HERBERT MOLL
Tatzeuge am Erscheinen verhindert
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
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HERBERT MOLL
Tatzeuge am Erscheinen verhindert
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1964 Lizenz Nr. 303 (305 107 64) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: Angel Panajotow Typografie: Walter Leipold Schritt: 8 Punkt Primus Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
Daß ich in München nicht zu Hause bin, hat man längst gemerkt. Schon weil ich anders spreche als die Menschen hier. Geboren bin ich in Berlin, bin dort auch zur Schule gegangen, habe dort gelernt. Mit zwanzig Jahren wurde mir ein Anzug verpaßt, der mir keineswegs zusagte. In Frankreich, in Belgien hat man mich herumgetrieben, in fremder Leute Häuser und Land. Eine anständige Beschäftigung für einen, der gute Wohnhäuser bauen, ja, sogar Baumeister werden wollte, war das nicht. Heilfroh, daß ich einigermaßen gesund über die Runden gekommen war, bin ich in Haßleiten, im Fränkischen, hängengeblieben. Zu Hause, in Berlin, ist nichts mehr gewesen. Die Wohnung kaputt, die Eltern tot, aber davon später. Oder nein. Ich sollte das gleich erzählen. Vater war Buchdrucker. Sie haben ihn gleich zu Anfang des Krieges eingesperrt. Er hatte im Betrieb Handzettel gedruckt und verteilt. Ich weiß nicht genau, was darauf gestanden hat. Jedenfalls waren es harte und zu Herzen gehende Worte eines Mannes, der schon einen Krieg hinter sich hatte. Er wollte nicht, daß es wiederkommt, das Sterben, das Schreien, das Weinen. Sie haben ihm einen Prozeß gemacht, zu dem weder meine Mutter noch ich gehen durften. Auch das Urteil haben wir nicht zu sehen bekommen. Wir erfuhren nur durch den Gerichtsschreiber: zum Tode verurteilt. Nach acht Wochen bekam Mutter eine Rechnung: Sie sollte die Gerichtskosten und die Hinrichtung ihres Mannes bezahlen.
Die Rechnung hat sie im Treppenflur neben den Zettel gehängt, auf dem der Verwalter den Tag für das Mietekassieren bekanntgab. Dann nahm sie die Wäscheleine. Mich hat man am nächsten Tag eingesperrt, aber nach ein paar Wochen wieder entlassen. Beinahe hätte ich gesagt: freigelassen. Es war nur eine Überweisung. Zur 3. Flabteilung. Nach Jahren kam ich aus dem sinnlosen Morden zurück. Es hätte für mich in Berlin nichts mehr gegeben als den immerwährenden Drang, die Leute zu finden, die meinen Vater umgebracht und den Tod meiner Mutter verschuldet hatten. Wie sollte ich das aber anfangen? Ich wußte noch nicht, wie man so was macht. Darum mied ich Berlin. Ich ging nach Haßleiten. Das lag nicht weit entfernt von dem Gefangenenlager, aus dem ich entlassen worden war. In Haßleiten gab es damals nicht viel zum Mauern. Dort war keine Bombe gefallen, kein Schuß. Die Arbeit war für mich so knapp wie das Brot für alle, und durch meinen Papieranzug pfiff der Wind, daß es nur so eine Freude hatte. So bin ich denn zur Polizei gegangen. Das hatte mich früher schon interessiert, aber Vater hatte gesagt, ein anständiges Arbeiterkind geht nicht zur Polizei, das lernt nicht, wie man die eigenen Kumpel verprügelt. Nun ja, sagte ich mir, das war vorgestern. Die Polizei würde jetzt eine andere sein. Vor allem aber wollte ich über die dürre Zeit hinwegkommen, ruhig und friedlich. Haßleiten, so stellte ich mir das vor, würde keine kriminellen Sensationen hervorbringen. Ein bißchen Verkehrsbeobachtung“, eine Prügelei auf dem Kirmestanz, Schwarzhandel und mal ein Wäschediebstahl. Kleine Fische, sagte ich mir. Hier wirst du dich nicht aufregen und nicht abstrampeln. Das ist auch an die zehn Jahre so gegangen. Ich kletterte ein wenig im Dienstrang. An eine Rückkehr zu Kelle und Kalk habe ich nie gedacht. Ich machte Lehrgänge mit, kniete mich in die kriminalistische Arbeit, wurde sogar Kommissar.
Manchmal, so in stillen Stunden, staunte ich selbst darüber. Richard, sagte ich dann zu mir, Kriminalkommissar. So was hast du früher in Büchern und Schmökern gelesen. Jetzt bist du es selbst. Aber zu tun gab es in Haßleiten wirklich nicht viel. Die Leute dort waren ein friedliches Völkchen, und Stunk gab es nur, wenn die Amis in der Nähe Übungen veranstalteten. Dann ging es rund mit Saufereien, Überfällen, Prügeleien, mit Mädchen und so. Aber da durften wir uns ja nicht einmischen. Das war off limits für uns. Ja, und geheiratet hatte ich inzwischen auch. Ein nettes, ein liebes Mädel, Tochter eines Arbeiters aus der Gasanstalt. Gute alte Leute, der Friedrich Stücker und seine dicke Martha. Friedrich Stücker erinnert mich immer an meinen Vater, in seiner Haltung, in der Bewegung seiner Hände, darin, was er denkt, und darin, was man sieht, wenn man ihm ins Herz blickt. Meine Inge, ein feiner, tapferer Kerl, sage ich nur. Körperlich zart, aber sonst wie von Stahl und Eisen. Eine nette Wohnung hatten wir auch. Wenn wir abends aus dem Mansardenfenster schauten, sahen wir über Gärten und Bäume hinweg bis zu grünen Weinhügeln und fernen blauen Bergen. So hätte eigentlich alles ruhig und beschaulich weitergehen können, wenn nicht eines Tages bei uns in Haßleiten ein seltsamer Autounfall geschehen wäre. Das ist jetzt so runde zehn Monate her. Am 23. August war es, im vorigen Jahr. Mein Chef schickte mich an den Stadtrand, da sei auf der Ausfallstraße ein Mann überfahren worden, tot. Nun ja, an sich nicht gerade meine Arbeit, aber es war Urlaubszeit, und ich war zufrieden, daß ich wieder etwas zu tun hatte. So flitzte ich auf meinem Moped los. Da sah es böse aus. Der Tote lag mit dem Gesicht zur Erde, dicht am Hausrand, eine Blutlache unter dem Kopf, daneben ein zerdrückter Hut. Es war ein großer, breitschultriger Mann
in dunklem Anzug und hellem Popelinmantel. Drei unserer Polizisten hielten einige Schaulustige in respektvoller Entfernung. Ich begrüßte sie kurz, machte mir eine Skizze, sprach mit dem schon anwesenden Arzt und fragte nach Zeugen des Unfalls. „Diese Frau will es genau gesehen haben. Aber sie erzählt eine haarsträubende Geschichte“, sagte einer der Polizisten. Er wies auf eine weibliche Gestalt, die an einer Haus wand lehnte, die rechte Hand vor den Mund gepreßt. Ich ging zu ihr. „Sie können etwas aussagen?“ Die Frau blickte mich an. Ich sah in große graue Augen, die geweitet waren von Schrecken und Entsetzen. „Ein Unfall, sagen sie hier. Unfall? Das war glatter Mord.“ „Na, na“, ich versuchte, sie zu beruhigen, und ermahnte mich innerlich: Vorsicht mit Zeugenaussägen! Dann: „Nun, was haben Sie gesehen?“ Stoßweise, mit langen Pausen, in denen sie keuchte und nach Luft rang, berichtete sie: „Der Mann ist ganz friedlich die Straße hinuntergegangen. Ich habe es gesehen. Ich wohne dort drüben. Ich hatte gerade am Fenster meine Blumen gegossen. Da bog mit einmal unten vom Marktplatz her ein großes Auto in die Straße ein. Im gleichen Augenblick wurde der Mann von einem anderen gerufen. Der war gerade an meinem Fenster vorbeigegangen. So ein kleiner, schlanker mit einem hellbraunen Trenchcoat, Der Mann, der jetzt tot ist, sah neugierig herüber. Ich glaube, der andere hat ihn mit Namen angerufen. Herr – Herr – ach, ich weiß nicht. Ich habe es nicht verstanden. Jedenfalls hat der im braunen Trenchcoat den Mann zu sich herübergerufen, und der kam auch. Als er mitten auf dem Damm war, fuhr das Auto plötzlich laut heulend heran, direkt auf den Mann zu und es warf ihn um.“ Das war ja eine tolle Geschichte. „Langsam“, sagte ich, „vielleicht hat der Mann den Wagen nicht gesehen und ist glatt hineingelaufen. So etwas gibt es doch.“
„Hineingelaufen!“ Die Frau sah mich vorwurfsvoll an…Der Wagen ist ja noch einmal zurückgefahren. Da hat sich der Mann mühsam erhoben. Ich schrie den Fahrer an, aber wie der Mann auf den Bürgersteig zutaumelte, ruckte das Auto wieder vor und quetschte ihn an die Wand. Dann aber, hast du nicht gesehen, war das Auto die Straße hinunter und weg.“ „So, das Auto war weg. Und wo ist der Mann im braunen Trenchcoat geblieben?“ „Das war das schönste. Der ist noch rasch eingestiegen und mitgefahren.“ „Kannten Sie diesen Mann, oder haben Sie ihn so genau gesehen, daß Sie ihn wiedererkennen würden? Auch den Fahrer?“ „Ich habe beide nie vorher gesehen. Und wiedererkennen? Ich weiß nicht. Mir fiel nur auf, daß der Mann im Trenchcoat so einen seltsamen Gang hatte. Er zog den Fuß ein wenig nach.“ „Sie haben in dieser kurzen Zeit sehr viel gesehen, liebe Frau“, meinte ich und lächelte wohl auch ein wenig. Ich war mißtrauisch. „Sie meinen wohl, ich phantasiere?“ Die Frau war Abwehr. „Schon gut, Sie müssen aber zugeben, das ist eine merkwürdige Geschichte, die Sie beobachtet haben wollen.“ „Geschichte?“ Die Frau streckte erregt den Arm aus und wies auf den Toten: „Das ist wahr, so wahr, wie dieser Mann dort tot liegt.“ „Schön, dann kommen Sie bitte in einer guten halben Stunde zur Polizeiverwaltung und geben das alles zu Protokoll. Ordnung muß ja sein. Und ich werde – “ Die Frau nickte und verschwand auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem niedrigen Haus, dessen Fenster mit hohen Blumenstöcken wie verhängt waren. Ich versuchte weitere Zeugen ausfindig zu machen. Aber niemand hatte etwas gesehen. Diese Straße ist zur Mittagszeit
stets fast menschenleer. Die Polizisten zerstreuten die wenigen Leute. Der Tote wurde abtransportiert. Ich setzte mich auf mein Moped und fuhr zurück ins Amt. Die zweite Vernehmung der Frau, sie hieß Anna Ahlers, war Witwe und an diesem Mittwoch, dem 23. August, fast auf den Tag genau sechzig Jahre alt, ergab nichts Neues. Sie wiederholte ihre Aussagen, ich muß es gestehen, ich wurde nach und nach von ihrer Erzählung gefangen. Als ich meinem Chef, dem stets auf Ruhe, Beschaulichkeil und baldige Pensionierung bedachten Amtsanwalt Köhler, das Protokoll vorlegte und alles übrige berichtete, trat dem der Schweiß auf die dicke fette Stirn. Er wischte die Nässe mit einem großen, bunten Taschentuch fort und sah mich wie entgeistert an: „Was denn? Bei uns, in unserem ruhigen Haßleiten, ein Totschlag? Ein Mord? Das gibt es nicht. Das darf es nicht geben.“ Er blickte zerstreut auf die sieben Bleistifte, Kopierstifte, Rotstifte, Blaustifte, die stets auf seinem Schreibtisch lagen, ausgerichtet nach Stärke und Länge wie Soldaten im Glied. Sie wurden an jedem Morgen neu angespitzt von Leokardia Kästner, seiner dürren Sekretärin. Köhler schien in dem Aufmarsch seiner Schreibgeräte eine winzige Unregelmäßigkeit entdeckt zu haben. Mit einem Lineal schob er die Front, von unten her, gerade. Doch er blieb zerstreut, unruhig, und er schwitzte. „Die Alte sieht doch Gespenster am hellen Tag“, sagte er. „Lassen Sie sie notfalls auf ihren Geisteszustand untersuchen. Untersagen Sie ihr, diesen Unfug in der Stadt herumzutratschen. Mord am hellen Tag! So was! Und dann – wer ist eigentlich der Tote?“ „Keine Ahnung, Herr Amtsanwalt. Er hatte keinerlei Papiere bei sich, nichts, wonach ich ihn hätte identifizieren können. Habe den Tascheninhalt genau durchgesehen, zu mehr war allerdings noch keine Zeit. Ich wollte erst einmal den ärztlichen Befund haben. Hier ist er bereits. Er besagt: Schädelba-
