HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6615
Titel der Originalausgabe MAGIC: THE GATHERING™ TIME STREAMS Übersetzung ...
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HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6615
Titel der Originalausgabe MAGIC: THE GATHERING™ TIME STREAMS Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Birgit Oberg Das Umschlagbild malte Dave Dorman
Umwelthinweis:
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Deutsche Erstausgabe: 2/2001 Redaktion: Uta Dahnke Copyright © 1999 by Wizard of the Coast, Inc. All Right Reserved (Weitere Hinweise siehe am Schluß des Bandes) Erstausgabe bei ROC, an imprint of Dutton Signet, a division of Penguin Books USA Inc. Copyright © 2000 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München http://www.heyne.de Printed in Germany 2001 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-17220-5
INHALT
Prolog Seite 9
TEIL 1
Die Schule der Zeit Seite 13 TEIL 2
Wie in alten Zeiten Seite 111 TEIL 3
Reisen Seite 219 TEIL 4
Zwischen Engeln und Teufeln Seite 345
Epilog Seite 429
Jeff Grubb gewidmet, ebenfalls Schriftsteller und ein guter Freund
DANKSAGUNG
Phantastische Welten sind das gemeinsame gedankliche Eigentum vieler Leute: Spieleerfinder, Künstler, Herausgeber, Autoren, Direktoren, Verkäufer, Buchhalter ... und natürlich Verbraucher. Ich möchte nicht so tun, als würde die Gruppe, der ich hier danke, alle einschließen, aber jenen, die nachfolgend erwähnt sind, bin ich zutiefst verpflichtet. Zuerst einmal möchte ich den beiden Menschen danken, die am intensivsten mit mir an diesem Buch arbeiteten, meinen Lektoren Peter Archer und Jess Lebow. Beide sind Gentlemen und Gelehrte, die nicht nur kreativ sind, sondern auch analysieren können. Danke, Jungs! Zweitens stehe ich in der Schuld der Autoren, die den Weg für die neuen Magic-Bände ebneten: Jeff Grubb und Lynn Abbey. Ich kenne keine Profis, die ich mehr bewundere. Danke, daß ihr die Führung übernommen habt und mich einludet, euch zu begleiten. Als nächstes möchte ich dem Team danken, mit dem ich arbeitete: Peter Adkison, Mary Kirchoff, Emily Arons, Joel Mick, Pete Venters, Chaz Elliott, Scott McGough, Paul Thompson, Loren Coleman und Lizz Baldwin. Die Synergiewoche war einfach großartig! Zum Schluß danke ich Richard Garfield, dem Mann, durch den alles begann, und Euch, den Leserinnen und Lesern, Spielerinnen und Spielern, die die ganze Welt erst mit Leben erfüllen.
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Urza behauptet, er sei nicht verrückt. Vielleicht stimmt das. Es gibt keine Maßstäbe für die Verrücktheit von Weltenwanderern. Er lebt seit mehr als dreitausend Jahren. Er heilt durch bloße Willenskraft. Nur durch einen Gedanken reist er von einer Welt zur anderen. Sein Aussehen, seine Kleidung und sogar seine Gesichtszüge vermag er innerhalb von Sekunden nach Belieben zu verändern. Wie kann man da den Geisteszustand eines Weltenwanderers mit gewöhnlichen Maßstäben messen? Wahrscheinlich ist es unmöglich, aber sein Wahnsinn begann, ehe er zum Weltenwanderer wurde. Vor dreitausend Jahren kämpfte ein sterblicher Urza gegen seinen sterblichen Bruder. Ihr Bruderzwist verwandelte sich in einen Bruderkrieg. So fing alles an. In seinem Drang, Mishra zu töten, bediente sich Urza der Armeen aller Herren Länder, versenkte die Insel Argoth, legte den Kontinent Terisiare in Schutt und Asche und wischte ganze Nationen vom Angesicht der Welt. Er war schuld an der darauffolgenden Eiszeit. Zur Belohnung für seine Wahnsinnstaten wurde er zum Weltenwanderer. Urza behauptet, er bereue die Vernichtung. Wahre Reue wäre ein gutes Zeichen. Als er später seinen Feldzug gegen Phyrexia begann, geschah es jedenfalls nicht aus Reue. Er wollte seinen Bruder rächen. Irgendwie hatte sich Urza eingeredet, daß nicht er, sondern der Phyrexianer Gix Mishra tötete. Sicher, Gix verführte Mishra mit dem Versprechen unglaublicher Macht und verwandelte ihn schließlich 9
in ein Monstrum - halb Mensch, halb Maschine. Aber Urza war der Mörder Mishras. Wenngleich nicht in seinen Gedanken. In seinem Wahn gab er Gix die Schuld und schwor blutige Rache. Der Grund dafür war völlig verrückt, die Invasion noch viel verrückter. Urza griff Phyrexia an - ein einzelner Weltenwanderer gegen riesige Armeen dämonischer Monster. Natürlich unterlag er. Er konnte keine ganze Welt besiegen und wurde bei dem Versuch fast in Stücke gerissen. Schwer angeschlagen zog er sich in Serras Reich zurück, einer Welt voller Engel und schwebender Wolken. Dort erholte er sich geraume Zeit, wurde aber nie wieder der alte. Der Wahnsinn verfolgte ihn, genauso wie Phyrexia. Gix war ihm auf den Fersen. Kaum hatte Urza Serras Reich verlassen, traf Gix mit seinen Dämonen dort ein. Krieg brach aus. Die Himmelswelt wurde - wie jede Welt, in der Urza verweilt hatte beinahe vollständig vernichtet. Noch heute, Jahrhunderte später, siecht sie dahin. Wenn ich ihn auf diese Wahnsinnstaten anspreche, zuckt Urza nur mit den Schultern. Er behauptet, er sei anschließend wieder völlig normal geworden. Angeblich verdanke er das Xantcha und Ratepe: »Zwei lieben Freunden, die sich opferten, um den Dämon Gix zu vernichten, das Tor Phyrexias zu schließen und mir das Leben zu retten. Ich bin ihnen auf ewig dankbar.« Wahre Dankbarkeit wäre auch ein gutes Zeichen. Niemals in seinen dreitausend Lebensjahren hat Urza echte Dankbarkeit gespürt oder einen >lieben Freund< gehabt. Ich kenne ihn seit dreißig Jahren. Seit zwanzig Jahren arbeite ich Seite an Seite mit ihm an der Akademie, die wir hier auf Tolaria gründeten. Ich bin nicht sein lieber Freund. Das ist niemand. Die meisten Lehrer und Schüler hier kennen nicht einmal seinen richtigen Namen und nennen ihn Meister Malzra. Die einzige Person, die Urza nahe genug stand, um ein 10
lieber Freund zu sein, war sein Bruder, und wir alle wissen, was mit ihm geschah. Nein, Urza ist unfähig, Dankbarkeit oder Reue zu empfinden, obwohl es Leute wie Xantcha, Ratepe, Serra und mich gab und gibt, die ihn wirklich lieben und ihr Leben für ihn geben würden. Aber er scheint nicht in der Lage zu sein, unsere Zuneigung zu erwidern. Das reicht natürlich nicht aus, um ihn als verrückt zu bezeichnen. Wie gesagt, es ist schwierig, Weltenwanderer mit gewöhnlichen Maßstäben zu messen, doch Urzas kindischer Glaube, Xantcha und Ratepe, Serras Reich, Argoth und Mishra hätten sich für ihn geopfert... Offenbar heißt das, daß alles und jeder, der Urza etwas bedeutet, vernichtet wird. Und was folgt daraus für mich, seinen neuesten Freund? Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
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Jhoira stand am Rand ihrer Welt. Hinter ihr lag die Insel Tolaria, deren Palmenhaine und Hörsäle von magiebegabten Wunderkindern und Maschinenwesen überquollen. Ein Königreich nie enden wollender Versuche, sinnloser Experimente, Sorgen und Arbeit, viel Arbeit. Vor ihr erstreckten sich das blaue Meer, der blaue Himmel und die grenzenlose Welt. Wolken häuften sich über den schimmernden Wogen zu riesigen Gebirgskämmen auf. Wellen mit weißen Schaumkronen zerschellten an den zerklüfteten Felsen zu ihren Füßen. Hinter dem schmalen Streifen des Horizontes wartete die ganze Welt auf sie. Sie träumte, dort draußen befände sich ihr Seelengefährte. Alles war dort zu finden: ihre Heimat, ihre Eltern, ihr Volk, ihre Zukunft. Jhoira seufzte und ließ sich auf einem sonnengewärmten Felsbrocken nieder. Der Seewind fuhr ihr durch die langen schwarze Haare, die ihr über die schmalen Schultern fielen, und ließ die weißen Gewänder, die alle Studenten der Akademie trugen, um ihre schlanke Gestalt flattern. Sie hatte schon unzählige Stunden an diesem sonnigen Ort verbracht, ihrem Refugium, das ihr in letzter Zeit ebensoviel Kummer wie Freude gemacht hatte. Seit acht Jahren weilte sie an der Akademie und lernte alles über Maschinen. Bei ihrer Ankunft war sie ein Wunderkind gewesen. Inzwischen hatte sie sich zu einer Meisterin ihres Fachs gemausert. Außerdem war sie zu einer Frau herangereift und mit ihren achtzehn Jahren beinahe erwachsen. Sie hatte genug von der 14
Schule, den Kindern, dem Schwefel und dem Maschinenöl. Täuschung und Illusion hingen ihr zum Halse heraus, sie sehnte sich nach etwas Wahrhaftigem nach jemand Wahrhaftigem. Jhoira schloß die Augen und atmete die salzige Luft ein. Ihr Seelengefährte würde groß und sonnengebräunt sein, wie die jungen Ghitukrieger daheim, mit klarem Blick und starken Armen. Er wäre klug, oh ja, aber nicht wie Teferi und die anderen Knaben, die Jhoiras Aufmerksamkeit durch kindisches Benehmen und plumpe Annäherungsversuche auf sich lenken wollten. Er wäre ein Mann, ein geheimnisvoller Mann. Das war das Allerwichtigste. Sie würde sich nicht in einen Mann verlieben, der nicht im tiefsten Inneren ein Geheimnis barg. Sie öffnete die Augen und beugte sich vor. Mit dem Fuß wirbelte sie eine Staubwolke auf. »Ich bin eine Närrin. So einen Mann gibt es auf der ganzen Welt nicht.« Und selbst wenn es ihn gab, würde sie ihn niemals kennenlernen, solange sie hier auf dieser verdammten Insel hockte. * * * Der Silbermann erwachte stehend. Er hatte sich schon früher bewegt, war gegangen und hatte gesprochen. Er hatte den riesigen Metalleib bereits bewohnt, aus den silbrigen Augen geschaut und Gegenstände mit den gewaltigen Pranken aufgehoben. Früher war es ihm wie ein Traum erschienen. Jetzt war er aufgewacht. Jetzt lebte er wirklich. Das Labor war hell und strahlend sauber. Meister Malzra mochte es sauber - sauber, aber vollgestopft. An der einen Wand hingen Hunderte von Skizzen, halbfertig oder vollendet. Sie waren mit Tinte, Bleistift oder Kreide ausgeführt worden. Die nächste Wand beherbergte ganz besondere Geräte: Metallstäbe, Stahl15
sägen, Gußformen, Pressen, Walzen, Blasebälge und Bohrer. Die dritte Wand bedeckten Regale mit Zapfen, Zahnrädern, Stützen und Werkzeugen. An der vierten Wand standen die verschiedensten kleinen Maschinen. Die fünfte - nur wenige Räume der Akademie waren viereckig - barg den Eingang. In der Mitte des Raumes erhob sich ein schwarzer Schmiedeherd von gewaltigen Ausmaßen. Rauch stieg empor und zog durch eine Öffnung in dem kuppelförmigen Dach ab. Auf halber Höhe befand sich eine Galerie, die rings um den großen Raum lief. Von dort oben schauten neugierige Augen auf das letzte Experiment Meister Malzras hinab. Sie alle starrten den Silbermann an. Der Silbermann starrte zurück. Er hatte Angst und fühlte sich fehl am Platze. Er fragte sich, was sie über ihn dachten, und ihre Meinung bedeutete ihm mehr, als er für möglich gehalten hätte. Alles war anders. Er hatte das Labor schon oft gesehen, hätte aber vorher keine Worte wie >sauberhell< und >vollgestopft< benutzt, um es zu beschreiben. Jetzt fiel ihm viel mehr auf als die bloße Gegenwart bestimmter Dinge oder Personen. Er begriff, was die Anordnung und der Zweck bestimmter Gegenstände über den Besitzer aussagten. Das Labor war ein Spiegelbild von Meister Malzra - uralt, besessen, genial, unermüdlich, beschäftigt, kurzsichtig, grandios ... Inzwischen studierte ihn Meister Malzra eingehend. Sein Blick war durchdringend. Pergamentene Haut legte sich unter dem skeptisch zusammengekniffenen Auge in Falten. Die Nasenflügel bebten, obwohl er überhaupt nicht zu atmen schien. Eine rußgeschwärzte Hand hob sich mit kaum merklichem Zittern, um den aschblonden Bart zu kraulen. Er schluckte, blinzelte - eigentlich sollten diese Augen, so hart und kalt wie Diamanten, überhaupt nicht blinzeln müssen. »Irgendwelche auffälligen Veränderungen im Ener16
giestrom des Probanden, Barrin?« fragte Malzra über die Schulter hinweg. Eine seltsame Begrüßung. Der Silbermann war ein wenig verärgert. »Eine berechtigte Frage«, lautete die Antwort. Malzras Stellvertreter, Meister Barrin, kletterte von einem Podest neben der Esse hinab und wischte sich die schmutzigen Hände an einem weißen Tuch ab. »Warum fragt Ihr ihn nicht selbst?« Wieder blinzelte Malzra. »Wen?« »Ihn«, wiederholte Barrin und unterdrückte ein Lächeln. »Den Probanden.« Malzra schürzte die Lippen. Er nickte. »Proband, ich bin Meister Malzra, dein Schöpfer. Ich möchte wissen, ob du eine Veränderung in deinem Energiestrom bemerkst.« »Ich weiß, wer Ihr seid«, antwortete der Silbermann. Er sprach mit einer tiefen Stimme, die im Inneren des Metallkörpers widerhallte. »Ich habe eine große Veränderung des Energiestroms bemerkt. Ich bin erwacht.« Stimmengewirr drang von der Galerie herab. Beinahe hätte Malzra gelächelt. »Oh, du bist erwacht. Gut. Wie dir zweifellos aufgefallen ist, haben wir gewisse Veränderungen an dir vorgenommen, um deine Bewegungen, deinen Verstand und deine gesellschaftlichen Fähigkeiten zu verbessern.« Er knirschte mit den Zähnen und suchte nach Worten. Schließlich sah er hilfesuchend zu Barrin hinüber. Der Magier, ein hagerer Mann mittleren Alters, angetan mit einem weißen Gewand, trat näher. Er klopfte dem Silbermann auf die Schulter. »Hallo. Wir freuen uns, daß du erwacht bist. Wie fühlst du dich?« »Verwirrt«, hörte sich der Silbermann sagen. Mit verwunderter Stimme fuhr er fort: »Alles hat eine neue Dimension erhalten. Mein Kopf ist mit den widersprüchlichsten Informationen angefüllt.« »Widersprüchliche Informationen?« fragte Barrin. 17
»Ja. Zum Beispiel spüre ich, daß Meister Malzra, obwohl er Euch in Rang und Alter überlegen ist, sich ob seines gesellschaftlichen Unbehagens oft auf Euch verläßt.« »Gesellschaftliches Unbehagen?« wunderte sich Barrin. »Er zieht die Gesellschaft von Maschinen dem Zusammensein mit Menschen vor«, erklärte der Silbermann. Von der Galerie ertönte unterdrücktes Kichern. Mit finsterer Miene sah Malzra hinauf. Der Silbermann fuhr fort-. »Gerade jetzt spüre ich, daß meine Aussage, obwohl sie zutrifft, Meister Malzra ärgert, die Studenten belustigt und Euch in Verlegenheit bringt.« Barrin errötete leicht. »Stimmt genau.« Er wandte sich an Malzra. »Ich könnte noch ein paar magische Prüfungen vornehmen, aber auch so ist eindeutig, daß die geistigen und gefühlsmäßigen Regungen des Probanden fehlerlos funktionieren.« »Viel zu gut«, meinte Malzra zur Freude der Zuschauer auf der Galerie. »Mir wäre lieber, wenn diese Regungen in meiner Gegenwart nicht weiter erprobt würden.« »Mit anderen Worten?« »Schickt den Probanden hinaus. Er soll sich unter die Studenten mischen. Wir behalten seine Fortschritte im Auge.« Barrin sah den Silbermann eindringlich an. In seinen braunen Augen mischten sich Weisheit und Magie, »Du hast gehört, was Meister Malzra sagt. Geh hinaus. Sieh dich um. Lerne Menschen kennen. Finde Freunde. Wir rufen dich, wenn wir weitere Experimente durchführen wollen.« Der Silbermann nahm die Befehle zur Kenntnis und ging zur Tür. Als er an den Geräten und Maschinen vorüberschlurfte, wunderte er sich über die Abnei18
gung, die er für seinen Schöpfer empfand. Malzra behandelte ihn wie einen Gegenstand, Barrin dagegen wie eine Person. Als könne er Gedanken lesen, folgte ihm Barrin und klopfte ihm erneut auf die Schulter. »Du hast recht, was Meister Malzras >gesellschaftliches Unbehagen< angeht. Er zieht Maschinen den Menschen vor. Du hast aber nicht bemerkt, daß er nicht wußte, wie er mit dir umgehen soll.« Die Antwort des Silbermannes fiel trotzig aus. »Das habe ich nur zu deutlich gemerkt.« »Aha«, meinte Barrin. »Das heißt aber, daß er dich nicht für eine Maschine hält. Nicht mehr. Für ihn wirst du jetzt zu einer Person.« * * * Als der Silbermann und die Studenten das Labor verließen, zog Barrin Urza zur der mit Skizzen übersäten Wand. Mit Bleistift und Tinte war der Metallmensch bis in jede Einzelheit aufgezeichnet worden. »Ihr habt recht behalten«, sagte Barrin ruhig. »Xantchas Herz war der Schlüssel. Ihr Denkvermögen und die Empfindungsfähigkeit waren unversehrt, genau, wie Ihr vermutet habt. Wir können dankbar sein, daß ihre Erinnerungen oder ihre Persönlichkeit nicht überlebten - anscheinend. Dennoch frage ich mich, ob es ratsam war, etwas, das phyrexianischen Ursprungs ist, in den Kopf Eurer neuesten und mächtigsten Erfindung einzupflanzen. Mit einem Belebungszauber hätte ich das gleiche erreichen ...« Der Meister winkte ab. »Ich wollte sein Empfindungsvermögen durch rein mechanische Vorgänge erzeugen. Außerdem haftet dem Herzkristall nichts Phyrexianisches mehr an. Auch von Xantcha ist darin nichts mehr übrig - es reicht nur aus, um logisches Denken, Gefühle und gesellschaftliches Lernen zuzulassen.« 19
Die Wortwahl ließ Barrin leicht zusammenzucken. »Tja, das ist so eine Sache. Wir haben es nicht länger mit einer Maschine zu tun. Das wißt Ihr, und ich weiß es auch. Und auch der Proband weiß es. Ihr habt ihm Gefühle verliehen. Jetzt müßt Ihr sie ihm zugestehen. Ihr müßt sie respektieren.« Ein ausdrucksloser Blick traf ihn. »Versteht Ihr nicht? Wir haben es nicht länger mit einem Gegenstand zu tun. Er ist ein Mensch, nein, mehr als das, er ist ein Kind. Man muß ihn leiten, ihm helfen ...« Der Meister sah Barrin grimmig an. »Ich wünschte, Ihr hättet schon früher davon gesprochen. Wir hätten ein Merkblatt erstellen sollen, um diesen Punkt der Entwicklung zu behandeln.« »Aber das ist es doch!« widersprach Barrin. »Dafür kann man kein Merkblatt erstellen. Es läßt sich nicht vorherbestimmen. Ihr dürft nicht länger wie ein Wissenschaftler denken, sondern wie ein ... nun, wie ein Vater.« »Mit zwölf wurde ich Waise. Mishra und ich. Wir sind trotzdem gut zurechtgekommen.« Bei dieser Aussage schnaubte der Magier verächtlich. »Wenn Ihr es wünscht, werde ich mich an Eurer Stelle als Mentor betätigen, aber im Laufe der Zeit solltet Ihr Eure Beziehung zum Probanden festigen. Das bedeutet, daß Ihr ihm sagt, wer sein Schöpfer in Wirklichkeit ist: Urza, der Weltenwanderer.« * * * Meister Malzras Labor war für den Silbermann und seinen neu erwachten Verstand verwirrend gewesen. Die Gänge und Räume außerhalb des Labors - Hörsäle, Klassenzimmer, Operationssäle, Windtunnel, Versuchsräume und unzählige andere Labore - waren überwältigend. Während er das Gebäude erforschte, begriff er, was eine Akademie war: Ein Haus, in dem 20
Wissen gesammelt, vermittelt und angewandt wurde. Welch eine Offenbarung! Seine Schöpfer waren Lernende. Sie waren keine allwissenden Engel, von logischem Denken und himmlischen Vorahnungen getrieben. Sie waren dumme Tiere, über selbige erhoben nur durch unersättliche Neugier, die bei den einzelnen unterschiedlich ausgeprägt war. »Ich bin Teferi«, rief ein Junge, der sich dem Silbermann in den Weg stellte und stehenblieb, als fordere er das Wesen heraus, ihn über den Haufen zu rennen. »Ich bin ein Zauberlehrling.« Er unterstrich die Worte mit einem Fingerschnippen, worauf blaue Funken durch die Luft stoben. Der Silbermann blieb stehen und beugte sich ein wenig herab, um den jungen Burschen besser betrachten zu können. Teferi hatte ein schmales, dunkles Gesicht und erinnerte ein wenig an einen Kobold. Zerzauste dunkle Haare hingen vor den funkelnden Augen. Er trug die weißen Gewänder der Schüler Tolarias. In dem Ledergürtel um seine Hüften steckten Kristalle, Zauberstäbe und Glücksbringer. Entgegen den Vorschriften der Akademie trug er keine Sandalen, und die Zehennägel waren mit seltsamen Zeichen in leuchtenden Farben bemalt. Er streckte dem Silbermann die Hand entgegen. Der Metallmensch ergriff sie und schüttelte sie vorsichtig. »Ich bin Meister Malzras Geschöpf.« Kaum hatte er die Hand des Jungen berührt, lief ein eigenartiges Zittern durch seinen silbernen Arm. »Dein Händeschütteln fühlt sich scheußlich an.« Der Knabe zog die Hand zurück und zuckte die Achseln. Er wirkte enttäuscht. »Bloß ein Zauber, an dem ich gerade arbeite. Wirft die Leute um. Golems anscheinend nicht. Was ist das überhaupt für ein Name: Meister Malzras Geschöpf?« »Das ist der einzige Name, den ich habe«, antwortete der Silbermann wahrheitsgemäß. 21
Teferi verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Hört sich nicht gut an. Jetzt bist du eine Person. Du brauchst einen richtigen Namen.« Andere Studenten versammelten sich im Gang hinter Teferi und neigten sich erwartungsvoll vor. »Ich bin mit Namensgebungen nicht vertraut.« Teferi grinste selbstbewußt. »Ich schon. Wollen wir mal nachdenken. Du bist groß und glänzt. Was ist noch groß und glänzend? Der Nullmond. Warum nennen wir dich nicht den Nullmann?« Die Studenten lachten über den Vorschlag. Der Silbermann war ein wenig verärgert. »Das hört sich nicht gut an. Null bedeutet nichts. Dein Vorschlag würde aussagen, daß ich ein Nichts von einem Mann bin.« Teferi nickte ernsthaft, vermochte aber ein hämisches Grinsen nicht zu unterdrücken. »Das geht natürlich nicht. Allerdings bist du kein richtiger Mann. Du bist ein Artefakt. Arty wäre ein guter Name für dich. Arty, das Artefakt.« Der Silbermann wußte keinen Grund, warum er den Vorschlag hätte ablehnen sollen - abgesehen vom Kichern der anderen Studenten. »Ist Arty ein bei Menschen gebräuchlicher Name?« »Oh, ja!« antwortete Teferi voller Begeisterung. »Ein Vorname, aber die meisten Menschen haben auch einen Nachnahmen. Mal sehen - du bist aus Silber. Was sonst besteht aus Silber? Löffel. Da du sehr groß bist, sollten wir dich nach dem größten Löffel benennen. Da wäre die Schöpfkelle oder vielleicht eine Schaufel. Also sollte dein vollständiger Name Arty Schöpfkelle oder Arty Schaufelkopf lauten.« Die jungen Leute lachten scheinbar über alles und jedes. Daher ärgerte sich der Silbermann nicht länger über ihre Belustigung. »Welcher Name klingt für menschliche Ohren angenehmer?« »Oh, beide werden jedem, der sie hört, ein Lächeln 22
entlocken. Schöpfkelle hört sich vielleicht ein wenig zu großartig an, als seiest du eingebildet. Schaufelkopf ist viel einfacher. Ich stimme für Arty Schaufelkopf. Was meint ihr dazu?« Die versammelten Studenten stimmten jubelnd zu, und der Silbermann wurde von der allgemeinen Aufregung mitgerissen. Im Augenblick erschien ihm jeder Name besser als gar keiner. »Also heiße ich Arty Schaufelkopf«, erklärte er feierlich. »Dann komm mit, Schaufelkopf«, lud ihn Teferi mit großartiger Geste ein. Bunte Trugbilder entströmten seinen Fingerspitzen. »Ich habe dir viel zu zeigen.« Die Studenten umringten den Golem und ergriffen seine kalten Metallhände mit warmen Fingern. Er trottete hinter ihnen her und gab sich Mühe, ihnen nicht auf die Füße zu treten. Die jungen Leute führten ihn herum, als wäre er ein hochangesehener Besucher. Zuerst suchten sie einen großen Speisesaal auf, der hohe Wände aus Alabaster hatte. Elfenbeinerne Balken zierten die Decken. In diesem weißen Saal standen lange dunkle Tische, an denen zahlreiche Studenten saßen, die Köpfe über Schüsseln mit Suppe und Teller mit Zwieback und Käse gebeugt. »Das ist die große Halle«, erzählte Teferi. »Hier essen die Studenten. Die Speisen werden so angerichtet, daß sie uns nicht von unseren Studien ablenken. Siehst du, wie farblos und eintönig alles ist? Der Geschmack ist noch unscheinbarer. Niemand kommt in Versuchung, an einem Zwieback zu nagen und sich in Lobpreisungen über seine Beschaffenheit zu ergehen.« Der Golem merkte, daß der Junge die Wahrheit sprach. »Meister Malzra muß viel an eurem Studium liegen.« Teferi lachte, aber es war kein frohes Lachen. »Oh ja. Er hegt unseren Verstand wie ein Bauer sein Saatgut 23
hegt. Er häuft Dung auf unsere Köpfe, damit wir wachsen und gedeihen und reiche Frucht tragen. Dann kommt er mit der Sense und schneidet uns die Köpfe ab, um seinen eigenen Appetit zu stillen. Eine hervorragende Sache, je nachdem, auf welcher Seite man sich befindet.« Bei den letzten Worten führte er den Silbermann und seine Gefährten den Flur entlang zu einem anderen Raum, ähnlich dem ersten, nur war die Decke in dunklen Farben gehalten und die Studenten an den langen Tischen hatten die Köpfe über Papierstapel gebeugt; man hörte das Kratzen der Federkiele. »Hier siehst du einen Teil des Dungs, von dem ich vorhin sprach. Die Studenten kopieren Pläne und Schriften Meister Malzras, Meister Barrins und anderer Gelehrter. Durch das gewissenhafte Abschreiben der Ergüsse unserer Lehrmeister werden auch wir irgendwann einmal zu guten Gelehrten.« Der Silbermann nickte interessiert. »Was beschreiben diese Pläne und Schriftstücke?« »Maschinen, wie du eine bist. Apparate, Geräte. Er besitzt ein ganzes Mausoleum - äh, Museum natürlich - voll mit Artefakt-Kreaturen. Auch du wirst schon bald dort stehen. Meister Malzras Phantasie arbeitet unentwegt und wird dazu benutzt, komplizierte Geräte zu erfinden, mit denen er sich Arbeit erspart. Er hat zahlreiche Apparate geschaffen, die die Suppe und die Zwiebäcke schneller und einfacher zubereiten, die die Freiheit derer, die unter seinem Befehl stehen, wirkungsvoller einschränken und uns besser gegen den äußeren Feind verteidigen, damit uns außer ihm selbst niemand quälen kann.« Unbehagen beschüch den Silbermann bei diesen Worten. »Der äußere Feind? Hat Malzra Feinde?« »Oh ja, jeder ist gegen ihn. Wußtest du das nicht?« fragte Teferi lachend und ging weiter. Er zauberte ein Messer herbei, wirbelte es zwischen den Fingern herum und ließ es wieder verschwinden. »Jedenfalls 24
glaubt Malzra das. Er besitzt Aufziehfiguren und mechanische Krieger, die ununterbrochen um die Akademie patrouillieren. Tonmänner durchstreifen die Wälder am Meer, und automatische Vögel fliegen als Kundschafter über die Insel. Ich habe noch nie von einem wirklichen Feind gehört, aber Malzra verbringt so viel Zeit mit dem Bau und der Vervollkommnung dieser Kreaturen, daß mehr als nur schlichter Verfolgungswahn dahinterstecken muß. Was meinst du?« »Höchstwahrscheinlich«, antwortete der Golem. Sie kamen zum nächsten Raum, der voller Metallteile war. Mechanische Krieger lehnten an den Wänden, in Einzelteile zerlegte Maschinen standen herum, in den Ecken stapelte sich Schrott, und an der Wand gegenüber der Tür befand sich ein gewaltiger offener Hochofen. Rechts neben der Öffnung standen Arbeiter, die riesige Blasebälge betätigten und unentwegt Kohlen in die Flammen schaufelten. Auf der linken Seite leerten andere Arbeiter Körbe mit Metallstücken und größeren Ersatzteilen in den feurigen Schlund. Im Hintergrund des Raumes eilten Studenten zwischen den Maschinen umher und machten sich wie Aasgeier an den leblosen Gestalten zu schaffen. Den Silbermann überlief ein kalter Schauder. Teferi bemerkte es und grinste verbittert. »Siehst du, Arty, auch wenn Malzra keine anderen Feinde hat, so könnten sich doch seine eigenen Kreaturen mit Leichtigkeit gegen ihn wenden. Sie sollten es sogar. Sie haben allen Grund, ihn zu hassen. Malzra hat seine Spielzeuge schnell satt. Ich stelle mir vor, daß eine ganze Armee Metallmänner - so wie du - erfährt, daß er sie einschmelzen will. Sie könnten übers Meer fliehen. Ich stelle mir vor, wie sich ganze Nationen von Aufziehgeschöpfen zusammentun und die Hoffnung hegen, zurückzukehren, um ihren Schöpfer zu töten.« Der Silbermann war entsetzt. »Wie könnte ein Artefakt es jemals wagen, seinen Schöpfer zu vernichten?« 25
»Warte ein Jahr ab, Arty«, sagte Teferi lachend. Diesmal stimmte keiner seiner Freunde in das Gelächter ein. Der Junge tätschelte den Arm des Golems. »Ein Jahr gebe ich dir – höchstens zwei, ehe du dem glühenden Hochofen gegenüberstehst, So ist es nun mal. Wenn du in Einzelteilen in jenem Raum liegst, dann frage dich, wie du über Meister Malzra denkst.« * * * Wieder einmal saß Jhoira an ihrem felsigen Zufluchtsort. Sie verbrachte immer weniger Zeit in der Akademie und immer mehr hier draußen, wo sie von fernen Orten und einer wunderbaren Zukunft träumte ... Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Dort unten an der Küste, zwischen den beiden wie Finger aufragenden Felsbrocken, regte sich etwas Weißes. Es sah wie der Flügel einer Möwe aus, war aber viel größer. Ein Pelikan? Ein weißer Seelöwe? Jhoira blinzelte und rieb sich die Augen. Die See und der Himmel waren strahlend blau. Vielleicht handelte es sich bloß um Schaumkronen. Nein, das war kein Schaum. Es sah eher wie Stoff aus. Vielleicht ein Student? Jhoira rutschte von der Felskante herab und kletterte den Abhang hinunter. Eine Seite des Stoffes hing an einem Holzbalken. Ein Mast! Es war ein Segel. Jhoira beschleunigte ihre Schritte. Die Sohlen ihrer Sandalen rutschten über kleine Steine und Sand. Sie stolperte über den unebenen, mit Gras bewachsenen Boden und lief auf die beiden windzerklüfteten Felsen zu. Hinter den Felsen lag der weite Sandstrand, nur von dunklen Klippen unterbrochen. An einer solchen Klippe flatterte das zerfetzte Segel über einem stark beschädigten Boot. Der Aufprall hatte den Bug eingedrückt und die Planken mittschiffs zertrümmert. Jede Welle drückte den Schiffsrumpf weiter in die zerklüfteten Steine. 26
Vorsichtig ging Jhoira näher. Nur selten gelangten Schiffe nach Tolaria. Bei den meisten handelte es sich um die eigenen Vorratsschiffe der Akademie, auf denen nur Seeleute segelten, die Meister Malzra persönlich ausgesucht hatte. Die Insel war zu abgelegen und zu weit abseits der üblichen Handelsrouten, um andere Schiffe anzulocken. Dieses Boot war sicherlich lange Zeit ziellos umhergetrieben, ehe es an der Insel zerschellte. Vielleicht war es unbemannt. Vielleicht war die Besatzung über Bord gespült worden. Während sie näherging, hielt Jhoira nach Lebenszeichen im Wrack Ausschau. Die Abdrücke ihrer Sandalen füllten sich hinter ihr mit Salzwasser. Sie erreichte die Klippe und kletterte hinauf. Das Boot war nicht groß und hätte ebensogut mit einem wie mit fünf Matrosen bemannt gewesen sein können. An Deck herrschte heillose Unordnung. Überall lagen abgerissene Taue und leere Fässer herum, die bei jeder neuen Welle umherrollten. Die Luke stand offen, und in der dunklen Kajüte erspähte Jhoira Möwen, die sich um Schiffszwieback stritten, der aus einer umgestürzten Kiste quoll. Der Hauptmast des Bootes, an dem das zerfetzte Segel hing, war stark beschädigt, stand aber noch aufrecht. Es sah aus, als sei das Boot in voller Fahrt gewesen, als es gegen die Klippen prallte. Bestimmt war es am gestrigen Abend auf Grund gelaufen, als ein mitternächtlicher Sturm den Glimmermond mit Wolken verhüllte. Eine schmale Treppe führte zu einer Tür hinab. Bestimmt handelte es sich um die Kapitänskajüte. »Was tust du hier?« fragte sich Jhoira besorgt, als sie die Klippe hinabstieg, ein Bein über die Reling schwang und sich auf das schwankende Deck begab. »Das Schiff kann sich jeden Augenblick losreißen, umkippen und dich ins Meer hinausbefördern.« Trotzdem ging sie weiter und erreichte die Treppe, die zur Kapitänskajüte führte. Langsam kletterte sie 27
die Stufen hinab. Mit einem Ruck öffnete sie die rotgestrichene Tür und wich zurück, als ihr heiße, abgestandene Luft entgegenschlug. Der Raum war dunkel und überfüllt. Bei jeder neuen Welle rutschten die auf dem Boden verteilten Gegenstände hin und her. Sie entdeckte Landkarten, einen Kompaß, Federkiele, eine zerborstene Laterne, ein Lineal und etliche Gegenstände, die sie nicht genau erkennen konnte. An einer Wand der Kabine stand ein kleiner Tisch, an der anderen befanden sich zwei übereinanderliegende Kojen. In der unteren lag eine Gestalt. Tot, dachte Jhoira. Der Mann lag völlig reglos, obwohl das ganze Boot ständig schwankte. Unter den goldenen Locken erblickte sie ein gebräuntes Gesicht. Dichte Bartstoppeln bedeckten das Kinn. Die großen, kräftigen Hände lagen gefaltet auf seiner Brust. Er sah wie ein Toter aus. Jhoira wich zurück. Vielleicht handelte es sich um ein Pestschiff, und dieser Mann war als letzter gestorben. Wie dumm von ihr, an Bord zu klettern! Dann bewegte er sich. Er atmete, und sie wußte, daß sie ihn nicht im Stich lassen würde, auch wenn er die Pest hatte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, durchquerte sie die vollgestopfte Kabine, beugte sich über die Koje und hob den Mann hoch. Sie war schon immer sehr kräftig gewesen. Die Ghitu aus Shiv mußten stark sein. Den Mann über die Schulter geworfen, wankte sie aus der Kabine und die Treppen hinauf. Es war schwierig, das schwankende Deck mit einer Last auf der Schulter zu überqueren, und Jhoira geriet zweimal ins Stolpern. Grimmig biß sie die Zähne zusammen und schaffte es, die Reling zu erreichen. Mit einem verzweifelten Satz sprang sie auf die Klippe und blieb dort keuchend liegen. Als sie sich vom Deck des Schiffs abstieß, drehte sich das Boot leicht zur Seite. Eine hohe Welle hob es in die Höhe und drohte es auf Jhoira und den Mann fallen zu 28
lassen. Sie beeilte sich, ein Stück höher zu klettern. Die Welle rollte wieder ins Meer hinab und riß das Wrack mit sich. Der Mast zerbarst wie ein dünner Zweig. Wie ein Leichentuch legte sich das Segel über das Deck, während das Boot von der nächsten Welle ergriffen und abgetrieben wurde. Zersplitterte Fässer und anderes Treibgut tanzten auf dem Wasser. Keuchend beobachtete Jhoira, wie das Wrack immer wieder in die Höhe geworfen und in die Tiefe gerissen wurde. Eine gewaltige Woge erhob sich, und das Boot verschwand. Eine Weile sah sie es noch wie ein weißes Seeungeheuer unter Wasser treiben. Jhoira wartete auf eine Pause zwischen zwei heftigen Wellen und verließ die Klippen. Sie schritt den Strand entlang und überlegte, ob sie den Mann hier ablegen sollte. Ein schneller Blick den Hang hinauf verriet ihr, daß keine anderen Studenten oder Gelehrten das Wrack und den Mann entdeckt hatten, aber gewiß würde bald jemand auftauchen. Dann war der Seemann so gut wie tot. Malzra duldete keine Fremden auf seiner Insel, und die Studenten waren verpflichtet, Schiffbrüchige sofort anzuzeigen. Natürlich wollte Jhoira irgendwann auch diesen melden, aber im Augenblick brauchte noch niemand von ihm zu wissen. Trotz ihrer Kraft erwies sich der Anstieg zu ihrem Versteck als ausgesprochen mühselig. Als er geschafft war, legte sie ihre Last auf das sonnendurchflutete Plateau, auf dem sie so viele Nachmittage verbracht hatte. Sie überprüfte Atmung und Puls des Mannes und legte ihm die Hand auf die Stirn, um herauszufinden, ob er Fieber hatte. Er fühlte sich warm an, aber das konnte auch an der Sonne liegen. Es gab eine bessere Möglichkeit. Mit wild klopfendem Herzen beugte sie sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. »Heiß. Ja, sehr heiß«, murmelte Jhoira atemlos. Sie zog den Umhang von den Schultern, suchte zwei 29
Äste und errichtete ein Sonnendach über dem Bewußtlosen. Dann zog sie eine kleine Flasche aus dem Gürtel, setzte sie dem Mann an die Lippen und goß ein wenig kühles Wasser in seinen Mund. Er war wunderschön: sonnengebräunt groß, kräftig und sehr geheimnisvoll. Das war das Wichtigste überhaupt! Die letzten Tropfen rannen aus der Flasche. »Du bleibst hier«, flüsterte sie und berührte seine Schulter. »Niemand darf dich sehen! Ich hole frisches Wasser und Decken - Vorräte. Ich kümmere mich um dich. Bleibe hier!« Ihr Herz klopfte wie ein gefangener Vogel in ihrer Brust, und Jhoira eilte davon, ihr Geheimversteck und den geheimnisvollen Fremden zurücklassend. Kaum waren ihre Schritte verklungen, als sich die blauen Augen des Mannes öffneten. Sie funkelten, und das Funkeln wirkte beinahe metallisch. Vielleicht spiegelten sich nur die silbrigen Wolken in seinen Augen, aber es konnte auch etwas anderes sein: etwas Unmenschliches, etwas Bedrohliches.
