Muschelverkrustung und den Seegrasbewuchs dokumentiert, und nun denke ich, das alles war nicht länger als ein paar Monate da unten. Die Oberflächenkorrosion hat mich in die Irre geführt, aber ich nehme an, es war schon in diesem Zustand, als es versenkt wurde.« »Es gibt kaum Gründe, hochwertige Materialien zu verwenden, wenn das ganze Projekt eh auf dem Grund des Ozeans stattfinden soll.« »Die Nieten sind neu, aber der Rest ist vermutlich von einem Schrottplatz.« »Vielleicht von demselben Ort, von dem auch die Fässer stammten, die er für den Transport des Wagens benutzte?« Delko nickte. »Schon möglich.«
»Ich lasse dich dann besser arbeiten.« Horatio hätte sich selbst auch gern ein wenig die Finger schmutzig gemacht – aber er wusste, dass Eric sich gerade sehr ärgerte und jede Unterstützung seitens seines Vorgesetzten ihm nur das Gefühl mangelnden Vertrauens vermittelt hätte. Wenn er den Kriminalisten einfach allein ließ, würde Delko sich vermutlich umso härter antreiben, um Ergebnisse zu bekommen. Ich könnte ihn daran erinnern, dass er derjenige war, der Janice Stonecutters letzte Nachricht entdeckt hat, überlegte Horatio. Aber ein bisschen verletzter Stolz konnte eine Menge bewirken … und so behielt er seine Gedanken für sich. Mit dem Aufzug fuhr er in das nächsthöhere Stockwerk, um Wolfe und Calleigh im Computerlabor einen Besuch abzustatten. »Wo stehen wir, Leute?« »Ich durchsuche Militärakten nach lizenzierten Gerätetauchern«, berichtete Wolfe. »Ist das nicht eher Erics Spezialgebiet?«, fragte Horatio milde. »Er ist beschäftigt«, entgegnete Wolfe grinsend. Calleigh seufzte. »Und ich … gebe mich damit zufrieden, einfach meine Arbeit zu tun.« Horatio zog den Kopf ein und lächelte. »So ein bisschen Konkurrenz schadet nicht … Und? Woran arbeitest du?« Sie zögerte. Dann errötete sie leicht. »Ich warte auf … die Antwort einer Kontaktperson. Mit, du weißt schon, Informationen.« »Gut … ich nehme an, das hat etwas mit der Latexquelle zu tun?« »Ja. Meine Kontaktperson war ein bisschen ablehnend, aber ich denke, ich konnte ihn zur Zusammenarbeit überreden.« »Gut zu hören. Kannst du mir einen Gefallen tun, während du wartest?«
»Sicher, H.« »Schau, ob du irgendeinen militärischen oder tauchsportlichen Bezug zu dem kyrillischen Buchstaben herstellen kannst, den wir an Janice Stonecutters Leiche gefunden haben. Er war immerhin so wichtig, dass sie ihn in ihren eigenen Körper eingeritzt hat. Das sollten wir nicht vergessen.« Calleigh nickte. »Natürlich. Ich mache mich gleich dran.« »Gut. Ich bin in meinem Büro … und sehe mir einen Film an.« Wolfe und Calleigh wechselten einen raschen Blick. »Warum soll hier nur Mr Wolfe seinen Spaß haben«, sagte Horatio. »Mann, gibt es in Florida viele Gerätetaucher«, sagte Wolfe und unterdrückte ein Gähnen. »Entschuldigung.« »Hmm«, machte Calleigh geistesabwesend und starrte weiter auf ihren Monitor. »Ryan, kennst du einen Nachtclub namens Szexx?« »Kommt mir bekannt vor. Drüben an … der Lincoln, glaube ich. War nie da, bin aber mal daran vorbeigefahren. Warum?« »Ach, nichts. Jemand hat ihn mir gegenüber erwähnt, und ich dachte daran, mich da mal umzusehen.« »Hast du in der Sache mit den kyrillischen Buchstaben schon was erreicht?« fragte Wolfe und streckte sich. »Jede Menge russische Websites, von denen die meisten vorwiegend daran interessiert sind, mir Pornos oder Viagra zu verkaufen oder mir alleinstehende Frauen aus Wladiwostok vorzustellen. Bisher sieht nichts davon relevant aus – und bei dir?« »Wie ich schon sagte, es gibt eine Menge Gerätetaucher in Florida. Außerdem gibt es auch haufenweise Militärpersonal und ehemalige Militärangehörige. Ich glaube, jeder überlebende Veteran seit dem Koreakrieg hat beschlossen, sich hier zur
Ruhe zu setzen.« Wolfe schüttelte den Kopf. »Wir können auf keinen Fall jede einzelne Person auf dieser Liste überprüfen, wir werden die Suche eingrenzen müssen.« »Hast du es schon mit Querverweisen zu Umweltschutzorganisationen versucht?« »Deren Mitgliederlisten sind nicht öffentlich zugänglich. Wir bräuchten eine richterliche Anordnung, und ich glaube nicht, dass irgendein Richter uns den Zugriff auf die Daten jeder Ökotruppe im ganzen Staat gestatten wird, nur weil wir denken, dass eines ihrer Mitglieder ein Psycho sein könnte.« »Nein«, sagte sie, »aber vielleicht können wir Zugriff auf etwas anderes erhalten. Etwas weniger Angesehenes, etwas, das ein deutlich kleineres Feld abdeckt.« Sie drückte in schneller Folge einige Tasten. »Themenabende werden von vielen Clubs ausgerichtet. Sie holen sich DJs, die eine bestimmte Art von Musik spielen, oder sie sponsern Events oder sogar irgendwelche Produkte – und das geht nicht ohne Werbung.« Wolfe beugte sich über ihre Schulter und studierte den Bildschirm. »Und?« »Und Clubs haben Adresslisten, damit sie ihre Gäste über bevorstehende Veranstaltungen informieren können. Wenn unser Freund auf Latex steht, dann ist er nicht nur ein Serienmörder – er ist auch bevölkerungsstatistisch erfasst.« Wolfe nickte. »Klingt logisch. Es dürfte viel einfacher sein, einen Durchsuchungsbefehl für ein Lokal zu bekommen, in dem Perverse rumhängen, als für den Sierra Club.« Calleigh sah ihn an und runzelte die Stirn. »Bleiben wir doch lieber bei dem Wort ›Themenabend‹, okay?« »Hä? Was denn? Habe ich etwas gesagt, das politisch nicht korrekt ist?« »Vermutlich.«
»Wie soll ich sie dann nennen? Gummisexuelle? Ganzkörperkondomenthusiasten?« »Das sind ganz einfach irgendwelche Leute, in Ordnung? Eine Vorliebe für Latex ist nicht relevanter als die Frage, wie oft der Zweitname ›Wayne‹ bei Mördern in Erscheinung tritt.« »Schon gut, schon gut, tut mir leid. Manchmal mache ich den Mund auf, ohne nachzudenken.« »Das ist schon in Ordnung. Vergiss es nur nicht.« »Werde ich nicht, ich … warte mal.« »Interessant ist es aber, oder? Die Wayne-Geschichte.« »Das ist die Website des Szexx. Der Club, nachdem du mich gefragt hast.« »John Wayne Gacy, Elmer Wayne Henley – da ist dieser Kerl im Internet, der eine ganze Liste zusammengestellt hat …« »Der Club, in dem du dich umsehen wolltest.« »Angeblich liegt das daran, dass sie alle üble Machoväter hatten, die sie nach John Wayne benannt und dann misshandelt haben, als sie noch Kinder waren, aber das ist nur eine Theorie …« »Hmm. ›Bounce and Squeeze, ein Fetischabend für Latex-, Uniform- und Lederfreunde.‹ Interessant.« Calleigh drehte sich langsam um und sah Wolfe an. Ihr Lächeln brachte das auf seinen Lippen zum Gefrieren. »Ryan«, sagte sie, »weißt du, wie viele Schusswaffen ich besitze?« »Äh, nein.« »Möchtest du eine Schätzung riskieren?« »Äh … viele?« »Das ist richtig. Möchtest du wissen, wie viele davon nötig wären, um dir das Leben ausgesprochen schwer zu machen?« Er schluckte. »Wie viele?« »Keine Einzige«, sagte sie und wandte sich wieder ab. »Richtig«, sagte er. »Also … meinst du, wir können eine richterliche Anordnung für die Adressliste des Szexx bekommen?«
»Kommt darauf an«, sagte sie. »Ich hoffe, dass wir die gar nicht brauchen.« »Du wartest also immer noch auf die Kontaktperson von dieser Latexquelle?« »Ja. Falls sich dieser Kontakt nicht auszahlt, werde ich etwas aggressiver vorgehen müssen.« »In diesem Fall tut mir deine Kontaktperson jetzt schon leid.« Delko untersuchte jedes einzelne Stück des verrosteten, korrodierten Metalls von beiden Seiten. Er entnahm eine der Nieten und studierte sie sorgfältig. Er vermaß sie, fotografierte die Werkzeugspuren an den Stellen, an denen sich etwas in das Metall geschnitten hatte, und entnahm Proben für die Analyse der Stoffübertragung. Nichts. Die Nieten waren vollkommen nichtssagend, das Metall billiges Blech, und nirgends fand sich eine Seriennummer. Er mochte imstande sein, die Werkzeugspuren zuzuordnen – aber dafür musste er erst einmal das entsprechende Werkzeug finden. Er kehrte zurück zu dem Stück, das er zuerst geborgen hatte, der Periskopattrappe. Dort wiederholte er den ganzen Prozess mit vergleichbaren Ergebnissen: Es war nur ein ganz gewöhnliches Bleirohr. Das Problem bestand darin, dass es schon eine Weile unter Wasser war. Nicht Jahre, wie er zuerst angenommen hatte, aber lange genug, dass der Ozean alle Abdrücke und Übertragungsspuren auf allen offen liegenden Oberflächen hatte wegspülen können. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er beugte sich vor und musterte eingehend die Nähte an den Stellen, an denen zwei Metallstücke zusammengenietet worden waren. Offen liegende
Oberflächen, sicher … aber was ist mit den aufeinanderliegenden Flächen? Er trennte die Nieten vorsichtig auf, bis er die beiden Bleche voneinander lösen konnte. Und tatsächlich gab es dort, wo die Bleche aufeinandergelegen hatten, einen kleinen Streifen Metall, der vom Salzwasser unversehrt geblieben war. Er nahm das ganze Gebilde auseinander und untersuchte es Zentimeter für Zentimeter. Er fand nicht, was er gesucht hatte, aber er fand etwas anderes. Etwas, das er wiedererkannte. Liebe Ms Duquesne, hier ist die Information, um die Sie gebeten hatten. Ich fürchte, sie wird nicht sehr hilfreich für Sie sein, aber bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es alles war, was ich herausfinden konnte. Manche unserer Kunden sind noch vorsichtiger, als ich es bin, und wenn diese Person ein Verdächtiger bei einem Verbrechen ist, dann hat sie umso mehr Grund, ihre Identität zu verbergen. Der einzige Name, den er uns genannt hat, war »DeVone«. Seine Maße hat er selbst genommen – was nicht ungewöhnlich ist – und uns per Post zukommen lassen. Persönlich war er nur einmal bei uns, als er seine Bestellung abgeholt hat. Bezahlt hat er bar. Ich muss gestehen, ich habe schon aufgrund des Materials schnell gewusst, nach wem Sie suchen. Durch seine Geheimnistuerei hatte ich angenommen, er wäre in einer angreifbaren Position – möglicherweise eine Person von öffentlichem Interesse – und deshalb wäre ihm seine Privatsphäre so überaus wichtig. Ich kann Ihnen nur eine sehr grobe Beschreibung liefern: Er hat eine dunkle Brille und eine Mütze getragen. Beides hat er während seines Besuchs nicht abgenommen. Etwa ein Meter fünfundsiebzig oder so, und kurzes,
braunes Haar. Den Maßen zufolge würde ich sagen, er hat eine schlanke Statur, aber seine Kleidung war zu weit und ausgebeult, um seinen Körperbau beschreiben zu können. Er hatte einen außergewöhnlichen Gang, als wären beide Knie steif. Ich fürchte, er hat sogar die Maße für die Anfertigung des Latexstücks wieder mitgenommen. Wie dem auch sei, ich habe sie aus dem Gedächtnis so gut ich konnte zusammengestellt. Wenn Sie darüber noch weiter sprechen wollen, freue ich mich, Sie heute Abend im Szexx zu sehen. Ihr Archer Bronski »Hallo?«, rief Delko und klopfte an den Rahmen der Fliegengittertür. »Jemand zu Hause?« »Nur ich«, erklang eine vertraute, kehlige Stimme. Als Bonnie Pershal dieses Mal zur Tür kam, war sie nicht in Unterwäsche – sie war barfuß, trug einen engen, kurzen Rock und ein Trägertop, das ein großzügiges Dekolleté offenbarte. Bei näherer Betrachtung stellte Delko fest, dass sie vermutlich im Ganzen besehen weniger Stoff am Leib trug als bei ihrem letzten Zusammentreffen. »So? Wo ist Brutus?« Brutus war Bonnies Pitbull. Delko hatte nicht lange gebraucht, um Freundschaft mit ihm zu schließen. »Draußen im Garten und gibt seine persönliche Vorstellung eines Komaschlafs ab. Ich glaube, selbst ein unter der Schlafkrankheit leidendes Faultier hätte mehr Energie … kommen Sie rein.« Er öffnete die Tür und trat ein. »Na ja, ich glaube, ich habe etwas, das von ihm stammt.« »So? Er hat alle Impfungen bekommen, also ist es vermutlich nichts Tödliches.« Sie griff nach einem Paar Stilettos, zog
einen an und stützte sich dann an seiner Brust ab, um den zweiten anzuziehen. »Sie sehen aus, als wollten Sie ausgehen, also mache ich es kurz«, sagte Delko. »Was ich habe, ist das hier.« Er hielt einen kleinen Plastikbeutel hoch. »Eines von Brutus’ Haaren.« Sie runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht. Haben Sie das in dem Wagen gefunden?« »Nein, ich habe es an einem anderen Beweisstück gefunden, eingeklemmt zwischen zwei Lagen Blech. Habe ich bei meinem letzten Besuch in Ihrem Garten nicht auch Blechteile gesehen?« »Ja, die lehnen an der Hauswand. Brutus schläft gern darunter, weil es dort schattig ist.« »Einverstanden, wenn ich sie mir mal ansehe?« »Klar, machen Sie nur.« Er fand Brutus schlafend im Schatten eines kleinen Unterstands, der aus einem Stapel Bleche bestand, die an der Hauswand lehnten. »He, Kumpel«, sagte Delko und kniete nieder. Der Hund blinzelte ihn an, beschloss, dass aufstehen zu mühsam wäre, und begnügte sich damit, Delkos Hand abzulecken. Pitbulls waren kurzhaarige Tiere, dennoch konnte Delko Fellbüschel erkennen, die an den vorstehenden Kanten der Bleche hängen geblieben waren. »Du reibst dich da ständig, was?«, murmelte Delko. »Wo Rauch ist, ist auch Feuer … und wo Reibung ist, gibt es auch eine Spurenübertragung.« Er nahm einen weiteren Beutel zur Hand und tütete eine Vergleichsprobe von den Haaren ein. Als er ins Haus zurückkehrte, war Bonnie gerade dabei, ohne die Hilfe eines Spiegels ein Paar Ohrringe anzulegen. »Und?«, fragte sie. »Hat er ein Alibi, oder muss ich mich nach einem Haustieranwalt umsehen?« »Ich denke, er ist sauber«, antwortete Delko. »Sagen Sie, sind Sie von dem Blech in letzter Zeit auch etwas losgeworden, sagen wir, vor etwa drei Monaten oder früher?«
»Ja, allerdings. Ein Typ hat mir etwas davon abgekauft. Hat gesagt, er wolle einen Werkzeugschuppen bauen oder so. Alles nur Müll von meinem Ex, ich war einfach froh, das Zeug loszuwerden. Ich glaube, er hat fünf oder sechs Bleche mitgenommen, vielleicht auch mehr. Warum?« »Hat er einen Namen genannt oder eine Telefonnummer hinterlassen? Irgendwas?« »Nein. Ich habe einen Garagenflohmarkt veranstaltet. Er war nur einer von den Leuten, die da aufgetaucht sind.« »Erinnern Sie sich noch, wie er ausgesehen hat?« »Nein, nicht so recht. Ist schon eine Weile her, und damals schien das nicht wichtig zu sein. Oh, einen Moment mal.« »Was? Erinnern Sie sich an irgendetwas?« »Nein, mir ist nur gerade klar geworden, was hier los ist. Es geht um denselben Kerl, richtig? Deswegen wusste er von dem Wagen. Er hat ihn im Garten gesehen und ist wiedergekommen.« Delko zögerte, dann sagte er: »Es sieht ganz so aus, richtig.« »Mist«, fluchte sie. »Was haben Sie noch zu mir gesagt? ›Außerordentlich vorsichtig‹ sollte ich sein? Bisschen zu spät, schätze ich.« »Tut mir leid«, sagte er. »Aber es sieht immer noch so aus, als wäre er mehr an Ihrem Schrott interessiert als an Ihnen selbst.« »Das reicht«, sagte sie. »Ich verkaufe den verdammten Köter und lege mir einen Alligator zu. Wissen Sie, wo man hier einen Alligator kaufen kann?« »Offen gestanden«, entgegnete Delko, »würde ich mich von allem fernhalten, was mit Wasser zu tun hat.« Das Szexx befand sich im Keller eines Gebäudes. Zum Eingang führte eine Treppe, die mit einem dicken, purpurnen Teppich
ausgelegt war und an deren Fuß ein versperrtes Eisentor von einem imposanten Türsteher bewacht wurde. Er war an die zwei Meter zehn groß und nutzte seine Zeit offenbar überwiegend dazu, Gewichte zu stemmen und seine finstere Miene zu trainieren. Er trug glänzende schwarze PVC-Shorts, die an der Leiste geschnürt waren, und schwarze Militärstiefel. Tätowierte Flammen züngelten über seine Brust, seine Beine und Arme, sein Gesicht war breit und flach, und sein Haar war so kurz, dass es aussah wie ein dunkler Schatten auf dem Kopf. Die Reihe der Wartenden zog sich die ganze Treppe hinauf und am Haus entlang. Die Kleidung bestand aus schockierend freizügigen Outfits, aber auch aus langen Mänteln, Jogginghosen und weiten Hemden. Calleigh selbst war so gekleidet, wie Archer Bronski es ihr geraten hatte, sie trug einen weißer Laborkittel über ihrer Alltagskleidung. Sie ging an der Reihe vorbei zu dem Türsteher, ließ ein Lächeln aufblitzen und versuchte, ihm so verstohlen wie möglich ihre Marke zu zeigen. Er maß sowohl die Marke als auch sie selbst mit finsterem Blick, winkte sie aber durch. Im Club fand sie schnell heraus, dass die Leute in der weiten Kleidung diese nicht lange am Leib behielten, und was sie darunter trugen – oder in ihren Sporttaschen mitgebracht hatten – war größtenteils noch provozierender als das, was sich in der Warteschlange gezeigt hatte. Männer und Frauen oben ohne, andere, deren Brustwarzen mit Streifen schwarzen Isolierbands abgeklebt waren, Tangas aus Latex oder Leder und raffinierte Kostüme, die Löcher an strategisch wichtigen Punkten aufwiesen. Manche Leute kamen auch in Uniform: Sie sah Polizisten, Marinesoldaten, Feuerwehrmänner, Krankenschwestern und genug katholische Schulmädchen, um einer Nonne einen Herzinfarkt zu bescheren. Die Tanzfläche des Clubs befand sich auf der linken Seite in einem Bereich, von dem eine Treppe zu einem tieferen Stock-
werk führte. Über der Treppe hing ein Schild, auf dem in handgeschriebenen schwarzen Lettern das Wort »Kerker« zu lesen war. Schwitzende Leiber schwankten und hüpften zur Musik von Nine Inch Nails, die aus den brusthohen Lautsprecherboxen dröhnte, während das rote, blaue, grüne und pinkfarbene Licht der Scheinwerfer abwechselnd aufblinkte. Jenseits der Tanzfläche befand sich in einer Ecke ein ausgedehnter Bereich mit einem Billardtisch und einem Tresen im Hintergrund. Dort fand sie Archer Bronski, der beinahe so gekleidet war wie bei ihrem letzten Zusammentreffen, abgesehen davon, dass er über seinem schwarzen Seidenhemd nun eine Lederweste trug. Er lächelte und hob sein Bierglas zum Gruß. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind«, sagte er. »Bilden Sie sich darauf nicht zu viel ein«, antwortete Calleigh. »Ich bin immer noch im Dienst, und es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass mein Verdächtiger entweder hier ist oder früher mal hier war.« »Natürlich. Tut mir leid, dass die Information, die ich Ihnen gegeben habe, nicht besonders hilfreich war.« »Ein Glas Club Soda, bitte«, sagte sie zu der Bedienung hinter dem Tresen, ehe sie sich wieder Archer widmete. »Oh, die war hilfreicher, als Sie vielleicht denken. Die Zeichnung, die Sie mir übermittelt haben, stimmt mit der Beschreibung eines anderen Augenzeugen überein. Damit haben wir zumindest eine Bestätigung. Die Maße haben uns seine ungefähre Größe und Statur geliefert, und der Hinweis auf seinen Gang könnte sich noch als ganz besonders nützlich erweisen. Wissen Sie noch, worüber Sie mit ihm gesprochen haben?« »Ich habe mir den Kopf zerbrochen bei dem Versuch, mich zu erinnern. Immerhin habe ich Ihnen erzählt, ich hätte ein gutes Gedächtnis … aber er hat nicht so viel geredet. Das Einzige, was vielleicht von Bedeutung ist, war, dass er sich erkundigte, welche Wirkung Salzwasser auf Latex hat. Ich habe ihm
gesagt, das würde nichts ausmachen, aber er sollte es besser abspülen, ehe es trocknet, weil anderenfalls Salzkristalle auf dem Material zurückblieben. Und ich habe ihm ein Reinigungsmittel auf Silikonbasis empfohlen.« »Tja, wir haben Silikonspuren auf unserem Latexfragment gefunden, also passt das zusammen.« Sie nippte an ihrem Getränk. »Wissen Sie, Archer, ich habe ebenfalls nachgedacht.« Sie atmete einmal tief durch. »Sie waren sehr … entgegenkommend, alles in allem. Ihre Bedenken, mir persönliche Informationen zu liefern, basierten auf Gründen, die ich respektiere. Aber Sie müssen verstehen, dass ich, wenn ich eine Untersuchung durchführe, sehr konzentriert arbeite.« »Sie haben gern alles unter Kontrolle.« »Ja, schon, aber ich bin auch Teil eines Teams, und ich weiß, wie wertvoll es ist, auf die Erfahrung anderer Leute zurückgreifen zu können. Das kriminaltechnische Labor arbeitet immer wieder mit unabhängigen Experten zusammen, und wir unterhalten eine sehr professionelle Beziehung zu diesen Leuten. Ich käme nie auf die Idee, einem anderen Labor Zwangsmaßnahmen anzudrohen, nur weil nicht schnell genug Ergebnisse vorliegen.« »Aber Sie haben nicht gezögert, eben das einem Menschen anzudrohen, der in einem Fetischladen arbeitet?« »Dafür entschuldige ich mich. Ich hätte in Ihnen einen Helfer sehen sollen anstelle eines abweisenden Zeugen.« »Ihre Entschuldigung ist angenommen.« Er nippte an seinem Bier. »Hat dieser Sinneswandel auch einen praktischen Nutzen, oder ging es nur darum, Ihr Gewissen zu beruhigen?« »Natürlich hat er den. Sehen Sie, jemand, den ich als Helfer betrachte, ist jemand, mit dem ich Informationen teile, statt sie lediglich abzufordern.« Er lachte leise. »Okay. Welche Information gedenken Sie mit mir zu teilen?«
