Kompaß-Bücherei Band 249
Buch: Wenige Wochen, nachdem das gewaltige Teleskop mit dem Parabol spiegel aus erstarrtem Q...
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Kompaß-Bücherei Band 249
Buch: Wenige Wochen, nachdem das gewaltige Teleskop mit dem Parabol spiegel aus erstarrtem Quecksilber im Krater Zeta den Betrieb aufge nommen hat, geschieht das Unfaßbare: Ein vermeintliches Mondbe ben zerstört die Anlage, und der junge Wissenschaftler Sol Mento kommt unter den Trümmern ums Leben. Seine Partnerin Ira Beaux beschuldigt den Chefselenologen nachlässiger Baugrunderschließung. Erst als tief unter der Mondoberfläche die riesige Höhle mit den regel mäßig geformten Stalagmiten und den rätselhaften Spuren entdeckt wird, geht die Suche nach den Ursachen der Katastrophe in eine ganz andere Richtung.
Autor: Paul Ehrhardt, 1922 in Caßdorf bei Kassel geboren, wohnt in Schmie defeld am Rennsteig. Er hat sich vom Maschinenschlosser über den Ingenieur für Elektrotechnik zum Diplomingenieur für elektrische Maschinen und Antriebe qualifiziert und ist jetzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem Betrieb für Rationalisierung in Suhl tätig. Sein Interesse für technische Neuerungen, aber auch für Astronomie und Astrophysik führte ihn zur Wissenschaftlichen Phantastik. 1975 er schien sein erfolgreicher Roman »Nachbarn im All«.
Paul Ehrhardt
Spuren im Mondstaub Wissenschaftlich-phantastischer Roman
Verlag Neues Leben Berlin
Illustrationen von Frank Töppe
Verlag Neues Leben, Berlin 1979 2. Auflage, 1981 Lizenz Nr. 303 (35/195/81) LSV 7503 Einband: Frank Töppe Typografie: Ingrid Engmann Schrift: 9p Times Gesamtherstellung: GG Völkerfreundschaft Dresden Bestell-Nr. 642 757 9 DDR 1,80 M
Im Mondobservatorium Wer die Mondsiedlung Lunapol mit ihren bi zarr geformten Plastzelten, die sich über den Betonwürfeln wölbten, in nördlicher Richtung verließ, konnte glauben, eine Fata Morgana täusche seine vom grellen Sonnenlicht schmer zenden Augen. Am Horizont der Ebene gleißte die Senitkup pel des erst vor wenigen Wochen fertiggestell ten Rotationsteleskops wie ein Märchenschloß aus Tausendundeiner Nacht. Der Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß die Zacken im Ringwall des kleinen Kra ters Zeta, in dem sich das neuartige Observato rium befand, an die Zinnen einer mittelalterli chen Burg erinnerten. Doch die Lunauten, die in dieser Umgebung ein entsagungsvolles Pionierleben führten, hatten sich längst an diesen Anblick gewöhnt und sahen die wissenschaftlichen Zweckbau ten weniger romantisch an. Das Observatorium unmittelbar in einem
Krater zu errichten war zweifellos ein kühner Gedanke gewesen. Es hatte auch nicht an war nenden Stimmen gefehlt; da dieses Gebiet je doch keine seismischen Aktivitäten aufwies, hatte man sich trotzdem für den Bau ent schlossen. Ira Beaux, die verantwortliche Astronomin dieser modernsten kosmischen Beobachtungs station, hatte den kugelförmigen Okularraum seit Stunden nicht verlassen. Immer wieder gab sie dem computergesteuerten Objektsu cher neue Aufgaben ein und überprüfte sorg fältig die Ergebnisse. In dem kleinen Raum war plötzlich ein dumpfer Klopfton zu hören. Erschrocken wandte sich Ira um. Wieder hatte ein Kleinstmeteorit die Kuppel des Observato riums durchschlagen. Obwohl sie genau wuß te, daß die eingesetzten Havarieroboter ein wandfrei funktionierten und die schadhafte Stelle in wenigen Sekunden beseitigten, schrak sie dennoch jedesmal zusammen, wenn das akustische Anzeigegerät reagierte. Wenig später stützte sie müde und erschöpft den Kopf auf ihre verschränkten Hände und schloß die Augen. Die letzten Monate waren zu ereignisreich, zu anstrengend gewesen. Aber wer gab schon kurz vor dem Ziel auf? Eigent lich konnte sie mit dem Erreichten zufrieden
sein. Mit knapp sechsunddreißig Jahren war sie bereits eine international anerkannte Astronomin. Die hohe Verantwortung, die ihr und dem von ihr geleiteten Kollektiv mit dem Bau des ersten Quecksilberrotationsteleskops im Krater Zeta übertragen worden war, legte davon ein beredtes Zeugnis ab. Nein, nur keine Rückschau halten! Ira mußte lächeln. Im rechten Augenblick, so wollte ihr scheinen, trat Sol Mento, der wesentlichen An teil an den Erfolgen der Forschungsgruppe hatte, in den Okularraum. Seit vielen Jahren zählte er zu Iras engsten Mitarbeitern, und so war es nicht ausgeblie ben, daß aus Vertrauen, Sympathie und gegen seitiger Achtung nach und nach eine engere Bindung entstanden war. »Schön, daß du gerade jetzt kommst«, sagte sie leise, ohne sich aufzurichten. Der schlanke, hochgewachsene Libanese schaute in ihr blasses Gesicht. »Ira, du kannst doch völlig beruhigt sein! Alles klappt wie am Schnürchen. Die Kollegen wissen, worum es geht, und geben ihr Bestes. Was hast du nur?« Sol kannte Ira jedoch viel zu gut, um nicht selbst zu fühlen, welche Gedanken sie jetzt be wegten. Ein Bergsteiger, der nach beschwerli chem Aufstieg vor dem letzten entscheidenden
Grat noch einmal Rast macht, würde ähnlich empfinden. Er mußte ihr helfen, gerade jetzt. Wie gut entsann er sich noch jener Zeit vor fast zehn Jahren, als er, ein »frischgebackener« Hochschulabsolvent der Fachrichtung Physikalische Chemie, der For schungsgruppe um Ira Beaux zugeteilt worden war. Das Experimentiergelände und die Laborato rien befanden sich in der Nähe von Tripolis. Er war von dem wissenschaftlichen Vorhaben, große Hohlspiegel aus rotierendem Quecksil ber herzustellen, sofort fasziniert gewesen. Ira Beaux hatte es dann verstanden, ihn rasch in das Kollektiv, das aus Wissenschaftlern ver schiedener Nationen bestand, einzugliedern. Er spürte, daß sie ihn mochte, und bald war er ihr Freund und Vertrauter. Ira, die sich inzwischen wieder tief über das Okular gebeugt hatte, um Einstellung und Schärfe noch einmal zu überprüfen, erhob sich plötzlich und blickte Sol Mento an. »Sol, du kennst mich lange genug, um zu wissen, daß ich bei aller Begeisterung für das Neue kein Phantast bin. Genau wie ich weißt du seit den letzten Wochen, daß die bisher vorliegenden Beobachtungsergebnisse des Quecksilberrota tionsteleskops unsere kühnsten Erwartungen
übertroffen haben. Doch sollen wir nun die Hände in den Schoß legen und mit dem Er reichten zufrieden sein? Zum Forschungsrisi ko gehört eben auch der Mut zu weitreichen den Entscheidungen. Mit dem neuen Spiegel können wir den Planeten Pluto genauer beob achten als bisher den Mars oder die Venus, um nur ein Beispiel zu nennen. Auch die bevoll mächtigten Kollegen der Weltföderation wer den einsehen, daß eine Beobachtungseinrich tung nach unserem Prinzip, jedoch mit einem Zweihundertmeterspiegel, dessen Bau durch aus möglich ist, eine Grobbeobachtung aller Fixsterne einschließlich ihrer möglichen Be gleiter bis zu einem Abstand von einigen hun dert Lichtjahren ermöglichen würde. Sol«, sie schaute ihn beschwörend an, »für eine solche Aufgabe lohnt es sich doch, zu kämpfen, sich zu engagieren, spürst du das nicht? Die Raumfahrt hat sich leider nicht so stür misch und erfolgreich weiterentwickelt, wie es anfänglich den Anschein hatte. Die Photonen raketen, die seit dem Jahr zweitausendfünf zehn erprobt werden, sind noch immer nicht für interstellare Flüge geeignet. Auch die aus reichende Erzeugung von Antimaterie, dem idealen Treibstoff für solche kosmischen Flug körper, ist bisher nicht geglückt. Sage du mir,
auf welche Weise die Menschheit weitere Er kenntnisse über Wesen und Aufbau des Weltalls gewinnen will? Ich sehe für absehbare Zeit nur den einen Weg, die Ergebnisse unse rer langjährigen Forschungen auf dem Gebiet der Optik zu nutzen…« Sol Mento war froh über ihre Worte. Das war Ira Beaux, wie er sie kannte und liebte! Trotz dem blieb er sachlich, als er jetzt die Hand ein wenig hob und sagte: »Ira, entschuldige bitte, wenn ich dich unterbreche, aber schau auf die Uhr! Die Kurierrakete, die die Delegation der Weltföderation an Bord hat, wird jeden Augen blick in Lunapol landen.« »Du hast recht«, sie drückte auf einem langen Register eine Taste. Einer der Bildschirme an der Rückwand des Okularraumes leuchtete auf und zeigte Einzelheiten des nahe gelegenen Lu nadroms. Die fast kreisrunde Anlage war hell erleuch tet; sechs unterschiedlich große Startrampen hoben sich deutlich vom dunklen Hintergrund ab. Vom Zentralhangar her fuhren soeben vier Mondtransporter auf eine der Landungsstellen zu. In wenigen Minuten würde die planmäßige Erde-Mond-Kurierrakete im Landebereich B aufsetzen. Die TV-Kamera schwenkte langsam nach
oben. Ira und Sol sahen in großer Höhe die grellen Lichtfackeln der Bremsdüsen, die die KR 8 allmählich der Mondoberfläche näher brachten. »Hoffentlich hat sich Pawel Rinald nicht ver spätet. Er war ja nicht davon abzubringen, als Mondkurator die vier Mitglieder der Weltföde ration persönlich am Lunadrom zu empfan gen«, sagte Ira. »Der Besuch der Kommission scheint ihm ge nauso wichtig zu sein wie uns«, erwiderte Sol, »das knappe Programm für die nur zwei Tage Aufenthalt ist auch entsprechend zusammen gestellt. Demonstration der Ergebnisse des neuen Teleskops und schließlich das Wichtig ste, die Entscheidung der Kommission. Na, du weißt ja…« Eben setzte die Kurierrakete auf, ihre Spin nenbeine federten noch einige Male nach, dann war die Landung beendet. Der Personen transporter schob sich langsam heran, und die Schleusengangway verband in wenigen Minu ten Rakete und Fahrzeug. »Wie ich Rinald kenne, wird er die Gäste im Hangarrestaurant erst bewirten und ihnen an schließend eine angemessene Erholungs- und Akklimatisierungspause gönnen«, fuhr Sol fort. »Ich bin sicher, daß wir mindestens noch
drei Stunden Zeit haben, bevor sie hier bei uns eintreffen.« Er ging auf Ira zu, und seine Hän de fuhren liebkosend über ihre Schultern und Arme. Für Sekunden schloß sie die vom vielen Beob achten schmerzenden Augen, dann sagte sie: »Ich werde in der verbleibenden Zeit die Anla ge noch einmal inspizieren. Kommst du mit? Ich freue mich, wenn du dabei bist.« Sie verließen den Okularraum, der, wenn man die Gestängeteile der Auslegerkonstruktion übersah, frei im Raum zu schweben schien. Ein pneumatischer Lift brachte sie in Sekun denschnelle in die unterste Sohlenetage. Ira und Sol brauchten nicht viele Worte zu machen. Ihre Mitarbeiter hatten alles getan, um die internationale Kommission von der Perfektion der Anlage zu überzeugen. In der Rheothermikanlage entdeckte Ira eine provisorische Verdrahtung. »He, Karl und Ma rio! Ihr wolltet das doch gestern noch in Ord nung bringen«, rief sie zwei jungen Männern zu, die an einer Schalttafel arbeiteten. »Sol weiß Bescheid«, antwortete Karl. »Die vorgefertigten Suprastrippen sind ungeeignet. Wir können das erst übermorgen neu verle gen.« Die Inspektion dauerte doch länger, als sie ge
dacht hatte. Während sich Sol noch mit dem leitenden Ingenieur der Normaletage unter hielt, rief Mario plötzlich: »Der Kurator und die Gäste sind eingetroffen!« Ira blickte noch einige Sekunden auf den Kon trollbildschirm, dann schritt sie, so schnell es der Schutzanzug erlaubte, um den Spiegel trichter herum und auf das Eingangsgebäude zu, das auf derselben Etage lag. In der Tempe raturschleuse nahm sie den Helm ab. Da kam auch schon Pawel Rinald mit den vier Födera tionsmitgliedern. In wenigen Minuten stand sie der Gruppe in der kleinen Empfangshalle gegenüber. Dann stellte Ira Beaux ihren versammelten Mitarbeitern die Mitglieder der internationa len Kommission vor: Kura Borain vom Hima laja-Observatorium der Asiatischen Union, Juri Sannikow vom Achtmeterteleskop im Kaukasus, ferner den langjährigen Kollegen Micha Vludy, der die Arbeiten im nordafrika nischen Versuchsgelände fortsetzte, und schließlich Col Reuton, den amerikanischen Teleskopexperten. »Sicher ist es Ihnen recht, wenn wir sofort be ginnen! Bitte folgen Sie mir in unseren kleinen Vortragssaal, damit ich vor der Besichtigung und Objektbeobachtung noch ein paar allge
meine Erläuterungen geben kann!« Damit schritt die junge Wissenschaftlerin voraus. Nachdem alle vor einer Tafel mit einem großen Schnittbild der Anlage Platz genommen hatten, begann Ira, die ihre Aufregung doch nicht ganz unterdrücken konnte, mit den Aus führungen. »Die ersten Experimente mit rotierendem Quecksilber begannen, als ein internationales Forschungskollektiv in der Sowjetunion, zu dem auch Juri Sannikow gehörte, schon länge re Zeit damit beschäftigt war, ein Achtmeter spiegelteleskop zu errichten. Alle Beteiligten kamen zu der Feststellung, daß die Grenzen der glasoptischen Möglichkeiten erreicht wa ren. Die Montagezeit von fast achtzehn Jahren, bedingt durch die vielen unerwarteten Schwie rigkeiten, war dafür ein beredtes Zeugnis. Da mals setzte ich meine Versuche mit großen Pa rabolspiegeln aus rotierendem Quecksilber in den nordafrikanischen Laboratorien verstärkt fort. Daß die Flüssigkeitsoberfläche in einem rotierenden, zylindrischen Gefäß nicht eben bleibt, sondern am Rand emporsteigt, hatte mich seit meiner Studienzeit oft beschäftigt.« Sie skizzierte auf einer bereitgestellten Tafel zwischen den Koordinaten z und r einen Kur venverlauf und fuhr fort: »Die Oberfläche der
rotierenden Flüssigkeit ist die eines Rotations paraboloids. Die Realisierung meines ur sprünglichen Gedankens, mit einem solchen, ständig rotierenden Spiegel ein Teleskop zu bauen, scheiterte an der mangelhaften Ober flächenbeschaffenheit des Quecksilbers. Der nächste Schritt war daher, diese Oberfläche durch Unterkühlung zu verfestigen, und zwar in dem Augenblick, in dem sie durch entspre chend lange Rotation eine ideale Parabelform erreicht hat. Hier ergaben sich jedoch zu nächst eine Vielzahl fast unlösbarer techni scher Probleme. War es schon kompliziert, beim Einfrieren die vollkommene Form exakt zu erhalten, so erwies es sich als noch schwie riger, eine spiegelblanke Oberfläche zu erzie len. Gut, ich möchte bei diesen Dingen nicht zu weit ausholen. Die technischen Probleme wur den gelöst! Durch langfristige partielle Unter kühlung erhielten wir metallisch feste und konturengetreue Quecksilberspiegel und durch rheothermische Behandlung schließlich eine ausreichend blanke Oberfläche. Eine für noch größere Parabolspiegel prakti kable Lösung der rheothermischen Behand lung haben wir erst hier in Lunapol gefunden: Der in der Nähe des Brennpunktes befestigte Ablenkspiegel, der bei unserem Teleskop im
merhin einen Durchmesser von zweieinhalb Metern hat, wurde gleichzeitig als Infrarot quelle ausgebildet und erwärmt ständig die äu ßerste Schicht der Spiegeloberfläche. Kurz ge sagt, die einwandfreie Funktion der Anlage ist nach unseren bisherigen Erfahrungen eine Frage der Temperatur, die hier im gesamten umbauten Raum von den Fundamenten bis zur Senitkuppel zweihundertdreiundzwanzig Kel vin beträgt. Problematisch wird die Einhaltung dieser Temperaturkonstanz durch die unter schiedliche Sonneneinstrahlung. Ich komme nun zur Erläuterung des technischen Aufbaus der Gesamtanlage.« Ira Beaux wandte sich der großen bunten Schnittzeichnung zu. »Die Höhe einschließlich der Senitkuppel be trägt zweihundertzehn Meter, davon liegen hundertzehn Meter unterhalb der Mondober fläche. Die restlichen einhundert Meter dienen als Unterbau für die freitragende Kuppel. Die Anlage gliedert sich in acht Etagen mit entsprechenden Einrichtungen: die Sohleneta ge mit Fundamentkontrolle und Klimaanlagen, die Armierungsetage mit der gesamten Tele skopsteuer- und -regeleinrichtung, die Rotati onsetage mit Schwenkeinrichtungen und not wendigen Kraftanlagen, die Spiegeletage mit Quecksilberzufluß und Wirbelstrompumpen,
die Basisetage mit Fahrbahn und Transpor teinrichtungen, die Normaletage mit Funkti onsgebäuden, die Hermetiketage mit Hava rieroboterstation – und dazwischen schließlich die Beobachtungsetage mit dem Ablenkspiegel und dem Okularraum, mit dem Infraro tringstrahler und der Laserjustiereinrichtung.« Nachdenklich unterbrach Ira für einen Au genblick ihre Darlegungen, dann sprach sie weiter: »Doch ich glaube, das sind Dinge, die Ihnen allen durch Spezialberichte und Detail beschreibungen hinlänglich bekannt sind. Soll ten Ihrerseits keine Fragen mehr vorliegen, dann würde ich empfehlen, daß Sie jetzt die Schutzanzüge anlegen und wir die Anlage in ih ren Dimensionen von der Normaletage aus auf uns wirken lassen.« Als alle die Schutzanzüge angezogen hatten, rollte ein Kontrollautomat herein und über prüfte jeden einzelnen auf Einhaltung der Si cherheitsparameter. Durch eine Druck- und Temperaturschleuse trat die kleine Kolonne in das Innere des riesi gen Kuppelbaus, der auf der Normaletage einen Durchmesser von mindestens einhun dertvierzig Metern hatte. Da Mondnacht herrschte, konnten sie das sternenübersäte
Firmament ungehindert durch die hoch über ihnen befindliche Senitkuppel erkennen. Le diglich die etwa achtzig Meter hohe Stützmau er, auf der die Kuppel ruhte, schränkte den Sichthorizont ein. So hatte man das Gefühl, in einer Bodensenke zu stehen. Nachdem sich Ira Beaux ein klein wenig am Erstaunen der Gäste ergötzt hatte, ließ sie den Rundbau erleuchten. Für alle entstand jetzt der Eindruck, daß sie sich im Inneren eines Riesenplanetariums befanden. Sie bat die Wissenschaftler nach vorn an das Geländer und erläuterte eingehend die funk tionellen Besonderheiten der einzelnen Eta gen. »Die Größe der Anlage«, sagte sie abschlie ßend, »wird durch die Brennweite des Spiegels bestimmt. Der Parabolspiegel, den Sie dort un ten sehen, hat einen Durchmesser von zwanzig und eine Brennweite von zweihundert Metern. In Verbindung mit einem mittleren Okular von einem Zentimeter Brennweite ergibt sich un gefähr eine zwanzigtausendfache Vergröße rung. Doch dazu komme ich noch speziell, wenn wir uns anschließend im Okularraum von der Wirkungsweise des QRT überzeugen werden.« Ein pneumatischer Lift brachte die Gruppe
dann zur Sohlenetage und damit zum tiefsten Punkt der Anlage. Wie Ameisen kamen sie sich vor, wenn sie genau senkrecht zum Ablenk spiegel emporblickten. Die Fundamentkontrolle wurde sehr genau genommen. Überall in dem riesigen Bauwerk waren Seismosensoren angebracht, deren Meßergebnisse ständig ausgewertet wurden. Nach kurzen informativen Gesprächen mit den hier unten arbeitenden Technikern und Wissenschaftlern äußerten die Gäste den Wunsch, die Hermetiketage zu besichtigen. Ira nahm Sol Mento, der zu der Gruppe gestoßen war, unauffällig beiseite und flüsterte ihm zu: »Während du technische Einzelheiten erläu tert hast, hat mir Girnt, du kennst ihn ja, in zwischen auch den Seismooszillogrammstrei fen der letzten zwei Stunden in die Hand ge drückt. Du, da hat ja, ohne daß wir es bemerkt haben, ein kleines Beben stattgefunden. Für unsere Region doch wirklich ungewöhnlich. Der Ursprungsherd liegt unmittelbar unter dem Zeta. Ob wir die Besichtigung abbrechen, was meinst du?« Beunruhigt schaute sie Sol an. »Kein Grund zur Panik«, erwiderte er jedoch, »die Fundamente und Trägermauern sind ein sturzsicher vernetzt. Es besteht also keine Ver
anlassung, etwa die Spiegelwanne auszupum pen. Komm, machen wir weiter!« Schnell hatten sie mit dem Versorgungspater noster die einhundertneunzig Meter Höhenun terschied überwunden und befanden sich auf einer schmalen Galerie, die innerhalb der hier aufliegenden Spezialglaskuppel von der Stütz mauer gebildet wurde. In regelmäßigen Ab ständen waren in dem Rundgang Havarierobo ter stationiert. »Welche Aufgaben sind eigentlich diesen son derbaren Robotern zugedacht?« fragte Kura Borain. »Wie ich einem früheren Kostenvoran schlag entnehmen konnte, sind es zweiund zwanzig an der Zahl mit einem Gesamtwert von etwa hundert Millionen internationaler Verrechnungseinheiten.« »Ich muß zur Beantwortung dieser Frage et was weiter ausholen«, sagte die junge Wissen schaftlerin. »Wir waren uns seinerzeit, als wir diese Anlage hier im Feinprojekt ausarbeite ten, noch nicht ganz klar darüber, wie die obe re Abdeckung aussehen sollte. Immerhin muß ten einhundertfünfzig Meter frei überspannt werden. Es war ein günstiges Zusammentref fen, als es dem Baustab von Lunapol gelang, eine mondeigene Glasart, das Senit, zu ent wickeln. Dessen niedertemperaturige Gießbar
keit, die leichte Verbindung einzelner Teil stücke zu großen Flächen durch Ultraschallbe handlung und vor allem die hohen mechani schen Kennwerte dieses Materials kamen uns sehr entgegen. Die sich über uns wölbende Se nitglaskuppel entspricht dem Abschnitt einer Kugel von vierhundertzwanzig Meter Durch messer. Die Senitglocke hat drei Funktionen zu erfüllen: Sie schützt unsere Anlage vor Kleinstund Minimeteoriten, sie dient der Temperaturund Druckkonstanz, und sie gewährleistet eine einwandfreie Beobachtung. Nun zu den Robotern! Durch den Druck- und Temperaturunterschied zwischen dem Obser vatorium und der Mondaußenwelt genügt schon ein winziges Loch, um die gesamte Anla ge zu stören. Die Roboter dienen dazu, die ein geschossenen Meteoritenlöcher sofort wieder zu schließen, wobei jeder der zweiundzwanzig für einen bestimmten Sektor zuständig ist. Sie sind mit Saugfüßen versehene Ultraschallgene ratoren und haben Druck- und Temperatur sensoren. Ich halte sie auch bei weiteren Ob jekten dieser Art für unerläßlich. Vielleicht könnte man ihre Anzahl jedoch verringern und jedem einen größeren Sektor zuteilen. – Doch ich würde vorschlagen, daß wir uns jetzt von den Beobachtungsmöglichkeiten des Gerätes
überzeugen.« Gegen diesen wohl interessantesten Abschnitt des Tagesprogramms gab es keine Einwände. Auf ein Zeichen von Sol Mento schwenkte der Okularraum langsam nach unten und hielt nach wenigen Minuten unmittelbar vor der Ex pertengruppe. Nachdem alle eingestiegen wa ren, bewegte sich die fast kugelrunde Beobach tungsstation wieder nach oben. »Machen Sie es sich ein wenig bequem, neh men Sie zumindest zur besseren Beobachtung die Schutzhelme ab«, sagte Ira zu den Insassen und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Jetzt hatte sich der Okularraum in die richtige Lage eingependelt. Eben wollte sich Col Reu ton nach dem Stabilisierungsmechanismus er kundigen, als ein nicht zu überhörendes Klop fen ertönte. Im Bordlautsprecher meldete sich kurz dar auf der Sicherheitsingenieur der Hermetiketa ge: »Kleinstmeteoritendurchschlag am Sektor achtzehn, Schadenstelle ausgemacht, Roboter läuft.« Vom Okularraum aus war deutlich zu sehen, wie sich ein mehr als meterhoher roter Zylin der, der Havarieroboter achtzehn, zur Mitte der Kuppel bewegte. Er glich in dieser Entfer nung einer riesigen Spinne, die sich einem in
ihrem Netz gefangenen Opfer näherte. Es dau erte weniger als eine Minute, da verstummte der Klopfton, und der Roboter kehrte in seine Ausgangsstellung zurück. »Das war keine beabsichtigte Demonstration«, sagte Ira Beaux, »aber ich glaube, Sie sind jetzt mit mir einer Meinung, daß dieser technische Aufwand durchaus ge rechtfertigt ist.« Col Reuton erkundigte sich nach den Justier möglichkeiten für den optischen Teil der Anla ge. »Die Justierung«, antwortete Sol Mento, »er folgt mit Hilfe von Nullaserstrahlimpulsen, die von fünf verschiedenen Stellen des Parabol spiegels aus gegeben werden, den Ablenkspie gel in definierten Punkten und das Okular ge nau in der Mitte treffen müssen. Ein besonde rer Computer errechnet die Korrektur- und Ausgleichsbewegungen. Bei der Wahl eines neuen Beobachtungsobjektes dauert dieser Vorgang etwa drei Minuten.« Unterdessen hatte Ira die Einstellung über prüft und nickte Sol aufmunternd zu. Er bat die Teilnehmer, vor dem Okular Platz zu nehmen, dann fuhr er fort: »Wie Ira Beaux schon erwähnte, ermöglicht das Instrument eine etwa zwanzigtausendfache Vergrößerung,
das ist immerhin mehr als das Doppelte des sen, was das moderne Großteleskop im Kauka sus mit einem Achtmeterspiegel leistet. Zwan zigtausendfache Vergrößerung bedeutet, daß man auf dreißigtausend Kilometer Entfernung noch einen einzelnen Menschen erkennen kann oder, was vielleicht vorstellbarer ist, daß Sie von hier aus auf der Erde einen fahrenden Lastkraftwagen oder Omnibus sehen können.« Er flüsterte kurz mit Ira und sagte dann laut: »Gedulden Sie sich bitte einen Augenblick, wir richten jetzt das Instrument auf die nordafri kanische Ost-West-Autostraße, die Dakar mit Kairo verbindet!« Er warf einen Blick ins Oku lar. »Bitte, jetzt können Sie sich selbst davon überzeugen. Die verschwommenen Objekte sind kleinere Fahrzeuge, ab sieben Meter Län ge sind sie deutlich wahrzunehmen!« Die Kommissionsmitglieder traten nachein ander an die Beobachtungsoptik und waren ehrlich überrascht von den klaren Bildern und der beinahe unglaublichen Vergrößerung. Nachdem sie wieder Platz genommen hatten, sprach Sol weiter: »Auf dem Mars können wir Einzelheiten bis zu vierzehnhundert Meter Größe erkennen, zum Beispiel auch die genau en Grenzen der Polkappen, die sich in den ver schiedenen Jahreszeiten verändern. Aber was
ich geradezu phänomenal finde und was für Sie alle bestimmt ein Erlebnis sein wird, das ist die nunmehr mögliche Beobachtung des Pluto. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts war dieser fernste Planet unseres Sonnensystems in den optischen Geräten nichts weiter als ein leuchtender Punkt, nicht besser zu erkennen als irgendein um viele Lichtjahre entfernter Fixstern. Mit unseren QRT jedoch beobachten wir den Planeten Pluto wie unsere Vorfahren vor einhundertfünfzig Jahren noch den Mars oder die Venus!« Col Reuton, dessen Fachmeinung in interna tionalen Gremien sehr geschätzt wurde, sagte, als er vom Okular zurücktrat, anerkennend: »Die Bilder sind nachweislich besser als die der letzten Plutosonden, die zwölf Jahre unter wegs waren.« Danach wurden noch zahlreiche andere Ob jekte beobachtet. Bei den anschließenden Detaildiskussionen bewies Rinald einmal mehr, daß er es meister haft verstand, ein gestecktes Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Ira fühlte, die Kommission würde über den Bau eines noch größeren QRT positiv entscheiden. Allmählich forderte die Umstellung der Gäste auf die neuen Umweltbedingungen ihren Tri
but. »Was meinen Sie? Wir unterbrechen das heu tige Tagesprogramm«, schlug Pawel Rinald vor, »und ich bringe unsere vier Experten zu rück nach Lunapol. Sie, Ira und Sol, kommen so schnell wie möglich nach! Wir essen dann gemeinsam, unterhalten uns noch ein wenig und sind morgen wieder ausgeruht und lei stungsfähig. Einverstanden?« Es gab keine Ge genstimmen. Schnell schwenkte der Okular raum zur Hermetiketage. Ein Lift bracht die Delegation in die Normaletage, wo die Schutz anzüge abgelegt wurden. Auf Magnetkissen fuhr ein Lumobil durch die Schleuse ein und beförderte die inzwischen wieder lebhaft ge wordene Gesellschaft in Richtung Lunapol.
Folgenschwerer Zwischenfall Die etwa zwanzig Kilometer entfernte Mond metropole entsprach keinesfalls einer Stadt im üblichen Sinn. Sie war vielmehr technisches Zentrum und wissenschaftliche Basis der nach und nach an vielen Punkten der Mondoberflä che eingerichteten Forschungsstationen. Um das ursprüngliche Lunadrom, das Start- und Landegebiet für die unterschiedlichsten Rake tentypen, hatten sich im Laufe der Jahre im mer mehr Zweckgebäude gruppiert. Es gehörte zur lunaren Siedlungspraxis, daß die Gebäudekomplexe mit einer stabilen Plast haut überwölbt wurden, um in diesen Berei chen erdähnliche atmosphärische Bedingun gen zu schaffen. Nichts war für den Aufenthalt auf dem Erdtrabanten abschreckender als ein ständiges Leben in Schutzanzügen. So glich Lu napol aus der Vogelperspektive, und dieses Bild hatte sich bisher allen Mondbesuchern eingeprägt, einer weiträumigen Anordnung von großen Zirkuszelten. Trotzdem, Kurator Rinald machte gegenüber den Gästen aus seiner Meinung, daß er diese Art der Mondbebauung noch als Pionierstadi um betrachte, kein Hehl. Er vertrat den Stand punkt, künftige Siedlungsvorhaben unterhalb
der Mondoberfläche zu realisieren. Dadurch könnten die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lunauten wesentlich verbessert und siche rer gestaltet werden. Das Lumobil schwebte in geringer Höhe über das »Zeltlager« von Lunapol und setzte dann sicher auf der Landeplattform des Titow-Ho tels auf. Dieser Bau, vorwiegend für Kurzzeit gäste eingerichtet, war bereits ein solches sub lunares Objekt mit Komfort, wie es den Vor stellungen des einundzwanzigsten Jahrhun derts entsprach. Besonderer Beliebtheit er freute sich die Umgebung. Der Bau lag in der Mitte eines großen Hohlraumes, den typisch irdische Landschaften umsäumten. Die Fen ster gaben den Blick auf Darstellungen von Seen und Wäldern frei. Im Hotel wurden sogar verschiedene Klimate der Erde simuliert; man konnte zwischen Berg-, See- und Normalklima wählen. Nur die Erdenschwere konnte noch nicht nachgebildet werden. Aber Haftsohlen schuhe gewährleisteten annehmbare Bewe gungsmöglichkeiten. Ein Schachtförderer, der gleichzeitig als Schleuse ausgebildet war, transportierte das Lumobil in die Tiefe, wo die Gäste ohne beson dere Schutzmaßnahmen aussteigen konnten. Lumobil war die allgemeine Bezeichnung für
selbstfahrende Transportmittel auf dem Mond. Erst in letzter Zeit verstand man darunter aus schließlich die sehr wendigen und vielseitig einsetzbaren Raketokopter. Diese Flugappara te ähnelten Hubschraubern, nur daß man auf dem Mond wegen der fehlenden Atmosphäre auf aerodynamische Flügel- und Gleitsysteme verzichten mußte. Der libellenförmige Rumpf war oberhalb ei nes horizontal arbeitenden Rotorsystems an gebracht, das wie ein vielarmiges Speichenrad aussah. Die Enden der Speichen trugen kleine, senkrecht wirkende und beliebig verstellbare Schubdüsen, durch deren Rotation ein ange nehmes Flugverhalten erzielt wurde. Mit Rücksicht auf den überall vorhandenen Mondstaub, der durch die Raketentriebwerke aufgewirbelt würde, betrug die Mindestflughö he sechshundert Meter. Durch die Vollsichtkanzel und die Hubschrau berflugeigenschaften waren die Raketokopter sowohl für den Personen- und Gütertransport als auch für Forschungs- und Aufklärungs zwecke ideale Flugkörper. Allein im Flugbe reich von Lunapol gab es bereits über hundert solcher Fahrzeuge verschiedener Größenklas sen. Nachdem die Gäste das Titow-Hotel mit dem
für Mondverhältnisse ungewöhnlichen Kom fort ausgiebig besichtigt und sich anschließend erfrischt hatten, trafen auch Ira Beaux und Sol Mento ein. Beide trugen Abendkleidung. Sol hatte einen weißen Anzug mit enganliegender Hose und togaartigem Obergewand gewählt, Ira einen silberglänzenden Overall. Ihre dunklen Haare bildeten dazu einen wirkungs vollen Kontrast. Ira, die sich im Observatorium noch einmal über den Stand der seismologischen Untersu chungen informiert hatte, gab Pawel Rinald in einem passenden Augenblick einen kurzen Be richt. »Ja, angenehm ist das nicht«, sagte er nach denklich, »wir alle hielten bisher Lunapol und seine Umgebung für ein bebenfreies Gebiet. Da müssen sofort die Selenologen ran!« Es wurde ein angenehmer Abend. Die Gäste berichteten von neuen Ergebnissen aus ihrem jeweiligen Forschungsbereich. Wie konnte es anders sein, daß man auch auf die harte, aber erlebnisreiche Zeit in Nordafrika zu sprechen kam. Das Lachen wollte nicht enden, als Micha Vludy zum besten gab, wie er dem damaligen Neuling Sol Mento ein quecksilbersaufendes Kamel vorgeführt und die abgeschlossene Wet te gewonnen hatte. Daß es sich um einen Trick
handelte, war Sol erst viel später klargewor den. Am nächsten Tag fanden sich alle wieder pünktlich im Observatorium ein. Ira, die fand, daß sie tags zuvor viel zu förmlich gewesen war, bat die Anwesenden, zwanglos an einem Tisch Platz zu nehmen. Dann sagte sie: »Ich glaube, Sie konnten sich davon überzeugen, daß das seinerzeit von Ihnen genehmigte Pro jekt eines Quecksilberrotationsteleskops mit einem Zwanzigmeterspiegel auf dem Mond alle unsere Erwartungen übertroffen hat. Es wäre nur zu verständlich, wenn Sie, die Fö deration und die Menschen, die mit ihrer Ar beit dazu beitragen, daß wir hier bauen und forschen können, sagen, daß wir nun erst ein mal zufrieden sein und die neue Einrichtung maximal nutzen sollten. Das ist völlig richtig! Aber es würde auch Stillstand bedeuten. Sie kennen unser Anliegen. Das Grobprojekt und die schriftlichen Ausarbeitungen dazu liegen Ihnen seit mehreren Wochen vor. Lassen Sie mich daher nur noch einmal kurz zusammen fassen: Nach dem bewährten Konstruktions prinzip möchten wir so bald wie möglich mit dem Bau eines wesentlich größeren Rotation steleskops beginnen. Der Parabolspiegel aus
künstlich erstarrtem Quecksilber soll einen Durchmesser von zweihundert Metern erhal ten. Das ist selbst für unser einundzwanzigstes Jahrhundert ein gewaltiges Vorhaben, aber nicht utopisch. Durch diese Abmessungen wird es möglich sein, eine dreihunderttausendfache Vergrößerung zu realisieren. Das neue QRT soll das fünfzehn- bis zwanzigfache Auflö sungsvermögen des gestern von Ihnen inspi zierten Gerätes haben. Beim Abstand Mond – Erde ist dann das Ge sicht eines Menschen noch deutlich zu erken nen, auf dem Sirius könnten Einzelheiten von einigen tausend Kilometer Ausdehnung beob achtet werden, schließlich wäre die Beteigeuze im Orion so gut sichtbar, wie ein Fernglas dem Laien den Mond zeigt. Aber warum dieser Aufwand? Weil wir mit ei ner solchen optischen Einrichtung zu astrono mischen und astrophysikalischen Erkenntnis sen kommen, wie sie die Raumfahrt erst in vie len Jahrzehnten gewinnen kann. Nun noch schnell ein paar materialtechnische Einzelheiten: Die Gesamthöhe der Anlage wird dreieinhalb Kilometer betragen, davon liegt etwa die Hälfte unterhalb der Mondoberfläche. Die obere Öffnung muß für einen Schwenkbe reich von sechzig Grad einen Durchmesser von
zwei Kilometern aufweisen. Dafür ist zweifel los eine neuartige Senitkuppel erforderlich. Der Bedarf an Quecksilber für einen Rotati onsparabolspiegel dieser Größe mit einem Brennpunktabstand von dreitausend Metern beträgt nach irdischem Gewicht etwa zweihun derttausend Tonnen. Doch diese beachtliche Menge brauchte nicht transportiert…« Eine dumpfe Erschütterung erfüllte plötzlich den kleinen Raum, eine laute Detonation folg te, dann rumorte es weiter. Stühle fielen um. »Was bedeutet das?« stieß Ira hervor. Ihr Blick streifte die verstörten Gäste und blieb an Pawel Rinalds Augen hängen. Da ertönte auch schon eine Stimme des Kon trollzentrums aus den Lautsprechern: »Ach tung, Achtung, höchste Alarmstufe! Alle Lun auten auf Havarieposition! Explosion in der Spiegeletage. Kurator Rinald bitte sofort zum Kontrollzentrum!« Die Meldung wiederholte sich. Ira lauschte, für Augenblicke wie gelähmt, der Katastrophenmeldung, dann hatte sie sich ge faßt. Es mußte gehandelt werden! Sie wandte sich an ihre Mitarbeiter. »Wilma, Sie besorgen umgehend Schutzkleidung für unsere Gäste! Alle anderen begeben sich sofort in ihre Wohn kabinen und legen die Alarmanzüge an. Wir
treffen uns in zehn Minuten am Ausgang C, los!« Was war geschehen? Der hörbare Knall muß te durch die Luftpolster der Gebäude übertra gen worden sein, was auf eine gewaltige Deto nation schließen ließ. Der kleine Vortragssaal befand sich im südlichen Teil der Ringmauer, die das QRT umgab. Mit Tränen in den Augen eilte Ira in die nahe gelegene Wohnkabine. Ihre Gedanken über schlugen sich. Aber eine Sorge wuchs ständig. Was war mit Sol Mento geschehen? Warum war er noch nicht neben ihr, gerade jetzt? Ihre Augen wei teten sich vor Schreck. Sie selbst hatte ihn ja, noch bevor sie mit den Gästen zusammentraf, für eine spezielle Einstellung zur Asteroiden beobachtung in den Okularraum geschickt. Sie mußte zu ihm, ihn finden! Mit bebenden Hän den schloß sie die Verschraubung am Schutz helm, dann stürzte sie hinaus. Der Ausgang C war nicht mehr zu benutzen. Absperrkommandos bildeten einen Ring um den Teleskopschacht. Ira, mit dem weißen Punkt am Alarmanzug, durfte passieren. Was sie durch einen der vielen Rundbögen sah, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Der Innenraum der Teleskopanlage glich ei
nem Trümmerhaufen. Die Senitkuppel war ge borsten und in die Tiefe gestürzt. Nur ein schmaler zackiger Rand war an der Rundmau er stehengeblieben. Alle Aufbauten, auch der Okularraum, waren zerstört und von der Ex plosion hinweggefegt worden. Sie eilte zurück zu einem noch intakten Fahr stuhl, der sie zur Spiegeletage brachte. Die starke Umfassungsmauer, in der auch die Auf enthaltsräume für das Bedienungspersonal untergebracht waren, wies zwar im nördlichen Quadranten einen breiten Riß auf, hatte jedoch standgehalten. Die Detonationswelle mußte mit voller Wucht die Senitkuppel getroffen ha ben. In der Spiegeletage traf Ira auf den Seismolo gen Uwe Girnt. Als er Ira sah, kam er zögernd auf sie zu. Erschüttert blickte er in das asch fahle Gesicht der Astronomin. Noch bevor er etwas sagen konnte, hatte sie seinen Arm umklammert, und ängstlich, stockend, als fürchte sie sich vor der Antwort, fragte sie: »Wo ist Sol? Du weißt es!« Leise erwiderte er: »Sol Mento ist mit dem Okularraum abgestürzt. Ich war dabei, als er gefunden wurde. Er ist tot.« Für Minuten schloß sie die Augen und biß die Zähne zusammen. Ihr schwindelte. Viel später
erkundigte sie sich mit bebender Stimme: »Gibt es außer Sol noch Tote oder Verletzte?« »Soweit sich bisher ermitteln ließ, nur zwei Leichtverletzte in der Rheothermikanlage. Sie sind mit einer Gehirnerschütterung und leich ten Prellungen davongekommen.« »Wo finde ich den Toten und die anderen bei den?« »Im MVP der Hermetiketage. Ich bringe dich hin.« Auf dem Weg zum medizinischen Versor gungspunkt wirkte Ira zumindest äußerlich völlig gefaßt. Doch ihre Gedanken verweilten immer wieder bei dem tödlich Verunglückten. Wie oft war sie mit Sol hier entlanggegangen. Das QRT war ihr gemeinsames Werk gewesen. Sie hatten es wachsen sehen und sich über je den fertigen Bauabschnitt gefreut. Sie wollte sich dagegen wehren, aber es ge lang ihr nicht. Sie mußte an die vielen Nächte denken, die sie mit Sol verbracht hatte. Stun den, in denen sie sich seiner Liebe und Zärt lichkeit hingeben konnte, in denen sie zusam men träumten und glücklich waren. »Wir sind da!« hörte sie Uwe Girnt neben sich sagen. Dann stand sie vor der Bahre mit dem leblo sen Gefährten. Sie wagte nicht, das weiße La
ken aufzuheben. Nein, sie wollte ihn so in Erin nerung behalten, wie er immer gewesen war und wie er noch vor wenigen Stunden vor ihr gestanden hatte. Girnt fiel es nicht leicht, seine Rührung zu verbergen, als er sah, wie Ira mit gesenktem Kopf und zuckenden Schultern von Sol Ab schied nahm. »Komm jetzt!« sagte er schließlich, »du wirst dringend gebraucht!« Die beiden anderen Verletzten waren schon auf dem Weg in die Klinik von Lunapol. In der Normaletage trafen sie auf Pawel Ri nald. Er wußte bereits, daß Sol Mento ums Le ben gekommen war, und drückte Ira die Hand. »Ich kann nur annähernd ermessen, welch großer Verlust Sie getroffen hat«, sagte er, »und ich möchte Ihnen versichern, daß Sie im mer auf mich rechnen können.« Er machte eine längere Pause. »Sie sind mir nicht böse«, fuhr er dann fort, »daß ich unsere Gäste zum Lunadrom gebracht und auch in Ihrem Namen verabschiedet habe. Von der Entscheidung, die bis vor wenigen Mi nuten im Mittelpunkt unserer Interessen stand, werden sie uns wissen lassen. Wir wer den sie laufend über die Suche nach den Ursa chen der Katastrophe informieren. Ich habe
auch die Bildung eines Havariestabes veran laßt. Mit einigen Forschungsgruppenleitern aus Lunapol und den Außenstationen ist die Lage bereits erörtert worden. Der Mond ist ruhig, das Beben oder die Explo sion beschränkte sich ausschließlich auf den Krater Zeta. Dank den soliden Fundamenten ist nur der eigentliche Teleskopschacht von den Naturgewalten getroffen worden. Dort ist alles zerstört einschließlich der Spiegeletage, auf die die Druckwelle mit unverminderter Wucht einwirken konnte. Der große Riß in der Nordmauer muß noch untersucht werden. Ihr Kollektiv hat nach Überwindung des ersten Schocks tadellos zu sammengearbeitet.« Er legte Ira die Hand auf die Schulter. »Ich mache Ihnen einen Vor schlag. Nein«, verbesserte er sich, »ich ordne an, daß Sie sich jetzt ein wenig hinlegen. In etwa sechs Stunden kommen Sie dann zu mir nach Lunapol ins Kuratorium, dann werden wir die nächsten Schritte besprechen. Keine Widerrede!« Ira nickte ihm dankbar zu und ging zu ihrem Zimmer. Pawel Rinald schaute ihr lange nach. Wenn er an das Unglück dachte, das sie betroffen hatte, wurde ihm erneut die Schwere der Verantwor
tung deutlich, die er für das Geschehen auf dem Erdtrabanten trug. Er war in geheimer Abstimmung von einem internationalen Gre mium zum Mondkurator gewählt worden. Das lag mehr als zehn Jahre zurück. Man hatte ihm die Ernennung zu seinem fünfzigsten Geburts tag präsentiert. Er und seine Vorfahren stammten aus der Lettischen SSR. Sein Name galt etwas in der Raumfahrt. Die gelungene Neptunumrundung, ein interplanetarer Flug mit dem ersten Photonenraumschiff, war sein letztes größeres Unternehmen dieser Art gewe sen. Nur er und der Amerikaner Patrick hatten die gefährliche Reise überlebt. Das harte Kos monautenleben hatte ihn geformt. Nachdem Pawel Rinald sich noch einmal ver gewissert hatte, daß überall die Bergungs- und Aufräumungsarbeiten in Gang gekommen wa ren, verließ er das Observatorium. In seinem Büro nahm er die letzten Meldun gen der Außenstationen entgegen. Gut, daß dort alles in Ordnung war! Dann sichtete er das umfangreiche Material über die Untersu chungen und Messungen, die vor dem Bau des Observatoriums im Krater Zeta durchgeführt worden waren. Sechs Stunden später meldete sich Ira Beaux pünktlich bei ihm. Sie fühlte sich elend. Statt
ein paar Stunden zu schlafen oder wenigstens zu ruhen, hatte sie gegrübelt. Merkwürdiger weise hatte sie immer wieder an ihre Kindheit und die Studienjahre denken müssen, obwohl sie Sol Mento erst damals in Nordafrika ken nengelernt hatte. Aber vielleicht suchte sie Zu flucht in den Erinnerungen an die Jugendzeit. Sie hatte an ihren Geburtsort gedacht, das Städtchen Sailly-Flibaucourt sur Somme. Es liegt im Pas de Calais, südlich von Abbeville, auf einer Anhöhe inmitten grüner Wiesen und kleiner Eichenwäldchen. Man erkennt es schon von weitem an den vielen roten Back steinhäuschen, in denen früher Arbeiterfamili en einer nahe gelegenen Eisengießerei ge wohnt hatten. Die Urgroßeltern waren dorthin zu Verwandten geflüchtet, als im letzten, dem zweiten Weltkrieg viele Städte in der Bretagne zerstört wurden. Später dann das Studium an der Pariser Sorbonne, das leidenschaftliche In teresse für die Astronomie. Schon damals hat te sie den festen Vorsatz gefaßt, bei der Weltfö deration tätig zu sein. Deshalb nahm sie nach der Promotion das obligatorische Zweitstudi um an der internationalen Universität in Nan cy auf und studierte Medizin… Bis auf die letz ten Jahre hier in Lunapol, in denen sie eine in time Partnerschaft mit Sol Mento verband,
hatte sie sich ausschließlich ihrer Arbeit und ihren Studien gewidmet. Der Tod des Gefähr ten traf sie deshalb um so härter… Pawel Rinald versuchte behutsam, Ira aus ih ren Grübeleien herauszulösen. »Es dürfte klar sein«, sagte er, »daß eine uns völlig unbekann te Ursache die Explosion ausgelöst hat. Ich habe mir alle Protokolle noch einmal angese hen, die über das Verhalten von unterkühltem Quecksilber auf unserem Erdtrabanten Aus kunft geben. Sie haben jede nur mögliche Ge fährdung bei Ihren Untersuchungen berück sichtigt. Nach menschlichem Ermessen oder, sagen wir besser, nach dem uns bis zur Stunde bekannten Stand der Dinge ist die Verwendung von Quecksilber auf dem Mond völlig gefahr los. Ich habe mir die selenologischen Befunde und Meßergebnisse genauso gründlich angeschaut. Es liegt kein Versäumnis vor. Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten, die offenbleiben: Ent weder die Explosion wurde durch eine unbe merkte Havarie in der Anlage ausgelöst, den ken Sie beispielsweise an Tachyonenbildung bei der Einwirkung kosmischer Strahlen auf Felder um Supraleiter, oder wir haben es gene rell mit einem völlig neuen Phänomen des Mondes zu tun. Was meinen Sie?«
Natürlich hatte auch Ira bereits Überlegungen angestellt. Sie zögerte. Konnte sie mit dem Ku rator über ihre geheimsten Befürchtungen sprechen? »Ich möchte ganz offen zu Ihnen sein«, ant wortete sie endlich. »Die von Ihnen genannte Möglichkeit einer unbemerkten Havarie schei det nach meinem Dafürhalten aus. Ich bin je doch der Meinung, daß die dem Bau vorausge gangenen Boden- und Strahlungsuntersuchun gen, die im Verantwortungsbereich unseres Chefselenologen Ben Darkens liegen, vielleicht doch nicht mit der erforderlichen Gründlich keit durchgeführt worden sind. Doch ich möchte keinen Kollegen zu Unrecht beschuldi gen.« Ihre Gedanken eilten um Jahre zurück, als sie Ben Darkens bei den Erschließungsarbeiten für den Teleskopbau zum erstenmal gesehen hatte. Er war ihr etwas überheblich vorgekom men, hatte wohl allzu routiniert seine Aufga ben gelöst. Kein Wunder, Ben Darkens zählte zu den er sten Mondpionieren. Er hatte Lunapol mit ge gründet und kannte die gesamte Mondoberflä che »wie seine Westentasche«. Was Ira beson ders störend empfunden hatte, war sein mit unter ungerechtfertigter Optimismus gewesen,
obwohl er nicht zuletzt dessentwegen von sei nen Mitarbeitern sehr geschätzt, ja geradezu verehrt wurde. Sie kam einfach nicht davon los, daß dieser Mann irgendwie etwas damit zu tun hatte, daß Sol ums Leben gekommen war. Je mehr sie darüber nachdachte, desto stärker wurde die Abneigung gegen ihn, obwohl sie andererseits fühlte, daß sie in diesem Fall, ganz entgegen ih rer sonstigen Haltung, nicht objektiv war. »Gut«, sagte Rinald, der Ira unauffällig beob achtet hatte, »ich werde gleich morgen mit Ben Darkens darüber sprechen. Zunächst handelt es sich um eine Routineermittlung. Ihren geäu ßerten Verdacht, den ich, das muß ich Ihnen ehrlich sagen, absolut nicht teile, werde ich selbstverständlich nicht erwähnen. Morgen be ginnen ebenfalls die genauen Untersuchungen des Schadenumfanges, insbesondere muß fest gestellt werden, ob der große Riß im nördli chen Rundmauerabschnitt die Wiederaufbau arbeiten verzögert. Ich werde Sie auf dem lau fenden halten.« Nachdem sie noch einige Einzelheiten bespro chen hatten, verabschiedete sich Ira. Sie wollte allein sein.
Überraschende Entdeckungen Das Geschehen der nächsten Tage und Wochen in und um Lunapol wurde von der Suche nach den Ursachen der verheerenden und dennoch örtlich so eng begrenzten Katastrophe im Kra ter Zeta bestimmt. Überrascht stellte man fest, daß es sich bei der Explosion um eine nukleare Reaktion ge handelt haben mußte. Die Ausmaße waren relativ gering, und der Ablauf war noch völlig ungeklärt. Man stand vor einem Phänomen, auf das man rein zufäl lig gestoßen war. Während das eigentliche Explosionszentrum in der Spiegeletage keinerlei Spuren von Ra dioaktivität zeigte, hatten Strahlungsspeziali sten am höherliegenden Mauerwerk verdampf te und vermutlich wieder kondensierte Queck silbertropfen gefunden, die eine starke αStrahlung emittierten. Das unerklärliche war jedoch, daß sich diese Strahlen wie β-Strahlen verhielten, aber ener giemäßig aus α-Teilchen bestanden. Die Strah lungsexperten waren ratlos und hatten schon Kollegen von der Erde um die Meinung ge fragt. Man stand vor einem Rätsel.
Eine zweite Entdeckung sollte nicht minder bedeutungsvoll werden. Sie hing mit der un heimlichen Rißbildung im nördlichen Teil der an sich bebensicheren Rundmauer des Obser vatoriums zusammen. Man wußte noch nicht, ob der Riß die Explosion hervorgerufen hatte oder umgekehrt. Ben Darkens und Uwe Girnt waren zur Unter suchung der Kluft aufgebrochen. Der Chefsele nologe hatte das zwanglose Gespräch mit dem Kurator noch nicht vergessen. Die Wenn und Aber lagen ihm in den Ohren. Ja, fast hatte es so geklungen, als zweifelte jemand seine sele nologischen Fundament- und Untergrundun tersuchungen im Krater Zeta an. Doch jetzt mußte er sich konzentrieren, das hier war kein einfaches Kaminklettern.