sisbruch, innere Verletzungen, verblutet. Übrigens ergänzte Frau Ahlers vorhin ihre Aussage. Sie meinte gesehen zu haben, daß der Mann im Trenchcoat sich über den Toten oder vielleicht noch Verletzten gebeugt und bei ihm gekniet habe.“ Der Amtsanwalt winkte müde ab. „Was die alles gesehen haben will. Das kann man gedruckt für fünfzig Pfennig in der Papierwarenhandlung kaufen: Nach den Halluzinationen dieser Ahlers muß der Mann ein wahrer Tausendsassa sein. Was der in knapp einer Minute alles gemacht haben soll, dazu braucht ein normaler Mensch die zehnfache Zeit.“ Köhler stand auf, ging an das Fenster, sann lange nach. Dann drehte er sich um. „Stellen Sie erst einmal fest, wer der Tote ist. Das muß ja herauszubekommen sein. Dann werden wir weitersehen. Na also, dann werden wir der – “ er räusperte sich und lächelte wieder – „der Mordgeschichte dieser Frau Ahlers schon auf die Spur kommen.“ Ich wandte ein: „Vielleicht sollte man – ich meine, es wäre ein Versuch – nach dem Mann mit dem hellbraunen Trenchcoat fahnden und die Bevölkerung zur Mitwirkung auffordern. Es liegt schließlich zumindest gröbste Fahrerflucht vor.“ Der Amtsanwalt schüttelte den Kopf. „Fahnden, das kann man schon machen, Herr Stadler. Aber die Bevölkerung? Das sehen Sie an der Ahlers. Die Fachleute sind wir. Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Das genügt fürs erste vollauf.“ Dann trank Köhler von seinem Gesundheitstee, der zu ihm gehörte wie das dicke Aktenbündel. Es lag rechts auf seiner Schreibtischplatte, sauber, rechtwinklig. Niemand hatte je gesehen, daß er darin geblättert oder gar gelesen hätte. Von Zeit zu Zeit wurde es gegen ein anderes ausgewechselt. Das besorgte Leokardia Kästner, seine dürre Sekretärin. Ich ärgerte mich über den Chef. Seine Oberflächlichkeit, seine bewußt zur Schau getragene Gleichgültigkeit waren mir seit langem zuwider. Sicherlich saß er bereits wieder breit und fett vor seinen gelben Blättern, die mit langen Aufstellungen
bedeckt waren. Er beschäftigte sich mit dem Plan für eine Zucht von Zwerghühnern, die er betreiben wollte, wenn er die ersehnte Pensionierung erreicht hatte. Da saß ich nun mit meinem Talent. Ich hatte mir gewiß am Tatort Mühe gegeben, Anhaltspunkte zu erlangen. Aber es gab keine. Die Leute, vor allem Frau Ahlers, hatten versagt. Die Autonummer hatten sie nicht gesehen. Die Farbe des Wagens blieb unbestimmt. Dunkel, ja, aber ob blau, braun oder schwarz, das wußte keiner zu sagen. Die Insassen – niemand konnte ihre Gesichter beschreiben. Ich ging mit einem jüngeren Beamten unserer Kanzlei in den Keller, um die Sachen des Toten gründlich zu durchsuchen. In den Taschen gab es nichts, was wir nicht schon gefunden hätten. Wir legten alles zusammen, registrierten es: ein Taschentuch, etwas Kleingeld, ein billiges Feuerzeug, eine angebrochene Zigarettenschachtel, Streichhölzer, zwei Bleistiftreste, ein Kugelschreiber. Aber kein Ausweis, keine Brieftasche, kein Stück Papier. Nichts. Ich wendete die dunkle, dünn gestreifte Jacke hin und her, betastete das Futter, sah nach dem eingenähten Firmenschild. Ich las: Peter Moser, Schneidermeister, Sternberg. Hm, sagte ich mir, ausgesprochenes Glück. Ein Anzug von der Stange hätte uns weniger geholfen. Laut meinte ich: „Der Schneider sollte wissen, wem er diesen Anzug verpaßt hat.“ „Möglich“, antwortete der Kanzleibeamte, „das muß aber nicht dieser Mann hier gewesen sein. Der Anzug kann vom Besteller weiterverkauft worden oder bei einem Althändler erstanden sein, er kann – es gibt da viele Möglichkeiten.“ „Richtig, die gibt es. Aber zunächst muß ich bei diesem Schneidermeister anfangen.“ Ich sah nach den Wäschezeichen im Hemd, im Taschentuch, fand ein Monogramm: A. K. Wieder oben, ging ich über den Flur. Eine Tür öffnete sich, das oft übelgelaunte Fräulein Kästner besah sich, wer hier wohl gehen könnte.
„Ich fahre nach Sternberg“, rief ich ihr zu. „Sagen Sie bitte dem Chef Bescheid. Es ist in der Unfallsache“, und ich wollte eilends davon. „Halt!“ Die blecherne Stimme Leokardias hielt mich fest. Ich ging zurück. Die Sekretärin stand wieder einmal bei ihren Blumentöpfen und stocherte in der Erde herum. „Herr Stadler“, sagte sie gedehnt, „in Ihrem Zimmer sitzt ein Besucher. Der Chef hat ihn dorthin geschickt. Sie sollen sich mit ihm unterhalten.“ „Was denn? Jetzt? Ich habe keine Zeit.“ „Natürlich haben Sie Zeit. Der Chef wünscht es nämlich.“ Ich unterdrückte eine Bosheit. Die Sekretärin hatte inzwischen eine mit Wasser gefüllte Flasche ergriffen und begoß die Töpfe. „Na schön“, knurrte ich, „eine halbe Stunde, nicht mehr. Dann geht’s nach Sternberg. Sind ja nur fünfundzwanzig Kilometer.“ Ich ging den langen Flur hinunter. Es war Sprechstundentag. Überall vor den Zimmern saßen auf schmalen Holzbänken Männer und Frauen. Viele hatten keinen Platz mehr gefunden und mußten stehen. Ein Kinderwagen stand mir im Weg, ich rannte ihn fast um, als ich mich einem Kollegen zuwandte, der mir entgegenkam. In meinem Dienstraum endlich sah ich einen kleinen, älteren Herrn, der sich sogleich erhob und eine Verbeugung zu mir machte: „Malitz, Professor Dr. Malitz. Ich möchte eine Anzeige erstatten.“ Ich erblickte ein lebhaftes, freundliches Gesicht unter einem spiegelglatten Schädel, helle, glänzende Augen hinter randloser Brille, eine dunkle, wettergebräunte Gesichtshaut. Ein gepflegt angezogener Herr, dieser Professor Malitz, in fast weißem Flanellanzug, weißem seidenem Hemd, mit dezent bunter Krawatte und einer großen Perle darin. Ich bat meinen Besucher, Platz zu nehmen, und setzte mich hinter meinen Schreibtisch. „Ich habe Sie richtig verstanden,
Herr Professor. Sie wollen eine Anzeige erstatten? Worum geht es bitte?“ „Ich komme eigentlich erst zu einem vorbereitenden Besuch, Herr Kommissar. Ich möchte mich für morgen anmelden. Der Herr Amtsanwalt hat, wie ich vernahm, jetzt leider keine Zeit für mich. Das tut nichts. Ich erwarte noch einen Herrn, einen Zeugen, mit dem ich hier in der Stadt verabredet bin. Denn ich allein – in dieser Sache, nun ja, das ist schwierig. Der unglückliche Vorfall, - wenn ich es so nennen darf, liegt nunmehr schon viele Jahre zurück.“ „Es handelt sich um ein Vergehen?“ „Nein, Herr Kommissar. Um ein Verbrechen, um Mord. Wie anders könnte man es nennen. Eine solche Bluttat ist in aller Welt ein Verbrechen.“ Ich sah Sterne vor den Augen. Was war denn plötzlich aus unserem friedlichen Haßleiten geworden? Nach Jahren der Beschaulichkeit diese nach vorsätzlicher Tötung riechende Unfallgeschichte, und nun kam auch noch dieser Professor und sprach von einem Mord? „Ich habe doch richtig verstanden“, ich beugte mich weiter vor, „Mord, sagten Sie, Herr Professor, Mord?“ „Ja, gewiß. Ein Mord ist geschehen, damals nämlich.“ Dabei nahm das Gesicht des Besuchers eine noch dunklere Färbung an. Die anfangs lächelnden Augen bekamen einen harten Blick. „Aber, wie gesagt, ich möchte nicht vorgreifen. Wann würde es Ihnen morgen passen?“ „Herr Professor“, erwiderte ich’, „so geht es doch nicht. Können Sie mir nicht wenigstens sagen, was Sie als Mord ansehen, wo sich das Verbrechen ereignet haben soll, wann und an wem, und ob es der Tat Verdächtige gibt. Und dann noch eines, bitte, können Sie sich irgendwie legitimieren?“ „Ja, selbstverständlich. Entschuldigen Sie bitte“, der Professor verneigte sich verbindlich. „Ich habe dies aus unerfindlichen Gründen vergessen und versäumt. Hier, bitte, ist mein
Paß. Ich heiße Karl-Friedrich Malitz, bin 1894 in Erfurt geboren, lebe seit 1943 in Haifa, in Israel. Ursprünglich war ich in Deutschland beheimatet, hatte auch die deutsche Staatsangehörigkeit, bis, ja bis ich emigrierte, mich heimlich und abenteuerlich davonmachte wie viele meiner Genossen im Leiden. Sie konnten es alle nicht mehr ertragen und mußten für sich das Schlimmste befürchten. Ich meine, in der Zeit der braunen Diktatur.“ „Hm, und wie ist das mit dem Mord gewesen?“ „Es ist, wie ich schon sagte, eine alte Geschichte. Dennoch halte ich dafür, daß ein solches Verbrechen nicht verjähren darf. Es war 1942 in – “ „Was denn? 1942? Und damit kommen Sie heute? Es gab doch immerhin schon früher Möglichkeiten. Warum kommen Sie auch gerade hierher?“ „Das Verbrechen geschah in dieser Stadt. Es geht um den Tod des Professors Rainer Schlegel. Er, ein damals hochgeachteter Physiker, ist hier 1942 festgenommen worden. Dann wurde er verschleppt und später hingerichtet. Die Untat nahm hier ihren Ausgang.“ „Sie haben die Verschleppung nicht verhindern können?“ Der Professor lächelte bitter. „Ich war zwar auch ein, sagen wir, bekannter Physiker und Biologe. Aber wer konnte damals gegen einen Beauftragten der Nazipartei etwas unternehmen? Noch dazu, ich war rechtlos, jüdisch versippt und Halbjude oder wie man das damals nannte.“ „Ach so.“ „Zudem hatte ich mich einer kleinen Gruppe von Freunden angeschlossen, die, wenn auch in bescheidenen Grenzen, die Menschen über das Verbrechen des Krieges aufzuklären versuchte. Es stand für uns alle sehr, sehr viel auf dem Spiel.“ Im Zimmer war eine Zeitlang nur Schweigen. Ich wußte nicht, woran dieser Professor dachte. Ich aber sah ein bedrucktes Papier, ein ausgefülltes Formular und eine Rechnung
des Zuchthauses Brandenburg. Ich sah eine vergrämte Frau, die, einen Strick in der Hand, nächtlich davonschlich. Ich riß mich los, sah auf die Uhr. „Herr Professor, ich spüre, Sie wollen ohne diesen weiteren Zeugen keine Einzelheiten mitteilen, ohne diesen Herrn, mit dem Sie sich verabredet haben. Ich gestehe, ich habe den Namen Schlegel hier nie gehört. Ich lebe allerdings erst seit 1946 in dieser Stadt. Ich erwarte Sie morgen hier in diesem Zimmer, Sie und den anderen Herrn. Ich werde versuchen, daß der Herr Amtsanwalt Köhler zugegen sein kann. Dann werden wir gemeinsam weitersehen. Sagen wir also – um elf ein halb Uhr?“ Mein Besucher stand auf. „Es ist mir recht. Ich komme. Ich mache Sie nur jetzt schon darauf aufmerksam, daß es um eine äußerst üble Geschichte geht.“ „Wenn von Mord gesprochen wird, ist das immer eine üble Geschichte. Mich hätte nur noch interessiert – sind Sie nun für immer nach Deutschland zurückgekehrt?“ „Nein.“ Der Gelehrte sah mich erstaunt an. „In dieses Deutschland? Das könnte ich niemals.“ Ich überhörte diesen Vorwurf, der mir aus Gesprächen mit meinem Schwiegervater Friedrich Stücker und aus bestimmten Rundfunksendungen nicht fremd war. „Also sozusagen auf der Durchreise“, lenkte ich ab. „Auch das nicht, Herr Kommissar. Ich will nichts als diesen Fall geklärt und gesühnt wissen. Das ist der einzige Zweck meiner Reise, nachdem ich weder schriftlich noch auf konsularem Wege auch nur einer Antwort gewürdigt wurde. Nun endlich konnte ich fahren. In den Jahren des Krieges war das sowieso nicht möglich, danach fehlten mir die Mittel. Jetzt also ist es soweit. Ich sage im voraus, ich erwarte nicht viel. Die Entwicklung hier läßt mich keine großen Hoffnungen hegen. Indessen, ich will nichts unversucht lassen.“ „Schön, Herr Professor, Sie entschuldigen mich nun, ich erwarte Sie dann morgen.“
