Superstrings Eine allumfassende Theorie der Natur in der Diskussion Herausgegeben von Paul Davies und Julian R. Brown
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Superstrings Eine allumfassende Theorie der Natur in der Diskussion Herausgegeben von Paul Davies und Julian R. Brown
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Sachbuch
Das Buch Das zentrale Anliegen der Physiker ist heute mehr denn je die Suche nach der »Allumfassenden Theorie der Natur«, nach dem Prinzip, auf das sämtliche Phänomene unserer materiellen Welt zurückgeführt werden können. »Superstring« bietet im Gefolge von Relativitätstheorie und Quantentheorie die verlockende Aussicht, die »Weltformel« vielleicht gefunden zu haben. Worum geht es? Nach der Modellvorstellung sollen die Superstrings winzige, eindimensionale »Fäden« sein, die in sich selbst zurücklaufen und Schleifen bilden. Wie Saiten (englisch »strings«) eines Musikinstruments vibrieren diese »Fäden«, wobei sie unendlich viele Schwingungszustände erreichen können. Jedes Teilchen unserer bekannten Welt entspricht einem Schwingungszustand, aber auch Eigenschaften wie Masse oder elektrische Ladung werden von den String-Vibrationen bestimmt – ähnlich, wie die verschiedenen Obertöne jedem Musikinstrument seine ganz individuelle und zugleich charakteristische Klangfarbe verleihen. Paul Davies und Julian R. Brown beschreiben und diskutieren auf äußerst anschauliche Art die Superstring-Theorie, indem sie sich eines bestechenden Tricks bedienen: Sie lassen bedeutende Kosmologen und Physiker – Väter der Theorie genauso wie ihre Gegner – in Wechselgesprächen zu Wort kommen, wobei sie selbst immer wieder in die Rolle des fragenden Laien schlüpfen. Damit erzielen sie nicht nur eine plastische und lebendige Beschreibung, der Leser kann auch unmittelbar teilhaben am Ringen und Forschen der Fachleute, er kann Zeuge des Triumphs oder des Scheiterns einer großen Idee sein.
Die Herausgeber Paul Davies, geboren 1946, ist Professor für theoretische Physik in Newcastle upon Tyne. Er zählt zu den führenden Physikern Großbritanniens. Zahlreiche populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, darunter ›Gott und die moderne Physik‹ (1986), ›Die Urkraft‹ (1987), ›Prinzip Chaos. Die neue Ordnung des Kosmos‹ (1988). Julian R. Brown ist Wissenschaftsredakteur bei der BBC London.
Superstrings Eine Allumfassende Theorie der Natur in der Diskussion Herausgegeben von Paul Davies und Julian R. Brown
Mit 17 Abbildungen Aus dem Englischen von Hans-Peter Herbst
Deutscher Taschenbuch Verlag
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Ungekürzte Ausgabe Januar 1992 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1988 Cambridge University Press Titel der englischen Originalausgabe: Superstrings. A Theory of Everything? © der deutschsprachigen Ausgabe: 1989 Birkhäuser Verlag, Basel unter dem Titel: Superstrings. Eine Allumfassende Theorie? ISBN 3-7643-2317-5 Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Umschlagabbildung: Steven Hunt, The Image Bank Bildagentur, München Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • ISBN 3-423-11497-5
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Einleitung 1.1 Was ist eine »Allumfassende Theorie«? . 1.2 Einheit als innerstes Wesen der Natur . . 1.3 Die Relativitätstheorie . . . . . . . . . . 1.4 Die Quantentheorie . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Welt der subatomaren Teilchen . . . 1.6 Die vier Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Austauschteilchen . . . . . . . . . . . . . 1.8 Symmetrie und Supersymmetrie . . . . 1.9 Die Vereinheitlichung der Kräfte . . . . 1.10 Einheitliche Eichtheorien . . . . . . . . 1.11 Supergravitation . . . . . . . . . . . . . 1.12 Mathematische »Krankheiten« . . . . . 1.13 Die String-Theorie . . . . . . . . . . . .
. 11 . 17 . 21 . 32 . 35 . 41 . 45 . 50 . 64 . 71 . 80 . 84 . 88
2. Interviews 2.1 John Schwarz . . 2.2 Edward Witten . 2.3 Michael Green . . 2.4 David Gross . . . 2.5 John Ellis . . . . . 2.6 Abdus Salam . . . 2.7 Sheldon Glashow 2.8 Richard Feynman 2.9 Steven Weinberg
. 95 116 134 170 182 202 213 226 247
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Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Vorwort Seit einigen Jahren wird die Phantasie der Physiker durch eine neue, bemerkenswerte Theorie gefesselt. Sie ist als »String-Theorie« oder – in ihrer am weitesten entwickelten Form – als »Superstring-Theorie« bekannt geworden und verspricht die einheitliche Beschreibung aller elementaren Kräfte und Bestandteile der Materie sowie von Raum und Zeit – kurzum: Sie erhebt den Anspruch, eine »Allumfassende Theorie« zu sein. Der springende Punkt der Theorie – die Annahme, die physikalische Welt bestünde aus nichts anderem als aus kleinen »Saiten« – »Strings« –, mag zwar absurd erscheinen, doch beruht die Theorie auf eleganten mathematischen Ideen, deren Folgerungen eine ermutigende Übereinstimmung mit der realen Welt aufweisen. Die von der String-Theorie ausgehende Faszination ist enorm: Sie hat die Aufmerksamkeit einer Reihe der bedeutendsten Theoretiker auf sich gezogen und ist zu einem der lebendigsten Forschungsgebiete der theoretischen Physik geworden. Die Versprechungen der Theorie haben viele Wissenschaftler in Begeisterung versetzt und zu enthusiastischen Äußerungen über ihre Erfolgsaussichten verleitet. Wie man in diesem Buch nachlesen kann, ist die Theorie andererseits aber auch auf scharfe Kritik gestoßen. Im Jahre 1987 entschlossen wir uns, mit einer Dokumentation für das 3. Programm der BBC einen Überblick über den Stand der Superstring-Forschung zu geben. Zu dem Programm, das Anfang 1988 unter dem 7
Titel ›Desperately Seeking Superstrings‹ (die fieberhafte Suche nach Superstrings) gesendet wurde, wurden einige der führenden Befürworter und Gegner der Theorie zur Erläuterung ihrer Vorstellungen und Meinungen eingeladen. Wie schon bei unserem vorangegangenen Bericht zum Thema ›The ghost in the atom‹ (Der Geist im Atom. Birkhäuser Verlag, Basel 1988), der ebenfalls zuerst im Rundfunk gesendet wurde, bevor er in Buchform erschien, hatten wir auch diesmal das Gefühl, daß es sinnvoll sei, die Interviews in einer vollständigeren und dauerhafteren Form zu veröffentlichen. Wir haben uns dabei so weit wie möglich an die Originalaufzeichnungen gehalten, ohne allerdings gewisse Abänderungen ganz vermeiden zu können, die erforderlich wurden, um die Interviews in eine besser lesbare Form zu bringen. Wir haben uns jedoch darum bemüht, den Interviewcharakter der Beiträge zu bewahren. Ziel des Buches ist es, sowohl Physikern als auch interessierten Laien einen Einblick in die wesentlichen Ideen der String-Theorie zu geben. Gleichzeitig hoffen wir, dem Leser einen Eindruck von der Art und Weise zu vermitteln, in der führende Physiker über ein wichtiges aktuelles Thema reden und diskutieren. Da die Interviews für einen größeren Hörerkreis gedacht waren, baten wir die Teilnehmer darum, möglichst allgemeinverständlich zu bleiben und Fachjargon so weit wie möglich zu vermeiden. Jeder der Beiträge ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig von den anderen gelesen werden. Um einen verbindenden Rahmen zu schaffen, wurde eine ausführliche Einleitung hinzugefügt, in der viele Vorstel8
lungen erläutert werden, die als Hintergrundinformation zum besseren Verständnis der Theorie benötigt werden. Dazu gehören kurze Schilderungen der Quantentheorie und der Relativitätstheorie sowie ein Überblick über die Teilchenphysik. Obgleich sich das Gebiet der Superstrings in rascher Entwicklung befindet, sind die wesentlichen Züge der Theorie heute bereits gut bekannt. Wir hoffen, daß mit diesem Buch eine ebenso informative wie unterhaltsame Momentaufnahme einer Entwicklung gelungen ist, die sich als einer der größten wissenschaftlichen Fortschritte unseres Zeitalters erweisen könnte. Unser Dank gilt Dr. Ian Moss für seine Hilfe bei der Textverarbeitung und Miss Aileen Dryburgh für die Abschrift der Tonbandaufnahmen. P. C. W. Davies Julian R. Brown
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1. Einleitung 1.1 Was ist eine »Allumfassende Theorie«? Die Physik ist die anmaßendste aller Wissenschaften: Sie erklärt nicht weniger als das gesamte Universum zu ihrem Forschungsobjekt. Während sich beispielsweise die Biologen auf lebende Organismen, die Chemiker auf Atome und Moleküle und die Psychologen auf den Menschen und seine Mitgeschöpfe beschränken, sind Physiker ebensowenig wie Theologen geneigt zuzugeben, daß es auch Dinge gibt, die prinzipiell außerhalb ihrer Zuständigkeit liegen. Natürlich wird jeder Physiker bereitwillig eingestehen, daß sein Verständnis der meisten Systeme beklagenswerten Beschränkungen unterliegt: Schon solche scheinbar einfachen Systeme wie Wolken und Schneeflocken leisten allen seinen Versuchen, sie mit den bekannten physikalischen Gesetzen zu beschreiben, hartnäckigen Widerstand. Was biologische Systeme anbelangt, vereiteln selbst so »primitive« Organismen wie Viren oder Bakterien durch ihre überwältigende Komplexität alle Bemühungen in dieser Richtung. Jedoch wird dieses praktische Unvermögen mit der Behauptung abgetan, daß das Verhalten eines jeden komplexen Systems, wie rätselhaft es auch erscheinen mag, letztlich doch von keinen anderen Gesetzen als denen der Physik diktiert wird. Die Annahme, daß zur Beschreibung des gesamten Universums bis in seine feinsten Details nichts weiter als 10
die Gesetze der Physik benötigt werden, wird durch die »reduktionistische« Philosophie gestützt. Die Fürsprecher dieser Denkschule, unter ihnen viele Wissenschaftler, glauben, daß man die Psychologie im Prinzip auf die Biologie, die Biologie auf die Chemie und die Chemie auf die Physik zurückführen kann – daß mit anderen Worten der »Erklärungspfeil« stets nach »unten« in die tiefsten Schichten der Realität weist und letzten Endes alles aus den Eigenschaften der fundamentalen Bestandteile der Materie erklärt werden kann. Der Reduktionist ist daher auch der Ansicht, daß man mit einer Theorie, die eine widerspruchsfreie und vollständige Beschreibung dieser Bestandteile erlaubt, ipso facto eine allumfassende Theorie über die Welt besitzt. Wir wollen an dieser Stelle nicht darüber urteilen, ob die Beweisführung der Reduktionisten schlüssig ist oder nicht. Wir stellen nur fest, daß einige Physiker in letzter Zeit genau diesen Vorstellungen folgen, wenn sie von einer »Allumfassenden Theorie« (AUT) sprechen. Wichtig ist allerdings festzuhalten, daß eine solche AUT nicht alle Phänomene wirklich »erklären« wird, ebensowenig wie die Axiome der Geometrie den Satz des Pythagoras »erklären«. Der Satz des Pythagoras kann zwar aus diesen Axiomen abgeleitet werden, doch ist hierzu eine ziemlich komplizierte Beweisführung erforderlich. Es ist eben so, daß wir auch dann, wenn wir die grundlegenden Elemente der physischen Welt identifiziert haben, nicht automatisch erwarten können, die Welt in ihren unzähligen komplexen Details zu verstehen. Die AUT der Physiker wird also nicht in der Lage sein, praktische Fragen wie 11
die nach der Entstehung von Wolken oder Schneeflokken zu beantworten, geschweige denn solche, die viel größere Rätsel wie die Entstehung des Lebens oder des Bewußtseins betreffen. Nach Ansicht der Reduktionisten sollten sich alle diese Phänomene aber zumindest prinzipiell aus der AUT ableiten lassen. Soweit wir wissen, wurde die erste AUT im 5. Jahrhundert vor Christus durch die griechischen Philosophen Leukippos und Demokrit aufgestellt. Ihre Theorie wurde als »Atomismus« bezeichnet und behauptete, die Welt bestünde aus nichts anderem als aus Atomen und dem leeren Raum. Zwar sollte es eine Anzahl verschiedener Atomsorten geben, die aber alle als »elementar« vorausgesetzt wurden, das heißt als undurchdringlich und unzerstörbar. Folglich konnten die Atome weder eine innere Struktur besitzen noch als aus irgendwelchen noch kleineren Bestandteilen zusammengesetzt gedacht werden. Sie sollten für eine direkte Beobachtung zu klein sein und sich rastlos durch den leeren Raum bewegen. Man spekulierte auch, daß Atome nach Zusammenstößen aneinander haftenbleiben könnten und so den Eindruck kontinuierlicher Materie erzeugen würden und daß jeder Wandel in der physischen Welt auf die Umgruppierung von Atomen zurückzuführen sei. Als mit den Arbeiten von Galilei und Newton im 17. Jahrhundert das naturwissenschaftliche Zeitalter begann, erhielt die atomistische Theorie Unterstützung durch die Entdeckung der Bewegungsgesetze für materielle Körper. Nun wurde es möglich, sich vorzustellen, daß selbst die Bewegung der Atome den wohlbekannten physikali12
schen Gesetzen folgen könnte. Dieser Fortschritt inspirierte Laplace zur Erfindung seines berühmten »Rechendämons«: Eine Intelligenz, der zu einem bestimmten Zeitpunkt sowohl alle in der Natur wirksamen Kräfte als auch die momentanen Positionen aller Objekte im Universum bekannt sind, wäre in der Lage, die Bewegungen der größten Himmelskörper ebenso wie die der kleinsten Atome nach einer einzigen Formel zu begreifen, vorausgesetzt sie wäre fähig, sämtliche Daten zu analysieren. Nichts bliebe ihr ungewiß, und Zukunft und Vergangenheit wären ihrem Auge gegenwärtig. Das ist ohne Zweifel ein Konzept für eine AUT. Bei diesen Vorläufern einer AUT fällt besonders das Fehlen bestimmter Elemente ins Auge. So wurde kein Versuch gemacht, zu erklären, warum das Universum gerade die in ihm tatsächlich beobachteten Atome enthält; die Frage, woher sie kommen und warum sie die ihnen eigene Masse und Form besitzen, blieb unbeantwortet. Ebenso unbestimmt blieb die Natur der zwischen ihnen wirkenden Kräfte. Die Newtonsche Gravitationstheorie war nicht zur Erklärung aller zwischenatomaren Kräfte geeignet. Der von den Atomen durchmessene Raum und die für diese Bewegung benötigte Zeit lagen vollständig außerhalb des Blickfeldes der Theorie: Raum und Zeit selbst wurden nicht als physikalische Größen betrachtet, sondern einfach als existent vorausgesetzt. 13
Somit kann das Werk von Galilei, Newton und Laplace in dieser Hinsicht nicht als Begründung einer befriedigenden AUT angesehen werden. Die Lage blieb bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein im großen und ganzen unverändert, bis Newtons Gesetze der Mechanik und Gravitation durch Maxwells Theorie des Elektromagnetismus ergänzt wurden. Danach konnte man eine Weile die Vorstellung hegen, daß alle Naturkräfte, in welcher Gestalt sie auch auftreten mögen, entweder gravitativer oder elektromagnetischer Natur seien. Obgleich es nach wie vor keine Erklärung für die Existenz von Atomen gab und Raum und Zeit außerhalb der Physik verblieben, glaubten viele Physiker, daß ihre zukünftige Arbeit überwiegend in der Ermittlung der nächsten Dezimalstellen der verschiedenen physikalischen Größen bestünde. In einer Rede vor der Britischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften sagte Lord Kelvin im Jahre 1900: »In der Physik gibt es heute nichts Neues mehr zu entdecken; was uns bleibt, ist immer genauer zu messen.« Offenbar hatte man das Gefühl, daß eine AUT in greifbare Nähe gerückt war. Durch Erfahrung klüger geworden, sehen wir heute, worin der unbefriedigende Aspekt aller damals vorgeschlagenen AUTs bestand: In der Annahme zweier fundamentaler Kräfte, der Gravitation und des Elektromagnetismus, anstelle einer einzigen. Ein Versuch, diesem Mangel abzuhelfen, wurde um 1920 von dem Mathematiker Theodor Kaluza unternommen, der die Möglichkeit einer Verbindung zwischen diesen beiden Kräften 14
fand (hierüber im einzelnen später). So hätte es in diesem Jahrhundert vielleicht viel früher einen ernsthaften Kandidaten für eine AUT gegeben, wenn die Physik damals nicht bereits in einen wahren Mahlstrom neuer Entwürfe geraten wäre. Die Entdeckung des Elektrons und der Radioaktivität, die Einführung der Planckschen Quantenhypothese und die Anfänge der Einsteinschen Relativitätstheorie hatten die gesamten Grundlagen der Newton-MaxwellPhysik hinweggespült. Die Bewegungsgesetze Newtons, seine an die Alltagserfahrung angelehnten Vorstellungen von Raum und Zeit waren außer Kraft gesetzt. Sogar die Atomhypothese Demokrits mußte durch eine genauere und komplexere Sicht der Mikroweit ersetzt werden, in der die Atome keine unzerstörbaren Teilchen mit wohldefiniertem Ort und Bewegungszustand mehr darstellten. Es wurde offensichtlich, daß das Fundament der klassischen Physik zusammengebrochen war. Um 1930 traten neue theoretische Systeme an seine Stelle: die Quantenmechanik, die Allgemeine Relativitätstheorie und ein viel genauer ausgearbeitetes Atommodell. Obgleich noch viele Details im Dunkel blieben, schien die Physik wieder einmal auf dem Weg zu einem System relativ einfacher Prinzipien zu sein. Zwar hatte sich das Atom als zusammengesetztes Teilchen erwiesen, man konnte sich aber doch noch vorstellen, daß die gesamte Materie ausschließlich aus einer kleinen Anzahl von Elementarteilchen (Elektronen, Protonen und Neutronen) zusammengesetzt sei, die den Gesetzen der Relativität und Quantenmechanik genügen. Und so unternahm 15
denn auch Eddington 1923 in ungebrochenem Optimismus mit der Veröffentlichung seiner sogenannten »fundamentalen Theorie« den ambitionierten Versuch, eine AUT aufzustellen, die auf der Existenz bemerkenswerter Zahlenverhältnisse zwischen physikalischen Konstanten basierte. Er setzte die Arbeit an dieser Idee bis zu seinem Tode im Jahre 1946 fort. Auch Einstein verbrachte viele Jahre seines späteren Lebens mit der Suche nach einer »Einheitlichen Feldtheorie«, die auf einer rein geometrischen Beschreibung der Natur beruhen sollte. Wir wissen heute, daß alle Hoffnungen auf eine AUT auf der Grundlage der Physik der 20er Jahre verfrüht waren. Die Notwendigkeit der Einführung des Neutrinos, die Entdeckung des Positrons und des Myons und die deutlichen Anzeichen für die Existenz neuer, mit dem Atomkern verknüpfter Kräfte versetzten der Idee, die fundamentalen Gesetze des Universums würden sich auf die Beschreibung einfacher Wechselwirkungen zwischen Elektronen, Neutronen und Protonen reduzieren lassen, den Todesstoß. Die experimentelle Teilchenphysik erlebte ihre erste Blütezeit und lieferte eine Überfülle subatomarer Fragmente und eine verwirrende Vielfalt von Kräften. Die Physik erwies sich als viel komplizierter, als man in den 20er Jahren gedacht hatte. Ein halbes Jahrhundert mußte vergehen, bis die Physiker die dieser subatomaren Vielfalt zugrunde liegenden tieferen Strukturen identifiziert hatten und eine mehr oder weniger zufriedenstellende Theorie über die Materie und die sie beherrschenden Kräfte besaßen. Ermutigt durch dieses neu gewonnene Verständnis fühlen sich 16
einige Physiker heute stark genug, erneut die Idee einer AUT zu verfolgen. Die »Superstring«-Theorie stellt den modernsten und aussichtsreichsten Versuch einer solchen AUT dar. Das Forschungsgebiet, auf dem diese neuen Ideen zusammenströmen, befaßt sich mit der Untersuchung unvorstellbar kleiner ultramikroskopischer Strukturen: Die Welt der Atome und der hochenergetischen Teilchenphysik ist ganze 20 Zehnerpotenzen größer als die der »Superstrings«. Was können wir eigentlich von einer wirklich befriedigenden AUT erwarten? Sie sollte zunächst erklären, warum die Physiker gerade die zahlreichen uns bekannten Elementarteilchen beobachten und ihre wichtigsten Eigenschaften wie die Masse, die elektrische Ladung und das magnetische Moment korrekt berechnen. Sie sollte zweitens alle Wechselwirkungen der Teilchen untereinander richtig beschreiben, das heißt die vier in der Natur vorkommenden fundamentalen Kraftarten und ihre relative Stärke zutreffend wiedergeben. Außerdem sollten sich aus der Theorie die genauen Werte von Streuamplituden, Zerfallsraten, Verzweigungsverhältnissen und anderen charakteristischen Größen für die verschiedenen Teilchenarten berechnen lassen, kurzum: Die Theorie sollte alle meßbaren Parameter der Elementarteilchenphysik liefern. Sie sollte ferner die Geometrie und Topologie der Raumzeit erklären, zum Beispiel die Anzahl ihrer Dimensionen, und überzeugende Gründe für den Ursprung des Universums angeben. Das ist aber noch nicht alles. Eine AUT sollte zu einer Vereinheitlichung der Physik führen. 17
1.2 Einheit als innerstes Wesen der Natur Im Prinzip kann eigentlich jedermann eine AUT konstruieren: Er muß sich nur ein Lehrbuch besorgen, daraus alle grundlegenden Gesetze abschreiben, eine Liste aller bekannten subatomaren Teilchen und der zwischen ihnen wirkenden Kräfte aufstellen und das Ganze veröffentlichen. Damit hätten wir schon alles, was wir über das Universum wissen müssen. Wo liegt der Mangel bei dieser Methode? Teilweise handelt es sich um eine rein ästhetische Frage, denn zweifelsohne bietet eine solche Liste keinen erfreulichen Anblick. Eine gute AUT sollte natürlich viel mehr als ein Katalog elementarer Objekte und Gesetze sein: Sie sollte Möglichkeiten für die Erklärung und Verknüpfung verschiedener Aspekte der Natur eröffnen. Man muß zugeben, daß die Suche nach einer solchen AUT in gewisser Hinsicht eine Sache des Glaubens ist – des Vertrauens darauf, daß die Natur einfachen Gesetzen gehorcht. Ganz allgemein kann man sagen, daß eine wissenschaftliche Theorie um so leistungsfähiger und überzeugender ist, je weniger voneinander unabhängige Annahmen sie benötigt. Es kommt oft vor, daß Theorien »freie Parameter« enthalten, deren Werte anfangs empirisch bestimmt werden, sich mit fortschreitendem Verständnis jedoch aus einer erweiterten Theorie ableiten lassen. So ist beispielsweise die Energiedichte der sogenannten »Schwarzkörperstrahlung« nach dem »Stefan-Boltzmannschen Gesetz« der vierten Potenz der Temperatur proportional. Die Proportionalitätskonstante wurde zu18
nächst durch ein Experiment ermittelt. Nach der erfolgreichen Einführung der Quantenhypothese durch Planck im Jahre 1900 stellte sich heraus, daß dieser Faktor keine fundamentale Naturkonstante darstellt, sondern sich aus anderen physikalischen Konstanten – der Lichtgeschwindigkeit, der Planckschen Konstante und der Boltzmannschen Konstante – ableiten läßt. Die wissenschaftliche Erfahrung hat viele Male gezeigt, daß mit dem tieferen Eindringen in ein Gebiet immer mehr Querverbindungen sichtbar werden und immer weniger anscheinend nicht genau faßbare Aspekte einer Theorie durch direkte Experimente geklärt werden müssen. So stellt das moderne Konzept vom Aufbau der Atome eine Verbesserung des klassischen Bildes dar, weil es zeigt, wie verschiedene Atomsorten aus wenigen identischen Materiebestandteilen zusammengesetzt sind. Es ist nicht erforderlich, 90 oder mehr unterschiedliche, den verschiedenen chemischen Elementen entsprechende Teilchen anzunehmen. Die Eigenschaften der verschiedenen Atome lassen sich in systematischer Weise aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile erklären. Eine letztgültige, ideale AUT würde jeden Rückgriff auf ein Experiment überhaupt überflüssig machen: Alles und jedes ließe sich auf das jeweils Verbleibende zurückführen. Es bliebe nur ein einziger unbekannter Parameter übrig, der den quantitativen Maßstab für die Elemente der Theorie bestimmen würde. Nur diese eine Konstante müßte experimentell ermittelt werden. (In diesem Fall würde das Experiment sogar eher zur Festlegung einer Meßkonvention als zur Bestimmung eines Parame19
ters der Theorie dienen.) Eine solche Theorie würde auf einem einzigen Prinzip beruhen, das die Quelle für alles Wissen über die Natur wäre. Voraussichtlich würde sich dieses Prinzip als ein knapper mathematischer Ausdruck erweisen, der die gesamte fundamentale Physik in sich einschließt. Um mit Leon Lederman, dem Direktor von »Fermilab«, dem riesigen Teilchenbeschleuniger bei Chikago, zu sprechen: Es wäre eine Formel, die man »auf seinem T-Shirt tragen könnte«. Bei den Versuchen zur Vereinheitlichung der Physik verfolgt man zwei unterschiedliche Strategien. Bei der ersten bewegt man sich »von oben nach unten«. Man geht von einem allgemeinen, übergreifenden Prinzip aus, das sich vielleicht durch besondere Eleganz oder Einfachheit auszeichnet und sich in eine kurze mathematische Form bringen läßt. Von da aus geht man Schritt für Schritt in der Beschreibung der Welt voran und gelangt erst mit der letzten Analyse zu speziellen Aussagen. Die Leistungsfähigkeit dieser »Top-down-Methode« zeigt sich beispielhaft in vielen Arbeiten Einsteins. So gründete er seine Allgemeine Relativitätstheorie auf dem Prinzip der Äquivalenz von Schwerkraft und Trägheit und der Forderung, daß die Gesetze der Physik unabhängig von dem Koordinatensystem sein müssen, in dem man ein Ereignis beschreibt. Von diesen grundlegenden und elementaren Ideen ausgehend gelangte Einstein nahezu zwangsläufig zu seinen Gleichungen des Gravitationsfeldes. Diese Gleichungen sind wegen ihrer schlichten Eleganz und Geschlossenheit berühmt; ihre Lösungen sind jedoch alles andere als einfach. Die Be20
rechnungen beispielsweise der Bahnbewegung eines Planeten oder der von Doppelsternen ausgesandten Gravitationsstrahlung sind sehr kompliziert. So kommt es, daß noch nach mehr als 60 Jahren viele Konsequenzen der Theorie ihrer Enthüllung harren. Im Gegensatz zu dieser Methode steht der in der Wissenschaft vermutlich häufiger benutzte Weg »von unten nach oben.« Man beginnt dabei mit phänomenologischen Untersuchungen. Mit Hilfe von Laborexperimenten wird eine große Menge von Daten gesammelt und in ein System gebracht, aus dem gewisse Ordnungsprinzipien abgeleitet werden. Diese Gesetzmäßigkeiten werden in bestimmten Postulaten präzisiert, die dann in Gesetze von allgemeiner Gültigkeit münden. Nun werden Voraussagen über Phänomene auf neuen Forschungsgebieten gemacht und Experimente zum Test dieser Voraussagen unternommen. So formt der Wissenschaftler nach und nach immer mehr Verbindungsstücke, die sich mit etwas Glück am Ende zu einer neuen Theorie zusammensetzen lassen, die mehr als die Summe ihrer Teile ist. Die Teilchenphysik liefert viele Beispiele für den Erfolg dieser Methode. So entstand zum Beispiel die »Quark-Theorie« über mehrere aufeinanderfolgende Stufen der Zusammenfassung scheinbar ganz verschiedener Teilchen zu »Familien« (Multipletts), die durch bestimmte physikalische Ähnlichkeiten nahegelegt worden waren. Wesentlich bei diesem Weg »von unten nach oben« ist, daß er niemals zu stark von dem durch die Experimente vorgezeichneten Pfad abweicht; und sollten die experimentellen Fakten dabei von der 21
philosophischen Eleganz wegführen – um so schlimmer für die Philosophie. Die Geschichte der Physik ist die Geschichte aufeinanderfolgender Stufen der Vereinheitlichung. So zeigte Newton, daß sich Himmelskörper nach den gleichen dynamischen und gravitativen Gesetzen bewegen wie Körper in der Nähe der Erdoberfläche. Maxwell vereinigte die Gesetze der Elektrizität und des Magnetismus und stellte darüber hinaus eine Verbindung zwischen der Theorie des elektromagnetischen Feldes und der Optik her, indem er nachwies, daß Licht aus elektromagnetischen Wellen besteht. Einstein fand eine Verbindung zwischen Raum und Zeit einerseits und zwischen Energie und Masse andererseits und unternahm danach den Versuch einer Vereinigung von Raumzeit und Gravitation. In den letzten Jahren konzentrierten sich die Versuche, die Natur noch weiter zu vereinheitlichen, auf die Hochenergie-Teilchenphysik. Der Grund dafür ist, daß man um so höhere Energien benötigt, je tiefer die untersuchten Strukturen liegen. Zur Zeit gibt es auf diesem Gebiet zwei überragende Theorien: Die Relativitätstheorie und die Quantentheorie. Alle gegenwärtigen Versuche einer Vereinheitlichung der Physik gehen ausdrücklich davon aus, daß diese Theorien dabei mit eingeschlossen werden müssen. Bevor wir uns daher der Teilchenphysik zuwenden, wollen wir uns kurz mit diesen beiden Theorien befassen.
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1.3 Die Relativitätstheorie Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde offensichtlich, daß sich Newtons Gesetze der Mechanik und Maxwells Theorie des Elektromagnetismus bei der Beschreibung von Relativbewegungen widersprachen. Nach Galilei und Newton ist die gleichförmige Bewegung längs einer Geraden in bezug auf ein bestimmtes Koordinatensystem rein relativer Natur; die Bewegung hat keine absolut meßbaren physikalischen Wirkungen. So hat ein Passagier in einem ruhig fliegenden Flugzeug kein wirkliches Gefühl für seine Geschwindigkeit; er kann die Bewegung nur im Vergleich zu einem äußeren Bezugssystem feststellen, indem er zum Beispiel aus dem Fenster auf die vorüberziehende Erdoberfläche blickt. Andererseits sagen die Maxwellschen Gleichungen aus, daß sich elektromagnetische Wellen – beispielsweise auch Lichtwellen – im leeren Raum mit einer konstanten Geschwindigkeit ausbreiten: Die Lichtgeschwindigkeit ist also eine universelle Naturkonstante. Die Theorie sagt jedoch nichts über das Bezugssystem, in dem diese Geschwindigkeit gemessen werden soll. So entstand die Idee, daß der Weltraum mit einem unsichtbaren Medium erfüllt sei, in dem das Licht sich ausbreitet. Dieses als »Äther« bezeichnete Medium würde das universelle »Ruhesystem« festlegen, relativ zu dem im Prinzip alle Bewegungen geeicht werden könnten. Auf diese Weise schienen Maxwells Theorie und das von Galilei und Newton eingeführte Relativitätsprinzip miteinander in Einklang gebracht. Die Experimente zur Messung der 23
Erdbewegung durch den Äther ergaben jedoch eine Geschwindigkeit von Null – ein höchst paradoxes Resultat, schien es doch zu bedeuten, daß sich die Erde in Ruhe und alle Himmelskörper um sie herum in Bewegung befinden mußten! In seiner 1905 publizierten ›Speziellen Relativitätstheorie‹ unternahm Einstein einen direkten Angriff auf dieses Paradoxon. Er hielt am Prinzip der Relativität fest – daß nämlich eine gleichförmige, geradlinige Bewegung rein relativer Natur ist –, verwarf jedoch die Ätherhypothese. Stattdessen führte er ein neues Postulat in die Physik ein, das besagt, daß die Geschwindigkeit des Lichtes in allen Bezugssystemen gleich groß ist. Das bedeutet, daß das Licht unabhängig von der Bewegung seiner Quelle oder eines Beobachters diesen stets mit genau der gleichen Geschwindigkeit passiert. Zwei relativ zueinander bewegte Experimentatoren, die denselben Lichtpuls beobachten, werden trotz dieser Bewegung für den Puls die gleiche Geschwindigkeit bestimmen. Einsteins neues Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit verlangt, daß wir von unseren gewohnten Begriffen von Raum und Zeit Abschied nehmen. Newtons Behandlung von Raum, Zeit und Bewegung muß durch eine neue »relativistische« Theorie ersetzt werden. Ein zentraler Punkt des relativistischen Konzeptes ist die Aussage, daß räumliche Abstände und Zeitintervalle von verschiedenen Beobachtern je nach ihrem Bewegungszustand anders ermittelt werden. So kann zum Beispiel ein Intervall, das auf der Erde einer Stunde entspricht, in einem sehr schnellen Raumschiff als nur eine 24
halbe Stunde gemessen werden. Ganz ähnlich verhält es sich mit Längenmessungen. Allerdings sind diese relativistischen Effekte sehr klein, solange die Geschwindigkeiten sich nicht der Lichtgeschwindigkeit nähern. In der Hochenergie-Teilchenphysik bewegen sich Teilchen häufig nahezu mit Lichtgeschwindigkeit und erfahren dabei eine ausgeprägte »Zeitdehnung«. Dieser Effekt äußert sich auf eine direkt meßbare Weise dadurch, daß instabile Teilchen im Vergleich zum Ruhezustand für ihren Zerfall eine viel längere Zeit benötigen, wenn sie in einem Teilchenbeschleuniger herumgewirbelt werden. Diese Verzerrung von Raum und Zeit hat folgenschwere Konsequenzen für die Gesetze der Mechanik. Etwas vereinfacht ausgedrückt ist zum Beispiel ein Körper in Bewegung schwerer als in Ruhe: seine Masse nimmt zu, wenn er beschleunigt wird. Dadurch wird auch der Begriff der Masse zweideutig. Die Physiker definieren als Masse gewöhnlich diejenige des ruhenden Körpers (bezogen auf den Beobachter, der die Messung ausführt). Die »effektive« oder »relativistische« Masse eines Körpers, die beispielsweise seine Trägheit bestimmt, hängt hingegen von seiner Geschwindigkeit ab und wächst mit der Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unbegrenzt an. Die Untersuchung der Beziehungen zwischen Masse, Geschwindigkeit und Energie durch die Relativitätstheorie enthüllt ferner, daß Masse und Energie äquivalent sind, Energie also Masse besitzt und Materie eine Form von Energie ist. Das bedeutet, daß Materie unter bestimmten Umständen vernichtet und in andere Ener25
gieformen umgewandelt wird, während umgekehrt Energie zur Erzeugung von Materie benutzt werden kann. Alle diese Ideen sind in Einsteins berühmter Formel E=mc2 enthalten, in der E die Energie, m die Masse und c die Lichtgeschwindigkeit ist. Eine Konsequenz dieser Vorstellungen ist, daß es für ein Teilchen oder irgendein anderes Objekt unmöglich ist, die Barriere der Lichtgeschwindigkeit zu durchbrechen, das heißt daß kein Teilchen von einer Geschwindigkeit unterhalb der Lichtgeschwindigkeit auf Überlichtgeschwindigkeit beschleunigt werden kann. Man kann sich dies durch die Überlegung klar machen, daß die Masse eines Körpers bei Erreichen der Lichtgeschwindigkeit unendlich groß werden würde. Dabei müßte für ihre Beschleunigung ein unendlich großer Energiebetrag aufgebracht werden, das aber ist unmöglich. Natürlich bedeutet diese Beschränkung nicht, daß es überhaupt nichts geben darf, das sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, denn schließlich tut das Licht dies ja selbst. Damit ein Teilchen sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen kann, muß seine Ruhemasse Null sein (dies ist allerdings nur ein fiktiver Wert, da sich ein solches Teilchen niemals in Ruhe befinden kann). Darüber hinaus schließt die Relativitätstheorie nicht aus, daß es Teilchen geben könnte, die sich schneller als Licht bewegen. Man hat ihnen den Namen »Tachyonen« gegeben. Die Relativitätstheorie verbietet diesen Teilchen das Überschreiten der Lichtgeschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung, das heißt sie können sich niemals langsamer als Licht bewegen. Nach den relativistischen Gleichungen 26
ist der Wert für die Ruhemasse eines Tachyons eine imaginäre Zahl, also die Quadratwurzel aus einer negativen Zahl. Dies wäre ziemlich peinlich, wenn die Ruhemasse von Tachyonen eine meßbare Größe wäre. Da sich Tachyonen jedoch nicht langsamer als Licht bewegen dürfen, können sie niemals in den Ruhezustand gebracht werden. Obgleich Tachyonen der Theorie nach erlaubt sind, werden sie von den meisten Physikern mit Widerwillen betrachtet. Da wäre zunächst einmal die Tatsache, daß sie sich wegen ihrer Überlichtgeschwindigkeit unter bestimmten Umständen in der Zeit rückwärts bewegen könnten. Sollten Tachyonen mit normaler Materie in Wechselwirkung treten können, müßten sie in der Lage sein, Botschaften in die Vergangenheit zu tragen und damit alle möglichen merkwürdigen kausalen Paradoxien hervorzurufen. Zwar wurden Versuche unternommen, diese Unannehmlichkeit durch eine modifizierte Strekkendefinition für die Tachyonenbewegung zu umgehen, indem man zum Beispiel ein Tachyon, das sich von einem Ort A zu einem Ort B in der Zeit rückwärts bewegt, durch eines ersetzt, das sich von B nach A zeitlich vorwärts bewegt; es ist jedoch nicht klar, ob so etwas widerspruchsfrei möglich ist. Die Existenz von Tachyonen bringt übrigens noch größere Probleme mit sich, wenn man die Quantentheorie in die Betrachtungen mit einbezieht. Die von der Relativitätstheorie vorhergesagte Transformation von Raum- und Zeitintervallen bedeutet, daß Raum und Zeit physikalische Größen sind und nicht nur 27
den Schauplatz bilden, auf dem sich die Physik abspielt. Die Transformationsgleichungen besagen in der Tat, daß Raum und Zeit untrennbar miteinander verbunden sind, so daß man sie als Elemente eines vierdimensionalen Kontinuums – der »Raumzeit« – ansehen kann. So ist die Welt für die Physiker auch nicht drei-, sondern eher vierdimensional. Einstein selbst wurde bald klar, daß die Spezielle Relativitätstheorie die Aufgabe nicht nur der Newtonschen Vorstellung von Raum und Zeit, sondern auch seiner Gravitationstheorie bedeutete. Nach Newton sollten Gravitationskräfte den Raum ohne jede Zeitverzögerung überbrücken. Dies würde jedoch die Relativitätstheorie verletzen, weil es hieße, daß sich Gravitationswirkungen schneller als Licht ausbreiten. So machte sich Einstein daran, eine neue Theorie der Gravitation aufzustellen, die auf einer Verallgemeinerung seiner Relativitätstheorie beruhte. Diese Arbeit nahm viele Jahre in Anspruch und wurde 1915 vollendet. In seiner Speziellen Relativitätstheorie hatte sich Einstein mit der gleichförmigen Bewegung befaßt. Wenn ein Körper beschleunigt wird, ist die Wahrnehmung dieser Bewegung nicht mehr nur eine Frage des Bezugssystems. Ein Flugzeugpassagier zum Beispiel verspürt die Bewegung, wenn sein Flugzeug plötzlich eine Kurve fliegt oder an Höhe verliert. Um diese allgemeineren Bewegungsarten mit einzubeziehen, ging Einstein von der Tatsache aus, daß Beschleunigungen Kräfte hervorrufen, die von Gravitationskräften nicht zu unterscheiden sind. So sagt man häufig, daß eine Zentrifuge »künstliche Schwerkraft« er28
zeugt oder spricht von »g-Kräften«, die bei der starken Beschleunigung einer Rakete wirken. Diese Äquivalenz von Beschleunigung und Gravitation war auch Galilei und Newton schon bekannt; sie wurde jedoch erst durch Einstein zu einem fundamentalen Naturprinzip erhoben. Das Prinzip wird gewöhnlich am Beispiel fallender Körper demonstriert. Beim freien Fall eines Körpers wird die nach unten gerichtete »g-Kraft« durch das Gewicht des Körpers genau kompensiert. Ein Beobachter, der sich im freien Fall befindet, fühlt sich daher schwerelos. Für Astronauten in der Erdumlaufbahn ist das heutzutage eine vertraute Erfahrung, während Einstein zu seiner Zeit der Vorstellung von einem Beobachter in einem frei fallenden Fahrstuhl den Vorzug gab. Da alle Gegenstände in einem frei fallenden Fahrstuhl effektiv schwerelos sind, ändert sich die Lage benachbarter Gegenstände zueinander im Fahrstuhl nicht. Vom Bezugssystem eines Beobachters am Erdboden aus fallen alle Körper mit der gleichen Beschleunigung. Dieser Umstand gibt Anlaß zu der Vermutung, daß Körper, die zur gleichen Zeit fallen gelassen werden, unabhängig von ihrem Gewicht oder ihrer Beschaffenheit auch zur gleichen Zeit den Boden erreichen. (Es wird überliefert, daß Galilei diese Tatsache demonstrierte, indem er Kugeln vom Schiefen Turm von Pisa fallen ließ.) Bei genauerer Betrachtung treffen diese Voraussagen allerdings nur unter Vernachlässigung dreier Faktoren zu. Da gibt es zum einen den Luftwiderstand, der aber nur eine unwesentliche Komplikation darstellt. (Das Ex29
Abbildung 1: Zwei benachbarte, frei fallende Teilchen kommen sich langsam näher, da sie sich bei ihrem Fall in Richtung auf das geometrische Zentrum der Erde auf schwach konvergierenden Bahnen bewegen.
periment funktioniert besser auf dem Mond, der keine Atmosphäre besitzt.) Zum zweiten wirken zwischen den Körpern im Fahrstuhl sehr schwache Gravitationskräfte, die man jedoch beliebig klein machen kann, indem man die Körper als so leicht annimmt, daß ihre Gravitationskraft vernachlässigt werden kann. Solche Körper, die ein Gravitationsfeld sondieren, ohne es selbst merklich zu beeinflussen, bezeichnet man als »Testkörper«. Der dritte vernachlässigte Faktor ist die Erdkrümmung. Obwohl sie sehr gering ist, ist ihr Einfluß für das Verständnis der Gravitation von elementarer Wichtig30
Abbildung 2a: Vier zu einem Quadrat angeordnete Teilchen im freien Fall.
Abbildung 2b: Geringfügig unterschiedliche Gravitationskräfte verformen das Quadrat zu einem Rhombus. Das untere Teilchen ist der Erde näher; es erfährt daher eine etwas größere Gravitationsanziehung und fällt schneller. Das obere Teilchen bleibt hinter allen anderen zurück, da es am weitesten von der Erde entfernt ist. Das äußere Paar bewegt sich wie in Abbildung 1 auffällig langsam aufeinander zu.
keit. Dies soll durch Abbildung 1 verdeutlicht werden, die schematisch einen Fahrstuhl mit zwei Testkörpern zeigt, der frei auf die Erdkugel zu fällt. Vernachlässigt man die Erdkrümmung, so fallen beide Körper auf genau parallelen Bahnen, so daß sich ihre gegenseitige Lage nicht verändert. In Wahrheit wird allerdings jeder Körper direkt 31
zum Erdmittelpunkt hingezogen, so daß die beiden Bahnen geringfügig konvergieren. Ein Beobachter im Fahrstuhl könnte daher ohne Sicht nach draußen aus der Annäherung der beiden Testkörper auf die Krümmung der Erde schließen. In Abbildung 2a sind vier Testkörper in Form eines spitzgestellten Quadrates angeordnet. Beim Fall des Fahrstuhles bewegen sich die beiden mittleren wie oben beschrieben aufeinander zu. Der untere Körper, der der Erde geringfügig näher ist als die anderen, erfährt eine etwas stärkere Anziehung, da sich die Stärke des Gravitationsfeldes der Erde mit dem Quadrat des Abstandes vom Erdmittelpunkt vermindert. Dieser Körper fällt daher etwas schneller als seine Nachbarn. Aus dem gleichen Grund fällt der obere Körper geringfügig langsamer. Im Endergebnis wird das Quadrat in horizontaler Richtung komprimiert, in vertikaler Richtung dagegen gestreckt und so zu einer schmaleren, rautenförmigen Anordnung verformt (Abbildung 2b). Das Fahrstuhlexperiment zeigt, daß man für den freien Fall ein Bezugssystem angeben kann, in dem der Haupteffekt der Gravitation aufgehoben ist. Ist das Gravitationsfeld jedoch nicht gleichförmig, macht sich die Schwerkraft immer noch durch leichte Verschiebungen von Testkörpern bemerkbar. Man bezeichnet diese feineren Gravitationseinflüsse als »Gezeitenkräfte«, weil sie für die Entstehung der Gezeiten der Meere im Gravitationsfeld des Mondes verantwortlich sind. Man kann also sagen, daß Gravitationskräfte im engeren Sinne nur relativ zu einem Bezugssystem gemessen 32
werden können, während Gezeitenkräfte absolut meßbar sind. Darum versuchte auch Einstein in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie, das Feld der Gezeitenkräfte in einem Modell zu erfassen. Der springende Punkt dabei ist, daß die Verzerrung geometrischer Figuren wie des Quadrates von der Zusammensetzung der Testkörper oder ihrer Masse unabhängig ist (zumindest solange die Massen nicht so groß werden, daß sie nicht mehr als Testkörper angesehen werden können). Es liegt daher nahe, die jeweiligen Verformungen nicht auf die Wirkung von Kräften, sondern auf verborgene Eigenschaften des Raumes, den die Körper durchfallen, auf Verzerrungen oder Verwindungen seiner Struktur zurückzuführen. So kam Einstein zu seiner Behauptung, daß Gravitation ihrem Wesen nach nichts anderes als eine Verzerrung der Geometrie des Raumes darstellt. Wir wollen diese Idee etwas ausführlicher untersuchen. Zunächst aber noch eine wichtige Anmerkung: Die Relativitätstheorie verknüpft Raum und Zeit, es sind daher nicht allein räumliche Verzerrungen, die dabei eine Rolle spielen, sondern Verzerrungen der »Raumzeit«. (Eine verzerrte Raumzeit muß nicht unbedingt eine räumliche Verzerrung mit einschließen.) In der Schule lernen wir die euklidische Geometrie, die einer flachen Ebene beziehungsweise – in ihrer dreidimensionalen Form – einem flachen Raum angepaßt ist. Auf einer gekrümmten Oberfläche gelten andere geometrische Gesetze als die euklidischen, was durch Abbildung 3 illustriert werden soll. So gibt es auf einer Kugeloberfläche keine parallelen Geraden. Den Geraden in der Ebe33
Abbildung 3: Gekrümmte geodätische Linien. Weil die Geometrie auf der Erde nicht »flach« ist, konvergieren zwei »geodätische Linien« (kürzeste Verbindungslinien zwischen zwei Punkten), die parallel zueinander vom Äquator ausgehen, um sich am Nordpol zu schneiden. Dies ist die geometrische Analogie zu den Gezeitenkräften, die dazu führen, daß sich zwei Teilchen in einem frei fallenden Fahrstuhl aufeinander zu bewegen.
ne entsprechen auf der Kugeloberfläche Großkreise, wie sie beispielsweise von Längengraden dargestellt werden. In Abbildung 3 sind zwei solcher Linien zu sehen, die parallel zueinander vom Äquator ausgehen und sich am Nordpol schneiden. Die Krümmung von Linien auf einer gekrümmten Oberfläche ähnelt derjenigen der Bahnen fallender Testkörper in einem ungleichförmigen Gravitationsfeld. Der Hauptunterschied besteht darin, daß die verzerrte Geometrie im letzteren Fall nicht zweidimensional, ja nicht einmal dreidimensional ist: Sie betrifft drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension. Es ist zwar sehr schwer, sich eine Krümmung in vier Dimensionen vorzustellen, ihre mathematische Beschreibung jedoch macht keinerlei Schwierigkeiten. Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie betrachtet das Gravitationsfeld als ein Feld mit verzerrter Geometrie – der Krümmung oder Verwindung der Raumzeit. In dieser Theorie werden frei fallende Körper nicht so behandelt, als wären sie dem Einfluß von Gravitationskräften unterworfen; stattdessen geht man davon 34
aus, daß sie dem kürzestmöglichen (als »geodätische Linie« bezeichneten) Weg in einer gekrümmten Raumzeit folgen. In Newtons Gravitationstheorie bewegt sich die Erde um die Sonne, weil die Schwerkraft der Sonne sie zwingt, von einer geradlinigen Bewegung abzuweichen. In Einsteins Theorie gibt es keine Schwerkraft im eigentlichen Sinne (obwohl wir sie, dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, auch weiterhin als »Gravitationskraft« bezeichnen werden). Die Sonne erzeugt in ihrer Umgebung eine Verzerrung der Raumzeit, die von der Erde in freier Bewegung auf einer geodätischen Linie durchlaufen wird. Die Gravitation kann deswegen als ein geometrischer Effekt behandelt werden, weil sie universeller Natur ist und alle Testobjekte in der gleichen Weise beeinflußt. Sogar das Licht muß in einem Gravitationsfeld einer gekrümmten Bahn folgen. Abbildung 4 zeigt den Einfluß der Sonnengravitation auf den vorüberflie-
Abbildung 4: Licht wird vom Schwerefeld gekrümmt. Die Schwerkraft der Sonne krümmt einen Lichtstrahl, so daß der entfernte Stern A, von der Erde aus betrachtet, nach B versetzt erscheint. Diese Versetzung kann während einer Sonnenfinsternis beobachtet und gemessen werden, wenn der Mond die grelle Sonnenscheibe verdeckt und die Beobachtung von Sternen am Tage ermöglicht.
35
Abbildung 5: Die Topologie befaßt sich mit der Art und Weise, in der die Punkte einer Linie, Fläche usw. untereinander zusammenhängen. Die Topologie einer Kugel (links) unterscheidet sich von derjenigen eines Torus (rechts), da dieser ein Loch enthält.
genden Lichtstrahl eines Sternes, der um einen meßbaren Betrag abgelenkt wird. Auch die Verteilung der Galaxien im Universum hängt von der Geometrie des Raumes ab. Sollte eine systematische Krümmung des Weltalls in kosmologischem Maßstab existieren, stellt sich die interessante Frage nach der Topologie des Universums. Solange man das Weltall als »flach« ansieht, muß es entweder unendlich ausgedehnt sein oder irgendeine Begrenzung haben. Ist der Raum aber gekrümmt, sind andere Möglichkeiten denkbar. Wir können uns die Situation durch eine zweidimensionale Fläche veranschaulichen. Eine gekrümmte Fläche kann geschlossen sein, zum Beispiel in Form einer Kugel oder eines Torus (Abbildung 5). (Man beachte, daß die Oberfläche einer Kugel zweidimensional ist, obwohl sie selbst ein dreidimensionales Objekt ist.) Nun stelle man sich die dreidimensionale Version einer geschlossenen Kugeloberfläche – eine sogenannte »Hy36
persphäre« – vor. Sollte das Universum die Topologie einer solchen Hypersphäre besitzen, hätte es zwar ein endliches Volumen, aber keinerlei Begrenzung oder Rand. Welche Topologie das Weltall wirklich besitzt, ist nicht bekannt. Wie wir noch sehen werden, ist diese Frage für die Superstring-Theorie jedoch von ausschlaggebender Bedeutung.
37
1.4 Die Quantentheorie Die Relativitätstheorie zwingt uns dazu, liebgewordene Vorstellungen von Raum, Zeit und Bewegung preiszugeben. Sie ersetzt die intuitive Physik Newtons durch einen abstrakteren Entwurf, der Elemente wie die gekrümmte Raumzeit einschließt, die schwer oder gar nicht vorstellbar sind. Die Quantentheorie verlangt eine ebenso radikale Neubewertung unserer gewohnten Vorstellungen von der Natur der Materie. Begründet wurde die Quantentheorie im Jahre 1900, als Max Planck die Behauptung aufstellte, die elektromagnetische Strahlung trete nur in diskreten Einheiten oder »Quanten« in Erscheinung, die man heute als »Photonen« bezeichnet. Ein Photon kann in gewisser Hinsicht als ein »Lichtteilchen« angesehen werden – was nur schwer mit der traditionellen Auffassung vereinbar ist, nach der Licht, wie alle anderen Formen elektromagnetischer Strahlung, aus Wellen besteht. Dieser scheinbare Widerspruch wird durch die Vorstellung des »Welle-Teilchen-Dualismus« aufgelöst, nach der sich Licht je nach der Art des durchgeführten Experimentes entweder als Welle oder als Teilchen zeigt. Es kann dagegen niemals gleichzeitig sowohl als Welle als auch als Teilchen in Erscheinung treten. Niels Bohr beschrieb diesen Sachverhalt, indem er Welle und Teilchen als »komplementäre« Aspekte ein und derselben Realität bezeichnete – einer Realität jenseits unseres Vorstellungsvermögens. Umgekehrt können Elektronen, Protonen und andere subatomare Objekte, 38
die normalerweise als Teilchen angesehen werden, unter bestimmten Umständen als Wellen erscheinen. Das Photon hat den gleichen allgemeinen Status wie diese Objekte und kann genauso als eine spezielle Teilchenart in einer gemeinsamen Liste erfaßt werden. Die Welle-Teilchen-Dualität spielt in der Quantentheorie eine zentrale Rolle. Sie hat zur Folge, daß einige vertraute Eigenschaften bei subatomaren Objekten nicht mehr gut definiert sind. Zum Beispiel hat eine gleichförmige Quantenwelle einen genau bestimmten Impuls, wegen ihrer räumlichen Ausdehnung aber keinen wohldefinierten Ort. Wird andererseits ein Elektron oder Proton dazu gezwungen, seinen Ort zu verraten – zum Beispiel mit Hilfe eines lichtempfindlichen Schirmes – so ist sein Impuls nicht mehr genau zu ermitteln. Man kann also eine Messung ausführen, um den Impuls zu bestimmen, und eine andere, um den Ort zu ermitteln, aber beide Messungen schließen sich gegenseitig aus: Ort und Impuls eines Quantenobjektes lassen sich niemals gleichzeitig messen. So zeigt sich im Verhalten jedes Quantensystems eine nicht zu beseitigende Ungenauigkeit oder Unschärfe, die durch die berühmte »Unschärferelation« von Werner Heisenberg beschrieben wird. Die Unschärferelation läßt sich in der Aussage zusammenfassen, daß alle meßbaren Größen nicht voraussagbaren Schwankungen unterliegen, die ihre Werte »verschmieren«. Jeweils zwei inkompatible, das heißt nicht gleichzeitig meßbare Größen wie Ort und Impuls bilden ein Paar. Bezeichnet man die Unsicherheit oder »Verschmiertheit« des Ortes mit Δx und die des Impulses mit 39
Δp, so verlangt die Unschärferelation, daß das Produkt Δx · Δp niemals kleiner werden kann als eine universelle Konstante, die »Plancksche Konstante« genannt und durch den Buchstaben h symbolisiert wird. Die Plancksche Konstante bestimmt den Grad der Ungenauigkeit in der Natur. Ihr sehr kleiner Wert (6,63 · 10-34 Joule-Sekunden) spiegelt die Erfahrung wider, daß Quantenunschärfen sich nur im atomaren und subatomaren Bereich bemerkbar machen. Im Prinzip existieren sie jedoch für alle Systeme. Ein weiteres wichtiges Größenpaar, auf das die Unschärferelation anwendbar ist, ist dasjenige von Energie und Zeit. Dabei kann ΔE · Δt nicht kleiner als h werden. Zusammengefaßt besagen die beiden Versionen der Unschärferelation, daß eine Unschärfe des Ortes nur auf Kosten einer größeren Impulsunschärfe und eine Unschärfe der Zeit nur auf Kosten einer größeren Energieunschärfe verringert werden kann. In der Praxis bedeutet diese Aussage, daß man sehr große Impulse und Energien benötigt, um Strukturen bei sehr kleinen Längen- und Zeitskalen unterscheiden zu können. Auf diese Weise ist in der Quantentheorie jedem Raum- beziehungsweise Zeitintervall ein bestimmter Energie- beziehungsweise Impulsbereich zugeordnet. Aus dieser Verknüpfung folgt zum Beispiel, daß ein Physiker um so größere Energien und Impulse benötigt, je kleiner der Bereich ist, den er für seine Untersuchungen wählt. Aus diesem Grund braucht man zur Erforschung kleiner Strukturen große Teilchenbeschleuniger. Eine Theorie der grundlegendsten Materiestrukturen, die sich notwendigerweise mit 40
den kleinsten Längenskalen befassen muß, ist mit den höchsten Energien verknüpft. So ziehen die hochenergetischen Aspekte solcher Theorien auch das besondere Interesse auf sich. Wegen der bei Quantensystemen unvermeidlichen Unschärfe versagen die Newtonschen Gesetze der Mechanik für Objekte wie Elektronen (auch unter Berücksichtigung relativistischer Effekte) und müssen durch eine vollkommen neue »Quantenmechanik« ersetzt werden, die in den 20er Jahren von Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger und anderen entwickelt wurde. In ähnlicher Weise müssen auch die dynamischen Feldgleichungen wie Maxwells Gleichungen des elektromagnetischen Feldes durch eine neue »Quantenfeldtheorie« ersetzt werden. Die Arbeiten daran wurden in den 30er Jahren begonnen. Subatomare Teilchen bewegen sich häufig annähernd mit Lichtgeschwindigkeit. Eine wichtige Forderung ist daher, daß ihre Quantenbeschreibung mit der Speziellen Relativitätstheorie vereinbar ist. Der entsprechende Zweig der Quantenmechanik wurde 1929 von Paul Dirac entwickelt, dessen relativistische Modifizierung der Theorie zur Voraussage der Antimaterie führte (vergleiche Abschnitt 1.5). Die Anwendung der Quantentheorie auf Felder wie das elektromagnetische Feld führt ebenfalls nur dann zu einer konsistenten Theorie, wenn man sie in eine relativistische Form bringt. Man gerät dabei jedoch in ernsthafte mathematische Schwierigkeiten, so daß eine erfolgreiche relativistische Quantenfeldtheorie in Form der »Quantenelektrodynamik« (QED) erst nach 41
dem Zweiten Weltkrieg vorlag. Alle gegenwärtigen Versuche, eine fundamentale Theorie aller physikalischen Phänomene aufzustellen, gehen davon aus, daß eine solche Theorie selbstverständlich sowohl mit der Speziellen Relativitätstheorie als auch mit der Quantenmechanik vereinbar sein muß.
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1.5 Die Welt der subatomaren Teilchen Die Zahl der bekannten subatomaren Partikel geht in die Hunderte. Elektronen, Protonen und Neutronen sind nur drei Arten aus einem wahren »Teilchenzoo«. Alle übrigen werden entweder in der kosmischen Strahlung gefunden oder bei Zusammenstößen mit anderen Partikeln in Teilchenbeschleunigern bei sehr hohen Energien erzeugt. Fast alle diese Partikel sind sehr instabil und zerfallen in Sekundenbruchteilen in andere Teilchen. Alle Mitglieder einer Teilchenspezies sind identisch – es gibt keine Möglichkeit, ein Elektron von einem anderen zu unterscheiden. Jeder Teilchenart ist ein »Antiteilchen« zugeordnet, bei dem alle charakteristischen Größen bis auf die Masse das umgekehrte Vorzeichen besitzen. So trägt das Elektron eine bestimmte Menge an negativer elektrischer Ladung, das »Anti-Elektron« – besser bekannt als »Positron« – die gleiche Menge an positiver Ladung. Teilchen lassen sich durch eine ganze Reihe physikalischer Größen charakterisieren, von denen Masse und elektrische Ladung zu den wichtigsten zählen. Aus einem tiefen, bisher nicht näher bekannten Grund kommt die elektrische Ladung aller bekannten Teilchen nur als ganzes Vielfaches der fundamentalen Einheitsladung vor, die auch das Elektron besitzt, wogegen die Massen verschiedener Teilchen nicht in so einfachen Zahlenverhältnissen auftreten. Eine andere wichtige Eigenschaft subatomarer Partikel ist ihr »Spin«. Viele Teilchen besitzen eine Art inne43
rer Rotation, die in mancher Hinsicht derjenigen eines um seine Achse rotierenden Körpers vergleichbar ist. In Wirklichkeit ist der Spin allerdings eine quantenmechanische Größe, zu der es in der klassischen Mechanik keine direkte Analogie gibt. Ein Punkt, in dem sich der Spin von dem gewöhnlichen Drehimpuls eines Körpers wie der Erde unterscheidet, betrifft die Größe des Drehimpulses. Dieser kann bei einem makroskopischen Körper jeden Wert aus einem kontinuierlichen Größenbereich annehmen. Für ein subatomares Teilchen jedoch ist der Drehimpuls »quantisiert«, das heißt, daß der Spin immer in festen, diskreten Einheiten in Erscheinung tritt, die ganzzahlige Vielfache von ½ h sind, wobei h die durch 2 π dividierte Plancksche Konstante ist. Aus Gründen der Bequemlichkeit sagt man von einem Teilchen, das einen Spin von ½ h besitzt, es habe den Spin ½. So hat das Elektron einen Spin von ½ das Photon einen von 1, das sogenannte »Ωˉ-Teilchen« einen von 3/2 und so weiter. Auch bei den geometrischen Eigenschaften des Spins zeigen sich Eigentümlichkeiten. Ein gewöhnlicher Körper, der sich im Raum um 360° gedreht hat, ist danach zu seiner Ausgangsstellung zurückgekehrt – nicht so ein Teilchen mit dem Spin ½. Wenn ein solches Teilchen um 360° rotiert, geht es in einen Quantenzustand mit meßbar unterschiedlichen physikalischen Eigenschaften über. Um das Teilchen in seinen Ausgangszustand zurück zu versetzen, muß es um 720° gedreht werden. Mit anderen Worten: ein Spin-½-Teilchen braucht gegenüber einem gewöhnlichen Objekt eine doppelte Drehung, um in seine Startposition zurück zu gelangen. Es ist so, als 44
ob ein solches Teilchen eine größere Welt sieht als wir: Verglichen mit seiner Sicht der Welt ist unsere doppelwertig. Erscheinen für uns nach zwei Drehungen um jeweils 360° identische Kopien der Welt, sind diese Welten für das Teilchen verschieden. Offenbar ist die Geometrie des Raumes für ein Spin-½-Teilchen auf fundamentale und komplexe Weise verändert. Wie sich weiter herausstellt, ist der Spin eines Teilchens entscheidend für seine physikalischen Eigenschaften: Teilchen mit einem geradzahligen Vielfachen der Spineinheit ½ h verhalten sich ganz anders als solche mit einem ungeradzahligen. Die ersten werden »Bosonen«, die zweiten »Fermionen« genannt. Fermionen unterliegen dem sogenannten Paulischen »Ausschlußprinzip«, nach dem sich zwei identische Teilchen nicht in dem gleichen Quantenzustand befinden dürfen. Für Bosonen gilt diese Einschränkung nicht. Die Bausteine der Materie können noch in zwei weitere unterschiedliche Klassen eingeteilt werden. Die erste Gruppe wird von den sogenannten »Leptonen« oder »leichten Teilchen« gebildet. Das bekannteste Lepton ist das Elektron. Das Myon, ein weiteres Teilchen dieser Art, unterscheidet sich vom Elektron durch seine 206mal größere Masse. Außerdem sind Myonen instabil und zerfallen in etwa 2 Mikrosekunden in Elektronen. Eine weitere, noch schwerere Version des Elektrons ist das in den 70er Jahren entdeckte, gleichfalls sehr instabile Tauon. Zusätzlich zu den drei geladenen Leptonen gibt es wahrscheinlich drei elektrisch neutrale, als »Neutrinos« 45
bekannte Teilchen. Jedes Neutrino ist hinsichtlich seines Verhaltens mit einem der geladenen Leptonen verknüpft. So gibt es Elektron-Neutrinos, Myon-Neutrinos und – vermutlich – Tauon-Neutrinos, die allerdings noch nicht entdeckt werden konnten. Lange Zeit nahm man an, daß Neutrinos die Ruhemasse Null haben und sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Sicherlich ist die Masse von Neutrinos sehr klein, es gibt aber keinen zwingenden Grund dafür, daß sie masselos sein müssen. Zur Zeit weiß man einfach noch nichts Genaues darüber. Die sechs Leptonen sind alle Fermionen mit dem Spin ½. Charakteristisch für sie ist ihre relativ schwache Wechselwirkung – sie beteiligen sich nicht an Kernreaktionen. Im Gegensatz dazu reagieren Kernteilchen äußerst heftig miteinander. Außer den allgemein bekannten Protonen und Neutronen gibt es viele Dutzende anderer solcher Teilchen, die an Kernreaktionen teilnehmen. Insgesamt bezeichnet man Kernteilchen und die bei Kernreaktionen erzeugten Partikel als »Hadronen«. Hadronen sind im allgemeinen viel schwerer als Leptonen, zum Beispiel ist das Proton 1836mal massereicher als das Elektron. Die meisten schweren Hadronen sind Fermionen. Die Gruppe der »fermionischen« Hadronen wird als »Baryonen« bezeichnet, was »schwere Teilchen« bedeutet. Es gibt auch Hadronen, die zu den Bosonen gehören und wegen ihrer mittleren Masse »Mesonen« genannt werden. Das Proton und das Neutron sind Baryonen mit dem Spin ½. Das leichteste Meson ist das Pion mit dem Spin Null. Tabelle 1 zeigt einige der bekannteren Hadronen. Die meisten werden nur durch griechi46
sche Namen gekennzeichnet. Von allen Hadronen ist nur das Proton stabil – und vielleicht nicht einmal dieses (vergleiche Abschnitt 1.10). Alle übrigen zerfallen in leichtere Hadronen oder Leptonen. Die große Fülle von Hadronen legt die Vermutung nahe, daß es sich dabei nicht um elementare Partikel, sondern um zusammengesetzte Objekte mit innerer Struktur handelt, im Gegensatz zu den Leptonen, die allgemein für fundamentale Partikel gehalten werden. Anfang der 60er Jahre äußerten Gell-Mann und Zweig die Vermutung, daß Hadronen aus kleineren Komponenten bestehen könnten, den sogenannten »Quarks«. Heute ist die »Quark-Theorie« weitgehend anerkannt. Wie die Leptonen gibt es vermutlich auch die Quarks in sechs unterschiedlichen Varianten, die man originellerweise durch verschiedene »Flavours« (Aromata) charakterisiert. Die Namen dieser Varianten sind völlig willkürlich gewählt: Man spricht von »up«-, »down«-, »strange«-, »charm«- sowie »top«- und »bottom«- (oder »truth«- und »beauty«-) Quarks. Wie die Leptonen haben alle Quarks den Spin ½, sind also Fermionen. Die Bildung von Hadronen aus Quarks kann auf zweierlei Weise erfolgen. Die erste besteht in der Vereinigung von jeweils drei Quarks. Nach den Regeln der Quantenmechanik müssen die Spins der Quarks entweder parallel oder antiparallel zueinander sein, so daß sich drei Spin-½-Quarkteilchen mit einem Gesamtspin von ½ oder 3/2 ergeben. Dies sind die Baryonen. Die zahlreichen Kombinationen der verschiedenen Quark-Flavours ergeben alle bekannten Baryonen. So wird zum Beispiel 47
das Proton von zwei »up-Quarks« und einem »downQuark«, das Neutron von zwei »down-Quarks« und einem »up-Quark« und das Ωˉ-Teilchen von drei »strange-Quarks« gebildet. Bei der anderen Kombinationsart verbindet sich ein Quark mit einem Antiquark. Dabei verlangen die Regeln der Quantenmechanik einen Gesamtspin von 0 oder 1, das heißt, das Ergebnis ist stets ein Boson. Auf diese Weise entstehen die Mesonen. Da sie nur zwei Quarks enthalten, während Baryonen aus dreien bestehen, sind Mesonen im allgemeinen die leichteren Teilchen, jedoch nicht immer: Die Masse von »charm-Quarks« beispielsweise ist so viel größer als die von »up«- und »downQuarks«, daß das aus einem Quark-Antiquark-Paar bestehende Meson beträchtlich schwerer als das aus drei Quarks bestehende Proton ist. Wenn Quarks zu dritt ein Baryon bilden, müssen sie eine elektrische Ladung besitzen, die entweder 1/3 oder 2 /3 der Elementareinheit – der Protonenladung – beträgt. Durch eine derartige, nichtganzzahlige Ladung würde sich ein einzelnes Quark von allen anderen Teilchen deutlich abheben, wenn man es experimentell beobachten könnte. Es ist jedoch so gut wie sicher, daß Quarks nicht isoliert werden können. Es gibt starke Indizien dafür, daß sie in einer beständigen Verbindung an Hadronen »gefesselt« sind. Alle Versuche, Hadronen durch Beschuß in ihre Quark-Bestandteile zu zerlegen, sind fehlgeschlagen, und nach allem, was man über die zwischen Quarks wirkenden Kräfte weiß, scheinen Quarks tatsächlich vollständig »eingesperrt« zu sein. 48
Obwohl die Physiker bislang keine isolierten Quarks untersuchen konnten, gibt es überzeugende indirekte Beweise für das Vorkommen dieser Partikel im Innern von Hadronen. Diese Beweise werden von Experimenten geliefert, bei denen Elektronen durch Kernteilchen hindurchgeschossen werden. Die Streumuster der Elektronen lassen auf die Anwesenheit von drei kompakten, massereichen Partikeln in den Kernteilchen schließen. Weitere Beweise für die Existenz von Quarks liefern der Zerfall von Hadronen, die Erzeugung von Hadronen»Jets« bei Stoßexperimenten mit hohen Energien und einige andere Prozesse. Die meisten Physiker nehmen an, daß Quarks und Leptonen der untersten Strukturebene angehören, das heißt die fundamentalen Partikel sind, aus denen alle Materie besteht. Es ist aber natürlich auch denkbar, daß diese Teilchen selbst wieder aus kleineren Einheiten bestehen. So haben viele Physiker das Gefühl, daß die Zahl der Quarks und Leptonen zu groß ist. (Von den sechs Quark-»Flavours« existieren jeweils drei verschiedene »Farben«, so daß es insgesamt 18 unterschiedliche Quarktypen gibt.) Geht man davon aus, daß Quarks und Leptonen fundamentale Einheiten darstellen, erhebt sich die Frage nach ihrer Form. Um wirklich fundamental zu sein, darf ein Teilchen weder zerlegbar noch durch innere Umgruppierungen veränderbar sein. Aus diesem Grund hielt man Quarks und Leptonen lange Zeit für punktförmige Teilchen ohne jede innere Struktur. Wie wir noch sehen werden, führt die Annahme punktförmiger Teil49
Name Symbol Masse Ladung Spin Lebensdauer ————————————————————————————— 139,57 +1 -1 0 2,6 x 10-8 Pion π+ ππ0 134,96 0 0 0,8 x 10-16 ————————————————————————————— 493,67 +1 -1 0 1,2 x 10-8 Kaon K+ KK0 K0 0 0 0,9 x 10-10 ————————————————————————————— Eta η 548,8 0 0 2,5 x 10-19 ————————————————————————————— Proton p p 938,28 +1 -1 ½ >1039 ————————————————————————————— Neutron n n 939,57 0 ½ 898 ————————————————————————————— Lambda Λ Λ 1115,60 0 ½ 2,6 x 10-10 ————————————————————————————— Σ+ Σ+ 1189,36 +1 -1 ½ 0,8 x 10-10 0 0 Sigma Σ Σ 1192,46 0 ½ 5,8 x 10-20 Σ- Σ1197,34 -1 +1 ½ 1,5 x 10-20 ————————————————————————————— Xi Ξ0 Ξ0 1314,9 0 ½ 2,9 x 10-10 Ξ- Ξ1321,3 -1 +1 ½ 1,6 x 10-10 ————————————————————————————— 3 Omega Ω- Ω1672,5 -1 +1 /2 0,8 x 10-10
Tabelle 1: Einige bekannte Hadronen. Die Masse ist jeweils in MeV (Millionen Elektronenvolt), die Ladungen in Einheiten der Protonenladung und die Lebensdauer in Sekunden angegeben. Wenn sich Teilchen und Antiteilchen unterscheiden, werden unterschiedliche Symbole verwandt.
chen aber in ernsthafte theoretische Schwierigkeiten. Es ist wahrscheinlicher, daß die »fundamentalen« Partikel in Wahrheit doch so etwas Ähnliches wie eine Struktur besitzen.
