Matthias Hoffmann „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“
Matthias Hoffmann
„Sterben? Am liebsten plötzlich ...
89 downloads
507 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Matthias Hoffmann „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“
Matthias Hoffmann
„Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“ Die Angst vor dem „sozialen Sterben“
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation am Fachbereich IV der Universität Trier, 2010
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch / Dr. Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17704-5
Danksagung
Dies ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich am 05.01.2010 im Fachbereich IV der Universität Trier eingereicht, und die am 15. Februar, einem kalten Rosenmontag, ebendort nach der Disputation, erfreulicherweise „summa cum laude“, angenommen wurde. Bedanken möchte ich mich bei Prof. Axel Haunschild für die freundliche Übernahme des Prüfungsvorsitzes. Herzlicher Dank gebührt meinem Zweitgutachter Prof. Hans Braun, der stets sehr interessiert und mit wohlwollendem, immer sehr präzisem Rat das Entstehen der Arbeit begleitet hat. Den größten Dank für das Zustandekommen der Arbeit schulde ich Prof. Alois Hahn. Bei ihm habe ich das soziologische Handwerk gelernt. Man kann sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand keinen Chef und Doktorvater mit mehr Interesse an der Sache, mit mehr Verständnis für die (Zeit)-Nöte eines jungen Vaters und mit mehr Nachsicht für die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Lebens im Allgemeinen vorstellen. Technisch gesehen war die Einrichtung des Manuskripts nicht möglich ohne die unendlich geduldige und unermüdliche Hilfe von Rebecca Weber und Fabienne und Jean Philippe Décieux. Ein besonderer Dank geht an meinen Freund Martin Schmidt, der in einer entscheidenden Phase der Arbeit einen ganz besonderen Schreibtisch an einem ganz besonderen Ort bereitgestellt und mit seiner Präsenz dafür gesorgt hat, dass die Arbeit fertig wird. Meinen Eltern und meiner Schwester danke ich für die unverbrüchliche Unterstützung, deren ich mir immer sicher war. Ehrlich und innig bedanke ich mich bei Carina Hornung, für die die Jahre meiner Dissertation sicher oft genug ein Grund für Desertion gewesen wären und bei meiner Tochter Frieda, durch die mir immer klar vor Augen stand, dass es eine ganze Menge Wichtigeres gibt als eine „Diss“.
Trier, September 2010
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung .................................................................................................. 11
2
Die problematische Ausgangssituation ................................................... 21
3
Das Sterben in Institutionen .................................................................... 27
4
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.1.8
Kliniken ........................................................................................... 32 Umgang mit Sterbenden in der Ausbildung..................................... 35 Aspekte guter Sterbebegleitung ....................................................... 40 Zeitmanagement .............................................................................. 42 Arbeitszufriedenheit ........................................................................ 43 Rechtliche Bestimmungen der Sterbebegleitung ............................. 45 Patientenverfügungen in der Arbeit der Sterbebegleitung ............... 47 Leitlinien zur Pflege Schwerstkranker und Sterbender .................... 49 Passive und aktive Sterbehilfe ......................................................... 50
3.2
Altenheime....................................................................................... 54
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6
Hospize ............................................................................................ 69 Natürlichkeit als Resultat der „Backstage" ...................................... 69 Hospize in der Lehrbuchliteratur ..................................................... 71 Stationäre Hospize als formale Organisationen ............................... 74 Stationäre Hospize als totale Institutionen? ..................................... 77 Arbeit im stationären Hospiz: Notwendigkeit der Inszenierung ...... 79 Die Ressource „Nähe“ als Problem ................................................. 85
Montaigne: Philosophie und Soziologie .................................................. 89
8
Inhaltsverzeichnis
5
Drei literarische Verarbeitungen .......................................................... 105
6
7
5.1
Gottfried Benn: Die Krebsbaracke................................................. 105
5.2
Leo Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch .......................................... 110
5.3
Exkurs: Heidegger ......................................................................... 117
5.4
Alter und Sterben bei Philip Roth .................................................. 125
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“ ........................................... 131 6.1
Struktur der Stichprobe (Rahmendaten) ........................................ 131
6.2
Verlust eines nahe stehenden Menschen........................................ 134
6.3
Verlust der Eltern........................................................................... 135
6.4
Verlust des Lebenspartners ............................................................ 137
6.5
Miterleben des Sterbens: „Direkter Todkontakt“........................... 138
6.6
Lebensbedrohlicher Unfall und schwere Krankheit....................... 140
6.7
Todeskontaktindex und Todesbewusstseinsindex ......................... 142
Hahn: „Einstellungen zum Tod“........................................................... 145 7.1
Die Kritik von Nassehi und Weber ................................................ 149
7.2
Verdrängung des Todes? ............................................................... 152
7.3
Die Studien von 1968 und 2006/07 im Vergleich.......................... 158
Inhaltsverzeichnis 8
9
Die Welt der Individuen......................................................................... 165 8.1
Der Boulevard und der öffentliche Diskurs ................................... 165
8.2
Fäkalgestank und Exkremente – Eine Nasenfrage ......................... 173
8.3
Goffmans „Territorien des Selbst“................................................. 179
8.4
Der soziale Tod .............................................................................. 184
8.5
Elias: „Scham“ und „Peinlichkeit“ ................................................ 197
8.6
Elias: „Einsamkeit der Sterbenden“ ............................................... 202
8.7
Schlingensief, Leinemann, Diez .................................................... 205
9
Fazit ......................................................................................................... 213
10
Epilog....................................................................................................... 215
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 217
1
Einleitung
Gefragt, ob sie eher Angst vor dem Tod oder eher vor dem Sterben haben, antworten in einer Telefonumfrage aus dem Jahre 20061 60 Prozent der Befragten mit „vor dem Sterben“. Hingegen nur 7 Prozent der Befragten geben an, eher Angst vor dem Tod zu haben (N=313). Auf die Frage, wie sie sterben möchten, sagen 80 Prozent der Befragten, dass sie „plötzlich und unerwartet“, und nur 20 Prozent, dass sie „auf den Tod vorbereitet und bewusst“ sterben möchten (N=289). Hinter diesen unscheinbaren Umfragedaten verbirgt sich ein tiefgreifender Wandel in der Einstellung zu Tod und Sterben, der sich in Europa im zwanzigsten Jahrhundert vollzogen hat. Für einen langen Zeitraum war die Doppelgesichtigkeit des „mors certa, hora incerta” ein schwerwiegendes Problem für die Menschen des Abendlandes, und zwar nicht in erster Linie wegen des Todes an sich, sondern wegen der unsicheren Stunde seines Eintretens, die womöglich keine Zeit zur Vorbereitung auf das Sterben ließ. In einer christlich geprägten Welt war der „gute“ Tod mit Vorbereitungen verbunden, mit religiösen und davon abgeleiteten säkularen Handlungen, die vollzogen sein wollten, um das diesseitige Leben abschließen und im Vertrauen auf das jenseitige Leben den Tod als Durchgangsstation hinnehmen zu können. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass der Tod ohne das Sterben das gefürchtete Übel war. Das Normale war, dass auf eine kurze Sterbephase, in der man seine Angelegenheiten regeln konnte, absehbar der Tod folgte. Das lateinische „mors“ bedeutet sowohl „der Tod“ als auch „das Sterben“ und beide waren als Abfolge im Normalfall zeitlich nahe beieinander. Aber nicht nur Sterben und Tod hat man immer zusammengesehen, sondern auch das Sterben und das Alter, das heißt das Sterben im Alter. Dass man als alter und nicht als junger Mensch zu sterben habe, war als normative Vorstellung immer schon so, allerdings waren die realen Zustände während des Großteils der 1
Telefonumfrage zum Thema „Schwere Krankheit und Tod“ bei der erwachsenen Bevölkerung in Trier und Trier/Saarburg. Es handelte sich um ein Forschungspraktikum an der Universität Trier unter der Leitung von Alois Hahn, Rüdiger Jacob und Matthias Hoffmann. Diese Umfrage wurde nicht als graue Literatur veröffentlicht. Es existieren nur die Beiträge der einzelnen Arbeitsgruppen. Die Daten werden erstmals in der vorliegenden Arbeit publiziert. Die Umfrage wird ausführlich in Kapitel 6 „Die Studie schwere Krankheit und Tod“ dargestellt.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
12
Einleitung
Menschheitsgeschichte andere. Die Trias von Krieg, Hunger und Seuchen war die Ursache dafür, dass eine hohe Sterblichkeit auch von Kindern und jungen Menschen alltäglich war, wenn auch diese Tode selbstredend nicht als natürlich angesehen wurden. Die katastrophischen Zustände waren eben normal.2 Nachdem sich diese äußeren Bedingungen geändert hatten und es zum Normalfall wurde, dass man nicht im Kindesalter starb, sondern das Erwachsenenalter erreichte und auch hier zusehends höheres Alter, wurde der Tod junger Menschen damit auch immer stärker zu einem skandalösen „verfrühten“ Tod. Es ist für die Menschen der Gegenwart der normale Lauf der Dinge, und das heißt: des Lebens, dass man im Alter stirbt. Was die westliche Welt und Europa angeht, wird für das Skandalon des „verfrühten“ Todes neben der Klage über Unfälle und Naturkatastrophen (Tsunami) seit dem Durchbruch der modernen Medizin eben diese samt den Medizinern für verantwortlich gehalten. Der Tod eines jungen Menschen gilt mehr oder weniger als ein Versagen der Medizin. Und dies nicht nur auf der Seite der Laien. Es ist noch immer die dominierende Auffassung unter Ärzten, den Tod eines Patienten als persönliches Versagen zu werten. Man erwartet eigentlich, dass die Medizin es zuwege zu bringen habe, Neugeborene, Kinder und junge Menschen am Leben zu erhalten. Nun ist es allerdings bei weitem nicht so, als würden nur verstorbene Kinder oder junge Erwachsene als „zu früh verstorben“ angesehen. In unserer empirischen Studie „Schwere Krankheit und Tod“ haben wir den Befragten zwei Todesanzeigen vorgelegt und sie schätzen lassen, wie alt die Verstorbenen waren. Die eine Todesanzeige lautete: „Du bist zu früh verstorben“, die andere: „Du hattest ein langes, erfülltes Leben.“ Im statistischen Mittel bedeutet „zu früh verstorben“ bei unseren Befragten rund „48 Jahre alt“ (s=14,927; N=267). Dabei ist bemerkenswert, dass nur zwei Befragte ein Alter unter 18 Jahren schätzen (einmal 5 Jahre und einmal 6 Jahre) und die dann nächste Altersnennung „18 Jahre“, das Alter der Volljährigkeit, von 6 Personen genannt wird. Praktisch niemand assoziiert mit der Formulierung „zu früh verstorben“ den Tod von Kindern oder gar Säuglingen oder Neugeborenen. Wahrscheinlich wird diese Formulierung dafür als zu nüchtern empfunden, was im Umkehrschluss bedeutet, dass der Tod von Neugeborenen und von Kindern in einem Maße als nicht nur außergewöhnlich, sondern skandalös empfunden wird, dass er in einer Todesanzeige einer Formulierung bedarf, die das Entsetzen darüber ausdrückt. Die normative Vorstellung, als alter und nicht als junger Mensch zu sterben, ist also weitestgehend Realität geworden und der frühe Tod zum Skandal. Realität ist 2
Vgl. dazu Arthur Imhof: Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren, München 1981 sowie ders.: Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Fünf historisch-demographische Studien, Darmstadt 1988.
Einleitung
13
damit aber auch geworden, dass es Formen des Alters gibt, die nur sehr schwer und oft an sich gar nicht von Formen des Sterbens zu unterscheiden sind. Und diese Formen des Alters sind mit Angst besetzt. Mit der Entkopplung der Einheit von Sterben und Tod nun wird die eingangs zitierte Frage nach der Angst vor dem Tod oder dem Sterben erst wirklich sinnvoll. Heute ist der erhoffte Tod der sich nicht ankündigende, plötzlich über einen kommende Tod, also gerade das, was vordem das am meisten Gefürchtete war. Aber weniger die soziologische Analyse der Gründe für diesen Wandel ist das Thema der folgenden Ausführungen, sondern vor allem die Beschreibung dessen, was die Menschen als „Sterben“ fürchten. Es wird sich zeigen, dass das gefürchtete Sterben „das lange Sterben“ ist. Der exemplarische Typus dieses Sterbens ist hierbei das Sterben an einer Krebserkrankung, das sich häufig über Jahre erstreckt. Es ist ein Sterben, in dessen Verlauf die Menschen ihre Identität eines zivilisierten Individuums zunehmend zerstört sehen. Wir werden dieses Sterben als das „soziale Sterben“ beschreiben. Nun kann man diese Analyse nicht leisten, ohne dabei der Entwicklung der Medizin und den medizintechnischen Neuerungen im zwanzigsten Jahrhundert einen zentralen Platz zuzuweisen. Aber diese Entwicklungen sind selbst noch keine sozialen Phänomene, sondern sie sind die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich soziale Phänomene ausbilden konnten. Dass die alte Einheit von Sterben und Tod auseinandergebrochen ist, hat seinen alleinigen Grund im medizinischen Fortschritt. Dass sich daran eine Verschiebung der individuellen Ängste knüpft, hat ein Bündel von Gründen, die aber alle mit der medizinischen Dimension nichts mehr zu tun haben. Diese Verschiebung hängt zum einen, und entscheidenden, von der Art und Weise ab, wie die Gesellschaft auf diese Entkopplung von Tod und Sterben reagiert und das heißt: Wie sie diese Entkopplung institutionell auffängt. Es ist eine simple Weisheit, dass Fortschritte in der Medizin nicht notwendig sofort Fortschritte für die Gesellschaft als Ganze bedeuten. Unter Umständen müssen zuerst gesellschaftliche Veränderungen und Umstellungen vonstatten gehen, damit die Gesellschaft sich die medizinischen Fortschritte nutzbar machen kann. Im zwanzigsten Jahrhundert war mit der Entkopplung von Sterben und Tod ein solcher Umschlagpunkt erreicht, an dem die immense Entwicklung der Medizin ein massives gesellschaftliches Problem zeitigte und Veränderungen erzwang. Ganz im Sinne von Ivan Illich konnte man von einer „Nemesis der Medizin“3 sprechen. Die erzwungenen Veränderungen lassen sich im Begriff der „Hospizbewegung“ bündeln. Aber zum einen ist die Hospizbewegung rein quantitativ noch heute nicht mächtig genug, um die Situation grundlegend zu verän3
Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens, Reinbek 1977.
14
Einleitung
dern und zum anderen hat sich das Wissen um diese Situation tief im Bewusstsein der Menschen eingenistet und ist damit zum stabilen Ausgangspunkt für die veränderten Ängste der Menschen geworden. Hinsichtlich der für zentral gehaltenen Veränderungen in der Medizin steht eine soziologische Analyse der Einstellungen zu Tod und Sterben nun vor einem Problem. Mit welchem Instrumentarium soll sie diese Veränderungen beschreiben oder gar bewerten? Welches Instrumentarium steht ihr überhaupt zu Gebote? Die Antwort kann nur lauten: mit dem Begriffsinstrumentarium der Soziologie. Das bedeutet zum einen, dass eine medizinhistorische Analyse nicht geleistet werden kann, und zum anderen auch, dass die anzusprechenden Veränderungen als medizinische überhaupt nicht von Interesse sind. Sie interessieren nur insofern als Daten, als sie Gegenstand signifikanter gesellschaftlicher Reaktionen geworden sind. Wieder anders gewendet bedeutet dies für die folgende Darstellung, dass sie diese Daten bloß anzitiert, ohne sie in medizinisch-fachliche Zusammenhänge einbinden zu können und einbinden zu wollen. Die medizinischhistorische Rekonstruktion der Ursachen des hier zu behandelnden Phänomens ist also eine hochgradig selektiv vorgehende Darstellung eines komplexen Ganzen. Zu den medizinischen Veränderungen, die dazu führen, dass sich die Ängste der Menschen vom Tod weg und auf das Sterben hin verschieben, kommt flankierend selbstredend das Phänomen der Säkularisierung hinzu.4 Wenn der Glaube an Himmel und Hölle abnimmt, nehmen damit auch die Ängste ab vor dem, was nach dem Tode kommen mag, wenn denn überhaupt geglaubt wird, dass nach dem Tode noch irgendetwas kommt. Möglicherweise also hätten sich die Ängste auch ohne die Veränderungen in der Medizin ceteris paribus vom Tod auf das Sterben verlagert und hätte das Wegbrechen der transzendenten Dimension ohnehin die Ängste auf die immanente Dimension umgelenkt. Aber bekanntlich lassen sich ceteris paribus-Spekulationen für die Sozialwissenschaften nicht klären und eine Klärung hätte tatsächlich für die hier verhandelte Thematik keine Bedeutung, weil die Analyse von den Veränderungen in der Medizin als gegeben ausgeht. Dennoch ist aber die religiöse Dimension für unsere Betrachtung von Bedeutung. Denn das Schwinden der religiösen Verankerung der Gesellschaft führt auch dazu, dass ehedem mögliche Weisen des Verhaltens zu oder des Reagierens auf konkrete Phänomene nicht mehr in gesellschaftlich relevantem Maße und in verbindlicher Weise zur Verfügung stehen. Das ist durchaus nicht wertend gemeint. Es heißt nicht, dass religiös motivierte Demut die richti4 Vgl. dazu Alois Hahn (unter Mitarbeit von Matthias Hoffmann): Religiöser Wandel in der deutschen Gegenwartsgesellschaft - Kontroversen um seine religionssoziologische Interpretation. In: Matthias Koenig et al. (Hg.): Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland, Hamburg 2008, S. 239 – 270, dort auch weitere Literatur.
Einleitung
15
ge, oder gar einzig richtige Art wäre, langes Siechtums und Sterben zu ertragen, es heißt nur, dass im beobachtbaren gesellschaftlichen Repertoire der Antworten auf bestimmte Probleme die Religion offenkundig zusehends fehlt. Die Rekonstruktion dieser Entwicklung dient der Vorbereitung der eigentlich zu analysierenden Situation. Und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist die Rekonstruktion notwendig, um die ambivalente Struktur dieser Entwicklung herauszuarbeiten: Wenn im Folgenden von einer „Institutionalisierung des Todes/ Sterbens“ und einer „Auslagerung der Sterbenden“ gesprochen wird, auch wenn die Untersuchung die so genannte „Verdrängungsthese“ streifen wird, dann ist es wichtig zu sehen, dass diese „Auslagerung“ der Sterbenden aus dem Alltag in Krankenhäuser in dieser Art ein ursprünglich nicht beabsichtigtes Nebenprodukt von anderen Zielen war. Die Schwerkranken wurden, gerade aufgrund neuer medizinischer Möglichkeiten, in die Krankenhäuser gebracht und nicht zu Hause gepflegt. Daraus ergab sich zu einem gewissen Zeitpunkt die Tatsache, dass die meisten Menschen nicht mehr zu Hause, im Umfeld der Familie, starben, sondern in Krankenhäusern. Weiterhin hieß das, dass das Erleben des Todes Anderer, und insbesondere das Erleben des Todes eines nahen Angehörigen, vor allem aber das Miterleben des Sterbens eines Angehörigen, in der Alltagswirklichkeit der meisten Menschen nicht mehr vorkam. Die über lange Zeit fortgesetzte Tradierung von Umgangsmöglichkeiten und Verhaltensweisen beim Sterben Anderer riss, als nicht-intendierte Folge davon, ab. Und damit veränderte sich nun allerdings in der Tat die Motiv-Struktur, durchaus im außermoralischen Sinne, in Bezug auf die Frage, wann ein kranker oder sterbender Angehöriger in ein Krankenhaus eingewiesen werden sollte. Nun ohne erlernte und daher abrufbare Verhaltensmöglichkeiten fühlten sich die Menschen von der Situation überfordert, einen Angehörigen im Sterben zu begleiten. Das Motiv für eine Einweisung in die Klinik hatte sich verändert. Mit der Einweisung in die Kliniken ergibt sich für die Sterbenden allerdings nicht bloß eine örtliche Veränderung, sondern eine qualitative Veränderung ihres Daseins. Es handelt sich, jedenfalls zu Beginn der Entwicklung und bis Mitte der 70er Jahre, bei Krankenhäusern um Einrichtungen, die starke Züge von totalen Institutionen tragen. Unter anderem diese Tatsache macht die Situation der Sterbenden so schwierig und provoziert Veränderungen. Soweit handelt es sich also um die Rekonstruktion einer Entwicklung, die man als „Veränderung von Motiven“ bezeichnen kann. Der andere Aspekt, der die Rekonstruktion notwendig macht, liegt darin, dass man das Aufkommen der Hospizbewegung nur vor dem Hintergrund der Situation der Sterbenden in den Krankenhäusern verstehen kann. Die Institution Krankenhaus geriet in einem Maße unter Druck, dass es zur Ausbildung einer neuen Institution, nämlich zur Einrichtung von Hospizen, kam.
16
Einleitung
Krankenhäuser sind ihrem Selbstverständnis gemäß nicht auf die Betreuung Sterbender ausgerichtet. Das gilt sowohl für die organisatorische Struktur der Institution Krankenhaus, wie auch für die fachlichen Qualifikationen des medizinischen Krankenhaus-Personals aller Hierarchien. Dass die Menschen ab einem bestimmten Zeitpunkt mehrheitlich in Krankenhäusern sterben, führt also schon auf der rein organisatorischen Ebene zu einem immensen Problem: Bereits die Betreuung eines einzigen Sterbenden stört empfindlich die Ablaufzyklen einer Krankenhausstation; die Betreuung einer Mehrzahl von Sterbenden ist keineswegs handhabbar. Glaser und Strauss nennen Sterben eine „non-scheduled status passage“.5 Aber jenseits der quantitativen Problematik ist es die fehlende Ausbildung, die dem Personal die Arbeit mit sterbenden Personen erschwert. Entscheidend ist hier wiederum der Akzent auf den langen Sterbephasen. Mag die Institution Krankenhaus auch immer schon darauf ausgelegt gewesen sein, die Patienten zu heilen und möglichst gesund oder doch mit der Perspektive einer Genesung wieder zu entlassen, so war das natürlich niemals für die Gesamtheit der Patienten möglich. Ein bestimmter Anteil der Patienten starb immer im Krankenhaus. Aber auch hier stellte das die Institution so lange nicht vor größere Schwierigkeiten, als die Sterbephasen relativ kurz blieben. Ein Patient war nach erfolgloser Therapie „moribund“, was bedeutete, dass er in absehbarer Zeit starb. Sterben und Tod waren also auch in Krankenhäusern anfangs noch zeitlich beieinander liegende Phasen. Und darauf war die Institution Krankenhaus auch angewiesen. Wie jede formale Organisation verfügt auch das Krankenhaus nur über begrenzte Ressourcen. Aber das Krankenhaus als Ort der medizinischen Praxis ist selbstredend auch der erste Ort, an dem sich die Entwicklungen der Medizin zeigen. Das heißt, die Konsequenzen des medizinischen Fortschritts, oder das, was Illich als die „Nemesis der Medizin“ bezeichnet, zeigen sich zuerst im Krankenhaus. Definitiv ausgerichtet auf das Heilen und Therapieren, verfängt sich die Institution Krankenhaus zwangsläufig im Netz der medizinischen Logik und findet sich in der aporetischen Situation wieder, ein Sterben ohne einen Tod zu produzieren. Das medizinische Personal kann nicht auf Ausbildungsinhalte zurückgreifen, die ihm die Bewältigung dieser Aufgabe ermöglichten, und es kann auch nicht, sowenig wie jeder andere Mensch auch, auf außerprofessionelle Erfahrungen zurückgreifen, weil diese, wie erwähnt, im Normalfall nicht mehr zur Alltagswirklichkeit des modernen Menschen gehören. Nicht nur sind die Krankenpflegekräfte vom reinen Organisations- und Arbeitsaufwand der Sterbebegleitung überfordert, sondern sie sind es auch hinsichtlich ihrer Qualifikation. Das ist der zweite 5 Barney G. Glaser and Anselm L. Strauss: Temporal Aspects of Dying as a Non-scheduled Status Passage, in: American Journal of Sociology (June 1965).
Einleitung
17
Pol, von dem aus die Institution Krankenhaus massiv unter Druck gerät und der mit zur Bildung der Hospizbewegung führt. Es ergibt sich also die Situation, dass die Menschen in großer Zahl in Krankenhäusern sterben, dass sich Tod und Sterben im Normalfall nun in einer einzigen Institution abspielen. Man muss zum Krankenhaus auch Alten- und Pflegeheime zählen. Aber diese Einrichtungen entstehen später und vermutlich selbst unter dem Druck der demographischen Entwicklung, die ihrerseits immer wieder entscheidende Impulse erhält durch die Veränderungen in der Medizin. Die Menschen werden immer älter, aber eben auch älter und hinfälliger, ohne konkrete therapierbare Krankheit. Das Krankenhaus ist daher der falsche Ort für sie, und sofern sie keine Angehörigen haben, die sie pflegen könnten und auch pflegen wollten, sind sie auf Alten- und Pflegeheime angewiesen. Bei der Frage nach den pflegenden Angehörigen findet sich die gleiche Zirkelsituation wieder: Weil man keine Erfahrung mehr mit der Pflege hat, sieht man sich auch recht schnell außer Stande, die Pflege eines Angehörigen zu übernehmen. Soziologisch interessant ist nicht das Erleben des eigenen Todes, sondern das Erleben des Todes Anderer oder die Reaktionen darauf. Für das Sterben gilt das gleiche in noch verstärktem Maße. Denn die Ängste, die das eigene Sterben betreffen, speisen sich ja aus dem Wissen um das Sterben der Anderen. Die soziologische Relevanz ergibt sich aus der Kommunikation über das Sterben. Unter anderem ist es die Vernachlässigung dieses Punktes, nämlich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, Angst vor dem Tode zu haben, die Georg Simmels klassische Arbeit „Über die Metaphysik des Todes“ zu einer philosophischen und nicht zu einer soziologischen Arbeit macht.6 Die 60 Prozent derjenigen, die sagen, dass sie mehr Angst vor dem Sterben haben als vor dem Tod, müssen ja irgendeine Vorstellung davon haben, was es heißt, zu sterben. Tod und Sterben haben sich voneinander entkoppelt, weil sich das Sterben verändert hat. Der Tod ist demgegenüber gleich geblieben. Durchaus hat sich das definitive Kriterium für die gesicherte Feststellung des Todes verändert und ist überdies immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Das Stichwort „Hirntoddebatte“ mag hier als Hinweis genügen, um das Problem zu benennen.7 Aber das Sterben ist zu einer eigenen Phase geworden und diese ist es auch, welche sowohl die 6 Georg Simmel: Zur Metaphysik des Todes, in: ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Stuttgart 1957. Vgl. dazu auch Alois Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, in: Klaus Feldmann und Werner Fuchs-Heinritz (Hg.): Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Beiträge zur Soziologie des Todes, Frankfurt am Main 1995, S.80-96. 7 Vgl. hierzu Gesa Lindemann: Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, München 2002, dies.: Beunruhigende Sicherheiten. Zur Genese des Hirntodkonzepts, Konstanz 2003, sowie Werner Schäfer: „So tot wie nötig, so lebendig wie möglich!“ Sterben und Tod in der fortgeschrittenen Moderne. Eine Diskursanalyse der öffentlichen Diskussion um den Hirntod in Deutschland, Münster 1999.
18
Einleitung
Gesellschaft vor institutionelle Zwänge stellt als auch die je einzelnen Menschen auf ganz spezifische Weise ängstigt. Auf eine Weise nämlich, die mit der Spezifik des modernen Menschen zusammenhängt. Denn die Anforderungen und Erwartungen, die er an andere und vor allem aber auch an sich selbst stellt: Beherrschung und Domestikation der Körperfunktionen, Neutralisierung des Körpergeruchs, Vermeidung von Peinlichkeiten und dergleichen mehr, werden unter den Bedingungen langer Sterbeverläufe höchst prekär. Der zivilisierte Mensch, dessen Genese Norbert Elias beschreibt, dessen sinnliche Sensibilität Georg Simmel eindrücklich schildert und dessen stetigen Kampf um eine reibungslose Interaktion Erving Goffman vor Augen führt, dieser zivilisierte Mensch ist in der Phase seines Sterbens von permanentem Scheitern an seinen Ansprüchen bedroht. Er ist nicht nur für die Anderen ein Sterbender, mit dem man nicht mehr so interagieren kann, wie man es normalerweise tat, sondern er ist für sich selbst als Sterbender auf schwer erträgliche Weise ein Anderer geworden als der, der er zu sein gewohnt war. Mit dem Begriff des „sozialen Sterbens“ soll diese Perspektive auf das eigene Sterben beschrieben werden. Das Untersuchungsmaterial, auf das sich die Arbeit im Kern stützt, sind zwei eigene Studien, deren Ergebnisse als Leitfaden dienen. Zum einen handelt es sich um eine Umfrage, die im Auftrag des Hospizvereins Trier durchgeführt wurde und die als Grundgesamtheit alle Personen anvisierte, die im Raum Trier und Trier/Saarburg beruflich mit sterbenden Menschen oder deren Angehörigen zu tun haben: Ärzte, Pflegepersonal in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, Seelsorger, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in Beratungseinrichtungen, Psychologen und Hospizhelfer. Diese Untersuchung versuchte, die institutionelle Situation abzubilden, wie sie sich gegenwärtig im Bereich des Umgangs mit Sterbenden zeigt.8 Zum anderen handelt es sich um die bereits eingangs erwähnte Telefonumfrage zum Thema „Schwere Krankheit und Tod“, die in Trier und Trier/Saarburg durchgeführt wurde. Sind dies beides nun Untersuchungen, die sich auf einen relativ kleinen geographischen Raum beziehen, so lassen sich doch an ihren Ergebnissen Entwicklungen und Tendenzen ablesen, die sich mit Befunden fremder Arbeiten decken, wie wir zeigen werden. Die Studie von Alois Hahn „Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit“9 von 1968 dient uns als Bezugspunkt empirischer Daten. Die Untersuchung war die erste und für lange Zeit auch die einzige soziologische Studie, die sich des Themas „Tod“ mit quantitativen Methoden annahm. Aber wie an ihrem Titel schon ersichtlich, ging es damals um die Einstellungen zum „Tod“ und nicht um Einstel8 Alois Hahn, Rüdiger Jacob, Eva Eirmbter-Stolbrink und Matthias Hoffmann: Sterbebegleitung in Trier. Bestandsaufnahme 2003 (Eigenveröffentlichung des Hospizvereins Trier). 9 Alois Hahn: Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Eine soziologische Untersuchung, Stuttgart 1968.
Einleitung
19
lungen zum „Sterben“. Denn die Frage, ob sich für die Menschen zwischen den Einstellungen und Ängsten in Bezug auf den Tod und in Bezug auf das Sterben Differenzen zeigen und ob eine Analyse der Gründe soziologisch interessant sein könnte, stellte sich damals noch nicht mit gleicher Dringlichkeit wie heute. Daher war die Studie „Schwere Krankheit und Tod“ teilweise als Re-Study der Hahn’schen Studie angelegt, um an den Gemeinsamkeiten, mehr aber noch an den Unterschieden in den Ergebnissen die charakteristischen Veränderungen herauszuarbeiten, die sich seitdem in den Einstellungen zu Tod und Sterben gezeigt haben.
2
Die problematische Ausgangssituation
Eine der bemerkenswertesten, aber auch dramatischsten und folgenreichsten Beschreibungen der Situation der Sterbenden hat für die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Philippe Ariès in seiner „Geschichte des Todes“10 geschrieben. Der rote Faden seiner monumentalen, einen Zeitraum von rund 2000 Jahre umspannenden Untersuchung ist die Entwicklung von einem öffentlichen Tod hin zu einer Privatisierung des Sterbens und des Todes. Der Endpunkt der von ihm beschriebenen Entwicklung ist der um seinen Tod betrogene einsam Sterbende. Um den Tod betrogen sein heißt, über das Sterben bewusst im Unklaren gehalten zu werden und somit ohne Möglichkeit zu sein, in Würde zu sterben. Diesen Typus des Todes nennt Ariès den „ins Gegenteil verkehrten Tod“ und beschreibt ihn als Kontrapunkt zum „gezähmten Tod“, dem Typus, den er für den Beginn seines Untersuchungszeitraums in der Antike als dominanten Typ zu erkennen glaubt. Grob gesprochen bezeichnet dieses Gegensatzpaar mit dem „gezähmten Tod“ einen Tod, der dadurch, dass er zum alltäglichen Erleben gehört, keinen besonderen Schrecken verbreitet. In Ariès’ Schilderung, die mitunter durchaus romantisierend ist, herrscht ein tiefes Einverständnis, ihn als zur conditio humana gehörig zu akzeptieren. Die Gesellschaft als ganze nimmt den Tod eines ihrer Mitglieder hin und stützt dabei sowohl den Betreffenden in seinem Sterben als auch seine Angehörigen in ihrer Trauer. Der „normale Tod“ (auf Fälle „verfrühten Todes“, etwa das Sterben von Kindern oder jungen Erwachsenen kommen wir noch zurück) gefährdet nicht die Stabilität der Gesellschaft und ist auch für die Angehörigen kein katastrophaler Einschnitt. Der Tod und die Verarbeitung der durch ihn hervorgerufenen Trauer finden in der Gesellschaft statt. Das heißt: Der Sterbende, seine Angehörigen und die Personen des näheren Umfeldes bilden eine Gruppe, die sich zusammenfindet, wenn sich der Tod ankündigt und ihn als Gruppe erträgt. „Der ins Gegenteil verkehrte Tod“ entbehrt den Rückhalt in der Gruppe, entbehrt auch eine würdige Vorbereitung auf das Sterben. Und vor allem ist er ein aus der Gesellschaft in die Krankenhäuser ausgelagerter Tod, von dem die Gesellschaft so gut wie möglich ferngehalten werden muss. Bis zum „ins Gegenteil verkehrten Tod“ setzt Ariès drei weitere eigene Typen des Todes an, die, mehr oder minder scharf voneinander getrennt, eine 10
Vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 2002.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
22
Die problematische Ausgangssituation
chronologische Abfolge bilden. Es sind dies „der Tod des Selbst“, „der lange und stets nahe Tod“ und „der Tod des Du“.11 Bedeutsam für unseren Zusammenhang ist die große Neuerung, die Ariès im achtzehnten Jahrhundert aufkommen und in der Hauptsache im neunzehnten Jahrhundert sich durchsetzen sieht. Am „Tod des Du“ beschreibt Ariès die nun an den Anderen gekoppelte hohe Affektivität, die dazu führt, dass im Falle seines Todes Trauer in bisher ungeahntem Ausmaß hervorbricht. „Die einst freischwebende, diffuse Affektivität hat sich auf einige wenige Wesen konzentriert, von denen getrennt zu werden man nicht mehr erträgt: die Trennung löst eine dramatische Krise aus, die wir den Tod des Anderen genannt haben.“12 Aber nicht die neue große Trauer ist das für unser Thema wichtige Novum, sondern die Reaktion auf den als Trauma erlebten Verlust des geliebten Anderen: die Verschleierung der Agonie des Todes. Sie wird durch die Glorifizierung des Todes als Schönheit geleistet: „(...) der Tod hat aufgehört, traurig zu sein, und wird als geradezu ersehnter Moment verherrlicht. Er ist die Schönheit. (...) Der Tod ist nun nicht mehr vertraut und gezähmt wie in den traditionellen Gesellschaften, doch er ist auch nicht mehr absolut wild.“13 Dass er trotz Verschleierung der Agonie „nun nicht mehr vertraut und gezähmt“ ist, darin liegt für unser Thema die Bedeutung. Denn die Unvertrautheit und Ungezähmtheit wird er von nun an nicht mehr verlieren bis in die Gegenwart. Da eine solch enorme Affektivität sich nur auf wenige Andere, auf die Kernfamilie beziehen kann, kommt zur Unvertrautheit des Todes im neunzehnten Jahrhundert ein weiterer Aspekt neu hinzu, der sich als wichtige Kontinuität zum „ins Gegenteil verkehrten Tod“ im zwanzigsten Jahrhundert erweisen wird: das Ideal der „privacy“. Sie besetzt den Platz, den im Typus des „gezähmten Todes“ die traditionelle Gemeinschaft innehatte.14 Es ist also eine Bewegung aus der Öffentlichkeit in die Sphäre der Privatheit, die sich bei der Herauskristallisierung des „Todes des Du“ vollzieht. Es ist die Vorlage für die im zwanzigsten Jahrhundert massiv einsetzende Ausbürgerung des Todes aus der Öffentlichkeit und die Verlagerung des Sterbens in die Kliniken. Die chronologisch letzte Form des Todes ist für Ariès der „ins Gegenteil verkehrte Tod“, der wenigstens seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun11
Für eine eingehendere Beschreibung der Typen und eine kleine Rezension des Buches im Rahmen soziologischer Todes- und Weiterlebensvorstellungen vgl.: Alois Hahn: Tod und Sterben in soziologischer Sicht, in: Jan Assmann und Rolf Trauzettel (Hg.): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg/ München 2002, S.55-89. Dort findet sich auch ein Überblick über neuere französische Arbeiten zur Thematik des Todes. 12 Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.783. (Hervorhebungen im Original, MH) 13 Ebd., S.783f. (Hervorhebungen im Original, MH) 14 Die Zwischenepochen lassen wir hier außer Acht. Da es uns um die Beschreibung des „ins Gegenteil verkehrten Todes“ geht, beziehen wir uns auf seinen Antipoden, den „gezähmten Tod“.
Die problematische Ausgangssituation
23
derts für ihn die dominante Form ist. Die enorme Affektivität in Bezug auf die Familienmitglieder ist geblieben und damit das Ideal der Privatheit. Untergegangen ist aber die Glorifizierung des Todes als Schönheit. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts sieht man nach Ariès, „wie sich die scheußlichen Bilder der makabren Epoche (...) wieder Geltung verschaffen.“15 Der Tod ist schmutzig geworden, unanständig und unschicklich. Aus diesem Grund kann er nun auch auf gar keinen Fall mehr ein öffentlicher Tod sein. Das Ideal der Privatheit rückt allerdings nur scheinbar stärker in den Vordergrund, bis erkenntlich wird, dass diese Privatheit einen anderen Grund hat und damit auch eine völlig anders gelagerte Intention verfolgt. War die „privacy“ in der Epoche des „Todes des Du“ deshalb wichtig geworden, weil die enorme Affektaufgeladenheit der Beziehung zu den Allernächsten Abgeschiedenheit von der Öffentlichkeit benötigte, um das Moment der Schönheit des Todes zelebrieren zu können, so darf nun die Öffentlichkeit nicht teilhaben am Sterben, weil es als ekelhaft empfunden wird. Diesen Ekel aber empfinden die Angehörigen selber, und daher ist es keine weitere Intensivierung der Form der Privatheit, die den Tod aus der Öffentlichkeit verschwinden lässt, sondern seine Auslagerung in die Kliniken. Aus der umfassenden Geborgenheit der Familie ist der Sterbende nun in eine Institution verlegt, die an ihm als Person kein Interesse mehr hat, sondern nur noch an ihm als Träger der Patientenrolle. Die Reduzierung der Perspektive von der Person auf eine Rolle ist freilich kein Spezifikum der Institution Krankenhaus. Es gilt für alle Institutionen, dass sie Personen nur unter der für sie je spezifischen Perspektive betrachten und damit nur einen Aspekt der Person wahrnehmen. Ariès urteilt hart, die Klinik sei letztlich „für die Familien ein Asyl, wo sie ihren lästigen Kranken, den weder sie selbst noch die Umwelt länger ertragen mögen, einliefern und verstecken können (...)“16 Es ist das Gegenteil des Bildes vom „gezähmten Tod“. Das Herausfallen der Sterbetechniken aus der Sozialisation, weil das zugehörige Phänomen, der Tod, aus dem Alltag verschwindet, hat große Konsequenzen. Aber nirgendwo erwähnt Ariès, dass sich diese Sterbetechniken in den Kliniken erhielten. Die Klinik ist für ihn ein aseptischer Ort technischer Abläufe; man denke an das von ihm als „klassisch“ bezeichnete Bild des mit Schläuchen und Röhrchen gespickten Sterbenden. Das heißt demnach, dass es in diesem Sinne keine Spezialisten im Umgang mit dem Tod gibt, wie es die Redewendung von der Abgabe des Todes in die Hände von Spezialisten (etwa Ärzte und Pflegekräfte oder Seelsorger) unterschwellig suggeriert. Die Daten unserer Untersuchung werden das Problem benennen: Die Techniken, die im Krankenhaus für den Umgang mit dem Tod vorgesehen sind, machen den Tod nicht wieder zu einem gezähmten Tod im Sinne von Ariès. Der 15 16
Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.728. Ebd.
24
Die problematische Ausgangssituation
Tod im Krankenhaus ist mit Schrecken beladen, der aber, und das ist die entscheidende Dimension, keinen ausreichenden Platz der Thematisierung hat. Nicht für den Sterbenden und nicht für den Pflegenden.17 Auch dieses Ungleichgewicht zwischen hochentwickelten medizinisch-technischen Fähigkeiten einerseits und nur marginal ausgeprägten kommunikativen Fähigkeiten andererseits werden wir an unseren Daten belegen. Auf diese Situation bezieht Ariès die dritte und letzte Stufe der Inversion des Todes, die er den „Triumph der Medikalisierung“ nennt.18 Die enormen Neuerungen in der Medizin haben dazu geführt, dass der Tod immer weiter hinausgeschoben und zurückgedrängt werden kann. Intravenöse Infusionen, künstliche Ernährung durch eine Magensonde, hochpotente Analgetika und dergleichen mehr, was die moderne Intensivmedizin zu bieten hat, führen dazu, dass der Tod als natürlicher Endpunkt des menschlichen Lebens aus dem Blick gerät. Fast könnte man sagen, dass es den Tod als Tod nicht mehr gibt. Heutzutage stirbt man nicht einfach, sondern man stirbt „an etwas“. Und dieses Jeweilige, an dem man stirbt, ist für die Medizin immer ein vorläufig noch zu überwindendes Hindernis. „Der Tod wird nicht als solcher beseitigt, sondern in einer seiner jeweiligen Erscheinungen bekämpft. Gegen den Tod kann man nichts machen, aber Aids (Krebs, Syphilis, Cholera...) kann man überwinden.“19 Ariès fasst denselben Umstand wie folgt: „Unmerklich und immer schneller wurde der normale Sterbende einem Schwerkranken nach der Operation gleichgestellt.“20 Hat es die Medizin aber mit einem Schwerkranken zu tun, ist sie gehalten, alle ihre technischen Mittel auszuschöpfen, um ihn zu heilen. „Der Tod hat aufgehört, ein natürliches und notwendiges Phänomen zu sein. Er ist ein Fehlschlag, ein business lost. (...) Wenn der Tod eintritt, wird er als Zwischenfall aufgefaßt, als Zeichen ärztlicher Unfähigkeit oder Ungeschicklichkeit, das es schleunigst zu vergessen gilt.“21 Mit der Identifizierung von todkrank mit schwerkrank, also von Sterbender mit Patient, wird der medizinische (und wir dürfen hinzufügen: der pflegerische) Umgang mit dem Tod und dem Sterben mehr und mehr ein rein technischer. Diese Verdeckung des Phänomens des To17
Seit der Beschreibung durch Ariès hat sich in manchen Krankenhäusern die Möglichkeit der Supervision für die Pflegekräfte durchgesetzt. Aber die Verbreitung ist sehr gering. In unserer Untersuchung geben lediglich 10 Prozent der Befragten in allen Berufsgruppen an, an einer Supervision teilzunehmen. Dabei bleibt allerdings die Frage offen, ob es an einem mangelnden Angebot liegt oder ob bestehende Angebote nicht genutzt werden können, weil z.B. die Kosten vom Arbeitgeber nicht übernommen werden, die Pflegekräfte für die betreffende Zeit nicht vom Dienst freigestellt werden oder ähnliches mehr. Vgl. dazu Hahn et al.: Sterbebegleitung in Trier, a.a.O., S.37f. 18 Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.747. 19 Hahn: Tod und Sterben in soziologischer Sicht, a.a.O., S.88. 20 Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.748. 21 Ebd., S.751.
Die problematische Ausgangssituation
25
des führt auch dazu, dass es eine Komplikation darstellt, den Tod zu verbalisieren. Es wird, auch rein sprachlich, schwer, den Patienten, oder eben besser: den Sterbenden, zu sagen, dass sie Sterbende sind. So zitiert Ariès einen Arzt mit den Worten: „Es passiert uns aber auch (uns Ärzten), das sei eingestanden, dass wir vor der Wahrheit fliehen, dass wir uns hinter unserer Autorität verschanzen, dass wir Versteck spielen. Es gibt Ärzte, die nie etwas sagen.“22 Zusammenfassend kann man also sagen, dass Ariès den „ins Gegenteil verkehrten Tod“ hauptsächlich an folgenden Punkten festmacht: Die alte Einheit des Ortes von Leben und Sterben ist mit der Auslagerung des Todes in die Krankenhäuser auseinander gebrochen. Das Krankenhaus wird zum Ort des normalen Todes, was zur Folge hat, dass sich der Umgang und die Verhaltensweisen zum Phänomen Tod grundsätzlich verändern. Da der Tod aus dem Kreis der Familie in den Bereich der Medizin verlagert wird, findet er sich in einer technisch bestimmten Sphäre wieder. Die Weisen des Umgangs mit Tod und Sterben, die sich über nahezu zwei Jahrtausende tradiert haben, geraten mit dem Verschwinden des Todes aus der Alltagswirklichkeit in Vergessenheit. In den Krankenhäusern wird der Sterbende nach Maßgabe medizinisch professioneller Standards behandelt und das heißt, es wird nicht ausgesprochen, dass er ein Sterbender ist, sondern ihm wird die Rolle des zu behandelnden und behandelbaren Patienten übergestülpt. Im Krankenhaus aus dem Kreise seiner Nächsten entfernt und über seinen Zustand nicht aufgeklärt, beschreibt Ariès den am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sterbenden Menschen als einsam und um seinen Tod betrogen. Wir wollen in der Analyse unserer Umfragedaten zeigen, dass sie ihrem latenten Gehalt nach das von Ariès gezeichnete Bild stützen.23
22
Ebd., S.754. Mit Ausnahme der Beschreibung des Krankenhauses als Abschiebestation für Familien, die ihre sterbenden Angehörigen nicht mehr ertragen. Die Behauptung kann durch unsere Daten weder verifiziert noch falsifiziert werden, weil danach nicht gefragt wurde. 23
3
Das Sterben in Institutionen
Die Lage, von der wir nun auszugehen haben, ist demnach die, dass das Sterben mehrheitlich in Institutionen stattfindet. In der Hauptsache sind das die Krankenhäuser, hinzu kommen Alten- und Pflegeheime. Wie häufig bei groß angelegten, illuster und differenziert vorgetragenen Untersuchungen (Ariès’ Untersuchungszeitraum beträgt wie erwähnt rund zweitausend Jahre) setzen sich im Zuge der Rezeption die Ergebnisse in etwas vergröberter Weise im Diskursbewusstsein fest. Die von Ariès für die westliche Welt des späten zwanzigsten Jahrhunderts herausgearbeitete Dominanz des Sterbens in Institutionen ist gängige Münze geworden als die These, dass „die Menschen schlechthin“ nunmehr in Institutionen stürben. In dieser absoluten Fassung ist dem sicher nicht so, aber eine Reihe von empirischen Untersuchungen in europäischen Ländern und den USA hat in den letzten Jahren gezeigt, dass sich die von Ariès ohne statistische Daten präsentierte Analyse halten lässt.24 Die wohl erste Studie, die auf den Umstand aufmerksam machte, dass die Menschen mehrheitlich in Krankenhäusern sterben, stammt von 1970 und bezieht sich, mangels für die ganze USA gültiger Statistiken, auf New York City.25 Zwischen 1955 und 1967 sank der Anteil derjenigen, die zu Hause („Privatwohnung“) starben, von rund 30 auf rund 24 Prozent, während der Anteil derjenigen, die in Krankenhäusern starben, von rund 66 auf rund 73 Prozent stieg. Selbst für den gesamten Untersuchungszeitraum gilt also, dass die Mehrheit der Menschen in New York City in Institutionen starb. Ebenfalls für die USA gibt eine Studie von 199726 an, dass 77 Prozent aller Todesfälle in der gesamten USA sich in Institutionen ereignen und nur 20 Prozent in Privatwohnungen. Das gleiche Ver-
24
Die im Folgenden aufgezählten Studien werden zitiert nach Randolph Ochsmann et al.: Sterbeorte in Rheinland-Pfalz: Zur Demographie des Todes. Beiträge zur Thanatologie des Interdisziplinären Arbeitskreises Thanatologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Heft 8, 1997. Die Beiträge sind auf der Homepage des Arbeitskreises frei verfügbar: http://www.psych.uni-ainz.de/abteil/soz/thanatologie/Literatur/beitraege.htm. 25 Lerner, M: When, why, and where people die, in: O.G. Brim et al.: The dying patient. New York 1970. 26 Edmondson, B.: The facts of Death. In: American Demographics, April 1997 (ohne Seitenangaben).
