CHARLES L. GRANT
Spukpferd
Gruselthriller
Aus dem Amerikanischen übertragen von Gisela Kirst-Tinnefeld
GOLDMANN V...
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CHARLES L. GRANT
Spukpferd
Gruselthriller
Aus dem Amerikanischen übertragen von Gisela Kirst-Tinnefeld
GOLDMANN VERLAG
Das Original erschien unter dem Titel »The Pet« bei Tor Books, New York
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der
Verlagsgruppe Bertelsmann
Made in Germany • 8/89 • 1. Auflage
© 1986 by Charles L. Grant und Tor Books
© der deutschsprachigen Ausgabe
1989 by Goldmann Verlag München
Umschlaggestaltung: Design Team München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: Elsnerdruck, Berlin
Verlagsnummer: 8068
Lektorat: Michael Görden/Caroline Göhler
Herstellung: Peter Papenbrok
ISBN 3442-8068-1
Don hat es wirklich nicht leicht. Sein Vater ist Schuldirektor und deshalb besonders streng zu ihm, und seine Schulkameraden meiden ihn seines Vaters wegen. Dons einzige Freunde sind die Tiere auf den Postern in seinem Zimmer. Zur gleichen Zeit streunt ein Geisteskranker durch die kleine Gemeinde, in der Don lebt. Zwei Kinder hat er schon ermordet, und Dons heimliche Geliebte Tracey droht sein nächstes Opfer zu werden. Don weiß, daß er einen Verbündeten braucht. Und er findet ihn – in einem Spukpferd. Er weiß aber nicht, daß sein neuer Verbündeter höchst unzuverlässig ist…
1
Eine kühle Nacht Ende September, ein Mittwoch, ein klarer, mit grauen Schatten überzogener Mond und ein Sternengefunkel, zu strahlend, um durch die unten funkelnden Lichter übertroffen zu werden; der eisige Atem eines schwachen Windes, der ab und zu böig auffrischte und die Echos von nächtlichen Geräuschen weitertrug, welke Blätter in den Rinnstein wirbelte, Eicheln in Dachrinnen herumrollen ließ und nach Händen und Gesichtern mit der erbarmungslosen Ankündigung des Winters griff. Eine kühle Nacht Ende September, ein Mittwoch, und dunkel. … und daher blickte der Junge, der eigentlich kein schlechter Kerl war, was aber niemand erkannte, weil er all diese Sachen angestellt hatte, in den Baum hinauf. Vom Hudson River stieg das Land quer über New Jersey sanft zur Gebirgskette der Appalachen hin an. Die Wälder waren ebenso wie das meiste Weideland verschwunden und Ansiedlungen gewichen, die rasch zu kleinen Gemeinden und Städten anwuchsen, Teilchen eines Puzzles, die ineinander paßten. Eines dieser Teile war Ashford, nicht allzu groß und auf einem der ersten leicht gewellten Plateaus gelegen, das nach Süden hin abfiel. Hinter dem Ort erhoben sich leichte Hügel. Aus der Luft ließ es sich nicht von einem seiner Nachbarn unterscheiden – einfach eine Ansammlung von Lichtern, Glitzerpunkte auf der Schneide eines langen elfenbeinernen Rasiermessers.
… und er sah die Krähe auf dem obersten Ast des höchsten Baumes der Welt sitzen. Eine große Krähe. Die größte Krähe, die er je im Leben gesehen hatte. Und der Junge erkannte, erkannte wirklich und wahrhaftig, daß diese Krähe der einzige Freund sein würde, der ihm auf der Welt geblieben war. Also sprach er zu der Krähe und sagte: Der Park lag genau mitten in der Stadt, fünf Blocks lang und drei Blocks breit, und war von einer vier Fuß hohen Mauer umgeben, deren Betonrand stellenweise von den Menschen abgewetzt war, die darauf herumsaßen und dem vorbeifließenden Verkehr zuschauten. Am nördlichen Ende befand sich ein kleines Spielfeld, auf dem jetzt hinter dem Schlagmal ein transportables Musikpodium aufgestellt war, das von allen Seiten durch ein halbes Dutzend Scheinwerfer angestrahlt wurde. Klappstühle, Gartenstühle, karierte Decken und leichte Herbstjacken bedeckten das innere Spielfeld und schützten die große Zuhörerschar vor dem Staub des Baseballplatzes und dem stacheligen absterbenden Gras, das allmählich braun wurde. Die Mitglieder der High-School-Band saßen auf ihren Stühlen, trugen ihre roten Uniformen mit den schwarzen und goldenen Paspeln und spielten, als würden sie sich für die musikalische Begleitung der Rose Bowl-Parade bewerben. Sie glitten durch den »Bolero«, marschierten durch Sousa, als hätten sie den Bandleader persönlich gekannt, und schossen dann ein Feuerwerk in den dunklen Herbsthimmel, ließen in der Vorstellung des Auditoriums Feuerräder und Wunderkerzen kreisen und sprühen, als sie durch die »1812 Ouvertüre« donnerten und stolzierten. Am Rande des Feldes, hinten in den Büschen, wohin die Lichter nicht drangen, gab es ein bißchen Gekicher, ein paar
Ohrfeigen und mehr als nur ein paar Büchsen Bier, die aufknallten. … Glaubst du, es geht gut? Die Eltern, die Verwandten, das Kollegium und der Bürgermeister applaudierten, als hätten sie ihr Leben lang noch nie etwas so Großartiges gehört. Der Bandleader strahlte, und die Band verneigte sich. Es waren keine Zugaben geplant, aber der Beifall hielt trotzdem an. Und die Krähe sagte: Alles wird bestens sein, solange du weißt, wer deine wahren Freunde sind. In der Mitte des Parks befand sich ein ovaler Teich, etwa sechs Meter breit, mit einer Betonwand, die ins Wasser reichte. Er war nicht sehr tief, ein zweijähriges Kind hätte sicher hindurchwaten können, aber er reflektierte genug Sonne, genug Himmel und mehr als genug von umgebendem Blattwerk, um ihn wirken zu lassen, als wären die Tiefen des Ozeans unter der Oberfläche gefangen. Ringsum waren Bänke aus Rotholz angebracht und am äußeren Rand der Betoneinfassung befestigt. Darüber erhoben sich auf sechs Bronzesäulen, die durch Zeit und Witterung grün geworden waren, fahlweiße Kugeln. Ihr Licht war weich und fiel in sanften Wellen über das ruhige kalte Wasser, über die Bänke und die elf schweigenden Kinder, die jetzt darauf saßen. Sie lauschten nicht der Musik, obwohl diese zwischen den Bäumen hindurch zu hören war; sie ignorierten den Beifall, der aus der Ferne wie Gewehrfeuer klang; statt dessen lauschten sie dem jungen Mann in dunklem Baumwollstoff, der auf der
Kante der Schutzwand hockte, den Rücken zum Teich, die Hände zwischen den Knien gefaltet. Seine Stimme war tief, rauh, seine Augen zusammengekniffen, als er sich mühte, die Kinder tiefer in seine Geschichte hineinzuziehen. »Und darauf sagte der Junge: Woher soll ich wissen, wer meine wahren Freunde sind? Alle hassen mich, sie halten mich für eine Art schreckliches Monster. Und der Krähenvogel, er lachte wie ein wahnsinniger Mann und sagte: Du wirst sie erkennen, wenn du sie siehst. Der Junge fürchtete sich ein wenig. Bin ich ein Monster, fragte er nach einer Weile, und die Krähe antwortete nicht. Bist du einer meiner besten Freunde, fragte der kleine Junge. Natürlich bin ich das, sagte der Krähenvogel. Genau gesagt, bin ich der beste Freund, den du in der ganzen weiten Welt hast.« Die Kinder wurden unruhig, als der Beifall erstarb und sie die ersten Erwachsenen den Hauptweg entlangkommen hören konnten. Der junge Mann runzelte kurz die Stirn. Er hatte geglaubt, die Dauer der Geschichte besser eingeschätzt zu haben, gemeinsam mit der Band zu enden, aber auch er hatte sich davontragen lassen, hatte alles ausgeschmückt und lebhaft erzählt, um die Kinder zu amüsieren, damit sie sich nicht langweilten. Jetzt hatte er sie verloren. Er konnte es in ihren Augen lesen, am Herumrutschen auf den Bänken erkennen, an der Art, wie sich ihre Köpfe leicht umdrehten, zu höflich, um ihn offen zu ignorieren, obwohl ihre Blicke längst dem schwarz übergipfelten Spazierweg zugewandt waren, der aus der Dunkelheit auftauchte und zum Südausgang führte. »Krähen sprechen nicht«, erklärte unvermittelt ein Junge mit einer Skimütze mit einem allwissenden Lächeln, während er von seinem Platz rutschte. »Klar tun sie das«, widersprach ein Mädchen in einer bauschigen Jacke.
»Oh, tatsächlich? Hast du schon mal eine gehört, Klugscheißerin?« »Ich wette, du hast überhaupt noch nie eine gesehen, Cheryl«, meinte ein anderer Junge. »Ich wette, du weißt nicht mal, wie sie aussehen.« Das Mädchen drehte sich um, die Hände von sich gestreckt. »Donald, ich weiß ganz genau, wie eine aussieht.« Die übrigen waren jetzt nicht mehr ansprechbar und bildeten lärmend Gruppen, als würden die Mannschaften für ein Spiel aufgestellt. Die Vertreter der Krähenseite waren in der Minderheit, machten dies aber durch verärgerte Gesten und schrille Proteste wett, während die sich mokierende Gegenseite – meist Jungen und davon meist die älteren – nur höhnisch und altklug grinste und lachte und sich gegenseitig anstieß. »Alle Welt weiß, wie eine Krähe aussieht«, sagte Don so barsch, daß sich alle zu ihm umwandten. »Und es weiß auch jeder, wie die größte Krähe der Welt aussieht, stimmt’s?« Einige Köpfe nickten sogleich. Der Rest war nicht ganz überzeugt. Don lächelte so bösartig, wie er konnte, stand auf und wies auf den Baum direkt hinter ihnen. Die meisten folgten seinem Blick; die anderen, die einen Ulk witterten und ihm das Vergnügen nicht machen wollten, zögerten. Bis das kleine Mädchen die Hand vor den Mund hielt und nach Luft schnappte. »Richtig.« Es zeigte weiterhin darauf. »Seht ihr? Direkt dort vorne, außerhalb des Lichtes? Seht nur genau hin. Wirklich genau, und ihr könnt es nicht übersehen. Ihr könnt ihr Gefieder sehen, ganz schwarz und glänzend. Und ihren Schnabel, dort neben dem Blatt, sieht wie Gold aus und spitz wie ein Dolch, stimmt’s?« Das kleine Mädchen nickte langsam. Sonst regte sich niemand.
»Und diese Augen! Seht sie euch an, sie sind rot. Wenn ihr genau hinseht – aber sagt nichts, sonst erschreckt ihr sie – könnt ihr dort drüben eines erkennen. Dieses rote Fleckchen oben in der Luft. Sieht wie Blut aus, nicht wahr? Wie ein Regentropfen aus Blut, der dort oben in der Luft hängt.« Sie starrten. Sie wichen zurück. Im Park war es jetzt still, bis auf das Rascheln der Blätter. »Ach, du bist nur ein großer Schwindler«, sagte der Junge mit der Skimütze und marschierte eilig davon, um gerade noch rechtzeitig seinen Eltern entgegenzulaufen, die vom Konzert spaziert kamen. Er lachte und umarmte sie fest. Don schien weiterhin reglos auf einer Seite zu stehen, während sich die Kinder zerstreuten und sich das Oval mit Stimmengewirr, Fußgetrappel und ihm bekannten Gesichtern füllte, die ihm dankten, daß er auf die Kleinen achtgegeben hatte, die sich bei der Musik zu Tode gelangweilt hätten, und außerdem war es billiger, als einen Babysitter zu mieten. Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und rollte unter der schwarzen Jeansjacke und dem grauen Sweatshirt entspannend die Schultern. Sein hellbraunes Haar fiel in Strähnen in die Stirn, wellte sich hinter seinen Ohren und ringelte sich in Locken in seinen Nacken. Er war schlank, nicht sehr groß, und sein Gesicht ließ die ersten Fältchen ahnen, die ihn älter wirken ließen, als er war. Nach wenigen Minuten waren Eltern und Kinder fort. »He, Boyd, hältst du wieder Märchenstunde?« Er starrte auf den Teich und grinste selbstsicher. Drei Jungen kamen um den Teich herum auf ihn zugeschlendert, grinsten zurück, stießen ihn ein wenig rauhbeinig an, als sie ihn erreicht hatten, und nahmen ihn dann in ihre Mitte, ehe sie ihn lachend zum Fahrrad drängten, das direkt im Eingang des Südtors stand.
»Du hättest dabei sein sollen, Donny«, meinte Fleet Robinson zu ihm und beugte sich vertraulich zu ihm hinüber, während er Don die sommersprossige Hand auf den Arm legte. »Chris Snowden war da.« Er verdrehte die Augen himmelwärts, und die anderen Jungen pfiffen durch die Zähne. »Gott, wie sie das Keyboard unter diesen Möpsen überhaupt sehen kann, ist mir ein Rätsel.« »He, du redest besser nicht so’n Zeug in Gegenwart von Donny Duck«, sagte Brian Pratt streng. Dann grinste er breit und gar nicht freundlich. »Ihr wißt doch, daß er von solchem Geschwätz überhaupt nichts hält. Das ist sexistisch, wißt ihr Burschen das denn nicht? Das ist für die Bräute erniedrigend, die ihn nicht ranlassen.« »Fall tot um, Brian«, sagte Don ruhig. Pratt ignorierte ihn. Nachdem er Robinson kräftig in die Rippen geboxt hatte, machte er einen Satz vorwärts, so daß er vor die anderen kam, und ging dann mit überheblicher Miene rückwärts weiter. Sein abgeschnittenes T-Shirt und die Fußball-Shorts, beide knallrot, waren in der ersten Herbstkälte dieser Nacht die reinste Herausforderung. »Wenn ihr aber wirklich über Titten reden wollt, ihr primitiven Bastarde, wenn ihr euch wirklich im Dreck suhlen wollt, dann laßt mich euch was von Trace heute abend erzählen. Ich könnte dahinschmelzen! Ich meine, man konnte es ihr an den Augen ansehen! Sie war ganz scharf darauf, direkt da oben auf der Bühne! Oh, mein Gott, ich wünschte mir, daß ihr alter Herr nicht da gewesen wäre, er hätte auch Dienst tun können oder so. Sobald sie diese blöde Flöte abgesetzt hätte, hätte ich sie so schnell genagelt… o Gott, ich glaube, ich sterbe!« Robinsons Hand packte fester zu, als er spürte, wie sich Dons Muskeln darunter spannten. »Hör nicht auf ihn, Don. Zuerst mal hat Tracey mit ihm seit dem ersten Tag im Kindergarten
nicht mehr geredet, außer ihm zu sagen, er soll sich zum Teufel scheren, und zweitens kennt er nichts außer dem, was er in seinen Heftchen gesehen hat.« »Heftchen, Mist«, schnaubte Jeff Lichter. »Der Mensch kann ja nicht mal lesen, um Himmels willen.« »Lesen?« sagte Pratt mit aufgerissenen Augen. »Was zum Teufel ist das?« »Lesen«, erklärte Tar Boston, »ist das, was man tut, wenn man ein Buch aufschlägt.« Er machte eine Pause und stützte die Hände in die Hüften. »Du erinnerst dich an Bücher, Brian. Das sind diese Dinger, die in deinem Schließfach verschimmeln.« Pratt lachte höhnisch und streckte den Mittelfinger in die Luft. Robinson und Boston, beide stämmig und beide mit Football-Blousons über ihren leichten Pullovern, setzten ihm johlend nach und ruderten wild mit den Armen, als würden sie einen Abhang hinunterstürzen. Vor ihnen lag das Südtor, und dahinter leuchteten die Lichter des Parkside Boulevard. Jeff blieb ein Stückchen zurück. Er war der kleinste des Grüppchens und der einzige Brillenträger. Sein braunes Haar reichte fast bis auf die Schultern. »Nette Burschen.« Don zuckte die Achseln. »In Ordnung, denke ich.« Sie spazierten aus dem Dunkeln ins Helle und wieder ins Dunkle, wo Laternenpfähle den Weg markierten. Jeffs beschlagene Absätze klackten auf dem Pflaster. Dons Turnschuhe klangen fest, als wären sie aus hartem Gummi gemacht. »Wie hat man dir denn das angehängt?« fragte Lichter und zeigte mit seinem Daumen über die Schulter nach hinten. »Was, diesen Märchenkram?« »Genau.«
»Das habe ich mir nicht anhängen lassen. Mrs. Klass fragte mich, ob ich nicht eine Weile auf Cheryl aufpassen wolle. Sie sagte, sie gäbe mir ein paar Mäuse, wenn ich sie ihr vom Leib halte. Und ehe ich mich versah, hatte ich ‘ne ganze Bande um mich rum.« »Die Geschichte deines Lebens, denke ich.« Don blickte ihn an, konnte aber nichts im Gesicht seines Freundes erkennen, was auf Sarkasmus oder Mitleid schließen ließ. »Sie hat dich bezahlt?« »Ich bekomme es morgen in der Schule.« »Wie gesagt – die Geschichte deines Lebens.« Beim Fahrradstand hielten sie inne und starrten zwischen den hohen Steinpfeilern hindurch auf die leere Straße. Pratt und die anderen waren schon weg, und es herrschte kaum noch Verkehr, der die Stille im Park hätte unterbrechen können. »Dieses Schwein hat wieder einen erwischt, weißt du«, sagte Jeff unvermittelt und blickte nervös über die Schulter zu den Bäumen hin. »Der Howler, meine ich.« »Schon gehört.« Er wollte nicht darüber sprechen. Er wollte nicht über irgendeinen Irren in New York reden, der herumlief und mit den bloßen Händen irgendwelche Kinder zerfleischte und wie ein Wolf heulte, wenn er mit ihnen fertig war. Fünf oder sechs waren es inzwischen, überlegte er, einer pro Monat seit dem Frühling und damit fünf oder sechs Tote. Und das schlimmste war, daß niemand auch nur eine Ahnung hatte, wie er aussah. Es konnte sich um einen alten Mann oder eine Frau handeln, die Kinder haßte, oder gar um einen Jugendlichen… »Na, falls er hierher kommt«, sagte Lichter und starrte drohend in die Dunkelheit, während ihm der Wind die Ponyfransen über die Augen blies, »werde ich ihm die Eier ins Maul treten. Oder Traceys alten Herrn rufen, damit er ihn wegen unerlaubter Verstümmelung einsperrt.«
Don lachte. »Was? Du meinst, es gibt so was wie erlaubte Verstümmelung?« »Klar. Hast du nie die blöden Klamotten bemerkt, die Chris trägt? Manchmal sieht sie aus wie eine Nonne. Das ist Verstümmelung, Bruder, und dafür sollte man sie einsperren.« Sie lachten leise. Lichter nahm die Brille ab und rieb sie an seiner Jacke blank. »Ich sag’ dir, sie bringt’s fertig, daß ich gerne wieder Jungfrau wäre.« Diesmal kam Dons Lachen gequält, aber er nickte trotzdem. Er war nicht prüde; es machte ihm nichts aus, über Sex und Frauen zu sprechen, aber er wünschte sich, die anderen Jungs würden endlich mit ihrer verdammten Aufschneiderei oder ihren Lügen aufhören. Wenn sie damit weitermachten, würde er bald ausflippen. »Du hast also schon angefangen, für den Bio-Test nächste Woche zu lernen?« fragte Lichter und ließ seinem Ton entnehmen, daß er die Antwort bereits kannte. »Ja, ein bißchen«, gab er mit einem verlegenen Grinsen zu. »Müßte ein Volltreffer werden.« »Richtig. Ein Volltreffer. Und falls nicht, dann werden du und ich bei der Graduierung im Regen stehen.« Er seufzte laut und blickte zu den Sternen hinauf. »O Gott, noch acht Monate, und die Qual ist zu Ende.« Der Wind wirbelte Staub auf, und sie mußten die Gesichter abwenden. »Schule«, sagte Jeff dabei und gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Ja. Schule.« Lichter nickte und trollte sich von dannen, bog scharf rechts ab und war verschwunden. Don kniete nieder, um die Kombination des Schlosses einzustellen, das er um die Fahrradkette befestigt hatte, schwang sich dann auf den Sattel
und umfaßte die geschwungenen Lenkergriffe. Sie standen hoch, waren kaum zehn Minuten, nachdem er es im Geschäft gekauft hatte, von der Rennposition in eine andere verstellt worden. Er mochte nicht so vorgebeugt hängen, fühlte sich irgendwie außer Kontrolle und völlig aus dem Gleichgewicht, wenn er den Rücken nicht gerade machen konnte. Er stieß sich ab und hielt wieder inne, sobald er auf dem Bürgersteig war. Rechter Hand, weiter die Straße hinunter, befanden sich die trüben Neonlichter des Einkaufsviertels von Ashford; direkt gegenüber der schmalen Insel mit Bäumen und Rasen, die den breiten Boulevard in östliche und westliche Fahrbahnen unterteilte. Links mündete die Straße in ein weiträumiges Wohngebiet, das mit Häusern aus sauberem Backstein und ordentlichen Dachschindeln anfing und schließlich mit heruntergekommenen Sandstein und Aluminiumwänden endete, deren Garantie längst abgelaufen war. Er warf einen Blick zurück und lächelte plötzlich. Auf dem Weg, genau auf seiner Seite vom letzten Laternenpfahl, lag eine Feder. Es war eine Krähenfeder, doppelt so lang wie die Hand eines ausgewachsenen Mannes. Sie schimmerte nahezu blau, wurde vom Wind erfaßt und zu ihm herüber gewirbelt. Er wartete, bis sie gegen das Hinterrad geweht worden war, dann schüttelte er langsam den Kopf. Wo warst du, dachte er, als diese Göre ihr großes Maul aufgerissen hat? Aber wie Jeff sagen würde – die Story seines Lebens. Bei Gott, Riesenkrähen standen nicht in seinen Sternen. Tanker Falwick fluchte ohnmächtig und mit unterdrückter Stimme vor sich hin. Die Dornen des rotblättrigen Strauches hatten sich in seinem Mantelärmel verhakt und hielten ihn fest. Er konnte sich nicht schnell bewegen, ohne einen Höllenlärm zu verursachen. Er schlug sie wütend beiseite, während er sich erhob und über die Mauer lugte. Und stöhnte, während er sich
auf den Schenkel hieb, als er sah, daß seine letzte Chance auf eine anständige Beute dahinschwand. Der Junge drehte sich jetzt um, wuchtete sein Zehngang-Fahrrad vom Bürgersteig und schob es über die Straße. Vom Park fort, trotz des Mondlichts. Es war zu spät. Verdammt, es war zu spät. »Scheiße!« sagte er lauthals und riß seinen Arm hoch, bis sich die Dornen lösten. »Verdammte Scheiße!« Ein Blick nach oben zum Mond, der über den Baumwipfeln stand, und er fluchte abermals, leise, in der Hoffnung, daß das Eichhörnchen, das er zuvor getötet hatte, für diese Nacht nicht seine einzige Mahlzeit bliebe. Es war nicht viel Fleisch dran gewesen, und sein Herz viel zu klein, und seinen Kopf abzudrehen, hatte ihm nicht annähernd soviel Lust verschafft, wie einem Kind die Kehle aufzureißen. Einige Autos rasten vorbei, ein halbleerer Bus, ein Pick-up mit drei Pennern, die auf der Ladefläche kauerten und grölten, noch ein Dutzend Wagen. Keiner hielt an, und als er sich wieder in die Büsche schlug, konnte er außer seinen mit Papier ausgestopften Schuhen, die durchs Laub schlurften, nichts hören. Er mahnte sich selbst mehrmals zur Ruhe und gab dann auf. Er lauschte nicht, und es gab höchst wahrscheinlich auch niemanden in der Nähe, der ihn hören konnte. Vorhin war der ganze Platz noch voller dummer Kinder gewesen, aber jeder Versuch, mit einem davon Kontakt aufzunehmen, war gescheitert. Eine mächtige, schmutzverschmierte Pranke wischte über seinen Mund und die stacheligen grauen Stoppeln am Kinn. Er zog die Nase hoch, hustete und spuckte dann in die Dunkelheit. Anschließend zog er die abgetragene Tweedjacke enger um seine breite Brust, stemmte die kräftigen Schultern gegen den Wind und steuerte in Richtung Hauptweg. Er wartete fünf
Minuten im Schatten der Bäume, trat dann heraus und holte tief Luft. Es hatte ihm da drinnen gar nicht gefallen. Er mochte es ganz und gar nicht, trotz seiner Vorliebe für die Dunkelheit. Es gab zu viele Geräusche, die er nicht verstand, und zu viele Schatten, die ihn verfolgten, wie er die Kinder verfolgt hatte, die hinter ihren Eltern herliefen. Alles in allem eine lausige Nacht – bis auf die Musik. Am ovalen Teich blieb er stehen, warf einen prüfenden Blick zum Weg zurück und kniete sich dann auf die Beckeneinfassung, beugte sich vor und schöpfte sich etwas kaltes Wasser in den Mund. Die Musik war schön gewesen. Nicht übel für eine Bande von verdammten rotznäsigen High-School-Gören, und er hatte sogar einige der Melodien erkannt. Er hatte sich hinter einer Gruppe von dichten Lorbeersträuchern versteckt, direkt links neben dem Podium, und dort schweigend gesummt und genickt und beim Ende jeder Nummer geräuschlos applaudiert. Er hatte auch gehofft, daß einer der Bengel während des Programms mal austreten müßte und sich nicht zu fein wäre, in die Büsche zu gehen. Heute abend war er nicht so zimperlich in puncto Sex; einer der Jungs wäre ihm ebenso gelegengekommen wie eine dieser kleinen Huren. Als das nicht klappte und er auch niemanden durch die bloße Kraft seines Willens zu sich lotsen konnte, hatte er sich zum Südeingang begeben, weil nur die wenigsten aus dem Publikum nach der Vorstellung in diese Richtung gehen würden. Er hoffte auf einen Ausreißer, aber die Kleinen waren zu brav, zu wohlerzogen, wie die am Teich, während dieser andere ältere Bursche, dieser Punkbastard in schwarzer Jeansjacke, ihnen eine hirnverbrannte Story von einer blöden Riesenkrähe auftischte.
Und die Großen, die Punks, die rotznasigen Schleimer, die ihm am meisten Spaß machten, sie klebten wie die Kletten bis zur Straße aneinander. Vor allem die Hürchen. Er federte auf seine Fersen zurück und trocknete sein Gesicht mit dem Ärmel. Da war er ganz dicht dran gewesen, der Typ da, vorhin in den schwarzen Klamotten. Plötzlich hatte der Punk doch direkt auf den Baum gezeigt, hinter dem er sich versteckt hielt, und er war sich ganz sicher gewesen, man hätte ihn ertappt, die Cops würden hinter seinem Arsch her sein und man würde ihn ohne Verhandlung auf den elektrischen Stuhl setzen. Dann hatte dieses Bürschchen weiter von seinem blöden Vieh gelabert, und es hatte Streit gegeben, und Tanker konnte unentdeckt entkommen. Das, dachte er selbstgefällig, war ein leichtes – denn er war ein Werwolf. Es hatte lange gedauert, bis sich seine Veranlagung durchgesetzt hatte. Es begann kurz nachdem man ihm seine Entlassungspapiere und den letzten Sold ausgehändigt hatte. Sie sagten, er habe den Kontakt zu den neuen Rekruten verloren. Sie sagten, er lebe nicht vorbildlich im Sinne der ›neuen Army‹. Sie sagten, er trinke zuviel. Sie sagten, es verstoße gegen die neuen Vorschriften, die kleinen Rotzlöffel zu schlagen, wenn sie den Befehlen nicht gehorchten. Sagten sie. Sie, die noch nicht mal richtig auf der Welt waren, als er zum ersten Mal in jenem verpißten Büro in Hartford unterschrieben hatte. Und dann sagten sie noch, es müßte ihm möglich sein, irgendwo einen guten Job zu finden. Daß seine Pension und der Job ihm bis ans Ende seiner Tage ein gutes Leben bescheren würden. Immerhin, nach dreißig Jahren war das Ende seiner Tage nicht mehr allzu weit entfernt. Er verließ Fort Gordon, Georgia, wie er dort angekommen war – zu Fuß, seine Habseligkeiten über die Schulter
geworfen. Er schlug etliche Mitfahrgelegenheiten aus und marschierte bis nach Augusta, stopfte seine Sachen in ein Schließfach am Busbahnhof und prügelte dem ersten Kind unter Zwölf, das er finden konnte, die Seele aus dem Leib. An jenem Abend war Vollmond gewesen, und obwohl ihn zahlreiche Leute beobachteten und ihm nachsetzten, war er entkommen. Der Zusammenhang war ihm gleich klar, denn er war die ganze Zeit vor oder hinter seinen Schatten hergelaufen, und damals gelangte er zu dem Schluß, daß der Mond sein Glücksbringer sein sollte. Er würde ihm helfen, im bürgerlichen Leben sein Glück zu machen und auf all die jungen Schnösel zu pfeifen, die glaubten, sie wüßten, wo’s beim Militär langgeht. Doch der Mond machte ihn nicht reich. Er hatte andere Pläne mit ihm, die er damals noch nicht kannte. Als der Winter verstrichen und auch die Arbeitschancen verstrichen waren und er andauernd Schwierigkeiten hatte, rückgratlosen, saftärschigen Bossen, die gewöhnlich zwei Jahrzehnte jünger waren als er, schönzutun, begriff er das. Der Mond hatte andere Pläne. Ein neuer Winter, und ein dritter, der glücklicherweise recht mild war. Aber den vierten verbrachte er in einem Heim für obdachlose Männer in New York City, wo er sich beinahe zu Tode fror. Die Demütigung wurde noch größer, als er von einem herzblutenden liberalen Reporter interviewt wurde und er ihm von seinem Dienst fürs Vaterland erzählen wollte, der Reporter sich aber nur dafür interessierte, wie er bloß in einem Raum mit fünfzig anderen alten Männern Schlaf finden konnte. Alte Männer. Alter Mann. Himmel, er hatte sich in einen alten Mann verwandelt und es nicht einmal bemerkt.
Damals war es, als der Mond sich wieder bei ihm meldete. Im letzten Winter. Um ihn zu retten und ihm zu zeigen, wozu Werwölfe imstande waren. Er war die Eighth Avenue entlanggestolpert, hatte in den einen oder anderen Pornoladen reingeschaut und gehofft, umsonst mal ein paar Titten zu sehen zu kriegen, da ihm der Zaster für eine eigene Schnalle fehlte, als ihn ein Typ in Jeans und Lederjacke im Vorübergehen am Hintern befummelte. Tanker war erstarrt, hatte sich langsam umgedreht und den Ausdruck in den Augen des Youngsters gesehen. Leer, als wären sie tot. Beinahe hätte er sich übergeben, doch er sah auf und erblickte den Mond, sah den jungen Aufreißer wieder an und gestattete sich ein Lächeln. Er besaß immer noch gute Zähne, versuchte immer noch, ein paar Fitness-Übungen zu machen, wenn er bei Kräften war, und so fiel es ihm nicht schwer, in dem zweimal zwei Meter großen Hotelzimmer den kleinen Hurensohn auseinanderzunehmen. Der Mond zwinkerte. Und Tanker heulte, ehe er den Punk herumwälzte und das Zimmer verließ. Es war nicht der Sex, es war das Alter. »Fickbabys«, murmelte er. Das waren sie doch alle – Säuglinge, die sich aufspielten, als wüßten sie, was sie taten und gute Männer wie ihn überholten, daß sie in der Gosse oder am Tresen landeten oder auf den Stufen vor den Kirchen, die nachts ihre Tore schlossen. Fickbabys, die Tanker Falwicks Kraft nicht kannten. Die Kraft eines Mannes, der persönlich Aufstieg und Fall der Ersten Panzertruppe erlebt und die Nazis und die Faschisten niedergemacht und die Gooks zertreten hatte und der nicht kapieren konnte, warum ein Panzer all die verdammten Computerdinger besitzen mußte, wenn man das verfluchte
Ding doch bloß aufs Ziel richten und den Feind überrollen mußte. So einfach war das, und er brauchte keinen FickbabyBildschirm auf dem Schoß, der ihm verklickerte, wie er das machen mußte. Die meinten, er sei für die Dienste der neuen Armee nicht mehr anzulernen, sagten, er sei unfähig, weil er sie auf allen Gebieten schlug. Sie sagten, er müsse weiterhin zu dem Fickbaby-Psychiater gehen oder sie würden ihn ausmustern und ihn seinem Schicksal überlassen. Das sagten sie. Aber sie hatten nichts vom Mond gesagt, und wie er sich im Gesicht anfühlte und wie er es im Blut spürte, wenn er die Kinder aufgabelte und ihnen die Luftröhre herausriß und die Eingeweide und ein bißchen vom Roten schlürfte und ein bißchen am Fleisch knabberte und sein Signal heulte, ehe er sich verdrückte. Davon hatten sie nichts gesagt. Er stand auf und marschierte zum Spielfeld und dem mächtigen Gebüsch, von dem aus er das Konzert beobachtet hatte. Dort würde er diese Nacht schlafen und auf ein bißchen mehr Glück für den nächsten Tag hoffen, auf etwas mehr als ein Eichhörnchen, wenn der Mond sein Freund bleiben sollte. Er brauchte dringend jemanden. Er brauchte etwas für den Magen und etwas als Denkzettel für all diese Fickbabys, die er daran erinnern wollte, daß Tanker Falwick immer noch da war. Er konnte es nicht mehr in New York riskieren, weder im Staat noch in der City, denn sie hatten den Schuppen im Hinterhof entdeckt, wo er hauste. Die schwarze Nutte mit dem blonden Haar hatte ihn eines Morgens gesehen, als er in frischtriefendes Rot gekleidet war. Aber das machte ihm nichts aus, denn hier lag ein ganzes Land vor ihm, das nur darauf wartete, ihn kennenzulernen.
Erster Stop also in diesem Nest, welchen Namen es immer haben mochte. Ihm war das gleich. Alles, was er wußte, war, daß dort viele Kinder wohnten, die glaubten, sie würden ewig leben.
Obwohl er am nächsten Tag zur Schule mußte und seine Eltern es nicht mochten, wenn er so spät aufblieb, beschloß Don, nicht gleich heimzugehen. Statt dessen radelte er über den Boulevard mit seiner kleinen Verkehrsinsel und hielt sich dann ostwärts, bis er seine Straße erreicht hatte. Dort bog er ein und radelte weiter, wobei er nur flüchtig nach links blickte, um zu bemerken, daß der Kombi nicht in der Einfahrt stand. Also waren seine Alten noch gar nicht zu Hause. Und das war ihm nur recht, denn es fiel ihm zunehmend schwerer, ihre Herumspioniererei zu ertragen und so zu tun, als wüßte er nicht, was los war. Er hatte keine Ahnung, wohin er steuerte, nur, daß er noch nicht ins Warme wollte. Er mochte die Herbstnächte, die Luft, die sich wie das dünne Eis auf einem Teich anführte, knackig und sauber und zerbrechlich, sobald man es berührte. Er mochte die Bäume, die so schwarz waren, daß sie fast unsichtbar wirkten, das Laub, das in goldenen und roten Haufen im Rinnstein zusammengeharkt war und die Luft so herb und rauchig riechen ließ. Er mochte die Geräusche in den Herbstnächten, scharf und klirrend und meilenweit zu hören. Irgendwie war dies anheimelnd, diese Zeitspanne vor November, die er so lange genießen wollte, wie es ging. Ehe er umkehren mußte; ehe er nach Hause mußte. Bei dem Gedanken verfinsterte sich sein Gesicht, und er klatschte die Handfläche auf den Lenker und strich sich das Haar mit strafender Hand aus der hohen Stirn. Das war eigentlich nicht ganz fair. Er hatte eigentlich gar kein so übles
Leben, wirklich nicht, wenn man es recht bedachte. Das Haus war groß genug, daß jeder sich zurückziehen konnte, und alt genug, daß es nicht aussah wie all die anderen im Viertel. Sein Zimmer war schön groß, und ihm mangelte es nie an ordentlichem Essen oder anständiger Kleidung, und er konnte darauf vertrauen, daß er im nächsten Herbst aufs College kommen würde, wenn er seine Noten beibehielt, nicht besonders toll, aber auch kein Grund, sich zu schämen. Aber er wollte nicht nach Hause. Noch nicht. Es gab in der Stadt zwei High-Schools – Ashford North und Ashford South. Er besuchte die South, wo sein Vater Direktor war, und mußte wie ein Kuli schuften, um gute Noten zu bekommen, denn er war das Kind vom Boss, und Gefälligkeiten waren nicht erlaubt. Norman Boyd war bereits fünf Jahre Schulleiter, ehe sein Sohn in die Unterstufe kam, und Don war sich auch ohne Beweise sicher, daß sein Vater alle in Frage kommenden Lehrer zuvor einzeln in sein Büro gebeten hatte, um ihnen zu erklären, daß er von ihnen weder eine gefällige Notengebung erwartete, nur weil der Junge eben sein Sohn war, noch daß sie Don dafür büßen ließen, wenn er Anordnungen traf, die ihnen mißfielen. Don sollte wie jeder andere Schüler behandelt werden, weder besser noch schlechter. Er war sicher, daß genau das passiert war. Und jetzt auch sicher, daß sie ihren Boss ignorierten, nachdem es immer mehr so aussah, als würde das Kollegium zum Monatsende wegen Unstimmigkeiten über Gehalt und zu erteilende Unterrichtsstunden, die im letzten Mai hochgekommen waren, streiken. Sein Vater glaubte ihm nicht. Und seine Mutter ebensowenig, die Kunst an der Ashford North unterrichtete.
Außerdem hatte sie ohnehin viel zu tun. Sie mußte die Unterrichtsstunden vorbereiten und Arbeiten benoten und sich außerdem um ihre private Malerei kümmern, wann immer sie sich die Zeit dazu nehmen und sich in Sams altes Schlafzimmer zurückziehen konnte, und dann noch um das Ashford Day Committee, das sie allmählich fast jeden Abend von zu Hause und aus seinem Leben fernhielt. Und irgendwo dazwischen war da noch der kleine Donny, um den sie sich kümmern mußte. Verdammt, dachte er, als er scharf um die Kurve bog und dabei beinahe mit den Reifen gegen die Bordsteinkante geschrammt wäre, der kleine Donny. Es war nicht seine Schuld, daß Sam gestorben war, oder? Sam, dessen richtiger Name Lawrence gewesen war, der aber Sam genannt wurde, weil seine Mutter meinte, er sähe wie ein Sam aus. Sam, der fünf Jahre jünger als Don gewesen war, während die Familie Camping-Urlaub im Yellowstone machte. Vor vier Jahren. Inmitten des Nichts. Sam, der kleine Knirps, der seinen Geschichten gern gelauscht hatte. Es war nicht seine Schuld, und niemand machte ihm direkte Vorwürfe, weil er ihnen nichts von Sams Schmerzen erzählt hatte, da er so schrecklich gerne verreisen wollte. Aber er war jetzt das einzige Kind, und sie taten alles, damit er sie nicht verließ. Er kurvte um eine andere Biegung, drosselte das Tempo und blickte die Straße entlang, als hätte er sie nie zuvor gesehen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, eins, das ihn die Augen schließen und langsam wieder öffnen ließ, um das Bild genau einzufangen. Noch langsamer, das Fahrrad drohte bereits zu schwanken. Sie glich seiner Straße – Häuser aus der Zeit der Depression und sogar aus der Jahrhundertwende, Holz und Ziegel und
verwitterter Stein. Kleine Vorgärten und alte Eichen am Straßenrand, die Bürgersteige uneben und die Straße selbst im tiefen Dunkeln, wo die noch an den Ästen hängenden Blätter das Laternenlicht dämpften. Und etliche geparkte Autos am Straßenrand. Nichts Ungewöhnliches, und für gewöhnlich wäre er auch einfach weitergefahren. Aber heute nacht war irgend etwas anders, irgend etwas, das er nicht sehen konnte, etwas, das er zu spüren glaubte. Es schien vertraut – Tar Boston lebte auf halber Höhe in einem grünen Landhaus à la Cape Cod mit weißen Läden und ohne Veranda – und trotzdem war es nicht wie sonst. Noch langsamer, als wäre jemand hinter ihm, der ihn an einem Seil zurückzog. Die Autos. Es waren die Autos. Völlig unerheblich, welche Farbe sie hatten, sie waren dunkel – schimmerten dunkel, warteten dunkel. Die Facetten ihrer Scheinwerfer glühten schwach wie Katzenaugen, in die der Mond schien, und die Windschutzscheiben wiesen die ersten Reifflecke auf. Die Seiten glänzten schwarz; ihre Dächer reflektierten die Schatten der sterbenden Bäume. Es waren Riesenkatzen, die irgendwie aus dem Dschungel herbeigezaubert worden waren. Schließlich blieb er mitten auf der Straße stehen und beobachtete sie, während er sich rasch über die Lippen fuhr und sich vorstellte, daß sie nur auf ihn gewartet hatten, gewartet, um ihm zu sagen, was er tun sollte. Ein Stall voller Autos. Eine Armee von Autos. Geduldig auf den Befehl wartend, zu töten. Sein Mund bemühte sich um den Ansatz eines Lächelns, während er ihnen allen zunickte und seinen Namen nannte.
Von irgendwo unten an der Straße, direkt unterhalb der Mitte, grollte sanft ein Motor. Metall knirschte. Ein Chassis schaukelte langsam auf der Stelle hin und her. Er biß sich auf die Unterlippe; er jagte sich selbst Angst ein. Ein Scheinwerfer blitzte. Reifen knirschten, als wären sie angefroren. Jesus dachte er und wischte sich mit der Handfläche über den Mund. Der Motor erstarb. Das Metall hörte auf, sich zu bewegen. Es blieb nur das schwache Zischen des nächtlichen Innenstadt-Verkehrs. Er nahm wieder Fahrt auf und schaffte es kaum um die letzte Ecke, ohne von der Fahrbahn abzukommen, dann sauste er über den Boulevard heimwärts. Ein Bus holperte an ihm vorbei und pustete ihm Abgaswolken ins Gesicht. Er hustete und verlangsamte wieder das Tempo, beobachtete, wie die gelben Lichter längs der Oberleitung verschwanden, als die Straße wieder in die Dunkelheit zurückschrumpfte, die unterhalb des erhellten Himmels der nächsten Stadt lauerte. Jesus, dachte er abermals und erschauerte. Er wußte, daß es nur Abwärme von Motoren war und daß irgend jemand nur in einer Garage seinen Motor hatte warmlaufen lassen. Das war alles. Trotzdem stellte er sich etwas anderes vor. Zum Beispiel, wie es wäre, an einem Ort zu leben, wo die Städte und Ortschaften sich nicht auf der Pelle lagen wie hier, die ganze Strecke bis nach New York hin. Gespenstisch, entschied er. All der freie Raum oder all die Bäume – verteufelt gespenstisch, und im übrigen war Ashford gar nicht so übel. Er bog wieder in seine Straße ein, sah den Kombi in der Einfahrt und hielt hinter ihm. Nachdem er sich die Hände an
den Jeans abgewischt hatte, schob er das Rad durch das geöffnete Garagentor. Darin war kein Platz mehr für ein Auto – zu viele Gartengeräte und Kartons und tausend andere Sachen, die irgendwie immer hier landeten, wenn man ansonsten nicht sofort einen Platz für sie fand. Wie ein Dachboden, dessen Haus meilentief in der Erde vergraben war. Er zögerte und wischte sich wieder die Hände ab, während ein Anflug von Spannung über sein Rückgrat kroch. Dann öffnete er die Tür und betrat die Küche. »Ich dachte schon«, sagte seine Mutter, »sie hätten dich gekidnappt, um Himmels willen.«
2
Das Licht war grell; er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Sie stand mit vorgeschobener Hüfte am Spülstein und wusch eine Tasse aus, während die Kaffeemaschine geräuschvoll neben ihr auf der Anrichte blubberte. Sie hatte langes dunkles Haar, das ihr fast bis zur Mitte des Rückens reichte, und wenn sie es wie jetzt mit einem bunten Satinband zusammengebunden hatte, wirkte sie fast ebenso jung wie ihre Schüler. Besonders wenn sie lächelte und die großen Augen aufriß. Was sie tat, als er auf sie zuging und sie auf die Wange küßte, seine Jacke abstreifte und sie über eine Stuhllehne hing. Er wollte ihr von den Autos erzählen, überlegte es sich aber anders, als sie den Blick abwandte und sich wieder um ihre Tasse kümmerte. »Ich war mit dem Rad unterwegs.« »Schön für dich«, erklärte sie und starrte verärgert auf einen Fleck, der sich nicht entfernen lassen wollte. »Frische Luft ist sehr gut für dich. Das spült die abgestorbenen Zellen aus dem Blut, aber ich schätze, das weißt du schon aus dem Biologieunterricht oder so.« »Genau.« Ein Blick in den halbvollen Kühlschrank, und er zog eine Büchse Soda hervor. »Aber dieses Kohlensäurezeugs ist nicht gut für dich, Liebes«, sagte sie, setzte die Tasse ab und wusch eine andere aus. Im Spülstein stand ein Stapel schmutzigen Geschirrs, eingeweicht in heißem Seifenwasser. Vielleicht würde sie morgen dazu kommen, den Rest abzuwaschen. »Es ist nicht
gut, das Zeug vorm Zubettgehen zu trinken. Es liegt dir im Magen und gärt und verschafft dir Alpträume.« »Gehe ich denn zu Bett?« Sie machte Tss und schürzte die Lippen. »Donald, es ist jetzt« – sie warf einen prüfenden Blick auf die wie eine Sonnenblume geformte Uhr über dem Herd –, »zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig. Exakt. Morgen hast du Schule. Ich habe morgen Schule. Und ich bin müde.« Die Kaffeemaschine zischte etwas, und sie zog den Stecker heraus. »Du mußt meinetwegen nicht aufbleiben, wenn du so müde bist, Mom. Das weißt du.« Sie trocknete die Tassen ab und goß Kaffee ein, alles perfekt zeitlich abgestimmt. »Das weiß ich nicht. Dein Vater ist am Telefon, seit wir zur Tür hereingekommen sind. Nebenbei«, fügte sie hinzu, als sie ins Wohnzimmer ging, »ich habe diese Chris heute abend Klavierspielen sehen. Sie ist wirklich recht hübsch, weißt du das? Wirst du sie zum Fest einladen?« »Ich weiß nicht«, sagte er abwesend. »Vielleicht.« »Was?« »Vielleicht!« rief er zurück und leise vor sich hin: »Wenn’s in der Hölle friert, Lady.« Chris Snowden war die Neue im Viertel, und das wortwörtlich. Sie und ihre Familie waren Mitte August drei Häuser weiter eingezogen. Ihr Haar war von einem so hellen Blond, daß es schon beinahe weiß war, ihre Haut sah so weich aus, daß man glaubte, seine Finger bei einer Berührung darin versenken zu können, und, Brian Pratts Unflätigkeiten beiseite, sie besaß eine Figur, die er nur von Filmen kannte. Auf den ersten Blick war sie lächerlich stereotyp – Cheerleader, hirnlos und die ständige Begleiterin des Captains der FootballMannschaft. Was sie auch tatsächlich eine Zeitlang gewesen war, während alles bestätigend nickte, um dann Schock und
Verwirrung auszulösen, als sie begann, sich mit dem Präsidenten des Schülerrats zu treffen. Es ging nicht um die Noten, er machte ihr also nicht die Hausaufgaben, und sie benötigte auch keine Mitfahrgelegenheit zur Schule, denn die lag nur fünf Blocks entfernt, und sie ging jeden Morgen zu Fuß – es sei denn, es regnete, und sie nahm ihren eigenen Wagen, ein dunkelrotes Kabrio, dessen Verdeck immer zu war. Dann wurde letzte Woche bekannt, daß sie wieder solo war, und diejenigen, die über so etwas entschieden, beschlossen, daß sie herumschlief. Don blies die Backen auf, stieß die Luft aus und seufzte. Chris’ Vater war Arzt in irgendeinem renommierten Krankenhaus in New York, und wenn es nach seiner Mutter ginge, würde Don sie zu jeder Festivität anläßlich der Hundertjahrfeier der Stadt schleppen – zum Ashford Day Picnic, Party, Tanz, Konzert, Football-Spiel oder was auch immer. Eine ganze Woche wurde gefeiert. Aber selbst wenn er gewollt hätte, wußte er, er hätte keine Chance. Gerade als er die Diele erreichte und rechts ins Wohnzimmer abbiegen wollte, hörte er die Stimme seines Vaters und entschied sich anders. »Ich gebe keinen Deut um das, was du denkst, Harry. Ich beabsichtige nicht, so oder so Position zu beziehen.« Großartig, dachte Don düster, einfach großartig. Bei der Position handelte es sich darum, welche Partei er bei dem Streit ergreifen würde. Harry war Mr. Harold Falcone, sein Biologielehrer und Präsident der Lehrergewerkschaft. »Hören Sie«, sagte sein Vater gerade, als Don den Kopf zur Tür hereinsteckte, »ich habe mich für Sie und Ihre Leute verdammt eingesetzt, seit ich in den Laden gekommen bin, und das wissen Sie. Ich habe Gelder für die Labors, die Schülermannschaften und für die verdammten
Unterhaltskosten bekommen, verdammt noch mal, erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, daß ich nicht auf Ihrer Seite wäre.« Norman Boyd saß in seinem Lieblingssessel, ein grünes Monster mit verschrammtem Holzgestell und eingesacktem Polster. Sein Rücken war Don zugewandt und gerade aufgerichtet. »Was? Was? Harry, zum Teufel damit, hätte meine Mutter mir nicht was anderes beigebracht, würde ich in Anbetracht dieses Schwachsinns sofort auflegen. Was meinen Sie damit, ich gäbe keinen Pfifferling darum? Ich gebe einen Pfifferling darum! Aber können Sie nicht ein einziges Mal über Ihre Brieftasche hinaus sehen und erkennen, daß ich hier zwischen einem Felsen und einer Steinwand eingezwängt bin? Guter Gott, Mann. Ihr brüllt mir Mist ins eine Ohr, und das Aufsichtsgremium brüllt mir Mist ins andere. Und ich werde wegen dieser oder wegen jener Geschichte zusammengestaucht und doppelt zur Sau gemacht, wenn ich gar nichts unternehme – was genau das ist, wonach mir manchmal zumute ist, glauben Sie mir.« Er strich mit einem langen Finger über die Armlehne, starrte zur Rohputzdecke hoch und benutzte dann die freie Hand, um sich durch sein grau werdendes braunes Haar zu fahren. Ein tiefer Atemzug ließ seine Brust unter dem weißen Pullover anschwellen. Er begann jetzt, auf seinem Schenkel zu trommeln. »Es kommt auf die Verhandlungsrunde an, jawohl. Das habe ich Ihnen bereits erklärt.« Er verlagerte das Gewicht. »Er werde nicht – « Er blickte über die Schulter. »Ja, natürlich steht mein Vertrag Ende des Jahres zur Verlängerung an. Ich weiß das, Sie wissen das, die Schulbehörde weiß das – Himmelherrgott, die ganze verdammte Welt weiß das inzwischen!« Er bemerkte seinen Sohn und zog eine kleine Grimasse. »Was? Ja! Ja, verdammt, ich geb’s zu, sind Sie jetzt
glücklich? Ich will meinen Job und meine Zukunft nicht aufs Spiel setzen, weil ihr Arschlöcher euch bis zum Ende des Sommers nicht habt einigen können. Nein«, sagte er mit beißender Liebenswürdigkeit, »ich erwarte Ihre Unterstützung auch nicht, wenn ich mich entschließen sollte, mich um das Amt zu bewerben.« Daraufhin grinste er und legte den Hörer wieder auf die Gabel unten neben sich auf dem Fußboden. »Der Dreckskerl hat einfach aufgelegt. Kein Benehmen und mimt den Lehrer. Hi, Don, ich habe gesehen, wie du heute abend zu den Kindern gesprochen hast. Willst du es dir noch mal überlegen, uns nachzueifern und Lehrer werden, die frische Familientradition hochhalten?« »Dad«, sagte Don, plötzlich ganz kühl. »Dad, nächste Woche habe ich einen wichtigen Test. Mr. Falcone ist mein Lehrer.« »Das weiß ich.« »Aber du hast ihn angeschrien!« »He, er wird nichts unternehmen, keine Bange deswegen.« Don quetschte die Soda-Büchse. »Das behauptest du immer.« »Und es stellt sich immer als richtig heraus, stimmt’s?« »Nein«, erwiderte er leise. »Nein, nicht immer.« Und ehe sein Vater antworten konnte, sagte er: »Sehe dich dann morgen. Ist schon spät. Mom möchte, daß ich zu Bett gehe.« Langsam stieg er die Stufen hinauf, für den Fall, daß sein Vater sich ihm anschließen wollte, aber er hörte nichts außer seiner Mutter, die den Kaffee hineintrug. Und das Erheben leiser Stimmen. Er hörte noch einmal seinen Namen, ehe er den oberen Treppenabsatz erreichte, aber er war nicht darauf erpicht, zu lauschen. Er wußte, was sie wohl sagen würden. Dad fragte sich, ob da irgendwas nicht stimmte, und Mom würde ihm erklären, daß dies zum Heranwachsen gehörte und Donny sich tatsächlich in einer kniffligen Situation befand und Norm sich vielleicht bei einem der Lehrer des Jungen besser
beherrschen sollte. Dad würde ein bißchen poltern, die Probleme verleugnen, dann schließlich ein Einsehen haben und seiner Frau versichern, daß niemand aus seinem Kollegium es wagen würde, irgend etwas Krummes zu unternehmen, nicht, solange sie seine Unterstützung beim Streik suchten. Es würde auf die alte Geschichte hinauslaufen. Großartig, dachte er, als er in sein Zimmer stürzte. Ich bin nicht länger ein Sohn, ich bin eine Waffe. Ein As im Ärmel. Wenn ich versage, liegt’s nicht an mir, sondern die Lehrer ziehen gleich. Wenn ich eine Eins kriege, liegt’s nicht an mir, sondern die Lehrer küssen den Arsch. Großartig. Einfach… großartig. Er knallte die Tür zu, schaltete das Licht an und begrüßte seine Kuscheltiere mit einem Tritt gegen das Bett. »Das verstehe ich nicht«, sagte Joyce Boyd von ihrem Platz auf der Couch, als sie die Tür knallen hörte. »Er ist ein völlig normaler Junge, das wissen wir, aber er geht kaum noch irgendwohin. Wenn wir heute abend nicht darauf bestanden hätten, wäre er zu Hause geblieben und hätte mit den verdammten Dingern gespielt, die er da oben hat.« »Natürlich geht er aus«, meinte Norm, zündete sich eine Zigarette an und schlug die Beine übereinander. »Aber mit all deinen -zig Bürgerprojekten und diesem Art League-Dings – vom Ashford Day ganz zu schweigen – bist du einfach zu wenig zu Hause, um das mitzukriegen.« Ihre Augen wurden schmal. »Das ist link.« »Ja, und wenn?« »Ich dachte, wir hätten vereinbart, das nicht mehr zu tun.« Er musterte die Spitze seiner Zigarette, die Rundung seines Knies und wischte etwas Asche beiseite, die ihm auf die Brust gefallen war. Der Kaffee stand neben ihm auf dem Tisch und wurde kalt. »Ich schätze, das haben wir.«
»Ich schätze, das haben wir«, äffte sie ihn nach und zog die Beine unter sich. »Zum Teufel mit dir, Norman«, sagte sie. »Ich tue mein Bestes.« »Natürlich tust du das«, antwortete er ohne Überzeugung. »Wann immer du hier bist.« »Nun, kümmere du dich doch mal um ihn.« Ihre Lippen, die man günstigenfalls als schmal bezeichnen konnte, verschwanden, wenn sie sie zusammenpreßte. »Wann hast du das letzte Mal einen Abend mit ihm verbracht, ha? Ich glaube nicht, daß der arme Junge dich in den letzten zwei Wochen mehr als ein paar Stunden gesehen hat.« »Ich muß ein Schuljahr organisieren«, erinnerte er sie tonlos, »und mir steht womöglich ein Streik ins Haus. Außerdem sieht er mich täglich in der Schule.« »Das ist wohl kaum dasselbe, Norm, und das weißt du. Dort bist du nicht sein Vater – nicht, wie du es sein solltest.« Er lehnte sich tiefer in den Sessel und streckte die Beine aus. »Hör damit auf, Joyce, okay? Ich bin müde, und der Junge kann auf sich selber achten.« »Schön, ich bin auch müde«, gab sie zurück, »aber ich soll mich verteidigen, was du nicht nötig hast, wie?« »Was gibt es zu verteidigen?« Sie schloß kurz die Augen. »Nichts«, sagte sie mit leichtem Ärger und langte über einen Stapel hellbrauner Schnellhefter hinweg nach einer Illustrierten, blätterte sie ohne Hinsehen durch und warf sie dann beiseite. Sie griff nach einem Schnellhefter – Terminpläne für Ashford Day. Sie war eine der Frauen, die für die Koordination der Unterhaltungsprogramme beider HighSchools verantwortlich waren. Sie ließ den Hefter ebenfalls fallen und zupfte an ihrer Bluse. »Ich mache mir Sorgen über seine Herumrennerei.«
Er war überrascht und zeigte das auch. »Ich meine«, sagte sie hastig, »es ist doch kein Joggen, nicht? Es geht ihm nicht darum, fit zu bleiben oder ins Leichtathletikteam zu kommen oder den Kontinent zu durchwandern. Er… rennt einfach.« »Nun, was ist daran schlecht? Das tut ihm gut.« »Aber er ist immer alleine«, wandte sie ein und sah ihn an, als müßte er doch begreifen. »Und er hat auch keine festen Zeiten, nichts in der Art. Er läuft einfach los, wenn ihn die Lust dazu überkommt. Und er macht das nicht mal hier, einmal um den Block oder so – er läuft um die Bahn des Sportplatzes bei der Schule.« »Joyce, das klingt doch ganz vernünftig. Warum sollte er auf rissigem Asphalt laufen und riskieren, sich ein Bein zu brechen oder den Knöchel zu verstauchen, wenn er auf einer richtigen Bahn laufen kann?« »Es ist nur… ich weiß nicht. Ich habe so ein ungutes Gefühl.« »Vielleicht hilft es ihm, nachzudenken. Manche Leute heben Gewichte, andere Typen nehmen einen Punching-Ball, und Donald läuft. Was soll’s?« »Wenn er Probleme hat«, sagte sie steif, »sollte er nicht… er sollte nicht versuchen, vor ihnen davonzulaufen. Er sollte damit zu uns kommen.« »Warum?« meinte er kühl. »So wie du dich letzte Zeit verhalten hast, warum sollte er sich die Mühe machen?« »Ich?« Ihr Blick war ihm unbehaglich. »Na schön. Wir.« Er schloß die Augen. Ein paar Augenblicke später meinte sie: »Norman, glaubst du, er hat die Sache mit der Tierklinik vergessen?« »Ich denke schon. Er hat seit letztem Monat nicht mehr davon gesprochen. Jedenfalls nicht mit mir.«
»Mit mir auch nicht.« Er öffnete die Augen wieder, blickte in den leeren offenen Kamin und fuhr abwesend mit einem Finger über seinen gebogenen Nasenrücken. »Ich schätze, wenn man darüber nachdenkt, haben wir es nicht gut aufgenommen. Wir hätten ein bißchen mehr Begeisterung zeigen können.« »Du hast recht.« Sie rieb sich die Knie. Norman gestattete sich ein verschmitztes Grinsen. »Vielleicht«, sagte er mit einem Blick zu seiner Frau, »sollten wir es so halten wie das Paar, über das wir in der Times gelesen haben. Die, die sich rühmten, die Flausen ihres Sprößlings dadurch ausgetrieben zu haben, daß sie ihn mit in einen Massagesalon nahmen.« Er lachte leise in sich hinein. »Das ist es. Vielleicht sollten wir zusehen, daß ihn jemand entjungfert.« Er lachte laut, schüttelte den Kopf und versuchte, sich seinen Sohn vorzustellen – kein Filmstar, aber auch kein Monster – wie er eine Frau flachlegte. Es gelang ihm nicht. Donald war, was ihn anging, nahezu total asexuell. »Jesus«, murmelte sie. »Christ, ich habe bloß Spaß gemacht.« »Jesus.« Wieder griff sie nach dem Magazin, zögerte aber mitten in der Bewegung und stand auf. »Ich gehe jetzt zu Bett. Ich muß morgen unterrichten.« Er wartete, bis sie in der Diele war, ehe er sich erhob und ihr folgte. »Du mußt nicht mitkommen.« »Weiß ich«, sagte er, »aber ich muß morgen den Direktor spielen.« Am Treppenabsatz drehte sie sich um und sah zu ihm hinunter. »Wir stehen vor der Scheidung, nicht wahr?«
Er umklammerte das Geländer und schüttelte den Kopf. »Gott, Joyce, mußt du denn jede Auseinandersetzung mit dem Gerede über Scheidung beenden? Andere Leute zanken sich wie Hund und Katze und rennen trotzdem nicht zum Anwalt.« Er folgte ihr den Flur entlang, an Dons Zimmer vorbei, ins gemeinsame Schlafzimmer. Sie schaltete die Lampe des Frisiertischs ein und öffnete die Tür zum Bad. Ihre Bluse war bereits aufgeknöpft, als er sich aufs Bett hatte plumpsen lassen und die Schuhe auszog. Als sie im Türrahmen stand, hinter ihr der blaßrosa Lichtschimmer von den Kacheln an den Wänden und auf dem Fußboden, ließ sie die Bluse heruntergleiten und schubste sie mit dem Fuß zur Seite. Sie trug keinen BH, aber obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte, wußte er, daß es sich um keine Aufforderung handelte. »Ich weiß, warum«, sagte sie und beschäftigte sich mit dem Verschluß ihrer langen Hose. »Warum was?« »Warum du mich nicht mehr liebst.« »Ach, du meine Güte.« Er hatte das Hemd ausgezogen und langte unters Kissen nach seinem Pyjama. »Nein, wirklich, ich weiß es. Du glaubst, Harry und ich hätten eine Affäre. Deshalb bist du auch so mies zu ihm. Deshalb machst du dich selbst zum Narren, wenn du so wie heute abend zu ihm sprichst.« »Du spinnst doch«, sagte er nicht ganz überzeugend. Er zog das Oberteil an, stand auf, öffnete den Gürtel, den Reißverschluß und ließ die Hosen fallen. »Ich gehe davon aus, daß du einen besseren Geschmack hast.« Sie drehte sich zum Waschbecken und ließ heißes Wasser laufen, das den mit einer Leuchtröhre umringten Spiegel beschlug. »Du mußt mir nichts vormachen, Norman. Ich weiß es. Ich weiß es.«
Bis auf ihren Slip war sie nackt. Ihre Brüste waren immer noch klein und fest, ihr Bauch erstaunlich flach für eine Frau, die zwei Kinder geboren hatte und keinen Sport trieb, und ihre Beine waren so lang, daß sie gar nicht aufzuhören schienen. Er beobachtete, wie sie sich vorbeugte, um Zahnpasta auf ihre Zahnbürste zu drücken; er sah zu, wie sie sich im Spiegel begutachtete und sich dabei leicht nach links und rechts drehte. Er sah zu und war traurig, denn sie tat nicht das Geringste für ihn. Es ist eine Schweinerei, dachte er. Gott, das Leben ist eine Schweinerei. Er schlüpfte unter die Decke, rieb sich die Augen, um den plötzlichen brennenden Schmerz loszuwerden und sah sie wieder an. »Bist du’s?« fragte er sie schließlich. »Mit Harry, meine ich.« »Du Bastard«, sagte sie und knallte die Tür zu.
Der Mantel würde nicht reichen, aber Tanker besaß nichts anderes, das er als Laken benutzen konnte. Laub bedeckte das meiste von ihm, und das Gebüsch würde den Wind größtenteils abhalten, aber es war immer noch zu wenig. Was er brauchte, um sich zu entspannen, war eine der Nutten. Wie die eine drüben in Yonkers. Titten, die den Pullover zu sprengen drohten, Teenie-Arsch, so stramm wie ihre Jeans. Als er sie in die Gasse zerrte und ihr eins mit der Faust verbriet, damit sie nicht schrie, war er sich wieder mal sicher, daß er nicht sterben würde, ohne seinen Anteil abbekommen zu haben. Sie hatte die Augen verdreht, als er sie zu Boden geworfen hatte, und sie spuckte Blut auf ihn, als er sie abermals schlug; aber sie war sexy, daran bestand kein Zweifel. Sie war sexy, bis er ihr die Kehle mit seinem Messer aufgeschlitzt hatte.
Sie war heiß gewesen, und jetzt war ihm kalt, und er beschloß, die nächste mußte eine dieser Nutten sein. Er fröstelte und rutschte tiefer unter den Mantel und das Laub und schloß die Augen, seufzte und wartete auf den Schlaf. Wartete eine weitere Stunde, die Augen geweitet und suchend. Es war der Park. Dort oben stand der Mond, der ihn immer noch leitete, ihm Befehle zuflüsterte, aber dort war noch etwas anderes, irgend etwas im Park, das nur auf ihn wartete. Er versuchte ihm zu spotten, aber das Gefühl wollte nicht weichen. Er versuchte es mit einem eindeutigen Kopfschütteln zu verscheuchen, aber es wollte nicht verschwinden. Es lauerte dort draußen, irgendwo, und wäre da nicht der Mond gewesen, wäre er längst tot. Morgen, versprach er sich selbst und bekreuzigte sein Herz und zeigte auf sein Auge, morgen würde er eine Hure haben und dann nichts wie weg. Und wenn der Mond sich nicht zeigte, würde er irgendwoanders morden.
Die Tür stand gerade weit genug offen, um einen schmalen Lichtstreifen aus dem Flur über den braunen Plüschteppich fallen, die Bettkante hinaufklettern und ihn auf dem Bett enden zu lassen. Don lag auf der Decke, den Kopf auf dem Kissen, die Hände auf den Bauch gefaltet, und vergewisserte sich, daß seine Freunde noch bei ihm waren. Über dem Kopfbrett hing ein Poster von einem Panther, der auf einer Dschungel-Lichtung lag, sich eine Tatze leckte und dabei in die Kamera starrte. An der Wand gegenüber hingen Poster, die Tür einrahmend, auf denen Elefanten mit erhobenem Rüssel durchs Gebüsch stießen. Ringsum im
großen Zimmer gab es Fotos und Drucke von rennenden Leoparden und Geparden, sich herabstürzenden Adlern, lauernden Pumas und einer Kobra von hinten, um die Augen auf ihrer Kopfhaube zu zeigen. Auf der Kommode stand ein unechter Luchs mit gebleckten Fängen. Auf dem niedrigen Frisiertisch befand sich ein kleiner Plüschlöwe. Auf den freien Stellen in den drei noch nicht ganz vollendeten Bücherregalen waren Gips- und Plastikfigürchen, die er selbst gefertigt und bemalt hatte, mit Klauen und Zähnen und Krallen und Augen. Und über dem schräg am einzigen Fenster des Raumes stehenden Schreibtisch hing ein gerahmtes, durch Glas geschütztes Poster – eine Landstraße, die von einer Reihe riesiger Pappeln gesäumt war, die das Zwielicht noch verstärkten und die Sterne heller wirken ließen; und unten auf der unbefestigten Straße, direkt am Horizont, kam ein galoppierender Rappe mit blitzenden Hufen, Dampf sprühenden Nüstern, verengten Augen und zurückgelegten Ohren. Er besaß weder Reiter noch Zaumzeug, und es war offensichtlich, daß, sollte es je den Vordergrund erreichen, es das größte Pferd sein sollte, das der Betrachter je gesehen hatte. Seine Freunde. Seine Schmusetiere. Nachdem er sie ein zweites Mal betrachtet hatte, drehte er sich auf den Bauch und verbarg sein Gesicht in der Armbeuge. Seine Eltern erlaubten keine Haustiere, schon gar nicht, seit Sam gestorben war und sie seinen Wellensittich einer Tante in Pennsylvania geschenkt hatten. Wegen der Erinnerungen. Und es schien ganz unbedeutend zu sein, daß Don den blöden Vogel ebenfalls geliebt hatte. Als er um einen Ersatz bettelte – irgend etwas, er war nicht pingelig – schob seine Mutter eine starke Katzenallergie vor, und sein Vater erklärte ihm, daß sich niemand tagsüber im
Haus befände, der sich artgerecht um einen Hund kümmern könne. Fische waren langweilig, Vögel und Schildkröten brachten alle möglichen exotischen Krankheiten mit, und Hamster oder Meerschweinchen waren zu dämlich, etwas anderes zu tun, als zu schlafen und zu fressen. Schon lange hatte er beschlossen, sich nichts daraus zu machen. Wenn es seinen Eltern nicht gerade fürchterlich wichtig war, was er mit seinem Leben anstellen wollte, warum sollte er sich da noch wegen ein paar nichtexistenten Haustieren aufregen? Deshalb, sagte er zu sich, eben deshalb. Und plötzlich war es wieder Sommer, die Sonne stand hoch am Himmel, und er war unten im Wohnzimmer und platzte vor Aufregung. Seine beiden Alten waren da, hatten sich von ihrer Gartenarbeit abrufen lassen und warteten ängstlich. Dem Gesicht seiner Mutter sah er an, daß sie damit rechnete, er werde verkünden, die Schule verlassen zu wollen, um zu heiraten. Dem Gesicht seines Vaters, daß er irgendein Mädchen geschwängert hatte. »Ich weiß, was ich auf dem College studieren werde«, hatte er mit einer Stimme verkündet, die vor Angst kiekste, und er beruhigte seine Nerven, indem er sich gedankenlos in den Sessel seines Vaters fallen ließ. »Gut«, hatte Norman lächelnd gemeint. »Ich hoffe, du wirst reich und ich kann meinen Job an den Nagel hängen, weil du mich auf einem Niveau unterstützen kannst, an das ich mich liebend gerne gewöhnt hätte.« Er hatte gelacht, weil ihm sonst nichts einfiel, und seine Mutter hatte Norm leicht auf den Arm getippt. »Was denn, Liebes«, hatte sie gefragt. »Ich möchte Arzt werden.« »Well, du Hundesohn«, hatte sein Vater gesagt, wobei sich sein Lächeln zu einem stolzen Grinsen dehnte.
»Oh, mein Gott, Donald«, hatte Joyce geflüstert, und ihre Augen schimmerten feucht. »Klar«, erleichtert, weil das Schlimmste ausgestanden war und keine Szene gefolgt war. »Ich mag Tiere, sie mögen mich. Und ich möchte alles über sie lernen und mich um sie kümmern. Damit würde ich für etwas bezahlt, was mir Spaß macht, nicht? Also, ich will Veterinär werden.« Das Schweigen hätte ihn beinahe auf den Teppich geschleudert, und es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, daß sie ihn mißverstanden hatten, daß sie in dem Augenblick geglaubt hatten, er wolle den M. D. machen. Joyce’ Lächeln war gequält, tat aber noch so, als freue sie sich, daß er sich endlich entschieden hatte. Sein Vater hatte ihn nach einer Weile mit nach draußen genommen und ihm erklärt, zum hundertmillionsten Mal, daß er das erste Mitglied der Boydfamilie gewesen war, das studieren konnte, und Donald das zweite. Er hatte gesagt, er hoffe von ganzem Herzen, der Junge wisse, was er tue. »Lehrer und jetzt Direktor zu sein«, hatte Norman erklärt, »ist etwas, auf das stolz zu sein ich mich nicht schäme, Sohn. Ein Vet sein, das ist allerdings… well, es ist eigentlich gar nichts Richtiges, wenn man darüber nachdenkt. Ich meine, Katzen zu helfen statt Babys, ist nicht unbedingt meine Auffassung von Medizin.« »Aber ich mag Tiere«, hatte der Junge stur beharrt. »Und mir gefällt die Art nicht, wie die meisten Menschen sie behandeln.« »Oh, Dr. Dolittle, nehme ich an«, hatte sein Vater leichthin gesagt. »Yeah. Vielleicht.« »Don.« Und eine Hand hatte sich auf seine Schulter gelegt. »Sieh mal, ich will mich nur vergewissern, ob du wirklich entschlossen bist.«
»Ich hätte es nicht gesagt, wenn ich es nicht wäre.« »Nun, denk wenigstens noch mal darüber nach, ja? Deiner Mutter und mir zuliebe. Es ist erst August. Noch ein ganzes Jahr bis zum Abschluß, und selbst dann mußt du dich nicht gleich entscheiden. Manche Kids lassen sich eine Menge Zeit. Du läßt dir ruhig all die Zeit, die du brauchst.« Er hätte gerne geschrien, daß er über die Sache genügend nachgedacht hatte; statt dessen nickte er nur und ging davon. Den Rest des Tages war er gelaufen und gerannt. Als er schließlich nach Hause gekommen war, wurde die Erklärung nicht erwähnt und seitdem nie wieder besprochen. Er grinste jetzt im Bett – er war nicht so schwer von Begriff, wie sein Vater glaubte – er wußte, sie hofften, er werde zur Vernunft kommen und sich dazu entscheiden, lieber reiche alte Damen zu behandeln als kleine alte Pudel. Was sie nicht ahnten, war, daß er nicht beabsichtigte, mit kleinen Pudeln oder Perserkatzen oder Dackeln oder Siamesen zu arbeiten – was er wollte, war, mit den lebenden Äquivalenten seiner Lieblinge im Zimmer zu arbeiten. Sie würden Zeter und Mordio schreien, wenn sie davon wüßten. Aber das interessierte ihn nicht, denn nichts, was sie unternehmen konnten, würde seine Entscheidung ändern; jetzt wünschte er nur noch, daß ihre Streitereien ihm auch gleichgültig würden. Die Stimmen aus ihrem Schlafzimmer verstummten wie auf ein Kommando, und er zog sich rasch aus und ging zu Bett. Er starrte zur Decke und fragte sich, ob er bald in die Statistik eingehen würde. Jeff Lichters Leutchen hatten sich scheiden lassen, als er zehn war, und er lebte zwei Blocks weiter bei seinem Vater. Er war ein ordentlicher Kumpel, alles okay, aber ob es wegen der Scheidung war oder nicht, Brian lebte praktisch ganz für sich.
Verrückt, dachte er, und rollte sich auf den Bauch, hob den Kopf und blickte mit einem unbestimmten Lächeln zu seinem Panther empor, dann zu dem Pferd und den Ottern auf dem nächstliegenden Regal. Sie hatten alle keinen Namen, aber bei dem Gedanken, was Brian oder Tar sagen würden, wenn sie je herausfänden, daß er manchmal zu all ihnen sprach, erschauerte er. Bloß einige Worte, keine ganzen Gespräche. Vor einer Prüfung mal eines anfassen, damit es Glück brachte, ein Wunsch an ein anderes, daß er das Mädchen träfe und die Hänseleien der anderen Jungs nicht mehr länger ertragen mußte, wiederum einen Wunsch an ein anderes, daß er eines Morgens als Superman aufwachen würde. Er grinste. Don der Superman! Mit einem Satz über riesige Gebäude springen! Tar Boston hinüber zum Park schleppen und ihn kopfüber in den Teich schmeißen. Chris Snowden vor einem tobenden Brian retten und sie so dankbar sein lassen, wie es ihr beliebte. Seinen Röntgenblick benutzen, um durch Tracey Quinteros ausgebeulte Pullover zu gucken, um zu checken, ob es darunter tatsächlich etwas gab. Don der Superman. »Don der Idiot«, sagte er. Es war schon komisch, wenn er es so bedachte. Nur mit den kleinen Kindern konnte er richtig reden. Aus irgendeinem Grund hielten die meisten seine Geschichten für ziemlich gut, außer diesem kleinen Biest heute abend. Ein Lachen wurde durch das Kissen erstickt. Gut, daß in dem Augenblick die Eltern aufkreuzten, sonst hätte er ihnen allen die Riesenkrähe zeigen müssen. Und verdammt, wäre das nicht was! Don der Superman, und sein riesenhafter Kumpel Crow! Kurz ehe er einschlief, wünschte er, morgens aufzuwachen und festzustellen, daß er der hübscheste Kerl in der ganzen
Stadt war, vielleicht sogar im ganzen Staat, vielleicht sogar in der ganzen Welt. Alles, bloß nicht aufwachen und den faden alten Don Boyd immer noch im Badezimmerspiegel sehen.
3
Binnen der nächsten sieben Tage wurde es Oktober. Es gab ein verlorenes Football-Spiel, in dem Brian drei sichere Tore versaute und Tar und Fleet je einmal versagten, einen Artikel in der Wochenzeitung, aus dem hervorging, daß der Direktor der Ashford South die Vertragsverhandlungen verzögerte, weil er sich aus politischen Gründen weigerte, seine Untergebenen zu unterstützen, und eine Reihe grausiger Berichte des New Yorker Fernsehens über den Howler – da man sein letztes Opfer vor fast zwei Wochen gefunden hatte, vermutete die Polizei, daß er entweder Selbstmord begangen oder den Staat verlassen hatte, eine Meldung, die Don und Jeff mit makabrem Entzücken vernahmen. Am Dienstagmorgen ging Chris Snowden nur einen Block vor ihm her zur Schule, und er konnte sich nicht entscheiden, ob er versuchen sollte, ihn einzuholen und ein Gespräch anzuknüpfen (vielleicht warf sie sich ihm gleich in die Arme), oder ob er einfach hinter ihr bleiben und ihr nachsehen sollte. In der Cafeteria rümpften er und Jeff die Nase über verbrannte Makkaroni mit Käse und gelangten zu dem Schluß, daß Chris es derzeit wohl mehr mit älteren Männern hatte – Typen vom College, wenn nicht gar deren Väter. Dann beobachtete Don, wie Tracey Quintero ihr Tablett nahm und zur Abgabestelle trug, wo ein Angestellter bereits darauf wartete, es zu reinigen. »He, Jeff, glaubst du, man kann gleichzeitig in zwei Frauen verliebt sein?« »Sicher. Denke ich.«
»Es muß möglich sein, oder? Ich meine, verschiedene Frauen können einem Kerl Verschiedenes bieten, nicht? Also muß er dies in verschiedenen Frauen suchen, nicht?« Jeff sah ihn von der Seite an. »Was?« »Das klingt doch vernünftig, meinst du nicht auch?« »Klingt vernünftig, wenn man verrückt ist, sicher.« »Also, ich bin nicht verrückt, und es klingt vernünftig, und ich glaube, ich habe mich verliebt.« »Lust«, korrigierte Jeff ihn. »Es ist Lust.« »Welch ein Freund.« »Ach, verdammt, Don, das ist meschugge, weißt du?« »Ich dachte, du seist der gleichen Ansicht.« »War ich, bis ich hörte, was du sagtest.« Er stocherte in den Makkaroni, stieß in die Käsekruste und seufzte, als er eine Tüte Milch öffnete. Als er trank, kam Chris herein, alleine, sah ihn, lächelte und ging wieder hinaus. »Gott«, flüsterte er. »Vielleicht mag sie dich.« Daran wagte er nicht zu glauben; er kannte sie nicht mal. »Oder«, meinte Jeff, als er sich erhob und zum Gehen anschickte, »sie kennt deinen alten Herrn und möchte schönes Wetter machen, wenn du weißt, was ich meine.« Don sackte ein wenig in sich zusammen, und Jeff erkannte seinen Fehler, konnte daran nichts mehr ändern und eilte hinaus. Don sah ihm nach, stand auf und folgte ihm dann langsam. Lichter hatte ihn an ein Mädchen erinnert, mit dem er ging, als er im zweiten Jahr war. Er hatte geglaubt, ein One-way express-ticket ins Paradies gefunden zu haben, so wie sie sich ihm gegenüber verhielt, hinter ihm hertrottete, ihn zum Lachen brachte und ihm die Präliminarien der Liebe beibrachte. Dann, eines Tages vor seinem Spind, hatte er sie zufällig mit Brian
sprechen hören, sie kicherte und schwor, beim Grab ihrer Mutter, daß sie ihn einzig wegen seines Vaters traf. »Ich verschwende keine Sekunde länger daran, als ich brauche, um hier ordentlich rauszukommen«, hatte sie gesagt. »Und welcher Lehrer mit eingezogenem Schwanz traut sich schon, mich zu feuern, wenn ich mit dem Kleinen vom Direx rummache?« Offenbar mehrere, nachdem er am nächsten Freitagabend mit ihr Schluß machte. Er hatte sie mit den Tatsachen konfrontiert, sie hatte abgestritten, und er hatte die Beherrschung verloren, eine der Kardinalregeln seiner Eltern vergessen: niemals schreien oder drohen, das setzt dich herab und drängt dich in die Defensive, denn eine Drohung muß wahrgemacht werden oder sie ist wertlos. Wenn du schon drohst, vergewissere dich, daß du das einhalten kannst. Sie hatte ihn ausgelacht. Und obschon sie noch vor Ende des Jahres geflogen war, hatte er dabei keine Befriedigung empfunden. Ihr Verlassen der Schule hatte nur bewiesen, daß es ihr wirklich bloß darum gegangen war. Selten hatte man mehr über ihn gelächelt. Am Mittwoch sah er Chris wieder, und sie ignorierte ihn. Das hätte ihn sich besser fühlen lassen, doch statt dessen fühlte er sich mies, vor allem, nachdem sein Tutor ihm erklärt hatte, wie teuer das Studium der Veterinärmedizin war. Seinen Vater würde der Schlag treffen, und seine Mutter würde sich vielleicht erweichen lassen und ihm erlauben, einen Job anzunehmen, um die Kosten zu mildern. Beinahe hätte er den Biologie-Test vom Donnerstag vergessen.
»Die Versammlung muß inzwischen vorbei sein«, sagte Joyce.
Harry Falcone stauchte das Kissen in seinem Rücken zurecht und beobachtete mit einem schiefen Grinsen, wie sie sich anzog. »Erzähl ihm, es sei spät geworden.« »Es wird immer spät. Er glaubt es nicht, weißt du.« Falcone zuckte die Achseln; es war ihm gleich. Als sie fertig war, drehte sie sich zu ihm um, um ihn anzusehen. Das Laken kaum über seinem Geschlecht, sein dunkles gelocktes Haar in dichten Ringeln über seinem Gesicht. Patrizier, dachte sie, legt ihm eine Toga um und er gleicht einem römischen Senator, der dabei ist, einen Cäsaren zu erstechen. Sein breites Lächeln entblößte seine weißen Zähne. »Denkst du gerade an ein zweites Mal?« Das tat sie. Sie haßte sich dafür, aber sie tat es. Sie sehnte sich nach diesen Händen, die sie fest, nicht zart, anfaßten. Sie wollte sein Gewicht, wenn er sie auf die Matratze drückte, sie wollte das Vergessen, das sein Sex ihr bescherte – und sie wollte ihm die Kehle durchschneiden für das, was er sie ihrer Familie antun ließ. »Nein.« »Sehr schade«, sagte er. »Wenn erst mal der Streik anfängt, wird es schwer sein; dich zu treffen.« Während sich Joyce das Haar zusammenhielt, damit sie ein Band darum schlingen konnte, ging sie aus dem Zimmer und holte ihren Mantel. Ein Zögern – hatte sie irgend etwas an sich, das Norman auffallen konnte? – ehe sie die Tür des Apartments öffnete. »He!« rief er aus dem Schlafzimmer. Sie wartete. »Netter Fick, Kleines.« Bastard, dachte sie und knallte die Tür hinter sich zu, sich genierend, als sie zur Feuerleiter eilte und sie unsicher hinabstieg.
Es war dumm, und es war das Zeug, aus dem die rosaroten Romanzen gestrickt sind – daß ein Mann kommen und sie aus dem Gleichgewicht bringen, sie in den Sonnenuntergang tragen und mit Ekstase erfüllen würde. Tausendmal hatte sie sich gesagt, daß es zum Teil Normans Fehler war, daß seine Inanspruchnahme durch die Leitung der Schule und sein heimliches Streben nach dem Bürgermeisteramt sie irgendwie hatte in Vergessenheit geraten lassen. Sie war nicht mehr seine Partnerin, sondern eine Frau, die sich zehn Schritte hinter ihm zurück im Schatten zu halten hatte. Der Haken war, daß sie vor ihrem Mann nie ein Geheimnis hatte bewahren können. Ihre Augen, zu groß, um etwas zu verschleiern, verrieten sie jede Nacht, und sie war sich sicher, daß er sie verhöhnen, sie quälen würde, bis sie es ihm ins Gesicht sagte. Und während sie nach Hause fuhr, wobei sie sicherheitshalber aus der Richtung des Gebäudes kam, in der die Versammlung angeblich abgehalten worden war, legte sie eine Hand auf die Brust und spürte noch Harrys Berührung. Es wäre verdammt viel leichter, dachte sie, wenn sie nur wüßte, ob das Zusammenleben mit Norman reine Gewohnheit oder wirklich Ausdruck von Liebe war. Und wenn es letzteres war, was würde Harry tun, wenn sie die Affäre beendete? Vor Sonnenaufgang sank die Temperatur, und der Boden war mit knirschendem Reif bedeckt, dem ersten der Saison. Er verzauberte Windschutzscheiben und überzuckerte die Rasen vor den Häusern, und als Don zur Schule ging, beobachtete er, wie sein Atem gefror. Es war ein gutes Gefühl, und er machte lange Schritte, um wach zu werden. Er hatte letzte Nacht erst wenig geschlafen, als etwas in seinem Inneren ihn an das Examen erinnerte. Sofort war er aufgewacht und hatte sich bis zum Sonnenaufgang an den Schreibtisch gesetzt, wobei er
abwechselnd seine Unterlagen durchging und zu dem galoppierenden Pferd sprach. Als seine Mutter von dem Treffen ihres Komitees gekommen war, war er aufgeschreckt und hatte einen Rüffel erwartet, weil er noch so spät auf war. Er war überrascht, als sie, ohne innezuhalten an seiner Tür vorüberging und unüberhörbar weinte. Am Ende des Blocks bog er links ab, wobei er sorgsam vermied, Chris’ Haus anzustarren. Er überquerte die Straße und ging etwas schneller, hoffte, ein schön frischer Wind würde ein wenig Verstand in sein umnebeltes Hirn pusten. Zu seiner Linken standen kleine Häuser zusammengedrängt auf kleinen Grundstücken, von Bäumen und Azaleensträuchern verdeckt. Zwei Blocks weiter wurden sie von einem hohen Stacheldrahtzaun abgelöst, der nahezu durch den Efeu verborgen war, der bis zum oberen Rand rankte. Dahinter begann eine riesige gepflegte Rasenfläche, die sich über den Hang hin zu den Sportplätzen und dem Stadion erstreckte und dann weiter zu dem massigen Schulgebäude selbst – ein Gebäude aus rotem Backstein und angegrautem weißem Marmor, dreigeschossig vorne und viergeschossig hinten, wo der Hang abfiel. Es hatte hohe Fenster, breite geflieste Korridore, ein Auditorium, in dem über achthundert Plätze waren, und war in den dreißiger Jahren errichtet und nie durch ein modernes Haus ersetzt worden. Ashford North auf der entgegengesetzten Seite der Stadt war 1959 erbaut worden, aus Backstein und Marmor, zweigeschossig, wobei ein Stockwerk mit getönten Scheiben ausgestattet war, und sah aus wie eine Fabrik. Vom Gehweg stieg Don drei Stufen hoch zu dem riesigen betonierten Platz, von dem weitere flache Stufen zu den verglasten Eingangstüren führten. Trampelpfade führten über den Rasen zu den Seiteneingängen, und an den
Klassenfenstern beobachteten unbeteiligte Gesichter die Schüler, wie sie sich beeilten oder herumtrödelten und das erste Läuten abwarteten, ehe sie hineingingen. Er wartete nicht, obschon er seinen Namen rufen hörte; er steuerte geradewegs hinein und schwenkte nach links zu den bunten Schließfächern am Ende der Halle. Fummelei am Kombinationsschloß, dann schnappte er sich die Bücher, die er für seine ersten drei Stunden brauchte. Einige Vorbeihastende grüßten ihn mit Zurufen, aber er winkte nur, ohne sich umzudrehen; er war müde und wollte mit niemandem reden, ehe er nicht endlich wachgeworden war. Er wurde nicht wach. In Trigonometrie schlief er beinahe ein, döste tatsächlich ein paar Minuten in Englisch und saß in Deutsch mit in die Augenwinkel geschobenen Zeigefingern da, damit die Augen ihm nicht wieder zufielen. Keiner der Lehrer bemerkte etwas. Auch keiner seiner Klassenkameraden. Kurz vor zehn Uhr dreißig kam er an dem großen Eingangsbüro mit den Glaswänden vorbei und sah seinen Vater am Empfangsschalter bei Mr. Falcone stehen. Sie redeten leise miteinander, erhitzt offensichtlich, denn sein Vater schlug eine Zeitung gegen seine Hüfte und wischte sich die Seite seiner Nase wie ein Boxer. Als Don mit besorgter Miene weiterging, stürmte der Biologielehrer aus dem gläsernen Raum heraus und wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen. Keine Entschuldigung. Der Mann marschierte davon, und Dons Kehle wurde trocken. Der Flur summte, bis er Kopfschmerzen bekam und zurück zu seinem Spind stolperte, sein Biologiebuch herausnahm und das Heft und dann in den Arbeitsraum rauschte, wo er versuchte, sich auf die Lektionen zu konzentrieren. Seine Mutter interessierte sich nicht mehr für seinen Vater.