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1.6 Die vier Kräfte Obgleich uns im täglichen Leben eine große Vielfalt von Naturkräften zu umgeben scheint, lassen sie sich auf nicht mehr als vier reduzieren. Am bekanntesten ist die Schwerkraft, der auch durch Newton zuerst eine systematische theoretische Behandlung zuteil wurde. Die Schwerkraft ist die einzige universelle Kraft, die ohne Ausnahme zwischen allen Teilchen wirkt. Ihre Quelle ist die Masse des betreffenden Teilchens, sie ist daher eine »kumulative« Kraft, deren Stärke zunimmt, je mehr Masse angehäuft wird. Außer unter einigen exotischen Umständen hat die Schwerkraft immer eine anziehende Wirkung. Man bezeichnet die Schwerkraft als eine Kraft mit »großer« Reichweite, weil sie über makroskopische, ja sogar kosmische Entfernungen wirkt. Dies liegt daran, daß ihre Stärke mit zunehmendem Abstand relativ langsam abfällt – genauer gesagt mit dem Quadrat des Abstandes. Der Absolutwert der Schwerkraft ist außerordentlich klein. So ist die Gravitationskraft zwischen einem Elektron und einem Proton um etwa 40 Größenordnungen schwächer als die zwischen ihnen wirkende elektrostatische Kraft. Die Schwerkraft scheint daher keine direkte Rolle in der Physik der subatomaren Teilchen zu spielen. Nichtsdestoweniger ist sie eine der fundamentalen Naturkräfte, die in jeder einheitlichen Theorie ihren Platz finden muß. Ein wichtiges Hilfsmittel bei der Beschreibung einer Kraft stellt der Begriff des Feldes dar. Newton ver51
stand Gravitation als eine »Fernwirkung« – ein Teilchen wirkt über den Raum hinweg direkt auf ein anderes. Nach der modernen Vorstellung ist jedes Teilchen Quelle eines Kraftfeldes – in diesem Fall des Gravitationsfeldes –, von dem es umgeben ist. Ein anderes Teilchen, das in dieses Feld eintaucht, erfährt eine Kraft, die proportional zur Stärke des Feldes in diesem Punkt ist. Der Abfall der Kraft mit zunehmendem Abstand wird der Schwächung des Feldes mit der Entfernung von der Quelle zugeschrieben. Im Jahre 1915 ersetzte Einstein die Newtonsche Gravitationstheorie durch seine Allgemeine Relativitätstheorie. Wie bereits in Abschnitt 1.3 dargestellt, wird das Gravitationsfeld dabei als Verformung oder Krümmung der Raumzeit, das heißt rein geometrisch interpretiert. Durch diese geometrische Interpretation erhält die Gravitation gegenüber allen anderen Kräften eine Sonderstellung. Nach Newtons Arbeiten über die Gravitation erhielt der Elektromagnetismus als zweite Kraft ein theoretisches Fundament. Elektromagnetische Kräfte sind seit der Antike bekannt und können experimentell leicht demonstriert werden. Trotzdem wurde die enge Verbindung zwischen Elektrizität und Magnetismus erst im 19. Jahrhundert durch Michael Faraday und andere Forscher aufgedeckt. Danach gelang James Clerk Maxwell die Formulierung eines Gleichungssystems, das beide Kräfte in einer einzigen elektromagnetischen Theorie vereinte. Dies war der erste definitive Schritt in Richtung auf eine einheitliche Theorie der Naturkräfte. 52
Die Quelle des elektromagnetischen Feldes ist die elektrische Ladung. Da nicht alle Teilchen geladen sind, ist die elektromagnetische Kraft keine universelle Kraft wie die Schwerkraft. Mit dieser hat sie jedoch die Reichweite gemeinsam: Elektrische und magnetische Kräfte gehorchen wie die Gravitation einem quadratischen Abstandsgesetz. Wie bereits bemerkt, ist die elektromagnetische Kraft im Vergleich zur Schwerkraft von enormer Stärke. Da elektrische Ladungen jedoch sowohl positiv als auch negativ sein können, besteht innerhalb massereicher Objekte für beide Ladungsarten die Tendenz, sich gegenseitig aufzuheben. Die Kraft ist nicht »kumulativ«, sondern »selbstneutralisierend«. Aus diesem Grund wird das Universum im großen Maßstab viel mehr durch die Gravitation als durch die bei weitem stärkere elektromagnetische Kraft bestimmt. Die zwei verbleibenden Kräfte machen sich im täglichen Leben nicht unmittelbar bemerkbar, weil ihre Reichweiten im subatomaren Größenbereich liegen. Die erste dieser Kräfte, die »starke Wechselwirkung« oder »starke Kernkraft«, ist für die Bindung zwischen Protonen und Neutronen im Atomkern verantwortlich. Jenseits eines Abstandes von etwa 10-15 m fällt die starke Wechselwirkungskraft sehr schnell ab. Mit ihrer kurzen Reichweite steht sie in scharfem Gegensatz zu den großen Reichweiten der Gravitation und der elektromagnetischen Kraft. Außer Protonen und Neutronen unterliegen auch alle anderen Hadronen der starken Wechselwirkung, Leptonen dagegen nicht. Die Kraftwirkungen zwischen den Hadronen sind sehr komplex, was daran liegt, daß Hadronen keine ele53
mentaren Teilchen sind, sondern aus Gruppen von Quarks bestehen, während die fundamentale Wechselwirkung von den Kräften zwischen den Quarks dargestellt wird. Im großen und ganzen ähneln diese Kräfte dem Elektromagnetismus, sind jedoch viel stärker. Eine Komplikation entsteht dadurch, daß – anders als beim Elektromagnetismus, der eine »Zweikörper-Kraft« darstellt – die starke Wechselwirkung für die Bindung von drei Quarks in den Baryonen verantwortlich ist, was eine kompliziertere Fassung des Ladungsbegriffes erforderlich macht. Anstelle einer einzigen Ladungsart als Quelle der elektromagnetischen Kraft gibt es für die starke Wechselwirkung drei Arten von Ladung. Sie werden »Farben« genannt und willkürlich mit Rot, Grün und Blau bezeichnet. Die letzte der vier Kräfte ist als »schwache Wechselwirkung« oder »schwache Kernkraft« bekannt. Sie wirkt auf alle Quarks und alle Leptonen und ist schwächer als die elektromagnetische Kraft, aber viel stärker als die Schwerkraft. Die schwache Wechselwirkung spielt hauptsächlich bei der Umwandlung von Teilchen eine Rolle und macht sich weniger durch direkte Stoß- oder Zugwirkungen bemerkbar. Ursprünglich wurde sie eingeführt, um den Betazerfall, eine bei bestimmten instabilen Kernen beobachtete Art von Radioaktivität, zu erklären. Bei einem typischen Beta-Prozeß zerfällt ein Neutron in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino. Dieser Prozeß wird durch die schwache Kernkraft in Gang gesetzt und schließt die Umwandlung von Quark-»Flavours« ein: Im Neutron wird ein »up-Quark« zu einem 54
»down-Quark«. Die schwache Wechselwirkung kann sowohl bei Quarks als auch bei Leptonen eine Umwandlung des »Flavours« bewirken. Im letzteren Fall können sich zum Beispiel Elektronen in Neutrinos umwandeln. Neutrinos unterliegen – außer der Gravitationskraft natürlich – nur der schwachen Kernkraft und haben eine extrem schwache Wechselwirkung mit anderen Teilchen. So könnte ein Neutrino eine viele Lichtjahre dicke Bleischicht durchdringen, bevor es bis zum Stillstand abgebremst worden wäre. Dennoch können Neutrinos eine gewaltige treibende Kraft entwickeln, die manchmal sogar direkt beobachtet werden kann, und zwar bei dem kollapsartigen Tod von Sternen. In jeder Galaxie explodiert einmal innerhalb einiger Dekaden ein Stern, ein Ereignis, das als »Supernova« bekannt ist. Im Laufe der Jahrhunderte sind viele solcher Ausbrüche beobachtet worden. Der letzte in unserer Nähe ereignete sich im Frühjahr 1987 in der »Großen Magellanschen Wolke«, einer nahen »Mini«-Galaxie. Er war von der Erde aus deutlich zu verfolgen. Eine Supernova wird durch den plötzlichen »Kollaps« des Kerns eines Fixsterns unter seinem eigenen Gewicht ausgelöst. Während dieser Implosion des Kerns wird ein intensiver Neutrinopuls freigesetzt. Die Dichte des Sternmaterials ist dabei so enorm hoch, daß sogar diese »Geisterteilchen« genügend Schubkraft entwikkeln, um die äußere Hülle des Sterns in den Weltraum zu blasen, wobei sich eine expandierende Schale aus leuchtenden Gasen bildet. Es zählt zu den aufregendsten wissenschaftlichen Ereignissen dieses Jahrhunderts, daß der 55
Neutrinopuls der Supernova von 1987 rechtzeitig ein paar Stunden vor der optischen Beobachtung der Sternexplosion von der Erde aus entdeckt werden konnte. Die Reichweite der schwachen Wechselwirkung ist äußerst begrenzt. Nach ihrer Entdeckung glaubte man anfangs sogar, sie sei nur punktförmig wirksam. Heute wissen wir jedoch, daß ihre Reichweite etwa 10-17 m beträgt.
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1.7 Austauschteilchen Wie wir gesehen haben (Abschnitt 1.4), wird das Verhalten subatomarer Teilchen durch die Quantentheorie bestimmt. Daher muß jede Beschreibung von Kräften im subatomaren Bereich mit dieser Theorie im Einklang stehen. Ausgangspunkt der Quantenphysik war Plancks Postulat, daß Licht nur in diskreten Paketen oder »Quanten« in Erscheinung tritt, die man heute »Photonen« nennt. Elektromagnetische Störungen breiten sich in Form solcher teilchenartigen Photonen im Raum aus. Das Photon gehört weder zu den Quarks noch zu den Leptonen, es stellt vielmehr den ersten Vertreter einer dritten Klasse von Teilchen dar. Wir erinnern uns aus Abschnitt 1.5, daß Hadronen aus Fermionen – nämlich Quarks – bestehen, obwohl sie selbst sowohl Fermionen als auch Bosonen sein können. Da auch die Leptonen zu den Fermionen gehören, sind alle fundamentalen Bestandteile der Materie Fermionen. Im Unterschied zu Quarks und Leptonen ist das Photon ein fundamentales Boson. Sein Spin beträgt 1, seine Masse – genauer gesagt seine Ruhemasse – ist Null; es bewegt sich definitionsgemäß mit Lichtgeschwindigkeit. Die Existenz von Photonen ist von besonderer Bedeutung für die Übertragung der elektromagnetischen Kraft. Abbildung 6 zeigt die Bahnen zweier geladener Teilchen nach der klassischen Vorstellung. Bei der Annäherung der Teilchen A und B verursacht das elektromagnetische Feld von A eine abstoßende Kraft auf B, die zu einer Ablenkung dieses Teilchens führt und umgekehrt. Bei die57
Abbildung 6: In der klassischen Physik wird die gegenseitige Ablenkung von zwei elektrisch gleich geladenen Teilchen als ein kontinuierlicher Impulsaustausch beschrieben, der eine Krümmung der Teilchenbahnen voneinander weg bewirkt.
Abbildung 7: Die abstoßende Kraft zwischen zwei gleich geladenen Teilchen wie Elektronen kann aus der Wirkung des gegenseitigen Austauschs von Photonen berechnet werden.
sem »Streuprozeß« wird zwischen den Teilchen Impuls und eventuell auch Energie ausgetauscht. In der Quantentheorie sind Impuls und Energie quantisiert, das heißt, sie können sich nicht kontinuierlich ändern, sondern sind auf bestimmte diskrete Werte beschränkt. Dementsprechend muß auch der in Abbildung 7 dargestellte Ablauf anders interpretiert werden. An die Stelle eines kontinuierlichen Impuls- und Energiestromes zwischen den Teilchen über das elektromagnetische Feld hinweg tritt eine andere Art von Wechselwirkung – der Austausch von Photonen. Abbildung 7 zeigt 58
einen »Ein-Photonen-Austausch«, wobei die Wellenlinie das Photon symbolisiert. (Wegen der Unschärferelation läßt sich die Flugrichtung des Photons nicht genau angeben, da seine Emission und Absorption sich innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls Δt ereignet.) Nach dieser Vorstellung fungiert das Photon als »Bote«, der die elektromagnetische Kraft zwischen geladenen Teilchen überträgt. In der Physik spricht man davon, daß geladene Teilchen an Photonen »koppeln«, die somit für die elektromagnetische Wechselwirkung verantwortlich sind. Außer dem Ein-Photonen-Austausch kommen auch Zwei-Photonen-Austausch-Prozesse vor, die jedoch wesentlich weniger zu dem Streueffekt beitragen als der erste Prozeß. Noch seltener sind Drei- oder Vier-Photonen-Prozesse. Abbildungen wie Abbildung 6 werden nach dem Physiker Richard Feynman »Feynman-Diagramme« genannt. Die zugehörige Theorie ist – wie bereits erwähnt – die Quantenelektrodynamik (QED). Ausführliche, auf diesen Vorstellungen basierende Berechnungen der Streuung und anderer elektromagnetischer Prozesse waren erstaunlich erfolgreich und lieferten Ergebnisse, die sehr genau mit den Messungen übereinstimmten. Man kann alle Naturkräfte in ähnlicher Weise interpretieren, indem man ihnen ein oder mehrere Austauschteilchen zuordnet. Im Falle der Gravitation stellt das »Graviton« – gleichfalls ein Boson, aber mit dem Spin 2 – das Analogon zum Photon dar. Gravitonen koppeln so schwach an andere Teilchen, daß ihr experimenteller Nachweis noch aussteht. Ihre Existenz kann aus indirek59
ten Beweisen gefolgert werden und ist auch aus Gründen der physikalischen Konsistenz allgemein akzeptiert. Die fehlende Ruhemasse der Photonen und Gravitonen steht in direktem Zusammenhang mit der großen Reichweite der Kräfte des Elektromagnetismus und der Gravitation. Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen Gravitonen und Photonen besteht darin, daß Photonen nur an geladene, Gravitonen dagegen an alle Teilchen, auch an Gravitonen koppeln. Das bedeutet, daß Gravitonen selbst der Schwerkraft unterliegen und miteinander in Wechselwirkung treten können, was zu Prozessen wie dem in Abbildung 8 dargestellten führen kann. Die Möglichkeit solcher »Gravitonennetze« gibt einen Hinweis darauf, daß die Theorie der Gravitation »nichtlinear« ist, daß sich Gravitonen-Prozesse also nicht auf einfache Weise überlagern. In einer linearen Theorie wie der des Elektromagnetismus hingegen können sich beispielsweise Photonenstrahlen ohne gegenseitige Störung kreuzen. Die nichtlineare Natur der Gravitation ist Ursache vieler Schwierigkeiten bei der Quantenbeschreibung dieser Kraft (vergleiche Abschnitt 1.12). Wir haben bereits bemerkt, daß die starke Wechselwirkungskraft der elektromagnetischen ähnelt, nur daß sie drei, als »Farben« bezeichnete Arten von »Ladung« kennt. Diese Komplikation wird noch durch die Notwendigkeit verstärkt, nicht weniger als acht Austauschbosonen anzunehmen, die als »Gluonen« bezeichnet werden. Diese Quanten der starken Wechselwirkung haben wie das Photon den Spin 1. Mit dem Graviton teilen sie die Fähigkeit der Selbstkopplung, das heißt, Gluonen 60
sind ebenso wie Quarks »farbige« Teilchen. Die zugehörige Theorie, die »Quantenchromodynamik« (QCD), ist daher nichtlinear. Aus ihr ergibt sich ein ungewöhnliches Abstandsgesetz für die zwischen den Quarks wirkenden Kräfte. Während die meisten Kräfte mit dem Abstand abnehmen, verhält sich die Gluonenkraft genau umgekehrt. Bei geringen Abständen – was hohen Energien entspricht (vergleiche Abschnitt 1.4) – schwindet die Kraft; mit zunehmendem Abstand der Quarks voneinander aber nimmt ihre Stärke zu, ähnlich wie bei einem elastischen Band. Sollte sie dabei unbegrenzt anwachsen können, was sehr wahrscheinlich ist, wären die Quarks für alle Zeiten in ihren »Hadronen-Gefängnissen« eingeschlossen. Die schwache Wechselwirkung schließlich besitzt drei Austauschteilchen, die als W-, W+ und Z bekannt sind. Alle drei sind »Spin-1-Bosonen«, unterscheiden sich aber von allen anderen Austauschteilchen durch ihre von Null verschiedene Masse. Ihre Massen sind sogar sehr groß –
Abbildung 8: Da die Gravitation auf sich selbst gravitative Wirkungen hat, können Gravitonen (gewellte Linien) miteinander wechselwirken, was zu komplexen Feynman-Diagrammen der gezeigten Art führen kann.
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etwa 80 Protonenmassen bei den W- und 90 bei dem ZTeilchen. Darin liegt auch die Ursache für die sehr geringe Reichweite der schwachen Wechselwirkung. Das Z-Teilchen ähnelt, bis auf seine Masse, dem Photon, die W-Teilchen dagegen sind elektrisch geladen. W- ist das Antiteilchen von W+. Wie das Elektron tragen beide eine Elementarladung.
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1.8 Symmetrie und Supersymmetrie Die exakte Behandlung von Symmetrien erfordert den Einsatz höherer Mathematik und liegt außerhalb des Rahmens dieses Buches; die grundlegenden Vorstellungen aber sind nicht schwer zu verstehen. Betrachten wir einige einfache geometrische Figuren: Quadrat, gleichseitiges Dreieck und Kreis (Abbildung 9). Jede von ihnen besitzt vielfältige und interessante Symmetrieeigenschaften. Die vielleicht bekannteste, allen dreien gemeinsame Eigenschaft ist die Spiegelsymmetrie. Hält man einen Spiegel längs der gestrichelten Linien senkrecht zur Buchseite, so bleibt die Figur unverändert: In jedem Falle stellt die linke Seite der Figur die Spiegelung der rechten dar. In der Mathematik wird dieser Sachverhalt etwas komplizierter formuliert, indem man sagt, daß die jeweilige Figur gegenüber der Spiegelung an den durch die gestrichelten Linien markierten Achsen invariant ist. Wie wir sehen, gibt es für jede Figur mehrere Spiegelachsen: vier für das Quadrat, drei für das Dreieck und unendlich viele für den Kreis (der
Abbildung 9: Beispiele für geometrische Symmetrien. Jede der dargestellten Figuren bleibt unverändert, wenn sie an einer der gestrichelten Linien gespiegelt wird.
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Spiegel kann längs eines beliebigen Durchmessers gehalten werden). Die abgebildeten Figuren besitzen aber noch weitere Symmetrien: Wird das Dreieck um 120°, 240° und 360° um den Punkt in der Mitte gedreht, bleibt seine Gestalt unverändert. Das Quadrat kann um vier Winkel, nämlich um 90°, 180°, 270° und 360° gedreht werden, ohne sich zu verändern. Man spricht davon, daß die beiden Figuren gegenüber der Rotation um das Vielfache von 120° beziehungsweise 90° invariant sind. Der Kreis ist bezüglich jeder beliebigen Drehung um seinen Mittelpunkt invariant. Es gibt demnach zwei verschiedene Arten von Symmetrie: kontinuierliche und diskrete. Die Rotation eines Kreises ist eine kontinuierliche Operation, bei der seine Form stets unverändert bleibt. Die Drehungen des Quadrates und des Dreiecks sind demgegenüber spiegelsymmetrische Operationen diskreter Natur. Ein interessanter Gesichtspunkt ergibt sich aus der Frage, was eigentlich die Überlegenheit der Symmetrie des Kreises über die Symmetrie des Quadrates ausmacht. Eine Möglichkeit der Betrachtung dieses Problems ist die Feststellung, daß das Quadrat mehr Struktur als der Kreis aufweist: Verglichen mit einem Quadrat hat ein Kreis weniger Merkmale. Wir können die Rotationssymmetrie eines Kreises zerstören, indem wir ihn etwas abflachen oder einen Punkt in ihn hineinzeichnen. In beiden Fällen gewinnt er durch das Hinzufügen neuer Merkmale an Struktur. Nach einer allgemeinen Regel besitzen an Merkmalen ärmere Systeme eine höhere Symmetrie. 64
Das vielleicht extremste Beispiel für ein System ohne Merkmale ist der leere Raum. Stellen wir uns vor, er würde gedreht: Es würde sich dabei nichts ändern. Auch bliebe alles beim alten, wenn er in einer beliebigen Richtung verschoben würde. Man könnte also sagen, daß der leere Raum in allen Richtungen und an jedem beliebigen Ort der gleiche ist. (Dies trifft allerdings nur dann zu, wenn wir die mit der Gravitation verbundenen Krümmungseffekte vernachlässigen, was aber in der Elementarteilchenphysik immer erlaubt ist.) Darüber hinaus bleibt der leere Raum auch bei Spiegelungen unverändert. Man präzisiert diese einfachen Feststellungen durch die Aussage, daß die geometrischen Strukturen des Raumes – das heißt Entfernungen und Winkel – gegenüber kontinuierlichen Verschiebungen sowie Spiegelungen an beliebigen Ebenen invariant sind. In dieser leeren Welt ohne Merkmale besitzt auch die Zeit eine Symmetrie. Da in einem leeren Raum nichts geschieht, ist ein beliebiger Augenblick von irgendeinem anderen ununterscheidbar, das heißt, es gibt eine Invarianz gegenüber Zeitverschiebungen. Außerdem besteht auch Invarianz bezüglich einer »Spiegelung« der Zeit, also einer Zeitumkehr, denn man kann, da in einer leeren Welt nichts passiert, auch nicht zwischen der in die Vergangenheit und der in die Zukunft weisenden Richtung der Zeit unterscheiden. In der realen Welt ist der Raum natürlich nicht vollkommen leer, sondern von einem Gewimmel von Feldern und Teilchen und von ruheloser Quantenaktivität erfüllt: Die für den leeren Raum gültigen Symmetrien 65
sind zerstört. Einige von ihnen können allerdings noch näherungsweise gültig sein. So sind zum Beispiel im Sonnensystem nicht alle Richtungen gleichwertig. Blickt man zur Sonne hin, sehen die Dinge offensichtlich wesentlich anders aus, als wenn man in die der Sonne abgewandte Richtung schaut. Für viele Zwecke sind solche Abweichungen von der genauen Symmetrie aber unwesentlich und können in guter Näherung ignoriert werden. Betrachten wir nun ein isoliertes Teilchen irgendwo im Weltraum. Dabei sollen Quanteneffekte im Augenblick keine Rolle spielen: Es könnte sich also sowohl um eine Billardkugel als auch um ein Atom handeln. Wir wollen ferner annehmen, daß Körper wie die Sonne oder andere Massen zu weit entfernt sind, um einen merkbaren Einfluß auf das Verhalten des Teilchens nehmen zu können; auch die Wirkung von Kraftfeldern sei zu vernachlässigen. Sicherlich wären wir dann sehr überrascht, wenn das Teilchen plötzlich in irgendeine Richtung davonfliegen würde. Wir würden annehmen, daß wir irgendeine äußere Kraft übersehen hätten. Bei der völligen Abwesenheit von Kräften wären wir sicher, daß sich das Teilchen nicht bewegen dürfte. Der Grund für dieses Vertrauen ist unsere Gewißheit, daß der Raum gegenüber Verschiebungen symmetrisch ist. Wenn kein Teil des Raumes gegenüber einem anderen ausgezeichnet ist, warum sollte sich dann ein Ort durch das plötzliche Auftauchen eines Teilchens von allen anderen unterscheiden? Und warum sollte das Teilchen für seinen Abflug ausgerechnet die beobachtete Richtung wählen und keine andere? 66
Ähnliche Argumente lassen sich auch im Falle von Drehungen anführen. Wir erwarten nicht, daß ein Körper ohne äußeren Anstoß plötzlich zu rotieren beginnt, denn warum sollte er sich beispielsweise gerade im Uhrzeigersinn und nicht andersherum drehen? Außerdem rotiert ein Körper um eine Achse, die eine bestimmte Richtung im Raum festlegt. Wenn der Raum aber in Bezug auf Drehungen symmetrisch ist, gibt es keine bevorzugte Richtung. Daher erwarten wir auch nicht, daß sich ein Körper spontan zu drehen beginnt. Die mathematische Formulierung dieser Betrachtungen offenbart einen tiefen und folgenreichen Zusammenhang zwischen den geometrischen Symmetrien des Raumes und dem dynamischen Verhalten materieller Körper. So führt das Verbot einer spontanen Bewegungsänderung zu den Gesetzen von der Erhaltung des Impulses und des Drehimpulses. Die Symmetrie des Raumes gegenüber Verschiebungen führt direkt zu der Impulserhaltung von Teilchen, seine Symmetrie gegenüber Drehungen zu der Erhaltung des Drehimpulses. Außerdem läßt sich zeigen, daß die Erhaltung der Energie eine Konsequenz der Symmetrie der Zeit in bezug auf Verschiebungen ist: Ein Augenblick ist jedem anderen gegenüber gleichberechtigt. Wir sehen also, daß sich die elementarsten und umfassendsten Gesetze der Physik aus der grundlegenden und selbstverständlichen Tatsache ableiten lassen, daß Raum und Zeit keine besonderen Strukturmerkmale aufweisen. Dies zeigt die Bedeutung der Symmetrie für die Ordnung in der natürlichen Welt. 67
In diesem Zusammenhang ergibt sich eine interessante Frage: Gehorchen alle Kräfte in der Natur automatisch den geometrischen Symmetrien von Raum und Zeit? Maxwells elektromagnetische Theorie enthält alle behandelten Symmetrien, das gleiche gilt auch für die beste verfügbare Beschreibung der Gravitation. Lange Zeit nahmen die Physiker an, daß auch die Kernkräfte in vollem Umfang den geometrischen Symmetrien gehorchen. Es wäre in der Tat alarmierend, wenn die Erhaltungssätze für Energie, Impuls und Drehimpuls in der subatomaren Welt keine Gültigkeit besäßen. Wie steht es nun aber mit den diskreten geometrischen Symmetrien? Wie kann man herausfinden, ob sie für die Gesetze der Physik Gültigkeit besitzen? Um eine Möglichkeit dafür aufzuzeigen, wollen wir annehmen, daß jemand von einem bestimmten Naturvorgang einen Film gedreht hat und ihn auf einen Spiegel oder falsch herum projiziert. Würden wir diese Täuschung dadurch bemerken, daß wir im Spiegel irgendeinen Vorgang beobachten würden, der offensichtlich unmöglich ist? Und wenn man den Film in umgekehrter Richtung – von hinten nach vorn – ablaufen lassen würde, könnten wir Ereignisse beobachten, die die Gesetze der Physik verletzen? Nehmen wir an, der Film würde eine rotierende Kugel zeigen (Abbildung 10). Die Rotationsachse, die wir in Form einer Geraden zeichnen können, legt eine bestimmte Richtung fest. Wenn wir die rotierende Kugel in einem Spiegel beobachten, erscheint ihre »Händigkeit« umgekehrt: Drehungen im Uhrzeigersinn und solche im 68
Abbildung 10: Spiegelsymmetrie. Die Kugel rotiert in der realen Welt im Uhrzeigersinn und in der Spiegelwelt entgegen dem Uhrzeigersinn. Der zweite Fall ist genauso möglich wie der erste, und würden wir nicht sehen, wo der Spiegel ist, so könnten wir nicht entscheiden, welche Kugel real und welche gespiegelt ist. Das gleiche Bild wie im Spiegel würde sich auch dann ergeben, wenn man einen Film mit der rotierenden Kugel rückwärts vorführen würde.
Gegenuhrzeigersinn werden vertauscht. Die Kugel würde anscheinend im entgegengesetzten Sinne rotieren. Hinsichtlich der Orientierung der Rotationsachse existieren jedoch keinerlei Einschränkungen. Wüßten wir daher nichts von der Spiegelung, hätten wir keinen Grund, irgendeinen Trick zu vermuten. Würde sich die Kugel bei näherer Betrachtung allerdings als die Erde herausstellen, wäre die Täuschung natürlich offenkundig, da die Morgendämmerung beispielsweise von West nach Ost statt von Ost nach West über die Kontinente hinweg ziehen würde. Aber wir wollen ja die Symmetrie der Gesetze der Physik diskutieren und nicht die Symmetrie größerer Objekte der realen Welt. In der Welt der subatomaren Teilchen gibt es keine Kontinente, mit deren Hilfe wir ein Teilchen von einem anderen unterscheiden könnten, so daß solche nebensächlichen Komplikationen keine Rolle spielen. 69
Am Beispiel der rotierenden Kugel kann auch die Symmetrie der Zeitumkehr demonstriert werden, denn auch in einem rückwärts laufenden Film erschiene die Drehrichtung umgekehrt. Allein an Hand der Bilder könnten wir nicht entscheiden, ob der Film vorwärts oder rückwärts vorgeführt wird: Sofern die Kugel keine besonderen Merkmale besitzt, sieht beides gleich plausibel aus. Aus dem Alltag wissen wir natürlich alle, wie leicht es ist, etwas Falsches an einem rückwärts laufenden Film zu entdecken, wenn es sich dabei um Szenen wie einstürzende Wohnblocks, einen Mann beim Anstreichen eines Hauses oder das Verschütten von Wasser handelt. In der Mikroweit dagegen bedeutet die Umdrehung des Spins nichts Besonderes. Auch die Umkehrung anderer bekannter Prozesse wie des Zusammenpralls oder der Zerstörung von Teilchen wirken in der Zeitumkehr keinesfalls wie Wunder. Nur das Zusammenwirken vieler Teilchen erscheint uns zeitlich umgekehrt etwas suspekt. So würde die umgekehrte Darstellung des spontanen Zerfalls eines Neutrons in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino unsere Skepsis herausfordern, weil wir beobachten würden, wie drei Teilchen in einem Punkt zusammentreffen, was außerordentlich unwahrscheinlich ist. Bei den meisten makroskopischen Prozessen spricht eine astronomisch hohe Wahrscheinlichkeit gegen einen umgekehrten Ablauf. Im Alltag treten uns Symmetrien am deutlichsten in der Geometrie entgegen (siehe Abbildung 9), sie können sich aber auch auf mancherlei andere Weise äußern. Von zeitlicher Symmetrie war ebenfalls schon die Rede. Es 70
Abbildung 11: Paritätsverletzung. Nach Was Experiment bevorzugen die von Kernen des Isotops Co-60 ausgesandten Betateilchen Flugrichtungen, die von der Richtung des Kernspins weg weisen. Im Spiegel erscheint diese Asymmetrie umgekehrt.
gibt in der Physik aber noch andere wichtige Symmetrien, die nicht direkt mit Raum und Zeit zu tun haben und sich dennoch als von großer Bedeutung erwiesen haben. Ein einfaches Beispiel ist die diskrete Symmetrie der elektrischen Ladungsumkehr. Wir haben Elektronen und Positronen bereits als »Spiegelteilchen« charakterisiert: Man kann das Positron als die »Ladungsspiegelung« des Elektrons betrachten. Da der Betrag der Ladung für beide Teilchen gleich groß ist, handelt es sich dabei sogar um eine exakte Spiegelung. Wir können also erwarten, daß die Gesetze der Physik auch gegenüber Ladungsumkehr invariant sind. Nach einem interessanten Satz der Mathematik müssen die Gesetze der Physik bezüglich der Kombination von Raumspiegelung, Zeitumkehr und Ladungsspiegelung invariant sein. Der Satz beruht auf wenigen, sehr schwachen Annahmen, die niemand ernsthaft bezweifelt. Die entsprechenden Operationen werden mit P, T und C bezeichnet (T steht für »time« = Zeit, C für »Charge« = Ladung und P für »parity« = Parität). (Raumspiegelun71
gen werden in der Physik als Änderung einer als »Parität« bezeichneten Größe verstanden.) Der Satz ist als »CPT-Theorem« bekannt. Mitte der 50er Jahre gerieten die Physiker in Schwierigkeiten bei dem Versuch, Prozesse zu verstehen, bei denen Hadronen unter der Wirkung der schwachen Wechselwirkung zerfielen. Die zwei in den USA lebenden Chinesen Tsung Dao Lee und Chen Ning Yang äußerten die kühne Idee, die schwache Wechselwirkung könnte gegen das Gesetz von der Erhaltung der Parität verstoßen. Bis dahin hatte jedermann die Erhaltung der Parität unter allen Bedingungen für so selbstverständlich gehalten, daß niemand sie für den speziellen Fall der schwachen Wechselwirkung überprüft hatte. Nun aber unternahm die Chinesin Chien-Shiung Wu ein klassisches Experiment, um die Spiegelungseigenschaften von Prozessen der schwachen Wechselwirkung zu bestimmen. Bei ihrem Experiment untersuchte sie die Emissionsrichtungen von Betateilchen, die von Kernen des Isotops Kobalt-60 ausgesandt wurden, um die Winkel zwischen diesen Richtungen und der Spinachse der Kerne zu bestimmen. Die Situation ist in Abbildung 11 dargestellt. Dabei ist die Spinrichtung durch einen Pfeil (einen »Vektor«) festgelegt, der längs der Spinachse verläuft und in die Richtung weist, in die sich die Spitze eines Korkenziehers bewegen würde, den man im Sinne des Spins weiterdreht. Wie Wu herausfand, bevorzugten die Elektronen bei ihrem Austritt die von der Spitze des Spinvektors fortweisende Richtung. In einem Spiegel betrachtet, erschiene diese Vorzugsrichtung umgekehrt; der Zer72
Abbildung 12: Bei dem Zerfall eines Myons entweicht das Elektron für die dargestellte Lage der Spinachse bevorzugt nach der rechten und seltener nach der linken Seite. (Bei dem Zerfall werden auch zwei Neutrinos emittiert, die das Bild nicht zeigt.) Natürlich ist diese schiefe Verteilung asymmetrisch gegenüber Spiegelung: Das Spiegelbild zeigt, daß die Elektronen die linke Seite bevorzugen. Dieses Verhalten wird bei dem Zerfall des Antiteilchens beobachtet.
fall besitzt also eine klare »Händigkeit«. Würde man daher das gefilmte Experiment über einen Spiegel auf einen Schirm projizieren, könnte ein Physiker feststellen, daß es sich um eine Spiegelung handelt: Das gespiegelte Bild zeigt einen unmöglichen Prozeß. Das Experiment liefert also den direkten Beweis dafür, daß die Parität beim Betazerfall nicht erhalten bleibt. Die Nichterhaltung der Parität hat sich als ein allgemeines Merkmal der schwachen Wechselwirkung herausgestellt. Ein deutliches Beispiel dafür liefert der Zerfall des negativ geladenen Myons (mit µ- gekennzeichnet) in ein Elektron (e-) plus Neutrinos. Zwar kann das Schicksal der Neutrinos nicht direkt verfolgt werden, man kann aber sowohl die Richtung des Myonenspins als auch die Bewegungsrichtung des emittierten Elektrons beim Myonenzerfall ermitteln. Obwohl das Elektron von dem µ- relativ zu dessen Spinachse in einen großen Winkelbereich hinein ausgesandt werden kann, zeigt 73
es eine Vorliebe, nach derjenigen Seite wegzufliegen, von der aus der Spin des Myons im Uhrzeigersinn erscheint. Die Situation ist in Abbildung 12 dargestellt. Betrachten wir das Spiegelbild des Zerfalls: Nach der Spiegelung ist der Spin des Myons umgedreht, aus einer rechtshändigen Rotation ist eine linkshändige geworden. Im Spiegelbild wählt das entweichende Elektron diejenige Seite, von der aus das Myon gegen den Uhrzeigersinn zu rotieren scheint. Der Spiegel verändert also die Beziehung zwischen der Spinrichtung und der Richtung des fortfliegenden Teilchens. Führt man eine ähnliche Analyse für den Zerfallsprozeß des Antiteilchens durch, bei dem ein positiv geladenes Myon (µ+) in ein Positron (e+) zerfällt, findet man die Situation gegenüber dem Zerfall des negativ geladenen Myons umgekehrt, so wie sie im Spiegelbild in Abbildung 12 erscheint. Die Umkehrung ist sogar exakt: Man findet bei den Elektronenbahnen den gleichen Grad an Asymmetrie, diesmal jedoch nach der anderen Seite. Dieses Ergebnis entspricht der Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie und besagt, daß die Gesetze für den Myonenzerfall gegenüber der Kombination von Paritätsumkehr P mit Ladungsumkehr C (wobei sich ein µ- in ein µ+ umwandelt) invariant sind: Die CPSymmetrie bleibt erhalten, auch wenn P verletzt wird. Die Entdeckung der »Paritätsverletzung« (das heißt der Nichterhaltung der Parität) für die schwache Wechselwirkung war ein großer Schock für die Physiker. Obgleich es auf der Welt genügend komplexe Strukturen gibt, die eindeutig rechts- beziehungsweise linkshändig sind – zum Beispiel die DNS –, ist die Existenz einer bevorzugten 74
Händigkeit in den Gesetzen der Physik weitaus schwerwiegender: Sie besagt, daß die Natur auch bei Abwesenheit komplexer Strukturen links vor rechts bevorzugt. Zuvor hatte man geglaubt, die Natur würde im leeren Raum zwischen rechts und links ebensowenig wie zwischen oben und unten unterscheiden. Wie die Geschichte der Physik zeigt, kann die Analyse mathematischer Symmetrien zu wichtigen neuen Naturprinzipien führen, auch wenn es manchmal schwierig oder sogar unmöglich ist, solche Symmetrien anschaulich zu interpretieren. So haben die Physiker bei ihrem Streben nach einem besseren Verständnis der Welt in der Suche nach neuen Symmetrien ein wirkungsvolles Hilfsmittel entdeckt. Die kontinuierlichen Symmetrien, die wir bis jetzt erörtert haben, schlossen alle den Raum oder die Raumzeit ein. Es gibt aber auch kontinuierliche Symmetrien abstrakterer Art. Wie bereits erläutert, besteht eine enge Verbindung zwischen Symmetrien und Erhaltungssätzen. Einer der am besten gesicherten Erhaltungssätze betrifft die elektrische Ladung. Ladungen können sowohl positiv als auch negativ sein. Der Erhaltungssatz der Ladung besagt, daß sich die Differenz aus der Gesamtmenge der positiven und derjenigen der negativen Ladung nicht verändert. Trifft eine positive Ladung auf die gleiche Menge an negativer Ladung, neutralisieren sich beide gegenseitig zur Gesamtladung Null. Entsprechend kann eine positive Ladungsmenge nur so lange erzeugt werden, wie gleichzeitig eine ebenso große negative Ladungsmenge entsteht. Jede Zu- oder Abnahme der Ladungssumme aber ist streng verboten. 75
Wenn die elektrische Ladung einem Erhaltungsgesetz genügt, erhebt sich die Frage nach der Symmetrie, die diesem Gesetz zugrunde liegt. Die zahlreichen dynamischen Erhaltungsgesetze wie die für Impuls und Energie sind mit kontinuierlichen Symmetrien verknüpft. Der Satz von der Ladungserhaltung dagegen weist eher auf eine abstrakte als auf eine dynamische Symmetrie hin. Ein aus dem Alltagsleben gegriffenes Beispiel für eine solche Symmetrie ist die Inflation. Wenn eine Währung steigt oder fällt, steigt oder fällt auch das Realeinkommen einer Person, die ein festes Gehalt in dieser Währung bezieht. Bei einem Einkommen, das an den Lebenshaltungsindex gekoppelt ist, ist der reale Verdienst jedoch vom Stand der Währung unabhängig. In der formalen Sprache der Mathematik würde man sagen, daß das indexgekoppelte Einkommen gegenüber inflationären Schwankungen symmetrisch ist. In der Physik gibt es viele Beispiele für nichtgeometrische Symmetrien. Eines davon hängt mit dem Heben eines Gewichtes zusammen. Die dafür benötigte Energie hängt von der Höhendifferenz ab, um die das Gewicht angehoben wird, nicht dagegen vom Weg, der dabei durchlaufen wird. Die Energie ist aber auch unabhängig vom Absolutwert der Höhe: Es spielt keine Rolle, ob man die Höhen auf den Meeresspiegel oder den Erdboden bezieht; nur die Höhendifferenz ist wichtig. Somit liegt eine Symmetrie bezüglich der Wahl der Nullhöhe vor. Eine ähnliche Symmetrie existiert für elektrische Felder, bei denen die Spannung (genauer das elektrische Potential) der Höhe im Schwerefeld entspricht. Wird eine 76
elektrische Ladung in einem elektrischen Feld von einem Punkt zu einem anderen bewegt, so hängt die dazu erforderliche Energie nur von der Spannungsdifferenz zwischen den Endpunkten des dabei zurückgelegten Weges ab. Wird die Spannung an beiden Wegenden um den gleichen Betrag erhöht, bleibt die aufgewendete Energie unverändert. Diese Symmetrie ist für die Maxwellschen Gleichungen des Elektromagnetismus von Bedeutung. Damit haben wir drei Beispiele für abstrakte Symmetrien kennengelernt, die bei der »Eichung« von Geld beziehungsweise Höhe und Spannung eine Rolle spielen. Symmetrien dieser Art werden von den Physikern als »Eichsymmetrien« bezeichnet. Im Gegensatz zu den geometrischen Symmetrien sind die abstrakten Symmetrien der Anschauung nicht direkt zugänglich. Nichtsdestoweniger bilden sie wichtige Indikatoren für die Eigenschaften der betreffenden Systeme. So sichert die Eichsymmetrie für Spannungen die Erhaltung der elektrischen Ladung. Eichsymmetrien haben bei der Suche nach einer Quantentheorie der verschiedenen Naturkräfte eine zentrale Rolle gespielt, und gerade auch die Versuche zu einer Vereinheitlichung aller Kräfte stehen mit Eichsymmetrien in Zusammenhang. Wie wir gesehen haben, gibt es in der Physik zwei Gruppen von Symmetrien, die geometrischen Symmetrien wie die Drehungen und Spiegelungen und die abstrakten wie die Eichsymmetrien. Anfang der 70er Jahre entdeckten die Theoretiker überraschend eine bis dahin unbekannte geometrische Symmetrie, die tiefreichender und stärker ist als die bekannten Operationen wie Dre77
hungen und Spiegelungen. Sie wird »Supersymmetrie« genannt. In Abschnitt 1.5 wurde erwähnt, daß die von einem Fermion »erfahrene« geometrische Struktur des Raumes sich von der durch ein Boson erfahrenen grundlegend unterscheidet: Ein Fermion muß um 720° gedreht werden, bis es zu seiner Ausgangsstellung zurückgekehrt ist. Diese »Doppelwertigkeit« des Fermions bedeutet, daß die Rechenvorschriften für geometrische Symmetrieoperationen wie Rotationen bei Fermionen völlig anders sind als für Bosonen und gewöhnliche Objekte überhaupt. In der Tat liegt einer der Gründe für den fundamentalen Unterschied zwischen Bosonen und Fermionen gerade darin, daß sie vollkommen verschiedene geometrische Eigenschaften besitzen. Das Interessante an der Supersymmetrie ist nun, daß sie einen geometrischen Rahmen für die gemeinsame Beschreibung von Fermionen und Bosonen zur Verfügung stellt. Diese kann jedoch nicht erreicht werden, wenn man sich auf die gewohnten geometrischen Operationen im herkömmlichen Raum beschränkt. Mathematisch lassen sich die supersymmetrischen Operationen dadurch beschreiben, daß man den vier Dimensionen der gewöhnlichen Raumzeit vier weitere hinzufügt, die zusammen mit den ersteren eine Art »Hyperraum« bilden. Die vier zusätzlichen Dimensionen sind für die Anpassung an die speziellen geometrischen Eigenschaften der Fermionen erforderlich, daher sind diese »fermionischen« Dimensionen keine Raum- oder Zeitdimensionen, wie wir sie kennen. 78
Die Gesetze der Geometrie in diesen zusätzlichen Dimensionen sind sehr merkwürdiger Natur. Der Unterschied zu den bekannten geometrischen Regeln läßt sich am Beispiel von Rotationen demonstrieren. Wie man leicht beweisen kann, hängt das Ergebnis zweier aufeinanderfolgender Rotationen von der Reihenfolge ab, in der sie durchgeführt werden. Dies wird in Abbildung 13 für die Drehungen eines Buches um Winkel von jeweils 90° illustriert. In den beiden dargestellten Fällen ergeben sich für das Buch am Ende vollkommen unterschiedliche Orientierungen. Bezeichnet man die aufeinanderfolgenden Rotationen durch R1 und R2, kann man diesen Unterschied symbolisch durch die Beziehung R1R2 ≠ R2R1 oder – gleichbedeutend damit – durch R1R2 – R2R1 ≠ 0 ausdrücken. Die Kombination R1R2 – R2R1 bezeichnet man als den »Kommutator« von R1 und R2. Auf der Grundlage solcher Kommutatorbeziehungen kann man eine Algebra der Rotationen konstruieren, welche die geometrischen Eigenschaften des Raumes beschreibt, wie sie von Büchern oder Bosonen »erfahren« werden. Auch in den zusätzlichen »fermionischen« Dimensionen des Hyperraumes lassen sich Operationen definieren, die Drehungen im gewöhnlichen Raum entsprechen. Dabei müssen die geometrischen Eigenschaften dieses Teils des Hyperraumes allerdings der besonderen Natur des Spins der Teilchen angepaßt werden. Es stellt sich heraus, daß man es in diesem Fall nicht mit Kommutatoren, sondern mit sogenannten »Antikommutatoren« zu tun hat, in denen die Kombination R1R2 + R2R1 auftritt. Die scheinbar harmlose Ersetzung des Minuszeichens durch ein Plus79
Abbildung 13: Rotationen sind »nichtkommutativ«. In der oberen Sequenz wird ein Buch sukzessive jeweils 90° um seine vertikale, beziehungsweise horizontale Achse gedreht. In der unteren Sequenz ist die Reihenfolge der Rotationen umgekehrt. Das Endergebnis beider Sequenzen ist verschieden.
zeichen hat einen dramatischen Unterschied in der mathematischen Beschreibung zur Folge. Mit Hilfe einer konsistenten mathematischen Konstruktion erhält man schließlich eine einheitliche Beschreibung von Bosonen und Fermionen. Etwas vereinfacht gesagt, ermöglichen supersymmetrische Operationen Drehungen aus der gewöhnlichen Raumzeit unserer Erfahrung in die zusätzlichen fermionischen Dimensionen. In die Welt der Teil80
chen übersetzt, entspricht eine solche Operation der Transformation eines Bosons in ein Fermion und umgekehrt. So kann man Fermionen und Bosonen als zwei verschiedene »Projektionen« einer einzigen geometrischen Grundeinheit ansehen. Nachdem wir die Supersymmetrie bisher nur als eine mathematische Eigenschaft beschrieben haben, könnte man sich die Frage stellen, inwieweit sie auch in der realen Welt vorkommen könnte. Wenn die Welt supersymmetrisch wäre, müßten wir einen direkten physikalischen Beweis für die Verknüpfung von Fermionen und Bosonen finden können. So sollte zum Beispiel zu jedem bekannten Fermion ein passendes Boson mit entsprechenden Eigenschaften existieren und zu jedem Boson ein passendes Fermion, so daß jedem Teilchen ein »Superpartner« zugeordnet wäre. Das Studium der Liste aller zur Zeit bekannten Bosonen und Fermionen zeigt, daß es nicht möglich ist, sie auf diese Weise systematisch miteinander zu paaren. Dies heißt jedoch nicht notwendigerweise, daß die Supersymmetrie für die reale Welt ohne Bedeutung wäre. Zum einen begegnet man in der Natur häufig dem Fall, daß eine in den Gesetzen der Physik verborgene, tiefliegende Symmetrie im realen Zustand des physikalischen Systems »gebrochen« ist. Eine solche »Symmetriebrechung« tritt zum Beispiel im Falle der sogenannten »elektroschwachen« Kraft auf (vergleiche Abschnitt 1.10), bei der die zugrundeliegende Symmetrie verborgen ist. Es könnte also sein, daß die Natur im Grunde supersymmetrisch ist, daß aber die Sym81
metrie für die meisten der bis jetzt erforschten Phänomene gebrochen ist. Zum zweiten gibt es keinen Grund dafür, daß die gegenwärtig bekannten Fermionen Superpartner der bekannten Bosonen sind: Es könnte viele unentdeckte Partikel geben, die Superpartner der heute bekannten Teilchen sind. So nimmt man beispielsweise an, daß Superpartner von Photonen in Form der sogenannten »Photinos« existieren, die aber nur sehr schwach mit gewöhnlicher Materie wechselwirken und deswegen bisher noch nicht nachgewiesen werden konnten. In ähnlicher Weise sprechen die »Supertheoretiker« auch von »Gluinos« als den Partnern der Gluonen und von »Gravitinos« als denen der Gravitonen. Und schließlich wären da noch die Superpartner der Fermionen – »Squarks« und »Sleptonen«, lauter Teilchen, über die es zur Zeit nur Vermutungen gibt. Die Supersymmetrie ist also eine ergiebige theoretische Idee, der jedoch jede eindeutige Bestätigung durch die Natur fehlt.
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1.9 Die Vereinheitlichung der Kräfte Mit der Entdeckung des Phänomens der elektromagnetischen Induktion in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte Michael Faraday eine eindeutige Verbindung zwischen zwei Naturkräften – der Elektrizität und dem Magnetismus – gefunden, bevor Maxwells Genie in den 50er Jahren eine einheitliche elektromagnetische Theorie entwarf. Aber bereits 1850 hatte Faraday eine Verbindung zwischen Elektrizität und Gravitation vermutet. Um seine Idee zu beweisen, entwarf er mehrere geniale Versuchsanordnungen, die beispielsweise demonstrieren sollten, daß fallende Körper elektrische Felder erzeugen. Die Karikatur einer solchen Apparatur ist in Abbildung 14 dargestellt. Die negativen Resultate seiner Experimente konnten Faradays Glauben nicht erschüttern, daß elektrische und gravitative Kräfte im tiefsten Grunde Teilaspekte ein und derselben »Superkraft« sind. Der nächste ernsthafte Versuch einer einheitlichen Theorie von Gravitation und Elektromagnetismus wurde 1921 unternommen, ein paar Jahre nachdem Einstein seine Gravitationstheorie, die Allgemeine Relativitätstheorie, veröffentlicht hatte. Wie in Abschnitt 1.3 erläutert, ist eine wichtige Aussage dieser Theorie, daß Raum und Zeit in der vierdimensionalen Raumzeit miteinander verknüpft sind. Beim Nachsinnen über diese Theorie kam der deutsche Mathematiker Theodor Kaluza auf die Idee, Einsteins Gleichungen für das Gravitationsfeld in fünf statt in vier Dimensionen zu schreiben, indem er einfach eine imaginäre Dimension hinzufüg83
Abbildung 14: Karikatur über Faradays Versuch, eine Verbindung zwischen elektrischen Kräften und der Gravitation zu demonstrieren (mit freundlicher Genehmigung von A. de Rujula).
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Abbildung 15: Aus größerem Abstand erscheint ein Schlauch wie eine gewellte Linie. Bei näherer Betrachtung des Punktes P auf der Linie erweist sich dieser als Kreis, der um den Umfang des Schlauches herumläuft. Es ist möglich, daß das, was wir normalerweise für einen Punkt im dreidimensionalen Raum halten, in Wirklichkeit ein Kreis ist, der eine andere Dimension des Raumes einschließt. Diese Idee bildet die Grundlage der von Kaluza und Klein entwickelten einheitlichen Theorie der elektromagnetischen und gravitativen Kräfte.
te. Das Ergebnis erwies sich als erstaunlich fruchtbar: Projiziert in den gebräuchlichen Rahmen von vier Dimensionen ergaben die fünfdimensionalen Gleichungen die bekannten Einsteinschen vierdimensionalen Gravitationsgleichungen plus einem System weiterer Gleichungen, die sich als die exakten Maxwellschen Gleichungen des elektromagnetischen Feldes herausstellten. Durch die Formulierung der Gravitationsgleichungen in fünf Dimensionen lassen sich sowohl die Gravitation als 85
auch der Elektromagnetismus aus einer einzigen Theorie ableiten. Mit anderen Worten: Nach Kaluzas Theorie ist der Elektromagnetismus keine besondere Kraft, sondern ein Aspekt der Gravitation, wenn auch in einer Welt, die eine unsichtbare höhere Raumdimension besitzt. Die prinzipielle Schwäche der Theorie besteht darin, daß wir in der realen Welt nur vier Dimensionen wahrnehmen. Nimmt man die Vorstellung von fünf Dimensionen ernst, muß man erklären, was aus der fünften Dimension geworden ist. Im Jahre 1926 fand der schwedische Physiker Oskar Klein auf diese Frage eine überraschend einfache Antwort. Klein nahm an, daß wir die zusätzliche Dimension nicht bemerken, weil sie gewissermaßen in sehr kleinen Bereichen »zusammengerollt« ist. Die Situation läßt sich am Beispiel eines Schlauches veranschaulichen: Von weitem erscheint er als gewundene Linie. Bei näherer Betrachtung jedoch stellt sich das, was wir zunächst für einen Punkt auf dieser Linie hielten, als ein Kreis heraus, der um den Umfang des Schlauches herumläuft (Abbildung 15). Wenn unser Universum, wie von Klein vermutet, eine ähnliche Struktur besitzen sollte, so wäre das, was wir für einen Punkt im dreidimensionalen Raum halten, in Wahrheit ein winziger Kreis in der vierten Raumdimension. Von jedem Punkt des Raumes aus erstreckt sich also ein winziger »Kringel« in eine Richtung, die wir weder mit »unten« noch mit »oben« noch mit »seitwärts« noch durch beliebige andere Richtungsangaben im Raum unserer Wahrnehmungen beschreiben können. Der Grund, warum wir alle diese 86
Kringel nicht bemerken, ist ihre unvorstellbare Winzigkeit – so Kleins Argument. Es mag nicht ganz leicht sein, sich an Kleins Idee zu gewöhnen. Eine Schwierigkeit dabei ist, sich vorzustellen, wo diese Kringel sich befinden. Sie liegen nicht innerhalb des Raumes – man kann eher davon sprechen, daß sie ihn »aufspannen«, so wie ein Kreis, den man starr einer gewundenen Linie entlang bewegt, eine Röhre ergibt. In zwei Dimensionen können wir uns das gut vorstellen, aber nicht in vier. Dennoch ist die Idee von Nutzen. So konnte Klein den Umfang der »Kringel« in der fünften Dimension aus den bekannten Werten für die Elektronenladung und die Stärke der zwischen elementaren Teilchen wirkenden Gravitationskraft berechnen. Es ergab sich ein Wert von 10-30 cm, das ist etwa der 1017te Teil der Größe eines Atomkerns. Es ist also nicht überraschend, daß wir von dieser imaginären fünften Dimension nichts bemerken. Sie ist in Bereichen zusammengerollt, die weitaus kleiner als alle jemals nachgewiesenen Strukturen, einschließlich der subatomaren Teilchen, sind. Trotz ihrer Genialität blieb die Kaluza-Klein-Theorie fünfzig Jahre lang eher eine mathematische Kuriosität. Mit der Entdeckung der schwachen und starken Wechselwirkungskräfte in den 30er Jahren hatte die Idee einer Vereinigung von Gravitation und Elektromagnetismus viel von ihrer Anziehung verloren. Jede erfolgreiche einheitliche Feldtheorie hätte nicht zwei, sondern vier Kräfte berücksichtigen müssen, und dieser Schritt konnte nicht getan werden, bevor die Wissenschaftler nicht 87
ein gründliches Verständnis der schwachen und starken Wechselwirkung gewonnen hatten. In den 50er Jahren dieses Jahrhunderts schossen die Entdeckungen neuer subatomarer Teilchen und Kräfte ins Kraut und enthüllten ein Bild von verwirrender Komplexität, das alle Hoffnungen auf eine einfache Form der Vereinheitlichung vereitelte. Tatsächlich besaß von den vier bekannten Kräften zu dieser Zeit nur der Elektromagnetismus eine theoretische Grundlage (die QED), die sowohl in sich selbst konsistent als auch mit den alles beherrschenden Theorien der Relativität und der Quantenmechanik in Einklang war. Die Natur der drei anderen Kräfte war damals noch weitgehend unverstanden. Die Entdeckung der Paritätsverletzung hatte eine gründliche Überholung der Theorie der schwachen Wechselwirkung erforderlich gemacht, um den Einbau der Links-RechtsAsymmetrie zu ermöglichen. Dies war zwar geglückt, die resultierende Theorie lieferte jedoch nur für einige einfache schwache Wechselwirkungsprozesse vernünftige Ergebnisse, und auch dies nur für nicht allzu hohe Energien. Bei den meisten Prozessen führte sie zu absurden Resultaten. Sie war also nicht nur mathematisch inkonsistent und von geringer Vorhersagekraft, sondern offensichtlich auch von Grund auf fehlerhaft. Für die starke Wechselwirkung fehlte überhaupt jedes Verständnis. Die Wechselwirkung zwischen Hadronen schien nicht durch eine einzige starke Kernkraft, sondern durch ein komplexes Bündel verschiedener Kräfte und Felder bestimmt zu sein. Heute wissen wir, daß die Kräfte zwischen den Hadronen in Wahrheit ein kompli88
ziertes Zusammenspiel der einfacheren Kräfte zwischen den Quarks sind; in der ersten Zeit wurden jedoch Versuche unternommen, die Kräfte zwischen den Hadronen als fundamentale Wechselwirkungen zu behandeln. Schon 1935 hatte der japanische Physiker Hideki Yukawa in Analogie zur QED ein Modell für die starke Kernkraft entworfen, das ein Austauschteilchen für die Hadroneninteraktion voraussagte und damit zur Entdeckung des »Pions« führte. Bald wurde jedoch klar, daß dieses PionAustausch-Modell nur eine grobe Beschreibung der starken Kernkraft lieferte. Außerdem führten die Berechnungen starker Wechselwirkungsprozesse, wie im Fall der schwachen Wechselwirkung, häufig zu unsinnigen Resultaten. Die Gravitation besaß in den 50er Jahren einen Sonderstatus. Anders als für die schwache und starke Wechselwirkung gab es für sie eine konsistente und sehr elegante theoretische Fassung auf klassischer, das heißt nicht quantentheoretischer Grundlage – Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Mehrere aus der Theorie abgeleitete Voraussagen waren durch Experimente bestätigt worden. Die großen Schwierigkeiten mit der Allgemeinen Relativitätstheorie begannen, als die Physiker eine quantenmechanische Beschreibung der Gravitation versuchten. Wie im Falle der schwachen Wechselwirkung verhinderten auch hier mathematische Unstimmigkeiten, daß die Theorie mehr als nur die Voraussage der einfachsten Prozesse zu leisten vermochte. Da die Gravitation gewöhnlich nur in astronomischen Größenbereichen, in denen Einsteins klassische 89
Theorie vollständig gültig ist, deutlich in Erscheinung tritt, machten sich die meisten Physiker in den 50er und 60er Jahren wegen der Schwierigkeiten bei der Quantenformulierung der Gravitation keine großen Sorgen. Gravitonen koppeln viel zu schwach an andere Teilchen, um beobachtet werden zu können oder in der Teilchenphysik eine direkte Rolle zu spielen. Trotzdem waren die Schwierigkeiten mit der Quantengravitation in bestimmter Hinsicht ernster als diejenigen mit der schwachen und starken Wechselwirkung. Die Allgemeine Relativitätstheorie nimmt nicht nur wegen ihrer großen Erfolge bei der Voraussage bestimmter Effekte eine zentrale Stellung in der Physik des 20. Jahrhunderts ein. Sie ruht auf tiefreichenden, einfachen und klaren Prinzipien und ist mathematisch sehr elegant. Sie reduziert die Gravitation auf reine Geometrie und ist damit ästhetisch wie philosophisch gleichermaßen attraktiv. Die Quantentheorie besitzt einen anderen Status. Ihr fehlt die einfache Klarheit und die ästhetische Faszination der Allgemeinen Relativitätstheorie. Ihre Grundpostulate sind schwer verständlich, und es gibt schwerwiegende Bedenken gegen ihre philosophischen Konsequenzen in bezug auf die Rolle des Beobachters. Andererseits kann sie auf viel mehr Gebiete angewandt werden als die Allgemeine Relativitätstheorie. Die Quantenmechanik bildet die unentbehrliche Grundlage für die Teilchen, Kern-, Atom-, Molekül- und Festkörperphysik, für die physikalische Chemie, die moderne Optik, die stellare Astrophysik und die Kosmologie. 90
Die Relativitätstheorie und die Quantentheorie bilden ohne Zweifel die Grundlage der Physik des 20. Jahrhunderts. Die erste ist von hohem ästhetischem Reiz und großer Überzeugungskraft, hat aber nur eine begrenzte Anwendungsmöglichkeit. Die zweite ist zwar weniger ansehnlich, kann aber auf eine in der Wissenschaft einmalige Erfolgsbilanz zurückblicken. Die Tatsache, daß diese beiden Theorien nicht miteinander vereinbar sind, bedeutet eine tiefe und schwerwiegende Spaltung der Physik. Jede erfolgversprechende AUT muß diese gravierende Diskrepanz aus der Welt schaffen.
