Boy Lornsen
Tante Jeske Zeichnungen von Detlef Kersten
Verlag Friedrich Oetinger • Hamburg
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Boy Lornsen
Tante Jeske Zeichnungen von Detlef Kersten
Verlag Friedrich Oetinger • Hamburg
©Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1986 Alle Rechte vorbehalten Einbandgestaltung: Manfred Limmroth Titelbild und Illustrationen; Detlef Kersten Gesamtherstellung: Ebner Ulm Printed in Germany 1986 ISBN 3-7891-1672-6
Pusteblumen
Der Himmel ist blaue Seide. Die Wolken sind weiße Puderquasten. Es ist Pusteblumenzeit. Fabian steht an der Gartenpforte und pustet winzig kleine Fallschirme in die Luft. Da kommt eine Dame vorbei. Eine langnasige Dame mit blonden Locken und einem großen, froschgrünen Regenschirm in der Hand. Sie bleibt stehen und schaut Fabian beim Pusten zu. Dann fragt sie: „Darf ich auch mal?“ „Ich schenk dir eine“, sagt Fabian und reicht seine letzte Pusteblume über die Pforte. Und jetzt läßt die langnasige Dame auch Fallschirme durch die Luft segeln. „Soll ich mehr holen?“ fragt Fabian. „Unsere Wiese ist voll davon.“ „Ich bitte darum!“ sagt die langnasige Dame. Fabian hält die Tür auf. „Wenn du magst, können wir uns auf die Wiese mitten zwischen die Pusteblumen setzen.“ „Das ist mir noch lieber“, sagt die langnasige Dame. Und da, wo die Pusteblumen am dichtesten wachsen, setzen sie sich in das Gras. Dann pusten und pusten und pusten sie, bis sie keine Puste mehr haben.
Und dann schaut Fabian sich die langnasige Dame genauer an. „Du“, sagt er, „sind deine blonden Locken echt?“ „Keine Spur“, sagt die langnasige Dame. „Die Locken hat der Frisör gedreht. Die Haare sind blond gefärbt. Nur meine lange Nase ist echt.“
„Warum schleppst du an einem Sonnentag einen Regenschirm mit dir herum?“ fragt Fabian weiter. „Dann brauche ich keine Handtasche“, sagt die langnasige Dame und holt eine Geldbörse, ein Päckchen Papiertaschentücher, ein Stück Gardinenschnur, einen Kerzenstummel und eine saftige Birne aus ihrem froschgrünen Schirm. „Willst du eine Birne?“ fragt sie. Fabian will und beißt in die Birne.
„Und was machst du, wenn es regnet?“ fragt er mit vollem Mund. „Dann nehme ich meinen RegenRegenschirm“, sagt die langnasige Dame, zieht aus dem großen grünen einen kleineren schwarzen Schirm und spannt ihn auf. „Hast du vielleicht noch mehr Schirme?“ fragt Fabian interessiert. „Noch zwei“, sagt die langnasige Dame. „Den Bangemach-Schirm und den SpaßmacherSchirm.“
„Ich kenne bloß Regenschirme“, sagt Fabian. „Kannst du mir die beiden komischen Schirme zeigen?“ „Heute nicht“, sagt die langnasige Dame. „Ich habe sie zu Hause gelassen.“ „Schade“, sagt Fabian. „Ich wohne hier. Wohnst du weit weg?“ „Nicht sehr weit“, sagt die langnasige Dame. „In einem Haus, in dem alte Leute wohnen.“ „Dann weiß ich auch, wo“, sagt Fabian. „Du wohnst im Altersheim. Aber wie eine Oma siehst du nicht aus.“ „Ich bin auch keine“, sagt die langnasige Dame. Nach einer Weile sagt Fabian: „Willst du meine Tante sein? Mir fehlt nämlich eine. Wenn die Eltern keine Brüder und Schwestern haben, kriegt man keine Tanten.“ „Einverstanden“, sagt die langnasige Dame. „Ich habe keinen Mann, keine Kinder, keine Brüder, keine Schwestern, keine Nichten und keine Neffen.“ „Ich heiße vorne Fabian und hinten Specht, wie der Vogel. Wie heißt du?“ „Ich heiße vorne Rose wie die Blume und hinten Jeske“, sagt die langnasige Dame. „Dann sag ich Tante Jeske zu dir.“
„Ich bitte darum, Neffe Fabian“, sagt Tante Jeske und packt ihre Siebensachen wieder in den grünen Schirm. „Besuchst du mich bald wieder, Tante Jeske?“ fragt Fabian. „Darauf kannst du dich verlassen!“ antwortet Tante Jeske, geht durch die Gartenpforte und verschwindet hinter den Heckenrosen.