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Monolog
Endlich hat Urza es geschafft und eine Maschine gebaut, die wahrhaftig lebt. Seit dreitausend Jahren arbeitet er daran. Jetzt, da es ihm gelungen ist, weiß er nicht, was er damit anfangen soll. Der Silbermann wurde geschaffen, um Urza einen Zugriff auf die Vergangenheit zu ermöglichen, und zwar noch weiter zurück als dreitausend Jahre, bis in die Zeit der Thran. Urza hofft, der Golem kann in das Zeitalter dieses uralten Volkes zurückreisen. Also sechstausend Jahre! Wenn Urza die Reise selbst unternehmen könnte, würde er die Thran daran hindern, sich in halb menschliche, halb aus Maschinen bestehende Abscheulichkeiten zu verwandeln, die alles Leben in Dominaria zerstören wollen. So könnte er auch den Fehler auslöschen, den er und sein Bruder Mishra begingen, indem sie die Tore zu Phyrexia öffneten. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Verhinderung des Entstehens der Phyrexianer dem Mord an uns allen gleichkommt, die wir seither in dieser Welt leben. Dennoch möchte Urza lieber alles auslöschen, als sich mit seiner Vergangenheit vernünftig auseinanderzusetzen - genau wie damals in Argoth. Am schlimmsten ist, daß er die gleichen Fehler wieder und wieder begeht. Hätte er seinen Bruder umarmt, statt ihn anzugreifen - er hätte sich nur für seine Überheblichkeit und Besessenheit entschuldigen müssen -, hätte der Bruderkrieg nie stattgefunden, die Bruderschaft des Gix hätte nie in unserer Welt Fuß fassen können und Argoth und Terisiare wären nicht zerstört 31
worden. Hätte er mit seinem Bruder zusammengearbeitet anstatt gegen ihn, hätten sie ihre Genialität und die beiden Hälften des Kristalls vereint, wäre der Weg nach Phyrexia an dem Tag abgeschnitten worden, an dem sie ihn versehentlich freilegten. Versöhnung ist dem Mann ebenso unmöglich wie Reue, Schuldbewußtsein oder Freundschaft. Jede Unterlassungssünde, die Urza an seinem Bruder Mishra beging, wiederholt er jetzt an seinen Studenten ... und dem neugeborenen Silbermann. Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
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Die Studenten hatten das Laboratorium verlassen. Nur Meister Malzra, sein Vertrauter Barrin und der Silbermann blieben inmitten der Apparate und seltsamen Zeichnungen zurück. »An deinem ersten Tag hast du bereits viel gelernt«, sagte Barrin freundlich. »Wir haben dich aus der Ferne beobachtet. Du hast dich gut eingelebt.« »Ich habe einen Freund«, verkündete der Silbermann. Ein wehmütiges Lächeln huschte über Barrins Gesicht. »Ja, Teferi, meinen abtrünnigen Schützling. Wir wissen es.« »Er hat mir viel erzählt«, fuhr der Golem fort. Seine Stimme klang mißtrauisch. »Er hat mir die Akademie gezeigt und gab mir den Namen Arty Schaufelkopf.« Der Magier seufzte verärgert. »Teferi ist ein genialer junger Magier - mein vielversprechendster Schüler -, stiftet aber gerne Unfrieden. Er macht sich das Leben unnötig schwer und anderen noch viel schwerer ...« »Teferi ist für den Anfang ein guter Freund«, unterbrach ihn Malzra mir ungewöhnlicher Schärfe. Seine Blicke wanderten zwischen dem Mann aus Metall und dem Mann aus Fleisch hin und her. Dann schien er sich wieder zu beruhigen, und das Funkeln in seinen Augen erlosch. »Schließlich habt Ihr behauptet, der Proband habe Gefühle, Meister Barrin, und brauche Freunde.« »Das stimmt«, antwortete der Magier und wechselte geschickt das Thema. »Meister Malzra brennt darauf, mit den Experimenten zu beginnen, für die 33
wir dich schufen. Deshalb riefen wir dich heute abend hierher.« Barrin ging zur Wand hinüber, öffnete eine kleine Luke und zog einen Pfahl heraus, der dreimal so lang wie er selbst war. Am Ende des Pfahls saß ein kleiner Haken. Barrin steckte ihn durch eine kaum sichtbare Öse an der Decke und zog fest daran. Eine der großen Deckenplatten löste sich. An hydraulischen Stäben schwebte sie langsam zu Boden, und eine große Maschine aus Glaszylindern, Metallrahmen und zahllosen Kabeln kam zum Vorschein. Das Gerät verströmte ein helles Licht und war zehnmal so groß wie der Silbermann. »Das ist ein Zeitfeldverzerrer«, erklärte Meister Malzra. »Er wird durch vier verschiedene Energiequellen betrieben: Wärme, Mechanik, Geomagnetik und natürlich Thran. Die Wärmequelle beinhaltet eine Molekularzeituhr, die eine genaue Messung der Zeitvektoren ermöglicht und in atomaren Schwingungen pro Sekunde anzeigt. Die Mechanik dreht das Gerät um die eigene Achse, so daß darunter ein Strahlenfeld entsteht, das eine Konkretisierung der Zeitverzerrung ermöglicht. Die geomagnetische Komponente sorgt für eine genaue Anzeige von Längengraden, Breitengraden und Höhe von Start und Ziel. Die Thransteine sind selbstverständlich für den Hauptantrieb der Maschine verantwortlich.« Verwirrt fragte der Silbermann: »Was ist das für eine ... Maschine?« »Eine Zeitmaschine«, erklärte Barrin. »Sie ermöglicht Reisen durch Zeit und Raum. Heute abend wollen wir nur die Zeitkomponente ausprobieren.« »Ihr wollt, daß ich die Maschine bediene?« »Wir möchten, daß du mit ihr reist«, antwortete Meister Malzra. »Dieses Gerät bringt fleischlichen Kreaturen Verderben. Alle Wesen mit Herzschlag, Atmung, Verdauungsorganen und einem Nervensystem, 34
das von chemischen Reaktionen abhängt, sind völlig ungeeignet für Zeitfeldverzerrungen.« »Sie sterben«, erklärte Barrin. »Metall ist bedeutend unempfindlicher gegen zeitliche Verschiebungen. Und von allen Metallen zeigte Silber den geringsten Widerstand. Aus diesem Grund bestehst du aus Silber. Wir haben dich geschaffen, weil du durch das Portal reisen und uns berichten sollst, was du entdeckst.« Vorsichtig näherte sich der Silbermann der von der Decke hängenden Maschine. Genau unter dem Gerät entdeckte er einen Kreis auf dem Fußboden. »Teferi hat mir davon erzählt. Jede Maschine ist für einen bestimmten Zweck gedacht. Jede Maschine dient dazu, Euch und die Akademie gegen ... Feinde von außerhalb zu verteidigen.« Meister Malzra hob erstaunt die Augenbrauen. »Das alles weiß Teferi?« »Das weiß scheinbar jeder«, sagte der Silbermann. »Ja ... nun«, murmelte der Magier. »Die Maschine ist ein Teil der Verteidigung. Du darfst das, was wir dir erzählen, auf keinen Fall weiter ...« »Natürlich nicht.« »Im Laufe der Zeit wollen wir dich oder einen anderen Probanden - vielleicht auch irgendwann einen Menschen - bis in die Zeit der Thran zurückschicken, um sie von dem Weg abzubringen, der uns die... Feinde von außerhalb bescherte.« »Mich oder einen anderen Probanden«, wiederholte der Silbermann und dachte an den glühenden Hochofen, die Schrotthaufen und die Arbeiter mit ihren Schaufeln. »Das ist natürlich streng geheim!« betonte Malzra. »Natürlich«, nickte der Silbermann. »Der heutige Versuch ist aber nicht schwierig«, beschwichtigte ihn Barrin, der die Unsicherheit des Golems bemerkte. »Wenn alles gutgeht, wirst du nur bis zum heutigen Morgen zurückreisen.« 35
»Was soll ich tun?« »Du mußt dich hier in den Kreis stellen«, sagte Meister Malzra. »Das ist alles. Du wirst stillstehen und warten, während die Maschine arbeitet. Wenn der Rückwärtslauf der Zeit langsamer wird, mußt du den Kreis verlassen, um in der Vergangenheit anzukommen. Dort wirst du nicht sofort im Gleichklang mit der Zeit sein: Du wirst deine Umgebung sehen, aber niemand sieht dich. So bleibt der Zeitverlauf geschützt. Wenn die Partikel deiner selbst allmählich mit der Umgebung verschmelzen, läßt der Effekt nach, und du wirst sichtbar. Ob sichtbar oder unsichtbar: Du kannst deine Umgebung verändern, aber wir möchten dich bitten, keine bedeutsamen Änderungen vorzunehmen. Dabei geht es wieder um den Schutz des Zeitverlaufes. Deine Rückreise steuern wir von hier aus. Wenn du in die Gegenwart zurückkehrst, berichtest du uns von deinen Erlebnissen. Hast du mich verstanden?« »Ich habe verstanden«, antwortete der Silbermann mit ausdrucksloser Stimme. »Es ist mein Zweck. Dafür wurde ich geschaffen.« Barrin sah den Golem bedrückt an und schüttelte den Kopf. Er wandte sich an Malzra und sagte mit leiser Stimme: »Das gefällt mir nicht. Er ist von Teferi traumatisiert worden.« Malzra lachte verhalten. »Ihr seid von Teferi traumatisiert!« »Sein Gefühlsleben ist noch zu neu.« »Er zeigt die richtige Gefühlsaufwallung gegenüber Teferi.« »Und ich sage Euch: Es gefällt mir nicht!« »Er begreift, daß er für dieses Unternehmen gebaut wurde.« »Was ist, wenn er an den Zeitströmen herumspielt?« »Dann holen wir ihn zurück und wissen, daß er die Aufgabe nicht erfüllen kann.« Der Silbermann stand reglos da, während sich die 36
Männer unterhielten. Sein scharfes Gehör nahm jedes Wort auf. »Ich weiß, wie ungeduldig Ihr seid, Malzra, aber wir haben Zeit. Wenn unser Versuch glückt, haben wir alle Zeit der Welt. Der Versuch mit einem Lebewesen ist anders als der mit einer Maschine. Man kann ein Lebewesen nicht einfach auseinandernehmen, neue Teile hinzufügen und wieder zusammenbauen ...« »Im Gegenteil, das haben wir doch heute morgen getan!« widersprach Malzra und wandte Barrin den Rücken zu. Mit einer schnellen Geste sagte er zu dem Silbermann: »In den Kreis mit dir! Die Antriebsphase dauert ein paar Minuten.« Wortlos trat der Proband in den Kreis. Er spürte das gewaltige Gewicht der über ihm hängenden Maschine. Von seinem Standpunkt aus beobachtete er Barrin und Malzra. Mit Hilfe des Hakens öffnete Barrin eine Geheimluke im Boden. Ein Teil der Steinplatten rutschte beiseite, und zwei Pulte mit zahllosen Schaltern und Hebeln wuchsen aus dem Boden. Kupferdrähte und zuckende Röhren ragten darunter hervor. Barrin überprüfte alles ganz genau, während Malzra sich an Hebeln und Schaltern zu schaffen machte. Flüssigkeiten strömten durch die Röhren. Die Glaszylinder begannen dumpf zu summen. Messingverbindungen klirrten. Die immer lauter werdenden Geräusche ließen sogar die Kuppel des Daches erbeben. Ein durchdringendes Heulen schallte durch das Laboratorium, und ein schmaler Lichtstrahl leuchtete am Fuß der Maschine auf. Er durchfuhr die vibrierende Luft, schoß dicht an der Schulter des Silbermannes vorbei und landete genau im Mittelpunkt des Kreises. Sekundenlang erzitterte der Lichtstrahl, ehe er einen Bogen beschrieb und den Golem wieder und wieder umrundete. Wenige Augenblicke später hatte sich das 37
Licht so ausgedehnt, daß der Silbermann von einem purpurnen Kegel umgeben war. Er stand still, in grelles Licht gebadet, und beobachtete seine Schöpfer. Die beiden arbeiteten an ihren Pulten, schalten eine Energiequelle höher, eine niedriger, steuerten den rasenden Lichtstrahl und vereinten die Koordinaten von Zeit und Raum ... Das Licht wurde heller. Die Bemühungen der Meister ließen nach. Das Heulen erreichte seinen Höhepunkt. Bald regten sich Malzra und Barrin nicht mehr. Sie waren erstarrt in Raum ... oder Zeit. Der Silbermann begriff. Die sich drehende Maschine und der Lichtkegel hatten den Faden der Zeit zuerst auf ein hauchfeines Fädchen reduziert und schließlich aufgelöst. Mit immer wilderer Kraft riß die Maschine nun am Strang der Vergangenheit, bis er sich allmählich auflöste. Barrin und Malzra bewegten sich wieder, diesmal aber rückwärts. Ihre Arme zuckten wie Skorpionschwänze auf und ab. Auch der Silbermann bewegte sich, besser gesagt: Sein Ich der Vergangenheit bewegte sich. Es trottete rückwärts aus dem Kreis, wie er vor wenigen Minuten vorwärts hineingetrabt war. Innerhalb des Lichtkegels starrte der Golem erstaunt vor sich hin. Sein Doppelgänger unterhielt sich mit Malzra und Barrin. Die Worte waren durch das Dröhnen der Maschine nicht zu verstehen, aber ihr Sinn war deutlich - es handelte sich um umgekehrte Silben, die weder informierten noch erhellten, sondern verwirrten. Während sie redeten, begriff der Geistergolem immer weniger, und die Geisterzeitmaschine verschwand wieder in der Decke. Als das kurze Gespräch endete, schritt der Geistergolem rückwärts zur Tür, ohne etwas von der verborgenen Maschine und dem Gespräch zu ahnen. Die Zeit lief schneller zurück. Malzra und Barrin rannten rückwärts durch den Raum, bauten Geräte 38
auseinander, vergaßen Gespräche, reduzierten Schlußfolgerungen auf Hypothesen und eilten in die Vergangenheit. Schon bald bewegten sie sich so schnell, daß man nur noch verschwommene Umrisse sah, die schließlich völlig verschwanden. Das Laboratorium lag geraume Zeit im Dunkeln, nur hin und wieder huschte eine Maus über den Fußboden. Endlich kehrten die beiden Gelehrten zurück, von einer Gruppe Lehrer und Schüler gefolgt. Auf den Galerien drängten sich neugierige Zuschauer. Der Geistergolem erschien. Sein Auftauchen wurde von den Zuschauern eifrig beklatscht. Zwischen den Meistern tat sich eine Lücke auf, die er betrat. An einem bestimmten Punkt blieb er stehen und versank in Reglosigkeit. Von der Galerie hagelte es Fragen. Mit einer fast schon brutalen Geste packte Malzra den Hals des Silbermannes, bog ihn ein wenig nach hinten und hielt Sekunden später den Kopf in der Hand. Im Inneren der Zeitmaschine erstarrte der Golem, als er sah, wie einfach man ihn auseinandernehmen konnte. Nur der Körper stand noch aufrecht da, während der Kopf auf einem kleinen Tisch landete, als brauche man ihn nicht mehr. Das Innenleben des Wesens wurde freigelegt. Zahnräder und Drähte glänzten auf, von silbernen Streben umgeben. Licht durchflutete das Gewirr der Innereien. Malzra zerrte an den Streben, und die Bewegungen seiner Finger lösten Zuckungen des sezierten Körpers aus. Nach zweimaligem heftigem Zerren zog Malzra ein silbernes Kästchen zwischen den Streben hervor. Er öffnete es. Darin ruhte ein dunkler Stein von der Größe einer Kinderfaust. Er nahm ihn heraus, und sofort erloschen sämtliche Lebenszeichen der Kreatur. Voller Grauen beobachtete der Silbermann, wie Malzra den Stein in die Höhe hielt. Ersticktes, umgekehrtes Gelächter erklang auf der Galerie. Malzra rief 39
etwas, und das Gelächter verstummte. Dann schritt er zu einem Tisch hinüber und verstaute den Stein in einem Metallkasten. Die Studenten auf der Galerie setzten sich in Bewegung. Malzra und Barrin verstauten Werkzeuge in Kisten und rieben sich mit Tüchern Ölflecke auf die Hände. Während sich der Raum langsam leerte, stand der kopflose Golem reglos und leblos in der Mitte des Saales. Der Rücklauf der Zeit verlangsamte sich. Der Leib des echten Silbermannes rauchte - Hitze, durch die Zeitverschiebung hervorgerufen. Er verließ den Lichtkegel. Um ihn herum lief die Zeit wieder voran. Die Studenten kehrten auf die Galerie zurück. Die Gelehrten packten die Werkzeuge aus und wischten sich das Öl von den Händen. Unbemerkt näherte sich der Silbermann seinem kopflosen Doppelgänger. Er starrte in das silberne Kästchen und das Drahtgewirr im Hals. Er griff an seinen eigenen Hals und fragte sich, wo der Hebel saß, der die Entfernung des Kopfes zuließ. Sein Gehirn, seine Gefühle und sein ganzes Ich konnten auf Wunsch hervorgeholt und zur Schau gestellt werden. Er war nichts als ein Kinderspielzeug. Sie nannten ihn ihren Freund, aber in Wahrheit war er nur ein Schaufelkopf. Ohne den dunklen Stein war er nicht einmal das. Der Silbermann blickte dem unwiderlegbaren Spiegelbild seines Todes ins Auge. Die Zeitreise war beendet. Der Golem wurde urplötzlich aus dem Zeitstrom gerissen und badete erneut in grellem Licht. Meister Malzra hatte ihn in die Gegenwart zurückgerufen. Er war angekommen. Der Lichtstrahl erbebte und zog sich ins Innere der Maschine zurück, die langsam in die Höhe schwebte. Graue Rauchfahnen zeugten von der gewaltigen Hitze, die sich während der Reise entwickelt hatte. Blinzelnd standen Malzra und Barrin an den Pulten. 40
Zögernd ließen sie die Hebel los und näherten sich dem Probanden. Barrin fand als erster die Sprache wieder. »Geht es dir gut?« »Kannst du Bericht erstatten?« warf Malzra ein. »Mein Leib ist ziemlich heiß«, antwortete der Silbermann, »aber es geht.« »Wie weit bist du gereist?« wollte Malzra wissen. »Bis zum Morgen, bis zum Zeitpunkt meines Erwachens.« »Ausgezeichnet«, erklärte Malzra, und Barrin schrieb die Antwort auf ein Blatt Papier. »Hast du irgend etwas berührt oder bewegt?« »Ich berührte nur den Boden mit meinen Füßen und bewegte nur meinen Körper.« »Hat man dich angesprochen oder gab es einen Hinweis darauf, daß man dich bemerkte?« »Nein.« »Was hast du gesehen?« Die Antwort folgte nicht so prompt wie die übrigen. »Ich sah, wie ich auseinandergebaut wurde. Ich sah, wie man mein Innerstes entfernte. Ich sah das kleine dunkle Ding, das mein Gehirn, mein Herz und meine Seele ist.«
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Monolog
Der erste Lebenstag ist immer der schwierigste. Man wird aus dem weichen, warmen Bauch gezerrt, in dem man empfangen wurde, und in die kalte Welt geschleudert. Man muß sich umgewöhnen: Luft anstatt Flüssigkeit zu atmen, nackt zu sein, berührt und gewaschen zu werden. Am schlimmsten ist der Augenblick, in dem die Nabelschnur durchtrennt wird und man sich plötzlich und unwiderruflich allein wiederfindet. Zum Trost für solche entsetzlichen Erlebnisse gibt es die Arme einer Mutter. Du hast keine Mutter. Du hast auch keinen Vater. Du hast zwei Schöpfer, aber das ist etwas anderes. Keiner von uns weiß, wie man dich trösten und beschützen kann. Wenn du zuviel Zuwendung benötigst, halten wir dich vielleicht sogar für ungeeignet. Vielleicht liegt es daran, daß du als Werkzeug und Waffe gedacht warst, nicht als Person. Vielleicht liegt es daran, daß wir nicht erwarteten, dich schützen zu müssen. Wir hatten gehofft, du würdest uns beschützen. Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
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Vor fast einem Monat hatte Jhoira im Laboratorium zugesehen, wie der Silbermann erwachte. Sie erinnerte sich an jede Einzelheit von Meister Malzras Experiment. In der Zwischenzeit hatte sie Kraftsteine studiert, ähnlich jenem, der in dem Golem steckte, und sich mit den Bauplänen des Wesens beschäftigt. Das alles gehörte zu den Vorbereitungen, die für ihren Vortrag notwendig waren. - Der Preis für die Erlaubnis, als Elitestudent beim Erwachen des Silbermannes zuschauen zu dürfen, war ein Vortrag zum Thema. - Sie mußte nur noch eines tun, ehe sie sich an die endgültige Fassung ihres Berichts machte: Sie mußte die Maschine befragen. Jhoira seufzte angewidert; ihre Finger trommelten auf die Pläne. Sie hatte gehofft, aus den Plänen und ihrem Wissen über Thransteine auf die geistigen und emotionalen Kapazitäten des Golems schließen zu können. Doch leider fand sie keine Erklärung für die logische Denkfähigkeit und die geradezu menschlichen Gefühle des Wesens. Also mußte sie mit ihm reden. Ergeben sah sie zur Decke ihres Zimmers empor. Ein Gespräch mit der Maschine bedeutete, sich zuerst mit ihrem selbsternannten Gefährten herumzuschlagen, mit Teferi. Der Knabe - und mit vierzehn war er nur ein Knabe - war gleichzeitig ein Genie, ein Lausbub und ein Perverser. Leider waren alle drei Teile seines Ichs unsterblich in Jhoira verliebt. Sie hatte alles getan, um seine Annäherungsversuche abzuwimmeln, aber er bemerkte versteckte Andeutungen überhaupt nicht 43
und hielt unverhüllte Abweisungen für einen groben Scherz. Wenn sie sagte, sie sei nicht an ihm interessiert, erklärte er gleich, er werde ihr Interesse unter allen Umständen wecken. Wenn sie sagte, sie hasse ihn, antwortete er, Liebe und Haß seien nur um Haaresbreite voneinander entfernt - und wenn sie schon von Haaren redeten, würde sie ihm eines der ihren schenken? Jhoira vermutete, daß er bereits etliche Liebestränke gebraut hatte, um ihre Zuneigung mit magischer Hilfe zu erringen. Allein der Gedanke an den jungen Mann - den Knaben, das Kind - verärgerte Jhoira. Sie erhob sich und schritt in dem kleinen Zimmer auf und ab. Wenn Teferi wüßte, wie ein richtiger Mann aussieht, dachte sie. Wenn er den Fremden sehen könnte, den sie am Strand entdeckt hatte, versorgte und in ihrem Geheimversteck verbarg ... Nein. Niemand außer ihr durfte von Kerrick erfahren. So war es, und so sollte es bleiben. Jhoira setzte sich auf ihr Bett und starrte aus dem Fenster. Hinter den hohen Baumwipfeln und den Felsenklippen lag der Strand und wartete ihre große Liebe. Sie schüttelte den Kopf, um sich wieder alltäglichen Dingen widmen zu können. Je eher sie den Silbermann befragte, um so schneller konnte sie den Bericht schreiben und wieder zu Kerrick laufen. Jhoira nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift, verließ den Raum und machte sich auf die Suche nach dem Silbermann. Sie fand ihn im Speisesaal, wo er auf einem abgesägten Baumstumpf hockte, den man eigens für ihn herbeigeschafft hatte, nachdem er für drei Bänke der Akademie zu schwer gewesen war. Er sah einsam und verlassen aus, wie er da am Ende eines Tisches saß. Neben ihm hielt Teferi Hof, und ein paar lachende Anhänger drängten sich um die beiden. Heute standen Mohrrüben auf dem Speisezettel, und Teferi hatte ent44
deckt, daß sie wie komische Ohren und eine lange, gebogene Nase aussahen, wenn er sie in verschiedene Löcher im Kopf des Golems steckte. Er hatte noch andere Veränderungen vorgenommen: Ein öliges Salatblatt diente als Haarschopf, und harte Zwiebäcke, die man in die Augenhöhlen der Maschine gerammt hatte, bildeten große, hervorstehende Augen. Jhoira schüttelte den Kopf und trat näher. Wenn die Berichte stimmten, war diese Maschine hellwach. Sie wußte, was mit ihr geschah, und hatte Gefühle. »Weiß Meister Malzra, was du hier tust, Teferi?« Der Junge schaute auf. Sein Koboldgesicht erhellte sich bei ihrem Anblick. »Hallo, Jhoira! Kennst du Arty Schaufelkopf schon?« »Weiß Meister Malzra, was du hier tust?« wiederholte sie wütend. Der Vierzehnjährige sah hochmütig und zufrieden aus. Er nickte der mit Spiegeln verkleideten Galerie zu, wo Barrin und Malzra oft zu Mittag speisten. »Meister Malzra interessiert sich für alle meine Abenteuer. Ich bin Barrins Musterschüler! Natürlich wissen die beiden, was ich tue.« »Dieses Artefakt-Wesen ist klug, Teferi. Es denkt. Es hat Gefühle. Du kannst nicht so mit ihm spielen.« »Ich kann und ich werde!« erwiderte Teferi. Er nahm ein Paar Radieschen und hängte sie wie Ohrringe an die Mohrrüben im Kopf des Silbermannes. »Es macht keinen Spaß, mit jemandem zu spielen, der weder Gedanken noch Gefühle kennt.« Angewidert streckte Jhoira die Hände aus. »Wie dem auch sei, ich muß mit ihm reden.« Teferi lächelte. »Nur zu. Ich bin sein Übersetzer stimmt's, Schaufelkopf?« Hinter seiner Maske aus Zwieback und Mohrrüben blieb der Silbermann stumm. Mit spitzen Fingern entfernte Jhoira das tropfende Salatblatt. Ölspuren zogen sich über die Stirn des Sil45
bermannes. »Hast du schon einmal daran gedacht, daß du ihn beschädigen könntest, Teferi? Es handelt sich um eine empfindliche Maschine.« »Meister Malzra möchte, daß er ausprobiert wird«, antwortete er schnell. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich genüßlich zurück. »Ich probiere ihn gründlich aus. Wenn du eifersüchtig bist, könnte ich dich auch gründlich ausprobieren, und zwar in meinem Zimmer.« Seine Freunde stießen ein begeistertes Oooh! aus. Jhoira errötete. »Ich mache mir nichts aus kleinen Jungen!« erwiderte sie wütend und riß die Zwiebäcke aus dem Gesicht des Silbermannes. Der Golem warf ihr einen unglücklichen Blick zu. »Ich interessiere mich überhaupt nicht für winzige, ekelhafte, kleine Jungen, die Spatzen die Augen ausstechen, Rosen zertrampeln und ihre Blase auf alles entleeren, was schön und gut ist. Genau so bist du, Teferi! Du bist nicht einmal ein widerlicher kleiner Junge, sondern ein Säugling, der seinen eigenen Körper nicht beherrscht, niemanden ernst nimmt und nichts kann außer heulen und kreischen und sich und andere besudeln. Du mußt noch sehr viel lernen, ehe du halbwegs erwachsen bist!« Sie unterstrich ihre Worte, indem sie die Mohrrüben aus dem Kopf der Maschine riß. Teferi schwieg. Er war leichenblaß geworden, als sauge die Röte in Jhoiras Gesicht seine eigene Hautfarbe auf. Als sie geendet hatte, zitterte seine Unterlippe heftig. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Zwiebäcke zu seinen Füßen. Jhoira beugte sich vor und ergriff den Silbermann sanft beim Arm. »Gehen wir, ich habe dir viele Fragen zu stellen.« Der Golem erhob sich, als könne sein schwerer Körper von ihrer schmalen Hand hochgezogen werden. Nach einem letzten Blick zurück folgte er ihr mit hängenden Schultern und schleppenden Schritten. 46
Barrin war wütend. Er ließ das Geländer los, das die Galerie begrenzte, und ging aufgebracht hin und her. Durch einen magischen Spiegel, der von ihrer Seite aus wie ein Fenster wirkte, hatten sie die Szene mit den Möhren und Zwiebäcken mitangesehen - und hundert andere Streiche, die Teferi dem hilflosen Golem spielte. Jedesmal wirkte Urza leicht belustigt. Barrin dagegen schäumte vor Wut. »Ich begreife nicht, warum Ihr das zulaßt!« brüllte er. »Da sitzt das erste wirklich lebendige Artefakt, und Ihr überlaßt es den Schmähungen dieses ... Aasgeiers!« »Lebendige Wesen müssen leben, Barrin«, sagte Urza gelassen. »Wenn Teferi den Probanden beschädigt, wissen wir, daß wir ihn neu entwerfen müssen.« »Beschädigt? Neu entwerfen?« tobte Barrin. »So geht man nicht mit Lebewesen um! Sie müssen leben, wie Ihr bereits sagtet. Dieser Golem ist erst einen Monat alt. Gebt ihm Zeit...« »Zeit ist alles, was ich ihm gebe. Am Ende des Monat machen wir den nächsten Versuch«, sagte Urza und ging zur Tür. »In der Zwischenzeit bitte ich Jhoira, sich um ihn zu kümmern und ihn von Teferi fernzuhalten«, erklärte Barrin. »Ich begreife nicht, warum Ihr mir nicht gestattet, den Unruhestifter hinauszuwerfen.« Urza wandte sich in der Tür um. »Ich behalte ihn hier, weil er ein magisches Genie ist. Ihm ist Großes bestimmt. Vielleicht ist er nicht gesellschaftsfähig, aber so war ich früher auch.« »Daran hat sich nichts geändert«, fauchte Barrin zornig. »Teferi ist viel schlimmer. Jhoira hat es genau getroffen. Er ist selbstsüchtig. Er ist gefährlich. Er verletzt Menschen, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden oder sich zu entschuldigen. Er übernimmt keinerlei Verantwortung für seine Taten. Seine Begabung ist mir egal. Bis er erwachsen ist, hinterläßt er eine breite Spur der Zerstörung.« 47
»Das hat man auch von mir behauptet«, erklärte Urza versonnen. »Ja, ich behalte Teferi hier, weil er mich an mich selbst erinnert.« * * * Jhoira führte den Silbermann in ihr Zimmer. Er mußte sich seitwärts drehen, um durch die Tür zu passen. Dann stand er steif und ängstlich wie ein kleines Kind vor ihr. »Ist schon gut. Ich beiße nicht«, versicherte ihm Jhoira. Sie winkte ihm, näherzutreten, damit sie die Tür schließen konnte. Das Klicken des Schlosses ließ den Raum noch winziger erscheinen. Trotz der hängenden Schultern und der ängstlichen Schweigsamkeit wirkte der Golem überwältigend. Jhoira wanderte umher und räumte ein wenig auf. »Es ist nicht groß, aber mehr brauche ich nicht, und hier bin ich ungestört.« Sie riß ein herumliegendes Mieder an sich und stopfte es eilig in den Wäschekorb, der in der Ecke stand. »Hier ist mein Bett«, fuhr sie fort, glättete mit unsicheren Fingern die Decke und schüttelte das Kissen auf, als rechne sie damit, daß sich der Silbermann hinlegen würde. »Hier bewahre ich meine Kleidung auf: Die Studentengewänder hängen dort drüben in dem mit Schnitzereien verzierten Schrank, und die Kleinigkeiten liegen in dieser Schublade. Das ist einer der Nachteile, wenn man aus Fleisch und Blut besteht. Man muß sich immerzu bedecken.« Es hörte sich gezwungen an. Jhoira erinnerte sich daran, daß sie ein Wesen aus Metall vor sich hatte, daß sich sicher ebensowenig für Unterwäsche interessierte wie ein Türknauf. »Hier. Das wird dir gefallen.« Von einem Regal über ihrem Zeichenbrett nahm sie einen kleinen Anhänger aus Metall. Er war wie ein Echsenmensch in wallenden 48
Gewändern geformt. »Es stammt aus meiner Heimat, aus Shiv. Es ist aus Metall - nicht aus irgendeinem Metall, sondern aus Viashinometall. Es gehört zu den härtesten Materialien der Welt.« Ohne nachzudenken, warf sie ihm den Anhänger zu. Eine gewaltige Hand schnellte vor und fing das Schmuckstück auf. Es war die erste Bewegung des Golems, seitdem er das Zimmer betreten hatte. Er betrachtete den Anhänger eingehend. »Sehr hart«, bestätigte er mit einer Stimme, die wie das ferne Rauschen eines Wasserfalls klang. »Es hat mich gekratzt.« Jhoira runzelte die Stirn. Eilig trat sie neben ihn. Zwei kleine Kratzer zogen sich über die Hand des Silbermannes. »Oh, nein! Es tut mir leid. Ich werde schnell...« Sie brach ab, lachte herzlich und sank auf das Bett. Der Golem beugte sich vor. »Was ist? Habe ich etwas Dummes gesagt?« »Nein, nein«, versicherte sie ihm. »Ich war es. Hätte sich einer meiner anderen Freunde verletzt, hätte ich ein Tuch aufgelegt, um die Blutung zu stoppen, aber du kannst gar nicht bluten. Trotzdem wollte ich ein Tuch holen.« »Einer deiner anderen Freunde?« wiederholte der Golem. »Oh, ich bin einfach nur nervös. Ich weiß nicht, warum.« Sie richtet sich auf. »Ich habe kaum Freunde. Für gewöhnlich lasse ich niemanden in mein Zimmer. Ich weiß, daß du bloß eine Maschine bist, aber du kommst mir so wirklich vor wie eine Person.« »Wie eine Person ...« Sie schüttelte den Kopf und zog ein Tuch zwischen den Zeichenutensilien hervor. »Das kannst du trotzdem gebrauchen. Ich rede und rede, und du stehst da, während dir der Essig über die Hand läuft.« Sie schüttelte das Tuch aus und ging zu dem Golem hinüber. Vorsichtig wischte sie die Flüssigkeit ab. »In meiner 49
Heimat Shiv ist es Sitte, jemandem Öl über den Kopf zu gießen, wenn man ihn ehren möchte. Es heißt >SalbungProband EinsKARNmächtigMänner< nicht. Er blickte auf, sah Jhoira und lächelte. Sie sprang auf seinen Schoß, herzte und küßte ihn. »Den ganzen Tag habe ich mich auf dich gefreut.« Seine Augen funkelten vor Vergnügen. »Ein schlechter Tag?« »Du kannst es dir nicht vorstellen«, sagte sie zwischen zahllosen Küssen. »Es gibt ein elendes kleines Schwein, das nichts im Sinne hat, als anderen das Leben schwer zu machen.« »Ja, Teferi«, antwortete Kerrick. »Habe ich ihn schon erwähnt?« »Oft. Du sagtest, er sei in dich verliebt, aber du bist es, die dauernd von ihm spricht.« »Er ist noch ein Kind!« erwiderte sie entrüstet. »Ich rede über ihn, wie ich über eine Goblinplage reden würde.« Kerrick zuckte die Achseln. Er wandte sich dem Feuer zu, um den Spieß umzudrehen, und Jhoira nahm seinen Geruch wahr. Er roch nicht nach Angstschweiß, sondern besaß den animalischen Geruch eines Mannes, der unter freiem Himmel arbeitet. Über die Schulter sagte er zu ihr: »Teferi scheint einer deiner wenigen Freunde zu sein.« »Ach, ja?« sagte sie hochmütig. »Ich verbringe zuviel Zeit hier draußen, um viele Freunde zu haben. Und du hast dich bisher nicht darüber beschwert.« »Das stimmt.« »Außerdem habe ich einen neuen Freund. Er ist stärker als du, größer, jünger, höflicher ... bedeutend höflicher.« Ein wunderbar eifersüchtiges Funkeln trat in Kerricks Augen. »Und warum bist du dann hier?« »Er ist eine Maschine!« Jhoira umarmte ihn heftig. 56
»Er ist eine denkende, fühlende Maschine, und ich glaube, er ist in mich verliebt!« »Tatsächlich? Beruht das auf Gegenseitigkeit?« »Natürlich!« erwiderte sie fröhlich. »Ein wenig Eifersucht tut dir gut. Du bist recht bequem geworden, hier in meinem Versteck.« »Stärker als ich, jünger als ich, größer als ich? Wenn du mich wirklich eifersüchtig machen willst, bringe mir die Entwürfe, damit ich mich darüber hermachen kann!« »Du bekommst sie morgen abend - wenn du mir die überfälligen Bücher zurückgibst«, sagte Jhoira. »Jetzt komm zu mir. Das Fleisch braucht noch eine Weile, und ich brauche dich.« Sie zerrte ihn auf das Deckenlager und sog den Geruch des Mannes und der Mahlzeit ein. Ach, sie konnte hundert Teferis ertragen, solange sie ihren Fluchtweg, ihre Papiervögel und ihre wilde, heimliche Liebe hatte.