»Uwe, du sollst mich nicht festhalten, du sollst mir folgen!« rief er dem vorsichtig und langsam nachkommenden Girnt zu, während sie angeseilt dem gähnenden Spalt folgten, der immer weiter in die Tiefe führte. In der Spiegeletage hatten sie das Hauptseil befestigt und waren nun schon fast hundert Meter nach unten geklettert. Der Spalt wurde zwar breiter, aber ein Ende war noch nicht ab zusehen. Die Lichtkegel der Helmleuchten ver loren sich im Bodenlosen. Auf einem Felsvorsprung machte Ben Dar kens halt, bis Uwe Girnt ebenfalls eingetroffen war. »Sieh dir nur die Bruchstellen an, sie pas sen genau ineinander. Dieser Oberflächenriß ist ganz neu, den gab es noch nicht, als wir un sere Untersuchungen machten. Los, weiter!« Als sie das dritte Seilstück einhakten, äußerte Uwe endlich seine Bedenken, die er schon lan ge hegte. »Ben, laß uns aufhören! Wir sind schon zweihundert Meter unter dem Zeta, und was sehen wir, wenn wir überhaupt etwas er kennen? Immer das gleiche. Irgendwo braucht sich nur ein Stein zu lösen, und wir werden er schlagen. – Hörst du mich?« Er hielt seinen Helm ganz dicht an den von Ben Darkens. Al lerdings befürchtete er, daß sein langjähriger Chef und Freund durch solche Einwände nicht
zu beeinflussen war. Doch Ben Darkens antwortete: »Schon gut! Wir steigen nicht mehr tiefer. Mach die Echo lotfliege flott! Komm, gib mir den Empfänger! Mal sehen, ob sie mehr entdeckt.« »Alles klar, ich starte sie«, antwortete Uwe. Die Echolotfliege war eine Kleinstrakete mit Rundumdüsen, die in sehr engen Schächten zu verwenden war. Mit Radarimpulsen wurde die Umgebung abgetastet, und ein kleiner Sender gab die Ergebnisse weiter. Die Reichweite war jedoch begrenzt und betrug maximal fünfhun dert Meter. Ben und Uwe schauten auf den handgroßen Bildschirm. Immer das gleiche Bild, lichte Weite des Spaltes ungefähr zehn Meter, nach unten keine Begrenzung. Jetzt waren dreihun dert Meter erreicht. Ben Darkens’ Gedanken schweiften ab. Sicher würde ihm der Kurator nachher die Leviten lesen: Unterschätzung der Gefahr; Leiten heißt sein Kollektiv richtig ein setzen – und dergleichen mehr. Er kannte die Sprüche zur Genüge. Aber er war anderer Mei nung: Wenn es gefährlich wird, hat der Leiter ein Beispiel zu geben. So hatte er es immer ge halten. Seine Mitarbeiter wußten das, deshalb gab es bei ihm auch keine sogenannten Lei
tungsprobleme. Er verlangte vollen Einsatz, aber zuerst von sich selbst. Nicht umsonst hieß er bei allen, die ihn näher kannten, der »Käp ten«. Er freute sich darüber, nicht zuletzt des halb, weil er sein Berufsleben mit der harten Ausbildung als Schiffsjunge begonnen hatte. Doch das war lange her. Behutsam berührte er seinen Schutzanzug und tastete nach der Bootspfeife, seinem Talisman, den er an einer Schnur um den Hals trug. Freunde hatten sie von seiner Mutter in Albany besorgt und sie ihm vor wenigen Monaten zu seinem achtund vierzigsten Geburtstag überreicht. Die »Fliege« war jetzt weit über dreihundert Meter gesunken. Ben Darkens stieß Uwe Girnt an. »Was bedeutet denn das? Kein Echo mehr? Das gibt es doch nicht! Uwe, die Sonde schwebt in einem riesigen Raum. Laß sie noch hundert fünfzig Meter fallen!« Das war keine Routinearbeit mehr. Das war etwas Neues. Das Schirmbild veränderte sich nicht. Sie ließen die Minirakete noch eine Wei le in der maximalen Reichweite hängen. »Hol sie zurück!« sagte Darkens schließlich. »Der Riß mündet zweifellos in eine sublunare Höhle. Endlich haben wir das gefunden, wovon seit Jahren geredet wird. – Los! Fertigmachen zum Rückmarsch!«
Pawel Rinald und die übrigen Kuratoriums mitglieder waren von den Untersuchungser gebnissen, die ihnen Ben Darkens Stunden später vortrug, genauso überrascht wie vorher die beiden Selenologen. »Da die Reichweite des Echolotsenders etwa einen Kilometer beträgt, muß die Höhle mehr als zwölfhundert Meter tief sein, von der seitli chen Ausdehnung ganz zu schweigen. Da ist mit Sonden und Seilschaft nichts mehr zu ma chen. Sie muß mit anderen technischen Mit teln untersucht werden. Vielleicht finden wir hier die Ursache des Mondbebens. Deshalb schlage ich vor, daß wir die großen Rohrstücke für den Transporttunnel, der Lunapol mit dem Krater Zeta verbinden soll, zum Austeufen des etwa fünfhundert Meter tiefen Mondspaltes benutzen und von dessen befestigtem Ende aus die sublunare Höhle mit einem gepanzerten Raketokopter erkunden«, sagte Ben Darkens. Sein Vorschlag wurde angenommen. Einige andere Forschungsvorhaben mußten zurück gestellt werden, besonders jene, die Bau- und Montagekapazität erforderten. – Das Vorhaben, unter Mondverhältnissen einen tektonischen Riß von fünfhundert Meter Tiefe in einen runden Schacht mit zehn Meter
Durchmesser zu verwandeln, gestaltete sich viel schwieriger als angenommen. Obwohl die Arbeiten mit größter Intensität durchgeführt wurden, gingen sie Ben Darkens nicht schnell genug. So war es gut, daß er die Aufgabe hatte, die kleine Expeditionsgruppe für die Erforschung der Höhle zusammenzu stellen. Pawel Rinald hatte empfohlen, frühere Mitarbeiter aus Lunapol, die unterdessen wie der zur Erde zurückgekehrt waren, in das ge fährliche Vorhaben mit einzubeziehen, vor al lem solche Wissenschaftler, die sich schon in tensiv mit jener »Mondblasentheorie« beschäf tigt hatten. Dazu gehörten Mara Bhali, die das südöstli che Satelliteninstitut in Sydney leitete; Ives Lo rin, ein bekannter Selenologe des Europäi schen Staatenbundes; Nik Sullikow, ein sowje tischer Experte für Planetologie und Radiolo gie, und schließlich Svanta Arenson von der Skandinavischen Union. Bis auf Ives Lorin wa ren diese Spezialisten bereits in Lunapol einge troffen. Pawel Rinald, der Ira Beaux ständig über die neuesten Untersuchungsergebnisse informier te und diese Gelegenheit gern wahrnahm, um mit der sympathischen Frau zusammenzutref fen, hatte ihr berichtet, daß Ben Darkens mit
einer internationalen Expeditionsgruppe die Mondhöhle unter dem Krater Zeta untersu chen wolle. Ira überlegte. Dieses Vorhaben konnte sich über Monate erstrecken. An einen Wiederauf bau ihres Rotationsteleskops war in absehba rer Zeit nicht zu denken, zumindest nicht an der Stelle, wo sich die Katastrophe ereignet hatte. Und der Mann, den sie noch immer für den Tod Sol Mentos und das Unglück, das sie und ihre Mitarbeiter getroffen hatte, verantwort lich machte, würde zweifellos für geraume Zeit wichtige Forschungen betreiben. War es da nicht besser, sie würde ebenfalls an der Expe dition teilnehmen? Dann brauchte sie nicht zu befürchten, daß man ihr irgendwelche Tatsa chen vorenthalten würde, und – so ehrlich war sie zu sich selbst – die abenteuerliche Erkun dung der ersten größeren Mondhöhle würde ihr helfen, die schrecklichen Ereignisse der letzten Wochen schneller zu überwinden. Als sie Pawel Rinald ihre Absicht mitteilte, stieß sie zwar auf Verständnis, doch zugleich warnte er sie vor den Gefahren. Aber sein Hauptgegenargument war, er glaube nicht, daß Ben Darkens großen Wert auf ihre Mitarbeit legen werde.
»Das lassen Sie meine Sorge sein«, war Iras kurze Antwort. Doch sie selbst schätzte ihr Vorhaben nicht allzu optimistisch ein. Sie wür de mit Darkens reden müssen. Die Zeit dräng te. Ives Lorin wurde Anfang der kommenden Woche erwartet. Die Abteufarbeiten in dem Mondspalt würden bis dahin beendet sein. Es blieben also nur noch wenige Tage, dann wür de die Expedition starten. Also gut, sie hatte sich entschieden. Sie stieg in den kleinen Gravigleiter. Die Arbeitsräume der selenologischen Abteilung einschließlich der Wohnkabinen für die Mitarbeiter lagen im südlichen Teil der weiträumigen Zeltstadt. Es waren die ehemaligen Gebäude des Baustabes. Ira kannte sie recht gut. Wenig später stand sie vor Ben Darkens’ Ap partement und meldete sich an. Er bemühte sich, seine Überraschung zu unterdrücken, und empfing die Astronomin, deren Meinung über seine Rolle bei den Ereignissen im Krater Zeta ihm längst zu Ohren gekommen war, mit zurückhaltender Höflichkeit. Den angebotenen Sessel lehnte sie ab. Also blieb auch er stehen. Beide musterten sich un auffällig, und jeder fühlte die Spannung, die zwischen ihnen lag und noch zu wachsen schi en.
Trotzdem versäumte es Ira nicht, kurz den Raum, in dem dieser Ben Darkens lebte, zu be trachten. Konnte man von der Umgebung auf das Wesen, auf die Lebensart eines Menschen schließen? Von der spartanischen Einfachheit der Ein richtung war sie angenehm berührt. Sie hatte Darkens ohne Unterschätzung seines Fachwis sens und seiner beachtlichen Mondpraxis von der menschlichen Seite her für einen Bonvi vant gehalten – immer strahlend, redegewandt und trotz seines Alters noch gutaussehend. Seine gesunde braune Gesichtsfarbe und die graumelierten Schläfen unterstrichen diesen Eindruck. Ira fragte sich in diesem Augenblick unwill kürlich, warum sie so beharrlich gerade die sem Menschen die Schuld an dem Unglück nachweisen wollte. War dieser Standpunkt wirklich auf die Dauer aufrechtzuerhalten? »Sie hatten um eine Unterredung gebeten. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung«, brach Dar kens schließlich das fast zu lange währende Schweigen. Nun nahm sie doch in dem kleinen Schalen sessel Platz. Sie mußte sich sammeln. »Kollege Darkens«, begann sie endlich und versuchte seinem offenen Blick auszuweichen. »Ich hof
fe, Sie betrachten es nicht als Verleumdung, wenn ich im Zusammenhang mit den Ereignis sen im Krater Zeta die dem Bau vorausgegan genen selenologischen Untersuchungen ange zweifelt habe. Sie sind der dafür verantwortli che Leiter. Bestätigt die inzwischen entdeckte Höhle nicht meinen Verdacht in gewissem Sin ne? Fühlen Sie sich selbst völlig schuldlos? Ich weiß, mir fehlen Beweise, und sollten die Un tersuchungen zu Ihren Gunsten ausgehen, werde ich mich offiziell und in aller Form bei Ihnen entschuldigen.« Ben Darkens hörte aufmerksam zu. Er moch te Menschen, die ihren Standpunkt auch dann vertreten, wenn es persönlich unangenehm wird. Schließlich erwiderte er gelassen: »Ich re spektiere Ihre Meinung, wenn ich sie auch ab solut nicht teile. Doch Sie sind bestimmt nicht nur nach Lunapol gekommen, um mir das zu sagen.« Ira spürte den Hauch von Sympathie, der von ihrem Gegenüber ausging. »Nein, Sie haben recht«, fuhr sie nun freundlicher fort. »Die von Ihnen entdeckte Höhle unter dem Krater Zeta und die Zerstörung des Teleskops hängen nach meiner Meinung ursächlich zusammen. Für mich gibt es für geraume Zeit keine astronomi
sche Tätigkeit auf dem Mond; denn an einen Wiederaufbau des QRT ist vorläufig nicht zu denken. Würde es Sie große Überwindung kosten, mich bei Ihrer Expedition in die sublunare Re gion mitzunehmen?« Nun war es endlich her aus! Erleichtert lehnte sie sich zurück. Mit dieser letzten Frage hatte Ben Darkens wirklich nicht gerechnet. Sie traf ihn völlig un vorbereitet. Den geäußerten Verdacht einer Mitschuld an der Katastrophe konnte man – so ehrlich war er zu sich selbst – zumindest prinzipiell noch gelten lassen. Es war schon jetzt klar, daß sie bei künftigen Bodenuntersuchungen viel tiefer ausloten, ja ganz anders herangehen mußten. Der Erdtrabant überraschte sie stets mit neuen Rätseln! Doch nun diese Frage! »Mademoiselle Beaux« – die förmliche Anre de war Ausdruck einer gewissen Unsicherheit –, »bei den Teilnehmern handelt es sich aus schließlich um ausgewählte Spezialisten. Wie soll ich Sie da einordnen? Wie kann ich Ihre Beteiligung vor meinen engsten Mitarbeitern rechtfertigen, von denen keiner einbezogen wird? Hinzu kommt die Gefährlichkeit des Un ternehmens. Würden Sie mir nicht eine weite re Fahrlässigkeit anlasten, wenn Ihnen als Ex
peditionsmitglied etwas zustieße? Und dann, welche Funktion könnten Sie in einem seleno logischen Kollektiv übernehmen? Sie wollen doch nicht nur Gast oder Zuschauer sein! Das sind nur einige Gegenargumente, es gibt sicher noch mehr.« Ira war überrascht. Darkens hätte sich jetzt für ihre Anschuldigungen revanchieren kön nen. Aber was er da vorbrachte, waren echte, objektive Gründe. Etwas wie Freude kam in ihr hoch, ihr selbst unbegreiflich. »Über das Risi ko bin ich mir völlig klar«, erwiderte sie ruhig. »Schon Pawel Rinald hat mich darauf hinge wiesen, denn er weiß von der Unterredung mit Ihnen. Ich schrecke vor keiner Gefahr zurück. Sie könnten sich in jeder Situation auf mich verlassen. – Vielleicht ist es sogar notwendig, mich mitzunehmen. Kollege Darkens, gehört zu Ihrer Forschungsgruppe bereits ein Arzt? Wenn nicht, könnte ich diese Funktion über nehmen. Ich habe in Nancy als Zweitstudium die medizinische Fakultät absolviert und bin Fachärztin für allgemeine Medizin. – Könnten Sie damit nicht meine Teilnahme rechtferti gen?« Ben Darkens gestand sich ein, daß er daran gar nicht gedacht hatte. Warum auch? Jeder Lunaut war umfassend in Erster Hilfe für
Raumfahrt ausgebildet. Doch ein Arzt könnte sich bei der abenteuerlichen Reise in die Tiefe als sehr nützlich erweisen. Doch wußte diese Frau, die sich schwerlich von einem gesteckten Ziel abbringen ließ, welche Verantwortung sie da auf sich lud? Daß sie Mut hatte, mußte man unumwunden zugeben. Sollte er nun Ira Beaux in die kleine Gruppe aufnehmen? Nachdenk lich schaute er seine Besucherin an. – Gut, er würde sie mitnehmen! Ein Einblick in die Pro bleme selenologischer Art konnte der Astrono min nicht schaden. Vielleicht gelang es ihm, sie während der Expedition davon zu überzeugen, daß es eine Schuldfrage eigentlich gar nicht gab. Und schließlich, er wunderte sich selbst über diesen Gedanken, war es ihm nicht unan genehm, diese eigenwillige, aber durchaus sympathische Frau in seiner Nähe zu wissen… »Kollegin Ira Beaux«, sagte er dann, »das Ein verständnis von Kurator Rinald vorausgesetzt, begrüße ich Sie als Expeditionsmitglied.« Er ging auf sie zu und streckte ihr die Hand entge gen. »Trotz Ihres Verdachts, auf gute Zusam menarbeit! Wegen der Ausrüstung und der sonstigen Vorbereitungen, die zu treffen sind, wenden Sie sich bitte an Nik Sullikow, der die Organisation für unser Vorhaben übernom men hat.«
So trennten sie sich. Die Tage bis zum ersten Abstieg vergingen wie im Fluge. Mit den übri gen Expeditionsmitgliedern hatte sich Ira bei den häufigen Vorbesprechungen schon ein we nig angefreundet. Sie war froh, daß sie eine neue Aufgabe gefunden hatte.
Fahrt in unbekannte Tiefe Wieder war der kleine Krater Zeta, dessen Name in den letzten Monaten die Spalten der Fachpresse ausgiebig gefüllt hatte, Ausgangs punkt für ein waghalsiges Unternehmen. Erst der Bau des neuartigen Quecksilberrota tionsteleskops, dann dessen Zerstörung durch eine auf dem Mond erstmals aufgetretene Nu klearreaktion und nun der Abstieg in einen sublunaren Hohlraum von gewaltigen Abmes sungen! Der Boden des Teleskopinnenraumes glich er neut einer modernen Baustelle. Der gewissen hafte Girnt, dem die technische Leitung des Projekts übertragen worden war, hatte an neu er Technik alles eingesetzt, was verfügbar und nach seiner Meinung für ein solch gefährliches Vorhaben erforderlich war. Drei große Portalkrane überragten die übri gen technischen Einrichtungen, die um den kreisrunden Schacht, zu dem man den tektoni schen Riß inzwischen ausgebaut hatte, ange ordnet waren. Von zwei der Kranrollen führ ten armdicke Seile zu dem grellrot leuchten den Raketokopter, der wie eine überdimensio nale Libelle über der finsteren Schachtöffnung schwebte. Girnt hatte seinen Befehlsstand im
Ausleger eines hohen Turmkranes eingerich tet. Von dort aus konnte er den Kratergrund übersehen. Mehrmals hatte er das komplizier te Abseilmanöver mit seiner Mannschaft ge probt. Jetzt traten Ben Darkens und die fünf Expedi tionsteilnehmer aus der Schleuse des unzer störten Durchgangs der Bodenetage. Der Chef selenologe liebte kein Aufsehen. Wo er zu tun hatte, ging es immer um harte, gefährliche Ar beit. Ein wenig verärgert blickte er daher auf die geschickt getarnten TV-Kameras. Das hatte ihm der gute Girnt mal wieder verschwiegen! Uwe Girnt wußte, in solchen Augenblicken legte Ben Darkens keinen Wert auf lange Mel dungen und Berichte. »Chef! Alles Notwendige verladen, Technik in Ordnung, Raketokopter startbereit!« war daher alles, was er sagte. Trotz der ungewöhnlichen Situation mußte Ben Darkens lächeln. Noch kürzer ließ sich das Ergebnis einer wochenlangen hektischen Ar beit wohl kaum zusammenfassen. Dankbar und anerkennend klopfte er den vor ihm ste henden Hünen auf die Schultern. »Haltet die Ohren steif und viel Glück!« fügte dieser schnell noch hinzu. Dann stiegen die Teilnehmer nacheinander, Ben Darkens als letzter, in den bereitstehen
den Flugkörper, der diesmal einem ganz ande ren Zweck diente. Girnt gab das Startzeichen. Langsam, mit ei ner Geschwindigkeit von nur einem Meter je Sekunde, senkte sich der in einem stabilen Halterahmen befestigte, nach oben gegen Steinschlag gepanzerte Raketokopter in die gähnende Tiefe des Schachtes. Ben Darkens überprüfte mehrmals die Sprechverbindung zu Uwe Girnt, zur Abseil mannschaft und zu den übrigen Stützpunkten. Neben den beiden Haltetrossen hing ein drit tes Kabel für die Speisung der vielen Schein werfer, mit denen der Kopter ausgestattet war. Es enthielt außerdem eine Telefonleitung, für den Fall, daß der Funkverkehr ausfallen sollte. Schließlich handelte es sich ja nicht um eine harmlose Höhlenbesichtigung, sondern um die Ersterforschung eines bisher unbekannten rie sigen Hohlraumes unterhalb der Mondoberflä che, der noch dazu in außergewöhnlicher Tiefe lag. Schon waren mehr als zweihundert Meter zu rückgelegt, und der Schacht über den Wissen schaftlern war nur noch als kleine leuchtende Öffnung in der sonst finsteren Umgebung aus zumachen. »Wie fühlt ihr euch?« unterbrach Ben das
Schweigen der kleinen Gruppe. Doch das er hoffte Echo blieb aus. Keiner konnte sich einer gewissen Beklemmung entziehen, als sie Meter für Meter in die unheimliche Tiefe sanken. Da bei hatten alle Beteiligten in den zurückliegen den Jahren viele gefährliche Forschungsaufga ben und selenologische Erkundungen durchge führt. Sie kannten die Tücken des kalten, toten Erdtrabanten. So war beispielsweise Svanta Arenson vor zwei Jahren schwer verletzt worden, als Teile eines kleinen Ringwalles das aufsetzende Lu mobil unter sich begruben. Oder Ives Lorin, ihm hatte ein Kleinstmeteorit den Oberarm aufgerissen. Solche und ähnliche Abenteuer hatte fast je der von ihnen schon erlebt. Nach etwa acht Minuten verlangsamte sich verabredungsgemäß die konstante Abwärtsbe wegung, denn unmittelbar am unteren Schach tende sollte, wenn der Flugkörper bereits im Hohlraum schwebte, zunächst die Decken schicht untersucht werden. Jetzt war es soweit! Die nach allen Seiten hin strahlenden Scheinwerfer wurden von der er staunlich glatten Decke des ungeheuren Ge wölbes reflektiert, verloren sich aber anson sten in einer unbegrenzten Weite. Die Gleich
förmigkeit der leichtgewölbten Decke erschien geradezu unnatürlich, es sei denn, daß vor Jahrmillionen ein unterlunarer Strom die Flä che glattgewaschen hatte. Beim Bau des Schachtes hatten Analysen von Bodenproben aus den Räumschnecken ergeben, daß es sich bei den tieferen Schichten um Siliziumkarbid handelte, der etwa drei Milliarden Jahre alt war. Nach einigen Minuten gemeinsamer Beobach tung und recht lebhaften Meinungsaustau sches gab Ben das Zeichen, den Kopter mit normaler Geschwindigkeit weiter hinunterzu lassen. Unauffällig warf er hin und wieder einen Blick auf Ira, die neben der Indonesierin Mara Bhali saß, mit der sie sich angefreundet hatte. Ob sie durchhalten würde? Bei der weiteren Abwärtsbewegung blieben alle Scheinwerfer eingeschaltet, auch die ge nau senkrecht nach unten strahlende Haupt leuchte wurde angeschlossen. Aber sosehr die Expeditionsmitglieder auch die Augen an strengten, die vielen nach allen Seiten hin ta stenden Lichtbündel trafen nirgends auf ein Hindernis, das eine Begrenzung des Hohlrau mes angedeutet hätte. Die Höhle mußte in der Horizontale noch viel größer sein, als man bis her vermutet hatte.
Es war gut, daß zumindest exakte Tiefenmes sungen durchgeführt worden waren. Nur da durch konnte für alle Beteiligten der Eindruck, in der bodenlosen Tiefe des Mondes zu versin ken, etwas gemildert werden. Immerhin, unter der Schachtöffnung betrug der Abstand bis zum Höhlenboden dreitausendachthundert fünfzig Meter. Nach weiteren fünfzehn Minuten ließ Ben Darkens die Sinkbewegung erneut stoppen, um nun auch Messungen über die seitliche Ausdehnung des Hohlraumes vorzunehmen. Gespannt beugten sich alle über den Radar schirm. Nachdem sich das Oszillogramm beruhigt hat te, zeigten die Längen- und Breitenimpulse eine ovale Fläche von phantastischen Ausma ßen. Das Radarbild hatte die Form einer Ellip se, in deren einem Brennpunkt sich der Rake tokopter mit dem Sender befand. Die Auswer tung ergab, daß das Areal eine Ausdehnung von etwa achtzigtausend Quadratkilometern haben mußte, was immerhin einem Prozent der Mondoberfläche entsprach. Das übertraf alle Erwartungen! »Könnt ihr euch das vorstellen«, sagte der sonst so wortkarge Ives Lorin enthusiastisch, »unser Raketokopter gleicht einer winzigen
Spinne, die sich von der Spitze einer riesigen Zirkuskuppel herabläßt!« Immer wieder versuchten die Beobachter, in seitlicher Richtung irgendwelche Objekte aus zumachen, aber ohne Erfolg. Doch dann stieß Nik Sullikow, der alle Hände voll zu tun hatte, um den sie umgebenden Raum auf Strahlun gen hin zu untersuchen, und der sich bisher schweigsam verhalten hatte, plötzlich einen Ruf des Erstaunens aus. »Seht, dort scheint ein großer Felsbrocken frei im Raum zu schweben, oder liegt er irgendwo auf?« »Maschinen stopp!« gab Darkens an Girnt durch und steuerte den Raketokopter so, daß jetzt alle das Phänomen erkennen konnten. Tatsächlich hing ein Felsstück, flach und lang gestreckt wie ein riesiges Stück Baumrinde, von den Scheinwerfern hell beleuchtet, unge fähr zweihundert Meter seitlich von ihnen frei im Raum. Niemand fand eine Erklärung für das, was sie da in geringer Entfernung sahen. »Vielleicht besteht das Gebilde gar nicht aus Stein, sondern ist ein Konglomerat aus uns un bekannten Schwebstoffen«, sagte Svanta Aren son. »Es wäre zu gefährlich, den Raketokopter so weit zur Seite zu dirigieren; Girnt warnt davor.
Den Burschen da drüben werden wir uns also ein anderes Mal näher betrachten«, sagte Ben Darkens nach einer längeren Pause. Langsam setzte die Abwärtsbewegung wieder ein. »Was soll denn das bedeuten«, rief Nik Sulli kow, und Sekunden später hatten alle ein Ge fühl, als wäre der Raketokopter hart auf Grund gesetzt worden. »Was ist los bei euch?« fragte nun auch Uwe Girnt über Sprechfunk, der ebenfalls bemerkt hatte, daß der Flugkörper festhing. »Seht euch das Gravitationsmeßgerät an!« sagte Nik. »Wir sind auf ein Gegenschwerkraft feld gestoßen. Es hat den vierfachen Wert der normalen Mondanziehungskraft.« »Ob es bis zum Höhlenboden reicht, Nik?« fragte Ben. »Ich glaube nicht. Eine derartige Anomalie, sofern es sich wirklich um eine solche handelt, kann sich nur im freien Raum, das heißt in ge nügend großem Abstand von Materie ausbil den«, antwortete er. »Wir werden versuchen, das Kraftfeld mit der Energie unserer Raketokopterschubdüsen zu durchstoßen«, sagte Ben, nachdem er ver schiedene Berechnungen angestellt hatte. Uwe Girnt war mit dem Experiment einver
standen und traf seine Vorbereitungen. Das Manöver begann. Langsam setzte sich der Ro tor mit den Schubdüsen in Bewegung. Als die volle Drehzahl erreicht war, zündete Ben Dar kens den Impulsmotor. Der Raketokopter schüttelte sich wie ein Pferd, das vor einem Hindernis scheut. »Haltet euch fest!« befahl Ben, »ich gehe auf maximale Leistung.« Tatsächlich, sie schienen nach unten zu gleiten. »Vorsicht! Der Felsbrocken neben uns bewegt sich. Er taumelt, nein, er rutscht seitlich weg«, rief Nik, der hinüber zu dem schwebenden Ge bilde geschaut hatte. »Er neigt sich immer mehr, jetzt stürzt er ab.« Alle sahen, wie der mehrere Quadratmeter große Schwebekörper in der unbeleuchteten Tiefe verschwand. »Stopp, Ben! Das Querfeld muß zu Ende sein. Der Gravitationsschirm ist leer«, sagte Nik we nig später. »Sicher haben wir durch unsere Kraftprobe die Feldkonstanz gestört und da durch den Felsbrocken zum Absturz gebracht.« Was mochte sich in der unergründlichen Tie fe noch alles verbergen? Das Augenmerk der Forscher richtete sich nun ausschließlich nach unten, wo sich undeutlich der Grund der Höh
le abzuzeichnen begann. Je näher sie kamen, um so deutlicher war zu erkennen, daß der Boden, so weit die Hellig keit der Scheinwerfer reichte, von zahlreichen pyramidenförmigen Gebilden, vermutlich überdimensionalen Stalagmiten, bedeckt war. »Sollten es wirklich Stalagmiten sein, dann stehen wir vor einem neuen Rätsel«, sagte Svanta. »Entsinnt ihr euch, die Deckenschicht der Höhle war doch spiegelglatt, und hier un ten, auf der Gegenseite, haben sich in Jahrmil lionen haushohe Auftropfsteine gebildet. Ist das nicht sonderbar?« »Vielleicht hatte dieser tektonische Hohlraum eine Zwischendecke, die bereits herunterge stürzt ist«, erwiderte Ben. Alle verfügbaren Scheinwerfer wurden jetzt auf den Höhlenboden konzentriert, während sich der angeseilte Flugkörper mit den erreg ten Insassen weiter nach unten bewegte.
Überall auf der aschfahlen Grundfläche, die glatt und eben erschien, waren senkrecht ste hende prismatische Säulen auszumachen, die regelmäßigen Kegelstümpfen ähnelten. Dazwi schen, willkürlich verstreut, riesige rechtecki ge Quader von mehr als hundert Meter Seiten länge. Ben Darkens gab letzte Anweisungen an Uwe Girnt. »Senkgeschwindigkeit um die Hälfte vermindern!« Und nach einigen Minuten: »Jetzt, stopp!« Der gepanzerte Raketokopter schwebte mit seinen Auslegern etwa zehn Meter über dem Boden. Der Landeplatz war ein rundes Areal von einigen hundert Quadratmetern inmitten der merkwürdigen geometrischen Körper. Mara Bhali fuhr die Bodensonde aus, um den Untergrund genau zu untersuchen. Wenn die Staubschicht, die den Erdtrabanten überall be deckte, auch viel dünner war, als man früher angenommen hatte, so war es doch bei der Er forschung der Mondoberfläche zu vielen Un fällen gekommen, weil Fahrzeuge und Flugkör per in sogenannten Staublöchern versunken waren. Doch diese Oberfläche hier schien un gefährlich zu sein. Die Staubschicht hatte eine Stärke von nur wenigen Millimetern. Es war ja
auch einleuchtend, daß hier unten die Staub bildung weniger intensiv sein würde als an der Mondoberfläche. Unter der dünnen Schicht stellte Mara harten Untergrund fest. Nachdem sie eine ausrei chend große Fläche sondiert hatte, gab Ben das Zeichen zum endgültigen Absenken. Die gespreizten Landestützen federten noch einige Male nach, dann stand der Spezialrake tokopter mit den sechs Forschern, die ihre Neugier kaum noch zähmen konnten, fest auf dem Boden der unvorstellbar großen Höhle. Nach der gegenseitigen Kontrolle der Schutz anzüge und deren Zubehör wurde noch einmal gründlich durchgesprochen, was von jedem einzelnen in den kommenden Stunden zu tun war. Mara Bhali hatte die Aufgabe, an Bord des Raks zu bleiben und die Scheinwerfer sowie das Raupenlaufwerk zu bedienen. Nik Sullikow begleitete die übrigen vier Wissenschaftler als Meßspezialist und betätigte den Unigraphen, ein großes Tornistergerät zur Ermittlung der Strahlenintensität. Er stieg als erster aus. Der schwere Kasten auf dem Rücken erlaubte ihm trotz der geringen Mondanziehung nur ein langsames, schwerfälliges Gehen. Er stellte mit seinem Gerät eine leichte Radioaktivität fest,
die aber sonderbarerweise von einer Quelle, die sich etwa fünfzehn Kilometer entfernt in der oberen Deckenschicht befand, konzen triert ausgestrahlt wurde. Mara hatte alle verfügbaren Scheinwerfer so eingestellt, daß ein Lichtdom von etwa zwei hundert Meter Durchmesser entstanden war, der die phantastische Umgebung ausleuchtete. Inzwischen waren Ben, Ira, Svanta und Ives ausgeschleust worden und näherten sich Nik. Sie machten erst einige Gehversuche, um sich an die Bodenverhältnisse zu gewöhnen. Unter einander waren sie, wie es die Sicherheitsvor schriften verlangten, durch eine Leine verbun den. Erste Bodenuntersuchungen gaben den Wis senschaftlern neue Rätsel auf. Der Untergrund war hart und glatt wie bearbeitetes Gestein. »Wenn wir nicht auf dem Boden einer riesi gen Mondhöhle stehen würden«, sagte Ives mehr zu sich selbst, »dann könnte man mei nen, man befände sich auf einer großen, künst lich behauenen Steinfläche.« Er entfernte in ei nem großen Umkreis die dünne Staubschicht, und überall zeigte sich darunter der glänzende steinharte Boden. Mit Hammer und Meißel versuchte er, einige Stücke loszuschlagen, aber es mißlang. »Donnerwetter! Bisher ist es mir
auf diesem Himmelskörper noch immer gelun gen, Gesteinsproben zu lösen! Was mag das hier nur für ein Material sein?« »Streng dich nicht unnötig an!« sagte Ben, »Mara soll mit Spezialwerkzeugen aus dem Fahrzeug einige Proben dieser sonderbaren Bodensubstanz herausbrechen oder auch her aussprengen.« »Seht bitte hierher!« hörte man jetzt Niks Stimme, »der Hohlraum ist mit einer ganz dünnen Atmosphäre ausgefüllt! Ich messe drei Prozent Sauerstoff und fünf Prozent Stickstoff. Sollten das nicht Überreste der schon lange hy pothetisch angenommenen, einstmaligen Mondatmosphäre sein?« »Vergeßt nicht«, erinnerte Ben Darkens seine Mitarbeiter noch einmal, »jeder spricht seine Untersuchungsergebnisse und Vermutungen sofort auf Band. Das erleichtert die spätere Auswertung. – Doch jetzt vorwärts zu den son derbaren Gebilden!« Sie schritten nun in breiter Front mit dem ty pischen Schaukelgang auf die etwa fünfzig Me ter entfernten Kegelstümpfe zu, deren Oberflä che an manchen Stellen das grelle Scheinwer ferlicht so reflektierte, als sei sie mit Kristallen übersät. Je näher die Gruppe kam, desto mehr ent
stand der Eindruck, es handele sich um geome trisch völlig regelmäßige Körper. »Ich nehme fast an«, sagte Svanta, »es sind Makrokristalle, die sich hier unten unter der Einwirkung ungeheurer Temperaturen gebil det haben, was doch theoretisch durchaus möglich wäre.« Sie hatten sich den umstrittenen Gebilden in zwischen bis auf einige Meter genähert. So weit der Blick reichte, waren im Scheinwerfer licht diese sonderbar geformten Steinsäulen zu erkennen. Sie ähnelten einander so sehr, daß man daran zweifeln konnte, ob eine solche Re gelmäßigkeit mit einer natürlichen Entstehung zu vereinbaren sei. Nun standen sie vor dem ersten achteckigen sonderbaren Objekt. Was mochte es sein? Bisher war von Stalagmiten und Makrokristallen gesprochen worden. Vor sichtig entfernte Svanta an einer der glatten Flächen die hauchdünne Staubschicht. Sie leg te einen spiegelnden, gelblich schimmernden Untergrund frei. »Es könnte Quarz sein!« stellte sie fest. Inzwischen hatten die Wissenschaftler den Makrokristall einigemal umschritten und sei ne Form und Größe ermittelt. Es handelte sich tatsächlich um einen acht eckigen, regelmäßigen Kegelstumpf, der je
doch in einem Abstand von eineinhalb Metern über dem Boden in einen genauso regelmäßi gen prismatischen Körper überging. Die Höhe betrug genau neuneinhalb Meter, und den glei chen Durchmesser hatte auch der umschrei bende Kreis des Achtecks am Boden. »Für einen Kristall, ganz abgesehen von einer solchen noch nie gesehenen Größe, ist die Kri stallisationsart völlig unüblich«, meinte Ira. »Nun fehlt nur noch, daß der Kegel innen hohl ist«, warf Nik ein und führte mit dem Hammer mehrere wuchtige Schläge auf die glasartige Schicht, wobei er mit der anderen Hand ein an seinem Gürtel befestigtes Mikro fon auf die staubfreie Fläche hielt. Er klopfte nachdrücklich noch einmal. »Ihr werdet es kaum glauben«, rief er, »aber es klingt tatsäch lich nicht so, als seien die Gebilde massive Kör per!« »Wir werden im unteren Bereich dieser Ob jekte den Staub restlos entfernen«, wies Ben an. »Vielleicht ergibt sich an der Übergangs kante vom Kegel zum Prisma eine Möglichkeit, Näheres über den Kristallaufbau zu ermitteln!« Unter dem Staub trat überall die milchglasar tige spiegelnde Schicht zutage. Nirgends eine Öffnung oder ein Spalt, der einen Weg nach in
nen gezeigt hätte. Auch am Nachbargebilde er gab sich nichts dergleichen. Nik war mit diesem mageren Ergebnis unzu frieden. »Ihr mögt mich einen Phantasten nen nen«, sagte er zu der versammelten Gruppe, »aber ich gewinne mehr und mehr den Ein druck, daß diese sich vermutlich über Hunder te von Kilometern erstreckende Ansammlung von genau übereinstimmenden Kegelstümpfen künstliche Gebilde sind!« »Was willst du damit sagen?« fragte Svanta. »Entweder es handelt sich um eine Kristallko lonie höherer Ordnung – oder aber, es mag ab surd klingen, hier waren vernunftbegabte We sen am Werk!« »Ich neige auch zu deiner Ansicht«, sagte Ben. »Wenn auch beide Annahmen im Augenblick rein hypothetisch sind, geben sie uns vielleicht neue Ansatzpunkte für unsere weiteren Unter suchungen. Bleiben wir einmal bei der phanta stischen Vermutung, es handele sich um Anla gen von vernunftbegabten Lebewesen, dann haben diese Quarzkegel irgendeinen Zweck er füllt. Es muß ein Sinn dahinterstecken! Wenn ich meiner Phantasie die Zügel schießen lasse, könnte die Anlage beispielsweise ein riesiges Kraftwerk zur Gewinnung von Piezoelektrizi tät sein.«
»Vielleicht sind die Riesenkristalle auch Wis sensspeicher eines gigantischen, künstlichen Denkapparates«, meinte Ives Lorin scherzhaft. »Auch ich habe einen phantastischen Gedan ken«, sagte Ira Beaux, »womöglich stehen wir einfach vor Wohnanlagen extraterrestrischer Lebewesen.« Nik Sullikow, der sich an der Unterhaltung nicht mehr beteiligt hatte und weiterhin den Quarzblock gründlich untersuchte, rief jetzt die anderen herbei: »Schaut euch mal die Übergangskanten genauer an. Ich habe hier je des Staubteilchen entfernt und einen kaum sichtbaren Spalt entdeckt. Er scheint ringsum zu verlaufen, so als wären beide Teile nicht aus einem Stück, sondern sehr genau aufeinander gepaßt!« Tatsächlich, Nik hatte eine beachtliche Ent deckung gemacht, die das vorangegangene Ge spräch nicht mehr ganz so utopisch erscheinen ließ. Er legte verschiedene Meßsonden an, aber die Instrumente schlugen nicht aus. »Soviel also steht fest«, sagte er schließlich, »irgend welche Strahlungen gehen von dem quarzarti gen Material nicht aus, und es sind auch keine anderen Energiequellen festzustellen. Ich schlage vor, wir entfernen jetzt die Staub schicht unmittelbar am Boden, wo der prisma
tische Teil endet. Vielleicht ist er auch nur auf die harte Bodenschicht aufgesetzt.« Sofort machten sich alle an die Arbeit. »Kommt hierher!« rief plötzlich Ben Darkens, »hier sind in dem harten Steinboden ebenfalls ganz feine Spalten zu erkennen, und sonder bar, daneben ist die Schicht stark abgenutzt, ähnlich wie bei einer abgetretenen Treppen stufe.« Zu fünft knieten sie am Boden und folgten Bens Finger, der den winzigen Spalt entlang fuhr. Der schmale Schlitz begrenzte eine Fläche von genau dreiundneunzig Zentimetern mal ein hundertsechsundachtzig Zentimetern, die un mittelbar vor der Quarzpyramide endete. Und tatsächlich war vor dieser Fläche der glänzen de Steinboden muldenartig abgeschürft. Es sah so aus, als berührten sich hier zwei Teile, die unterschiedlich abgenutzt waren. In der ande ren Richtung setzten sich die Vertiefungen fort, als handele es sich um einen Weg oder Pfad. Doch wer war hier gegangen, oder durch welche Bewegung war die Abnutzung entstan den? Rätsel über Rätsel! Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte Ben, daß es an der Zeit war, die Untersuchungen für dies mal abzubrechen. Fünf Stunden intensiver Be
wegung in Raumanzügen mit künstlicher At mung waren gerade noch zulässig. »Bitte, Ira, machen Sie noch einige Blitzlichtaufnahmen von den sonderbaren Objekten, dann kehren wir zum Raketokopter zurück und beenden für heute unsere Arbeiten. Alles Werkzeug und Zubehör außer der Spezialleuchte nehmen wir mit!« Mara hatte unterdessen noch schnell mit ei nem pneumatischen Spezialgerät einige Split ter der Bodenschicht losgebrochen. Dabei wa ren ihr mehrmals die Hartmetallmeißel zer sprungen. In der hermetisch abgeschlossenen Raketoko pterkabine entledigten sich die erschöpften Ex peditionsmitglieder zunächst ihrer Schutzan züge und nahmen ein flüssiges, hochkonzen triertes Stärkungspräparat zu sich. Nach Ab lauf einer halben Stunde gab Ben Darkens der Seilmannschaft das Zeichen zum Hochhieven. Die Überwindung des Kraftfeldes war bei der Aufwärtsbewegung nicht schwierig. Der Rake tokopter wurde nur horizontal etwas abgelenkt und pendelte hin und her. Den wartenden Journalisten gab Ben Darkens einen kurzen Bericht über die sonderbaren Riesenkristalle, enthielt sich aber jeder hypo thetischen Bemerkung und überreichte den
unermüdlich Fragenden lediglich zwei der von Ira Beaux angefertigten Aufnahmen. An Pawel Rinald sandte er einen schriftlichen Bericht über die wichtigsten Ereignisse. Damit ging der erste Tag zu Ende, der eine Folge phantastischer Entdeckungen einleitete.
Rätselhafte Obelisken Vierundzwanzig Stunden später waren die Strapazen der ersten Unternehmung verges sen. Alle Beteiligten erfüllte nur der eine Wunsch, so schnell wie möglich wieder hinun terzufahren in diese fremdartige, ja unheimli che Tiefe, die so viele Geheimnisse barg. Aufgrund der Erfahrungen vom Vortag nah men sie verschiedene Spezialwerkzeuge mit. So zum Beispiel einen elektrischen Widder, um die durch einen feinen Spalt vom übrigen Boden getrennte Platte zu bewegen. Außerdem eine Laserstrahlbohrkanone, um eventuell Lö cher für Ösen anzubringen. Auch war zur schnellen und großflächigen Beseitigung der überall vorhandenen Staubschicht ein fahrba rer Implorator eingeladen worden. Nik hatte aus den verfügbaren Institutsbeständen einen leistungsstarken Frequenzgenerator mit ver schiedenen Übertragungselementen bereitstel len lassen. Das heutige Unternehmen sollte zu mindest einige Antworten auf die vielen Fra gen geben. Als Ausrüstung und Zubehör wohlverstaut waren und die sechs Wissenschaftler bereits im Raketokopter saßen, erschien im letzten Augenblick Pawel Rinald. Er hatte Ben Dar
kens’ Bericht gelesen und wollte nähere Einzel heiten wissen. »Ich bitte Sie«, wandte er sich an den schon ungeduldig werdenden Ben Darkens, »mir nach Abschluß des heutigen Unternehmens einen umfassenden mündlichen Bericht zu ge ben.« Dann begann der zweite Abstieg. Die Zeit während des Abseilmanövers, das fast eine Stunde dauern würde, wollte Ben nutzen, um mehr Klarheit in das Verhältnis zu Ira Beaux zu bringen. Die Spannung zwischen ihnen und vor allem das Mißtrauen, das sie ihm gegen über unverhohlen geäußert hatte, mußten be seitigt werden. Ira selbst war unsicher geworden. Sie fühlte, nein, sie wußte, daß die Geheimnisse, die sich in der Tiefe des Mondes verbargen, auch Ursa chen für die unerklärliche Explosion im Krater Zeta in sich bergen konnten. Sie spürte auch, wie die Abneigung gegen den vitalen Ben Dar kens schwächer wurde. Eigentlich war sie froh, zu dem kleinen Forscherkollektiv zu gehören. Dennoch dachte sie immer wieder an den Tod von Sol Mento. Ohne daß sie es bemerkt hatte, war Ben neben sie getreten. »Ira, ich hatte in den letzten sechsunddreißig Stunden kaum Gelegenheit,
ein persönliches Wort mit Ihnen zu wechseln. Es ging alles ein wenig durcheinander. Was sagt ein Astronom zu solchen Überraschungen, die doch etwas ganz anderes sind als Beobach tungsergebnisse in einer Sternwarte?« »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich gerade über Ähnliches nachgedacht habe«, erwiderte Ira. »Hier ist es nicht immer möglich, Beobachtun gen gleich mit dem Computer auszuwerten und bekannte Gesetzmäßigkeiten zu extrapolieren. Ich beginne, Sie und Ihre Arbeit schon jetzt mit ganz anderen Augen zu sehen.« »Na, ich glaube, Sie übertreiben ein wenig.« Er wollte noch etwas hinzufügen, besann sich aber und sagte nur: »Ich muß zurück auf mei nen Posten.« Nach Überwindung des Kraftfeldes setzte der Raketokopter zum zweitenmal inmitten der Quarzpyramiden auf. Während Nik die üblichen Sicherheitsmes sungen durchführte, waren die verschiedenen Gerätschaften schnell entladen und verteilt. Der Frequenzgenerator wurde auf einem klei nen Transmobil zum Untersuchungsobjekt be fördert, wo ihn Ives und Nik unmittelbar ne ben der fast zwei Quadratmeter großen Boden platte aufbauten. Ira hatte bereits den Implo rator eingeschaltet und bemühte sich, von ei
ner größeren Fläche die dünne Staubschicht abzusaugen. Ein Kabel lieferte vom Kopter aus die erforderliche Energie. Dann löste Ives den Impulsgeber aus und bohrte ein Loch für eine Stabsonde. Dem kon zentrierten Photonenstrahl war die unbekann te Kristallsubstanz nicht gewachsen. Millime ter um Millimeter fraß sich eine etwa zentime tergroße Öffnung in die blaßgelbe Fläche. Ge bannt blickten alle auf die zerstörende Kraft der stark gebündelten Strahlen. Es fiel daher gar nicht sofort auf, daß die gesamte Quarzpy ramide im Rhythmus der Laserimpulse ihre Farbe veränderte. »Seht doch!« stieß Ben Darkens plötzlich her vor, »der Kristall wird dunkel, er verfärbt sich.« Jetzt sahen alle den Farbwechsel. Es wurde hell und dunkel, in immer schnellerer Folge, dann war es ganz dunkel. Die Scheinwerfer und die Mastleuchte waren zwar noch als Lichtquellen zu erkennen, aber nur wie weit entfernte Sterne im leeren Universum, sie er zeugten ringsum keine Helligkeit. Was bedeutete das? Eine fahle Finsternis um gab die kleine Expeditionsgruppe. Unwillkür lich schaltete Ben die Helmbeleuchtung ein, sie glomm auf, verbreitete aber ebenfalls kein
Licht, es blieb finster. Nik unterbrach die Energiezufuhr des Laserimpulsgebers, und so fort trat der umgekehrte Effekt ein. Mit einer bestimmten Periodizität wurde es hell und dunkel; der Wechsel erfolgte immer schneller, dann war es auf einmal wieder ganz hell, als hätte sich in der Zwischenzeit nichts ereignet. Nik war fasziniert. Als Strahlungsspezialist ahnte er, welches Experiment ihm soeben un gewollt gelungen war. Er hatte das Dunkel lichtphänomen hervorgerufen. Doch es galt jetzt nicht, persönlichen Neigungen zu folgen, sondern systematisch weiterzuforschen. Er kontrollierte zunächst die Laserbohrung; sie war bereits zwölf Zentimeter tief, hatte aber die Kristallschicht noch nicht völlig durch drungen. »Achtung! Ich schalte wieder ein«, informier te er seine Freunde. Beim gleichen Dunkelef fekt drangen die Energieimpulse immer tiefer in die schräge Fläche ein. Die Eliminationsge schwindigkeit betrug etwa drei Millimeter je Sekunde. Nach einer weiteren Minute setzte plötzlich wieder der Helldunkelwechsel ein. Vermutlich war die Quarzschicht jetzt durch drungen, und der Laserstrahl fand keinen Wi derstand mehr. Er schaltete den Photonenkon zentrator ab. Die Tiefe des Loches betrug annä
hernd einundzwanzig Zentimeter. Damit war zunächst erwiesen, daß die sonderbaren Pyra miden innen einen beachtlichen Hohlraum be saßen. Die entstandene Öffnung war zu tief, als daß man hätte hineinschauen können. Gemeinsam suchten Ben und Nik aus dem Vorrat eine ge eignete Stabsonde heraus, die sie bis zu einer bestimmten Markierung in das vorhandene Loch schoben. Nachdem Nik die Verbindung zum Frequenz generator hergestellt hatte, bat Ben Darkens die neben ihm stehenden Forscher, einige Schritte zurückzutreten, und bemerkte dazu: »Wenn wir die genaue Anregungsfrequenz er mittelt haben, können wir exakte Aussagen über die Kristallstruktur und den inneren Auf bau der Makrogebilde machen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß es bei Erreichen die ser Frequenz noch unbekannte und vielleicht auch gefährliche mechanische Erscheinungen geben kann. Denkt an das Dunkellichtphäno men, das wir eben erlebt haben!« Langsam regelte Nik die Frequenz hoch. Auf der Pyramidenseite, die der mit dem Loch für die Sonde genau gegenüberlag, hatte er einen Metallbelag angebracht, um eventuell auftre tende Schwingungsamplituden messen zu kön
nen. Lange war an keinem der vielen ange schlossenen Instrumente auch nur der gering ste Ausschlag zu beobachten. Doch jetzt, bei etwa vierhundert Hertz, begann der Amplitu denzeiger auszuschlagen, erst wenig, dann mehr. Nik brachte zur besseren Demonstrati on ein Mikrofon an einer der Oktaederflächen an, das mit den Helmkopfhörern verbunden war. Alle konnten jetzt einen hellen Brummton vernehmen. Bei einer weiteren Erhöhung der Frequenz verschwand dieser Ton jedoch wieder. Erst nachdem fünfundzwanzig Kilohertz über schritten waren, zeigte das Instrument erneut an. Nik regelte vorsichtig weiter. Plötzlich reichte die Skale des Anzeigegerätes nicht mehr aus. Die Pyramide und der Boden im Umkreis beb ten merklich. Er wollte seinen Kollegen noch ein »Vorsicht!« zurufen, doch es erstarb ihm auf den Lippen. Wie unter einem mächtigen Schlag krümmte er sich und fiel dann leblos nach vorn, in die aufgebauten Aggregate. Auch die vier übrigen Mitglieder der Expediti on, die etwa zehn Meter von der Stelle entfernt standen, fühlten, wie ihre Körper von einer Riesenkraft zusammengedrückt wurden. Svan ta sank als erste in die Knie.
Doch Nik hatte geistesgegenwärtig noch im Sturz den Hauptschalter betätigt, und die übermächtige Druckempfindung setzte schlag artig aus. Mühsam erhob sich Svanta wieder, aber Nik lag regungslos zwischen den Appara turen. Ben Darkens und die anderen liefen auf die Unfallstelle zu. In der Angst um den Freund und Mitarbeiter bemerkten sie gar nicht, daß die Bodenplatte nach unten weggekippt war und der Verletzte in der entstandenen Öffnung hing. Vorsichtig hoben sie den Leblosen auf und trugen ihn, so schnell sie konnten, zum Rake tokopter. Auf halbem Wege kam ihnen Mara, die aus sicherer Entfernung alles genau beob achten konnte, mit einer Trage entgegen. Ben Darkens war außer sich. Er war auf das Schlimmste vorbereitet. Hätte sich dieser Zwi schenfall nicht vermeiden lassen? In der Kabine wurde der Verunglückte schnell vom Raumanzug und von den übrigen Klei dungsstücken befreit. »Er lebt noch«, flüsterte Ira, »ich stelle schwache Herztöne fest.« Behutsam befestigte sie die Elektroden des kleinen Diagnosecomputers an dem Patienten. Sekunden später hatte sie das Ergebnis. Ben
Darkens versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Doch sie sagte nur: »Kommt, helft mir! Wir müssen ihn sofort an das Zwangsbeatmungsge rät und den Herzschrittmacher anschließen. Ich gebe ihm eine herzstärkende Injektion. Mehr kann ich hier unten nicht tun, wir müs sen schnellstens nach oben.« Ben Darkens, der Uwe Girnt sofort informiert hatte, gab den Befehl, den Raketokopter mit ei ner Geschwindigkeit von zwei Metern je Se kunde hochzuhieven. »Wird der Verletzte es durchstehen?« wandte er sich dann fragend an Ira. »Ich werde seinen Kreislauf während des Transportes ständig kontrollieren.« Nach ei ner Weile blickte sie Ben Darkens mit einem schwachen Lächeln an und sagte: »Sein Herz spricht auf den Schrittmacher an. Es arbeitet schon kräftiger. Ich denke, er wird durchkom men und die Ultraschalleinwirkung überwin den.« Ben Darkens drückte ihr voll Dankbarkeit die Hand. Endlich schwebte der Raketokopter über der Schachtöffnung, und Mediziner der Klinik von Lunapol transportierten den Verletzten in ei ner Pneumowanne in ein bereitstehendes Lu mobil.