Tante Jeske
„Sie wohnt im Altersheim.Ihre blonden Locken sind falsch. Aber ihre lange Nase ist echt. Sie hat eine froschgrüne Regenschirm-Tasche und ist seit gestern meine Tante“, erzählt Fabian beim Kaffeetrinken auf der Terrasse. „Eine froschgrüne Regenschirm-Tasche?“ wiederholt Vater und kneift ein Auge zu. „Bist du sicher, daß du nicht geträumt hast?“ „Meine Tante Jeske ist kein Traum“, sagt Fabian ärgerlich. „Sie ist nur nicht so wie andere Leute.“ „Das glaub ich dir“, sagt Mutter.
„Es gibt besondere Menschen auf der Welt.“ Und dann klingelt es an der Haustür. „Ich schau nach“, sagt Fabian. Wer steht vor der Tür?
Tante Jeske! „Du kommst genau richtig!“ sagt Fabian und freut sich. „Vater meint, daß ich dich bloß geträumt habe.“ Er nimmt sie an die Hand, zieht sie auf die Terrasse und ruft: „Das ist sie!“ „Ich bin Tante Jeske“, sagt Tante Jeske. „Hoffentlich komme ich nicht ungelegen?“ „Hast du den Bangemach-Schirm mit?“ fragt Fabian sofort. „Nein“, sagt Tante Jeske. „Alles zur richtigen Zeit.“ „Dann vielleicht den Spaßmacher-Schirm?“ „Auch nicht“, sagt Tante Jeske.
„Eine rote Rose!“ ruft Fabians Mutter und freut sich. „Vielen Dank!“ „Weingummiteufelchen!“ ruft Fabian und stopft sich gleich drei davon in den Mund. „Dafür habe ich dies für dich und das für deine Mutter mitgebracht.“
„Aber den Regen-Regenschirm hast du doch bei dir?“ fragt Fabian und kaut. „Nein, nur meine Mundharmonika und meine Mausefalle“, sagt Tante Jeske. „Eine Mausefalle?“ staunt Fabian. „Wirklich eine Mausefalle? Oder sagst du das nur so?“ „Ich sage nie etwas nur so“, antwortet Tante Jeske, fischt Mundharmonika und Mausefalle aus dem grünen Schirm und legt sie auf den Tisch. „Hast du Mäuse in der Wohnung?“ fragt Fabian. „Leider nicht“, antwortet Tante Jeske. „Ich habe auch keine Wohnung, ich wohne in einem Zimmer. Ganz allein. Und wenn ich Mäuse im
Zimmer hätte, würde ich sie nicht fangen, sondern mit Speck, Käse und Vollkornbrot füttern.“ „Wozu brauchst du dann die Mausefalle, Tante Jeske?“ „Um meine Gedanken einzufangen, Neffe Fabian.“ „Ach so“, sagt Fabian und versucht sich vorzustellen, wie man Gedanken mit einer Mausefalle einfängt. „Ich hab euch doch gesagt, daß Tante Jeske anders ist“, sagt er. Und Vater meint nachdenklich: „Eine Mausefalle, um Reklamesprüche einzufangen, könnte ich gut gebrauchen.“ Er ist Werbefachmann. „Ich will uns noch einen Kaffee aufbrühen“, sagt Mutter und steht auf. In dem Augenblick klingelt es wieder an der Tür. Der Postbote bringt ein Telegramm. Mutter öffnet den Umschlag und liest. „Ach, du liebe Güte!“ sagt sie. „Oma Bremen liegt im Krankenhaus!“ „Kriegt Oma den Blinddarm raus?“ ruft Fabian besorgt. „Oma hat sich ein Bein gebrochen“, antwortet Mutter und guckt Vater an. „Was machen wir nun?“ „Wir fahren hin“, sagt Vater. „Gleich morgen früh!“