Er klappte das Buch auf und spielte mit der Folie, auf der in grellen Farben das Innenleben eines Frosches dargestellt wurde. Sein Vater interessierte sich nicht mehr für seine Mutter. Einmal, letzte Nacht, als es dunkel im Zimmer war und sie sich wieder zu streiten begonnen hatten, glaubte er, Mr. Falcones Namen zu hören. Das eilige Frühstück, das er sich selber zubereitet hatte, stieß ihm plötzlich auf und drohte hochzukommen, ließ ihn viermal schlucken, bis er sicher war, sich nicht zu übergeben. Ohne daß es ihm bewußt war, stöhnte er daraufhin vor Erleichterung, und nur ein unterdrücktes Kichern hinter ihm gab die Warnung, daß Mr. Hedley den Gang entlangkam. »Mr. Boyd?« Er blickte auf und in eine Hornbrille. »Ja?« »Praktizieren Sie hier eine Ein-Mann-Chor-Einlage?« Wieder Kichern und offenes Gelächter von Tar und Fleet auf der anderen Seite des großen Raumes. Sein Gesicht wurde heiß. »Nein, Sir.« »Dann dürfte ich Sie bitten, sich ein wenig ruhiger zu verhalten, damit der Rest von uns mit der Arbeit fortfahren kann.« »Jawohl, Sir. Tut mir leid.« »Danke, Mr. Boyd.« Hedley wandte sich ab, Dons Magen drehte sich wieder um, und es gelang ihm zufällig, den Rülpser wie ein weiteres Stöhnen klingen zu lassen. Hedley entfernte sich langsam. Ein kleiner Mann, fast so breit wie hoch, mit einem dunkel gefärbten roten Haarkranz und einem kräftigen, zuckenden Schnurrbart. »Mr. Boyd, vielleicht haben Sie mich nicht verstanden.« Er spürte, wie ihm unter den Achseln der kalte Schweiß ausbrach. Jetzt sahen ihn alle an. Aber er vermochte nur zu blinzeln und hilflos auf seinen Bauch zu deuten, signalisierte
einen verkorksten Magen, denn jetzt stieg die Säure wieder hoch, und er spürte, wie seine Wangen zu brennen begannen. Hedley faltete seine winzigen Hände hinter dem Rücken und begann, auf seinen Absätzen zu wippen. »Mr. Boyd, dies ist, wie Sie vielleicht aus dem Studium der amerikanischen Geschichte gelernt haben, eine demokratische Gesellschaft. Es gibt hier keine Privilegien. Keine. Daher werden Sie sich still verhalten, oder Sie werden nachsitzen müssen.« Er nickte düster. Das Kichern hörte abrupt auf, als der Mann an sein Pult zurückkehrte. Privilegien, dachte er erbittert, dieser Hurensohn. Warum hatte er nicht nach Ashford North gehen können, wie seine Mutter es gewünscht hatte? Kein Mensch schert sich darum, ob deine Mutter Kunst unterrichtet. Selbst, wenn sich deine Mutter nichts mehr aus deinem Vater macht. Er hielt sich eine Hand vor den Mund und versuchte, weiterzulernen, aber die Worte verschwammen und die Bilder verwischten wie schmierige Fingerabdrücke. Und als er wieder draußen in der Halle war, stieß und schob ihn die Menge wie einen Zweig in der Strömung. Es war ihm gleichgültig. Er würde den Test gut schreiben, weil ihm Biologie Spaß machte und das, was er dort über Tiere lernte, wie in Zoologie. Aber er ertrug das Geschubse und Geschiebe nicht und wäre beinahe in Panik geraten, als er wieder das Frühstück hochkommen fühlte. Er stolperte zur Seite in die nächste Herrentoilette, fand eine freie Kabine und setzte sich, wobei er den Kopf in den Händen barg. Würgen. Saure Milch schmecken. Trocken spucken und sich wünschen, entweder zu erbrechen und alles hinter sich zu haben oder sich zu beruhigen und es los zu sein. Die Glocke läutete.
Er sprang auf, ließ seine Bücher fallen, sammelte sie auf und rannte durch die Halle. Mr. Falcone schloß gerade die Tür. »Ah, Donald«, sagte er. »Ich freue mich, daß du’s schaffen konntest.« Ihm gelang ein gequältes Lächeln, und er eilte zu seinem Platz – wie in allen Klassen so weit hinten wie möglich. Dann ließ er die Bücher zu Boden fallen und wartete, bis Falcone die Testbögen ausgegeben und Instruktionen erteilt hatte. Der junge Lehrer machte heute auf lässig, wie er sah – kein Jackett oder Krawatte, nur weiche Hosen und ein offenes Hemd unter einem Pullover. Sein Haar war kaum gekämmt, die Locken feucht, als hätte er eben geduscht. Gesicht und Körper eines Südländers. Auf beides waren viele Mädchen scharf, und darum beneideten ihn viele Jungen. Schließlich kam er zu Donald, hielt das Papier hin und wollte es nicht loslassen, als Don danach griff. Statt dessen redete er weiter, ließ die Klasse wissen, daß dies womöglich die wichtigste Arbeit des Semesters war, da sie zu einem Drittel auf die Schlußnote angerechnet werden würde. Sie zu verhauen, würde das ganze Gewicht auf die Prüfung im Januar legen. Dann schwieg er und lächelte. »Haben Sie das verstanden, Mr. Boyd?« Er hatte, aber er wußte nicht, warum man gerade ihm das sagte. Falcone beugte sich vor, schob den Testbogen in die Mitte des Tisches und fügte leise hinzu: »Sie sind heute besser voll dabei, Boyd. Sie werden es brauchen.« Es dauerte eine volle Minute, bis er in der Lage war, die Fragen klar sehen zu können. Falcone stand vorne, lehnte am Tafelständer, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Augen halb geschlossen. Der Zeiger der Uhr über der Tür sprang weiter. Fleet starrte auf sein Handgelenk. Tar kritzelte, Brian starrte
zum Fenster hinaus auf das Football-Feld. Don blinzelte und rieb sich die Augen. Er konnte nicht glauben, was er gehört hatte und weigerte sich, es als eine Art Drohung aufzufassen. Er konnte nicht durchfallen. Er kannte die Arbeit, und er kannte den Lehrer. Er besah sich die erste Frage und beantwortete sie nahezu blind, beantwortete auch alle anderen, genau bis zum Klingelton. Es konnte keine Drohung gewesen sein. Der Bogen kam auf einen Stapel auf dem Pult, die Bücher wurden ins Spind geworfen, dann griff er nach seiner braunen Papiertüte mit dem Lunch und verließ das Gebäude durch einen der Hinterausgänge. Trotz des Morgenfrosts war die Sonne warm, und er überquerte den breiten Betonweg, an dessen Ende sich die sechs Fuß hohe Mauer mit den gleichmäßig verteilten Öffnungen befand. Er ging durch eine hindurch und befand sich bei der oberen Reihe der Stadionplätze. Unten lag das Feld, und dazwischen standen die niedrigeren weißen Holzbänke für Besucher. Die Plätze waren nichts weiter als Betonstufen, und plötzlich erschien es ihm, als wäre die halbe Schule und das Gelände aus diesem Zeug gemacht, früher vielleicht einmal weiß und sauber, jetzt aber grau und braun durch Abnutzung und Witterung. Das Schinken-Sandwich, das er sich selber gemacht hatte, schmeckte grauenvoll. Es konnte keine Drohung gewesen sein. »Wenn du dich umbringst, werden sie niemals das Blut aufwischen können.« Er schreckte hoch, ließ das Sandwich fallen, fing es ungeschickt auf und schielte hoch. »Es sickert ein, weißt du? Direkt in den Zement. Sie werden tagelang schrubben und dich von ganzem Herzen hassen. Es ist eine beschissene Art, Sympathien zu erwerben, glaube mir.« Er lächelte und rückte ein Stück.
Tracey Quintero setzte sich neben ihn und schüttelte den Kopf. »Bist du tatsächlich so deprimiert?« Sie war von Haut und Haar her ein dunkler Typ. Ihr übergroßer Pullover war blendend weiß wie üblich und ihr Faltenrock etwas aus der Mode. Ihre Gesichtszüge waren eher herb als weich, und er fand sie nett, aber nicht unbedingt hübsch, außer wenn sie lächelte und alle Zähne zeigte. Spanisch – und manchmal fragte er sich, wie sie wohl in einem dieser engen bunten Flamenco-Kleider aussehen mochte. »Schätze ja.« »War Biologie so schlimm?« Sie hatte Falcone nach dem Lunch gesehen, aber es ging ihr nicht darum, die Testantworten herauszukriegen. »Ja. Nein, wohl doch nicht.« »Wie liefs denn bei dir?« »Okay, schätze ich.« Er biß in das Sandwich und schmeckte den Schmutz. »Schwerer als sonst.« Sie nickte unbeeindruckt, während sie sich vorbeugte und die Ellbogen auf die Beine stützte. Sie beobachteten eine Klasse im Sportunterricht, die sich anschickte, die Aschenbahn entlangzulaufen, die das Football-Feld umgab. Gelächter stieg empor und ein unvermuteter Geruch von Veilchen, der ihn einen Augenblick lang verwirrte, bis er sich umdrehte und schnüffelte und wußte, daß sie es war. Sie zeigte auf einen schlaksigen Rotschopf, der mühelos die weite Runde zurücklegte. »Nennt man ihn deshalb Fleet? Weil er so schnell ist?« Höfliche Konversation, so nennt man das doch, dachte er. Mann, ich muß heute sogar noch Konversation treiben. »Genau«, sagte er. »Dann sollte er Leichtathletik machen, kein Football«, sagte sie mit einem leichten Lispeln. »Football-Stipendien bringen mehr Geld.«
»Whow«, sagte sie und starrte ihn aufmerksam an. »Meine Güte, das klang verbittert.« Er zuckte die Achseln. »Es ist die Wahrheit. Fleet benötigt das Geld, um das College besuchen zu können, und er wird’s mit Football kriegen. Er ist der beste Fänger im ganzen County.« »Ich dachte, das sei Tar.« Eine Brotkrume klebte an seiner Lippe, er fischte sie mit einem Finger auf, starrte sie an und aß sie. »Tar ist ein Running back.« Er runzelte die Stirn. »Das weißt du doch.« Sie lehnte sich zurück, wobei sie ihre Bücher gegen ihren formlosen Oberkörper drückte. »Hab’s vergessen.« Ein Blick nach hinten, zur Schule. »He, Don?« »Hm.« »Weißt du, was dein Vater in der Streiksache unternehmen wird?« Er beobachtete Fleet, der winkte und Tracey einen Kuß über die Handfläche zublies. »Keine Ahnung. Bin nicht sein politischer Berater.« Tracey ignorierte den Sarkasmus. »Ich hoffe, er tut was. Gott, ich meine, wir sind Seniors! Wenn unsere Noten wegen des Streiks versaut werden… Gott!« Sie malte Kreise auf den Rücken eines ihrer Bücher. »Mein Vater wird sie alle erschießen, weißt du. Das wird er.« Ihr Vater war Polizist. Don glaubte ihr, daß er das tun würde. »Ich weiß nicht, was passieren wird, ehrlich.« »Oh. Okay.« Ein Blick auf ihre Armbanduhr. »Es wird gleich läuten.« »Weißt du, was ich mir wünsche?« fragte er und wollte plötzlich, daß sie nicht ginge. »Ich wünschte, ich hätte den Nerv, nur einmal zu schwänzen, bevor ich graduiere. Nur einmal.« »Dein Vater würde dich umbringen«, sagte sie sofort.
»Bestimmt.« Er lächelte verschmitzt. »Aber es wäre ein toller Spaß.« Sie studierte sein Gesicht, seine Augen und schenkte ihm schließlich ein breites Lächeln. »Dazu fehlt dir der Nerv. Da kenne ich dich gut genug.« »Stimmt«, sagte er, die Spitzbübigkeit war verschwunden. »Ich bin zu durchschaubar.« »Zuverlässig«, korrigierte sie ihn. »Du bist zuverlässig. Das bist du.« Die Sportklasse verließ den Platz, Fleet hatte dabei den Arm um ein Mädchen mit Pferdeschwanz gelegt. »Wundervoll. Das können sie auf meinen Grabstein schreiben. Klingt, als wäre ich die alte Taschenuhr von irgendeinem Großvater.« Ihr Gesichtsausdruck wurde sauer. »Mann, du hast aber eine Laune, Jesses.« Als sie aufstand, erhob er sich auch. Seine Lunchtüte fiel herunter, und er mußte ihr nachsetzen, da sie von einer Brise die Stufen hinuntergewirbelt wurde. Dann stolperte er hinter Tracey her und konnte sie gerade noch rechtzeitig einholen, um die schwere Glas-Eisen-Tür zu öffnen. Sie zwinkerte ihm zu und schlüpfte mit gespielter Geziertheit vor ihm hinein. In diesem Augenblick läutete die Glocke. »Hättest du Lust, morgen abend ins Kino zu gehen oder so?« Sie schien ebenso überrascht, seine Frage zu hören, wie er erstaunt war, sie gestellt zu haben. Jesus, dachte er, Brian bringt mich um. Die Treppen füllten sich, und sie wurden getrennt, aber ehe sie verschwand, formte ihr Mund: Ich rufe dich heute abend an, was eine Antwort und doch keine Antwort war. Gott, dachte er, als er zur Turnhalle eilte, du bist ein Idiot, Boyd. Junge, bist du ein Idiot.
Als er den Umkleideraum erreichte und sich umzuziehen begann, war Fleet bereits da, und Tar kam gerade herein, während er sich mit einem mächtigen Kamm durch das schwarze Haar fuhr. Die Gespräche drehten sich hauptsächlich um das Spiel gegen North am Ashford Day-Wochenende, den Howler und den Streik, der ihnen allen Freizeit bis weit nach Weihnachten bescheren würde. »He, Donny«, rief Tar, als er seine Turnschuhe schnürte, »bestell deinem Alten, er soll aufhören, herumzufurzen, ha? Ich brauch’ diese Ferien jetzt!« »Ach, Scheiße«, sagte Fleet, der nackt herbeigeeilt kam, das Handtuch über der Schulter, »ihn kümmern wir armen Schlucker nicht, Tar Baby. Weißt du nicht, daß er für seinen Vater an der Front spioniert? Geheimagent der Senior-Klasse.« Obwohl Fleet ihn nur necken wollte, verkrampfte sich Dons Gesicht. Er stand auf und bahnte sich seinen Weg durch den überfüllten Gang. Eine Handvoll Typen versuchte, ihn mit seinem Vater und dem Streik aufzuziehen, aber er wimmelte sie ärgerlich ab. Er war es leid, davon zu hören, leid, als Spion tituliert zu werden – von einigen sogar ernsthaft – leid, Donny Duck genannt zu werden, leid, anders behandelt zu werden, auch wenn sie so taten, als wäre dies nicht der Fall. Er trat auf den gebohnerten Gang der Turnhalle hinaus, die Hände in die Hüften gestützt. Brian schrie: »He, Duck, Duck!« und ein Basketball traf ihn voll auf die Nase.
4
Bilder waberten durch roten Nebel: ein Luchs, der hoch oben im Baum lauerte, schimmernde Reißzähne, Knurren wie Donnergrollen, Klauen wie Stahlklingen, die nach einer Kehle schlugen. Ein Leopard, der durch das heiße sommerliche Grasland pirschte, sich zum Todessprung anschickte, Schultermuskeln und Flanken vor Anspannung bebend. Ein Falke, der ein Kaninchen vom Boden aufschnappte. Ein schwarzes Pferd, das die Erde erzittern ließ, als es die Straße berührte, während Feuer aus den Nüstern die Erde schwärzte. Bilder, die ihn die Fäuste ballen ließen, bis seine Nägel tiefe Löcher in die Handflächen drückten und seine Brust sich in kaum gezügelter Wut hob und senkte. Bilder: der Basketball in Zeitlupe, wie er ihm ins Gesicht prallte, seine Knie nachgaben, Tränen aus seinen Augen schossen, Blut auf den Boden der Turnhalle spritzte. Das überraschte Aufstöhnen, das plötzliche Schweigen, das Gelächter. Gelächter, bis der Sportlehrer das Blut sah; Gelächter, als man ihn fast ins Erdgeschoß tragen mußte. Ein Grinsen von Falcone, der draußen vor seiner Tür stand und mit Chris flirtete. Nur die Krankenschwester lachte nicht. Bilder: der Basketball, der Leopard, die Turnhalle, der Falke, der Korridor, die Treppe, das im Schatten wartende Pferd. Er schluckte ein Stöhnen herunter, rollte den Kopf von einer Seite auf die andere und lag noch eine weitere Viertelstunde auf der harten Pritsche der Krankenschwester, bis er es nicht länger aushalten konnte. Seine Nasenlöcher waren mit Watte verpropft, und in seiner rechten Wange klopfte es empfindlich.
Als er sich schließlich aufsetzte und in den Spiegel über dem Waschbecken starrte, sah er den Auftakt zu einem wundervoll grotesken blauen Auge. »Verdammt«, sagte er. Nachdem er aus dem Spender an der Wand ein Papierhandtuch gezogen hatte, entfernte er das verkrustete Blut aus seinem Gesicht und kämmte sich das Haar mit den Fingern. Die Schwester war fort. Er sah sich noch mal an, genauer, und zog mit einem Ruck die Watte heraus. Ein Schniefen, und er schmeckte Blut. Noch einmal Schniefen und mit einem nassen Handtuch abwischen, und dann wartete er, bis er sich ganz sicher war, daß er nicht wieder zu bluten anfing. Dann entdeckte er einen Erlaubnisschein, füllte ihn aus und unterschrieb selbst. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er immer noch die letzte Stunde schaffen konnte, Zoologie im zweiten Stock. Der Gang war leer, und er beeilte sich, ohne zu rennen, schwenkte ins Treppenhaus ein und nahm zwei Stufen gleichzeitig, mit gesenktem Kopf, während er schwer durch den Mund atmete. Irgend jemand, mehr als einer, kam von oben herunter. Er ignorierte sie, senkte den Kopf, so daß sie seine Verunstaltung nicht sehen konnten und nur fluchten, als sie gegen seinen Arm prallten, ihn dabei herumwirbelten, bis ihm jemand etwas in die Hand drückte. Er brüllte einen Protest und langte nach dem Eisengeländer und schaffte es schließlich sich auf die obere Stufe zu setzen. Schwindel ließ ihm übel werden, und er biß die Zähne zusammen, bis es vorüber war. Noch eine Minute, um sich wieder zu fangen, und er zog sich hoch. Als er nach der Tür griff, stürmte Mr. Hedley hindurch. »Also!« sagte der Lehrer aufgebracht. Er runzelte die Stirn. »Sir?«
Hedley streckte die Handfläche aus, wartete, packte ihn dann am Arm und zog ihn in den Flur, nahm etwas aus seiner Hand und hielt es ihm anklagend ins Gesicht. »Sie haben das also zuvor nie gesehen, richtig, Boyd?« Es war ein unverschlossenes Medizinfläschchen, und als der bullige Mann damit vor seinem Gesicht herumwedelte, erkannte er, daß seine Übelkeit zum Teil von dem Gestank herrührte, der aus seiner Öffnung drang. Er würgte und wandte den Kopf ab. »Du hast es nicht gern, wenn man den Spieß umkehrt, was, Junge?« »Ich… was?« Er blickte dem Mann über die Schulter und sah ein Dutzend Schüler im Gang. Einige lehnten gegen die Wand und sprachen leise, andere hielten sich die Taschentücher vor die Nase gepreßt. Einige sahen ihn und grinsten, andere sahen ihn und glotzten. »Das war eine Dummheit, Boyd.« »Was?« Seine Nase schmerzte. Er hatte Kopfweh, das sich bis ins Genick erstreckte. Er zeigte auf das Reagenzglas. »Das? Das war ich nicht.« »Wer dann? Der Geist von Samuel Ashford?« Sein Kopf schmerzte; Gott, wie sein Kopf schmerzte. »Nun, Boyd?« Er versuchte, von dem Unfall zu erzählen, wie er die Treppe hinaufgelaufen war, als einer – zwei oder drei, er war sich nicht sicher, er hatte nichts gesehen – als jemand gegen ihn prallte und ihm dies Fläschchen in die Hand drückte. Hedley zerrte seinen Kopf zurück und drückte ihn zur Seite. »Aber ich habe nichts getan!« »Mr. Boyd, schreien Sie nicht.« »Aber ich war’s nicht!« Hedley packte ihn am Arm, und Don schüttelte sich los. »Ich war’s nicht, verdammt«, sagte er benommen.
Hedley wollte ihn gerade wieder packen, als ein Gemurmel ihn herumfahren ließ und er sah, wie Norman Boyd durch seine Klasse marschierte. Der Direktor blieb stehen, um mit etlichen Schülern zu sprechen und sie fortzuschicken, vermutlich zur Krankenschwester, und klopfte ihnen auf die Schulter. Als er nahe genug heran war, erklärte Hedley über Dons stummen Protest hinweg, daß irgend jemand die Tür des Labors mitten während seiner Arbeit geöffnet und eine Flasche Hydrogensulfit auf den Boden gekippt hatte. »Von diesem«, sagte er und offenbarte das Fläschchen mit dramatischer Geste, »das ich im Besitz Ihres Sohnes fand.« Boyd räusperte sich und hob eine Braue. Don erklärte es ihm, stammelte, ging in Abwehrhaltung, und als er geendet hatte, sagte sein trotziger Blick: Wage nur nicht, mir nicht zu glauben. Boyd nahm das Fläschchen, roch daran und zog eine Grimasse. »Mein Büro.« »Aber, Dad – « »Tu, was man dir sagt! Geh hinunter in mein Büro!« Don sah den Chemielehrer an, der dreckig lächelte, sah zu den Teenagern im Flur hinüber, die tuschelten und grinsten. Der Gestank von faulen Eiern bereitete ihm Übelkeit. Boyd verstopfte das Fläschchen mit seinem Taschentuch und wiederholte den Befehl. »Jawohl«, murmelte er, drehte sich um und ging davon. »He, Don!« rief jemand, als er durch die Tür zum Treppenhaus ging, »erklär ihm, die Riesenkrähe hat’s getan!«
Norman lümmelte in seinem Sessel, eine Hand gegen die Wange gestützt, ein Auge geschlossen, als nähme er etwas ins Visier. Ein Aktenstapel mit Berichten wartete darauf, gelesen zu werden, wenn er Zeit fand, der Eingangskorb war voller
Briefe zur Beantwortung, der Ausgangskorb enthielt Papiere, die er sich erst gar nicht angesehen hatte, und mitten auf der Schreibtischunterlage befand sich Adam Hedleys Fläschchen, von dem immer noch das Taschentuch baumelte. Ein Finger streckte sich, es zu berühren, dagegenzustoßen, es herumzuschieben, ehe sich die Hand zurückzog und die andere Wange bedeckte. Norm Boy, dachte er, für einen intelligenten Mann bist du ein verdammter Idiot. Ein Frösteln legte sich über sein Genick, und er schauderte, um es abzuschütteln. Er blickte auf und stellte fest, daß es dunkel im Büro war. Ein Blick hinter sich und aus dem Fenster, und er seufzte; die Sonne war untergegangen, die Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Er war tatsächlich alleine im Gebäude. Nur er und sein Büro und das Putzgeschwader, das die Gänge und das Auditorium putzte, die Tafeln abwusch und ihn wahrscheinlich heimlich aus seinem Vorratsraum im Keller arm stahl. »Dämlich«, murmelte er und starrte auf das Fläschchen. »Dämlich und doof, und man müßte dich erschießen.« Jesus, wie hatte er glauben können, daß Don tatsächlich diese Flasche in Hedleys Klasse geworfen hatte? Wie hatte er das glauben können? Oder versuchte er sich nur einzureden, der Junge sei normal, tue normale Dinge wie normale Kinder. Das war das Problem – zu glauben, daß Don etwas Besonderes sei. Er war geradezu perfekt, manchmal entnervend makellos, mit Schrullen wie jedes andere Kind, die ihn auf die Palme bringen konnten. Und da war Norman Boyd, der vergaß, wer sie beide waren, und sich wie der König vom Berge, der Herr der Gebote aufspielte. Und als wäre er sein eigener Vater. Zum erstenmal seit Ewigkeiten wünschte er, Joyce wäre da, um ihn zu erinnern, daß er nicht Wallace Boyd, der immer
noch in der Fabrik arbeitete, war, daß Don nicht Norman war, der sich aus der Gosse hochkämpfte. Mit stummem Stöhnen entsann er sich des Tages, als Joyce ihm erklärt hatte, sie sei schwanger. Er hatte bei allem geschworen, daß er es besser machen würde, daß er da sein würde – ein Hafen für Stürme der Kindheit, ein Fels in der Brandung. Ein Vater, nicht mehr und nicht weniger. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und atmete tief durch. Es war der Druck, daran lag es. Nachdem Sam gestorben war, hatte der Druck begonnen. Er wußte nicht wie und war sich nicht sicher warum, aber er war da. Wartete auf ihn. Flüsterte ihm zu, daß Don um jeden Preis beschützt werden müsse. Und als er die Unmöglichkeit dessen erkannte und die Unvernunft, hatte er nicht begriffen, wie weit er bereits das genaue Gegenteil im Leben des Jungen angerichtet hatte. Es lag an dem Druck. Was er brauchte, war eine Atempause. Was er brauchte, war das Nachgeben von Falcone und den Lehrern und das Abblasen des Streiks. Dann säßen sie ihm nicht mehr im Genick, ebensowenig wie die Schulbehörde; und die Presse und der Bürgermeister und die ganze verdammte Welt würde ihn in Ruhe lassen, so daß er sich und seinen Sohn wieder kennenlernen könnte. Zweimal hatte er versagt – zum erstenmal, als Don seinen Wunsch, Veterinär zu werden, bekanntgab, und heute nachmittag. Zweimal, und plötzlich hatte er Angst. Seine Frau hörte auf, ihn zu lieben. Was würde sein, wenn sein Sohn das gleiche tat?
… und daher erkannte die Krähe, wie schrecklich sich der kleine Junge fühlte, und er flog aus dem Baum empor und in die Nacht… Der Park lag verlassen da. Eine Brise huschte durch die Bäume und schüttelte ein paar lose Blätter ab, ließ sie im Dunkeln herabwirbeln, im weißen Licht, auf die Erde, auf die Wege, zum Teich herüber, wo sie in trägen Kreisen schwebten und Inseln bildeten, die kurz über der Oberfläche trieben. Niemand ging spazieren. Die Verkehrsgeräusche klangen gedämpft. … und fand den bösen König alleine in seinem Schlafzimmer, und er flog durch das Fenster, und ehe der böse König aufwachen und sich verteidigen konnte, hatte die Riesenkrähe ihm beide Augen ausgehackt! Die einzige Lichtquelle beschien das Oval. Ein trübes Licht, in dem keine Wärme lag, und er saß auf der Bank und starrte auf das Wasser und rollte die Schulter, um die Kälte zu vertreiben. Seine Augen waren geschlossen. Seine Lippen bewegten sich so zaghaft, als zitterten sie. Und dann flog die Riesenkrähe durch das Schloß, bis sie den Bruder des bösen Königs gefunden hatte, der ebenso böse und gemein war, und die Riesenkrähe riß ihm mit einem Zupacken ihrer Riesenkrallen die Kehle auf. Die Häuser, die am Park lagen, wurden durch Bäume und die Großzügigkeit des Geländes verborgen, und der Boulevard, der südlich an ihm vorbeiführte, war zu weit entfernt, um von Bedeutung zu sein. Er war alleine. Niemand würde ihn behelligen, wenn er bis zum Sonnenaufgang blieb, und in einer solchen Nacht würde nicht einmal ein Penner erwägen, sich
auf einer Parkbank ein Lager zu machen. Er war alleine. Seine Hände waren zusammengefaltet zwischen die Knie geklemmt, und seine Jacke war zu dünn für den plötzlichen Temperatursturz, der die Luft eisig und die Blätter zu braunem Glas werden ließ. Ein Laut in seiner Kehle. Seine Schultern sanken noch mehr. Er hatte mehr als eine Stunde im Büro seines Vaters gewartet, bis dieser endlich hereinmarschiert kam. Don war aufgesprungen, aber wieder zum Sitzen aufgefordert worden. Ein bißchen Herumwühlen in Papieren, Anweisungen, ihn nicht zu stören, und er erhielt ein für allemal die Lektion über den Eindruck, den sie beide machen mußten – ebenso auf den Lehrkörper wie auf die Schülerschaft. Norman schwang das Fläschchen, als wollte er damit werfen. Don erklärte zum zweitenmal, wie der Junge – inzwischen war er sich sicher, daß es Pratt gewesen war – ihm die Flasche in die Hand geschoben hatte, als er die Treppe herunterkam. Sein Gesicht schmerzte beim Reden, und er fühlte immerzu nach, ob die Wange nicht anschwoll. Sein Vater sah seine Situation, zeigte Mitleid wegen der Verletzung, verweigerte aber seine Zustimmung, als angedeutet wurde, daß Brian einer solchen Gemeinheit fähig sei. »Ich habe nicht gesagt, daß er es war.« Don hatte den Rückzug angetreten und fürchtete plötzlich, sein Vater könnte den Jungen hereinrufen und ohne zu ahnen einen Krieg in Gang setzen. »Ich glaube nur, daß es so war.« Norman schien daran zu zweifeln, und Don verstand das nicht. In seinem ganzen Leben hatte er so etwas nicht getan. Ihm war oft genug erklärt worden, daß er weder Vorteile aus seiner Position ziehen solle – welche immer das sein mochten – noch so zu tun, als wäre er einer der Jungs. Das war er nicht. Er war, durch das Schicksal, etwas Besonderes, mit
besonderen Problemen. Und Norman erwartete etwas anderes von ihm, als es zu so etwas kommen zu lassen. »Zu was kommen lassen?« Er war aufgesprungen und an den Schreibtisch getreten. »Dad, warum hörst du mir nicht zu? Ich habe es nicht getan!« Norman starrte ihn an und sagte nichts. »Na schön, ich habe das Krankenzimmer verlassen, was ich nicht hätte tun dürfen, nehme ich an, und ich habe meine Entlassung selbst geschrieben. All right, das ist falsch. Okay. Aber ich habe diesen Mist nicht in Mr. Hedleys Klasse geschüttet!« »Donald«, sagte sein Vater mit perfekter Selbstbeherrschung. »Ich dulde nicht, daß du so zu mir sprichst, vor allem nicht hier.« »Oh, Jesus.« Und wandte sich ab. »Und du wirst nicht vor mir fluchen. Niemals.« Don kapitulierte. In der Schwebe zwischen Glauben und Mißtrauen, vom eigentlichen Thema durch abgedroschene, hohle Phrasen ferngehalten, kapitulierte er, und er wehrte sich nicht, als ihm sechs Tage Nachsitzen aufgebrummt wurden, womit er morgen anfangen sollte. »Du solltest dich glücklich schätzen«, sagte Norman, als er ihn beim Läuten zur Stunde an die Tür begleitete. »Die meisten anderen wären suspendiert worden.« »Dann suspendier mich doch!« sagte er und war überrascht, daß er nahezu bettelte. »Bitte, suspendier mich.« »Sei nicht frech, Sohn, sonst mach’ ich es.« Don entzog sich der Hand, die ihn um den Empfangsschalter schob, ignorierte die neugierigen Blicke, die die fünf Sekretärinnen ihm zuwarfen. »Du kapierst es einfach nicht«, sagte er, als er zur Tür hinausging. »Du kapierst es einfach nicht.«
Er holte seine Bücher und ging nach Hause. Seine Mutter würde nicht vor einer Stunde heimkommen, und sein Vater würde bis kurz vorm Abendessen in South bleiben. Das ließ ihm Zeit, seine Sachen zu verstauen und in die Jeans zu schlüpfen, sich ein Sandwich mit Erdnußbutter zu machen und einen Spaziergang zu machen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit ging er in den Park. … und dann die Krähe… Er blieb stehen und legte den Kopf schief. Er konnte nicht weit über die Laternen hinaus sehen, die das Oval umgaben, aber er war sich sicher, daß er von dort irgend jemand kommen hörte. Lauschend, mit den Händen die Knie umklammernd überlegte er, daß dies seine Mutter sein könnte, die ihn nach Hause holen wollte, ihn ausschimpfen und ihn zwingen würde, eine Tasse Suppe zu sich zu nehmen oder einen Becher wäßrigen Kakao. Als aber das Geräusch verstummte, redete er sich ein, in Wirklichkeit gar keine Schritte gehört zu haben. Er hörte es wieder. Zu seiner Linken, drüben im Dunkeln. Ein einziger Laut, deutlich auf dem Asphalt, wie Eisen, das sich so sachte an Eisen reibt wie möglich. Ganz bestimmt nicht seine Mutter; irgend jemand anderes. »He, Jeff, bist du’s?« rief er und steckte die Hände in die Taschen. Eisen stieß auf Eisen. Hohl. »Jeff?« Eine Bö kam auf und wirbelte die Blätter zu seinen Füßen auf, so daß er sich mit geschlossenen Augen zur Seite duckte. Der Teich kräuselte sich, und ein Zweig knackte, und irgend etwas Kleines, Leichtes huschte einen Baumstamm empor.
Schluckend und auf einmal Richtung Ausgang blickend stiefelte er um das Oval und ging einige Schritte den Weg hinauf. Da das Licht jetzt in seinem Rücken war, kroch ihm sein Schatten voraus und strebte zur nächsten Laterne fünfzehn Meter weiter. Und in diesem Abschnitt sah er nichts, was das Geräusch hätte verursacht haben können. Ein Stirnrunzeln, mehr wegen seiner Nervosität als wegen seiner Verwirrung, und so ging er weiter, vorsichtig, hielt sich an eine Seite und zuckte jedes Mal zusammen, wenn sein Ellbogen einen Busch berührte. Eisen schlug auf Eisen. Hohl. Er wollte schon wieder rufen, überlegte es sich anders und machte eine ungelenke Kehrtwende. Was immer es war, es wollte nicht gesehen werden, und was ihn betraf, so war das in Ordnung. Er hastete weiter, Schultern vorgeschoben, die Wangen gerötet, als der Wind ihn vorwärtsstieß. Die Spitzen seiner Ohrläppchen begannen zu brennen. Auch seine Sohlen machten Lärm, zurückgeworfen von den Bäumen, und sein Schatten war ganz schwach geworden, selbst unter den Laternen. Er blickte sich noch einmal um, aber er konnte nur den Teich sehen, der die Lichter reflektierte, sie zu Eis gefrieren ließ und das Oval in eine gleißende weiße Bühne verwandelte. Eisen. Auf Eisen schlagend. Die letzten paar Meter rannte er, schoß auf den Bürgersteig und starrte den Verkehr auf dem Boulevard an. Die Luft war hier wärmer, und er holte tief Atem, als er sich schalt, so albern gewesen zu sein. Dann drehte er sich um, weil er sich ein letztes Mal vergewissern wollte. Und er hörte Eisen auf Eisen schlagen, gedämpft und dunkel, und kein einziges Mal vermochte er zu erkennen, was sich dort in der Dunkelheit verbarg.
Tanker kauerte im Gebüsch, bedeckte das Gesicht mit den Händen und betete, der Mond möge ihn vor dem, was immer dort draußen in der Dunkelheit herumlief, verbergen. Zunächst schien es perfekt. Er hatte den ganzen Tag über die vertraute Anspannung verspürt, die sich in seiner Brust aufstaute und sie schwellen ließ, sich in seinem Kopf formte und ihm Schmerzen bereitete. Als es anfing, hatte er es ignoriert, glaubte, es läge an seinem Hunger. Also hatte er einige Mülltonnen durchwühlt, vier Bucks vor dem Kino in der Hauptstraße geschnorrt und sich mit Hamburgern und Billigwein vollgestopft. Aber der Druck wollte nicht weichen, und seine Hände zitterten vor Begierde, als er es nicht länger leugnen konnte – es würde bald kommen, daran bestand kein Zweifel. Vielleicht heute nacht, und dieser Junge würde ihm helfen. Langsam, sein Restchen Verstand nutzend und ein paar Tricks, die er nicht von den Milchgesichtern in der Army gelernt hatte, hatte er sich seinen Weg durchs Unterholz zum Oval gebahnt, als er die einzelne Stimme sich selbst eine Geschichte erzählen hörte. Es war zu schön, um wahr zu sein. Aber als er durchs Gebüsch lugte, hätte er beinahe gebrüllt. Es war dieser Affe vom letzten Abend, der ganz in Schwarz gekleidet gewesen war und von dieser Riesenkrähe gequatscht hatte. Da saß er und sah aus, als hätte er gerade seine Liebste verloren, und, man konnte es kaum glauben, erzählte sich selbst ein dämliches Märchen. Es war perfekt. Dann hatte der Kerl den Kopf scharf gewendet, und Tanker hatte sich in den Park zurückgezogen. Eisen rieb auf Eisen. Es gab absolut keinen Grund dafür, aber das Geräusch erschreckte ihn, ging ihm auf die Eier, ließ seinen Magen kribbeln, und er konnte nichts dafür – er wimmerte leise und
bedeckte das Gesicht mit den Händen. Lauschte. Versuchte, sich selbst unsichtbar zu machen. Hörte, wie der Typ davonging und fluchte, weil er ihm nicht folgen konnte. Das Geräusch schwoll an, und Tanker ließ sich zu Boden fallen, legte die Hände auf den Hinterkopf und wartete mit angehaltenem Atem, lauschte, als, was immer es sein mochte, sich vor ihm bewegte und dem Jungen folgte. Tanker blieb stehen. Die Windbö erstarb. Es gab keine Verkehrsgeräusche, keine Schritte. Er schluckte und wandte den Kopf, um mit einem Auge zu schielen. Durch die Sträucher konnte er den Asphalt sehen, die Finsternis auf der anderen Seite, sonst nichts. Seine Hände glitten vom Haar und preßten sich ins Gras, um ihn hochzudrücken. Langsam. Blutunterlaufene gelbe Augen blickten wild nach rechts und links und nahmen soviel sie konnten vom Weg auf, ehe er den Kopf hob, ehe er die Knie durchdrückte, ehe er die Arme ausstreckte, um im Gleichgewicht zu sein und sich in einen Kampf stürzen zu können. Aber es war nichts da. Der Weg war leer, der Spinner war weg, und als er sich zum Oval durchs Gebüsch schob und alle Richtungen überprüfte, erkannte er, daß er alleine war. Alleine mit diesem Druck und niemand da zum Töten. Da hörte er es wieder. Eisen auf Eisen, gedämpft, ein langsamer Rhythmus. Er schnellte herum, um sich ihm zu stellen, riß die Augen und den Mund auf. Er war alleine. Er konnte etwas Großes auf sich zukommen hören, aber er war völlig alleine.
Der Schnaps, dachte er, es ist der verdammte Schnaps. Er hastete ins Gehölz zurück, im Zickzack, um abzuschütteln, was immer da hinter ihm her sein mochte, und schlug sich dann in Richtung Westmauer. Seine Lungen schmerzten, seine Hände zitterten, und als er zu schlucken versuchte, schien seine Kehle ein Reibeisen zu sein. Er lauschte angestrengt und sackte erleichtert in sich zusammen, als er nichts außer dem Wind hörte. Dann kam der Druck wieder, in seinem Kopf und in seiner Brust. Ein tiefes, düsteres Schluchzen, als er zum Mond hinaufblickte. Er überkletterte geschickt die Mauer und hielt sich im Schatten der Dunkelheit, als er nach rechts rannte. Die Häuser am Park waren groß und erleuchtet, aber er konnte weder Fernseher noch Radio oder irgendwelche Stimmen durch die geöffneten Fenster hören. Alles, was er zu hören vermochte, war das Geräusch aus dem Park, und es führte ihn zu einer Ecke, wo er sich gegen einen Telefonmasten sinken ließ und die Straße beobachtete. Er schwitzte leicht, als seine Finger sich krümmten und seine Stirn sich in Falten legte. Fünf Minuten später sah Tanker ihn. Er benutzte dieselbe Straßenseite, schnippte mit den Fingern und tänzelte mit wiegenden Hüften heran. Tanker runzelte die Stirn, weil er dachte, der Kerl sei verrückt, bis er die Kopfhörer bemerkte und das Radio, das am Gürtel befestigt war. Eine tolle Art zu sterben, dachte er grinsend und zog sich hinter die Mauerecke zurück. Eine tolle Art zu sterben – lächelnd, deiner Lieblingsmusik lauschend, ein Bummel an der frischen Luft und auf dem Heimweg. Er lachte leise, und es klang wie ein Knurren. Er beobachtete das Herannahen des Teenagers, steckte den Kopf hervor und sah, wie er im Rhythmus des Gehörten gegen
die Mauer tippte, einmal herumkreiselte und mit den Fingern hoch über dem Kopf schnippte. Als er sich zum zweiten Mal um die eigene Achse drehte, war Tanker da, lächelnd. Packte den Jungen an der Kehle und warf ihn mühelos in den Park. Als der Junge aufprallte, kniete Tanker schon neben ihm. Ehe das Lied endete, heulte Tanker. »Don, der Barbar, sieht die schleimbedeckten Trolle am Ende des Hexentunnels«, flüsterte er und schlich langsam aus der Küche, halb gebückt, seinen linken Arm schützend wie einen Schild vor der Brust, seinen rechten ausgestreckt, um seinen besorgten Kumpel Crow festzuhalten. »Die sexy Jungfrau ist an einen brennenden Fels gekettet, und nur Don besitzt die Kraft, die magischen Ketten zu brechen und sie vor einem Schicksal schlimmer als der Tod zu bewahren.« Er blickte nach rechts. »Crow, was für ein Schicksal ist schlimmer als der Tod?« Sein Freund antwortete nicht, und als er über den gefransten Saum des Teppichs in der Diele stolperte und gegen die Wand prallte, klingelte das Telefon. »Geh schon!« schrie er und krümmte sich vor Schmerz. Seine Eltern waren hinten in dem ehemaligen Arbeitszimmer seines Vaters, das jetzt als Fernsehzimmer diente. Es gab irgendeinen Boxkampf im Kabel-TV, und er konnte seinen Vater fluchen hören, während seine Mutter dem Manager des Verlierers erklärte, was er mit seinem Fighter und der ganzen Familie machen konnte. Trotz der Ausdrucksweise herrschte ein guter Ton, ein normaler Ton, den es seit Wochen nicht im Haus zu hören gegeben hatte. Sie lachten, jubelten zusammen, und es klang so gut, daß er wünschte, sie würden sich endlich entscheiden, was sie nun füreinander empfanden.
Andererseits, vielleicht hatten sie das schon. Vielleicht hatten sie sich besonnen, und alles wurde gut. Das Telefon läutete wieder auf dem kleinen Tisch neben dem Eingang zum Wohnzimmer. Er nahm den Hörer ab, zwinkerte Crow ein Good-bye zu und lehnte sich gegen den Türrahmen. Es war Tracey. Er hatte völlig vergessen, daß sie hatte anrufen wollen. »Tut mir leid, daß ich so spät dran bin«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, als hielte sie die Hand um die Sprechmuschel. »Kein Problem, ich war sowieso noch auf einen Spaziergang draußen.« »Oh, ja? Jemand, den ich kenne?« »Nö. Bloß ich – « Aber er freute sich, daß sie gefragt hatte. »Oh, du alleine, hm? Keine große Gesellschaft, Boyd.« »Das würde ich nicht sagen. Wie du wissen solltest, kann ich sehr geistreich sein, wenn es mich überkommt.« Sie kicherte, und er starrte blicklos zur Decke. »Was macht das Auge?« Er betastete forschend die Seite seines Gesichts. »Noch da, glaube ich.« »Beileid wegen des Nachsitzens.« Herrjeh, dachte er, schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell. »Mach mir nichts draus«, sagte er. »Meine Noten waren dieses Jahr sowieso nicht allzu gut. Da kann ich die Zeit zum Lernen gebrauchen.« »Hör mal, Vet, was morgen abend betrifft…« Sein Magen schien mit Insekten gefüllt, die zu krabbelig waren, um Schmetterlinge zu sein. Er konnte es an ihrem Tonfall hören – sie wollte sagen, daß sie bereits eine Verabredung mit Brian hatte. »Ja?« »Ich schaff es nicht.«
Er dachte daran, sich die Kehle aufzuschlitzen, dann dachte er, daß er froh sein konnte, denn jetzt mußte er sich nicht mit Brian anlegen. Aber zuerst würde er sich die Kehle aufschlitzen. »Mein Vater hat dieses Wochenende frei, und wir müssen Großmutter auf Long Island besuchen. Wir fahren direkt nach der Schule los, sagt er.« »Oh. Na, okay.« »Aber, hör mal. Wir könnten es auf nächsten Freitag verlegen, wenn dir das paßt. Nächsten Freitag wäre prima. Wenn du noch willst, natürlich.« Er schwieg. Seine Kehle wurde wieder frei, abrupt drang der Anblick der Decke in sein Bewußtsein, und er konnte sie vor sich sehen, schwebend, lächelnd, ihr dunkles Haar in weichen Fransen über der Stirn. »Vet, bist du noch dran?« »Doch, klar«, sagte er und schüttelte sich. »Okay.« Jetzt enttäuscht. »Ich dachte, du wärst sauer wegen morgen. Oder daß ich dich Vet nenne.« »Macht nichts. Wirklich.« Die Schnur hatte sich um sein Handgelenk gewickelt, und er konnte sie nicht lösen, ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen und zu verpassen, was sie sagte. »Wirklich, ganz ehrlich.« Und es machte ihm nichts aus. Sie hielt es für großartig, daß er sein restliches Leben mit Tieren verbringen wollte. Als es ihm eines Tages herausgerutscht war, hatte sie sich sofort vorgestellt, wie er auf dem Land arbeitete und von Dorf zu Dorf, von Farm zu Farm fuhr, um dafür zu sorgen, daß alle seine Schützlinge bei Gesundheit wären. Es war ihr ernst gewesen. Brian und Tar konnte sich kaum halten: Es sei zu gut, um wahr zu sein: Enterich Duck, der sich anschickte, die Enten zu heilen. Noch eine Woche später quakten sie jedesmal, wenn sie
ihn sahen, und flatterten mit den Armen und erklärten ihm, sie hätten einen Eingeweidebruch und müßten aufrecht schwimmen. »Also«, sagte sie, »ich dachte, du hättest erzählt, der Bio-Test war ein Kinderspiel.« Daraufhin unterhielten sie sich wie gewöhnlich, das Vorgeplänkel war vorüber, und sein Herz fand allmählich seinen Platz wieder. Einmal kam seine Mutter mit einem Sandwich und einem Bier vorbei, blickte ihn fragend an, und er lächelte und zeigte auf sie. Ein Mädchen? fragte sie stumm. Er nickte. Chris Snowden? Er schüttelte den Kopf und murmelte eine Antwort auf etwas, was Tracey gesagt hatte. Seine Mutter zuckte die Achseln – Es macht nichts, Liebes, solange es weiblich ist und dich nicht heiraten will, ehe du aufs College gehst. – Und nachdem sie sich über den Zustand seines blauen Auges informiert hatte, ging sie hüftenschwingend durch das Wohnzimmer zum Fernseher zurück. Das war ein Umweg, und beide wußten es. »Don, verdammt, hörst du mir nicht zu?« »Es war meine Mutter«, erklärte er fast flüsternd und vergewisserte sich, daß die Luft rein war. »Spionierte mir nach.« »Oh. Na. Meine Leutchen scheren sich nicht darum. Hauptsache er trägt Hosen, kämmt sich die Haare und ist reich. Dad will, daß ich ein Jahr nach der Graduierung verheiratet bin.« »Ich dachte, du wolltest aufs College.« »Will ich. Er glaubt es bloß noch nicht. Gott, der Mann lebt im letzten Jahrhundert. Ich schwör’s.« »Himmel, erzähl mal.«
»Ja, klar.« Sie schrie ihrer älteren Schwester irgend etwas zu, und er konnte ihre Mutter im Hintergrund herumpusseln hören. Eine tiefe Stimme gesellte sich hinzu – ihr Vater, der vorschlug, die Familie möge zur Hölle fahren. »So«, sagte er, »was hast du gerade gesagt?« »Der Spaziergang. Wo bist du gewesen?« »Draußen. Im Park.« »Wow!« Eine Pause, Getuschel. »Wow, Don, hörst du denn nie Nachrichten?« Er blickte zur Küche, wo das Radio seiner Mutter auf der Anrichte stand. »Nee. Habe keine Zeit.« »Nun, es wäre aber besser«, erklärte sie ihm mit gesenkter Stimme. »Irgendjemand wurde dort heute abend ermordet. Vor wenigen Stunden. Mein Vater kam gerade nach Hause und – « Sie unterbrach sich. »Jesus, da warst du doch gerade drin!« Er fuhr sich mit der Hand an die Wange und kratzte sich leicht. »Ich habe nichts gesehen. Ich habe nichts gehört.« Seine Hand umklammerte den Hörer fester. »Was ist passiert?« »Ich weiß nicht. Mein Vater redet nicht darüber. Im Radio sagt man, dieser Typ von der North, er kam gerade von der Arbeit, als es ihn erwischte. Sie sagen… Man nimmt an, es war der Howler. Wahnsinn.« »Ja.« Eisen auf Eisen. »Hey, du könntest ein Zeuge sein oder so.« »Aber ich habe nichts gesehen, Tracey! O Gott, erzähl bloß deinem Vater nichts davon.« »Okay, okay.« Ihre Mutter unterbrach sie, und sie wimmelte sie ab, ehe sie brummte, wie toll es doch sein mußte, ein Einzelkind zu sein. »He, Vet! Was ist dein Lieblingstier?« Er schniefte und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, während er sich in seiner Phantasie Bilder vorstellte. »Darüber
habe ich noch nie nachgedacht, weißt du das? Hey, es ist komisch, aber ich habe noch nie darüber nachgedacht.« Er stellte sich sein Schlafzimmer vor und ging in Gedanken die Poster und Drucke und Figuren durch, die er besaß. »Ich glaube, Pferde. Ich weiß nicht. Leoparden und Panther.« Sie lachte, und im Hintergrund neckte sie jemand lachend. »Ich wußte nicht, daß du reitest.« »Panther? Ich reite keine Panther.« »Nein, Dummchen, Pferde. Ich wußte nicht, daß du Pferde reitest.« »Tue ich nicht.« Es gab eine Pause, und eine männliche Stimme begann zu meckern. »Wieso dann Pferde?« »Ich weiß nicht.« Er sah das Poster, das Pferd, und er zuckte in der leeren Diele die Achseln. »Sie sehen so… ich weiß nicht, so groß und kraftvoll aus, weißt du? Als könnten sie dich glatt überrennen, ohne es überhaupt zu bemerken.« »Ein Pferd?« »Klar.« »Aber sie sind dumm.« »Ich schätze, ja.« »Ich meine, sie sind – « Die Stimme des Mannes wurde lauter, und sie bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand. Er versuchte, die Worte zu verstehen, aber alles, was er heraushören konnte, war, daß es nach einer Auseinandersetzung klang. »Don, ich muß Schluß machen.« »Okay, klar.« »Sehen wir uns morgen?« »Klar! Klar. Ich werde – « Sie legte auf, und er starrte mitten in der Diele stehend die Haustür an, bis sein Vater auf dem Weg nach oben an ihm
vorbeikam und ihn freundlich daran erinnerte, daß das Nachsitzen am nächsten Tag begann. Don nickte. Norman, schon halb oben auf der Treppe, sah hinunter und runzelte die Stirn. Er wollte etwas sagen, besann sich dann aber eines anderen. Don bemerkte nichts. Er sah immer noch zur Tür, mit dem Rappen darauf und Tracey Quintero auf seinem Rücken. Fünf Minuten später kniff Joyce ihn in die Seite, als sie vorbeikam, und er zuckte zusammen, errötete bei ihrem Gelächter und nickte, als sie ihn bat, die Lichter zu löschen und nach dem Türschloß zu sehen. Während er dies tat, dachte er an Tracey und an den Jungen, den man ermordet hatte. Es konnte gut sein, daß er den Mörder gehört hatte, der geglaubt hatte, er wäre ein Zeuge, und ihn hatte umbringen wollen. Ihm wurde kalt, und er hielt sich ein bißchen auf der Seite, als er die Vorhänge zuzog und sich doppelt vergewisserte, daß die Riegel an Haus- und Hintertür vorgelegt waren. Dann lief er nach oben in sein Zimmer und erwog, seinen Eltern alles zu erzählen, entschloß sich aber dagegen. Mom würde sich nur aufregen und verlangen, daß man die Polizei anrief, und Dad würde ihnen beiden erklären, daß kein Grund zur Sorge bestand. Dem Jungen ist nichts passiert, und da er nichts gesehen hat, bestand kein Anlaß sich einzumischen. Und er hätte recht, es bestand überhaupt kein Anlaß. Also Waschen und eine sorgfältige Überprüfung, ob sein Gesicht seit dem Morgen weiter angeschwollen wäre und das Auge nicht schlimmer wurde. Dann schloß er seine Tür und setzte sich mit gekreuzten Beinen aufs Bett. Außer seiner Unterwäsche trug er nichts. Er sah sich um – der Panther, der Luchs, die Elefanten schwiegen, bis er zum Poster über dem Schreibtisch kam.
Das ist es, dachte er. Das ist es, was ich brauche. »He, hör zu«, sagte er zu dem kaum sichtbaren Pferd. »Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich dir keinen Namen gebe. Ich meine, ich könnte, aber all die guten sind schon vergeben, und die Hälfte davon klingt ohnehin, als wäre man im Kino oder so. Außerdem«, fügte er mit einem Blick auf den im Dschungel liegenden Panther über seinem Bett hinzu, »möchte ich nicht, daß die anderen Jungs durchdrehen.« Er grinste und rollte die Augen und erstickte mit der Hand ein Lachen. »Aber du hast gar keinen nötig, stimmt’s? Du bist zu überlegen für einen blöden Namen. Was dich interessiert, ist, wieso du und nicht diese schwarze Katze dort drüben, stimmt’s? Nun, weil du groß und stark und… einfach deshalb. Außerdem, Tracey mag Pferde. Und du bist ein Pferd, und sie wird dich mögen, und wenn sie dich mag, wird sie mich mögen, und dann werden wir Freunde sein, richtig? Richtig. Und, Boy, du würdest diesen Scheißer mit seinem Hut zu Tode erschrecken.« Er grinste wieder und ließ sich nach hinten kippen, schlug mit dem Kopf gegen die Wand und spürte nichts. Er glaubte nicht, daß die anderen Kumpel was dagegen hätten, wenn er einen aussonderte, nur diesmal. Sie würden es verstehen. Das hatten sie immer und würden es auch diesmal haben. »Also hör gut zu, alter Bursche«, sagte er und starrte zur Decke, wo Tracey auf einer Wolke schwebte, »du mußt mir ein paar Sachen beibringen, verstehst du, denn ich nehme an, daß du ganz schön rumgekommen bist. Gib mir ein paar Tips und so, okay? Und wenn du auf mich aufpaßt, dann pass’ ich auf dich auf. Dafür sind Freunde da, richtig? Richtig.« Und er glitt vom Bett, küßte seine Fingerspitzen und legte dem Pferd die Hand auf den Kopf.
»Freunde«, sagte er. »Freunde.«
»Er spricht wieder mit diesen Tieren«, klagte Norm, während sich Joyce die Zähne putzte. Sie murmelte etwas, und er schüttelte den Kopf, während er auf sein Ohr zeigte. »Ich sagte«, erklärte sie ihm, nachdem sie die Zahnpasta ausgespuckt hatte, »Kinder sprechen andauernd mit sich selbst. Es ist, als dächte man laut. Du solltest meine Klasse manchmal hören.« »Ja, aber du unterrichtest Flöckchen.« »Knospende Künstler sind Flöckchen?« »Sieh in den Spiegel.« Sie warf ihre Haarbürste nach ihm, stürzte sich selbst hinterher, und sie rangen im Bett, bis er sie unter sich festgenagelt hatte. »Norm?« sagte sie und legte eine Hand auf die Hand, die ihre Brust bedeckte. »Was?« Die Weide an der Hausecke knarrte leicht im Wind, und er konnte das Gurren der grauen Tauben hören, die unter dem Garagendach nisteten. »Es ist fürchterlich, aber hast du dir je gewünscht, wir hätten keine Kinder? So daß wir, wenn so was aufkommt, nicht gleich an zarte Seelen und Traumata und Zurechtbiegen des kindlichen Verstandes denken müßten? Hast du je daran gedacht, Norm?« Er versuchte, im Dunkeln ihr Gesicht zu erkennen. »Sind wir jetzt ernsthaft?« »Ja.« »Dann… ja. Ja, es ist mir hier und da durch den Kopf gegangen.« Aber er erzählte ihr nichts von der Schuld, die er dabei empfand.
»Das heißt aber nicht, daß wir ihn nicht lieben«, sagte sie beunruhigt und bettelte um Vertrauen. »Und, Gott, ich vermisse immer noch meinen kleinen Sam.« »Ich weiß.« »Aber es wäre soviel leichter, wenn du weißt, was ich meine?« »Ja.« Der Wecker summte leise. Der Wind strich über das Dach. Sie konnten hören, wie zwei Autos die Straße herunterfuhren. »Don war heute abend im Park.« »So?« »Hast du dir nach dem Kampf nicht die Nachrichten angesehen?« »Oh.« Er erhob sich ein wenig, gab sie aber nicht frei. »Doch. Ich denke, ich sollte mich besser mit ihm darüber unterhalten. Jedenfalls, solange sie diesen Kerl noch nicht erwischt haben.« »Vielleicht hat er etwas gesehen.« »Nein. Wenn, dann hätte er es uns erzählt.« Er küßte sie aufs rechte Ohr, daß sie sich wand. »Norm?« Unsicher: »Ja?« »Dons Noten rutschen nach unten. Nicht viel, aber es macht mir Sorgen. Darüber solltest du auch mit ihm reden. Er verbringt zuviel Zeit mit diesen erfundenen Tieren und damit, neue zu erfinden.« »Werde ich«, versprach er. »Vielleicht sollten wir ihn auffordern, sich von diesen Viechern zu trennen.« »Das wäre brutal.« »Er würde seine Zeit nicht mehr mit ihnen vergeuden.« Als sie ihm recht gab, knabberte er an ihrem Ohrläppchen. »Norm?« »Jesus, was denn jetzt?«
»Ich will wirklich an mir arbeiten, bestimmt.« »Gut«, sagte er und massierte ihre Brust mit seiner Handfläche. »Nein, das meine ich ernst, Norman. Ich will wirklich an mir arbeiten.« »Ich auch«, sagte er und glaubte es fast selbst. Sein Kopf sank in die Beuge ihrer Schulter. »Ich auch, Liebling.« »Norm, es ist schon spät«, flüsterte sie mit halb geschlossenen Augen, »und du weißt, wie müde du in jüngster Zeit danach warst. Außerdem, morgen früh habe ich gleich ein Treffen des Komitees. Wir müssen das Feuerwerk planen.« »Schön für euch. Macht es höllisch laut.« »Norman?« »Joyce«, sagte er, »falls du die Dinge wirklich ins Lot bringen willst, dann hältst du jetzt besser den Mund.«
5
Am Samstagnachmittag kehrte Don mit seiner Mutter von einer Einkaufstour wegen neuer Kleidung zurück, während der sie zweifelhafte, manchmal merkwürdige Statistiken zitiert hatte, die die jährlichen Einkommen vor und nach Steuer von Veterinären und Ärzten verglichen, wobei sie scherzhaft meinte, den Tag damit zuzubringen, seine Hand ins Rectum von Tieren zu stecken oder an ihrer Kehle entlang zu fühlen, sei ebenso zauberhaft und statusträchtig wie die Arbeit seines jüngst verblichenen Großvaters hier in der städtischen Kleiderfabrik. Don lachte und hätte ihr beinahe erzählt, was er vorhatte. Als sie zu Hause ankamen, traf er seinen Vater in seinem Zimmer an, der seine Tiere betrachtete. »Bist du dafür nicht schon ein wenig zu alt?« fragte Norman und verließ das Zimmer, ohne eine Antwort abzuwarten.
Am Montag packte Don Jeff mitten in der Eingangshalle am Arm, so daß dieser beinahe seine Bücher hätte fallen lassen. »Jeff, hast du eine Minute Zeit?« »He, das Nachsitzerkind. Was ist los? Es läutet schon. Jesus, das Auge sieht ja schlimm aus!« »Vielen Dank, Kumpel. Fühlt sich aber schon besser an. Hör mal, ich muß dich was wegen Tracey Quintero fragen.« »Was gibt’s da zu fragen? Du kennst sie ebensogut wie ich.« »Ich will wissen, ob sie mit Brian geht.« »Brian? Brian der Protz Pratt? Dieser Brian?« »Hör auf, mich zu verscheißern, Jeff, ich muß es wissen.«
»Jesus, wo zum Teufel hast du deine Augen? Nein, tut sie nicht. He, hast du von dem Typ gehört, den es letzte Woche im Park erwischt hat? Es war der Howler, sagt man. Hat den armen Bastard aufgefressen, als sei’s Hundefleisch oder so. Dieser Bursche ist echt pervers, weißt du das? Hat fünf Kids in New York gekillt. Wie wir, meine ich, keine kleinen Kinder.« »Jeff, ich interessiere mich nicht für irgendeinen Irren, ich rede von Tracey.« »Und ich habe dir erklärt, daß sie nicht mit Brian geht.« »Aber damals abends im Park, nach dem Konzert…« »Du meinst all das Gewäsch über Titten?« »Nun…« »Boyd, bist du wirklich so schwer von Begriff?« »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Brian sieht Titten bei allem, was auch nur entfernt nach etwas Weiblichem aussieht. Und wenn du mal genau zuhörst, dann wird dir der Verdacht kommen, daß er auch nicht eine einzige flachgelegt hat.« »Dann ist sie also nicht…« »Seine? Himmel, nein.« »Jeez. Oh… Wahnsinn.« »Erklärst du mir nun, was das alles soll, oder muß ich es erst in der Zeitung lesen?« »Geht nicht, Jeff. Es hat geläutet. Wir sind spät dran.« An jenem Nachmittag marschierte Detective Sergeant Thomas Verona in Norms Büro, Sergeant Luis Quintero von der Streife an seiner Seite. Nach einigen Minuten Konversation ging Quintero hinaus, um mit den Vorzimmerdamen zu sprechen. Verona fragte den Direktor, ob er irgend etwas gehört habe, Gerüchte oder Derartiges, die einen Fremden beträfen, der sich vielleicht in der Nähe der Schule herumtriebe. Norm stellte entschieden fest, daß er nichts gehört habe, aber falls die Polizei jeden Schüler oder Lehrer während
der Schulzeit befragen wolle, müsse dies erst mit dem Schulamt geklärt werden. Ihm selbst mache es nichts aus, wenn er auch nicht ganz verstehe, weshalb man sich dafür interessiere, wo der Mann längst über alle Berge sei. Dies, sagte er, als der Polizeibeamte ihn merkwürdig ansah, sei doch das übliche Schema, nach dem Howler zuschlug: Erst töten, dann in eine andere Stadt gehen. Verona, dessen Vater in der Fabrik gearbeitet hatte und der Norman seit seiner Kindheit kannte, erklärte ihm im Vertrauen, es bestehe eine Aussicht, daß der Kerl sich noch länger hier herumtreibe, wenn er Kontakt zu einem der Schüler aufgenommen oder Wind vom Ashford Day bekommen habe, denn ab Mitte nächster Woche würde es in den Straßen von Menschen wimmeln, und der Täter wisse die Sicherheit in einer Menschenmenge bestimmt zu schätzen. Als Norm fragte, wieso man den Mann denn immer noch nicht gefaßt habe, erzählte ihm Verona, wieder vertraulich, daß es weder eine Beschreibung, einen Fingerabdruck noch einen Fetzen Stoff oder Blutstropfen gebe, mit dem man ein Körperprofil erstellen könne. Man könne sich keine Vorstellung von seiner Erscheinung machen, wohl über seine Kraft. Norman fragte nicht nach weiteren Einzelheiten, versprach aber, die Augen offen zu halten und den Lehrkörper anzuweisen, in der nächsten Zeit keine Schüler zu lange nach Schulschluß zurückzuhalten. Verona wußte die Kooperationsbereitschaft zu schätzen und schlug vor, man möge nach so vielen Jahren aufhören, Fremde zu sein, und irgendwann demnächst mal ein Bier miteinander trinken. Veronas Frau war mit Joyce zusammen im Komitee, und der Detective gestand, wie leid er es war, ein Ashford Day-Witwer zu sein. Norman lachte, hielt es aber gar nicht für komisch. Nach der Turnstunde gelang es Don, neben Fleet in die benachbarte Duschkabine zu kommen. Er vergaß zum
erstenmal seine Scheu, einen anderen Jungen nackt zu sehen. Trotzdem brauchte er einen Augenblick, um aufzuhören, die Wolken von Sommersprossen auf Fleets Körper anzustarren. »He, Fleet, ist Trace… du weißt schon, ist sie Brians Mädchen?« »Trace? Gib mir die Seife, Mann, ich stinke wie Pferdemist. Trace Quintero, die Kleine von dem Cop?« »Ja.« »Nee. Das letzte, was ich hörte, war, daß sie gar keinen hatte.« »Ganz ehrlich?« »Mann, paß auf dein tolles Veilchen auf! Du solltest ein Steak oder so was darauf legen, oder du wirst blind, so sicher wie das Amen in der Kirche. Jesus, Brian kann… egal. He, interessierst du dich für Trace?« »Ich weiß nicht, Fleet. He, was soll das, das ist meine Seife! Gib die nicht weiter!« »Weißt du, du solltest dich besser an jemanden wie Chrissy Snowden halten, Mann. Erzähl bloß Amanda nicht, daß ich das gesagt habe, sie reißt mir den Arsch auf, aber das ist eine tolle Frau, wenn du mich verstehst.« »Ich denke.« »Du denkst? Jesus, Don, du meinst, du hast dir noch nie einen runtergeholt, alleine bei dem Gedanken an diesen Hasen?« »Ich – « »Donny, du bist echt hoffnungslos. Du bist ein großartiger Mensch, aber du bist echt hoffnungslos.« »Stimmt wohl.« »Gut, daß du diesen Hirnamputierten nicht getroffen hast, der den Kleinen alle gemacht hat. Wahrscheinlich hättest du ihn zum Abendessen eingeladen. Du bist ein guter Mensch, Don, aber du brauchst ein bißchen Pep. Du weißt, was ich meine?
Ein bißchen mehr Schwung und Kampfgeist, wenn’s darum geht, mit der Wirklichkeit fertig zu werden.« »Ich komme schon zurecht, und jetzt gib mir meine Seife zurück, verdammt.« »An deiner Stelle halte ich es für das beste, jedem zu erzählen, du hättest dir das Auge bei einer Prügelei geholt. Das verschafft dir ein bißchen Respekt, und du kriegst alle Weiber, die du haben willst, wenn du kapierst, was ich meine.« »Dafür ist es ein bißchen spät.« »Es ist nie zu spät für eine kleine Lüge.« »Ja.« »Außerdem, nach allem, was ich gehört hab’, ist Tracey unter all den Pullovern der Traum jedes Schreiners – flach wie ein Brett.«
Don war sich nicht sicher, ob es sich um einen Traum oder einen Alptraum handelte. Er wandelte durch die restliche Woche mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht, einem guten Wort für jeden, inklusive Brian Pratt. Er errötete nicht einmal, als Chris in der Halle auf ihn zukam und mit einem Finger über seine Wange strich, wobei sie sanft über den violetten Fleck um sein Auge streichelte und in einer sanften und hohen Stimme die Hoffnung äußerte, es würde nicht allzu weh tun. Als er irgendeine schwachsinnige Antwort stammelte, lachte sie nicht. Sie lächelte und zwinkerte ihm nur zu, als sie weiterging. Auf der anderen Seite hörte er kein Wort von dem, was die Lehrer sagten und wurde zweimal wegen Tagträumerei gerügt. Falcones Ankündigung, daß die Arbeit erst nächste Woche zurückgegeben werde, erschütterte ihn keineswegs. Hedleys wütender Blick in der Halle wurde ihm erst eine Stunde später bewußt. Als die beaufsichtigenden Lehrer der Nachsitzer ihn wegen Vor-sich-hin-Starrens anpfiffen, wußte
er nicht, wovon sie sprachen, und sie ließen ihn wissen, daß er unverschämt wäre und sie jetzt das Schulbüro davon unterrichten würden. Und als Tar Boston das Schloß seines Spindes am Donnerstag mit einem Bleistift verstopfte, zuckte er nur die Achseln und spazierte ohne seine Bücher davon. Das war falsch. Er benahm sich wie ein Irrer, wußte dies und konnte doch nichts daran ändern. Er begann, seine spontane Einladung zu bedauern. Zwischen den Stunden lungerte er jedoch vor den Türen herum, solange er sich traute und versuchte, einen Blick auf Tracey zu erhaschen, ihr einfach beiläufig zuzunicken, ihr ein vertrautes Lächeln zu schenken und sie mit einem Blick an ihre Verabredung zu erinnern. Er sah sie nicht. Bis Freitag nachmittag hatte er sie nicht ein einziges Mal nah genug gesehen, um ihr ein Signal zu geben, und er gelangte zu der Überzeugung, daß sie ihm aus dem Weg ging, sich genierte, weil ihr keine anständige Ausrede einfiel, mit der sie ihre Verabredung absagen konnte. Er wußte, zu Hause würde ihn eine Nachricht erwarten – sie hatte Kopfweh, sie mußte sich die Haare waschen, sie mußte wieder zu ihrer Großmutter nach Long Island, und man würde wieder direkt nach Schulschluß fahren. Am Schluß der letzten Stunde war er soweit, zu glauben, Brian hätte sie zur Einwilligung gebracht, um dem dämlichen Duck mal wieder einen Streich zu spielen. Und da er war, der er war, machte es nichts mehr aus, ob seine Gefühle verletzt wurden. Als er seine Bücher im Spind verstaute, hätte er fast geweint; als er zum Seitenausgang ging, um eine Runde auf der Bahn zu laufen, hätte er beinahe Traceys Namen geschrien. Aber er tat es nicht. Auch das war eine Regel – bei seiner Mutter ging das in Ordnung, wenn sie schrie oder weinte, aber nicht bei ihm. Oder seinem Vater. Beherrsche dich und steh es durch, hatte
sein Vater ihm gesagt. Sich beherrschen und durchstehen. So benahm sich ein Mann. Beherrschen. Durchstehen. Und erst, als er schon halb unterwegs zum Sportplatz war, fiel ihm ein, daß er heute zum letzten Mal nachsitzen mußte. Zum Teufel damit, er würde nicht gehen. Niemand würde ihn dazu bringen, noch einen Tag in einem stickigen Raum zu sitzen und an die Decke zu starren, während ihm das Leben zwischen den Fingern zerrann. Er ging weiter hinunter. Langsamer jetzt, er lauschte seinen Schritten auf den eisenbeschlagenen Stufen der Treppe. Nein, er mußte laufen. Er mußte nachdenken. Und um nachzudenken, mußte er laufen. »Don?« Sein Vater stand oben mit Gabby D’Amato, dem Hausmeister. Er blickte auf seine Armbanduhr und zog dann mit einem unmerklich amüsierten Blick eine Braue hoch. »Hast du etwas vergessen?« Sein Gesicht begann zu glühen, und beinahe hätte er seinem Vater gesagt, er solle sich zum Teufel scheren, sich dies Nachsitzen irgendwo hinstecken, denn er hatte es nicht verdient und war es nicht gewesen und wieso er überhaupt dazu kam, sich als Gott über sein Leben aufzuspielen? Warum zum Teufel, wollte er schreien, ließ der Alte ihn nicht endlich in Ruhe und übte zur Abwechslung mal auf jemand anders Druck aus. Er wollte es. Beinahe hätte er es getan. Bis er daran dachte, wie es sein würde, wenn er heimkam, was seine Mutter sagen würde, wie sein Vater ihn behandeln würde. Beherrschen. Durchstehen.
Scheiße, dachte er, oh, Scheiße. Also zeigte er seinem Vater ein dümmliches Lächeln und eilte zu seinem Spind zurück, um sich was zu lesen zu holen. Unten hörte er die beiden Männer reden, leise lachen. Norman klopfte dem alten Mann auf die Schulter. Wäre der Rappe hier, dachte er, als er in die Halle eilte, würde er die beiden, ohne einen zweiten Gedanken zu verschwenden, gegen die Wand schleudern.
Das Dinner verlief fast wie in den guten alten Tagen. Sein Vater war in bester Stimmung, seine Mutter schnatterte aufgeregt über das Treffen des Komitees in der High-School am Abend, und er schaffte es, ihnen nicht zu erzählen, was nach dem Nachsitzen geschehen war. Zunächst traf er Tar und Brian. Sie waren auf dem Weg zum Training und hatten ihn in eine Ecke gedrängt, ihm auf die Schulter geklopft und ihn leicht gegen den Arm geboxt. »He, Fucker«, hatte Tar gesagt, dessen Laune so schwarz war wie sein Haar, »versuchst du, uns Schwierigkeiten zu machen?« »Was?« Brian, der meinte, daß sein grobes kampfzerbeultes Gesicht und sein kurzgeschorenes Blondhaar ihn wie einen Marinesoldaten aussehen ließen, packte ihn am Gürtel und zerrte ihn dicht zu sich heran. »Dein Daddy hatte ein Gespräch mit uns, Schätzchen. Er sagte, wir sollten solche Sachen, wie Hedleys Raum zu verstänkern, in Zukunft unterlassen.« Oh, Himmel, dachte Don, oh, Himmel. »Nun, er hat noch nichts getan«, sagte Tar und grinste, um Don seine nikotinverfärbten Zähne zu zeigen, »aber er sagte, er will uns im Auge behalten, nicht wahr, Brian?«
»Stimmt genau.« »Nun hört mal, Jungs«, sagte Don und schnappte nach Luft, als ihm ein Finger in den Magen gestoßen wurde. »Nein«, sagte Brian. »Du hörst zu, Duck. Du hörst gut zu, denn Tar Baby und ich, wir vergessen nichts. Und du kannst Gift darauf nehmen, daß wir nicht vergeben.« Sie grinsten und traten zur Seite, und als sie zur Tür gingen, sah Brian über die Schulter. »Sieh dich vor, Duck. Ich werde es dir heimzahlen und ich sag’ dir nicht, wann.« Nachdem sie fort waren, kam Falcone zu ihm herüber, mit gerunzelter Stirn. »Haben Sie Ärger mit den Jungs, Donald?« »Nein, Sir!« »Oh, gut.« Und er reichte ihm den Testbogen und sagte lächelnd: »Für Sie, Boyd, nur für Sie.« Ein Blick auf seine Note, und er stöhnte – geschafft, aber nur knapp. Dann war das Rot gekommen. Das vertraute Rot, das sich seiner bemächtigte, wenn er die Beherrschung zu verlieren begann (reiß dich zusammen), die rote Wolke, die um ihn herumwirbelte und den Boden unter seinen Füßen zu verschlingen drohte und ihn nur verließ, wenn er sich zwang, die Regel zu beachten (durchstehen). Aber diesmal war es schwer. Die ganze Woche lang hatten Mr. Hedley und Mrs. Klass ihm seine Verantwortung einzubleuen versucht, ihm seine Tagträume und das Abrutschen seiner Noten vorgehalten. Und jetzt das. Es dauerte nur einen Augenblick, und als das Rot verschwand, lehnte er an der Wand und zitterte, und Falcone war weg. Jetzt genoß er das Dinner und erwähnte nichts von der Arbeit, weil er fürchtete, für den Rest seines Lebens von allen Vergnügungen ausgeschlossen zu werden. Auch sagte er nichts von Tar und Brian. Norman würde ihm nur erklären, daß er
ihnen nichts als eine freundliche Warnung erteilt hatte. Er würde nicht glauben, daß Don in naher Zukunft für die große Klappe seines Vaters würde zahlen müssen. Nach dem Dessert duschte er, wusch sich die Haare und hätte beinahe geheult, als er nicht sofort ein paar saubere Jeans fand. Ein kurzes Geflüster zu dem Pferd über das Mädchen, das er gleich treffen wollte – und der Wunsch, daß er keinen kompletten Narren aus sich machte – und dann berührte er die Nase des Tieres, damit es ihm Glück brächte. Ein Hemd und ein weicher Pullover, Schuhe, die er im allgemeinen nur sonntags trug, und als er endlich in der Diele stand, um seine Brieftasche zu überprüfen, kam sein Vater aus der Küche, einen Apfel essend. »Mit den Jungs unterwegs, ha?« fragte Norman. »Nein«, rief seine Mutter fröhlich aus der Küche, »ich glaube, er hat ein Date.« »Tatsächlich? Kein Scherz.« »Nein, wirklich«, sagte seine Mutter. Don kam sich wie nicht vorhanden vor und gab sich einen Ruck, um die Aufmerksamkeit seines Vaters wiederzugewinnen. »Ja«, sagte er und trat beifallheischend zurück. »Wir gehen ins Kino. Vielleicht hinterher zu Beacher’s. Ich weiß noch nicht. Sie muß um Mitternacht zu Hause sein.« »Ah, Cinderella«, sagte seine Mutter und lachte, und er fragte sich, seit wann sie so gut hören konnte. »Wer ist es denn?« fragte Norman, dessen Hand wie von Zauberei plötzlich eine Zehn-Dollar-Note enthielt, als Don sich mit seiner Windjacke von der Garderobe abwandte. »Ein Taschengeldvorschuß«, erklärte er, als Don zögerte. »Himmel, warum nicht. Jemand, den ich kenne?« »Wahrscheinlich«, sagte er, schlüpfte in die Jacke und öffnete die Tür. »Tracey Quintero.«
»Quintero?« Norman zog einen Moment die Brauen zusammen. »Oh! Oh, ja. Ja. Kleine Italienerin. In deiner Klasse. Eine Signorina.« »Spanisch, Dad. Sie ist spanischer Abstammung. Ihr Vater stammt aus Madrid. Er ist Polizist.« »Oh. Nun.« »Erinnere ihn an heute abend, Norm«, rief Joyce über den fließenden Wasserhahn hinweg. Don wartete, während sein Vater die Augen Richtung Decke rollte. »Du erinnerst dich an die Versammlung, richtig?« »Richtig.« Er grinste. »Und ich weiß – wenn ich vor euch zu Hause bin, befindet sich in der Garage ein Schlüssel, falls ich meinen verloren haben sollte, und ich sollte besser vor euch zu Hause sein, denn sonst bekomme ich großen… Ärger.« Norman grinste und tätschelte seinen Arm. »Denk dran, okay? Versetz deine Mutter nicht in Angst und Schrecken, weil du zu spät kommst.« Joyce rief noch etwas, aber das ging im lauteren Krachen des Müllschluckers unter, und er nickte seinem Vater rasch zu, erhielt ein Zwinkern als Antwort und verschwand so schnell er konnte. Er kannte diesen Ausdruck – er tauchte auf, wenn Norman meinte, es werde Zeit für ein Gespräch von Mann zu Mann, und immer blieb dem einen oder dem anderen gerade noch fünf Minuten Zeit, weil er weg mußte. Und immer wurde das Gespräch abgewürgt, ehe auch nur der erste Satz gesprochen war. Gott, dachte er, das war haarscharf. Er schüttelte sich unter der Anspannung und winkte seiner Mutter zu, die am Wohnzimmerfenster stand und sich die Hände abtrocknete, Norman an ihrer Seite. Das taten sie immer, standen da, als würde er in den Krieg ziehen. Und wenn er nicht als erster zu Hause war, würden sie auf ihn warten, wenn er heimkam,
leicht angeheitert von den Bourbons, die sie beim Fernsehen getrunken hatten. Während sie auf ihr Baby warteten. Aber heute abend würden sie – wenn sie Glück hatten – eine gute Versammlung erleben – Lehrer, Vertreter der Öffentlichkeit und das Ashford Day Committee – und würden nicht wegen eines Krachs betrunken sein. Vergiß es, befahl er sich. Das ist nicht der Moment, über sie nachzudenken, wo er sich über sich selbst Gedanken machen mußte – was er sagen sollte, wie er’s sagen sollte, wie er Tracey beeindrucken konnte, ohne ins Stottern zu geraten. Andererseits, war er alleine mit einem Mädchen, durfte er sich glücklich schätzen, wenn ihm ein Dutzend zusammenhängende Worte einfielen, vom Zeitpunkt, da er sie abholte, bis zu der Zeit, da er sie wieder nach Hause brachte. Im Licht einer Laterne warf er einen prüfenden Blick auf seine Uhr und verfiel in einen gemütlichen Trab. Tracey wohnte sieben Blocks die Straße hinunter und zwei Parallelstraßen weiter, und er wollte nicht zu spät kommen. Er hoffte nur, ihr Vater hatte heute nacht Dienst; der Mann ängstigte ihn zu Tode. Er war klein, wie ein Betonklotz gebaut, und falls er je ein gutes Wort über jemanden unter Vierzig verloren hatte, war es Don entgangen. Bitte, lieber Gott, flehte er, als er in ihre Straße einbog, bitte, laß Sergeant Quintero nicht da sein. Als er zur Haustür hinaufstieg, vergewisserte er sich, daß seine Fingernägel sauber waren.
»Ich schwöre bei Gott«, sagte Brian, dessen Stimme die der anderen übertönte, die mit ihm am Tresen saßen. »Ich meine, sie waren hier draußen!« Er streckte die Arme aus, die
Handflächen nach hinten gebogen. »Hier zu ficken, du meine Güte.« Es gab Gekicher, einiges Stöhnen und die bösen Blicke von Joe Beacher in seiner fleckigen Schürze und der zerbeulten Kochmütze, bis Pratt die Achseln zuckte und sich wegen seiner Ausdrucksweise entschuldigte. Im vorderen Bereich des Imbiß gab es eine lange Theke mit achtzehn Barhockern und fünf Jukebox-Anschlüssen und neun Tischchen, die vor dem über die ganze Front reichenden Fenster aufgestellt waren. Es gab nur eine Kellnerin und Joe Beacher persönlich, der wußte, daß er nach vorne gehörte, ungepflegt gekleidet, und nicht im schwarzen Anzug nach hinten. Die Einrichtung bestand aus Kunststoff und Aluminium. An der Wand neben der Tür hing eine Uhr mit rundem Gehäuse, darüber eine Reihe Poster, die von zukünftigen Wohltätigkeitsveranstaltungen kündeten, Trödelmärkten und vom jüngsten Programm des Ashford Little Theatre. Vor der Tür führte ein breiter Gang an der Kasse vorbei nach hinten zum größeren Saal, wo die Wände mit Kiefer verkleidet waren und von Aquarellen geschmückt wurden, die die verschiedenen Jahreszeiten darstellten. Die Tische waren größer, aus Holz, und die Speisekarten in rote Lederhüllen gesteckt. Hier gab es drei Kellnerinnen und Joes Schwager in einem schwarzen Anzug, der ein wenig Vornehmheit und Klasse demonstrieren sollte. Im Augenblick war das Lokal hier nahezu voll, da Familien und spendable Oberschüler vor der Vorstellung um Viertel nach neun noch etwas essen wollten. Und trotz der Jekyll-und-HydeAufmachung gab es hier das beste Essen in der Stadt. Don hatte gerade die Schwelle betreten, Tracey hinter sich, und zögerte, bis sie ihn anstupste. Ein rasches Lächeln, und er trat beiseite, ließ sie vorbei und folgte ihr an einen kleinen runden Tisch vor der Mitte der Fensterfront. Als er ihr den
Stuhl zurechtrückte, ertönten Pfiffe von der Theke. Als er saß, formte Pratt mit den Händen einen Trichter vorm Mund und machte ein furzendes Geräusch. Don zuckte zusammen, und Gelächter erscholl, vor allem, als seine Wangen sich röteten. »Verdammt«, murmelte er gequetscht, aber Tracey lächelte ihm zu und bedeutete ihm schweigend, es zu ignorieren, während sie ihm eine Menükarte gab. Er holte tief Luft und nickte, dann überflog er das Angebot, obwohl er es auswendig kannte. »He, Don«, sagte Tar Boston und drehte sich auf seinem Hocker, »ein guter Streifen oder?« Er wußte es nicht, obwohl er sagte, es sei ganz nett gewesen, nichts Großartiges, eine Menge Blut, Schießereien, so ‘n Zeug. Er wußte es nicht, denn er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, zu Tracey hinüberzuschielen und mit sich zu ringen, ob er nun versuchen sollte, ihre Hand zu halten, seinen Arm um ihre Schulter zu legen oder gar einen Kuß zu wagen. Er kannte sie seit Jahren, war aber noch nie alleine mit ihr ausgewesen. Seit der Junior-High hatte er sie als guten Freund betrachtet, als sie aber ihre Jacke auszog und er erkannte, daß sie unter all diesen Kleidern eine untadelige Figur besaß, wußte er nicht, was er tun sollte. Das war nicht mehr Tracey, der Freund, das war Tracey, die Frau, und plötzlich wußte er nicht mehr, welche Regeln er befolgen sollte. Die Erkenntnis, daß sich die Dinge verändert hatten, ohne daß es ihm aufgefallen war, ließ ihn sich während des ganzen Films miserabel fühlen. Er sah nichts, hörte wenig, obwohl er jeden, der gefragt hätte, genau hätte sagen können, wie viele Linien sich in ihrem rechten Augenwinkel befanden, wie hoch der weiße Kragen ihrer Bluse ihr reichte, wie die nach innen gedrehten Wellen und Locken ihres Haars miteinander harmonierten.