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1.10 Einheitliche Eichtheorien Über viele Jahre hinweg wurden die Schwierigkeiten mit der Quantengravitation als unüberwindlich angesehen. Die Physiker hatten das Problem beiseite geschoben und ihre ganze Aufmerksamkeit der starken und schwachen Wechselwirkung zugewandt. In den frühen 60er Jahren entdeckten Sheldon, Glashow und andere Forscher, daß die schwache Wechselwirkung und die elektromagnetische Kraft bei genauerer Prüfung eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten besitzen, obwohl sie bei oberflächlicher Betrachtung nicht sehr ähnlich zu sein scheinen. So werden beide durch den Austausch von Spin-1-Bosonen übertragen. Man kann ferner der schwachen Wechselwirkung in Analogie zur Elektrizität eine »schwache Ladung« beziehungsweise einen »schwachen Strom« zuordnen. Der prinzipielle Unterschied zwischen den beiden Kräften besteht darin, daß das Photon masselos und die elektromagnetische Kraft von großer Reichweite ist, während die Quanten der schwachen Wechselwirkung sehr massereich sind, und die Reichweite dieser Kraft sehr gering ist. Hätte die schwache Wechselwirkung die gleiche große Reichweite wie die elektromagnetische, wären die beiden fast identisch. Unter den Physikern wuchs die Hoffnung, es könnte möglich sein, beide Kräfte in einer gemeinsamen Theorie zu verschmelzen und so das im 19. Jahrhundert von Maxwell begonnene Programm der Vereinheitlichung fortzuführen. 92
Wie die mathematische Analyse zeigt, ist die Masselosigkeit des Photons eng mit der Eichsymmetrie verknüpft, die Maxwell in die Gleichungen des elektromagnetischen Feldes eingebaut hatte. Diese Eichsymmetrie erweist sich gerade als die grundlegende Eigenschaft, die die mathematische Konsistenz der QED sicherstellt. Im Gegensatz dazu zerstört die große Masse der Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung jede eventuell vorhandene Eichsymmetrie in den zugehörigen Gleichungen. Diese »Symmetriebrechung« war es, die die frühen Theorien der schwachen Wechselwirkung unbefriedigend bleiben ließ. Solange sich diese Schwierigkeit nicht umgehen ließ, konnte es auch keine Hoffnung auf eine konsistente Theorie der schwachen Wechselwirkung und eine Vereinigung dieser Kraft mit der elektromagnetischen Kraft geben. Ende der 60er Jahre entdeckten Steven Weinberg und Abdus Salam unabhängig voneinander, daß man dem Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung eine Masse zuschreiben kann, ohne die zugrunde liegende Eichsymmetrie zu brechen. Es erwies sich als unnötig, diese Masse direkt in die dynamischen Grundgleichungen einzubauen – sie kann auch »spontan« bei bestimmten Prozessen im Feld der schwachen Wechselwirkung erzeugt werden. Demzufolge wäre das Auftreten einer Masse ein sekundärer Effekt, so daß die Eichsymmetrie in den Grundgleichungen erhalten bleibt. Die Idee, daß die schwache Eichsymmetrie eher »spontan« als »dynamisch« gebrochen wird, kann sich auf viele Beispiele spontaner Symmetriebrechung aus an93
Abbildung 16: Spontane Symmetriebrechung. Eine Kugel ist auf der Spitze einer »Mexikanerhut«Oberfläche plaziert. Diese Konfiguration ist zwar vollkommen rotationssymmetrisch, aber instabil: Die Kugel kann spontan in die Hutkrempe hinunterrollen und dort in irgendeinem Punkt zur Ruhe kommen, wodurch die Rotationssymmetrie »gebrochen« worden ist: Das System hat Symmetrie gegen Stabilität eingetauscht.
deren Bereichen der Physik berufen. Ein einfaches Beispiel aus der klassischen Mechanik zeigt Abbildung 16, in der eine Kugel auf der Spitze eines »Mexikanerhutes« plaziert ist. In diesem Zustand ist das System rotationssymmetrisch zur vertikalen Achse durch die »Hutspitze«. Da die Gravitation senkrecht nach unten wirkt, gibt es für das System darüber hinaus auch keine bevorzugte horizontale Richtung; die wirkenden Kräfte sind daher gleichfalls rotationssymmetrisch. In dieser Konfiguration spiegelt der durch die Lage der Kugel charakterisierte Zustand des Systems die Symmetrie der Kräfte wider. Der Zustand ist aber offensichtlich instabil: Wird die Kugel losgelassen, wird sie die Oberfläche hinunterrollen, wobei sie ihre Energie an die Umgebung abgibt und zuletzt irgendwo in der »Hutkrempe« zur Ruhe kommt. Diese Konfiguration ist dann zwar wieder stabil, aber die Rotationssymmetrie ist zerstört. Welchen Ort sich die Kugel dabei in der Krempe ausgesucht hat, ist reiner Zufall und ohne tiefere Bedeutung. Da sie nun aber re94
lativ zur Oberfläche eine spezielle Orientierung besitzt, spiegelt der Zustand des Systems nicht mehr die Symmetrie der zugehörigen Kräfte wider. Man nennt diesen Typ der Symmetriebrechung, bei dem die Symmetrie der zugehörigen Kräfte zwar erhalten bleibt, jedoch durch den »schiefen« Zustand des Systems maskiert wird, »spontane Symmetriebrechung«. Weinberg und Salam schlugen vor, daß die W- und Z-Teilchen ihre Masse durch die spontane Brechung der zugehörigen Eichsymmetrie erhalten. Auf diese Weise wäre die in Frage stehende Symmetrie immer noch vorhanden, wenn auch verborgen. Mit dieser Interpretation der Masse konnte die schwache Wechselwirkung auf die gleiche theoretische Basis wie die elektromagnetische Kraft gestellt und beiden eine gemeinsame Beschreibung zuteil werden. Im realen Quantenzustand des Systems spiegeln dann zwar nicht W und Z mit ihren großen Massen die zugehörige Eichsymmetrie wider, wohl aber das masselose Photon. Um ihr Ziel zu erreichen, führten Weinberg und Salam ein zusätzliches Quantenfeld ein, das nach seinem Entdecker Peter Higgs benannte »Higgs-Feld«. Die Quanten des Higgs-Feldes sind massereiche, spinlose Bosonen. Die Kopplung zwischen dem Higgs-Feld und dem vereinten elektromagnetisch-schwachen Wechselwirkungsfeld führt zur Einführung einer potentiellen Energie, die genau die Form des Mexikanerhutes von Abbildung 16 hat, dessen Oberfläche allerdings nicht im realen, sondern in einem abstrakten Raum liegt. Unter dem Einfluß dieser Kopplung strebt das System in den 95
Quantenzustand mit der niedrigsten möglichen Energie (entsprechend der Kugel in der Hutkrempe), der in diesem Fall durch die massereichen W- und Z-Teilchen repräsentiert wird. Die Glashow-Salam-Weinberg-Theorie erklärt die unterschiedliche Größe der Kräfte der schwachen Wechselwirkung und des Elektromagnetismus sehr gut. Grundsätzlich ist die Stärke der Wechselwirkung bei beiden Kräften vergleichbar. Führt man eine der elektrischen Ladung e analoge »schwache Ladung« g ein, so läßt sich daraus eine effektive »schwache Kopplungskonstante« g/ M berechnen, wobei M die Masse des W-Teilchens ist. Da M so groß ist (etwa 80 Protonenmassen), ist die effektive Stärke der schwachen Wechselwirkung – wie schon ihr Name sagt – sehr klein. Das Verhältnis e/g ist ein freier Parameter der Theorie. Er bestimmt das Verhältnis der wahren Stärken der beiden Kräfte und wird gewöhnlich durch den Winkel Θ ausgedrückt, der aus der Beziehung e = g · sin Θ stammt. Der Wert für Θ muß experimentell ermittelt werden und beträgt etwa 28°. In der Folgezeit bestand die Theorie einen entscheidenden Test, als sich erwies, daß die mathematischen Unstimmigkeiten, welche die alte Theorie der schwachen Wechselwirkung belastet hatten, bei der neuen Beschreibung verschwunden waren. Mehr noch: Die Theorie lieferte auch für sehr hohe Energien vollkommen befriedigende Voraussagen. Wächst die Energie der untersuchten Prozesse an, so werden die Unterschiede zwischen den schwachen und den elektromagnetischen Kräften geringer, und bei Energien einer mit M vergleichbaren Grö96
ße (80 GeV mit 1 GeV = 109 Elektronenvolt) werden die beiden Wechselwirkungen praktisch identisch. Was die experimentellen Aspekte betrifft, sagte die neue Theorie eine Reihe subtiler, aber meßbarer Effekte voraus. Einer davon ist die Streuung von Neutrinos an Neutronen ohne Umwandlung der beteiligten Partikel, ein Prozeß, der nach der alten Theorie der schwachen Wechselwirkung unmöglich sein sollte. Im Jahre 1973 wurde am CERN ein Experiment durchgeführt, bei dem ein intensiver Strahl aus Neutrinos an den Neutronen der Atomkerne in einer Blasenkammer gestreut wurde. Die dramatischste Bestätigung der Glashow-WeinbergSalam-Theorie kam jedoch Ende 1983 und Anfang 1984, als am CERN durch hochenergetische Zusammenstöße von Protonen und Antiprotonen zum ersten Mal W- und Z-Teilchen erzeugt wurden, deren Massen bei Verwendung des bekannten Wertes für Θ gut mit den Voraussagen der Theorie übereinstimmten. Diese ermutigenden Erfolge führten allgemein zu der Auffassung, daß die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung im Grunde zwei Aspekte einer einheitlichen »elektroschwachen« Kraft sind. Da der Parameter Θ jedoch nicht aus der Theorie bestimmt werden kann, sollte man vielleicht besser von einer »Verschmelzung« als von einer »Vereinigung« sprechen. Der entscheidende Fortschritt bestand in der Formulierung der Theorie unter Verwendung von Eichsymmetrien. Durch diesen Erfolg wurden die Physiker ermutigt, eine Vielzahl anderer Eichtheorien auf ihre Brauchbarkeit für die Beschreibung der starken Wechselwirkung und der Gra97
vitationskraft sowie deren Vereinigung mit der elektroschwachen Kraft zu untersuchen. Eichsymmetrien werden mit Hilfe eines speziellen Zweiges der Mathematik, der »Gruppentheorie«, beschrieben. Eine Gruppe ist dabei eine Menge mathematischer Objekte (in der Praxis häufig durch Matrizen repräsentiert), die durch »Multiplikation« miteinander verknüpft werden können. Jede Symmetrie kann man durch den Namen der sie erzeugenden Gruppe charakterisieren. Ein sehr einfaches Beispiel ist die Symmetrie des Kreises, der bei allen Drehungen um seinen Mittelpunkt um einen beliebigen Winkel symmetrisch bleibt. Die Algebra einer solchen Rotation bildet eine als U(1) bekannte Gruppe. Dabei steht U für das Wort »Unitarität«, das eine bestimmte mathematische Eigenschaft bezeichnet. Auch die Eichsymmetrie des elektromagnetischen Feldes entspricht exakt der U(1)-Symmetrie, allerdings nicht im realen, sondern in einem abstrakten Raum. Die elektroschwache Kraft kombiniert die U(1)Gruppe mit der etwas komplizierteren Gruppe SU(2), wobei S für »Speziell« steht. Die genauen Eigenschaften dieser Gruppe sollen uns hier nicht interessieren. Wie in Abschnitt 1.6 erläutert, existiert für die starke Wechselwirkung eine überzeugende Theorie in Form der Quantenchromodynamik (QCD) – ebenfalls eine Eichtheorie auf der Basis der komplizierten Eichgruppe SU(3). Mitte der 70er Jahre wurden Versuche unternommen, die elektroschwache Kraft mit der QCD zu einer »Großen Vereinheitlichten Kraft« zusammenzufassen. Die »Großen Vereinheitlichten Theorien« (GVTs) basieren auf der 98
Entdeckung einer umfassenderen Eichgruppe, welche die SU(3)-Gruppe der QCD und die SU(2)- und U(1)Gruppen der schwachen und der elektromagnetischen Kraft als Untergruppen enthält. In dieser Darstellung ist Θ nicht länger ein freier Parameter, sondern durch die Art und Weise bestimmt, in der die große Gruppe in die Untergruppen zerfällt. Ein allgemeines Merkmal der GVTs besteht darin, daß sie die Quellen der drei Kraftarten miteinander »vermischen«. So gibt es eine Beziehung zwischen den Leptonen als den Verursachern der elektroschwachen und den Quarks als den Quellen der starken Wechselwirkung. Ein Indiz für eine solche Verbindung ist die Tatsache, daß es – zumindest soweit bisher bekannt – gleich viele Quarks wie Leptonen gibt. Die »Vermischung« erfolgt über eine neue Gruppe von Austauschteilchen, deren Mitglieder einfach als »X-Teilchen« bezeichnet werden. Durch den Austausch eines X-Teilchens kann sich ein Quark in ein Lepton verwandeln und umgekehrt. Auch hier haben die Kräfte bei niedrigen Energien unterschiedliche Eigenschaften, die bei hohen Energien zu einer einzigen Art der Wechselwirkung verschmelzen. Die Größe der »Verschmelzungsenergie« kann aus dem Umstand abgeleitet werden, daß die Kräfte zwischen den Quarks mit ihrem gegenseitigen Abstand anwachsen. Wir erinnern uns daran, daß Energie und Impuls durch Heisenbergs Unschärferelation mit dem Abstand und der Zeit verknüpft sind. Daher liefern niederenergetische Experimente das Verhalten der Quarks bei großen Abständen, während Hochenergie-Experimente 99
zeigen, wie sie sich verhalten, wenn sie sich bis auf kleine Distanzen genähert haben. So kann man berechnen, bei welchem Abstand – und somit bei welcher Energie – die Kräfte zwischen ihnen bis auf die Stärke der elektroschwachen Kraft abfallen. Bei dieser Energie sollte die Vereinigung der drei Kräfte dadurch offenkundig werden, daß alle drei von vergleichbarer Stärke sind. Diese wichtige »Große Vereinigungs-Energie« liegt ungefähr 13 Zehnerpotenzen über der elektroschwachen Vereinigungsenergie und damit weit außerhalb der Möglichkeiten einer experimentellen Überprüfung. Glücklicherweise macht die GVT auch einige Voraussagen für niedrige Energien. Wie schon erwähnt, verknüpft sie Leptonen und Quarks. Bei der Vereinigungsenergie sollten diese beiden sonst ganz unterschiedlichen Teilchenarten identisch werden. Bei den relativ geringen Energien der Experimente der Teilchenphysik ist diese Verschmelzung zwar äußerst geringfügig, aber vielleicht doch nachweisbar. Die dramatischste Konsequenz der Lepton-Quark-Vermischung ist die Voraussage, daß Protonen instabil sind und zerfallen können. Bei der einen Zerfallsart wandelt sich das »down-Quark« des Protons in ein Positron um, während aus einem der beiden »up-Quarks« ein »up-Antiquark« wird. Das Antiquark bildet zusammen mit dem übrigbleibenden »up-Quark« ein Pion. Die Suche nach dem Protonenzerfall stellt den entscheidenden Prüfstein für GVTs dar. Unglücklicherweise liegt die vorausgesagte Lebensdauer des Protons zwischen 1028 Jahren und noch viel größeren Werten, 100
die davon abhängen, welche GVT man benutzt. Bei einer Lebensdauer von mehr als 1033 Jahren ist jedoch der Nachweis des Protonenzerfalls aus technischen Gründen vermutlich nicht möglich, so daß ein Ausbleiben der experimentellen Bestätigung dieses Prozesses nur einen Teil der GVTs widerlegen würde. Die bei der Suche nach Zerfallsprozessen verwendete Methode besteht in der Überwachung einer großen Materiemenge auf Teilchen, die bei solchen Prozessen ausgesandt werden könnten. Der Zerfall des Protons ist wie alle Quantenereignisse ein statistischer Prozeß. Wenn die durchschnittliche Zerfallszeit beispielsweise 1032 Jahre beträgt, kann man erwarten, in einer Masse, die 1032 Protonen enthält, pro Jahr etwa einen Zerfall zu beobachten. Inzwischen wurden mehrere solcher Experimente ausgeführt, eines davon in einem Salzbergwerk tief unterhalb des Eriesees. (Dieser Ort wurde gewählt, um die Überlagerung des Prozesses durch Effekte der kosmischen Strahlung möglichst gering zu halten.) Die Anordnung besteht aus einem riesigen Wassertank, in den eine Gruppierung von Fotomultipliern versenkt wurde. Ein schnelles geladenes Teilchen, das bei einem Protonenzerfall ausgesandt wird, erzeugt bei seinem Flug durch das Wasser einen charakteristischen Lichtblitz, der als »Tscherenkow-Strahlung« bekannt ist und durch die Meßanordnung nachgewiesen werden soll. Bis zum Jahre 1988 konnte ein Protonenzerfall bei keinem derartigen Experiment zweifelsfrei festgestellt werden. 101
Eine weitere Möglichkeit zur Überprüfung von GVTs ergibt sich auf einem ganz anderen Gebiet – dem der magnetischen Monopole. Alle uns bekannten Magnete sind Dipole, das heißt, sie bestehen alle aus einander gegenüberliegenden Nord- und Südpolen. Dies rührt daher, daß sich die Quellen des Magnetfeldes stets als kreisende Ströme identifizieren lassen: Auch die Bewegung von Elektronen um den Atomkern stellt ja einen solchen Strom dar. Ein Strom, der durch eine Schleife fließt, erzeugt einen Nordpol an dem einen Ende der Schleife und einen Südpol an dem anderen. Magnetische »Ladungen« dagegen sind in der Natur noch nie beobachtet worden. Eine solche Ladung würde als isolierter Nord- oder Südpol – als sogenannter »Monopol« – in Erscheinung treten. Trotz des Fehlens experimenteller Beweise für die Existenz magnetischer Monopole dachte Paul Dirac darüber nach, wie diese Teilchen in die Quantentheorie eingebaut werden könnten. In einer klassischen Arbeit aus den frühen 30er Jahren fand er heraus, daß die magnetische Ladung von Monopolen – sollten diese wirklich existieren – in einer einfachen Beziehung zur Elementareinheit der elektrischen Ladung e steht, so daß e x m = h oder ein ganzzahliges Vielfaches davon ist. Dieses merkwürdige Resultat bedeutet unter anderem, daß der Wert für e überall der gleiche sein muß, wenn es nur einen einzigen Monopol im Universum geben sollte. Das könnte erklären, warum die elektrische Ladung nur in ganzzahligen Vielfachen dieser fundamentalen Einheit auftritt. Diracs Untersuchung lieferte keinen Aufschluß über weitere Eigenschaften des hypothetischen magnetischen 102
Monopols, zum Beispiel über seine Masse, und viele Jahre lang neigten die Physiker zu der Annahme, daß der magnetische Monopol eines der Teilchen ist, die nach den Gesetzen der Natur zwar erlaubt sind, von ihr aber nicht realisiert werden. Diese Ansicht änderte sich grundlegend mit den Anfängen der GVTs: Sie bieten nicht nur Raum für magnetische Monopole, sondern fordern sie sogar und liefern darüber hinaus wichtige Einzelheiten über ihre voraussichtlichen Eigenschaften. Die vorausgesagte Masse eines Monopols ist vergleichbar mit derjenigen des X-Teilchens, etwa 1015 Protonenmassen. Sie liegt damit in der gleichen Größenordnung wie die eines Bakteriums und ist derart riesig, daß es nicht verwundert, daß sie bei Stoßexperimenten nicht erzeugt werden kann. Die dazu erforderliche Energie könnte jedoch in den frühen Phasen des Universums verfügbar gewesen sein, und so haben einige Wissenschaftler mit der Suche nach Überresten kosmischer Monopole aus der Zeit des Urknalls begonnen. Sollte es kosmische Monopole geben, die die Erde zusammen mit der übrigen kosmischen Strahlung bombardieren, so müßten sie eine Reihe charakteristischer Wirkungen hervorrufen. So könnte ein Monopol beim Streifen eines Atomkerns einen Protonenzerfall verursachen. Außerdem sollten Monopole bestimmte elektromagnetische Veränderungen bewirken. Läßt man einen elektrischen Strom in einem Ring aus supraleitendem Material fließen, so ist der den Ring durchsetzende magnetische Fluß quantisiert, das heißt, seine Werte sind ganzzahlige Vielfache von h. Sollte ein Monopol 103
den Ring passieren, würde der Fluß infolge elektromagnetischer Induktion sprunghaft um eine bestimmte Anzahl von Einheiten erhöht. Der Experimentator hat also nichts weiter zu tun, als einen Ring im supraleitenden Zustand zu halten und auf einen zufällig vorbeikommenden Monopol zu warten. Abgesehen von einem falschen Alarm am Valentinstag des Jahres 1982 wurden Monopole bisher aber weder bei diesen noch bei irgendwelchen anderen Experimenten entdeckt.
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1.11 Supergravitation Während die Theorien zur Vereinheitlichung der elektromagnetischen, schwachen und starken Wechselwirkungskräfte in den 70er Jahren ermutigende Fortschritte machten, blieb die Gravitation weiter in ihrer Außenseiterrolle. Doch auch die Gravitationstheoretiker waren in dieser Zeit keinesfalls müßig geblieben und steuerten Mitte der 70er Jahre eine wichtige Erweiterung der Vorstellung der Supersymmetrie bei. Wir erinnern uns (Abschnitt 1.8), daß die Supersymmetrie ihrem Wesen nach eine – wenn auch abstrakte – Form von Symmetrie darstellt. Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ihrerseits ist eine geometrische Theorie der Gravitation. Mehrere Forscher entdeckten unabhängig voneinander, daß die supersymmetrische Geometrie auch als Grundlage einer geometrischen Theorie der Gravitation benutzt werden kann. Die auf dieser Idee beruhende Theorie wurde als »Supergravitation« bekannt. Die Supergravitation schließt Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie nicht nur mit ein, sondern erweitert sie sogar. Einsteins Theorie bleibt als Näherung gültig, so daß die ausgezeichnete Übereinstimmung zwischen dieser Theorie und der Beobachtung nicht beeinträchtigt wird. Das wichtigste zusätzliche Merkmal der Supergravitation besteht darin, daß das Graviton nicht mehr das einzige für die Übertragung der Schwerkraft verantwortliche Austauschteilchen ist. Wir erinnern uns, daß die Supersymmetrie eine Verbindung zwischen Fermionen und Bosonen herstellt. Wendet man eine supersymme105
trische Operation, die eine Rotation aus den bekannten Dimensionen in eine zusätzliche »fermionische« Dimension einschließt, auf ein Graviton mit dem Spin 2 an, so beschreibt die Theorie ein vollkommen neuartiges, aus der Natur nicht bekanntes Teilchen mit dem Spin 3/2. Das neue Teilchen wird »Gravitino« genannt. Abhängig von der speziellen Form der verwendeten Theorie könnte es eine bis acht verschiedene Arten davon geben. Sollten Gravitinos existieren, so hätten sie mit den Gravitonen die außergewöhnlich schwache Wechselwirkung gemeinsam und wären experimentell sehr schwer nachzuweisen. Andere supersymmetrische Operationen erzeugen viele weitere Partikel mit den Spins 1, ½ und 0. In der favorisierten Theorie der Supergravitation, die wegen ihrer Voraussage von acht Gravitinos als »N=8« bezeichnet wird, beträgt die Gesamtmenge der Superpartner des Gravitons 172. Man hat versucht, einige dieser Superpartner unter den aus der Hochenergiephysik bekannten Teilchen zu identifizieren und auf diese Weise ein Konzept für eine »Supervereinheitlichung« zu entwickeln. Bei diesem allumfassenden Entwurf würden alle Austauschteilchen der übrigen Kräfte – das Photon, die Gluonen, W und Z – zusammen mit dem Graviton ein und derselben Superfamilie angehören und ein durch die Supersymmetrie zusammengehaltenes Multiplett von Teilchen bilden. So wären alle Kräfte vereinigt, und jede Kraft würde lediglich als ein besonderer Aspekt einer einzigen supersymmetrischen »Superkraft« erscheinen. Doch das wäre 106
noch nicht alles. Da die Superfamilie auch Fermionen enthält, könnten diese vielleicht mit den elementaren Materieteilchen, den Quarks und Leptonen in Verbindung gebracht werden. Dann wären auch Materie und Kräfte in einer Theorie vereint. So verlockend ein solches grandioses Konzept auch ist – die Hoffnung auf eine Identifizierung der Superpartner des Gravitons ist bislang reine Illusion. Nichtsdestoweniger sind manche Theoretiker von der Idee der Supersymmetrie so angetan, daß sie diese mit der langgesuchten AUT gleichsetzen. Stephen Hawking von der Columbia-Universität sprach in seiner Antrittsvorlesung davon, daß mit den Versprechungen der »N=8«-Supergravitation das Ende der theoretischen Physik in Sicht sei. Beträchtliche Anstrengungen wurden auf die Verfeinerung der Theorie und die Erkundung ihrer Verzweigungen verwandt. Zu Übungszwecken wurden supersymmetrische Versionen anderer Feldtheorien entwickelt, die Analogien zur Gravitationstheorie darstellen, aber leichter als diese zu analysieren sind. Dabei machte man die wichtige Entdeckung, daß die geometrische Struktur der Supergravitation beträchtlich vereinfacht werden kann, wenn man sie in mehr als vier Raumzeitdimensionen schreibt. Die vorteilhafteste Dimensionszahl für »N=8« ist 11. Während einige Theoretiker Anfang der 80er Jahre damit beschäftigt waren, die Supergravitation in eine 11-dimensionale Theorie umzuformen, begannen andere mit der Erforschung zusätzlicher Dimensionen im Zu107
sammenhang mit der Kaluza-Klein-Theorie. Ihr Ziel bestand darin, die ursprüngliche Theorie, welche nur die Gravitation und den Elektromagnetismus umfaßte, so zu erweitern, daß sie auch die schwache und starke Wechselwirkung mit einschloß. Dies war möglich geworden, weil die beiden letztgenannten Kräfte durch die Theorie von Weinberg und Salam sowie die Quantenchromodynamik eine Beschreibung erhalten hatten, die dem Elektromagnetismus sehr ähnlich war. In der Originalfassung der Theorie von Kaluza und Klein war der Elektromagnetismus durch Hinzufügen einer einzigen zusätzlichen Dimension in die Raumzeit einbezogen worden, so daß die Theorie insgesamt auf fünf Dimensionen kam. Das hängt damit zusammen, daß man für die Übertragung der elektromagnetischen Kraft nur eine Sorte von Photonen braucht, was wiederum eine Folge davon ist, daß die Eichsymmetrie des elektromagnetischen Feldes von der einfachsten Art, nämlich U(l) ist. Die schwache und starke Wechselwirkung hingegen haben kompliziertere Eichsymmetrien (SU(2) und SU(3)) und benötigen für ihre Übertragung eine Vielzahl von Austauschteilchen. Daher braucht man in der erweiterten Kaluza-Klein-Theorie auch entsprechend mehr als eine Zusatzdimension. Im Endergebnis stellt sich heraus, daß die Raumzeit insgesamt elf Dimensionen haben muß. In der elfdimensionalen Kaluza-Klein-Theorie gibt es nur eine einzige Kraft – die Gravitation. Die elektromagnetische, schwache und starke Kraft sind lediglich untergeordnete Aspekte dieser Kraft. Die erweiterte Ka108
luza-Klein-Theorie stellt daher eine rein geometrische Theorie der Naturkräfte in einem einheitlichen Rahmen dar. Dabei entsprechen die für die erfolgreiche Formulierung der Quantentheorie so wesentlichen abstrakten Eichsymmetrien geometrischen Symmetrien in höheren Dimensionen. Es ist zweifelsohne beeindruckend, daß sowohl die Supergravitation als auch die Kaluza-Klein-Theorie auf die gleiche Zahl von elf Dimensionen kommen, und so begannen die Physiker ernsthaft über eine AUT nachzudenken, in der sowohl die Supersymmetrie als auch höhere Dimensionen eine Rolle spielen sollten. Die zusätzlichen Dimensionen, die bei der Anwendung auf die Supergravitation ursprünglich als rein mathematische Hilfsmittel verwendet worden waren, wurden nun als reale physikalische Dimensionen interpretiert – der Theorie von Klein und Kaluza entsprechend allerdings alle in winzigen Bereichen »zusammengerollt«. Leider besitzt die elfdimensionale Theorie einen fatalen Mangel. Ein charakteristisches Element der schwachen Wechselwirkung ist die Paritätsverletzung, das heißt die Verletzung der Links-Rechts-Spiegelsymmetrie. Dies bedeutet, daß elementare Partikel mit einer bestimmten »Händigkeit« oder »Chiralität« ausgestattet sind. Im Alltag betrachten wir den Unterschied zwischen Links- und Rechtshändigkeit als selbstverständlich, in Wirklichkeit jedoch ist die Chiralität eine tiefliegende Eigenschaft des dreidimensionalen Raumes. Wie sich erweist, existiert eine ausgeprägte Chiralität nur in Räumen mit ungeradzahlig vielen Dimensionen. Der Raum muß also eine un109
gerade, die Raumzeit eine gerade Anzahl von Dimensionen besitzen, sonst gibt es keine »Händigkeit« in den Naturgesetzen. Kurz gesagt: Mit elf Raumzeitdimensionen funktioniert die Sache nicht.
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1.12 Mathematische »Krankheiten« Nachdem wir in den vorangegangenen Kapiteln mehrfach Probleme der mathematischen Konsistenz bei der Quantenbeschreibung von Kräften erwähnt haben, wollen wir in diesem Abschnitt die Natur dieser Probleme etwas genauer betrachten. Vorläufer der Schwierigkeiten bei der Quantenfeldtheorie gab es schon in der klassischen elektromagnetischen Theorie. Eine von ihnen hängt mit der Struktur des Elektrons zusammen. Nach einer einfachen Vorstellung ist ein Elektron eine winzige starre Kugel, die eine gleichförmig verteilte elektrische Ladung trägt. Da sich gleichartige Ladungen abstoßen, muß auch die in einem bestimmten Bereich des Elektrons lokalisierte Ladung auf die Ladung in den anderen Bereichen eine abstoßende Kraft ausüben. Dadurch entsteht eine nach außen gerichtete Gesamtkraft, die das Elektron auseinanderzusprengen versucht. Wegen des quadratischen Abstandgesetzes wird diese Kraft sehr groß, wenn man den Radius des Elektrons als sehr klein annimmt. Um die Zerstörung des Elektrons zu verhindern, müssen andere, anziehende Kräfte vorhanden sein, die den destruktiven Effekt der elektrischen Ladung unabhängig von der Bewegung des Elektrons immer genau kompensieren. Versuche, ein mit der Speziellen Relativitätstheorie vereinbares Modell für einen solchen Balanceakt zu finden, stellten sich als hoffnungslos heraus. So beschlossen die Physiker, das Elektron einfach als punktförmig anzunehmen, das heißt als eine Kugel mit dem Radius 111
Null und ohne eine innere Struktur, auf die man in einer mechanischen Theorie Rücksicht nehmen müßte. Mit dieser Festlegung tauschte man jedoch nur die alte Schwierigkeit gegen eine neue ein, welche die elektrostatische Energie des Elektrons betraf. Um eine Ladung auf eine Kugel vom Radius r zu bringen, benötigt man eine Energie, die proportional 1/r ist und für einen Radius Null unendlich groß wird. Da Energie nach der Allgemeinen Relativitätstheorie Masse besitzt, müßte das Elektron wegen seiner unendlich großen »Selbstenergie« auch eine unendliche Masse besitzen. Nun stellt ein unendlich großer oder »divergenter« Ausdruck in den Gleichungen einer Theorie eine zwar ernste, aber keinesfalls katastrophale Schwierigkeit dar, solange er sich nicht auf eine Meßgröße auswirkt. In der nichtgravitativen Physik etwa lassen sich Energien selbst gar nicht messen, sondern nur Energiedifferenzen. Man kann daher den Nullpunkt der Energieskala einfach um einen unendlichen Betrag verschieben, so daß sich für die beobachtbare Masse ein endlicher Wert ergibt. Eine solche Skalenverschiebung wird als »Renormierung« bezeichnet. Eine Theorie, die trotz des zeitweisen Auftretens unendlicher Terme am Schluß doch zu endlichen Größen führt, heißt »renormierbar«. In den 30er Jahren begannen die Arbeiten an der Quantenelektrodynamik (QED), einer Theorie, die die Wechselwirkung von Elektronen mit Photonen, den Trägern der elektromagnetischen Kraft, behandelt. In der QED ist das Problem der elektromagnetischen Selbstenergie noch komplizierter, und die Schwierigkeiten 112
Abbildung 17: Ein Elektron sendet ein Photon aus und absorbiert es wieder. Durch solche Prozesse wird um das Elektron herum eine Wolke elektromagnetischer Energie erzeugt. Berechnet man die Gesamtenergie, erweist sie sich als unendlich groß.
mit unendlich großen Ausdrücken sind noch gravierender als in der klassischen Theorie. In der QED werden die elektromagnetischen Kräfte durch den Austausch von Photonen übertragen. Bei dieser Betrachtungsweise ist die Selbstenergie eines geladenen Teilchens Folge eines Prozesses, bei dem das Teilchen ein Photon aussendet und wieder einfängt. Ein solcher Vorgang erscheint schwer vorstellbar, glücklicherweise befreit uns jedoch die Heisenbergsche Unschärferelation von der Schwierigkeit, uns von der Bewegung des Photons ein konkretes Bild zu machen: Ort und Bewegung des Photons sind »verschmiert«. Der Prozeß ist in Form eines FeynmanDiagramms schematisch in Abbildung 17 dargestellt. Dabei symbolisiert die wellige Photonenbahn gleichzeitig die elektromagnetische Energie, die das Elektron um113
gibt und ebenso wie in der klassischen Theorie zu seiner Masse beiträgt. Nimmt man das Elektron wieder als punktförmig an, wächst die von dem Photon transportierte Energie über alle Grenzen. Dies folgt aus der Unschärferelation für die Energie: Je kürzer der Weg ist, den das Photon zurücklegen muß, um so kürzere Zeit ist es unterwegs und um so größer ist dementsprechend seine Energieunschärfe. Bei einem punktförmigen Teilchen vergeht zwischen Aussenden und Wiedereinfang überhaupt keine Zeit mehr, das Photon kann daher eine unendlich hohe Energie besitzen. Die Rechnungen zeigen, daß das Elektron durch die Photonen in seiner Umgebung auf diese Weise eine unendlich hohe Masse erhält. Diesmal ist der Trick mit der Renormierung viel schwieriger anzuwenden. Zum einen treten in der Theorie auch andere nichtendliche Größen auf, um die man sich kümmern muß, zum Beispiel die Ladung. Zweitens liefert der in Abbildung 17 dargestellte Prozeß nur einen einzigen von vielen unendlichen Beiträgen zur Elektronenmasse. Weitere divergente Terme entstehen durch die Emission und Absorption von zwei, drei, vier und mehr Photonen. Man erhält also eine nicht endende Reihe unendlicher Terme, die auf den ersten Blick nur durch eine ebenfalls endlose Reihe einzelner Renormierungsschritte wieder zu beseitigen sind. Wäre so etwas tatsächlich erforderlich, so wäre die ganze Theorie offensichtlich nutzlos. Ein großer mathematischer Aufwand war nötig, um zu zeigen, daß eine einzige Art der Renormierung ausreicht, die Unendlichkeiten aus allen meßbaren Größen auf einmal zu beseitigen. So dauerte es beinahe zwei 114
Jahrzehnte, bis die QED als renormierbar gelten konnte. Die Renormierbarkeit ist eine sehr spezielle und seltene Eigenschaft, die entscheidend von der Eichsymmetrie der Theorie abhängt. Die Quantenelektrodynamik ist nicht die einzige renormierbare Quantenfeldtheorie, aber bei weitem die wichtigste. Ihre Voraussagen haben sich als bemerkenswert genau erwiesen, sie stellt einen Prototyp für andere Feldtheorien dar. Dagegen sind die alte Theorie der schwachen Wechselwirkung und die auf Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie fußende Quantentheorie der Gravitation nicht renormierbar. Bei beiden Theorien treten immer wieder unendliche Terme auf, die sie jeder inneren Konsistenz und Vorhersagekraft berauben. Eng mit dem Problem der unendlichen Terme verwandt ist das der »Anomalien«. Mit diesem etwas verharmlosenden Ausdruck wird der Zusammenbruch einer Symmetrie bei der Quantisierung einer klassischen Theorie, das heißt bei ihrer Umformulierung nach den Regeln der Quantenmechanik, bezeichnet. Wegen der engen Verbindung zwischen Symmetrien und Erhaltungssätzen können Anomalien auch zur Verletzung anscheinend unantastbarer Erhaltungssätze führen. So kann es zum Beispiel geschehen, daß Energie und elektrische Ladung in der Quantentheorie nicht erhalten bleiben. Dies läßt sich, in etwas vereinfachter Form, durch folgende Überlegung verdeutlichen: Ist eine Größe eine Erhaltungsgröße, so ist ihre Änderungsrate Null. Wie wir gesehen haben, führt der Quantisierungsprozeß häufig zur Multiplikation mit unendlichen Faktoren. Dabei 115
kann manchmal auch eine Änderungsrate von Null mit Unendlich multipliziert werden, so daß ein Produkt der Form 0 · ∞ entsteht. In dieser Schreibweise ist der Ausdruck natürlich völlig unbestimmt; bei geeigneter Definition kann er aber durchaus einen endlichen Wert annehmen. Genau das geschieht auch bei einer Anomalie: Der Wert für eine Änderungsrate steigt von Null auf einen endlichen Betrag an; der entsprechende Erhaltungssatz ist verletzt.
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1.13 Die String-Theorie Anfang der 80er Jahre hatte die Suche nach einer einheitlichen Theorie – vielleicht sogar einer AUT – ein merkwürdiges Stadium der Frustration erreicht. Errungenschaften wie die Supergravitation und höhere Dimensionen schienen der Forschung neue Wege zu öffnen. Das große Problem der unendlichen Terme, mit dem sich alle Versuche zum Bau einer Quantengravitation herumgequält hatten, schien – wenn schon nicht aus der Welt geschafft – in der Supergravitations-Theorie zumindest gemildert. Und schließlich hatte die erweiterte Kaluza-Klein-Theorie einen überzeugenden Rahmen für die Verschmelzung der vier Kräfte geliefert, auch wenn dieser noch nicht ausgefüllt werden konnte. So waren die Theoretiker damals besonders empfänglich für Vereinigungstheorien, welche die Supersymmetrie mit höheren Dimensionen verknüpften. Dies war der Zeitpunkt, an dem sie begannen, ihr Augenmerk auf die String-Theorie zu richten. Die Wurzeln der String-Theorie liegen in den Arbeiten von Gabrielle Veneziano aus den späten 60er Jahren und damit in einer Zeit, in der viele Physiker versuchten, Ordnung in die ständig wachsende Schar von Hadronen zu bringen – der stark wechselwirkenden Teilchen, die bei hochenergetischen Zusammenstößen in Teilchenbeschleunigern erzeugt worden waren. Das Quark-Modell der Materie hatte sich zu dieser Zeit noch nicht durchgesetzt. Besonders rätselhaft erschienen die sehr kurzlebigen Hadronen mit einer Lebensdauer um 10-23 Sekun117
den. Sie wurden als »Resonanzen« bezeichnet, da es sich offensichtlich nicht um elementare Partikel handelte, sondern viel eher um angeregte Zustände anderer Hadronen. Man konnte sich vorstellen, daß innere Komponenten von Hadronen durch den Schock des hochenergetischen Zusammenpralls in höhere Quantenzustände angeregt worden sein könnten. Wie die Untersuchungen zeigten, besaßen einige dieser Teilchen einen sehr hohen Spin (zum Beispiel 11/2). Man fand auch eine systematische Beziehung zwischen dem Spin und der Masse dieser Hadronen. Zur Erklärung dieser Befunde schlug Veneziano ein »ad-hoc-Modell« vor, das zunächst allerdings nicht mehr als ein mathematisches Verfahren ohne zugehörige physikalische Vorstellung war. Im Verlauf der darauffolgenden Forschungen wurde jedoch klar, daß Venezianos Modell die quantisierte Bewegung einer Saite (»string«) beschrieb und damit eine bemerkenswerte Abweichung gegenüber vorangegangenen Theorien darstellte, welche die Materie durchweg als aus Teilchen bestehend beschrieben hatten. Zumindest in einigen Punkten stimmte das String-Modell jedoch besser als das traditionelle Teilchenbild mit den Experimenten überein. Die String-Theorie der Hadronen erscheint besonders aus einem Grund gerechtfertigt. Wie wir heute wissen, enthalten Hadronen Quarks, die über bestimmte Kräfte miteinander wechselwirken. Die durch diese Kräfte erzeugten Bindungen haben ähnliche Eigenschaften wie elastische Bänder, die zwischen den Quarks gespannt sind – zum Beispiel die Eigenschaft, mit zunehmendem 118
Abstand der Teilchen anzuwachsen. Die bei dem »Hinund Herspringen« der Quarks in den Hadronen auftretenden Wechselwirkungen haben Ähnlichkeit mit einer schwirrenden Saite. Die dabei wirkenden Kräfte sind so groß, daß die Wechselwirkungsenergie vergleichbar mit der Ruhemasse der Quarks ist. Unter diesen Umständen ist das elastische Band für die Dynamik des Systems von größerer Bedeutung als die Quarks an seinen beiden Enden. So betrachtet erscheint eine Saite als Modell für diese Bewegung nicht ganz unangebracht. In der ersten Zeit hielt man das String-Modell lediglich für eine grobe Näherung, das außerdem nur auf die Beschreibung von Bosonen beschränkt schien. Trotzdem unterzogen einige Theoretiker das Modell einer genaueren Prüfung und kamen dabei zu interessanten Ergebnissen, die Hinweise auf das Leistungsvermögen der Theorie gaben. Dann entdeckten John Schwarz und André Neveu 1970 eine zweite String-Theorie, die Fermionen beschrieb. Um das Jahr 1974 war die Entwicklung der QCD abgeschlossen, und das Interesse an der String-Theorie als Modell für die Hadronen war abgeflaut. Es wäre vermutlich vollständig erloschen, wenn Schwarz und sein Mitarbeiter Joël Scherk nicht gezeigt hätten, daß sie in einem ganz anderen und viel aufregenderen Zusammenhang angewandt werden konnte. Eines der Probleme der frühen String-Theorie bestand nämlich darin, daß sich unter den von ihr beschriebenen Teilchen auch eines mit der Masse Null und dem Spin 2 befand, dem kein Mitglied der Hadronenfamilie zu entsprechen schien, wohl 119
aber das Graviton, das Austauschteilchen der Gravitation. Könnte es – so fragten Scherk und Schwarz – sein, daß die String-Theorie in Wirklichkeit eine Theorie der Gravitation ist? Könnte sie am Ende vielleicht sogar eine »Allumfassende Theorie« sein? Ein ganzes Jahrzehnt mußte vergehen, bevor diese kühne Idee genügend an Glaubwürdigkeit gewonnen hatte. In dieser Zeit schlug sich eine kleine Gruppe von Theoretikern einschließlich John Schwarz und Michael Green mit allen möglichen Konsistenzproblemen herum – mit Tachyonen, unendlichen Termen, Anomalien, höheren Dimensionen und Supersymmetrien. Sie wurden allgemein als Leute betrachtet, die ihre Zeit an eine total verrückte Theorie verschwendeten. Das hat sich heute allerdings völlig geändert: Die String-Theorie – im modernen Gewand als »Superstring-Theorie« bekannt – beansprucht gegenwärtig die Aufmerksamkeit vieler der besten theoretischen Physiker in der Welt. In den folgenden Kapiteln werden einige der Pioniere der String-Theorie – darunter auch Schwarz und Green selbst – die Theorie im Detail beschreiben sowie etwas über ihre Geschichte, ihren gegenwärtigen Stand und ihre zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten berichten, um sich schließlich mit der entscheidenden Frage zu beschäftigen, ob die String-Theorie tatsächlich auf eine AUT hinauslaufen könnte. Die String-Theorie ist für Theoretiker ohne Zweifel von enormer Anziehungskraft. Sie schwärmen von ihrem außerordentlichen Reichtum und ihrer ungewöhnlichen Schönheit. Aber davon abgesehen gibt es natürlich noch 120
einen weiteren Anreiz, sich mit ihr zu beschäftigen: Sollte die Theorie tatsächlich eine quantitative Erklärung aller in der Natur vorkommender Teilchen und Kräfte erlauben, so wäre sie einer der größten wissenschaftlichen Triumphe in der Geschichte der Menschheit und der Höhepunkt der »reduktionistischen« Weltanschauung. Wir hätten endlich die kleinsten Einheiten identifiziert, aus denen die Welt aufgebaut ist, und die grundlegenden Prinzipien aufgeklärt, nach denen sie funktioniert. Kein Wunder, daß einige Forscher über Nacht langjährige Forschungsprogramme aufgaben, um sich der StringTheorie zuzuwenden. Gegenwärtig ist eine wahre »Industrie« mit Arbeiten an der Theorie beschäftigt. Auf den Gebieten der Teilchenphysik und der Gravitationstheorie wird kaum ein Seminar abgehalten oder ein Manuskript veröffentlicht, das sich nicht in irgendeiner Form mit Strings beschäftigt. Doch sind nicht alle Physiker glücklich über diese Entwicklung. Manche sind der Ansicht, die Anstrengungen der String-Theoretiker führten auf einen philosophischen und wissenschaftlichen Irrweg, einige halten die ganze Theorie sogar für blanken Unsinn. Auch solche Kritik wird in den folgenden Interviews zu Wort kommen. Der Leser mag sich sein eigenes Urteil darüber bilden, wer die besseren Chancen hat, am Ende recht zu behalten. Über eines jedoch kann kein Zweifel bestehen: Für kein wissenschaftliches Unternehmen war der Einsatz höher als für dieses.
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2. Interviews
2.1 John Schwarz John Schwarz ist Professor am Physik-Department des California Institute of Technology. Seine frühen Untersuchungen der String-Theorie, die er gemeinsam mit Michael Green unternahm, haben die Theorie aus ihrem Schattendasein am Rande der Physik herausgeführt und ihr zu ihrer heutigen überragenden Stellung verholfen. Die Idee, »Strings« als Modelle elementarer Partikel zu verwenden, läßt sich ziemlich weit zurückverfolgen. Können Sie uns etwas aus der Frühzeit der String-Theorie erzählen? Die String-Theorie hat eine sehr merkwürdige Geschichte. Ursprünglich war sie für die Lösung eines ganz anderen als des Problems gedacht, für dessen Untersuchung sie heute eingesetzt wird. In ihrer 1968-1970 entstandenen Urform stellt sie einen Versuch zur Erklärung der starken Kernkraft dar. Sie war dabei auch bis zu einem gewissen Grad erfolgreich, wenn auch niemals ganz zufriedenstellend. Mitte der 70er Jahre entstand eine andere Theorie, die »Quantenchromodynamik« (QCD), mit der die starken Wechselwirkungen erfolgreich beschrieben werden konnten. So kehrten die meisten Leute der String-Theorie den Rücken, obwohl bereits während dieser frühen Phase ein enormer Arbeitsaufwand in die 122
Theorie gesteckt worden war. Der Grund, warum ich die Sache weiter verfolgte, war der, daß ich etwa zur Zeit der Entstehung der QCD zusammen mit dem französischen Physiker Joël Scherk, der zu dieser Zeit hier am Caltech zu Gast war, eine interessante Entdeckung machte: Immer, wenn wir versuchten, die String-Theorie auf die Beschreibung der starken Kernkraft anzuwenden, lieferte sie eine Teilchenart, für die es in diesem Bereich keinen Platz gab – ein Teilchen ohne Masse, aber mit zwei Drehimpuls-Einheiten, das keinem der Partikel entsprach, die bei Kernprozessen beobachtet worden waren. Wir wußten jedoch, daß es genau das Teilchen war, das in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie eine Rolle spielt, die, wie bekannt, eine Theorie der Gravitation darstellt. Es handelt sich um das quantenmechanische Teilchen, das die Gravitationskraft überträgt und gewöhnlich als »Graviton“ bezeichnet wird. Die Gravitation ist von der starken Kernkraft völlig verschieden – unter normalen Bedingungen ist sie viel, viel schwächer. Da dieses Teilchen in der Theorie aber nun einmal auftrat, beschlossen wir, die Benutzung der String-Theorie für die Beschreibung der starken Kernkraft aufzugeben und statt dessen zu probieren, ob sie sich nicht zur Beschreibung der Gravitation oder weiterer fundamentaler Kräfte eignen könnte, die sich im Laufe der Zeit noch dazugesellen könnten. Das nennt man aus der Not eine Tugend machen. Stimmt. Das Ganze bedeutete allerdings einen dramatischen Wechsel der Betrachtungsweise, denn die Strings 123
mußten nun viel kleiner sein, als wir ursprünglich angenommen hatten. Um welche Größenordnungen geht es dabei? Als wir über die Verwendung von Strings zur Beschreibung von Kernteilchen nachdachten, hatten wir uns vorgestellt, daß sie die für solche Teilchen typische Größe von etwa 10-13 cm haben könnten. Für die Gravitation gibt es eine natürliche Längenskala, die durch die Struktur der Schwerkraft nahegelegt wird. Sie wird »PlanckLänge« genannt und ist unvorstellbar viel kleiner – um den Faktor 1020 – als der nukleare Maßstab. Zur Illustration: Die Planck-Länge verhält sich zum Durchmesser eines Atoms wie das Atom zum Durchmesser des Sonnensystems. Wenn wir Strings bei der Vereinigung der Gravitation mit anderen Kräften verwenden wollen, haben wir es also mit extrem kleinen Abständen zu tun. Die Idee für eine solche Verwendung von Strings entstand im Jahre 1974. Zu dieser Zeit befand sich die String-Theorie bereits seit fünf Jahren in der Entwicklung. Zusammen mit Joël Scherk, der leider sechs Jahre später starb, setzte ich die Arbeit an diesem Problem fort. Im Jahre 1979 begann dann die Zusammenarbeit mit Michael Green vom Queen Mary College in London. Bevor wir zu dieser Entwicklung kommen, möchte ich Sie nach dem Bild fragen, das Sie sich in der alten String-Theorie von Neutronen und Protonen gemacht hatten. Kann man sich etwa vorstellen, daß sich in jedem Neutron und Proton ein String befindet? 124
Grob gesagt, entsprach die Vorstellung einem von GellMann und Zweig vor 20 Jahren eingeführten Modell, nach dem Hadronen wie Neutronen und Protonen aus Quarks bestehen, die durch eine bestimmte Kraft zusammengehalten werden. Diese Kraft sollte nun durch Strings beschrieben werden, die die Quarks wie elastische Bänder aneinander binden sollten, wobei man sich vorstellte, daß die Quarks an den Enden der Strings angebracht wären. Und das Ganze sollte dann irgendwie herumwirbeln? Genau. Wo lagen die Hauptschwierigkeiten bei dieser Idee? Es gab verschiedene Schwierigkeiten. Eine von ihnen habe ich schon erwähnt: Das masselose Spin-2-Teilchen, das unvermeidlich in den Lösungen der mathematischen Gleichungen auftrat und nicht zu dem Teilchenspektrum gehört, das man im nuklearen Bereich vorfindet. Eine andere Schwierigkeit bestand darin, daß die mathematische Konsistenz der Theorie eine Raumzeit von mehr als vier Dimensionen erforderlich machte. Die ursprüngliche String-Theorie, die außerdem auch noch andere Mängel besaß, führte sogar zu 26 Dimensionen. In einer verbesserten String-Theorie, die von Pierre Ramond, André Neveu und mir selbst 1971 entwickelt wurde, wurde diese Zahl auf 10 reduziert. Die Theorie, die heute in Mode ist, ist eine Variante dieser zehndimensio125
nalen Theorie. Im Zusammenhang mit der Beschreibung von Kernteilchen stellen diese zusätzlichen Dimensionen ein ernstes Problem dar, denn wir wissen natürlich, daß es nur drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension gibt, so daß in einer »realistischen« Theorie einfach kein Platz für zusätzliche Dimensionen ist. Hofften Sie damals, daß man die Theorie zu einer konsistenten Theorie mit vier Dimensionen umformen könnte? Nun, im Laufe der Jahre wurden viele Anstrengungen unternommen – an denen auch ich mich beteiligte –, Varianten dieser beiden String-Theorien mit vier Dimensionen statt mit 10 oder 26 zu finden. Es gab mehrere interessante Versuche, die alle von einem System von großer mathematischer Schönheit ausgingen, das dann aber immer kraftloser und häßlicher wurde und zum Schluß unvermeidlich in mathematischen Widersprüchen endete. Ein weiteres Problem mit der ursprünglichen String-Theorie war die Existenz sogenannter »Tachyonen«, also Teilchen, die sich schneller als Licht bewegen. Ließen sich die nicht umgehen? In der 26-dimensionalen »bosonischen« String-Theorie sind sie unvermeidlich. Einer der Vorzüge der zehndimensionalen Theorie besteht in der Möglichkeit, eine Version zu wählen, in der keine tachyonischen Teilchen auftreten, die – wie wir wissen – mit fundamentalen Prinzipien unvereinbar sind. 126
Vermutlich gab es aber auch einige Erfolge der alten String-Theorie. Ja. Es gab gute Gründe für die Entwicklung der Theorie. Sie besaß viele allgemeine Merkmale, wie sie in einer Theorie der starken Kernkraft gebraucht wurden. Sie lieferte bestimmte Eigenarten der Wechselwirkung von Teilchen bei hohen Energien und andere charakteristische Eigenschaften, die mit den Massen und Drehimpulsen der Teilchen zusammenhängen. Wenn wir heute auf diese Phase zurückblicken, können wir feststellen, daß man Strings heute sicher nicht mehr zur Beschreibung von Kernteilchen verwenden würde. Diese Aufgabe ist ja inzwischen auch von der QCD übernommen worden. Die QCD wird von der Wissenschaft heute allgemein als die korrekte Theorie der starken Kernkraft angesehen. Meiner Ansicht nach gibt es dafür auch überzeugende Beweise. Ich halte es aber nicht für ausgeschlossen, daß man die QCD so umformulieren kann, daß Strings dabei eine Rolle spielen, die in diesem Zusammenhang allerdings andere mathematische Eigenschaften hätten als die Strings, die vor 15 Jahren vorgeschlagen wurden. Von der Struktur einer solchen String-Theorie können wir uns nach unserer heutigen Kenntnis allerdings kein sehr genaues Bild machen. Es sieht so aus, als ob dabei noch kompliziertere Probleme auftreten als bei dem scheinbar viel anspruchsvolleren Vorhaben, das wir mit der Superstring-Theorie in Angriff genommen haben. 127
Wie kam es zu der Wende bei der Einschätzung der String-Theorie, die sie an die vorderste Front der Forschung auf dem Gebiet der Teilchenphysik brachte? Das fing 1980 an, als ich zusammen mit Michael Green die Untersuchungen wieder aufnahm, die ich mit Joël Scherk begonnen hatte und die das mathematische Verhalten der zehndimensionalen String-Theorie betrafen. Eine der wichtigsten Eigenschaften dieser Theorie besteht darin, daß sie eine sehr spezielle Art von Symmetrie – die sogenannte »Supersymmetrie« – besitzt, die zwei verschiedene Klassen von Elementarteilchen, nämlich Bosonen und Fermionen miteinander verknüpft.
Könnten Sie etwas Näheres über diese beiden Teilchenarten sagen? Alle Elementarteilchen gehören zu einer dieser beiden Klassen, entweder zu den Bosonen oder zu den Fermionen, die sich in zwei wichtigen Punkten unterscheiden: Der Betrag des Drehimpulses – bei Teilchen gewöhnlich als »Spin« bezeichnet – ist für Bosonen ein ganzzahliges Vielfaches einer fundamentalen Einheit, wogegen er für Fermionen ein halbzahliges Vielfaches dieser Einheit ist. Ein anderer Unterschied, der in engem Zusammenhang mit Fragen der Quantentheorie steht, hat mit dem Verhalten der Theorie beim Austausch identischer Teilchen zu tun. Entweder bleibt die Theorie dabei unverändert oder sie bekommt ein Minuszeichen. Ein Fermionenaustausch führt zu einem Minuszeichen. 128
Sie sagten, daß die Supersymmetrie ein Hilfsmittel bei der Verschmelzung dieser beiden Teilchenarten im Rahmen einer gemeinsamen Beschreibung ist. Ja, das stimmt. Zur Konkretisierung sollte ich übrigens ergänzen, daß Quarks und Elektronen Fermionen sind, während es sich bei Photonen und Gravitonen um Bosonen handelt. Könnte man sagen, daß Fermionen Materieteilchen sind, wogegen Bosonen Kräfte zwischen den Materieteilchen übertragen? Ich glaube, das ist eine gute Formulierung. Sie sagten, daß die Supersymmetrie ein wesentliches Element der modernen Version der String-Theorie darstellt. Welche Entwicklungen haben sich daraus ergeben? Nun, das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Im Grunde fällt die Geburt der Supersymmetrie zusammen mit der Entdeckung der zehndimensionalen StringTheorie im Jahre 1971. Eine besondere Variante bildet die supersymmetrische Verallgemeinerung der Theorie der Gravitation, die 1976 ausgearbeitet und mit in die supersymmetrische String-Theorie eingebaut wurde, die heute allgemein unter dem Namen »Superstring-Theorie« bekannt ist. Bei der Untersuchung der Eigenschaften der supersymmetrischen Theorie fanden Michael Green und ich im Laufe der Jahre eine Anzahl aufregender Details. 129
Ein typisches Problem, mit dem man bei der Entwicklung einer Theorie der Gravitation herkömmlicherweise zu kämpfen hat, besteht darin, daß die Theorie bei dem Versuch, sie mit den Forderungen der Quantentheorie zu vereinbaren, zu bedeutungslosen, divergenten Ausdrükken führt. Es ist wie bei der Division einer Zahl durch Null, die bekanntlich nicht möglich ist. Ähnlich schlecht definierte Ausdrücke erhält man auch, wenn man versucht, die Quantentheorie auf die Gravitation anzuwenden. Dieses Problem schien ein generelles Merkmal aller Theorien zu sein, in denen die fundamentalen Teilchen – wie bei den traditionellen Modellen üblich – als mathematische Punkte betrachtet werden. Das entscheidende Merkmal der String-Theorie ist, daß diese Punkte durch eindimensionale Kurven, eben die »Strings«, ersetzt werden. Eine aufregende Folge dieser Modifikation bestand nun darin, daß wir bei der Berechnung der Quantenkorrekturen zur Gravitation bei der String-Theorie auf sinnvolle Werte kamen, die durch endliche Ausdrücke beschrieben wurden. Dies war ein erster Hinweis darauf, daß es möglich sein müßte, eine endliche Theorie aufzustellen, die mit der Quantenmechanik vereinbar ist und die Gravitation mit enthält. Das war wirklich sehr aufregend. Wir fanden dieses Ergebnis ungefähr 1982. Etwa zur gleichen Zeit entwickelten wir auch eine Reihe anderer Superstring-Theorien. Eine davon enthielt »offene« Strings – so nennen wir Strings mit offenen Enden im Gegensatz zu »geschlossenen« Strings, die Schleifen bilden. Die ursprüngliche Superstring-Theorie 130
enthielt also sowohl offene als auch geschlossene Strings. Wir fanden jedoch bald heraus, daß es möglich war, Theorien zu entwerfen, die nur geschlossene Strings enthielten. Dieser Unterschied hat sich als ein entscheidendes Kriterium der Theorie erwiesen. Heute erscheinen nur noch die Theorien mit geschlossenen Strings erfolgversprechend; sie sind in vieler Hinsicht auch einfacher zu untersuchen. Eine wichtige Eigenschaft der Natur, der wir in unserer Theorie Rechnung tragen müssen, ist der Unterschied zwischen Links- und Rechtshändigkeit. Die Theorie darf also nicht spiegelsymmetrisch sein, sie muß, wie man sagt, eine »Paritätsverletzung« beinhalten, die auch ein wichtiges Merkmal des Standardmodells für die schwache und starke Wechselwirkung ist, das für niedrige Energien gilt. Im Zusammenhang mit der Supersymmetrie sieht man sich nun vor der Aufgabe, diese Asymmetrie von einem allgemeineren Standpunkt aus zu interpretieren. Wie sich erweist, enthalten von den wenigen bisher entwickelten Supersymmetrie-Theorien alle bis auf eine einzige die Links-Rechts-Asymmetrie als grundlegende Eigenschaft. Das ist sehr ermutigend. Theorien mit einer solchen Asymmetrie zeigen jedoch eine sehr starke Neigung, zu »brechen« und inkonsistente Ergebnisse zu liefern, zwar nicht in Form der von mir zuvor erwähnten »Unendlichkeiten«, wohl aber in Gestalt damit nahe verwandter »Anomalien«. Die entscheidende Frage ist nun, ob – sofern die Theorie vor Berücksichtigung der Quantenmechanik eine bestimmte fundamentale Symmetrie131
eigenschaft besitzt – die quantenmechanischen Korrekturen diese Symmetrie respektieren oder »brechen«. Im letzteren Fall ist die Theorie inkonsistent und ergibt keinen Sinn. Diese Art von Inkonsistenz tritt ganz allgemein bei allen Theorien mit Links-Rechts-Asymmetrie auf. So aufregend es also einerseits war, eine Theorie mit Links-Rechts-Asymmetrie gefunden zu haben, so groß erschien andererseits die Gefahr, daß sie Anomalien enthalten könnte, die sie inkonsistent machen würde. Im Jahre 1984 führten Michael Green und ich Berechnungen für eine Superstring-Theorie durch, um festzustellen, ob diese Anomalie bei ihr auftrat oder nicht. Dabei erlebten wir eine große Überraschung. Zwar gab es prinzipiell eine Anomalie, welche die Theorie auf den ersten Blick unbefriedigend erscheinen ließ. Es gab jedoch eine Wahlfreiheit bezüglich der speziellen Symmetriestruktur, durch die eine Theorie erst endgültig festgelegt wird; genauer gesagt gab es unendlich viele Wahlmöglichkeiten. Und nun zeigte sich, daß für genau eine dieser Möglichkeiten die Anomalie wie durch Zauberei aus den Gleichungen verschwand, während das für alle anderen nicht der Fall war. Aus der ganzen Unendlichkeit möglicher Theorien war also gerade eine einzige als potentiell konsistent auserwählt! Lassen Sie mich noch einmal versuchen, das klarzumachen. Die traditionellen Feldtheorien für Elementarteilchen und Kräfte leiden an zwei Krankheiten: Eine davon ist das Auftreten unendlicher Terme, die andere die Existenz sogenannter Anomalien, die bei der Quantisierung der Theorie zu unerwünschten Symmetriebrechungen füh132
ren. Beide Krankheiten machen die Theorie mathematisch inkonsistent, aber mit der Superstring-Theorie scheint man nun beide Probleme im Griff zu haben, vorausgesetzt, man arbeitet mit dieser einzigartigen ausgewählten Version der Theorie. In welcher Hinsicht ist diese Theorie so einzigartig? Welches Merkmal unterscheidet sie von anderen? Ich erwähnte bereits, daß die spezielle Symmetriestruktur aus einer unendlichen Zahl von Möglichkeiten ausgewählt worden war, die vor unserer Analyse des Anomalieproblems existierten. Der Name der Symmetriestruktur ist SO(32). Etwa zur gleichen Zeit entdeckten wir eine zweite Symmetriestruktur mit der Bezeichnung E8 x E8, die gleichfalls eine konsistente Möglichkeit darzustellen schien. Das Komische daran war, daß wir zu dieser Zeit gar keine spezielle Superstring-Theorie besaßen, die diese Symmetrie enthalten hätte. So hatten wir also eine konsistente Superstring-Theorie mit einer identifizierten Symmetrie und eine weitere konsistente Symmetrie ohne zugehörige Theorie. Kurz danach jedoch entdeckte eine Gruppe von vier Physikern von der Princeton University, die heute als das »Princeton String Quartet« bekannt sind, zwei neue Superstring-Theorien, die sie als »heterotische Strings« bezeichneten. Eine dieser Theorien enthielt die E8 x E8-Symmetrie, die andere war eine Superstring-Theorie auf der Basis von SO(32). Die E8 x E8-Theorie stieß auf großes Interesse, da diese Symmetriestruktur für die Beschreibung der beobachteten Teilchen den meisten Erfolg verspricht. 133
Nun scheint es aber schon wieder ein Überangebot an alternativen String-Theorien zu geben. Ist das nicht eine ärgerliche Sache? Die Zahl ist ja noch ziemlich klein. Im Grunde haben Sie natürlich recht: Es wäre am besten, wenn es nur eine mögliche Theorie gäbe, die alles erklären würde. Ich glaube, man kann sagen, daß wir auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekommen sind, wenn auch das Ziel noch nicht ganz erreicht ist. Im Augenblick gibt es unter den zehndimensionalen Theorien drei heterotische Superstring-Theorien (die dritte neben den beiden von mir bereits erwähnten wurde noch später gefunden) und drei nichtheterotische Theorien, zusammen also sechs. Es ist jedoch möglich, daß sich einige dieser Theorien bei näherer Untersuchung als inkonsistent erweisen, wodurch diese Zahl reduziert würde. Außerdem sieht es so aus, als ob die drei heterotischen Theorien in Wahrheit verschiedene Versionen der gleichen Theorie sind. Man kann in der Tat zeigen, daß sie einander äquivalent sind und im Grunde als eine einzige Theorie betrachtet werden müssen. Es bestehen also gute Chancen, daß die Zahl der Theorien auf eins reduziert werden kann. Warum betrachtet man es nicht mehr als Problem, daß diese Theorien in mehr als vier Raumzeitdimensionen formuliert werden müssen? Nachdem wir das Hadronen-Programm aufgegeben hatten, bei dem die starke Kernkraft mit Hilfe von Strings beschrieben werden sollte, und uns statt dessen der Be134
schreibung der Gravitation und anderer Kräfte zugewandt hatten, erwiesen sich die zusätzlichen Dimensionen eher von Vorteil als von Nachteil. Der Grund dafür liegt darin, daß Theorien der Gravitation die Geometrie von Raum und Zeit beschreiben, so daß die Annahme zusätzlicher Dimensionen im Rahmen dieser Theorien als vollkommen sinnvoll erscheint. Allerdings sind diese Dimensionen zu winzigen Kugeln »zusammengerollt«, die zu klein sind, um beobachtet werden zu können. Dies folgt als unmittelbare Konsequenz aus der Geometrie, die von der Theorie vorgeschrieben wird, und ergibt sich bei der korrekten Lösung ihrer Gleichungen von selbst. So enthält die Theorie zwar zusätzliche Dimensionen, sie sagt uns aber auch, wie wir sie interpretieren müssen, nämlich als winzige, »eingerollte« Bereiche. Um welche Größenordnungen handelt es sich dabei? Wahrscheinlich um die gleiche Längenskala, die ich bereits erwähnte: Die »Planck-Länge« von 10-33 cm. Das heißt also, daß jeder Raumpunkt – oder das, was wir dafür halten, in Wahrheit eine kleine sechsdimensionale Kugel von etwa 10-33 cm Durchmesser ist. Es ist also kein Wunder, daß wir diese zusätzlichen Dimensionen nicht entdecken können. Sie sind einfach zu klein dafür. Wie haben wir uns diese Strings nun vorzustellen? Bilden sie die Bausteine für Teilchen wie Elektronen oder Quarks, indem sie im Innern 135
dieser Partikel sitzen, vielleicht in Form einer winzigen Schlinge oder etwas Ähnlichem? Ich würde das etwas anders formulieren. Ein String kann in verschiedenen »Moden« schwingen, vibrieren und rotieren, und jede dieser verschiedenen Schwingungs- oder Vibrationsarten beschreibt eine bestimmte Teilchenart. So entspräche das Elektron einer bestimmten Schwingungsmode, das Quark einer weiteren und das Graviton wieder einer anderen. Also praktisch immer der gleiche Typ von String, aber in verschiedenen Bewegungszuständen oder -mustern? Genau. Sie sagten, daß die sogenannte E8 x E8-Formulierung der SuperstringTheorie den meisten Erfolg verspricht. Was bedeuten diese beiden E8? Das kann man noch nicht genau sagen; man muß abwarten, bis sich die Lage etwas mehr geklärt hat. Eine interessante Möglichkeit wäre die, daß die Symmetrie der Teilchenphysik, wie sie aus Experimenten bei den gegenwärtig erreichbaren Energien bekannt ist, ein Teil der Symmetrie ist, die von einer dieser beiden E8 beschrieben wird. Die andere E8-Symmetrie beschreibt eine unbekannte Art von Materie, die manchmal als »Schattenmaterie« bezeichnet wird und nicht oder nur äußerst geringfügig mit der uns vertrauten Materie in Wechselwirkung tritt. Wenn Sie daraus eine Science-Fiction-Ge136
schichte machen wollten, könnten Sie sich vorstellen, daß es alle möglichen Galaxien und Planeten aus Schattenmaterie gibt, die für uns vollständig unsichtbar sind, da sie mit unserer Art von Licht nicht wechselwirken. Es könnte also sein, daß gerade in diesem Augenblick Schattenmaterie durch diesen Raum hindurchströmt, ohne daß wir etwas davon bemerken? Genau. Es gibt allerdings gewisse Begrenzungen für diese Materie, da sie mit unserer Art von Schwerkraft in Wechselwirkung steht. Anders gesagt: Wir haben mit ihr die gleiche Gravitation gemeinsam.
Dann könnten wir einen Schattenplaneten also doch entdecken? Er würde sich durch seine Gravitationswirkung verraten, obwohl wir ihn mit Hilfe von Licht nicht sehen könnten.
Gibt es irgendwelche Beweise für die Existenz von Schattenmaterie? Nein, es gibt keine. Ihre Existenz steht aber auch nicht im Widerspruch zu dem, was wir über das Universum wissen. Es gibt Hinweise darauf, daß die sichtbare Materie im Weltall nur zu einem kleinen Teil – etwa 10% – zur Gesamtmasse des Universums beiträgt. Über die Hälfte der Masse im Weltall könnte also aus Schattenmaterie bestehen; Platz für sie gäbe es genug. 137
Wäre diese Schattenwelt hinsichtlich der Teilchen und ihrer Wechselwirkungen mehr oder weniger identisch mit unserer Welt? Das hängt von den Lösungen der Theorie ab. Eine Möglichkeit besteht darin, daß die beiden E8-Symmetrien auf identische Art und Weise in kleinere Symmetriestrukturen gebrochen werden. Wäre das Muster der Symmetriebrechung für beide E8-Faktoren gleich, so hätten wir auch in den physikalischen Gesetzen für beide Materiearten die gleiche Symmetrie. Im Augenblick sieht es allerdings mehr so aus, als ob die Symmetriebrechung für beide E8 unterschiedlich verläuft. Wie kommt das? Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden? Bei dem Versuch, die Gleichungen der Theorie zu lösen, hat man bisher nur solche Lösungen finden können, die für die beiden E8 verschiedene Symmetriebrechungen verlangen. Dann gibt es also eine Asymmetrie zwischen unserer Welt und der Schattenwelt? Ja, aber man kann nicht ausschließen, daß andere Lösungen gefunden werden, in denen die beiden Welten symmetrisch sind. Soweit ich es beurteilen kann, betrifft eins der großen ungelösten Probleme des Superstring-Programms die Frage, zu welchen spezi138
ellen Konfigurationen sich die sechs zusätzlichen Dimensionen zusammenrollen. Sehen Sie das als ein unüberwindliches Hindernis an, oder glauben Sie, daß das Problem in ein paar Jahren mathematisch gelöst werden kann? Ja, das ist eine enorme Aufgabe und eines der zwei grundlegenden Probleme, die wir heute auf diesem Gebiet haben. Wenn wir wüßten, wie dieser sechsdimensionale Raum aussieht, wären wir in einer ausgezeichneten Ausgangsposition, um alle möglichen Dinge zu berechnen, die uns interessieren. Aber wie ich bereits sagte, ist dieser Raum vollkommen unsichtbar, weil er für direkte Beobachtungen viel zu winzig ist. Es hat sich jedoch herausgestellt, daß bestimmte Merkmale seiner Geometrie und Topologie über die Eigenschaften der Teilchen entscheiden, die wir in dem uns zugänglichen Energiebereich beobachten. Könnten Sie ein Beispiel dafür geben? Es gibt eine topologische Eigenschaft des sechsdimensionalen Raumes, die durch die sogenannte »Euler-Zahl« charakterisiert wird. Etwas vereinfacht ausgedrückt gibt diese Zahl an, wie viele »Löcher« der Raum enthält. Wie sich herausstellt, steht diese Zahl in direktem Zusammenhang mit der Anzahl der Gruppen oder »Familien«, in denen die Quarks und die Leptonen auftreten. Man kennt heute drei solcher Familien, und es war lange Zeit ein Rätsel, warum es gerade diese Anzahl von ihnen gibt. Eines der aufregenden Merkmale der Superstring-Theo139
rie ist nun, daß die von ihr gelieferte Anzahl an Familien gerade gleich der halben Euler-Zahl des sechsdimensionalen Raumes ist. Das wäre also ein Beispiel dafür, wie die Topologie dieser unsichtbaren Raumdimensionen einen direkten Einfluß auf die physikalische Realität hat, zum Beispiel auf die Anzahl der verschiedenen in der Natur vorkommenden Teilchen. Genau.
Ein Problem mit der Superstring-Theorie besteht darin, daß es sich dabei gegenwärtig nicht um eine einzige, sondern um eine sehr große Anzahl von Theorien zu handeln scheint, je nachdem auf welche Weise man die zusätzlichen Dimensionen »zusammenrollt«. Wie viele verschiedene Wahlmöglichkeiten hat man eigentlich dabei? Ich teile Ihr Unbehagen darüber, sehe die Sache aber etwas anders: Ich bin der Ansicht, daß es nur eine einzige Theorie gibt und daß die scheinbare Vielzahl nur auf unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten zurückzuführen ist – eine Theorie hat nun eben einmal verschiedene Lösungen. Die große Schwierigkeit besteht darin zu verstehen, warum die eine Lösung besser ist als die andere und vielleicht sogar die Natur richtig beschreibt. Auf der gegenwärtigen Ebene unseres Verständnisses gibt es keine andere Möglichkeit, zwischen diesen verschiedenen Lösungen zu wählen, als herauszufinden, inwieweit die eine der Natur besser angepaßt ist als die 140
andere. Wir kennen jedoch kein mathematisches Kriterium, das darüber entscheiden könnte, welche Lösung die bessere ist. Die Theorie ist eben noch nicht völlig verstanden, und wir sind immer noch auf der Suche nach ihrer besten Formulierung. In ihrer gegenwärtigen Form können wir sie lediglich in verschiedenen Stufen der Annäherung untersuchen, und zwar mit Hilfe einer Methode, die als »Störungstheorie« bekannt ist. Wir suchen immer noch nach einer Form der Theorie, bei der wir nicht an dieses spezielle Verfahren gebunden sind. Besäßen wir eine Formulierung der Theorie, die uns statt sukzessiver Näherungen exakte Ergebnisse liefern würde, würden wir vielleicht entdecken, daß einige der sechsdimensionalen Räume, die in allen bisher untersuchten Näherungen Lösungen für die Gleichungen der Theorie zu sein scheinen, bei exakter Behandlung in Wirklichkeit gar keine Lösungen sind.