Ohne daß sie sich gegenseitig dazu aufgefor dert hatten, fuhren Ira Beaux und Ben Dar kens mit. In der Klinik warteten sie schwei gend vor dem Ordinationszimmer, jeder hing seinen Gedanken nach. Ira fühlte, wie die Ver antwortung für Nik Sullikow, der in Lebensge fahr schwebte, Ben Darkens bedrückte. Dieser Mann war nicht leichtfertig, das wußte sie jetzt. Einige Zeit später kam der leitende Arzt und gab den Untersuchungsbefund bekannt: »Sie haben recht, Kollegin Beaux: Herzmuskelläh mung durch mechanische Schockwirkung, durch Ultraschalleinwirkung. Mehrere Organe sind geschädigt, er wird durchkommen, nur der Genesungsprozeß wird sehr lange dauern.« Erst nach Stunden meldete sich Ben Darkens zu der gewünschten Berichterstattung bei Ku rator Rinald. Dieser wußte bereits von dem verhängnisvollen Unfall und erkundigte sich eingehend nach dem Verunglückten. Zu der Unterredung waren außer dem Kura tor noch Urs Jassman, der indische, Kristallex perte, und Kamatu Orina, der bekannte japani sche Quantenphysiker, der die Theorien des sowjetischen Wissenschaftlers Tamm weiter entwickelt hatte, anwesend. Beide arbeiteten
in Lunapol und waren erst vor wenigen Minu ten im Kuratoriumsgebäude eingetroffen. Ben Darkens schilderte die bisherigen Unter suchungsergebnisse der von ihm geleiteten Ex pedition und ging dann näher auf die zunächst unerklärlichen Phänomene der letzten Tage ein. Die Zuhörer waren nicht wenig überrascht, als er berichtete: »Es läßt sich bereits jetzt mit Sicherheit sagen, daß die sonderbaren Objek te, die wir in einer noch nicht zu übersehenden Anzahl auf dem Boden des riesigen unterluna ren Hohlraumes angetroffen haben und die wir zunächst für Stalagmiten, dann für Makro kristalle gehalten haben, künstliche Gebilde und damit Zeugen einer uns unbekannten, au ßerirdischen Zivilisation sind.« Kurator Rinald sprang wie elektrisiert von seinem Sitz auf. »Wissen Sie denn, was Sie da sagen? Das ist die sensationellste Entdeckung der gesamten bisherigen Mondforschung! Aber nach allem, was Sie bisher dargelegt ha ben, gibt es kaum eine andere Erklärung.« Anschließend schilderte Ben genau den Ab lauf des Experimentes mit den Laserstrahlen und dem Helldunkeleffekt. Kamatu Orina hatte sich einige Notizen ge macht. Nach geraumer Zeit äußerte er sich in
seiner gewohnten ruhigen und sachlichen Art: »Es will mir zwar schwer über die Lippen, aber von Ursache und Wirkung her gesehen, muß das quarzähnliche Material der sagenhaften Mondbewohner bei Einwirkung einer be stimmten Energiedosis Antiphotonen aussen den. Jedenfalls ist die Schilderung einfach phantastisch und erinnert mich an Darstellun gen utopischer Romanschriftsteller, deren Bü cher ich in meiner Jugendzeit mit größtem In teresse gelesen habe. Doch fahren Sie fort!« Ben Darkens berichtete nun über die Versu che mit den unterschiedlichen Anregungsfre quenzen. Einmal über den Effekt der Schall verstärkung im Vierhunderthertzbereich und über die lebensgefährliche Ultraschalltransfor mation, die Nik Sullikow fast das Leben geko stet hätte. Urs Jassman sagte hierzu: »Eine derartige Schwingfreudigkeit, wie sie bei Ihrem Experi ment auf eine relativ einfache Art und Weise erzielt wurde, ist bisher unbekannt. Schon die Größe und Wandstärke der vorgefundenen Kristallplatten einschließlich ihrer Pyramiden form lassen darauf schließen, daß es sich um künstliche Gebilde handelt.« Pawel Rinald dankte Ben Darkens für den ex akten Bericht und bemerkte abschließend:
»Diese Phänomene – Schwerkraftgegenfeld, Zivilisationsüberreste in der Tiefe des Mondes, künstliche Makrokristalle, die bei Laserbe strahlung Antiphotonen emittieren und bei ei ner bestimmten Anregungsfrequenz lebensge fährliche Ultraschallwellen abgeben – sind fast unglaublich und dennoch Realität. Ich schlage vor, daß wir uns morgen gemeinsam mit der Expeditionsgruppe an Ort und Stelle selbst von diesen sensationellen Entdeckungen überzeu gen. Sie, Kamatu Orina, möchte ich bitten, der Expedition, bis Nik Sullikow wieder gesund ist, den Lunauten Wagner zur Verfügung zu stel len. Ich danke Ihnen für heute. Wir sehen uns morgen früh, sieben Uhr dreißig Erdzeit, am Einstiegsschacht des ehemaligen QRT wieder!« Ehe Ben Darkens seine kleine Institutswoh nung aufsuchte, vergewisserte er sich in der medizinischen Station noch einmal, wie es Nik Sullikow ging. Es bestand keine Lebensgefahr mehr. Ein Besuch des Patienten war jedoch noch nicht möglich. Am nächsten Tag hatte sich außer Pawel Ri nald und den beiden Wissenschaftlern auch Fred Wagner an der Schachtöffnung eingefun den. Wagner freute sich, an den zwar gefährli chen, aber äußerst interessanten Aufgaben mitarbeiten zu können. Er hatte bereits an
Landungen auf dem Mars und der Venus teil genommen. Sein Spezialgebiet war die Erfor schung der Oberflächenstruktur von Planeten und deren Trabanten. Einen Hohlraum dieser Abmessungen hatte er noch nie gesehen. Der Raketokopter war inzwischen wieder be laden worden, und die neun Mitglieder der Ex pedition stiegen ein. Dann begann der Abstieg, der für Ben Darkens und sein kleines Wissen schaftlerkollektiv schon zur Routine geworden war. Die vier neuen Teilnehmer mußten sich dagegen erst mit den ungewöhnlichen Bedin gungen vertraut machen. Sie diskutierten leb haft, als im Licht der senkrecht eingestellten Scheinwerfer die unübersehbare Anzahl der Kristallkegel sichtbar wurde, die durchaus Überreste einer prälunaren Zivilisation sein konnten, wenngleich diese Vorstellung noch hochgradig utopisch anmutete. Als sie nach etwa einer Stunde aufgesetzt hat ten und die unerläßlichen Sicherheitsprozedu ren vollzogen waren, schritten sie rasch den rätselhaften Oktaederpyramiden entgegen. Nachdem Ben die Spezialleuchte eingeschaltet hatte, ließ sich die phantastische Szene besser überblicken. Neben dem Frequenzgenerator klaffte ein fast zwei Quadratmeter großes Loch. Die starke Ultraschalleinwirkung hatte
vermutlich den Öffnungsmechanismus in Tä tigkeit gesetzt. Bei dem Unfall von Nik und der damit verbundenen Aufregung hatte keiner auf die geöffnete »Falltür« geachtet. Es war jetzt deutlich zu erkennen, daß diese Öffnung kein Gebilde der Natur war, sondern daß hier Lebe wesen mit menschenähnlichen Gewohnheiten und Vorstellungen gestaltend gewirkt hatten. Von der Oberkante der Öffnung führten zwei Treppen mit sehr kleinen Stufen in die Tiefe und endeten unter dem prismatischen Teil des Kegels. Von dort ging es weiter ins Innere. »Was mag dort drin sein?« fragte Kurator Ri nald nachdenklich. »Ives und ich werden angeseilt in das Innere des Kristallstumpfes vordringen. Fred Wagner postiert sich als Verbindungsmann am Ende der Treppe«, sagte Ben Darkens. Nun stiegen sie vorsichtig die siebzehn klei nen Treppenstufen hinab und traten durch den Rahmen einer türartigen Öffnung. Gedämpfte Helligkeit umgab sie. Die Wände und die Decke des Raumes, in dem sie sich befanden, waren aus demselben gelblichen milchglasarti gen Material wie der gesamte Kegel. Von den Abmessungen her war er ein Segment des acht eckigen Körpers; keine der vier Ecken bildete einen rechten Winkel. Erstaunlich war die
Höhe des kleinen Raumes, die etwa sechs bis sieben Meter betrug. Während die innere und die beiden Seitenwände senkrecht nach oben verliefen, hatte die vierte, äußere Wand die Schräge des achteckigen Kegelstumpfes. Ben und Ives schauten sich um. Der Boden, auf dem sie standen, war elastisch, ja weich. Ihre breiten Mondschuhe waren fast einen Zentimeter tief eingesunken. Der schiefwinkli ge Raum war leer und wirkte fremdartig, bei nahe unheimlich. Links von der Eingangstür sahen sie eine Ni sche, die etwa einen halben Meter im Quadrat maß und eineinhalb Meter hoch war. Die hin tere Wand war wabenförmig perforiert. An diese erste Nische schlossen sich weitere fünf an, die jedoch keine Perforation besaßen, da für aber am oberen Rand einen hakenartigen Bügel. Die gegenüberliegende Wand zeigte ähnliche Ausbuchtungen. Bei einigen waren Boden und obere Begrenzung mit einer Viel zahl kleiner Löcher versehen. In der rechten Ecke war, etwa ein Meter vom Boden entfernt, eine quadratische Platte in die Wand eingelas sen. Ben schritt darauf zu und wischte mit dem Raumhandschuh über die Staubschicht. Ein Ausruf des Erstaunens entfuhr ihm, denn dar
unter glänzte eine spiegelnde Fläche. In der Mitte des Raumes waren auf dem Bo den pilzartige Erhebungen in einem Kreis an geordnet. Ives trat vorsichtig darauf und schreckte im selben Augenblick zurück, denn der Boden öffnete sich unversehens, und eine muldenartige Liege klappte heraus. »Du, ich glaube«, stellte er lächelnd fest, »wir sind in eine. Kindersiedlung sagenhafter Mondbewohner geraten. Alles hier ist für un sere Begriffe viel zu klein, oder sollten jene Se leniden nur halbe Menschengröße gehabt ha ben?« »Ives, du hast die richtige Bezeichnung gefun den«, fiel ihm Ben ins Wort, »wir werden die Lebewesen, die hier gewohnt haben, Seleniden nennen.« Nun gingen sie auf die der Treppe gegenüber liegende Wand zu, wo ein schmaler Spalt die Umrisse eines Durchgangs vermuten ließ. Als sie unmittelbar davorstanden, verschwand das markierte Stück ohne ihr Zutun im Boden und gab ihnen den Weg frei zu einem angrenzen den, wie es schien, zentralen Raum. Vorsichtig passierten sie die Wandöffnung und standen nach wenigen Schritten in der Mitte eines gleich hohen achteckigen Zimmers von etwa fünf Meter Durchmesser. Sicher handelte es
sich um einen Aufenthaltsraum, denn ringsum an den Wänden befanden sich trogartige Lie gen, die schon Bestandteil des vorigen Raumes gewesen waren. Eine Achteckseite war frei ge lassen worden, dort zeigte sich in etwa fünfzig Zentimeter Höhe eine in die Wand einschieb bare Platte, die, wenn sie nicht so niedrig ge wesen wäre, an einen Tisch erinnert hätte. Ben, der nachdenklich vor dem fremden und eigentlich doch so vertrauten Mobiliar stehen geblieben war, entdeckte – vielleicht gerade, weil er sich diesen Gegenstand als Tisch vor stellte – rechts und links in der Wand heraus ziehbare schmalere Platten. Sie waren mit ei nem elastischen Bezug versehen, der jetzt schlaff herunterhing und sicherlich einmal un ter Druck gestanden hatte. Eine Vielzahl von Wandbehältnissen aus gel bem Glas standen leer. Es war anzunehmen, daß dort irgendwelche Bedarfsgegenstände ih ren Platz gehabt hatten. »Ich glaube, wir können die anderen herbei rufen«, sagte Ben nach einer Weile, »das Be treten der Räume scheint ungefährlich zu sein.« Ives machte auf dem elastischen Boden schwerfällig kehrt, um die wartenden Expediti onsmitglieder zu benachrichtigen. Doch die
Öffnung, durch die sie eingetreten waren, hat te sich unbemerkt wieder geschlossen. So nahe er auch an die Tür heranging und so sehr er daran rüttelte, sie bewegte sich nicht. Die Sila midschnur, die sie mit den anderen verbunden hatte, war wie mit einem Messer durchge schnitten. »Das müßten sie doch draußen bemerkt ha ben!« rief Ben Darkens, der neben dem ratlo sen Ives stand, vorwurfsvoll, »aber auch die Funksprechverbindung scheint unterbrochen zu sein. Ein verteufeltes Material, dieser quarzartige Werkstoff, und noch dazu eine verflixte Mechanik. Was machen wir jetzt?« Einer Eingebung folgend, hielt er das zum Mondanzug gehörende Berührungsmikrofon an die widerspenstige Tür. »Sie klopfen von der anderen Seite. Sicher haben sie Angst, uns sei etwas zugestoßen«, sagte er, indem er sei nerseits die Klopfzeichen wiederholte. »Der Türmechanismus scheint nicht mehr ganz in Ordnung zu sein, egal, ob er nun von Fotozel len, Infrarotsensoren, Bioströmen oder ande ren Initiatoren ausgelöst wird, wir haben für umfangreiche Untersuchungen jetzt leider kei ne Zeit. Wir müssen hier raus.« Spontan löste er den an seinem Gürtel hängenden Hammer, der zur Ausrüstung der Selenologen gehörte.
»Sei vorsichtig! Du weißt, das Material hat seine Tücken«, bemerkte Ives, als Ben zu ei nem kräftigen Schlag ausholte. Durch die absolute Luftleere wurde nicht das geringste Geräusch übertragen, als das Metall mit voller Wucht die Platte traf. Die Wirkung war jedoch ganz anders, als es die beiden For scher vermutet hatten. Die dickwandige, glas artige Scheibe bog sich elastisch durch und schleuderte den Hammer aus Bens Hand. Das Werkzeug flog in hohem Bogen an die gegen überliegende Wand, von der es gleichfalls zu rückgeworfen wurde. »Auf diese Weise kommen wir hier nicht wie der heraus. Da hilft vermutlich nur ein Laser strahl. Hoffentlich haben das unsere Freunde ebenfalls festgestellt!« meinte Ben, der keiner lei Beunruhigung zeigte. Wie zur Bestätigung seiner Vermutung ver nahm er wenige Augenblicke später über sein angelegtes Berührungsmikrofon das Zischen und Brodeln eines angesetzten Laserstrahles. Schnell traten sie zur Seite, um nicht verletzt zu werden, wenn der konzentrierte Energie strahl die Tür durchstieß. Aber es dauerte fast eine Stunde, bis eine entsprechend große Öff nung entstanden war und die übrigen Expediti onsmitglieder den Raum betreten konnten.
»Ein relativ harmloser, aber dennoch sympto matischer Zwischenfall«, stellte Kamatu Orina fest. »Es besteht jedoch kein Zweifel, dieses Kristallhaus, wenn ich es so nennen darf, und die zahlreichen ähnlichen Bauwerke sind Zeu gen einer uns unbekannten Kultur, die extra terrestrisch sein muß, da vor dem letzten Drit tel des zwanzigsten Jahrhunderts noch nie ein Erdenbewohner den Mond betreten hat. Und wie seinerzeit die Ergebnisse der bemannten und unbemannten Mondforschung viele bis dahin gültige Theorien korrigiert haben, so wird das, was wir heute gesehen haben, wie derum völlig neue Betrachtungsweisen auslö sen. Seit wenigen Tagen steht fest, daß der Mensch noch mindestens einen Bruder in un serem Sonnensystem hatte.« Dann gingen die Expeditionsmitglieder daran, die durch winzi ge Spalten angedeuteten Türen zu den angren zenden Räumen mit dem Laserstrahl zu öff nen. Ein Antiphotoneneffekt trat dabei nicht wieder auf. Vielleicht war die Materialstärke zu gering. Nun war der Zugang zu allen Räumen frei. Die Forscher verteilten sich in dem Rundbau und betrachteten mit einem sonderbaren, nie gekannten Gefühl die Zeugnisse einer fremden Zivilisation, die sicher nichts mit der Erde und
der Entwicklung des Menschen zu tun hatte. Svanta Arenson, die dunkelhaarige Schwedin, die an kosmogonischen Problemen arbeitete, und Ira Beaux befanden sich in einem schma len Raum, der dem Eingang gegenüberlag. Svanta war etwas romantisch veranlagt. Sie hatte jetzt Ira umfaßt, ja, sie zitterte ein wenig vor Aufregung. Vielleicht empfand sie die Ein maligkeit dieser Situation ganz besonders. »Weißt du, Ira, ich kann mir einfach nicht denken, daß diese Fremden, deren Wohnbau ten sich gar nicht so sehr von den unsrigen un terscheiden, nicht irgendwelche Gebrauchsge genstände besessen haben sollten. Ganz davon zu schweigen, daß ich mir nicht erklären kann, wohin die Bewohner verschwunden sind. Was meinst du?« Ira war, während Svanta sprach, ganz nahe an eine der Wände herangetreten. »Sieh doch!« Erschrocken wandte sie sich nach Svanta um. An mehreren Stellen der glatten Wand glom men farbige Reflexe auf, die immer deutlicher wurden. Gebannt starrten beide auf die leuch tenden Kreise, die Form und Gestalt annah men. Ja, es waren bunte Bilder, das stellten sie jetzt fest. Bilder von sonderbaren Tieren, die sie nie gesehen hatten.
Sie riefen die anderen Wissenschaftler her ein. Auf elf Abbildungen zeigten sich geradezu furchteinflößende Ungeheuer: zottige bärenar tige Vierbeiner mit großen runden Augenhöh len, in denen aber die Augen zu fehlen schie nen, und eckige, gepanzerte krebsähnliche Vielbeiner, die scheinbar keinen Kopf hatten. Als sie zurücktraten, wurden die Bilder un deutlicher, es handelte sich also um einen An näherungseffekt. »Entweder sind es Aufnahmen einer frühen Mondfauna oder aber Bilder von Tieren eines Leben tragenden anderen Planeten«, sagte der Japaner. Die übrigen Wände des Rundbaus zeigten die sen Bildereffekt nicht. »Ob in allen Wohnpyramiden auch solche Bil derzimmer existieren?« fragte Svanta. »Wir haben noch etwas Zeit«, sagte Kurator Rinald nach einem Blick auf die Uhr. »Ich den ke, wir untersuchen weiter selenidische Be hausungen. Wer hätte geahnt, was sich hier in den Tiefen des für eine tote Welt gehaltenen Erdtrabanten seit Jahrtausenden verbirgt!« Nachdem sie sich vollzählig wieder vor dem Bauwerk versammelt hatten, gab Ben Darkens seine Anweisungen. »Wir nehmen uns die
zehn nächsten Hauspyramiden vor und treffen uns etwa nach dreißig Minuten an dem darun terliegenden langgestreckten rechteckigen Quarzbau wieder!« Damit meinte er eines der bisher völlig außer acht gelassenen quaderförmigen Bauwerke, die inmitten der Obelisken standen. »Wir bilden drei Gruppen! Innerhalb der Gruppe anseilen!« fügte er hinzu.
Spuren im Mondstaub Die Forscher schritten vorsichtig in die ange gebene Richtung. Messungen an weiteren Quarzgebäuden ergaben völlige Übereinstim mung der Außenmaße, und auch die Eingänge befanden sich überall an der gleichen Stelle. Die Gruppe mit Ben Darkens, Pawel Rinald und Fred Wagner näherte sich soeben der neunten Pyramide. Das Licht der zentralen Xe nonlampe war hier schon etwas schwach. Ben schaltete deshalb die Helmbeleuchtung ein und neigte den Kopf, um die zusätzliche Leuchtwirkung zu überprüfen. Da! Zuerst glaubte er einer Halluzination zum Opfer ge fallen zu sein. Oder waren es Wunschgebilde seiner überreizten Nerven? Direkt vor ihm, quer zu seiner Bewegungs richtung, waren in der dünnen Staubschicht, die überall den Höhlenboden bedeckte, die un scharfen Konturen irgendwelcher Abdrücke zu sehen. Es waren zwei Reihen von Markierun gen, die nebeneinanderher liefen und von der einen Wohnpyramide bis zur gegenüberliegen den reichten, wo sie sich in der Dunkelheit ver loren. Ben kniete nieder und berührte mit dem Raumhandschuh die Zeichen einer fremden
Welt. Eine ungeheure Erregung hatte sich sei ner bemächtigt. Was mochten das für Spuren sein, die da verhältnismäßig deutlich und un widerlegbar in der fahlen Staubschicht zu er kennen waren? Kurz darauf hatten ihn seine beiden Begleiter erreicht und blieben stehen. Jetzt erkannten auch sie, was er am Boden un tersuchte. Ben hatte sich aufgerichtet und gab über Funk eine Mitteilung an die übrigen Expeditionsmit glieder: »Haben Abdrücke im Mondstaub ent deckt. Sie verlaufen rechtwinklig zu meiner Position. Beim Näherkommen Vorsicht, damit die Spuren nicht verwischt werden!« Das war eine Nachricht! So schnell es die Raumanzüge erlaubten, eilten die anderen Ex peditionsmitglieder herbei. Nun standen auch sie vor den rätselhaften Spuren und starrten wie gebannt auf die Zeichen außerirdischen Lebens. Die einzelnen Spurteile glichen einer liegen den Acht, die aus zwei unterschiedlich großen Kreisen bestand. Zum Vergleich setzte Ben sei nen Fuß neben einen solchen Abdruck. Als er ihn wieder hob, konnte man deutlich den Grö ßenunterschied erkennen. Er war fast um die Hälfte länger als solch ein unbekanntes Zei chen. Trotzdem waren alle davon überzeugt,
daß es sich um Fußspuren handelte, daß es aber keine direkten Fußabdrücke, sondern Spuren von Schuhwerk sein mußten. »Wenn wir von unserer Fußbekleidung ausge hen, dann müßte der kleinere Kreis der Absatz sein. Das wiederum würde heißen, daß sich die Lebewesen oder Roboter – oder was es immer gewesen sein mag – von links nach rechts fort bewegt haben«, stellte Ives Lorin fest. »Ich würde trotzdem empfehlen, daß wir zwei Gruppen bilden und die Spuren in beiden Richtungen verfolgen.« »Das ist völlig richtig«, meinte Ben. »Befolgen wir also Ives’ Vorschlag!« Jetzt erhob sich Fred Wagner, der die ganze Zeit über neben einem der Abdrücke gekniet hatte. »Ich habe versucht, das Alter der Spuren zu bestimmen«, sagte er. »Die Spuren sind so wenig von Mondstaub bedeckt, daß sie nur jün geren Datums sein können. Die Staubschicht auf den Quarzflächen der Wohnpyramiden ist viel stärker. Wobei ich bemerken möchte, daß wir tief unter der Mondoberfläche für die Staubbildung andere Ursachen suchen müssen als oberhalb, wo es sich tatsächlich um den in Jahrmillionen niedergegangenen kosmischen Staub handelt. Nach meinen bisherigen Erfah rungen in bezug auf allgemeine Staubschicht
bildung würde ich sagen, daß diese Spuren höchstens einige tausend Jahre alt sind.« Schnell hatte Ben die Expedition in zwei Gruppen geteilt, die eine, die den Spuren nach links folgen sollte, führte Fred Wagner, die an dere Gruppe übernahm er selbst. Man wollte in ständiger Funkverbindung bleiben und den Fährten in beiden Richtungen etwa eine Stun de lang folgen. Noch immer schritten sie neben der Doppel spur. »Seht!« rief Ben plötzlich, der etwas vor ausgegangen war, »die Abdrücke des Individu ums, das auf der rechten Seite gelaufen ist, verändern sich. Sein Schritt wird schleppend und unsicher. Die Spuren gehen ineinander über!« Ja, es war deutlich zu erkennen, die Spuren verwischten sich auf einer etwa zwanzig Meter langen Strecke, dann führte nur noch eine Fährte weiter. Was konnte sich vor Tausenden von Jahren hier ereignet haben? Offensichtlich hatte jemand seinen Begleiter tragen müssen. Ben hatte zweifellos recht, als er sagte: »Die Spur wird sicher bald enden.« Der Abstand der Eindrücke wurde kleiner. Da! Ira, die dicht hinter dem Chefselenologen ging, hatte es bereits bemerkt. Vor der über nächsten Wohnpyramide hörte die Spur plötz
lich auf. Die Tür war noch hochgeklappt. In diesem Quarzobelisk lag wahrscheinlich die Lösung des ungewöhnlichen Rätsels. Ben rief zunächst über Sprechfunk die andere Gruppe herbei, von der sie jetzt etwa zwei Kilo meter trennten. Man wollte diese Wohnpyra mide gemeinsam erforschen. Es verging einige Zeit, bis Fred Wagner mit seiner Gruppe die Strecke zurückgelegt hatte. Unterdessen war Mara Bhali mit dem Raketo kopter näher an das Gebäude herangefahren. Die Scheinwerfer wurden auf den Obelisken gerichtet und alle Vorbereitungen getroffen. Sobald alle beisammen waren, ordnete Ben Darkens an, daß sie sich für eine halbe Stunde im Raketokopter von den schon Stunden wäh renden Strapazen erholen sollten. Das ent sprach so gar nicht der Situation, aber Dar kens duldete keinen Widerspruch. Als man im Inneren des Fahrzeugs die Schutz helme abgenommen hatte, kam jedoch kein entspannendes Gespräch zustande. Das war auch verständlich, denn jeder hing seinen Ge danken nach und brannte darauf, zu erfahren, welche Geheimnisse die Quarzpyramide offen baren würde. Ohne besondere Aufforderung waren daher nach Ablauf der halben Stunde alle wieder vor dem Bau versammelt.
Ben Darkens hatte Anweisung gegeben, meh rere verschließbare Metallcontainer mitzuneh men, um eventuelle Funde bergen zu können. Ira Beaux hielt die Kamera schußbereit. Während die übrigen Expeditionsmitglieder den relativ kleinen Einstiegsschacht umstan den, kletterten Ben, Kurator Rinald und Ira vorsichtig in die Tiefe. Es war die gleiche Wohnpyramide, wie sie vor Stunden in einer anderen Region der unübersehbaren Seleni densiedlung untersucht worden war. Die erste Zwischentür stand wie die horizontale Ein gangsplatte offen. Um Zwischenfälle zu ver meiden, klemmte Ben ein passendes Metall stück in die Türöffnung. Im Hintergrund des nun vor ihnen liegenden Raumes glänzte es im Schein der Helmleuchten metallisch. »Bitte erst einige Aufnahmen, Ira«, sagte Ben, »bevor wir durch unser Nähertreten irgend et was verändern könnten!« Im grellen Blitzlicht waren am Boden deutlich zwei Gestalten zu erkennen. Die Forscher nä herten sich ihnen vorsichtig. »Das sind doch Skaphander«, murmelte Pa wel Rinald. Vor ihren Füßen lagen zwei kugel runde, zur Hälfte durchsichtige Schutzhelme. Die sich daran anschließenden Metallanzüge waren durchlöchert und zerfallen. Darunter
schimmerte es weiß, vermutlich von Skelettre sten. Bei der einen Gestalt befand sich ein noch guterhaltener Kosmonautenschuh. Die Lauf fläche war nach oben gekehrt und zeigte deut lich die Form einer großen Acht. Es bestand kein Zweifel, die beiden Toten hatten jene Spu ren hinterlassen. Vor den erschütterten Lunauten lagen die sterblichen Überreste von zwei Kosmonauten außerirdischer Herkunft, die in diesem Quar zobelisk vor sehr langer Zeit ihr Ende gefun den hatten. Wie, warum und wodurch würde sicher ein Rätsel bleiben! Wahrscheinlich be fanden sie sich schon viele Jahrtausende hier. »Wir sollten mit dieser Vermutung vorsichtig sein«, warf Ira ein, »die Reste einer Atmosphä re, die Nik Sullikow bei seinen Messungen nachgewiesen hat, könnten eine mögliche Ver wesung beschleunigt haben.« Es dauerte nicht lange, dann umstand die ge samte Expeditionsgruppe die Zeugen einer an deren Welt. Keiner konnte sich der Größe des Augenblicks entziehen, niemand sagte ein Wort. Erst nach Minuten löste sich die Spannung und wandelte sich in Entdeckerstolz. Seit dem Augenblick, als die Forschergruppe jene Spu ren gefunden hatte, war jeder auf eine Lösung
der rätselhaften Erscheinung vorbereitet ge wesen. Nun jedoch waren sie Augenzeugen ei nes einmaligen Fundes, dessen Auswirkungen auf die Mondforschung noch keiner von ihnen übersehen konnte. »Kommt«, unterbrach Kurator Rinald endlich das Stirnmengewirr, »wir wollen die sterbli chen Überreste der beiden fremden Wesen vorsichtig in die Container legen!« Ives Lorin öffnete die zwei großen Doppelschalen aus dünnem beschichtetem Edelstahl und rückte sie so nahe wie möglich an die toten Kosmo nauten heran. Behutsam legte man die Ske letteile des ersten Toten, die nur noch durch den beschädigten Raumanzug zusammenhiel ten, in den Metallbehälter, der daraufhin her metisch verschlossen wurde. Dann wurden die Überreste des zweiten extraterrestrischen Sternenfahrers, der zusammengekauert in der Ecke hockte, vorsichtig nach vorn befördert. Ives und Fred Wagner wollten die Relikte gera de in den zweiten Behälter betten, da fiel etwas Glänzendes zu Boden. Urs Jassman bückte sich danach und hielt eine spiegelnde Metallplatte von etwa zehn Zentimeter Breite und zwanzig Zentimeter Länge in der Hand. Die Stärke betrug höch stens einen Millimeter. Da man auf dem Mond
kein rechtes Gefühl für Gewichte hatte, machte er außerdem noch einige Biegeproben und stellte dann fest: »Es wird Titan oder Platin sein!« Als er die Platte genauer ansah, entfuhr ihm ein Ausruf des Erstaunens. »Was ist mit der Platte?« fragte Ben Darkens gespannt. »Sie ist mit winzigen Darstellungen übersät, die wie Oszillogramme von Sinusschwingun gen aussehen. Hier, überzeugt euch selbst.« Das metallene Blatt ging von Hand zu Hand. Tatsächlich, es enthielt irgendwelche Aufzeich nungen! Waren es Meßwerte, ein Programm kode, oder sollten es vielleicht Schriftzeichen sein? Gerade wollte Ira Beaux, die als letzte in der Reihe stand, den Fund an Urs Jassman zurück geben, als ihr Blick auf die Rückseite fiel. Da waren ja noch mehr, noch andere Zeichen ein graviert oder -geätzt. Neugierig drängten die anderen hinzu. »Das sind ja Hieroglyphen oder primitive Bil der«, sagte Ira jetzt, die die Platte noch immer in der Hand hielt. Die Rückseite war durch einen Querstrich in zwei gleich große Hälften geteilt. Was sollten die vielen unterschiedli chen Kreise oder Kugeln nur darstellen? Die Phantasie der Betrachter schien überfordert
zu sein. »Kommen Sie, Ira«, wandte sich Ben Darkens schließlich an die aufgeregte Astronomin, »le gen wir die Platte zu den anderen Überresten. Es muß ja nicht alles an Ort und Stelle geklärt werden. Wir sind alle ein wenig nervös.« Trotz der ungewöhnlichen Situation wurde es Ira bewußt, wie angenehm sie die Stimme die ses Mannes berührte, ja beruhigte. Da war nichts von Überheblichkeit oder Gegnerschaft zu spüren. »Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was die Zei chen bedeuten!« erwiderte sie zögernd. »Sie stellen unser Sonnensystem auf zwei Arten dar. Ja, bestimmt ist es so – schaut her! Der große Kreis in der Mitte mit dem Strahlen kranz bedeutet die Sonne. Dann folgen die ein zelnen Planeten, die kleinen Punkte sind die Monde. Nur unser Mond, der Erdmond, ist größer dargestellt. Die zweite Skizze zeigt die gleiche Anordnung, nur hat hier der Erdmond auch einen Strahlenkranz. Aber unser Mond als zweite Sonne? Das ist unverständlich!« Ira hatte sich richtig in ihre Hypothese hineinge steigert. Alle hörten ihr aufmerksam zu. Ben Darkens stellte das mit einem leichten Schmunzeln fest. In den wenigen Tagen, die das kleine Kollektiv
erst zusammenarbeitete und die eine er drückende Fülle von Entdeckungen und Wahr nehmungen brachten, hatte sich Ira Beaux als Persönlichkeit durchgesetzt. Niemand dachte mehr an die erklärenden Worte von ihm, mit denen er zu Beginn des Unternehmens um Verständnis gebeten hatte, daß die Astronomin Beaux mit von der Partie sein würde. Ihr ruhi ges Wesen, ihre offene und ehrliche Art und besonders ihre Bereitschaft, jederzeit mit zu zupacken und keine Arbeit zu scheuen, hatten dazu geführt, daß jeder sie gern mochte. Sie war eine Forscherin mit Phantasie und Logik. Ben Darkens betrachtete Ira mit Wohlwollen. Ihr Gesicht unter dem Schutzhelm hatte einen anderen Ausdruck bekommen. Trotz der Stra pazen der letzten Tage sah sie gut aus. Die Blässe und die Apathie waren gewichen. Er mochte sie, ja, er konnte sie sich nicht mehr wegdenken aus der kleinen Gruppe, die in den letzten Stunden so viel erlebt hatte. Ira spürte nichts von seinen Gedanken; sie fuhr aufgeregt in ihren Betrachtungen fort: »Auch die Bedeutung der Skizze auf der unte ren Hälfte meine ich erkannt zu haben. Es ist meines Erachtens ein Lageplan, ein Ausschnitt von der Höhlenstadt. Die Quadrate mit den diagonalen Querstrichen sind die Obelisken
häuser, die Rechtecke jene von uns noch nicht untersuchten Quadergebäude.« Ben Darkens, der unmittelbar hinter ihr ste hengeblieben war und die Zeichen auf der Plat te über ihre Schulter sah, nickte beifällig. »Sie haben völlig recht, darf ich mal fortfahren?« – Ira reichte ihm das ungewöhnliche Schrift stück. – »Die beiden Kreuze an dieser Stelle kennzeichnen zweifellos die Stelle, an der wir die beiden selenidischen Raumfahrer gefun den haben. Von hier ist auf der Skizze ein Bo gen mit Richtungsmarkierung zu einem der Quadergebäude zu sehen.« Er wandte sich um und zeigte nach halbrechts. »Es wird dort sein. Sicher will der Tote auf etwas aufmerksam ma chen!« Plötzlich bückte sich Kamatu Orina. Wo der zweite fremde Körper in Hockstellung aufge funden worden war, lag ein kleiner zylindri scher Gegenstand, der einer Metallröhre äh nelte. Ben betrachtete ihn eingehend. »Ich würde sagen, es handelt sich um ein Schreibgerät«, sagte er. »Hier«, er hob das eine Ende der Röh re, »befindet sich ein dünner Metallstift wie bei einem Kugelschreiber.« »Könnte da nicht ein Zusammenhang beste hen?« schaltete sich Urs Jassman ein. »Sollten
die Oszillogramme auf der Metallplatte nicht doch Schriftzeichen sein, die der Unbekannte mit diesem Erosionsstift geschrieben hatte?« Die Metallplatte war sicher ein Skriptum au ßerirdischer Herkunft. Wie viele Schriftzei chen unermüdliche Archäologen auch schon auf der Erde gefunden hatten, diese Titanoder Platinplatte war einmalig. Man stellte fest, daß die »Schwingungsschrift« ganz plötzlich aufhörte, mitten in einem Bogen. Der Tod hatte den Schreiber anscheinend überrascht. Was hatte der Angehörige einer fremden Zivilisation hier einige tausend Meter unter der Mondoberflä che in seinen letzten Minuten niedergeschrie ben? Für wen war die Nachricht oder Aufzeich nung bestimmt? Ben blickte auf die Uhr. Es war höchste Zeit, in den Raketokopter zurückzukehren. »Freun de, wir müssen unser ereignisreiches Unter nehmen für heute beenden! Ives und Fred übernehmen den Transport der Behälter; Urs Jassman kümmert sich um die Metallplatte und den Erosionsstift. In fünfzehn Minuten be ginnt der Aufstieg!« lautete seine Anweisung an die Expeditionsteilnehmer. Alle waren froh, daß der Raketokopter so nahe, keine dreihun dert Meter entfernt, stand. Als sie eingestiegen
waren und die Schutzhelme der Raumanzüge abgenommen hatten, begannen sie neue Hypo thesen aufzustellen. Ein Problem wurde im mer wieder erörtert: die außerirdischen Lebe wesen. »Ives hat die Bewohner dieser unterlunaren Siedlung Seleniden genannt«, faßte Pawel Ri nald die Gespräche zusammen. »Ich denke, wir behalten diese Bezeichnung bei. Alles, was wir in den Wohnpyramiden an noch vorhandenen Einrichtungsgegenständen gefunden haben, ist für unsere Begriffe klein. Auch die beiden Kör per, in den zerstörten Raumanzügen wirken klein, ebenso ihre Schuhe und die hinterlasse nen Spuren. Man kommt zwangsläufig zu dem Schluß, daß es sich bei den von uns gefunde nen Überresten tatsächlich um solche von be sonders kleinen, menschenähnlichen Wesen handelt. Ungeklärt bleibt jedoch, von woher und warum diese zwei Fremden in die längst entvölkerte Stadt oder Siedlung zurückgekehrt sind. Gut, wir besitzen vermutlich eine mit den Schriftzeichen dieser Wesen bedeckte Metall platte. Wahrscheinlich wird erst die Entziffe rung der unbekannten Schrift Licht in das Dunkel des Entdeckten bringen. Deshalb wer de ich mich sofort mit der Weltföderation in Verbindung setzen. Die Tragweite dieser Ent
deckung ist so gewaltig, daß wir gemeinsam handeln müssen.« Der Raketokopter hatte inzwischen die Hälfte der Strecke zurückgelegt. »Wie sollen nun unsere Arbeiten hier unten weitergehen?« wollte Ben Darkens von Pawel Rinald wissen. »Ich bin der Meinung«, antwortete der Mond kurator, »daß in drei Richtungen weitergear beitet werden muß. Ihre kleine Forschungs gruppe wird die Selenidenstadt weiter unter suchen, insbesondere den auf der Platte ange gebenen langgestreckten Rechteckbau. Ich denke, es ist ebenfalls erforderlich, die Fuß spuren bis zu ihrem Beginn zurückzuverfol gen, damit wir erfahren, wie und wo die frem den Raumfahrer in den sublunaren Hohlraum eingedrungen sind. Es ist auch unerläßlich, Bruchstücke des Oktaedermaterials mit nach oben zu bringen, um diese sonderbare Kristall anordnung gründlich im Labor zu analysieren. Die von Nik Sullikow ausgemachte radioaktive Quelle in der Deckenschicht ist noch nicht un tersucht. Auch für die Schwerkraftanomalie gibt es keine einleuchtende Erklärung. Schließ lich werden bald Expertenkollektive hier ein treffen, da mit unseren Kräften die weiträumi ge Selenidenstadt erst in Jahrzehnten durch
forscht werden könnte. Jeder wird angespannt arbeiten müssen. Trotzdem empfehle ich, mor gen für das gesamte Kollektiv einen Ruhetag einzulegen. Die Anstrengungen der letzten Zeit waren außergewöhnlich!« Endlich, die Minuten schienen sich endlos zu dehnen, hatte der Raketokopter auch das letzte Stück, den künstlichen Einstiegsschacht, hin ter sich gebracht. Die Expeditionsmitglieder schlossen die Raumanzüge und setzten die Schutzhelme auf. Zwei Lumobile standen be reit und übernahmen die erschöpften Wissen schaftler. Die Container mit dem kostbaren In halt wurden in besondere Thermosbehälter umgeladen.
