Alexander M. Frey
Spuk des Alltags Elf seltsame Geschichten aus Traum und Trubel
Text und Illustrationen wurden von ...
12 downloads
637 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Alexander M. Frey
Spuk des Alltags Elf seltsame Geschichten aus Traum und Trubel
Text und Illustrationen wurden von der Originalausgabe (1920) unverändert übernommen. Trotz intensiver Bemühungen ist es uns nicht gelungen, die jetzigen Inhaber der Rechte an diesem Buch in Wort und Bild zu ermitteln. Berechtigte Ansprüche sind an den BLITZ-Verlag zu richten. ©2004 by BLITZ-Verlag GmbH Redaktion: Markus K. Korb Cover Artwork: Mark Freier Innenillustrationen: Otto Nückel Lektorat: TTT, Mallorca Satz: M. Freier, München Druck und Bindung: Drogowiec, Polen All rights reserved www.BLITZ-Verlag.de
Spuk? – ein Jugendlicher ermordet seine Eltern und verbirgt sich zusammen mit den verwesenden Leichen in der Wohnung. Merkwürdige Klopfgeräusche ängstigen ihn. Erwachen in der Nacht die Toten? Alltag? – ein Mörder versteckt sein Opfer unter einem Sandberg im Hinterhof. Doch fürchtet er die im Sand spielenden Kinder, welche seine Tat ans Tageslicht bringen könnten. Oder gräbt sich die Leiche von selbst wieder heraus? Insgesamt – elf Erzählungen vereint dieser Band von einem der besten Autoren der Weimarer Phantastik, der zu Unrecht vergessen und seit über 70 Jahren nicht mehr verlegt wurde. Teils unheimliche, teils bizarre Perlen der deutschen phantastischen Literatur.
VERHEXUNG
Bitte, lieber junger Herr, ach bitte, gehen Sie nicht vorbei! Gehen Sie nicht herzlos vorbei an einer alten Frau, die friert, – in dieser trüben Herbstnacht seit Stunden in der dunklen Ecke lehnt und nichts Heißes getrunken hat. Sie kommen gewiß aus einem Cafe, worin es behaglich und heiter war. Dacht’ ich’s doch! Sie können sich nicht hartmachen und achtlos vorübereilen. Sie haben ein gutes Herz, ein warmes Herz. – Oder haben Sie nur Neugier, weil Sie mir so prüfend unter die Kapuze schauen? Bitte, erschrecken Sie nicht. Ja, ich weiß, die Leute sind immer ein wenig erstaunt über mein Angesicht. Es will nicht recht passen zu meiner Behauptung, ich sei eine alte Frau. – Gut gepolstert und rosig sei es, hat man mir versichert. Auch fehlt mir kein Zahn im Mund, es ist wahr. „Schimmerndes Raubtiergebiß“ hat es einmal jemand genannt, – nun, eh – dieser Jemand ist längst erledigt… Aber, junger Herr, wenn ich meine Kapuze abnähme, da würden Sie schneeweißes Haar sehen. Sie wissen, daß greise Frauen mit vollen weißen Haaren bis ins höchste Alter das Antlitz der Jugend bewahren? Eh was, ich bin ein altes schwaches Weib! Betrachten Sie meinen hilflosen Körper, den gekrümmten Rücken, ich kann ihn nicht mehr geradebiegen; will ich Ihnen in die Augen sehen, muß ich den Hals verrenken, daß mir der Kehlkopf wehtut. Hören Sie doch meine Stimme! Ich selbst höre sie gut. Wenn andere Leute auch nicht wissen, ob sie hoch oder tief sprechen, laut oder leise, gepreßt oder frei, dröhnend oder erstickt, – ich weiß, daß ich krächze und blechern scheppere mit meiner ausgeleierten Gurgel, daß ich zischle und quietsche, wenn ich, wie jetzt, leise und freundlich zu einem Menschen reden möchte, der gutherzig zu mir ist. – Sie finden mich gesprächig, wie? – Ein wenig geschwätzig?
Erkennen Sie nun, daß ich eine alte Vettel bin, die gerne schwatzt? Ich tue es, um Ihnen Dankbarkeit zu zeigen, weil Sie sich meiner annehmen wollen. Sehen Sie meinen humpelnden Gang, sehen Sie die Last der Ledertasche, in der nichts steckt als ein paar leichte Habseligkeiten, – wie sie mich zu Boden zieht! Fassen Sie ganz Vertrauen zu mir, ich bin arm und alt. Nein – bleiben Sie nicht unter dieser Laterne stehen, ziehen Sie nicht Ihre Börse! Ich möchte Sie um etwas anderes bitten als um Geld. Ich habe einen weiten Weg vor mir, einen beschwerlichen durch den Nebel dieser Herbstnacht. Am Fluß wird er besonders milchig und stickig sein. Gleich feuchten zerfließenden Fingern, die kraftlos krallen und dennoch würgen, legt er sich in allen Straßen den späten Fußgängern um den Hals; es ist gut, wenn man zu zweit ist und sich seiner ein wenig erwehren kann: durch ein trostreiches Wort, durch einen aufmunternden Blick. Man müßte einen Wagen haben, ein gepolstertes kleines Kabinett mit lautlosen Rädern, einem Lämpchen zur Seite und einem durchheizten Fußboden, der dem klebrigen Dunst nicht erlaubt, hereinzusickern, der dafür sorgt, daß er nur die Außenseiten der kleinen Fenster umfangt und tränend an den Scheiben niederrinnt. – Sie wundern sich über meine Worte, schöner junger Herr? Aber ich bin einstmals – einstmals in Moskau, in London, in Wien und Kopenhagen bin ich gefahren in solchen seidengepolsterten Schmuckkästchen auf lautlosen Rädern. Nein, werden Sie nicht ungeduldig. Ich weiß, ich bin abgekommen. Ich habe Ihnen sagen wollen, worum ich bettele, und Sie warten darauf, es zu hören. Wollen Sie mich ein Stück des Weges begleiten? Wollen Sie einer alten, gebrechlichen Frau nach Hause helfen? Dies ist meine Bitte. Ich habe vorhin gesagt: ein weiter Weg ist zurückzulegen, ein beschwerlicher