Das heißt, wenn man genaue Berechnungen durchführen könnte, könnte man herausfinden, welche Lösung die einzig richtige ist. Genau. Man drückt das im Fachjargon so aus, daß es in der Theorie »nonperturbative« – das heißt störungsfreie – Effekte geben könnte, die alle Lösungen außer einer einzigen ausschließen würden. Aber bevor man darüber Genaueres weiß – wie viele Kandidaten gibt es für die richtige Lösung? 141
Es ist schwierig, sie abzuzählen, aber ich schätze einige Tausend, vielleicht auch mehr.
Und worin besteht nun das andere große Problem der Theorie? Eben in der Formulierung einer nicht auf Störungsrechnungen angewiesenen, »nichtperturbativen« Version der Theorie, das heißt in ihrer exakten Beschreibung. Wir sind hinsichtlich der String-Theorie insofern in einer merkwürdigen Situation, als wir zwar viele Gleichungen lösen können, aber kein wirkliches tieferes Verständnis der Prinzipien haben, die diesen Gleichungen zugrunde liegen. Die Sache ist genau umgekehrt als bei der Entwicklung der Einsteinschen Theorie der Gravitation – der Allgemeinen Relativitätstheorie. Einstein ging von einem ästhetisch sehr ansprechenden Prinzip – dem Äquivalenzprinzip – aus, und leitete daraus Gleichungen ab, die dann untersucht werden konnten. Im Fall der String-Theorie haben wir lediglich ein bestimmtes System von Gleichungen, verstehen aber die Verallgemeinerung des Äquivalenzprinzips nicht, das zu diesen Gleichungen führt. Klar ist nur, daß dem Ganzen eine sehr tiefe und schöne mathematische Struktur zugrunde liegt, die für all die aufregenden Ergebnisse verantwortlich ist, die wir bis heute erhalten haben, und daß ein sehr elegantes und tiefreichendes Prinzip seiner Enthüllung harrt. In den letzten ein bis zwei Jahren wurde eine Menge Arbeit geleistet, um herauszufinden, was die Theorie eigentlich bedeutet, und vielleicht weisen einige 142
Untersuchungen aus allerjüngster Zeit tatsächlich in die richtige Richtung, aber diese Ergebnisse sind alle vorläufiger Natur und müssen noch genauer geprüft werden, bevor wir sicher sein können. So haben wir also nicht nur das Problem, die Gleichungen der Theorie zu lösen und sie den Experimenten anzupassen, sondern stehen darüber hinaus vor der Aufgabe, auf einer viel fundamentaleren Ebene zu verstehen, was die Theorie überhaupt bedeutet.
Nehmen wir einmal an, die Theorie ist weiter erfolgreich: Wo würden Sie eine Möglichkeit der experimentellen Überprüfung sehen? Bis jetzt haben wir ja nur eine sehr elegante Formulierung bereits bekannter Tatsachen. Um aber wirklich erfolgreich zu sein, müßte die Theorie neuartige, überprüfbare Voraussagen machen. Das ist natürlich richtig, aber es ist nicht möglich vorauszusagen, in welchem Zeitraum – wenn überhaupt – sich solche Erfolge einstellen werden. Ich habe die Hoffnung, daß noch vor Ende dieses Jahrhunderts überzeugende Beweise für die String-Theorie gefunden werden; versprechen kann ich es allerdings nicht. Niemand kann sagen, wie lange das noch dauern wird. Wir haben es hier mit äußerst anspruchsvollen Fragen und einem sehr ambitionierten Programm zu tun, und es gibt keine Garantie dafür, daß wir damit überhaupt Erfolg haben werden, wenn auch die Aussichten dafür viel besser zu sein scheinen als bei allen anderen vorangegangenen Versuchen in dieser Richtung. 143
Wird die Theorie neue Teilchen voraussagen können, die mit Hilfe neuartiger Beschleuniger entdeckt werden könnten? Nehmen wir einmal an, wir hätten das fundamentale Prinzip der Theorie verstanden und eine eindeutige Lösung ihrer Gleichungen gefunden, dann könnten wir mit Hilfe dieser Lösungen die topologischen Eigenschaften des sechsdimensionalen Raumes untersuchen. Daraus ließen sich wieder Aussagen über die bei niedrigen Energien auftretenden Teilchen, ihre Massenverhältnisse und die Stärke ihrer gegenseitigen Wechselwirkungen gewinnen. Diese Werte könnte man dann mit den Ergebnissen der Laborexperimente vergleichen. Es gibt sicher auch noch unentdeckte Teilchen, die zum Beispiel mit der Supersymmetrie oder mit Symmetriebrechungen verknüpft sind. Zur Zeit haben wir allerdings nur vage Vorstellungen über die von der Theorie gelieferten Werte für die Massen und anderen Eigenschaften der Teilchen. In dem Augenblick, in dem wir eine spezielle »Kompaktifizierung« des sechsdimensionalen Raumes kennen, die zutreffend beschreibt, was wir bereits wissen, können wir auch Voraussagen über andere Dinge machen, die experimentell überprüft werden können.
Ich habe den Eindruck, daß es in dieser Sache nur in dem Maße größere Fortschritte geben wird, in dem sich das Verständnis der dahinter stehenden Mathematik entwickelt. Offenbar benötigen Sie die Unterstützung bestimmter Zweige der Mathematik, die selbst noch sehr neu sind und weiterer Erforschung bedürfen. 144
Das ist richtig. Das ist ein Aspekt bei der ganzen Sache, der viele Leute abschreckt – daß diese Untersuchungen einen enormen mathematischen Aufwand erfordern. Es ist in der Tat so, daß vieles von dieser Mathematik noch nicht einmal von den Mathematikern selbst ausgearbeitet worden ist. Wir müssen noch eine Menge lernen und neue mathematische Verfahren entwickeln, während wir gleichzeitig versuchen müssen, die Physik zu verstehen. Es ist sehr aufregend, an all diesen gegenwärtigen Entwicklungen beteiligt zu sein, und ich bin optimistisch, daß die Arbeit auf lange Sicht Früchte tragen wird. Man spricht von der Superstring-Theorie als von einer »Allumfassenden Theorie«, da ihr Ziel letztendlich darin besteht, alle Teilchen und Kräfte zu erklären. Wie man weiß, hat es in der Vergangenheit aber schon öfter Zeiten gegeben, in denen eine solche AUT in greifbarer Nähe schien, und jedesmal hat man sich damit geirrt. Aus welchem Grund sollte der Superstring-Theorie ein anderes Schicksal beschieden sein? Nun, in allen erfolgreichen vorangegangenen, eingeschränkt einheitlichen Theorien wurde immer nur eine Auswahl der zu dieser Zeit bekannten Teilchen und Kräfte beschrieben. Jetzt haben wir jedoch ein Programm, das alle Kräfte einschließlich der Gravitation berücksichtigen soll. In den vergangenen Jahren gab es bei der Vereinigung der elektromagnetischen und schwachen Wechselwirkung großartige Erfolge, die durch die Einbeziehung der starken Wechselwirkung noch gesteigert wurden. Doch so begeisternd und erfolgreich diese 145
Arbeiten auch sind, könnten sie doch niemals den Anspruch erheben, allumfassend zu sein, denn offensichtlich kommt die Gravitation in diesem Bild nicht vor. Es hat in der Vergangenheit auch andere Versuche zur Beschreibung der Gravitation gegeben, die jedoch keine Aussicht boten, die anderen Kräfte mit zu berücksichtigen. Somit ist die Superstring-Theorie – zumindest soweit mir bekannt ist – das erste Beispiel eines Programms, welches die Gravitation enthält und zugleich ein aussichtsreicher Kandidat für die Beschreibung der anderen Kräfte zu sein scheint. Es handelt sich dabei um eine mathematische Struktur, die zu »starr« ist, um irgendwie modifiziert werden zu können. Sollte die Theorie bei der Beschreibung der experimentellen Ergebnisse erfolgreich sein, kann man sich schwer vorstellen, daß sie nur die Näherung einer noch besseren zukünftigen Theorie darstellt. Ihre Struktur ist so rigide, daß man sie vollständig zerstören würde, wenn man irgend etwas daran verändert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Theorie also wirklich von all ihren Vorgängerinnen, die immer nur als niederenergetische Näherungen tieferer Gesetzmäßigkeiten angesehen wurden, deren Entdeckung der Zukunft vorbehalten bleiben mußte. Seien wir einmal so optimistisch anzunehmen, daß alles gutgeht und wir gegen Ende dieses Jahrhunderts detaillierte Voraussagen machen und mit Beobachtungen vergleichen können, so daß die Wissenschaftler zu der Überzeugung kommen, daß die String-Theorien die fundamentalen Prinzipien beschreiben, nach denen die Welt auf146
gebaut ist. Was wird dann aus der theoretischen Physik? Ist sie dann nicht am Ende? Rein logisch betrachtet ist das zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich. Die Elementarteilchenphysik unterscheidet sich meiner Ansicht nach von allen anderen Gebieten der Physik durch ihre spezielle Art der Fragestellung: Sie forscht nach den fundamentalen Bestandteilen der Natur und den Gesetzen, die sie regieren. Sollte es auf diese Fragen prinzipiell eine richtige Antwort geben, wäre der Fall erledigt. Im Gegensatz dazu erscheinen alle anderen Bereiche der Wissenschaft »offen« – man kann immer neue Fragen stellen. Insofern stellt Ihre Vermutung durchaus eine logische Möglichkeit dar. Die Erfahrung hat uns jedoch gezeigt, daß aus jeder Antwort auf eine Frage fünf neue Fragen entstehen, und es gibt keine Anzeichen dafür, daß dies nicht noch sehr lange Zeit so weitergeht. Auch wenn wir hoffen dürfen, mit Hilfe der Theorie eines Tages alle Partikel und Kräfte vollkommen zu verstehen, werden meiner Meinung nach doch weit mehr als 15 Jahre vergehen, bis dieses Ziel erreicht ist. Man könnte sich bestenfalls vorstellen, daß wir in der genannten Zeitspanne genügend Fortschritte machen, um davon überzeugt zu sein, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Allen Versuchen einer Beschreibung der fundamentalen Teilchen und Kräfte liegt die Annahme zugrunde, daß sich die Natur durch mathematische Strukturen beschreiben läßt, die sich darüber hinaus – wie wir hoffen – auch noch als möglichst einfach und elegant herausstel147
len. Halten Sie das für einen frommen Wunsch oder glauben Sie, daß die Welt tatsächlich auf einfachen mathematischen Prinzipien beruht? Das scheint in der Tat der Fall zu sein, und es ist eine tiefsinnige philosophische Frage, warum das so ist. Ich habe keine Antwort darauf. Es ist sicher vernünftig anzunehmen, daß es für alle Dinge eine logische Erklärung gibt, und die Mathematik scheint die Methode zu sein, die Dinge logisch zu beschreiben. Ich glaube, daß die von Ihnen erwähnte Annahme überwiegend auf den gewaltigen Erfolgen beruht, die bei der Beschreibung der Natur mit Hilfe der Mathematik erzielt wurden und die sich zu immer tieferen Ebenen hin fortzusetzen scheint. Wir extrapolieren also einfach unsere Erfahrungen, wenn wir glauben, daß es immer so weitergeht. Es kann aber natürlich auch sein, daß dann, wenn eine bestimmte Ebene erreicht ist, wie beispielsweise jetzt bei der Erforschung der subatomaren Teilchen, die Dinge vorübergehend sehr einfach erscheinen, um bei tieferem Graben dann aber doch wieder sehr kompliziert zu werden. Ja, dieses Gefühl haben viele Leute. Sollte die Superstring-Theorie nicht funktionieren, müßte man diesen alternativen Standpunkt in Betracht ziehen. Es gibt jedoch noch eine andere Sorge: Daß die erforderliche Mathematik so schwer ist, daß sie den menschlichen Geist überfordert. Diese Besorgnis haben wir selbst von Zeit zu Zeit. 148
Wie man manchmal hören kann, ist die Superstring-Theorie die letzte Hoffnung auf eine »Allumfassende Theorie«, zumindest aber auf eine Theorie, die auf einer relativ einfachen und beherrschbaren Mathematik beruht. Teilen Sie diese Ansicht? Ich weiß es nicht. Ich meine aber, daß man in der Vergangenheit über andere Theorien ebenso gedacht hat, und sollte die Theorie aus irgendeinem Grund nicht funktionieren, werden vermutlich andere Kandidaten vorgeschlagen werden. Um mit einer persönlichen Frage zu schließen: Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl, einer großen Sache auf der Spur zu sein? Während meiner Zusammenarbeit mit Michael Green, die, wie bereits erwähnt, im Jahre 1979 begann, machten wir viele Entdeckungen – eine bis zwei jedes Jahr – , die unserer Ansicht nach von großer Bedeutung waren. Wir veröffentlichten diese Ergebnisse und trugen sie unseren Kollegen überall in der Welt mit großer Begeisterung vor. Jedesmal glaubte ich – und ebenso Michael, wie ich vermute –, daß diese Entdeckungen die anderen Forscher überzeugen müßten, daß es sich dabei wirklich um eine wichtige Sache handelte. Ich war daher immer wieder ziemlich überrascht, daß die anderen Vertreter der theoretischen Physik an dieser Arbeit offenbar kein besonderes Interesse hatten oder es zumindest nicht zeigten. Man war uns gegenüber höflich und tolerant, aber niemand machte Anstalten, selbst etwas auf diesem Gebiet zu tun. 149
Als wir dann im Sommer 1984 den Fortfall der Anomalien fanden, hatte ich mich schon zu sehr an die Reaktion der wissenschaftlichen Welt gewöhnt, als daß ich auf die enthusiastische Reaktion gefaßt gewesen wäre, mit der diese Arbeit aufgenommen wurde. Ich hatte immer daran geglaubt, daß die Superstring-Theorie sich letzten Endes als die richtige Methode der Vereinheitlichung herausstellen würde, hatte jedoch eine wesentlich langwierigere Entwicklung vermutet. Aber weniger als ein Jahr nach unserer Entdeckung von 1984 arbeitete bereits eine große Zahl von Leuten an der Theorie. Und wie fühlen Sie sich heute – inmitten des Wirbels an Aktivitäten, der Ihr Forschungsgebiet ergriffen hat? Haben Sie das Gefühl, Sie könnten sich jetzt zurückziehen und sich darauf beschränken, die weitere Entwicklung zu verfolgen? Offenbar sind Sie ja selbst auf dem Gebiet weiterhin noch sehr aktiv. Ich möchte weiter daran arbeiten und versuchen, meinen Beitrag dazu zu leisten. Es gibt heute eine große Menge sehr guter Leute, die auf diesem Gebiet eindrucksvolle Arbeit leisten, und es ist nicht leicht, mit ihnen zu konkurrieren. Besonders einige der Jüngeren wissen unheimlich gut in der modernen Mathematik Bescheid, die man dazu benötigt, und machen ihre Sache hervorragend. Natürlich bin ich über diese Entwicklung höchst erfreut, denn als wir nur zu zweit an dieser Aufgabe saßen (ich sollte allerdings noch Lars Brink erwähnen, der zeitweise ebenfalls daran beteiligt war), waren wir oft darüber frustriert, wie langsam die Sache voranging. Es 150
gab eine Unzahl interessanter Probleme, aber wir hatten nicht genügend Zeit, Energie und wohl auch Fähigkeiten, ihnen allen nachzugehen, und dabei waren wir doch so neugierig, was bei der ganzen Sache herauskommen würde. Jetzt geht die Entwicklung so schnell voran, daß es unmöglich geworden ist, sich auf dem laufenden zu halten. Jeden Tag bekomme ich einen Stapel neuer Arbeiten, und wenn ich sie alle lesen wollte, würde ich meine ganze Zeit dafür verwenden müssen, ohne zu etwas anderem zu kommen!
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2.2 Edward Witten Edward Witten ist Professor am Institute for Advanced Study in Princeton. Er hat viele wichtige Arbeiten zur theoretischen Elementarteilchenphysik und Quantenfeldtheorie beigetragen, speziell auf den Gebieten der Quantenchromodynamik und der höherdimensionalen Theorien, bevor er sich den Superstrings zuwandte. Er ist einer der geistreichsten und freimütigsten Befürworter dieser Theorie.
Was sind die wesentlichen Probleme, mit denen sich die SuperstringTheorie beschäftigt? Die Physik des 20. Jahrhunderts ruht auf zwei fundamentalen Säulen, der Allgemeinen Relativitätstheorie – Einsteins Theorie der Gravitation – und der Quantenmechanik, die alles beschreibt, was sich im mikroskopischen Bereich – der Welt der Atome, Moleküle und Elementarteilchen – abspielt. Das Grundproblem der modernen Physik besteht darin, daß diese beiden Theorien miteinander unvereinbar sind: Versucht man, Gravitation und Quantenmechanik zu kombinieren, erhält man mathematisch unsinnige Ergebnisse. In einer derartigen Theorie der »Quantengravitation« treten alle möglichen unendlichen Ausdrücke auf, was für einen Physiker äußerst unerfreulich ist. Vermutlich glauben die meisten Leute, die nicht direkt mit Physik zu tun haben, daß Physiker unglaublich komplizierte Berechnungen anstellen. Das ist aber gar 152
nicht das Wesentliche. Viel wichtiger für die Physik sind »Konzepte«: Die Physik strebt danach, die Konzepte, die Prinzipien zu verstehen, nach denen die Welt funktioniert. Allen wirklich guten Theorien wie zum Beispiel der Relativitätstheorie liegen wohldefinierte und klar formulierte Konzepte zugrunde, und die Theorie selbst stellt die bestmögliche Realisierung dieser Konzepte dar. Mit der Quantenmechanik verhält es sich etwas anders. Sie hat sich auf einem ziemlich komplizierten, »holprigen« Weg entwickelt, der weitgehend durch experimentelle Ergebnisse vorgezeichnet wurde. Sie ist gleichfalls von großer Tiefe und Schönheit, besitzt aber nicht die gleiche klare Konzeption wie die Allgemeine Relativitätstheorie. Wie bereits erwähnt, besteht das Problem in der Physik darin, daß die Kombination dieser beiden fundamentalen Theorien Unsinn ergibt. Die Geschichte der Physik ist die Geschichte zunehmend verfeinerter Modelle für die Naturgesetze. Diese Verbesserung der Modelle führt dazu, daß eine Theorie einerseits auf immer weniger Prinzipien beruht und andererseits immer mehr Fragen auf einmal lösen muß, so daß es allmählich immer komplizierter wird, widerspruchsfreie Gleichungen aufzustellen. Zu Zeiten Newtons bestand das Problem nur darin, überhaupt etwas Richtiges aufzuschreiben, aber im 20. Jahrhundert haben wir mit der Relativitätstheorie, der Quantentheorie und anderen Theorien Begriffssysteme von so gewaltigem Ausmaß, daß es schwierig geworden ist, mit ihrer Hilfe zu widerspruchsfreien, geschweige denn zu korrekten Ergebnissen zu gelangen. 153
Allerdings hat diese Schwierigkeit auch ihr Gutes und stellt sogar ein wichtiges Werkzeug bei unseren Bemühungen um Fortschritte in der Physik dar. Die Physik hat heute größere experimentelle Probleme und entwikkelt sich nicht mehr so schnell wie vor 50 oder 60 Jahren. Eine der besten Möglichkeiten für das weitere Vorankommen liegt gegenwärtig in der Entwicklung reichhaltiger logischer Strukturen, deren Auswahl in starkem Maße durch die Forderung nach innerer Widerspruchsfreiheit begrenzt wird. Das Wesentliche an der String-Theorie ist also, daß sie versucht, ein Problem zu lösen, das für Jahrzehnte eine zentrale Rolle in der Physik spielte: Die Unvereinbarkeit von Gravitationstheorie und Quantenmechanik. Wie überwindet sie diese Schwierigkeit? Ein Problem, das den Physikern das ganze 20. Jahrhundert hindurch Kopfzerbrechen bereitet hat, ist folgendes: Wenn man sich ein Teilchen wie das Elektron punktförmig vorstellt und sein elektrisches oder sein Gravitationsfeld korrekt berechnet, findet man, daß diese Felder eine unendlich große Energie enthalten. Die Versuche zur Lösung dieses Problems haben eine lange Tradition. Schon die Theoretiker der klassischen Feldtheorie quälten sich damit herum, und nicht anders erging es den modernen Theoretikern bei der Berechnung des elektrischen Feldes in der Quantenmechanik. Im Fall der Quantenelektrodynamik besteht der Ausweg darin, daß die Unschärferelation das Elektron »verschmiert« und uns dadurch er154
laubt, seinem elektrischen Feld einen sinnvollen Wert zu geben. Wenn wir versuchen, einen vernünftigen Wert für das Gravitationsfeld des Elektrons zu berechnen, stellen wir fest, daß die Sache nicht funktioniert, solange wir – wie die meisten Physiker dieses Jahrhunderts – das Elektron als punktförmiges Teilchen annehmen. Die StringTheorie betrachtet das Elektron nun aber nicht mehr als punktförmig, sondern als eine kleine vibrierende »Saite«. Diese zusätzliche Dimension des String erlaubt es uns, seinem Gravitationsfeld einen vernünftigen Wert zu geben. Ich habe das Elektron als Beispiel gewählt, weil die unendliche Energie des Elektrons ein klassisches Problem dieser Art ist; ähnliche Schwierigkeiten gibt es jedoch auch für alle anderen Elementarteilchen. Die String-Theorie löst dieses Problem für alle Teilchen und Wechselwirkungsarten. Wir haben uns also nicht mehr vorzustellen, daß die Welt aus Teilchen besteht, sondern aus kleinen »Strings«, die umherfliegen? So ist es. Wenn wir von Teilchen sprechen, müssen wir uns allerdings daran erinnern, daß wir uns diese seit der Einführung der Quantenmechanik – wie alle Objekte überhaupt – entgegen unserer alltäglichen Erfahrung als etwas »verwaschen« vorstellen müssen. In der StringTheorie wird ein verwaschenes Quantenteilchen ersetzt durch einen vibrierenden String, der nach der Quantenmechanik aber auch wieder etwas »verwaschen« erscheint. 155
Gibt es verschiedene Arten von Strings? In den meisten String-Theorien gibt es im wesentlichen nur eine Art von String, der aber viele verschiedene Bewegungsmöglichkeiten hat. Wenn Sie auf einer Geigensaite einen Ton spielen, kann sie mit vielen unterschiedlichen Frequenzen schwingen, den sogenannten Obertönen oder »harmonischen Oberschwingungen«. Die vielen verschiedenen Obertöne einer Geigensaite sind für den Klangreichtum verantwortlich. Sie sind der Grund dafür, daß Musikinstrumente unterschiedlich klingen, auch wenn man den gleichen Ton auf ihnen spielt. Ein C klingt auf einem Klavier ganz anders als auf einer Geige, weil die beiden Saiten mit verschiedenen Obertönen schwingen. Die Obertonzusammensetzung ist für jedes Instrument anders. Im Fall der Geigensaite entsprechen die verschiedenen Oberschwingungen verschiedenen Klängen, im Fall eines Strings verschiedenen Elementarteilchen. Das Elektron, das Photon, das Neutrino und alle anderen Teilchen sind verschiedene Oberschwingungen eines fundamentalen String, so wie verschiedene Obertöne einer Geigensaite die harmonischen Oberschwingungen dieser Saite sind. Würde man den Vergleich überstrapazieren, wenn man sagen würde, daß die verschiedenen fundamentalen Teilchen gewissermaßen verschiedene Töne der Natur darstellen? Nein, das ist eine recht gute Analogie. 156
Wie groß sind diese Strings? Der zu einem Elektron gehörende String könnte ca. 1033 cm lang sein, also noch viel, viel kleiner als Objekte, die schon als unvorstellbar klein gelten. Ein Atom hat einen Durchmesser von vielleicht 10-8cm, ein Atomkern ist noch einmal 100000mal kleiner, aber selbst damit verglichen ist der einem Elementarteilchen zugeordnete String von unvorstellbarer Winzigkeit. Aber trotzdem ist er kein punktförmiges Gebilde, und das ist der springende Punkt. Ja, er ist kein punktförmiges Gebilde, sondern besitzt eine bestimmte Ausdehnung, und das ist entscheidend für die Widerspruchsfreiheit des ganzen Modells. Übrigens gibt es trotz der unvorstellbaren Winzigkeit der Superstrings keinen Grund, nicht einen von ihnen zu pakken und immer weiter in die Länge zu ziehen, wenn man nur eine genügend kräftige Pinzette hätte. Ob er dabei zerreißt oder nicht, hängt von der betreffenden Theorie ab, aber bei den meisten würde dies nicht eintreten, so daß man tatsächlich einen makroskopischen Superstring erzeugen könnte, der durch das ganze Zimmer reichen würde. Wir hätten dann ein Analogon zu einer anderen Art von Strings, über die von Physikern und Astronomen heutzutage oft spekuliert wird – den sogenannten »kosmischen Strings«, die den Weltraum durchziehen und dort von den Astronomen entdeckt werden könnten. 157
Sie vermuten also, es könnte kosmische Strings im Universum geben – Überbleibsel von Superstrings, die beim Urknall entstanden ? Es könnte sein, obwohl ich diese Hypothese nicht überbewerten würde. Einige String-Theorien lassen es aber durchaus als möglich erscheinen, daß sich Strings über größere Bereiche des Himmels erstrecken und mit einem Teleskop entdeckt werden könnten. Können Sie etwas über die Topologie von Strings sagen? In den meisten String-Theorien haben sie die Form von Schleifen. Genauer gesagt enthalten alle String-Theorien geschlossene Strings in Schleifenform, und die meisten Theorien sogar nur diese Art, aber eine Theorie, die sogenannte Typ-1-Theorie, enthält sowohl offene als auch geschlossene Strings. Was hat Sie zu Beginn an der String-Theorie angezogen? Hauptsächlich die Möglichkeit einer Verschmelzung der Gravitation mit der Quantenmechanik – das zentrale Problem der Physik, schon bevor ich auf diesem Gebiet zu arbeiten begann. Seit der Entwicklung der Quantenmechanik und der Quantenfeldtheorie Ende der 20er Jahre war klar, daß es ein Konsistenzproblem zwischen der Gravitation und der Quantenmechanik gab. In dieser ersten Zeit hatten die Physiker jedoch eine Menge anderer Probleme mit der Quantenfeldtheorie, die ihre volle Aufmerksamkeit beanspruchten, und erst nachdem die158
se Probleme nach und nach gelöst worden waren, erwies sich die Inkonsistenz zwischen Gravitation und Quantenmechanik als das zentrale Problem der theoretischen Physik und als eines der schwierigsten und unzugänglichsten überhaupt. Es gab Zeiten, in denen die Arbeit daran fast völlig zum Erliegen kam – sie schien einfach zu schwierig und zu wenig inspirativ zu sein. Die Superstring-Theorie ist besonders deswegen attraktiv, weil sie die Gravitation mit einschließt. Während die Beschreibung der Gravitation in der Quantenfeldtheorie unmöglich ist, ist sie ein obligatorischer Bestandteil aller bekannten Versionen der String-Theorie. Das ist aber nur ein Aspekt, der die Faszination der StringTheorie ausmacht. Ein anderer ist ihre bemerkenswert reichhaltige mathematische Struktur. Ich halte das deswegen für sehr wichtig, weil sich die Physik im Laufe ihrer Geschichte über immer komplexere mathematische Strukturen weiterentwickelt hat. Ich halte es daher auch nicht für einen Zufall, daß die theoretischen Physiker bei ihren Bemühungen um eine Vereinigung der Gravitation mit der Quantenmechanik auf eine derart gehaltvolle mathematische Struktur gestoßen sind. Welche Gebiete der Mathematik werden durch die Theorie berührt? Die Theorie der Riemannschen Flächen, die Lie-Algebra, die bestimmte Arten von Symmetrien behandelt, und eine ganze Reihe anderer Gebiete. Viele mathematische Disziplinen, die für die Physik der Vergangenheit unwichtig waren, sind für die String-Theorie von großer Bedeu159
tung. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die vor allen wichtigen Fortschritten der Physik zu beobachten war. Die Gebiete, die Sie gerade nannten, sind Zweige der Geometrie oder deren Verallgemeinerung. Ist das richtig? Es handelt sich überwiegend um Zweige der Geometrie, auch etwas Algebra ist dabei. Im Grunde genommen ist die String-Theorie selbst ein neues Gebiet der Geometrie oder könnte es zumindest werden. Die große Leistung Einsteins beim Entwurf seiner Allgemeinen Relativitätstheorie bestand ja darin, die Gravitation auf Geometrie zurückzuführen – auf die Riemannsche Geometrie, um genau zu sein. Wenn die String-Theorie ein vollwertiger Nachfolger der Allgemeinen Relativitätstheorie sein sollte, müßte sie ähnlich wie diese auf einem geometrischen Fundament beruhen, von dem wir allerdings gegenwärtig nur eine entfernte Ahnung haben, obwohl viele von uns fest von seiner Existenz überzeugt sind. Sie glauben also, daß viele der physikalischen Eigenschaften der subatomaren Teilchen geometrischen Ursprungs sind? Die Allgemeine Relativitätstheorie, die ein physikalisches Phänomen – die Gravitation – auf ein geometrisches Prinzip zurückführt, stellt auf ihre Art die vollkommenste und befriedigendste physikalische Theorie dar. Seit den Zeiten Einsteins bestand der Ehrgeiz der Physiker darin, dieselbe Perfektion auch in anderen Teilgebieten der Physik zu erreichen und letztlich auch der angestreb160
ten einheitlichen Theorie eine derartige Form zu geben. Ich selbst bin mir ziemlich sicher, daß die richtige Fassung der String-Theorie sich als eine Weiterentwicklung der geometrischen Ideen erweisen wird, die Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie zugrunde liegen. Ich halte die Versuche zur Aufklärung der dazu notwendigen Verallgemeinerung der Geometrie übrigens für das zentrale Problem nicht nur der String-Theorie, sondern der Physik überhaupt. Glauben Sie, daß wir auch solche Eigenschaften wie die elektrische Ladung auf geometrischer Grundlage verstehen werden? Ich glaube, daß die String-Theorie sich insgesamt als eine geometrische Theorie erweisen wird, und sollte sie bei der Beschreibung der verschiedenen Kräfte erfolgreich sein, wird sie auch zu Strukturen führen, die man sehr wohl als geometrische Basis für solche Eigenschaften wie die elektrische Ladung betrachten könnte. Sie haben nun lange genug an dieser Theorie gearbeitet, um ein Gefühl dafür bekommen zu haben, wohin sie führt. Wie groß ist Ihre Hoffnung, daß sie sich – um ein Schlagwort zu gebrauchen – tatsächlich als die fundamentale Allumfassende Theorie erweisen wird? Ich mag es nicht besonders, über Allumfassende Theorien zu spekulieren. Ich glaube jedoch, daß uns die StringTheorie zu einer grundlegend neuen Stufe der Physik führen wird und sich – was die Erweiterung unseres Horizontes betrifft – mit jedem anderen Entwicklungs161
sprung messen kann, den die Physik in der Vergangenheit gemacht hat. Gleichzeitig glaube ich aber auch, daß wir das Ganze als einen langfristigen Prozeß betrachten müssen. Erinnern wir uns daran, daß die String-Theorie – setzt man ihren Ursprung mit dem Modell von Veneziano gleich – bereits 18 Jahre alt ist, und erst beim Rückblick in die Vergangenheit wird einem klar, welch langer Weg vor 10 oder 15 Jahren noch zu gehen war, über wie viele Dinge man noch nicht Bescheid wußte, die man hätte wissen müssen. Vielleicht ist das auch heute noch nicht viel anders. Wahrscheinlich befinden wir uns noch in der ersten Phase eines langen Prozesses, ähnlich dem, der zur Quantenelektrodynamik geführt hat. Die Quantentheorie begann 1900 mit Plancks Arbeit über die Schwarzkörperstrahlung, und bereits diese allererste Arbeit enthält eine Formel, die aus der späteren Quantentheorie des Elektromagnetismus stammen könnte. Und doch dauerte es noch 50 Jahre, bis die Quantenelektrodynamik entstanden war, auf die Plancks Arbeit hinzielte. Sehr wahrscheinlich entsprechen die 18 Jahre, die wir uns bisher mit der String-Theorie beschäftigt haben, der frühen Phase dieser langen Entwicklung, die zur Quantenelektrodynamik geführt hat. Wird die Theorie ähnlich tiefgreifende Konsequenzen haben wie die Quantenelektrodynamik? Ich glaube, wenn wir uns erst einmal darüber klargeworden sind, was die String-Theorie wirklich bedeutet, wer162
den wir eine Revolution unserer Vorstellungen über die Grundgesetze der Physik erleben, die in ihrem Ausmaß keinen Vergleich mit ähnlichen Umwälzungen der Vergangenheit zu scheuen braucht. Auch wenn die Theorie noch in den Kinderschuhen steckt: Können Sie schon auf irgendwelche definitiven Erfolge verweisen? Sind die Physiker lediglich von der Mathematik so fasziniert oder gibt es auch schon konkrete Ergebnisse? Die Verschmelzung von Gravitation und Quantenmechanik allein stellt eine sehr bemerkenswerte Errungenschaft dar. Es war das Problem aller Probleme schon lange Zeit vor meiner Beschäftigung mit diesem Gebiet. Glauben Sie, daß diese Verschmelzung heute schon eine gesicherte Tatsache ist? Ich würde sagen ja. Seit einigen Jahren ist klar, daß die String-Theorie tatsächlich einen logisch konsistenten Rahmen bildet, der sowohl die Gravitation als auch die Quantenmechanik einschließt. Gleichzeitig jedoch ist das für ein wirkliches Verständnis der Theorie erforderliche Begriffssystem noch nicht entwickelt, wie es in Einsteins Gravitationstheorie beispielsweise durch das Äquivalenzprinzip repräsentiert wird. Wie die Geschichte der Physik zeigt, ist die Verschmelzung inkonsistenter Theorien eine sehr gute Möglichkeit, grundlegende Fortschritte zu erzielen. So wurde Einsteins Spezielle Relativitätstheorie aus dem Wunsch 163
heraus geboren, zwei herausragende Theorien des 20. Jahrhunderts zu vereinigen: Maxwells Theorie der Elektrizität und die Newtonsche Mechanik. Die Allgemeine Relativitätstheorie entstand aus Einsteins Bemühungen, seine eigene Spezielle Relativitätstheorie mit der Newtonschen Theorie der Gravitation zu vereinigen. Die Quantenfeldtheorie schließlich geht auf Bestrebungen zurück, die nichtrelativistische Quantenmechanik mit der Speziellen Relativitätstheorie zu verschmelzen. So verdankt die Physik des 20. Jahrhunderts viele ihrer weitreichenden Fortschritte dem Umstand, daß bereits bestehende Theorien miteinander nicht verträglich waren. Die Geschichte lehrt, daß die Aufhebung solcher »Inkompatibilitäten« durch die Verschmelzung der Theorien zu grundlegend neuen Entwicklungen führen kann.
Wo sehen Sie gegenwärtig die größten Schwierigkeiten der Theorie? Die Aufgabe eines Physikers besteht nicht darin, alle möglichen Berechnungen durchzuführen, sondern darin zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Wie ich bereits vorhin sagte, besteht ein wesentliches Ziel der Physik in der Entdeckung von Konzepten. Was uns an der String-Theorie gegenwärtig am wenigsten befriedigt, ist der Umstand, daß wir trotz vieler bemerkenswerter Einzelergebnisse und hochinteressanter Entdeckungen erst sehr wenig von dem eigentlichen begrifflichen Rahmen der Theorie verstanden haben, wie ihn zum Beispiel die Geometrie für die Allgemeine Relativitätstheorie dar164
stellt. Die zentrale Frage, in der wir am dringendsten vorankommen möchten, betrifft daher die Aufklärung dieses logischen Rahmens für die Interpretation der String-Theorie. Die Allgemeine Relativitätstheorie folgt geradezu unvermeidlich aus den Prinzipien, auf denen sie gegründet ist. Hat man sich dazu entschlossen, eine Gravitationstheorie auf geometrischer Grundlage zu entwerfen und hat man die Spezielle Relativitätstheorie verstanden, die ja auf einigen wenigen Prinzipien beruht, die in dem berühmten Fahrstuhlexperiment und einigen anderen einen physikalisch anschaulichen Ausdruck finden – hat man also erst einmal das Konzept der Theorie begriffen, so ergibt sich die Mathematik von selbst. Sie stellt dann nur die perfekte Verkörperung dieser Prinzipien dar und ist daher kaum noch zu verbessern. Wie wir vermuten, existiert auch für die String-Theorie ein entsprechender logisch-begrifflicher Rahmen, in dem sie sich auf eine ähnlich natürliche Weise interpretieren läßt. Die Bestimmung dieses Rahmens ist gegenwärtig dringender als alles andere, denn es ist sehr wahrscheinlich, daß wir erst richtig verstehen müssen, was es mit der Theorie auf sich hat, bevor wir bestimmte wichtige Berechnungen anstellen können. So würden wir die String-Theorie gern dazu benutzen, die Massen von Elementarteilchen, ihre Lebensdauer, Kopplungskonstanten, Wechselwirkungen und alle möglichen anderen Prozesse vorauszusagen. Nur durch solche Berechnungen und dem Vergleich mit dem Experiment können wir jemals herausfinden, ob die Theorie richtig ist. 165
Solange man eine Theorie nur in groben Umrissen kennt und ihre Grundlagen nicht richtig verstanden hat, dürften solche Berechnungen sehr schwierig sein. Ich bin fest davon überzeugt, daß ein Verständnis des logischen Rahmens Voraussetzung für den intellektuellen Erfolg, vielleicht auch für die praktische Ausbeute der Theorie ist. Natürlich würde ich gern zu Fortschritten in dieser Richtung beitragen. Möglicherweise wird dieses Problem aber noch viele Jahre lang ungelöst bleiben. Wenn es eine so schwierige Sache ist, diese Massen, Kopplungskonstanten und andere niederenergetische Größen aus der Theorie zu berechnen, sind experimentelle Tests vielleicht auf anderen Gebieten möglich? Könnte die Theorie nicht beispielsweise die Existenz neuer Teilchenarten oder Phänomene voraussagen, die in Teilchenbeschleunigern nachgewiesen werden könnten? Wenn man mit Hilfe der String-Theorie alles berechnen könnte, könnte man durch Experimente sehr schnell feststellen, ob sie korrekt ist. Das wäre auch möglich, wenn man Experimente bei der sogenannten »PlanckEnergie« vornehmen könnte, bei der sowohl die Gravitation als auch die Quantenmechanik von fundamentaler Bedeutung sind. Aber beide Vorhaben sind hoffnungslos, nicht wahr? Unglücklicherweise gibt es gegenwärtig weder eine Hoffnung auf Experimente bei derart hohen Energien noch eine auf die Berechnung aller wichtigen Größen mit Hil166
fe der Theorie. Die Frage ist, ob es vielleicht irgendeine besonders günstige »Nische« gibt, für die man eine ungewöhnliche Voraussage machen kann, ohne die StringTheorie vollständig verstanden zu haben. So etwas ist durchaus vorstellbar; ich bin jedoch nicht allzu optimistisch, daß dies innerhalb der nächsten Jahre passieren wird. Gibt es keine Voraussagen über neue Teilchen oder etwas anderes in dieser Art? Doch, eine Anzahl von String-Theorien und eine Reihe von Modellen für die Funktionsweise von String-Theorien sagen riesige Teilchen mit Massen in der Nähe der Planck-Masse und mit Ladungen voraus, die Bruchteile der Elementarladung betragen. Es ist denkbar, daß man solche Teilchen in der kosmischen Strahlung entdecken könnte. Das heißt also Teilchen, die verglichen mit den bekannten Elementarteilchen enorm schwer sind? Es handelt sich um elementare Partikel mit einer Masse, die mit der eines Bakteriums vergleichbar ist.
Und mit der außergewöhnlichen Eigenschaft, daß ihre Ladung ein Bruchteil der bei anderen Teilchen gefundenen Ladung ist. Richtig. Ein Bruchteil von der Ladung eines Elektrons. 167
Wenn es solche Teilchen geben sollte, würde es sich vermutlich um Überreste des Urknalls handeln? Unsere einzige Hoffnung, solche Teilchen zu entdecken, beruht auf der Möglichkeit, daß sie seit den Zeiten des Urknalls überlebt haben. Unter dieser Voraussetzung kann man abschätzen, wie viele es davon in der kosmischen Strahlung geben könnte. Wir wissen nämlich, daß es in der Umgebung der Sonne eine bestimmte Menge einer bisher noch nicht direkt nachgewiesenen Art von Materie geben muß, die man manchmal als »dunkle Materie« bezeichnet. Im denkbar günstigsten Fall könnte diese Materie aus solchen »Planck-Teilchen« bestehen, die mit Hilfe von Detektoren nachgewiesen werden könnten, wie man sie auch für den Nachweis magnetischer Monopole benutzt. Das wäre allerdings ein äußerst glücklicher Zufall, denn natürlich glaubt niemand ernsthaft daran, daß die dunkle Materie aus solchen Teilchen besteht. Ich bin sicher, daß es viele solcher Glücksfälle gibt, an die bisher noch niemand gedacht hat, aber ich würde keine Wette darauf abschließen, wann uns ein solcher glücklicher Zufall zu Hilfe kommt.
Sie haben den Begriff »String-Theorie« im Plural benutzt. Das scheint mir nicht vereinbar mit anderen Behauptungen, nach denen diese Theorien stark eingeschränkt sind. Wie man öfter hört, besteht ja einer der ästhetischen Reize der String-Theorie darin, daß sie nicht viel Raum für willkürliche Modifikationen bietet. Wie viele String-Theorien gibt es denn nun tatsächlich? 168
Es gibt zur Zeit ungefähr vier oder fünf konsistente String-Theorien, je nachdem wie man zählt. Um diese Zahl in ein richtiges Verhältnis zu rücken, sollte man sich daran erinnern, daß es für die konventionelle Quantenfeldtheorie unendlich viele mögliche Varianten gibt, von denen die theoretischen Physiker buchstäblich tausende ernsthaft in Erwägung gezogen haben. Im Vergleich dazu steht die String-Theorie also gar nicht so schlecht da. Durch welche Auswahlkriterien könnte diese Zahl weiter verringert werden? Wir sind gegenwärtig sehr zufrieden damit, Tausende oder Millionen, vielleicht sogar unendlich viele Theorien auf fünf oder sechs reduziert zu haben. Sogar wenn keine weitere Reduktion möglich sein sollte, wären wir damit außerordentlich zufrieden. Ein spezielles Charakteristikum der Superstring-Theorie, das manchen Leuten ziemlich bizarr erscheint, besteht darin, daß Strings nicht in den drei Dimensionen des Raumes und der einen Zeitdimension existieren, die uns vertraut sind, sondern in einem höherdimensionalen Universum. Kann man diese überzähligen Dimensionen sinnvoll interpretieren? Nach der Heisenbergschen Unschärferelation und den grundlegenden Vorstellungen der Quantenmechanik sind alle natürlichen Objekte ein wenig »verwaschen«. Wenn es nun zusätzliche Dimensionen in einer Größenordnung 169
gibt, die unterhalb derjenigen dieser allgemeinen Unschärfe liegt, würde man die Existenz dieser Dimensionen nur mit außergewöhnlich hohem Aufwand feststellen können. Man wird also vermuten, daß die zusätzlichen Dimensionen so winzig sind, daß wir sie einfach nicht bemerken. Die Vorstellung zusätzlicher Dimensionen mag einem physikalischen Laien ziemlich seltsam erscheinen. Wer sich jedoch von Berufs wegen mit Physik beschäftigt, weiß, daß es in dieser Wissenschaft viele Dinge gibt, die noch weit merkwürdiger anmuten: Die Allgemeine Relativitätstheorie, die Quantenmechanik oder die Antimaterie wirken sehr befremdlich und sind trotzdem richtig. Verglichen mit diesen Vorstellungen, die sich in der Physik längst bewährt haben, sind zusätzliche Dimensionen keine so radikale Neuerung. Ist es möglich, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie sich diese zusätzlichen Dimensionen zu so kleinen Bereichen eingerollt haben? Wir können versuchen, es zu verstehen. Man kann einige naheliegende Annahmen darüber machen, wie dieses Einrollen geschehen könnte, und erhält daraus interessante und plausible, wenn auch etwas grobe Modelle für die Teilchenphysik. Ich glaube allerdings nicht, daß wir erwarten können, das Einrollen der zusätzlichen Dimensionen definitiv zu verstehen, ohne etwas besser darüber Bescheid zu wissen, was es überhaupt mit der StringTheorie auf sich hat. Unsere Möglichkeiten sind sehr begrenzt, solange wir nur eine derart primitive und oberflächliche Kenntnis von der ganzen Sache haben. 170
Als Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie schuf, konnte er sich dabei auf geometrische Vorstellungen stützen, die bereits im 19. Jahrhundert entwikkelt worden waren. Nach einer Bemerkung, die ein führender String-Theoretiker vor 15 Jahren machte, ist die String-Theorie dagegen ein Teil der Physik des 21. Jahrhunderts, der durch einen Zufall in das 20. Jahrhundert geraten ist. Damit meinte er, daß die Menschheit des Planeten Erde noch nicht über den begrifflichen Rahmen verfügt, der es ihr erlaubt hätte, die String-Theorie mit voller Absicht einzuführen. In ihren wesentlichen Zügen entstand die Theorie durch eine Reihe zufälliger Entdekkungen, die 1968 mit dem Modell von Veneziano begann. Die Theorie wurde also von niemandem absichtlich geschaffen, sie verdankt ihre Entdeckung vielmehr einem glücklichen Zufall. Von Rechts wegen dürften die Physiker des 20. Jahrhunderts nicht das Privileg besitzen, diese Theorie zu untersuchen. Sie hätte nicht eher geschaffen werden dürfen, als unser Wissen auf einigen Gebieten, deren Kenntnis Voraussetzung für das Verständnis der Theorie ist, genügend weit entwickelt worden wäre, um uns die richtigen Vorstellungen darüber zu erlauben, was das alles zu bedeuten hat. Dann brauchen wir also die Mathematik des 21. Jahrhunderts? Vielleicht. Wenn alles richtig verliefe, würden die zugrundeliegenden korrekten mathematischen Strukturen im 21. oder 22. Jahrhundert entwickelt, und erst danach könnte die String-Theorie auf der Grundlage dieser 171
Strukturen als eine physikalische Theorie geschaffen werden. Bei einem solchen Verlauf der Geschichte würden die ersten Physiker, die mit der String-Theorie arbeiten würden, vermutlich wissen, was sie tun, so wie Einstein wußte, was er tat, als er die Allgemeine Relativitätstheorie schuf. Dieser normale Lauf der Dinge hätte den Physikern des 20. Jahrhunderts jedoch keine Chance gegeben, an dieser faszinierenden Theorie zu arbeiten. So aber ist uns die String-Theorie auf eine Weise in den Schoß gefallen, wie sie die Menschheit eigentlich nicht verdient. Nun gut – wir haben dieses Glück nun einmal gehabt und versuchen jetzt, das Beste daraus zu machen. Wir müssen jedoch den Preis dafür bezahlen, daß wir die Theorie nicht auf einem normalen Weg gefunden haben.
Eine weitere Frage, die mit den höheren Dimensionen zu tun hat. Wie viele verschiedene Möglichkeiten gibt es für das Einrollen dieser Dimensionen? Die Physiker, die an diesem Problem arbeiten, haben viele denkbare Möglichkeiten dafür in Erwägung gezogen, und sehr wahrscheinlich gibt es noch eine Menge anderer, auf die bisher noch niemand gekommen ist. Vermutlich wird sich der ganze Prozeß als komplizierter erweisen, als wir uns das bisher vorgestellt haben. Handelt es sich dabei um konkurrierende Theorien oder wird man eine spezielle Art des Einrollens als bevorzugte Möglichkeit herausfinden können? 172
Ich glaube, wir müssen zuerst besser verstehen, mit welcher Art von Theorie wir es zu tun haben, bevor wir den richtigen Weg auswählen können.
Die mangelnde Kenntnis über das Einrollen der höheren Dimensionen bildet im Augenblick sicher ein ziemliches Hindernis für den weiteren Fortschritt der Theorie. Wir wären sehr glücklich, wenn wir dieses Einrollen besser verstehen würden. Dann würden wir auch den »Vakuumzustand« der Theorie kennen. Und den müssen Sie kennen, bevor Sie Details der Theorie, wie die genauen Werte der Teilchenmassen oder -ladungen, berechnen können. Genau. Erst dann könnten wir die Masse, Lebensdauer und Wechselwirkungen der Elementarteilchen berechnen. Leider sieht es gegenwärtig nicht so aus, als könnten wir damit in naher Zukunft Erfolg haben. Ich glaube, daß wir noch eine ganze Menge über die String-Theorie lernen müssen, bevor wir dazu in der Lage sind. Das ist jedoch nur eine Mutmaßung von mir. Es gibt über das Einrollen der Dimensionen mittlerweile schon eine ganze Reihe von Vorstellungen, und viele Leute basteln weiter daran herum und finden immer neue Varianten schon existierender Modelle oder machen interessante neue Vorschläge. Erst gestern habe ich von einer solchen neuen Idee gehört. 173
Wenn dieses zentrale Problem also noch für lange Zeit ohne Lösung bleiben wird – wo liegt dann der Schwerpunkt der gegenwärtigen Untersuchungen? Viele Physiker suchen auf verschiedenen Wegen nach einer Antwort auf das, was ich für die wesentliche intellektuelle Fragestellung halte: Was die String-Theorie eigentlich bedeutet und auf welchen den Symmetrieprinzipien anderer Theorien entsprechenden Fundamenten sie beruht. Vermutlich werden einige Leute daran Anstoß nehmen, daß eine kleine Armee von Physikern ihre ganze Aufmerksamkeit einer Theorie widmet, die sehr wahrscheinlich auch von der nächsten Physikergeneration experimentell nicht überprüft werden kann. Glauben Sie, daß dieser enorme Aufwand gerechtfertigt ist? Ich kann nur für mich selbst antworten. Ich glaube, daß es einen äußerst glücklichen Umstand bedeutet, in einer Epoche der Physik zu leben, in der sich die String-Theorie entwickelt. Ich glaube, daß man in kommenden Jahrhunderten unsere Zeit als eine der besten Zeiten für Physiker betrachten wird.
Wenn Sie auf die vergangenen fünfzig Jahre zurückblicken, glauben Sie dann, daß sich die Arbeitsmethoden in der Grundlagenphysik prinzipiell geändert haben? Unterscheidet sich das Superstring-Programm hinsichtlich Denkweise und Arbeitsstil nicht fundamental von der Philosophie und Technik unserer physikalischen Vorväter? 174
Über die Jahrzehnte hinweg hat sich der Stil der Physik aus mancherlei Gründen verändert, am meisten wohl deswegen, weil die theoretische Physik im Verlauf ihrer Entwicklung in immer neue Bereiche vorgedrungen ist. So war die Quantenfeldtheorie vor etwa 50 Jahren ein vollkommenes Durcheinander. Mit wachsendem physikalischen Verständnis konnte sie jedoch so verbessert werden, daß eine Erweiterung des Rahmens der von ihr beschriebenen Wechselwirkungen und damit ein Vorstoß in neue Bereiche gelang. Sie erhielt eine stärker geometrisch geprägte Basis, die zwar nicht ganz derjenigen der Allgemeinen Relativitätstheorie ebenbürtig ist, zumindest aber einen würdigen Mitbewerber darstellt. Die Physik hat sich auf eine Weise weiterentwickelt, die es uns erlaubt hat, hinsichtlich dessen, was man als eine befriedigende Antwort auf eine physikalische Frage ansieht, immer anspruchsvoller zu werden. Wir sollten uns zum Beispiel daran erinnern, daß die Physiker des 19. Jahrhunderts nicht die leiseste Ahnung davon hatten, warum Glas durchsichtig oder Gras grün ist, warum Eis gerade bei dieser und keiner anderen Temperatur schmilzt und so fort. Diese Probleme gehörten einfach nicht zur Physik des 19. Jahrhunderts, und die Physiker hätten nicht einmal davon zu träumen gewagt, Antworten auf solche Fragen geben zu können. Sie verfolgten viel bescheidenere Ziele. Sie maßen zum Beispiel bestimmte Materialeigenschaften und hofften, daraus die Ergebnisse anderer, ähnlicher Experimente vorauszusagen; aber der ganze Aufwand, den man im 20. Jahrhundert betreibt – die fundamentalen Gleichungen für Elek175
tronen und Atomkerne –, lag vollkommen außerhalb des Vorstellungsvermögens des 19. Jahrhunderts. Der Fortschritt der Physik ist immer so verlaufen, daß der Grad des Verständnisses, nach dem eine Physikergeneration strebt, von der vorigen Generation oder der davor nicht im Traum für möglich gehalten wurde. Vor zwanzig Jahren war die Elementarteilchenphysik nicht mehr als ein wüstes Durcheinander experimentell nachgewiesener Teilchen. Über den Rahmen, in dem diese Partikel beschrieben werden könnten, herrschte völlige Unklarheit. Erst als um 1970 ein befriedigender Rahmen für die Beschreibung der bekannten Kräfte mit Ausnahme der Gravitation entstand, konnte Ordnung in das Teilchenchaos gebracht werden und eine vollständig neue Betrachtungsweise in der Elementarteilchenphysik entstehen. Die Art der Fragen, die wir heute stellen, und die Methoden, mit denen wir eine Antwort darauf suchen, sind größtenteils erst durch die Fortschritte in dieser und der Zeit davor möglich geworden. Stephen Hawking hat erklärt – nicht im Zusammenhang mit der String-Theorie, aber mit ähnlichen Versuchen einer Beantwortung fundamentaler Fragen der Grundlagenphysik –, das Ende der theoretischen Physik sei in Sicht. Glauben Sie, daß die theoretische Physik im Fall eines erfolgreichen Abschlusses des Superstring-Programms – vielleicht in 50 Jahren – ihren Höhepunkt erreicht haben wird? Wird das Thema damit ein für allemal erledigt sein? Der erste echte Versuch einer Anwendung der Quantenmechanik im atomaren Bereich war Bohrs Modell 176
des Wasserstoffatoms von 1914. Danach war offensichtlich, daß die Quantenmechanik etwas Wahres über diesen Bereich enthielt, aber es war nicht klar, was. Es gab eine Periode der Verwirrung, in der niemand wußte, zu welcher neuen Sicht die Quantenmechanik führen würde. Schließlich erwies sich dieser Wechsel in der Betrachtungsweise als viel radikaler, als irgend jemand vorher geglaubt hatte. Erst nachdem Schrödinger 1925 seine Gleichungen aufgestellt hatte, begann sich herauszustellen, wie die Quantenmechanik tatsächlich funktionierte und wie einschneidend sie das menschliche Denken veränderte. Ich glaube, daß wir uns mit der String-Theorie in einer ähnlichen Periode befinden, und daß auch die meisten der begeisterten Anhänger dieser Theorie unterschätzen, wie radikal ihre Auswirkungen auf unser Verständnis der Physik sein werden. Wir sind dabei, Teile ihrer Struktur aufzudecken, ohne bisher jedoch zu ihrem Kern vorgestoßen zu sein. Ich glaube, bevor wir nicht – ähnlich wie bei der Quantentheorie – diesen innersten Kern der String-Theorie begriffen haben, können wir uns schwerlich eine Vorstellung davon machen, wie die theoretische Physik danach aussehen wird und welche Probleme uns dann erwarten.
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2.3 Michael Green Michael Green ist Professor am Department für Physik des Queen Mary College in London. Er ist einer der Begründer der modernen String-Theorie, und seine in Zusammenarbeit mit John Schwarz erzielten Ergebnisse haben der Theorie entscheidend zum Durchbruch verholfen.
Blicken wir zu Beginn einmal auf die frühen Tage der String-Theorie zurück, als diese noch ein Schattendasein führte. Könnten Sie schildern, wie Sie zum ersten Mal mit ihr in Berührung kamen und was Sie damals taten? Die String-Theorie hat eine etwas eigenartige Geschichte, denn sie wurde ursprünglich entwickelt und gewann an Interesse im Zusammenhang mit einem Gebiet der Physik, das ziemlich verschieden von dem ist, auf dem sie gegenwärtig für Aufsehen sorgt. In jenen Tagen sollten Strings zur Beschreibung der Hadronen dienen, Teilchen mit starker Wechselwirkung wie Protonen und Neutronen. Etwas vereinfacht kann man sich vorstellen, daß diese Teilchen aus Quarks bestehen, die durch Strings aneinandergebunden sind. Ende der 60er Jahre bestand ein großes Interesse an der Physik der starken Wechselwirkung, der diese Teilchen unterliegen. Die wichtigsten Arbeiten auf diesem Gebiet stammten von dem italienischen Physiker Gabrielle Veneziano. Ich selbst saß zu dieser Zeit an meiner Doktorarbeit und war sofort von dieser neuen Idee fasziniert, vor allem deswe178
gen, weil sie so völlig verschieden von den konventionellen, auf der Quantenfeldtheorie basierenden Vorstellungen war, deren Übertragung auf dieses Gebiet eindeutig fehlgeschlagen war. Sind Strings aber nicht ein etwas eigenartiges Modell für die Physik der Hadronen? Ist es nicht eine bizarre Vorstellung, daß in diesen stark wechselwirkenden Teilchen kleine Strings sitzen sollen? Waren Sie wirklich der Meinung, daß dieses Modell der Realität entsprechen könnte? Es war ja nicht so, daß die Strings im Inneren von Teilchen sitzen sollten. Die Vorstellung damals war vielmehr, daß die Teilchen selbst stringartige Eigenschaften haben sollten. Etwas vereinfacht könnte man sich zum Beispiel vorstellen, daß das Pi-Meson – eines der wichtigsten stark wechselwirkenden Teilchen – aus einem Quark und einem Antiquark bestehen könnte, die beide durch einen String zusammengehalten werden. Diese Bindung würde zum Teil auch erklären, warum man keine isolierten Quarks entdecken kann.
Man muß sich das Ganze also wie eine herumsausende Hantel vorstellen? Genau. Ein ganz ähnliches Bild liefert ja auch die Quantenchromodynamik, die moderne Theorie der starken Wechselwirkung, die in gewisser Hinsicht der alten String-Vorstellung entspricht. 179
Es gibt also Überbleibsel des String-Modells in der modernen Beschreibung der Hadronen? Ja, das kann man sagen. Was ist mit einem Teilchen wie dem Proton, das drei Quarks enthält? Würde man nicht drei Strings benötigen, um diese Teilchen zusammenzuhalten? Das stimmt, und wegen solcher und anderer technischer Schwierigkeiten wurde diese spezielle Art der StringTheorie schließlich auch aufgegeben. Die ganze Geschichte war aber in Wirklichkeit noch merkwürdiger, als ich vorhin andeutete. Mit seinem anfänglichen Modell hatte Veneziano versucht, sich ein Bild davon zu machen, was bei dem Zusammenstoß zweier stark wechselwirkender Teilchen passiert. Er hatte zu dieser Zeit noch gar keine konkrete Vorstellung von Strings. Seine Idee regte jedoch andere Theoretiker zur Untersuchung der Struktur des von ihm vorgeschlagenen Modells an, und nach zwei oder drei Jahren stellte sich schließlich heraus, daß sich genau diese Struktur ergab, wenn man sich die Teilchen als stringähnliche Gebilde vorstellte.
Wie Sie sagten, reichte diese spezielle Anwendung der String-Theorie aber nicht allzu weit, obwohl es einige vielversprechende Ansätze gab. Was geschah nun weiter? Verschwand die Theorie einfach wieder von der Bildfläche? 180
Ihre Frühgeschichte fiel in die Zeit einer revolutionären Wende im Verständnis der schwachen Wechselwirkung, die Anfang der 70er Jahre durch die Entwicklung einer einheitlichen Theorie der schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkung möglich geworden war. In dieser Zeit gab es auch einen gewaltigen Fortschritt im Verständnis der starken Wechselwirkung, der allerdings mit Hilfe einer konventionellen Theorie – der Quantenfeldtheorie – erzielt worden war, die das grundlegende Werkzeug auf diesem Gebiet darstellt. Sowohl wegen des damaligen gewaltigen Fortschritts beim Verständnis der Theorien dieser beiden Kräfte als auch wegen einer explosionsartigen Zunahme der Erfolge bei der experimentellen Bestätigung dieser Theorien war die Aufmerksamkeit der meisten Forscher mehr auf diese konventionellen Untersuchungen als auf die String-Theorie gerichtet. Und doch wurde zur gleichen Zeit eine Gruppe von Wissenschaftlern von der String-Theorie in den Bann geschlagen. Hat man sie nämlich erst einmal verstanden, ist man von der Eleganz der String-Theorie so fasziniert, daß sie einen nicht mehr losläßt. Ich glaube, daß dieser Aspekt für fast alle Beteiligten einen stärkeren Anreiz bildete als die Aussicht auf eine direkte Anwendung der Theorie in einem speziellen Zweig der Physik. Wie kommt das? Worin liegt das Geheimnis der String-Theorie? Warum ist sie so faszinierend? Das liegt zum Teil daran, daß die Theorie Strukturen enthält, wie man sie für eine besonders schöne Quan181
tentheorie erwartet. Eine besondere Vorliebe der theoretischen Physiker gilt zum Beispiel den sogenannten »Eichtheorien«, wie den Theorien der Elektrodynamik und der starken Wechselwirkung und natürlich Einsteins Gravitationstheorie. Alle diese Theorien gelten als sehr elegant, da sie eine besondere Art von Symmetrie – die »Eichsymmetrie« – enthalten. Diese Symmetrie sorgt für die Widerspruchsfreiheit der Theorien, die auf eine andere Weise nicht zu erzielen wäre.
Wir sprechen hier über mathematische Symmetrieeigenschaften, die einem theoretischen Physiker natürlich vollkommen klar sind, von denen ein Laie aber vermutlich weniger versteht. Jedenfalls lassen sie das Herz eines Theoretikers offensichtlich höher schlagen. Das kann man wohl sagen. Es ist sehr schwierig, ausgedehnte Objekte wie Strings auf eine Weise zu beschreiben, die mit Einsteins Spezieller Relativitätstheorie vereinbar ist. Auf den ersten Blick scheinen die Theorien alle an fürchterlichen Problemen zu leiden, die sie eigentlich inkonsistent machen müßten. Um welche Art von Problemen handelt es sich? Am auffälligsten ist, daß die Theorien offenbar Strings beschreiben, die »unphysikalische« Vibrationen ausführen: Sie vibrieren nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit; sie oszillieren in einer Richtung, die keinen Sinn zu ergeben scheint, einer »zeitartigen« Richtung. 182
Das Faszinierende an den frühen String-Theorien war nun, daß sie dieses Problem auf eine Art und Weise umgehen, welche an die Methode erinnert, in der das analoge Problem in Maxwells Theorie des Elektromagnetismus vermieden wird, und doch unendlich viel raffinierter als in dieser Theorie, was damit zusammenhängt, daß auch das Problem für die String-Theorien ein unendlich viel größeres ist. Die Tatsache, daß es überhaupt umgangen werden kann, ist höchst bemerkenswert. Wie ist das möglich? Um die scheinbare Inkonsistenz der Theorie zu umgehen und ihr einen Sinn zu verleihen, müssen bestimmte Bedingungen eingehalten werden, die darauf hinauslaufen, daß sich der String durch Raum und Zeit bewegt, wobei der Raum eine bestimmte Dimensionszahl haben muß. In der ursprünglichen String-Theorie mußte der Raum 25 Dimensionen haben, die Raumzeit also 26. Die späteren Theorien funktionierten nur dann, wenn der Raum 9 und die Raumzeit 10 Dimensionen hatte.
Was hielt man damals von diesem Umstand? Man betrachtete es als eine Katastrophe, denn offensichtlich leben wir in drei Raumdimensionen und einer Zeitdimension. Die Notwendigkeit der Einführung zusätzlicher Dimensionen sprach damals sehr gegen die String-Theorie. 183
Es gab aber noch ein anderes Problem, das meiner Ansicht nach viel ernsterer Natur war, da es tatsächlich eine Inkonsistenz bedeutet. Die Theorien enthielten nämlich Teilchen, die sich schneller als Licht bewegen, sogenannte »Tachyonen«. Solange man sich um die Quantentheorie nicht kümmert, kann man über die Existenz solcher überlichtschneller Teilchen spekulieren, aber in der Quantentheorie scheint es nicht möglich zu sein, ihnen einen Sinn zu geben.
Nach der Relativitätstheorie wären Objekte schneller als Licht unter dem Gesichtspunkt der Kausalität aber auch keine sehr erfreuliche Angelegenheit. Ja, aber auch nicht ganz und gar schlecht. In einer klassischen Theorie kann man so etwas einfach dadurch umgehen, daß man keinen Kontakt zwischen unterlichtschnellen und überlichtschnellen Systemen erlaubt. Das wirkliche Problem entsteht erst für eine quantenmechanische Theorie, weil die Definition des niedrigsten Energiezustandes eines Systems für den Fall der Existenz von Tachyonen ihren Sinn verliert. Der Zustand, der nach unserer Vorstellung dem leeren Raum entspricht – das sogenannte »Vakuum« – würde instabil werden, da es in diese Teilchen zerfallen könnte: Das Vakuum würde einfach in unendlich viele Tachyonen »explodieren«. Wir wissen daher nicht, welchen Sinn eine Theorie besitzen sollte, die solche Teilchen enthält. 184
Das war also der Stand der Dinge ungefähr in der Mitte der 70er Jahre? Stimmt. Mitte der 70er Jahre waren viele Theoretiker von den Fortschritten der konventionellen Theorien gefesselt, die – wie bereits erwähnt – in dieser Zeit entwikkelt wurden. Die Aktivitäten dieser Forscher wiesen im wesentlichen in zwei Richtungen. Zum einen gewann man zu dieser Zeit eine neue Einsicht in die mathematische Struktur bestimmter konventioneller Eichtheorien, die weit über das bisherige Verständnis hinausging. So wurde zum Beispiel das Auftreten magnetischer Monopole in den Theorien auf eine neue, sehr scharfsinnige Art und Weise interpretiert, an die man zuvor nicht gedacht hatte. Die zweite theoretische Forschungsrichtung war die Supersymmetrie. Was genau ist Supersymmetrie? Symmetrieprinzipien spielen in der Entwicklung der Elementarteilchenphysik eine sehr wichtige Rolle. Sie stellen Beziehungen zwischen anscheinend sehr unterschiedlichen Teilchen her, indem sie deren Eigenschaften in ein bestimmtes System bringen, das als Schlüssel zur Ermittlung der zugrundeliegenden Kräfte dient. Ein gutes Beispiel für die Anwendung von Symmetrien in der Wissenschaft liefert die Chemie des 19. Jahrhunderts. Damals entdeckte Mendelejew, daß man die chemischen Elemente in Gruppen mit bestimmten gemeinsamen Eigenschaften zusammenfassen kann. 185
Das berühmte Periodensystem. Genau. Das Periodensystem besteht aus Gruppen von Elementen, die in einem bestimmten Muster angeordnet sind. Wie man herausfand, können die vielen Dutzend Elemente deswegen so geordnet werden, weil sie aus Atomen bestehen, und man erkannte, daß die Entstehung dieser Muster durch ein einziges Phänomen erklärt werden konnte – die elektrische Kraft, welche die Elektronen in einer Umlaufbahn um die Atomkerne hält. So hofft man auch in der Teilchenphysik, durch eine Gruppierung der Partikel nach ihren Eigenschaften einen Schlüssel zu finden, um die dahinterstehenden Kräfte aufzudecken. Die Untersuchung der Kräfte zwischen diesen Teilchen ist in gewaltigem Umfang vorangetrieben worden und hat zu unserem heutigen Verständnis der starken und der elektroschwachen Kraft geführt, die für die Anordnung dieser Teilchen in bestimmten Gruppen verantwortlich ist. Mitte der 70er Jahre hatte man zwei verschiedene Klassen solcher Gruppierungen gefunden, die sich durch ihren Spin unterschieden. Der Spin ist eine Teilcheneigenschaft, die Ähnlichkeit mit dem Drehimpuls besitzt. Man kann sich ein einfaches Bild davon machen, indem man sich vorstellt, daß diese Teilchen um eine Achse rotieren, wobei der Spin in der Quantenmechanik allerdings nur als Vielfaches bestimmter Einheiten auftreten kann. Teilchen, bei denen diese Einheit ganzzahlig ist, werden Bosonen genannt, Teilchen mit einer halbzahligen Einheit Fermionen. Mitte der 70er Jahre 186
hatte man zwar verstanden, wie die Gruppierungen der Fermionen auf der einen und die der Bosonen auf der anderen Seite zustande kommen, man wußte aber nicht, durch welche Art von Symmetrie Fermionen und Bosonen miteinander in Verbindung gebracht werden könnten: Es schien sich um völlig verschiedene Klassen zu handeln. Um jedoch die Eigenschaften aller Teilchen aus einem einzigen fundamentalen Prinzip heraus erklären zu können, müssen wir den Zusammenhang zwischen den beiden Teilchenklassen verstehen. Dieser Zusammenhang wird nun durch die in den Theorien der 70er Jahre auftretende Supersymmetrie hergestellt. Wenn die physikalischen Gesetze dieser Symmetrie genügen, sind die beiden Teilchenklassen tatsächlich nur verschiedene Aspekte ein und desselben Objektes.