Neue Rätsel Der kurze Bericht über die phantastischen Ent deckungen in der sublunaren Höhlenstadt, den Mondkurator Rinald wenige Stunden später über eine Laserverbindung an die Weltfödera tion gab, rief heftige Erregung hervor. Präsident van Müren bat den Kurator, mit den sterblichen Überresten der beiden Seleni den und der beschrifteten Metallplatte zur Erde zu kommen. Alle für eine Mitarbeit zu ständigen Institutionen der Föderation wur den von ihm informiert. Da aber weder Ben Darkens noch ein anderes Mitglied der kleinen Expeditionsgruppe die Forschungsarbeiten un terbrechen konnte, begleiteten Orina und Jass man den Kurator. Seit einigen Tagen befanden sich die drei Wis senschaftler in Sydney, nachdem sie vorher das metallene Skriptum außerirdischer Her kunft im kybernetisch-linguistischen Institut der Weltföderation in Stockholm übergeben hatten. Sie wollten, sobald die ersten Untersu chungen in Sydney beendet waren, wieder in Stockholm vorsprechen, um dann vielleicht schon Übersetzungsergebnisse oder Deutungs versuche zu erfahren. In Sydney befanden sich die internationalen
Einrichtungen zur Erforschung planetarer Bio sphären. Der Gebäudekomplex lag nur wenige Autominuten vom nördlichen Stadtrand ent fernt, wo die Ausläufer der Blauen Berge in der malerischen Botany Bay endeten. Die Übergabe der beiden Metallcontainer mit Überresten außerirdischen Lebens war für die Wissenschaftler in Sydney eine Sensation ge wesen. Bisher hatten sich die Biosphären von Mars, Venus und Jupiter durch Spuren von Le ben in Form von Mikroorganismen erschöpft. Niemand hatte mehr daran geglaubt, in unse rem Sonnensystem vernunftbegabtes Leben zu finden. Und nun diese beiden Funde! Die Experten aus vielen Ländern hatten sofort ihre Arbeit aufgenommen. Die drei Lunauten waren bei den ersten Un tersuchungen anwesend. Nur durch eine Glas wand vom Laboratorium getrennt, waren sie durch Kopfhörer mit dem leitenden Mediziner verbunden. Voller Spannung saßen sie in dem kleinen Nebenraum und beobachteten, wie der erste Metallcontainer geöffnet wurde. Wenig später ertönte die ruhige Stimme von Dr. Ab sal: »Wir haben die Funde zunächst akklimati siert, um die Analysen unter normalen Bedin gungen durchführen zu können.« Vorsichtig wurden die Überreste auf eine
große Tischplatte gelegt. Zwei Mitarbeiter lös ten den unbeschädigten glockenförmigen Schutzhelm von dem Raumanzug. Das war schwierig, denn der Befestigungsmechanismus ließ sich nicht sogleich erkennen. Endlich war es geglückt! Zum Vorschein kam ein Toten schädel, der nur noch stellenweise mit einer dünnen, pergamentartigen Haut überzogen war. Während die Kopfhaut dieses Seleniden wahrscheinlich haarlos gewesen war, befan den sich in der Nähe des Kinns spärliche Haar büschel, anscheinend Reste eines Bartes. Dr. Absal sagte nachdenklich: »Wenn man die Größe des Schädels außer acht läßt, dann wür de ich sagen, es handelt sich um einen Men schenschädel, wie er vielleicht in dreißig- bis fünfzigtausend Jahren aussehen wird. Die Stirnpartie ist sehr ausgeprägt und macht etwa die Hälfte des Gesichtes aus. Eine ausgespro chen zephaloide Entwicklung! Das Nasenbein ist stark verkümmert und die Kieferpartie ru dimentär. Charakteristische Merkmale, wie sie auch bei uns Menschen mit fortschreitender Zivilisation zu erwarten sind.« Unterdessen hatten die Spezialisten die Ske letteile geordnet und zu einem vollständigen Knochengerüst zusammengesetzt. Dr. Absal fragte einen zur Untersuchungsgruppe gehö
renden Arzt: »Welche Vergleiche lassen sich anhand des Skelettaufbaus zum menschlichen Körper ziehen, Doktor Tsu?«
Der Angesprochene ergriff einige Notizblät ter, dann antwortete er: »Ich kann natürlich nur eine erste Einschätzung geben. Wir benöti gen längere Zeit, um zum Beispiel die Gelenk ausbildung oder die Proportionalitätsabwei chungen zu bestimmen. Es läßt sich jetzt aber schon sagen: Bei diesem Homoiden hier han delt es sich aufgrund der Becken- und Ober schenkelknochenausbildung um ein männli ches Individuum. Bestimmte Rückbildungen lassen auf ein unvorstellbar hohes Menschen alter schließen. Wenn ich menschliche Erfah rungswerte anwende, komme ich auf annä hernd fünfhundert Jahre, doch dafür möchte ich mich nicht verbürgen. Augenfällig sind die relativ kurzen Armknochen und die kleinen Schulterblätter. Diese Lebewesen dürften über viele Generationen kaum noch körperliche Ar beit verrichtet haben. Bemerkenswert sind fer ner die fast gleich großen Zehenknochen – eine auch bei uns Menschen zu erwartende zi vilisatorische Rückentwicklung. Das wäre zu nächst meine Grobeinschätzung dieser sehr menschenähnlichen Lebensform.« Eine weitere Gruppe hatte die Bekleidung, insbesondere den Raumanzug, des Fremden untersucht. Eine genaue Materialanalyse lag
verständlicherweise noch nicht vor, aber so viel stand bereits fest, daß es sich um ein me tallisiertes Silikongewebe handelte. Man konn te erkennen, daß an verschiedenen Stellen Heizfäden eingebettet waren. Viele der zur Ausrüstung gehörenden Metallteile waren durch die jahrtausendelange Korrosion in der dünnen Atmosphäre der riesigen Gruft so zer stört, daß man ihren eigentlichen Verwen dungszweck nur ahnen konnte. Bei der weiteren, sehr gründlichen Sichtung des Materials wurde eine Entdeckung gemacht, über deren Bedeutung sich zu diesem Zeit punkt noch niemand richtig im klaren war. In einer unzerstörten kleinen Tasche aus Metall folie, die an Resten des Raumanzuges befestigt war, fand man vier kleine farbige Kugeln von unterschiedlichem Durchmesser. Die Farben waren nicht ungewöhnlich: Rot, Grün, Blau und Gelb. So wie sie bei der Zerlegung des Son nenlichtes durch ein Prisma entstehen. Dr. Absal stellte sich zu dieser Gruppe, und so konnten die drei Forscher jedes Wort mithö ren. Gerade sagte Assistent Bojan, wobei er die Kugeln in der Hand wog: »Nach dem Gewicht zu urteilen, bestehen sie aus einem Plast- oder Sinterwerkstoff. Lassen Sie mich daher zuerst
das spezifische Gewicht genau bestimmen!« Als er die Objekte in eine Stahlschale legen wollte, gab es einen kleinen Zwischenfall. Die rote Kugel wurde ihm bei Annäherung der Schale von einer beachtlichen Kraft nach oben aus der Hand gerissen. Sie flog an die Decke des Raumes und fiel dann weit entfernt zu Bo den. Als sich bei der grünen Kugel derselbe Ef fekt zeigte, jedoch bei Annäherung an eine Messingschale ausblieb, kam Bojan zu der ein fachen Erklärung, daß die Kugeln ein enormes magnetischen Feld besaßen. »Allerdings müß te bei einem magnetischen Feld«, meinte er verwundert, »die Kugel normalerweise zur Stahlschüssel hingezogen werden. Das muß ich sofort untersuchen!« Damit verschwand er ei lig in einem Nebenraum. Was war mit diesen Kugeln? Waren sie ein Spielzeug dieser menschenähnlichen Wesen, oder hatten sie irgendeine technische Bedeu tung? Wozu würde ein irdischer Kosmonaut Kugeln mit sich herumtragen? Bojan kehrte nach kurzer Zeit aus dem Spezi allabor, in dem ein Magnetograph stand, zu rück. »Selbst diese harmlosen Kugeln verhal ten sich unirdisch!« rief er, »sie besitzen kei nen Magnetismus. In Verbindung mit Eisen und seinen Legierungen zeigen sie einen er
staunlichen Antischwerkrafteffekt. Die erfor derliche Haltekraft entspricht einem magneti schen Fluß von einigen hunderttausend Max well. Doch das sind nur geschätzte Werte!« Kurator Rinald wandte sich an seine Beglei ter: »Die Angelegenheit mit diesen sonderba ren Kugeln müssen wir sofort an Ben Darkens und sein Kollektiv weiterleiten. Zwischen die sen Kugeln und dem letzten Besuch der beiden selenidischen Kosmonauten in der Höhlen stadt muß es einen Zusammenhang geben.« Am Abend führte Pawel Rinald über Laserver bindung Erde – Mond ein längeres Gespräch mit dem Chefselenologen. Dabei erfuhr er gleichzeitig, welche Ergebnisse die weiteren Untersuchungen der Selenidenstadt gebracht hatten. Er versprach Ben Darkens, die Kugeln sofort durch eine ferngesteuerte Spezialrakete zu schicken. Das Gesicht von Dr. Falaise, der die gründliche Untersuchung der sechs Lunauten leitet, die nun schon mehr als vierzig Stunden in der großen Höhle verbracht hatten, war sehr ernst, als er Ben Darkens das Ergebnis mitteil te. »Der körperliche Zustand von Ihnen allen ist ausgezeichnet. Aber in den Hirnpartien aller
Beteiligten wurde eine geringfügige Einstrah lung von Neutronen festgestellt. Sie wissen, daß stärkere Dosen zu Kortexveränderungen und damit zu Bewußtseinsstörungen führen können. Diese Strahlung kann nur in der sub lunaren Region emittiert worden sein, denn eine solche Einstrahlung wurde bisher noch bei keinem anderen Lunauten registriert. Ha ben Sie dafür eine Erklärung?« »Eigentlich nicht«, erwiderte Ben Darkens nach längerem Überlegen. »Es wurden bei je dem Abstieg gründliche Strahlungsmessungen vorgenommen. Allerdings hatte Nik Sullikow eine schwache Radioaktivität, die von der Deckenschicht ausgeht, festgestellt. Radioakti vität bedeutet unter anderem ja auch das Aus senden von α-Teilchen, und die enthalten je weils Protonen und Neutronen. Protonen wur den jedoch nicht nachgewiesen. Nein, diese Radioaktivität kann es nicht sein. Nik bezeich nete sie als völlig unschädlich, und er ist ein gewissenhafter Radiologe. Doch verstehen Sie mich bitte richtig, ich zweifle keinesfalls Ihre Untersuchungsergebnisse an.« »Nun gut«, der Arzt beendete die kurze Unter haltung. »Aber ich muß Sie bitten, entspre chende Schutzmaßnahmen einzuleiten und den Aufenthalt in der Selenidenstadt auf ein
Minimum zu beschränken, und ferner, laufend Kontrolluntersuchungen zu veranlassen. Sie erkundigten sich vorhin nach dem Zustand von Nik Sullikow. Besuchen können Sie ihn leider noch nicht, aber ich denke, in zwei Wochen wird es soweit sein; wir sind zufrieden mit sei nem Befinden.« Ben Darkens verließ nachdenklich das Unter suchungszimmer. Könnte bei dieser Strahlung nicht die Schwerkraftanomalie mit im Spiel sein? Vielleicht war es gar keine Anomalie, sondern eine Schutzmaßnahme der Seleniden. Sollte diese Kraftfeldglocke die Stadt vor her abstürzendem Gestein schützen? Es gab viele Möglichkeiten. Zumindest hingen Neutronen und Gravitonen eng zusammen. Ein weiteres wichtiges Forschungsvorhaben! Der nächste Abstieg mußte um weitere Tage verschoben werden. Ben Darkens nahm das Untersuchungsergebnis von Dr. Falaise sehr ernst. Er ließ die Schutzhelme der Expeditions mitglieder bis auf einen schmalen Sichtspalt mit einer zentimeterdicken Kadmiumschicht überziehen und war erst beruhigt, als man ihm bestätigte, daß diese Maßnahme mehr als aus reichend sei. Dann senkte sich der Raketokopter wieder der rätselhaften Pyramidenstadt entgegen. Das
Programm für die nächsten Stunden war von Ben Darkens im Einvernehmen mit seinem Kollektiv erweitert worden. Fred Wagner hatte die tagelange Unterbrechung genutzt und aus dem radiologischen Institut spezielle Neutro nenmeßeinrichtungen beschafft. Damit sollte zunächst beim Abstieg das Schwerkraftgegen feld näher untersucht werden; man wollte klä ren, ob es sich um ein künstlich erzeugtes Feld handelte. Ein gleiches Gerät war in das Elek tromobil eingebaut, mit dessen Hilfe Ives und Mara den Fußspuren zu deren Ausgangspunkt folgen würden. Sie sollten dabei Neutronenin tensitätsmessungen durchführen. Es ging dar um, zu ermitteln, ob die Strahlung im gesam ten Hohlraum von konstanter Stärke war. Als Hauptprogrammpunkt wollten die übrigen Ex peditionsmitglieder das Quadergebäude gründlich untersuchen, jenen Flachbau, den der fremde Kosmonaut auf der Metallplatte markiert hatte und der etwas mit der astrono mischen Skizze zu tun haben mußte. Nach etwa zwanzig Minuten schwebte der Ra ketokopter unmittelbar über dem Schwer kraftgegenfeld. Fred hatte seine Kollegen über die mitgeführten Instrumente und die Mes sung informiert. Konnte man im Bereich der Gravitationswel
len auch Neutronen nachweisen, bestand durchaus die Möglichkeit, daß die Seleniden das Feld künstlich erzeugt hatten. Sie be herrschten anscheinend die Physik der Ele mentarteilchen so weit, daß sie Schutzfelder aufbauen konnten. »Achtung! Wir tauchen ein«, gab Ben bekannt und bediente den Regler für die Schubdüsen. Das Ergebnis war enttäuschend und beruhi gend zugleich. Neutronen ließen sich nicht nachweisen. Während der kurzen Zeit, in der sich der Flugkörper durch das Kraftfeld be wegte, schlug keins der Instrumente aus. »Nun wissen wir zwar, um was es sich nicht handelt, aber wie die Anomalie zustande kommt, bleibt ein Rätsel«, sagte Fred resi gniert. Das kleine Raupenfahrzeug war unterhalb des Raketokopters aufgehängt, dadurch konnte die Landung wenig später nur in Etappen durchge führt werden. Ives mußte mit einer Strickleiter aussteigen und das Elektromobil erst zur Seite fahren. Die Spurenverfolgung quer durch die tote Riesenstadt war kein leichtes Unterfan gen. Zu gern hätte Ben Darkens selbst am Steu er gesessen, aber er hatte andere Aufgaben. Mara und Ives waren unterdessen in die »Schildkröte«, wie das flachrunde Fahrzeug
bei den Lunauten hieß, eingestiegen und mach ten eine Funktionskontrolle. Ben schärfte ih nen nochmals ein, daß sie ihn über Funk regel mäßig, mindestens im Abstand von fünfzehn Minuten, informieren sollten. Würde keine Verbindung zustande kommen, war die Fahrt sofort zu unterbrechen und der Rückweg anzu treten. Eine Reservebatterie gab den beiden die Möglichkeit, den Aktionsradius des Elek tromobils auf mehr als hundertzwanzig Kilo meter zu erweitern. Der Druck der Raupen glieder, die aus kleinen pneumatischen Kissen bestanden, ließ sich verändern, wodurch die Fahrweise auch dem ungünstigsten Gelände angepaßt werden konnte. Als Fahrplan diente eine Handskizze, die Mara nach den Radar grammen der Höhlenauslotung gezeichnet hat te und in die lediglich der Raketokopterlande platz und einige Obelisken in dessen Umge bung genau eingetragen waren. Ein letztes Winken und Händeschütteln, dann verschwand das Fahrzeug, einen starken Such scheinwerfer auf die Doppelspur gerichtet, langsam im Halbdunkel. Die übrigen vier Wissenschaftler wandten sich nun ihrer eigentlichen Aufgabe zu. Ira, die eine genaue Kopie der Lageskizze auf der Me tallplatte angefertigt hatte, ging voraus, als sie
sich jetzt dem Flachbau näherten. Trotz seiner relativ geringen Höhe überragte er die ihn um gebenden Obeliskenhäuser beträchtlich, weil er auf einer Erhöhung errichtet war. Bisher hatten die Lunauten angenommen, der Boden der Riesenhöhle sei völlig eben. »Während Ira und Svanta das Objekt vermes sen und fotografieren, werden Fred und ich nachsehen, ob irgendein Eingang vorhanden ist«, sagte Ben Darkens, als sie vor der langge streckten Gebäudefront standen. Daß die sele nidischen Wohnbauten keinerlei Fenster oder Lichtschächte besaßen, daran hatten sich die Forscher inzwischen gewöhnt. Fred suchte in gebückter Stellung die dünne Staubschicht zu seinen Füßen nach Vertiefungen oder anderen markanten Stellen ab. Doch er konnte nichts feststellen. Die beiden Frauen hatten unterdessen die an strengenden Vermessungen und fotografi schen Arbeiten fast beendet. Erschöpft lehnten sie sich an die schmale Seitenwand, die dem Raketokopter zugekehrt war. Svanta mochte die wesentlich zierlichere Ira. Nur die Beweg gründe ihrer Teilnahme an den gefährlichen Höhlenabenteuern konnte sie nicht begreifen. Vielleicht war die Ermittlung von Ursachen für die Explosionskatastrophe doch nur ein Vor
wand gewesen? Svanta glaubte bemerkt zu ha ben, daß Ira den Chefselenologen sympathisch fand. Deshalb klopfte sie ein wenig auf den Busch. »Wissen Sie, Ira, daß Ben Darkens große Stücke auf Sie hält? Ich glaube, er mag Sie, und das will bei diesem Hagestolz etwas heißen.« »Ich habe ihn wirklich verkannt«, antwortete Ira vieldeutig. Sie könnten sich nicht weiter unterhalten, denn Ben Darkens, der sich mit Fred Wagner an der gegenüberliegenden Stirnseite des lan gen Quarzbaus befand, rief sie, nach dort zu kommen. An dieser Stirnseite schien der Eingang zu sein. Bei der genauen Untersuchung der Wän de hatte Fred etwa in Augenhöhe vier genau untereinander angebrachte Löcher entdeckt. Daraufhin hatten sie die Wand an dieser Stelle Zentimeter um Zentimeter abgeklopft und überprüft. Und tatsächlich zeichnete sich links von den Öffnungen mit einem feinen Spalt eine rechteckige Fläche von etwa einem Meter mal zweieinhalb Metern ab. Zweifellos eine Tür oder die Abdeckung eines Eingangs. Nun stan den sie wie zu Beginn der Expedition wieder vor der Frage, auf welche Weise sich die seleni dischen Türen würden öffnen lassen. Mit me
chanischen Kräften war da nichts zu machen. Verabredungsgemäß meldete sich erneut Ives Lorin und gab einen längeren Bericht. »Es ist eine gespenstische Fahrt«, sagte Mara, die das Steuer übernommen hatte, »überall die unzähligen, längst verlassenen Quarzpyrami den. Man wird den Gedanken nicht los, ob nicht im nächsten Augenblick eine Schar von Seleniden plötzlich aus dem unergründlichen Dunkel auftauchen könnte.« »Vorsicht!« rief Ives, als eines der langge streckten quaderförmigen Gebäude aus dem Boden wuchs und die Spur in einem spitzen Winkel nach links abbog. Sie hatten bei einer Durchschnittsgeschwin digkeit von zwanzig Kilometern je Stunde fast zwölf Kilometer zurückgelegt. Ein dünner Staubschleier, der durch die Rau penketten und die Fahrbewegung aufgewirbelt wurde, hüllte das Elektromobil ein. Plötzlich bremste Mara scharf und hielt an. »Schauen Sie, Ives, hier endet die Spur an ei ner Pyramide«, stieß sie erregt hervor. »Hier muß sich etwas ereignet haben. Sehen Sie doch, Ives, dort neben der nächsten Pyramide liegt ein rechteckiger Gegenstand, der wie eine große Platte aussieht.« Vorsichtig fuhr sie an
die Stelle heran. Ives ging auf das sonderbare Gebilde zu. Im weiten Umkreis waren Spuren und Abdrücke zu erkennen. Auch die recht eckige Platte hatte ihre Konturen mehrfach in der dünnen Staubschicht abgezeichnet. Die Doppelspur, die sie nun schon eine halbe Stunde verfolgten, führte tatsächlich nicht wei ter. Die beiden fremden Kosmonauten hatten anscheinend von hier aus ihren beschwerli chen Fußmarsch angetreten. Ives betrachtete den Gegenstand von allen Seiten. Je länger er hinschaute, desto weniger konnte er sich des Eindruckes erwehren, daß da etwas auf der Seite lag, als wäre es umge kippt worden. »Mara, kommen Sie bitte her; ich brauche Ih ren Rat. Aber bitte anseilen!« rief er. Kaum hatte ihn Mara erreicht und einen Blick auf den Boden geworfen, sagte sie auch schon impulsiv: »Ives, ich kann mir nicht helfen, aber was hier vor uns liegt, ist wahrscheinlich ein umgestürztes Fahrzeug. Die untereinan derhängenden Schalen mit den durchsichtigen Glocken sehen doch aus wie kleine Kabinen.« »Ja, das habe ich auch schon gedacht. Aber wie soll es sich bewegt haben? Keine Räder, keine Raupen, keine Düsen – einfach nichts!« Beide beugten sich über die etwa vierzig Zen
timeter starke Platte, die – das war deutlich zu erkennen, da sie mit der Schmalseite nach oben lag – aus mehreren wabenförmigen Schichten bestand. »Wenn sich jetzt noch irgendwo eine Turbine oder ein Gebläse findet, würde ich das Fahr zeug fast für ein Luftkissenboot halten«, be merkte Mara, die über eine rege Phantasie ver fügte. Etwas Derartiges war jedoch nirgends zu ent decken. »Sehen Sie hier diesen Hebel«, sagte Ives plötzlich und umfaßte einen zylindrischen Stab, der zwischen den Kabinen aus der Bo denplatte ragte und durch den wulstigen Raumhandschuh fast völlig verdeckt wurde. »Erinnert er nicht irgendwie an einen Steuer knüppel? Er läßt sich sogar bewegen!« »Ja, und eine der vielen Wabenschichten be wegt sich ebenfalls hin und her. Die offenen Rhomben werden mehr oder weniger über deckt. Also mit einer Steuerung hat das be stimmt etwas zu tun!« Beide versuchten das rätselhafte Mobil aufzu richten, aber sosehr sie sich auch anstrengten, es gelang ihnen nicht. »Entweder geht es hier nicht mit rechten Din gen zu, oder es handelt sich um Schwermate
rie.« Mara ächzte und gab auf. Beide atmeten schwer und schauten sich fragend an. »Und ich hatte schon geglaubt, wir könnten das Selenidengefährt einfach aufladen und mitnehmen«, sagte Ives schließlich. Mara lenkte das Gespräch wieder auf das ei gentliche Ziel. »Nun wissen wir zwar, wo die Spur ihren Anfang nimmt, aber wo die beiden fremden Kosmonauten hergekommen sind, das wissen wir nun immer noch nicht.« »Sie sind zweifellos hierhergeflogen, wenn wir die Art der Fortbewegung einmal so nen nen wollen«, erwiderte Ives. »Aber wo hat ihr Flug seinen Anfang genommen? Wer in dieser Höhle über ein Fortbewegungsmittel verfügt, der wird nicht freiwillig zwölf Kilometer zu Fuß, noch dazu im Skaphander, zurücklegen. Ich nehme an, die beiden Kosmonauten haben hier ihre Fahrt unfreiwillig, vielleicht infolge einer Havarie, unterbrochen. Wenn man, vom Boden unabhängig, eine längere Strecke zu überwinden hat, wählt man allgemein die gera de Linie, also die kürzeste Verbindung. Ich möchte damit sagen, daß nach meiner Mei nung Spurenrichtung und vorausgegangene Flugrichtung übereinstimmen. Was hielten Sie davon, wenn wir einfach nach dem Girokom paß unsere Fahrt fortsetzten? Treibstoff haben
wir noch zur Genüge!« »Ja, ich hätte nichts dagegen. Aber bitte spre chen Sie erst einmal mit Ben Darkens!« Ben Darkens hörte staunend zu. »Schade, den selenidischen Gleiter hätten wir uns gern ange sehen«, sagte er dann, »laßt ihn liegen. Wir werden ihn später bergen. Ich bin einverstan den, daß ihr eure Fahrt fortsetzt. Vielleicht fin det ihr die Spur wieder. Aber denkt bitte an die Reichweite der Schildkröte und gebt Zwischen berichte! Ende.« Sie fuhren weiter. Die Eintönigkeit der Umge bung, die Dunkelheit und ständige Spurenbe obachtung strengten ungemein an. Häufig wechselten sie das Steuer. »Sagen Sie, Mara, täusche ich mich, oder ste hen die Kegelstümpfe jetzt weniger dicht zu sammen?« fragte Ives in die lastende Stille. »Sie haben recht«, antwortete Mara, »aber se hen Sie doch die ungewöhnliche Zacke auf dem Radarschirm! Wir werden bestimmt in Kürze auf irgendeine Besonderheit stoßen!« Nach einigen Minuten erblickten sie den Grund für das sonderbare Radargramm. Eine gewaltige Säule versperrte den Weg. Ives bremste und richtete den Scheinwerfer nach oben. Das Bauwerk war höher, als der Licht strahl reichte. Vorsichtig verließ Ives das klei
ne Fahrzeug. Mara blieb am Steuer, falls sich etwas Unvorhergesehenes ereignen sollte, und fuhr langsam neben ihm her. Eigentlich handelte es sich um einen giganti schen Turm oder Rundbau, der sich oben in der undurchdringlichen Finsternis verlor. Da waren auch wieder die Spuren, die um das Bauwerk herumführten, dessen Durchmesser Ives auf mindestens hundertfünfzig Meter schätzte. Plötzlich endeten die Fußabdrücke unmittel bar vor dem Gemäuer. Ives gab Mara ein Zei chen, das Fahrzeug zu verlassen. Gemeinsam suchten sie nach einer Tür oder einer Öffnung und fanden endlich einen schmalen Spalt, der eine Fläche von etwa zwei Meter Seitenlänge begrenzte. Sie suchten weiter. Rings um den Rundbau waren viele solcher Quadrate auszu machen, auch solche von wesentlich größeren Abmessungen. Was bedeutete das? Die Stücke zwischen den Spalten waren vermutlich Türen, die sich öffnen ließen, aber wie? Jedenfalls hatten die beiden Seleniden von hier aus ihren Fußmarsch angetreten. Oder sollten die Spu ren doch noch weiterführen? »Kommen Sie, Mara! Wir wollen diesen riesi gen Rundbau langsam umfahren, damit wir ganz sicher sind, daß die Spuren tatsächlich
hier beginnen«, sagte Ives. Als sie im Elektro mobil saßen, drückte er den Taster für den Fahrtschreiber, der die Richtung und die Ent fernung, die das Fahrzeug zurücklegte, genau aufzeichnete. Als Kompaß diente ein Gravigi rosystem, das ständig in Richtung Mond – Erde zeigte. Das Streckenbild der letzten Fahrt vom Raketokopterlandeplatz hierher war äu ßerst wichtig, da mit dessen Hilfe eine genaue topographische Bestimmung des neuentdeck ten Bauwerkes möglich war. Die zurückgelegte Entfernung betrug achtundzwanzig Kilometer. Langsam setzte sich das Fahrzeug in Bewe gung. An keiner Stelle jedoch konnten die bei den aufmerksamen Beobachter die Spuren wiederentdecken. Nach etwa sechs Minuten hatten sie ihren Ausgangspunkt wieder er reicht. Die Länge des Kreisumfanges betrug mehr als fünfhundert Meter. Ein gigantisches Bauwerk, wenn man annahm, daß es bis zur Mondoberfläche reichte. Erneut standen sie an der Stelle, wo die Spur ihren Anfang nahm. Ives rüttelte vergeblich an dem Quaderstück. Mara, die sein Tun verfolgte, hatte plötzlich eine Idee. »Ives, überlegen Sie einmal mit! Die Anlage zeigt keinerlei Betätigungsmechanis men. Wäre es nicht möglich, daß die Öffnung über Bioinitiatoren oder, was ich noch eher
glaube, über Bioströme erfolgt?« »Das ist gar nicht so abwegig, Mara«, sagte er und legte ihr anerkennend seine unförmige Hand auf die Schulter. Mara war dicht an das Gebäude herangetre ten. »Bioinitiatoren scheinen keine Bewegung auszulösen. Könnte ich mir auch nicht denken, die Schutzanzüge schirmen zu stark ab.« »Aber was meinten Sie mit Bioströmen, Mara? Sie sind doch Expertin für moderne Bio technik. Was könnten wir tun?« fragte Ives. »Ich möchte Ihnen jetzt keinen großen Vor trag halten. Der Rummel um Gedankenkräfte und um das, was damit zusammenhängt, ist natürlich Unsinn. Aber Bioströme, Hirnströ me, sind ja real, und Ströme erzeugen Felder, und wechselnde Felder lassen sich empfangen und verstärken. Nur uns Menschen ist auf die sem Gebiet bis heute noch kein Durchbruch ge lungen. Bioströme sind partielle Ionenströme, das kompliziert die Sache. Sollten die Seleni den diese Technik beherrscht haben? Ich kann es nicht glauben!« »Vorsicht!« rief Ives plötzlich und riß Mara zur Seite. Langsam hatte sich das große Quarz stück nach oben bewegt. »Es ist einfach unbegreiflich!« Ärgerlich stampfte Mara mit dem Fuß auf. »Vielleicht
sind es Fotozellen, die auf unsere Helmleuch ten angesprochen haben? Nur gut, es wird noch genügend Zeit sein, die selenidische Technik zu untersuchen. Hauptsache, wir kön nen in den Riesenturm hineinschauen!« Im Licht der Scheinwerfer des Elektromobils war hinter der gähnenden Öffnung ein leerer Raum auszumachen. »Ives, ich möchte Sie bitten, keinen Schritt weiterzugehen, vor allem, keinesfalls den Raum hinter der Eingangsöffnung zu betreten. Wir haben schon genügend Tücken der seleni dischen Technik kennengelernt.« Mit diesen Worten breitete Mara die Arme aus, um ihren Begleiter aufzuhalten. »Ja, Sie haben recht, lassen wir das. Doch schauen Sie einmal nach rechts und links, se hen Sie irgend etwas von Technik? Nichts, kei ne Gestänge, Gelenke oder sonstigen Mecha nismen! Wer oder was betätigt diesen großen Quarzklotz? Anscheinend vereinigt diese frem de Technik, zumindest für unsere Begriffe, Ur altes und phantastisch Neues. Eine Ritterburg mit kybernetischen Türen… Doch was tun wir jetzt?« »Ich bin dafür, daß wir uns im Fahrzeug eine kurze Ruhepause gönnen«, antwortete Mara lakonisch. Im hermetisch abgeschlossenen
Elektromobil nahmen sie die Schutzhelme ab, schalteten die Atemluftregulierung ein und zündeten sich eine Zigarette an. Das war zwar grundsätzlich verboten, aber Ives murmelte et was von besonderen Umständen. »Den Neutro nenschreiber haben wir vergeblich eingebaut«, stellte er fest und zeigte auf den leeren Strei fen. Über Funk informierten sie Ben Darkens von ihrer erstaunlichen Entdeckung. Er legte ihnen nahe, vorsichtig zu sein und nach der Rast um gehend die Rückfahrt anzutreten. Mara und Ives setzten ihr Gespräch fort. »Wir haben gefunden, wo die Spur der beiden frem den Kosmonauten ihren Anfang genommen hat«, sagte Ives. »Es spricht sehr viel dafür, daß sie mit Hilfe dieses Quarzturmes von der Mondoberfläche nach hier unten gekommen sind. Nehmen wir daher einmal an, das, was wir hier entdeckt haben, wäre ein riesiger För derschacht. Vielleicht einer von vielen, die einstmals dazu dienten, die sublunare Zivilisa tionsstätte mit der Oberfläche zu verbinden. In dem riesigen Schacht sind vermutlich mehrere Personen- und Güteraufzüge untergebracht.« »Ja, das könnte zutreffen«, entgegnete Mara. »Was mich jedoch interessiert, ist die Frage, ob es wohl möglich ist, die Schachtöffnung, das
Tor zur Unterwelt, auf der Mondoberfläche zu finden. Selbst wenn die letzten Seleniden den Eingang zerstört hätten, müßte er sich doch von der Umgebung unterscheiden, vorausge setzt, daß der Schacht tatsächlich bis zur Mondoberfläche reicht.« Wenig später drehten sie noch eine Ab schiedsrunde um den »antiken Lift«, dann fuh ren sie, ihrer eigenen Spur folgend, den Weg zurück, zurück durch den gespenstischen Wald von Quarzpyramiden. Nach fünfzehn Mi nuten Fahrt übernahm Ives das Steuer. »Ich muß immer wieder daran denken, wie sich eine der Türen ohne unser Zutun plötzlich öffnete«, sagte Mara unvermittelt. »Dieses Tat sache hat mich erneut über das Problem der unmittelbaren psychophysischen Energie transformation Überlegungen anstellen lassen. Sollte vielleicht jene fremde Zivilisation diesen möglichen, für uns Menschen noch völlig un vorstellbaren Umwandlungsprozeß beherrscht haben?« »Mara, ich muß Ihnen ehrlich gestehen, ich habe zwar von dieser Energietransformation schon gehört, kann mir aber kein rechtes Bild davon machen. Also bitte, lassen Sie hören!« »Ja«, begann Mara, die sich freute, in Ives einen interessierten Zuhörer gefunden zu ha
ben, »die psychophysische Energietransforma tion ist tatsächlich noch umstritten. Aber Sie wissen ja, ich habe eine Vorliebe für solche Probleme. Das Nachdenken darüber bedeutet für mich einen Exkurs in ein Gebiet jenseits der Logik, Exaktheit und Ratio, zu denen ich schließlich reumütig und gern wieder zurück kehre. Ich bin fest davon überzeugt, daß in die sem umstrittenen Wandlungsprozeß beachtli che Reserven für die Forcierung des techni schen Fortschritts liegen. Genau wie Energie ist Bewußtsein eine andere, man könnte sagen, höhere Erscheinungsform der Materie. Das Problem liegt nur darin, daß uns die unmittel baren Umwandlungsprozesse von Materie in Energie, das heißt Prozesse ohne Wandlungs träger, verhältnismäßig geläufig sind, während sich die uns bekannte Umwandlung von Mate rie oder Energie in Bewußtsein nur in den Ge hirnen von Lebewesen vollzieht.« Ives hatte mehrmals schmunzelnd genickt. Er vergaß dabei aber nicht, die Umgebung genau zu beobachten und die Fahrtroute einzuhalten. Zuzuhören und der Spur zu folgen war gar nicht so einfach. Trotzdem, es machte ihm Spaß, Gesprächspartner von Mara zu sein, die nicht umsonst von ihren Fachkollegen scherz haft »Ketzerin« genannt wurde.
»Die psychophysische Energietransformati on«, fuhr Mara unbeirrt fort, »befaßt sich mit der möglichen, aber direkten Einflußnahme des Bewußtseins auf Energie und Materie. Wir haben uns daran gewöhnt, daß in unserer ma teriellen Welt alle Bewegungen, Kräfte und de ren Wirkungen nach bestimmten physikali schen Gesetzen ablaufen. Dabei hat das Be wußtsein nur eine wahrnehmende, erkennen de Funktion. Wir wissen andererseits, daß die Welt voller Energie ist, die aber nur zu einem verschwindend geringen Teil genutzt wird. Diese Nutzung erstreckt sich wiederum aus schließlich auf Materie-Energie-Relationen. Und damit sind wir beim Wesen der psycho physischen Energietransformation, nämlich Bewußtsein unmittelbar energieumwandelnd wirken zu lassen. Jedes Individuum ist mit Hil fe der Materiefunktion Bewußtsein in der Lage, beliebige Kraft- und Bewegungsabläufe zu erzwingen oder Materie zu aktivieren. Je doch mit der wesentlichen Einschränkung, daß dieses Erzwingen nur mittelbar, mit Hilfe oder innerhalb von Materie, die organisches Leben darstellt, möglich ist. Wir kennen nur organi sches Leben. Ich glaube aber, dieser Begriff muß universeller gesehen werden. Das Pro blem des Lebens wird so lange nicht gelöst
werden können, wie es nicht gelingt, Quanten prinzip und Relativitätsprinzip zu vereinigen. Denken Sie an Dirac und Schrödinger, Wissen schaftler des vorigen Jahrhunderts, die ver sucht haben, erste Brücken zu schlagen! Wir sind bis heute noch nicht viel weiterge kommen. Es gilt noch immer, eine umfassende Theorie zu finden, die Quanten- und Relativi tätsprinzip umschließt und die es ermöglicht, die Verhältnisse exakt zu bestimmen, unter de nen die Unterscheidung zwischen einem Teil chen, einem Korpuskel, einer Welle und einem Feld ihren Sinn verliert… He, Ives, haben Sie mir denn überhaupt zugehört?« »Ich versuche Ihren Gedankengängen zu fol gen. Sie halten es also nicht für ausgeschlos sen, daß die Seleniden aufgrund eines wesent lich höheren Erkenntnisstandes in der Lage waren, mit Hilfe des Bewußtseins Energie um zuwandeln und Kräfte gezielt wirken zu lassen. So weit, so gut, aber wenn schon kein organi sches Leben – ein psychophysischer Adapter, Wandler oder Verstärker ist doch dazu erfor derlich?« »Ganz richtig. Und damit sind wir genau an der Stelle, wo unser Wissen endet. Wie könnte ein solcher Wandler aussehen? Noch wissen wir es nicht. Doch denken Sie bitte einmal an
die unerschöpfliche Welt der Mikroorganis men an der Grenze zwischen der sogenannten belebten und der unbelebten Natur. Die Masse solch einer Mikrobe liegt genau in der Mitte zwischen dem Protonengewicht und der kriti schen Masse. Viren haben eine Größe, die auf fällig gleich der zur kritischen Masse gehören den Ausdehnung von dreihundert Millimikro metern ist. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will?« »Ich bemühe mich jedenfalls«, erwiderte Ives ausweichend, dann wies er erleichtert nach vorn. In der unergründlichen Dunkelheit wa ren bereits die grellen Lichtbündel der Schein werfer des Raketokopters zu sehen. Ives dros selte die Geschwindigkeit und fuhr in einem großen Bogen auf das Rechteckgebäude zu, vor dem die vier Wissenschaftler standen. Ben Darkens atmete auf, als er die beiden »Fernfahrer« gesund und wohlbehalten vor sich sah. »Im Gegensatz zu euch haben wir we nig, ja nichts erreicht«, sagte er, nachdem Ives berichtet hatte. »Mich beunruhigt die Skizze jenes Seleniden auf der Edelmetallplatte von Tag zu Tag mehr. Dieses Gebäude hier muß ein wesentliches Geheimnis bergen. Wie sonst hät te der sterbende Extraterrist in seinen letzten Minuten an nichts anderes gedacht. Wir wer
den keine langen Versuche mehr unterneh men. Wenn sich morgen nicht schnell eine Lö sung ergibt, wird der ›Laserschlüssel‹ ange setzt. Wir müssen das Rätsel um dieses Qua dergebäude lösen!«
Kühne Hypothesen Mondkurator Pawel Rinald, Kamatu Orina und Urs Jassman, die drei Wissenschaftler, die mit ihren Funden die Fachwelt in Atem hielten, hatten sich unterdessen von Sydney wieder nach Stockholm begeben. Die gründliche Un tersuchung der Skelette, der Bekleidung und der Ausrüstungsgegenstände der Seleniden würde sicher noch Wochen und Monate in An spruch nehmen. Sie waren nur so lange in Syd ney geblieben, bis die Altersbestimmung der gefundenen Knochenreste erfolgt war. Man hatte anfangs Zweifel, ob die Radiokohlenstoff methode, die von irdischen Voraussetzungen ausging, bei den fremden Kosmonauten ange wendet werden könne. Doch es blieb keine an dere Wahl. Als Mittelwert aus zehn Messungen ergab sich für die außerirdischen Raumfahrer ein Alter von etwa eintausend Jahren. Damit stand fest, daß diese beiden Extraterristen die tief unter der Oberfläche des Mondes verbor gene Stadt betreten hatten, als man auf der Erde im zwölften Jahrhundert lebte. Was war das für eine Zeit? Beginnendes Mit telalter, historisch gesehen. Was wußte man noch aus dieser Zeit? Feudalismus, große Na men und blutige Kriege! Aber zwischen diesen
Ereignissen und der möglichen Landung eines fremden Raumschiffes auf dem Mond gab es keine Zusammenhänge. Vielleicht hatte es je mand gesehen, aber niedergeschrieben oder festgehalten hatte es niemand. Trotzdem, die Erde war groß, man würde nachforschen müs sen. Für den Flug von Sydney nach Stockholm hat ten sie einen Stratosphärengleiter mit Ionen triebwerken benutzt. Diese Flugapparate wa ren im Zeitalter der Flüge mit bemannten Ra keten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden. Es handelte sich weder um Flug zeuge im konventionellen Sinne noch um Ra keten. Diese Flugkörper stiegen als Senkrecht starter bis in den Raum außerhalb der Erdat mosphäre auf und ließen sich dann auf die Lufthülle fallen, prallten dort wieder ab und kamen zurück, so daß eine wellenförmige Be wegung auf der Außenseite der Erdatmosphäre entstand. Da sie sich vorwiegend im luftleeren Raum vollzog, konnte eine Geschwindigkeit von sechs Mach erreicht werden. So wurde für die Strecke Sydney – Stockholm nur eine Flug zeit von zweieinhalb Stunden benötigt. Pawel Rinald kannte Stockholm aus seiner Studienzeit. Obwohl das alte Stockholm nur noch das Zentrum einer riesigen modernen Sa
tellitenstadt war, konnte er gegenüber seinen beiden Begleitern noch recht gut den Frem denführer spielen. Als sie am nächsten Morgen vom Institutsdi rektor begrüßt wurden, merkten sie bald, daß bei der Entzifferung der Metallplatte keinerlei Fortschritte erzielt worden waren, obwohl man fast die gesamte Kapazität der großen Forschungseinrichtung für die Enträtselung der seltsamen Kurvenschrift eingesetzt hatte. Warum gab es trotz eines Aufgebotes modern ster Sprach- und Schriftcomputer keine Ergeb nisse? Der Direktor Dr. Ekman versuchte, dies den drei enttäuschten Besuchern zu erläutern. »Sehen Sie, die großen Schriftdeuter im neun zehnten und zwanzigsten Jahrhundert wie Champollion, Grotefend, Rawlinson und Hroz ny nutzten bei allen spezifischen Schwierigkei ten den Vorteil, daß es sich um Schriften und Sprachen aus der Frühzeit irdischer Völker schaften handelte, daß durch Ausgrabungen historische Begebenheiten bekannt geworden waren, die Anhaltspunkte lieferten. Manchmal gab es auch noch idealere Hilfsmittel. So lag Champollion, dem Übersetzer der ägyptischen Hieroglyphen, eine wörtliche Übertragung ei ner Inschrift in griechisch vor. Sie wissen, daß die gesamte neue Technik, die
wir einsetzen, im Endeffekt vom Wissen und Erkenntnisvermögen der sie bedienenden Menschen abhängt. Die Kurvenzeichen sind von unseren kybernetischen Anlagen nach al len Seiten hin untersucht worden, nach der Unterschiedlichkeit der Bogenzüge, nach dem Ähnlichkeitsspektrum… Viele Schriftexperten versuchen überdies, die Aufgabe individuell zu lösen. Ihr Vorbild ist Hrozny, der Übersetzer des Hethitischen. Er hat die unbekannten Tex te oft dreihundert- bis vierhundertmal gelesen, um Zusammenhänge zu finden, was ihm auch gelungen ist. Aber ihm halfen dabei bestimmte historische Vorstellungen. Wie dem auch sei, wir werden mit aller Intensität weiterarbeiten. Ich möchte Sie bitten, uns jede Kleinigkeit, die Sie bei den weiteren Forschungsarbeiten auf dem Mond entdecken und die irgendwie etwas mit der Schriftentzifferung zu tun haben könn te, sofort mitzuteilen. Übrigens ist das Materi al der Schriftplatte tatsächlich Platin.« Man verabschiedete sich, und Pawel Rinald flog mit seinen beiden Begleitern am Abend weiter nach Paris, um möglichst noch die nächste Kurierrakete nach Lunapol zu errei chen. Doch starker Nebel verzögerte das Lan demanöver, und so trafen sie mit zwei Stunden Verspätung in Orly ein. Der nächste Flug zum
Mond würde erst in vier Tagen stattfinden. Da Orina und Jassman Paris gern kennenler nen wollten, hatte Rinald nichts dagegen, daß man die Zeit bis zum nächsten Start in der Sei nemetropole verbrachte. Die Stadt war in vieler Hinsicht interessant. In den letzten vierzig Jahren hatte sie sich zur modernsten Großsiedlung des europäischen Staatenbundes entwickelt. Von den Alpträu men futuristischer Städteplaner war nichts üb riggeblieben! Der Tourist suchte vergebens nach Wolken kratzern und Hochhäusern, die noch vor ei nem knappen Jahrhundert die Menschen, die darin wohnen und leben mußten, wie Ameisen erscheinen ließen. Die These von dem viel zu kleinen Erdball, die zu der Ansicht führte, den Menschen könne geholfen werden, wenn sie zu Zehntausenden in Stein gewordenen Termiten hügeln wohnen würden, war längst ad absur dum geführt worden. Das alte Paris mit seinen weltbekannten Se henswürdigkeiten war umfassend und auf sehr kostspielige Art saniert worden. Durchsichtige Plastüberzüge, die Farben und architektoni sche Details voll zur Wirkung kommen ließen, schützten die kostbaren Fassaden der Bauwer ke vor zerstörenden Umwelteinflüssen.
Die neuen Peripheriestädte, die sich nach Norden und Süden hin auf beiden Ufern der Seine erstreckten, waren nach dem Inselprin zip errichtet worden. Die Maximalhöhe aller Bauten betrug dreißig Meter. Die vieleckigen und sich nach oben terrassenförmig verjün genden Gebäudekomplexe, die ihren Bewoh nern den Eindruck individueller Wohngege benheiten vermittelten, lagen wie weiße Inseln in den sie weiträumig umgebenden, parkarti gen Grünanlagen. Die Hauptverkehrsstraßen tangierten diese Wohnzentren nur. Aber was in der ganzen Welt als nachahmenswerter Fortschritt bezeichnet wurde, das war das strikte Benutzungsverbot jeglicher Fahrzeuge mit Benzin- oder Dieselmotoren auf den inner städtischen und stadtnahen Autobahnen. Magnetische Unterflurfelder in Verbindung mit Linearmotoren, batteriegespeiste Elektro motoren und Elektrogirosysteme dienten nun als Antrieb. Und was zuerst niemand für mög lich gehalten hatte: Der Verkehr rollte rei bungslos. Die anfänglichen Schwierigkeiten beim Verlassen der Wanderfeldrouten, beim Batterieaustausch und beim Hochtouren der Omnibuskreisel waren schnell überwunden worden. Geräuschlos und umweltfreundlich huschten die großen und kleinen Fahrzeuge
vorüber. Pawel Rinald dachte schon seit der Landung in Orly darüber nach, ob er die verfügbare Zeit nicht dazu nutzen sollte, seinen alten Freund und Studienkollegen Frederic Montez nach vielen Jahren wieder einmal aufzusuchen; vor ausgesetzt, daß dieser überhaupt noch in Paris wohnte und daß es ihm gelänge, den Gelehrten ausfindig zu machen. Nach dem gemeinsamen Studium an der Mos kauer Lomonossow-Universität hatten sich ihre Wege getrennt. Während er eine langjäh rige Kosmonautenausbildung absolvierte, hat te sich Frederic für eine Tätigkeit als Lehrer an der Sorbonne entschieden. Die Verbindung zwischen ihnen wurde immer spärlicher und brach schließlich ganz ab. Pawel Rinald wußte nur, daß sich der Freund vor sieben oder acht Jahren zu privaten Studien zurückgezogen hat te. Nach mehreren Telefongesprächen war es ihm tatsächlich gelungen, die Adresse von Montez herauszufinden. Am späten Nachmit tag klingelte er an der Gartenpforte eines Hau ses in der Rue du Matin. Nachdem die beiden Freunde bei einem Glas Wein und einer guten Zigarre des langen und breiten erörtert hatten, wie es ihnen ergangen
war, kamen sie auf Rinalds Kuratortätigkeit zu sprechen und nicht zuletzt auch auf die sensa tionellen Entdeckungen der letzten Wochen. Pawel teilte Frederic auch die allerletzten Er gebnisse mit und stellte dann die Fragen: »Wie ich weiß, hast du dich jahrelang mit dem Leben im Kosmos und seinen Erscheinungsformen beschäftigt. Welche Erklärung hast du für das Auftauchen der fremden Kosmonauten vor fast tausend Jahren, und wie denkst du über die Obeliskenstadt tief unter der Mondoberflä che?« »Ja, mein lieber Pawel«, Montez zündete sich erneut bedächtig eine fast pechschwarze Brasil an, »hierüber Vermutungen oder Meinungen zu äußern, bringt einem leicht den Ruf eines Phantasten ein oder, schlimmer noch, den ei nes Besserwissers. Also behalte das, was ich dir jetzt sage, bitte für dich! Die Quarzstadt und die Kosmonauten gehören vermutlich zu sammen. Das wiederum bedeutet, daß die von euch gefundenen Sternenfahrer von irgendwo her zurückgekehrte Seleniden sein müssen. Of fene Fragen: Bis wann haben sie auf dem Mond gewohnt, warum haben sie ihn schließlich ver lassen und wo haben sie sich bis vor etwa tau send Jahren aufgehalten? Ich bin seit Jahren, entgegen den meisten wis
senschaftlichen Hypothesen, der Ansicht, daß der Mond noch gar nicht so lange, wohlge merkt nach kosmischen Zeitmaßen gerechnet, ein Begleiter der Erde ist. Er muß also früher ein selbständiger Planet gewesen sein. Daß dem so sein könnte, beweisen uralte Überliefe rungen, die von einer mondlosen Zeit spre chen. Diese mondlose Zeit muß im Bereich der letzten hunderttausend Jahre liegen. Vor unse rem derzeitigen Mond und der mondlosen Zeit gab es den sogenannten Tertiärmond, einen Kleintrabanten, der in prähistorischer Zeit nach maximaler Annäherung auf die Erde her abgestürzt ist. Das kurz zu dieser Theorie; aber ich hatte dich ja gewarnt! Trotzdem will ich fortfahren. Es kann also angenommen werden, daß der Planet Mond bis zum Eintritt einer Katastro phe, die mit seinem Einfangen durch die Erde vermutlich ihr Ende fand, von hochintelligen ten, menschenähnlichen Wesen bewohnt war. Wann werden sie ihren Heimatplaneten ver lassen haben? Da einige von ihnen bis in die Neuzeit überlebt haben, müssen sie ihn logi scherweise vor der Katastrophe verlassen ha ben, also bereits in jenem Zeitraum, der etwa hunderttausend Jahre vor unserer Zeitrech nung liegt. Du hast mir erzählt, daß die von
euch gefundenen Seleniden eine Körpergröße von höchstens einem Meter hatten, also recht kleine Menschen gewesen sein müssen. Was hältst du davon, wenn wir einmal annehmen, daß sie damals zur Erde geflüchtet sind? Wo hin würdest du fliegen, vorausgesetzt, du wärst technisch dazu in der Lage, wenn du die Wahl hättest zwischen Venus, Erde oder Mars? Für eine hochentwickelte Eiweißlebensform bietet zweifellos die Erde die günstigsten Bedingun gen. Setzen wir einmal voraus, die Seleniden hät ten sich unsere Erde als Zufluchtsort auser wählt zu einer Zeit, da unsere Vorfahren noch als Neandertaler ein Hordenleben führten. Entsprechend den Bedingungen auf ihrem frü heren Planeten werden sie für den Fortbestand ihrer Gattung eine entsprechende Region un serer Erde ausgewählt haben – wo, weiß ich nicht… Da die von euch entdeckte Stadt tief unter der Mondoberfläche liegt, müssen es Lebewesen der Dunkelheit und der Tiefe gewesen sein. Ob zwischen ihnen und den Menschen der Erde je mals Kontakte bestanden haben, ist fraglich. Sicher scheint aber, daß die irdischen Lebens bedingungen, der andere atmosphärische Druck und die größere Anziehungskraft auf
den Fortbestand der Seleniden sehr negativ eingewirkt haben, so daß sie sich beispielswei se nicht vermehrt haben. Eins könnte man, ohne voreingenommen zu sein, noch dazu anführen: Zu den alten Über lieferungen gehört zweifellos auch die Kunde von kleinen Menschen, die tief unten in Bergen und Höhlen wohnen, die sich unsichtbar ma chen können, über große Schätze verfügen, ge genüber den Menschen sehr scheu sind und die Dunkelheit bevorzugen. Lieber Freund, ich könnte die Pseudoargu mentation noch fortsetzen. Die Hypothese wird dadurch jedoch nicht glaubhafter. Doch spinnen wir den phantastischen Faden schnell zu Ende! Die Anzahl der auf der Erde lebenden Seleniden wurde immer geringer. Vielleicht waren es zuletzt nur noch hundert oder gar nur noch ein Dutzend. Sicher war ihre Medizin so weit entwickelt, daß sie ihren Lebenszyklus maximal verlängert haben. Nehmen wir nun schließlich noch an, daß die von euch aufge fundenen Relikte die sterblichen Überreste der zwei letzten Seleniden sind. Nach ihnen ist nie mand mehr gekommen. Ihren Flugkörper, der sie von der Erde zum Mond gebracht hat, habt ihr noch nicht gefunden. Was auf der Metallplatte geschrieben steht,
ist für jene gedacht, die technisch einmal so fortgeschritten sind, daß sie die letzten Zeugen einer fremden Zivilisation auffinden können.« Während dieser unglaublichen Geschichte hatte sich das kleine Zimmer mit dem Rauch etlicher Zigarren gefüllt. Pawel Rinald sann den Worten seines Freundes nach; ihm war, als hätte jemand aus einer uralten Sage vorge lesen. Danach sprachen sie nicht mehr viel. Rinald war froh, daß er den Weg zu Montez gefunden hatte. Bei seiner Verabschiedung versprach er dem Gelehrten, ihn auf dem laufenden zu hal ten. Auf dem Heimweg bewunderte er die Kombi nationsgabe dieses Wissenschaftlers, der ihm in wenigen Stunden eine phantastische, aber dennoch glaubhafte Hypothese entwickelt hat te. Es dauerte lange, bis der Mondkurator an die sem Abend einschlafen konnte. Ben Darkens und seine Mitarbeiter waren mit dem Ergebnis des letzten Abstieges in die Höh lenstadt unzufrieden. Das Eindringen in den Flachbau bereitete doch größere Schwierigkei ten, als sie ursprünglich angenommen hatten. Nachdem sich die sechs Lunauten erfrischt
und umgezogen hatten, trafen sie sich in einem der komfortabel ausgestatteten Rekonditionie rungsräume von Lunapol, um im zwanglosen Gespräch den bisherigen Ablauf ihres Unter nehmens zu analysieren. Ben Darkens war eigentlich kein Freund von solcher Geselligkeit, und seine Stimmung bes serte sich erst, als ihm ein Kurier vom Luna drom die sorgfältig verpackten Kugeln aus dem Raumanzug des Seleniden übergab. Ira Beaux saß ihm gegenüber. Es ließ sich nicht vermeiden, daß sein Blick, mehr als notwen dig, ihr Gesicht streifte. »Wißt ihr«, begann er die Unterhaltung, »wir sollten uns überlegen, ob es nicht zweckmäßig wäre, in der Nähe des Landeplatzes eine feste Unterkunft für uns zu errichten. Ab- und Auf stieg kosten uns viel Zeit. Ich denke, ihr habt nichts dagegen, wenn ich Uwe Girnt beauftra ge, das Erforderliche einzuleiten. Das vorweg. Doch nun zu dem Flachbau. Welche Vorstel lungen habt ihr von dem weiteren Vorgehen?« »Wenn ihr meine Meinung hören wollt«, sag te Ives, »dann gehören die vier farbigen Ku geln und die vier Löcher, die ihr in dem Flach bau entdeckt habt, zusammen. Der Bau muß wirklich etwas Wichtiges bewahren. Ich nehme daher an, die vier Kugeln, die nicht jedem Sele
niden zugänglich waren, sind ganz einfach der Schlüssel dazu. Darum gehörten sie auch zu den wenigen Habseligkeiten, die bei den Mu mien gefunden wurden.« Ben Darkens nickte beifällig. »Ich glaube, Ives, du bist auf dem richtigen Wege! Oder was meint ihr?« »Laßt mich bitte auch einmal zu Wort kom men«, sagte Ira bedächtig. »Wie wir weiter vorgehen? Wir lassen die Kugeln in die Öff nungen fallen, und zwar in der Reihenfolge der Farben des Spektrums: Rot, Gelb, Grün und Blau. Es wird sich dann sehr schnell zeigen, ob sie irgend etwas auslösen. Dann, so würde ich empfehlen, machen wir einen weiteren Ver such mit Bioströmen. Wenn auch das nicht hilft, dann würde ich, so wie es Ben Darkens schon zum Ausdruck brachte, dafür plädieren, daß wir mit Laserbrennern eindringen.« Auch Svanta wollte noch etwas sagen. »Ich habe gründlich über die Skizze des einen Sele niden nachgedacht. Es gibt eigentlich nur zwei Auslegungen. Entweder er hat damit ein weit zurückliegendes Ereignis dargestellt, dann sind die Zeichnungen von rechts nach links zu betrachten, und das rechte Bild zeigt den Mond während der prähistorischen Katastrophe – oder aber, die Skizzen gelten von links nach
rechts, dann wollte er für den Mond und damit für uns eine gefährliche Zukunft andeuten. Ich kann mir nicht helfen, mir ist etwas unheim lich bei dem Gedanken, daß uns jemand vor fast tausend Jahren auf eine naheliegende Ka tastrophe aufmerksam macht.« »Svanta hat völlig recht«, sagte Fred. »Wenn einer von uns bei einem Unternehmen lebens gefährlich verunglückt und noch Zeit hat, Noti zen zu hinterlassen, wird er bestimmt auf vor handene Gefahren hinweisen, die seinen Tod überdauern.« »Wenn ich eure Meinung also kurz zusam menfasse«, resümierte Ben, »dann hat jener Selenid in seinen letzten Minuten auf der Me tallplatte eine künftige Mondkatastrophe dar gestellt und angedeutet, daß wir in dem be zeichneten Flachbau Näheres darüber erfah ren werden. Wenn es sich wirklich so verhält, ist dies ein Grund mehr, unser morgiges Expe ditionsziel um jeden Preis zu erreichen. Ich denke, damit sollten wir den Tag beenden. Also – auf morgen!« Nach zwölf Stunden war es wieder soweit. Als die Gruppe endlich im Raketokopter saß und dieser Meter um Meter in die Tiefe sank, ließ Ben die oft erwähnten Kugeln von Hand zu Hand gehen. Eigentlich waren sie nichts Be
sonderes. Farbige, große Kugeln, wie sie Kin der zum Spielen benutzen. Fred, der immer zu einem Scherz aufgelegt war, konnte es nicht unterlassen, eine der Ku geln in die Nähe des Rohrgestells seines Ses sels zu bringen, und war erstaunt über die enorme Kraft, die er aufbringen mußte, um die Kugel an der Stelle zu halten. Als man in die Nähe des Anomaliebereiches kam, kontrollierte Fred routinemäßig die In strumente. Ben wollte eben die Schubdüsen einschalten, da rief Fred: »Halt! Ihr werdet es kaum glauben, aber das Gegenfeld ist ver schwunden. Was soll nun das wieder bedeu ten? Es schien mir beim letzten Abstieg schon schwächer als sonst. Werden wir das Rätsel dieser Anomalie jemals lösen?« Die anderen zuckten ratlos die Schultern. Nach reichlich einer Stunde, die allen wie eine Ewigkeit vorgekommen war, setzte der Flug körper sicher auf, und der kurze Weg zu dem Rechteckbau, der bis jetzt jedem Öffnungsver such getrotzt hatte, begann. Genau von der Mitte der. Stirnseite des Gebäudes ausgehend, entfernte Ives mit dem Implorator etwa zehn Meter nach jeder Seite die dünne Staubschicht, aber es zeigten sich nicht die Überraschungen wie an den Oktaederhäusern.
»Kommt«, rief Ben, »wir wollen das Experi ment mit den Kugeln beginnen!« Gespannt scharten sie sich um den Expeditionsleiter. Die rote Kugel rollte nach hinten und verschwand, auch bei der gelben gab es keine Schwierigkei ten. Und schließlich waren auch die restlichen zwei den Bahnen, die irgendwohin führten, ge folgt. Aber nichts geschah! Ben schlug unbe herrscht mit der Faust an die Quarzwand. We der sprang die Tür, die als schmaler Spalt zu erkennen war, auf, noch bewegte sich ein an deres Stück. Nichts! Die Enttäuschung war verständlicherweise groß. Es vergingen Minuten. Da! Er wollte sei nen Augen nicht trauen, aus den vier Öffnun gen, in denen die Kugeln verschwunden wa ren, schoben sich Sensoren – kleine Antennen, winzig, wie feine Filigranarbeit, aber dennoch sichtbar. »Freunde«, rief er überlaut, obwohl ihn alle über den Helmsender deutlich verstehen konnten, »wir sind der Lösung des Rätsels endlich ein Stück näher!« »Das schon«, sagte Ira, »aber es fehlt uns noch der Algorithmus für die Speisung dieser kybernetischen Anlage, die vermutlich durch die eingeworfenen Kugeln erst betriebsbereit geworden ist.«
Ives ging ganz nahe an die Sensoren heran. Er hatte inzwischen seine eigenen Betrachtungen angestellt. Durch Zufall waren Mara und er beim Untersuchen der überdimensionalen Fahrstuhlanlage auf den Auslösemechanismus durch Bioströme gestoßen. Vielleicht funktio nierte diese hier ähnlich. Schon einige Minu ten stand er vor den spinnenartigen Antennen. Ganz fest und deutlich stellte er sich vor, wie die rechts daneben befindliche, durch einen kaum sichtbaren Spalt getrennte Wandpartie sich plötzlich hob und nach oben wegklappte. Und da geschah es! Das von dem Spalt einge rahmte Stück Quarzmaterial bewegte sich langsam nach oben und gab Zentimeter um Zentimeter den Blick ins Innere des Bauwer kes frei. Die Erstarrung der Wissenschaftler löste sich. »Halt!« rief Ben, »bevor wir in das Gebäude eindringen, müssen wir die Tür sicher abstüt zen, damit nichts Unvorhergesehenes passie ren kann! Ives und Fred, holt bitte vom Rake tokopter die Stahlstützen.« Im Licht der Helmleuchten und Scheinwerfer bot sich den Blicken der erwartungsvollen Se lenologen zunächst nichts Außergewöhnliches dar. Der lange, schmale Gang, der vor ihnen lag, war leer. Nach beiden Seiten führten meh
rere halbrunde, türartige Öffnungen. Ives und Fred hatten unterdessen das Stück Quarzwand, das ihnen den Eintritt in das Bau werk ermöglichte, nach ihrer Meinung gut und sicher abgestützt. Mit größter Vorsicht, jeder mit dem anderen durch eine Sicherheits schnur verbunden, traten sie in das offene Ge bäude ein. Der Blick nach rechts und links durch die flachen Torbogen zeigte ihnen, daß der Quarzbau, über dessen eigentlichen Ver wendungszweck niemand eine richtige Vorstel lung hatte, auf beiden Seiten bis zur Decke mit großen zylindrischen Behältern angefüllt war. Also doch ein Magazin. In gebückter Haltung durchschritt Ben als er ster den viel zu niedrigen Torbogen. Beinahe wäre er gestolpert. Vielleicht hatte er auch nicht direkt unter sich gesehen, oder der tote Winkel der Helmleuchte war daran schuld. Ge nau in der halbrunden Öffnung befand sich eine halbmeterhohe Stufe oder Schwelle. Er mußte sich mit den Händen darauf abstützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Da bewegte sich die Schwelle geringfügig. Durch einen kräftigen Stoß mit dem schweren Raum handschuh konnte er den Klotz um einige Zen timeter verschieben. Als er näher hinsah, glänzte es metallisch. Waren da nicht schar
nierartige Erhöhungen? Er tastete die ihm ab gewandte Seite ab und fühlte einen Riegel oder Verschluß. Sollte er über eine ganz simple Ki ste gestolpert sein? Die anderen, die sich hin ter ihm befanden, wunderten sich, daß es nicht weiterging. Hatte Ben sich vielleicht verletzt? Doch schon war seine Stimme im Helmlaut sprecher zu hören. »Ives und Fred, faßt bitte mal mit an. Genau vor mir in dem Durchgang scheint eine altmodische Truhe mit metalli schen Beschlägen zu stehen! Weiß der Teufel, wie die hierherkommt! Mal sehen, ob wir sie öffnen können.« Jetzt kam Bewegung in die Gruppe. Ben ent riegelte den Schubverschluß, Ives und Fred versuchten den überstehenden Deckel anzuhe ben. Aber vergebens. Erst als Svanta ihnen ein pickelartiges Werkzeug zum Unterklemmen gereicht hatte, ließ sich das Oberteil plötzlich hochklappen. Die Truhe entpuppte sich als ein moderner Metallbehälter mit Dichtrahmen, der bis zum Rand mit grauschimmernden Kästchen angefüllt war. Als Ben eines davon herausnahm, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Die grauen Vierecke, die von oben wie Kästchen ausgesehen hatten, waren Bücher, Folianten mit dünnen Blättern aus Metall. Hastig hob er das Metallbuch in Augenhöhe
und blätterte wahllos darin. Da rief er auch schon, und seine Stimme überschlug sich förmlich dabei: »Freunde, seht selbst, wir ha ben ein Wörterbuch gefunden! Das hier sind Bilinguen, die die Seleniden hinterlassen ha ben! Wörterbücher mit den fremden Kurven zeichen und daneben Erläuterungen in griechi scher Schrift altertümlicher Schreibweise.« Damit hielt er seinen Freunden die offenen Seiten hin. Fred griff sofort zu, und Ben ent nahm dem Metallbehälter weitere Bände. Das war ein Ereignis, über dessen Tragweite sich die Wissenschaftler erst klar zu werden ver suchten. An der gegenüberliegenden Türöffnung stand ebenfalls so ein Metallbehälter. Mit einiger An strengung gelang es den Männern auch dort, die sonderbare Bibliothek zu öffnen, diese war mit den gleichen metallischen Folianten ange füllt. Ives hatte kaum ein paar Seiten überflo gen, als er, ganz entgegen seiner Gewohnheit, laut und impulsiv rief: »Es ist kaum zu glau ben! In diesem Behälter befindet sich eine wei tere Bilingue! Diesmal sind die Erläuterungen in Latein.« Nachdem sich die verständliche Aufregung der letzten halben Stunde etwas gelegt hatte, sichteten sie das übrige gestapelte Material.
Das Bauwerk war tatsächlich eine Art Magazin, denn außer dem schmalen Gang, der sich von der einen Stirnseite schnurgerade durch das gesamte Gebäude erstreckte, waren in den ab geteilten Räumen bis zur Decke diese etwa einen Meter langen, zylindrischen Rollen fein säuberlich gestapelt. »So«, brach Ben das längere Schweigen, »nachdem wir in diesem Quarzbau zwar die beiden geradezu phantastisch anmutenden Bi linguen gefunden haben, ansonsten aber nur die einheitlichen Rollen hier zu Tausenden ge stapelt sind, sollten wir nachsehen, was sie ei gentlich enthalten. Vielleicht sind sie leer, oder es gibt womöglich zwischen ihnen und den Me tallbüchern einen Zusammenhang!« Die Spannung des kleinen Kollektivs wuchs erneut. Fred entnahm kurzerhand dem nächst liegenden Stapel eines der vielen Behältnisse. Er konstatierte: »Länge etwa einen Meter, Durchmesser ungefähr zehn Zentimeter, äu ßerlich weiche Plasthülle verschließt festeren Inhalt, vermutlich luftdicht, Gewicht nach Empfinden, ohne Umrechnung etwa fünf Kilo gramm. Soll ich jetzt die Röhre öffnen?« »Ja, aber mit größter Vorsicht!« sagte Ben und reichte ihm sein Kappmesser. Ives schnitt behutsam die obere Stirnfläche der Rolle ab.
Gespannte Gesichter! In einer besonderen Schutzhülle steckten übereinandergeschichtet etwa fünf Millimeter breite Bandrollen. Fred hatte schon das Wort »Tonbänder« auf den Lippen, da sah er, daß diese Bänder zum Unterschied von dem, was er vermutete, aus dünnem, glasklarem Material bestanden. »Ich möchte annehmen, es handelt sich um Infor mationsträger; aber nach welchem Prinzip sie aufgebracht sind, kann ich hier nicht ermit teln.« Er hatte den Inhalt der Rolle herausge nommen und vor sich auf den Boden gestellt. »In einem solchen Zylinder sind genau zwei hundert der glasklaren Bänder enthalten. Wenn die Informationsdichte etwa der eines Tonbandes entspricht, ist das hier ein unge heurer Fund!« Mara Bhali, die schnell noch einmal die ein zelnen Stapel mengenmäßig überschlagen und die Breite der Einzelräume gemessen hatte, kam zurück und ergänzte: »In dem gesamten Flachbau befinden sich schätzungsweise drei hunderttausend dieser plastumhüllten Wis sensrollen. Vorausgesetzt, Fred hat recht mit seiner Vermutung.« »Ich denke«, unterbrach Ben erneut das Schweigen, das durch diesen letzten, alle Vor stellungen übersteigenden Fund entstanden
war, »wir beginnen damit, diese Rollen, die vermutlich für die Bereicherung des Wissens der Menschheit von unschätzbarem Wert sein werden, nach oben zu transportieren. Es wird notwendig sein, hierfür größere Aufzüge ein zurichten, denn für unseren Kopterlift allein würde der Transport der schätzungsweise dreihunderttausend Rollen mindestens acht hundert Fahrten bedeuten. Zuerst schaffen wir die beiden Metallkisten mit den Bilinguen in den Raketokopter, dann holt jeder noch vier Rollen!« Die Seilmannschaft war zunächst erstaunt, als der Befehl zum Hochholen schon so früh kam. Doch als ihnen Ben Darkens den Grund dafür nannte, wurden auch sie von Begeisterung er griffen. Die Stunden wollten gar nicht verge hen, bis sie mit ihrer wertvollen Ladung end lich die Mondoberfläche erreichten. An diesem Tag mochte niemand die Quartiere aufsuchen. Die Freude über die wichtigen Fun de und die Gewißheit, nun endlich die Kurven schrift der Seleniden übersetzen zu können, ließen keinen der sechs Wissenschaftler an Ruhe und Schlaf denken. »Ich kann euch ja nur zu gut verstehen«, sagte Ben Darkens zu dem kleinen Kollektiv, »aber für heute ist Schluß. Ich will ganz schnell ver
suchen, ob ich noch Verbindung mit dem Ku rator auf der Erde bekomme. Wenn ich mich nicht irre, hatte er vier Tage Aufenthalt. Er soll mit den Wörterbüchern, die wir ihm umge hend überbringen müssen, nach Stockholm reisen und unbedingt die Übersetzung des Tex tes auf der Metallplatte abwarten.« »Ira«, wandte er sich an die Astronomin, und es war mehr eine Bitte als eine Frage, »würden Sie den wichtigen Transport der Funde zur Erde übernehmen? Ich werde versuchen, für morgen eine Kurierrakete zu bekommen. Doch jetzt muß ich schnell zur Laserstation!« Ohne die Antwort von Ira Beaux abzuwarten, sprang er in das bereitstehende Lumobil und jagte davon. Unterwegs bereute er schon, daß er gerade Ira für den Flug zur Erde ausgewählt hatte. Sie würde ihm fehlen. Doch er wollte ihr eine Freude machen, er wollte ihr den Tri umph gönnen, der Menschheit diesen wichti gen Fund zu überbringen. Oder? Wollte er Ira in Sicherheit wissen, wenn sie in den nächsten Tagen die Höhlendecke untersuchten, um die von Nik Sullikow angedeutete Quelle der radio aktiven Strahlung ausfindig zu machen? Er würde sie auf alle Fälle bitten, so lange auf der Erde zu bleiben, bis die Informationsrollen un tersucht oder gar übersetzt waren.