»Zunächst einmal dachte ich daran, Ihnen zu sagen, warum die Informationen, hinter denen ich her bin, so wichtig sind.« Calleigh hatte ihm bereits erzählt, dass sie an einer Morduntersuchung arbeitete, nun erzählte sie ihm auch von dem Film Kreatur aus der Tiefe. »Wir denken, unser Täter ist irgendwie auf dieses Monster fixiert und versucht tatsächlich, einige der Angriffe nachzustellen. Der Anzug, den er sich in Ihrem Laden hat anfertigen lassen, ist lediglich die Grundlage seines Kostüms. Er hat offensichtlich seither wiederum Änderungen vorgenommen.« »Das ist … bizarr«, sagte Archer stirnrunzelnd. »Sogar gemessen an manchen Leuten aus meinem Umfeld.« »Darum erzähle ich Ihnen davon«, sagte Calleigh. »Sie kennen diese Leute, Sie hören und sehen Dinge, auf die ich keinen Zugriff habe. Ich hatte gehofft, es könnte Ihrem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge helfen und Ihnen fiele noch irgendetwas oder irgendjemand ein, wenn ich Ihnen ein paar zusätzliche Details zu diesem Fall liefere.« »Sie wollen mich also zu Ihrem Spitzel machen?« Sein Ton klang eher amüsiert als verärgert. »Ach, kommen Sie schon. Wir sind hier nicht in der kriminellen Unterwelt, und Sie sind kein zwielichtiger Typ mit unstetem Blick. Wir wollen beide das Gleiche – wir wollen unsere Gemeinschaft vor einer Gefahr schützen. Oder denken Sie, diese Leute hier wollen einen Serienmörder bei ihren Partys als Gast begrüßen?« »Einige von ihnen könnten Sie womöglich überraschen … aber Sie haben recht. Rollenspiele sind eine Sache, Vergewaltigung und Mord eine andere.« Er nahm noch einen Schluck von seinem Bier und stellte es ab. »Wissen Sie, ich wünschte, Sie hätten den Unterwasseraspekt schon früher ins Spiel gebracht. Warten Sie hier – ich drehe mal eine Runde und rede mit ein paar Leuten. Es könnte sein, dass ich jemanden auftreibe, der Ihnen mehr erzählen kann.«
»In Ordnung. Äh … ich weiß aber nicht recht, was das Protokoll hier von mir verlangt.« Er zog die Brauen hoch. »Ich meine, ich möchte niemandem auf die Füße treten – aber ich möchte auch keine Angebote annehmen.« Archer lächelte. »Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Die meisten Leute, die zum Spielen hierherkommen, bringen ihre eigenen Partner mit. Aber sollte jemand Sie einladen, nach unten zu gehen, dann sollten Sie wohl ablehnen.« Er verschwand in der Menge. Calleigh blickte sich um und gab sich Mühe, nicht allzu nervös auszusehen. Die Bedienung, eine junge Frau mit diversen Piercings in beiden Augenbrauen, beugte sich vor und musterte den Namen, der in Calleighs Kittel eingestickt war. »Also, R. Wolfe – möchten Sie noch etwas trinken?« »Nein, danke«, sagte Calleigh. »Ich bin versorgt.« »Das ist eine eindrucksvolle Liste«, stellte Horatio fest und blätterte in dem dicken Stapel Papier, den Wolfe gerade auf seinem Schreibtisch abgelegt hatte. »Ich weiß, ich weiß«, sagte Wolfe reumütig und rieb sich den Nacken. »Ich habe es auf Männer zwischen zwanzig und fünfzig mit militärischem Hintergrund eingegrenzt, trotzdem ist sie noch zu lang. Ich brauche noch einen anderen Parameter, um sie weiter einzugrenzen.« »Wie wäre es mit dem Film?«, schlug Horatio vor. »Daran habe ich auch schon gedacht, aber ich weiß nicht, wie ich ihn nutzen könnte. Ich meine, ich kann unmöglich feststellen, wer den Film gesehen hat und wer nicht – wir wissen nicht einmal, ob unser Täter den Film im Fernsehen oder im Kino gesehen hat. Bestimmt besitzt er die DVD, aber die kann er sich aus Tausenden verschiedener Quellen über das Internet beschafft haben.«
»Ich dachte mehr an eine persönlichere Bindung. Hatten Sie nicht einen hiesigen Fanclub erwähnt?« »Ja. Ich habe vor, gleich morgen früh mit dem Präsidenten zu sprechen.« »Gut. Vielleicht sollten Sie auch mit ein paar Leuten sprechen, die an der Produktion beteiligt waren, soweit ich weiß, lebt einer der Schauspieler, die die Unterwasserszenen gespielt haben, in der Gegend und tritt bisweilen immer noch öffentlich auf.« Wolfe runzelte die Stirn. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich schätze, ich bin einfach davon ausgegangen, dass jeder, der dabei war, entweder schon lange tot oder in Hollywood ist.« »Sie meinen, da gibt es einen Unterschied?« Wolfe grinste. »Gute Nacht, Horatio.« »Gute Nacht, Mr Wolfe.« »Calleigh Duquesne, ich möchte Ihnen Samantha Voire vorstellen«, sagte Archer. »Ich glaube, Sie hat eine interessante Information für Sie.« Samantha Voire war eine beeindruckende Frau mit rotem Haar, die Calleigh um gute dreißig Zentimeter überragte – was allerdings vorwiegend an den extrem hochhackigen Stiefeln lag, die sie trug. Ihr Outfit glich dem der Frau, die Calleigh in dem Vakuumbett gesehen hatte, nur war das von Voire schwarz anstelle von rot und hatte keine Kapuze. Außerdem wies es Löcher an interessanten Stellen auf. Calleigh ertappte sich dabei, ihre ganze Konzentration auf das Gesicht der Frau zu richten, in dem Bemühen, ihren Blick nicht an andere Orte schweifen zu lassen. »Sind Sie jetzt ein Cop oder ein Arzt?«, fragte Voire. Ihre Stimme klang neugierig, nicht abweisend. »Ich bin Ermittlerin des kriminaltechnischen Labors von Miami-Dade«, erklärte Calleigh. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.«
»Oh, eine verrückte Wissenschaftlerin«, sagte Voire mit einem verschlagenen Grinsen. »Archer, du kennst einfach die besten Leute.« »Samantha steht auf Atemkontrolle«, erzählte Archer. »Sie hat vor einer Weile jemanden kennen gelernt, der Sie vielleicht …« »Archer sagt, Sie suchen einen schlimmen Kerl«, fiel ihm Voire ins Wort. »Ich vertraue Archer, und das bedeutet, ich vertraue auch Ihnen. Sie werden mir doch keinen Grund liefern, das zu bedauern, oder?« »Nein, Ma’am.« »Gut. Ich bin hier vor ein paar Monaten einem Kerl namens DeVone begegnet – Archer war an dem Abend nicht hier, anderenfalls hätte er es sicher selbst erwähnt. Jedenfalls hat sein Outfit sofort meine Aufmerksamkeit erregt, weil es so extrem war. Ich sehe ständig irgendwelche Ganzkörperlatexanzüge, aber nicht Pearlsheen-Blau – und nicht mit einer Tauchermaske samt Atemregler. Er hatte sogar eine kleine Sauerstoffflasche auf dem Rücken. Und er hat sich die ganze Zeit so bewegt, als wäre er unter Wasser – beinahe wie in Zeitlupe, verstehen Sie? Als würde er unter Wasser durch ein Wrack schwimmen, statt sich in einer Bar aufzuhalten …« Sie schüttelte den Kopf. »Damals habe ich das für scharf gehalten. Heute kommt es mir eher unheimlich vor.« »Und Sie haben mit diesem DeVone gesprochen?« »Nicht viel, fürchte ich. Manche Leute ziehen sich ganz in ihren Kopf zurück, wenn sie eine Fantasie ausleben, und er war einer von ihnen. Er hat die Maske aufbehalten und hatte das Mundstück die ganze Zeit zwischen den Lippen. Als mir klar wurde, dass er mich anmachen würde – und trotzdem die Maske nicht abnehmen würde, nicht einmal, um mit mir zu sprechen –, hat mich seine Hingabe, na ja, beeindruckt. Ich habe mich nur gefragt, wie weit er wohl gehen würde.«
»Und wie weit ist er gegangen?«, fragte Calleigh. »Bis ins ganz tiefe Wasser«, sagte Voire. »Wir sind zu mir gegangen, um zu spielen, und irgendwie war er die ganze Zeit unter Wasser. Ziemlich surreal, das Ganze, selbst für meine Verhältnisse.« »Ich möchte nicht indiskret erscheinen, aber – was genau meinen Sie mit ›Spieler‹?« Voire lachte. »Indiskret – das gefällt mir. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich Ihnen meinen vollständigen Namen genannt habe, als wir einander vorgestellt wurden. Das habe ich getan, weil ich mich nicht dafür schäme, was ich tue oder wer ich bin. Sie müssen keine Angst davor haben, dass Sie mich in Verlegenheit bringen könnten … aber vielleicht bringe ich Sie in Verlegenheit.« »Ich komme zurecht, wenn Sie es tun«, sagte Calleigh. »Gut. Also, wir haben in der Wanne angefangen, was nicht gerade verwunderlich ist …« Calleigh hörte aufmerksam zu, als Voire ihr die Begegnung in allen Einzelheiten schilderte. DeVone hatte seine Kopfbedeckung nicht abgenommen, hatte keine Telefonnummer hinterlassen, hatte nicht einmal mit ihr gesprochen. Calleigh nickte von Zeit zu Zeit, wartete aber, bis die Frau fertig war, ehe sie irgendeine Frage stellte. »Samantha, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie zu Hause besuchen und mir alles ansehen würde, womit er in Berührung gekommen ist?« »Ich denke nicht – aber das ist schon einige Monate her, und ich halte mein Spielzeug sauber.« Calleigh nickte. »Bestimmt – aber das hört sich definitiv nach unserem Verdächtigen an, und wenn es irgendeine Chance gibt, an eine DNS-Probe von ihm zu kommen, dann muss ich sie wahrnehmen.« Voire gab Calleigh ihre Adresse, und sie verabredeten ein Treffen für den nächsten Tag. »Oh, eine Sache ist da noch, die
Sie interessieren könnte«, sagte Voire. »Er hatte eine Tätowierung direkt über dem Schamhaar.« »Warten Sie mal, ich dachte, sein Anzug hätte den ganzen Körper verhüllt?« »In der Leistengegend war ein Loch. Ich nehme an, ich hätte die Tätowierung gar nicht sehen sollen, aber während wir dabei waren, ist das Loch weiter aufgerissen.« »Wie hat sie ausgesehen?« »Geben Sie mir was zum Zeichnen, dann zeige ich es Ihnen.« Calleigh zog Stift und Block aus der Tasche, Voire brauchte nur einen Moment, um eine Skizze anzufertigen. »Wenn das nicht interessant ist«, murmelte Calleigh. Sie bedankte sich bei Voire und sah ihr nach, als sie in der Menge verschwand. »Ich weiß wirklich nicht, wie sie in diesen Dingern laufen kann«, sagte sie, ehe sie sich wieder zu Archer umdrehte. »Archer, ich möchte mich auch bei Ihnen noch einmal bedanken. Diese Informationen waren wirklich enorm wertvoll für mich.« »Das hoffe ich. Samantha ist zwar nichts passiert, aber die Angehörigen meiner Gemeinschaft sind in diesem Punkt besonders gefährdet. Ich hoffe ehrlich, dass Sie ihn schnappen werden.« »Ich auch …« Sie zögerte, dann sagte sie: »Hören Sie, da ist noch etwas. Ich weiß, Sie haben mir alle Informationen über DeVone gegeben, die sie auftreiben konnten, aber wenn er Veranstaltungen wie diese besucht, besteht die Möglichkeit, dass sein Name auf einer Adressliste des Clubs auftaucht. Ich habe eine richterliche Anordnung für jede Liste, die dieser Club führt – nur für den Fall, dass die Leute hier nicht so klug sind wie Sie.« Er studierte sie wortlos. Dann nickte er langsam einmal. »Ich verstehe.«
»Es tut mir leid. Ich verspreche, ich werde mein Bestes tun, die Informationen auf diesen Listen so vertraulich wie möglich zu behandeln. Ein … ein Kollege von mir wartet draußen im Wagen. Wenn Sie wollen, kann ich ihn bitten, sich darum zu kümmern.« Er kniff die Augen zusammen und lächelte. »Ah. Weil Sie gesehen wurden, als Sie mit mir gesprochen haben, richtig? Sie wollen nicht, dass meine Deckung als Ihr Informant auffliegt. Wie fürsorglich.« Sie errötete. »Ich dachte, Sie wüssten vielleicht eine gewisse Anonymität zu schätzen.« Er griff zu seinem Bierglas, trank einen letzten Schluck und stellte es wieder ab. »Gehen Sie nur, machen Sie Ihre Arbeit. Ich werde nicht verleugnen, was ich getan habe – ich glaube daran, dass man die Konsequenzen seines Handelns tragen muss. Aber ich glaube, es ist nicht in Ordnung, anderen Leuten diese Wahl zu nehmen.« »Sie haben niemandem …« »Nein«, sagte er. »Aber Sie.« Er drehte sich um und ließ sie allein.
14
Horatio studierte die grobe Zeichnung, die Samantha angefertigt hatte. »Das hat Janice Stonecutter uns also mitteilen wollen«, sagte er. »Sie muss es während der Vergewaltigung gesehen haben«, sagte Calleigh. »Voire sagt, die Tätowierung wäre gleich über dem Schambein.« »Die kyrillische Version der Buchstaben Zh an einem sehr intimen Ort«, sagte Horatio. Er betrachtete die anderen Objekte auf dem Leuchttisch und zog die Brauen hoch. »Und dazu ein paar andere Dinge, die auch schon an so manchem intimen Ort gewesen waren.« »Samantha Voire nennt das ihre Spielzeugkiste«, erklärte Calleigh und griff zu einem Gegenstand, der aussah wie ein Kaninchen, das eine Karotte ritt. »Und die ist offenbar gut bestückt. Sie sagt, die Spielzeuge hält sie peinlich sauber, aber ich dachte, ich könnte bei dem einen oder anderen vielleicht Glück haben.« »Sozusagen«, murmelte Horatio. »Gute Arbeit. Und das hier ist die Adressliste aus dem Club?« »Ja. Wir mussten ihren Computer konfiszieren, aber Anderson hat es heute Morgen geschafft, ins System zu kommen und die Datei aufzurufen. DeVone steht auf der Liste – aber das ist nur eine Postfachadresse.« »Unser Junge ist vorsichtig – aber nicht vorsichtig genug. Er ist stolz auf das, was er ist, und es ärgert ihn, dass er es verbergen muss.« »Wie kommst du darauf, H.?«
»Der Name. Die Meereskreatur in diesem Film hat sich angeblich in der Devon-Periode entwickelt. Die Tatsache, dass er sie als Alias benutzt, verrät nicht nur, wie sehr er sich mit seiner Rolle identifiziert, sondern auch, dass er in ihr einen Ausdruck seines wahren Selbst sieht.« Horatio schüttelte den Kopf. »Was ich nicht verstehe, ist, warum er Samantha Voire am Leben gelassen hat. Sie war verletzbar, niemand in dem Club hätte ihn identifizieren können, und er hat diesen Anzug getragen. Und sein Verhalten zeigt, dass er ganz in seiner Fantasie aufgegangen ist.« »Vielleicht nicht genug. Laut Samanthas Erzählung hat sie ihn in ihre Wohnung eingeladen, weil zu ihrem Appartementkomplex ein Pool gehört. Als sie dort angekommen sind, hat sie festgestellt, dass er für Wartungsarbeiten trockengelegt wurde. Sie mussten sich mit der Badewanne begnügen, und er war anscheinend ziemlich enttäuscht.« »Darauf wette ich«, sagte Horatio. »Das Ganze war also, wenn du die Analogie verzeihst, eher eine Trockenübung.« Der Präsident des Kreatur-aus-der-Tiefe-Festivals wohnte in North Miami. Wolfe hatte nur den Anrufbeantworter an der Leitung, als er versuchte, ihn telefonisch zu erreichen. Er hinterließ eine Nachricht und beschloss, Horarios Rat zu folgen und jemanden aufzusuchen, der tatsächlich in dem Film mitgespielt hatte. Brett Rosamond war nicht schwer zu finden. Er hatte eine eigene Website für Leute, die Kontakt zu ihm aufnehmen wollten, um ihn um einen persönlichen Auftritt oder ein signiertes Foto zu bitten. Am unteren Rand der Seite war seine Telefonnummer aufgeführt. Wolfe rief an, und die raue, aber doch freundliche Stimme am anderen Ende stimmte zu, ihn in einer halben Stunde in einer Kaffeestube in Miami Beach zu treffen.
Wolfe entdeckte den Mann in einer mit rotem Leder bezogenen Sitznische, wo er durch das Fenster die vorbeisausenden Rollschuhfahrer beobachtete und sich an seinem Milchshake erfreute. Er war ein großer Mann in den Siebzigern mit weißem, zurückgekämmtem Haar und einem Körperbau, der an einen Sack Kartoffeln erinnerte, der zu lange achtlos irgendwo stehen gelassen wurde. »Mister Rosamond?« Rosamond strahlte ihn mit einem Mund voller makelloser weißer, aber dritter Zähne an und streckte ihm die fleischige Hand entgegen. Wolfe ergriff sie, ehe er sich ihm gegenüber in die Nische setzte. »Danke, dass Sie einverstanden waren, mit mir zu sprechen«, begann er das Gespräch. »Den Behörden helfe ich immer gern«, entgegnete Rosamond. Seine Stimme war so herzlich und robust wie seine Erscheinung. »Obwohl ich überhaupt nicht verstehe, was für ein Interesse Sie an einem alten Froschmann wie mir hegen könnten.« »Ob Sie es glauben oder nicht, es geht um eine alte Rolle von Ihnen: die Kreatur aus der Tiefe.« »Gilly?« Rosamond lachte. »Warum? Soll er etwa beim Polizeiball auftreten?« »Nein, Sir, ich fürchte, die Angelegenheit ist etwas ernster. Wir glauben, dass jemand, der auf diese Figur fixiert ist, in mehrere Mordfälle verwickelt ist.« Rosamonds Augen weiteten sich. »Mordfälle? Sie machen Witze.« »Ich wünschte, es wäre so. Es wäre auch möglich, dass diese Person versucht hat, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen – fällt Ihnen irgendjemand ein, der sich irgendwie ungewöhnlich verhalten hat?« Rosamond schüttelte den Kopf. »Die meisten Gilly-Fans sind ganz normale Leute, vorwiegend solche, die den Film als
Kinder gesehen haben und ihre nostalgischen Erinnerungen pflegen möchten. Ich habe zwar über die Jahre auch ein paar Verrückte erlebt, aber niemals jemanden, der mir Kummer bereitet hätte. Jedenfalls bis jetzt.« »Gab es eventuell jemanden, der Ihnen zu interessiert vorkam? Der vielleicht Fragen gestellt hat, die Sie als unangemessen empfunden haben?« »Damit grenzt sich das Feld ein. Es hat Leute gegeben, die mich gefragt haben, wie ich in dem Anzug die Toilette benutzt habe, ob ich Sex mit einer der Schauspielerinnen hatte, ob ich das Ding zu Hause trage … ich meine, es gibt Fans, und es gibt Fans. Da war dieser Kerl aus Tennessee, der hatte siebzehn verschiedene Modellbausätze von Gilly, alle perfekt bemalt und zusammengebaut, und die Figuren standen alle auf seinem Kaminsims. Aber er ist mir nicht gefährlich vorgekommen.« »Können Sie sich an seinen Namen erinnern?« »Ich glaube nicht. Aber wenn Sie auf derartige Informationen aus sind, bin ich nicht der richtige Gesprächspartner für Sie. Sie sollten mit jemandem vom Fanclub sprechen. Die haben ihr Hauptquartier gleich hier in Miami, wissen Sie?« »Ich weiß«, sagte Wolfe. »Mit denen will ich als Nächstes sprechen. Wegen des Anzugs – haben Sie ihn immer noch?« Rosamond gluckste. »Nein, nein, der hat immer dem Studio gehört. Sie haben ihn mir für öffentliche Auftritte überlassen, als der Film herausgekommen ist, aber danach wurde er eingelagert. Irgendwann wurde er dann als Spende bei einer Wohltätigkeitsauktion versteigert.« »Wissen Sie, wer ihn gekauft hat?« »Sicher. Oliver Tresong. Er ist …« »… der Präsident des Fanclubs«, beendete Wolfe den Satz. »Wissen Sie sonst noch etwas über ihn?«
»Na ja, er ist Taucher. Einer der Gründe, warum er den Anzug haben wollte, war, dass er wissen wollte, wie die Mechanik von dem Ding funktioniert.« »Das hatte ich mich auch schon gefragt.« »Er hat eine eingebaute Sauerstoffflasche«, sagte Rosamond, beugte sich ruckartig vor, griff über seine Schulter und klopfte auf seinen Rücken. »Hat genau da gesessen, versteckt unter dem Gummi. Daher hatte Gilly seine buckelige Statur. War nicht viel Luft in dem Tank, aber für fünfzehn, zwanzig Minuten hat es gereicht. Zwischen den einzelnen Einstellungen bin ich aufgetaucht und habe durch die Nase geatmet.« »Wann haben Sie das letzte Mal mit Mr Tresong gesprochen?« »Letzte Woche. Wir haben uns am Telefon über ein hiesiges Festival unterhalten – wir werden dort gemeinsam auftreten, und er wollte noch einige Notizen mit mir durchgehen.« »Hat er sich normal angehört?« »Na ja, er war ein bisschen aufgeregt, jetzt, wo das Jubiläum vor der Tür steht und so …« Rosamond sah plötzlich besorgt aus. »Sie denken doch nicht, er hätte irgendetwas damit zu tun, oder?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Wolfe, »aber ich nehme an, ich frage ihn besser selbst.« Calleigh ließ ihren Blick über die verschiedenen Gegenstände auf dem Leuchttisch schweifen. »Ich komme mir vor wie der Requisiteur in einem Pornostudio«, murmelte sie. Da waren Geräte zur Penetration, zur Geißelung, zur Masturbation und zur bloßen Einschüchterung. Ein Instrument war mehr als einen halben Meter lang, während ein anderes es gerade auf knapp dreizehn Zentimeter brachte. Manche Dinge wirkten realistisch, andere so wulstig und bunt, dass sie eher an Kauspielzeug für Hunde erinnerten.
Und es gab noch mehr Dinge aus dem Reich der Tiere zu sehen: eine Pferdepeitsche, eine neunschwänzige Katze und sogar eine Fliegenklatsche. Es gab Paddel aus Leder, Holz, – Gummi und Plastik, Knebelbälle und Augenbinden und genug Seile, um ein großes Schiff zu takeln. Es gab auch technische Gerätschaften in Form von Vibratoren und diversen Objekten, mit denen sie hätte experimentieren müssen, um herauszufinden, wozu sie gut waren. Eines sah aus wie ein Miniatur-Tennisschläger, entpuppte sich aber als elektrischer Insektenvernichter, der jedem, der ihn berührte, einen elektrischen Schlag verpasste. »Eine Partie Tennis gefällig?«, fragte Delko, als er zur Tür hereinkam und sich seinen Laborkittel schnappte. »Null, Satz und Spiel!«, entgegnete Calleigh. »Mit der Null weiß ich im Moment nicht so viel anzufangen, aber das hier ist bestimmt ein vollständiger Satz, und mit dem Spiel wollte ich gerade beginnen – willst du mir helfen?« »Das möchte ich nicht verpassen«, sagte Delko grinsend. »Soll ich irgendetwas Bestimmtes in Angriff nehmen?« »Hmm. Wie wäre es, wenn du damit anfängst?« Sie griff nach einem langen, beigefarbenen Objekt mit einem Kopf an beiden Enden und wackelte damit in der Luft herum. »Klar«, sagte Delko. »Aber, bitte, leg es wieder auf den Tisch, ja?« »Ups, tut mir leid, ich glaube, es ist verkehrt herum.« Sie wirbelte damit herum als wäre es eine Peitsche. »Besser?« Delko lachte. »Nicht einmal annähernd …« Sie machten sich an die Arbeit, tupften die Oberflächen mit Wattestäbchen ab, die sie zuvor in keimfreies Wasser getaucht hatten, in der Hoffnung, irgendwo Flecken zu entdecken, die DNS enthalten könnten. Die Wattestäbchen wanderten sogleich weiter in die Phiolen. »Denkst du, wir werden etwas finden?«, fragte Delko.