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
28
Das Sterben in Institutionen
hältnis zeigt sich in einer Untersuchung von 1991 für England und Wales27 und in einer vom St.Christopher-Hospiz für England und Wales zusammengestellten Statistik des Jahres 199728: Nur 24 bzw. 22 Prozent der Menschen sterben zu Hause. Für die Schweiz hat Streckeisen die Daten für die Orte des Sterbens für den Zeitraum von 1969 bis 1986 errechnen lassen.29 Über den gesamten Zeitraum sterben mehr als die Hälfte aller Personen in Krankenhäusern. Der prozentuale Anteil bleibt mit einer sehr kleinen Schwankungsbreite konstant zwischen 54 und 56 Prozent. Die separat betrachtete Kategorie „Altersheim“ verzeichnet von 1979 bis 1986 einen schwachen Anstieg von 12 auf 14 Prozent. Demgegenüber steht ein Rückgang der Personen, die zu Hause sterben, von 1969 bis 1986 um 10 Prozent von 38 auf 28 Prozent.30 Für Deutschland referiert Streckeisen Daten von Mischke, wonach von 1954 bis 1978 der Anteil der im Krankenhaus Gestorbenen von 27,5 Prozent auf 59,3 Prozent steigt.31 Diese kursorisch zitierten Studien deuten ganz offensichtlich darauf hin, dass man mit Ariès’ These vom epochentypischen „Sterben in Institutionen“ arbeiten kann. Wenn im Folgenden mittels unserer selbst erhobenen Daten die Situation der Sterbenden in den Institutionen, vor allem in den Krankenhäusern, analysiert werden soll, so ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass es sich um Daten handelt, die für ein sehr lokal begrenztes Gebiet Gültigkeit beanspruchen. Es wurde auch nicht eigens systematisch nach der Verteilung der Sterbeorte gefragt. Um aber für unser Gebiet, Stadt Trier und Kreis Trier-Saarburg, sicherzustellen, dass man von einem mehrheitlichen Sterben innerhalb von Institutionen sprechen kann, sei eingangs auf die Untersuchung „Sterbeorte in Rheinland-Pfalz. Zur Demographie des Todes“ verwiesen, in der Randolph Ochsmann die Situation für Rheinland-Pfalz darstellt.32 Ochsmann will dezidiert „für eine bestimmte Region und für einen bestimmten Zeitpunkt“33, die Studie ist repräsentativ für 27
Cartwright, A: Changes in life and care in the year before death 1969-1987. Journal of Public Health Medicine, 13, 1991, S.81-87. 28 The Hospice Information Service: Hospice facts and figures. St.Christopher’s Hospice, London 1997. 29 Die Berechnungen mussten eigens vom schweizerischen Bundesamt für Statistik durchgeführt werden, denn „der Ort des Todeseintritts („Sterbeort“), der auf jeder Sterbekarte vermerkt ist, ist eine statistisch vernachlässigte Variable. Wie alle anderen Informationen der Sterbekarte ist er beim Bundesamt für Statistik seit 1969 auf Magnetband aufgenommen, doch Auswertungen gibt es bislang kaum. (...) das Altersheim (kann) aufgrund der vorliegenden Daten erst seit 1979 separat betrachtet werden. (...) Informationen zum Sterbeort (werden) seit 1987 aus Spargründen überhaupt nicht mehr erhoben.“ Vgl. Ursula Streckeisen: Die Medizin und der Tod. Über berufliche Strategien zwischen Klinik und Pathologie, Opladen 2001, S.49. 30 In diese Kategorie fallen auch alle „im Freien“ gestorbenen Personen. 31 Marianne Mischke: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen Geschichte, Berlin 1996, S.222, zitiert nach Streckeisen, a.a.O., S.50. 32 Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O. 33 Ebd., S.4.
Das Sterben in Institutionen
29
1995, kritisch prüfen, ob die Ariès’sche These von der Verschiebung des Todes in die Krankenhäuser stimmt und zitiert als heuristischen Anlass dazu eine „Spiegel“-Meldung, wonach „von den 900000 Bundesbürgern, die jährlich sterben, (...) 70 Prozent in Krankenhäusern dem Jenseits entgegen (siechen)“34. Ochsmann wendet sich dabei gegen Annahmen, die „auf nicht nachvollziehbaren Schätzungen“35 beruhten, wie etwa die von Kirschner, der in „Die Hospizbewegung in Deutschland am Beispiel Recklinghausen“36 ebenso wie Müller in einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegebenen Band zu „Sterben und Sterbebegleitung“37 die These vertrete, „dass in der Bundesrepublik Deutschland das Sterben weitgehend in die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen verlagert sei“38. Tatsächlich werden solche Zahlen auch gegenwärtig immer wieder in die Diskussion gebracht, ohne auf statistische Belege rekurrieren zu können. Noch allerjüngst haben Hanfried Helmchen und Hans Lauter in einem Band zu den „Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft“ die „70-Prozent-Angabe“ ohne Verweis auf eine Quelle verwendet.39 Nach einer sehr sorgfältigen statistischen Analyse kommt Ochsmann nun zu folgendem Resumée: „Im Jahr 1995 starben in Rheinland-Pfalz in den ausgewählten Regionen 44,1% der Menschen im Krankenhaus, 12,8% im Altenheim, 37,3% in der eigenen Wohnung, 2,5% in einer anderen Wohnung und 1,7% an sonstigen Orten. Bei 1,7% der Fälle fehlen die Angaben zum Sterbeort. Zusammengefasst: Die Todesfälle ereigneten sich zu 56,9% in einer Institution und zu 39,8% in einer Privatwohnung. Da die Zahlen für die Todesfälle in Krankenhäusern mit denen der Statistik des Landes Rheinland-Pfalz (44,5%) weitgehend übereinstimmen, können auch die Ergebnisse für die anderen Sterbeorte als repräsentativ für das Bundesland betrachtet werden.“40 34
Sag lächelnd good bye. In: Der Spiegel, 6, 1995, S.114-121. Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.4. J. Kirschner: Die Hospizbewegung in Deutschland am Beispiel Recklinghausen. Frankfurt am Main 1996. 37 M. Müller: Sterben Zuhause und wie zu Hause. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Sterben und Sterbebegleitung. Ein interdisziplinäres Gespräch, Stuttgart 1996, S.103-105. 38 Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.4 (Hervorhebung MH). 39 „Während die meisten Menschen bis zu Beginn des 20.Jahrhunderts im Kreis ihrer nächsten Angehörigen und in ihrer häuslichen Umwelt sterben konnten, wurde der Tod in den modernen Gesellschaften an medizinische und pflegerische Institutionen delegiert und damit persönlich unvertraut und sozial weitgehend unsichtbar. Dies geht auch aus einer repräsentativen Untersuchung hervor, wonach innerhalb eines Jahres fast 50% der Menschen im Krankenhaus und weitere ca. 20% in Alten- und Pflegeheimen starben.“ Hanfried Helmchen und Hans Lauter: Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und Tod aus ärztlicher Sicht, in: Cornelia Klinger (Hg.): Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft. Wien/ Berlin 2009, S.145-183, hier S.152. 40 Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.3. „Für die im Jahr 1995 erhobenen Daten wurde die Verteilung der Todesfälle auf fünf unterschiedliche Sterbeorte ermittelt. Kategorie 1 („Altenheime“) umfasst alle 35 36
30
Das Sterben in Institutionen
Angesichts dieser Ergebnisse kommt es ihm nun vor allem darauf an, die Aussage empirisch fundiert zurückweisen zu können, dass „weitgehend“ in Krankenhäusern und Pflegeheimen gestorben werde: „Es sterben also viel mehr Menschen zu Hause, als Schätzungen vermuteten und internationale Vergleiche erwarten ließen.“41 Ochsmann sieht allerdings innerhalb der Institutionen eine Trendverlagerung des Sterbens, „von den Kliniken weg in die Einrichtungen der Altenhilfe“.42 Diese Trendwende setze aber erst bei den Über-80Jährigen ein. Über alle Altersklassen hinweg gelte, dass die meisten Tode in den Institutionen Altenheim/ Krankenhaus stattfänden, wobei bis einschließlich der Klasse der 70-79Jährigen die Institution Krankenhaus alleine über 50 Prozent ausmache. Tabelle 1:
Sterbeorte in Rheinland-Pfalz (1995) nach Altersgruppen43 Altenhilfe
Säuglinge 1 bis 59 Jahre 60 bis 69 Jahre 70 bis 79 Jahre 80 bis 89 Jahre Ab 90 Jahren Gesamtstichprobe
0,0 1,1 3,1 7,8 18,6 29,8 12,8
Krankenhaus 76,6 50,0 52,9 52,6 38,8 25,0 44,1
Privatwohnung 19,1 38,3 39,8 37,7 40,7 43,0 39,8
Sonstiges 4,2 10,6 4,0 1,9 1,9 2,2 3,4
N= 100% 47 1509 1819 2900 4544 1398 12217
Man mag sich über diese Akzentuierung bei der Interpretation der Ergebnisse wundern, zumal Ochsmann unmittelbar anschließend prognostiziert, dass „die gefundenen Zusammenhänge zwischen der Verteilung der Sterbeorte und demographischen Variablen, Todesursachen sowie soziostrukturelle Faktoren die
Einrichtungen der Altenhilfe, und zwar Altenheime, Altenwohn- und Altenpflegeheime sowie die Tagespflege- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen. Krankenhäuser sowie Kurkliniken werden in Kategorie 2 („Krankenhaus“) zusammengefasst. Kategorie 3 („Eigene Wohnung“) meint als Sterbeort die Privatwohnung des/der Verstorbenen und Kategorie 4 („Andere Wohnung“) fasst alle sonstigen Privatwohnungen zusammen, die nicht gleichzeitig Wohnung des/ der Verstorbenen waren. Alle anderen Orte (z.B. auf der Straße, Freizeiteinrichtungen) werden in Kategorie 5 („Sonstiger Ort“) aufgeführt. In Kategorie 6 („fehlende Angaben“) werden alle Fälle erfasst, in denen keine eindeutige Angabe zum Sterbeort aus den Leichenschauscheinen zu entnehmen war.“ Ebd., S. 13. Die Stichprobe betrug N=12217. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Zitiert nach Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.15. (Tabelle eigene Erstellung, MH)
Das Sterben in Institutionen
31
Vermutung nahe (legen), dass in den nächsten Jahren das Sterben in Institutionen durch die bekannten gesellschaftlichen Entwicklungen eher noch zunehmen wird.“44
Für die soziologische Analyse des Sterbens und für die Verwendung der Ariès’schen Großthese ist es aus unserer Sicht ein hinlänglich belastbares Datum, dass mehr als die Hälfte der Tode in einer Institution stattgefunden hat. Es ist dabei, wie im Übrigen auch für die Ariès’sche These, nachrangig ob es sich um ein Krankenhaus oder ein Altenheim handelt. Für die nähere Analyse der strukturellen Situation der Sterbenden in den Institutionen muss an dieser Stelle mit Nachdruck auf die Hauptthese dieser Arbeit hingewiesen werden: dass Tod und Sterben historisch zum ersten Mal als eigene Phasen auseinander fallen. Das bedeutet, dass die Situation in den Institutionen Krankenhaus und Altenheim fast unabhängig von der Zunahme der absoluten Zahl derer, die in ihnen sterben, unter enormen Druck gerät, weil sich die Phase, in der die Menschen in hohem Maße auf fremde Hilfe angewiesen sind, sehr verlängert. Es steht also die Frage im Raum, an welchen Erkrankungen die Menschen mehrheitlich sterben. Bereits für das Jahr 1980 schreibt Schmied, dass „über 20% aller Todesfälle (...) auf bösartige Neubildungen zurückzuführen (waren), bei denen in der Mehrzahl ein langes Leiden zu erwarten ist. Ähnliches gilt für manche Krankheiten des Kreislaufsystems, die die häufigste Todesursache darstellen.“45 Für 2003, den Zeitpunkt unserer Untersuchung für den Hospizverein, referiert Helmchen46, dass von den über 850.000 Gestorbenen dieses Jahres fast die Hälfte an Herzkreislauferkrankungen, ein weiteres Viertel an Krebserkrankungen zu Tode kamen. Der Mediziner Helmchen verweist allerdings darauf, dass sich diese Zahlen aus den auf dem Totenschein vermerkten ärztlichen Diagnosen ergeben mit der Folge, dass sie „meist keine genaue Auskunft über die Krankheiten, die dem Tod vorausgegangen sind oder über deren namentlich bei älteren Patienten sehr häufige Kumulation, die so genannte Multimorbidität“ geben.47 Helmchen verweist daher auf eine Studie des Medizinhistorikers Nuland48, wonach die meisten Men44
Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.3. Gerhard Schmied: Sterben und Trauern in der modernen Gesellschaft. Opladen 1985, S.19. 46 Helmchen/ Lauter: Krankheitsbedingtes Leiden, a.a.O., S.151. 47 Ebd.. Auf ein weiteres Problem, das sich bei einem blinden Folgen der Angaben auf den Totenscheinen ergibt, macht Ochsmann aufmerksam. Um zu prüfen, ob die Sterbeorte von der Todesursache abhängen, hat auch er Totenscheine ausgewertet und hat Gründe zu der Vermutung, dass die darauf gemachten Angaben nicht zuverlässig sind: „Ein erster Blick in die Tabelle („Sterbeorte der über 59jährigen in Rheinland-Pfalz (1995) nach Todesursachen“, MH) läßt bereits die Daten über die Todesursachen als höchst problematisch erscheinen. (...) Zum anderen scheinen die Verantwortlichen, die den Tod in Altenheimen oder in Privatwohnungen feststellen, das Diagnoseinstrument anders zu handhaben als diejenigen in der Klinik. Auffällig ist jedenfalls, dass „sonstige Todesursachen“ sehr viel häufiger von den Klinikärzten angegeben wird.“ Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.23. 48 Sherwin B. Nuland: Wie wir sterben. München 1994. 45
32
Das Sterben in Institutionen
schen an Arteriosklerose, Bluthochdruck, Krebs, Diabetes, Übergewicht, Alzheimerkrankheit und Schwächung der Immunabwehr sterben.49 „Es handelt sich hierbei überwiegend um Erkrankungen, die sich über ausgedehnte Zeiträume hinziehen und eine lange Leidensphase mit sich bringen. Dagegen ist ein plötzlicher Tod (...) sehr viel seltener und betrifft weniger als ein Siebtel der Verstorbenen.“50
Vor dem Hintergrund dieser beiden Rahmenbedingungen, dass erstens die Annahme eines mehrheitlichen Sterbens in Institutionen gerechtfertigt ist und dass zweitens der typische Sterbeverlauf sich über längere Zeiträume erstreckt, soll im Folgenden die Situation der Sterbenden in diesen Institutionen: den Kliniken, den Altenheimen und in den Hospizen dargestellt werden. 3.1 Kliniken Zur folgenden Darstellung der Situation der Sterbenden in den Kliniken beziehen wir uns ausschließlich auf die Daten, die wir im Sommer 2003 für den Hospizverein Trier erhoben haben.51 Vorweg ist eines wichtig noch einmal zu bemerken: Unsere Daten sind nicht aus Befragungen von Patienten oder Heimbewohnern gewonnen, sondern ausschließlich aus schriftlichen Befragungen derjenigen Personen, die mit Sterbenden beruflich zu tun haben. Ziel der Untersuchung war es, eine Bestandsaufnahme der Praxis der Sterbebegleitung in der Region Trier/Trier-Saarburg zu gewinnen. Es sollte dargestellt werden, in welchem Maße die Vorstellungen und Ideale der Hospizbewegung in den Institutionen, in denen Sterbebegleitung geleistet wird, präsent sind und inwieweit sie sich unter den herrschenden Arbeitsbedingungen umsetzen lassen. Daraus ableitend lässt sich umgekehrt wiederum darstellen, wie die Situation der Sterbenden und Patienten in den Institutionen ist. Geplant war eine Vollerhebung, d.h. es sollten alle diejenigen befragt werden, die in Trier und Trier-Saarburg beruflich mit der Begleitung von Sterbenden zu tun haben. Befragte waren alle Angehörigen der folgendermaßen zusammengefassten Berufsgruppen: 1. 2. 49
Pflegekräfte (im ambulanten und stationären Bereich) Ärzteschaft (niedergelassene Ärzte und Krankenhausärzte)
Zitiert nach Helmchen/ Lauter: Krankheitsbedingtes Leiden, a.a.O., S.151. Ebd. 51 Vgl. Hahn et al.: Sterbebegleitung in Trier, a.a.O. 50
Das Sterben in Institutionen 3. 4. 5. 6.
33
Seelsorger ehrenamtliche Hospizhelfer Psychologen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen Leitendes Personal52
Der Fragebogen deckte die folgenden Themenkomplexe ab: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Demographie Aspekte guter Sterbebegleitung Aus- und Weiterbildung Zeitmanagement und Arbeitszufriedenheit Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen Rechtliche Bestimmungen Die Einstellung zu lebensverlängernden Maßnahmen Aktive Sterbehilfe Errichtung eines stationären Hospizes in Trier Erwartungen an den Hospizverein
Ein Großteil der Fragen wurde allen beteiligten Berufsgruppen in gleicher Weise gestellt, daneben gab es aber in jeder Fragebogenversion auch gruppenspezifische Fragen. Alle Fragebögen sind im Anhang dokumentiert. Der Beginn des Projektes war im Frühjahr 2002. Der Konzeption der Fragebögen, die im Herbst/Winter 2002/03 erfolgte, gingen intensive Gespräche mit Mitgliedern des Hospizvereins voraus. Alle Fragebögen haben vor Beginn der Feldphase den Vertretern der jeweiligen Berufsgruppe vorgelegen und sind mit den Mitgliedern der Forschungsgruppe diskutiert worden. Nach Durchführung eines Pretests fand die Befragung vom 19.05. bis zum 16.06.2003 statt. Die Fragebögen wurden den Einrichtungen zur Verfügung gestellt und wurden dort von den jeweiligen Stationsleitungen oder Verwaltungen an die Mitarbeiter ausgeteilt. Die Fragebögen sollten allein ausgefüllt und bis zum 23.06.2003 in eigens aufgestellte Sammelboxen eingeworfen werden. Die ausgefüllten Bögen wurden dann von Studenten in den Einrichtungen wieder abgeholt. Niedergelassene Ärzte und Seelsorger wurden angeschrieben, die Hospizhelfer über den Hospizverein kontaktiert. Die Organisation der Feldarbeit und die Feldvorbereitung (Kontaktaufnahme mit den ausgewählten Institutionen, Information der Leitungsebenen und der Mitarbeiter) wurde vom Hospizverein übernommen. Insgesamt wurden 3281 Fragebögen ausgegeben, 1050 sind ausgefüllt zurückgeschickt worden. Die Rücklaufquote 52
Die Auswertung der Fragebögen der Leitungsebene in Einrichtungen konnte aus organisatorischen Gründen im Rahmen des Projektes nicht erfolgen. Anzahl und Ergebnisse der Befragung dieser Gruppe finden folglich an keiner Stelle dieses Berichtes Berücksichtigung.
34
Das Sterben in Institutionen
beträgt damit 32 Prozent, das Ziel einer Vollerhebung wurde somit nicht erreicht. Die Gründe dafür lagen in der mangelnden Kooperationsbereitschaft verschiedener Institutionen. In manchen Fällen zogen Einrichtungen ihre Teilnahme an der Umfrage zurück, in anderen Fällen wurden bereits ausgefüllte Fragebögen nicht oder nur teilweise herausgegeben. Da die Erhebungsdaten daher aber auch nicht auf einer Zufallsauswahl beruhen, sind keine Generalisierungsschlüsse möglich. Aufgrund der hohen Fallzahlen scheint es uns aber gerechtfertigt, die Ergebnisse der Datenanalyse zur Kenntnis zu nehmen und ihnen einen gewissen Informationsgehalt zuzusprechen. Die Aussagen und Interpretationen gelten somit nur für die Befragten, sie lassen aber recht starke Vermutungen für die Grundgesamtheit zu. Deutliche Differenzen der Rücklaufquoten gibt es allerdings zwischen den einzelnen Berufsgruppen. Die Hospizhelfer liegen mit 61,3 Prozent an der Spitze. Die sehr niedrige Rücklaufquote bei Pflegekräften und Ärzten in stationären Einrichtungen ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass einzelne Einrichtungen nach anfänglicher Zusage die Mitarbeit vollständig abgelehnt haben oder aber nur einen Teil bereits ausgefüllter Fragebögen zurückgegeben haben. Tabelle 2:
Rücklaufquote in den einzelnen Berufsgruppen
Hospizhelfer: Ambulante Pflege Seelsorger Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Niedergelassene Ärzte Stationäre Pflege Krankenhausärzte
61,3% 44,8% 42,0% 37,8% 30,9% 27,3% 18,8%
Das Sterben in Institutionen Tabelle 3:
35
Verteilung der Berufsgruppen in der Befragtenpopulation53 Anteil in Prozent
Pflege Ärzte Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Seelsorger Hospizhelfer Gesamt
N
68,5 14,2 7,9
682 141 79
5,5 3,8
55 38 995
Aufgrund dieser Verteilung werden wir vornehmlich die Gruppe der Pflegekräfte in den Blick nehmen, die sich folgendermaßen zusammensetzt: Tabelle 4:
Differenzierung Pflegekräfte Anteil in Prozent
Krankenhaus Altersheim Pflegeheim Ambulanter Pflegedienst
55,5 18,1 5,3 21,1
N 379 123 36 144 N=682
Die stärkste Gruppe sind hier die Pflegekräfte im Krankenhaus. Wir werden daher im Zusammenhang mit der Darstellung des Pflegealltags in Institutionen die Gesamtgruppe der Pflegekräfte für die Darstellung der Krankenhaussituation heranziehen. 3.1.1 Umgang mit Sterbenden in der Ausbildung Die Antworten auf die Frage, inwieweit die Pflegekräfte auf den Umgang mit Sterbenden in ihrer Ausbildung vorbereitet werden, sind trügerisch. Im Fragebogen für den Hospizverein war die Frage schlicht: „War der Umgang mit Sterbenden ein Thema in Ihrer Ausbildung?“ 80 Prozent der befragten Pflegekräfte bejahten diese Frage. Aus der Korrelation dieser Frage mit der Dauer der Berufstä53 Auf 100 fehlende Prozente hängen mit Rundungen im Dezimalbereich zusammen. In der Gruppe „Pflege“ sind die Pflegekräfte der Krankenhäuser, die der Alten- und Pflegeheime und die der ambulanten Pflegedienste zusammengefasst. Dabei teilen sich die 682 Befragten wie folgt auf: Krankenhaus 55,5 Prozent, Alters- und Pflegeheime 23,4 Prozent und ambulante Pflegedienste 21,1 Prozent.
36
Das Sterben in Institutionen
tigkeit wurde erkennbar, dass sich dieses Thema in den letzten zwanzig Jahren zunehmend in den Ausbildungen durchgesetzt hat. Tabelle 5:
Pflegekräfte: Umgang mit Sterbenden als Thema in der Ausbildung in Abhängigkeit von der Berufsdauer
Angaben in % Umgang mit Sterben- Nein den als AusbildungsJa thema N
Bin noch Weniger als 2 bis 5 6 bis 10 11 bis 20 Schüler 2 Jahre Jahre Jahre Jahre 1,0 6,5 9,8 13,6 31,1 99,0
93,5
90,2
86,4
68,9
97
31
92
154
286
Cramer’s V= .301
Objektiv und formal wird also nun jede in Ausbildung befindliche Pflegekraft auf den Umgang mit Sterbenden in der Ausbildung vorbereitet. Die Frage ist bloß, wie diese Vorbereitung inhaltlich aussieht. Darüber lässt sich ohne Kenntnis der Curricula natürlich nur spekulieren, aber für diese Spekulationen gibt es doch handfeste Gründe. Im Sinne unseres jetzigen Blickes auf die Bedingungen, unter denen in der modernen Gesellschaft gestorben wird und wie diese Gesellschaft darauf eingerichtet ist und wie sie damit umgeht, ist es von großer Bedeutung, welche Themengebiete in der Ausbildung fehlten oder zu kurz kamen. Die mitgeführte Annahme unserer Untersuchung geht ja von einem Überhang der medizinisch-technischen pflegerischen Kompetenzen aus, denen nur marginal ausgebildete kommunikative Fähigkeiten gegenüberstehen. Für die Pflegekräfte ergibt sich dann nämlich folgendes Bild:
Das Sterben in Institutionen Tabelle 6:
37
Welche Themengebiete fehlten in Ihrer Ausbildung oder kamen zu kurz?
Gesprächsführung mit Angehörigen Palliativmedizin Psychische Betreuung sterbender Patienten Gesprächsführung mit Patienten Informationen zu Fragen wie Pflegerichtlinien, Pflegeversicherung oder Sterbegeld Rechtliche Grundlagen der Sterbebegleitung Schmerztherapie Minimalmedizin Sonstiges Informationen zur nachstationären Versorgung N
Angaben in % 50,5 50,2 46,5 45,2 43,5 39,7 38,3 31,4 6,0 5,9 630
Teilt man die Items einmal grob danach auf, ob sie technische oder kommunikative Kompetenzen benennen, so ergibt sich erstens, dass die technischen Kompetenzen nicht so häufig als fehlend beurteilt werden wie die kommunikativen Fertigkeiten. Eine große und wichtige Ausnahme ist allerdings auch dort zu verzeichnen: Immerhin die Hälfte der Befragten findet das Thema Palliativmedizin in der Ausbildung unterrepräsentiert. Aber auch dies hängt davon ab, wie lange die Ausbildung zurückliegt. Palliativmedizin ist heute in nahezu drei Viertel aller Ausbildungen integriert. Tabelle 7:
Palliativmedizin als fehlender Ausbildungsinhalt in Abhängigkeit von der Berufsdauer
Angaben in % Palliativmedizin fehlend N Cramer’s V= .278
Nein Ja
Bin noch Schüler 72,4 27,6 76
Weniger als 2 Jahre 72,4 27,6 29
2-5 Jahre 6-10 Jahre 61,2 38,8 85
54,0 46,0 150
11-20 Jahre 36,1 63,9 285
Auf der technischen Seite des Berufsbildes kann die Ausbildung also als adäquat bezeichnet werden. Der Umgang mit Sterbenden betrifft nun aber gerade nicht nur die technische Seite. Gerade im Gegenteil ist die technische Seite die „Repräsentantin“ der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, die das Individuum nicht auffängt in seinem Sterben. Ins Gewicht fallen hier also die kommunikati-
38
Das Sterben in Institutionen
ven Fähigkeiten, und genau diese werden mehrheitlich als fehlend oder als zu kurz gekommen qualifiziert. Für die Hälfte der Befragten ist das Thema „Gesprächsführung mit Angehörigen“ zu kurz gekommen und für jeweils rund 45 Prozent der Befragten die Themen „Psychische Betreuung sterbender Patienten“ und „Gesprächsführung mit Patienten“. Es lässt sich noch ein Schluss aus diesen Antworten ziehen: Man gibt auf die Frage, was nach eigener Meinung zu kurz kam oder fehlte, nur Inhalte an, die einem tatsächlich nützen würden, wenn man sie gelernt hätte. Wenn also je rund 45 Prozent der Befragten sagen, dass sie in der psychischen Betreuung Sterbender und bei der Gesprächsführung mit Patienten nicht genügend ausgebildet wurden, ist das keine Beurteilung der Ausbildung gleichsam „im luftleeren Raum“, sondern es ist eine Erfahrung der alltäglichen Arbeit, dass man mit den Patienten Gespräche führen muss und man damit nicht zurecht kommt. Auch der Ausdruck „Gespräche führen“ kann etwas genauer gedeutet werden. Es ist wohl mit Fug und Recht anzunehmen, dass nicht gemeint ist, nackte Zahlen, Untersuchungswerte oder Entlassungstermine mitzuteilen. Die Gesprächsthemen, die Sorge machen sind: eine schlechte Diagnose, die Erkenntnis der Unheilbarkeit der Krankheit, Fragen nach dem Sterben, den Schmerzen und dem nahen Tod. Dies jedenfalls legen die Antworten auf die Frage nach besonders belastenden Situationen nahe. Wir hatten die Pflegekräfte gefragt: „Welche Situationen in der Sterbebegleitung sind für Sie bei Ihrer Arbeit besonders belastend?“ Tabelle 8:
Pflege „Besonders belastende Situationen“
Sterben von Erwachsenen jüngeren Alters Starke Schmerzen der Patienten Verzweiflung und Todesangst von Patienten Emotionale Verbundenheit mit Patienten Nicht mehr helfen zu können Sterben von Erwachsenen mittleren Alters Nicht erfüllbare Erwartungen an die Pflege Gespräche mit Angehörigen Gespräche mit Patienten Patienten verweigern Therapie Sterben von Erwachsenen höheren Alters Sonstiges N
Angaben in % 72,0 70,9 62,7 56,0 50,4 38,5 30,4 29,2 18,5 7,7 7,6 7,3 671
Das Sterben in Institutionen
39
Das Sterben von jungen Menschen ist eine immer als schlimm, wenn nicht als skandalös empfundene Situation, und dies unabhängig von kommunikativen Fähigkeiten oder einer ausgebildeten „ars moriendi“. Denn diese richtete sich auf den Umstand, dass am Ende jedes Lebens der Tod steht und dass dies akzeptiert werden muss. Das schloss nicht aus, dass es Tode gab, die als zu früh und damit als Skandal empfunden wurden. Der Tod des jungen Menschen ist ein solcher Skandal, auf den sich eine Gesellschaft nicht einstellen kann. Es geht in unserer Fragestellung auch dezidiert nicht darum, das Verhalten und die Einstellungen zu Tod und Sterben angesichts von Katastrophen oder Ausnahmefällen zu untersuchen, sondern darum zu zeigen, dass die Gesellschaft auf die normale Tatsache des Sterbens eines jeden Menschen keine passenden Verhaltensroutinen hat. Jedenfalls keine solchen, die das Phänomen des Sterbens thematisierbar werden ließen. Routine meint hier nicht die Abläufe, die vonstatten gehen, wenn jemand gestorben ist: Denn die gibt es. Auch die 70 Prozent der Befragten, die starke Schmerzen der Patienten als besonders belastende Situation empfinden, sind kein Beleg für einen inhaltlichen Mangel in der Ausbildung, sondern eher ein Hinweis darauf, dass sich das Wissen um Möglichkeiten der Schmerztherapie in Ärztekreisen noch nicht ausreichend durchgesetzt hat. Schmerzen müsste bei den hochpotenten Analgetika der modernen Medizin kein Mensch mehr haben. Dass es belastend ist, einen Menschen körperliche Qualen ausstehen zu sehen, muss nicht begründet werden. Bei den rund 63 Prozent der Befragten, für die Verzweiflung und die Todesangst von Patienten eine belastende Situation darstellen, liegt der Fall etwas anders. Erstens wäre zu fragen, warum rund 37 Prozent der Befragten diese Situation nicht als belastend empfinden. Darauf aber geben die Daten der Umfrage keine Hinweise. Zweitens aber können Gespräche bei Verzweiflung und Todesangst eine helfende Wirkung entfalten, die bei körperlichen Schmerzen nicht zu erreichen ist. Es taucht hier wie ein Echo das beanstandete Defizit der Ausbildung wieder auf: Die psychische Betreuung Sterbender hätte genau dies als zentralen Inhalt. Sterben ist, jedenfalls phasenweise, immer mit Verzweiflung und Todesangst verbunden. Dies ist auch historisch immer so gewesen. Wenn auch die Angst im Mittelalter eher auf die Furcht vor der Hölle bezogen gewesen sein mag als auf das Ende des irdischen Lebens. Das belegen gerade die „artes moriendi“. Auf die Konfrontation mit solchen Phasen müsste eine Ausbildung vorbereiten.
40
Das Sterben in Institutionen
3.1.2 Aspekte guter Sterbebegleitung Um nun die Differenz deutlich zu machen, die von den Befragten selbst zwischen Anforderung (auch von sich an sich selbst) und Kompetenz gesehen wird, lohnt ein Blick auf die Aspekte der Sterbebegleitung, die von den Befragten für wichtig gehalten werden. Wichtig bei der Analyse der Antworten ist, dass die Liste eine von Experten erarbeitete, normativ gemeinte Liste ist, das heißt, die Items benennen samt und sonders Aspekte, die als sinnvoll erachtet werden. Jemand, der eine umfassend korrekte Einstellung zur Sterbebegleitung im Sinne der Hospizbewegung hat, müsste theoretisch jedes Item angekreuzt haben. Tabelle 9:
„Was gehört zu einer guten Sterbebegleitung?“
Schmerzfreiheit Eine den Bedürfnissen und Wünschen der Patienten angepasste Pflege Für ein angenehmes und würdevolles Umfeld sorgen Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige Für Patienten „nur da sein“ Gespräche mit Patienten Gespräche mit Angehörigen Seelsorgerische Betreuung der Patienten Patienten kleinere Wünsche erfüllen Patientenwünsche auch dann respektieren, wenn sie medizinisch nicht indiziert sind Wahrheit am Krankenbett Sedierung bei Bedarf Symptomkontrolle Formelle Angelegenheiten für Patienten erledigen Sonstiges N
Angaben in % 96,8 90,5 88,7 85,2 85,0 84,8 80,1 75,1 62,3 60,4 46,8 44,4 27,3 24,8 9,1 682
Man mag sich fragen, warum nicht 100 Prozent der Befragten „Schmerzfreiheit“ als zu guter Sterbebegleitung gehörig gezählt haben. Die Ursache für das Fehlen von Konstanten im Antwortverhalten liegt wohl in einem Missverständnis.54 54
Denn in fast allen Berufsgruppen liegen bei allen Items die Zustimmungsquoten unter 100 Prozent. Lediglich für die niedergelassenen Ärzte gehört „Schmerzfreiheit“ ausnahmslos zur „guten Sterbebegleitung“. Bei den anderen Befragten gibt es dagegen unterschiedlich große Minderheiten, die dies
Das Sterben in Institutionen
41
Hier soll nur die Komplementärfolie dargestellt werden: Aspekte und Tätigkeiten, denen sich die Befragten bei der Sterbebegleitung nicht gewachsen fühlen, werden gleichwohl von ihnen mehrheitlich für wichtig gehalten. „Für Patienten nur da sein“, „Gespräche mit Patienten“, „Gespräche mit Angehörigen“ werden jeweils von rund 85 Prozent der Befragten zu einer guten Sterbebegleitung gezählt. Gleichzeitig werden die dazu nötigen Kompetenzen als fehlend erkannt. Die Annahme, dass die Pflegekräfte sich des Missverhältnisses zwischen der hohen Ausdifferenzierung ihrer medizinisch-technischen Fähigkeiten und der niedrigen Ausbildung von kommunikativen Fähigkeiten bewusst sind, lässt sich anhand dieser Daten belegen.
nicht als unbedingt erforderlich ansehen. Es wurde zwar gefragt, was nach Meinung der Befragten ganz allgemein zu einer guten Sterbebegleitung gehört. Offensichtlich wurde von einigen Befragten aber verstanden, dass sie angeben sollten, welche der genannten Tätigkeiten in ihren Aufgabenbereich bei der Sterbebegleitung fallen. Beispielsweise stimmen in der Gruppe der Seelsorger 90,9 Prozent der Aussage zu, dass „Seelsorgerische Betreuung“ zu einer guten Sterbebegleitung gehört, aber nur 76,4 Prozent meinen dies von der „Schmerzfreiheit“. Hier zeigt sich aber auch, dass die Annahme dieses Missverständnisses nicht für alle Befragten zutrifft, denn Patienten Schmerzfreiheit zu gewähren, ist nicht Aufgabe der Seelsorger. Einige Befragte haben also angekreuzt, was ihrer Meinung nach generell zu guter Sterbebegleitung gehört. Das Problem besteht darin, dass es keine datenanalytische Möglichkeit gibt, die beiden Gruppen, d.h. Befragte, die die Frage im Sinn allgemeiner und grundlegender Standards beantwortet haben und Befragte, die ihre Antwort auf ihr eigenes Tätigkeitsfeld bezogen haben, zu trennen. Aber auch wenn man dieses Missverständnis bei der Interpretation der Daten berücksichtigt, bleiben die Zustimmungsraten hinter den erwarteten Werten zurück. Die Befragten hätten dann doch zumindest die Aufgaben, die zum Aufgabenbereich ihrer jeweiligen Berufsgruppe gehören, sämtlich zu einer guten Sterbebegleitung rechnen müssen. Aber auch dies ist nicht der Fall, wie die Antworten in den einzelnen Berufsgruppen zeigen.
42 3.1.3
Das Sterben in Institutionen Zeitmanagement
Betrachten wir zuerst, welche Aufgaben in der Arbeit der Pflegekräfte viel Zeit kosten: Tabelle 10: Zeitintensive Aufgaben der Pflegekräfte Pflege Gespräche mit Angehörigen Seelische Unterstützung des Patienten Gespräche mit dem Patienten Dokumentation Ernährung Gespräche mit Ärzten Gespräche mit Kollegen Gespräche mit Seelsorgern Gespräche mit Hospizhelfern Sonstige Aufgaben N
Angaben in % 86,4 66,0 60,1 57,8 51,3 31,6 18,3 18,0 8,0 5,9 3,6 661
Fragt man, für welche Aufgaben die Pflegekräfte gerne mehr Zeit hätten, stellt man fest, dass hier eine Kontraposition auf den ersten Rängen vorliegt.
Das Sterben in Institutionen
43
Tabelle 11: Pflegekräfte hätten gerne mehr Zeit für: Angaben in % 81,9 72,7 62,8 56,5 21,1 16,0 14,8 14,4 13,6 9,4 1,8 667
Gespräche mit dem Patienten Seelische Unterstützung des Patienten Gespräche mit Angehörigen Pflege Gespräche mit Kollegen Gespräche mit Seelsorgern Gespräche mit Hospizhelfern Gespräche mit Ärzten Ernährung Dokumentation Sonstige Aufgaben N
Die Pflegekräfte mobilisieren schon jede verfügbare Ressource für die Kommunikation mit den Patienten (so darf man die Antworten auf die Status-Quo Frage interpretieren), empfinden aber immer noch ein Gefühl des Ungenügens. Unter den gegebenen Umständen sind sie ihrer eigenen Einschätzung nach weder zeitlich, noch in Bezug auf ihre erlernten Kompetenzen in der Lage, die Arbeit mit Sterbenden befriedigend leisten zu können. 3.1.4 Arbeitszufriedenheit Diese Kontraposition lässt auch einen genaueren Rückschluss auf die Gründe der mangelnden Arbeitszufriedenheit bei den Pflegekräften zu. Wenn sich Arbeitsunzufriedenheit einstellt, wenn man (unter anderem) aufgrund von permanentem Zeitmangel das Gefühl hat, eine suboptimale Arbeit zu leisten, dann lässt sich an den Bereichen, für die man gerne mehr Zeit zur Verfügung hätte, ablesen, woher inhaltlich die Unzufriedenheit rührt. Tabelle 12: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Arbeitssituation? Angaben in % Pflegekräfte
Sehr zufrieden 12,0
Zufrieden 65,2
Weniger zufrieden 19,5
Nicht zufrieN den 3,3 667
44
Das Sterben in Institutionen
Wenn nun 65,2 Prozent der Befragten angeben, sie seien mit ihrer Arbeitssituation „zufrieden“, ist das ein trügerisches Bild. Denn bei Zufriedenheitsmessungen gilt es generell, zweierlei zu bedenken. Zum einen wird die Zufriedenheit leicht über- und die Unzufriedenheit eher unterschätzt, da es bei den Befragten eine generelle Tendenz zur Meidung extremer Urteile gibt. Jenseits von Extremurteilen ist zum anderen aber bei Zufriedenheitsmessungen auch zu beachten, dass die Befragten zu einem inhaltsunabhängigen positiven Antwortverhalten neigen.55 Dies hat zur Konsequenz, dass der Begriff der Zufriedenheit unterschiedlich konnotiert wird. Bei Zufriedenheitsurteilen ziehen die Befragten eine mehr oder weniger ausführliche Bilanz der positiven und negativen Aspekte ihrer Arbeit und ordnen sie dann einer der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten zu. Jede Kategorie hat daher eine gewisse Spannbreite dessen, was mit ihr bezeichnet wird. „Zufrieden“ ist man daher zum einen, wenn zwar auch negative oder nicht sehr angenehme Aspekte in der Arbeitssituation vorhanden sind, die positiven Aspekte aber (deutlich) überwiegen. Als „zufrieden“ stufen sich aber auch manche Befragte ein, wenn die negativen Aspekte überwiegen, man sich aber im Vergleich zu anderen Beschäftigten immer noch als besser gestellt sieht. „Zufrieden“ meint dann, dass man angesichts der schlechteren Alternativen schon noch zufrieden ist, aber vieles gerne anders hätte. Zufrieden ist man in Relation zu anderen, aber nicht in Bezug auf die Arbeitssituation als solcher. Symptomatisch für diese Haltung sind Äußerungen wie „Man muß ja zufrieden sein, dass man überhaupt Arbeit hat“ oder „Anderen geht es wesentlich schlechter“. In jedem Fall impliziert ein Zufriedenheitsurteil, dass es durchaus noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt, ansonsten wäre man „sehr zufrieden“. Die Antwort „bin weniger zufrieden“ ist ein klarer Indikator für Unzufriedenheit und die explizite Nennung der Kategorie „bin nicht zufrieden“ ist ein eindeutiger Ausweis dafür, dass der Befragte seine Arbeitsbedingungen als absolut unzureichend einstuft. Wirklich zufrieden sind mithin diejenigen, die sich sehr zufrieden äußern und ein Teil der Personen, die die Option „zufrieden“ gewählt haben. Sehr zufrieden sind nur Minderheiten; besonders klein ist diese Gruppe bei den Vertretern der medizinischen Berufe. Umgekehrt ist das Potential und auch der Anteil der dezidiert unzufriedenen Personen hier ausgesprochen groß, was mit den eingangs kurz skizzierten Arbeitsbedingungen zusammenhängen dürfte. 55 Für diesen methodischen Hinweis danke ich Yasemin Mehmet. Sie weist darauf hin, dass sich bei Untersuchungen zur Patientenzufriedenheit selten weniger als 90 Prozent der Befragten als „sehr zufrieden“ oder „zufrieden“ bezeichneten. Demgemäß seien Zufriedenheitsanteile (wohlgemerkt: bei Patientenbefragungen) deutlich unter 90 Prozent als problematische Ergebnisse einzustufen. In Bezug auf Befragungen von Pflegekräften oder von Angestellten allgemein bezüglich ihrer Arbeitszufriedenheit, ist diese Aussage sicherlich stark zu relativieren. Gleichwohl untermauert sie unsere Annahme, dass es sich um ein trügerisches Bild handelt, wenn 62 Prozent der von uns befragten Pflegekräfte sagen, sie seien mit ihrer Arbeitssituation zufrieden.
Das Sterben in Institutionen
45
Es ist also festzuhalten, dass die Pflegekräfte für die „Pflege“ erst an vierter Stelle, nach den „Gesprächen“ mehr Zeit haben möchten. In einer Situation, die generell von großer Zeitknappheit dominiert ist, ist den Pflegekräften gerade an einem Mehr an Zeit für Gespräche und dergleichen wichtig. Der hierbei derzeit herrschende Mangel ist der Grund der Unzufriedenheit. Es ist wohl auch einleuchtend, dass die Pflegekräfte nicht um ihrer selbst willen ein Mehr an Gesprächen wollen, sondern den Bedarf beim Patienten sehen. Es ist für sie sicher eine alltägliche Erfahrung, sich aus einem Gespräch, das sich während der Pflege ergibt, im Wortsinne losreißen zu müssen, um den nächsten Patienten versorgen zu können. Es kann natürlich sein, dass dies, ist das Bewusstsein erst einmal für diese Frage sensibilisiert, sich rückkoppelt und verselbständigt: Dann wird die Notwendigkeit für Gespräche ein Apriori und man hätte dafür gerne mehr Zeit, auch wenn der Patient in der gegebenen Situation nicht unmittelbar ein Gespräch einfordert. Das würde aber dann bedeuten, dass bereits eine Änderung in der Auffassung der Pflege stattgefunden hat, die ganz im Sinne des Hospizvereins und im Sinne unserer These ist. 3.1.5 Rechtliche Bestimmungen der Sterbebegleitung Die Grenze zwischen Sterbebegleitung und Sterbehilfe (passiv, indirekt) ist sehr schwammig und möglicherweise auch nicht exakt zu definieren. Insbesondere das Praktizieren von Minimalmedizin und der Verzicht auf medizinisch indizierte Maßnahmen, weil der Patient dies wünscht, können gleichwohl im Zweifelsfall juristisch als unterlassene Hilfeleistung bewertet werden. Entsprechend groß ist die Rechtsunsicherheit, wie die Befragung sehr deutlich gezeigt hat. Hier ist ein Blick auf die Antworten aller Berufsgruppen der Befragung erhellend. In allen Berufsgruppen sieht sich über die Hälfte der Befragten außerstande zu beurteilen, ob die rechtlichen Bestimmungen ausreichend sind oder nicht. Die jeweils andere Hälfte hält die rechtlichen Bestimmungen mehrheitlich für nicht ausreichend. Nur eine Minderheit glaubt, dass die Rechtslage in Deutschland eindeutig und ausreichend geklärt ist.