„Aber bitte, an mir wäre es, mich zu entschuldigen dafür, daß ich Ihnen viel wertvolle Zeit nahm. Auf morgen dann.“ Er ging. Ich blieb wie betäubt zurück. Vieles war wieder aufgewühlt, war gegenwärtig geworden wie nie in den vergangenen Jahren. Der Vater, die Mutter, meine Haftzeit, die Drangsalierungen während der militärischen Ausbildung; ich war doch gebrandmarkt, war der Sohn eines Zuchthäuslers, eines Hingerichteten. Alles kam wieder hoch, was ich längst vergessen glaubte. Dann wieder schüttelte ich den Kopf über mein friedliches, ruhiges Haßleiten. Oh, du Städtchen, will man aus dir ein Nest von Räubern, Autogangstern und Mördern machen? Ich rauchte, um mich zu beruhigen. Dann fuhr ich zu meiner Inge, um sie von der Fahrt nach Sternberg zu informieren, und schließlich startete ich mit dem Moped. In einer knappen Stunde würde ich in Sternberg sein, also etwa gegen sechzehn Uhr, wohl noch zeitig genug, um dem Schneidermeister den notwendigen Besuch abzustatten. Die Jacke des Toten lag eingerollt und wohlverpackt auf dem Gepäckständer. Der kleine Motor schnurrte fleißig, das Rad trug mich durch Weinberge, von Sommersonne durchglühte Weizenhügel und über kleine, steinerne Brücken, unter denen es freundlich und gemächlich gluckste. Alles roch nach Acker und Wein, nach Frieden und Fruchtbarkeit. In meinem Hirn aber brannte es, und alle Gedanken sprachen von Verbrechen, von Mord. War das hier einer? Wer war der Tote? Wo war das Motiv? Der Schneidermeister in Sternberg war schnell gefunden. Das Städtchen ist noch kleiner als Haßleiten. Ich stand vor einem kleinen Ladengeschäft, in dessen Schaufenster eine riesige Pappschere, mit Silberbronze bemalt, Blickfang und Zunftzeichen darstellte. Eine melodische Dreiklangglocke sang mir die Eintrittsmelodie, dann stand ich vor einem kurzsichtig über die Brille blinzelnden Mann. Er war in Hemdsärmeln, trug die graue Weste geöffnet, um seinen Nacken
hing ein gelbliches Zentimetermaß, vor der Brust baumelte ihm ein wildledernes Nadelkissen. „Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?“ Die Stimme sang in sonorem Bariton. Der Schneider machte eine übertrieben wirkende Verneigung. „Ich habe nur eine kleine Frage. Sie betrifft – nun, wir werden gleich sehen.“ Ich befreite die Jacke vom Packpapier und legte sie dem Meister auf den Ladentisch. „Kennen Sie dieses Stück? Die Jacke ist doch wohl von Ihnen angefertigt worden.“ Der Kopf neigte sich tief. Der Schneider nahm die Jacke in die Hände, besah sie von innen und außen, er beschnüffelte den Stoff, legte sie endlich wieder hin. „Sie haben recht. Diese Jacke habe ich angefertigt. Aber bitte, was ist damit? Sollte es sich um eine Reklamation handeln – “ „Keineswegs“, beruhigte ich ihn. „Es ist schon alles in Ordnung. Ich möchte nur wissen, Meister, für wen Sie das Jackett gearbeitet haben.“ Dabei zeigte ich meinen Ausweis. „Es handelt sich um eine belanglose Ermittlung.“ Der Meister schien erschrocken. „Die Kriminalpolizei? Ja, so was! Und mein Jackett? Da muß ich einmal gründlich überlegen. Der Stoff wurde nämlich häufig verlangt. Sie müssen wissen, mein Herr, es ist eine gute, tragbare und strapazierfähige Qualität und dabei sehr preiswert. Der ganze Anzug kostete einschließlich – “ „Bitte“, unterbrach ich ihn ungeduldig, „meine Zeit ist leider recht knapp, Herr Moser. Können Sie nicht weiterüberlegen?“ „Gewiß, gewiß, Herr Kommissar. Ich bin schon dabei. Ich muß auch in meinem Kundenbuch nachschlagen. An den Maßen können wir dann genau feststellen – “ Er nahm sein Zentimetermaß, ermittelte und notierte die Rocklänge, die Weite, die Länge der Rückennaht, die Taschenhöhe…Hm, brummte er dabei. „Ein großer, starker Herr ist das. Na, das müßte doch eigentlich – Moment mal, das haben wir gleich. Jetzt ziehen
wir das Kundenbuch zu Rate.“ Meister Moser schlurfte wieder davon, verschwand hinter einem Vorhang, kam kurz darauf hervor, unter dem Arm ein umfangreiches Buch, fast einen Folianten. „Hier, mein Kundenbuch. Absolut zuverlässig.“ Er blätterte, langsam, Seite für Seite. Ich rauchte eine Zigarette. Der Schneidermeister blätterte, schnüffelte, flüsterte in sich hinein, maß wieder nach. „Ein Genaumännchen“, hätte mein Vater gesagt. Als ich die zweite Zigarette entzündet hatte, richtete sich Meister Moser auf. „Da haben wir’s. Ich dachte es mir gleich.“ Er wies auf eine Spalte seines Folianten. „Es ist der Herr Kreutziger hier aus Sternberg. Kam mir doch gleich so vor. Kein Zweifel. Der Herr Kreutziger hat sich den Anzug vor – Augenblick bitte – vor rund einem Jahr machen lassen. Bar bezahlt, bitte, da ist alles in Ordnung. Der Herr Kreutziger ist ein korrekter, ein hochachtbarer Mann. Da gibt es also nichts.“ In den Augen des Schneiders leuchtete ein kleiner Triumph, als hätte ich, der Kriminalist, den hochachtbaren Herrn Kreutziger des Bankraubes oder der Unzucht mit Minderjährigen verdächtigt…Nein, Herr Kommissar, da ist also alles im Lote“, es klang, als wolle der Meister einen Schlußpunkt unter diesen Teil der Unterhaltung setzen. „Soll es auch sein“, winkte ich ab. „Etwas anderes, Meister. Wie heißt Herr Kreutziger mit Vornamen und – die Anschrift. Sie haben doch sicher die Adressen Ihrer Kunden.“ „Gewiß, gewiß. Alois heißt der Herr Kreutziger, und nun die Anschrift. Augenblick, bitte. Ja, hier ist sie, Weidengasse 25, wenn Sie das bitte notieren wollen, Herr Kommissar, Weidengasse 25.“ Auf dem Wege dorthin überlegte ich. A. K. – das Wäschezeichen. Das konnte gut Alois Kreutziger heißen. Was mag das für ein Mann sein – oder gewesen sein? Ob es jemand in der Welt gab, der ihm nach dem Leben trachtete? In der Weidengasse 25 sprach ich mit Alois Kreutzigers Wir-
tin. Er wohnte seit Jahren möbliert bei einer Lehrerswitwe, bei Frau Elisabeth Schütz. „Ein sehr ruhiger Mieter, der Herr Kreutziger“, versicherte Frau Schütz. „Er ist gestern fortgefahren, hat sich ein paar Tage Urlaub genommen“, er sagte, er habe Mittwoch, also heute, eine Verabredung in Haßleiten. Er fahre schon ein wenig früher, er müsse in der Kreisstadt noch zum Gericht, sagte der Herr Kreutziger. Er hat den Autobus genommen, der um zehn zur Kreisstadt geht. Ja, gewiß, er hatte seinen dunklen Anzug an, den mit den feinen Streifen.“ Ich packte wieder aus. „War es dieser hier, Frau Schütz?“ Das kam wohl zu plötzlich, sicher hatte ich es auch etwas ungeschickt angefangen. Die Lehrerswitwe war tief erschrocken. „Wie kommen Sie denn zu der Jacke von Herrn Kreutziger?“ „Sie ist es wirklich?“ „Ganz sicher, Herr Kommissar. Sehen Sie, da habe ich ihm noch einen Knopf annähen müssen, und hier habe ich die Brusttasche repariert. Der Herr Kreutziger tut immer seine dicke Hornbrille in das Täschchen, in das an sich ein Ziertüchel gehört. Da beutelt es aus und reißt am Ende ein. Aber, bitte, was ist mit dem Herrn Kreutziger? Er ist doch nicht etwa – V ,,Herr Kreutziger ist leider verunglückt.“ Frau Schütz wurde bleich, hielt sich am Tisch fest. „Und – tot?“ Ich nickte stumm. Da fing die Frau an, leise zu weinen. „Solch ein lieber Herr, solch ein guter Mieter. Nein, welch ein Unglück.“ Nach vieler Mühe erfuhr ich noch: Kreutziger war dreiundsechzig Jahre alt, stammte aus der Gegend um Sternberg, war Junggeselle, ohne nähere Verwandte, war bei der Sparkasse als Kassierer tätig, hatte somit eine Vertrauensstellung. Sein Ruf war tadellos. Bevor er in
die Kreisstadt fuhr, hatte er Frau Schütz gegenüber einige Bemerkungen gemacht, wie „Dem werden wir’s aber einheizen“ und „Mit einem der Herren ist es nun bald vorbei, höchste Zeit, Frau Schütz!“ Diese Bemerkungen hatten bei Frau Schütz Erschrecken und Befremden hervorgerufen. Zumal sie wußte, so sagte sie, daß der Herr Kreutziger keine Differenzen mit irgendeinem Menschen hatte. Feinde? Nein, die habe er erst recht nicht gehabt. Sie habe sich schließlich weiter keine Gedanken um die Äußerungen gemacht. Doch nun nach diesem Unfall? Sie sei recht durcheinander. „Seien Sie nur beruhigt, Frau Schütz“, sagte ich, „ein Verkehrsunfall passiert in diesen Zeiten leider alle Tage einmal. Die Autoraser, Sie wissen, da kommen nicht selten völlig Unbeteiligte zu Schaden. Aber noch eine Frage, wenn Sie gestatten. Mit wem hatte sich Herr Kreutziger in Haßleiten verabredet? Ist Ihnen das bekannt?“ „Genau weiß ich es nicht“, sagte die Frau, die sich nun wieder etwas gefaßt hatte, „Er sagte, mit einem Ausländer. Herr Kreutziger korrespondierte sehr viel, und es kamen auch Briefe ans dem Ausland zu ihm, mit vielen bunten fremden Marken darauf. Ich achte auf so etwas. Nicht etwa aus Neugier, o nein, aber mein verstorbener Mann war ein eifriger und, wie ich sagen darf, auch sehr versierter Philatelist. Die Briefe also kamen aus Israel, wenn ich nicht irre. Ja, aus Israel. Erschreckt Sie das, Herr Kommissar? Warum schauen Sie mich so ungläubig an?“ „Nein, nein“, sagte ich heftig und ungeduldig, „sprechen Sie nur weiter. Das kann alles sehr wichtig sein. Also Sie sagten, die Briefe kamen aus Israel?“ „Ja, ich glaube es genau zu wissen. Nach dem Absender habe ich selbstverständlich nicht geschaut. Das wäre sehr ungehörig gewesen. Aber schön, da hat er ein Treffen mit einem Briefpartner verabredet, in Haßleiten. Der sei gerade einmal in Deutschland, hat mir der Herr Kreutziger gesagt. Verständ-
lich, daß er – “ Frau Schütz fing wieder an zu schlucken und weinte dann leise vor sich hin. Ich wollte sie ablenken, erreichte das aber nicht. „Liebe Frau Schütz“, sagte ich schließlich, „Ihre Auskünfte sind für mich sehr bedeutungsvoll. Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.“ Dabei stand ich langsam auf. Auch Frau Schütz erhob sich, wir gingen gemeinsam zur Tür. „Lebendig kann ich meinen armen Untermieter dadurch auch nicht machen, aber wenn ich Ihnen ein wenig dienlich sein konnte – “ „Sie waren es, Frau Schütz.“ Ich gab ihr die Hand. „Sie waren es. Aber nun – kann ich einmal das Zimmer sehen?“ „Bitte, hier, die erste Tür links.“ Es war ein heller Raum, in dem sich die Sonne fing. Sie glitzerte in den Mahagoniflächen der alten Möbel, fiel auf die Filetdecken auf dem Sofa, lenkte ihre Strahlen zum Schreibtisch an der rechten Wand, auf dem Bücher, Reisebeschreibungen, Atlanten und Briefmarkenalben gestapelt waren. Ich sah in den Schrank, in ein kleines Regal, zog die Schreibtischfächer auf. Frau Schütz sah zu. „Wo befinden sich die Briefe, die Herr Kreutziger aus dem Ausland erhielt?“ „Seine Briefschaften hatte er hier im linken Schubfach.“ Ich zog es auf. Es war leer. Stumm sah ich zu Frau Schütz auf. Die legte erschrocken die Hand auf den Mund. „Nichts, Frau Schütz. Hat Herr Kreutziger die Briefe vielleicht mitgenommen?“ „Das halte ich für ausgeschlossen. Es waren ja sehr, sehr viele.“ „Hm.“ Mir kam ein Gedanke. Er war abwegig, aber ich mußte das fragen: „Waren Sie, Frau Schütz, seit Herr Kreutziger fort ist, einmal längere Zeit aus der Wohnung?“ „Ich war gestern fort und bin erst spät nach Hause gekommen. Ich war bei meiner Schwester in einem benachbarten
Dorf.“ „Und während dieser Zeit war die Wohnung unbeaufsichtigt?“ „Gewiß, warum auch nicht?“ „Ja, Sie haben recht. Warum auch nicht.“ Ich winkte lächelnd ab. Einige Minuten später saß ich wieder auf meinem Moped, das mir viel zu langsam Haßleiten entgegenschnurrte. Seltsam, dachte ich, der den Schreibtisch geöffnet hat, muß entweder dickfellig und kaltschnäuzig oder seines Tuns sehr sicher gewesen sein. Er hätte sich sonst etwas mehr vorgesehen. Er konnte auch – das kam mir plötzlich in den Sinn – von einer Dienststelle sein, die sich mit politischen Vorgängen beschäftigt. War hier Politik im Spiel? Als ich in Haßleiten ankam, hatte mein Amt natürlich schon geschlossen. Ich war zu erregt, um etwas Neues zu unternehmen oder schon nach Hause zu fahren. Ich hielt also vor dem „Braunen Hirsch’’, setzte mich in den schattigen Vorgarten und ließ mir ein kellerkühles Bier geben. Ich wollte abschalten, ganz ruhig sein, um dann erfrischt weiter zu forschen. Aber mich preßten all die Dinge, die ich innerhalb weniger Stunden erfahren hatte. Ich fand keine Ruhe, so ging ich zum Telefon, Professor Malitz anzurufen. Ich wußte, er wohnte im „Schwarzen Adler“. Aber der Professor war nicht erreichbar. Ich bezahlte mein Bier und das Gespräch, fuhr dann doch zum Hotel hinunter. Der Portier hob bedauernd die Schultern. Nein, der ausländische Herr sei nicht im Hause. Vielleicht sei es im Augenblick auch besser so. Und wenn er bald abreisen würde – Ich fragte, ob es etwas mit Professor Malitz gegeben habe. Nun, antwortete der Portier, gegeben schon. Etwas Unangenehmes. Bedauerlich, sehr bedauerlich. Der Gast sei ein so feiner; so zurückhaltend vornehmer Herr, und dann dieses hier. „Nun ist er spazierengegangen. Er möchte nach der Auf-