»Schwer zu sagen.« Sie griff nach einer Peitsche mit einem geflochtenen Ledergriff an einem Ende und einem ganzen Bündel dicker Lederbänder am anderen. »Was immer wir finden, muss vor Gericht nicht zwangsläufig standhalten. Ich meine, ich bekomme mehr und mehr das Gefühl, dass nicht nur eine Person diesen … Arbeitsgeräten zum Opfer gefallen ist.« »Kommt darauf an«, entgegnete Calleigh. »Die Besitzerin hat mir erzählt, dass DeVone es gern etwas härter mochte – mit etwas Glück verbessert das unsere Chancen, Übertragungsspuren zu finden.« »Ja, aber der Kerl hat die ganze Zeit ein Ganzkörperkondom getragen, richtig? Kein Kontakt, keine Übertragung.« »Ja, aber in diesem Fall könnte das Gefäß wichtiger sein als der Inhalt.« Sie legte die Riemenpeitsche weg und griff zu einer anderen, kurzen Peitsche. »Wusstest du, dass die Spitze einer Peitschenschnur eine Geschwindigkeit von über zweitausendvierhundert Stundenkilometer erreichen kann?« »Klar. Der Knall, den man hört, ist die Spitze, die die Schallmauer durchbricht.« »Das wurde zumindest in den letzten hundert Jahren behauptet«, sagte Calleigh. »Aber ein Professor der Universität von Arizona hat kürzlich nachgewiesen, dass die Spitze schon mehr als die zweifache Schallgeschwindigkeit hat, wenn das Geräusch auftritt. Nicht die Spitze ist für den Knall verantwortlich, sondern die Schlinge, die über die Länge der Peitschenschnur wandert.« Delko dachte eine Sekunde darüber nach. »Klingt logisch.« »Genau. Außerdem sind Peitschen konisch, sodass die Schlaufe, die über die Schnur verläuft, um den Faktor zehn beschleunigt wird. Die Spitze wiegt auch weniger, was ebenfalls dazu beiträgt.« Sie nahm die Peitsche mit zum Mikroskop und untersuchte sie sorgfältig. »Bei manchen Peitschen kann die Spitze das Dreißigfache ihrer Ursprungsgeschwindigkeit
erreichen.« Sie blickte durch die Linse und stellte die Bildschärfe ein. »Und das ist mehr als genug, um Latex zu beschädigen. Sieh es dir selbst an.« Sie trat zur Seite und überließ Delko das Mikroskop. »Sieht aus, als würde etwas an einem der Stränge kleben«, stellte er fest. »Etwas in einem vertrauten Blauton.« »Ich bringe es zur Spurenanalyse.« »Mister Tresong«, begann Wolfe das Gespräch. »Danke, dass Sie sich Zeit nehmen.« Oliver Tresong war ein großer, hagerer Mann in den Dreißigern mit dünnem Haar, der eine Zigarette zwischen den Lippen hielt. »Kein Problem«, sagte er. Er trug ausgebeulte Shorts, ein TShirt mit einem ausgeblichenen Bild von Gilly und Flip-Flops. »Kommen Sie rein.« Er trat zur Seite und winkte Wolfe herein. Tresongs Haus sah aus wie ein Schrein für alte Horrorfilme. Regale säumten die Wände, angefüllt mit Gießharzfiguren jedes nur vorstellbaren Monsters: Vampire, Werwölfe, glotzäugige Aliens und radioaktive Riesenechsen. Eine glänzende Chromstatue des Terminators zielte mit einer großkalibrigen Waffe auf den Kopf eines Zombies, der zu sehr damit beschäftigt war, das Gehirn eines anderen zu fressen, um irgendetwas davon zu merken. Ein großer Flachbildschirm verdeckte den größten Teil einer anderen Wand, und vor ihm stand ein bequemer lederbezogener Liegesessel. Und neben dem Fernseher – das Monster aus dem Meer. Es stand in einer Vitrine, die bis an die Decke reichte und auf einem etwa dreißig Zentimeter hohen Sockel thronte. Es schien bedrohlich über dem Betrachter aufzuragen. Blaue Punktstrahler setzten Lichtakzente auf die nass schimmernde Haut. Die mit Schwimmhäuten versehenen Klauenhände lagen flach an der Glasscheibe, als wollte die Kreatur versuchen, sich aus der Vitrine zu befreien.
Tresong setzte sich auf den Liegesessel. »Worum, äh, geht es eigentlich?«, fragte er. Er hörte sich an, als wäre er gerade erst aufgestanden. »Na ja, eigentlich geht es um … ihn«, sagte Wolfe und deutete auf die Vitrine. Tresong schien plötzlich viel aufgeweckter zu sein und setzte sich in dem Liegesessel auf. »Wie bitte?« Wolfe trat an die Vitrine und musterte die Figur. »Sie ist in einem guten Zustand«, sagte er. »Ich hätte erwartet, dass das Gummi nach all der Zeit mehr Abnutzungsspuren aufweist.« »Ich gehe wirklich vorsichtig damit um«, erklärte Tresong. »Was genau wollen Sie von mir?« Wolfe drehte sich um und sah ihn an. »Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Wird schon in Ordnung sein. Was wollen Sie wissen?« »Zunächst – seit wann besitzen Sie diesen Anzug?« »Ich habe ihn vor sechs, nein, sieben Jahren gekauft. Er hat die Vitrine nie verlassen. Ich meine, seit er mir gehört.« »Wirklich? Waren Sie nie in Versuchung, ihn … Sie wissen schon?« »Was?« »Anzuprobieren.« Er schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Das Ding ist wertvoll. Wer weiß, womöglich reiße ich ihn versehentlich auf? Ich meine, altes Gummi kann ziemlich spröde werden.« »Wertvoll, ja? Wie wertvoll?« Tresong zögerte mit der Antwort. »Ich weiß es nicht genau. Wenn ich das Ding bei eBay reinstelle, könnte ich vielleicht ein paar Tausend dafür kriegen.« »Nur ein paar Tausend. Für ein einzigartiges Stück wie dieses?«
»Vielleicht neun oder zehn. Falls ich einen Sammler finde, der Interesse daran hat.« »Wenn man bedenkt, dass Sie der Präsident des Fanclubs sind, sollte man annehmen, Sie wissen, an wen Sie sich wenden müssten.« Tresong stand abrupt auf. »Hören Sie, ich bin zurzeit ziemlich beschäftigt. Können Sie zum Punkt kommen?« »In Ordnung. Wann waren Sie das letzte Mal Tauchen?« »Ich weiß nicht, ist ein paar Wochen her, schätze ich. Ich kann mich nicht so genau erinnern.« »Waren Sie je zum Schwimmen in Poker Cove?« »Sicher. Oft.« »Wie steht es mit dem Abend des vierundzwanzigsten März dieses Jahres?« »Nein. Nein, definitiv nicht. Ich war in New Jersey zu einem Sammlertreffen.« Er sah Wolfe nicht in die Augen. »Können Sie das beweisen?« »Na ja, ich habe meine Kreditkarte benutzt, also gibt es irgendwo Unterlagen, die beweisen, dass ich dort war.« »Ich muss diese Unterlagen sehen. Und ich muss wissen, wo Sie an den folgenden Tagen waren.« Tresong hatte, wie sich herausstellte, für die Angriffe auf die Stonecutters und den Mord an Gabrielle Cavanaugh beinahe identische Alibis: Er war nicht in der Stadt gewesen. »Nur noch eines, Mr Tresong«, sagte Wolfe. »Ich würde mir den Anzug gern etwas genauer ansehen.« »Was? Nein. Auf keinen Fall«, sagte er. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass das Ding wertvoll ist. Denken Sie etwa, ich lasse zu, dass ein Cop das Innere nach außen kehrt und Proben herausschneidet und wer weiß was noch alles? Vergessen Sie es. Wenn Sie Gilly auch nur anfassen wollen, besorgen Sie sich eine richterliche Verfügung.«
»Wenn es nicht anders geht«, sagte Wolfe. »Aber vielleicht ist das gar nicht notwendig. Wäre es in Ordnung, wenn ich einfach durch das Glas ein paar Fotos machen würde? Ich werde ihn nicht anrühren, das verspreche ich.« Tresong dachte einen Moment darüber nach. »Na ja … schätze, das geht. Aber das war’s dann. Danach sind wir fertig.« Da wäre ich nicht so sicher, dachte Wolfe, als er zum Wagen ging, um seine Kamera zu holen. Gilly könnte mir mehr erzählen, als du glaubst. »Und?«, fragte Calleigh. Delko blickte seufzend von seinem Mikroskop auf. »Epitelzellen«, sagte er. »Du hattest recht, die Riemenpeitsche fängt beim Aufprall Hautzellen auf. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, mit wie vielen Spendern wir es zu tun haben und welcher davon unser Mann ist. Wenn er den Anzug anbehalten hat, ist er vielleicht gar nicht dabei.« »Also müssen wir sie alle untersuchen«, entschied Calleigh. »Oh, Valera wird uns dafür lieben.« »Ich werde es ihr sagen«, versprach Calleigh. Auf dem Weg zum DNS-Labor lief Calleigh Horatio über den Weg und erzählte ihm, was sie herausgefunden hatten. »Es sieht so aus, als wäre der Anzug, den er bei Samantha Voire getragen hat, nur die Grundausstattung. Er hat sich erst vollständig als Fischmann kostümiert, als er Eileen Bartstow angriff.« »Was zu dem Verhaltensmuster einer Person passt, die ihre Methoden ständig weiterentwickelt«, überlegte Horatio, während er neben ihr ging. »Ich habe ebenfalls ein bisschen tiefer geforscht.« »So? Wie tief?« »Vierhundert Millionen Jahre. Plus/minus ein oder zwei Jahrhunderte.«
Sie lächelte. »Die Devon-Periode? Du kommst mir nicht gerade wie der typische Paläontologe vor, H.« »Das bin ich auch nicht. Aber wer gewarnt ist, ist gewappnet. Wusstest du, dass die Devon-Periode auch als ›Zeitalter der Fische‹ bekannt ist?« »Klar. Das war die Zeit, in der die ersten Wirbeltiere aus dem Meer an Land gingen – von einem evolutionären Standpunkt aus gesehen, war das eine außerordentlich wichtige Zeit. Ich glaube, die anderen Landlebewesen waren Käfer und Spinnen – oder so.« »Aber auf die Ozeane trifft das nicht zu«, sinnierte Horatio. »Sie waren die Heimat einer Vielzahl außergewöhnlicher Lebensformen – Meeresräuber eingeschlossen. Sieh dir das an.« Er griff in seine Brusttasche, zog ein Stück Papier hervor und gab es ihr. Sie faltete es auseinander, studierte es eine Sekunde lang und nickte. »Ich sehe die Ähnlichkeit.« »Das ist ein Panzerfisch. Er war mit dicken Schuppen gepanzert. Anstelle von Zähnen hatte er eine Knochenwulst im Maul. Tatsächlich war das sogar eine der ersten Kreaturen, die einen Kiefer entwickelt haben. Natürlich ist es nicht möglich, festzustellen, welche Farbe die Schuppen hatten …« »Aber es könnte Pearlsheen-Blau gewesen sein«, führte Calleigh seinen Gedanken zu Ende. »Und dieses Detail bezüglich des Kiefers könnte durchaus die Verbindung zu dem Delfingebiss sein, das er benutzt hat.« »Der Gedanke ist mir auch gekommen«, sagte Horatio. »Das wichtigste Thema in Bezug auf die Devon-Periode ist der Übergang. Übergang von den kieferlosen Arten zu den Meeresräubern, Übergang von dem einen Element in das andere. Ich glaube, unser Wassermann ist der Ansicht, dass er den gleichen Prozess durchläuft.« »Weshalb sich auch die Details bei jedem Angriff ändern«, fügte Calleigh hinzu, nickte und schob sich eine verirrte Strähne
ihres blonden Haares hinter das Ohr. »Die Frage ist – Übergang zu was?« »Ich weiß es nicht. Aber wir wissen, welche Lebensform seine Ausgangsbasis darstellt – die, von der er sich immer weiter entfernt.« »Ja«, sagte Calleigh leise. »Der Mensch.« Wolfe nahm seine Fotos von dem Gilly-Kostüm und klemmte sie an die Wand. Dann trat er zurück, steckte die Hände in die Taschen seines Laborkittels und begutachtete sein Werk. Bei jedem Foto wurde die Größe des Objekts angegeben. So wie der Anzug präsentiert wurde und die Handschuhe an das Glas gepresst waren, konnte er die genauen Abstände zwischen den einzelnen Klauen abmessen. Er verglich sie mit den Daten, die er bei der Vermessung von den Schnitten in Eileen Bartstows Badeanzug erhalten hatte. Und sie stimmten überein. »Horatio.« »Emilio.« Horatio zog sich einen Stuhl heran und setzte sich in dem kleinen Straßencafé an den Tisch des Kubaners. »Zweimal in einer Woche, mein Freund? Wie stehen die Chancen für so ein Ereignis?« »Haben Sie, worum ich Sie gebeten hatte?« »Wenn eine dritte Partei sehen sollte, dass wir uns nach so kurzer Zeit schon wieder treffen, könnte sie alle möglichen Schlüsse daraus ziehen«, sagte Emilio unbeeindruckt. »Schlüsse, die sicherlich unfundiert wären, aber vielleicht Probleme aufwerfen könnten. Für uns beide.« Horatio seufzte, nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Es tut mir leid«, sagte er ruhig. »Es stehen Menschenleben auf dem Spiel, und die Uhr tickt.«
»Das liegt in der Natur Ihres Metiers«, entgegnete Emilio. »Ich hingegen habe kein Metier, wie Sie, denke ich, sehr gut wissen sollten. Und ich verspüre nicht den Wunsch, in das eines anderen hineingezogen zu werden.« Er verstummte, zog eine Zigarre hervor und nahm sich ausgiebig Zeit, sie anzuzünden. Als er endlich mit der Glut zufrieden war, lehnte er sich zurück und stieß einen gleichmäßigen Rauchkringel aus, ehe er fortfuhr: »Ich mag etwas erfahren haben, das für Sie interessant ist. Aber ehe ich diese Erkenntnis mit Ihnen teile, muss ich wissen, dass Sie meine Zurückhaltung ernst nehmen.« »Emilio«, sagte Horatio, »Sie wissen, dass ich Sie nie um einen Gefallen bitten würde, wenn es nicht notwendig wäre – und ich habe bisher noch nie in so kurzer Zeit um zwei hintereinander gebeten.« »Was ich weiß, ist, dass Sie und ich sehr unterschiedliche Männer sind«, entgegnete Emilio. »Männer, die einander respektieren, ja, aber uns sind unterschiedliche Dinge wichtig. Würden Sie dadurch nur ein einziges Leben retten können, so würden Sie unsere Freundschaft im Handumdrehen opfern.« Horatio musterte ihn ruhig, sagte aber nichts. »Das ist nichts, wofür Sie sich entschuldigen müssen«, sagte Emilio, »und ich würde auch keine solche Entschuldigung erwarten. Ihre Überzeugungen sind ausschlaggebend dafür, dass ich Sie so hoch achte.« Er fixierte Horatio mit einem oberflächlich amüsierten Blick, doch unter dieser Oberfläche lauerte etwas von größerer Tiefe, etwas Kaltes. »Dennoch sind das nicht meine Überzeugungen. Machen Sie nicht den Fehler, zu denken, ich würde Ihnen helfen, weil ich ein so weiches Herz habe.« »Nicht einmal im Traum«, antwortete Horatio. »Das ist gut. Zwar besitze ich ein solches Organ, doch habe ich mir sagen lassen, dass das meine ein schwarzes, ver-
schrumpeltes Etwas ist, gerade noch fähig, mein Blut durch meine Adern zu pumpen, nicht aber für Mitgefühl … und das ist kaum eine Basis für eine verlässliche Beziehung. Das ist, nehme ich an, der Grund, warum ich in diesen meinen verbleibenden Jahren allein bin.« Ganz gegen seinen Willen musste Horatio lächeln. »Dann werde ich nicht an das Gute in Ihnen appellieren.« Emilio erwiderte das Lächeln. »Eine weise Entscheidung. In der Tat wäre es erfolgversprechender, an meinen Sinn für das Absurde zu appellieren. Er ist weit besser entwickelt und in unserer heutigen, chaotischen Welt auch viel nützlicher. Beispielsweise bezüglich jenes Details, das Sie mich zu ergründen baten.« Horatio beugte sich gespannt vor. »Sie haben etwas in Erfahrung gebracht?« Emilio zog erneut träge und ausgiebig an seiner Zigarre. »In der Tat, das habe ich. Die Einzelheiten finden Sie hier.« Er griff in seine Brusttasche und zog einen dünnen Umschlag daraus hervor, den er Horatio überreichte. »Das war eine sehr eigentümliche Bitte, aber sie lag nicht außerhalb meiner Möglichkeiten.« »Danke«, sagte Horatio. »Ich schulde Ihnen was, Emilio. Das werde ich nicht vergessen.« »Ich bin überzeugt«, sagte Emilio und setzte einen weiteren Rauchkringel frei, »das werden Sie nicht …«
15
»Danke, dass Sie sich noch einmal hierhin bemüht haben, um mit uns zu reden«, sagte Horatio. Malcolm Torrence starrte ihn verächtlich von der anderen Seite des Tisches aus an. »Glauben Sie mir, ich bin nicht hier, weil ich das gerne will«, sagte er. »Sondern weil Sie klar genug zum Ausdruck gebracht haben, dass Sie der Allianz eine Menge Ärger machen werden, wenn wir nicht kooperieren.« »Dann werde ich versuchen, es kurz zu machen«, sagte Horatio. »Ich möchte mit Ihnen über das Marine Mammal Program der Navy sprechen.« »Was ist damit?« »Sie haben daran gearbeitet, richtig?« »Nachdem ich die Navy bereits verlassen hatte, ja. Die Gesellschaft, für die ich gearbeitet habe, hatte einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium. Wir sollten die Auswilderungsmöglichkeiten für ihre Tiere prüfen und entsprechende Maßnahmen ergreifen.« Horatio nickte. »Auswilderung – das bedeutet, sie sollten sie darauf vorbereiten, wieder in die Freiheit zurückzukehren, richtig?« »So hätte es sein sollen. Wir mussten sie lehren, allein zu überleben, nachdem sie jahrelang darauf trainiert wurden, auf Pfeifsignale zu reagieren. Als wir sie bekamen, konnten sie nicht einmal lebendige Fische essen, ganz zu schweigen davon, selbst welche zu fangen.« »Dann war es Ihre Aufgabe, ihnen das Überleben in Freiheit wieder anzutrainieren.«
Torrence schnaubte. »So hat man es uns gesagt. Aber eigentlich ging es bei der ganzen Geschichte nur um Politik – der einzige Grund, warum sie uns überhaupt angeheuert hatten, war, dass sie die Tierschutzorganisationen beschwichtigen wollten.« »Die Gesellschaft, für die Sie gearbeitet haben … das war das Aquarian Institute, korrekt?« »Das ist richtig.« »Unter Leitung von Doktor Nicole Zhenko.« »Ja.« »Aber Sie sind nicht mehr dort. Was ist passiert?« Torrence fing an, mit den Fingern der linken Hand auf der Tischplatte zu trommeln, aber Horatio konnte nicht erkennen, ob das ein Ausdruck innerer Unruhe oder lediglich Langeweile war. »Sie wollen wissen, was passiert ist? Zhenko ist durchgedreht, das ist passiert.« Horatio lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Durchgedreht? Inwiefern?« »Sie ist einfach zu weit gegangen, Mann. Sie war immer schon ein bisschen komisch, aber je weiter wir mit unserer Arbeit gekommen waren, desto schlimmer wurde es. Irgendwann war sie dann völlig übergeschnappt. Hat sich geweigert, die Delfine freizulassen, und gesagt, sie würden zu ihr gehören, nicht in die, Freiheit.« »Wie hat die Navy das aufgenommen?« Er lachte einmal bitter auf. »Sie hat denen direkt in die Hände gespielt. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass sie die Tiere eigentlich gar nicht freilassen wollten – und so hat sie denen genau das geliefert, was sie wollten. Hat einen Bericht geschrieben, in dem stand, es wären weitere Studien nötig und dass die Delfine allein nicht überleben könnten.« »Das, Mr Torrence, hört sich an, als wären Sie nicht gerade ihrer Meinung gewesen.«
»Ich bin nur eine kühle Brise, verglichen mit dem Hurrikan Nicole. Danach sind wir alle gegangen – keiner von uns konnte mit ihr arbeiten. Sie war nicht rational. Hat ihre ganze Zeit im Wasser zugebracht, und selbst wenn sie nicht im Wasser war, hat sie mehr mit den Fischen geredet als mit uns.« »Sie alle? Wer war sonst noch dort angestellt?« »Anatoly Kazimir, Fiodr Cherzynsky und Ingrid Ernst.« Horatio zog die Brauen hoch. »Alles Mitglieder der ALA«, stellte er fest. »Merkwürdig, dass eine Organisation mit so extremen Ansichten sich weigert, mit jemandem wie Doktor Zhenko zusammenzuarbeiten.« Torrence schürzte die schmalen Lippen. »Die ALA ist keine Terroristenorganisation, was immer Sie auch darüber denken mögen. Wir hatten schon genug Probleme mit unserem Image in der Öffentlichkeit, auch ohne einen Psycho auf der Mitgliederliste. Wissen Sie, wobei ich sie mal erwischt habe? Sie hat einen Delfin abgeleckt. Ich liebe Tiere, aber das – das war einfach krank.« »Aha. Sagen Sie, haben Sie das je gesehen?« Horatio schob ein Stück Papier über den Tisch. Torrence ergriff es, warf einen Blick darauf und sagte: »Klar – das ist eine Tätowierung. Anatoly, Ingrid, Fiodr und Nicole haben alle die gleiche Tätowierung. Irgendeine russische Kameradschaftsgeschichte – ich habe das nie so richtig verstanden.« »Na dann«, sagte Horatio milde, »werde ich wohl einfach jemanden fragen müssen, der es tut.« Doktor Zhenko weigerte sich, zur Befragung ins Policedepartment zu kommen, also ging Horatio zu ihr, um mit ihr zu reden. Sie war wieder draußen am Pool, hockte auf dem gefliesten Boden gleich neben ihrem Levo-Stuhl. Die abendliche Brise war kühl, aber sie trug lediglich denselben einteiligen schwarzen Badeanzug wie schon bei ihrer ersten Begegnung.