46
Das Sterben in Institutionen
Tabelle 13: Halten Sie die bestehenden rechtlichen Bestimmungen zum Thema Sterbebegleitung in Deutschland für ausreichend? Angaben in % Seelsorger Ärzte Hospizhelfer Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Pflege
24,1 20,9 13,9 10,7
13,0 25,9 30,6 33,9
Kann ich nicht beurteilen 63,0 53,2 55,6 55,4
10,2
34,7
55,2
Ja
Nein
N 54 139 36 56
640
Im Folgenden sind Antworten der Befragten in ihrer originalen Version wiedergegeben.
Patientenverfügungen nach wie vor rechtlich umstritten, wie ist der mutmaßliche Wille der Patienten jetzt im Augenblick? In der Entscheidung, wann ein würdevolles Leben aufhört/ aktive Sterbehilfe gibt es rechtlich gesehen nicht passive Sterbehilfe: da ist Schmerzmedikation unzureichend Die Interessen der Individuen werden nicht genug berücksichtigt Sterbehilfe für Schwerstkranke, die zu einem schmerzvollen Tod verurteilt sind In der Selbstbestimmung des Patienten Wünsche der Sterbenden werden nicht ausreichend akzeptiert. Besonders bei der Sterbehilfe. Wenn ein Mensch aktive Sterbehilfe möchte, sollte er sie erhalten Angehörige sollten mehr Mitspracherecht haben, wenn der Patient dazu nicht mehr in der Lage ist Bei der aktiven Sterbehilfe Rechtliche Grundlagen der Patientenverfügung Wünsche der Patienten/ Angehörigen werden nicht respektiert. Wenn keine Besserung, sollte man das Leben nicht unnötig verlängern Patientenverfügung (wird von Klinikärzten nicht akzeptiert) Wünsche der Patienten/ Angehörigen werden nicht respektiert Die rechtlichen Bestimmungen sind im Allgemeinen den Pflegekräften, ja oft sogar den Ärzten nicht bekannt. Bilden einer Grenze würde helfen, würdevolles Sterben zu ermöglichen
Das Sterben in Institutionen
47
Hickhack Patientenverfügung verwirrt alle Durchsetzung des Patientenwillens nach wie vor schwierig bis unmöglich es bestehen Unsicherheiten bei Patientenverfügungen, Vollmachten, etc. keine einheitlichen Vorgehensweisen Unsicherheit für Ärzte und Pflegekräfte, wenn es um den Wunsch geht, lebensverlängernde Maßnahmen zu beenden
Defizite bei der Rechtslage werden von Angehörigen aller Berufsgruppen vor allem in zwei Punkten gesehen. Der erste betrifft die Unterscheidung von aktiver und passiver Sterbehilfe. Entsprechend der großen Anzahl der Befragten, welche nicht beurteilen können, ob die rechtlichen Bestimmungen zum Thema Sterbebegleitung ausreichend sind oder nicht, besteht keine Klarheit bezüglich der Definition und Abgrenzung von aktiver und passiver Sterbehilfe. Darin wird deutlich, dass viele Ärzte und Pflegekräfte bei ihrer Arbeit in der Sterbebegleitung mit großer Handlungsunsicherheit konfrontiert sind. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Befolgung und Umsetzung des Patientenwillens. Dessen Befolgung ist ein zentrales Anliegen in der Sterbebegleitung, wobei die Patientenverfügung der Artikulation dieses Patientenwillens dienen soll. Die Ergebnisse der Befragung zeigen aber, dass gerade in Bezug auf die Verlässlichkeit und juristische Eindeutigkeit der Patientenverfügung gegenwärtig große Unsicherheiten bestehen 3.1.6 Patientenverfügungen in der Arbeit der Sterbebegleitung Diese Unsicherheiten scheint es übrigens auch auf Patientenseite zu geben – oder aber nach wie vor große Informationsdefizite. Die Konfrontation mit Patientenverfügungen stellt für die Ärzte in ihrer Tätigkeit der Sterbebegleitung immer noch eher die Ausnahme dar. Im Schnitt haben die befragten Ärzte im Jahr 2002 rund 15 sterbende Patienten betreut. In ihrer gesamten bisherigen beruflichen Laufbahn wurden die Ärzte aber im Schnitt nur mit rund 9 Patientenverfügungen konfrontiert. Ob die Patientenverfügungen sich in der Praxis als hilfreich erwiesen, hing in der Mehrzahl der Fälle vom Einzelfall ab.
48
Das Sterben in Institutionen
Tabelle 14: Waren diese Patientenverfügungen für Ihre ärztlichen Entscheidungen hilfreich? Angaben in % Ja, immer Nein, nie Das hing vom Einzelfall ab N
29,3 11,1 59,6 99
Rund 60 Prozent der Ärzte sagen, dass es vom jeweiligen Einzelfall abhing, ob eine Patientenverfügung für ihre ärztliche Entscheidung hilfreich war. Entsprechend haben die Ärzte auch mehrheitlich den unklaren rechtlichen Status der Patientenverfügung als Defizit in der Sterbebegleitung genannt. Vermutlich kam also in den „Einzelfällen“, in denen die Patientenverfügung hilfreich war, noch eine andere Komponente dazu. Entweder war der Austausch mit den Angehörigen des Patienten hilfreich, die noch einmal den in der Verfügung niedergelegten Willen des Patienten bestätigt haben, oder aber der Arzt hatte den Patienten selbst schon längere Zeit betreut und war von daher über dessen Einstellung informiert. Auf anders gelagerte Fälle, in denen es zu einem Konflikt zwischen Angehörigen und Arzt kam, haben die Ärzte häufiger angesichts der mangelnden Verbindlichkeit von Patientenverfügungen hingewiesen. Als Resümee bleibt, dass bei dem Umgang mit Sterbenden in der beruflichen Praxis der Ärzte gegenwärtig Patientenverfügungen nicht als ausreichende und verlässliche Entscheidungshilfen angesehen werden können und zudem zu bedenken ist, dass es grundsätzlich individuell zu entscheidende ethische Situationen sind. Aus Sicht der Ärzte ist eine eindeutige Klärung des rechtlichen Status der Patientenverfügungen erforderlich. Es ist zu vermuten, dass die Unsicherheiten im Zusammenhang mit Patientenverfügungen auch dazu geführt haben, dass gerade die befragten Ärzte und Pflegekräfte selbst nur in geringem Maß eine eigene Patientenverfügung verfasst haben. Eigene Ängste in Bezug auf die eigene letzte Lebensphase mögen in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen.
Das Sterben in Institutionen
49
Tabelle 15: Haben Sie für sich selbst eine Patientenverfügung verfasst? Angaben in % Hospizhelfer Seelsorger Ärzte Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Pflege
Ja
Nein
N
47,4 25,9 18,8 14,5
52,6 74,1 81,2 85,5
38 54 138 76
13,9
86,1
653
3.1.7 Leitlinien zur Pflege Schwerstkranker und Sterbender Jenseits der rechtlichen Bestimmungen, die der Mehrzahl der Befragten nicht bekannt sind, stellen „hausinterne" Leitlinien zur Pflege schwerstkranker und sterbender Patienten ein geeignetes Mittel dar, um den Pflegekräften in der Sterbebegleitung Orientierung zu bieten. Gegenwärtig gibt aber erst die Hälfte der Institutionen ihren Mitarbeitern solche Leitlinien an die Hand. Tabelle 16: Gibt es in Ihrer Einrichtung Leitlinien zur Pflege schwerstkranker und sterbender Patienten?56 Angaben in % Ja Nein Weiß ich nicht N
49,8 26,7 23,5 651
Diese werden allerdings überwiegend als hilfreich angesehen.
56 Diese Frage und die Folgefrage: „Wie hilfreich sind diese Leitlinien für ihre pflegerische Tätigkeit?“ waren nur im Fragebogen für die Pflegekräfte enthalten.
50
Das Sterben in Institutionen
Tabelle 17: Wie hilfreich sind diese Leitlinien für Ihre pflegerische Tätigkeit? Angaben in % Hilfreich Weniger hilfreich N
63,9 36,1 321
Analog zu den Pflegeleitlinien in den Krankenhäusern und Alten- und Pflegeheimen existieren für die Ärzteschaft Richtlinien der Bundesärztekammer. Die Mehrzahl der Ärzte kennt diese Richtlinien jedoch nicht. Tabelle 18: Wie hilfreich sind die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung für Ihre ärztliche Tätigkeit? Angaben in % Hilfreich Weniger hilfreich Ich kenne die Richtlinien nicht N
23,6 18,6 57,9 140
3.1.8 Passive und aktive Sterbehilfe In der Diskussion um Sterbehilfe wird zwischen den Begriffen der passiven, indirekten und der aktiven Form unterschieden. Um die Einstellung zu passiver Sterbehilfe zu messen, wurde den Befragten ein Fallbeispiel vorgestellt: „Angenommen, auf der Intensivstation wird nach einem schweren Unfall ein junger Mann eingeliefert, der ins Koma fällt. Es stellt sich heraus, dass er schwer hirngeschädigt bleiben wird. Die Eltern fordern daraufhin die Einstellung der künstlichen Ernährung, da sich der Sohn bereits vor Jahren für einen solchen Fall gegen jegliche lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen habe, um „in Würde sterben zu können“.
Wie sollte Ihrer Meinung nach verfahren werden?
Der Patientenwille sollte hier maßgeblich sein, deshalb sollte die künstliche Ernährung eingestellt werden. Medizin und Pflege sollten grundsätzlich der Aufrechterhaltung von Leben dienen, deshalb müssen alle lebenserhaltenden Maßnahmen durchgeführt werden.
Das Sterben in Institutionen
51
Die Antworten sind hier eindeutig. 89,7 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass der Patientenwille hier maßgeblich sein sollte, d.h. die künstliche Ernährung ist einzustellen. Nur 10,3 Prozent sind der Meinung, dass alle lebenserhaltenden Maßnahmen durchgeführt werden sollten. Entgegen den Erwartungen liegt der Anteil der Antwortverweigerungen bei nur 11 Prozent, das heißt 90 Prozent der Befragten haben in dieser Frage eine dezidierte Meinung und äußern diese auch. Tabelle 19: Soll der Patientenwille maßgebend sein? Angaben in % Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Hospizhelfer Pflege Ärzte Seelsorger N Gesamt
Patientenwille Maßgebend 91,7
Alle lebenserhaltenden Maßnahmen 8,3
48
91,4 90,9 90,2 69,6
8,6 9,1 9,8 30,4
35 635 122 46 886
N
Mit Ausnahme der Gruppe der Seelsorger halten in allen Berufsgruppen jeweils über 90 Prozent der Befragten den Patientenwillen für maßgeblich. Selbst in der Gruppe der Seelsorger liegt die Zustimmung zur Befolgung des Patientenwillens mit rund 70 Prozent sehr hoch. Dabei dürfte eine Rolle spielen, dass zwar einerseits nach christlicher Auffassung allein Gott die Entscheidung über das Ende eines Menschenlebens zukommt. Andererseits ist es aber auch theologisch durchaus umstritten, ob die Aufrechterhaltung basaler Vitalfunktionen durch Apparate (oder auch: die Reduzierung des menschlichen Lebens auf künstlich erhaltene Vitalfunktionen gegen den Willen des Patienten und ohne dass er bei Bewusstsein ist) noch als Leben zu bezeichnen ist, oder ob der als Gottes Wille erachtete und von dem Menschen akzeptierte Tod hier nicht durch andere Menschen künstlich hinausgezögert wird. Festzuhalten bleibt, dass eine sehr große Mehrheit im Fall einer medizinisch weitgehend hoffnungslosen Lage der Patienten für den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen plädiert, wenn dies dem klaren und eindeutig erkennbaren Willen des betroffenen Patienten entspricht. Ein Problem in der Praxis dürfte allerdings sein, dass eben dieser Patientenwille häufig nicht so klar und eindeutig zu erkennen ist.
52
Das Sterben in Institutionen
Die Frage zu aktiver Sterbehilfe wurde sehr eindeutig gestellt und lautete: In der Schweiz existiert seit einigen Jahren die Organisation „Dignitas“57, die Patienten im finalen Stadium aktive Sterbehilfe leistet. Dieses Angebot wird in zunehmendem Maß auch von deutschen Patienten in Anspruch genommen. Würden Sie es begrüßen, wenn es in der Bundesrepublik eine vergleichbare Institution gäbe? Ja Nein Dazu habe ich mir noch keine abschließende Meinung gebildet. Im Unterschied zu der Einstellung zu passiver Sterbehilfe, wie sie im vorhergehenden Abschnitt diskutiert wurde, gibt es in Bezug auf aktive Sterbehilfe keine eindeutige Tendenz. Insgesamt überwiegt zwar die Zustimmung zu einer Organisation wie „Dignitas“. Der Prozentsatz der Antwortverweigerungen ist wegen der explizit vorgegebenen Kategorie: „Dazu habe ich mir noch keine abschließende Meinung gebildet“ mit 2,4 Prozent gering. Der Anteil der Unentschiedenen entspricht zahlenmäßig aber in etwa dem Anteil der Personen, die eine Institution wie „Dignitas“ auch in Deutschland begrüßen würden. Rund ein Viertel der Befragten ist dagegen, Angebote aktiver Sterbehilfe auch in Deutschland zu etablieren. Tabelle 20: Würden Sie eine Institution wie „Dignitas“ in Deutschland begrüßen? Angaben in % Ja, würde eine solche Institution begrüßen Nein, würde Institution nicht begrüßen Keine abschließende Meinung N
57
39,0 23,7 37,3 971
Bei „Dignitas - Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben“ handelt es sich um einen schweizerischen Verein, der 1998 von Ludwig A. Minelli gegründet wurde. Der Verein steht seinen Mitgliedern auf deren Wunsch beim Suizid beratend, helfend und begleitend zur Seite, sofern das jeweilige Mitglied „an einer unfehlbar zum Tode führenden Krankheit oder an einer unzumutbaren Behinderung leidet und seinem Leben und Leiden deshalb freiwillig ein Ende setzen möchte.“ Vgl. auf der Homepage des Vereins: http://www.dignitas.ch/index.php?option=com_content&task=view&id=82&Itemid=123. Der Verein verfolgt nach eigener Aussage keine finanziellen Interessen, war gleichwohl aber gerade wegen solcher Vorwürfe des Öfteren in den Schlagzeilen. Die deutsche Sektion mit Sitz in Hannover wurde 2005 unter dem Namen „Dignitate“ gegründet.
Das Sterben in Institutionen
53
Schlüsselt man die Antworten nach den Berufsgruppen getrennt auf, zeigt sich, dass rund die Hälfte der Pflegekräfte eine Organisation wie „Dignitas“ befürwortet. Zentraler Grund dürften hier die Erfahrungen in der Konfrontation mit dem Leiden durch den alltäglichen pflegerischen Umgang mit Sterbenden sein. Die Pflegekräfte agieren in der unmittelbaren Nahzone der Sterbenden. Zum anderen aber ist sicher die oben beschriebene Handlungsunsicherheit in der Arbeit der Sterbebegleitung der gewichtigste Faktor dafür, dass man eine Institution wie „Dignitas“ begrüßt. Diese Handlungsunsicherheit ergibt sich, wie geschildert, aus dem Zusammenspiel von unklarer rechtlicher Lage und der Unkenntnis der tatsächlich bestehenden Richtlinien (z.B. Richtlinien der Bundesärztekammer, möglicherweise auch Unkenntnis bzw. Unklarheit hinsichtlich der verschiedenen Begrifflichkeiten in der Sterbehilfe). Anders ausgedrückt heißt das: Entweder sind die Inhalte der Hospizbewegung nicht genügend bekannt oder sie sind rechtlich nicht genügend greifbar, wie im Falle der Patientenverfügungen. Dieses empfundene Fehlen von klaren Strukturen, die Orientierung bieten könnten, kann ein Grund für die Zustimmung zu „Dignitas“ sein. Diejenigen, die einer Organisation wie „Dignitas“ zustimmen, sehen in ihr vermutlich eine radikale, aber dafür eindeutige und klare Alternative zu einem mit hoher Handlungsunsicherheit belasteten Arbeitsalltag in der Sterbebegleitung. Zu bedenken ist auch, dass für die Ärzte, die Seelsorger und die Hospizhelfer fachspezifische Verpflichtungen und Überzeugungen eine stärkere Rolle spielen können, die einer Zustimmung zu einer Organisation wie „Dignitas“ entgegenstehen und die so für Pflegekräfte und für Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen nicht gelten. Die Ärzte bindet der hippokratische Eid. Die aktive Tötung wird von Seiten der Ärzte nicht als Ziel ihrer Tätigkeit angesehen, da der Schutz menschlichen Lebens als im Vordergrund stehend erachtet wird. Aus Sicht der Seelsorger ist die aktive Beendigung menschlichen Lebens, gleich unter welchen Umständen, eine Sünde.
54
Das Sterben in Institutionen
Tabelle 21: Zustimmung zu „Dignitas“ nach Berufsgruppen Angaben in %
Pflege Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Ärzte Hospizhelfer Seelsorger
Ja, würde eine solche Institution begrüßen 49,2 23,1
Nein, würde eine solche Institution nicht begrüßen 13,6 19,2
Keine abschließende Meinung
N
37,2 57,7
662 78
21,0 7,9 5,5
40,6 68,4 78,2
38,4 23,7 16,4
138 38 55
3.2 Altenheime Da in unserer Befragung die Gruppe der Pflegekräfte in Alten- und Pflegeheimen recht klein war, stützen wir uns im Folgenden auf eine von Reimer Gronemeyer geleitete Studie über „Das Begleiten von Sterbenden in hessischen Altenpflegeheimen".58 Nimmt man diese Studie zur Kenntnis auf dem Hintergrund der von uns erhobenen und oben vorgetragenen und interpretierten Daten, dann wird man an ihren Ergebnissen schwer wiegende Kritikpunkte anbringen müssen. Das betrifft nicht die Art und Weise der Datenerhebung als solche, wohl aber die mitunter geradezu naive und unreflektierte Interpretation der gewonnenen Daten. Aus zwei Gründen ist es dennoch sinnvoll, die Analyse von Gronemeyer ihrerseits wieder zu analysieren. Erstens lassen sich die Erfahrungen unserer eigenen Studie und die bereits dort geleisteten methodenkritischen Überlegungen zur Interpretation der Daten teilweise übertragen. Zum anderen ergeben sich aus der Studie selbst Gründe, die Sinnhaftigkeit einer Interpretation in Zweifel zu ziehen. Denn bei diesem Punkt ist im Besonderen, wie bei allen Auftragsuntersuchungen im Allgemeinen, der Sinn und Zweck der Studie aufschlussreich. Auftraggeber der Studie war die „Unterarbeitsgruppe Sterbebegleitung in Altenpflegeheimen", die sich aus Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Verbesserung der Sterbebegleitung in Hessen" bei der Hessischen Landesregierung zusammensetzt. Zu dieser Arbeitsgruppe gehören Vertreter der Wohlfahrtsverbände, der Pflege, der
58
Reimer Gronemeyer et al.: Das Begleiten von Sterbenden in hessischen Altenpflegeheimen. JustusLiebig-Universität Gießen 2006. http://www.reimergronemeyer.de/bilder/das%20begleiten%20von%20sterbenden-11.12.06.pdf
Das Sterben in Institutionen
55
Landesarbeitsgruppe Hospize, der Heimaufsicht, der Wissenschaft und des Sozialministeriums Hessen.59 Ziel der Studie war es, eine Übersicht über die Situation der Sterbebegleitung in den hessischen Altenpflegeheimen zu geben, Bereiche zu benennen, in denen die Sterbebegleitung verbessert werden kann oder muss, und dafür auch sowohl für die Einrichtungen selbst als auch für die politischen Entscheidungsträger Empfehlungen zu erarbeiten.60 Es heißt nun nicht, den Autoren Beliebigkeit oder Willfährigkeit zu unterstellen, wenn man anmerkt, dass die „Interpretation" der Daten gelegentlich so gut wie nicht über die reine Deskription hinauslangt. Unseres Erachtens handelt es sich dabei um strategische Zwänge bezüglich der weiteren Kooperation und der Feldpflege (eine qualitative Nachfolgestudie ist geplant61), wenn sich kritische Interpretation der Daten auf moderate und konsensfähig formulierte Empfehlungen im Fazit der Autoren beschränkt. Das Gegeneinander-Abwägen der rein deskriptiven Daten mit den Empfehlungen der Autoren auf der einen Seite und die grundsätzliche Betrachtung der Daten auf dem Hintergrund der Ergebnisse unserer eigenen Studie auf der anderen Seite ergeben unseres Erachtens einen durchaus beachtenswerten Erkenntniszugewinn hinsichtlich der Situation der Sterbebegleitung in Altenheimen. Betrachtet man zuerst die ohne weitere Kommentare referierten Ergebnisse, so scheint die Situation für die Sterbenden in hessischen Altenheimen sehr gut zu sein. Die Autoren schreiben im Fließtext: „In nahezu allen Einrichtungen werden die Bedürfnisse der Bewohner erfüllt (97 %) werden die Bedürfnisse nach religiösem und spirituellem Beistand erfüllt (96%) werden die pflegerischen Maßnahmen durchgeführt, ohne den sterbenden Menschen unnötig zu belasten (94,5%) werden die Angehörigen und Bezugspersonen über den Zustand der Bewohner informiert (93,5%) und zur Sterbebegleitung ermutigt (92,5%) wird die Schmerztherapie mit dem Arzt abgesprochen (84,1%)"62
Abgesehen davon, dass ein Unterschied besteht zwischen der Formulierung im Fließtext „Die Bedürfnisse der Bewohner werden erfüllt" und der Formulierung des zu bewertenden Items im Fragebogen „Bedürfnisse von sterbenden Men59
Vgl. ebd., S.4. Ebd., S.5. 61 Vgl. ebd., S.6. 62 Ebd., S.28. 60
56
Das Sterben in Institutionen
schen werden wahrgenommen und soweit möglich erfüllt", sind diese Zahlen derart nah an einer Idealsituation, dass sie allem widersprechen, was über die Situation in Heimen geäußert wird und zwar sowohl in den immer wieder aufbrandenden öffentlichen Debatten, Stichwort Pflegenotstand, als auch der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur. Die genannten Zahlen werden denn auch im Schlusswort der Autoren, allerdings ohne direkten Bezug, stark relativiert: „Ebenso ist gemeinhin bekannt, dass fehlende und gekürzte finanzielle Mittel die Pflegesituation belasten - Zeit und Ruhe im persönlichen Umgang mit den Bewohnern wird immer mehr zu einer wichtigen Forderung, das überlastete und unterbezahlte Personal kann diesen Forderungen jedoch nicht ohne Hilfe gerecht werden."63
Die Anregungen, die als offene Antworten von den Befragten formuliert wurden, sprechen eine ähnliche Sprache: „Mehr Zeit aufwenden, um Wünsche etc. zu erfassen", „Ruhe für die Pflege, damit sie sich der Begleitung der Sterbenden besser widmen können (sic!); weitere Schulung aller Mitarbeiter"64 Diese Aussagen sind bekannt und decken sich mit unseren eigenen Ergebnissen. Insofern sind die oben genannten Zahlen sicherlich mit Vorsicht zu genießen. Es stellt sich nun die Frage, ob sich methodische Gründe finden lassen, die zu diesen Ergebnissen geführt haben. Aus unserer Sicht liegt der Hauptgrund in der Auswahl der Befragten selber. Die Studie war als Vollerhebung konzipiert, 199 Einrichtungen wurden kontaktiert und 203 Fragebögen kamen zurück. Das bedeutet im günstigsten Falle, dass mehr oder weniger von jeder Einrichtung nur ein Fragebogen zurückkam. Von diesen Fragebögen wurden 56 Prozent von der jeweiligen Heimleitung und 50 Prozent von der jeweiligen Pflegedienstleitung ausgefüllt (offensichtlich hatten manche Befragten mehrere Funktionen). Das heißt, im Befragtensample ist eigentlich nur die Leitungsebene vertreten.65 Das aber führt, so ist doch jedenfalls stark zu vermuten, zu einem grundsätzlichen und gravierenden Bias, denn für Angehörige der jeweiligen Leitungsebenen kommt die Beantwortung des Fragebogens einer Selbstdarstellung gleich. Aber jenseits dieser Trivialität, die im Kern bedeutet, dass Antworten mehr oder minder geschönt werden, führt diese Auswahl an Befragten unseres Erachtens auch zu einer verzerrten Beschreibung der Wirklichkeit, die schlicht damit zusammenhängt, dass die Aufgaben von Angehörigen der Leitungsebene eben nicht mehr die gleichen Tätigkeiten sind wie die Aufgaben der reinen Pflegekräfte. Die Kritik als These formuliert lautet kurzum: Je weiter sich die Tätigkeit von der 63
Ebd., S.39. Ebd., S.35. 65 Ebd., S.14. Die Pflegekräfte sind als Befragte durchaus als eigene Gruppe vertreten: vgl. S.17. 64
Das Sterben in Institutionen
57
konkreten Arbeit am Patienten entfernt, desto mehr kann die Präzision der Antworten in Zweifel gezogen werden. Ein von uns erhobenes Datum mag, bei aller Methodenkritik, die daran zu üben wäre, diesen Problemkomplex doch annähernd gut beschreiben. In der Studie für den Hospizverein hatten wir die Pflegekräfte, die Ärzte allerdings nicht, gefragt, ob sie denn selbst gerne in der Einrichtung sterben würden, in der sie als Pflegekraft beschäftigt sind, wenn sie nicht zu Hause sterben könnten. Die große Mehrheit von rund 64 Prozent möchte dies allerdings nicht. Nur 1,4 Prozent der befragten Pflegekräfte möchte im Krankenhaus sterben, nur 2,6 Prozent im Altersheim, hingegen rund 41 Prozent in einem stationären Hospiz und rund 55 Prozent haben sich zu dieser Frage noch keine Gedanken gemacht. Die Ärzteschaft gibt sehr ähnliche Antworten auf diese Frage: Je rund 3 Prozent wollen in einem Krankenhaus oder einem Altenheim sterben, 40 Prozent in einem stationären Hospiz, und auch in dieser Befragtengruppe haben sich rund 54 Prozent über einen Ort des Sterbens noch keine Gedanken gemacht. Man darf nun die sehr geringen Raten derer, die in einem Krankenhaus oder in einem Altenpflegeheim sterben wollten, nicht überinterpretieren, angezeigt werden sollte hier lediglich, dass das Pflegepersonal von Krankenhäusern wie auch Altenheimen nicht in der eigenen Einrichtung sterben wollte, sie die dort herrschenden Zustände (über Verantwortlichkeiten für diese Zustände ist damit noch nichts gesagt) also kritisch sehen. Sieht man sich die von Gronemeyer erhobenen Daten weiterhin kritisch an, und immer bezogen auf die zu Anfang referierten Aussagen über den angeblich hervorragenden Zustand in hessischen Altenheimen, so lässt sich auch an folgender Stelle der Verdacht erhärten, dass die Lage erheblich kritischer ist als vorgegeben. In Bezug auf die „Gestaltung der Pflege und Begleitung sterbender Menschen“ sollten die Befragten fünfzehn Items bewerten.66 Dabei ist in den Antworten unseres Erachtens ein klarer Schnitt zu sehen zwischen den Items, die vage und sehr dehnbar formulierte Aspekte der Pflege bezeichnen und denjenigen, welche kosten- oder zeitintensive Aspekte der Pflege darstellen. Die erste Kategorie ist eher niedrig, die zweite Kategorie sehr hoch bewertet (N=201). Nur rund 11 Prozent der Befragten sagen, dass in ihrer Einrichtung „besondere Verfahren für Demente“ angewandt werden, nur rund 13 Prozent geben an, dass bei sterbenden Menschen die „Nachtwachen personell verstärkt“ werden, jeweils rund 26 Prozent berichten, dass die Pflegenden nach „Grundsätzen von Palliativmedizin und Palliativpflege“ handeln, bzw. dass „Pflegende mit besonderer Weiterbildung“ einbezogen werden (was im einen Falle zeit- und im anderen Falle kostenintensiver ist als eine herkömmliche, nicht spezialisierte Pflege), 34 Prozent der Einrichtungen kooperieren mit einer ambulanten Hospizgruppe, in rund 36 Prozent der Einrich66
Für die im Folgenden referierten Daten vgl. ebd, S.30.
58
Das Sterben in Institutionen
tungen werden die Bewohner „bei ihrer Lebensrückschau unterstützt“ (sehr zeitintensiv) und in rund 40 Prozent der Einrichtungen werden „Sitzwachen“ gehalten.67 Direkt 30 Prozent mehr Zustimmung erfährt das nächste zu bewertende Item, das nun das erste in der Reihe derer ist, die unseres Erachtens eine sogenannte „low-cost-situation“ für die Befragten darstellt. „Sterbebegleitung hat Vorrang im Pflegeprozess“ bejahen für ihre Einrichtung rund 70 Prozent der Befragten. Die Frage ist, ob sich das auf die Handlungsnorm bezieht oder auf die Handlungsrealität. Dass eine „Schmerztherapie mit (einem) Arzt abgesprochen und durchgeführt“ würde, sagen rund 84 Prozent der Befragten. Diesen Punkt muss man sich etwas genauer betrachten. Er fällt an sich aus der Reihe der „vage und dehnbar“ formulierten Items heraus. Es ist eine konkrete und klar formulierte Aussage. Fraglich ist allerdings, wie denn eigentlich die abgesprochene Schmerztherapie durchgeführt wird, ob also eine genügend ausgebildete und damit autorisierte Pflegekraft zur Verfügung steht, um die notwendigen Schmerzmittel verabreichen zu dürfen. Denn dem gegenüber steht die bereits referierte Aussage, dass jeweils lediglich in einem Viertel der untersuchten Altenheime die „Pflegenden nach Grundsätzen der Palliativmedizin und der Palliativpflege“ handeln (s.o.), bzw. nur in einem Viertel der Altenheime „Pflegende mit besonderer Weiterbildung“ in die Pflege einbezogen werden. Selbst wenn man auf eine frühere Stelle der Studie rekurriert, wonach „in 41 Prozent der hessischen Altenpflegeheime (...) der Expertenstandard Schmerzmedizin angewandt (wird)“68, so ist auch das lediglich nicht einmal die Hälfte der rund 85 Prozent Altenheime, die eine Schmerztherapie mit dem Arzt absprechen und durchführen. Dieser innere Widerspruch, jedenfalls diese stark auffallende Ungereimtheit in den erhobenen Daten lässt sich unseres Erachtens nur dadurch erklären, dass die Aussagen zu fast 100 Prozent von Angehörigen der Leitungsebene der befragten Einrichtungen getroffen wurden. So banal es klingen mag: Der Grund für diese sehr hohe Zustimmungsrate bei diesem Item liegt unter den erkennbar gegebenen Umständen unseres Erachtens schlicht und ergreifend darin, dass es sich ein Altenheim (diese Hypostasierung meint selbstredend: die Angehörigen der Leitungsebene) heutzutage nicht mehr leisten kann, Schmerztherapien nicht standardmäßig mit einem Arzt abzusprechen und durchzuführen. Auch wenn dies nicht der Alltagsrealität entspricht, ist der soziale Zwang zur Aufrechterhaltung eines günstigen Selbstbildes in der
67 Vgl. ebd., S.30. Wir lassen hier einmal vollkommen unberücksichtigt, dass sich auch hier natürlich nicht sagen lässt, was genau sich hinter der angegebenen „Kooperation“ mit Hospizvereinen verbirgt und wie genau die „Unterstützung bei der Lebensrückschau“ sich gestaltet. 68 Ebd., S.19. (Hervorhebung im Original, MH)
Das Sterben in Institutionen
59
Befragungssituation zu groß, als dass darauf dann verzichtet würde. Wir glauben also in der Tat, dass diese Zustimmungsrate ein Artefakt ist. Die letzten sechs zu bewertenden Items erreichen gar Zustimmungsraten sämtlich über 90 Prozent. Sie sind einfach als entweder zeitunaufwendig oder ungenau beziehungsweise dehn- und interpretierbar formuliert, dass sich eine nähere Kommentierung fast erübrigt. Dass „Angehörige/ Bezugspersonen zur Sterbebegleitung ermutigt“ werden, was rund 93 Prozent der Befragten angeben, kann ein sehr zeitintensives Einbinden und Heranführen der Angehörigen an die Sterbebegleitung bedeuten, was unwahrscheinlich ist, es kann aber auch bedeuten, dass man den Bezugspersonen einfach (mündlich in einem Nebensatz) mitteilt, dass sie gerne auch an der Sterbebegleitung mithelfen können, was immer das dann heißen mag. Dass „Angehörige/ Bezugspersonen umgehend informiert werden“, wie rund 94 Prozent der Befragten sagen, kann ohne weiteres stimmen, ist aber erstens nicht zeitaufwendig (dadurch natürlich nicht weniger wert), lässt aber zweitens vollständig offen, „wie“ die Angehörigen informiert werden. Dabei steht nicht nur die Frage im Raum, ob man sich um eine persönliche Kontaktaufnahme mit den Angehörigen bemüht, oder ob einfach etwa einmalig eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter hinterlassen wird, sondern weiterhin auch die Frage, die sich in unserer Hospizstudie für die Pflegekräfte als überaus problematisch und auch belastend herausgestellt hat. Sind Pflegekräfte in den untersuchten Altenheimen kommunikativ in der Lage, Angehörigen und Bezugspersonen den Tod eines Menschen mitzuteilen? Fühlen sie sich der Situation gewachsen? Zum Vergleich sei hier noch einmal auf unsere eigenen Daten diesbezüglich hingewiesen: Immerhin ein Drittel der Pflegekräfte (N=671) hält die „Gespräche mit Angehörigen“ für „besonders belastend“, 66 Prozent stufen sie als „zeitintensiv“ ein und dementsprechend wünschen sich rund 63 Prozent unserer befragten Pflegekräfte auch mehr Zeit dafür. Dass „pflegerische Maßnahmen so durchgeführt werden, dass sie sterbende Menschen nicht zusätzlich belasten“, sagen rund 95 Prozent der Befragten. Kontrastierend dazu steht, dass nur in wenigen Altenpflegeheimen die Mitarbeiter eine Zusatzqualifikation in Palliative Care haben. Der Anteil dieser Mitarbeiter liegt im Mittel bei 2,8 Prozent.69 Aber auch hier muss man sich die konkreten „Entstehungsbedingungen“ dieses Datums vor Augen halten. Wie bereits eingangs des Kapitels gesagt, liegt für jede Einrichtung des Samples etwa 1 ausgefüllter Fragebogen vor, der mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von einer Person in leitender Stellung ausgefüllt wurde. Diese Person hat dann bei diesem Item nur die Möglichkeit, und zwar bezogen auf die gesamte Einrichtung, zu ent69
Ebd., S.21.
60
Das Sterben in Institutionen
scheiden, ob sie zustimmen soll, dass die durchgeführten Pflegemaßnahmen die sterbenden Menschen nicht zusätzlich belasten oder nicht. Selbst bei einem unterstellten Bemühen um wahrheitsgetreue Beantwortung müsste die Situation ja geradezu katastrophal sein, wenn man sich nach Abwägung der sicher vorkommenden Fälle von Handlungen wider diese Norm dazu durchränge, diesem Item nicht zuzustimmen. Es lässt sich für unseren Zusammenhang daher durchaus mit großem Recht der Schluss ziehen, dass in der Realität durchaus bei weitem nicht in nahezu allen Fällen die Pflegemaßnahmen so durchgeführt werden, dass sie den sterbenden Patienten nicht zusätzlich belasten. Ein hier wie auch fast überall sonst bedeutender Umstand ist sicher der bereits oft erwähnte, im Pflegealltag omnipräsente Zeitdruck.70 Auch auf die Gefahr hin, pedantisch zu wirken, ist es auch hier wichtig, sich plastisch vorzustellen, was der Terminus „pflegerische Maßnahmen“ bedeutet. „Maßnahmen“ generell bedeuten nicht nur die Auswahl von Handlungen, sondern auch die Festlegung des „Wie“, der „Art und Weise“ dieser Handlungen und Handgriffe. Eine Maßnahme in der Altenpflege besteht zum Beispiel darin, bettlägerige Patienten regelmäßig „umzulagern“, sie also in ihrer Liegeposition von einer auf die andere Seite zu drehen, um dem Wundliegen vorzubeugen („Dekubitusprophylaxe“). Diese alltägliche und mehrmals am Tag durchgeführte Pflegemaßnahme birgt aber ein großes Potential an Unannehmlichkeiten und Schmerzen für den Patienten. Denn Umlagerungen von Patienten, die dabei kaum mehr mithelfen können, erfordern eine besondere Sorgfalt, um Verzerrungen oder gar Knochenbrüche zu vermeiden. Führt man sich nun vor Augen, dass diese auch physisch für die Pflegekraft anstrengende Arbeit mehrmals täglich bei vielen Patienten durchzuführen ist, ist leicht einzusehen, dass die gebotene Sorgfalt des Umgangs wie auch der Lagerung nicht wird eingehalten werden können. Dies ist ein gewichtiges Indiz für die Infragestellung der Angabe, dass in rund 85 Prozent der untersuchten Altenheime die „pflegerischen Maßnahmen die sterbenden Patienten nicht zusätzlich belasten“. Bei den gegebenen und von den Autoren als beklagt referierten Umständen ist dies nicht zu leisten. Die letzten Items betreffen den „religiösen und spirituellen Beistand“ der Patienten und deren „Bedürfnisse“ im Allgemeinen. Dass die „Bedürfnisse nach religiösem und spirituellem Beistand wahrgenommen und nach Möglichkeit erfüllt“ werden, sagen 96 Prozent der Befragten, und dass dies für die „Bedürfnisse von sterbenden Menschen“ im Allgemeinen gelte, sagen gar 97 Prozent. Dass ihre Bedürfnisse wahrgenommen werden, ist für die Bedürftigen nur ein schwacher Trost, wenn die Mittel ihrer Befriedigung nicht gegeben sind. Und das Hauptmittel ist auch hier zweifelsohne „Zeit“. Der Mangel an ihr lässt auch 70 Vgl. die oben zitierten Passagen aus dem Fazit der Autoren, die zu den referierten Daten im Hauptteil der Arbeit nicht so recht passen wollen.
Das Sterben in Institutionen
61
die Wirkung von Fortbildungsveranstaltungen schrumpfen. Eingedenk der Aussage von Hospizfachkräften, dass ein wesentliches Moment guter Sterbebegleitung das schiere „da-sein“ sei, der Arbeitsalltag aber unter dem Diktat knapper Zeitressourcen steht, ist fraglich, wie die Erkenntnisse und Lerninhalte von Schulungen für die Sterbebegleitung umgesetzt werden sollen, die 70 Prozent der Mitarbeiter hessischer Altenpflegeheime zuteil wird.71 Explizit genannt wird in diesem Zusammenhang auch (wie bei unserer Studie) die starke Zunahme an Dokumentationsverpflichtungen der Arbeit, was die ohnehin schwierige Zeitsituation verschärft.72 Will man die Ergebnisse der Studie zusammenfassen, so lohnt nach der von uns vorgebrachten Kritik wohl eher ein Blick in das Kapitel „Perspektiven und Zukunftspläne“.73 Denn dort lassen sich aus der Perspektive des für die Zukunft Gewünschten die Rahmenbedingungen und Zustände des gegenwärtig Gültigen erkennen. Die erhobenen Daten erfahren dort eigentlich die angebrachte Kritik und eine umfängliche Relativierung. „Als verbesserungswürdig bei der Begleitung sterbender Menschen erachten die Altenpflegeheime vor allem Aspekte wie Ausbildung in Palliative Care, Kooperation mit ambulanten Hospizdiensten, Begleitung der Pflegekräfte, der Angehörigen und der sterbenden Menschen, sowie eine bessere Ausbildung und Weiterbildung des Personals. Die Mehrzahl der Heime beklagt die mangelnde Zeit im Umgang mit den Bewohnern. (...) Hauptsächlich werden Wünsche nach mehr Zeit für das Pflegepersonal und deren (sic!) Möglichkeit, eine „Auszeit“ nehmen zu können, geäußert. Zudem fordern die Heime mehr Zeit für eine intensivere Begleitung der Sterbenden, das genauere Erfassen von Wünschen und die Möglichkeit, zeitliche Ressourcen flexibler gestalten zu können. (...) Sitzwachen werden von den Heimen als sehr wichtig angesehen, können aber oftmals nicht wegen des Personalmangels wahrgenommen werden.“74
Für unseren Zusammenhang lässt sich an diesem Punkt resümierend festhalten, dass es um eine gute Sterbebegleitung im Sinne der Hospizbewegung in den Altenheimen ebenso schlecht bestellt ist wie in den Krankenhäusern. Diese Einschätzung bestätigt sich auch, wenn man sich auf die Pfade einer ethnologischen Beschreibung der Situation begibt. Sehr plastisch hat Corina Salis Gross die Arbeit mit den Sterbenden in „Der ansteckende Tod. Eine ethnologische Studie 71
Vgl. ebd., S.21. Dort findet sich auch ein Beispiel für eine schwammige und damit nichts sagende Formulierung für rund 60 Prozent der Altenheime, dass die Mitarbeiter „mit dem Ziel einer kultursensiblen Altenpflege fortgebildet werden.“ 72 Ebd., S.38. Das führe dazu, dass „die Zeit für die inhaltliche Arbeit immer weniger (werde)“. 73 Vgl. ebd., S.35ff. 74 Ebd., S.35.
62
Das Sterben in Institutionen
zum Sterben im Altersheim“75 dargestellt. Dabei wird in ihrer Beschreibung interessanterweise deutlich, dass die Arbeit im Altenheim in ganz anderem Ausmaße eine Arbeit mit Tod und Sterben bedeutet, als dies für die Arbeit in Krankenhäusern gilt. Gross beschreibt die Struktur dieser Arbeit mit guten Gründen als paradox. Führen wir uns die Situation der Pflegekräfte in den Kliniken noch einmal kurz vor Augen, um dann die Unterschiede zu der Situation in den Altenheimen herauszuarbeiten. Die Pflegekräfte in den Kliniken sind damit überfordert, mit Sterbenden zu arbeiten. Die Gründe dafür liegen in der nicht adäquaten Ausbildung und in den Rahmenbedingungen des Krankenhausalltags. Es steht zu wenig Zeit zur Verfügung und die Ziele der Handlungen sind ganz andere, nämlich (natürlich) nach wie vor die Heilung und Genesung der Patienten. Das Sterben eines Patienten ist in dieser Struktur eine Niederlage und entsprechend schwer ist es daher, die Arbeit darauf einzustellen bzw. auszurichten, dass ein Patient nicht mehr interventionell behandelt wird, sondern die gesamte Arbeitsstrategie auf „Begleitung“ umzustellen. Das schiere „Da-sein“ ist in der gegebenen Struktur so gut wie nicht umzusetzen. Auf den Punkt gebracht, könnte man sagen: In die Organisation „Krankenhaus“ gehören grundsätzlich keine Sterbenden, sondern zum Krankenhaus gehört an sich immer die Perspektive, es zu einem bestimmten Punkt lebend zu verlassen. Damit ist nicht gesagt, dass dies bedeutet, das Krankenhaus geheilt zu verlassen. Aber strukturell vorgesehen ist das Verlassen. Dass das Krankenhaus ab einem gewissen (historischen) Zeitpunkt für eine zunehmende Zahl von Patienten diese Perspektive verloren hatte, ist ja gerade der Kern des Problems und die grundsätzliche Ursache für die ganze Entwicklung der Hospizbewegung, die wir bereits dargestellt haben. Für das Altenheim liegen die Dinge in diesem Punkt grundlegend anders. Corina Salis Gross charakterisiert die Arbeit im Altersheim bezüglich dieses Gesichtspunktes an drei Dilemmata, welche die Arbeit stark hemmen. Zentral sei, dass die Pflegenden im Altersheim auf die Bewahrung und Wiederherstellung der Gesundheit vorbereitet seien, faktisch aber das Sterben zu „bearbeiten" hätten.76 Geradezu absurderweise stehe im Altenheim das Sterben und der Tod auf der Tagesordnung, wobei diese Phänomene von der Struktur her gar nicht vorgesehen seien. Der Umgang mit Sterbenden werde damit zur „double-bindSituation.“77 Für die Pflegenden heiße das, dass sie Beziehungen zu den Betagten eingingen, deren Ende immer schon absehbar sei, ihre Arbeit also auch darin bestehe, den Abbruch dieser Beziehungen vorzubereiten und dann zu vollziehen. 75
Corina Salis Gross: Der ansteckende Tod. Eine ethnologische Studie zum Sterben im Altersheim, Frankfurt am Main/ New York 2001. 76 Vgl. Salis Gross: Der ansteckende Tod, a.a.O., S.301. 77 Vgl. ebd., S.220.
Das Sterben in Institutionen
63
Hier sieht Gross den entscheidenden Unterschied zu Spitälern, in denen ein großer Teil der Patienten geheilt werde und die Institution verlassen könne. Im Altenheim dagegen seien Trennungen „ausschließlich endgültige, vom Tod bestimmte.“78 Im Krankenhaus ist die Tatsache, dass man heilen soll, der Grundparameter der Organisation. In der Mehrheit der Fälle werden die Patienten ja auch wieder geheilt, oder zumindest mit einer Perspektive auf Heilung entlassen. Die Schwierigkeit im Krankenhaus liegt also darin, dass für manche Patienten diese Perspektive nicht besteht und man diese Gruppe nicht recht einfügen kann in die Struktur. Im Altersheim aber sind alle Bewohner dauerhaft. Sie wohnen und leben dort auf Dauer, in den meisten Fällen nämlich bis zum Tode. Schon die gebräuchlichen Begrifflichkeiten zeigen es an: Man spricht von Bewohnern und von Heimen. Ein Heim ist der Ort, an den man gehört und nicht ein Ort, den man übergangsweise bezieht, um ihn dann wieder zu verlassen. Und auch ein Bewohner ist eben nicht ein Patient. Scharf formuliert heißt das: Es gibt im Altenheim nicht mehr die Differenzierung in Bewohner, deren Gesundheit man erhalten muss, weil sie wieder aus der Einrichtung entlassen werden, und andere, für die das nicht gilt, sondern es gibt nur Bewohner, die sterben werden. Es gibt in diesem Sinne überhaupt keine Perspektive mehr, die Gesundheitsdimension aufrecht zu erhalten. Und insofern ist die double-bind-Situation verschärft. So betrachtet, müsste sich der Fokus in der gesamten thanatosoziologischen Literatur, sofern sie sich verstärkt auf das Sterben in Institutionen richtet, viel mehr auf die Organisation „Altenheim“ richten. Vermutlich handelt es sich aber auch hier um einen Hysteresis-Effekt. Die thanatosoziologische Analyse von Institutionen und Organisationen nahm ihren Anfang nun einmal mit den (bereits erwähnten) Arbeiten von Sudnow sowie Glaser und Strauss und deren ethnographischen Arbeiten in den Kliniken. Überdies ist es die Entwicklung der Medizin, vor allem der Intensivmedizin, die in ungemein rasanter Weise vorangeschritten ist und damit die Situation der „um ihren Tod betrogenen Sterbenden“ heraufbeschwor. In mehrerer Hinsicht marginal blieb von Anfang an die Situation in den Altenheimen. Ein kurzes Nachdenken über das für lange Zeit gesellschaftlich und wissenschaftlich relativ ausgeprägte Desinteresse an den Altenheimen führt uns direkt zum Kern unseres Problems. Zum einen gilt, dass das Sterben der alten Menschen erst einmal nicht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, weil es normal ist, dass alte Menschen sterben. Der Tod junger Menschen ist in viel größerem Maße, bis hin zum Skandal, ein Aufmerksamkeit generierendes Phänomen.79 Dazu kommt, 78 79
Ebd., S.302. Wir kommen darauf im Zusammenhang mit der Analyse von Todesanzeigen zurück.