Weg. Nein, er ist nicht weit: nur für meinen kurzgehenden Atem; und beschwerlich: nur für meine morschen Füße. Ihren lustgeschwellten Gliedern ist er ein Kleines; Ihre giergeschwellten Glieder fressen diese Entfernung wie der Windhund die paar Meter zwischen Laternenpfahl und Laternenpfahl. Sie stutzen, Sie sind befremdet, weil ich sage, Ihre Glieder sind giergeschwellt? Lieber schöner junger Herr, wenn ich Ihren Blick nicht aufgefangen hätte! Schmerzt auch mein verrenkter Kehlkopf, so ist er’s doch gewöhnt, daß ich mein Angesicht aufwärts wende, denn es trifft sich manchmal, daß ich jungen Männern in die Augen schauen muß. O, wenn ich Ihren Blick nicht abgefangen hätte, der sich an die beiden Mädchen hängen wollte, die gerade vorbeistrichen! Schütteln Sie nicht so heftig den Kopf; Sie bejahen deutlich vor lauter Verneinung, und Sie ringen um den Entschluß, mich stehen zu lassen und den beiden Tieren dort zu folgen. Sehen Sie nicht, daß Ihre Wahl schlecht getroffen wäre? Muß ich Ihnen meine Augen leihen, die das brausende Blut Ihrer dreißig Jahre nicht geblendet hat? Meine welterfahrenen Augen, die durch den Samtmantel der einen hindurch die verwelkten Spitzen ihrer Brüste künstlich aufgerichtet im Mieder taumeln sehen, und bei der anderen unschwer entdecken, daß sie falsches Haar pfundweise unter den Federhut gepfercht trägt und in xbeinigen Gelenken wassersüchtig aufgetrieben ist? Vergeuden Sie sich nicht an diese beiden Bewahrerinnen kümmerlicher Herrlichkeiten, schöner junger Herr. Sie verdienen, daß andere Arme sich um Ihren kräftigen Nacken schließen. Ihnen wären Schenkel angemessen, deren beseligende Linie weich neben der herrischen Stärke Ihrer Lenden ruht. Weshalb zittern Sie? Sie müssen nicht Angst vor mir haben. Wundern Sie sich bitte nicht über diese vielleicht
gedrechselten und ein wenig überraschenden Worte aus dem Munde einer alten Frau. Vergessen Sie doch niemals, wie sehr alt ich bin, und daß ich die Welt kenne und die vielen Worte dieser bunten Welt, die man einmal alle, mögen es auch viele sein, gehört und selbst gesprochen hat, wird man nur alt genug. Ich glaube auch nicht, daß Sie aus Angst zittern. Sie zittern wie der Hund, der Beute entwischen sieht; wie der Kater, dem das Fleisch des Vogels entflogen ist. Aber vielleicht, heißer junger Herr – vielleicht kann ich Ihnen helfen… Sehen Sie, wir sind schon am Flußufer, und Sie haben sich noch gar nicht entschieden, ob Sie mir die Liebe antun wollen, mich ein Stückchen zu betreuen. Wie gut ich schreite, nicht wahr? Viel besser als in den Straßen der Stadt. Es geht sich leichter, weiß man junge Kraft neben sich, auf die man sich im Notfall stützen kann. Aber Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen! Ich kann es gar wohl verstehen, daß Sie wissen möchten, weshalb ich nächtlicherweise auf Straßen der Stadt in dunklen Winkeln stehe, – stundenlang. Daß ich – lauere sozusagen, – ja, lassen Sie mich diesen Ausdruck gebrauchen, er liegt Ihnen auf der Zunge, ich weiß es. Schämen Sie sich dessen nicht! Und bitte, hören Sie endlich auf mit dem entschuldigenden Gestammel. Sie sollen alles erfahren, Sie haben ein Recht darauf kraft Ihrer Ritterlichkeit mir gegenüber. Sehen Sie, jetzt behandeln Sie mich fast wie eine Dame Ihrer Kreise, und vorhin unter der Lampe wollten Sie mir Geld schenken. O, das braucht Sie nicht zu bedrücken; Sie wollten ja auch den beiden Frauen, die vorbeistrichen, Geld geben. Wem hätten Sie wohl mehr in die Hand gelegt: einer von diesen oder mir? Freilich, bei den anderen konnten Sie auf Gegenleistung rechnen, bei mir nicht. Trotzdem glaube ich, Sie hätten mich fürstlich, Sie hätten mich königlich beschenkt. Der Freimut Ihrer Bewegungen – ein
wenig zwar behindert durch die Ungewißheit des Weges, in den Sie hineintappen… Wie…? Alles sollen Sie erfahren, freilich; ich versprach Ihnen Aufklärungen. Niemand weiß besser als ich, daß ich sie Ihnen schuldig bin. – Aber Sie dürfen sich nicht an dem Wort „hineintappen“ stoßen; das war doch nur eine kleine scherzhafte Wendung. Weil wir gerade vom Wege sprechen, will ich Ihnen zuerst vor allen anderen Dingen auseinandersetzen, wohin ich zu gehen habe. Es fällt Ihnen auf…? Ja, manchmal gelingt es mir, meinen krummen Rücken geradezubiegen. Wenn ich in besonders anregender Gesellschaft bin. Befeuert von Zuneigung mögen mir Kräfte zurückkehren, die mich längst verlassen haben. Es ist eine Schwäche der Rückenwirbel, die plötzlich behoben ist. Aber es hält nicht vor, es geht vorüber, es ist nur für kurze Zeit. Ja, Sie haben recht, mein Rückgrat hat Straffheit und Biegsamkeit zurückgewonnen. Stoßen Sie sich nicht an diesem für mich glücklichen Ereignis, gönnen Sie mir diese bald wieder schwindende Fähigkeit. Sie darf Sie nicht beunruhigen, sie ist leider nur augenblicklich und nicht von Belang. – Gehe ich Ihnen zu schnell? Sie nehmen den Hut ab. Wahrhaftig, auch mir wird heiß. Ich werde die Kapuze ein wenig lüften. Die Kapuze…? Freilich, Sie beobachten recht trotz des Nebels und der Dunkelheit: sie ist aus schwerem Samt. Streifen Sie ruhig darüber, ihre Hand wird Ihnen bestätigen, daß es schwerer, schwarzer Samt ist; deshalb macht sie mir auch heiß… Graues Tuch –? Nein, liebes junges Herzchen, aus grauem Tuche war die Kapuze niemals; nicht in der dunklen Häuserecke, nicht unter der Laterne, die zusehen sollte beim Aufschnappen der Geldbörse. Gewiß, ich weiß: der grauen Kapuze wollten Sie Geld geben, dem schwarzen Samt keineswegs. – Aber nein, Sie sollen sich doch nicht schon wieder entschuldigen.