Brian summte spöttisch die Schul-Hymne, laut, sprang dann vom Hocker und räkelte sich, als er verkündete, für den echten Mann werde es jetzt Zeit, nach nebenan zu gehen und zu sehen, wie schlecht Dirty Harry im Vergleich zu Pratt abschnitt. Wieder Aufstöhnen, und einzig Tar trottete mit ihm zur Tür, während ihre Dates hinter ihnen herzockelten. Fleet und sein Mädchen, Amanda, blieben beim Tisch stehen und erkundigten sich nochmals nach dem Film. »Langweilig«, sagte Tracey. Dann zwinkerte sie Amanda zu. »Es sei denn, du stehst auf Eastwood.« Amanda klammerte sich an Fleets Arm und mimte eine Ohnmacht, woraufhin sie einen Klaps auf den Hintern erntete. Don lachte und entspannte sich ein wenig und fragte sich laut, was wohl der Coach sagen mochte, wenn drei seiner Spitzenspieler vor einem Spiel so spät nachts noch auf waren. »Der Mann«, sagte Fleet, »begreift einfach nicht, daß ein sensibler und reizender Athlet wie ich vor dem drohenden Gemetzel im Schützengraben ein wenig Entspannung und Stimulation benötigt.« Er grinste. »Tolle Worte, was? Mandy läßt mich im Bett Kreuzworträtsel lösen.« Amanda schlug ihm kräftig auf den Rücken, und ein unwirscher Ausdruck huschte kurz über sein Gesicht, ehe er mit den anderen lachte und sich zur Tür begab. Nachdem sie zugefallen war, steckte er noch einmal den Kopf zur Tür herein und zwinkerte Don grinsend zu, wobei er mit der einen Hand eine Faust ballte, mit der anderen aus Zeigefinger und Daumen einen Kreis bildete. Don grinste zurück und wurde sogleich wieder nüchtern, als Robinson fort war. Dies war ein Disaster, und zum erstenmal seit Ewigkeiten wünschte er, die Jungs wären geblieben. Selbst ihre Aufzieherei wäre besser, als hier wie ein Trottel herumzusitzen, mit dem Salzfäßchen zu spielen, das Besteck
neu zu ordnen und die Papierunterlage zu richten. Schließlich faltete er die Hände auf dem Tisch, als würde er Buße tun. »Ist alles in Ordnung?« erkundigte sich Tracey. »Du bist entsetzlich still, seit wir das Haus verlassen haben.« Er senkte den Kopf und schüttelte ihn. »Prima. Ich bin okay, null Problemo.« »Es war ein lausiger Film.« »Ja.« »Du hast Angst vor meinem Vater, nicht wahr?« Er blickte auf, ohne den Kopf zu heben und war angenehm überrascht, die Besorgnis in ihren Augen zu lesen. Er konnte es nicht leugnen. Luis Quintero ließ ihn sich in die Hosen machen vor Angst, wie er da stand, in Uniform, mitten im Wohnzimmer und ihm seine Rechte vorlas, ganz ruhig. Der Das-ist-mein-Baby-und-vergiß-das-ja-nicht-Akt. Spiel nicht mit ihr herum, kompromittiere sie nicht, mach sie nicht betrunken, bring sie keine Sekunde zu spät nach Hause, laß dich hier nie wieder blicken, wenn du ihr auch nur ein Härchen krümmst. Dann hatte er Don feierlich die Hand geschüttelt und war aus dem Zimmer marschiert, während er zurückblieb und sich fragte, was zum Teufel den Mann so unangenehm machte. Tracey meinte, daß es am Howler lag. Sie hatte ihrem Vater eine Stunde lang erklären müssen, daß Don kein Killer und sein Vater der Schulleiter war, wobei sie laut herumschrie, und daß sie nicht in einen Nonnenorden eintreten werde, nur weil sie mal mit einem Jungen ausging. »Tut… tut er das jedesmal?« fragte er schließlich. Sie seufzte und nickte. »Wenn er zu Hause ist und ich ausgehe, ja. Mutter steht bloß da und faltet die Hände, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Ginge es nach ihnen, wäre meine Tante Theresa meine Duenna, verdammt noch mal.«
Er wußte nicht, ob er sein Bedauern ausdrücken sollte oder nicht, aber sie erkannte das Mitleid und legte ihre Hand auf die seine, drückte sie und zog sie dann langsam zurück. »So«, sagte sie lebhaft, »worüber wollen wir jetzt reden?« Er wußte es nicht, mußte aber über irgend etwas gesprochen haben, denn die Kellnerin kam und ging, Essen kam und verschwand, und das nächste, woran er sich erinnerte, war, daß er vor ihrem Haus stand, ihre Hand hielt und wünschte, sie müßte am nächsten Tag nicht schon wieder ihre Großmutter besuchen. Dann hätten sie weiterlaufen können, von einem Ende der Stadt zum anderen, sich über die Schaufensterdekoration amüsieren oder Worte mit drei Buchstaben nach den Nummernschildern vorbeifahrender Autos bilden können. Und Noten von Lehrern durchhecheln, die sie gemeinsam hatten. Er sagte nichts von der Bio-Note. Sie erwähnte den Howler nur ein einziges Mal, als sie an einer Eckkneipe vorbeikamen und davor ein paar schmuddelige Männer mit dem Rücken an der Wand sitzen sahen, die braune Papiertüten in der Hand hielten. Der eine schnarchte, der andere beäugte sie aufmerksam und grinste dreckig, als sie vorbeispazierten. Ein drittes Wrack sahen sie an der nächsten Ecke, aber er ignorierte sie, da er zu sehr damit beschäftigt war, sein stoppliges Gesicht mit den Händen trockenzureiben. Tracey hatte vermutet, daß jeder von ihnen der TeenieMörder sein konnte, und er meinte, sie sähen zu schwächlich aus. Dieser Kerl, dieser Wahnsinnige, mußte ganz schön stark sein, um das zu tun, was er mit seinen Opfern machte. »Mein Vater«, sagte sie, »ist kleiner als du, und er kann das Blatt einer Schaufel über seinem Knie abbrechen, wenn er nur wütend genug ist.« Dabei hatte sie seine Hand genommen, und damit hatten Spaß und Gespräche aufgehört.
»Also«, sagte sie und blickte zu dem kleinen Haus hinüber, das durch schmale Gehwege, die zu briefmarkengroßen Gärten führten, von seinen Nachbarn getrennt war. »Ja.« Sie stand vor ihm und sah hoch. Schatten huschten über ihr Gesicht und ließen es ganz weich und ebenmäßig werden, und er konnte nicht anders, als mit einem Finger ihre Wange zu berühren. Gott, war ihre Haut zart. »Viel Spaß morgen«, war das einzige, was er herausbringen konnte. Sie zog eine Schnute. »Ja, großartig. Ich würde lieber zum Spiel gehen.« Er zuckte die Achseln. Sie schmiegte sich an ihn, starrte ihn an, erhob sich dann auf die Zehenspitzen und küßte ihn. »Bis Montag.« Sie war schon die Stufen hinauf und durch die Tür, ehe ihm einfiel, ihren Kuß zu erwidern. Und dann ging er mit den Händen in den Hosentaschen davon, während seine Zungenspitze nach jeder Stelle tastete, die ihre Lippen berührt hatten, um sie zu schmecken, sich zu erinnern und schließlich zu begreifen, daß sie nicht versprochen hatte, ihn anzurufen oder vielleicht sogar am Sonntag zu treffen. Bis Montag hatte sie gesagt. Trotz ihres Kusses lautete die Übersetzung einfach: Ruf mich nicht an, ich rufe dich an, und halte nicht den Atem an. »Shit«, sagte er. »Shit, Boy, das hast du wohl versaut.« Er schalt sich den ganzen Heimweg lang selbst und bemerkte erst, als die Tür bereits schwer hinter ihm ins Schloß gefallen war, daß seine Eltern bereits da waren und im Wohnzimmer saßen und ihn beobachteten. »Hi«, sagte er mit einem Winken und blieb kurz stehen, ehe er die Treppe hinauflief. Irgend etwas stimmte da nicht. Seine
Mutter sah ihn nicht an, und sein Vater trommelte keine Muster aufs Knie. »Was ist los? Gutes Meeting?« »Ein sehr gutes Meeting«, sagte Norman, »bis es vorbei war und ich ein Wörtchen mit Mr. Falcone reden konnte.« Seine Augen schlossen sich langsam. Einen Augenblick später schlugen sie wieder auf, und er zeigte mit dem Finger auf seinen Vater und sagte: »Warte eine Sekunde.« Er war die Treppe hinauf und in sein Zimmer, ehe sie ihn aufhalten konnten. Er schnappte sich seinen Hefter und blätterte ihn durch, bis er den Test fand, lief damit nach unten und baute sich vor seinem Vater auf, wobei er das Blatt gegen seine Brust preßte, um es zu glätten. »Don – « »Warte«, sagte er und hielt es ihm hin. »Sieh es dir nur mal an, Dad. Wirf nur mal einen Blick darauf.« »Donald«, sagte Joyce und unterbrach sich, als er sie mit einem Blick anflehte, Geduld zu haben. Norman sah hoch, sah sich das Papier an und las es durch, wobei seine Lippen sich leicht bewegten. Als er fertig war, reichte er es an Joyce weiter, seufzte und sank in seinen Sessel zurück. »Also?« »Don…« Norman schloß ein Auge, zupfte an seiner Unterlippe, er suchte nach dem passenden Wort. »Es scheint ein bißchen hart zu sein, das muß ich zugeben.« »Hart?« Er spuckte das Wort aus, versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen, ehe er ins Falsett geriet. »Hart? Das ist mehr als hart, es ist falsch, Dad! Er hat Fehler angerechnet, die er niemandem sonst angekreidet hätte. Er hat es absichtlich vor den anderen korrigiert, und er hat es bewußt auf mich abgesehen. Er… er sagte vor der Arbeit, daß ich alles Glück brauchen würde, das ich kriegen könnte. Er hat das gesagt, Dad, ich schwör’s bei Gott.«
Norman ließ das Blatt in seinen Schoß sinken, strich sich mit den Fingerknöcheln über die Wange und starrte auf den Kamin. »Ich kann’s nicht glauben, Don.« »Dad – « »Verdammt, Junge, hör mir zu und hör auf, mich zu unterbrechen. Bei all den Auseinandersetzungen, die dieser Mann und ich haben, bleibt er doch immer noch ein Profi, und daran solltest du dich besser erinnern. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er dir absichtlich eins auswischt. Es ist zu offensichtlich, siehst du das nicht? Herrjeh, alles, was ich tun müßte, ist, es mit einer anderen Arbeit zu vergleichen, und ich würde sofort erkennen, ob er einen Pick auf dich hat.« »Aber das hat er! Warte bis Montag, ich kann hundert – « »Nein«, sagte Norman entschieden, ohne seine Stimme zu erheben. »Das will ich nicht. Er ist ein verdammt guter Lehrer, Don, und ich möchte ihn nicht derart beleidigen.« »Du hast Hausarrest«, sagte seine Mutter hinter ihm. Er wirbelte herum, unfähig, es zu begreifen, unfähig, etwas zu sagen. »Donald«, begann sie, den Tränen nahe, »wenn du aufs College gehen willst, kannst du dir einfach nicht leisten, daß deine Noten derart rutschen, wie dies der Fall ist. Das ist der letzte Strohhalm. Auf dem College achtet man auf solche Sachen. Sie überprüfen, ob du deine Noten nach unten gehen läßt, bloß weil die Schule fast vorüber ist. Offensichtlich wirst du durch… eine Menge Dinge von der Arbeit abgelenkt… Donald, du hast Hausarrest, bis du beweist, daß du es besser kannst.« Tränen stiegen ihm in die Augen, und er fühlte sich, als wäre er in einen Traum getaumelt, den Traum irgendeines anderen, und er wäre verloren und fände keinen Ausweg, zurück in sein eigenes Bett, zu seiner eigenen Familie. In seinen Ohren dröhnte es, und irgend etwas schnürte seine Kehle zusammen,
so daß er keine Luft bekam. Er schluckte und hoffte, seine Stimme wiederzufinden, kämpfte darum, nicht vor seinem Vater die Regeln zu verletzen. Er blickte Norman an, der immer noch in den Kamin starrte. Er hatte Kopfschmerzen und wußte, ihm würde der Schädel zerspringen, wenn er nicht sofort das Zimmer verließe. Er streckte die Hand aus, und Norman gab ihm die Arbeit zurück. Er starrte blicklos seine Mutter an und wandte sich ab. In der Diele wogte ein Hauch von Rot. Hinter ihm rutschten sie unbehaglich auf ihren Sesseln herum; sie hatten das Strafmaß festgesetzt und waren verunsichert, obschon sie wußten, richtig gehandelt zu haben. Er schlich davon. Langsam. So langsam, daß sich in seiner linken Wade ein Krampf bildete und er sich am Geländer festklammern mußte. Das Dröhnen schwoll an zu einem Wintersturm, der in einer Muschel gefangen war. Das Rot tanzte, und er mahnte sich, die REGELN nicht zu vergessen. Dann öffnete er seine Zimmertür und hätte beinahe geschrien. Die Regale waren bis auf seine Bücher leergefegt, sein Schreibtisch frei bis auf die sorgfältig bereitgelegten Stifte, und die Poster und Drucke waren von den Wänden verschwunden. Er war alleine. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und er ging zu seinem Bett, setzte sich auf die Kante und starrte ins Leere. Sie waren fort, seine Freunde waren fort, und er war alleine. Das Rot verstärkte sich und verblich dann. »Donald«, flüsterte er, nachdem fünf Minuten verronnen waren. »Mein Name ist Donald, verdammt noch mal. Verdammt, Sam ist tot!«
6
Gehorsamsverweigerung. Es war erschreckend. Und die darin steckende Kraft noch mehr, denn er wußte, sie war vorhanden, aber nicht wie er damit umgehen sollte. Er wußte nur, daß er es nicht länger in der Gefängniszelle seines Zimmers aushielt, den Gestank von Hoffnungslosigkeit und Betrug nicht länger ertragen konnte, der die leeren Regale füllte und bis in seine Träume drang. Einst war dies eine Oase gewesen, ein Ort, an dem er seine Schularbeiten machen, seine Bücher lesen und von der Zukunft träumen konnte. Jetzt war sie verlassen, besudelt. Seine Mutter war ohne seine Erlaubnis eingedrungen und hatte alles fortgenommen, was ihm ein wenig Frieden schenkte. Also wartete er, bis sie das Haus am Sonntagnachmittag wegen irgendeiner Versammlung irgendeines anderen Komitees verlassen hatten, das zur Geburtstagsfeier einer miesen Kleinstadt entschlossen war, die niemanden interessierte außer den Leuten, die ihr Bild in der Zeitung sehen wollten. Sie waren gegangen, ohne ein Wort zu sagen, denn er befand sich immer noch in den Ruinen seines Zimmers, und sie nahmen an, daß er daheim sein würde, wenn sie zurückkehrten. Und in der plötzlichen Stille konnte er es nicht länger aushalten. Er griff nach seiner Jacke und verließ das Haus, wobei er die Eltern verfluchte und so verzweifelt gegen das Weinen ankämpfte, daß er einen Schluckauf bekam. Ein kleiner, immer noch vernünftiger Teil von ihm beharrte darauf, daß sie nicht gemein waren, daß sie wirklich glaubten, richtig gehandelt zu haben, weil sie ihn liebten und ihn vor Schmerz
bewahren wollten. Aber was zum Teufel wußten sie von Schmerz? Was zum Teufel wußten sie davon, was es hieß, all die Regeln zu behalten und sie ums Verrecken zu befolgen, bloß damit einem jemand im Rücken lauerte, hier und da ein Wort änderte, eine Regel änderte, die Dinge, wie sie sein sollten, änderten. Was verdammt noch mal wußten sie, wie es in seinem Innern aussah? Ich war auch mal jung, obwohl du das wahrscheinlich nicht glauben wirst, hatte sein Vater bei mehr als einer Gelegenheit gesagt. Wenn er sich aber daran erinnerte, was glaubte er, was er tat, wenn er Joyce unterstützte, daneben stand und sie seine Tiere entfernen ließ, sie praktisch alles rauben ließ, was er besaß, ohne auch nur den verdammten Anstand zu besitzen, ihm Bescheid zu sagen, ehe er in sein Zimmer kam und es sah – die Vergewaltigung. Was zum Teufel hatte er sich dabei gedacht, Brian und Tar zu erklären, daß er sie für diejenigen hielt, die das Fläschchen im Klassenzimmer ausgegossen hatten? Jesus, hatte er keine Augen im Kopf? Sah er denn nicht, was los war? Er mochte einst jung gewesen sein, jetzt war er es nicht mehr. Er mochte glauben, zu wissen, was in einem Kind vorging, aber alles, was er wußte, war das, was in den verdammten Büchern stand, was er im Sekretariat hörte, was ihm die Schulbehörde erklärte, die nichts weiter als ein Haufen dämlicher Männer und Frauen war, die sich zu erinnern meinten, wie es ist jung zu sein und zur Schule zu gehen und wie es ist, wenn deine Eltern dich vergewaltigen, ohne dir auch nur die leiseste Hilfestellung zu geben. So wie Norman und Joyce glaubten, sich mit Kindern auszukennen, aber sie wußten verdammt gar nichts von ihnen. Und das Schlimmste, das absolut Schlimmste und Schrecklichste daran war, daß er nicht wußte, was er tun oder
wie er ihnen eine Lektion erteilen oder zeigen sollte, daß er nicht ihr verdammter toter Sohn oder ihre Marionette oder ihr Schoßhund war… das Schlimmste war, daß er sich zu Tode fürchtete, weil er sie töten wollte.
Ziellos wanderte er herum, zunächst in die Nähe der Schule, wo er die Menge toben und das Geplärre der Kapelle hörte, dann Richtung Stadtmitte, ohne zu merken, wohin er strebte, bis er an Traceys Haus vorbeikam und davor auf dem Bürgersteig stehenblieb und auf die zugezogenen Vorhänge starrte, die leere Einfahrt, seufzte und weiterging und sich fragte, ob er nicht vielleicht zu hart gegen sich selbst gewesen war. Immerhin hatte sie ihm einen Kuß gegeben, und sie stand im Ruf, nicht leichtfertig Küsse zu verteilen. Dennoch, sie hatte ihn nicht ermutigt und sie war auch nicht schreiend ins Haus gezerrt worden, ehe sie mit ihm ein weiteres Treffen hätte verabreden können. Er mußte nachdenken. Dies war nicht der Ort dafür, und die Aschenbahn fiel aus, solange das Spiel andauerte. Also lief er weiter, mit hängenden Schultern und fast ohne die Füße vom Pflaster zu heben, bis er Parkside Boulevard erreichte und gen Westen zum anderen Ende der Stadt zockelte, wobei er die Passanten beobachtete, die an ihm, ohne ihn zu bemerken, vorbeigingen, den Verkehr beobachtete, der von einem unsichtbaren Ort zum anderen strömte. An Laternen- und Telefonmasten waren Arbeiter damit beschäftigt, große ovale Tafeln aufzuhängen, die den Werdegang und die Gründungsjahre der Stadt darstellten. Lieferwagen parkten in Doppelreihen, und eine beachtliche Anzahl von Männern war dabei, letzte Hand bei Malerarbeiten
und Reparaturen anzulegen, Schlaglöcher aufzufüllen und die Bäume am Straßenrand von totem Geäst zu befreien. Trotz seiner Laune war er von dem Einsatz beeindruckt, und binnen einer Stunde hatte sich seine Depression von Schwarz nach Grau verfärbt. Was ihm widerfahren würde, wenn er heimkam, würde ihn später beschäftigen. Jetzt im Augenblick suchte er einen Platz, wo er vergessen konnte. Nur eine Stunde des Vergessens wäre schon schön. Vielleicht würde er dann dahinterkommen, was so plötzlich schiefgelaufen war. Um halb fünf aß er im Beacher’s einen Hamburger und beantwortete Joes Frage nicht, wieso er nicht beim Spiel war. Als er die triumphierenden Hupen auf der Straße hörte, wußte er, das Spiel war vorbei und das heimische Team hatte gesiegt. Also würde sich in den nächsten Minuten das Lokal füllen und er würde sich die Storys, das Gelächter anhören, den Mädchen und den Spielern zusehen und die wiederholte Darstellung des Spiels ertragen müssen. Er brauchte nur eine Minute, um zu dem Schluß zu gelangen, daß er das nicht gerade ersehnte, während er über alles nachdachte. Ohne seine Mahlzeit beendet zu haben, glitt er vom Barhocker, ließ eine Banknote neben die Kasse fallen und marschierte hinaus, sah Brians Auto an den Randstein fahren, machte sofort kehrt und erstand eine Karte für die Sondervorstellung am Nachmittag im Kino. Es war derselbe Film, den er mit Tracey gesehen hatte, und wiederum sah er ihn nicht, als er in der ersten Reihe mit ausgestreckten Beinen dasaß, die Hände auf dem Bauch gefaltet und mit leerem Blick auf die Leinwand starrte. Bis der erste Schuß ihn aufmerken ließ und er einen Mann im dunklen Anzug mit blutigem Gesicht und Angst in den Augen durch ein Fenster stürzen sah. Er rutschte unbehaglich hin und her und dachte daran, wie er sich am Morgen gewünscht hatte, seine Alten wären tot. Dachte auch an die Macht, die man hatte, nicht nur, jemanden
umzubringen – denn das konnte jeder, der es wirklich wollte –, sondern an das Entsetzen, das sie vorher in einem auslöste. Ein weiterer Mann wurde von einem Feuerstoß aus einem Schrotgewehr gegen eine Wand geschleudert, und er bewunderte die Spezialeffekte, die alles so echt aussehen ließen und gleichzeitig so urkomisch. Er schloß die Augen. Er stellte sich Joyce ausgestreckt auf dem Küchenfußboden vor, während aus einer Wunde in ihrem Rücken Blut rann und ihre Linke das Tischbein umklammerte, als wollte sie sich hochziehen. Noch mehr entsetzte es ihn zu denken: Geschieht dem Miststück recht. Als der Film zu Ende war, spazierte er zum Parkeingang am Boulevard und lehnte sich gegen die Mauer, die Hände in den Taschen, den Blick auf den Bordstein gerichtet. Ein Auto kam vorbei und hupte, und er lächelte knapp, als Tar vom Rücksitz des Kabrios von Chris Snowden winkte. Sie saß am Steuer, und sie fuhren nach New York, und sie schenkte ihm ihr breites Grinsen und ein Winken, ehe ein Bus dazwischen kam. Football-Spieler, dachte er, haben einfach Glück. Dann spürte er, wie seine Beinmuskeln sich spannten, und er erinnerte sich, was er tun konnte, statt sich selbst zu bemitleiden. Das Spiel war längst vorbei. Die Ränge leer. Und die Sonne schickte sich noch nicht an, hinter der Stadt unterzugehen. Er beeilte sich, trabte, zügelte sein Tempo, als er merkte, wie gern er losgerannt wäre. Zehn Minuten später, Windjacke auf der Erde und Hemd bis zur Taille geöffnet, befand er sich alleine auf der Bahn. Es gab niemanden auf der Welt, der es mit ihm aufnehmen konnte, wenn seine Beine weit ausholten, seine Arme mitschwangen und seine Lungen die frische Luft einsogen. Niemand.
Seine Turnschuhe knirschten auf der feinen Asche, der Wind zauste sein Haar, und er spürte einen nicht unangenehmen Schmerz in der linken Seite. Er war alleine auf der Bahn, und dies war allein seine Welt. Seine Welt, in der es keine Hinterhalte, keine Heckenschützen, keine Kämpfe um seine Seele gab. Einen kurzen Augenblick lang hatte er seine Eltern umbringen wollen, und in jenem Augenblick hatte er die Regel vergessen: Laß deinen Ärger nie an einem anderen aus, nicht mal an deinen Feinden. Statt verärgert zuzuschlagen, seinem Temperament nachzugeben, gab es Worte. Stock und Stein bricht mir das Bein, aber Worte werden mich nie verletzen. O Gott, wie verkehrt das war. Wie fromm und wie falsch! Mit Worten erledigten seine Eltern ihren Schlagabtausch – zischten sich leise an, verbittert, giftig. Benutzten altehrwürdige Rasiermesser statt Knüppel, um sich gegenseitig zu Tode bluten zu lassen. Und trotzdem konnte man den anderen nicht zur Strecke bringen. Es war noch nicht ausgestanden. Nun, vielleicht war das auch eine der Regeln, dachte er, als er seine zweite Viertelmeile begann, aber eine verdammt dämliche. Manchmal wußte er, er wußte es einfach, wie großartig er sich fühlen würde, wenn er einen Treffer in Brian Pratts Gesicht landen könnte. Das Elend war, man mußte wissen, welche Strategie man verfolgte, wenn man sich auf einen Kampf einließ, und er kannte sich da nicht aus. Am zweiten Samstag, als er in Ashford wohnte, damals war er neun, war Brian mit seiner Bande vorbeigekommen. Don befand sich im Vorgarten und spielte alleine Soldat, und Brian sprang ihn an. Es gab keine Einleitung, kein Zögern, keine Drohungen. Pratt sprang ihn an, warf ihn zu Boden und boxte ihn ein gutes Dutzendmal feste in
den Rücken. Don weinte, weil das weh tat und weil er verwirrt war, aber er war nicht zu seinem Vater gegangen, denn er wußte, was er zu hören bekäme: Du mußt für dich selber einstehen, Sohn, du mußt ihnen zeigen, daß du besser bist als sie. Klar. Aber verhalte dich nicht so, als seist du etwas Besseres, denn die neue Spielregel besagte – dem ist nicht so. Du bist wie alle anderen. Du bist das Kind des Direktors, aber du bist wie alle anderen. Klar. Verdammte Regeln. Sie änderten sich von einem Tag auf den anderen. Welches Verhalten erwarteten sie denn, wenn sie andauernd die Regeln änderten? Seine Beine waren jetzt locker und sein Atem gleichmäßig. Die Luft war nicht länger kalt, die Bahn nicht mehr zu hart. Er holte weit aus, gewann an Geschwindigkeit, ließ seine Gedanken schweifen, denn das war die beste Art zu verhindern, daß die Runden einen zum Schluß doch fertigmachten. Kümmer dich nicht drum, und du behältst die Zügel fest in der Hand. Der Himmel wurde dunkler, und ein bleicher Geistermond stieg über der Stadt auf. Er lief alleine, alleine im Stadion, dachte an Tracey, an Hedley und Falcone, Pratt und Boston und seine Eltern. Sein Leben schien ewig so weiterzugehen, er gelangte zu dem Schluß, daß er auf der Schule bleiben würde, bis er ein alter Mann war. In die zweite Meile, ein bißchen schnaufend, aber seine Beine hielten durch. Er lief gerne. Er liebte die Einsamkeit, die Art, wie er sich mit seinen Problemen beschäftigen konnte, indem er seinem Hirn einfach freien Lauf ließ. Manchmal holte er es ein, manchmal nicht,
und manchmal war es völlig egal. Aber niemand war schneller als er, nicht wenn er alleine war und der Wind ihm ins Gesicht blies und das Stadion mit einer jubelnden Menge gefüllt war, die ihm mit dem Taschentuch zuwinkte, wenn er vorbeizog. Er sah die Zielgerade und wußte, mit ein bißchen Glück und einem zusätzlichen Schubs würde er den Weltrekord brechen. Noch eine Runde, und er würde der schnellste Mann der Welt sein. Die Menge zu seinen Füßen. Er merkte, wie er durch den Mund atmete, und wußte, dies war ein schlechtes Zeichen, aber irgendwo in seiner Brust gab es noch eine Reserve, und die rief er jetzt ab. Grunzend stieß er die Beine vor zur Endrunde. Die Menge johlte, Hupen quäkten, Fernsehkameras richteten sich starr auf sein zur Grimasse gefrorenes Gesicht, wie der Schrei eines Clowns. Hedley stand mitten auf der Bahn, zwirbelte seinen Schnäuzer und kämmte seinen roten Haarkranz, und Don überrannte ihn einfach, ohne aus dem Tritt zu geraten. Pratt und Boston waren mit einem Satz da und wollten ihm den Weg versperren, und er sprang, glitt durch die Luft, kam leicht wieder auf der anderen Seite auf, während sie mit aufgesperrten Mündern da standen und sich den Kopf wie Affen kratzten. Tracey warf ihm eine Kußhand zu. Chrissy riß sich die Kleider vom Leibe und befeuchtete ihre Lippen, als er vorbeikam. Mom und Dad schüttelten den Kopf und drehten sich um, um klein Sam zu helfen, der Schwierigkeiten mit seinen Schnürsenkeln hatte. Jetzt kam das Finish, hinter der letzten Kurve. Die Menge war außer sich vor Raserei, drückte gegen die Polizeisperre, die versuchte, sie zurückzuhalten, obwohl die
Cops ebenso aufgeregt waren wie die Leute, die sie zurückhielten. Er konnte sein Herz hören, es funktionierte bestens. Er konnte seine Füße im perfekten Gleichklang mit dem Schwung seiner Arme und dem schräggelegten Kopf hören. Er konnte hören, wie sie immerzu seinen Namen riefen, wie das Schlagen einer Trommel, wie eine hart gegen Zement schlagende Faust, wie eine über baumloses Gelände marschierende Armee. Er lief schneller, schluchzte jetzt, denn er wußte, er mußte den Rekord brechen, damit sie begriffen, mit wem sie es hier zu tun hatten. Damit sie begriffen, daß er kein gottverdammtes Kind mehr war. Er lief schneller, warf sich in die Brust und zerriß das Band, als auch schon ein Höllentumult losbrach, ihn fortspülte, sich voller Ehrfurcht vor ihm erhob, während er über den Rasen taumelte, sich auf den Rücken fallen ließ, die Arme ausgebreitet, die Beine gespreizt und mit den Augen zur Torlatte starrend. Die Menge verzog sich, die Kameras, die Polizei, die schmachtenden Frauen. Aber er war nicht alleine. Das Feld erstreckte sich vor ihm, von hier aus länger wirkend, und am entferntesten Ende, am Dreimetertunnel in der dicken Backsteinmauer, dessen schwere Holztore noch an beiden Enden geöffnet waren, konnte er etwas stehen sehen. Tief in den Schatten. Ihn beobachtend. Wartend. Reglos. Hinter ihm war kein Licht, obschon die Straßenbeleuchtung eingeschaltet war. Es warf keinen Schatten, der dunkler war als es selbst. Aber es war da. Er konnte es sehen. Und es beobachtete ihn. Wartete. Geräuschlos.
Er zwinkerte den Schweiß von seinen Augen, wischte sich das Gesicht mit dem Unterarm und blickte nochmals hin. Es war weg. Das Stadion war leer, und er lag im Gras. Er blies die Backen auf und atmete aus, blinzelte nochmals und starrte zum Tunnel. »Sauerstoff, Kid«, sagte er zu sich selbst, als er sich aufrappelte. »Du brauchst ein bißchen was vom guten alten O2, wenn du verstehst, was ich meine.« Seine Jacke war weg. Er starrte auf die Stelle an der Fünfzigyardlinie, wo er sie hatte fallen lassen, starrte mit verblüfft gerunzelter Stirn und blickte schließlich auf, um den Platz abzusuchen. Dann drehte er sich um und musterte aufmerksam die Reihen. Sie war weg. Er wußte, daß er sie genau hier zurückgelassen hatte; er konnte noch fühlen, wie sie ihm aus der Hand glitt, und konnte noch hören, wie sie den Boden berührte. Und jetzt war sie weg. Er wartete einen Augenblick, daß irgendjemand zu lachen anfinge, wartete, bis er sicher war, daß es sich nicht um einen Scherz handelte. Und als er sicher war, als er begriff, daß er nicht mal mehr auf seiner Bahn sicher war, steckte er die Hände in die Taschen und machte sich auf den Heimweg. Die ursprüngliche Veranda des Hauses war lange, ehe Don und seine Eltern einzogen, abgerissen worden. Sie war durch eine schmale Veranda ersetzt worden, die kaum über die Breite der Haustür hinausging. Sie besaß ein Spitzdach, und das Geländer neben den Stufen bestand aus schwarzem gedrehtem Eisen. Es war das einzige Haus im Viertel mit einer derartigen Veranda, und Norman hatte mal erwogen, die alte wieder nachzubauen; das war vor Sams Tod. Jetzt sagte er nichts mehr dazu, als sich brummelnd zu beklagen, daß sie zu schmal war, um ihn vor Regen oder Schnee zu schützen. Don saß auf der oberen Stufe. Er war erst so lange zu Hause, wie er brauchte, um sich abzutrocknen und einen Pullover zu
holen. Er hatte vorgehabt, wieder auf sein Zimmer zu gehen, als er merkte, daß seine Eltern noch nicht zurück waren. Sie würden nie erfahren, daß er fort gewesen war. Sie würden annehmen, er hätte gehorcht. Er hatte sich tatsächlich aufs Bett gesetzt und die kahlen Wände angestarrt, vor allem dorthin, wo der Hengst gehangen hatte. Dann spürte er die Last der leeren Regale und das hohle Geräusch seines Atmens und die Kälte, die von den weißgestrichenen Wänden auszuströmen schien. Er warf einen Blick in das Schlafzimmer seiner Eltern, in Sams Zimmer, öffnete dann die Tür zum Dachboden und stieg hinauf. Sie waren dort. Aufgetürmte Kartons, alles durcheinander auf dem staubigen Boden oder auf eine Truhe gestellt, die seinem Großvater gehört hatte. Er hatte geschluckt, war dagestanden und hatte sich schließlich das Poster herausgeklaubt und mit nach unten genommen, es über dem Schreibtisch mit Klebeband angebracht und angestarrt. Wegen des schwindenden Tageslichtes sah er kaum etwas. Er hörte nur die Blätter und die Schatten und die Stille des Hauses, die hinter ihm aufstieg. Ein oder zwei Autos waren vorbeigefahren, aber er schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Eine Schar Kinder kreischte im Zwielicht, aber er lächelte nicht über ihre Begrüßung. Ein rotes Kabrio kroch die Straße herauf, das Radio auf volle Lautstärke, und erst als es ein paar Häuser weiter in die Einfahrt gebogen war, bewegte er langsam den Kopf, als wäre er zu schwer zu bewegen. Die Fahrertür schlug zu. Chris. Er blinzelte. Es war Chris Snowden, und Tar war nicht bei ihr. Sie trug immer noch ihren dunklen Cheerleader-Pulli, hatte immer noch die mit Nieten verzierten Stiefelchen an, den plissierten Rock aber gegen eine ausgebleichte Jeans vertauscht.
Und sie ging nicht ins Haus; sie kam die wenigen zwischen ihnen liegenden Meter direkt auf ihn zu. Er räusperte sich und fragte sich, was sie mit ihm vorhaben mochte: ein bißchen Aufziehen, ein bißchen Anheizen, eine atemlose Frage nach seiner Zoologiehausarbeit. Er konnte warten. Und das tat er auch, bis sie einen Fuß vor der Treppe stehenblieb, sich ans Geländer lehnte und einen Fuß vor den anderen stellte, die Fußspitze nach unten. »Hi!« Ihr weißblondes Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel in zwei Zöpfen über ihre Brust. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen weit aufgerissen und von einem so tiefen Blau, daß es fast schwarz wirkte. Er lächelte eine müde Begrüßung. Er erinnerte sich ihrer flüchtigen Demonstration von Besorgnis, als sie sein verletztes Auge begutachtet oder sich sein Gesicht genauer betrachtet hatte, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. »Sieht besser aus«, meinte sie. »Ich spür’s kaum noch«, räumte er ein und betastete ganz unbewußt die Verfärbung. Sie drehte sich um und blickte auf die leere Straße; er konnte die Augen nicht von ihrem Profil abwenden. »Ich, ähm, hab’ dich und Tar vorhin gesehen. Ich dachte, ihr Leutchen wolltet in die City.« Ein Achselzucken und ein angewiderter Blick von der Seite. »Ihm wurde übel. Brian hatte Bier im Auto, und nach dem Spiel hatten sie eine Saufwette. Tar verlor.« Sie deutete die Straße hinunter. »Mein Auto auch.« »Mist.« »Der Schwachkopf wollte mir nicht helfen, es sauberzumachen. Als ich ihn zuletzt sah, ist er im Park hingefallen.« Ein gutgelauntes Grinsen mit einer Spur von Bosheit. »Falls es einen Gott gibt, endet er im Teich.«
Er lachte leise in sich hinein und schüttelte den Kopf über die Dummheiten der Teenies und gab sich alle Mühe, sie nicht anzustarren, als sie sich wieder umdrehte und sich vorgebeugt gegen das Geländer lehnte, wobei sie ihre Arme darauf legte und ihr Kinn aufs Handgelenk stützte. Das passierte alles nicht, das wußte er, das war irgendein Traum, den sich sein Hirn zur Strafe für seinen Glauben, er könnte die Welt irgendwie regieren und wieder schön machen, ausgedacht hatte. »Warst du beim Spiel?« »Nein. Ich hatte… etwas zu erledigen.« Eine Augenbraue hob sich. »Wir haben gewonnen.« »Wir gewinnen immer.« »Wirklich?« »Jedes Jahr«, sagte er und ließ damit durchblicken, daß es irgendwo ein Buch gab, dessen Inhalt er wichtiger fand oder weniger langweilig. »Vor allem seit Brian und Tar im Team sind.« »Oh?« Ihre Augen schlossen sich flatternd. »Kommst du später zu Beacher’s?« »Ich weiß nicht. Vielleicht. Kommt auf meine Alten an.« Sie stieß sich abrupt ab und richtete sich auf, und er hätte beinahe gestöhnt, weil er dachte, er hätte sie irgendwie verärgert. Ihr Gesichtsausdruck war düster, die Linien in ihren Augenwinkeln tiefer und länger, ließen sie älter wirken und verwandelten ihr weiches weißblondes Haar in die Perücke einer alten Hexe, ihr sanft vorspringendes Kinn in einen knochigen Dolch. Diese Verwandlung verwirrte ihn, und er wich ein wenig zurück und konnte ihrem Blick nicht begegnen. Statt dessen drehte er sich nach rechts, wo er mit Mißfallen den Kombi nahen sah. Ah, Mist, dachte er, nicht gerade jetzt! »Du hast Ärger, was?« fragte sie mitfühlend. Er konnte nicht anders – er nickte.
»Shit. Ich auch.« »Ha? Du?« »Oh, und ob«, sagte sie mit giftigem Abscheu, und jedes Wort klang wie der Hieb einer Peitsche. »Passiert andauernd. Ich gewöhne mich allmählich dran. Sie sagen, lern die Kids kennen, geh zu den Parties, trete den Clubs bei, du wirst es brauchen, Christine, bei deinen Collegebewerbungen. Du wirst den ganzen Sums brauchen.« Sie schnaubte und brachte ein fabelhaft falsches Lächeln zustande, als der Kombi langsam in die Einfahrt bog. »Weißt du, Don, keine Beleidigung, aber es gibt eine Menge Schrott an deiner Schule.« »Keine Beleidigung. Das stimmt.« Das ehrliche Lächeln, das sie ihm schenkte, als sie sich kurz zu ihm umdrehte, war gerade lang genug, um es zu bemerken, dann verlosch es, als Norman und Joyce die Wagentüren öffneten und ausstiegen. Norman zeigte steif zu Don, dann zu den Einkaufstüten im Fond. »Ein Mädchen«, sagte sie leise, »kann hier in der Gegend nicht mal einen anständigen Fick kriegen.« Er wollte lachen, sie schnappen und mit ihr irgendeinen dunklen und abgeschirmten Ort aufsuchen, wo er das Gespräch fortsetzen konnte. Er wollte ihr erklären, daß er genau wußte, wie sie sich fühlte. Statt dessen stand er ungelenk da und murmelte ein Good-bye, als sein Vater ihn wieder zur Hilfe aufforderte. Chris berührte zum Abschied seinen Arm, lächelte noch einmal und begrüßte kurz die Boyds, ehe sie nach Hause ging. Norman sah ihr nach. Don schnappte sich zwei der schwersten Tüten und kehrte schnaufend ins Haus zurück, wo seine Mutter die Tür offen gelassen hatte und auf ihn wartete. In der Küche setzte er sie auf der Anrichte ab und trat ein wenig zurück, um den Sturm abzuwarten.
Norman ließ seine Last schwer auf den Tisch fallen, Joyce tat desgleichen, und dann schickten sie sich an, die Sachen einzuräumen, wobei sie ihn nicht beachteten. »Ich dachte, du solltest im Haus bleiben«, sagte sein Vater. »Chris scheint ein sehr nettes Mädchen zu sein«, meinte seine Mutter mit unsicherem Lächeln. »Ist sie«, erklärte Don. »Denk dir, Ma, sie will flachgelegt werden, und ich bin immer noch Jungfrau.« »Du hast Hausarrest«, erinnerte Norman ihn. »Nun, vielleicht solltest du sie ein bißchen näher kennenlernen, was meinst du?« Vor und zurück. Figürchen einer Uhr. »Wahrscheinlich, Mom, ich weiß nicht.« »Ihr Vater ist Arzt, weißt du. Er arbeitet in New York. Nach allem, was ich gehört habe, ein ziemlich bedeutender Mann.« »Wieso wohnt er denn hier?« fragte er und zuckte zusammen, als Norman direkt neben seinem Kopf eine Schranktür öffnete und ihm einen Blick zuwarf, der eine Antwort verlangte. »Ich weiß nicht«, sagte Joyce und runzelte über einer Dose mit Keksen die Stirn, wog sie in der Hand, ehe sie sie wegstellte. »Nach dem, was mir erzählt worden ist, mangelt es ihm nicht an den nötigen Scheinen. Und es liegt sicherlich nicht daran, daß dies so ein idealer Vorort ist. Da gibt es etwas, glaube ich, was die Mutter – « Norman knallte eine Suppendose auf den Tisch und sah seinem Sohn ins Gesicht. »Ich will wissen, was du draußen gemacht hast, Donald, wo man dir ausdrücklich befohlen hat, das Haus nicht zu verlassen.« Er senkte den Blick auf seine Schuhspitzen und schluckte den Frosch herunter, den er in der Kehle hatte. Seine Linke begann, leicht gegen die Wand zu trommeln. Er fühlte die Hitze in seiner Brust und im Genick und konnte die Sekunden verstreichen hören wie das Plumpsen von Steinen in einer
Pfütze. Ohne sie zu sehen, spürte er, wie seine Mutter zur Küchentür ging und sich unnütz mit irgend etwas beschäftigte, dort blieb, weil sie mußte, am liebsten verschwunden wäre, weil sie wußte, was kam. Das war die Regel: Die Familie weicht keiner Diskussion aus. »Ich habe Hausarrest«, sagte er. »Das heißt doch nicht, ich dürfte nicht auf dieser dämlichen Veranda sitzen, oder?« »Du weißt verdammt gut, was es heißt«, sagte Norman. »Nein«, sagte Donald, »ich weiß verdammt nicht, was es heißt, denn du hast es mir nie erklärt, weil ich nie zuvor Hausarrest gehabt habe.« Joyce hielt sich eine Hand vor den Mund. Norman klammerte sich an der Tischkante fest, und für einen Augenblick dachte Don, er wollte ihn umkippen und ihm an die Kehle springen. Don blickte an ihm vorbei zu seiner Mutter. »Mom, warum sind meine Sachen auf dem Boden?« »Sachen?« »Von den Regalen. Die Tiere. Du hast sie entfernt, erinnerst du dich? Ich möchte gerne wissen, warum sie auf dem Dachboden sind. Werde ich sie irgendwann zurückbekommen?« »Geh auf dein Zimmer«, sagte Norm, ehe sie antworten konnte. »Geh auf dein Zimmer und komm nicht wieder herunter, ehe du nicht einen zivilisierten Ton hast.« »Sam«, sagte Joyce. Da stand die Zeit still; kein Laut, keine Luft. Don hob eine Faust, und Norman sah seine Frau schockiert und abgestoßen an. »Oh«, flüsterte sie und rannte aus dem Raum. Da kam das Rot, kurz ehe Don sich klar wurde, was er dachte. Er senkte die Faust, zwang seine Finger, sich zu öffnen, und eilte zur Treppe, sein Vater hinter ihm her. Auf
dem oberen Treppenabsatz drehte er sich um und sah nach unten. »Was, wenn es mir nicht leid tut?« fragte er ausdruckslos. Norman schluckte und kam eine Stufe nach oben. Da war er sicher – er wußte so sicher, wie er sehen konnte, wie das Rot sich in den Ecken sammelte, daß wenn sein Vater seinen Fuß nur noch ein einziges Mal hob, noch eine Stufe, es einen Kampf geben würde. Er war im Begriff, seinen Vater zu schlagen, oder sein Vater würde den ersten Hieb austeilen. Er hatte es im Film gesehen und für dämlich gehalten. So was kam im wirklichen Leben nicht vor. Dabei hatte er es nur bis jetzt nicht nachfühlen können, bis er diesen Fremden zu ihm aufblicken sah, ohne die Rechtfertigung durch Haß in den Augen, diesen Fremden, der mit sich selbst haderte, denn all seine Regeln geboten, du darfst deinen fast achtzehn Jahre alten Sohn nicht schlagen. »Tu, was ich dir sage«, befahl Norman. »Ich gehe«, antwortete er, ohne einen Punkt nachzugeben.
Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem Bett, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Hände im Schoß. Er vermied, die Regale, die ordentliche Schreibtischplatte, das Fenster und den Fußboden zu betrachten. Er blickte den Hengst an, der auf ewig durch die Wälder jagte, und dachte nach. Zunächst dachte er darüber nach, wie es sein mochte, ein Waisenkind zu sein und wie er es zuwege bringen könnte, einen Job anzunehmen, ohne die Schule zu verlassen. Er dachte an Tracey und warum sie nichts von einer nächsten Verabredung oder einem Treffen in der Schule erwähnt hatte. Oder ihn sonst wie hatte sehen wollen.
Er dachte an Brian und Tar und den nicht immer total verkommenen Fleet, und wieso er zum Donny Duck hatte werden müssen, wo er doch nicht der einzige Donald in der Schule war. Wo es andere gab, die schlimmere oder komischere Namen hatten, wo es andere gab, die sich deutlich als Zielscheibe des Spotts anboten. Er dachte an Chris, daran, wie sie wohl unter dem Pullover aussehen mochte, und fragte sich, wie viele es wohl gab, die das bestens wußten und warum sie mit ihm hatte reden und sein Bild von ihr hatte ruinieren müssen. Er dachte an Regeln. Er dachte daran, wie er all diese Leute loswerden könnte, ehe er zusammenbrach und verkrüppelt und sterbend im Bett lag. Schließlich dachte er an gar nichts mehr. Um Mitternacht regte er sich. In seinem Gehirn war nichts mehr, worauf er sich länger als ein paar Sekunden konzentrieren konnte, aber er lächelte, als er eine merkwürdige innerliche Beruhigung verspürte. Er blickte an sich herunter und war erstaunt, wie naß seine Sachen waren. Er berührte sein Haar, und es klebte ihm am Kopf. Er berührte das Bett, und es war unangenehm feucht. Aber er regte sich nicht, denn er spürte immer noch, daß er sich beruhigte. Sich innerlich setzte. Anders konnte er es nicht beschreiben – eine Masse von etwas Leichtem, die man hoch auf einer weiten Ebene gestapelt hatte, die nichts als einen unendlichen Horizont hatte. Etwas, das sich verschob und setzte und schließlich zu einem kleinen Etwas wurde, ein Klumpen, kompakt und unglaublich hart. Er griff danach, ohne die Arme zu bewegen, und berührte es, und es war heiß und es war rot und paßte genau in die Fläche seiner Hand, als er es aufhob und anstarrte und wußte, was es war.
Es gab einen Augenblick, als er es betrachtete – all die Wut, all die Frustration – in dem die Angst über ihm schwebte, eine Gewitterwolke, die grollte, ehe der erste Donner krachte. Dennoch, trotz der Hitze, dem Rot, der Härte, die ihm innewohnte, war es vor allem tröstlich, irgendwie vertraut. Es war seins, und es war er. Ein Lächeln, kaum merklich. Er rückte zur Bettkante, ließ seine Füße den Boden berühren, ließ seine Hände die Matratze umklammern. Er schaltete das Licht über dem Kopfende an und wandte sich von der Birne ab, bis seine Augen sich umgewöhnt hatten. Eifrig beugte er sich vor und wollte seinem Freund erklären, was soeben geschehen war. Aber er konnte nicht. Er konnte nur den Mund zu einem Schrei öffnen, der stumm blieb. Das Poster war immer noch da, über seinem Schreibtisch angeklebt. Der Wald, die Straße, der sich verdüsternde Himmel. Das Poster war da. Aber irgend jemand hatte versucht, das schwarze Pferd zu beschädigen. Es war zerkratzt, kaum sichtbar, als hätte jemand mit einem Messer oder Bleistift versucht, die Abbildung auszulöschen und nur noch den Hintergrund übrigzulassen.
7
Am Sonntagmorgen ließ sich die Sonne nicht blicken; statt dessen regnete es, ein starker Dauerregen, der rasch die Rinnsteine füllte und die Fahrbahnen in schwarze Flüsse verwandelte. Blätter fielen klatschnaß auf die Straßen und die Bürgersteige, die Schilder zum Ashford Day an den Laternenmasten des Boulevards wurden durch den Wind an ihren Drähten hin und her gezerrt. Der Park lag verlassen da.
Als der Platzregen vorbei war, blieb Niesel. Irgendwie kälter, mit einem Hauch von Düsternis. Er verhinderte, daß die Pfützen deutlich reflektierten, verhinderte einen klaren Blick aus dem Fenster; der Wind hatte sich gelegt, aber man behielt die Kragen hochgeschlagen und die Schirme aufgespannt. Und als am anderen Ende der Stadt eine Kirchenglocke läutete, klang sie wie eine Nebelwarnung. In Dons Zimmer war das Licht grau, aber er merkte nichts davon. Er saß an die Wand gelehnt auf seinem Bett und starrte das Poster mit geschwollenen und blutunterlaufenen Augen an, die Hände zitternd an die Seiten haltend. Er trug nur seine Unterhosen, und sein Brustkorb bewegte sich kaum. Seine Mutter hatte kurz nach dem Frühstück nach ihm gesehen, und er hatte sie nur angestarrt, bis sie rückwärts wieder rausgegangen war und die Türe geschlossen hatte. Sein Vater ließ sich überhaupt nicht blicken. Ihm war das gleichgültig. Er war dabei, ein neues System von Regeln auszuarbeiten.
Das Telefon läutete. Tracey fuhr von der Couch hoch und raste in die Küche, aber als sie das Telefon erreichte, hatte ihre Mutter bereits abgenommen. Eine Tante, nach dem Tonfall zu urteilen, und sie wartete, bis sie sicher war, es handelte sich um eines jener endlosen Sonntagsgespräche, die zu den Düften des Sonntagsdinners und der Stille des Sonntagnachmittags gehörten, wenn Ruhe im Haus angesagt war, Erlaß ihres Vaters. Später, dachte sie. Ich rufe Don später an.
Brian machte sich Sorgen um seinen Halsumfang. Ehe er das Haus verließ, begutachtete er sich mehrere Male im Spiegel in der Diele, ob er nicht zu stiernackig, zu dick wurde. Er wollte nicht wie Tar oder Fleet enden, mit Nacken, die bis zu den Schulterenden reichten. Aussehen wie ein Hirnamputierter und sich anhören, als habe man ihm die Kehle mit Watte verstopft. Er wollte so normal wie möglich aussehen. Ein dicker Hals bedeutete für die Arschlöcher da draußen, man war leicht umnachtet und dumm, und er machte sich nichts vor – wenn seine Karriere auf dem Spielfeld beendet war, würde er sich in einem richtigen Beruf bewähren müssen, und man kriegt keine richtigen Jobs, wenn man blöd aussieht oder aufgedunsen oder als wäre das Gesicht von einer Elefantenherde eingetrampelt worden. Jetzt korrigierte er seinen Rückspiegel und zupfte sich am Pullover, einfach nur, um sicherzugehen, daß sich in den letzten fünf Minuten nichts geändert hatte. »Jesus Christ!« schrie Tar, der sich in den Sitz preßte. »Guck, um Himmels willen, wo du hinfährst.«
Ein Bus hupte. Brian riß das Steuer hart nach rechts, wieder nach links und grinste, als der Wagen auf dem regennassen Asphalt die Spur hielt. »Nur kein Schweiß.« »Kein Schweiß, fick dich, Kumpel!« sagte Tar. Er rutschte tiefer, bis er die Füße aufs Armaturenbrett legen konnte. Sein Kopf ragte kaum über den Wagenschlag hinaus. »Die Hosen voll?« fragte Brian mit einem Grinsen. »Vorsichtig.« Er lachte, schüttelte den Kopf und bog vom Boulevard in eine Straße ein, die plötzlich über eine halbe Blocklänge steil abfiel. Sie waren zu einer Wohnung unterhalb der Schule unterwegs, und nachdem er sich noch einmal seinen Nacken angesehen hatte, warf Brian einen Blick zurück zum Rücksitz, um sich zu vergewissern, daß sie alles bei sich hatten. »Ich meine immer noch«, murmelte Tar, »wir hätten Fleet überreden sollen mitzukommen, verstehst du? Himmel, eigentlich war es zuerst seine Idee.« Brian zuckte die Achseln. Er scherte sich keinen Deut darum. Fleet Robinson hatte sich irgendwie ausgeklinkt, seit er Amanda Adler aufgegabelt und ihr ins Höschen gefaßt hatte. Nicht, dachte er, während er sich mit der Hand über die Brust rieb, daß ihm das nicht auch gefallen könnte. Sie war gar nicht so übel, wenn man berücksichtigte, daß in puncto Arsch und Titten nicht viel mit ihr los war. Er schätzte, daß Fleet auf etwas anderes scharf war, wie zum Beispiel den langen Pferdeschwanz. Vielleicht peitschte sie ihn damit oder so. Er grinste. Vielleicht tat sie das wirklich. Tar hatte trotzdem recht. Der Scheißkerl hätte dabei sein sollen, bei ihnen, zu einem Ort fahren sollen, der aussah, als hätte Gott vergessen aufzuräumen. Die Häuser waren alt und baufällig; jetzt lag überall Ruß, nachdem es geregnet hatte, von den Fabriken, deren Rauchfahnen düster über den Bäumen
aufstiegen. Man konnte kaum glauben, daß es dieselbe Stadt war, und er fragte sich, wieso die Mädchen von hier unten die besten Körper besaßen. »Jesus, was für ein Schutthaufen«, sagte Tar, das Kinn fest auf die Brust gepreßt. Sein dunkles Haar war kurzgeschnitten, das Gesicht im trüben Licht des Spätnachmittags bleich. Er schnüffelte und kramte in seiner Hemdtasche nach einer Zigarette, zündete sie an und kurbelte das Fenster herunter, um den Rauch hinauszulassen. Brian haßte Rauch. Noch einmal nach rechts, und Brian verlangsamte die Geschwindigkeit auf Dauerlauftempo. Seit sie den Boulevard verlassen hatten, hatten sie weder ein anderes Auto noch einen einzigen Menschen gesehen. Er schnippte mit den Fingern, und Tar stöhnte, als er sich auseinanderfaltete und nach hinten griff und die beiden Plastiktüten nach vorne hievte. Er verstaute sie sorgsam zwischen seinen Knien und kurbelte das Fenster noch ein wenig herunter. Trotz der Verschnürung der beiden Tüten konnte er immer noch das Zeug riechen, und er wischte sich die Hände an den Jeans. »Wundervoll«, sagte Brian. »Fleet sollte hier sein.« »Jesus, hörst du endlich damit auf, Boston? Er ist nicht da und damit basta, und außerdem wird es ihm leid tun, wenn er morgen früh das Gesicht von der Röhre sieht.« Tar dachte darüber nach und entschied, daß Brian recht hatte. Wie immer. Selbst wenn er sich irrte. Einmal links, einmal recht, dann fuhr Brian an den Randstein einer verlassenen Straße, wo die Häuser in erheblich besserer Verfassung waren als die, an denen sie vorbeigefahren waren. Sie waren immer noch alt und sahen immer noch so aus, als würden ihre Besitzer nicht mal einen Dollar die Stunde machen, aber die winzigen Vorgärten waren sorgsam gepflegt,
die Häuser sauber und gestrichen, und kein Schrott lag auf der Straße. Von den Blättern tropfte Wasser aufs Dach, laut. Brian rieb die Hände gegeneinander und beugte sich über das Steuerrad, um durch die Windschutzscheibe zu lugen. »Dort«, sagte er und zeigte mit dem Finger. »Das grüne, zweite von der Ecke aus.« Tar folgte der Richtung des Fingers und nickte. Dann musterte er abermals die Gegend. »Was zum Teufel sucht er hier, Mann? So wie der redet, könnte man meinen, er lebt im tollen Scarsdale oder so.« Er starrte zum nächsten Haus hinüber. »Vielleicht haben wir die falsche Adresse.« »Nein«, sagte Brian, obschon er dasselbe dachte. »Wahrscheinlich lebt er in demselben Haus, in dem er geboren wurde. Zu verdammt faul, um auszuziehen.« »Vielleicht hat er ein geheimes Labor im Keller, wo er mit Weibern experimentiert.« »Die Röhre? Du machst wohl Witze. Wenn du ein Mädchen wärst, hättest du das Ding gerne auf dir liegen?« Tar schauderte, lachte und holte tief Luft. »Du weißt, wir sind im Arsch, wenn sie uns erwischen.« »Halts Maul, Boston, okay? Wir werden nicht erwischt, und außerdem haben wir beschlossen, daß der Scheißkerl es verdient – stimmt’s?« Darüber brauchte Tar gar nicht nachzudenken. »Stimmt. Aber ich kapiere immer noch nicht, warum wir dem Duck nicht einfach die Schnauze polieren. Das blaue Auge würde als schönster Körperteil übrigbleiben.« »Darum«, sagte Brian und fragte sich, warum Tar die ganze Zeit über soviel nachdenken mußte. »Warum?« »Jesus, bist du blöd, oder was?« »Ich bin nicht blöd. Ich denke bloß – «
»Hör mal«, sagte Brian, dessen Hände das Steuerrad kneteten, »wir mischen den Duck auf, und jeder weiß, wer’s war, richtig? Sein Alter wird sich auf uns stürzen, als wären wir Killer oder so, und wir sehen die Abschlußprüfung nicht mal von hinten. Aber wenn wir das hier machen, Tar Baby, ist der Duck in den Hintern gekniffen. Sein alter Herr wird ihn zur Sau machen, Hedley wird ihn zur Sau machen, und vielleicht haben wir Glück, und die Bullen machen ihn ebenfalls zur Sau. Wo zum Teufel ist der Haken?« Tar wußte es nicht. Er nahm an, daß es ganz vernünftig klang. »In Ordnung«, sagte er. »Aber wenn wir noch viel länger hier herumsitzen, ruft jemand die Bullen unseretwegen und nicht wegen Duck.« Brian grunzte zustimmend und warf wieder einen prüfenden Blick zum grünen Haus hinüber. »Okay. Wir gehen um die Ecke. Ich lass’ den Motor laufen, und um Himmels willen, vergiß die andere Chose nicht.« Als Brian vom Randstein wegfuhr, wischte sich Tar mit der Faust über die dreimal gebrochene Nase. »Ich könnte schon Hilfe gebrauchen. Deshalb sollte Fleet ja auch hier sein, falls du es nicht mehr weißt.« »Ich weiß, ich weiß, okay?« »Dann hilf mir.« »Du rennst doch schneller als ich, okay?« »Soviel schneller nicht«, murmelte Tar, als sie um die Ecke bogen und auf der linken Straßenseite parkten. Für weitere Streitereien blieb keine Zeit. Sobald der Wagen hielt, war Tar mit den Tüten draußen und lief geduckt zum grünen Haus. Er sprintete den Gehweg hinauf, machte eine Kehrtwende und warf die beiden Tüten dabei gegen die Tür. Er war bereits wieder auf dem Bürgersteig, als sie dagegen prallten, als sie aufplatzten und Hundekot, faule Eier und Essig
auf die Veranda spritzten. Vor dem Besitz befand sich eine niedrige Hecke, und als er auf den Bürgersteig kam, ließ er Don Boyds Windjacke darauf fallen, zerrte einen Ärmel zurecht, damit sie sich auch richtig verfing. Dann war er wieder im Auto, und Brian fuhr bereits los, noch ehe die Tür geschlossen war. Er fuhr nicht mit qualmenden Reifen davon, aber schnell genug, um außer Sicht zu sein, als Adam Hedley auf das Poltern oben reagierte und seinen Keller verließ. Den karierten Bademantel hatte er fest gegürtet, und seine Nase rümpfte er bereits voller Ekel, ehe er die Klinke anfaßte und die Tür aufzog. Brian lachte nicht, als er wieder den Hügel hinauffuhr. Er sah Tar nur mit einem Grinsen an, das nicht bis in die Augen drang. »Auftrag ausgeführt«, sagte er.
Irgend etwas bewegte sich im Regen. Es wanderte geräuschlos durch die Straßen, es wanderte schattenlos unter Laternen. Es stapfte durch eine Pfütze, und das Wasser blieb ruhig. Es streifte eine Hecke, und die kleinen Zweige rührten sich nicht. Ein Hund begann auf der Veranda neben Adam Hedleys Haus zu hecheln und zerrte an der Leine, mit der er an die Haustür gefesselt war, heulte einmal, fletschte die Zähne, kauerte sich dann mit einem Winseln auf die Fußmatte, als es den Weg heraufkam und den Terrier starr fixierte, kehrtmachte und von dannen zog. Und der Hund begann zu zittern, schnappte nach seinen Beinen und knurrte seinen Schwanz an, urinierte auf die Matte und bekam ein wenig Schaum vor dem Maul. Irgend etwas wanderte durch den Regen, ohne ein Geräusch zu machen.
Das Zimmer war geräumig und perfekt. Das Mobiliar war neu genug, um seinen Glanz zu bewahren, und alt genug, um sich wohl darin zu fühlen. Das Bett besaß einen Baldachin, wie Chris es mochte. Schreibtisch und Sessel kamen direkt von der Regent Street in London, der weiche regenbogenfarbene Teppich aus Indien. Das Kuschelsofa unter dem Fenster war aus einem kleinen Laden in SoHo, den sie vor zwei Jahren entdeckt hatte. Die Wände waren weiß mit goldenen Tupfen tapeziert, die Decke frisch getüncht, die Alabasterlampen gerade ein bißchen schnörkelig, aber nicht so feminin, daß es wie das Zimmer eines Mädchens wirkte, das sich zum Leben nichts weiter als einen Mann und zwei Kinder wünschte. In der hinteren Ecke stand ein Klavier, auf dessen Bänkchen sich Noten stapelten, die jederzeit herunterfallen konnten. Neben dem Schreibtisch war eine geöffnete Tür, die direkt in ihr privates Badezimmer führte. Das hatte zu ihren Bedingungen gehört, als sie Manhattan verlassen mußte – daß sie soviel Intimsphäre genießen konnte wie möglich und der übrige Haushalt sich aus ihren Angelegenheiten heraushalten sollte, wenn nicht gar aus ihrem Leben. Sie hatte erwogen, auf einem eigenen Eingang zu bestehen, aber damit hätte sie den Bogen überspannt. Ihr Vater, der sich bis zu einem gewissen Punkt geduldig beschwatzen ließ, hätte losgebrüllt, das käme gar nicht in Frage, und vielleicht hätte er sie sogar auf diese vornehme Schule in Vermont geschickt, wo sie nichts weiter als andere Mädchen, ein paar Bäume und Herden von blöden Kühen zu sehen gekriegt hätte. Ihrer Mutter war das eine ebenso egal wie das andere; sie verbrachte den größten Teil des Tages damit, zehnseitige Briefe an ihre beiden älteren Kinder in Yale und Vassar zu schreiben, oder sie flog nach Florida hinunter, um ihre eigene Mutter zu besuchen.
Also war es so perfekt wie möglich, und wenn sie irgendwelche Klagen hatte, so behielt sie sie lieber für sich. Sie bürstete ihr Haar vor dem Badezimmerspiegel, drehte den Kopf hin und her und runzelte die Stirn bei dem Gedanken, daß sie es schon wieder waschen mußte. Sie haßte das – das Waschen, das Fönen, das ewige Bürsten, um den Glanz zu erhalten. Sie wünschte, sie könne es sich abschneiden lassen und blau färben wie die Pikten unter den Römern. Wenn sie es aber abschnitt, würde sie wie ein Freak aussehen, und wie ein Freak auszusehen, vertrug sich nicht mit ihrem Plan. Das Badehandtuch rutschte ihr von der Brust, und sie griff fluchend danach, hielt es fest, als sie die Lampen ausschaltete und ins dunkle Schlafzimmer ging. Der Griff zum Wandschalter wurde unterbrochen. Noch nicht, dachte sie. Sie wollte noch ein wenig länger im Dunkeln bleiben, lauschen, wie der Regen an ihrem Fenster hinabrann, der segensreichen Stille lauschen, die besagte, daß sie alleine war. Ein Seufzer, zufrieden, und sie tappte über den warmen Teppich zu dem gepolsterten Sessel am Fenster, setzte sich und zog die Beine an, so daß sie die Arme um die Knie schlingen und hinaussehen konnte: Es gab nicht allzuviel zu sehen, nicht während es regnete, nicht nach Sonnenuntergang, aber die Lichter der Häuser hinter dem Garten waren noch zu erkennen und leuchteten heller, als die Blätter von den Ästen geschüttelt wurden. Das Handtuch glitt ein wenig weiter herunter, sie rührte es nicht an. Sie legte eine Hand gegen die Glasscheibe und erschauerte vor der Kälte, preßte ihr Gesicht daran und versuchte, den hinteren Garten der Boyds zu erkennen. Er war zu weit entfernt und wurde durch zu viele Bäume verstellt, aber sie sah ihn und sie sah Don und sie sah seinen Vater.
Sie fragte sich, ob einer der beiden verstanden hätte, was sie tat, ob Don sehr verletzt wäre, wenn er wüßte, daß er eine Rolle spielte. Norman, dachte sie, würde gar keine Schwierigkeiten bereiten. Ganz bestimmt nicht, nach dem, wie er sie gestern angesehen hatte, als sie sich von seinem Sohn verabschiedet hatte, oder nach der Art, wie er sie anlächelte, wann immer sie einen Vorwand fand, ihn in seinem Büro aufzusuchen. Er war nicht blöde. Sie wußte verdammt gut, daß er den Plan kannte. Er begriff, warum sie in dieser verdammten dreckigen Stadt blieb, bis sie an seiner mittelmäßigen High-School graduiert hatte, mit den besten Noten, die sie kriegen konnte, egal, wie sie sie bekam. So sicher wie irgend etwas begriff er, daß eine Blume in einem verfallenen Garten strahlender erschien als zwischen ihren Schwestern, vor allem, wenn die Blume die Aufmerksamkeit der Männer besaß, die diesen Garten hüteten – an einem Ort wie diesem war sie geradezu eine preisgekrönte Orchidee. Ihre Mutter hatte sich entschieden, ein Schatten zu sein, und dafür hatte sie bezahlt. Ihre Freundinnen waren zu sehr damit beschäftigt, jeden Job und jede Liebeserklärung in eine Staatsaffäre zu verwandeln. Chris hingegen wußte, daß sie sich im Krieg befand, und nur Arschlöcher und dumme Gänse keinen Gebrauch von ihren besten Waffen machten. Norman begriff; das konnte sie in seinen Augen lesen. Don würde es schließlich auch begreifen, aber nicht vorher. Nicht ehe sie fertig war. Ein Schatten unten im Garten. Sie blickte angestrengt, wischte die Scheibe, blickte wieder hinaus. Und seufzte. Das war nicht Don; und Norman war nicht so dumm.
Es war eine Katze, und sie grinste darüber, während sie sich streckte und schnurrte und darüber nachdachte, wie sie die nächste Phase eröffnen sollte. Irgend etwas bewegte sich im Regen, und Sergeant Quintero, der in seinem Streifenwagen saß, hörte es in der schmalen Straße. Er wartete auf Verona, der in der Bar auf der Toilette war, und verwarf den Gedanken, dort hineinzugehen und zu warten, denn er wußte, daß Frauen da sein würden. Am Sonntag. Selbst am Sonntag würde eine Frau auf einem Barhocker sitzen, einen Drink nehmen und ein Schwätzchen mit dem Barkeeper halten, während sie auf ihr Date wartete, das sie nach Hause abschleppen sollte. Es machte ihn krank, und er weigerte sich hineinzugehen, als Tom gemeint hatte, ihm reichten die Holpereien im Wagen. Erschütterten seine Nieren, sagte er, als er ausstieg und davonstiefelte. Quintero hatte nur gegrunzt und das Fenster heruntergekurbelt, um frische Luft hereinzulassen. Und hörte es in der Gasse. Er verharrte einen Augenblick und überlegte, daß es sich wohl um einen Penner handelte, der nach einem Schlafplatz suchte, sah den Regen und beschloß, den Kerl in Ruhe zu lassen. Dann hörte er es wieder. Es entfernte sich langsam. Es hörte sich an wie jemand, der mit einer Schaufel auf weiche Erde klopfte. Er warf einen Blick auf die geschlossene Tür der Bar, zuckte dann die Achseln und stellte den Jackenkragen hoch. Er stieg aus und vergewisserte sich mit der linken Hand, daß der Revolver da war, dann zog er angesichts des Nieselregens eine Grimasse und steuerte auf den Schlund der Gasse zu. Es war finster. Dort hinten, daß wußte er von den Verhaftungen der Samstagnachtsäufer, gab es einen heruntergerissenen
Holzzaun, der zu einem Hinterhof führte. Ein Kind konnte hindurchklettern, ein erwachsener Mann würde fluchen und hinübersteigen müssen. Da splitterte Holz, widerhallend wie Gewehrschüsse, und sein Reflex ließ ihn losrennen, den Revolver in der Hand, während die Augen sich durch den Dunst tasteten. Aber trotz des schwachen Lichtes von der Straße hinter ihm und den vor ihm liegenden Häusern konnte er nichts erkennen, nicht mal, als er den Zaun erreichte und die klaffende Lücke sah. Ein Panzer, dachte er. Irgend jemand ist mit einem Panzer hindurchgefahren. Er suchte nach dem Übeltäter, in der Gasse und den anrainenden Gärten, und gelangte zu dem Schluß, daß es sich um einen Trunkenbold handelte, der in torkelnder Eile nach Hause hetzte. Und hinter ihm, ganz leise, bewegte sich etwas im Regen. »Es ist, als ginge man zweimal im Monat zur selben Beerdigung«, sagte Tracey zu Jeff, als sie die Stufen des Stadions hinunterstiegen, um ihren Lunch zu essen. »Sie wohnt in diesem wirklich abscheulichen Apartment, im dritten Stock ohne Aufzug mitten in einem Häuserblock, der aussieht, als hätten die Bomben eingeschlagen. Mein Vater versucht, sie zum Auszug zu bewegen, seit mein Großvater vor zwei Jahren gestorben ist, aber sie sagt, ihre Freunde leben alle dort und sie will einfach nicht weg.« Jeff schob seine Brille mit dem Zeigefinger zurück und grinste, als sie sich hinsetzten, ihre Lunchtüten öffneten und ihr Essen herausnahmen. Sie hatten sich in der Cafeteria Milchgetränke gekauft und Orangen zum Dessert, und als sie Don dort nicht getroffen hatten, dachten sie, er sei schon draußen. Der Regen vom Sonntag hatte aufgehört, aber die Wolken waren geblieben, und die Temperatur gestiegen, als schiene die Sonne…
Er seufzte, als er die Sitze mit einem Blick überflog, die immer noch dunkel vor Feuchtigkeit waren. »Seh’ ihn nicht.« »Na ja, er war in Mathe.« »Hat er was gesagt?« Sie schüttelte den Kopf, und eine dicke Haarsträhne rutschte hinter ihrem Ohr hervor und bedeckte ihr Auge. »Er sah allerdings fürchterlich aus. Er sah aus, als hätte er das ganze Wochenende nicht geschlafen.« Sie aßen schweigend, nicht so eng nebeneinander, daß sie sich hätten berühren können, aber eng genug, um zu spüren, daß sie alleine draußen waren. »Trace?« Sie sah ihn abwesend an und überlegte, weshalb er keine Freundin hatte: Trotz der dicken Brillengläser sah er nicht übel aus. Sein altmodisch langes Haar glänzte wie das eines Mädchens, und wenn er wollte, konnte er auf eine sarkastische Weise recht komisch sein. Sie nahm an, es lag daran, daß er zweite Ersatzmannschaft im Football-Team war, was ihn nicht gerade zum Helden stempelte und irgendwie zu weniger machte als die Fans, die bei den Heimspielen die Ränge bevölkerten. Ein schlechter Ausgangspunkt, konnte sie sich vorstellen, und auch ein bißchen albern. »He«, sagte er und klopfte mit den Handknöcheln sachte gegen ihre Stirn. »He, bist du da drin?« Sie lachte. »Ja.« »Denkst du an Don?« Sie zuckte die Achseln; weder Lüge noch Wahrheit. »Gehst du am Mittwoch zum Konzert, wenn’s nicht regnet?« »Ich denke schon.« Das hatte ihre Mutter sie auch an diesem Morgen und gestern abend und gestern nachmittag gefragt. Aber sie ließ nicht zu, daß Tracey ihn anrief. Das schickte sich nicht, beharrte sie. Es
gehört sich, daß der Junge anruft. Nur, Maria Quintero kannte Donald Boyd nicht. Tracey wußte, daß er ihre Verabredung ebenso genossen hatte wie sie, und sie wußte ebenfalls, daß sie ihm noch hätte etwas sagen sollen, als er sie heimgebracht hatte. Aber da war dann der Kuß gewesen und ihr Davonlaufen. Und sobald sie ihren Fehler erkannt hatte, oben in ihrem Zimmer, war sie wieder hinausgelaufen, um ihn aufzuhalten, und ihr Vater war aus der Küche gekommen. Er hatte Straßenkleidung getragen und rasch erklärt, er würde jetzt mit Detective Verona die doppelte Schicht arbeiten, und hoffte, den Howler vom weiteren Zuschlagen in dieser Stadt abhalten zu können. Er hatte ihr nicht erlaubt wegzugehen. Sie hatte unter Tränen protestiert und war prompt auf ihr Zimmer geschickt worden. Es war spät, der Junge schon fort und dazu der Besuch am kommenden Tag bei der abuela. Was hätte sie tun sollen? Das letzte Mal, das sie offen gegen ihn aufgemuckt hatte, hatte ihr ein volles Wochenende eingesperrt auf ihrem Zimmer beschert. Ihre Mutter, sie sei gesegnet, hatte ihr heimlich Essen nach oben gebracht und sie getröstet, ihr aber nicht helfen können herauszukommen. Luis Quintero hatte es sich in den Kopf gesetzt. »Er hat den ganzen Tag nicht mal buh zu mir gesagt«, erklärte sie Jeff traurig. »Ich weiß nicht, ob er sauer ist oder was.« Jeff grinste. »Ich glaube, er hat Angst.« »Angst? Wovor?« Er zeigte auf sie. »Du bist verrückt.« Jeff wich nur eine Minute aus, ehe er ihr davon erzählte, daß Don praktisch die ganze Schule nach ihrer Beziehung zu Brian gefragt hatte. Als sie protestierte, daß da nichts war, nie
gewesen war und, solange ein Atemzug in ihr steckte, auch nie sein würde, versicherte Jeff ihr, daß dies genau das war, was alle Welt erklärt hatte. »Er war total verdreht, du hättest ihn sehen sollen.« Er lachte leise und leerte den Becher der Milch in einem Zug. »Nimm dazu das Nachsitzen, zu dem er verdonnert war und er schwebte über allen Wolken.« Er schüttelte voller Erstaunen den Kopf. »Ich habe ihn noch nie so erlebt. Noch nie.« »Wirklich?« Sie machte sich nicht die Mühe, Desinteresse vorzuschützen. Jeff kannte sie zu gut. »Dann kapiere ich’s nicht.« »Was ist da zu kapieren? Ich sagte dir doch, er fürchtet sich zu Tode.« »Oh, großartig.« »He, nur nicht ungeduldig werden. Am Ende des Tages wird er, wenn du ihm zublinzelst oder so, deine Bücher in einem Arm nach Hause tragen und dich im anderen halten.« Sie lachte und fühlte, wie sich ihre Wangen röteten. Ein Schlucken, um es loszuwerden, eine Berührung ihres Haars, um es zu verbergen, und sie sprang auf, als das letzte Läuten über die Ränge klang. Zwei Minuten darauf war sie im Korridor auf dem Weg zu Hedleys Labor, als sie Don zusammengesunken an der Wand neben dem Geschichtszimmer sah. Sie verlangsamte den Schritt, hoffte, er werde sich umdrehen und sie bemerken, ging noch langsamer und steuerte schließlich direkt auf ihn zu und zupfte ihn am Ärmel. Erschrocken stieß er sie fort und wich einen Schritt zurück, die Augen weit aufgerissen, fast in Panik, bis er ihr Gesicht erkannte. »Hi!« sagte sie strahlend. »Hi«, erwiderte er und wich ihrem Blick aus. »Du bist, ähm, spät dran für den Unterricht.« »Ja. Du auch.«
»Gehst du nach der Schule direkt nach Hause?« Er hob die Hand. »Ich – ich denke, ich werde ein bißchen laufen.« Eine Männerstimme rief ihren Namen, und Don wandte sich ab und eilte zum Treppenhaus. »Bis später«, rief sie leise und hätte sich selbst ohrfeigen können, als sie die Gesichter in ihrer Klasse sah, während sie zu ihrem Platz eilte. Es mußte überall auf ihr geschrieben stehen, von der Stirn bis zu den Knien. Sie tuschelten, jemand kicherte, und sie spürte wieder, wie sie rot wurde. Daraufhin fluchte sie drei volle Minuten leise vor sich hin, bis der Druck in ihrer Brust gewichen war und ihre Wangen sich wieder kühl anfühlten. Der Unterricht zog sich endlos dahin. Und in der letzten Stunde fühlte sie sich, als wäre Freitag und nicht erst Montag, und sie war schon fast beim Ausgang, die Bücher unter dem Arm, als sie innehielt, sich umdrehte und mit Chris Snowdon zusammenprallte. Chris lächelte und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Nimm’s leicht«, sagte sie und hielt den Kopf gesenkt, um eine Vertraulichkeit anzudeuten. »Er ist Richtung Sportplatz gelaufen.« Tracey konnte nur ein Dankeschön murmeln und davoneilen, Tränen der Verlegenheit in den Augen. Mein Gott, so offensichtlich war das. Und wenn Chris, die nicht mal wußte, ob sie tot oder lebendig war, wenn Chris das sehen konnte, dann wußte es die ganze Schule, dann wußte es auch ihre Schwester aus der Grundstufe. O Gott, das Abendessen würde ja heute heiter werden. Im Erdgeschoß war sie entschlossen, es zu vergessen und heimzugehen. Das war lächerlich. Nie zuvor in ihrem Leben war sie hinter einem Jungen hergelaufen. Es war erniedrigend, und sie hatte den leeren Ausdruck in seinen Augen gesehen,
als sie ihn vor der Stunde abgefangen hatte – da war weder Entzücken, noch Furcht oder gar ein höfliches Lächeln gewesen. Da war nichts. Ebensogut hätte sie ein Baum oder eine der Wandkacheln sein können. Sie trat aus dem Treppenhaus in den Gang. Er lag verlassen da, das Licht bereits trüb und mangels Fenster noch trüber, dazu der senfgelbe Anstrich und keine Türen. Die Turnhalle und die Ausgänge zum Stadion befanden sich auf der anderen Seite. Er hatte gesagt, er wolle laufen. Chris’ Bemerkung bestätigte das, also ging sie langsam zu den Türen, die hundert Meilen weit entfernt zu sein schienen. Irgendwo lachten ein paar Jungen heiser. Vermutlich das Football-Team, das sich zum Training fertig machte. Eine höhere Stimme zwitscherte, hustete und brach in Gelächter aus. Das Basketball-Team der Mädchen auf dem Weg zur kleineren Halle gegenüber der Haupthalle. Und ihre Schritte auf dem Fußboden, als hätte sie Eisen unter den Absätzen. Sie hastete weiter, war nervös, hatte die Schultern ein bißchen angezogen, das Kinn nach unten gestreckt. Und hinter ihr, als sie nochmals langsamer wurde, um sich zu überlegen, ob sie das wirklich wollte, folgte ihr etwas. Ungleichmäßige Schritte, hohl klingend, laut. Sie warf einen Blick über ihre Schulter zurück und sah nichts, blickte wieder nach vorn und eilte weiter. Ein Junge, vielleicht einer der Coaches oder Gabby D’Amato, der einen seiner Besen schwang. Der Gedanke, daß der grauhaarige alte Hausmeister ihr folgen könnte, ließ sie schaudern, und sie lief schneller. Sie mochte den Alten nicht, keines der Mädchen tat dies. Sie hatten den Verdacht, daß er mehr Zeit in ihren Umkleideräumen zubrachte als in denen der Jungen, und sie wußten verdammt genau, daß er stundenlang in der Tür zur
Mädchenturnhalle stand und sie gierig in ihren Shorts und TShirts beobachtete. Hinter ihr die Schritte. Sie befand sich dreißig Fuß vom Ausgang entfernt, und es gab kein anderes Geräusch auf dem Fußboden als die ihrer Schuhsohlen und ihres Atmens und die langsam ihr folgenden Schritte, die hohl klangen und laut und immer näher kamen. Nicht umschauen, mahnte sie sich. Geh einfach zur Tür, sieh zu, daß du rauskommst, und schnapp dir Don und knüpf ihn dir vor und bringe in Erfahrung, was los ist, und wenn du ihm eine verpassen mußt. Stetig, immer näher kommend – das tiefe hallende Geräusch von etwas, das gegen Holz klatscht. Sieh dich nicht um, Idiot. Aber an der Ecke drehte sie sich um. Der Gang war leer. Aber sie konnte immer noch die Schritte hören. Und sie konnte einen gewaltigen Schatten sehen, der an die Wand am hinteren Ende geworfen wurde. Das war kein Mann. Sie war sicher, daß es kein Mann war, denn wenn, dann hätte er torkeln müssen, trunken die Kacheln und Spinde abreißen. Aber es gab kein anderes Geräusch als etwas wie eine Schulter, die Metall streifte, kein Keuchen, überhaupt kein Geräusch außer dem stetigen hölzernen Pochen von irgend etwas, das sich da unten bewegte. Irgend etwas viel Größeres als ein Junge oder ein Mann. Sie blinzelte einmal, die Bücher gegen ihre Brüste gepreßt, Mund und Kehle ausgedörrt, während ihre Lippen wie vor einem Schrei bebten. Dann schickte es sich an, um die Ecke zu kommen, und sie schrie tatsächlich und wirbelte durch die Tür und raste die Stufen hinunter, stieß mit der Schulter die obere Ausgangstür auf und rannte zu den Sitzen. Sie war schon halb auf dem Weg
zum Spielfeld, als sie bemerkte, daß das Stadion leer war. Don war nicht da. Niemand war da. Sie war alleine. Das Schulgebäude ragte hinter ihr auf, als sie zur Aschenbahn hastete. Was war das? Sie wußte es nicht. Und sie würde nicht so dumm sein, noch länger hier zu bleiben, um ihre Neugier zu befriedigen. Vielleicht war es nur eine optische Täuschung gewesen oder es lag an ihren Nerven, die so angespannt waren, weil sie vorhatte, Don zur Rede zu stellen. Aber, was immer da um die Ecke hatte biegen wollen, konnte nichts Menschliches sein. Es konnte nicht sein, es sei denn, dachte sie so unvermittelt, daß sie stehenblieb, es war der Howler, der nach jemandem Ausschau hielt, den er töten konnte. Da lief sie los und hielt erst inne, als sie zu Hause angekommen war.
Die Bürotür war geschlossen und die Sekretärinnen vorzeitig nach Hause geschickt worden, und Norman stand an seinem Fenster und runzelte die Stirn, als er die kleine Quintero über die Straße rennen sah, als wäre ein Mädchenschänder hinter ihr her. Er beugte sich vor, um zu sehen, ob dies der Fall war, ob überhaupt jemand folgte, sah niemanden, brummte und setzte sich wieder an den Schreibtisch. »Es ist eine Schweinerei«, sagte er, zerrte an der Krawatte, um sie zu lockern, und knöpfte sich den Kragen auf. Harry Falcone saß ihm im Ledersessel gegenüber, die Beine übereinandergeschlagen, das Sportsakko geöffnet. »Das können Sie laut sagen.« »Okay. Es ist eine Schweinerei.« Sie grinsten, wenn auch nicht lange.
Norman griff zum Bleistift, drehte ihn herum und tippte damit auf die Schreibtischunterlage. »Das können Sie nicht machen, das wissen Sie. Sie werden jede Zeitung gegen sich haben, und die Behörde wird mauern, und die Eltern der Oberstufenschüler werden Ihnen an den Kragen gehen.« Falcone gab ein Geräusch von sich, das ein Grunzen sein konnte oder ein Stöhnen, und lehnte sich so weit zurück, bis er an die Decke starrte. »Welche Wahl haben wir denn, Norman?« »Zum Beispiel, das Angebot zu akzeptieren, das auf dem Tisch liegt.« Falcone lachte beißend. »Wie steht’s dann mit einem verbindlichen Schiedsspruch?« Noch ein Lachen, diesmal verbittert. »Nun, was, um Himmels willen, denn dann?« »Marschieren«, sagte Falcone, ohne ihn anzusehen. »Wir werden demonstrieren. Wenn die Wahl heute abend entsprechend ausgeht, werden wir am Mittwoch nach der letzten Stunde marschieren, es sei denn, irgendjemand gibt uns einen Vertrag, mit dem wir leben können.« »Schwachsinn.« »Das«, sagte Falcone und setzte sich endlich wieder auf, »ist Ihre Ansicht.« Norman kreiselte auf seinem Drehstuhl herum, blickte auf den Rasen draußen und zwang sich zur Gelassenheit. »Haben Sie ein Statement, das ich dem Lehrkörper heute abend vorlesen soll?« »Lesen Sie das letzte vor«, sagte er säuerlich. »Ich habe nichts weiter hinzuzufügen.« »Zum Teufel, Norm, Sie sind ein Arsch, wissen Sie das? Sie sind ein echter Oberarsch. Sie könnten sich für den Rest Ihres Lebens ausruhen, Sie könnten ein Held sein, und jeder Lehrer dieser Schule würde für Sie durchs Feuer gehen, aber statt
dessen beharren Sie stur darauf, sich selbst die Kehle durchzuschneiden.« Du Hurensohn, dachte er, du schleimiger kleiner Hurensohn. Er schwang mit dem Stuhl herum, ließ den Bleistift fallen und stützte die Unterarme auf den Schreibtisch. Falcone lächelte. Er nahm Dons Klassenarbeit. Das Lächeln des Lehrers blieb unbeirrt. »Ich weiß, was Sie vorhaben«, sagte Norm ausdruckslos. »Und es wird nicht funktionieren. Gott weiß, Sie werden mich nicht über Joyce kriegen, und Sie kriegen mich auch nicht über Donald. Es funktioniert nicht, also hören Sie damit auf, Falcone. Hören Sie mit dem Schmutz bei meinem Sohn auf.« »Ach, du meine Güte«, sagte der Mann, erhob sich und glättete seine Revers, während er auf die Tür zusteuerte. »Ist das eine Drohung, Herr Direktor?« Norm erwog eine leichte Beschwichtigung, eine halbherzige Entschuldigung. Er wußte, was dieser Mann sonst tun würde – ein Statement gegenüber dem Lehrkörper über die Anschuldigungen des Direktors, vielleicht ein geschickter Hinweis für die Presse. Norman wird zum ewigen Bösewicht, dem Henker der Schulbehörde. Norman verliert die Selbstbeherrschung, weil er seine Schule nicht mehr beherrscht, und möchten Sie, daß ein solcher Mann die Geschäfte der Stadt leitet? »Harry«, sagte er und knallte das Papier auf die Unterlage, seine Faust mit Nachdruck darauf gelegt, »lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich stopfe Ihnen Ihre verdammten Eier ins Maul, wenn Sie noch mal so eine linke Tour versuchen. Verlassen Sie sich drauf, Harry, ich reiß’ Ihnen den Arsch auf.« Falcone zögerte, ehe er über die Schwelle trat, drehte sich nur leicht um und starrte zurück, ohne eine Miene zu verziehen.