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Monolog
Was sieht Urza in Teferi? Das kleine Monster ist keineswegs wie Urza einst war. Teferi hat Humor. Das ist wahrscheinlich seine einzige gute Eigenschaft - außer seiner unbestreitbaren Genialität. Leider benutzt er sie nur, um Dinge zu zerstören, nicht, um sie aufzubauen. Urza hingegen war immer ein Erfinder, und zwar ein ernsthafter. Allerdings wurden Urzas Erfindungen - die mechanischen Soldaten, die Pulverbomben und die Kraftrüstungen - immer zur Vernichtung benutzt. Das Ergebnis aller Erfindungen Urzas ist Zerstörung. Eine Ironie, nicht wahr? Darf ich etwa hoffen, daß Teferis fortwährende Zerstörungswut irgendwann eine neue Erfindung hervorbringt? Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
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Karn stand in dem wirbelnden roten Lichtstrahl. Über seinem Kopf drehte Malzras Maschine den Lauf der Zeit zurück. Es war Karns dritte Reise in ebenso vielen Monaten. Bei jedem Experiment wurde er ein paar Stunden weiter in die Vergangenheit geschickt. Jedesmal litt sein Körper mehr unter der Zeitverschiebung. Die heutige Reise führte ihn achtzehn Stunden zurück. Jede Stunde darüber hinaus hätte ihn zum Schmelzen gebracht. Karn sagte sich, daß er mittlerweile an das schwindelerregende Gefühl gewöhnt sein müsse, wenn das Räderwerk des Universums anhielt und sich anschließend langsam rückwärts drehte. Ein Kreischen und Knarren der Räder war der einzige Widerspruch, ehe sich die Zeit ergab. Dann erfolgte eine plötzliche Beschleunigung: Barrin und Malzra lösten sich aus ihrer Erstarrung. Alle Abläufe spielten sich rückwärts ab. Ergebnisse wurden zu Anlässen, Erinnerungen zu Prophezeiungen, und Silbermänner wurden unter verhaltenem Lachen auseinandergenommen. Diesmal verschoben sich jedoch Zeit und Raum. Innerhalb des Lichtkegels rutschte Karn langsam nach rechts. Er glitt durch Stahlmaschinen und durch die Wand des Hochofens; sein Körper bewegte sich außerhalb der tatsächlich vorhandenen Räumlichkeiten. Sekunden später schwebte er durch die Laborwand und fand sich auf dem Flur wieder. Er sah sich neben Jhoira rückwärts den Korridor entlanggehen. Sie hatte ihn zum Laboratorium zurückgebracht und ihm von ihrer Heimat und ihrer Sehnsucht nach ihrem Stamm erzählt. 59
In den letzten Monaten waren Karn und Jhoira gute Freunde geworden. Sie war ein geistiger Riese und er einer aus Metall. Wann immer Karn sich nicht im Labor aufhielt und Jhoira nicht lernte oder schlief, waren sie zusammen. Sie hatte ihm beigebracht, Steine über die Wasseroberfläche hüpfen zu lassen, und er war geschickt genug, es sogar mit Steinen von der Größe eines Brotlaibes zu schaffen. Wenn sie die Hügel im Osten erklommen, nahm er sie auf den Rücken. Von den höchsten Gipfel aus hatten sie Schiffe in so großer Ferne erspäht, daß nur noch die Spitzen der Segel am Horizont auftauchten. Jhoira hatte ihm ihre zahlreichen Aufziehtiere gezeigt: Spielzeugvögel, Frösche und Grashüpfer. Als während eines Experiments eines seiner Fingergelenke ausbrannte, reparierte sie es umgehend. Eines Abends, als sie mitten im Gespräch einnickte, nahm er ihre Zeichenutensilien und fertigte ein elegantes, wenngleich grob skizziertes Portrait von ihr. Aber am wichtigsten für beide war die Tatsache, daß sie einander Schutz vor den Schrecken ihrer Arbeit boten - und vor dem Ärger, den ihnen ein vierzehnjähriger Unhold bereitete. Karn und sein Lichtkegel glitten durch die gegenüberliegende Wand des Ganges. Er durchquerte eine Reihe von Unterrichtszimmern. Einige lagen still und dunkel da. In anderen drängten sich Lehrmeister, Studenten und Artefakte. Bei vielen Artefakten handelte es sich um einfache Formen, mit deren Hilfe die Studenten die Grundlagen der Konstruktionsprinzipien erlernen sollten. Kompliziertere Artefakte waren in der Lage, Betten zu machen, Schuhbänder zuzubinden oder wie Kakerlaken umherzukriechen. Die schnellsten dieser Kreaturen wurden von den älteren Studenten benutzt, um in ausgeklügelten Rennen gegeneinander anzutreten. Besonders wendige Wesen mußten in die Zimmer der Studenten anderen Geschlechtes huschen, um für ihre Schöpfer zu spionieren. Für jede 60
dieser kleinen Maschinen gab es wiederum drei, die den Eindringling entlarven, abschrecken oder gar vernichten konnten. Die Erfindungen höchster Perfektion dagegen - wie Jhoira sie entwarf und baute - dienten Meister Malzra als Bauelemente für seine Zeitmaschine. Dutzende der ältesten und besten Studenten arbeiteten daran, obwohl keiner von ihnen ahnte, wozu genau ihre Werke im Endeffekt dienten. Der Zeitreisende durchquerte Hörsäle, das Zimmer eines kranken Studenten, der schlafend in seinem Bett lag, schwebte an den pyrotechnischen Schaubildern zur Beschaffenheit von Kohlenstaub vorbei und schließlich auch durch Malzras Studierzimmer. Bücher und Modelle standen auf den Regalen entlang der Wände, und überall hingen Zeichnungen und Diagramme. An einem Tisch in der Mitte des Raumes standen Malzra und Barrin und beugten sich über einen Stapel uralter Manuskripte. Sie diskutierten heftig. Karn schwebte weiter. In der Morgendämmerung erschien er in den Gärten der Akademie und glitt durch die zwölf Fuß dicke Mauer und die Wälder dahinter. Blätter wirbelten rückwärts, von eigenartigen Winden getrieben. Die Sonne zog sich hinter den Horizont zurück. Durch die endlose Dunkelheit schwebte Karn zur fernen Westküste hinüber. Jhoira und er hatte diese Richtung auf keinem ihrer Streifzüge eingeschlagen, sie hielten sich immer in den Bergen im Osten auf. Karn glitt durch Baumstämme und Felsen am Rande der Insel. Dann fiel ein Steilhang zur Küste ab. Grob gehauene Stufen führten zum Strand hinunter. Bald erblickte er ungefähr fünfzig Fuß unter sich die Schaumkronen der Wellen. Das Wasser schien zu kochen und zog sich zusehends von den zerklüfteten Felsen zurück. Er flog immer weiter. Ihm war heiß. Er näherte sich der äußersten Grenze: achtzehn Stunden Zeit und fünf Meilen Raum. Laut Plan sollten Barrin und Malzra jede Sekunde der Reise zählen, um ihn 61
rechtzeitig zurückzurufen, ehe sein Körper aufgrund der Zeitverschiebung zu schmelzen begann. Nichts geschah. Schon rieben sich die Brustplatten aus Silber aneinander und glühten auf. Er flog weiter und weiter ... Plötzlich erlosch der rote Lichtkegel. Karn schlug wie wild mit den Armen, um nicht ins Stolpern zu geraten. Sein Körper war glühendheiß geworden. Der Himmel über seinem Kopf war von Sternen übersät, obwohl sich der Mond noch nicht gezeigt hatte. Der unter ihm liegende Ozean war schwarz wie die Nacht und sehr tief. Die Wellen warfen sich ihm brüllend entgegen. Wasser spritzte an seine Beine. Dampfwolken stiegen von den heißen Silberplatten auf, und er wurde unter Wasser gerissen. Endlos scheinende Augenblicke umgab ihn eine Wolke aus Dampf, Blasen und Schaum, ehe er weiter in die Tiefe sank, durch Kälte und Finsternis. Schließlich spürte er Sand unter den Füßen und kam zum Stehen. Sekundenlang verharrte er reglos und fühlte, wie das Salzwasser seinen Silberleib umspülte und in ihn eindrang. Bestimmt riefen sie ihn jetzt zurück. Er mußte nur abwarten. Mit jedem weiteren Augenblick fühlte er, wie sich seine Zeitglocke mehr und mehr auflöste. Bald würde er sich im Einklang mit der Vergangenheit befinden, sichtbar für jeden, der ihm begegnete. Das durfte er nicht riskieren. Es war besser abzuwarten. Er wollte hierbleiben, bis man ihn rief. Eine Stunde verging. Die letzte Luft aus seinem Leib war zur Wasseroberfläche aufgestiegen, die sich etwa fünfzig Fuß über seinem Kopf befand. Dreimal hatte ihn eine neugierige Seeschlange angestupst, und er hatte die Hoffnung aufgegeben, von Meister Malzra zurückgerufen zu werden. Vielleicht war er außer Reichweite geraten. Er mußte sich auf die Suche nach dem Heimweg machen. Zum Glück gehörten eine Uhr, ein Kompaß und ein 62
Sextant zu seinen inneren Organen. Er konnte sich auf dem Meeresboden nicht nach den Sternen richten, verfügte aber über einen ausgezeichneten Orientierungssinn. Entschlossen machte Karn kehrt und stapfte auf die Insel zu. Es dauerte länger, als er erwartet hatte. Immer wieder mußte er über Sandbänke klettern und Schluchten durchqueren. Irgendwann stieß er auf ein Korallenriff, das zu zerbrechlich war, um darüber hinweg zu klettern und zu ausladend, um es zu umgehen. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich einen Weg hindurchzuschlagen. Die scharfen Kanten verschrammten seine silbernen Hände. Gegen Mitternacht tauchte sein Kopf an der Wasseroberfläche auf. Der Himmel über der schlafenden Insel war mit Sternbildern übersät. In der Ferne leuchte die Akademie wie ein weißes Juwel in der Finsternis. Hinter jenen Mauern verbrachte sein zweites Ich die Nacht in freiwilliger Erstarrung. Hinter jenen Mauern schliefen Jhoira und Teferi, und Malzra und Barrin dachten bestimmt über die Zeitreise des kommenden Tages nach. Die schützenden Mauern der Akademie bargen alles, was Karn teuer war, und der Rest der Insel lag im Dunkeln ... Bis auf ein Licht oben in den Klippen. Es war so klein, daß er es zuerst für einen winzigen Stern gehalten hatte. Er merkte sich die Richtung und schritt den Strand hinauf. Das Wasser floß in Strömen aus dem Silberleib. Er blieb stehen und wartete, bis die Flut versiegte. Was war das für ein Licht? Nach Einbruch der Dunkelheit durfte sich niemand außerhalb der Schule bewegen. Wer hielt sich in den Klippen auf? Karn kletterte weiter. Nach der langwierigen Wanderung unter Wasser kam ihm das Erklimmen der Felsen wie ein Kinderspiel vor. Bald erreichte er die höchste Stelle der Klippen. Vor sich sah er eine Felsspalte, 63
durch die der schwache Lichtschimmer drang. Langsam ging Karn darauf zu. Das Licht erlosch. Er blieb stehen, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Etwas bewegte sich auf ihn zu. Etwas Warmes. Karn erspähte ein mißtrauisches Gesicht. Das Licht der Sterne spiegelte sich in einer kleinen Stahlklinge. Eine Gestalt wich in den Schutz der Felsen zurück. Karn ging vorwärts. Seine riesigen Füße schritten leise knirschend über den steinigen Boden. Die Gestalt tauchte wieder auf und hob einen gebogenen Stock in die Höhe. Ein Surren ertönte. Ein grob geschnitzter Pfeil streifte Karns Schulter. Metall klirrte; ein Stein zerbrach. Der zersplitterte Pfeilschaft fiel zu Boden. Eine feindliche Geste! Ein Höhlenmensch lebte an der Küste Tolarias. Ein Eindringling. Karn knirschte mit den Zähnen und marschierte auf den schwach sichtbaren Höhleneingang zu. Zwei weitere Pfeile trafen ihn und prallten an seinem Silberkörper ab. Wütend ging er weiter. Der Mann schleuderte den Bogen beiseite und griff nach einer schweren Keule. Er wog sie in der Hand, knurrte warnend und spähte in die Dunkelheit. Karn schritt auf ihn zu und wollte ihn packen, aber der Mann war schneller. Er schlug zu. Die Keule zersplitterte, und der Fremde hatte Mühe, sie nicht fallenzulassen. Karn sprang vor. Er traf den Mann mit dem Handrücken am Kopf und schleuderte ihn zu Boden. Der Körper prallte gegen einen Felsblock und blieb reglos liegen. Licht ergoß sich über den Silbermann. Er fuhr herum. Flammen hüllten ihn ein, und die letzten Reste des Wassers in seinen Gelenken verdunsteten zischend. Er warf sich auf den zweiten Angreifer. Mit dampfenden Armen stürmte er in die Höhle. 64
»Karn!« erklang ein überraschter und gleichzeitig erleichterter Schrei. »Was tust du hier?« »Jhoira?« fragte Karn ungläubig. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Jhoira stand zitternd im Nachthemd vor ihm, einen qualmenden Fackelstumpf in der Hand. Sie hatte ihn benutzt, um Kohlenstaub in Brand zu setzen, wie man es die Studenten an der Akademie lehrte. »Was tust du hier?« stieß Karn hervor. Jhoiras Miene verfinsterte sich. »Du bist mir gefolgt. Unglaublich, aber du bist mir gefolgt!« »Ich bin dir nicht gefolgt«, widersprach Karn. »Warum hast du die Akademie dann bei Nacht verlassen? Was ist mit dem Ausgangsverbot?« hielt sie ihm entgegen. »Das könnte ich dich auch fragen!« »Wo ist Kerrick? Was hast du getan?« rief sie plötzlich und stolperte an Karn vorbei zum Ausgang der Höhle. Sie tastete blindlings umher, bis sie das Bein des Mannes berührte. Sie schüttelte ihn. »Ist alles in Ordnung? Hörst du mich?« Er rührte sich nicht. Karn trat näher. »Ich trage ihn hinein.« »Nein!« entgegnete sie und lief in die Höhle zurück. »Vielleicht ist etwas gebrochen. Eine Bewegung könnte ihn umbringen.« Sie zündete eine Laterne an, nahm Tücher und Salben von einem Regal und eilte wieder ins Freie. Als sie neben dem Reglosen niederkniete, stöhnte sie vor Sorge auf. Eine Hand strich über die goldenen Locken des Fremden. »Kein Blut, und er atmet noch.« Als ihre Finger eine große Beule auf seiner Stirn ertasteten, biß sie die Zähne zusammen. »Du hast ihn fein zugerichtet!« »Wer ist er?« fragte Karn mißtrauisch. »Was tut er hier?« »Er heißt Kerrick«, antwortete sie seufzend und untersuchte den Hals nach Verletzungen oder Schwellungen. »Er wollte mich beschützen.« 65
»Er ist kein Student«, bemerkte Karn. »Nein. Er ist ein Schiffbrüchiger, und er ist mein Freund.« Sie schob die Arme unter den Mann, hob ihn auf und trug ihn in die Höhle. »Bitte bringe die Laterne mit, Karn!« Der Golem gehorchte und schlich wie ein geprügelter Hund hinter ihr her. »Du hast mir nie von ihm erzählt.« Jhoira legte den Mann auf ein Lager aus Decken. »Niemand weiß von ihm. Meister Malzra würde ihn töten lassen.« »Aber wir sind Freunde. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.« Karn stellte die Laterne auf eine Kiste, die als Tisch diente. »Wir haben Geheimnisse. Du erzählst mir nicht, in welche Experimente du verwickelt bist.« »Meister Malzra hat es verboten.« Jhoira lächelte grimmig, tauchte ein Tuch in einen Wassereimer und legte es auf Kerricks Beule. »Meister Malzra hat mir - und auch allen anderen - streng verboten, Schiffbrüchige aufzunehmen. Also liegt es an Malzra. Ich habe seinetwegen Geheimnisse vor dir, und du hast seinetwegen Geheimnisse vor mir. So möchte er es haben. Er will nicht, daß wir Freunde haben und ein eigenes Leben führen.« Schreckliche Angst überfiel Karn. Er dachte daran, wie sein Leben ausgesehen hatte, als er Jhoira noch nicht kannte und er zwischen Malzras stummer und Teferis lärmender Abneigung gefangen war. Diese Stunde konnte seine Beziehung zu Jhoira zerstören. Diese Stunde konnte ihm die einzige Freundin rauben und ihn wieder zu Arty Schaufelkopf machen. »Zeitreisen!« stieß er mit erstickter Stimme hervor. »Darum geht es bei den Experimenten. Deshalb bin ich hier. Er probiert eine Maschine aus, die mich um Jahrhunderte oder Jahrtausende zurückversetzt und mich irgendwohin bringt.« 66
Jhoira hielt in ihren Bemühungen inne und starrte den Silbermann entgeistert an. »Deshalb nennt er dich einen Probanden.« »Nur aus diesem Grund wurde ich erschaffen«, erklärte Karn ernüchtert. »Er wies mich an, niemandem davon zu erzählen, sonst würde er mich auseinanderreißen.« »Wenn er es schaffte, könnte er den Lauf der Geschichte verändern ...« »Er will nicht, daß ich etwas verändere.« Plötzlich wurde Karn bewußt, daß er vielleicht gerade dabei war, die Geschichte zu verändern. »Meister Malzra kann viel mehr, als ich je gedacht hätte«, murmelte Jhoira verblüfft. »Das ist das einzige Geheimnis, das ich vor dir hatte«, sagte Karn und kniete im schummrigen Licht der Laterne vor Jhoira nieder. »Du weißt alles über mich. Du kennst meine Entwürfe bis in jede Einzelheit. Du hast zugesehen, wie Malzra mich zusammensetzte. Du gabst mir meinen Namen, mein Leben. Kannst du mir verzeihen? Können wir trotzdem Freunde bleiben?« Ein Lächeln, das gleichzeitig Freude und Mitleid ausdrückte, erhellte ihr Gesicht. »Natürlich, Karn. Du kennst jetzt auch mein Geheimnis. Ich habe dir immer vertraut, und daran hat sich nichts geändert. Karn, du bist mein einziger wahrer Freund.« »Und was ist er?« Karn deutete auf den Bewußtlosen. »Er ist mein Geliebter.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, als sich der rote Lichtkegel über Karn ausbreitete. Er zitterte, geriet ins Wanken, wurde unsichtbar und spürte, wie ihn das rote Licht mitriß. Kurz bevor er vor den entgeisterten Blicken Jhoiras durch die Felswand verschwand, warf er noch einen Blick auf Kerrick, der einen Finger krümmte und die Augen öffnete. 67
»Es ist die Mühe wert«, erklärte Urza, der in seinem Studierzimmer saß. »Aus den Thran wurden die Phyrexianer. Wenn wir das verhindern und sie auf dem Weg der Wissenschaft und der Magie statt dem der Mutation halten können, retten wir die ganze Welt.« Barrin streckte seine Hand aus und schnupperte. »Was war das? Habt Ihr es auch gemerkt?« »Eine geringe Zeitabweichung«, meinte Urza. »Seit wir den Probanden zum ersten Mal durch das Zeitportal schickten, passiert es hin und wieder. Diese war stärker als die vorherigen.« »Eine Zeitabweichung«, wiederholte Barrin erstaunt. »Darüber rede ich doch gerade! Das geschieht, wenn wir jemanden nur achtzehn Stunden zurückschicken. Was wird später geschehen?« »Wir müssen verhindern, daß die Thran zu Phyrexianern werden.« »Aber Jahrtausende? Wenn wir so weit zurückgehen, könntet Ihr ein paar Umwege machen und alle Eure Fehler ausmerzen - daß Ihr die Phyrexianer in das Reich Serras führtet, den Angriff auf Phyrexia, die Zerstörung Argoths, die Ermordung Eures Bruders ... Ihr könntet sogar beschließen, die Entdeckung des Kraftsteins in Koilos zu vergessen, damit die Phyrexianer gar nicht erst nach Dominaria gelangen.« Urza sah ihn ernüchtert an. »Das haltet Ihr für mein Lebenswerk? Ein Versagen nach dem anderen?« »Natürlich nicht«, versicherte Barrin. »Ihr habt viel Gutes getan, und ich verurteile Eure Fehler nicht. Auch Magier lernen durch Ausprobieren. Was ich Euch übelnehme, ist die Tatsache, daß Ihr niemals Verantwortung für Eure Fehler übernehmt. Ihr lernt auch nicht aus ihnen. Ihr räumt nie hinter Euch auf.« »Genau das will ich jetzt ändern. Ich brachte die Phyrexianer in unsere Welt. Jetzt versuche ich alles, um sie für alle Zeiten von hier zu vertreiben. Ich habe 68
gelernt, aber ich muß noch viel mehr lernen, ehe ich diesen größten Fehler wiedergutmachen kann.« »Stimmt«, meinte Barrin. »Ihr habt noch viel zu lernen.« Urza fiel die Bedeutung des Satzes nicht auf und er fuhr fort: »Ich habe ein Teil des Mosaiks gefunden, weiß aber noch nicht, wohin es gehört. Ist Euch der Anhänger aufgefallen, den Karn trägt?« Barrin winkte ab. »Eine kleine Echse an einer Halskette.« »Habt Ihr bemerkt, wie hart das Metall ist? Ich habe die Härte geprüft. Es ist härter als Stahl und Diamanten. Außerdem wird es während der Zeitverschiebung nicht erhitzt.« Barrin blinzelte verwirrt. »Was wollt Ihr damit sagen? Sollen wir aus diesem Material einen zweiten Probanden formen?« »Vielleicht.« Urzas Augen funkelten unternehmungslustig. »Ich muß Karn fragen, woher er den Anhänger hat. Wenn wir daraus einen Probanden bauen ...« »Sollen wir mit den Herstellern des Metalls einen Vertrag abschließen, oder überfallen wir ihre Heimat und vertreiben sie?« fragte Barrin voller Ironie. »Wir versuchen es mit einem Vertrag. Später bleibt genug Zeit für eine Eroberung.« Barrin warf ihm einen grimmigen Blick zu. Leise murmelte er: »Ja, Ihr habt noch viel zu lernen.« * * * Schon nach wenigen Monaten waren die Leistungen der Zeitmaschine, was die räumlichen Verschiebungen betraf, erheblich verbessert. Während einer Reise erreichte Karn die Adarkareinöde, die mehrere tausend Meilen von Tolaria entfernt lag. Der Ort bestand eigentlich nur aus einem hellblauen Stück Himmel über 69
einem strahlendweißen Stück Land. Der größte Teil der Bodens wurde von Schnee und Eis bedeckt. An einigen Stellen sah man Sand, der zu großen dünnen Glasscheiben zusammengeschmolzen war - Überreste eines längst vergessenen Krieges oder Großfeuers. Als Karn eintraf – diesmal fiel er nicht unversehens vom Himmel –, landete er auf einer riesigen Glasfläche, die an vielen Stellen geborsten und zersplittert war. Auf Malzras Bitte hin sammelte er Scherben ein und brachte sie zur Akademie. Malzra untersuchte die Scherben. Er stellte fest, daß sie wirklich aus der Adarkareinöde stammten. Das Ergebnis freute ihn sehr, und er suchte für die nächste Reise ein noch weiter entfernt liegendes Ziel aus. Inzwischen nahmen auf Tolaria die Störungen, die durch Zeitverschiebungen hervorgerufen wurden, mehr und mehr zu. Anfangs waren sie kaum zu bemerken: leichte Zeitlöcher, die wie sanfte Wellen durch die Luft glitten. Doch die Häufigkeit der Störungen nahm zu. Zuerst bemerkte man sie nur einmal in der Woche, dann täglich. Aus Wellen, die kaum den Bruchteil einer Sekunde währten, wurden allmählich Strömungen mit einer Dauer von vier bis fünf Herzschlägen. Worte blieben auf Lippen hängen. Musik geriet aus dem Takt. Glockenspiele verhedderten sich hoffnungslos. Becher wurden bis zum Überlaufen gefüllt oder fallengelassen. Blätter machten sich in den Händen der Lehrer selbständig und flatterten haltlos zu Boden. Flammen verbrannten große Fleischstücke auf dem Grill, während danebenliegende Würstchen roh blieben. Es waren nur Kleinigkeiten, besonders für Kreaturen wie Karn, die keinen Herzschlag und keinen Atem besaßen. Einige der alten Lehrmeister aber vermochten diese Zeitstürme kaum durchzustehen und sanken keuchend und stöhnend in die Knie. Je heftiger die 70
Strömungen wurden, um so mehr füllte sich die Krankenstation der Akademie. Das belastete Karn. Als man ihn zwei Monate später zum nächsten Experiment rief, faßte er seine Bedenken in Worte. »Ich bin nicht wie Ihr«, begann er. »Deshalb habt Ihr mich gebaut, denn Wesen wie Ihr können nicht durch Zeitverschiebungen reisen. Immer, wenn ich eine Reise antrete, nehmen die Zeitstörungen zu und verschlimmern sich.« Meister Malzra musterte den Golem eingehend. Der Gründer der Akademie wirkte immer sehr konzentriert, und er hatte einen stechenden Blick, als sähe er durch die Menschen und die vergangenen Jahrhunderte hindurch. »Verletzen dich diese ... Zeitstörungen?« Barrin sah von seinem Pult auf. Er nickte Karn aufmunternd zu fortzufahren. »Mich nicht«, antwortete der Silbermann, »aber alle anderen. Sie sind gefährlich. Hier leben viel Alte und viele Kinder. Ihr seid verantwortlich ...« »Gab es ernsthafte Verletzungen?« unterbrach ihn Malzra mit böse funkelnden Augen. »Noch nicht, aber wenn wir die Experimente fortsetzen, wird es Verletzte geben, vielleicht auch Tote.« Der Magier nickte zustimmend. Malzra dagegen blinzelte verwundert. »Wenn wir die Experimente nicht fortsetzen, wird es auf der ganzen Welt Tote und Verletzte geben. Du verstehst das nicht, Karn. Du lebst erst seit kurzer Zeit. Du hast erst wenige hundert Meilen Land gesehen. Ich lebe seit Jahrtausenden und habe unzählige Länder und Welten gesehen. Es gibt so viel Böses, genau vor unserer Tür. Schlimmeres, als du dir vorstellen kannst. Ich allein weiß, daß sie vor der Tür stehen und anklopfen. Ich allein suche einen Weg, sie für alle Zeit zu verjagen oder gar zu vernichten, wenn sie einzudringen versuchen. 71
Ich allein stehe zwischen der Welt und der völligen Vernichtung, und du spielst das Kindermädchen für diese alten Narren und Kinder und verlangst, ich solle sie mit Ziegenmilch aufpäppeln und Zeit für ein Mittagsschläfchen anberaumen?« Barrin senkte den Kopf und seufzte mißbilligend. Karn dachte nach und schwieg. Jetzt glaubte er, was Teferi über Malzras Verfolgungswahn gesagt hatte. Es drängte ihn, den Mann mit seinem Wahnsinn zu konfrontieren, aber die letzten Monate hatten ihn viel über den Umgang mit diesen seltsamen Wesen aus Fleisch und Blut gelehrt. »Ja. Ihr kämpft einen einsamen, gefährlichen Kampf.« Beeindruckt sah Barrin auf. »Einer, der uns alle eines Tages umbringen könnte«, sagte er vorwurfsvoll. Malzra nahm ihre Bemerkungen als Zustimmung hin. »Gut. Wie schön, daß ihr beide einverstanden seid. Karn, ehe du die Maschine betrittst, möchte ich, daß du mir den Anhänger gibst. Er könnte die Reise stören.« Mißtrauisch nahm Karn die Kette ab und reichte sie Malzra. Der Mann musterte sie eingehend. »Woher hast du sie?« Sein Blick funkelte gierig. Karn öffnete den Mund, hielt aber inne. Malzras wahnsinniges Gerede fiel ihm wieder ein. Wenn der Meister in Jhoiras Zimmer herumschnüffelte, stieß er vielleicht auf ihr Geheimnis. Er würde sie hinauswerfen - oder noch Schlimmeres tun ... »Ich habe sie gefunden. Sie hing an einem Stück Treibholz, das ich am Strand fand.« »Treibholz«, murmelte Malzra ungläubig. »Treibholz!« bekräftigte Karn. Malzra schüttelte den Kopf und befahl: »In die Maschine mit dir, Karn!« Diesmal brachte ihn die Maschine an den Ort einer 72
gewaltigen Vernichtung. Es war schlimmer als alles, was Karn je gesehen hatte. Männer - oder das, was noch von ihnen übrig war - lagen verstreut auf dem Boden. Manche waren fast vollständig vorhanden und nur von verräterischen Blutspuren in der Herz- oder Magengegend verunstaltet. Andren fehlten Gliedmaße, die bestimmt von wilden Tieren, die zwischen den Leichen herumliefen, abgerissen und fortgeschleppt worden waren. Wieder andere Krieger schienen durch außergewöhnlich scharfe Klingen in zwei Hälften gespalten zu sein. Und Feuerbälle hatten einige bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Rauchende Kriegsmaschinen bevölkerten den Horizont. Der Gestank von Verwesung, Unrat, Kot und Rauch erfüllte die Luft. Bestimmt wurde dieses Grauen von dem Bösen verursacht, von dem Malzra sprach, dachte Karn. Ihm war nie übel gewesen, aber jetzt zitterte er am ganzen Körper und fühlte sich schwach und elend. Man hatte ihm aufgetragen, ein Mitbringsel einzusammeln, doch er brachte es nicht über sich, ein Schwert der Hand eines Toten zu entreißen oder einen Helm aufzuheben, der kein Leben gerettet hatte. Statt dessen entdeckte er einen Schild, der abseits lag und keine Blutspuren aufwies. Er hob ihn auf und preßte ihn an sich, während er traurig auf den Ruf des Meisters wartete. Bei seiner Rückkehr reichte er Malzra mit bedrückter Miene den Schild. Malzra stellte fest, daß er aus Neu-Argivia stammte. Als der Silbermann das Schlachtfeld beschrieb, nickte er grimmig. Genau vor zwei Tagen hatte dort ein Kampf stattgefunden. Karn war nur eineinhalb Tage zurückgereist. Der Meister war wütend und enttäuscht. Er gab Karn die Halskette zurück. »Wenn so das Böse aussieht, von dem Ihr spracht, begreife ich, warum Ihr so erbittert dagegen an73
kämpft«, erklärte Karn mit ernster Miene, während er sich die Kette umhängte. Malzra lächelte finster - ein ungewöhnlicher Anblick. »Diese Kämpfe sind unwichtig, da sie nur das Ergebnis menschlichen Hasses sind. Ich bekämpfe den Haß der Dämonen.«
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Monolog
Manchmal vergesse ich, was Urza schon alles gesehen und getan hat. Der Silbermann kehrte aus Neu-Argivia zurück. Wir hörten ihn an und verließen das Labor. In jener Nacht, während unserer Lesestunde in Urzas Studierzimmer, ließ er das Buch, das er gerade las, in seinen Schoß sinken. Geraume Zeit starrte er schweigend vor sich hin. Auch ich senkte mein Buch und wartete ab. Urzas Blick schien in weite Ferne zu schweifen, und ich vermochte den Machtstein und den Schwachstein für kurze Zeit zu sehen. Hinter den Fenstern jagte der Wind durch die hohen Palmen. »Ich kämpfte gegen eine ganze Welt, nicht nur gegen Gix. Gegen eine ganze Welt«, murmelte er. Vorsichtig fragte ich: »Gegen eine ganze Welt?« »In Phyrexia. Ich wollte Gix bekämpfen, aber dort erwartete mich eine ganze Welt voller Dämonen, Drachenmaschinen, Hexenmaschinen, lebender Toter und toter Lebewesen. Und im Herzen der Welt saß ein Gott. Ein finsterer, wahnsinniger Gott.« Ich stellte mir vor, daß ein Fremder, der nach Tolaria kommt, das gleiche erzählen würde. »Ich kämpfte, um eine ganze Welt zu vernichten, aber Xantcha - sie kämpfte nur, um ihr Herz wiederzugewinnen.« Ich atmete tief durch. »Ja. Der Stein bedeutete ihr so viel wie eine ganze Welt. Auch für Karn bedeutet er die ganze Welt.« In Urzas uralten Augen glimmte ein Begreifen auf. »Deshalb benehmen sie sich so!« 75
»Wer?« »Die Studenten, die Lehrmeister - sogar Ihr und Karn. Jeder von Euch verteidigt sein Herz, seine eigene Welt.« Er ist nicht verrückt, jedenfalls nicht völlig. Er ist uralt und unmenschlich, von den Jahrtausenden geformt, aber er ist nicht völlig verrückt. »Stimmt«, sagte ich. »Wißt Ihr nicht mehr, wie das ist? Es ist ein einsamer, gefährlicher Kampf, der uns alle eines Tages umbringt.« Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
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Hoch über dem ruhelosen Meer hockte Teferi auf einem windumtosten Felsen und starrte in die Dunkelheit. Es war sehr anstrengend gewesen, bis hierher zu gelangen. Jhoira war geschickt und sportlich. Nach dem Löschen der Laternen war sie leise und unauffällig aus ihrem Zimmer geschlichen. Trotz Teferis Unsichtbarkeitszauber spürte sie, daß sie verfolgt wurde. Während sie durch die leeren Flure schlich, schaute sie zweimal zurück. Beim ersten Mal drückte sich Teferi in den Eingang der Schmiede. Leider klapperte der Türgriff, und Jhoira blieb stehen. Lange Zeit starrte sie in die Dunkelheit hinein. Teferi hielt den Atem an. Als er sich wieder hervorwagte, war sie verschwunden. In der Halle der Artefakte - einem Museum, in dem Malzra wichtige, aber überholte Erfindungen ausstellte - holte er sie ein. Schon bei Tage war der Raum unheimlich. Überall standen Figuren aus Metall und Draht mit ausgestreckten Armen herum, als flehten sie den Betrachter an, sie unbedingt wieder in Betrieb zu nehmen. Bei Nacht war das Museum entsetzlich beängstigend. Drahtige yotianische Krieger mit Hundeköpfen kauerten drohend am Boden. Wesen mit nach hinten gebogenen Knien wirkten wie Unholde aus einer fremden Welt. Am anderen Ende des Raumes war nur noch ein wehendes Stück Stoff von Jhoira zu sehen. Die Tür, durch sie enteilte, führte zum Westlabor - einer selten benutzten Einrichtung, die im Sommer unerträglich heiß und im Winter unangenehm feucht war. Um ein Haar hätte er sie wieder aus 77
den Augen verloren. Im Labor war keine Spur von ihr zu entdecken. Er wirkte einen Zauber, der ihre Fußabdrücke sichtbar machte. Sie verschwanden, als er ihnen folgte. Plötzlich trat Teferi auf ein schrägstehendes Gitter im Boden. Das mußte es sein! Daß Jhoira das Gitter im Dunklen bewegt hatte, war offensichtlich jedenfalls für einen Magier. Ihre Spezialschlösser hielten ihn nur minutenlang auf. Danach war es ein Kinderspiel, die Mauer zu erreichen. Er sah, wie sie entkam, während die Wachen auf dem Wehrgang fluchend hinter einem mechanischen Vogel herjagten. Teferi zauberte einen echten Vogel herbei, um sie abzulenken. Der Himmelsstürmer erschreckte die Wächter fast zu Tode. Mit seiner Hilfe und dem Unsichtbarkeitszauber gelang es dem Jungen, Jhoira auf den Fersen zu bleiben. Von nun an ließ Jhoiras Vorsicht nach. Vielleicht nahm sie an, außerhalb der Schule unbeobachtet zu sein. Vielleicht hatte sie es auch nur so eilig, in ihr Versteck zu kommen. Selbst im schwachen Licht des Glimmermondes kam Teferi gut voran. Durch die Wälder gelangte er zu den Klippen hoch über dem Meer und bis zu einer Höhle, die ein flackernder Lichtschein erhellte. Er warf den Unsichtbarkeitszauber ab, holte tief Luft und betrat die Höhle mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen. Er blieb gerade noch rechtzeitig stehen. Teferi sah, wer sich in dieser Höhle aufhielt - besser gesagt: wer in der Höhle lag. Angewidert zog er sich zurück, denn er konnte nicht ertragen, noch mehr zu sehen. Er hatte gehofft, eine Handhabe gegen Jhoira zu bekommen, um vielleicht einen Kuß von ihr zu verlangen. Niemals jedoch hatte er einen anderen Mann erwartet. Und wenn er ihr nun andeutete, ihr Geheimnis zu kennen, würde sie ihn nur noch mehr hassen. Er hockte auf dem Felsen und sah in die tosenden Wellen hinunter. Der Wind trieb 78
dunkle Wolken über den Himmel. Schließlich erhob er sich und kehrte zur Akademie zurück, den Kopf voll wirrer Fragen. Während er sich einen Weg durch das dichte Unterholz bahnte, kam ihm ein neuer Gedanke: Es war möglich, daß gewisse Dinge im Leben weder durch Tricks noch durch Überredungskünste erreicht werden konnten. Nichts, was er bisher getan hatte, hatte Jhoira für ihn eingenommen. Keine Zauber, keine Lügen, keine Prahlerei, keine Demütigung, keine Scherze und kein Gerede hatten sie davon überzeugt, wie großartig er war. Teferi war ehrlich verwirrt. Nie zuvor war ihm jemand begegnet, der gegen sein Genie immun war. Sie sah keine seiner überragenden Qualitäten und konzentrierte sich nur auf den Altersunterschied. »Werde erwachsen!« war alles, was sie je zu ihm sagte. Er wurde langsam erwachsen. Wie konnte er das beschleunigen? Leider besaß er keine Zeitmaschine ... In diesem Augenblick fühlte er eine Hand auf der Schulter und wurde mit dem Gesicht zu Boden gedrückt. * * * »Teferi weiß von Kerrick«, sagte Karn zu Jhoira. Im hellen Licht des Morgens stand der Silbermann vor ihrer Tür im Gang. Verschlafen blinzelnd sah sie ihn an. Sie war erst vor einer Stunde zurückgekehrt, bei Sonnenaufgang, während des Wachwechsels. »Wovon sprichst du?« »Sie haben ihn heute morgen außerhalb der Akademie aufgegriffen. Er kam gerade von der Westküste.« Mit einem flauen Gefühl im Magen winkte Jhoira dem Silbermann, ihr Zimmer zu betreten, und schloß die Tür hinter ihm. Sie fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. 79
»Also, was ist los?« »Teferi hat dich beobachtet«, erklärte Karn mit ernster Stimme. »Wahrscheinlich ist er dir gefolgt. Sie fingen ihn auf dem Rückweg ab. Er muß euch ...« »Wer hat ihn geschnappt?« unterbrach ihn Jhoira. »Die Wachen an der Westmauer. Eine Wächterin hörte ein Rascheln im Dschungel, als Teferi aufbrach. Sie folgte ihm, verlor ihn aber aus den Augen. Deshalb wartete sie auf seine Rückkehr. Man hat ihn stundenlang verhört. Sie haben sich über deine mechanischen Vögel geärgert und denken, Teferi hätte sie gebaut. Natürlich haben sie nichts aus ihm herausbekommen nicht einmal den Weg, den du benutzt, um dich herauszuschleichen. Vor einer halben Stunde übergaben sie ihn Meister Malzra persönlich.« Verwirrt schüttelte Jhoira den Kopf, riß die Türen ihres Schranks auf und wühlte in ihren Kleidungsstücken herum. Schließlich wählte sie das schönste weiße Gewand aus, das eine Goldborte zierte, und zog es über den Kopf. Sie entledigte sich unter dem Gewand ihres Nachthemds, zog einen goldenen Gürtel aus dem Schrank und schnallte ihn mit zornigen Bewegungen um ihre Hüften. »Was hast du vor?« wunderte sich Karn. »Ich werde mich verteidigen.« »Teferi hat noch nichts verraten.« »Teferi?« fragte sie wütend. »Teferi wartet auf die beste Gelegenheit. Er verrät mich, sobald er Meister Malzra um den Finger gewickelt hat.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich will ihm zuvorkommen. Ich gestehe, was ich getan habe, denn so kann ich mich wenigstens der Ehrlichkeit rühmen.« Mit einem verzweifelten Schnauben machte sie kehrt, beugte sich über das Bett und zog die Decken über einen unförmigen Gegenstand, der Karn vorher nicht aufgefallen war. »Gehen wir.« Während sie die Tür öffnete, warf Karn noch einen 80
Blick zum Bett hinüber und sah die goldenen Locken Kerricks unter der Decke hervorlugen. * * * Meister Malzra war außer sich. Sein Gesicht, das immer von einem inneren Leuchten erhellt wurde, strahlte wie eine Kerze. Die Augen verströmten ein wahres Höllenfeuer aus roten Blitzen. Er schritt auf und ab; die blauen Gewänder wehten um seine schlanke Gestalt. Im schwachen Licht des Studierzimmers wirkte er riesengroß und mächtig, als trage er eine der Kraftrüstungen, die im Artefakt-Museum ausgestellt waren. Neben ihm sah der vierzehnjährige Teferi wie ein winziger Spatz aus. »Wer bist du in Wirklichkeit? Was bist du? Ein Spion? Für einen phyrexianischen Schläfer bist du zu jung. Du riechst auch nicht nach Öl. Aber du bist klug und unbelehrbar, genau der Typ, den die Phyrexianer auswählen. Was hast du außerhalb der Mauern getan? Wen hast du getroffen? Phyrexianische Boten?« Teferi hielt den Blick auf die Tischplatte gerichtet. »Ich weiß nicht einmal, was Ihr mit Fürechsen ... Vierechsen ...« »Spotte nicht!« brüllte Malzra und hieb mit der Faust auf den Tisch. Teferi nahm allen Mut zusammen und hob die Augen, um dem glühenden Blick des Meisters standzuhalten. Die Augen Malzras sahen wie die facettenreichen Augen eines Insekts aus. Teferi holte tief Luft und brüllte zurück: »Ihr seid verrückt, Meister! Das weiß doch jeder. Natürlich seid Ihr auch ein Genie. Sonst würde keiner von uns hier studieren. Ihr wißt mehr über Magie und Wissenschaft als jeder andere, aber Ihr seid verrückt! Feuerschlucker und Fanatiker, Dämonen und Menschen mit Hundeköpfen, Eindring81
linge, Verschwörer und Spione - die einzigen fremden Wesen, die je an dieser Küste landen, sind Fische, die dumm genug sind, sich von der Flut an Land spülen zu lassen, oder Möwen, die sich verflogen haben! Niemand will hierher, Meister Malzra, aber ich kenne ungefähr zweihundert Studenten und vierzig Lehrmeister, die fort möchten, und genau deshalb befand ich mich außerhalb der Mauer, ob Ihr es nun glaubt oder nicht!« In der nun folgenden, gespannten Stille klopfte es an der Tür. Meister Barrin löste sich aus dem Schatten der Wand und öffnete. Während im Flur im Flüsterton gesprochen wurde, starrten sich Teferi und Meister Malzra in die Augen. Sie erkannten Gemeinsamkeiten. Trotz des gewaltigen Altersunterschiedes wußten beide, daß sie sich ähnlich waren: genial, besessen, selbstsüchtig, nicht aufzuhalten, besitzergreifend und mit ebenso vielen Fehlern wie Begabungen behaftet. Aber da war noch etwas, eine unwiderlegbare Größe, nicht zu verkennen für jene, die damit gesegnet - oder verflucht - waren. Meister Malzras Blick wurde noch durchdringender und Teferi spürte, wie plötzlich eine Schlange durch seinen Kopf glitt, um seine Gedanken auszuspionieren. An den Eindrücken der Nacht vorbei schlängelte sie sich zielstrebig in Richtung seines Geheimnisses. Fast hatte sie es erreicht. Nun wurde auch Teferis Blick durchdringender. Eine Katze schlich sich in seine Gedanken - selbstgerechte Empörung und Stolz - und sprang auf die Schlange aus Malzras Verstand. Mit Krallen und Giftzähnen, fauchend und zischend, Fell gegen Schuppen, so kämpften sie in Teferis Kopf. Die Schlacht tobte mit äußerster Erbitterung, obwohl es außer den funkelnden Augen keine äußeren Anzeichen dafür gab. Barrin räusperte sich leise, um die Spannung zu durchbrechen. »Jhoira und Karn sind da.« 82
»Jetzt nicht!« antwortete Malzra. »Sie sagt, sie wolle ein Geständnis ablegen«, fuhr Barrin fort und ließ den Silbermann und die junge Frau eintreten. Malzra beendete das Duell der Blicke. Mit funkelnden Augen sah er die Ghitufrau an. Sie trug das Festgewand, das man ihr verliehen hatte, als sie in die Reihen der älteren Studenten aufrückte. »Was für ein Geständnis?« »Ich bin an allem schuld«, sagte Jhoira ruhig. »Ich bin der Grund, weshalb sich Teferi außerhalb der Mauern aufhielt.« Der Knabe starrte sie entgeistert an und sprang auf. »Sie hat mich herausgefordert!« Alle Augen richteten sich fragend auf ihn. »Dauernd versuche ich, sie zu beeindrucken, aber sie findet, ich bin zu jung für sie. Schließlich meinte sie, sie würde nicht eher mit mir reden, als bis ich etwas Mutiges und Erwachsenes tue.« »Das ist nicht...«, begann Jhoira. »Du glaubtest, es wäre erwachsen, sich aus der Akademie zu schleichen?« fragte Malzra. »Ich dachte, ich könnte vielleicht eine Nachtigall fangen. Sie singen wunderschön, und sie singen den Glimmermond an. Deshalb baute ich auch die mechanischen Vögel - um sie zu beeindrucken. Sie sagte, sie interessiere sich nicht für meine Magie, und ich wollte ihr beweisen, daß ich auch über handwerkliches Geschick verfüge. Aber sie meinte bloß: >Sie sind genauso falsch wie du.< Also dachte ich, wenn ich einen richtigen Vogel finge, einen seltenen Nachtvogel, und zwar ohne Magie und ganz allein ...« »Eine Nachtigall?« fragte Barrin erstaunt. »Ich hatte eine winzige Kette mit einem kleinen Ring bei mir. Den wollte ich dem Vogel um den Fuß legen und ihm ein Tuch um den Kopf binden, aber beides ging verloren, als mich die Wächterin überfiel« 83
»Eine Nachtigall?« wiederholte Barrin ungläubig. Er sah Malzra an. »Ich glaube ihm kein Wort. Ich denke, Malzra, wir sollten den Erlaß der Schule gegen Gedankenerforschung in diesem Fall aufheben. Ich könnte ihn mit einem Wahrheitszauber belegen ...« »Nein!« Malzras Blick hatte sich verändert. Er war nicht weicher, sondern härter und berechnend geworden. »Nein, das Vergehen ist nicht schlimm genug, um solche Maßnahmen zu rechtfertigen.« Ein schuldbewußter Blick wechselte zwischen ihm und Teferi. »Er wollte eine Nachtigall fangen, aber das war weder mutig noch erwachsen. Es war dumm und närrisch.« Teferi senkte den Kopf und schluckte. »Jawohl, Meister.« Verwirrt bemerkte Jhoira, daß sich ihre Lippen bewegten, aber keine Laute hervordrangen. »Was hast du zu sagen, Jhoira?« fragte Malzra. »Beeindrucken dich solche Taten?« Sie holte tief Luft und antwortete: »Nun ... auf eine Art schon.« * * * Nachdem die Studenten und der Silbermann fort waren, drückte sich Barrin an den Regalen in Urzas Zimmer herum. Der Weltenwanderer saß schweigend und nachdenklich an seinem Schreibtisch. Wie sollte er es sagen, dachte Barrin, wie sollte er bloß anfangen? »Es steckt mehr dahinter, Urza. Das wißt Ihr.« »Ich weiß«, lautete die ruhige Antwort. »Ihr solltet nicht zulassen, daß die Wahrheit in seinen Worten, was Genie, Verrücktheit und Verfolgungswahn betrifft, Euch von der Tatsache ablenkt, daß er nicht allein wegen einer Nachtigall unterwegs war.« »Ja«, stimmte Urza erschöpft zu. Er atmete langsam aus - nicht, weil Atmen für ihn lebensnotwendig war, da er aus reiner Energie bestand. Einfache Dinge wie 84
das Atmen ermöglichten ihm, eine wertvolle Verbindung zur Welt der Sterblichen zu knüpfen. »Es befindet sich ein Phyrexianer in der Akademie. Ich rieche ihn. Er ist auf der Hut, gut getarnt und geschützt. Der Geruch ist schwach und kaum lokalisierbar, aber er ist da. Ein Phyrexianer in Tolaria.« * * * Das rote Licht des Zeitportals umgab Karn. Er sah es nicht. Die Augen seines Verstandes richteten sich nach innen, auf den Streit zwischen Malzra, Teferi, Jhoira und Barrin. Der Ausgang jener Episode vor knapp einer Woche verwirrte ihn noch immer. Kerrick hätte enttarnt, Jhoira und Teferi verwarnt und der Akademie verwiesen werden sollen, und die Feindseligkeit hätte wie eine hohe Mauer zwischen ihnen stehen müssen. Statt dessen waren Jhoira und Teferi in Malzras Ansehen gestiegen, und der Knabe wurde von der Frau, die er immer hatte beeindrucken wollen, respektiert. Warum alles so gekommen war, begriff Karn nicht. Er vermutete, daß sich vieles, was bei dem seltsamen Treffen vorgegangen war, in nicht ausgesprochenen Worten und nicht sichtbaren Taten vollzogen hatte. Der Lauf der Zeit verlangsamte sich und kam zum Stillstand. Malzra und Barrin standen erstarrt an ihren Pulten. Das Heulen der Maschine erreichte den Höhepunkt. Dahinter lauerte Totenstille. Dann drehten sich die Turbinen der Zeit rückwärts. Ein schrecklicher Moment, in dem sich Karn immer völlig verloren und allein fühlte. Bedächtig setzten sich Barrin und Malzra in Bewegung. Ihre Hände glitten von den Pulten, schalteten die Maschine ab und kehrten um, was sie in der vergangenen Stunde getan hatten. Das Licht rings um Karn wurde stärker. Diesmal bewegte es sich nicht. Malzra hatte große Fortschritte in der Steuerung räum85
licher Verschiebungen gemacht - er schien auf diesem Gebiet besondere Fähigkeiten zu besitzen. Jetzt konzentrierte er sich auf die zeitlichen Möglichkeiten. Bei dem heutigen Versuch lenkte er die ganze Kraft der Maschine auf diesen Faktor. Es begann. Karn hatte sich daran gewöhnt, sich selbst aus dem Lichtkegel entweichen zu sehen, und beobachtete, wie er rückwärts auf die beiden Männer zuging, ihnen aufmerksam zuhörte und schließlich durch die Tür verschwand. Davor waren Malzra und Barrin meistens damit beschäftigt, die Maschine teilweise auseinanderzunehmen, glänzende Metallteile herauszunehmen und sie durch ausgebrannten Schrott und Glas zu ersetzen. Eines Tages würden diese Änderungen die Maschine so weit bringen, daß sie Karn Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zurückversetzte. Seine Gedanken schweiften ab. Auf dieser Reise würde er seine eigene Erschaffung und den Metallhaufen sehen, aus dem er entstanden war. Er würde die Zeiten erleben, als Barrin noch ein Kind war, ein Säugling, im Bauch seiner Mutter lebte, gar nicht vorhanden war. Die Weiterreise in Malzras Jugend würde bedeutend länger dauern. Um wie vieles länger, vermochte Karn nicht einmal zu schätzen. Er würde erleben, wie Malzra Stück für Stück auseinandergenommen wurde, wie es mit der Zeitmaschine geschehen war. Er würde erleben, wie einzelne Bestandteile entfernt wurden - der Wahnsinn, die Besessenheit, der Verfolgungswahn, das Genie, die fortwährende Reue und Verzweiflung. Vielleicht gehörte einiges davon zu seinen ursprünglichen Eigenschaften. Das meiste jedoch, dachte er, das Schlimmste, mußte durch Qualen, Jahrhunderte voller Qualen entstanden sein. Es wurde dunkel im Labor. Barrin schritt rückwärts von einer Lichtquelle zur anderen und entzog ihnen den Zauber, der sie zum Leuchten brachte. Er verließ 86
den Raum, schloß die Tür und verriegelte sie. Jetzt folgte eine Weile nichts als Dunkelheit. Karn glaubte, die Sonne abtauchen zu fühlen, wie eine Seeschlange, die unter der Oberfläche des Meeres rückwärts schwamm. Jetzt waren vierundzwanzig Stunden vergangen. Mitten in der Nacht betrat jemand das Labor. Es war weder Barrin noch Malzra. Wer auch immer es war, er sprach keinen Lichtzauber aus und entzündete auch keine der Fackeln, die an den Wänden hingen. Arbeiter hatten die Aufgabe, auch die Laborräume sauber zu halten, aber wer würde mitten in der Nacht ein Labor reinigen? Der Eindringling schritt an den Wänden entlang und studierte die dort aufgehängten Pläne und Zeichnungen, als könne er auch ohne Licht sehen. Er wühlte kurz in den Ersatzteilen herum und zog glitzernde Steine aus der Tasche, die er zwischen die restlichen Kristalle legte. Ein Dieb. Beinahe wäre Karn aus dem Lichtkreis herausgetreten, erinnerte sich aber noch rechtzeitig an Malzras Anweisungen, in der Zeit zurückzureisen, bis sein Körper kurz vor dem Schmelzpunkt stand. Sekunden später war die Gestalt verschwunden. Karn glaubte, im grauen Licht der Gangbeleuchtung goldene Locken zu erkennen. Der Abend brach in Gestalt eines unnatürlichen Sonnenaufgangs< herein. Die Zeit lief noch immer rückwärts. Karn wartete, während Studenten und Lehrmeister wie geschäftige Ameisen umhereilten. Es wurde Morgen. Die Schatten wurden länger und verwandelten sich in schwarze Seen. Es war wieder Nacht. Karns Körper war so heiß, daß er bereits dampfte. Der Dieb kehrte zurück. Sechsundvierzig Stunden waren vergangen. Lange genug. Karn verließ den roten Lichtkegel. Als die Sil87
berplatten mit der kühlen Nachtluft in Berührung kamen, zischten sie leise. Der Mann, der gerade die Tür geöffnet hatte, schloß sie wieder. Mit schnellen Schritten eilte der Silbergolem zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Er spähte in den Gang und sah Kerrick, der um eine Ecke huschte. Kerrick. Jhoira gestattete ihm, die Schule zu betreten, und er bestahl Meister Malzra. In seinen Taschen befanden sich sicher zahlreiche Kraftsteine, Pläne oder Ersatzteile. Was fing ein Schiffbrüchiger mit Artefakten an? Bestimmt reichte er sie an jemanden weiter. An wen? Es gibt so viel Böses, genau vor unserer Tür. Schlimmeres, als du dir vorstellen kannst.