Weshalb dieser fassungslose Mund? Blond? Nein, Ärmster, blond sind meine Haare nicht. – Ganz hellblond? Nein, auch das nicht. Weiß, schneeweiß, das habe ich Ihnen doch schon längst erzählt. Sie lassen mich mit Ihren ewigen Zwischenfragen gar nicht dazu kommen, Ihnen das zu erzählen, was neu für Sie ist, und worauf Sie ein Anrecht haben, es zu hören. – Weißblond? Aber nein, auch nicht weißblond. Lassen Sie ab, Sie retten nichts von Ihren Gesichtern. Und wenn sie noch so willig sich anzupassen suchen. Es kann sein, daß der gelbe Nebel meine Haare weißblond erscheinen läßt. Er täuscht Sie nur, glauben Sie mir! Aber gewiß doch sollen Sie Elvira heute abend noch kennenlernen – vorausgesetzt, Sie begleiten mich bis nach Hause, was noch nicht ausgemacht ist. Ich kann es von Ihnen auch nicht verlangen. Sie waren mir bereits unendlich behilflich, es würde mich freuen, wollten Sie Ihr Werk zu Ende führen, aber Sie haben sich bisher nicht abschließend geäußert. Weshalb soll ich nicht davon reden, daß Sie „Ihr Werk zu Ende führen“? Weshalb soll ich mich nicht so ausdrücken? Sie meinen, es klinge verrucht? Als hätten Sie das Werk eines Verbrechers vor? Aber nicht doch, mein Häschen. Sie Zaudernder! Sie fleischgewordener Gewissensbiß! Ihr Samariterwerk sollen Sie zu Ende führen, nichts weiter. Ja, Sie haben recht: Elvira ist blond. Hellblond? Nein. Es gibt nur ein Blond, das ist ihr eigen. Sie ist elvirablond. Ja, Sie haben alles gewußt. Gewiß: Sie haben mich mit Elvira verwechselt, als Sie mir vorhin einreden wollten, ich sei blond. – Wie man einen Menschen mit einem anderen verwechseln kann, den man gar nicht kennt? Aber stoßen Sie sich doch nicht an solchen Kleinigkeiten! Vertauschen wir nicht fortwährend die unmöglichsten Dinge miteinander? Und kennen wir diese Dinge eigentlich, die wir miteinander vertauschen? Nun also. – Reden wir lieber von etwas anderem;
lassen Sie mich Ihnen endlich sagen, wo ich wohne. Sie können sich dann entscheiden, ob ich das Vergnügen haben werde, Sie heute noch in meinem Heim zu begrüßen. – Ja, Elvira ist schön. Ich kann es ohne Eitelkeit gestehen, denn ich bin nicht ihre Mutter. Sie ist meine Enkelin. Ihre beiden Zöpfe sind an der Wurzel so dick wie ihr blondes Fußgelenk. Ihre Gelenke sind schmal… Sehen Sie: dick die Flechten und die Gelenke dünn, zum Verwechseln im Durchmaß und doch so verschieden im Wert ihres Durchmaßes, – und Sie wollen noch grübeln über Sinn und Möglichkeiten von Verwechslungen. Sehen Sie ein, daß es zu nichts führt? Nicken Sie nicht so hoffnungslos, oder ich muß Sie aufheitern. Elvira soll Sie aufheitern, wird Ihnen das zusagen? – Sie schweigen, ein wenig mißtrauisch. Sie haben recht: ich mache Ihnen immer Versprechungen, als da sind: „Elvira wird Sie aufheitern. Ich werde Ihnen berichten…“ und so fort. Also gut: ich werde Ihnen jetzt endlich erzählen, wo ich wohne. Wir haben nicht mehr weit bis dorthin. Sie kennen die alte Mühle am Ende des Parkes, den wir noch entlangwandern müssen? – Sie taumeln; sind Sie müde? Das wäre doch heiter, wenn schließlich ich alte Frau Sie stützen müßte. Lassen Sie mich auf der Seite der Böschung gehen, Sie torkeln mir sonst noch die Quader hinunter in den Fluß, und ich stehe hier oben, sehe sie im Brei des Nebels versinken und weiß nicht einmal, ob Sie ins eiskalte Wasser tauchen, das Sie mit sich fortreißt. Wer weiß, ob der dicke Nebel einen Schrei emporquirlen ließe. Wer hört ihn auch? Meinen Ohren ist er umsonst geschrien. Kein Mensch ist weit und breit, und ich bin ein altes Weib, kann niemanden retten. Eine vortreffliche Gelegenheit: in solcher Nacht, in solcher Stille, bei solchem Nebel, an solchem Strom… Nein, mein Herzchen, ich habe keine Angst! Ich weiß nicht, warum Sie taumeln, aber ich sehe Sie taumeln. Ihre