64
Das Sterben in Institutionen
dass alte Menschen keine Lobby haben, die sich für ihre Probleme und Belange massiv einsetzt. Zumindest hatten sie eine solche nicht für lange Zeit, mittlerweile hat sich das etwas gewandelt. Bei diesen Rahmenbedingungen sind auch die Fortschritte, welche die Gerontomedizin zweifelsohne in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen hat, nicht oder nur sehr sparsam in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt.80 Warum, so müsste man konsequent fragen, wird das Sterben in Altenheimen nun, das heißt seit dem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, doch zu einem Thema, dessen sich die Soziologie annimmt? Auch hier liegt ein Bündel von denkbaren Gründen vor. Primär sind hier wohl die irgendwann auch an die Öffentlichkeit gelangten unhaltbaren Pflegezustände zu nennen, die zu einem Skandal geführt haben. Daneben aber, und das führt uns in die richtige Richtung, ist auch zu nennen, dass sich die älteren Menschen zunehmend organisieren und dies auch zum Ausdruck bringen. Sie kümmern sich um die Geschicke ihrer Generation immer massiver und sind im Übrigen dazu auch immer besser in der Lage. Hans Braun erläutert dieses Phänomen an der Gruppe der „sogenannten ,neuen Alten’. Damit ist jener Typ des alten Menschen gemeint, der sich körperlich fit hält, der reiselustig ist, der am kulturellen Leben teilnimmt, der mit einem Wort aktiv ist und der darüber hinaus auch über die finanziellen Mittel verfügt, die ihm einen anspruchsvollen Lebensstil erlauben. Die Medien bemächtigen sich dieser so umschriebenen Gruppe alter Menschen, Sportvereine richten sich auf sie als neue Mitglieder ein, Volkshochschulen und Universitäten sehen eine neue Zielgruppe, vor allem aber hegt die Wirtschaft die Hoffnung, neue Märkte erschließen zu können, auf denen alte Menschen als zahlungskräftige Nachfrager auftreten.“81
Mit den demographischen Veränderungen, mit dem Umdrehen der Bevölkerungspyramide, sind die Alten zu einem zusehends gewichtigeren Faktor geworden. Diese Gründe gelten sicher für die Erklärung der verstärkten Wahrnehmung der älteren Menschen im öffentlichen Diskurs. Aber vor allem, weit weniger spektakulär, ist die Tatsache der immer weiter zunehmenden Lebenszeit und die damit einhergehende stark verlängerte Phase des Alters ein Grund dafür, das Alter als eigene Phase wahrzunehmen, die man nicht mehr einfach als Vorstufe des baldigen Todes interpretieren kann. Ähnlich wie in unserer zentralen Trennung von Tod und Sterben gewinnt auch das Alter ein eigenes Recht. Damit ist ein wichtiger Punkt angezeigt, die Frage nämlich, woran man extremes Alter/ 80 Und damit auch nur sehr sparsam in das Bewusstsein soziologischer Analyse, die sich als Fach wenigstens luxurierende Themen suchen muss, wenn sie schon ohnehin im Vergleich mit den Naturwissenschaften weder hinsichtlich des zu erlangenden Prestiges noch in der Höhe der Fördergelder konkurrieren kann. 81 Hans Braun: Alter als gesellschaftliche Herausforderung. Regensburg 1992, S.29f.
Das Sterben in Institutionen
65
natürliche Hinfälligkeit und extrem lange Sterbephasen definitorisch unterscheiden kann. Und überdies, ob denn, selbst wenn man ein Distinktionskriterium fände, diese Distinktion auch in der sozialen Wirklichkeit durchzuhalten wäre. Salis Gross gibt für die Dauer des Sterbens eine auf den ersten Blick recht praktikable Definition: „(...) die zwischen der medizinischen Diagnose eines Beginns des Sterbeprozesses aufgrund von Alterung, von einer letalen Krankheit oder einem Befund mit wahrscheinlich tödlichem Verlauf und dessen Ende verstreichende Zeit.“82 Wahrscheinlich aber sind es soziale Aushandlungsprozesse, die dazu führen, dass man jemanden als sterbend ansieht. Zumindest kann man dies vielleicht für ein Setting wie das Altenheim sagen. Es bedarf in diesem Sinne eines Stabes (im Goffman’schen Sinne), der solche Definitionsprozesse vornimmt. In der Realität außerhalb von Organisationen oder Institutionen wie Altenheimen oder Krankenhäusern, wo ein solcher Stab fehlt, können solche Entscheidungen nur sehr schwer oder gar nicht getroffen werden. Dennoch betrachtet die Soziologie auch diesen Bereich und es fällt schwer, hier eine klare Distinktion zu treffen. Aber auch für die Entscheidungsprozesse eines Stabes in einer Organisation gilt „ein grundsätzliches Merkmal von Sterbeprozessen, das bestimmend ist für die Unsicherheit der Pflegenden (und aller anderen Personen, die an einem Sterbeprozess beteiligt sind). Nicht nur die Art des Sterbeverlaufs ist erst im Nachhinein bestimmbar, auch die Frage, ob jemand tatsächlich stirbt, ist immer erst nachträglich zu beantworten83: ,Es lässt sich nämlich immer nur post mortem (Hervorhebung im Zitat, MH) entscheiden, ob der beobachtete und erfahrene Prozess als Sterbeprozess qualifiziert werden darf oder nicht. Das Sterben wird von seinem Ende her als Sterben begreifbar, niemals zuvor. Woher sollen wir aber nun wissen, wann dieses Sterben begonnen hat, welche Erfahrungen also dem (reversiblen) Zustand schwerster Krankheit [oder eben der „Abgebautheit“ im Alter] und welche Erfahrungen dem (irreversiblen) Prozess des Sterbens selbst zugerechnet werden dürfen?’ (Macho 1987,28)“84
Hier allerdings wird das Problem nicht wirklich gelöst, sondern nur verschoben. Denn die Einfügungen von Gross in das Macho-Zitat sind gerade für uns das Problem: Welche Erfahrungen sind dem Zustand schwerster Krankheit zuzurechnen und welche dem Zustand körperlichen Niedergangs im Alter? 82
Salis Gross: Der ansteckende Tod, a.a.O., S.59. Wir werden dieser Problematik im Kontext der Hospizarbeit wieder begegnen. Dort spielt sie eine entscheidende Rolle, weil an der Beantwortung der Frage, in diesem Falle, wie konkret das Sterben für einen betreffenden Menschen ist, die Handlungen oder eben Nicht-Handlungen der Hospizkräfte hängen. Es ist DIE vitale Frage. 84 Salis Gross: Der ansteckende Tod, a.a.O., S.199, Fn.12. Das Macho-Zitat entstammt: Thomas Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung. Frankfurt am Main 1987. 83
66
Das Sterben in Institutionen
Hier muss man konzedieren, dass diese Frage nicht zweifelsfrei und endgültig zu klären ist. Die Übergänge zwischen Alter und Sterben sind fließend. Weiter unten werden wir den Begriff des „sozialen Sterbens" diskutieren und einen Vorschlag machen, wie dieser Begriff im Gegensatz zu seinem bisherigen Gebrauch erweitert werden müsste. Wir werden unter anderem vorschlagen, ihn als vom Sterbenden bewusst wahrgenommenen Verlust von zivilisatorischen Kompetenzen zu verstehen. Der Sterbende, der in unserem Sinne einen „langen" Sterbeprozess durchläuft, verliert zusehends die Fähigkeit, sich dem zivilisatorischen Niveau konform zu verhalten und ist sich dessen auch schmerzlich bewusst. Besonders drastisch wird dies deutlich am Verlust der Fähigkeit, alleine für seine Körperhygiene sorgen zu können oder seine Körperausscheidungen zu kontrollieren. Nun sind diese Phänomene als solche aber auch bei alten Menschen häufig vorzufinden. Gerade weil sich die Lebenszeit aufgrund der Fortschritte in der Medizin im zwanzigsten Jahrhundert enorm verlängert hat, gibt es auch immer mehr alte Menschen, die bettlägerig und pflegebedürftig sind. Auf der Phänomenebene alleine also lässt sich kein belastbares Differenzierungskriterium zwischen Alter und Sterben finden. In seiner Arbeit über das „Alter als gesellschaftliche Herausforderung"85 hat Hans Braun schon früh alterstypische Situationen beschrieben, die sich aus unserer Perspektive passagenweise wie eine Vorwegnahme dessen lesen, was wir für das Sterben ebenso beschreiben wollen. Das ist umso bemerkenswerter, als es Braun gerade nicht um eine Betrachtung des Themas „Alter" geht, welche „Alter" primär verknüpft sähe mit Sterben, sondern um eine Betrachtung, die „Alter" und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Herausforderungen als eine vom Sterben gerade getrennt zu betrachtende Lebensphase sieht. So kontraintuitiv das auf den ersten Blick scheinen mag, so einleuchtend ist es doch auf den zweiten. Unabänderlich unscharf ist nämlich die Grenze zwischen Alter und Sterben. Wie für unsere Betrachtung des „sozialen Sterbens" gewissermaßen die „Untergrenze", die Eintrittsschwelle oder das Differenzierungskriterium problematisch sind, ab wann man vom Sterben sprechen soll, ist für Brauns Beschreibung des „Alters" die Abgrenzung zum Sterben problematisch. Das liegt aber bei beiden Beschreibungen nicht etwa an mangelndem Bemühen um begriffliche Präzision, sondern daran, dass sich die Realität einer trennscharfen Begrifflichkeit bisweilen verweigert. Ein möglichst präziser Begriffsapparat ist für eine analytische Betrachtung der Realität wichtig, was aber nicht notwendigerweise heißt, dass sich empirische Phänomene einzig nach Maßgabe der verwendeten Begrifflichkeit kategorisieren ließen. Für unseren Zusammenhang bedeutet das, dass sowohl Braun als auch wir die gleichen Phänomene mit gleicher Legitima85
Braun: Alter als gesellschaftliche Herausforderung, a.a.O.
Das Sterben in Institutionen
67
tion als zu unserer Thematik gehörend behandeln müssen. Entscheidend ist, an welcher Stelle sie sich in den jeweiligen Beschreibungen finden, wie zentral sie dort jeweils sind. So ist das, was wir als eines der zentralen Bestimmungskriterien für das „soziale Sterben" anführen werden in Hans Brauns Beschreibung des Alters notwendigerweise ein Aspekt unter anderen: „Auch eine Seite der Realität: Krankheit und Pflegebedürftigkeit" ist das Kapitel überschrieben, in dem die in Rede stehenden Phänomene beschrieben sind.86 Wenn wir unten die verschiedenen Fassungen des Begriffs „soziales Sterben" betrachten werden, die in den Sozialwissenschaften bisher vorgeschlagen wurden, werden wir all diesen Phänomenen von zunehmender Isolierung und Einsamkeit bis zu drastischen Inkontinenzproblemen wieder begegnen. „In unserer Untersuchungsgruppe konnten nach Auskunft der befragten Angehörigen vier von zehn pflegebedürftigen alten Menschen das Haus nicht mehr verlassen. Ebenfalls vier von zehn Pflegebedürftigen waren auf Hilfe beim An- und Auskleiden angewiesen."87
Noch enger mit der Dimension zivilisatorischer Kompetenzen verknüpft sind Probleme, die zu Verunreinigungen oder Verschmutzungen führen. In der Literatur, die wir über Sterbende betrachten werden, finden sich immer wieder Passagen, die beschreiben, als wie schwerwiegend und beschämend es von den Sterbenden empfunden wird, nicht mehr alleine essen zu können, ohne Essen zu verschütten und sich zu beflecken. Auch Braun weist auf die Bedeutung des Verlusts dieser Fähigkeit hin, wenn er ihn als einen „Schwellenwert" im Prozess des Alters bezeichnet: „Ein sowohl für den alten Menschen als auch für seine Angehörigen wichtiger Schwellenwert persönlicher Abhängigkeit stellt das Angewiesensein auf Hilfe beim Essen und Trinken oder beim Waschen und Baden dar."88
Um noch einmal deutlich zu machen, dass sich gleiche Phänomene sowohl in einer Beschreibung des Alters als auch in einer zeitgemäßen Beschreibung des Sterbens finden (man könnte geradezu sagen: finden müssen), dass es aber auf die Zentralität der Phänomene in der jeweiligen Beschreibung ankommt, sei noch eine weitere Phänomen-Parallele angeführt. Was für unsere Beschreibung im Folgenden eine zentrale Rolle spielen wird, nämlich Inkontinenz und damit
86
Vgl. ebd., S.41ff. (Hervorhebung MH) Ebd., S.50. 88 Ebd. 87
68
Das Sterben in Institutionen
zusammenhängende Selbstbeschmutzung89, findet sich auch in der Analyse von Hans Braun, dort aber als ein weiterer, nochmals extremerer, Schwellenwert: „Ein für die Beteiligten noch gravierenderer Schwellenwert wird dadurch markiert, daß der alte Mensch Hilfe beim Stuhlgang oder beim Wasserlassen benötigt. (...) Es ist eben ein Unterschied, ob es darum geht, einem alten Menschen beim An- oder Ausziehen zu helfen oder ihn im Falle von Inkontinenz mehrmals am Tage zu säubern. Auch der alte Mensch selbst wird im ersten Falle seine Lage anders wahrnehmen als im zweiten und auch das Tun der Pflegeperson anders einschätzen."90
Diese klar benannten und für die Betroffenen schambeladenen Probleme, die sich durchaus bei vielen alten Menschen einstellen, werden zu einem der entscheidenden Charakteristika, wenn wir unsere Fassung des Begriffs des „sozialen Sterbens" vorschlagen. Es ist also die Perspektive, die das gleiche Phänomen einmal in die Peripherie und einmal ins Zentrum einer Beschreibung setzt. Gibt es aber darüber hinaus denn keinerlei Differenzierungskriterium, um in einem gegebenen Falle die adäquate Perspektive zu bestimmen? Als hinlänglich belastbares Kriterium für unsere Abgrenzung des Sterbens vom Alter wollen wir ein dem problematischen Zustand vorangegangenes Trauma (im medizinischen Sinne) oder die Diagnose einer mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlichen Krankheit ansehen. Wir schließen uns also weitgehend einem Definitionsvorschlag von Wolfgang Drechsel an, der diesen für die seelsorgerische Arbeit mit Sterbenden entwickelt hat: „Wenn also im Folgenden von Sterbenden bzw. dem Umgang mit Sterbenden die Rede ist, so bezieht sie sich grundsätzlich auf einen Prozess des Lebens, der dadurch gekennzeichnet ist, dass bei den Betroffenen das Ende ihres Lebens aufgrund ihrer körperlichen Befindlichkeit abzusehen ist und somit das eigene Sterben zu einem explizit bewussten Thema des Lebens wird bzw. als implizites oder unbewusstes Thema je eigenes Leben und Handeln prägt. Es handelt sich um einen Prozess, der z.B. schon mit einer medizinischen Diagnose beginnen kann, die die Selbstverständlichkeit des alltäglichen Lebens zerbricht und die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Sterbens erzwingt und der sein Ende findet in der konkreten Situation am „Sterbebett“, wo der Eintritt des Todes eine Frage von Tagen oder Stunden ist.“91
89
Vgl. unten die Kapitel „Goffmans 'Territorien des Selbst'" und „Scham und Peinlichkeit in der Theorie von Norbert Elias". 90 Braun: Alter als gesellschaftliche Herausforderung, a.a.O., S.50f. 91 Wolfgang Drechsel: Seelsorgerische Perspektiven zum Umgang mit Sterbenden – am Beispiel der Krankenhausseelsorge, in: Caroline Y. Robertson - von Trotha (Hg.): Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft. Baden-Baden 2008, S.105-125, hier S.107.
Das Sterben in Institutionen
69
3.3 Hospize Um Einblick in diese Sphäre zu gewinnen, in die unsere eigene Forschung nicht hineinreicht, stützen wir uns nun, wie bereits erwähnt, auf in der jüngeren Vergangenheit erschienene Arbeiten, die einen ethnographischen Bericht aus stationären Hospizen liefern.92 Diese Ethnographien, die einen alle Facetten umfassenden Einblick in die Welt der Hospize liefern, sollen unter der Perspektive gelesen werden, welche strukturellen Maßnahmen und Kommunikationstechniken im Arbeitsalltag eines stationären Hospizes existieren, um zweierlei zu gewährleisten: den angesprochenen Raum struktureller Offenheit herzustellen und die Mitarbeiter soweit zu stützen, dass sie die Anforderungen ihrer Arbeit bewältigen können. 3.3.1 Natürlichkeit als Resultat der „Backstage" Das Gebiet der hospizlichen Sterbebegleitung, in welches wir eintreten wollen, ist im stärksten Kontrast gegen das Krankenhaus die Wiege der theoretisch und praktisch am strengsten patientenzentrierten Formen von pflegerischer Ethik, welche das späte zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat. Ebenso ist hier die entsprechende „Technik“ am höchsten entwickelt. Der Begriff „Technik“ wirkt im Kontext der Hospizbewegung auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper. Wollte sie nicht gerade das Gegengewicht sein zu den technisch dominierten Umgangsformen, denen die Sterbenden in den Krankenhäusern ausgesetzt waren? Es soll gezeigt werden, dass auch in der Sterbebegleitung, wie sie die Hospizbewegung praktiziert, ein hohes Maß an „Technik“ erforderlich ist, um die Anforderungen zu erfüllen, welche sie sich selbst gesetzt hat. Welchem Zweck dienen die „Techniken“ in der Sterbebegleitung? Die spontane Antwort ist sicherlich: den Patienten. Und diese Antwort ist im Endeffekt sicher richtig. Die Würde der Sterbenden soll gewahrt bleiben, es soll ihnen Raum gegeben werden, Aspekte aller Dimensionen des Menschen (sozial, körperlich, psychisch und spirituell) zu artikulieren: „Die Pflege von Sterbenden soll eben nicht nur
92 Stefan Dreßke: Sterben im Hospiz. Der Alltag in einer alternativen Pflegeeinrichtung, Frankfurt am Main/ New York 2005; Christine Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“: Zur Dynamik von Individualisierung und Nähe in der Pflegearbeit stationärer Hospize, in: Hubert Knoblauch und Arnold Zingerle (Hg.): Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens, Berlin 2005, S.103-125; Nicholas Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung als handlungsleitende Haltung in der Hospizpflege, in: Knoblauch/ Zingerle (Hg.): Thanatosoziologie, a.a.O., S.189-207.
70
Das Sterben in Institutionen
funktional angemessen sein und handwerklichen Qualitätsansprüchen genügen, (...), sondern sie soll ihre Würde, Humanität und Persönlichkeit anerkennen.“93 Dennoch greift die Antwort zu kurz. Obwohl die Frage des „guten Todes“ bzgl. des Gelingens auch und vielleicht sogar in großem Maße am Patienten selbst liegt, ihm jedenfalls eine Mitverantwortung zum „Gelingen“ auferlegt wird, hängt doch vieles von der Art des Umgangs der Hospizhelfer mit den Sterbenden ab. Dem funktional spezifischen Umgang, wie er in den Krankenhäusern stattfindet, soll wieder ein funktional diffuser Umgang entgegengestellt werden. Ähnlich wie in einer Familie soll dann alles das kommunikativ relevant sein, was für den Patienten relevant ist. Man könnte also von einem strukturell offenen Zustand sprechen. Wenn dieser Zustand erst einmal inhaltlich nicht weiter spezifiziert ist, so ist es gerade deswegen für den Hospizbeistand sehr schwierig, sich in ihm zu bewegen. Es handelt sich dabei differenzierungslogisch eben nicht um einen Schritt zurück in Richtung einer Entdifferenzierung, sondern es handelt sich um etwas wie eine neue Leitdifferenz: die Relevanz des Kommunizierten für den Patienten. Der Unterschied zur Familie fällt direkt ins Auge. Dort ist alles kommunikativ relevant, was für einen, egal wen aus der Familie, relevant ist. Im Hospiz ist „nur“ das kommunikativ relevant, was für den Patienten relevant ist. Die symmetrische Relevanzstruktur der Familie verschiebt sich hier zu einer vollständigen Asymmetrie. Die Sicherung dieses strukturell offenen Raumes ist nun hoch voraussetzungsvoll, weil die Relevanzbedingung nur die Sicht des Patienten betrifft und dabei aber in ihrer Auswahlmöglichkeit total ist. Die Art des Umgangs mit den Patienten soll in einem Hospiz dem natürlichen Umgang in einer Familie gleichen. Aber es soll hier gezeigt werden, auf welch radikal anderen Grundlagen der Umgang im Hospiz beruht und welche Voraussetzungen dafür erfüllt werden müssen. Kurzum: wie hochgradig artifiziell diese „Natürlichkeit“ ist. Die These lautet nun, dass es sich bei diesem „natürlichen“, offenen Raum um eine „Frontstage" im Sinne Goffmans handelt, deren kunstfertige Herstellung sich auf einer „Backstage" verbirgt, die vom Patienten nicht einsehbar ist.94 Dieser Hinterbühne, so die These weiter, kommt für die Hospizarbeit eine weit entscheidendere Bedeutung zu, als allgemein angenommen wird. Die Tätigkeit des Hospizbeistandes als solche ist selbstredend die Interaktion mit dem Patienten, aber diese ist nur erfolgreich möglich, wenn auf der Hinterbühne kontinuierlich eine ganze Reihe an Voraussetzungen geschaffen wird. Die Rahmenbedingungen müssen so angelegt sein, dass die Hospizmitarbeiter ihre Arbeit gut verrichten können. Sie müssen in ihren Ressourcen geschützt werden, sie müssen unter93
Dreßke: Sterben im Hospiz, a.a.O., S.13. Zum Konzept von Front- und Backstage vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 2003. 94
Das Sterben in Institutionen
71
stützt werden in Supervisionen und klärenden Gesprächen mit Kollegen. Kann das nicht gewährleistet werden, läuft die ganze Sterbebegleitung Gefahr, abgebrochen werden zu müssen. Umgekehrt ergibt sich, gewissermaßen als Effekt guter Bedingungen für die Hospizhelfer, eine größere Wahrscheinlichkeit, dass der Sterbende zu einem guten Sterben findet. Dass die strukturellen Gegebenheiten entscheidend sind für eine gute Sterbebegleitung, lässt sich auch, sozusagen negativ, an dem Befund erkennen, den eine Umfrage unter Krankenhauspflegekräften erbrachte. 3.3.2 Hospize in der Lehrbuchliteratur Was kennzeichnet eigentlich ein Hospiz, was war die Neuerung, die sie radikal von Krankenhäusern unterschied? Der Kern liegt wohl darin, dass hier zum ersten Mal „der Sterbende ernst genommen wurde als Person und menschliches Gegenüber; dass Sterbende nicht mehr ins Abseits gedrängt wurden, den sozialen Tod schon vor dem körperlichen erlitten; dass mit ihnen und nicht nur über sie gesprochen wurde. Am deutlichsten ist dieser Wandel wohl daran zu erkennen, dass jetzt die Wünsche sterbender Menschen entdeckt wurden.“95 Einer dieser wiederkehrenden Wünsche der Patienten ist es, die „Sinnfrage (Sinn des Lebens, Sinn des Sterbens u.ä.) stellen und besprechen zu dürfen.“96 Auf diese Frage hat die klassische Medizin typischerweise keine Antwort. Medizin als Wissenschaft ist an Sinnfragen nicht interessiert, was bereits Max Weber gesehen hatte: „Medizin will keine existenziellen Fragen beantworten, sondern Dinge wissenschaftlich behandelbar lösen.“97 Noch eine Spur radikaler liest sich folgende Charakterisierung: „Hospize mischen sich nicht ein in das Sterben. Nicht die Begleitenden, sondern der sterbende Mensch gestaltet den Tod.“98 Es ist sofort erkennbar, dass der sterbende Mensch ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit und des Agierens der Hospizkräfte steht.99 Aber es stellt sich ebenso sofort die Frage: Welchen Agierens eigentlich? Welches Maß an Agieren bleibt innerhalb der gesetzten Grenzen des Sich-Nicht-Einmischens? Oder ist es keine Frage des Maßes, 95 Johann Christof Student: Was ist ein Hospiz?, in: ders.: Das Hospiz-Buch, 4. erw. Auflage, Freiburg i.Br. 1999, S.22. 96 Ebd. 97 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 582-613, hier S.589. 98 Franco Rest: Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit. Handbuch für den stationären und ambulanten Bereich, 5. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2006, S.24. 99 Hier sei erwähnt, dass wir auf unserer abstrahierten Ebene keine weiteren Differenzierungen nach Hospizkraft, ehrenamtlicher Hospizhelfer und Palliativfachkraft machen. In den unten genannten hervorragenden Ethnographien zum Thema wird dies ausführlich durchexerziert.
72
Das Sterben in Institutionen
sondern eine Frage der Art des Agierens, also keine quantitative, sondern eine qualitative Unterscheidung? Vielleicht kommt man einer Antwort näher, wenn man sieht, in welcher Hinsicht sich das hospizliche Agieren vom Agieren der Pflegekräfte im Krankenhaus absetzen will: „Dem künstlichen System (der Fachkräfte) steht ein natürliches Beistandssystems gegenüber, welches seine Kraft allein oder wesentlich aus dem menschlichen Kontakt zieht. Das künstliche System hat Grenzen, die nur das natürliche System überwinden kann. Das natürliche System handelt aus Anteilnahme, nicht aus Pflicht.“100
Die Benennung „natürliches System“ lässt die Nähe zum familiären Umgang mit dem Patienten im Hospiz im Sinne der oben beschriebenen Analogie zwischen Hospiz und Familie ahnen. Hier erscheint in der Tat eine qualitative Unterscheidung zwischen künstlichem und natürlichem Beistandssystem, zwischen „Agieren“ und „Kontakt haben“. „Kontakt-haben“ ist hier analog zu Anteilnahme gebraucht. Diese Analogführung lässt den Unterschied zwischen Agieren und Kontakt-haben nun besser fassen: Agieren kann man auch, ohne dieses Agieren notwendig auf einen Anderen auszurichten. Agieren kann gewissermaßen leer laufen. Es kann sich im Hantieren mit Gerätschaften, im Einstellen von Instrumenten erschöpfen, die zwar ihrerseits auf einen Menschen hin ausgerichtet sein mögen, die sich selbst aber nicht auf einen Anderen beziehen können. Die Ausrichtung auf einen Anderen kann nur durch einen Menschen erfolgen. Auch wenn die Justierung eines Instrumentes schließlich auf einen Menschen bezogen ist, ist mit der Ausführung der Justierung noch nicht notwendig ein auf einen Anderen bezogener Kontakt hergestellt. Genau diese Situation ist gemeint, wenn vom „instrumentellen Handeln“ der traditionellen Pflegeberufe in Krankenhäusern gesprochen wird. Deren Helferrolle wird als „undialogisch definiert“ verstanden. Eine dialogisch definierte Helferrolle im Sinne der Hospizbewegung ist ausgezeichnet durch Gegenseitigkeit, Unmittelbarkeit, Ausschließlichkeit und damit durch: Verantwortung.101 Wie kann aber Verantwortung übernommen werden, wenn gleichzeitig das Gebot des Nicht-Einmischens Gültigkeit behalten soll? Entweder wäre es eine unbedingte Verantwortung, was den Begriff ad absurdum führte, oder aber es ist eine Verantwortung gemeint, die sich nicht auf das Verhalten des Patienten bezieht, sondern auf die Gestaltung seiner lebensweltlichen Umgebung, auf seine Situation. Es ist wohl die Verantwortung für die Herstellung und Aufrechterhaltung des oben skizzierten strukturell offenen Raumes. 100 101
Rest: Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit, a.a.O., S.228. Ebd., S.169.
Das Sterben in Institutionen
73
Noch komplizierter wird die Situation, wenn gefordert wird, „dass der Beistand sowohl seine Unverfälschtheit, seine Echtheit behält, als auch sein Verhalten an der Einfühlung und weniger an der Bewertung des Verhaltens des Patienten ausrichtet.“102 Das, ernst genommen, hat zur Konsequenz, dass die Erfüllbarkeit aller drei Gebote (Nicht-Einmischung, Verantwortung, Behalt der Unverfälschtheit und Echtheit des Beistandes) davon abhängig wird, dass die Beistandsperson und der Patient zueinander passen. Und tatsächlich wird auf die passende Paarung von Patient und Beistand geachtet.103 Es ist bereits an dieser Stelle deutlich, dass die Qualität der Sterbebegleitung in hohem Maße von der Person des Beistandes abhängt. Eben dies ist bei einer Behandlung im Krankenhaus nur in viel geringerem Maße der Fall. Dort existieren möglichst genau zu verfolgende und umzusetzende Therapieanordnungen, bei denen es nebensächlich ist, wer vom Personal diese durchführt. In dieser Tatsache wiederum gründet die undialogische Helferrolle. Hospizliche Begleitung verneint nun keineswegs die instrumentell-technische Seite der Medizin, sie hält sie aber für die Sterbebegleitung für nicht hinreichend. Von den vier Dimensionen menschlicher Existenz ist durch die Schulmedizin nur die körperliche abgedeckt. Insofern alle vier Dimensionen befriedigend abgedeckt sein müssen, werden die Möglichkeiten der Schulmedizin als notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahmen in der Hospizpflege vorausgesetzt.104 „Hospize leben also ganz entscheidend von ihrer inneren Qualität. Das bedeutet, dass sie vor allem von der persönlichen Einstellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leben.“105
Dass persönliche Einstellungen der MitarbeiterInnen für die Hospize von größter Bedeutung sind, ist unbestritten, aber es gilt zu zeigen, dass zur Erhaltung dieser Einstellung bestimmte Voraussetzungen geschaffen sein müssen. Nachdem die Ideen, die Ideale und die selbstgestellten Anforderungen, gewissermaßen also die Theorie eines Hospizes, dargestellt worden sind, soll nun die empirische Wirklichkeit der Hospize geschildert werden. 102
Ebd., S.227. Wir kommen im Zusammenhang mit der Ethnographie von Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“, a.a.O., darauf zurück. 104 Student gibt als ein Qualitätskennzeichen von hospizlicher Begleitung an: „Gute Kenntnisse und Fertigkeiten der Symptomkontrolle. Hier wird in Deutschland zwar immer zuerst an die Schmerztherapie gedacht. Ebenso wichtig ist aber die Behandlung anderer, das Sterben belastender Beschwerden, wie Atemnot, Verdauungsstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Juckreiz – kurz gesagt, das gesamte Gebiet dessen, was als palliative Medizin im engeren Sinne gilt.“ Johann Christof Student et al. (Hg.): Soziale Arbeit in Hospiz und Palliative Care. München 2004, S.28. 105 Student: Was ist ein Hospiz?, a.a.O., S.33. 103
74
Das Sterben in Institutionen
3.3.3 Stationäre Hospize als formale Organisationen Es gibt zwischen Krankenhäusern und stationären Hospizen strukturelle Ähnlichkeiten. Beide sind formale Organisationen. Das heißt, sie müssen eine Ordnung aufweisen, die so gut wie möglich an ihre Anforderungen angepasst ist. Wenn als starker Kontrast zur Organisation eines Krankenhauses vorgebracht wird, dass dort die strategische Ausrichtung der Anforderung genügen muss, viele Patienten gleichzeitig auf dem höchsten erreichbaren Niveau zu versorgen, sodass die Begleitung eines Einzelfalles diese Ordnung schnell an ihre Leistungsgrenzen bringen kann, dass also ungeplante und nicht planbare Sterbeverläufe die Struktur des Ganzen gefährden, so besteht dieses Problem an sich auch in einem stationären Hospiz. Genau genommen besteht dieses Problem überall dort, wo es um den Umgang mit Abläufen und Verläufen geht. Diese Einsicht ist so entscheidend wie banal. Es ist vornehmlich eine quantitative Frage von Ressourcen. Denn auch in einem stationären Hospiz stehen Abläufe im Zentrum dessen, was organisiert werden muss. Eigentlich sind die Anforderungen hier noch viel größer als in einem Krankenhaus. Dort hat man als Primärziel die Entlassung des genesenen Patienten. Nach der Festlegung der Therapie ist ein Weg vorgezeichnet, der erst einmal als zielführend erachtet wird und als solcher in seinem gewünschten Verlauf auch bekannt ist. Alle weiteren auszuführenden Maßnahmen richten sich nun danach, diesen Weg möglichst nicht zu verlassen und somit den vorgegebenen Ablauf einzuhalten. Bekanntlich ergeben sich häufig Komplikationen, das heißt Störungen im Verlauf, für die aber in der Regel ein souverän beherrschtes Repertoire an therapeutischen Antworten bereitsteht. Die Komplikationen können auch derart schwerwiegend sein, dass die angesetzte Behandlungsstrategie aufgegeben werden muss. Allerdings wird sie in der Regel nicht ersatzlos aufgegeben, sondern durch eine andere ersetzt. Entscheidend ist also, dass auch dann nicht von der Überzeugung abgewichen wird, dass sich eine voraussehbare Behandlungsstrategie findet lässt, wenn bereits viele andere aufgegeben werden mussten. Es ist eine strukturelle Eigenheit der Schulmedizin, kontrafaktisch an der Planbarkeit und Beherrschbarkeit von Therapieverläufen festzuhalten.106 Sterben als prinzipiell nicht vorauszuse106
In der modernen Gesellschaft finden sich noch andere Beispiele für kontrafaktisches Reagieren: Etwa im Erstellen von und im Vertrauen auf Prognosen (Wirtschaftsprognosen und ähnlichem). Die moderne Gesellschaft ist geradezu darauf angewiesen, Prognosen kontrafaktisch zu vertrauen. Im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften erfährt die moderne Gesellschaft Zukunft nicht mehr als etwas, zu dessen Deutung die Erfahrung der Geschichte Entscheidendes beitragen kann, sondern als etwas, das Folge von hier und jetzt getroffenen Entscheidungen ist. Einerseits also werden die Zukunftsperspektiven unschärfer, gleichzeitig aber steigt andererseits der Entscheidungsdruck in der Gegenwart. Prognosen führen zu einer Entlastung von diesem Druck, wobei ihre Geltung notwendig immun ist gegenüber permanenten Enttäuschungen. Auch wenn sich Prognosen wiederholt als falsch
Das Sterben in Institutionen
75
hender Verlauf führt diese Annahme ad absurdum und bringt damit die darauf aufbauende Ordnung einer Krankenstation durcheinander, wenn nicht zu Fall. Aber Sterben folgt natürlich auch dann keinem Verlaufsplan, wenn es sich in einem stationären Hospiz vollzieht. Hospize tragen dem Rechnung, indem sie, ihrer Idee nach, nicht versuchen, das Sterben in einen Ablauf zu zwingen. Es gibt auch keine Handlungs- oder Ablaufpflichten mehr, die einer Behandlungsstrategie geschuldet wären. Wo es keinen vorgegebenen Ablauf gibt, kann auch keine Vorgabe verfehlt werden. Aber da es ja gerade nicht vorhersehbare Verläufe sind, eben Sterbeverläufe, denen die Arbeit des Hospizes gilt, ist eine viel komplexere organisatorische Leistung zu erbringen als in einem Krankenhaus. Es ist gewissermaßen die paradoxe Situation des erwarteten Unerwarteten. Man ist darauf eingestellt, dass sich unvorhersehbare Situationen ergeben, auf die flexibel reagiert werden muss. In diesem Sinne unterscheidet sich ein stationäres Hospiz stark von einem gewöhnlichen Krankenhaus. Aber von Verlaufsschwierigkeiten an einem Ort ohne festgelegte Verläufe zu sprechen, ist nur auf der Formulierungsebene eine Paradoxie. In der empirischen Realität handelt es sich schlicht um Ressourcenprobleme. Gestört wird die Möglichkeit, die selbstgewählte Verpflichtung, jedem einzelnen Sterbenden die für ihn notwendige Zuwendung zu geben. Wählt man andere Formulierungen, wird das Gemeinte schnell einsichtig: Es kommt zu einem „Schlamassel“, zu einer unglücklichen Situation, einer Situation, in der man das nicht mehr leisten kann, für das man angetreten ist.107 Wenn im Zusammenhang mit Krankenstationen von einer Schlamasselsituation gesprochen wird, so ist eher die Konnotation des „Unzeitigen“ im Vordergrund. Da die Begleitung eines Sterbenden nicht die zentrale Aufgabe auf einer Krankenhausstation ist, führt sie dazu, zumal sie zwangsläufig unplanmäßig akut wird, dass die Aufgaben, für die die Station eigentlich ausgelegt ist, vernachlässigt werden müssen. Der Schlamassel, wenn man so sagen darf, liegt darin, dass durch die hohen Anforderungen einer Sterbebegleitung die anderen Patienten vernachlässigt werden. Schlamasselverlauf in einem Hospiz dagegen ist gut beschrieben als „prekäre Versorgungssituation“. Das Prekäre besteht dann nicht in erster Linie darin, dass die bestehenden anderen Aufgaben vernachlässigt würden, sondern darin, dass das Ziel, welches man bei der betreffenden Person verfolgt, nicht erreicht wird.
herausstellen, lässt die Notwendigkeit der Orientierung in der Gegenwart zum Vertrauen in eine neue Prognose keine Alternative zu. Vgl. hierzu Alois Hahn: Erinnerung und Prognose. Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft, Opladen 2003. 107 Schlamassel: von jiddisch Schlimásl, Schlemásl: Pech. Aus den Bestandteilen: Schli/Schle für nicht gut / schlecht und Másl (hebr. Masál): Sternzeichen, Gestirn, Glücksstern, Glück. Vgl. Leo Rosten: Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie, München 2002, 528ff.
76
Das Sterben in Institutionen
Dreßke beschreibt in seinem Feldbericht den Fall einer Frau Ellwanger.108 Sie ist eine Patientin mit einem Hirnkarzinom und wird von den Pflegekräften als „aufwendige Person“ beschrieben, weil sie viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Im Verlaufe ihres Aufenthaltes verschlechtert sich ihr Zustand zusehends. Sie erkennt bei sich selbst eine „Jammerdepression“ und gerät in einen Zustand stärkster Unruhe. Ihr Wach-Schlaf-Rhythmus wird völlig unregelmäßig und sie betätigt mit extremer Häufigkeit die Notrufklingel. Was die Pflegekräfte belastet, ist die Tatsache, dass alle durchgeführten Linderungsmaßnahmen keinen Effekt zeigen. Sie leiden mit Frau Ellwanger: Schlamassel als Unglück, weil man den Zweck seiner Tätigkeit nicht erfüllen kann. Diese Situation des prekären Betreuungsverhältnisses hat aber, wie von Dreßke berichtet wird, noch eine andere Dimension, die sowohl in ihrer Interpretation als auch in ihrer Beantwortung an die Schlamasselsituation im Krankenhaus erinnert. Ihr, sich in der Notruffrequenz zeigendes, enorm gesteigertes Aufmerksamkeitsbedürfnis wird von den Pflegekräften zusehends als Gefährdung der ruhigen Atmosphäre empfunden. Dies allerdings bezieht sich auf die anderen Patienten des Hospizes, die dieser Atmosphäre bedürfen. Hier wird nun auch das Verhalten eines einzelnen Patienten in einen Sanktionszusammenhang gestellt, der sich aus der Sorge um die Mitpatienten legitimiert sieht. „Im Prinzip muss der Fall von Frau Ellwanger als ein Schlamasselverlauf gedeutet werden. Ihre ständige Unruhe und ihre Suizidabsichten stören das Gebot des ruhigen Arbeitens. Frau Ellwanger installiert eine Ordnung der Dringlichkeit, obwohl es nicht um Rettung oder gar Genesung gehen kann. Demzufolge treten Disziplinierungsversuche in Kraft. Es werden Beruhigungsmittel gegeben, deren größte Wirksamkeit sich nur durch die Infusion entfalten kann. Damit ist es trotz der Suizidabsicht fast unabdingbar, dass eine neue Nadel gelegt wird. An dieser Stelle entscheiden sich die Pflegekräfte zwischen dem Risiko durch unablässige Unruhe oder einem möglichen Suizid für die größtmögliche Ruhe.“109
Man traut seinen Augen kaum. Da es keinen erkennbaren Grund gibt, in Zweifel zu ziehen, dass der Ethnograph hier genau das zu Papier gebracht hat, was er zu Papier bringen wollte, dokumentiert das Zitat Ungeheuerliches: Die Sicherung des ruhigen Arbeitens wird als so wichtig eingestuft, dass ein möglicher Selbstmord (Dreßke schreibt nicht: ein möglicher Suizidversuch!) in Kauf genommen wird. Es wird allerdings der personale Einsatz mit dem Ziel des Beobachtens und Aufpassens erhöht.110 108
Vgl. Dreßke: Sterben im Hospiz, a.a.O., S.80ff. Ebd., S.81. 110 Vgl. ebd. 109
Das Sterben in Institutionen
77
„Die Geschichte von Frau Ellwanger ist also die eines prekären Verlaufs, der Einbrüche in Versorgungsroutinen und des Schlamassels. Ihr wird mit den Praktiken des Disziplinierens, Beruhigens und Aufpassens begegnet. Es ist die Geschichte eines professionellen Pflegearrangements, bei dem es darum geht, Defizite, Störanfälligkeiten und Gefahren zu antizipieren, aufzuspüren und zu beseitigen.“111
Dies ist nicht das einzige ausführlich verzeichnete Beispiel für eine „Güterabwägung“, wie man sie nach Lektüre der einschlägigen Hospizlehrbücher nicht erwartet. Auch am Falle von Frau Montag lässt sich sehen, wie die Verabsolutierung eines an sich sinnvollen Gebotes einen Effekt produziert, der in strengem Gegensatz zu zentralen Grundsätzen einer Hospizstation steht. Das Gebot lautet: „Es darf keine Hektik aufkommen.“ Man will ihr eine Atmosphäre präsentieren, die sich unterscheidet von der keine Ruhe zulassenden Betriebsamkeit der Krankenhausstation. Allerdings ergibt sich eine Situation, in der eine ruhige Atmosphäre nicht durchzuhalten ist. Da Frau Montag einen Anfall von Atemnot erleidet, schließt der Pfleger eine Sauerstoffflasche an, die sich aber sehr bald als leer herausstellt. Daraufhin erleidet Frau Montag eine Panikattacke. In der Schilderung von Dreßke offenbart sich aber eine absurd anmutende Beurteilung der Situation durch den Pfleger. Dieser resümiert, dass so etwas nicht passieren dürfe, meint aber damit, dass man eine solche Panikattacke um der ruhigen Stimmung willen vermeiden müsse: „Interessant erscheint an diesem Beispiel, dass sich das Handeln nicht explizit auf die Beherrschung der Atemnot richtet, sondern auf die Herstellung einer „ruhigen Stimmung“, die als Gefühlsregel für das Hospiz gelten kann. Der Skandal im Falle der Patientin Frau Montag liegt (es ist wohl gemeint: aus Sicht der Hospizpflegekraft, M.H.) nicht in den unzureichenden Vorkehrungen für die Beherrschung der Atemnot, vielmehr werden durch die Panik der Patientin die Gefühlsregeln ‚ruhige Stimmung’ und ‚ruhiges Arbeiten’ verletzt.“112
3.3.4 Stationäre Hospize als totale Institutionen? Es sei trotz aller Unterschiede festzuhalten, resümiert Dreßke, „dass auch das Hospiz eine im Sinne Goffmans totale Institution ist.“113 Ein gewichtiger Unterschied besteht zweifelsohne darin, dass niemand gezwungen werden kann, in 111
Ebd., S.82. Ebd., S.55 Ebd., S.91. Zum Begriff der „totalen Institution” vgl.: Erving Goffman: On the Characteristics of Total Institutions, in: ders.: Asylums. Essays on the social situation of mental patients and other inmates, New-York 1962, S.1-124. Im Kapitel „Der soziale Tod“ kommen wir darauf zurück
112 113
78
Das Sterben in Institutionen
einem stationären Hospiz zu bleiben. Schon Else Ephrem Lau114 hat in einer Krankenhausethnographie aus den 70er Jahren darauf hingewiesen, dass Charakteristiken totaler Institutionen in solcher Drastik wie bei Goffman bei ihren Studien in Krankenhäusern nicht zu beobachten waren.115 Auch Dreßke verweist auf die eher in milder Form auftretenden Ähnlichkeiten zwischen stationärem Hospiz und harten totalen Institutionen (Gefängnisse und Psychiatrien). Im Gegensatz zu diesen ist es gewollt, dass Patienten persönlichen Kontakt zum Personal haben und zwar auch in dem Sinne, dass die Intensität des Kontaktes nicht zu jedem Mitglied des Personals gleich groß ist. Wie Dreßke berichtet, ist dies keine Seltenheit und es „wird als Zeichen des Erfolgs angemerkt, wenn auf den Übergaben berichtet wird, dass sich ein Patient ‚auf Schwester Norma freut’. Unter Umständen verbringt eine Pflegekraft mit dem Patienten zwei bis drei Stunden pro Schicht. Während der Pflegetätigkeiten kann sich für den Patienten ein intensiver Kontakt entwickeln. Ein Aspekt dieser Beziehungen zwischen Patient und Pflegekraft ist, dass der Inhalt der Gespräche ‚im Zimmer bleibt’, wie Pflegekräfte es selbst formulieren. Auf diese Weise wird eine Charakteristik totaler Institutionen abgemildert, nämlich, dass die Patienten gegenüber allen Mitgliedern des Personals gleichermaßen eine Art variationslose Gesamtpersönlichkeit zeigen.“116
Patienten können somit ihre Persönlichkeit differenziert darstellen. Was zwischen ihnen und einem Mitglied des Personals gesprochen wird, ist damit nicht automatisch jedem anderen Personalmitglied bekannt. Auf die Anbahnung solch persönlichen Kontaktes wird ab der Aufnahme in das stationäre Hospiz hingearbeitet. Die Pflegekräfte tauschen sich bewusst untereinander darüber aus, zu welchem der Patienten wer vielleicht einen besonders guten „Draht“ hat und derjenige übernimmt dann soweit als möglich allein die Betreuung des betreffenden Patienten, so dass „Nähe zum Patienten“ zu einer „Arbeitsressource“ wird117. Auf die beträchtlichen Gefahren, die in dieser Ressource lauern, kommen wir weiter unten zurück. Die für Goffman wichtige Charakteristik totaler 114
Else Ephrem Lau: Tod im Krankenhaus. Soziologische Aspekte des Sterbens in Institutionen, Köln 1975. 115 „Totale Institutionen sind für Goffman – so eine seiner Thesen – soziale Umwelten, in denen Persönlichkeiten verändert werden (...) Die Berechtigung dieser These in der Anwendung auf die Situation des Sterbenden im Krankenhaus läßt sich im Rahmen dieser Arbeit nur mangelhaft nachprüfen. Allerdings kann gesagt werden, daß sich Praktiken, die Goffman für Anzeichen eines ‚Diskulturationsprozesses’ hält, im Krankenhaus durchaus finden lassen, wenn auch nicht so ausgeprägt, wie etwa in dem von Goffman zum Ausgangspunkt genommenen Beispiel der psychiatrischen Klinik.“ Ebd., S.44. 116 Dreßke: Sterben im Hospiz, a.a.O., S.75. 117 Vgl. Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“, a.a.O., S.115.