Karn nahm die Verfolgung auf. Er würde nur noch kurze Zeit unsichtbar sein, und auch seine metallischen Schritte würden ihn dann verraten. Wenn er den Dieb nicht bald faßte, war es zu spät. Kerrick floh durch zahlreiche gewundene Gänge. Am Ende des Fluchtwegs lag die Artefakt-Halle. Vielleicht plante er, eine der Kreaturen zu stehlen oder sie nachzubauen. Er schob den Riegel zurück und schlüpfte hinein. Karn beeilte sich, die Tür zu erreichen, ehe sie sich schloß. Vorsichtig betrat er den Raum. Seine Beute lief zwischen den yotianischen Kriegern mit den Hundeköpfen hindurch. Der Silbermann folgte ihr. Seine Gestalt wurde allmählich sichtbar. Im Schütze der Metallmenagerie schlich er weiter. Neben einem Lastochsen kauerte er nieder. Die ausladende Wirbelsäule war wie ein Förderband gebaut, um schwere Lasten aus Bergwerken ans Tageslicht zu fördern. Dahinter stand ein Wetterhahn, dessen Kamm aus einer verwirrenden Vielzahl von Instrumenten bestand: einem Windmesser, einem Thermometer, einem Barometer und einem Zyklonometer. Die Kreatur daneben war drahtig und sah wie ein Jagdhund aus, mit 88
langen Beinen, einem schmalen Kopf und einem peitschenähnlichen Schwanz. Seitlich davon lauerten Krieger. Es war unheimlich, zwischen diesen Gestalten herumzuschleichen, die ohne Energiequelle wie Statuen in einem Mausoleum wirkten. Karn fragte sich, ob auch er eines Tages hier stehen würde, wenn sich Malzras Besessenheit einem anderen Ziel zuwandte oder er einen besseren Probanden für die Zeitreisen erschuf. Er hatte erst die Hälfte des riesigen Raumes durchquert, als Kerrick durch die gegenüberliegende Tür schlüpfte, auf Jhoiras Geheimgang zu. Durch die engen Gitter hätte Karn ihm nicht folgen können, hoffte aber, den Dieb außerhalb der Mauern aufzuhalten. Karn eilte auf eine andere Tür zu, die zum Hof führte. Er schob den Riegel zurück, öffnete sie leise und blickte hinaus. Draußen empfing ihn eine heiße, windige Nacht. Der Glimmermond sah hinter den Wolken wie ein feuriges Auge aus. Karn war noch heißer, und sein Körper schien förmlich zu glühen. Leise schlich er über den Hof. Malzra konnte ihn jeden Augenblick zurückrufen. Karn erreichte die Westmauer und kletterte an einem steinernen Stützpfeiler empor. Schließlich erreichte er den Wehrgang. Neben den Türmen standen die Wächter in Gruppen herum und plauderten angeregt. Auf den Turmspitzen hockten mechanische Wachen, deren Sichtgeräte langsam die Außenmauern abtasteten. Der Fuß der Mauer war in tiefe Dunkelheit gehüllt. Das Gitter am Ende von Jhoiras Geheimgang lag auf halbem Wege zwischen zwei mechanischen Wachen, von hohen Gräsern verdeckt. Ein leises metallisches Knirschen erklang. Golden glänzende Locken leuchteten in der Dunkelheit. Auf dem Wehrgang unterhielten sich die Männer noch immer. 89
Kerrick kletterte aus dem Gang heraus, die mit Unkraut bewachsene Böschung empor und lief in den Wald. Keiner der Männer hatte ihn erspäht. Mit vor Hitze zischendem Leib erhob sich Karn und sprang von den Zinnen. Mit einem Krachen, das die Wachen herumfahren ließ, landete er auf dem harten Boden. Er verhielt sich still und reglos, bis sich die Männer abwandten und ihr Gespräch fortsetzten. Im Schutze eines heftigen Windes eilte er in den Wald hinein, um Kerrick nicht zu verlieren. Jetzt ließen sich Geräusche nicht mehr vermeiden. Blätter raschelten, Äste zerbrachen unter seinen Füßen, Tau verdampfte zischend auf rotglühendem Silber. Karn fürchtete, Kerrick zu warnen, aber es kam auf Schnelligkeit an. Der Dieb war lautlos über Jhoiras Pfad gerannt, die Kraftsteine und Pläne Meister Malzras in der Tasche. Karn eilte ihm nach. Seine Kraftreserven wurden durch die schnellen Bewegungen arg strapaziert. Die Hitze ließ seine Gelenke unwillig knirschen, aber der Zorn verlieh ihm Flügel. Gerade erreichte er die Kuppe eines Hügels, als der Glimmermond durch die Wolken brach. Ein Stück von Karn entfernt standen Kerrick und zwei Fremde. Karn blieb stehen und stellte seine Hörfähigkeit auf die im Flüsterton geführte Unterhaltung ein. Der junge Mann mit den goldenen Locken hielt ihnen ein großes Stück Papier entgegen und sagte: »Hier ist der Eingang. Bringt die ganze Kompanie Negatoren mit. Ich werde den Eingang öffnen und die Wachen auf der Mauer umbringen.« Mehr sah und hörte Karn nicht. Malzras Maschine packte ihn - seinen glühendheißen Körper - und zerrte ihn fort. Der grelle rote Lichtstrahl formte einen festen Kegel um ihn herum. Der Hügel mitsamt Kerrick und seinen Freunden verschwand. Karn sah nur noch rotes Licht. Er brüllte vor 90
Verzweiflung und wartete ungeduldig auf das Ende der Reise. Endlich nahm die Gegenwart wieder Gestalt an. Der Lichtkegel drehte sich noch einmal, blitzte auf und erlosch. Dampfend und rotglühend stand Karn in der Mitte des Labors. Der Meister sah von seinem Schaltpult auf. Er und Barrin starrten den Golem respektvoll an, und ihre Augen verfolgten die Rauchfahnen, die von den Silberplatten aufstiegen und ihre Fangarme um die Zeitmaschine schlangen, deren massiger Rahmen mit grauem Ruß bedeckt wurde und zischend und knakkend wieder abkühlte. Karn verließ den Kreis. Damit verletzte er das Protokoll: Er sollte warten, bis Meister Malzra ihn rief. Außerdem verärgerte er den Wissenschaftler, indem er sprach, ehe er gefragt wurde. »Eine Invasion steht uns bevor!« Barrin ging auf ihn zu und hob beschwichtigend die Hände. »Es besteht die Gefahr einer Seuche, wenn du den Ring verläßt, bevor ...« »Was für eine Invasion?« fragte Malzra grimmig. »Das weiß ich nicht. Ich habe nicht gesehen, mit wem er sprach, aber er redete von Negatoren ...« »Phyrexianer!« bestätige Malzra noch grimmiger. Der Magier fragte: »Wer sprach von Negatoren?« »Kerrick«, antwortete Karn. In dem Augenblick begriff er, daß er Jhoiras Geheimnis verraten mußte, weil es um die Sicherheit der ganzen Akademie ging und auch um Jhoiras Sicherheit. Dennoch machte die Notwendigkeit das Geständnis nicht einfacher. »Er ist ein Schiffbrüchiger, der vor beinahe einem Jahr an der Westküste strandete. Jhoira fand ihn und rettete sein Leben. Er entdeckte einen Weg in die Akademie und plant nun, die Schule an jene auszuliefern, die eine Kompanie Negatoren anführen - was auch immer das ist.« Malzra schritt wütend hin und her. »Sie müssen auf 91
einer nahe gelegenen Insel ein Portal besitzen, vielleicht auch bloß ein Boot. Sie wußten, daß ich auf Tolaria Verteidigungsmaßnahmen gegen Portale errichtet habe. Irgendwo sammeln sie sich für den Angriff.« »Woher weißt du das alles?« wollte Barrin von Karn wissen. »Ich folgte ihm aus der Akademie, aus diesem Zimmer hier. Er hat die Pläne von hier mitgenommen«, berichtete der Golem. »Außerhalb der Mauer traf er zwei Leute. Sie sprachen von Negatoren.« Malzra schwankte. Sein Gesicht war rot vor Zorn. »Verdammt! Dann wissen sie von meinen Zeitexperimenten. Sie hätten sich keinen schlechteren Moment für den Angriff aussuchen können.« »Wann hat dieser Kerrick die Pläne übergeben? Wie weit bist du zurückgegangen?« »Sechsundvierzig Stunden.« »Sie könnten jeden Moment hier sein!« rief Barrin. »Ich werde die Wachen alarmieren.« Er lief zur Tür hinaus. »Zu spät.« Malzra atmete zum ersten Mal seit vielen Stunden. Er sog den Geruch ein, der aus dem Flur drang. »Sie sind bereits hier.« Dampfend und zischend sprang Karn zur Tür und lief den Gang hinunter. Alles war still und verlassen, aber der Geruch von Öl, Metall und Tod lag in der Luft. Er hatte nur einen Gedanken: Jhoira - und stürmte weiter. Malzra rief ihm etwas nach, doch Karn achtete nicht darauf. Er lief eine Treppe hinunter, folgte der weiten Biegung des Ganges, stieg eine Treppe hinauf und stand endlich vor der kleinen, halbrunden Tür von Jhoiras Zimmer. Er drückte den Griff hinunter, aber die Tür war verschlossen. Er schlug dagegen. Die Tür erbebte. Er brüllte ihren Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Karn hob den riesigen Fuß, trat die hölzerne Tür ein und wand sich seitwärts durch die Trümmer. 92
Das Zimmer war blutbesudelt. Jhoira hatte sich gewehrt; das war nicht zu übersehen. Ihre Gegenwehr war für immer vorbei. Sie lag in einer Ecke des Raumes auf dem Boden, das Gesicht nach unten. Eine rote Blutlache umgab sie. Ihr blutgetränktes Gewand bedeckte einen Körper, der nur noch halb so groß war wie früher. Karn sah frische Fußabdrücke in dem Blut. Abdrücke eines Eisenschuhs mit spitzen Zehen. Sie führten zum Schrank, in dem Jhoiras Kleidung hing. Die Schranktür stand einen spaltbreit offen, und aus der Dunkelheit starrte ein fiebrig glänzendes Auge hinaus.
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Monolog
Er ist nicht verrückt. Ich hätte niemals an ihm zweifeln dürfen. Die Verrücktheit liegt in dem, was er erwartet hat und was nun da ist. Es umgibt mich. Es schlägt seine Fänge in mich. Seine Klauen zerren an meinen Gedärmen. In dem Augenblick vor meinem Tode spüre ich, wie sie sich warm über meine Füße ergießen. Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
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Das Wesen im Schrank warf sich gegen die Türen, riß sie aus den Angeln und sprang hervor. Es war riesig und von menschenartiger Gestalt, ähnelte aber mit der an den Körper geschweißten Rüstung, den hervorstehenden knöchernen Stacheln und den mit Klingen besetzten Beinen auch einem Insekt. Der stählerne, weit hervorstehende Unterkiefer war mit Metallstoßzähnen bestückt, von denen Jhoiras Blut tropfte. An Stelle einer Nase besaß es eine Stahlspitze und atmete durch Löcher im Brustkorb. Die scheinbar glühenden Augen lagen tief in verspiegelten Höhlen, die gehörnte Schädeldecke war ebenfalls mit Blut besudelt. Messerscharfe Knochenenden ragten aus den Schulterblättern, Ellenbogen, Fingerspitzen, Knien und Zehen. Die Kreatur krächzte: »Entwaffne und ergib dich, dann bleibst du unversehrt. Sonst wirst du zerstört.« Als Antwort warf sich Karn auf den Widersacher. Mit der Schnelligkeit und Geschicklichkeit einer Schlange schlüpfte das Wesen unter ihm hinweg. Er bekam eine Schulter zu fassen, aber auch sie entglitt ihm. Urplötzlich hing der Feind auf seinem Rücken. Die scherenartigen Finger stießen nach seiner Kehle. Ihm fiel ein, wie Malzra seinen Kopf einst mit Leichtigkeit abgenommen hatte, um den Kraftstein zu entnehmen ... Karn vollführte eine Drehung und ließ sich fallen, um den Gegner durch den Aufprall des schweren Silberkörpers auf dem harten Boden zu zermalmen. Wie95
der glitt das Wesen blitzschnell zur Seite und sprang auf seinen Brustkorb. Als Karn auf dem Boden aufschlug, landete er in einer Blutlache. Zischend verdampften die Tropfen auf seinem heißen Leib. Er schlug mit beiden Fäusten auf den Feind ein. Mit einem wütenden Knurren löste das Wesen den Verschluß an Karns Kehle und klappte den Kopf nach hinten. Karn sah nichts mehr und vermochte sich kaum zu bewegen. Seine Arme und Beine baumelten hilflos herab, aber er spürte die spitzen Finger, die sich in seinen Körper wühlten und nach dem Kraftstein suchten. Ein Ruck, und sein ganzes Innenleben läge bloß. Karns Leben würde vergehen, sobald sich der zerbrechliche Kristall in der Hand des phyrexianischen Mörders befand. Der Angreifer hielt inne und betastete den kleinen Anhänger, der an der Halskette des Golems hing - die Viashinoechse. Er nahm sie in die Hand, drehte sie hin und her und murmelte: »Thran.« Gleichzeitig sagte Karn: »Jhoira.« Mit letzter Kraft nahm er sich zusammen, packte das Schmuckstück, zerriß die Silberkette und rammte es in den Schädel des Feindes. Ein Strom heißen Öls ergoß sich über ihn. Schreiend fiel die Kreatur hintenüber. Es gelang Karn, den Kopf nach vorne zu kippen und den Verschluß zu befestigen. Sofort kehrte seine fast schon verlorene Willenskraft zurück. Sekunden später stand er über dem zusammengekauerten Phyrexianer, in dessen Schläfe das Schmuckstück steckte. Er schleuderte den Mörder zu Boden und zermalmte seinen Schädel unter seinem riesigen Fuß zu einer Öligen Masse aus Haut, Metall und Gehirn. Der Körper erbebte noch einen Moment, aber Karn schob ihn achtlos beiseite und kniete neben Jhoira nieder. Tot. Jhoira war tot. Die Wut, die Karn beim Anblick 96
ihres geschunden Leibes empfunden hatte, verwandelte sich jetzt in Kummer und Trauer. Der Silbermann sackte in sich zusammen. Der Schmerz, den er erlitt, war schlimmer als ein rotglühender Leib oder eine abgetrennte Schädeldecke. »Sie sind überall«, erklang eine eisige Stimme von der Tür her. »Sie bringen alle um. Barrin ist bereits tot. Teferi auch.« Karn sah auf und entdeckte Meister Malzra, der in seiner glänzenden Rüstung fast wie ein Phyrexianer aussah. »Wir können sie noch aufhalten! Es ist sinnlos, die Zweige des Bösen abzutrennen. Wir müssen die Wurzeln ausreißen! Ich schicke dich zurück. Der ganze Angriff kann verhindert werden. Du reist achtundvierzig Stunden zurück. Halte Kerrick auf und töte ihn, ehe er die Pläne weitergibt. Ich bewache die Maschine und bekämpfe jeden Eindringling. Ich muß Meister Barrin zurückhaben. Von mir aus soll sich das Portal selbst zerstören. Von mir aus soll auch dein Körper schmelzen, aber du mußt Kerrick und seine Kumpane aufhalten!« * * * Wenn ich ihn umbringe, dachte Karn, als der rote Lichtstrahl des Portals um ihn herumwirbelte, ja, selbst wenn ich ihn nur aufhalte, wird Jhoira leben. Meister Malzra arbeitete in fieberhafter Eile an beiden Pulten, während sein Freund irgendwo tot herumlag. Wenn ich Kerrick umbringe, dachte Karn, wird alles so sein wie früher. In diesem Augenblick stürmte eine Gruppe Negatoren durch die Tür. Sie waren riesengroß und steckten in Stahlrüstungen, ähnlich wie der Phyrexianer, den Karn besiegt hatte. Alle unterschieden sich voneinander. Einer besaß einen Hundekopf und Pfoten, wäh97
rend Schultern und Körper menschenähnlich wirkten oder gewirkt hatten, ehe sie an hundert Stellen mit Drähten und Kabeln durchbohrt wurden. Ein Zweiter sah wie ein gebückt laufender Affe aus, mit tiefliegenden, bösen Augen und übermäßig langen Armen. Ein Dritter war zierlich, feingliedrig und erinnerte an eine Spinne. Sie stapften durch die zersplitterten Überreste der Tür und rannten auf Malzra zu. Karn schwankte und versuchte, den Kreis zu verlassen, um sich den Feinden entgegenzuwerfen. Ohne den Blick von seinem Pult zu heben, hob Malzra die Hand und sandte den Wesen einen unbeschreiblich heftigen Blitzstrahl entgegen. Drei grell leuchtende Pfeile trennten sich vom Hauptblitz und bohrten sich in die Brustkörbe der Monster. Tiefe Löcher entstanden an den Stellen, an denen bei einem Menschen das Herz saß. Glühende Funken liefen über die größtenteils aus Metall bestehenden Körper. Augen leuchteten in hellem, von innen kommendem Licht. Zähne sprühten Funken. Muskeln leuchteten auf unheimliche Weise auf. Dennoch liefen die Phyrexianer weiter. Für den nächsten Zauber hob Malzra nicht einmal die Hand. Die Magie entströmte seinem Verstand, während die Finger weiterhin über die Tasten des Pultes tanzten. Die drei Kreaturen blieben urplötzlich stehen, erstarrten und fielen zu Boden, wo sie wie schwarze Eisschollen zersprangen. Karn sah nichts mehr. Im nächsten Augenblick erstarrte die ganze Welt. Eine Sekunde lang stand sie still, als stehe sie kurz vor dem Zerplatzen. Dann drehte sich die Zeit rückwärts. Die zerbrochenen Phyrexianer fügten sich wieder zusammen, erhoben sich und wichen zur Tür zurück. Fleisch entstand aus Rauchwolken und glitt in die Löcher im Leib der Feinde. Sie entschwanden seinen Blicken, und die Tür fügte sich wieder zusammen. 98
Schneller und schneller lief die Zeit zurück. Der tanzende Lichtstrahl schrillte vor Schnelligkeit. Die Welt erbebte in ihren Grundfesten. Meister Malzra hatte die Maschine auf volle Kraft gestellt. Alle vier Energiequellen und die Seeturbine arbeiteten fieberhaft. Wahrscheinlich würde Karn die Reise nicht überleben, und wenn doch, war die Maschine vielleicht nicht mehr in der Lage, ihn in die Gegenwart zurückzubringen. Aber Jhoira würde überleben, und das war genug. Jhoira, Teferi, Barrin und die Akademie. Wenn ihre Rettung seinen Tod bedeutete, so machte es Karn nichts aus. Besser, so zu enden, als im Artefakt-Museum nutzlos herumzustehen. Auf den Morgen folgte die Nacht; Kerrick betrat das Labor und verschwand wieder. Nach dem Abend begann der Tag. Karn wartete ungeduldig auf den vorangehenden Morgen. Ihm war bereits sehr heiß; sein Körper dampfte, die Metallplatten dehnten sich aus und rieben sich aneinander. Dann war Nacht. Die Zeit lief langsamer zurück. Das Licht erlosch. Karn ballte die Fäuste und verspürte das seltsame, menschliche Bedürfnis zu beten - zu welchem Gott auch immer, vielleicht sogar zur Zeitmaschine. Begleitet von einem Licht, das schöner war als ein Sonnenaufgang, sprang die Tür des Labors auf, und er erhaschte einen Blick auf den grauen Flur. Karn verließ den Kreis mit unsicheren Schritten. Sein Körper leuchtete in mattem Rot, ähnlich der Farbe des nun erloschenen Lichtstrahls. Er nahm sich zusammen und rannte zu der sich langsam schließenden Tür, packte den Griff und riß sie weit auf. Dicht hinter dem goldhaarigen Phyrexianer sprang er in den Flur. Als er das Krachen der Tür vernahm, wirbelte Kerrick herum. Obwohl Karn noch unsichtbar war, verriet ihn der Dampf, der von den Silberplatten aufstieg und seine Umrisse erahnen ließ. Kerrick machte kehrt und floh. Karn folgte ihm. Er 99
war nicht auf Schnelligkeit hin konzipiert worden, und das Laufen zehrte an seinen Kräften. Kerrick gewann an Vorsprung. Vielleicht noch eine lohnende Verbesserung, dachte Karn verzweifelt. Vielleicht sollte man mich noch ein wenig umbauen - aber wer weiß, ob die Maschine diese Reise übersteht. Karn war nicht so schnell wie der Phyrexianer, doch er kannte die Akademie und wußte, wohin sich Kerrick wenden würde. Er eilte einen Seitengang entlang und erreichte das Museum. Leise trat er ein und verriegelte die Tür hinter sich. Karn schlich an stillgelegten Kreaturen vorbei, die zwei- oder dreimal so groß waren wie er: an mechanischen Mammuts, Spinnenwesen mit Händen am Ende der langen Gliedmaßen und anderen unheimlichen Artefakten. Auch der Verräter weilte bereits im Museum. Kerrick hatte die Halle durch eine gegenüberliegende Tür betreten und schlich lautlos durch den Raum. Er war auf dem Weg zum westlichen Labor und mußte an Karn vorbeigehen. Der Silbermann erklomm eine Plattform und kauerte sich neben dem Metallskelett eines Kriegers zusammen. Dort wartete er im Schatten des Artefaktes. Kerrick kam. Leise und geschmeidig schlich er voran. Ein höhnisches Grinsen verzerrte sein Gesicht, als er die Hand auf den Türgriff legte und daran zog, denn er war sicher, den Verfolger abgeschüttelt zu haben. Karn fiel über ihn her. Das Geräusch, das entsteht, wenn Knochen brechen egal, ob menschliche oder phyrexianische - ist unverwechselbar. Kerricks rechtes Beins knickte unterhalb des Knies zusammen. Schreiend vor Schmerzen fiel er zu Boden. Es klang mitleiderregend, und Karns geballte Fäuste, die gerade zuschlagen wollten, hielten inne. Viel100
leicht reichte der Beinbruch aus, um Kerrick aufzuhalten, damit das Treffen mit seinen Kumpanen nicht stattfand. Die Wächter würden ihn hier entdecken und als Spion entlarven. Malzra und Barrin würden ihn streng bestrafen und erfahren, wo sich die Phyrexianer versammelten. Wenn er diesen Mann tötete, kamen sie irgendwann wieder. Ließ er ihn aber am Leben, damit er verhört werden konnte ... Karn, der jetzt erst schwach zu sehen war, warf sich den wütenden Feind über die Schulter und marschierte an den Artefakten vorbei. Kerrick bäumte sich bei der Berührung mit der glühenden Silberhaut auf und stieß Schmerzensschreie aus. Die beiden erreichten die Tür, die Kerrick benutzt hatte, und begaben sich in den Gang. »Ich habe einen Spion! Einen phyrexianischen Spion!« rief Karn. »Wache! Meister Malzra! Meister Barrin!« Ehe er eine Antwort erhielt, wurde er von Malzras Hand aus der Zukunft gepackt. Die Maschine rief ihn zurück. Der Ruf war anders als sonst - viel eindringlicher. Der Zugriff brachte den Silbermann ins Wanken, und er wäre um ein Haar gestürzt. Hastig umklammerte er den Gefangenen noch heftiger. Sein Körper wurde glühendheiß. Kerrick schlug und trat wild um sich. Der dunkle Flur drehte sich vor ihren Augen. Mit einem wilden Schrei stieß der Phyrexianer die Finger unter Karns Kinn und suchte nach dem Verschluß. Instinktiv griff Karn nach der Hand und stieß sie fort. Der Stoß befreite Kerrick. Mit abgeknicktem Bein landete er auf dem Steinboden des Ganges. Karn wandte sich ihm taumelnd zu. Das rote Licht flackerte. Der Flur löste sich vor Karns Augen auf. Er griff nach dem Phyrexianer, aber seine Finger schlossen sich um Luft. Bruchstücke der Wirklichkeit glitten in Sekunden an ihm vorbei. Karn stürzte in eine sich wild drehende Zeit. 101
Mit der Maschine stimmte etwas nicht, ganz und gar nicht. Die pulsierenden Zeitströmungen bildeten einen Strudel um ihn herum, zogen ihn in die Tiefe, voran in die finstere Gegenwart einer allmählich auseinanderbrechenden Maschine. Das Labor nahm undeutlich Gestalt an. Es erschien und verschwand wieder. Ein heftig flackerndes rotes Licht hüllte Karn ein. Zum zweiten Mal an diesem Tag verspürte er das Bedürfnis zu beten. Das Labor erschien erneut. Die Geräte an Malzras Pult leuchteten grell durch den Rauch. Malzra und Barrin arbeiteten ohne Unterlaß. Die Zeitmaschine über Karns Kopf schwankte bedrohlich, und aus den Seiten drang dichter Qualm. Sie löste sich auf! Der Lichtstrahl zersplitterte und sandte zahlreiche Blitze nach allen Seiten. Wo die roten Blitze trafen, zerfielen Wände zu Staub, Maschinen zu Schrott. Jeder Blitz zerriß, was er berührte, und fraß sich durch das Labor, in die Flure, durch die Schlafsäle und die Mauern. Durch ganz Tolaria. Karn stand im Kreis, durch den zuckenden Lichtkegel geschützt. Dann erfolgte die Explosion. Rot verschwand. Rot und sämtliche Farben und jegliche Dunkelheit. Es gab nur noch Licht. Licht, das so hell wie die Sonne strahlte. Ein leises Klirren kündigte das Licht an - ein Klirren, als sei ein Kristall zerbrochen. Ein Läuten folgte, und die Helligkeit war wie ein gigantischer Blitz, groß genug, um die ganze Welt zu verschlingen. Sekundenlang war die Luft fest, wie eine Mauer aus Gas und Energie, die sogleich wieder zerplatzte. Es gab keine Wände mehr. Eine Druckwelle breitete sich rasend schnell in alle Richtungen aus. Sie pulverisierte Glas, Stein und Stahl. Ihre äußeren Kreise wurden zu 102
Strömen reiner, vernichtender Energie. Die Explosion machte ganze Teile der Akademie dem Erdboden gleich und riß die Erde mit sich, bis nur noch nackter Fels übrig blieb. Nur wenige Teile der Schule blieben unberührt. Ganze Gebäude wurden in der Mitte gespalten. Die Schockwelle breitete sich immer weiter aus. Sie brachte einen Sturm aus Steinbrocken und Metall mit sich, der sich wie eine Million Zahne in alles bohrte, was ihm im Weg stand. Tausendjährige Bäume wurden entwurzelt. Berggipfel zerbröckelten. Grüne Blätter gingen in Flammen auf. Wolken aus Staub und Asche erhoben sich aus den zitternden Wäldern. Das Chaos breitete sich bis zum Meer aus. Mehrere Meilen lange Blitze brachten das Wasser bis in fünf Faden Tiefe zum Kochen. Auch die Wolken am Himmel blieben nicht verschont. Sie wurden beiseite geschleudert oder sandten Feuer an Stelle von Regen auf die Erde. Der Ozean erwachte, und gewaltige Wellen verschlangen Dörfer, die jenseits des Meeres in zweihundert Meilen Entfernung von Tolaria lagen. Eine derartige Zerstörung hatte es seit der Vernichtung Argoths nicht mehr gegeben. Und auch diese Katastrophe war durch die Torheit desselben Mannes entstanden. * * * Urza stand über allem. Er hatte unmittelbar neben dem Zeitportal gestanden, als es explodierte. Es hatte jeder Unze seiner metaphysischen Macht bedurft, um die Partikel seines Seins gegen die gewaltigen Wellen der Vernichtung zu schützen. Als Stück für Stück die Welt um ihn herum in Trümmer ging, wurde er allmählich zu einem Geschöpf aus reiner Energie. Beim ersten Herzschlag des Sturms löste er sich wieder und wieder auf. 103
Beim zweiten Herzschlag setzte er alles auf Spiel und griff in den Sturm hinein. Er sammelte sie ein, einen nach dem anderen. Vielleicht waren es nicht die Klügsten und Besten, aber es waren jene, die sich in der Nähe aufhielten und gerettet werden konnten. Der erste war Magiemeister Barrin (ja, Karn hatte getan, was er ihm auftrug und die phyrexianische Invasion verhindert, obwohl die Einzelheiten jener Zeitreise schwer nachvollziehbar und so kompliziert zusammenzusuchen waren wie die Einzelteile von Urzas Körper), es folgten fünf andere Lehrmeister und acht Studenten. Er nahm sie eilig auf eine instinktive Weltenwanderung mit. Sie würden die Reise nicht in menschlicher Gestalt überleben, und so verwandelte er sie schnell in Steine. Später würde er den Zauber rückgängig machen. Später, wenn er wieder zu Kräften kam... Wild zuckende Blitze strömten an Urza und den Steinstatuen vorüber. Die Todeszuckungen seiner letzten Erfindung schleuderten Splitter aller erdenklicher Art umher. Metall, Stein, Knochen, Fleisch und sogar das eine oder andere Gehirn sausten durch die Luft. Urza stemmte sich gegen den Sturm. Er erhob sich und nahm die anderen mit. Jetzt befanden sie sich ... wo? Das Hügelland war grün und sonnig. Ein sanfter Windhauch brachte den Duft von Heidekraut mit sich und strich um die vierzehn Statuen herum. Urza hatte sich und vierzehn andere gerettet - das bedeutete, daß mehr als zweihundert Menschen den Tod gefunden hatten. Vielleicht hätten die Negatoren weniger Schaden angerichtet, aber sie hätten Barrin umgebracht, sämtliche Artefakte und sogar die Zeitmaschine erobert. Also war es ein vernünftiger Tausch gewesen. Urza hatte einige seiner Leute gerettet, und seine Erfindungen waren nicht in die Klauen der Phyrexianer geraten. Ja, es war ein sehr guter Tausch gewesen. 104
Die Überlebenden von Tolaria standen starr und stumm im Wind. Auf der Spitze des grasbewachsenen Hügels wuchs ein Baum mit ausladender Krone, und er allein regte sich und atmete die angenehme Luft ein. Urza sprach den letzten Zauber aus, über den er verfügte. Es würde die letzte Rettungsaktion an diesem Nachmittag sein, denn er war völlig erschöpft. Es war ihm unmöglich, seine Körperlichkeit noch viel länger aufrechtzuerhalten. Die Tat, Barrin wieder ins Leben zu rufen, war ein Triumph seiner Willenskraft. Stein wurde zu Muskel, Knochen und Blut. Barrin erwachte. Die dunklen Brauen über den braunen Augen zusammengezogen, stolperte der Magiemeister durch das hohe Gras auf Urza zu. »Wo sind wir?« Bedauernd schüttelte Urza den Kopf. »Das weiß ich nicht.« Barrin nickte und atmete tief durch. Er blickte über die grünen Hügel und zum wolkenlosen Himmel auf. »Warum sind wir hier?« Ein Schatten huschte über Urzas Gesicht. »Tolaria ist vernichtet. Die Zeitmaschine explodierte. Wir sind die Überlebenden.« Der Unterkiefer des jüngeren Mannes fiel herab, und er warf einen entgeisterten Blick auf die dreizehn Statuen, die wie Grabsteine auf einem vergessenen Friedhof herumstanden. »Nur wir? Nur vierzehn Personen?« »Fünfzehn«, verbesserte Urza ihn ernsthaft. »Ihr und ich, fünf Lehrmeister und acht Studenten.« Barrin sackte in sich zusammen und umklammerte seine Knie. »Und der Rest?« Urza blinzelte. Er hätte nicht blinzeln müssen, aber es war eine alte Angewohnheit, die sich bei unangenehmen Gedanken bemerkbar machte. »Die meisten sind tot. Manche könnten überlebt haben, zwischen 105
Trümmern Deckung suchend, aber das ist recht unwahrscheinlich .« Sein Gehilfe blieb in der Hocke. Er keuchte und hechelte wie ein verängstigter Hund. »Wir müssen zurück. Wir müssen sie suchen.« »Teleportiert Euch, wenn Ihr den Zauber beherrscht. Ich kann geraume Zeit nichts mehr unternehmen«, antwortete Urza grimmig. »Ich habe mich verausgabt. Außerdem kann ich mich nicht mehr lange in dieser Gestalt halten.« »Ich beherrsche keine Teleportationszauber. Ich hätte nie gedacht, sie einmal zu benötigen!« fauchte Barrin. »Dann zaubert eben ein Schiff oder etwas in der Art! Wir müssen alle retten, die überlebten.« Urzas Körper verblaßte, zerfiel. Die Juwelen, die er anstatt Augen besaß, flackerten. Das Feuer darin erstarb. »Wir werden sie irgendwann finden; alle, die der Insel heute entfliehen. Alle, die morgen früh noch leben.« * * * Karn zerrte an der schräg liegenden Steinplatte. Sie knackte und knirschte. Das andere Ende steckte in einem Schutthaufen. Menschen schrien vor Schreck und voller Hoffnung, als sie das Licht erblickten. Kein Tageslicht, sondern Flammen, die durch die Explosion hervorgerufen worden waren. Karn hob das Ende der Steinplatte ungefähr einen Fuß in die Höhe, und zwei junge Studenten krabbelten darunter hervor. Er stemmte die Platte noch höher. Ein alter Lehrer mit blutüberströmtem Kopf kroch langsam ins Freie. »Mehr sind da nicht«, erklärte er keuchend. »Flieht in den Dschungel«, befahl Karn und ließ die Platte sinken. »Geht durch die Ruinen, nicht entlang der Wege. Wandert durch den dichtesten Dschungel zum Meer. Die freien Wege sind Zeitströme, und sie werden euch umbringen, wenn ihr sie betretet.« 106
Der Alte kniete noch immer und hielt sich den gebrochenen Arm. Die beiden Studenten standen zitternd neben ihm. Sie sahen sich um. Hier und dort ragten die Überreste einiger Gebäude zwischen den Trümmerhaufen empor. Zwischen den Ruinen war jeglicher Erdboden verschwunden und nur blanker Fels zurückgeblieben. Überall lagen Leichen herum, nur auf den freien Wegen war kein Hindernis zu entdecken. Der Alte kratzte sich vorsichtig am Kopf, genau unterhalb einer großen Schnittwunde. Er blinzelte, und Bluttropfen fielen auf seine Wangen. »Was ist, wenn wir das Meer erreichen?« fragte er mit unsicherer Stimme. »Dann sucht ihr andere Überlebende«, sagte Karn und ging in die Richtung, aus der weitere Schreie kamen. »Findet etwas, das auf dem Wasser schwimmt. An der Ostküste lagen Malzras Boote.« Mehr gab es nicht zu sagen. Bis jetzt hatte er siebzehn Personen gerettet, von denen die meisten ihren Verletzungen erliegen oder in die Zeitströme stolpern würden, die ihre Körper zerrissen. Karn war bereits in einige dieser Strömungen geraten, und sogar sein Silberkörper, der an gewaltige Zerreißproben gewöhnt war, wäre beinahe vernichtet worden. Ein Wesen aus Fleisch und Blut mußte nur den Kopf in einen solchen Zeitstrom stecken, um zu sterben. Karn hatte es heute schon mehrmals erlebt - viel zu oft. Die Schreie kamen von oben. Karn entdeckte einen Wächter, der unter einem Steinbrocken eingeklemmt lag. Der Oberkörper des Mannes war stellenweise verbrannt und sah wie eine verschrumpelte Dattel aus. Der Unterkörper lag unter dem riesigen Steinbrocken. »Nimm ihn fort! Ich fühle meine Beine nicht mehr! Nimm ihn fort!« Mit grimmiger Miene stemmte sich Karn gegen den Stein und schob. In dem Augenblick, als der Brocken sich von den zerschmetterten Gliedmaßen des Wäch107
ters hob, ergoß sich ein Blutstrom aus seinem Unterleib, und er sank tot in sich zusammen. Karn ließ den Stein fallen und stand auf. Er vermochte sich kein schlimmeres Schicksal für diese Menschen vorzustellen. Die Hälfte bestand aus Kindern, die andere Hälfte aus alten Leuten. Er bezweifelte, daß eine Invasion der Phyrexianer schlimmer gewesen wäre. Die Vernichtung kam einem zweiten Argoth gleich, und Malzra war ein zweiter Urza, der lieber die ganze Welt zerstörte, als sie von einem anderen Wesen beherrschen zu lassen. Wenn nur Jhoira noch am Leben war ... das würde alles erleichtern. Wenn ... Ihr zerstörtes Zimmer lag unter mehreren Tonnen Gestein begraben, und kein Laut drang aus der Tiefe hervor. Vielleicht war sie entkommen. Vielleicht irrte sie in der brennenden Akademie umher. Ein Schrei erklang in einiger Entfernung, wo ein Turm über einer Ecke des nördlichen Schlafsaals zusammengestürzt war. Karn bemerkte den wirbelnden Zeitstrom zwischen sich und der Turmruine und machte sich daran, ihn zu umgehen. Vielleicht ist sie irgendwo da draußen. * * * Es war beinahe Mitternacht, als das Schiff vom Kai ablegte und auf das wogende schwarze Meer hinausfuhr. Masten und Segel waren vor langer Zeit verbrannt. Ungefähr drei Fuß über den Wellen prangte ein Loch im Bug, das ein rotglühender Eisenpfahl hineingebohrt hatte. Nach und nach füllte sich der Rumpf mit Wasser, aber Karn und ein paar der Überlebenden waren kräftig genug, um die Pumpen zu betätigen. Die anderen - insgesamt waren es nur dreiunddreißig Personen - kauerten mutlos auf dem verkohlten Deck und beobachteten, wie die brennende Insel hin108
ter ihnen zurückblieb. Überall an Land flackerten Feuer, und seltsame Lichter tanzten in dem Rauchschleier, der bis zu den dichten Wolken reichte. Wellen brandeten gegen die felsige Küste, und der heulende Wind verlieh dem Ort das Aussehen eines von Höllenwesen bewohnten Planeten. Der Glimmermond, der tief über den hohen Wogen hing, betrachtete die Szene voller Mißbilligung. Dreiunddreißig Überlebende, dachte Karn grimmig und pumpte weiter. Das Licht der brennenden Insel wurde schwächer. Vor ihnen lag nichts als kalte Finsternis, und selbst der Himmel und das Meer wirkten bedrohlich. Dreiunddreißig Überlebende, und von Jhoira keine Spur. Wie hätte eine phyrexianische Invasion schlimmer sein können? »Ein schreckliches Tauschgeschäft«, murmelte Karrt vor sich hin. »Schrecklich und unverzeihlich.«
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Monolog
Urza behauptet, er hätte es getan, um mich zu retten. Er sagt, er ließ die Zeitmaschine explodieren, um mich und eine Handvoll anderer zu retten. Und um zu verhindern, daß seine kostbaren Pläne in die Hand der Phyrexianer fielen. In einer anderen Zeit - so behauptet er - wurde ich von den Phyrexianern getötet, die Akademie erobert. Urza änderte den Zeitverlauf, damit wir hier landeten - behauptet er. Er ist nicht wirklich verrückt, das weiß ich jetzt. Vielleicht lügt er - eine entsetzliche Möglichkeit, denn welcher finstere Grund würde Urza dazu bringen, mich anzulügen? Vielleicht sagt er die Wahrheit - noch entsetzlicher! Aber er ist nicht wirklich verrückt. Tolaria ist vernichtet, genau wie Argoth. Und wozu? Um mich zu retten? Natürlich nicht. Ich wurde aus Tolaria gerettet, wie Tawnos aus Argoth gerettet wurde als bloßer Nebengedanke. Tolaria ist vernichtet, denn wenn Urza es nicht besitzen konnte, sollte niemand es besitzen. Urza ist immer noch Urza. Ich bezweifele, daß er jemals auf die Insel, die er vernichtete, zurückkehrt, um sie wiederaufzubauen und sich zum Vater der Gelehrten zu erklären, die er zu Waisen machte. Ich bezweifele es. Verrückt oder nicht, er lernt nicht aus seinen Fehlern. Barrin, Magiemeister von Tolaria 110