regung wohl etwas Ruhe finden. Aber vielleicht sehen Sie es sich selbst an, Herr Kommissar’’, meinte der Hotelangestellte, der mich seit langem gut kannte. Er wies zur Treppe. „Im ersten Stock, bitte, Zimmer vierzehn.“ Ich ging hinauf, fand die Tür. Ich schrak zurück. Auf die weiße, glanzlackicrte Tür war ein großes schwarzes Hakenkreuz gemalt. Unten sah mich der Hotelportier aus alten, traurigen Augen an. „Eine Schande, nicht wahr? Dabei ist für mich nicht einmal sicher, und es wäre auch unerheblich, ob der Herr jüdischen Glaubens ist. Aus seiner polizeilichen Anmeldung geht dergleichen nicht hervor. Aber wie gesagt, das ist auch völlig unerheblich. Was wissen solche Menschen, die so etwas tun, schon davon? Hochmut, Überheblichkeit – ja. Aber Bildung ist nie ihre Stärke gewesen, geschweige denn Herzensbildung und Anstand. Hätte es sonst so etwas gegeben wie damals?“ Während er mit mir sprach, sah er sich mehrfach um, ein wenig ängstlich, suchend, so schien es mir. „Es ist nur“, entschuldigte er sich, „weil nicht jeder hier im Hause solche Reden gern hört. Wir müssen unsere Gedanken mitunter tief, sehr tief vergraben. Schon wieder, möchte ich sagen. Warum ich zu Ihnen, Herr Kommissar, dieses Vertrauen habe, ich gestehe, ich weiß es nicht. Aber wir kennen uns ja nun schon immerhin einige Jahre, nicht wahr? Ja, da wäre noch etwas. Vielleicht hilft es Ihnen. Sie sind nicht der erste, der sich nach dem Professor erkundigt. Da war heute schon einmal jemand hier – “ „Wer? Was wollte er?“ „Sehr allgemeine Fragen, Herr Kommissar. Woher der Professor käme, wie er aussehe, was er so tue und treibe. Der Herr zeigte mir einen Ausweis, aber ich habe mit meinen alten Augen gar nicht so schnell hinschauen können, wie er ihn wieder wegsteckte.“ „Und wie sah der Mann aus?“
„Ich muß überlegen. Sie haben recht, es war ein Mann, keineswegs ein Herr. Wenn ich mich recht erinnere, trug er eine Sonnenbrille, er hatte einen hellbraunen Sportmantel an, einen Wettermantel, Trenchcoat nennt man diese Art wohl.“ „So, so, und er hinkte, der Mann?“ Der Pförtner hob die Schultern: „Hinkte? Das habe ich nicht gesehen.“ „Schon gut.“ Kurz darauf saß ich im Hotelbüro dem Besitzer des Hauses gegenüber, einem gewissen Mellenthin. Gut fundiert war er. Besitzer einiger Weinberge, Miteigentümer eines kleinen Gutes mit Pferdezucht: Traber. Behäbig, ein leichtes Lächeln im Gesicht, saß er vor mir. Ich kannte ihn wenig, wußte aber, daß er bis zum Ende des Krieges in Haßleiten Stellvertretender Bürgermeister gewesen war. Die Amerikaner hatten ihn kurze Zeit in ein Lager für Nazis gesteckt, aber nach einigen Wochen nahm er wieder Besitz von seinem Hotel, seinem Gasthof, dem Anteil am Gut. Mellenthin hob fragend die Schultern. „Was soll ich dazu sagen, Herr Kommissar? Wir haben die Arbeit, das Geschmier wieder wegzubringen. Wer das war? Mein Personal kommt da nicht in Frage. Das habe ich im Zug. Wegen grober Sachbeschädigung würde ich da vorgehen. Aber die Gäste? Ich stehe nicht hinter jedem und laufe nicht jedem nach. Ist eben so, Herr Stadler, die Leute vergessen nicht, daß es Ihnen damals recht gut gegangen ist, und wäre nicht der Krieg gekommen – “ „Ist gut, Herr Mellenthin“, unterbrach ich ihn grob. „Ich will mit Ihnen nicht politisieren. Nur, die Sache ist hier doch mehr als nur grober Unfug oder Sachbeschädigung. Das ist Rassenhaß, ein sehr schweres Vergehen, nach dem Grundgesetz und dem Strafgesetzbuch wird das schwer geahndet. Wir müssen der Sache nachgehen.“ Der Hotelier lehnte sich stärker zurück, steckte den rechten Daumen hinter den Westenausschnitt und sog behaglich an
seiner Zigarre. „Herr Kommissar, ich bin zu allen Zeiten ein staatstreuer Mann gewesen. Ich sage immer: Die Obrigkeit bestimmt. Wer da oben sitzt, ist mir egal. Ich werde Sie nicht daran hindern, Ermittlungen anzustellen. Aber, bitte, lassen Sie mich und mein Haus ungeschoren. Am Ende kommt nichts als eine Geschäftsschädigung heraus, und für die müßte ich dann Sie beziehungsweise Ihre Behörde verantwortlich machen. Im übrigen – da es hier nun einmal solche Dinge gibt, sollte dieser Herr die Konsequenz ziehen. Ich bin Geschäftsmann. Ich habe auch Gäste, die sich aus einem solchen Gesicht gar nichts machen. Abreisen sollte der Herr Professor, das wäre mir das liebste und würde rasch alles aus der Welt schaffen. Schließlich – so nötig habe ich es auch nicht.“ Ich empfahl mich, betroffen und verwirrt. Diese Haltung des Hoteliers – als ob er mit den Schmierfinken sympathisierte. Mir ging noch einmal seine Vergangenheit durch den Sinn. Hatte mein Schwiegervater mir nicht erzählt, im „Schwarzen Adler“ gäbe es einen Stammtisch? Einen Treffpunkt der einstigen Größen von Haßleiten, die es zum großen Teil schon wieder zu Bedeutung gebracht hatten und die ihre braune Gesinnung oft genug dreist und offen zur Schau trugen? Ich wollte damals nichts davon wissen, meinte, das ginge mich nichts an. Jetzt ging es mich sehr viel an. Und es ekelte mich. Ich fuhr nach Hause. Meine Inge empfing mich mit dem Hinweis, daß mein Chef, der Amtsanwalt Köhler, angerufen und nachdrücklich nach mir verlangt habe. ,,Der liebe Chef“, lachte ich nur, „der muß Zeit haben. Er weiß doch, was mich beschäftigt.“ Inge hatte inzwischen von dem Autounfall mehr gehört, als ich ihr bei meinem kurzen Besuch vor der Fahrt nach Sternberg andeuten konnte. In Haßleiten brauchte man keine Zeitung, um das Neueste zu erfahren. „Ja, genau damit habe ich zu tun, und das weiß der Chef sehr
gut“, sagte ich. „Aber ich werde mich bei ihm melden, damit er beruhigt ist. Außerdem – es gibt da für ihn Neuigkeiten, Neuigkeiten! Ich sage nur, Haßleiten, unser ruhiges Städtchen, bietet schon was. Wäre es nur etwas Vernünftiges. Aber schön, nehmen wir das Telefon.“ Zuerst sprach ich noch einmal mit dem Hotelportier, aber Professor Malitz - war noch immer nicht zurück. Ich hinterließ, man möge ihn bitten, mich auf jeden Fall anzurufen. „Ja, unbedingt, und wenn es mitten in der Nacht ist.“ Dann wählte ich die Privatnummer des Chefs. Es war gut, daß ich bei diesem Anruf saß. Ich hatte mich in unserer winzigen Wohndiele, wo sich das Telefon befand, in einen Korbsessel gepflanzt. Was sagte da der Chef? „Herr Stadler, gut, daß ich Sie erreiche. Was haben Sie in der Sache bisher getan? Berichten Sie kurz.“ Ich tat dies, hörte ein tiefes Schnaufen, Räuspern, Husten. Mitten in meinem Bericht unterbrach mich der Chef: „Ist gut, Stadler, ich habe Überblick. Also Anweisung von höherer Stelle: Strampeln Sie sich nicht ab. Der Fall ist nichts für uns. Dazu sind wir viel zu klein. Machen Sie morgen im Dienst einen kurzen schriftlichen Bericht, den geben Sie mir. Damit ist die Geschichte für Sie und für uns abgeschlossen. Sollen sich andere damit ärgern.“ Wie gesagt, es war gut, daß ich saß. Ich sollte diesen Fall abgeben? Jetzt? Ich wandte ein: „Aber das geht doch nicht, Herr Amtsanwalt. Ich bin mitten in der Ermittlung, das ist eine halbfertige Sache. Es sieht nun wirklich nicht mehr nach einem Verkehrsunfall aus. Natürlich müssen wir die vorgesetzte Staatsanwaltschaft einschalten, möglicherweise die Mordkommission. Ich möchte aber auf jeden Fall dabeibleiben, ich stecke meinen Ehrgeiz hinein – “ Der Chef wurde ungeduldig, „Kommen Sie mir, bitte, nicht wieder mit Ihren Mordgeschichten. Es ist ein Verkehrsunfall, damit basta. Aber grade wenn es sich um ein Verbrechen han-
deln sollte, bitte, ich nehme das gar nicht an, aber selbst wenn, grade dann müßten wir den Fall an eine höhere Dienststelle abgeben. Das übersteigt unsere Möglichkeiten und unsere Kompetenzen. Also machen Sie’s, wie ich es Ihnen gesagt habe. Vor allem: in dieser Sache von Ihnen und uns aus keinen Schritt weiter. Lassen Sie mir auch diesen Herrn Mellenthin in Ruhe. Ich will nicht grade sagen, daß er sich beschwert hat, aber der Mann ist nicht ohne Einfluß und scheint mir hier irgendwie engagiert. Also gut. Und guten Abend.“ Schön sah ich nun aus. Aber wie immer in solchen Situationen, setzte ich mich zu meiner Inge und erzählte ihr alles. Ich mußte das loswerden. Mein Amtsanwalt hätte wahrscheinlich einen Ohnmachtsanfall bekommen, hätte er gewußt, daß ich nicht selten mit meiner Frau dienstliche Dinge besprach, aber ich brauchte das. Denn Inge war immer ein heller Kopf mit gesundem Verstand und Instinkt. Sie hörte sich alles an, fragte dies und das, sagte schließlich: „Ich habe den Eindruck, Richard, daß dahinter eine ganz üble Geschichte steckt und offenbar eine ganze Truppe. Einer allein kann gar nicht soviel Unfug stiften. Jetzt, da du hineingerochen hast und hinter einiges gekommen bist, will man dich fernhalten. Du sollst nicht alles wissen. Vergiß bitte nicht, du bist doch vorbelastet. Du würdest, so sagt man sich wohl, unter dem Eindruck des Schicksals deines Vaters manches anders sehen. Eine höhere Dienststelle soll den Fall übernehmen? Ich bin gespannt, was die unter Übernehmen versteht. Sage mal, welchen Eindruck hat eigentlich die Hakenkreuzschmiererei auf deinen Chef gemacht?“ „Auch das ginge mich nichts an. Er meinte, das gehöre offenbar zu dem ganzen Komplex. Außerdem solle ich so etwas nicht überbewerten, so drückte er sich aus.“ Wir überlegten beide, lange. Am Ende ergriff ich Inges Hand. „Ich glaube, ich habe mich bisher zu wenig darum gekümmert, wer bei uns im Staat zu bestimmen hat. Ich bin ja
kaum einmal wählen gegangen, und ich habe immer geglaubt, ohne Politik lebe man leichter. Jetzt kommt etwas, dem ich aus dem Wege gegangen bin, auf mich zu, und ich kann nicht mehr ausweichen.“ „Stimmt“, pflichtete Inge mir bei. „Leider bin ich nicht ganz ohne Schuld daran. Friedrich Stückers Tochter hätte dich öfter an die Hand nehmen müssen. Gelernt hat sie bei ihrem Vater zwar nicht allzuviel, aber dafür genug. Doch das kann man ja nachholen. Übrigens scheint mir, daß dein Chef ziemlich eingehende Weisungen bekommen hat. Jetzt hat er die Hosen voll, denn er möchte nicht, daß vor seiner Pensionierung noch etwas passiert, was sein volles Ruhegehalt und seinen Platz am Stammtisch der Honoratioren gefährdet. Ihm sind seine Hühnchen lieber als die ganze Kriminalistik. Der Mann kann einem eigentlich leid tun. Er ist ein kleiner Geist. Mitläufer nannte man so was früher.“ Die Nacht brachte mir wenig und unruhigen Schlaf. Dumme Träume ließen mich immer wieder hochschrecken. Einmal raste auf mich ein dunkles Auto zu, dessen riesige Räder Speichen aus Hakenkreuzen hatten. Am Steuer saß grinsend der Hotelier Mellenthin. Ich schrie, ich wollte zur Seite springen, war aber wie angenagelt. Das Auto gab einen schrillen Ton von sich – schweißnaß erwachte ich. In der Diele schrillte die Telefonglocke. Ich sah auf die Uhr. Es war die erste Stunde des neuen Tages. Inge berührte meinen Arm. „Richard, das Telefon. Hörst du?“ Ich brummte und schlurfte hinaus. Am anderen Ende der Leitung sprach Professor Malitz. „Sie entschuldigen, aber ich sollte doch auf jeden Fall – “ „Schon gut, Herr Professor. Es gibt da eine für mich und für die ganze Geschichte ungemein wichtige Frage zu klären. Sie sagten gestern, Sie erwarteten einen Herrn, einen Zeugen. Sie nannten mir nicht seinen Namen. Sagen Sie bitte, heißt der