Und das »Super« in dem Wort »Superstring« bezieht sich auf die Supersymmetrie, die in die Superstring-Theorie mit eingebaut wurde? Das ist vollkommen richtig. Welche Folgen hatte die Verwendung der Supersymmetrie in der alten String-Theorie? Nimmt man eine Version der alten Theorien und modifiziert sie so, daß sie supersymmetrisch ist, so verschwindet sofort und auf wunderbare Weise das Problem mit den überlichtschnellen Teilchen. Sie treten in der Theorie einfach nicht mehr auf; die Theorie ist daher in die187
ser Hinsicht, anders als ihre früheren Versionen, widerspruchsfrei. Hat man damals allgemein begriffen, daß Sie auf dem Weg zu vielleicht noch aufregenderen Entdeckungen waren? Nun, zwischen 1976 und 1979 gab es eine Lücke in der Entwicklung der String-Theorie, und während dieser Zeit hatten fast alle Leute ihre Forschungen auf diesem Gebiet abgebrochen. Das war eigentlich ziemlich merkwürdig, denn gerade kurz zuvor hatten Joël Scherk, Ferdinand Gliozzi und David Olive eine Arbeit publiziert, in der sie auf die interessanten Möglichkeiten einer supersymmetrischen Modifikation der String-Theorie hinwiesen, aber die Arbeit wurde nicht weiter beachtet, und die ganze Sache war mehr oder weniger gestorben. Im Jahre 1979 begann ich eine Zusammenarbeit mit John Schwarz am Caltech, in deren Verlauf wir die Idee verfolgten, die String-Theorien supersymmetrisch zu machen. Wir waren damals sehr davon beeindruckt, daß sich diese Theorien als konsistent erwiesen. Ich muß sagen, daß zu dieser Zeit nur sehr wenige unserer Kollegen Interesse an unserer Arbeit zeigten, wiederum wohl hauptsächlich deswegen, weil es interessante und wichtige Entwicklungen auf anderen Gebieten gab, zum Beispiel auf dem Gebiet der Supergravitation, das heißt der Anwendung der Supersymmetrie auf die Gravitation. Vermutlich waren die damit beschäftigten Theoretiker der Ansicht, daß die String-Theorie den Aufwand nicht
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wert war, der zu ihrem Verständnis erforderlich gewesen wäre. Was brachte Sie auf die Idee, die Supersymmetrie mit der StringTheorie zu koppeln? Daß Sie an Strings interessiert waren, ist klar, aber wie kamen Sie auf den Gedanken, sie supersymmetrisch zu machen? Das lag eigentlich ganz nahe. In jenen Tagen machten fast alle Leute alles supersymmetrisch. Die Supersymmetrie wurde als ein großartiges neues Konzept in der Physik betrachtet, da sie in ganz allgemeiner Hinsicht tatsächlich das letzte Bindeglied bei der Vereinigung verschiedener Teilchenarten darstellt. Niemals zuvor hatte man sich vorstellen können, wie Teilchen mit unterschiedlichem Spin durch eine Symmetrie miteinander verknüpft werden könnten, und nun lieferte die Supersymmetrie genau dieses fehlende Glied. Es sah tatsächlich so aus, als wäre die Supersymmetrie für jede Theorie unentbehrlich, die auf die einheitliche Beschreibung von Teilchen abzielt, obwohl es bisher noch keine experimentellen Beweise für eine solche Symmetrie in der Natur gibt. Als Sie sich auf die ganze Sache einließen: Erwarteten Sie dramatische Ergebnisse oder waren Sie überrascht, als sich die Dinge so gut entwickelten? Während der ersten Jahre, in denen wir diese Theorie erforschten, waren wir immer wieder fasziniert davon, 189
auf wie viele Arten sie sich als konsistent erwies, je mehr wir sie im Detail studierten. Man kann ein genaues Datum angeben, an dem wir zu der Überzeugung gelangten, auf etwas sehr Wichtiges gestoßen zu sein. Das war Ende 1981, als wir zeigten, daß eine bestimmte Quantenberechnung bei einer dieser Superstring-Theorien ein sinnvolles Ergebnis lieferte. Unser Erfolg läßt sich so lapidar beschreiben, weil diese Theorien die Gravitation einschlossen und alle Quantentheorien der Gravitation bis zu diesem Zeitpunkt in einer bestimmten Beziehung, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde, Unsinn ergeben hatten. Was meinen Sie mit Unsinn? Wenn man versucht, in einer solchen Theorie die Wahrscheinlichkeit für die Streuung von zwei Teilchen aneinander zu berechnen, ergibt sich immer ein unendlicher Ausdruck. Das meinte ich mit »Unsinn«. Und bei Ihren Berechnungen fanden Sie einen endlichen Wert? Wir entdeckten, daß eine der Theorien, die nur »geschlossene« Strings enthielt, zumindest in der einfachsten Näherung »endlich« war. Das war äußerst bemerkenswert, denn schließlich handelte es sich um eine Theorie, welche die Gravitation mit einschloß. Konventionelle Theorien der Gravitation, die Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie zur Grundlage haben, führen schon in der niedrigsten Näherungsstufe zu schlim190
men Problemen. Wir waren daher damals sehr aufgeregt, denn es sah so aus, als wären wir auf etwas außergewöhnlich Interessantes gestoßen. Das ist mir noch nicht ganz klar. Die endlichen Ergebnisse stammten ja aus einer Näherungsrechnung. Konnten Sie denn danach wirklich behaupten, die Theorie sei widerspruchsfrei? Nein. Wenn wir von einer endlichen Theorie sprechen, bezieht sich das natürlich heute wie damals auf eine Näherung der vollständigen Theorie. Wie war nun die Reaktion der Fachleute auf dieses Ergebnis? Nun, nur sehr wenige Leute schenkten ihm Beachtung. Dabei hätte dieses Resultat eigentlich die Aufmerksamkeit zumindest einer bestimmten Gruppe von Leuten auf sich lenken müssen, und zwar der ziemlich großen Zahl von Theoretikern, die an der Supergravitation arbeiteten, die ja auch einen Versuch zur Formulierung einer widerspruchsfreien Quantenmechanik unter Einschluß der Gravitation darstellt. Tatsächlich wurden wir jedoch fast völlig ignoriert. Nur ein oder zwei Leute waren von unserem Ergebnis beeindruckt, besonders Ed Witten. Zusammen mit Louis Alvarez-Gaumé wies er nach, daß es sehr wahrscheinlich war, daß die gleiche String-Theorie nicht nur endlich, sondern auch frei von den Schwierigkeiten war, welche die Theorien der Quantengravitation in Form der sogenannten »Anomalien« plagten. Daß sich die beiden Forscher mit diesem Problem beschäftig191
ten, zeigt, daß sie offenbar an der Sache interessiert waren. Ich glaube allerdings, daß sie damit eine Ausnahme bildeten. Die meisten Theoretiker waren wohl der Ansicht, daß die String-Theorie zu weit von der konventionellen Quantenfeldtheorie entfernt war.
Sie sagten, daß die Theorie, deren Endlichkeit Sie zumindest für die erste Näherung nachgewiesen hatten, geschlossene Strings enthielt. Solche Gebilde galten zu dieser Zeit aber nicht als sinnvolles Konzept für eine Theorie, welche die reale Welt beschreiben sollte. Stimmt das? Ja. Um gerecht gegen die Leute zu sein, die uns ignorierten: Es ist tatsächlich so, daß diese spezielle Theorie, die nur geschlossene Strings enthält, nicht danach aussieht, als ob sie mit den Gesetzen der Physik in Verbindung gebracht werden könnte, wenn man von der Gravitation absieht. Sie scheint einfach nicht genügend Struktur zu besitzen, um außer der Gravitation auch noch die anderen Kräfte beschreiben zu können, obwohl man auch darüber geteilter Meinung sein kann. Bemerkenswerterweise enthalten die jüngst entdeckten Arten von StringTheorien gleichfalls nur geschlossene Strings. Eigentlich handelt es sich dabei um Verallgemeinerungen der Theorien, die wir damals untersuchten. Diese neuen verallgemeinerten Theorien sind allerdings in der Tat viel strukturreicher. Sie heißen »heterotische« String-Theorien und werden von den meisten Forschern als die Theorien angesehen, welche die anderen Kräfte erklären könnten. 192
Vielleicht sollten wir an dieser Stelle etwas über die verschiedenen Typen von Superstring-Theorien sagen, die es gibt. Daß wir überhaupt über verschiedene Theorien sprechen müssen, ist ja eigentlich schon ein negativer Aspekt der ganzen Sache, denn wenn man nach einer Allumfassenden Theorie sucht, hofft man doch wohl, daß es nur eine einzige davon gibt. Wie viele verschiedene String-Theorien gibt es eigentlich?
Das kommt darauf an, wie man zählt. Nach der einen Methode sind es gegenwärtig vier oder fünf, nach einer anderen kommt man auf viele tausend. Der Grund für diese unterschiedlichen Zahlen liegt darin, daß die vielen tausend in Wahrheit eher als verschiedene Versionen der zuerst erwähnten vier oder fünf Theorien zu betrachten sind. Man muß dabei auch berücksichtigen, daß die ganze Sache noch in den Kinderschuhen steckt, und wenn die Vielzahl der Versionen auf den ersten Blick auch als Nachteil erscheint, so könnten wir eines Tages vielleicht sogar froh über dieses Überangebot sein, denn es werden immer neue Schwierigkeiten entdeckt, zu deren Überwindung die Theorie noch viel spezieller werden muß, als man zunächst angenommen hat.
Sie wollen damit sagen, daß diese vielen konkurrierenden Versionen der String-Theorie in einem bestimmten Sinne unvollkommen sind und manche davon nach voller Einsicht in ihre Funktionsweise deswegen ausscheiden werden, weil sie keine vollständig widerspruchsfreie Beschreibung der Welt liefern können? 193
Das ist in der Tat meine Vermutung, bei der ich mich auf die Frühgeschichte der Entwicklung berufen kann. So dachten wir 1982, als wir die aufregende Entdeckung machten, daß einige Theorien endlich zu sein schienen, daß dies für alle Superstring-Theorien zuträfe. Wir dachten damals, wir hätten die Freiheit, in diese Theorien willkürliche Symmetrien für die Naturkräfte außer der Gravitation einzuführen. Ende der 70er Jahre waren viele Leute der Ansicht, daß es eine Vereinheitlichung aller Kräfte in Form einer »Großen Einheitlichen Theorie« oder einer »Großen Einheitlichen Symmetrie« geben könnte, also irgendeiner riesigen Symmetrie in Form eines Systems mathematischer Beziehungen, das alle Teilchen und Kräfte, die wir in der Natur beobachten – mit Ausnahme der Gravitation – in einem einzigen Modell zusammenfassen könnte. In den traditionellen Versuchen einer Annäherung an die »Große Vereinheitlichung« wurde eine spezielle Symmetrie eher unter experimentellen als unter theoretischen Gesichtspunkten ausgewählt. Zu dieser Zeit gab es keinen theoretischen Grund, zur Herstellung einer Beziehung zwischen den Teilchen eine spezielle Art von Symmetrie einer anderen vorzuziehen, und da wir sehr stark von den damaligen Konzepten für eine Große Einheitliche Theorie beeinflußt waren, glaubten wir, daß wir ebenfalls eine willkürliche Symmetrie einführen könnten, um alle nichtgravitativen Anteile der SuperstringTheorie miteinander zu verknüpfen. Wir glaubten, daß von all diesen Symmetrien eine so gut wie die andere wäre und wir die Wahl letztlich nach experimentellen 194
Gesichtspunkten treffen könnten. Das war aber nicht der Fall. Obwohl es zuerst so schien, als gäbe es eine unendliche Menge möglicher Theorien, mußten wir feststellen, daß nur eine sehr begrenzte Anzahl davon tatsächlich widerspruchsfrei war. Worin besteht der Unterschied zwischen einem heterotischen String und dem Typ von String, den Sie 1982 in Erwägung gezogen hatten? Nun, die heterotischen String-Theorien sind ziemlich merkwürdige Gebilde. Man kann sie als eine Kombination der ältesten Art von String-Theorie, der sogenannten »bosonischen« String-Theorie, mit der SuperstringTheorie betrachten. Eine heterotische String-Theorie kombiniert also eine String-Theorie, die mit einer 26-dimensionalen Raumzeit arbeitet, mit einer zehndimensionalen Theorie! Das scheint keinen rechten Sinn zu ergeben. Man kann ja für ein und denselben String offenbar nicht zwei verschiedene Raumzeitdimensionen annehmen. Tatsächlich sind jedoch 10 der 26 Dimensionen gewöhnliche Raumzeitdimensionen; der String »schlängelt« sich also durch eine zehndimensionale Raumzeit. Zusätzlich gibt es 16 sogenannte »innere« Dimensionen, die zu einer besonderen Struktur innerhalb der Theorie gehören, welche die anderen, nichtgravitativen Kräfte beschreiben soll. Die Existenz dieser Kräfte läßt sich also auf geometrische Weise deuten und ist letzten Endes eine Folge der Tatsache, daß 26 minus 10 gleich 16 ist. Die 16 zusätzlichen Dimensionen sind für bestimmte Symmetrien der Theorie verantwortlich, die als SO(32) 195
und E8 x E8 bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um mathematische Symmetriegruppen, die im Rahmen der Theorie für die Beziehungen zwischen den Teilchen verantwortlich sind und mit der Differenz von 16 Dimensionen zwischen der bosonischen String-Theorie und der Superstring-Theorie verknüpft sind.
Man kann also sagen, daß die 16 zusätzlichen Dimensionen in den heterotischen Theorien etwas mit den nichtgravitativen Kräften zu tun haben. Ja. Der Unterschied zwischen den heterotischen Superstring-Theorien und den anderen String-Theorien, die Aussichten auf eine physikalische Interpretation besitzen – nämlich den »offenen« String-Theorien –, ist der, daß in den offenen String-Theorien die mit den Kräften verknüpften Ladungen – die elektrische Ladung, die für die schwache Kraft verantwortliche Ladung und so weiter – an den Enden des Strings sitzen. In den heterotischen Theorien dagegen handelt es sich um geschlossene Strings ohne Endpunkte, bei denen man sich die Ladung über den String verteilt vorstellen muß. Darin besteht der hauptsächliche Unterschied zwischen den beiden Arten von Theorien. Wie würden Sie ein geladenes Teilchen wie ein Elektron unter Verwendung des Modells eines geschlossenen Strings beschreiben? Soll man sich vorstellen, daß die Ladung über den ganzen String verteilt ist? 196
In einer Theorie mit geschlossenen Strings vom heterotischen Typ wäre das in etwa das richtige Bild. Der String kann in irgendeiner von unendlich vielen verschiedenen harmonischen Oberschwingungen schwingen, und jede der einzelnen Schwingungsfrequenzen entspricht einem Teilchen oder einer Teilchengruppe. Alle Teilchen, die wir tatsächlich in der Natur beobachten – Elektronen oder Quarks oder Photonen und so weiter – würden dem niedrigsten möglichen Schwingungsmodus des Strings entsprechen, gewissermaßen dem Modus, bei welchem der String überhaupt nicht schwingt. Alle in der Natur vorkommenden Teilchen entsprechen also dem schwingungsfreien Zustand eines einzigen Strings. Wie kommt es, daß dieser eine String so viele verschiedene Teilchenarten erzeugt? Nun, die String-Theorie beinhaltet mehr als das einfache Bild eines im Raum schwingenden Strings. Für die erste String-Theorie traf dieses Bild noch zu, aber diese Theorie lieferte nicht die uns bekannten Teilchen und enthielt darüber hinaus auch noch andere Widersprüche. In den realistischeren Theorien – den Superstring-Theorien – besitzt ein String außer der Möglichkeit zu räumlichen Vibrationen weitere strukturell bedingte Eigenschaften. Er kann Träger von Ladungen wie der elektrischen und der schwachen Ladung sein, durch die sich verschiedene Teilchen wie Elektronen, Neutrinos, Quarks et cetera voneinander unterscheiden. So gehört zu jedem Schwingungstyp eines Strings nicht nur ein Teilchen, sondern eine ganze Teilchengruppe. Besonders der »Grundzu197
stand« des Strings – der Zustand, in dem er überhaupt nicht schwingt – beschreibt nicht nur ein einzelnes, sondern einen ganzen Haufen von Teilchen. Das müßten gerade die Teilchen sein, die wir im Laboratorium beobachten. Aber wenn Sie auf die Vorstellung von unterschiedlich verteilten Ladungen zurückgreifen müssen, um diese Vielzahl von Teilchen zu erklären: Macht das nicht einen der Vorteile der String-Theorie zunichte, nämlich die Möglichkeit, alle Teilcheneigenschaften einschließlich solcher Eigenschaften wie der elektrischen Ladung durch geometrische Strukturen zu erklären? Wenn ich einen Begriff wie »Ladung« benutze, ist das nicht mehr als der Versuch, den Inhalt der Theorie intuitiv zu interpretieren. In Wirklichkeit kann man solche Ladungen nicht willkürlich verteilen. Die Art und Weise, wie sie entstehen und sich verteilen, wird vielmehr durch die Theorie absolut eindeutig festgelegt, und vermutlich können nur Theorien mit ganz bestimmten Arten von Ladungen, die auf ganz bestimmte Weise verteilt sind, hinsichtlich ihrer quantenmechanischen Beschreibung widerspruchsfrei sein. Man kann also nicht irgendwelche Ladungen willkürlich über Strings verteilen, weil nur ganz bestimmte Theorien konsistent sind. Wie viele verschiedene Ladungsarten gibt es? Die von uns ursprünglich untersuchten Theorien enthielten die Symmetrien SO(32) und E8 x E8. Diese Theo198
rien liefern 16 verschiedene Ladungsarten und 496 Eichteilchen von der Art des Photons, welche die von diesen Ladungen ausgehenden Kräfte übertragen. Man kann diese Theorien nicht so beliebig verändern wie die früheren Theorien, die von punktförmigen Teilchen ausgingen. Wenn Sie von Ladungen sprechen, entspricht das also nicht unbedingt der uns gewohnten Art der Ladung, etwa der elektrischen Ladung. Ja. Die Theorie schließt aber natürlich sowohl die elektrische Ladung als auch die schwache und starke Ladung ein. Bei der Suche nach einer einheitlichen Beschreibung versucht man ein Modell zu entwerfen, bei dem die verschiedenen Ladungsarten innerhalb einer großen Struktur vereint sind, und diese Struktur beschreibt dann auch neue Teilchen mit vielen anderen Ladungen außer denen, die man im Laboratorium direkt beobachten kann. Einige davon werden wir vielleicht beobachten können, andere könnten so gewaltige Massen besitzen, daß wir sie niemals entdecken werden. Die String-Theorie, die vor zwei oder drei Jahren im Gespräch war, hat die enorme Zahl von 496 Eichteilchen. Darunter sind diejenigen, die wir beobachten können, und viele andere, die noch niemals nachgewiesen worden sind. Ich habe gehört, daß die Zahl 496 im Zusammenhang mit einer wichtigen Berechnung eine entscheidende Rolle spielte. Könnten Sie uns darüber etwas erzählen? 199
Ja. Das war im Sommer 1984, als John Schwarz und ich darüber nachdachten, ob die physikalisch interessant erscheinenden String-Theorien Anomalien enthielten oder nicht. Schon Arbeiten aus den Jahren 1981 und 1982 hatten Hinweise darauf erbracht, daß die Theorien mit geschlossenen Strings widerspruchsfrei waren, was jedoch für die Physik ohne direkte Bedeutung schien. Wir erwarteten, daß die Theorien mit offenen Strings, das heißt die physikalisch interessanten Theorien, das Anomalieproblem vollständig vermeiden würden, eine Erwartung, die aber auf nicht viel mehr als Wunschdenken beruhte. Die meisten Leute waren damals vermutlich der Ansicht, daß die String-Theorie immer Schwierigkeiten mit Anomalien haben würde: Sie schien aus prinzipiellen Gründen mit diesem Problem nicht fertig werden zu können. Wir als Optimisten dagegen waren so sehr von den »magischen« Eigenschaften der String-Theorie überzeugt, daß wir ihr zutrauten, dieses Problem stets umgehen zu können. So waren wir sehr verblüfft, als wir fanden, daß die Wahrheit genau in der Mitte lag. Es ergab sich in der Tat, daß nahezu alle String-Theorien »krank« waren und Anomalien enthielten. Unter all diesen Theorien gab es nur eine einzige, die das Problem vermied! Die Art und Weise unserer Untersuchungen ließ allerdings die Möglichkeit offen, daß es sich bei dem Ergebnis um einen reinen Zufall gehandelt haben konnte, da wir unter den vielen möglichen Anomalien nur nach einem speziellen Typ gesucht hatten. So stellten wir eines Tages eine etwas kompliziertere Berechnung an, mit deren Hilfe wir alle möglichen Anomalien auf einmal untersuchen konnten. 200
Diese Rechnung konnte nur dann als erfolgreich abgeschlossen gelten, wenn sich viele unterschiedliche Zahlen auf quasi wundersame Weise zu einer Endsumme von 496 addierten. Und genau das passierte dann auch! Wie beurteilt man heute die Frage, ob diese Theorien endlich sind oder nicht? Vermutlich gibt es darüber immer noch Diskussionen? Ja, die Lage ist immer noch nicht geklärt; ich denke jedoch, daß Einigkeit darüber herrscht, wohin die Entwicklung führen wird. Lösungen der String-Theorie gab es und gibt es immer nur in Form »sukzessiver Approximationen«, das heißt schrittweiser Annäherungen. Die exakte Lösung einer String-Theorie ist noch nie gelungen. Mit Hilfe der genannten Methode gelangt man Schritt für Schritt zu immer besseren Näherungslösungen, wobei man die Lösungen der jeweiligen letzten Stufe stets auf ihre Endlichkeit hin überprüfen muß, da bei jedem Schritt Schwierigkeiten auftreten können. Ursprünglich untersuchten wir nur die niedrigste Näherungsstufe. Daß sich diese als endlich herausstellte, war an sich schon sensationell genug, denn sogar für diese einfachste Näherung hatte bis dahin keine Quantentheorie der Gravitation eine vernünftige Lösung geliefert. Obwohl bisher niemand zeigen konnte, daß alle möglichen Ordnungen dieser Näherungen zu vernünftigen Ergebnissen führen, erscheint es nach der ganzen »Arbeitsweise« der String-Theorie plausibel, daß sie, wenn sie auf der niedrigsten Näherungsstufe konsistent ist, dies auch auf allen anderen Stufen ist. Obwohl die201
se Frage also noch offen ist und viele Leute sich intensiv herauszufinden bemühen, wie es möglich sein kann, daß die Theorie in allen Näherungsstufen konsistent ist, geht man nach meinem Eindruck allgemein davon aus, daß dies tatsächlich der Fall ist, zumindest für diejenigen Versionen, die in der ersten Näherung konsistent sind. Es handelt sich dabei um sehr interessante Untersuchungen, denn bei den Versuchen, das Konsistenzproblem für alle Näherungsstufen zu lösen, werden Eigenschaften der Theorie entdeckt, die sich aus den einzelnen Näherungsstufen nicht erschließen lassen. Hier liegt daher auch einer der Schwerpunkte in der gegenwärtigen Phase der Erforschung der String-Theorie.
Kehren wir in der historischen Betrachtung zum Jahre 1982 zurück, als Sie entdeckten, daß die String-Theorie sinnvolle Resultate bei der Beschreibung der Gravitation lieferte, obwohl Sie sich auf diese schwierige Theorie ja in dem Glauben eingelassen hatten, sie würde etwas Ähnliches wie die starke Wechselwirkung beschreiben. Zu diesem Zeitpunkt wußten wir das noch nicht. Erst nachdem wir die Theorie supersymmetrisch gemacht hatten – mit anderen Worten bei der Struktur der Superstring-Theorie angelangt waren – wurde offensichtlich, daß sie eine starke Verwandtschaft mit den Theorien der Supergravitation besaß. Sie waren sich natürlich darüber im klaren, daß diese Theorien auf eine Beschreibung der Gravitation hinauslaufen würden. 202
Natürlich wußten wir, daß die Theorie die Supergravitation in irgendeiner Form enthalten mußte. Die Supergravitation ist in der Tat als Näherung in den Superstring-Theorien enthalten. In Form dieser Näherung ist sie zwar nicht konsistent, wohl aber als Bestandteil der Theorie insgesamt. Die Superstring-Theorie geht also über die zu dieser Zeit sehr populären Vorstellungen der Supergravitation hinaus und stellt etwas vollkommen Neuartiges dar. Richtig. Die String-Theorie unterscheidet sich einfach deswegen so radikal von allen früheren Theorien – angefangen mit der Maxwellschen Theorie der Elektrodynamik bis zur Allgemeinen Relativitätstheorie und der Supergravitation –, weil alle diese Theorien punktförmige Teilchen ohne innere Struktur wie das Photon, das Graviton, Quarks und andere Partikel enthalten, während es sich bei den elementaren Bestandteilen in der StringTheorie um ausgedehnte Objekte handelt – eben die Strings. Das klingt ziemlich trivial, hat aber einen enormen Unterschied in der Struktur der Theorie zur Folge. Können Sie erklären, wie dieser Unterschied zustande kommt? Man kann sich dazu einer etwas vereinfachenden Argumentation bedienen. Wie Sie wissen, ist die Behandlung punktförmiger Objekte in der Quantenmechanik sehr kompliziert, wenn nicht sogar unmöglich. Eine wichtige Aussage der Quantenmechanik ist in der sogenann203
ten Unschärferelation enthalten, mit deren Hilfe man leicht zeigen kann, daß man bei der Beschreibung eines Objektes eine um so größere Energieunschärfe in Kauf nehmen muß, je kleiner seine Längenausdehnung ist. Für eine Theorie der Gravitation bedeutet das folgendes: Wenn man versucht, Beobachtungen bei so unvorstellbar kleinen Längen wie der Planck-Länge von 10-33 cm zu machen – unvorstellbar klein sogar im Vergleich mit dem Durchmesser eines Protons –, werden die Energiefluktuationen des Objektes, das man beobachten will, so riesig groß, daß sie ausreichen, um ein kleines Schwarzes Loch zu erzeugen. Wenn wir daher Beobachtungen bei derart kleinen Längen ins Auge fassen, sind wir gezwungen, uns den leeren Raum als ein unendliches Meer fluktuierender Schwarzer Löcher vorzustellen, die in sehr kurzen Zeitabständen entstehen und vergehen. Damit wird unser Raumbegriff in derart radikaler Weise verändert, daß wir bei der Interpretation raumzeitlicher Vorgänge in katastrophale Schwierigkeiten geraten. Die Vorstellung eines aus Punkten bestehenden Raumes hat dann vollständig ihren Sinn verloren. Könnte sich ein punktförmiges Objekt nicht durch eine solche Raumzeit bewegen? Ein String ist ein unvorstellbar kleines Objekt mit einer mittleren Ausdehnung von der Größenordnung der Planck-Länge, das heißt 20 Zehnerpotenzen kleiner als der Durchmesser eines Protons, so daß es im allgemeinen keine Rolle spielt, daß es sich um ein fadenförmiges, 204
also eindimensional ausgedehntes Objekt handelt. Das würde man gar nicht bemerken, sofern man nicht mit ungeheurer Schärfe beobachtet. Sie meinen, daß ein String sich wie ein punktförmiges Teilchen verhält, sobald man ihn nicht mehr bei derart kleinen Abständen oder derart hohen Energien beobachtet? Genau. Es handelt sich dabei ja auch um Längenbereiche, die uns im Laboratorium niemals direkt zugänglich sein werden. Es sind eben die Bereiche, in denen die ganzen Probleme der Quantengravitation beginnen und die String-Theorie radikal von Einsteins Theorie und allen anderen, noch älteren Theorien abweicht. Könnte man eventuell das folgende Bild entwerfen: Benutzt man bei der Beobachtung ein grobes Raster, so würde ein String, den man sich vielleicht als eine Art winzige Schlinge vorstellen könnte, als Teilchen erscheinen. Dringt man jedoch zu einer Vergrößerung vor, die feinste Details sichtbar werden läßt, würde man ein Durcheinander an wimmelnder Bewegung bemerken, und dieses Gewimmel wäre für die Änderung der Verhältnisse bei hohen Energien verantwortlich? In einem gewissen Sinn trifft diese Vorstellung zu und entspricht in der Tat der Art und Weise, in der die meisten von uns gegenwärtig die Theorie interpretieren. In Wirklichkeit aber könnte die Theorie einen viel tieferen Sinn in sich bergen, denn gerade dann, wenn man zu den Längenskalen vorgestoßen ist, bei denen man sozusagen das Gewimmel sehen könnte, ist man in einem Be205
reich angelangt, in dem sich die Struktur von Raum und Zeit vollkommen verändert. Vielleicht ist es deswegen überhaupt falsch, sich das Ganze als eine Art von Bewegung in dem uns vertrauten Raum-Zeit-Kontinuum vorzustellen. Die Strings bewegen sich also in Wirklichkeit durch eine veränderliche Raum-Zeit-Struktur? In einer Theorie der Gravitation läßt sich die Struktur von Raum und Zeit nicht von den Teilchen trennen, die Träger der Gravitation sind, und wenn wir eine Theorie entwickeln, die unser Verständnis der Gravitation gegenüber Einsteins Theorie vertiefen soll, müssen wir auch unsere Vorstellungen von Raum und Zeit entsprechend revidieren. Könnte man sich vorstellen, daß Raum und Zeit gewissermaßen eher aus Strings bestehen, als daß diese in Raum und Zeit existieren? Ja. Ein String ist untrennbar mit dem Raum und der Zeit verbunden, durch die er sich bewegt. Wenn man sich die für die Gravitation verantwortlichen Teilchen in einer radikal neuen Betrachtungsweise als stringähnliche Objekte vorstellt, wird man von einer bestimmten Stufe an gezwungen, die konventionellen Vorstellungen von Raum und Zeit aufzugeben – und wenn ich von einer bestimmten Stufe spreche, meine ich damit die unvorstellbar kleinen Raumbereiche von der Größenordnung der PlanckLänge. 206
In nahezu allen Fällen brauchen wir uns also um die nebulöse und veränderliche Natur, die Raum und Zeit in kleinen Bereichen annehmen, nicht zu kümmern und können unsere gewohnte Vorstellung von Teilchen als Bewohnern eines normalen Untergrundes von Raum und Zeit beibehalten. Wenn wir jedoch äußerst feine Details in der Größenordnung von Strings unterscheiden können, erscheinen Strings, Raum und Zeit auf hintergründige Art und Weise miteinander verknüpft. Stimmt. Es handelt sich um einen sehr komplizierten Zusammenhang, den wir bis jetzt noch nicht richtig verstanden haben. Ein sehr großer Teil der heutigen Forschung verfolgt das Ziel, etwas Genaueres darüber herauszufinden. Die Superstring-Theorien aus dem Jahre 1984 ergaben nur für eine zehndimensionale Raumzeit einen Sinn. Wie soll man sich die Beziehung zwischen dieser zehndimensionalen Raumzeit und der vierdimensionalen Raumzeit unserer Erfahrung vorstellen? Nun, es ist klar, daß diese überzähligen Dimensionen irgendwie anders beschaffen sein müssen als die normalen, weil wir sie sonst bemerken würden. Man muß sich an die Vorstellung gewöhnen, daß durch eine Theorie, welche die Gravitation mit einschließt, die Struktur des Raumes selbst festgelegt wird, so daß beispielsweise Krümmungen der Raumzeit auftreten und Dimensionen zu sehr kleinen Bereichen eingerollt werden können. Eingerollte Dimensionen sind sicherlich schwer vorstellbar; man kann sie jedoch durch ein einfaches Beispiel erläu207
tern. Stellen Sie sich einen Gartenschlauch vor, der sich als längliches Objekt in einer Dimension erstreckt und eine weitere, kreisförmige Dimension besitzt. Betrachtet man den Schlauch aus größerer Entfernung, könnte man denken, es handele sich um ein eindimensionales Objekt, das heißt um eine Linie. Bei näherem Hinsehen stellt man jedoch fest, daß er eine weitere, sehr kleine Dimension besitzt und in Wahrheit eine enge Röhre darstellt. Wenn man dieses Beispiel verallgemeinert, könnte es noch mehrere andere zusätzliche Dimensionen geben, die so eng eingerollt sind, daß man sie nicht bemerkt, wenn man nicht über eine extrem gute Auflösung verfügt. Das würde bedeuten, daß jeder Punkt des Raumes oder das, was wir dafür halten, in Wirklichkeit ein höherdimensionales, eingerolltes Objekt ist. Genau. Es erscheint etwas mysteriös, daß von den zehn Dimensionen der Theorie vier erhalten bleiben, während sechs sich »einrollen«. Warum gerade sechs? Ja, das verstehen wir in der Tat gegenwärtig noch nicht. Ich glaube, wir haben bei dem mathematischen Verständnis dieser Theorien gerade erst die Spitze eines Eisberges angekratzt. Wir sind ja fast nur durch eine Reihe von Zufällen darauf gestoßen, daß diese Theorien etwas ganz Besonderes darstellen, nachdem ziemlich alltägliche 208
Berechnungen außergewöhnliche Ergebnisse erbracht hatten. Die Struktur der Theorie in ihrer Gesamtheit ist jedoch immer noch ein Rätsel, und Ihre Frage gehört zu denen, auf die wir meiner Ansicht nach keine befriedigende Antwort geben können, solange die Theorie nicht in eine geschlossenere mathematische Form gebracht worden ist. So haben jüngste Untersuchungen Varianten von Superstring-Theorien zutage gefördert, welche direkt in vier Raumzeitdimensionen arbeiten – die überzähligen Dimensionen sind dabei gewissermaßen »automatisch« eingerollt. Nehmen wir an, wir würden eines Tages verstehen, warum sich gerade sechs Dimensionen einrollen: Glauben Sie, daß wir dann auch verstehen werden, in welcher Weise dies vor sich geht? Es muß viele Möglichkeiten geben, sechs Dimensionen in sich selbst zusammenzufalten, das heißt viele verschiedene Topologien. Ich persönlich glaube, daß wir das eines Tages verstehen werden, es handelt sich jedoch um eine von jenen Fragen, bei denen man darüber streiten kann, ob wir sie jemals »wirklich« begreifen können. Vom Standpunkt der Logik aus ist es denkbar, daß es viele verschiedene Topologien gibt und daß es ein Zufall ist, daß wir gerade in einem Universum leben, in dem die überzähligen Dimensionen in dieser speziellen Weise zusammengefaltet sind. Könnte es sein, daß die Bedingungen für die Entstehung von Leben nicht gegeben wären, wenn die Dimensionen auf andere Weise zusammengefaltet wären? 209
Ja, so könnte man es sehen, obwohl mir diese Art von Argumentation nicht besonders zusagt. Stellt es kein Problem dar, daß die Struktur von Raum und Zeit – wie Sie vorhin sagten – in sehr kleinen Bereichen irgendwie »löchrig« wird, während Sie die String-Theorie vermutlich lieber in einem konventionellen raumzeitlichen Rahmen formulieren würden? Ja, das stimmt. Es ist nicht der korrekte Weg, das Problem zu behandeln, sondern bestenfalls eine Art Annäherung an die Wirklichkeit; aber im Augenblick ist es das Beste, was wir tun können. Immerhin hat sich herausgestellt, daß die Theorie sogar auf dieser Stufe nur für eine sehr beschränkte Klasse von Symmetrien einen Sinn ergibt, und schon diese Tatsache ist sehr bemerkenswert. Diese Klasse ist besonders deswegen interessant, weil mindestens eine der theoretisch möglichen Symmetrien eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Symmetrien zeigt, die früher aus rein empirischen Gründen zur Beschreibung der experimentell beobachteten Teilchen vorgeschlagen wurden. Ich glaube, daß ein großer Teil der gegenwärtigen Begeisterung für die Superstring-Theorie auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß eine der möglichen Varianten, die E8 x E8-Theorie, die sogenannten »Exzeptionellen Gruppen« enthält – das sind Symmetrien, die sowohl in der Mathematik als auch in der Physik eine ganz spezielle Rolle spielen. Mit der Superstring-Theorie kennen wir endlich den Grund, warum sie in der Physik auftreten, und darüber sind viele Leute sehr begeistert. 210
Die Natur hat also sozusagen ein ziemlich ungewöhnliches Gebiet der Mathematik in Gestalt der Exzeptionellen Gruppen entdeckt und macht auf eine bestimmte Weise Gebrauch davon? So ist es, und das ist für theoretische Physiker natürlich außerordentlich interessant. Welche direkten Beziehungen zwischen diesen Theorien und der Physik bestehen, ist gegenwärtig allerdings schwer vorauszusagen, denn die Berechnungen, die leichter auszuführen sind, betreffen Phänomene bei unvorstellbar kleinen Abständen und entsprechend gewaltigen Energien, die im Laboratorium nicht direkt untersucht werden können. Wir können nur versuchen herauszufinden, wie wir die physikalischen Gesetzmäßigkeiten von diesen sehr kleinen Abständen auf Dimensionen extrapolieren müssen, die irdischen Beschleunigeranlagen zugänglich sind. Diese Art von Extrapolation ist jedoch sehr schwierig. Nichtsdestoweniger haben die bisherigen Untersuchungen in dieser Richtung bereits erstaunliche und aufregende Ergebnisse gebracht. So existieren alle möglichen Arten von Beschränkungen hinsichtlich dessen, was nach der Theorie überhaupt möglich ist. Obwohl wir zum Beispiel nicht beweisen können, daß die überzähligen Dimensionen tatsächlich zu unmeßbar kleinen Bereichen eingerollt sind, ergeben sich allein aus der Annahme, daß sich dies letztlich aus der Theorie ableiten läßt, auf einen Schlag alle möglichen anderen Voraussagen. Sollten diese überzähligen Dimensionen, für die wir in unserer vierdimensionalen Welt keine Verwendung haben, tatsächlich derartig winzig sein, dann ist ein Weg 211
vorgezeichnet, auf dem die Theorie diejenigen Symmetrien liefern könnte, die man direkt aus den Laborexperimenten der Hochenergiephysik ermitteln kann.
Sie erwähnten, daß jüngere Untersuchungen darauf hinweisen, daß es String-Theorien geben könnte, die anstelle von zehn eine andere Anzahl von Dimensionen haben könnten. Im Jahre 1984 hatten wir eine mehr oder weniger klare Vorstellung davon, wie die Theorie beschaffen sein müßte, in der Raum und Zeit zusammen zehn Dimensionen besäßen. Für diesen Fall standen nur zwei mögliche Theorien zur Wahl: Eine mit einer SO(32)- und eine weitere mit einer E8 x E8-Symmetrie der Teilchen. Natürlich leben wir nicht in einer zehndimensionalen Raumzeit; es wurde jedoch sehr bald deutlich, daß diese »heterotischen« Theorien die Grundlage einer vernünftigen Physik in vier Raumzeitdimensionen werden könnten, wenn die sechs überzähligen Dimensionen sehr klein und »eingerollt« wären. Schon in dieser Phase war klar, daß es dafür viele verschiedene Möglichkeiten gab. Obwohl die Ausgangstheorie mehr oder weniger eindeutig war, gab es viele unterschiedliche Lösungen, die in vier Raumzeitdimensionen beschrieben werden konnten. Wie man herausfinden konnte, welche von diesen Lösungen die richtige war, wußten wir nicht. Inzwischen haben andere Theoretiker Möglichkeiten entdeckt, neue Klassen direkter Lösungen in vier Dimensionen zu konstruieren, ohne dabei den Umweg über 212
die zehndimensionale Stufe zu gehen. Das sind die verschiedenen Versionen der Theorie, von denen ich vorhin gesprochen habe. Es wäre falsch, sie als verschiedene Theorien zu betrachten: Sie können ebenso wie im zehndimensionalen Fall als verschiedene Lösungen ein und derselben Theorie angesehen werden. Wir haben es also in Wirklichkeit mit einer sehr großen Vielzahl von Lösungen für einige wenige Theorien zu tun. Lassen Sie mich die Verhältnisse durch eine Analogie erläutern. Stellen Sie sich vor, man zeigt Ihnen Proben von Eis, Wasser und Dampf. Vielleicht werden Sie eine Weile benötigen, bis Sie erkennen, daß es sich dabei um verschiedene Phasen ein und derselben Substanz handelt und daß die physikalischen Gesetze, welche die mikroskopischen Eigenschaften dieser Objekte bestimmen, für alle drei Phasen die gleichen sind. Die Unterschiede zwischen den drei Phasen des Wassers kommen nur durch die Bedingungen zustande, unter denen man sie beobachtet. Ganz ähnlich ist die Situation in der String-Theorie. Es gibt eine große Anzahl verschiedener »Phasen« entsprechend den verschiedenen Lösungen der Theorie, und unsere Aufgabe ist es, die Struktur zu finden, die allen gemeinsam zugrunde liegt. Ein großer Teil der gegenwärtigen Untersuchungen verfolgt daher auch das Ziel, der Superstring-Theorie eine allgemeinere Fassung zu geben. Wir hätten dann ein System von Gleichungen, dessen Näherungslösungen den verschiedenen »Theorien« entsprechen würden, die wir im Augenblick kennen. Dann könnten wir auch herausfinden, welche Lösung die 213
physikalischen Beobachtungen zutreffend beschreibt, sofern überhaupt eine von ihnen dazu in der Lage ist. Bei der Formulierung der Theorie in vier Dimensionen ist mir ein Punkt nicht ganz klar. Ich dachte, die Aufhebung der Anomalien würde nur dann funktionieren, wenn die Theorie in zehn Dimensionen formuliert wird. Wie ich bereits sagte, sind alle diese verschiedenen »Theorien« in Wirklichkeit verschiedene »Phasen« der gleichen grundlegenden Theorie, und daher wirkt auch die Aufhebung der Anomalien für alle in gleicher Weise. Der Methode der sukzessiven Approximation – der schrittweisen Annäherung – liegt ja die Vorstellung von Teilchen zugrunde, die sich wie Fäden durch eine mehr oder weniger klassische Raumzeit bewegen, so wie wir sie kennen. In Wahrheit hat die String-Theorie aber wesentlich tiefere Wurzeln. Wie bereits erklärt, müssen wir nicht nur den Begriff des Teilchens der neuen Betrachtungsweise anpassen, sondern auch unsere Vorstellungen von Raum und Zeit revidieren. Allerdings ist der ausschlaggebende neue Aspekt – daß die vom String durchmessene Raumzeit durch den String selbst verändert wird – in der gegenwärtigen Formulierung der Theorie nicht enthalten. Was wir brauchen, ist eine Idee, wie man die Theorie formulieren muß, damit man dieses Prinzip mit einbeziehen kann. Wir könnten dann erkennen, wie die von uns benutzten Näherungen aus dieser fundamentalen Vorstellung hervorgehen. Vermutlich würden wir dann auch verstehen, worin die Unterschiede 214
zwischen den verschiedenen Lösungen der Theorie bestehen und hätten bessere Chancen, experimentell überprüfbare physikalische Voraussagen zu machen.
Sind die überzähligen Dimensionen der zehndimensionalen Theorie in der vierdimensionalen Theorie noch in irgendeiner Form enthalten? Die Situation ist sogar noch etwas komplizierter. Eigentlich gibt es nämlich gar keine String-Theorien in vier oder zehn Dimensionen: Das sind ja alles nur Näherungen. In einer wirklich grundlegenden Formulierung der Theorie muß der Begriff der Dimension in bezug auf die Raumzeit neu gefaßt werden. Nach unserer herkömmlichen Vorstellung besteht die Raumzeit aus einer gleichförmigen Ansammlung von Punkten. Jede räumliche oder zeitliche Position wird durch einen Punkt festgelegt. Die String-Theorie muß jedoch in einem viel größeren Raum formuliert werden, den man sich durch alle möglichen Positionen des Strings aufgespannt denken muß. Tatsächlich handelt es sich dabei um einen unendlich großen Raum, und wenn wir von einer Theorie in vier oder zehn Dimensionen sprechen, ist dies in Wahrheit eine Näherung für eine unendlich viel größere Struktur, der gegenüber die Unterscheidung zwischen einer Formulierung in vier oder zehn Dimensionen an Bedeutung verliert. Der Grund, warum wir von vier oder zehn Dimensionen sprechen, ist der, daß bisher stets von Näherungen der Theorie die Rede war, und nur für diese 215
Näherungen hat die Vorstellung einer kleinen endlichen Zahl von Raumzeitdimensionen einen Sinn. Demnach ist das Interesse an diesen höheren Dimensionen und der Art und Weise, wie sie »eingerollt« sind, geschwunden? Ganz und gar nicht. Natürlich sind bestimmte Aspekte dabei weniger interessant als andere, aber das allgemeine Interesse besteht nach wie vor. Man sieht diese Fragen heute jedoch alle im Zusammenhang mit der von mir erwähnten viel größeren Struktur, und wenn man überhaupt von vier oder zehn Dimensionen spricht, meint man damit immer Näherungen für diesen viel größeren String-Raum, der tatsächlich eine unendliche Anzahl von Dimensionen hat.
Dann muß also immer noch ein Weg gefunden werden, die höheren Dimensionen dieses String-Raumes einzurollen? Nun, wenn man vom String-Begriff selbst ausgeht, ist es von geringerer Bedeutung, ob man sechs zusätzliche Dimensionen hat oder nicht, da man weiß, daß es in Wirklichkeit unendlich viele sind. Der Rahmen der Fragestellung hat sich wesentlich erweitert und umfaßt jetzt neben der Diskussion über die eingerollten Dimensionen auch die Versuche, die Bedeutung einer String-Raumzeit zu verstehen sowie die Frage, inwieweit sich die bekannte Physik als Näherung aus dieser wesentlich reicheren Struktur ergibt. 216
Glauben Sie, daß wir jemals wirklich verstehen werden, was ein String-Raum ist? Das könnte sich sogar als überraschend einfach erweisen, wenn man erst einmal die genaue und fundamentale Formulierung der Theorie verstanden hat. Das ist ja in der Physik eine gewohnte Situation. Wird eine überraschende neue Struktur gefunden, scheinen die Dinge zunächst sehr kompliziert, aber wenn man die Struktur erst einmal verstanden hat, wird alles klar und einfach. Ich weiß natürlich nicht, wie die neue Formulierung der String-Theorie aussehen könnte, aber ich habe die Hoffnung, daß dabei etwas Einfaches herauskommen wird, wobei natürlich immer noch die Frage ist, ob man das Ergebnis dann in konkreten und allgemein verständlichen Begriffen ausdrücken kann oder ob es nur einem versierten Mathematiker einfach erscheint. Was den wissenschaftlichen Wert der Superstring-Theorie anbelangt, hat sich Feynman ja sehr negativ geäußert, weil er meint, daß die Theorie nicht in der Lage sei, experimentelle Daten wie die Massen der verschiedenen Elementarteilchen und die Stärke der Kopplungskonstanten anzugeben. Was sagen Sie dazu? Ich hätte nicht gedacht, daß dies der Punkt ist, dem Feynman bei der Entwicklung physikalischer Konzepte so große Bedeutung beimißt. Ehrlicherweise muß man zugeben, daß die Theorie zur Zeit noch ein gutes Stück davon entfernt ist, detaillierte Voraussagen über spezielle Messungen an Elementarteilchen zu machen. Es wird 217
jedoch intensiv an diesem Problem gearbeitet, und ich zweifle nicht daran, daß man bald mehr darüber wissen wird. Ich sagte bereits, daß man sich dem Verständnis der Theorie bisher über sukzessive Approximationen genähert hat; es gibt jedoch bestimmte Fragen, die mit Sicherheit nicht beantwortet werden können, solange man nicht über diese Näherungsmethoden hinausgelangt ist. Ein Beispiel dafür ist die Frage nach den Massen der beobachteten Teilchen. In der gegenwärtig erreichten Näherungsstufe sind alle Teilchenmassen gleich Null, das heißt alle Teilchen sind masselos. Das ist in der Tat eine gute Näherung, wenn wir uns vor Augen halten, daß der Vergleichsmaßstab, mit dem wir diese Massen messen, die »Planck-Skala« ist, die der 1019fachen Masse des Protons entspricht. Verglichen damit sind alle Massen, die wir im Labor beobachten können, sehr klein, so daß es eine gute Näherung bedeutet, wenn sich alle Massen zu Null ergeben. Natürlich sind die Teilchen, die uns umgeben, in Wirklichkeit nicht masselos; sie haben ein bestimmtes Gewicht, und wir sollten in der Lage sein, ihre Massen zu berechnen. Diese Berechnung gehört jedoch zu der Art von Voraussagen, die sich aus der String-Theorie in ihrer gegenwärtigen Form nur sehr schwer gewinnen lassen. Auch andere interessante Fragen können nicht geklärt werden, solange wir die Theorie noch nicht besser verstehen. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie wir mit der Theorie Schwarze Löcher beschreiben sollen. Es handelt sich ja um eine Theorie, welche die Allgemeine Relativi218
tätstheorie enthält, sie muß daher auch Schwarze Löcher enthalten. Aber wie werden sie im Rahmen des StringModells beschrieben? Andere Fragen stehen im Zusammenhang mit der Kosmologie des frühen Universums. In der Frühgeschichte des Universums gab es eine sehr heiße Phase, in der die String-Physik eine sehr wichtige Rolle gespielt haben muß. Um zu verstehen, was die Theorie über die Entwicklung des Universums zu sagen hat, muß man sie wiederum bis in eine Tiefe erforscht haben, die weit über die bisherigen Näherungen hinausgeht. So kann die Theorie also viele interessante Fragen nicht beantworten, solange wir sie noch nicht besser verstanden haben. Meiner Ansicht nach befinden wir uns aber gerade erst am Anfang und sollten den Erfolg der Theorie keinesfalls nur danach beurteilen, ob sie Aussagen über Details machen kann, die uns bereits aus Beobachtungen bekannt sind. Eine solche vollkommen neuartige Theorie bedeutet einen so großen Wandel in der Struktur der theoretischen Physik, daß man von ihr auch neue, sehr überraschende Voraussagen erwarten kann, an deren Überprüfung bestimmt noch niemand gedacht hat.
Glauben Sie tatsächlich, daß es solche Voraussagen geben wird? Das kann man natürlich heute noch nicht mit Sicherheit sagen. Wir können noch längst nicht alle Voraussagen der Theorie ableiten. Es gibt zwar bereits einige Ideen in dieser Richtung, die allerdings – wie ich zugeben muß – in bezug auf Eindeutigkeit und Überprüf219
barkeit nicht besonders überzeugend erscheinen. Dafür sind sie jedoch sehr überraschend. Eine mögliche Voraussage der Theorie könnte darin bestehen, daß es eine ganz neue Art von Materie im Universum gibt, die man als »Schattenmaterie« bezeichnet. Sie wäre für uns nicht direkt sichtbar, sondern nur durch ihre gravitative Wirkung nachweisbar, obwohl Teilchen dieser Materie starke Kräfte aufeinander ausüben können. Diese Schattenmaterie könnte überall um uns herum existieren? Ja, das könnte sie. Ich weiß zwar nicht mit Sicherheit, ob die Theorie diese Materie tatsächlich voraussagen wird, aber möglich wäre es. Würde das dann bedeuten, daß es gewissermaßen zusätzlich zu dem Universum, das wir bewohnen, ein Schatten-Universum gibt, dessen Existenz wir nicht feststellen können, außer vielleicht durch gravitative Wirkungen? Wie gesagt, ich würde es etwas vorsichtiger formulieren und sagen, daß die Theorie dies voraussagen könnte. Ob dieses Zeug um uns herum aber tatsächlich existiert, hängt von Details der Geschichte des Universums ab, die in jedem Fall schwierig zu berechnen sein werden. Vermutlich würden wir es also merken, wenn ein Schattenstern oder -planet unser Sonnensystem durchliefe? Ja. 220
Sicher wäre es etwas schwierig, die Theorie nur durch den Nachweis solcher Gravitationseffekte auf ihre Gültigkeit hin zu testen. Das stimmt. Auch wenn diese Materie existieren sollte, wäre das kein Beispiel für eine Voraussage, die leicht zu überprüfen wäre. Können Sie mir ein anderes Beispiel für eine Voraussage der Superstring-Theorie nennen, die experimentell überprüft werden könnte? Wir kennen zur Zeit noch keine eindeutigen Voraussagen. Eine mögliche Voraussage hat damit zu tun, daß es in der String-Theorie zusätzliche Dimensionen mit merkwürdigen Topologien geben könnte, zum Beispiel mit »Löchern«, ähnlich einem Spritzkuchen. Ein Objekt wie ein String könnte bei der Umschlingung eines solchen Loches gefangen werden. Solche gefangenen Strings müßten merkwürdige Eigenschaften haben. Sie könnten beispielsweise zum Auftreten einer neuen Art sehr schwerer Teilchen führen, die ungewöhnliche Ladungen, nichtganzzahlige Vielfache der Elementarladung, tragen würden. Diese Teilchen wären zu schwer, um im Labor erzeugt werden zu können; sie könnten sich jedoch im Urknall gebildet haben, als das Universum sehr heiß war. Wie ich betonen möchte, sind das alles nur erste Hinweise darauf, daß die String-Theorie zu Voraussagen führen kann, die sie sehr stark von den konventionellen Teilchentheorien unterscheiden. Vielleicht sollte man diese Art von Voraussagen im Augenblick noch nicht allzu ernst nehmen. Wir sind eben noch am Anfang und 221
werden hoffentlich bald weitere charakteristische Effekte finden. Auch Sheldon Glashow steht der String-Theorie sehr kritisch gegenüber. Er meint, sie könnte die Motivation für Experimente untergraben, weil sie den Eindruck vermittelt, die Theoretiker hätten alle Fragen bereits gelöst. Was würden Sie darauf antworten? Ich glaube, daß diese Theorien gegenwärtig noch weit entfernt davon sind, die Ergebnisse von Laborexperimenten mit Beschleunigern direkt zu erklären. Wenn sie sich so stark von früheren Theorien unterscheiden, sollten sie einige vollkommen neuartige Phänomene beschreiben, an deren Messung wir noch nie gedacht haben. Erst nachdem Einstein die Allgemeine Relativitätstheorie formuliert hatte, konnte er sagen, welche meßbaren Phänomene zum Test der Theorie herangezogen werden konnten. So war die Periheldrehung des Planeten Merkur bereits aus Beobachtungen bekannt, aber erst Einsteins Theorie führte zur Erkenntnis der fundamentalen Bedeutung dieser speziellen Anomalie. Für die Superstring-Theorie bräuchten wir etwas Analoges wie den Planeten Merkur: Irgendwelche experimentellen Beweisstücke, die zwar bereits bekannt sind, bis jetzt aber niemanden besonders beeindruckt haben, weil keiner vermutet, daß sie für den Test einer fundamentalen Theorie von Bedeutung sind. Wenn ich Glashow richtig verstehe, hält er die Methode der StringTheoretiker, sich der Physik »von oben nach unten« anzunähern, 222
grundsätzlich für falsch. Sie beginnen mit einer allgemeinen Formulierung und versuchen sich dann von diesem Ausgangspunkt bis zur Beschreibung der realen Welt durchzuarbeiten, während es Glashow vorzieht, von den Ergebnissen der Experimentalphysik auszugehen und eine Theorie Schritt für Schritt zu entwickeln – dabei vielleicht auch durchaus auf eine allgemeine Theorie hinzuarbeiten, aber stets auf der Grundlage physikalischer Experimente. Halten Sie seine Besorgnisse in dieser Beziehung nicht für gerechtfertigt? Nun, ich glaube, daß beide Methoden der Annäherung ihre Berechtigung haben. Die Geschichte der Physik zeigt, daß sie ihre Fortschritte unter Benutzung beider Methoden erzielt hat und man für jede von ihnen auf Präzedenzfälle verweisen kann. Ich will gern zugeben, daß die Faszination durch die elegante theoretische Struktur eine treibende Kraft bei der Erforschung der Superstring-Theorie darstellt, natürlich auch die Hoffnung, mit ihrer Hilfe das theoretische Paradoxon der Physik des 20. Jahrhunderts aufzulösen – den Widerspruch zwischen Quantenmechanik und Allgemeiner Relativitätstheorie. Das war sicherlich die entscheidende Motivation für mich und viele andere Theoretiker. Ich glaube, es ist wichtig, daß es auch Leute gibt, die sich der Physik »von unten nach oben« anzunähern versuchen. Die beiden Gruppen sollten sich als gleichberechtigt betrachten und versuchen, sich gegenseitig zu helfen.
Wenn Sie auf die Frühzeit der String-Theorie zurückblicken, als noch nicht so viele Leute an der Theorie interessiert waren: Hatten Sie da223
mals das Gefühl, von den anderen Physikern gemieden zu werden, weil Sie sich mit diesem Gebiet beschäftigten? Nein. Ich glaube nicht, daß wir gemieden wurden, wir wurden nur fast vollständig ignoriert, zum Teil wohl deswegen, weil die String-Theorie sowohl in konzeptioneller als auch in technischer Hinsicht so verschieden von den Theorien ist, die damals im Schwange waren. Anfang der 80er Jahre hätte jemand, der nicht an der Theorie arbeitete, bei dem Erlernen der Technik einen so hohen Aufwand treiben müssen, daß die meisten Leute – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht bereit dazu waren, sich dieser Mühe zu unterziehen, nur um herauszufinden, ob man der Theorie Glauben schenken konnte oder nicht. In gewisser Hinsicht war das Leben für uns damals sehr angenehm, denn im allgemeinen ist die Konkurrenz auf dem Sektor der Teilchenphysik sehr groß, während wir auf einem Gebiet arbeiteten, auf dem wir unser Tempo selbst bestimmen konnten, ohne uns irgendwie unter Druck zu fühlen. Die String-Theorie war ja seit Anfang der 70er Jahre bekannt, Mitte der 70er Jahre aber bereits wieder am Aussterben und damit ganz entschieden keine Sache, mit der man sich beschäftigte, wenn man sich einen Namen machen wollte. Vielleicht galt dies für die Vereinigten Staaten noch stärker als für Großbritannien; jedenfalls gehörte die String-Theorie mit Sicherheit nicht zu den Gebieten der Teilchenphysik, auf dem die bedeutendsten Theoretiker arbeiteten, und man hätte nur schwer eine Stelle bekommen, wenn man sich damit beschäftigt hät224
te. So wird auch verständlich, warum auf diesem Gebiet damals einfach keine anderen Leute tätig waren. Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit John Schwarz? Wir kannten uns schon einige Zeit vorher, hatten aber vor dem Sommer 1979 noch niemals zusammen gearbeitet. Wir waren damals beide Gäste am CERN, dem Europäischen Kernforschungszentrum. Dieser Ort ist besonders gut dafür geeignet, sich zusammenzusetzen und Ideen auszutauschen. Wir unterhielten uns über Supersymmetrie und Strings – Themen, die uns beide interessierten, und daraus entwickelte sich unsere Zusammenarbeit. Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Ed Witten ist der Meinung, die String-Theorie sei eine Theorie des 21. Jahrhunderts, die durch Zufall in unser Jahrhundert verschlagen worden ist, und glaubt, daß sie für die nächsten 50 Jahre die Physik bestimmen wird. Sehen Sie das auch so? Ja, ich bin mir ziemlich sicher, daß Entwicklungen auf der Grundlage der String-Theorie für lange Zeit das vorherrschende Betätigungsfeld der theoretischen Teilchenphysiker bleiben werden. Ich möchte es noch etwas anders ausdrücken: Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand, der sich beispielsweise zuerst mit der Allgemeinen Relativitätstheorie beschäftigt hat und jetzt an der String-Theorie arbeitet, jemals wieder zur Allgemeinen Relativitätstheorie zurückkehren kann, ohne das String-Modell mit einzubeziehen. Das erscheint mir einfach undenkbar. 225
Wird sich die Superstring-Theorie als die Allumfassende Theorie erweisen? Man spricht in der Tat oft davon, daß die SuperstringTheorie eine Allumfassende Theorie sein könnte. Dem würde ich widersprechen. Wir verstehen noch viel zu wenig von der tieferen Struktur dieser Theorie, um sagen zu können, daß es sich dabei um eine AUT handelt. Wir wissen noch nicht einmal, welche Voraussagen sie enthält oder welche Fragen wir an sie stellen sollen. Meinem Gefühl nach werden erst mit einem viel tieferen Verständnis der Theorie alle möglichen Fragen und Probleme zutage treten, auf die die Theorie gegenwärtig vermutlich überhaupt keine Antwort geben könnte. Wenn wir die Theorie daher heute als AUT bezeichnen, heißt das lediglich, daß es den Anschein hat, als ob sie Fragen beantworten könne, die wir heute in der Teilchenphysik für wichtig halten.
Zumindest verspricht die Theorie aber doch die Frage nach dem Zusammenhang aller Teilchen und Kräfte zu beantworten, nicht wahr? Ja. Sie stellt diese Frage und gibt offensichtlich einige interessante Hinweise auf die mögliche Antwort.
Sie verschmilzt also die Kräfte und die Materie, aus denen die Welt besteht, mit dem Raum und der Zeit, die sie umschließen. Das scheint doch wirklich ein allumfassendes Konzept zu sein. 226
Ja, aber wir wissen noch nicht, wie wir die Theorie formulieren müssen, um die Raumzeit mit den Stringteilchen zu vereinigen. Wir wissen nicht, was die Theorie über die Physik jenseits der Planck-Skala zu sagen hat, des Bereiches also, der in unseren gegenwärtigen Überlegungen eine so wichtige Rolle spielt. Dann könnte es also sogar eine noch tiefere physikalische Ebene geben? Es könnte eine ganze Reihe neuer Probleme geben, eine Reihe neuer Fragen, welche die Theorie nicht beantworten kann. Wir wissen nicht, welche Fragen das sein könnten, solange wir die logische Struktur der Theorie nicht besser verstanden haben. Es wäre zum Beispiel denkbar, daß es danach zu einer radikalen Veränderung unserer Vorstellungen über die Quantentheorie kommt. Das wäre eine aufregende Sache.
Und wenn man nun in die andere Richtung geht – nicht immer weiter in die Tiefe, sondern zu immer größeren Systemen mit immer höherer Komplexität? Man könnte ja auch deswegen Einwände gegen die Bezeichnung der Theorie als eine AUT erheben, weil sie zum Beispiel die Entstehung des Lebens nicht erklären würde! Das stimmt. Komplexität führt zu allen möglichen Problemen, für deren Lösung ein Verständnis der Physik im mikroskopischen Bereich wahrscheinlich von geringer Bedeutung ist. 227
Aber wenn die Superstring-Theorie Erfolg haben sollte – würden Sie dann nicht auch sagen, daß sie den Höhepunkt einer zweieinhalb Jahrtausende langen Suche nach den letzten Bestandteilen der Realität darstellen würde – den Triumph des reduktionistischen Programms ? Ich persönlich glaube nicht, daß es »letzte Bestandteile« gibt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß nicht in zwei Milliarden Jahren jemand eine bessere Theorie gefunden haben wird. Natürlich glaube ich, daß die StringTheorie für die gegenwärtige Zeit eine gute Theorie ist und auch für viele weitere Jahre bleiben wird. Schon daß sie mit so vielen Zweigen der Mathematik verknüpft ist, zeigt, daß sie eine tiefe Wahrheit enthält. Dann werden die Strings also bleiben? Noch für lange Zeit.
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2.4 David Gross David Gross ist Professor für Physik an der Princeton Universität. Er ist ein führender Elementarteilchenphysiker und hat wichtige Beiträge zur Quantenchromodynamik geliefert. Als Mitglied des sogenannten »Princeton StringQuartet« ist er einer der Begründer des »heterotischen« String-Modells. Ein ungewöhnliches Charakteristikum der Superstring-Theorie besteht darin, daß sie in mehr als vier Raumzeitdimensionen formuliert werden muß. Das bedeutet, daß es Raumdimensionen gibt, die wir aus irgendeinem Grund nicht wahrnehmen können. Können Sie erklären, wie das möglich ist? Die Idee, daß es mehr als drei Raumdimensionen gibt, ist sehr alt und stellt keine Besonderheit der String-Theorien dar. Allerdings unterscheiden sich diese Theorien von anderen dadurch, daß sie in mehr als vier Dimensionen formuliert werden müssen. Zunächst hielt man das für sehr nachteilig; heute ist man jedoch zu der Ansicht gelangt, daß man experimentell feststellen sollte, wie viele Dimensionen der Raum tatsächlich hat. Sollten die überzähligen Dimensionen zu genügend kleinen Kreisen oder anderen komplizierteren Oberflächen eingerollt sein, würden wir durch beiläufige Beobachtungen allein niemals von ihrer Existenz erfahren. Um sicher zu sein, daß ich Sie richtig verstanden habe: Sie meinen, daß das, was wir normalerweise für einen Punkt im gewöhnlichen 229
dreidimensionalen Raum halten, in Wirklichkeit ein kleiner, höherdimensionaler Bereich ist? Genau. Ein Strohhalm sieht von weitem wie eine Linie aus, aber wenn man nahe genug herangeht und gute Augen oder ein Vergrößerungsglas hat, sieht man, daß er eine zusätzliche kreisförmige Dimension besitzt. In diesem Sinne könnte jeder Raumpunkt zusätzliche Dimensionen haben, die sich in irgendwelche bislang noch nicht erforschten Richtungen erstrecken. In der String-Theorie benötigt man sechs davon, und wenn wir die Theorie mit unserer Erfahrung in Einklang bringen wollen, nach der diese Dimensionen für uns nicht wahrnehmbar sind, müssen wir annehmen, daß sie eingerollt und sehr klein sind. Da die Theorie eine sehr, sehr kleine natürliche Längenskala von 10-33 cm hat, wäre es auch ganz plausibel, wenn diese Dimensionen sich als derart winzig erweisen würden. Es ist durchaus vorstellbar, daß sich die zusätzlichen Dimensionen in einer solchen Theorie »automatisch« einrollen, so daß drei offene Raumdimensionen übrigbleiben.