Bedrohliche Botschaft Pawel Rinald saß im Flughafenrestaurant von Orlanda. Er war bester Laune, nachdem man ihm den Laserfunkspruch von Ben Darkens übermittelt hatte. Endlich würde es wieder vorwärtsgehen! Zulange schon wartete er auf die Übersetzung der Zeichen auf der Platin platte. Dieses tatenlose Zusehen war über haupt nicht nach seinem Geschmack. Der Mondkurator sah auf seine Uhr. In knapp zehn Minuten würde Ira Beaux mit dem Spezialjet, der die ständige Verbindung mit dem Luna drom in der Nähe von Leningrad und dem Flugplatz von Stockholm herstellte, hier ein treffen. Er freute sich auf das Wiedersehen mit der eigenwilligen Frau, die er erst vor wenigen Wochen näher kennengelernt hatte. Soeben wurde die einfliegende Maschine in den Laut sprechern angesagt. Ira Beaux erkannte aus knapp achthundert Meter Höhe deutlich das Stadtbild des alten Stockholm. Sie liebte alte Städte, die nicht aus schließlich nach Gesichtspunkten der Zweck mäßigkeit und der Kosteneinsparung gebaut waren und noch einen Hauch von Romantik besaßen. In den letzten Stunden war sie kaum zur Besinnung gekommen. War sie überhaupt
noch dieselbe wie vor einigen Wochen? Was war aus ihrem geordneten Mondarbeitstag ge worden, den sie so gut mit wissenschaftlicher Arbeit auszufüllen wußte? Seit sie sich der Ex peditionsgruppe angeschlossen hatte, war eini ges in ihrem Leben anders geworden. Mögli cherweise spielte dabei eine Rolle, daß sie jetzt nicht mehr selbst ein Kollektiv leitete, sondern einfach dazugehörte. Aber es war noch mehr, was sie bewegte, worüber sie sich jetzt noch keine Rechenschaft ablegen wollte. Vielleicht hatte sie während des Aufenthaltes auf der Erde mehr Zeit, über sich selbst und die Zukunft ein wenig nachzudenken. In den letzten zehn Jahren, sie empfand das jetzt erst richtig, war sie trotz der rastlosen Forschungs tätigkeit und der beglückenden Nähe von Sol Mento einsam geblieben. Dennoch, sie war fest davon überzeugt gewesen, daß sie Sol Mentos Tod nie verwinden würde. Sie dachte immer wieder an den Toten, sie dachte aber auch an Ben Darkens. Sol Mento und Ben Darkens – zwei grundverschiedene Menschen. Den einen hatte sie geliebt. In ihrer Hilflosigkeit und Trauer war der andere zur Zielscheibe ihrer Abneigung geworden. Geradezu verbissen hat te sie sich von ihren Gefühlen leiten lassen und in ihm den Schuldigen für den Unfall gesucht.
Und gerade dieser Mann, der nicht wenig Grund gehabt hätte, sie zurechtzuweisen, brachte ihr Verständnis entgegen. Ja, wenn sie ganz ehrlich war, dann freute sie sich zwar auf die kommenden Tage, die ihr alle Annehmlichkeiten der Zivilisation boten. Wie schön war es, mal wieder mit offenem Haar, mit Rock und Bluse und nackten Beinen in der Sonne laufen zu können! Aber sie hatte auch große Sehnsucht, wieder zurückzukehren, um Ben Darkens nahe zu sein. Das ein wenig zu harte Aufsetzen der Maschine rief Ira Beaux in die Wirklichkeit zurück. Als sie die Gangway hinunterschritt, sah sie am Eingang zur Emp fangshalle Pawel Rinald stehen. Sie fand es sehr aufmerksam, daß er sie direkt am Rollfeld erwartete. Die Begrüßung war herzlich und die Freude auf beiden Seiten echt. Während Ira noch ne ben dem geräuschlosen Transportband stand, um ihr Handgepäck in Empfang zu nehmen, brachten vier Flugplatzangestellte die beiden Kisten mit den Bilinguen und den Rollen. Ira war froh, daß der erste Teil ihrer Mission damit beendet war. Sie hatte das wichtige Ma terial dem Mondkurator ordnungsgemäß über geben. Am nächsten Morgen trafen sich Ira Beaux
und Pawel Rinald pünktlich vor dem kyberne tisch-linguistischen Institut in der Kungsgatan. Direktor Ekman, den der Kurator am Vor abend noch kurz über den Fund der Bilinguen informiert hatte, erschien mit seinen Mitarbei tern zur Begrüßung und Übernahme der Me tallfolianten. Immer wieder mußte Ira Beaux von ihren Abenteuern in der Obeliskenstadt berichten. Während Ekmans Mitarbeiter die Behälter mit der außerirdischen »Bibliothek« sorgsam ins Innere des Institutes transportierten, um sofort mit der Auswertung zu beginnen, erläu terte der Direktor den beiden Selenologen den Stand der bisherigen Arbeiten. »Leider sind wir mit der Entzifferung der Pla tinplatte noch nicht viel weitergekommen. Die selenidische Kurvenschrift läßt sich einfach nicht in menschliche Zeichenalgorithmen ein ordnen. Wir besitzen vom gesamten Schrift material der Menschheit einschließlich ältester Überlieferungen genaue Analysen. Die Schrift deutungs- und -translationscomputer sind so programmiert, daß es normalerweise nur eine Frage der Zeit ist, wann eine Übersetzung ge lingt. Nicht so bei der von Ihnen gefundenen Nachricht. Diese Kurvenschrift muß Kriterien aufweisen, die in unseren Programmen nicht
enthalten sind. Nun, ich hoffe, daß wir uns nach Auffindung der neuen Materialien nicht mehr über diese Schwierigkeiten zu unterhal ten brauchen.« »Wann, glauben Sie, können wir frühestens mit dem Ergebnis rechnen?« fragte Pawel Ri nald. »Ich schätze, daß selbst im günstigsten Fall mit etwa einer Woche zu rechnen ist. Meine Mitarbeiter sind zwar von ihrer Aufgabe begei stert und werden rund um die Uhr arbeiten, aber ein wenig werden Sie sich gedulden müs sen. Doch für heute haben Sie sicher nichts da gegen, wenn ich mir erlaube, Ihnen einige Computerräume und Labors unseres Institutes zu zeigen.« Als sie am frühen Nachmittag mit Dr. Ekman bei einer Tasse Kaffee zusammensaßen, wies Ira Beaux noch einmal darauf hin, daß sie hin ter dem Text und den Skizzen auf der Platin platte eine für die Erde und die, menschliche Zivilisation äußerst wichtige Nachricht, wenn nicht sogar eine Warnung vor einer Gefahr, vermute. »Ich bin weder abergläubisch noch ein Pessimist, aber ich komme von dem Ge danken nicht los, daß wir alle recht bald ein beunruhigendes Vermächtnis erfahren wer den. Sicher, wir wenigen, die wir die prähisto
rische Riesensiedlung der uns unbekannten Wesen gesehen haben, stehen vielleicht zu sehr unter dem Eindruck des Außergewöhnli chen. Was meinen Sie dazu, Herr Doktor Ek man?« Der vorsichtige und sehr sachliche Gelehrte konnte Ira nicht beipflichten. »Mademoiselle Beaux, warum sollte die letzte Nachricht eines Außerirdischen unbedingt einen gefährlichen Inhalt haben? Das klingt ja nach utopischen Romanen. Zweifellos enthält sie einen wichti gen Hinweis, davon bin auch ich überzeugt. Doch ich denke, daß wir in wenigen Tagen mehr wissen.« Obwohl Bilinguen mit zwei bekannten Spra chen vorlagen, bereitete die Übersetzung der Kurvenschrift viel mehr Schwierigkeiten, als die Spezialisten in Stockholm vermutet hatten. Als Ira Beaux und Pawel Rinald, die schon zweimal von Ben Darkens angerufen worden waren, am vierten Tag nach der Übergabe der Metallfolianten wieder im Institut vorspra chen, erfuhren sie zu ihrer Enttäuschung, daß die Übersetzung noch immer keine Fortschrit te gemacht habe, weil die selenidischen Zei chen oder »Oszillogramme«, wie sie von den Sprachexperten genannt wurden, Merkmale einer dreidimensionalen Schrift zeigten, was
die Übertragung beträchtlich erschwerte. Der sterbende Selenid hatte anscheinend nicht mehr die Kraft besessen, die dritte Dimension, die Schreibtiefe, ordentlich auszuführen. Inzwischen war schon mehr als eine Woche vergangen. Die Geduld der beiden Wissen schaftler und der vielen anderen Lunauten, die auf dem Mond das Ergebnis genauso gespannt erwarteten, wurde auf eine harte Probe ge stellt. Die untätige Wartezeit nutzten der Kurator und seine Begleiterin, indem sie die Rollenbe hälter, die Ira außer den Bilinguen mitge bracht hatte, persönlich nach Moskau brach ten. Das dort befindliche Institut für extrater restrische Kommunikation wurde von Akade miemitglied Gennadi Prokow, einem guten Be kannten Pawel Rinalds, geleitet. Dort war die Freude groß, denn die sogenannten Wissens rollen waren die ersten Untersuchungsobjekte einer außerirdischen Zivilisation. Endlich konnte einmal praktisch gearbeitet werden. Das war eine historische Stunde! Ira Beaux und Pawel Rinald waren schon wie der drei Tage aus Moskau zurück, da erreichte sie in der Nacht, es mochte gegen vier Uhr früh sein, ein Anruf von Dr. Ekman. Die Überset zung der Platinplatte sei geglückt, teilte er im
Zustand höchster Erregung mit. Sie möchten sofort kommen. Als sie im Institut eintrafen, zeigte Dr. Ekman, der gar nichts mehr von dem ruhigen, sachlichen Gelehrten an sich hatte, wortlos auf ein großes Blatt Papier, das auf sei nem Schreibtisch lag. Pawel Rinald las den Text vor, und seine Stim me zitterte ein wenig: Ich bin Eliu, der letzte Selenid. Da ich spüre, daß mein Leben nur noch von ganz kurzer Dauer sein wird und meine Gefährtin Peria schon gestorben ist, kann ich meinen Auftrag, eine große Gefahr von der Menschheit abzu wenden, nicht mehr ausführen. Unser kleines Raumschiff, mit dem wir im Jahre 1124 irdi scher Zeitrechnung in der Kratersenke des großen Tores gelandet sind, fliegt allein wei ter, bis es in der Sonne verglüht, damit der unbehütete Korpuskularantrieb hier keinen Schaden anrichtet. Ich muß mich beeilen, mein Leben, das ich schon viermal verlängert habe, ist gleich abgelaufen. Alles Wissenswer te über unser kleines Volk ist in dem nahe ge legenen Zweckbau, den meine Skizze zeigt, festgehalten. Aber über das, was die Erde be droht, ist dort nichts zu finden. Also ver nehmt: Energiebasis der selenidischen Tech nik waren die Kräfte, die entstehen, wenn Ma
terie und Antimaterie miteinander reagieren. Die Bewohner des blauen Planeten wissen mit diesen Energien noch nichts anzufangen. Bei unserem Auszug zur Erde sind die Vorräte an Antimaterie auf dem Sopri, wie der Erdmond in unserer Sprache heißt, zurückgeblieben. Die Lagerstätten befinden sich tief unter der Mondoberfläche und sind mit allen nur er denklichen Sicherheitsmaßnahmen ausgestat tet. Seit grauer Vorzeit sind diese Anlagen im Abstand von jeweils hundert Erdenjahren von selenidischen Technikern kontrolliert wor den, und dabei wurde die neutralisierende Schutzgashülle regeneriert. Peria und ich ha ben dies schon zweimal ganz allein tun müs sen, weil wir die letzten unseres Volkes sind. Nun sterben auch wir! Die absolute Sicher heitsspanne für die Anlage beträgt neun- bis zehnmal hundert Erdenjahre, dann ist die Amphotronenschicht unwirksam, und die An timaterie reagiert mit den Elementen der Um gebung. Die Menge, die wir dort eingelagert haben, reicht aus, um den Mond in eine neue Sonne zu verwandeln. Die Antimaterielager stätten befinden sich genau dort, wo… Hier hatte den Schreiber der Tod ereilt. Der Selenid hatte der Menschheit nicht mehr mit teilen können, wie und wo diese übermächtige
Gefahr zu beseitigen war. Der Mondkurator schaute auf Dr. Ekman und dann zu Ira. Es herrschte minutenlanges Schweigen. Was da auf dem Papier stand, übertraf die pessimistischsten Erwartungen. »Eins ist sicher«, sagte Pawel Rinald schließ lich, »jetzt gibt es für das gesamte Lunauten kollektiv in und um Lunapol nur eine Aufgabe, die Antimaterielagerstätten zu finden. Die ge samte irdische Wissenschaft und Technik müs sen dabei mithelfen. Die von Eliu genannte ab solute Sicherheitsspanne ist praktisch um. Eine Vollversammlung der Weltföderation muß einberufen werden. Ich werde so bald wie möglich nach Lunapol starten. Ben Darkens und seine Mitarbeiter werde ich noch heute in formieren. Ira, Sie möchte ich bitten, noch so lange in Moskau zu bleiben, bis es dort gelun gen ist, den Wissensrollen Informationen zu entnehmen. Es ist eine vage Hoffnung, aber vielleicht erfahren wir doch etwas über den Ort der Lagerstätten. Benachrichtigen Sie mich bitte täglich über den Stand der Dinge!« Damit verabschiedete er sich. Er wußte, welche Ver antwortung seit wenigen Minuten auf ihm la stete. Die Bevollmächtigten der Weltföderation hat ten sich nach einer kurzen, aber äußerst hefti
gen Debatte dafür entschieden, die Überset zung des Textes auf der Platinplatte der letzten Seleniden allen Menschen bekanntzumachen. Allerdings konnte sich kaum jemand, der nicht mit eigenen Augen jene »andere Welt« der un zähligen Quarzbauten und die Zeugen einer weit vorauseilenden Technik gesehen hatte, vorstellen, daß die Menschheit des einund zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrer fort schrittlichen Gesellschaftsordnung durch au ßerirdische Relikte aus der Zeit des Mittelal ters bedroht wurde.
Um hohen Einsatz Während bereits in den letzten Jahren der Mond und insbesondere Lunapol als ideale Ba sis für astronomische Beobachtungen von ei nem großen Teil der Menschheit für wichtig und notwendig erachtet wurden, hatte der Bau des Quecksilberrotationsteleskops weltweites Interesse erweckt. In dem Maße, wie sich auf der Erde die gesellschaftlichen Verhältnisse verbesserten, weitete sich der Blick und ver tiefte sich das Verständnis der Menschen für Wissenschaft und Fortschritt. Viele Jahrzehnte hindurch bestand nicht zu Unrecht die Meinung, daß es noch genug Pro bleme auf der Erde zu lösen gäbe, ehe man sich so intensiv fremden Welten und der kosmi schen Ferne zuwenden sollte. Ein Beweis mehr, wie das individuelle Bewußtsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt und beein flußt wird. Doch durch die Ereignisse der letzten Wochen war eine ganz andere Situation entstanden. Die außerirdische Botschaft, das drohende Vermächtnis der Platinplatte, hatte nichts mit grauer Theorie von Experten zu tun. Jetzt ging es um die Beseitigung einer Gefahr, deren ver derbenbringende Auswirkungen der Mensch
heit nun bekannt waren. So wuchs Lunapol ständig. Es war der Sam melplatz, das Zentrum des wissenschaftlichen Potentials, das bereitstand, die Menschheit und ihre Errungenschaften zu schützen. Hauptperson bei all diesen Vorbereitungen war der Mondkurator Pawel Rinald. Dieser Wettlauf mit der Zeit zu einem Ziel, das er nicht kannte, belastete ihn. Trotzdem, noch hatte er die Situation fest im Griff. Die sich überschlagenden Ereignisse erforderten seine ganze Persönlichkeit. Aber trotz aller Hektik tat es gut, überall gebraucht zu werden, unent behrlich zu sein. Seinen unmittelbaren Mitar beiterstab hatte er wesentlich vergrößert. Alle Forschungsvorhaben, die nichts mit der Suche nach den Antimaterielagerstätten zu tun hat ten, wurden unterbrochen. Wie konnten größere Mengen von Antimate rie überhaupt ausgemacht werden? Erfahrun gen darüber lagen nicht vor. Um welches Anti element handelte es sich? Fragen über Fragen, die nicht zu beantworten waren; dennoch mußte schnell und zielstrebig gehandelt wer den. Größere Mengen von Antimaterie würden zweifellos eine meßbare Antischwerkraft er zeugen, Antigravitonen ausstrahlen. Das war zumindest ein Ansatzpunkt!
Pawel Rinald hatte der Sonderkommission der Weltföderation zwei Vorschläge gemacht. Der eine betraf die genaue Sondierung der sublunaren Riesenhöhle, der andere den ver stärkten Einsatz der als Rastersonden bezeich neten Nahsatelliten zur radiologischen Ver vollständigung der bereits vorliegenden genau en Mondmeßtischblätter. Die Anzahl dieser vollautomatischen Kleinstsputniks war sofort verdreifacht worden. Trotzdem konnte nichts Besonderes festgestellt werden. Doch! Da lag ja noch die etwas undurchsichti ge Meldung von Juri Zolak auf Rinalds Schreibtisch. »Mit Rastersonde acht, im Gebiet Tycho zwölf/zweiundvierzig gravitationsloses Gebiet festgestellt, das sich als mondstaubfreie Zone identifizieren läßt«, lautete die Nach richt. Er mußte sofort hin. Ein Kopfschütteln, das man selbst noch durch das reflektierende Oval der Schutzhelm sichtscheibe erkennen konnte, war die erste Reaktion des Mondkurators, nachdem er die vom Mondstaub geradezu blankgefegte Fläche des Mondbodens längere Zeit in Augenschein genommen hatte. Wie war das Phänomen ent standen? Trotz der nun schon seit mehr als zehn Tagen währenden Antimateriesuchkam pagne mußte man kühl und sachlich bleiben.
Er ging noch einmal einige Schritte bis zu der Stelle zurück, die schon vorhin seine besonde re Aufmerksamkeit erregt hatte. Es handelte sich um jene Randzone, wo nur noch ganz we nig Geröllstücke auf dem felsigen Untergrund lagen. Pawel Rinald winkte seinen langjähri gen Assistenten Klaus Lorm zu sich, der an ei ner anderen Stelle den Mondboden untersuch te. »Sehen Sie«, sagte er zu dem Herankom menden und zeigte dabei mit seinem unförmi gen Raumhandschuh auf die charakteristi schen Markierungen in der Staubschicht, »hier, würde ich sagen, kann man mit Sicher heit erkennen, daß die freie Fläche durch ir gendeine Einwirkung, wohlgemerkt, von oben kommend, entstanden ist. Ich habe hierfür zwar noch keine Erklärung. Aber zu welchen Überlegungen sind Sie inzwischen gekommen?« »Ich muß ehrlich zugeben, daß ich noch im mer vor einem Rätsel stehe. Doch Sie haben recht! Hier sieht man deutlich strahlenförmig verlaufende Furchen, die sich, schwächer wer dend, schließlich im Staub verlieren. Mein er ster, mehr logischer Eindruck war, es handele sich ganz einfach um die Folgeerscheinungen eines größeren und außergewöhnlichen Me teoritenaufpralls.« Lorm machte eine Pause,
schaute sich um und fuhr dann fort: »Ich bin bestimmt nicht abergläubisch, aber es schien mir symptomatisch, daß gerade in dem Augen blick, als ich diese Betrachtung anstellte, in meiner unmittelbaren Nähe ein zentimeter großes Himmelsgeschoß im Mondstaub auf schlug. Ich konnte mich also sofort gründlich von den tatsächlichen Verhältnissen beim Auf prall überzeugen. Es besteht nicht die gering ste Ähnlichkeit. Jene Erscheinung ist völlig neu und zunächst ohne Beispiel. Ich neige nicht dazu, nun sämtliche auftretenden Mond anomalien gleich mit den Antimaterielager stätten in Verbindung zu bringen, bitte aber zu bedenken, daß bei allen Erscheinungen und Phänomenen nunmehr nachweislich vernunft begabtes, fremdes Leben mitgewirkt haben kann. Die Situation wird dadurch noch kompli zierter.« Während des Gespräches befanden sich die beiden Wissenschaftler auf einer kleinen Ebe ne unweit des Ringwalles jenes kleinen Kra ters, der im Verzeichnis der inzwischen ange fertigten selenologischen Erschließungskarten unter der Nummer Tycho zwölf/zweiundvier zig registriert war. »Ja, die Situation ist mehr als kompliziert«, bestätigte Pawel Rinald. »Es können natürliche
Einflüsse einschließlich unbekannter Anomali en sein, es können aber auch künstliche Ein flüsse sein, dazu gehören die Ausstrahlung der Antimaterie, die Landung und der Start von Selenidenraumschiffen. Aber bevor wir etwas einleiten, müssen wir völlig klarsehen. Die Menschheit würde uns mit Recht verurteilen, würden wir kostbare Zeit mit einer falschen Hypothese vergeuden. Sie verstehen mich?« Unterdessen hatte sich den beiden ein dritter Lunaut genähert, der mit bedächtigen Schrit ten einen großen Kreis um die fragliche Fläche beschrieben hatte. Es war Juri Zolak, der Lei ter jenes radiologischen Meßtrupps, der die mondstaubfreie Zone entdeckt und dem Mond kurator die kurze Information gegeben hatte. Pawel Rinald wandte sich an den ihm gut be kannten tschechischen Radiologen und fragte: »Ist der Kreis geometrisch exakt, und haben Sie seine Größe ermittelt?« Nachdem Juri Zolak den Mondkurator und dessen Begleiter begrüßt hatte, antwortete er: »Ja, soweit ich festgestellt habe, ist die Fläche genau kreisförmig. Leider erstreckt sich ein größerer Abschnitt in das kleine, stark zerklüf tete Ringgebirge der Zwölf/zweiundvierzig hin ein, so daß ich den Umfang nicht ganz ablaufen konnte und ein Stück schätzen mußte. Aus den
fast sechzehnhundert Metern ergibt sich ein Durchmesser von fünfhundert Metern. Sobald der Meßtrupp eingetroffen ist, werden wir den Mittelpunktbereich, genau untersuchen.« »Gut, Juri!« unterbrach Pawel Rinald den kurzen Bericht. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir das Auffinden dieser wirklich sonderbaren Kreisfläche genau schildern wür den. Sie wissen, was Ihre Entdeckung für uns und die Welt bedeuten kann. Doch kehren wir für die weitere Unterhaltung in unser Fahr zeug zurück und machen eine kurze Pause. Man muß sich immer wieder neu an das Tra gen des Raumanzuges gewöhnen.« Mit den letzten Worten schlug er bereits die Richtung zu dem etwa hundert Meter entfernt abgestellten Mobus ein. Diese großen Elektromobile wurden seit Jah ren bei der Überwindung kürzerer Strecken der Mondoberfläche mit Erfolg eingesetzt. Es waren geräumige Bodenfahrzeuge mit großflä chigen Panzerglassichtscheiben nach allen Sei ten und sehr breiten Luftkissenrädern. Die Kli maanlage im Inneren des Gefährtes erlaubte den Insassen, die Schutzhelme abzunehmen und den hermetisch abdichtenden Raumanzug zu öffnen. Klaus Lorm und Juri Zolak wußten, daß der
Mondkurator jetzt als erstes eine der unver meidlichen Zigarren anzünden würde. Eine der Gesundheit absolut nicht dienliche Ange wohnheit, die der zwar schon bejahrte, aber noch erstaunlich vitale Wissenschaftler auch in den vielen Jahren seiner Tätigkeit auf dem Erdtrabanten nicht abgelegt hatte. Er wußte, daß er damit gegen geltende Vorschriften ver stieß, aber seine Mitarbeiter bewahrten dar über strengstes Stillschweigen. »Ja, viel ist eigentlich nicht zu berichten«, be gann Juri Zolak mit seinen Ausführungen. »Die Rastersondenmessungen sind ja schon ei nige Wochen vor der Katastrophe im Krater Zeta aufgenommen worden. Ich glaube, daß die bisherige sinnvolle Beschränkung des Un tersuchungsumfanges auf Infrarotstrahlen, Gravitonenstrahlen, Gammastrahlen und Fremdstrahlen völlig ausreicht. Mit Hilfe des überlagerten Oberflächenbildes ist die Auffin dung eines bestimmten Strahlungsquellenbe reiches topographisch relativ einfach. Nun zur Feststellung – Entdeckung wäre übertrieben – der kreisrunden Anomalie im Tycho zwölf/zweiundvierzig. Es war ganz einfach so, daß wir beim Ablaufenlassen der Registrier bänder eine Lücke in der normalen fortlaufen den Gravitationsaufzeichnung bemerkten. Ich
muß hier einflechten, daß eine Aufzeichnung von Antigravitation nicht möglich ist. Und das seltsame war, daß diese Lücke in der Strah lungsmessung mit dem sichtbaren Fleck auf den parallel dazu aufgenommenen Reihenbil dern der Mondoberfläche übereinstimmte. Deshalb haben wir den Vorfall sofort gemel det.« »In Ordnung, Juri«, sagte Pawel Rinald. Dann wandte er sich an Lorm. »Bitte, Klaus, geben Sie doch schnell durch, daß Ben Darkens mit dem Meßtrupp hierherkommen soll.« Juri Zolak räusperte sich einigemal, aber mehr aus Verlegenheit als wegen des dichten Zigarrenrauches. »Gestatten Sie mir bitte noch einige Bemerkungen«, kam es ihm dann fast stockend über die Lippen. »Ich werde immer unsicherer, ob wir die hypothetischen Antima terielagerstätten tatsächlich über nachzuwei sende Antigravitationsstrahlen ermitteln kön nen. Wie gesagt, das ist nur meine ganz per sönliche Meinung. Aber schon der Größenord nung nach dürfte die Rechnung nicht aufge hen. Welche ungeheure Masse an Minusmate rie müßten jene Seleniden in der Tiefe des Mondes gehortet haben, daß deren Gravito nenausstrahlung die Stärke des Erdtrabanten feldes erreicht? Verstehen Sie, was ich meine?
Wir wissen ja viel zuwenig über das tatsächli che Verhalten dieser Materieart! Es gibt zwar viele Theorien darüber, aber kaum diskutable Meßergebnisse. Ich kann mir einfach nicht denken, daß eine Antischwerkraftwirkung, selbst wenn einige zehntausend Tonnen dieser Substanz existieren sollten, überhaupt wahr nehmbar ist.« »Aber Juri«, erwiderte der Kurator betroffen, »haben Sie einen besseren Vorschlag? Men schenskind, was sollen wir denn tun? Es gibt noch keine praktisch bestätigte Gravitations theorie für den Mond. Vielleicht hängen die meisten der bisher festgestellten Anomalien doch irgendwie mit dem früheren Wirken der Seleniden zusammen. Ich will ja nicht bestrei ten, daß Sie mit Ihren Bedenken an eine wun de Stelle unseres Vorhabens gerührt haben. Doch, wie dem auch sei, das von Ihnen ent deckte Novum muß auf alle Fälle gründlich un tersucht werden, und zwar ohne den gering sten Zeitverlust.« Er machte eine Pause und ließ den Blick über die bizarre und dennoch tote Landschaft schweifen. Da bewegte sich doch etwas in der Ferne? »Ich glaube, die Staubfahne am Hori zont stammt von den Fahrzeugen Ihrer Meßko lonne, Juri!« stellte er erleichtert fest. »Wir
wollen die Kollegen gleich draußen empfan gen.« Damit stülpte er sich nach einem letzten genießerischen Zug an der Zigarre den Schutz helm auf und begab sich, gefolgt von seinen beiden Begleitern, ins Freie. Trotz der vielen natürlichen Hindernisse, mit denen die große Kraterebene bis zum Horizont übersät war, rollten die Mobusse wie sagenhaf te Geschöpfe einer anderen Welt mit unver minderter Geschwindigkeit heran. Der Mond staub sprühte wie schwache Wasserfontänen rechts und links zur Seite. Durch Handzeichen stoppte Pawel Rinald die Kolonne weit vor der kritischen Gravitonenzone. Schnell sprangen die in leuchtende Skaphan der gehüllten Mitarbeiter der Spezialisten gruppe heraus und machten sich sofort an den mitgebrachten Geräten zu schaffen. Pawel Rinald konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken, als er jetzt den Chefsele nologen Ben Darkens mit ungelenken, aber ge übten großen Schritten auf sich zukommen sah. »Die Sondenbilder haben uns ein unlösbares Rätsel aufgegeben. Hier, der große Kreis vor uns, der wie mit einem Besen vom Mondstaub blankgefegt scheint, ist eine schwerefreie Zone oder sogar eine Antigravitationszone. Wir wol
len abwarten, was die Untersuchungen erge ben. Ich rechne auf Ihr sachkundiges Urteil!« begrüßte er den vor ihm Stehenden. Ben Darkens überblickte prüfend die sonder bare Umgebung. Dann beobachtete er das wei tere Vorgehen des Meßtrupps. Dieser hatte das Gebiet übersichtlich abgesteckt und genau ver messen. Dabei gab es gleich erste Differenzen zu den Rasteraufnahmen. Die Sonden hatten als schwereloses Gebiet nur einen Kreis von etwa dreihundert Meter Durchmesser regi striert, während inzwischen eine staubfreie Fläche von fünfhundert Meter Durchmesser abgesteckt worden war. Pawel Rinald teilte die verfügbare Mannschaft in zwei einander gegenüberstehende Gruppen ein, die sich vorsichtig dem »magischen Kreis« näherten. Wie immer bei solch gefährlichen Exkursionen waren alle Teilnehmer durch eine Sicherheitsleine verbunden. In diesem speziel len Fall waren die Enden der Seile jeder Grup pe mit den außerhalb der kritischen Gravitati onszone abgestellten schweren Fahrzeugen verknüpft. Bei den vielen physikalischen Be sonderheiten, ja Tücken des Erdtrabanten war bei jedem neuen Unternehmen größte Vorsicht geboten. Nach den ersten zurückgelegten Me tern zeigten die mitgeführten, äußerst emp
findlichen Gravitationsmeßgeräte nun doch eine ganz schwache, aber dennoch wahrnehm bare Antischwerkraftstrahlung unter einem Winkel von etwa einem Grad an, die sich bei fortschreitender Annäherung zusehends ver stärkte und deren Abstrahlwinkel allmählich größer wurde. Nach ungefähr fünfzig Metern stoppten beide Kolonnen. Es mußte nach den bisher vorlie genden Ermittlungen damit gerechnet werden, daß im Zentrum der Fläche ganz beachtliche Antigravitationskräfte vorhanden waren. Über Sprechfunk gab Pawel Rinald die näch ste Annäherungsetappe frei. Dann wandte er sich wieder an den Chefselenologen. »Mich in teressieren im Augenblick die entscheidenden Fragen, ob wir tatsächlich die Antimateriela gerstätten gefunden haben und ob wir umge hend mit den Erschließungsarbeiten beginnen sollen. Der gute Juri Zolak hat mich da etwas unsicher gemacht. Doch zuvor, was gibt es Neues in der Höhlenstadt?« Ben Darkens fühlte, daß der Mondkurator sei ne ganze Hilfe brauchte. Die Verantwortung, die jener jetzt zu tragen hatte, war schwer. Konnten ihm da die Entdeckungen in der Höh lenstadt nützen? Wohl kaum. Dennoch ant wortete er: »Von den Rastersonden, die die
Höhlenfläche systematisch abfliegen, gibt es keine nennenswerten Ergebnisse. Aufschluß reich dagegen war der gestern von unserer Gruppe durchgeführte Raketokopterflug zu dem schon länger ausgemachten Strahlungs zentrum in der Höhlendecke. Wir fanden dort Trümmer und Reste einer gigantischen Anlage, die früher sicher einmal Standort einer künst lichen Nuklearsonne gewesen sein muß. – Doch gestatten Sie, daß ich mich hier noch wei ter umsehe?« fügte er dann hinzu. »Gut. Wir wollen inzwischen mit der Untersu chung und Ausmessung der Anomalie fortfah ren.« Rinald erkundigte sich bei den warten den Spezialisten, ob maximale Sicherheitsvor kehrungen eingeleitet waren, dann gab er den Befehl zu weiterem Vorgehen. Vorsichtig setzten sich die zwei Gruppen, die sich im Abstand des Kreisdurchmessers genau gegenüberstanden, in Bewegung. Pawel Rinald und Klaus Lorm hatten die Spitze der rechten Kolonne übernommen, die aus vier Mitarbei tern mit verschiedenartigen Tornistermeßge räten bestand. Monoton gaben die Helmlaut sprecher die regelmäßigen Parameterangaben wieder. Außer der ständigen Vergrößerung des Antigravitoneneinfallwinkels gab es während der nächsten Minuten keine Veränderungen.
Inzwischen waren erneut etwa vierzig bis fünf zig Schritte von beiden Gruppen zurückgelegt worden, und man hatte sich dem Zentrum schon beachtlich genähert. Plötzlich faßte Klaus Lorm den Kurator am Arm. »Schauen Sie hinüber! Die andere Grup pe hat sicherlich die schwerefreie Zone er reicht.« Was sich dort ereignete, sah mehr spaßig als gefährlich aus. Juri Zolak und sein Hinter mann hatten sich wohl im Eifer des Vorwärts schreitens zu weit vorgewagt. Die Kräfte ihrer Beinbewegungen beim Überschreiten der schon schwerelosen Randzone waren so stark gewesen, daß sie nun hoch über dem Boden schwebten. Nur die dünne, von Mann zu Mann gespannte Kunststoffschnur hatte verhindert, daß die zwei nicht schon höher ins dunkle All enteilt waren. Aber Juri Zolak war völlig Herr der unge wöhnlichen Situation! Er rief den unten ver dutzt stehenden Mitarbeitern über Sprechfunk zu, etwa zehn Meter zurückzugehen. Es sah grotesk aus, als diese die Anweisung befolgten und Zolak und seinen Begleiter wie schräg im Wind stehende Kinderdrachen hin ter sich herzogen. Nach wenigen Minuten fie len sie langsam, als hätten sie kein Gewicht,
auf den Mondboden zurück. Man konnte dem Radiologen Zolak eine leich te Verärgerung anmerken, als er sich vorsich tig aufrichtete und in die Runde schaute. Er setzte sich sofort mit Pawel Rinald in Verbin dung. »So können wir nicht bis zum Zentrum vordringen; die geringste Bewegung genügt, um weit nach oben zu fliegen. Ich bin der Mei nung, daß wir die Haltetrossen auf ungefähr sechshundert Meter verlängern, indem wir die beiden Stücke verbinden und dann an den Fahrzeugen befestigen. Diese fahren jeweils in entgegengesetzter Richtung um die Kreisfläche herum und spannen dabei das Seil quer über die Mitte. Wir könnten uns dann Mann für Mann gefahrlos zur Mitte hinüberhangeln. Was meinen Sie zu diesem Vorschlag?« »Das ist ausgezeichnet«, antwortete der Kura tor. »Wir werden ihn sofort in die Tat umset zen!« Da alle Beteiligten das Gespräch mit angehört hatten, dauerte es nur kurze Zeit, bis die zwei Gruppen mit den Fahrzeugen wieder am Aus gangspunkt angelangt waren. Schnell wurde eine Sicherheitsschnur von der erforderlichen Länge zusammengeknüpft, und die wuchtigen Mobusse fuhren, jeder einen großen Viertel kreisbogen beschreibend, zu den vorgesehe
nen Startpositionen. Die beiden Gruppen folg ten in geringem Abstand. Das Seil sah wie ein quer über die Kreisfläche gezogener Strich aus. Wie von einer unsichtba ren Kraft geformt, beschrieb es über dem Zen trum der Kreisfläche einen Bogen nach oben. Die beiden Fahrzeuge bewegten sich noch ei nige Meter in radialer Richtung, dann war die Sicherheitsschnur straff gespannt. Mit Rücksicht auf die zulässige Seilbelastung konnten nur einige Lunologen mit ihren Meß geräten bis zur Mitte der Kreisfläche vordrin gen. Nach kurzer Absprache einigte man sich auf Juri Zolak und fünf seiner Mitarbeiter. Auf Vorschlag von Ben Darkens wollten sich die übrigen Wissenschaftler das staubfreie Gelän desegment, das durch den Wall des kleinen Ringgebirges von der übrigen Fläche getrennt war, genauer ansehen. Während sich die Radiologen anschickten, in kleinen Wegetappen entlang des gespannten Seiles zum Kreismittelpunkt vorzugehen, schritten Pawel Rinald, Klaus Lorm, Ben Dar kens und der Strahlungsspezialist Dr. Raskop mit weitausholenden Beinbewegungen, die an Känguruhsprünge erinnerten, auf den süd westlich von ihrem jetzigen Standpunkt aufra genden Ringwall zu, dessen bizarre Felsspitzen
im Sonnenlicht gleißten. Je näher sie kamen, um so mehr fiel ihnen auf, daß dort riesige Ge steinsbrocken und Felstrümmer, wie von ei nem heftigen Mondbeben losgesprengt, her umlagen. Am Fuß des steil emporragenden Walles angekommen, bahnten sie sich müh sam einen Pfad durch das Geröllfeld. Nachdem sie zwanzig bis dreißig Meter vorgedrungen waren, stellten sie erstaunt fest, daß der Wall einen Durchbruch besaß und sie sich unter ei nem großen tunnelartigen Torbogen befanden, der ins Innere des Kraters führte. »Man könnte diesen Tunnel für einen künst lich hergestellten Eingang halten, der lediglich durch das Trümmerfeld unpassierbar gewor den ist«, sagte der Kurator. »Sicherlich jedoch hängen diese wirr durcheinanderliegenden Felsbrocken ursächlich mit der Bildung der mondstaubfreien Fläche zusammen.« Er blick te nach oben und fuhr, mehr wie im Selbstge spräch, fort: »Ich sehe in der Deckenwölbung nirgends eine Stelle, wo sich diese Brocken ge löst haben könnten. Von wo…«, wollte er so eben weitersprechen, da geschah es! Vor Rod rigo, dem Südamerikaner, zerriß das straff ge spannte Seil, und dieser hob sich, wie vorhin Juri Zolak, ganz langsam in die Höhe. Doch was waren das für Schreie, die er aus
stieß und die in den Helmlautsprechern deut lich zu hören waren? Sie klangen so ängstlich, ja so unmenschlich, daß die Ursache dafür nicht nur das harmlose Abheben vom Mondbo den sein konnte. Und anstatt daß jetzt geschah, was jeder erwartete und was Juri, der am Ende der Gruppe ging, gerade anweisen wollte, daß nämlich der sich hinter Rodrigo befindende Syphos den zappelnden und inzwischen wild um sich schlagenden Gefährten durch Einho len der Sicherheitsleine wieder auf festen Bo den zurückholte, ergriff er sein Kappmesser und schnitt kurzerhand die Sicherheitsschnur vor und hinter sich durch. Er stieß sich mit bei den Füßen kräftig vom Untergrund ab und schwebte seinerseits in die Höhe, wobei er Ro drigo noch überholte. Das gräßliche Gelächter, das er dabei ausstieß, war fast noch erschüt ternder als die Schreie seines Kameraden. Die beiden waren Spielball unbekannter Na turkräfte geworden. Während Juri Zolak die zwei vor ihm Stehenden zurückriß und sie auf ihren Zustand untersuchte, eilte Ben Darkens mit großen Sprüngen auf das nächste Luftkis senfahrzeug zu. Bei der Herfahrt hatte er gese hen, daß zur Ausrüstung der Radiologengrup pe auch Genraks, tornisterartige Einmannra keten, gehörten.
Pawel Rinald hatte die gleiche Absicht. »Alle ziehen sich sofort zu den beiden Fahrzeugen zurück und steigen ein. Klaus Lorm untersucht jeden einzelnen auf eventuelle Gravitations schäden. Ben Darkens und ich werden Rodrigo und Syphos zurückholen!« Er versuchte über Sprechfunk das Schreien und Gelächter der beiden zu übertönen. Ben Darkens hatte sich mit schnellen Griffen eine Genrak umgehängt und die Armgurte be festigt. Eine Staubwolke hüllte ihn ein, als er auf einem Feuerstrahl langsam in die Höhe stieg. Rodrigo und Syphos waren inzwischen schon mehr als zweihundert Meter von der Mond oberfläche entfernt. Durch sinnlose, krampfar tige Bewegungen, von denen ihre Körper peri odisch geschüttelt wurden, hatten sie den ge fährlichen Flug ins All noch beschleunigt. Ben Darkens konnte ohne Bedenken auf sie zusteuern. Mochten ihn die Antigravitations kräfte auch beeinflussen, durch die Schubdüse blieb er manövrierfähig. Er verspürte keine Angst und überlegte, wie er vorzugehen hatte, um die Gefährten zu retten. Wo blieb eigent lich Pawel Rinald? Wenn der ihm zu Hilfe kam, war die Aufgabe wesentlich einfacher. Aber ein Blick nach unten zeigte ihm, daß der Mondku
rator den Boden noch nicht verlassen hatte. Wahrscheinlich klappte es mit dem Start nicht. Nun gut, dann mußte er eben allein die beiden »Ausreißer« einfangen. Eine Drehung am Speedgriff brachte ihn in größere Höhe. Syphos, der durch die schnelle re Anfangsgeschwindigkeit Rodrigo überholt hatte, befand sich etwa zwanzig Meter unter ihm. Sein Rücken war dem Mond zugekehrt. Das grelle Sonnenlicht wurde von der Helm sichtscheibe reflektiert, so daß sein Gesichts ausdruck nicht zu erkennen war. »Hallo, Sy phos! Hier spricht Ben Darkens. Sehen Sie mich? Ich schwebe ungefähr zwanzig Meter über Ihnen, ich werde Sie jetzt ins Schlepp nehmen und nach unten bringen. Dabei müs sen Sie mir helfen. Antworten Sie!« Statt einer Antwort schien sich das Gelächter noch zu verstärken. Und wie um zu entfliehen, drehte sich der Grieche herum und machte un beholfene Schwimmbewegungen. Ben Darkens sackte auf dessen Höhe hinun ter, schob sich ganz dicht an ihn heran und be festigte an seinem Gürtel eine längere Sicher heitsschnur. Dann faßte er die Füße von Sy phos, entnahm mit geschickter Bewegung des sen Kappmesser aus einer seiner Beintaschen und stieß den im Augenblick völlig apathischen
Syphos sanft von sich. Den zu Rettenden muß te man sich vom Leib halten, diese Regel galt in jeder Situation. Als er sich jetzt nach Rodrigo umschaute, der auf das Zentrum zugetrieben worden war und schnell an Höhe gewonnen hatte, entdeckte er auch Pawel Rinald, dem endlich der Start ge glückt war. »Überlassen Sie Rodrigo mir, und versuchen Sie mit Syphos zu landen!« rief ihm der Kura tor im Vorbeifliegen zu. Unterdessen untersuchte Klaus Lorm, der Raumfahrtmedizin studiert hatte, die übrigen Mitglieder der Forschungsgruppe auf eventuel le Schäden durch die starke Gravitoneneinwir kung. Für eine eindeutige Diagnose fehlten ihm jedoch die entsprechenden Apparaturen. Das Untersuchungsergebnis war dennoch nicht beunruhigend. Die Männer im Luftkis senfahrzeug waren wohlauf bis auf Dancon, der als nächster hinter Syphos gegangen war. Er klagte über starke Kopfschmerzen und hat te Konzentrationsschwierigkeiten. Klaus Lorm gab ihm eine Beruhigungsinjektion. Doch was war mit den beiden anderen Lun auten geschehen? Ihr Zustand hatte wie läh mend auf die Kameraden gewirkt, obwohl sie Gefahren gewohnt waren.
Da öffnete sich die innere Schleusentür, und Ben Darkens schleppte den wild um sich schla genden Syphos herein. »Juri, gehen Sie bitte mit ein paar Leuten in das Fahrzeug nebenan, und helfen Sie dem Kurator, Rodrigo dort un terzubringen!« sagte Klaus Lorm zu dem noch immer völlig verstörten Zolak. Dann wandte er sich dem sonderbaren Patienten zu. »Ben, schrauben Sie ihm den Schutzhelm ab, und zie hen Sie ihm den Schutzanzug aus. Ich möchte ihm jetzt noch keine Beruhigungsspritze ge ben.« Es blieb nichts anderes übrig, als den Toben den auf einem der Seitentische festzuschnal len. Erst als der Schutzhelm abgenommen war, konnte man sein Gesicht richtig erkennen. Es sah entsetzlich aus und ähnelte einer Fratze. Die Lippen bewegten sich fortwährend, son derten einen schaumigen Speichel ab, und die Augäpfel quollen aus den Höhlen. Jetzt begann er auch wieder mit dem entsetzlichen Geläch ter. Es war ein gräßlicher Anblick, der allen, die das Opfer einer unbekannten, lebensfeind lichen Naturkraft umstanden, Furcht einflö ßte. »Ich kann ihn nicht behandeln, ich kann noch nicht einmal eine Diagnose stellen. Was wir hier vor uns sehen, ist kein Fall für einen ein
fachen Raummediziner«, stellte Dr. Lorm hilf los fest, nachdem er eine Weile ergebnislos versucht hatte, den Geschockten zu befragen und beruhigend auf ihn einzuwirken. »Was wissen wir schon von der Einwirkung magneti scher oder gravitativer Felder jenseits der Ge fahrenschwelle? Von stärkeren Magnetfeldern ist bekannt, daß sie in lebenden Organismen die Zusammensetzung des Blutes verändern, und zwar nimmt die Anzahl der weißen und ro ten Blutkörperchen zu. Also eine Schutzreakti on. Wir wissen auch, daß sich magnetische Einflüsse auf das Nervensystem auswirken, bis zu morphologischen Veränderungen. Magneti sche und gravitative Felder unterscheiden sich jedoch bereits in ihrer Wahrnehmbarkeit. Bei de sind Reizerreger, die sich allgemein durch Kopf- und Herzschmerzen sowie durch eine Beeinträchtigung des Nervensystems bemerk bar machen. Soweit die Bücherweisheit. – Der Einfluß von Antigravitonen, also zentrifugal wirkender Kräfte, konnte bisher nur äquiva lent bei Kreisbewegungen untersucht werden. Doch was soll das Gerede, ich werde beiden Pa tienten eine starke Beruhigungsinjektion ge ben, und dann müssen sich die Spezialisten mit ihnen beschäftigen.« Als er Syphos behandelt hatte und Ben und
die übrigen Radiologen den sich nur langsam beruhigenden Griechen schweigend umstan den, eilte er in das zweite Fahrzeug, wo der Ku rator und Zolak alle Mühe hatten, den toben den Rodrigo festzuhalten. »Es ist unheimlich! Der Kranke scheint nur noch ein Ziel zu verfolgen, nämlich sich selbst zu vernichten. Sagen Sie, Klaus, kann es sein, daß der Einfluß von Antigravitonen bestimm ter Intensität eine Umkehrung der Gefühle be wirkt? Gibt es das, psychiatrisch gesehen? Wenn ja, dann wäre Antimaterie auch rein bio logisch eine Substanz von größter Gefährlich keit«, wandte sich Pawel Rinald an seinen Assi stenten. »Ich bin außerstande zu helfen, geschweige denn wissenschaftlich-medizinische Ausfüh rungen zu machen. Ich kann die Patienten nur in Tiefschlaf versetzen. Verstehen Sie?« Ner vös setzte er dabei seine Brille mehrmals auf und ab, dann fuhr er fort: »Ich empfehle, daß wir sofort die Rückfahrt nach Lunapol antre ten. Nicht nur wegen der Geschädigten, son dern wegen uns allen. Wir waren alle der an scheinend sehr gefährlichen Antigravitonen strahlung mehr oder weniger lange ausgesetzt. Bevor nicht entsprechende Schutz- oder Ge genmittel zur Verfügung stehen, halte ich ein
Weiterführen der Arbeiten hier für sehr be denklich, ja für unverantwortlich.« »Klaus, Junge, so beruhigen Sie sich doch! Auch ohne Ihre Intervention hätte ich hier so fort aufhören lassen. Sie sollten mich eigent lich kennen.« Pawel Rinald war ärgerlich. Die Aktion war umsonst gewesen. Er wußte nicht mehr als vorher. Nur eines stand fest: Die Antimaterie war unberechenbar. Trotzdem, es mußte wei tergehen, es mußte etwas geschehen! Die ver fügbare Zeit zog den Knebel immer enger. »Wir brechen in dreißig Minuten auf. Ben, Klaus und Juri, wir gehen schnell noch einmal zu dem kleinen Ringwall hinüber. Heute abend sprechen wir die Sache dann in Ruhe durch.« Sie eilten in Richtung Geröllfeld davon. »Seht doch mal hier, diese Vertiefung«, rief plötzlich Klaus Lorm, der am weitesten vorge drungen war, »man könnte annehmen, Gigan ten hätten ein riesiges Loch mit Gesteinstrüm mern gefüllt!« Tatsächlich, auch die anderen Wissenschaft ler konnten sich dieses Eindruckes nicht er wehren. Welch sonderbare Formation! In ei ner geometrisch exakten tunnelartigen Höhle unter dem Wall eines relativ kleinen Ringge birges befand sich ein kreisrundes Loch von
über hundert Meter Durchmesser in der sonst ebenen Mondoberfläche, das bis zum Rand mit großen Felsbrocken angefüllt war, die offen sichtlich nicht von der Decke heruntergestürzt sein konnten. Ratlos umstanden die Mondwis senschaftler Pawel Rinald, obwohl man sich im Lauf der vielen Jahre abenteuerlicher Tätigkeit auf dem Mond eigentlich an solche und ähnli che Überraschungen gewöhnt hatte. Oft fan den sich erst nach längerer Zeit Lösungen für zunächst unerklärliche Erscheinungen. Nachdem der Mondkurator in Lunapol veran laßt hatte, daß Rodrigo und Syphos in Beglei tung eines Psychiaters mit der nächsten Ver sorgungsrakete zur Erde transportiert wur den, nahm er schon wenige Stunden später die Auswertung der Ereignisse vor. Klaus Lorm hatte die Abzüge fotografischer Aufnahmen auf einem kleinen Tisch ausgebreitet. »Wissen Sie«, sagte Pawel Rinald, »bei der Su che nach einer einleuchtenden Erklärung für das Entstehen der staubfreien Zone werde ich seit einigen Stunden den Gedanken an die Er scheinungen beim Auftreffen des TunguskaMeteoriten vom dreißigsten Juni neunzehn hundertacht auf der Erde nicht los, wenngleich in Sibirien keine Antigravitation nachgewiesen
werden konnte. Auch dort, genau wie hier, Spuren einer weit über die Oberfläche hinweg wirkenden Druckwelle ohne das Vorhanden sein einer eindeutigen Einschlagstelle. Sollte sich nicht auch hier auf dem Mond eine glei che, wenn auch wesentlich kleinere Katastro phe ereignet haben? Bitte, meine Herren, äu ßern Sie sich dazu.« »Ich finde Ihre Vermutung und Ihre Argu mentation sehr geschickt«, sagte Klaus Lorm, »weil sie – bitte nehmen Sie mir das nicht übel – zwar die gleiche Erscheinung zugrunde legt, aber trotzdem keine Erklärung beinhaltet. Denn außer einer Vielzahl von Hypothesen weiß man bis heute noch immer nichts Genau es über den sogenannten Tunguska-Meteori ten. Ohne zunächst hierauf weiter einzugehen, möchte ich hervorheben, daß auch der Tunnel im Ringwall, der sich ebenfalls im Bereich der mondstaubfreien Fläche befindet, mit in die Erklärung einbezogen werden müßte.« Jetzt ergriff Ben Darkens, der bei den Ausfüh rungen von Pawel Rinald und Klaus Lorm mehrfach den Kopf geschüttelt hatte, das Wort: »Hoffentlich enttäuscht Sie nun meine Meinung nicht. Auch ich habe gründlich über das Phänomen nachgedacht. Wir müssen um jeden Preis und noch dazu kurzfristig die Anti
materielagerstätten ausfindig machen. Es steht für die Menschheit zuviel auf dem Spiel! Des halb haben wir uns sehr gut zu überlegen, wie und wo wir unser verfügbares Potential anset zen. Ich bin zu folgender Überlegung gekom men: Die mondstaubfreie Fläche muß die Lan destelle des selenidischen Raumschiffes sein, mit dem Eliu und Peria vor tausend Jahren hier auf dem Mond gelandet sind und das dann automatisch wieder gestartet und zur Sonne geflogen ist. Die von uns festgestellte Antigra vitation ist wahrscheinlich Rest- oder Sekun därstrahlung des hochenergetischen Prozesses bei Landung und Start. Aber ich gehe in mei ner Annahme noch weiter. Sie entsinnen sich, daß Ives Lorin und Mara Bhali vor einigen Wo chen bei der Verfolgung der Selenidenspuren in der Höhlenstadt ein gigantisches Aufzugssy stem entdeckt haben. Ich habe vorhin noch einmal die Koordinaten jenes Schachtes und die des Tunnels im Ringwall verglichen; sie stimmen genau überein. Das heißt, der Tunnel und die von Klaus Lorm entdeckte kreisrunde Öffnung, die mit großen Felsbrocken zuge schüttet ist, sind der oder ein Eingang zur Höhlenstadt. Diese Vermutung wird auch durch Elius Botschaft bestätigt, denn, wie Sie sich entsinnen, steht auf der Platinplatte, daß
sie in der Kratersenke des großen Tores gelan det sind. Dieses Gebiet liegt im Planquadrat Tycho zwölf/zweiundvierzig. Eine solche Er klärung der Anomalien würde also bedeuten, daß sich die Antimaterielagerstätten keines falls unter diesem mondstaubfreien Areal be finden.« Einige Minuten herrschte betretenes Schwei gen. Die Argumente, die Ben Darkens vorge bracht hatte, waren nicht von der Hand zu wei sen. Schließlich blickten alle auf den Mondkura tor. Es dauerte noch eine Weile, dann antwor tete er: »Ben Darkens, ich danke Ihnen, daß Sie uns diese Informationen gegeben haben. Auch ich kann mich diesen Tatsachen nicht verschließen. Trotzdem möchte ich vorschla gen, daß wir im Bereich der Anomalienzone vorsichtige Bohrungen vornehmen sollten, denn wenn es auch richtig und logisch scheint, was Sie soeben gesagt haben, könnte es sich dennoch um die Lagerstätten handeln. Leider verfügen wir nicht über ausreichende Erfah rungen, die uns in die Lage versetzen, exakt zu beweisen, daß die nach vielen Jahrhunderten noch wirksame Gravitonenstrahlung ein Über bleibsel der Wirkung der Raumschifftriebwer ke ist. Es erscheint zwar unglaubhaft, daß die
Seleniden eine so gefährliche nukleare Ladung in der relativ dünnen Schicht zwischen Höh lendecke und Mondoberfläche untergebracht haben, aber es kann dies ja erst zu einem Zeit punkt geschehen sein, als sie den Mond bereits verlassen hatten. Begründete Aussagen dar über können wir erst machen, wenn wir ge bohrt haben. Ist es nicht so?« Der Standpunkt des Kurators war berechtigt. »Ja, Sie haben recht«, sagte Ben Darkens und betrachtete sich in diesem Augenblick auch als Sprecher für die beiden anderen Kollegen. »Und wir sollten uns gleich über Details der Bohrungen unterhalten. Wenn wir uns hori zontal in etwa dreißig Meter Tiefe an das Zen trum heranarbeiten, wird die Gefahr beacht lich reduziert, und wir können bald schlüssige Auskünfte geben.«
Unfall im Informationsschacht Hinter Ira Beaux lagen tatenlose und dennoch aufreibende Tage und Wochen. Auf der Erde wurde sie Augen- und Ohrenzeuge einer Ent wicklung, die immer mehr die Forscher und Wissenschaftler um Pawel Rinald zur Ziel scheibe der Kritik werden ließ. Die einmal ge weckte Furcht hatte die Menschheit ergriffen. Diese forderte nun immer lauter und rück sichtsloser Ergebnisse, die ein Ende der Ge fährdung bedeuteten. Aber scheinbar geschah nichts; die täglichen lapidaren Kurzberichte aus Lunapol, die in al len großen Zeitungen auf der ersten Seite abge druckt waren, vermochten die Bedenken der meisten Menschen, ob denn auch alles mögli che getan würde, nicht zu zerstreuen. Ira dachte an Ben Darkens. Wie würde es ihn, gerade ihn, entmutigen, auf der Stelle zu tre ten. Sie mußte sich eingestehen, daß sie eigent lich ihm zuliebe hier aushielt. Woher nur nahm sie den Optimismus? Sie hatte die Hoff nung, daß sich in den Wissensrollen doch noch ein Hinweis auf die Antimaterie und deren Aufbewahrung finden ließe. Die Bergung die ser glasklaren Film- oder Tonbänder machte gute Fortschritte. Fast jeden zweiten Tag traf
eine neue Sendung auf der Erde ein. Aber das Entschlüsseln der vermuteten Informationen bereitete größte Schwierigkeiten. Zuwenig wußte die Menschheit von der Technik der Se leniden. Endlich, Ira hatte bereits den Kurator um die Rückflugerlaubnis ersucht, ging von der Mos kauer Forschungsstelle für extraterrestrische Kommunikation die lang ersehnte positive Nachricht ein. Direktor Ekman, der Ira sofort informiert und um Ihre Begleitung gebeten hatte, flog noch in der Nacht in die Sowjetuni on. Die dort vorliegenden Untersuchungser gebnisse, die man praktisch erst in den letzten Stunden erzielt hatte, waren frappierend. Die Analysen des Bandmaterials hatten erge ben, daß es sich um eine der irdischen Chemie bisher noch unbekannte Siliziumdioxidverbin dung handelte, die durch Hydrothermalzüch tung unter Hinzunahme eines Weichmachers hergestellt worden war. Nach vielen anderen Entschlüsselungsversuchen wurden bei den Bändern piezoelektrische Effekte nachgewie sen. Als man eines der Bänder unter einem be stimmten Druck zwischen Rollensystemen mit entsprechenden Kollektoren ablaufen ließ, zeigten sich auf dem angeschlossenen Oszillo graphen verstümmelte Zeichen der selenidi
schen Kurvenschrift. Trotz der nur geringen Anfangserfolge atme ten alle Beteiligten auf, denn wenn als Infor mationsträger beispielsweise die Phonetik der selenidischen Sprache, die niemand kannte und noch kein Mensch je gehört hatte, verwen det worden wäre, dann hätte man trotz der ge fundenen Wörterbücher erneut vor einem un lösbaren Rätsel gestanden. Nach mehrmaliger Verbesserung der Abnah meköpfe, die das Material trotz des hohen Druckes nicht deformieren durften, gelang es schließlich, die Bandinformationen in Schrift zu transformieren und diese mit Hilfe der Me tallfolianten zu übersetzen. Die ersten Rollen, die Ausgangspunkt für die langwierigen Expe rimente gewesen waren, hatten zufällig die Entstehungsgeschichte des Mondes, den die Seleniden den Planeten Sopri nannten, zum Inhalt. Durch weitere Untersuchungen hatte sich er geben, daß die Informationsdichte ein Zeichen je zehn Nanometer Bandlänge betrug und daß der eigentliche Trägerstreifen nur einen Milli meter breit war. Das übrige Material diente als Schutzumhüllung. Mit Hilfe des sowjetischen Prinzipmusterge rätes, das einem Piezoschriftcomputer ent
sprach, wurde kurzfristig eine größere Anzahl verbesserter Übersetzungsautomaten in Auf trag gegeben. Diese Aufgabe war im Rahmen internationaler Kooperation schnell gelöst. Wegen der geleisteten Pionierarbeit und der bereits vorliegenden Erfahrungen wurden die se Translationseinrichtungen in der Moskauer Forschungsstelle installiert und alle vorhande nen selenidischen Wissensrollen nach dort ge bracht. Ira Beaux war im Besitz einer Sondergeneh migung und durfte alle übersetzten Texte so fort einsehen. Die insgesamt sieben Anlagen waren Tag und Nacht in Betrieb, und Ira hatte sich an diesen Arbeitsrhythmus gewöhnt. Sie dachte kaum an Schlaf. Alle drei bis vier Stun den eilte sie durch die verschiedenen Etagen, überflog die ausgedruckten Übersetzungen und las gründlicher, wenn Passagen kamen, die mit der Antimaterielagerstätte zu tun ha ben konnten. Was sie täglich zu lesen bekam, war so phan tastisch und so kühn, daß sie sich hinterher immer erst wieder in die Wirklichkeit zurück finden mußte. Doch was Ira eigentlich suchte und was sie um jeden Preis zu finden hoffte, davon hatte sie noch keine Silbe gelesen. Sollte sie aufgeben?