Als Karn nach Tolaria zurückkehrte, stand er am Bug eines völlig anderen Schiffes. Es war riesengroß, von goldener Farbe und hatte sämtliche Segel gesetzt. Die Insel lag wie ein dunkler Schatten über den tosenden Wellen. Der blaue Himmel und die im Sonnenlicht glitzernde Wasseroberfläche strahlten vor Lebenskraft und Licht, aber das Land am Horizont wirkte tot und stumpf wie ein eingetrockneter Blutfleck. Karn schauderte. Er dachte an die schreckliche Nacht, das sich ausbreitende Feuer, die einstürzenden Mauern und die Zeitströme. Die Kratzer, die er sich in jener Nacht zugezogen hatte, waren beseitigt worden. In den zehn Jahren seit der Zerstörung Tolarias hatte man viele Verbesserungen an ihm vorgenommen. Meister Malzra hatte den Fingermechanismus, den Jhoira einst reparierte, vollständig verändert. Außerdem hatte er den Verschluß und die Vorrichtung zum Zurückklappen von Karns Kopf umgearbeitet, damit zukünftige Feinde sich nicht so einfach daran zu schaffen machen konnten wie Kerrick oder der Negator. Im Laufe der Zeit hatte Malzra sämtliche Kabel im Inneren des Golems erneuert und seine Reflexe verbessert. Äußerlich sah Karn wie ein neues Wesen aus. Innerlich fühlte er sich uralt. Sein Gefühlskortex und der Verstand waren unverändert geblieben, und so bewahrte er die traurigen Erinnerungen an seine ersten Freunde. Oft dachte er an Teferi, den genialen jungen Magier. An Jhoira, seine einzige wahre Freundin und Malzras beste und klügste Studentin, dachte er noch 112
häufiger. Tagtäglich dachte er an sie und betrauerte ihren Verlust. »Woran denkst du?« erklang eine freundliche Stimme hinter ihm. Es war Barrin. Blinzelnd sah er über das glänzende Meer hinweg. Silberne Strähnen durchzogen sein Haar. Er starrte zu dem dunklen Strich am Horizont hinüber. »Den ganzen Morgen stehst du schon hier.« Karn wandte sich wieder der Insel zu. »Ich denke an verlorene Freunde.« Barrin sagte mit sanfter Stimme: »Die Rückkehr ist schwierig für uns alle. Aber längst überfällig.« »Eine Geisterinsel«, murmelte Karn. Er fühlte Barrins durchdringenden Blick auf sich ruhen, sah den Magier aber nicht an. »Du erstaunst mich immer wieder, Karn«, erklärte der Magiemeister. »Eine Maschine, die überall Gespenster sieht.« »Erinnert Ihr Euch nicht an die toten Studenten, die toten Freunde?« fragte Karn. Barrin holte tief Luft. »Natürlich erinnere ich mich an sie, und es macht mich traurig, an den Ort ihres Todes zurückzukehren. Aber ich habe lange genug getrauert. Zehn Jahre sind vergangen. Zwischen deinen Geistern sprießen neue Blumen hervor.« »Ich sehne mich noch immer nach meinen Freunden«, erwiderte Karn. »Der Schmerz ist so schlimm wie am ersten Tag.« »Vielleicht hat es etwas damit zu tun, ob man aus Fleisch und Blut besteht oder nicht. Trauern bedeutet auch Heilung. Du heilst nicht. Du kannst auch nicht richtig trauern. Du leidest für alle Zeiten«, dachte Barrin laut. Er hörte sich verärgert an. »Wir müssen etwas erfinden, damit du nicht ewig leidest.« Endlich wandte sich Karn dem Mann zu. Über Barrins Schulter sah er das goldene Schiff, auf dem sich zahlreiche neue Studenten und Lehrmeister 113
drängten. Die goldene Reling glänzte im Sonnenlicht, und weiße Segel streckten sich der dunklen Insel entgegen. Am Steuer stand Malzra, gleichzeitig alt und jung. Der Name des Schiffs erzählte eine Geschichte Neu-Tolaria -, und in den letzten acht Jahren hatte es ihnen als Labor, Hörsaal und Schlafraum gedient. Ein Schiff, das alle Ziele Malzras verfolgte. Es lag im Wesen der Menschen, Altes abzuschütteln und Neues zu empfangen, aber Fleisch war geschmeidig, Silber nicht. »Wie kann ich den Schmerz vergessen und dennoch ich bleiben?« * * * Jhoira stand am Rande ihrer Welt. Hinter ihr lag Tolaria, durch die Explosion der Zeitmaschine zerstört. Vor ihr lag die unendliche See. Sie war zwischen beiden gefangen. Ihr Geheimversteck war zu ihrer Heimat geworden. Die Höhle war nur klein, aber trocken und sauber, mit Möbeln, Büchern und anderen Gegenständen ausgestattet, die sie in den Trümmern der Akademie gefunden hatte. Der größte Teil der Schule war zerstört. Die Wände, die noch standen, waren einsturzgefährdet. Die bereits eingestürzten Mauern bildeten Grabkammern für die Toten. Viele wurden lebendigen Leibes darunter begraben. Jhoira hatte drei Tage gebraucht, um sich aus dem Geheimgang zu befreien, in dem sie sich beim Ausbruch des Infernos aufhielt. Die nächsten drei Tage hatte sie damit verbracht, andere auszugraben. Sie und acht Studenten - alle jung, widerstandsfähig, geschickt und ausdauernd - zogen sich von dem Ort des Grauens in Jhoiras Höhle zurück. Natürlich wanderten sie wieder zu den Ruinen hinüber, um die Toten zu bestatten und nach Ausrüstung und Nahrung zu suchen. Aber diese Ausflüge waren gefährlich. Während der 114
ersten Exkursion verloren sie vier Studenten, die in Zeitströme gerieten und zerrissen wurden. Jhoira und die restlichen vier lernten, diese unheilvollen Stellen zu meiden. Manche Zonen waren dunkel und trocken; alle Pflanzen waren verdorrt. Hier handelte es sich um Schnellzeitgebiete, in denen eine Woche nur einen Tag dauerte. Derartige Orte erhielten nur wenig Regen und Sonne innerhalb einer Woche und wurden zu kalten Wüsten. Je dunkler und trockener eine Zone war, um so schneller verging die Zeit darin, und um so extremer war der Unterschied zum Zeitverlauf auf dem Rest der Insel. Andere Zonen waren hell und feucht dampfende Sümpfe. Das waren Trägzeitgebiete, in denen ein Tag eine ganze Woche dauerte. Dort schien die Sonne hell und warm, bewegte sich langsam über den Himmel, und es regnete häufig und heftig. Die meisten dieser Gebiete hatten keine Zeit gehabt, sich an das neue Klima zu gewöhnen, und standen bis zum Rand unter Wasser; umgestürzte Bäume trieben haltlos umher. Es gab auch Stellen, an denen die Zeit so langsam verging, daß die Feuersbrunst der Explosion noch immer in grellen Flammen züngelte. Außergewöhnliche Zeitwechsel erwiesen sich für Jhoira und ihre Gefährten als unpassierbar. Wenn man sie durchquerte, begann das Blut in den Adern zu kochen und die Haut schälte sich ab. Gliedmaßen starben ab, eiterten oder zerplatzten. Dieses Schicksal ereilte die ersten vier Studenten der Gruppe. Die Überlebenden beeilten sich, die gefährlichen Zeitströme aufzuzeichnen und zu meiden. Furchtsam wagten sie sich in weniger heftige Zeitwechsel und fanden heraus, daß sie nur schwer zu betreten und zu verlassen waren. In einem Trägzeitgebiet fühlte sich jeder Schritt an, als müsse man durch sich erhärtenden Zement stapfen. Geriet man von einer langsamen in eine schnelle Zeitzone, so litt man unter 115
starkem Schwindelgefühl, schlimmstenfalls sogar unter Bewußtlosigkeit. Dennoch kam der letzte Überlebende der Schule aus einer extremen Schnellzeitzone, die unerklärlicherweise in eine Trägzeitzone mündete. Es handelte sich um einen alten Mann namens Darrob. Zum Zeitpunkt der Explosion war er ein zwölfjähriges Kind gewesen, aber fünf Jahre später tauchte er als grauhaariger Verrückter wieder auf. Das einzig Gute, das Jhoira und ihre Gefährten in diesen Zeitströmen entdeckten, war Träges Wasser. Wasser widerstand zeitlichen Veränderungen und behielt die Geschwindigkeit seines früheren Milieus geraume Zeit bei, ehe es sich dem neuen Tempo langsam anpaßte. Wasser aus einer extrem langsamen Zone besaß bewahrende Qualitäten und verlangsamte den Alterungsprozeß der Menschen oder hielt ihn vollständig auf. Jhoira hatte keine Ahnung, wie, aber es funktionierte - jedenfalls für einige Zeit. Durch das Trinken von Trägem Wasser war sie jung geblieben und sah immer noch wie Zweiundzwanzig aus. Trotz des Jungbrunnens fiel der Tod über die Überlebenden von Tolaria her. Im sechsten Jahr war ihre Zahl auf fünf geschrumpft. Während der Schlangenjagd fiel ein fünfzehnjähriger Knabe eine Klippe hinab, brach sich den Hals und wurde aufs Meer hinausgetragen, obwohl die anderen ihm nachschwammen. Zwei Jahre später brachten sich zwei achtzehnjährige Liebende gemeinsam um, und nur Jhoira, der alte Darrob und eine zweite junge Frau blieben zurück. Letztere starb kurz darauf an einer geheimnisvollen inneren Krankheit. Ihre Asche nährte die Rosensträucher, die sie geduldig gepflanzt und gehegt hatte. In den zwei Jahren nach ihrem Tod waren die Rosen wild gewachsen und breiteten sich wie eine üppige, duftende Decke über die umliegenden Felsen. Inzwischen war auch der alte Darrob gestorben. Vor 116
drei Monaten erlag er einem Lungenleiden. Jhoira hatte ihn neben dem riesigen Felsbrocken beerdigt, neben dem er so gerne gelegen hatte - eine große Silberechse, die das Sonnenlicht aufsaugte. Er war Jhoiras 'letzter Gefährte gewesen und - trotz seiner Verrücktheit - ihre letzte Verbindung zur Wirklichkeit. Seit seinem Tod spürte sie, wie ihre Seele so wild wucherte wie die Rosensträucher. Jetzt war sie allein, doch eigentlich war sie immer allein gewesen. Die neun Personen, mit denen sie zusammengelebt hatte, waren ihre Gefährten gewesen, aber keine Freunde oder Vertraute. Der einzige wahre Freund war Karn gewesen, und er war nicht einmal ein Mensch, Jhoira fragte sich, was mit ihr nicht stimmte. Vielleicht hatte man sie ihrem Volk zu früh entrissen. Bei den Ghitu war ein Mädchen erst eine Frau, wenn sie eine besondere Vision gehabt hatte. Jhoira war das nie passiert. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, sah aus wie zweiundzwanzig und hatte die närrische und furchtsame Seele eines Kindes. Sie hatte einen verzweifelten Schritt in Richtung Erwachsensein unternommen und ihr Herz einem Mann in dem Glauben geöffnet, daß wahre Liebe nicht trügen könne. Doch sie konnte trügen. So würde es immer sein. Der Mann hatte sich als Monstrum entpuppt. Jetzt würde Jhoira für alle Zeiten allein sein. Ein furchtbares Leben - aber sie lebte wenigstens noch. Die Insel gehörte ihr. Irgendwann während der vierzig vergangenen Jahreszeiten hatte sich der innige Wunsch, dem verfluchten Land zu entkommen, in das Bedürfnis gewandelt, es vor Invasionen zu schützen. Anfangs nannte sie es >Malzras Krankheit< - die Furcht vor Eindringlingen und Feinden. Jetzt stand sie über so leichtsinnigen Wortspielen. Sie war die Herrin der Insel, ihr Schutzgeist. Sie war die Geisterfrau der Westküste, die für alle Zeiten nach Schiffen Ausschau hielt, für alle Zeiten Pfeile anfertigte, wie Kerrick es sie 117
gelehrt hatte, und für alle Zeiten Pläne und Mechanismen anfertigte, um das Land zu verteidigen. Und heute näherte sich ein weißes Schiff mit unmißverständlicher Absicht der Insel und hielt auf die Bucht im Osten zu. Jhoira hatte ihren Traum, einst einen Seelenverwandten auf einem Schiff zu entdekken, nicht vergessen. Das waren Phantasien eines Kindes gewesen. Liebe würde, konnte und mußte zur Torheit werden. Jhoira beobachtete das Schiff noch eine Weile, ehe sie sich in ihre Höhle begab, um einen Bogen und den Köcher mit Pfeilen zu holen. Sie ging der Bucht und dem Kai entgegen. Da die ganze Länge der Insel zwischen ihr und dem Kai lag und sich ungefähr hundert Zeitströme ihren Weg über das Land bahnten, würde sie die Küste nicht vor den Fremden erreichen. Das war nicht schlimm. Die natürliche Verteidigung der Insel war mächtig genug. * * * Barrin atmete den salzigen Geruch der Ostbucht ein und dachte an Dünengras und Palmen. Kein Hauch von Tod und Verwesung lag in der Luft. Vielleicht heilte die Zeit alle Wunden. Vielleicht hatte Tolaria seinen Vernichter vergessen oder ihm sogar vergeben. Barrin sah zu Urza hinüber, der am Steuer der NeuTolaria stand. Sie war zu seinem schwimmenden Arbeitszimmer geworden, außerhalb der Reichweite sämtlicher Regierungen und Staaten. Von der Stunde an, in der das überholte und neu ausgerüstete Schiff aus dem Trockendock glitt, war Urza sein unbestrittener Herrscher geworden. Kapitän Malzra nannten ihn die Studenten, und er erwies sich als guter Steuermann. Irgendwann während seiner dreieinhalbtausend Jahre hatte der Mann das Segeln erlernt. Außerdem besaß er ebensoviel Geschick, die Studenten im 118
Seemannshandwerk zu unterrichten wie in Wissenschaft und Magie. Hauptsächlich unterrichtete er, indem er demonstrierte und inspirierte. Die jungen Leute mußten nur zusehen, wie der Meister die Hauptsegel raffte oder die Webeleinen einholte, und schon wollten sie es unbedingt selbst genauso schnell und gut wie er tun. Natürlich leistet auch der älteste Weltenwanderer Großes an Kraft, Geschicklichkeit und Schnelligkeit, wenn er einen unsterblichen Körper aus purer Energie besitzt. Als die Neu-Tolaria die Klippen am Eingang zur Ostbucht umrundete, stand Urza am Ruder, und seine junge Mannschaft ging ihrer Pflicht mit solcher Ruhe und Anmut nach, daß ihnen genügend Zeit blieb, die Insel zu betrachten. Auch Barrin musterte seine ehemalige Heimat ausgiebig. Der Ostkai war größtenteils unversehrt geblieben, auch wenn die Pfähle halb verfault waren und Dornenranken zwischen den Planken wuchsen. Zwei Schiffe der früheren Flotte Tolarias lagen am Kai. Die Decks und Masten wiesen Brandspuren auf, und beide Rümpfe waren so mit Muscheln bedeckt, daß sie wie aus Stein gemeißelt aussahen. Sie wiegten sich in ihren selbst geschaffenen Betten und erbebten unter jeder Welle. Am anderen Ende der Bucht bestand ein Teil der Meeresoberfläche aus dunklem, brodelndem Wasser. Ein Zeitstrom, dachte Barrin. Nachdem Urza von einer seiner Weltenwanderungen zurückgekehrt war, hatte er von diesen Phänomenen berichtet. Lange hatte er über die physikalischen Zusammenhänge gesprochen, vermochte aber keine der wichtigen Fragen zu beantworten. Was geschah mit sterblichen Wesen aus Fleisch und Blut, wenn sie hineingerieten? Urzas einzige Antwort darauf lautete: »Das werden wir sehen, wenn sterbliches Fleisch hineingerät.« Barrin hatte 119
dafür gesorgt, daß die Studenten Zeitströme erkannten, und warnte sie vor möglichen Gefahren. Er hatte sogar Modelle gebaut und magische Simulationen ermöglicht, um die Abenteurer gut vorzubereiten, aber mehr konnte er nicht tun. Die Experimente mit sterblichem Fleisch standen ihnen noch bevor. Urza hielt sich von dem Zeitstrom fern und steuerte die Neu-Tolaria zur Anlegestelle. Er rief Befehle, und ein Segel nach dem anderen wurde eingeholt. Das Schiff drehte bei und schob schäumende Wellen vor sich her. Endlich kam es zur Ruhe. Urza beugte sich gespannt vor, und die Studenten drängten sich an der Steuerbordreling, da jeder der erste sein wollte, der an Land sprang und die Taue befestigte. Zwei junge Frauen besaßen den meisten Mut und die größte Kraft, einen waghalsigen Sprung zu unternehmen. Kurz darauf folgten ihnen drei junge Burschen. Lachend warfen ihnen ihre Gefährten die dicken Taue zu, die sie geschickt an den Pfählen befestigten. Noch einmal glitt das mächtige Schiff ein Stück voran, ehe es endgültig still lag. Immer mehr Studenten sprangen auf den Kai und nahmen den Landungssteg entgegen, den man von Bord herabließ. Fünf Fähnriche, die jeweils eine Gruppe Kundschafter anführten, gingen in ordentlicher Formation an Land. Die Fähnriche waren die ältesten Studenten - Mitte zwanzig -, die einst an der alten Akademie von Tolaria gelebt hatten, und die Kundschafter waren junge Leute zwischen siebzehn und neunzehn Jahren, die sich freiwillig für die gefährliche Expedition gemeldet hatten. Sie schritten selbstsicher wie Eroberer von dannen. Die weißen Gewänder der alten Akademie waren durch grobe Umhänge und Hemdblusen ersetzt worden. Dazu gehörten Hosen aus Leder, Wickelgamaschen und eisenbeschlagene Schuhe. Schnell verließen die jungen Leute den Kai und versammelten sich um ihre Anführer, um 120
Anweisungen entgegenzunehmen. Dann gingen sie in verschiedene Richtungen davon, um die Insel zu erkunden. Barrin beobachtete sie mit besorgter Miene. Wenn es Urzas Insel war und er sich dort so sicher fühlte, warum schickte er dann Kinder aus, um sie zu erkunden? Der Druck von Urzas Hand, die sich auf seinen Rücken legte, verstärkte seine Besorgnis noch. »Wir sind wieder daheim«, sagte Urza zufrieden. »Wir stehen vor der Tür und klopfen an«, widersprach Barrin. »Noch sind wir nicht drinnen.« Urza musterte seinen langjährigen Freund und Gehilfen. »Ihr habt mich so oft aufgefordert, meine Fehler einzugestehen und sie wiedergutzumachen, wie könnt Ihr mich da heute kritisieren?« »Es sind noch Kinder, Urza ...«, begann Barrin. »Sie sind erwachsen. Sie wurden bestens vorbereitet. Sie wissen, was sie zu erwarten haben. Sie wissen, was sie riskieren.« »Es sind Kinder. Keine Erwachsenen, keine Probanden, keine Maschinen«, erklärte Barrin mit fester Stimme. »Sollte etwas passieren, so stehe ich mit ihnen in Verbindung und kann sie in wenigen Sekunden erreichen.« Urza hielt inne und schien einer Stimme zu lauschen, die aus dem blauen Himmel zu ihm sprach. »Tatsächlich, die erste Gruppe ruft nach uns! Sie sind auf einen Zeitstrom gestoßen.« Er ergriff Barrins Hand und sagte schlicht: »Wir gehen.« Barrin fühlte, wie sich die Welt von ihm und Urza zurückzog. Sie wanderten durch die Zwischenwelten. Da die Verwandlung der Sterblichen in Steine ungeahnte Schwierigkeiten nach sich gezogen hatte (vier von ihnen hatten auf der Reise Risse erlitten und bluteten heftig, als er sie wieder in Fleisch verwandelte), hatte er geeignetere Zauber entwickelt, um Menschen während einer Weltenwanderung am Leben zu erhal121
ten. Der Zauber verwandelte Barrin von einem dreidimensionalen Wesen in ein zweidimensionales. In dieser Form war er vor den Gefahren des Vakuums, vulkanischer Hitze und Eiseskälte geschützt. Seine Lunge konnte nicht explodieren, da sie nur noch ein dünnes Blatt Pergament war. Urza blieb an seiner Seite und zog ihn dorthin, wo sich die Welt erneut öffnete. Urplötzlich standen die beiden Gelehrten auf einem Stück Sandboden. Dahinter fiel das Land ab und wurde zu einer weiten Grasebene. Dort standen drei Studenten und starrten entgeistert in eine tiefe Schlucht. Die Luft in dieser Schlucht sah staubig und abgestanden aus. Winzige Staubkörner tanzten der Sonne entgegen. Jenseits des Abgrundes stand ein Wald mit uralten, hohen Bäumen, unter denen kümmerliche Pflanzen mit violetten Blüten wuchsen. Kleine weiße Felsen bedeckten den Boden der Schlucht. Am Rande des Abgrundes hockte die Gruppenführerin, eine kräftig gebaute Frau mit lockigen blonden Haaren. Neben ihr kauerte ein junger Mann mit langem schwarzem Haar. Sie unterhielten sich im Flüsterton und deuteten in die Tiefe, aus der ein Laut drang, der sich wie das Atmen eines Riesen anhörte. »Laßt uns sehen, was sie entdeckt haben«, sagte Urza. Er ließ Barrins Hand los und ging den Hügel hinab. Bei jedem Schritt stieg eine Staubwolke auf und erweckte den Anschein, als schwebe er über dem Boden. Das würde ihm besser gefallen, dachte Barrin und folgte Urza. Die beiden gingen an den drei Studenten vorbei, die erschreckt zusammenzuckten, sogleich verstummten und ihre Lehrmeister stumm beobachteten. Urza und Barrin gingen bis zum Rande der Schlucht, wo die übrigen Mitglieder der Gruppe hockten. »Du hast mich gerufen?« sagte Urza. Die Frau erhob sich und stand stramm. »Jawohl, Kapitän!« 122
»Was hast du entdeckt, Fähnrich Dreva?« »Einen Zeitstrom, Kapitän, wie Ihr und Meister Barrin vorhergesehen habt.« Drevas Augen waren ungewöhnlich weit aufgerissen, und sie starrte ins Leere. »Einen Schnellzeitstrom, würde ich auf Grund der Dunkelheit und des Fehlens von Wasser sagen. Wir haben ein paar Experimente durchgeführt. Soll ich sie wiederholen? Rehad!« Sie sah den jungen Mann an und gab ihm einen Wink. Er reichte ihr einen langen Ast voll grüner Blätter, der aus dem Wald stammen mußte. Trotz des förmlichen Benehmens war die Zuneigung zwischen Fähnrich und Student deutlich, denn bei der Übergabe des Astes trafen sich ihre Hände und verweilten sekundenlang in zärtlicher Berührung. Fähnrich Dreva wandte sich wieder dem Kapitän zu. »Behaltet die Blätter im Auge.« Sie hob den Ast und schwang ihn langsam über der Schlucht. Etwas Unsichtbares schien sich des herabhängenden Endes zu bemächtigen und brachte die junge Frau ins Schwanken, so daß sie ihre Füße in den Boden stemmen mußte, damit ihr der Ast nicht aus der Hand gerissen wurde. Die Blätter verfärbten sich braun, trockneten aus und rollten sich zusammen. Sekunden später fielen sie ab, landeten auf dem Boden der Schlucht und zerfielen zu Staub. In der Zwischenzeit verbogen sich die kahlen Zweige, die Rinde schälte sich ab und das Holz wurde trocken und rissig, bis der ganze Ast wie die dürre Klaue einer Waldhexe aussah. Dreva zog den Arm zurück und warf den Ast auf den Boden, wo bereits zwei ähnlich zugerichtete Zweige lagen. Urzas ungewohntes Lächeln bewies seine Freude über die Entdeckung. »Erstklassige Arbeit! Ein ausgesprochen intelligenter Gedanke, einen lebenden Ast zur Erprobung des Zeitstroms anzuwenden.« Dreva errötete. »Vielen Dank, Kapitän Malzra.« 123
»Es gab Zweifel, ob ihr euch für diese Aufgabe eignen würdet...« - Urza warf Barrin ein verschwörerisches Lächeln zu - »... aber ich hegte keinerlei Zweifel.« »Nochmals vielen Dank, Kapitän«, antwortete Dreva. »Ich schlage vor, wir erkunden die Grenzen des Zeitstroms und stellen Warnzeichen auf. Höchstwahrscheinlich rief das Erdbeben, das die Schlucht hervorbrachte, auch den Zeitstrom hervor. Es ist nicht anzunehmen, daß sich die Grenze dieses Stromes mit der eines anderen überschneidet.« »Gut erkannt, Fähnrich. Weitermachen. Berichte mir, wenn ihr etwas Besonderes entdeckt.« Er machte kehrt und bedeutete Barrin, sich mit ihm auf die Kuppe eines Hügels zurückzuziehen, während der Fähnrich Rehad und die übrigen Studenten in den Wald schickte, um noch mehr Äste zu suchen. »Offenbar schlagen sie sich recht tapfer, diese Kinder, von denen Ihr spracht.« Barrin starrte auf das Gras zu seinen Füßen. »Die Gefahren, die hier lauern, sind mein und Euer Werk, nicht ihres.« »Wenn sie hier mit uns leben, studieren und bauen wollen, müssen sie auch mit den Übeln der Vergangenheit zurechtkommen«, antwortete Urza. »Es obliegt jeder neuen Generation, zu begreifen, was früher geschah, auch wenn es nur dazu dient, sie überlegen zu lassen, was sie behalten und was sie fortwerfen wollen.« Das philosophische Gespräch wurde durch einen Warnruf unterbrochen. Barrin und Urza drehten sich um. Fähnrich Dreva stand am Rand des Waldes, hielt etwas gepackt und winkte ihren Gefährten, zu ihr zu eilen. Die Studenten ließen die Äste fallen, die sie gefunden hatten und rannten zu ihr. Auch Urza und Barrin liefen los. Dreva zerrte mit aller Kraft an einem Ast. Zwei 124
junge Männer und ein Mädchen hatten sie erreicht und halfen ihr. Befehle schallten durch die Luft, und stöhnend vor Anstrengung zogen die jungen Leute, so fest sie konnten. Barrin rannte weiter und fragte sich, warum es so wichtig war, einen Ast abzureißen. Dann sah er es. Sie zogen nicht an einem Ast, sondern an Rehad, der am Waldrand stand. Eine Hand ruhte auf einem dikken Baumstamm, genau neben dem Ast, den er hatte abtrennen wollen. Er saß in einem Trägzeitstrom gefangen, den zweiten Arm nach außen gestreckt, und seine Gefährten bemühten sich, ihn zu befreien. »Wartet!« brüllte Barrin. Er bemühte sich um einen Zauberspruch, aber es war zu spät. Rehads Arm, blutleer durch den Unterschied zwischen der Zeit und seinem Herzschlag, vermochte der Kraft der ziehenden Freunde nicht standzuhalten. Er löste sich vom Körper. Die Muskeln gaben nach und zerrissen. Blut tropfte aus der verletzten Schulter. Fähnrich Dreva und die Studenten fielen hintenüber, den abgerissenen Arm umklammernd. Barrin und Urza blieben genau vor dem Zeitstrom stehen. Langsam verzog sich Rehads Gesicht, als der erste Schock quälendem Schmerz Platz machte. Urza hob die Hand und preßte sie gegen die Wand aus Trägzeit. Seine Finger zitterten, als sie in der heißen, trockenen Luft versanken. Wäre er aus Fleisch und Blut gewesen, wäre es ihm ebenso ergangen wie Rehad, aber der Meister besaß einen Körper aus reiner Energie. Dennoch machte ihm der Zeitunterschied zu schaffen und sandte knisternde Funken über seinen Arm. Mit großer Mühe gelang es ihm, die Hand weiter auszustrekken und nach der blutenden Schulter des Mannes zu greifen. Schreiend und mit weit aufgerissenen Augen wich Rehad instinktiv vor Urzas Hand zurück, aber der 125
Meister hatte damit gerechnet. Er packte die blutende Schulter und drückte sie mit aller Macht zusammen, um den Blutstrom aufzuhalten. Dann zog er den jungen Mann langsam und zielstrebig auf sich zu. Dreva und ihre Gefährten waren aufgestanden. Der abgerissene Arm lag zwischen ihnen auf dem Boden. Rehads Blut hatte sich über ihre Hosen und Umhänge ergossen. Zwei der jungen Leute weinten, der Dritte starrte entsetzt auf seine Freunde. Dreva selbst biß die Zähne zusammen. Ihr Gesicht war kreidebleich. Immer wieder schüttelte sie bedauernd den Kopf. Barrin wollte sie trösten. Sie wich aus, ergriff den Arm und eilte zu Urza. »Macht ihn wieder gesund, Meister. Gebt ihm den Arm zurück!« flehte sie und hielt ihm die blutleere Hülle entgegen. Mit knirschenden Zähnen schob Urza sie beiseite. Er drehte Rehad vorsichtig um die eigene Achse, damit sich Gehirn und Herzschlag im Gleichklang befanden und er der Falle so sanft wie möglich entkam. Dreva taumelte rückwärts. Sie starrte auf den leblosen Arm hinab und küßte den Handrücken. Sie flüsterte: »Oh, Rehad, verzeih mir.« Dann legte sie ihn auf den Boden und rannte wie ein aufgescheuchtes Reh davon. »Fähnrich Dreva!« brüllte Barrin, der sah, wohin sie lief. »Komm zurück!« Sie hörte nicht zu und stürmte über den Rand der Schlucht. Mit lautem Platschen fiel sie in den Zeitstrom. Energiewellen ließen die Luft erbeben. Zeitwellen hoben sich zum Himmel und sanken wieder in die Tiefe hinab. In ihrer Mitte verging Drevas Körper. Das Fleisch wurde faltig und trocknete aus. Sehnen hingen herab, Knochen kamen zum Vorschein. Dann rissen die Zeitwellen sie in die Tiefe, und sie entschwand den Blicken der entsetzten Zuschauer. Barrin lief den grasbewachsenen Abhang hinunter, 126
bis zum Rand der Schlucht, Dort blieb er keuchend und schwankend stehen. Sie war längst tot. Ihre trockene Haut wimmelte von Ungeziefer. Barrin wurde übel, und er wandte sich ab. Als er seinen Magen wieder im Griff hatte, war nichts mehr von Fähnrich Dreva übrig außer ein paar Tuchfetzen, Lederstücken und einem ausgebleichten Skelett. * * * Abends saßen sie an Bord der Neu-Tolaria. Urza hatte ein Festmahl geplant, um die Rückkehr zur Insel zu feiern. Platten mit gepökeltem Schweinefleisch standen neben riesigen Brotlaiben und Schüsseln mit frischen Orangen. Die Stimmung war alles andere als festlich. Der ganze Tag hatte sich als Katastrophe erwiesen. Rehad lag unter Deck. Man hatte ihn verbunden und mit Schlafmitteln versorgt. Das Einpflanzen des abgerissenen Armes überstieg die Künste der besten Heiler des Schiffs und sogar die Macht von Urza, dem Weltenwanderer. Jetzt lag der Arm in einer Holzkiste in einer Trägzeitzone, begleitet von der vagen Hoffnung, irgendwann in der Zukunft wieder an Rehads Körper angefügt werden zu können. Rehads Geliebte dagegen ruhte in einer Schnellzeitzone, und ihr Skelett war sicherlich schon zu Staub zerfallen. Die beiden waren jedoch nicht die einzigen Opfer. Jede Gruppe hatte mindestens ein Mitglied verloren; eine Gruppe war vollständig vernichtet worden. Urza hatte zwei weitere Studenten gerettet, und Karn half auch mit, eine junge Frau aus einem Zeitstrom zu befreien. Die einzigen nicht organischen Besatzungsmitglieder - Urza und Karn - hatten sich als widerstandsfähig erwiesen, obwohl auch ihnen der Zeitunterschied zu schaffen machte. 127
Sie verzehrten das Mahl nicht in der alten Akademie, wie Urza es sich vorgestellt hatte, sondern an Deck des Schiffs. Es verlief beinahe schweigend. Die Wellen schlugen gegen den Bug, und außerhalb des Lichtscheins der Laternen lag die Insel drohend in der Finsternis. Aus der Dunkelheit kam eine Frau. Sie war sonnengebräunt und hatte einen durchdringenden, geheimnisvollen Blick. Ein schlichtes Band hielt ihre dunklen Haare am Hinterkopf zusammen. Sie trug königliche, aber abgetragene Gewänder und sah aus, als habe die Insel Gestalt angenommen: fremdartig, feindlich und abweisend. Sie schritt das Fallreep empor an Deck, an den verblüfften Wachen vorbei. Urza stand auf. Barrin erhob sich, mit vor Staunen geöffnetem Mund. Es war Karn, der Silbermann, der als erster ihren Namen sagte, mit einer Stimme, die wie ein rauschender Wasserfall klang: »Jhoira!« »Meister Barrin, Meister Malzra«, sagte die Frau zur Begrüßung, und es klang gleichzeitig bewundernd und feindselig. »Ich hätte nie geglaubt, daß Ihr zurückkehrt. Ich wünschte, es wäre nicht geschehen. Und nach dem heutigen Tag wünscht Ihr das sicher auch.«
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Monolog
Ich war überglücklich, Jhoira zu sehen. Ihr Tod hatte mich über alle Maßen belastet. Mich und Karn. Sie war natürlich stark verändert, hatte kräftige Muskeln und einen eisigen Blick. Sie kann sich nicht mehr freuen oder vergeben. Sie ist nicht länger eine Studentin der Akademie, sondern eine Eingeborene der Insel. Als Beschützerin der Insel sprach Jhoira heftig zu deren Verteidigung. Vor Urzas neuen Studenten breitete sie alle seine Sünden aus, die sich wie Disteln auf der ganzen Insel breitmachten und jetzt zu mörderischen Urwäldern geworden sind. Öffentlich rügte sie ihn für seine Zeitmaschine. Das Experiment, das zur Explosion führte, hat den Zeitverlauf auf der Insel zerstört und in ein heilloses Chaos gestürzt. Sie sprach von anderen Überlebenden, die einer nach dem anderen starben und sie allein zurückließen. Noch eindringlicher berichtete sie von ihrem täglichen Leben. Schnellzeitwälder waren gestorben und verrottet, hatten neuen Pflanzen und Tieren Raum gemacht. Eine Steppe mit Raubtieren und ihren Beutetieren war entstanden. Trägzeitwälder waren zu feuchten Sümpfen geworden, heiß und dampfend - sie boten tausenden Kreaturen Unterschlupf, die früher hier nicht hätten leben können. Die ganze Zeit über spürte ich, wie sehr sie sich verändert hat. »Meister Malzra«, erklärte sie am Ende ihres Vortrags, »wir alle sind Kinder Eures Zorns; Waisen, die in Eurer Abwesenheit erwachsen wurden und Euch nicht länger verpflichtet sind oder gehören. Die meisten von uns hassen Euch, Meister Malzra.« 129
Er hörte ihr aufmerksam zu. Das muß ich ihm zugestehen. In die unglückselige Stille, die danach entstand, sprach er. Und was er sagte, erfüllte mich mit Bewunderung. »Ich verstehe. Aber ich wollte zurückkehren und möchte nicht gegen euch, meine Kinder des Zorns, kämpfen. Ich wünsche eine Versöhnung. Es wird ein dorniger Weg sein, von den Disteln bewachsen, die ich selbst pflanzte. Aber ich werde hierbleiben.« »Ihr braucht einen Ratgeber«, warf ich ein. »Eine Führerin. Jhoira, mir fällt niemand ein, der besser dazu geeignet wäre als du. Hilf Meister Malzra, die Fehler der Vergangenheit zu begreifen und sie in Zukunft zu vermeiden.« Einen schrecklichen Augenblick herrschte Stille, aber dann zerbrach etwas in ihr. Der Schild der Verteidigung bekam Risse, und darunter sah ich die einsame Frau, die sich vor anderen fürchtete und sie gleichzeitig herbeisehnte. »Ich mache es nur, weil jeder einzelne von euch sterben würde, wenn ich mich weigere.« Ich versuchte, demütig und beschämt dreinzusehen, aber ich war überglücklich. Auch Urza freute sich. Die verängstigten Studenten und Lehrmeister waren verblüfft und erleichtert. Irgend jemand, und wenn es diese furchterregende wilde Frau war, mußte sie durch die Schrecken Alt-Tolarias geleiten. Barrin, Magiemeister von Tolaria
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Als die Mannschaft am nächsten Morgen erwachte, befand sich Jhoira bereits an Deck. Sie und Karn tauschten Geschichten aus. Obwohl sie sich in Gesellschaft anderer Menschen grimmig und abweisend verhielt, lachte und scherzte sie mit dem Golem. Die beiden waren ein beeindruckendes Paar - die wilde Frau und der Silbermann. Ihre Haut war glatt und braun wie die Steine rings um die Bucht, und seine glänzte so spiegelnd hell wie das Meer, das sie überquert hatten. Karn erzählte ihr von allen Studenten und Gelehrten, die er gerettet hatte, wie er Tag und Nacht nach ihr suchte und dem Flüchtlingsschiff erst in See zu stechen erlaubte, als der Glimmermond im Meer versank. Jhoira erzählte ihm ihre Geschichten von Rettungen und Verlusten. Das alles geschah ohne die langen und bedrückenden Minuten des Schweigens des Vorabends, als hätten sich die beiden Freunde nie getrennt. Sie wanderten am Strand entlang, schwelgten in Erinnerungen und ließen Steine über die Wellen hüpfen, bis die Mannschaft an Deck versammelt war und sie der Geruch von frisch aufgegossenem Tee zurückzog. Jhoira trank in gierigen Zügen und verbrannte sich die Oberlippe an der kochendheißen Flüssigkeit. Sie lächelte Karn an und sagte: Es hat auch Nachteile, als >wilde Frau< zu leben, und dazu gehört auch, keinen richtigen Tee aus einer Porzellantasse trinken zu können.« Die Mannschaft tischte ein zweites Festmahl auf, denn alle, die an Land gingen, mußten solange ohne 131