Kinnbacken schlagen. Ja, es ist häßlich kalt und feucht, und heißes Blut wird so abgekühlt von klebriger Hand, daß es nicht zischen kann, sondern schaudern muß. Was mich betrifft, ich gehe leidlich jetzt zu dieser Stunde, ich gehe – fast bild’ ich mir ein: kerzengerade. Ich gehe ruhig auf der Seite der Böschung, mein Häschen, mir geschieht nichts Böses; mich zu beseitigen, überdenkt jetzt niemand kraftlos – oder doch am Ende? Fast lache ich ein wenig, mein lieber junger Herr. Gestatten Sie es mir! Es ist ganz und gar nicht beleidigend für Sie, dieses Lachen. – Das ist mir erklärlich, daß Sie sich wundern über diese Erscheinung; es muß Sie merkwürdig dünken, die Brücke frei vom Dunste zu sehen. Aber ich kann Ihnen verraten, wie das zugeht: ewige Zugluft, die durch die Brückenbögen fährt, schlürft und reißt jeden Nebel mit sich. Die weißliche Nebelwand steht diesseits und jenseits der Brückenmasse und wird ausgehöhlt und abgeschliffen von den Luftwirbeln, die ganze Fetzen losreißen, ziehende Schwaden unter die Bögen saugen und sie schließlich in die Höhe werfen und zerflattern lassen. Ja, ruhig, mein Kindchen! Wie eine Mutter muß man Ihnen zusprechen. Nicht angewurzelt stehenbleiben, nicht aufschreien und zu rennen beginnen! Sie rennen unvermeidbar durch die Trübung in den Tod, – und der andere springt doch! Ja, Sie sehen richtig, Ihre Augen trügen Sie nicht. Dort auf der Brüstung der Brücke steht ein Mensch und schaut hinunter und greift in die Nacht über sich und wirft den Kopf seinen greifenden Händen ratlos nach. Ein Selbstmörder. Die letzten Zuckungen eines Selbstmörders, der vor dem Sprung einen Ausweg noch erhaschen will, aber er findet keinen. Sehen Sie: da braust er schon hinab! Haben Sie seinen Mantel wirbeln hören? – Nein, Sie müssen sich nicht mit den Händen die Ohren zuschlagen, er wird
keinesfalls um Hilfe schreien, Sie dürfen sich nicht erregen. Hat dieses Abschiedsrauschen des Mantels, der flattert wie eine Fahne, die auf Halbmast geht, Ihr Herz gepeinigt? Hätte es auch Ihr Herz gepeinigt, wenn die Brückenbögen keinen Zugwind erzeugten? Dann hätten Sie nichts gesehen, dann hätten Sie nur gehört und gedacht: eine Flußwelle spült herauf, eine Wildente, ein Nachtvogel mit großen Schwingen rauscht zur Tiefe. Sehen Sie: oft hören Sie den Klang einer Welle und den Flug eines Vogels, und es ist keine Welle, und es ist kein Vogel, und ein Mensch stirbt, – und es treibt Sie keine Faser Ihres Körpers, ihm zu helfen. Nicht selten des Nachts, wenn ich hier vorbeikomme, sehe ich Menschen, die hinunterspringen. Springen sie denn? Es ist ein Treten in die Luft, ein allerletzter Versuch der Rettung, eine Probe, ob in zwölfter Stunde sich das Wunder einstellt. Aber solch ein Wunder gibt es nicht, mein junger Herr; Gott läßt die Narren stürzen. Es gibt überhaupt keine Wunder. Alles geht ganz natürlich zu. Sind Sie nicht überzeugt davon, wenigstens heute abend, wo wir so nüchtern und gesittet uns unterhalten? – Sie müssen mich nicht so entsetzt anstarren. Jener Hampelmann wollte das Wasser, und man muß den Willen der Menschen respektieren. Genug. Lassen Sie mich lieber fortfahren zu erzählen. Ich habe Sie gefragt, ob Sie vielleicht die alte Mühle am Ende des Parkes kennen. Sie haben mir nicht geantwortet. – Wie, Sie wollen leugnen –? Leben Sie denn nicht in dieser Stadt? Seit fünfzehn Jahren – – aber, was ist das? Sie zaudern: es könnte sein, daß Sie die Stadt verwechseln? Wenn auch. Erinnern Sie sich unseres Gespräches vorhin über Verwechslungen, – und daß sie belanglos sind. Jedenfalls kennen Sie doch die alte Mühle; Sie müssen Sie kennen! – Nun also, sehen Sie; sie geben es schon zu.