„Ich will aber nicht verreisen!“ ruft Fabian. „Ausgerechnet jetzt, wo ich eine Tante habe.“ „Es geht nicht anders“, sagt Vater. „Oma braucht unsere Hilfe, seitdem Opa nicht mehr ist.“ „Außerdem können wir dich doch nicht allein zu Hause lassen“, fügt Mutter noch hinzu. „Für solche Fälle gibt es Tanten“, sagt Tante Jeske. „Ich kann bei Fabian einhüten. Vater und Mutter können nach Bremen fahren. Und Fabian kann zu Hause bleiben. So hat jeder, was er will.“ „Das dürfen wir nicht annehmen“, sagt Mutter, aber es klingt, als ob sie das gern annehmen möchte. „Menschen im Altersheim haben viel Zeit“, sagt Tante Jeske. Sie packt Mundharmonika und Mausefalle in die grüne Schirm-Tasche und verabschiedet sich: „Bis morgen früh!“
Die Mittwochsocke
Am Mittwochmorgen um acht steht Tante Jeske vor der Tür. „Vater und Mutter haben schon die Koffer gepackt“, erzählt Fabian gleich. Mutter zeigt Tante Jeske noch schnell das Haus. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagt Tante Jeske. „Fabian und ich kommen schon zurecht.“ Und dann frühstücken alle zusammen. „Grüßt Oma von mir und bleibt ruhig einen Tag länger!“ sagt Fabian. „Abgemacht“, sagt Mutter, und Vater nickt dazu. Danach fahren sie ab.
Fabian und Tante Jeske stehen an der Gartenpforte und winken dem Auto nach. „Was machen wir zuerst?“ fragt Fabian.
„Zuerst suchen wir drei Socken und einen Strumpf zusammen“, sagt Tante Jeske. „Mit dem Strumpf gehen wir zur Bank und besorgen uns Geld.“ „Willst du ihn über den Kopf ziehen und Bankräuber spielen?“ fragt Fabian interessiert. „Ich weiß, wie das geht. Vom Fernsehen.“ „Wir machen das noch spannender“, sagt Tante Jeske geheimnisvoll. In Fabians Wäscheschrank finden sie eine weiße, eine rote und eine geringelte Socke. Dazu noch einen braunen Strumpf. Und mit dem braunen Strumpf gehen sie zur Bank. Am Schalter legt Tante Jeske einen Geldschein und den Strumpf in die Schieblade und sagt: „Dafür möchte ich Zweimarkstücke, Markstücke, Fünfzigpfennigstücke, Groschen und Pfennige in den Strumpf.“ Der Bankbeamte hinter der Glasscheibe macht große Augen und fragt: „Meinen Sie das ernst, meine Dame?“ „Junger Mann!“ sagt Tante Jeske. „Ich meine immer ernst, was ich sage!“ Der Bankbeamte zählt Zweimarkstücke, Markstücke, Fünfzigpfennigstücke, Groschen und Pfennige in den Strumpf und schiebt ihn wieder Tante Jeske hin.
„Danke“, sagt Tante Jeske und klemmt den braunen Strumpf mit einer Wäscheklammer zu. Fabian und Tante Jeske gehen durch die Drehtür nach draußen. Drinnen schüttelt der Bankbeamte den Kopf. Zu Hause schüttet Tante Jeske den Strumpf auf dem Küchentisch aus und sagt: „Nun verteilen wir unsere Geldstücke und machen drei gleiche Geldhaufen.“ Den ersten Haufen füllen sie in die weiße Socke, den zweiten in die rote und den dritten in die geringelte. „Wozu ist das gut?“ fragt Fabian. „Damit wir wissen, wieviel Geld wir jeden Tag verjubeln können“, antwortet Tante Jeske. „Eine Geldsocke für jeden Tag. Die weiße ist die Mittwochsocke, die rote die Donnerstagsocke und die
geringelte die Freitagsocke. Und dann sind deine Eltern wieder da.“ „Wann fangen wir mit dem Verjubeln an?“ fragt Fabian.