Nehmen wir an, wir besäßen eine Apparatur, die sehr feine Details auflösen und diese zusätzlichen Dimensionen sichtbar machen könnte – wie würden sie aussehen? Die Frage ist, was wir überhaupt meinen, wenn wir in diesem Zusammenhang von »sehen« sprechen. Wir versuchen ja, bei sehr kleinen Abständen etwas zu »sehen«, 230
indem wir gewaltige Beschleuniger bauen und die physikalischen Vorgänge in diesen Bereichen untersuchen. Aber auch dies ist im Falle der Strings wohl nur eine rein hypothetische Möglichkeit. Ja. Um diese zusätzlichen Dimensionen zu erforschen, bräuchten wir einen Beschleuniger, der 1016 mal energiereicher als die gegenwärtigen Beschleuniger sein müßte und 1020 mal so viel Geld kosten würde, als wir für einen solchen Zweck aufbringen könnten. Aber auch mit einem solchen Beschleuniger würden wir die zusätzlichen Dimensionen nicht so wie unter einem Mikroskop sehen können. Könnten wir sie aber so betrachten, so würden wir feststellen, daß sie sich in sechs zusätzliche Richtungen nach »rechts«, nach »links« und nach »oben« erstrecken, nur daß man sich in diesen Richtungen im Kreis bewegen würde und zum Ausgangspunkt zurückkäme, das heißt, die Dimensionen wären in diesen Richtungen kreisförmig und geschlossen. Kann man die Form dieses zusätzlichen sechsdimensionalen Raumes berechnen? Seit Einstein betrachtet man die Geometrie von Raum und Zeit als ein dynamisches Problem, das durch die Physik entschieden wird. Um Ihre Frage beantworten zu können, müßte man die Gleichungen der String-Theorie lösen. Da die Theorie auch die Struktur von Raum und Zeit enthält, würden die Lösungen auch festlegen, welche 231
Geometrie Raum und Zeit besitzt. In der Praxis hat man allerdings im Rahmen der heterotischen String-Theorie bisher lediglich die möglichen klassischen Lösungen ohne Berücksichtigung von Quanteneffekten erforscht, indem man sich auf eine etwas indirekte Weise die Lösungen der Bewegungsgleichungen der Theorie verschafft hat. Dabei hat sich bemerkenswerterweise eine ganze Klasse von möglichen Lösungen ergeben, deren Zahl in die Millionen geht. Einige davon beschreiben eine Welt, deren Geometrie der unseren gleicht. Sie besitzt drei Raumdimensionen, eine Zeitdimension und sechs »kompaktifizierte« Dimensionen, die auf teilweise recht exotische Art und Weise zu mathematischen »Mannigfaltigkeiten« oder Oberflächen eingerollt sind, von deren Eigenschaften die Mathematiker begeistert sind, während sich die Physiker noch darum bemühen müssen, diese Dinge zu verstehen. Wir haben also bereits herausgefunden, daß die heterotische String-Theorie konsistente Lösungen besitzt, die hinsichtlich ihrer Geometrie unserer Welt ähnlich sind. Sie hat auch konsistente Lösungen, die ihr nicht ähnlich sehen und mehr als drei offene Raumdimensionen besitzen, und wir wissen noch nicht, welche physikalischen Prinzipien die vierdimensionalen von den zehndimensionalen oder die sechsdimensionalen von den achtdimensionalen unterscheiden. Gibt es viele Lösungen in drei Raumdimensionen? Ja, bei drei Raumdimensionen gibt es Millionen und Abermillionen, ein enormes Überangebot an Lösungs232
möglichkeiten, die nicht nur klassisch, sondern auch quantentheoretisch in Ordnung zu sein scheinen. Es wäre ohne weiteres denkbar, daß unsinnige Ergebnisse oder Instabilitäten auftreten, sobald man quantenmechanische Korrekturen vornimmt, aber nichts dergleichen geschieht: die Theorie bleibt für alle Ordnungen der Störungsrechnung konsistent. (Man nimmt dabei an, daß die klassische Lösung grundsätzlich richtig ist und nur leichte Quantenkorrekturen anzubringen sind.) Anfänglich war man über diesen Überfluß sehr erfreut, weil er als Indiz dafür angesehen wurde, daß die heterotische Theorie die Welt sehr gut beschreiben könnte. Abgesehen davon, daß die Lösungen vier Raumzeitdimensionen besaßen, hatten sie auch andere Eigenschaften, die unserer Welt angepaßt schienen: Die richtigen Arten von Teilchen wie Quarks und Leptonen und die richtigen Arten von Wechselwirkungen ergeben sich aus der Theorie auf völlig natürliche Art und Weise oder könnten sich zumindest ergeben, und diese Tatsache war zwei Jahre lang Anlaß für große Begeisterung. Allerdings ist es schon etwas beunruhigend, daß wir so viele Lösungen haben, aber keine gute Methode, um eine Wahl zwischen ihnen zu treffen. Noch beunruhigender ist, daß diese Lösungen außer vielen erwünschten Eigenschaften auch einige besitzen, die möglicherweise katastrophale Konsequenzen haben könnten. Dazu gehören Symmetrien, die in der realen Welt nicht in Erscheinung treten und daher irgendwie gebrochen werden müssen. Dann gibt es masselose Teilchen, die bisher nicht nur noch niemals beobachtet wurden, sondern nach den 233
Experimenten sogar ausgeschlossen werden müssen. Mit den ganzen Lösungen, die wir bisher gefunden haben, ist also etwas nicht in Ordnung. Wir hoffen, daß dynamische Effekte, die von den bisherigen Störungsrechnungen nicht aufgedeckt werden können, dieses Problem beseitigen und die Möglichkeit eröffnen werden, eine einzige von all diesen bis jetzt ununterscheidbaren, anscheinend gleich guten Lösungen herauszufinden. Wenn ich das richtig verstanden habe, versucht man die Theorie im Augenblick »perturbativ«, das heißt mit einer bestimmten Näherungsmethode anzugehen, die auf eine fortlaufende Reihe kleiner Korrekturen hinausläuft. Alle Näherungslösungen, die sich dabei ergeben, erscheinen jedoch in bestimmter Hinsicht als unbefriedigend. Das Problem besteht nicht nur darin, daß es zu viele gibt, sondern auch darin, daß keine von ihnen vollständig befriedigende Eigenschaften hat. Wie Sie sagten, könnte diese Unklarheit jedoch beseitigt werden, wenn man ein mathematisches Verfahren besäße, das eine exakte Lösung ermöglicht. Genau. So ist es auch bei vielen anderen Theorien, die wir kennen, zum Beispiel bei der Quantenchromodynamik, der Theorie der Quarks und Gluonen, welche die Kernkraft und die Struktur der Atomkerne beschreibt. Die Eigenschaften der Hadronen – der Kernteilchen – ergeben sich nur unter Verwendung eines sehr komplizierten »nichtperturbativen« Verfahrens ohne den Einsatz von Näherungsmethoden. Störungsrechnungen, wie wir sie auch für die Untersuchung der String-Theorie einsetzen, ergeben dagegen völligen Unsinn. 234
Die String-Theorie können wir heute nur perturbativ – mit Hilfe der Störungsrechnung – untersuchen. Um nichtperturbative Probleme zu lösen, fehlt uns nicht nur das entsprechende Verständnis der Theorie, sondern schon ihre adäquate Formulierung. Aus einer Reihe von Gründen ist es jedoch äußerst unwahrscheinlich, daß die Störungstheorie ausreichend ist. Welche Gründe sind das? Erstens: Wenn die Theorie korrekt ist, kann eine perturbative Behandlung einfach deswegen nicht ausreichend sein, weil ihre Ergebnisse nicht im Einklang mit den Experimenten stehen. Zweitens enthält die String-Theorie viele bereits bekannte Theorien wie zum Beispiel die Quantenchromodynamik, für deren Lösung – wie wir wissen – perturbative Methoden nicht ausreichend sind. Drittens handelt es sich um eine Theorie ohne willkürlich wählbare Parameter, das heißt, wenn man eine Lösung der Theorie gefunden hat, kann man nichts mehr daran drehen – es läßt sich alles auf eindeutige Weise daraus ableiten. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß eine solche Theorie sich in eine Reihe von Näherungslösungen entwickeln läßt – welcher Parameter sollte dabei zum Maßstab genommen werden? Normalerweise entwickelt man eine Theorie nach irgendeiner kleinen Konstanten, deren Wert man entsprechend variiert: In der String-Theorie gibt es jedoch keine solche Konstante – alle Parameter können aus der Theorie selbst errechnet werden. Der vierte Punkt betrifft ein Problem, das bei al235
len Theorien eine Rolle spielt, die den Anspruch erheben, die gesamte Physik zu enthalten: Das Problem der Kosmologischen Konstanten. Erzählen Sie uns bitte etwas darüber. Es geht um die Frage der Hintergrundenergie des Universums. Da die Gravitation in den gebräuchlichen Theorien der Materie vernachlässigt wird, ist es für diese Theorien auch vollkommen unerheblich, wo der Nullpunkt der Energieskala liegt. Wichtig sind nur Energiedifferenzen, da der Absolutwert der Energie auf keinerlei Weise ermittelt werden kann. Die Gravitation ist jedoch eine Kraft, die direkt mit der Energie gekoppelt ist. Man spricht zwar häufiger davon, daß die Gravitation mit der Masse verknüpft ist, aber wie wir von Einstein gelernt haben, ist Masse ihrem Wesen nach nichts anderes als Energie. Da die Gravitation direkt mit der Energie verknüpft ist, »weiß« sie sozusagen, wieviel Energie ein bestimmtes Objekt enthält, und das gilt auch für das Universum als Ganzes: auch das Universum besitzt eine bestimmte Energiedichte. Sogar wenn der Raum vollkommen leer ist? Sogar der leere Raum. Man kann die Energiedichte des leeren Raumes messen, weil das Universum sich unter dem Einfluß der Gravitation um so stärker zusammenzieht, je höher seine Energiedichte ist. Man kann daher die Hintergrund-Energiedichte des Universums bestim236
men, indem man seine globale Struktur ermittelt. Diese Messungen sind gemacht worden. Man hat dabei allerdings nicht den exakten Wert der Energiedichte bestimmen können, sondern nur einen oberen Grenzwert, denn der genaue Wert scheint sehr nahe bei Null zu liegen. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Messungen um die genaueste Bestimmung einer »Nullgröße«, die jemals vorgenommen werden konnte: Die Genauigkeit beträgt l:10120 in Einheiten der Planck-Masse, der natürlichen Massen- beziehungsweise Energieskala der Gravitation. Nehmen wir zum Beispiel einmal an, Sie würden an einer modernen physikalischen Theorie arbeiten, die die Gravitation mit einschließt, und jemand würde Sie fragen, wie hoch Sie – ohne die Beobachtungsergebnisse zu kennen – nach Ihrer Theorie die Hintergrund-Energiedichte des Universums schätzen, dann würde Ihr Schätzwert 10120mal größer ausfallen als die Obergrenze, die sich aus den Beobachtungen ergibt. Die Beobachtungen liefern derart kleine Werte, daß jeder glaubt, daß der wirkliche Wert Null ist. Dabei gibt es nach der Theorie überhaupt keinen Grund dafür! Der Wert sollte eigentlich viel größer sein. Aber damit nicht genug: Selbst dann, wenn man die Theorie so manipuliert, daß sich als Energiedichte genau Null ergibt – eine Zumutung für einen Physiker, es geht dabei ja um eine Genauigkeit von 120 Dezimalstellen! – und hinterher feststellt, daß man bei seiner Rechnung einen kleinen quantenmechanischen Effekt übersehen hat, würde dies bereits zu einer Kosmologischen Konstante von meßbarer Größe führen. Seit ihrer Einführung durch Einstein ist der kleine Wert 237
der Kosmologischen Konstanten ein Rätsel geblieben. Er hat sich immer wieder als Null, Null und nochmals Null herausgestellt, ohne daß irgend jemand weiß, warum. Das Ganze stellt eigentlich auch kein Problem dar, solange man nicht den Anspruch erhebt, im Besitz einer Allumfassenden Theorie zu sein. Sobald man das jedoch behauptet, muß man dieses Problem lösen, denn entweder erzeugt eine AUT eine Kosmologische Konstante oder nicht. Wenn sie keine erzeugt und trotzdem alles zutreffend beschreibt, was wir in der realen Welt um uns herum wahrnehmen, muß es einen physikalischen Mechanismus geben, den wir zur Zeit noch nicht verstehen und der im Rahmen einer Störungstheorie nicht behandelt werden kann. In der String-Theorie ist die Kosmologische Konstante bis jetzt Null geblieben. Es existieren Lösungen der heterotischen String-Theorie, die vier beobachtbare Dimensionen beschreiben, die unserer Welt ähnlich sehen. Das bedeutet, daß es keine Kosmologische Konstante gibt, denn gäbe es eine, dürften sich keine vier großen Dimensionen ergeben, in denen wir Spazierengehen können; die drei Raumdimensionen wären vielmehr zu einer winzigen Kugel eingerollt, die kleiner als ein Atom wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Ursache dafür liegt in der Supersymmetrie, das heißt in der Tatsache, daß die Superstrings supersymmetrisch sind. Diese Symmetrie verhindert das Anwachsen der Kosmologischen Konstanten. Wir haben keine Vorstellung davon, wie diese Symmetrie gebrochen werden kann, ohne daß dadurch eine Kosmologische Konstante erzeugt wird; und 238
die Symmetrie muß gebrochen werden, da sie in der Welt nicht in Erscheinung tritt. Aber jeder Mechanismus, den man im Zusammenhang mit der Brechung der Supersymmetrie bisher ins Auge gefaßt hat, erzeugt auch eine Kosmologische Konstante. Wenn dieses Problem gelöst werden soll, muß also irgend etwas sehr Merkwürdiges in der Physik passieren, es muß irgendein neues Prinzip oder eine neue Methode zur Brechung der Supersymmetrie gefunden werden. Sollte die String-Theorie mit diesem Problem fertig werden, muß sie einen dynamischen Mechanismus enthalten, der völlig verschieden von allem ist, was von der Störungstheorie beschrieben werden kann. Sie glauben also, daß die Lösung des kosmologischen Problems auf fundamentale Weise in der String-Theorie enthalten sein wird? Das könnte sehr wohl der Fall sein. Beweisen kann man es nicht – der entscheidende Beweis kann nur von einer eindeutigen Lösung erbracht werden. So viel wir bis heute wissen, ergibt sich für die Kosmologische Konstante aus der Theorie der Wert Null. Gleichzeitig jedoch ist die Supersymmetrie ungebrochen, und diese beiden Resultate scheinen in einem bestimmten Zusammenhang zu stehen. Das erste ist gut, das zweite schlecht. Wir können nur hoffen, daß die Theorie es irgendwie fertig bringt, die Supersymmetrie zu brechen, ohne eine Kosmologische Konstante von meßbarer Größe zu erzeugen. Einen Hinweis darauf, daß sie dazu tatsächlich in der Lage ist, gibt es nicht. Es gibt nur die Hoffnung, daß sie die re239
ale Welt beschreibt. Sollte dies jedoch der Fall sein, werden wir einen faszinierenden neuen dynamischen Prozeß oder Mechanismus entdecken, der durch die bisher angewandte perturbative Behandlung nicht beschrieben wird. Wenn die perturbative Behandlung aber direkter und mathematisch wesentlich einfacher als die exakte Lösung ist, wie soll es dann weitergehen? Müssen Sie dann nicht eine neue Art von Mathematik erlernen? Ja, in diese Richtung bewegen sich heute in der Tat die Überlegungen der meisten Leute. Es gibt eine Menge physikalischer Fragen, die man gern von der Theorie beantwortet hätte. Soweit wir aus den Näherungslösungen ablesen können, enthält die Theorie die meisten Elemente, die zur Beschreibung der Beobachtungen bei niedrigen Energien erforderlich sind. Es fehlen aber immer noch Antworten auf einige fundamentale Fragen, deren Lösung extreme Schwierigkeiten bereitet. Wie sollen wir also weiter vorankommen? Hätten wir noch die gleiche Situation wie in der Teilchenphysik vor zehn Jahren oder in der Wissenschaft überhaupt, würden wir einfach auf einen entscheidenden Hinweis unserer Kollegen von der Experimentalphysik warten. Auf diese Weise wurden in der Vergangenheit immer wieder Fortschritte erzielt, aber über diesen Luxus verfügen wir heute nicht mehr. Es gibt einfach nicht genug Geld für den Bau ausreichend großer Beschleuniger? 240
Die Schatzkammern aller Länder der Welt zusammen würden dafür nicht ausreichen; die Kosten wären im wahrsten Sinne des Wortes astronomisch. Außerdem haben wir zur Zeit auch gar keine Vorstellungen darüber, wie ein solcher Beschleuniger gebaut werden könnte. Wir hoffen sehr, daß wir in der Lage sein werden, Beschleuniger zu bauen, die zehnmal größer als die heutigen sind und einige interessante physikalische Entdeckungen im nächsthöheren Energiebereich möglich machen können, aber der Vorstoß bis zur Planck-Masse ist für die vorhersehbare Zukunft, wenn nicht für alle Zeiten unmöglich. So werden wir in dem entscheidenden Energiebereich keine Beobachtungen machen können und müssen nach indirekten Hinweisen aus der Kosmologie oder der niederenergetischen Physik Ausschau halten. Im übrigen sind wir darauf angewiesen, die Verzweigungen der Theorie mit mathematischen Methoden zu untersuchen und nach neuen mathematischen Strukturen zu durchforschen. Für die theoretische Physik ist dies ein gleichermaßen chancenreicher wie gefährlicher Weg, aber wenn es keinen anderen geben sollte, müssen wir ihn gehen. Ein Skeptiker könnte natürlich anführen, daß die Physiker schon mehrere Male in der Geschichte geglaubt haben, alles in einer einzigen einheitlichen Theorie erfaßt zu haben und sich damit jedesmal in einem Irrtum befanden. Besteht nicht die Gefahr, daß Sie ebenfalls einem Trugbild nachjagen? Diese Gefahr besteht immer, sogar dann, wenn man seine Arbeit auf experimentellen Ergebnissen aufbaut. Man 241
muß seine Ideen daher auch ständig mit großer Sorgfalt überprüfen, um nicht zu viel Zeit in Sackgassen zu verlieren. Viele von uns haben zwar das Gefühl, daß es sich mit dieser Theorie ein wenig anders verhält als sonst, aber das kann eine Täuschung sein. Die Theorie ist so unglaublich strukturreich und enthält so viel von der uns bereits bekannten niederenergetischen Physik – oder scheint zumindest dazu in der Lage zu sein – wie keine der bisherigen fundamentalen Theorien. Trotzdem könnte sich alles als eine Illusion erweisen. Vielleicht braucht man zur vollständigen Beschreibung der Welt sogar etwas noch Merkwürdigeres als Superstrings und zehn Dimensionen. Um das herauszufinden, gibt es keine andere Möglichkeit, als die Theorie weiter auszuprobieren. Versuche in dieser Richtung werden gemacht und werden noch über viele Jahre hinweg weiterlaufen, bis es entweder Beweise dafür gibt, daß die Theorie grundlegend richtig oder falsch ist oder jemand eine bessere Idee hat. Natürlich sind neue Ideen immer besser als die Widerlegung bestimmter Vorstellungen – schließlich müssen die Physiker ja etwas zu tun haben! Solange es aber keine besseren Ideen gibt, werden wir die Arbeit an der String-Theorie fortsetzen. Die String-Theorie scheint für theoretische Physiker eine ganz besondere Anziehungskraft zu besitzen. Ich kann mich an keine andere Theorie erinnern, von der eine derartige Faszination ausgegangen wäre. Gibt es etwas, das die String-Theorie als Basis einer Allumfassenden Theorie besonders geeignet oder erfolgversprechend erscheinen läßt? 242
Es gibt zwei Gründe, aus denen die Theorie in den letzten beiden Jahren so populär geworden ist. Der wichtigere ist der, daß es zur Zeit einfach keine bessere Idee gibt. Die meisten Leute wußten zu Beginn ihrer Beschäftigung mit Strings überhaupt nichts über die Theorie, die ihnen auf den ersten Blick häßlich und unangenehm erschien – zumindest war dies noch vor einigen Jahren so, als die Theorie noch wesentlich weniger entwickelt war. Damals fanden es viele Leute schwierig, tiefer in die Theorie einzudringen oder sich gar für sie zu begeistern. Ich vermute daher, daß der wahre Grund für die Anziehungskraft der Theorie darin zu suchen ist, daß es für einen Theoretiker zur Zeit einfach kein anderes interessantes Spiel gibt. Alle früheren Versuche zur Konstruktion von Großen Vereinheitlichten Theorien, die ja im Ansatz viel konservativer waren und erst nach und nach immer radikaler wurden, sind gescheitert, während bei diesem Spiel die Kugel immer noch am Rollen ist. Außerdem war von Anfang an klar, daß es die Möglichkeit bot, eine ganze Menge mehr zu erreichen als alle anderen Versuche. Der zweite Grund für die Attraktion der Theorie ist der, daß immer mehr Leute beim Studium der Theorie von der Tiefe und Schönheit ihrer Struktur begeistert sind, und dies um so mehr, je weiter sich die Theorie entwickelt. Obwohl wir sie erst auf einer ziemlich primitiven Stufe verstehen, hat sie sich bereits jetzt als eine ästhetisch sehr ansprechende Theorie erwiesen, und wir werden sie wahrscheinlich noch viel schöner finden, wenn unser Verständnis sich noch weiter vertieft hat. 243
Ich unterhalte mich mit Ihnen in Princeton, der einstigen Arbeitsstätte von Albert Einstein. Was, glauben Sie, würde er von der StringTheorie halten, wenn er heute lebte? Ja, man fragt sich immer, was Einstein über alle möglichen Dinge denken würde. Auch ich habe mir solche Fragen viele Male gestellt. Natürlich müßte man ihm erläutern, daß es sich bei der String-Theorie um eine quantenmechanische Theorie handelt und ihm etwas über die Supersymmetrie erzählen, die ja im Grunde eine erstaunliche Erweiterung seines Konzeptes von Raum und Zeit darstellt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihm die Supersymmetrie nicht gefallen würde, zumal man dafür keinerlei Quantenmechanik benötigt. In vieler Hinsicht ist diese Erweiterung der Raum-Zeit-Symmetrien sogar die teilweise Realisierung einer Einsteinschen Idee. Einstein hatte zwei Ziele. Eins davon war vermutlich verfehlt, nämlich die Quantenmechanik dynamisch aus einer hochgradig eingeschränkten klassischen Theorie zu entwickeln, wobei sich die Quantisierungsbedingungen aus der starken Einschränkung bestimmter Gleichungen ergeben sollten. An diese Möglichkeit glaubt heute niemand mehr. Wir sind davon überzeugt, daß die Quantenmechanik richtig ist und auch weiter so bestehen bleiben wird. Einstein glaubte aber auch daran, daß die Dynamik durch die Geometrie bestimmt wird. Das geht auch aus einer Bemerkung hervor, die er über seine berühmten Feldgleichungen machte. Die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie sind so beschaffen, daß auf der linken Seite die Krümmung der Raumzeit 244
steht, während die rechte Seite Energie und Impuls der Materie als Quellen der Krümmung von Raum und Zeit enthält. Wie Einstein zu sagen pflegte, liebte er die linke Seite der Gleichungen – sie war schön, weil sie in Gestalt der Raumkrümmung reine Geometrie enthielt. Die rechte Seite dagegen war ihm zuwider, weil dort die Materie auf eine willkürliche Art und Weise beschrieben werden mußte. In seinen letzten Lebensjahren verwandte er große Anstrengungen auf den Versuch, die rechte Seite in die gleiche Form wie die linke zu bringen und auch die Materie als geometrische Struktur darzustellen, und das ist in gewisser Hinsicht genau das, was die String-Theorie tut. Man kann sie jedenfalls so interpretieren, denn speziell die heterotische String-Theorie ist eine Theorie der Gravitation, in der sowohl die Materieteilchen als auch die Naturkräfte in der gleichen Weise wie die Gravitation auf reine Geometrie zurückgeführt werden. Darüber hätte sich Einstein sehr gefreut – zumindest über die Zielsetzung, wenn nicht auch über die Realisierung dieses Vorhabens. Und auch die Vorstellung eines einzigen, der ganzen Physik zugrundeliegenden Prinzips hätte ihm vermutlich sehr gefallen. Es hätte ihm gefallen, daß das zugrundeliegende Prinzip geometrischer Natur ist – auch wenn wir dieses Prinzip zur Zeit leider noch nicht richtig verstehen.
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2.5 John Ellis John Ellis ist theoretischer Physiker am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in der Nähe von Genf. Er lieferte herausragende Beiträge bei der Formulierung supersymmetrischer und Eichfeld-Theorien, die zur einheitlichen Beschreibung der Naturkräfte entwickelt wurden. Besonders bekannt wurde er durch seine Versuche, neue Ideen aus der Teilchenphysik mit kosmologischen Beobachtungen in Verbindung zu bringen, wobei in jüngster Zeit auch Superstrings eine Rolle spielen.
Könnten Sie uns zu Beginn eine kurze Zusammenfassung Ihrer Vorstellungen über die Ziele des Superstring-Programms geben? Ich glaube, daß die Superstring-Theorie der erste ernsthafte Kandidat für eine einheitliche Theorie aller fundamentalen Wechselwirkungen in der Natur ist, beginnend mit der Gravitation, die die Planeten auf ihren Bahnen um die Sonne hält, über den Elektromagnetismus, der die Elektronen um die Atomkerne kreisen läßt, und die starke Wechselwirkung oder Kernkraft, die für den Zusammenhalt von Kernen sorgt, bis zur schwachen Wechselwirkung, die für viele Arten des radioaktiven Zerfalls verantwortlich ist. Bis jetzt ist nur eine partielle Vereinigung dieser Wechselwirkungen gelungen, es gab jedoch bisher keine solide Theorie, die dem Anspruch genügt hätte, alle in einem einzigen mathematischen Schema zu vereinen. 246
Was ist das Wesentliche an der Theorie? Nach der Superstring-Theorie sind alle Teilchen, die wir zuvor für elementar gehalten haben – das heißt für kleine Punkte ohne innere Struktur –, in Wirklichkeit keine Punkte, sondern kleine schleifenförmige Gebilde – »Strings«, die sich oszillierend durch den Raum bewegen. Wie haben wir uns diese Strings genauer vorzustellen? Nach der alten Vorstellung wäre ein Elementarteilchen nichts anderes als ein Punkt. Wenn sich dieser Punkt durch den Raum bewegt, können wir seine Bahn durch eine Linie charakterisieren, eine sogenannte »Weltlinie«. In der Superstring-Theorie ist das Teilchen in jedem Zeitpunkt eine kleine Schlinge, so etwas Ähnliches wie ein Lasso. Mit dem Fortschreiten der Zeit bewegt sich dieses »Lasso« durch den Raum und erzeugt dabei eine Art Röhre, die man als »Weltfläche« bezeichnet. Diese Weltfläche entspricht nach der String-Theorie der Bahn eines Teilchens. Wir müssen uns also ein Teilchen als ein Objekt mit räumlicher Ausdehnung vorstellen, das auch innere Bewegungsmöglichkeiten besitzt. Richtig. Betrachten wir beispielsweise ein Atom, so wissen wir, daß es aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt ist: Aus Elektronen, die um einen Atomkern 247
kreisen, der wiederum aus Protonen und Neutronen besteht. Protonen und Neutronen ihrerseits bestehen aus Teilchen, die man »Quarks« nennt. Nach der Superstring-Theorie handelt es sich auch bei den Quarks um ausgedehnte Objekte, die jedoch nicht aus irgendwelchen noch fundamentaleren Bestandteilen zusammengesetzt sind, das heißt, es gibt keine kleinen »Subquarks« innerhalb dieser Teilchen. Quarks sind also kleine Schleifen, besitzen aber dennoch keine innere Struktur. Wahrscheinlich haben diese Gebilde eine typische Größe von ungefähr 10-33 cm, das ist etwa ein Tausendstel eines Milliardstels eines Milliardstels des Durchmessers eines Atomkerns. Wenn alle Teilchen aus diesen kleinen Schleifen bestehen, wie kommen dann die Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilchenarten zustande? Wieso gibt es so viele Erscheinungsformen dieses angeblich fundamentalen Objekts? Um dies zu verstehen, können wir eine klassische Saite zum Vergleich heranziehen, wie wir sie zum Beispiel als Violinsaite kennen und schätzen. Wie Sie wissen, kann eine solche Saite mit verschiedenen Frequenzen schwingen, je nachdem wie man sie streicht oder zupft: Sie besitzt verschiedene »Oberschwingungen«. Ganz ähnlich ist es bei einem Superstring. Nach unserer Vorstellung entsprechen die verschiedenen Elementarteilchen verschiedenen Schwingungsmöglichkeiten der Stringsaite, ähnlich verschiedenen Noten, die man auf einer Violinsaite spielen kann. Prinzipiell gibt es für einen Superstring 248
eine unendlich große Zahl unterschiedlicher Schwingungsmöglichkeiten. Die Elementarteilchen, die wir heute tatsächlich beobachten und aus denen wir selbst bestehen, entsprechen der niedrigsten Schwingung, ähnlich der tiefsten Note, die man mit einer bestimmten Saite erzeugen kann. Demnach wäre beispielsweise der Unterschied zwischen einem »upQuark« und einem »down-Quark« im wesentlichen nur auf verschiedene Bewegungsmuster dieser kleinen Schleife zurückzuführen? Das stimmt. Zusätzlich zu ihren räumlichen Schwingungsmöglichkeiten, in denen sie einer traditionellen Violinsaite ähneln, haben diese Superstrings aber noch andere innere Freiheitsgrade, die sich nicht so einfach als räumliche Schwingungen veranschaulichen lassen; und der Unterschied zwischen einem »up-Quark« und einem »down-Quark« resultiert vermutlich aus der Kombination dieser inneren Eigenschaften mit räumlichen Schwingungen. Angenommen wir hätten genügend leistungsstarke Instrumente: Könnten wir diese kleinen Schleifen dann direkt beobachten und sie auf diese Weise von hypothetischen zu realen Objekten machen? Im Prinzip ja, aber in der Praxis dürfte das meiner Überzeugung nach sehr, sehr schwierig sein. Um diese Schleifenstruktur im Inneren der Teilchen sehen zu können, müßte man Experimente bei einer Energie von 1019 GeV durchführen, die ungefähr zehn Millionen Milliarden 249
mal höher wäre als die Energie, die wir bis heute in unseren Teilchenbeschleunigern erzielt haben. Ich fürchte, daß der Bau eines Beschleunigers für einen solchen Zweck unvorstellbar teuer wäre und eine Technologie erfordern würde, über die wir ohnehin nicht verfügen. Sicherlich haben Sie recht, aber wenn wir diese Energien erzeugen könnten – wäre es dann zum Beispiel möglich, durch diese Schleifen hindurchzuschlüpfen, sie aufzubiegen und auf diese Weise geschlossene Strings in offene zu verwandeln? Ich vermute, daß das nicht möglich ist, aber das ist Ansichtssache. Manche Leute glauben, daß Strings tatsächlich »aufgebogen« werden können, und daß es sowohl offene als auch geschlossene Strings gibt. Ich persönlich neige mehr zu der Theorie, nach der es lediglich geschlossene Strings gibt. Es wäre aber durchaus möglich, daß sich ein String bei unvorstellbar hohen Temperaturen öffnet und auflöst. Über Spekulationen dieser Art läßt sich jedoch im Augenblick noch kein Urteil fällen. Wie steht es mit geladenen Teilchen? Haben wir uns vorzustellen, daß diese kleinen Schleifen eine elektrische Ladung tragen, die gleichmäßig über sie verteilt ist? Das führt uns wieder zu einem Punkt, den ich bereits vorhin klarzumachen versuchte. Wir sollten uns ein geladenes Elementarteilchen wie ein Elektron nicht so vorstellen, als ob es aus weiteren elementaren Bestandteilen zusammengesetzt sei, deren jeweilige Teilladungen sich 250
zu der Gesamtladung des Elektrons zusammensetzen. Was wir als elektrische Ladung bezeichnen, wäre vielmehr eine Gesamteigenschaft des Strings als Ganzem. Unterschiedliche Oszillationen eines Strings würden sich in unterschiedlichen elektrischen Ladungen bemerkbar machen. Mit anderen Worten: Die elektrische Ladung entspricht eher einer Bewegungsmöglichkeit des Strings als einer Eigenschaft, die einem Teilchen oder Objekt irgendwie hinzugefügt wird. Ja, ich glaube, das ist eine richtige Vorstellung. Wenn man gefragt wird, was die elektrische Ladung eigentlich ist, kann man ja gewöhnlich nichts anderes darauf antworten, als daß es sich dabei eben um eine fundamentale Eigenschaft handelt, aber nach Ihren Worten scheint es möglich zu sein, die elektrische Ladung mit bestimmten dynamischen Eigenschaften in Verbindung zu bringen. Wir sollten uns daran erinnern, was der Begriff der elektrischen Ladung eigentlich beinhaltet. Er ist mit der Vorstellung des elektromagnetischen Feldes verbunden, das beispielsweise für das Kreisen der Elektronen um den Atomkern oder die Ausbreitung von Radiowellen verantwortlich ist. Das elektromagnetische Feld seinerseits ist an die Existenz von Teilchen geknüpft, die man Photonen nennt, und diese Photonen wiederum entsprechen einer bestimmten Schwingungsmode eines Strings, so wie das Elektron einem anderen entspricht. Dabei ist die eine Teilchenart nicht mehr und nicht weniger elemen251
tar als die andere. Das, was wir als elektrische Ladung bezeichnen, entsteht also letzten Endes durch die Kopplung von Strings mit etwas unterschiedlichen Schwingungsmoden. Ein ungewöhnliches Charakteristikum der String-Theorie besteht darin, daß diese kleinen Schleifen nicht die drei Dimensionen des gewöhnlichen Raumes, sondern eine zehndimensionale Raumzeit bevölkern. Warum ist das so? Wie sich herausgestellt hat, bleibt die String-Theorie – sofern man für die Strings keine zusätzlichen inneren Freiheitsgrade einführt – unter Berücksichtigung quantenmechanischer Korrekturen nur dann konsistent, wenn man sie in einer bestimmten Zahl von Dimensionen formuliert. Enthält die Theorie nur Bosonen, das heißt Teilchen mit einem ganzzahligen Spin wie das Photon, so erweist sich diese kritische Dimensionszahl als 26. Ich kann Ihnen leider keine einfache Erklärung dafür anbieten, es ergibt sich eben so aus der Mathematik. Wenn wir die Theorie nun dadurch etwas komplizieren, daß wir auch Fermionen – Teilchen mit halbzahligem Spin wie das Elektron – in ihr berücksichtigen, ergibt sich die kritische Dimensionszahl zehn. Das ist natürlich immer noch eine ganze Menge mehr als die drei Raumdimensionen plus der einen Zeitdimension, in denen wir zu leben scheinen. Wenn die Theorie jedoch richtig sein sollte und es wirklich zehn Dimensionen gibt, wie kann man diese Aussage damit in Einklang brin252
gen, daß wir tatsächlich nur drei räumliche Dimensionen und eine zeitliche Dimension wahrnehmen? Eine Möglichkeit besteht darin zu versuchen, sich die überzähligen 6 oder 22 Raumzeitdimensionen vom Hals zu schaffen, indem man sie »zusammenfaltet« – ungefähr so, wie man ein Stück Papier zusammenknüllt. Wenn man sich vorstellt, daß ein normales Raumgebiet einem flachen Blatt Papier entspricht und man dieses Blatt zu einer kleinen Röhre zusammenrollt – etwa so, wie man eine Zeitung zusammenrollt, damit sie ein Hund im Maul tragen kann – würde das bedeuten, daß man die ursprünglich zweidimensionale Papierfläche gewissermaßen zu einer Dimension zusammengepreßt hat, die der Längenausdehnung der Papierröhre entspricht. Etwas Ähnliches könnte man sich für alle zusätzlichen Dimensionen der Raumzeit vorstellen. Die überzähligen 6 oder 22 Dimensionen werden »eingerollt«, so daß vier Dimensionen übrigbleiben, so wie durch das Einrollen der Zeitung nur die eine Dimension in der Längsrichtung der Röhre übrigbleibt. Gibt es dafür nicht viele verschiedene Möglichkeiten? Natürlich. Als man damit begann, die Theorie auf diese Weise zu behandeln, führte man bestimmte Bedingungen ein, die man für die widerspruchsfreie »Einrollung« der Dimensionen für erforderlich hielt. Obwohl es sich dabei um stark einschränkende Bedingungen handelt, scheint es immer noch etwa zehntausend verschiedene 253
Möglichkeiten für das Einrollen zu geben. Zur Zeit arbeiten einige Physiker bis zur Erschöpfung an der Überprüfung aller dieser zehntausend Möglichkeiten, um festzustellen, ob eine davon der realen Welt ähnlich sieht. Heißt das, alle diese Möglichkeiten führen zu einer unterschiedlichen Physik in dem Energiebereich, den wir beobachten können? Ja. So könnte es zum Beispiel sein, daß eine davon zwei Photonen statt einem ergibt, eine weitere vielleicht sogar drei. Andere könnten anstelle von drei Elektronen, wie wir sie aus der realen Welt kennen – wenn ich von drei Elektronen spreche, schließe ich das Myon mit ein, das dem Elektron bis auf seine etwas größere Masse sehr ähnlich ist, und das Tauon, das dem Elektron gleichfalls sehr ähnelt und noch etwas massereicher ist –, ein viertes Elektron liefern, dessen Masse noch größer als die des Tauons ist. Aus verschiedenen Gründen wäre so etwas in der realen Welt sehr unwahrscheinlich, deswegen versucht man Theorien zu finden, die nur drei elektronenähnliche Teilchen und nur ein Photon ergeben. Die Anzahl und die Natur der Teilchen und Kräfte hängen also offenbar mit der Art und Weise zusammen, in der diese höheren Dimensionen zusammengerollt sind, das heißt mit den verschiedenen möglichen Topologien? Ja. Es besteht in der Tat ein Zusammenhang zwischen der Anzahl der elektronenähnlichen Teilchen und der Zahl der Löcher, die sich bei dem Zusammenrollen der 254
zusätzlichen Dimensionen ergeben. Eine eingerollte Zeitung beispielsweise hat ein Loch, das in Längsrichtung durch die Mitte der durch das Einrollen entstandenen Röhre verläuft. Man kann sich aber auch vorstellen – zumindest als abstrakte Möglichkeit –, daß man die Zeitung so einrollen könnte, daß dabei mehr als ein Loch entsteht. Nach der mathematischen Struktur dieser Theorien würde die Anzahl der Löcher die Zahl der elektronenähnlichen Teilchen festlegen. Es sieht also so aus, als würden unsere traditionellen Vorstellungen von den Dingen immer mehr durch topologische Modelle ersetzt, welche die Welt aus der Form oder dem Zusammenhang höherdimensionaler Räume erklären. Das stimmt. Wie ich vorhin bereits sagte, betrachtet man in der String-Theorie ein Elementarteilchen nicht als ein Objekt, das aus noch kleineren Objekten besteht. Früher stellten sich viele Leute vor, man könnte die verschiedenen Elektronenarten durch unterschiedliche Kombinationen von solchen kleineren Bestandteilen erzeugen. So funktioniert die Sache in der Superstring-Theorie aber nicht. Wie bereits erwähnt, entsprechen diese verschiedenen Elektronenarten vielmehr den verschiedenen Löchern, die man in unserem Beispiel beim Einrollen unserer imaginären Zeitung erhält. Was die verschiedenen Topologien angeht, haben Sie angedeutet, daß es im Augenblick vollkommen unklar ist, welche davon der realen Welt entsprechen könnte und daß es dafür sehr, sehr viele Kon255
kurrenten gibt. Es scheint sich dabei tatsächlich um eine Schwäche der Theorie zu handeln, denn offensichtlich ist es nicht möglich, eine einzige richtige Lösung auszuwählen. Ist das nur eine Frage mangelnden Wissens? Mit anderen Worten: Könnten wir bei der weiteren Erforschung der Theorie entdecken, daß es nur eine einzige Topologie gibt, welche die reale Welt beschreibt, oder wird es immer bei dieser Mehrdeutigkeit bleiben? Ich glaube nicht, daß es jetzt schon eine Antwort auf diese Frage gibt. Es ist möglich, daß wir, wenn wir die Theorie besser verstanden haben, herausfinden werden, daß es nur eine einzige widerspruchsfreie Methode gibt, »die Zeitung einzurollen« und daß diese das Universum beschreibt, wie es ist. Es ist aber auch denkbar, daß es tatsächlich viele verschiedene widerspruchsfreie Möglichkeiten des Einrollens gibt und daß verschiedene Bereiche des Universums sich für unterschiedliche Möglichkeiten entschieden haben. Das könnte zum Beispiel bedeuten, daß es irgendwo draußen im Weltraum Gebiete mit zwei Photonenarten oder vier Elektronenarten gibt. Im Augenblick können wir zwischen diesen beiden Alternativen keine Entscheidung treffen. Vielleicht ist der Grund dafür, warum es gerade die Teilchen sind, die wir tatsächlich beobachten, daß wir nicht hier wären – das heißt, daß sich kein Leben entwickelt hätte –, wenn das Universum nicht mehr oder weniger so wäre, wie es ist. Ich könnte mir vorstellen, daß es auch bei einer anderen Anzahl von Teilchen des Elektronen- oder des Pho256
tonentyps immer noch möglich wäre, so etwas wie ein Universum aufzubauen. Es würde zwar nicht genau wie unser eigenes Universum aussehen; vielleicht hätten auch die Physiker, die darin herumsäßen und über seine Struktur diskutierten, ein etwas anderes Aussehen als wir – ich glaube aber, daß Physiker in vielen dieser Welten existieren könnten. Läßt sich die Sache mit dem Einrollen der höheren Dimensionen dynamisch interpretieren, etwa in dem Sinne, daß irgendwelche Kräfte dafür verantwortlich sind, oder handelt es sich dabei lediglich um eine abstrakte mathematische Operation? Nun, in einem gewissen Sinne gibt es in der Tat solche Kräfte. Ein String selbst beispielsweise besitzt eine Spannung. Denken wir an unseren Vergleich mit der Violinsaite: Man kann die Tonhöhe einer solchen Saite variieren, indem man ihre Spannung verändert. Ganz ähnlich wie eine Violinsaite hat auch ein Superstring eine bestimmte innere Spannung, die in diesem Fall zwar durch die Struktur der zugrundeliegenden Theorie bestimmt wird, aber sonst ganz ähnliche Eigenschaften hat und eine Art innerer Kraft des Strings selbst darstellt. Und trägt diese Kraft irgendwie zum Einrollen der zusätzlichen Dimensionen bei? Die String-Spannung spielt eine wichtige Rolle. In unserem Beispiel mit der eingerollten Zeitung existieren offensichtlich bestimmte Begrenzungen für die verschie257
denen topologischen Konfigurationen, die durch das Einrollen entstehen. Es gibt zum Beispiel Kräfte, welche die Zeitung daran hindern, sich von selbst wieder vollständig aufzurollen. Im Falle der String-Theorie wissen wir nichts über diese Begrenzungen. Auch wissen wir weder aus theoretischen Gründen noch a priori, wie groß der Radius der »Zeitungsröhre« sein könnte. Es könnten, wie bereits erwähnt, 10-33cm sein, aber auch 10-34 oder 10-32. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge haben wir keine Möglichkeit, die absolute Größe der »eingerollten Zeitung« zu bestimmen; ich hoffe jedoch, wir finden bald eine Berechnungsmethode dafür. Vielleicht hat die Sache etwas mit Effekten höherer Ordnung in der Theorie zu tun, zum Beispiel mit bestimmten Quantenkorrekturen wie dem Casimir-Effekt, der eine Kraft zwischen elektrisch leitenden Platten erzeugt. Möglicherweise gibt es etwas Ähnliches für Superstrings, es konnte jedoch bis jetzt nicht gezeigt werden. Es sieht also so aus, als ob es sich bei der Dynamik der spontanen »Kompaktifizierung« – des Einrollens der höheren Dimensionen – um eine Sache handelt, die man überhaupt noch nicht versteht. Das ist vollkommen richtig. Vielleicht wird die ganze Idee der Kompaktifizierung aber auch schon morgen vollständig verworfen. Einige Physiker spielen bereits mit der Idee, die String-Theorie nicht in 26 oder 10, sondern direkt in vier Dimensionen zu formulieren und so überhaupt keine Rücksicht auf die mögliche Existenz zusätzlicher kompaktifizierter Dimensionen mehr nehmen zu müssen. 258
Wie wäre so etwas möglich? Etwas vereinfacht gesagt: Man tauscht die etwas altmodischen raumzeitlichen Freiheitsgrade in Gestalt der überzähligen Dimensionen gegen Koordinaten eines »inneren Raumes« aus – ähnlich dem Raum der elektrischen Ladung, über den wir vorhin einmal sprachen. Man hat herausgefunden, daß die 26 Dimensionen der alten bosonischen String-Theorie und die 10 Dimensionen für die Theorie der Fermionen nicht erforderlich sind. Man kann Theorien in weniger als 26 oder 10 Dimensionen formulieren, wenn man einige dieser Raumzeitdimensionen in mathematisch korrekter Weise austauscht – eine Operation, die allerdings ziemlich schwierig zu beschreiben ist. Das kommt mir aber doch wie ein Rückschritt vor. Was diesen jüngsten Versuch zu einer Vereinheitlichung der Naturkräfte unter anderem so attraktiv erscheinen ließ, war ja die Möglichkeit, vormals abstrakte innere Symmetrien und Kräfte durch konkrete geometrische Strukturen in Gestalt zusätzlicher Dimensionen zu ersetzen. Bedeutet es nicht einen Schritt zurück, sie wieder abzuschaffen? Vielleicht ist es etwas gefühlsbetont, in diesem Zusammenhang von Rückschritt zu sprechen. Ich glaube, daß wir der Mathematik und Physik einfach dahin folgen müssen, wohin sie uns führen, und daß darin schon definitionsgemäß eher ein Fortschritt als ein Rückschritt liegt. Es kann jedoch sehr gut sein, daß alle diese StringTheorien in niedrigeren Dimensionen in Wirklichkeit 259
nur verschiedene Betrachtungsweisen der ursprünglichen 26- oder 10-dimensionalen Theorien sind, daß wir also über die gleiche Sache wie vorher reden und nur eine etwas andere Sprache benutzen. Bevor wir das Thema der höheren Dimensionen und ihrer Kompaktifizierung verlassen: Trifft es zu, daß diese kleinen Schleifen, von denen wir sprachen, sich um die »Röhren« – die eingerollte Zeitung – herumlegen können? Ja, und dabei können sehr komplizierte Konfigurationen entstehen. Um bei unserer Analogie der eingerollten Zeitung zu bleiben – man kann einen String einmal darumwickeln, aber auch zwei- oder dreimal oder noch öfter. Man könnte ihn dabei ja auch etwas verwinden. Ja, mit einem etwas komplizierten String-Typ wäre das möglich. Man kann sich durchaus alle möglichen Dinge dieser Art vorstellen. Wenn man beispielsweise eine Verdrehung haben möchte, sollte man sich den String nicht als Faden oder Saite, sondern eher als ein elastisches Band vorstellen, das sich verwinden läßt. Die Theorie läßt alle möglichen topologischen Konfigurationen zu, obwohl wir nicht behaupten können, wir würden sie bereits alle verstehen. Es scheint, als ob sich die theoretischen Physiker in Zweige der Mathematik vertiefen müßten, an denen sie früher nicht sehr interessiert waren, um mit der Superstring-Theorie klarzukommen. 260
In der Tat. Ich selbst unternehme ständig Streifzüge durch Buchläden, um mathematische Lehrbücher aufzutreiben und mir die ganzen mathematischen Konzepte wie Homologie und Homotopie und all das andere Zeug einzutrichtern, über das ich mir vorher niemals Gedanken gemacht habe. Vielleicht könnten wir nun zu den Möglichkeiten einer experimentellen Überprüfung der Theorie kommen. Ich denke, wir sind uns darüber einig, daß wir es mit einer sehr aufregenden und faszinierenden Idee zu tun haben, aber letztlich sollte die Wissenschaft natürlich auf Experimenten beruhen. Welche Experimente zum Test der Superstring-Theorie sind vorstellbar? Ich erwähnte vor einiger Zeit, daß eine von der Superstring-Theorie nahegelegte Möglichkeit in der Existenz zweier oder sogar dreier photonenähnlicher Teilchen besteht. Diese zusätzlichen Photonen dürften aber keine masselosen Teilchen sein wie die Photonen, die wir bei dieser Radiosendung benutzen; sie sollten vielmehr ähnliche Massen wie das W- oder das Z-Teilchen besitzen, die man vor einigen Jahren am CERN entdeckt hat. Es könnte auch sehr gut möglich sein, daß es ein zweites Zähnliches Teilchen gibt, für das die Superstring-Theorie bestimmte charakteristische Eigenschaften voraussagt. Am CERN wird zur Zeit nach möglichen Indizien für dieses zweite Z-Boson gefahndet. Und gibt es noch andere Arten von Teilchen, die von der Theorie vorhergesagt werden? 261
Zusätzlich zu den bekannten Teilchen vom Elektronentyp und den zugehörigen Neutrinos und Quarks, die ich bereits erwähnte, könnte es eine weitere Art von Materieteilchen geben, die sich in gewisser Hinsicht wie Quarks, in anderer aber teilweise auch wie Elektronen verhalten, die sogenannten »Leptoquarks«. Sie werden von der Superstring-Theorie vorausgesagt, und obwohl wir nicht sicher sind, daß sie tatsächlich existieren, erscheint die experimentelle Suche nach ihnen nicht gänzlich aussichtslos. Wie sind die Aussichten, daß wir in absehbarer Zukunft wirklich einen experimentellen Zugang zu der Theorie haben werden? Das ist sehr schwer zu sagen. Ich glaube, daß wir die Theorie noch nicht genügend gut verstehen, um beurteilen zu können, ob es sich bei diesen neuen Photonenarten oder Materieteilchen tatsächlich um ernstzunehmende Voraussagen handelt, und sogar wenn wir uns dessen sicher wären, würden wir nicht wissen, welche Masse sie besitzen und welche Energien wir für ihre Erzeugung in unseren Beschleunigern benötigen. Im Augenblick stochern wir noch im Nebel herum und versuchen herauszufinden, ob sich überhaupt etwas Greifbares in unserer Nähe befindet. Es kann gut sein, daß in Wirklichkeit überhaupt nichts da ist! Wenn Physiker mit Problemen dieser Art konfrontiert werden, pflegen sie sich zur Bestätigung ihrer Vorstellungen traditionellerweise in der Kosmologie umzusehen. Vermutlich wurden ja in den frü262
hesten Stadien des Universums während des sogenannten Urknalls enorme Energien freigesetzt, so daß man erwarten könnte, daß die damalige Superstring-Aktivität Spuren im Universum hinterlassen hat, die wir noch heute sehen können. Halten Sie das für möglich? Das ist natürlich möglich. Wir glauben, daß es im heutigen Universum sogenannte »dunkle Materie« gibt, nichtleuchtende Materie, die nicht mit Photonen wechselwirkt und daher mit Teleskopen nicht beobachtet werden kann. Trotzdem wissen wir, daß sie da sein muß, und zwar aus der groben Abschätzung der Gravitationskräfte, die die verschiedenen Teilchen im Universum aufeinander ausüben. Danach muß es draußen im Weltall eine bestimmte Art von verborgener, dunkler Materie geben, die neben der sichtbaren Materie zum Gesamtbetrag der Gravitationsanziehung beiträgt. Worum es sich bei der dunklen Materie handelt, wissen wir nicht; eine Möglichkeit wäre aber natürlich die, daß dort draußen einige überlebende Partikel aus den frühen Phasen des Urknalls umhertreiben. Nach der Superstring-Theorie wäre es möglich, daß eine der verschiedenen String-Oszillationen – eine bestimmte Oberschwingung, wenn Sie so wollen – ein stabiles Teilchen darstellt, das vom Urknall übriggeblieben sein könnte. Wenn die Superstring-Theorie korrekt sein sollte: Erwarten Sie dann, daß das Universum sich während seiner frühen Stadien anders als nach dem konventionellen Modell entwickelt haben könnte, daß seine Dynamik durch die Anwesenheit von Superstrings modifiziert worden wäre? 263
Ich glaube, daß das bestimmt der Fall ist. Stellen wir uns vor, daß wir uns weiter und weiter dem Beginn des Universums nähern. Alle bekannten leichten Elemente wie Helium und Deuterium und Tritium wurden zum Beispiel erzeugt, als das Universum etwa hundert Sekunden alt war. Vermutlich waren in diesem Stadium die bekannten Gesetze der Physik vollständig ausreichend zur Beschreibung dessen, was vor sich ging. Geht man aber noch weiter zurück, kann es sehr gut sein, daß die Superstring-Theorie Aussagen über die Entwicklung des Universums macht, die von dem Standardmodell abweichen. Ich glaube, wir kennen die Theorie noch nicht gut genug, um genau sagen zu können, worin diese Modifikation bestehen könnte. Eine Möglichkeit allerdings muß man sicher berücksichtigen, wenn man genügend weit in der Geschichte des Universums zurückgeht: Statt wie heute drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension zu besitzen, könnte das Universum multidimensional gewesen sein. Vielleicht war seine Dimensionalität damals auf 10 oder 26 angewachsen.
Mit anderen Worten: Das Einrollen, von dem wir sprachen, fand erst eine kleine Weile nach der Entstehung des Universums statt? Richtig. Es kann sehr gut sein, daß das Universum sehr kurze Zeit nach seinem Ursprung 26 oder 10 Dimensionen besaß und sich erst im Laufe seiner weiteren Entwicklung – aus Gründen, die wir noch nicht ganz verste264
hen – spontan dazu entschloß, einige davon einzurollen und mit vier Dimensionen des Typs weiterzumachen, den wir heute beobachten. Nun zu einer mehr philosophischen Frage. Wenn wir uns die Geschichte des Superstring-Programms ansehen, sieht es beinahe so aus, als ob die Physiker durch Zufall in diese Theorie hineingestolpert wären. So sind wir heute im Besitz einer mathematischen Methode, die zwar ziemlich abstrakt ist, aber in der Lage zu sein scheint, alle Teilchen und Kräfte der Natur zu beschreiben, und es drängt sich die Frage auf, warum dies so ist. Liegt dem Ganzen ein tiefes Prinzip zugrunde oder ist es eher eine Art Zufall, daß wir eine Formel entdeckt haben, welche die Geheimnisse der Natur enthüllt? Nun, ich glaube, es ist richtig, daß die Entdeckung der String-Theorie vor 15 oder 16 Jahren mehr oder weniger einem Zufall zu verdanken ist. Damals glaubte noch niemand daran, daß es sich dabei um eine Allumfassende Theorie handeln könnte, man hielt die Theorie für eine mögliche Alternative zur Quark-Theorie bei der Beschreibung der Kernwechselwirkungen und Kernkräfte. Dann entdeckten wir jedoch, daß die String-Theorie keine so gute Beschreibung der Kernkräfte darstellte. Statt dessen erwies sich eine Darstellung mit Hilfe von Eichtheorien als geeignet, bei denen die fundamentalen Wechselwirkungen wie der Elektromagnetismus sowie die starke und die schwache Kraft durch Spin-1-Teilchen ähnlich dem Photon übertragen werden. Wenn in den letzten 15 Jahren über theoretische Physik diskutiert wurde, dann in der Sprache der Eichtheorien. 265
Was nun die String-Theorie betrifft, so glauben wir, daß es sich dabei um eine Art Super-Super-Eichtheorie mit einer enormen Anzahl von Symmetrien handelt, die wir gerade erst zu verstehen beginnen. Vermutlich enthält sie die Art von Eichtheorie, an der wir die letzten 15 Jahre herumgebastelt haben, darüber hinaus aber wahrscheinlich noch eine enorme Anzahl anderer spezieller Symmetrien, darunter auch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Heutzutage betrachten wir die String-Theorie als einen Kandidaten für die Vereinigung der Gravitation – das heißt Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie – mit derjenigen Art von Eichtheorie, die wir in den letzten 15 Jahren für die starke, schwache und elektromagnetische Wechselwirkung entwickelt haben.
Das wirft eine Frage auf, die ich ohnehin stellen wollte. Ich glaube, daß es viele Nichtspezialisten etwas verwirrend finden könnten, daß eine Theorie, die sich mit den fundamentalen Teilchen der subatomaren Materie und den zwischen ihnen wirkenden Kräften beschäftigt, auch die Gravitation in einer derart grundlegenden Weise mit einschließen soll. Gibt es eine einfache Begründung dafür, warum die Gravitation für die Teilchenphysik so wichtig ist? Warum muß sie überhaupt dabei sein? Nun, wir wissen, daß Elementarteilchen Gravitationskräften unterliegen, die sogar im Laboratorium gemessen worden sind. Man kann ein Elementarteilchen abbremsen, bis es sich sehr, sehr langsam bewegt, und stellt dann fest, daß seine Bahn unter dem Einfluß der Erdan266
ziehung gekrümmt wird. Auch Elementarteilchen unterliegen also der Gravitationskraft, und wenn wir ernsthaft vorgeben, im Besitz einer Allumfassenden Theorie zu sein, müssen wir auch die Gravitation in unsere Beschreibung der fundamentalen Wechselwirkungen mit aufnehmen. Es gibt aber noch einen weiteren, tiefer liegenden Grund. Seit den Tagen Einsteins und der »Quantenrevolution« gab es für die Grundlagenphysik ein großes und niemals gelöstes Rätsel: Die Vereinigung der Gravitation mit der Quantentheorie. Viele bekannte Physiker haben sich vergeblich um seine Lösung bemüht, aber keinem ist es gelungen, eine korrekte Quantentheorie der Gravitation aufzustellen. Nun sieht es so aus, als könnte die Superstring-Theorie das schaffen und damit zu einer echten AUT werden. Zumindest für einige der String-Theorien scheinen sich alle Korrekturen höherer Ordnung als endlich herauszustellen, was für eine Quantentheorie sehr ungewöhnlich ist. Bei allen vorangegangenen Versuchen, eine Quantentheorie der Gravitation aufzustellen, führten die Berechnungen in unkontrollierbarer Art und Weise immer wieder auf unendlich hohe Werte. Nun aber scheinen wir – unberufen! – eine Theorie zu besitzen, die sich in dieser Beziehung anständig verhält. Darin liegt einer der Hauptgründe, weswegen die Leute von der Theorie so begeistert sind: Sie könnte zwei der größten Revolutionen in der Physik des 20. Jahrhunderts – die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins – miteinander in Einklang bringen. 267
Das ist nicht der erste Versuch der Schaffung einer vollkommen einheitlichen Theorie der Natur, einer »AUT«. Wird es der letzte sein? Wer weiß! Leider verfüge ich über keine hellseherischen Fähigkeiten. Nehmen wir einmal an, die Theorie funktioniert nicht. Glauben Sie, daß damit die letzte Chance für die Konstruktion eines Modells vertan ist, das die Natur mit Hilfe mathematischer Strukturen erfaßt? Natürlich glaube ich nicht, daß es die letzte Chance ist. In der Teilchenphysik können wir Experimente bis zu Energien in der Größenordnung von 100 GeV durchführen, was ungefähr dem Hundertfachen des Massenäquivalents eines Protons entspricht. Die natürliche Energieskala der Gravitation ist die sogenannte »Planck-Energie«, die mit 1019 GeV um viele, viele Zehnerpotenzen höher als die Energien liegt, die wir heute im Laboratorium erzielen können. Zwischen diesen 100 GeV und 1019 GeV werden wir letztlich alle die Bausteine entdecken, die von einer AUT beschrieben werden. Die SuperstringTheorie in ihrer gegenwärtigen Form erhebt den kühnen Anspruch, ausgehend von der aus dem 100-GeV-Bereich bekannten Physik bereits den ganzen riesigen Bereich bis hin zu den 1019 GeV zu überbrücken. Das mag manchen Leuten verrückt erscheinen, und es ist auch gut möglich, daß sich dieser Versuch nicht auszahlt. Es kann durchaus sein, daß wir uns mühsam bis zu der Physik bei 1000 GeV und weiter bis 10000 GeV durcharbeiten und so unser Verständnis Schritt für Schritt erweitern müssen, 268
bis wir schließlich irgendwann in ferner Zukunft die Allumfassende Theorie besitzen. Aber auch dann, wenn sich die bis heute konstruierten String-Theorien nicht als die letzte Antwort erweisen sollten, hat sich die String-Theorie bereits als Begriffsrahmen für die Diskussion von Fragen der Grundlagenphysik, Elementarteilchenphysik und relativistischen Physik bewährt, und ich glaube nicht, daß die Gefahr besteht, daß wir die Theorie in ein paar Jahren vergessen haben werden. Auch wenn sie sich nicht als Allumfassende Theorie herausstellt oder wir in naher Zukunft nicht beweisen können, daß sie es ist, wird sie trotzdem Teil unseres grundlegenden physikalischen Vokabulars bleiben. Vielleicht sollten wir einen Moment von der Erörterung der Theorie selbst Abstand nehmen und sie in ihrem soziologischen Kontext betrachten. Wie Sie einmal geschrieben haben, hat das Superstring-Programm zu einer Art von »totalitärem Fanatismus« geführt. Auch ich habe den Eindruck, daß die Gemeinde der Physiker von dieser Theorie wie vorher von keiner anderen Theorie gefesselt wird und daß ihr Urteil darüber durch große Begeisterung und Euphorie geprägt ist. Versuchen wir aber trotzdem einmal eine objektive Einschätzung der Situation: Welche großen Probleme bleiben noch zu lösen? Wie wir vorhin feststellten, ist eines davon die Natur der Kompaktifizierung. Gibt es noch andere? Ich glaube, es geht auch um die Frage, inwieweit eine Kompaktifizierung überhaupt erforderlich ist oder ob die Theorie nicht von Anfang an in vier Dimensionen formuliert werden kann. Sollte es jedoch eine Kompakti269
fizierung geben, müssen wir offensichtlich herausfinden, wie sie vonstatten geht und was darüber entscheidet, daß eine bestimmte Art des »Einrollens der Zeitung« günstiger ist als irgendeine andere, so daß wir beispielsweise die Anzahl der Teilchen vom Elektronentyp und die Anzahl der Photonen berechnen können. Das wäre dann die zweite wichtige Frage. Natürlich gibt es noch viele andere sehr wichtige Fragen. So müssen wir zum Beispiel verstehen, warum all die verschiedenen Elementarteilchen gerade die Masse haben, die wir beobachten, warum einige davon um soviel leichter als die Planck-Energie von 1019 GeV sind und wieso es überhaupt von Null verschiedene Massen gibt. Wir glauben, daß die Ursache dafür in einem mysteriösen Objekt zu suchen ist, das man als »Higgs-Boson« bezeichnet; wir wissen aber auch, daß die Theorie durch irgend etwas ergänzt werden muß, wenn man dieses Teilchen angemessen beschreiben will. Manche Theoretiker glauben, daß es sich bei diesem zusätzlichen »Etwas« um die Supersymmetrie handelt. Das Präfix »Super« in dem Wort »Superstring« stammt ja auch aus dem Wort »Supersymmetrie«, denn die SuperstringTheorie ist eine String-Theorie, welche die Supersymmetrie mit einschließt. Die Supersymmetrie scheint eine notwendige Voraussetzung für die widerspruchsfreie Berechnung von Teilchenmassen zu sein. Wir sprachen bereits mehrfach über die vier fundamentalen Kräfte der Natur. Nun hat es in den letzten Jahren Spekulationen darüber gegeben, daß es mehr als vier Kräfte sein könnten; es war von einer 270
fünften Kraft die Rede. Wenn es eine solche fünfte Kraft geben sollte, könnte man sie dann irgendwie in die Theorie mit einbeziehen? Erstens muß ich sagen, daß ich kein großer Anhänger der fünften Kraft bin. Ich finde die Beweise dafür viel zu schwach, um sie übermäßig ernst zu nehmen. Es gibt aber einige Leute, die behaupten, daß man auch für die fünfte Kraft im Rahmen der Superstring-Theorie einen Platz finden könne. Ich bin auch in dieser Hinsicht etwas skeptisch. Ich möchte lieber abwarten, was aus der ganzen Sache wird. Die Aussicht auf eine Allumfassende Theorie erscheint wirklich als eine großartige Sache, und sicher wären wir alle hocherfreut, wenn wir eine Theorie besäßen, die diesen Namen zu Recht verdient, aber würde das nicht das Ende der Physik bedeuten? Könnten die Physiker dann nicht ihre Sachen packen und sich eine andere Beschäftigung suchen? Das glaube ich nicht. Tatsächlich beschäftigen sich ja die meisten Physiker nicht mit der Aufdeckung neuer Naturgesetze, vielmehr versuchen sie besser zu verstehen, wie die Natur die bereits bekannten Gesetze anwendet. Sie verwenden dabei bestimmte Gesetze und Modelle, die bereits vorher durch andere Physiker entwickelt worden sind. Ich denke, daß nur die Leute, die in der Elementarteilchenphysik und auf dem Gebiet der Gravitation arbeiten, wirklich an der Auffindung neuer Naturgesetze beteiligt sind. So glaube ich, daß dann, wenn wir tatsächlich eine AUT besäßen, nichts weiter passieren würde als 271
daß die Arbeit der Elementarteilchenphysiker und Relativitätstheoretiker der Arbeit der Physiker in den anderen Zweigen der Physik, wie beispielsweise der Festkörperphysik oder der Physik der kondensierten Materie, ähnlicher werden würde. Sie würde also das werden, was man »angewandte Physik« nennt. Na ja, einiges davon könnte man als angewandt bezeichnen, aber anderes würde man wohl – wie ich fürchte – als ziemlich »fehlangewandt« oder gar nicht angewandt betrachten. Kehren wir zu der Frage einer experimentellen Bestätigung der Theorie zurück. Große Beschleuniger sind teuer, und wir können für die Zukunft nicht mehr viel neue erwarten, zumindest keine, die wesentlich größer sind als die, die wir heute haben. Die Pläne für eine Überprüfung der Superstring-Theorie – oder irgendeiner anderen Allumfassenden Theorie, die noch in Erwägung gezogen werden könnte – müssen sich also an den Entwürfen für Beschleunigeranlagen ausrichten, deren Bau für die absehbare Zukunft geplant ist. Sie arbeiten am CERN-Laboratorium nahe Genf, wo zur Zeit ein Prestige-Objekt in Gestalt des sogenannten LEP-Beschleunigers (»Large Electron-Positron Collider«) entsteht. Besteht die Chance, daß der LEP in der Lage sein könnte, einige der von uns erörterten Ideen zu testen? Könnte er in die Energiebereiche vorstoßen, in denen man die String-Theorie überprüfen könnte? Nun, es besteht eine sehr geringe Chance, daß der LEP ein zweites Z-Teilchen erzeugen könnte, obwohl es eher 272
unwahrscheinlich ist. Vermutlich werden wir uns mit indirekten Beweisen für Superstring-Teilchen zufriedengeben müssen, wenn wir sie überhaupt finden. Eine große Zahl unterschiedlicher detailliert geplanter Experimente dient dem Ziel, die Eigenschaften des ersten Z-Teilchens sehr sorgfältig und in allen Einzelheiten zu untersuchen. Die Ergebnisse könnten uns helfen, herauszufinden, ob sich irgendwo ein weiteres Teilchen dieser Art herumtreibt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, mit Hilfe des LEP die Gesamtzahl der Arten elementarer Partikel in unserem Universum zu ermitteln, was uns nach der String-Theorie erlauben würde, die Topologie des kompaktifizierenden Raumes zu bestimmen, das heißt gewissermaßen in Erfahrung zu bringen, wie die »Zeitung« eingerollt ist. Die dritte Möglichkeit wäre die, daß im LEP oder in einem anderen Beschleuniger spezielle Teilchenarten erzeugt werden könnten, die von manchen SuperstringTheorien vorausgesagt werden, zum Beispiel »Leptoquarks«, die sich so ähnlich wie eine Kombination zwischen einem konventionellen Quark und einem konventionellen Elektron verhalten. Wann können wir mit solchen Ergebnissen rechnen? Die Experimente mit dem LEP sollen 1989 beginnen.
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2.6 Abdus Salam Abdus Salam ist Direktor des Internationalen Zentrums für Theoretische Physik in Triest und Professor des Physik-Departments am Imperial College in London. Er hat zu vielen wichtigen Fortschritten in der Teilchenphysik und der Quantengravitation beigetragen. Für seine Arbeit an der Vereinigung der schwachen und der elektromagnetischen Wechselwirkung erhielt er den Nobelpreis. In den letzten Jahren hat er seine Aufmerksamkeit den Superstrings zugewandt.
Vor hundert Jahren glaubte man allgemein, daß sich die Physik ihrer Vollendung näherte: Daß die Newtonsche Mechanik, Maxwells Elektromagnetismus und andere Zweige der Physik die Natur tatsächlich vollständig beschrieben und man nur noch die letzten verbliebenen Lücken aufzufüllen hätte. Dann ging mit der »Neuen Physik« um die Jahrhundertwende alles in Stücke. Nun aber scheint es so, als ob sich, wenn auch erst in vagen Umrissen – erneut eine »Allumfassende Theorie« abzuzeichnen beginnt, eine Theorie, die die ganze Natur in einer einzigen einheitlichen Beschreibung erfaßt. Ist das nur eine Illusion oder nähern wir uns heute wirklich dem Kulminationspunkt in der Entwicklung der theoretischen Physik? Was halten Sie von diesen neuen Ideen? Was die Superstring-Theorie und ihre Bedeutung anbelangt, habe ich ein sehr gutes Gefühl. Allerdings glaube ich nicht, daß wir jemals im Besitz einer endgültigen Allumfassenden Theorie sein werden. Letzten Endes soll274
te man einer Theorie nur so weit Glauben schenken, wie man sie überprüfen kann. Die gegenwärtige AUT erhebt den Anspruch, alle Phänomene bis zur Planck-Energie erklären zu können, die bei etwa 1019 GeV liegt. Um die Theorie jedoch direkt bei der Planck-Energie testen zu können, würden wir Beschleuniger benötigen, die diese Energien erzeugen könnten. Nach allen Vorstellungen, die wir uns über den Bau zukünftiger Anlagen dieser Art machen können, müßte ein solcher Beschleuniger eine Länge von wenigstens 10 Lichtjahren besitzen! Daher wird der Test einer AUT für Energien über etwa 107 GeV niemals möglich sein. Wir können nur indirekte Tests vornehmen, mit denen sich aber nicht alle Phänomene erfassen lassen. Die Superstring-Theorie ist deswegen so aufregend, weil wir mit ihr endlich einen echten Ersatz für Feldtheorien mit punktförmigen Teilchen gefunden haben. Das Konzept punktförmiger Teilchen war für die unlösbaren Schwierigkeiten der Theorie der Quantengravitation in der Vergangenheit verantwortlich. Mit der Ersetzung dieses Konzeptes durch das String-Modell ist eine solche Theorie erstmals in greifbare Nähe gerückt. Dies ist bereits ein großer Triumph – unabhängig davon, ob es sich wirklich um eine AUT handelt oder nicht. Daß eine solche Theorie der Gravitation auch noch mit der Theorie der Quarks und der Eichteilchen – des Photons und der W- und Z-Teilchen – vereinigt werden kann, ist ein zusätzliches Geschenk. Aber auch wenn diese Vereinigung nicht möglich gewesen wäre, würde ich Strings als eine wichtige Entwicklung betrachten. 275
Welcher Hauptunterschied zwischen einem String und einem Teilchen ist es, der einen derart vielversprechenden Fortschritt möglich macht? Wir haben ein Punktteilchen durch ein Objekt von begrenzter Ausdehnung ersetzt – einen String von etwa 1033 cm. Damit enthält die String-Theorie eine fundamentale Länge von endlicher Größe – etwas, was Bohr sehr gefallen hätte. Das Unglaubliche daran ist, daß es sich dabei trotzdem um eine lokale Theorie handelt. Was heißt das? Das bedeutet, daß die Kausalität erhalten bleibt und sich raumartige Ereignisse gegenseitig nicht stören. Was die String-Theorie besonders attraktiv macht, ist die Eigentümlichkeit, daß die Wechselwirkungen zwischen den Strings in einem Punkt stattfinden, obwohl es sich um ausgedehnte Objekte handelt. Strings trennen und verbinden sich immer genau an einem Punkt ihrer gesamten Ausdehnung, und wenn sie sich gegenseitig berühren, tun sie dies ebenfalls nur in einem Punkt. Darin liegt das Geheimnis ihrer Lokalität. Strings sind also nicht nur Modelle für Materieteilchen, sondern auch Modelle für die Art der Wechselwirkung der Teilchen untereinander? Ja. Unter diesem Aspekt gesehen ist es von sekundärer Bedeutung, ob Strings die gesamte Physik erklären können oder nicht. Das String-Modell gibt es nun schon 276
über zehn Jahre, aber sogar seine überzeugtesten Fürsprecher haben diesen besonderen Vorzug nicht genügend betont – daß es eine lokale und kausale Theorie der Quantengravitation liefern könnte. Aus welchem Grund wurde es plötzlich so populär? Weil die String-Theorie Anomaliefreiheit für den Fall ermöglichte, daß man die Gravitation mit einer speziellen Yang-Mills-Theorie vereinigte. Diese grundlegende Entdeckung von Green und Schwarz führte einerseits zu einer einheitlichen Beschreibung der Gravitation und einer bestimmten Gruppe von Yang-Mills-Eichteilchen, während wegen der Anomaliefreiheit andererseits zu erwarten war, daß diese einheitliche Theorie auch endlich sein würde. Wir müssen allerdings noch schärfer prüfen, ob diese Theorien tatsächlich endliche Resultate liefern. Die Aussichten dafür scheinen nicht schlecht zu stehen. Könnten Sie erklären, was »endlich« bedeutet? Die meisten in der Vergangenheit entwickelten Theorien der Quantengravitation lieferten bei den Berechnungen unendliche Ergebnisse. Wollte man beispielsweise die Streuung eines Gravitons an einem anderen berechnen, so lautete die Antwort der Theorien vor der StringTheorie stets: Unendlich. Eine solche Theorie, die auf unendliche Ausdrücke führt, ist innerlich inkonsistent und wertlos. Die Superstring-Theorie ist die erste Theo277
rie der Quantengravitation, die verspricht, beispielsweise für die Streuung zweier Gravitonen ein endliches Ergebnis zu liefern. Das Interessante an der Theorie der Quantengravitation auf der Basis des String-Modells ist nun, daß es nicht die Gravitation ist, die in diesem Modell die entscheidende Rolle spielt. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Bemerkung von Chris Isham vom Imperial College, der mir erzählte, daß er als Student seine Arbeit an der Quantengravitation in der Hoffnung begann, das Rätsel der Quantisierung der Gravitation durch die Auffindung geeigneter Konsistenzbedingungen für die Gravitationstheorie lösen zu können; mit anderen Worten: Er wollte Plancks Quantisierung aus Einsteins Idee der allgemeinen Kovarianz ableiten. Nach der String-Theorie verhält sich die Sache aber gerade umgekehrt: Es scheint so, als ob man zuerst Plancks Quantisierung einführen muß, worauf sich Einsteins Gravitation als sekundäres Konzept ergibt! Der Grund dafür liegt in einer speziellen Eigenschaft der Strings, der sogenannten »Skaleninvarianz«, die von Herman Weyl, einem Kollegen Einsteins, eingeführt wurde und die Einstein selbst nicht mochte.