Herr vielleicht Kreutziger? Alois Kreutziger? Und stammt er aus Sternberg, hier ganz in der Nähe?“ Es entstand eine Pause. Ich hörte den Professor tief atmen. Dann: „Ja, Herr Kommisar. Ich bin mit Herrn Kreutziger verabredet. Wie haben Sie das denn herausbekommen?“ „Das lassen wir erst einmal. Ich muß Ihnen da eine überraschende und leider nicht erfreuliche Tatsache mitteilen. Sie werden mit Herrn Kreutziger nicht zusammenkommen können.“ „Aber bitte, warum denn nicht? Er hat sich zwar verspätet…“ .Herr Kreutziger“, sagte ich langsam, „lebt nicht mehr. Er ist gestern bei einem Autounfall hier in Haßleiten tödlich verunglückt.“ Es entstand eine lange Pause. Der Professor ächzte. Dann hörte ich ihn sagen: „Das ist tragisch, Herr Kommissar. Das ist sogar entsetzlich. Ich weiß nicht, aber das kann meine ganze Mission in Frage stellen.“ Und nach einer neuerlichen Pause: „Ich weiß nun nicht mehr, was ich tun soll. Ein Autounfall, sagten Sie? Fuhr er denn einen Wagen? Ach so, er ist. überfahren worden. Ein sehr merkwürdiger Unfall zu dieser Stunde. Ein sehr merkwürdiges Deutschland. Sie verzeihen mir diese Bemerkung. Ich hatte ja noch ein Erlebnis, einen Zwischenfall – “ „Ich weiß, Herr Professor. Ich habe diese Flegelei in Augenschein genommen.“ „Der Hotelportier deutete mir so etwas an.“ Dann sagte mein nächtlicher Gesprächspartner sehr impulsiv: „Es geht nicht mehr anders, Herr Kommissar. Ist es zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, mich jetzt anzuhören? Ja, jetzt mitten in der Nacht.“ Ich dachte an das Hakenkreuz, an den gespreizten Herrn Mellenthin und seinen Stammtisch, mir gingen auch die Weisungen des Chefs durch den Kopf und die Worte meiner Inge.
Ich sagte: „Ich komme.“ Eine halbe Stunde später gingen wir durch die Nacht, der Professor aus Israel und ich. Wir spazierten zur Stadt hinaus, durchkreuzten mild atmende, duftende Weinberge. Ich aber sprach vom Tod des Alois Kreutziger, so, wie ich mir dieses Ereignis vorzustellen vermochte. Ich verschwieg nicht, daß mir die Untersuchung des Unfalls voraussichtlich aus der Hand genommen würde. Mit einer solchen Anordnung, so drückte ich es dem Fremden, dem Außenstehenden gegenüber aus, müßte wenigstens gerechnet werden. Professor Malitz aber erzählte seine Geschichte, die Geschichte vom Mord an seinem Freund Professor Rainer Schlegel. Bomben und Feuer fielen seit Wochen auf die Stadt Berlin. Professor Malitz halte seinen Freund Schlegel in dessen Institut in Dahlem aufgesucht. Sie saßen beisammen in einem der Zerstörung noch entgangenen Raum. „Wir sollten versuchen fortzukommen, Rainer. Es ist sinnlos. Laß uns die Erlaubnis erwirken, das Institut zu verlegen, in irgendeine kleine Stadt zu gehen, fernab der großen Straße. Dort werden wir überleben. Später, nach dem Krieg, werden wir doch gebraucht.“ Schlegel sah ihn aus zornigen Augen an. „Und unsere Aufgaben? Unsere Studenten? Und unsere Pflicht? Deine und meine Freunde haben auch ein Recht auf uns. Seit Bohlen verhaftet ist, seit Anna Kreis hingerichtet wurde, liegt auf uns noch größere Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und zu verbreiten, so gut es uns immer möglich ist.“ Es war eine harte, eine langwierige Auseinandersetzung, und sie war sinnlos. Längst war ihre Umsiedlung von den Behörden beschlossen, und sie kam dann so rasch, daß sie ihre Freunde nicht mehr benachrichtigen konnten. Als Malitz wenige Tage später – Schlegel würde nachkom-
men – in der Bahn saß, um nach einem gewissen Städtchen Haßleiten zu fahren, war er von tiefer Sorge und finsteren Ahnungen fast erdrückt. Das Gespräch, das dem Umzug vorangegangen war, verließ ihn nicht. Es hatte zwischen ihm und dem Rektor der Universität stattgefunden. Aber da war auch noch ein Dr. Freyer dabeigewesen. Dieser Freyer hatte sich an den Kamin gelehnt, bisweilen war er mit den schlanken, weißen Händen über die schwarze Uniform gefahren, als wolle er sie streicheln. „Es gibt nicht viel zu sagen“, hatte dann dieser Freyer geschnarrt. „In Berlin ist Ihre Arbeit gefährdet. Wir brauchen Ergebnisse, und die sind in dieser Unruhe nicht zu erwarten. Zudem – ich weiß, daß Sie beide keineswegs loyal sind. Wir möchten nicht, daß Sie zuviel Verbindung mit anderen Leuten bekommen. Als Lehrer sind Sie in dieser Zeit ungeeignet. Aber die Aufträge, die Sie hatten, erst recht die, die Sie erwarten, sind äußerst wichtig. Jetzt brauchen wir von Ihnen einige zusätzliche Arbeiten für eine neue, vielleicht entscheidende Waffe. Einer unserer Mitarbeiter, ein Dr. Schmidt, wird Ihnen die notwendigen Unterlagen nach Haßleiten bringen und dort bleiben, bis Ihre Arbeiten abgeschlossen sind.“ Freyer lächelte überlegen. „Dieser Dr. Schmidt soll sich bewähren, er hat sich einmal etwas zuschulden kommen lassen. Seien Sie sicher, er wird sich bewähren.“ Malitz schüttelte sich. Seit Jahren ließen sie sich für eine Wahnsinnsrüstung mißbrauchen, um dem Kreis der Freunde mit Informationen dienlich sein zu können. Jetzt kam etwas Neues, sicher noch Schlimmeres auf sie zu. Für diese Arbeit hatten sie nicht mehr die Entschuldigung, daß sie ja auch den Freunden damit halfen. Der Überwacher würde es ihnen unmöglich machen, ihre Verbindungen aufrechtzuerhalten. Dann kam dieser Schmidt nach Haßleiten. Einen Tag nach Schlegel. Auf seinen fahlen Wangen blühten Finnen und Sommersprossen, in den Augen hockten Kälte, Verschlagenheit und Zynismus. „Wann haben Sie Geburtstag,
Schlegel?“ fragte er einmal. „Am 20. September? Dann werden Sie genau sechsundvierzig Jahre alt. Ein schönes Alter. Danach ist Feierabend. Bis dahin ist die Geschichte hier nämlich fertig. Experiment geglückt und – ganz nebenbei – Schmidt rehabilitiert. Der Rest für Sie ist Schweigen.“ „Der nur Lucius heißen mag“, sagte Schlegel später einmal zu seinem Freund Malitz in ihrem Quartier, ehemals ein Verwaltungsgebäude der landwirtschaftlichen Genossenschaft des Kreises. „Er sollte Luzifer heißen, denn er ist ein Teufel, ein widerlicher Schnüffler, ein Kerl ohne Benehmen. Ich bekomme Erbrechen nur bei seinem Anblick.“ Dieser Schmidt, der die Verbindung nach Berlin hielt, kam eines Tages von dort zurück. „Alles nur Vorgeplänkel gewesen“, sagte er. „Jetzt geht’s erst richtig los. Bitte – “ er entnahm seiner Aktentasche, deren kompliziertes Schloß er umständlich geöffnet hatte, einen dicken Briefumschlag…Hier ist es. Auf der Grundlage Ihrer bisherigen Arbeit geht’s weiter. Aber in neuer Richtung. Vor allem eins: Termin für den Abschluß ist der 27. August. Rührt euch!“ „Die Wissenschaft läßt sich nur schwer befehlen“, wendete Malitz ein. Lucius Schmidt ging auf den Gelehrten zu: „Sie läßt sich, Professor, sie läßt sich. Zur Erinnerung. Haßleiten ist ein idyllisches Städtchen, beinahe ein Kuraufenthalt. Bei Berlin aber gibt es ein Lager, das alles andere ist als ein Kuraufenthalt. Fragen Sie einmal einige Ihrer Freunde, die es kennen. Und da sagen Sie, die Wissenschaft ließe sich nicht befehlen? Meine Herren, ich bin Volljurist. Ich könnte Ihnen erzählen, was sich alles befehlen läßt.“ Als Dr. Schmidt gegangen war, machten sich die Wissenschaftler über die Papiere. Schlegel sprach dann als erster. „Nun wissen wir es, sie können versuchen, es zu verschleiern, wie sie wollen. Wir sollen Anteil haben an einem gemeinen Verbrechen.“
Malitz nickte. „An einer Waffe, die allen, so sagt man wohl, Kriegsregeln widerspricht. Zweifellos geht es um ein äußerst gefährliches Gas.“ „Wir dürfen das nicht tun, und wenn wir das Letzte wagen. Nutzen wir die drei Wochen nicht für diese Arbeit, sondern dafür, einen Ausweg zu finden.“ Doch auch nach vielen Tagen des Grübelns wußten sie nicht, was geschehen sollte. Manch Plan wurde erörtert und wieder verworfen. Den Gedanken an Flucht wies Schlegel zurück. Er sah seine Pflicht darin, in Deutschland zu bleiben. Die Chancen zu entkommen waren überdies gering. „Beziehen wir Alois Kreutziger mit ein“, meinte Malitz eines Tages. Alois Kreutziger war der Mann, der sie im Hause betreute, Besorgungen machte, die Heizung wartete und ständig für warmes Wasser sorgte. Kreutziger war von Hause aus Bankfachmann, jedoch aus seiner Stellung entlassen worden, weil er sich den braunen Herren als einst rühriger Gewerkschafter mißliebig gemacht hatte. Manche Bemerkung, manch gutes Wort gaben den Professoren Anlaß zu glauben, daß Kreutziger die Braunen verwünschte, den Schmidt gar haßte. Sie sprachen mit Kreutziger, und dieser verstand sie sofort. Er kratzte das dunkle Haargestrüpp und schien angestrengt nachzudenken. „Berlin ist weit“, sagte er schließlich, „aber da ist dieser Schmidt, dieses Reptil. Sie beide dürfen keinesfalls etwas unternehmen, vielleicht aber fällt mir etwas ein. Ich könnte so manche noch offene Rechnung begleichen. Ich habe viele Freunde verloren.“ Anderen Tags meinte er: „Machen Sie sich keine Sorge um den Termin. Bis dahin habe ich längst einen Einfall.“ Und wieder nach einer Woche: „Es wird etwas geschehen.“ So kam die Nacht zum 24. August. Dr. Schmidt war nach einer seiner üblichen ausgedehnten Zechtouren gegen elf Uhr nach Hause gekommen, hatte sein Zimmer polternd gefunden, dort die Stiefel knallend auf den Boden geworfen und endlich
Ruhe gegeben. Alois Kreutzigcr hockte im Keller neben der Heizung, eine Zeichnung der Warmwasseranlage vor sich auf den Knien. Schließlich warf er das Papier in den Kessel, drehte und schraubte an den Rohrverschlüssen, ließ dicke, starke Ströme des Heizöls in die Brennkammern laufen. Die beiden Freunde saßen im ersten Stock in ihrem Labor. Sie warteten auf Kreutziger, der kommen und sagen würde: Es ist soweit, eilen Sie in den Garten. Eine bange Stunde verging. Dann hörten die Bewohner von Haßleiten, die noch wach waren, eine dumpfe Explosion, sahen die Flammen, die aus dem Hause schossen. Im roten Schein des Feuers aber standen sich nun gegenüber der bebende Professor Schlegel und der sommersprossige Schmidt. Jener in flackernder Erregung, dieser noch schnapsdunstig, glasigen Auges, wütend und mißtrauisch. „Das kommt Ihnen sicherlich grade recht, Professor.“ Der Schmidt fuchtelte mit einem angekohlten Stecken in der Luft herum. „Sehr merkwürdig, das muß ich schon sagen.“ Er wurde unterbrochen. Ein Mann der Feuerwehr trat hinzu. „Der Kessel im Keller ist in die Luft gegangen. Wir haben ihn schon früher beanstandet. Er ist nie richtig in Ordnung gewesen. Es gibt aber noch einen zweiten Brandherd im ersten Stock. Wie der entstanden ist, wissen wir noch nicht.“ „Wir aber wissen es“, grinste Schmidt und sah Professor Schlegel durchdringend an. „Was dann kam“, so sprach Professor Malitz in den erwachenden Morgen, der uns wieder auf dem Rückweg nach Haßleiten sah, „das ist kurz erzählt. Schmidt ließ meinen Freund festnehmen. Eine Rotte Schwarzuniformierter nahm ihn mit fort. Kreutziger und ich, wir konnten uns unter die Leute mischen, die neugierig herbeigeeilt waren. Aus einiger Entfernung sahen wir, wie mein Freund abgeführt wurde. Da zogen wir uns ins Dunkel zurück. Wir konnten entkommen.