Am nächsten Tag überfiel Boris Sagitow, der Leiter der Translationszentrale, sie schon beim Betreten des Lifts mit aufregenden Neu igkeiten. »Mademoiselle Beaux! In der Höhlen stadt, in einer topographisch genau beschrie benen Pyramide, befindet sich ein selenidi scher Teleimaginator. Ich weiß nicht, wie ich die Anlage anders bezeichnen soll. Wenn ich es richtig verstanden habe, vermittelt sie auf bio physische Weise Eindrücke über die Lebensge wohnheiten der Seleniden in den letzten Jahr zehnten, bevor sie den Mond endgültig verlas sen haben. Kommen Sie schnell, und sehen Sie sich das an.« Ira folgte dem voranschreitenden Sagitow, so schnell sie konnte. Sie riß die ausgedruckten Textstreifen den Wissenschaftlern förmlich aus den Händen. Während sie die ersten Zei len überflog, waren ihre Gedanken bei Ben Darkens. Sie freute sich darauf, wieder in sei ne Nähe zu kommen, seine Sorgen zu teilen und mit ihm zu arbeiten. Doch dann nahm sie der übersetzte Text völlig gefangen. Sie notier te sich genau die angegebenen Ortskoordina ten. Nach den Entfernungsangaben mußte der Eingang zu der psychotechnischen Anlage etwa in der Mitte zwischen dem Raketokopterlande platz und dem Förderschacht in der Kratersen
ke des großen Tores liegen. Wenn sie die Be schreibung richtig verstand, handelte es sich, wohl um eine in der Tiefe gestaffelte Anlage, in der bestimmte Zeitabläufe in »Informations schichten« gespeichert waren, die abgefahren und mnemotechnisch abgefragt werden konn ten. Das Gehirn fungierte dabei als Adapter. Doch ist die Anlage auch für menschliche Denk- und Vorstellungsvorgänge geeignet? dachte sie erschrocken. Boris Sagitow stand neben ihr und wartete auf Fragen und Äußerungen. Endlich brach Ira das lange Schweigen. »Lieber Boris, würden Sie mir von dem ge samten Text über den Teleimaginator schnell Fotokopien anfertigen lassen, ich möchte die morgige Kurierrakete zum Mond nicht versäu men.« Sagitow nickte und bewunderte, genau wie seine Kollegen, die Energie dieser außerge wöhnlichen Frau. Niemand im Translationsinstitut konnte zu diesem Zeitpunkt wissen, daß es zu dem Pro blem »Teleimaginator« eine Fortsetzungswis sensrolle gab, die noch nicht geborgen war. Hätte Ira Kenntnis von deren Inhalt gehabt, wäre sie nicht so optimistisch zu Ben Darkens geeilt. Dann hätte sie nämlich erfahren, daß
das Medium im Teleimaginator während der Befragung frei von jeglichen Emotionen sein mußte bei ungenügender Adaption und star ken emotionalen Regungen konnte die gesamte Anlage zu einem gewaltigen Verstärker im Sin ne psychophysischer Energietransformationen werden und unvorhergesehene Wirkungen auslösen. Ira Beaux und Ben Darkens tasteten sich schrittweise vorwärts. Der Chefselenologe hat te nur ungern die Bohrarbeiten im Planqua drat zwölf/zweiundvierzig unterbrochen und Iras Bitte, den Teleimaginator zu untersuchen, entsprochen. Zu der kleinen Expedition gehör ten noch Ives Lorin und Mara Bhali. Die große Rechteckpyramide, die sie schnell gefunden hatten, schien nur den Eingang der unbekann ten Anlage abzudecken. Die Lichtkegel der Helmscheinwerfer verloren sich im dunklen Hintergrund, und der glasartige Boden führte schräg in die Tiefe. War es eine Täuschung der angespannten Sinne, oder erfüllte tatsächlich ein feiner Summton, der von einer fühlbaren Vibration begleitet war, den Raum? Immer wieder blieben die beiden stehen und schauten sich nach allen Seiten um. Schade, daß die Scheinwerfer nur einen kleinen Teil der Umge
bung beleuchteten. Hoch oben wölbte sich eine fluoreszierende Quarzdecke, die mit arm dicken Rohren und Leitungen übersät war. »Meldet euch!« ertönte jetzt Lorins Stimme in den Helmlautsprechern. »Oder hat es euch die Sprache verschlagen? Soll ich nicht doch noch Verstärkung holen?« Es war verständlich, daß Ives Lorin, der vor der Pyramide stand, das Abrollen der Sicher heitsleine überwachte und Funksprechverbin dung zu Ira und Ben und über Mara im Raketo kopter zur Außenstation hatte, den Alleingang der beiden mit wachsender Besorgnis verfolg te. »Noch gibt es nichts mitzuteilen, beruhige dich also! Doch jetzt sehe ich, daß unser ab schüssiger Pfad in einer breiten Treppe endet! Wir melden uns wieder. Ende«, sagte Ben Dar kens. Sie hatten die Treppe mit den ungewöhnlich kleinen Stufen erreicht. Ben ging voraus. Die Decke neigte sich im gleichen Winkel, so daß sie jetzt einen breiten, aber nur flachen Trep penaufgang hinunterschritten. »Ich habe schon sechzig Stufen gezählt«, flü sterte Ira, als wolle sie die sie umgebende vi brierende Stille nicht stören, »und noch immer ist kein Ende abzusehen.« Aber schließlich fiel
der Lichtschein wieder auf ebenen Boden. Sie hatten einen großen Hallenbau betreten, in dessen Mitte ein turmartiger viereckiger Qua der in der Decke endete. Das darauffallende Licht wurde teils gebrochen, teils reflektiert. Wo der Turm den Boden berührte, war ein of fener Rundbogen. Sicherlich ein Eingang. Ben wandte sich nach links und näherte sich vor sichtig der Wand, die eine Vielzahl durchsich tiger Erhöhungen zeigte. Etwas tiefer waren kleine Hebel und Räder zu erkennen. Langsam war ihm Ira gefolgt, plötzlich stieß sie einen Schrei der Überraschung aus. In eini gen der durchsichtigen Erhöhungen glommen ringförmige Lichteffekte auf, die pulsierten und nach und nach tiefrot leuchteten. Je dich ter Ben Darkens an die Lichtquelle herantrat, um so mehr Erhöhungen waren an dem son derbaren Spiel des Lichtes beteiligt, bis schließlich die Pulsation aufhörte und die An zahl der rotglühenden Ringlampen dieselbe blieb. Ira, die die Beschreibung der Anlage genau studiert hatte, sagte: »Ich weiß, was die Licht effekte bedeuten! Es handelt sich um bioelek trische Adaption. Jeder, der den Informations schacht benutzen will, muß der Anlage Gele genheit geben, sich auf die Hirnströme des be
fragenden Wesens einzustellen. Falls die Pul sation nicht aufhört, müssen die darunter be findlichen Hebel und Handräder betätigt wer den. Welch ein Glück, daß die Einrichtung überhaupt reagiert! Die Seleniden, die irgend wann einmal hier gestanden haben, besaßen anscheinend eine uns Menschen sehr ähnliche Gehirnstruktur. Wir wollen sehen, ob die Anla ge auch auf meine Gedanken reagiert!« Sie bat Ben Darkens, einige Schritte zurück zutreten. Tatsächlich setzte das Spiel des Lich tes von neuem ein. Einige der dunkelrot leuch tenden Erhöhungen erloschen, und andere leuchteten dafür auf. Bei einigen wurden die strahlenden Ringe kleiner. »Das ist phantastisch«, sagte Ira. »Wenn ich von dem Aufbau auch nur ein wenig verstan den habe, sind die Lichtringe gleichsam Lin sen, die die eintreffenden Gedanken einfan gen, verstärken und sich automatisch auf die entsprechende Wellenlänge einstellen.« Noch während sie sprach, beobachtete Ben Darkens erschrocken, wie sich der Schutzhelm seiner Begleiterin immer mehr nach vorn neigte und diese einige unbeholfene Bewegungen machte, um nicht umzusinken. »Drehen Sie dort den mittleren Regelknopf schnell entgegen dem Uhrzeigersinn«, kam es
stoßweise über ihre Lippen. »Die Intensität der Rückkopplung ist für mich zu stark.« Ben Darkens handelte in Sekundenschnelle.
»Jetzt ist es gut.« Die Stimme von Ira Beaux hatte sich wieder gefestigt. »Daß ich daran nicht gleich gedacht habe!« Wieder ertönte die besorgte Stimme von Ives Lorin in den Helmlautsprechern. Ben Darkens antwortete: »Alles in Ordnung. Die Anlage scheint noch intakt zu sein. Im Au genblick testen wir die Adaptereinrichtung. Ira hatte Schwierigkeiten; sie sind aber bereits be seitigt. Wir melden uns wieder. Ende.« »Von der Zentrale kommt die Anweisung, eine längere Pause einzulegen«, ergänzte Ives Lorin, der den hartnäckigen Ben Darkens nur zu gut kannte. Darkens ging auf Ira zu. Unter dem Helmoval erschien ihr Gesicht blasser als sonst. Ihre Au gen waren auf den Boden gerichtet. Sie blickte auf, als Ben vor ihr stand. Sonder bar, ihre Angst vor der Tiefe, der Dunkelheit und der fremden unheimlichen Technik schwand in der Nähe dieses Mannes, zu dem sie sich hingezogen fühlte, dessen offenes We sen sie immer mehr gefangennahm. Vielleicht war es gerade ihre anfängliche und, was sie ei gentlich schon recht bald gewußt hatte, unbe rechtigte Abneigung, die sie jetzt zwang, ihm zu helfen, ihm zu beweisen, daß sie ihm un
recht getan hatte. Gern hätte sie das in Worte gefaßt, aber die wollten ihr einfach nicht über die Lippen. »Ira, wie fühlen Sie sich; ist alles wieder in Ordnung?« fragte Ben Darkens. »Ja, es war nur ein kleiner Schwächeanfall, man soll sich nicht überschätzen.« Sie spürte, wie er sie mitfühlend ansah, und die Fürsorge gerade dieses Mannes tat ihr wohl. »Ben, ich würde gern ein paar Aufnahmen von dieser Adapterwand machen«, sagte sie ablenkend. »Aber ich traue mich weder Blitz licht noch einen Infrarotimpuls zu benutzen. Wer weiß, wie die Lichtringe darauf reagieren? Was meinen Sie, sollte ich es doch wagen?« »Nein, besser nicht«, erwiderte er. »Ich bin ganz Ihrer Meinung; wir sollten jegliche Kon frontation dieser Anlage mit unserer irdischen Technik vermeiden. Ich glaube, daß wir hier unten mehr erfahren werden als bei monate langer Rastersondenarbeit. Machen wir also weiter!« Ira überflog im Licht des Helmscheinwerfers wieder ihre Notizen, dann sagte sie: »Nachdem die Repetationszentren auf das fragende Ge hirn abgestimmt sind, müßten wir jetzt als nächsten Schritt die Zeitkabine suchen. Ich
vermute, daß der Turm in der Mitte dieses rie sigen Rundbaus, in dem wir uns befinden, die Verlängerung des Imaginatorschachtes ist.« Vorsichtig gingen die beiden auf den kleinen Rundbogen zu, der zweifellos einen Eingang zu den noch tiefer liegenden Teilen der Anlage bildete. Als sie sich bis auf ungefähr sechs Me ter der Öffnung genähert hatten, glomm auch hier ein dunkelrotes Lichtband auf. Ben gab Ira ein Handzeichen, stehenzubleiben. Was war das nur für ein sonderbarer Druck, den er verspürte? Schließlich blieb er schnau fend stehen; eine unbekannte Kraft hinderte ihn am Weitergehen. Sicher war es eine weite re Schutzmaßnahme, Unbefugten den Eintritt in die Zeitkabine zu verwehren. Was war dage gen zu tun? »Ira«, rief er seiner Begleiterin zu, die bereits wieder ihren Notizzettel studierte, »wir kom men hier nicht weiter. Eine unsichtbare Bar riere schützt den Schachteingang. Gibt es da für eine Erklärung oder eine Anweisung in Ih ren Texten?« »Die eigentliche Informationsanlage kann nur ohne Schutzhelm betreten werden«, antworte te sie, »sonst bleiben die Psychowellen unwirk sam.«
»Das stimmt; aber was sollen wir tun? Wir tragen doch schon besondere Schutzhelme ohne Metall. Wir können uns hier doch nicht frei bewegen.« »Einen Augenblick, Ben, befragen wir den Ta schenanalysator!« Noch während sie sprach, nestelte sie aus ihrer Umhängetasche ein re chenstabgroßes Instrument hervor und hielt es hoch. »Es sieht nicht gut aus«, sagte sie nach wenigen Minuten. »Kommen Sie doch bitte hierher, wo der Sperrbezirk beginnt, vielleicht gibt es da einen Zusammenhang. Es könnte doch sein, daß die Seleniden nur die Kabine mit erdähnlicher Atemluft umgeben haben. – Allmählich halte ich nichts mehr für unmöglich«, erwiderte Ben. Und tatsächlich, die Vermutung bestätigte sich. Kurz entschlossen klappte er den Schutz helm zurück und machte einige Schritte nach vorn. Der Widerstand war verschwunden. Er atmete einige Male tief ein und aus. Irgendwie roch die Luft nach Chloroform, oder bildete er sich das nur ein? Es war jetzt keine Zeit, festzustellen, wie es die Seleniden technisch gelöst hatten, die At mosphäre genau auf diese Stelle zu begrenzen.
Ben Darkens machte eine kurze Durchsage an Ives Lorin, dann näherten sich beide vorsichtig der Rundbogentür des viereckigen Quarztur mes. Unwillkürlich hatte Ira den Arm des Man nes umklammert. Auch in dem offenen Viereck des Turmes glomm ein mattrotes pulsierendes Licht auf. Das Vibrieren hatte sich verstärkt, und der lei se Summton, der die Halle ausfüllte, war im luftgefüllten Innenraum als lautes Brummen zu hören. Mit eiserner Energie rief sich Ira im mer wieder die Anweisungen für die Inbetrieb nahme der Informationskabine des Teleimagi nators ins Gedächtnis: Nach vollzogener bio physischer Adaption in die Kabine treten, eine kniende Stellung einnehmen und den Kopf nach vorn beugen. Und nun kam der schwie rigste Teil, das Abfragen der Einrichtung mit tels konzentrierten Vorstellungsvermögens. Hier hörte der menschliche Erkenntnisstand auf. Es handelte sich um eine Anlage, die nach dem Prinzip der Widerspiegelung oder der Ab bildgewinnung denkender Materie aufgebaut war. Eine technische Nutzbarmachung dieser Möglichkeit war auf der Erde einfach noch un vorstellbar. Man konnte Bilder speichern, man konnte Worte speichern, aber mit welchen
Mitteln Vorstellungen gespeichert werden konnten, das entzog sich jeglicher Erfahrung. Und doch schien dies auch für die künftige Menschheit eine Methode zu sein, die Informa tionstechnik weiterzuentwickeln. Es war auf die Dauer nicht möglich, die Fülle neuer Er kenntnisse aufzuschreiben oder zu filmen, also mußten bei der Speicherung des Wissens neue Prinzipien gefunden werden. Doch noch war der Begriff »Psyche« zu sehr mit der Medizin und zu wenig mit der Technik verknüpft. Also weiter: Den Kopf nach vorn beugen und sich konzentriert das gewünschte Objekt oder die betreffende Frage in geeigneter Form vor stellen. Vorwiegend eine Angelegenheit des Konzentrationsvermögens. War es auch die richtige, für die Anlage erfaßbare Vorstellung? Nun den einzigen Hebel nach oben herumle gen, und dann würde der Teleimaginator, die Kabine mit dem suchenden Hirn, an einer be stimmten Stelle des mehr als zweihundert Me ter tiefen Abbildcomputers stehenbleiben und Details über das vorgestellte Objekt in Form von starken Mnemostrahlen bekanntgeben. Ja, so würde die Anlage funktionieren. Ben Darkens und Ira Beaux waren am Ein gang angekommen. Das Innere war leer, bis auf den Hebel an der Stirnwand. Eigentlich
enttäuschend, daß modernste Technik so schlicht und einfach aussah! »Ira, bitte verlassen Sie noch einmal den Um kreis der Kabine, und geben Sie an Ives durch, daß ich jetzt einsteigen und testen werde, ob die Anlage noch funktioniert. Aber achten Sie dann auf unsere Verbindungsleine; wir wissen nicht, wie schnell sich die Abbildzelle bewegt.« Mit diesen Worten hatte Ben Darkens die leuchtenden Konturen der Schachtöffnung durchschritten. Ira stand wie gelähmt, ihre Kehle war wie zu geschnürt. Was war, wenn Ben etwas zustieß oder die Anlage in großer Tiefe steckenblieb? Die Angst um ihn verlieh Ira plötzlich unge wöhnliche Tatkraft und Mut. »Ben, bitte kom men Sie zurück! Lassen Sie uns die Situation noch einmal besprechen, bitte!« rief sie. Kopfschüttelnd trat Ben Darkens wieder auf sie zu. »Was gibt es da noch viel zu bereden? Probieren müssen wir! Wir sind schon über eine Stunde hier unten. Wer weiß, wie lange das Suchen noch dauern kann!« »Hören Sie mir jetzt gut zu«, sprach sie, und nur der zitternde Unterton in ihrer Stimme verriet die Unruhe. »Wer von uns beiden hat sich gründlicher mit der Anlage befaßt? Wer
hat sie als letzter adaptiert, Sie oder ich?« Ben war verwundert. Was wollte Ira eigent lich? Er bemühte sich, sie zu schonen und An strengungen von ihr fernzuhalten. Verstand sie denn nicht, die Zeit drängte. Sie würden bald zurückkehren müssen. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Ben, ich besteige die Kabine, und Sie überwachen mein Vorgehen. Das hat den großen Vorteil, daß Sie, wenn etwas Unvorhergesehenes geschehen oder die Anlage Funktionsstörungen aufwei sen sollte, sofort handeln können. Im umge kehrten Fall würde ich recht unbeholfen daste hen«, sagte sie schnell und hatte sich mit den letzten Worten schon an ihm vorbeigedrängt. Hoffentlich merkte er nicht, warum sie um je den Preis das Experiment durchführen wollte. Darkens erwiderte aufgebracht: »Ira, ich ver biete Ihnen…« Doch es war schon zu spät. Sie hatte bereits den Transporthebel betätigt, und die nach beiden Seiten offene Kabine versank Zentimeter um Zentimeter in der unheimli chen Tiefe. Ben eilte zu der Rundbogenöffnung und beug te sich hinunter. Er sah Ira, die sich hingekniet hatte und mit Kopf und Armen den Boden be rührte. Langsam, ganz langsam glitt die Si
cherheitsschnur – jetzt die einzige Verbindung zwischen ihnen – durch seine Finger. Manch mal hörte die Bewegung ganz auf. Wie mußte es Ira dort unten nur zumute sein? Ira Beaux war Medium eines Experimentes, dessen Ablauf noch niemand übersehen konn te. Seit sie den Hebel in der Kabinenwand be tätigt hatte, dachte sie mit der ganzen Kraft ih res Willens an die Antimaterielagerstätte. Sie wählte dafür die unterschiedlichsten Vorstel lungen, aber im Endeffekt waren es immer große Behälter, Autoklaven, die irgendwo un ter der Mondoberfläche ihren Standort hatten. Während sie sich angestrengt zu konzentrie ren suchte, huschten andere Bilder an ihr vor über, doch diese kamen von außen, hatten nichts mit ihrer Vorstellung zu tun. Eine große grelle Sonnenscheibe über einer versengten Landschaft kehrte dabei immer wieder. Diese Eindrücke zwangen sich ihr auf. Schemenhaft erkannte sie große Spiegel- oder Prismensyste me. Sie sah sogar in unförmige Schutzanzüge gekleidete Wesen. An der unterschiedlichen Beschleunigung spürte Ira, daß die Imaginatorkabine häufig auf und ab pendelte und sich dann wieder kon stant abwärts bewegte. Sie wartete, dachte und stellte sich vor, sie
hoffte und glaubte. Da – ein klares Bild, wie von einem Sputnik aufgenommen! Die Mond landschaft aus ungefähr zehn Kilometer Höhe. Die Gegend kannte Ira doch! Das war eindeutig die Rückseite des Mondes. Eine charakteristi sche Ringgebirgsformation. Natürlich, das war doch das Gebiet des Kraters Gebrüder Wawi low. Das Bild blieb deutlich und zeigte den Krater grund. Wie in einem Trickfilm wurde an meh reren Stellen, sie zählte einundzwanzig, die Staubschicht entfernt, und es kamen große metallische Deckel von mehr als fünfzig Meter Durchmesser zum Vorschein. Nachdem die Deckel verschwunden waren, wurde der Blick in tiefe Schächte frei, auf deren Grund metalli sche Behälter unheimlich glitzerten. Das Bild rückte näher und blieb unverändert stehen. Erst jetzt fiel Ira mit wachsender Angst ein, daß sie nichts darüber gelesen hatte, wie die Imaginatorkabine in die Ausgangslage zurück zubringen war. Funksprechverbindung zu Ben bestand nicht, denn sie hatte den Schutzhelm abgelegt. Sie wußte nicht, in welcher Tiefe sie sich befand, wieviel Meter Sicherheitsleine durch Bens Hände gelaufen waren. Trotzdem, sie hatte jetzt eine klare Vorstel lung, wo die gefährliche Antimaterie der Sele
niden zu finden war. Als sie sich noch einmal die Schächte im Krater Gebrüder Wawilow vergegenwärtigte, spürte sie plötzlich, wie sich die Kabine nach oben bewegte. Erleichtert at mete sie auf. Sie wagte den Kopf zu heben und nach oben zu blicken. Im fahlen dunkelroten Licht erkannte sie Ben, der in der rechten Hand die um die Schulter geschlungene Si cherheitsleine hielt und ihr freudig zuwinkte. Seinen Oberkörper hatte er dabei weit durch die rundbogenförmige Öffnung gebeugt. Der Abstand zwischen ihnen betrug höchstens noch zwanzig Meter. Wieder hob Ira den Kopf. »Ben, ich habe Sie nicht vergeblich hierhergeschleppt. Das Unter nehmen hat sich gelohnt! Ich weiß jetzt, wo die Antimaterie gelagert ist.« Eine panische Angst erfüllte sie, als sie sich noch einmal das un heimliche Teleimaginatorbild mit den vielen Schächten verdeutlichte. »Auf der Rückseite des Mondes…« Ben Darkens warf sich instinktiv zurück und stemmte beide Beine gegen die Maueröffnung. Gewaltige Schläge, wie von einer Riesenfaust geführt, ließen den Rundbau und den Imagina torturm hin und her schwanken. Es knisterte und knirschte wie von berstendem Gestein. Teile der gleißenden Quarzdecke zersplitterten
neben ihm am Boden. Er spürte einen heftigen Schmerz in der Schulter und krümmte sich. Halbbenommen registrierte er, daß die Kabine abgestürzt war und Ira nur noch an der Sicher heitsleine hing. Würde sich ein größerer Stein aus dem Gemäuer lösen und in den Schacht fallen, mußte er sie unweigerlich zerschmet tern. Du bist der einzige, der Ira retten kann, du mußt bei Bewußtsein bleiben! hämmerte es in Bens Gehirn. Er riß die staub- und schmutzbe deckten Augenlider auf, doch vergebens ver suchte er etwas zu erkennen. Es war stockfin ster; der rötliche Schimmer an der Adapter wand und am Schachteingang war erloschen. Wo hatte er nur die Schutzhelme hingelegt. Ohne die Atemgeräte waren sie verloren. Ohne die Helmbeleuchtung ebenfalls. Seine Gedan ken überschlugen sich. Die Leine, die seinen Körper fest umschlang, erinnerte ihn mit ei nem Schlag wieder an Ira. Stück für Stück hol te er das Seil ein. Ihn schmerzte jede Bewe gung. Luft anhalten und ziehen – ausatmen und nachfassen; wie eine Maschine arbeitete er. Hoffentlich verflüchtigte sich die vorhande ne Atmosphäre nicht! Der Widerstand wurde größer. Sollte er Ira schon bis zur Mauerkante gehievt haben? Mit der linken Hand tastete er
seine Umgebung ab. War denn nichts zu fin den, womit er das Seil absichern konnte? Da, was war das? Es fühlte sich wie ein Rohrstück an. Er zog es zu sich heran, die Länge würde ausreichen. Er rollte das Rohr über seinen Körper, bis die beiden Enden auf der massiven Wandung der Schachtöffnung auflagen. Dann verknotete er das Seil. Schweißgebadet richte te er sich auf und entspannte die Schnur, die seinen Körper umgab. Er drehte sich auf den Bauch und kroch nach vorn, bis sein Oberkörper frei in die Schacht öffnung ragte. Dann faßte er nach unten. Mit festem Griff packte er Ira am Gürtel und hob sie mit letzter Kraft über die fußhohe Brü stung. Die Luft wurde dünner, das spürte er immer deutlicher. Sie mußten von hier weg! Aber wo waren die Helme? Er überlegte. Als Ira und er die Sperre bemerkt hatten, waren sie etwa sechs Meter von ihrem jetzigen Stand punkt entfernt gewesen. Auf allen vieren kroch er einen Halbkreis ab. Die Handschuhe hatte er abgestreift, um besser tasten zu können. Doch nichts als Steine, Trümmer und Splitter. Plötzlich aber hatte er etwas Rundes, Glattes in der Hand – und ein Stückchen weiter noch einmal. Erschöpft sank er neben dem Fund zu sammen. Was dann geschehen war, wußte er
später nicht mehr genau. Er hatte Ira und sich die Schutzhelme übergestülpt, vorher jedoch seinen Kopf an ihre Brust gepreßt, ob das Herz noch schlug. Dann hatte er sie vorsichtig aufge hoben und war im matten Schein der nur noch schwachen Helmbeleuchtung durch das Trüm merfeld getaumelt. Die letzten Stufen der lan gen Treppe, die hinaufführte, war er mehr ge krochen als gegangen. Erst als er den gelben Skaphander von Ives Lorin zwischen Felsbrocken und Quarzstücken leuchten sah, kam er wieder zu sich. Behutsam legte er Ira nieder und befreite Ives aus den Trümmern. Das grüne Kontrollämpchen an der Helmunterseite zeigte an, daß der Franzo se noch atmete. Was sollte Ben Darkens tun? Beide Bewußtlose konnte er nicht transportie ren, höchstens nacheinander, aber reichten dafür seine Kräfte noch aus? Da fiel ihm das kleine Lumobil ein, mit dem sie vom Raketoko pter hierhergefahren waren. Mehrere Stunden später hatte er endlich den Landeplatz er reicht. Mara Bhali, die im gepanzerten Raketo kopter vor dem Mondbeben Schutz gefunden hatte, war glücklich, daß ihre Gefährten noch lebten. »Ben, es war schrecklich«, sagte sie. »Ich glaubte zuerst, das ganze Gewölbe sei einge
stürzt. Die Telefonverbindung nach oben ist zerstört, aber Funksprechverkehr besteht noch. Es muß draußen genauso aussehen.« Sie gab ihm einen Schluck aus der Bordapotheke. »Bitte melde dich erst einmal. Man wird in Lu napol mit dem Schlimmsten rechnen. Es ist wirklich ein Wunder, daß ihr noch am Leben seid!« Ben Darkens war kaum seiner Stimme mäch tig. Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er zum Mikrofon. »Hier spricht Ben Darkens. Versteht ihr mich? Holt, so schnell ihr könnt, den Raketokopter ein, wenn die Anlage noch funktioniert. Ira und Ives sind verletzt und be wußtlos. Ende.« Sein Kopf fiel vornüber. Er hörte noch: »Fertigmachen zum Einholen!« – dann schwanden ihm die Sinne.
Prähistorische Extraterristen Ohne das Wissen über die Seleniden und deren hochentwickelte Technik hätte man in dem vernichtenden Mondbeben wahrscheinlich einen weiteren Beweis für den noch immer umstrittenen Mondvulkanismus gesehen. Doch so war bekannt, daß dieses Beben aus ei ner Kernreaktion resultierte, deren typisch pilzförmige Explosionswolke wie ein drohen des Fanal der Vernichtung für viele Stunden im leeren All gestanden hatte, genau an der Grenze zur Mondrückseite. Die angerichteten Verheerungen waren noch nicht zu übersehen. Aufgrund der seismogra phischen Messungen entsprach die wirksam gewordene Energie einer Sprengstoffmenge von einer Million Tonnen TNT. Da man den Mond für einen relativ »morschen« Himmels körper hielt, hätte er nach ersten Berechnun gen bei dieser Sprengwirkung auseinanderfal len müssen. Glücklicherweise war das nicht ge schehen, aber die Oberfläche war in unmittel barer Nähe des Explosionsortes tief geborsten. Riesige Canons verliefen strahlenförmig nach allen Seiten. Von der Erde aus gesehen, schien es, als sei der gesamte Nordwestteil des Tra banten mit einem Netz großer Kanäle überzo
gen. Der Mond hatte ein neues, aber nicht freundlicheres Gesicht erhalten. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die ra dioaktive Wolke, die von der Explosion übrig geblieben war, nicht zur Erde fliegen würde, sondern den Erdtrabanten in geringer Höhe umkreiste und für die irdische Zivilisation un gefährlich sei, atmete die Menschheit auf und ließ »die Bedrohung aus dem Kosmos« der Vergangenheit angehören. Die Antimaterievor räte waren offensichtlich explodiert, ohne die Erde zu gefährden. Lunapol glich einem Trümmerhaufen. Zum Glück waren keine Menschenleben zu bekla gen. Das sublunare Titow-Hotel war als einzi ges Gebäude von den Stößen nicht beschädigt worden. Ein weiterer Beweis dafür, wie wich tig für die Monderschließung Schutzbauten un terhalb der Oberfläche waren. Am nächsten Tag sollte mit zwei größeren Ra ketokoptern das eigentliche Herdgebiet der Kernreaktion angeflogen und näher unter sucht werden. Pawel Rinald hatte die Teilneh mer benannt und persönlich informiert. Im zweiten Flugapparat würde Ben Darkens die Kommandofunktion übernehmen. Die beiden Raketokopter, die einen Strahlen schutzüberzug erhalten hatten, flogen dicht
übereinander. Vor wenigen Minuten hatten sie das Gebiet der riesigen neuentstandenen Mondspalten erreicht, die einen unfehlbaren Wegweiser darstellten. »Wir gehen auf sechshundert Meter hinunter, um besser auf den Grund der Risse sehen zu können!« gab der Kurator an Ben Darkens durch. »Das wollte ich ebenfalls gerade vorschlagen«, erwiderte dieser, »denn mir scheint, sie führen stellenweise ins Bodenlose. Sollte der Mond doch ein Hohlkörper sein? Na, warten wir ab.« Wie zwei große Raubvögel stießen die Rake tenhubschrauber nach unten. Aus der gerin gen Höhe war der Eindruck von der Breite und Tiefe der Spalten noch beängstigender. Klaus Lorm, der im ersten Raketokopter als Pilot und Navigator fungierte, beobachtete die Echolotanlage, während er sich bemühte, über der Mitte der Spalten zu fliegen. Tatsächlich, die Tiefe betrug an manchen Stellen mehr als sechstausend Meter. »Das ist etwa die gleiche Tiefe wie im Gebiet der Höhlenstadt! Vielleicht gibt es bald eine völlig neue Mondentstehungstheorie!« sagte Klaus Lorm mehr zu sich selbst. »Wir werden jetzt in westlicher Richtung flie
gen«, meldete Pawel Rinald an Ben Darkens, »um dort die Spalten zu überprüfen.« Der Abstand zwischen den Maschinen wurde größer. Ben Darkens behielt die alte Flugrich tung bei. »Achtung!« rief Ives Lorin, der die Maschine steuerte, »da drüben stimmt doch etwas nicht…« »Wir verlieren beachtlich an Höhe, obwohl der Antrieb in Ordnung ist. Ja, eine unbekann te Kraft zieht uns übermächtig nach unten«, stellte der Mondkurator lakonisch fest. »Neben Antigravitation scheint es auch noch Zonen von Hypergravitation zu geben. Ob das Folgen der Materie-Antimaterie-Annihilation sind? Klaus, weichen Sie mit Maximalenergie nach Osten aus!« Beunruhigt verfolgten Ben Darkens und Ives Lorin die Flugmanöver der Nachbarmaschine. Nur widerwillig gaben die Anziehungskräfte den Raketenhubschrauber frei. »Gehen wir auf dreitausend Meter und dann vollen Schub nach Nordwesten! Die Besonder heiten der Spalten können später untersucht werden!« wies Pawel Rinald an, als die Maschi nen wieder übereinander flogen. Das Ticken der Geigerzähler wurde lauter und schneller, als sie etwa zwanzig Minuten später
die Randzonen der radioaktiven Wolke pas sierten. Nach einer weiteren halben Stunde hatten sie das Zentrum der Kernreaktion er reicht. Ein Krater von fast dreihundert Meter Durchmesser war entstanden, in dessen Mitte ein rundes Loch in die Tiefe führte. Der Mond staub war im weiten Umkreis geschmolzen und bildete eine spiegelnde Fläche. Die Insassen der langsam sinkenden Raketo kopter konnten sich eines Gefühls der Macht losigkeit gegenüber solchen entfesselten Na turgewalten nicht erwehren. Die Mondland schaft war umgepflügt worden und in einem thermischen Inferno geschmolzen und er starrt. Und wieder würden Jahrmilliarden ver gehen… »Wer werden in absehbarer Zeit hier nicht landen können. Die radioaktive Strahlung ist viel zu stark. Was sollten wir auch im Moment feststellen? Etwas aber gibt mir zu denken. Eliu hat auf seiner Platinplatte den Mond nach der Katastrophe als neue Sonne dargestellt. Hat er da übertrieben oder die mögliche Anni hilation überschätzt? Sollte nur ein Teil der ge lagerten Antimaterie fusioniert haben? Aber das ist kaum anzunehmen. Wir können sicher davon ausgehen, daß der Antimaterievorrat nicht mehr existiert und daß die Menschheit
glimpflich davongekommen ist. Trotzdem ist es schade, ein solcher Vorrat von Antimaterie hätte unserem technischen Fortschritt sehr genützt. Wer weiß, wie lange es noch dauern wird, bis wir sie in größeren Mengen selbst herstellen können.« »Ben Darkens, ich glaube zwar nicht an Intui tionen und halte nicht viel von Vorahnungen, aber trotzdem warnt mich ein Gefühl, die Sa che mit der Antimaterie als erledigt zu be trachten«, erwiderte Pawel Rinald. Wenig später traten beide Raketokopter den Rückflug an. Gespannte Stille war in dem großen Saal des Titow-Hotels, des einzigen noch intakten Groß baus von Lunapol, als der Präsident der Welt föderation für Raumfahrt van Müren auf das improvisierte Rednerpult zuschritt. In den ersten Reihen saßen viele bekannte Mondpioniere, die mit der Entdeckung der Se lenidenstadt und der Hebung ihrer »Schätze« in enger Verbindung standen. »Liebe Freunde!« begann van Müren seine mit großer Spannung erwarteten Ausführun gen. »Ich möchte Sie darüber informieren, was in den letzten Wochen und Monaten aus den selenidischen Wissensrollen übersetzt werden
konnte. Doch erwarten Sie bitte keinen mehr stündigen Vortrag. Ich fasse mich kurz, es soll nur ein Überblick sein. Der Planet Mond, von seinen ehemaligen Be wohnern Sopri genannt, war noch vor dreißig tausend Jahren ein Himmelskörper in unmit telbarer Sonnennähe. Zusammen mit dem Merkur, der bei den Seleniden Vakuri hieß, bil dete er einen Doppelplaneten. Die Kosmologie der Seleniden bringt mehrfach zum Ausdruck, daß in den Frühstadien der Entstehung von Planetensystemen durch das in dieser Phase wesentlich größere Protozentralgestirn die Bil dung von inneren Doppelplaneten begünstigt wird und dies auch in anderen Sonnensyste men der Fall ist. Der Abstand der beiden Pla neten voneinander betrug rund eine halbe Mil lion Kilometer. Bei der Bewegung umeinander war jedoch die seltene Besonderheit zu ver zeichnen, daß beide Himmelskörper der Sonne immer dieselbe Seite zukehrten. Es gab also auf jedem der beiden Planeten eine Zone stän diger, intensiver Sonneneinstrahlung und eine entsprechend kalte Zone ewiger Nacht. Zwi schen diesen extremen Temperaturgebieten befanden sich aber auch größere Bereiche mit gemäßigtem Klima. In enger kosmischer Nach barschaft zog der Doppelplanet Jahrmilliarden
seine sonnennahe Bahn. Ungefähr dreißigtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung näherte sich ein bis dahin unbe kannter Komet, vermutlich durch die Masse des Jupiters abgelenkt, der Sonne beträchtlich. Seine Bahn verlief zwischen der Venus und der Sonne und kam dem Planetenpaar gefährlich nahe. Genaue Berechnungen der selenidischen Astronomen ergaben, daß nach Ablauf von etwa siebzig Jahren eine erneute Begegnung des Kometen mit dem Jupiter stattfinden wür de, die die Bahn des Schweif Sternes so beein flussen könnte, daß eine Kollision mit dem So pri nicht auszuschließen sei. Der Komet mit ei ner überdurchschnittlichen Masse von fünf mal zehn hoch vierzehn Tonnen hatte zwar bei seinem ersten nahen Sonnendurchgang einen beachtlichen Masseverlust erfahren, trotzdem würde aber die noch vorhandene Materiemen ge beim Zusammentreffen mit dem Planeten zu einer Katastrophe führen. Die selenidische Bevölkerung wurde rechtzeitig evakuiert. Der vorausberechnete Zusammenstoß fand tat sächlich statt. Der Kern des Kometen traf den Planeten frontal, löste sich auf und stürzte in Form von vielen tausend Riesenmeteoriten auf dessen Oberfläche. Die nicht direkt an der Kol lision beteiligten Massen wurden zum Teil von
der Schwerkraft eingefangen und gingen an anderen Stellen nieder, so daß der Planet von allen Seiten getroffen wurde, jedoch mit unter schiedlicher Heftigkeit. Durch das Einschlagen unzähliger großer und kleiner Meteoriten in die Oberfläche und durch das Eindringen der Koma in die Lufthül le des Planeten entstand eine ungeheure Hitze. Die Atmosphäre verbrannte, und der Boden wurde bis zu einigen hundert Meter Tiefe so erhitzt, daß die Oberflächenschicht teigig-flüs sig wurde. Die Gewalt der kollidierenden Mas sen drängte den Sopri aus seiner Bahn, und es bestand die Gefahr, daß er in die Sonne stür zen würde. Doch dann bewegte sich der zer störte Planet in entgegengesetzter Richtung. Dabei befand er sich noch lange im Schweif des Kometenrestes. Auf seiner sichelförmigen Bahn durcheilte der Sopri zuerst den leeren Raum – denn der nächste Planet, die Venus, befand sich in Opposition auf der anderen Son nenseite –, gelangte schließlich in das Schwe refeld der Erde und wurde von dieser einge fangen. Der dichte Vorbeigang einer solch großen Masse und ihr allmähliches Einpendeln verur sachten auf der Erde der jüngeren Steinzeit ge waltige Naturkatastrophen. Das in ganz knap
per Form zur kosmischen Vergangenheit unse res Erdtrabanten. Wie ich schon andeutete, waren die Bedin gungen für die Entstehung vernunftbegabten Lebens auf dem sonnennahen Planeten ohne Eigenrotation denkbar ungünstig. Es blieb le diglich jene schmale Zone zwischen den Berei chen der ständigen Gluthitze und der ewigen Nacht, die dem Eiweißleben Entwicklungsmög lichkeiten bot. Noch ungünstiger als die gleich bleibenden, örtlich schroffen Temperaturun terschiede wirkte sich die harte Strahlung der nahen Sonne aus. Zu einem Zeitpunkt, als der Sopri seine näch ste Position zur Protosonne hatte, muß eine riesige Protuberanz die noch teigige Planeten kruste so verändert haben, daß sich in weiten Gebieten die Schollen überlappten und Hohl räume entstanden. Viele solcher Blasen sind im Verlauf der Jahrmilliarden wieder einge stürzt oder wurden in den planetarischen Vul kanismus einbezogen. Eine Anzahl ist aber bis heute erhalten geblieben. Diese anfangs was sergefüllten Hohlräume gaben ersten Lebens keimen Möglichkeiten zur Fort- und Höherent wicklung. Die umfangreichen Fossilienausgrabungen der Seleniden und ihre Auswertung lassen er
kennen, daß die Entwicklung der einzelnen Le bewesen in den riesigen Hohlräumen und Spalten sehr unterschiedlich verlaufen ist. Trotz aller Schwierigkeiten und ungünstiger Bedingungen hat dabei die Evolution vernunft begabten Lebens auf dem Sopri zwar etwas länger gedauert als auf der Erde, dafür aber viel früher eingesetzt. Verweilen wir nun noch kurz bei den men schenähnlichen Sopribewohnern der Neuzeit. Die Horde oder der Stamm bewohnte und be herrschte in der Frühzeit nur den engbegrenz ten, lebensgeschützten Raum unter der Mond oberfläche. Diese konnte von den Seleniden erst betreten werden, als sich die Metallurgie entwickelt hatte. Es wurden Bleihelme und Bleischutzschilde hergestellt und für den nur den Züchtern bestimmter Pflanzen erlaubten längeren Aufenthalt an der Planetenoberfläche den ganzen Körper schützende Bleirüstungen. Verglichen mit der Erdbevölkerung war die Zahl der Seleniden nie sehr hoch. Deshalb ist es ein großer Zufall, daß wir durch die Explosi on des Quecksilberrotationsteleskops auf die einzige und letzte Wohnstatt der Seleniden ge stoßen sind. Diese Wohnpyramiden, die eine beängstigende Gleichförmigkeit aufweisen, entsprechen nicht den üblichen Baugewohn
heiten der Seleniden. Es handelt sich hierbei bereits um eine zentrale sublunare Schutzsied lung, die in sehr kurzer Zeit, während der An näherung des Kometen, erbaut wurde. Es gibt mehrere ähnlich große Hohlräume auf dem Mond, die genauen Koordinaten sind in dem gefundenen Material angegeben. Doch jene dienten anderen Zwecken, entweder der Sicherung der Ernährung, der Produktion von Gebrauchsgegenständen, der Weiterentwick lung von Wissenschaft und Technik, der Erho lung und Zerstreuung. Alle genutzten Hohlräu me waren durch künstliche Sonnen auf der Ba sis von Materie- und Antimateriezerstrahlung in Stätten günstiger Lebensbedingungen ver wandelt worden. Die Medizin der Seleniden war weit fortgeschritten. Durch ständigen Or ganaustausch konnte ihre Lebenserwartung in den letzten Jahrtausenden verfünffacht wer den. Von Eliu wissen wir, daß er und Peria die se Zeitspanne noch einmal verdoppelt hatten, wobei ein selenidischer Lebenszyklus ungefähr vierzig Jahre betrug. Die Seleniden lebten zuletzt in einer klassen losen Gesellschaft. Ihre hochentwickelte Tech nik gewährleistete einen hohen Lebensstan dard. Allerdings war die Fortpflanzungsfähig keit der Seleniden beiderlei Geschlechts zu
mindest in den letzten zehntausend Jahren stark zurückgegangen. Häufig ist zu lesen, daß für Geburtenfreudigkeit gesellschaftliche An erkennungen und besondere Privilegien verge ben wurden. Doch ich muß meine Ausführungen straffen! Aufgrund der, vorausgesagten Kometengefahr haben die Sopribewohner ihren Planeten ver lassen. Sie verwendeten dafür große, relativ einfache Raumschiffe. In den Überlieferungen ist sehr viel darüber zu lesen, welcher Planet als Zufluchtsort und künftige Heimat gewählt werden sollte. Die Frage wurde schließlich durch ein Volksvotum entschieden. Sechzig Prozent der Seleniden stimmten für die Erde, von der man wußte, daß dort verhältnismäßig hochentwickeltes Leben existierte. Es wird auch bestätigt, daß etwa achttausend -Seleni den an der späteren Evakuierung nicht teilge nommen haben. Die irdische Insel, von der in den Wissensrol len ständig die Rede ist, muß Island oder eine früher wesentlich größere Insel an derselben Stelle gewesen sein. Doch das Unternehmen der Sopribewohner stand unter einem un glücklichen Stern. Viele der übersiedelten Se leniden kamen durch die riesigen Springfluten und Überschwemmungen bei der Annäherung
ihres alten Heimatplaneten an die Erde ums Leben. Die Wissensrollen über unmittelbare Kontak te mit den Menschen, die aber erst um zwei tausend vor der Zeitwende begonnen haben, befinden sich noch in der Übersetzung. Es gilt jedoch als sicher, daß die Seleniden mit allen Frühzentren der menschlichen Zivilisations entwicklung in Mittelamerika, im Zweistrom land, in Indien und in Afrika zumindest mittel bar in Verbindung gestanden haben.« Der betagte Präsident der Weltföderation bat um eine Pause. Dies war auch im Sinne der Zu hörer, die etwas Zeit brauchten, um das so eben Gehörte zu verarbeiten. »Bei den technischen Problemen«, fuhr van Müren dann nach kurzer Unterbrechung fort, »möchte ich mich ganz kurz fassen, denn es gibt zweifellos Berufenere, die darüber spre chen könnten. Ich möchte nur die beiden Hauptsäulen der selenidischen Technik erwäh nen, nämlich die Antimaterie und die Gravita tion. Als Treibstoff für ihre Kosmobile und Raumschiffe verwendeten die Seleniden Anti materie, aber mit einer ganz anderen Zielstel lung, als uns dies heute zweckmäßig erscheint. Wenn wir von Antimaterie sprechen, dann denken wir meist nur an den maximalen Anni
hilisationseffekt beim Zusammentreffen mit normalen Teilchen. Doch die Wissenschaftler auf dem Sopri waren schon in der Lage, aus Antiteilchen Antimaterie in größeren Mengen herzustellen. Wie bekannt ist, treten Teilchen und Antiteilchen nur paarweise auf. Ein sol ches Teilchenpaar, zum Beispiel aus Elektron und Positron bestehend, wandelt sich unter bestimmten Bedingungen in Photonen um, also in Licht. Umgekehrt ist es aber auch mög lich, aus Licht beliebige Teilchenpaare zu ge winnen. Die unmittelbare Sonnennähe und enorme Strahlungsdichte auf der dem Zentral gestirn ständig zugewandten Planetenseite war für die selenidischen Forscher ein ideales Ex perimentierfeld. Zur Umwandlung von Energie in Materie wur de die Sonnenstrahlung von ihnen unmittelbar in großen Gravitationslinsen konzentriert und mit Hilfe überdimensionaler Massenspektro graphen in Teilchenpaare zerlegt. Der kompli zierte Prozeß war, hieraus bestimmte Teilchen zu selektieren. Auf diese Weise gewannen sie große Mengen von Antiwasser, das sie generell als Gravito nentreibstoff benutzten. Diese Antiflüssigkeit befand sich im unteren Teil ihrer Kosmobile und erzeugte dort eine Kraftkomponente in
zentrifugaler Richtung, die der normalen Schwerkraft entgegenwirkte. Von großem Interesse und wieder neu für uns ist, daß beispielsweise Kohlenstoff auf die An tigravitation neutralisierend wirkt, so daß die se außerirdischen Flugkörper mit Hilfe von verstellbaren Kohlenstoffblenden gesteuert werden konnten. Bei der Darstellung der Gewinnung von Anti materie und ihrer Anwendung als Antigravito nentriebkraft ist bereits das wichtige Zusam menspiel zwischen Antimaterie und Gravitati on in der selenidischen Technik zu erkennen. Die ungefährliche Verbindung von Materie und Antimaterie, wie sie von den Sopribewoh nern bei dem Pseudoquarzmaterial der Wohn pyramiden praktiziert wurde, führt bei der Einwirkung von starken Energieimpulsen zu dem durch unseren Mitarbeiter Nik Sullikow von der Wirkung her richtig gedeuteten Anti photoneneffekt. Obwohl, das sagen auch die Wissensrollen, es real kein Antiphoton gibt. Da die Seleniden die Technik der Elementar teilchen perfekt beherrschten, waren sie in der Lage, durch gravitative Lichtbeugung Sichtba res in Unsichtbares zu verwandeln. In einem bestimmten sublunaren Hohlraum besaßen sie große Anlagen, um elektrische Energie unmit
telbar aus Plasma zu gewinnen. Die Wissens rollen, deren Inhalt etwas über den Stand ih rer kybernetischen Forschung aussagen, sind noch in der Übersetzung; aber nach einer gro ben Durchsicht enthalten sie ebenfalls äußerst interessante Ergebnisse. Ich möchte nicht noch auf die von unserer Wissenschaft als Grenzgebiete bezeichneten Problemkreise ein gehen, von denen viele zum Wissensstand der Seleniden gehörten. Es soll nur ein Beispiel sein, wenn ich Ihnen sage, daß die vor fast hundert Jahren von dem sowjetischen Astro physiker Kozirew aufgestellte Hypothese, daß die Zeit eine besondere, von uns zunächst nicht definierbare Energieform ist, die mani puliert werden kann, bewiesen ist. Damit will ich schließen. Ich danke Ihnen für Ihre Auf merksamkeit und möchte Ihnen noch den Lei ter der Moskauer Translationszentrale für se lenidische Wissensrollen, Professor Boris Sa gitow, vorstellen, der Ihre Fragen beantworten wird.« Professor Sagitow war ein junger, sympathi scher Mann, den ein schwarzer Vollbart älter erscheinen ließ. Er hatte das Rednerpult noch nicht erreicht, als sich schon Dr. Jarzew, stell vertretender Leiter des biomedizinischen In stitutes von Lunapol, zu Wort meldete.