In dieser Mühle wohne ich mit Elvira, meiner Urenkelin. Es wird Ihnen bei Spaziergängen aufgefallen sein, daß heutzutage nicht einmal mehr erkenntlich ist, wo der Bach seinen Weg nahm. Überhaupt sieht diese Mühle in ihrem schweren Steingefüge mehr aus wie ein kleiner hoher Kornspeicher. Nein, alte Kornspeicher – Sie haben recht – sind stets aus Holz. Also, wie ein Riesenschilderhaus, wie ein überhöhtes Vogelbauer, wie ein schwerbedachter Eichkätzchenkäfig. Wär’ nicht das brave Mühlrad da, das zuweilen eine seufzende Umdrehung macht und morsches Holz dabei wie abgestorbene Glieder fallen läßt, – es ist lustig: kein Wasser treibt es, kein Wind braucht es zu stoßen, es dreht sich, als erwache es plötzlich, auf die andere Seite, – – wär’, sag ich, die Mühlrad nicht, keine Seele könnte glauben, das Haus sei je eine Mühle gewesen. Dort wohne ich, ja. Wir sind nicht mehr weit entfernt. – Sehen Sie den Nebel, an dem die Wiesen so sehr getrunken haben, daß sie ertrunken sind. Wenn hier Abgründe wären – man könnte hineingleiten wie in Watte – man fiele so weich wie auf Watte. Sie glauben mir nicht? – Sie müssen nicht an die Bäume anrennen, – hier ist ein kleiner Wasserlauf, Sie müssen nicht hineintappen. Wenn Sie nasse Füße bekommen haben, – Elvira soll Ihnen ein Paar ihrer blutdurchwirkten Strümpfe geben. Wir sind bald am Ziel. Ich versprach Ihnen Ersatz. Merken Sie nun, wie sehr der Ersatz übertreffen wird, was er ersetzen soll? Nein, ich spreche nicht von mir! Sie sind manchmal sehr komisch – so ganz unentschieden – und grenzenlos frech in Ihrer Schüchternheit. Ich habe schneeweiße Haare und behalte sie. Lassen Sie das! – Elvira wird Ihnen helfen, sich zu beruhigen. Aber ich kann Ihnen, wenn Sie das ablenkt und besänftigt für den Augenblick, von meiner Person erzählen. Ich
deutete seidengepolsterte Kistchen auf lautlosen Rädern an. Ich bin so durch Kopenhagen gefahren, durch London und Petersburg. Ihr Urgroßvater hat mich vielleicht tanzen sehen. Ich war berühmt, ehe die Taglioni berühmt war. Ihr Urgroßvater muß also noch ein Knabe gewesen sein, als ihm der Speichel meinetwegen im Mund zusammenlief. Blond? Nein, ich war nie blond. Sie haben recht, es zu vermuten, denn Sie wissen, daß ich Dänin bin. Ich bin aber zeit meines Lebens schwarz gewesen. Ja, gewiß, ich heiße Lucie. Sie glauben, ich sei jetzt weiß? Nun soll ich die Kapuze wirklich abnehmen. Sehen Sie, Sie schütteln geschlagen den Kopf. Wir sind angekommen. Sie merken es nicht? Ja, der Nebel hat alles verschluckt. Wenn Sie einen Schritt weitergehen, stoßen Sie mit dem Gesicht gegen die Mauer. Hier sind die Stufen. – Hier fehlt ein Stein – treten Sie nicht in die schwarze Lücke, sonst treten Sie ins Bodenlose. Was zaudern Sie? Zu spät ist Ihr ärmliches Schwanken. Sie sind angelangt. Treten Sie über den kleinen Abgrund, frisch! Muß ich gebrechliche Frau es Ihnen vormachen? – Sehen Sie, es geht. Helfen Sie mir, die Tür zu öffnen. Sie dreht sich nur mürrisch in tiefer Nacht, sie will schlafen wie das Mühlrad. Stemmen Sie sich dagegen. Sehen Sie, auch das geht. Und nun willkommen in meinem Hause! Freilich, es kann nicht anders sein, als daß Sie sich wundern. Wer hier eintritt, ist freudig entsetzt. Niemand erwartet die kleinen erlesenen Räume; ihrer viele gibt es nicht im schmalen Gemäuer. Drei Zimmerchen hier, über uns drei Zimmerchen, und über den drei Zimmerchen drei Zimmerchen. Nein, du mußt nicht so ängstlich umherschauen, verwirren dich die Zahlen und die Zimmerchen, mein Häschen? – Oben wohnen die Tiere. Was meinst du? – Ja: viele schöne Tiere, du wirst sie noch kennenlernen. Ja, dort oben in den dreimal drei Zimmerchen. Komm, leg deinen Mantel ab und gleich auch
Rock und Weste, es ist sehr warm hier, so eine schmiegsame Wärme aus lebendem Fell und atmenden Federn, nicht wahr, ganz anders als die derbe Hitze von Kohlen und Holz. Der mohnblütige Milchfasan strömt viel Wärme aus, die knallgelbe Kurbelkatze saugt sie wollüstig ein, so hilft eins der Tierchen dem andern… freilich, du hast ganz recht: sie stammt von der Pantherkatze und der Turteltaube, und manchmal ist es nötig, sie zu kurbeln; dafür hat sie ihren Schwanz. Siehst du, mein Äffchen, du bist schon ganz im Bilde, du wirst dich leicht eingewöhnen. Die Wendeltreppe: ja, da kommen meine Freundchen oft herunter untertags, obwohl man den Tag nicht eigentlich merkt, denn wir halten immer die Läden geschlossen. Es ist wegen der Leute. Eine freundliche Helle –? Ja, sie bleibt beständig die gleiche; wir erzeugen sie selbst aus Fellen und Federn. Eh, du weißt zur Genüge, wie aus Wärme Licht entsteht; ich will dich damit nicht langweilen. Nein, nicht