»Was den Jungen angeht, so gebe ich es zu«, sagte er gerade so laut, daß man ihn verstehen konnte. »Aber ich will verdammt sein, Mr. Boyd, wenn ich kapiere, wieso Sie Ihre wundervolle Frau da mit hineinziehen.« Die Tür fiel zu. Norm war aufgesprungen, wollte ihn zur Rede stellen, als ihn eine unerbittliche Hand an der Schulter packte und zurückhielt. Es war niemand da, aber dennoch hatte er das Gefühl und begann zu zittern, als er begriff, wie kurz er davor gestanden hatte, den Mann zu erwürgen. Er biß sich auf die Unterlippe, spürte den Schmerz, der ihn zur Besinnung bringen sollte, und als es funktionierte, murmelte er: »Es ist nicht fair. Es ist einfach nicht fair.« Dann räusperte er sich laut und entschied sich, keine Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Zum Teufel mit den Berichten. Er lächelte, stand auf und nahm seinen Mantel aus dem kleinen Schrank am anderen Ende des Raumes. Aus Gewohnheit benutzte er die Privattür, die ihn direkt auf den Gang führte, wo er sich nach rechts wandte und dem Haupteingang zustrebte. Und als er auf den Betonplatz trat und Gabby die Fahne vom Mast holen sah, blieb er einen Augenblick stehen, als gehörte dies zur Zeremonie, grüßte den Hausmeister mit einem Zweifingersalut und machte sich auf den Weg. Adam Hedleys Auto raste vorbei. Norman beobachtete das und betete, der Lehrer würde ihn nicht bemerken, anhalten und ihn fragen, ob es irgend etwas Neues hinsichtlich der Windjacke gebe, die er gestern auf seiner Hecke gefunden hatte. Die Jacke, von der Don behauptete, sie sei ihm vor zwei Tagen abhanden gekommen. »Ich habe die Polizei nicht benachrichtigt«, hatte Hedley ihm heute morgen selbstgerecht erklärt. »Die Schule hat derzeit sicher schon genug Ärger, wo dieser Irre herumläuft. Von dem
fürchterlichen Skandal, den es bei den Feierlichkeiten diese Wochen geben würde, ganz zu schweigen.« »Ich weiß das zu schätzen, Adam«, hatte er erwidert, von dem vorliegenden Beweisstück zu sehr überrumpelt, um noch etwas hinzuzufügen. »Das glaube ich gerne.« Hedley hatte ihm die Hand geschüttelt und sie genau eine Sekunde zu lange festgehalten. »Ich möchte nur Ihr Wort, daß Sie sich darum kümmern, Norman. Es würde nichts bringen, wenn es herauskäme. Es wäre zu verheerend, meinen Sie nicht auch?« Norman hatte wie betäubt zugestimmt. Er wußte genau, was der Mann meinte, was Falcone mit einer solchen Geschichte anfangen konnte – der Direktor wurde nicht einmal mit seinem eigenen Sohn fertig und von den Lehrern erwartete er, daß sie mit einer ganzen Schule solcher Kids zurechtkamen. Er wußte das. Und er weigerte sich immer noch zu glauben, trotz der Jacke, daß Don so etwas Dummes getan hatte. Aber da war das Fläschchen in seiner oberen Schublade und die Jacke und Dons in letzter Zeit zunehmend merkwürdiges Betragen. Vielleicht, dachte er, werde ich ihn mir heute abend mal vorknöpfen. Und vielleicht auch nicht. Vielleicht morgen. Er dachte: Leine – gib ihm nur genug Leine, und er hängt sich selber auf, und ich muß nicht der Ankläger sein. »Jesus«, murmelte er, »du bist ein Schwein, Boyd.« Aber das änderte nichts an seiner Meinung. Als er in seine Straße einbog, blieb er stehen und sah über die Schulter. Niemand zu sehen, die Sonne sank rasch und erfüllte die freien Räume unter den Bäumen mit Zwielicht. Ein Blick zu seinem Haus, das dort unter Bäumen und Schatten verborgen stand, und mit einem Anflug von Schuldgefühlen stellte er fest, daß er keine Lust verspürte
heimzugehen. Falls Joyce nicht da war und darauf wartete, mit ihm zu reden, würde Don da sein und sich in sein Zimmer zurückgezogen haben. Während des Tages hatte er den Jungen nur zweimal gesehen: einmal vorm Lunch auf dem Flur, wo er fürchterlich aussah und wie ein Zombie herumlief, und dann noch einmal vorm Schlußläuten, als er zu seinem Spind strebte. Norman hätte ihn beinahe in sein Büro bestellt, sich aber eines anderen besonnen, als er Fleet Robinson stehenbleiben und ihm etwas ins Ohr flüstern und schließlich herzlich auf die Schultern klopfen sah. Don hatte sich umgedreht und gegrinst, einmal genickt und war weitergegangen. Aber er sah immer noch grauenvoll aus, und das lag nicht einfach an dem verflixten blauen Auge; es war die Art, wie er die Menschen ansah – leer, als wäre er nicht mehr als eine bloße Hülle und als würde sein Körper nur automatisch reagieren. So war er auch gestern fast den ganzen Tag über gewesen, hatte Joyce erzählt. Ihm machte die Widerrede des Jungen immer noch zu schaffen, und er war noch nicht soweit, ihm nachzugeben. Der Bursche mußte lernen, daß der Verstoß gegen die Regeln Konsequenzen nach sich zog. Und falls er irgend etwas mit diesem Streich bei Hedley zu tun hatte, würde er dafür mehr büßen müssen, als er dachte. Eine Brise fing sich in den Blättern, die sich im Rinnstein häuften, und er beeilte sich, die Hände tief in den Taschen, den Kopf gesenkt, während sich seine Haut seltsam feucht anfühlte. Als er am Haus der Snowdens vorbeikam, setzte Chris gerade ihren Wagen aus der Einfahrt zurück, dessen Top trotz des Wetters heruntergelassen war. Sie lächelte und winkte, als er auf das Motorengeräusch hin den Kopf hob. Er formte ein Hallo mit den Lippen, sie zwinkerte ihm zu und fuhr davon, und er blieb einen Augenblick stehen und sah ihr nach, wie ihr Haar vom Wind zerzaust wurde.
Sie will mit dir ins Bett, alter Knabe. Er schluckte, blickte sich rasch nach allen Seiten um, ehe er begriff, daß die lüsterne Stimme, die er gehört hatte, seine eigene war – und stumm. Aber es stimmte, daran gab es nichts zu deuteln. Er war lange genug im Geschäft, um zwischen einem harmlosen Flirt und einem, der der Aufbesserung der Noten dienen sollte, unterscheiden zu können. Chris war eindeutig der entschlossene Typ und so berechnend wie kaum jemand, den er zuvor getroffen hatte. Er beeilte sich daraufhin, klopfte sich selbst auf die Schulter, weil er nicht in die Falle getappt war. Einen Flirt zu erwidern, bedeutete nichts. Es war schmerzlos, und kaum jemand kümmerte sich darum. Und es verschaffte einem einen gewissen Kitzel, es zu tun, wenn man genau wußte, daß man der Kleinen keine Eins geben würde, weil sie eine hübsche Figur, ein liebenswürdiges Lächeln oder ein Paar Augen besaß, die ihn nachts nicht schlafen ließen. Das hier konnte allerdings ernst werden. Er ahnte, daß sie, falls sie ihn nicht auf der Matratze kompromittieren konnte, einen anderen Weg finden würde, ihn bloßzustellen. Wie auch immer, er würde sich bei der hier in acht nehmen müssen. Ein Lachen, hell und herzlich, ließ ihn im Schritt innehalten, als er zur Haustür eilte. Kalkuliert oder nicht, es war trotzdem nett zu wissen, daß er für ihre Bemühungen noch nicht so schrecklich alt war. In gewisser Hinsicht war es sogar schmeichelhaft. Ein zweites Lachen, das erstarb, als er über eine Pfütze auf dem Gehweg hinwegstieg und sich abrupt umdrehte. Das Wasser auf den sich senkenden Platten war klar und kräuselte sich nicht, und am Rand fiel ein Schatten, der weder von dem Baum im Garten noch vom Dachfirst noch von ihm selbst geworfen wurde.
Er starrte darauf und zog eine Hand aus der Tasche, um sich den Mantelkragen fest am Hals zu halten. Der Schatten rührte sich nicht. Er ließ auf etwas viel Größeres, viel Dunkleres schließen, als er zunächst vermutet hatte, aber als er die Straße überprüfte, den Garten und den Hang hinter sich, konnte er nichts erkennen. Der Schatten war immer noch da, und als er ins Wasser trat, um es aufzuwirbeln und ins Gras spritzen zu lassen, blieb er unverändert da. »Jesus«, sagte er. Er wurde größer. Dunkler. Er stapfte mit dem Fuß in die Pfütze und beobachtete, wie der Schatten über seine Fußspitze fiel. Der Schuh zuckte zurück, und er blickte rasch auf, dann seufzte er laut vor Erleichterung. Eine Wolke. Es war der schwarze Fleck einer Wolke am Firmament, die durch das mangelnde Licht unten so wirkungsvoll geworden war. Nichts weiter, Norman, nichts weiter. Er hatte die Hand bereits auf der Klinke, als er das Geräusch hinter sich hörte. Leise. Hohl. Ein wenig unregelmäßig, wie Steine, die auf einen feuchten hohlen Baumstamm fielen. Es kam den Weg herauf. Er drehte sich nicht um. Er drehte lieber den Türknauf, stieß die Haustür auf und trat ein. Ohne sich umzusehen, schloß er sie und blieb einige Sekunden lang in der Diele stehen, ehe er sich den Mantel auszog. Er hörte nicht zu, als ein stummes Wispern irrational darauf bestand, daß der Schatten nicht von der Wolke stammte.
Ein Schlurfen, und Don erschien oben an der Treppe. Ein dumpfes, hohles Geräusch, und irgend etwas, das schwer gegen die Tür hinter ihm schlug, ehe sie weit aufgerissen wurde.
8
Joyce verzog das Gesicht, als sie hineinstob, die sperrigen Einkaufstüten im Arm und die Handtasche entnervend im Rutschen begriffen. Doch statt der beißenden Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, kniff sie die Augen zusammen, als sie den Gesichtsausdruck ihres Mannes sah. Er war blaß und wich vor ihr zurück, als sei sie ein Leichnam, der sich soeben aus seinem Grab erhoben hatte. »Gott«, sagte sie, »ich hoffe, um alles in der Welt, daß ich nicht so fürchterlich aussehe.« Norm brachte ein schwaches Lächeln zustande, nachdem er sich mit der Hand übers Gesicht gewischt hatte, und nahm ihr rasch eine der Tüten ab. Hinter ihr her in die Küche gehend fragte er sie nach ihrem Tag, half ihr, Dosen und Kartons in den Schränken zu verstauen, und überlegte schließlich laut, was wohl an ihrem Sohn nagen mochte. »Dann frag ihn doch«, sagte sie und holte eine Bratpfanne unter dem Spülstein hervor. »Du sprichst doch die Sprache der Jugend, soweit ich weiß.« »He, anstrengender Tag, was?« meinte er, aber ohne die sonst übliche Verbitterung. Sie beobachtete, wie er auf einen Stuhl sank, sich eine Zigarette anzündete und dem Rauch nachstarrte, bis dieser sich verzogen hatte. »Mein Tag war beschissen, aber deiner muß die Hölle gewesen sein.« »Das ist milde ausgedrückt«, sagte er. Und während sie ein schnelles Abendessen zubereitete, etwas, das sie in fünf Minuten essen konnten, ohne zu jammern, sie wären nicht satt geworden, hörte sie ihm zu, wie
er von Hedley und dem üblen Streich erzählte, dem ihm irgend jemand am Wochenende zu Hause gespielt hatte, von den Trainern, die sich über die Lehrer beklagten, weil sie die besten Spieler zurückhielten und ihnen damit das große Spiel am Freitagabend gegen die Ashford North ruinierten, und über die Lehrer selbst und diesen Hundesohn Falcone und dessen Drohung, mit der Lehrerschaft einen Demonstrationszug zu starten, und das in nur knapp zwei Tagen. Sie sagte nichts, denn ein einziges falsches Wort würde ihn auf die Palme bringen. Die Anzeichen waren da. Und sie wußte, daß er die Neuigkeiten von Harry mit Absicht für den Schluß seiner Tirade aufgespart hatte. Vielleicht, dachte sie, um mich zu überrumpeln. Vielleicht glaubte er, sie würde den Mann sofort verteidigen und sich damit als Geliebte preisgeben. Und vielleicht dachte er auch nichts dergleichen, sondern reagierte sich nur ab, um diesen Tag aus dem Kopf zu kriegen, damit er sich entspannen und an morgen denken konnte. Drei Zigaretten später war er fertig, und sein Schweigen machte sie nervös. Sie wandte sich vom Herd ab. Er starrte sie an. »Tut mir leid wegen des Abendessens«, sagte sie und deutete auf die Suppe und die Sandwiches. »Wir haben – « »Heute abend ein Treffen des Komitees«, beendete er den Satz für sie. »Ich weiß.« »Nun, das ist wirklich so«, bekräftigte sie, ohne es zu wollen. »Mein Gott, die Sache fängt am Mittwoch an, wie du weißt.« »Ich weiß.« »Und solange du hier bist, kann ich dir auch sagen, daß der sogenannte Kapellmeister von euch ein echter Idiot ist, Norm. Er benimmt sich, als hätte er die New Yorker Philharmoniker unter sich, verdammt noch mal. Dabei halten wir uns wirklich
zurück. Und dann spricht er auch noch von zusätzlicher Bezahlung!« »Ich weiß.« Sie schlug auf die Arbeitsplatte: »Hörst du bitte auf, das zu sagen? Wenn du so verdammt viel weißt, warum zum Teufel sprichst du dann nicht mit ihm, wie ich dich schon hundertmal gebeten habe?« »Dreihundertmal, aber wer zählt schon mit«, sagte er. »Jesus.« Sie drehte ihm den Rücken zu und rührte in ihrer Suppe, während sie mit der freien Hand ihren Pferdeschwanz über die Schulter nach vorne zog und ihn streichelte, um sich zu beruhigen. Ihr mußte eine Möglichkeit einfallen, wie sie ihn dazu bewegen konnte, mit Donald zu reden. – Richtig, Joyce, sein Name ist Donald. Sie konnte es nicht selber tun. Als sie am Sonntag bei ihm hineingeschaut hatte und er sie so angesehen hatte, war ihr klar gewesen, daß sie kein vernünftiges Gespräch würden führen können, ohne gleich wieder aus dem Zimmer zu rennen. Es war grauenvoll. Es war unnatürlich. Aber nachdem sie ihn so erlebt hatte, nicht krank, sondern irgendwie anders, schämte sie sich einzugestehen, daß sie sich vor ihm fürchtete. »Hast du mit Don gesprochen?« fragte sie ihn schließlich, wobei ihre Stimme zu dünn klang und sie sich räuspern mußte, um die Frage nochmals zu stellen. »Nein, ich bin auch gerade zur Tür hereingekommen, als du kamst.« »Wirst du es denn tun?« »Wenn ich soweit bin.« Der Löffel schepperte gegen die Wand des Topfes.
»Wenn du die Wahrheit wissen möchtest«, sagte er und klang dabei weniger wütend als müde. »Ich glaube, das Kind braucht eine Tracht Prügel, aber dafür ist er zu groß. Würde ich’s versuchen, würde er mir wahrscheinlich die Zähne einschlagen.« Letztes Jahr, letzten Monat, letzte Woche hätte sie sich noch wütend auf ihn gestürzt, so etwas vorzuschlagen. Heute abend konnte sie jedoch bloß nicken, ohne ihn ihren Gesichtsausdruck sehen zu lassen. »Genaugenommen glaube ich, er ist verliebt.« Sie hob den Löffel aus der Suppe, testete die Wärme und rührte weiter. »Glaubst du?« »Jawohl. Er ist scharf auf die kleine Quintero. Das Kind von dem Cop.« »Norman, ich wünschte, du würdest nicht so reden.« »Wie denn?« Völlig unschuldig und harmlos. »Zu sagen, Don sei scharf auf jemanden. Wenn er verliebt ist, ist er verliebt, und das muß überhaupt nichts damit zu tun haben, daß er mit diesem Kind Sex haben möchte.« Aber er ist nicht verliebt, dachte sie und hoffte fast, er würde ihre Gedanken lesen. Er ist nicht verliebt. Ich bin seine Mutter, und ich weiß es. »Nun, vielleicht«, räumte er ein. »Und noch etwas.« »Was?« »Wenn du den Löffel nicht bald losläßt, bekommen wir Butter zum Abendessen.« Es war gar nicht so komisch, aber sie lachte trotzdem, als sie in die Diele ging, um nach ihrem Sohn zu rufen und ihm zu sagen, daß das Abendessen fertig sei und er besser herunterkommen, ehe es kalt würde. Keine Antwort. Sie rief wieder und wünschte, er wäre mehr in Sams Richtung geraten, den man nie zweimal hatte rufen müssen, mit dem es nie Schwierigkeiten gegeben hatte.
»Donald!« Sie hörte die Tür aufgehen, hörte seine Schritte im Flur und lächelte, so gut sie konnte, als er am Treppenabsatz auftauchte. »Ich habe eigentlich keinen Hunger, Mutter«, sagte er. »Nun, du kommst wohl besser herunter und ißt, so gut du kannst. Das kann nicht schaden, und ich möchte nicht, daß du während der lustigen Ereignisse diese Woche krank bist.« »Ja«, sagte er, warf einen Blick zurück in sein Zimmer und schickte sich an herunterzukommen. Langsam. Seine Hand streifte übers Geländer, bis er knapp einen Schritt vor ihr stehenblieb. Ihr Lächeln hielt stand, aber jetzt konnte sie seine Augen sehen. Konnte in sie hineinsehen, den finsteren Blick erkennen, der ihr das Gefühl gab, eine Ameise zu sein, die man zertreten mußte. Oder nicht, je nach der Laune eines ganz gewöhnlichen, aber unaussprechlich furchteinflößenden jungen Mannes. »Nun komm schon«, sagte sie brüsk und ging weg. Er folgte ihr, und sie ging schneller und konnte kaum einen erleichterten Seufzer unterdrücken, als sie Norm noch am Tisch sitzen sah. Selbst ein Streit wäre jetzt besser als gar nichts. Aber Norm nickte nur, und Don nickte nur zurück, und während der Mahlzeit wechselten sie derart höfliche Worte, so unverbindlich, so zum auf die Palme gehen nichtssagend, daß sie zum ersten Mal wünschte, Harry wäre da. Er würde wissen, was zu tun war. Er war trotz seiner Kleidung und seines Gehabes ein altmodischer Typ, was den Umgang mit Kindern anging, und er würde wissen, wie man mit diesem Fremden fertig wurde, der ihr Sohn war. Und als die Mahlzeit vorüber war und sie die Teller im Spülstein aufeinanderstapelte, fragte Don: »Laßt ihr euch scheiden?«
Sie wirbelte herum, eine Schüssel fiel klirrend, aber ohne zu zerbrechen, auf den Fußboden. »Mein Gott, Donald. Wie kannst du nur so etwas sagen!« »Geh auf dein Zimmer«, befahl Norm mit angespannter Stimme. »War nur eine Frage«, sagte Don achselzuckend. Dann erhob er sich, faltete seine Papierserviette zusammen und marschierte hinaus. »Jesus«, sagte Norm und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. »Norm, was sollen wir tun?« Er sah sie an, trank und zwang sich zu rülpsen. »Kommt mir vor«, sagte er, als er ins Fernsehzimmer eilte, »als sei dies dein Problem. Du bist diejenige, die glaubt, ich liebe dich nicht, erinnerst du dich?« »Aber – « Und dann war sie alleine, ihre Hände in einem Geschirrtuch verstrickt, mit sich geräuschlos bewegenden Lippen, und ihr Traum, mit Harry in irgendein entferntes Paradies zu fliehen, kam ihr plötzlich eher wie der Traum einer alten Frau, einer alten Jungfer, vor. Dann bemerkte sie die Uhr und sah, daß sie zu spät kommen würde. Oh, Shit, dachte sie und warf das Tuch auf den Boden, stapfte zur Tür und sagte: »Ich fahre jetzt. Ich bin so um elf zurück.« »Ich werde da sein.« »Sprich mit Don, okay?« Er hob eine Hand – vielleicht, vielleicht auch nicht. Zum Teufel mit dir, dachte sie, und schaffte es, sich hinters Steuer zu setzen, ehe sie zu weinen anfing. Nicht lange und nicht laut. Nur gerade soviel zu beweisen, daß sie dazu noch imstande war und ihr das alles trotz ihrer Tagträume und trotz Falcone wichtig war. Es war nicht leicht. Vor Wochen hatte sie
sich gestanden, daß er ihr nichts bedeutete, nicht mal als Hafen vor ihren privaten Stürmen. Er bedeutete ihr, wenn sie schon ehrlich sein wollte, weniger als jener Anwalt, mit dem sie kurz nach Sams Tod etwas angefangen hatte. Diese Episode hatte etwas mit ihrer Suche nach Bestätigung zu tun gehabt, das nahm sie jedenfalls an, und daher hatte Norman ihr verziehen. Dies hier war eine Suche nach etwas anderem, was sie nicht definieren konnte und immer vager wurde, wenn sie es versuchte. Was es höchstwahrscheinlich war, dachte sie, war eine Frau vor den Wechseljahren, die ihr Teenagerabbild in einem Spiegel betrachtete, der log. Sie schnaubte ein Lachen bei dieser Vorstellung und setzte sich auf die Straße zurück und fuhr mit dem Vorsatz davon, so schnell wie möglich nach Hause zurückzukommen. Vielleicht konnten sie dann miteinander reden, alle drei, über das, was vor sich ging und was sie tun konnten und wie sehr sie einander in Wirklichkeit liebten. Das war unbedingt nötig. Dons Frage von heute abend bewies es.
Irgend etwas bewegte sich in der Dunkelheit der Schatten. »Du weißt, mein Vater bringt uns um«, sagte Tracey und lief so schnell sie konnte, wobei sie die Schultern in der Kälte hochgezogen hatte, die mit Montagabend gekommen war. »Gott, so spät bist du doch gar nicht dran«, erklärte Amanda. Ihr langes schwarzes Haar war mit einem schwarzen Band zurückgebunden, ihre Schuljacke trotz der Kälte geöffnet. »Gott, man könnte meinen, er sei dein Gefängniswärter oder so.« »Manchmal hält er sich dafür«, sagte Tracey, wenn auch mit einem Lächeln, das Amanda die Stirn runzeln und den Kopf schütteln ließ. »Es ist bloß zum Kotzen, wie altmodisch er
manchmal ist, weißt du? Aber… nun, er hat einfach Angst um mich, das ist alles: wegen des Howlers.« »Nun, du meine Güte, dieser Widerling ist wahrscheinlich längst Millionen Meilen weit entfernt. Er kann doch nicht so doof sein, hier noch länger rumzuhängen, stimmt’s? Wahrscheinlich ist er schon über alle Berge und in Ohio oder sonst irgendwo.« Sie kicherte. »Verdammte Trottel, können nicht mal die Tressen auf ihrer Schulter finden.« »He«, mahnte Tracey leise. »Oh, sorry.« Ohne Bedauern, nur ein Achselzucken und ein kräftigeres Ausschreiten. »Schon gut.« »Nein, ich meine es ehrlich.« Tracey wischte die blasse Entschuldigung beiseite und rückte ihre Hefte zurecht, die sie in der Hand trug. Amanda begann zu summen und unterbrach sich. »Ich möchte gerne wissen, ob die alte Röhre wieder die ganze Nacht auf ist.« »Wieder?« »Ja, sicher. Hast du Brian heute nicht zugehört? Er sagte, der alte Furz war gestern die ganze Nacht auf und hat seine Veranda geschrubbt. Er hatte eine Lampe, eine Taschenlampe, und als Brian vorbeifuhr, knipste er sie aus. Ich schätze, er wollte nicht, daß jemand sah, was er da machte. Ich wette, er hat irgend so’n Zeugs aus seinem Labor genommen, du weißt schon. Selbstgemachtes Bleichmittel.« Sie kicherte und ahmte einen Wissenschaftler nach, der eine Lösung von einem Becherglas in das andere goß. »Vielleicht hat er was davon getrunken. Vielleicht denkt er, er bekäme davon mehr Haare.« »Die ganze Nacht? Ha? Du willst mich nicht auf den Arm nehmen?« »Ich werde dir was sagen«, erklärte Amanda, schob sich näher und senkte die Stimme. »Ich bin froh, daß Fleet nicht
dabei war. Bei seinem Pech hätte man sie geschnappt, suspendiert und ins Gefängnis geworfen.« Sie schniefte und sah sich um. »Die alte Tunte hatte es aber auch verdient. Er piesackt uns, seit die Schule angefangen hat. Ich glaube, er will nicht, daß wir die Abschlußprüfung schaffen.« Ein Lachen und ein Klaps auf Traceys Arm. »Er ist wirklich sauer, daß Fleet glatt Eins steht, weißt du das? Er meint, Fleet müßte dumm sein, nur weil er Football spielt. Vielleicht ist er scharf auf ihn, wer weiß?« Sie lachte abermals, härter, während Tracey verlegen den Blick abwandte. Bis auf die Laternen und die Schatten lag der Boulevard verlassen da, und es fiel Amanda nicht schwer, die Schritte hinter sich zu hören. Sie blickte sich um und sah nichts. Tracey bemerkte die Regung. »Ich auch«, sagte sie, und sie traten dichter an den Kantstein, bereit, notfalls über die Straße zu flitzen. »Dämlich.« »Was?« »Das hier«, sagte Amanda und bedeutete mit einem Kopfnicken, daß sie ihren Gänsemarsch am Straßenrand meinte. »Er ist Millionen Meilen weit von hier entfernt.« »Bestimmt«, pflichtete Tracey ihr bei. »Außerdem würde ich ihm die Eier eintreten, wenn er irgendwas bei mir versuchen sollte.« Tracey nickte und klopfte auf die Handtasche, die sie dicht an ihre Seite gepreßt hielt. »Ich habe ein Stück Rohr hier drin. Ich würde ihm den Schädel einschlagen.« »Rohr?« Amanda war beeindruckt. »Keine Verarsche?« »Dad will, daß ich das bei mir trage.« »Na, zur Hölle, natürlich will er das. Er ist ein Cop.« »Ich weiß allerdings nicht, ob ich davon Gebrauch machen könnte.«
»Was?« Amanda starrte sie ungläubig an. »Du bist wohl schwachsinnig, Tracey. Du bist… verrückt! Natürlich kannst du es benutzen. Wenn du glaubst, daß du sterben mußt, wirst du dem Bastard in den Hintern beißen, wenn’s sein muß.« Tracey dachte darüber nach und nickte dann. »Ich denke schon.« Noch eine Straße weiter, und die Kälte nahm zu, verschärfte das Geräusch ihrer Füße auf dem Bürgersteig und verlieh dem Licht der Straßenlaternen einen klaren schimmernden Rand. Sie marschierten Arm in Arm. Der Boulevard lag immer noch verlassen da. »Weißt du was?« flüsterte Amanda. »Was?« Sie blickte sich um und hob den Kopf. »Dieser Ficker ist doof, das ist es!« sagte sie lauthals. »Doofkopp!« schrie Tracey. »Doofer als Scheiße!« kreischte Amanda. »Scheiß doof!« brüllte Tracey und bekam einen Kicheranfall, daß sie sich verschluckte.
Und Tanker lachte schweigend mit ihnen und beobachtete, wie sie übers Pflaster hasteten, fast rannten, als sie auf den Park zusteuerten und die dahinterliegenden Lichter der Geschäfte und sich Mut machten, indem sie der Dunkelheit trotzten. Diese Methode kannte er sehr gut, er hatte sie selber des öfteren angewandt, wenn er sich durch feindliches Gelände bewegte und nicht sterben wollte. Der Unterschied war in diesem Fall ganz einfach. Er war nicht gestorben. Und sie würden sterben. Er hielt sich bei den Verkehrsinseln in der Mitte der breiten Avenue, blieb fast parallel zu ihnen, trieb sie durch seine
Gegenwart weiter, obschon er sich nicht blicken ließ, machte kein Geräusch, sondern verzog nur den Mund, als sie beinahe kopfüber davongestürzt wären, nachdem das kleinere Mädchen mit dem Husten aufgehört hatte. Es war verlockend, zwei Huren auf einmal zu nehmen, und sein Zittern war schon so stark, daß sich seine Beine verkrampften und sich sein Haar anfühlte, als hätte man es ihm von der Kopfhaut gerissen. So schlimm war es schon lange nicht mehr gewesen, und er war froh, daß sich die Wolkendecke ein wenig aufgelöst hatte, um den Mond hindurchzulassen; er war auch über den Regen während des Wochenendes froh. Er hatte seinen Freund im Verborgenen gelassen, als er und eine Handvoll anderer Männer in diesem bepißten Knast gehockt hatten, Penner, die Samstag nacht von zwei Bullen in Zivil aufgegriffen worden waren, von denen einer, ein dunkler kleiner Wurm, der wie ein rotziger Spaghetti aussah, mehr Angst als Mumm zu besitzen schien. Tanker hatte trotzdem keinen Fluchtversuch unternommen, denn sie wußten nicht, wie er aussah, wußten nicht, wer er war, und wußten nicht, was er getan hatte. Er war mitgegangen, hatte sich schwächer und kleiner gemacht, als er war, »Sir« gesagt, wenn er sprach, ihnen einen ausgedachten Namen verpaßt, auf ihren verdammten Pritschen geschlafen und ihren verdämmten Fraß gegessen, der bei genauer Betrachtung gar nicht so übel gewesen war. Aber heute morgen hatte man ihn entlassen und ihn nicht allzu freundlich ermahnt, nicht länger herumzulungern, nicht bei den Eßlokalen oder vorm Kino oder in den Kirchen. Kinderkram – Gründe, ihn aus der Stadt zu jagen. Zwei der anderen Burschen waren direkt zur Stadtgrenze, einer in die nächste Kneipe, und Tanker hatte sich so gut er konnte gepflegt und gekämmt und sich direkt vor der Wache an die Bushaltestelle gestellt. Er wußte, sie beobachteten ihn, und so
winkte er ihnen kurz zu, als er in den Bus stieg und sich bis zum Park fahren ließ. Hohlköpfe, die nicht mal überprüften, wohin er fuhr. Er stand dicht davor. Gott, wie gerne hätte er geheult wie ein Wolf, als er durch die Tür der Wache hinausmarschierte, um zu erleben, wie sie sich in die Hosen schissen, weil sie begriffen, wen sie da laufenließen. Aber er war stark gewesen, denn das Zittern fing an, und er mußte es unbedingt tun und er nahm an, daß sie annahmen, er sei inzwischen auf halbem Wege nach Kalifornien, genau wie diese Arschlöcher in Yonkers und New York und Binghamton angenommen hatten, er sei längst woanders, während er die ganze Zeit dort gewesen war. Idioten. Echte und wahrhafte Idioten, und er hatte ihnen auf die Sprünge geholfen. Eine der Huren lachte wieder nervös, und schließlich hielt er es nicht länger aus. Sie waren genau da, wo er sie haben wollte, und so gab er sich einen Ruck und rannte mitten auf die leere Straße. Die kleinere Nutte sah ihn als erste, schrie auf und begann loszurennen, wobei ihre Hefte auf den Bürgersteig fielen; eins klappte auf, und die Blätter flatterten in den Rinnstein. Die andere drehte sich um und starrte ihn mit aufgerissenem Mund an, hörte den entsetzten Ruf ihrer Freundin und lief ein paar Sekunden später los. Aber sie war schon zu weit zurück, und Tanker schnitt ihr den Weg ab, dirigierte sie dichter an den Park und grinste, während er neben ihr trabte, bis sie einen Namen kreischte und auf die geöffneten Tore zuhetzte. Die erste Hure blieb stehen, als sie Tanker zum Eingang rasen sah, aber ein Scheinangriff und ein Knurren ließen sie weiterrennen, ihre Stimme war schrill und tränenerstickt. Ihm
war das gleich. Bis sie Hilfe geholt hatte, würde das Zittern aufgehört haben. Er rannte. Leichtfüßig. Auf den Zehen. Leise schlug er sich in die Büsche, sobald er das Parktor hinter sich hatte, folgte der Babyhure auf das Geräusch ihrer Schuhe hin, dem Geräusch ihres Atmens und dem Geräusch ihrer bebenden Gebete, daß irgend jemand sie hören möge. Am ovalen Teich brach er aus dem Gehölz und packte sie. Sie schrie so laut, daß er zusammenzuckte, und ehe er sie festhalten konnte, hatte sie ihm eine Gesichtshälfte mit den Fingernägeln zerkratzt, kreischend, tretend, nach seinen Hoden zielend. Sie quietschte, als er sie schlug, und krallte wieder nach ihm, bis er sie an den Handgelenken packte, einmal herumwirbelte und ins Wasser stieß. Sie keuchte, als sie sich hochkämpfte und aufrichtete, während ihr das Wasser von den Brauen, vom Kinn tropfte und sie immer weiter zurückwich, während er gelassen ins Wasser stieg, um sie zu fassen. »Nein«, sagte sie. Er grinste nur und ging weiter. Amanda stürzte zum Beckenrand und rutschte mit den nassen Sohlen ab. Tanker war auf ihrem Rücken, ehe sie das Gleichgewicht wiederfinden konnte, und mit einem betrübten Kopfschütteln knallte er ihr Gesicht gegen den Beton. »Hure«, sagte er mit gebleckten Zähnen. Amanda stöhnte und spuckte Blut. Er drückte sie wieder mit dem Gesicht nach unten, die Hände in ihr feuchtes Haar gekrallt und ein Knie in ihren schmalen Rücken gedrückt. »Hure.« Sie stöhnte abermals und verstummte dann. »Hure«, sagte er zum drittenmal und zerrte sie ins Gebüsch. Dann riß er ihr die Jacke vom Leib, warf sie beiseite, rollte sie
auf den Rücken und stand über ihr. Er hatte recht wie immer – eine Hure. Das konnte er an der Art erkennen, wie ihr der Pullover an den Brüsten klebte, der Art, wie das winzige goldene Kreuz an ihrem Kettchen die Religion verhöhnte, an die sie vorgeblich glaubte; er konnte es an der Art erkennen, wie sie aus den Platzwunden an Stirn und Kinn blutete. Sie war eine Hure, und Tanker war hungrig, und mit einem dankbaren Blick hinauf zum unsichtbaren Mond ließ er sich neben sie fallen.
9
Alleine auf den Betonrängen des Stadions fanden eintausendvierhundert Menschen Platz; mit den Holzbänken auf der gegenüberliegenden Seite waren es noch einmal dreihundert mehr. Don stellte sich jetzt jeden der Sitze mit schwarzgekleideten Menschen besetzt vor, die die abgeschlachtete Amanda Adler beweinten und nach Vergeltung schrien. Aber als er rannte und der Wind ihm die ungewohnten Tränen in die Augen trieb, gab es nichts als das Geräusch seiner Sohlen auf der Aschenbahn, und auf den Rängen befanden sich nur etwa zweihundert Schüler und eine Handvoll Lehrer. Er hatte sie gezählt, oder es zumindest versucht, aber jedesmal, wenn er eine neue Runde drehte, hatte sich jemand von der Stelle gerührt, oder neue Gesichter waren aufgetaucht und alte verschwunden. Einige saßen einfach da und starrten ins Leere. Andere wanderten umher, unterhielten sich leise, zerrten andere am Arm und verließen achselzuckend das Stadion. Es war direkt nach drei Uhr passiert – eine Ankündigung seines Vaters über die Lautsprecheranlage. Amanda Adler war tot, im Park ermordet, und die Schule würde für heute und morgen geschlossen bleiben, damit ihre Freunde ihr die letzte Ehre erweisen konnten. Nach einer respektvollen Pause fügte er hinzu, das Ashford Day-Konzert morgen abend werde trotz gegenteiliger Gerüchte nicht abgesagt, sondern zum Gedenken an die beiden Schüler gegeben, die jüngst so sinnlos und gewaltsam ihr Leben lassen mußten. Dann bat er die Lehrer,
den Unterricht zu beenden und ihre Schützlinge so bald wie möglich zu entlassen. Brian Pratt hatte gesagt: »In Ordnung! Freizeit!«, und Tar Boston hatte ihn in den Magen geboxt. Adam Hedley saß mit Harry Falcone im Lehrerzimmer und meckerte über den Unterrichtsausfall, der offensichtlich nicht aus Pietät, sondern mit deutlicher politischer Absicht verfügt worden war, um einem Lehrerstreik zuvorzukommen, der zu viele Schlagzeilen machen würde. Es war, behauptete er, ein zynischer und wirkungsvoller Schritt von Boyd, den man anerkennen müsse. Und den man kontern müsse. Als Harry um eine Erklärung bat, erzählte Hedley ihm von der Jacke. Jeff Lichter putzte seine Brille fünfzehnmal in zehn Minuten, um den schwer zu entfernenden Film abzuwischen. Fleet Robinson fehlte. Nachdem er die Lautsprecheranlage abgeschaltet hatte, saß Norman hinter seinem Schreibtisch und starrte zum Fenster hinaus, während er überlegte, daß Harry außer sich und Joyce verständlicherweise aufgebracht über den Schatten sein würde, der auf ihre Öffnungsfeierlichkeiten fiel, und daß die Zeitungen wahrscheinlich die Hälfte seines Statements weglassen und ihn wie irgendeinen Politiker wirken lassen würden – alles in allem ein höllischer Tag. Don stopfte seine Bücher sogleich in den Spind und eilte zur Aschenbahn. Auf dem Weg begegnete er Chris, die die Arme um ihn schlang und irgend etwas davon murmelte, daß sie noch gestern mit Amanda gesprochen habe. Er war überrascht und streichelte ihr über den Rücken, während er versuchte, nicht verlegen zu wirken, als andere Schüler an ihnen vorbeiströmten, und das weiche Kitzeln ihres Haars nicht an seinem Kinn zu spüren. Niemand schien eine Notiz von ihnen zu nehmen. Dann trat sie zurück, lächelte, küßte ihn auf die Wange und bedankte sich bei ihm. Es dauerte einige Minuten,
bis er imstande war, weiterzugehen, wobei er nicht daran dachte sich umzuziehen. Er brauchte frische Luft und Ruhe und ablenkende Gedanken, obwohl er selbst angesichts Chris’ dünner Bluse unter seinen Händen an nichts anderes als Amanda denken konnte, an ihr langes schwarzes Haar, und wie sie gegen Fleets Hüfte gelehnt hatte und seine Machoattitüde mit bemerkenswert guter Haltung über sich hatte ergehen lassen. Er hatte bereits von dem Mord gehört. Letzte Nacht hatte Sergeant Verona angerufen, als Joyce gerade von ihrer Versammlung zurück war. Don hatte Boyds Antworten am Telefon mitgehört und war darauf gefaßt, als sein Vater ihn über das Geschehene informierte. Dann läutete das Telefon abermals und dann stundenlang, weil Journalisten und wer weiß wer den Direktor nach seiner offiziellen, seiner privaten und seinen spontanen Meinungen befragen wollten. Norman schlug sich gut, dachte Don, und Joyce war direkt im Einsatz und entwarf am Küchentisch eilends ein Statement, das er ihnen schon nach zwanzig Minuten vortragen konnte. Während einer Pause hatte Norman sich an ihn gewandt und gefragt, ob er sie gekannt habe, ob sie eine gute Freundin gewesen sei. Er hatte nur genickt und war unbehelligt auf sein Zimmer gegangen. Er war wütend, denn er wollte mehr tun, als bloß mit dem Kopf zu nicken. Er wollte sagen, daß es egal war, ob sie eine Freundin gewesen war oder nicht. Sie war siebzehn gewesen, und er war siebzehneinhalb, und jetzt war sie tot und lag in irgendeiner verdammten Leichenhalle unter einem schmutzigen Laken. Sie war es, die tot war, und niemand anders. Sie war nicht so ein armer unbekannter Schlucker von einer anderen Schule; das war Amanda, Mandy, Fleets wunderschöne dunkelhaarige Lady, und er hatte sie gekannt, und jetzt war sie tot, und sie war erst siebzehn, und Fremde
mochten vielleicht noch früher sterben, aber doch nicht Amanda, die Don gekannt hatte, und Leute, die er kannte, starben einfach nicht. Und ganz bestimmt starben sie nicht, weil irgend so ein Wahnsinniger da draußen herumlief und ungeschoren mit Mord davonkam, während die Kids auf den verdammten Straßen zum verdammten Sterben verurteilt waren. Und wer zum Teufel scherte sich schon darum, ob er sie kannte oder nicht; sie war tot und sie war erst siebzehn. An diesem Morgen hatte er versprochen, kein Wort zu sagen, ehe nicht die offizielle Durchsage gemacht worden war. Es war ohnehin gleich, denn die meisten wußten es bereits, und diejenigen, die noch nichts gehört hatten, wurden bald, nachdem die Schule geschlossen hatte und sich Stille über das Gelände gesenkt hatte, aufgeklärt. Aber er hatte das Versprechen gehalten, und als die Klassen entlassen worden waren, hatte er sich auf den Weg zur Aschenbahn gemacht. Auf den Zuschauerbänken saß niemand. Bei seiner dritten Runde gewahrte er unter den hölzernen Sitzen etwas Flimmerndes, er drosselte das Tempo und starrte ins Dunkle und rannte wieder schneller. Es war nichts. Eine Täuschung durch das Licht. Eine Täuschung durch die Sonne und den Himmel, die keinen Pfifferling dafür gaben, daß eine Siebzehnjährige abgeschlachtet worden war, weil die Cops diesen lausigen Killer nicht schnappen konnten. Und das, beschloß er, würde zu seiner neuen Ordnung gehören, die er entworfen hatte: Niemand, nicht einmal Erwachsene, würde durch die Hand eines verrückten Bastards sterben, der offenbar glaubte, er sei eine Art Tier. Er legte die nächste Runde zurück, den Kopf gesenkt, die Arme schlaff an den Seiten. Sein Hemd war mit Schweißflecken bedeckt, seine Hosen feucht und klebend. Tracey war nicht zur Schule gekommen. Das konnte er ihr
nicht verübeln. Der wirren Schilderung nach zu urteilen, die er letzte Nacht mitbekommen hatte, war sie beinahe selber ermordet worden, und das erste, was er zu Hause tun würde, wäre ihr zu verzeihen, daß sie keinen Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, und sie anzurufen. Irgend jemand rief seinen Namen. Er ignorierte es und schickte sich an, die vordere Kurve zu umrunden, wieder in Richtung der Bänke zu laufen. Wenn er die erreicht hatte, würde er noch eine Runde drehen und dann nach Hause gehen und duschen. Danach würde er anrufen. Und danach würde er versuchen herauszufinden, was aus seinem besten Freund geworden war. Am Sonntag, als er endlich in der Lage gewesen war, das Poster eingehender zu studieren, hatte er festgestellt, daß er sich in einer Hinsicht getäuscht hatte: Niemand hatte versucht, das Bild zu beschädigen. – Er berührte das Papier mit einem Finger und sah, daß der Fehler im Bild selbst steckte. Es gab keine Risse, keine Kratzer. Nur ein starres Netz von weißen Linien, das überhaupt keinen Sinn ergab. Solche Fehler kommen nicht mit der Zeit. Irgend jemand rief seinen Namen. Er runzelte die Stirn, sah sich um und entdeckte Jeff am Geländer oberhalb der Stehplätze. Ein Blick zu den Bänken, ein kurzes Überlegen, was er wohl gesehen haben mochte, und er entschied, daß es reichte. Während er sich mit einer Hand den Nacken massierte, ging er zu den nächsten Stufen hinüber und ließ sich auf einen Platz fallen und wartete auf Jeff. »He«, sagte Lichter ohne große Begeisterung. »Ja«, erwiderte er und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Was für eine Schweinerei.«
Don stützte die Arme auf die Knie, beugte sich vor und versuchte immer noch, seine Puste wiederzuerlangen. Dachte an Amanda. Ein Schweißtropfen landete auf seinem Schuh. »Ich meine, die wissen nicht mal, wie dieser Spinner aussieht, um Himmels willen! Was ist das bloß für eine Geschichte? Damit wären es, wieviel, sieben! Und sie wissen nicht mal, wie er aussieht!« Er nahm die Brille ab und zog einen Hemdzipfel heraus, um sie zu putzen. »Tracey ist praktisch so weit, daß sie bereit ist, zu ihrer Großmutter zu ziehen. Und ich muß dir sagen, Don, ich kann’s ihr nicht verübeln.« Don bedeckte das Gesicht mit den Händen, nahm sie ein Stückchen herunter und blickte zum Himmel empor. »Was hältst du denn davon?« »Ich meine, sie und Mandy waren auf dem Heimweg von der Bücherei, mit sich selbst beschäftigt, und plötzlich stürzte dieser Irre auf sie los, und das nächste, woran Tracey sich erinnern kann, ist, daß Mandy und dieser Kerl im Park verschwunden sind. Sie – Trace, meine ich – hat soviel geschrien, daß sie heiser ist, und ist die ganze Strecke zu Beacher’s gelaufen, um zu telefonieren. Ihr alter Herr war am Apparat, aber sie sagt, sie konnte kaum sprechen, so verängstigt war sie. Irgendein Arzt mußte zu ihr nach Hause kommen und ihr was geben, damit sie schlafen konnte.« Er setzte die Brille wieder auf und strich sich das Haar zurück. »Ich wette, sie konnte trotzdem nicht. Ich wette, sie hat keine Sekunde geschlafen.« Don rutschte auf dem Platz zurück, bis er sich mit den Ellbogen auf den hinteren stützen konnte. Dann sah er Jeff von der Seite an. »Sie hat dich angerufen?« »Ja.« Er nickte und spürte, wie in ihm irgendwo eine Mauer einstürzte, ein Riß die Mauer in zwei Hälften spaltete.
»Sie hat furchtbar geweint, glaub mir.« Die Mauer zerfiel in trockenen, farblosen Staub. »Sie hat dich angerufen.« »Ja, sagte ich doch.« Jeff wollte lächeln, entdeckte dann aber etwas auf dem Spielfeld, das er unbedingt anstarren mußte. »Sie sagte, sie müsse mit jemandem reden, und bei euch war besetzt. Sie sagte, sie hätte es fast eine Stunde lang probiert, aber sie mußte mit jemandem sprechen. Und als sie dich nicht erreichen konnte, hat sie’s bei mir versucht.« »Du warst zu Hause.« Jeffs Lachen klang fast ehrlich. »Klar! Glaubst du, mein Vater läßt mich noch so spät in der Woche raus?« »Nun, es hat dir ja auch was gebracht«, sagte Don, erhob sich und klopfte sich die Hose ab. »He, Don, ich sagte dir doch, sie hat versucht anzurufen.« »Ich weiß, ich weiß.« »Aber bei dir war besetzt.« »Mein Vater«, erklärte er. »Reporter und so, und die Polizei.« »Hör mal, du solltest sie anrufen, wenn du zu Hause bist, weißt du? Ich meine, sie wollte mit dir sprechen, nicht mit mir.« »Klar.« Er machte sich auf den Weg zur Treppe; trotz des Schmerzes, der in seiner Seite bohrte, mußte er rennen. »He, Don, verdammt noch mal!« rief Jeff. Er blickte sich nicht um. »He, es war nicht meine Schuld.« Er begann zu laufen. »Na, leck mich am Arsch, Kumpel.« Und als er wieder vorbeizog, war Jeff fort. Und das Brennen im linken Auge schob er auf den Wind, und er senkte den Kopf, damit sich sein Blick klärte, und konnte so den Rhythmus seiner Füße beobachten, die über die Bahn glitten.
Die Asche war so weich, daß er gar nicht das Gefühl hatte, sich zu bewegen. Dann spürte er es: das Entgleiten, er ließ seinem Zorn freien Lauf, bis sich die Muskeln versteiften und sein Atem keuchte, sein Hirn sich in Farbe auflöste, bis er nicht mehr denken konnte, kaum sehen konnte, und innehalten mußte, schnaufend, die Hände fest in die Hüften gestemmt, während er mit gen Himmel gerichtetem Blick nach Luft schnappte, um sich zu beruhigen. Er war wieder bei den Bänken, zwinkerte die Tränen fort und zwang sich, nicht Jeffs Namen in den Himmel zu schreien. Nicht hinter seinem Freund herzujagen, ihn gegen eine Wand zu knallen und zu fragen, ob er wisse, was er tat, mit Dons Mädchen zu reden, wo es doch Don war, den Tracey wollte. Don, den sie versucht hatte anzurufen und nicht erreichen konnte, weil seine gottverdammten Eltern zu sehr damit beschäftigt waren, den Schock über Mandys Tod zu mindern. Nicht mildern. Sie waren darauf erpicht, ihr Leben mit einem Minimum an Störungen weiterzuführen: die Schule und das Fest. Ashford. Einhundertundfünfzig Jahre. Und Mandy war erst siebzehn, und er war siebzehneinhalb, und er wollte verdammt sein, wenn er zuließe, daß ihm dasselbe widerfuhr. Er beugte sich vor und ließ die Arme baumeln. Seine Hände zitterten heftig, aber die Spannung wollte nicht weichen. Er war fast soweit, zusammenzuklappen und zu versuchen, in der neuen Entwicklung einen Sinn zu sehen, als er von rechts einen Laut hörte. Ein Schlurfen, ein Schniefen, irgend etwas bewegte sich unter den Sitzen. Er wandte den Kopf und starrte ins Dunkel. Ein Hund vermutlich. Das hatte er vorhin gesehen: das Aufblitzen seiner Augen oder irgend etwas in seiner Schnauze. Eine Kralle oder die Farbe seines Felles.
Er lauschte und hörte nichts. Er starrte zur Aschenbahn zurück, schüttelte sich tüchtig, um sich aufzulockern und das Rot vor seinen Augen zu vertreiben. Als er fertig war, holte er mehrmals tief Luft und atmete heftig aus, dann marschierte er hinüber und stützte sich auf die Handflächen, während er zwischen die Sitze guckte. Er überwand seine Überraschung und fragte: »He, wer sind Sie?« Aber der Mann, der an der Backsteinmauer lehnte, hob nur eine schmutzige Hand, um ihn fortzuwinken. Ein Mann von undefinierbarem Alter in abgetragenen Hosen und einer Tweedjacke mit Schmutz im Gesicht, dunklen Flecken an den Fingern und einem unrasierten Kinn. Ein Mann, der zur Wand zurückrutschte und ihn zum zweiten- und drittenmal wortlos fortscheuchte. »Sind Sie okay, Mister?« Wieder das Wegscheuchen. »He, falls Sie Hilfe oder irgendwas benötigen…« Der Mann zog eine finstere Grimasse, und Don wich zurück, blickte zu den Stehplätzen hinüber, um nach jemandem zu rufen, blickte wieder zurück und kniff die Augen zusammen. Einmal. Langsam. Das Rot verschwand, und er konnte wieder mit einer Deutlichkeit sehen, die die Augen schmerzte. Aber er fühlte nichts. Er drehte sich bloß wieder zu dem Mann um, der sich unter den Bänken versteckte, und lächelte ihm zu. »Verpiß dich«, sagte der Mann. Don lächelte weiter, aber darin lag keine Barmherzigkeit, keine Freundlichkeit, sondern nur Härte, die stille Mitteilung, daß er wußte, wer der Mann war. Er wußte es und war davon durchaus nicht angetan. »Verdammt, verpiß dich, du mieser Punk«, knurrte der Mann.
Er nickte und marschierte davon, über das Gras und die Stufen hinauf und zur Schulseite hinüber nach Hause. Phantastisch, dachte er, das ist phantastisch. Wenn er wollte, konnte er ein Held sein. Er konnte direkt in die Küche gehen und die Polizei anrufen und denen sagen, er wüßte, wo der Howler steckte. Und falls der Killer inzwischen geflüchtet sein sollte, wenn sie eintrafen, konnte er ihnen mehr als bloß einen lausigen Hinweis geben. Er war imstande, ihn eingehend zu beschreiben. Als erster. Als einziger. Und der Howler würde nicht mehr so sicher sein. Aber als er in die Diele trat, sah er seine Jacke über dem Pfosten des Treppengeländers hängen. Er tippte sie an, hakte dann mit dem Finger unter den Kragen und warf sie sich über die Schulter. Boy, dachte er, was für ein irrer Tag. Meine Jacke ist wieder da, und ich kann ein Held sein, wenn ich will. Er ging in die Küche, um sich eine Büchse Soda zu holen, und blieb in der Tür stehen. Sein Vater saß am Tisch, kritzelte etwas auf ein gelbes Formular und sah abgehetzt und müde aus und ganz und gar nicht erfreut. »Hast deine verlorene Jacke entdeckt, wie ich sehe«, sagte Norman, nachdem er hochgeschaut hatte. »Ja. Wer hat sie wiedergebracht?« Er öffnete den Kühlschrank, holte ein Getränk und knipste die abgerissene Lasche schwungvoll in den Mülleimer. »Mr. Hedley.« »Wer?« Norman ließ den Stift fallen und lehnte sich zurück. »Mr. Hedley, der Lehrer. Er brachte sie gestern in mein Büro.« Er verstand nicht, starrte seinen Vater an, bis er schließlich begriff. »Du glaubst, ich war es, oder?« Norman schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.« Rot, diesmal wie eine Welle.
»Was meinst du, eigentlich nicht? Ich war’s nicht, falls es dich interessiert.« Er knallte die Dose auf die Anrichte und ignorierte das herausschäumende Soda. Norman blies die Backen auf und stieß die Luft aus »Donald, ich habe keine Zeit zu streiten. Du behauptest, du hast den Mist nicht auf seiner Veranda ausgekippt, aber er hat die Jacke auf der Hecke gefunden. Und er denkt, du hast das Fläschchen im Klassenzimmer ausgeleert. Er hat zwei und zwei zusammengezählt und beschlossen, ein netter Bursche zu sein und zuerst zu mir zu kommen, nicht zur Polizei.« »Okay«, sagte er. »Okay.« »Und du erklärst, du warst es nicht. Trotz all des Kummers und des Nachsitzens warst du es nicht.« »Mein Gott!« explodierte er. »Was verlangst du von mir? Ein schriftliches Geständnis? Soll ich mich einem Lügendetektortest unterziehen?« »Donald, das reicht.« Beinahe hätte Donald ihn daran erinnert, daß sie Vater und Sohn waren und zwischen ihnen ab und zu ein bißchen Vertrauen in das Wort des anderen gesetzt werden sollte. Aber er unterließ es. Er sagte: »Du hast recht, Dad. Es reicht.« Steif ging er zum unteren Treppenabsatz, zögerte, bis er sicher war, daß ihm keiner hinterherkam, und eilte dann ins Bad hinauf. Er füllte das Waschbecken mit kaltem Wasser und spritzte es sich ins Gesicht, machte einen Waschlappen naß und fuhr sich damit über den Hals. Aber das Rot wollte nicht verschwinden. Es verbreitete sich auf dem Spiegel und verblaßte zu einem verblichenen Rosa, das ihm gerade noch gestattete, sein Spiegelbild zu erkennen. Es pochte in seiner Brust, bis er glaubte, er würde explodieren. Es dröhnte in seinen Ohren wie der Ozean nach einem Sturm. Es wirbelte um ihn herum, zog
ihn mit sich, schleuderte ihn fort und verschwand so plötzlich, daß er sich am Becken festhalten mußte, um nicht hinzufallen. Er schwitzte, und ihm war kalt. Er schlang sich ein Handtuch um den Hals und ging in sein Zimmer, schloß die Tür und stellte sich vor das Poster. Die Bäume waren noch da und der Bodennebel und die Landstraße. Und der Hengst war immer noch teilweise hinter dem Schleier weißer Linien verborgen. »Was soll das alles?« flüsterte er nervös und streckte seine kalte Hand aus, um die Stelle zu berühren, wo der Hengst immer mehr verblich. »Was hat das zu bedeuten?« Dann setzte er sich aufs Bett und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Ganz plötzlich hatte er Angst. Nicht wegen dem, was mit dem Pferd passierte, sondern wegen des Wahnsinns, der wohl von ihm Besitz ergriff, wenn er dachte, daß es allmählich verschwand. Das mußte es sein. Er wurde wohl verrückt. Es gab auf der ganzen Welt kein Plakat, dessen Darstellung sich schrittweise auflöste, und es gab auf der ganzen Welt keinen anderen Jungen seines Alters, der mit einem blöden Foto sprach, es seinen Freund nannte, ihm Geheimnisse verriet und es um Rat bat. Es gab niemanden wie ihn, denn er war im Begriff verrückt zu werden, und das konnte er nicht einmal Tracey erzählen, denn sie hatte Jeff und nicht ihn angerufen.
Jeff fürchtete sich. Ein Irrer lief durch die Stadt und schlachtete Leute ab, die er kannte, irgendwo tief im Verborgenen sagte ihm ein Gefühl, daß er die Chance verpaßt hatte, Tracey zu gewinnen, und dann war da ein Verrückter, eine unbekannte Person oder ein
Ding, das von dem Körper dessen Besitz ergriff, der immer sein bester Freund gewesen war. Sobald Don ihn im Stadion verlassen hatte, war er zurück in die Schule gestürzt. Eine Zeitlang hatte er ratlos im Umkleideraum des Football-Teams gestanden, obwohl er wußte, daß kein Training stattfand, denn er wußte nicht, wohin er sich sonst wenden sollte. Zu Hause kam nicht in Frage, denn sein Dad war arbeiten; Beacher’s fiel aus, weil er kein Geld hatte. Was er am liebsten getan hätte, war, zu Tracey zu gehen. Er wollte mit jemandem sprechen. Was er brauchte, war jemand, der ihm sagen würde – und er war sich sicher, sie täte das –, wie normal es war, zu weinen, wenn ein Freund stirbt. Und er hatte geweint. Und als Tar Boston pfeifend hereinkam, wischte er sich übers Gesicht, ohne die Brille abzunehmen. »Allmächtiger«, sagte Boston, »sie war schließlich nicht deine Schwester.« Jeff wandte sich ab. »Scheiße«, sagte Tar und trat gegen die Wand: »Es ist nicht gerecht, weißt du das? Es ist nicht gerecht.« Jeff wartete, hörte weiter nichts und knallte sein Fach zu, ehe er zur Tür strebte. Als er den Knauf anfaßte, glaubte er, hinter sich ein Schniefen zu vernehmen. Ein unterdrücktes Schluchzen. Jesus, dachte er und drehte sich um. Tar lehnte gegen die Wand und grinste, während er das Geräusch von Weinen nachahmte. »Vier-Auge«, sagte er, »du bist gar nicht so übel, aber du bist ganz bestimmt kein Mann.« Jeff ging auf ihn zu, und Boston lachte, während er die Hände zur Abwehr des erwarteten Schlages hochriß. Er lachte so heftig, daß er nicht sah, wie Jeff sein Gewicht auf den linken
Fuß verlagerte, und ihm blieb keine Zeit auszuweichen, als Jeff ihn in die Hoden trat. Der Schrei kam erstickt, erstickt wie die Drohungen, die Jeff lächeln ließen, als er ging und zu einer martialischen Melodie in seinem Kopf durch die Turnhalle schritt. Dafür würde er büßen. Und wie er dafür büßen würde. Aber der Ausdruck auf dem Gesicht dieses Bastards war jeden gebrochenen Knochen wert, den er sich einheimsen würde. Warum zum Teufel, dachte er dann, konnte er nicht denselben Mut aufbringen und Tracey um ein Date bitten? Das Lächeln wurde breiter. Nun… vielleicht konnte er doch. Vielleicht konnte er das wirklich. Und dann konnte er vielleicht auch zu Don hinübergehen und herausfinden, was zum Henker nicht im Kopf des Burschen stimmte.
Don hörte seine Mutter in die Einfahrt biegen, hörte die Haustür zufallen und hörte gedämpfte Stimmen in der Küche. Das Telefon läutete. Irgend jemand nahm ab. Er rutschte ein wenig, um auf dem Rücken zu liegen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er schniefte, erschauderte und hörte Schritte vor seiner Tür. Ein sachtes Anklopfen. Die Tür wurde geöffnet. »Darling«, sagte Joyce, »bist du in Ordnung?« Sie war schön mit dem offenen Haar, das ihr auf die Schultern fiel, und der leuchtendbunten Bluse, die am Hals nicht zugeknöpft war, dem nicht ganz richtig sitzenden Rock, der an den Hüften zu weit war. Er nickte, aber nur einmal. Sie schenkte ihm ein tastendes Lächeln und setzte sich ans Fußende des Bettes. »Es war hart, schätze ich, hm?« Er nickte.
Sie legte mitfühlend ihre Hand auf sein Bein und rieb es geistesabwesend, während sie sich im Zimmer mit den leergeräumten Regalen und dem sauberen Schreibtisch umsah. Über das Poster sagte sie nichts. »Es ist nicht leicht. Ich weiß. Man kennt jemanden, und der muß… auf diese Weise sterben. Es ist nicht leicht, glaub mir.« Er wußte, sie meinte Sam, aber obwohl Sam sein Bruder gewesen war, war er doch nur ein Kind gewesen. Mandy war eigentlich keine Freundin von ihm gewesen, aber siebzehn, und er hatte sie besser gekannt, als er je seinen kleinen Bruder gekannt hatte. Joyce räusperte sich, und ihr Lächeln war traurig, dann tapfer, dann ganz verschwunden. Er beobachtete sie und spürte Sand in der Kehle. »Mom«, sagte er, ehe er es bemerkte und sich unterbrechen konnte, »da ist etwas, das ich dir sagen muß. Heute nachmittag habe ich drüben bei der Schule einen – « »Gleich, Liebes, bitte«, unterbrach sie ihn in einer Weise, die ihm klarmachte, daß sie überhaupt nicht zugehört hatte. »Das war vorhin Tracey Quintero am Telefon.« Sie tätschelte sein Knie, erhob sich und ging zur Tür. »Was?« Er setzte sich auf, wobei er sich mit den Händen abstützte. »Tracey? Warum hast du mir das nicht gesagt?« »Nun, Liebes, das ist sicher schwer für dich zu verstehen, aber sie brauchte jemanden, mit dem sie reden kann, und ich halte es für das beste, sie spricht zuerst mit ihren Eltern, meinst du nicht auch?« »Was?« fragte er so leise, daß sie ihn nicht hörte. »Erwachsene haben Lebenserfahrung und wissen im allgemeinen, wie man sich in eurem Alter fühlt, wenn zum Beispiel… nun, wenn zum Beispiel so etwas passiert.« Ihr Lächeln kehrte kurz zurück. »Ich denke, gerade jetzt wird Mr. Quintero ihr mehr helfen können als ihre Freunde.«
Er ließ sich wieder zurückfallen. »Was hast du ihr erzählt?« »Ich habe ihr gesagt, daß du schläfst. Daß du dich über das Vorgefallene aufgeregt hast und jetzt schläfst.« »Danke«, sagte er tonlos. Joyce zwinkerte ihm zu und ging, dann schloß sie die Tür hinter sich. Was, dachte er, das Bild seiner Mutter noch vor sich, weißt du schon, was ich brauche, hm? Was zum Teufel weißt du über Tracey? Jesus, ihr wußtet ja nicht mal, daß sie spanischer Herkunft ist, verdammt noch mal. Zur Hölle mit ihnen. Er hatte ihnen die Chance gegeben, ihm zu helfen, ein Held zu werden und vielleicht das Leben irgendeines Teenagers zu retten, aber es scherte sie nicht. Es scherte sie keinen Deut. Der eine glaubte, er sei ein Arschloch, das Scheiße auf die Veranden anderer Leute auskippte, und der andere, er würde nicht wissen, wie er seinen Freunden helfen könnte, sich ein bißchen besser zu fühlen. Sie sahen ihn an und erkannten Sam. Zur Hölle mit ihnen. Er schloß die Augen und spürte den immer noch in seiner Brust verborgenen Klumpen. Warm, rot und mit jedem Zoll er. Wenn sie ihm nicht helfen wollten, wenn sie ihm nicht vertrauten, dann würde er auf eigene Faust handeln. Er war derjenige, der wußte, wie der Howler aussah. Er war derjenige, der den Killer für den Rest seines Lebens hinter Gitter bringen konnte. Er war derjenige, der Bescheid wußte, und was ihn betraf, so konnten sie alle zur Hölle fahren. Woher, fragte ihn dann irgend etwas, weißt du, daß es der Howler ist? Einen Herzschlag lang blinzelte er verwirrt, und einen Atemzug lang wußte er keine Antwort.
Dann verengten sich seine Augen, und sein Atem ging leicht, und es machte ihm gar kein schlechtes Gewissen, als er dachte: Gleich und gleich gesellt sich gern. Denn in gewisser Hinsicht stimmte es. Dieser Abschaum unter den Bänken lebte nach eigenen Gesetzen, und Don hatte für sich auch einige neue Regeln entworfen. Er konnte sie nicht laut nennen, aber er kannte sie ganz genau – sie waren auf diesen Klumpen geschrieben in Rot, und warteten nur auf ihr Inkrafttreten. Er rollte sich auf die Seite, den Kopf in die Hand gestützt. Er blickte zum Poster hinüber, und der Seufzer verwandelte sich in ein hohes Wimmern. Er sprang auf, schoß durch den Raum, klammerte sich an die Schreibtischkante und starrte durch die Schweißtropfen, die von seiner Stirn rannen. Der Rappe war weg. Er war weg. Die Kratzer waren verschwunden, aber der Hengst war weg. Er berührte das Papier, fuhr den Baumstämmen und dem Wallen des Nebels mit dem Finger nach, ließ die Handfläche darübergleiten, preßte die Stirn dagegen und lüftete eine Ecke, um dahinter zu blicken. Die Straße war leer. Er war weg. Ein entsetzter Schritt brachte ihn Richtung Tür, aber er hörte draußen eine Bewegung und eilte zum Fenster. Der Garten lag dunkel da, und das Mondlicht hob seine Konturen hervor. Mitten auf dem Rasen war ein Schatten. Zuerst dachte er, es sei Chris, die noch einmal kam, um ihn aus irgendeinem unbekannten Grund aufzusuchen. Dann kniff er die Augen zu, preßte die Handflächen gegen die Scheibe und spürte das Glas. Das war nicht – das war derselbe Besucher, den er letzte Woche gesehen hatte, als er gelaufen war, derjenige, der ihn vom Tunnel des Stadions aus beobachtet hatte. Unförmig.
Schwarz. Und beobachtete ihn so gewiß, als ob es über ein richtiges Augenpaar verfügte. Ein Tropfen wie Eis berührte seinen Nacken. Sein Kopf fuhr herum, und er starrte das Poster an. Das Pferd war immer noch verschwunden. Als er wieder nach unten sah, war auch der Schatten fort. Plötzlich, unerklärlicherweise in Tränen ausbrechend, trat er vom Fenster zurück, vom Poster und fiel aufs Bett. Er versuchte zu schlucken, konnte aber nicht; er wollte um Hilfe rufen und konnte nicht. Er versuchte sich einzureden, er sei nicht verrückt, nicht wirklich verrückt, aber Poster verändern sich nicht, und schwarze Gespenster wanderten nicht nachts durch den Garten. »Hilfe«, flüsterte er. »Irgendjemand. Hilf mir.«
10
Gleichgesinnte. Er wartete bis kurz nach elf und bis er sicher war, daß ihn die Dielenbretter unten nicht verraten würden. Dann zog er seine schwarze Jeans an und schlich die Treppe hinunter, nahm eine Taschenlampe aus dem Wandschrank in der Diele und verließ das Haus durch die Hintertür. In der Nacht war es winterlich kalt geworden, und sein Atem stieg von seinen Lippen empor, wehte zurück in seine Augen. Mit der Hand an dem Türknauf stand er da und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann huschte er geduckt zur Gartenmitte, während der weiße Lichtstrahl das Gras erhellte. Er suchte nach Abdrücken, Veränderungen, irgend etwas, das derjenige fallen gelassen hatte, der vorher da gewesen war, wer immer ihn auch durchs Fenster beobachtet haben mochte. Er durchsuchte den Garten zweimal gründlich und fand nichts, wiederholte dies noch zweimal und beschloß dann, es vorne zu versuchen, wo der Mond und die Laternen ihm ein wenig helfen würden. Wieder hineinzugehen, kam nicht in Frage. Verzweifelt gerne hätte er sich selbst davon überzeugt, daß er nicht verrückt geworden war. Er wollte einen greifbaren Beweis für einen Eindringling finden – vielleicht Brian oder Tar, die einen anderen bösen Streich planten, den sie ihm in die Schuhe schieben konnten –, den er dann seinen Eltern zeigen konnte und der beweisen würde, daß er nicht den Verstand verloren hatte, wenn er ihnen vom Poster erzählte. Denn das würde er tun müssen. Wenn er dies nicht bald tat, dann würde es einem von ihnen auffallen und man würde
denken, er habe das gemacht, und es wäre zu spät, dagegen zu protestieren. Die Straße war ruhig, verlassen, und gerade als er sie musterte, wurden ringsum viele Lichter ausgeschaltet, und die Häuser versanken in der Dunkelheit. Gleichgesinnte. Er zog den Reißverschluß seiner Jacke bis zum Hals zu und setzte sich auf die vordere Veranda, die Taschenlampe neben sich. Das Poster, der Schatten und die Vorstellung, genauso wie dieser mordende Penner zu sein. Drei Treffer. Mit dem dritten K. o. Der gesunde Menschenverstand hatte sich zur Ruhe gesetzt, und das Spiel war vorbei. Es sei denn, es war wahr. Es sei denn, er und der Howler standen einander näher, als er sich je vorstellen konnte, und sein Unterbewußtsein hatte irgendwie diesem Umstand Rechnung getragen. Und falls es so war, mußte er diesen Mann finden, herausfinden, wo er sich in den Stunden der Dunkelheit verbarg, und die Polizei zu ihm führen. Der Held sein, wie geplant, und dann sollte sein Vater es noch einmal wagen, an ihm zu zweifeln und ihn mit diesen mitleidigen Augen anzusehen. Es wagen, ihn anzuschreien, weil er ohne Erlaubnis das Haus verlassen hatte. Verrückt. Er eilte zum Park. Verrückt. Er schob die Hände in die Hosentasche, die Daumen nach außen gehakt, und versuchte, nicht zu fest mit den Fersen aufzutreten. Er mußte harmlos wirken, einfach jemand, der noch einen Nachtspaziergang machte, falls ein Streifenwagen vorbeikam, und man wissen wollte, was er auf der Straße machte, wo doch ein Irrer unterwegs war. Er konnte es ihnen schließlich nicht erklären. Er konnte nicht sagen, er kenne den Howler, denn das würde man ihm nicht glauben. Er mußte ihn
finden, nur dann würde er imstande sein, die Truppen zu mobilisieren. Kurz vor der Ecke fuhr ein Auto an den Straßenrand, und die Beifahrertür wurde geöffnet. Er verlangsamte seinen Schritt und blickte in den Wagen. Als er Tar sah, hielt er den Atem an. »He, Duck, weiß deine Mami, daß du draußen bist?« »Halt die Schnauze«, sagte er düster. »Ah, armer Ducky. He, Brian, Duck sagt, ich soll die Schnauze halten.« Pratt beugte sich vom Steuer herüber und grinste. »Okay, Mr. Duck, wie Sie befehlen.« Don funkelte ihn an, ging weiter, und der Wagen folgte ihm langsam. »He, Boyd«, sagte Tar, »ich freue mich zu sehen, daß du deine Jacke gefunden hast. Wie hast du denn die Scheiße herausgekriegt?« Don blieb stehen, drehte sich um, aber Brian fuhr davon, und Tars Gelächter erfüllte die Nacht. Er wollte eine Faust heben, aber das hätte nichts gebracht. Es würde höchstens zu einer Prügelei kommen. Aber sie waren es gewesen, und er stöhnte, weil sein Vater ihm das nie glauben würde. An der Straßenecke hielt er wieder inne und wartete im Schatten, bis ein Bus vorbeigefahren war, und erwog dabei, zu Tracey hinüberzulaufen. Sie würde schon im Bett sein, aber ein Steinchen gegen ihr Fenster mochte sie vielleicht nach draußen rufen, ehe ihr Vater aufwachte. Er würde mit ihr reden. Er würde ihr alles erklären. Er würde… »Mist«, murmelte er und rannte über den Boulevard, erreichte in vollem Tempo die Parkmauer und sprang mit einem Satz hinüber. Eine Minute verstrich und noch fünf weitere, ehe er sich von den Knien erhob und sich zum Hauptweg aufmachte. Der Park
war ihm völlig vertraut, er wußte sofort, daß niemand in der Nähe war, niemand, der ihn belauschte oder ihm Fragen stellte und zurück ins Haus brachte. Er war alleine. Als er zum Oval gelangte und seinem Saum aus weißem Licht, erkannte er, daß er sich irrte. Irgend etwas war da drüben, drüben im Dunkeln. Irgend etwas Vertrautes. Er ging langsamer, blieb stehen und trat kurz, ehe die Bäume zurückwichen, zur Seite und kniff die Augen zusammen. Dort, dachte er, und reckte den Hals. Es war dort drüben auf der anderen Seite, rührte sich nicht und beobachtete ihn. Als er mit der Linken an die Gesäßtasche griff, stellte er mit leisem Fluchen fest, daß er die Taschenlampe vergessen hatte – er besaß jetzt nichts, was er als Waffe benutzen konnte. Brian und Tar; sie mußten es sein, kamen wieder, um ihm seine Lage klarzumachen. Würden ihm die Seele aus dem Leib prügeln, und wenn die Polizei kam, würden sie tief schlafend im Bett liegen, und er hätte zu erklären, was er im Park machte. Er wich zurück. Eine Hand wischte über seinen Mund. Verrückt; wenn er nicht schon vorher verrückt gewesen war, dann war er es jetzt ganz bestimmt. Höchstwahrscheinlich gab es eine Erklärung für das Poster, und die Schatten hatten mit seiner Nervosität wegen Pratt und dessen Haß zu tun, aber das hier war der komplette Wahnsinn. Eine flüchtige Suche im nächsten Unterholz belohnte ihn mit einem vier Fuß langen Ast. Er hob ihn hoch, ließ ihn gegen seine Handfläche schlagen und betete verzweifelt, er möge ihn nicht benutzen müssen, wenn er auch noch nicht wußte, gegen wen oder was.
Da sagte eine Stimme hinter ihm: »Fickbaby«, und eine Hand packte seine Kehle.
Don schrie, ohne einen Ton von sich zu geben, als sich seine Hand verkrampfte und der Ast zu Boden fiel. Und ehe er noch versuchen konnte sich loszureißen, legte sich ihm ein Arm quer über die Brust und klemmte seine Arme an den Seiten fest. Brian! schrie er stumm. Tar, um Himmels willen, laßt mich los, verflucht. Aber sein Kopf wurde nach hinten gezwungen, und als er den Blick von den Baumwipfeln nach unten schweifen ließ, sah er den Tweedärmel, das getrocknete Blut, und er begriff. Panik ergriff ihn und ließ ihn in sich zusammenfallen. Aber er würde nicht sterben. Amanda war tot, und Sam war tot, aber er würde nicht sterben, weil er nicht einfach ein nächstes Opfer war, nicht nur ein Name in den Nachrichten. Er war Don Boyd, und Don Boyd starb nicht. Noch nicht. Gott, noch nicht. Der Howler war zu stark, um sich gegen ihn zu wehren, und ihm blieb nichts weiter übrig, als sich um den Teich zerren zu lassen, wobei ihm das Genick zu brechen drohte, während sein Atem keuchend und flach ging und sein Hinterkopf vom Atem des Monsters ganz warm wurde. »Du bist wirklich ein dummes Fickbaby, Junge«, sagte Tanker Falwick. Don schwang ein Bein herum und klammerte sich mit einem Absatz an den Betonrand. Der Mann grunzte, und Don wimmerte wegen des Schmerzes, der ihm durch das Rückgrat schoß, aber zunächst kamen sie nicht weiter. Falwick flüsterte: »Willst du baden? Wie die Hure? Du willst baden, Punk?« Ein gemeiner Tritt gegen die Wade, und Don ging zu Boden, während die Finger seine Kehle losließen und ein Haarbüschel
griffen. Ihm schoß das Wasser in die Augen, und dann packte man ihn am linken Handgelenk und bog ihm den Arm auf den Rücken. »Sieh her, du Spinner!« keuchte ihm der Mann ins Ohr. »Hör auf herumzualbern und sieh her! Siehst du die dunkle Scheiße da? Das ist Blut, Freundchen. Blut. Von der Hure. Schön, was? Muß eine Gallone Blut dort sein. Mindestens eine verdammte Gallone. Und weißt du was, Punk? Sie können es hundert Jahre lang versuchen, sie werden das Blut der Nutte nie da herauswaschen.« Ein meckerndes Gelächter, und Dons Gesicht wurde dichter zum Boden hin gedrückt. »Hungrig, Junge? Willst du’s auflecken? Willst du – « »Bitte«, brachte Don heraus. »Oh, du meine Güte, hört euch das an.« Er schluckte die aufsteigende Übelkeit herunter und kniff die Augen gegen die Tränen zusammen und fragte sich, warum er nicht wie Fleet oder Tar gebaut sein konnte, um sich dem Mann zu entwinden, sich umzudrehen und ihn zu einem blutigen Brei zu schlagen, wo Amanda gestorben war. Tanker zwang sein Gesicht noch dichter an den Boden, und als seine Nase den kalten Zement berührte, schloß er fest die Augen. »Bitte«, sagte er, weniger flehend jetzt als befehlend. »Ah, bist du sauer auf den alten Sergeant? Du bist sauer auf mich, Bursche?« Das war er. Er begriff es nicht, aber es war so. Er fürchtete sich vor dem, was kam, und war wütend auf seine Hilflosigkeit und wollte nicht sterben, aber es gab verdammt nichts, was er dagegen hätte tun können, nicht das geringste, genau wie immer. »Ich – ich werde nichts sagen, ehrlich nicht.«
»Ah, der Kerl bettelt. Ist das nicht schön. Das tun sie alle, weißt du? Zum Schluß betteln sie alle. Sie halten sich für was Tolles, aber zum Schluß betteln sie alle.« Noch nicht das Ende, dachte er und zog plötzlich seinen Körper zusammen in der Hoffnung, die Umklammerung durchbrechen zu können. Aber ihm schrillte der Kopf, als Tanker an seinen Haaren zerrte, und seine Hüfte brannte wie Feuer, als ein Absatz dagegen hämmerte und seine Jacke und sein Hemd ihm unter dem Griff des Mannes den Brustkorb und die Lungen zuschnürten. »Sie betteln alle, die kleinen Huren, und es nützt gar nichts. Sage auf Wiedersehen, Freundchen. Du kleiner weißer Abfallhaufen.« Don würgte, als sein Kopf zurückgezerrt wurde. Seine Augen öffneten sich und starrten geradeaus. Und dann langte er mit seiner Rechten hinter sich und erwischte Falwick mit seinem Ellbogen am Bizeps. Der Mann grunzte vor Überraschung, ließ sein Haar los, und Don stieß rasch noch einmal nach, grätschte die Beine und rollte sich herum, bis er auf dem Rücken lag, wobei sein linker Arm immer noch nach hinten gebogen war, jetzt aber Falwicks Arm auch dort festnagelte. Und er sah das Gesicht des Mannes: dasselbe harte Gesicht, derselbe heruntergekommene Mann, den er unter den Zuschauerbänken gesehen hatte. Falwick spuckte ihn an, schlug ihm gegen den Kopf, erhob sich, zerrte ihn hoch, ließ den Arm los und wirbelte ihn herum, lachend und hustend. Viermal herum, bis er ihn mit einem Schrei losließ und Don sich um die eigene Achse drehend im Teich landete, im Sitzen aufprallte und sich das Wasser aus den Augen schüttelte. Ein Fehler! dachte er jubilierend, und ich kann ihm davonlaufen.
Aber zunächst mußte er ihn austricksen oder ablenken, denn der Mann in der Tweedjacke und den zerbeulten Hosen stand dort am Rand und beobachtete ihn spöttisch, während er sich die Lippen leckte und den Arm rieb. »Du willst wegrennen?« fragte Falwick mit einer höhnischen Grimasse. »Du willst es versuchen, Junge? Wenn ja, dann mach dich besser auf die Socken, oder ich schlitze dich an Ort und Stelle auf.« Es war unwirklich. Es war etwas, das irgendjemand anders im Traum widerfuhr. Es war wie… Und Don sah sich selber auf der Kinoleinwand, wie er rachedurstig aus dem kalten Wasser stieg, zum Beckenrand hechtete und herumwirbelte, um dem Mann einen kräftigen Tritt gegen die Brust zu verpassen. Ein Knochen knackte. Blut spritzte aus der gespaltenen Lippe des Mannes. Noch ein Tritt in den Magen, eine tödliche Faust aufs Kinn, und der Howler kippte um, bewegungslos und ohnmächtig, direkt in den Teich. Auf der Leinwand. »Verdammter Scheißer«, sagte der Howler angewidert. »Ihr seid alle gleich, ihr Scheißmistkerle. Alle verdammt gleich. Ihr habt keinen Mumm in den Knochen. Ihr verdient es nicht zu leben.« Don schob sich weiter, bis er den Beckenrand in seinem Rücken fühlte. »Gut«, sagte Falwick nickend. »Sehr gut. Du willst einen Vorsprung.« Eine Autohupe quäkte schrill über den Boulevard. Das Kreischen von panikartigem Bremsen, das darauffolgende, scheußliche Krachen von Metall auf Metall. »Na, Mist«, sagte Falwick. Don sah über die Schulter und wagte es nicht zu glauben. Ein Unfall. Die Polizei. Er stolperte auf die Füße, formte mit den
Händen einen Trichter vorm Mund und schrie. Kroch über den Rand und rannte. Falwick war vor ihm, die Arme ausgebreitet und mit zuckenden Fingern, falls er es wagte. Don machte eine Finte nach links, nach rechts, aber der Howler stand einfach da, die Hände ausgestreckt, und zeigte ihm die Nägel, die zu Krallen gewachsen waren. Ein Schrei und eine entschlossene Wende, und er rannte den Weg entlang zum Spielfeld, den Kopf erhoben und mit pumpenden Armen, versuchte, den Schmerz in Genick und Hüfte zu ignorieren, versuchte nicht zu hören, wie der Mann ihm folgte und aufholte, wobei er ein pfeifendes Lachen ausstieß und wie ein Hund knurrte, der von der Leine gelassen worden war. Aus den Bäumen heraus, über die Wiese zum Nordausgang. Dort standen Häuser. Er konnte schreien. Er konnte ein Fenster einschlagen. Er würde jemanden dazu bringen, an die Tür zu kommen und zu sehen, was geschah, und die Polizei zu alarmieren. Er konnte immer noch ein Held sein. Er konnte immer noch nach Hause und immer noch am Leben sein. Und Jesus, bitte laß mich nicht sterben. Ich will nicht sterben wie Amanda. Der Howler erschien neben ihm, hielt mühelos mit ihm Schritt und grinste. »He, Freundchen, ist das deine Bestleistung?« Er taumelte, und der Mann brüllte und schlug ihm mit der geballten Faust vor die Brust. Er stürzte vorwärts, rannte immer noch, spürte das Feuer um sein Herz herum, während er auf allen vieren krabbelte, ehe seine Ellbogen einknickten und er auf der Erde aufschlug. Keuchend. Weinend. Wütend über sich selbst, weil er so ein Idiot war, wütend auf den Howler, weil der ihn nicht am Leben lassen wollte, wütend auf die ganze verfluchte Welt wegen all ihrer gottverdammten Regeln!
Er spannte sich an, wartete auf den Schlag. Er blickte auf, Gras und Erde klebten an seinen Wangen. Und er sah den Howler über sich stehen, die Hände in die Hüften gestützt… »Bist du erledigt?« Er sackte zusammen, rollte sich zusammen und spürte, wie sich sein Mund langsam öffnete. »Kleiner Bastard.« Der Howler blickte nach oben zum Himmel, zum Mond, und legte den Kopf schräg, als lausche er den Anweisungen der Nacht. Dann langte er nach unten, um nach der Jacke zu greifen, und Don rutschte zur Seite, wand sich, bis er sich auf dem Hintern wie eine Krabbe seitlich fortbewegte. »Himmel«, murmelte der Howler, griff wieder nach ihm und erstarrte. Die Augen des Jungen waren schreckgeweitet, aber er sah ihn nicht an. Falwick schnaubte, streckte die Hand wieder aus, und erstarrte wieder, als er es hinter sich hörte. Eisen schlug auf Eisen. Hohl. Langsam. »Was zum Teufel?« Don fühlte, wie seine Lippen zu zittern begannen, fühlte die Kälte aus dem Boden durch seine Kleider dringen, aber weder konnte er von dem Mann fortrücken, der sich jetzt zur Seite drehte, noch konnte er irgendwoanders hinsehen, irgend etwas sehen, irgendwas, das bewies, daß er keineswegs verrückt war. Eisen. Gegen Eisen schlagend. Steine auf einem hohlen Baumstamm. Holz gegen Holz. Die Hufe eines Rappen, der geschmeidig über die Erde galoppierte.
Falwick schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen, schüttelte abermals den Kopf und hob die Hände. »Was zum Teufel ist das?« Der Hengst befand sich auf der anderen Seite des Spielfeldes, eher Schemen als Gestalt, seine Flanken glänzten schwarz, seine Mähne wurde nicht von dem Wind berührt, der vom Schein des Mondes entfacht wurde. Er bewegte sich, ohne den Kopf zu bewegen, glitt über das Spielfeld, über das Schlagmal, über das Gras und blieb stehen. Falwick versuchte dahinter zu gucken, um zu sehen, wer der Besitzer war und ob er diese Nacht mehr als einmal würde töten müssen. Don rutschte ein Stück zurück und wagte es kaum zu glauben. »Hau ab«, sagte Falwick daraufhin und drehte sich mit einem Das-wär’s-dann-Freundchen-Grinsen zu seiner Beute um. Das Pferd schnaubte und scharrte auf dem Boden. Falwick blickte sich um, und Don sah, wie ihm das Blut aus dem finsteren Gesicht wich. Das Pferd bewegte sich wieder zielbewußt, langsam, und war doppelt so groß wie jedes, das Don je gesehen hatte. Seine Muskeln rollten und zuckten wie schwarze Wellen auf schwarzem Wasser. Sein Schwanz peitschte, seine Stirnlocke war zwischen die Ohren geweht worden, die flach zurückgelegt waren. Und die Augen im mächtigen Schädel waren groß und schräg und von einem dunklen glimmenden Grün. »Du?« flüsterte der Junge. Es hielt inne und sah ihn an, und aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Howler zurückwich. »Du?« Das Pferd wartete. Don blickte zu Tanker Falwick, schloß die Augen und sah Amanda.
Ich könnte ein Held sein, dachte er, aber wer würde mir glauben? Seine Augen schlossen sich noch fester und sahen sein leeres Zimmer, und er hörte seine Mutter ihn Sam rufen und seinen Vater ihn einen Lügner nennen. Lehrer schubsten ihn. Tracey rief nicht an – Brian und Tar und all die anderen. Die regenbogenfarbenen Lichter hinter seinen Lidern piekten wie stumpfe Nadeln. Sein allmählich verblassendes Auge fühlte sich an, als blutete es am Rand. Und dann sah er sich selbst auf der Parkwiese, die Augen aufgerissen und blind, seine Kehle aufgeschlitzt und blutend. Das Pferd wartete. Wieder öffnete er die Augen, das Stechen war fort, die Bilder waren fort, aber das Tier war noch da. Ich bin verrückt, dachte er. Und plötzlich dehnte sich der Klumpen in seiner Brust, explodierte… und er fühlte gar nichts mehr. »Ja«, sagte er ausdruckslos. »Ja. Tu es.« Das Tier wartete noch einen Augenblick und stob dann geradewegs auf den Howler zu, den Blick starr auf die Brust des Mannes gerichtet, während sich seine Beine höher hoben und härter aufsetzten, so daß von der Erde unter seinen Hufen grüne Funken sprühten. Als es noch zehn Meter entfernt war, stöhnte Falwick vor Grauen und wirbelte links herum in Richtung der Bäume, und der Hengst erhob sich gegen den Mond, während die Vorderbeine ausschlugen und die Mähne flog und dunkler Rauch aus seinen Nüstern dampfte. Dann lief es los. Und vom Boden ertönte kein Geräusch bis auf das Klatschen der Schuhe des Howlers und das Zischen der Funken im Dunkeln, die grün hinabschwebten und erloschen, ehe sie auf der Erde auftrafen.
Don rollte sich auf die Knie, während sich seine Rechte um den Ast schloß, den er zuvor hatte fallen lassen. Und er sah zu, wie der Howler nach links schwankte, dann nach rechts taumelte und sich gerade noch um die eigene Achse drehte, als ihn das Pferd erreichte und sich aufbäumte. Don brüllte. Falwick schrie auf. Und der Hengst kam auf ihm nieder, während sich die Funken in grünes Feuer verwandelten.