Die wissenschaftlichen Unterlagen, an denen wir arbeiten sollten, hatte ich mitgenommen. Ich habe sie später vernichtet. Alois Kreutziger brachte mich bei einem Freund unter. Der verhalf mir später zur Flucht ins Ausland. Kreutziger selbst ging rasch zur Brandstätte zurück und half beim Löschen. Er trug eine Anzahl Brandwunden und eine geringe Rauchvergiftung davon. Er wurde ins Krankenhaus gebracht und war außer Verdacht. Den zweiten Brandherd hatte übrigens mein Freund angelegt, ehe wir in den Garten gingen, Das war ein großer Fehler. Sonst hätte man uns nie etwas nachweisen können. Und die Unterlagen wären selbstverständlich verbrannt. Wir hätten nichts dafür gekonnt. Schlegel ist, wir mir später bekannt wurde, nach einem hinter verschlossenen Türen geführten Prozeß hingerichtet worden. Der ihn denunzierte und als Hauptzeuge in dem Verfahren fungierte, war dieser Dr. Lucius Schmidt. Nach dem Kriege konnte ich wieder Verbindung mit Kreutziger aufnehmen. Er hatte noch ein Jahr in einem Konzentrationslager zubringen müssen. Dort war er Schmidt wiederbegegnet. Er hat selbst miterlebt, wie durch Schmidts Schuld ein Häftling ums Leben gekommen ist. Andere Fälle kennt er vom Hörensagen. Kreutziger nutzte die ersten Jahre nach 1945, er forschte, suchte, ja, und nun ist es soweit. Er hat Schmidt gefunden, und ich bin hier, um mit dem Finger auf den Mordanstifter zu weisen, um Gerechtigkeit zu fordern.“ „Und – “ fügte ich hinzu, „Alois Kreutziger sollte Ihr Tatzeuge, Ihr Kronzeuge sein.“ „Gewiß. Er war der einzige, der außer mir alles miterlebt und mitangesehen hat.“ Professor Malitz blieb abrupt stehen, ergriff meinen Arm. „Herr Kommissar, denken Sie, was Sie wollen. Aber ich glaube an keinen Zufall, glaube nicht an ein Autounglück. Der Schmidt kriecht wieder im Lande umher, er und seinesgleichen. Unsere Anklage hätte, so mußten sie be-
fürchten, einen Rattenschwanz weiterer, wahrscheinlich noch ernsterer Beschuldigungen zur Folge gehabt.“ „Kreutziger war, das habe ich von seiner Wirtin erfahren, offensichtlich einen Tag vor Ihrer Ankunft in der Kreisstadt. Ob er nun – “ Malitz sah mich bekümmert an. „Also doch. Er hatte mir so etwas in seinem letzten Brief geschrieben. Er wollte dem Schmidt seine Verbrechen ins Gesicht schreien. Ich warnte ihn, er solle meine Ankunft abwarten. Aber es war wohl zu spät. Er hatte den Schmidt wiedergefunden, hier in der Kreisstadt, in höherem Amt, in juristischer Funktion. Je mehr ich darüber nachdenke, desto eher wird mir zur Gewißheit, daß dieser Schmidt – “ Ich erhob Einspruch. „Langsam, Herr Professor. Voreilige Schlüsse sind der Tod jeder Prüfung, Ich kenne in der Kreisstadt nur einen Juristen, der Schmidt heißt, Dr. Schmidt. Geht es um diesen, so sprechen Sie von einem verantwortlichen Beamten unseres Landes. Natürlich gibt es viele Schmidts. Der mir hier gut bekannte ist ein tüchtiger und geachteter Mann. Er ist leitender Staatsanwalt.“ „Meinetwegen. Was aber soll nun werden? Sie sollen die Angelegenheit Kreutziger nicht weiter verfolgen. Sie sehen aber, wie eng verquickt sie mit meinem Anliegen ist. Ich habe vor, wieder abzureisen.“ „Das können Sie nicht tun, Herr Professor“, widersprach ich. „Nun erst recht nicht. Ich denke nicht daran, den Fall abzugeben. Noch heute werde ich mit meinem Vorgesetzten darüber sprechen.“ Wenige Stunden später saß ich Amtsanwalt Köhler gegenüber. Ich war durch abwechselnd heiße und kalte Duschen und ein kräftiges Frühstück äußerlich erfrischt. Köhler wirkte auf mich fahrig und nervös. Die höhere Dienststelle hatte sich offenbar weiter bemerkbar gemacht. Der Amtsanwalt spielte ganz gegen seine Gewohnheit mit der
Bleistiftparade und brachte ihre abgestimmte Reihe durcheinander. „Ich habe Ihnen gesagt“, begann er leise, „lassen Sie die Geschichte auf sich beruhen. Das nehmen andere in die Hand. Da Sie mir versichern, daß das Vorhaben dieses Professors Malitz damit zusammenhängt – und ich zweifle nicht daran – , dürfte diese Anweisung auch dafür zutreffen. Selbstverständlich auch die Vorgänge im Hotel.“ Köhler nahm einen Schluck Gesundheitstee. Die Hand, die die Tasse führte, zitterte, ein kleines Teerinnsal lief au£ dem rechten Revers seines Rockes hinunter. Er setzte seine erloschene Zigarre wieder in Brand, abermals zitterte die Hand, und er schob den massigen Oberkörper über die Schreibtischplatte, näher zu mir: „Lieber Freund, lassen Sie sich doch nicht von solch einem Ehrgeiz befallen. Was haben Sie, was haben wir davon? Mögen sich andere einen Splitter einreißen.“ Nach einer kleinen Pause zog er eines seiner gelben Blätter aus dem Schreibtisch. „Hier, befassen Sie sich mit Hühnerzucht. Das ist interessant und dankbar. Das lenkt von unlogischen Gedankengängen ab. Hühner verlangen Logik, Sorgsamkeit, bedächtiges Handeln, besonders Zwerghühner. Bedenken Sie vorher: Nehme ich Urzwerge oder Zwerghuhnrassen? Nehme ich Chabos, Antwerpener, oder liebe ich mehr Andalusier und Hamburger. Urzwerge sind übrigens possierlich…“ „Herr Amtsanwalt“, unterbrach ich ihn unwillig, „natürlich muß ich eine dienstliche Weisung befolgen. Ich bitte aber zu verstehen, daß mich auch andere Motive zum Handeln drängen. Ich sprach früher einmal mit Ihnen darüber, und es steht ja wohl auch in meiner Personalakte. Meine Eltern sind einer ähnlichen Justiz oder wie man solche Verfahren nennen soll, zum Opfer gefallen. Das lastet auf mir. Ich habe jahrelang versucht, es zu vergessen, und wahrscheinlich viel zuwenig daran gedacht. Jetzt bricht alles wieder auf. Allein der Gedanke, daß solche Richter, solche Staatsanwälte immer noch das sprechen dürfen, was sie Recht nennen! Herr Amtsanwalt,
Sie kennen doch auch das Wort von den Blutrichtern – oder nicht?“ „Halt!“ Der Amtsanwalt hatte das gelbe Blatt vom Tisch gewischt und sich jäh aufgerichtet. „Halt, Herr Stadler. So dürfen Sie nicht weitersprechen. Sie reden hier von einem, von vielen höheren und höchsten Beamten unseres Landes. Sie machen sich die merkwürdigen, in keiner Weise nachgeprüften und sicher auch nicht nachprüfbaren Erzählungen dieses hergelaufenen Ausländers zu eigen. Sie verbreiten hier sowjetzonale Propagandageschichten. Sie gehen einen gefährlichen Weg. Gefährlich für Sie. Gerade der Hinweis auf Ihre Eltern ist angebracht. Diese Vergangenheit belastet Sie. Daß ich bisher darüber hinweggegangen bin, daß dies auch von unseren vorgesetzten Dienststellen so gehandhabt wurde, sollte Sie nicht zu falschen Schlüssen kommen lassen. Finden Sie sich, ich müßte sonst…“ Köhler vollendete seinen Satz nicht. Auf seinem Schreibtisch läutete das Telefon. Er sank zurück in seinen Sessel, wischte sich erneut die Stirn mit einem großen Tuch, griff schließlich zum Hörer, meldete sich. Eine harte Stimme drang aus der Muschel, aber ich verstand nichts. Ich glaubte nur einmal, meinen Namen zu hören. Köhler hatte eine dienstliche Haltung eingenommen. Mir schien, hätte er es im Sitzen vermocht, er hätte seine Hände an die Hosennaht gelegt. Schließlich sagte er: „Jawohl, Ende!“ und legte auf. Dann sah er mich mit durchdringendem Blick an. „Da haben wir es schon. Sie fahren sofort in die Kreisstadt und übergeben alles, was Sie an Protokollen und sonstigem haben. Ich denke, es wird auch Ihre Lage erleichtern, wenn Sie eine kurze Aktennotiz über das hinzufügen, was Ihnen dieser komische Professor erzählt hat. Sicherlich würde man darin Ihre Loyalität erkennen.“ Leokardia Kästner sprang, wie von einer Sehne abgeschossen, in ihren Stuhl, als ich ihr Arbeitszimmer betrat, die Tür zum Amtszimmer Köhlers hinter mir schließend. Ich lachte
sie laut aus. „Aber liebes Fräulein Kästner, Schlüssellöcher führen Zugluft. Das kann für Auge und Ohr sehr schädlich sein.’’ Die Sekretärin sah mich giftig an…Machen Sie lieber, daß sie zur Kreisstadt kommen. Sie sollen sich bei Herrn Oberrat Schlumm einfinden.“ „Sagen Sie, Fräulein Kästner’, ich zeigte mein verbindlichstes Lächeln, „unser Amtsanwalt, wie hieß er doch gleich mit Vornamen? Komisch, nicht? Ich habe mir kaum einmal darüber Gedanken gemacht. War es nicht etwa Theo?“ Die Kästner sah mich entrüstet an. „Theo! Theobald heißt der Chef. Der Herr Amtsanwalt lieben keine Abkürzungen.“ Ich wiegte den Kopf. „Theobald, wirklich schön. Ich habe nämlich eine Schwäche für seltene Vornamen. Es gibt da so einige: Theobald, Leokardia, Lucius – “ Dann knallte ich die Tür von draußen zu. Oberrat Schlumm war ein strammer Fünfziger, groß und schlank. Auf seinem Halse saß ein schmaler Kopf mit meliertem, glattgekämmtem Haar, mit grauen, lebhaft dreinblickenden Augen. Ich durfte vor ihm sitzen, während er an seinem Schreiblisch saß, flüchtig in den Papieren blätterte, die ich mitgebracht hatte. Auf seinem Schreibtisch lagen auch zwei Päckchen, ein größeres und ein kleineres – die Kleidungsstücke und sonstigen Habseligkeiten des bei einem Verkehrsunfall in Haßleiten unglücklich ums Leben gekommenen Alois Kreutziger aus Sternberg, dreiundsechzig Jahre alt, zu Lebzeiten Kassierer der dortigen Sparkasse. „Sie sind in der kurzen Zeit sehr fleißig gewesen, Herr Kommissar“, sagte Schlumm, sagte es fast nebenher. Es sprach keine Anerkennung daraus. „Ich habe mir Mühe gegeben, Herr Oberrat.“ „Nun ja, das ist jetzt für Sie erledigt. Sie wissen, der Fall ist abgegeben.“
„Das ist mir bekannt. Eigentlich etwas ungewöhnlich“, wandte ich ein, „für einen Verkehrsunfall soviel Aufwand? Ich entnehme Ihren Worten, daß auch Ihr Amt die Untersuchungen nicht weiterzuführen beabsichtigt?“ Die grauen Augen sahen mich erstaunt an. „Das braucht Sie nicht zu kümmern, weder das eine noch das andere. Auch wir sorgen uns nicht darum. Es hat sich eine andere Dienststelle eingeschaltet.“ Ich beeilte mich zu sagen: „Die Aktennotiz über die Mitteilungen des Professors Malitz, darauf würde ich Wert legen, sollte bei uns verbleiben beziehungsweise hier im Amt.“ Schlumm verneinte. „Grade diese Notiz ist es, die das Interesse der von mir erwähnten Dienststelle erregt.“ „Aber man konnte doch gar nicht wissen – “ Schlumm lächelte. „Man weiß, und wir wissen auch. Im übrigen gebe ich Ihnen dienstlich einen guten Rat. Vernehmungen führt man nicht bei nächtlichen oder frühmorgendlichen Spaziergängen.“ „Das war keine Vernehmung. Professor Malitz hat – “ „Lassen Sie mich ausreden. Vernehmungen macht man in seinem Dienstzimmer, am Tatort, vor allem in Zeugengegenwart. Dann wird ein Protokoll angefertigt, das beide Seiten unterschreiben. Ich sage das zu Ihrer Gedächtnisauffrischung.“ Damit ging er einem kleinen schlanken Mann entgegen, der in diesem Augenblick das Zimmer betreten hatte. Dieser Mann lief eilends zu einem Stuhl, der am Fenster stand, setzte sich nach kurzer Verbeugung. Durch die Scheiben brannte die grelle Sonne. Das Gesicht des Mannes lag in tiefem Schatten. In kurzer Amtshandlung wurden Akten und Gegenstände übergeben. Ein vorbereitetes Protokoll darüber wurde von dem Mann und von mir unterschrieben. Ich mußte zuerst unterzeichnen. Eine Dienststelle, die das Ganze übernahm, war in dem Pro-