alle kommen über die Wendeltreppe. Vom polierten Plumpsack kann ich es nicht verlangen. Siehst du die Klappe dort an der Wand? Mach sie getrost auf und schau hinein. Was siehst du? Eine metallene Röhre, glatt und blitzend gewunden. Durch sie kommt der Plumpsack vom Dache heruntergefahren. Nein, ich kann wirklich nicht von ihm verlangen, daß er sich über die Wendeltreppenstufen quält, der Gute mit seinen Quastenbeinchen. Was ist das? Was meinst du, mein Äffchen? Nein, nein, nein, weinen will der große Junge?! Morgen wirst du den Plumpsack kennenlernen, ihr werdet euch vertragen, und alles wird gut sein. Komm, setz dich behaglich in die Sofaecke! Du weinst um deine Mutter? Sie wird dich vermissen und blutend nach dir suchen, wähnst du, wenn ich dich festhalte? Täusche dich nicht, mein kleiner Betrüger. Wie sehr bist du längst schon deiner Mutter entlaufen und immer hinter anderen Frauen her. Hast du sie nicht seit Jahren einsam gemacht? –
Geh, du hast nur Mitleid mit dir selbst. Deine Mutter ist Vorwand. Wie lange schon sucht sie nach dir und findet dich nicht, denn du hast dich nicht finden lassen. Jetzt magst du für sie von der Brücke heruntergeflattert sein, und sie wird nicken und wird dies Ende verstehen. Aber du wirst doch nicht –! Ausgänge? Nein, in diesem Raum sind keine Türen. Die Fensterläden? Du weißt es doch: seit vierhundert Jahren sind sie geschlossen und eingerostet. Was wandelt dich an? Laß den Dolch im Türrahmen stecken! Du wirst doch nicht auf mich alte Frau losgehen wollen! Sieh, wie gebrechlich ich bin. Mein Kehlkopf schmerzt und wimmert, so sehr muß ich den Hals unterm verkrümmten Rücken aufwärts biegen, um nur in deine wütenden Augen sehen zu können. Laß ihn, den Dolch. Seine Edelsteine sind falsch, und seine Schneide schneidet nicht; er hat an meiner Hüfte gefunkelt, beim Tanz in der „Tochter des Banditen“. Ich habe die Pantomime fünfzigmal in Kopenhagen getanzt. Schlag seine Spitze zurück in das Holz der Türe; zum Lohn wird Elvira durch sie für dich erscheinen. Siehst du, da kommt Elvira. Bist du nun zufrieden? Du zitterst. Ja, Elvira ist schön. Denkst du jetzt noch an die beiden Dirnen, die dir unter der Lampe vorbeistrichen – damals – wie lang ist es her? Ein paar Jahre; wir hatten uns eben kennengelernt. Begehrst du noch die beiden Dirnen? Vielleicht die mit den hängenden halbleeren Mehlsäcken? Oder gar am Ende die mit den gedunsenen Gelenken? Ich kann dir jetzt verraten, daß sie schon einmal ertrunken war. Ich wollte dich in jener Nacht nicht so sehr erschrecken, aber hast du sie nicht selbst von der Brücke hinunterspringen sehen in den Strom? Nun also. Und du weißt doch auch, daß Ertrunkene, die länger im Wasser gelegen sind, gedunsene Glieder haben. Nun also! Elvira, wirf dein Gewand ab! Gefällt sie dir? Habe ich zu viel gesagt? Sind etwa die Gelenke gedunsen? Oder ist ihr Haar
falsch? – Pelz, meinst du? Gut, sagen wir Pelz. Aber dünkt er dich falsch? Umarme sie, mein Söhnchen, ihre Brust ist fest, du läufst nicht Gefahr, in qualligem Fleisch zu versinken. Ein Pantherköpfchen? – Eh, du wirst dich gewöhnen. Sieh den goldgelben Blick ihrer smaragdgrünen Seen. Hör, was ihr Stimmchen dir schnurrt. Aber sie ist doch blond! Hab ich dich denn belogen? Man könnte es meinen, wenn man deine taumelnden Augen betrachtet. Ein blondes Pantherchen, meinst du? Nun wohl: ein hauchend hingestreiftes Gepardchen, ein Pardelweibchen, eine Genette! – Nein, niemand stöhnt. Sie sind ein Hasenfuß, trotz all Ihrer Gier! Jagen Sie Ihre Blicke nicht so haltlos durch die Zimmer! Sie dürfen versichert sein, es hat niemand gestöhnt. Hier geht es allen gut. Ich habe Ihnen doch schon erzählt, daß unser Mühlrad sich manchmal auf die andere Seite dreht im Schlaf und dabei seufzend knarrt. Das ist es, was Sie gehört haben. Die Tiere? Ja, sie schlafen auch. Aber nicht so beharrlich wie das Mühlrad; das schläft jetzt gut seine zweihundert Jahre; nur manchmal, wie Sie wissen, wälzt es sich auf den Bauch, aber es wacht nicht auf dabei. – Morgen, wenn er sich ausgeschnarcht hat, morgen werden Sie den Plumpsack begrüßen; er wird herunterfahren und ein Schälchen Milch mit Ihnen trinken. Milch, gewiß! Ach, sie mundet dir nicht? Warte nur bis morgen; sie wird dir bestimmt und ausgezeichnet munden. Die Tiere? Was die so treiben hier? Nun: sie leben, sie haben ihr Auskommen. Übrigens wechseln sie. Sie sind hier sozusagen nur in Kost und Pflege, sie kommen und gehen; sie kommen allerdings anders, als sie gehen, das ist freilich noch ein wenig unbegreiflich für dich – und wenn du es begreifen könntest, gehörst du schon zu ihnen, – und begreifst nichts mehr.