11
Don setzte sich plötzlich auf, die Augen weit aufgerissen, den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Die Arme an seinen Seiten waren steif, und sein Kopf ruckte im Takt von Uhrzeigern hin und her, bis er einen Druck auf der rechten Schulter spürte. Sein Kopf fuhr herum. Sein Mund blieb geöffnet. Es war die Hand einer Frau mit langen Fingern, die ganz weiß wurden, als sie versuchten, ihn zurückzudrücken. Sein Blick folgte ihr benommen, fand das Handgelenk, den Arm, das Gesicht seiner Mutter, das verquollen und elend war. »Don, es ist alles in Ordnung.« Er sah, wie sich die Lippen bewegten (der Hengst bäumte sich auf), hörte die Worte (das Schreien des Howlers) und ließ sich nach einigen Sekunden wieder zurückfallen, während eine dunkle Gestalt am Fußende die Matratze derart niederdrückte, daß er fast wieder saß. »Don, es ist alles in Ordnung, Liebling.« Der echolose Schrei erstarb endlich, der Tunnel brach in sich selbst zusammen, und als sich sein Blick erst geklärt hatte, brauchte er nicht fragen, um zu wissen, daß er im Krankenhaus war. Eine Krankenschwester fühlte zu seiner Linken seinen Puls. Ein Arzt, dessen Gesicht ihm vertraut war, trat ins Zimmer, nahm das Krankenblatt, las es, nickte, schob die Schwester beiseite und zog sich einen Hocker heran. Sein Gesicht war hager und von zu vielen sonnigen Sommern zerknittert, sein Haar ein Dickicht von unregelmäßigem Grau. »Wie fühlst du dich, mein Sohn?« Große Hände glitten über seine Stirn, seinen Brustkorb, schoben sich durch sein Haar
und drückten ihm sachte auf die Kopfhaut. »Keine Schmerzen, keine Klagen? Aber dein Rücken ist wahrscheinlich ganz zerschlagen, stimmt’s?« »Woher wissen Sie das?« fragte Don heiser und versuchte immer noch, aus dem Park zurückzufinden. Der Doktor schenkte ihm ein Lächeln. »Wenn man so lange ohne Bewegung im Bett liegt, ist das unvermeidlich.« »Kann er jetzt nach Hause, Jerry?« »Am späteren Nachmittag, denke ich«, sagte Dr. Naugle. Er sah Don an. »Nur um sicherzugehen, mein Sohn, okay? Ich bezweifle, daß wir irgend etwas übersehen haben, aber einfach um sicherzugehen.« Er blickte über das Bett zu Joyce hinüber. »Essenszeit.« Eine Drehung seines Kopfes zum Ständer mit dem Tropf, und die Flüssigkeit tröpfelte in Dons Arm. »Nach dem, was wir ihm seit Mitternacht gegeben haben, muß er im Begriff sein zu verhungern.« Ein befriedigter Seufzer, und er stand auf. »Ich schätze, das geht klar mit dir, mein Sohn.« Ehe Don antworten konnte, war er fort, woraufhin seine Mutter hinter ihm her hetzte, die Schwester im Schlepp. Die dunkle Gestalt löste sich endlich aus den Schatten. »Dad?« Norman versuchte zu sprechen, leckte sich dann über die Lippen und grinste, als er Joyces Stuhl nahm. Er tätschelte Dons Schulter und sein Bein, starrte blicklos auf den Tropf und das Pflaster am Arm des Jungen. Sein Haar war ungekämmt und wirkte in der Morgendämmerung grauer, die durch die Jalousie des Fensters drang. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Nase leicht gerötet und die eine sichtbare Hand zuckte alle paar Sekunden. Don war schockiert – sein Vater hatte geweint. »Ich könnte einen ganzen See austrinken«, sagte er übereifrig, »so einen Durst habe ich.«
Dankbar griff Norman nach der Wasserkaraffe auf dem Nachttisch, goß sich ein Glas ein und schließlich noch ein zweites. »Wie fühlst du dich?« »Grauenvoll – nein, bloß lausig.« Er rückte ein Stück und spürte die Verletzung an der Hüfte und den Schmerz, wo der Howler ihm das Knie ins Rückgrat gedrückt hatte. Norman stand auf, wanderte zur Tür und wieder zurück zum Besuchersessel. »In ein paar Minuten wird Sergeant Verona hier sein, denke ich. Er wartete nur darauf, daß du… daß du aufwachst.« »Die Polizei?« Grün funkelt grünes Feuer. »Sie wollen wissen, was da drüben passiert ist.« Offensichtlich hätte er gerne gefragt, fürchtete sich aber ebenso offensichtlich davor. »Die Reporter auch.« Don rollte den Kopf, um an die Decke zu starren. »Reporter.« »Nun, du bist ein Held, Sohn. Es kommt bereits im Radio.« Er geriet in Panik, und ihm war kalt. »Dad, hör zu, ich muß – « Die Tür wurde aufgestoßen, und Verona marschierte herein. Seine Anzugjacke war zerknittert, seine Krawatte fehlte, und ein paar feuchte Grashalme klebten ihm am Ellbogen. Joyce stand direkt hinter ihm und protestierte, als er die Boyds aufforderte, ihn mit dem Jungen alleine zu lassen. Norm nahm sie beim Arm; sie warf ihm einen langen Blick zu und hauchte Don im Hinausgehen einen Kuß zu. Lautlos schloß sich die Tür. Das Licht vom Fenster wurde heller. Wieder verspürte er Panik, aber sie schwand, als Verona ihm herzlich die Hand schüttelte und sich in den Sessel setzte. »Das«, sagte er, und deutete auf ihre Hände, »gilt für jetzt. Wahrscheinlich werde ich dich noch ewig verfluchen für das, was du getan hast. Nicht, daß ich dich nicht mag«, fügte er mit
einem schiefen Lächeln hinzu, »aber die Zeitungen beginnen sich zu fragen, wieso ein Teenager den Howler entlarven kann, während die Polizei in zwei Staaten nicht den kleinsten Hinweis findet.« Don zuckte die Achseln, und sein Magen knurrte. …da war Blut, jede Menge Blut und das Geräusch trampelnder Hufe… »Also, Don, würdest du mir erzählen, was passiert ist?« Erzähl’s ihm, dachte Don. Und er erzählte ihm, daß er nicht hatte schlafen können und noch einen Spaziergang gemacht hatte, um nachzudenken, und schließlich im Park gelandet war. Dort hatte der Mann ihn dann gepackt, und irgendwie war er dann davongekommen. Verona machte sich keine Notizen und hatte auch kein Bandgerät bei sich. Er nickte, hörte zu, stellte noch mehr Fragen und gab Don somit zu verstehen, worauf es ihm ankam. Es war der Howler. Dieser grauhaarige alte Mann war der Mann, der Amanda getötet hatte. Stoffproben von der Leiche paßten zu den Fetzen, die man unter den Fingernägeln des Mädchens gefunden hatte, und sein Name war Falwick, ein Ex-Sergeant der Army, der sich nicht hatte ins System einfügen können. Man hatte Dons Kampf im großen ganzen nachvollziehen können, aber wunderte sich noch über einige Dinge. Es war sicher keine erfreuliche Erinnerung, räumte Verona ein, während er sich mit dem Taschentuch übers Gesicht wischte und für einen Moment die Augen verbarg, aber sie müßten es wissen. Nur einige Dinge. Dann würde er Don seiner wohlverdienten Ruhe überlassen. Er würde ihm sogar für eine Zeitlang die Reporter vom Hals halten. Bloß – warum hatte Don den Mann so grauenvoll zusammengeschlagen? So brutal? Don wußte es nicht. »Ich fürchtete mich. Er wollte mich umbringen.«
Verona gab ein schnalzendes Geräusch von sich. Jerry Naugle, Dons Arzt, hatte gemeint, es handele sich um einen hysterischen Affekt und sei sicherlich nichts Ungewöhnliches. Statt davonzulaufen, hatte Don sich des gefundenen Astes bedient, um sich zu verteidigen. Er hatte Amanda gekannt. Furcht und Zorn und vielleicht ein Glückstreffer hatten Falwick zu Fall gebracht. Und in dem Moment kam die Hysterie ins Spiel. Adrenalin übernahm das Regiment. Luis Quintero war bei der Unfallstelle auf dem Boulevard gewesen und hatte Schreie im Park gehört. Er fand Don wenige Schritte von der Leiche entfernt am Boden kniend, den Ast noch in der Hand, Blut daran und auch an der Kleidung des Jungen. Er stand unter Schock und reagierte nicht einmal auf seinen Namen. »Ich schätze, so war’s«, sagte Don. »Yeah. Ich denke schon.« Und es konnte so gewesen sein, dachte er. Es mußte so gewesen sein. Wenn dort ein Pferd gewesen wäre, hätten sie es erwähnt; wenn der Hengst Wirklichkeit war, hätte ihn jemand sehen müssen. Er konnte es selbst getan haben, denn er erinnerte sich seiner Wut. Verona schüttelte ihm noch einmal die Hand, und Dons Augen waren tränenblind, als seine Eltern zurückkamen. Muß so gewesen sein. Hysterie und Schock, und vielleicht war er gar nicht verrückt. Er hatte in seiner Furcht nach seinem Freund gerufen, es aber alles allein geschafft. Er hatte einen Black-out gehabt und es alleine getan. Keine Zauberei. Kein gigantischer Hengst. Er hatte einen Mann getötet. Ganz alleine. Er weinte fast eine halbe Stunde lang – laut, dann stumm, und durchnäßte die Bluse seiner Mutter, während sie ihm übers Haar strich, ihm die Wange küßte und sein Vater ihm so fest die Hand hielt, daß ihm die Knöchel knackten. Er weinte, bis Dr. Naugle zurückkehrte und alle aus dem Zimmer scheuchte und sagte, Don brauche seine Ruhe, wenn er nach Hause
wolle, wo er etwas Anständiges zu essen kriegen konnte. Norman zögerte, ging aber. Joyce umarmte ihn noch einmal und flüsterte: »Ich weiß, du bist nicht Sam, Liebes. Du bist mein Donny, und ich liebe dich.« Ohne eine Tablette schlief er tief und fest bis in den Nachmittag hinein. Als er aufwachte, war der Tropf weg, und die Schwester stand mit einem Tablett voll Essen da, das er ohne etwas zu schmecken aß. Als er um einen Nachschlag bat, lachte sie und sagte, es würde reichlich geben, wenn er wieder daheim sei. Als er nach seinen Eltern fragte, kamen sie herein und erzählten ihm, unten im Besucherzimmer wartete eine ganze Horde Leute, die begierig seien, ihn zu sehen. Auch eine Gruppe Reporter. Es sei, sagte sein Vater mit verhaltener Erregung, als wäre der Präsident in der Stadt. Don freute sich und bemühte sich, es nicht zu zeigen. Er war verwirrt, denn das Bild des Hengstes schoß ihm immer noch durch den Kopf, und er war beunruhigt, denn plötzlich wollte er nur nach Hause und einen eingehenden Blick auf das Poster an seiner Wand werfen. Vielleicht war er nicht verrückt, aber er mußte es erst genau wissen. »Und weißt du noch was?« sagte seine Mutter. »Halt dich fest. Der Bürgermeister will dir heute abend beim Konzert einen Orden verleihen. Einen Orden! Kannst du das fassen?« »Mir? Mir, einen Orden?« Ein Blick zu seinem Vater brachte einen stolzen Blick, ein Blick zu seiner Mutter noch einen Kuß. »Ich kann nicht«, sagte er, während sich seine Finger ins steife Laken bohrten. »Ich kann nicht, Mom.« »Darüber reden wir später, wenn du zu Hause bist, Liebes«, sagte sie rasch und leise. »Wir schicken dir jetzt deine Freunde nach oben, während ich dir ein paar saubere Sachen besorge.«
Grünfunkeln Grünfeuer Don verstand nicht, wieso Tracey Jeans und eine alte Jacke trug, bis ihm einfiel, daß die Schule wegen Amanda ausfiel. Auch verstand er nicht, wieso Lichter mit ihr hatte kommen müssen. Nachdem sie einen Blick mit Jeff gewechselt hatte, setzte Tracey sich in den Sessel, während er sich aufs Bett hockte und nach Dons Hand griff. »Arrest-Kid schlägt wieder zu«, sagte er herzlich. »Mann, bist du irre oder was?« »Halt den Mund«, befahl Tracey sanft und beugte sich vor, um Don auf die Wange zu küssen. Ihre Hand fand die seine und hielt sie fest. »Bist du in Ordnung?« »Ich glaub’ schon«, sagte er. »Ich bin nicht verwundet worden oder so. Dein Vater – he, Vorsicht mit der Ware«, protestierte er Jeff gegenüber, entzog ihm die Hand und krümmte sich vor angeblichen Schmerzen. »Ich habe den Schwarzen Gürtel, vergiß das nicht.« »Ich vergesse nicht, daß du verrückt bist, das vergesse ich nicht.« »Das erkennt nur ein Artgenosse.« »Sehr komisch.« »Don«, sagte Tracey, »Brian meint – « »Scheiß auf Brian«, murmelte Jeff. »– mein Vater wäre derjenige gewesen, der das getan hat, nicht du. Er erzählt alle möglichen verrückten Sachen, zum Beispiel, daß er dich letzte Nacht nach Hause gescheucht hätte, ehe du überhaupt in den Park kamst.« Dann wich die Besorgnis einem Lächeln. »Aber ihm hört niemand zu.«
»Tun sie das sonst?« fragte er ohne viel Humor. Dann schluckte er den üblen Geschmack mit einer Anstrengung hinunter, die ihn aufstöhnen ließ. »Bist du okay?« fragte Jeff sogleich. »Gase«, sagte er und klopfte sich auf den Bauch. »Es liegt am Essen. Fast so schlecht wie bei Beacher.« Jeff lachte, schlug aufs Bett und blickte Tracey an. Sie kicherte, schüttelte den Kopf, und er sagte, sie solle schon erzählen. »Was?« fragte Don, dem diese Vertrautheit nicht gefiel. »Was?« »Beacher«, begann Tracey, prustete dann vor Lachen, schüttelte den Kopf und die Hand und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Er hat ein Sandwich nach dir benannt.« »Er hat was?« Jeff nickte. »Er hat ein Sandwich nach dir benannt und das serviert er allen Reportern! Hältst du das für möglich?« »Was ist es denn, ein Hamburger mit rohem Hack?« »Nein, es ist…« Jeff stand auf und lehnte sich gegen die Wand, um nicht vor Lachen umzukippen. »Es ist mit gegrilltem Käse und Speck und Salat und Zwiebeln.« »Was?« brüllte Don. »Ich mag überhaupt keinen gegrillten Käse. Was zum Teufel hat das mit alldem zu tun?« »Wer zum Teufel weiß das schon? Aber wenn du reingehst und nach einem Don-Boyd-Spezial fragst, kriegst du das.« Das Gelächter sprang wie ein Präriefeuer von einem zum anderen, erstarb, brach dann wieder los, bis ihm die Seiten schmerzten, seine Wangen zu platzen drohten und seine Lungen sich weigerten, noch mehr Luft zur Verfügung zu stellen. Jeff krümmte sich mit den Händen vorm Bauch am Boden. Tracey kugelte sich im Sessel, bis er gegen die Wand krachte und beinahe unter ihr weggerutscht wäre. Die
Schwester sah einmal herein und grinste, ehe sie ihnen bedeutete, leiser zu werden. Dr. Naugle kam vorbei und mahnte laut, sich zu beruhigen, ehe sie alle in die Zwangsjacke kämen. Don wurde als erster wieder nüchtern, kniff die tränenden Augen zusammen und stöhnte wegen des Stechens in seinen Rippen. Die Schwester kam wieder, die Arme vor der Brust gekreuzt, und signalisierte mit hochgezogener Braue das Ende des Besuchs. »Shit«, flüsterte Jeff, schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab, als Don in seinen Augen die Frage las: »Hast du ihn wirklich mit deinen bloßen Händen getötet?« »Bis später«, versprach Tracey, ehe die Frage gestellt werden konnte. »Paß auf dich auf, du Held, okay? Wir kommen später vorbei, vielleicht heute abend.« Sie küßte ihn auf die Lippen, einmal ganz flüchtig, so flüchtig, daß er es nicht schmeckte. Als sie durch die Tür waren, beobachtete er, wie Tracey weiterging und Jeff sie bei der Hand nahm und sie nach rechts zog. Sie kicherte. Er machte »schscht« und hielt seinen Kopf ganz dicht an ihrem. Ein Sandwich, dachte er, Jesus, ein Sandwich! Grünfunkeln und Grünfeuer und die Silhouette des Hengstes gegen das Weiß des Mondes »Ich würde ihn nicht heraufkommen lassen«, sagte Chris, die neben seiner Hüfte auf dem Bett hockte. »Er benimmt sich wie ein Arschloch. Kannst du dir vorstellen, daß selbst Tar ihn für einen Mistkerl hält?« Dankbar und irgendwie verlegen wandte er seine Wange ihren sich nähernden Lippen zu und war völlig perplex, als sie sein Gesicht in beide Hände nahm, zu sich drehte und ihm
einen Kuß gab, von dem er wußte, daß der Arzt ihn mißbilligen würde. Sie schien seine Verwirrung nicht zu bemerken, lehnte sich zurück und ließ die Schultern hängen, so daß sich ihr weißes Herrenhemd unter den darüber fallenden Haaren vor ihren Brüsten weit beulte. »Ich denke, er ist eifersüchtig.« »Brian?« Das konnte er nicht glauben. »Du machst wohl Scherze.« »Nun«, sagte sie und legte ihm eine Hand auf die Taille. »Er trinkt schon. Stinkt wie eine Brauerei und kann sich ausrechnen, wieso die Journalisten nicht mehr mit ihm reden wollen.« Ein Finger spielte mit dem Laken. »Er sagte…« Ein Blick, ohne aufzusehen. »Er hat zu ihnen irgendwas von Donny Duck gesagt, weißt du?« »Wundervoll«, sagte er. »Oh, mach dir deswegen keine Sorgen. Niemand schert sich drum. Mein Gott, du bist ein wahrhafter Held, weißt du das? Ich meine, du bist die Art Mann, von dem dieser Schwachkopf nur träumt.« Er blickte zum Fenster und wünschte, sie würde verschwinden. Nein, dachte er in Panik. Nein. Hör endlich mit dem Mist auf. »Nein, echt.« »Vergiß es, ja?« »Der Mann verträgt keine Komplimente«, sagte sie zur Wand. »Also…« Sie lachte leise und schob sich das Haar mit einer Bewegung hinter die Ohren, bei der sie sich ihm halb zuwandte, so daß er, wenn er wollte, sehen konnte, wie sich das Hemd über ihrer Brust spannte. »Ich glaube, du bist aber trotzdem in Ordnung.«
Die Finger wanderten ziellos umher über die Decke, und der konnte nicht umhin, danach zu schielen, sie wie hypnotisiert zu beobachten und schließlich die Beine zusammenzupressen, als das Ziel klar war. Als er sich geräuspert und sich etwas höher aufgerichtet hatte, verharrten die Finger nur kurz, ehe sie weitertanzten. »Ja, danke.« »Wie ich hörte, machen sie beim Konzert eine große Show.« »Ja, das habe ich auch gehört.« Sie lächelte ihn an und zwinkerte ihm zu. »Brian und Tar kommen nicht. Er sagt, bei dir müßte er kotzen.« »Wenn das wahr ist, komme ich früher.« Ihre Unterlippe verschwand kurz zwischen ihren Zähnen, ehe sie sich nochmals vorbeugte und ihn küßte, fest, und ihn so sehr überraschte, daß er ihre Zunge hereinließ, ehe er wußte, was geschah. Er war so verblüfft, daß er die Augen aufriß und sah, wie sie ihn anstarrte. Sie lachte ohne zurückzuweichen, und das Lachen drang tief in seinen Mund, und er betete, daß keiner seiner Eltern hereinkam, nicht jetzt. Sie brach den Kuß ab, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Hör mal, nach dem Konzert…?« Er wartete. »Falls dich deine Herrschaften lassen – Ich meine, du warst im Krankenhaus und so, sie halten es vielleicht nicht für gut, wenn du weggehst – aber, wenn sie es dir erlauben, könnten wir vielleicht anschließend zu Beacher’s gehen.« Er lachte. »Und den Don-Boyd-Spezial probieren?« »Du weißt davon?« Und sie lachte, wobei sie sanft hin und her schaukelte, während ihre Finger zu seinem Schritt wanderten, die Wölbung dort ertasteten und sich zurückzogen. »Also gut! Nehmen wir den Don-Boyd-Spezial!« Er vermochte nur zu nicken, schluckte und beobachtete das Spiel ihrer Pobacken unter der Haut ihrer Jeans.
Jesus, dachte er, o Jesus. Irgendjemand schrie, und an seinen Händen war Blut. Er schloß die Augen und sah, wie Jeff Traceys Hand nahm, sah das Versprechen in Chris’ Augen und spürte, daß jemand im Zimmer war, sich nicht bewegte und ihn beobachtete. Bitte nicht, dachte er und öffnete mit einem lautlosen Seufzer die Augen. Fleet stand am Fußende des Bettes. Sein Gesicht war zerfurcht, die Augen rotgerändert, und seine Hände umklammerten die metallene Schiene am Fußende, während er Dons Gesicht studierte. »Gott, hast du mir einen Schreck eingejagt«, sagte Don lächelnd. Fleet nickte. »He, geht’s dir gut?« »Das sollte ich dich eigentlich fragen, Mann«, antwortete Robinson. »Du hast ganze Arbeit geleistet, was?« Er zuckte die Achsel. »Glaub schon.« »Du glaubst?« »Ich kann mich nicht… Ich erinnere mich nicht an alles, genauer gesagt.« »Kein Quatsch?« »Kein Quatsch.« Fleet stieß sich vom Bett ab, und das Licht vom Fenster ließ die Hälfte seines Gesichtes im Schatten. »Danke«, sagte er dann, und seine Stimme war kaum zu vernehmen. »Danke. Für Mandy.« Don wußte nicht, was er sagen sollte oder was tun, als Fleet plötzlich ums Bett kam und sich so dicht zu ihm beugte, daß sie einander berührten. »Ich wollte diesen Bastard, Donny Boy«, sagte er, und die Worte drangen abgehackt aus seiner
Kehle. »Ich wollte diesen Arsch für mich, kannst du das verstehen?« Don nickte und fürchtete, Robinson würde ihn schlagen. Fleet nickte zurück, als hätten sie etwas geklärt, ausgetragen, und marschierte ohne ein weiteres Wort hinaus.
Dr. Naugle kam herein, gefolgt von Joyce und Norman, und ehe Don noch etwas fragen konnte, waren die Reporter im Zimmer. Sie waren ruhig, aber begierig und hatten sich offenbar vorher über die Reihenfolge der Fragen abgesprochen. Mit Hilfe seines Vaters, der neben ihm saß, tat er sein Bestes, während seine Mutter auf der anderen Seite saß. Er versuchte, die Augen nicht im Blitzlicht zusammenzukneifen oder die Beherrschung zu verlieren, als einer von ihnen meinte, Brians Story komme der Wahrheit wohl näher als der offizielle Polizeibericht. Er machte ein paar Scherze, in denen er sich über sich selbst lustig machte und über die sie höflich lachten, und ebenso höflich lehnte er ab, als ein Reporter ihn aufforderte, einen Baseball-Schläger wie einen Knüppel zu halten. Eine Reporterin erkundigte sich nach etwaigen Freundinnen und seiner Lauferei. Ein Mann im Tweedanzug schnürte ihm die Kehle zu. Und als ihn jemand fragte, wie er sich wegen des Ordens fühlte, sagte er mit leiser Stimme, er freue sich, habe ihn aber nicht verdient. Sie gingen ohne Schwierigkeiten zu machen, als Dr. Naugle die Besuchszeit beendete. Seine Eltern ließen ihn allein, damit er die Sachen anziehen konnte, die sie ihm mitgebracht hatten. Und als er sich das Hemd in die Hose stopfte, kam die Schwester mit einem Rollstuhl. »Muß ich den benutzen?« fragte er und deutete mit der einen Hand darauf, während er sich mit der anderen den
Reißverschluß zuzog und den Gürtel schloß. »Ich kann laufen.« »Wenn du’s nicht tust, muß ich dich tragen.« Er grinste und nahm den Rollstuhl. Und es wurden noch mehr Fotos im Krankenhauseingang gemacht, als er in den Kombi stieg, als der Wagen langsam anfuhr. Er wollte, daß sein Vater sich beeilte und wollte glauben, daß das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes niemandem galt außer ihm. Als sie zu Hause ankamen, stand ein Streifenwagen am Straßenrand und Sergeant Quintero auf dem Bürgersteig. Er öffnete die Tür für Joyce und nahm Dons Hand, als er ausstieg. Der Augenblick war fürchterlich, denn er wußte, der Sergeant wollte etwas sagen, über den Howler, über Tracey, doch er wurde von Joyce gerettet, die ihn ins Haus scheuchte, nachdem sie den Beamten kurz zu einer Tasse Kaffee eingeladen hatte, falls er Zeit fand. In der Diele starrte er zur Tür hinüber und ließ sich dann ins Wohnzimmer führen, wo man ihn auf dem Sofa plazierte. Ein Getue seinetwegen, das er genoß, das ihm aber nicht sehr viel bedeutete, und mit einem entschuldigenden Lächeln ließen seine Eltern ihn alleine. Er sah sich um und dachte, irgendwie müßte sich etwas verändert haben, stellte dann erschrocken fest, daß er ja nicht mal einen ganzen Tag fort gewesen war. Es beunruhigte ihn. Die Zeit hätte nicht so weit gedehnt werden dürfen, nicht so viel hineingestopft. Aber der Sessel seines Vaters stand immer noch an seinem Platz und daneben eine leere Tasse auf dem Fußboden, Ordner auf der Couch, Illustrierte auf dem Beistelltisch. Nichts hatte sich verändert, und plötzlich war er der Überzeugung, daß sich diesmal etwas hätte ändern müssen. Sie kehrten mit dampfendem Kaffee und einer Dose Soda für ihn zurück. Er grinste, als sein Vater sich laut in den Sessel
sacken ließ und die Schuhe abschüttelte, rutschte ein Stück, als seine Mutter die Ordner auf den Boden fallen ließ und sich neben ihm aufs Polster kniete. Sie sah andauernd auf die Uhr. »Also!« sagte Norman energisch und nahm einen Schluck aus der Tasse. Joyce umarmte ihn rasch und grinste ihn lausbübisch an. »Ist alles in Ordnung, Sohn?« fragte Norman feierlich. »Ich meine, wirklich in Ordnung.« »Ich denke schon«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Ein bißchen klapprig, aber ich glaube, ich bin okay.« »Gut«, sagte seine Mutter und zog sich auf ihren Platz zurück. Dann kamen die Tränen. »Gott, ich hatte so eine Angst!« »Wir beide«, sagte sein Vater. »Von dem Augenblick an, da wir feststellten, daß du weg warst, hatten wir eine Todesangst, dir könnte etwas zugestoßen sein.« Der Tonfall ließ ihn herumfahren. »Oh«, sagte er dann. »Oh, Mist.« »Genau«, sagte Norman, ernst, aber nicht unfreundlich. »Ich bin aufgestanden, um mir ein Glas Wasser zu holen, und sah deine Tür offenstehen. Du warst weg, Donald. Es war fast Mitternacht, und du warst weg. Du kannst dir nicht vorstellen, was wir gedacht haben.« »Du bist fortgelaufen«, sagte seine Mutter. »Ich meine, das haben wir gedacht – daß du fortgelaufen seist oder so.« Ihr Lächeln war schief, und ihr Lachen nur kurz. »Ich wollte die Polizei anrufen, kannst du dir das vorstellen?« »Ich konnte mir nicht denken«, sagte Norman angespannt, »wohin du gegangen sein könntest. Wir haben den Wagen genommen und angefangen, nach dir zu suchen. Wir sind durchs ganze Viertel gefahren und haben versucht herauszufinden, was zum Teufel du uns antun wolltest, warum du etwas so Dummes tun solltest.«
Don schluckte. »Ich konnte nicht schlafen«, erklärte er. »Ich bin auf einen Spaziergang rausgegangen.« »Ohne uns etwas zu sagen?« »Ihr habt geschlafen. Ich wollte euch nicht wecken.« »Du hast deine Mutter an den Rand des Wahnsinns getrieben, weißt du das?« Ich bin ein Held, dachte er. Ich bin ein Held, wißt ihr das nicht mehr? Norman sackte in seinem Sessel zusammen und schlug die Hände vors Gesicht, rieb sich die Augen, nahm sie wieder fort und schüttelte dann den Kopf. »Du hättest ermordet werden können.« Joyce begann zu weinen. »Aber, Dad – « »Du hättest ermordet werden können, verdammt noch mal!« sagte Norman. »Wir hätten mitten in der Nacht einen Anruf kriegen können, und wir hätten der Polizei erklären müssen, daß wir nicht mal wußten, daß du weggegangen warst. In unserem eigenen Haus, unser eigener Sohn, und wir wußten nicht mal, daß du weg warst! Don, wenn du das noch einmal tust, dann breche ich dir das Genick!« Don bemühte sich verzweifelt zu begreifen: Sie waren außer sich, weil sie Angst um ihn gehabt hatten, Angst, weil er ihr Sohn war. Dennoch konnte er sich seiner aufsteigenden Wut nicht erwehren, als er den Gesichtsausdruck seines Vaters sah, ein harter und mörderischer Ausdruck, der weder durch Mitleid noch Erleichterung gemildert wurde. Ein Blick zu seiner Mutter – sie trocknete sich das Gesicht mit dem Handrücken, lächelte ihm zu, ihm zu zeigen, daß er recht habe und dies nur eine Reaktion auf das Geschehene sei. Dann fiel ihr Blick auf die Zeiger der Kaminuhr, und sie streckte sich nach einem liebevollen Klaps auf sein Knie. »Ich muß mich ums Abendessen kümmern«, verkündete sie. »Es
sind nur noch ein paar Stunden bis zum Konzert und… Oh, ich werde niemals rechtzeitig fertig werden. Niemals, Norm, würde es dir etwas ausmachen, die Kartoffeln zu schälen. Ich muß anfangen – « Sie trat einen Schritt zu ihrem Mann, blickte noch einmal auf die Uhr und hastete hinaus. »Gott!« rief sie. »Bitte noch drei oder vier Hände mehr, was meinst du?« Norman lachte nachsichtig und zwinkerte seinem Sohn zu. »Es ist ein wichtiger Abend für sie, weißt du«, sagte er. »Für uns alle.« »O Gott«, flüsterte Don. »O Gott, muß ich wirklich dahin gehen?« »Fühlst du dich kräftig genug?« »Ich weiß nicht.« »Nun, wenn nicht, haben wir Verständnis.« Er strich sich mit den Fingern unters Kinn. »Trotzdem wäre es schön. Es werden eine Menge Leute da sein, die dir für das dankbar sind, was du letzte Nacht getan hast.« Die Finger ballten sich zur Faust. »Du weißt«, sagte er nachdenklich, »ich hätte nie geglaubt, um ganz ehrlich zu sein, daß so was in dir steckt.« Er warf seinem Sohn einen Blick zu, der Don von einer Antwort abhalten sollte. »Du hast mich zu Tode geängstigt, Sohn. Tu das nie wieder.« »Dad, es tut mir leid.« Er stand auf, schüttelte einen Moment der Benommenheit ab und beobachtete, wie Norman sich aus dem Sessel hievte. Sie sahen einander einige Sekunden ins Gesicht, und Don wartete auf die Umarmung. »Die Kartoffeln«, sagte Norman mit einem unbehaglichen Lachen. »Deine Mutter braucht meine Unterstützung. Komm, hilf mir.« Don folgte ihm in die Diele, machte dann aber einen Schlenker zur Treppe statt zur Küche. Als sein Vater sich umdrehte, sagte er: »Ich muß mich frisch machen, Dad.« Er
rümpfte die Nase. »Ich stinke nach Desinfektionsmittel, merkst du das? Ich bin gleich zum Essen unten, keine Sorge, ich will bloß…« Er deutete vage zum ersten Stock hinauf, und Norman nickte, lächelte breit und zog pfeifend ab. Sie hatten Angst um dich, sagte er sich, als er langsam die Stufen hinaufstieg. Sie sind wirklich stolz auf dich, wirklich, das sind sie. Im Flur zögerte er, wandte sich dann zu seinem Zimmer und blieb stehen. Er schnappte nach Luft. Hielt sich am Pfosten fest und spürte, wie sein Kiefer mahlte. »Ich bin auf den Dachboden gegangen, nachdem ich dich heute früh gesehen habe«, sagte Joyce hinter ihm mit dünner Stimme. Er machte keinen Freudensprung. Er nickte nur. Und mit einem Grinsen auf dem Gesicht trat er langsam ein, begrüßte seine Lieblinge auf den Regalen mit einer stummen Geste, auch den Panther an der Wand über seinem Kopfende und die Elefanten, die wieder die Tür einrahmten. Auf dem Luchs lag ein wenig Staub und Spinnweben lagen auf dem Falken, aber das kümmerte ihn nicht, solange sie nur dort waren, wohin sie gehörten. »Don, es tut mir leid.« Sie war ihm nicht ins Zimmer gefolgt, sondern wartete im Flur wie auf eine Einladung. Er drehte sich um und lächelte ihr zu, senkte kurz den Kopf und zuckte die Achseln. Sie erwartete etwas von ihm, ihre Hände spielten mit ihrer Haarbürste, während sie auf seine Reaktion, seine Absolution wartete. Dann blickte er zum Schreibtisch und die leere Wand darüber. »Wo ist es?« fragte er schärfer als beabsichtigt. »Dort drüben hing auch ein Poster. Wo ist es, Mom?«
»Was?« Joyce kam herein, sah sich um und nickte. »Oh, also, ich war mir mit dem nicht so sicher, daher habe ich es abgenommen und unten in den Dielenschrank gelegt. Wenn du willst, hole ich es dir.« »Aber wieso?« fragte er klagend, als sie wieder in den Flur gehen wollte. Sie blieb stehen, drehte sich um und wischte mit der Hand durch die Luft. »Nun, ich dachte, bei all diesen Tieren und so überall, ich… nun, ich dachte nicht, daß du tatsächlich ein Foto mit nichts als ein paar Bäumen haben wolltest.«
12
Das Dinner war eine hastige Angelegenheit. Joyce verbrachte mehr Zeit damit, mit den Händen zu wedeln und zu quasseln, als zu essen. Norman verlor mehr als einmal die Beherrschung bei der Bemühung, geduldig zu sein, und Don aß alles, was auf seinem Teller war, gönnte sich noch eine zweite Portion und erwog ernsthaft, eine dritte zu nehmen, um seinen plötzlichen Bärenhunger zu stillen. Sein Magen grummelte jedoch bereits vor Säure, und im linken Augenwinkel zuckte es unaufhörlich. Das waren die Nerven, stellte er fest, durch das Hineinsteigern seiner Mutter in einen fast hysterischen Zustand über ihre Teilnahme an der Eröffnungszeremonie im Park heute abend wurde es noch schlimmer, und durch das Wiederaufleben der spitzen Zunge seines Vaters wurde seine Nervosität ebenfalls aufgepeitscht. Je näher die Zeit zum Aufbruch kam, desto mürrischer wurde Norman, bis Don sich schließlich entschuldigte und nach oben lief, um sich umzuziehen. Als die Tür hinter ihm geschlossen war, schaltete er das Licht ein und zwang sich, das aus dem Schrank geholte Poster eingehender zu betrachten, das jetzt wieder an seinem Platz hing. Das galoppierende Pferd war weg. Er prüfte es nur einmal nach, konnte es sich nicht noch einmal betrachten, ohne den Hengst wieder vor sich zu sehen, wie er über das Spielfeld jagte, grüne Augen, grüne Funken, und sich auf Falwick stürzte, weil Don es befohlen hatte. Als er aus dem Fenster blickte, sah er nur die Nacht.
»Don«, rief seine Mutter, als sie an der Tür vorbeirauschte, »beeile dich, Liebes, sonst kommen wir zu spät.« Seine Finger wollten ihm den Dienst versagen, als er sich das Hemd zuknöpfte, die Schnürsenkel band und seine Haare kämmte. Seine Lippen bebten, als er sich gegen einen Anflug von winterlicher Kälte wehrte, die seine Arme steif werden und ihn sich unter der Last der Pflichten beugen ließ. Seine Augen waren mit harten Staubkörnern bedeckt, die weiße Feuerlanzen in seinen Schädel jagten, Feuer, das herumwirbelte und sich ausbreitete und die Gestalt eines Pferdes annahm. Er stürzte ins Bad und erbrach sein Essen in die Toilette. Als er auf dem mit Teppich bedeckten Boden kniete und seine Hände die Porzellanschüssel umklammerten, hörte er Joyce im Flur über irgend etwas jammern, das auf ihr Kleid gespritzt war, hörte Norman klagen, daß die Fotografen ihn wie eine Leiche aussehen lassen würden, wenn er, wie sie wünschte, den guten schwarzen Anzug trüge. Noch ein Schwall säuerliches Erbrochenes, begleitet von den dazu gehörenden bitteren Tränen, dann schnappte er nach Luft, drückte die Spülung und griff nach einem Handtuch. Von seiner Position auf dem Boden aus warf er das Frotteetuch in das Waschbecken, drehte das kalte Wasser an, wartete, zog das Handtuch heraus und klatschte es sich ins Gesicht. Sein Hemd wurde durchnäßt, aber der Schock tat ihm gut. Sein Schlund war wund, aber als er sich aufrappelte und sich eine Handvoll Wasser in den Mund kippte, blieb die erwartete Reaktion aus. Das Wasser rann hinunter, blieb unten, und er lächelte seinem Spiegelbild süffisant zu, während sein Gesicht und das Haar trieften und seine Augen voller geplatzter Äderchen waren. »Toller Held«, murmelte er. »Du siehst aus wie Tar nach einem Drei-Tage-Besäufnis.«
Rasch trocknete er sich ab, putzte sich die Zähne und kämmte sich. Wieder im Zimmer wechselte er Hemd und Hosen, fand ein Sportsakko, das er anziehen konnte, und eilte nach unten, um zu warten, während er am Wohnzimmerfenster stand und hinausstarrte. Die Straße war dunkel, und ein leichter Wind spielte mit den letzten Blättern an den Bäumen. Ein vorbeikommendes Paar schmiegte sich eng aneinander. Mr. Delfield von gegenüber schimpfte mit seinem Dackel, der die Leine nicht wollte, und als der Hund sich aus dem Halsband wand, watschelte der alte Mann hinter ihm her, eine Hand unheilvoll zur Faust geballt, während die andere die Leine wütend gegen den Bürgersteig knallte. Das rote Kabrio raste vorüber, das Top hochgezogen und mit lärmender Musik. Der Wind frischte auf, und eine Eichel rollte über den Gehweg und blieb im Schatten liegen. Wo bist du? dachte er und spürte die Kälte durch die Fensterscheibe. Es kam keine Antwort, und ihm blieb keine Zeit, die Frage zu wiederholen. Joyce war in der Diele und klimperte mit den Wagenschlüsseln, während sie nach Norman rief und Don sagte, er solle das Licht anlassen, damit sie sich bei der Rückkehr kein Bein brachen. Dann überlegte sie laut, was sie wohl vergessen haben mochte, was schiefgehen würde und was die Leute dachten, wenn die Zeremonie mit einem Bums statt mit einem Paukenschlag anfinge. Er folgte ihnen nach draußen, holte tief Luft und sah, wie Mr. Delfield mit seinem zappelnden Hund unterm Arm ins Haus zurückeilte, und nahm widerstandslos auf dem Rücksitz Platz. Im Vorüberfahren behielt er die Straßen im Auge. Sie parkten bei der Nordseite, denn vom Boulevard aus gab es keine Zutrittsmöglichkeiten, und Joyce beschwerte sich, daß man nicht früher aufgebrochen war und jetzt keinen ordentlichen Parkplatz bekam.
Am Eingangstor – die gleichen Steinsäulen wie am anderen Eingang – zögerte er, lauschte und konnte außer dem Gemurmel der geduldig wartenden Menge, dem Schlagen einer Wagentür und den Absätzen seiner Mutter, die auf dem Weg klapperten, nichts hören. Vor dem Podium hatte man Klappstühle in halbkreisförmigen Reihen aufgestellt. Helle Scheinwerfer waren auf das Orchester gerichtet, das unter schmetterndem, anschwellendem Applaus Platz nahm, während die Leute lächelnd aufgesprungen waren und Pfiffe sowie stolze Blicke für ihre Kinder hatten. An einer Seite hatte sich das Kamerateam einer Nachrichtensendung aufgebaut, und ringsum standen Journalisten, die ihre Blicke über die ersten Reihen schweifen ließen und den Bürgermeister sowie etliche Kommunalpolitiker ausmachten, die nicht aufhörten, verstohlen in die Kameras zu linsen. Don saß zwischen seinen Eltern und mochte die Art nicht, wie man ihn ansah, auf ihn zeigte und ihn mit Lächeln hochleben ließ, die ihn als ihren Besitz deklarierten. Die Quinteros saßen hinter ihm, und er verbrachte soviel Zeit wie möglich damit, Tracey zuzuflüstern, wie albern er das alles fand, während er hier ein Kopfnicken, da ein Winken erwiderte. Der Kapellmeister trat ans Pult, und das Auditorium setzte sich. Er drehte sich zu dem Mikrofon zu seiner Linken, räusperte sich und brachte damit ein quietschendes Geräusch über die Lautsprecher zustande. Er lachte nervös, und die Zuhörer lachten mit. Er bedankte sich für ihr Erscheinen und stellte Bürgermeister Garziana vor, der fünfzehn Minuten lang über die Geschichte von Ashford salbaderte, bis man in den hinteren Reihen unruhig hin und her rutschte und das Lächeln in den Vorderreihen gefror.
Dann eine kurze dramatische Pause, ehe er die Mitglieder des Ashford Day Committee vorstellte, die Direktoren der beiden High-Schools und ein Dutzend andere, die sich eingesetzt hatten, damit die Stadt gemeinsam ihren Geburtstag feiern konnte. Norman und Joyce standen nebeneinander, und Don zuckte zusammen, als sein Vater sich zur Menge wandte und winkte. Dann machte der Bürgermeister wieder eine Pause und sprach mit so leiser Stimme, daß niemand zu niesen wagte, um kein Wort zu verpassen. Er kam auf den Howler zu sprechen und stellte Don vor. Don rührte sich nicht, obschon es lauten Applaus gab. »Komm schon«, drängte Joyce ihn mit einem freundlichen Griff nach seinem Arm. Er konnte nicht. Die Kameras beobachteten ihn, der Bürgermeister strahlte, und der Polizeichef in Ausgehuniform war mit einem Päckchen aufs Podium gestiegen. »Geh, Donald«, zischte Norman und stieß ihn unsanft in die Rippen. Er konnte nicht. »Wo bist du?« Tracey beugte sich vor und zupfte ihn am Haar. »Nun geh schon, Vet«, sagte sie ihm ins Ohr. Er grinste, schüttelte seine Haare und stand auf. Seine Hände strichen über das Jackett, die Kehle wurde ihm trocken, er schritt über den Innenraum durch das gleißende Scheinwerferlicht, wobei er das Geräusch seiner Sohlen hörte. Hohl. Anschwellend. Eisen auf Eisen. Der Applaus setzte wieder ein, als er sich zwischen den Bürgermeister und den Polizeichef stellte, und er lächelte schüchtern, konnte wegen der Mauer von weißem Licht nichts erkennen.
Der Bürgermeister sagte etwas – Don hörte Amandas Namen und die darauf folgende Stille – und sagte dann noch etwas, ehe er ihm kräftig die Hand schüttelte. Und plötzlich waren direkt vor ihm Menschen, kniend, kauernd mit knipsenden Kameras. Blitzlichter explodierten und Münder bewegten sich, als sie ihn zu dieser oder jener Pose aufforderten. Eine Hydra mit weißen Federaugen, die seine eigenen tränen ließ. Der Polizeichef sagte etwas und reichte ihm das Päckchen. Seine Medaille und eine Urkunde und die herzlichen Danksagungen der Stadt, die er vor weiterem Kummer bewahrt hatte. Der Beifall dröhnte ihm in den Ohren, der Bürgermeister klopfte ihm auf den Rücken, und der Polizeichef bediente seine Hand wie einen Schwengel, ohne ihm auch nur einmal ins Gesicht zu sehen. Dann stand er vor dem Mikrofon, und es wurde still. Nur das Surren einer Kamera, nur das Schlurfen von Füßen auf Gras und das Knarren einiger Stühle. Es war still, und er benötigte einen Augenblick, um zu begreifen, daß sie von ihm eine Rede erwarteten. Sag ein Wort. Erzähl ihnen genau, wie ein Teenager einen Mörder erschlagen hat. Von irgendwo aus dem Dunkel durchbrach eine Stimme die weiße Wand: »He, Duck, erzähl ihnen, die Riesenkrähe war’s!« Er blickte ruckartig auf, suchte nach der Stimme und dem höhnischen Gelächter, das folgte. »Ich…« Er stand nicht dicht genug am Mikrofon, und nur der Bürgermeister hörte ihn ansetzen; aber das Gelächter war immer noch da und verbreitete sich über die Menge, verstärkte seine Nervosität, war zum Teil mitfühlend und versuchte ihm
einzureden, daß alles nur Begeisterung wäre und die Dankbarkeit noch nicht erloschen wäre. Aber einige lachten, und Don hielt die Samtschachtel gegen die Brust gepreßt. Der Bürgermeister tätschelte ihm den Hinterkopf und schubste ihn dichter heran. Der Kapellmeister räusperte sich. Das Gelächter beruhigte sich und erstarb, und dann herrschte wieder Ruhe. Abgesehen vom Wind, der in den Bäumen wartete. Er sah nach unten und fand seine Eltern – Joyce wischte sich eine Träne aus den Augen, und Norman machte eine kritische Miene. Hinter ihnen konnte er Tracey sehen, die sich so fest an den Arm ihres Vaters klammerte, als hielte sie ihn auf seinem Platz. »Danke«, sagte er schließlich deutlich und verließ das Podium, ehe ihn jemand aufhalten konnte. Der Beifall war kurz und flüchtig, und als er seinen Platz erreichte, zückte der Dirigent bereits seinen Taktstock. Die Polizeiwache war bis auf den diensthabenden Sergeant und den Einsatzleiter verlassen und bis auf das Büro von Thomas Verona im ersten Stock, das zur Straße hin lag. Seine Schicht war um zwölf um, aber er fühlte sich, als hätte er bereits drei hintereinander hinter sich – seine Augen waren trübe, seine Hände zittrig, und immer wenn er sich für länger als ein paar Sekunden auf etwas zu konzentrieren versuchte, begann sich die Welt langsam zu drehen, und er mußte die Augen zusammenkneifen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Drei Finger massierten seine Wange, als er zum Fenster hinausstarrte. Es waren kaum Fußgänger unterwegs, und die wenigen Autos, die an der Ampel hielten, stammten wahrscheinlich aus Nachbarstädten und waren auf der Durchfahrt nach Hause. Er knetete die andere Wange und stellte sich vor, er könnte das Konzert hören. Susan war dort,
saß bei den Quinteros, und er wünschte, er hätte dabei sein können. Es war Luis’ Abend, nicht seiner – Luis hatte den Jungen gefunden und sich um ihn gekümmert, bis die Ambulanz eintraf, Luis, der ebenfalls den Unfall zwischen einem Bus und einem Auto, das an einer Verkehrsinsel des Boulevards ins Schleudern gekommen war, geregelt hatte. Luis Quintero hatte die Achtung verdient, die ihm zuteil wurde. Er hingegen mußte für einen kranken Kollegen einspringen. Dennoch wäre es schön gewesen, neben Susan zu sitzen und ihre Hand zu halten. Verdammt viel besser, als hier herumzuhocken. »Mist«, murmelte er und wandte sich vom Fenster ab, legte seine Hände auf den überquellenden Schreibtisch und starrte auf die Akte, die vor ihm aufgeschlagen lag. Untersuchungsergebnisse von Falwicks Verletzungen. Untersuchungsergebnisse vom Blut, das man an Boyds Kleidung und Händen gefunden hatte. Ein vorläufiger Autopsiebericht, der schon am Mittag gemacht worden war, da der Fall wegen seiner Bedeutung vorrangig behandelt wurde. Er tippte mit dem Finger darauf und runzelte die Stirn. Wenn es sich auch zwangsläufig um erste Ergebnisse handelte, so waren sie doch schlüssig genug, um den Ordner zu schließen, die Akte wegzuordnen und sich anderen Dingen zuzuwenden. Aber er konnte nicht. Er sah immer noch die schmale Gestalt des Jungen im Krankenbett vor sich, sah die Furcht in seinen Augen und in der Art, wie er sprach, ohne wirklich auf die Fragen einzugehen. Da stimmte was nicht. Vom äußeren Eindruck her würde er schließen, daß der Junge etwas zu verbergen hatte, eine Bande deckte, die den pensionierten Sergeant fast in Stücke gerissen hatte – und er hatte vor den ersten Untersuchungsergebnissen noch eine andere Theorie gehabt,
die er wie schon Hunderte zuvor und Hunderte noch kommende zum Teufel gejagt hatte, als er sah, daß er irrte. Ein Teenager. Ein Opfer. Schritte auf dem Gang, und er sah gerade auf, als ein Mann im weißen Jackett an seiner geöffneten Tür vorbeiging. »He, Ice!« Die Schritte hielten inne und kehrten um. Ein kleiner Mann mit schütterem Haar lehnte sich gegen den Türpfosten und grinste. »So ein Eifer, ich halt’s nicht aus.« Verona streckte den Mittelfinger, lächelte dabei und zeigte dann damit auf einen Bogen grünes Papier. »Dieses Ding hier.« Ice Ronson reckte sich, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Schön, Tom. Ein Blatt Papier.« »Die Boyd-Sache.« »Okay, es ist ein Blatt Papier über die Boyd-Sache.« Er zückte einen Streifen Kaugummi aus seiner Brusttasche und schob ihn sich in den Mund. Machte eine Blase, die er wieder einsog, ehe sie platzte. »Und?« »Und wer hat die meiste Arbeit gemacht! Ich kann das Zeichen hier nicht erkennen.« Er drehte das Blatt um und wartete, bis Ronson durchs Zimmer gekommen war, um einen Blick darauf zu werfen. »Herrjeh, ihr Typen könnt nicht mal eure Namen schreiben außer auf Schecks.« »He, Mann, da unten im Ring geht’s ganz schön hart zu«, sagte Ronson und holte aus derselben Tasche eine Brille, aus der er den Kaugummi geholt hatte. »Wir arbeiten mit flüchtigen Chemikalien, feinsten Maßeinheiten und wissen die ganze Zeit, das Leben eines Menschen könne von – das ist doch unmöglich! Warum zum Teufel besorgst du dir keine anständige Lampe? Da kann man ja blind werden.« Er hielt das Papier gegen das Neonlicht von der Decke. »Oh, jawohl, das ist Adam. Er hat dieses Dings gemacht.«
»Adam?« Ronson seufzte angesichts der Ignoranz der Menschen, mit denen er arbeiten mußte. »Adam Hedley, kennst du den nicht? Unglaublich brillanter Chemiker, der seine Zeit als HighSchool-Lehrer verplempert. Macht gerne Polizeiarbeit, als Nebenjob, wenn er nicht gerade die Brut hütet. Weißt du, er könnte das Drei- bis Vierfache von dem machen, was er jetzt kriegt, und tut es nicht. Dämlich, wenn du mich fragst. Der Kerl ist ein Genie.« Verona nickte. »Schön für ihn. Aber selbst Einstein hat sich mal geirrt.« »Nenn mir drei Beispiele.« »Ice, hör mal, hier stimmt was nicht, okay?« Ronson spreizte die Finger. »Tom, ich sagte, Adam hat’s gemacht.« »Dann hat er was falsch gemacht.« Ronson hockte sich auf die Schreibtischkante und schüttelte den Kopf. »Ich mag mal was falsch machen, Boß, aber nicht Adam. Er ist ein Besessener. Jeder Test wird zigfach überprüft, und dann will er immer noch, daß wir dem FBI Proben schicken für den Fall, daß er ein Brett vorm Kopf hatte.« Verona lehnte sich zurück. »Nun, diesmal hatte er eins vorm Kopf.« Ronson schüttelte den Kopf. Verona behauptete das Unmögliche. Der Detective seufzte, nahm ein Taschentuch und wischte sich übers Gesicht. »Ice, lies das.« Ronson schüttelte abermals den Kopf, unmöglich. Als er gelesen hatte, schloß er den Ordner. »Interessant.« »Interessant, Scheiße!« Der Mann vom Labor schüttelte den Kopf, nahm die Brille ab und fügte dem ersten noch einen zweiten Kaugummi hinzu, machte noch eine Blase, ehe er sich zum Gehen wandte, blieb
dann in der Tür stehen und blickte sich nochmal um. »Ich denke«, sagte er, »wenn Adam recht hat, und das hat er wahrscheinlich, dann habt ihr ein Problem, Dick Tracy.« »Dito, Kumpel«, sagte Verona, ohne zu lächeln, und rollte mit seinem Stuhl ans Fenster zurück, drei Finger an der Wange, und versuchte sich Susan vorzustellen, die der Musik lauschte. Er hoffte, sie vermißte ihn ebenso wie er sie. Dann schnitt er dem schwachen Spiegelbild in der Scheibe eine Grimasse, stand auf, nahm seinen Mantel vom Haken und marschierte hinaus. Er würde einen Wagen nehmen und mit heruntergelassenem Fenster herumfahren. Und vielleicht würde er einen Grund finden, wieso man auf Falwicks Leiche keine Holzpartikel entdeckt hatte. Und warum an dem von Boyd benutzten Knüppel keine Splitter fehlten oder Dellen waren. Kurz vor dem Ausgang blieb er stehen, dachte nach und ging die beiden Treppen zum Keller hinunter, zum hinteren Raum, wo die Beweisstücke aufbewahrt wurden. Er schloß die schwere Eisentür auf, verschloß sie hinter sich und bewegte sich zwischen den Regalen. Als er den Boyd-Fall fand, holte er den Pappkarton herunter und setzte sich mit der Schachtel zwischen den Beinen auf den Boden. Es war nicht viel – Kleiderfetzen in Plastiktüten, Grasbüschel und Erde, der an beiden Enden mit Tüten geschützte Ast. Das Licht war trüb, oben nur eine vereinzelte Birne, aber er hielt den Ast dicht vor die Augen und starrte darauf, schüttelte den Kopf über die dunklen Striemen auf der grauen Rinde und am Griffende, schwang ihn einmal und erkannte, daß zwei oder drei Kollisionen mit dem Schädel eines Mannes oder der Schulter ihn zerschmettert hätten. Aber der Howler war tot, der Fall abgeschlossen, angeordnet von einem erleichterten und erfreuten Chief, der dies einem
Bürgermeister berichtet hatte, der darüber nachdachte, ob er einen Nationalfeiertag ausrufen sollte. Er stand auf, schwang den Knüppel nochmals wie einen Baseballschläger und legte ihn nieder, stellte den Karton zurück und schloß die Tür auf, ehe er das Licht ausschaltete. Der Junge hatte es nicht getan. Verdammt, der Junge hatte es nicht getan. Da hörte er es – Schritte im Gang, der hinter ihm rechts abbog. Vor ihm bogen sie links ab, zogen eine Art Kreis um den Heizungsraum herum. Er wartete und lauschte dem heißen Dampf, der gurgelnd und zischend durch die unter der niedrigen Decke entlanglaufenden Rohre strömte. »Ice?« Die Schritte kamen näher, langsam, stetig, und Verona fühlte, wie seine Hand zur unter der Achsel gehalfterten Waffe glitt. Er schalt sich wegen dieses Reflexes, hielt aber nicht inne, als er den an der Wand wachsenden Schatten sah. Er war undefinierbar und schwarz und streckte sich von der Decke bis zum Fußboden. »Ronson, verdammt noch mal, hör mit diesen Spielchen auf!« Die Schritte hielten inne, der Schatten blieb. Verona tastete mit der freien Hand hinter sich und drehte den schweren Knauf zum Beweisraum. Dreiundvierzig ist zu alt, um auf der Wache noch Halluzinationen zu haben, dachte er. Aber er wußte verdammt genau, daß das, was er sah, kein Mensch war. Die Schritte setzten wieder ein, hohl und dumpf. Der Schatten verdüsterte sich, verbreiterte sich, während die Gestalt im in der kalten Luft flirrenden Staub verborgen blieb. Die Waffe war draußen, die Tür offen und jeder Gedanke, zur Treppe zu rennen, wurde weggewischt, als der Schatten ein
Geräusch wie ein schnaubendes Tier machte, die Schritte lauter wurden und das Licht ausging. Verona stürzte in den Kellerraum, knallte die Tür hinter sich zu und verschloß sie. Die Waffe hielt er immer noch in der Hand, als er ein Ohr an die Eisentür hielt, wissend, er würde nichts hören, hoffend, er würde die Vibration spüren, falls der Eindringling versuchen sollte, sie aufzubrechen. Er wich zurück, als er spürte, daß draußen etwas stehengeblieben war, zuckte zurück, als seine Schulter gegen ein Regal stieß, und fluchte, als etwas leise an die Tür klopfte. Es gab keinen anderen Ausgang, keine Fenster, keinen Luftoder Heizungsschacht. Kein Platz auszuweichen. Er stand an die Wand gepreßt da, lauschte dem Hämmern und seinem Herzschlag zu, und fühlte den Revolver in der Hand, der warm und glitschig geworden war.
Norman sprach mit einem Reporter, Joyce unterhielt sich mit dem Bürgermeister, und Don saß steif auf seinem Platz und wünschte, sie würden alle verschwinden. Es schien, daß sie kaum die letzte Note des letzten Stückes abwarten mochten, ehe sie sich auf ihn stürzten, ihm die Hand schüttelten, ihn auf den Arm nehmen oder einfach neben ihm stehen wollten, damit sie mit aufs Foto kamen. Er hatte sich bei der ersten Gelegenheit verdrückt, aber die Quinteros waren schon fort, und als er seinen Vater auf Beacher’s ansprach, wurde ihm erklärt, daß es eine bessere Idee sei, sich eine gute Mütze voll Schlaf zu gönnen. Übernimm dich nicht, hatte Joyce ihn gewarnt, nicht so früh danach. Don hatte sich nach schwachem Protest gefügt. Eine Wolke hatte ihn eingehüllt, einschläfernd, und machte es ihm schwer, die Augen aufzuhalten, sein Lächeln beizubehalten. Es gab einen Moment, da er durch die Menge stürzen und sich auf
eigene Faust auf den Heimweg machen wollte, als er Chris’ Blick auffing, die mit einem stattlichen rotgesichtigen Mann vorbeikam, den er für ihren Vater hielt. Sie lächelte erwartungsvoll, er aber täuschte Bedauern vor und signalisierte mit einer Kopfdrehung, daß er dazu verdonnert war, heimzugehen. Sie grinste und deutete eine Schlinge um den Hals an, wobei sie die Augen weit aufriß und die Zunge aus dem Mund hängen ließ. Dann ging sie mit einem letzten Blick über die Schulter weiter, ehe sie von der Menge verschluckt wurde. Schließlich, als sich in einem Ohr ein tiefes Summen festsetzte, stand er auf und griff nach dem Arm seines Vaters. Norman wollte ihn unbesehen abschütteln, drehte sich dann um und sah das Gesicht des Jungen. Mit einer Unschlüssigkeit, die Don ihm am liebsten aus dem Gesicht geohrfeigt hätte, sprach er noch einige Worte ins Mikro, das man ihm hinhielt. Ein Lächeln, Händeschütteln, und Don wurde zu seiner Mutter geleitet. Der Bürgermeister war längst fort, an seiner Statt eine Handvoll Männer und Frauen, darunter Harry Falcone. »Joyce«, sagte Norman mit einem knappen Nicken zu dem Lehrer hin, »wir müssen uns auf den Heimweg machen.« Sie sträubte sich, und die anderen murrten über dieses ungesellige Verhalten, bis er sie am Arm faßte und auf Don zeigte. »O Gott, es tut mir leid«, sagte sie, wieselte herum und verabschiedete sich und widersprach nicht, als Falcone Don mit einem Handschlag gratulierte, Norman ebenfalls und Joyce einen Kuß gab, wobei er ihr beide Hände auf die Schultern legte. Im Kombi streifte Joyce ihre Schuhe ab und juchzte: »Whow, hast du sie gesehen?« schrie sie, als sie losfuhren. »Jesus, sie haben mir aus der Hand gefressen!« »Wie steht’s mit den anderen Mitgliedern des Komitees?« fragte Norman, nahm eine Kurve zu hastig, daß die Reifen
quietschten, bremste zu abrupt und hätte sie beinahe auf die Ladefläche eines parkenden Lastwagens geschleudert. »Himmel, sie hatten auch ihren Ruhm, keine Sorge«, grummelte sie. »Gott, einer Frau ist nicht mal ein Moment in der Sonne gegönnt.« »Du hast tolle Arbeit geleistet«, sagte Don hastig vom Rücksitz, die Medaille neben sich, die Schachtel immer noch nicht geöffnet. »Dank dir, Darling.« »Er hat recht«, stimmte Norman mit einem Anflug guter Laune zu. »Großartige Arbeit, Mrs. Boyd. Falls Sie für das Bürgermeisteramt kandidieren, möchte ich Hundefänger werden.« »Wirst du.« »Es war wirklich eine tolle Leistung.« Sie brummte: »Du hast verdammt recht«, und kaum fünf Minuten später befanden sie sich in ihrer Einfahrt. Der Wind frischte wieder auf, noch ehe sie die Tür erreicht hatten, und trieb eine Wolke von Staub, Laub und abgebrochenen Zweigen vor sich her, zerrte an einem Fensterladen und knallte ihn gegen die Hauswand. Eine Mülltonne kippte um und rollte in den Rinnstein, ein Hund jaulte, und irgendwo hinter der Straßenecke wurde irgendwessen Fenster eingedrückt. Sie stolperten lachend in die Diele, strichen sich das Haar glatt und tanzten in die Küche, wobei Joyce verkündete, sie werde den Kaffee zugunsten eines Brandys aufschieben. »Was für ein Timing«, rief sie aus der Speisekammer, während Norman drei Gläser holte. Sie lugte zwischen den Vorhängen der Hintertür hindurch, wirbelte auf den Zehenspitzen herum und präsentierte ihrem Mann die Flasche, der einschenkte. »Phantastisch! Noch eine Sekunde, und wir wären pitschnaß geworden.«
Don wollte ihr gerade erklären, daß es noch nicht regnete, als er es während eines kurzen Nachlassens des Windes anfangen hörte. Er klatschte gegen die Fenster und rauschte im Gras. Ein Schauer, der nicht länger als zehn Minuten dauern würde, aber sie hatte recht – das Timing war perfekt. Irgendwo mußte sie einen göttlichen Führer haben. Dann zwinkerte er mit den Augen, als sein Vater ihm ein warmes Glas in die Hand drückte. »Ist schon in Ordnung«, sagte Norman lachend auf seine Überraschung hin. »Es ist ein besonderer Anlaß. Ich versuche nicht, deine Grundsätze ins Wanken zu bringen.« Er räusperte sich und faßte sich ans schmale Revers. »Ich denke… auf uns.« »Verdammt wahr«, sagte Joyce grinsend und leerte ihr Glas in einem Zug. Don war vorsichtig, schnupperte zuerst an dem Alkohol und rümpfte die Nase und schluckte hart, als es beim ersten Schluck in der Kehle brannte. Er verstand nicht, wieso dieser Aufstand gemacht wurde, aber er wollte nichts ruinieren, indem er den Drink ablehnte. Als sein Glas leer war, hatte sich das Feuer in seinem Magen auf ein kleines angenehmes Glühen reduziert, ein Feuerchen im Winter, das ihn bis zum Morgengrauen wärmen würde. Er gähnte. Das Telefon läutete, und Joyce nahm ab, zeigte mit dem Daumen, daß es für sie war, und verschwand im Wohnzimmer, während sie die Schnur hinter sich her zog. Er gähnte wieder, und Norman goß sich noch einen Drink ein. »Du gehst wohl besser schlafen«, schlug sein Vater vor, während er sich die Schuhe abstreifte und sich an den Tisch setzte. »Morgen ist Schule.«
»Kriege ich nicht mal einen Tag wegen guten Betragens frei?« Er zwang sich zum Lachen, um zu zeigen, daß es nur ein Scherz sein sollte. »Außerdem hat Dr. Naugle gemeint, ich sollte mich schonen, erinnerst du dich?« Zu seinem Erstaunen erwog sein Vater den Vorschlag ernsthaft und meinte als Kompromiß, man könne darüber noch morgen früh reden. Er drängte nicht weiter; er ging geradewegs zur Treppe, hauchte seiner Mutter noch einen Kuß zu, die dies abwesend erwiderte, und rannte zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben, stürzte in sein Zimmer und fiel aufs Bett. Die Samtschatulle hielt er immer noch in der Hand. Er knipste das Licht über dem Kopfende an, zwinkerte dem Panther zu, der sich immer noch die Pfote leckte, und zog an der Lasche. »Gott«, sagte er. »Scharf.« Sie war so groß wie sein Handteller, schwer und aus Gold, und darauf sorgfältig die Worte geprägt: For Public Service, Donald Boyd. Er las die Auszeichnung für seine Dienste an der Öffentlichkeit seinen Freunden laut vor und stellte die Schatulle dann auf den Schreibtisch. Vorsichtshalber nicht zur Wand sehend, knöpfte er sein Hemd auf, schlüpfte aus Schuhen und Hose und schlug die Oberdecke auf. Er konnte das Poster hinter sich spüren, konnte die Leere fühlen, den Nebel und die Last der Bäume. Als er das Licht ausgeschaltet hatte, konnte er die Dunkelheit vorm Fenster spüren. Er gähnte so kräftig, daß ihn der Kiefer schmerzte. Er streckte sich so kräftig, daß sein Bein schmerzte. Er schloß die Augen, rollte sich auf die Seite und knuffte das Kissen zurecht, seufzte als Signal, daß der Schlaf endlich kommen möge, rollte sich auf den Bauch und fühlte den Kopfkissenbezug kühl
gegen die Hitze seiner Wangen. Sein Fuß war ins Laken gedreht. Die Decke war zu warm, das Laken alleine zu kalt. Er ging ins Bad und putzte sich den Brandy-Geschmack fort. Er stand oben an der Treppe und lauschte seinen Eltern, die sich in der Küche unterhielten; er lauschte fast eine Stunde und hörte kein einziges Mal seinen Namen. »So ist’s richtig«, sagte er leise für sich, als er in sein Zimmer zurückging. »Gute Arbeit, Sohn, wir sind wirklich stolz auf dich, mußt du wissen.« Die Lampe war immer noch ausgeschaltet, und er trat ans Fenster und beobachtete, wie der Wind unter dem ab und zu durch die Wolkendecke brechenden Mond alles durcheinanderwirbelte. Ich habe Selbstmitleid, nicht wahr? fragte er den Nachthimmel. Mom hat hart für all das geschuftet; sie will nicht, daß ich ihr das kaputtmache. Aber es war nur eine Geste, dieser Versuch, zu verstehen. Und das wußte er, wußte, daß er sich deswegen schämen sollte. Er tat es nicht. Ihm war, als habe man ihm etwas fortgenommen, ehe er es sich hatte aneignen können, als ob etwas, das einzig ihm gehörte, verloren war, als er Brians Stimme im Park spotten hörte. Er streckte die rechte Hand aus, und seine Finger streichelten den Kopf des Luchses, oben auf dem Bord, und folgten den Konturen eines Leoparden. Sein Atem beschlug die Scheibe. Die Wolkendecke schloß sich wieder, und es blieb nur ein trübes Licht von einem Haus eine Straße weiter und die Dunkelheit vor der Dunkelheit von Rasen und Bäumen. Falls du wirklich bist, dachte er, wo steckst du? Wo bist du? Und er rührte sich nicht, als er die schräg stehenden grünen Augen sah, die sich langsam öffneten und aufblickten.
13
Er schlief bis gut nach Mittag, traumlos, und nur einmal wachte er auf, als Dr. Naugle auf seinem Heimweg vom Krankenhaus vorbeikam, um seinen, wie er es nannte, berühmten Patienten zu besuchen. Ein leises nervöses Lachen – seine Mutter stand in der Tür, einen leichten Mantel über dem Arm, als wollte sie ausgehen, sich wieder um das Geschäft der Stadtfeier kümmern wollte. Don war ganz durcheinander, aus dem Trott gerissen, und er hörte kaum, wie der Mann empfahl, noch ein Tag Bettruhe würde nicht schaden, um wieder zu Kräften zu kommen, vor allem emotional. Joyce stimmte zu, und Donald hatte nichts dagegen – ihm gefiel die Schwäche in seiner Muskulatur nicht, und er mochte nicht daran denken, was passieren würde, wenn er in der Schule aufkreuzen und einen Schwächeanfall hätte oder jemanden um Hilfe beim Gehen bitten müßte, ehe der Tag noch vorüber war. Und er wollte nicht daran denken, was geschah, wenn er versehentlich das Pferd erwähnen würde. Dann schlief er wieder, und diesmal kamen die Träume. Die Schlafzimmerwände drehten sich langsam nach außen, ließen sein Bett inmitten einer Höhle mit Hohlräumen und dunklen Mauern stehen, und in einem der Hohlräume konnte er einen Schatten erkennen, der ihn hineinzog, lockte, ihn lautlos beim Namen rief und ihm immer und immer wieder erklärte, daß zum Schluß noch alles gut werden würde. Vom Schlafzimmer aus, durch dessen Fenster er wie aus der Perspektive eines träge kreisenden Falken Ashford sehen
konnte und das Pferd, das geduldig unter dem Ahornbaum im großen Garten hinter dem Haus wartete, sein Fenster beobachtete, auf das Zeichen wartete und ihm durch seine Körperhaltung erklärte, daß er sich nie wieder fürchten mußte, vor nichts und niemandem – alles, was er tun mußte, war, rufen, und sein Freund würde zur Stelle sein. Und dann schließlich im Schlafzimmer auf seinem Schreibtisch die Überbleibsel des Klumpen, der in seiner Brust explodiert war. Er trat hinzu und spürte nichts unter den Fußsohlen, blies in den Elfenbeinstaub und sah zu, wie er sich zu einem Wirbelwind, einem Tornado erhob, einem Turm in Schwarz, der sich um ihn schloß, ehe er sich wegducken konnte, drang hinter seine Augen und zeigte ihm die Gesichter der Leute beim Konzert, deren Augen vor Lachen funkelten, die Münder geöffnet wie die von Clowns, mit zeigenden Fingern, kopfschüttelnd, Nachbarn mit den Ellbogen anstoßend und mit den Füßen auf der Erde trampelnd. Zeigte ihm das gerötete Gesicht von Brian Pratt im Hintergrund, der die Hände trichterförmig vor den Mund hielt – erzähl ihnen, die Riesenkrähe war’s! – und boshaft zu Tar Boston hinübergrinste, der seine beiden Mittelfinger streckte – hey, Donald Duck – und wandte sich zu Fleet Robinson, der übellaunig den anstarrte, der ihn um seine Rache betrogen hatte; und zeigte ihm die Geschichte der Riesenkrähe, erzählt von einem Clown in schwarzen Jeans. Um zehn vor drei wachte er auf, sein Gesicht war schweißbedeckt, und er betrachtete die an der Decke gefangenen Schatten, die von der Sonne aufgesogen wurden.
Norman saß in seinem Büro, tat kaum mehr als die Routinearbeit, wartete und rechnete jeden Moment damit, daß sich die Tür öffnete. Harry würde hereinschneien, um ihm zu
verkünden, daß der Lehrerstreik, der gestern ausgerufen werden sollte, nun heute nachmittag beginnen würde. Aber anscheinend kannte Falcone die Stimmung, in der sich der Direktor befand, und hielt sich fern. Ein kleiner Gefallen, für den Norman im Geiste das Herz seiner Frau dem Himmel opferte. Falcone hatte sie geküßt. Vor Hunderten von Menschen hatte dieser Hurensohn seine Hände auf sie gelegt und sie geküßt. Die Sekretärinnen schirmten ihn von den Anrufen ab, aber es kamen noch genug durch, die schließlich seine Stimmung etwas verbesserten, bis die letzte Stunde begonnen hatte. Ein paar Reporter, die von außerhalb anriefen, etliche Vertreter der Schulbehörde und genügend Wohlmeinende, die ihn letztlich zum Lächeln brachten. Kurz darauf rief der Bürgermeister an, um vorzuschlagen, daß sie keine weitere Zeit vergeuden sollten, sondern sich, sobald es politisch opportun schien, treffen sollten, um seine Nachfolge zu besprechen. Anthony Garziana bereitete sich auf den Ruhestand vor. Er hatte Ashford ein Dutzend Jahre regiert und war müde, wartete begierig auf den Tag, an dem er seine junge Frau und die Kinder schnappen und sich in sein sorgfältig geplantes Anwesen am Golf von Mexiko außerhalb von Tampa zurückziehen konnte. Der Stellvertretende Bürgermeister beeindruckte ihn nicht; ihm gefiel Boyds Stil und die Art, wie er Donalds Tag auf sich hatte herüberstrahlen lassen. Dazu gehörte Kaltschnäuzigkeit, hatte Garziana gesagt; Don, hatte Norman ihm erklärt, hatte einen Orden und konnte großzügig sein. Fabelhaft, dachte er, als er sich erhob, um die Beine zu strecken. Jesus, warte nur, bis Joyce das hört. Sie wird hysterisch werden; sie wird das Bürgermeisterhaus noch vor Jahresende neu eingerichtet haben.
Er grinste und beschloß einen Spaziergang um die Schule herum zu machen, ging durch seine Privattür hinaus und wäre beinahe im selben Moment mit Tracey Quintero zusammengeprallt. Sie stammelte eine Entschuldigung, er faßte sie bei der Schulter und beschwichtigte sie und erklärte ihr sotto voce, wie stolz er auf sie sei. Tracey war verwirrt. »Auf mich? Ich habe überhaupt nichts gemacht.« »Du hast in der Nacht die Polizei angerufen… in jener Nacht.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Aber du hast den Mann in Panik versetzt, Tracey, du hast ihn unsicher gemacht. Du hast ihn dazu gebracht, einen Fehler zu begehen, und dafür hat er bezahlt. Dafür sind viele Eltern sehr, sehr dankbar.« Ihr Gesicht drückte eine leichte Skepsis gegenüber dieser emotionalen Regung aus. Sie errötete ganz reizend und eilte davon, während ihre Hände nichts Besseres zu tun wußten, als sich das Hemd über Bauch und Hüften glattzustreichen, bis sie die Mädchentoilette erreicht hatte und hineinhastete. Sie war alleine und stellte sich vor den wandhohen Spiegel und überprüfte ihre Frisur und ihren Rocksaum, ehe sie den Kaltwasserhahn aufdrehte und sich die Handgelenke kühlte. Sie hätte in Zoologie sein müssen, aber ein langsam zunehmendes Schwindelgefühl hatte sie veranlaßt, darum zu bitten, austreten zu dürfen, was ihr unter der Bedingung gewährt wurde, daß sie vor Ende der Stunde zurückkam. Es war albern, aber sie willigte ein, und nach der seltsamen Begegnung mit Dons Vater war sie noch verwirrter als vorher. Letzte Nacht wäre sie gerne noch nach dem Konzert im Park geblieben, aber ihr Vater bestand darauf, daß sie mit ihm nach Hause fuhr. Ihm war die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte, peinlich, und er meinte, man müsse Thomas Verona
ebenfalls würdigen. Niemand hörte auf ihn. Luis war am Tatort gewesen, während Verona auf Streife war. Luis hatte entdeckt, was Don getan hatte. In der Nacht, als der Howler starb, hatte sie ihn offen gefragt, was genau er gesehen hatte. Es gab nur Gerüchte und keine Chance, bei der ewig besetzten Telefonleitung der Boyds durchzukommen. Sie wollte es wissen. Er wollte ihr nichts sagen. Sie erinnerte ihn brutal daran, daß sie an Amandas Stelle hätte gewesen sein können, wenn sie kurz gestolpert wäre oder sich umgedreht hätte, um das Stück Rohr zu benutzen, das sie bei sich trug; sie hätte diejenige sein können, deretwegen die Schule ausfiel. Er wurde wütend, gab aber nach. Und sie glaubte ihm nicht. Selbst jetzt, als sie unnötigerweise ihre Kleider glattstrich, konnte sie sich nicht vorstellen, daß Don einen Menschen in der von ihrem Vater beschriebenen Weise totschlug. Ein Schlag über den Schädel, ja, ein oder zwei Hiebe gegen die Schläfe, klar; aber nicht so fest, daß der Mann wie zertrampelt aussah. Und als sie den Nachrichtensprecher im Fernsehen von Adrenalinrausch und hysterischer Wut reden hörte, glaubte sie es immer noch nicht. Täte sie es, würde sich Don in jemanden verwandeln, den sie nicht kannte. Jeff hatte gemeint, daß Don sich veränderte; und vielleicht tat sie das auch. Wie auch anders, wo sie jede Nacht diesen Traum hatte – der Lauf den Boulevard entlang, der Howler hinterher, Amanda, die sich wie in einem unsichtbaren Spinnennetz gefangen wand, bis der Killer sie in den Park zerrte… während Tracey zusah und schrie und mit einem Gefühl aufwachte, als hätte sie jemand getreten. Heute abend, beschloß sie, heute abend würde sie ihn anrufen, und falls sie nicht durchkäme, würde sie zu ihm hinübergehen. Gleichgültig, was ihr Vater sagte, sie würde
hingehen und mit ihm reden. Sie wußte nicht, weshalb, sie wußte nur, daß sie es tun mußte, und dies mehr als alles andere die Ursache ihrer Verwirrung war. »Ein Nervenbündel, Quintero«, erklärte sie ihrem Spiegelbild. »Es verdad, du bist ein Nervenbündel.« Nachdem sie sich in die Wangen gekniffen hatte, um etwas Farbe hineinzubringen, eilte sie auf den Gang zurück, sah sich nach beiden Seiten um und betrat das Treppenhaus. Auf dem ersten Absatz blieb sie stehen und diskutierte mit sich, ob es sich noch lohnte, in die Klasse zurückzukehren oder nicht, zuckte die Achseln und lief nach oben, trat auf den oberen Flur und wandte sich just in dem Moment nach rechts, als Brian Pratt vor ihr aus der Nische mit den Spinden auftauchte. »He!« grüßte er. »Du könntest wenigstens Hallo sagen.« »Hallo.« Sie schüttelte die Hand ab und eilte weiter, warf noch einen Blick zurück, runzelte die Stirn und dachte, falls die South morgen abend das Spiel gewann und er irgend etwas damit zu tun haben sollte, er noch unausstehlicher werden würde, als er schon war. Dann erinnerte sie sich wieder an Jeff, der ihr erzählt hatte, daß Don jeden gefragt hatte, ob sie mit Brian ginge. Der Gedanke erwärmte sie, und sie rieb sich selbstbewußt den Nacken, grinste vor sich hin und drehte sich vorm Klassenzimmer abrupt um. Brian stand immer noch da und schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht widerstehen – sie hauchte ihm einen Kuß zu, ehe sie hineinging. Brian grinste dämlich und kam auf sie zu, blieb stehen, als sie ins Klassenzimmer huschte, und zuckte die Schultern. Egal. Sie war verschossen, noch eine Eroberung von Pratt, und die war um so süßer, weil sie Ducks Mädchen war. Der Duck. Christ, beim nächsten Mal, wenn jemand diesen blöden Namen erwähnte, würde er ausspeien. Den ganzen
verdammten Tag lang hatte es geheißen, Don hat dies getan und Don hat das getan und Don hat die Welt in sieben Tagen erschaffen und als nächstes würde er übers Wasser gehen. Ein Glückstreffer bei einem verrückten alten Mann, und Don war Gott. Eine Schande, dachte er, denn sie hätten durchaus Freunde sein können. Wenn diese kleine Tunte an jenem ersten Tag nur einen Treffer gegen ihn versucht hätte, hätten sie Freunde sein können. Aber nein, diese Flasche hatte geweint und war heulend wie ein Baby ins Haus gelaufen. Und für Babys hatte Brian keine Verwendung. All dieser Schwachsinn, den er über sensible Männer las, war genau das – Schwachsinn. Heulen brachte niemanden in die National Football League. Jawohl, entschied er, es wurde Zeit, daß er sich um Tracey kümmerte, schon bald. Es war ihm scheißegal, daß sie keine Titten hatte; sie war scharf auf Duck, und mehr Gründe brauchte er nicht. Er kniff die Augen zusammen und machte plötzlich ein ganz anderes Gesicht, entschied, daß seine gute Laune ruiniert war und es keinen Sinn hatte, jetzt noch in Chemie zu gehen. Außerdem verteilte die Röhre die Hausarbeiten, und wenn er nicht da war, konnte er kein Thema kriegen, und wenn er kein Thema hatte, konnte man ihm nichts vorwerfen. Gerade jetzt gab es Wichtigeres zu tun – zum Beispiel austüfteln, wie er Fleet und Tar morgen vom Ruhm ausschloß. Ashford North war in der Vorbesprechung eingeschätzt worden, als würden sie ihre Abwehr gegen die Läufer richten, was bedeutete, daß Boston und Robinson in einem normalen Spiel einen großen Tag haben würden, während Brian lediglich eingesetzt würde, um den Gegner zu täuschen. Aber nicht dieses Mal. Morgen abend würde er ihnen zeigen, aus welchem Holz er wirklich geschnitzt war, und die Scouts der großen Zehn, von
denen er wußte, sie waren in der Stadt, würden eine Vorstellung von Ballgefühl und Laufen bekommen, wie sie sie im Leben noch nicht gesehen hatten. Mit etwas Glück würde er sie und ihre Verträge mit einem Baseball-Schlag vernichten, noch ehe die erste Halbzeit vorüber war. Siegessicher eilte er nach unten, drei Stufen auf einmal nehmend, bis er im Erdgeschoß angelangt war, wo er zum Kraftraum neben der Turnhalle strebte. Der Coach mochte da sein, aber ihm war das gleich. Brian würde ihm sagen, daß Hedley ihm ausnahmsweise frei gegeben hatte, und der Coach würde ihm glauben, ob er ihm glaubte oder nicht. Brian war sein Star. Brian machte seinen Job. Vergrätz Brian, verlier ein, zwei Spiele, und der Coach trainierte irgendwo in Kansas den Kindergarten. Das scharfe Echo seines erbarmungslosen Gelächters wurde von den Wänden zurückgeworfen, und er kurvte um die Ecke, pfeifend vor sich hin marschierend, und blieb wie angewurzelt stehen, als er Hedley am Eingang der Turnhalle lehnen sah. »Haben Sie sich zufällig verlaufen, Mr. Pratt?« fragte der kleine Mann, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Muß den Coach was fragen«, sagte Brian leichthin und versuchte, seine Ungeduld zu zügeln. »Den können Sie nach der Stunde fragen.« »Er wird nicht da sein.« Hedley zog die Oberlippe zurück. »Er wird nicht da sein? Sie meinen, er schwänzt heute seine Trainerstunden? Am Tag vor dem großen Spiel, Mr. Pratt?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben, Mr. Pratt und ich schlage vor, Sie sputen sich, nach oben zu kommen, Mr. Pratt, wenn Sie einen Schein für den Kurs und ein Diplom im Juni haben wollen.« Brian kämpfte schwer, damit sich seine Hände nicht zu Fäusten ballten. Ein Hieb. Ein Hieb, und der kleine Scheißer würde auseinanderfallen. Und ein Hieb, erinnerte ihn die
Vernunft, würde ihn die Graduierung kosten, den Einstieg in die Big Ten und seine Berufslaufbahn. Hedley, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wußte das ebenfalls, und es machte Brian noch wütender zu wissen, daß er machtlos dagegen war. »Zwei Minuten, Mr. Pratt, oder ich mache einen Vermerk fürs Schwänzen.« »Oh, Himmel, Mr. Hedley«, sagte er und spreizte bittend die Hände, »haben Sie ein Herz, hm?« Hedley starrte ihn so eindringlich an, daß Brian für einen Augenblick dachte, der Arsch hätte schließlich doch herausgefunden, wer ihm den Mist auf die Veranda gekippt hatte, und bastelte bereits an einem Alibi. Für sich selbst. Tar, der kleine Feigling, würde für sich alleine sorgen müssen. »Zwei Minuten«, wiederholte Hedley und marschierte von dannen, wobei seine Arme hin und her schwangen wie die eines Sergeant Major, der eine Parade anführte. »Kleiner Arsch«, murmelte Brian. »Verfickter kleiner Arsch.« Hedley hörte das, drehte sich aber nicht um, kam nicht aus dem Tritt. Er ging unbeirrt bis zur Treppe und machte sich auf den Weg zu seinem Klassenzimmer. Ein Fehler, sie alleine zu lassen, das wußte er. Aber Pratt war schon zu lange mit zu vielen Dingen ungeschoren davongekommen, und ihn im Gang mit der kleinen Quintero plaudern zu sehen, hatte ihn wütend gemacht. Eine kurze Anordnung, die Fragen im Arbeitsbuch zu beantworten, und er war weg, raste die Haupttreppe hinunter, kaum fähig, seinen Atem zu beruhigen, ehe der Bastard um die Ecke kam. Bastard, dachte er und nickte. Ein treffender Ausdruck. Die Mutter lebte alleine, die meiste Zeit jedenfalls, und es gab keinen Hinweis, wer für die Vaterschaft dieses Monsters verantwortlich war. Eine kurze Gedankennotiz, daß er Candy
dazu bringen müßte, die Wahrheit preiszugeben, und ein Zusammenzucken bei dem Gedanken, daß man ausgerechnet sie nach einem Geständnis würde zitieren können. Er grinste und strich sich über den Schnauzbart. Was, fragte er sich, würde Brian wohl denken, wenn er wüßte, daß sein schlapper Arsch von Chemielehrer regelmäßig seine Mutter bearbeitete; was, überlegte er weiter, würde der stiernackige Hohlkopf tun, wenn er wüßte, daß sich in Hedleys Sammlung von Magazinen im Keller eine Auswahl von Farbfotos befand, die unmißverständlich seine Mutter zeigten. Wahrscheinlich versuchen, mir den Hals umzudrehen, entschied er, oder mir die Eier abschneiden. »Mr. Hedley?« Er verdrängte das Bild von Brian Pratt mit Schaum vor dem Mund und ersetzte es durch das realistischere und erfreulichere von Chris Snowden, die mit einem Stapel Bücher im Arm vor seinem Klassenraum stand. »Mr. Hedley, Sie wollten die hier aus der Bibliothek?« Er wollte schon abstreiten, als er sich plötzlich an die kleine Recherche erinnerte, die er für die Kurzstunde morgen vornehmen mußte, und nickte. Mit einer knappen Geste des Dankes schnappte er sich die Bücher und stieß die Tür mit einem Schwung auf, als wollte er die Klasse warnen, sich nur nicht schlecht zu benehmen. Chris starrte auf seinen Rücken und riet ihm stumm, sich zum Teufel zu scheren, ehe sie sich umdrehte und wieder zurück zur Bücherei eilte, die sich am anderen Ende des Gebäudes befand. Obwohl es nervenzerfetzend langweilig war, Bücher von einem Regal zum anderen zu schleppen, sie zu Idioten zu bringen, die diesen Autor oder jene Quelle benötigten, wurde sie dadurch wenigstens für fünfundvierzig Minuten von Lehrern verschont, von Männchen, die sie auszuziehen versuchten, ohne den Finger zu rühren, und von Weibern, die
sie in die Strohkopfkategorie einreihten, zu der alle attraktiven Blondinen von Geburt an verdammt waren. Es gab ihr außerdem die heimliche Gelegenheit, ihre Hausaufgaben zu erledigen, ehe sie nach Hause ging, wodurch sie Zeit hatte, sich voll mit dem zu beschäftigen, was sie vorhatte, wenn die Schule erst vorbei war. Heute wollte sie Entschuldigungen testen, um zu sehen, welche am besten funktionieren würde, wenn sie bei den Boyds vorbeischaute. Sie hatte überlegt, in Erfahrung zu bringen, welche Themenvergabe Donald verpaßt hatte, weil er zu Hause geblieben war, und dann den Samariter zu spielen, indem sie sie nannte – aber da die Stunden morgen wegen der Rallye vor dem Spiel verkürzt waren, interessierte sich das Lehrerkollegium kaum für die Aufgaben. Dann hatte sie überlegt, ob sie nicht irgend etwas übers Sekretariat machen konnte, etwas, auf das sie noch nicht gekommen war. In gewisser Hinsicht begann der Gedanke, Don zu besuchen, sie zu erregen. Sie hatte etliche anschauliche Versionen von dem gehört, was er dem Howler angetan hatte, und selbst wenn man Abstriche davon machte, mußte es ein grauenvoller Kampf gewesen sein. Wenn man ihn so sah, glaubte man nicht, daß er auf Brians Schatten treten könnte, ohne sich ein Bein zu brechen. Der äußere Schein, dachte sie, alles nur Schein. Das war ein Gebiet, auf dem sie sich besser auskannte als sonst jemand. Wahrscheinlich würde es das Einfachste sein, hinzugehen und wahrheitsgemäß zu sagen, sie mache sich Sorgen und wolle sich erkundigen, wie Don sich fühlte. Vielleicht könnte sie ihn für eine Minute sehen und ihm die erlogenen Grüße seiner Freunde ausrichten. Manchmal, Chris, bemühst du dich zu sehr, weißt du das? Du quälst dich einfach viel zu sehr ab.