Dann wäre Einstein darüber heute sicher sehr bestürzt. Das wäre er. Er hat Weyl damals väterlich dafür getadelt, andere mit seinen Ideen zu verführen und schrieb ihm in einem Brief: »Ich werde bei ›dem Alten‹ gegen Ihre Ide278
en protestieren!« Weyl hat seine Ideen allerdings im Zusammenhang mit der vierdimensionalen Raumzeit und nicht etwa in Verbindung mit Strings formuliert.
Sollten sich die Superstring-Theorien als endlich erweisen, so wäre das ein sehr überzeugendes Resultat. Es wäre aber auch sehr schön, wenn sie nicht nur die bereits bekannte Physik richtig darstellen würden, sondern auch neuartige, überprüfbare Voraussagen machen könnten. Besteht die Chance, daß diese neuen Ideen zu eindeutigen Voraussagen führen werden? Aber gewiß. Solche Voraussagen gibt es. Zum Beispiel scheinen alle String-Theorien ein neues Z°-Teilchen vorauszusagen. Der Nachweis eines solchen Teilchens, das sich vermutlich wie ein schweres Photon verhalten würde, wäre ein gewaltiger Erfolg. Wir wissen allerdings zur Zeit noch nicht, wie groß seine Masse sein könnte. Sollte die String-Theorie in der Lage sein, die Masse richtig vorauszusagen, so wäre dies in seiner Bedeutung vergleichbar mit der Voraussage des alten Z°-Teilchens, die in der Zeit vor der String-Theorie das Signal für die geglückte Vereinigung des Elektromagnetismus mit der schwachen Kernkraft war. Das neue Z°-Teilchen wäre der entscheidende Test für die String-Vereinigung aller fundamentalen Kräfte: der elektroschwachen Kraft, der starken Kernkraft und der Gravitation. Ist es wahrscheinlich, daß die Masse in einem uns zugänglichen Energiebereich liegt? 279
Das wissen wir nicht. Es gibt noch keine vernünftige Theorie, die in der Lage wäre, die Massen vorauszusagen. Im Zusammenhang mit Strings gibt es auch eine Voraussage über die Existenz einer neuen Art »verborgener« Materie, eine Idee, die zu ganz neuen Entwicklungen führen könnte. Aber das steht alles noch in den Sternen; es sind keine so sicheren Voraussagen wie die, die wir damals hinsichtlich der W- und Z°-Teilchen aus der Theorie ableiten konnten und die dann durch Rubbia experimentell bestätigt wurden. Sie haben einen sehr faszinierenden Aspekt der Superstring-Theorie angesprochen: Die Idee, daß ein Duplikat unseres Universums existiert, das aus einer Materie besteht, die eine Kopie unserer Materie darstellt. Könnten Sie diese Idee kurz erläutern? Es handelt sich um die Vorstellung, daß es ein dupliziertes Universum gibt, das mit uns über keine anderen als über gravitative Kräfte in Verbindung steht. Merkwürdigerweise würde dieses unsichtbare Universum die Art und Weise bestimmen, in der die Supersymmetrie in unserem Universum gebrochen wird. Eine Theorie, die diese Schattenmaterie beschreibt, würde also Licht auf die Frage werfen, was die unterschiedlichen Massen der Teilchen im sichtbaren Universum bestimmt. Mit anderen Worten: Dieses zweite Universum beweist seine Existenz dadurch, daß die elementaren Teilchen bestimmte Massen besitzen? Und unser eigenes Universum würde für dieses andere dann vermut-
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lich die gleiche Rolle spielen? Es handelt sich ja wohl um eine symmetrische Konstellation. Das nehme ich an. Ich glaube allerdings nicht, daß sich schon irgend jemand darüber Gedanken gemacht hat, wie das andere Universum im Detail aussehen könnte.
Sie sagten, daß wir mit diesem anderen Universum nur über die Gravitation in Wechselwirkung stehen würden. Wir könnten also zum Beispiel ein Schwarzes Loch in diesem Universum feststellen, würden jedoch nicht bemerken, wenn sich Atome der anderen Materie in diesem Raum befänden – sie würden geradewegs durch uns hindurchgehen? Große Schwarze Löcher aus duplizierter Materie könnten wir nur auf Grund ihrer Gravitationswirkungen feststellen, sie wären unsichtbar wie die Djinns aus Tausendundeiner Nacht. Vermutlich hat das unsichtbare Universum seine eigenen »elektrisch« geladenen Quarks, seine eigenen W’s und seine eigenen Photonen, die aber nicht in der Lage sind, diese duplizierte Materie sichtbar zu machen, da sie mit nichts aus dem sichtbaren Universum wechselwirken. Es muß jedoch betont werden, daß die Superstring-Theorie nicht die einzige ist, die diese Art von gravitativ wirkender, aber unsichtbarer Materie postuliert. Gibt es eine Verbindung zwischen Superstrings und kosmischen St rings? 281
Das könnte sein. Die Verbindung könnte darin bestehen, daß unser Universum zu Beginn sehr klein war und sehr kleine Strings enthielt, die bei der folgenden Ausdehnung in die Länge gezogen wurden. Über diese Sache hat Ed Witten mehr als jeder andere nachgedacht, und es wäre gut zu wissen, was er davon hält.
Kommen wir zurück zu den Problemen, denen sich die SuperstringTheorie gegenübersieht. Sie erwähnten, daß das Endlichkeitsproblem vielleicht das dringendste ist und daß es ein großer Triumph wäre, wenn die Theorie sich als endlich erweisen würde. Gibt es andere Probleme oder Hindernisse bei der weiteren Entwicklung der Theorie? Auch wenn die Theorie endlich sein sollte – sie ist so furchtbar schwierig zu berechnen! Dafür haben wir doch Doktoranden! Nein! Doktoranden können wir das nicht zumuten. Sehen Sie, in ihrer klarsten Fassung kann die SuperstringTheorie in zehn Dimensionen ausgedrückt werden – in neun Raumdimensionen und einer Zeitdimension. Die Schwierigkeiten beginnen dann, wenn wir die Theorie in den vier Raumzeitdimensionen ausdrücken wollen, in denen wir leben. Dann müssen wir die sechs anderen Dimensionen kompaktifizieren. Vielleicht können wir Computern beibringen, solche Berechnungen durchzuführen, aber keinen Doktoranden! 282
Ist nicht irgend etwas schrecklich falsch an einer Theorie, die angeblich die ganze Natur beschreibt, aber so unglaublich kompliziert ist, daß wir kaum Fortschritte mit ihr erzielen? Sollte die Natur nicht einfach sein? Die Natur ist einfach, wenn wir sie in der richtigen Weise betrachten. So glaube ich zum Beispiel, daß Gott nur zwei Dimensionen geschaffen hat: eine Dimension des Raumes und eine der Zeit. Was könnte einfacher sein? In einer späteren Epoche gab es dann einen Phasenübergang zu vier Raumzeitdimensionen plus sechs interner Dimensionen. Zwei Dimensionen bilden den innersten Kern dieser Theorie und keine einzige mehr. Sie können die Superstring-Theorie in zwei Dimensionen formulieren? Ja. Poljakow hat gezeigt, daß sie dann am einfachsten wird. Ich glaube, daß die Theorie ihr Leben mit zwei Dimensionen und zehn Basisfeldern beginnt. Die Anzahl von zehn brauchen wir, um bestimmte Anomalien aufzuheben und damit wenigstens eine Art von potentiellen Unendlichkeiten loszuwerden. Ein Teil dieser zehn Felder könnte sich als die vier Dimensionen der Raumzeit manifestieren, während sich die restlichen sechs zu inneren Dimensionen kompaktifizieren und elektrische Ladungen oder Kernladungen repräsentieren würden. Nach dieser Vorstellung begann die vierdimensionale Raumzeit also in dem Augenblick des Phasenüberganges. 283
Wie kann der Raum solche Sprünge zwischen verschiedenen Dimensionszahlen machen? Es handelt sich um normale Phasenübergänge; sie müssen sich nur durch die String-Theorie begründen lassen. Diese Begründung hat bisher noch niemand geben können. Es ist etwas, wovon ich träume. Ist es schwierig, von zehn auf vier Dimensionen zu kommen? Ja. Darin kommt die ganze Komplexität des Universums zum Ausdruck, wie es von der String-Theorie beschrieben wird. Glauben Sie, daß das Problem mit dem Wechsel der Dimensionszahl ebenso groß ist wie das mit dem Beweis der Endlichkeit? Nein. Ich glaube, das Problem mit dem Beweis der Endlichkeit ist schwieriger, und zwar wegen der ungewohnten Mathematik der Riemannschen Flächen. Der größte Mathematiker auf diesem Gebiet war Teichmüller. Er starb im Zweiten Weltkrieg. Im Augenblick scheint sich ja eine ganze Armee theoretischer Physiker mit diesem Problem zu beschäftigen. Keine Armee. Die meisten Leute sind damit beschäftigt, zehn Raumzeitdimensionen in vier plus sechs innere Dimensionen umzuformen. Das ist eine einfachere Aufgabe, für deren Lösung man viele Wege ausfindig gemacht 284
hat, von denen allerdings keiner besonders elegant ist. Die schwierigere Aufgabe – das Endlichkeitsproblem – erfordert ein Arbeiten mit Strings höherer Ordnung in Gestalt von »Mehrfachschlingen«. Damit beschäftigen sich nicht so viele Leute, weil es schwer ist. Könnten Sie die Beschaffenheit dieser kleinen Strings beschreiben? Sind es geschlossene oder offene Strings? Eine Theorie, welche die Gravitation beschreibt, muß geschlossene Strings enthalten. Die Schwingungen eines solchen Strings entsprechen physikalischen Teilchen, die Spins von der Größe 1, 2, 3 und so weiter haben müssen. Die Teilchen mit dem Spin 1 und 2 sind masselos und entsprechen der Schwingungsfrequenz Null des Strings, während die Teilchen mit größerem Spin Massen vom Vielfachen der Planck-Masse haben müssen, die etwa bei 1019 Protonenmassen liegt. Auch die Spin-5/2-, Spin-7/2Teilchen und so weiter haben Massen vom Vielfachen der Planck-Masse. Gibt es nicht gewaltige mathematische Konsistenzprobleme bei der Formulierung von Theorien für Objekte mit einem Spin größer als 2? Das ist ja das große Wunder bei der Theorie: Sie ist gerade wegen der höheren Spins endlich. Und was noch unglaublicher ist: Sie ist auch noch lokal! Trifft es zu, daß das, was wir uns immer als Teilchen vorgestellt haben, in Wirklichkeit eine geschlossene »String-Schleife« ist, die sich 285
in einem niedrigen Energiezustand befindet und keine Oszillationen ausführt? Nein. Wir können nicht von einem individuellen Teilchen sprechen. Der String beschreibt die ganze Gruppe der Objekte mit höherem Spin. Sie treten alle gleichzeitig in Erscheinung. Könnte man sagen, daß diese Strings keine Schlingen im dreidimensionalen Raum, sondern in höheren Dimensionen sind? Nein, das wäre nicht richtig. Der String ist eine Schlinge in vier Raumzeitdimensionen mit möglichen Verwindungen in den zusätzlichen sechs inneren Dimensionen. Ist es möglich, daß wir mit unseren Beschleunigern tatsächlich Teilchen mit einem Spin größer als 2 erzeugen könnten? Diese Teilchen haben alle Massen in der Nähe der Planck-Masse und sind daher in absehbarer Zukunft Experimenten nicht direkt zugänglich. Aber wenn man irgendeine neue Teilchenart entdecken würde, wäre das von enormer Bedeutung. Aber ja. Es wäre beispielsweise eine großartige Sache, wenn die Theorie definitiv ein zusätzliches Z°-Teilchen mit einer experimentell nachweisbaren Masse voraussagen würde. Das wäre in der Tat eine tolle Geschichte. 286
Und wenn sich alle diese Hoffnungen erfüllen und die SuperstringTheorie die allgemein akzeptierte Theorie der fundamentalen Materieteilchen und Kräfte wird – was dann? Sie sagten auch, daß die Berechnungen für diese Theorie furchtbar schwierig seien – was soll man also tun? Sollen wir nur staunend auf die Formeln starren oder sie an die Wand hängen und sagen: Was für ein großartiger Erfolg? So etwas passiert immer wieder – nehmen Sie beispielsweise Einsteins Gravitationstheorie. Nachdem die drei berühmten Tests gezeigt hatten, daß Einsteins Theorie besser funktionierte als ihre Konkurrenz, wurde sie als wahr akzeptiert. Für eine lange Zeit wurden dann keine weiteren Berechnungen mehr angestellt, weil sie so furchtbar kompliziert waren.
Sollen wir bei den Strings stehenbleiben? Warum gehen wir nicht weiter und ziehen noch mehr Freiheitsgrade in Betracht, zum Beispiel Membranen, also flächenhafte Gebilde? Es gibt ein negatives Theorem, nach dem es nicht möglich ist, eine konform invariante Theorie höherdimensionaler Objekte wie Membranen zu schaffen. Für solche Gebilde dürfte also nichts Gescheites herauskommen. Bei dem Theorem handelt es sich allerdings um eines von der Art, die mir nicht besonders gefällt, weil seine Beweisführung von bestimmten stillschweigenden Annahmen ausgeht. Aber es existiert nun einmal. Betrachten wir es als eine weitere Herausforderung. 287
Offensichtlich ist die String-Theorie tief in der Geometrie verankert. Denkt man bis in die griechische Antike zurück, kann man sagen, daß die Wissenschaft als Geometrie begann. Es wäre wirklich faszinierend, wenn wir letzten Endes alle fundamentalen Dinge mit Hilfe von Geometrie aufbauen könnten. Ich sprach unlängst mit Christopher Zeeman, dem Topologen, der das Warwick-Institut für Mathematik gegründet hat, und fragte ihn nach dem Unterschied zwischen Geometrie und Analysis. Er sagte, daß die Mathematiker dafür einen einfachen Test benutzen. Wenn ein Mann eine Glatze bekommt, muß er ein Analytiker sein. Hat er dagegen eine Menge Haare, ist er ein Geometer! Wie mir scheint, verlangt die Entwicklung der Teilchenphysik die Benutzung immer abstrakterer Strukturen und immer exotischerer Zweige der Mathematik. Ich freue mich, daß Sie diesen Punkt ansprechen, weil es sich dabei um etwas handelt, das mich ebenfalls sehr fasziniert. Res Jost sagte einmal, daß ein junger Mann nach der Einführung der Quantentheorie von der Mathematik nicht mehr benötige als die rudimentäre Kenntnis des griechischen und lateinischen Alphabetes, um seine Gleichungen mit Indizes versehen zu können. Das ist vorbei! Während der letzten Jahre mußten wir mit ansehen, wie Topologie, Homotopie und Kohomologie, gefolgt vom Calabi-Yau-Raum, den Riemannschen Flächen und Moduli-Räumen in die Physik eindrangen. Je mehr
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wir von dieser Mathematik lernen, um so tiefer scheint unsere Einsicht zu werden. Als ich mich unlängst mit meinem Mitarbeiter John Strathdee über die Mathematik unterhielt, die wir heute lernen müssen – richtige Mathematik, keine »Ersatzmathematik« – fragte er mich: »Glauben Sie nicht, daß wir damit unser Gehirn kaputt machen?« – so ähnlich wie sich Bertrand Russell in seiner Autobiographie darüber beklagte, daß er sich bei der Arbeit an den ›Principia Mathematica‹ permanent sein Gehirn verletzte. Das erinnerte mich an das Gedicht von Lewis Carroll: »Ihr seid alt, Vater Franz«, sagte Fränzchen, der Tropf, »Und Ihr habt schon schneeweiße Haare; Und nichtsdestotrotz steht Ihr pausenlos Kopf – Bedenkt Ihr denn nicht Eure Jahre?« »Als ich jung war«, der Vater zur Antwort drauf gab »Ließ ichs sein wegen meinem Verstand; Doch nun, da ich weiß, daß ich gar keinen hab, Tu ichs dafür am laufenden Band.« (Übersetzung von Christian Enzensberger)
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2.7 Sheldon Glashow Sheldon Glashow ist Professor an der Harvard-Universität und unterhält enge Beziehungen zur Boston-Universität und zur Universität von Houston. Er lieferte wichtige Beiträge zu vielen Aspekten der Elementarteilchenphysik und erhielt den Nobelpreis für seine grundlegenden Arbeiten zur Vereinigung der schwachen und der elektromagnetischen Kraft. Glashow ist sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus philosophischen Gründen ein erbitterter Gegner der Superstrings und wartet darauf, daß sie »brechen«.
Vor hundert Jahren glaubte man allgemein, daß sich die Physik ihrem Ende näherte und daß nichts weiter zu tun bliebe als hier und da noch einen Punkt auf ein I zu setzen. In jüngster Zeit scheint diese Idee zu neuem Leben zu erwachen. Eine ganze Reihe von Leuten spricht von einem Höhepunkt der theoretischen Physik und einer vollständigen, allumfassenden Theorie der Natur. Halten Sie das für einen falschen Alarm? Natürlich ist es nicht wahr, daß die theoretische Physik ihrem Ende zugeht. So werden zum Beispiel auf dem Gebiet der Physik der kondensierten Materie in rascher Folge neue und sehr aufregende Entdeckungen gemacht. Ich nehme jedoch an, Sie sprechen weniger von der Physik allgemein als von der Elementarteilchenphysik. Die Teilchenphysiker sind im Augenblick alle furchtbar aufgeregt, weil sie gerade in der Lage zu sein scheinen, ihren Kollegen von der Kosmologie die Hand zu reichen. Zum 290
ersten Mal haben wir eine Theorie, die sich sowohl mit der mikroskopischen Welt – der Welt hoher Energien und kleiner Abstände – als auch mit der Geburt des Universums und dem Ursprung der Welt beschäftigt. Diese neue Verbindung von Kosmologen und Elementarteilchenphysikern, die ihren Ausdruck zum Beispiel auch in dem großen Anteil von Astrophysikern an der amerikanischen Großforschungsanlage Fermilab findet, bedeutet eine Renaissance und nicht den bevorstehenden Tod der Physik. Aber ist die Hoffnung, wir könnten zum ersten Mal wirklich eine vollständige Theorie der Natur unter Einschluß aller fundamentalen Kräfte und Teilchen aufstellen, vielleicht nicht nur eine Illusion? Bisher behaupten wir nur, eine vollständige Theorie aller elementaren Teilchenkräfte, das heißt der Kernkräfte und des Elektromagnetismus unter Ausschluß der Gravitation aufstellen zu können. Diese Theorie ist eine adhoc-Konstruktion, in die eine Reihe von Dingen mit eingebaut werden mußten, die für uns noch rätselhaft sind. Warum sind zum Beispiel die Verhältnisse der Teilchenmassen gerade so groß, wie wir sie messen? Wir haben noch keine Theorie, die die Gravitation mit einschließt. Vielleicht haben wir die Anfänge einer solchen Theorie, aber nicht mehr als die allerersten Anfänge. Meine Freunde, die String-Theoretiker, die an der heutigen Vision einer echten einheitlichen Theorie einschließlich der Gravitation arbeiten, reden davon, daß sie zwanzig Jahre brauchen werden, bevor sie eine erste 291
Verbindung zwischen der Gravitation und der Welt der Elementarteilchenphysik herstellen können. Sie scheinen aber sehr zuversichtlich zu sein, das Kernstück einer echten einheitlichen Theorie in Händen zu haben. Ed Witten hat die Befürchtung geäußert, daß sie erst fünf neue Zweige der Mathematik schaffen müßten, bevor sie mit gutem Gewissen behaupten könnten, sie hätten eine solche Theorie. In Wirklichkeit haben sie gar keine Theorie. Sie haben einen Haufen Ideen, die sich offensichtlich nicht zu einer Theorie zusammenfügen lassen, und sie können noch nicht einmal sagen, ob die von ihnen untersuchte Struktur Ergebnisse liefert, die mit denen übereinstimmen, die man im Laboratorium und in der theoretischen Physik gewonnen hat. Was, glauben Sie, ist der Grund für ihren Optimismus? Sie glauben, zum ersten Mal eine konsistente Quantentheorie der Gravitation zu besitzen und sind vermutlich sogar davon überzeugt, daß es sich dabei um die einzig mögliche Theorie dieser Art handelt. Vielleicht ist das wahr, vielleicht auch nicht. Es ist möglich, daß es stimmt und Einsteins Traum damit Realität wird. Man muß aber immer wieder daran erinnern, daß Einstein – während er diesem Traum in seinen ganzen letzten drei Lebensjahrzehnten nachjagte – überhaupt nicht zu bemerken schien, welche aufregenden Entwicklungen sich in dieser Zeit in der Kernphysik vollzogen. 292
In einer Vorlesung sagten Sie einmal, daß die Physiker in zwei Lager gespalten zu sein scheinen: in Alchimisten und mittelalterliche Theologen. Was meinen Sie damit? Ich ärgere mich besonders über meine Freunde, die String-Theoretiker, weil sie überhaupt nichts über die reale physikalische Welt sagen können. Viele von ihnen sind von der Einmaligkeit und Schönheit und somit auch von der Wahrheit ihrer Theorie überzeugt, und da sie einmalig und konsistent ist, bedeutet das für sie offensichtlich, daß sie die gesamte physikalische Welt beschreibt. Es scheint ihnen unnötig, irgendwelche Experimente zu machen, um eine solche selbstverständliche Wahrheit zu überprüfen, und so ersetzen sie Experimente durch hochtheoretische, abstrakte mathematische Untersuchungen, während viele unserer Freunde in Großbritannien die Physik vom entgegengesetzten Ende aus angehen, nämlich unter rein finanziellen Gesichtspunkten. Sehen Sie in den Versuchen, die ganze Natur auf eine solche sehr abstrakte Weise zu vereinigen, eine Bedrohung der Zukunft der Physik, weil dadurch die Motivation für Experimente untergraben wird? Ja, in der gleichen Weise, in der die Theologie im Mittelalter meiner Ansicht nach die europäische Wissenschaft zerstört hat. Schließlich waren die Menschen in Europa die einzigen, welche die große Supernova von 1054 nicht bemerkten, weil sie zu sehr in die Diskussion darüber vertieft waren, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können! 293
Aber was man von diesen Theorien auch im einzelnen halten mag – ist es nicht wirklich so, daß die Physik gerade jenseits des Energiebereichs, den wir direkt erforschen können, anfängt, interessant zu werden? Das wissen wir nicht. Es ist nicht klar. Manche Vorstellungen gehen dahin, daß es in diesen Bereichen keine interessanten Teilchen mehr zu entdecken gibt, daß sich dort eine vollkommen teilchenfreie Wüste erstreckt. Nach anderen Theorien sind diese Gebiete voller Überraschungen, die noch auf ihre Entdeckung warten. Ich weiß nicht, was die String-Leute glauben, ich vermute jedoch, daß sie nicht wissen, was sie glauben sollen, weil sie keine Aussagen über den niederenergetischen Bereich machen können: Sie wissen nicht, ob die Wüste lebt oder nicht. Es dürfte sie aber sowieso kaum sonderlich interessieren, denn wenn die Theorie nur entsprechend entwickelt wird, kann sie vermutlich jedes beliebige Ergebnis erklären. Aber auch wenn man etwas in der Wüste finden würde, müßte man doch noch weiter bis zu extrem hohen Energien in die Gegend der Planck-Energie vorstoßen, wenn man die Physik vollkommen verstehen und das Prinzip ihrer Vereinheitlichung vollständig erfassen will. So lautet das Programm der String-Partei, aber ich weiß nicht, ob dieses Parteiprogramm richtig ist. Schließlich ist bis heute überhaupt nicht bekannt, wie wichtig die Planck-Energie wirklich für die Elementarteilchenphysik ist. Sie ist nicht mehr als ein Zahlenwert für eine Größe 294
von der Dimension einer Masse, der sich aus der Newtonschen Theorie der Gravitation ergibt. Wenn Sie wollen, nennen Sie diese Größe die Planck-Energie. Vielleicht spielt sie eine fundamentale Rolle, vielleicht auch nicht. Natürlich könnte man auch einen Standpunkt vertreten, der Ihrer Betrachtungsweise vollständig entgegengesetzt ist, indem man geltend macht, daß dieser Versuch einer Vereinheitlichung so faszinierend und inspirierend ist, daß er weitere experimentelle Arbeiten viel eher stimulieren als behindern dürfte. Glauben Sie nicht, daß die Möglichkeit, eine Theorie zu schaffen, die die ganze Welt beschreibt, auch diejenigen Leute überzeugt, die das Geld für diese Dinge zu bewilligen haben, und daß sie für die Überprüfung dieser Ideen mehr finanzielle Mittel bereitstellen sollten? Ja, wenn unsere Superstring-Ideologen realistische Angaben über die erforderlichen höheren Energien machen könnten, wenn es sich um Energien handelte, die finanziell erschwinglich und technisch realisierbar sind. Würden sie solche Experimente fordern, wäre ich vollkommen mit ihnen einverstanden. Das scheint jedoch für viele von ihnen kein Thema zu sein. Viele scheinen durchaus der Ansicht zu sein, daß es gut wäre, große Beschleuniger zu bauen, aber mehr in einem abstrakten Sinn, so wie man es für gut hält, daß an der Bekämpfung von Krebs gearbeitet wird: Es ist nichts, was mit der eigenen Arbeit zu tun hat. Die String-Theoretiker haben kein wirkliches Interesse an der Erzeugung höherer Energien. Unsere Freunde von der Experimentalphysik, die 295
mehr über das Universum in Erfahrung bringen wollen, stellen die wahre treibende Kraft in der Physik dar, wie sie es immer getan haben. Wer wird dabei gewinnen? Ich hoffe die Experimentatoren. Ich glaube, daß die Tradition überleben wird, durch Beobachtung etwas über die Welt zu lernen, und daß den Versuchen, die Probleme der Elementarteilchenphysik durch die reine Kraft des Denkens zu lösen, kein Erfolg beschieden sein wird. Ein Problem in der Experimentalphysik scheint darin zu bestehen, daß es bemerkenswert oft falschen Alarm wegen der »Entdeckung« offensichtlich spektakulärer Dinge gegeben hat, die sich dann wieder in Luft auflösten. Finden Sie nicht auch, daß die Experimentatoren bei der Verkündung ihrer Ergebnisse ein wenig unvorsichtig sind? Experimentatoren waren schon immer unvorsichtig. Ich bin sicher, daß es in der Vergangenheit ebensooft falschen Alarm gegeben hat wie heute. Vielleicht fällt das heute nur etwas mehr auf, weil es zumindest in den letzten fünf oder zehn Jahren nicht so viele echte aufsehenerregende Entdeckungen gegeben hat. Es ist auch keine Frage der Sorglosigkeit – es geht für die Experimentatoren heute ja auch um die finanzielle und moralische Unterstützung ihrer Arbeit durch die Öffentlichkeit. Sie sprachen über die wachsenden Kosten für neue Beschleuniger. Es stimmt, daß jeder neue Beschleuniger mehr Geld kostet als ein Beschleuniger davor. Wir haben 296
aber heute auch viel weniger solcher Anlagen als früher. Während es vor einigen Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten dreißig große Beschleuniger gab, sind es heute nur noch drei. Wir konzentrieren unsere Mittel auf eine ständig abnehmende Zahl von Anlagen. Vielleicht gibt es eines Tages auf der ganzen Welt nur noch einen einzigen riesigen Beschleuniger. Dabei sinkt in den USA der für solche Zwecke verfügbare Etat, und in Europa dürfte es nicht anders sein. Im Laufe der Zeit hat das Budget für die Teilchenphysik nach konstanten Währungseinheiten gerechnet ständig abgenommen, und als Folge davon beginnt auch die Moral der Forscher zu sinken. Ich hoffe, daß sich das ändert, sobald die LEP-Anlage am CERN in Betrieb genommen wird, von der man nahezu mit Sicherheit überraschende Entdeckungen erwarten kann. Sie erwähnten den sehr hohen Anteil wichtiger Entdeckungen auf Gebieten wie der Physik der kondensierten Materie, die nur einen winzigen Bruchteil des Gesamtbudgets verbrauchen. In Großbritannien gibt es im Augenblick eine große Debatte darüber, wie die Forschungsmittel zwischen den Großverbrauchern, etwa in der Teilchenphysik und der Astronomie und diesen anderen Gebieten aufgeteilt werden sollen, die vielleicht von größerer potentieller Bedeutung für die Gesellschaft sind. Was halten Sie davon, daß der Löwenanteil an die Teilchenphysik geht? Obwohl er im Abnehmen begriffen ist, ist er doch immer noch enorm hoch, nicht wahr? Man kann nicht sagen, daß der Löwenanteil in die Teilchenphysik geht. Die Sache ist etwas komplizierter und hängt davon ab, wie man rechnet. So ist der Anteil der 297
Gelder für biologische Forschung in den USA ungefähr um das Zehnfache höher als der für die gesamte Physik, und ähnlich dürfte es in Großbritannien sein. Vielleicht erfährt die Festkörperphysik in Großbritannien tatsächlich keine angemessene Unterstützung, aber die Gründe dafür dürften andere sein, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ich glaube nicht, daß die Kosten für das CERN und die etwa gleich hohen Ausgaben für die Elementarteilchenphysik für Großbritannien eine zu große Belastung darstellen. Großbritannien behauptet jedoch, es könne die Mittel dafür nicht aufbringen. Italien dagegen hat gerade seinen Etat für die Elementarteilchenphysik verdoppelt. Ist Großbritannien so viel ärmer als Italien? Kommen wir zur aktuellen Situation der Physik zurück. Welche Probleme sind Ihrer Meinung nach für die experimentell arbeitenden Elementarteilchenphysiker gegenwärtig von besonderer Bedeutung? Es gibt eine ganze Menge. Eines davon ist das Geld, wie schon erwähnt. Ein anderes Problem liegt bei der Zeitplanung für den Bau großer Anlagen. In Europa warten wir zur Zeit auf die Entwicklung des LEP, und obwohl der Bau in dem Tempo voranschreitet, das man vernünftigerweise erwarten kann, braucht es doch ungefähr zehn Jahre von der Planung bis zur Inbetriebnahme einer solchen Maschine. Bis dahin sind es immer noch ein paar Jahre. Da fällt es manchmal schwer, unsere jungen Experimentatoren bei der Stange zu halten und zu verhindern, daß am Ende nur ein Haufen seniler Forscher für die Arbeit am LEP bereitsteht. 298
Ein weiteres Problem liegt in der Größe der Gruppen, die an den neuen Anlagen arbeiten. Eine der Forschungsgruppen am LEP besteht zum Beispiel aus über 400 promovierten Forschern! Kann so etwas überhaupt funktionieren? Kann eine Gruppe von über 400 Wissenschaftlern ebensolche Ergebnisse erzielen wie beispielsweise Michael Faraday vor vielen Jahren? Die Methoden der Forschung haben sich gegenüber früheren Zeiten vollständig geändert. Kann man dabei die Tüchtigen herausfinden? Werden diejenigen, die wirklich gute Beiträge leisten, genügend Übung erlangen, um sich in einer solchen Gruppe als eigenständige Wissenschaftler durchsetzen zu können? Nach unseren positiven Erfahrungen am CERN lautet die Antwort überraschenderweise Ja, und ich hoffe, daß sich daran nichts ändert. Wenn wir auf die letzten zehn Jahre der Teilchenphysik zurückblikken, hat es eigentlich bemerkenswert wenige Überraschungen gegeben. Ist das vielleicht ein Anzeichen dafür, daß sich die Teilchenphysik dem Ende ihres Weges nähert? Sollten wir nach diesem Ergebnis in den nächsten zehn Jahren wirklich noch mehr Geld für die Suche nach neuen Ergebnissen ausgeben? Ich hoffe natürlich, daß wir weitere Entdeckungen machen werden. Wenn es dort draußen wirklich eine Wüste geben sollte, gibt es keine andere Möglichkeit, sich davon zu überzeugen, als die ersten paar Kilometer durch den Sand zu laufen. Es stimmt, daß sich viele von den etwas dramatischeren theoretischen Voraussagen und Erwartungen nicht bestätigt haben. So sagten die Großen Ver299
einheitlichten Theorien den Zerfall des Protons voraus; ein Protonenzerfall konnte jedoch nicht beobachtet werden. Nach der Theorie besteht auch die Möglichkeit der Existenz von magnetischen Monopolen, es konnten aber keine gefunden werden. Nach der Theorie sollten diese beiden Effekte die einzigen sein, die wir bei hohen Energien beobachten können. Vielleicht bedeutet die Tatsache, daß sich diese Voraussagen als unzutreffend erwiesen haben, daß diese naiven Theorien (ich darf sie so bezeichnen, da ich an ihrer Entwicklung beteiligt war) falsch sind und es in Wahrheit keine Wüste gibt, sondern eine Menge interessanter Dinge zu entdecken bleibt. Ein faszinierendes Beispiel für eine Anomalie, die bis heute überlebt hat, ist das Neutrinoproblem. Wie wir alle wissen, erreichen uns von der Sonne weniger Neutrinos, als dies nach unseren theoretischen Vorstellungen von ihrem Aufbau der Fall sein müßte. Um ein noch eindeutigeres Ergebnis zu gewinnen, müßte man ein breiteres Neutrinospektrum untersuchen. Dazu benötigt man beispielsweise etwa 30 Tonnen Gallium. Experimente dieser Art laufen gegenwärtig in Italien und in der Sowjetunion. Auch in Japan studiert man solare Neutrinos, allerdings mit Hilfe einer anderen Methode. Diese Experimente werden Klarheit darüber schaffen, ob irgend etwas mit unserer Theorie der Sonne nicht stimmt oder ob Neutrinos vielleicht doch Masse besitzen und Oszillationen unterliegen. Auf jeden Fall handelt es sich dabei um eine spektakuläre neue Entwicklung in der Teilchenphysik. Auch die Experimentatoren, welche die seismischen Schwingungen der Sonne erforschen, haben inzwischen 300
eine Menge über ihre Struktur gelernt. Sie haben entdeckt, daß die Sonne eigentlich sogar noch mehr Neutrinos produzieren müßte, als es die meisten naiven Theorien erwarten lassen: Irgend etwas an der ganzen Geschichte ist also ausgesprochen faul, und wir müssen herausfinden, was es ist. Es sieht ganz so aus, als sollten wir dabei eine Überraschung erleben. Sie sagten, es hätte wenig Überraschungen gegeben, aber auch auf einem anderen Gebiet hat man unlängst eine fantastische Entdeckung gemacht. In den letzten fünf oder sechs Jahren haben die Astronomen zu ihrer großen Verblüffung festgestellt, daß die meiste Materie im Universum unsichtbar ist. Sie dachten bisher immer, sie würden die Materie im Weltall untersuchen – die ganze Materie – und müssen nun entdecken, daß sie in Wirklichkeit nur Verunreinigungen beobachten, die aus irgendwelchen bizarren Gründen Licht aussenden. Die meiste Materie ist unsichtbar. Woraus besteht diese Materie? Das ist ein Problem für Astronomen, aber ebenso für Teilchenphysiker und Experimentatoren. Vielleicht können wir dieses komische Zeug in irdischen Laboratorien erzeugen und herausfinden, was es ist.
Werfen wir einen Blick voraus auf die nächsten ein oder zwei Jahrzehnte und nehmen wir an, daß der sogenannte »Supraleitende Super-Collider« (SSC) in den USA gebaut wird, mit dem Energien erzeugt werden sollen, die vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wären: Welche Experimente werden die höchste Priorität genießen? Wonach wird man suchen? 301
Das Großartige an Überraschungen ist, daß man vorher nicht weiß, worum es sich dabei handelt. Alles, was wir tun können, ist zu versuchen, das bestmögliche weitreichende Experiment zu entwerfen. Natürlich, wir wiederholen in den Staaten einfach nur das, was die Europäer bereits zweimal getan haben, aber bei höheren Energien. Wir schießen Protonen und Antiprotonen, vielleicht auch Protonen und Protonen mit ungeheurer Energie aufeinander, genau wie das auch im CERN-Beschleuniger gemacht wird, nur daß die Energie fast hundertmal größer ist als in dieser Anlage. Das Prinzip besteht darin, daß Protonen mit Antiprotonen zusammenstoßen, die sich in entgegengesetzter Richtung bewegen, wobei der Stoßbereich von einem hochentwickelten Detektor umgeben wird, der dem neuesten Stand der Festkörpertechnik entspricht. Es gibt auf diesem Gebiet eine starke gegenseitige Befruchtung zwischen Festkörperphysik und Teilchenphysik. Wir bauen also den bestmöglichen Detektor, dessen Kosten etwa 10% der Kosten für den Beschleuniger selbst betragen. Dann setzen wir uns hin und warten ab, ob etwas Überraschendes passiert. Es muß doch aber einige Dinge geben, mit deren Entdeckung Sie rechnen? Welche Beobachtungen, die mit der jetzigen Technologie noch nicht möglich waren, sind nach dem gegenwärtigen Stand der Theorie zu erwarten? Eine Standardtheorie sagt voraus, daß wir Standardeffekte sehen werden. Wir sollten die gleichen »Jets« und andere merkwürdige Phänomene finden, die wir auch bei 302
niedrigen Energien beobachten, einfach nur auf höhere Energien extrapoliert. Wir könnten auch die Quantenchromodynamik und die elektroschwache Theorie genauer testen. Aber unsere Standardtheorie sagt nur Standardresultate voraus. Was die »wahre« Theorie sagen würde – eine Theorie, die von der heutigen Standardtheorie abweichen würde –, wissen wir nicht. Es könnte neue Kräfte und Teilchen geben, Objekte wie »Glints«, die unter diesem oder anderen seltsamen Namen von manchen meiner Theoretikerkollegen vorausgesagt werden und über die noch nichts Genaues bekannt ist. Vielleicht finden wir »Jets« mit anomaler Impulsverteilung, vielleicht entstehen bei den Kollisionen einzelne Leptonen, die sich im Rahmen der Standardtheorie nicht erklären lassen, vielleicht entdecken wir auch neue langlebige Teilchen, die in unserem gegenwärtigen theoretischen Gebäude nicht enthalten sind. Oder es ergibt sich sonst irgend etwas Neues, über das ich Ihnen aber nichts sagen kann, weil es sich schließlich um eine Überraschung handeln wird. So sind nun einmal die Spielregeln. Was ist mit dem sogenannten Higgs-Teilchen? Es wäre doch sicher sehr wichtig, wenn man es finden würde? Das Higgs-Teilchen ist eine harte Nuß. Sollte es relativ leicht sein, könnte es mit Hilfe des LEP in dem Massenbereich entdeckt werden, der dieser Anlage nach ihrer Fertigstellung zugänglich sein wird. Auch der SSC hat eine gute Chance, das Teilchen nachzuweisen, wenn es eine relativ große Masse besitzen sollte und in zwei 303
W- oder zwei Z-Teilchen zerfallen kann. Welche von beiden Möglichkeiten eintreten wird, wissen wir nicht, denn die Masse des Higgs-Bosons gehört zu den Dingen, welche die Standardtheorie nicht vorhersagen kann. Was ist mit der Supersymmetrie? Glauben Sie, daß diese neuen Maschinen irgendeine Chance haben, die Supersymmetrie nachzuweisen? Man redet ja schon lange Zeit über diese fantastische Idee, aber es gibt zur Zeit nicht die Spur eines Beweises dafür, daß die Welt supersymmetrisch ist. Wann werden wir dazu in der Lage sein, supersymmetrische Partner der bekannten Teilchen zu beobachten? Die Supersymmetrie macht vielen Leuten Spaß. Vielleicht erinnern Sie sich, daß vor nicht allzu langer Zeit in den Beobachtungsdaten der CERN-Experimente Anomalien auftraten, die von der Standardtheorie nicht erklärt werden konnten. Viele Leute nutzten diese Gelegenheit für den Versuch, diese Anomalien mit Hilfe der Supersymmetrie zu erklären, wobei drei verschiedene Varianten der supersymmetrischen Theorie in Betracht gezogen wurden. Nun aber sind alle Meldungen über diese CERN-Anomalien widerrufen worden – es gibt sie in Wahrheit überhaupt nicht. Die gleiche Geschichte könnte sich bei höheren Energien wiederholen, vielleicht sogar am CERN selbst, wenn noch mehr Daten vorliegen. Aber genausogut könnte sich dabei auch einmal herausstellen, daß die Supersymmetrie nicht nur originell, sondern sogar richtig ist. Dann gibt es noch »Technicolor«, eine andere verrückte Theorie, und die soge304
nannten »kompositorischen Theorien«, nach denen die Quarks selbst aus anderen Teilchen bestehen. Es wäre in jedem Fall eine Überraschung, wenn sich irgend etwas davon als richtig herausstellen würde. Nun gibt es neben der Technik der Zertrümmerung von Teilchen bei sehr hohen Energien ja auch noch andere Möglichkeiten der Erforschung hochenergetischer Phänomene. Ich denke dabei an den Nachweis des Protonenzerfalls oder die Suche nach Überresten aus der Frühzeit des Universums, niederenergetische Experimente also, die voraussichtlich wenig Geld kosten und dennoch auf indirekte Weise physikalische Phänomene bei sehr hohen Energien erforschen. Glauben Sie, daß die Zeit für diese Art von Experimenten nach dem Fehlschlag bei der Suche nach dem Protonenzerfall vorüber ist? Nein. Wie Sie sagten, handelt es sich bei den Untersuchungen des Protonenzerfalls um relativ billige Experimente, und es ist klar, daß man sie verbessern kann, wenn man mehr Geld dafür ausgibt. Aus diesem Grund planen die Japaner zum Nachweis dieses Effektes den Bau einer Anlage, die etwa 22mal größer ist als diejenige, die ihnen zur Zeit zur Verfügung steht. Die Kosten für dieses Experiment sind sehr hoch, etwa gleich groß wie die Kosten für Experimente mit großen Beschleunigern. Auch die Italiener haben ein gewaltiges unterirdisches Laboratorium gebaut, das genau für die Art von Experimenten geplant ist, die Sie beschrieben haben. Einige dieser Experimente werden um die 50 Millionen Pfund kosten. Das sind wirklich keine billigen Experimente mehr. 305
Glauben Sie, daß neben den Beschleunigerexperimenten trotzdem genügend Platz für solche ganz andersartigen Möglichkeiten der Erforschung hochenergetischer Phänomene bleibt? Ich glaube, wir brauchen etwas von allem. Die japanischen Experimente zum Protonenzerfall haben übrigens ein sehr interessantes Nebenprodukt erbracht: Für den speziell für das Experiment entwickelten 50-cm-Photoverstärker gab es zur Freude der Japaner auch eine echte kommerzielle Nachfrage. Nun sind sie damit im Geschäft. Den Verantwortlichen bei uns kann man nur sagen: Ihr habt das Protonenexperiment nicht gewollt, nun habt ihr auch keinen 50-cm-Verstärker. Ich glaube, wir sollten auch in dieser Richtung die Forschungen weiter vorantreiben. Ein weiteres Beispiel für einen echten Glücksfall: Obwohl weder die Japaner noch die Amerikaner bei der Suche nach dem Protonenzerfall erfolgreich waren, konnten sie mit Hilfe der dafür entwickelten Detektoren die Neutrinos nachweisen, die von der jüngst entdeckten Supernova ausgesandt wurden. Damit konnten theoretische Spekulationen der Astrophysiker bestätigt und eine neue Obergrenze für die Neutrinomasse ermittelt werden. So kann man aus jeder Richtung mit Überraschungen rechnen! Da fällt mir noch ein anderes überraschendes Nebenprodukt ein. Für den SSC, der in meinem Land gebaut werden soll, braucht man einen sehr langen Tunnel. Deswegen werden zur Zeit in den Staaten eine Menge Untersuchungen angestellt, um herauszufinden, wie man große Tunnels möglichst billig bauen kann. Vielleicht 306
könnte man mit der dabei entwickelten Technik den Tunnel zwischen England und Frankreich um die Hälfte billiger bauen! Ein interessanter Gedanke! Aber kehren wir noch einmal zu den Superstrings zurück. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung dieser Geschichte? Ich bin sehr froh darüber, daß so viele meiner Kollegen an String-Theorien arbeiten, weil sie dadurch auf sehr effektive Weise davon abgehalten werden, mir in die Quere zu kommen. Ich weiß, daß sie über die physikalische Welt, wie ich sie kenne und liebe, nicht das Geringste zu sagen haben. Das ist auch der Hauptgrund, weswegen ich diese Theorien nicht leiden kann. Ich hege den größten Respekt für die Leute in Großbritannien und den USA, die daran arbeiten, aber gleichzeitig tue ich alles, was in meinen Kräften steht, um diese ansteckende Krankheit von Harvard fernzuhalten, bisher allerdings ohne großen Erfolg. Nichtsdestoweniger versuchen einige von uns hier in Harvard, den geradlinigen Weg vom Experiment zur Theorie weiter zu verfolgen, anstatt der Superstring-Vision nachzujagen und zu versuchen, eine Theorie zu konstruieren, die sich mit traumhaft hohen, unerreichbaren Energien befassen muß, um die Welt unter unseren Füßen zu beschreiben. Glauben Sie, daß die gegenwärtige Vorliebe für String-Theorien einen Wechsel in der Arbeitsweise der Physik gegenüber der Zeit vor 50 Jahren bedeutet? 307
Absolut nicht. Es hat immer Verrückte gegeben, die seltsamen Visionen gefolgt sind. Einer der verrücktesten und natürlich brillantesten unter ihnen war Einstein. Meine Freunde unter den String-Theoretikern haben oft behauptet, daß die Superstring-Theorie die Physik des nächsten halben oder ganzen Jahrhunderts bestimmen wird. Auch Ed Witten ist dieser Ansicht. Ich möchte diese Behauptung etwas modifizieren, indem ich ergänzend hinzufüge, daß die String-Theorie die Physik in den nächsten 50 Jahren ebenso bestimmen wird, wie eine andere verrückte Theorie, auf der die String-Theorie beruht, die Kaluza-Klein-Theorie, die Teilchenphysik in den vergangenen 50 Jahren bestimmt hat, nämlich überhaupt nicht.
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2.8 Richard Feynman Richard Feynman war Professor am Physik-Department des California Institute of Technology. Er hat viel zu den theoretischen Grundlagen der modernen Teilchenphysik und der Quantenfeldtheorie beigetragen und erhielt den Nobelpreis für seine Arbeiten an der Quantenelektrodynamik. Er ist einer der großen alten Männer der modernen Grundlagenphysik. Seiner Skepsis hinsichtlich der Superstrings kommt daher besonderes Gewicht zu. Er starb Anfang 1988.
Vor ein paar Jahren sagte Stephen Hawking, daß das Ende der theoretischen Physik in Sicht sein könnte. Vermutlich dachte er dabei an die jüngsten Erfolge bei der einheitlichen Beschreibung der Physik im Rahmen einer einzigen Theorie. Das ist sicher eine provokative Bemerkung. Was halten Sie davon, nachdem Sie ein Leben lang versucht haben, bestimmte Teilbereiche der Physik zu vereinigen? Das habe ich ein Leben lang getan, und ein Leben lang habe ich auch Leute getroffen, die glaubten, daß die endgültige Lösung kurz bevorstand. Das hat sich jedoch immer wieder als falsch erwiesen. So glaubte Eddington, daß mit der Elektronentheorie und der Quantenmechanik alles erklärbar sei und begann in diesem Glauben, alles mögliche vorauszusagen, aber seine Voraussagen stellten sich als falsch heraus. Auch Einstein glaubte, die einheitliche Theorie schon in Händen zu haben, hatte aber keine Ahnung von Atomkernen, über die er daher 309
natürlich auch nichts voraussagen konnte. Auch heute gibt es noch eine ganze Reihe von Dingen, die wir nicht verstehen. Offenbar wird das aber immer wieder übersehen, und viele Leute glauben, sie wären der endgültigen Antwort schon sehr nahe. Ich glaube das nicht. Halten Sie überhaupt die Annahme für berechtigt, daß die Natur in ihren tiefsten Schichten einheitlich ist und daß es einfache mathematische Sätze gibt, welche die gesamte Realität erfassen? Auf unserem Gebiet haben wir das Recht, alles zu tun, wozu wir Lust haben. Wenn Sie die Vermutung hegen, daß sich alles, was geschieht, in eine sehr kleine Zahl von Gesetzen fassen läßt, so ist es Ihr gutes Recht, das auszuprobieren. Man braucht dabei auch gar keine Angst zu haben, denn sollte einem etwas komisch vorkommen, so kann man es mit dem Experiment vergleichen und danach entscheiden, ob es richtig oder falsch ist. Probieren kann man alles – es ist völlig ungefährlich. Vielleicht liegt eine gewisse psychologische Gefahr darin, daß man zu lange in eine falsche Richtung arbeitet, aber meistens geht es überhaupt nicht um den richtigen oder falschen Weg. Ob die Natur sich in einer letzten, einheitlichen Theorie einfach und befriedigend darstellen läßt, ist eine völlig offene Frage, die ich weder positiv noch negativ beantworten kann. Ich werde es schon herausbekommen, obwohl ich fürchte, daß ich dafür nicht mehr lange genug leben werde. Was ich möchte, ist so viel wie möglich über die Natur herauszufinden, ohne dabei der Zeit vorauszueilen. Ob ich dafür eine einfache oder eine kom310
plizierte Formel benutze, spielt keine Rolle. Jede Vermutung kann sich als richtig erweisen. Eines der Probleme bei der experimentellen Überprüfung der gegenwärtigen Ideen liegt in dem Umstand, daß die Vereinheitlichung nur bei extrem hohen Energien zu erwarten ist. Ich glaube jedoch, daß wir uns in der Hochenergie-Teilchenphysik – was die, Beschleunigeranlagen betrifft – dem Ende der Fahnenstange nähern. Schon wegen der finanziellen Beschränkungen fällt es schwer, sich Experimente vorzustellen, die über die nächste Generation solcher Anlagen hinausgehen. Halten Sie es für möglich, daß die theoretische Physik aus diesen Gründen zur Philosophie entarten könnte? Es kann sein, daß die theoretische Physik entartet, aber ich weiß nicht, in was. Als ich jünger war, fiel mir auf, daß viele alte Leute auf unserem Gebiet nicht in der Lage waren, neue Ideen zu verstehen. Viele von ihnen waren töricht genug, diese Ideen für falsch zu erklären und ihnen auf diese oder jene Weise Widerstand zu leisten, so wie beispielsweise Einstein die Quantentheorie bekämpfte. Nun bin ich selbst ein alter Mann, und auch mir erscheinen diese neuen Ideen völlig verrückt, und ich halte sie für einen Irrweg. Aus den Beispielen anderer alter Männer habe ich gelernt, wie töricht es von mir ist, so etwas zu sagen, und doch kann ich nicht anders, als diese törichte Meinung zu äußern, weil ich fest davon überzeugt bin, daß tatsächlich alles Unsinn ist! Vielleicht kann ich zur Unterhaltung zukünftiger Historiker beitragen, wenn ich behaupte, daß die ganze Geschichte mit den Superstrings verrücktes Zeug ist und in die Irre führt. 311
Was gefällt Ihnen nicht daran? Es gefällt mir nicht, daß die String-Theoretiker ihre Ideen überhaupt nicht durch Berechnungen überprüfen. Es gefällt mir nicht, daß sie für alles, was nicht mit dem Experiment übereinstimmt, eine Erklärung zusammenbasteln, wonach sie dann sagen können: »Ja, aber es könnte trotzdem richtig sein.« Die Theorie verlangt zum Beispiel zehn Dimensionen. Gut, vielleicht ist es mathematisch möglich, sechs davon einzurollen, aber warum nicht sieben? Die Gleichungen, die sie benutzen, sollten darüber entscheiden, wie viele Dimensionen eingerollt werden, und nicht ihr Wunsch nach Übereinstimmung mit dem Experiment. Es gibt in der String-Theorie nicht den geringsten Grund, warum nicht acht der zehn Dimensionen eingerollt werden und nur zwei übrigbleiben, was in vollkommenem Widerspruch zur Erfahrung stehen würde. Die Tatsache, daß das Ergebnis nicht mit der Erfahrung übereinstimmt, ist also nur von äußerst geringem Einfluß und führt zu keinerlei Konsequenzen; man muß vielmehr dauernd nach Entschuldigungen dafür suchen. Das scheint mir nicht in Ordnung zu sein. Ist das ein Problem der verwendeten Forschungsmethode oder liegt es in der Natur der Sache, mit der sich diese Leute beschäftigen? Nein, ich weiß nicht, ob das etwas mit der Forschungsmethode zu tun hat. Die Frage ist, ob man genügend genaue Folgerungen aus der Theorie ziehen kann, um seine Ideen durch Vergleich mit dem Experiment beweisen zu 312
können. Bei der Superstring-Theorie handelt es sich sicher um präzise Mathematik, aber diese Mathematik ist für die Leute, die sich damit beschäftigen, viel zu schwierig, um ihnen zu gestatten, genügend genaue Schlüsse daraus zu ziehen, und so versuchen sie es einfach mit Vermutungen. Das klingt so, als würden Sie ihnen vorwerfen, allzu nachlässig an die Sache heranzugehen. Nein, es handelt sich dabei nicht um Nachlässigkeit, es ist nur alles sehr schwierig. Wenn sie nicht in der Lage sind, eine präzise Voraussage zu machen, so nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus Unvermögen. Trotzdem behaupten sie weiterhin, sie hätten eine vielversprechende Theorie, obwohl sie lauter willkürliche Annahmen hinzufügen müssen. Es könnte sein, daß sich sechs von den zehn Dimensionen einrollen – es könnte dies sein und es könnte jenes sein. Beispielsweise liefert die Theorie eine große Zahl von Teilchen – viel mehr als wir beobachten. Dann sagt man einfach: Na gut, diejenigen davon, die wir nicht beobachten, könnten eine enorm große Masse besitzen – die sogenannte »Planck-Masse« – und sich dadurch ihrer Entdeckung entziehen, und diejenigen, die wir beobachten, haben eben keine so große Masse. Aber warum sind das gerade diese und nicht die anderen? Die Antwort darauf sollte sich einzig und allein aus der benutzten Theorie ergeben; die String-Theoretiker sind aber nicht in der Lage, das zu zeigen; es gibt mit anderen Worten keinen echten Vergleich mit dem Experi313
ment. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: Die Teilchen, die wir gegenwärtig experimentell beobachten können, haben Massen, die viel kleiner als die PlanckMasse sind, und wie diese andere Massenskala zustande kommt, ist vollkommen unbekannt. Schließlich ist es falsch, wenn die String-Theoretiker behaupten, es gäbe keine experimentellen Ergebnisse, nach denen sie sich richten könnten. Es gibt ungefähr 24 oder mehr mysteriöse Zahlenwerte, die im Zusammenhang mit den Massen der beobachteten Teilchen stehen. Wie kommt es, daß die Masse eines Myons 206mal so groß wie die Masse eines Elektrons ist, und warum haben die Massen der verschiedenen anderen Teilchen wie die der Quarks gerade die gemessenen Werte? Für alle diese Zahlenwerte – insgesamt ungefähr zwei Dutzend – liefert die String-Theorie absolut keine Erklärung. Es gibt gegenwärtig in allen theoretischen Modellen, von denen ich gehört habe, nicht den geringsten Hinweis auf eine Begründung dafür, warum diese Massen so groß sind, wie sie gemessen werden. Die Lage ist also die, daß wir bereits eine große Zahl experimenteller Tatsachen gesammelt haben, aber keine Vorstellung davon besitzen, wie wir daraus eine vernünftige Theorie machen könnten. Darin liegt unser wirkliches Problem, an dem wir arbeiten müssen. Wir haben experimentelle Ergebnisse, mit denen wir die Voraussagen aller möglichen Theorien vergleichen können, um auf diese Weise die falschen Theorien auszusondern. Nach diesem Kriterium hat es bis heute überhaupt noch keine guten Theorien gegeben. Sieht man sich die Zah314
lenwerte an, so scheinen sie vollkommen zufällig und chaotisch, ohne irgendein erkennbares Muster. Da liegt das Problem für die theoretischen Physiker; aber die String-Theoretiker kümmern sich nicht im geringsten darum. Wie mir scheint, geht man bei Projekten dieser Art von einem sehr allgemeinen Konzept aus, im Fall der String-Theorie von einer einfachen und eleganten mathematischen Struktur, in der die gesamte Physik enthalten sein soll, die sich aber nur in einem Bereich manifestiert, der vielleicht für alle Zeiten unbeobachtbar bleiben wird. Erst später macht man sich dann über den niederenergetischen Grenzbereich der Theorie Gedanken und versucht, die Voraussagen den Beobachtungen anzugleichen, was sich in diesem Fall jedoch als technisch sehr schwierig erweist. Glauben Sie, daß es sich bei der Vorstellung, von der sich offensichtlich so viele Physiker inspirieren lassen – daß allen Phänomenen ein allumfassendes Prinzip zugrunde liegt –, um die richtige Philosophie handelt, oder könnte es sich bei dieser Art der Annäherung an die Physik nicht um einen Irrweg handeln? Diese Frage habe ich bereits beantwortet: Man kann tun, was man für richtig hält. Gefährlich wird es nur dann, wenn alle das gleiche tun! Es kann ja sein, daß es irgendein wunderbares einheitliches Prinzip gibt und daß die Vorstellungen, die man sich davon gemacht hat, richtig sind. Das ist vollkommen in Ordnung, sofern man es beweisen kann. Aber es gibt ja noch andere Möglichkeiten. Die bloße Feststellung, daß es sich um eine Vereinheitlichung handeln könnte, reicht nicht aus: Man muß auch sagen können, um welche Art von Vereinheitlichung. Es 315
gibt dafür eine enorme Zahl von Möglichkeiten, von denen jede richtig sein kann oder nicht! Das müssen wir herausfinden, und dabei müssen wir in so vielen Richtungen wie möglich suchen. Was halten Sie von dem Konzept, Teilchen als fundamentale Objekte durch Strings zu ersetzen? Finden Sie diese Idee in irgendeiner Hinsicht attraktiv? Nicht sonderlich. Nein, das Wesentliche ist nicht diese oder jene Idee oder ob wir davon angetan sind oder nicht. Es ist wichtig, eine große Zahl von Ideen zu verfolgen und sie bis zu einem Punkt zu entwickeln, an dem man aufgrund von Beobachtungen entscheiden kann, ob man sie verwerfen muß oder nicht. Als ich Student am MIT war, sagte ein Freund einmal zu mir: »Ich glaube, das Problem in der theoretischen Physik besteht darin, seine eigenen Ideen so schnell wie möglich zu widerlegen!« Die String-Theoretiker tun das nicht, sie gestatten sich bei der Interpretation ihrer Gleichungen vielmehr alle möglichen Freiheiten, indem sie zum Beispiel sagen: »Na gut, vielleicht werden sechs von zehn Dimensionen eingerollt und vier bleiben übrig«, ohne zu beweisen, daß es sechs sind oder darüber nachzudenken, warum es nicht sieben sind. Da sie Schwierigkeiten haben, irgend etwas zu berechnen, überprüfen sie ihre Ideen nicht ausreichend durch den Vergleich mit experimentellen Ergebnissen. Sie hängen also völlig in der Luft, und das ist der Grund, warum ich der ganzen Sache nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenke. 316
Viele Leute arbeiten deswegen an String-Theorien, weil sie glauben, daß diese Theorien das Problem der Unendlichkeiten und Divergenzen beseitigen könnten, von dem die Grundlagenphysik so viele Jahrzehnte hindurch geplagt wurde. Ich hätte eigentlich gedacht, daß auch Sie Theorien begrüßen würden, die dieses Problem ein für allemal aus der Welt schaffen. Ob man eine Theorie begrüßt oder nicht, hängt davon ab, ob sie mit den Naturphänomenen übereinstimmt. Natürlich wäre es wunderbar, wenn die SuperstringTheorie tatsächlich die Unendlichkeiten beseitigen würde. Ich habe jedoch das Gefühl – vielleicht irre ich mich – daß viele Wege nach Rom führen. Ich glaube nicht, daß es nur eine Möglichkeit gibt, die Unendlichkeiten loszuwerden, und daß die Forderung nach ihrem Verschwinden eindeutig zur String-Theorie führt. Diese Forderung kann in alle möglichen Richtungen führen, und da der Mensch sehr erfindungsreich ist, wird er auch viele andere Wege finden, um mit dem Problem fertig zu werden, und jede davon kann zu der richtigen Theorie führen. Die Tatsache, daß eine Theorie nicht zu Unendlichkeiten führt, ist für mich kein ausreichender Grund, sie für die einzig richtige zu halten. Das ist jedenfalls meine Ansicht. Vielleicht ist sie falsch – wie gesagt, ich bin ein alter Mann. Vielleicht erkennen diese Burschen deutlicher als ich, daß es keine anderen Möglichkeiten gibt. Wenn ich mich mehr mit der Theorie beschäftigt hätte, würde ich vielleicht verstehen, warum man in diese Richtung gehen muß. Aber so kann ich das nicht einsehen. 317
Aber wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, diese Unendlichkeiten loszuwerden, wäre es doch ein sehr überzeugender Grund, der Superstring-Theorie Glauben zu schenken, wenn sie sich wirklich als endlich herausstellen sollte. Ja, vorausgesetzt sie stimmt mit den Experimenten überein. Aber die Superstring-Theoretiker argumentieren ja folgendermaßen: »Bisher haben wir immer gedacht, es gäbe keine Möglichkeit, die Unendlichkeiten loszuwerden, und auf einmal haben wir doch einen Weg dafür gefunden. Wir können zwar nicht sagen, zu welchen Konsequenzen das Ganze führen wird, aber weil es so überzeugend aussieht, muß es die richtige Theorie sein, und außerdem könnt ihr sie auch gar nicht widerlegen.« Das ist mir schon klar. Sie haben mir ja auch noch einmal erklärt, was diese Leute alles gesagt und gemeint haben, nachdem ich es vorher vielleicht nicht ganz verstanden hatte. Offenbar können sie überhaupt nichts beweisen, sie erklären nur, daß ihr Modell richtig sein muß, weil es das einzige ist, das sie haben und weil es nicht widerlegt werden kann. Na gut, wenn es das ist, was sie so in Aufregung versetzt – vielleicht haben sie ja recht. Ich glaube es allerdings nicht. Zur Zeit der Entwicklung der Quantenelektrodynamik stellten die Unendlichkeiten ein Problem dar. Sie haben diese Schwierigkeiten ausgeräumt, indem Sie diese Unendlichkeiten gewissermaßen eingepackt und zur Seite geschoben haben. Ja, genau so ist es. 318
Diese Unendlichkeiten haben auch die Quantenfeldtheorie über ein Jahrzehnt hindurch geplagt. Glauben Sie, daß eine fundamentale Theorie der verschiedenen Teilchen-Wechselwirkungen diese Unendlichkeiten weiterhin enthalten kann, oder geben Sie Dirac recht, der keiner Theorie Glauben schenken wollte, die solche Unendlichkeiten enthält? Nun, offensichtlich werden keine unendlichen Größen beobachtet – die Elektronenmasse beispielsweise ist nicht unendlich. Wenn wir die Masse des Elektrons jedoch nach den konventionellen Gleichungen der Elektrodynamik ohne alle Modifikationen berechnen, erhalten wir einen unendlich hohen Wert. Wir müssen daher eine Ausrede erfinden und behaupten, daß dies nicht die richtige Methode sei, die Masse zu berechnen, daß wir vielmehr irgendeinen Ausdruck von einem anderen subtrahieren und dies und das tun müssen. Nach dieser sogenannten »Renormierung« erhalten wir dann eine Theorie, in der alle Größen endlich sind und mit dem Experiment übereinstimmen. Damit scheint alles in Ordnung zu sein, nur wissen wir nicht, ob diese reorganisierte Form der Theorie mathematisch widerspruchsfrei ist. In der Tat ist es so, daß wir in all den Jahren niemals überprüft haben, ob die derart modifizierte Theorie konsistent ist. Aber nehmen wir für den Augenblick einmal an, es wäre so. Dann haben wir eine mathematische Struktur, die uns vorschreibt, welche Gleichungen wir benutzen müssen, um nach der erwähnten Subtraktionsmethode endliche Werte zu erhalten. Das Ganze mag etwas unsauber erscheinen, es handelt sich jedoch 319
um eine endliche Theorie. Nun könnte es passieren, daß irgend jemand eines Tages durch sorgfältigere Berechnungen auf einem anderen Wege ein Gleichungssystem findet, das von Anfang an die gleichen Ergebnisse liefert und doch zu keinen Unendlichkeiten führt – wohlgemerkt nicht durch die Einführung einer neuen Art von Physik, sondern einfach durch eine geschicktere Schreibweise der Gleichungen. In diesem Fall wäre das Ganze also nur eine Frage der mathematischen Technik. Es ist aber auch möglich, daß die Elektrodynamik keine konsistente Theorie ist; dann hätten wir aus physikalischer Sicht ein viel ernsteres Problem. Wenn wir keine mathematisch konsistente Theorie hätten, müßten wir zuerst mehr über die Natur in Erfahrung bringen, um herauszufinden, welche Modifikationen der Elektrodynamik notwendig wären. Einen Anhaltspunkt für die Lösung dieser Dichotomie können wir durch den Vergleich mit einer ähnlichen Theorie gewinnen, der Quantenchromodynamik, die Quarks und Gluonen beschreibt und zur Erklärung der Eigenschaften von Protonen und anderen Teilchen geschaffen wurde. Man kann zeigen, daß diese Theorie mathematisch konsistent ist. Sie enthält zwar ebenfalls Unendlichkeiten, die in der üblichen Weise unter den Teppich gekehrt werden können. In diesem Fall hat sich jedoch auch das Endergebnis als mathematisch konsistent erwiesen. Es muß also möglich sein, die Konsistenzfrage ohne den Umweg über die Unendlichkeiten zu entscheiden. Ich glaube daher, daß es sich bei den Unendlichkeiten mehr um ein
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technisches Problem handelt: Wahrscheinlich ist unsere erste Formulierung der Theorien inkorrekt.