Diese Rede scheint dir dunkel, mein Söhnchen? Also lassen wir ihren Sinn auf sich beruhen. – Wohin sie gehen, die Tiere? Nun, zu den Menschen. Sie sind mir dankbar für Kost und Pflege und bezahlen mir dies, ehe sie mich verlassen. Du meinst, ich verkaufe die Tierchen hinaus in die Welt. Wenn du es so nennen willst: ich bin einverstanden, aber ich weise Vorwürfe zurück. Hast du nicht unter der Lampe die beiden Dirnen kaufen wollen? Wer soll mich da hindern, dich morgen an die Frau Kommerzienrat zu verkaufen, mein Äffchen! Elvira? Nein, Elvira verkaufe ich nicht. Elvira nicht. Sie nicht! An niemanden. Ich liebe sie sehr, meine Ururenkelin, und ich brauche sie dringend zur Aufrechterhaltung des Betriebes. Des Betriebes? – Ja. Verstehen Sie das nicht? Denken Sie nach, junger Herr, denken Sie über sich selbst nach! Aber nein, Sie sollen nicht immer so fassungslos erschrecken. Den Sie da vor sich sehen, das sind schon Sie! Sie stehen vor einem meiner schmalen hohen Spiegel, wirklich, und betrachten sich selbst. Das ist lustig: Sie haben nie gewußt, daß Sie wie ein Kakadu aussehen? Aber ich bitte Sie, denken Sie doch an Ihre schweren Augenlider, – haben nicht schon Ihre Schulkameraden immer über diese „Rolläden“ gespottet? Sie haben freilich später bei Frauen Eindruck damit zu machen geglaubt, und ich bin auch sicher, die Frau Kommerzienrat wird entzückt sein. Denken Sie an Ihren Haarschopf, der immer widerspenstig in die Höhe stieg – an Ihre etwas feisten Bäckchen – an die stahlscharf gebogene Nase, auf die Sie stolz waren, über einer kleinen üppig vorgeschobenen Unterlippe! – Übrigens kleidet der weiße Frack Sie gut; man sieht, daß Sie eine vortrefflich gewölbte Brust haben.
Ja, hier sehen Sie sich von der Seite. Recht vorteilhaft, nicht wahr? – Nun lassen Sie den Kopf nicht hängen! Seien Sie kein Spielverderber! Das alles ist unabwendbar und auch ganz angenehm. Gewiß: dort drüben sehen Sie sich ebenfalls. – Mehr ein Seidenhäschen – meinen Sie? Dort im Spiegel wartet eher ein Seidenhase auf als ein Kakadu? Zugegeben, die Beleuchtung ist anders. Hier ist sie besser. Die Beleuchtung vorhin wirkte verzerrend. – – Was Sie nicht sagen! Auch das ist Ihnen neu, daß Sie stark verwandte Züge mit dem Seidenhasen immer schon gehabt haben? Ja, mein Lieber, da muß ich doch fragen: was haben Sie denn eigentlich von sich gewußt? Haben Sie niemals ihre fürchterlich langen Ohren begriffen? Haben Sie sich darüber zu täuschen verstanden, daß Sie mit schnuppernden Lippen gefräßig waren und stets fortpflanzungsbedürftig? – Ihre Nase hat hier einen zarteren Schwung voll weicher Wollust, ihre schweren Augenlider sind sanfter und sind betörend bewimpert, – ich bin sicher: Frau Kommerzienrat Basalt wird hiermit noch mehr zufrieden sein. Sie wird Ihnen tief in die roten Augensterne schauen. Sie hat sich für morgen mittag angesagt und will einen Kakadu oder ein Seidenhäschen mitnehmen. Hasen sind jetzt große Mode. Also entscheiden Sie sich bis morgen zu dem, was Ihnen mehr liegt: Kakadu oder Seidenhase. Ich pflege meiner Ware innerhalb ihrer Möglichkeiten freie Hand zu lassen. Schlafen Sie jetzt, junger Freund. Ziehen Sie das Kästchen mit Heu vor, oder hier in der Ecke die Holzstange für den Krallenfuß? Wenn Sie wollen, dürfen Sie auch eine letzte Nacht auf dem Menschenkanapee zubringen. Schlafen Sie gut – und heute noch, wo Sie wollen! – Morgen kommt die Dame. Nein, nein, Elvira benötigen Sie nicht mehr; es sähe doch etwas lächerlich aus, wollten Sie sich an die Brust einer Kätzin
schmiegen – in Ihrem unentschiedenen Zustand… Außerdem kommt morgen die schöne üppige Dame… Schlafen… schlafen…
VERNEINUNG
Das erste, was Wilhelm Weifeuer verspürte, als er sich aus tiefer Bewußtlosigkeit emporrang, war, daß sein Mund offenstand und daß es ihm vorläufig nicht glückte, ihn zu schließen, weil die Scharniere irgendwie ausgehängt oder verrostet waren – offenbar schon seit langem. Der Unterkiefer schien gar nicht mehr ihm zu gehören. Er konnte die Nasenflügel blähen und auch ganz winzig mit der Oberlippe zucken. Von dort aus bis hinauf in die Gehirngänge, in denen ihm taube Gedanken schwerfällig durcheinanderkrochen und lallten, blind aneinanderstießen, ohne sich die Hände zu reichen und die klärende Kette zu bilden – bis in diese Gehirngänge hinauf erfanden sich wenigstens leise Regungen. Aber Zunge, Schlund und Stimmbänder –? Auch kinnladenabwärts zeigten sich Spuren von Empfindung. Es trank an ihm eine saugende Kälte – ; nun er die Augendeckel mühsam wie einen verklemmten Rolladen bis zur kleinen Schlitzöffnung emporschieben konnte, sah er sie auch: sie verweilte im rötlichen Dunst einer halbdunklen Halle und beugte sich über ihn, unentwegt und lautlos schlürfend. Außer dieser gierig-stillen Kälte empfand er immer betonter eine grenzenlose Unbequemlichkeit der Glieder, die vertrackt und außergewöhnlich gelagert waren… nicht so, wie man daheim liegt auf dem grünen Kanapee oder im Faulenzerstuhl auf der Veranda. „Also bin ich auf der Bühne – “, formte Wilhelm Weifeuer matt, – mit einer Stimme, die krächzend aus einem vertrockneten Schlünde losbröckelte. Die Kinnlade tat widerwillig Dienst. Er stützte sich auf wankende Ellbogen – sah runden Auges in kleine rötliche Flammen. „Auf der Bühne – und in einem Sarge –?