Die Unterwasserbeleuchtung warf wellenförmige blaue Muster auf ihr Gesicht, als sie sich über den Delfin beugte, der gemächlich am Rand des Pools schwamm. »Doktor Zhenko«, sprach Horatio sie an und blieb ein paar Schritte entfernt stehen. »Es gibt da ein paar Dinge, über die wir uns unterhalten müssen.« »Ich bin sehr beschäftigt«, knurrte sie. »Whaleboy leidet unter irgendeinem Pilzbefall.« »Ich habe sehr widersprüchliche Informationen von einigen Ihrer früheren Kollegen erhalten«, fuhr Horatio fort. »Genauer gesagt, von Ihren ehemaligen Kameraden aus der ALA.« Sie schnaubte verächtlich. »Und? Was immer die zu sagen haben, es interessiert mich nicht. Ich habe Ihnen schon gesagt, was ich über diese mudila denke.« »Sie haben gesagt, dass sie für Sie gearbeitet haben. Und dass sie sich unter Protest zurückgezogen haben, als Sie nicht bereit waren, die Navy-Delfine aus Ihrer Obhut in die Wildnis zu entlassen.« »Was?« Sie kletterte auf ihren Stuhl, versuchte gar nicht vorzugeben, sie würde Hilfe benötigen. Horatio fielen ihre starken Arme auf und mit welcher Leichtigkeit sie sich in eine sitzende Position hochziehen konnte. »Diese negodjaj, podonok, swolotsch! Huj tebje w shopu samesto ukropu … das ist nicht das, was passiert ist. Diese Idioten wollten sie freilassen, ehe sie dazu bereit waren, und als ich Einspruch erhoben habe, haben sie es trotzdem getan. Und wissen Sie, was als Nächstes passierte? Die Delfine wurden gesehen, wie sie Touristenboote verfolgt und nach Fischen gebettelt haben. Einer ist von einer Schraube zerfetzt worden. Die Navy ist gekommen und hat ihre verdammten Pfeifen benutzt, und die Delfine sind geradewegs zurück in ihre Becken geschwommen. Was haben diese salupa erwartet? Dass diese Großen Tümmler plötzlich vergessen, worauf sie während der letzten zwanzig Jahre gedrillt wurden? Palzem delannyj!«
Horatio näherte sich dem Rand des Beckens, hockte sich auf den Boden und blickte Whaleboy in das ihm zugewandte Auge. Der Delfin gab einen hohen Laut von sich und tauchte ab. »Also hat die Navy Ihnen die Tiere zurückgebracht?« »Erst, nachdem ich Anatoly und seine Bagage gefeuert hatte. Trotzdem sind sie nicht geblieben – die Delfine wurden in eine andere Einrichtung in Kalifornien verlegt. Die Navy dachte wohl, ich wäre ihnen vielleicht ein bisschen zu wohlgesinnt.« Horatio richtete sich auf. »Hatten sie recht?« Sie rollte direkt auf ihn zu, aber er wich nicht zurück. Nur Zentimeter von seinem Fuß entfernt hielt sie an. »Natürlich hatten sie recht. Halten Sie mich für ein herzloses Monster, das nichts empfindet, wenn Lebewesen, um die ich mich gekümmert habe, Lebewesen, die ich geheilt habe, mich verlassen? Ich weine um sie, Horatio. Ich weine mehr um ihren Verlust als um den meiner eigenen Beine.« »Und musste jemand für Ihre Tränen bezahlen, Doktor? Mit eigenen Tränen?« »Wir alle müssen früher oder später bezahlen.« Sie musterte ihn wütend. Dann winkte sie ab und fuhr wieder davon. Horatio folgte ihr. »Sie verstehen das nicht«, sagte sie. »Ich bin Russin. Mir ist das Sterben seit dem Moment meiner Geburt vertraut. Zu verlieren, was man liebt, ist einfach der Lauf der Dinge. Aber das heißt nicht, dass man nicht liebt. Es bedeutet, dass man die Flammen annimmt und nicht das Feuer verflucht. Ihr Amerikaner, ihr tut immer, als müsse alles frei sein, als wäre die Welt für euch nur eine große Geburtstagsparty. Sie nehmen und nehmen und sehen nicht, welchen Preis Sie dafür eines Tages zahlen müssen.« »Einigen von uns«, sagte Horatio, »ist dieser Preis viel deutlicher im Bewusstsein, als Sie denken mögen.«
Langsam hielt sie an. Eine Weile herrschte Schweigen, ehe sie wieder zu sprechen begann: »Da. Vielleicht. Sie wissen, was es bedeutet, etwas zu verlieren, das Sie geliebt haben. Das kann ich in Ihren Augen sehen. Aber deshalb sind wir noch lange keine Freunde.« »Ich bitte Sie nicht um Ihre Freundschaft«, sagte Horatio und stemmte seine Hände in die Hüften. »Ich bitte Sie um Ehrlichkeit. Im Gegenzug biete ich Ihnen meine an. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, deutet etwas anderes auf Sie hin. Sie hassen die Navy, Sie arbeiten mit Delfinen. Obwohl Sie anfänglich der Frage, ob Meeressäugetiere als Waffen benutzt werden können, ausgewichen sind, ist es doch exakt das, was Sie selbst in Russland getan haben – dort, wo Sie auch Ihre Ausbildung in Unterwasserangriffen und Kampftauchen erhalten haben. Trotz allem denke ich nicht, dass Sie die Mörderin sind, aber ich denke, Sie sind in die Sache verwickelt. Sie und noch jemand von der ALA. Jemand, der das kyrillische Zh an einer sehr intimen Stelle trägt.« »Die Tätowierung? Was hat die schon zu bedeuten?« »Warum erzählen Sie mir das nicht?« Sie machte kehrt und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Sie stammt aus meiner Zeit bei der sowjetischen Marine. Wir alle haben eine – gestochen in einem schäbigen kleinen Wohnzimmer in Nowosibirsk.« »Ich weiß. Und ich weiß auch, warum Sie sie haben und warum Sie diesen speziellen Buchstaben genommen haben.« »Sie müssen gute Quellen haben.« »Offensichtlich.« Sie bedachte ihn mit einem giftigen Blick. »Ich habe getan, was mir befohlen wurde. Wäre ich es nicht gewesen, hätte es jemand anderes getan. Ich war zumindest imstande, es schnell zu machen.« »Das war sicher …« Horatios Stimme verlor sich.
»Entsetzlich? Ungeheuerlich? Eine Gräueltat? Zustimmung in allen Punkten. Wollen Sie auch die Details dazu hören? Ich habe es mit Sprengstoff gemacht. Ich habe die ganze Gruppe in einem Becken versammelt und einen Unterwassersprengsatz hochgejagt. Der hydrostatische Druck hat sie alle sofort umgebracht.« Ihr Blick führte in weite Ferne. »Als ich die Bombe ins Wasser habe fallen lassen, dachten sie, ich wollte mit ihnen spielen. Einer von ihnen hat sie mit der Nase über den Boden geschoben, als sie hochgegangen ist.« »Hätten Sie sie nicht einfach freilassen können?«, fragte Horatio. »Nein. Sie waren Waffen, verstehen Sie? Meine Vorgesetzten hatten Angst, ihr Amerikaner oder vielleicht die Chinesen könnten sie einfangen und studieren. Das wollten sie nicht riskieren, und sie hatten nach dem Fall der Mauer kein Geld für ›Sonderprojekte‹ – also mussten sie alle vernichtet werden.« »Tut mir leid«, sagte Horatio. »So etwas durchzumachen muss furchtbar sein.« Ihre Schultern hoben sich zu einem hastigen, wütenden Zucken. »Und? Denken Sie, wir wären die Einzigen, die so etwas getan haben? Ihr Amerikaner liebt eure Haustiere, eure Katzen und Hunde. In Vietnam haben die Amerikaner Deutsche Schäferhunde zur Minensuche und zum Aufspüren von Hinterhalten eingesetzt. Sie haben viele Menschenleben gerettet. Und als der Krieg vorbei war, haben diese Hunde da ihre wohlverdiente Belohnung bekommen? Nein, sie wurden ausgerottet, genau wie meine Delfine. Warum? Es war billiger!« Das letzte Wort spuckte sie aus, als wäre es mit Gift versetzt. »Und die Tätowierungen waren eine Möglichkeit, die toten Tiere zu ehren?« »Das war der Codebuchstabe unserer Einheit. Wir haben geschworen, es niemals zu vergessen.«
»Janice Stonecutter hat sie auch nicht vergessen – denn die Person, die sie vergewaltigt und ermordet hat, hatte die gleiche Tätowierung.« »Und Sie denken, es war einer von uns. Einer von denen.« »Das denke ich.« »Also schön, Sie sind mir überlegen.« In gespielter Verzweiflung riss sie die Arme hoch. »Ich habe es getan. Mit einem großen Gummi-jelda. Schlau, was? Niemand verdächtigt eine Frau ohne Beine, ein Vergewaltiger zu sein.« »Während Sie hier Witze reißen, könnte noch eine Frau ermordet werden«, sagte Horatio. »Möchten Sie wissen, wie Janice Stonecutter gestorben ist? Sie war während des größten Teils eines Tages in einem versenkten Auto angekettet. Man hat sie mithilfe einer Sauerstoffflasche am Leben gehalten, während der Täter sie mit selbst gefertigten Klauen gefoltert hat. Sie wurde mehrere Male vergewaltigt. Als sie endlich verblutet ist, hat er sie ausgeweidet.« Sie maß ihn mit versteinertem Blick. »Soll mich das schokkieren? Wie gut Ihre Quellen auch sein mögen, Sie haben keine Ahnung, was ich schon gesehen oder getan habe. Ich bin kein Engel, Horatio.« »Nein, aber Sie sind auch kein Monster. Er schon. Wollen Sie wirklich zulassen, dass dieser Kerl sich in demselben Wasser aufhält, in dem Sie schwimmen?« »Warum nicht? Das Meer ist groß«, sagte sie, rollte zu dem alten Kühlschrank, riss ihn auf und wühlte im Eisfach herum. Gleich darauf zog sie eine Flasche Stolichnaya Vodka und ein kleines, frostbedecktes Glas hervor. »Denken Sie, er ist das einzige Raubtier da draußen? Es gibt über zweihundertsiebzig verschiedene Haiarten. Okay, nur ein kleiner Teil würde je einen Menschen anfallen, vielleicht drei Prozent dieser Arten. Wissen Sie, wie viele Menschenfresser das alles in allem sind?«
»Ich kann rechnen.« »Rechnen, pah. Ich kann Ihnen ihre Namen nennen.« Sie balancierte das Glas auf der Lehne ihres Stuhls. »Der große Weiße, der Weißspitzen-Hochseehai, der Bullenhai, der Hammerhai, der Makohai, der Ammenhai, der Blauhai, der Graue Riffhai, der Schwarzspitzenhai. Und dann sind da noch die mit den komischen Namen, die Teppichhaie und natürlich die Heringshaie.« Sie erhob ihr Glas. »Und lassen Sie uns nicht meinen persönlichen Favoriten vergessen, den Galeocerdo cuvier – den Tigerhai. Um die fünf Meter fünfzig lang und eine Tonne schwer. Die fressen beinahe alles, Fische, Rochen, Meeressäuger, Schildkröten, Vögel, Seeschlangen und sogar andere Haie. Und natürlich wohlschmeckende russische Taucher.« Sie kippte den Inhalt ihres Glases mit einer einzigen Bewegung hinunter und fuhr fort, ohne auch nur einmal Luft zu holen. »Die Hawaiianer polynesischer Abstammung nennen sie Awna Kua. Sie glauben, die Geister ihrer Vorfahren würden in den Haien fortleben. Tolle Vorstellung, nicht wahr? Wenn das Ihr letzter Gedanke ist: ›Ob das wohl Großmutter ist, die da gerade meine Leber verspeist?‹ Wollen Sie auch was?« Sie hielt die Flasche hoch. »Nein.« »Natürlich nicht. Ein Cop aus Moskau hätte nicht einen Augenblick gezögert.« Sie schenkte sich nach. »Es war meine eigene Schuld, wissen Sie?« »Was?« »Der Verlust meiner Beine.« Sie lachte einmal kurz auf, ohne eine Spur von Humor. »Englisch. Das ist so eine unsinnige Sprache. Meine Beine sind nicht verloren. Ich weiß genau, wo sie sind. Wollen Sie es sehen?« Sie kippte den Wodka hinunter, machte mit der Flasche in der Hand kehrt und rollte auf einen Laptop zu, der auf einem Tisch neben dem Becken stand und ein gedämpftes Licht verbreitete. Sie betätigte ein paar
Tasten, fluchte und drückte ein paar andere. »Sehen Sie, ich habe im Rahmen eines Forschungsprogramms bei der Kennzeichnung von Haien geholfen. Tigerhaie schwimmen auf eine ganz bestimmte Art, vom Grund zur Oberfläche und wieder zurück, wie ein Jo-Jo. Das wusste ich. Tigerhaie greifen auch keine Beute an, die sie kommen sieht, ob Sie es glauben oder nicht, die beste Verteidigung gegen einen Tigerhai ist, ihm direkt in die Augen zu schauen. Auch das wusste ich. Ah, da haben wir es ja. Sehen Sie.« Horatio trat näher. Der Monitor des Laptops zeigte ein schmutzig grünes Bild. »Was ist das?«, fragte er. »Unsere Aufgabe war es, die Bewegungen der Tigerhaie zu verfolgen, ihr Verhalten zu erforschen, zu sehen, wie groß ihre Wanderbewegungen bei der Nahrungssuche sind. Wir haben zwei Methoden angewandt: Die erste bestand darin, dass wir ihnen Ultraschallsender in die Bauchhöhle einpflanzten und die Pieptöne mit einem Hydrophon, einem Unterwassermikrofon, verfolgten. Und die andere war die ›Sharkcam‹«, sagte sie und deutete auf den Monitor. »Eine an der Rückenflosse befestigte Kamera. Die Daten werden über einen Satelliten hochgeladen und mithilfe des wundersamen Internets auf einer Website angezeigt.« Horatio beugte sich vor und fixierte blinzelnd den Monitor. Nun konnte er ein paar Details ausmachen, ruckartige Bewegungen, silbrige Flecken, in denen er Fische vermutete. »Soll das heißen, das ist …« »War meine Schuld«, erklärte sie erneut. »Ich habe nicht aufgepasst. Haie greifen nie von oben an, wussten Sie das? Ihre Körper sind dafür nicht geeignet. Also musste ich weiter nichts tun, als regelmäßig nach unten zu schauen, um mich davor zu schützen, zum Mittagessen verspeist zu werden.« »Also geben Sie sich die Schuld.« »Sie wollten ihn töten, wissen Sie? Danach. Es war einer von denen, die wir schon markiert hatten, also war es nicht
schwer, ihn ausfindig zu machen. Aber ich habe es nicht zugelassen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen ihm eine Kamera verpassen, um zu sehen, was er als Nächstes tut. Das sei eine wertvolle Gelegenheit für unsere Forschung, habe ich behauptet. Und sie haben getan, was ich gesagt habe.« Horatio rieb sich das Kinn. Er starrte den Monitor an. Dann Zhenko. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Faszination und Sehnsucht. »Manchmal, nachts, wenn ich nicht schlafen kann, komme ich hierher«, sagte sie sanft. »Dann beobachte ich eine andere Welt durch die Augen eines Jägers. Ich habe mich immer gefragt, ob ihn das verändert hat – einen Teil von mir zu essen. Aber dann ist mir klar geworden, dass das eine dumme Idee ist. Haie ändern sich nicht. Millionen Jahre der Evolution haben sich nicht auf sie ausgewirkt, warum also sollte ich das tun? Nein, ich war diejenige, die sich verändert hat, nicht er.« »Dann sind Sie jetzt kein Bestandteil der menschlichen Rasse mehr, ist es das, was Sie meinen?«, fragte Horatio vorsichtig. »Keine Verbindung, keine Verpflichtung. Was sind Sie dann heute?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Müde. Allein. Frustriert. Mne wsjo rawno.« »Was bedeutet das?« »Es bedeutet, es ist mir egal.« Sie führte die Wodkaflasche an die Lippen und nahm einen großen Schluck. »Das glaube ich nicht«, sagte Horatio. »Wenn Sie sonst auch vielleicht nichts mehr kümmert, sorgen Sie sich doch immer noch um die Delfine.« »So? Schön, wenn Ihr Mörder anfängt, Delfine zu jagen, können Sie mich ja anrufen.« »Wissen Sie, ich habe eine ganze Menge Leute gekannt, die mit Tieren gearbeitet haben. Bei manchen sind die sozialen Fähigkeiten ein wenig beschränkt, aber nur wenige sind echte
Misanthropen. Der Grund, warum diese Menschen beschlossen, als Veterinäre oder Zoologen zu arbeiten, war nicht, dass sie Menschen gehasst hätten, sondern weil sie die besten Seiten des Menschen in anderen Lebensformen erkannt haben. Loyalität, Intelligenz, Verspieltheit, sogar Liebe. Das sind die Aspekte, die sie in den Tieren erkannt haben, und diese Aspekte sind es auch, die Menschen dazu verlocken, ihr ganzes Leben der Sorge einer anderen Spezies zu widmen. Ich glaube, Sie sind da keine Ausnahme.« Sie knallte die Wodkaflasche auf den Tisch. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nichts über Ihren verdammten Mörder weiß! Sie sagen, es ist einer aus der Zh-Einheit? Schön! Dann gehen Sie und reden Sie mit Anatoly oder Ingrid oder Fiodr!« »Das werde ich«, sagte Horatio ruhig. »Aber bevor ich das tue, möchte ich Ihnen eine Frage stellen.« »Also gut«, knurrte sie. »David Stonecutter wurde mit einer einzigartigen Waffe getötet, einer sowjetischen Unterwasserpistole mit der Bezeichnung SPP 1. Das ist genau die Art von Souvenir, die ein ehemaliger Sowjetbürger und Militärangehöriger mitnehmen könnte, zum Andenken oder um sie später zu verkaufen.« Horatio sah ihr direkt in die Augen. »Wissen Sie zufällig etwas über so eine Waffe?« Sie begegnete seinem Blick, ohne auch nur zu blinzeln. »Da. Wir wurden alle an dieser Waffe ausgebildet, aber nur Anatoly hat sich entschlossen, seine mitzunehmen. Er dachte, es sei eine witzige Idee, eine Zielscheibe im tiefen Bereich eines Beckens anzubringen.« »Danke«, sagte Horatio. »Von Herzen gern«, giftete sie. »Und jetzt verschwinden Sie. Ich muss trinken.« Sie schnappte sich die Wodkaflasche und widmete sich wieder dem Laptop. »Nur ich«, sagte sie und
hob die Flasche vor dem schmutzig grünen Bild, »und mein Bruder.« »Ich habe eure Ergebnisse«, sagte Maxine Valera. Die DNSSpezialistin hielt einen Stapel Papiere in der Hand – einen Stapel Papiere, der, wie Delko feststellen musste, für seinen Geschmack eindeutig zu dick war. Noch weniger gefiel ihm, was sie als Nächstes sagte: »Zwölf Spender. Sieben männlich, fünf weiblich. Offenbar hat die Eigentümerin dieses Sex-Toys-’R’-Us eine leicht von der Norm abweichende Vorstellung von Chancengleichheit.« »Oder sie teilt gern«, sagte Delko. »Danke, Maxine. Ich hoffe, wir werden bald etwas haben, womit wir diese Ergebnisse vergleichen können.« »Wenn es so weit ist, wisst ihr ja, wo ihr mich finden könnt.« Tief in Gedanken verließ Delko das DNS-Labor. Die DNS, die an den Sexspielzeugen gefunden wurde, mochte helfen, DeVone zu identifizieren, brachte ihn aber noch nicht eindeutig mit einem der Tatorte in Verbindung. Der blaue Latexfetzen wäre dazu imstande, aber nur, wenn sie den Anzug fänden und seine DNS daran kleben würde. Was sie brauchten, war ein Beweisstück, das DeVone eindeutig mit den Morden in Verbindung brachte. Er ärgerte sich, dass sie es nicht geschafft hatten, den Farallon Shark Dart aufzutreiben. Waffen waren Calleighs Stärke, aber Tauchen war Delkos, und er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, irgendetwas übersehen zu haben. Vielleicht gehe ich die ganze Sache falsch an, dachte er. Vielleicht sollte ich anstelle der Waffe besser die Munition suchen. Kohlendioxid, ordinäres CO2. Zumeist abgepackt in kleinen Aluminiumkapseln, die üblicherweise in Zehnerkisten verkauft
wurden. Kohlendioxid kam in unterschiedlichster Weise zum Einsatz – in Sprudelwasser oder als Luftpistolen beispielsweise. Aber kaum jemand machte sich noch die Mühe, sein Wasser auf die gute altmodische Art selbst mit Kohlendioxid zu mischen. Delkos Ansicht nach war es viel wahrscheinlicher, dass DeVone das Gas in einem Laden gekauft hatte, der Paintballausrüstungen im Sortiment hatte. Es gab in der Gegend von Miami eine ganze Reihe Geschäfte dieser Art. Zwar waren auch gasbetriebene Waffen gefährlich, doch sie galten nicht als Schusswaffen im Sinne des Gesetzes, und deshalb war auch keine Lizenz für ihren Besitz oder Verkauf erforderlich. Das bedeutete, dass es auch keine offizielle Datenbank gab, die er durchsuchen konnte – aber vielleicht konnte er eine andere Informationsquelle auftreiben. »Lust auf einen Ausflug?«, fragte Delko. Calleigh blickte von dem Papierkram auf, über dem sie gerade grübelte. »Schätze schon. Aus welchem Anlass?« »Durchsuchungsbefehl«, sagte Delko und hielt ein Stück Papier hoch. »Für DeVones Postfach.« Calleigh legte die Stirn in Falten. »Und du denkst wirklich, dass wir da etwas finden werden? Ich meine, wir könnten Glück haben und auf einen Fingerabdruck stoßen, aber wahrscheinlich ist das Fach voller pornografischer Werbesendungen.« »Vielleicht – aber ich hoffe, dass auch Werbung anderen Inhalts dabei ist. Unser Junge scheint einen Hang zu außergewöhnlichen Waffen zu haben: die Haiabwehrwaffe, die Delfinzähne, die Unterwasserpistole. Er hat sich schon auf einer Adressliste eingetragen. Vielleicht ist er noch auf einer anderen – beispielsweise auf der eines Geschäfts für Paintballausrüstungen oder seltene Waffen –, und vielleicht können wir ihn so aufspüren.«
»Einen Versuch ist es wert«, stimmte sie ihm zu. »Besonders, wenn man bedenkt, was ich durchgemacht habe, um dieses Postfach zu finden.« »Das wirst du mir irgendwann genau erzählen müssen«, sagte Delko grinsend. »Klar«, sagte Calleigh, als sie ihren Laborkittel auszog und aufhängte. »Sagen wir, irgendwann in den nächsten Jahren.«
16
»Wie es scheint«, verkündete Horatio milde, »können wir alle aufhören zu arbeiten. Mr Wolfe hat es fertiggebracht, unseren Hauptverdächtigen ganz allein aufzuspüren und einzukerkern.« Frank Tripp nickte, die Arme vor der Brust verschränkt und einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. »Weißt du«, sinnierte er, »ich dachte, es wäre …« »Größer?«, schlug Horatio vor. »Nein – feuchter«, sagte Frank. Sie standen im Labor und starrten das Objekt an, das Wolfe soeben auf einem Handkarren hereingeschoben hatte und das aus seinem Glaskasten zurückschaute. Wolfe knöpfte seinen Laborkittel zu und grinste. »Gilly höchstpersönlich«, stellte er vor. »Sie hätten den Kerl erleben sollen, als ich mit der richterlichen Anordnung aufgetaucht bin. Man hätte glauben können, ich hätte ihm den Erstgeborenen wegnehmen wollen.« »Den Erst-Gelaichten«, sagte Tripp. »Mir sind ja schon einige hässliche Verdächtige untergekommen, aber der hat eine Visage, in die sich sogar Frankenstein verlieben könnte.« »Aber Frank, bitte nicht so oberflächlich«, sagte Horatio. »Wichtig sind die inneren Werte – nicht wahr, Mr Wolfe?« »Absolut, H.«, antwortete Wolfe und streifte sich ein paar Handschuhe über. »Genauer gesagt, was – und wer – in diesem Anzug gesteckt hat.« »Moment mal«, sagte Tripp mit einem Stirnrunzeln. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, das zweite Opfer wäre mit irgendwelchen selbst gebastelten Klauen aufgeschlitzt worden. Die
von diesem Ding sehen aus, als wären sie nicht einmal scharf genug, um Butter zu schneiden.« »Das liegt daran, dass das nicht unsere Mordwaffe ist«, entgegnete Horatio. »Das ist der Originalanzug, der in dem Film benutzt worden ist, und darum ist er eine wichtige Ikone in der persönlichen Mythologie unseres Wassermanns.« Wolfe zog einen kleinen Schlüssel aus einem Beweismittelbeutel hervor. »Richtig. Die Tatsache, dass die Klauen dieses Anzugs die gleiche Größe haben, bedeutet, dass der Mörder die Maße dieses Anzugs kopiert hat – und das bedeutet wiederum, dass er entweder sehr gut informiert ist oder Zugriff auf den Anzug selbst hatte.« »Und Sie denken, unser Mörder könnte eine Kleinigkeit für uns hinterlassen haben?«, fragte Tripp. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, entgegnete Wolfe, löste die Verriegelung der Rückwand und öffnete den Kasten. Der Laden nannte sich Bullseye Accessories. Er war auf Paintballwaffen und Zubehör spezialisiert. Hier gab es alles, von Panzerwesten über Vollschutzmasken bis hin zu dem neuesten vollautomatischen Paintballsturmgewehr. »Mann, hier gibt es wirklich alles«, bemerkte Delko, als sie hineingingen, während Calleigh die Augen verdrehte. »Ja«, sagte sie. »Bis auf Anzeichen von Intelligenz.« »So? Du hältst nichts von Paintball? Irgendwie merkwürdig.« »Wirklich? Fändest du es auch merkwürdig, wenn ein Koch mit einer klassischen Ausbildung nicht alle subtilen Nuancen einer Betty-Crocker-Fertigmischung zu schätzen weiß?« Delko kicherte. »Klingt ein bisschen versnobt, findest du nicht?« Sie seufzte. »Tut mir leid, ich wollte mich nicht zur Allwissenden aufspielen. Es ist nur so, dass ich Waffen wirklich ernst