Essen auskommen, bis sie ihr Lager in der Mitte der Insel aufgeschlagen hatten. Da es sich um fünfzig Personen handelte, sagte Jhoira voraus, daß sie den ganzen Tag brauchen würden, um die schlimmsten Zeitströme zu umgehen und die harmlosesten zu durchqueren. Jhoiras Stimme klang traurig, als sie ihren Zuhörern die Zeitverzerrungen der Insel beschrieb. An der Stelle, an der die Zeitmaschine gestanden hatte, war der gesamte natürliche Zeitverlauf vernichtet worden, und es war ein riesiger Krater entstanden. Am Rande dieses Trägzeitbereiches lagen konzentrierte Zeitrillen, eng zusammengedrückte Schnellzeitzonen. Die Mitte des Kraters war unerreichbar bis auf ein paar Wege, die sich wie Speichen eines Rades zum Rand zogen. Manche dieser Wege waren Trägzeitzonen, andere dagegen erlaubten einen vorsichtigen Abstieg ins Kraterinnere. Wieder andere überschnitten sich mit den Schnellzeitrillen, so daß sich Brücken mit normalem Zeitverlauf ergaben. Jenseits der Schnellzeitrillen lagen unterschiedlich große Gebiete extremer Veränderungen, viele Quadratmeilen unerreichbaren Landes, ganze Zeitplateaus und tiefe Schluchten. In diesen Zonen hatten sich neue Lebensformen und Kulturen entwickelt. Jhoira, die außer einem langen Wanderstab und der Kleidung, die sie am Leibe trug, nichts bei sich hatte, führte die lange Reihe der Gelehrten und Studenten, die alle schwerbepackt waren, die steilen, gewundenen Waldwege zwischen Zeitschluchten und Plateaus hinauf. Urza ging dicht hinter ihr. Er trug eine große, mit kunstvollen Messingbeschlägen und Elfenbeinintarsien verzierte Holzkiste. Sie sah überaus schwer aus, aber er schritt mit Leichtigkeit dahin und stellte seine Fragen voller Gelassenheit, während die anderen nur keuchend vorankamen. Vielleicht hatte er einen Zau132
ber gewirkt, der seine Füße über den Boden schweben ließ. Vielleicht ließ er sich auch von fast unsichtbaren winzigen Maschinen tragen. Als nächster kam Barrin, der das zusammengefaltete Zelt trug, in dem er und Urza schlafen würden. Außerdem schleppte er ein paar klappernde Kochtöpfe und verschiedene schwankende Pakete mit sich herum. Ihm folgte Karn, der die Last von zehn Männern auf dem Buckel hatte. Inmitten der Studenten stapften einige Roboter einher, die ebenfalls schwer bepackt waren. Der Rest der Gruppe bestand aus älteren Gelehrten und sehr jungen Schülern, die der Zukunft gleichzeitig furchtsam und neugierig entgegensahen. »Karn, komm her! Ich möchte, daß du dir etwas ansiehst!« rief Jhoira. Sie deutete auf einen ausgedehnten, finster und verlassen wirkenden Sumpf, in dem geisterhaft graue Baumstümpfe trieben. Das Wasser war schwarz und scheinbar unergründlich tief. Insekten hingen in dichten Trauben beinahe reglos über der dunklen Oberfläche. Manche waren dem Tode nahe, denn die hervorstehenden Augen und aufgerissenen Mäuler einiger Fische tauchten aus den Wellen auf. »Ich nenne es Schieferwasser. An dieser Stelle erlosch das Feuer der Explosion erst vor sieben Jahren, nach furchtbaren Regenfällen. Vorher stand hier eine riesige Rauchsäule. Nach meinen Berechnungen sind durch einen Zeitstrom im Schieferwasser erst zehn Tage seit der Explosion vergangen. Wenn du hineintrittst, brauchst du eine Zeitmaschine, um wieder herauszugelangen.« Karn starrte in den Sumpf hinein. Das dunkle Wasser spiegelte sich auf seinem Körper. »Meine Zeitreisen gehören der Vergangenheit an. Meister Malzra beschäftigt sich jetzt mit anderen Dingen. Im Augenblick werde ich nicht gebraucht.« Er hörte sich sowohl erleichtert als auch enttäuscht an. 133
Jhoira musterte den alten Freund. Schwere Lasten ruhten auf seinen breiten Schultern. »Keine Bange, alter Freund. Ich brauche dich!« Sie tätschelte seinen Arm und drehte sich um. »Jetzt schau dir die andere Seite des Weges an. Dort liegt ein Zeitplateau. Ich nenne es Bienenkorb, weil die Bewohner in gewölbten Lehmhütten hausen.« Sie zeigte auf ein Gebiet, das auf ewig im Zwielicht lag, denn das ganze Land ruhte unter einer Dunstglocke. Vereinzelte Wälder aus kleinen, schmächtigen Bäumen zogen sich die Hügel hinauf. Eine graugrüne, gespenstische Waldlandschaft mit windzerzausten Blättern und schnell wachsenden Ästen. Hier und dort, auf den freien Flächen zwischen den unheimlichen Waldgebieten, nahmen gewölbte Hütten Gestalt an und wurden in Windeseile zu ganzen Dörfern, die durch schmale Fußwege miteinander verbunden waren. Die Bewohner bewegten sich unsichtbar vor Geschwindigkeit. So schnell eine Siedlung entstand, so schnell verschwand sie auch wieder, kurzlebig wie eine Luftblase auf kochendem Wasser. »Fünf Generationen werden geboren und sterben innerhalb eines Jahres unserer Zeitrechnung«, erklärte Jhoira Urza, der ebenfalls stehengeblieben war und zuhörte. Barrin, der sich jetzt keuchend zu ihnen gesellte, fragte: »Fünf Generation von was? Es gab keine Eingeborenen auf der Insel.« Jhoiras Augen wichen nicht von Urzas Gesicht. »Ich gehe davon aus, daß es sich um Studenten der Akademie handelt, die in einem Schnellzeitstrom gefangen wurden und ihm ebensowenig entfliehen konnten, wie wir unfähig sind, ihn zu betreten. Sie haben sich fünfzig Generationen von Eurer Akademie entfernt. Seit damals haben sie tausend Jahre eigener Geschichte hinter sich gebracht.« Barrin mußte die Mitteilung geraume Zeit verdauen. 134
Schließlich sagte er: »Sie sehen uns, nicht wahr? Die Stunde, die wir brauchen, um an ihrem Gebiet vorbeizumarschieren, dauert in ihrer Zeit vier Tage. Wir müssen wie Statuen auf sie wirken.« »Ja. Unerreichbare, unerklärliche, fast reglose Statuen«, bestätigte Jhoira. »Sie hören uns auch, aber unsere Laute sind tief, langgezogen und bedeutungslos, wie das Singen der Wale. Gespenstisch und fremdartig. Sie sind wie eine andere Rasse. Bald werden sie eine andere Lebensform sein.« Sie wanderte weiter, und ihre Gefährten folgten ihr. »Auf einem anderen Plateau zeige ich euch etwas noch Schlimmeres, aber zuerst führe ich euch zum Paradies.« Die Studenten und Gelehrten wechselten verwunderte Blicke und beeilten sich, trotz ihres schweren Gepäcks mit Jhoira Schritt zu halten, die sie einen steilen Hügel hinaufführte. Zu ihrer Linken lagen hohe Zypressenwälder, von dichten Ranken umschlungen, zu ihrer Rechten erblickten sie graues, durch einen Erdrutsch verunstaltetes Land. Geraume Zeit sahen sie nichts als Schlamm, der sich in der Ferne zwischen schemenhaften Bäumen verlor. Endlich erreichten sie das Hochland mit seinen grünen Hügeln und dichten Wäldern. Die einheimische Flora Tolarias erstreckte sich über sonnenbeschienene Anhöhen. Auf dicken Baumstämmen thronten ausladende, üppige Kronen. Armdicke Ranken wanden sich um jeden Stamm. Das dichte Grün der Blätter bildete ein hohes, gewölbtes Dach über ihren Köpfen. »Hier seht ihr eine milde Trägzeitzone, in der Sonnenschein und Regenwasser ein wenig verstärkt wirken, in der es Pflanzen und Lebewesen im Überfluß gibt und in der die Hitze der Sonne durch die Kühle des Waldes gemildert wird. Die Hügel sorgen dafür, daß es nicht zu Überschwemmungen kommt, und die Seen, in denen sich das Wasser sammelt, sind klar und kühl. Ein Paradies. Ich nenne es Engelswald - nach 135
den Glühwürmchen, die hier bei Nacht ihr Licht entzünden. Wann immer ich es auf meiner einsamen Klippe nicht mehr aushalte, komme ich hierher, um zu schwimmen, zu klettern und frei zu atmen. Das Beste ist wahrscheinlich das freie Atmen.« Die Anwesenden musterten den Ort mit gierigen Blicken. Ihre schweißbedeckten Gesichter entspannten sich merklich. Zwischen den Baumriesen flogen große bunte Vögel verträumt durch Vorhänge aus Licht und Schatten. Wasser plätscherte über eine steinige Böschung und mündete in einen seichten Bach. Nachdem es sich seinen Weg zwischen den Wurzeln der Bäume hindurch gebahnt hatte, floß es in einen tiefen Teich, um an dessen anderem Ende erneut als kleiner Wasserfall in den nächsten Strom zu münden. Immer wieder sah man die silbrigen Leiber zahlreicher Fische aufblitzen. »Warum hast du dich nicht hier niedergelassen?« erkundigte sich ein Student und schob sich das braune Haar aus der Stirn. »Hier gibt es viel Wild, die Nächte sind warm, das Wasser klar, und du würdest länger leben als überall sonst.« Jhoira sah grimmig drein. »Man kann nicht im Paradies leben.« Sie ging weiter. Die anderen verweilten noch ein wenig; einige tranken aus mitgebrachten Flaschen, aber die meisten standen einfach nur da und starrten. Ein Student zeichnete eine grobe Landkarte, da er hierher zurückkehren wollte, sobald es seine Zeit erlaubte. Jhoira führte sie auf ein weites Plateau, dessen Granitboden wie abgeschliffen aussah. Abgesehen von den Bergen im Osten war dies der höchste Punkt der Insel. Überall lagen umgestürzte Baumriesen umher, die durch die Explosion entwurzelt worden waren. An einigen Stellen reckten junge Bäumchen zaghaft die Äste empor - ein neuer Wald entstand inmitten der Zerstörung. Vom Rand des Plateaus sah man die Berg136
gipfel im Osten und sogar die Klippen im Westen, die Jhoiras Höhle beherbergten. Dort oben rasteten die fünfzig Menschen, schöpften frischen Atem und schüttelten die verkrampften Beine aus. Der heimelige Anblick des Engelswaldes machte dem überwältigenden Panorama Platz. Im Osten wogte das silbrig glänzende Meer unter der weißleuchtenden Sonne. Die Neu-Tolaria lag wie ein winziges Spielzeugschiff, dessen Besatzung die Mußestunden an Deck genoß, auf den Wellen. Die Küste sah wie ein hellbraunes, gewundenes Seidenband aus. Das Landesinnere mit Wiesen, Sümpfen und Wäldern bildete ein buntes Muster aus Grün und Grau, Licht und Schatten. Fruchtbares Land. Ganz anders die Westseite der Insel. Die ferne Küste bestand aus zahlreichen hellroten Felsen, die Jhoiras Höhle bargen. Die Ruinen der alten Akademie lagen nicht so weit vom Riesenplateau entfernt. Sie wirkten grau und leer. Die einstmals logische Anordnung von Mauern und Gängen war noch aus den Grundfesten ersichtlich, die meisten Gebäude lagen in Trümmern. Hier und dort war ein Teil eines Hauses erhalten geblieben, und auch ein paar unvollständige Türme mit fehlenden Rückwänden standen noch. Obwohl es keinen richtigen Krater bildete, war das Trägzeitfeld der alten Akademie durch den hellen Schein, der über den Ruinen und dem Wasser lag, das sich in Kellern und Höfen angesammelt hatte, deutlich zu erkennen. Unweit des Gebiets befand sich ein völlig anderes Stück Land, eine tiefe und dunkle Schlucht. Sie lag im Schatten des Riesenplateaus, aber der finstere Eindruck wurde vor allem durch die steilen Wände und die schnellen Zeitströme in ihrem Inneren verstärkt. Der Boden der Schlucht war nicht zu erkennen, und die Studenten flüsterten einander zu, das sei der Eingang zur Unterwelt. 137
»Es sieht wie ein Ort aus, an dem sich Geister wohlfühlen«, murmelte ein Knabe. »Wäre ich tot, würde ich mir das als Wohnstätte aussuchen«, antwortete ein anderer. »Es sieht wie eine häßliche Narbe aus«, erklärte ein Dritter ehrfürchtig. »Wie eine ausgesprochen häßliche Narbe, die nicht heilen will und immer tiefer und schmerzhafter wird.« »Ihr seid der Wahrheit näher, als ihr glaubt«, sagte Jhoira. »Die Schlucht ist unglaublich tief, und in ihr herrscht extreme Schnellzeit. Aber es gibt einen Boden, und dort leben Kreaturen.« »Wie die Leute im Bienenkorb?« »Nein. Seht hin. Vielleicht erkennt ihr es nicht, weil der Schatten des Plateaus darüber liegt - manchmal kann man es nicht einmal mittags sehen -, aber sie haben eine Festung gebaut.« Urza runzelte besorgt die Stirn. »Eine Festung?« »Vielleicht auch bloß ein Wohngebäude, aber ich finde, es sieht abweisend und wie eine Festung aus.« »Beschreibe sie uns bitte«, warf Barrin ein. »Hohe Zinnen, Wehrgänge, Zugbrücken zwischen hohen Wachtürmen, Strebepfeiler, wie aus Drachenknochen gearbeitet, Fenster, schwarz und glatt wie Onyx, und schwere Dachziegel aus Ton. Ich habe das Gefühl, sie würden lieber alles aus Stahl herstellen, wenn sie es könnten, aber leider haben sie nur Eisen, und davon auch nicht viel. Es hat viele Stunden eindringlicher Beobachtung erfordert, um das herauszufinden. Ich rate von näheren Untersuchungen ab: Ich sah Harpunen aus der Festung fliegen, die sich in Rehe und Hirsche bohrten und sie in das Gebäude zogen.« Barrin blinzelte verwirrt. »Diese barbarische Kultur soll sich aus Studenten der Akademie entwickelt haben? Unseren Studenten?« »Nein, nein!« widersprach Jhoira. »Erinnert Ihr Euch 138
an den Mann namens Kerrick, den Ihr mit gebrochenem Bein fandet und als phyrexianischen Schläfer enttarntet, den Mann, den ich in die Akademie brachte? Erinnert Ihr Euch, daß er eine Stunde vor der Explosion entkam? Er muß in jenem Schnellzeitstrom gefangen worden sein - er und die phyrexianischen Negatoren, die er nach Tolaria holte.« * * * Durch ein hohes Fenster aus poliertem Obsidian beobachtete K'rrik die Neuankömmlinge. Sie standen auf dem Felsplateau, einem der höchsten Punkte der Insel, das im unmittelbaren Blickfeld von K'rrik und seinen Anhängern lag, die in der Tiefe der Schlucht lebten. Jhoira stand unter ihnen. Anscheinend führte sie die Gruppe an. Während des Jahrhunderts seiner Gefangenschaft hatte sie sich als schlüpfrige Beute erwiesen. Niemals kam sie in Reichweite der Harpunen - wie schade! Er hatte ihr viel heimzuzahlen. Das Schlimmste war der Verrat an Urza, den Weltenwanderer gewesen. Hätte er eine Harpune in ihren Leib bohren und sie über den felsigen Boden der Schlucht zerren können - es wäre eine wundervolle Bezahlung ihrer Schulden gewesen. Wahrscheinlich nannte sie ihn immer noch Kerrick. Sie sah ihn als Jungen mit goldenem Haar vor sich, aber hundert Jahre hatten aus Kerrick K'rrik gemacht, aus dem hübschen phyrexianischen Schläfer einen grauen Krieger. Gäbe es eine Möglichkeit, Jhoira lebendig in die Festung zu bringen und nicht tot wie das Wild und die gemästeten Ziegen, die eine nette Abwechslung des Speisezettels bildeten, hätte K'rrik endlich ihre >Liebe< auf körperliche Weise vollziehen können. Das war eine weitere schreckliche Verfehlung Jhoiras. Trotz seiner Bemühungen hatte sie sich immer geweigert, sich ihm 139
ganz hinzugeben. Es war unerhört, daß gewöhnliche Keuschheit der Macht Phyrexias widerstand. Natürlich, gäbe es die Möglichkeit, sie lebend in die Schlucht zu bringen, hätte er einen Fluchtweg gehabt. Die Hälfte seiner Negatoren - zwölf von vierundzwanzig - waren umgekommen, ehe K'rrik seine vergeblichen Versuche, der Schlucht zu entfliehen, aufgab. Dennoch schickte er von jeder neuen Generation einen von Zehn aus, um weiter zu suchen - ein Tribut an seine nie erlöschende Hoffnung, nach Tolaria und Dominaria zurückzukehren. Die zehn Prozent bedeuteten keinen großen Verlust. Er kommandierte ein mächtiges Volk von zweihundert Phyrexianern. Sie füllten jeden Winkel der Schlucht aus. Ganze Generationen arbeiteten in dem dunklen Wasser, das den Boden des Abgrunds bedeckte. Sie züchteten, pflegten und fingen die verschiedenen Arten der blinden Raubfische, die ihr Hauptnahrungsmittel darstellten. Andere Phyrexianer bohrten sich unentwegt immer tiefer in die Felswände der Schlucht, auf der Suche nach Obsidian und den Basaltsteinen, aus denen die Festung gebaut war. Begrenzte Rohstoffvorkommen waren das einzige, was K'rriks Ideen Einhalt gebot. Hätte er Stahl oder Kraftsteine besessen, hätten seine Artefakt-Kreaturen die Insel schon vor achtzig Jahren überrannt. Das wenige Eisen, das die Arbeiter fanden, war kostbarer als Gold. Es wurde sofort mit phyrexianischem Blut geölt, um das Ansetzen von Rost zu verhindern. Ein Eisenschwert war gleichbedeutend mit der Königswürde. Es machte K'rrik unbesiegbar und garantierte ihm die Macht. Aus diesem Grund waren die Arbeiter, die manchmal auf Eisen stießen, unentbehrlich für seine Regierung. Indem K'rrik die entdeckten Eisensplitter an ausgesuchte Fußsoldaten verteilte, beherrschte er eine Armee, die nur ihm treu ergeben war. Mit drakonischen Maßnahmen sicherten sich die Soldaten die Unterordnung 140
aller anderen. K'rrik herrschte über die Armee und sein Volk, weil er beide geschaffen hatte und von allen Bewohnern der Schlucht der klügste, stärkste und grausamste war. Diese Eigenschaften waren angeboren. Aber der phyrexianische Schläfer hatte zahlreiche körperliche Veränderungen mit Hilfe von Stahl, Knochen und sogar tierischen Implantaten an sich vorgenommen. Er war unbesiegbar. Die einst glatten Schultern zierten jetzt ausgehöhlte Stoßzähne, in denen sich Skorpionfischgift befand, mit dem er jeden Angreifer vergiftete. Aus Ellenbogen und Knien ragten ähnliche Waffen, die eine gezackte Oberfläche besaßen, um beim Herausziehen dem Gegner das Fleisch aus dem Leib zu reißen. Sein Körper steckte in einem schwarzen Stahlpanzer, der verhinderte, daß man ihm das Rückgrat brach, wohingegen er jeden Feind damit niederwälzen konnte. Das Hackbeil, mit dem er sich die beiden äußeren Finger an jeder Hand abschlug, hatte er selbst geschmiedet. An Stelle der Finger steckten gefährlich scharfe, auch mit Gift gefüllte Stahlspitzen. Das Jahrhundert der Gefangenschaft in der Schlucht hatte dazu gedient, seinen Körper zu vervollkommnen. Jetzt, da er durch die dicken Fenster seines oberen Thronsaales blickte, sah K'rrik die Macht, mit deren Hilfe er seinem Gefängnis entkommen würde - die Macht seines alten Feindes, Urza Weltenwanderer. * * * Jhoira merkte, daß Meister Malzra eine bittere Pille schlucken mußte. Der Mann stand reglos neben ihr und starrte in den dunklen Abgrund. Seine Augen sahen mehr als die Augen gewöhnlicher Menschen ihr seltsamer Glanz verriet sein überdurchschnittliches Urteilsvermögen. Bestimmt durchdrangen sie den 141
schützenden Dunstschleier und die phyrexianische Kolonie, die sich dahinter verbarg. Ganz sicher sah Malzra in den schwarzen Koloß aus Basalt und Obsidian hinein und erkannte die elende Kreatur im Herzen der Festung - bösartig und brütend, beständig mächtiger werdend. Es war Kerrick. Auch ohne übernatürliche Kräfte wußte Jhoira es. Natürlich war er kein Mensch, sondern ein Monstrum in der Haut eines Menschen. Er war das Bindeglied zwischen zwei Welten, und er würde inzwischen sehr mächtig sein - vielleicht so mächtig wie Meister Malzra, vielleicht noch mächtiger. Auch Karns Augen sahen mehr als andere. Er zog Malzra, Barrin und Jhoira beiseite. »Es ist kein Geheimnis, weshalb man mich baute: für Reisen in die Vergangenheit. Vielleicht habe ich hier meinen neuen Lebenszweck gefunden, der das Betreten und Vernichten dieses Ortes beinhaltet.« Der Vorschlag erfolgte in ruhigem, sachlichem Tonfall, aber mit einer Stimme, die wie das tausendfache Wispern von Bäumen kurz vor einem Sommersturm klang. Malzra und Barrin wechselten einen wissenden Blick. Der Magiemeister sagte mit grimmigem Lächeln: »Über eine solche Reise las ich während meiner Studienzeit. Einstmals gab es einen Weltenwanderer, der nach Phyrexia zog, um es zu vernichten. Er war so gut gerüstet wie du, Karn, wurde aber beinahe getötet.« Malzra nickte. »Ein guter Vergleich. Vor uns liegt ein Miniatur-Phyrexia. Mitten in Tolaria.« Plötzlich runzelte er wütend die Stirn. »Jhoira, gestern abend hast du von den Kindern des Zorns gesprochen, die ich zurückließ. Von den Verwaisten, die in meiner Abwesenheit erwachsen wurden, mich verabscheuen, mich hassen und die mich töten werden, wenn sie die Gelegenheit erhalten. Jetzt sehe ich, daß du recht hattest.« Er blinzelte und atmete tief durch - zwei Dinge, die 142
verrieten, wie bewegt er war. »Es ist besser, sich solche Feinde gar nicht erst zu schaffen, als sie für alle Zeiten bekämpfen zu müssen.« Barrin sah ihn bewundernd an. Die Sonne spiegelte sich in Malzras Augen, und er folgte ihrem Weg mit seinen Blicken. »Die Sonne geht allmählich unter. Komm, bringe uns an einen Ort, an dem wir unser Lager aufschlagen können. Irgendwo außerhalb des Trägzeitgebietes, in dem die Explosion ihren Ursprung hatte. Vorzugsweise auf einem hochgelegenen Fleckchen Erde, wo die Zeit den normalen Rhythmus beibehalten hat.« Ein Schatten glitt über Jhoiras Gesicht. »Ich kenne genau den richtigen Ort.« Sie machte kehrt und wandte sich einem Pfad zu, der vom Riesenplateau zu den Ruinen der alten Akademie führte. Entgeistert und erschöpft schauten ihr die Studenten und Gelehrten nach. Die meisten hatten das lange Starren in die undurchdringliche Dunkelheit der Schlucht und die Ängste, die der Anblick in ihnen hervorrief, der letzten Kräfte beraubt. Sie hatten die mitgebrachten Schiffszwiebäcke und Trockenfleischvorräte ausgepackt. Als Jhoira immer weiterging, sahen sie Malzra und Barrin fragend an. Die beiden Männer sahen sich noch einmal auf dem Plateau um und folgten der jungen Frau. Auch Karn verließ seinen Platz und begab sich auf den Pfad. Mit verärgertem Seufzen und Stöhnen verstauten die Studenten ihre Speisen wieder in den Bündeln, warfen sie sich über die Schultern und stolperten müde hinter den anderen her. Jhoira folgte einem Pfad, den ihre eigenen Füße im Laufe der Jahre geprägt hatten. Er führte an einigen schmalen Zeitströmen vorbei, die teilweise nur so breit wie eine Elle waren, dafür aber eine ganze Meile lang. Jhoira nannte sie >Schleier der Ewigkeit< denn jeder, der sie betrat, wurde augenblicklich in Stücke gerissen. 143
Es war unnötig, ihre Begleiter zu ermahnen, den Pfad keinesfalls zu verlassen. In Hintergrund erhob sich das Labyrinth zerstörter Gebäude, die einst die Akademie bildeten. Die Gruppe verstummte, je näher sie den Ruinen kamen. Die älteren Mitglieder der Expedition hatten einst hier gelebt und Freunde gehabt, die hier gestorben waren und irgendwo unter den Trümmern begraben lagen. Zu der natürlichen Furcht, die sie beim Abstieg in die Welt der Toten befiel, kam noch der Druck, den das Betreten der Trägzeitzone auf Herz und Lungen ausübte. Das Betreten der mit Schutt übersäten Wege war wie das Einsinken in einen Alptraum aus Stein, Knochen und Asche. Die Sonne beleuchtete den Ort mit unbarmherzigem, hartem Licht. Alle, die einen flüchtigen Blick zum Himmel warfen, sahen sie als Feuerball, der dem Horizont zustrebte. Während der Führung durch die Ruinen brachte Jhoira ihre Gefährten an einen besonders gräßlichen Platz. Dort stand die Statue eines rennenden jungen Mannes. Beide Füßen schwebten ein Stück weit über dem Boden. Der Mund war zu einem verzweifelten Schrei aufgerissen. Die Augen hielt er fest zusammengepreßt. Die Hände griffen haltlos in die Luft. Die weißen Gewänder wurden von einem unheimlichen roten Schimmer umgeben, der ihn einhüllte und sich wie ein Zwiebelturm über seinen Kopf erhob. Der junge Mann steckte in einer Säule aus feurigem Licht. Direkt vor ihm schwebte ein schwerer Umhang in der Luft, der genau in dem Augenblick erstarrt war, ehe er sich um den Knaben legte. Jhoira beobachtete die Gesichter Malzras, Barrins, Karns und der älteren Studenten und Gelehrten. Sie starrten die Säule verständnislos an und versuchten, das Geheimnis zu enträtseln. Endlich stieß Karn den Namen hervor: »Teferi!« »Ja. Er stand in Flammen, als die Explosion erfolgte. 144
Für ihn ist in den zehn Jahren erst ein Augenblick verstrichen. In einigen Jahren - der Bruchteil einer Sekunde in seiner Zeit - wird sich der Umhang um ihn wickeln und seine brennenden Gewänder löschen. Vielleicht fällt Teferi danach zu Boden. Vielleicht sieht er auch die Neu-Tolaria und wird versuchen, sie zu erreichen. Dabei wird er den Tod finden.« Ihre Miene verhärtete sich. Sie nagte an der Unterlippe. »Der verdammte Umhang ist alles, was ich für ihn tun kann. Ich studierte die Zeitströmung, führte Experimente durch und versuchte alles mögliche, aber er ist gefangen und nicht zu retten.« Entsetztes Schweigen folgte der Erklärung. Fünfzig Augenpaare musterten die im Feuer erstarrte Statue, unerreichbar und doch nur eine Armeslänge entfernt. Schließlich sprach Malzra, und seine Worte beruhigten die Anwesenden: »Das erste Ziel unserer zukünftigen Studien wird die Rettung dieses jungen Mannes sein.« Mit grimmiger Miene wandte sich Jhoira ab. Mit schnellen Schritten ging sie weiter. Manche der Studenten, Kinder von zwölf oder dreizehn Jahren, folgten ihr dicht auf den Fersen. Die älteren blieben vor Teferis Schrein, wie sie ihn insgeheim nannten, noch einen Moment stehen. Den Schluß der Prozession bildeten Meister Barrin und Karn. Je höher sie den Pfad hinaufkletterten, der am Südrand der Ruinen zum Hochland hinaufführte, um so wohler und hoffnungsvoller fühlten sich die Menschen. Vor ihnen breitete sich eine Hochebene aus, die mit hohem, trockenem Gras bewachsen war. Das Rascheln der ausgedörrten Halme klang vertraut und beruhigend. Trotz des schnellen Tempos, das Jhoira anschlug, legte sich schon die Dunkelheit über die Hochebene, als Malzra, Barrin und Karn sie betraten. Der Meister sah sich mit durchdringenden Blicken um. Er spürte 145
die Nähe der alten Akademie, der Schleier der Ewigkeit und der darunterliegenden Schlucht der Phyrexianer. »Du hattest recht, Jhoira«, sagte er nach einer Weile. »Es ist genau der richtige Ort.« Er ging auf einen der erschöpften Studenten zu, zog eine Zeltstange aus dem Gepäck und stieß sie mit der übernatürlichen Kraft seiner Hand in den trockenen Boden. »Genau an dieser Stelle bauen wir die neue Akademie!«
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Monolog
Ich war an jenem ersten Abend, als wir im Licht unserer Laternen die Zelte aufbauten, körperlich und geistig völlig erschöpft. Wir sammelten Feuerholz, legten Steine als Einfriedung für Feuerstellen zurecht, füllten die Wasserflaschen auf und nahmen eine aus Zwieback, heißer Brühe und Trockenfleisch bestehende Mahlzeit zu uns. Ich hatte Urza immer wieder ermahnt, nach Tolaria zurückzukehren und die Kinder des Zorns in die Arme zu schließen. Aber beim ersten Anblick dieser Kinder - ob es sich nun um die Stämme des Bienenkorbs, die unsichtbaren Phyrexianer der Schlucht oder die Geister der Toten, die vielleicht in den Ruinen der alten Akademie herumspuken, handelte - überfiel mich die Angst, es falsch gemacht zu haben. Die Vergangenheit vergessend, die Toten fliehend, die Wunden abschüttelnd - so leben Sterbliche. Das Gestern ist tot. Das ist ein Geschenk der Zeit. Jede neue Generation wird unbelastet von den Schrecken der Vergangenheit geboren. Wie sonst könnten wir leben? Vielleicht hatte ich aber doch recht. Urza ist kein Sterblicher. Er kann es sich nicht leisten zu vergessen, wie sich auch die Zeit ein Vergessen nicht leisten kann. Die Welt ist nicht groß genug, um ihn von Fehler zu Fehler wandern zu lassen, während er nichts als Vernichtung hinterläßt. Er muß endlich lernen, hinter sich Ordnung zu schaffen. Seine Manie, in die Vergangenheit zu reisen, war eigentlich das Verlangen, sich zu erinnern, sich der Vergangenheit zu stellen. Wahr147
scheinlich wäre er auch ohne mich darauf gekommen. Jetzt, da sich Urza entschieden hat, sollten wir ihm natürlich auf jede erdenkliche Weise helfen, da er es sich so schnell sicher nicht wieder anders überlegen wird. Ich hoffe nur, daß es mir nach all diesem Experimentieren mit der Zeit vergönnt sein wird, nach der normalen menschlichen Zeitspanne zu sterben - nicht früher und ganz bestimmt nicht später. Barrin, Magiemeister von Tolaria
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Die schwere Holzkiste, die Malzra auf seinem Rücken getragen hatte, entpuppte sich als kostbarer Schreibtisch. Zur Freude und großen Überraschung der Studenten baute er ihn am nächsten Morgen auf. Die Tischplatte bestand aus feinsten Ebenholztafeln. Jede der schwarzen Tafeln glitt auf versteckten Schienen aus dem Mittelteil heraus und paßte sich nahtlos an die übrigen Stücke an. Das Ergebnis war eine große, glatte Tischplatte, so breit wie Malzras ausgestreckter Arm und doppelt so lang. Die Platte ruhte auf einem Unterteil mit zahlreichen Schubladen und Fächern. Durch einen genialen Trick war es möglich, den Schreibtisch mitsamt allen Einzelteilen wieder in eine Holzkiste zu verwandeln. Es kam aber noch besser: Sobald er den Tisch aufgebaut hatte, öffnete Malzra Schublade um Schublade und präsentierte den staunenden Zuschauern ihren Inhalt: Stifte, Lineale, Kompasse, Winkelmesser, Gradbogen und eine Rolle Pergament nach der anderen. Letztere rollte er aus und versuchte, sie zu glätten, bis sich Barrin erbarmte und Steine auf die Ecken legte. Dann traten Barrin und Malzra zurück und gestatteten den Umstehenden einen Blick auf die großartigen Pläne. Den Mittelpunkt bildete eine riesige Halle, in der vierhundert Studenten und Gelehrte Platz fanden, mit Galerien, die einen Überblick über die Halle gewährten, und einer Fensterfront, die den Blick auf die grünen Wälder freigab. Man sah prächtige Türme, rund und schlank wie exotische Kürbisse. Manche dienten als Wachstationen, andere zur Feuerbekämp149
fung und wieder andere als Observatorien, vollgestopft mit optischen Geräten. Die Außenmauer war ein gewaltiges Bollwerk aus Erde und Steinen, das weder Abflußgräben noch Gittertore aufwies. Lange, gewundene Gange, hohe Fenster, eine Vogelflughalle, Innenhöfe, eine Turnhalle, ein großer, von Steinen gesäumter Teich, Gärten und Haine. Die Schlafräume bestanden aus hellen, geräumigen Zimmern - nicht länger aus winzigen, kargen Zellen, wie in der Vergangenheit. Überall sorgten phantasievolle Verzierungen für eine freundliche Atmosphäre: Meerestiere, Pflanzen, Drachenköpfe, Windmotive, Bilder der Neu-Tolaria, Möwen, Eisvögel, Wolken, Korallen, Fische und Muscheln. Das war nicht das nüchterne Erscheinungsbild der alten Akademie. Es war kein Gefängnis. Askese war Verspieltheit gewichen, strenge Wissenschaft machte der Kunst Platz. »Natürlich müssen wir das Osttor von hier nach dort verlegen«, sagte Malzra, trat an den Tisch und tippte auf die entsprechenden Punkte. »So haben wir sofortigen Zugang zu dem sicheren Pfad und dem Engelswald.« Barrin nickte erfreut. »Wie schön, daß Ihr die Schule nicht in eine Festung verwandelt habt, nachdem Ihr die Schlucht der Phyrexianer entdecktet.« Malzra lächelte gezwungen und zog einen anderen Plan hervor. »Sie sind es, die gefangen bleiben sollen, nicht wir. Seht her! Dies ist das erste Gebäude. Anfangs wird es alles sein, was wir haben: Halle, Schlafsaal und Hörsaal. Später richte ich hier mein persönliches Labor ein.« Er wies auf ein großes Haus mit Mauern aus Stein und einem spitzen Dach, das von gefällten Baumstämmen gestützt wurde. Laut Plan bestand das Dach zuerst aus Reet, sollte aber später mit Schieferplatten gedeckt werden. »Es soll hier stehen, auf dem Felsvorsprung am Rande unseres jetzigen Lagerplatzes. Noch heute beginnen wir mit dem Bau.« 150
Das Frühstück wurde inmitten der Visionen einer hoffnungsvollen Zukunft vergessen. Das ganze Lager hatte sich versammelt, um Malzras Anweisungen entgegenzunehmen. Ein Fähnrich und seine Gruppe wurden mit dem Wachdienst betraut und mußten Posten aufstellen, Palisaden errichten, ein Waffenlager einräumen und eine Tag- und Nachtschicht einteilen. Zu ihren Pflichten gehörten auch die Erkundung und Markierung der gefährlichen Zeitströme und die Erforschung von Maßnahmen, um Teferi aus seiner schrecklichen Lage zu befreien. Ein weiblicher Fähnrich führte eine Gruppe an, die eine gründliche Durchsuchung der Ruinen vornehmen sollte. Sie mußte notieren, ob und was noch zu verwerten war - Steine, Holz, Stahl, Möbel und Artefakte. Außerdem wurde die Frau damit betraut, einen geeigneten Platz für ein Denkmal zu finden, zur Erinnerung an die Menschen, die durch die Explosion ums Leben gekommen waren. Barrin meldete sich freiwillig zu dieser Gruppe, da ihm viel daran lag, verwertbare Funde richtig behandelt zu wissen. Die dritte Gruppe - Proviantkommission genannt wurde Jhoira anvertraut. Sie suchte nach Wäldern, in denen man Kaninchenfallen aufstellen konnte, nach Teichen zum Auslegen von Fischnetzen und nach fruchtbarem Land, um etwas anzupflanzen. Malzra drängte Jhoira, die milden Trägzeitzonen zu nutzen, in denen Kaninchen, Fische und Ernten innerhalb Wochen anstatt Monaten heranwuchsen. Die nächste Gruppe bewaffnete sich mit Schaufeln, Hacken, Stäben und Seilen. Sie räumte den Platz frei, an dem die neue Akademie entstehen sollte, und hob gemäß Malzras Plänen die Grube aus. Karn schloß sich den jungen Leuten an, da er seine Kraft hier am sinnvollsten einsetzen konnte. Die letzte Gruppe wurde von Malzra persönlich be151
gleitet. Sie kehrte zum Riesenplateau zurück, um die Phyrexianer zu beobachten und Strategien für die Bekämpfung der Erzfeinde zu entwerfen. Malzra erzählte den Studenten von einem alten Gegenmittel. Es handelte sich um einen winzigen Kristall, der nach dem Glimmermond ausgerichtet wurde und wie ein Magnetit in einem Wassertropfen hing. Wenn der Mond aufging, richtete sich der Kristall langsam auf und stieß einen schrillen Ton aus, der phyrexianisches Blut zum Kochen brachte und das Öl in seine einzelnen Bestandteile auflöste. Durch eine Massenproduktion dieser >Spinnen< - wie Malzra sie nannte - und deren Aussetzen in einem Fluß, der durch das Gebiet der Feinde floß, bestand die Hoffnung, alle gleichzeitig zu vernichten, ehe die Gegner auch nur ahnten, was vor sich ging. Leise und entschlossen wie eine Armee von Riesenameisen marschierte Malzras Gruppe durch die fremdartigen und feindseligen Hügel Tolarias. Die Planen der Zelte, die ihnen während der Nacht Schutz geboten hatten, flatterten im heißen Sommerwind. Die Rauchsäulen der Feuer, die das Dunkel der Nacht vertrieben hatten, stiegen grau und dünn zum Himmel empor. Hoffnung lag in der Luft. Inmitten der gebeugten Rücken, der geschwungenen Äxte und in die Erde gestoßenen Schaufeln entstand die Vision einer neuen Akademie. * * * Als die letzten gespitzten Pfähle rings um das Zeltlager im Boden steckten und die Fundamente des ersten Gebäudes gelegt waren, fuhr ein kühler Wind durch die umliegenden Wälder. Die Arbeiten des Sommers waren erledigt. Die Arbeitenden legten eine Pause ein. Sie atmeten tief durch, richteten die schmerzenden Rücken auf und hoben die schmutzigen, 152