„Sofort“, sagt Tante Jeske und packt die weiße Socke in den grünen Schirm. „Wozu hast du besonders Lust?“ Fabian überlegt nicht lange. „Zum Rolltreppefahren!“ „Dann tun wir das“, sagt Tante Jeske. Sie fahren vornehm mit dem Taxi zu einem großen Kaufhaus und fahren Rolltreppe. Wenn Fabian nach oben rollt, rollt Tante Jeske nach unten und umgekehrt. Jedesmal, wenn sie aneinander vorbeirollen, winken sie sich vergnügt zu. So lange, bis sie von der Rolltreppe genug haben. Dann bummeln sie durch das Kaufhaus. In der Camping-Abteilung flüstert Fabian aufgeregt:
„Du, Tante Jeske! Wir werden verfolgt! Der Mann hat es bestimmt auf unsere Geldsocke abgesehen.“ „Meinst du?“ flüstert Tante Jeske zurück.
„Ganz bestimmt! Wenn wir gehen, geht er auch. Und wenn wir stehenbleiben, bleibt er auch stehen und tut ganz harmlos.“ „Sehr verdächtig“, flüstert Tante Jeske. „Hast du den Bangemach-Schirm mit, Tante Jeske?“ „Leider nicht, Neffe Fabian.“
„Dann müssen wir uns verstecken“, flüstert Fabian. Als der verdächtige Mann wieder harmlos wegguckt, schlüpfen Fabian und Tante Jeske blitzschnell in ein Zelt, das auf einer künstlichen Wiese steht. „Hier warten wir, bis er weg ist“, flüstert Fabian Tante Jeske ins Ohr. Nachdem sie eine Weile gewartet haben, späht Fabian vorsichtig aus dem Zelteingang und sagt: „Der Kerl ist verschwunden!“ Sie kriechen aus dem Zelt und bummeln weiter. Aber Fabian und Tante Jeske haben sich zu früh gefreut: In der Spieltier-Abteilung steht der verdächtige Mann plötzlich vor ihnen. Fabian duckt sich noch schnell hinter einem großen Stoffaffen. Aber Tante Jeske kann das nicht. „Ich bin der Hausdetektiv“, stellt sich der Mann vor. „Ich muß Sie fragen, was Sie in Ihrem Schirm verbergen, meine Dame.“ „Heute nicht viel“, sagt Tante Jeske. „Darf ich hineinschauen?“ „Nein“, sagt Tante Jeske, „aber ich will den Schirm gerne auspacken.“ Und Tante Jeske packt aus: eine gebrauchte Lockenbürste, ein halbvolles Fläschchen Parfüm, einen Taschenspiegel, ein geheimnisvolles Kästchen und zwei Socken, in denen es verdächtig klimpert.
Der Detektiv guckt Tante Jeske scharf an. „Was klimpert in den Socken, meine Dame?“ Und Tante Jeske antwortet: „In der weißen Mittwochsocke klimpert das Geld für heute. In der roten Donnerstagsocke klimpert das Geld für morgen. Und die Donnerstagsocke habe ich nur mitgenommen für den Fall, daß das Geld in der Mittwochsocke nicht reicht. Die Freitagsocke habe ich zu Hause gelassen.“ „Mir schwirren lauter Socken im Kopf herum“, sagt der Detektiv verwirrt. „Daraus werde ich nicht klug.“ „Das ist auch nicht nötig“, sagt Tante Jeske. „Bitte, öffnen Sie noch das Kästchen, meine Dame!“ Tante Jeske gibt ihm das Kästchen und sagt: „Wollen Sie das nicht selber tun, Herr Hausdetektiv?“
Der Detektiv klappt vorsichtig, ganz vorsichtig den Deckel auf, und das geheimnisvolle Kästchen klimpert: Ping ping – ping ping Ein Männlein steht ping ping ping im Walde ping ping – ping ping… ganz still und stumm „Eine Spieluhr!“ sagt der Detektiv andächtig. „Von meinem Vater zu meinem fünften Geburtstag“, sagt Tante Jeske und packt die Spieluhr wieder ein. „Ich habe Sie für eine Ladendiebin gehalten“, sagt der Detektiv. „Und ich hab gedacht, Sie wollten unsere Geldsocke klauen!“ ruft Fabian und kommt hinter dem Stoffaffen hervor. Und dann lachen alle drei. „Ich möchte meinen Fehler gutmachen“, sagt der Detektiv und lädt Fabian und Tante Jeske in die Cafeteria zu Eis mit Sahne ein. Auf Kosten des Hauses. Auf dem Rückweg kommen die beiden wieder an dem Stoffaffen vorbei. „Magst du Affen, Neffe Fabian?“ „Lieber Seelöwen zum Knuddeln, Tante Jeske.“ Tante Jeske kauft einen Seelöwen zum Knuddeln.