nehme, und ich reagiere empfindlich, wenn ich sehe, dass sie auf so eine Art … verfälscht werden. Wenn die Leute schießen wollen, dann sollen Sie auf einen Schießplatz gehen und lernen, wie man es richtig macht, statt durch die Gegend zu laufen und wahllos aufeinander loszuballern. Das kommt mir einfach nicht richtig vor.« Ein Mann mit militärisch kurzem Haar, einem rotorangefarbenen, schnurgeraden Oberlippenbart und einem beachtlichen Bierbauch trottete gemächlich auf sie zu. Er trug weite Tarnfarbenshorts, eine Khakiweste, die mit Klettverschlusstaschen übersät war, und ein T-Shirt mit der Aufschrift: »Kill sie alle – soll Gott sie sortieren«. »Kann ich helfen, Leute?«, fragte er. »Hab heute ein Sonderangebot für die Diablo Mongoose – elektronisches Griffstück, Multi- oder Turbo-, semi- und vollautomatischer Feuermodus, Eloxierung und Fräsung nach Kundenwunsch, Niederdruck-Volumizer – ein höllisches Teil, wenn Sie mich fragen. Kaufen Sie heute, dann lege ich für hundert Scheine mehr eine 300-Bar-Flasche dazu.« »Eigentlich«, sagte Delko und zeigte ihm seine Marke, »hatten wir gehofft, wir könnten mit Ihnen über einen Ihrer Kunden sprechen.« Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Kommt darauf an. Meine Kunden erwarten eine gewisse Diskretion von mir, wissen Sie.« »Ihre Kunden sind fünfzehnjährige Jungs mit Rambofantasien«, gab Calleigh zurück. »Die Sie erfüllen, indem Sie ihnen teure Spielzeuge verkaufen, die nichts dazu beitragen, ihnen einen verantwortungsvollen Umgang mit Waffen zu vermitteln.« »Äh, Calleigh«, sagte Delko. »Auf ein Wort, wenn du einverstanden bist.« Er zog sie zur Seite. »Hör mal, wir haben keinen Durchsuchungsbefehl. Wenn du deine feindselige Einstellung nicht im
Zaum hältst, wird dieser Kerl uns vermutlich in die Wüste schicken.« »Schon gut, schon gut«, sagte sie verärgert. »Sprich du mit ihm. Ich sehe mich so lange in dem Laden um.« Mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen kehrte Delko zurück. »Tut mir leid, meine Kollegin reagiert auf manche Themen ein bisschen empfindlich. Aber ich wäre Ihnen für Ihre Unterstützung wirklich dankbar, Mr …?« »Caldicott. Andrew Caldicott.« Der Mann wirkte eher nachdenklich als gekränkt. »Junge, die geht aber richtig ab, was?« »Fähig dazu ist sie«, sagte Delko verständnisinnig. »Mein Name ist übrigens Eric Delko. Wir kommen vom kriminaltechnischen Labor, und wir ermitteln in einem Mordfall.« Sofort breitete sich ein höchst interessiertes Lächeln auf Caldicotts Gesicht aus. »So? Welche Art von Mord?« »Ich kann Ihnen über die Details wirklich nichts erzählen, aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie sich keine Sorgen wegen Ihrer Ware machen müssen. Wir wissen, dass keine Ihrer Waffen etwas damit zu tun hat.« Delko vernahm ein gedämpftes »Hmpf!« von hinten, beschloss aber, es zu ignorieren. »Wir haben Ihre Werbung im Postfach unseres Verdächtigen gefunden, was darauf hindeutet, dass er auf Ihrer Kundenliste stehen müsste. Wir haben uns gefragt, ob einer Ihrer Angestellten vielleicht persönlich mit ihm gesprochen hat.« »Da muss ich meine Leute fragen. Wie heißt der Bursche?« »DeVone.« »Oh ja – dieser Typ.« »Sie erinnern sich an ihn?« »Klar. Ist hergekommen und hat komische Fragen gestellt – wollte wissen, ob unsere Waffen auch unter Wasser funktionieren. Ich habe ihm gesagt, dass ich es nie ausprobiert habe,
aber nicht annehme, dass sie das tun. Die Geschosse würden sowieso nicht weit kommen.« »Hat er irgendetwas ausgefüllt – vielleicht irgendein Formular?« »Nee. Wer auf unsere Kundenliste will, den geben wir direkt in den Computer ein.« »Können Sie mir erzählen, wie er ausgesehen hat? Wie war er gekleidet? Was ist mit seiner Stimme? Hatte er einen Akzent?« Caldicott hielt eine Hand hoch. »Hey, langsam. Ich kann sogar noch mehr tun – ich kann Ihnen den Kerl zeigen.« Er zeigte zur Decke über der Kasse. »Sie können sie nicht sehen, aber da oben ist eine Kamera. Ich kann Ihnen ein Bild von ihm geben.« »Wirklich? Wie lange bewahren Sie die Aufnahmen auf?« »Nur ein paar Tage – aber er war gestern erst hier. Hat eine Kiste CO2-Kapseln gekauft, wenn ich mich richtig erinnere.« Calleigh schlenderte herbei. »Wie läuft es?« »Das wirst du nicht glauben«, entgegnete Delko. Er erzählte ihr, was er erfahren hatte, während Caldicott davonhastete, um die Sicherheitsbänder zu holen. »Hoffen wir, dass wir eine gute Aufnahme von seinem Gesicht bekommen«, sagte Calleigh, »und dass er nicht verkleidet ist, so wie in diesem Fetischladen.« »Jeder Verbrecher macht früher oder später mal einen Fehler«, sagte Delko. »Mit ein bisschen Glück hat unser Wassermann seinen hier gemacht.« Innerhalb von Minuten war Caldicott wieder bei ihnen. »Da haben wir es«, sagte er strahlend und überreichte ihnen ein Videoband. »Danke«, sagte Calleigh gnädig und nahm ihm das Band ab. »Und es tut mir leid, dass ich Ihnen vorhin beinahe den Kopf abgerissen habe.«
»Oh, das macht nichts«, sagte Caldicott. »Viele Frauen können mit unserem Sport nichts anfangen. Waffen sind eben doch vor allem Männersache.« Delko warf einen Blick auf Calleigh und trat einen Schritt zurück. »Männersache?«, wiederholte Calleigh eisig. »Genau. Wissen Sie eigentlich, wie viele Todesfälle durch Luftpistolen verursacht werden? Neununddreißig zwischen 1990 und 2000 – davon zweiunddreißig tote Kinder. Allein im Jahr 2000 wurden über einundzwanzigtausend Unfälle durch Druckluftwaffen gemeldet.« »Das waren doch alles Rundkugelwaffen. Paintballwaffen sind absolut sicher, wenn Sie wissen, wie Sie damit umzugehen haben.« »Tatsächlich? Die meisten Faustfeuerwaffen bringen es auf Schussgeschwindigkeiten zwischen zweihundertunddreißig und vierhundertundvierzig Meter pro Sekunde. Eine Kugel des Kalibers .22 muss nur fünfundsiebzig Meter pro Sekunde erreichen, um die Haut zu durchdringen. Für eine Augenverletzung reichen Geschwindigkeiten von vierzig Meter pro Sekunde vollkommen aus – und die Waffen, die Sie verkaufen, können eine Kugel auf über fünfundsiebzig Meter pro Sekunde beschleunigen.« »Also hören Sie, eine Kugel unterscheidet sich enorm von einem mit Farbe gefüllten Plastikball …« »Ja, das tut sie. Sagen Sie mir, verlangen Sie von Ihren Kunden, dass sie irgendeinen Kurs absolvieren, ehe sie Ihre Produkte kaufen dürfen?« »Na ja, nein …« »Dann nehme ich an, die meisten Ihrer Kunden werden den Unterschied nie kennen lernen.« Calleigh deutete auf eine Gruppe Jungs, die gerade das Teenageralter erreicht hatten und am Verkaufstresen eine futuristisch aussehende Pistole bewunderten. »Ist Ihnen bewusst, dass es in Florida als Ordnungswid-
rigkeit gilt, irgendjemandem unter sechzehn die Benutzung einer Druckluftwaffe zu gestatten, es sei denn, Besitz und Benutzung werden von einem Erwachsenen überwacht und die Eltern haben dem Besitz zugestimmt?« »Natürlich.« »Schön, dann gehe ich davon aus, dass Sie Ihre Produkte niemals an Jungs wie die verkaufen, ohne dass deren Eltern ihr Einverständnis erklärt haben. Schließlich wollen Sie sich bestimmt nicht vor Gericht wiederfinden und sich mit einem Teenager mit Augenklappe und einem wütenden Elternteil mit einer Millionenklage konfrontiert sehen, nicht wahr?« Caldicott schluckte. »Nein, ich schätze, das will ich nicht.« »Gut. Denn sollte ich je von so einem Fall hören, dann werde ich mich mit größter Freude als Expertin zur Verfügung stellen. Für die Anklage. Danke für das Band.« Damit machte Calleigh kehrt und stolzierte davon. Delko folgte ihr grinsend. »Für deinen Mund brauchst du einen Waffenschein«, sagte er. Calleigh murmelte als Antwort etwas vor sich hin, das er nicht verstehen konnte. Er bat sie auch nicht, ihre Worte zu wiederholen. »Mister Kazimir«, sagte Horatio. »Schön, dass es Ihnen wieder besser geht.« Anatoly Kazimir starrte ihm durch den Türspalt entgegen. Seine Augen waren rot gerändert, er war unrasiert und trug lediglich Boxershorts. »Detective Caine«, sagte er. Seine Stimme, die nun nicht mehr durch die Kompressionskammer verzerrt wurde, klang rau und verschleimt. »Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen? Haben Sie mir wieder etwas zum Lesen mitgebracht?« »Das habe ich allerdings, Anatoly«, sagte Horatio und hielt einen Durchsuchungsbefehl hoch. »Wenn Sie so freundlich wären herauszukommen?«
»Kann ich mir erst eine Hose anziehen? Oder ist das schon zu viel verlangt?« »Soweit ein Beamter dabei ist, während Sie das tun, habe ich keine Einwände.« Kazimir öffnete die Tür und ließ Horatio und den uniformierten Beamten in seiner Begleitung eintreten. Der Officer folgte Kazimir ins Schlafzimmer, während sich Horatio einen ersten Überblick verschaffte. Kazimirs Wohnung sah ungefähr so aus, wie er es erwartet hatte: klein, unaufgeräumt, nicht übertrieben sauber. Verpakkungen aus Speiselokalen lagen herum, alte Zeitungen verteilten sich in ungleichmäßigen Stapeln auf Stühlen, und Kleider hingen über allen möglichen Möbelstücken. Die Küchenspüle schien vorwiegend als Aschenbecher zu dienen. Kazimir tauchte in der Tür zum Schlafzimmer auf, nunmehr in einer Jeans und einem T-Shirt, das schon so ausgewaschen war, dass von dem Aufdruck kaum noch etwas zu erkennen war. »Was immer Sie suchen«, sagte er und kratzte sich an den Bartstoppeln unter seinem Kinn, »warum fragen Sie mich nicht einfach?« »Das werde ich«, sagte Horatio, »falls wir es nicht finden.« Kazimir und der Officer gingen hinaus auf den Korridor, und einen Moment später tauchte Calleigh etwas außer Atem auf der Türschwelle auf. »Tut mir leid, H. ich bin spät dran, aber ich denke, wir könnten einen Durchbruch in dem Fall erzielt haben.« Sie erzählte ihm von dem Videoband. »Eric sieht es sich gerade an. Ich habe es noch nicht gesehen – ich bin gleich hergekommen, nachdem du angerufen hast.« »Hervorragende Arbeit«, sagte Horatio. »Dann sehen wir mal, ob wir die heutigen Erfolge noch um die Mordwaffe ergänzen können.« Als Erstes holte Wolfe den Anzug Stück für Stück aus der Vitrine heraus. Es gab verschiedene Einzelteile: Kopfstück,
Brustplatte, Torso, Arme und Beine, Klauenhände und -füße. Ohne die blauen Strahler zeigte sich die Oberfläche des Anzugs in einem dumpfen, leicht ins Grünliche gehenden Grau. Die Schaufensterpuppe, die den Anzug getragen hatte, war als Nächste dran. Sie war mit Bolzen am Boden befestigt. Wolfe löste sorgfältig jeden einzelnen Bolzen heraus und legte sie zur Seite. Dann hob er die Puppe selbst aus der Vitrine. Auf der Suche nach Fingerabdrücken pinselte er die Außenseite des Glaskastens ab und war nicht verwundert, als er keine fand. Tresong hatte die Glasflächen offensichtlich regelmäßig geputzt. Wolfe hoffte, er würde auf der Innenseite mehr Glück haben. Mit einem zehn Watt starken Argon-Ionenlaser suchte er auf dem Glas nach Abdrücken. Nahe am Boden wurde er fündig, dort fand er tatsächlich ein paar vielversprechende Abdrücke. Er beschloss, den ganzen Glaskasten von innen mit Dampf zu behandeln. Die Verdampfung von Sekundenkleber war eine Methode, scheinbar unbrauchbare Abdrücke sichtbar zu machen. Die Entwicklung dieser Vorgehensweise wurde häufig einem britischen Polizeibeamten zugeschrieben, der 1979 bemerkt hatte, dass die Fingerabdrücke auf einem von ihm selbst reparierten Heizgerät plötzlich zu sehen waren, doch tatsächlich war die Methode schon zwei Jahre zuvor von einem Laboranten des Kriminaluntersuchungsamtes der japanischen Nationalen Polizeibehörde entdeckt worden. Das amerikanische Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms importierte die Ermittlungstechnik in die Vereinigten Staaten, wo sie inzwischen bundesweit genutzt wurde. Es gab verschiedene Arten von Sekundenklebern: Methylcyanacrylat und Ethylcyanacrylat waren am meisten verbreitet, aber gelegentlich wurden auch Butylcyanoacrylat oder Isobutylcyanoacrylat verwendet. Die Vorgehensweise war recht ein-
fach: Das entsprechende Objekt wurde zusammen mit einem kleinen Heizgerät, über dem sich ein Gefäß mit einigen Tropfen Sekundenkleber befand, in einem verschließbaren Behälter platziert – ein Aquarium oder auch nur ein schlichter Pappkarton. War das Heizgerät in Betrieb, wurde der Behälter verschlossen und der Kleber bis zum Siedepunkt, der irgendwo zwischen fünfzig und fünfundsechzig Grad Celsius lag, erhitzt, um das Cyanacrylat in Gas zu verwandeln. Der Hauptbestandteil von Fingerabdrücken war üblicherweise Schweiß. War das enthaltene Wasser einmal verdunstet, blieb eine Mischung organischer Stoffe – Glukose, Ammoniak, Riboflavin, Milchsäure, Peptide und Aminosäuren – und nicht organischer Stoffe – Chlor, Natrium, Kalium und Carbonate – zurück. Der konzentrierte Klebstoffdampf reagierte mit den Chemikalien und der Luftfeuchtigkeit, sodass sich etwas Sichtbares, Weißes an den Linien der Fingerabdrücke niederschlug. Der Prozess konnte bis zu seinem vollständigen Abschluss mehrere Stunden dauern, aber Wolfe kannte ein paar Tricks, um den Ablauf zu beschleunigen. Zunächst schraubte er einen der in den Sockel eingelassenen Strahler ab und ersetzte ihn durch eine Weißlichtlampe mit höherer Wattzahl. Aus Aluminiumfolie formte er ein schlichtes, tassenförmiges Gefäß, das er über der Birne anbrachte, ehe er den Sekundenkleber auf die Folie tröpfelte. In die andere Fassung schraubte er einen Steckadapter, an den er einen kleinen Ventilator anschloss, um so die Verbreitung des Gases zu unterstützen. Dann erwärmte er im laboreigenen Mikrowellenofen eine große Flasche Wasser und stellte sie neben den Ventilator. Das Wasser würde die Luftfeuchtigkeit erhöhen und so die chemische Reaktion vorantreiben. Schließlich schloss er die Vitrinentür und schaltete den Strom ein. Er überwachte den Prozess mit größter Sorgfalt,
denn wenn er zu lange lief, würden die Linien der Fingerabdrücke wieder verwischen. Als die Abdrücke präpariert waren, benutzte Wolfe Klebefolie, um sie von dem Glas abzunehmen. Oliver Tresongs Abdrücke waren bereits erfasst, denn er war schon einmal wegen des Besitzes von Marihuana angeklagt worden. Die meisten der Abdrücke, die Wolfe gefunden hatte, stammten von ihm. Aber einer gehörte nicht dazu. »Wer bist du?«, murmelte er. »Und hast du mehr als nur diesen einen Abdruck hinterlassen?« Dann kam der Anzug dran. Die Außenseite lieferte weitere Abdrücke, von denen einige von Tresong waren, andere von dem Unbekannten. Mit Tupfern untersuchte Wolfe die Innenseite nach Hautzellen. Er hatte keine DNS-Probe von Tresong, mit der er einen Vergleich hätte anstellen können, aber sollten die Beweise in die richtige Richtung deuten, so würde er sicher eine Probe bekommen können. Auf dem Leuchttisch starrte ihn der Kopf der Meereskreatur an, und durch das von unten heraufscheinende Licht glühten die Augen auf unheimliche Weise. »Was guckst du denn so?«, fragte Wolfe. Seine eigene Stimme hörte sich in dem verlassenen Labor merkwürdig an, hallend und nervös. »Also schön, hör auf dich zu benehmen wie Opfer Nummer drei in einem schlechten Horrorfilm«, ermahnte er sich. »Das ist nur eine Gummimaske.« Er hielt kurz inne. »Mit der du dich gerade unterhältst …« Die Meereskreatur sagte nichts dazu. Aber vielleicht ihre Haut, dachte Wolfe. Horatio lächelte den Russen an, der ihm gegenübersaß. Der Raum, den Horatio für seine Befragungen nutzte, hatte wenig Ähnlichkeit mit den Verhörzellen aus den Kinofilmen, in denen eine einzelne Lichtquelle dem Verdächtigen direkt in die
Augen schien und der Verhörleiter eine bedrohliche Silhouette war. Nein, der Befragungsraum des kriminaltechnischen Labors von Miami-Dade war hell, und das wabenförmige Metallgitter an den Fenstern ließ das Licht der Sonne gerade weit genug in den Raum hineinscheinen, um einen goldenen Schleier über dem Boden auszubreiten. Dies war ein Raum, in dem man klar sehen konnte und in dem alles offen lag. Alles, bis auf die Frage, wann wer den Raum verlassen durfte. Das musste erst noch durch die Wahrheit beantwortet werden. »Also, Anatoly«, sagte Horatio. »Ich muss zugeben, ich war ein bisschen überrascht über das, was wir gefunden haben. Ich hätte nicht erwartet, dass ein begeisterter Umweltaktivist in diese Art des Schmuggels verwickelt wäre.« Anatoly Kazimirs Augen blickten freudlos. Er hatte sich ganz dem stoischen, russischen Fatalismus hingegeben und akzeptierte die Tatsache, dass er erwischt worden war, ohne den Eindruck zu machen, dass ihn das irgendwie kümmern würde. »Was soll ich sagen«, entgegnete er brüsk. »Jeder hat ein Laster.« »Laster sind eine Sache«, erwiderte Horatio milde, »aber dreizehn Kisten mit handgerollten kubanischen Zigarren, signiert von Castro persönlich? Jede dieser Kisten bringt glatte tausend Dollar ein … das hat nichts mit Sucht zu tun, mein Freund. Das ist gewerblicher Handel.« Kazimir zuckte mit den Schultern. »Denken Sie, es wäre billig, eine Aktivistenorganisation zu führen? Spenden reichen nicht, um die Rechnungen zu bezahlen, Treibstoff zu kaufen und die Ausrüstung instand zu halten. Irgendwoher muss das Geld eben kommen.« »Und als Ex-KGB-Agent mit Kuba-Kontakten kommt man mit Schmuggel ziemlich weit … wie schade, dass das gegen Bundesgesetze verstößt.«
»KGB? Da haben Sie etwas falsch verstanden, Detective. Ich war in der sowjetischen Marine – aber beim KGB? Nie. Sie haben zu viele Agentenfilme gesehen.« »Ich nehme es zurück. Vielleicht war ich ja nur verwirrt«, sagte Horatio vorsichtig, »wegen der hübschen Spielzeuge, mit denen Sie so gern spielen.« Er schob Kazimir ein Foto über den Tisch zu. Kazimir warf einen Blick darauf, ehe er Horatio wieder ansah. »Wenn Sie wissen wollten, was das ist, hätten Sie nur fragen brauchen. Ich hätte mein Wissen gern mit Ihnen geteilt.« »Ich weiß, was das ist, Anatoly. Das ist eine SPP-1Unterwasserpistole. Was ich wissen möchte, ist: Wo ist Ihre?« Ein vorsichtiges Lächeln bahnte sich seinen Weg durch den winterlich-frostigen Ausdruck auf Kazimirs Gesicht. »Danach haben Sie also gesucht, was? Und natürlich haben Sie sie nicht gefunden.« »Spielen Sie keine Spielchen mit mir, Anatoly. Ich weiß, dass Sie eine mitgebracht haben, als Sie emigriert sind, und ich glaube nicht, dass Sie auf eine solche Waffe einfach so verzichten. Also, wo ist sie?« Kazimir stieß ein grunzendes Gelächter aus. »Ihr Amerikaner, so sentimental. Meinen Sie nicht, ich könnte sie bei eBay verkauft haben?« »Ich weiß, dass Sie das nicht getan haben«, entgegnete Horatio ungerührt. »Aber vielleicht haben Sie einen etwas vertraulicheren Handel abgeschlossen.« Kazimir schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, so wäre es gewesen. Aber, dummer, vertrauensseliger Kerl, der ich bin, habe ich sie schlicht nicht ordentlich weggeschlossen. Sie wurde mir gestohlen – vor sechs, sieben Monaten. Warum, hat jemand sie benutzt, um einen Supermarkt zu überfallen?« »Nein, Anatoly. Jemand hat sie dazu benutzt, einen Mord zu begehen. Und falls Sie glauben, ich würde Ihnen diese faden-
scheinige Diebstahlsgeschichte einfach so abnehmen, dann kennen Sie mich schlecht.« »Ach, ja?« Kazimirs Stimme klang plötzlich eisig. »Meinen Sie nicht, ich würde einen harten Hund erkennen, wenn er vor mir sitzt? Ich kenne Sie gut, Horatio Caine. Ich hatte schon früher mit Leuten wie Ihnen zu tun. Sie stoßen keine leeren Drohungen aus.« »Das ist richtig, Anatoly. Wenn ich hinter etwas her bin, dann bekomme ich es auch – und ich will diese Waffe. Sie sollten Ihre Geschichte schnellstens überdenken, denn ich habe absolut kein Problem damit, Sie den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen. Diese Zigarren bringen Ihnen ein Bußgeld von über einer Viertelmillion Dollar und zehn Jahre Knast ein – und die Tatsache, dass Sie Fischerboote in die Luft sprengen, wird Ihnen das Leben hinter den Gittern eines Bundesgefängnisses auch nicht erleichtern.« Anatoly seufzte. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Ich habe die Waffe nicht. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich kann nicht einmal beweisen, dass sie gestohlen wurde, weil ich sie überhaupt nicht angemeldet hatte.« »Und Sie erwarten von mir, dass ich glaube, diese spezielle Waffe wäre zufällig in einer laufenden Mordermittlung aufgetaucht? Das zieht nicht, mein Freund. Wollen Sie wissen, was ich denke?« Anatoly musterte ihn mit versteinerter Miene, sagte aber nichts. »Ich denke«, fuhr Horatio fort, den Kopf leicht zur Seite geneigt, »dass Sie die Wahrheit sagen.« Anatoly blinzelte. »Ich denke, die Waffe wurde tatsächlich gestohlen. Wenn Sie nämlich wüssten, wo sie ist, dann hätten Sie von Anfang an geleugnet, dass Sie sie besessen haben. Aber ich weiß auch, dass diese Waffe für einen Mord benutzt worden ist, und die Beweise
dafür, werden Sie in den Händen einer Person finden, die Sie kennen. Ich werde Ihnen also erklären, was ich von Ihnen will.« Horatio beugte sich mit entschlossener Miene vor. »Ich will Details, Anatoly. Ich will wissen, wo die Waffe gestohlen wurde. Ich will wissen, wer Zugriff auf die Waffe hatte. Ich will wissen, wer sie Ihrer Ansicht nach gestohlen haben könnte. Und Gott helfe Ihnen, wenn Sie meine Zeit vergeuden.« Anatoly dachte über seine Worte nach, hob die Hand, kratzte sich unter dem Kinn, und nach einer Weile sagte er: »In Ordnung. Sie wollen, dass ich mit dem Finger auf jemanden zeige, gut, ich werde mit dem Finger auf jemanden zeigen. Ich habe die Waffe im Büro der ALA aufbewahrt. Dass sie dort war, war kein Geheimnis, das wussten wir alle. Sie sollte zu unserer Sicherheit dienen, verstehen Sie? Für den Fall, dass irgendein Junkie auftaucht und versucht, unsere Spendenkasse zu stehlen. Also, ja, es war einer von uns.« Anatoly sah Horatio direkt in die Augen. »Ich denke, ich weiß sogar, wer …« Delko spielte die Bandaufnahme für seinen Boss noch einmal ab. Horatio beugte sich vor und studierte den Bildschirm, während ein zufriedenes Lächeln seine Mundwinkel umspielte. »Schön, schon, schön«, sagte er. »Dieses Gesicht kenne ich zweifellos.« »Kein Bart, keine Mütze, überhaupt keine Verkleidung«, sagte Delko. »Das ist der erste echte Fehler, den DeVone gemacht hat.« »Nein, Eric«, widersprach Horatio. »DeVones erster echter Fehler war, sich einzubilden, er könnte mein Team hinters Licht führen. Gute Arbeit.« »Wir wissen jetzt, wer er ist, aber wir können ihn immer noch nicht mit einem der Morde in Verbindung bringen«, sagte Delko nachdenklich.