Das Sterben in Institutionen
79
Institutionen, die fundamentale Trennung zwischen Insassen (Patienten) und Personal, soll bewusst überwunden werden. Eine direkte Konsequenz aus der Tatsache, dass auch stationäre Hospize formale Organisationen sind, zeigte sich bereits oben in der Anwendung disziplinarischer Maßnahmen. Wenn es zu einer formalen Organisation gehört, dass sie sich eine Ordnung gegeben hat, deren Einhaltung ihrer Anpassung an die gestellten Anforderungen geschuldet ist, hat sie auch ein Interesse daran, Störungen dieser Ordnung zu ahnden und abzustellen (s. oben den Fall Frau Ellwanger). 3.3.5 Arbeit im stationären Hospiz: Notwendigkeit der Inszenierung Wenn man zu einer Hospizkraft sagte, dass ihr Handeln in der Sterbebegleitung einer Inszenierung folge, wäre sie vermutlich nicht sehr erfreut. Warum eigentlich? Vermutlich deshalb, weil Inszenierung als „jemandem-etwas-vorspielen“ verstanden wird. Spielen aber heißt: unernst sein, etwas nicht so meinen, wie es scheinbar gemeint ist. Hinter dem Schein gibt es ein anderes Sein. Die Dinge lägen noch schlimmer, wenn man sie nach der Theatralität ihrer Handlungen fragte. Eine der ehernen Säulen, auf denen die zeitgemäße Hospizarbeit ruht, ist die Wahrhaftigkeit der Hospizkraft im Umgang mit den Sterbenden. Dem Gegenüber nichts vormachen, an seiner Situation nichts beschönigen und sein Hadern, seine Furcht und seine Wut angesichts des nahen Todes ernst nehmen und ertragen, sie zulassen anstatt sie zu bekämpfen und nicht davor ausweichen - das alles fordert wahrhaftiges Verhalten. „Werte wie Selbstbestimmtheit, Bewusstheit und Individualität, das Fördern aktiven Erlebens und reflexiver Bezüge auf die eigene Situation und Biographie bestimmten die Atmosphäre in der Pflege im Hospiz am Stadtwald.“118
Auf den ersten Blick scheint hier nichts ferner zu liegen als eine Theatralisierung des Umgangs mit dem Sterbenden. Inszenierung und Theatralisierung müssen so als Verrat an den Idealen der Hospizbewegung erscheinen. Aber auch hier ist zu fragen: Gibt es ein Sein hinter dem Schein? Hospizliches Handeln ist naturgemäß soziales Handeln. Denn soziales Handeln ist nach dem berühmten Wort Webers „ein solches Handeln (...), welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten a nder er bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“119 Das eigene Tun am Anderen, am Patienten, zu 118
Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung, a.a.O., S. 191. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., revidierte und erweiterte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985 (zuerst 1922), S.1.
119
80
Das Sterben in Institutionen
orientieren, gilt auch zentral für die Hospizbewegung: „Wenn wir einen würdigen Lebensraum für Sterbende in unserer Gesellschaft schaffen wollen, dann müssen wir unser Tun an den Wünschen der Sterbenden selbst orientieren.“120 Vermutlich hat das „soziale“ in Webers Definition nicht die normative Implikation des Helfens, und es ist hier nicht das Handeln der Sozialarbeiter heutiger Tage gemeint. Es ist eine Form des Alltagshandelns, die inhaltlich nicht weiter bestimmt ist. Dennoch scheint einem Weber in unserem Kontext hier fast als ein Hospiztheoretiker „avant la lettre“. In einem Lehrbuch zu Hospiz und Palliative Care liest man: „Der sterbende Mensch und seine Angehörigen stehen im Zentrum des Hospizdienstes. Das bedeutet, dass die Kontrolle über die Situation ganz bei den Betroffenen liegt. Dies ist ein entscheidender Unterschied zu herkömmlichen Institutionen des Gesundheitswesens, die viel eher das Handeln nach abstrakten Therapiekonzepten oder Krankheitsvorstellungen ausrichten.“121
Das Handeln des Hospizhelfers richtet sich, wörtlich, nach dem Verhalten des Anderen, also des Patienten. Hospizliches Handeln balanciert aber immer auf dem schmalen Grat zwischen struktureller Offenheit der Situation und der Tendenz, allzu strikt an normativen Erwartungen fest zu halten. Dass diese Gefahr besteht, liegt wohl im nicht völlig zu unterdrückenden Bedarf nach Erwartungen, die eine offene Situation dennoch irgendwie strukturieren helfen und sie erwartbar werden lassen. „So ermöglichte das andauernde Ansprechen selbst halb komatöser Patientinnen, auch den kleinsten Hinweis auf mögliche Wünsche und vielversprechende Narrativierung aufzunehmen – beim ersten Anzeichen von Herrn Krieger hätte ich ihm mehr oder andere Kekse geholt, ihm mehr Kaffee gegeben oder irgendeinen anderen Wunsch von ihm verfolgt, wenn er nur einen geäußert hätte.“122
Es ist deshalb ein schmaler Grat, weil die Umsetzung in ein Verhalten immer schnell Gefahr läuft, in einen instrumentellen Aktionismus umzukippen. Eschenbruch formuliert, wohl als ein Ergebnis seiner Feldstudien, das Grundanliegen der Hospizpflege so: „den sozialen Tod, das Ende aller bedeutungsvollen Beziehungen, soweit wie möglich hinauszuzögern, und ihn idealerweise nicht vor dem biologischen Tod stattfinden zu lassen.“123 Noch immer ist hier das Gebot gewahrt, sich in das Sterben nicht einzumischen, denn analog zum sozialen Tod ist 120
Student: Was ist ein Hospiz?, a.a.O., S.21f. Student: Soziale Arbeit in Hospiz und Palliative Care, a.a.O., S.28. 122 Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung, a.a.O., S.199. 123 Ebd. 121
Das Sterben in Institutionen
81
es hier das soziale Sterben, das vermieden werden soll. Keineswegs soll das biologische Sterben aufgehalten oder manipuliert werden. Solange der Patient noch lebt, geht es um die Aufrechterhaltung einer dialogischen Situation: „Durch mein Verhalten konstruiere ich aktiv kommunikative und praktische Situationen, in denen es möglich ist, ihn (den Patienten, MH) nicht als sozial tot zu behandeln.“124 Das Problem, die Nicht-Einmischungs-Regel einzuhalten, stellt sich aber schnell, weil diese konstruierten kommunikativen und praktischen Situationen auch bedeuten, dass man den Patienten zu etwas ermuntern will, zu etwas aktivieren will, was dieser von sich aus nicht mehr täte. Der Verlust der Lebenswelt des Patienten, dem man sich entgegenstellen will, ist in den von Eschenbruch gegebenen Beispielen primär ein Verlust an aktivem Tun. Es liegt dabei auf der Hand, dass die Aufrechtherhaltung von Handlungsfähigkeit unstrittig begrüßenswert ist. Die Frage ist nur, wieviel man den Patienten zumutet, bis sich herausstellt, ob in diesem Punkt der Verlust der Lebenswelt noch etwas aufgehalten werden kann oder nicht. Von vornherein lässt sich das nicht ohne weiteres sagen. Hier ist Erfahrung entscheidend: „Wenn es im Hospizkontext bei der Narrativierung darum ging, sich dem unabwendbaren Verlust der Lebenswelt von Patientinnen noch eine Weile entgegenzustellen, dann illustriert diese Geschichte auch, dass Erfahrung und Urteilsvermögen notwendig waren, um eine Situation korrekt einzuschätzen und den richtigen Handlungsverlauf zu entwerfen und durchzuführen.“125
Liegt eine Fehleinschätzung vor, werden also Bemühungen gestartet, den Patienten zu aktivieren und müssen diese nach einigen Anläufen eingestellt werden, weil der Patient eben doch nicht mehr dazu in der Lage ist, dann ist eine Situation hergestellt, die derjenigen in den Kliniken nicht unähnlich ist, in der wiederholt Maßnahmen angesetzt werden in der Hoffnung, noch etwas zu bewirken. Ein gewisses Maß an Hartnäckigkeit ist notwendig, wenn man sich dem Verlust an Lebenswelt entgegenstellen will. Nur läuft man schnell Gefahr, die Aktionen zu einem Selbstzweck werden zu lassen. Eschenbruch beschreibt Situationen, die man durchaus als übergriffig bezeichnen könnte, wenn man für einen Augenblick die Intention der Pflegekräfte vergisst: „Sie wollten mehr von Herrn Tanner, nämlich, dass er ein Frühstück genieße, wie er es normalerweise tat. Er sollte aus seiner Gleichgültigkeit herausgelockt werden. (...)“126
124
Ebd. Ebd., S.198. 126 Ebd., S.195. 125
82
Das Sterben in Institutionen
Das gegebene Beispiel stößt sicherlich auf Verständnis beim Hörer: Was soll an einem Genuss eines Frühstückes schlecht sein, zumal, wenn dies den einstigen Gewohnheiten entspricht? Aber, so könnte man fragen, mit welchem Recht eigentlich wird die Gleichgültigkeit von Herrn Tanner als nicht hinnehmbar angesehen? Wann ist der Zeitpunkt erreicht, von dem ab man ernstmacht mit dem Vorsatz, sich ganz und ausschließlich nach den Wünschen des Patienten zu richten? Die Hospiztheoretiker haben hier keine einheitliche Position. Es wird deshalb nicht selten der naheliegende Vorwurf artikuliert, dass die Wünsche der Patienten dann akzeptiert werden, wenn sie in Einklang stehen mit den Vorstellungen der Sterbebegleiter, im anderen Falle aber, vorgeblich im Interesse des Patienten, gegen deren Wünsche gehandelt wird oder diese nicht umgesetzt werden. Angesichts mancher Formulierungen hat man den Eindruck, dass es sich um wohlklingende Leerformeln handelt. Etwa in der interessanten Unterscheidung von tatsächlicher Bedürftigkeit und Bedürfnis: „Wenn nun tatsächlich Bedürftigkeit besteht, muss ohne Bedenken eine Befriedigung erfolgen. Bedürftig ist jemand, der einen erkennbaren Mangel leidet und die Behebung dieses Mangels braucht zur Sicherstellung seiner körperlichen, seelischen und sozialen Gesundheit. (...), oberhalb der tatsächlichen Bedürftigkeit besteht aber für niemanden ein rechtlicher oder sittliche Zwang, dem geäußerten Bedürfnis zu entsprechen.“127
Im zitierten Falle ist dies unter anderem darauf bezogen, dass manche Menschen sich nach der Gegenwart ihrer Haustiere sehnen, man aber dennoch die Hospizeinrichtung nicht zu einem Tierasyl umfunktionieren könne, um dieser Sehnsucht, diesem Bedürfnis des Patienten nachzukommen. Unter Verweis auf die strukturellen äußeren Zwänge wird diesem Bedürfnis nicht nachgegeben. Die Gefahr, bestimmte normative Orientierungen beim Patienten vorauszusetzen oder sie als unverzichtbar zu erachten, zeigt sich aber dort, wo der Grund für die Zurückweisung einer Bedürfnisbefriedigung nicht in strukturell-äußeren, sondern in normativen Überzeugungen liegt. Dazu heißt es im gleichen Lehrbuch wenige Zeilen weiter: „Es kann sein, dass schwerkranke Kinder oder auch Erwachsene nach vielen Spielsachen in ihrem Bett verlangen; aber gerade diese können auch eine Ablenkung vom Ernst der Situation sein und einem falschen „Luxus“ dienen.“128
127 128
Rest: Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit, a.a.O., S.184. Ebd.
Das Sterben in Institutionen
83
Es scheint fast zynisch, den Wunsch nach Spielzeug angesichts des Todes als „falschen Luxus“ zu bezeichnen. Ihre Erklärung findet eine solche Position in einem „übergeordneten Interesse“. Dieses misst sich an der Übereinstimmung mit der anthropologischen Bedingtheit des Menschen. Allerdings ist diese hier theologisch konnotiert: „Dieses übergeordnete Interesse ist die Übereinstimmung mit der allgemeinen Bestimmung des Menschenwesens gegenüber sich selbst und gegenüber seinem Gott.“129 Nicht jeder Patient aber ist stimmt einer solch gläubigen Position zu. Wenn auch in der Hospizbewegung von der Helferrolle zu der dialogisch definierten Rolle des Freundes übergegangen werden soll130, so kann auch das nicht verhindern, dass die Dialogbereitschaft von Patientenseite nicht angenommen wird oder angenommen werden kann. Auch der Ansatz der therapeutischen Narrativierung131 findet seine Grenzen an einem Patienten, der zur Kooperation nicht fähig ist. Die Frage, ob er nicht fähig oder nicht willens ist, lässt sich eben nur sehr schwer entscheiden oder ist gar nicht entscheidbar. Selbst in reflektierten Situationen, etwa dort, wo ein Forscher teilnehmende Beobachtung treibt, schimmert ein Überbleibsel von der Versuchung durch, eine Situation instrumentell abzuarbeiten, wie im zitierten Beispiel im Falle von Herrn Krieger, den man gerne mit Kaffee und Keksen bedient hätte, wenn er nur irgendwie einen Wunsch danach geäußert hätte. Da es keine festen, per se richtigen Phasenverläufe des Sterbens gibt, kann auch vorher nie sicher gewusst werden, ob eine Offerte zur Rekonstruktion der Lebenswelt des Patienten zu einem „Happy-End“ im Sinne Eschenbruchs132 führt oder nicht. Man wird sich hier die Augen reiben: Happy-End und Offerten? Angesichts des eingangs zitierten Gebotes, sich nicht einzumischen, scheint man sich hier davon erheblich entfernt zu haben. Es werden Offerten gestartet, man versucht, mit den Patienten einen narrativen Faden zu spinnen und konstatiert einen Erfolg, wenn Herr Krieger doch wieder am Mittagessen teilnehmen kann. Aber in der Tat ist das ein Erfolg und es wäre widersinnig und nachgerade inhuman, solches um des Gebotes der NichtEinmischung willen nicht zu realisieren. Allein: Ob etwas zu einem Erfolg wird oder nicht, lässt sich nur in der Rückschau feststellen. Die nüchterne Einsicht des 129
Ebd. Vgl. dazu generell ebd. 131 „Therapeutische Narrativierung“ ist Eschenbruchs Übersetzung des Ausdrucks „Therapeutic Emplotment“ von Cheryl Mattingly. Im Kern geht es bei diesem Konzept darum, mit den Patienten einen narrativen Faden zu spinnen, den Alltag in Geschicht(ch)en einzubauen, um über eine solcherart erreichte Strukturierung der Zeit die Patienten wieder zu Handlungen anzuregen, von denen sie glaubten, nicht mehr zu ihnen fähig zu sein. „Die Narrativierung der chronologischen Zeit zu Erzählzeit macht Veränderung und bedeutsame Erfahrung möglich und verstärkt das Wünschen nach mehr Veränderung und Erfahrung.“ Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung, a.a.O., S.193. 132 vgl. Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung, a.a.O., S.196. 130
84
Das Sterben in Institutionen
Lehrbuchs in die Unvermeidbarkeit des menschlichen Loses kann eben in der Situation der Sterbebegleitung nur allzu leicht aus dem Blick verloren werden. „Das aber bedeutet auch, dass wir bei aller „Kunst“ (ars moriendi) dem Sterbenden eigentlich doch nichts ersparen können; der „Fluch der Unausweichlichkeit“ kann nicht wegdiskutiert oder wegtherapiert werden: „Wir sind allesamt zum Tod gefordert und wird keiner für den anderen sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person wird mit dem Tod kämpfen.“ (Martin Luther) Es wäre eine Illusion für den Sterbebeistand, wenn er den Sterbenden glauben machen möchte, es könnte ihm gelingen, das Unangenehme angenehm, den Fluch in Segen, alle Erschütterungen umzugestalten. Hier entsteht hektische und sinnlose Betätigungswut oder Betriebsamkeit für hochqualifizierte Arbeitslose, die einer Illusion nachrennen wegen einer Idee, die letztlich doch nur jenseits menschlicher Verfügung erfüllt werden kann.“133
Dreßke beschreibt das Hospiz als ein „Labor guten Sterbens“. 134 Von diesem Labor werden von der Gesellschaft Erfolge erwartet. Nach Dreßke sind die Hospize mit einem ideologischen Überschuss ausgestattet und das heißt auch: belastet. Von zwei Seiten bestehen Erwartungen: seitens der Patienten und Angehörigen sowie der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Ohnehin sieht Dreßke die Hospize als Ergebnis der Medizinkritik und in der Stellung des Garanten für ein gutes Gewissen der Gesellschaft gewissermaßen als Feigenblatt und als immerwährend möglicher Verweis darauf, dass die Gesellschaft sich um die Situation der Sterbenden kümmert.135 Der „Abgrund“ lauert auch hier: Als Ergebnis dieses Druckes gerät das Hospizpersonal unter den „Zwang“ (jedenfalls der eigenen Empfindung nach), seine „Leistung“ zu dokumentieren. Einerseits nach innen, das heißt für die Patienten, Dreßke spricht von „Inszenierungsleistungen“, um den Patienten deutlich zu machen, dass etwas für sie getan wird, auch wenn es nicht (immer und sofort) zu sehen ist. Hier spiegelt sich der oben beschriebene Umstand, dass „Sich-nicht-Einmischen“ nicht gleichzusetzen ist mit Passivität. Aber wie erwähnt, fehlt die Möglichkeit, durch das technische Abarbeiten einer Situation zu dokumentieren, dass man kompetent zu handeln versteht. „Nicht mehr das Dringlichkeitsgebot ist leitend, sondern die Aufnahme umfassender Bedürfnisse des Patienten unter der Rubrik der ganzheitlichen Betreuung. (...) Damit steht das Hospizpersonal allerdings vor dem Problem, wie es seine gute Arbeit gegenüber dem Patienten repräsentieren kann. Im Krankenhaus ist das Vermögen, prompt und sicher zu reagieren, das 136 Professionalität kennzeichnende Kriterium.“
133
Rest: Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit, a.a.O., S.277. Dreßke: Sterben im Hospiz, a.a.O., S.7. 135 Ebd., S.7ff. 136 Ebd., S.55. 134
Das Sterben in Institutionen
85
Die große Leistung liegt in der Aufspannung und Aufrechterhaltung des hospizlichen Raumes. Dieser muss immer neu aufgespannt werden und ist ständig von Labilität bedroht. Ist er aufgespannt, zeigt er sich in seinen Auswirkungen, wenn das „gute Sterben“ gelingt. In nicht-akuten Phasen, die es sehr wohl auch im Hospiz gibt, bleibt er gewissermaßen unsichtbar. 3.3.6 Die Ressource „Nähe“ als Problem Die Nähe zu den Patienten wird von den Pflegekräften aus dem Grund gesucht, weil so die individuellen Bedürfnisse und Probleme der Patienten besser erkannt und bearbeitet werden können. Sie ist deshalb eine Arbeitsressource.137 Allerdings birgt sie auch die Gefahr in sich, dass die zugelassene Nähe in einen unkontrollierbaren Distanzverlust übergeht. Sie ist daher „zentrales Merkmal und Problem in der Pflege und Sterbebegleitung (nicht nur) in stationären Hospizen.“138 Sobald keine Distanz mehr zum Patienten gewahrt bleiben kann, kann ihm auch kein Beistand mehr geleistet werden, weil dann die „Überlegenheit über das Leiden verloren geht.“139 Die Rollen desjenigen, der Beistand gibt und desjenigen, der Beistand erfährt, sind hier eindeutig verteilt und eine Umkehrung soll mit allen Mitteln ausgeschlossen werden. Gleichwohl kann eine solche Umkehrung der Rollen in einer Situation vorkommen, denn die Dialektik der Ressource „Nähe“ besteht ja gerade darin, dass das Einfühlungspotential zunimmt in dem Maße, wie die Gefahr des Umkippens in Distanzverlust wächst.140 Hinzu kommt, dass die Hospizhelfer sich nicht nur einer zugelassenen Nähe aussetzen sollen, die zu einer unter Umständen zu engen Bindung zum Patienten führen kann, sondern es sind ihnen keine Möglichkeiten gegeben, in einer dramatischen Situation ihre emotionale Aufgewühltheit durch technischinstrumentelles Handeln (auch im Sinne einer Leerlaufhandlung, siehe oben) zu kompensieren, wie dies die technisch dominierten Krankenhausstationen bieten. Was im Krankenhaus in solchen Situationen als sogenanntes Notfallhandeln abläuft, wird im Hospiz unter der Maxime des „Zulassen statt Bekämpfen“ durch 137
Vgl. Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“, a.a.O., S.115. Ebd., S.104. 139 Streckeisen: Die Medizin und der Tod, a.a.O., S.91, Fn.87. 140 Darin der berühmten „Paradoxie der Machtsteigerung“ ähnlich. Wenn der Herr seine Macht steigern will, muss er dem Knecht einen Zuwachs an Kompetenzen zugestehen. Mit jedem Machtzuwachs des Knechtes wiederum aber wird der mögliche Einsatz der Machtmittel gegen den Herrn immer verheerender. Vgl. dazu Alois Hahn: Herrschaft und Religion, in: Joachim Fischer und Hans Joas (Hg.): Kunst, Macht und Institution. Studien zur philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main/ New York 2003, S.331-346. 138
86
Das Sterben in Institutionen
existentielle Nähe ersetzt. 85 Prozent der Pflegekräfte in unserer Umfrage hatten das einfache „da-sein“ zur guten Sterbebegleitung gezählt. Hier also taucht es im realen Hospizkontext auf. Aber man sieht direkt, dass das Beiwort „einfach“ sehr leicht täuschende Konnotationen heraufbeschwört. Denn in der Tat ist die „Pflegekraft (...) jenseits ihres Berufs als ein Mensch gefordert, der bleibt und nicht geht“141, aber andererseits muss sie sich der nicht zu unterschätzenden Gefahren dieser existentiellen Nähe bewusst sein, die einen nur allzu schnell in emotionale Situationen und Problemzonen bringen, für die man nicht so ohne weiteres gerüstet ist und die mit Alltagserfahrungen von Nähe nur wenig mehr gemeinsam haben. Das Auftauchen solcher Probleme muss möglichst frühzeitig erkannt und es müssen Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Die täglichen Übergabegespräche haben neben dem Informationsaustausch über die Patienten die eminent wichtige Funktion, auch die (psychisch-emotionale) Situation der Hospizhelfer zu reflektieren. Sei es, dass die entsprechende Person von sich aus ihre Schwierigkeiten benennt oder sei es, dass sie von ihren Kollegen auf etwaige Vermutungen hin angesprochen wird. In ihrer Arbeit zur Beziehungsdynamik in stationären Hospizen stellt Christine Pfeffer drei Strategien der Kontrolle von Nähe vor: „Drei Strategien lassen sich identifizieren, die den Pflegekräften eine Distanzierung innerhalb einer Beziehungsordnung der Nähe erlauben und es ihnen ermöglichen, Nähe zu Patienten zu kontrollieren, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen oder zu vermeiden: Tauschen als erwünschter Betreuungsabbruch, Distanz durch Abstraktion und Rekonzentration auf die Physis.“142
Die radikalste Maßnahme stellt der Betreuungsabbruch dar. Ebenso wie zu Beginn einer Sterbebegleitung passende Paarungen gesucht werden, werden diese Paarungen wieder gelöst, wenn die Situation für die betreuende Person nicht mehr zu bewältigen ist. Der Abbruch einer Betreuung ist selbst eine schmerzliche Entscheidung, da er einen Abschied von einer Person bedeutet, zu der nunmehr eine (zu starke) Nähe aufgebaut worden ist und weil es bedeutet, dass man nun das Ziel der Betreuung, das einzige Ziel der ganzen Sterbebeistandsarbeit, die Betreuung des Patienten bis zu seinem Tod, hat aufgeben müssen. Auch diese Situation ist eine Schlamasselsituation im obigen Sinne. „’Tauschen’ ist deshalb für viele Pflegekräfte eine emotionale Notbremse.“143 Zur zweiten Strategie führt Pfeffer aus, dass sie einen Versuch darstelle, die Arbeit rational zu durchdringen und somit eine Distanzierung zu gewinnen. 141
Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“, a.a.O., S.110. (Hervorhebung MH) 142 Ebd., S.119. 143 Ebd., S.120.
Das Sterben in Institutionen
87
„Diese Distanzierung durch Abstraktion ist eher ‚Distanz im Kopf’ als ‚Distanz am Bett’. Es ist eine Bewältigungsstrategie, die gleichzeitig retrospektiv wie antizipatorisch ausgerichtet ist, denn sie ermöglicht es, die derzeitigen Beziehungen zu kontrollieren und nimmt gleichzeitig schon zukünftige Beziehungen in den Blick. Diese Strategie hilft, zu verhindern, dass sich etwas ‚verknotet, verknäult und zum Kloß’ wird, wie es diese Krankenschwester beschreibt. Nur wenn es gelingt, emotionale Verstrickungen zu verhindern, kann auch dem nächsten Patienten wieder Nähe angeboten werden.“144
Die „Rekonzentration auf die Physis“ als dritte Distanzierungsstrategie führt wieder nahe an das Phänomen eines technisch-instrumentellen Abarbeitens einer Situation. Im gegebenen Beispiel konzentrieren sich die Pflegekräfte wieder und wieder auf die Behandlung eines durch langes Liegen entstandenen Druckgeschwürs, „das für den Patienten allerdings nicht beeinträchtigend war, denn er war bewusstlos und stand unter Schmerzmitteln. In langfristiger Perspektive war diese offene Stelle ebenfalls zu vernachlässigen, denn es gab schlicht keine langfristige Perspektive mehr.“145
Strukturelle Offenheit und existenzielle Nähe liegen unvermeidlich sehr nahe beieinander, sie bedingen sich vielleicht sogar gegenseitig. In dieser existenziellen Nähe verbirgt sich aber ein Gefahrenpotential, das die Bedingung der Möglichkeit vernichten kann, den strukturell offenen Raum zu erhalten. Um diesen offenen Raum auf der Vorderbühne zu erhalten, müssen kontinuierlich auf der Hinterbühne Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden. Unter Umständen fällt dort auch die Entscheidung, das Offenhalten des hospizlichen Raumes und die Arbeit auf der Vorderbühne an einen anderen abzugeben.
144 145
Ebd. (Hervorhebung im Text, MH) Ebd., S.121.
4
Montaigne: Philosophie und Soziologie „Montaigne hat gesagt, dass das Alter den Menschen jeden Tag ein bisschen mehr reduziert und der Tod nur noch ein Viertel oder die Hälfte eines Menschen dahinrafft. Montaigne starb mit 59 Jahren und konnte sich zweifellos keine Vorstellung machen vom extremen Alter, in dem ich mich heute befinde. In diesem hohen Alter, das ich nicht zu erreichen dachte und das eine der merkwürdigsten Überraschungen darstellt, habe ich das Gefühl, ein zerstörtes Hologramm zu sein.“ Claude Lévi-Strauss (1908-2009)
Denkt man darüber nach, warum sich nur noch 20 Prozent unserer Befragten vor dem Tod fürchten und lässt für einen Augenblick einmal außer Betracht, dass aber 80 Prozent sich vor dem Sterben fürchten, dann könnte man für den nämlichen Augenblick dem Reiz des Gedankens verfallen, die Menschen seien nun auf dem Niveau philosophischer Einsichtigkeit angelangt, das die klassische meditatio mortis seit langem propagierte. Man muss allerdings der bereits beschriebenen Situation eingedenk bleiben, dass es über Jahrhunderte hinweg eigentlich keinen Unterschied machte, ob man über den Tod oder über das Sterben sprach, eben weil beide nahe beieinander lagen. Dennoch zeigen sich auf den zweiten Blick auch schon in den frühen Überlegungen gewissermaßen Repliken auf Kritikpunkte oder Vorwürfe, die sich auf die Frage beziehen, ob nicht doch zwischen Tod und Sterben unterschieden werden müsste, wenn man über die Angst philosophiert, die für den Menschen von der Vorstellung seines eigenen Todes ausgeht. Der Tod, so heißt es im berühmten Spruch Epikurs, könne uns keine Angst machen, denn er gehe uns nichts an. Epikurs Überzeugung gründet sich auf die stimmige Annahme, dass alles Üble auf Empfindungen beruhe und daher derjenige, der keiner Empfindung mehr fähig sei, deswegen auch kein Übles erleiden könne. „So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.“146
146
Epikur: Brief an Menoikeus. Zitiert nach: Epikur. Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften übersetzt, erläutert und eingeleitet von Johannes Mewaldt, Stuttgart 1973, S. 40-42.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
90
Montaigne: Philosophie und Soziologie
Den Einwand, der Tod mache aber doch bereits während des Lebens Sorge und Angst und bereite deshalb (durchaus empfindbare) Schmerzen, weist Epikur zurück, da nur ein Tor behaupten könne, „daß etwas, dessen Vorhandensein uns nicht beunruhigen kann, uns dennoch Leid bereiten soll, weil und solange es nur erwartet wird!“ 147
Epikurs Ausspruch ist berühmt und verdient eine ernsthafte Analyse, zumal auch heutzutage noch in der thanatologischen Literatur auf ihn als grundlegend zu empfehlende intellektuelle Position Bezug genommen wird.148 Dass der Tod nicht da ist, wo wir sind, ist nicht zu bestreiten. Aber es gilt leider auch, dass sterben nur der kann, der lebt. Die in Epikurs Ausspruch einzig beschriebenen Zustände sind das Totsein, das den Lebenden nichts angehe, und die reine Erwartung. Epikur meint offensichtlich das Denken an den Tod („solange es nur erwartet wird“ s.o., Hervorhebung MH). Das Denken an den Tod macht uns Angst. Nicht in Betracht gezogen wird von ihm die Möglichkeit, dass sich ein Mensch in einem Zustand befinden könnte, in dem der Tod nicht bloß erwartet wird, sondern in dem er sich ankündigt, nämlich über körperliche Schmerzen; dass der Tod als Sterben in den Bezirk, das Leben, hineinreichen kann, der für ihn als solchen unzugänglich ist. Epikurs Argumentation der Unmöglichkeit des Empfindens von Üblem im Augenblick des Todes, vollkommen präzise im Sinne der Prämissen durchgeführt, kann demnach nur für genau den Fall den Trost Suchenden zur angestrebten Ataraxia führen, wenn sich seine Ängste tatsächlich daraus speisen, dass man nicht wissen kann, was im Augenblick des Todes geschieht und was es heißt, tot zu sein. Umgekehrt formuliert verliert seine Überlegung genau in dem Moment ihr Beruhigungspotential, in dem Tod und Sterben als zwei voneinander getrennte Zustände zu betrachten sind und die Angst vor dem Sterben zentral wird. Die entscheidenden Positionen der abendländischen Philosophie zu Fragen des Todes ähneln, wie wir noch sehen werden, der Position Epikurs.149 147
Ebd. So jüngst noch der renommierte, wegen seiner Arbeiten zur Gruppentherapie berühmt gewordene Psychotherapeut Irvin D. Yalom, der sich mit seinem Ratgeber „Wie man die Angst vor dem Tod überwindet“ sowohl an das große Laienpublikum als auch, nach eigener Aussage, an ein Fachpublikum wendet. Die epikureische Axiomatik wird direkt zu Beginn prominent entfaltet und bildet die Basis für das weitere Vorgehen. Vgl.: Irvin D. Yalom: Wie man die Angst vor dem Tod überwindet. München 2008. 149 Selbstredend kann es hier nicht darum gehen, die europäische Philosophiegeschichte auf diese Fragen hin neu durchzusehen und bisher verkannte oder nicht bekannte Stellen hervorzuheben. Wohl aber sollen die Passagen kritisch betrachtet werden, die geradezu kanonischen Status erlangt haben, wo immer es darum ging, die Angst vor dem Tod philosophisch rational zu bändigen. Für grundständige Abhandlungen zur europäischen Tradition der philosophischen Thanatologie vgl. die ihrerseits 148
Montaigne: Philosophie und Soziologie
91
Wie man an der von Epikur vorauseilend gegebenen Antwort an die „Toren“ sehen kann, hat es Einwände gleichwohl immer gegeben. Philosophiegeschichtlich vollständig uninteressant, für unsere Frage aber von Bedeutung, lässt sich bei einem Anhänger Epikurs, bei Lukrez, ein Hinweis entdecken, der unserer heutigen Sichtweise auf Epikurs Fragestellung entspricht. In seinem Lehrgedicht „De rerum natura“, macht sich Lukrez die Position Epikurs zu eigen. Offensichtlich sieht er sich genötigt, auf genau den Vorwurf, der Tod komme mit Schmerzen, zu antworten. Denn, wie Scherer schreibt, hat Lukrez den Einwand, „der Tod sei mit Schmerzen verbunden, mit der Begründung zurückgewiesen, er träte schnell und schmerzlos ein.“ 150 Methodisch gesehen wird hier also ein theoretisch möglicher Einwand mit dem Hinweis auf die andersgeartete Realität pariert. Anders gewendet bedeutet die Antwort von Lukrez, dass der Tod tatsächlich mit Schmerzen verbunden ist (und das heißt: zu Recht Ängste bei den Lebenden hervorruft, die mit Epikurs Gedankenmodell nicht wirksam bekämpft werden können), wenn er nicht schnell und schmerzlos eintritt. Aber diese Linie wird nicht weiter verfolgt, sondern in einer Welt, in der Mythen und der Glaube an Götterstrafen noch lebendig sind, diskutiert Lukrez die Frage, ob denn eigentlich die Furcht vor den Schmerzen oder die Furcht vor der Strafe der Götter die Quelle der Todesangst sei. Die historisch nächste prominente Auffassung zum adäquaten Umgang mit Tod und Sterben findet sich bei Michel de Montaigne. Für unsere Betrachtung besonders von Bedeutung ist hierbei die überaus interessante und instruktive Wendung, die Montaignes Auffassung im Laufe seines Lebens erfährt und die sich signifikant in seinen „Essais“ niederschlägt. Montaigne gibt 1570 seine politisch-juristische Laufbahn auf und zieht sich, 37jährig, auf sein Landgut zurück. Dort schreibt er in den folgenden Jahren seine „Essais“, die erstmalig in zwei Bänden 1580 erscheinen. Im ersten Band findet sich das berühmte neunzehnte Kapitel „Philosophieren heißt sterben lernen.“ Der dort vorgeschlagene Umgang mit der Angst vor dem Tod wird für gewöhnlich zitiert, wenn es um Montaignes Auffassung zum Thema geht. Aber wie zu zeigen sein wird, hat man damit nur die Auffassung Montaignes zitiert, die dieser zu Beginn seiner Essais zeigt. Kurz gesagt besteht sein Ratschlag darin, jeden Tag an den Tod zu denken, so dass im tatsächlichen Falle seines Eintretens die Angst sozusagen bereits abgenutzt und stumpf geworden ist. Die grundsätzliche Differenz zu Epikur und bereits klassische Arbeit von Georg Scherer: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt 1979, sowie Hans Ebeling (Hg.): Der Tod in der Moderne. Königstein i.Ts. 1979, und auch die ausführliche Darstellung von Armin Nassehi und Georg Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen 1989. 150 Scherer: Das Problem des Todes in der Philosophie, a.a.O., S.110.
92
Montaigne: Philosophie und Soziologie
Lukrez ist, dass hier der Tod den Menschen durchaus angeht, weil der Mensch den Tod gewissermaßen „erlebt“. Die logisch radikale Trennung zwischen Leben und Tod, die bei Epikur und Lukrez dazu führt, dass der Tod den Menschen nichts angeht, ist hier aufgehoben. Wie wir sehen werden, ist genau diese Anlage des Montaigne’schen Ansatzes das Einfallstor für seine spätere, sehr bezeichnende Rücknahme eben dieser Position. Aber machen wir uns zuerst vertraut mit dem Vorschlag des „Philosophieren heißt sterben lernen“151. Der Tod ist für Montaigne wegen seiner Unvermeidlichkeit das Ziel des Lebenslaufes. Die Verhaltensweise des gewöhnlichen Menschen, das Denken an ihn einfach zu verweigern, hält Montaigne für eine „grobe Verblendung“, zu der es überhaupt auch eines „tierischen Stumpfsinns“152 bedürfe. Aber auch, sich auf die beruhigenden Worte der Ärzte zu verlassen, man brauche in jungen und mittleren Jahren noch nicht an den Tod zu denken, weil man noch viele Jahre vor sich habe und doch gerade ganz gesund sei, weist Montaigne zurück. Hier zeigt sich ein charakteristischer Zug von Montaignes Philosophie, von seiner grundsätzlichen Haltung der Welt gegenüber, nämlich Distanz zu wahren: „Grob kann dieses Denken als Einsatz dessen gedeutet werden, was als „Moralistik“ verstanden wird, das heißt als Versuch möglichst normfreier Beobachtungen unseres Verhaltens und unserer Einstellungen als Beitrag zur Aufklärung über unsere conditio humana. (...) Über seine Philosophie kann im Allgemeinen nur negativ etwas ausgesagt werden: Sie ist bestrebt, Distanz zu halten (a) zu allen dogmatischen Positionen einschließlich eines dogmatisierenden Skeptizismus und (b) zu allen Formen alltäglicher Vorurteile, Illusionen und Ideologie.“153
Diese Distanz gegenüber Meinungen anderer lässt später auch eine Wendung seiner Argumentation zu, wenn sich die gemachten Erfahrungen gegen die behaupteten Argumente wenden. Anders nämlich als die abstrakt analysierenden Philosophen Epikur und Lukrez rät der Autor des sechzehnten Jahrhunderts, sich in solchen Fragen nicht auf Lehrmeinungen zu berufen, sondern er empfiehlt, der eigenen Erfahrung zu trauen: „Du stützt dich auf die Märchen der Ärzte: sieh lieber hin, wie es wirklich aussieht und was die Erfahrung lehrt. Im Vergleich mit dem Durchschnitt ist dir schon seit einiger Zeit eine ungewöhnliche Gunst zuteil geworden, daß du noch lebst: du hast die normale Lebensfrist schon überschritten. Wenn du dich überzeugen willst, dass
151
Michel de Montaigne: Philosophieren heißt sterben lernen, in: ders.: Die Essais. Stuttgart 1984, S.52-62. 152 Ebd. S.52. 153 Bernhard H.F. Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? Frankfurt am Main 2004, S.129f.
Montaigne: Philosophie und Soziologie
93
das wirklich so ist, zähle einmal unter deinen Bekannten nach, wie viel zahlreicher die sind, die vor deinem Alter gestorben sind als die, die es erreicht haben.“154
Die Augen offen für das, was sich in der empirischen Welt zeigt, kann Montaigne nicht umhin, den Blick auf alles zu richten, was sich als mit dem Tod zusammenhängend deuten lässt. Was sich seinem wachen Blick auch zeigt, ist ein Phänomen, das ein Jahrhundert später in der Fassung von Pascal berühmt werden wird. Das von Pascal als feiges Fliehen vor dem Tod entlarvte „Divertissement“, die Zerstreuung, wird auch schon von Montaigne als solches erkannt. Wie gesagt, vertritt Montaigne hier noch die Auffassung, dass man sich auf den Tod vorbereiten könne. Ablenkung und der Versuch, nicht an den Tod zu denken, sind für ihn gerade deswegen keine lohnende Strategie. Aber nicht etwa, weil sie nicht für den Moment helfen, sondern ganz im Gegenteil, weil sie dazu führen, im entscheidenden Augenblick des Todes nicht vorbereitet zu sein. „Aber es wäre Torheit, zu denken, man könne auf diesem Wege das Ziel erreichen (nämlich wirklich die Angst vor dem Tode zu verlieren, MH). Solche Menschen laufen hin und her, sie rennen, sie tanzen; aber vom Tod ist nicht die Rede. Soweit ist es ganz schön; aber dann, wenn der Tod kommt, zu ihnen oder zu ihren Frauen, Kindern und Freunden, und sie plötzlich überfällt, ohne daß es eine Deckung gibt, da krümmen sie sich und schreien vor Wut, weil die Verzweiflung sie packt.“155
154
Ebd. Montaigne: Essais, a.a.O., S.54. In den „Pensées“ von Blaise Pascal wird es von der Zerstreuung heißen: „Da die Menschen nicht Tod, Elend und Unwissenheit heilen konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, auf den Einfall gekommen, nicht daran zu denken (133/168). (...) Ungeachtet jenes Elends will er glücklich und nur glücklich sein, und er kann nicht umhin, es sein zu wollen. Doch wie soll er es anfangen? Um es ganz zu erreichen, wäre es notwendig, daß er sich unsterblich machte, doch da er das nicht kann, ist er auf den Einfall gekommen, sich den Gedanken daran zu versagen (134/169). (...) wenn der Betreffende ohne Zerstreuung ist und man ihn Betrachtungen und Überlegungen darüber, was er ist, anstellen läßt (...), er wird notgedrungen in Gedanken über jene Geschehnisse verfallen, die ihn bedrohen, über die Empörungen, die eintreten können, und schließlich über den Tod und die Krankheiten, die unausbleiblich sind (...) Das einzige Gut der Menschen besteht also darin, daß sie von den Gedanken an ihre Lage abgelenkt werden, und das entweder durch eine Beschäftigung, die sie davon abbringt, oder durch irgendeine angenehme und neue Leidenschaft, die sie ausfüllt, oder auch durch das Spiel, die Jagd, irgendein anziehendes Schauspiel und schließlich durch jenes, was man Zerstreuungen nennt. Daher kommt es, daß das Spiel und der Umgang mit Frauen, der Krieg und die hohen Ämter so begehrt sind. Das ist nicht etwa deshalb, weil wirklich Glück darin läge, oder weil man sich vorstellte, die wahre Seligkeit sei es, das Geld zu besitzen, das man beim Spiel gewinnen kann (...) (Man sucht, MH) die Unruhe, die uns abhält, an unsere Lage zu denken, und die uns zerstreut. Aus diesem Grunde hat man die Jagd lieber als die Beute. (136/139)“ Blaise Pascal: Gedanken. Stuttgart 1997, S.93ff. Die Zahlen in Klammern sind die Nummerierung der Lafuma- bzw. Brunschvig-Ausgabe.
155
94
Montaigne: Philosophie und Soziologie
Dieser Verzweiflung gilt nun Montaignes Augenmerk, denn er meint, dass man sie bändigen könne: Man könne sterben lernen, wenn man gerade den umgekehrten Weg gehe. Wenn man nämlich fortgesetzt an ihn denke und sogar von ihm spreche, wie er, Montaigne, es zu tun pflege, könne man es zu Stande bringen, dem Tod „seine furchtbare Fremdartigkeit zu nehmen“156. Nun ist für unseren Zusammenhang, für die Unterscheidung von Tod und Sterben, allerdings entscheidend, dass diese Differenz von Montaigne an dieser Stelle der Essais gerade nicht gemacht wird: „Nichts mehr ist schlimm im Leben für denjenigen, dem die Erkenntnis aufgegangen ist, dass es kein Unglück ist, nicht mehr zu leben. Sterbenkönnen befreit uns von aller Knechtschaft, von allem Zwang.“157
Für unsere Frage fällt hier in eins, was gerade die entscheidende Differenz ausmacht und warum wir gesagt haben, dass die epikureische Position keine Antwort auf unser gegenwärtiges Problem geben kann. Das gegenwärtige Problem besteht eben in der Angst vor dem Sterben und gerade nicht in der Angst vor dem Tod. Die zitierte Passage Montaignes lässt sich jedoch mühelos epikureisch verstehen: Wie und für wen soll etwas ein Unglück sein können, wenn die Fähigkeit nicht mehr besteht, Unglück oder Glück überhaupt zu empfinden? Derjenige, „dem aufgegangen ist, dass es kein Unglück ist, nicht mehr zu leben“, ist ein Epikuräer. Um einen dritten Band und viele Zusätze erweitert erscheinen die Essais 1588 in einer zweiten Auflage. In diesen acht Jahren ändert Montaigne in eklatanter Weise seine Ansicht zum „Sterbenlernen“. Nun ist es an sich nichts Außergewöhnliches, dass man seine Meinung zu einer Sache oder einem Gegenstand ändert. Man gelangt zu Einsichten, aus eigener Erkenntnis oder im Gespräch oder im intellektuellen Diskurs mit anderen, die einen die eigene Meinung überdenken oder gar revidieren lassen. Etwas anders liegt der Fall, wenn man seine Meinung gegenüber Praktiken und Verhaltensweisen verändert, wenn sich diese Verhaltensweisen als nicht mehr vorteilhaft oder adäquat erweisen. Dabei muss man nicht sofort an das gar zu schlichte Modell des homo oeconomicus denken, wonach der Mensch erst nach sorgfältiger Kosten-NutzenKalkulation handelt und auch seine Alltagshandlungen aufgrund rationaler Überlegungen jederzeit zu optimieren gewillt ist. Auch ohne großen reflexiven Aufwand ändert man etwa seine Meinung zum Beispiel zur Akupunktur, wenn man danach schmerzfrei ist. Oder man fängt doch vielleicht damit an, Sport zu treiben und schränkt einen bis dato vehement verteidigten hedonistischen Lebenswandel 156 157
Montaigne: Essais, a.a.O., S.54. Ebd., S.55.