Und weil das Geld in der Mittwochsocke nicht ausreicht, muß sie die Donnerstagsocke anbrechen. „Macht nichts“, sagt Tante Jeske. „Dann fahren wir eben mit dem Bus nach Hause.“
Die Donnerstagsocke
Die Sonne ist wach. Alle Vögel sind wach. Tante Jeske ist wach. Nur Fabian schläft. Tante Jeske zieht die Vorhänge auf, stellt sich vor Fabians Bett und spielt Mundharmonika. Davon wacht Fabian nicht auf. Dann singt Tante Jeske mit einem tiefen Seeräuberbaß: Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord… Davon wacht Fabian auch nicht auf. Jetzt klappert Tante Jeske mit der roten Geldsocke und ruft: „Reise, reise, aufwachen, Neffe Fabian! Die Donnerstagsocke wartet schon!“ Und das hilft. Fabian springt aus dem Bett und sagt: „Von mir aus kann’s losgehen! Muß ich mich waschen?“ „Ich bitte darum!“ sagt Tante Jeske. Nach dem Frühstück fragt Fabian: „Was machen wir heute?“ „Wenn wir unterwegs sind, fällt uns schon etwas ein“, antwortet Tante Jeske. „Was fressen echte Seelöwen?“ fragt Fabian unterwegs.
„Das läßt sich herausfinden“, sagt Tante Jeske. „Wir fahren in den Zoo.“ Sie gehen zur U-Bahnstation und steigen in die Nummer zwei. Dann geht es unter der Erde, über der Erde und wieder unter der Erde zu Hagenbecks Tierpark. An der Kasse bezahlt Tante Jeske eine und eine halbe Eintrittskarte aus der roten Donnerstagsocke, und sie gehen durch das Haupttor.
Sie begucken Riesenschlangen, Riesenschildkröten, den Riesenvogel Strauß, der nicht fliegen kann, und
die Riesensaurier, die nicht laufen können, weil sie aus Beton sind. Die Löwen lümmeln sich faul in der Sonne. Die Papageien kreischen so schrill, daß Tante Jeske sich die Ohren zuhält. Die Paviane suchen einander die Haarpelze ab, und was sie finden, stecken sie sich in den Mund. „Gut, daß ich einen Seelöwen habe“, sagt Fabian. „Affen haben Flöhe.“ Sie begucken Krokodile, Kamele, Känguruhs und Nilpferde. Und sie erleben, wie der Tierpfleger die Seelöwen füttert. Mit Heringen. „Jetzt weißt du, was Seelöwen fressen“, sagt Tante Jeske. Bei den Warzenschweinen tun Tante Jeske die Füße weh. Als sie sich auf eine Bank setzen will, entdeckt Fabian ein Schild. Darauf steht: ELEFANTENREITEN „Wollen wir?“ fragt Fabian. „Wir wollen!“ antwortet Tante Jeske. „Reiten ist besser als laufen.“ Dann kommt schon der Elefant. Auf seinem Rücken ist ein Sitzkasten angeschnallt. Auf seinem Kopf hockt ein Mahout. Das ist der Elefantenführer.
Über eine Treppe klettern Fabian und Tante Jeske in den Sitzkasten. Dann reiten sie los. Unterwegs sagt Fabian: „Du, Tante Jeske, sag dem Elefantenführer, sein Elefant soll einen Zahn zulegen.“
„Herr Chauffeur! Herr Chauffeur!“ ruft Tante Jeske. Aber der Elefantenführer hört nicht.