»Noch nicht«, entgegnete Horatio. »Aber wir haben genug für einen Durchsuchungsbefehl. Und irgendwo muss er diesen Anzug aufbewahren.« Wolfe kam zur Tür herein und wedelte mit einem Blatt Papier. »Der Anzug«, verkündete er, »ist eine Fälschung.« »Der, den du bei Tresong konfisziert hast?«, fragte Delko. »Ja. Er schien mir in einem viel zu guten Zustand zu sein, also habe ich einige Tests mit der NMR durchgeführt.« »Kernresonanzspektroskopie?«, fragte Delko. »Ja. Gummi reagiert ziemlich empfindlich auf Umwelteinflüsse, und bis vor kurzem konnten Abnutzung und Alter nur durch eine optische Begutachtung geschätzt werden.« NMR, Nuclear Magnetic Resonance oder Kernresonanzspektroskopie, beruhte auf einer Resonanzwechselwirkung zwischen Radiowellen und den Atomkernen der zu untersuchenden Substanz, die auftraten, wenn ein starkes homogenes Magnetfeld außen herum aufgebaut wurde. Das Verfahren machte sich den Eigendrehimpuls des Atomkerns zunutze, der auf der magnetischen Wechselwirkung von Atomkernen und äußeren Magnetfeldern beruhte, aber auch auf den Wechselwirkungen der Kerne untereinander oder der Elektronenhülle. Der sogenannte Spin geriet durch die äußeren Impulse in Rotationsbewegungen, wodurch der individuelle Atomkern eines zu untersuchenden Materials identifiziert werden konnte und durch das Ausschlagen eines Zeigers auf einer Skala ablesbar wurde. »Ich weiß«, sagte Delko, »dass die Reifenindustrie mit NMR-Techniken experimentiert hat, um Reifenpannen vorauszuberechnen. So konnten sie Veränderungen in der Polymerlänge erkennen und den Grad der Abnutzung bestimmen.« »Tja, es ist auch ganz praktisch, wenn man wissen will, wie alt ein Stück Gummi ist. Dieser Anzug hat seinen ersten Geburtstag noch vor sich.«
»Haben Sie sonst noch etwas entdeckt?«, fragte Horatio. »Hautzellen von zwei verschiedenen Personen. Eine ist vollkommen unbekannt, die andere passt zu einer der Proben von den Sexspielzeugen.« »Was bedeutet, dass DeVone diesen Anzug getragen hat«, stellte Horatio fest. »Ich habe auch ein paar Fingerabdrücke gefunden. Ein Satz stammt von Tresong, der andere von einem Unbekannten. Ich habe die Abdrücke bei AFIS überprüft und bin in einer Datenbank der Navy fündig geworden. Es war …« Er unterbrach sich, als er auf das Video aufmerksam wurde. »… er«, sagte er. »Schätze, ich bin nicht ganz auf dem Laufenden.« »Also gut«, sagte Horatio. »Wir gehen folgendermaßen vor: Ich werde einen Richter aufsuchen, um mir einen Durchsuchungsbefehl für das Haus unseres Freundes zu beschaffen, und Sie, Mr Wolfe, werden Mr Tresong überzeugen, herzukommen und uns eine DNS-Probe zu geben. Und wenn er schon hier ist, dann können Sie ihm vielleicht noch gleich ein paar Fragen stellen.« »Verstanden, H.«, sagte Wolfe. Oliver Tresong machte nicht den Eindruck, als würde er sich auf Polizeistationen sonderlich wohl fühlen. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum, schwitzte trotz Klimaanlage und verhielt sich im Großen und Ganzen, als hätte er ein Kilo Schmuggelware in irgendeiner Körperhöhle versteckt. Wolfe studierte ihn. Er sagte kein Wort, sondern senkte nur lächelnd den Blick auf den Bogen Papier in seiner Hand, ehe er Tresong erneut musterte. Er gab sein Bestes, um die Kombination aus milder Güte und brodelndem Zorn hervorzubringen, die Horatio mühelos zur Schau tragen konnte, aber nach den Blicken zu urteilen, die Tresong ihm zuwarf, vermittelte er
eher den Eindruck eines mühsam beherrschten Irren. Wolfe wollte gerade aufgeben und ihm sagen, worum es ging, als Tresong plötzlich verkündete: »Ich habe das Geld wirklich gebraucht.« Wolfe blinzelte verwundert. »Bitte?« »Für den Anzug. Er ist nicht echt, ich weiß, dass er nicht echt ist, aber ich schwöre, ich habe nicht versucht, irgendjemanden hereinzulegen – es waren sowieso nur fünfhundert Mäuse, okay? Das ist doch kein Verbrechen, oder?« »Kommt darauf an«, sagte Wolfe und tat, als wüsste er, wovon Tresong sprach. »Ich möchte die ganze Geschichte hören. Von Anfang an.« Tresong schüttelte kläglich den Kopf. »Okay, okay. Die Leute vom Festival haben gesagt, sie würden mir fünfhundert Dollar geben, wenn ich ihnen gestatte, den Originalanzug während des Festivals in der Lobby des Kinos von Verdant Springs auszustellen. Ich habe das Geld dringend gebraucht, also habe ich ja gesagt, kein Problem. Aber es gab ein Problem, weil ich den Anzug gar nicht mehr hatte. Was ich hatte, war eine Kopie.« »Und eine sehr gute noch dazu«, bemerkte Wolfe. »Ja. Ich habe da einen Kumpel in L.A. der hat ihn mir angefertigt. Hat mich nicht einmal was gekostet.« »Was? Hat er es aus reiner Gefälligkeit getan?« »Nein, das war Teil einer Abmachung. Ein anderes Mitglied des Fanclubs hat mir zwanzig Riesen für den Anzug geboten. Zusätzlich hat er versprochen, den Ersatzanzug zu bezahlen. Niemand muss je davon erfahren, hat er gesagt. Für mich war der Anzug ein Statussymbol. Ich meine, nicht nur, dass es ein Stück Geschichte ist, man kann auch noch mit Recht damit angeben. Aber dieser Typ, ich glaube, dem ging es nicht nur darum, das Original zu haben, sondern auch darum, sein eigenes
kleines Geheimnis zu hegen. In unserem Club – und auf der ganzen Welt – weiß niemand, dass er ihn hat. Außer mir natürlich.« »Und wären Sie gestorben, hätte man den Anzug als Fälschung entlarven können«, sagte Wolfe. »Es ist Ihnen vielleicht nicht klar, Mr Tresong, aber Sie sind ein Glückspilz. Nicht nur, weil Sie noch leben, sondern weil ich Sie nicht anklagen werde – und alles, was Sie dafür tun müssen, ist, mir den Namen des Mannes nennen, der Ihnen den Anzug abgekauft hat.« Tresong zögerte nicht eine Sekunde. »Torrence«, sagte er. »Malcolm Torrence.«
17
Malcolm Torrence war der Wassermann. Es war sein Gesicht auf dem Video aus dem Paintballgeschäft, seine DNS an der Kopie des Anzugs und an Samantha Voires Spielzeug, und seine Fingerabdrücke prangten auf der Innenseite der Ausstellungsvitrine. Wie Tresong hatte auch er nicht widerstehen können, den Anzug anzuprobieren – obwohl es eine Fälschung war, obwohl er selbst nun im Besitz des Originals war. Laut Kazimir hatte Torrence hinter dem Tresen gesessen, als die SPP 1 verschwunden war … und er hatte sich vor einigen Wochen ebenfalls die Taucherkrankheit zugezogen, wenn auch in einer weniger schlimmen Ausprägung. Betroffen waren in seinem Fall nur die Knie, was dazu geführt hatte, dass für eine Weile sein Gang etwas steif war. Horatio führte das Team an, das sein Haus stürmen sollte, ein heruntergekommener Schuppen in Hialeah, vor dem zwei verkümmerte Palmen standen. Es sah aus, als wären die Fenster zum Schutz vor einem längst vergangenen Hurrikan vernagelt worden und niemand hätte die Bretter je wieder abgenommen. Horatio war sich sicher, dass in das Innere des Hauses auch an den sonnigsten Tagen kein bisschen Licht eindrang. Calleigh und Delko übernahmen die Rückseite, während Horatio und Frank Tripp sich von vorn näherten, unterstützt von zwei Uniformierten. »Malcolm Torrence!«, rief Horatio. »Miami-Dade Police. Öffnen Sie die Tür! Sofort!« Keine Antwort. »Aufbrechen«, sagte Horatio. Ein einziger Schlag mit der Ramme reichte, um die billige Tür aufzubrechen. Einen Moment später war Horatio mit der
Glock in der Hand im Haus. Drinnen war es so dunkel, wie er vermutet hatte und die Luft drückend und feucht wie der Atemhauch eines Sumpfes. Er fand einen Lichtschalter an der Wand und drückte drauf. Das Haus war nicht groß. Die Eingangstür führte direkt in einen Raum, bei dem es sich um ein Wohnzimmer zu handeln schien. Die Innenausstattung war, milde ausgedrückt, sonderbar. Der Boden war mit schwarzen Gummimatten ausgelegt, die Wände bedeckt mit einer großen Fototapete, die eine Unterwasserszenerie darstellte. Große Korallenstücke schmückten rostige, mit Muscheln besetzte Bretter, die offenbar von Schiffswracks stammten. Die Möbel, eine Couch und zwei Sessel, bestanden aus durchsichtigem Kunststoff und waren aufblasbar. Sie schimmerten im blauen und grünen Licht der farbigen Deckenlampen. Horatio nahm sich nicht viel Zeit, die Inneneinrichtung zu bewundern. Er bewegte sich schnell von einem Raum zum anderen, kontrollierte das Badezimmer, die Küche und das Schlafzimmer. Die ersten Räume waren vergleichsweise unauffällig, auch wenn es im Badezimmer eine übergroße Dusche gab, die zweifellos eine Sonderanfertigung sein musste. Aber das Schlafzimmer, das sich hinter einer geschlossenen Tür versteckt hatte, war besonders auffällig. Beleuchtet wurde der Raum allein durch Dutzende fluoreszierende Aquarien, die sich an den Wänden bis zur Decke stapelten. In ihnen fand sich jede denkbare Art von Meeresräubern: gefühllos blickende Haie, Raubaale mit weit aufgerissenen Kiefern, Barrakudas mit rasiermesserscharfen Zähnen und nervöse Piranhaschwärme. In einem Aquarium bewegten sich die giftigen Rückenflossenstrahlen eines Antennen-Feuerfischs, und in einem anderen klebte ein kleiner gelber Krake am Glas, dessen Tentakel leuchtend blaue Streifen hatten. Horatio erkannte in ihm eine Spezies, deren Gift tausendmal stärker war als Zyankali.
Ein breites Wasserbett beherrschte die Mitte des Raums. Es gab keine Decke, nur einen Rahmen mit einer großen, mit Wasser gefüllten Matratze. Horatio tat einen ersten vorsichtigen Schritt in das Zimmer. Hier war die Luft noch drückender, feucht, salzig und warm. Es war, als wate er durch Blut. Sogleich schlug sich die Feuchtigkeit in Tröpfchen auf seiner Haut nieder. Ein warmes Rinnsal bahnte sich langsam einen Weg über seine Wange hinab zu seinem Kinn. Als er näher ans Bett kam, sah er, dass es auch hier einen Bewohner gab. Etwas bewegte sich in der schattigen Tiefe der Matratze, etwas, das er nicht richtig erkennen konnte. Erst, als er direkt vor der Matratze stand und von oben auf sie herabblickte, erkannte er, was dort drin war. »Es ist niemand hier«, rief Horatio zu Delko und Calleigh. »Aber hier ist etwas, das ich euch zeigen möchte.« Er führte sie ins Schlafzimmer. Calleigh hielt inne, um die Aquarien zu studieren, während Horatio Delko geradewegs zu dem Wasserbett führte. »Kannst du das für mich identifizieren?«, fragte er und zeigte auf die Matratze. Delko zog seine Taschenlampe hervor und richtete sie auf das Innere der Matratze, um sich die Sache genauer anzusehen. Zunächst schien es, als wäre dort nichts außer Sand – aber als er ein paar Sekunden angestrengt hineingesehen hatte, nickte Delko und machte »Ah«. Ein Gesicht starrte ihm aus dem Sand entgegen, eines mit vorstehenden, weiß-braun gesprenkelten Augen und einem großen Maul voller zerklüfteter Zähne. Das Gesicht war so flach, als wäre es von einer Dampfwalze überfahren worden. »Himmelsgucker«, sagte Delko. »Dieser Fisch ist ein Angreifer aus dem Hintergrund. Er versteckt sich unter einer flachen Schicht Sand, aus der nur die Augen vorstehen – und
wenn etwas Schmackhaftes vorbeischwimmt, verpasst er ihm einen elektrischen Schlag.« »Der Kerl schläft mit einem elektrischen Fisch?«, fragte Calleigh. »Das ist mehr als unheimlich.« »Einem elektrischen Fisch in einem großen Plastiksack«, korrigierte Delko. »Das schützt ihn davor, selbst einen elektrischen Schlag zu bekommen. Aber, ja, dieser Bursche hat sich von der Normalität schon vor sehr langer Zeit verabschiedet.« »Vergessen wir nicht, warum wir hier sind«, mahnte Horatio und steckte seine Waffe ins Holster. »Ich möchte, dass jeder Quadratzentimeter dieses Hauses untersucht wird. Torrence ist unterwegs, und wir müssen ihn finden, ehe er wieder ins Wasser geht.« Zwei der Aquarien enthielten keine Meeresbewohner – in einem stand ein kleiner Fernseher mit einem von oben zu bedienenden DVD-Player, das andere beherbergte eine DVDSammlung. »Bei beiden schließen die Deckel luftdicht«, stellte Delko fest. »Vermutlich, um die Sachen vor der hohen Luftfeuchtigkeit im Zimmer zu schützen.« Calleigh sah die DVDs durch. Latexspiele, UnterwasserSexparty, eine ganze Menge harter SM-Filme und natürlich die Special Edition von Kreatur aus der Tiefe mit zusätzlichem Material. »Ich werde die Schränke durchsehen«, verkündete Delko. Was er suchte, fand er in einer Vorratskammer gleich hinter der Küche: eine Tauchausrüstung. Flaschen, Atemgerät, Maske, Flossen und Taucheranzug – aber keinen Anzug, der dem des Monsters glich. »Ich habe hier Flüssiglatexzubehör«, rief Calleigh. »Und eine Art Glitter. Sieht aus, als hätte er sich sein eigenes Pearlsheen-Blau anmischen wollen – vermutlich für die etwas intimeren Teile seiner Anatomie.«
Horatio war im Wohnzimmer und dachte nach. Einige Leute in seiner Position würden ihre Mitarbeiter genauestens überwachen, um zu kontrollieren, dass sie nichts übersahen. Horatio arbeitete nicht so. Erfahrenen und gut ausgebildeten Profis sollte man sich nicht in den Weg stellen – man blieb einfach im Hintergrund und ließ sie ihre Arbeit machen. Sie würden ihm die Informationen so gut vermitteln wie seine eigenen Sinne, und er würde ihre Ergebnisse mit seinen ergänzen – das, was er selbst gesehen oder anderweitig erfahren hatte. In diesem Moment dachte er bereits weiter, überlegte, was Torrence als Nächstes vorhaben könnte. »H.?«, rief Calleigh. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden.« Er ging zurück ins Schlafzimmer, wo Calleigh in einer Ecke kauerte und eines der Aquarien in der untersten Reihe studierte. Sie richtete ihre Taschenlampe darauf, und etwas Rundes blitzte in Regenbogenfarben auf. Horatio ging in die Knie und schaute genauer nach. Es war eine DVD, die flach am Boden lag. Zwei Worte standen in schwarzer Schrift auf der Oberfläche: »Horatio Caine«. »Sieh an. Anscheinend wurden wir erwartet.« Der andere Bewohner des Tanks war beinahe farblos, eine Seeschlange mit dunklen Streifen, die sich über die ganze Länge des fahlen, geschmeidigen Körpers zogen. Seeschlangen waren, wie Horatio wusste, äußerst giftig. Ihr Gift bestand vorwiegend aus Neurotoxinen, die Lähmungen der Extremitäten und der Atemmuskulatur auslösen und zum Herzstillstand führen konnten. »Was ist schwarz-weiß und extrem gefährlich?«, fragte Calleigh. »In diesem Fall«, sagte Horatio und richtete sich auf, »die Perspektive unseres Mörders. Was bedeutet, dass dieses Aquarium mehr als nur ein Gift enthält.«
Sie sahen sich die DVD auf dem Fernseher in dem Aquarium an. Die Aufnahme ging ohne Vorrede los. Zuerst dachte Horatio, er sähe eine Szene aus dem Film Kreatur aus der Tiefe. Die Bilder waren schwarz-weiß, die Einstellung zeigte die Meereskreatur in einer schattigen Höhle. Aber dann fing das Monster an zu sprechen, und sogleich wurde klar, dass dies kein Ausschnitt aus einem billigen Horrorfilm war, sondern der flüchtige Blick in den realen Wahnsinn. »Ich weiß, dass Sie das finden werden«, krächzte Torrences’ Stimme. »Ich habe es für Sie hinterlassen, damit Sie verstehen werden. Verstehen, was ich bin. Nennen Sie mich Homo mermanus, denn ich bin nicht wie Sie. Ich stehe weit über Ihnen und Ihrer armseligen Spezies, so weit wie ein Killerwal über einer Elritze.« Die Gestalt schlurfte einen Schritt voran. Die Arme lösten sich von den Körperseiten, hoben sich auf Taillenhöhe, und nun konnte Horatio an den Fingerspitzen die fünfzehn Zentimeter langen, leicht gekrümmten schwarzen Klingen gut erkennen. Sie waren so sorgfältig befestigt, dass es beinahe aussah, als wären sie dort gewachsen. »Ich weiß, Sie halten mich für eine Art Anomalie. Aber die wahren Monster sind Sie. Sie sind diejenigen, die unseren Planeten töten, die die Ozeane vergiften und die Luft verschmutzen. Ich habe mich geschämt, einer von Ihnen zu sein.« Torrences’ Ellbogen hoben und senkten sich langsam und gleichmäßig, als würde eine unsichtbare Strömung an seinen Gliedern zerren. Seine Finger waren ständig in Bewegung, und die Klauen beschrieben langsame, ebenmäßige Kreisbewegungen in der Luft. »Aber ich war gar keiner von Ihnen. Ich war etwas anderes … etwas Älteres. Dafür brauchte ich aber etwas Neues, etwas Künstliches, das mich lehren konnte, was ich war. Technik. Es
war die Technik, die mir verriet, welche Art Prototyp ich war: Technik, die mir gestattete, mich meiner natürlichen Umgebung hinzugeben, Technik, die mir schließlich zeigte, dass ich besser sein konnte, als ich war. Siebenundneunzig Prozent der menschlichen DNS ist Abfall ohne irgendeine erkennbare Funktion – ist es nicht nur logisch, wenn es darin nicht auch ein Verteidigungssystem gibt? Ein Antikörper, der aktiviert wird, wenn irgendwas schiefgeht? Und das ist es, was ich bin. Ein Antikörper, der durch den Strom des Meeres schwimmt und die Infektion vernichtet, die Sie, Sie alle, darstellen …« Das Bild erlosch. Für einen Moment herrschte Schweigen. »Gut«, sagte Horatio. »Calleigh, mach mit der Durchsuchung weiter. Delko, du gehst mit der Tauchausrüstung zurück ins Labor. Sieh zu, was du uns darüber erzählen kannst. Ich werde inzwischen einen kleinen Ausflug machen.« »Verdant Springs?«, fragte Calleigh. »Richtig. Wenn unser Täter sich für einen Fisch hält, dann kehrt er vielleicht an seinen Geburtsort zurück.« »Okay«, murmelte Delko, »jetzt bist du in meinem Reich, Freundchen.« Er hatte die Tauchausrüstung auf dem Leuchttisch ausgebreitet. Faber Hochdruck-Doppelflaschensystem aus der FXReihe: Chrom-Molybdän-Stahl, zugelassen bis zweihundertsiebenunddreißig Bar, zweihundertvierzig-Bar-Sherwood-DINVentil. Poseidon-Xstream-Deep-neunzig-Atemregler mit automatischer Mitteldruckregulierung, geeignet für technische Tauchgänge bis zu einer Tiefe von zweihundert Metern. Henderson-Titanium-Hyperstretch-Neoprenanzug. Die Flossen waren außergewöhnlich, aber Delko hatte sie schon einmal gesehen. Ein Paar wurde in New York im Museum
of Modern Art ausgestellt. Tan Delta Force Fin. In der Mitte nicht ganz gleichmäßig geteilte Flossen aus Guss-Polyurethan, die viel leichter und eleganter waren als die klobigen, schweren Flossen, mit denen er groß geworden war. Halcyon-Maske mit undurchsichtigem Rahmen und PurgeVentil. Wing-Jacket mit Edelstahl-Backplate. Zwölf-Volt-vierAmpere-Nickel-Metallhydrid-Akku, Zehn-Watt-Gasentladelampe und eine am Handgelenk befestigte einschüssige Unterwasserwaffe zum Einsatz bei direktem Zielkontakt. Ausschließlich hochwertige, technisch ausgereifte Komponenten, aber ein Teil fehlte: ein Tauchcomputer. Jeder Taucher, der so viel in seine Ausrüstung investierte, dürfte einen guten Tauchcomputer besitzen, und die guten enthielten auch stets eine Logbuchfunktion. Mit ihrer Hilfe hätte Delko herausfinden können, wo Torrence zuletzt getaucht war – aber wie es aussah, hatte der Wassermann den Tauchcomputer mitgenommen. Was nicht wichtig war. Es gab andere Möglichkeiten. Die Flaschen lagen in einem schwarzen, schützenden Kunststoffnetz. Er untersuchte sie sorgfältig, in der Hoffnung, irgendwelche Spuren zu finden. Er wusste aus Erfahrung, dass die Flaschen am häufigsten versehentlich mit irgendeinem Hindernis in Kontakt kamen. Das Netz war an verschiedenen Stellen beschädigt. Es sah aus, als wären sie an einer harten, rauen Oberfläche angestoßen. Bei näherem Hinsehen entdeckte er ein winziges, gelbliches Steinchen, das zwischen Netz und Flasche eingeklemmt war. Er sah es sich genau an und glaubte zu wissen, was es war. Delko legte das Steinchen in eine Glaspetrischale und fügte einen einzigen Tropfen verdünnter Salzsäure hinzu. Sofort schäumten winzige Luftblasen auf und bestätigten seine Vermutung.