Dabei stieß sie die Schwingtüre auf, hörte einen dumpfen Laut und ein Aufstöhnen und blickte durch die schmale drahtdurchzogene Glasscheibe. Oh, du meine Güte! Sie schloß die Augen, als Mr. Boyd an der Klinke zog und herauskam. »Herrje, tut mir leid«, sagte sie und legte ihm spontan die Hand auf den Arm. »Es tut mir wirklich leid, Mr. Boyd. Ich habe nicht geguckt. Das wollte ich nicht.« Er lächelte und rieb sich die Schulter. »Ich denke, ich werd’s überleben, Chris. Machen Sie sich keine Sorgen deswegen.« »Ehrenwort, ich wollte das nicht, wirklich.« »In Ordnung, nehmen Sie’s nicht so schwer«, sagte er zu ihr und lachte leicht über ihre Verzweiflung, die schon ans Komische grenzte. »Ich bin nicht tödlich verwundet. Ich werde es überleben. Halten Sie von jetzt aber die Augen offen, ja? Ich möchte es gerne bis zum Jahresende schaffen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Sein Berühren ihrer Schulter war eher ein flüchtiges Streicheln als ein gutmütiger Klaps, und dann war er weg, ließ sie still vor sich hin fluchend zurück, weil sie die erste Gelegenheit, bei dem alten Kerl zu landen, vermasselt hatte. Sie hätte eine plötzliche Unpäßlichkeit vorschützen oder gegen ihn fallen können, doch jetzt, wo die Chance ihr fast wortwörtlich vor die Füße gefallen war, hatte sie es versaut. »Scheiße!« »Miss Snowden!« mahnte die Bibliothekarin hinter ihrem Schreibtisch. Halt die Schnauze, du alte Kuh, sagte sie stumm; ich bin jedenfalls mehr als einmal in den letzten zwanzig Jahren gebumst worden. Sie stolzierte ans Ende des Raumes, schnappte sich ein Wägelchen mit Büchern und schickte sich an, alle zurückzustellen, ehe das Ende der letzten Stunde läutete.
Zunächst mußte sie nach Hause, um sich umzuziehen, irgend etwas, was sich bei Gelegenheit leichter abstreifen ließ oder zumindest so wirkte. Und je länger sie darüber nachdachte, desto wärmer wurde ihr, desto elektrisierender wurde das Gefühl, das sich um ihre Nippel ausbreitete und sich unterhalb ihres Bauches konzentrierte. Es war verrückt, aber sie würde etwas Dummes anstellen, wenn sie nicht sofort ging. Ein Buch knallte an seinen Platz, ein zweites, vier weitere. Auf und ab, die Reihen entlang, ohne sich um die bösen Blicke zu scheren, die sie trafen, weil sie zuviel Lärm machte. Sie kümmerte sich weder um Einbände noch um Eselsohren oder das Quietschen, das der verdammte Wagen machte. Sie konnte nicht weg. Sie mußte bleiben und ein braves Mädchen sein und ihre Klassenkameraden um den Finger wickeln, bis sie alle, die zählten, genau da hatte, wo sie sie haben wollte. »He, paß doch auf, was du tust!« Sie blickte auf und sah die sommersprossige Hand von Fleet Robinson in dem Spalt, in den sie beinahe ein Geschichtsbuch hineingeknallt hätte. »Entschuldige.« »Null Problemo.« Fleet zwinkerte ihr durch die Lücke zwischen den Büchern zu. »Kommst du heute abend zum Konzert?« Sie schielte zur Bibliothekarin hinüber. »Himmel, nein.« »Ich auch nicht. Willst du ins Kino?« »Himmel, nein.« Er hob die Achseln, und sie trat ein Stück zurück. Die Einladung war bestimmt nett, aber sie konnte Mandys Geist immer noch in seinen Augen spuken sehen. Er würde von nichts anderem sprechen, das wußte sie. Und sie hatte nicht die Absicht, ihre Zeit damit zu vergeuden, die mütterliche Trösterin einer trauernden Sportskanone zu mimen.
Sie trat noch einen Schritt zurück, sah, wie Fleet warnend die Augen aufriß, aber es war zu spät. Ein Blick zurück und noch in der Bewegung nach unten, und sie trat Norman auf die Zehen. »O Gott«, stöhnte sie. Norman legte die Stirn in Falten. »Das war ein Mordanschlag, stimmt’s, Miss Snowden?« »Mr. Boyd…« Sie hob die Hände und schüttelte den Kopf, und er berührte wieder ihre Schulter, ehe er das Buch, das er wollte, vom Regal nahm und hinausging. Wobei er sich diesmal umschaute und sah, daß sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Ein Grinsen, und er marschierte weiter zu seinem Büro, wobei er sich diesmal nicht mit irgendwelchen Selbstvorwürfen aufhielt – er hatte das mit Absicht provoziert, um ihre Reaktion zu testen und die Seide unter seinen Fingern zu spüren. Alles völlig harmlos, es sei denn, sie war raffinierter, als er ihr zutraute. Ärger, Norman, warnte er sich selbst, als er durch seine Privattür eintrat; es gibt Ärger im Himalaja, wenn du nicht aufpaßt. Das Telefon läutete, und schon war er mit Tom Verona verbunden und erklärte, sein Sohn sei auf ärztliches Anraten zu Hause, schien aber alles in allem fast wieder normal zu sein. Nein, der Junge hatte nichts über den Howler gesagt, auch hatte er keine Alpträume erwähnt – wobei, fügte er hinzu, Tom sich selber nicht gut anhörte. Verona erklärte ihm, er habe letzte Nacht kaum geschlafen. Boyd fragte nach dem Bier, das sie einander versprochen hatten, und Verona willigte gerne ein, schlug morgen abend nach dem Spiel vor und verkündete, er werde den Direktor schon irgendwo im Stadium finden, wenn Norm einverstanden sei. Nachdem sie aufgelegt hatten, starrte Norm stirnrunzelnd das Telefon an. Der Mann hatte fürchterlich geklungen, und er bedauerte sogleich die
Verabredung – konnte gut sein, daß er sich auf einen Abend eingelassen hatte, an dem er sich die Eheprobleme eines anderen Mannes anhören konnte. Wundervoll, dachte er, genau das fehlt mir noch, wo ich mit meinen eigenen nicht fertig werde. Dann klingelte es zum Ende der Stunde, die Schule war aus, und nachdem er alles erledigt und den letzten Brief unterzeichnet und seiner Sekretärin auf den Tisch geworfen hatte, machte er sich auf den Heimweg. Die Sonne stand bereits zwischen den Baumwipfeln und warf skeletthafte Schatten aufs Pflaster. Er fürchtete, daß er sich nach dem Abendessen nicht drücken konnte, zur North zu fahren und sich den Schulchor anzuhören. Viel lieber hätte er die Füße hochgelegt und sich ein Football-Spiel im Fernsehen angeschaut oder einen Film im Kabelprogramm, oder wäre über die Straße zu John Delfield gegangen und hätte diesen dämlichen Dackel geärgert und ein oder vier Runden Kribbage gespielt. Oder Chris angerufen und ihr gesagt, sie solle rüberkommen und sich bumsen lassen. Vor seinem Haus blieb er stehen, rieb sich mit dem Handrücken über die Nase und sah die ersten Sterne bleich am Himmel. Ärger, mahnte er sich wieder, und rannte, als er hinter sich einen Lärm hörte, als ob etwas Großes langsam über den Asphalt käme. Es klang wie ein Pferd, aber er wollte sich nicht umdrehen: Zum einen war es unmöglich, und zum anderen erinnerte ihn das an den Schatten, den er an jenem Abend in der Pfütze gesehen hatte. Weder das eine noch das andere gehörten hierher; und keines von beiden war freundlich.
Adam Hedley starrte auf die Fotokopien des Laborberichtes, den er gestern morgen persönlich getippt hatte, und stellte mit einem lauten Stöhnen fest, daß er einen Fehler gemacht hatte. Einen unentschuldbaren Fehler. Einen Flüchtigkeitsfehler. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie so dumm danebengetroffen. Er hielt das Blatt hoch, ließ das flimmernde Licht des Projektors auf das Polizeiformular fallen, ignorierte einen Augenblick lang das Sichwinden und Stöhnen von der Leinwand, die er im Keller aufgestellt hatte, und konzentrierte sich auf die präzise Ausdrucksweise, die er gewählt hatte, um den Zustand des Knüppels zu beschreiben, mit dem Don Boyd das Leben eines Wahnsinnigen beendet hatte. Nachdem er es zum vierten Mal gelesen hatte, schaltete er den Filmprojektor aus und hastete die Kellertreppe hinauf. Es gab keinen anderen Weg; er würde zur Wache fahren müssen und sehen, daß er Ronson oder Verona finden konnte, sehen, ob einer der beiden ihm gestattete, die Tests zu wiederholen. Nachdem er sich seinen Pfeffer-und-Salz-Mantel bis zum Hals zugeknöpft hatte, blieb er kurz auf seiner Veranda stehen und rümpfte die Nase, ehe er zu seinem Wagen eilte. Der Gestank war fort, aber er roch ihn noch, fühlte ihn noch, und von daher wurde es vielleicht Zeit, sich ein anderes Zuhause zu suchen. Auch würde er den Leichenbeschauer anrufen müssen. Wenn er einen Fehler gemacht hatte, dann ebenso der Coroner. Dann glitt er hinters Steuer, drehte den Zündschlüssel um und blickte die Straße hinunter. Was er sah, war etwas, das mitten auf der Straße stand, hinten an der letzten Ecke, gerade außerhalb des Lichts der einzigen Laterne, die die ansässigen Rowdies nicht zertrümmert hatten.
Es stand da, und es wartete, und ohne daß ihm ein vernünftiger Grund eingefallen wäre, wendete Hedley auf halber Strecke und fuhr in die andere Richtung davon. Nach dem Training hob Brian mit Tar, Fleet und einem halben Dutzend anderer Team-Kameraden Gewichte bis weit nach der Abendessenszeit, nahm eine Dusche, wohl wissend, daß Gabby D’Amato zuguckte, und sprintete nach Hause, denn irgend etwas war hinter ihm, hielt schweigend mit ihm Schritt und blieb in der Finsternis verborgen.
Fleet fuhr in Tars zerbeultem Sedan nach Hause und sah dabei so oft zur Heckscheibe hinaus, daß Boston ihn beinahe hinausgeworfen hätte. Jeff entschuldigte sich an diesem Nachmittag und blieb dem Gewichtheben fern. Er wußte, Tar mußte Brian etwas über den Vortag erzählt haben, und er wollte keine Keule zwischen die Beine gedonnert kriegen. Er machte seine Hausaufgaben, räumte sein Zimmer auf, und jedesmal, wenn er an einem Fenster vorbei kam, mußte er hinausschauen, hielt nach etwas Ausschau, von dem er wußte, es war dort draußen, überlegte, ob er Tracey anrufen sollte, und fürchtete sich, den Hörer aufzunehmen. Sein Vater rief an und erklärte, daß er noch länger im Büro arbeiten müsse. Also bereitete er sich sein einsames Abendessen mit dem Rücken zum Küchenfenster. Und als er abgewaschen hatte, sah er das Telefon an, wischte sich die Hände an den Jeans ab, nahm die Brille ab und putzte sie mit seinem Hemdzipfel. Es war dämlich. Aber er wußte, wenn er jetzt den Hörer abnahm, würde nichts kommen, nicht einmal das Amtszeichen. Nicht einmal ein Störgeräusch.
Nur ein totes Nichts, wie das tote Schwarz, das er in der Straße sah, irgend etwas, dunkler als ein Schatten und heller als die Nacht.
Nach dem Abendessen versuchte Tracey, Don anzurufen. Die Leitung war besetzt, und nachdem sie sich ernsthaft ihr Vorhaben in Erinnerung gerufen hatte, machte sie ein entschlossenes Gesicht, straffte die Schultern und ging nach unten, um ihren Mantel aus dem Schrank zu holen. Ihre Mutter fragte, wo sie hin wolle, und sie erklärte es ihr; ihr Vater regte sich nicht in seinem Nickerchen auf dem Sofa. »Bitte«, sagte ihre Mutter, »warte, bis er aufwacht«, und blickte furchtsam zu dem Schlafenden hinüber. »Ich muß gehen, Mutter. Es handelt sich um eine Schulangelegenheit. Don hat etwas, was ich brauche.« Sie packte ihre Mutter beim Handgelenk und lächelte. »Ich brauch’s für morgen. Keine Sorge, mir passiert schon nichts.« »Ich weiß nicht. Vielleicht solltest du – « »Mutter, der Mann ist tot. Donald hat ihn getötet. Er ist tot. Mir passiert nichts, ehrlich.« Sie verließ das Haus, ehe das Bitten sich in einen Befehl verwandelte, und legte die ersten drei Blocks im Laufschritt zurück, falls ihre Mutter es sich anders überlegen sollte. Dann blieb sie stehen, lehnte sich gegen einen Baum, atmete ein halbes dutzendmal tief durch und schüttelte den Kopf, um sich von dem Schwindelgefühl zu befreien, das sie verspürte. Es herrschte wenig Verkehr, obwohl es gerade erst sieben war, doch es kam ihr vor wie Mitternacht. Der Bürgersteig fühlte sich frostig an, mit einem Überzug aus Eis, der krachte und sich verschob, als sie darüber ging. Und die Laternen funkelten auf ihrer Lichtbahn zur Erde, weiße Flecken von Flimmer, daß sie die Augen zukneifen und wegsehen mußte.
Es war kalt, und es war still. Bis auf die Bewegung hinter ihr. Er ist tot, sagte sie sich, während sie ihren Schritt beschleunigte; er ist tot, und Don hat ihn umgebracht, und hinter mir ist niemand. Rasch sah sie sich um; es war niemand da. Noch vier Straßen weiter, und nachher würde sie Kopfweh vortäuschen, und Mr. Boyd oder Don würden sie heimfahren. Doof, dachte sie, als sie in die Straße bog, doof, doof, doof. Warum gehst du nicht einfach nach Hause und versuchst nochmal, ihn anzurufen? Was willst du sagen? Daß du zufällig vorbeigekommen bist? Sieben Blocks von deinem Weg entfernt, und du kommst zufällig vorbei? Ach, Don, ich wollte nur wissen, ob du morgen mit zum Spiel kommst. Jeff hat mich schon gefragt, ob ich nicht hinterher auf ihn warten möchte, aber er hat Verständnis, daß ich mit dir gehe, falls du mich fragst. Bin bloß mal vorbeigekommen, das ist alles. Sie hielt sich links, zur Mitte des Häuserblocks hin, um an der nächsten Ecke rechts einzubiegen und sich den Weg hinten an der High-School vorbei zu ersparen. Und als sie den Mittelstreifen der Straße erreichte, hörte sie wieder hinter sich die Bewegung. Und das Atmen: schwer, langsam, irgend etwas Größeres als ein Mensch kam langsam in ihrem Schatten auf sie zu. Es war wie in der Schule, dasselbe Ding, das sie im unteren Korridor bemerkt hatte. Sie spürte es, ohne sich umzusehen, und ohne sich umzusehen begann sie zu laufen, den Mund nach Luft schnappend geöffnet, die Arme auf und ab bewegend, um sie voranzutreiben, während sie über den Kantstein schoß und den Bürgersteig hinunterraste und hörte, wie es ihr folgte, wobei es allerdings auf der Straße blieb. Rhythmisch, stampfend und so sehr nach einem Pferd klingend, daß sie es riskierte und nach hinten schielte, aber nur
einen gewaltigen Schatten sah, der über die Straße auf sie zu kam. Ein Keuchen – es ist ein Auto ohne eingeschaltete Scheinwerfer, Trace, sei kein Idiot – und sie wimmerte, rannte schneller und hörte das Tier – es ist ein Auto! – sich ihrem Tempo anpassen. Ein zweiter Blick, und sie stolperte. Oberhalb des Schwarzen, im Schwarzen, befanden sich zwei grüne Flecken. Und darunter, sich mit ihm bewegend, ein leuchtender Schweif von grünen Funken. Indem sie mit den Armen wild herumruderte, fand sie das Gleichgewicht wieder, aber die Straßenecke war noch zu weit entfernt. Sie würde gepackt werden. Wer auch immer sie jagte, würde sie erwischen, und sie würde jetzt sterben, weil sie in jener anderen Nacht nicht gestorben war. Sie würde von einem Schatten mit grünen Augen ermordet werden. Ein Schluchzen, bitte nicht in Panik geraten, und irgend etwas ließ sie über den Rasen eines Hauses auf eine erleuchtete weiße Tür stürzen. Drei Backsteinstufen hinauf, und ihr Finger fand die Klingel, glitt ab, fand sie wieder, drückte kräftig und anhaltend, bis die Tür aufschwang und sie Jeff beiseite schob. »Mach zu!« befahl sie, und als er nicht schnell genug reagierte, packte sie zu, knallte die Tür zu, lehnte sich dagegen und schloß die Augen. »Trace?« Beidseitig des Türrahmens befanden sich lange schmale Fenster. Jeff zog einen weißen Vorhang beiseite, sah hinaus und runzelte die Stirn. »Trace, was ist los? War jemand hinter dir her?«
14
Don rückte seinen Stuhl so zurecht, daß er aus dem Fenster sehen konnte, aber schräg zur Seite, daß es, falls jemand hereinkäme, wirkte, als würde er lernen. Nicht, daß er damit rechnete. Norman und Joyce waren beim Konzert, und ihre Rückkehr würde laut genug vonstatten gehen, um ihn notfalls vorzuwarnen. Jetzt brauchte er nur dasitzen und abzuwarten, und er stand nur einmal auf, als die Scheibe des Fensters im Lampenlicht schwarz wurde und er nur noch seinen Geist zurückstarren sah. Er eilte die Treppe hinunter, um das Licht bei der Hintertür einzuschalten, hastete wieder nach oben und legte ein Handtuch über den Lampenschirm. Der hintere Garten war jetzt weiß, das Gras wirkte plattgedrückt, die Äste der Bäume wie zerklüftete Schluchten, die der Nacht entrissen waren. Ein Wind blies, ein Sturm kam auf, und die Häuser eine Straße weiter zeichneten sich ab und zu im fernen Zucken der Blitze ab. Er wartete und grübelte über die Träume, die sich zu einem Bild formten, drehte und wendete es, verwarf es dann zugunsten eines anderen, bis er kurz vor neun zu dem Schluß gelangte, daß er nichts daran ändern konnte – das Pferd war real. Und doch nicht real. Ein Geschöpf von irgendwoher, das er nicht begriff, obwohl er erkannte, daß es da war, um ihn zu beschützen. Real. Und doch nicht real. Er sah zu seinen übrigen Freunden hinüber, die jetzt durch das Tuch über der Lampe in Orange getaucht waren, und wieder zum Fenster.
Das Pferd würde nicht zulassen, daß ihm jemand weh tat. Das Wie und Warum kam später; jetzt mußte er erst einmal mehr in Erfahrung bringen. Real oder nicht, das Pferd war ein Tier, und er mußte mehr über dieses Tier wissen und welche Kontrolle er darüber, wenn überhaupt, besaß, wie es in die neuen Regeln paßte, die er aufstellte. Seine Lippen verzogen sich zu etwas, das nicht ganz zum Lächeln geriet, als die Türklingel schrillte. Er sprang auf, eine Hand auf die Brust gedrückt. Ein Schlucken, ein gehetzter Blick durchs Zimmer und er rannte hinunter, wartete, daß es nochmals klingelte, ehe er die Tür öffnete. Es war Sergeant Verona, den Hut in der Hand und mit seltsamem Lächeln, der um Einlaß bat. »Natürlich«, sagte Don, trat zur Seite und deutete ins Wohnzimmer. »Nehmen Sie Platz.« Der Sergeant stellte ihm einige Fragen, und Don erklärte, es gehe ihm gut, noch ein wenig wackelig, aber morgen wolle er wieder zur Schule gehen. Die Zeitungen hatten ihm nicht so zu schaffen gemacht, wenn er auch einräumte, daß es ebenso beunruhigend wie schmeichelnd war, sich selber auf dem Fernsehschirm zu sehen. »Ich sehe gar nicht aus wie ein Freak«, sagte er und setzte sich in den Sessel seines Vaters. »Hast du das gedacht? Daß du wie ein Verrückter aussiehst?« Verona saß auf der Couch; sein Hut drehte sich langsam in den Händen. »Nein, eigentlich nicht. Vielleicht sehe ich wie ein Filmstar aus.« »Hauptsache, du gewöhnst dich nicht daran, mein Sohn«, sagte der Mann freundlich. »Morgen gibt’s irgendwo anders einen anderen Mord oder einen Großbrand, und dann vergessen sie dich.« »Gut«, sagte er. Und dachte: Gut, das ist wirklich gut.
»Meine Mutter und mein Vater sind drüben im – « »Ich weiß. Ich wollte dich sowieso sprechen, wenn du nichts dagegen hast. Du lernst doch nicht gerade oder so?« »Ein bißchen. Das kann aber warten.« »Der Ast«, sagte Verona. Don war verwirrt. »Der Ast?« »Der, mit dem du Falwick erschlagen hast.« Verona hörte auf, mit dem Hut zu spielen, blickte auf seinen Fuß hinunter, der auf den Teppich tippte, blickte zu Don hinüber. Seine Hand zog ein Taschentuch aus der Jackentasche, mit dem er sich übers Gesicht wischte, aber Don sah die Augen – sie ließen ihn nicht los, blinzelten nie. »Es fällt mir schwer«, gestand der Mann. »Ich weiß nicht, wie ich es am besten sagen soll, also sag ich’s einfach, okay?« »Klar.« Don war es gleichgültig; er wußte nicht, worauf der Bulle hinauswollte. »Ich denke immerzu, daß du es vielleicht nicht warst«, sagte der Mann rasch. Jedes Wort war ein Hieb, gefolgt von einem prüfenden Blick, um die Wirkung zu sehen. »Ich hatte Gelegenheit, einen Blick auf die Untersuchungsergebnisse zu werfen, und da ist was faul, Don. Irgendwas verkehrt, das ich zurechtrücken muß, sonst macht mich das noch wahnsinnig. Ich bin sicher, du kennst das. Irgendwas quält dich, und du begreifst es nicht, also grübelst und tüftelst du so lange herum, bis es für dich irgendeinen Sinn ergibt. Weißt du, wovon ich rede?« Don wußte es und doch wieder nicht; er kannte das Gefühl, war eben jetzt darin verstrickt, wußte aber nicht, worauf sich das Gespräch bezog. »Falwick«, sagte Verona. »Ich glaube nicht, daß du ihn mit dem Stock erschlagen hast.« Don zog die Brauen zusammen. »Aber das habe ich«, sagte er.
Verona nickte, als akzeptiere er diese Antwort. »Was ich denke, verstehst du, ist, daß du dort warst, alles klar. Ich meine, alles deutet darauf hin, das steht außer Frage. Aber ich glaube nicht, daß du alleine warst.« Don umklammerte die Armlehnen. »Doch, war ich«, beharrte er höflich. »Sonst war niemand dort, nur ich.« »Keine Freunde?« »Keine Freunde.« »Ich überlege, siehst du, ob sich ein paar von euch nach dem Mord an eurer Freundin zusammengetan und beschlossen haben, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Es wäre nicht das erste Mal.« Verona lächelte unschuldig. »Möglicherweise hat man dich als Köder vorgeschickt, und als Falwick sich auf dich stürzte, sind die anderen hinter den Bäumen hervorgekommen.« »Nein«, flüsterte Don. »Es ist möglich, daß man, nachdem es erledigt war, nachdem ihr den alten Mann zu Tode geprügelt habt und ihr saht, wonach es aussah, es dir überließ, den Kopf hinzuhalten oder den Ruhm zu ernten.« »Nein.« Wieder tupfte sich Verona das Gesicht ab, steckte das Taschentuch weg, nahm den Hut und warf ihn ein paarmal wie eine Münze in die Luft. »Es ist schön, daß du deine Freunde schonst, Don. Aber«, sagte er lauter, als Don sich vorbeugte um zu widersprechen, »es ist nicht schön, was ihr getan habt. Das ist Mord, Don. Die Planung und Durchführung einer solchen Tat ist Mord ersten Grades, gleichgültig wie alt ihr seid. So lautet das Gesetz. Du bist ein guter Junge, ein großartiger Bursche, und es gibt verdammt nichts, was ich tun könnte, außer dir zu erklären, daß ich dich für einen Mörder halte, dich und deine Freunde.«
»Ich werde es meinem Vater erzählen«, war alles, was ihm dazu einfiel. »Tu das«, sagte Verona, erhob sich und bedeutete Don sitzenzubleiben. »Vielleicht nehme ich den Fall wieder auf, und wir kriegen die Wahrheit heraus.« Er verließ rasch das Haus, leise, ließ den in den Kamin starrenden Don zurück, der mit einem Fuß auf den Boden klopfte. Er wußte, daß er wahrscheinlich in der Klemme steckte, wußte aber nicht, welcher Art. Es gab keine Beweise für die Anwesenheit eines anderen, ganz gewiß nicht die des Hengstes, und man würde ihn hohnlachend in die Klapsmühle schicken, wenn er zu erklären versuchte, was sich tatsächlich zugetragen hatte. Seine Lider flatterten, und er schloß die Augen. In seinem Mund war ein säuerlicher Geschmack. Dann hob er die zu Fäusten geballten Hände hoch über den Kopf und schlug sich damit auf die Beine, auf die Armlehnen, gegen die Stirn und taumelte zum Kamin, wo er gegen die Steine trat. Sie taten es wieder. Jetzt versuchte sogar schon die Polizei ihm wegzunehmen, was ihm gehörte. Er zuckte, seine Hände suchten etwas zum Werfen, fanden nichts und fuhren statt dessen in seine Hosentaschen. Steifbeinig stakste er durch den Raum, steuerte auf die Treppe zu, während er überlegte, ob es sich lohne, deswegen zu weinen oder nicht. Bestimmt war ihm danach zumute, und er drückte sich mit dem Handrücken gegen die Augen, bis er merkte, daß er wieder in Selbstmitleid versank. Niemand würde irgendwem etwas wegnehmen. Verona ganz gewiß nicht, denn er besaß nichts außer einem albernen Verdacht, daß am Tod des Killers etwas faul war. Und Don war nicht dumm – das allgemeine Interesse hatte ihn nicht so geblendet, daß er nicht bemerkt hatte, wie erleichtert
jedermann über den Tod von Falwick war. Sie würden ihn nicht wieder ausgraben wollen, nicht mal die Erinnerung an ihn, bloß weil ein Detective sich ein bißchen zurückgesetzt fühlte. Das Telefon läutete, als er auf die erste Stufe trat. Er starrte es an, überlegte, ob es sich um einen Reporter handeln mochte oder irgend jemanden für seine Eltern. Erst als es zum vierten Mal läutete, kam ihm in den Sinn, es könnte auch für ihn sein. So war es. Es war Tracey. »Bist du okay?« war das erste, was sie sagte, nachdem er sich mit Hallo gemeldet hatte. »Natürlich.« Er hockte mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden, gegenüber der Küchentür. »Wieso?« »Du hörst dich fürchterlich an.« »Danke. Das hat mir noch gefehlt.« Eine Stimme im Hintergrund veranlaßte ihn, die Stirn zu runzeln. »Ist das Jeff?« fragte er ausdruckslos. »Ist Jeff bei dir zu Hause?« »Nein«, sagte sie. »Ich bin hier. Bei ihm, meine ich.« »Oh.« »Oh«, echote sie in einem anderen Tonfall. »Warum… warum, Donald Boyd, bist du eifersüchtig?« Aus dem Stirnrunzeln wurde ein Augenverdrehen. »Wer, ich?« Sie lachte. »Mein Gott, ich glaub’s nicht.« Er schwieg. Er nahm an, sie hatte recht, und die Art, wie sie lachte, deutete an, daß er keinen Grund zur Eifersucht hatte. Aber das erklärte immer noch nicht, weshalb sie drüben war und nicht hier. Als er sie danach fragte, entstand eine Pause, und er schielte zur Tür. Dann blinzelte er. Durch die Dunkelheit in der Küche glaubte er, schwache Punkte eines grünen Lichtes zu erkennen.
Tracey sagte irgend etwas. Er blinzelte abermals und bat sie, es zu wiederholen. »Irgendjemand hat mich verfolgt«, sagte sie schließlich. »Was?« Er setzte sich kerzengerade hin und hätte beinahe die Schnur straffgezogen. »Wenn du die Wahrheit wissen möchtest, Vet, ich war auf dem Weg zu eurem Haus, als jemand mir zu folgen begann. Ich weiß nicht, wer, aber er hat mir eine Mordsangst eingejagt, und Jeffs Haus war das erste, an dem ich vorbei kam.« Durch die Ritzen der Tür ein schwaches weißes Leuchten. »Wer war das?« erkundigte er sich und hoffte, so besorgt zu klingen, wie er sich fühlte, während er sich langsam auf die Knie erhob und die Diele entlang starrte. Weißes Licht, das wie Nebel waberte. »Wie schon gesagt, ich weiß es nicht. Jeff ist nach draußen gegangen, um nachzusehen, konnte aber niemanden entdecken.« Sie schwieg einen Moment. »Ich weiß nicht. Vielleicht hab’ ich es mir eingebildet.« »Wahrscheinlich.« Oh, mein Gott, dachte er. »Wer außer Pratt ist denn schon unterwegs, hm?« Diesmal klang ihr Lachen ein wenig gezwungen. »Vermutlich hast du recht. Er ist echt sauer auf dich, mußt du wissen.« »Das habe ich gehört.« Ein gedämpftes Rums an der Tür. »Tatsächlich?« »Doch.« Seine Stimme klang, als spräche er vom Mond aus; er war erstaunt, daß sie es nicht bemerkte. »Chris hat’s mir erzählt, als sie ins Krankenhaus kam.« »Oh.« Jetzt war er an der Reihe, und er fragte sich, was er getan hatte, um mit zwei Mädchen gleichzeitig beglückt zu werden.
Dann wurde ihre Stimme wieder leiser, und er mußte sich anstrengen, um sie sagen zu hören: »Ich bin stolz auf dich, Don. Das wollte ich dir sagen, aber ich hatte im Park keine Gelegenheit dazu.« »Yeah, also…« Noch ein Rums, und in dem weißen Schimmern zwei schräge grüne Augen. »Ich würde immer noch gerne vorbeischauen, wenn es geht.« »Was?« Er war jetzt aufgesprungen, und seine Zähne gruben sich in die Unterlippe. »Tut mir leid, Trace, was hast du gesagt?« »Don, ich möchte rüberkommen. Ich… brauche dich.« Weißes Licht, grüne Augen. »Das würde ich auch gut finden«, stammelte er. »Aber das wird warten müssen, okay? Die Drachen kommen gerade nach Hause. Ich soll mich ausruhen.« »Was? Geht’s dir gut?« »Ich sagte dir doch, es geht mir gut. Ich bin bloß…« Da kam ihm ein Gedanke, die Chance, mit jemandem darüber zu sprechen, was er gesehen hatte, was er glaubte und hoffte, und daß es nicht bedeutete, er verlor den Verstand. Die Tür bebte, und er schloß die Augen und flehte Tracey im stillen an, ihm zu verzeihen. »Hör mal«, sagte er, »kann ich dich morgen in der Schule sprechen?« »Klar. Lunch?« »Okay.« »Jeff möchte wissen, ob du zum Spiel gehst.« Weg da, dachte er, bloß weg vom Telefon! »Ich weiß nicht. Ich schätze schon. Kommt wohl auf meine Mutter an. Ich muß – « Er sah das Licht verblassen, das Grün verschwinden. »Shit, da sind sie. Ich muß auflegen.«
»Lunch«, sagte sie, und er knallte den Hörer auf, ehe sie Goodbye sagen konnte, und raste in die Küche. Er wollte die Hintertür aufstoßen, tapfer ins Freie treten, zögerte aber, während er sich über die Schenkel rieb und seine Zähne wieder die Unterlippe bearbeiteten. Jetzt hinausgehen, würde wirklich bedeuten, er war verrückt; in einen leeren Garten zu starren, würde heißen… Er schloß die Augen. Seine Hände krampften sich zusammen. Sein Atem ging stoßweise. Und er öffnete die Tür.
»Oh, Jesus«, flüsterte er. »Oh… Jesus.« Es stand hinten unter dem Ahornbaum, schattengesprenkelt, ab und zu vom fernen Schein der Blitze klar umrissen. Aber er konnte es nicht im Ganzen erkennen, konnte nicht die Einzelheiten sehen – es war schwärzer als die umgebende Nacht, und wenn es sich bewegte, schimmerten und zuckten nur Teile seines Fells. Er preßte sich die Hand gegen die Stirn, um festzustellen, ob er Fieber hatte, dann trat er von der Schwelle herunter. Das Pferd nickte mit dem Kopf, wobei seine grünen Augen ihn beobachteten. Er vermochte kaum zu atmen; die Luft war zu still, und seine Beine drohten, jederzeit unter ihm nachzugeben, als er über den Rasen schritt. Grüne Augen. Beobachtend. Da hätte er gerne gelächelt oder geschrien, aber er konnte nur die Hand ausstrecken, die Fläche nach oben, während er weiterging und hoffte, der Hengst würde seine Furcht nicht wittern, würde statt dessen seiner Bewunderung für seine Größe gewiß sein, eine Kraft und für die Art, wie er den Kopf herumdrehte und ihn mit einem funkelnden Auge ansah.
»Ich – « Das Pferd wich schnaubend zurück und ließ dabei graue Rauchwolken über seinem Kopf aufsteigen. »Ich bin’s«, sagte er sanft. »Ich bin’s, Freund, ich bin’s.« Das Pferd machte einen Satz zur Seite, und um den Stamm des Ahornbaums kräuselte sich grünes Feuer, grünes Feuer, das ein schwarzes Band in die Borke sengte und flammte. Don hielt inne, schluckte, streckte abermals die Hand und machte einen einzigen Schritt vorwärts. Er befand sich kaum fünf Fuß von seiner Schnauze entfernt und wünschte sich verzweifelt, den weichen Samt zu fühlen, die Muskeln und die Knochen zu spüren. Aber als er noch einen Schritt wagte, schüttelte es den Kopf, und aus seiner Kehle drang ein tiefes unterdrücktes Grollen. »Na schön«, sagte er ruhig. »Schon gut, nur ruhig.« Bitte, lieber Gott, dachte er, bitte, lieber Gott, bin ich verrückt? Das Pferd beobachtete ihn aufmerksam, grauer Rauch und grünes Feuer, fast eine ganze Minute lang, dann senkte es den Kopf und stieß gegen Dons Arm, stupste ihn und kam näher, bis Don hinaufgreifen und seine seidige Mähne streicheln konnte, den schwarzen Samt seines Nackens. Wirkliches Fleisch, warm und kalt zugleich; zuckende Muskeln, ein scharrendes Vorderbein. Und er schämte sich nicht, als er die Tränen aufsteigen fühlte, fühlte, wie sie herunterliefen, hörte sie tropfen, obwohl er wußte, daß dies alles nicht wahr sein konnte. Er hatte den Howler nicht umgebracht; diese Kreatur war es gewesen, dieses Geschöpf, das sein Freund war. »Warum?« flüsterte er. »Warum sind sie so?« Das Pferd wich wieder zurück und ließ ihn dort alleine stehen.
Er schniefte und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, der sich auf seiner Haut wie ein kratziges Sackleinen anfühlte. »Sie hören einfach nicht auf, weißt du? Ich bin nicht Sam, ich bin nichts Besonderes. Ich bin bloß ich, und sie wollen nicht…« Er unterbrach sich, senkte den Kopf und wischte sich abermals die Augen. »Ich wünschte bloß, ich wüßte, was ich verkehrt mache, weißt du? Wenn sie mir doch sagen würden, was ich verkehrt mache, vielleicht würden sich dann ihre Regeln nicht so oft ändern, vielleicht wüßte ich dann, was los ist.« Dabei spürte er, dort draußen in der Kälte – wie der Hengst lauschte – jedes Wort, das er sagte, jede vergossene Träne wurde von den Smaragdaugen und den gespitzten Ohren registriert. Er wollte fragen, weshalb sie ihn nicht mal einen Helden sein ließen, nur dies eine Mal; er wollte fragen, weshalb er nicht weinen konnte, warum er nicht durchdrehen durfte, weshalb die Regeln besagten, er müsse wie Stein oder Holz sein. Und er wollte fragen, warum sie sich nicht entscheiden konnten, ob sie ihn ein Kind oder ein Mann sein lassen wollten. Aber das tat er nicht, denn er wußte, das Pferd hatte längst begriffen, und er hatte recht – es war da, wirklich da, und es würde ihn beschützen. Durch den Tränenschleier grinste er. Der Hengst schnaubte und hüllte sie beide in grauen Rauch, schnaubte abermals und blies den Rauch beiseite. »Es ist wahr«, sagte er mitten in einem lauten Aufseufzen. »Es ist wahr, du bist mein Freund.« Er lachte kurz und leise. »Oh, Gott, es ist wirklich wahr!« Er streckte eine Hand aus, um das weiche Maul zu streicheln, und erstarrte, als das Tier wieder sein kehliges Grollen ertönen ließ. Es wich zurück. Er wollte ihm folgen, und er wäre beinahe zurück ins Haus gestürzt, als es sich unter dem Baum
aufbäumte, Äste knickte und Laub herumwirbelte, Grünfeuer und Grünaugen und schlagende Hufe in der Luft. Hinter der Hausecke flammten Scheinwerfer auf. Oh, Mist, dachte er, verdammt, sie kommen nach Hause. Das Pferd senkte den Kopf, die Augen waren jetzt dunkel, und sein Schwanz peitschte die Beine. »Also«, sagte er nervös. »Also, ich muß jetzt gehen.« Das Pferd rührte sich nicht. Er ging rückwärts zur Küchentür, wollte lachen, wollte schreien, wollte ums Haus zur Einfahrt rennen und seinen Vater herbeizerren, ihm zeigen, zeigen, was sein Sohn vermochte. Mit einer Hand am Türknauf, blickte er über die Schulter zurück, konnte seinen Freund aber erst sehen, als er die grünen Augen entdeckt hatte. »Bitte«, sagte er. »Bitte.« Und lief hinein, kam schlitternd in der Diele zum Stehen, als er den Schlüssel im Schloß knarren und seine Eltern auf der Veranda laut sprechen hörte, nicht unbedingt streitend. Er wandte sich zur Treppe, damit man glaubte, er habe gerade hinaufgehen wollen, als seine Mutter hereinstürmte und die Tür gegen die Wand knallen ließ, während sie an ihm vorbei zur Küche strebte. Sein Vater befand sich direkt hinter ihr, langsamer, das Jackett über die Schulter geworfen und mit bleichem Gesicht. »Warum bist du noch auf?« schnauzte er, wartete aber keine Antwort ab. Er stieß den Finger Richtung Treppenhaus in die Luft und folgte seiner Ehefrau. Mir geht’s gut, dachte Don, als er die Stufen hinaufging, danke für die Nachfrage. Mir geht’s gut. »Das mach’ ich nicht mit!« sagte Joyce laut, und er blieb am Treppenabsatz stehen.
»Halte deine Stimme im Zaum! Der Junge kann dich hören.« Ein Lachen, kurz und verbittert. »Was hören? Ich bin kein Tier und nicht verblödet. Wie kommst du bloß darauf, er könnte mich hören?« »Du bist verrückt, weißt du das?« Wieder lachte sie, und Don duckte sich, eine Hand am Geländer, falls er schnell davonstürzen müßte. Türen von Küchenschränken knallten, Tassen krachten auf Untertassen, und der Hahn lief so lange, daß sie die Badewanne hätte füllen können. Als das Wasser abgedreht wurde, lachte sein Vater. »Ich schwöre bei Gott, du bist mir eine, weißt du das? Du bist mir wirklich eine.« »Nun, immerhin«, sagte Joyce. »Alles, was sie von dir wollten, war, aufstehen und einen Diener zu machen, aber du hast mit den Armen gewedelt wie ein gottverdammter Politiker! Ich dachte, als nächstes fängst du an, Babys zu küssen.« »Wäre keine üble Idee gewesen.« Ein Stuhl schrammte, ein anderer fiel krachend zu Boden. »In Ordnung«, sagte Norman müde. »In Ordnung, es tut mir leid.« »Leidtun kommt zu spät. Du und der Junge habt mich, seit diese Sache anfing, in den Hintergrund gedrängt und unter Druck gesetzt. Und jetzt reicht es mir! Ich habe mir den Arsch aufgerissen, damit du gut da stehst, und das ist der Dank dafür!« »Ich?« Ein ersticktes Geräusch – Entweder lachte Norman hinter vorgehaltener Hand oder versuchte, sich nicht zu verschlucken. »Gott, als nächstes wirst du mich bezichtigen, ich hätte Don persönlich losgeschickt, um diesen verrückten Bastard umzubringen.« »Ich würde es nicht für möglich halten.«
Das Schweigen war kühl, und Don schlang seinen freien Arm um die Brust. »Das war ganz beschissen von dir, Joyce.« Wieder Schweigen. »Ich weiß«, sagte sie schließlich doch ohne eine Spur von Entschuldigung in ihrer Stimme. »Ich…« Sie begann zu weinen, Norman fluchte, und das Wasser wurde wieder angedreht. Don wartete nicht darauf, noch mehr zu hören. Er stieg langsam die restlichen Stufen hinauf, schlurfte den Flur entlang und stieß die Tür zu seinem Zimmer auf. Er riß das Handtuch vom Lampenschirm und ließ es auf den Schreibtisch fallen. Seine Schuhe wurden unters Bett gekickt, das Hemd auf den Boden geworfen. Einen Augenblick lang stand er am Fenster und schaute auf den Baum hinunter. Es war nichts zu sehen, das Pferd war fort, aber seinen Verstand stellte er nicht mehr länger in Frage. Als er sich schließlich aufs Bett fallen ließ, warf er sich absichtlich mit voller Wucht nach hinten, so daß sein Kopf gegen die Wand stoßen mußte. Vielleicht hören sie das, dachte er. Vielleicht glauben sie, ich habe einen Rückfall; kommen nach oben gestürzt und wollen sehen, was los ist. Oder, dachte er, sie rufen erst die Zeitungen an und kommen dann herauf, um nachzugucken, ob ich schon tot bin. Und vielleicht, dachte er mit kaltem, erbarmungslosen Grinsen, nehme ich sie beide mit nach draußen und zeige ihnen mein neues Kuscheltier. So lag er fast eine Stunde da, ehe er blinzelte und seinen Vater in der Tür stehen sah. »Bist du okay, Sohn?« »Natürlich, denke bloß nach.« »Du solltest jetzt wohl das Licht löschen. Morgen wird es nicht eben normal in der Schule für dich hergehen.«
Er nickte und schwang die Beine über die Bettkante. »Dad?« Norman versteifte sich und hob die Brauen. »Glaubst du – « Ein unvermitteltes schwach hörbares Splittern von Glas ließ ihn innehalten, aufspringen und neben seinem Vater in den Korridor stürzen. Joyce kam aus dem Elternschlafzimmer, einen Bademantel locker übergeworfen. »Was?« fragte sie nervös. Noch ein Scheppern und das Geräusch von schweren Schlägen auf Metall. »Verdammt, der Wagen!« sagte Norman und rannte zur Treppe, Don direkt dahinter, obwohl seine Mutter ihm zurief, er solle bleiben, wo er war. Die Vordertür war verriegelt, und Norman mußte mit dem Riegel herumfummeln, ehe er sie aufstoßen und das Licht der Veranda einschalten konnte. Don blieb ihm auf den Fersen und ignorierte die kalte Luft auf seiner Brust. Die Lampe befand sich direkt oberhalb seines Kopfes, und er hielt schützend eine Hand vor die Augen, blickte forschend über den Rasen, ehe er zur Einfahrt hinübersah. »O Gott«, flüsterte er. Norman stieß ihn beiseite und sprang über die Stufen, raste über den Gehweg, bis er am Kühler des Kombi ankam. Die Windschutzscheibe war zerbrochen, in der Motorhaube befand sich eine Beule, und unmittelbar vor der Stoßstange lag Dons Fahrrad – der Lenker verbogen, das Vorderrad zerbrochen, die Hälfte der Speichen wie Antennen herumstakend, wo sie aus dem Rahmen gerissen waren. Norman wirbelte herum und raste ums Haus, während Don nur in die Einfahrt stolpern und sich neben sein Fahrrad knien konnte, eine Hand ausstreckte, um es zu berühren, sie wieder zurückzog, es nochmals anfaßte und über die Spuren der Zerstörung fuhr. Als er sich erhob und über das Hinterrad
beugte, ließ ihn aufblitzendes Metall innehalten, sich bücken und ein unter den verbeulten Rahmen geklemmtes, ledernes rotes Schlüsseletui hervorziehen. »Don?« rief seine Mutter von der Haustür her. »Bist du okay?« »Ja, bestens«, sagte er benommen, steckte das Etui in die Tasche und hörte sie aufstöhnen, als sie den Schaden sah. »Oh, mein Gott, sieh dir das an«, sagte sie, als Norman schwer keuchend um die hintere Hausecke kam, sich mit einer Hand die Seite haltend. Sie streckte eine zitternde Hand aus, die er ergriff, um sie an sich zu ziehen, während er den Blick über die verlassene Straße schweifen ließ. »Wer?« fragte sie. »Wie zum Teufel soll ich das wissen?« meinte er. »Verdammt, die Reparatur wird ein Vermögen kosten.« Joyce trat einen Schritt zur Seite, und das Glas knirschte unter ihrem Pantoffel. »Ich hole einen Besen. Das Zeug darf nicht liegenbleiben. Es ist zu gefährlich. Es könnte sich jemand verletzen.« »Natürlich.« »Hör mal, du solltest besser die Polizei anrufen. Don? Hol mal den Besen aus der Garage, ja? Hilf mir ein bißchen.« Don sah über die Schulter. Keiner der beiden blickte zu ihm hinüber: Norman starrte auf die Eindellung in seiner Motorhaube und rieb seiner Frau dabei abwesend über den Rücken. Joyce versuchte, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Und als sie schließlich seinen Blick bemerkte, deutete sie zur Garage, zog Norman herum und schob ihn sanft zum Haus. Don richtete sich auf, klopfte sich die Jeans ab und griff nach dem Lenker, um das Rad fortzuschieben. »Laß das«, sagte Joyce. »Vielleicht sind da Fingerabdrücke dran oder so.«
Er versteifte sich, holte den Besen, gab ihn ihr und kehrte ins Haus zurück, wo er seinen Vater der Polizei den Vorfall schildern hörte. Nachdem er aufgelegt hatte, befahl er Don, sich ein Hemd überzuziehen, ehe die Polizei eintraf. Man weiß nie, meinte er. Es konnten immer noch ein paar Reporter herumlungern, und wenn sie Wind von der Geschichte bekamen, würde der Zirkus wieder losgehen. »Verflucht«, sagte er, als er nach draußen eilte. »Bei meinem Glück wird es wahrscheinlich morgen regnen.« Die Polizei kam und war binnen einer Stunde wieder fort. Sie sahen sich gründlich im Garten um, konnten aber nichts finden, nicht einen Hinweis. Man gab den Boyds zu verstehen, daß sie in solchen Fällen recht machtlos waren, wenn es keine Zeugen gab oder jemand sich dazu bekannte. Es waren keine Zuschauer erschienen, denn der Streifenwagen war ohne Blaulicht vorgefahren. Niemand konnte der Unterredung lauschen, denn Joyce hatte sie gebeten, leise zu sprechen oder zu flüstern. Und sie stellten keine Fragen an Don, nachdem Norman ihnen erklärt hatte, der Junge sei mit ihm zusammen im Haus gewesen, als sich der Vorfall ereignete. Nachdem sie gegangen waren, zerrte Don sein Fahrrad in einen Winkel der Garage und starrte zur Straße und zu seinem Vater hinüber, der mit einem Handfeger die Splitter vom Vordersitz fegte. Joyce war drinnen und kochte Kaffee. Ein Knopfdruck, und die Garagentür senkte sich. Norman blickte auf und schenkte seinem Sohn ein bekümmertes Lächeln. »Mal gewinnt man, mal verliert man, stimmt’s?« meinte er. »Es tut mir leid wegen des Rades.« »Ja.« Don fröstelte bei einem Windstoß und wollte ins Haus gehen, als er plötzlich etwas Weißes in den Sträuchern vorm Eingang am Ende der Einfahrt bemerkte. Er beugte sich dichter heran und pflückte eine Feder von einem Zweig.
»Dad?« Norman grunzte. Er fand noch eine neben dem Strauch und zwei weitere unten auf der Erde. »He, Dad?« »Gleich, ja? Ich will mich an dem Zeug hier nicht schneiden.« Don teilte die Zweige, und sein Mund öffnete sich zu einem stummen Aufstöhnen. Dort, unter dem Busch, lag ein toter Vogel, den Hals umgedreht, die Augen geschlossen und das Gefieder blutbesudelt. »Dad, sieh doch!« Norman stieß ihn beiseite, kniete sich nieder und würgte beim Anblick der Verstümmelung und stieß das Ding dann mit der Schuhspitze an. »Das ist eine gottverdammte Ente.«
15
Fabelhaft, dachte Tar, als er Mr. Boyd die Überreste des Vogels zusammenkehren und mit angewiderter Miene in einen Plastikmüllsack werfen sah. Don stand in der Einfahrt, die Hände in den Taschen, und starrte auf die Straße. Einen Augenblick fürchtete Tar, Donald Duck habe ihn bemerkt, aber es gab keinen aufgeregten Schrei. Er hörte einen Mülltonnendeckel krachen, dann kam der Direktor aus der Garage und legte Donald Duck den Arm um die. Schultern. So gingen sie gemeinsam ins Haus, die Tür fiel zu, und das Außenlicht verlosch. »Großartig«, flüsterte Tar, ging in die Hocke und wippte auf den Fersen. »Fabelhaft!« Er war hinter den unbenutzten Geräteschuppen des alten Delfield gelaufen, als die Bullen endlich eintrafen, und hatte sich zwischen einen Stapel leerer Orangenkisten und der Rückwand gezwängt. Sie hatten nicht richtig hingeschaut, ihn übersehen, und als er sicher war, sie würden nicht wiederkommen, war er vors Haus geschlichen und hatte sich in eine Ecke des Vorgartens gedrückt, von der Hecke und einer beschnittenen Eiche abgeschirmt am Straßenrand. Von dort hatte er alles beobachten können, wobei er nur bedauerte, nicht zu hören, was die beiden Bastarde sprachen. Er wartete noch fünf Minuten feixend und grinsend, ehe er sich durch die Büsche in die benachbarte Einfahrt drängte. Er ging langsam, falls ihn jemand beobachtete, den BaseballSchläger eng gegen sein Bein haltend und die Football-Jacke mit der Innenseite nach außen gewendet. Sobald er an der nächsten Ecke angelangt war, ließ er den Schläger in den Gully
fallen und drehte die Jacke wieder nach außen, dann setzte er zum Dauerlauf an, den Mund zu einem stummen Gelächter geöffnet. Er konnte es gar nicht erwarten heimzukommen und Brian anzurufen, konnte nicht erwarten, das Arschloch wissen zu lassen, daß Tar Boston nicht bloß ein hirnloser Muskelprotz war. Die School Street lag verlassen da, und das Pflaster fühlte sich unter seinen Turnschuhen wie dünnes Eis an. Als er die nächste Straßenecke erreichte, konnte er die schneidende Nachtluft auf seinen Wangen und in seinen Lungen spüren, und er schniefte, damit seine Nase nicht lief. Jetzt wünschte er, er hätte das Auto, den zehn Jahre alten Schrotthaufen, den sein Vater ihm zu seinem Geburtstag gekauft hatte. Er lief schlecht, wenn er überhaupt geruhte anzuspringen, aber die Heizung funktionierte, und die könnte er jetzt gebrauchen. Oder den verhältnismäßigen Luxus von Pratts Wagen. Er verlangsamte sein Tempo und runzelte die Stirn. Hirnloser Muskelprotz – so hatte Pratt ihn heute beim Training genannt – hirnloser Muskelprotz, geh mir bloß aus dem Weg, ehe ich dich über den Haufen renne. Ihm war irgendeine Laus über die Leber gelaufen, soviel stand fest, denn er hatte mit ihm und Fleet kaum zwei Worte gewechselt. Als wäre er sauer gewesen oder so, und Tar hatte ihn nicht dazu bewegen können, ihm zu sagen, was los war. Fleet benahm sich fast genauso schlimm, wenn auch anders. Der Spinner verhielt sich, als liefe er vor den Bullen oder irgendwas davon, wie er sich auf dem Heimweg immer umschaute. Tar war dabei so verdammt nervös geworden, daß er beinahe einen Bus gestreift hätte. Aber auch Fleet mochte nichts sagen. Und erst zu Hause beim Abendessen kam Tar die Idee, mit der er die Rechnung zwischen sich und Duck begleichen konnte, der ihn und Pratt bezichtigt hatte, die Scheiße auf
Hedleys Veranda gekippt zu haben. Ein wirklich phantastischer Einfall. Mit einem Schlag gleichzeitig den Scheißdirex und den Duck zu treffen. Irre. Und es würde Pratt das Maul stopfen, von wegen Tar mußte es vermasselt haben, als der Duck ungeschorener davonkam als geplant. Die Idee mit dem toten Federvieh kam ihm, als er auf dem Heimweg im Schaufenster eines Metzgers eine Gans sah. Von da an lag es nahe, bei einem Freund vorbeizuschauen, der zwei kleine Brüder hatte, die vier Enten in einem Verschlag hinten im Garten hielten. Er hatte den Vogel nicht mal ansehen müssen; er hatte ihn mit einem Stock erschlagen, während er in dem Sack zappelte, den Tar ihm über den Kopf gezogen hatte. Dann hatte er ihm den Hals umgedreht. Kein Blutspritzer. Selbst als er den Kadaver ins Gebüsch geworfen hatte, hatte er nicht hingeschaut. Mußte er nicht. Das Schwierigste war das Auto. Er wußte, ihm würde nur Zeit für wenige wuchtige Schläge bleiben, ehe ihn jemand hörte. Und nachdem er sich um das Fahrrad gekümmert hatte, sprang er auf die Motorhaube. Er stellte sich vor, die Windschutzscheibe wäre Boyds Gesicht und die Haube Dons Brust, und das war großartig gewesen! Und ein Jammer, daß Brian nicht dabei sein konnte. Aber der benahm sich wie ein Arschloch, als ob die Profis ihn gleich nach dem Spiel auf ihren verdammten Schultern zur Super Bowl tragen würden, verflucht. Er bog um die nächste Ecke und eilte nach Hause, wobei er die Luft in tiefen, wohltuenden Zügen einatmete. So würde es morgen abend sein. Er würde die North auseinandernehmen, und diese Ärsche würden gar nicht begreifen, was sie getroffen hatte. Es würde toll werden, und Brian würde ihm Respekt zollen müssen. Das stand fest. Hinter ihm bewegte sich irgend etwas.
Er drehte sich um und ging einige Schritte zurück, sah aber nur einen freien Bürgersteig, die in der frostigen Nachtluft verschwimmenden Außenbeleuchtungen und die Autos am Straßenrand, stumm und schwarz. Er drehte sich wieder um und stöhnte, als er den verbeulten Pickup in der Einfahrt erkannte, der sein eigenes Auto blockierte – sein Alter war heute schon früh von der Fabrik zurück. Das hieß, er mußte sich mit dem Geseire und Gefasel, was für ein toller Hecht der alte Furz zu seiner Zeit gewesen war, herumärgern, der beste Quarterback im Staat, vergiß das bloß nicht, Junge, wenn ich dir die verdammt besten Ratschläge deines Lebens gebe. Das Dumme war nur, es lag zwanzig Jahre zurück, daß man so spielte, und der Trottel kapierte das nicht. Er begriff nicht, wie seine Mutter sich damit all die Jahre hatte herumschlagen können. Er hatte das ganz bestimmt nicht vor. Sobald er sein Diplom in der Tasche hatte, war er verschwunden. Raus aus diesem Haus und dieser Stadt und aus diesem ganzen elenden Bundesstaat, wenn möglich. Irgend etwas bewegte sich. Mist, dachte er verärgert, weil der bloße Gedanke an seinen Vater ihm die gute Laune vermiesen konnte. Mist! Er blickte sich um, und seine Miene warnte jeden, heute abend irgendwas zu sagen, zu tun oder auch nur falsch zu atmen. Und er ging mit gesenktem und abgewandten Kopf an seinem Haus vorüber, spuckte auf den Pickup, zog den Reißverschluß seiner Jacke hoch und rammte die Hände in die Hosentaschen. Er würde zu Brian rübergehen, statt ihn anzurufen. Die Geschichte würde sowieso besser wirken, wenn er sie leibhaftig erzählte. Irgend etwas… Er hielt am Boulevard, sah nach rechts und links und wirbelte dann herum, die Fäuste einsatzbereit. Es war nichts da.
Aber irgend etwas bewegte sich. »Du!« rief er. Eine Außenleuchte blinkte auf, und er konnte seinen Atem aus seinem Mund wehen sehen. Mit leicht schräggelegtem Kopf trat er von der Bordsteinkante und musterte neugierig die Gegend, lugte unter die Bäume, die sich über dem schwarzen Pflaster erhoben und einen fast abgrundtiefen schwarzen Tunnel bildeten. Er versuchte sich an Dons betroffenes Gesicht zu erinnern, als er den toten Vogel gefunden, sein Fahrrad entdeckt hatte, denn plötzlich und unerklärlicherweise schien alles besser zu sein, als in diese Finsternis zu schauen. Aber alles, was er sehen konnte, war der verblichene Mittelstreifen, der sich in die Nacht erstreckte und irgend etwas, das von dort geräuschlos auf ihn zukam. »Du bist doof!« schrie er. Es funktionierte nur eine Laterne, und sein Blick wanderte bis zu dieser Stelle, wo die Vorderseite eines Autos und die Mündung einer Einfahrt beleuchtet wurden. »Arschloch«, murmelte er und wandte sich ab, blieb dann aber stehen. Er war unentschlossen. Beacher’s hatten schon geschlossen, und der Einfall, zu Brian zu gehen, erschien ihm nun gar nicht mehr so lustig. Aber er konnte noch nicht nach Hause. Noch nicht. Nicht, ehe sein alter Herr seine Bierchen gehabt und auf der Couch eingeschlafen und seine Mutter mit dem Abwasch fertig war. Dann könnte er ihr einen Gutenachtkuß geben und zu Bett gehen, sich etwas Schlaf gönnen. Morgen war, wie der Coach sie andauernd erinnerte, der Große Tag, als wüßten sie das nicht, und er dachte, er sollte sich vorher so gut wie möglich ausruhen. Morgen würde er ein Held sein, und zur Hölle mit Brian Pratt.
Da hörte er wieder, wie sich etwas regte, schnellte wieder herum und atmete tief durch, hielt den Atem an, bis er John Delfields fetten Dackel in den Lichtkegel watscheln sah.
Don stand unter der Dusche und achtete nicht darauf, daß das heiße Wasser seine Haut rötete. Langsam zog er den Plastikvorhang beiseite und starrte wieder auf die Jeans, die neben dem geflochtenen Wäschekorb lag. Aus seiner Tasche lugte ein Stückchen rotes Leder hervor. Seine Hand ließ den Vorhang los, und der schloß sich wieder rasselnd. Und der Dampf stieg auf und umhüllte sein Gesicht, während er zu verstehen suchte, was vor sich ging. Er wußte, wem die Schlüssel gehörten. Er wußte, was er in der Sekunde, als er sie fand, hätte tun sollen. Dennoch hatte er sie eingesteckt und nichts davon erzählt, hatte kein Wort von dem wahrgenommen, was sein Vater über denjenigen sagte, der diese Abscheulichkeit verbrochen hatte, hatte nichts empfunden als eine aufsteigende Welle von Übelkeit, die er gerade eben noch unterdrücken konnte. Norman hatte gemeint, sie sollten dies gegenüber seiner Mutter nicht erwähnen, sie habe sich wegen des Autos schon genug aufgeregt, und man solle sie damit nicht auch noch belasten. Er hatte Andeutungen über Brian, Tar und sogar über Fleet gemacht, und in seiner Stimme hatte etwas gelegen, das Don veranlaßte, ihn einen Moment lang anzustarren – die Erkenntnis, daß Norman keine Kinder mochte. Es lag nicht nur an den Unruhestiftern, den Snobs, den Kindern einflußreicher Eltern, die das Leben eines Schulleiters zur gemeinen Hölle machten – es waren Kinder, basta. Und er erinnerte sich, wie sein Vater einmal gesagt hätte, er wünschte, alle Kinder kämen als Erwachsene auf die Welt, bei denen die Eltern nichts weiter zu tun hatten, als ihnen die Tür zu zeigen.
Damals hatte Don dies für einen Scherz gehalten, jetzt wußte er, vielleicht besser als Norman, daß es mitnichten ein Scherz gewesen war. Dies hatte ihn mehr als alles andere davon abgehalten, den Missetäter zu nennen. In der Stimmung, in der er sich jetzt befand, war sein Vater imstande, zu den Bostons hinüberzustürmen und Tar verhaften zu lassen – nachdem er ihn ein paarmal gegen die Wand geknallt hatte. Wegen des Autos; mal gewinnt man, mal verliert man war nur ein Epitaph für das Fahrrad. Er trat aus dem Strahl zurück, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und hockte sich auf den Wannenrand, während er die Hände zwischen den Knien baumeln ließ. Tracey hatte recht, aber es war nicht nur Brian, der eifersüchtig war, sondern auch Tar. Er bezweifelte, daß Pratt seinen Freund heute abend angestiftet hatte, denn das war nicht Brians Stil. Aber er vermutete, daß Brian heute etwas gesagt hatte, was Tar zu dem Schluß kommen ließ, irgend etwas zu unternehmen, um Don in die Schranken zu weisen. Es war eine Rache dafür, ins Büro seines Vaters zitiert worden zu sein. Er zog wieder am Vorhang, betrachtete das Schlüsseletui und lächelte. In diesem Stückchen billigen Leders aus dem Pennyladen lag eine gewisse Macht. Das wußte er, und jetzt mußte er nur noch herausfinden, wie sie zu gebrauchen war. Das Einfachste wäre, damit zu drohen, es seinem Vater zu zeigen. Und sollte dies nichts fruchten, könnte er es zur Polizei bringen. Tar würde natürlich abstreiten und behaupten, er habe es verloren oder so, aber es würde genügend Staub aufwirbeln, genügend Probleme, so – »Er wird dir die Seele aus dem Leib prügeln.« Die Worte kamen leise in den Dampfschwaden des Raumes, aber scharf genug, um ihn seufzen zu lassen.
Irgendwer rüttelte an der Tür, und er drehte die Dusche ab, griff sich ein Handtuch und schlang es sich um die Hüften. Seine Mutter rief, und er schrie zurück, daß er nur noch wenige Minuten brauche. Und als er sich abgetrocknet hatte, hielt er sich die Jeans vor den Leib und schlüpfte in den Flur. Im Elternschlafzimmer brannte noch Licht. Unten war alles dunkel. Angesichts der plötzlichen Kühle fröstelnd, eilte er in sein eigenes Zimmer und schloß die Tür hinter sich, ließ die Jeans fallen, wo er stand, und sank aufs Bett. Einige Minuten später regte er sich, stand auf und tappte zum Fenster. Der Garten war leer. Na schön, dachte er zu seinem Freund in der Dunkelheit, wo ich jetzt weiß, daß du da bist, was tun wir als nächstes?
»Dummer Köter«, sagte Tar. Mit ausgestreckter lockender Hand näherte er sich dem Hund. Das fette alte Ding war wieder ausgebüchst, wahrscheinlich durch die Klappe, die Delfield in die Hintertür seines Hauses eingesetzt hatte. Manchmal vergaß der alte Mann, sie nachts zu verriegeln, und dann streifte der Hund stundenlang durch die Nachbarschaft, bis ihn irgendwer entdeckte und zurückbrachte. Bislang hatte Tar ihn immer ignoriert. Nur beim letzten Mal war er besoffen gewesen, hatte ihn aufgehoben und ihn selber zurückgebracht, ehe er begriff, was er tat. Delfield hatte ihm zehn Eier wegen des Aufwandes geschenkt. Verrückt. Genau wie der Hund. Aber zum Teufel, dachte er, als er in die Hocke ging, zehn Eier sind zehn Eier. »Komm schon, Blödie«, sagte er mit schmeichelnder Stimme. »Komm zu Tar oder ich schneide dir den Kopf ab.«
Der Dackel erkannte seine Stimme und blieb mitten im Lichtkegel stehen, während er heftig mit dem Schwanz wedelte und seine Zunge seitlich aus dem Maul hing. »Komm schon, Baby, komm zu Tar.« Der Hund setzte sich auf sein Hinterteil. Er erhob sich, machte einen Schritt vorwärts und blieb stehen, als er hinter dem Lichtfleck einen Schatten bemerkte. Der Hund jaulte auf einmal und sprang auf, wobei er den Kopf jetzt gesenkt hielt und den Schwanz zwischen die Hinterläufe klemmte. Tar schielte zur Seite und ging nach rechts, mitten auf die Straße, während er durch Fingerschnippen den Hund wieder zu sich zu locken versuchte. Er wollte herausfinden, wer dort auf der Straße stand. Es kam Wind auf. Hinter ihm keuchte und donnerte eine Trailer-Zugmaschine die Hauptstraße entlang. Dann tauchte eine Hand aus dem Dunkel auf, schnappte sich den Hund, und John Delfield erschien, der den Hund leicht schüttelte, ehe er ihn an seine Seite drückte. »Dämliches Vieh«, brummte er mit schwachem deutschen Akzent und lächelte Tar an. »Wolltest du ihn für mich einfangen?« Tar nickte und fragte sich, was zum Henker mit seinem Herzen los war, daß es nicht aufhörte zu hämmern. Himmel, es war bloß der alte Delfield, und wer hatte schon vor dem Angst? Der Hund wand sich im Griff seines Herrchens, aber Delfield gelang es trotzdem, in seine Gesäßtasche zu greifen, seine Börse zu zücken und eine Banknote herauszunesteln. »Nimm das«, beharrte er, als Tar abwehrte. »Du hast’s versucht und das ist so gut wie die Tat.«
Tar akzeptierte das Geld mit einem Nicken und einem Lächeln und sah dem Alten nach, wie er um die Ecke schlurfte. Verrückt, dachte er, die beiden sind ganz schön verrückt. Dann fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar und beschloß, zu den Pratts hinüberzufahren. Laufen kam jetzt nicht mehr in Frage. Er suchte nach seinen Schlüsseln und konnte sie nicht finden. »Was zum…?« Er klopfte seine Taschen ab, zog das Futter heraus, blickte dann mit rollenden Augen gen Himmel und schlug sich mit den Handballen gegen die Stirn. Sie mußten bei den Boyds herausgefallen sein, als er den Kombi verarztete. Alles was ihm jetzt fehlte, war, daß sie jemand aufhob. Dann war er am Arsch. Verdammt, er mußte zurück und diese verdammten Schlüssel finden. Er wandte sich zum Bürgersteig und blieb wieder stehen. Dort hinten bei der nächsten Seitenstraße, von den Laternen der School Street kaum beleuchtet, stand etwas. Und beobachtete ihn. Delfield, dachte er. Der blöde Köter mußte sich wieder losgerissen haben, und der alte Mann suchte ihn. Da bewegte es sich, aus dem Licht ins Dunkel, und Tar hörte irgend etwas atmen. Etwas Großes, das schwer atmete. Er drehte sich halb Richtung Boulevard und wandte langsam den Kopf. Er hatte sich nicht getäuscht: Es war nicht Delfield, und es war keine Einbildung. Es war da und es war dunkler als die Schatten und bewegte sich langsam auf dem weißen Streifen direkt auf ihn zu. Er konnte es atmen hören, einmal schnauben, und konnte etwas Hartes auf dem Pflaster klicken hören, rhythmisch, stetig, und wenn er nicht ebenso verrückt wie Delfield war, handelte es sich um ein Pferd.
Er kniff die Augen zusammen und machte einen Schritt seitlich zur Hauptstraße. Er schauderte, unfähig das Gefühl abzuschütteln, daß es, was immer es sein mochte, hinter ihm her war, nicht auf ihn zukam. Das war Blödsinn. Alles war Blödsinn. Es gab in Ashford keine Pferde, und es war bloß Delfield, du lieber Himmel, der nach seinem verrückten fetten Hund Ausschau hielt. Dichter zum Licht, und er sah einen Schimmer von Dunkelgrün durch die Luft huschen; zwei jetzt, und es verging eine lange Sekunde, ehe er begriff, daß es sich um Augen handelte. Grüne Augen. Groß und schräg, und sie starrten ihn an. Die Straßenbeleuchtung reichte nicht bis zum Mittelstreifen, aber als es die helle Stelle passierte, konnte Tar eine mächtige schwarze Flanke erkennen und die Seite eines gewaltigen Schädels. Ein funkelndes grünes Auge. Das Aufblitzen langer weißer Zähne. Und Dampf, vielleicht Rauch, der von seinen Nüstern aufstieg. »Scheiße«, sagte er und begann sich zurückzuziehen. Er wußte nicht, was es war, aber er würde nicht so lange herumstehen, bis er es herausfand. Er würde woanders hingehen. Vielleicht wußte Brian etwas. Das Geräusch gewann an Schnelligkeit, und als er die Mitte des freien Boulevards erreichte, blickte er über die Schulter und sah es. Rennend, hochgeworfene Vorderbeine, grünes Feuer sprühende Hufe und grüne Augen, dunkel vor Haß. Die Hoffnung, es könnte sich um eine Art Scherz von Don gehandelt haben, der sich an ihm wegen der toten Ente und des Fahrrades rächen wollte, zerplatzte. Und irgend etwas in ihm sagte ihm, er werde sterben.
Rennend, galoppierend und wie in Zeitlupe erscheinend. Er stürzte in Panik los, rannte über die breite Straße zu den beiden Verkehrsinseln in der Mitte, setzte über den Kantstein und duckte sich hinter den Bäumen, den Sträuchern, hetzte Richtung Stadtmitte. Früher oder später würde er ein Auto sehen, die Bullen, und alles würde gut werden. Sieh nicht hin; und er tat es. Es hatte ihn jetzt auf zehn Meter eingeholt, war jetzt ganz zu sehen und furchterregend groß. Grüne Augen starrten, grünes Feuer sprühte, der Dampf aus seinen Nüstern stieg in einer Wolke auf, durch die es hindurchstieß, ein ebenholzfarbener Geist, der durch brodelnde Nebel flog. Tar wimmerte und rannte schneller, sprang über einen heruntergefallenen Ast, pflügte durch ein Gebüsch, dem er nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Er stolperte und packte einen Baumstamm, wirbelte herum und raste weiter. Hufe auf Asphalt, Eisen schlug auf Eisen. Er wurde von einer Insel für Abbieger überrascht und stürzte schreiend auf die Straße, die Haut seiner Handflächen riß auf dem Belag, eine Wange stieß gegen den Boden und trieb ihm die Tränen in die Augen. Einige Sekunden lag er da und rang nach Luft, fragte sich, wo der Verkehr blieb, die Leute, warum sah niemand, was geschah? Er schluckte und schmeckte Blut, er kam auf die Knie und taumelte hoch. Ein Schnauben; er kreiselte herum, und es stand direkt hinter ihm. Tar schrie nach seinem Vater. Und der Hengst keilte in einer Wolke aus Weiß und Grünfeuer aus.
Das Telefon läutete, und Tracey eilte in die Küche, um abzuheben, ehe es ihre Mutter oder eine ihrer lärmenden
Schwestern wecken konnte. Sie hatte nicht schlafen können und war nach unten gegangen um zu lernen, was sie ihrer Erfahrung nach früher oder später müde machen würde. Sie schlug mit einem Knie gegen einen Stuhl und fluchte, als sie den Hörer von der Gabel riß, und brauchte einen Moment, um Hallo sagen zu können. »Trace?« »Don?« Sie tastete nach einem Stuhl und setzte sich im Dunkeln hin. »Bist du wach?« »Ja, sicher.« Sie versuchte, im Dunkeln die Wanduhr zu erkennen, aber vom Vorderzimmer drang nur soviel Licht herein, ihr zu sagen, daß es auf Mitternacht zuging. »Nein, du warst nicht wach. Ich habe dich geweckt. Tut mir leid.« »Ich habe nicht geschlafen, Vet«, sagte sie gereizt. »Ich habe gelernt.« Sie atmete langsam durch und rieb sich mit den Handknöcheln über die Augen. »Was ist denn los? Stimmt was nicht?« »Warum sollte irgend etwas nicht stimmen?« »Nun, es ist fast zwölf und morgen haben wir Schule, zum Beispiel. Und außerdem flüsterst du.« »Du auch.« »Ich möchte nicht abgemurkst werden.« »Ich auch nicht.« Sie rückte den Stuhl näher zur Tür, damit sie die Haustür im Auge behalten konnte. Ihr Vater mußte jetzt jede Minute vom Dienst zurückkommen, und sie wollte sich von ihm nicht am Telefon ertappen lassen. Nachdem sie sich wieder auf den Stuhl gehockt hatte, zog sie die Beine zum Schneidersitz an und umfaßte mit der freien Hand eine Fessel. »Don, was ist los? Wollen wir durchbrennen oder was?«
Er lachte, und sie freute sich, das zu hören, in jüngster Zeit hatte sie es selten gehört, und es machte sie glücklich. »Nun komm schon, du Held, was gibt es für einen Anlaß?« Dann hörte sie kommentarlos zu, als er ihr alles vom Auto und die abgeschlachtete Ente im Vorgarten erzählte. Und als er ihr berichtete, daß er Tars Schlüssel unter dem Fahrrad gefunden hatte, stöhnte sie. »Was für ein Dreckskerl«, sagte sie. »Was für ein dämlicher Dreckskerl.« Als Don ihr beipflichtete, fragte sie, was er vorhabe. »Ich weiß nicht. Ich dachte daran, ihn wissen zu lassen, daß ich im Bilde bin, dann läßt er mich vielleicht in Frieden. Aber ich schätze, er wird es abstreiten und mein Gesicht für die Parade umgestalten.« »Gott, wie beschissen.« Er sagte nichts, und ihre Augen verengten sich. Das war’s nicht, dachte sie, deshalb ruft er nicht an. »Tracey?« »Ich bin noch da, du Held.« Eine Pause. »Mir gefällt Vet besser.« Jetzt runzelte sie die Stirn. »Natürlich. Okay.« »Trace, das klingt vielleicht blöd, aber hast du dir je etwas gewünscht, wie von einer Fee?« Habe ich das je, überlegte sie, und was hast du, Don? »Natürlich habe ich das«, sagte sie. »Jedes Jahr zum Geburtstag puste ich mir die Lunge aus dem Leib für ein zigmillionen Dollarvermögen und ein Herrenhaus in Beverly Hills. Tut das nicht jeder?« »Hast du dir je was bei einer Sternschnuppe gewünscht?« »Was soll das? He, willst du mich überreden, für dich ein Referat zu machen oder so? Geht’s darum? Willst du mich testen?« »Tracey, bitte.«
Da hörte sie es, und sie konnte es nicht glauben. Weil sie beide flüstern mußten, wurde es noch schwieriger zu erklären, aber in dem Augenblick, als sie es begriff, wußte sie, es war wahr – Don hatte vor etwas Angst, und das war nicht Tar Boston. »Okay«, sagte sie langsam. »Ja, ab und zu wünsche ich mir was.« Sie lachte. »Albern, nicht?« »Erfüllen sie sich jemals? Deine Wünsche, meine ich.« »Don… nein. Ich meine, ich glaube nicht. Außerdem sind es sowieso keine Zauberformeln. Du wünscht dir etwas so stark, daß es sich erfüllt. Nein. Du arbeitest daran und erfüllst dir selber deine Wünsche, falls du mich verstehst.« »O Gott.« »He, Vet, würdest du mir bitte erklären, worum es eigentlich geht?« »Tracey – « Ein Schlüssel knarrte in der Haustür, und Tracey erklärte Don kurz, ihr Vater komme heim, sie sähe ihn morgen in der Schule. Sie legte auf und hatte eben den Stuhl an seinen Platz gestellt, als ihr Vater in der Tür erschien. Als er wissen wollte, weshalb sie so spät noch auf sei, deutete sie auf die Bücher im Wohnzimmer und erklärte, sie habe nicht schlafen können und fügte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah, hinzu, ob etwas passiert sei, war er verletzt? »Nein«, sagte er müde. »Kurz ehe ich ging, gab’s noch eine Fahrerflucht.« »O Gott, nein.« Ein genaueres Hinsehen und sie biß sich auf die Unterlippe. »Jemand, den du kanntest, nicht wahr?« Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« »Vater.« Er wandte sich zur Küche, aber sie hielt ihn zurück, indem sie ihm die Hand auf den Arm legte. »Vater?«
»Bitte, Kind, geh ins Bett.« »Was ist?« beharrte sie. »Es sah aus, als habe ihn jemand überfahren und ist dann zurückgesetzt. Und hat ihn immer wieder überrollt. Er ist so zermatscht, daß wir immer noch nicht wissen, wer es ist.«
16
Der Tag war nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Da alle Stunden um zwanzig Minuten gekürzt waren, waren sie entweder nicht nützlich zu füllen oder fielen ganz aus. Daher verbrachte er soviel Zeit als möglich damit, nach Tracey Ausschau zu halten, aber das einzige Mal, als er sie sah, martialisch und unbehaglich in ihrer rot-schwarzen BandUniform, befand sie sich mit einigen Freundinnen zusammen. Als sie ihn entdeckte, formte sie mit dem Mund eine unverständliche Botschaft, auf die er achselzuckend sein Nichtbegreifen zu verstehen gab und weiterging, ehe das letzte Läuten ertönte. Brian hielt sich abseits und flüchtete einmal sogar in den falschen Unterrichtsraum, um ihm aus dem Weg zu gehen. Don sah dies und grinste, dachte, vielleicht hätte dieser Medaillenquatsch doch noch etwas Gutes für sich. Aber im Studiersaal war es merkwürdig. Er saß auf seinem gewohnten Platz und blätterte durch sein Zoologiebuch, um herauszufinden, was dieser Hengst mit der Realität gemeinsam haben mochte. Nach fünf Minuten jedoch spürte er, daß ihn jemand beobachtete. Inzwischen hatte er sich fast daran gewöhnt, die Schüler im Saal musterten ihn verstohlen, einige starrten ihn auch offen an, manche von ihnen zögernd, als wollten sie nach ihm greifen und seine Muskeln drücken oder ihm das Hemd ausziehen, irgend etwas, um das Geheimnis jener Stärke zu ergründen, die den Howler zu Boden gestreckt hatte. Aber dies war anders. Von den übrigen konnte er Neid und Ungläubigkeit spüren und eine hübsche Dosis ganz neuen
Respekts; von dem hier kam etwas, das er überhaupt nicht einordnen konnte. Er blickte auf und sah sich um. Der Rest las entweder oder unterhielt sich leise. Vom Football-Team war keiner anwesend; die waren unten in der Turnhalle und bereiteten sich auf die Schlacht vor. Dann wanderte sein Blick zur Front des Raums. Es war Mr. Hedley. Er saß mit unter dem Kinn gefalteten Händen hinter seinem Schreibtisch, und er starrte ihn an. Dreist. Ohne Verlegenheit. Don sah rasch nach unten, blätterte eine Seite um und noch eine und linste, ohne den Kopf zu heben, nach oben. Hedley beobachtete ihn immer noch, und mit einem Mal kam Don sich vor, als habe man ihn in eines der Reagenzröhrchen des Lehrers gestopft, auf ewig in einer Flüssigkeit schwimmend, auf ewig der Forschung preisgegeben, bis er in den Abfluß gegossen würde. Er schluckte, schlug ein paar Seiten zurück, blätterte sie wieder durch und zwang sich, zufällig herausgepickte Absätze zu lesen, wobei keines der Worte zu ihm durchdrang, keine Illustration registriert wurde. Und als er ein drittes Mal aufblickte und den Mann immer noch beobachten sah, begann sich die Haut über seinen Schultern zu spannen, und er fand es zunehmend schwierig zu atmen. Er weiß es, dachte Don, und verwarf den Gedanken. Nein. Niemand weiß es. Er kann es nicht wissen. Er krümmte sich innerlich und drehte sich zu den hohen Fenstern, um hinaus auf die sich am Horizont ballenden Wolken zu sehen, die schwärzer und höher erschienen, weil der sonst klare Himmel noch nicht vom nahenden Gewitter berührt worden war. Er ließ die Dächer der Häuser unterhalb des Stadions kantiger und weniger heruntergekommen wirken, das Spielfeld leuchtender und verlieh den Farben von allem,
was er sah, mehr Leuchtkraft. Es war seltsam, dieses Licht, als sei es künstlich; er konzentrierte sich auf die Rückwand des Stadions und die ersten Häuser dahinter, wobei ihm der Gedanke kam, sie hätten rasiermesserscharf aus Stein gehauen und mit Diamanten geschliffen sein können. In gewisser Hinsicht war es wunderschön und in anderer Hinsicht so unwirklich, daß es fast beängstigend war. Hedleys Stimme kam leise: »Mr. Boyd, haben Sie nichts zu tun?« Niemand lachte. Don hob sein Buch etwas an und blickte auf eine Seite. »Man sollte niemals Zeit verschwenden, Mr. Boyd, selbst in den wenigen Minuten, die uns heute bleiben. In manchen Ländern galt dies in früheren Zeiten als Verbrechen. Ebenso wie das Vergeuden der Zeit eines anderen als kriminell galt.« Don begriff nicht, war sich aber ganz sicher, daß der Mann ihm etwas zu verstehen geben wollte. Er weiß es. Er kann es nicht wissen. Und da läutete es. Er ging mit den anderen hinaus und spürte, daß Hedley ihn auf dem Weg zur Tür beobachtete. Er wollte umkehren und fragen, was der Grund war, konnte aber den Mut nicht aufbringen. Was für Probleme der Mann auch haben mochte, es konnte nichts mit dem Geschehenen zu tun haben. Vielleicht war er immer noch sauer, weil er glaubte, Don hätte sein Haus besudelt. Er eilte zum Treppenhaus und machte sich auf den Weg zur Turnhalle, griff gerade nach der Tür, als ihn jemand am Arm packte und aus der Schar der übrigen Schüler in die Ecke unter der Treppe zog. »He, was…«
Es war Chris. Sie war bereits im Cheerleader’s Outfit, dessen kurzes Röckchen im Indianer-Look ihre langen Beine zur Schau stellte; der weiße Pullover mit dem Namen der Schule zeigte gar noch mehr, weil er so knalleng war. Ihr Haar fiel in zwei Zöpfen über ihre Brüste, und sie trug ein mit Perlen verziertes Stirnband, das sie mit einem Daumen zurückschob. »He«, sagte sie leise, während ihre Augen die Schüler verfolgten, die durch die Tür gingen. »He«, sagte er und wartete. Sie lächelte so zauberhaft, daß er zurücklächeln und sich sehr zurückhalten mußte, ihre Wange nicht zu berühren. »Hast du Tar gesehen?« Er schüttelte den Kopf. »Dieser Tortenarsch ist doch immer noch nicht aufgetaucht, kannst du dir das vorstellen?« Sie zupfte an dem Stirnband und zog es mit einer Grimasse zurecht. »Er will sich wohl einen großen Auftritt verschaffen, wette ich.« »Ich weiß nicht«, sagte er. »Das sieht ihm nicht ähnlich, nicht?« Sie zuckte die Achseln; ihr war es scheißegal, ob es ihm ähnlich sah oder nicht. »Es ist trotzdem blöd. Wenn er das macht, wird Brian ihm den Kopf abreißen.« Ein flüchtiges Lachen, das er kaum hören konnte, und sie rückte näher. »Geht’s dir gut? Ich meine, ich wollte schon anrufen oder rüberkommen, aber ich dachte mir… du weißt schon.« »Mir geht’s gut, ja. Danke der Nachfrage.« »Nun, hör mal, ich muß in die Bibliothek, ehe der Drachen mich verschlingt, weil ich zu spät zum Stapeln ihrer kostbaren Bücher komme, aber…« Sie sah ihn dabei an, nahm ihn beim Arm und dirigierte ihn widerstandslos so, daß er mit dem Rücken zur Wand und sie zur Treppe stand. »Hör mal, gehst du zum Spiel?« »Klar, nehme ich jedenfalls an.«
Er konnte sehen, wie sich einige Gesichter zu ihm wandten, wieder wegsahen – keines davon gehörte Brian. »Wie steht’s mit danach?« Tracey, dachte er. »Ich weiß nicht. Beacher’s schätze ich. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich denke, das hängt davon ab, ob wir gewinnen oder nicht.« Ehe er sie aufhalten konnte, nahm sie seine Hand und preßte sie kurz gegen ihre Brust, schmiegte sich dagegen und wich wieder zurück, dann gab sie ihn lächelnd frei. »Danach«, flüsterte sie. »Sieg oder Niederlage.« Sein Gesicht brannte, seine Hand brannte, aber er wagte nicht das eine mit der anderen zu berühren, weil er fürchtete, das sinnliche Gefühl zu verlieren, das auf seiner Handfläche prickelte. Er fragte sich, ob irgendjemand etwas gesehen hätte; es war so schnell passiert, daß er sich nicht mal sicher war, ob es überhaupt passiert war. Er stob mit gesenktem Blick durch die Tür, und als niemand eine Bemerkung machte, verfiel er in einen leichten Trab und bog zur Turnhalle ab. Die Schüler befanden sich längs der Wände, von denen Boxhandschuhe, Springseile und ähnliches hingen. Die Lehrer befanden sich in der Mitte des Basketball-Feldes, über die Klassenbücher gebeugt, blickten prüfend in die Runde, und bei jedem aufgerufenen Namen erscholl ein »Ja!« oder »Hier!« zurück. Don stand bei den Doppeltüren und hockte sich hin, wobei er das Schweigen zu überhören versuchte, das durch die Turnhalle ging, nicht zu fühlen versuchte, wie Augen ihn ungeniert musterten. Er studierte den gebohnerten Fußboden zwischen seinen Füßen. Er setzte sich auf seine Bücher und studierte wieder den Boden, bis ein Paar schwarzer Nagelschuhe hereinkam. Er sah auf; es war Brian Pratt in seinen Football-Schuhen und mit breit gepolsterten Schultern. Brian kauerte sich nieder, starrte ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich kapier’s nicht.«
Dons Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, zu dem ihm nicht zumute war. »Was kapieren?« »Wie du’s gemacht hast.« »Hör endlich damit auf, okay?« Pratt schüttelte wieder den Kopf. »Mein alter Herr hatte doch recht. Es sind immer die Arschlöcher der Welt, die aufkreuzen und nach Rosen duftend wieder abgehen.« Dons Unterarme lagen auf seinen Knien, und seine Hände ballten sich jetzt, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Hör auf, ja?« »Du meine Güte. Willst du’s mir jetzt zeigen, Duck?« Er blickte ausdruckslos auf. »Hör endlich damit auf, okay?« Pratt tippte ihn ans Schienbein. »Leg dich bloß nicht mit mir an, Duck, verstanden? Glaub auch nicht eine Sekunde, daß ich wie dieser alte Furzer bin.« Er erhob sich geschmeidig. »Und laß die Finger von Chrissy oder ich mach’ dich so zur Sau, daß selbst deine eigene Mutter dich nicht wiedererkennt.« Er stolzierte davon, arrogant, die Nägel klackten auf dem Hartholzboden, bis einer der Lehrer ihn aufforderte, an den Rand zu treten. Pratt nickte und tat wie geheißen und verschwand dann durch die entgegengesetzte Tür, ohne sich noch einmal umzusehen. Wieder waren die Augen auf ihn gerichtet, er konnte sie fühlen, und er betete, daß endlich die Schlußglocke läuten würde, damit er zu seinem Schließfach gehen, seine Jacke und die Bücher holen und ins Stadion gehen konnte zur großen Abschlußveranstaltung. Er betete, Brian möge der Kopf abfallen, sobald er auf den Platz kam. Er betete um einen Tornado, der durch die Schule rasen und ihn davontragen möge, an einen Ort, von dem er nie gehört hatte, mit Menschen, die nie von ihm gehört hatten. Als die Glocke läutete, war er als erster zur Tür hinaus, als erster an der Treppe und war eben dabei, seine
Schloßkombination einzustellen, als das Gerücht von Tar Boston die Runde machte.