»Warum sind die Seleniden, die sicher eine sehr lange Entwicklungszeit hatten, innerhalb der relativ kurzen Frist von rund dreißigtau send Jahren ausgestorben?« »Vorausschicken möchte ich, daß die selenidi sche humanoide Entwicklung etwa fünfhun derttausend bis eine Million Jahre früher als die Entwicklung des Erdenmenschen begon nen hat«, antwortete Professor Sagitow. »Hier liegt eine der Ursachen für das Aussterben. Die selenidische Lebensform hatte biologisch be reits eine hohe Entwicklungsstufe erreicht. Das ständige, wohlgemerkt biologisch bedingte Geburtendefizit führte zu einer permanenten und gefährlichen Reduzierung der Bevölke rungszahl. Trotzdem hätten die Sopribewoh ner unter normalen, ihnen entsprechenden Umweltbedingungen noch weitere Jahrzehn tausende existieren können. Daher muß als zweiter, ausschlaggebender Grund die inter planetare Umsiedlung genannt werden. Die völlig anderen Verhältnisse auf der Erde haben das biologische Ende der Seleniden beschleu nigt. Aus den nur zum Teil übersetzten Jahresbe richten des Aufenthaltes der Seleniden auf der Erde geht eindeutig hervor, daß diese dort im mer nur bemüht waren, ihre Art zu erhalten.
Sie waren zu diesem Zeitpunkt als Lebensform entwicklungsgeschichtlich viel zu alt, um sich noch den anderen Lebensbedingungen anpas sen zu können.« Eine weitere Wortmeldung kam von Dr. Falai se, der das moderne Ambulatorium von Luna pol betreute und ein bekannter Astromedizi ner war. »Es wurde von mehrfacher Verlänge rung der Lebensrhythmen der Seleniden durch Organverpflanzung gesprochen. Gibt es hierzu schon übersetzte Details?« »Auf diesem Gebiet sind unsere Informatio nen noch nicht vollständig. Die Wissensrollen sprechen von einem permanenten Organaus tauschzyklus. Im Prinzip war bei ihnen der Austausch aller inneren Organe möglich. Je doch, und das scheint mir sehr wesentlich, ver stand man unter Organaustausch weniger die operative Einbringung gesunder Fremdorgane als vielmehr die periodische Regenerierung der eigenen Organe. Für diese Zeitspanne der Regeneration wurde dem Patienten nur kurz fristig ein synthetisches Äquivalenzorgan ein gesetzt.« Die nächste Frage stellte ein älterer Polyzoo loge, der ein Laboratorium für Radiozoologie in der Nähe von Lunapol leitete. »Ist aufgrund der Auswertung der Wissensrollen schon et
was Näheres über die frühere Fauna des Sopri zu erfahren?« »Zwar gab es auf dem Mond vor der Katastro phe keine Vögel, jedoch sehr viele andere Tier arten, die nur in ständiger Dunkelheit und im Schnee und Eis der von der Sonne immer abge wandten Planetenseite lebten. Man könnte die se Tierarten, die mausgroß bis bärengroß wa ren, als eine Familie von Nachtsäugetieren mit besonders großen Augen und unterschiedli chen anabiotischen Lebensunterbrechungen bezeichnen. Für unsere bisherigen zoologi schen Kenntnisse völlig neu ist das Vorhan densein vielfältiger insektenartiger Lebensfor men, die noch bei sehr tiefen Temperaturen existieren konnten. Ich möchte hier als viel leicht charakteristisches Beispiel nur ein von uns Gletscherspinne genanntes Lebewesen er wähnen, das mit einer Rumpflänge von etwa zwei Metern fluoreszierender Körperhülle und sechs Beinen mit großen Saugnäpfen ein schauerlicher Tyrann der ewig dunklen Sopri arktis gewesen sein muß. Diese Darstellungen lassen sich beliebig ergänzen. Doch ich muß betonen, daß für alle Tierarten und auch für die humanoiden Formen die eigentliche Ent wicklung immer in dem schmalen Streifen ge mäßigten Klimas begonnen hat.«
Es wurden noch viele Fragen beantwortet, ehe Präsident van Müren die interessante Diskus sion beendete.
Mexikanische Ruinen Fast schien es so, als wären die letzten Tage und Wochen, die die Menschen in aller Welt zunächst in Spannung und dann in Angst und Schrecken versetzt hatten, nur ein finsterer Alptraum gewesen. Der Besuch des Präsiden ten der Weltföderation für Raumfahrt in Luna pol hatte symbolisch einen Schlußstrich unter die aufregenden Ereignisse gesetzt, denn der Menschheit harrten noch andere Probleme, die zu lösen waren. Auch für die Techniker und Wissenschaftler auf dem Mond gab es viel Arbeit. Die Zerstö rungen durch das gewaltige Beben waren um fangreicher, als man zunächst angenommen hatte. Pawel Rinald sah beim Wiederaufbau sofort neue Möglichkeiten für eine stärkere In dustrialisierung der Mondsiedlungen. Vor zwanzig Jahren mußte das gesamte benö tigte Material Tonne um Tonne kostspielig mit tels Transportraketen von der Erde zum Mond gebracht werden. Das sollte kein zweites Mal geschehen! Der Kurator hatte bereits eine Aufstellung der wichtigsten Maschinen anfertigen lassen. Wenn er diese Anlagen kurzfristig erhielt, wür den die Zerstörungen rasch beseitigt und die
Forschungsarbeiten werden können.
wieder
aufgenommen
Seit dem Unfall im Teleimaginator hatte Ben Darkens täglich Ira Beaux in der provisori schen Krankenstation im Untergeschoß des Ti tow-Hotels besucht. Am vierten Tag lag sie noch immer in tiefer Bewußtlosigkeit, und Dr. Falaise, der darum gebeten hatte, ihre Behand lung zu übernehmen, konnte Ben Darkens nur dahin gehend beruhigen, daß bei seiner Pati entin keine inneren Verletzungen festzustellen waren. Ihre Bewußtlosigkeit führte er auf Überanstrengung und auf Schockwirkung zu rück. Er bat Ben Darkens, den Hergang des Unfalls noch einmal ganz genau zu schildern. Der Chefselenologe dachte an den Schwindel anfall von Ira, als sie sich beide mit der Adap terwand beschäftigt hatten. War das vielleicht schon eine erste Ursache der schweren Er krankung gewesen? Dann saß er Ramon Falai se lange gegenüber. Die ruhigen, prüfenden Augen des Arztes verweilten manchmal zwei felnd auf Darkens’ wettergebräunten Gesichts zügen, wenn dessen Geschichte gar zu aben teuerlich klang. Aber es gab keinen Grund zu zweifeln. Als der Wissenschaftler auf die Lichtringe vor
dem Kabineneinstieg zu sprechen kam, wurde der Mediziner plötzlich lebhaft. »Darkens, das ergibt ja völlig neue Anhaltspunkte. Warum haben Sie mir das nicht gleich erzählt? Da durch entsteht doch bei Ira Beaux ein ganz an deres Krankheitsbild!« sagte er betroffen. Doch als er das erschrockene Gesicht des sonst so gefaßten Chefselenologen sah, lenkte er so fort ein. »Ich bin trotzdem fest davon über zeugt, daß Sie schon in wenigen Tagen wieder mit ihr sprechen können.« Ben warf noch einen Blick durch die Scheibe der Krankenzimmertür. Es war immer das gleiche Bild, dennoch schien es ihm, als seien diesmal Iras Wangen ein wenig gerötet. Als Dr. Falaise wieder allein in seinem Ordi nationszimmer war, ging er nervös auf und ab. Er holte sich Bücher von nebenan. Er las, über legte und nahm seinen Rundgang wieder auf. Unbedingt mußte er sich mit einem Fachkolle gen aussprechen. Über Videophon verständig te er seinen Freund Dr. Jarzew und bat ihn, für kurze Zeit zu ihm zu kommen. »Lieber Michail«, begann Falaise das Ge spräch, als Jarzew bei ihm eintrat, »wie wür den Sie einen Patienten behandeln, der durch unbekannte hypnoseartige Einflüsse bewußt los geworden ist? Könnte so etwas überhaupt
möglich sein?« »Das ist eine sonderbare Fragestellung an einen Biomediziner«, erwiderte Jarzew be dächtig, um Zeit zu gewinnen. »Sie wissen ja, es handelt sich um Ira Beaux, die Astronomin, die während des großen Be bens in einer psychotechnischen Einrichtung der Seleniden verunglückt ist. Nachdem mir Ben Darkens vorhin nochmals den genauen Hergang geschildert hat, glaube ich, daß ihr Zustand mehr die Folge fremder hypermnemo nischer oder hyperneurotischer Einflüsse ist.« »Soviel ich weiß, soll dieser Teleimaginator Eindrücke und Vorstellungen vermitteln. Wenn ich davon ausgehe, dann muß ich Ihnen recht geben. Hierzu ist ein Zustand unterbe wußter Aufnahmebereitschaft bei Ausschal tung des Bewußtseins notwendig«, sagte Dr. Jarzew. »Das würde theoretisch bedeuten, daß ich versuchen müßte, eine uns unbekannte Sugge stion bei der Patientin aufzuheben.« »Kollege Falaise, ich glaube, wir betreten da Neuland. Wir wissen, daß der Mensch durch aus in der Lage ist, sich an außerirdische Be dingungen und Verhältnisse zu gewöhnen. Denken Sie zum Beispiel an längere Flüge in Raumschiffen, an bemannte Orbitalstationen
oder an uns Lunauten. Wir leben seit Jahren mehrere hunderttausend Kilometer von unse rer Erde entfernt. Haben wir uns deshalb ver ändert? Doch wohl nicht. Der Mensch meistert also außerirdische Verhältnisse oder, sagen wir besser, außerirdische Lebensbedingungen durchaus. Aber wie wird er sich verhalten, wie wird er reagieren oder beeinflußt werden, wenn er mit hochentwickelten nichtirdischen Lebensträgern und deren Technik und Denk weise in Berührung kommt? Ich glaube, unsere Kommunikationstheorie über das mögliche Verhalten bei Kontakt mit Außerirdischen ist viel zu abstrakt. So, wie wir Angst und Freude empfinden können, wie wir Sympathie und Abneigung verspüren, wäre es doch auch möglich, daß eine andere Welt mit all ihren unterbewußten Einflüssen in uns auch ganz neue, bisher völlig unbekannte Emo tionen wecken könnte. Kennen wir die Tiefe der menschlichen Empfindungswelt?« »Ich verstehe Sie recht gut! Doch ich hoffe, daß wir bei Ira Beaux nicht gleich vor einem Präzedenzfall stehen. Aber die von Ihnen ange deutete Richtung, die Betrachtungsweise, wirkt überzeugend. Ich werde Sie auf dem lau fenden halten«, sagte Falaise. In den folgenden Tagen veränderte sich Iras
Zustand zusehends positiv. Falaise behandelte sie mit Reizströmen und Teslaschocks. Zusätz liche Sauerstoffatmung und unterschiedliche Geräuscheinwirkungen trugen dazu bei, daß sie schließlich die Augen öffnete. Auf ihre erste Frage, wo sie sich befinde, gab ihr Dr. Falaise nur eine kurze Erklärung, dann wurde ihr so fort ein Tiefschlafmittel verabreicht. Unterdes sen traf der Mediziner umfangreiche Vorberei tungen für eine psychiatrische Behandlung. Nach etwa dreißig Stunden Schlaf erwachte Ira und fühlte sich ungewöhnlich frisch. Eine anschließende gründliche Untersuchung bestä tigte, daß die Patientin organisch völlig gesund war. Aber schon die wenigen während der Un tersuchung mit ihr gewechselten Worte mach ten den Mediziner stutzig. In einem längeren Gespräch, das sich ausschließlich mit den Um ständen des Unfalls und den Besonderheiten der Expedition beschäftigte, erhielt er die Be stätigung, daß die Astronomin für einen be stimmten Zeitabschnitt ihr Gedächtnis verlo ren hatte. Ob es nur ein vorübergehender Zu stand war, darauf wußte Dr. Falaise noch keine Antwort. Selbstverständlich konnte sie aufste hen, Bewegung und Kontakt mit anderen Men schen würden ihrer weiteren Genesung dien lich sein.
Als Ben Darkens mit einem kleinen Blumen strauß aus der Terrafloraanlage von Lunapol die Krankenstation betrat, erfüllte ihn große Unruhe. Falaise nahm ihn beiseite und brachte ihm schonend bei, was er über Iras Zustand wußte. Ben war zutiefst erschrocken. Dann standen sie sich gegenüber. Ira begrüß te ihn freundlich, aber er spürte sofort, daß sie ihn nicht erkannte, zumindest nicht so erkann te, wie er sich das gewünscht hatte. »Ira, wir haben gemeinsam den Teleimagina tor der Seleniden befragt, als uns das Mondbe ben überraschte. Glücklicherweise waren Sie sicher angeseilt. Was haben Sie getan, als Sie die Erschütterungen spürten?« Sie schaute ihn mit großen Augen an. »Und vor allem«, fuhr Darkens geduldig fort, »was wollten Sie mir kurz vorher zurufen? Ich konnte Sie nicht verstehen.« »Ja, ich entsinne mich«, kam es stockend über ihre Lippen. »Ich erinnere mich, daß wir beide eine tiefe Treppe hinunterschritten in ein unheimliches rundes Gewölbe. Dort haben wir die Schutzhelme abgenommen, und dann wurde es mir schwarz vor Augen.« Ben atmete auf. Der Arzt hatte sich zwar nicht getäuscht, aber der Gedächtnisschwund betraf erstaunlicherweise nur jene Stunden, die sie
beide im Bereich der selenidischen Psycho technik verbracht hatten, im Bereich der Adap terwand. Vielleicht würde sich Ira auch nach und nach wieder an Einzelheiten entsinnen, wenn sie länger und detaillierter darüber spra chen. Ira Beaux stand am Fenster und blickte auf das künstliche Panorama. Ben betrachtete sie zärtlich und spürte, wie lange unterdrückte Gedanken und Regungen in ihm aufstiegen. Nach dem kurzen Besuch, der von Dr. Falaise nachdrücklich beendet wurde, sprachen die beiden Männer noch längere Zeit miteinander. Der Arzt machte Ben Darkens mehrfach dar auf aufmerksam, daß er Iras Zustand noch im mer mit gewisser Besorgnis betrachte und daß er sich in den nächsten Tagen gründlich mit der Problematik beschäftigen werde. »Lieber Ben Darkens«, schloß er die Unterredung, »es kann sein, daß ich Sie als Mittelsperson oder Katalysator für neue Experimente benötige.« Schon am übernächsten Abend erhielt Ben Darkens einen Anruf von Dr. Falaise. Der Arzt bat ihn um einen Besuch in der Krankenstati on. Nach reiflichem Überlegen wollte er versu chen, Iras Gedächtnisschwund telepathisch zu behandeln. Ben Darkens sollte dabei als beein flussender Faktor mitwirken. Dr. Falaise war
es als feinfühlendem Menschen längst aufge fallen, daß die beiden Lunauten, die er sehr schätzte, mehr als Kollegialität verband. Mit Hilfe eines Elektroenzephalographen und der REM-Methode wollte Falaise feststellen, ob die Patientin auf Vorstellungen und Gedanken, die die Welt der Seleniden betrafen, besonders empfindlich reagierte. Ein künstlich erzeugter Traumzustand würde dies vielleicht offenba ren. Ben Darkens wollte Dr. Falaises Vorschlag zu nächst nicht zustimmen, da er diese Methode für eine unnötige Quälerei der Patientin hielt; dann ließ er sich aber doch überzeugen. »Denken Sie intensiv an die Ereignisse im Te leimaginator, möglichst in der genauen chro nologischen Reihenfolge. Denken Sie dabei im mer an Ira, und gehen Sie bei allen Gedanken immer davon aus, Sie wollten ihr etwas mittei len. Verstehen Sie, ich möchte alles versuchen, um die Gedächtnislücke zu schließen, zunächst auf dem Umweg über das Unterbewußtsein«, sagte er. Ira schlief schon seit einigen Stunden tief und fest. Ben befand sich im Nebenzimmer und konnte durch ein Glasfenster sehen, wie sie sich unruhig auf ihrem Lager hin und her warf.
Dr. Falaise bediente Apparate, beobachtete Oszillographenschirme und hob sehr häufig Iras Augenlider. Dabei schien sein Kopfnicken seine Theorie zu bestätigen. »Jetzt denken Sie einmal an etwas ganz ande res«, sagte er dann zu Darkens, nachdem er ins Nebenzimmer getreten war. »Vielleicht wählen Sie Ereignisse, die Ihnen noch von der Zerstö rung des Quecksilberrotationsteleskops her in Erinnerung geblieben sind.« Ira lag jetzt wesentlich ruhiger, und wieder eilte Dr. Falaise geschäftig hin und her. »Es ist so, wie ich vermutet habe. Ira Beaux befindet sich, auch wenn sie sich äußerlich völ lig normal verhält, im gewissen Sinne noch in einem Trancezustand«, erklärte er dem ge spannt wartenden Darkens, als das Experi ment zu Ende war. »Wenn sie erwacht, werde ich sie fragen, was sie geträumt hat. Ich werde sie auf Tonband sprechen lassen, denn ich den ke, daß es Sie interessieren wird. Einverstan den?« Das Ergebnis war nicht ermutigend. Ira hatte zwar geträumt, dessen entsann sie sich. Aber sie vermochte keine Details anzugeben. Das war zwar nicht ungewöhnlich und ist bei vielen Menschen der Fall. Aber für Iras speziellen Zu stand schien es symptomatisch zu sein. Dr.
Falaise ließ sich aber nicht entmutigen und wollte noch ein weiteres Experiment durchfüh ren. Diesmal sollte nicht das Unterbewußtsein, sondern das Bewußtsein angesprochen wer den. Nachdem der Arzt Ben Darkens über Art und Umfang des Versuches informiert hatte, war dieser zur Mitarbeit bereit. Mittels eines Plethysmographen, eines Meß gerätes, das die Blutzirkulation in den Finger spitzen bei Gefühlsregungen registriert, sollte der Einfluß von Ben Darkens’ konzentrierten Gedanken auf das Gedächtnis von Ira Beaux untersucht werden. Die Patientin reagierte zwar, wenn Darkens an Ereignisse im Teleimaginatorschacht dach te, hatte aber selbst keine Vorstellung von dem Geschehenen. Weitere Versuche schienen zu nächst aussichtslos zu sein. Vielleicht sollte man doch einige Zeit verstreichen lassen? Als Dr. Falaise wenig später Ira Beaux und Ben Darkens um eine kurze Unterredung bat, hatte er vorher ein längeres Gespräch mit dem Mondkurator geführt und dessen Einverständ nis erwirkt. »Ich hoffe, daß Sie über das, was ich Ihnen jetzt eröffne, nicht ungehalten sind. Ich ver ordne der Astronomin Ira Beaux einen länge
ren Erholungsaufenthalt auf der Erde, aus kli matischen Gründen an der mittelamerikani schen Küste. Reisebegleiter und Betreuer wird Ben Darkens sein, und zur Gesellschaft erhal ten Mara Bhali und Ives Lorin zur selben Zeit Erdurlaub. Der Mondkurator bittet, die wohl verdiente Reise unbedingt anzutreten, und zwar sogleich«, sagte er schmunzelnd. Die beiden befreundeten Paare aus Lunapol befanden sich schon seit einigen Tagen in Aca pulco und genossen die Freizeit in vollen Zü gen. Ira Beaux lebte von Tag zu Tag mehr auf. Die ständige Nähe von Ben Darkens ließ sie al les vergessen, was an Tragischem und Unheim lichem in der letzten Zeit auf sie eingestürmt war. Sie fühlte, wie der selbstsichere und sach liche Ben Darkens ihr immer näherkam. Das tat ihr wohl und stärkte ihr Selbstvertrauen, das ein wenig ins Wanken geraten war. Ira liebte es, im Schatten der Palmen im war men Sand zu liegen und daran zu denken, wie es sein würde, wenn sie immer mit Ben Dar kens zusammen wäre. Daß er wesentlich älter als sie war, hatte sie nie empfunden. Ben Darkens schritt in einer Sporttaucheraus rüstung zum Meer. Tauchen war von jeher sein Hobby. Ira winkte ihm zu. Mara und Ives wa
ren längst in den glasklaren blauschimmern den Fluten verschwunden. Unweit des südli chen Strandendes hatten sie in etwa fünfzehn Meter Tiefe ein Segelschiffwrack ausgemacht. Das wollten sie unbedingt freilegen und mög lichst identifizieren. Für die nächsten Tage war Sturm angesagt, da war an Tauchen nicht zu denken. Abends saßen sie wie schon oft beim gedämpf ten Licht bunter Lampions auf der Terrasse des Kuba-Watels und genossen den Blick auf das dunkle, mit weißen Schaumkronen be deckte Meer. Da an ihrem Tisch noch Stühle unbesetzt wa ren, dauerte es nicht lange, und ein älterer Me xikaner bat, bei ihnen Platz nehmen zu dürfen. »Paolo Madeiro«, stellte er sich vor. Ira, die am Strand schon einige Bücher über Land und Leute und die Geschichte Mexikos gelesen hatte, dachte angestrengt nach. In wel chem Zusammenhang hatte dieser Name ihre Aufmerksamkeit erregt? Da fiel ihr ein, ja, Ma deiro, so hieß einer der beiden mexikanischen Archäologen, die im Jahre neunzehnhundert unddreißig im Urwald von Yucatán die Maya ruinen entdeckt hatten. Ob sie den bärtigen Gast einmal danach fragen sollte? Vielleicht machte sie sich auch lächerlich, weil der Name
Madeiro hier sehr oft vorkam. Doch ihre ein mal entfachte Neugierde ließ sich auf die Dau er nicht unterdrücken. Auch die Höflichkeit verlangte eigentlich, den Tischgast, der sich vorgestellt hatte, ins Gespräch zu ziehen. So wandte sie sich an den freundlichen, aber bis her schweigsamen Mexikaner, der die vier Fremden schon mehrfach interessiert gemu stert hatte. »Ich möchte nicht aufdringlich er scheinen, aber könnte es sein, daß Sie mit dem vor mehr als hundert Jahren durch seine Aus grabungen berühmt gewordenen Archäologen gleichen Namens verwandt sind?« Der Angeredete lächelte und war erstaunt über die speziellen historischen Kenntnisse der Ausländerin. »Sie haben recht, Senora, je ner Madeiro war mein Urgroßvater. Ich bin dem Familienmetier treu geblieben und betäti ge mich ebenfalls als Archäologe«, antwortete er. »Aber gestatten Sie mir bitte auch eine Fra ge. Wenn ich mich nicht gewaltig täusche, dann sitze ich hier mit vier ganz berühmten Mondforschern aus Lunapol an einem Tisch. Ich kenne Sie von Bildern aus der Presse und aus Fachzeitschriften. Na, habe ich recht?« Im Laufe des Abends entspann sich nun ein sehr interessantes Gespräch, in dessen Mittel punkt sowohl die Entdeckung der Reste einer
selenidischen Zivilisation als auch das sagen hafte Volk der Mayas und seine Geschichte standen. Paolo Madeiro war ein ausgezeichne ter Erzähler, und die vier, die sich geschworen hatten, im Urlaub keine Silbe über ihre Arbeit zu sprechen, gingen, ohne daß sie es richtig be merkten, willig auf seine vielen Fragen ein. Madeiro berichtete von den vielen Ruinenstäd ten mitten im Urwald, und er sprach davon, daß die Kultur der Mayas einst über ein fast hunderttausend Quadratkilometer großes Ge biet verbreitet war und daß beispielsweise die Ursache der großen Völkerwanderung der Yu catáneinwohner in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung noch immer nicht ganz klar ist. »Und das erstaunliche ist«, fuhr er, durch das unverhohlene Interesse seiner Zu hörer angeregt, fort, »daß gerade dann, wenn sich ein Bild aus der Entwicklung der Mayas abzurunden scheint, immer wieder Ent deckungen gemacht werden, die alle bisheri gen Erkenntnisse in Frage stellen. Die Archäo logie ist also keinesfalls nur eine trockene, staubige Angelegenheit.« Er lachte, daß seine weißen Zähne blitzten. Als man sich gegen Mitternacht herzlich von einander verabschiedete, sagte er: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie haben die sterbli
chen Überreste der letzten Seleniden und ihre große Höhlenstadt mit eigenen Augen gesehen. Es mag seltsam klingen, aber unter den alten Bauwerken der Mayastadt Uxmal befindet sich auch ein Haus der Zwerge. Sie sollten sich das einmal ansehen. Wer weiß, eventuell gibt es ir gendwelche Verbindungen zu den körperlich verhältnismäßig kleinen Seleniden, die viele Jahrtausende auf der Erde gelebt haben. Wenn es Sie interessiert, würde ich Sie übermorgen zu jener Ruinenstadt begleiten. Allein schon der Flug über den Urwald ist ein Erlebnis! Sind Sie einverstanden?« Sie hatten gegen diese Unterbrechung des fau len Strandlebens nichts einzuwenden. Pünktlich stellte sich Paolo Madeiro am über nächsten Tag ein. Ein Taxi brachte sie zu dem nahe gelegenen Flugplatz von Acapulco, wo der Mexikaner sein Flugzeug abgestellt hatte. Es war ein Coleopter, ein Ringflügler, der in aller letzter Zeit anstelle der Hubschrauber für spe zielle Zwecke im Luftverkehr eingesetzt wurde. Die kugelförmige Kabine, die bis zum unteren Drittel mit einem glasklaren Material abge deckt war, gestattete einen idealen Rundblick. Während sie mit geringer Geschwindigkeit den üppigen Urwald überflogen, war der freundliche Mexikaner ein unermüdlicher Er
klärer. Als sie über den Ruinen der größten Mayastadt Chichén Itzá kreisten, einem Gebiet von fast dreieinhalb Quadratkilometer Aus dehnung, versäumte er nicht, darauf hinzuwei sen, daß das Bild, das sich dem Beschauer von oben darbiete, nichts mehr mit dem Zustand der Ruinen zur Zeit ihrer Entdeckung zu tun habe. Die rekonstruierten Gebäude standen in ei nem Gelände, wo der Tropenwald entfernt worden war. Eine breite Straße, auf der ein re ger Autoverkehr herrschte, führte von Mérida, der Hauptstadt Yucatáns, zu den Ausgrabungs stätten. Nach einer weiteren Flugstunde in nordwest licher Richtung hatten sie ihr Ziel, die Ruinen von Uxmal, erreicht. »Sie haben uns nicht zuviel versprochen«, sagte Ira Beaux schon beim Aussteigen, »allein schon der Flug über den mittelamerikanischen Urwald ist ein einmaliges Erlebnis!« Das Ruinenfeld war nur ein wenig kleiner als das von Chichén Itzá. Beeindruckt standen die Wissenschaftler vor den mit unzähligen Orna menten verzierten Bauwerken. Madeiro mach te sie darauf aufmerksam, daß den einzelnen Gebäuden nachträglich von den Archäologen entsprechend bestimmten vorherrschenden
Schmuckmotiven Namen gegeben worden wa ren. So zeigte er ihnen das »Haus des Prophe ten«, das »Haus der Nonnen«, das »Haus des Statthalters«, das »Haus der Schildkröte«, das »Haus der alten Frau«, das »Haus der Tauben« und schließlich auch das »Haus der Zwerge«. Bevor sie eintraten, sagte Madeiro, viele der Mayaruinen besäßen kleine Zimmer und Tü ren, genau wie diese hier. Es sei also gar nicht so abwegig, anzunehmen, daß in diesen Gebäu den tatsächlich einmal ein Liliputanervolk ge wohnt habe. Ira fühlte sich sonderbar berührt. Unwillkür lich, wie Schutz suchend, griff sie nach Bens Arm. Er schaute sie verwundert an. Während Madeiro, Mara und Ives schon in dem Gebäude verschwunden waren, blieb Ira vor der kleinen Eingangsöffnung zögernd ste hen. »Ben, ich weiß, es ist töricht von mir, aber ich habe einfach Angst, da hineinzugehen. Eine ungewisse Ahnung sagt mir, daß sich mir in Kürze etwas Unheimliches offenbaren wird.« Ben Darkens glaubte genau zu wissen, was Ira bewegte. Wie sollte er sich verhalten. Jetzt hät te er den Rat von Dr. Falaise dringend ge braucht. Sekunden schwankte er und wog ab, was zu tun sei. Er entschied sich, mit Ira in das »Haus der
Zwerge« zu gehen. Der Bann, der sich auf ihr Gedächtnis und – so schien ihm jetzt – auch auf ihr Gemüt gelegt hatte, konnte nicht all mächtig sein. Sich normal zu verhalten war in psychisch kritischen Situationen meist richtig. »Ira, bitte komm! Wir wollen Madeiro nicht enttäuschen. Er möchte uns eine Freude ma chen.« Liebkosend fuhr seine Hand über ihr Haar, dann zog er sie mit sich fort. Halbdunkel nahm sie gefangen. Die geneigten Wände und der fahlgelbe Ton, in dem das In nere des Gebäudes schimmerte, erinnerten die beiden stark an jene Augenblicke, als sie zum erstenmal die selenidischen Wohnpyramiden betreten hatten. Die Decke des schmalen Kor ridors, in dem sie standen, war so niedrig, daß sie sich bücken mußten. Ira schauderte. War es die Kälte, die von den feuchten Wänden ausging, oder ihre innere Er regung, deren sie nicht Herr werden konnte? Aus dem Nebenraum hörten sie Paolos laute Stimme. Durch die Türöffnung fiel flackernder Lichtschein, wie von einer Fackel. »Komm, Ben, laß uns zu den anderen gehen. Wo Licht und Menschen sind, fühle ich mich wohler.« Tatsächlich hatte der Mexikaner eine Fackel angezündet, die den wesentlich größeren
Raum nebenan wie einen Dom erscheinen ließ. Die schrägen Wände liefen in etwa acht Meter Höhe zu einem vielflächigen Dach zusammen. Ives Lorin, der Ben und Ira eintreten sah, stand in der Mitte des Raumes und zeigte be deutsam in eine der düsteren Ecken. Tatsächlich, dort befand sich, unansehnlich und vor Staub und Schmutz kaum zu erken nen, eine aus Kugeln errichtete Pyramide, ge stapelt wie Kanonenkugeln in längst vergange nen Zeiten. Ben Darkens ließ Iras Arm los und eilte mit Ives dorthin. »Senor Madeiro, bitte kommen Sie mit der Fackel hierher. Man sieht ja nichts!« rief er. Der Mexikaner, den eigentlich nichts so schnell aus der Ruhe bringen konnte, wunder te sich über das plötzliche Interesse der Lun auten an den unscheinbaren Kugeln, denn er kannte ja nicht alle Einzelheiten, die bei der Entdeckung der Höhlenstadt und beim Ein dringen in die Wohnbauten der Seleniden eine Rolle gespielt hatten. Ben Darkens, dem es zu lange dauerte, bis Madeiro näher kam, ließ sein Feuerzeug auf flammen und entfernte mit dem Taschentuch den Staub von den Kugeln. Deutlich waren jetzt verschiedene Farben zu erkennen, Rot, Gelb, Grün und Blau. Es waren dieselben Farb
töne, wie sie die wesentlich kleineren Kugeln aus Elius Raumanzug aufwiesen. Mit wenigen Worten erläuterte nun Ben Dar kens dem Mexikaner die Funktion dieser Ku geln. Dann faßte er ihn, impulsiv wie immer, wenn ihn innerlich etwas erregte, an beiden Schultern und rief: »Sie haben ganz richtig vermutet! Es gibt bestimmte Zusammenhänge und Beziehungen zwischen den Mayas und den Seleniden. Die eben entdeckten Kugeln sind ein Beweis dafür. Bitte, Senor Madeiro, besor gen Sie mir ein größeres Stück Eisen oder Stahl!« Ben Darkens hatte die Fackel ergriffen. Der Mexikaner entfernte sich schnell. Es war ein gespenstisches Bild, als sein Schatten, an den Wänden grotesk verzerrt, immer kleiner wur de. Besonders Ira, die früher nie unter Angstzu ständen gelitten hatte, spürte deutlich, ja fast körperlich, wie die Umgebung, die Vergangen heit, die ganze Atmosphäre in dem Saal von ihr Besitz ergriffen. Abwehrend hob sie die Hände und wollte Ben Darkens rufen, der keine fünf zehn Meter von ihr entfernt stand. Doch ihre Stimme versagte den Dienst. Eine unerklärli che Angst hatte sich ihrer bemächtigt. Wenig später war Madeiro zurück, triumphie
rend gestikulierte er mit einem großen Schrau benschlüssel. Ben erläuterte nun allen das Phänomen der Abstoßungskräfte, das Bojan bei den Kugeln entdeckt hatte. Als er sich mit dem großen Schlüssel vorsichtig dem Kugelstapel näherte, zeigte sich die gleiche Wirkung. In etwa dreißig Zentimeter Abstand wurde sein Arm wie von einer übermächtigen Kraft festgehalten. Der Mexikaner, der staunend zugesehen hat te, kniete sich neben Ben Darkens hin, faßte das freie Ende des großen Schlüssels und stemmte sich ebenfalls mit aller Gewalt dage gen. Plötzlich brach der Stapel zusammen, die Ku geln flogen nach allen Richtungen auseinan der, und die beiden Männer fielen nach vorn auf den gestampften Fußboden. Sicher wären jetzt alle in ein befreiendes Ge lächter ausgebrochen, wenn nicht Mara, die neben Ira stand, im selben Augenblick einen lauten Schrei ausgestoßen hätte. »Ira ist ohn mächtig geworden!« rief sie. Sie hielt die wie leblos wirkende Astronomin, deren Kopf hin tenübergesunken war, nur mühsam aufrecht. Ben Darkens war sofort aufgesprungen und zu der Bewußtlosen geeilt. »Ira, hörst du mich? Was ist mit dir?« Dabei strich er ihr
zärtlich über das Gesicht. Kurz entschlossen nahm er sie auf beide Arme und trug sie hin aus. Die anderen folgten ihnen bedrückt. Vorsichtig bettete er Ira in den Schatten einer dickstämmigen Kaktee. Er benetzte mit dem Wasser, das Madeiro schnell aus dem nahe ge legenen Brunnen geholt hatte, das Gesicht der Ohnmächtigen. »Ich hätte es wissen sollen; es war Leichtsinn von mir, sie hat es gefühlt«, murmelte er verzweifelt vor sich hin. »Der Puls ist normal. Die Ohnmacht kann nicht sehr tief sein, sie wird gleich wieder zu sich kommen«, sagte Mara, die Ira sofort un tersucht hatte. Ben netzte und fächelte noch immer und blickte dem davoneilenden Mexikaner nach, der sich um einen Arzt bemühen wollte. Er war zutiefst erschüttert. Was nützte die Ent deckung der Mayakugeln, wenn sich Iras Krankheit dadurch verschlimmert hatte. »Ben«, flüsterte Ira plötzlich und bewegte kaum die Lippen, »bist du da?« Ihre Hände griffen ins Leere, dann umklam merten sie seinen Arm. »Ich weiß jetzt wieder, was ich im Teleimaginator gesehen habe. Ganz deutlich sehe ich den Krater Gebrüder Wawi low mit den vielen Lagerschächten vor mir.« Darkens, voller Freude, daß Ira wieder zu sich
gekommen war, hatte gar nicht so genau auf ihre Worte geachtet. Ira sprach wieder, das war die Hauptsache! Doch was hatte sie eben gesagt, Krater Gebrüder Wawilow? Dieses Ge biet lag doch fast im Zentrum der der Erde ab gewandten Mondseite? Von dort war das Mondbeben bestimmt nicht ausgegangen. Wenn dort nun noch immer die Antimaterie lagerte? Nein, das konnte doch nicht sein! Dann stand die Katastrophe ja noch immer be vor. Seine Gedanken überschlugen sich. Ira, deren Stimme kaum zu verstehen war, sprach unbeirrt weiter. Ben hörte jedes Wort. Als sie jetzt genau beschrieb, wie sich die Me talldeckel großer, senkrecht in die Tiefe des Mondes reichender Schächte geöffnet und den Blick auf riesige Autoklaven freigegeben hat ten, schwanden seine Zweifel mehr und mehr. Das konnten keine Halluzinationen sein, das waren genaue Beschreibungen technischer De tails, wie sie Ira im Teleimaginator übermittelt worden waren! Als Paolo Madeiro nach mehr als einer Stunde endlich mit einem Arzt eintraf, war Ira schon wieder wohlauf. Doch nachdem Ben Darkens dem Mediziner die näheren Zusammenhänge der Ohnmacht erläutert hatte, wurde der sehr ernst und empfahl, nach einigen Tagen der
Ruhe Dr. Falaise zu konsultieren. Der wunderschöne Urlaub hatte damit sein Ende gefunden, und neue, gefährliche Unter nehmungen würden beginnen. Bei Ben Dar kens jedoch überwog die Freude, daß Ira die Auswirkungen jenes bedenklichen Schocks endgültig überwunden hatte. Von der Bestätigung, ob Iras gewonnene Ein drücke unumstößliche Realität waren oder nicht, hing nun erneut das Wohl der Mensch heit ab. Mit der nächsten Kurierrakete flogen die Freunde zurück nach Lunapol.
Januskopf Technik Geräuschlos jagte der große Transportraketo kopter in westlicher Richtung dahin. Mit einer Geschwindigkeit von fast zwei Mach hatte er die Schattenzone bereits hinter sich gelassen und überflog nun die Mondrückseite, die fahl und tückisch im gleißenden Sonnenlicht lag. Die Flughöhe betrug nur einige hundert Meter, so daß ihm sein eigener Schatten wie eine Rie senspinne durch Krater und Trichterfelder folgte. Die anfänglich rege Unterhaltung der sieben Insassen war einer gespannten Aufmerksam keit gewichen. Von dem Ergebnis dieser Expe dition hing ungeheuer viel ab. Die Aktion lief unter Ausschluß der Weltöffentlichkeit, um keine unnötige Unruhe zu stiften. Niemand wußte, was die Untersuchungen der nächsten Tage bringen würden. Ira Beaux, eigentliche Hauptperson und In itiator des Unternehmens, war ruhig und ge faßt. Nach dem Start, der das Ende der nur all zu hektischen Vorbereitungen bedeutete, war alle Nervosität von ihr gewichen. »Ben, worüber denkst du nach?« fragte sie den schon eine geraume Weile schweigsam ne ben ihr Stehenden. Wie immer fühlte sie sich
in seiner Nähe sicher und geborgen. »Lach mich nicht aus«, antwortete er ohne Zögern, »aber ich beobachte und bewundere dich. – Ansonsten überlege ich, wie wir am schnellsten und sichersten zu den Autoklaven gelangen.« Ira sah Ben dankbar an; er hatte kein Wort über die Zweifel und die Ungewißheit verloren. »Hoffentlich sind die neuen Schutzanzüge in Ordnung«, gab Ben Darkens seinen Bedenken Ausdruck. »Antimaterie als Substanz bedeutet für uns Menschen eine Summe von Einflüssen aus einer anderen Welt. Die pauschale Umkeh rung aller Gesetzmäßigkeiten ist sichtbarer Ausdruck dafür. Und der Mensch ist nun ein mal nur für ein Leben in unserer Welt geeig net! Sicher ist er sehr anpassungsfähig und auch immer noch entwicklungsfähig. Aber ich bin erst beruhigt, wenn der eingebaute Fara daysche Käfig zur Gehirnabschirmung seinen Zweck erfüllt. Du hast das ja damals in der Kratersenke des großen Tores nicht miterlebt. Es war gräßlich.« »Ich glaube, daß wir auch mit dem einstellba ren Überdruck in den Anzügen sehr vorsichtig sein sollten«, ergänzte sie seine Gedankengän ge. »Ira«, seine Stimme wurde zärtlich, »wenn
dieses Unternehmen hier erfolgreich verlaufen ist, dann wollen wir endlich auch einmal an uns denken, nur an uns beide. Sonst, ich muß es bald befürchten, lassen uns die Ereignisse niemals Zeit dazu.« »Du hast recht, Ben, aber ich bin schon zufrie den, wenn wir zusammen sein können«, erwi derte sie leise. »Krater Gebrüder Wawilow in südwestlicher Richtung voraus!« verkündete der Pilot. Die Mondoberfläche zu ihren Füßen wurde immer bizarrer, unheimlicher und unbekann ter. Verständlich, denn die Mondrückseite hat te sich ihnen mit ihren charakteristischen Kra terformationen noch nicht so stark eingeprägt. Pawel Rinald räusperte sich einigemal ver nehmlich. »Freunde, ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir uns über unser weiteres Vorge hen klarwerden. Ich bin der Ansicht, wir kreu zen in geringer Höhe so lange über dem Krater Gebrüder Wawilow, bis wir die von Ira er wähnten abgedeckten Schächte erkennen. An dernfalls landen wir im Zentrum und beginnen mit der Suchaktion. Weitere Alternativen möchte ich nicht erwägen, denn ich bin sicher, daß die Schachtöffnungen zu erkennen sind. – Einverstanden?« »Bitte, erwähnen Sie noch einmal die Über
druckregulierung«, warf Ben Darkens ergän zend ein. »Ja, richtig! Nehmen Sie den als Antischwer kraftäquivalent dienenden Überdruck in den Schutzanzügen nur auf meine persönliche An weisung hin in Anspruch! Die hierzu noch not wendigen Tests werde ich gemeinsam mit Kol legen Darkens durchführen.« Das kleine Kollektiv hatte sich um ihn ver sammelt, und ihm schien, er müsse noch etwas sagen, er müsse sie persönlicher ansprechen. Daher fuhr er fort: »Um was es hier geht, brau che ich Ihnen nicht zu sagen. Wir sind ge wohnt, gefährliche Situationen zu meistern. Doch dieses Vorhaben übertrifft alles bisher Dagewesene. Die Antimaterie, die wir suchen, birgt Gefahren, die wir noch nicht kennen. Ich denke dabei besonders an körperliche Schä den, die sich jeder von uns zuziehen kann. Wir beginnen ein Experiment, dessen Ausgang un gewiß ist. Sie haben sich freiwillig zur Verfü gung gestellt, dafür danke ich Ihnen. Trotz al ler Gefahren weiß ich, daß ich mich wie immer auf Sie verlassen kann. Doch nun wollen wir sehen, was uns die nächsten Stunden bringen!« Pawel Rinald, der sich wieder neben den Pilo ten gestellt hatte, gab die Anweisung: »Alle
Mann auf Beobachtungsstation! Ringgebirge des Kraters Gebrüder Wawilow voraus! Nach Überfliegen der Gebirgskämme vermindern wir unsere Flughöhe auf vierhundert Meter.« Ira und Ben standen nebeneinander vor ei nem der durchsichtigen Kuppelsegmente. Die Astronomin bediente die Bordkamera. Wie rie sige Filigranmuster rasten die nadelförmigen Spitzen des Ringgebirges auf die Raketokopte rinsassen zu. Sie glichen Staketen eines über dimensionalen Zaunes, hinter dem sich für den Menschen Unzugängliches versteckte. Wenn sich die Vermutungen bestätigten, dann hatten die Seleniden hier in der Kraterebene gewaltige Bauanlagen verborgen. Alle starrten gebannt auf den aschfahlen Bo den, der unter ihnen dahinflog. Kurz vor der Mitte des Kraters zeigte die Oberfläche plötz lich kreisrunde Erhebungen. »Stopp!« befahl Pawel Rinald dem Piloten. Der Flugkörper stand jetzt völlig still, genau über den unge wöhnlichen Objekten. Es war zu erkennen, daß die Anordnung der Bodenerhebungen geome trischen Gesichtspunkten entsprach. »Der Durchmesser eines solchen Ringes be trägt etwa fünfzig Meter«, sagte Ives Lorin. »Sie sind kreisförmig in einem Abstand von ungefähr achthundert Metern angeordnet. Ich
zähle einundzwanzig Ringe.« »Jaro, fliegen Sie langsam über die Gebilde hinweg, und gehen Sie noch tiefer«, sagte der Kurator zu dem Piloten, dann wandte er sich an Dr. Lorm, »Sie beobachten dabei genau den Gravitonenschreiber. Vorsicht, es kann gefähr lich werden!« Doch nichts geschah! Die Schwerkraft verän derte sich nicht. Fast zeigten die Gesichter der Forscher Enttäuschung. Dort unten sollte Anti materie lagern? Bisher hatten sich daran ganz andere Vorstellungen geknüpft. »Entweder die Depots liegen unvorstellbar tief, oder die Abdeckungen neutralisieren die Wirkung der Antimaterie. Von hier oben kön nen wir jedenfalls nichts Näheres feststellen. Fertigmachen zur Landung!« Wenige Minuten später setzte der Raketoko pter, in eine dichte Staubwolke gehüllt, außer halb der Ringanordnung auf. Das nächste Objekt war kaum dreißig Schritt von der Landestelle entfernt. Sein Schachtende ragte etwa acht Meter über den glatten Mond boden; eine Dach- oder Deckelwölbung war nicht zu erkennen. »Ben Darkens, Ives Lorin und ich werden eine kurze Ortsbesichtigung vornehmen. Doktor Lorm übernimmt das Kommando über die üb
rigen Expeditionsmitglieder«, wies Pawel Ri nald an. »Ira, können Sie sich entsinnen, auf welche Weise die Deckel von den Öffnungen entfernt wurden?« fragte er dann. »Leider nein«, war ihre Antwort, »die Infor mationen, die ich erhielt, zeigten nur Endpha sen, keine fortlaufenden Bilder.« »Schade, also werden wir wieder aufsteigen und uns mit der Strickleiter auf die Deckfläche abseilen. Vielleicht finden wir dort entspre chende Mechanismen vor.« Der Flugkörper schwebte kaum zehn Meter über der konkaven Schachtabdeckung, die Strickleiter wurde ausgeworfen, und nach den obligatorischen Schleusenmanövern gingen die drei Lunauten von Bord. Trotz knisternder Spannung herrschte gute Laune. Die Staubschicht, die überall den Boden be deckte, war wesentlich dünner als normaler weise sonst auf der Mondoberfläche. Es han delte sich also wirklich um künstliche und da mit wesentlich jüngere Gebilde. Das Material schimmerte gelb und glasig wie bei den Wohn pyramiden. Doch nirgends war ein Hebel oder etwas Ähnliches zu entdecken. Nachdem sie zuerst den äußeren Rand unter sucht hatten, trafen sie sich wie verabredet in der Mitte. Hier lagen seltsamerweise Gesteins
brocken. Ives Lorin stieß sie mit dem Raum schuh achtlos beiseite. Da, was war das? Sein Fuß traf auf einen Widerstand. Es glänzte me tallisch und sah aus wie ein Rad mit einem Wulst. Der Größe nach zu urteilen, konnte es ein Personeneinstieg sein. Vielleicht war es überhaupt nicht erforderlich, den Riesen deckel abzuheben. »Wir werden einfach einmal daran drehen. Frisch gewagt ist halb gewonnen«, sagte Pawel Rinald, der es gewohnt war, die Dinge unbe kümmert voranzutreiben. Zu dritt faßten sie zu. Doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Die Scheibe drehte sich spie lend leicht, und plötzlich hob sich ein Deckel von ungefähr eineinhalb Meter Durchmesser und klappte zurück. Die eine Seite traf Ben Darkens am Oberschenkel, und die Wucht warf ihn zu Boden. Doch er hatte sich schnell wieder aufgerichtet. Eine Leiter führte hinab, und in wenigen Me ter Tiefe konnten sie eine Plattform erkennen. »Ben und ich steigen hinab. Ives, Sie halten unsere Sicherheitsleine«, sagte Pawel Rinald und schwang sich in den Schacht. Schon waren sie die wenigen Sprossen hinab geklettert. Am Rand der kleinen Plattform be fand sich ein senkrechtes Rohr mit einer halb
mannshohen Öffnung. Was war das nun wie der? Eine Transportanlage, ein Sauglift, ein Entlüftungsschacht, wer konnte es wissen? »In kritischen Fällen obliegt es dem Chef, den ersten Schritt zu wagen, ohne die weitere Durchführung eines Unternehmens in Frage zu stellen – oder wie heißt der schöne Satz?« sagte der Kurator lächelnd zu Ben Darkens. »Also, drücken Sie mir die Daumen!« Pawel Rinald, der ohne Zögern die Sicher heitsschnur ausklinkte, hatte sich kaum durch die schmale Öffnung gezwängt, als er auch schon nach unten verschwand. Ben Darkens hatte die Anlage ebenfalls für einen Fahrstuhl gehalten. Die selenidische Technik war zwar sehr fortgeschritten, aber nicht unirdisch, nicht unverständlich. Er hätte diesen ersten Schritt zweifellos ebenfalls ge wagt. Wichtig war, daß der Helmfunk funktio nierte. Es knackte in den Kopfhörern. Ben horchte angestrengt. »Hallo, Ben, können Sie mich verstehen? Ich bin in einem großen Gewölbe gelandet. Kom men Sie nach! Achten Sie bitte unterwegs auf die Haltestationen. Alles klar?« »Verstanden«, antwortete Ben Darkens sicht lich erleichtert. Der Fahrstuhl, eigentlich war es nur eine Transporthülse, hatte die oberste
Plattform wieder erreicht. Ben stieg ein. Ives Lorin nickte ihm zu, er wußte Bescheid. Nach fast fünfzig Sekunden hielt das Behält nis ruckartig an. In einer durchsichtigen Kup pel, ähnlich jener in dem Adapterraum des Te leimaginators, glomm ein weißes, in den Au gen schmerzendes Licht. Dann ging die Fahrt in die Tiefe weiter. Nach weiteren fünfzig Se kunden erfolgte wieder ein Stopp. Hier brann te die gleiche Leuchte tiefrot. Ben registrierte das Signal als unangenehm. Der Vorgang wie derholte sich noch einmal, wobei ihn erneut ein unheimliches rotes Auge anglotzte. Wieder verlangsamte sich die Fahrt, und wie der sah Ben Darkens ein Licht. Doch das war die Helmleuchte von Pawel Rinald, der ihn schon erwartete. »Ben, wir sind schon ein schönes Stück voran gekommen«, sagte der Kurator, als er dem Chefselenologen aus dem Zylinder half, »und bis jetzt sogar ohne Komplikationen. Dort, schauen Sie nach oben, das sind vermutlich die gefährlichen Autoklaven mit der Antimaterie!« Der Schacht endete hier unten in einer weit läufigen Halle, die an die Zentrale eines Atom kraftwerkes erinnerte. Wie stets, wenn er der fremden, außerirdischen Technik gegenüber stand, wurde Ben Darkens von einer seltsamen
Erregung ergriffen. Er blickte sich aufmerk sam um. Etwa dreißig Meter über ihren Köp fen befand sich eine ringförmige Bühne aus sonderbar klobigen Metallteilen, die auf zwölf wuchtigen Säulen ruhte. Die Übermannsstar ken Rohre aus keramischem oder gesintertem Material verliefen schräg nach unten und en deten in dem spiegelglatten gelbschimmern den Boden. Dieser gigantische Sockel war Träger dreier übereinander angeordneter riesiger Kugeln, deren oberste bis in den Schacht hineinragte. Ben schätzte, daß das halbrunde Gewölbe eine Höhe von mindestens einhundertfünfzig Me tern hatte. Die vielen kleinstufigen Rolltreppen, die den Boden mit der ungefähr dreißig Meter höher gelegenen Trägerplattform verbanden, waren außer Betrieb. Langsam umrundeten Pawel Ri nald und Ben Darkens den Säulenring, der kein Ende nehmen wollte. In bestimmten Ab ständen waren in die weitentfernte umgebende Wand Nischen eingelassen, die aber anschei nend nicht technischen Zwecken gedient hat ten. »Wissen Sie, Ben, das sieht hier alles so un technisch aus. Ich vermisse Schalttafeln, In strumente, Oszillographen und was man so ge
wohnt ist. Sie nicht auch?« »Ich stimme da nicht mit Ihnen überein; denn ich glaube, wir messen zu sehr mit unseren Maßstäben. Die Überwachung und die Steue rung der hier ablaufenden Prozesse erfolgten wahrscheinlich von einer Zentrale aus. Viel leicht befand sich die sogar auf der Erde. Aber Sie haben recht, ein ungewohnter Anblick ist es schon.«
Sie waren fast wieder zu ihrem Ausgangs punkt zurückgekehrt, als Pawel Rinald, der ein wenig vorausging, plötzlich mit hartem Griff
nach dem Arm von Ben Darkens faßte und in das Helmmikrofon flüsterte: »Wenn mich nicht alles täuscht, dann sitzt dort hinten an dem kleinen Steuerpult ein Mensch in einem silberglänzenden Skaphander.« Ben Darkens, der sich gerade über das unter ste Ende einer der vielen Rohrsäulen gebeugt und eine gewisse Elastizität des fast schwar zen, porigen Materials festgestellt hatte, fuhr erschrocken hoch und blickte in die angedeu tete Richtung. »Tatsächlich, das könnte ein Mensch sein! Für einen Seleniden ist er zu groß. Aber was trägt er für einen sonderbaren Schutzanzug? Gehen wir näher heran!« Langsam bewegten sie sich auf die Nische zu. Da blieb Pawel Rinald unvermittelt stehen und hinderte Ben Darkens erneut am Weitergehen. »Das Wesen dort trägt keinen Schutzanzug, das ist eine Ritterrüstung. Schauen Sie doch! Das Visier an der Sturmhaube ist hochge klappt. Aber ich erkenne darunter kein Ge sicht. Sollte dieser Harnisch ein Andenken oder ein Beutestück sein? Das entspräche aber nicht der uns bisher bekannten Lebensweise, der Seleniden. Kommen Sie, wir werden das Rätsel lösen!« Es war schon eine ungewöhnliche Situation!