Kalkstein – extrem verbreitet in Florida. Aber wenn man ein Stück davon an einer Tauchausrüstung findet, kann das nur eines bedeuten – eine Höhle. Als Horatio die Hauptstraße von Verdant Springs entlangfuhr, wurde ihm klar, warum Malcolm Torrence beschlossen hatte, die Maske abzulegen und ihm eine eindeutige Nachricht zu hinterlassen. In Torrences’ Vorstellung war endlich die Zeit des Wassermanns gekommen. Dies war der erste Tag des Kreatur-aus-der-TiefeMeeresfestivals. Leuchtend bunte Wimpel hingen an Schnüren über der Straße, und die blauen und grünen Ballons sahen aus wie gigantische Fischeier, die an Straßenlaternen hingen. Allerlei Buden säumten die Gehsteige und boten T-Shirts, Snacks und diverse Andenken feil. Ein Stand verkaufte Lebkuchenfiguren, die wie Gilly aussahen, ein anderer bot die Möglichkeit an, selbst in die Rolle des Monsters zu schlüpfen. Man musste nur den Kopf durch ein Loch in einer lebensgroßen Sperrholznachbildung stecken und sich fotografieren lassen. Es war schwer einzuschätzen, wie groß die Anzahl der Menschen war, die durch die Straßen schlenderten und das Festival in all seiner kitschigen Pracht genossen, aber Horatio schätzte ihre Zahl auf wenigstens ein paar Tausend Personen. Er parkte den Hummer vor dem für das Festival wichtigsten Haus. Vor dem Kino stand ein Mann, der Pappmasken an Kinder verteilte. Es war die Visage der Meereskreatur und wurde mit einem Gummiband über den Kopf gezogen. Als Horatio die Tür öffnete, rannten zwei Kinder mit diesen Masken an ihm vorbei. Sie brüllten und raunzten, als wollten sie sich gegenseitig umbringen. Er ging zu einem der freiwilligen Helfer und zeigte seine Marke. Dann ließ er sich den Weg zum Büro beschreiben, und als er
die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe emporstieg, fühlte er sich ein wenig wie Roy Scheider in Der Weiße Hai – nur, dass er nicht auf dem Weg zu den politischen Größen der Stadt war und auch nicht die Strände schließen wollte. Ein großer Weißhai hätte sich nicht einfach in ein Motel einmieten können – so wie Torrence. Andererseits, dachte Horatio, als er an der Bürotür klopfte, kümmert sich ein Hai auch nicht um Festivals oder alte Filme oder um die Leute, die in der Gegend das Sagen haben. Ein Hai will nur schwimmen und fressen. Malcolm Torrence will viel mehr. Was immer er auch behauptet, er will das, was alle Serienmörder wollen: Anerkennung. Und er wird nie eine bessere Chance erhalten als hier und jetzt. »Was?«, beantwortete eine gereizt klingende Stimme sein Klopfen. Horatio öffnete die Tür und sah einen Mann mit fortschreitender Glatze in einem leuchtend roten T-Shirt mit dem Logo des Festivals vor sich. Der Mann blickte ihm mit gerunzelter Stirn entgegen und sagte: »Es tut mir leid, aber ich bin derzeit zu beschäftigt für irgendetwas …« Horatio hielt seine Marke hoch. »Nein«, sagte er unbeeindruckt. »Für mich nicht. Mr Delfino, mein Name ist Horatio Caine – ich glaube, einer meiner Ermittler hat in den letzten Tagen bereits mit Ihnen gesprochen?« Delfino seufzte. »Ja, sicher. Was ist passiert? Haben Sie den Burschen?« »Noch nicht, aber wir konnten ihn identifizieren, und ich glaube, Sie kennen ihn: Malcolm Torrence.« »Was? Sie machen Witze …« Er brach ab, und ein nachdenklicher, verstörter Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. »Oh. Das – okay, vielleicht kann ich mir das doch vorstellen. Malcolm war immer irgendwie … heftig.« »Er ist mehr als heftig. Er hat mindestens drei Menschen ermordet, und wenn ich ihn nicht aufhalte, dann wird er noch mehr Leute umbringen.«
Damit hatte Delfino nicht gerechnet. Er starrte Horatio an, sein Mund öffnete sich, doch kein Ton kam über seine Lippen. »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Horatio. »Ich will Sie nicht in Panik versetzen, aber Malcolm Torrence ist ein extrem gefährlicher Mann in einer äußerst instabilen geistigen Verfassung. Er hat sich auf Ihr Kuschelmonster fixiert und es geschafft, eine ziemlich gute Imitation davon abzugeben. Ich zweifle nicht daran, dass er einen weiteren Badegast angreifen wird … und er wird sich dieses Festival ganz sicher nicht entgehen lassen.« »Oh mein Gott«, flüsterte Delfino mit zitternder Stimme. »Das ist furchtbar. Das ist … wir müssen die Strände sperren. Wir müssen … ich weiß es nicht, Polizeitaucher rufen oder die Küstenwache oder irgendwas. Wir können nicht zulassen … wir dürfen es nicht, wir dürfen es einfach nicht …« »Mister Delfino.« Horatios Stimme klang sanft, aber gleichzeitig lag eine Schärfe in seinem Ton, die die Aufmerksamkeit des Mannes gefangen nahm. »Hören Sie mir zu. Ich verspreche Ihnen, niemand wird mehr sterben. Das werde ich nicht zulassen. Kein Besucher Ihres Festivals – und kein Bewohner dieser Stadt – wird ihm jetzt noch zum Opfer fallen. In Ordnung?« Delfino starrte ihn an, schluckte und nickte. »In … in Ordnung. Was soll ich tun?« »Bleiben Sie ruhig, und reden Sie mit mir. Alles, was Sie mir über Torrence verraten können, könnte hilfreich sein.« »Ich kenne ihn nicht so gut. Ich meine, er war bei den Treffen, und ich habe per E-Mail mit ihm korrespondiert, aber eigentlich blieb er überwiegend für sich allein. Er war die Art von Mensch, die sich irgendwo in eine Ecke setzt und alle anderen lediglich beobachtet.« »Okay … gibt es irgendein Gespräch, das Sie mit ihm geführt haben und das Ihnen im Gedächtnis geblieben ist? Ir-
gendein Thema, für das er besonderes Interesse gezeigt hat?« »Na ja, wir haben uns natürlich über Gilly unterhalten. Malcolm war immer ziemlich detailversessen – wollte wissen, wie genau der Anzug aufgebaut ist, an welchen Orten gedreht wurde, solche Sachen eben.« »In Ordnung. Haben Sie zufällig eine Liste dieser Orte?« »Klar. Es gibt sogar eine Besichtigungstour bei unserem Festival.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Geht in zwanzig Minuten los. Ein Teil des Films ist in einem Studio in L.A. gedreht worden, aber sie waren auch an vielen Orten hier in der Umgebung: das Diner, ein Park, der Strand natürlich, die Höhlen …« »Augenblick«, sagte Horatio. »Höhlen?« In Florida gab es mancherlei Dinge im Überfluss, und mit den meisten war Delko wohl vertraut: frisch gepresster Orangensaft und starker kubanischer Kaffee, strahlender Sonnenschein und unbarmherzige Hurrikane, Strände mit weißem Sand und Nachtclubs voller schöner Frauen. Und Höhlen. Florida war ein ausgedehntes Karstgebiet, eine Region, deren Untergrund hauptsächlich aus Karbonatgestein bestand, Dolomit, einem Mineral, oder Kalkstein. Grundwasser und Kohlendioxid verbanden sich zu einer schwachen Kohlensäurelösung, die über lange Zeiträume das Gestein zerfraß und so etliche Höhlen bildete. Unter dem ganzen Staat lag eine etwa dreihundert Meter dicke Kalksteinschicht, teilweise tief unter der Oberfläche, teilweise offen sichtbar, und ein großer Teil davon war so löchrig wie eine Bienenwabe. Viele der Höhlen lagen unter Wasser – tatsächlich gab es in Florida mehr Süßwasserhöhlen als an irgendeinem anderen Platz auf der Welt. Jeden Tag kamen mehr als dreißig Milliarden Liter Wasser an die Oberfläche und flossen zu den über
sechshundert natürlichen Quellen, die sich über den ganzen Staat verteilten. Es kam sogar vor, dass ein unvorsichtiger Taucher in den Höhlen sein Leben lassen musste. Höhlentauchen war eine der gefährlichsten Sportarten, die es gab, eine riskante Kombination aus Höhlenforschung und Tauchsport. Selbst die erfahrensten Taucher betrachteten Höhlentauchen als äußerst riskante Angelegenheit, die eine Mischung aus Scharfsicht, Intelligenz, methodischer Vorbereitung, Selbstbewusstsein und Mut erforderte – so wie man es sonst nur bei Elitesoldaten fand. Oder bei Soziopathen. Delkos Mobiltelefon klingelte. »Eric«, sagte Horatio am anderen Ende der Leitung. Delko konnte den Motor des Hummers im Hintergrund grollen hören. »Ich habe neue Informationen. Torrence könnte in einer Höhle sein.« »Wie auf der DVD-Botschaft«, sagte Delko. »Ja, ich bin gerade zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen. Die Tauchausrüstung, die wir gefunden haben, deutet definitiv auf das Tauchen in Höhlen hin. Die Frage ist, in welcher Höhle?« »In diesem Fall ein Höhlenkomplex in der Nähe von Verdant Springs, in dem einige Szenen des Films aufgenommen wurden. Ich bin auf dem Weg dorthin – ich muss alles über diesen Ort wissen, was du in Erfahrung bringen kannst. Mein Informant hat mir gesagt, das System wäre ziemlich groß. Selbst wenn er dort ist, wird es nicht leicht sein, ihn aufzuspüren.« »Bin schon dran«, sagte Delko. Der Eingang zu dem Höhlensystem sah aus wie ein überwucherter Einsturztrichter – was er, wie Horatio vermutete, auch war. Moos und Gräser hatten den Rand des Lochs, das einen Durchmesser von gerade mal sechs Metern hatte, überwu-
chert. Es war von einem rostigen Stahlgeländer eingefasst, an dem an zwei kräftigen und offensichtlich neuen Ketten ein hölzernes Schild hing. Auf dem stand die Aufschrift: »Verdant-Springs-Höhle«. Eine Holztreppe führte in das Innere. Horatio fragte sich, wie oft das Schild wohl schon gestohlen worden war. Er war einige Minuten früher eingetroffen als die Teilnehmer der Besichtigungstour, dennoch waren schon jetzt Touristen dort und machten Fotos. Sie unterhielten sich leise auf Deutsch. Trotz der fröhlichen Farben ihrer leuchtend bunten Tropenhemden wirkten sie nicht sonderlich glücklich. Offenbar genügte der Höhleneingang ihrer Vorstellung von einem unheimlichen Erdloch. Oder deutsche Touristen hörten sich einfach immer so an, wenn sie über geologische Besonderheiten diskutieren. Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte Horatio sich um und versuchte sich Torrence an diesem Ort vorzustellen. Torrence hätte ein Fahrzeug gebraucht, um seine Ausrüstung herzubringen – aber der einzige Wagen auf dem Parkplatz war ein Miet-Mazda, mit dem die deutschen Touristen gekommen waren. Er kann schlecht seinen Anzug anziehen und ein Taxi rufen – aber er hätte ihn einfach mitnehmen und sich herfahren lassen können. Aber was dann? Ins Gebüsch verschwinden, um sich umzuziehen, und dann versuchen, mit Flossen diese Stufen hinunterzukommen? Er trat an die Treppe heran und blickte hinab. Am Fuß der Treppe konnte er ein verriegelbares Eisentor erkennen, das derzeit offen war, aber nachts den Eingang zur Höhle versperrte. Er ging die Stufen hinunter und betrachtete das Schloss genauer. Es sah nicht so aus, als hätte jemand daran herumgespielt, aber wenn Torrence sich einen Schlüssel hatte beschaf-
fen können … »Kann ich Ihnen helfen?« Die Frage kam von einer blonden jungen Frau in Jeans, Wanderstiefeln und einem Kakihemd, die einen Bauarbeiterhelm mit dem Logo der Verdant-SpringsHöhle trug. Sie stand auf einem hölzernen Steg in einer Art natürlichem Foyer unter einer beeindruckenden Ansammlung von Tropfsteinzapfen, angeleuchtet von dem Licht der vielen Lampen, die an Pfosten angebracht waren. »Ja, das können Sie«, sagte Horatio und zeigte ihr seine Marke. »Gibt es noch andere Eingänge zu diesem Höhlensystem?« »Ja, aber keinen, den Sie passieren können, es sei denn, Sie wären eine Fledermaus, eine Schlange oder ein Insekt«, antwortete die Frau. Auf ihrem Plastiknamensschild war zu lesen: »Mein Name ist STACY!« Horatio nahm an, dass sie Studentin war und sich mit Höhlenbesichtigungstouren ein zusätzliches Schulgeld und möglicherweise sogar akademische Anerkennung verdiente. »Sind Sie sicher? Man kommt nur hier in die Höhle?« »Ich bin sicher. Diese Höhle ist schon seit den Siebzigern vollständig kartografiert. Warum?« »Ich suche jemanden, der denken könnte, das hier wäre ein gutes Versteck.« Stacy runzelte die Stirn. »Tja, das wäre schon ein toller Trick. Die Tour umfasst die ganze Höhle, abgesehen von dem, was unter Wasser liegt.« »Aha. Sagen Sie, gibt es Höhlen, die nur durch das Wasser zugänglich sind?« »Höhlen, nein. Wahrscheinlich gibt es ein paar Hohlräume, in denen es Luft gibt, aber …« Horatios Mobiltelefon klingelte. »Nur einen Moment«, sagte er und hielt die Hand hoch. »Caine.« »Er ist nicht dort, H.«, sagte Delko.
»Darauf bin ich auch gerade gekommen.« »Aber ich glaube, ich weiß, wo er ist. Ich habe das Gasgemisch in den Flaschen analysiert. Es ist eine Mischung aus Sauerstoff und Helium. Das wird nur bei technischen Tauchgängen in über fünfzig Meter Tiefe benutzt.« »Und das Verdant-Spring-Höhlensystem ist nicht so tief?« »Nein. Der tiefste Punkt liegt auf siebenunddreißig Metern. Es gibt in Florida so oder so nur vier Höhlensysteme, die tiefer als fünfzig Meter sind – und nur eines davon liegt innerhalb der Stadtgrenzen von Verdant Springs. Es ist ein Einsturztrichter auf einem Waldgrundstück an der 23. Straße Ecke Vargas Avenue.« »Schnapp dir deine Sachen und komm hin«, sagte Horatio.
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Einsturztrichter oder Dolinen stellten in Florida ein ernstes Problem dar. Auch wenn sie von großer Bedeutung für den Wasserhaushalt waren, richteten sie doch auch Schäden in Höhe von hundert Millionen Dollar an. Sie entstanden auf die gleiche Weise wie die Höhlen: Säurehaltiges Grundwasser zerfraß den weichen Kalkstein unter der Oberfläche, wodurch sich große, wassergefüllte Höhlen bildeten. Solange der Wasserspiegel hoch war, gab es keine Probleme, aber wenn der Wasserstand absank, konnte der obere Teil der Höhlen den darüberliegenden Boden – oftmals eine Mischung aus schwerem Lehm und Sedimentgestein – nicht mehr tragen, und die Decke brach ein. In Florida gab es mehr von diesen Trichtern als an irgendeinem anderen Ort auf dem Kontinent. Horatio hatte einmal mit angehört, wie ein Geologe den Staat mit einem gewaltigen Schneidezahn verglichen hatte, der aus dem Kontinent herausragte und ständig unter Zahnfäule litt. Manchmal kam es zu geradezu surrealen Auswirkungen. Wenn sich ein Einsturztrichter unter einem Gewässer bildete, war es so, als hätte jemand den Stöpsel aus der Badewanne gezogen. Ganze Seen – einschließlich der Fische, Pflanzen, Wasservögel und Alligatoren – fanden sich plötzlich in dem wirbelnden Strom eines gewaltigen natürlichen Abflusses wieder. Es gab sogar Orte, an denen dergleichen immer wieder geschah. Man nannte sie ›Disappearing Lakes‹, verschwindende Seen. Lake Jackson in Tallahassee war einer dieser Seen und hatte allein im 20. Jahrhundert vier schwere Wasserverluste hinnehmen müssen, das letzte Mal im Jahr 1999.
Bedauerlicherweise wurden diese Trichter bisweilen auch als Müllkippen missbraucht. Mehr als eine Doline in Florida war zur endgültigen Ruhestätte für alte Haushaltsgeräte, Matratzen, Reifen und sogar Autos geworden. Horatio war nicht sicher, ob hier das Prinzip »Aus den Augen, aus dem Sinn« Anwendung fand oder ob womöglich eine Art kollektiver Groll dahintersteckte, diese Müllentsorgung quasi eine Vergeltungsmaßnahme an einem Naturphänomen darstellte – ein Phänomen, das Häuser und Straßen zerstörte und sogar Angelplätze vernichtete. Aber es half nichts. Egal wie viel Müll die Leute auch hineinwarfen, die Trichter öffneten sich weiter wie unerwartete hungrige Mäuler, die alles verschlangen, was in ihrer Reichweite war. Horatio war als Erster am Ziel, einem bewaldeten Grundstück am Stadtrand, nur wenige Blocks von einer Schule entfernt. Die Zigarettenkippen, zerschmetterten Flaschen und Imbissverpackungen bewiesen, dass dieses Gehölz schon eine gehörige Portion gelangweilter Teenager hatte ertragen müssen. Der Trichter selbst sah aus wie ein kleiner See, keine zehn Meter weit, und nur die Schwärze des Wassers lieferte einen Hinweis auf seine Tiefe. Horatio umrundete den See vorsichtig und suchte dabei den Boden ab. Er hatte seinen Hummer ganz in der Nähe abstellen können, und zwar so, dass die Bäume ihn vor neugierigen Blicken weitgehend verbargen. Torrence hätte das Gleiche tun können. Wenn er spät am Abend kam und ging, konnte er das insbesondere an Wochentagen vermutlich unentdeckt tun. Direkt am Rand des Wassers auf einem kleinen Flecken feuchter, lehmartiger Erde fand er schließlich, was er gesucht hatte. Einen Fußabdruck – einen, der nicht besonders menschlich aussah.
Als Delko zwanzig Minuten später mit einem anderen Department-Hummer eintraf, hatte Horatio bereits einen Abdruck angefertigt. »Was hast du da?«, fragte Delko. »Den Beweis, dass etwas mit großen Füßen und Schwimmhäuten kürzlich hier war«, antwortete Horatio, legte den Abdruck in einen Beweismittelkarton und verstaute ihn im Heck seines Hummers. Delko sah sich um. »Kein Fahrzeug.« »Ich weiß, aber er hätte mit einem Taxi kommen oder seinen Wagen in der Nähe einer Straße abstellen und sein Zeug zu Fuß herschleppen können«, sagte Horatio. »Ich habe mit der hiesigen Polizei gesprochen. Sie werden das Gebiet durchsuchen. Inzwischen möchte ich, dass du runtergehst und schaust, was du herausfinden kannst.« »In Ordnung.« Delko war bereits dabei, Flaschen und Ausrüstung aus seinem Hummer auszuladen. »Und, Eric – sei vorsichtig. Dieser Kerl hat ein großes Repertoire an Unterwassermordmethoden.« »Ich weiß«, sagte Delko. »Darum habe ich das hier mitgebracht.« Er zog ein geschmeidig aussehendes Harpunengewehr mit schwarz lackierter Oberfläche, zwei ergonomisch geformten Griffen und vier Läufen hervor, an deren Ende ein kleines schwarzes Dreieck als Zielvorrichtung diente. Das Ding sah aus wie eine Mischung aus einer deutschen Luger und einer abgespeckten Version einer Gatling Gun. »Johnson Submarine Gun«, erklärte Delko. Er lud die vier Läufe geübt und schnell mit kurzen spitzen Harpunen. »Vier Schuss mit der Treibladung einer .22er.« »Ich glaube nicht, dass ich so ein Ding schon mal gesehen habe.« »Das ist ein altehrwürdiges Relikt aus den frühen Siebzigern – ich habe es von einem Freund geliehen. Ein Handspeer
ist auf beengtem Raum nicht so gut, und eine übliche Harpune hat nur einen Schuss, ehe man wieder neu laden muss. Mit dieser Waffe hier stehen mir wenigstens genauso viel Schuss zur Verfügung wie ihm.« Delko zog sich rasch um. Eine Höhlentauchausrüstung sah für das ungeübte Auge nicht anders aus als eine gewöhnliche Gerätetauchausrüstung, aber es gab einige entscheidende Unterschiede. Der Taucheranzug, den Delko heute trug, war wärmer als der, den er im Meer benutzte. Denn er musste die niedrigere Temperatur in der Höhle kompensieren. Ventile, Schläuche, Lampen, alles, was sich an einer Führungsleine oder einem vorspringenden Felsen verfangen konnte, war dicht am Körper festgezurrt oder nicht vorhanden. Die Strömung in einer Höhle konnte ziemlich stark sein, und eine stromlinienförmige Ausstattung half, um dagegen anzuschwimmen. Er benutzte eine Vollgesichtsmaske mit einer eingebauten Sprechfunkeinrichtung, die einen undurchsichtigen Rahmen besaß. Licht, das von der Seite in sein Gesichtsfeld dringen konnte, war in der Höhle eine unerwünschte Ablenkung. Einen Schnorchel brauchte er nicht, also führte er den Riemen der Maske unter der Kapuze um den Kopf, statt auf der Außenseite. Als Lichtquelle nutzte er eine Lampe, die an eine Batterie angeschlossen war und die er auf Taillenhöhe am Körper trug. Außerdem hatte er zwei weitere als Ersatz dabei. Im Gegensatz zu den schicken Tan-Delta-Force-Flossen, die Torrence besaß, benutzte Delko Flossen aus solidem Vollgummi mit Edelstahlfersenbändern. Mit Flossen, die einen vförmigen Einschnitt hatten, konnte man sich zu leicht an einer Führungsleine verhaken. Sicherheit hatte für Delko stets Vorrang. Angemessene Instrumente waren von größter Wichtigkeit. Das Finimeter am Hochdruckschlauch seiner Tanks war ein äußerst präzises Kupfer-Bourdon-Röhren-Modell, kalibriert
auf Ableseschritte von zehn Bar. Ein Sporttaucher würde normalerweise einen Handgelenktauchcomputer benutzen, möglicherweise mit einer drahtlosen Verbindung zur ersten Stufe des Atemreglers. Doch Höhlentaucher hielten sich mit dieser Extraausrüstung nicht auf, da die drahtlose Signalübertragung innerhalb von Höhlen bisweilen Fehlfunktionen aufwies. Delko trug einen Multigas-Tauchcomputer am Handgelenk, der gleichzeitig als Tauchzeitmesser und digitaler Tiefenmesser diente, und hatte zur Sicherheit außerdem eine gewöhnliche Taucheruhr angelegt. Sporttaucher benutzten im Allgemeinen eine einzelne Aluminiumflasche, aber Höhlentaucher in Florida zogen ein System aus zwei Stahlzylindern mit separat abschaltbaren Ventilen und einem sekundären Atemregler vor. Kurze Schläuche verbanden die Flaschen mit einer speziellen Weste, die auf etwa zweiundzwanzig bis siebenundzwanzig Kilo aufgepumpt werden konnte. Eine Spule mit einhundertzwanzig Metern geflochtener Nylonschnur, die seine Führungsleine war, steckte in der Hüfttasche seines Anzugs. Alles, was herumbaumeln konnte, musste vermieden werden. Höhlentaucher legten selten Bleigurte an, da die zusätzliche Ausrüstung, die sie benötigten, auch von sich aus schon schwer genug war. Delko fügte seiner Ausrüstung dennoch eine weitere Last hinzu, auf die die meisten Höhlentaucher gut verzichten konnten. Eine kugelsichere Weste. Delko reichte Horatio das Sprechfunkgerät, das das Gegenstück zu dem Gerät in seiner Maske bildete. »Ich weiß nicht, wie gut es funktioniert, wenn ich da unten bin«, sagte er. »Das Gestein könnte das Signal stören.« »Gib acht«, ermahnte ihn Horatio. Delko nickte, zog die Maske über und tauchte ab.