„Der schläft wohl“, sagt Fabian. „Den müssen wir aufwecken.“ „Das ist ein Fall für den Bangemach-Schirm“, sagt Tante Jeske. „Den habe ich zum Glück bei mir. Und der kann hupen.“ Sie zieht ihn aus der grünen Schirm-Tasche und drückt auf den Gummiballgriff. Trööt! Trööt! Trööt! hupt der Bangemach-Schirm. Der Elefant wirft den Rüssel hoch, trompetet trööt! Trööt! und stürmt im Elefantengalopp davon. Der Mahout klammert sich an die Elefantenohren. Fabian klammert sich an Tante Jeske. Tante Jeske klammert sich an den Sitzkasten. Und der Sitzkasten schaukelt wie ein Schiff auf den Wellen. Tum-tum… tum-tum… tum-tum… trampeln die Elefantenbeine. Tante Jeske wird immer blasser. Kann denn keiner den Elefanten bremsen? Endlich wird er langsamer, immer langsamer und bleibt an der Treppe stehen. Tante Jeske greift in die rote Socke und sagt: „Das Geld ist für den Schreck, Herr Mahout. Und kaufen Sie Ihrem Elefanten auch etwas Schönes.“ Als die beiden wieder festen Boden unter den Füßen haben, sagt Fabian: „Dem haben wir aber Beine gemacht!“
„Zu viele Beine, Neffe Fabian“, stöhnt Tante Jeske. „Ich bin immer noch seekrank.“ Auf dem Weg zum U-Bahnhof geht es ihr schon wieder besser. „Bananen! Goldgelbe Bananen!“ ruft ein Bananenmann. „Zehn, nein, zwanzig, nein, dreißig Stück für nur neun Mark und fünfzig Pfennige! Greifen Sie zu, meine Herrschaften! Greifen Sie zu!“
Und Tante Jeske greift zu. Sie zählt dem Bananenmann neun Mark und fünfzig Pfennig in die Hand und hängt sich ein Bananenbündel über die Schulter. Aber im U-Bahnhof bekommt Tante Jeske einen Schreck: In der roten Donnerstagsocke sind nur noch drei Zehnpfennigstücke!
„Ich fürchte“, sagt sie, „wir müssen Bananen verkaufen, Neffe Fabian, sonst haben wir kein Fahrgeld.“ „Au, fein!“ sagt Fabian. „Jetzt bin ich der Bananenmann!“ Er pflückt Bananen von Tante Jeskes Rücken und ruft: „Bananen! Goldgelbe Bananen! Für fünfzig, nein, für vierzig, nein, für dreißig Pfennig das Stück!“ Und die Leute kaufen Bananen für dreißig Pfennig das Stück. Tante Jeske geht mit der Socke herum und kassiert das Geld. Es dauert nicht lange, dann ruft sie Fabian zu: „Schluß mit dem Verkauf! Das Geld reicht für die Rückfahrt. Die letzten Bananen essen wir selbst.“ Nun können Fabian und Tante Jeske mit der U-Bahn nach Hause fahren.
Die Freitagsocke
Es ist Freitagmorgen. Tante Jeske deckt den Kaffeetisch. Fabian kommt zur Tür herein. „Du bist schon auf?“ wundert sich Tante Jeske. „Ich wollte dich gerade wachsingen.“ „Ich bin schon gewaschen und angezogen“, sagt Fabian stolz.
Tante Jeske guckt auf seine Füße und sagt: „Du darfst auch noch Schuhe und Strümpfe anziehen. Aber nur, wenn es dir nichts ausmacht, Neffe Fabian.“ Fabian verschwindet und taucht in Schuhen und Strümpfen wieder auf. Dann frühstücken sie, räumen das Geschirr weg und fegen die Krümel vom Tisch.
Tante Jeske packt die geringelte Geldsocke in die grüne Schirm-Tasche. Und dann machen sie sich auf den Weg. Vor einem Kino bleiben sie stehen. Es gibt einen Tarzan-Film. „Den müssen wir sehen!“ ruft Fabian und zieht Tante Jeske an die Kinokasse. „Wie alt ist denn der Kleine?“ fragt das Kassenfräulein. „Zusammen sind wir dreiundsiebzig“, sagt Tante Jeske. „Reicht das?“ Das Kassenfräulein schiebt Tante Jeske wortlos zwei Eintrittskarten hin. Der arme Tarzan hat es schwer. Er muß auf Tigern reiten, sich mit Menschenfressern herumärgern, sich von Baum zu Baum schwingen und Bananen futtern. Zum Schluß wird es ganz gefährlich. Tarzan sitzt in einer Astgabel, um sich etwas zu verpusten. Da schlängelt hinter ihm das Unheil heran. „Aufpassen, Tarzan!“ schreit Fabian. „Hinter dir kommt ‘ne Riesenschlange!“ Tarzan dreht sich um und bringt sich mit knapper Not in Sicherheit. „Ein Glück, daß du ihn gewarnt hast, Neffe Fabian“, sagt Tante Jeske erleichtert.