Montaigne: Philosophie und Soziologie
95
ein, wenn man merkt, dass man „so nicht weitermachen kann“. Allerdings besteht ein feiner, fast sophistisch anmutender Unterschied zwischen den genannten Situationen und dem hier bei Montaigne sich zeigenden Fall, dass dieser seine Meinung darüber ändert, wie oder ob man das Sterben lernen könne. In den genannten Fällen hat man eine Meinung zu einer Situation, zu einem Zustand oder zu einer Lebenslage, die man erlebt hat oder in der man sich gerade befindet: „Ich treibe (derzeit) keinen Sport, weil ich dazu keine Notwendigkeit sehe“, „Ich hatte so starke Migräne, dass ich es doch einmal mit Akupunktur versuchte, und tatsächlich, ich hätte es nicht für möglich gehalten, geht es mir besser.“ Montaignes Ratschlag, nur immerzu an den Tod zu denken, dann verliere man mit der Zeit die Angst vor ihm, dann verliere er seine angsteinflößende Fremdheit, bezieht sich aber auf etwas Zukünftiges. Er bezieht sich auf etwas, was der Erfahrung definitiv noch entzogen ist.158 Gerade an diesem Punkt trifft sich die Veränderung von Montaignes Auffassung mit dem, was für unsere heutige Gegenwart dargestellt werden soll. Der Ratschlag aus dem ersten Buch der Essais bezieht sich ja noch auf eine Situation, in der Sterben und Tod als gleich angesetzt waren. Im Laufe seines zur Rüste gehenden Lebens beginnt Montaigne zu erkennen, was ihn eigentlich schreckt und ängstigt. Man kann sich ja vorstel158
Dass es per definitionem der Erfahrung sogar entzogen sein müsse, macht, wie gesehen, ja gerade die Position Epikurs aus. Es muss die Position des frühen Montaignes aber genau unterschieden werden von auf den ersten Blick ähnlichen Positionen bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel. Ausführlich und sehr instruktiv dazu Taureck: Philosophieren: Sterben lernen?, a.a.O., S.119ff.: Die genannten Philosophen sagen, „man solle so leben, dass man alles in dem Bewusstsein tut, als sei es das Letzte, was man tut, als habe man den Tod vor Augen. (...) Epiktet fordert, vor allem der Tod soll dir täglich vor Augen sein. Eine plausible Begründung dafür ist, dass wir davon abgehalten werden sollen, Dinge zu wollen, die nicht in unserer Macht stehen. (...) Am weitesten geht Marc Aurel, wenn er in seinem Tagebuch notiert: Im Gedanken an die Möglichkeit, gleich jetzt aus dem Leben zu scheiden, alles tun, sagen und denken. Es scheint, dass mit diesen Forderungen eines erreicht werden soll: ein Lernen des Sterbens auf dem Wege der Befolgung eines Imperativs. Nennen wir dies ein imperativisches Sterbenlernen. Es stellt eine provozierende Ansicht dar, die zu prüfen ist. Um ein naheliegendes Missverständnis zu vermeiden, sei die fragliche Ansicht von zwei Auffassungen unterschieden, auf die wir noch zuückkommen werden. (Uns geht es hier erst einmal um die Unterscheidung des imperativischen Sterbenlernens von der Position Montaignes, MH). Zum einen ist das imperativische Sterbenlernen nicht zu verwechseln mit einem Vorausbedenken des Todes (praemeditatio mortis). Zum anderen ist es nicht zu verwechseln mit einer Bejahung des bisherigen Lebens im Bewusstsein der Ungewissheit über seine Fortsetzung. Wir geben dem imperativischen Sterbenlernen folgende Form: Man soll jederzeit zu sterben bereit sein, denn: Wenn man jederzeit zu sterben bereit ist, dann lernt man zu sterben. Was heißt es nun, „jederzeit“ zum Sterben bereit zu sein? Betrachten wir dies im Hinblick auf die Zukunft. Jeder weiß spätestens seit dem Ende seiner Kindheit, dass er einmal sterben wird. Doch dieses Wissen schließt noch keine Bereitschaft ein, da diese sich auf nahe Bevorstehendes bezieht. Daher ist es unsinnig, zu sagen, jemand sei jetzt bereit künftig zu sterben. Denn seine jetzige Bereitschaft verpflichtet ihn zu nichts, solange das Künftige nicht da ist, was aber zum Begriff des Künftigen gehört. Es nützt auch nichts, hinzuzufügen, dass jemand künftig bereit sein wird zu sterben. Denn wir kennen die Bedingungen nicht, unter denen er künftig zu sterben bereit sein wird.“ (Hervorhebungen im Original, MH).
96
Montaigne: Philosophie und Soziologie
len, dass der Ratschlag Montaignes funktioniert und man mit diesen Exerzitien des sich den Tod unablässig Vorstellens die Angst vor dem Tod im Leben in den Griff bekommt, dass sie tatsächlich während des Lebens verschwindet. Dann wäre schon viel gewonnen und vielleicht hatte Montaigne nicht mehr erreichen wollen. Immerhin sagt er im dritten Buch: „Leidet einer früher als nötig, so mehr als nötig.“159 Aber die Revision seiner Ansicht zum Sterbenlernen verläuft nicht über diese Überlegung. Es ist womöglich nicht allein die Einsicht, jedenfalls findet sich dazu keine Äußerung, dass sich die Angst vor dem Tode nicht stumpf machen ließ durch beständiges Denken an ihn, dass sich seine Fremdheit nicht verscheuchen ließ, sondern es kommt nun genau die Differenz in die Argumentation, die für unseren Zusammenhang zentral ist: die Differenz zwischen Tod und Sterben. Und ganz im Sinne unserer soziologischen Betrachtung folgt diese Erkenntnis wohl eigenen Erfahrungen. Eine Stelle aus dem zweiten Buch, die man gegen diese unsere Interpretation der Montaigne’schen Meinungsänderung anführen könnte, weil sie sich ja beim „frühen“ Montaigne findet, erweißt sich bei genauerer Lektüre als nicht stichhaltig. Gemeint ist zum einen das sowohl im zweiten wie im dritten Buch sich findende Zitat Caesars, wonach er sich „den unverhofftesten und kürzesten“ Tod als den wünschenswertesten vorstellt160, und zum anderen die eigens von Montaigne hervorgehobene Aussage: „Das Sterben find ich hassenswert, das Totsein läßt mich unbeschwert“161 Auf den ersten Blick scheint dies unsere Interpretation zunichte zu machen, ist es dem Wortlaut nach doch genau auch die heutzutage geäußerte Auffassung. Aber nicht nur sticht diese Stelle nicht gegen unsere Argumentation, es habe einen fundamentalen Wandel in den Auffassungen vom gewünschten Tod gegeben (früher „darauf vorbereitet sterben“ versus heute „plötzlich und unerwartet sterben“), weil der Horror vor dem unverhofften Tod ja bereits als abhängig vom christlichen Kontext beschrieben wurde, wovon bei Caesar naturgemäß keine Rede sein kann, sondern der nähere Kontext des Zitats legt eine andere Interpretation der Stelle nahe. Die Stelle lautet im Ganzen: „Der Tod ist wahrhaftig ein Brocken, den man ungekaut schlucken muss, wenn man nicht Zähne aus Eisen hat. Und daher auch antwortete Caesar auf die Frage, welchen Tod er am wünschenswertesten fände: „Den unverhofftesten und kürzesten.“ Wenn Caesar das zu sagen wagte, empfinde ich es nicht mehr als feige, dasselbe zu sagen. Plinius behauptet sogar: „Ein kurzer Tod ist die glücklichste Fügung im Menschenleben.“ Den Menschen widerstrebt es, dem Tod ins Antlitz zu schauen. (...) Jene, die 159
Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Eichborn, Frankfurt am Main 1998, 3 Bde., hier Bd. 3, S.418. (Im Folgenden zitiert als Stilett, Bandnummer, Seitenzahl). 160 Stilett, Bd.2, S.421. 161 Ebd. (Hervorhebungen im Original, MH)
Montaigne: Philosophie und Soziologie
97
man bei Hinrichtungen auf einen schnellen Vollzug drängen sieht, tun dies mitnichten aus wahrer Entschlossenheit – sie wollen, daß ihnen keine Zeit bleibe, ihn zu bedenken. Nicht das Totsein ist ihnen zuwider, wohl aber das Sterben. Das Sterben find ich hassenswert, das Totsein läßt mich unbeschwert.“162
Auch hier wird das Sterben nicht als eine eigene Phase aufgefasst, sondern der Tod soll deswegen möglichst kurz sein, damit keine Angst vor ihm aufkommen kann, ganz im Sinne des frühen Montaigne, es sei die Angst vor dem Tod (oder seine Fremdheit), die man fürchte. Den Verurteilten auf dem Schafott plagt die Sorge, der Scharfrichter könnte beim ersten Schlag nicht treffen; „ein Brocken, den man ungekaut schlucken muss“ heißt hier, man soll direkt sterben. Die Kontextuierung mit Hinrichtungen deutet recht eindeutig darauf hin, dass es sich um die aufkommende Angst vor dem Tod handelt, die sich einstellt, wenn man sein Sterben miterlebt, etwa weil der Scharfrichter zweimal zuschlagen muss. Aber in eine ganz andere Richtung bewegt sich Montaigne dann tatsächlich im erst 1588 veröffentlichten dritten Buch der Essais, nun immerhin 55jährig und vier Jahre vor seinem Tod. Und es scheint uns bei diesem Autor und diesem Thema keine zufällige Verschiebung der Ansicht zu sein. Was das Thema angeht, so sind hier unabhängig vom Autor Objekt und Subjekt der Reflexion enger miteinander verknüpft als bei anderen Themen. Der Nachdenkende hat ein ihn selbst betreffendes Phänomen zum Gegenstand seiner Reflexion. Was den Autor betrifft, so scheint hier durchaus ein erwähnens- und bedenkenswerter Aspekt mitzuspielen. Wir wissen von Montaigne selber, dass sich seine Essais als recht ungebrochene Widerspiegelung seiner Erfahrungen verstanden wissen wollen. Erich Auerbach macht darauf in seinem Montaigne-Aufsatz „L’humaine condition“ direkt zu Beginn explizit aufmerksam, indem er zuerst Montaigne selbst zu Wort kommen lässt: „(...) die Züge meines Bildes, ob sie sich gleich wandeln und verschieben. (...) Ich male nicht das Sein, ich male den Wechsel; nicht den Wechsel von einem Lebensalter zum anderen, oder, wie das Volk sagt, von sieben zu sieben Jahren, sondern von Tag zu Tag, von Minute zu Minute. Ich muss meine Geschichte der jeweiligen Stunde anpassen; sehr bald könnte ich mich verändern; nicht nur mein Schicksal, sondern auch meine Gesinnung. (...) Soviel ist ausgemacht: Ich widerspreche wohl mir selbst gelegentlich, aber der Wahrheit, wie Demades sagte, widerspreche ich niemals.“163
162
Ebd. (Hervorhebungen im Original, MH) Zitiert nach Erich Auerbach: L’humaine condition, in: ders.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen/ Basel, 10.Aufl., 2001 (zuerst 1946), S.272ff, Fn.1.
163
98
Montaigne: Philosophie und Soziologie
Auch wenn er hier sagt, er male nicht den Wechsel der Lebensalter und wir ihn dennoch gerade dafür als Gewährsmann in Dienst nehmen, so doch wohl legitimerweise. Denn das angeführte Zitat liegt im Schwerpunkt nicht auf der Verneinung, den Wechsel der Lebensalter darzustellen, sondern vielmehr darauf, dass die Essais jeweils das spiegeln, was ihr Verfasser in der Zeit ihres Verfasstwerdens empfindet. Mag es auch in Widerspruch stehen zu dem, was er vordem empfand. Der Philologe Auerbach fasst diese Eingangssequenz des zweiten Essais des dritten Bandes, dem das Zitat entnommen ist, in folgende analytische Form: „Es ist eine der zahlreichen Stellen, an denen Montaigne von dem Gegenstand der Essais spricht, von seiner Absicht, sich selbst darzustellen. Zunächst hebt er das Schwankende, Unbeständige, Wechselnde seines Gegenstandes hervor; hierauf beschreibt er das Verfahren, das er bei der Behandlung eines so schwankenden Gegenstandes anwendet. (...) Die Gedankenführung läßt sich bequem in einen Syllogismus fassen: ich schildere mich selbst; ich bin ein Wesen, das sich ständig verändert; also muß sich auch die Schilderung dem anpassen und sich ständig verändern.“164
Wenn unsere obigen Ausführungen stimmen, dass es also einen Unterschied bedeutet, zu was man sich einschätzend verhält, dann ist es unausweichlich, dass Montaigne im Laufe seines Lebens, oder man könnte auch sagen, je näher er seinem Lebensende kommt, Erfahrungen macht, die ihn seine Meinung ändern lassen. Wir werden nun im folgenden ein Beispiel dafür sehen, wie sich der „Gegenstand“ verändert hat und wie der Autor über diesen neuen Gegenstand, sich selbst, spricht. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, was der Ausgangspunkt Montaignes in „Philosophieren heißt sterben lernen“ war: Das Ziel unseres Lebenslaufes ist der Tod. Deswegen geht er uns an und deswegen müssen wir ihn zwangsweise in den Blick nehmen. Aber wenn wir das tun, erschrecken wir vor seiner Fremdheit. Und diese Fremdheit muss stumpf gemacht werden durch kontinuierliches Denken an den Tod. Dann verlieren wir die Angst vor ihm. Der Tod und die von ihm ausgehende Angst regieren also in das Leben hinein und das Leben steht im Zeichen der Angstbekämpfung.165 Ganz anders der Montaigne des dritten Buches:
164
Ebd., S.273. „Es ist die Maske selbst, die alle Merkmale des Schauerlichen aufweist. Der darunter liegende Tod bereite weniger Angst als sie.“ Taureck: Philosophieren: Sterben lernen?, a.a.O., S.137. Das Montaigne-Zitat dazu ist der Schluss des „Philosophieren heißt sterben lernen“: „Man muss den Dingen und den Personen die Maske abnehmen: ist sie abgenommen, so werden wir darunter nur denselben Tod finden.“ Zitiert nach Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? a.a.O., S.136, Fn.99.
165
Montaigne: Philosophie und Soziologie
99
„Das ganze Leben der Philosophen ist eine Vorkehrung auf den Tod. Damit mögen sie sich brüsten, soviel sie wollen. Ich hingegen meine, daß der Tod zwar das Ende des Lebens ist, nicht aber dessen Ziel; zwar sein Schlusspunkt, seine äußerste Grenze, nicht aber sein Zweck. Es muss vielmehr auf sich selber gerichtet sein, sich selber wollen.“166
Das Leben, das mit dem Tod als Ziel gelebt wird, ist ihm hier das vertane Leben. Und insofern verbietet sich auch der Versuch, die Fremdheit des Todes zu vertreiben, indem man ihn gedanklich in das Leben hineinnimmt. Das Leben soll nicht auf den Tod hingeordnet werden, sondern „seine (des Lebens, MH) wahre Aufgabe besteht darin, sich seine eigne Ordnung und Führung zu geben, mit sich ins Reine zu kommen.“167 Wenn Philosophieren Sterbenlernen bedeutet, dann wendet sich Montaigne hier von der Philosophie ab und einer Kunst des Lebens zu.168 Gewinnt das Leben eine eigene Ordnung, dann soll es auch nicht mehr durch den Gedanken an den Tod verdorben werden: „Durch die Sorge um den Tod trüben wir das Leben“169, aber auch „durch die Sorge um das Leben den Tod.“170 Das Ziel liegt für Montaigne nun darin, möglichst alle Gedanken auszuschalten, die Angst, Sorgen oder Trauer verursachen. Für das Leben gilt, „daß die Zurüstung auf den Tod die meisten bisher mehr gemartert hat als er selbst“171 und daher ist solches zu lassen und selbst den Tod, der vordem als solcher keine 166
Stilett, Bd.3, S.418. (Hervorhebungen im Original, MH) Ebd. In diesem Zusammenhang ist auf einen bemerkenswerten Fehler bei Taureck: Philosophieren, a.a.O., aufmerksam zu machen. Taureck gibt eine eigene Übersetzung: „Doch ich bin zu der Ansicht gelangt, dass er wohl das Ende („bout“), nicht jedoch das Ziel („but“) des Lebens sei; es [das Sterben, das Todesereignis] ist sein Ende, seine Extremität, nicht jedoch sein Gegenstand (object). Er (sic!) muss sein Ziel für sich selbst sein, seine Absicht“, S.144 (alle Klammern außer „(sic!)" im Zitat). Das „Er“ zu Beginn des letzten Satzes kann sich nur auf den Tod beziehen. Taureck gibt als Beleg die französische Stelle: „estre a soy sa visée, son dessein“, was aber keine Klärung bringt, weil sowohl der Tod als auch das Leben im Französischen weiblich sind. Man ist also geneigt, es schlicht für einen Druckfehler zu halten. Aber Taureck weiter: „Tod und Lebensziel sind voneinander zu entkoppeln. Der Tod als Lebensziel verwaist. Er muss, wie Montaigne (in III.12) nicht ohne Ironie bemerkt, nunmehr sein eigenes Ziel werden.“ Ebd., S.140. (Klammer im Zitat) Es gibt, soweit ich sehe, keine sinnvolle Erklärung für diesen Bezug auf den Tod anstatt auf das Leben. Einzig die von Taureck bemerkte „Ironie“ verdankt sich dieser Übersetzung, denn was daran sollte ironisch sein, dass nun ein Bezug auf das Leben anstatt auf den Tod angeraten wird? Arthur Franz gibt in der Stuttgarter Reclam-Ausgabe von 1969 eine den eindeutigen Bezug auf das Leben noch stärker betonende Übersetzung: „Aber ich denke doch, daß der Tod wohl das Ende, aber nicht das Ziel des Lebens ist; er ist der Schluß, die Grenze, aber nicht der Inhalt des Lebens. Das Leben muß seinen Augenpunkt, seinen Sinn in sich selbst haben; die eigentliche Aufgabe, die es stellt, ist: Lebensordnung, Lebenshaltung und Lebensleid zu gestalten.“ Vgl. Michel de Montaigne: Die Essais. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz, Stuttgart 1969, S.355. 168 Vgl. dazu noch einmal die Übersetzung von Arthur Franz in Fn.166. 169 Stilett, Bd.3, S.417. 170 Ebd. 171 Stilett, Bd.3, S.416. 167
100
Montaigne: Philosophie und Soziologie
Rolle spielte, selbst die Minuten des Todes(eintritts) kann man sich leichter oder schwerer machen: schwer jedenfalls, wenn man in ihnen dem Leben nachweint, leichter, wenn man den Tod „als Brocken ungekaut schluckt“. Für das Leben predigt Montaigne nun Indifferenz gegenüber dem Tod. Es bleibt dennoch dabei, dass wir nicht den Tod fürchten, sondern dass wir eigentlich die Angst vor ihm fürchten: „(...) der Tod schreckt uns. Dennoch rüsten wir uns nicht fürs Sterben – es geht ja im Nu vorbei: Eine Viertelstunde Hinnahme ohne schmerzliche Folgen bedarf keiner besondren Vorkehrungen. Die Wahrheit zu sagen: Wir rüsten uns dagegen, uns für den Tod zu rüsten.“172
Warum und wie kommt er zu diesem Sinneswandel im dritten Buch? Die Antwort auf diese Frage nun verlangt, dass wir Montaigne von jetzt an nicht weiter als in der philosophischen Tradition stehend lesen, sondern ihn soziologisch interpretieren. Dass sich „kein Mensch mehr darauf bereitet (habe), die Welt reiner und williger zu verlassen und sich völlig derselben (zu) entschlagen, als ich nach meiner Erwartung tun werde“173, ist noch die Überzeugung des jungen Montaigne. Aber schon hier lässt er einen Ausweg, bleibt er auch sich selbst gegenüber Skeptiker: „als ich nach meiner Erwartung tun werde.“ Nun, 1588, stellt sich ihm ein anderer Bezug zum Tod her. Zu der philosophischen Perspektive der gedanklichen Auseinandersetzung über den Tod, und mehr kann ein Umgang mit dem Tod ja nie sein, kommt die Erfahrung körperlichen Leides und zwar in Form des Alters. Insofern stellt sich genau genommen kein anderer Bezug zum Tod her, sondern nun beginnt Montaigne, so unsere Interpretation, Tod und Sterben als zwei getrennte Phänomene zu betrachten. Auch wenn sich diese 172
Stilett, Bd.3, S.417. Franz (s.Fn.166), S.354 übersetzt „eine Viertelstunde leidenschaftlichen Schmerzes, der dann nicht weitergeht und uns nichts mehr anhaben kann, verdient nicht, dass wir dafür besondere Lehren aufstellen; in Wirklichkeit rüsten wir uns gegen das, was dem Tod vorausgeht.“ Taureck weist darauf hin, dass sich die hier eindeutige Rücknahme der früheren Zentralthese vom „Philosophieren gleich Sterbenlernen“ tatsächlich bereits schon im gleichnamigen Essay finde, also These und Widerruf in einem. Dem ist sich nicht so ohne weiteres anzuschließen. Taureck zitiert: „Ich will wohl, dass man tätig sei, dass man die Pflichten des Lebens so weit ausdehne, wie man kann; und daß der Tod mich dabei antreffe, daß ich meinen Kohl pflanze, aber gleichgültig über seinen Zuspruch und noch mehr darüber, daß mein Garten nicht völlig in Ordnung ist“, um den Widerspruch zu zeigen. Aber besteht denn wirklich ein Widerspruch zwischen der Aufforderung, dem Tod die Fremdheit durch immerwährendes Denken an ihn zu nehmen und der Forderung, den Pflichten des Lebens so weit als möglich nachzukommen, so dass der Tod einen sozusagen mitten im Alltag antreffe? Das schließt sich keineswegs aus, sondern passt eher komplementär zusammen. Warum sollte man die Angst vor dem Tod im Leben zu vertreiben suchen, wenn man dann aus diesem Leben nichts machen wollte? 173 Hier zitiert nach der Ausgabe: Michel de Montaigne: Essais. Hg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt am Main 1976, S.19. (Hervorhebung MH)
Montaigne: Philosophie und Soziologie
101
begriffliche Differenzierung nirgendwo expressis verbis findet, lässt sie sich doch unseres Erachtens interpretatorisch recht einfach verfolgen. Die An- und Hinfälligkeiten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die das Alter mit sich bringt, zwingen ihm Schmerzen und Sorgen als Alltagserfahrung auf, die es ihm lächerlich, wenn nicht absurd erscheinen lassen, nun dennoch kontinuierlich an den Tod zu denken, um ihm seine Fremdheit zu nehmen. Die, modern gesprochen, bewusstseinsaufdringliche Empfindung von Schmerzen macht eine willentliche Imagination des Todes obsolet. In einer als fiktives Zwiegespräch mit seinem Geist aufgezeichneten Passage beschreibt Montaigne seine Leiden: „Man sieht ja, wie dir vor Qual der Schweiß ausbricht und wie du erbleichst, wie du hernach rot anläufst und erzitterst, wie du alles bis auf Blut ausspeist und dich in unheimlichen Zuckungen und Krämpfen windest, wie dir zuweilen große Tränen aus den Augen quellen und du einen dicken, schwarzen, widerwärtigen Urin ausscheidest (wenn er nicht von einem gezackten und scharfkantigen Stein aufgehalten wird, der dir das Innere deiner Rute grausam wundscheu174 ert und zersticht)(...).“
Es ist ein Nierenstein, an dem Montaigne arg zu leiden hat. Man kann deutlich erkennen, wie er nun, da er real an einer konkreten Krankheit leidet, seine frühere Strategie aufgibt, etwas durch permanente Fokussierung zu mildern. Natürlich ist der Hinweis trivial, dass die stete Vergegenwärtigung des Nierensteins die verursachte Pein nicht lindern kann, aber gemeint ist folgende Überlegung: Die vom Stein verursachten Schmerzen sind typischerweise ja nicht persistente Schmerzen, sondern treten anfallsartig auf. Warum also nicht hier wie im Falle des Todes, der ja auch per definitionem einmal auftritt, sagen: Was mich schreckt, ist die Angst vor dem Eintreten der Schmerzen, also nehme ich ihnen die Spitze, indem ich sie mir beständig imaginiere? Die Absurdität dieses Gedankens ist offenkundig: Es ist eben nicht nur die Angst vor den Schmerzen, sondern es sind die Schmerzen, vor denen Montaigne Angst hat. Oder schlicht: die ihn schmerzen. Was oben über „Künftiges“ gesagt wurde, lässt sich hier ex negativo zeigen. Die Schmerzen sind gemachte Erfahrung. Über sie muss nicht spekuliert werden, oder umgekehrt: bestimmte Spekulationen über sie verbieten sich, weil die gemachte Erfahrung anderes lehrt. Man soll an die Schmerzen nicht denken, denn sie stellen sich früh genug wieder ein: „Ich spüre also, daß etwas zerfällt? Glaubt ja nicht, daß ich deswegen meine Zeit mit der Beobachtung meines Pulses und meines Urins vergeude, nur um irgendwelche lästige Vorsorge treffen zu können. Ich werde das Übel noch lange genug spüren, auch ohne es um das Übel der
174
Stilett, Bd.3, S.482.
102
Montaigne: Philosophie und Soziologie Angst zu verlängern. Wer sich davor fürchtet zu leiden, leidet bereits, eben weil er sich davor 175 fürchtet.“
Entscheidend für unseren übergeordneten Zusammenhang, die Unterscheidung von Tod und Sterben, auf welche die ganze Montaigne-Exegese hinauszulaufen hat, ist allerdings die von ihm explizit formulierte Erfahrung des Alters. Dabei bewahrheitet sich in der Interpretation der einschlägigen Stellen die Feststellung Taurecks, Montaigne sei „durchaus einfach zu lesen und schwer zu deuten.“176 Zu betrachten sind im Folgenden zwei Textstellen, die beide erst in der zweiten Auflage der Essais 1588 erscheinen. Darauf ist wichtig hinzuweisen, weil sonst unsere These nicht gestützt würde, dass sich die veränderte Auffassung zu Tod und Sterben bei Montaigne dem eigenen Erfahren des Alters, des Leids und der Schmerzen verdankt. Die beiden Stellen scheinen auf den ersten Blick Gleiches auszudrücken, sind aber auf den zweiten Blick doch different und finden sich vor allem an zwei thematisch nahen, aber sozusagen editorisch völlig verschiedenen Stellen, wozu keine Erklärung zu finden ist. Im dritten Buch lautet die explizit auf das Altern gemünzte Passage: „Gott zeigt sich denjenigen gnädig, denen er das Leben schrittweise entzieht; dies ist der einzige Segen des Altwerdens. Das letzte Stück Sterben wird dadurch um so weniger umfassend und zerstörerisch sein – es tötet nur noch einen halben, ja einen Viertelmenschen. (...) So schwinde ich dahin und entgleite mir. Wie töricht wäre mein Verstand, wenn er mir einreden wollte, ich würde diesen Sturz in seiner letzten kleinen Spanne genauso schmerzlich wahrnehmen, als erfolgte er aus voller Höhe! Ich hoffe, er wird verständiger sein.“177
Altwerden wird hier als Segen dargestellt, weil es den Schritt zum Tode verringert, also entdramatisiert. Entscheidend ist aber, dass sich hier eine Differenzierung zwischen Tod und Sterben findet. Montaigne spricht vom „letzten Stück Sterben“, was sogar impliziert, dass er für das Sterben einen Zeitraum in Anschlag bringt, der eine Unterteilung in Phasen zulässt. Hinsichtlich der frühen Rede vom Tod, der als einmaliger Moment in der Zeit und als vollkommen ohne vorhergehendes Sterben beschrieben wurde, ist das eine erstaunlich weitgehende Veränderung. Die Abnahme der Lebenskräfte erfährt hier keine kritische Beschreibung, sondern es ist das harmonische Bild des Entgleitens. Das Argument besagt eigentlich, so paradox es klingen mag: Weil wir sterben (und so zu „halben" oder gar „Viertelmenschen" werden), ist der Tod nicht so schlimm. Das ist 175
Ebd., S.489. Mit „Zerfall“ ist der sich ankündigende Zerfall eines Nierensteins gemeint, dessen Ausscheiden dann schmerzhaft sein wird. 176 Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? a.a.O., S.129. 177 Stilett, Bd.3, S.500.
Montaigne: Philosophie und Soziologie
103
nun in der Tat die Umkehrung des epikureischen Satzes: Weil wir nicht empfinden können, wenn wir tot sind, geht uns der Tod nichts an. Aber die zweite Stelle, die in der späten Ausgabe sich auf das Alter bezieht, ist eine Einfügung in den (frühen) Essay „Philosophieren heißt Sterbenlernen“178: „Die Natur führt uns in diesen elenden Zustand und macht uns mit ihm vertraut; wenn wir keine Erschütterung spüren, sobald die Jugend in uns stirbt, was wesentlich und wahrhaftig ein härterer Tod ist als der vollständige Tod eines sich dahinschleppenden Lebens, was der Tod durch Altersschwäche ist. Dies gilt umso mehr, als der Sprung vom schlechten Dasein in das Nichtsein nicht so schwer ist wie von einem sanften und blühenden Sein zu einem kränklichen und schmerzvollen Dasein.“179
Wenn diese Passage dazu dienen sollte, uns die sanfte Weise der Natur darzustellen, mit der sie uns auf den Tod vorbereitet, dann kann man zu Recht mit Taureck sagen, dass dieses Argument unter der Hand zu seinem Gegenteil wird.180 „Aus einem tröstlichen Argument ist der Schrecken des Alterns geworden, das in der Metapher des Todes erscheint.“181 Es ist ein „elender Zustand“, mit dem wir vertraut gemacht werden. Und „vertraut machen“ bedeutet, ganz im Sinne der bisher dargestellten Ansätze, dass etwas über längere Zeit besteht. Der weniger schwere Sprung vom schlechten Dasein ins Nichtsein entspricht dem vorher gegebenen Zitat. Was hier allerdings neu auftaucht, ist die Beschreibung einer Lebensphase, die sich „dahinschleppt“, bis sie im Tod durch Altersschwäche endet. Und schlussendlich die genauere Charakterisierung der Phase, in die das einst sanfte und blühende Leben fällt: eine Phase des „kränklichen und schmerzvollen Daseins.“ Nicht mehr der Tod steht jetzt mehr im Zentrum der Beschreibung, sondern die Phase des Sterbens und der Schmerzen, die man erfährt. Das ist es, wovor sich der alte Montaigne fürchtet. Bei keinem anderen Philosophen findet sich eine solche Wandlung in den Gedanken zu diesem Thema und keiner auch schließt an diese Position an. Sie geht verschüttet, und zum Allgemeingut wird die frühe Position Montaignes. Allerdings führen die gesellschaftlichen und namentlich die medizinischen Veränderungen in den folgenden Jahrhunderten und speziell im 20.Jahrhundert dann dazu, dass sich rund 420 Jahre später die Position des alten Montaigne unphilosophisch, aber eindeutig in den Antworten unserer Befragten wiederfindet. 178
Vgl. Taureck: Philosophieren: Sterben lernen?, a.a.O., S.143: „In der 1588er Edition (…) fügt Montaigne das bezeichnete Argument hinzu, dass die Natur uns auf dem Wege des Alterns sanft auf den Tod vorbereitet.“ 179 Zitiert nach Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? a.a.O., S.143. 180 Ebd. 181 Ebd.
5
Drei literarische Verarbeitungen
Bevor gesellschaftliche Veränderungen Eingang in wissenschaftliche Analysen finden, haben sie sich oftmals schon eine geraume Zeit früher in der Literatur angedeutet. Das gilt selbstredend auch für die sich ändernden Sterbeprozesse und die Abkoppelung des Sterbens vom Tod. Bei den drei literarischen Beispielen aus unterschiedlichen Epochen kommt es uns nicht auf die Chronologie an. Sie zeigen je ein Merkmal, das für unsere Beschreibung des „sozialen Sterbens“ wichtig ist: Siechtum (Gottfried Benn: Krebsbaracke), langes Sterben (Leo Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch) und der als beschämend empfundene Verlust des zivilisatorischen Niveaus (Philipp Roth: Mein Leben als Sohn). 5.1 Gottfried Benn: Die Krebsbaracke Der Mann: Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße und diese Reihe ist zerfallene Brust. Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich. Komm, hebe ruhig diese Decke auf. Sieh: dieser Klumpen Fett und faule Säfte das war einst irgendeinem Manne groß und hieß a u c h Rausch und Heimat.Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern. Kein Mensch hat so viel Blut.Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur Sonntags
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
106
Drei literarische Verarbeitungen
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort. Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.- Gottfried Benn: Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke (1912)
Vieles, was in der thanatosoziologischen Literatur ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben wird, findet bereits in diesem frühen Gedicht Benns eine expressive poetische Fassung. Der Titel der in kleiner Auflage erschienenen Gedichtsammlung ist Programm: „Morgue und andere Gedichte“. Seinem Verleger Alfred Richard Meyer, der nach eigenem Bekunden bei der ersten Lektüre „aufschrie“, ist sofort deutlich, dass der, der das geschrieben hatte „nicht von der Theorie, sondern aus den Erlebnissen des ärztlichen Berufes“ kam.182 Diese Empfindung wird er mit vielen Rezensenten geteilt haben, denn, so Meyer weiter: „Wohl nie in Deutschland hat die Presse in so expressiver, explodierender Weise auf Lyrik reagiert wie damals in Berlin.“183 Und in der Tat, als Benn „die ,Morgue’ schrieb (...), war es abends, ich wohnte im Nordwesten von Berlin und hatte im Moabiter Krankenhaus einen Sektionskurs gehabt.“184 Benn war Praktiker, blieb es als praktizierender Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten auch bis zum Schluss, und beschrieb seinen beruflichen Alltag zwar als Dichter, aber mit einer expressiv-drastischen Detailgenauigkeit, die ihm einen Skandalerfolg bescherte, der zum Beginn seiner Karriere als Dichter wurde, die aber für die Thanatosoziologie gerade wegen der realistischen Schilderungen von Erkenntnisinteresse ist. Es sind Krebspatienten, die hier dahinsiechen. Es scheinen nicht wenige zu sein, sondern es ist wohl eine bereits häufige Art des Sterbens, sonst gäbe es wohl keine eigene Baracke dafür. Es ist ein „schmutziger Tod“, wie Ariès das genannt hat, und das Sterben an Krebs ist ein langes Sterben. Darum ist schon hier eine „Medikalisierung“ des Sterbens zu beobachten: „Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht“. Allerdings wird man damals kaum davon gesprochen haben, dass man die Sterbenden um ihren Tod betrüge. Im Gegensatz zu heute bestand 182
Zitiert nach: Gottfried Benn: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung herausgegeben von Bruno Hillebrand, Frankfurt am Main 2006, S.617. 183 Ebd. 184 Gottfried Benn: Lebensweg eines Intellektualisten. Zitiert nach Hillebrand, a.a.O., S.617.
Drei literarische Verarbeitungen
107
damals die einzige Möglichkeit, die qualvollen Schmerzen zu lindern darin, die Menschen über massive Morphiumgaben „schlafen“ zu lassen. Gerade auch diese Tatsache, dass die Medizin kurz vor dem ersten Weltkrieg dieses kann und selbstverständlich zu ihrem Instrumentarium zählt, kann man an der Biographie Benns sehen. Denn das Glück, den Schmerzen enthoben schlafen zu dürfen, das er für seine Patienten beschreibt, wird seiner eigenen Mutter nicht zuteil, die einen Monat nach Veröffentlichung der „Morgue“ an Krebs stirbt: „Selbstverständlich eilte der junge Arzt sofort nach Mohrin (im Kreise Königsbergs, Neumark, wo Pastor Benn seit 1906 amtierte), doch der Brustkrebs war viel zu spät diagnostiziert worden, zwei Operationen hatten nur einen kurzen Aufschub bedeutet. Die qualvoll Dahinsterbende blickte erwartungsvoll auf ihren Ältesten, den frischgebackenen Arzt, und der wußte natürlich, daß es hier nur noch Schmerzen zu lindern galt, also Morphium zu geben, wie es in Berlin sogar bei den ärmsten Spitalinsassen in solchen Fällen längst üblich geworden war. Aber er hatte nicht mit der kindlich-verstiegenen Religiosität seines Vaters, dem Pastor, gerechnet. Nein, sagte dieser, kein Linderungsmittel, wir hoffen zu Gott, vielleicht erhört er unsere Gebete. So mußte also der Sohn und Arzt hilflos zusehen, wie seine Mutter unter Qualen starb. Am 9. April trat endlich der Tod ein (...).“185
Sieht man einmal von der individuellen Situation Benns ab, kann man an dieser Episode gut die Motivstruktur erkennen, die Ärzte und Angehörige dazu brachte, die Patienten zu morphinisieren und damit eine Entwicklung in Gang zu bringen, die später in der „totalen Medikalisierung“ (Ariès) enden sollte. Zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte der Medizin ist die Möglichkeit der Medikalisierung noch ein ungebrochener Fortschritt für die Menschen. Ohne das Gedicht überstrapazieren zu wollen, lohnt sich eine genaue thanatosoziologische Lektüre der „Krebsbaracke“ noch aus einer Reihe weiterer Gründe. Einige der beschriebenen Phänomene finden sich später wieder in den berühmten ethnographischen Studien von Sudnow und Glaser und Strauss; entweder unverändert oder aber auf eine höhere Ebene transformiert, strukturell aber identisch. Andere zeigen bereits damals körperliche Verunstaltungen, die sich aus einem langen Sterben ergeben und die für die Menschen des späten zwanzigsten Jahrhunderts zum Zentrum der Ängste werden. Das Gedicht schildert eine Zeit, in der die Medizin einer so schweren und damals noch unbedingt tödlichen Krankheit wie Krebs durchaus schon etwas entgegenzusetzen hat. Neben der palliativen Maßnahme der Morphinisierung ist man offensichtlich schon in der Lage, einer moribunden Frau kurz vor ihrem Tod noch ein Kind per Kaiserschnitt lebend zu entbinden („Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind 185
Walter Lennig: Benn. Reinbek 1962, S.28.
108
Drei literarische Verarbeitungen
aus dem verkrebsten Schoß“). Am Duktus des Mannes, der eine Frau durch die Krebsbaracke führt, zeigt sich schon die technische kalte Fachsprache der Mediziner, die zur affektiv-neutralen Ausübung des Berufs verhelfen soll, indem sie sich auf die „Physis konzentriert“, wie das bereits oben selbst noch bei den Hospizhelfern als Strategie beschrieben wurde, um emotionale Stabilität zu bewahren. Das Individuum soll hinter seinem affektiv-neutral beschreibbaren Krankheitsbild verschwinden: „Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße und diese Reihe ist zerfallene Brust.“ Man findet auch schon die „paternalistische“ Haltung des Personals gegenüber den Patienten. Diejenigen, die in die Krebsbaracke eingeliefert oder dorthin verlegt werden, hält man über die wahre Situation im Unklaren („Den Neuen sagt man: hier schläft man sich gesund“). Dabei wird die Krebsbaracke als eine Institution beschrieben, die primär gegen die Umwelt abgeschlossen ist, zu genau bestimmten Zeitpunkten aber selektiv Zutritt gewährt und dazu auch, wenn man so will, inszenatorische Maßnahmen ergreift: „Nur sonntags für den Besuch läßt man sie etwas wacher.“ Diese Phänomene finden sich bei Sudnow sowie bei Glaser und Strauss mehr oder minder unverändert wieder. Was sich nicht ungebrochen wiederfindet, sondern eine Transformation erfahren hat, ist die Situation des Ekels. Wie wir aber sehen werden, handelt es sich dabei nicht um eine strukturelle Transformation. Es geht um Situationen in der Arbeit mit Sterbenden, die bei den Pflegenden an Ekelgrenzen stoßen bzw. Ekel und Abscheu hervorrufen, die über verschiedene Maßnahmen und professionelle Strategien bekämpft werden müssen. „Bett stinkt an Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.“ Das ist zum einen die Beschreibung des „schmutzigen Todes“, des Gestanks und der Gerüche. Aber die Szene spielt bereits in einer Gesellschaft, in der diese Gerüche nicht mehr einfach ertragen werden, weil sie im normalen Alltag nicht mehr vorkommen. Weswegen es auch in einer solchen Gesellschaft allein die Kranken und Sterbenden sind, von denen solche Gerüche ausgehen, und die daher in Krankenhäuser eingeliefert werden. Ariès spricht, wie wir noch genauer sehen werden, von einer im neunzehnten Jahrhundert sich entwickelnden „Wohlanständigkeit“, welche die Reinlichkeit zu einem bürgerlichen Wert habe werden lassen, wobei dennoch während dieser Entwicklung für das neunzehnte Jahrhundert durchaus noch eine Gewöhnung an die üblen Gerüche und die abstoßenden Seiten des Sterbens zu erkennen sei.186 Das heißt also für die Schwestern der „Krebsbaracke“, dass sie 1912 nicht mehr an Gestank und üble Ausscheidungen gewöhnt sind, sondern dies ein Phänomen ist, dem sie während ihrer Arbeit ausgesetzt sind. So wie für die Krankenpflegekräfte unserer Zeit der Umgang mit Sterbenden (und Toten) eine berufliche Herausforderung 186
Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.726f.
Drei literarische Verarbeitungen
109
darstellt, für die sie in ihrer Sozialisation und ihrem Alltagserleben keine Umgangsformen erlernen konnten, gilt für die Krankenschwestern im Jahre 1912, dass sie mit dem Gestank der Sterbenden nicht oder nur schwer zurechtkommen und daher stündlich abgelöst werden. Natürlich gibt es in den Krankenhäusern unsere Tage (in der westlichen Welt) keine Fliegen mehr und die Waschungen der Patienten erfolgen regelmäßig. Aber das Wundliegen der Sterbenden und Intensivpatienten ist auch im 21.Jahrhundert ein persistentes Problem. Und dass unter den Bedingungen von Zeitdruck und Personalknappheit die Pflege der Patienten bisweilen so routinisiert durchgeführt werden muss, dass sie gewaschen werden, so „wie man Bänke wäscht“, mag zwar nicht die Regel sein, dürfte aber häufig genug vorkommen, um es nicht als bloß reißerische Story des Boulevards abzutun.187 Beenden wir nun die Lektüre von Benns „Krebsbaracke“, aber bleiben wir noch eine Zeit lang bei der Literatur. Sie stellt für große Zeitabschnitte oft die einzige Quelle zu unserem Thema dar. Soweit ich sehe, sind für die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg keine Studien der damals ja schon als akademische Disziplin institutionalisierten Soziologie zu Tod und Sterben bekannt. Für die Wissenschaft ist Gottfried Benn ein Glücksfall, allerdings nicht für seine eigene akademische Disziplin: Als niedergelassener Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten ist er für die medizinische Forschung nicht weiter in Erscheinung getreten. Aber als Dichter, der seine Arbeit als praktizierender Arzt verarbeitet, ist er, neben dem selbstredend überragenden Beitrag zur Lyrik, für die Thanatosoziologie fruchtbar zu machen. Offensichtlich findet sich die Beschrei187
Dass sich drastische Szenen dazu eignen, verzerrende Darstellungen von Studien zu geben, ist eine bekannte Gefahr, auf die Streckeisen im Anschluss an Seale hinweist: „Seale zufolge (Clive Seale: Constructing Death. The Sociology of Dying and Bereavement, Cambridge University Press, 1998, p.102ff.) sind die klassischen mikrosoziologischen Studien über das Sterben im Krankenhaus (Glaser/Strauss und Sudnow) zur fruchtbaren Quelle von ,atrocity stories’ geworden, die den damals wiedererwachenden Diskurs über den Tod im anglophonen Raum nährten. Im westdeutschen Raum scheint sich im vergangenen Jahrzehnt Ähnliches zugetragen zu haben. In der kulturhistorisch angelegten Arbeit von Mischke zum Beispiel sind Literaturzusammenfassungen zu finden, die beim Leser und der Leserin vor allem Empörung auslösen dürften: ,Oft gibt es im Krankenhaus überhaupt keinen Platz für sterbende Patienten. Er wird dann heimlich hinter Paravents, in provisorisch abgeschirmte dunkle Flure, Winkel, Abstellkammern oder sterile Badezimmer und Waschräume abgeschoben, und nur hin und wieder wird nachgeschaut, ob er wirklich gestorben ist.’ (Marianne Mischke: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel der abendländischen Geschichte, Berlin: Reimer 1996, S.226) Bei Sudnow zum Beispiel steht zum Problem ‚Abschieben von Sterbenden’ etwas viel Komplexeres: Im untersuchten Unterschichtenkrankenhaus wird für Sterbende vom Stationspersonal ohne Rücksicht auf deren Wünsche ein Einzelzimmer angeordnet, damit die Arbeit problemloser verrichtet werden kann. Falls kein Einzelzimmer frei ist, werden stattdessen die Bettvorhänge (Paravents) gezogen. Im untersuchten Mittelschichtkrankenhaus dagegen werden moribunde Patienten, die allein sein möchten, aus Diskretionsgründen in ein Einzelzimmer verlegt.” Streckeisen: Die Medizin und der Tod, a.a.O., S.93, Fn.91.
110
Drei literarische Verarbeitungen
bung gesellschaftlicher Entwicklungen, Veränderungen und Neuerungen häufig zuerst in Romanen und Gedichten und erst später in wissenschaftlichen Abhandlungen. Und oft verwendet die Wissenschaft die literarischen Produkte als gesellschaftliche Artefakte und somit als Objekte ihrer Forschung. In diesem Sinne kann die Poesie durchaus eine „Erkenntnisquelle der Soziologie“ sein, wie der Dichter und Philosoph Lars Gustafsson dies in einem Vortrag prägnant beschrieben hat.188 Philippe Ariès hat sich auf eine überaus elegante und inspirierte Weise des an sich hinlänglich bekannten Kanons der Weltliteratur angenommen, um aus ihm Hinweise und Beschreibungen zu destillieren, die dann in der von ihm präsentierten Form und Zusammensetzung eine „Geschichte des Todes“ ergeben. Das für unser Thema wichtigste Beispiel in seinem opus magnum ist ohne Zweifel seine Lektüre von Leo Tolstois Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“. Ariès präsentiert sie im letzten Kapitel seiner chronologisch-historisch vorgehenden Studie. Die Erzählung spielt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts und Iwan Iljitsch stirbt somit am Anfang der Epoche, in der sich der „ins Gegenteil verkehrte Tod“ herausbildet. Am Ende der Epoche steht die „Medikalisierung“, an ihrem Beginn steht die „Lüge“. Die Erzählung ist für viele Autoren wichtig gewesen und daher wollen wir, bevor wir Ariès Interpretation betrachten, erst einen eigenen Blick auf Tolstois Erzählung werfen. 5.2 Leo Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch Iwan Iljitsch, richterliches Mitglied des Gerichtshofs, stirbt im Alter von 45 Jahren 1882 nach längerer, qualvoller Krankheit. Tolstoi charakterisiert das Leben seiner Hauptfigur als „einfach, gewöhnlich und doch entsetzlich“.189 Iljitsch macht als Jurist zuerst eine reibungslos und relativ schnell verlaufende Karriere. Er ist der Sohn eines unfähigen, aber doch zu auskömmlichem Posten gekommenen Beamten, und es zieht „ihn von frühester Jugend an zu den Begünstigten des Lebens.“190 In allem ist er bestrebt, „comme il faut“ zu handeln; er heiratet durchaus nicht ungern, seine Frau ist „lieb, hübsch und wohlerzogen“, hat aber auch „einflußreiche Verwandte“.191 Iljitsch „tat damit zugleich etwas, das ihm angenehm war, und er tat damit zugleich etwas, das die Höhergestellten für rich188
Der Vortragstitel war als Frage formuliert, die der Vortrag dann allerdings eindeutig positiv beantwortete. Vgl.: Lars Gustafsson: „Kann die Poesie eine Erkenntnisquelle für die Soziologie sein?“ Vortrag in Trier am 08.11.2007. 189 Leo Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch. Eine Erzählung, Frankfurt am Main 2002, S.28. 190 Ebd., S.30. 191 Ebd., S.38.