schweißbedeckten Gesichter zur Sonne empor. An Bord der Neu-Tolaria waren sie auch nicht müßig gewesen, aber wenigstens mußten sie sich dort nicht mit der Knochenarbeit abmühen, die ihnen hier zufiel: Erde umgraben, fortschaffen, aufhäufen, festklopfen. Auf See gab es keinen Staub, nur Salz, und das ließ sich gut abwaschen und bot ausreichenden Schutz vor Insekten. Hier gab es gute schwarze Erde. Sie legte sich wie ein Schleier über alles und jedes, ließ sich nie völlig abwaschen und verschmutzte die Schriftrollen und Bücher, die Studenten und Gelehrte in ihrer Freizeit lasen. Nach langen, arbeitsreichen Monaten sahen die Neuankömmlinge wie Jhoira aus: sonnengebräunt, muskulös und zäh - wie Eingeborene der Insel. Der kühle Wind fuhr durch die Zelte und Sonnensegel, unter denen die jungen Leute ausruhten. Er ließ die Flammen des Kochfeuers höher schlagen, über dem eine Mahlzeit aus frischem Fisch vor sich hin köchelte. Er wirbelte den Staub von zweirädrigen Karren auf, auf denen bearbeitete Baumstämme ruhten, die für das halbwegs fertiggestellte Dach der großen Halle bestimmt waren. Er zerrte an dem Ballen von Tierhäuten, die für den Bau des großen Luftschiffes bereitlagen, mit dessen Hilfe Malzras phyrexianische Kriegsmaschine durch die Luft fliegen sollte. Der Wind schien darauf erpicht zu sein, die unvollständige Maschine schon jetzt mitzunehmen. Er belebte und erfrischte die erschöpften und der Hitze müden Arbeiter und versprach ihnen kühle Tage und Regen. Gierig atmete Barrin die frische Luft ein, als er den Hügel hinauf zu den Palisaden ging. Der Herbst stand für hohes, trockenes Gras, bereit zum Schneiden, Zusammenbinden und Abdecken des Dachs der großen Halle. Dort würde es wärmer und trockener sein als in den Zelten, und man war besser vor Moskitos und Schlangen geschützt. Auch die Aussicht auf richtige Betten und Matratzen war verlockend. 153
Dennoch verdankte Barrin seine gute Laune nicht den Aussichten auf zukünftigen Luxus, sondern der Beendigung harter Arbeit. Die Ruinen waren vollständig durchsucht worden. Sie hatten jeden noch brauchbaren Stein zum Bauplatz der neuen Akademie geschleppt, und viele der gröbsten Stücke steckten bereits in den Fundamenten des ersten Hauses. Barrins Gruppe hatte auch das Artefakt-Museum entdeckt, freigelegt und viele, nur leicht beschädigte Maschinenteile geborgen. Urza hatte sie benutzt, um fünf Träger zu bauen, die dazu dienten, die schwersten Bauarbeiten zu unterstützen. Das wichtigste Ereignis dieser Bergungsarbeiten war jedoch heute eingetreten, und Barrin ging ins Lager hinüber, um Urza, Karn, Jhoira und alle, die gerade nichts zu tun hatten, zu holen. »Wir sind fertig«, sagte er gelassen und wischte sich die staubigen Hände an der Hemdbluse ab, als er vor Urza stand. Der Weltenwanderer blickte abwesend von den Plänen der Kriegsmaschine auf, nickte und winkte zwei Studenten, die Metallverkleidung, die sie gerade am Rahmen der Maschine befestigt hatten, wieder abzunehmen. Einer der beiden warf ihm einen verärgerten Blick zu, und Urza erklärte mit strenger Stimme: »Wir müssen den Mittelteil der Verkleidung vertiefen, sonst gleiten die Brandsätze nicht glatt aus den Ladekammern. Sie könnten sich verhaken und in der Maschine explodieren. Los jetzt!« Die Studenten machten sich an die Arbeit, und Barrin wiederholte: »Wir sind fertig. Ich möchte, daß Ihr es Euch anseht.« Urza wandte sich wieder seinen Plänen zu, die ein aus unzähligen dünnen Rohren bestehendes Gerat zeigten, das wie eine Hufeisenkrabbe aussah und unter einem mit heißem Gas gefüllten Ballon hing. »Ich bin sehr beschäftigt. Hat es nicht Zeit? Ihr 154
könnt eine offizielle Feier anberaumen. Ich werde teilnehmen.« Barrins Blick verhärtete sich. »Damals starben zweihundert Studenten und Lehrmeister, Urza. Zwanzig weitere haben schwer und unermüdlich inmitten ihrer Geister gearbeitet, um einen Weg zu finden, die Toten zu ehren und sich ihrer zu erinnern. Wenn Ihr nicht meinetwegen kommt, so kommt ihretwegen!« »Während Ihr in der Vergangenheit herumwühlt«, fauchte Urza und wies auf die komplizierte, halbfertige Maschine, »arbeite ich an einem Gerät, um die Zukunft zu retten! Erst heute morgen haben wir herausgefunden, warum die Spinnen nicht funktionierten: In der Schlucht gibt es zu wenig Mondlicht, um sie zu aktivieren. Die Maschine ist unsere einzige Hoffnung. Ich muß sie fertigstellen, oder dein Denkmal steht auch für uns. Ich denke an unsere Zukunft!« Barrin hielt Urza am Arm fest; eine ausgesprochen seltene Geste. Er spürte den heißen Strom reiner Energie unter der Haut des Meisters. »Kommt und seht Euch das Denkmal an. Es ist der Grund, warum wir für die Zukunft arbeiten.« Urza warf dem Gerät noch einen verzweifelten Blick zu, wo die Studenten leise fluchend an der Verkleidung herumschraubten. Er winkte sie zu sich. »Kommt mit, ihr zwei! Legt das Werkzeug fort und begleitet uns. Wir werfen einen Blick in die Vergangenheit.« Zuerst sahen sie ihn nur unsicher an, bis seine finster gerunzelte Stirn sie überzeugte, die Werkzeuge beiseite zu legen und ihm zu folgen. Allen Studenten und Gelehrten, die ihnen unterwegs begegneten, befahl Urza das gleiche. Unzählige Arbeiten wurden im Stich gelassen, und das Volk von Tolaria folgte den beiden Meistern. Während des Sommers hatten sich die Menschen ganz ihren Pflichten gewidmet und waren so weit gegangen, 155
sich von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich zu kleiden. So erkannte man auf den ersten Blick, ob jemand zu den Wachen, den Gärtnern, den Jägern, den Wissenschaftlern oder anderen gehörte. Bei der Prozession, die den Hügel zu den Ruinen hinabschritt, waren alle Studenten und Lehrmeister wieder eins genau wie an dem Tag, als sie die Insel zum ersten Mal betraten. Scherze und Gelächter schwirrten durch die Luft. Barrin wunderte sich über die frohe Stimmung. Er und seine Gefährten hatten sich immer um ernste Mienen und Gespräche bemüht, wenn sie in den Ruinen herumwühlten. Trotz der kurzen Tage in der Trägzeitzone - sie hatten nur zehn Stunden Tageslicht an Stelle der sonst üblichen sechzehn Stunden waren sie sehr fleißig gewesen. Die Fundamente der meisten Gebäude standen noch, und ihre Steine ragten aus dem harten Erdboden. Regenwasser hatte sich in etlichen freigelegten Kellern gesammelt. An anderen Stellen wuchs ein spärlicher Grasteppich zwischen den Gebäuderesten. Wenige niedrige Mauern waren heil geblieben, aber die meisten hatten die jungen Leuten sorgfältig abgetragen, um die Steine für den Bau der neuen Hochschule zu verwerten. Sogar große Feldsteine lagen zu einem großen Haufen gestapelt auf dem Bauplatz. Im Ergebnis wirkte der Ort der Vernichtung jetzt fast wie eine Parklandschaft, mit grünen Wiesen, gewundenen Wegen und stillen Teichen. Die Ruinen waren keine Ruinen mehr. Auch Barrins Stimmung hob sich, als er die Zeitgrenze überwand und die Prozession sich dem Herzen AltTolarias näherte. Ein mit zu einem Mosaik gelegten Steinen gepflasterter Platz wurde von zwei erstaunlichen Statuen eingerahmt. Auf der einen Seite stand Teferi, mit weit aufgerissenem Mund und geschlossenen Augen, von den ewigen Flammen eingehüllt, den nassen Umhang 156
dicht vor sich. Die Ecke eines Hauses half, ihn vor den heißen Sonnenstrahlen zu schützen. Als Urza und Barrin neben dem lebenden Schrei stehenblieben, löste sich Jhoira aus der Menge. Sie trat vor und starrte den gefangenen Freund an. »Er sitzt in der Falle, genau wie ich. Allein. Verlassen. Weder tot noch lebendig.« »Wir retten ihn, Jhoira«, versicherte ihr Barrin. »Wir finden einen Weg.« »Er kann uns nicht erreichen. Wir können ihn nicht erreichen.« Ihre Stimme klang wütend und verzweifelt. »Wenn er versucht zu entkommen, wird er sterben.« »Ja. Deshalb müssen wir ihn vorher retten.« »Jede Nacht denke ich darüber nach. Ich kann nicht schlafen, muß immer an ihn denken. Es muß eine Möglichkeit geben«, beharrte sie und strich sich mit zitternder Hand über das Kinn. Barrin ergriff ihre Hand und führte sie weiter. »Komm mit. Ich möchte euch noch etwas anderes zeigen.« Auf der anderen Seite des Platzes stand das Denkmal für die Verstorbenen. Den Fuß bildete der Grundstein der alten Akademie. Urza hatte gefordert, ihn in der neuen Akademie zu verwenden, aber Barrin war hart geblieben. Er sagte, der Stein markiere Anfang und Ende des alten Tolaria. Eine Seite des riesigen Blockes trug die ursprüngliche Inschrift: Akademie Tolaria, gegründet 3285 AR. Darunter hatte man hinzugefügt: Zerstört 3307 AR. Auf der Vorderseite standen die Namen der Toten, und auf der dritten Seite stand in alter yotianischer Schrift: Die Seelen eines verstorbenen Menschen, der dem Schicksal die Stirn bot, sind wie die Seelen aller Menschen, die uns vorausgingen, damit wir bleiben konnten. 157
Das ausgehöhlte Innere des Steins barg sämtliche Knochen, die Barrin und seine Gruppe in den Ruinen entdeckt hatten. Jetzt waren sie auch im Tode vereint. Den Stein krönte eine Statue, die nach einer Skizze des alten Darrob gebaut worden war, Jhoiras letztem Gefährten, ehe Urza mit seinem Schiff eintraf. Obwohl sein Verstand zu verwirrt gewesen war, um sich mit Worten zu verständigen, war Darrob ein Künstler gewesen. Das häufigste Motiv in seinen Zeichnungen war eine suchend umherirrende Gestalt, hager und windzerzaust, die eine Laterne in der Hand hielt und mit Augen in die Zukunft spähte, die wie tiefe Krater in dem knochigen Schädel ruhten. Barrin hatte die Metallreste zerschmetterter Artefakte zusammengesucht und sie zu der Verkörperung jener unheimlichen, traurigen Gestalt geschmiedet, die sich für alle Zeiten einem unermüdlichen Sturmwind entgegenstemmte. Traurig stand Jhoira vor dem Denkmal. Barrin hielt sie noch immer bei der Hand. Urza erfaßte die ganze Szene mit einem Blick. Hinter ihnen bildeten die anderen einen weiten Halbkreis. Sie alle verstummten und betrachteten das Denkmal. Nur der Wind war noch zu hören. Barrin stand reglos neben Jhoira und merkte, wie ihn seine Gefühle zu übermannen drohten. Gefühle, die gleichzeitig von Glück und Verzweiflung kündeten, die seinen Blick verschleierten und ihn die Lippen zusammenpressen ließen. »Im Namen aller, die nach der Explosion zurückblieben, möchte ich Euch dafür danken, Meister Malzra«, sagte Jhoira nach geraumer Zeit. »Es ist gut und richtig, daß dies das erste ist, was fertiggestellt wurde.« »Ja«, antwortete Urza und nickte entschieden. »Ja, das ist richtig.« * * * 158
Das erste Gebäude wurde kurz vor Wintereinbruch fertiggestellt, und das Feuer im Kamin erlosch nicht eher, bis der Frühling die ersten warmen Tage mit sich brachte. Obwohl die Unterbringung besser als in den Zelten war, so herrschte doch gewaltige Enge. Das fertige Gerüst von Urzas Kriegsmaschine nahm eine Ecke der Halle ein, wo es über dem Ballon aus Tierhäuten stand, der es irgendwann in die Lüfte befördern sollte. Der Fußboden davor war mit Schlafmatten bedeckt. Daneben standen Tische, an denen Speisen zubereitet und verzehrt wurden. Bücher und Schriftrollen stapelten sich in allen Ecken, Seite an Seite mit Artefakten. Es war so eng, daß Jhoira und ihre Gruppe es vorzogen, an Bord der Neu-Tolaria zu essen und zu schlafen, wo Hängematten und hastige Mahlzeiten ihnen wie ein unerhörter Luxus vorkamen. Außerdem hatte Jhoira an Bord des Schiffs mehr Platz, um nachts herumzulaufen, während sie Pläne für Teferis Rettung schmiedete und verwarf. Der Winter war lang und naß, und nur die Entschiedenheit Urzas und Barrins, alles einmal Begonnene auch zu beenden, half ihnen, ihn zu überstehen. Beim Wehen der ersten Frühlingswinde wurde mit dem Bau des zweiten Gebäudes begonnen, einem runden Wohnhaus, bei dem jedes Fenster den Blick entweder auf die herrlichen Wälder Tolarias oder den wunderschönen Innenhof freigab. Obwohl es noch keine Fensterläden und Türen gab, zogen viele Studenten es vor, in das halbfertige Gebäude umzusiedeln und den noch kühlen Frühlingstagen zu trotzen. Wochen später wurde der Artefaktbau in den Innenhof verlegt, und so entstand ausreichend Platz für alle, die noch in der ersten Halle weilten. »Zehn Jahre sind in der Schlucht vergangen, seitdem unsere Feinde unsere Rückkehr erlebten«, sagte Urza und atmete den Wind ein, der vom Meer herüberwehte. »Bestimmt waren sie in der Zeit nicht untätig. 159
Sie sind zehnmal so stark wie am ersten Tag und haben sich zahlenmäßig vielleicht verdoppelt. Jeder Tag des Wartens schenkt ihnen eine ganze Woche. Die Zeit ist reif!« Er sagte es zu Barrin, aber alle, die an diesem Morgen in der großen Halle frühstückten, hörten ihn und wußten, was gemeint war. »Heute greifen wir an!« verkündete Urza. Die meisten Studenten beendeten ihre Mahlzeit nicht. Sie eilten an ihre Arbeitsplätze, aufgeregt und ängstlich bei dem Gedanken an das, was der Tag bringen mochte. Minuten nach Urzas Ankündigung wurden der Ballon aus Tierhäuten und das Metallgerüst aus der Ecke gezerrt und zum Rand des Riesenplateaus getragen. Eine Gruppe junger Leute transportierte riesige Blasebälge, die an eigens geschmiedeten Essen hingen, um für heiße Luft zu sorgen. Taue der Neu-Tolaria und Kisten mit dunklen Kugeln wurden herbeigetragen. »Ich weiß, es ist alles sehr simpel«, sagte Urza bedauernd und ließ sich Barrin gegenüber nieder, der sich mit der Gabel hastig viel zu heiße Spiegeleier in den Mund stopfte. »Bis wir ordentlich eingerichtete Labore haben, werde ich keinen Ornithopter zusammenstoppeln. Außerdem kann dieses schwebende Ungetüm hundertmal so viele Pulverbomben transportieren wie ein Ornithopter.« »Selbst viertausend Bomben reichen vielleicht nicht aus, um sie zu vernichten. Und wenn Phyrexianer in der Schlucht überleben, schweben wir in größter Gefahr«, entgegnete Barrin, während er kleine Schlucke kochendheißen Tees zu sich nahm. »Sie arbeiten an einer Möglichkeit, der Schlucht zu entfliehen«, erwiderte Urza. »Hundertundzehn Jahre ihrer Zeitrechnung haben sie damit verbracht, an Flucht zu denken. Sie besitzen nur wenige Kraftsteine für einfache Metallwesen, sonst hätten sie uns ihre 160
Kreaturen längst auf den Hals gehetzt. Also werden sie an einer neuen Mutation arbeiten, einer besonderen Art Phyrexianer, die dem Zeitstrom entkommen kann. Wenn eine der viertausend Bomben bis in ihre Labore vordringt und Jahre der Forschung zunichte macht, haben wir uns ein paar Jahre mehr erkauft.« »Stimmt«, meinte Barrin. Er wischte sich Mund und Hände ab und erhob sich. »Ja, heute ist ein guter Tag für den Angriff. Ich werde die Flugbesatzung vorbereiten.« Urza hielt ihn am Ärmel fest und schüttelte den Kopf. »Nein, das mache ich. Ich werde mit ihnen an Bord gehen.« * * * Am späten Vormittag war der Ballon über der Kriegsmaschine vollständig gefüllt. Die Hülle aus Tierhäuten glänzte goldbraun im Sonnenlicht, von tausenden von Säumen überzogen. Das mit winzigen Tautropfen bedeckte Metallgerüst funkelte hell. Starke Meerwinde zerrten an den schweren Ankertauen. Die Bodentruppe arbeitete fieberhaft an den Tauen und den drei langen Ketten, mit denen die Maschine über der Schlucht gehalten werden sollte. Barrin beaufsichtigte die Überprüfung der in das Felsplateau eingelassenen Poller. Auch Karn hielt sich bereit, um seine gewaltige Körperkraft beim Halten der Taue einzusetzen. Inzwischen erhielt die fünfköpfige Flugbesatzung die letzten Anweisungen Meister Malzras. Jedes Besatzungsmitglied hatte eine bestimmte Aufgabe: Ein Student kümmerte sich um die Flughöhe, der zweite um den Radius, der dritte um die Tangente. Mittels einer Zeichensprache würden sie die Bodentruppe benachrichtigen, wenn Kursänderungen notwendig waren. Als Malzras fähigste Studentin wurde Jhoira zum Flughöhenoffizier ernannt und mußte sich um die komplizierten Blasebälge und Essen kümmern, 161
die für den Antrieb der Maschine sorgten. Die übrigen beiden Besatzungsmitglieder, eine Gelehrte und ihr Lieblingsschüler, waren die besten Kartographen der Akademie. Sie sollten auf dem Bauch liegend durch Gucklöcher beiderseits der Rumpfmitte schauen und aufzeichnen, was sie erspähten. Ihre Arbeit würde sich als unbezahlbar erweisen, wenn es darum ging, die besten Stellen zum Abwerfen der Bomben zu bestimmen, die Bodenschätze oder sonstigen Reserven der Phyrexianer zu erahnen und festzulegen, welche Strategie für den nächsten Angriff am sinnvollsten war. Malzra selbst war der Kapitän des Ballons. Die Kartographen teilten ihm ihre Erkenntnisse mit, und er gab entsprechende Anweisungen an seine Flugoffiziere weiter, wohin die Maschine zu steuern war und wann die Bomben abgeworfen werden sollten. »Der sechste Laderaum ist voll, Meister Malzra!« rief eine dunkelhaarige junge Frau in seine Anweisungen hinein. »Fünfhundert Pulverbomben. Wenn die letzten beiden Ladeflächen gefüllt sind, habt Ihr viertausend Bomben an Bord.« »Gut«, antwortete Malzra. Seine Augen sahen im hellen Sonnenschein besonders dunkel aus. Mit einem Nicken entließ er die Frau und wandte sich wieder den aufmerksam zuhörenden Mitgliedern seiner Gruppe zu. »Jhoira, denke daran: Wir müssen immer wenigstens tausend Fuß über der Schlucht schweben auf gleicher Höhe mit dem Riesenplateau. Sogar dort könnten uns phyrexianische Geschosse erreichen. Fünfzehnhundert Fuß wäre noch sicherer. Die Bombenund Kartographenkammern sind geschützt, aber es besteht die Möglichkeit, daß ein Geschoß die Schilde durchschlägt und eine Reihe von Explosionen verursacht, die die Maschine zerstören könnten.« Diese Tatsachen waren der Besatzung schon vorher bekannt gewesen, aber ihre Wiederholung im Schatten 162
der Maschine ließen die Menschen schlucken und die Augen aufreißen. »Wenn ein Geschoß den Ballon zerreißt, werfen wir sämtliche Bomben und allen Ballast ab und geben das Zeichen, daß man uns zurückzieht. Eine Flucht ist unmöglich, ehe wir das Plateau erreichen. Die Ebene unterhalb des Riesenplateaus ist zu zerklüftet für eine Landung und mit umgestürzten Bäumen übersät«, erklärte Malzra. Er betrachtete die ernsten jungen Gesichter um sich herum. »Ich hoffe, ihr habt euch verabschiedet - für den Fall, daß wir nicht zurückkehren. Ansonsten habe ich einen Boten mitgebracht.« Er deutete auf ein zierliches junges Mädchen, das erklärend auf ihren mit Papier und Stiften gefüllten Beutel klopfte. »Bereitet euch vor. Sobald die Bomben an Bord sind, brechen wir auf.« Vier der fünf Besatzungsmitglieder wandten sich eilig dem Mädchen zu, nahmen Papier und Federhalter entgegen und schrieben nieder, was vielleicht ihre letzten Worte waren. Nur Jhoira blieb stehen. »Karn ist hier, und wir haben uns schon verabschiedet«, erklärte sie Malzra. »Der einzige, dem ich einen Brief schreiben würde, wäre Teferi. Natürlich würde das Schreiben verbrennen, ehe es ihn erreichte.« Malzra kniff die Augen zusammen und sah die junge Frau prüfend an. »Du mußt dich auf die vor dir liegende Arbeit konzentrieren, Jhoira.« »Ich denke unentwegt an Teferi«, antwortete sie. »Wenn ich mit ihm tauschen könnte, würde ich es tun. Wir beide müßten nicht für alle Ewigkeit allein sein. Er hat mich auch einmal gerettet, wißt Ihr.« »Das wußte ich nicht. Aber wenn du zu abgelenkt bist, muß ich einen anderen Flughöhenoffizier finden ...« Sie senkte den Blick. »Bei dem Gedanken an ihn kämpfe ich nur noch erbitterter.« 163
»Also gut. Dann wollen wir unsere Plätze einnehmen.« Sanft legte er ihr die Hand auf die Schulter und zog sie auf die startbereite Maschine zu. Die Berührung schien ihr fast die Haut zu versengen. Jhoira hielt sich dicht neben ihm. Hoch und glänzend erhob sich das Luftschiff vor ihnen. Hin und wieder bockte es leicht, vom heftigen Wind geschüttelt. Malzra zog den Strick beiseite, der vor dem Eingang hing. Er nickte Jhoira zu und verneigte sich. Sie bestieg das Gefährt als erste. In dem engen Gang mußte sie sich bücken, und ihre Füße verursachten ein leises Klingen auf den Metallplatten. Zu beiden Seiten des Ganges lagen die Laderäume. Der Kriechgang des Tangentenoffziers zog sich quer über den Mittelgang. Der Radiusoffizier blieb auf seinem seitlich angebrachten Sitz und beaufsichtigte die Taue, die sie mit dem Plateau verbanden. Jhoiras Platz befand sich genau im Mittelpunkt der Maschine, wo sich Gerüst und Ballon trafen. Sie hatte Gucklöcher in alle Richtungen und prägte sich die Höhe der verschiedenen Felsen und der höchsten Baume ein. Zusätzlich gab es einen offenen Schacht, der ihr einen freien Blick in die Tiefe gewährte. Ein Geschirr aus Hanf sorgte dafür, daß sie nicht aus dem luftigen Ausguck stürzte. Damit vermochte sie sich frei in alle Richtungen zu bewegen und sich auch um die eigene Achse zu drehen, blieb aber immer fest mit der Maschine verbunden. Rechts von ihr befanden sich die Essen, die sie versorgen mußte, um die Maschine in der Luft zu halten. Auf der anderen Seite hingen ihre Instrumente: Windmesser, Barometer, Kompasse, Ferngläser... Jhoira kletterte auf ihren Sitz und schnallte sich an. Malzra, der einen ähnlichen Platz im Bauch der Maschine innehatte, meldete sich durch das Sprachrohr: »Schüre das Feuer zum Abheben!« 164
»Wird gemacht!« antwortete Jhoira und fühlte, wie die Maschine leicht erbebte, als die übrigen Mitglieder der Besatzung an Bord kletterten. Schwach vernahm sie Befehle, die mittels des Sprachrohrs an ihre Gefährten erteilt wurden. Auf dem Plateau wurde eine Ankerleine nach der anderen gelöst, und die Bodentruppe hängte sich an die Taue, die um die Poller gewickelt waren. »Abheben!« ertönte der Befehl an die gesamte Besatzung. Die Maschine hob sich in die Lüfte, und das Klappern von Metall auf Stein verstummte. Jhoira schürte das Feuer und betätigte die Blasebälge. Zischend stieg heiße Luft auf. Die Maschine stieg höher. Der Hügel blieb hinter straffen Seilen und gespannten Häuten zurück. Die Menschen, die sich um die Poller drängten, wurden kleiner und kleiner. Schon bald waren ihre Gesichter nicht mehr zu erkennen. Schließlich sah man nur noch gebeugte Rücken und muskulöse Arme, die wie Verlängerungen der Taue aussahen. Die Felsen glitten vorbei, und sie gewannen an Höhe. Eine riesige Fläche Land breitete sich unter ihnen aus. Das Plateau war nur noch eine Erhebung am Rande dieser Fläche. Hügel, die vorher sehr hoch waren, wurden zu kleinen Maulwurfshaufen. »Bringe uns auf hundert bis dreizehnhundert Fuß!« befahl Malzra. »Wir wollen uns von oben nähern. Dann haben wir Zeit, die Schlucht zu betrachten und Ziele auszuwählen.« »Wird gemacht!« Jhoira schob die Klappe der Kohlenkiste zurück und warf neue Stücke ins Feuer. Ein Hebel verteilte sie gleichmäßig in den Flammen. Immer wieder betätigte sie die Blasebälge. Heiße Luft stieg empor, während der Ballon verbrauchte Luft ausspie. Rasch stieg die Maschine höher und zerrte an den Tauen, die sie mit dem Plateau verbanden. 165
Malzra gab Kursänderungen durch, die der Bodentruppe durch die für Tangente und Radius zuständigen Offiziere durchgegeben wurden. Die Taue erschlafften, und die Maschine beschrieb einen Bogen über dem düsteren, phyrexianischen Krater. »Wir haben klare Sicht«, berichtete die Kartographin. »Eine große Festung liegt im Mittelpunkt der Schlucht, ungefähr dreihundert Fuß lang und breit, mit vielen Türmen und Erkern, Wehrgängen, Zinnen und Dutzenden schwerer Geschütze, die alle auf den Rand des Abgrunds zielen.« »Ich habe dreiunddreißig Geschütze gezählt«, unterbrach sie der Student. Jhoira spähte in die Tiefe. Sie erkannte die schwarze Masse der Festung und die gefährlichen Speerwurfmaschinen auf Dächern und Türmen. Vor ihren Augen drehten sich die Geräte nach oben. »Sie zielen genau auf uns!« rief sie besorgt. »Höhe beibehalten!« befahl Malzra. »Denkt daran: Sie haben zehn Sekunden, wenn wir eine haben. Sie können blitzschnell feuern, laden und erneut schießen.« »Das Hauptgebäude scheint auf einem hohen Felsen inmitten eines tiefen Gewässers zu stehen. Ich kann den Boden nicht erkennen«, berichtete die Kartographin weiter. »Das Wasser überrascht mich. In Schnellzeitzonen gibt es wenig Wasser. Es sieht aus, als mündeten zahlreiche Flüsse in die Schlucht.« »Irgendein Anzeichen von Gebäuden, die wie Laboratorien aussehen?« erkundigte sich Urza. »Ich rede insbesondere von Aufzuchträumen.« »An den verschiedensten Stellen am Ufer sehe ich Fischbrutstätten. Ich erkenne Gestalten, die zwischen Reusen und Netzen herumlaufen. Laboratorien sind nicht auszumachen.« Ihr Gehilfe fügte hinzu: »Ich sehe mehrere Höhlen in der Schluchtwand ...« 166
Er stockte, als die nach oben gerichteten Geschütze plötzlich vorschnellten. Ehe ein Besatzungsmitglied zu blinzeln vermochte, flogen dreiunddreißig schwere Speere aus zwölfhundert Metern Tiefe auf sie zu. Mit übernatürlicher Geschwindigkeit näherten sie sich dem Ballon und verwandelten sich von gefährlich aussehenden Spitzen in gewaltige Blitze. Sie kamen bis auf hundert Fuß an die Maschine heran, ehe sie langsamer wurden und sich in weitem Bogen wieder der Schlucht zuneigten. Sekundenlang trug sie der Wind; dann stürzten sie in die Tiefe. Die schweren Spitzen zogen sie hinab in den Zeitstrom, in dem die Phyrexianer gefangen waren. Als sie die Grenze überschritten, nahmen sie rasende Geschwindigkeit an. Das Krachen der Speere, die sich durch die Dächer der Festung bohrten, klang wie Donnerhall. Die Bodentruppe brach in laute Jubelrufe aus. »Wunderbar!« sagte Malzra zufrieden. »Tangente, Radius und Höhe beibehalten. Wir bleiben genau über ihnen. Sie werden sich überlegen, ob sie uns noch eine Salve entgegenschicken. Ich werfe die Bomben aus Kammer fünf ab.« Mit lautem Quietschen klappten die Luken des Laderaums nach unten, und die Pulverbomben fielen heraus. Ebensolche Bomben waren vor dreitausend Jahren mit durchschlagendem Erfolg auf Korlis gefallen. Damals trafen Dutzende eine marschierende Armee, heute regnete es Tausende auf eine Festung. Die schwarzen Kugeln lösten sich aus der Maschine, wurden schneller und stießen an die Grenze des Zeitstroms. Sekunden später hatten sie den Schutzschild durchbrochen und sausten mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Tiefe. Ein Lichtschein stieg aus der Schlucht empor. Orangefarbene Flammen erhellten die Finsternis. Dächer 167
und Zinnen wurden deutlich sichtbar. Die Kartographen zeichneten unaufhörlich. Dann legte sich ein Rauchschleier über den Abgrund, und es wurde wieder dunkel. Der Lärm des Angriffs blieb einen Moment hinter dem Lichtschein zurück, aber als er ertönte, wurde er durch die Basaltfestung, das kristallene Wasser und die steilen Felsen noch verstärkt. Es hörte sich an, als sei ein gewaltiges Monstrum wütend aus dem Schlaf erwacht. Dann folgte Stille. Rauch - grau, weiß und schwarz marmoriert - quoll an die Erdoberfläche. »Das hat sie geweckt!« jubelte Jhoira. »Kartographen!« erklang Malzras Stimme. »Zielkoordinaten?« »Zuviel Rauch«, antwortete die Frau. »Warten wir, bis er sich ein wenig verzieht.« »Sie brauchen Stunden, um sich wieder zu sammeln«, antwortete Malzra. »Höhe, Radius, Tangente sind wir noch auf Position?« »Wir haben an Höhe gewonnen«, erwiderte Jhoira, »als die Bomben fielen. Wir befinden uns auf etwa siebzehnhundert Fuß.« »Bringe uns auf zwölfhundert zurück und macht euch bereit für den nächsten Abwurf.« »Radius unverändert.« »Tangente unverändert.« »Höhe: zwölfhundert Fuß.« »Ladung aus Kammer sechs abwerfen!« * * * Die erste Angriffswelle tötete mehr als hundertundfünfzig von K'rriks Untergebenen, zerstörte drei Türme, riß das Dach des oberen Thronsaals weg und was am schlimmsten war - traf mitten in das Zuchtlabor. Behälter mit Gehirn und Plazenta zersprangen 168
und liefen aus, Gußformen zersprangen in tausend Stücke, Fässer mit Öl wurden zu gewaltigen Fackeln, Mutantenreserven verbrannten zu Asche, und die fast fertigen Mörder, die K'rrik gezüchtet hatte, um die Zeitstromgrenze zu überwinden, wurden bei lebendigem Leibe geröstet. Die Vernichtung war vollkommen. Fast. Aus dem Chaos entstand Ordnung. Die Feuer des ersten Angriffs wurden gelöscht, die Toten und Sterbenden den Fischen vorgeworfen und die Geschütze auf größere Entfernung eingestellt. K'rrik befahl allen unversehrten Kreaturen, noch vorhandene Pläne, Geräte und Wesen aus dem Labor zu retten und in die unterirdischen Höhlen zu bringen. Urzas Bomben hatten Dächer und Türme zerstört, würden aber den Basaltfelsen, auf dem die Festung thronte, nicht durchdringen. Damit war ein Jahrhundert der Forschung nicht vollständig umsonst gewesen. Alle Hoffnungen auf Flucht und Sieg ruhten auf den halbvollen, leicht beschädigten Behältern mit winzigen Lebewesen darin. Manche würden überleben, und K'rriks mit Klauen und Tentakeln ausgerüstete Monster trugen sie so behutsam wie Menschenmütter ihre Kinder in die Höhlen unter der Burg. Das alles geschah in der ersten Stunde nach dem Angriff. Sobald sich der Rauch so weit verzog, daß man den Umriß des Luftschiffs erkennen konnte, erspähten die Wachen die Bomben, die über ihnen in der Luft schwebten. Es war leicht, ihr Ziel zu bestimmen und die Gegend zu räumen. Wütend und verzweifelt stand K'rrik inmitten seines Volkes. Etliche Bomben trafen das Dach eines Wachturms und die angrenzende Burgmauer. Die Flammen breiteten sich rasch aus, und die Explosion ließ die gesamte Festung erzittern. Steine flogen durch die Luft, und die Phyrexianer duckten sich, um nicht getroffen zu werden. Der Turm stürzte ein. Auch die 169
Mauer hielt dem Druck nicht stand und begrub eine Waffenkammer unter sich. Überall, wo Holz, Stoff oder Haut zu finden war, entzündeten sich Feuer. Die Waffenkammer ging in Flammen auf. Eine riesige Stichflamme und eine nicht minder umfangreiche Rauchwolke stiegen gen Himmel. K'rrik sah zu. Die spitz gefeilten Zähne seines Unterkiefers gruben sich in den Gaumen und hinterließen blutende Wunden. »Was willst du tun?« blaffte ein Wesen neben ihm. Es sah wie ein großer Floh aus. Der Kopf war dreimal so groß wie K'rriks, und der bleiche nackte Körper zuckte und zitterte haltlos. »Du kannst das nicht einfach dulden!« »Stimmt«, antwortete K'rrik grimmig. Eiterfarbenes Blut quoll aus dem Rücken des Wesens, als er sein Schwert herauszog. Das Monstrum stürzte über die Zinnen der Mauer, auf der sie standen. Der Körper schlug zweimal auf, ehe er auf dem Basaltboden der Festung zerplatzte. »Stimmt. Ich lasse nicht zu, daß du meine Autorität in Frage stellst.« K'rrik wandte sich einem anderen Phyrexianer zu, der mehr wie ein Mensch aussah, aber den Kopf einer teuflisch wirkenden Ziege hatte. »Sage den Schützen, sie sollen jede halbe Stunde drei Salven abfeuern, die ihr Ziel verfehlen müssen. Sorge dafür, daß genügend Leute im Wasser sind, die die Speere herausfischen. Den Rest der Geschütze bedeckt ihr mit Leichen. Urza soll glauben, er hätte die meisten Waffen zerstört und die übrigen beschädigt. Ich will, daß er, tiefer fliegt. Haltet nach weiteren Bomben Ausschau. Sobald sie in Schußweite sind, schmeißt ihr die Toten von den Geschützen und feuert gleichzeitig. Zielt auf die Bombenluken der Maschine.« Der Ziegenköpfige nickte und eilte davon. »Was euch angeht«, fauchte K'rrik die Umstehenden an, »so löscht ihr die Brände. Haltet nach Bomben 170
Ausschau! Jeder Verletzte wird getötet. Jeder Tote wird verfüttert. Es ist eure Pflicht, zu kämpfen und zu leben.« * * * Der dritte, vierte und fünfte Angriff verliefen ebenso erfolgreich wie der erste. Es regnete Bomben. Feuer und Rauch stiegen auf. Das Dröhnen einstürzender Türme und kreischender Kreaturen drang zu ihnen hinauf. Beim zweiten Angriff begriff Jhoira, wie sie im Augenblick des Abwurfs Luft aus dem Ballon lassen mußte, um ein Aufsteigen der Maschine zu verhindern. So erfolgten die Attacken schneller hintereinander, waren zielsicherer und weniger umständlich. Bis zum sechsten Angriff. Die unter ihnen liegende Schlucht sah wie eine graue Narbe aus. Vor lauter Rauch war die Festung nicht zu erkennen. Die Kartographen hatten aber genügend Merkmale der umliegenden Felsen notiert und waren in der Lage, aus dem Gedächtnis lohnende Ziele zu empfehlen. Gerade schwebten sie über einem solchen Ziel - ein Thronsaal oder eine große Halle - und Malzra sprach die vertraute Warnung aus: »Ich öffne Luke zwei.« Jhoira hielt den Atem an und ließ Luft aus dem Ballon. Sofort fühlte sie, daß etwas nicht stimmte. Das Quietschen blieb aus. Kein Poltern fallender Bomben war zu hören. Der Ballon verlor an Höhe. »Der Mechanismus klemmt!« ertönte ein Ruf aus dem Sprachrohr. Jhoira biß die Zähne zusammen und bemühte sich, die Öffnung im Ballon zu verschließen und die Blasebälge zu bedienen. Die Maschine sank tiefer. Jhoira arbeitete mit aller Kraft an den Blasebälgen, bis heiße Luft zischend in den Ballon strömte, der sich wieder aufblähte. Metall schepperte unter ihr, als Speere gegen das 171
Gerüst der Maschine prallten. Das Sprachrohr hallte von Schreien wieder. Sekunden später trafen die nächsten Speere. Sie durchdrangen den Schutzschild der Maschine. Pulverbomben entzündeten sich mit dumpfem Dröhnen. Bombenlager Nummer zwei explodierte. Die Maschine tanzte auf einem Feuerball. Das Metallgerüst löste sich auf. Die Überreste bohrten sich in den Ballon. Plötzlich befand sich Jhoira im Inneren des Ballons. Die heiße Luft brannte auf ihrer Haut und in ihrer Lunge. Gähnende Leere umgab sie. Die Hälfte des Gerüsts war verschwunden. Die andere Hälfte steckte im Ballon. Die übrigen Besatzungsmitglieder waren tot - die Offiziere, die Kartographen und sogar Meister Malzra. Auch sie würde gleich sterben. »Es tut mir leid, Teferi«, war alles, was sie noch sagen konnte. Die Gerüststangen lösten sich aus dem Ballon und fielen in die Tiefe. Dabei zogen sie die leere Hülle hinter sich her, genau auf die phyrexianische Schlucht zu. Kohlen aus der zerstörten Esse flogen Jhoira um die Ohren. Fluchend befreite sie sich aus dem Geschirr und kroch in das Gewirr aus Tauen, das wie ein Spinnennetz aussah. Eines der Taue wirkte bedeutend dicker und straffer als die anderen. Sie hielt sich daran fest und spürte, daß am anderen Ende gezerrt wurde. »Karn ist dort oben«, keuchte sie. Karn und der Rest der Bodentruppe. Sie befreite sich aus den flatternden Häuten und dem Netz aus Stricken und kletterte das Tau empor, das Leben verhieß. Stück für Stück zog sie sich hinauf, auf das Plateau zu und fort von der phyrexianischen Festung. Das Seil war zu lang, es gab zu wenig Luft und zu viele Felsen. Die Welt lastete schwer auf ihren Schultern. Sie kletterte weiter. Die zerstörte Maschine hing ungefähr hundert Fuß unter ihr und traf auf die Zeitstrom172
grenze. Wellen der Zeitverzerrung schlugen empor. Mit übernatürlicher Geschwindigkeit fiel die Kriegsmaschine in den Abgrund. Das Tau straffte sich. Jhoira wurde durch die Luft geschleudert, und der Poller riß aus seiner Verankerung und segelte in die Tiefe. Eine weißglühende Flamme erfüllte die Schlucht. Himmel und Erde wurden eins. »Es tut mir leid, Teferi.« Jhoira schlug auf dem Boden auf und versank in Finsternis.