Zwei Wissenschaftler, zwei Lunauten, die so leicht nichts aus der Fassung bringen konnte, schritten unter dem Eindruck einer fremden, der irdischen Vorstellung weit vorauseilenden Technik auf einen mittelalterlichen Harnisch zu. Ben Darkens versuchte die Lage zu analysie ren. Pawel Rinald hatte richtig gesehen. Das offene Visier der zusammengesunkenen Ge stalt zeigte kein Gesicht, auch keinen Toten schädel. Mehrere unterschiedlich große Lö cher gaben dem Kopf ein gespenstisch masken haftes Aussehen. Es blieb keine Zeit zum Über legen. Als sie fast unmittelbar vor dem Schalt pult standen, hob die Gestalt mit einer unna türlich ruckartigen Bewegung die Sturmhaube, stützte sich auf die metallenen Armschienen und richtete sich ungelenk auf. Die beiden Lunauten, die mit einer solchen Reaktion ihres Untersuchungsobjektes nicht gerechnet hatten, wichen erschrocken zurück. Doch nun war alles klar. Es handelte sich um einen Roboter, dem die Seleniden aus irgend einer Laune heraus das Aussehen eines Ritters aus dem frühen Mittelalter gegeben hatten. »Größte Vorsicht«, flüsterte Pawel Rinald, als könnte es die Gestalt hören, »hoffentlich ist er nicht für eine Schutzfunktion programmiert
und betrachtet uns beide nicht als Eindringlin ge, die zu beseitigen sind.« Dabei zog er Ben Darkens in den Schutz einer der starken Stütz säulen. Doch die Gestalt machte eine einladen de Handbewegung, wandte sich um und schritt tiefer in das Dunkel der Nische hinein. »Zweifellos sollen wir ihm folgen«, murmelte Ben Darkens und fuhr lauter fort: »Mir scheint, er will uns etwas zeigen. Gehen wir!« Bald hatten sie den vorausschreitenden »Rit ter« eingeholt. Man glaubte förmlich, seine schlurfenden Schritte zu hören. »Seine Bewegungen werden immer langsa mer. Der Energiespeicher ist sicher fast leer. Hoffentlich erfahren wir noch, welche Aufgabe er hier zu erfüllen hat«, sagte Pawel Rinald. Im Schein ihrer Helmleuchten erkannten die zwei Lunauten, daß die schmale Nische vor ei nem metallischen Querschott endete. Der Ro boter stoppte, hob wie in einer Zeitlupenauf nahme den rechten Manipulator und betätigte einen roten Hebel. Das Schott verschwand nach einer Seite, und vor den erstaunten Wis senschaftlern lag ein hellerleuchteter Saal. Der Roboter taumelte durch die Öffnung und trat zur Seite. Nur zögernd folgten ihm Pawel Rinald und Ben Darkens. Woher die fast schmerzende
Helligkeit kam, war nicht auszumachen, viel leicht von den spiegelnden Wänden. Der Saal glich einem Laboratorium. Aber was die beiden Forscher sofort faszinierte und wie magisch anzog, das waren eine Vielzahl techni scher Schnittzeichnungen und Darstellungen auf einer fluoreszierenden Tafel, die sich lang sam aus dem Boden vor der rechten Wand schob. Es waren farbig ausgelegte Pläne von Rohrleitungen und von Einzelheiten der ge samten Anlage. An vielen Stellen waren Erläu terungen in selenidischer Kurvenschrift einge fügt. »Ben, das sind genaue technische Beschrei bungen der Antimaterieautoklaven. Sehen Sie hier am linken Rand die Rohrliftanlage, mit der wir hier heruntergekommen sind, und da zwischen die verschiedenen Plattformen! Dort, das Kreuz kennzeichnet die Stelle, wo wir uns im Augenblick befinden.« »Wirklich, das ist einmalig. Wie hätten wir je mals diese technischen Details ermitteln sol len. Ich wage gar nicht, daran zu denken…« Beide blickten erschrocken zu der Schottöff nung, neben der der selenidische Android zu sammengesunken war. »Schade«, fuhr Ben Darkens fort, »daß wir ihm nicht danken können. Er hat der gesamten
Menschheit einen unschätzbaren Dienst erwie sen.« Pawel Rinald machte eine abschließende Handbewegung. »Ich denke, wir machen von der Tafel so viele Aufnahmen wie nur möglich; denn von deren Auswertung und Übersetzung hängt jetzt alles Weitere ab. Damit beenden wir unsere Exkursion. Ives und unsere Freun de im Raketokopter werden schon auf uns war ten.« Auf der Plattform am Schachtende empfing sie Ives Lorin mit ihnen zunächst unverständli chen Vorwürfen. »Warum regen Sie sich denn so auf?« unter brach ihn der Kurator. »Wir beide haben die reichliche Stunde, die wir unten verbracht ha ben, gut genutzt.« Dabei schwenkte er die klei ne Kamera. Jetzt war es Ives Lorin, der verdutzt von ei nem zum anderen blickte. »Was heißt hier ›reichliche Stunde‹. Ich hatte Sie schon beina he aufgegeben. Wissen Sie, wie lange ich hier auf Sie warte?« Er blickte auf die Uhr. »Es sind jetzt über drei Stunden.« »Das kann doch nicht sein«, sagte Ben Dar kens. »Unsere beiden Uhren zeigen genau eine Stunde und zehn Minuten an.« Ira Beaux, die das Unternehmen in banger
Sorge vom Raketokopter aus verfolgt hatte und die froh war, Ben Darkens’ und Pawel Rinalds Stimmen wieder zu hören, schaltete sich in das Gespräch ein. »Streitet nicht! Denkt lieber ein mal darüber nach, ob die Antimaterie nicht eine Zeitdilatation zur Folge haben könnte.« »Ira könnte recht haben. Doch ich denke, un sere Mission hier ist zunächst erfüllt. Wir ha ben das gefunden, was Ira vorausgesehen hat. Nun muß entschieden und schnellstens gehan delt werden. Ich bin dafür, daß wir sofort den Rückflug antreten«, sagte Ben Darkens. Während der Raketokopter das gefährliche Gebiet des Kraters Gebrüder Wawilow mit Ma ximalgeschwindigkeit in Richtung Lunapol verließ, berichteten Pawel Rinald und Ben Dar kens ihren Mitarbeitern, was sie in dem Anti materieschacht gesehen hatten. Doch bald wa ren die sieben Lunauten bei einem heiklen Thema angelangt. Iras Bemerkung von vorhin über eine mögliche Zeitdehnung gab genügend Anregungen für die heiße Debatte. Pawel Rinald, der aufmerksam zuhörte, freu te sich über die Wendung, die das Gespräch ge nommen hatte. Es war sicher für alle gut, an stelle der unerbittlichen Realität einmal Ver mutungen und Hypothesen zu erörtern. Ira führte jetzt in ihrer ruhigen, aber bestimmten
Art aus: »Sie kennen sicher alle noch die bahn brechenden Bemühungen des sowjetischen Astrophysikers Kozirew aus dem letzten Vier tel des vorigen Jahrhunderts über die Zeit und ihre Einordnung in die materielle Welt. Wich tigste Behauptung aus seinen damaligen Be trachtungen war: Die Zeit ist eine Energie form. Seine Theorie der Zeitkorpuskeln, die als Kontinuum gleichförmig im Kosmos ver teilt sind und die bei Bewegung von Materie wirksam und nachweisbar werden, konnte lei der nicht umfassend experimentell bestätigt werden. Mit der Annahme, daß die Zeitkorpus kelbewegung gleich der Lichtgeschwindigkeit sei, ließ sich zwar die Zeitdilatation erklären, die sogenannte substantielle Zeit ist aber bis zum heutigen Zeitpunkt eine Hypothese geblie ben.« »Aber eine vertretbare Hypothese«, nahm Ben Darkens nun das Wort. »Ganz im Gegen satz zu früheren Meinungen von Metaphysi kern und idealistischen Philosophen, die da von ausgingen, daß es eine unterschiedliche physikalische Kennzeichnung der Zeitrichtung gäbe. Sie glaubten, daß diese auch eine Umkeh rung erfahren könne, daß es also möglich sein müsse, Vergangenheit und Zukunft zu vertau schen. Als Beweis bedienten sie sich einer
Fehldeutung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, des Entropiesatzes. Diese fast hundert Jahre zurückliegenden Ansichten waren ausgesprochene Spekulationen. Die Ablaufrichtung des Naturgeschehens ist vom Bewußtsein unabhängig. Die Zeit wie auch der Raum sind objektive Existenzformen der sich bewegenden Materie.« »Für eine Erklärung der aufgetretenen Zeitdi latation im Zusammenhang mit dem Vorhan densein von Antimaterie müssen wir vermut lich auf das Gedankenmodell von Anatol Wol sow zurückgreifen«, spann Ives Lorin den Fa den weiter. »Ausgehend von dem materialistischen Grundsatz, daß die Zeit von der Struktur der Materie abhängt, ist es also durchaus möglich, daß die nachweislich andere Struktur der Anti materie auch einen von der geläufigen Vorstel lung abweichenden Ablauf der Zeit bedingen könnte. Wolsow erklärte das ungefähr so: Den ken wir uns ein Koordinatensystem, dessen Mittelpunkt mit dem Scheitelpunkt einer in po sitiver Richtung verlaufenden Zeitparabel identisch ist. Es stellen dann die beiden Para beläste die Zeit für Materie und für Antimate rie dar. Beide Zeiten sind positiv, denn es gibt keine negative Zeit; wohl aber sind es gespie
gelte Zeiten. Unser Vorstellungsvermögen kann damit noch nichts Rechtes anfangen. Die Wolsowsche Zeitparabel soll ja nur einem Ge dankenexperiment dienen, sie ist keine prinzi pielle Zeitdarstellung. Ziel seines vereinfach ten Modells ist, durch Ordinatensubtraktion die auftretende Zeitdilatation in Abhängigkeit vom Verhältnis der zusammentreffenden, un terschiedlichen Materiearten nachzuweisen, die auf der Abszisse mengenmäßig markiert sind. Sind beispielsweise die beiden Materie anteile gleich groß, dann wird die Zeit zu Null, das heißt, es ist kein Bewegungs- beziehungs weise Ereignisablauf mehr nachweisbar. Es wäre der gleiche Zustand, als würde sich ein Beobachter mit absoluter Lichtgeschwindig keit bewegen. In Materie und Antimaterie ver läuft die Zeit gleich schnell; eine Dilatation tritt nur auf, wenn beide Materiearten mitein ander in Berührung kommen. Ein echtes Gedankenexperiment, denn im Kosmos würde das Zusammentreffen zweier solcher Welten stets eine Supernova auslösen. In dem uns vorliegenden Fall ist es vernunftbe gabtem Leben gelungen, beide Materiearten nebeneinander bestehen zu lassen. Entspre chend dem Massenverhältnis ist also eine nachweisliche Zeitdilatation in Erscheinung
getreten. Schade, daß Wolsow schon vor mehr als dreißig Jahren gestorben ist.« »Das haben Sie gut erklärt«, Pawel Rinald zollte dem Franzosen uneingeschränkten Bei fall. »Doch wir müssen das interessante Thema abbrechen, denn wir erreichen in Kürze das Lunadrom. Bitte, fertigmachen!«
Maximales Risiko Mondkurator Pawel Rinald wollte die Weltfö deration persönlich über das Ergebnis der Ex pedition im Krater Gebrüder Wawilow infor mieren. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Wichtige Entscheidungen mußten getroffen werden. Ira Beaux und Ben Darkens hatten sich erboten, ihn zur Erde zu begleiten. Die Mission der beiden war nicht minder wichtig. Im Moskauer Translationsinstitut soll ten die Texte und Beschreibungen auf den Fo tos von den technischen Details der Autokla ven übersetzt werden. »Dabei wird es sicher neue Probleme geben«, sagte Ira, »denn rein technische Informatio nen in der Kurvenschrift sind bisher noch nicht übersetzt worden. Es wird Begriffe ge ben, die unserem menschlichen Vorstellungs vermögen ungeläufig sind. Doch ich möchte nicht so schwarz sehen.« Boris Sagitow freute sich trotz der zu erwar tenden Schwierigkeiten auf den Besuch der weltbekannten Lunauten, deren Wirken mit der Entstehung und Bedeutung seines Institu tes auf das engste verknüpft war. Nach der Ankunft in Moskau trennte sich Pa wel Rinald von seinen beiden Mitarbeitern,
denn in diesem Jahr tagten die verschiedenen Exekutivausschüsse der Weltföderation aus schließlich in Warschau. Der Kurator hatte um eine Sondersitzung der Vorsitzenden und der Beauftragten für Katastrophenschutz gebeten. Es war daher keine große Zusammenkunft, die da im neunzehnten Stockwerk des Freund schaftshochhauses stattfand. Die meisten der Anwesenden kannte Pawel Rinald persönlich. Nach der Begrüßung kam er sofort auf den Kern seiner Darlegungen zu sprechen: »Die ge waltige Nuklearreaktion, die vor einigen Mo naten auf dem Mond ein Beben von bisher un bekannten Ausmaßen ausgelöst hat, war nicht, wie wir alle angenommen hatten, der Vernich tungsprozeß der gesamten selenidischen Anti materievorräte. Einige meiner Mitarbeiter und ich haben im Krater Gebrüder Wawilow, der auf der erdabgewandten Seite des Mondes liegt, die der Kollegin Beaux im Teleimaginator gezeigten Lagerschächte entdeckt. Es sind einundzwanzig an der Zahl. Nach gro ber Schätzung lagern dort eins Komma drei Megatonnen Antimaterie in Form von Antiwas ser. In der Anlage fanden wir auch genaue Schnittzeichnungen der Einrichtung, deren Bezugstexte zur Zeit in Moskau übersetzt wer den. Welche Möglichkeit hat nun die Mensch
heit, die drohende Gefahr zu beseitigen? Und diese Gefahr droht tatsächlich. Bei gemeinsa mer Reaktion aller einundzwanzig Lager schächte würde für Sekundenbruchteile eine Energie von rund vierzehn mal zehn hoch zweiundzwanzig Joule freigesetzt. Was ist also zu tun? Es erweist sich als günstig, daß die An timaterie auf der Mondrückseite deponiert wurde. Ich bin sicher, die Seleniden haben die sen Ort nicht ohne Grund gewählt. Nach überschlägiger Einschätzung ergeben sich für die Beseitigung der Antimaterie fol gende Möglichkeiten: Erstens: Wenn die Dreifachautoklaven ge trennt werden könnten, wäre es möglich, die Einzelbehälter mit einem Gewicht von je zwan zigtausend Tonnen mit großen Transportrake tokoptern oder Winden aus den Schächten zu hieven und sie anschließend mit Hilfe von Schleppraumschiffen in den freien Raum zwi schen Mars und Jupiter zu bringen und dort fernzuzünden. Zweitens: Die von den Seleniden meines Er achtens vorgesehene Selbstentfernung wirk sam werden zu lassen. Diese Variante ist je doch nur möglich, wenn uns genügend Zeit bleibt, die Autoklaven einzeln zu zünden. Der Ablauf wäre dann so, daß sich der Dreifachau
toklav bei Beginn der Nuklearreaktion mit Hil fe der entstehenden Schubkräfte selbst aus dem Schacht hinauskatapultiert, also wie ein großes reaktives Projektil wirken würde. Drittens: Eine Variante, die von unserem technischen Niveau abhängt, wäre, mit Hilfe einer Neutronenschlauchleitung die Autokla ven anzuzapfen und mit derselben Leitung die Antimaterie ins Weltall zu blasen; dort könnte sie dann mit dem vorhandenen interplaneta ren Staub reagieren. Viertens: Auch diese zunächst letzte Möglich keit wird vom derzeitigen Stand unserer Tech nik bestimmt. Sie sieht vor, daß an einer defi nierten Brennstelle der Autoklaven ein gesteu erter und genau dosierter Annihilationsprozeß eingeleitet wird, indem molekulare Mengen normaler Materie zugeführt werden, bis der Autoklav langsam ausgebrannt ist. Wie schon erwähnt, sind das erste Überlegun gen, die durch die anwesenden Experten, die die Problematik sicher besser übersehen, er weitert und präzisiert werden sollten. Ich dan ke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.« Pawel Rinalds kurze, aber sachliche Darle gung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Es fie len gleich zwei wichtige Entscheidungen. Die eine war der Beschluß, die Angelegenheit bis
auf weiteres geheimzuhalten, um eine weltwei te Panik zu vermeiden. Die andere betraf die sofortige Einladung des vietnamesischen Kern physikers Tschi Wan, dem es erst vor einigen Wochen gelungen war, Neutronengas in tech nisch interessanten Mengen herzustellen. Man beschloß, die Beratung nach seiner Ankunft fortzusetzen. Ben Darkens und Ira Beaux waren von Boris Sagitow wie alte Freunde empfangen worden. Der Wissenschaftler war zunächst sehr er schrocken, als er die näheren Umstände des Besuches erfuhr, doch dann machte er sich an die Arbeit. Seit dem Start in Lunapol spürte Ira, daß mit Ben Darkens etwas nicht stimmte. Er war wortkarg und mit seinen Gedanken oft abwe send. Es war am ersten Abend, den sie gemein sam in Moskau verbrachten, als er sich ihr an vertraute. »Weißt du, Ira, worüber ich mir den Kopf zerbreche? Ich kann mich Rinalds Gedan kengängen, daß wir alles tun müssen, um die Antimaterie für die Erde gefahrlos zu vernich ten, einfach nicht anschließen. Diese Substanz ist derart wertvoll, daß wir alles versuchen sollten, sie der irdischen Technik zu erhalten. Ich schätze, daß unsere Wissenschaftler noch
viele Jahrzehnte brauchen, um diskutable Mengen von Antimaterie herzustellen. Ja, und nun frage ich mich immer wieder, wie haben das Eliu und Peria gemacht, die während der letzten Jahrhunderte die Neutronenschutzhül le in den vielen Schächten im Krater Gebrüder Wawilow immer wieder regeneriert haben? Was zwei Seleniden vermochten, warum sollte das nicht auch die Menschheit mit der Summe ihres Wissens können! Begreifst du das? Ich möchte ebenfalls die akute Gefahr beseitigen, aber dabei gewinnen und nicht verlieren.« Ira verstand ihn nur zu gut. Aber ob Ben die sen Kampf gewinnen konnte? Sehr viel hing von Boris Sagitow und den Übersetzungen ab! Jede, auch die kleinste Bemerkung war wich tig. Ben hatte Boris schon auf die vier Halte punkte des Fahrstuhls und deren rote und wei ße Leuchtzeichen aufmerksam gemacht. Wa ren dort vielleicht Kontrollapparate des Si cherheitssystems installiert? Nach sechsunddreißig langen Stunden, die Ben Darkens auch zu mehreren Aussprachen mit Pawel Rinald und dem inzwischen einge troffenen Tschi Wan genutzt hatte, war es Bo ris Sagitow und seinem Kollektiv gelungen, fast alle Bezugstexte auf der Zeichnung zu übersetzen. Allerdings konnten mehrere tech
nische Fachausdrücke weder mit den Bilin guen noch sinngemäß übertragen werden, da die Begriffe in der irdischen Technik vermut lich nicht geläufig waren. Eine ganze Nacht lang brüteten Ben Darkens und Tschi Wan über den Unterlagen, dann stand ihr Entschluß fest. Es mußte möglich sein, die Antimaterie, eines der vielen Ge schenke, das die technisch weit fortgeschritte nen Seleniden zurückgelassen hatten, zum Se gen der Menschheit zu erhalten. Nun galt es, den Mondkurator umzustimmen, der zuerst überhaupt nicht verstand, was Ben Darkens und Tschi Wan eigentlich wollten, und weiterhin auf die gefahrlose Vernichtung der Antimaterie drängte. Ben Darkens erläuterte ihm ihre Pläne. »Das umgebende Schutzgas kann regeneriert wer den. Die Zeichnung enthält die erforderlichen Vermerke. Es muß doch auch uns Menschen gelingen, was die beiden letzten Seleniden eini ge Generationen lang getan haben. Ich bitte Sie darum, verständigen Sie noch heute Ives Lorin in Lunapol, damit er sofort mit einer Lunaut engruppe zum Krater Gebrüder Wawilow fliegt und die übrigen zwanzig Antimaterieschächte auf ihren Gefährdungszustand hin überprüft. Die Leuchten in den vier Etagenplattformen
sind eindeutig Kontrollautomaten. Wenn auch die oberste Etage rotes Licht zeigt, besteht durch das Hüllgas keine Neutralisationswir kung mehr. Dann ist es zu spät! Sie können sich auf die Ausführungen von Tschi Wan be rufen und den Vertretern der Weltföderation versichern, daß wir – Sie und ich, die Lun auten und Tschi Wan – bereit sind, die Regene ration des Neutronengases, welches verhin dert, daß die Antimaterie mit der umgebenden Materie reagiert, unter Einsatz unseres Lebens durchzuführen und der irdischen Technik eine Substanz zu erhalten, die ihr in solchen Men gen vielleicht erst nach Ablauf vieler Jahrzehn te zur Verfügung stehen wird.« Der Mondkurator verbrachte eine schlaflose Nacht. Der Aschenbecher mit den vielen Zigar renstummeln war ein sichtbares Zeichen da für. Eigentlich hatte er sich schon längst ent schieden. Es entsprach seiner Mentalität, nicht zu kapitulieren, sondern den Kampf aufzuneh men. Was ihn bedrückte, war der Gedanke, daß kostbare Zeit vergeudet würde, wenn das Unternehmen mißlang. Dann würde sich die Gefahr für die Menschheit erhöhen. Mit Ives Lorin hatte er schon einen Laser funkspruch gewechselt. Lorin würde in weni gen Stunden starten. Erst wenn das Ergebnis
seiner Untersuchungen vorlag, konnte man den Grad der unmittelbaren Bedrohung ein schätzen. Als Pawel Rinald am nächsten Tag diese Über legungen vortrug, argumentierte er aus inner ster Überzeugung. Es war einfacher, als er ge dacht hatte, die Mitglieder der Weltföderation für den neuen Schritt zu gewinnen. Schließlich gaben die Gedankengänge Tschi Wans den Ausschlag, und die Anwesenden nickten zu stimmend, als der Mondkurator andeutete, daß die Aktion in Lunapol bereits angelaufen sei und er sich mit Tschi Wan und seinen Mit arbeitern Ira Beaux und Ben Darkens umge hend nach dort begeben werde. Das Kontrollergebnis der übrigen zwanzig An timaterieschächte, das Ives Lorin zusammen gestellt hatte, war in einem Fall äußerst be denklich. Während in elf Fällen noch jeweils zwei Lampen weiß leuchteten und bei neun nur noch die Kontrollautomaten der letzten Etage das beruhigende Weiß ausstrahlten, wechselte in einem Schacht auch dort das Weiß schon periodisch in schwaches Rot über. Hier mußte sofort gehandelt werden! Ben Darkens, der mit Tschi Wan einen genau en Regenerierungsplan ausgearbeitet hatte,
bat den Kurator um eine kurze Unterredung. »Wir müssen früher als vorgesehen beginnen«, sagte er. »Zu langwierigen Versu chen haben wir keine Zeit mehr. Das erste Ex periment muß bereits zum Erfolg führen. Es bleibt uns keine andere Wahl. Zusammen mit den letzten Transporten aus Hanoi verfügt Tschi Wan über sechstausend Kubikmeter Neutronengas. Das entspricht etwa zehn Pro zent des Schützgasvolumens in einem Drei fachautoklaven. Wir sind der Meinung, daß die vorhandene Menge ausreicht, um wenigstens eine Gefahrenstufe zu neutralisieren.« »Gut, Ben. Was soll ich viel Worte machen. Sie wissen, daß es um Leben und Tod geht. Wer wird das erste Experiment durchführen?« »Tschi Wan, sein Mitarbeiter Roué und ich. Sonst niemand.« »Und was sagt Ira Beaux dazu?« »Sie begleitet uns, um den Piloten zu unter stützen.« »Dann komme auch ich mit, drei Mann im Schacht und drei im Raketokopter. Sollte et was passieren, trifft es uns alle. Wann soll es losgehen?« »Noch heute. In etwa drei Stunden.« Sie flogen dieselbe Route wie vor zwei Wo chen. Doch damals ging es um die Bestätigung,
ob Iras Eindrücke, die sie psychotechnisch im Teleimaginator gewonnen hatte, der Realität entsprachen. Heute ging es um mehr. Nur wenn dieses Experiment gelang, dann war die Gefahr zu bannen. Entschlossenheit lag auf den Gesichtern der sechs Lunauten, die um das Risiko wußten. Ira Beaux sah gedankenverloren vor sich hin. Sie glaubte einfach fest daran, daß alles gut ge hen würde. Ein zärtlicher Blick streifte Ben, der wie schon so oft mit Tschi Wan die Zeich nungen und Erläuterungen der Antimateriean lage studierte. »Es gibt nur eine Möglichkeit«, stellte der Vi etnamese eben fest, »die Skizze sagt eindeutig aus, daß für die Reneutralisierung am vierten Kontrollautomaten ein bestimmtes Ventil zu öffnen ist, während die Gasneuzufuhr an der ersten Überwachungseinrichtung erfolgen muß. Hoffentlich sind die Ventile leicht zu fin den und ähneln unseren irdischen Konstruk tionen.« Der Raketokopter hatte das Zielgelände, den Krater Gebrüder Wawilow, erreicht. Die im Zentrum liegenden und deutlich sichtbaren einundzwanzig Schachtkuppeln waren inzwi schen numeriert worden. Die größte Gefähr dung bestand bei Anlage sieben. In unmittelba
rer Nähe der großen Rundmauer setzte der Flugkörper hier auf. Das komprimierte Neu tronengas befand sich in einem großen pris matischen Tank, der oberhalb der rotierenden Düsen angebracht war. Jetzt kam es auf Exaktheit und Schnelligkeit an. Die Aufgaben für jeden einzelnen waren genau festgelegt und die erforderlichen Hand griffe durchgesprochen. Man spürte, wie Pawel Rinald, obwohl er sich selbst in Gefahr begab, unter der Sorge um sei ne Mitarbeiter litt. »Ira, ich bin sehr froh, daß Sie dabei sind. Sie strahlen so viel Optimismus aus, und da fällt mir das Warten nur halb so schwer«, versuchte er zu scherzen. Während sich Ben Darkens und Tschi Wan über eine Strickleiter abseilten, war Roué schon dabei, eine dünne Schlauchleitung am Ausblasstutzen des Neutronengasbehälters zu befestigen. Minuten später standen Ben und Tschi auf der ersten Plattform. In kurzen Intervallen leuch tete das Kontrollauge gespenstisch weiß und rot auf. »Die Abstände sind seit den Ermittlungen von Ives Lorin wesentlich kürzer geworden«, sagte der Chefselenologe nach einem Blick auf seine Uhr. »Werden wir es noch schaffen?«
Tschi Wan überhörte die Frage. Was hätte er auch antworten sollen? Beide untersuchten die Apparaturen, die um das Gerät herum ange bracht waren. »Ich gehe immer wieder davon aus, daß die Reneutralisierung ein einfacher und schnell durchzuführender Prozeß gewesen sein muß«, sagte Ben Darkens zu seinem Begleiter. »Hier könnte es sein«, stieß Tschi Wan plötz lich hervor und zeigte auf eine ovale Öffnung aus nichtmetallischem Material in etwa einem dreiviertel Meter Höhe, die sich nach hinten konisch verjüngte. Ben verglich die Stelle mit den Angaben auf der Skizze. »Ja, Sie haben recht! Aber wo ist das Ventil, der Absperrmechanismus?« »Ich glaube, wir suchen vergebens nach kon ventionellen Armaturen«, antwortete Tschi Wan. »Vermutlich entsteht beim Ausblasen des verbrauchten Gases auf der untersten Plattform ein Überdruck, durch den hier oben ein entsprechend ausgebildetes Mundstück an gesaugt wird, das bei Erreichen der Endstel lung eine Klappe oder Membrane betätigt.« Er informierte Roué sogleich über die Besonder heit des Schlauchanschlusses und fügte dann hinzu: »Kommen Sie, Ben, lassen Sie uns in der vierten Etage nach einer Austrittsstelle für
das Gas suchen. Roué wird unterdessen die Öffnung abmessen und gemeinsam mit den an deren Lunauten im Raketokopter aus Titan kohlenstoff ein Anschlußstück formen.« Der Rohrlift, dessen Wirkungsprinzip noch immer ein Rätsel war, beförderte sie auf die unterste Plattform. Gefahr signalisierendes Rot, wo sie hinschauten! Trotzdem, Ben Dar kens hatte seine sprichwörtliche Ruhe wieder gefunden. Es war immer nur der erste Schritt, der ihn unsicher machte. Nun suchten sie erneut. Es ging darum, eine Armatur oder eine Anordnung zu finden, die zum Ausblasen eines Gases geeignet war, ge eignet nach geläufigen menschlichen Vorstel lungen. Ein fragwürdiges Unterfangen! Tschi Wan, der Physiker, bewies dabei das größere Einfühlungsvermögen. Das Arbeiten mit Teilchenbeschleunigern unterschiedlich ster Ausführungsformen hatte sein Auge ge schult. Nachdenklich blickte er auf ein kugelförmiges Gebilde mit starken Sensoren und stutzenarti gen Blenden, das ihn entfernt an Bilder von den ersten Sputniks erinnerte. Unten mündete eine starke, mit Wülsten versehene Leitung in das System. Die Beleuchtung war schlecht. Trotzdem
konnte man erkennen, daß zwischen der Kon verterkugel und dem Kontrollautomaten eine unmittelbare Verbindung bestand. Es fiel Tschi Wan schwer, in jenem Gebilde eine Rohrlei tung zu erkennen. Ihm war klar, daß die neu trale Aufbewahrung von Antimaterie besonde re, der irdischen Technik ungeläufige Anord nungen erforderte. Dennoch mußten sie es versuchen! »Ben, sehen Sie doch bitte einmal in den Un terlagen nach, ob dieser Konverter die Aus blasstelle enthalten könnte. Schauen Sie, die ses Gerät endet dort in drei Meter Höhe vor ei ner kaminartigen Öffnung, die wahrscheinlich mit der Mondoberfläche in Verbindung steht. Doch wie könnte der Ausblasvorgang eingelei tet werden?« Ben Darkens, der sich über die Skizzen ge beugt hatte, rief plötzlich: »Tschi, Sie haben wirklich eine Spürnase für solche Anlagen. Von der Konverterkugel zeigt ein roter Pfeil nach oben. Aber vor dem Konverter, der große Zylinder… Augenblick, da steht noch eine For mel! Es handelt sich zweifellos um Zentrifugal kräfte. Könnte der Zylinder nicht eine Gaszen trifuge sein, die einen entsprechenden Über druck erzeugt und den Ausblaseffekt erzwingt? Was meinen Sie?«
»Ben, das ist das Ei des Kolumbus! Hut ab vor Ihrem Kombinationsvermögen! Ich gehe noch einen Schritt weiter, weil ich annehme, daß der Reneutralisierungsprozeß vollautomatisch abgelaufen ist, und behaupte, daß die Zentrifu ge einen biokinetischen Ein- und Ausschaltme chanismus besitzt. Passen Sie auf!« Tschi lief zu dem etwa fünfzehn Meter entfernten mannshohen Zentrifugengehäuse. Plötzlich setzte eine Erschütterung ein. Der Boden der Plattform vibrierte so stark, daß beide Forscher Schmerzen in den Beinen ver spürten. Tschi Wan kam triumphierend zu Ben Dar kens zurück, und die Vibration ließ nach. »Na, ich denke, es ist alles klar, und wir kön nen bald beginnen, nicht wahr?« Sogleich verständigte er sich mit Leon Roué, der bereits die oberste Plattform erreicht hatte und dabei war, das inzwischen gegossene koni sche Mundstück genau anzupassen und eine Schlauchleitung anzuschließen. Ben Darkens führte unterdessen ein Funkge spräch mit dem Kurator und Ira Beaux, die beide sehr froh waren, daß die Aktion bis jetzt so gut verlaufen war. Nun warteten sie schon länger als eine Vier telstunde auf das Bereitschaftssignal von
Roué. »Ich glaube, ich muß Leon doch ein wenig zur Hand gehen«, sagte Tschi nach einiger Zeit. »Ben, ich bin sicher, daß Sie die Zentrifuge durch Annäherung betätigen können, wenn wir oben fertig sind und Ihnen ein Zeichen ge ben.« »Tschi, gibt es noch irgend etwas, was Sie mir sagen müssen, was für den Ablauf des Experi mentes Bedeutung hat?« Ben Darkens wandte sich noch einmal an den vietnamesischen Wis senschaftler, dessen stoische Ruhe ihn lang sam außer Fassung brachte. »Ja, Ben, doch jetzt ist es zu spät, noch Be trachtungen darüber anzustellen. Wir werden in Kürze Neutronengas einblasen und kein An tineutronengas, wie es eigentlich nötig wäre. Das Neutron und das Antineutron unterschei den sich zwar nicht durch Ladungsunterschie de – sie haben beide ein neutrales Verhalten –, aber durch das magnetische Moment. Trotz dem denke ich, daß alles gut gehen wird. Ent scheidend ist ja der Neutralisationseffekt, und der tritt auf alle Fälle ein.« Nach diesen bedeu tungsvollen Worten bestieg Tschi Wan die zy lindrische Einmannkabine. Ben Darkens glaubte nicht recht gehört zu ha ben. Aber sonderbar, so sehr beunruhigte ihn
die »Unstimmigkeit« gar nicht – ein Beweis da für, daß es einfach darauf ankam, wie man et was sagte. Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er im Helmlautsprecher Tschis gleichmüti ge Stimme vernahm. »Ben, wir sind soweit. Bitte gehen Sie auf die Gaszentrifuge zu!« Für Ben Darkens war dies eine Angelegenheit von wenigen Sekunden. Die fühlbare Vibration zeigte ihm, daß das Aggregat zu rotieren be gann. Sonst geschah nichts. Er konnte sich ei nes unbehaglichen Gefühls nicht erwehren; denn er übersah das Experiment nicht im De tail. Nur was sich im ungünstigsten Fall ereig nen konnte, dessen war er sich völlig bewußt. Plötzlich hörte er im Lautsprecher einen Knall wie von einer entfernten Detonation. Das Geräusch kam von der ersten Plattform, denn die Funksprechverbindung zum Raketo kopter war abgeschaltet. »Hallo, Tschi! Hallo, Leon! Meldet euch! Was ist los?« rief Darkens besorgt. Ja, es war etwas passiert. Entweder paßte das Mundstück nicht genau, oder der Unterdruck war noch zu gering. Tschi Wan, der einige Me ter hinter Leon Roué stand und die Schlauch leitung nachzog, hatte plötzlich den Eindruck, inmitten eines Miniaturfeuerwerkes zu stehen.
Winzige, aber schmerzend grelle Blitze erfüll ten den gesamten Raum. Er hörte, wie Leon sagte: »So etwas Ähnliches habe ich erwartet! So dicht kann gar kein Mundstück sein, daß nicht molekulare Gasmengen dennoch austre ten!« »Größte Vorsicht, Leon! Sollten wir uns nicht besser zurückziehen und die gefährliche Arbeit von einem Roboter verrichten lassen?«
»Nein, Tschi, du weißt, es gibt immer Phasen während eines Experimentes, bei denen der Mensch und sein Reaktionsvermögen durch
keinen Automaten zu ersetzen ist. Habe ich recht?« Eine Antwort auf diese letzte Frage konnte ihm niemand mehr geben. – Plötzlich zuckte ein wesentlich stärkerer Blitz unmittelbar ne ben dem Kopf des weit nach vorn gebeugten Roué auf. Leon fiel zu Boden, und der taumeln de Tschi erkannte entsetzt, daß der Schutz helm seines Kollegen auseinanderklaffte. Hier kam jede Hilfe zu spät. Die fehlende Atmo sphäre hatte Leon sofort getötet. Nach dieser größeren Reaktion war wieder Ruhe eingetreten. Tschi Wan wußte genau, was geschehen war. Das in winzigen Mengen aus strömende, mit Antiteilchen angereicherte Neutronengas hatte mit der Umgebung rea giert. Im Helmlautsprecher war die Stimme des Mondkurators zu hören. »Was ist los? Unser Raketokopter ist von Explosionen, die fortlau fend in größerer Höhe stattfinden, umgestürzt worden. Wir sind aber wohlauf. Bitte meldet euch!« Tschi Wan beugte sich erschüttert über Leon Roué. Der Freund und Kollege war tödlich ver unglückt. Dann richtete sich der vietnamesi sche Wissenschaftler langsam wieder auf. Er
durfte sich nicht der Trauer überlassen. Jetzt mußte das Experiment zur Rettung der irdi schen Zivilisation zu Ende geführt werden. Es kostete ihn große Überwindung, sachlich zu bleiben und den Durchflußmengenmesser zu beobachten. Gleich war es soweit! Der Unter druck ging zurück. »Hallo, Ben! Können Sie mich hören?« sagte Tschi Wan stockend. »Es ist etwas Furchtbares geschehen. Leon Roué ist durch eine Reaktion ausströmender Antiteilchen getötet worden. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Ich bitte aber um Ihr Verständnis, daß wir unser Expe riment fortführen. Halten Sie die Zentrifuge wieder an, die Neutronengasmenge ist inzwi schen angesaugt worden. Anschließend fahren Sie bitte zur zweiten Plattform und kontrollie ren dort die Rot-Weiß-Automatik. Noch wissen wir nicht, ob unser Versuch Erfolg gehabt hat. Ende.« Tod, welch ein gräßliches Wort! Trotz der ständigen Gefahr, die sie umgab und in der sie arbeiteten, war Ben Darkens tief erschüttert. Rein mechanisch trat er von der Zentrifuge zu rück. Die abklingenden Bodenerschütterungen zeigten ihm, daß er den ersten Teil seines Auf trages erfüllt hatte. Mit wenigen Worten war Tschi Wan über Le
ons Tod hinweggegangen, Ben Darkens konnte das nicht begreifen. Fast empfand er ein wenig Antipathie gegen den allzu beherrschten viet namesischen Kollegen. Doch dann bezwang er sich. Hastig stieg er in den Rohrlift und fuhr zur zweiten Plattform, wo ihm das Rot un heimlich entgegenleuchtete. »Tschi, ich bin am zweiten Kontrollautoma ten. Er zeigt noch Rot«, meldete er sich. »Wir müssen jetzt zwanzig Minuten warten, bis sich das neue Gasgemisch gebildet hat«, er widerte Tschi Wan. »Ein Verlassen des Schach tes ist zur Zeit nicht möglich. Das ausströmen de, nicht mehr neutrale Gas reagiert noch im mer mit dem lunaren Staub.« Dann fragten Ira Beaux und Pawel Rinald durcheinander, was sich im Schacht ereignet habe. Ben Darkens senkte den Kopf. So leise, daß man ihn kaum verstehen konnte, sagte er: »Leon ist tödlich verunglückt. Das Gaseinbla sen war doch gefährlicher, als wir angenom men haben. Vielleicht hätten wir vorsichtiger zu Werke gehen sollen.« Er schwieg und fügte dann hinzu: »Noch ist das Experiment nicht abgeschlossen. Von einer wirksamen Regene rierung ist noch nichts zu bemerken. Aber bald werden wir mehr wissen. Ich muß unterbre chen. Die Kontrollampe auf der zweiten Platt
form beginnt zu flackern.« Ben Darkens starrte wie gebannt auf die Ge fahrenanzeige, er fühlte, wie sein Herz schnel ler schlug. Die Lampe flackerte, und ganz lang sam wechselten dabei die Farben Weiß und Rot einander ab. Die aufgespeicherte Span nung von vielen Stunden, ja Tagen, begann nachzulassen. Jetzt konnte er das weiße Auf leuchten schon sekundenlang beobachten. War das Experiment geglückt? Er mußte sach lich bleiben, abwarten! Rot flammte jetzt nur noch ganz kurz auf. Da, die Kontrolleuchte zeigte ein beruhigendes Weiß! Ein Teil des schützenden Neutronenge misches war wieder völlig neutral. Die diffun dierten Antiteilchen hatten dem Druck des zu geleiteten Frischgases nachgegeben und waren entwichen. »Hallo, Tschi!« rief Ben Darkens nach oben – die Verbindung zum Raketokopter hatte er ab geschaltet, die erfreuliche Nachricht sollte der Vietnamese selbst durchgeben. »Der Kontroll automat auf der zweiten Plattform zeigt nur noch weißes Licht.« »Danke, Ben. Bei mir hier oben hat der Über gang zu Weiß sofort stattgefunden. Ja, ich glaube jetzt auch, daß wir zufrieden sein kön
nen.« Es entstand eine längere Pause, dann sagte er – und von Stolz über das geglückte Unterneh men war nichts in seiner Stimme –: »Ben, hö ren Sie mich noch? Der Sieg über die selenidi sche Technik wurde hart erkämpft und teuer bezahlt. Vielleicht haben Sie mich vorhin nicht verstanden. Ich mußte einfach weitermachen. Niemand von Ihnen allen weiß, wieviel mir Leon Roué bedeutet hat. Und das von mir ge leitete Unternehmen forderte sein Leben. Ich weiß nicht mehr weiter. Doch durch Selbstbe zichtigungen oder Vorwürfe ist an dem Ge schehenen nichts zu ändern. Sie wissen, wie ich das meine.« Dann schwieg Tschi Wan. Er nahm Abschied von seinem Gefährten, der ihm mehr Freund als Mitarbeiter gewesen war. Der Vietnamese begann weiterzusprechen: »Die Schlauchleitung für die Zuführung des Schutzgases habe ich gekappt. Den konischen Einfüllstutzen nehme ich mit. Dieses Teil muß wesentlich präziser hergestellt werden. Es darf bei der Regenerierung keinen Unfall mehr ge ben. Ben, Sie können nach oben kommen; un sere Aktion hier ist beendet. Wir wissen nun, wie der Vorgang ablaufen muß. Es wird noch viel gefährliche Arbeit geben, bis alle Anlagen
regeneriert sind. Aber eins steht fest, die Anti materievorräte der Seleniden können der Menschheit erhalten werden, und das ist nicht zuletzt ein Verdienst Ihrer Beharrlichkeit.« »Und Ihrer Tatkraft und Ihres Könnens, Tschi Wan«, vollendete Ben Darkens den Satz und fügte nachdenklich hinzu, »warten Sie, ich komme sofort, dann bringen wir Leons Leich nam in den Raketokopter.« Als der in großer Höhe dahineilende Flugkör per den Krater Gebrüder Wawilow hinter sich gelassen hatte, machte sich bei den Besat zungsmitgliedern trotz des Todes von Leon Roué ein wenig Stolz über das geglückte Expe riment bemerkbar. Eigentlich ging es ja um viel mehr als um einen erfolgreichen Versuch. Es ging um den Sieg des Menschen über eine fremde Technik. Der Wille zum Handeln und der Glaube an den Erfolg lassen den Menschen über sich selbst hinauswachsen und machen ihn als Gattung unsterblich, denn das chaoti sche All ist durch die Tat vernunftbegabten Le bens veränderbar.
Jahre später Resolut schob Ira die Brille auf die Stirn und wandte sich um. »Ben, bitte komm ganz schnell mal her und sieh dir das an! Die Anni hilation hat gerade eingesetzt. Ich freue mich, daß unseren Kosmonauten der Testflug mit dem Materie-Antimaterie-Triebwerk geglückt ist.« Ben Darkens, der in den letzten Jahren ein paar graue Haarsträhnen mehr bekommen hatte, lächelte seiner Frau zu, trat näher und blickte, den Kopf über ihre Schulter geneigt, durch das Okular. »Ira, du weißt, daß ich Superlative nur ungern gebrauche, aber bei deinem Großteleskop muß ich eine Ausnahme machen. Wenn ich nicht irre, kreuzt die ›Pilot‹ im Augenblick die Jupi terbahn, aber wenn ich hier durchschaue, mei ne ich, keine hundert Meter daneben zu ste hen. Das ist wirklich großartig.« Er blieb bei Ira stehen und schwieg eine Weile. »Ja, es wa ren auch besonders harte Jahre, die hinter uns liegen«, sagte er dann, »doch möchtest du sie missen?« Wie so häufig ergab sich aus der Erinnerung an die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, die es diesen beiden Menschen nicht leicht ge
macht hatte, zueinander zu finden, uner schöpflicher Gesprächsstoff. Die Explosion des ersten Quecksilberrotation steleskops, die Entdeckung der selenidischen Höhlenstadt und die Beseitigung der Antimate riegefahr lagen fast ein Jahrzehnt zurück. Für Tschi Wan bedeutete das Antiwasser auf dem Mond das kostbarste Vermächtnis der Se leniden. Nachdem die unmittelbare Reaktions gefahr gebannt war, hatte er sofort nach tech nischen Möglichkeiten gesucht, die Antisub stanz den Autoklaven entnehmen und auch transportieren zu können. Mit der ihm eigenen Intensität war er an die Arbeit gegangen. Die Weltföderation hatte ihm jegliche Unterstützung gewährt. Mit Hilfe der selenidischen Forschungsergebnisse aus den Wissensrollen war es ihm schließlich gelun gen, Quasiwasserstoffatome zu erzeugen, soge nannte Quate. Ein Antikern, durch einen Neu trinoring abgeschirmt, band ein normales Elektron. Das neue Element war stabil, ließ sich komprimieren und verflüssigen, und – darum ging es eigentlich – es ließ sich normal transportieren. Die Neutrinos konnten nur durch starke Gravitationsfelder beeinflußt werden. Nach dieser Methode war auch eine genaue Steuerung beliebiger Annihilationspro
zesse möglich. Tschi Wans Forschungsergebnisse hatten in der modernen Physik revolutionierend ge wirkt, wenngleich nur wenige davon wußten, weil der Vietnamese bescheiden im Hinter grund geblieben war. Vor drei Jahren riß ihn ein plötzlicher Tod mitten aus seiner Arbeit. Durch eine relativ harmlose Teilchenreaktion war er fast auf die gleiche Weise wie Leon Roué bei der Neutralisierung von Antiwasser im Krater Gebrüder Wawilow ums Leben ge kommen. Nur Ben Darkens ahnte, daß Tschi wahrscheinlich den Tod gesucht hatte, weil er Roués Unfall, an dem er sich die Schuld gab, nie hatte verwinden können. Die Auswertung der Wissensrollen brachte auf allen Gebieten des menschlichen Fort schritts neue Resultate. Dennoch würden noch viele Jahrzehnte vergehen, bis die irdische Zi vilisation den Erkenntnisstand jener kleinen menschenähnlichen Mondbewohner erreicht hatte. Je mehr über die Seleniden bekannt wurde, um so mehr bedauerte die Menschheit die Tatsache, daß ein unmittelbarer Kontakt der beiden Lebensformen nicht zustande ge kommen war. Die Antimaterievorräte waren für die irdische Technik von unschätzbarem Wert. Es gab drei
Anwendungsgebiete, die sich ohne dieses Ge schenk der Seleniden kaum so schnell hätten entwickeln können: die Raumfahrt, die Ener gieversorgung und die Medizin. Aber auch auf dem Mond selbst hatte sich viel verändert. Lunapol war nach Pawel Rinalds lang gehegten Plänen als sublunare Siedlung wiedererstanden. Seiner Initiative war es ebenfalls zu verdanken, daß in den letzten Jah ren das neue große Quecksilberrotationstele skop, wie es Ira Beaux projektiert hatte, gebaut wurde. Die eigentliche Explosionsursache des ersten QRT, die viele Jahre hindurch unerklärlich blieb, war schließlich doch noch gefunden wor den. Tschi Wan, den bis zu seinem Tod eine enge Freundschaft mit Ira und Ben verband, hatte diese offene Frage keine Ruhe gelassen. Seine Untersuchungen bekamen neuen Auftrieb, als sich herausstellte, daß ein weiterer tektoni scher Riß unmittelbar vom Platz der ehemali gen Nuklearsonne an der Decke der Höhlen stadt zum damaligen Standort des Teleskops im Krater Zeta führte. Tschi Wan hatte nun da nach gesucht, welche Reststrahlung nach einer lang anhaltenden Materie-Antimaterie-Fusion besonders leicht mit Quecksilber reagierte.
Seine in vielen Monaten durchgeführten Ex perimente mit Kleinstannihilationen waren nicht nur der Ausgangspunkt für die Entwick lung moderner Nuklearbrenner geworden, sie erbrachten schließlich auch den eindeutigen Beweis, daß einer solchen Reaktion eine lang andauernde Emission von Antineutrinos folg te. Diese wirken spaltend auf Metalle und lei ten bei Erreichung der kritischen Masse neue Kernreaktionen ein. Eine solche Reaktion hat te das Teleskop zerstört und den Tod Sol Men tos verursacht. Ira und Ben beobachteten noch immer das enteilende Korpuskularraumschiff, dessen Be satzung den ersten Versuch der Menschheit unternahm, den interplanetaren Raum zu ver lassen und lichtnahe Geschwindigkeiten zu er reichen. »Die Entdeckung der Seleniden und die Über nahme ihrer Technik und ihrer wissenschaftli chen Erkenntnisse haben nun doch uns Men schen zum Nutzen gereicht. Wissenschaft und Technik als konkrete Funktion vernunftbegab ten hochentwickelten Lebens können niemals zum Fluch werden, es sei denn, sie werden mißbraucht. Wir alle haben eine wichtige und bisher einmalige Bewährungsprobe bestanden – die Konfrontation mit einem dem menschli
chen Wissen überlegenen Erkenntnisstand«, sagte Ben. »Du magst recht haben«, erwiderte Ira, »aber haben wir sie nicht nur deshalb bestanden, weil wir sie bestehen mußten, weil es eine Exi stenzfrage war? Ist unsere Zivilisation reif ge nug, um Unerklärliches einfach zu überneh men?« »Die Menschheit in ihrer Gesamtheit ist durchaus dazu in der Lage, der Mensch als In dividuum vielleicht nicht. Du mußt die Gesell schaft als solche sehen. Durch die Ereignisse der letzten Jahre haben wir auch in der gesell schaftlichen Entwicklung einen großen Schritt nach vorn gemacht.« »Planetenumspannende Probleme haben stets progressive Auswirkungen auf die gesell schaftlichen Verhältnisse!« ergänzte Ira. »Ja, aber bleiben wir bei der Technik. Sie ist unpersönlich und objektiv. Wie sie von einer Lebensform genutzt wird und was diese aus ihr macht, das hängt allein von deren gesell schaftlichem Niveau ab. Und diese These gilt wahrscheinlich für den gesamten Kosmos.« »Fremde Erkenntnisse nutzen und weiterent wickeln«, sagte Ira nachdenklich. »Bei meinem letzten Erdaufenthalt habe ich Rodrigo getrof fen, jenen Mann, den du damals wieder auf
den Mond geholt hast, als ihr die staubfreie Zone im Tycho zwölf/zweiundvierzig unter sucht habt. Erinnerst du dich noch? Du hast mir die sonderbaren Krankheitssymptome von Rodrigo und Syphos, dieser war das zweite Op fer, seinerzeit sehr genau geschildert.« »Ja, ich entsinne mich noch recht gut! Der eine schrie, und der andere lachte unaufhör lich, und beide wollten sich selbst unbedingt umbringen.« »… also, Rodrigo hat sich damals nur ganz langsam von den Folgen der Antigravitonenbe strahlung erholt. Die Behandlungen, die an und mit ihm erstmalig durchgeführt wurden, haben ihn so interessiert, daß er nach seiner Genesung noch ein medizinisches Studium ab solviert hat. Zur Zeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für gravitonische Psychiatrie in Alma-Ata. Die schon von euch seinerzeit vermutete Um kehr bestimmter biologischer Prozesse im Wirkungsbereich von Antimaterie ist inzwi schen zu einer Heilmethode bei Geisteskrank heiten entwickelt worden. Zur Zeit arbeitet Rodrigo daran, welche Rolle das Gehirn bei Krebserkrankungen spielt und wie auch dabei mit Antigravitonen heilend ein gegriffen werden kann.
Allein schon, wenn es gelänge, diese beiden Geißeln der Menschheit endgültig zu besiegen, hätten sich alle Sorgen und Mühen des letzten Jahrzehnts gelohnt.« »Ja, du hast recht, medizinische Erfolge kön nen nicht hoch genug bewertet werden. Aber es gibt auch noch andere Gebiete, auf denen wir gegenüber den Seleniden aufgeholt haben. Ich denke da an dein neues Teleskop. Was die Seleniden in gefährlichen und langwierigen in terplanetaren Raumflügen erforscht und uns übermittelt haben, können wir mit Hilfe der enormen Vergrößerungsfaktoren der Quecksil berrotationsteleskope wesentlich einfacher feststellen.« »Der Uranusring wurde schon gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt. Daß der Marsmond Phobos ein künstliches Gebilde ist, können wir einwandfrei beobachten. Nur, daß er eine Schöpfung der Seleniden ist, hätten wir nicht so schnell erfahren. Den fast zwanzigtau send Kilometer breiten Neptunring hatte ich schon mit dem ersten QRT ausmachen können. Und den Transpluto kennen wir seit einem hal ben Jahr.« »Trotzdem existiert noch viel Neues in den Übersetzungen der selenidischen Texte über kosmologische Probleme. Zum Beispiel die
Doppelplanetentheorie; fast jeder zweite Pla net unseres Sonnensystems hat Ringe oder Monde, die Überreste eines planetenartigen Begleiters sind. Oder ihre Hypothese, daß auch die Sonnenfernen Planeten zu Zeiten der we sentlich größeren Protosonne Leben getragen haben.« Ein melodisches Geräusch erfüllte den Oku larraum und deutete ein Videophongespräch an. Pawel Rinald meldete sich. »Ira und Ben, ich kann euch eine erfreuliche Mitteilung ma chen. Ich spreche von der Erde aus und kom me eben von einer Unterredung mit Präsident van Müren. In Kürze übernehme ich die erste Pionierstation auf dem Mars. Der neue Mond kurator heißt Ben Darkens!«