Die Band marschierte zackig auf den Platz, eine Fanfare harter Trommelwirbel begleiteten den Weg – die Ashford-Helden auf dem Kriegspfad. Sie bildete ein »A« um die Fünfzig-YardLinie und spielte das Schullied, den »Star-Spangled Banner«, sowie zwei Märsche. Die Schüler johlten, pfiffen und klatschten, als die Band wieder abmarschierte und ihren Platz in den ersten vier Reihen des Betonplätzebereichs einnahm. Banner zum Ashford Day waren zwischen den Torpfosten gespannt und hingen an den oberen Schulfenstern. Eine Handvoll Arbeiter richtete die Scheinwerfer, die am Abend das Feld für das Spiel erhellen sollten. Eine tragbare Plattform wurde auf den Platz geschleppt, Mikrofone und Stühle aufgestellt, und Dons Vater, die Haupt-Cheerleader und der Coach eilten zu ihren Plätzen. Alle sehr diszipliniert. Don saß in der oberen Reihe und konnte die Augen nicht von Tracey abwenden, die in einer Hand ihre Flöte, in der anderen die Noten hielt. Bruchstücke ihres Gesprächs von gestern nacht zogen ihm immer wieder in den Sinn, und er war sicher, Besorgnis und Mitgefühl in ihrer Stimme richtig erkannt zu haben. Als sein Vater zu reden begann, hatte er sich entschlossen, sie nach der Schule zu treffen und ihr alles zu erzählen. Inklusive der Tatsache, daß er Tar wahrscheinlich umgebracht hatte. So mußte es sein. Selbst wenn man die Übertreibung in den Gerüchten berücksichtigte, blieb die Tatsache, daß sich Tars Leiche im gleichen Zustand befunden hatte wie die des Howlers. Es war ebenfalls klar, daß kein Fahrerflüchtiger so dämlich sein würde, am Unfallort zu bleiben und nur zum
Spaß über den von ihm verschuldeten Toten hin und her zu fahren. Es war der Hengst. Und er fürchtete sich wie nie zuvor. Nicht wegen des Geschehenen, sondern weil er nicht dasselbe empfand wie bei Amandas Tod durch die Hand des Howlers. Damals war er zornig gewesen. Jetzt war er… froh. Und das machte ihn krank. Ein Mensch war tot. Ein menschliches Wesen. Jemand, den er kannte. Und er war froh, daß Tar tot war, weil das dämliche Arschloch ihn jetzt nicht mehr quälen konnte, nicht mehr Brians Befehlsempfänger war, keine Vögel mehr umbringen und keine Fahrräder zerstören und nicht mehr so tun konnte, als sei er König in einem Land ohne Krone. Tot. Bis zur Unkenntlichkeit zermatscht, bis ein zahnärztlicher Befund ihnen geholfen hatte. Jetzt, wo ich weiß, du bist da, was tun wir als nächstes? Er mußte reden, und er mußte allein sein, und er applaudierte abwesend, als der Coach vorgestellt wurde, die Spieler vorgestellt wurden und auf den Platz rannten und zwischen den beiden Reihen von Cheerleadern Aufstellung nahmen, die ihre Pompons schwenkten und in die Luft sprangen, als die Band Märsche spielte und noch eine Rede gehalten wurde und man an die Geschichte der Parade erinnerte. Er applaudierte und hörte nichts, sah nichts, bis er bemerkte, daß die anderen reihenweise das Stadion verließen. Aufregend schnatternd, Pläne für den Abend schmiedend, für den kommenden Tag. Sie ignorierten ihn, denn er war Mittwoch der Held gewesen, und die Zeit marschierte weiter wie die Band, die eilig zum Ende des Spielfeldes zog, unter lockeren Trommelschlägen, aus dem Tritt, und sich schließlich auflöste und den Ausgängen zustrebte.
Rasch bahnte er sich gegen den Strom seinen Weg nach unten sprang über das Geländer und rannte auf Tracey zu. Er rief. Sie hörte ihn nicht. Er rief abermals und lief um einige Mitglieder des Teams herum, die lachten, als Brian in ihrer Mitte ein lautes Quaken von sich gab. Nur keine Schweinereien mit mir, Brian, sagte er im stillen, als er finster zurückstarrte, nur keine Schweinereien, Mann, sonst bist du tot. Daraufhin blieb er stehen und schluckte. O Jesus. O Gott. »Weißt du, ich beginne allmählich zu glauben, ich habe zwei linke Hände.« Er konnte gerade noch durch einen Schritt rückwärts vermeiden, mit Tracey zusammenzuprallen, die versuchte, ihre Noten zu ordnen, die Flöte auseinanderzunehmen und gleichzeitig ihren Flötenkasten zu öffnen. Als er sie verständnislos anstarrte, schenkte sie ihm ein säuerliches Grinsen und drückte ihm Notenpapier in die Hand, packte das Instrument weg und nahm ihm die Noten wieder ab. Sie trug keine Kappe mehr, und das Haar wurde ihr von der Nachmittagsbrise in die Stirn und über die Augen geweht. Die Uniformjacke war oben geöffnet, und er konnte ihre Halsbeuge und ihre Schlüsselbeine sehen. »‘tschuldigung«, murmelte er. Sie legte den Kopf schief. »Suchst du mich, Vet?« »Ja. Ich… muß…« Er biß sich auf die Unterlippe. »Willst du mich nach Hause begleiten?« »Bitte«, sagte er, und sie ergriff seinen Arm und ging mit ihm zu dem geöffneten Durchgang in der Mauer. Einige hasteten an ihnen vorbei, und auf der Straße wurden Motoren angelassen, von Geschrei und Gelächter begleitet, während einige Bandmitglieder in ihre Trompete oder Tuba bliesen, so daß sich das Ganze weniger nach Schulschluß als nach Spielende
anhörte. Niemand sprach sie an, und dafür war er dankbar. Er war einfach wie ein Blinder, der dem Blindenhund Tracey folgte und verzweifelt versuchte zu verdrängen, was er über Brian gedacht hatte. Nachdem sie den Tunnel hinter sich hatten, bogen sie in die School Street ein, ins dichte Gedränge der Schüler, so dicht, daß sie schließlich ihre Hand in seine gleiten ließ. »Also, um was geht’s?« fragte sie und sah ihn von der Seite an. »Tar?« Er nickte. »Gott, es ist grauenhaft, was? Du hättest meinen Vater sehen sollen, als er letzte Nacht nach Hause kam. Hätte er gewußt, daß ich ihn gekannt habe, er hätte mich zu Hause bleiben lassen. Meine Nerven. Er glaubt, ich falle in Ohnmacht, wenn ich mir nur in den Finger schneide. Und du hörst mir überhaupt nicht zu, Donald Boyd.« »Ha?« »Siehst du?« Er drückte ihre Hand und bahnte sich mit ihr den Weg durch die sich auflösende Menge Richtung Schulvorplatz. Unterwegs machte er mehrere Versuche zu erklären, was in seinem Kopf vorging, und jedes Mal unterbrach er sich, weil er nicht wollte, daß sie ihn für verrückt hielt oder ihm riet, mit seinen Eltern zu sprechen. Schließlich gab er einfach auf und akzeptierte ihr Schweigen als geduldiges Verständnis für seine Täppischkeit. Um den Fahnenmast auf dem Platz befand sich eine Backsteinmauer, in deren Rund Muttererde gefüllt war. Die Blüten waren verblüht, aber der Frost der letzten beiden zwei Wochen hatte die Stengel und die breiten Blätter noch nicht absterben lassen. Don setzte sich auf den Rand, und Tracey setzte sich neben ihn, während sie ihren Instrumentenkasten abstellte und sich dann zu ihm umdrehte. Sie waren allein.
Die Sonne stand bereits hinter dem Gebäude, und der Vorplatz war in frostige Schatten gehüllt. In den Fenstern rührte sich nichts, und die Fahne über ihnen knatterte in der Luft wie zynisches Händeklatschen. »Er war schließlich nicht dein Freund«, sagte sie, während sie mit dem Finger über die Oberfläche der Backsteine fuhr und dem Flußbett des Mörtels folgte, der sie zusammenhielt. »Es ist nicht wie bei Mandy, meine ich.« »Ja, ich weiß.« »Ich meine, er konnte dich nicht ausstehen, Don, und du hast ihn wahrscheinlich von ganzem Herzen gehaßt. Vor allem nach der letzten Nacht. Daher kapier ich’s nicht. Ich kapier’s einfach nicht.« Er blickte zur Schule hinüber, zu den Stufen, der Rasenfläche, der Straße. »Ich habe ihn umgebracht.« Sie schlug ihn auf den Arm, fest. »Das ist nicht komisch.« »Ich weiß.« Er blickte auf den Platz, seine Schenkel, den Himmel, die Bäume. »Ich… du warst’s nicht, das weißt du. Ich weiß es. Selbst, nach allem, was er gemacht hat, weiß ich, daß du keinen Knüppel genommen, ihn auf die Straße gelockt und ihm das Hirn aus dem Schädel geprügelt hast. Du – « Eine Hand flatterte zu ihrem Mund, um sich selbst zum Verstummen zu bringen, und er wußte, sie erinnerte sich daran, wie der Howler umgekommen war. Dann hörte er Nägel auf Beton und versteifte sich, preßte die Lippen aufeinander und schloß die Augen, als eine Hand seinen rechten Arm anfaßte. »Wie sehe ich aus?« »Wie eine Sport-shop-Puppe, Puppe«, sagte Tracey leichthin. Don blickte auf die Hand, das Gesicht und grinste Jeff an, der immer noch seine Kluft trug und den Helm unter dem Arm hielt.
»Der Coach sagt, wir müssen die Klamotten den ganzen Tag anbehalten.« Jeff reckte sich und zeigte sich im Profil, das durch die vorstehenden Brillengläser leicht beeinträchtigt wurde. »Zu unserer und anderer Erbauung. Damit die Ashford North Rebels erzittern, wenn sie uns sehen, und immer den Untergang vor Augen haben, den sie erleiden werden.« Er steckte die Zunge heraus. »Das ist ein Zitat, ich schwör’s bei Gott. Kommt ihr?« »Klar«, versicherte Don. »Spielst du?« Jeffs Miene verdüsterte sich. »Machst du Witze? Der Coach will gewinnen. Warum sollte er mich aufstellen, wenn er Brian, Fleet und… die übrigen Burschen hat?« Er blickte auf Tracey hinunter, sah ihr trauriges Lächeln und lehnte sich gegen die Mauer, während er mit dem Helm in seinem Schoß spielte. »Du weißt es, ha…?« fragte Tracey. »Yeah. Der Coach hat seine Rotz-und-Wasser-Rede gehalten. Klingt lausig, wenn man sagt: ›Gewinnt für Tar‹.« Don schwieg, Tracey lachte nervös. Wieder Nägel, und Fleet kam vorbei. Als ersichtlich wurde, daß er nicht stehenblieb, sprach Jeff ihn an, rief nochmals und zuckte die Achseln. Als Fleet den Bürgersteig erreichte, blieb er jedoch stehen und blickte sich um. Es war eindeutig, daß er Don ansah, und es war eindeutig, daß er sich Gedanken machte. Gott, dachte Don, und nickte nur, als Jeff sich gestelzt mit gereckter Brust und stampfenden Füßen erhob und verkündete, er müsse heimgehen, ehe die Männer im weißen Kittel ihm das Netz über den Kopf warfen. Ein Winken, ein Blick auf Tracey, und er trabte davon. Klingt genauso, dachte Don, wie ein rennendes Pferd. Tracey blickte auf ihre Uhr. Der Schatten der Schule wurde länger.
»Don, ich muß gehen. Du – « »Nein«, sagte er. »Hör mal, Trace, es tut mir leid, daß ich irgendwas gesagt habe, okay? Ich glaube… ich glaube, ich möchte ein Weilchen alleine sein.« Ihre Augen waren verletzt, obwohl ihr Mund ein kleines Lächeln zustande brachte. »Klar. Und, paß auf, ich werde – Warum rufst du mich nicht nachher an? Ich muß um sechs wieder hier sein, aber ruf mich vorher an, okay?« »Ja«, sagte er und sah sie an. »Ja, werde ich. Es ist bloß…«, und er wedelte mit der Hand in Jeffs und Fleets Richtung. »Ist schon gut, Vet, mach dir keine Gedanken darüber. Erzähl mir nur nicht solchen Blödsinn über… du weißt schon, ja?« Dann, die Augen vor Überraschung über sich selbst geweitet, beugte sie sich vor und küßte ihn, fester, als sie vorgehabt hatte, und eindeutig nicht so lange, wie sie wollte. »Ruf an, oder ich breche dir die Knochen.« Er grinste, als sie davoneilte und dabei nur mühsam die Noten, das Instrument und die Schulbücher festhalten konnte. Aber in dem Augenblick, als sie auf der anderen Straßenseite und um die Ecke war, erlosch das Grinsen allmählich, bis sich seine Mundwinkel nach unten verzogen. Was zum Kuckuck hatte er sich dabei gedacht, ihr so einfach zu erklären, daß er Tar ermordet hatte? Falls sie ihn nicht für verrückt hielt, mußte sie ebenso verrückt sein wie er; und wenn sie ihm glaubte, würde sie so sicher wie das Amen in der Kirche den Teil mit dem Pferd nicht glauben. Er schlug sich mit der Faust auf den Schenkel. Verdammter Jeff! Verdammter Fleet! Es war sein Fehler, hier sitzenzubleiben. Er hätte mit ihr irgendwoanders hingehen sollen. Vielleicht in den Park, wo er alles in Ruhe darlegen konnte, damit es nicht so irre klang. Obwohl sie dann vielleicht Angst bekommen hätte, er würde sie töten, weil er… oh, Mist,
Mist. Warum zum Teufel mußte alles so verdammt kompliziert sein. Er schlug sich nochmals auf den Schenkel und las seine Bücher auf. Einen Augenblick lang, als er zur Schule hinübersah, war er versucht, hineinzugehen und mit seinem Vater zu sprechen. Da kam Falcone zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe herunter. Er nickte im Vorübergehen, die Rockschöße flatterten, und in einer Hand hielt er eine Aktentasche. Er rannte fast über den Platz. Don wandte sich zum Heimgehen, kürzte über den Rasen ab, trat ein paarmal gegen die Grasbüschel und wandte nur halb den Kopf, als ein Auto vorbeiraste. Ein Buch fiel herunter. Er kniete nieder, wandte den Blick aber nicht von dem Wagen. Es war Falcones, und seine Mutter fuhr. Sie trug eine Sonnenbrille und einen dunklen Schal um ihr Haar, aber er wußte, sie war es. Ein gehetzter Blick zum Fenster seines Vaters, aber dort stand niemand, um hinauszusehen. Fassungslos blickte er zurück zur Straße, das Auto war verschwunden. Ohne nachzudenken rannte er um die Ecke des Schulgebäudes und den steilen Hang zu den Toren des Stadions hinunter. Sie waren noch geöffnet, und er lief hindurch, ließ seine Bücher am Rand des Spielfeldes fallen und verfiel in einen gleichmäßigen Rhythmus, als er seine erste Bahn zog. Die Augenlider zuckten. Der Mund war geöffnet. Die Füße gestreckt. Die Arme fast reglos an den Seiten. Als er an der ersten Kurve war, hatte er sich soweit erholt, um Knie und Arme hochzubringen, seine Atmung zu korrigieren und sich auf einen Lauf einzustellen, von dem er wußte, daß er sehr lange dauern würde. Die Ränge waren leer.
Wie ein weißer Geist flatterte ein Notenblatt über dem Spielfeld. Ein Blick zur Schule, und er sah das Gesicht an einem Fenster im zweiten Stock. »Zur Hölle mit dir, Hedley«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Zur Hölle auch mit dir und laß mich in Ruhe!«
Adam Hedley strich sich mit dem Zeigefinger über den Schnauzbart und wandte sich mit einem verblüfften Grunzen vom Fenster ab. Er hatte beschlossen, in der Schule zu bleiben und noch ein paar Sachen durchzuarbeiten, damit er übers Wochenende nichts mit nach Hause nehmen mußte. Es brachte nichts, heimzufahren, wenn er um halb sechs ohnehin wieder da sein mußte, um die Einlaßkarten zu besorgen, und so hatte er sich Sandwiches aus der Cafeteria fürs Abendessen geholt, bis er nach dem Spiel etwas Besseres bekommen konnte. Boyd aber änderte alles. Als er den Jungen wie einen betrunkenen Zombie über die Bahn ziehen sah, mußte er wieder an die Tests denken, die er mit den beschränkten Möglichkeiten der Polizeiwache ein zweites Mal gemacht hatte. Und die Ergebnisse blieben dieselben wie beim ersten Mal. Sobald er fertig gewesen war, war er in Veronas Büro geeilt, aber der Mann war nicht da, und Ronson hatte die Stadt für ein verlängertes Wochenende verlassen. Er hatte daran gedacht, den Leichenbeschauer anzurufen, die Überlegung aber sogleich verworfen. Er und dieser affige kleine Scheißer kamen nie miteinander zurande. Und er wollte verdammt sein, wenn er dem Mann seinen Kopf darbot, noch dazu auf einem Tablett, das er selber gemacht hatte. Statt dessen hatte er beschlossen abzuwarten, bis er alleine mit einem der Detectives reden konnte, ihm seine
Ergebnisse mitteilen und, ganz offen, die Verantwortung abschieben konnte. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher, ob er den Schwarzen Peter weitergeben sollte. Jetzt fragte er sich, ob in der Sache nicht etwas steckte, das er gegen Norman benutzen könnte, vor allem nach den Gerüchten über Tarkington Bostons Tod – bemerkenswert ähnlich dem von Falwick, wenn auch nur die Hälfte der Geschichten stimmen sollte. Er benötigte eine halbe Stunde, um das Labor nach seinen Vorstellungen aufzuräumen, wobei er all die Schüler verfluchte, die keine Etiketten lesen konnten oder sich den Teufel darum scherten. Er schloß den Giftschrank ab, die Geräteschränke und seinen Schreibtisch. Dann löschte er das Licht und war überrascht, wie dunkel es draußen inzwischen geworden war. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, daß die Wolken seit der Generalprobe näher gekommen waren, die Sonne verdunkelten und einen falschen Goldschimmer auf die Dächer der Stadt zauberten. Eine Windbö peitschte gegen die Scheiben, fand irgendwo eine Ritze und rauschte in den Schatten. Er schloß die Tür ab und ließ seine Schlüssel in die Jackentasche gleiten, fuhr sich mit der Hand über seinen roten Haarkranz und die Glatze und machte sich auf den Weg zur Treppe. Dabei schielte er nach oben, denn mit den Leuchtstoffröhren an der Decke schien etwas nicht zu stimmen. Sie gaben nur gedämpftes licht; weiter hinten flackerte eine ein wenig. Er würde mit diesem Kretin, D’Amato, darüber sprechen müssen. Wenn er nicht aufpaßte, stolperte er noch und brach sich ein Bein. Ein Lächeln leuchtete auf und erlosch.
Das wäre gar nicht so übel. Dann könnte er Boyd zur Verantwortung ziehen und sich als Pensionär mit der Schadenssumme zur Ruhe setzen. Im ersten Stock war es dunkel. Als er im Erdgeschoß anlangte, machte er zwei Schritte Richtung Hauptbüro, als irgendwo vor ihm eine Tür aufschlug. Er hielt inne, lauschte auf die Schritte eines spät das Haus verlassenden Kollegen oder die Stimme von Norman Boyd, die ihm zurief, doch mitzukommen. Echos des Schlages prallten gegen die Wände, hohl von den Kacheln, verstärkten sich ringsum im verlassenen Korridor. Ein Blick nach links. Der hintere Gang lag im Dunkeln, und das einzig brennende Licht ließ den Seitengang wirken, als würden dort Nebel wabern. Eine Braue zuckte, und dann steuerte er auf den Haupteingang zu, kam am Büro vorbei und wunderte sich, daß dort kein Licht brannte. Für gewöhnlich war zumindest das Sekretariat die ganze Nacht über beleuchtet für die Polizei, wenn sie nachts auf ihrer Streife vorbeifuhr. Schludrig, dachte er, als er um die Ecke ins Foyer bog, schludriges Vorgehen. So würde ich mich nicht um die Dinge kümmern. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn innehalten – das Verlagern von Gewicht. Mehr verspürt als gehört. Er blickte sich um und mochte nicht glauben, was er sah. Auf der anderen Seite der Eingangshalle befanden sich drei Doppeltüren, die in die Aula führten. Ein Flügel der mittleren schwang gerade zu. »D’Amato?« fragte er laut. Keine Antwort. Die Tür schloß sich, zischend. Das war sicherlich nicht seine Angelegenheit, aber ein Zögern hinderte ihn, das Haus zu verlassen. Erst im letzten Jahr, nach einer besonders respektlosen Feier zum
Schulbeginn, war er auf Verdacht hin die Treppe zum Balkon emporgegangen und hatte von dort zwei Schüler entdeckt, die gerade dabei waren, sich in der ersten Reihe das letzte bißchen Hirn aus den Köpfen zu bumsen. Kein Empörungsschrei; er hatte sich einfach in die Schatten verdrückt und zugesehen, nicht von der Szene, sondern von der Spontaneität dessen erregt, was er sah – die meisten seiner Filme konnte er im Schlaf abspulen, ohne eine Aufnahme auszulassen. Es war möglich, daß nach den emotionalen Aufladungen des heutigen Tages jemand derselbe Einfall gekommen war. Er warf einen prüfenden Blick auf den Vorplatz – kein Auto am Straßenrand, niemand auf dem Platz. Dann eilte er auf Zehenspitzen und verhalten durch den Mund atmend zur Tür, ergriff die Klinke und zog die Tür langsam zu sich hin, nur so weit, daß er hineinschlüpfen konnte. Es war jemand dort. Er konnte kaum über die Reihen dunkler gepolsterter Sitze blicken, und die nur von einer einzigen Glühbirne erhellte Bühne war völlig leer bis auf eine alte ramponierte Couch, die hinten vorm Vorhang stand. Aber durch die Jahre, in denen er Schulklassen trotz zugewandten Rückens im Auge behalten hatte, war ihm so eine Art sechster Sinn erwachsen, und er war sich ganz sicher, daß er nicht alleine in dieser dunkelwandigen Höhle war. Behutsam schlich er auf Zehenspitzen den Gang entlang, hielt bei jeder Reihe, um sie nach beiden Seiten hin zu überprüfen, wobei die Ohren geradezu gespitzt waren, um auch nur das leiseste Geräusch von Erregung, von raschelnden Kleidern, von durch Küsse ersticktem Stöhnen aufzufangen. Als er zehn Reihen zurückgelegt hatte, befand er sich außerhalb des Überhangs vom Balkon, und er blickte hinauf,
um zu schauen, ob die Missetäter sich vielleicht oben vergnügten. Blickte zurück und sah es an der Tür stehen. »Mein Gott«, sagte er, und im leeren Auditorium hallte seine Stimme wider, kehrte zu ihm zurück, flüsternd, fast wie ein Gebet. Grüne Augen, starrend. Keine Verwunderung, was dies wohl sein und woher es kommen mochte, was es hier tat. Er machte kehrt und rannte den Zwischengang entlang, verfluchte das Gewicht, das er mit sich herumschleppte, als er nach rechts taumelte, gegen einen Sitz prallte und vorwärts stolperte und sich am nächsten festhalten mußte, um nicht zu stürzen. Dabei drehte er sich ein wenig, und der Hengst kam auf ihn zu. Schritt für Schritt. Grünes Feuer, lodernd. Ich werde sterben, dachte er und wußte nicht warum. Die Furcht, die warme Nässe sein Bein hinunterlaufen ließ, hielt ihn nicht davon ab, weiterzurennen, bis er schwankend gegen die Einfassung der Bühne stieß, ein Zusammenprall, der ihm die Luft nahm. Er schluckte Galle, wischte den Schweiß aus den Augen und hob ein Bein, um sich hinaufzuhieven. Zunächst mißlang es, und er wimmerte, versuchte es ein zweites Mal mit Erfolg, ließ sich auf dem Rücken abrollen, alle viere für einen Augenblick von sich gestreckt, während der Hengst zuschaute, unten aus dem Dunkeln. »Jesus, Maria und Joseph.« Voller Panik starrte er zu der Flügeltür hinüber, als er sich aufrappelte, hoffte, D’Amato habe die Türen nicht verschlossen, die zu den hinteren Gängen führten. Schielte zum Balkon, ob der Hausmeister vielleicht dort sein mochte, sah dann zu der Kreatur hinunter, die mitten im Gang stehengeblieben war.
Seine Ohren waren zurückgelegt, die Augen waren zusammengekniffen und beobachteten ihn, und es bestand keine Hoffnung, daß dies ein Scherz sei, und er wußte das. Es lief los. Binnen einer Sekunde war es da, eine Vorderhand scharrte den Teppich des Gangs zu grünem Feuer, im nächsten Augenblick spannten sich seine Muskeln und streckten es in den vollen Galopp. Adam riß den Mund auf, er war wie erstarrt. Der Hengst füllte die Luft mit Rauch und Flammen. Aus einem Grund, den er nie verstehen sollte, blickte Adam zur Glühbirne hinauf, die für ihn wie ein Scheinwerfer wirkte, und war halb geblendet, als er wieder hinuntersah. Aber nicht geblendet genug, um den Hengst in der Luft nicht zu erkennen, der mühelos vom Boden auf die Bühne sprang, schlitterte, glühte, das Maul geöffnet, die Zähne entblößt, als sich der mächtige Schädel auf seine Kehle senkte. Adam schrie. Die Birne zerplatzte. Und grünes Feuer in der Finsternis, das hier und da rot aufleuchtete.
17
Norman saß auf den Stufen der Veranda, als Don heimkam. Die Wolken türmten sich immer noch zu mächtigen Gebirgen auf, und der Garten war nahezu dunkel. Die Laternen waren bereits eingeschaltet und legten einen trüben Silberstreif über den Rasen und das Pflaster. Die Außenleuchte glomm in einem schwachen Gelb, als er zögernd den Weg zum Haus betrat, verunsichert, daß sein Vater sich in dieser Form draußen aufhielt – ohne Mantel, die Krawatte gelockert, ein leeres Glas in der Hand. »Hi«, sagte Norman und klopfte neben sich auf die Stufe. »Hi.« Don setzte sich, seine Bücher in den Schoß gepreßt. Er hoffte, das würde nicht der Auftakt zu einem Vater-und-SohnAbend werden. Falls doch, würde er vielleicht mit seinem Wissen herausplatzen, und dann würde er erfahren, was sein Vater tatsächlich von ihm hielt. »Wie fandest du die Generalprobe?« »Sie war okay, schätze ich.« »Hat die Jungs angeheizt, denke ich.« »Wahrscheinlich.« »Werden heute abend den Northern das Fell über die Ohren ziehen, möchte ich wetten. Brian sah aus, als wollte er jeden umbringen, der sich ihm in den Weg stellt.« Das war Don nicht aufgefallen. »Schade um Tar. Der Bursche hätte eines Tages ein echter Star sein können. Pratt hat keine Chance, er will zu hoch hinaus. Boston kannte seine Grenzen. Die muß man kennen, wenn man’s in der Welt zu was bringen will.« »Tar ist tot«, sagte Don ausdruckslos.
»Ja. Was für ein Elend.« Er rutschte auf seinem Platz, rülpste und strich sich mit der Hand übers Haar. »Cheerleader haben hübsche Beine, ist dir das schon mal aufgefallen? Ich meine, hast du, wenn du nicht gerade mit den Tieren sprichst, schon mal bemerkt, daß Cheerleader interessante Beine haben, mein Sohn?« Don wußte nicht, was sagen, und sagte nichts. Norman zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. »Du fragst dich wahrscheinlich, was ich hier draußen treibe. Vermutlich hole ich mir eine Lungenentzündung und verpasse das Spiel, was, wenn man die relative Bedeutung dieser Woche berücksichtigt, nicht gerade klug wäre.« Der Geruch von Bourbon war noch keine Fahne, die Haare fielen seinem Vater noch nicht völlig wirr in die Stirn. »Nun, ich will’s dir sagen, mein Sohn, ich warte auf deine Mutter.« Don zuckte zusammen, aber Norman bemerkte es nicht; er starrte auf den Rasen und drehte immerzu das Glas zwischen den Händen. »Erinnerst du dich an die verdammt direkte Frage, die du uns vor einigen Tagen gestellt hast. Erinnerst du dich daran, Donald?« Das tat er. Mit einer Deutlichkeit, die ihn die Wangen einsaugen und zwischen die Zähne nehmen ließ. »Nun, ich nehme an, du verdienst eine Antwort. Schließlich bist du mein einziger lebender Nachkomme. Schon bald wirst du dich in eine unbekannte Welt aufmachen und dein eigenes gottverdammtes Leben beginnen.« Er legte Don eine Hand aufs Knie, umklammerte und massierte es, zog die Hand weg. »Weißt du, dein Großvater pflegte immer zu sagen, damals, als er sich für nichts als einen Tritt in den Arsch in der Fabrik abschuftete, er pflegte zu sagen, daß man gar keine Pläne für die Zukunft schmieden
solle, da die Straße, auf der man geht, aus Scheiße gemacht sei. Manche davon so fest, daß man darüber laufen kann, manche so weich, daß man bis zum Arsch drin versinkt. Aber es bleibt Scheiße. Er sagte, man solle eine Zukunft für die Kinder aufbauen, wie er es für mich getan habe. Er sagte, es sei die einzige Möglichkeit, daß sich Menschen später an einen erinnern. Er hatte recht, mußt du wissen, sieh also nicht so schockiert drein. Es ist alles Scheiße, Donald, und ich erkläre dir das so, wie mein Vater es mir erklärt hat. Natürlich, mit manchem lernt man zu leben, wenn du weißt, was ich meine. Und manches davon kann sogar schön sein, weißt du? Nimm Falcone. Er ist Scheiße. Er will seine hirnrissigen Lehrer zum Streiken bringen, und das wäre auch das erste, was er am Montag tun würde. Aber weißt du, was dieser dämliche Trottel getan hat? Abgesehen von dem Ding mit deinen Noten, meine ich. Hast du eine Ahnung, was dieses Arschloch getan hat?« Don blickte zur Seite und hoffte, die Tränen herunterschlucken zu können, wenn er es nur heftig genug versuchte. Er verstand allmählich, warum ihm der Geruch des Bourbon sauer vorgekommen war. »Oh«, sagte Norman. »Oh, du hast sie gesehen.« Er nickte. »Das Blödeste, was ich je erlebt habe.« Norman lachte hart. »Er ist tatsächlich aus der Schule zu seinem Wagen gerannt. Sein Wagen, wohlgemerkt. Und dort saß sie, wie die Garbo aufgemacht, als ob niemand wissen würde, wer sie ist. Die mysteriöse Frau in Harry Falcones Leben, verstehst du, was ich meine? Nun, das war dämlich, Donald. Dämlich. Denn jetzt kann er auf dem Boulevard nackt den Dixie pfeifen, und kein Lehrer wird seinem Arsch folgen. Gute Scheiße für mich, schlechte Scheiße für ihn.«
»Dad, bitte.« Norman stellte das Glas an die Kante der Stufe, und Don packte es, ehe es herunterfallen konnte, und stellte es oben auf die Veranda. »Ja«, sagte Norman. Don sah ihn an. »Die Antwort auf deine Frage lautet: ja. Ich wußte es wahrscheinlich von dem Tag an, an dem Sam starb und deine Mutter mich dafür verantwortlich gemacht hat, weil wir zum Camping rausgefahren sind, statt am Strand herumzufaulenzen, wie sie es gewünscht hatte. An der Küste gibt’s Krankenhäuser. Beim Camping gibt’s Bäume. Und wenn deine Mutter glaubt, mir fehlt er nicht, dann ist sie dümmer, als ich dachte.« Don erhob sich, aber Norman bannte ihn mit einem Blick von der Seite. »Dir gefällt es nicht, wenn ich so von deiner Mutter rede, und um dir die Wahrheit zu sagen, mir gefällt es auch nicht, mich so reden zu hören. Sie ist eine tolle Frau, Don, eine tolle Frau. Wenn sie also zurückkommt, von wo immer sie mit diesem schleimigen, schmierigen Idioten hin ist, werde ich sie vor die Wahl stellen – entscheide dich, Joyce. Du bleibst entweder bei deiner Familie oder bei ihm.« Er schüttelte langsam den Kopf und saugte an seinen Zähnen. »Allerdings waren es wohl meine Neuigkeiten, die sie dazu veranlaßt haben. Ich mußte ihr das sagen. Bis jetzt hat sie alles ruhig und umsichtig gehandhabt. Mein Fehler, schätze ich.« »Was für Neuigkeiten?« flüsterte Don. »Ich werde zum Ende des Jahres aufhören.« »Was?« »Schrei nicht, Junge. Ich bin dein Vater.« »Aufhören? Du meinst… an der Schule aufhören? Mit deinem Job?«
Du bist betrunken, dachte er. Du bist betrunken, du bist betrunken! »Verdammt richtig. Hab’s ihr heute nachmittag erzählt. Falcone, die Schulbehörde, die können die Schule und jedes Gör darin nehmen und damit hingehen, wo der Pfeffer wächst. Stell dich besser drauf ein, daß ich kündige.« »Aber warum?« »Mein Vater sagte mir, die einzige Möglichkeit, in dieser Welt zu bestehen, wo man die ganze Zeit auf Scheiße läuft, ist, indem man Geld macht. Viel Geld. Das werde ich ganz bestimmt nicht als Schulleiter schaffen, oder tue ich das? Verdammt, nein.« Don versuchte zu atmen und lehnte sich schwer gegen das Geländer. »Was hast du also vor?« »Ah, du hast deiner Mutter nicht zugehört, mein Sohn. Du hast nicht beobachtet, wie Garziana mich in jüngster Zeit behandelt.« »Garziana? Bürgermeister Garziana?« Total besoffen. Irgendwie mußte er total besoffen sein, oder ihm wäre nicht zum Lachen zumute. Norman nickte und starrte auf seine Hände, als erwartete er, das Glas sei noch da. »Ich werde nächsten Herbst zur Wahl antreten, Don. Deine Mutter dachte, ich scherze, als ich es ihr das erste Mal sagte. Aber ich habe lange darüber nachgedacht, gut nachgedacht, und ich habe mir angesehen, was Garziana sich geschaffen hat. Ihm geht es gut, Sohn. Für eine kleine Scheißstadt wie diese geht’s ihm verdammt gut.« Don hielt sich am Geländer fest und zog sich zur Veranda empor. »Sie hält mich für verrückt. Allerdings hatte sie in einem Punkt recht: Das große Geld kommt erst, wenn ich ein paar Jahre im Amt bin. In Form von kleinen Zuwendungen hier und da. Der Job als solcher bringt nicht das Gelbe vom Ei, aber
langfristig zahlt es ich aus, daran besteht kein Zweifel. Das habe ich direkt an der Quelle erfahren.« »Schule«, sagte Don heiser. »Wie steht es…« »Hast du irgendein Stipendium in Aussicht?« »Oh, nein, bitte, Dad. Nein, bitte.« »Weißt du, ich glaube… Mich würde nicht überraschen, wenn sie denkt, ich hätte den armen Kerl letzte Nacht für das erschlagen, was er meinem Auto angetan hat.« Don blickte verzweifelt zur Haustür, blickte zurück und sah, daß sein Vater ihn beobachtete. »Du warst in meinem Zimmer!« klagte er, ohne sich länger darum zu kümmern, wie betrunken Norman war. »Und ob ich das war. Ich wurde neugierig. Es ist mein gottverdammtes Haus, und ich wollte mir all deine kleinen Freunde dort mal näher ansehen. Zu verstehen versuchen, was zum Teufel in deinem Schädel vorgeht! Ich muß gestehen, ich weiß es immer noch nicht, aber ich weiß, du bist nicht sehr gescheit, Don. Du hättest diese Schlüssel nicht auf deinem Schreibtisch liegenlassen sollen.« Er drehte sich ein wenig um und legte den Ellbogen auf die obere Stufe. »Ich bin nicht blöd, Donald. Halte mich niemals für blöd. Ich weiß nicht, was du dir gedacht hast, als du mir nichts von Tar erzählt hast, aber ich weiß, du dachtest, ich würde diesen kleinen Hurensohn killen. Warum hast du nichts gesagt? Wolltest du es selber erledigen?« Don wandte sich von dem Gelächter ab, das kichernd begann und in Keuchen endete. Er öffnete die Tür, benommen und mit dem Verlangen, das Bad aufzusuchen. »War’s so?« drängte Norman. »Jesus, ich hoffe, du glaubst all diesen Schwachsinn nicht, von wegen du seist ein Held. Du weißt ebenso wie ich, daß du’s nicht warst.« Er schnappte nach Luft, sah sich aber nicht um.
»Nee«, sagte Norman. »Das bist du nicht gewesen. Das war ein irrer Kerl, nicht mein Junge. Fünf Sekunden Irrsinn machen aus dir noch keinen Helden.« Don wollte in Ohnmacht versinken, um sich ins Dunkel zu flüchten. »Geh du nur rein«, sagte Norman freundlich, der glaubte, das Schweigen bedeutete eine Aufforderung nachzukommen. »Ich bleib noch etwas sitzen und versuche, nüchtern zu werden. So kann ich wohl kaum zum großen Spiel gehen, was? Das würde einen schlechten Eindruck machen. Die Leute mögen keine besoffenen Bürgermeister in der Öffentlichkeit. Außerdem kommt deine Mutter vielleicht nach Hause. Vielleicht auch nicht. Ich persönlich hoffe, sie – « »Halt den Mund!« schrie Don. Er fuhr herum, wobei seine Bücher in die Diele flogen, während sich am Rande seines Blickfelds rotes Flimmern abzeichnete. »Du hältst den Mund!« »Nein, du wirst endlich erwachsen!« brüllte Norman zurück. »Es wird allmählich Zeit, daß du erwachsen wirst, Junge, und aufhörst zu glauben, deine Tagträumerei würde die Dinge hier zum Besseren wenden.« Wie ein Speer deutete ein Zeigefinger auf Dons Brust. »Ich will dir was sagen, Sohn: Wenn du nicht bald in die Wirklichkeit einkehrst, wirst du in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. All dieser Quatsch, armen hilflosen Tieren zu helfen, all das Wehgeschrei wie das eines Zweijährigen, weil deine Mutter ein bißchen Kinderspielzeug aus deinem Zimmer geräumt hat – du solltest besser erwachsen werden, Donald. Du solltest lieber die Augen öffnen und begreifen, wie es wirklich ist hier draußen in der realen Welt.« Don knallte die Tür zu. Er kickte ein Buch beiseite, über das er fast gestolpert wäre, und taumelte die Stufen hinauf, rutschte zweimal aus, stürzte auf dem Treppenabsatz und schleppte sich in den Korridor. Er lehnte sich gegen die Wand und starrte
hinunter zum Elternschlafzimmer, zu seinem Zimmer, und blickte zurück zu Sams Zimmer und schluchzte. »Don?« rief Norman von der unteren Treppenstufe her. »Laß mich in Ruhe!« schrie er. »Laß mich bloß in Ruhe!« »Ich wollte dir nur sagen, daß Sandwiches in der Küche bereitstehen, falls du noch etwas essen möchtest, ehe du zum Spiel gehst.« »Um Himmels willen!«, kreischte er, »laß mich endlich in Ruhe!« Er stürzte in sein Zimmer, packte den Schreibtischstuhl und hob ihn hoch, während Tränen seine Wangen netzten, und warf ihn gegen die Wand, wobei sich seine Knie versteiften. »Laß mich in Ruhe!« sagte er lauthals. Ein Arm fegte Bücher und Stifte vom Tisch. »Laß mich in Ruhe«, flüsterte er. Er packte sich einen ausgestopften Falken von einem Regal und versuchte, ihm den Kopf abzudrehen, schleuderte ihn dann gegen das Fenster und zuckte zusammen, als die Scheibe erzitterte und der Vogel zurückprallte, um dann langsam mitten auf dem Fußboden hin und her zu schaukeln. »Laß mich in Ruhe. Laß mich bloß… in Ruhe.«
Schritte im Flur, die nicht zauderten oder innehielten. Die Dusche prasselte. Die Toilette rauschte. Irgend etwas Gläsernes zerschellte auf dem Boden des Badezimmers. Zehn Minuten später knallte die Haustür, und Don sprang vom Bett hoch, rannte ins Elternschlafzimmer, zog die Vorhänge beiseite und starrte auf die Straße hinunter. Norman, in bequemen Hosen, Pullover und Sportsacco, bog auf den Bürgersteig ein. Er blickte nicht zurück, blickte nicht auf und blieb mit ausgestreckten Händen stehen, als Chris ihr rotes Kabrio aus der Garage zurücksetzte. Sie wechselten einige
Worte. Norman schüttelte höflich den Kopf. Noch ein Wortwechsel, wobei Chris ihr bestes Lächeln aufblitzen ließ. Als er die Schultern hob, winkte sie ihm kurz zu, griff nach den Pompons neben sich, warf sie nach hinten und lehnte sich hinüber, um die Beifahrertür zu öffnen. Noch ein Winken, und Norman zuckte die Achseln, umrundete das Heck des Wagens und glitt auf den Beifahrersitz. Als sie Richtung Stadion davonfuhren, hatte Chris beide Hände am Lenkrad, und sein Vater starrte nach rechts. Don trat vom Fenstersims zurück und ging wieder in sein eigenes Zimmer, hob den Falken auf und legte ihn sanft aufs Bett. »Entschuldigung«, sagte er. Unten war es dunkel… Nachdem er im Wohnzimmer die Lampen und in der Diele die Deckenleuchte eingeschaltet hatte, bemerkte er den an die Haustür gehefteten Zettel. Don, vergiß nicht, etwas zu essen, ehe du gehst. Und ich habe zuviel getrunken. Dumm und betrunken. Tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe. Vergiß deinen Schlüssel nicht. Er streckte die Hand aus, um das Blatt zu berühren, zog sie zurück, griff dann nach dem Zettel und zerriß ihn in zwei Hälften, nochmals in Hälften und warf die Schnipsel dann auf den Boden. »Leidtun reicht nicht, Vater«, sagte er, als er ins Wohnzimmer ging, wo er Normans Sessel anstarrte. Eine Reihe von Autos kam am Haus vorbei, Hupen quäkten, Musik dröhnte laut und unmelodisch. Er blickte zur Decke. »Warum?« fragte er mit rauher und brennender Kehle. »Was habe ich falsch gemacht?«
In der Küche goß er sich ein großes Glas Milch ein und nahm die Sandwiches, die einer von ihnen gemacht hatte. Nachdem
er sich vergewissert hatte, nichts vergessen zu haben, setzte er sich hin, aß und starrte auf sein Spiegelbild in der Hintertür, halb erwartend, Mutter hereinkommen und ihre Mähne schütteln zu sehen, ihm ein Lächeln zu schenken und die Wange zum Kuß darbieten zu sehen. Dann würde sie zum Spülstein hinübergehen, heißes Wasser einlaufen und das Geschirr hineinplumpsen lassen, zurücktreten und das Ganze begutachten, als habe sie ein Kunstwerk vollbracht. Als er fertig war, spülte er sein Glas aus, säuberte seinen Teller und schaltete das Licht aus. Beim Tischchen in der Diele blieb er stehen und beobachtete, wie sich seine Finger um das Telefon schlossen. Er wählte Traceys Nummer und hielt den Atem an. Sie nahm ab, und er sank auf den Fußboden, unfähig zu sprechen, bis sie einen Wortschwall herben Spanischs losließ, der ihn so verblüffte, daß er »Was?« sagte. »Don, bist du’s? He, ich dachte schon, es sei ein obszöner Anruf.« »Ja, ich bin’s. Gott, was hatte das alles zu bedeuten?« Sie kicherte. »Das solltest du lieber nicht wissen, aber es klang gut, was?« »Hat mir eine höllische Angst eingejagt.« »Sollte es auch. Eine der Glanzideen meines Vaters.« Ihre Mutter rief schrill nach ihrer Schwester, und ihr Vater brüllte alle an. »Was ist los? O Gott, schon wieder etwas passiert?« Don nickte. Dann sagte er: »Ja.« »Ich sollte Priester werden, weißt du.« »Ha?« »Ein Priester. In den letzten paar Tagen hat sich so ziemlich jeder an meiner Schulter ausgeweint. Allmählich werde ich richtig gut darin. Ich sollte mich bezahlen lassen, was meinst du?«
Er starrte die Sprechmuschel an. »Don«, sagte sie begütigend, »das war ein Scherz.« »Oh, tut mir leid.« »Keine Ursache. He, hör zu, ich komme zu spät. Und wenn ich zu spät komme, werde ich meine Flöte einpacken müssen, und sie werden mir die Epauletten abreißen.« Sie machte eine Pause. »Das war ebenfalls ein Scherz.« »Ja, ich weiß.« Ihr Vater schrie irgend etwas auf spanisch, und ihre Schwester schrie zurück. Eine Sekunde später hörte er das eindeutige Geräusch einer Ohrfeige und jemanden weinen. »Don – « »Ich hab’s gehört.« Sie flüsterte: »Tut mir leid. Es war wirklich ein Scherz. Seh’ ich dich nachher?« Ehe er antworten konnte, legte sie auf, und er wickelte die Schnur um seine beiden Hände und zerrte sie straff. Jetzt, dachte er. Ich brauche dich jetzt, Tracey, verdammt noch mal.
Er saß auf der Couch und versuchte zu erraten, wie spät es war. Alle paar Minuten stand er auf und ging in die Küche, um seine Schätzung mit der Uhr zu vergleichen. Er irrte sich. Jedes Mal. Und jedes Mal, wenn er zurückging, wußte er, seine Mutter würde nicht zurücksein, ehe er ging. Falls er ging. Er war sich noch nicht sicher. All diese Leute, all diese Gesichter, all dieser Lärm hinderten ihn am Denken. Er ging nach oben in Sams Zimmer. Neben Sams Kinderbett mit den Winnie-Bär-Laken stand die Nähmaschine seiner Mutter auf dem Boden. In einer Ecke hatte sie einen kleinen Tisch stehen, auf dem sie ihre Kunstutensilien stapelte, wenn sie sie nicht benötigte. Die Tapete war staubig, massenweise Cowboys und Indianer und
Kakteen und Postkutschen. Das Rollo war heruntergelassen. Auf der Matratze lag ein Kissen. Er sah sich um und versuchte sich zu erinnern, wie sein Bruder ausgesehen hatte, was er gesagt und getan hatte, daß seine Mutter sich so deutlich an ihn erinnerte. »Sam«, sagte er, »du bist ein Bastard, weißt du das? Du bist ein gottverdammter Bastard.« Tracey eilte den Hügel zum Stadioneingang hinunter. In ihrer Uniform kam sie sich wie ein Clown vor, als sie an all jenen vorbeikam, die für Freizeit und Spaß angezogen waren und nach dem Spiel nicht erst nach Hause gehen mußten, um sich umzuziehen. Ansonsten scherte sie sich nicht ums Spiel, die Musik oder wie sie auf dem Platz aussah – sie machte sich Sorgen um Donald, über das, was mit ihm passierte, und warum der Klang seiner Stimme sie vorhin nicht wie sonst zum Erzittern gebracht hatte. Dann rief jemand ihren Namen, und sie drehte sich noch um, um Jeff hinter ihr her laufen zu sehen. Sie lächelte, wartete und lachte, als er mit seinen Nagelschuhen auf dem Pflaster ausrutschte und ins Gras stürzte. »Toll«, sagte sie, als sie hinüberging, um ihm aufzuhelfen. »Das ist die Geheimwaffe, hm?« Er starrte sie mürrisch an, seufzte laut und langte hinunter, um seinen Helm aufzuheben. »Ich habe versucht anzurufen«, erklärte er, als sie dem Eingang zustrebten, »aber es war besetzt.« »Ich habe mit Don telefoniert.« Er schwieg. Sie sah ihn an, blickte wieder weg und verspürte ein Zusammenziehen in ihrer Brust, das nichts mit der sich rasch abkühlenden Luft zu tun hatte. Drinnen im Tunnel klangen seine Nagelschuhe laut und hallten wider.
»Trace?« Sie blieben an der Bahn stehen. Auf den Rängen saßen bereits Leute, und die Band stand hinten links und lauschte den letzten Instruktionen vom Kapellmeister. Ganz am Ende konnte sie die Spieler langsam ins tiefgelegene BetonMannschaftshaus schlendern sehen. »Irgendwas stimmt nicht mit ihm«, sagte sie ruhig. Er nahm ihre Hand, drückte sie und ließ sie nicht los. »Ich weiß nicht.« Eine Trompete plärrte, und der Kapellmeister mahnte zur Ordnung. Sie blickte kurz hinüber und sah dann wieder Jeff an. »Er macht mir angst«, gestand sie, ihm sowie sich selbst. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, und er macht mir angst.« Und der Ausdruck auf seinem Gesicht hätte sie beinahe dazu gebracht, ihn zu küssen – Besorgnis, Wut und Frustration vermischt und düster. »Hör mal«, meinte er schließlich, »warum sehen wir uns nicht später, okay? Nach dem Spiel? Ich bringe dich nach Hause oder so, und wir könnten – « »Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich bin mit Don verabredet.« »Oh.« »Er muß mit jemandem reden, und ich glaube, ich bin – « »Aber du fürchtest dich vor ihm, Trace. Du hast eben noch gesagt, du hast Angst vor ihm.« »Ich weiß. Aber er ist auch ein Freund, weißt du?« Dann drückte sie seine Hand und gab sie frei, winkte ihm zu und beobachtete, wie er im Trab um die Bahn zum Mannschaftshaus trabte. Armer Jeff, dachte sie und runzelte die Stirn, weil die Worte sie plötzlich verwirrten. Sie hätte Mitleid mit Don haben sollen, nicht mit Jeff. Es war Don, den sie gestern geküßt hatte. Aber es war Jeff, den sie jetzt küssen wollte oder sich anschmiegen oder neben dem sie einfach
stehen und dessen spöttische Bemerkungen sie hören wollte über einen Sport, zu dem sein Vater ihn gezwungen hatte. Jeff. Don. Und sie fragte sich, ob sie Don überhaupt treffen sollte. Zumindest nicht allein. Sie hatte nicht gelogen – er machte ihr angst.
Das Telefon läutete. Er ließ sich auf dem Weg die Treppe hinunter Zeit, denn falls es seine Mutter wäre, würde er nicht wissen, was er ihr sagen sollte, außer, nach Hause zu kommen, bitte, komm nach Hause. Es war Sergeant Verona. Don legte auf, ohne auch nur eine einzige Frage beantwortet zu haben, und nahm seine Jacke aus dem Schrank. Er konnte jetzt nicht bleiben. Wenn er dies tat, würden die Bullen bald auftauchen, ihn wegen Tar ausquetschen, ihn nach dem Howler fragen und nicht eher lockerlassen, als bis sie Bescheid wußten. Ihn anstarren wie Hedley, in seine Seele blicken und wissen, wer er war und was aus ihm geworden war, seit der Klumpen explodiert war. Es würde sie einen Dreck scheren, daß sich seine Eltern trennten und er alleine sein würde. Er stand auf der Veranda und schloß die Tür ab; für den Fall, daß seine Mutter es gebrauchen könnte, ließ er das Licht an. Am Ende der Einfahrt blickte er zum Park hinüber, überlegte, ob er nicht zuerst dorthin gehen und sich beruhigen sollte, ehe er sich in der Schule blicken ließ. Seine Hände waren zittrig, und er konnte nur stoßweise atmen, und gleichgültig, wie oft er sich übers Gesicht wischte, es war immer schweißbedeckt. Vielleicht würde sein Freund kommen und sich wieder berühren lassen.
Ein Auto bremste, und eine ihm unbekannte Frau lehnte sich aus dem Fenster. »Sind Sie Donald Boyd?« Sie kicherte und drehte sich zu jemandem, der neben ihr saß. »Ich klinge wie eine Irre, was? 0 Gott, ich höre mich an wie eine Verrückte.« Zurück zu Donald. »So, sind Sie dieser Junge, den ich im Fernsehen gesehen habe, der, der den Killer gekillt hat?« Er nickte benommen. »Dachte ich mir«, meinte sie mit einem knappen Nicken. »Sagte dir doch, der ist es«, wandte sie sich an ihre Begleitung. »In der Sekunde, in der ich ihn sah, wußte ich, der ist es.« Mit einem Hab-ich’s-doch-gesagt fuhr sie davon und hätte dabei beinahe einen anderen Wagen gerammt, der sie überholen wollte. Wütendes Gehupe, Geschimpfe, und aus dem zweiten Wagen brüllte jemand Donald zu, er müsse sich beeilen, wenn er das Eröffnungskicken nicht verpassen wolle, oder ob er dafür zu groß sei? Laßt mich in Ruhe, erklärte er ihnen mit einem wütenden Blick, von dem er wußte, sie sahen ihn nicht, laßt mich um Himmels willen in Ruhe. Vor Chris’ Haus blieb er stehen und zeichnete mit den Augen den Vorgang nach, als sie seinen Vater aufgegabelt hatte, folgte in Gedanken ihrer Abfahrt, als sie so weit voneinander getrennt gesessen hatten wie Fremde. Seine Hand tat weh, wo er sie gegen ihre Brust gepreßt hatte, und er rieb sie so fest an seiner Jacke, bis sie brannte. Delfields Hund begann zu kläffen. Halt die Schnauze, dachte er. In seiner Brust war eine Spannung, die seine Lungen zusammenzog; in seinem Rückgrat befand sich ein Stock, der ihn daran hinderte, sich zu bücken. In seinen Armen herrschten Krämpfe, die seine Fäuste geballt ließen. Eine Polizeisirene jaulte; laßt mich in Ruhe; Reifen quietschten; laßt mich; Tars Leiche mitten auf der Straße
ausgebreitet, mehr Blut als Fleisch, Blut strömte in den Rinnstein. Sein Kopf schmerzte. Ein Trio von Schulbussen raste vorbei, nahmen ihn in ihren Sog, als North-Fans ihn aus ihren geöffneten Fenstern hänselten, in Hörner und Tröten bliesen, eine Bierdose rollte in den Rinnstein. Haut ab. Aus dem letzten Bus warf jemand eine Bierdose, die auf seinen Schuhen landete und ihren Inhalt zur Hälfte auf seine Hosen verspritzte. »Herrje!« bellte er. »Herrje, laßt mich in Ruhe!« Fünf Schritte weiter hörte er all das Geschrei über die Stadionmauern quellen, und er begann zu rennen, während er immerzu sagte: »Ich wollte es nicht, ich wollte es nicht«, bis er das Eingangstor erreichte und das Geschrei sogar noch lauter wurde.
18
In seiner Panik, hineinzukommen und zu sehen, was der Hengst den Zuschauern und dem Team antat, wäre er beinahe über das Drehkreuz gestolpert. Aber da stand ein Cop, und der starrte mit düsterer Miene die Zuspätkommer an, und Donald fummelte nach seinem Ticket in seiner Hemdtasche, reichte es der rotgesichtigen Frau in ihrem Kassenhäuschen und stieß gegen den Metallarm, bis er klickend nachgab. Und dann war er drin – musterte die Reihen voller Gesichter, offener Münder, in der Luft fuchtelnder Hände und Stimmen, die von beiden Seiten des Spielfeldes kreischten, die strahlenden Lichter, die den Rasen in ein kräftiges Grün verwandelten und den Uniformen, die nach dem Eröffnungsanspiel das Spielfeld säumten, einen besonderen Glanz verliehen. Das wär’s also, dachte er erleichtert und sackte gegen eine Backsteinmauer, das war alles, ich habe nichts getan. Er hockte sich auf den Boden und blieb so zehn Minuten sitzen, ohne kaum mehr zu sehen, als vorbeihastende Beine und zu hören als unaufhörliches Schreien, das sich zu einem Gebrüll steigerte, das nicht aufhörte, nicht endete, ihn stöhnen und sich die Ohren zuhalten ließ und sich wundern, warum wegen eines lausigen Football-Spiels einer High-SchoolMannschaft so viele Menschen aus dem Häuschen gerieten. Wußten sie nicht, daß Tar tot war? Wußten sie nicht, daß der Bursche, der Brian zuspielte, ein lausiger Ersatz war, nicht das Original? Er atmete tief und rasch durch, bis sein Kopf wieder klar wurde und seine Hände zu zittern aufhörten.
Natürlich wußten sie es. Aber dies war kein Mord. Dies war ein tragischer Unfall, und deshalb würde kein Unterricht ausfallen und kein Konzert zum Gedenken an Tar Boston gegeben werden. Als der Boden zu feucht wurde, um noch länger darauf zu sitzen, kam er ächzend auf die Füße und bahnte sich einen Weg zu den Zuschauertribünen. Erstaunlicherweise waren sie vollbesetzt, und als er dem eisernen Geländer folgte, konnte er keine einzige Lücke entdecken, die groß genug für ihn gewesen wäre, um sich hineinzuquetschen, außer dem freien Bereich, wo die Band sich jetzt einfand, nachdem sie die Nationalhymne gespielt hatte. Er versuchte Traceys Blick aufzufangen, als er sie erspäht hatte, aber sie plauderte mit ihren Nachbarn und versuchte zu verhindern, daß der Wind ihr die Baskenmütze vom Kopf riß. Ein kräftiger Wind, der an den Wimpeln zerrte und mehr als nur ein paar Hüte fortwehte und sie über die hintere Wand zu den Häusern hinüber trieb. Es waren keine Sterne am Himmel, als er aufsah, nur ein dichtes wanderndes Schwarz, und er bemerkte, daß die meisten Leute Regenschirme, Umhänge und Decken mitgebracht hatten, um sich zu schützen, wenn es schließlich regnen und der Platz sich in ein Moor verwandeln sollte. Er umrundete langsam das Spielfeld, mied dabei pöbelnde Teenies, die sich vor ihren Mädchen wichtigtun wollten, sah Jeff auf der Bank und zeigte ihm die Siegesfaust, sah seinen Vater nicht, aber Chris auf dem Platz, die routiniert die Jubelnummern und das Tanzen abspulte. Als er den Haupteingang erreichte, war man schon gut im zweiten Viertel. Es gab keinen Treffer, die Fans wurden auf beiden Seiten etwas ungeduldig. Geschubst und ab und zu beschimpft stand er mitten auf der Bahn und beobachtete das Spiel vom Schneezaun aus, der von
der Torlinie am einen Ende des Feldes hin bis zu der am anderen Ende reichte. Dort standen die Bullen, einige Fotografen und eine Horde kleinerer Kinder, die versuchte, durch die roten Schlitze zu sehen. Der Quarterback der North vermasselte einen Ball. Sein eigenes Team machte gleich den nächsten Patzer. Die elektronische Zeittafel am hinteren Ende zeigte immer noch in gelben Lichtern die Uhrzeit und den Punktestand mit Null. Don trat an den zerbrechlichen Zaun und kreuzte die Arme obendrauf. Noch eine Minute, und die erste Halbzeit wäre vorüber. Das Geschrei klang gebremst, das Gejubel halbherzig. Niemand mag ein Spiel, in dem auf beiden Seiten gemauert wird, wenn er in der Kälte sitzen und auf den Regen warten muß. Plötzlich sah er Brian in seine Richtung rennen, zurückschauen und den Spiralenflug eines unglaublich hohen Passes folgend, der in hohem Bogen die zweite Linie nahm und zu zögern schien, ehe er sich direkt in Brians Arme warf. Wieder begann das Geschrei, aber Don beobachtete ausschließlich Brian, beobachtete, wie er einem potentiellen Angriff auswich und einen anderen abwehrte und fünf Meter vor dem nächsten Rebel-Verfolger über die Torlinie trabte. Die Zuschauer erhoben sich, die Band plärrte mißtönend, und Brian grinste, als er zum Zaun kam und ihn entdeckte. »He, Quakie, willste das noch mal sehen?« fragte er und wurde sogleich vom Rest des Teams vereinnahmt und praktisch zur Bank getragen, wo ihm der Coach die Hand schüttelte. Don wurde von Fotografen beiseite gestoßen, von den Kindern, und wurde von einem Cop verwarnt, sich einen Platz zu suchen, ehe man ihn aus dem Stadion weisen würde. Beinahe hätte er sich angesichts der in ihm wachsenden
Anspannung mit ihm angelegt, die er als warme Röte auf seinen Wangen spürte. Aber er schluckte es hinunter und wandte sich ab, wobei ein Teil von ihm dachte, sie wissen nicht mehr, wer ich bin, ein anderer Teil von ihm erkannte, daß dieses In-Ruhe-Lassen jetzt keine Bitte mehr war, sondern eine Drohung. Das mochte nach all den Qualen die einzige Spielregel sein, die galt. Er fand einen Platz, einen schmalen Sitzplatz, am Ende der ersten Reihe fast ganz zum Schluß der Tribüne. Er konnte nicht viel sehen, nicht während der Halbzeit, als die Band des Gastgeber-Teams antrat, um ihr Zeug abzuspulen, und nicht als die Verteidiger der Braves den zweiten Treffer nach dem zweiten Anpfiff landeten. Es interessierte ihn nicht besonders. Falls er nach Hause ginge, würde er vielleicht seiner Mutter begegnen, wenn er aber bliebe, dann konnte er nach dem Spiel mit Tracey sprechen. Vielleicht konnte sie ihm sagen, was er als nächstes tun sollte. Im Verlauf des dritten Viertels konnte er seine Unruhe nicht länger zügeln. Er sprang zur Bahn hinunter und begann wieder herumzulaufen, kam an der Band vorbei und sah Tracey diesmal. Sie grinste und winkte; er wies zur Anzeigetafel, auf sein uhrloses Handgelenk und dann auf seine Brust. Sie runzelte in Verwirrung die Stirn, dann erhellte sich ihr Gesicht, und sie nickte rasch. Sein Lächeln zeigte nur einen Bruchteil seiner Erleichterung, und es hielt auch, als sein Blick über die Zuschauer schweifte und seinen Vater erfaßte, der neben dem Bürgermeister und seiner Frau saß. Joyce saß neben Mrs. Garziana, den Schal noch ums Haar, doch ohne Sonnenbrille. Don sah seinen Vater an, dann wieder seine Mutter, die ihn bemerkte und winkte – ein schwaches und entschuldigendes Winken vor dem Hintergrund eines Lächelns, das so gezwungen wirkte, daß er glaubte, es werde vor Anstrengung
zerspringen. Ein höfliches Lächeln. Ein öffentliches Lächeln, nicht für ihn, sondern für die Umgebung. Er winkte zurück und zog weiter, wobei ihm zum erstenmal klar wurde, daß er früher oder später eine Wahl würde treffen müssen – beim Vater bleiben, bei der Mutter bleiben, so oder so gezwungen, seinen Traum vom Tierarzt aufzugeben, der seinen Freunden half. Die Menge brüllte. Das Feld nicht beachtend, blickte er zur Anzeigetafel empor und sah einen anderen verzeichneten Treffer und Brians Nummer aufblinken. Ehe er den hinteren Abschnitt erreichte, passierte das noch einmal; und als er bei den mit Rebels besetzten Holzbänken vorüberkam, spürte er die Abneigung und Abwehr, die anwachsende Grobheit, die mit dem Frust des Verlierens einhergeht. Er drehte eine zweite Runde, und die Rebels erzielten ihren ersten Treffer. Beim dritten Mal hielt er vor der Band und warf sich gegen die Menge, die sich vor der Bank der Braves drängte und bis auf die Bahn schwappte und sich nicht um die Polizei und Ordner scherte, die versuchten, wenigstens den Anschein von Ordnung aufrechtzuerhalten und dabei auch noch das Spiel zu sehen. Er starrte Tracey an und hatte das Gefühl, sein Vater starrte zurück. Aus dem Blickwinkel sah er seine Mutter über irgend etwas lachen, was die Frau des Bürgermeisters gesagt hatte. Er kniff die Augen zusammen, aber sie schien nicht zu begreifen, daß dies nicht der Zeitpunkt zum Lachen war, für Football; es war der Zeitpunkt für ihren Sohn, der nicht Sam hieß. Dort blieb er, bis er den Schlußpfiff hörte und sich fest gegen das Mäuerchen drücken mußte, als die Fans über das Geländer und aufs Spielfeld quollen. Seine Schulter wurde gestoßen, sein Rücken geschlagen, und er gab sich redlich Mühe, nicht
zu Boden zu gehen, zu lächeln, als sei er vor Verzückung über den Sieg außer sich, den sie errungen hatten, bis er Tracey sah, die auf die nächstgelegenen Stufen zeigte. »Gott«, sagte sie atemlos, als er schließlich bei ihr ankam und sie gegen ihn fiel. »Man könnte glauben, es ginge um die blöde Super Bowl, es ist zum Heulen.« Ihre Uniform fühlte sich rauh an, aber sein Arm glitt wie selbstverständlich um ihre Taille und er stellte sich wie ein Schutzschild vor sie, während sie ihr Instrument wegsteckte und ihre Noten in alle möglichen Taschen stopfte. »Hast du deine Leute getroffen?« Er nickte steif. »Mußt du auf sie warten oder so?« »Du?« »Nö.« Mit einem »Auf geht’s« hielt er sie dicht an seine Hüfte und steuerte auf die Ausgänge zu. Es würde ein Weilchen dauern; einige Kids lieferten sich auf der Bahn improvisierte Rennen, Football-Spieler versuchten wegzukommen, damit sie sich umziehen und an der Siegesfeier teilnehmen konnten, und eine Handvoll Mitglieder der Band spielte Musik, die ihr Lehrer sie niemals proben ließe. »Don«, fragte Tracey da, »was ist los?«
Joyce applaudierte und begeisterte sich mit den übrigen und verstand kein Wort von dem, was Jean Garziana zu ihr sagte, als sie die Stufen zum Ausgang hinuntereilten. Donald war verschwunden, untergegangen in dem Strudel von Leibern, die sich über das Spielfeld ergossen, und sie haßte sich dafür, daß sie darüber erleichtert war. Norm befand sich hinter ihr, und als sie zurückschaute, hatte er für sie nur dieses leblose Starren übrig, das er für Leute
reservierte, die er nicht kannte. Jean berührte ihren Arm, und sie lächelte automatisch, deutete auf ihre Ohren und dann auf das Menschengewimmel. Die Frau nickte, und man konzentrierte sich darauf, aus dem Stadion und zur School Street zu kommen. An der Ecke war es nicht ruhig, aber entschieden weniger bevölkert. »Wir wollen noch was trinken gehen«, sagte die Frau dann. »Hätten Sie Lust mitzukommen?« Als Joyce zögerte, öffnete sie den Regenmantel und ließ ihre Schwesterntracht sehen. »Es würde nicht spät werden, das verspreche ich. Ich muß um Mitternacht meinen Dienst antreten.« »Aber ich bin nicht richtig angezogen«, protestierte Joyce und blickte auf ihre dünne Bluse, die zerknautschte lange Hose und ihre Ballerina-Schuhe hinunter. »Ich würde mich nicht wohl fühlen.« Ein nervöses Auflachen – Sie wissen ja, wie das ist. Da kam Anthony Garziana mit Norman im Schlepp an. Als Jean die Situation erklärte, lachte er herzlich und schlug Norman auf den Arm. »Kein Problem, Ladies, kein Problem«, sagte er. »Joyce, Sie ziehen sich erstmal um. Ich möchte, daß Sie sich heute abend wohl fühlen. Norm, Sie begleiten sie, kommen mit ihr zurück und wir genehmigen uns ein paar Drinks und unterhalten uns, was sagen Sie dazu?« Er ließ ihm gar keine Zeit zur Antwort. Indem er seine Frau unterhakte, drehte er sich zur Straße, wo gerade eine Limousine hielt. »Im Starlite, okay?« Der Wagenschlag wurde geöffnet, und weg war er. Joyce riß sich den Schal vom Kopf, als die Limousine anfuhr. »Ich bin froh, daß du dich hast sehen lassen«, sagte Norman. »So dumm bin ich auch wieder nicht«, erklärte sie ihm müde. »Komisch, vorhin habe ich ungefähr das gleiche zu Don gesagt.«
»Was?« Sie packte ihn am Arm, erinnerte sich der immer noch heimwärtsströmenden Leute und zwang ihre Lippen zu einem nichtssagenden Lächeln. »Was zum Teufel soll das heißen?« »Don und ich hatten eine Unterredung«, sagte er ausdruckslos und mied, sie anzusehen. »Was hast du gesagt?« »Daß du und ich miteinander reden müssen, ehe die Nacht vorbei ist.« Dabei sah er sie an, und sie wich ihm nicht aus. »Das müssen wir, Joyce. Du weißt, daß wir das müssen, nach dem Stückchen, was du dir heute geleistet hast.« »Ich – « »Don hat dich gesehen.« Irgend etwas Hartes und Kaltes setzte sich in ihrer Brust fest. »Oh, Mist.« »Ja.« Blind starrte sie auf die an ihr vorüber hastenden Gesichter, auf die davonfahrenden Autos. »Müssen wir gehen?« »Ja, wir müssen.« »Dann gehe ich nach Hause und ziehe mich um.« Seine Finger schlangen sich um ihr Handgelenk, wobei sie sich tief eingruben, bis sie versuchte sich zu entziehen. »Du wirst doch dabei sein?« »Begleitest du mich nicht nach Hause?« »Nein«, sagte er. »Nein, wenn ich das tue, erwischen wir den Bürgermeister nicht mehr.« »Verstehe.« »Tatsächlich?« »Sehr gut, Norman. Besser als du mir zutraust.« Sie drehte ihr Gelenk aus seinem Griff und ging davon, spürte das rauhe Pflaster unter den Slippern, schnappte einmal nach Luft, als eine Gruppe von Jungen vorbeirannte und einer ihr auf die Zehen trat. Tränen stiegen in ihr auf, aber sie
verdrängte den Schmerz, überwand das Humpeln nach drei Schritten. Don weiß es. Er weiß es, und was sollte sie jetzt tun? Es ist dumm, dachte sie, als sie am Bürgersteig auf eine Lücke im Verkehr wartete, ich bin dumm. O Gott, was zum Teufel soll ich jetzt tun? Sie rannte über die Straße und tauchte in die Schatten ein, während sie sich wegen ihrer Reaktion auf Normans Ankündigung schalt. Sie hätte warten sollen, bis er nach Hause gekommen wäre, und dann in Ruhe mit ihm reden sollen. Und wenn schon nicht ruhig, dann wenigstens mit einer gewissen Logik, die ihm verdeutlichte, wie idiotisch er sich verhielt. Aber er zitierte andauernd seinen verdammten Vater und ließ nicht locker, als er ihren Widerstand gegen seine Kandidatur fürs Bürgermeisteramt spürte – Und in ihrer Panik, diese Sicherheit zu verlieren, die sie besaßen, hatte sie dann Harold angerufen. Und Harold hatte wie erwartet reagiert – nicht mit Ratschlägen oder beruhigenden Worten, sondern, indem er sie auf die Wange geküßt hatte, kaum daß die Schule hinter ihnen lag, ihre freie Hand gehalten und die Finger geküßt hatte, bis sie in seine Einfahrt auf der anderen Seite der Stadt eingebogen war. Und als sie erst in seiner Wohnung waren, wo sie alles zu erklären versuchte, hatte er sie in die Arme genommen und ihr die Bluse aus der Jeans gezogen. In dem Augenblick, in dem sich seine Hand auf ihren nackten Rücken legte, war sie verloren, alles war verloren… und Jesus, Don hatte sie gesehen! Als sie die Haustür aufschloß, klapperten ihre Zähne vor Kälte und Anspannung und vor Furcht, sie würde nicht imstande sein, Norman ihre Dämlichkeit – nein, verbesserte sie sich, nicht Dämlichkeit. Sie knallte die Tür zu. Idiotie. Schwäche. Aber nicht Dämlichkeit.
Sie hastete nach oben, zog ihre Sachen aus und suchte im Kleiderschrank nach etwas Passendem für ein paar Cocktails mit dem Bürgermeister und seiner Frau, als sie irgend jemanden an die Haustür klopfen hörte. Don hat seinen Schlüssel vergessen, war das erste, was ihr in den Sinn kam, und sie griff sich den Bademantel, den sie auf dem Weg nach unten überstreifte. Und sie würde ihm irgendwas sagen müssen. Er war so empfindlich, daß alles, was der Wahrheit nahekam, abgeschwächt werden mußte. Dein Vater und ich haben Probleme – vage, unbefriedigend und etwas, was der Junge längst wußte. Sie öffnete die Tür und hielt sich sogleich die Revers des Mantels am Hals zu. »Harry, um Himmels willen! Was zum Teufel willst du?«
Norman sah seiner Frau nach, als sie nach Hause eilte, und drehte sich dann um, hielt inne und stellte fest, daß er aufgeschmissen war. Beinahe hätte er gelacht: Dieser ganze Auftritt, die gemeine Freude, ihr das von Don zu erzählen, alles umsonst. Sein dramatischer Abgang verplempert, denn er kam gar nicht bis zum Starlite, es sei denn, er ging zehn oder zwölf Blocks zu Fuß. »Dann lauf mal schön, du Trottel«, murmelte er, schob die Hände in die Taschen und schickte sich an, ihr zu folgen. Winkte ab und zu, wenn jemand seinen Namen rief, grinste über das Siegesgehupe und starrte in die wenigen Gesichter, an denen er vorüberkam, und fragte sich, was um alles in der Welt an einem lausigen Football-Spiel der High-School sein mochte, das die Leute veranlaßte zu glauben, die Welt sei in Ordnung. Er blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und stellte sich dabei rücklings gegen den feuchten Wind, der Regen ankündigte. Der Rauch war warm, und er genoß ihn
einen Augenblick lang, zog dann eine Grimasse und warf die Kippe in den Rinnstein. Er leckte sich die Lippen, er schluckte. Er war dabei, sich in eine üble, selbstmitleidige Stimmung zu versetzen, und das war kaum die Art, wie er Garziana gegenübertreten sollte. Er straffte sich, ließ die Arme schlenkern und pfiff einen Marsch, als er weiterging und sich überlegte, ob er nicht von zu Hause ein Taxi rufen sollte, das sie beide in einem Rutsch zum Lokal brachte. Ein gutes Entree, erster Eindruck, der Bürgermeister würde erfreut sein. Denk an das Spiel, befahl er sich, denk an die gute Stimmung, den Jubel, den Rausch, als Pratt den ersten Treffer erzielte, dieser glückliche Hundesohn. Er schritt weit aus, das Pfeifen wurde lauter, und als er bei der Einfahrt der Snowdens stehenbleiben mußte, um Chris einbiegen zu lassen, salutierte er sogar und grinste sie an. Und wartete. Um zu beobachten, wie sie ausstieg, die langen Beine im Laternenschein ganz weiß, Zöpfe, die über ihre Brust hüpften und rutschten, als sie sich zu ihm wandte und grinste, ihre Pompons vom Rücksitz klaubte und ums Heck des Wagens kam. »Hi!« grüßte sie, die Wangen gerötet, die Augen glänzend. »Selber Hi.« »Feiern Sie?« »Und ob.« »Ich auch. Bis dann.« Sie rannte den Gehweg hinauf, die Stufen, und er konnte nicht aufhören, ihr nachzustarren, wußte, was er da tat, und scherte sich keinen Deut darum. Genau jetzt laborierte Joyce mit ihren Haaren herum, ihrem Make-up, und ohrfeigte sich selbst wegen dem, was Don gesehen hatte. Es würde nicht
schaden, noch einige Minuten zu warten, damit sie sich beruhigen konnte. »Mr. Boyd?« Er sah sie an. Sie stand in der geöffneten Tür. Was soll’s, entschied er. Ein Siegestrunk mit einem reichen Arzt konnte nicht schaden. Vielleicht sogar ein Scheck für die Wahlkasse, wenn er seine Trümpfe richtig ausspielte. Er zog eine Schau der Entscheidungsfindung ab, ehe er nickte und ihr ins Haus folgte. Die Tür schloß sich leise, die Lichter waren alle aus. »He, Chris«, sagte er, plötzlich nervös geworden. »Ich wollte gerade sagen«, erklärte sie sanft, »daß er nicht in der Stadt weilt, aber nichts dagegen hätte, wenn ich Ihnen etwas zur Feier eines großen Spiels anbiete. Mutter ebenfalls nicht. Sie macht Ferien in Florida.« Es herrschte Dunkelheit und Zwielicht, und er griff nach dem Türknauf, blickte verständnislos auf ihre Finger, die nach seinem Handgelenk griffen und es festhielten. Eine Sekunde lang. Zwei. Sich dann einer nach dem anderen hoben, um ihn freizugeben; das Rascheln von Pompons, als sie auf den Boden fielen. »Chris«, warnte er, kam aber nicht damit an. Dämlich, Boyd. Dämlich, du dummes Arschloch. »Ich muß mich umziehen«, sagte sie und stieg langsam eine Treppe hinauf, die er bislang noch nicht bemerkt hatte. Sie sah sich nicht um, ihre Hüften und Beine zogen ihn an, als winkten sie ihm zu. Er überlegte nur einen Augenblick, was er tat, wohin er sich da hineinmanövrierte, und kam dann mit einem scharfen Kopfnicken zu dem Schluß, daß sein Heiligendasein ihm auch nicht seine Frau erhalten hatte, nicht seinen Sohn, und wurde
es nicht allmählich Zeit, daß er sich nahm, was er begehrte, bekam, was er verdiente. Also folgte er ihr, auf Zehenspitzen, und betrat das dunkle Schlafzimmer, wo er sie auf dem Bett liegen sah. Im schummrigen Licht, nackt, während ihre Hände über ihre Brüste glitten, über ihren Bauch, dann gespreizt zur Seite und sich in das Laken krallten. Er stand am Fuß des Bettes. Er knöpfte sein Hemd auf. Beinahe hätte er aufgehört, als er ihr Lächeln sah und es für eine höhnische Fratze hielt. »Feiern wir«, sagte sie. Er nickte, zog sich aus und kroch über ihre Beine, verharrte über ihr und blickte ihr in die Augen. In der Dunkelheit waren sie dunkel und verrieten gar nichts. Und das Lächeln war noch da, die Oberlippe gekräuselt. »Ich weiß, was du vorhast«, sagte er flüsternd. Sie nickte und rutschte so, daß sein Blick auf ihre Brüste fiel. »Es wird nicht klappen.« »Doch«, sagte sie und griff nach seinen Schultern. Er widerstand gerade so lange, ihr zu zeigen, daß er es ernst meinte, zu zeigen, wer der Boss war, ließ sich dann auf sie sinken, während sie ihn zu sich führte, und hörte sich selbst aufstöhnen. Spürte sein Stoßen. Blickte in ihr Gesicht und sah, daß sie zur Decke starrte. Falcone stürmte herein, schloß die Tür, packte Joyce bei den Schultern und schleppte sie praktisch ins dunkle Wohnzimmer. »Er hat’s herausgekriegt, stimmt’s? Dieses Schwein weiß, was läuft, oder?« »Natürlich weiß er das.« Er ließ die Hände sinken und wandte sich zum Erkerfenster. »Joyce, was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?« »Ich? Alles, was ich wollte, war, mit jemandem reden. Du warst derjenige, der die Hände nicht bei sich behalten konnte.«
»Ich habe nicht bemerkt, daß du Vergewaltigung geschrien hast«, sagte er ruhig. Von der Straße drang spärliches Licht herein, ließ die Möbel Schatten werfen, fügte seinem Profil Kerben und Grübchen hinzu. »Aber du weißt, was du mir angetan hast«, antwortete sie. »Du weißt es, und das hättest du nicht tun sollen.« »Ah, Himmel, komm mir nicht damit. Das ist was für Fernsehserien. Du bist eine erwachsene Frau und – « Sie sah, wie er die Augen zusammenkniff und beugte sich über Normans Sessel, um hinaus in den Garten zu sehen. Niemand konnte hereinschauen, da kein Licht eingeschaltet war, aber vielleicht hatte er Donald den Weg heraufkommen sehen; oder schlimmer, Norman. »Was?« flüsterte sie. Er fuhr sie an: »Du machst mich verrückt, Joyce. Ich hätte schwören können, dort draußen irgendeine Art Tier zu sehen.« Sie lachte. Alles würde gut werden. Harry machte schon Witze. Es würde alles gut werden. »Sieh mal, Harry, so geht das nicht. Ich muß wieder zu Norman. Also warum – « »Verdammt, da ist es wieder.« Lächelnd schüttelte sie den Kopf und trat an seine Seite, blickte aus dem Fenster und sah es im Garten. Unter dem Baum, wo seine Kuppe beinahe die unteren Äste erreichte. Ringsum waberte Nebel, schlängelte sich durchs Gras und tropfte von den Blättern, verwischte seine Umrisse, nicht aber das Grün seiner Augen. »Es ist ein Gag«, meinte Harry. »Gips oder so. Ein Kostüm. Ist das ein Scherz deines Sprößlings?« Seine Stimme wurde schärfer. »Spielt dieses Bürschchen da draußen Spielchen mit uns, Joyce?«
»Sein Name lautet Donald«, sagte sie ruhig und hielt keuchend die Luft an, als es seinen Kopf hob und sie direkt ansah. »Mein Gott«, flüsterte Harry und schüttelte leicht den Kopf. Ein Vorderhuf scharrte im Gras, und eine smaragdgrüne Flamme züngelte in die Luft, grüne Fäden spinnend, die den Nebel durchdrangen und nach dem Haus griffen. »Ich habe nichts getrunken«, sagte Falcone laut zu sich selber. »Ich schwöre bei Gott, ich habe nichts getrunken. Was zum Teufel ist das, Joyce?« Aber sie starrte zur Decke, zu dem Boden unter Dons Zimmer, erinnerte sich an das Poster und das Pferd, das darauf gewesen war. »Es ist ein Gag«, beharrte Harry. »Und ich halte ihn nicht für komisch.« Sie blickte zum Fenster hinaus und konnte die Muskelberge des Hengstes an den Schultern erkennen, sehen, wie es sich auf die Hinterbeine stellte, und hatte kaum Zeit zu schreien, ehe es einen Satz aus dem Gras machte und durchs Erkerfenster kam. Sie tauchte zu einer Seite weg, ihr Bein stieß gegen die Armlehne von Normans Sessel, und ein Schneesturm von Glas splitterte über sie bis zur Wand, wo es abprallte und auf den Teppich rieselte und dabei wie Glöckchen in der Todeskälte des Winters klingelten. Im Fallen drehte sie sich und sah den Hengst das Zimmer ausfüllen, sah Falcone zum Kamin gedrängt werden, wo er den Schürhaken ergriff und über dem Kopf schwang. Das Pferd blickte sich um und sah, wie sie in die Diele robbte. Es schnaubte, und der Raum füllte sich mit Nebel. Es keilte mit einem Huf hinten aus, und Normans Sessel flog in eine Ecke, fiel in sich zusammen, als er von grünem Feuer zerfressen wurde. Dann wandte es sich wieder Falcone zu, der
den Schürhaken gegen seinen Kopf schwang, fehlte und einen Schritt vor dem Kamin das Gleichgewicht verlor. Eine Glasscherbe fiel von der Decke herunter, wo sie wie eine Messerklinge gesteckt hatte. Joyce raffte sich auf und sank gegen das Treppengeländer, als der Hengst den Kopf hob, wieder senkte und Harrys Jackett mit seinen langen weißen Zähnen packte. Der schrie und versuchte abermals, die Bestie zu schlagen, aber das Pferd schüttelte ihn wie eine Stoffpuppe hin und her; der Rauchnebel verdichtete sich, grüne Funken blitzten auf, und als Joyce kreischte und die Treppe hinaufrannte, hörte sie das ferne Geräusch von brechenden Knochen, ein Rückgrat brechen und Harrys Körper emporgehoben und gegen die Wand geschleudert werden. »Don«, flüsterte sie, als sie zum Treppenabsatz hastete. »Don, bitte rette mich.« Als sie sich umwandte, um in den Korridor zu rennen, stand der Hengst unten in der Diele, die grünen Augen beobachteten sie, und von ihm stieg der Nebel empor und waberte um ihre Fesseln, erfüllte sie mit einer Kälte, die ihre Knochen schmerzen ließ, die sie die Augen weit aufreißen ließ und sie hemmte, als sie losrannte, um sich in ihrem Zimmer zu verbergen. Auf der Treppe dann – Hufe auf Holz, hallend, hohl.
Der Teich im Oval lag trotz des Windes ruhig da, obwohl jeden Augenblick eine Bö aus den Ästen aufrauschen und kleine Wellen über die Oberfläche schicken würde, am Laub zupfen und einige welke Blätter zu Boden fallen lassen würde. Vom Boulevard her konnten sie die noch anhaltende Siegesparade hören, aber sie verspürten kein Bedürfnis, sich
einzureihen. Statt dessen hockten sie auf der Holzbank eng zusammen und betrachteten das schwarze Wasser. »Scheidung«, sagte Tracey mit einem mitleidsvollen Kopfschütteln. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt Jeans und ein Hemd und einen leichten Pullover unter der Schuljacke. »Gott, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Don schniefte ein paarmal, um die Tränen zurückzuhalten. »Sie hassen mich, mußt du wissen.« »Sei nicht albern. Das tun sie nicht.« »Nun, dann interessieren sie sich eben nicht für mich. Weißt du… Ich kann’s kaum glauben, aber weißt du, daß mich Mom letzte Woche Sam genannt hat?« Tracey zog eine seiner Hände zwischen seinen Knien hervor und hielt sie fest, rieb sie, um die Kälte zu vertreiben. »Und ich bin verrückt, Tracey.« »Albern.« »Nein«, sagte er ernsthaft, drehte sich zu ihr und schmiegte sich enger an sie. »Ich meine es so. Ich bin verrückt.« Sein Blick ließ sie schweigen, und er holte Luft. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, aber die Worte, die er suchte, ließen sich nicht in eine Reihe bringen, und er stand auf und begann im Oval auf und ab zu gehen. Tracey beobachtete ihn geduldig, biß sich auf die Lippen und zog die Schultern hoch, als die nächste Brise kam. Auf der anderen Seite des Teiches blieb er stehen und sah ihr ins Gesicht, blickte dann zu den Bäumen und der Schwärze über dem Laub empor. »Ich kapier’s nicht«, sagte er mit einem zitternden Lächeln. »Ich meine, deine Leute streiten sich, nicht wahr? Ich meine, ich weiß, wie dein Vater ist und all das, aber sie streiten sich, nicht? Warum lassen sie sich dann nicht scheiden? Warum… was ist mit mir los, daß Brian mich nicht mal für eine lausige Minute in Ruhe lassen kann?«
Es schnürte ihm die Kehle zu und zog seine Mundwinkel herab. Er senkte den Blick und sah, wie Tracey ihn beobachtete, die Hände tief in den Jackentaschen und über ihrem Bauch verschränkt. »Ich habe etwas getan, Tracey«, sagte er leise. »Ich habe etwas getan.« Sie stand auf und ging zu ihm hinüber, aber er streckte die Hände abwehrend aus, um das Wasser zwischen ihnen zu lassen. »Was, Don? Dieser Unsinn vom Mord an Tar?« Er nickte. »Das ist Blödsinn. Du hast es nicht getan.« Wieder nickte er, legte eine Hand auf seine Stirn, strich fest darüber und fuhr sich dann durchs Haar. »Du verstehst nicht.« »Ich verstehe, daß du dich wegen Tar aufregst und Mandy und dann diese Geschichte mit deiner Mom und deinem Dad. Das kann ich begreifen, Don, aber du – « »Nein.« Das Wort kam leise und so wirkungsvoll wie eine Ohrfeige. Sie machte einen Schritt rückwärts und drehte den Kopf aus dem Wind, der sie einen Augenblick lang in einen Blätterregen hüllte. Und in diesem Augenblick ging Don um den Teich herum auf sie zu, hoffte, die rauhen Kanten der Blätter würden ihn in Streifen schneiden, würden ihn begraben und zudecken, und wenn sie fortgepustet würden, bliebe nur ein Häufchen Staub. Sie kam ihm entgegen und umarmte ihn, und er war fast geneigt, nichts weiter zu erzählen. »Don?« »Tracey, hör mal, laß uns hier abhauen – « Sie schob ihn von sich und funkelte ihn an, wobei ihr das schwarze Haar in die Augen und wieder aus dem Gesicht geweht wurde. »Du glaubst wohl, du seist das einzige Kind mit
Problemen? Was zum Teufel macht dich zu so etwas Besonderem, daß du dich für die Ausnahme hältst?« »Tracey!« »Du bist niemals Flittchen genannt worden, oder? Dich hat noch niemand zu befummeln versucht, nur weil du ihn angelacht hast.« »He, Tracey, bitte, ich wollte nicht – « »Weißt du, warum sich meine Alten nicht scheiden lassen? Weil mein Vater ein schlimmerer Katholik ist als der Papst, deshalb.« Sie preßte sich eine Faust gegen die Wange. »Ich muß lange Röcke tragen, damit man meine Beine nicht sehen kann, und ich muß unförmige Blusen tragen, weil mein Vater nicht will, daß du merkst, daß ich überhaupt Titten habe.« »Herrjeh, Tracey, ich – « »Es ist, als lebte man im Kloster, Don! Ich liebe ihn, versteh mich nicht falsch, aber es gibt Momente, in denen ich ihm den Schädel spalten könnte. Also…« Sie zeigte auf ihn, wobei ihre Hand heftig zitterte. »Also erzähl mir bloß nicht, du seist der einzige, der hier Probleme hat. Erzähl mir bloß nichts, Donald Boyd!« »Tracey«, sagte er und trat einen Schritt auf sie zu, »das habe ich nicht gemeint. Ich meinte – « »Ich weiß«, sagte sie und lächelte plötzlich, obwohl ihr eine Träne über die Wange rollte. »Ich weiß. Aber du scheinst nicht zu verstehen, daß man daran nichts ändern kann. Du kannst nicht davonlaufen, und du bist zu gut, um so zu enden wie Brian.« Sie schloß die Kluft und faßte seine Hände. »Du mußt damit leben, Don. Wie ich, fürchte ich. Du mußt damit leben.« Sie umarmte ihn. Sie hob das Gesicht und küßte ihn, und er schmeckte ihre Süße, ihre Weichheit, und für eine Sekunde während dieses Kusses glaubte er, sie hatte recht. Aber es hörte auf. Und sie immer noch festhaltend, schüttelte er den Kopf.