tokoll nicht genannt. Dann ging der Fremde nach einer neuerlichen Verbeugung zu Schlumm hinaus. Ich sah ihm nach. Die Sonne schien hell auf seinen Rücken. Er ging schnell. Zog er nicht ein wenig den Fuß nach? Aber das bildete ich mir wohl nur ein. Schlumm indessen ließ mir keine Zeit zum Überlegen. „Ich wiederhole, Kommissar Stadler, die Angelegenheit ist nunmehr für Sie abgeschlossen. Auch um diesen Ausländer, diesen Malitz, bemühen Sie sich nicht mehr. Ich gebe Ihnen den guten Rat, auch keine privaten Beziehungen zu dem Mann aufzunehmen. Die Anschuldigungen, die er gegen unseren Staatsanwalt Dr. Schmidt erhebt, sind natürlich aus den Fingern gesogen. Herr Dr. Schmidt ist beispielsweise in seinem ganzen Leben nie in seiner Eigenschaft als Jurist in Haßleiten gewesen. Er hatte zu dieser Zeit seinen Dienstsitz in Berlin. Das mag genügen. Wir werden uns mit allen zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mitteln dagegen wehren, daß ein in Vergangenheit und Gegenwart geachteter Beamter, der damals wie heute für sein Vaterland eintreten wird, von einem hergelaufenen Fremdling in den Dreck getreten wird. Wir erwägen übrigens die Ausweisung des Malitz. So, das wär’s. Gehen Sie nun bitte an Ihre Dienstobliegenheiten. Ich werde Kollegen Köhler gelegentlich über unsere Unterredung informieren.“ Ich aber ging nicht. „Wünschen Sie noch etwas?“ Die grauen Augen blickten starr und ein wenig spöttisch. .Herr Oberrat, ich muß gestehen, daß mir die Behandlung dieses Falles nicht zusagt. Ist es ein Verkehrsunfall, gut, so wäre es bei uns in richtigen und guten Händen. Nunmehr liegt aber die Annahme nahe, daß mehr dahintersteckt. Bitte, Herr Oberrat, unterbrechen Sie mich nicht. Sie wollen anweisen, daß ich jeglichen, auch jeden privaten Umgang mit dem Professor unterlasse. Malitz ist meines Wissens kein Krimineller.
Ich kann mir also in diesem Fall meine Handlungsweise außerhalb des Dienstes nicht vorschreiben lassen.“ Schlumms Augen hatten sich anfangs geweitet, nun hatte er sie zusammengekniffen. Ich spürte den Atem des Mannes. Er roch nach Eukalyptus, und das mag ich nicht. Er sagte: „Kommissar Stadler, ich gebe Ihnen zum letztenmal die dienstliche Anweisung, das, was ich bereits gesagt habe, zu beachten. Sie haben sich um die Geschichte in keiner Weise zu kümmern, weder dienstlich noch privat. Der Fall wird, damit Sie es genau wissen, im Interesse des Staates beerdigt.“ „Herr Oberrat“, wiederholte ich, „ich lasse mir von keiner Dienststelle meinen privaten Umgang vorschreiben, soweit er nicht ehrenrührig ist oder mich in meiner Dienstausübung behindert. Ihre Mitteilung, der Fall solle beerdigt werden, verzeihen Sie mir, muß ich als Bestätigung meiner Vermutung ansehen. Diese heißt: Die Erklärungen des Professors Malitz haben einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit und – Alois Kreutziger war einigen Leuten im Wege.“ Schlumm hatte sich längst wieder gesetzt. Nervös griff er nach seinem Zigarettenetui, entnahm ihm eine Zigarette, aber die erregten Hände zerkrümelten sie, streuten den Tabak auf die Erde. „Kommissar Stadler – “ brüllte er. Doch ich fuhr fort: „Ich werde nur noch wissen müssen, wer wann erfahren hat, daß Malitz und Kreutziger verabredet waren und zu welchem Zweck. Dann, Herr Oberrat, werde ich erneut vor Sie treten und entweder harte Beweise auf den Tisch legen, oder ich ziehe die Konsequenzen.“ Ich sah, wie Schlumm, noch immer vor Erregung zitternd, die Hände hob, ich hatte den Eindruck, als wollte er mir an die Kehle gehen. Aber er sagte nur heiser: „Ist Ihr Vater nicht hingerichtet worden? Wegen Hochverrats und staatsfeindlicher Umtriebe?“ „Mein Vater hat auf seine Weise gegen die gekämpft, die Menschenrecht in Blut ersticken wollten. Leider hatte sein
Sohn bisher wenig Mut dazu. Ich betone: bisher!“ „Danke,“ sagte Schlumm kurz. Er wandte sich rasch ab, wählte eine Nummer, preßte den Telefonhörer ans Ohr. Fast tonlos sprach er: „Ist der Herr noch im Hause? Gut, halten Sie ihn zurück. Sagen Sie ihm bitte, ich müßte ihn noch einmal sprechen.“ Dabei sah mich Schlumm an, kalt und freundlich. Er lächelte. Ich aber machte eine kurze Verbeugung und ging. Vor dem Amtsgebäude stand ein dunkler Personenwagen. Der Mann, den ich bei Schlumm gesehen hatte, stand daneben. Er verstaute gerade eines der beiden Pakete auf dem Rücksitz. Ich ging um das Auto herum, sah es mir an. Die Blicke des anderen folgten mir. An der Front des Wagens bückte ich mich, fuhr mit der Hand über den Lack und über die Stoßstange. Es war nichts Besonderes daran. Jetzt stand der Mann neben mir. „Suchen Sie etwas, Kommissar?“ „Nein. Es war eine dumme Annahme von mir. Sie werden es nicht nötig haben, zweimal denselben Wagen zu benutzen.“ Der Schlanke lachte kurz auf. „Ich habe Leute gekannt“, sagte er, „die viel wußten, zu viel. Aber wenn ich mich recht erinnere, ist keinem, von ihnen nachher sehr wohl gewesen.“ Dann ging er langsam auf das Amtsgebäude des Kreisgerichts zu und verschwand hinter dessen hoher Pforte. Neben dieser mit Schnitzereien und kunstvoll geschmiedetem Eisen verzierten Tür stand der Portier. Er sonnte sich, rauchte seine Pfeile. Ich trat an ihn heran. „Sagen Sie, Schindler, wie war das am 22. August? Können Sie sich besinnen, ob in der Mittagszeit dieses Tages ein Mann nach Staatsanwalt Dr. Schmidt gefragt hat?“ Schindler dachte nach. „Wie soll der Mann ausgesehen haben?“ „Groß, dunkelhaarig, etwa Anfang sechzig, heller Mantel,
dunkler, fein gestreifter Anzug, ohne…“ „Auf den kann ich mich besinnen. Dienstag war es. Der 22.? Kann sein. Es war an diesem Tag nicht viel los, darum fiel er mir auf. Er war ziemlich aufgeregt. Ja, der hat nach Dr. Schmidt gefragt, ilst auch hinaufgegangen.“ Schindler trat dicht heran. „Unter uns, Herr Kommissar, muß da oben dann einen schönen Krach gegeben haben. Bräuer, Sie wissen doch, der Bürobote, hat es erzählt. Schmidt soll wie ein Stier gebrüllt haben. Der Mann ist dann nach einer Viertelstunde etwa gegangen. Wahrscheinlich hat ihn Dr. Schmidt hinausgeworfen. Da ist er ja nicht fein. Wenn er auch sonst nicht besonders mutig ist, wie man sagt. Ehrlich, ich mag ihn nicht recht.“ Nach Haßleiten zurückgekehrt, wollte ich meinem Vorgesetzten von der Auseinandersetzung mit Schlumm berichten, ihm meine weiteren Vermutungen mitteilen. Diese Absicht ließ sich nicht verwirklichen. Leokardia Kästner begrüßte mich noch abweisender, als sie mich verabschiedet hatte. „Der Chef, ist nicht mehr im Hause. Ich glaube auch nicht, daß er Sie zu sprechen wünscht. Sie sollen aber dann am Nachmittag zu ihm kommen, hat er gesagt. So um sechzehn Uhr, bitte, aber seien Sie pünktlich.’’ Ich ging um ihren Schreibtisch herum, sah dort unter Zeitungen ein Schriftstück hervorlugen. Ich zog es hervor, las. „Sie haben offensichtlich zuwenig zu tun. Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen den Auftrag gegeben zu haben, von der Aktennotiz über Professor Malitz eine Abschrift anzufertigen. Von wieviel Dienststellen werden Sie eigentlich bezahlt, Fräulein Kästner? Ich finde, Ihre Kenntnisse breiten sich so überraschend schnell aus.“ Die dürre Leokardia wurde blutrot bis in die Haarwurzeln. Ehe sie indessen irgendeine Dreistigkeit hervorpressen konnte, war ich hinaus. Durch die geschlossene Tür hörte ich das Klirren von Scherben. Es war wohl ein Blumentopf auf die
Erde gefallen. Zunächst fuhr ich nach Hause und erzählte meiner Inge von dem Zusammentreffen mit Oberrat Schlumm. Inge lächelte und runzelte die Stirn. Das sah lustig aus. „Mein Mann wird politisch, erstaunlich, erstaunlich. Ich denke nur, du wirst dich allmählich nach einem anderen Beruf umsehen müssen, nach einem, den du nicht gerade in dem lieblichen, friedlichen Haßleiten oder seiner Umgebung ausüben mußt. Ein wahres Glück, daß du noch einen gelernt hast.“ „Berufswechsel? Das möchte ich nicht, ich liebe doch meinen jetzigen Beruf. Wärst du denn damit einverstanden?“ „Du bist immer noch ein wenig naiv, Richard. Eine geborene Stücker macht selbstverständlich mit. Zuvor möchte sie aber, daß ihr großer Richard zu diesem Professor Malitz geht. Man sollte ihn, denke ich, vorbereiten auf das, was auf ihn zukommen mag.“ „Und was sollte man sonst tun?“ „Man sollte mit Friedrich Stücker, meinem Vater, reden. Er hat mitunter gute Einfälle.“ Nach diesem Gespräch fuhr ich zum Hotel „Schwarzer Adler“, anschließend zu Friedrich Stücker. Die Begegnung mit Professor Malitz war kurz. „Ich habe nun beinahe so etwas erwartet“, sagte der Gelehrte. „Ihr Eifer, das ist etwas, was gewissen Leuten auf die Nerven geht. Aber was soll es mit der Ausweisung? Ich bin längst bereit, dieses Land zu verlassen, dieses Land, in dem ein Mann wie ich kein Recht suchen kann, weil es keines für ihn gibt. Ich weiß, Herr Stadler, Sie sind von diesem Unwesen hier, insbesondere von der Verkommenheit in der Justiz Ihres Staates, nicht so sehr überzeugt oder noch nicht. Vielleicht meinen Sie, ich sei nur verärgert, vielleicht halten Sie mich auch für spinnert oder deppert, wie man das hier nennt. Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Bemühungen, für Ihre menschliche Haltung. Ich sehe dem Kommenden mit Ruhe entgegen. Jetzt, da
die dekorative Malerei an meiner Zimmertür erneuert wurde…“ „Was? Man hat es gewagt?“ „Es ist kein Wagnis. Hier nicht. Zu Schmidt stehen viele, gegen den einen anzukämpfen ist zwar gut und notwendig, es reicht aber nicht aus. Das habe ich hier gelernt. Der Hotelbesitzer tut übrigens wieder so, als müsse er zu der Schmiererei eine böse Miene machen. Er spricht von dem ,guten Lack’ und dem widerlichen Teergeruch der Farbe. Es gibt viele Leute, die die Vergangenheit aufleben lassen wollen.“ Der Professor gab mir die Hand. „Ich glaube, jetzt muß ich Ihnen Mut zusprechen. Aber es geht nicht nur um Mut. Es geht um Erkenntnisse.“ Friedrich Stücker sprach auch von Erkenntnissen…Die Gewerkschaftsmitglieder müssen endlich begreifen, daß ihnen dieselben Herrn im Nacken sitzen wie einst. Dein Fall, mein Junge, ist bestens geeignet, dabei etwas nachzuhelfen. In zwei Tagen ist Versammlung. Es ist die turnusmäßige, sie ist immer recht gut besucht. Die Landarbeiter, die Weinarbeiter, die Männer und Frauen aus dem Holz, die von den Mühlen, unsere Gaswerker und die Arbeiter der Korteschen Schraubenfabrik sind dabei. Wir werden die Geschichte mit dem Herrn Dr. Schmidt zur Sprache bringen, mit allem Drum und Dran, mein Junge. Komm hin, wir werden dich bitten, auch einiges zu sagen.“ „Das gibt dem Schlumm den Rest.“ Vater Stücker sah mich ernst an, strich sich über das hagere Gesicht. „Ja, Richard, das mußt du nun wissen. Aber ich glaube nicht, daß du nach dieser Sache bei der Polizei das Pensionsalter erreichst.“ ,,Ganz gewiß nicht, wenn es mir auch weh tut. Ich war gern dabei. Aber ich habe keine Lust mehr, in einem solchen Beerdigungsinstitut für staatswichtige Fälle weiter mitzumachen.“ „Deine Erkenntnis kommt zu spät, Junge, aber sie ist da.