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Monolog
Mir wird bewußt, daß wir keine Maschinen bauen. Wir sorgen nur für Feuer und Tod. Die Explosion überraschte uns alle - sogar Urza. Er überlebte durch reine Willenskraft, die seine Gestalt zusammenhielt, aber im Gegensatz zu den Explosionen, die Tolaria und Argoth vernichteten, hatte Urza diese nicht erwartet. Er bemühte sich, seinen Körper zu erhalten, während seine Gefährten nur noch rotglühende Partikel im Wind waren. Es gibt keine Zeitmaschine, um sie zurückzuholen. Die Explosion überraschte uns alle. Ich zauberte eine Mauer aus Luft herbei, um die abstürzende Maschine aufzufangen, aber sie verlangsamte den Fall nur. Inmitten der Hoffnungslosigkeit erblickte ich Jhoira, die wie eine Spinne am Hauptseil hinaufkletterte. Das war die größte Überraschung, obwohl ich es hätte ahnen müssen. Jhoiras Willenskraft ist ebensostark wie die Urzas. Barr in, Magiemeister von Tolaria
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In der provisorischen Krankenstation saßen sie an Jhoiras Bett. Keine Matte, kein Deckenlager - sie hatte ein richtiges Bett. Es gehörte Barrin, der es zur Verfügung stellte. In Kürze sollte hier, am Ende der großen Halle, eine Küche entstehen, aber jetzt lag Jhoira zwischen frisch gemauerten Kaminen, eisernen Öfen, Rosten und Töpfen im tiefen Koma. Sie war die einzige Verletzte des Unglücks. Alle anderen waren tot. Bis auf Urza. Er und Barrin hockten auf Schemeln neben dem Bett und unterhielten sich leise. »Sie ist zu einem zweiten Teferi geworden«, sagte Barrin traurig. »Drei Monate und keine Reaktion. Sie liegt eine Armeslänge von uns entfernt, ist aber unerreichbar.« Urza betrachtete die Reglose mit funkelnden Augen. »Körperlich geht es ihr gut. Ihr habt gesehen, wie ich ihr die Hände auflegte. Ihr habt gesehen, wie sich die Wunden schlossen und die Atmung wieder einsetzte. In dem Augenblick, als ich sie berührte, war sie geheilt. Ich begreife nicht, warum sie nicht erwacht.« »Vielleicht sind ihre Wunden tiefer, als Ihr glaubt, mein Freund.« Sanft strich er ihr das Haar aus der Stirn. Nach der langen Zeit unter einem geschlossenen Dach und dikken Decken war ihre Sonnenbräune verschwunden. Die Haare färbten sich von der Wurzel aus dunkel. Es schien, als fielen die Jahre eines nach dem anderen von ihr ab und sie würde wieder zum Kind. »Sie überlebte Alt-Tolaria, zehn Jahre Einsamkeit, 175
Isolation und Sehnsucht. Dann kehrten wir zurück und glaubten, sie würde sich uns anschließen. Aber das tat sie nicht. Karn war ihr einziger Freund. Sie hat sich zurückgezogen und gegrübelt. Jedesmal, wenn sie Teferi ansah - von ihm sprach, an ihn dachte -, wallte das Grauen jener Jahre wieder in ihr auf. Sie fühlte sich ebenso gefangen wie er. Nur eine Armeslänge entfernt, aber immer allein.« «Vielleicht bleibt sie ewig in diesem Koma«, sagte Urza. »Nein. Sie kämpft. Entweder sie gewinnt, oder sie verliert. Es wird lange dauern, aber nicht ewig. Beim letzten Mal dauerte es eine Dekade.« Urza hob den Blick und schien geradewegs durch die Wand zu schauen oder gar durch die Hülle der Welt bis hin zu einem wundervollen Ort. »Vor langer Zeit wurde ich in Serras Reich geheilt. Wäre es noch dort, würde ich sie hinbringen, aber es schrumpfte zusammen, und ich führte die Phyrexianer dorthin ...« Seine Miene verdüsterte und verhärtete sich. »Wir müssen weiterkämpfen. Wohin ich auch ging, die Monster folgten mir. Jeder, mit dem ich mich anfreundete, wurde von ihnen verletzt oder getötet. Ich würde mich selbst vernichten, wenn ich sie dadurch aufhalten könnte, aber sie werden niemals aufgeben. Ich muß sie bekämpfen, solange ich lebe.« »Und was geschieht, wenn Ihr sterbt, ehe sie besiegt sind?« fragte Barrin nüchtern. »Wer wird dann gegen sie kämpfen?« Urzas Gesicht wurde zu einer schwarzen Maske. Ja, wer?« * * * Karn rückte den gewaltigen Schlußstein auf seinen Platz über dem Torbogen, wo er knirschend gegen seine Nachbarn rollte. Sand rieselte herab. Silberne 176
Hände verweilten unsicher auf dem großen Steinbrocken. »Steht er gerade?« Hinter ihm sah Barrin von Malzras Klapptisch auf und blinzelte. Der Stein glänzte in der Morgensonne wie ein Juwel. In den geschliffenen Seiten spiegelten sich der Manaturm und der Magieturm. »Ja, Karn. Es sieht gerade aus.« Der Silbermann nickte und fragte: »Wird er auch liegenbleiben?« Diesmal war Barrin zu sehr mit seinen Skizzen beschäftigt, um aufzusehen. »Natürlich bleibt er liegen.« Er seufzte. Der Stapel Pläne, der vor ihm lag, zeigte Urzas neueste Entwürfe für die Akademie. Nach fünf Jahren eifrigen Bauens war die Hochschule so groß wie das alte Anwesen: Es gab Wohnhäuser, Hörsäle, Laboratorien, Versammlungshallen, Wachtürme, hohe Mauern, Tore, Gärten und jetzt auch eine neue Krankenstation. Nicht, daß viele der einhundertundneunzig Studenten krank oder verletzt waren. Die meisten waren für ernstliche Gesundheitsprobleme zu jung und litten höchstens an Heimweh. Wenn Krankheiten oder Verletzungen auftraten, wurden sie mit Beruhigungspillen, Verbandszeug und Urzas heilender Berührung kuriert. Nein, die neue, zwei Stockwerke umfassende Krankenstation war weniger eine Notwendigkeit als ein Monument für die Dauerpatientin der Akademie. Jhoira war nicht erwacht. Sie war in der Tat zu einem zweiten Teferi geworden. Der junge Mann war inzwischen in seinen Umhang gewickelt und sank zu Boden. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis er schließlich auf dem Boden ruhte. Jhoira war blaß geworden; ihr Haar war wieder dunkelbraun. Sie schlief. Barrin fand heraus, daß Wasser aus Trägzeitflüssen ihrer Gesundheit zuträg177
lieh war, und Urza berührte sie täglich mit heilender Hand. Nichts änderte sich dadurch. Urza erfand eine Maschine, die jegliche Nahrung in Flüssigkeit verwandelte und ihr in den Magen pumpte. Karn gewöhnte sich an, im Engelswald Wildblumen zu pflükken und neben ihr Bett zu stellen. Oft stand er reglos an ihrer Seite, da er es vorzog, die Nächte bei ihr zu verbringen, anstatt sich stillegen zu lassen. Jhoiras Schicksal lastete schwer auf Barrin und Karn, die an dem neuen Gebäude arbeiteten. Sie bewegten sich langsam und traurig, als bauten sie eine Leichenhalle und keine Krankenstation. Ihre Unfähigkeit, sie zu retten, erfüllte die beiden mit Zorn und Verzweiflung. Karn stapfte zum Tisch hinüber und stand funkelnd im hellen Sonnenlicht. Barrin hob schützend die Hand vor die Augen und sagte unwirsch: »Kannst du dich nicht ein bißchen streichen lassen?« »Meister Malzra hat es verboten«, antwortete Karn wahrheitsgemäß. Mit einem Hauch von Sarkasmus, den er in den letzten fünfzehn Jahren entwickelt hatte, fügte er hinzu: »Es würde Euch nicht so viel ausmachen, wenn Ihr einen Sack über dem Kopf trüget.« Barrin warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ich glaube, es ist an der Zeit, einen neuen Gehilfen zu entwerfen - einen mit dickerem Fell, wenn möglich.« »Wenn Ihr etwas zu Euch Passendes wollt, solltet Ihr ihm einen dickeren Schädel bauen.« »Dicker als der von Arty Schaufelkopf?« »Teferi war ein besserer Gefährte als Ihr.« »Und ein alter Schuh ist ein besserer Gefährte als du!« Ein Surren erfüllte die Luft. Die beiden sprangen instinktiv zurück und starrten ins Leere. Mit der 178
Geschwindigkeit eines Falken flog irgend etwas über die Baumwipfel. Es beschrieb einen Bogen und kam metallisch glänzend - im Sturzflug auf sie zu. Barrin fluchte, lief zum Tisch und riß ein Schwert an sich. Als das fliegende Etwas dicht über ihm war, schwang er die Waffe. Sie prallte krachend gegen einen silbrigen Metallvogel, der sich sogleich wieder in die Lüfte erhob und dabei zahlreiche Blätter und Zweige von den Bäumen riß. Das Surren wurde leiser und kurz darauf wieder lauter, als das Wesen erneut zum Sturzflug ansetzte. Knurrend hob Barrin das Schwert und wartete ab. Karn trat dem Angreifer in den Weg. Er lehnte sich zurück, hob die geballte Faust und schlug zu. Krachend zersprang der Vogel in ein Gewirr aus Silberplatten und Sprungfedern, ehe er zu Boden fiel. Die Metallflügel, die mit zahlreichen Spitzen besetzt waren, zuckten noch einmal. Runde, scharfe Klingen traten hervor, die sich wild um die eigene Achse drehten. Erstaunt starrten Karn und Barrin auf das Artefakt. Sie waren so fasziniert, daß sie Meister Malzra nicht bemerkten, der sich von hinten näherte. Amüsiert beobachtete der Wissenschaftler die Szene. Erst als der Silbervogel zur Ruhe kam, meldete er sich zu Wort: »Das war bloß ein Modell. Die endgültigen Falken stürzen sich mit hundert Meilen Stundengeschwindigkeit in die Schlucht und erreichen ihr Ziel noch vor dem Geräusch, das sie verursachen. Sie wittern das ölige phyrexianische Blut, halten darauf zu und greifen an.« Heftig keuchend wandte sich Barrin um. »Wie viele wollt Ihr bauen?« »So viele wie möglich. Es hängt von unseren Kraftsteinvorräten ab. Könnte ich meine eigenen Steine erschaffen, würde ich den Himmel mit Falken bedecken und sicherlich die ganze Welt beschützen. Mit 179
den vorhandenen Steinen - und jenen, die ich an den drei Thranstätten, die ich vor einiger Zeit entdeckte, zu finden hoffe - kann ich ungefähr tausend Stück anfertigen.« »Drei Thranstätten?« Barrin hob erstaunt die Brauen. »Ihr plant, die Studenten auf Ausgrabungen zu schicken?« »Ja. Sie gehen an Bord der Neu-Tolaria, und das Schiff kehrt mit neuen Studenten zurück, die ich aus den klügsten und geschicktesten Menschen erwählte, die es auf der Welt gibt. Den Anführer der Expedition habe ich vor mir. Da ich leider hierbleiben muß, um meine Forschungen ...« »Ja, ja!« unterbrach ihn Barrin verärgert. »Wie viele Jahre werde ich diesmal fortbleiben?« * * * »Teferi wird jetzt von deinem Umhang eingehüllt«, sagte Karn leise. Er saß neben Jhoiras Bett in der fertiggestellten Krankenstation. »Er brennt nicht mehr. Du hast ihn gerettet.« Er fügte nicht hinzu, daß sich der Junge jetzt irgendwann erheben und auf den Weg zur Außenwelt machen würde, wo er beim Durchschreiten des Zeitvorhangs den Tod erleiden mußte. Jhoira war zu empfindlich für derartige Neuigkeiten. Sie lag bleich und klein im Bett. Arme und Beine waren durch die jahrelange Reglosigkeit geschwächt, die Augen lagen auf ewig hinter geschlossenen Lidern, und der Schlauch aus Malzras Nahrungsmaschine hing auf den roten Lippen. »Die neuen Studenten treffen heute ein«, wechselte Karn das Thema. »Barrin hat sie in den letzten drei Jahren zusammengesucht.« Er sah zu den Deckenbalken empor. Endlich war der Bau der Akademie beendet, und Malzra entwarf 180
keine neuen Pläne mehr. Jetzt richtete er seine gesamte Energie auf die Einrichtung eines Waffenarsenals, um die Phyrexianer auszulöschen. Er nannte die bevorstehende Schlacht >Generalprobe für globale Großbrändeder Durchbruch< zu erreichen sei. Dieser rätselhaften Bemerkung fügte sie noch hinzu, sie wisse, wie die Rettung für sie und Teferi aussehen müsse. Dann verlor sie das Bewußtsein. Seit damals hatte sich Karn geweigert, beim Bau der Waffen und Kriegsartefakte mitzuhelfen. Er verbrachte seine Zeit damit, neben ihrem Bett zu sitzen, leise mit ihr zu sprechen und ihr Geschichten aus Shiv vorzulesen, die er in der Bibliothek aufstöberte. Es war wie in alten Tagen, als die beiden einander alles bedeuteten und sich von der Außenwelt zurückzogen, die sie weder willkommen hieß noch zu schätzen wußte. Jhoira reagierte. Schon bald erwachte sie fast stündlich für mehrere Minuten. Karn zwang sie, Suppe und Brot zu sich zu nehmen, und ließ nicht zu, daß man ihr noch einmal den Schlauch in den Hals steckte. Einen Monat später saß sie im Bett, und ihre Arme und Beine wurden deutlich kräftiger. Kurz darauf rief sie nach Papier und Stiften. Dann zeichnete sie Pläne für eine Maschine, die sich nicht 185
einmal Malzra genau vorstellen konnte. Sie bestand aus langen Schläuchen, Röhren, Pumpenräumen, riesigen Zahnrädern, großen Segeln aus weißem Tuch, einer gewaltigen, von Arbeitern angetriebenen Turbine und anderen Dingen. Als Barrin und die übrigen Gelehrten Bedenken ob des zeitaufwendigen, sehr kostspieligen Baus anbrachten, redete niemand von Delirium, aber der Gedanke lag in der Luft. Karn sammelte eine Gruppe junger, kluger Studenten um sich, die erst vor kurzem auf der Insel eingetroffen waren. Er brachte sie in die Krankenstation und rüstete sie mit Werkzeugen und allen Geräten aus, die Jhoira wünschte. Sie arbeiteten unermüdlich, diese Kinder, von Jhoira und ihrer Vision geleitet. Drei Monate später wurde die Maschine in die Mitte der Trägzeitzone gerollt, in der die Teferistatue stand. Auch die Kranke wurde in einem Stuhl, den sie mit Rädern hatte versehen lassen, herbeigeschafft. Die gesamte Akademie versammelte sich, während die jungen Schüler lange biegsame Rohre aus der Trägzeitzone rollten und über die Hügel bis zum nächsten extremen Schnellzeitstrom. Ihr Tun wurde von zweifelnden, mißtrauischen Bemerkungen begleitet. Jhoira rollte sich neben die große Maschine, die sie in ihrem Koma gesehen hatte. Sie klopfte an eine der Metallplatten. Das Dröhnen brachte ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauer ein. Als alle schwiegen, ergriff sie das Wort: »Das Prinzip ist ganz einfach. Wasser widersteht Zeitveränderungen. Das haben wir selbst erlebt. Wir, die Überlebenden der alten Akademie, nutzen die Fähigkeit des Trägzeitwassers, um unser Altern aufzuhalten. Auch Schnellzeitwasser zögert, den ihm eigenen Pulsschlag aufzugeben. Die Maschine saugt Schnellzeitwasser aus einer nahegelegenen Felsspalte, die eine unterirdische Quelle verbirgt. Die Pumpen füllen 186
die Tanks mit Wasser. Dann treiben die Kurbeln die Windturbine an und blähen die Segel auf. Wassermühlenschaufeln tauchen in die Tanks ein und überschütten die Segel mit Wasser. Wind von der Turbine blast durch den Stoff und ruft einen dichten Nebel aus Schnellzeitwasser hervor. Diese Schnellzeitwolke läßt einen sicheren Korridor entstehen, mit dem man in Teferis Zeitstrom hinein- und wieder herausgelangen kann.« Die zweifelnden Mienen verwandelten sich in anerkennende Blicke. »Ist es Lebewesen je gelungen, in eine Schnellzeitwolke zu gelangen und auch wieder herauszukommen?« fragte Barrin. Jhoiras Gesicht verdüsterte sich. »Diese Maschine ist nicht allein das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit, sondern auch das Ergebnis einer Vision - einer Ghituvision. Bis jetzt haben wir sie nicht an Lebewesen erprobt.« »Ich wage es!« erklärte Karn mit leiser Stimme, die sich wie ferner Donner anhörte. »Ich wurde gebaut, um Zeitverzerrungen zu widerstehen, die jedes Lebewesen getötet hätten, und ich glaube an Ghituvisionen.« Barrin wirkte bedrückt und fuhr fort: »Ja, Karn, aber nur, weil du ohne Probleme in den Strom hineingehen kannst, heißt das nicht, daß Teferi unverletzt herauskommt.« Jetzt war es an Karn, bedrückt zu Boden zu sehen. »Ich begleite ihn«, erklang eine tiefe Stimme, und alle Augen richteten sich auf den bärtigen Mann mit den funkelnden Augen. »Meister Malzra?« Barrin war außer sich. »Unmöglich! Wir müssen Tests durchführen, Tierversuche, ehe einer von uns die Nebelwolke betritt!« »Ich glaube an diese Maschine«, erklärte Malzra schlicht. »Ein wunderbares Gerät. Der erste Versuch, 187
extreme Zeitströme zu betreten. Ich glaube an die Maschine.« Er blinzelte Barrin spöttisch zu. »Da ich der Grund dafür bin, daß Teferi dort gefangensitzt, schulde ich es dem Jungen mitzugehen.« Er winkte Jhoiras Schülern, die zusammengedrängt neben den Pumpen standen. »Füllt die Tanks!« Freudig nickte Jhoira den jungen Leuten zu, die sich gleich an die Arbeit machten. Anfangs hörte man nur ein Gurgeln und Zischen, bis die ersten braunen Wassertropfen in die Tanks fielen. Kurz darauf war das Wasser verdunstet, und nichts als Staub blieb zurück. Der Anblick ernüchterte Jhoira, aber Malzra trat neben sie und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Es beweist, daß im Wasser Schnellzeitanteile enthalten sind. Habe Geduld! Die Pumpen werden es schon schaffen. Die Maschine arbeitet ganz ausgezeichnet.« Wasser floß durch die Schläuche und strömte in die Auffangbecken. Es schimmerte und strömte mit übernatürlicher Geschwindigkeit dahin; rechteckige Wellen glitten über die Oberfläche. Die Studenten setzten ihr Werk an den Kurbeln fort. Der Wasserpegel stieg. Die Oberfläche bewegte sich so heftig, als schwämmen ganze Fischschwärme im Wasser. Die Becken waren bereits halbvoll, und die Zuschauer beobachteten den Vorgang mit wachsender Spannung. Malzra stand neben Karn, als die Wassermühlenräder sich zu drehen begannen. Nach der ersten vollständigen Umdrehung betätigten die Schüler die Turbinenkurbeln. Ein heißer, unnatürlicher Wind kam am anderen Ende der Maschine auf, durchdrang den nassen Stoff der Segel und sandte einen feinen Sprühregen nach außen. Tropfen fielen auf die Steinplatten zwischen der Maschine und der Stelle, an der Teferi unter dem Umhang kauerte. Der Sprühregen drang in die Trägzeitzone vor und benetzte den Jungen nach und nach... Alle, die in der Nähe standen, reck188
ten die Hälse, um keine Bewegung des Kauernden zu verpassen. Während die Studenten kraftvoll und rhythmisch kurbelten, verdichte sich der Regen zu Nebel, der bald darauf wie eine weiße Wand über dem Boden schwebte. Jhoira nickte Malzra zu. Er musterte die Nebelwand eingehend. Sie hing wie ein wogender Schleier vor ihm, und alle Wassertropfen waren deutlich zu erkennen. »Nun, Karn, es sieht so aus, als sollten Geschöpf und Schöpfer die Zeitmaschine gemeinsam betreten.« Der Silbermann starrte in den weißen Nebel. »Ich kann vorausgehen und Bericht erstatten.« Malzra tat den Vorschlag mit einem Kopfschütteln ab. »Wir gehen Seite an Seite.« Damit schritten die beiden auf die feuchte Wand zu und traten hinein. Der Neben umgab Karn mit unerwarteter Kraft. Es fühlte sich an wie damals, als er ins Meer gestürzt war und das Wasser ihn einhüllte. Er spürte die nassen Steine unter seinen Füßen, und der Nebel verwandelte sich in einen heftigen Sturm. Er stemmte sich dagegen und streckte die Hand aus, um sich zu vergewissern, daß Malzra neben ihm ging. Es war unmöglich, ihn durch die dichte weiße Luft zu sehen. Der Sturm umtoste etwas Greifbares. Karns Finger berührten eine Hand, die sich ihm suchend entgegenstreckte. Malzra hielt die Finger des Golems fest umklammert. Der Wind ließ nach. Der schreckliche Sturm, der heftig an Karns Rüstung gezerrt hatte, wurde zu einem sanften Säuseln und schließlich zu einem kaum spürbaren Hauch. Malzras Stimme klang gepreßt, als stecke er zwischen zwei Felsbrocken. »Die Zeitverzerrung ... läßt... allmählich ... nach.« »Ihr habt Schwierigkeiten beim Atmen.« »Ich ... muß nicht... atmen«, lautete die Antwort. 189
Der Wind war so gut wie erstorben. »Wir sollten gehen. Wir haben uns ... der Zeit beinahe angepaßt. Draußen vergehen für jede Minute, die wir hier verbringen, mehrere Stunden.« Schulter an Schulter gingen sie weiter, im Gleichklang mit dem wogenden Nebel. Nach nur fünf Schritten färbte sich der weiße Nebel grau, und sie ahnten die Umrisse der Säule, in der sich Teferi aufhielt. Der Knabe lag kaum sichtbar zusammengekrümmt auf dem Boden. Karn war froh, daß er nicht auf ihn getreten war. Vielleicht wäre es auch egal gewesen. Unter dem Umhang war keine Bewegung zu erkennen. Aber der Junge atmete keuchend ... »Teferi!« sagte Malzra mit gewohnter Stimme. »Wir sind gekommen, um dich zu holen.« Ein Zittern durchlief den Körper unter dem Umhang, und eine atemlose Stimme erklang: »Wer seid Ihr? Engel?« Malzra lachte, aber Karn antwortete: »Ich bin's, Teferi. Arty Schaufelkopf. Meister Malzra und ich holen dich.« Der Knabe zog sich den Umhang vom Kopf und starrte in die Dunkelheit. In dem dichten Nebel vermochte er nur zwei hohe Gestalten zu erkennen, die vor ihm standen. »Was ist geschehen? Ein greller Blitz zuckte aus heiterem Himmel herab. Es donnerte unerträglich laut, und dann stand alles in Flammen - selbst ich. Sobald ich konnte, rannte ich los. Um mich herum war es blendend hell und glühendheiß. Plötzlich wurde es dunkel, und nun seid ihr hier.« »Wir wollen dich mitnehmen«, erklärte Malzra. Plötzlich wurde die graue Nebelwand dunkler und dunkler, bis sie fast schwarz war. Draußen war es Nacht geworden. Nur der Glimmermond sandte ein wenig Licht in die Säule hinein. 190
Ein Gefühl der Dringlichkeit überfiel Karn. Er bückte sich, zog den Umhang beiseite und reichte Teferi die Hand. »Komm jetzt! Beeilung! Jhoira wartet.« »Jhoira?« fragte der Knabe und stand taumelnd auf. »Ich freue mich, sie zu sehen.« »Komm jetzt!«
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Monolog
Nach der ersten Stunde fleißigen Kurbelns mischte ich mich unter die Zuschauer und teilte die Studenten in Gruppen ein, die abwechselnd an Pumpen, Wasserrädern und Turbine arbeiteten. Hätte der Schnellzeitnebel auch nur eine Sekunde nachgelassen, wären Malzra, Teferi und Karn in tausend Stücke gerissen worden. Die Gruppen arbeiteten die ganze Nacht lang. Ich kräftigte sie mit ein paar weißen Manazaubern. Die ganze Zeit über saßen Jhoira und ich neben der Maschine, um nach Schwächen oder Fehlern Ausschau zu halten. Nichts derartiges geschah - Urza hatte recht, es war eine ausgezeichnete Maschine. Schlimm war nur die Hoffnung. Nach einer Stunde überlegte ich, ob Urza und Karn vielleicht schon längst gestorben waren, Sekunden, nachdem sie die Nebelwand betraten. Vielleicht lagen sie tot am Boden, wegen des Nebels für uns nicht zu sehen. Wie lange sollten wir arbeiten? Tage? Wochen? Monate? Ich merkte, daß auch Jhoira von düsteren Gedanken befallen wurde, obwohl wir beide sie nicht aussprachen. Erst im Laufe des nächsten Vormittags hörte ich, wie auch die Schüler an den Kurbeln ähnliche Befürchtungen aussprachen. Wir alle hatten eine lange und schlaflose Nacht hinter uns und die Erschöpfung durch die Arbeit wurde von wachsender Hoffnungslosigkeit verschlimmert. »Wie lange wollen wir weitermachen?« fragte ich Jhoira am Nachmittag. »Wir machen weiter, bis die Maschine auseinanderbricht oder Karn und Malzra erscheinen.« 192
Ihre Worte gaben mir Zuversicht. Hier saß eine Frau neben mir, die sich aus einem zehnjährigen Koma gekämpft hatte, um eine Maschine zu bauen, die eines Urza würdig war. Ein Spaziergang den Hügel empor verriet mir, daß unsere Arbeit bald enden würde. Das Wasser würde nicht für die ganze Nacht reichen. Als ich den Hügel hinunterging, um Jhoira die schlechte Nachricht zu überbringen, bot sich mir ein unglaublicher Anblick. Die Wasserräder hielten knarrend an, die Turbine verstummte, und die dichte Nebelwand verflüchtigte sich. Ich rannte los, aber schon erblickte ich Urza, Karn und Teferi, die lebend aus der Zeitzone entkommen waren. Die Studenten brachen in Jubelgeschrei aus und umringten die Geretteten. Ich lief weiter, bis ich die kleine Gruppe junger Leute erblickte, die sich um Jhoiras Rollstuhl drängte. Sekunden später war ich bei ihr. Sie hatte die Augen geschlossen, und die Hände lagen reglos in ihrem Schoß, aber sie atmete gleichmäßig. »Sie war wach, bis sie erschienen«, berichtete ein Student mit ehrerbietiger Stimme. »Sekunden später ...« »Ruhe dich aus, mein Kind«, sagte ich zärtlich und strich ihr die verschwitzten Haare aus der Stirn. »Schlaf noch eine Weile. Wir wecken dich wieder auf. Wir werden dich immer wieder wecken.« Barrin, Magiemeister von Tolaria
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In den Monaten nach seiner Rettung hatte Teferi Schwierigkeiten, sich in der neuen Welt einzuleben. Zwar waren die Explosion und das darauf folgende Feuer entsetzlich gewesen, aber am schlimmsten traf ihn die Erkenntnis, daß die ganze Welt und seine ehemaligen Freunde fast fünfundzwanzig Jahre älter geworden waren. Zahlreiche Heiler hatten ihn vorsichtig über seine schrecklichen Erlebnisse befragt und sich ganz besonders für die Isolation im Trägzeitstrom interessiert. »Welche Isolation?« fragte er. »Ich war bloß drei Sekunden lang allein! Wenn man in Flammen steht, ist es völlig egal, ob man allein ist oder nicht. Die vierzehn Jahre vor der Explosion waren viel schlimmer! Ihr redet von Isolation! Ich hatte keine Gleichaltrigen um mich. Die anderen Schüler waren mindestens fünf Jahre älter! Jetzt sind sie ungefähr dreimal so alt wie ich! Jhoira ist vierzig. Malzra ist wahrscheinlich fünfhundertundvierzig. Und was ist mit Teferi? Oh, er ist noch immer vierzehn!« Wieder eine Wunde, die Urza nicht zu heilen vermochte. Auch Teferi war hilflos. Nach einigen Wochen befahl er den Heilern fortzugehen. Als sie sich weigerten, ihn zu verlassen, belegte er sie mit einem Juckreizzauber. Sie bemühten sich um Selbstbeherrschung, kratzten sich aber schon nach kurzer Zeit ohne Unterlaß. Dann flohen sie. Teferi verließ die Krankenstation und marschierte durch die neue Akademie. 194
»Die Wand gab es früher nicht!« knurrte er und wirkte einen Zauber. Grüne Energieströme flossen von seinen Fingern in das Gras am Fuße der Mauer. Efeu rankte sich blitzschnell empor und wuchs bis zum Wehrgang hinauf. Minuten später war die Wand unter einem grünen Teppich begraben. »Seht euch die hübschen Türme an!« Er streckte die Hand aus. Moos sproß auf den Dächern und hing in graugrünen Streifen herab. Teferis Wutanfall erregte die Aufmerksamkeit einiger Schüler. Köpfe tauchten an den Fenstern auf. Gesichter erschienen in Türeingängen. Immer mehr Studenten scharten sich um den zornigen Knaben. Sie alle kannten ihn und warteten aufgeregt auf weitere Wutausbrüche. Teferi wirbelte herum. »Verschwindet! Ich will nicht mehr angestarrt werden! Das habt ihr fünfzehn Jahre lang getan. Verschwindet!« Sie wichen zurück, folgten ihm aber, sobald er sich wieder in Bewegung setzte. Teferi holte tief Luft und brüllte: »Dann seht nur her!« Die Studentengewänder Alt-Tolarias öffneten sich hinten, wo sich ein langer Schlitz befand, der für notwendige Körperfunktionen vorgesehen war, und entblößten sein Hinterteil. Eine neue Studentengeneration machte mit >Teferis Bruch der Etikette< Bekanntschaft. Viele wandten sich angewidert ab. Andere lachten und sahen nach, ob ihre Arbeitskleidung eine ähnliche Zurschaustellung zuließ. Die Reaktionen mißfielen dem Jungen offenbar und reizten ihn noch mehr. Er wob einen Zauber, der eine Wolke von Gestank durch die Akademie schickte. Die Zuschauer preßten die Lippen zusammen und eilten davon. Türen und Fensterläden wurden zugeschlagen. Die Menschen, die Teferi seit mehr als einer Dekade angestarrt hatten, schauten endlich weg. 195
Und er verschwand. Irgendwann verflüchtigte sich die Wolke, und Schüler und Lehrmeister wagten sich wieder ins Freie. Barrin und Malzra waren außer sich vor Zorn, da ein wochenlanges Experiment mißlungen war. Ihre Wut steigerte sich, als der Übeltäter nicht aufzufinden war. »Sucht überall!« befahl Barrin den jungen Leuten. Er zischte Malzra zu: »Wir haben ihn nicht gerettet, um ihn ob seiner Dummheit wieder zu verlieren.« Die ganze Schule geriet in Aufruhr. Es war, als stünde eine Invasion bevor. Schade, daß Teferi nicht da war, denn er hätte den Anblick genossen. Jhoira kam aus ihrem Zimmer. Überall liefen Menschen umher, rissen sämtliche Türen auf, schauten unter jedes Bett und hinter alle Vorhänge und Wandbehänge. Beunruhigt runzelte sie die Brauen. »Teferi, wo versteckst du dich?« Plötzlich lächelte sie. Anscheinend erriet sie seine Gedanken. * * * »Ich wußte, daß ich dich hier fände«, sagte Jhoira gelassen, als sie die Höhle an der Westküste der Insel erreichte. Teferi schaute nicht auf. Er saß auf dem sonnenbeschienenen Felsen und starrte auf die wogende See hinaus. Vor vielen Jahren war er hierhergekommen und hatte Kerrick und Jhoira beim Liebesspiel entdeckt. Damals war ihm das Herz gebrochen, aber er hatte sie nicht einmal verraten, als Malzra ihn verhörte. Jhoira erinnerte sich genau. Für sie lag die Zeit weit zurück, aber für Teferi waren erst wenige Monate vergangen. Jahre. Monate. Was bedeutete die Zeit in Tolaria? Jhoira sah nur wenig älter aus als damals. Trägzeitwasser hatte sie äußerlich zweiundzwanzig bleiben 196
lassen, und nach dem Koma wirkte sie noch jünger. Die Vision hatte sie und Teferi gerettet. Sie hatte ihr den Weg durch die Zeitgrenze gezeigt, die ihn isoliert hielt. Vielleicht waren sie keine Seelenverwandten, sie und Teferi, aber sie waren wie metaphysische Zwillinge. Jhoira kletterte auf den Felsen und ließ sich neben dem Jungen nieder. Es schien, als wiederhole sich der Augenblick vor vielen Jahren, obwohl Kerrick nicht mehr da war. Es fühlte sich gut an, statt dessen neben Teferi zu sitzen. »Ich bin froh, daß du hier bist. Es ist ein guter Ort, wenn man sich zwischen Tolaria und dem Rest der Welt eingeklemmt fühlt.« Die Muskeln an Teferis Unterkiefer spannten sich. Er sah aufs Meer hinaus. »Wenn man allein sein möchte, ist der beste Platz dafür hier.« »Du verstehst mich nicht!« fauchte er. »Doch, das tue ich«, antwortete sie sehr ruhig. »Doch, ich verstehe dich.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er reagierte nicht. »Wir entfernen uns immer weiter voneinander. Als du achtzehn warst, hast du mir immer gesagt, ich solle erwachsen werden. Jetzt bist du vierzig, und ich habe deinen Rat noch immer nicht befolgt.« »Wir leben auf Tolaria«, meinte Jhoira philosophisch. »Zeit spielt keine Rolle. Du wirst schon sehen. In ein paar Jahren sind wir gleichaltrig.« Er schnaubte unwillig. »Ein paar Jahre - eine Ewigkeit, eine schreckliche Ewigkeit.« »Nicht schrecklich, wenn man Freunde hat.« Nun ergriff er endlich ihre Hand. »Danke, Jhoira. Nochmals vielen Dank.« * * * 197
Seit Teferis Rettung waren sieben Jahre vergangen. Jetzt war er ein Mann. Zwar ein recht junger Mann, aber mit seinen einundzwanzig Jahren wirkten er und Jhoira gleichaltrig. Seit zwei Dekaden nahm sie Trägzeitwasser zu sich. Den meisten Bewohnern der Akademie, die älter als Dreißig waren, wurde gestattet, ebenfalls einmal im Jahr Trägzeitwasser zu trinken, um das Altern aufzuhalten. Häufigerer Genuß verursachte rätselhafte Krankheiten. Da niemand etwas über die Langzeiteffekte des Wassers wußte, war das Trinken streng geregelt. Jüngere Schüler durften sich niemals daran laben. Teferi wurde von Barrin verwarnt, als man ihn ertappte, wie er Schnellzeitwasser trank, um schneller erwachsen zu werden. In den letzten sieben Jahren hatte sich Teferi gut entwickelt und wirkte deutlich reifer. Seine Streiche ließen nach und verschwanden endlich ganz. Dennoch neigte er zu spitzen Bemerkungen und Ironie. Zu Teferis besten Einfällen gehörte die Gruppe der >ZeitforscherWächterklasse< und stellten eine furchterregende kleine Armee dar. Die zweibeinige Version wurde auch >tolarischer Läufer< genannt. Sie bewegte sich mit gewaltigen Sprüngen vorwärts. An Stelle von Emuflügeln war sie mit Sensenklingen ausgerüstet, die hervorschnellten und zusammenschnappten. Die Artefakte waren für den Kampf auf freiem Feld bestimmt. Die Vierbeiner hießen >PumasSkorpione