Drei literarische Verarbeitungen
111
tig hielten.“192 Sein ganzes Verhalten und Agieren bewegt sich auf diesem Grad, möglichst das Angenehme mit dem gesellschaftlich Nützlichen zu verbinden. Wobei Iljitsch keineswegs der innerlich von der Gesellschaft distanzierte, rein zweckrational handelnde Karrierist ist, sondern sich bei ihm stets eine Art Ehrfurcht vor den gesellschaftlichen Konventionen findet. In diesem Sinne trachtet Iljitsch immer danach, das Angenehme mit dem gesellschaftlich Akzeptierten zu verbinden, denn die Eigenschaften, in denen Iljitsch „das Eigentümliche am Leben überhaupt“ sieht, sind das Leichte, das Angenehme, das Heitere und: das durchaus Schickliche und von der Gesellschaft Gebilligte.193 Mit dem Aufbau einer fein komponierten Gegenbewegung treibt Tolstoi seine Erzählung nun in die Peripetie. Auf der einen Seite steht die sich weiter entwickelnde berufliche Karriere und auf der anderen Seite die familiäre Situation, deren Zentrum die sich ins Grausame verschlechternde Beziehung zu seiner Gattin ist. Nicht zufällig beginnt die Zerrüttung der Ehe, und damit der Kern der allgemeinen Zerrüttung seiner Existenz, mit der ersten Schwangerschaft der Frau.194 Offenkundig aufgrund einer durch die Schwangerschaft ausgelösten Wesensveränderung wird sie mürrisch und gereizt und macht ihm Szenen. Iljitsch sieht das „Eigentümliche am Leben“ bedroht, nämlich seine öffentliche Existenz „comme il faut“ leicht und angenehm aufrechterhalten zu können. Der unheilvolle Drang beider Ehepartner, unbedingt zur besseren Gesellschaft zu gehören, lässt Iljitsch einen Ausweg darin sehen, sich in den Dienst zu flüchten: „Sein Dienst war das einzige, was Praskowja Fjodorowna imponierte. Iwan Iljitsch spielte also den Dienst und die sich aus diesem Dienst ergebenden Pflichten gegen seine Frau aus, indem er hier seine Welt, die Welt seiner Unabhängigkeit abgrenzte.“195
Die Geburt des Kindes und die Streitereien über dessen Erziehung verstärken seine Flucht in die dienstlich-öffentliche Sphäre. Es beginnt sich die Kluft zwischen öffentlicher und privater Existenz zu entwickeln, aus der sich das Ehepaar nicht wird befreien können und deren zwanghafte Leugnung in der öffentlichen Sphäre die „Lüge“ ist, die Iljitsch als Sterbender erkennen und für seine Seelenqualen verantwortlich machen wird. Die Wahrung der äußeren Form wird das wichtigste:
192
Ebd. Ebd., S.39. 194 Und selbstredend ist es Teil der literarischen Komposition, den privaten Niedergang des (Anti)Helden, der letztlich zu der ganz eigenen Art des Sterbens führen wird, sich in der Geburt seines Kindes ankündigen zu lassen. 195 Ebd., S.41. 193
112
Drei literarische Verarbeitungen „Er verlangte von der Ehe nur noch jene Vorteile, die sie ihm gewähren konnte: Essen, Führung der Wirtschaft, Bett, vor allem aber die Wahrung der äußeren Formen, die von der öffentlichen Meinung ein für allemal festgesetzt waren.“196
Mit der Verschlechterung der häuslichen Situation lässt Tolstoi Fortschritte in der Karriere einhergehen: Iljitsch wird „Zweiter Staatsanwalt“. Es werden weitere Kinder geboren, die Frau wird immer mürrischer und gereizter, Iljitsch schließt sich immer hermetischer in die Welt seines Dienstes ein: Er wird „Erster Staatsanwalt“. Diese Beförderung ist mit einer Versetzung in ein neues Gouvernement verbunden. Dort aber ist das Leben teurer, selbst das nun höhere Gehalt reicht dafür nicht hin, und der neue Wohnort missfällt der Ehefrau. „Außerdem starben zwei Kinder, und das Familienleben wurde Iwan Iljitsch noch unangenehmer.“197 Die auseinanderstrebenden Linien der privaten und der öffentlichen Entwicklung haben ihre Extrempunkte erreicht. Aber bevor Tolstoi die unausweichliche Katastrophe hereinbrechen lässt, verharrt er in der Beschreibung dieser Situation der fast vollständig voneinander entkoppelten Lebensbereiche. Sowohl die Erzählung wie in ihr auch Iljitschs Leben erfahren ein stark retardierendes Moment. Das Leben der Hauptfigur hat in dieser umfassenden Flucht in die Welt des Berufsdienstes und der Abschottung von der Familie Stabilität gefunden: „Die Hauptsache war, daß Iwan Iljitsch den Dienst hatte. Auf diese Welt des Dienstes konzentrierte sich nun sein ganzes Interesse. (...) Und so verlief dieses Leben auch weiter so, wie es nach der Ansicht von Iwan Iljitsch verlaufen mußte: angenehm und in den Grenzen des guten Tons. So verbrachte er noch sieben Jahre.“198
In diesen sieben „angenehmen“ Jahren stirbt ein weiteres Kind und die ehelichen Zwistigkeiten nehmen nicht ab, aber alles das erreicht den sich davon abschließenden Iljitsch nicht mehr. An diesem Punkt könnte die Erzählung enden: Die handelnden Personen haben sich den gesellschaftlichen Konventionen bis zur Erstarrung eingefügt. Aber tatsächlich ist damit erst ein Drittel der Erzählung vorbei und die folgenden zwei Drittel zeigen die letzten beiden Lebensjahre und mit aller Wucht das Sterben des Helden. Das ruhige und „angenehme“ Leben Iljitschs wird nun durch eine rasante Folge von Ereignissen erschüttert. Wie sich aus der offensichtlich unproblematischen Koexistenz von Kindstoden und angenehmem Leben schnell schließen lässt, finden die Erschütterungen in der dienstlichen Sphäre statt. Eine als sicher angesehene Berufung auf den Posten eines 196
Ebd., S.42. (Hervorhebung MH) Ebd., S.43. 198 Ebd., S.45. 197
Drei literarische Verarbeitungen
113
Gerichtspräsidenten in einer Universitätsstadt, mithin also die Krönung der Karriere, bleibt aus, man zieht ihm jemand anderen vor, Iljitsch überwirft sich mit dem Konkurrenten und in der Folge auch mit seinem Vorgesetzten. „Man wurde kühl gegen ihn und überging ihn auch bei der nächsten Versetzung. Das war im Jahre 1880, dem schwersten Jahr in Iwan Iljitsch Leben.“199
Die Kompensation ermöglichende und Stabilität garantierende Welt des Dienstes ist schwer beschädigt und Iljitsch ist zurückgeworfen auf die traurigen Umstände seiner Existenz: Geldknappheit und gesellschaftliche Marginalisierung. Es ist eine, zwar noch nicht unmittelbar physisch, aber doch existenziell bedrohliche Situation. Tolstoi lässt seinen Helden hier zum ersten Mal die Kehrseite einer Gesellschaft spüren, die sich mit dem Anschein von Verhältnissen zufrieden gibt und in der Interesse am Anderen, Bekenntnisse von Solidarität und freundschaftlichen Bindungen lediglich geheuchelt werden, in der allein die Beachtung der „Grenzen des guten Tones“ leitend ist. In dieser ersten Katastrophe in Iljitschs Leben finden sich bereits die Strukturen, die dann sein Sterben zur zweiten Katastrophe werden lassen. Iljitsch muss nämlich erkennen, dass sich niemand für seine Situation interessiert. Wobei er gepeinigt ist vom Argwohn darüber, ob seine Umgebung nichts von seiner Situation wissen will oder ob sie tatsächlich nichts weiß. „In diesem Jahre wurde es einerseits ganz klar, dass sein Gehalt zu klein sei, andererseits aber auch, dass alle ihn eigentlich vergessen hatten und dass dem, was ihm als die größte und grausamste Ungerechtigkeit erschien, von den anderen nicht die geringste Bedeutung beigemessen wurde. Sogar sein Vater hielt sich nicht für verpflichtet, ihm hier zu helfen. Iwan Iljitsch fühlte, dass alle ihn damit im Stich ließen, dass sie seine Lage mit dreitausendfünfhundert Rubel Gehalt für durchaus normal, ja für glücklich hielten. Er allein wusste, dass mit dem Bewusstsein der erlittenen Ungerechtigkeit, mit den ewigen Quälereien der Frau, mit den Schulden, die er zu machen gezwungen war, da er über seine Mittel lebte – er allein wusste, dass seine Lage eben ganz und gar nicht normal war.“200
Das finanzielle Desaster ist nur der erste Rahmen, in dem der eigentliche Kern der Tragödie Iljitschs, das Alleinsein und der Argwohn gegen die Umwelt, beschrieben wird. Bis in die Wortwahl des „er allein wusste“ wird sich diese Konstellation beim Sterben wieder finden. Mit einer grandiosen erzählerischen Bewegung beginnt nun der Niedergang und das physische Leiden und Sterben Iljitschs. Vollständig illusionslos und auf der Suche nach egal welchem Posten in 199 200
Ebd., S.46. Ebd., S.47. (Hervorhebung MH)
114
Drei literarische Verarbeitungen
der Juristerei, wenn er ihm nur das benötigte Gehalt sichere, erreicht er durch einen unfassbaren Zufall (ein Revirement im Ministerium) nun doch noch die erträumte, aber verloren geglaubte Stellung. Er sieht sich am Ziel seiner Karriere, mit seiner Frau schließt er Frieden, seine Feinde, die „sich blamiert hätten“ schmeichelten sich bei ihm ein, jedermann beneide ihn, so Iljitsch und er sei in Petersburg beliebt. „Iwan Iljitsch war glücklich.“ Ebenso wie Tolstoi seinen Helden dafür bezahlen ließ, dass er sein Leben für glücklich hielt, nachdem er sein Privatleben so arrangiert hatte, dass es kompatibel war mit den gesellschaftlichen Grenzen des guten Tones, so lässt er ihn jetzt dafür bezahlen, dass er sich von der Heuchelei der neuen Freunde blenden lässt und abermals den Schein mit dem Sein verwechselt. Iljitsch stürzt von einer Leiter, daraus entwickeln sich zunehmend starke Schmerzen, die Diagnose bleibt unklar und er stirbt nach langen qualvollen Wochen. Die Heuchelei und die Lüge, die Überanpassung an die gesellschaftlichen Erwartungen, die sich während des ganzen ersten Drittels der Erzählung bis zum Karrierehöhepunkt als dominantes Strukturmerkmal von Iljitschs Leben zeigen, setzen sich auch in seinem Sterben fort. Sein Kontakt zu seinen Mitmenschen ist in seinem Sterben genauso wie in seinem Leben oberflächlich, formelhaft und verlogen. Mit dem perspektivischen Unterschied, dass Iljitsch nun von Argwohn erfüllt über diese Heuchelei nachzudenken und sie zu verabscheuen beginnt. Die restlichen zwei Drittel der Erzählung, die das Sterben aus seiner Sicht schildern, spielen an dieser Extremsituation des Lebens noch einmal das durch, was sich während des ganzen Lebens in dieser Gesellschaft permanent zeigte. Ziehen wir hier eine kurze Zwischenbilanz, bevor wir uns dem Sterben Iljitschs zuwenden. Das erste Drittel der Erzählung bereitet das Tableau für das Kommende. Es stellt die Gepflogenheiten des Umgangs in der gesellschaftlichen Oberschicht der Zeit dar. Dem Hinweis darauf kommt eine starke Bedeutung zu, denn eine soziologische Analyse des Sterbens kann allein von den gesellschaftlichen Bedingungen ausgehen und hat die anthropologische Verfasstheit „bloß“ als Bedingung der Möglichkeit jeder Form menschlichen Sterbens im Auge. Wenn wir im Folgenden auf Heideggers Interpretation des Textes von Tolstoi zu sprechen kommen, werden wir genau die Frage danach beantworten müssen, was bei Heidegger wirklich auf das menschliche Sterben überhaupt bezogen werden darf und was eigentlich Zeitdiagnose ist. Halten wir fest, dass in der Welt Iwan Iljitschs „die Grenzen des guten Tones“ das maßgebliche Kriterium für das Verhalten darstellen und dass, sofern diese gewahrt sind, das gesellschaftliche Leben oberflächlich, aber eben problemlos abläuft. Was sich hinter dem Schein an Schwierigkeiten, Hass oder Ängsten auch immer verbergen mag, spielt so lange gesellschaftlich keine Rolle, wie es eben verdeckt werden kann. Kann es dies nicht mehr, ist die Konsequenz allerdings keineswegs eine Aktivierung einer
Drei literarische Verarbeitungen
115
interessierten oder gar hilfsbereiten Umgebung, sondern die gesellschaftliche Meidung. Was Tolstoi in diesem ersten Drittel, dem eigentlichen ersten Teil der Erzählung, an der finanziellen Problematik vorführt, aber vorläufig zum guten Ende führt, zeigt sich im zweiten Teil um ein Vielfaches verschärft am Sterben Iljitschs. Die dominante Struktur des gesellschaftlichen Umgangs in Tolstois Erzählung ist die Heuchelei und die Lüge und damit eine große Einsamkeit des Einzelnen in Krisenzeiten. Dass sich Iwan Iljitsch die Wahrung seiner gesellschaftlichen Rolle mit einer nahezu vollkommenen Entfremdung von seiner Ehefrau erkauft, kommt erschwerend hinzu. Der kurze zweite Ehefrühling zum Zeitpunkt der Berufung in das Ministerialamt kann die über lange Jahre gewachsene Distanz nicht nachhaltig überbrücken, und sie bricht in der Krise unmittelbar wieder auf. Es ist wichtig, die generellen gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit vor Augen zu haben, oder zumindest die Bedingungen so, wie Tolstoi sie uns vorführt, um nicht in die Gefahr zu geraten, bei der Analyse von Iljitschs Sterben die ganze Szenerie umstandslos auf unsere Zeit zu übertragen. Die Erzählung Tolstois kann man durchaus als Kritik seiner Zeit lesen, und von daher kann man sie auch problemlos benutzen, um eine Epochenschwelle zu markieren. Aber sie ist auch die Geschichte eines Einzelnen, der sich aufgrund seiner eigenen Entscheidungen und Präferenzen in eine heillose Situation verstrickt; in eine Situation allerdings, deren Entstehen zugegebenermaßen durch die Gesellschaft stark begünstigt wird. Es macht einen Unterschied, ob eine Gesellschaft, die alles das im Unsichtbaren halten will, was nicht ihren Erwartungen entspricht, auch das Sterben Anderer so wenig als möglich beachten will, oder ob man von einer Gesellschaft, in der Krisen kommuniziert und in der Öffentlichkeit verhandelt werden, annimmt, sie verdränge den Tod. Der Verdrängung des Todes kommt im ersten Falle eine geringere Bedeutung zu als im zweiten. Dort gewinnt die (unterstellte) Todesverdrängung Singularität und damit an Gewicht für die Charakterisierung einer Gesellschaft. Ariès interpretiert die Erzählung natürlich von ihrem Ende her mit der Frage: Was ist das für eine Gesellschaft, in der man so sterben muss, wie Iljitsch stirbt? In seiner Interpretation ist es die Vorläufergesellschaft unserer gegenwärtigen Gesellschaft, auf dem Wege zur Verdrängung des Todes. Der Grund für die dargebotene ausführliche Darstellung des ersten Teils der Erzählung sollte gerade der Illustration der gegenteiligen Annahme dienen: dass Tolstoi am Sterben, einem menschlichen Extrem, ausführt, was für diese spezielle Gesellschaft im allgemeineren Rahmen gilt. Der Bereich des öffentlichen Lebens, des Lebens, das sich an die Berufsrollen und ihre Erwartungen an Lebensstil und „guten Geschmack und Ton“ anlagert, ist in dieser Zeit (Ende des neunzehnten Jahrhunderts), in dieser Gesellschaft (Russland) und in dieser Schicht (Oberschicht)
116
Drei literarische Verarbeitungen
so zentral, dass alles, was als störend empfunden werden kann, das heißt alles, was das leichte und angenehme Leben stören kann, kommunikativ marginalisiert oder weggedrängt wird: peinliche Eheszenen, finanzielle Unzulänglichkeiten, Krankheiten und, natürlich verstärkt, Sterben und Tod. Dennoch aber ist die in der Erzählung dargestellte Art des Reagierens auf Sterben und Tod neu (gleichviel für welche Schicht das gilt). Auch wenn man nicht auf Ariès rekurrieren will, ist doch unmittelbar augenfällig, dass diese Form des Verhaltens nur in einer Gesellschaft vorkommen kann, die eine Trennung von öffentlich und privat kennt und die darüber hinaus einen hochaufgeladenen Begriff von Karriere hat. Will man doch auf Ariès rekurrieren, dann ist das epochenmäßige Vorgängermodell bei ihm die Verklärung des sterbenden nahen Anderen. Davon wiederum kann im Falle von Iwan Iljitsch beim besten Willen nicht die Rede sein. Vor allem aber ist das „Iljitsch-Modell“ einflussreich und hat seine Ausläufer in der „Medikalisierung“ und der „Einsamkeit“ der Sterbenden im Sinne von Norbert Elias. Wie sieht das Sterben des Iwan Iljitsch nun aus? Im Sinne unserer Unterscheidung von Sterben und Tod geht es uns bei der Analyse der Erzählung im Folgenden dezidiert um sein Sterben. Tolstoi hat seinen Text zwar „Tod“ des Iwan Iljitsch genannt, aber der Schwerpunkt der Beschreibungen liegt doch, und zwar sowohl rein vom Seitenumfang her als auch der Sache nach, auf den individualpsychologischen Vorgängen des sterbenden Iljitsch. Auch wenn der Text als eine „präzise Studie einer individualpsychologischen Verdrängung (des Todes, MH) gelesen werden“201 kann, behandelt er, muss er behandeln, gerade deshalb einen Sterbenden und keinen Toten. Verfolgen wir also zuerst kurz im Sinne eines Plots den Leidensweg und Tod des Helden, um dann verschiedene Interpretationen der Erzählung zu präsentieren.202 Auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt, stürzt Iljitsch beim Einrichten des neuen Hauses von der Leiter und fällt auf die Seite. „Es tat weh, doch der Schmerz verging bald.“203 Aber nach einiger Zeit, Wochen oder Monaten, stellt er einen merkwürdigen Geschmack im Mund und leichte Schmerzen in der Magengegend fest.204 Dieses unangenehme Gefühl wird schlimmer und be201
Frank Kelleter: Die Moderne und der Tod. Das Todesmotiv in moderner Literatur, untersucht am Beispiel Edgar Allen Poes, T.S. Eliots und Samuel Becketts, Frankfurt am Main u.a. 1997, S.40. 202 Es mag merkwürdig erscheinen, dass gerade der Teil der Erzählung „kurz“ betrachtet werden soll, der sich im engeren Sinne mit Tod und Sterben befasst. Aber die Begründung dafür ist oben schon implizit angeklungen: In den zahlreichen Arbeiten, die sich mit der Erzählung befassen, oder sie im Anschluss an Ariès behandeln, ist immer Wert gelegt worden auf die Beschreibungen des Sterbens und immer wurde der innere Zusammenhang zwischen der weiteren gesellschaftlichen Verfasstheit und der besonderen Weise des Umgangs mit dem Sterben vernachlässigt. 203 Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O., S.53. 204 Vgl. ebd., S.62.
Drei literarische Verarbeitungen
117
einträchtigt nachhaltig seine Gemütsverfassung. Damit brechen die ewigen Streitereien mit seiner Frau wieder auf, und nachdem Iljitsch in einem Streit entschuldigend erklärte, er sei aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung in solch reizbarer Stimmung, besteht seine Frau auf einem Arztbesuch. Die Konsultation ergibt, dass es der Blinddarm sei. Eine Medikation wird angeordnet und im Glauben an die Wirkung fühlt sich Iljitsch besser. „Der Schmerz ließ nicht nach, aber Iwan Iljitsch zwang sich, selber zu glauben, dass es ihm besser gehe. Der Betrug gelang ihm auch so lange als ihn nichts aufregte. Bei dem ersten Streit mit seiner Frau jedoch, bei einer Unannehmlichkeit im Dienst, bei schlechten Karten fühlte er sofort die Macht des Schmerzes.“205
An keinem Punkt der Erzählung finden sich Hinweise auf ein konkretes Krankheitsbild. Iljitsch zieht andere „Kapazitäten“ zu Rate, diese kommen zu anderen Schlüssen (vielleicht ist es doch die Niere?), die für den Leser aber unspezifiziert bleiben. Alle Medikation und selbstredend auch der Besuch bei einer Heilerin mit Heiligenbildern bleiben erfolglos. Die Krankheit schreitet voran, die Schmerzen werden unerträglich und schließlich stirbt Iljitsch unter grausamen körperlichen Qualen, drei Tage schreiend. Das ist der Plot des zweiten Teiles der Erzählung und das Uninteressante daran. Die Intention Tolstois und das soziologisch Bedeutende an der Geschichte ist alles das, was sich an den so nüchtern beschreibbaren Krankheitsverlauf sozial anlagert. Iwan Iljitsch ist sicher nicht der erste Mensch (ob fiktiv oder real), der einen schmerzhaften Tod sterben muss. Aber die Figur Iwan Iljitsch ist die erste, deren Sterben stellvertretend für eine Art des Sterbens in einer ganz bestimmten Gesellschaft steht. Für welchen Tod Iljitsch steht, soll uns nun im Folgenden beschäftigen, indem wir uns die Parallelen ansehen, die sich zwischen der Schilderung Tolstois und der Darstellung öffentlicher Todesverdrängungsmechanismen bei Heidegger finden und die „fast Punkt für Punkt derjenigen Tolstois in Der Tod des Iwan Iljitsch nachgebildet (sind).“206 5.3 Exkurs: Heidegger Martin Heidegger ist sicher der bedeutenste Rezipient von Tolstois Erzählung. Der Verweis in dem „sonst mit externen Verweisen eher geizende(n)“207 epochalen Werk „Sein und Zeit“ von 1927 springt direkt ins Auge. Die Fußnote Hei205
Ebd., S.70. Kelleter: Die Moderne und der Tod, a.a.O., S.67. (Kursivsetzung im Original, MH) 207 Ebd. 206
118
Drei literarische Verarbeitungen
deggers rechtfertigt bereits die oben ausführlich vorgebrachte Darstellung des ersten Teils der Erzählung: „L.N. Tolstoi hat in seiner Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ das Phänomen der Erschütterung und des Zusammenbruchs dieses „man stirbt“ dargestellt.“208 Es kann hier nicht der Ort einer ausführlichen Beschäftigung mit Heideggers Philosophie sein, aber einige Punkte sollen genannt werden, um die Analyse Heideggers zu problematisieren. Dieses „Man“, der zentrale Begriff in Heideggers Philosophie des Todes, gehört in die öffentliche Sphäre des Lebens und ist der Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Verdrängung des Todes, wie Heidegger sie zu erkennen meint. Schon hier ist wichtig darauf hinzuweisen, und wir werden darauf ausführlich zurückkommen müssen, dass Heidegger die Verdrängung des Todes eigentlich nicht als gesellschaftliches Phänomen begreift, welches in der einen Gesellschaft vorkommt und in einer anderen nicht, sondern dass er diese Verdrängung des Todes generell für eine anthropologische Konstante hält. Im berühmten Paragrafen 51 von „Sein und Zeit“ kommt Heidegger auf das Verhältnis von Öffentlichkeit und Tod zu sprechen: „Die Öffentlichkeit des alltäglichen Miteinander „kennt“ den Tod als ständig vorkommendes Begegnis, als „Todesfall“. Dieser oder jener Nächste oder Fernstehende „stirbt“. Unbekannte „sterben“ täglich und stündlich. „Der Tod“ begegnet als bekanntes innerweltlich vorkommendes Ereignis. Als solches bleibt er in der für das alltäglich Begegnende charakteristischen Unauffälligkeit. Das Man hat für dieses Ereignis auch schon eine Auslegung gesichert. Die ausgesprochene oder auch meist verhaltene „flüchtige“ Rede darüber will sagen: man stirbt am Ende auch einmal, aber zunächst bleibt man selbst unbetroffen. (...) Die öffentliche Daseinsauslegung sagt: „man stirbt“, weil damit jeder andere und man selbst sich einreden kann: je nicht gerade ich“209
In genau diesem Sinne hat das „Man“ in Tolstois Novelle bei Iljitsch sein ganzes Leben gewirkt, also ihm im Heidegger’schen Sinne „geholfen“, den Tod zu verdrängen und macht es ihm nun nahezu unmöglich, das wirklich zu begreifen, was er „in der Tiefe seiner Seele“ weiß, nämlich, dass es nun ans Sterben geht: „In der Tiefe seiner Seele wusste Iwan Iljitsch, dass er sterben müsse, aber er hatte sich nicht nur nicht an diesen Gedanken gewöhnt, sondern begriff ihn einfach nicht und konnte ihn nicht begreifen.“210
208
Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen, 18. Auflage 2001 (zuerst 1927), S.254. (Kursivsetzung im Original, MH) 209 Ebd., S.252f. 210 Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O., S.87.
Drei literarische Verarbeitungen
119
Was Iwan Iljitsch hier am Begreifen hindert, ist, in Heideggers Worten, die Auslegung dieses bevorstehenden Sterbens durch das Man.211 Es ist die „Zweideutigkeit der Rede vom Tod“ (Heidegger), die dazu führt, dass gerade das „wesenhaft unvertretbar(e)“ Sterben in ein „öffentliches Ereignis“ verkehrt wird, „das dem Man begegnet“ und nicht einem konkreten Menschen, denn: „dieses Man ist das Niemand“.212 Die „Zweideutigkeit“ besteht also darin, etwas als Allgemeinaussage eindeutig auszusprechen, aber zu unterschlagen, dass dieses Allgemeine abstrakt bleibt und nur als je Besonderes konkret zu Tage treten kann. Diese Auslegung des Man ist Iljitsch so selbstverständlich („geworden im Zuge seiner Sozialisation“ müsste der Soziologe dazufügen), dass er fassungslos nun auf sich bezogen das nicht mehr begreifen kann, was ihm als Abstraktum lebenslang eindeutig war: „Jener bekannte Syllogismus, (...): Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, also ist auch Cajus sterblich -, war ihm sein ganzes Leben lang sehr richtig in bezug auf Cajus erschienen, in keinem Falle aber in bezug auf sich selber. Cajus – das war der Mensch, der Mensch im allgemeinen, (...). Aber er war gar nicht Cajus und durchaus nicht der Mensch im allgemeinen, sondern er war immer ein ganz und gar besonderes, von allen anderen verschiedenes Geschöpf.“213
Dieses von allen anderen verschiedene Geschöpf stirbt somit auch seinen eigenen Tod, der in diesem Sinne von allen anderen Toden verschieden ist. Da sich die Herrschaft der Daseinsauslegung des Man auf alle anderen Menschen („Daseine“ in der Heidegger’schen Terminologie) gleichermaßen bezieht, ist selbst der Augenblick, in dem Iljitsch, also das je besondere Dasein, sein eigenes Sterben klar erkennt, dennoch durch das Man „verseucht“, weil „die „Nächsten“ gerade dem „Sterbenden“ oft noch einreden, er werde dem Tod entgehen und demnächst wieder in die beruhigte Alltäglichkeit seiner besorgten Welt zurückkehren. Solche „Fürsorge“ meint sogar, den „Sterbenden“ dadurch zu „trösten““.214
Ariès nennt das in seiner Analyse der Novelle, bezeichnenderweise ohne Heidegger zu erwähnen, das „Umsichgreifen der Lüge“215, die er als Historiker aber gerade nicht zu den Charakteristika der anthropologischen Ausstattung des Men211
Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass an dieser Stelle terminologisch nicht zwischen Tod und Sterben unterschieden werden muss. 212 Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S.253. (Hervorhebungen MH) 213 Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O., S.87. 214 Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S.253. (Alle Anführungszeichen im Zitat, MH) 215 Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.723.
120
Drei literarische Verarbeitungen
schen zählt, sondern für die Zeit ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts für typisch hält.216 Und bei Tolstoi liest sich die vermeintliche „Tröstung“ so: „Die Hauptqual für Iwan Iljitsch lag in der Lüge, in der von allen anerkannten Lüge, daß er nur krank und nicht ein Sterbender sei, daß er sich nur ruhig verhalten und die Medizin nehmen solle und alles dann wieder gut werde.“217
Wenn Ariès auch auf merkwürdige Weise ein Anhänger der Verdrängungsthese sein mag, man vergleiche dazu noch einmal seine eigenen Einlassungen zur Paradoxie einer solchen gesellschaftlichen Verdrängung, so zeigt er doch explizit an, dass sich diese Verdrängung gesellschaftlich entwickelt hat und nicht zur Grundausstattung des Menschen gehört: „Jeder ist also Komplize in einem Lügengewebe, das sich in eben dieser Zeit (Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, MH) zu entwickeln beginnt und den Tod von nun an immer entschiedener in den Untergrund verdrängt.“218
Der Historiker Ariès scheint uns mit seiner „Indienstnahme“ der Novelle Tolstois näher an dessen eigener Intention zu sein als der Philosoph Heidegger mit der seinen. Ariès ist es vor allem darum zu tun, darzustellen, wie ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts im Umgang mit dem Sterben die Aufrechterhaltung einer Illusion Platz greift.219 Der Tod (hier müsste Ariès eigentlich vom Sterben sprechen) wird in den „Untergrund“ gedrängt, nicht weil man sich vor ihm fürchtet, was in Richtung der klassischen Verdrängungsthese ginge, sondern weil das Sterben bereits Formen anzunehmen beginnt, die man als „schmutzig“ und „widerlich“ empfindet. Denn in diesen Zusammenhang ordnet Ariès die Novelle Tolstois ein. Es ist von daher kein Widerspruch, die Schilderungen Tolstois als speziell für seine Gesellschaft, und in ihr die Oberschicht, zu lesen und die Kritik in der Novelle auf diese Zustände zu begrenzen. In diesem Sinne schreibt auch Frank Kelleter in seiner Studie „Die Moderne und der Tod“220, die Erzählung Tolstois sei „die umfassendste literarische Kritik des ordnungsgemäßbürgerlichen Sterbens“.221 In Kelleters literaturwissenschaftlicher Analyse „moderner Todesrede“222 findet sich „Der Tod des Iwan Iljitsch“ denn auch zusam216
Vgl. ebd., S.717. Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O., S.99. 218 Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.718. 219 Vgl. ebd., S.718. 220 Kelleter: Die Moderne und der Tod, a.a.O. 221 Ebd., S.39. (Hervorhebung MH) 222 Vgl. dazu speziell ebd., S.36ff. 217
Drei literarische Verarbeitungen
121
men mit Werfels „Tod eines Kleinbürgers“ und Waughs „The Loved One“. Es geht ihm darum, herauszustellen, „daß besagte Texte im geschichtlichen Moment des bürgerlichen Sterbens eine neue historische Manifestation thanatologischer Inauthentizität erblicken. Hierbei soll dargelegt werden, daß der Begriff des bürgerlichen Sterbens sich nicht allein auf den Augenblick des individuellen Ablebens bezieht, sondern vielmehr ein Alltagssterben bei lebendigem Leib beschreibt, eine Art gesellschaftlicher thanatomimesis oder Todeswelt.“223
Kelleter zufolge handelt es sich bei Tolstoi mehr um eine Kritik der herrschenden bürgerlichen Gesellschaft als um eine grundsätzliche Kritik der menschlichen Einstellung zum Tod als solcher, als was bei Heidegger die Vorstellung von der Verdrängung des Todes erscheinen soll. Heidegger hebt die Passage selbst durch Kursivsetzung hervor, die darauf hinweist, dass er nicht eine bestimmte (historische) Gesellschaft im Blick hat, sondern den Menschen als solchen: „Dem Dasein (also: Dem Menschen, MH224) geht es auch in der durchschnittlichen Alltäglichkeit ständig um dieses eigenste, unbezügliche und unüberholbare Seinkönnen, wenn auch nur im Modus des Besorgens einer unbehelligten Gleichgültigkeit g e g e n die äußerste Möglichkeit seiner Existenz.“225
Der Modus des Besorgens einer unbehelligten Gleichgültigkeit meint die (permanente) Verdrängung des Todes. Wir blenden hier die weitere Thanatologie Heideggers aus. Die Darstellung der Verdrängung des Todes ist für ihn der Ausgangspunkt, auf den seine ganze weitere Philosophie der Überwindung dieser Verdrängung, oder mit einem anderen Wort: der Todesflucht, aufbaut. Unser Ziel war es, angesichts der großen Rezeptionsgeschichte, die sich in der Thanatosoziologie mit der Heideggerinterpretation des „Iwan Iljitsch“ ergeben hat, darauf hinzuweisen, dass die Novelle sehr stark die spezifischen Bedingungen einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation darstellt, in der die beschriebene Verschleierung des Todes, die „Lüge“ in Bezug auf den Tod sich einreiht in eine generelle gesellschaftliche Lüge: Die Aufrechterhaltung der sozialen Fassade unter allen Konsequenzen ist das, was Tolstoi im Allgemeinen anklagt. Die spezielle Bezugnahme auf den Tod ist dabei das gravierendste Bei223
Ebd., S.S37. Zum Terminus „Dasein“, den Heidegger für „Mensch“ gebraucht, vgl. etwa „Sein und Zeit“, a.a.O., S.11: „Wissenschaften haben als Verhaltungen des Menschen die Seinsart dieses Seienden (Mensch). Diese Seiende fassen wir terminologisch als Dasein.“ (Klammer und Kursivsetzung im Zitat, MH) 225 Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S.254f. 224
122
Drei literarische Verarbeitungen
spiel. In seiner Interpretation überträgt Heidegger diese spezielle gesellschaftliche Konstellation auf das menschliche Verhältnis zum Tod als solchen. Genau darin liegt die soziologische Kritik an Heidegger begründet: Er meint die menschliche Bezogenheit auf den Tod als solche und beschreibt aber eigentlich doch nur die bürgerliche Bezogenheit auf den Tod: „Denn was ist laut Heidegger zu überwinden, wenn die öffentlich-verdrängende Todeshaltung zu überwinden ist? Es stellt sich heraus: eine konkrete geschichtliche Existenzweise, der das Dasein in seiner Alltäglichkeit „verfällt“ und die Heidegger als das „Man“ bezeichnet. Dieses „Man“ indessen ist – auch wenn Sein und Zeit wieder und wieder die Möglichkeit einer ontischen Auslegung des Begriffes bestreitet – nichts anderes als die bürgerlich-individualistische Gesellschaft in ihrer modernen, industrialisierten Erscheinungsform.“226
Auch Alois Hahn sieht in der Heidegger’schen Analyse des Daseins eher eine Zeitdiagnose von dessen Gegenwart: „Man könnte vermuten, daß Heidegger eine sehr spezifisch moderne Situation, nämlich die der radikal entzauberten Welt, in der es, zumindest für viele Menschen, keine Sinngebung, weder des Lebens noch des Todes gibt, zum menschheitsuniversalen Existenzial hochstilisiert, ohne darauf zu reflektieren, daß er nicht Analyse des Daseins betreibt, sondern Zeitdiagnose, die sich selbst nicht als solche durchschaut.“227
Es mag manchen Philosophen ohnehin nur ein müdes Lächeln abringen, es für eine neue, noch dazu bemerkenswerte Entdeckung zu halten, dass das Sterben während des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer langen Phase im menschlichen Leben geworden sei. Hatten nicht gerade sie mit theoretischen Modellen operiert, die eine maximale Länge des Sterbens beinhalteten, nämlich von der Geburt an bis zum tatsächlichen physischen Tode? Schon bei Augustin ist in seinen Bekenntnissen zu lesen, „daß ich nicht weiß, wie ich hierhergekommen bin, ich meine: in dieses tödliche Leben, in diesen lebendigen Tod.“228 Das Leben als 226
Kelleter: Die Moderne und der Tod, a.a.O., S.66. Alois Hahn: Heideggers Philosophie des Todes im Diskursfeld seiner Zeit (Weber, Simmel und Scheler). In: Johannes Weiß (Hg.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft. Konstanz 2001, S.105-128, hier S.105. 228 Augustinus: Bekenntnisse. Übersetzt, mit Anmerkungen versehen und herausgegeben von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989, erstes Buch, V,6, S.36. In der Anmerkung zu dieser Stelle schreiben Flasch und Mojsisch: „Die Stelle ist überdies charakteristisch für Augustins pessimistische Bewertung des Lebens als eines lebendigen Todes.“ Ebd., S.409. Alois Hahn verweist auf die Übersetzung der Stelle von Joseph Bernhart, der hier „Sterbeleben“ und „Lebesterben“ schreibt. Vgl. Alois Hahn: Tod, Sterben, Jenseits- und Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive. In: Ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt am Main 2000, S.119-197, hier S.124. 227
Drei literarische Verarbeitungen
123
Sterben zu betrachten hat in der Philosophiegeschichte eine gewisse Tradition. Die Soziologie interessiert sich aber für das Sterben als lange Dauer im menschlichen Leben nicht in Form abstrakter Konzeptionen, sondern als Dauer, die konkret physisch und sozial von den Sterbenden erlebt wird. Oder anders formuliert: wenn sich die Menschen wirklich als Sterbende empfinden, weil sie eine konkrete Veranlassung dazu haben. Wir haben uns im Kapitel über das soziale Sterben dazu ja ausführlich geäußert. Georg Simmel ist, genau umgekehrt wie Montaigne, ein ausgezeichnetes Beispiel für einen Autor, der in seinen Denkbewegungen den Weg von der Soziologie zur Philosophie gemacht hat. Alois Hahn zeigt in seinem Aufsatz229 über Simmels „Metaphysik des Todes“230, dass diese zu einem Zeitpunkt geschrieben wurde, als sich Simmel schon von der Soziologie gelöst und mehr der Philosophie zugewandt hatte.231 Simmel jedenfalls nimmt eine ähnliche Verknüpfung von Leben, Sterben und Tod an: „In jedem einzelnen Momente des Lebens sind wir solche, die sterben werden, und es wäre anders, wenn dies nicht unsere mitgegebene, in ihm irgendwie wirksame Bestimmung wäre. So wenig wir in dem Augenblick unserer Geburt schon da sind, so wenig sterben wir erst in unserem letzten Augenblicke.“232
Wie Hahn ebendort erwähnt, finden sich viele von Simmels Ideen später in Heideggers „Sein und Zeit“ wieder: „Der Ausgangspunkt ist für Simmel – wie danach für Heidegger - , daß der Tod nicht lediglich ein einmaliges Ereignis ist, das in einem bestimmten Augenblick auftaucht und mehr oder minder zufällig das Leben beendet. Der Tod ist viel mehr als nur das Lebensende. Unser ganzes Leben ist durchdrungen vom Tod, ja, in gewisser
229
Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, a.a.O. Simmel: Zur Metaphysik des Todes, a.a.O. 231 Im Zusammenhang mit den Simmel’schen Überlegungen zur Trennung von den Inhalten unseres Bewusstseins bzw. Lebens und diesem Bewusstseins bzw. Leben selber („erst die Erfahrung unseres Todes wird jene Verschmelzung, jene Solidarität der Lebensinhalte mit dem Leben gelöst haben“ Simmel, Metaphysik des Todes, a.a.O., S.34), schreibt Hahn: „Kühner kann man kaum spekulieren. Deutlicher kann auch die Abkehr von soziologischem Denken kaum dokumentiert werden. (...) Dafür (für die vom einzelnen Leben unabhängige Existenz von Gedankeninhalten, MH) hat der Soziologe Simmel selbst eindrucksvolle Formulierungen gefunden, auf die aber der Metaphysiker Simmel nicht zurückgekommen ist.“ Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, a.a.O., S.91. 232 Simmel: Zur Metaphysik des Todes, a.a.O., S.13, zitiert nach Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, a.a.O., S.80. Noch einmal findet sich dieses Bild, welches das ganze Leben als eine Bewegung auf den Tod zu akzentuiert in der Formulierung: „Wir sind wie Menschen, die auf einem Schiff in der seinem Lauf entgegengesetzten Richtung schreiten: indem sie nach Süden gehen, wird der Boden, auf dem sie es tun, mit ihnen selbst nach Norden getragen.“ Simmel: Zur Metaphysik des Todes, a.a.O., S.32. 230
124
Drei literarische Verarbeitungen Weise läßt sich sagen, daß Leben und Sterben identisch sind. Der Mensch ist auch für Simmel ein ,Sein zum Tode’.“233
Die implizite Annahme, der Tod dehne sich maximal über das ganze Leben aus, lässt sich auch aus der Heidegger’schen Idee des „Vorlaufens in den Tod“ ableiten. Der Tod wird durch die Möglichkeit des in ihn Vorlaufens für Heidegger zu etwas „Erfahrbarem“. Was Heidegger erfahrbar nennt, hat allerdings nichts mit dem zu tun, was bei Montaigne „Erfahrung“ bedeutet. Montaigne meinte damit ja gerade das, was man konkret und körperlich spürbar erlebt. Bei Heidegger geht es auch nicht, wie beim frühen Montaigne, darum, die Angst vor dem Tod zu verlieren, sondern darum, diese Angst auszuhalten. Theoretisch kann man jederzeit vom Tod ereilt werden, auch unmittelbar nach der Geburt schon. Der Tod ist also eine permanente Möglichkeit. In Heideggers schwieriger Terminologie wird daraus die stete „Möglichkeit der Unmöglichkeit von Existenz überhaupt“234. Wenn sich nun ein Mensch diese Möglichkeit bewusst macht, dann „läuft er vor“ in den Tod und erfährt ihn: als Möglichkeit. „Ein solches Aushalten nennt Heidegger‚ Vorlaufen’.“235 Die ganze Distanz zu einer soziologischen Analyse von Tod und Sterben wird hier deutlich. Die soziologische Betrachtung nimmt die Ängste, Schmerzen und Sorgen der Menschen in den Blick, die sich aus dem ergeben, was im wirklichen Sinne „erfahren“ wurde. Der in den Tod Vorlaufende bei Heidegger läuft beständig „in ein Kommendes vor, ohne dieses doch jemals als Etwas zu erreichen, gleichzeitig aber auch ohne dessen immer gegebene Nähe abzuleugnen.“236 Im soziologischen Sinne ist der Tod bei Heidegger damit gerade etwas NichtErfahrbares. Wegen der apriori jederzeit gegebenen Möglichkeit des Todes den Beginn des Sterbens mit der Geburt anzusetzen, macht eine soziologische Analyse des Sterbens unmöglich. Dessen eingedenk muss die Soziologie einen viel engeren Begriff vom Sterben haben.
233
Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, a.a.O., S.80. Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S.262. 235 Kelleter: Die Moderne und der Tod, a.a.O., S.67. 236 Ebd. 234
Drei literarische Verarbeitungen
125
5.4 Alter und Sterben bei Philip Roth „Deswegen braucht man sich nicht zu schämen.“ „Doch, doch“, schluchzte sie. „Daß man nicht für sich selbst sorgen kann. Das jämmerliche Bedürfnis nach Trost...“ „Unter diesen Umständen ist nichts davon ein Grund, sich zu schämen.“ „Sie irren sich. Sie kennen das nicht. Die Abhängigkeit, die Hilflosigkeit, die Isolation, die Angst – das ist alles entsetzlich, und man schämt sich deswegen. Die Schmerzen sind so, daß man Angst vor sich selbst bekommt. Das Anderssein, daß man so anders ist, das ist furchtbar.“ Philip Roth – Jedermann -
Philip Roth ist schon einmal als Referenz in einem soziologischen Werk erschienen. Wenn es sich auch nur um eine Fußnote handelt, so stellt sie ihm doch immerhin ein nahezu unüberbietbar gutes Zeugnis aus. Es ist Erving Goffman, der in seinem Aufsatz über „die Territorien des Selbst“ im Zusammenhang von Reinlichkeitspraktiken, die dem Schutz vor Selbstbeschmutzung dienen, auf Roth verweist: „In Portnoy’s Complaint (...), hat Philip Roth eine literarische Darstellung der rituellen Arbeit, die mit den Darmbewegungen verknüpft ist, gegeben – eine Darstellung, die sicherlich für lange Zeit definitiv sein wird, vielleicht für immer.“237
„Portnoy’s Complaint“ ist die rasante und haarsträubende Geschichte der erwachenden und mit unendlich vielen Schwierigkeiten beladenen Sexualität der Hauptfigur. Der ganze Roman, mit seinem blitzenden Witz ständig auf der Grenze zur Pornographie und Obszönität, ist der Durchbruch für Roth, die Reaktionen reichen von Bewunderung bis Hass, und entsprechend deftig geht es zu. Die von Goffman angeführte Stelle beschreibt die Verdauungsprobleme des Vaters der Hauptfigur: „Er trank (...) Paraffinöl und Magnesium-Lactat, kaute Ex-Lax, aß morgens und abends Kleieflocken und verdrückte pfundweise gemischtes Trockenobst. Er litt – und wie er litt! – an Verstopfung. (...) Er machte sich in einer Kasserolle ein Gebräu aus getrockneten Sennesblättern - dieses und das unsichtbar in seinem Rektum schmelzende Suppositorium waren seine Zauberkünste: er überbrühte die geäderten grünen Blätter, rührte mit einem Löffel in dem übelriechenden Sud und seihte das Ganze sorgfältig durch, um es schließlich mit gespanntem, bedrücktem Gesichtsausdruck seinem blockierten Körper einzuverleiben. Anschließend kauert er vor dem leeren Glas, als lausche er weit entferntem Donnergrollen, und wartet auf das Wunder... (...) Doch das Wunder kam nie (...). Ich erinnere mich daran, daß er, bei der 237
Erving Goffman: Die Territorien des Selbst, in: ders.: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt am Main 1982, S.86, Fn.41.
126
Drei literarische Verarbeitungen Radiomeldung von der Explosion der ersten Atombombe, laut sagte: „Vielleicht hätte die es geschafft.““238#
Nun geht es uns nicht um die Probleme der adoleszenten Hauptfigur in „Portnoy’s Complaint“, sondern um das Sterben, aber die von Goffman anzitierte Stelle mutet in der Rückschau merkwürdig an, weil ihr aus unserer Perspektive eine viel später im Werk von Roth auftauchende Stelle korrespondiert, die für uns von zentraler Bedeutung ist, weil sie, natürlich in literarisierter Form, dennoch aber eine reale Situation schildert, die bis in die Details dem entspricht, was wir mit unseren eigenen Daten belegen wollen. Nämlich das Bild eines Menschen, der eine, wie man ex post feststellen kann, lange Phase des Sterbens hat durchleben müssen. Wenn man Strukturanalogien zwischen den beiden Szenen nennen will, so sind es diese: In beiden ist der Vater des Erzählers das Zentrum, beide haben mit Defäkation zu tun. Aber im ersten Falle ist der Vater noch jung, im zweiten alt; im ersten Falle ist die Beschreibung lustig, im zweiten Falle gewissermaßen todernst; im ersten Falle ist es ein fiktiver Vater eines fiktiven Erzählers, im zweiten der wirkliche Vater des Autors Philip Roth.239 Dieser Vater ist an einem Hirntumor erkrankt und infolge der Erkrankung und einer Operation stark in der Kontrolle seiner Körperfunktionen eingeschränkt. In der beschriebenen Szene findet Philip Roth ihn im Badezimmer. Sowohl das Badezimmer als auch der Vater sind über und über verschmiert mit 238
Philip Roth: Portnoys Beschwerden. Reinbek, 25.Aufl., 2008, S.8f. (Im Original: Portnoy’s Complaint. Harmondsworth 1967) Es ist erstaunlich, dass Goffman zwar auf diese Passage verweist, an einer vorhergehenden Stelle seines Aufsatzes aber den offensichtlichen Fundort seines skurrilen Beispiels nicht nennt. Es geht um „Mittel und Formen der Verletzung“ von sozialen Grenzen des Individuums: „Drittens ein geringfügiger Faktor: Die Körperwärme – die man zum Beispiel auf den Bettüchern von Stundenhotels, auf Toilettenbrillen, in Badezimmern, an ausgeliehenen oder versehentlich angezogenen fremden Jacken oder Pullovern antreffen kann.“ Goffman: Territorien des Selbst, a.a.O., S.78. Eine Nachfrage im Bekanntenkreis des Autors der vorliegenden Arbeit ergab erwartungsgemäß, dass niemand weder auf Bettüchern von Stundenhotels noch auf Toilettenbrillen je die Wärme des Vorbenutzers gefühlt hatte. Woher mag Goffman diese Beispiele haben? Es spricht einiges dafür, dass zumindest das „Toilettenbrillenbeispiel“ von Philip Roth stammt. Nämlich ebenfalls aus der vollkommen überdrehten und hysterischen Handlung in „Portnoys Beschwerden“: „Als Nächstes habe ich mich zu entscheiden, ob ich Toilettenpapier auf die Brille lege oder nicht. Mit Hygiene hat das nichts zu tun; ich bin sicher, dass hier alles sauber ist, makellos sauber (...) Bloß, was ist, wenn die Brille noch warm ist, von einem Campbell-Hintern (der Familienname der Freundin des Protagonisten, MH) – von ihrer Mutter! (...) Ich werde es wissen! Also lasse ich mich nieder – und sie ist warm!“, a.a.O., S.221. Im Übrigen hätte Goffman an gleicher Stelle noch ein weiteres Beispiel für seinen systematischen Zusammenhang finden können: „Bei Gott! Die Seife ist noch schaumig von irgendwelchen Händen.“ Ebd., S.220. 239 Philip Roth: Mein Leben als Sohn. Eine wahre Geschichte, 11.Auflage, München 2008. Jenseits aller Überlegungen darüber, in welchem Maße die Erzählung fiktionalisierten Charakters ist oder real, lesen wir sie schlicht als Tatsachenbeschreibung. So oder so dient sie vollkommen passend unserem Argument.