Grade darum solltest du den Mund aufmachen.“ Mein Auftreten in der Versammlung war beschlossene Sache. Merkwürdigerweise sprach sich das in Haßleiten rasch herum. Dabei hatte mein Schwiegervater kaum dafür gesorgt. Der Gewerkschaftsvorstand wohl auch nicht. Und doch war es bereits am Nachmittag bekannt. Meinem Vorgesetzten, dem Amtsanwalt Köhler. .Sind Sie wahnsinnig?’„ schrie der mich an. „Wollen Sie als politischer Agitator auftreten? Sich gegen die Justiz erheben, gegen die Polizeiorgane, also gegen das Staatsgefüge? Aber bitte, Herr Stadler, schlagen Sie sich zu den Roten. Dann trennen sich unsere Wege nur noch rascher. Herr Oberrat Schlumm hat mir nette Dinge über Sie erzählt. Und ich hab mein Fett auch abbekommen, weil ich es nicht verstünde, Sie an der Kandare zu halten. Dank für meine Gutmütigkeit.“ Am nächsten Tage teilte mir mein Schwiegervater mit, die Gewerkschaftsleitung in der Kreisstadt habe Besuch gehabt. Es sei ein Mann zum Büro gekommen, der erklärte, daß aus allgemeinen Sicherheitsgründen Wert darauf gelegt werde, daß die Gewerkschaftsversammlung nicht stattfindet. Es bestehe die Vermutung, daß nicht nur gewerkschaftliche Dinge auf der Tagesordnung stünden. Das müsse unterbunden werden. Das Ansinnen des Mannes wurde abgelehnt. Dann würden andere Sicherungsmaßnahmen ergriffen, habe der Mann darauf geantwortet, und er habe das Büro verärgert und polternd verlassen. „Sie haben eben ihre Finger überall drin’’, lächelte ich. Dann kam der Tag, an dem wir zur Gewerkschaftsversammlung gingen, Vater Stücker, Inge und ich. Der erste, den wir im Gastraum des „Weingartens“ sahen, war Professor Malitz. Er gab mir die Hand, sah mich stumm an. Ich dachte an seine Worte: „Nun muß ich Ihnen wohl Mut zusprechen.“ Wir tranken stehend jeder einen Schoppen Wein, bezahlten
und wandten uns zum Saal, der schon überfüllt war. Aber weder der Professor noch ich gelangten dorthin. Vier Männer umstanden uns, trennten uns von Inge und Vater Stücker. „Kommen Sie mit“, sagte einer von ihnen. „Ja, alle beide.“ Sie brauchten sich gar nicht erst auszuweisen. Wir wußten, woher sie kamen. An diesem Abend begann für mich eine viele Monate währende Wanderung durch fünf Gefängnisse unserer freien Republik. Untersuchungshaft nannte das die Justizverwaltung, Ich wurde indessen schlechter behandelt als die Kriminellen im Strafvollzug. Kein Brief, keine Zeitung, miserables Essen. Als ich krank wurde, verweigerte man mir den Arzt. Meine Forderung, in das Lazarett verlegt zu werden, wurde abgelehnt. Das war in Straubing. Die einzige Post, die ich erhielt, war ein Schreiben der Polizeiverwaltung unseres Kreises. Man teilte mir meine fristlose Entlassung mit. Dreimal nur wurde ich in den vielen Monaten vernommen: Erst beim zweitenmal erfuhr ich, was man mir vorwarf: Geheimbündelei, Gefährdung der Sicherheit des Staates. Ein sehr sporadischer Briefwechsel, den ich früher einmal mit einem ehemaligen Schulkameraden aus Berlin geführt hatte – er wohnt im östlichen Teil der Stadt – , schien dem Staatsanwalt willkommener Anlaß, auch den Vorwurf staatsgefährdender Ostkontakte hinzuzufügen. Der Staatsanwalt war übrigens ein belanglos aussehendes Männchen, dünn, nichtssagend, sommersprossig. Aber in seinem Gesicht saßen Niedertracht und Bösartigkeit. Schmidt hieß er, Dr. Lucius Schmidt. Nachdem er in der Kreisstadt unmöglich geworden war, hatte man ihn nach Coburg geschickt. Aber sein Ruf folgte ihm nach. Die Arbeiter aus Haßleiten und die aus Coburg verstanden sich gut. Da konnte sich der Schmidt auch dort nicht halten. In Koburg wurde ich sieben Monate nach dem Verkehrsunfall in Haßleiten zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt.
Ich weiß nicht mehr, was alles in der Urteilsbegründung gestanden hat. Von den ursprünglichen Vorwürfen war nicht viel übriggeblieben. Ein Satz aber ist mir noch erinnerlich: „Strafverschärfend kommt hinzu, daß der Angeklagte aus dem Irrweg seines Vaters keine Lehren gezogen und wie dieser, aus tiefer Verachtung für die Obrigkeit, nicht den Weg des Verbrechens gescheut hat, um Staat und Land zu schaden.“ Ein schöner Satz, was? Die Strafe habe ich in Straubing abgesessen. Nach meiner Entlassung erfuhr ich einiges. Der Oberrat Schlumm soll es, nach der Panne mit dem Schmidt, vorgezogen haben, sich versetzen zu lassen. Er wurde bei dieser Gelegenheit ein wenig befördert. Irgendwo in der Pfalz soll er amtieren. Der Schmidt ist in der Industrie untergetaucht. Seine Freunde aus braunen Zeiten lassen keinen im Stich, der sich bewährt hat. Immerhin ist der Schmidt aus der Justiz heraus. Aber die anderen, die anderen, sie sind noch drin. Mein Amtsanwalt Köhler hat seine Bleistiftparade eingepackt, seine gelben Blätter mit nach Hause genommen und ist in Pension gegangen. Vater Stücker sagte mir, Köhler habe versucht, vor den Toren von Haßleiten eine Hühnerfarm aufzuziehen. Ob er sich für Sussex, Rhodeländer oder Nackthälse entschieden hat, vermochte Vater Stücker nicht zu sagen. Er wußte nur, daß der Farm kein Erfolg beschieden war. Sie wurde von den Haßleitenern gemieden. Ich habe nun doch meinen Beruf gewechselt. Es ist mir nicht leicht geworden, aber ich hatte keiner guten Sache gedient. Häuser bauen ist besser, als anderen dabei zu helfen, wenn sie die Anständigkeit einreißen. Vielleicht werde ich doch noch Baumeister. Meine Inge hat eine verdammt gute Nase.
Udo Gatz Der unheimliche Marsnebel 4 . Nachdem ich auf der Weltraumstation gelandet bin, lasse ich mich bei Dr. Artjom melden. „Also Sie wissen noch gar nichts, was unseren Flug betrifft? Ihnen ist bekannt, daß wir nicht zum erstenmal den Mars anfliegen?“ fragt er mich. „Zum siebentenmal“, entgegne ich etwas erstaunt, denn das weiß jedes Kind. „Richtig. Und von den beiden Unglücksfällen der letzten Expedition wissen Sie auch?“ „Die Meteorologen Dimitri Aronescu und Dr. Wirth verunglückten auf der sechsten Marsexpedition tödlich“, schnarre ich die Antwort wie in einem Examen runter. „Richtig. Aber Sie kennen die Ursachen nicht. Eine Stunde vor unserem Start entdeckte Aronescu ein bleigraues Nebelfeld unweit unseres Landeplatzes. Dieser Nebel, eine völlig ungewöhnliche Erscheinung auf dem Mars, hätte uns sicher sehr wichtige Aufschlüsse über die Entstehung des Planeten geben können. Dr. Aronescu sollte vorsichtig in den Nebel gehen, nicht länger als fünf Minuten. Nachdem er in dem milchigen Dunst verschwunden war, haben wir ihn nicht mehr gesehen. Keine Antwort auf Funksignale – nichts. Wir mußten natürlich nach ihm suchen; das übernahm Dr. Wirth.“…
Soeben erschien die 2. Auflage des erregenden Buches
Zeuge Robert Wedeman von Hermann O. Lauterbach Dies ist der Roman eines Prozesses, nach den Hintergründen forschend, nach den Motiven der Kriminalpolizei, nach Sinn und Fragwürdigkeit des Urteils.’ Und zugleich ist es der Roman zweier junger Menschen, ihres ersten Liebesglückes, ihrer Enttäuschung und ihres Mutes vor Gericht. Im Mittelpunkt der Handlung stehen das Arbeitermädchen Christa und der frischgebackene Ingenieur Robert, die plötzlich in das Getriebe einer korrupten Justiz geraten. Christa wird verhaftet und vor Gericht gestellt. Und er, Robert, soll in der Verhandlung als Zeuge auftreten. Welche Schuld hat das Mädchen auf sich geladen? Und Robert, der etwas ahnt, hat doch eigentlich mit der Sache, derentwegen sie angeklagt ist, gar nichts zu tun. Oder doch? Was also will man von ihm erfahren, was will man mit seiner Aussage erreichen? 296 Seiten Ganzleinen 6,80 MDN Zu beziehen durch jede Buchhandlung VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Kürzlich erschien die zweite Auflage des spannenden Romans Auf Tod und Leben von KARL VEKEN 492 Seiten ■ Ganzleinen 7,60 MDN Er beginnt leicht und beschwingt, dieser Roman, und er endet traurig und blutig. Witz, Humor, Ironie durchziehen ihn, es sind die Zusatzwaffen der Tapferen. Blutig und traurig endet das Werk, aber keineswegs hoffnungslos. Zuversicht leuchtet aus ihm. Sie ist begründet. So waren sie, die zwanziger Jahre, voller Gegensätze, mit Frohsinn, Liedern, Wandern, Segeln und Zelten, mit Treue und Verrat, mit Luxus und Armut, mit Formaldemokratie und Klassenjustiz, mit Mord und Totschlag, mit Meineiden und mit aufrechten Zeugen und Blutzeugen für die große Wahrheit vom Siege des Lebens über den Tod, der jungen aufstrebenden Klasse über die sterbende Welt des Moders. Wochenpost, Berlin VERLAG NEUES LEBEN BERLIN