Nach der modernen Auffassung können die Probleme mit den Unendlichkeiten ja nur im Zusammenhang mit einer Vereinigung der verschiedenen Kräfte gelöst werden. Ja, wobei man sich darauf berufen kann, wie dieses Problem im Fall der Quantenchromodynamik gelöst wurde. Sollte sich die Elektrodynamik als unbefriedigend herausstellen, so könnte man diese Schwierigkeit durch ihre Integration in eine ähnliche Theorie beseitigen. Das würde eine Ausweitung des Rahmens und eine Erhöhung der Symmetrie nötig machen, so daß alle Arten von Kräften unter einen Hut gebracht werden können. Das ist eine der motivierenden Ideen bei der Schaffung einheitlicher Theorien – eine Idee von großer Tragweite. Ich muß ehrlich sagen, daß ich niemals gedacht hätte, daß der Versuch, die Unendlichkeiten auf diese Weise loszuwerden, eine gute Methode darstellt, zu korrekten physikalischen Gesetzen zu gelangen, aber ich hatte unrecht. Ich habe mich bei der Einschätzung des richtigen Weges übrigens öfter verschätzt. Was nun diese Superstrings betrifft, nach denen Sie mich eingangs fragten, so ist meine kritische Meinung darüber ein Resultat der Erfahrung. Ich kann Ihnen nicht genau sagen warum, aber ich glaube einfach nicht daran. Allerdings habe ich schon einige Male nicht geglaubt, daß aus bestimmten Theorien etwas Gescheites 321
herauskommen würde, und sie haben sich trotzdem als gut erwiesen. Ich kann mich wieder irren. Was die Unendlichkeiten betrifft, so entsteht das größte Problem natürlich durch die Gravitation, die nahezu unvermeidlich in jeder einheitlichen Beschreibung der fundamentalen Kräfte eine zentrale Rolle zu spielen scheint. Manchen Leuten mag es merkwürdig vorkommen, daß die Gravitation in der Teilchenphysik überhaupt von Bedeutung ist, da sie im atomaren Maßstab eine derart schwache Kraft darstellt. Gibt es eine einfache Erklärung dafür, daß die Gravitation im Zusammenhang mit diesem Problem so wichtig ist? Ich bin überrascht darüber, daß Sie glauben, die Gravitation sei nicht so wichtig. Es handelt sich schließlich um ein grundlegendes Naturgesetz, denn es ist offensichtlich, daß sich große Ansammlungen von Materie gegenseitig anziehen. Wenn eine physikalische Theorie nicht erklären kann, warum das so ist, so stellt sie sicher keine zutreffende Beschreibung der Welt dar. Die Gravitation muß daher in jeder Theorie enthalten sein. Aber glauben Sie, daß wir die Gravitation brauchen, um die Teilchenphysik in Ordnung zu bringen? In welcher Hinsicht in Ordnung? Zur Lösung des Problems der Unendlichkeiten. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Möglich ist es, aber der eigentliche Grund, warum wir die Gravitation in 322
der Theorie brauchen, ist der, daß es sie gibt. Wir müssen eine Theorie haben, die erklärt, was wir sehen. Darum muß die Gravitation dabei sein, egal ob wir sie für die Beseitigung von Unendlichkeiten verwenden können oder nicht. Eine andere Frage ist die, ob die Gravitationstheorie eine quantenmechanische Theorie sein muß, genau wie die mit den anderen Teilchen verknüpften Theorien. Es scheint nicht gut möglich zu sein, die Welt halb klassisch und halb quantenmechanisch zu beschreiben. Aus diesem Grund sollte beispielsweise die aus der Quantenmechanik bekannte Tatsache, daß man Ort und Impuls nicht gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit bestimmen kann, auch für die Gravitation gültig sein. Wir sollten also gravitative Kräfte nicht dazu benutzen können, den Ort und den Impuls eines Teilchens mit einer Genauigkeit zu bestimmen, die jenseits einer bestimmten Grenze liegt, weil wir sonst in einen Widerspruch geraten. Bei dem Versuch, die Gravitation in eine quantenmechanische Theorie umzuformen, stoßen wir genau wie im Fall der Elektrodynamik auf Unendlichkeiten, die allerdings viel ernsterer Natur sind und sich viel schwerer unter den Teppich kehren lassen. Ich weiß nicht, wie wir die Gravitation unterbringen können, aber irgendwie müssen wir es schaffen. Es gibt dabei außer den Unendlichkeiten übrigens noch eine große Anzahl weiterer Schwierigkeiten. In den Quantenfeldtheorien gibt es eine Energie, die mit einem Zustand verknüpft ist, den man als »Vakuum« bezeichnet und in dem sich alles auf dem niedrigsten Energieniveau befindet; nach der Theorie ist diese Energie 323
des Vakuums nicht gleich Null. Da die Gravitation mit jeder Form von Energie in Wechselwirkung tritt, sollte sie auch mit dieser Vakuum-Energie wechselwirken. Aus diesem Grunde sollte das Vakuum sozusagen ein Gewicht besitzen, das dem Massenäquivalent dieser Energie entspricht, und somit ein Gravitationsfeld erzeugen. Das tut es aber nicht! Das durch die Energie des elektromagnetischen Vakuumfeldes produzierte Gravitationsfeld müßte von gewaltiger Größe sein – so gewaltig, daß es nicht zu übersehen wäre, und das bei völliger Abwesenheit von Licht oder anderen direkt meßbaren Energieformen! In Wirklichkeit aber ist es entweder Null oder von einer Kleinheit, die in völligem Gegensatz zu den Voraussagen der Feldtheorie steht. Die Existenz dieses Problems, das häufig als das »Problem der Kosmologischen Konstanten« bezeichnet wird, beweist, daß irgend etwas an unserer Formulierung der Gravitationstheorie nicht in Ordnung ist. Es wäre sogar möglich, daß unsere Hauptschwierigkeit mit den Unendlichkeiten darauf zurückzuführen ist, daß die Gravitation im Vakuum mit ihrer eigenen Energie wechselwirkt. Vielleicht machen wir etwas von Anfang an falsch, und das erste, was wir tun müssen, ist herauszufinden, wie wir die Gravitation so formulieren können, daß sie nicht mit der Vakuumenergie wechselwirkt. Vielleicht müssen wir auch die Feldtheorien so umbauen, daß sie von vornherein keine Vakuumenergie enthalten. Bei der Quantisierung der Gravitation gibt es also außer dem Auftreten von Unendlichkeiten noch einige andere Rätsel, die mit der ursprünglichen Formulierung der Theorie zu tun haben. 324
Es gibt aber auch einige Fragen, die das Gesamtkonzept betreffen. Wenn wir die Quantenmechanik auf die Gravitation anwenden, so wenden wir sie in gewisser Weise auf Raum und Zeit an. Fassen wir nun die Gesamtheit der Raumzeit ins Auge, so sind wir beim ganzen Universum angelangt. So ist es ja auch in Mode gekommen, über »Quantenkosmologie« zu reden, bei der man versucht, die Gesetze der Quantenmechanik auf ein etwas vereinfachtes Modell des Universums als Ganzes anzuwenden. Glauben Sie, daß es sich dabei tatsächlich um fundamentale Fragen oder mehr um sekundäre Probleme handelt? Mit anderen Worten: Müssen wir tatsächlich beispielsweise erst die Bedeutung der quantenmechanischen Wellenfunktion verstanden haben, bevor wir Fortschritte bei der Quantisierung der Gravitation machen können? Erst nachdem wir Fortschritte gemacht haben, können wir erkennen, was wir verstehen müssen und welche Konzepte wir brauchen. Vorher läßt sich darüber nur sehr schlecht etwas sagen. Viele Leute, die auf diesem Gebiet arbeiten, befürworten die sogenannte »Vielwelten-Interpretation« der Quantenmechanik. Was halten Sie von dieser Interpretation? Ich weiß nicht. Sehen Sie, als Physiker hat man einen gewaltigen Vorteil gegenüber Leuten, die auf anderen Gebieten arbeiten, denn wir können unsere Ideen experimentell überprüfen. Es macht daher keinen Unterschied, was man glaubt, außer in psychologischer Hinsicht. Wenn Sie sagen: »Weil Unendlichkeiten unmöglich sind, stelle ich eine neue Theorie auf«, so können Sie mit Ihrer 325
Idee vollständig daneben liegen, aber wenn Ihre Theorie mit dem Experiment übereinstimmt, ist alles in Ordnung, und Sie haben etwas Neues entdeckt, auch wenn die Idee, die Sie zu Ihrer Theorie geführt hat, nicht richtig ist. Die ganzen Überlegungen darüber, was philosophisch konsistent oder notwendig ist, eilen der Zeit voraus und sind psychologisch motiviert. Man sagt: »Ich kann dieser Theorie aus diesen und jenen Gründen keinen Glauben schenken, daher gebe ich sie auf und versuche, etwas anderes zu finden.« Als ich jung war, konnte ich zum Beispiel nicht glauben, daß ein Elektron eine Wirkung auf sich selbst ausübt und wollte etwas anderes finden. Also machte ich mich an die Arbeit; ich fand zwar nichts Besseres, aber es wäre möglich gewesen. Das hätte jedoch nicht bedeutet, daß ein Elektron tatsächlich nicht auf sich selbst wirkt. Wichtig ist nur, daß diese Idee den psychologischen Antrieb für die Entwicklung einer neuen Theorie geliefert hat. Ich habe also keine Lust, mit Leuten zu streiten, die darauf bestehen, daß dies oder jenes unmöglich ist und so oder so sein muß. Ich versuche, eine Theorie zu finden, die die gewünschten Eigenschaften hat, denn es kann sein, daß sie richtig ist. In dieses ganze Palaver möchte ich mich schon deswegen nicht einmischen, weil ich niemanden entmutigen möchte, alle möglichen Ideen darüber zu entwickeln, wie die Dinge sein sollten, denn er könnte dabei auf etwas stoßen, was funktioniert. Die Idee muß nicht unbedingt richtig sein, wenn man dadurch nur etwas herausfindet, was funktioniert. 326
Sie nehmen in dieser Hinsicht also einen sehr pragmatischen Standpunkt ein? Ja, ich glaube, man kann ihn als pragmatisch bezeichnen in dem Sinne, daß ich vor allem daran interessiert bin, Regeln zu finden, welche die Natur zutreffend beschreiben und nicht versuche, sehr weit darüber hinauszugehen. Philosophische Diskussionen mögen einen gewissen psychologischen Wert besitzen, wenn man jedoch einmal in die Geschichte zurückblickt und sich ansieht, was alles gesagt worden ist – und mit welchem Nachdruck! –, so stellt man fest, daß alles mehr oder weniger Unsinn gewesen ist. Ich bin sicher, daß Ihnen eine Menge Leute darin zustimmen werden. Nehmen wir einmal an, daß die Optimisten recht behalten und sich die Superstring-Theorie in ein paar Jahren als die richtige Idee erweist und daß auch die von Ihnen vorhin genannten Schwierigkeiten gelöst worden sind. In welcher Lage wäre dann die theoretische Physik? Wir hätten eine Theorie, die allem Anschein nach alles erklären könnte, was in der Welt passiert. Halten Sie das tatsächlich für möglich? Glauben Sie, daß eine Theorie, die die fundamentalen Elemente der Welt identifiziert hat, prinzipiell alles erklären kann – beispielsweise auch die Entstehung des Lebens und die Natur des Bewußtseins? Da haben Sie ein paar sehr schwierige Dinge angesprochen, auf die ich gleich zurückkommen werde. Lassen Sie uns aber zunächst mit den physikalischen Problemen beginnen. Natürlich ist es absolut möglich, daß wir ei327
nes Tages eine Theorie haben werden, die – vielleicht sogar mit Hilfe von Superstrings – alle unsere Beobachtungen erklärt. Dann könnten wir durch die mathematische Analyse der Theorie zeigen, daß das Verhältnis der Masse des Myons zu der des Elektrons genau so groß ist wie es beobachtet wird und auch die ganzen anderen Werte berechnen. Wir könnten zeigen, daß die Theorie alle Aspekte der Natur richtig wiedergibt und vielleicht auch die beste Beschreibung der Entstehung des Universums enthält. Alle diese Probleme können nun mit Hilfe einer grundlegenden Theorie gelöst werden. In der realen Welt jedoch schlagen Wellen an die Küste, es gibt Stürme, Blitze, Wind und Geräusche – alles Phänomene, die wir nicht direkt analysieren können, auch wenn wir alle Gesetze der Physik kennen. Tatsächlich wissen wir schon heute genug über diese Gesetze, um Wellen und Blitze und alle anderen Vorgänge dieser Art im Prinzip verstehen zu können. Aber die Details der Wechselwirkungen zwischen Wind und Wasser und so fort sind so kompliziert, daß es sehr schwer für uns ist, sie genau zu analysieren. Liegt es nur an der Komplexität, oder könnten nicht irgendwelche grundsätzlich neuen Eigenschaften dadurch entstehen? Offensichtlich braucht man für das Verständnis aller dieser Arten von Phänomenen nicht die fortgeschrittene Physik, über die wir bisher gesprochen haben. Die Gesetze der Quantenmechanik und der Atome ohne Berücksichtigung der Atomkerne reichen prinzipiell aus, um das Wetter zu erklären, obwohl das in der Praxis we328
gen seiner Komplexität nicht möglich ist. Ich benutze als Analogie dafür häufig das Schachspiel: Auch wenn man alle Regeln des Schachspiels kennt, ist man noch lange kein guter Spieler. So kann man auch alle Gesetze der Physik lernen, und in der Tat kennen wir alle Gesetze, die wir zur Beschreibung normaler irdischer Phänomene unter gewöhnlichen Bedingungen benötigen, mit ausreichender Genauigkeit. Das heißt aber nicht, daß wir alles analysieren können. Viele Naturphänomene sind in der Tat so außerordentlich komplex, daß ihre Analyse sehr schwierig ist. Meiner Ansicht nach gehört auch die Entstehung des Lebens zu diesen komplizierten Phänomenen. Immerhin hat die Physik viel dazu beigetragen, daß wir bei der Analyse des Verhaltens von Molekülen Fortschritte gemacht haben. Was wir im Augenblick versuchen, hat allerdings mehr mit der Einsicht in die fundamentalen Gesetzmäßigkeiten und die Anwendung dieser Gesetze auf die Entwicklung des Universums zu tun. Die gegenwärtige Situation in der Physik ist ungefähr so, als ob wir Schach spielen würden, ohne ein oder zwei bestimmte Regeln zu kennen. In der Ecke des Brettes, in der wir spielen, sind diese Regeln ohne große Bedeutung, und wir kommen auch ohne ihre Kenntnis gut voran. So ähnlich dürfte es sich meiner Meinung nach auch mit Phänomenen wie dem Leben, dem Bewußtsein und so weiter verhalten. Über die Frage, wie diese Probleme einmal gelöst werden könnten oder wie sie philosophisch zu interpretieren sind, kann man sich sicher sehr gut unterhalten; man braucht dazu aber nicht so lange zu warten, bis die Physiker ein vollständiges Verständnis der grund329
legenden Gesetze erzielt haben. Wir kennen bereits die Gesetze, denen auch die Atome gehorchen, die unter bestimmten Voraussetzungen Träger des Lebens auf der Erdoberfläche geworden sind. Es gibt aber natürlich einige Leute, die behaupten, daß Systeme mit genügend hoher Komplexität zu neuen Prinzipien führen – Prinzipien, deren Wirkungsweise selbst ziemlich einfach beschrieben werden kann, die in den tiefer liegenden fundamentalen physikalischen Gesetzen jedoch prinzipiell nicht enthalten sind. Das ist alles ganz richtig, bis auf Ihre letzte Feststellung. Es mag Leute geben, die so etwas behaupten, ich kann jedoch keinen Grund erkennen, daran zu glauben. Natürlich stimmt es, daß wir mit zunehmender Komplexität der Phänomene neue Prinzipien einführen, die uns die Analyse dieser Dinge erleichtern. So wird beispielsweise beim Schach die Stärke einer Figur im allgemeinen erhöht, je näher man sie an das Zentrum des Brettes bringt. Es handelt sich dabei um ein Prinzip, das sich explizit nicht unter den Regeln des Schachspiels findet, das sich jedoch indirekt aus diesen Regeln ableiten läßt. Es ist offensichtlich eine Konsequenz dieser Regeln und nichts anderes. Ja, es gibt fabelhafte Prinzipien und Vorstellungen wie Valenz, Schall, Druck und viele andere, die uns dabei helfen, unsere Beobachtungen zu organisieren und eine komplexe Situation zu verstehen. Es ist jedoch ein Mißverständnis, wenn man hinzufügt, sie wären nicht in den fundamentalen Gesetzen enthalten. Die fundamentalen Gesetze enthalten alles über die Welt, und die Ana330
lyse komplexer Systeme ist nicht mehr als eine Frage der Benutzung geeigneter Methoden. Gut, aber ich wollte auch nicht behaupten, daß diese neuen Prinzipien mit den grundlegenden Gesetzen unverträglich wären, sondern daß die zugrundeliegenden Gesetze nicht ausreichen könnten, diese Prinzipien mit einzuschließen. Ich weiß nicht, was Sie damit meinen. Nun, daß die Prinzipien zum Beispiel Details über bestimmte Randbedingungen oder den tatsächlichen Zustand eines Systems enthalten könnten, die in den zugrundeliegenden Gesetzen selbst nicht vorkommen. Das glaube ich nicht. Man kann sich dieses Problem durch viele Analogien veranschaulichen. Nehmen wir beispielsweise einen Computer. Einen Computer kann man aus ganz bestimmten Elementen, beispielsweise aus NAND-Gattern, zusammenbauen. Um einen Computer zu verstehen, ist es darüber hinaus jedoch sehr vorteilhaft, bestimmte Begriffe wie »Zentraleinheit« oder »Speicher« und so weiter einzuführen. Obwohl alle diese Teile aus NAND-Gattern aufgebaut werden können, ist die Einführung solcher übergeordneter Konzepte von großem Nutzen. So brauchen wir uns beim Wind nicht um die genaue Bewegung jedes Moleküls zu kümmern, wie sie durch die Gesetze festgelegt ist; es ist viel zweckmäßiger, eine große Anzahl von Molekülen zu betrachten, die sich alle ungefähr in der gleichen Richtung be331
wegen. Diese Bewegung können wir mit Hilfe einer durchschnittlichen Geschwindigkeit und anderer Größen darstellen und gelangen so zum Begriff des Windes. Dieser Begriff kommt in den fundamentalen Gesetzen nicht vor, aber die fundamentalen Gesetze enthalten implizit auch das Konzept des Windes. Das ist jedenfalls meine Vorstellung von der Sache. Ich dachte bei meiner Frage auch an die Zusammenhänge zwischen Physik und Kosmologie. Obgleich wir mittlerweile ganz gut verstehen, wie sich das Universum nach dem Urknall ausdehnte, scheinen die zugrundeliegenden physikalischen Gesetze nichts darüber auszusagen, wie das Universum begann, so daß man spezielle Anfangsbedingungen annehmen muß. Glauben Sie, daß wir das Universum als Ganzes mit Hilfe der Physik verstehen können oder benötigen wir dafür zusätzliche Prinzipien? Das ist eine sehr interessante Frage. Bisher bestand das charakteristische Vorgehen der Physik ja darin, daß sie mit Hilfe gewisser Gesetze berechnete, was bei Vorgabe bestimmter Bedingungen als Nächstes passieren wird. Wenn man zum Beispiel drei Atome dieser Art dahin tut und fünf Atome einer anderen dorthin, kann man voraussagen, was geschehen wird. Die dabei benutzten Gesetze haben die Eigenschaft, vom absoluten Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse unabhängig zu sein: Es sind zu jedem Zeitpunkt die gleichen. Insofern stellte sich in der Physik niemals die historische Frage, wie die Gesetze so wurden, wie sie heute sind – es gab keine Entwicklung. So sagen die Newtonschen Gesetze einschließ332
lich des quadratischen Abstandsgesetzes der Gravitation nichts darüber, wann man seine Messungen machen soll oder wie die Gesetze entstanden. Das gleiche gilt für die Gesetze des Elektromagnetismus, der Quantenmechanik et cetera. Sie alle sind sozusagen »lokal« in der Zeit; man kann sie zu jedem Zeitpunkt benutzen. Deswegen können sie in der Kosmologie nicht angewendet werden, weil in der Kosmologie eine entscheidende Frage hinzukommt: Wie hat alles angefangen? Erst wenn man das weiß, kann man weiter rechnen. Es ist möglich, daß die bisherigen Gesetze der Physik unvollständig sind, weil man noch nicht berücksichtigt hat, daß sie sich im Laufe der Zeit verändern könnten. So könnte zum Beispiel die Stärke der Gravitation neben ihrer räumlichen Abhängigkeit, die durch das quadratische Abstandsgesetz beschrieben wird, auch von der Zeit abhängen, die seit der Entstehung der Welt vergangen ist. Vielleicht wird die Physik in der Zukunft – wenn wir alles besser verstanden haben werden – durch bestimmte Angaben außerhalb der gewöhnlichen Gesetze vervollständigt, die etwas darüber sagen, wie die Dinge begonnen haben. Dann stimmen Sie also nicht der Ansicht John Wheelers zu, die Gesetze der Physik könnten auch erklären, wie das Universum ins Leben gerufen wurde, und glauben, daß wir irgend etwas annehmen müssen, das über diesen Gesetzen steht? Mit diesem Zitat von John Wheeler sollte man vorsichtig sein, denn man weiß nicht genau, ob damit gemeint ist, daß die Gesetze der Physik dazu in der Lage sein könn333
ten oder daß sie es tatsächlich sind. Gegenwärtig sind sie es nicht. Ich bin sicher, daß John Wheeler der Feststellung zustimmen würde, daß die zur Zeit bekannten Gesetze der Physik uns nichts darüber sagen, wie alles angefangen hat – sie können es nicht wegen der Form, in der sie geschrieben sind. Ich kenne Wheeler und kann mir denken, was er mit seinen Worten ausdrücken wollte, daß nämlich die Gesetze der Physik dazu in der Lage sein werden, wenn sie vollständig verstanden worden sind. Es ist das gleiche, was ich auch sage: Die zukünftigen Gesetze der Physik in ihrer vollständigen Form werden nicht für jeden Zeitpunkt das gleiche Ergebnis liefern, sie werden vielmehr den Anfang und die gesamte Geschichte des Universums beschreiben, ohne dabei auf irgendwelche zusätzlichen Annahmen angewiesen zu sein. Aber zur Zeit ist das nicht der Fall. Wie verstehen Sie dann die Gesetze der Physik? Haben Sie diesbezüglich eine Art platonischer Vorstellung, nach der die Gesetze unabhängig vom Universum sind und eine Art von abstrakter, selbständiger Existenz besitzen? Sprechen Sie vom jetzigen Zeitpunkt oder von der Zukunft? Sowohl als auch. Sagen wir, von heute, einverstanden? Gut. 334
Das Problem der Existenz ist ein sehr interessantes und schwieriges Thema. Nehmen wir einmal die Mathematik, die ja im Grunde nichts anderes tut als die Folgerungen aus bestimmten Annahmen zu berechnen, und betrachten wir ein ganz einfaches Beispiel. Addiert man die Kuben aufeinanderfolgender ganzer Zahlen, so stößt man auf eine merkwürdige Tatsache. Eins hoch drei ist eins, zwei hoch drei ist acht und drei hoch drei ist siebenundzwanzig. Wenn man diese Kuben addiert – eins plus acht plus siebenundzwanzig – erhält man sechsunddreißig, das Quadrat einer anderen Zahl, nämlich sechs, und diese Zahl ist gleich der Summe der vorherigen drei Zahlen eins plus zwei plus drei. Oder nehmen wir eine andere Zahl wie fünf. Wenn man eins und zwei und drei und vier und fünf addiert und die Summe quadriert, so erhält man das gleiche Resultat als wenn man die Kuben der Zahlen von eins bis fünf addiert. Nun könnte es sein, daß Sie von diesem Gesetz zuvor nichts wußten. Könnten Sie dann sagen, wo es vorher war und was es ist – mit anderen Worten, wo es lokalisiert ist und welchen Realitätsstatus es besitzt? Obwohl Sie es nicht sagen können, sind Sie darauf gestoßen. Wenn man solche Dinge entdeckt, hat man das Gefühl, daß sie da waren, bevor man sie gefunden hat, daß sie irgendwie und irgendwo vorher gewesen sind, aber offensichtlich gibt es kein »Irgendwo« für solche Dinge. Man hat nur das Gefühl, es wäre so. Wir sind eben Menschen und haben bestimmte psychologische Erklärungsbedürfnisse. Wir finden alle diese wunderbaren Dinge wie Bessel-Funktionen und Fourier-Transformationen – es gibt sie tatsächlich, 335
und wir stolpern regelrecht darüber. Im Fall der Physik kommen wir in doppelte Schwierigkeiten. Wir finden mathematische Beziehungen, die aber nun für das Universum gelten; das Problem ihrer Herkunft ist daher doppelt verwirrend. Woher mathematische Strukturen wie die Bessel-Funktionen stammen, ist nicht klar. Auf irgendeine Weise müssen sie bereits vor ihrer Entdeckung existiert haben. Die Gesetze der Physik liefern aber nun auch noch eine zutreffende Beschreibung der physischen Welt; es ist daher noch schwerer zu verstehen, wo sie herkommen. Auf jeden Fall dürften sie der Realität näher stehen als die mathematischen Gesetze. Das alles sind philosophische Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Man kann eine Menge Physik betreiben, ohne diese Antworten zu kennen; aber es macht Spaß, über sie nachzudenken. Es gab eine Zeit, in der die Menschen glaubten, daß Gott die Erklärung für das Universum sei. Nun scheinen die Gesetze der Physik – allmächtig und allwissend wie sie sind – an die Stelle Gottes getreten zu sein. Im Gegenteil. Gott wurde immer dazu gebraucht, Geheimnisse zu erklären – Dinge, die man nicht verstand. Entdeckt man schließlich, wie etwas funktioniert, so wird ein Teil der Aufgaben Gottes von bestimmten Gesetzen übernommen, man braucht ihn dafür nicht mehr. Dafür benötigt man ihn jedoch für die anderen Geheimnisse. So überlassen wir ihm die Erschaffung des Universums, weil wir es noch nicht berechnen können, und Dinge, 336
von denen wir glauben, sie seien durch Gesetze nicht zu erklären, wie das Problem des Bewußtseins oder das von Leben und Tod und so fort. Gott ist immer mit den Dingen verknüpft, die man nicht versteht. Daher glaube ich nicht, daß man die Gesetze der Physik mit Gott vergleichen kann, denn sie sind ja bereits gefunden. Sie scheinen aber tatsächlich allmächtig zu sein und das physikalische Universum zu transzendieren. Nein. Das physische Universum gehorcht ihnen. Ich weiß nicht, was Sie mit »transzendieren« meinen. Nun, wenn es so ist, wie sie sagten und die Entstehung des physischen Universums durch diese Gesetze erklärt werden kann, so müssen die Gesetze gewissermaßen vor dem Beginn des Universums existiert haben. Aber wir kennen diese Gesetze ja noch gar nicht. Sprechen Sie über die hypothetische Situation, in der wir die Gesetze kennen, die beschreiben, wie alles anfing? Ja. Gut, wenn wir soweit sind, werde ich mit Ihnen über die Philosophie dieser Wechselbeziehung diskutieren. Um etwas dazu sagen zu können, müßte ich die Gesetze kennen. Aber Sie glauben, daß es solche Gesetze gibt? 337
Ich habe keine Ahnung. Glauben Sie, daß uns unsere Arbeiten zu neuen Gesetzen führen werden, die schon »irgendwo draußen« auf uns warten und unsere gegenwärtigen Theorien als Näherungen enthalten? Ja, natürlich. Ich habe das Gefühl, als Physiker entdeckt man Gesetze, die es »da draußen« irgendwie bereits gibt, so wie auch ein Mathematiker das Gefühl hat, seine Regeln würden schon vorher irgendwo existieren. Er weiß aber auch, daß es keinen physischen Ort gibt, an dem die Gesetze sein könnten. Ich weiß, daß meine Gesetze dazu in der Lage sind, das Verhalten des Universums vorauszusagen, aber ich weiß nicht, woher sie kommen. Das ist eine Frage, die ich nicht zu beantworten brauche; ich kann trotzdem erfolgreich Physik betreiben. Das heißt nicht, daß ich nicht darüber nachdenke – Sie sehen ja, daß ich es tue. Es ist sehr unterhaltend, spannend und amüsant, aber nicht von grundlegender Wichtigkeit.
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2.9 Steven Weinberg Steven Weinberg ist Professor am Department für Physik an der Universität von Texas in Austin. Der Rahmen seiner Forschungsarbeiten umfaßt Gebiete wie die Teilchenphysik, die Quantenfeldtheorie, die Gravitation und die Kosmologie. Auf allen diesen Gebieten hat er bedeutende Beiträge geliefert. Für seine Arbeiten zur Vereinigung der schwachen und elektromagnetischen Kraft erhielt er den Nobelpreis. Weinberg ist ein enthusiastischer und eloquenter Befürworter der Superstrings und gegenwärtig aktiv auf diesem Gebiet beschäftigt.
Vor hundert Jahren glaubte man allgemein, daß die Physik sich einem Endpunkt näherte; eine vollständige Theorie des Universums schien in greifbarer Nähe. Die nachfolgenden Entwicklungen, die zu der sogenannten »Neuen Physik« geführt haben, haben uns gelehrt, daß es bis dahin noch ein weiter Weg ist, aber jetzt scheint wieder ein Gefühl aufzukommen, als ob die Möglichkeit zur Schaffung einer solchen Allumfassenden Theorie näher rückt. Glauben Sie, daß es sich dabei erneut um eine falsche Hoffnung handelt, oder besteht tatsächlich eine reelle Chance, daß wir bald in der Lage sind, ein Prinzip zu formulieren, das die ganze Natur regiert? Ich glaube, daß wir als Physiker das richtige Maß an Bescheidenheit gelernt haben. Unser Ziel ist eine einheitliche Sicht der Natur, bei der sich zumindest prinzipiell alles aus einigen wenigen grundlegenden Gesetzen ableiten läßt, wobei wir uns darüber klar sein müssen, daß 339
uns eine derart eingeschränkte Betrachtungsweise natürlich niemals wirklich dabei helfen wird, Bäume oder Menschen zu verstehen. Die Schwierigkeiten dieser Vereinheitlichung sind bekannt. So wissen wir zum Beispiel, wie schwer es ist, die Gravitation gemeinsam mit den Kernkräften und der elektromagnetischen Kraft in einem Bild unterzubringen. Im letzten Jahrzehnt gab es große Fortschritte bei den Bemühungen um eine Vereinigung der Kräfte, die bei den uns zugänglichen Energien auf die Elementarteilchen wirken. Dabei blieb die Gravitation jedoch stets ausgeschlossen, und es ist sehr schwierig, den letzten Schritt zu tun und die Gravitation in das Bild mit einzufügen. Welche Ideen sind in jüngster Zeit vorgeschlagen worden, um die Gravitation mit einzubeziehen? Hätten Sie mir diese Frage vor einigen Jahren gestellt, hätte ich geantwortet, daß es überhaupt keine neuen Ideen gibt. Dabei existierte schon seit 1974 ein Modell, das in seiner ursprünglichen Version als String-Theorie und in seiner späteren als Superstring-Theorie bekannt wurde. Es wurde um 1968 eingeführt, um die starken Kernkräfte zu verstehen – die Kräfte, die den Kern eines Atoms zusammenhalten – und erwies sich dabei als ein schrecklicher Fehlschlag. Eine Schwierigkeit dieser Theorie bestand darin, daß sie masselose Teilchen voraussagte, die eindeutig nicht in das Bild passen, das wir uns von der Struktur von Kernen machen. Im Jahre 1974 schlugen John Schwarz und Joël Scherk vor, diese Theo340
rie neu zu interpretieren. Danach sollte es sich nicht um eine Theorie der Kernkraft handeln, sondern um eine einheitliche Theorie aller Kräfte einschließlich der Gravitation. Das masselose Teilchen, das in diesen Theorien auftrat und für Verwirrung sorgte, sofern man sie als Theorien der Kernkraft verstand, sollte in Wahrheit mit dem Quant der Gravitationsstrahlung, dem sogenannten »Graviton«, identisch sein. Wie entwickelten sich diese Theorien in den folgenden Jahren? In den ersten Jahren nach 1974 wurde diesen StringTheorien sehr wenig Aufmerksamkeit zuteil. Ich selbst beachtete sie überhaupt nicht. Wir Teilchenphysiker hatten zu dieser Zeit gerade großes Vergnügen an der Entwicklung eines neuen Standardmodells der Elementarteilchenphysik, das ein einheitliches Bild der schwachen und elektromagnetischen und – wie wir hofften – auch der starken Wechselwirkung ermöglichen sollte. Dieses Modell war sehr erfolgreich und konnte durch eine Reihe brillanter Experimente bestätigt werden. Da wir keine Hoffnung sahen, die Gravitation in diesem Modell mit unterzubringen, verschoben wir die Lösung dieses Problems in die entfernte Zukunft. Diejenigen Theoretiker, die in der ersten Zeit an der Entwicklung der StringTheorien mitgewirkt hatten, fuhren mit ihrer Arbeit an diesen Theorien fort und wurden dabei von uns anderen fast völlig ignoriert. Erst in den letzten paar Jahren sind ihre Arbeiten wieder im allgemeinen Bewußtsein der Teilchenphysiker aufgetaucht, teilweise deswegen, weil 341
diese von all den anderen erfolglosen Bemühungen frustriert waren, teilweise aber auch wegen einiger phänomenaler mathematischer Eigenschaften. Wie sich herausgestellt hat, sind diese Theorien mathematisch in einer Weise konsistent, die bis dahin nicht für möglich gehalten wurde. Darüber hinaus gilt diese Konsistenz offensichtlich nur für eine sehr begrenzte Klasse dieser Theorien; damit besitzen die String-Theorien eine Eigenschaft, nach der Physiker ständig Ausschau halten: Inflexibilität. String-Theorien sind sehr »starr«. Die Zahl der möglichen Varianten ist nicht unendlich groß, wie das für die meisten anderen Arten von Theorien der Fall war, über die wir während des letzten Jahrzehnts nachgedacht haben. Es gibt nur eine sehr, sehr kleine Zahl möglicher Spielarten – vielleicht überhaupt nur eine einzige, und wir glauben, daß wir eine Chance haben, durch das Ausprobieren dieser Varianten weitere Fortschritte zu erzielen. Stimmt es, daß die Strings in der bevorzugten Fassung der Theorie ein zehndimensionales Universum bevölkern? Ja, mehr oder weniger. Das war natürlich auch einer der Hauptgründe, weswegen die String-Theorie nicht sofort akzeptiert wurde. Sie ist mathematisch sehr schön; alles fügt sich wunderbar ineinander, aber nur dann, wenn die Theorie, wie in ihrer ursprünglichen Version, in 26 oder – sofern man sie weiter modifiziert, um sie realistischer erscheinen zu lassen – in 10 Dimensionen formuliert wird, in neun Raumdimensionen und einer Zeitdimensi342
on. Das widerspricht natürlich den Beobachtungen, denn von allen Zahlenwerten, die wir experimentell ermittelt haben, ist 4 als die Anzahl unserer Raumzeitdimensionen einer der am besten gesicherten. Als diese Idee daher 1974 erstmals zur Diskussion gestellt wurde, erweckte sie wenig Aufmerksamkeit. Sie schien von vornherein nicht in Frage zu kommen, weil wir uns nicht vorstellen konnten, mit einer zehndimensionalen Theorie der Gravitation glücklich werden zu können: Wir wollten eine in vier Raumzeitdimensionen. In den vergangenen zehn Jahren wurde jedoch eine alte Idee von Theodor Kaluza aus dem Jahre 1921 wiederentdeckt, nach der es sehr wohl sein könnte, daß wir in einem höherdimensionalen Universum leben, in dem alle bis auf die vier gewohnten Dimensionen der Raumzeit fest zu Kreisen »eingerollt« sind, die so winzig sind, daß wir sie normalerweise nicht beobachten können. Kaluza war damals von Einstein zur Einführung dieser Idee ermutigt worden, um andere Naturkräfte wie den Elektromagnetismus als reine Gravitationswirkungen in einem höherdimensionalen Raum zu erklären. Aus dem gleichen Grund wurde die Idee in den 80er Jahren wieder aufgegriffen und ist in den letzten Jahren erneut zu einem Gegenstand aktiver Untersuchungen durch die theoretischen Physiker geworden. Ich glaube, es war die Wiederentdeckung dieser alten Idee von Kaluza, Klein und anderen, die der String-Theorie den Weg geebnet und unsere Skepsis gegenüber ihrer Formulierung in zehn Dimensionen beseitigt hat. Die Vorstellung dabei ist, daß die Theorie zwar prinzipiell zehn Dimensionen beschreibt, daß aber sechs da343
von unserem Blick entzogen sind, und zwar durch eine sogenannte »spontane Kompaktifizierung«. Sie werden unter dem Einfluß dynamischer Effekte so fest zusammengezurrt, daß wir einfach nichts von ihnen bemerken. In den frühen Phasen des Universums mag es aber durchaus eine Zeit gegeben haben, in der ein Wissenschaftler – hätte es ihn damals gegeben, was natürlich nicht der Fall war! – alle neun Raumdimensionen plus eine Zeitdimension wahrgenommen hätte. Wie kommt es, daß uns ein String bei niedrigen Energien wie ein Teilchen erscheint? Auf den ersten Blick sollte man ja meinen, daß es sich um ganz verschiedene Dinge handelt. Ein String besitzt eine unendliche Anzahl von Schwingungsmöglichkeiten, von denen jede als eine spezielle Teilchenart in Erscheinung tritt. Stellen Sie sich einen geschlossenen String in Form einer kleinen Schlinge vor, dann können mit wachsender Ordnung der Schwingungsmoden immer mehr Wellenlängen um diese Schlinge herumgelegt werden, was gleichbedeutend mit Teilchen immer größerer Masse ist. Die niedrigsten Modi eines Strings – die Teilchen mit sehr kleinen Massen – werden in unseren Laboratorien in Gestalt der gewöhnlichen Teilchen beobachtet. Die anderen, höheren Modi werden in absehbarer Zukunft vermutlich nicht nachgewiesen werden können. Könnte man sich vorstellen, daß ein String sich bei niedrigen Energien wie ein starrer Körper bewegt und daher teilchenähnliche Eigen344
schaften besitzt, bei höheren Energien jedoch zu schwingen beginnt und sich darum unterschiedlich verhält? Ja, so ungefähr. Wenn wir nun einen Zusammenstoß zwischen zwei Teilchen betrachten, die zu dem uns bekannten Typ gehören und niedrigen Schwingungsmoden des Strings entsprechen, und die Kräfte berechnen, die durch den Austausch von Gravitonen erzeugt werden, so müßten wir nach dem Ergebnis aller bisherigen Versuche einer quantenmechanischen Beschreibung der Gravitation eigentlich erwarten, daß sich diese Kräfte als unendlich groß herausstellen. Dies wäre um so mehr zu befürchten, als sich – obwohl solche im Laboratorium erzeugten Teilchen wie gesagt niedrigen Schwingungsmoden des Strings entsprechen – alle möglichen Moden an dem Austausch von Kräften beteiligen. Und trotzdem ergibt sich als Summe über diese unendlich vielen Moden ein endliches Resultat! Das ist wirklich wunderbar und nahezu unglaublich, folgt aber eindeutig aus der Mathematik. Worin besteht bei der Beschreibung von Teilchen durch Superstrings der Unterschied zwischen einem geladenen Teilchen wie dem Elektron und einem ungeladenen wie dem Neutrino? So kann man die Frage eigentlich nicht stellen. An der Beschreibung der uns vertrauten Teilchen wie Elektronen, Neutrinos, Protonen und so weiter wird sich bei den Energien, bei denen wir sie normalerweise untersuchen, nichts ändern. Vermutlich werden sie weiterhin durch 345
die Theorie beschrieben werden, die als »Standardmodell« bekannt geworden ist. Nach dieser Theorie sind Elektron und Neutrino zwei verschiedene Mitglieder einer bestimmten Teilchenfamilie. Daß das Elektron eine Ladung besitzt, bedeutet, daß es direkt mit dem elektromagnetischen Feld in Wechselwirkung treten kann, während das Neutrino dies nicht tut. Dafür hat das Neutrino Wechselwirkungen mit anderen Feldern aus einer Familie, der auch das elektromagnetische Feld angehört. Das alles ist bereits vollkommen ausgearbeitet und in ein hübsches und symmetrisches System gebracht worden, wobei allerdings die Symmetrie, die das Elektron mit dem Neutrino verbindet, sowie die elektromagnetischen und alle anderen Kräfte gebrochen sind. Aber das sind alles alte Geschichten, an denen sich durch das Aufkommen der Superstring-Theorie wahrscheinlich nichts ändern wird. Die Frage ist, ob sich das Standardmodell als niederenergetische Näherung der Superstring-Theorie erweisen wird. In der niederenergetischen Näherung erscheinen die Strings als Teilchen – als Elektronen oder Neutrinos oder sonstige Partikel entsprechend den verschiedenen Schwingungsmoden. Was wir verstehen müssen, ist, ob sich das Standardmodell mit all seinen Teilchen einschließlich Elektronen und Neutrinos aus der Superstring-Theorie ergibt. Das ist das Hauptproblem. Auf Fragen, die mehr ins Detail gehen, wie die nach den Ursachen dafür, warum das Elektron eine Ladung hat und das Neutrino keine, gibt es keine andere Antwort als die des Standardmodells. Die Aufgabe der Su346
perstring-Theorie besteht nicht darin, das Standardmodell zu ersetzen, sondern es als eine Näherung für niedrige Energien zu bestätigen und in die neue Theorie einzubinden. Leider ist es den Theoretikern noch nicht gelungen, das Standardmodell als niederenergetische Näherung der Superstring-Theorie abzuleiten, obwohl sie diesem Ziel aufreizend nahe gekommen sind. Die SuperstringTheorie enthält im niederenergetischen Grenzbereich viele natürliche Elemente, die dem Standardmodell sehr ähnlich sehen; bisher ist es jedoch noch niemandem gelungen, eine genaue Übereinstimmung nachzuweisen. Ihre Frage ist also etwas unpassend formuliert. Es ist so, als ob Sie fragen würden: »Wie berechnen Sie eine Hängebrücke nach der Allgemeinen Relativitätstheorie?« Um die Form einer Hängebrücke zu berechnen, benutzen wir die Newtonsche Gravitationstheorie, denn eine der erfreulichen Eigenschaften der Allgemeinen Relativitätstheorie besteht darin, daß sie die Newtonsche Gravitation als Näherung enthält, die für Längenbereiche gültig ist, wie sie für die Erdoberfläche charakteristisch sind. Und ebensowenig, wie ich mir nach der Entdeckung der Allgemeinen Relativitätstheorie noch einmal Gedanken über die Form einer Hängebrücke gemacht hätte, würde ich nach der Entwicklung der Superstring-Theorie noch einmal über die ganzen Erfolge des Standardmodells nachdenken. Ist eine Ladung über den ganzen Superstring verteilt oder ist sie an einer Stelle lokalisiert? 347
Für das Auftreten einer Ladung gibt es verschiedene Möglichkeiten. Nach den ursprünglichen Vorstellungen wären elektrische Ladungen nur in Theorien mit offenen Strings möglich gewesen, wobei man sich vorstellen könnte, daß die elektrische Ladung wie auch andere mit der schwachen und der elektromagnetischen Wechselwirkung verknüpfte Eigenschaften an den Enden eines Strings sitzen würden. Inzwischen gibt es jedoch wesentlich raffiniertere Vorstellungen, nach denen die Ladungen etwas mit der Art und Weise zu tun haben, in der sich die zehn Dimensionen auf vier reduzieren. Noch eine Frage, die damit im Zusammenhang steht: Wie erhält man die Vielfalt der verschiedenen Teilchenarten wie Quarks, Elektronen, Neutrinos und so weiter? Da die Strings auch in den zusätzlichen Dimensionen vibrieren, ergibt sich eine große Zahl verschiedener Moden. Dieser Zusammenhang zwischen den zusätzlichen Dimensionen oder anderen zusätzlichen physikalischen Variablen und den verschiedenen Moden stellt ein sehr ermutigendes Charakteristikum der String-Theorie dar, weil sich dadurch auf natürliche Weise multiple Teilchengenerationen ergeben. So erhält man zum Beispiel nicht nur die niedrigste Generation mit den leichten Quarks und den Elektronen, sondern auch die nächsthöhere Generation, welche die »strange-Quarks«, die Myonen und so weiter enthält. Es ist sogar so, daß die meisten Modelle zu viele solcher Generationen liefern. In einer der 348
ersten Arbeiten, in der versucht wurde, eine spezielle niederenergetische Theorie aus der String-Theorie abzuleiten, kam man auf etwa 100 Generationen. Das kommt daher, daß ein String in diesen zusätzlichen Dimensionen schwingen kann. Stimmt es, daß alle beobachteten Teilchen zu der Schwingungsmode mit der niedrigsten Frequenz gehören? Ja, sie entsprechen den niedrigsten Moden. Die nächsthöhere Mode ist so massereich, daß keine Hoffnung besteht, sie beobachten zu können. Es gibt eine große Anzahl von diesen niedrigsten Moden, die alle zu Teilchen gehören, die im Vergleich zu der für die String-Theorie typischen Massenskala von 1019 GeV praktisch masselos sind. Aber die Schwingungen innerhalb der zusätzlichen Dimensionen erzeugen keine Massen in der Größenordnung dieser Planck-Masse? Nein. Es gibt eine unendliche Anzahl von Schwingungen, die zu derart großen Massen führen, und eine zwar endliche, aber relativ große Anzahl, denen nahezu masselose Teilchen entsprechen. Diese Teilchen erhalten wahrscheinlich aufgrund komplizierterer Effekte kleine Massen, die jedoch im Vergleich mit der Planck-Skala winzig sind. Vermutlich gibt es einige hundert dieser leichten Teilchen, während eine unendlich große Anzahl von Partikeln sehr hohe Massen besitzen, die nach oben hin unbegrenzt anwachsen. 349
Einige Leute behaupten, daß es 496 verschiedene Ladungsarten gibt. Das ist die berühmte Theorie von Green und Schwarz, die heute als etwas altmodisch gilt und die von offenen Strings mit losen Enden ausgeht, an denen die Ladungen sitzen. Die Anzahl der möglichen Kombinationen ergibt sich dabei zu 496, weil dies die einzige Zahl ist, die unter den gemachten Annahmen zu einer quantenmechanisch konsistenten Theorie führt. Seit den grundlegenden Arbeiten von Green und Schwarz wurde eine Reihe weiterer Möglichkeiten für die Konstruktion befriedigender Theorien entdeckt, die zu anderen Zahlen für die möglichen Ladungsarten führen. Es müssen nicht unbedingt 496 sein, wir glauben jedoch, daß ihre Zahl ziemlich groß, aber endlich ist. Wie kann man sich diese Ladungen vorstellen? Wie mein Freund Abdus Salam gerne zu sagen pflegt, sollten wir erwarten, daß die Natur zwar einfach in ihren Prinzipien ist, aber nicht notwendigerweise einfach in ihren Strukturen. Die String-Theorie beruht auf einer Reihe extrem einfacher Annahmen über die Beschaffenheit der Welt. Davon ausgehend gelangt man über eine recht komplizierte Mathematik zu Aussagen über die Ergebnisse von Experimenten in dem uns zugänglichen Energiebereich, die ein ziemlich komplexes Bild ergeben. Ich denke, wir sollten nicht enttäuscht darüber sein, daß das Universum kompliziert ist oder daß die String-Theorie dies voraussagt. Wesentlich ist nicht, wie kompli350
ziert der Output ist, sondern wie kompliziert der Input ist. Der Input, das heißt die fundamentalen Annahmen, ist bei diesen Theorien sehr einfach, und speziell das ist es, was sie meiner Meinung nach so schön und aufregend macht. Es ist nicht so wie bei der Zubereitung eines raffinierten Gerichts, daß man alle möglichen Zutaten hineinwirft und jedesmal probiert, ob es schmeckt. Das Rezept ist sehr einfach und steht von Anfang an fest, wogegen das Endergebnis ziemlich kompliziert ausfällt. So scheint beispielsweise die Zahl 496 auf eine große, komplexe Struktur hinzuweisen, aber innerhalb des von Green und Schwarz benutzten Rahmens ergibt sie sich aus sehr einfachen Annahmen und quasi automatisch als einzige Möglichkeit. Man muß immer darauf achten, daß die Voraussetzungen einfach sind, nicht die Konsequenzen. Kann die Superstring-Theorie irgend etwas über den Protonenzerfall aussagen? Ja. In der Tat ist es so, daß einige Superstring-Theorien in der niederenergetischen Näherung in Schwierigkeiten gerieten, weil sie alarmierend hohe Raten für den Protonenzerfall lieferten. Diese Voraussage bedeutet eine sehr wichtige einschränkende Bedingung dafür, ob eine Superstring-Theorie als erfolgreich gelten kann oder nicht. Sagt eine Theorie Protonen mit einer Lebensdauer ähnlich der des Pions voraus, so ist klar, daß man sie vergessen kann. Jeder, der auf der Suche nach der niederenergetischen Version einer bestimmten String-Theorie ist, 351
sollte sehr genau auf den Protonenzerfall achten. Man kann jedoch nicht sagen, daß alle Superstring-Theorien Schwierigkeiten mit dem Protonenzerfall haben, indem sie ihn entweder als unvermeidlich oder unmöglich oder als zu schnell oder zu langsam beschreiben. Es ist nur ein Detail einer speziellen Lösung. In den ersten Tagen der String-Theorie zeigten Green und Schwarz die Anomaliefreiheit der Theorie. Hatte es damals nicht den Anschein, als würde die Forderung nach Anomaliefreiheit nur eine Theorie in 10 oder 26 Dimensionen erlauben? Ja, das stimmt. Inzwischen haben wir eine Reihe verschiedener Möglichkeiten untersucht; wir sind aber nicht sicher, ob es sich dabei um verschiedene Theorien oder verschiedene Lösungen einer einzigen Theorie handelt. Wenn es verschiedene Lösungen einer Theorie sind, kennen wir die physikalischen Prinzipien noch nicht, die darüber entscheiden, welche Lösung der realen Welt entspricht. Natürlich sind heute mehr allgemeine Möglichkeiten bekannt als zu der Zeit der ersten Arbeiten von Green und Schwarz, aber wir sind nicht sicher, wie allgemein sie sind – es könnte sein, daß sie eines Tages zu ein und derselben Theorie verschmelzen. Es ist gegenwärtig sehr schwierig, etwas Endgültiges über die String-Theorie zu sagen, weil noch eine so große Unsicherheit darüber besteht, welche von diesen vielen verschiedenen Lösungen echte Lösungen sind und welche davon unabhängige Theorien darstellen.
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Kehren wir noch einmal zu den 496 Ladungen zurück. Welche Arten von Ladungen sind das? Bei dem von Green und Schwarz entworfenen Modell wurden diese Ladungen »von Hand« eingefügt und hatten nichts mit den zusätzlichen Dimensionen zu tun. Man kann sich einfach vorstellen, daß sie an den Enden der offenen Strings sitzen. Die Annahme dieser bestimmten Zahl von Ladungen war nötig, um andere Effekte zu kompensieren, die Anomalien erzeugt und damit die Konsistenz der Theorie zerstört hätten. Die Ladungen wurden also willkürlich eingefügt, um die Theorie mit einer bestimmten Anzahl von Freiheitsgraden auszustatten. Nach der Einführung der Ladungen ergeben sich die Kräfte, die auf sie wirken oder von ihnen erzeugt werden – die elektromagnetische Kraft, die schwache Kraft et cetera – ganz automatisch aus der Kombination aller Strings mit unterschiedlichen Ladungen. Die Ladungen selbst aber wurden ad hoc und auf eine Weise eingeführt, wie sie durch die Bedingungen für die mathematische Konsistenz gefordert wurde. Es scheint, als hätte sich das Bild jetzt ein wenig geändert, da die Theoretiker beginnen, andere Möglichkeiten für die Formulierung der Theorie zu entdecken. In jüngster Zeit wurde von einigen Leuten bereits eine Formulierung in vier Dimensionen vorgeschlagen. Ja, ich wollte gerade meine eigenen Ausführungen zu diesem Punkt ergänzen. Ich sprach davon, daß sich sechs Dimensionen einrollen müßten, das ist aber nicht die 353
einzige Möglichkeit, die man sich vorstellen kann. Auch bei der vierdimensionalen Theorie treten zusätzliche Variablen auf, die man in bestimmten Fällen als Koordinaten zusätzlicher Dimensionen interpretieren kann, aber nicht muß. In einigen Fällen ist das sogar unmöglich. Man hat mehr Möglichkeiten, wenn man die zusätzlichen Freiheitsgrade nicht geometrisch interpretiert und ein Modell benutzt, das neben den vier guten alten Raumzeitkoordinaten eine Anzahl allgemeinerer Variablen enthält, die man braucht, um die Theorie konsistent zu machen. Es gibt eine Konsistenzbedingung, die nicht nur die Einführung bestimmter Variablen zusätzlich zu den vier Raumzeitdimensionen verlangt, sondern auch die Art und Weise festlegt, in der sie eingeführt werden müssen. Welche allgemeinen Regeln dafür gelten, wissen wir nicht. Jedenfalls können wir nicht alles tun, was uns gerade einfällt: Die Auswahl der Möglichkeiten wird durch die Bedingungen für die mathematische Konsistenz ziemlich eng begrenzt. Wir haben noch keine allgemeine Methode gefunden, um diese Bedingungen zu erfüllen oder zu zeigen, daß wir in einem bestimmten Fall eine vollständig befriedigende Lösung gefunden haben. Das ursprüngliche Bild, nach dem sechs von zehn Dimensionen eingerollt sind, wird heute jedenfalls nur als ein Sonderfall betrachtet. Wenn man die zusätzlichen Variablen nicht mehr als höhere Dimensionen interpretiert, kann man ihnen dann eine andere physikalische Bedeutung geben? 354
Ich glaube nicht. In ihrer endgültigen Form wird die Theorie vollständig durch die Forderung nach mathematischer Konsistenz bestimmt werden. Die physikalische Interpretation ergibt sich allein dadurch, daß man die Gleichungen der Theorie löst und feststellt, welche Voraussagen sie für die physikalischen Phänomene in dem uns zugänglichen Energiebereich machen. Es handelt sich um eine Theorie, deren wesentlicher Inhalt einen Bereich betrifft, der der direkten Beobachtung nicht zugänglich ist, weswegen wir uns nicht von unserer physikalischen Intuition leiten lassen können, denn wir verfügen hinsichtlich dieses Bereichs über keinerlei Intuition. Die Theorie muß daher durch die Forderung nach mathematischer Konsistenz festgelegt werden, und wir können nur hoffen, daß sie zu Lösungen führen wird, die der realen Welt bei den uns erreichbaren Energien ähnlich sieht. Leider ist es so, daß physikalische Vorstellungen, wie man sie üblicherweise aus experimentellen Ergebnissen ableiten kann, in diesem Fall keine große Hilfestellung geben können. Mike Green hat behauptet, daß wir unser Konzept von Raum und Zeit ändern und es dem String-Modell anpassen müssen. Im Augenblick wird die String-Theorie ja noch in einem klassischen Begriffsrahmen formuliert. Ich glaube, daß Raum und Zeit in diesen Theorien keine derart beherrschende Rolle spielen werden. Die Raumund Zeitkoordinaten sind nur vier von vielen Freiheitsgraden, die man benötigt, um die Theorie konsistent zu machen, und es ist nur die menschliche Betrachtungs355
weise, die ihnen die spezielle geometrische Bedeutung beimißt, die uns so wichtig erscheint. Ich glaube allerdings nicht, daß diese Ansicht von der Mehrheit der String-Theoretiker geteilt wird. Die meisten Theoretiker versuchen, irgendeine wunderbare geometrische Grundlage der String-Theorie zu finden, die den Prinzipien ähnelt, die Einstein für die Allgemeine Relativitätstheorie entdeckte. Vielleicht haben sie damit Erfolg. Ich habe jedoch den Verdacht, daß es sich dabei um eine irreführende Analogie handelt und daß am Ende weniger eine neue Sicht von Raum und Zeit als vielmehr ein Abbau der Überbewertung dieser Begriffe herauskommen wird. Die Raumzeitkoordinaten wären dann nicht mehr als eben 4 von 10 – oder 15 oder 26 oder wieviel auch immer – Freiheitsgraden, die man zur Beschreibung der Theorie benötigt. Ihre geometrische Bedeutung würde sich erst nach der Fertigstellung der Theorie herausstellen und nicht schon in den fundamentalen Prinzipien verankert werden. Vor einigen Jahren gab es eine Menge Wirbel, da es so schien, als ob sich die Theorie definitiv als endlich erweisen würde. Wenn ich es richtig sehe, ist die Endlichkeit der Theorie aber nur für Näherungsentwicklungen bis zu einer bestimmten Ordnung bewiesen worden. Ist das nicht aber auch bei der alten Theorie der Supergravitation gelungen, die daraufhin gleichfalls als endliche Theorie gepriesen wurde und es am Ende doch nicht war? Ich glaube, da gibt es einen Unterschied. Bei der Supergravitation galten die Argumente für die Endlichkeit 356
der Theorie eindeutig nur für die niedrigsten Ordnungen der Störungsrechnung. Dabei konnte gezeigt werden, daß die Unendlichkeiten, die auftreten könnten, in der ersten oder zweiten Näherung nicht auftreten würden. Für die String-Theorie gelten andere Bedingungen. Es gibt Argumente dafür – wenn auch nicht alle davon besonders stichhaltig und überzeugend erscheinen –, daß die Theorie für alle Ordnungen endlich sein muß. Berechnet man die niedrigsten Ordnungen der Störungstheorie, so stellt man fest, daß diese Voraussage tatsächlich zutrifft. Mit anderen Worten: Die Gründe dafür, daß die niedrigen Ordnungen der Störungstheorie bei der Supergravitation endlich sein sollten, gelten nur für diese niedrigen Ordnungen, während die Gründe für die Endlichkeit der Superstring-Theorie von allgemeiner Gültigkeit sind und von den niedrigen Ordnungen der Störungstheorie bestätigt werden. Wir haben hier also eine ganz andere Situation. Hätte jemand die Erwartung geäußert, die Supergravitation wäre über die ersten, aus sehr speziellen Gründen als endlich bekannten Ordnungen der Störungstheorie hinaus ebenfalls endlich, so hätte ich ihn als hoffnungslosen Optimisten betrachtet. Für die Superstring-Theorie stellt diese Erwartung dagegen eine vernünftige Voraussage dar, und ich wäre überrascht, wenn die Theorie nicht endlich wäre. Was ist Ihre Antwort auf die Kritik, die gegen die Superstring-Theorie vorgebracht worden ist? 357
Ich denke, das oberste Prinzip in der Physik ist, daß man tun soll, was man kann. Man soll alles tun, um Fortschritte zu erzielen. Ich würde mich sehr freuen, wenn es heute noch die gleiche Art von glücklicher Zusammenarbeit zwischen Theorie und Experiment gäbe wie vor 15 Jahren, als die Theoretiker neue Ideen ausprobierten, die von den Experimentatoren überprüft wurden, und die Experimentatoren neue Phänomene entdeckten, auf die dann wiederum die Theoretiker reagieren konnten. Unglücklicherweise hatten wir in dieser Zeit so viel Erfolg, daß dieses Kapitel abgeschlossen ist! Vielleicht kann es mit der nächsten Generation von Beschleunigern fortgesetzt werden. Wir hoffen, daß mit der Inbetriebnahme des SSC und des LEP und anderer bereits existierender Anlagen wie des Tevatron-Colliders erneut ein solches Geben und Nehmen beginnen wird. Das wäre wunderbar. In der Zwischenzeit aber muß man das tun, was möglich ist. Eine Sache, die man machen kann, ist zu versuchen, Fortschritte mit Hilfe bereits existierender Beschleuniger und anderer Anlagen zu erzielen, indem man sich trickreiche neue Experimente ausdenkt. Ich bin sehr froh, daß es Leute gibt, die das machen, und hoffe, daß sie Erfolg dabei haben werden. Bis jetzt ist dabei allerdings nicht viel herausgekommen – wir haben keinen wirklichen Fortschritt erzielt, der über das Standardmodell hinausgeht. Die andere Möglichkeit besteht darin, einen großen Sprung bis zur tiefsten Ebene zu machen und zu versuchen, von einigen sehr einfachen und eleganten Prinzi358
pien ausgehend die Dinge auf deduktive Weise zu verstehen. Das kann sich lohnen, wenn man ein paar gute Ideen hat. Wie mir scheint, ist die Superstring-Theorie eine enorm gute Idee, der man nachgehen sollte. Ich glaube nicht, daß jeder daran arbeiten sollte, ebensowenig wie jeder an der Phänomenologie und der niederenergetischen Physik arbeiten sollte. Jeder sollte das tun, was er kann. Allerdings glaube ich, daß das Studium unserer Studenten durch die Superstring-Theorie einen sehr starken mathematischen Beigeschmack erhalten wird. Es ist auch ganz gut, daß sie diese ganze Mathematik lernen, ich mache mir nur Sorgen darüber, daß einige von ihnen nicht mehr wissen, was ein Pi-Meson ist. Ich selbst halte in diesem Jahr in Austin eine Vorlesung über »Elementarteilchenphysik«, die mit der Entdeckung des Elektrons durch J. J. Thomson 1897 beginnt und die ganzen 90 Jahre mühevoller Experimente und theoretischer Anstrengungen durchläuft, die uns bis auf die Höhe unseres gegenwärtigen Verständnisses gebracht haben. Ich bin also sehr dafür, sich in die beobachteten Phänomene zu vertiefen und zu versuchen, ihnen theoretisch zu Leibe zu rücken, halte es aber auch für wichtig, die 17 Größenordnungen der Energie zu überspringen, die uns vom Planck-Bereich trennen, in dem die endgültige Antwort liegen könnte. Ob die String-Theorie eine gute Idee ist, wird sich an dem erweisen, was aus ihr herauskommt. Es wäre jedoch sehr töricht, es nicht mit ihr zu versuchen. Sie ist eine sehr schöne, vielversprechende Theorie, die schon jetzt viele qualitative Erfolge erzielt hat und einige richtige Antworten auf Fragen liefert, die 359
mit der Gravitation verknüpft sind und deren Lösung zuvor völlig unklar war. Sie ist einen Versuch wert. Es ist sehr schwer, vorauszusehen, welche Konsequenzen diese String-Theorien haben werden und welche Voraussagen auf experimentellem oder astronomischem Gebiet geeignet sind, sie zu bestätigen oder zu widerlegen. Wir wissen eben noch nicht, welche Ergebnisse die Theorie liefert, was neue Kräfte oder Teilchen anbelangt, die aus der Frühzeit des Universums übriggeblieben sein könnten oder in unseren Beschleunigern erzeugt werden könnten. Es gibt gewisse Hinweise darauf, daß die Theorien eventuell neue Kräfte voraussagen, die zusätzlich zu den bereits bekannten Kräften – der starken, schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkung – in dem gewohnten Bereich der Elementarteilchenphysik wirksam wären; Details sind jedoch noch nicht bekannt. Die mathematischen Schwierigkeiten mit der StringTheorie sind gewaltig, und obwohl eine wachsende Zahl speziell der jüngeren theoretischen Physiker auf diesem Gebiet arbeitet, könnte sich sehr wohl herausstellen, daß diese Theorien – obwohl sie dem ersten Anschein nach etwas beschreiben, was der realen Welt ähnlich sieht – einer Interpretation als Modell der physikalischen Realität unüberwindliche Hindernisse entgegenstellen. Es wäre nicht der erste Fall dieser Art. Auf jeden Fall werden wir in den nächsten Jahren eine Menge Spaß dabei haben, das herauszufinden.
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Glossar Äquivalenzprinzip: Das von Einstein so benannte Prinzip der Äquivalenz von Beschleunigung und Schwerkraft, das in seiner bekanntesten Version durch die Beobachtung beschrieben wird, daß alle Körper in einem Schwerefeld gleich schnell fallen. Äther: Ein hypothetisches, den ganzen Raum erfüllendes Medium, in dem sich elektromagnetische Wellen ausbreiten sollten. Die Vorstellung vom Äther wurde durch die Relativitätstheorie widerlegt. Atomismus: Die von den griechischen Philosophen Demokrit und Leukippos im 5. Jahrhundert v. Chr. eingeführte Theorie, nach der sich die gesamte Materie aus unzerstörbaren mikroskopischen Teilchen zusammensetzt. Baryonen: Schwere Hadronen, die aus drei Quarks bestehen. Bosonen: Eine Klasse von Teilchen, deren Spin entweder Null oder ein geradzahliges Vielfaches der Elementareinheit des Spins ist. Chiralität: Eigenschaft eines Systems von Objekten, eindeutig rechts- oder linkshändig zu sein. Eichtheorie: Eine Theorie, in der eine Kraft durch ein Feld beschrieben wird, das bestimmte abstrakte Symmetrieeigenschaften besitzt. Fermionen: Eine Klasse von Teilchen, deren Spin ein ungeradzahliges Vielfaches der Elementareinheit des Spins ist. 361
Feynman-Diagramm: Eine spezielle Technik der Darstellung von Teilchen-Wechselwirkungen in Form bestimmter Diagramme. Obgleich die Diagramme physikalisch suggestiv wirken, stellen sie eher ein Rechenschema als einen realen Prozeß dar. Gluonen: Teilchen oder Quanten, welche die starke Wechselwirkung zwischen Quarks übertragen. Gravitinos: Hypothetische Teilchen, die nach der supersymmetrischen Theorie der Gravitation teilweise für die Übertragung von Gravitationskräften verantwortlich sind. Gravitonen: Teilchen oder Quanten des Gravitationsfeldes, deren Austausch zwischen Materieteilchen als verantwortlich für die Gravitationskräfte angesehen wird. Große Vereinheitlichte Theorien (GVTs): Theorien, die eine einheitliche Beschreibung von drei der vier fundamentalen Naturkräfte versuchen – der elektromagnetischen Kraft sowie der starken und der schwachen Wechselwirkung. Hadronen: Kollektive Bezeichnung für subnukleare, im allgemeinen massereiche Materieteilchen, die der starken Wechselwirkung unterliegen. Leptonen: Kollektive Bezeichnung für subnukleare, im allgemeinen leichte Materieteilchen, die der schwachen, aber nicht der starken Wechselwirkung unterliegen. Mesonen: Hadronen mit mittlerer Masse, die aus einem Quark und einem Antiquark bestehen. Myonen: Mitglieder der Teilchenklasse der Leptonen, die bis auf ihre wesentlich größere Masse und ihre Instabilität elektronenähnliche Eigenschaften besitzen. 362
Neutrinos: Leptonen, deren elektrische Ladung und Masse wahrscheinlich Null ist. Sie zeigen eine so schwache Wechselwirkung, daß ihre Beobachtung fast unmöglich ist. Parität: Bezeichnung für die Spiegelungseigenschaften subatomarer Teilchen. Phänomenologie: Im eigentlichen Wortsinne das Studium von Phänomenen. Umgangssprachliche Bezeichnung für die pragmatische Analyse experimenteller Daten ohne große Berücksichtigung theoretischer Grundlagen. Photonen: Teilchen oder Quanten des Lichtes und anderer elektromagnetischer Wellen, die als verantwortlich für die Übertragung elektromagnetischer Kräfte angesehen werden können. Plancksche Konstante: Diese mit dem Buchstaben h bezeichnete Konstante wurde durch Max Planck als das Verhältnis zwischen der Energie und der Frequenz eines Photons eingeführt. Sie besitzt einen festen und universell gültigen Wert und ist von entscheidender Bedeutung in der Quantentheorie, tritt aber (meistens in einer durch 2π dividierten Form) auch in vielen anderen Zusammenhängen auf, z. B. als Elementareinheit des Spins. Positronen: Die Antimaterie-Partner der Elektronen. Ein Positron entspricht einem Elektron, bei dem die Vorzeichen aller Eigenschaften außer dem der Masse umgekehrt wurden. Es trägt insbesondere eine positive Ladung, daher der Name. Quarks: Elementare Bestandteile der Hadronen (Kernteilchen). Die Kombination von drei Quarks ergibt Baryonen (z. B. Protonen), die Paarbildung von Quarks führt zu Mesonen. 363
Reduktionismus: Die philosophische Anschauung, daß alle physikalischen Prozesse und Systeme letzten Endes allein aus den Eigenschaften ihrer elementarsten Bestandteile erklärt werden können. Schwache Wechselwirkung (schwache Kernkraft): Eine der vier fundamentalen Naturkräfte. Die schwache Kraft wirkt auf alle Materieteilchen, obwohl sie häufig von den viel stärkeren »starken« und elektromagnetischen Kräften überdeckt wird. Die auffallendste Wirkung der schwachen Kraft ist der Beta-Zerfall von Atomkernen. Starke Wechselwirkung (starke Kernkraft): Die zwischen den Hadronen (den Kernteilchen und den damit verknüpften Teilchen) wirkende Kraft. In der modernen Betrachtungsweise wird diese Kraft auf Wechselwirkungen zwischen den Quarks zurückgeführt. Supergravitation: Eine Theorie, in der die Gravitation als Teilaspekt einer supersymmetrischen Beschreibung der Raumzeit-Geometrie behandelt wird. Supersymmetrie: Eine abstrakte geometrische Symmetrie, die Bosonen und Fermionen in einer gemeinsamen Beschreibung vereinigt. Die Supersymmetrie bildet die Grundlage der meisten modernen Versuche zur Schaffung einer Quantentheorie der Gravitation und ist ein wesentlicher Bestandteil der SuperstringTheorie. Topologie: Ein Zweig der Mathematik, der untersucht, wie die Punkte einer Linie, Kurve, Fläche usw. untereinander zusammenhängen. Die Topologie beschäftigt sich nur sehr wenig mit der Geometrie selbst, d. h. mit Formen und Maßen, sondern konzentriert sich auf Fragen der Art, wie viele Knoten eine Linie oder wie viele Löcher eine Fläche enthält. 364
W- und Z-Teilchen: Teilchen, die die schwache Wechselwirkung übertragen. Sie wurden 1983 entdeckt, nachdem ihre Existenz schon einige Zeit davor aus theoretischen Gründen vorausgesagt worden war.
Superstrings, die derzeit umfassendste physikalische These, bietet die verlockende Aussicht, die »Weltformel« gefunden zu haben. Paul Davies und Julian R. Brown beschreiben und diskutieren auf allgemeinverständliche und packende Weise diese Theorie, indem sie bedeutende Kosmologen und Physiker zu Wort kommen lassen. Damit kann der Leser unmittelbar teilhaben am Ringen und Forschen der Fachleute, er kann Zeuge des Triumphs oder des Scheiterns einer großen Idee sein.
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