»Tracey, du irrst dich.« »Worin, Vet?« »Ich habe etwas dagegen unternommen.«
Joyce zog die Bank von ihrer Frisierkommode und schob sie vor die Tür. Dann schob sie sie wieder weg und zog die Kommode davor, wobei Fläschchen mit Parfüm und Lotion, eine Lampe und ein Paar chinesischer Figürchen durcheinander purzelten, und sie gab keinen Ton von sich, als eine Haarbürste mit Elfenbeingriff hinabglitt und auf ihren nackten Fuß traf. Sie schluchzte lautlos, verfluchte ihr langes Haar, das ihr immerzu in die Augen fiel, verfluchte Norman, weil er nicht da war, wenn sie ihn brauchte. Im Flur – Huftritte, scharf, langsam und beständig. Als nächstes kam ein Sessel dran. Sie konnte den Schrank nicht verrücken, das Bett nicht verschieben und sank mit den Händen über dem Kopf auf den Fußboden, wollte nicht hören, wie das Ding auf ihr Zimmer zukam, wollte nicht sehen, wie die Fetzen und Finger aus Nebel unter der Tür hindurch und über den Teppich krochen. Da hörte sie etwas anderes, und ihr Kopf fuhr herum, die Hände fielen ihr in den vom Bademantel bedeckten Schoß, ihre Augen weiteten sich, während sich ihr Mund zu einem erstickten, gurgelnden Schrei öffnete. Ein Wiehern, sanft und dunkel und tief – das Ding im Flur sagte ihr, daß es hereinkommen würde.
Sie standen immer noch beim Teich, und Tracey wurde allmählich gereizt. »Hör bitte zu«, beharrte Don. »Nur eine Minute, okay?«
»Don, ich versuche dir zu helfen. Ich bin kein Experte, bei Gott, aber du – « »Ich habe dich wegen des Wünschens gefragt, erinnerst du dich?« Ihre Augen blickten zur Seite, ehe sie sich wieder auf sein Gesicht richteten. »Ja.« »Weißt du…« Ein Zögern, während er auf eine Eingebung wartete, wie er es ihr so vernünftig erklären könnte, daß dieses Aufflackern von Furcht nicht wieder in ihre Augen zurückkehrte. »Ein Wunsch, denke ich, ist nicht einfach eine Sache. Es kann alles sein, was man sich vorstellt. Es kann der Wunsch sein, daß einem eine Million Dollar vom Himmel herunterregnen oder man, ohne Hausaufgaben zu machen, lauter Einser schreibt. Oder es kann etwas sein, was wirklich mit dir zu tun hat, wie mit dir und deiner Flöte, verstehst du? Du möchtest Schallplatten aufnehmen und Konzerte geben und die schönste Musik von der Welt spielen, stimmt’s?« Sie brachte ein Nicken zustande. »Und ich möchte Tierarzt werden. Ich meine, was um alles in der Welt ist falsch daran, wenn man ein Vet werden möchte? Ich will es so sehr, daß ich davon träume. Ich trage es in mir, verdammt noch mal, und die… die einzigen, die das verstehen, sind meine Freunde an der Wand.« Er schwieg und wollte sich abwenden, aber sie ließ ihn nicht, umarmte ihn noch einmal fest, damit er fortführe. »Ich rede mit ihnen«, erzählte er in verlegenem Flüsterton weiter. »Ich erzähle ihnen Sachen. Alles. Meine Geschichten, weißt du? Und über Sam und die Eltern und von dem verdammten Brian und Tar und sogar ein bißchen… eine Menge über dich.« Ein prüfender Blick jetzt, um zu sehen, ob sie lachte. Das tat sie nicht; sie weinte.
»Ich brauche einen Freund, Trace. Es schien alles auseinanderzubrechen, und ich brauchte einen Freund, daher pickte ich mir einen heraus. Ein Poster. Ein Pferd. Ich…« Er starrte über ihren Kopf hinweg in die Dunkelheit. »Ich ließ ihn zu mir kommen.« Da konnte er es in ihren Augen lesen und an der Art erkennen, wie ihre Lippen bebten, obwohl sie sie mit einem darauf gepreßten Finger stillzuhalten versuchte. Dann entschleierten sich ihre Augen, und er sah etwas anderes – jetzt glaubte sie ihm. Sie glaubte ihm, daß er Tar ermordet hatte. Als er sie von sich schob, sträubte sie sich nicht. Als er eine Hand hob, um sie zum Stehenbleiben zu bewegen, gehorchte sie. Als er ihr zulächelte, um zu beweisen, daß er sich unter Kontrolle hatte und sie keine Angst haben mußte, war das Lächeln, das er erntete, starr und bleich. »Na schön«, sagte er. Der Wind nahm zu, und über ihnen sowie ringsum knackten Äste, raschelten Blätter, und die Oberfläche des Teiches verzerrte ihre Spiegelbilder. Im Westen der Stadt donnerte es. Er blickte über das Wasser, den Pfad hinauf zu dem dunklen Weg, der zum Baseball-Platz führte. Er war nicht sicher, ob er das eigentlich wollte, aber es war zu spät, um damit aufzuhören. Tracey mußte es wissen, oder sie würde wie die anderen davonlaufen, zurück zu Jeff, und ihn alleinlassen. »Komm her«, sagte er freundlich, als spräche er zu einem Freund, der zu scheu war, die Nacht hinter sich zu lassen und ins Licht zu gehen, das in der kalten Luft zu funkeln begann. Tracey warf einen Blick zum Ausgang hinüber, während sie ihr Gewicht so verlagerte, daß sie sofort losrennen konnte, wenn er auch nur einen Schritt näher kam. »Komm schon«, sagte er freundlich. »Ich bin’s, erinnerst du dich?«
Weiße Kugeln tanzten zum Wind auf dem Teich, und es gab einen Augenblick, da sich das Wasser in einen zirkulierenden Kreis verwandelte, sein Gesicht und seine Brust dehnte, seinen Körper mit ihrem vermischte, sich in einer Explosion von Hellblau auflöste, als ein Blitz über die Bäume zackte. Er wartete. Tracey streckte ihre Hand aus. »Komm, schon, Junge«, flüsterte er, als spräche er zu einem Vierbeiner. Tracey verbarg eine Träne. Es begann während des Donnerns, und er war sich nicht sicher, ob er es gehört hatte, nicht, bis er sie plötzlich neben sich spürte und sie seinen Arm umklammerte und ihn fragend ansah. Langsame und stetige Huftritte am anderen Ende des tunnelartigen Weges, verschmolzen mit dem Donner, doch weiterhin anhaltend, ohne Eile und hohl, Eisen auf Eisen. Tracey preßte ihren Mund gegen seinen Arm, als sie es durch die entfernte Lichtpfütze schreiten sah. Dunkler als ein Schatten. Ein schlanker Kopf, der auf und ab ruckte, die Beine wie zum Paradieren anhebend, Nebel und Grünfeuer, die um seine Flanken wallten. »Don«, sagte sie. Aber er war zu sehr damit beschäftigt, den Hengst zu beobachten, ihn durch seine eigenen Wolkenschwaden schreiten zu sehen, das Züngeln und Auflodern von Feuer unter seinen Hufen zu sehen, die Grünaugen zu sehen, die ihn sahen, und es zu wissen. Die Hufe hallten wider. Der Nebel verdichtete sich. Und als es am gegenüberliegenden Rand des Teiches angelangt war, blieb das Pferd stehen, schnaubte und stampfte
mit einem Fuß auf, so daß sich dem Blitz eine Flammenlanze zugesellte. »Das ist kein Trick, nein«, sagte Tracey und rückte näher, bis sie teilweise hinter ihm stand. Der Donner war jetzt lauter, näher, und rüttelte am Laub. Don schüttelte den Kopf. Es war dort, und es wartete, und es würde den Blick nicht von ihm wenden, keinen Muskel rühren, die Mähne unberührt vom Wind, der Don die Haare wie Nadeln in die Augen wehte. »Oh, mein Gott, Tar«, flüsterte Tracey, und in dem Namen schwang ein Schrei mit. »O Gott, Don, du hast nicht gelogen.« »Und ich bin auch nicht verrückt.« Der Nebel. Das grüne Feuer. »Ich habe ihm den Tod gewünscht«, erklärte Don ihr, ohne den Blick von dem Pferd zu wenden. »Ich habe Tar den Tod gewünscht.« Tracey schloß die Augen. »Don, sag ihm, es soll fortgehen.« »Es hilft mir«, sagte er. »Es hört auf mich und es hilft mir.« »Don?« Er lächelte, ganz plötzlich und mit geöffnetem Mund. »Verdammt, Tracey, hast du eine Vorstellung, was das bedeutet?« Das Pferd wich zurück in den Nebel, der aus seinen Nüstern strömte, während es atmete und sich bewegte, bis seine Konturen nur noch ein Schemen und seine Augen grüne schräge Schlitze waren. Dann verschwand es, als ein explosionsartiges Sirenengeheul hinter ihnen erscholl. Sie wirbelten herum, der Nebel kroch in die Bäume, der Teich schlug Wellen, die gegen den Rand klatschten, und sie drehten sich ein zweites Mal herum, als sie Schritte auf sich zueilen hörten.
Es war Luis Quintero mit gezogenem Revolver und von drei anderen Männern gefolgt. Als er die beiden am Wasser stehen sah, halfterte er seine Waffe, blieb aber erst stehen, als er sie erreicht hatte und Traceys Arme gepackt hatte. »Alles in Ordnung mit dir?« erkundigte er sich. Dann blickte er Don ernst an. »Du, bist du in Ordnung?« »Dad!« »Du hast mir versprochen, nicht hierher zu gehen. Als…« Er sah Don an und machte einem seiner Männer ein Zeichen. »Bringen Sie meine Tochter sofort nach Hause.« »Dad, was ist denn los?« »Don, kommen Sie bitte mit mir.« Die Stimme klang rauh und besorgt, und Don blickte über seine Schulter in den verlassenen dunklen Park. »Bitte, Donald, wir müssen uns beeilen.« »Was ist denn?« fragte er. Noch mehr Sirenen und das Gewitter und die ersten Regentropfen. »Kein Wort mehr, bis wir mit Ihnen zu Hause sind.« Er zögerte, plötzlich Panik verspürend. »Nach Hause? Geht’s um Mom? Mein Vater?« »Erst wenn wir da sind«, wiederholte Quintero. »Nur Geduld. Ich werde Ihnen helfen.«
19
Ein Streifenwagen stand quer vor dem Parkausgang zum Boulevard, und auf Quinteros sanftes Drängen hin begab Don sich dorthin. Tracey war bereits eingestiegen und blickte aus dem Heckfenster eines abfahrenden Polizeiwagens zurück, eine Handfläche gegen das Glas gepreßt, das Gesicht durch die darüberhuschenden Lichtflecke von den Laternen in leuchtende Fragmente aufgelöst. Als ihm ein Polizist die Tür aufhielt und ihm bedeutete einzusteigen, sah er die breite Avenue entlang und bemerkte vor der Einmündung seiner Straße zwei weitere Streifenwagen mit kreiselnder Sirene, während drei Beamte eine Barrikade errichteten. »Mr. Quintero, was ist denn los?« »Don, bitte«, sagte Quintero. Don öffnete den Mund, blickte dann in die entgegengesetzte Richtung und sah die Autos, die Lichter, eine Handvoll Leute, die eilig seinem Block zustrebten. Mit einem Schrei riß er sich los und raste, ohne sich um den Verkehr zu kümmern, über zwei Verkehrsinseln, durch Sträucher und Büsche auf die andere Seite. Ein Bus konnte ihm gerade noch ausweichen. Einige Meter hinter sich hörte er Quintero schreien. Am Eingang zur Straße übersprang er die Barrikade und rannte noch ein kurzes Stück, dann wurde er langsamer, ging den Bürgersteig steifbeinig mit schlenkernden Armen entlang. In ihren Vorgärten standen die Nachbarn alleine oder in Grüppchen, hinter sich die strahlend weißen Verandabeleuchtungen, die ihre Gesichter in Masken verwandelten. Ein Feuerwehrfahrzeug stand in seiner Einfahrt,
und am Bordstein parkten zwei Streifenwagen, während ein Krankenwagen auf den Rasen zurücksetzte. Er marschierte weiter, halb stolpernd, bis ein Polizist ihn am Arm packte und versuchte, ihn aufzuhalten. Er protestierte und wurde freigelassen, als Quintero einen Befehl schnauzte. Er atmete durch den Mund, als er zu seinem Haus hinüberstarrte – das zerfetzte Loch vom Erkerfenster, die überall eingeschalteten Lampen, die ihre Schatten warfen, die erleuchtete Garage. Er starrte auf das Dach, das von neben den Streifenwagen aufgestellten Scheinwerfern in grelles Weiß getaucht wurde. »Was ist denn?« keuchte er zu Quintero, als der Mann ihn eingeholt hatte und ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Was ist los?« Eine Sirene, Feuerwehrleute, die vor ihrem Fahrzeug standen und rauchten, während sie darauf warteten, wieder nach Hause geschickt zu werden. Blitzlichter. Stimmen flüsterten Instruktionen. »Was, Mr. Quintero?« fragte er und drehte sich ungeduldig zu Traceys Vater um. »Es ist alles noch ziemlich unklar«, erwiderte dieser und versuchte, Don und das Haus gleichzeitig zu beobachten. »Irgendwer – Mr. Delfield, den kennen Sie, glaube ich – bemerkte vor einiger Zeit, daß Rauch aus dem Haus aufstieg. Er rief uns an, und auch die Feuerwehr.« Männer in weißen Jacken traten rückwärts aus der Haustür heraus, auf der Bahre einen bis obenhin zugeschnürten grünen Plastiksack. »Oh, mein Gott!« schluchzte Don und machte Anstalten loszulaufen. »Nein!« schnappte Quintero. »Es ist nicht Ihre Mutter, Don.« Es war die Stimme, nicht die Hand, die ihm sagte, um wen es sich handelte.
In seinem Haus. Der Bastard war mit seiner Mutter in seinem Heim zusammengewesen. »W-wie?« Quintero kraulte sich nervös den dicken Schnauzbart. »Ich weiß nicht. Sergeant Verona ist dort drin. Ich war ebenfalls eine Weile dort und sah kein Feuer, nichts Verkohltes. Bloß…« Er deutete auf die Leiche, die gerade in den Wagen geladen wurde. Als er davonfuhr und ein anderer seinen Platz einnahm, fragte er: »Wissen Sie von Tar?« Don nickte, obwohl er das alles nur mühsam fassen konnte. »Genauso.« Das Fenster war nach innen zerschmettert worden, und während er hinübersah, wackelte ein Teil des Rahmens und löste sich und stürzte zu Boden. Ein Mann im Smoking kam den Gehweg entlang und blieb stehen, als er Don am Bordstein stehen sah. Er winkte und eilte herbei, und Don spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Es war Dr. Naugle, der bereits redete, ehe er bei ihnen war. »… rief mich an, und ich bin gleich gekommen. Donald, bist du okay? Warst du – « Er sah Quintero an, der den Kopf schüttelte. Dann legte er Don eine Hand an die Wange, spürte die Kälte, den Schweiß, spürte, wie sich der Brustkorb hob. »Kommen Sie mit ihm hier rüber«, sagte er zu dem Polizeibeamten, und Don gab für einen Augenblick nach – ließ sich zur Bordsteinkante führen, wo er sich hinsetzen sollte und das Wrack seines Hauses nur sehen konnte, wenn er über die Schulter blickte; der Kombi stand noch in der Einfahrt. »Ich bin gleich wieder da, Don. Bleib, wo du bist. Kannst du mich hören, Don? Du bleibst hier.« Don dachte, er nicke; sicher war er sich nicht. »Mom?«
»Sie ist unverletzt«, versicherte Quintero ihm. »Ich verspreche dir, sie ist nicht verletzt.« »Wo dann…« »In ihrem Schlafzimmer. Die Tür…« Er blickte sich um, als suchte er jemanden, der ihm sagte, dieser Junge dürfe nicht wissen, daß seine Mutter hinter einer verbarrikadierten Tür aufgefunden wurde, die beinahe eingedrückt worden war. »Dad«, sagte Don plötzlich, während er sich aufrichtete und sich umsah. »Er ist nicht hier.« Er stand auf und versuchte in der auf dem Rasen vor den Häusern anwachsenden Menschenmenge das Gesicht seines Vaters auszumachen. Die Stimmen klangen jetzt deutlicher, gedämpft und aufgeregt, eine Show nach dem Spiel, die sie weiter bei Laune hielt. »Wo ist mein Vater?« wollte er wissen. »Warum ist er nicht hier?« »Don«, sagte Quintero, der den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen hatte. »Don, wissen Sie, was hier passiert ist? Wissen Sie, wer das getan hat?« »Nein!« sagte er, wütend, weil man ihn fragte, ängstlich, weil man ihm Vorwürfe machen könnte. »Nein, ich war mit Tracey zusammen, seit das Spiel aus ist.« Eine Stimme ließ ihn herumfahren, und er sah Norman um das Feuerwehrauto herumgehen und beinahe über einen Schlauch stolpern, der gerade zusammengerollt wurde. Er rannte los, und sie stießen zusammen. Sein Vater schloß ihn fest in die Arme und fragte über seine Schulter hinweg, was denn los sei. »Wo warst du?« fragte Don am Hals des Mannes. »Dad, wo warst du?« Norman strich ihm ein paarmal über den Rücken. »Ich war mit dem gottverdammten Bürgermeister im Starlite. Deine Mutter sollte – Sergeant Quintero, was geht hier vor? Würde
jemand bitte so freundlich sein und mich aufklären, was hier vorgeht?« Die Sanitäter erschienen wieder an der Tür, Dr. Naugle an ihrer Seite. Joyce lag auf der Bahre, und aus der Decke lugte nur ihr Gesicht hervor. Norman stieß die Polizisten beiseite und rannte zu seiner Frau. Don wollte hinterherlaufen, wandte sich dann aber an Quintero. »Sie sagten doch, sie sei okay«, warf er ihm mit sprühendem Speichel vor. »Sie ist nicht verletzt«, wiederholte der Mann. »Warum dann…?« Die Bahre wurde zu den Hecktüren der Ambulanz gerollt, und Norman sah hilflos zu, wie man sie hineinschob. Dann sprach er kurz mit Dr. Naugle und kehrte zu seinem Sohn zurück. »Sie hat auf dem Boden gesessen«, erklärte Quintero und wiederholte dies, als Norman näher trat. »Ihre Augen waren aufgerissen, aber sie befand sich im Schockzustand. Das ist alles, was ich weiß, Mr. Boyd«, sagte er laut, als Norman eine Frage stellen wollte. »Aber da ist immer noch die Sache mit diesem anderen Mann. Ich – « »Warum fährst du nicht mit ihr?« fragte Don seinen Vater. »Dad, warum fährst du nicht mit ihr?« Normans Augen waren rotgerändert und verquollen, der Kragen seines Pullovers ausgebeult, wo er daran gezogen hatte. Er blickte wieder zu Dr. Naugle, der bei dem Transporter stand, und Don sah Sergeant Verona den Weg von der Veranda herunterkommen. Der Detective nahm den Hut ab, als er die Boyds warten sah, und drehte ihn langsam zwischen den Händen. »Wer war es?« wollte Norman wissen, kurz davor, den Cop am Revers zu packen. »Wer zum Teufel hat das mit meinem Haus, meiner Frau gemacht? War das Falcone? Hat er – «
»Ich weiß nicht, Norm. Ich kam, sobald ich davon hörte. Deine Frau ist offensichtlich noch nicht imstande zu sprechen, und der Coroner drüben kann mir nur sagen, daß Falcone – « Er unterbrach sich und sah Don an. »Das Haus ist total verwüstet. Als hätte ein Football-Team dort mit Schlägern und Prügeln gehaust, unglaublich.« Er nickte Quintero zu, und sie gingen davon, die Köpfe zusammensteckend. »Dad?« »Sie befindet sich in einem Schock-Zustand, wie er gesagt hat«, antwortete Norman abwesend, während er die beiden Männer beobachtete, die miteinander berieten. »Sie kommt schon in Ordnung. Sie steht nur unter Schock. Herrjeh, sieh dir doch mal das Haus an! Sie sollten besser jemanden hier lassen, der es bewacht, sonst werden wir noch ausgeplündert.« Don verließ den Fußweg und ging über den Rasen zum Fenster. Er starrte hinein. Das Kaminsims war leergefegt, ein Lampenschirm geknickt, und er glaubte an der Wand hinten Flecke und Streifen ausmachen zu können. Nach einem Blick auf die Polizeibeamten kletterten die Feuerwehrmänner in ihren Löschwagen. Sein Vater trat neben ihn und berührte ihn am Arm. Norman starrte ins Haus. »Himmel, es sieht aus, als hätte jemand eine Bombe geworfen.« Don konnte nicht denken, denn es gab zuviel zu denken, und er widersprach nicht, als man ihn zur Ambulanz zog und ihm hinein half. Naugle kauerte neben seiner Mutter; Norman stieg hinter ihm ein und zog die Türen zu. Er hörte nicht, wie die Sirenen sich zu lautem Jaulen erhoben; er sah nicht, wie die Barrikaden sich teilten, um den Krankenwagen hindurchzulassen. Er konnte nur Joyce ansehen, die unter die Decke geschnallt war, während ihre Haare alle über eine Schulter fielen und ein Tropf von seinem Ständer zu ihrem zugedeckten Arm führte. Ihre Augen waren
geschlossen, ihr Teint gelblich, und Dr. Naugle tupfte regelmäßig ihre Stirn mit einem Taschentuch ab und fühlte ihren Puls. »Mein Gott«, flüsterte Norman. »Mein Gott, was für eine Schweinerei.«
Das Wartezimmer war klein und mit Plastikstühlen, einer Plastikcouch und einem niedrigen Tisch ausgestattet, auf dem sich abgegriffene und eingerissene Illustrierte stapelten. Don stand am Fenster und behielt den Haupteingang im Auge, während er mit einem Fuß auf den gefliesten Boden klopfte. Alle paar Sekunden wischte er sich mit der Hand über die Nase oder fuhr sich durchs Haar; alle paar Sekunden drehte er sich zu den Schwingtüren um und starrte den Gang hinunter zum Zimmer seiner Mutter. Das Gebäude war ruhig. Das Vorübergehen einer Schwester oder eines Arztes verlief geräuschlos, und selbst wenn jemand redete, konnte er nur die Lippenbewegungen sehen und nicht einmal ein Flüstern vernehmen. Er wollte gehen. Er wollte nicht wissen, was Joyce sagte, wenn sie wieder bei Bewußtsein war und sah, wo sie sich befand; er wollte sie nicht von einem Pferd oder Falcone sprechen hören, er wollte nicht, daß man sie für verrückt erklärte, wo sie doch auf der Wahrheit beharrte. Und das würde sie. Er wußte das, und alles war seine Schuld, weil er versucht hatte, das Geschehen in seinem Sinne verlaufen zu lassen. Und dabei war das Sterben noch nicht das Schlimmste. Das war es, was ihn ängstigte – es war nicht das Sterben. Irgend etwas war schiefgelaufen, und er hatte die Kontrolle verloren.
Wenn, dachte er und drückte die Handwurzeln gegen seine Augen, ich doch wenigstens die Kontrolle besäße. Seine Arme sanken langsam herab. Er starrte blind aus dem Fenster. »Wer war es?« fragte Norman ruhig hinter ihm. Don zuckte zusammen und wirbelte herum, ehe er sich in die Defensive gedrängt gegen das Sims lehnte. Sein Vater war jetzt ohne Jackett, und die Haare, die ihm in die Stirn fielen, schienen Don grauer als zuvor. »Was?« Norman blickte zum Fenster, auf den Fußboden und rückte dann etwas näher. »Ich wette, es war einer deiner Freunde, stimmt’s?« »Freunde? Dad, wovon sprichst du? Was für Freunde?« Normans Hände ballten sich zu Fäusten. »Was hast du Pratt diesmal angetan, hm? Was hast du diesmal zu ihm gesagt?« »Nichts! Ich verstehe nicht. Ich weiß nicht, was du meinst.« Norman stöhnte, als er sich zwang, die Hände zu öffnen, und ließ sich auf die Couch fallen. »Ich auch nicht, Sohn«, sagte er schwach. »Jesus, ich auch nicht. Dies ist…« Sein Unterarm wischte energisch über sein Gesicht, eine Hand krampfte sich in seine Hemdbrust. »Deine Mutter wird sich wieder erholen. Sie ist… wie Naugle sagte, sie steht unter Schock.« Don lugte durch die Türscheiben. »Hat sie irgendwas gesagt?« Norman schüttelte den Kopf. »Darüber, wer’s getan hat? Nein. Verona ist jetzt bei ihr und hofft, daß sie bald zu sich kommt. Aber sie ist noch nicht soweit. Naugle sagt, es wird noch eine ganze Weile dauern.« »Verona? Die Polizei?« Norman beugte sich vor und griff sich eine Illustrierte, blätterte sie durch und ließ sie sinken. »Tja. Warum nicht?« Er lachte bitter. »Ich habe mit dem Bürgermeister einen getrunken, und wir sprachen… nun, wir unterhielten uns, und
als nächstes höre ich, daß deine Mutter ins Krankenhaus muß. Und Verona hat mich von der Schule angerufen, weil Hedley – « Don taumelte zu einem Stuhl. »Mr. Hedley?« »Wenn es kommt, dann kommt es dicke, vergiß das nie«, sagte er angewidert. »D’Amato hat ihn in der Aula gefunden, nach dem Spiel. Seine Leiche war auf der Bühne, in den Kulissen versteckt.« Dann schlug er mit beiden Handflächen auf den Tisch, sah auf und starrte ins Leere. »Das ist verrückt! Welche andere Stadt wird schon einen Wahnsinnigen los, um gleich den nächsten zu bekommen?« Er sah sich hilflos im Raum um. »Das ist bescheuert. Es ergibt keinen Sinn. Man versucht seine Familie zu beschützen, die Zukunft, und welche Unterstützung bekommt man, hm? Man kriegt gar keine, so ist das. Scheiße ist alles, was man kriegt.« Don erhob sich von seinem Stuhl. Norman sah zu ihm auf, und seine Augen waren dunkel vor Zorn. »Wenn ich herausfinde, daß Pratt irgend etwas hiermit zu tun hat, dann bring’ ich ihn um, hast du mich verstanden?« »Brian bringt keine Leute um«, sagte Don und schrie fast. »Wie kannst du – « »Es könnte ein Unfall gewesen sein.« »Was?« »Sicher. Dieser Arsch könnte… nun, es könnte etwas schiefgegangen sein, verstehst du?« »Dad – « Norman hörte nicht zu. »Verdammter Falcone. Kannst du das glauben? Direkt in meinem Haus? Es ist verrückt.« Er nickte, sich selber beipflichtend. »Es ist verdammt verrückt!« Don trat an die Tür und stieß sie auf. »Wohin gehst du?« »Luft«, sagte er. »Ich brauche etwas frische Luft.«
»Deine Mutter liegt hier drin. Kümmert es dich nicht, daß deine Mutter dort liegt? Wir müssen hier sein, wenn sie aufwacht.« »Alles, was ich brauche, ist ein bißchen frische Luft«, sagte er, ließ die Tür hinter sich zufallen und ging zum Fahrstuhl. Er stieg gerade ein, als Sergeant Verona aus dem Zimmer seiner Mutter kam. Der Detective hob einen Finger, damit er einen Augenblick wartete, aber Don ließ die Türen zugleiten und sank gegen die Rückwand. Er grinste. In gewisser Hinsicht war es komisch. Sein Vater tat recht daran, ihm die Schuld an den Ereignissen zu geben, wenn auch aus völlig falschen Gründen. Aber daß er ihm überhaupt die Schuld gab, war ganz und gar nicht komisch. Die Kabine kam holpernd zum Stehen, die Türen öffneten sich, und er blinzelte in die Helligkeit des Erdgeschosses, als er einem kurzen Gang zur Eingangshalle folgte. Ein Mann schob eine Bohnermaschine über den Boden, die leise summte. Eine junge Frau saß in der Rezeption, las ein Buch und rauchte. Niemand beachtete ihn, als er über den glänzenden Boden schritt, und er konnte weder Polizei noch Wachmänner an der Rezeption oder bei den Drehtüren entdecken, als er sich durch sie hindurch nach draußen schob. Kalt, es war kalt, und er legte den Kopf in den Nacken, um die Nachtluft zu trinken. »Da bist du ja!« Er erstarrte und wandte sich halb um, um wieder hineinzugehen, als Tracey plötzlich da war und ihre Arme ihn umschlangen. »Ich habe Mutter gesagt, sie soll sich zum Teufel scheren«, erklärte sie halb lachend, halb weinend. »Sie wollte, daß ich zu Hause bleibe, und ich sagte ihr, sie solle sich zum Teufel scheren. Sie bringt mich um, wenn ich heimkomme.«
Zögernd legte er seine Arme um sie. Dankbar senkte er das Gesicht, um es in ihrem Haar zu verbergen. Ihm war es gleichgültig, ob ihn jemand beobachtete, aber er hätte den ersten umgebracht, der versucht hätte, sie zu trennen. Noch eine Umarmung, und sie sagte: »Komm, ich möchte mit dir reden.« Sie nahm seinen Arm und ging mit ihm an der halbrunden Zufahrt entlang. Zur Rechten befand sich der Besucherparkplatz, leer und nur spärlich durch drei Fuß hohe Pfeiler an den Ecken beleuchtet, und sie überquerte ihn schweigend. Don blickte nur einmal zum Gebäude hinauf, um zu sehen, ob er das Zimmer seiner Mutter herauspicken konnte. Am äußersten und dunkelsten Ende fanden sie unter skelettartigen Kirschbäumen eine Betonbank und setzten sich und starrten über die schwarze Fläche zu den Backsteinsäulen, die den Eingang des Krankenhauses markierten. Auf der anderen Straßenseite standen Häuser so schwarz wie die fast blattlosen Bäume, die den Rand des Bürgersteigs säumten. Kein Auto fuhr vorüber. Keine Hupen ertönten. Es war Krankenhausgebiet, und Siegesfeiern waren nicht erwünscht. »Wie geht’s deiner Mutter?« fragte sie dann und legte ihre Hand auf die seine. Zögernd und sich immer wieder unterbrechend, um sich zu räuspern und seinen Nacken zu strecken, um die Verspannungen loszuwerden, die sich dort eingestellt hatten, erzählte er, was die Polizei ihm erklärt und was sein Vater über Mr. Hedley gesagt hatte. Dann erzählte er ihr, was seines Wissens nach wirklich passiert war, was sie nicht glauben würde, selbst wenn seine Mutter es gesehen hatte und reden sollte. »Aber ich habe das nicht getan!« fügte er hitzig hinzu, in seiner Beharrlichkeit fast schon flehentlich. »Trace, du kennst
mich. Ich würde meiner eigenen Mutter nicht wünschen…« Er erinnerte sich. Plötzlich, wie ein scharfer Stoß mit dem Ellbogen in den Magen, erinnerte er sich. »Don?« »Mein Vater wollte wissen, ob es einer meiner Freunde war.« »Was? Das glaub’ ich nicht.« »Ich lüge nicht, Trace. Er wollte wissen, ob ich irgend etwas zum guten alten Brian gesagt oder ihm getan habe, das dies ausgelöst hat.« »Das kann doch nicht sein Ernst sein. Ich meine, er, er macht sich Sorgen, Don. Er kann nicht klar denken.« Er war sich nicht sicher und auch nicht länger sicher, ob ihn das noch interessierte. »Er war mit dem Bürgermeister zusammen, kannst du dir das vorstellen? Er hat mit dem Bürgermeister getrunken, während meine Mutter beinahe gestorben wäre!« »Mr. Falcone ist gestorben«, erinnerte sie ihn sanft. »Ich weiß.« Und er drehte sich heftig zu ihr um. »Und weißt du, warum sie nicht sterben mußte?« Tracey schüttelte den Kopf, besann sich dann und nickte. »Der Park.« Er lehnte sich zurück und blickte zum Himmel hinauf, fragte sich, was mit dem Regen geworden war, mit dem Gewitter. Alles war gut ausgedacht gewesen, und jetzt war alles anders. Selbst in seiner eigenen Welt blieben die Spielregeln nicht dieselben. »Aber das tun sie doch«, sagte sie, und er blinzelte, ehe er begriff, daß er laut gesprochen hatte. »Dieses… dieses Ding Don, es ist deins.« »Aber ich habe ihm nicht befohlen, zu töten.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß, aber da ist mehr, als du denkst.«
Er schloß langsam die Augen, er war müde. Schämte sich, denn mit einem Mal war er so müde, daß er nichts weiter wollte, als sich in ihrem Schoß zusammenzurollen und einzuschlafen. »Ich sollte ohnehin nichts von all dem glauben«, sagte sie ruhig, als spräche sie zu sich selbst. »Es ist unmöglich. Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich weiß, was du gesagt hast, aber es ist einfach nicht möglich.« »Doch«, sagte er und beobachtete, wie stechende Farben über seine Augenlider wirbelten. »Es ist möglich.« »Den ganzen Weg nach Hause habe ich darüber nachgedacht und den ganzen Weg hierher. Ich habe überlegt, ob du mich Dinge hast sehen lassen, die in Wirklichkeit nicht da waren. So wie bei irgendeiner deiner Geschichten. Und ich dachte daran, daß ich dir so gern helfen wollte, daß ich wahrscheinlich sogar King Kong gesehen hätte, wenn du es verlangt hättest.« Ihr Atem ging stoßweise; er ließ die Augen geschlossen. »Ich habe sowas gedacht, Don, aber ich habe es gesehen. Daher… daher habe ich darüber nachgedacht, als sei es wirklich, und was du darüber gesagt hast – das stimmt nicht, Don. Es stimmt nicht.« Er drehte den Kopf leicht hin und her. »Es will mir helfen, verstehst du das nicht? Es ist aufgetaucht, weil ich Hilfe brauchte, und es hilft mir. Aber ich schwöre bei Gott, ich habe nichts von – « »Nein, Don«, sagte sie und wandte ebenfalls den Kopf. »Nein, es beschützt dich, und das ist nicht dasselbe.«
Norman glaubte nicht, daß er noch so eine scheußliche Überraschung verkraftete. Er ließ sich auf die Couch zurückplumpsen und starrte auf die Dämmplatten an der Decke. Und nur ein Flattern der Hand oder ein Zucken des
Kopfes, sagten dem Detective, daß er noch zuhörte. Obwohl er nicht wußte, wozu. Verona, mochte er auch offensichtlich hart an dem Fall arbeiten, war der Lösung dieser Schweinerei kein bißchen nähergekommen. »Na schön«, sagte er schließlich und setzte sich wieder aufrecht hin. »Na schön, Tom, ich habe genug gehört. Es ist verrückt, und das weißt du.« Verrückt, dachte er, wird allmählich das Wort des Tages. »Du erzählst mir nichts, was ich nicht schon wüßte.« Verona rieb sich über den dunklen Tränensack unter einem Auge. »Was soll ich aber davon halten? Ich weiß, es ist hart, vor allem jetzt, aber was in Gottes Namen soll ich davon halten? Die Labortests beweisen, daß Don den Mann nicht mit dem Ast erschlagen hat, wie er behauptet. Es gibt kein Indiz dafür, daß Boston von einem Auto überfahren wurde. Adam Hedley sieht genauso aus wie die anderen, und ich will verdammt sein, wenn ich glaube, daß ein Auto in eure Schule gefahren ist, den Gang entlang, auf die Bühne gehüpft ist und ihn überfahren hat. Dann ist da Falcone – « »Oh, Himmel, Tom, hör dir doch mal selber zu!« Norman griff nach einer Illustrierten, als wollte er damit werfen. »Erstens – du kannst die Tests nicht finden. Zweitens – nach deinem eigenen Eingeständnis spricht auch nichts dagegen, daß Boston von einem Auto überfahren wurde. Und ich weigere mich zu glauben, daß mein Sohn mit irgendwelchen mysteriösen Mitteln zwei Männer und einen großen Jungen in seine Gewalt gebracht und sie zu Tode zerschmettert hat, einen davon mitten auf dem Park Boulevard.« Er lehnte sich schwerfällig zurück. »Außerdem war er zu Hause, als Hedley getötet wurde, und er war mit Tracey Quintero zusammen, als Falcone…« Er würgte. Er weigerte sich noch ein Wort zu sagen.
Verona warf die Hände hoch, mehr aus Frustration als aus Abwehr, und Norman verspürte beinahe Mitleid mit ihm. Genaugenommen wußte er sogar, daß er das tat. Der Mann griff nach jedem Strohhalm, den er finden konnte, und lediglich Dons Begegnung mit dem Howler und diese Labortests ließen auf irgendeine Verbindung schließen. »Joyce«, sagte Verona, »hat mehrmals seinen Namen genannt.« »Nun, er ist ihr Sohn!« Joyce war schließlich in einen tiefen Schlaf gesunken, und Naugle hatte sie beide ins Zimmer gerufen, als sie im Traum zu murmeln begann. »Sie sprach auch von ›einem Pferds wenn du dich erinnerst.« Sein Lächeln war kurz und freudlos. »Ich sag’ dir was – Ich glaube an das Auto in der Schule, wenn du an das Pferd in meinem Haus glaubst.« Er war müde. Er wollte nach Hause gehen. Die einzige vernünftige Nachricht, die er den ganzen Abend über erhalten hatte, war, daß John Delfield ein paar Nachbarn zusammengetrommelt hatte, die ihm halfen, einen vorläufigen Schutz aus Spanplatten vor dem eingeschlagenen Erkerfenster zu errichten. Er mahnte sich, dem Mann einen Zettel in den Briefkasten zu werfen und vielleicht einen Scheck für die Materialkosten beizufügen. Eine Tür öffnete sich quietschend, und Dr. Naugle trat ein. Norman sprang auf. »Ich habe ihr eine Injektion gegeben«, erklärte er. »Ansonsten ist ihr Zustand unverändert.« »Eine Spritze? Wozu?« »Sie hat nicht tief genug geschlafen«, sagte Naugle. »Sie erlebt ein paar ziemlich üble Alpträume, und ich möchte nicht, daß sie noch schwächer wird.«
»Großartig«, sagte Norman und ließ sich auf seinen Platz zurückfallen. »Das ist einfach großartig.« »Sie können ebensogut nach Hause gehen.« Norman hätte beinahe zugestimmt, doch dann schüttelte er den Kopf. Er wollte bleiben. Wenn er ging, würde er vielleicht bei Chris vorbeischauen, um zu sehen, ob sie noch zu Hause war, noch in ihrem Bett, noch… Er schüttelte den Kopf und erschauderte, und Naugle tätschelte seine Schulter.
Ein Wagen bog auf den Parkplatz ein und blendete sie mit seinen Scheinwerfern. Don hob eine Hand und fluchte leise, aber Tracey klopfte ihm bloß auf die Schulter und stand auf. »Ich glaube, das ist Jeff«, sagte sie und blickte dem Auto nach, als die Scheinwerfer schwenkten und der Wagen bremste. »Jeff?« Sie schickte sich an, die Bank zu verlassen. »Ja. Ich habe angerufen, daß er mich nach Hause bringt. Ich wollte ganz bestimmt nicht meinen Vater bitten.« »Nun, ich hätte dich mitgenommen, das weißt du«, protestierte er und folgte ihr zur Wagentür. »Gott, Tracey – « Sie drehte sich um und legte ihm eine Hand auf die Brust. »Nicht jetzt, Don, okay?« »Aber was sollen wir tun? Wegen – « Sie sog die Wangen ein und biß sich auf die Innenseiten. »Ich weiß nicht. Ich meine… Ich weiß nicht.« Der Wagenschlag öffnete sich, und Jeff, dessen Brillengläser das Licht einfingen und seine Augen ganz hell machten, lächelte Don traurig an, als dieser sich bückte, um ins Auto zu gucken. »He, Mann, tut mir leid.« »Ja. Es ist… Ja, danke.«
Tracey stieg ein, nahm seine Hände, zog ihn zu sich und küßte ihn. »Hier«, flüsterte sie mit einem kleinen Lächeln. »Hier.« »Aber ich brauche dich«, flehte er und ignorierte Jeffs verwirrte Miene. »Was soll ich denn jetzt machen? Ich brauche dich, Tracey!« »Ich weiß. Und ich sehe dich morgen, okay? Wenn ich jetzt nicht gehe, komme ich erst wieder zu meiner Beerdigung aus dem Haus.« Sie küßte ihn noch einmal, kurz. »Bitte, Don, bleib einfach hier, okay? Es wird schon gut gehen, wenn du einfach hier bleibst. Ich komme morgen wieder, gleich als erstes.« »Versprochen?« fragte er gepreßt. »Versprochen.« Es gefiel ihm nicht, aber er konnte nichts daran ändern. Sie hatte recht, das wußte er, aber es mußte ihm deshalb nicht gefallen. Genauso wie es ihm nicht gefallen mußte, Jeff kurz über seine Mutter Bericht zu erstatten, der sich weiterhin an Tracey vorbeibeugte und ihm Fragen stellte, bis sie ihn schließlich in die Schulter knuffte und wieder hinters Lenkrad schob. Dann waren sie fort. Der Wagen wendete, und sie waren fort, und Don schmeckte die Erinnerung an ihren Kuß, die Berührung ihrer Hand, und spürte die Frustration in seiner Brust aufsteigen. Sie hätte bleiben sollen! Wenn sie ihn liebte… Er blickte weg, blickte wieder zur Zufahrt. Ihn lieben? Aber wie zum Teufel konnte sie ihn lieben und dann so verletzen, ihn verlassen, wo er sie brauchte, damit er nicht durchdrehte, sie brauchte, damit sie ihm half, aus allem herauszukommen?
Er rammte die Hände in seine Jackentasche und beobachtete, wie sein Atem zu Nebel wurde. Sie muß recht haben, dachte er da. Sie muß recht haben. Der Wind verfing sich in den Kirschbäumen, die dünnen Zweige knackten, als würden sie von ihren Ästen gerissen. Aber sie sollte hier sein, haderte er; sie hätte mich nicht alleine lassen dürfen, wenn ich sie am meisten brauche. Er hob die Faust und brachte sie nur mit Mühe zu seinem Mund, statt sie der Erinnerung an Jeffs davonfahrendes Auto nachzuschüttein. Verdammter Jeff! Gott verdamme dich, dich habe ich für meinen gottverdammten Freund gehalten! Der Wind heulte über das Krankenhaus. Unter einer Laterne zeichnete sich ein Wasserschleier ab, ein weiterer auf der Fahrbahn, und er spürte einen Regentropfen auf der Hand. Und hörte einen gedämpften Hufschlag hinter sich, im Gras bei den Bänken. Er blickte auf den Asphalt und sah Nebel zwischen seinen Füßen hindurchgleiten. Während er sich langsam umdrehte, sah er, wie die Kirschbäume tanzten, und kniff die Augen wegen des Staubes zusammen, den der Wind aufwirbelte. Dann sah er die grünen Flecken in der Luft schweben, sah die aufstiebenden Funken, sah den Schatten des Hengstes, der plötzlich reglos dort stand. Beinahe wären ihm die Knie weich geworden, aber der Hengst schüttelte seinen Kopf, und er stolperte darauf zu, während er den zunehmenden Druck in seiner Brust ignorierte, das nadelartige Stechen in seinen Augen. Er betrat den Rasen und streckte eine Hand aus. Und der Hals war warm, und es war weich, und die Nase fühlte sich, als er sie in seiner Handfläche barg, an wie feinster Samt.
»Gott«, flüsterte er, und es war weder ein Gebet noch ein Name. Es wieherte sanft, und als er den Kopf schräg hielt, blickte er in das smaragdene Feuer, das aus dem Nebel glühte. »Er hat sie mitgenommen«, sagte er. »Er hat sie mitgenommen, und dabei soll sie mich lieben.« Er fuhr mit seiner Hand durch die Mähne, die keine Spur der Feuchtigkeit trug, und streichelte abermals den Hals. Ein Blubbern in seiner Brust um einen Klumpen von Feuer. »Weißt du was?« fragte er leise. »Dad denkt, ich sei’s gewesen – das Haus, Falcone.« Er legte die Wange gegen die warme schwarze Mähne. »Dieser Schwachkopf.« Das Blubbern nahm zu, und in seinen Lungen breitete sich die Hitze aus. »Der Bastard. Und weißt du noch was? Dieser Bulle ist wieder da, und er sieht mich immer an, als wäre ich eine Art Freak.« Es fiel ihm schwer zu atmen, und dort im Dunkeln wirbelten rote Flecken. »Es war meine Medaille, meine Stunde, und Brian hat sie ruiniert. Donny, der Arsch von Donald Duck!« Er wich zurück, und das Blubbern explodierte. »Ich kann nicht mal eine Scheißmedaille kriegen, ohne daß sie mir jemand kaputt macht! Was zum Teufel soll ich noch machen, ha? Was zum Teufel soll ich tun?« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich wieder um und zeigte auf die Straße, wobei er seinen Arm so starr hielt, daß er zu zittern begann. »Und sie geht mit ihm fort, wenn ich sie gerade so brauche! Was für eine Liebe ist das, verdammt, ha? Was für eine gottverdammte Art von Liebe ist das, wenn man…« Der Nebel. Und die schwarzen Schatten in den Bäumen. »Was soll ich tun?« fragte er. »Was soll ich tun?« Ein Huf scharrte auf dem Boden (Grünfeuer), die Augen verengten sich, der Kopf hob sich.
Don trat zurück und blinzelte und begriff plötzlich, was er gesagt hatte, als das Rot verschwand und das Feuer erstarb. »Nein, warte einen Augenblick«, sagte er und streckte eine Hand aus. »Gott, nein, ich habe nicht gemeint – « Das Pferd war weg. Dons Mund öffnete sich, aber kein Laut drang heraus. Es war weg, der Nebel wallte schwarz von Feuer gesprenkelt, und jetzt bestand kein Zweifel mehr an dem, was Tracey gemeint hatte. Es half ihm überhaupt nicht. Es beschützte ihn gegen Leid, und dabei machte es keinen Unterschied, ob er das wünschte oder nicht. Wenn er verletzt war, wurde er von dem befreit, was dies ausgelöst hatte. Eingebildet oder nicht. Tracey? Oh, Jesus, bitte nicht Tracey! Wut verzerrte seine Gesichtszüge, Furcht ließ ihn herumfahren, und, was immer er schrie, es wurde vom Wind verschluckt und dem strömenden kalten Regen, der auf seinen Kopf niederprasselte.
20
Sie sah es im Außenspiegel. Der plötzliche Regenschauer hatte Jeff veranlaßt, langsamer zu fahren; die Geschäfts- und Straßenbeleuchtung brach sich kaleidoskopartig und verwischte auf dem nassen Asphalt und legte sich auf die Windschutzscheibe. Die Wischer arbeiteten so schnell sie konnten, aber es war nahezu unmöglich zu erkennen, wohin sie fuhren, und sie wollte ihn schon bitten, an den Straßenrand zu lenken und abzuwarten, als sie sich den Nacken rieb und dabei einen Blick nach rechts warf. Und es sah. Und plötzlich war es zu spät zu reden, zu spät umzukehren und zu spät zu erklären, warum die Luft in ihren Lungen plötzlich ätzte und der Regen plötzlich so unerträglich laut geworden war. Als sie sich umdrehte, wobei eine Hand das Armaturenbrett umklammerte, sah sie die leere Straße hinter sich, Reflexionen, Verzerrungen und kleine Wasserfontänen, die kurzlebig auf dem Pflaster aufspritzten. Und dann die Wolke aus undurchdringlichem Nebel, die stetig näher kam, während der Wind Fetzen aus dem Rand riß und sie sich am Boden unter die geparkten Autos verflüchtigte und sich im Rinnstein mit dem Regen vermischte. Sie reichte nur bis zu den Spitzen der Telefonmasten, ragte nicht auf den Bürgersteig – sie folgte ihnen, als sei sie angeleint, und als sie eine Strecke an unbeleuchteten Geschäften zurücklegten, sah sie im Zentrum die grünen Augen, das grüne Feuer und die Andeutung eines Schattens, der dunkler war als dunkel. »Jeff«, sagte sie furchtsam.
»Er sah ja fürchterlich aus«, sagte Jeff, der mit dem Lenkrad kämpfte, um den Wagen auf der ölglatten Fahrbahn zu halten. »Gott, ich weiß nicht, wie er sich aufrecht hält, verstehst du? Wäre ich er, ich würde mich wahrscheinlich nach der nächsten Klippe umsehen, weißt du, was ich meine?« »Jeff, bitte.« »Trace, ich tue mein Bestes, aber ich kann hier nicht anhalten. Kein Platz. Willst du, daß ein Bus kommt und uns bis nach New York schubst? Nimms leicht, wir haben es fast geschafft.« Donner war der Regen, der auf das Dach prasselte, Blitz das Aufblinken der flackernden Ampeln, die sich unter ihren Scheibenwischern verzerrten. »Jeff, fahr schneller.« Er sah sie verblüfft an. »Was? Hier? Aber du hast mich doch gerade gebeten, das Tempo zu drosseln, Tracey!« »Jeff, streite jetzt nicht!« Er sah, wie sie durch die Heckscheibe starrte, und warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, woraufhin er angesichts des Weißen, das das Heckfenster ausfüllte, die Stirn runzelte. »Was zum Teufel ist das? Das kann keine Gischt sein, so schnell fahre ich nicht.« Grünes Feuer, das nach dem Auto züngelte und flackerte. Tracey schloß die Augen und betete. Selbst als sie mit Don gesprochen hatte, konnte sie es nicht richtig glauben, war eher dazu geneigt anzunehmen, daß sie sich durch seine Phantasie hatte anstecken lassen, sein begreifliches, aber unnötiges Bedürfnis, sich für eine Weile auszuklinken. Solche Augenblicke kannte sie auch, wenn auch nie so intensiv, nie so bedeutend, daß sie die Wirklichkeit aus den Augen verloren hätte. Ein weißes Band flatterte vor ihrem Fenster, und sie rieb krampfhaft an der Scheibe in der Hoffnung, daß es nur von
ihrem Atem beschlagen wäre. Es verschwand nicht, sie konnte es nicht abwischen, und sie drehte sich zu Jeff herum und drängte ihn zur Eile. »Tracey, hör mal – « Der Nebel ließ einen Streifen über die Windschutzscheiben fallen, und sie unterdrückte einen Schrei, trat mit ihrem Fuß auf seinen und drückte das Gaspedal bis zum Boden durch. Jeff schrie entsetzt auf und stieß sie weg, und der Wagen begann, von einer Straßenseite zur anderen zu schlingern, schrammte haarscharf an einem geparkten Auto, einer vollgestopften Mülltonne und der Bordsteinkante entlang. Er riß das Steuer herum, trat auf die Bremse, gab sie wieder frei und fluchte, während er vor sich auf die Straße starrte. Es holte daraufhin längsseits an ihrer Seite auf, und sie wimmerte Dons Namen. »Tracey«, fragte Jeff nervös, »was ist hier los?« Sie mußte woanders hinsehen. Sie mußte ihn ansehen, denn ein Anflug von Panik ließ seine Stimme höher schrillen und die Zähne entblößen. Sein Brille rutschte die Nase hinunter, und er hielt deshalb den Kopf nach hinten, weil er nicht wagte, die Hände vom Lenkrad zu nehmen. Er war bleich, und in dem stickigen Auto lief ihm der Schweiß über das Gesicht. Der Wind rüttelte sie, schob sie, und auf ihrer Seite blieb der Wischer mitten in der Bewegung stehen. »Ich muß anhalten«, sagte er. »Wir sind zu schnell, ich muß anhalten, sonst krachen wir – « »Nein!« schrie sie und stürzte sich wieder aufs Gaspedal. Er holte wütend mit dem Arm aus und schlug ihr quer über die Kehle. Sie würgte und sackte zurück, schluckte nach Luft, blinzelte die Tränen aus den Augen, drehte langsam den Kopf und sog einen Schrei ein, als sie die linke Schulter des Hengstes neben ihrer Tür sah. Er senkte den Kopf, und sie sah das grüne starre Auge.
Da schrie Jeff, und der Wagen geriet ins Schleudern. Tracey griff mit ihrer Hand nach dem Armaturenbrett, um sich festzuhalten, und legte die Rechte auf den Türgriff, falls sie herausspringen mußte. Das Auto schlingerte, drehte sich, und sie wurden aufs Dach gekippt, als es über eine Bordsteinkante schoß und sich überschlug. Dann wurde es zurückgefedert, als sie gegen einen Baum krachten, der aus dem Nebel aufragte. Tracey durchfuhr ein Schmerz durch den Arm bis in die Schulter, und sie stöhnte, konnte, aber verhindern, daß sie mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe prallte. Jeff war jedoch gegen das Lenkrad geschleudert worden und hing darüber, als sie wieder imstande war, etwas zu erkennen, während ein Blutrinsel aus seinem Mundwinkel lief und die Arme schlaff an den Seiten hingen. »Jeff! Oh, Jeff, bitte!« Sie zerrte an ihm, stieß ihn an, aber er sackte lediglich zurück und rutschte zur Seite, wobei er teilweise auf ihrem Schoß landete. Der Nebel fingerte durch einen Sprung in seinem Fenster. »Jeff, es tut mir leid, es tut mir leid.« Sie richtete ihn auf, öffnete die Tür und stürzte mit den Knien auf die Straße. Der Wagen stand halb auf einer der Verkehrsinseln inmitten des Boulevards, ein Ahornbaum war über seinem Dach geknickt und schrammte mit seinen Ästen darüber. Indem sie ihre Augen gegen den Regen abschirmte, versuchte sie festzustellen, wie dicht sie bei ihrem Elternhaus war, wie nah der Hengst war. Aber da war nur der Dunstschleier, der von Regen zerfasert wurde, und die dunkle Masse des Autos, die langsam im Wind schaukelte. Auf die Beine, befahl sie sich. Komm zu dir, verlangte sie, und gehorchte, und holte tief Luft, als sie erkannte, daß sie
noch weit weg von zu Hause, auf den Inseln gegenüber vom Parkeingang gelandet waren. Der breite Boulevard lag verlassen da. Sie taumelte um das Heck des Autos herum und hielt sich das Haar aus dem Gesicht, als sie bei der Fahrertür anlangte. Der Wind warf sie dagegen, und heiße Nadelstiche des Schmerzes durchzuckten ihre Schulter und fuhren spiralenförmig ihr Rückgrat hinunter. Sie keuchte. Ihr Mund öffnete sich und füllte sich mit Regen. Sie spie aus und griff wieder nach der Tür und stieß einen kurzen Schrei aus. Der Boulevard war leer bis auf den die Fahrbahn entlanggaloppierenden Hengst – den Hals gestreckt und grünes Feuer, die Ohren zurückgelegt und grüne Augen, Funken und Rauchnebel in der Luft ringsum, das Geräusch der Hufe über das Prasseln des Regens hinwegtrommelnd. Wohin? Oh, Jesus, wohin? Es gab keinen Ausweg, aber sie konnte es hinauszögern, hoffentlich lange genug, daß Don verstand und ihr zu Hilfe eilte. Und der einzige Ort, der ihr jetzt einfiel… Mit einem haßerfüllten Aufschrei gegenüber dem angreifenden Tier und voller Verzweiflung, weil sie Jeff im Stich lassen mußte, ließ sie sich vom Wind über die Fahrbahn treiben und die Mauer entlang. In den Park, wo die Hälfte der Laternen ausgegangen war. Rannte zum Teich, wo das Wasser über den Rand schwappte.
Er rannte. Während er sich den Regen aus dem Gesicht wischte und die Pfützen ignorierte, die sich in kleine Seen verwandelten, rannte Don Richtung Stadtmitte. Er vermutete, daß Jeff sie nach Hause gebracht hatte, konnte aber nicht sicher sein. Inzwischen wußte Tracey, daß es hinter ihr her war, und sie konnte nicht
riskieren, daß jemand von ihrer Familie verletzt wurde. Und es gab sonst keinen Ort, bei dem sie davon ausgehen konnte, daß er dorthin folgen würde – sie mußte im Park sein und warten – falls sie noch lebte. Er verzog grimmig das Gesicht und schlug sich gegen die Brust. So konnte er nicht denken, sonst war alles vorbei. Er mußte wissen, ob sie noch lebte, und den Hengst irgendwie aufhalten. Vielleicht in den Bäumen, wo er sich nicht so gut bewegen konnte. Vielleicht an der Mauer, damit diese zwischen ihnen bliebe. Aber sie lebte. Sie mußte am Leben sein. Was zum Teufel für einen Sinn ergab es, wenn das verdammte Ding sie erwischte? Zu Hause, dachte er, war ihr Vater und seine Waffe. Er wußte nicht, was das Ding aufhalten könnte, wenn überhaupt irgend etwas es aufhalten konnte, aber Tracey würde an eine Waffe zu ihrer Verteidigung denken, und die beste wäre der Revolver ihres Vaters. Oh, Herrje, dachte er, gebrauche deinen Verstand! Halt, rief er dann, ohne die Lippen zu bewegen. Halt, tu’s nicht, es ist Tracey, und ich habe es nicht so gemeint! Falls es seine Qual vernahm, mußte es auch sein Flehen hören. Falls er es unter Kontrolle hatte, mußte es gehorchen. Es sei denn, nach den neuen Spielregeln, es beschützte ihn unaufgefordert. Oh, Jesus, dachte er, gebrauch deinen verdammten Verstand! Er lief nicht schnell genug. Er würde niemals Jeffs Wagen einholen können oder das Pferd. Er mußte etwas zulegen, er mußte es schaffen, er mußte den Wind schlagen, egal, wohin er laufen mußte. Er rannte zu schnell und würde noch ausrutschen und sich ein Bein brechen, wenn er nicht achtgab; er würde außer Puste geraten und zu spät kommen, wenn er nicht in einen gleichmäßigen Laufschritt verfiel.
Ein Rennen, sagte er sich, ein Rennen, und dort sind sie, blicken aus den Fenstern und sehen zu, stumm jubelnd, Fähnchen schwenkend und in Tröten blasend, während er unter der Zeltplane davonzieht, mit dem Wind läuft, statt dagegen anzukämpfen, wobei seine Turnschuhe eine Heckwelle aufspritzen lassen und seine Arme durch den kalten Regen schneiden, um ihm Bewegungsspielraum zu verschaffen. Sie jubelten, weil er Don Boyd war, und er würde es schaffen. Er stürzte. Der Bordstein stand einige Zoll unter Wasser, das vom Gewitterregen noch nicht abgeflossen war, und er verschätzte sich. Seine Hände schrammten über das Pflaster, seine Jeans riß an den Knien auf, und Blut spritzte auf die Straße. Er wimmerte, fluchte und rappelte sich auf, bis er wieder auf den Beinen war. Rannte. In Schweigen. Die Fenster waren leer, es gab keine Zuschauermenge, keine Bands oder Hurraschreier oder an der Strecke wartende Fotografen. Jetzt benutzte er die geparkten Autos, um sich mit der Hand vorwärtszustoßen. Er fragte sich, wo der Verkehr geblieben war, und wich einem Ashford Day-Banner aus, das von seiner Halterung gerissen worden war und matt auf der Straße flatterte, wo morgen die Parade stattfinden sollte. Rannte. In Schweigen. Daraufgefaßt, in das Viertel der Quinteros einzubiegen, falls er sich getäuscht haben sollte, und schluchzend, als ihm klar wurde, daß ihm keine Wahl blieb: entweder der Park oder Traceys Haus. Und wenn er einen Fehler gemacht hatte, mußte jemand sterben.
Sie spurtete ins Oval, wohl wissend, daß sie sich nicht umsehen durfte, wenn sie nicht unnötig an Boden verlieren wollte. Eine runde Laterne flackerte und erlosch. Der Regen glitzerte silbrig. Sie versuchte, den Teich zu umrunden, aber das glitschige Laub am Rand rutschte unter ihren Füßen weg, und sie stürzte auf die Schulter. Schrie auf. Wand sich. Hieß die Dunkelheit fast willkommen, die heranwogte und sie einhüllte. Wenigstens würde sie den Schmerz dämpfen. Wenigstens würde sie sie davor bewahren zu sehen, wie sie starb. Aber die dunkle Wolke hob sich, und der Regen weckte sie, und sie stützte sich auf eine Hand und blickte den Weg entlang. Dort war es. Stand am Eingang, unberührt vom Sturm, während Kopf und Flanken schimmerten, als wären sie mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. Gegen den Wind ankeuchend, der ihr den Atem fortriß, kam sie taumelnd auf die Füße und ließ sich vom Wind vorwärts treiben. Auf beiden Seiten warteten die Bäume, aber sie konnte einfach nicht umhin, zuzusehen, wie der Hengst sich in Bewegung setzte, die Beine langsam anhob, langsam mit dem Kopf ruckte, während das grüne Feuer unter seinen Hufen seinen Weg beleuchteten.
Der Park. Es mußte der Park sein, und er wußte nicht, warum, und er war nahe daran zu weinen, als er an Beacher’s vorbeilief, am Kino und dann das Auto von Lichter auf der Insel hängen sah. Er verlangsamte sein Tempo zum Wrack hin, sah Jeff auf dem Vordersitz liegen, von Tracey keine Spur. Er bat seinen Freund um Verzeihung, als er die Scheibe berührte, als
berührte er seine Hand, bog dann scharf über die Fahrbahn ab und rannte durch das Parktor. Vor ihm lag das Oval, und er versuchte zu rufen, aber in seinen Lungen war nur noch die Luft, die seine Beine bewegte, seine Arme schwingen ließ und seine Kehle ausdörrte, als er den Mund öffnete, um noch etwas Atem zu schöpfen, damit er nicht aufgab. Und dort angelangt, war niemand da. Er blickte zurück. Er rief Traceys Namen, wobei er die Hände trichterförmig vor den Mund hielt und die Augen vor dem Regen zusammenkniff, der durch das Geäst fegte und ihm den Rücken und die Brust hinunterrann, sich in seinen Schuhen sammelte und ihn steif vor Kälte werden ließ. Sich seitlich haltend rannte er zum Baseball-Platz, wobei er sich immer wieder umsah, falls er sie verfehlt hatte. Rufend. Fragend. Bei einem Blitz herumkreiselnd und sie auf dem Boden ausgestreckt liegen sehen – der Hengst neben ihr, der das Gebiß entblößt hatte und mit den Hufen scharrte. »Nein!« schrie er, und Tracey drehte sich um und sah ihn. »Nein!« schrie er, und der Hengst wandte seinen Kopf. Er stolperte und raste dann über den matschigen Platz, wobei er immerzu den Kopf schüttelte und ihr die Hände entgegenstreckte, ohne dabei das Pferd aus den Augen zu lassen, das zurückwich. Das grüne Feuer und die grünen Augen und Nebelschwaden, die zum Sturm anschwollen, als er sich näherte. Tracey kam auf die Beine und sank gegen ihn, als er sie erreichte, aber er schob sie hinter sich, als der Hengst den Kopf hob. »Nein«, sagte er und hielt ihm eine Handfläche entgegen, um ihn aufzuhalten. Sein Schädel, höher; seine Hinterbeine leicht geknickt.
»Nein!« schrie er und hielt ihm jetzt beide Hände entgegen, als das Pferd sich vom Boden löste, die Vorderbeine ausgestreckt, durch den Regen schlugen von den Hufen grüne Funken. »Nein!« schrie er. »Nein! Geh weg!« Die grünen Augen so eng zusammengekniffen, daß sie beinahe im Nebel verschwanden. »Ich brauche dich nicht!« kreischte Don, als der Hengst auf die Hinterhand stieg. »Ich brauche dich nicht, verdammt! Laß… laß mich endlich in Ruhe!« Noch höher und schwärzer. »Verdammt! Verdammt! Laß mich in Ruhe!« Höher, bis Don auf die Knie fiel, die Hände ausgebreitet, die Augen zornfunkelnd und spürend, wie das Blut ihm fiebernd und prickelnd ins Gesicht schoß. Tracey barg das Gesicht an seinem Rücken. Er schrie abermals und nochmals, wobei er seine Arme vorund zurückschwang, um den dicken Nebel zu verdrängen, der von dem Hengst ausging und das Feuer verschleierte und die Augen verbarg. Don kroch rückwärts von ihm fort und keuchte unter der tödlichen Kälte, die von ihm ausging, rutschte weiter und schlang beschützend die Arme um Tracey. Sie hielt ihn ganz fest, verzweifelt, und sie behielten das Pferd, so gut sie konnten, im Auge, während der Sturm die Oberhand gewann, der Regen den Nebel durchdrang und schließlich auf den Erdboden drückte. Und als er verschwunden war, waren sie alleine; der Hengst war weg. »Oh, Don«, keuchte Tracey, als er ihr aufhalf. »O Gott, ich habe mich so gefürchtet.« »Ja«, sagte er und eilte zum Parkweg, wobei er sie hinter sich herzog, so daß sie rennen mußte, um mit ihm Schritt zu halten.
»Don! Don, was.« Eine einzige Antwort. Ein einziger gehetzter Blick, und er begann wieder zu laufen, nicht so schnell, daß er sie abgehängt hätte, aber schnell genug, um an Jeffs Wagen vorbeizukommen, ehe irgendein anderer ihn bemerkte. Er bog nach links ab, nach Hause, und Tracey folgte ihm, während sie sich mit einer Hand die verrenkte Schulter hielt. Die Polizei war weg. Der Garten und das Haus waren dunkel. Angesichts der Spanplatte, die vors Erkerfenster genagelt war, runzelte er verwirrt die Stirn, blieb aber nicht stehen, um sie genauer zu betrachten. Er hastete die Treppe hinauf und griff nach dem Türknauf. »Oh, Mist!« schrie er und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Verdammt, es ist abgeschlossen.« Er drehte sich um und ging die Stufen hinunter, zögerte auf dem Gehweg, ehe er Tracey mit sich in die Garage zog. Hier war die Tür offen, und er stolperte von dort in die Küche, taumelte in die Diele. Er blickte nicht in das ruinierte Wohnzimmer, spürte nicht die sich in den Wänden einnistende Kälte, sondern zog sich die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Tracey kam hinter ihm her, ihre Augen waren glasig vor Schmerzen. Don schaltete das Licht ein und blickte auf das Poster über seinem Schreibtisch. »O Gott«, sagte er. Die Bäume, die Landstraße und dort, im Hintergrund, der Hengst, im Lauf erstarrt. Es tut mir leid, dachte er. Es tut mir leid. Und er riß es von der Wand, zerknüllte es zu einem Ball und rannte wieder die Treppe hinunter in die Küche. Nach zwei mißglückten Versuchen gelang es ihm, den Gasherd aufzudrehen, und dann hielt er das Poster über die Flamme, bis es an mehreren Stellen Feuer gefangen hatte. »Don? Don, hilf mir.«
Als er spürte, daß das Feuer sein Handgelenk zu sengen begann, ließ er das brennende Papier in den Spülstein fallen und beobachtete, wie es verkohlte, wie es aufflammte, beobachtete, wie es Funken aufstieben ließ und knisterte und zu Asche zusammensank. »Don, bitte hilf mir.« »Ja«, sagte er. »Don, der Superman, eilt zu Hilfe.«
21
Eine kalte Nacht Ende Oktober, ein Sonntag, – ein sich klarer, mit grauen Schatten überzogener Mond und ein Sternengefunkel zu strahlend, um durch die Lichter auf der Erde übertroffen zu werden; der eisige Atem eines schwachen Windes, der ab und zu böig auffrischte und die Echos von in den Bäumen erzeugten Nachtgeräuschen weitertrug, welke Blätter in den Rinnstein wirbelte, Eicheln in Dachrinnen herumrollen ließ und mit der erbarmungslosen Ankündigung des Winters nach Händen und Gesichtern griff. …und daher blickte der Junge, der eigentlich kein schlechter Kerl war, was aber niemand wegen all dieser Sachen, die er angestellt hatte, begriff, in den Baum hinauf… »Don, um Himmels willen, gönn mir eine Pause, okay? Ich bin nämlich keines deiner dummen kleinen Kinder, weißt du? Ich glaube nicht an Märchen.« Er lachte leise am Telefon und schmiegte sich enger an die Wand, während er die Beine ausstreckte, bis er sie gegen die Treppe stemmen konnte. Die Kälte des Holzes fühlte sich gut unter seinen Fußsohlen an. »Ich dachte, dir gefallen meine Geschichten. Ich dachte, du brauchst etwas, was dich von anderen Dingen ablenkt.« Tracey stöhnte laut. »Ich habe Schmerzen, Vet, erinnerst du dich? Ich bin Patientin im einzigen Krankenhaus auf der Welt, das noch Essen gemäß der Genfer Konvention im Zweiten Weltkrieg serviert. Und ich darf nicht malträtiert werden.«
»Malträtiert?« fragte er, und seine Stimme klang verletzt. »Ich kann mich nicht entsinnen, daß du mich früher als Qual empfunden hast.« »Ich habe nicht von dir gesprochen«, antwortete sie leise. »Ich habe nicht von dir gesprochen.« »Ich weiß«, sagte er ebenso leise. »Es war nur ein Scherz.« »Oh.« Eine Pause. Sie zwang sich zu einem Lachen. »Verstehe. Ein Scherz.« In der Küche lief Wasser. Er blickte hinüber und sah seinen Vater am Spülstein stehen, ein Handtuch über der Schulter und eine nicht angezündete Zigarette im Mundwinkel hängend – das gleiche, was er schon seit drei Tagen beobachtete. »Also, hör zu«, sagte Don. … und er sah die Krähe auf dem obersten Ast des höchsten Baumes der Welt sitzen. Eine große Krähe. Die größte Krähe, die er je im Leben gesehen hatte. Und der Junge erkannte, erkannte wirklich und wahrhaftig, daß diese Krähe der einzige Freund sein würde, der ihm auf der Welt geblieben war. Also sprach er zu der Krähe und sagte… »Es reicht«, flehte Tracey lachend. Dann wurde sie plötzlich ernst. »Bitte, Don. Nichts mehr davon. Versprich mir, nichts mehr davon.« Er seufzte und nickte. »Na gut.« »Bist du okay?« »Das sollte ich dich eigentlich fragen, nicht?« »Du weißt, wie es mir geht. Ich möchte wissen, wie es dir geht.« Ihm ging es gut, dachte er, alles in allem betrachtet. Nachdem er Tracey im Kombi zum Krankenhaus gefahren hatte, wobei er mit dem Regen zu kämpfen gehabt hatte, der durch die zerbrochene Windschutzscheibe drang, hatte er so lange
gewartet, bis man auch Jeff eingeliefert hatte. Eine Gehirnerschütterung und einige tiefe Fleischwunden, wurde ihm erklärt, sonst nichts. Und seine Aussage bei der Polizei war ohne Beanstandung akzeptiert worden: Er war zu seinem Spaziergang aufgebrochen, nachdem er seinen Vater verlassen hatte, und hatte die Folgen eines Unfalls bemerkt, war nach Hause gelaufen, um zu telefonieren, denn er wohnte nur zwei Straßen weiter, und hatte dann Tracey entdeckt, die benommen umhergeirrt war. Er nahm an, erklärte er auf die Frage, sie waren in dem Unwetter ins Schleudern geraten. Seine Mutter war immer noch bewußtlos, und Dr. Naugle hatte ihn aufgefordert, sich um seinen Vater zu kümmern. Er brauchte Schlaf und etwas zu essen, damit er fit war, wenn sie aufwachte. »Don, ich muß Schluß machen, die Gefängniswärter kommen mit den Pillen.« »In Ordnung«, sagte er. »Ich komme morgen vorbei.« Sie legten auf, und er schlenderte in die Küche, wo er schweigend seinen Vater beobachtete, ehe er hinauf in sein Zimmer ging. Er war erschöpft, ließ sich aufs Bett fallen und sank fast sofort in tiefen Schlaf, aus dem er erst kurz nach Mitternacht aufwachte, um sich auszuziehen und wieder einzuschlafen. Am Montag sprach er in der Schule mit niemandem, ließ Biologie ausfallen, als er die Stellvertretung vorne im Klassenzimmer sah. Anschließend lief er eine Stunde, wobei ihm das Geräusch seiner Füße auf der roten Aschenbahn merkwürdig entrückt vorkam, als schwebte er durch einen Tunnel auf der Suche nach jemandem, von dem er wußte, daß er ihn nicht finden würde. Dann kehrte er heim, um das Abendessen für seinen Vater zuzubereiten. Norman aß wenig, rauchte dabei und schob schließlich den Teller von sich, ehe er wortlos den Raum verließ.
Don folgte ihm nicht. Er wusch und trocknete das Geschirr ab und stellte es in den Schrank. Dann stieg er die Treppe hinauf, um sich für den abendlichen Besuch bei seiner Mutter, Jeff und Tracey umzuziehen. Als er wieder herunterkam, stand Norman an der Tür und klimperte ungeduldig mit den Schlüsseln des Wagens, den er gemietet hatte, während der Kombi in der Reparatur war. »Weißt du«, sagte er, als er über die feuchten Straßen fuhr, »du kommst mir in jüngster Zeit schrecklich ruhig vor.« Don zuckte die Achseln. »Und mir scheint, du verbringst schrecklich viel Zeit mit diesem Mädchen.« »Sie ist eine Freundin. Ähnlich wie Jeff.« »Und deine Mutter ist deine Mutter. Ich meine, es könnte helfen, wenn du dich ein bißchen mehr bei ihr im Zimmer aufhieltest.« »Okay.« Er konnte den Blick seines Vaters spüren, nicht unbedingt wütend, aber ihm war es so oder so egal. Er hatte versucht, sich über seine Empfindungen klarzuwerden, und es quälte ihn, daß er sich nicht entscheiden konnte, ob er sich nun schuldig fühlen sollte oder nicht. Er fürchtete, daß in jener Nacht im Park irgend etwas mit ihm geschehen war, und er fürchtete ebenfalls, daß er mit der Wahrheit herausplatzen und so zu einem Fall für die Männer in den weißen Mänteln werden könnte. Sein Vater hatte viel Zeit am Telefon zugebracht – der Bürgermeister, etliche Mitglieder der Schulaufsichtsbehörde und Dr. Naugle. Don schämte sich bei dem Gedanken, daß Norman sich mehr Sorgen wegen des Bürgermeisters machte. Am Dienstag wurde Jeff entlassen und ließ sich nach dem Unterricht bei ihm blicken, um ihm beim Laufen zuzusehen. Es gab Fragen, aber er stellte sie nicht, und Don hörte bald auf sich Sorgen wegen dem zu machen, was sein Freund gesehen
haben könnte. Selbst wenn er einen kurzen Blick erhascht hatte, konnte man es leicht als Folge des Unfalls erklären. Am Mittwoch beschloß er, nicht auf die Bahn, sondern direkt nach dem Unterricht nach Hause zu gehen. Er mußte Hausaufgaben erledigen, und sein Vater würde seine Mutter alleine besuchen müssen. »He, Fremder!« Er blieb stehen und drehte sich um. Er trat von einem Fuß auf den anderen, als Chris herbeigerannt kam, das Haar lose fallend, und das Hemd aus den Jeans hängend. »Hi«, sagte er. »Gott, du bist wohl unter die Gespenster gegangen, was?« meinte sie. »Wo hast du dich versteckt?« Er deutete aufs Haus und auf die Männer mit der Leiter, die das Fenster reparierten. »Aufgeräumt, meine Mutter besucht… du weißt schon.« »Ja. He, tut mir leid, daß so was passiert ist.« Sie trat näher, und er konnte ihr Parfüm riechen. »Stimmt es«, fragte sie, »daß dein Vater aufhört?« »Ja. Eine Beurlaubung. Mit all dem Ärger und meiner Mutter und so braucht er die Zeit, verstehst du?« »Und ob«, sagte sie. »Kandidiert er tatsächlich für das Bürgermeisteramt?« Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Er denkt darüber nach, aber ich habe so das Gefühl, es hat sich was verändert.« Dann blickte er ihr in die Augen und sah, daß etwas fehlte. Ihr Ausdruck war durchaus freundlich, ihre Stimme sanft, aber trotzdem fehlte etwas, und er kam nicht dahinter. »He, ähm, hör mal«, sagte er schließlich. »Es ist Haloween dieses Wochenende, und… nun, letzte Woche sind wir gewissermaßen ins Schleudern geraten, wegen der Ereignisse. Ich überlege gerade, ob wir… das heißt, ich…«
Dann zuckte er beim Plärren einer Hupe hinter sich zusammen, und Chris lachte, tätschelte seinen Arm und ging zu Brians Auto hinüber. »He, Duck, wie geht es deiner Mutter?« fragte Brian, als Chris den Wagenschlag öffnete und einstieg. »Sie ist okay«, sagte Don ausdruckslos. »Gut. Bestell ihr ein Hallo von mir.« Er krümmte den Finger wie am Abzug in Dons Richtung, gab dann Gas, und als er mit einem Arm um Chris’ Schulter davonbrauste, hörte Don ihn sagen: »Quak«, und hörte Chris wiederholen: »Quak, quak«, und Gelächter. »Was?« fragte er. »Wovon sprichst du?« »Nun hör mal«, sagte Norman. »Ich habe keine Zeit, mit dir zu streiten. Ich habe alles hin und her gerechnet, und mit den Arztkosten und der Hausreparatur bleibt einfach nicht genug Geld übrig. Tut mir leid, aber ich kann’s mir nicht aus den Fingern saugen und ich kann es nicht ausgeben, wenn es nicht da ist. Du mußt anfangen, dir etwas zu suchen, was näher an zu Hause liegt, an die State Colleges denken, wo es billiger geht. Außerdem, bei dem Notenschnitt, den du hast, kannst du von Glück sagen, wenn du graduierst.«
Tracey saß auf der Wohnzimmercouch, ihre Mutter mit höflichem Interesse dabei. Als er ihr das Dictum seines Vaters wiederholte, äußerte sie ihr Mitgefühl und schlug vor, er solle anfangen, sich um ein Stipendium zu bemühen, Studentendarlehen, und bei einer der ansässigen Organisationen nachfragen, die College-Studenten unterstützen. Daran hatte er noch nicht gedacht; er dankte ihr. Gerne hätte er sie geküßt, aber ihre Mutter ließ sie nicht alleine.
In der Cafeteria stöhnte Jeff auf und machte Anstalten, sein Tablett auf Dons Schädel niedersausen zu lassen. »Was ist denn überhaupt so Tolles an Chris, ha? Ich dachte, du und Tracey wäret… du weißt schon.« »Sind wir, schätze ich«, sagte er. »Ich weiß nicht.« »Aber du willst dich nicht an die Leine legen lassen, ha?« Bei der Bitternis, die er in Jeffs Stimme mitschwingen hörte, blickte er auf. »Nein, das habe ich nicht gesagt.« »Ich weiß«, sagte Jeff. »Also, hör mal zu, Sportsfreund – Tracey Quintero ist eine großartige Lady, und du tust ihr besser nicht weh. Verstehst du mich, Kumpel? Du tust besser nichts, was sie verletzen könnte, oder du bekommst es mit mir zu tun.« Er zwang sich zu einem Grinsen. »He, ist das eine Drohung?« Jeff erwiderte das Lächeln nicht. »Wie du willst.« Und beinahe hätte er laut gestöhnt, als ihm klar wurde, daß Jeff ebenfalls in sie verliebt war.
Am Freitag stand er mit seinem Vater am Bett seiner Mutter und beobachtete, wie leicht ihre Atmung ging und die Zeichen auf dem Bildschirm, die bestätigten, daß sie lebte. Fünf Minuten nach zehn wachte sie auf, sah ihren Sohn und schrie. Das Zimmer war dunkel. Als er so auf seinem Schreibtischstuhl mit dem Rücken zur Wand saß, konnte er sie auf den Regalen und den Postern sehen – die Elefanten, die Falken, die Luchse und den Panther im Dschungel, der sich die Pranke leckte. Unten konnte er seinen Vater an die Tür gehen und kleine Päckchen mit Süßem an die von Haus zu Haus ziehenden Kinder verteilen hören. Gestern war seine Mutter aufgewacht.
Heute war er zu Hause geblieben, hatte an seinem Schreibtisch gesessen und versucht, zu einem Schluß zu gelangen. Und während er im Haus herumwanderte, weil ihm der Rücken steif geworden war, hatte er aus einem Seitenfenster geschaut und seinen Vater mit Chris reden sehen. Sie schienen zu streiten, und er wäre gerne hinausgelaufen, um ihr zu sagen, daß sie seinen Vater nicht verrückt machen solle, nicht jetzt, um Himmels willen, oder sie würde es im kommenden Juni bereuen. Dann hatte sie eine dicke Strähne ihres Haares über ihre linke Schulter geworfen und sich angeschickt, in ihren Garten zu gehen. Norman war ihr nach kurzem Zögern gefolgt, als sie sich noch einmal schmollend umgesehen hatte, die Brust herausgestreckt. Norman blieb länger als eine Stunde fort. Harry Falcone und Chris Snowden, und der verdammte Sam war tot. Nichts hatte sich geändert. Rot. Menschen waren tot, Bekannte waren tot, und nichts hatte sich geändert. Ein roter Schleier, als blickte man durch einen fernen, karmesinfarbenen Vorhang. Er telefonierte mit Tracey und hatte den Nerv, ihr zu gestehen, daß er sie liebte, und war so verwirrt, nicht nach den Gründen zu fragen, als sie ihm erklärte, daß sie ihn mochte, aber sich in puncto Liebe noch nicht sicher war. Statt dessen wechselte er das Thema – die Schule, Jeff, als sie fragte, wie es ihm ginge, das Wetter und die bevorstehenden Ferien. Und als sie auflegte, blickte er zur Treppe, ohne irgend etwas zu sehen. Und wenige Minuten später seufzte er und rieb sich die Augen.
Sie irrte, wenn sie meinte, er sei jetzt okay. Sie irrte, wenn sie sagte, daß sie sich hinsichtlich der Liebe nicht sicher sei. Natürlich war sie das. Er hatte es aus Jeffs Stimme gehört und gerade aus ihrer – Sie hatte jetzt Angst vor ihm und vor Jeff nicht. Wie konnte es ihm also gutgehen, wenn sich trotz allem, was er getan hatte, nichts geändert hatte? Er stand in der Küche und trank Soda aus der Dose, stand etwa fünf Minuten in der Diele und starrte das Telefon an, ehe er Traceys Nummer wählte. Sie war überrascht, wieder seine Stimme zu hören, und bedauerte, am nächsten Wochenende nicht mit ihm ausgehen zu können, weil sie Jeff bereits eine Vorstellung vom intensiven Verhör ihres Vaters versprochen hatte. Sie lachte. Er lachte. Sie schlug vor, Don solle ihn anrufen und ihm ein paar Tips geben. Er lachte wieder und erklärte, das werde er glatt machen. Und legte auf. Und ging in sein Zimmer, wo er die beiden stumm verfluchte und sich fragte, was er falsch gemacht hatte, sich fragte, wo sein Fehler lag. Ändern. Er würde sich ändern müssen, wenn er sie Jeff wieder wegnehmen wollte. Er würde sich ändern müssen, wenn die Welt wieder für ihn in Ordnung kommen sollte. »Nein«, sagte er. Nein, dachte er, und seine Augen verengten sich unter seiner gerunzelten Stirn. Was er brauchte, entschied er, als er das Stapfen seines Vaters auf der Treppe hörte, war keine Veränderung seinerseits und nicht die schlichte Erkenntnis, daß seine Probleme nicht schlimmer waren als die anderer Leute. Das wußte er. Er war nicht blöde, und auch das wußte er. Aber er wußte auch etwas, was sonst niemand wußte, daß er die Möglichkeiten besaß, etwas zu unternehmen.
Norman klopfte an die Tür und öffnete sie, grunzte etwas und knipste den Wandschalter um, der die Schreibtischlampe einschaltete. »Bist du ein Maulwurf oder was?« »Ich denke nach.« »O Gott. Das wird auch Zeit. Ich bin gleich weg, um deine Mutter zu besuchen. Du achtest auf die Klingel und verteilst die Süßigkeiten. Wenn du willst, kannst du ein bißchen Gift in die Äpfel spritzen.« Don lächelte pflichtschuldig, und sein Vater salutierte. Dann sah er sich im Zimmer um und schüttelte den Kopf. »Vielleicht werde ich all dies eines Tages begreifen«, sagte er, nachdem er einen weiteren Schritt ins Zimmer getan hatte und seinen Blick über die Regale und Poster schweifen ließ. »Vielleicht habe ich mich geirrt, Sohn. Vielleicht… Nun, vielleicht habe ich mich geirrt.« Er hob die Schultern und kratzte sich am Kopf. »Wenn es deiner Mutter wieder besser geht, sollten wir beide uns vielleicht mal ein bißchen unterhalten. Ich denke mir, lieber spät als nie, hm, Sohn? Was hältst du davon?« Don nickte und akzeptierte die dargebotene Hand, protestierte nicht, als Norman ihm eine Hand auf den Hinterkopf legte und ihn im groben Abklatsch einer Umarmung an seine Brust zog. Und als er fort war, starrte Don auf seinen Schreibtisch, bis der Mond sein Fenster ausfüllte, starrte auf den Schreibtisch, bis das wirbelnde Rot verschwunden war. Dann lächelte er und stand auf. Nein, Dad, dachte er. Besser spät ist nicht besser. Es ist keineswegs besser. Und er griff nach oben über seinem Bett, um das Bild vom verlassenen Dschungel von der Wand zu nehmen.
Und als er aus dem Fenster blickte, flüsterte er: Wo bist du? zu den herumschleichenden Schemen dort draußen, dunkler als ein Schatten und auf seinen Ruf wartend.