„Sonst hätte ihn die Riesenschlange am Ende noch gefressen… Dabei fällt mir ein: Hast du auch Hunger?“ „Auf Pommes frites“, sagt Fabian. In einem Schnellimbiß essen sie Bratwurst mit Ketchup und Pommes frites. „Wie geht es weiter?“ fragt Fabian. „Nichts ist so spannend wie Tarzan.“ „Ich kenne etwas, was genau so spannend ist“, sagt Tante Jeske. „Der Zirkus! Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch rechtzeitig zur Vorstellung.“ Darum nehmen sie wieder ein Taxi. „Fahren Sie wie der Teufel, lieber Mann“, sagt Tante Jeske.
„Zum Bahnhof?“ fragt der Taxichauffeur. „Zum Zirkus natürlich!“ sagt Tante Jeske. Und der Taxichauffeur fährt wie der Teufel. Aber es ist wie verhext. Alle Ampeln stehen auf Rot, und eine Umleitung gibt es auch noch. Darum kommen sie zu spät. Die Vorstellung hat schon angefangen. KEIN EINTRITT WEGEN ÜBERFÜLLUNG steht auf einem Schild. „Und ich hab mich so darauf gefreut“, mault Fabian. „Wir beide kommen in den Zirkus“, sagt Tante Jeske. „Und wenn wir wie Tarzan auf einem Tiger hineinreiten müssen!“ Sie müssen nicht auf dem Tiger reiten. Tante Jeske hat eine bessere Idee.
Sie holt Puder, Creme und Schminke aus der grünen Schirm-Tasche.
Und im Nu hat Fabian ein weißes Gesicht mit einer karottenroten Nase. „Willst du dich nicht schminken?“ fragt Fabian. „Ich seh auch ohne Schminke komisch genug aus“, sagt Tante Jeske. Dann gehen sie durch den Artisteneingang. Ein Mann in einer kanariengelben Uniform versperrt ihnen den Weg. „Eintritt verboten!“ sagt er streng. „Nicht für uns“, sagt Tante Jeske. „Wir sind die Regenschirm-Clowns!“ „Das ändert die Sache“, sagt der Kanarienvogelgelbe. Er reißt den Vorhang auf, schreit: „Manege frei für die berühmten RegenschirmClowns!“ und schubst Fabian und Tante Jeske in die Manege. In der Manege ist schon ein Clown. Er spritzt gerade Wasserstrahlen aus seinem Hut. „Es regnet“, sagt Tante Jeske zum Publikum und zieht den Spaßmacher-Schirm aus der grünen SchirmTasche. „Sei so nett, Neffe Fabian, und bring dem Herrn diesen Regenschirm.“ Fabian bringt den Schirm hin, der Clown spannt ihn auf, und der ganze Zirkus lacht und klatscht, weil Tante Jeskes Spaßmacher-Schirm nur ein Stangengerippe ohne Stoff ist!
„Darf ich Ihnen ein Ständchen geigen, meine Schirmdame?“ fragt der Clown. „Ich bitte darum!“ sagt Tante Jeske. Der Clown holt eine ganz kleine Geige aus dem Hut und geigt: Weißt du, wieviel Sternlein stehen? „Ich fühle mich geehrt“, sagt Tante Jeske und ruft: „Lieber Herr Trompeter! Werfen Sie mal Ihre Trompete runter!“ Der Trompeter wirft seine Trompete von dem Musik-Balkon herunter. Tante Jeske fängt sie in der Luft auf und trompetet:
Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord… „Zugabe! Zugabe!“ rufen die Zirkusbesucher. Aber Tante Jeske gibt keine Zugabe. „Warum trompetest du nicht weiter?“ fragt Fabian. „Pst!“ sagt Tante Jeske. „Weil ich nur ein einziges Lied trompeten kann, und das ist Madagaskar.“ Hinter dem Vorhang wartet der Zirkusdirektor auf die Regenschirm-Clowns. Er küßt sich die Fingerspitzen und sagt begeistert: „Sie sind engagiert, meine Dame! Hier ist die Gage für heute.“ Tante Jeske steckt den Geldschein in die geringelte Freitagsocke. Und bevor sie antworten kann, schreit Fabian: „Kommt nicht in Frage! Sie ist meine Tante Jeske!“ „Sie haben es gehört, Herr Direktor“, sagt Tante Jeske. „Ich bin schon engagiert, für immer! Als Fabians Tante Jeske!“