»H.? Kannst du mich hören?« »Laut und deutlich, Eric.« »Gut, ich bin jetzt etwa auf dreißig Meter Tiefe … das Wasser ist ziemlich klar, aber außer Felsen und dem einen oder anderen Fisch gibt es nicht viel zu sehen … ich gehe besser noch tiefer.« »Verstanden.« Horatio ging, eine Hand über dem Ohrhörer des Funkgeräts, am Ufer auf und ab. Er hasste es, den Beobachterposten einnehmen zu müssen, hasste die Tatsache, dass Delko allein dort unten war – oder, schlimmer, nicht allein. »Gehe tiefer … bin etwa auf zweiundvierzig Meter Tiefe. Schalte meine Lampen ein. Ich kann jetzt den Grund sehen, ‘ne Menge Müll hier unten – ich glaube, ich habe herausgefunden, wohin sich die alten Einkaufswagen zum Sterben zurückziehen.« »Schon eine Spur von unserem Freund?« »Noch nicht. Ich werde mich mal am Höhlenrand umsehen … huh.« Horatios Herz tat einen Satz. »Was ist los?« »Hier gibt es eine Strömung. Fließt direkt zur Nordwand. Scheint von einem rostigen Bettfederngestell zu kommen, das an einer Wand lehnt … warte, ich werde versuchen, es aus dem Weg zu schieben.« Horatio unterdrückte das Verlangen, ihn zur Vorsicht zu ermahnen. Delko wusste, was er tat. »Dachte ich mir doch«, sagte Delko. »Das Gestell hat einen natürlichen Tunneleingang verdeckt. Das muss es sein, H. Ich gehe rein.« »In Ordnung, mach weiter. Bleib in Kontakt, solange du kannst.« »Mach ich … ich binde eine Führungsleine an den Federn fest. Der Tunnel ist eng, nicht mehr als ein Meter zwanzig Durchmesser. Die Wände sind glatt und wellig. Er führt abwärts – krkrkrk – nach rechts …«
Die Verbindung brach allmählich ab. »Noch mal, Eric?«, bat Horatio. »Krkrk – immer noch abwärts – krkrk – breiter, aber – krkrkrk …« »Eric? Eric!« Aber alles, was Horatio noch hören konnte, war ein statisches Rauschen. Alle Kinder haben eine Phase, in der sie sich obsessiv mit einer bestimmten Sache beschäftigen, und eine Weile hatten den zehnjährigen Eric Tunnels sehr beschäftigt. Das alles hatte angefangen, als Eric an einem verregneten Samstagnachmittag Gesprengte Ketten im Fernsehen gesehen hatte, und war von da an immer intensiver geworden. Es reichte ihm nicht, eigene Tunnels zu graben, er las auch alles, was er zu dem Thema finden konnte – von großen Bauprojekten bis hin zu jenen, die Gefängnisinsassen gebaut hatten. Er las über das Tunnelsystem der Vietcong. Es war während des Vietnamkrieges unter dem tropischen Dschungel von Vietnam erbaut worden. Da waren ganze Städte unter der Erde samt Kliniken, Küchen, Kirchen, Wohnquartieren und Brunnen. Die ersten Tunnels waren bereits 1948 als Zuflucht vor den französischen Soldaten unter einzelnen Dörfern entstanden und über die Jahre langsam miteinander verbunden worden, 1965 hatte es bereits ein Tunnellabyrinth gegeben, das bis zu zweihundert Kilometer lang war – eingegraben in die harte, lehmige Erde von Vietnam. Diese unterirdischen Labyrinthe waren ein beeindruckendes Meisterwerk der Baukunst. Sie hatten bis zu zehntausend Menschen beherbergt, die manchmal mehrere Wochen lang dort unten gelebt, gearbeitet und geschlafen hatten. Doch in diesem Moment dachte Eric nicht darüber nach, wie viel Geschick die Vietnamesen beim Bau der verborgenen
Rauchabzüge bewiesen hatten, oder bei den Unterwasserzugängen, die sie errichtet hatten. Er dachte im Augenblick ans Fallenstellen. Die Vietcong hatten die Höhlen mit Pungi-Stäben gesichert, zugespitzten Bambusstäben, die mit menschlichen Fäkalien bestrichen waren und dadurch Wundinfektionen hervorrufen konnten. Außerdem hatten sie Stolperdrähte gespannt, die mit Granaten oder Minen verbunden waren. Auch Tiere wurden als Wachen eingesetzt. Giftschlangen wurden in einem Tunnel versteckt, oder es wurde eine Kiste voller Skorpione aufgehängt, die auf den Kopf des Eindringlings hinunterfiel. Delko dachte an die Aquarien voller Meeresräuber in Torrences’ Schlafzimmer, und er hoffte, dass keiner der Bewohner aus seinem Becken verschwunden war. Die Vietcong hatten auch verschiedene Methoden des Hinterhalts angewandt. So hatten sie Wachen an verborgenen Stellen kurz hinter einem Tunneleingang postiert. Ein feindlicher Soldat hatte, noch bevor er um Hilfe schreien konnte, eine Drahtschlinge oder ein Messer am Hals. Der Tunnel, in dem sich Delko befand, ging weiter, führte abwärts und wieder aufwärts. Er schwamm gegen eine stetige, nicht sehr starke Strömung. Über Jahrhunderte hatte diese Strömung die Wände des Tunnels poliert, bis sie so glatt waren wie das Innere eines gigantischen Schlunds. Der Boden des Tunnels war mit verschiedenen Sedimenten bedeckt – eine Zunge, die tief in den Rachen der Bestie führte. »Krkrkr – Delko, bist – krkrk – « Horatios Stimme verlor sich in einem statischen Rauschen. Sorry, H. Ich schätze, jetzt bin ich auf mich allein gestellt. Der Tunnel führte nun wieder aufwärts. Delko folgte ihm. Er war nicht überrascht, als sein Kopf plötzlich aus dem Wasser auftauchte. Sofort schaltete er seine Lampe aus und lauschte angestrengt. Alles, was er hören konnte, war ein lang-
sames, hallendes Tröpfeln. Um ihn herum war es vollkommen dunkel. Delko hob den Arm, an dessen Handgelenk die Lampe befestigt war, und schaltete sie ein. Das Licht leuchtete eine kleine Kammer aus, deren Decke sich ungefähr drei Meter über seinem Kopf befand. Etwa zwei Meter von ihm entfernt war ein Felsensockel, der dreißig Zentimeter hoch aus dem Wasser herausragte. Wie tief die Kammer war, konnte er nicht erkennen. Er schwamm zu dem Sockel, lugte über die Kante und zog sich schließlich auf den trockenen Boden hinauf. Noch einmal versuchte er es mit dem Funkgerät. »Horatio?« Nichts. An der hinteren Wand der Kammer entdeckte er eine ungefähr einen Meter zwanzig hohe Öffnung. Delko legte einen Teil seiner Ausrüstung und seine Flossen ab. Er hatte kein Interesse daran, sich mit den Flaschen auf dem Rücken in einen beengten Tunnel zu wagen. Die Lampe am Handgelenk und die an seinem Gürtel befestigte Batterie blieben an ihrem Platz. Mit der Waffe in der Hand bückte er sich und trat durch die Öffnung. Der glatte, felsige Boden fühlte sich unter seinen nackten Füßen kalt an. Auf der anderen Seite befand sich eine weitere, größere Höhle, und von der sechs Meter hohen Decke hingen gelbliche Tropfsteinzapfen herab, die an mächtige, faulende Reißzähne erinnerten. Die Kammer selbst maß mindestens fünfzehn Meter im Durchmesser. Und sie war nicht leer. Ein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche. Horatios Waffe lag in seiner Hand und zielte zwischen die Augen der Person, ehe auch nur die Schultern zu sehen waren.
Delko spuckte seinen Atemregler aus. »Ich bin’s, H.«, sagte er. »Tut mir leid, mein Funkgerät ist ausgefallen und hat sich nicht wieder in Gang setzen lassen.« Horatio ließ die Glock sinken. »Was hast du gefunden?« Delko kletterte aus dem Wasser. »Eine Menge«, sagte er und hielt einen versiegelten Beweismittelbeutel hoch, in dem sich eine ebenso verrückte wie gruselige Vorrichtung befand: ein künstlicher Kiefer, mit Draht an etwas befestigt, das aussah wie eine stählerne Bärenfalle. »Das habe ich mitgebracht, um es dir zu zeigen, aber da unten ist noch viel mehr. Ich habe auch die Überreste des ursprünglichen Kostüms gefunden – sieht aus, als hätte er es ausgeschlachtet, um eine neuere Version zu basteln.« »In die er Teile der alten einbaut, als wolle er die DNS eines Vorfahren weitergeben … was sonst?« »H. dieser Ort ist … es sieht aus wie die Höhle irgendeines Tieres. Er hat Nahrung und Wasser da unten gelagert, eine Chemietoilette, ein Neoprennetz, das er zur Hängematte umfunktioniert hat, wiederaufladbare Batterien zur Stromversorgung …« »Aber kein Torrence.« »Und kein anderer Ausgang. Aber ich habe zwei Schnorchel gefunden. Vermutlich haben sie Gabrielle Cavanaugh und den Stonecutters gehört. Und Fotos.« Horatio nickte. »Trophäen.« »Ja. Er hat wohl eine Unterwasserkamera benutzt, als er Janice Stonecutter in seiner Gewalt hatte. Ich habe auch Chemikalien und die notwendige Laborausstattung zur Entwicklung von Filmen gefunden – muss eine Weile gedauert haben, das ganze Zeug hierhin zu schaffen.« »Aber nachdem er das erledigt hatte, hatte er auch gleich eine ideale Dunkelkammer, nicht wahr?« Delko schüttelte den Kopf. »Sie waren überall an den Wänden, Dutzende von Hochglanzabzügen. Und sie waren ziemlich scheußlich.«
»Aber es sind hervorragende Beweise. Gute Arbeit, Eric. Aber wenn er nicht hier ist«, sagte Horatio und stemmte die Hände in die Hüften, »wo ist er dann?« Es gab nur eine logische Antwort: unter Wasser. Aber in einem Küstenstaat wie Florida – in dem es außerdem Hunderte von Gewässern wie Seen, Flüsse, Bäche und Kanäle gab – war das keine sehr nützliche Antwort. Und falls Delko recht hatte und Torrence ein Kreislauftauchsystem in den Anzug eingebaut hatte, dann konnte er tagelang untertauchen. Horatio war nach Miami zurückgekehrt und hatte Anatoly Kazimir und mehrere andere ALA-Angehörige, Oliver Tresong, Leroy Delfino und sogar Samantha Voire erneut befragt. Jeder von ihnen kannte Malcolm Torrence – auf die eine oder andere Weise –, aber keiner kannte ihn gut. Er hatte nie über seine Familie gesprochen, sich selten an Unterhaltungen beteiligt und neigte dazu, sich hingebungsvoll jeder Aufgabe zu widmen, die ihm zugeteilt wurde. Dennoch hatte Horatio eine interessante Information erhalten. Nachdem Torrence die kyrillische Tätowierung bei mehreren seiner Tauchkumpane gesehen und sie darüber ausgefragt hatte, war er von der Geschichte ihrer Herkunft so angerührt gewesen, dass er losgezogen war, um sich ebenfalls tätowieren zu lassen – nachdem Doktor Nicole Zhenko die ALA bereits verlassen hatte. Die einzige Person, mit der Horatio nun noch sprechen wollte, war Doktor Nicole Zhenko selbst. Er hatte es telefonisch versucht, aber sie hatte ihn nur auf Russisch beschimpft und aufgelegt. Horatio hatte seufzend seine Sonnenbrille aufgesetzt und war zu seinem Hummer gegangen. Horatios erste Priorität bestand darin, Menschen zu helfen. Gelegentlich bekam er es mit Leuten zu tun, die seine Hilfe
nicht wollten oder nicht zu würdigen wussten, aber er war noch nie jemandem begegnet, der sie so erbittert ablehnte wie Nicole Zhenko. Nicht, dass er für sie tatsächlich hilfreich gewesen wäre – er war zu ihr gekommen, weil er Informationen brauchte, die zunächst technischer, dann auch persönlicher Natur waren. Nein, was Zhenko so vehement ablehnte, war anscheinend Horatios Besorgnis. Sie reagierte auf sein ehrlich empfundenes Mitgefühl, als wäre es Salz in einer offenen Wunde. Sie hatte sich eingeredet, dass alle Menschen grundsätzlich eigennützig waren, und jeder, der sich dieser Sichtweise widersetzte, irritierte sie zutiefst. Sie kümmerte sich auch nicht um die Verluste anderer Menschen. Sie war viel zu sehr mit ihrem eigenen Verlust beschäftigt. Im Gegensatz zu ihr berührte so etwas Horatio sehr. Er hatte vor langer Zeit erkannt, dass Schmerz einen Menschen auf einen sehr, sehr dunklen Pfad führen konnte. Er hatte gesehen, wie andere Cops diese Richtung eingeschlagen hatten. Der Weg war verzweigt, aber jede Abzweigung führte in den Abgrund: Alkohol, Drogen, Gewalt, Sex – das alles waren nur Behelfsmittel, um das Leid zu verdrängen. Er selbst hatte einen anderen Weg eingeschlagen, einen viel härteren Weg. Er hatte seinen Schmerz akzeptiert und ihn dazu benutzt, an ihm zu wachsen und stärker zu werden. In gewisser Weise hatte Nicole Zhenko etwas Ähnliches getan – aber wo Horatio seinen Schmerz als Treibstoff nutzte, hatte sie aus ihren eine Art Rüstung gemacht. Eine Rüstung voller scharfer Kanten, die jeden, der ihr zu nahe kam, in die Flucht treiben sollte. Sie war nicht gerade eine liebenswerte Person, aber sie war eine Überlebende … und das respektierte Horatio. Er fuhr vor dem Aquarian Institute vor, stellte den Hummer ab und stieg aus. Eine einzelne Halogenlampe brannte an einem
hohen Pfosten vor der Vordertür, umkreist von einem wogenden Schwarm Insekten. Er konnte den Lichtschein der Poolbeleuchtung neben dem Gebäude erkennen, aber hinter den Fenstern des Hauses brannte nirgends ein Licht. Vermutlich draußen am Pool. Oder im Pool. Die Vordertür war unverschlossen, aber er war kaum eingetreten, da wusste er schon, dass irgendetwas nicht stimmte. Da war nichts Auffälliges, keine offensichtlichen Spuren eines Kampfes oder eines Einbruchs. Horatio wusste es einfach. Irgendeine Ansammlung vager Anhaltspunkte war von seiner Aufmerksamkeit wahrgenommen und verarbeitet worden, und etwas in seinem Hinterkopf rief aus voller Kraft »GEFAHR!«. Seine Waffe lag in seiner Hand, ehe ihm auch nur bewusst war, dass er nach ihr gegriffen hatte. Rasch und lautlos schlich er durch das dunkle Foyer den Korridor hinunter. Die Tür am Ende war nur angelehnt. Horatio lugte durch den Türspalt, konnte aber aus diesem Winkel nur das Podest und einen Teil der Rampe erkennen, nicht jedoch den Pool selbst. Er konnte eine Stimme hören, aber sie war zu leise, um sie zu identifizieren. Er öffnete die Tür und trat auf das Podest. Als er sich an das Geländer stellte, konnte er endlich auch den Poolbereich sehen. Der Wassermann hatte einen Flossenarm fest um Nicole Zhenkos Hals geschlungen. Sie stand auf ihren Prothesen vor ihm und trug lediglich einen weißen Badeanzug. Er hielt einen Zeigefinger, aus dem eine schwarze, gekrümmte Klinge ragte, an ihren Augenwinkel. »Aufhören, Torrence!«, bellte Horatio. Verdammt, ich habe keine freie Schussbahn. Der Wassermann blickte auf. Horatio begriff nun, warum ihn jeder für ein Wesen aus dem Meer gehalten hatte. Nichts an ihm verriet die Taucherausrüstung, keine Schläuche, keine Flaschen. Da war nur ein runder Buckel auf seinem Rücken. Seine Augen
waren große, glasartige Kugeln, dunkel und reglos. Die beiden Reihen nadelspitzer Reißzähne, die im offenen Maul seiner Maske eingesetzt waren, sahen aus, als stammten sie von einem echten Fisch, möglicherweise von einem Barrakuda. Die Illusion wurde zerstört, als Torrence zu sprechen anfing – die Kiefer bewegten sich nicht. »Lieutenant Caine«, sagte er, und seine Stimme klang nur minimal gedämpft. »Bitte, kommen Sie herunter, und leisten Sie uns ein bisschen Gesellschaft.« »Lassen Sie sie los, Torrence, oder ich jage Ihnen eine Kugel mitten in diese hübsche Maske.« »Nein, Lieutenant. Sie kommen hierher, und zwar sofort, oder ich bohre ihr diese Klaue durch das Auge ins Hirn.« Zum ersten Mal schien Doktor Zhenko nichts zu sagen zu haben. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht jedoch war nicht furchtsam, sondern zornig. Horatio bewegte sich langsam die Rampe hinunter. Während des ganzen Weges zielte seine Waffe auf den Wassermann. Als er den Fuß der Rampe erreicht hatte, sagte Torrence: »Das ist nahe genug. Runter mit der Waffe.« »Es ist vorbei, Torrence. Lassen Sie sie gehen.« Die Klaue, die sich in Doktor Zhenkos Haut grub, bewegte sich etwas. Sie gab keinen Ton von sich, aber ein einzelner Blutstropfen rann wie eine scharlachrote Träne über ihr Gesicht. »Möchten Sie, dass ich Ihr das Auge aussteche, um Ihnen zu beweisen, dass ich es ernst meine?«, knurrte Torrence. »Wie viel soll sie Ihrer Meinung nach noch verlieren?« Langsam ließ Horatio die Waffe sinken. »Gut. Und jetzt werfen Sie sie in das Becken.« Horatio zögerte. Die eigene Waffe zu verlieren war der Albtraum jedes Polizisten, der sich bedroht sah, aber ihm war klar, dass er keine Wahl hatte. Er warf die Waffe ins Wasser. Das leise Plätschern hörte sich in seinen Ohren viel zu laut an.
»Holen Sie Ihre Handschellen raus. Dann fesseln Sie Ihr rechtes Handgelenk ans Geländer.« Horatio folgte dem Befehl. »Sie können nirgendwohin, Torrence. Wir haben Ihr kleines Nest in Verdant Springs gefunden.« »Mit der Höhle war ich so oder so fertig. Ich gehöre unter Wasser, nicht unter die Erde.« Unter einen Stein, meinst du wohl. »Dann gehen Sie. Sie gehören hier nicht her. Lassen Sie nur Doktor Zhenko in Ruhe.« »Das kann ich nicht tun, Lieutenant«, zischte der Wassermann. »Sie ist zu wichtig für mich. Sie war meine Inspiration, wissen Sie. Ein Teil von mir hat sich immer davor gefürchtet, sich der anderen Welt hinzugeben, der wahren Welt, aber dann hat sie mir gezeigt, dass es möglich ist. Dass unser Körper, unsere äußere Form nicht wichtig ist, dass das Aufrechtgehen nichts weiter als ein Trick cleverer Affen ist. Dass wir uns immer noch mit Anmut und Leichtigkeit in unserer natürlichen Umgebung bewegen können. Und so, wie dieser Tigerhai sie verändert hat, so hat auch sie mich verändert, so, wie sie ihr Schicksal angenommen hat, habe ich das meine angenommen.« »Malcolm«, sagte Zhenko, und ihre Stimme klang heiser und angespannt. »Ja, Nicole?« »Würdest du … diesen verdammten schlüpfrigen Anzug nicht tragen … ich hätte dir längst den Hals gebrochen.« Torrence kicherte schmatzend und selbstzufrieden. »Das weiß ich doch, Nicole. Aber du hast keinen Hebel, keine Balance, keine Waffen. Keine Chance.« »Brauche ich nicht … habe … etwas Besseres.« »So?«, fragte Torrence höhnisch. »Und das wäre?« »Freunde«, krächzte Nicole. »Mein guter Freund … Horatio … bereitet sich gerade darauf vor, dir in den Arsch zu treten.« Torrence lachte, riss sie zurück, sodass sie das Gleichgewicht verlor und die Fersenstücke ihrer Prothesen mit einem
metallischen Kreischen über den Betonboden scharrten. »Das glaube ich nicht … genauer gesagt, denke ich, dass eher das Gegenteil zutrifft.« Er stieß sie auf ihren Rollstuhl und wickelte eine Kette um ihren Körper. Zum Schluss sicherte er sein Werk mit einem schweren Vorhängeschloss, das er mit seinen langen Klauen kaum zu schließen vermochte. Der Levo selbst war bereits durch einen zwischen die Speichen der Hinterräder geschobenen Besenstiel manövrierunfähig. Horatio erhaschte eine Bewegung im Becken, während Torrence beschäftigt war. Eine graue, geschmeidige Gestalt zeichnete sich kurz unter der Wasseroberfläche ab. Torrence näherte sich Horatio. Seine Hände zuckten hoch, die Finger bewegten sich, und die Klingen schlugen klackernd wie Kastagnetten aneinander. »Es wäre viel erfreulicher gewesen, Sie unter Wasser umzubringen … aber manchmal muss man sich wohl mit dem zufriedengeben, was man kriegen kann.« Nicole griff nach einer Pfeife, die mit einem Band an der Armlehne des Levo befestigt war, und blies zweimal kurz hinein. Torrence wirbelte in dem Moment zu ihr herum, als Whaleboys Kopf aus dem Wasser schoss. Horatio ballte die freie Hand zur Faust, hob sie hoch in die Luft und riss sie mit einer schnellen Bewegung wieder herunter. Torrence starrte ins Wasser, aber Whaleboy war schon wieder abgetaucht. »Was wolltest du damit erreichen?«, schrie er. Whaleboys Kopf tauchte wieder auf – mit Horatios Waffe zwischen den Kiefern. »Unterstützung«, sagte Horatio. Der Delfin warf die Waffe mit einer knappen Kopfbewegung in die Luft. Die Glock drehte sich im Flug … und landete in Horatios ausgestreckter Hand. Torrence stieß einen Wutschrei aus und stürzte sich auf Horatio, er holte mit dem Arm zu einem mörderischen Hieb aus.
Aber Horatio schoss. Einmal, zweimal, dreimal. Eine der Kugeln erwischte das Sauerstoffreservoir. Als Torrence auf dem Betonboden zusammenbrach, war das letzte Geräusch, das er von sich gab, das blubbernde Pfeifen der Luft, die durch sein Blut nach außen drang. Nachdem Horatio den Vorfall gemeldet hatte, waren Calleigh, Wolfe, Delko und Tripp so schnell sie konnten zum Aquarian Institute gefahren. Er hatte versucht, ihnen klarzumachen, dass ihr Erscheinen nicht notwendig war – ihm ging es gut, und Torrence war Geschichte. Aber sie kamen trotzdem. »Ist schon eine verdammt verrückte Geschichte, Horatio«, sagte Tripp, als Torrence auf eine Bahre geladen wurde. »Der Kerl hat wirklich geglaubt, er wäre ein Monster.« »Das war er auch«, sagte Horatio milde. »Er hat nur ein paar Kleinigkeiten durcheinandergebracht.« Wolfe und Calleigh kamen zu ihnen. »Ich kann nicht glauben, dass Sie einen Delfin dazu bringen konnten, Ihnen die Waffe zu holen«, sagte Wolfe kopfschüttelnd. »Ich schon«, verkündete Calleigh lächelnd. Horatio erwiderte das Lächeln, doch sein Blick ruhte auf Nicole. Sie war am anderen Ende des Beckens, thronte mit einer um die Schultern geschlungenen Decke auf ihrem Levo und unterhielt sich mit Delko. Horatio konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen, aber die giftigen Blicke, mit denen sie Torrences’ Leiche bedachte, und der nachdenkliche Ausdruck in Delkos Zügen vermittelte ihm eine Ahnung. Sie würde zurechtkommen. »H.?«, fragte Calleigh. »Alles in Ordnung?« »Ja, ich … wisst ihr, Malcolm Torrence hat sich als der einzige seiner Art gesehen. Und als das absolute Raubtier. Aber selbst das gefährlichste Raubtier hat natürliche Feinde … und das, meine Freunde«, sagte er und sah sich in seinem Team um, »sind wohl wir.«