Drei literarische Verarbeitungen
127
Kot, weil der Vater seine Ausscheidungen nicht mehr ausreichend kontrollieren kann und es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette geschafft hat. Der Versuch, das Unglück zu bereinigen, führt zu der genannten heillosen Situation. Der Vater bricht angesichts der Situation und der Tatsache, so von seinem Sohn gesehen zu werden, vor Scham zusammen. Das diesem Kapitel vorangestellte Zitat aus einem späteren Buch von Roth könnte hier genauso gut eingefügt werden: „Deswegen braucht man sich nicht zu schämen“ möchte man zu Roths Vater sagen. Aber für diesen gilt eben: „Doch, doch (...) Daß man nicht für sich selbst sorgen kann. (...) Die Abhängigkeit, die Hilflosigkeit (...), das ist alles entsetzlich. (...) Das Anderssein, daß man so anders ist, das ist furchtbar.“ Es ist der Verlust der Autonomie, das Gezwungensein, ein für selbstverständlich gehaltenes zivilisatorisches Lebensniveau verlassen zu müssen, der Ekel vor sich und der Ekel davor, von anderen so gesehen zu werden, was das soziale Sterben in unserer Zeit charakterisiert und wovor, zusammen mit den Schmerzen, die Menschen sich fürchten. Roth zeigt ein bemerkenswertes Gespür für die Thematik des Alterns, der damit verbundenen Malaisen und für das Sterben. Wie auch bei Montaigne zeigt sich in seinem Werk, dass im Laufe des Lebens andere Probleme in den Fokus rücken und strukturell gleiche Situationen anders bewertet werden. Am markantesten lässt sich das sehen an seiner Figur des Nathan Zuckermann. Über dreißig Jahre hinweg taucht sie immer wieder in seinen Texten auf, und aus der Rückschau des Lesers gibt sie für den Soziologen unserer Tage das ähnlich geeignete Studienobjekt ab wie Ivan Iljitsch für Philippe Ariès. Ein junger Schriftsteller am Anfang, sieht ihn der Leser im vorletzten Buch von Roth als verfallenden alten Mann, der nach einer Prostataoperation an Impotenz und Inkontinenz leidet.240 Auch er leidet sehr unter seiner Situation und auch mit der gleichen Reflexionsfigur: Er gäbe alles daran, „wieder ganz zu sein“241. Zuckermann, den Roth in seinem vorletzten Buch242 als Ich-Erzähler auftreten lässt, spricht von einer „underlying humiliation“ angesichts der „dailiness of the routine necessary to keep myself clean and odor-free“, er kann sich nicht daran gewöhnen „to wearing the special undergarments and changing the pads and dealing with the ,accidents’ (i.e. der Inkontinenz, MH)”243 und das ganze gewohnte Leben und Veröffentlichen steht ihm in Zweifel: „What does it matter any longer if I’m incontinent and impotent?“244 240
Nach wie vor lesen wir die Romane und Geschichten von Roth vollkommen ohne literaturwissenschaftlich-analytischen, sehr wohl aber mit einem soziologisch-analytischen Anspruch. 241 Zitiert nach Jordan Mejias: Auf den Schlachtfeldern von Lust und Alter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.11.2007. 242 Philip Roth: Exit Ghost. New York 2008. 243 Ebd., S.2. 244 Ebd., S.5.
128
Drei literarische Verarbeitungen
Fiktiv zwar, aber ganz im Zentrum der Handlung, steht das Sterben in Roths „Jedermann“. Die Novelle zeigt eine Geschichte der Krankheit und des Sterbens der Hauptperson, die unter anderem eine Frau kennenlernt, „die das Leben nur noch als physischen Schmerz wahrnehmen kann und sich darum vor sich selbst und dem unerträglich anderen in sich fürchtet“245 und sich selbst tötet: die Frau des Eingangszitates. Roth selbst zeigt sich in einem Interview zu diesem Buch soziologisch auf der Höhe der Zeit: „Es ist einfach so, dass wir heutzutage meistens am Leben bleiben, wenn wir krank werden. Wir machen daher weitaus mehr Erfahrung mit Krankheit als die Menschen im 15. Jahrhundert. Wer damals richtig krank wurde, der starb. (...) Der Tod kommt natürlich auch heute noch unerwartet, aber im großen und ganzen werden Menschen eine ganze Weile am Leben erhalten, bis eine Krankheit sie am Ende tötet.“246 Roth ist der Autor der Stunde für die vorliegende Studie und sollte ein zukünftiger Philippe Ariès eine neue „Geschichte des Todes“ schreiben und sich dafür noch einmal so elegant in der Weltliteratur bedienen wollen, müsste er für das späte zwanzigste und frühe einundzwanzigste Jahrhundert Philip Roths Beschreibung des Sterbens seines Vaters zitieren. Jedenfalls für das, was die vorliegende Studie anhand empirisch erhobener soziologischer Daten zeigen will, findet sich bei ihm eine literarische Darstellung, die sicherlich für lange Zeit definitiv sein wird, vielleicht für immer: „Gegen Ende der Mahlzeit schob er seinen Stuhl zurück und ging in Richtung der Stufen zur Küche. Es war das dritte Mal, daß er während des Essens vom Tisch aufstand, und ich erhob mich ebenfalls, um ihm die Treppe hinaufzuhelfen. Er wollte jedoch nicht, daß ich ihm half, und da ich mir vorstellte, daß er wiederum einen Versuch machte, seinen Darm zu entleeren, wollte ich ihn nicht in Verlegenheit bringen, indem ich mich aufdrängte. Wir tranken unseren Kaffee, als mir auffiel, daß er immer noch nicht wiedergekommen war. Ich verließ still den Tisch und schlich mich ins Haus, während die anderen miteinander sprachen, in der Gewißheit, daß er tot sei. Er war es nicht, doch er mochte durchaus wünschen, er wäre es. Ich roch die Scheiße auf der halben Treppe zum oberen Stockwerk. Als ich zu seinem Badezimmer kam, stand die Tür weit offen, und auf dem Fußboden des Ganges vor dem Badezimmer lagen seine Jeans und seine Unterhose. In der Badezimmertür stand mein Vater, völlig nackt; er war gerade aus der Dusche gekommen und tropfnaß. Der Gestank war überwältigend. Bei meinem Anblick brach er fast in Tränen aus. Mit einer Stimme, so verloren, wie ich sie nur je von ihm oder irgend jemand anderem gehört hatte, sagte er, was zu vermuten nicht schwer gewesen war. „Ich habe mich vollgemacht“, sagte er. Die Scheiße war überall, auf der Badematte unter den Füßen verschmiert, über den Rand der Toilettenschüssel verteilt und unterhalb der Schüssel auf dem Fußboden in einem Haufen. Sie war über das Glas der Duschkabine versprenkelt, aus der er gerade herausgekommen war, und die Klumpen klebten an den Kleidungsstücken, die im Flur abgeworfen lagen. Sie war auch an einem Zipfel des Badetuchs, mit dem er sich abzutrocknen begonnen hatte. Er hatte in diesem kleinen Badezimmer, das 245
Zitiert nach Jordan Mejias: Wann ist genug genug?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.07.2006. 246 Zitiert nach: Interview mit Philip Roth: Alter ist ein Massaker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.08.2006.
Drei literarische Verarbeitungen
129
normalerweise das meine war, versucht, sich allein aus seiner mißlichen Lage zu befreien, doch da er nahezu blind war und gerade erst aus dem Krankenhausbett aufgestanden war, hatte er, indem er sich entkleidete und unter die Dusche ging, es geschafft, die Scheiße überall auszubreiten. Ich sah, daß sie sogar an den Spitzen der Borsten meiner Zahnbürste war, die im Halter über dem Waschbecken hing. (...) „Du hast dich wacker geschlagen“, sagte ich, „doch ich fürchte, die Situation war nicht zu meistern.“ „Ich habe mich vollgemacht“, sagte er, und jetzt löste er sich in Tränen auf.“
6
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“ schloss thematisch an die Studie für den Hospizverein an. An Stelle der professionell mit Sterbenden arbeitenden Gruppen in den Institutionen war die Grundgesamtheit hierbei die deutsche Bevölkerung über achtzehn Jahren in den Privathaushalten der Stadt Trier und der Region Trier-Saarburg. Die Themenkomplexe der Untersuchung, zu denen die Einstellungen der Bevölkerung gemessen werden sollten, waren folgende:
Schwere Krankheit Pflegebedürftigkeit Sterbebegleitung Sterbehilfe
Der Pretest wurde im September und Oktober 2006 durchgeführt und die Umfrage selbst, nach einer Ankündigung in der lokalen Presse, in der Zeit vom 15.11. bis zum 16.12.2006. Die Umfrage wurde als Telefonbefragung mit zufallsgenerierten Telefonnummern des ZUMA durchgeführt und es wurden 317 Zielpersonen telefonisch befragt. Die Interviewzeiten waren von montags bis freitags zwischen 16:30 Uhr und 21 Uhr und samstags zwischen 10 und 17 Uhr. Um die Zielperson zu ermitteln, wurde die „Last-Birthday-Methode“ verwendet.
6.1 Struktur der Stichprobe (Rahmendaten) Der weibliche Anteil der Befragten lag bei 52,4 Prozent (N=166), der männliche entsprechend bei 47,6 Prozent (N=151). Mit Personen, die in Trier wohnhaft sind, wurden 141 Interviews geführt, mit Personen aus der Region TrierSaarburg 176 Interviews. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 45 Jahren. Die jüngste interviewte Person war 18, die älteste 86 Jahre alt. Die Verteilung in den Altersklassen sieht wie folgt aus:
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
132
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 22: Alter der Befragten klassifiziert (in Prozent) Altersklassen 18-30 31-50 51-60 61-89 N
Stadt 29,0 40,6 16,7 13,8 157
Land 14,9 46,3 25,1 13,7 156
Gesamt 21,1 43,8 21,4 13,7 313
Da wir nur die deutsche Wohnbevölkerung über 18 Jahren befragt haben, ist ein Vergleich mit der allgemeinen Altersstruktur in Rheinland-Pfalz nicht ohne weiteres herzustellen, aber es lässt sich nährungsweise sagen, dass sich die Altersstruktur in unserer Stichprobe mit der in Rheinland-Pfalz deckt.247 Bezüglich der Zugehörigkeit zu Konfessionen allerdings liegt der Anteil der Befragten römisch-katholischen Glaubens weit über dem Anteil in RheinlandPfalz und auch über dem Anteil der Katholiken im Bistum Trier. Auf dem Gebiet des Bistums Trier sind bei 2,5 Millionen Einwohnern 1,6 Millionen Katholiken (64 Prozent). Da unsere Umfrage nur die Stadt Trier als Bistumsstadt und den Landkreis Trier-Saarburg betraf, ist der höhere Anteil in der Stichprobe gegenüber dem Bistum nicht verwunderlich. Tabelle 23: Zugehörigkeit der Befragten zu Konfessionen (in Prozent) Konfession Römisch-katholisch Evangelisch Andere christliche Glaubensgemeinschaften Keine Religion N
Stadt 75,2 21,1 2,8
Land 89,8 9,6 0,6
Gesamt 83,8 14,3 1,5
0,9 132
134
0,4 266
Bezüglich der Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Konfession liegt also ein Bias vor. Allerdings ist die Einschätzung der Verbundenheit der Befragten mit ihrer Konfession nicht in gleichem Maße hoch:
247
Die Daten des statistischen Landesamtes Rheinland-Pfalz sind zudem in andere Altersklassen aufgeschlüsselt. Danach sind 20,8 Prozent der Bevölkerung unter 20 Jahren, 54,4 Prozent zwischen 20 und 60 Jahren und 24,9 Prozent 61 Jahre und älter. Vgl.: Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz unter: http://www.infothek.statistik.rlp.de/lis/MeineRegion/index.asp, Stand: 18.04.07.
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
133
Tabelle 24: Verbundenheit mit der Kirche (in Prozent) Verbundenheit Sehr stark Stark Weniger stark Gar nicht N
Stadt 6,5 29,9 47,7 15,9 132
Land 11,4 27,8 52,5 8,2 133
Gesamt 9,4 28,7 50,6 11,3 265
Überdies zeigt sich hierbei, nicht unerwartet, ein Alterseffekt. Sowohl in der Kategorie „sehr starke Verbundenheit mit der Kirche“, als auch in der Kategorie „starke Verbundenheit mit der Kirche“ nimmt der Anteil der Befragten mit den höheren Altersklassen zu, wie er auch komplementär dazu in den Kategorien „weniger starke Verbundenheit“ und „gar keine Verbundenheit mit der Kirche“ mit den höheren Altersklassen abnimmt. Tabelle 25: Verbundenheit mit der Kirche nach Altersklassen (in Prozent) Verbundenheit 18-30 Jahre Sehr stark 6,3 Stark 14,6 Weniger stark 62,5 Gar nicht 16,7 N 67 Sig.: .000 Pearson’s-R: .233
31-50 Jahre 7,0 27,8 54,8 10,4 66
51-65 Jahre 8,2 29,5 49,2 13,1 66
66 u.ä. 21,1 44,7 28,9 5,3 63
Gesamt 9,2 28,2 51,1 11,5 262
Die hier referierten Daten der Studie „Schwere Krankheit und Tod“ sind auch von Bedeutung für die oben dargestellte Untersuchung der Praxis der Sterbebegleitung („Hospizstudie“), denn die dort befragten, professionell mit Sterbebegleitung befassten Personen gehören eben der gleichen Grundgesamtheit an, welche der Untersuchung „Schwere Krankheit und Tod“ zu Grunde liegt. Das Ziel der hier vorzulegenden Analyse ist es, das Gesamtpanorama der Situation von Tod und Sterben darzustellen, wie es sich uns heute bietet. Die grundlegende These hierbei ist es, dass sich die Trennung von Tod und Sterben als zwei voneinander grundsätzlich zu unterscheidenden Phasen in ihrer Auswirkung sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene der Institutionen als auch auf der Ebene der Allgemeinbevölkerung zeigt. Daher sollen im Folgenden nun die Punkte vorgestellt werden, die den Perspektiven und Aspekten der für die Institutionen analysierten Themenkomplexe korrespondieren.
134
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
6.2 Verlust eines nahe stehenden Menschen Um überhaupt die Einstellungen zu „Tod und Sterben“ in einen interpretationsfähigen Rahmen zu stellen, muss allererst geklärt werden, in welchem Maße der Tod oder das Miterleben des Sterbens für die Allgemeinbevölkerung ein erlebbares Phänomen darstellt. 248 Aber nicht nur das quantitative Maß ist hierbei von Interesse, sondern auch, auf welche Art und Weise man mit dem Tod oder dem Sterben konfrontiert ist. Auch hierin, so ist zu vermuten, besteht ein Unterschied zwischen den Befragten der beiden Untersuchungen (professioneller versus nicht-professioneller Umgang). Auf die Frage, ob sie schon einmal einen ihnen nahe stehenden Menschen aus dem Familien- oder Freundeskreis verloren haben, antworten lediglich 8 Prozent, dass dies nicht der Fall sei. Hingegen geben 62 Prozent der Befragten an, bereits mehrere nahe stehende Menschen und 30 Prozent, einen nahe stehenden Menschen verloren zu haben (N=315). Was aber heißt „nahe stehend“ und wie ist es zu interpretieren? Aufgrund der Tatsache, dass später nur wenige Befragte angeben, das Sterben „eines“ Menschen miterlebt zu haben (es war nicht nach einem „nahe stehenden Menschen“ gefragt), kann man vermuten, dass „nahe stehend“ in der ersten Frage von den Befragten „formal“ aufgefasst wurde. Man hat die Formulierung „einen nahe stehenden Menschen aus dem Familienoder Freundeskreis“ gewissermaßen tautologisch verstanden und jeden Familienangehörigen auch als nahe stehend qualifiziert. Wenn dem so war, hatte das zur Konsequenz, dass jeder Todesfall, den es im Familien- oder Freundeskreis zum Zeitpunkt der Befragung bereits gegeben hatte, hier genannt wurde. Das wiederum sagt aber recht wenig darüber aus, wie präsent im Leben des Befragten dieser Todesfall war. Die Interpretation dieses Datums gewinnt etwas mehr Kontur, wenn man es mit dem Alter der Befragten korreliert.
248
Im Folgenden wird hierfür der Terminus „Todkontakt“ verwendet. Die Begriffsschöpfung stammt von Alois Hahn, der ihn in seiner Arbeit „Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit“, a.a.O., erstmalig verwendet und dazu anmerkt: „Mit dem freilich sehr unschönen Ausdruck „Todkontakt“, der im folgenden der Abkürzung wegen häufiger benutzt wird, soll die aktuelle Begegnung eines Menschen mit dem Tod gemeint sein, also Art und Häufigkeit des Erlebnisses des Todes und Sterbens anderer.“ Ebd., S.16, Fn.
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
135
Tabelle 26: Verlust eines nahe stehenden Menschen aus dem Familien- oder Freundeskreis Verlust von Angehörigen Nein
Altersklasse 18-30 Jahre 10 15,6% Eine Person 27 42,2% Mehrere Per- 27 sonen 42,2% Gesamt 64 100% Sig.=.000, Gamma=.461
31-40 8 10,3% 19 24,4% 51 65,4% 78 100%
41-50 8 13,6% 15 25,4% 36 61,0% 59 100%
51-60 0 0% 7 14,0% 43 86,0% 50 100%
61-70 0 0% 5 13,9% 31 86,1% 36 100%
71 u.ä. 0 0% 2 8,7% 21 91,3% 23 100%
Gesamt 26 8,4% 75 24,2% 209 67,4% 310 100%
Es zeigt sich dann der erwartete Zusammenhang (Gamma=.461), dass es sich um den gewöhnlichen Umstand handelt, dass junge Menschen noch nicht so viele Familienmitglieder und auch, ebenso altersbedingt, noch nicht so viele Freunde verloren haben wie ältere Menschen. Diese Aussage ist banal und gilt in der Form auch für alle früheren Zeiten. Insofern kann hier nicht eine bedeutsame Differenz zu früheren Zeiten erwartet werden. Der normale Verlauf sieht vor, dass man zuerst die Großeltern, dann die Eltern und dann die Angehörigen der eigenen Generation verliert. Dass es sich auch bei unseren Daten so verhält, dass es sich bei den hier genannten „nahe stehenden Menschen aus dem Familienkreis“ wohl vor allem um die Großeltern handelt, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass zum Beispiel in der Altersklasse von 41-50 Jahren nur 13,6 Prozent sagen, dass sie noch keinen nahestehenden Verwandten verloren haben (und für alle Befragten, die den höheren Altersklassen angehören gilt, dass dort noch niemand keinen Angehörigen verloren hat), bei der Frage nach dem Verlust der Eltern aber in der gleichen Altersklasse (41-50 Jahre), 61 Prozent angeben, dass bei ihnen noch immer beide Elternteile am Leben seien (N=59). 6.3 Verlust der Eltern In der folgenden Altersklasse der 51-60jährigen bricht dieser hohe Wert ein und nur noch 16 Prozent haben noch beide Eltern (N=50).249 Allerdings finden sich 249
In diesen Beispielen ist die absolute Zahl der Befragten sehr gering: Hinter den 16 Prozent der 4150jährigen verbergen sich ja nur 36 Personen und hinter den 16 Prozent der 51-60 Jährigen gar nur 8 Personen. Aus diesem Grund können die in diesem Zusammenhang referierten Zahlen nur ein erstes
136
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
auch noch in allen weiteren Altersklassen jeweils, wenn auch wenige, Personen, deren Eltern noch beide am Leben sind. Tabelle 27: Verlust der Eltern nach Alter Verlust der Eltern Nein
Altersklasse 18-24 Jahre
35 94,6% Ein 2 Elternteil 5,4% beide 0 0% Gesamt 37 100% Sig.=.000, Gamma=.701
25-30
31-40
41-50
51-60
61-70
71-90
26 89,7% 2 6,9% 1 3,4% 29 100%
66 84,6% 10 12,8% 2 2,6% 78 100%
36 61,0% 19 32,2% 4 6,8% 59 100%
8 16,0% 27 54,0% 15 30,0% 50 100%
7 19,4% 17 47,2% 12 33,3% 36 100%
7 29,2% 9 37,5% 8 33,3% 24 100%
Gesamt 185 59,1% 86 27,5% 42 13,4% 313 100%
In Bezug auf die Frage, welches Gewicht man der Tatsache wohl beizumessen habe, dass bereits über 90 Prozent unserer Befragten wenigstens einen „nahe stehenden Menschen“ verloren haben, haben wir hier nun ein Datum vor uns, welches größere Bedeutung verdient. Ist man geneigt, den Tod der Großeltern für nicht weiter bedeutsam für das Leben der heutigen Menschen und für ihre Vorstellungen vom Tod zu halten, und ist dies auch nicht einmal klar zu benennen für diejenigen, die ihre Eltern verloren haben250, so ist es doch eine wichtige Feststellung, dass in der Klasse der 41-50 Jährigen mehr als die Hälfte der Befragten, 61 Prozent, noch nicht in der Situation waren, Vater oder Mutter beerdigen zu müssen. Denn die Annahme, dass die Erfahrung des Todes eines signifikanten Anderen mit jedem Generationenschritt (Großeltern-Eltern-Gleichaltrige) eine größere Wirkung hat, gilt vermutlich nur dann, wenn der Tod der Eltern in einer Lebenssituation eintritt, in welchem sie im ganz realen Sinne noch signifikante Andere sind. Für Menschen im fünften Lebensjahrzehnt, die in den allermeisten Fällen selbst nicht mehr am Ende der Generationenfolge stehen, da sie
(Zahlen)Gerüst sein, an dem sich unsere Untersuchung orientieren kann. Letztlich kann bei dieser Datenbasis nur das Ineinandergreifen von Zahlen und aus weiterer Literatur (wissenschaftlich, belletristisch und journalistisch) zusammengetragener Deskription aussagekräftig sein. 250 Die Wirkung, welche das Miterleben des Sterbens eines Menschen hat, werden wir weiter unten noch diskutieren. Aber nach dem bereits ganz zu Anfang referierten Datum, dass sich nur 7 Prozent der Befragten vor dem Tod, aber 60 Prozent vor dem Sterben fürchten, ergibt sich schon die noch zu belegende Vermutung, dass dies eine ungleich stärkere Wirkung hat.
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
137
bereits selbst Kinder haben, dürfte das nur noch schwerlich gelten.251 In genau diesem Sinne ist der Tod für die heutigen Menschen (gemeint sind natürlich immer die „westlichen Menschen“) nicht nur kein alltagsaufdringliches Thema mehr, sondern dort, wo es den Alltag betrifft, betrifft es ihn in einer überaus abgemilderten Form im Vergleich zu früheren Zeiten. 6.4 Verlust des Lebenspartners Im Gegensatz zum Tod der Eltern ist der Tod des Lebenspartners sicher ein einschneidendes Ereignis, unabhängig davon, in welchem Alter dies erlebt wird. Härter zu verkraften ist wahrscheinlich nur noch der Tod des eigenen Kindes.252 Ein Verlust eines Kindes wurde von den Befragten nur in fünf Fällen berichtet. Hierbei ist aber festzuhalten, dass dabei ungeklärt bleiben muss, ob es sich um den Tod eines eigenen Kindes handelt oder um den Todesfall eines Kindes im „Familien- oder Freundeskreis“, auf den sich die Nachfrage „In welcher Beziehung stand diese verstorbene Person zu Ihnen?“ bezog. In Bezug auf den Verlust des Lebenspartners ist nun für die interessante Gruppe der 41-50jährigen, die mehrheitlich noch kein Elternteil verloren haben, zu sagen, dass sie auch noch nicht ihren Lebenspartner verloren haben. Bei einem Altersdurchschnitt von rund 45 Jahren in unserem Sample gilt das im Übrigen für 93 Prozent (N=291) unserer Befragten.
251 Nach eigenen Kindern wurde in unserer Untersuchung nicht gefragt, aber von den betreffenden 59 Personen sind 50 bereits eine eigene Ehe eingegangen (die allerdings nicht in allen Fällen gehalten hat: 7 sind wieder geschieden, 2 sind zwar noch verheiratet, aber getrennt lebend), bei 39 von ihnen lebt wenigstens 1 Kind im Haushalt (eigen oder das des Partners). 252 Vgl. dazu das Kapitel „Alter und Sterben und der ,verfrühte Tod’“ der vorliegenden Arbeit.
138
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 28: Verlust des Lebenspartners nach Alter Verlust des Lebenspartners Nein
Altersklasse 18-24 Jahre 36 97,3% Ja 1 2,7% Mehrmals 0 0% Gesamt 37 100% Sig.=.000, Gamma=.771
25-30 31-40 41-50 51-60 61-70 71-90 Gesamt 29 100% 0 0% 0 0% 29 100%
77 98,7% 1 1,3% 0 0% 78 100%
59 100% 0 0% 0 0% 59 100%
46 92% 4 8% 0 0% 50 100%
30 83,3% 6 16,7% 0 0% 36 100%
14 58,3% 9 37,5% 1 4,2% 24 100%
291 93% 21 6,7% 1 0,3% 313 100%
6.5 Miterleben des Sterbens: „Direkter Todkontakt“ In der Altersgruppe von 18-24 Jahren haben 73 Prozent der Befragten noch keine Erfahrung mit direktem Todkontakt. Dies fehlt also ganz eindeutig als Sozialisationsinhalt. Tabelle 29: Direkter Todkontakt nach Alter Direkter Todkontakt Nein
Altersklasse 18-24 Jahre 27 73% Ja, einmal 6 16,2% Ja, mehr- 4 mals 10,8% Gesamt 37 100% Sig.=.000, Gamma=.332
25-30 20 69% 6 20,7% 3 10,3% 29 100%
31-40 41 52,6% 23 29,5% 14 17,9% 78 100%
41-50 24 40,7% 17 28,8% 18 30,5% 59 100%
51-60 15 30% 21 42% 14 28% 50 100%
61-70
71-90
11 30,6% 16 44,4% 9 25% 36 100%
6 25% 10 41,7% 8 33,3% 24 100%
Gesamt 144 46% 99 31,6% 70 22,4% 313 100%
Dazu passend wird von unseren Daten auch die bereits von Ochsmann nolens volens bestätigte These einmal mehr bestätigt, dass die Menschen eher in Institutionen sterben als zu Hause: 45 Prozent im Krankenhaus, 5 Prozent im Altenheim und 41 Prozent zu Hause. Die restlichen 9 Prozent sterben im Straßenverkehr, im Urlaub oder am Arbeitsplatz. Die Kategorie „im Urlaub“ fällt aus der Reihe und ist an sich sinnlos, weil die interessierende Frage wäre, ob die Betref-
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
139
fenden im Urlaub in einem Krankenhaus gestorben waren, oder, was vielleicht noch eher wahrscheinlich ist: im Straßenverkehr während des Urlaubs (sicher wird der Hin- und der Rückweg auch zum Urlaub gezählt und die Sterberate im Urlaubsverkehr schlüge hier sicher zu Buche). Wenn die Befragten also weder einen signifikanten Anderen verloren haben (wobei hier die Frage nach dem Miterleben des Sterbens nicht miteinbezogen war) und auch das Sterben eines Menschen großenteils noch nicht miterlebt haben (wobei hier wiederum nicht das Kriterium des „nahen Menschen“ bestand), wenn dazu passend die Menschen nach den Angaben unserer Befragten zu 50 Prozent in Institutionen gestorben sind, dann liegt die Vermutung nahe, dass in den Fällen, in denen das Sterben miterlebt wurde, dies im Rahmen der beruflichen Tätigkeit der Befragten stattfand. Ein weiterer Hinweis auf diese Vermutung liegt in dem Umstand, dass die Anzahl der Befragten, die bereits mehrmals das Sterben eines Menschen miterlebt haben, nicht von Altersklasse zu Altersklasse zunimmt (s.o.). Eine Korrelation mit dem Alter scheint hier also nicht vorzuliegen. Tabelle 30: Direkter Todkontakt und Beruf im Pflegedienst Direkter Todkontakt Nein
123 51,5% Ja, einmal 75 31,4% Ja, mehrmals 41 17,2% Gesamt 239 100% Sig.=.000, Cramer’s V=.251
Beruf im Pflegedienst Nein Ja 20 26,7% 26 34,7% 29 38,7% 75 100%
Gesamt 143 45,5% 101 32,2% 70 22,3% 314 100%
Die berufliche Tätigkeit (gefragt war, ob die Befragten „beruflich mit Sterbenden oder Schwerkranken zu tun“ haben) ist das ausschlaggebende Kriterium dafür, dass die Befragten das Sterben eines Menschen ein- oder mehrmals miterlebt haben. Für die Befragten unter 25 Jahren ist dieser Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und Erleben des Sterbens eines anderen besonders stark ausgeprägt253:
253
Wenn auch die Fallzahlen hier gering sind.
140
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 31: Direkter Todkontakt der bis 25jährigen nach Beruf Direkter Todkontakt
Beruf im Pflegedienst Nein Ja Nein 25 2 83,3% 28,6% Ja 5 5 16,7% 71,4% Gesamt 30 7 100% 100% Sig.=.003, Cramer’s V=.483
Gesamt 27 73% 10 27% 37 100%
Wenn wir an dieser Stelle ein vorläufiges Fazit ziehen wollen, so lässt sich festhalten, dass ganz offensichtlich sowohl der Tod als auch das Sterben im Leben der Normalbevölkerung, sofern die Menschen nicht beruflich damit befasst sind, nur eine eher marginale Rolle spielt. Bezogen auf die oben aufgeworfene (alte) Frage nach gesellschaftlichen Verdrängung des Todes bedeutet dies, dass es keine Notwendigkeit gibt, den Tod zu verdrängen. 6.6 Lebensbedrohlicher Unfall und schwere Krankheit Nun wäre es zu kurz gegriffen, gewissermaßen ein positivistischer Fehler, wenn man nur die tatsächlichen Todesfälle in Betracht zöge um zu ermessen, ob für die Menschen „Bewusstseinsaufdringliches“ zu verarbeiten ist. Wenn man von der These ausgeht, dass sich ein Bewusstsein für etwas, in diesem Falle für die Tatsache, dass wir alle sterblich sind und irgendwann unseren Tod zu vergegenwärtigen haben, an real Erlebtem entzündet und bildet, dann muss man zu den erlebten Todesfällen auch solche Lebenssituationen hinzuziehen, in denen man sich vom Tod bedroht fühlt, sei es durch eine schwere Krankheit oder einen erlittenen Unfall. Näher betrachtet erscheinen Erfahrungen solcher Art unter Umständen sogar häufig schwerwiegender und für den Einzelnen mit größerer Erschütterung verbunden zu sein als Todesfälle anderer. Zumindest muss man dies aus methodenkritischer Sicht in Bezug auf die Aussagekraft der hier referierten Umfragedaten konzedieren. Wie bereits gesagt, sind die gewonnenen Daten sowohl zu der Frage nach dem „Tod einer nahestehenden Person aus dem Familien- oder Freundeskreis“ als auch nach dem „Miterleben des Sterbens“ je mit einer Unschärfe behaftet. Im einen Falle bleibt unklar, was genau „nahe stehend“ bedeutet, so dass hier durchaus auch solche Todesfälle mitgezählt wurden, die innerhalb des Familienkreises stattgefunden haben. Des Weiteren wurden hier die näheren Umstände nicht in Betracht gezogen, die aber für uns gerade
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
141
von entscheidendem Interesse sind. Denn die Frage sollte dazu dienen, einen „Todeskontaktindex“ der Befragten abzubilden. Die Wirkung oder der Eindruck, den ein Todesfall hinterlässt, hängt nun aber entscheidend von Faktoren ab, wie etwa, in welchem Alter eine Person starb, wie eng der Kontakt zu ihr war, ob die Person nach langer Krankheit, ob sie unter Schmerzen starb. Im Falle der Frage nach dem Miterleben des Sterbens eines Anderen wiederum bestand die Unschärfe darin, ob dieses Miterleben in einem beruflichen Kontext stattfand oder ob es eine wenigstens irgendwie geartete privat-persönliche Verbindung gab.254 Daher ist es für eine Einschätzung des „Todesbewusstseins“ unserer Befragten wichtig, auch die Erfahrungen von schwerer Krankheit und erlittenen Unfällen zu berücksichtigen. Keine großen Schwierigkeiten dürfte die Beantwortung der Frage gemacht haben, ob man bereits einen „lebensbedrohlichen Unfall“ hatte. Denn dass man einen Unfall „lebensbedrohlich“ nennt, verdankt sich sicher nicht, oder nur in den allerseltensten Fällen, rein subjektiver Empfindung. Ein lebensbedrohlicher Unfall ist wohl in aller Regel verbunden mit dem Einsatz eines Arztes oder gar Notarztes und der Rettungsdienste oder der Feuerwehr. Ob im Sinne einer medizinischen Diagnose dann die Situation des Unfallopfers tatsächlich lebensbedrohlich war, spielt für unsere Frage wiederum keine Rolle. Für uns entscheidend ist hier allein, dass die betroffene Person ihr Leben in Gefahr, oder, unvermeidbar pathetischer ausgedrückt, den Tod nahen sah. 255 Kurz gesagt: Wir gehen davon aus, dass sich die Befragten zweifelsfrei darüber im Klaren waren, ob sie bereits einmal einen lebensbedrohlichen Unfall hatten. Es zeigt sich, dass dies lediglich auf rund 10 Prozent der Befragten zutrifft und die überaus große Mehrheit sich noch nicht in einer durch einen Unfall hervorgerufenen lebensbedrohlichen Situation befand (N=280). Rund 88 Prozent der Befragten geben auch an, noch keine „schwere Krankheit“ gehabt zu haben (N=317). Als „schwer“ bezeichneten die Befragten folgende Krankheiten256:
254
Dass es durchaus auch beruflich-persönliche Beziehungen gibt, die überdies höchst problematisch sein können, ist ja gerade Quintessenz des Kapitels über die Arbeit im stationären Hospiz. Ein exotisch anmutender Sonderfall, der aber gleichwohl für uns auch keine Rolle spielte, wäre dann gegeben, wenn eine objektiv lebensbedrohliche Situation von demjenigen, der sie überstand, nicht für lebensbedrohlich gehalten wurde. An diesem Extrem wird klar, dass es uns nur auf die Wahrnehmung bzw. die Empfindung des Betreffenden ankommt. 256 Die Frage war offen gestellt, Mehrfachnennungen waren erlaubt und die Antworten wurden später zu den aufgeführten Kategorien zusammengefasst. 255
142
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 32: „Welche Krankheiten sind für Sie schwere Krankheiten?“ Krankheit Krebs AIDS, HIV u.a. Infektionskrankheiten Herzerkrankungen Körperliche Behinderungen Erkrankungen des Gehirns Chronische Erkrankungen Depressionen u.a. psychische Erkrankungen Geistige Behinderungen Sonstiges N
Prozent 85,9% 28,7% 22,9% 15,8% 13,5% 8,7% 6,5% 3,9% 2,9% 317
6.7 Todeskontaktindex und Todesbewusstseinsindex Zieht man nun alle die Fragen zusammen, die sich auf den Tod im näheren Sinne und auf Unfälle und schwere Krankheiten beziehen, so lässt sich bei entsprechender Gewichtung ein Index bilden, der den „Todkontakt“ der Befragtenpopulation darstellt.257 Die beruflichen Erfahrungen mit Tod und Sterben werden in den Index nicht hineingerechnet, weil es uns an dieser Stelle gerade nicht um die professionelle Seite des Umgangs mit der Thematik geht (Stichwort „Spezialinstitutionen“), sondern um die Situation des „durchschnittlichen Laien“, wenn man das einmal so nennen darf.
257
Diese Berechnungen, ebenso wie die Berechungen zum sogenannten „Todesbewusstseinsindex“ hat die Arbeitsgruppe um Ulrich Nöll und Jonny Laberenz zum Thema „Der eigene Tod“ im Zusammenhang mit der Umfrage durchgeführt. Vgl. Ulrich Nöll und Jonny Laberenz et al.: Der eigene Tod. (Unveröffentlichtes Manuskript, Trier 2007).
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
143
Tabelle 33: Todeskontaktindex Frage Haben/ Hatten Sie bereits eine schwere Krankheit? Ist das schon länger her? Hatten Sie schon einen lebensbedrohlichen Unfall? In welcher Beziehung stand die verstorbene Person zu Ihnen?
Haben Sie das Sterben eines Menschen schon einmal miterlebt?
Antwort Ja, und zwar...
3
Nein Ja
3 3
„Kind“ „Lebenspartner“ „Ein Elternteil“ „Familienangehörige“ „Ein Großelternteil „Sonstige Familienangehörige“ „Freunde“
3 2 1,5 1 0,5 0,5
Ja, mehrmals Ja, einmal
Gewichtung
0,5 3,5 2
Es sind also Werte zwischen 0 und 21,5 realisierbar.258 Wie nach der ganzen vorherigen Analyse der einzelnen Aspekte nicht anders zu erwarten, ergibt sich mit einem Durchschnittswert 4 für unsere Befragtengruppe, dass der „Todkontakt“ gering ist. Wenn es also für unsere Befragten eher selten, das heißt im Alltag unwahrscheinlich ist, mit dem Tod oder dem Sterben konfrontiert zu werden, dann ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch anzunehmen, dass sich bei den Befragten kein besonders ausgeprägtes Bewusstsein hinsichtlich des eigenen Todes findet, oder einfacher ausgedrückt: dass das Thema „der eigene Tod“ keine große Rolle in ihrem Leben spielt. Auch zum Todesbewusstsein lässt sich ein Index bilden, in den die folgenden Variablen und Gewichtungen eingegangen sind:
258
Der Wert 21,5 könnte nur realisiert werden, wenn es sich für den Befragten in allen drei erlebten Todesfällen um ein Kind gehandelt hätte. Dieser Wert wurde allerdings nie realisiert.
144
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 34: Todesbewusstseinsindex Frage Antwort Haben Sie sich schon einmal Ja Gedanken über Ihren eigenen Tod gemacht? War das eher häufig oder Eher häufiger eher selten?
Gewichtung 1
1
Haben Sie sich schon einmal Ja mit anderen Personen über Ihren eigenen Tod unterhalten?
1
War das eher häufig oder eher selten?
Eher häufiger
1
Haben Sie Vorbereitungen getroffen, die sich auf Ihr Lebensende beziehen?
Festlegung der Bestattung Testament Patientenverfügung Organspendeausweis Sterbeversicherung Lebensversicherung
2,5 1,5 1,5 1,5 2 1
Bei möglichen Werten zwischen 0 und 14 ergab sich bei unseren Befragten hinsichtlich des Todesbewusstseins ein Mittelwert von 3,4. Man muss also sagen, dass ein geringes Todesbewusstsein vorliegt. Fasst man dies alles in allem in einfachen Worten zusammen, muss man sagen, dass der „durchschnittliche Laie“, wie wir diesen Personentyp oben genannt haben, selten mit Tod und Sterben konfrontiert wird und sich daher keine großen Gedanken über diese Thematik macht, sie auch nicht zum Gegenstand von Gesprächen in der Familie oder mit Freunden macht. Diesen Zusammenhang hatte schon Alois Hahn in seiner Untersuchung „Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit“ von 1968 herausgearbeitet. Sein Erkenntnisinteresse war seinerzeit auf eine Falsifizierung der Verdrängungsthese gerichtet.
7
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“ war in Teilen als Re-Study dieser Untersuchung von 1968 gedacht. Oft als eine der Gründungsstudien der deutschen Thanatosoziologie bezeichnet259, jedenfalls in einem Falle aber auch kritisiert wegen ihrer schmalen empirischen Basis260, bot sich der Versuch einer Verifizierung ihrer Daten im Rahmen einer neueren Untersuchung mit einem größeren Sample an. Dass die Menschen nicht über den Tod sprechen, weil es zum Sprechen keinen Anlass gibt, war die eine von zwei zentralen Aussagen der Studie.261 Die andere war, dass diejenigen, die Anlass zum Sprechen über den Tod haben, auch über den Tod sprechen. Wo er erlebt wurde, als Todesfall im Familien- oder Freundeskreis, da wurde auch über ihn gesprochen. „Zumindest bei den von uns untersuchten Personengruppen nahm die Beschäftigung mit dem eigenen Tod zu, je häufiger man dem Tod an anderen begegnet war oder ihn als akute eigene Bedrohung erfahren hatte.“262 Beide Aussagen lassen sich nicht mit der gängigen Vorstellung in Einklang bringen, die gegenwärtige moderne Gesellschaft (als deren pars pro toto die Befragtengruppen fungieren) habe über die Themen Tod und Sterben Redetabus errichtet. Dass die Menschen, die den Tod bei anderen erlebt haben, häufiger über ihn reden als diejenigen, die eine solche Erfahrung nicht gemacht haben, heißt hingegen nicht, dass generell viel über den Tod gesprochen würde. Das ist 259
Vgl. Klaus Feldmann: Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick, Wiesbaden 2004, S.15: „Ein moderner sozialwissenschaftlicher Todesdiskurs hat erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen, in den USA u.a. durch R. Fulton, B.G. Glaser, A.L. Strauss, D. Sudnow, T.Parsons und in Deutschland durch Ch.v.Ferber, A.Hahn und W.Fuchs geleitet,“ und Nassehi/ Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft, a.a.O., S.12: „Die neuere deutschsprachige Soziologie des Todes nimmt ihren Anfang hauptsächlich in der empirischen Untersuchung von A. Hahn, die Ergebnisse über die bewußtseinsmäßige und materiale Präsenz des Todes in der modernen Gesellschaft in Auseinandersetzung mit archaischen Kulturen präsentiert.“ 260 Eben auch von Nassehi und Weber. Wir kommen unten ausführlich darauf zurück. 261 „Eine unserer Grundannahmen lautet nun, daß der Anteil der Personen, bei denen eine relativ große Zahl „todbezogener“ (bzw. den eigenen oder fremden Tod planend ins Handeln einbeziehender) Verhaltensweisen nachweisbar ist, am größten in den Gruppen ist, die einen relativ großen Todkontakt aufweisen, also in der Gruppe derer, die den Tod und das Sterben anderer sowohl zahlenmäßig oft, als auch direkt als auch qualitativ intensiv erlebt haben.“ Hahn: Einstellungen zum Tod, a.a.O., S.19f. 262 Hahn: Einstellungen zum Tod, a.a.O., S.34.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
146
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
allein schon deswegen so, weil von den 105 Personen, die Hahn für die von ihm selbst durchgeführte Untersuchung interviewte, nur 52 „intensiven Todkontakt“ im Sinne seiner Definition hatten. „Intensiven Todkontakt“ operationalisierte er dabei folgendermaßen: „Als Personen mit „intensivem Todkontakt“ wurden diejenigen aufgefaßt, die wenigstens einmal in ihrem Leben entweder Zeuge des Sterbens irgendeines Menschen waren oder selbst bereits wenigstens einmal in ihrem Leben für längere Zeit so krank waren, daß sie selbst glaubten, sterben zu müssen.“263
Das heißt also, dass gerade bei strenger Gültigkeit dieses Zusammenhangs die Kommunikation über den Tod in der Befragtengruppe nicht sonderlich hoch sein würde. Ebenso wie die latente Variable „Todkontakt“, so spaltet Hahn auch die latente264 Variable „Todesbewusstsein“ auf in die Ausprägungen „intensives“ und „nicht-intensives“ Todesbewusstsein und unterstellt bei allen Personen ein „intensives Todesbewusstsein“, die „ihren eigenen Angaben zufolge entweder 1. häufig an ihren eigenen Tod dachten oder 2. darüber mit anderen sprachen und schließlich 3. ständig in starker Furcht vor ihm lebten.“265 Um einem Befragten „intensives Todesbewusstsein“ im Sinne dieser Definition zusprechen zu können, muss er sich also zu einem dieser Indikatoren „bekannt“ haben. Das heißt also, schon bevor man Korrelationen mit der Variable „intensives Todesbewusstsein“ berechnet, hat man bereits auf einer „vorgelagerten“ Ebene, wenn man so will, ein Gegenargument zur Verdrängungsthese. In einer Gesellschaft, die den Tod wirksam verdrängt, ließe sich auf diese Art und Weise der Operationalisierung keine unter Umständen dennoch bestehende latente Variable „intensives Todesbewusstsein“ ausfindig machen. Zuerst ist nun festzuhalten, dass sich ein signifikanter Zusammenhang zeigen lässt zwischen „Todkontakt“ und „Todesbewusstsein“. Wäre dies nicht gegeben, bräche das Fundament weg, auf dem die ganze empirische Beweisführung ruht. Es zeigt sich, dass von den Menschen mit intensivem Todkontakt auch 73 263
Ebd. „Es bliebe somit noch die Aufgabe, geeignete Indices für das Bewußtsein der Realität des Todes in der modernen Gesellschaft zu finden. Die dieser Arbeit zugrundeliegenden (...) Daten über die Häufigkeit des Denkens an den eigenen Tod, das Sprechen über ihn und der ständigen Furcht vor ihm können z.B. als solche Indices dienen. Aber auch die Daten über Testaments- oder Lebensversicherungsabschluß u.a.m. können als Index für die Dringlichkeit und Wichtigkeit, die der Gedanke des Todes für bestimmte Menschen hat, gewertet werden.“ Ebd., S.19. Deshalb sind in der Studie „Schwere Krankheit und Tod“ auch die Antworten auf die Frage: „Haben Sie Vorbereitungen getroffen, die sich auf Ihr Lebensende beziehen?“ mit den Antwortmöglichkeiten „Festlegung der Bestattung“, „Testament“, „Patientenverfügung“, „Organspendeausweis“, „Sterbeversicherung“, „Lebensversicherung“ in den dortigen Todesbewusstseinsindex eingegangen. 265 Ebd., S.34. 264
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
147
Prozent ein intensives Todesbewusstsein aufwiesen, und umgekehrt 88,7 Prozent derer, die keinen intensiven Todkontakt hatten, auch kein intensives Todesbewusstsein zeigten. Tabelle 35: Todkontakt und Todesbewusstsein (Hahn) Intensität des Todesbewußtseins Intensiv
73%
Todkontakt nicht intenGesamt siv 11,3% 41,9%
Nicht intensiv
27%
88,7%
58,1%
52
53
105
N 2
Ȥ =41,12; p