“ fragte er die stumme Nachtkälte, die weiter an ihm sog. Da keine Antwort kam, – auch von den anderen Särgen nicht, links und rechts, in denen Menschen
lagen, zog Weifeuer mit schwerer Mühe Beine, die so taten, als gehörten sie nicht zu ihm, gegen den Leib, saß eine Weile, ohne davon befriedigt zu sein, zusammengeknüllt und entschloß sich dann, aus der Kiste zu steigen. „Die Vorstellung scheint aus zu sein, und man hat uns hier vergessen“, sagte er, sich und den Nachbarn ermutigend, zu dem nächsten Sarg hinüber. „Welche Gewissenlosigkeit: man kann sich den Tod holen. Ich habe vergessen – “ Er sah grüne Kränze zu seinen Füßen. Seine nackten Sohlen standen auf Blumen, deren zerquetschter Leib sterbenden Duft aushauchte. „Mein Gott, was hab ich denn vergessen – “, fragte er sich mit gekräftigtem Organ und griff in die Silbermähne. Von Kranzschleifen sah er sich umhangen; ein Leuchter glomm trüb; er las: Dem unvergeßlichen Wilhelm Weifeuer! Der Magistrat der Stadt. – Er humpelte weiter, bückte sich: Als Künstler groß, und liebenswert als Kamerad. Das Stadttheater. „Also bin ich gestorben“, sprach er erschüttert. „Und wieder auferstanden“, beschwichtigte er sich zweifelnd. Er sprach in gedämpften, sonoren Kehllauten; seine Stimme sollte ihm beweisen, daß er lebe; zudem hoffte er auf Antwort irgendwoher. Sie kam nicht. Er ließ weiter bedruckte Seidenbänder durch eiskalte Finger gleiten: Ein letzter Gruß der knorrigen Eiche, jung bis ins Alter. – „Alt?“ frug er sich. „Ich gelte als Fünfziger.“ – Ein rosenrotes, breites Band, lorbeerumschlingend, mit silbernen Tressen; er buchstabierte: Dem göttlichen Freunde – die ewige Freundin Henriette Holz. – „Dumme Kuh“, grollte er. „Die Welt wird glauben, ich hätte mit diesem Haubenstock eine Liebschaft gehabt. Man wird doch von den Weibern bloßgestellt bis über den Tod hinaus.“ Aber es fiel ihm ein, daß er lebe. Und er suchte zähneklappernd weiter nach Widmungen; er fand keine mehr. „Das ist alles –?“ klagte er zum anderen Sarge hinüber, der
auch Kränze besaß: „Ein-, zwei-, drei-, viermal goldene Worte, – das ist alles? – Es scheint gut, daß ich noch nicht gestorben bin“, setzte er bitter hinzu. „Ich will euch zeigen, wen ihr verloren hättet, wenn ich für immer in dieser Mulde liegengeblieben wäre.“ An sich sah er herunter. „Ein Papierhemd – “, er spähte in die Kiste: „Sägspäne, Papier, ein Papierkissen – pfui Teufel! Jetzt aber fort! Ich brauche Wärme, Nahrung und Gewand. Ob man mich hören wird? Keine Glocke hier. Wo ist der Ausgang?“ Er sprach mit sich, er sprach zu den andern; links ein Männlein, rechts ein Weiblein, ein Kindersarg neben der Frauenleiche. „Mutter und Kind?“ frug er die beiden. „Doch wohl kaum; eine Matrone, siebenzig Jahr. Immerhin irgendwie verwandt – weil alles aus dem Leib des Weibes kriecht. – Hier kann man den Tod studieren. Ich habe bisher nur Tote auf der Bühne gesehen.“ Er trat nahe heran. „Wie muß man sich schminken, wenn man im Sarg liegt?“ wollte er überlegen, doch kam er davon ab. „Ist es denn möglich“, sagte er leise, „daß ich hier weggehe – und ihr bleibt hier? Ich habe doch schon zu euch gehört. Wir sind Freunde. Kommt, meine Freunde, kommt mit!“ Er fühlte – noch waren seine Glieder knarrendes Eis – eine Hitze wie Fieber in dieses Eis schlagen. „Ich werde hinschmelzen – und es wird doch aus sein“, raunte er glutgeschüttelt. „Soll ich euch denn so viel voraushaben – so viel?! Ich kann gehen, ich kann zurückkehren – und ihr müßt bleiben –? – Komm mit – du!“ bat er die tausendfach gefältelte Wachshaut der Alten und zupfte sie am Arm. Aber die Greisin blieb bei ihrem weltfernen Totengesicht. „Sie hält ihre Maske fest“, sagte der Schauspieler. „Niemand mehr bringt sie aus dieser endgültigen Rolle. Gut. – Aber das Kind, um Himmelswillen, das Kind! Ich soll etwas voraushaben vor diesem Kinde?“ Er bemerkte plötzlich, daß er kniete. „Du wenigstens folge mir“, betete er. „Es ist ja nicht möglich. Alles ist letzter Traum, ich irre mich.
Ein Mann von sechzig Jahren darf doch nicht zurückkehren, und ein Kind muß bleiben und verwesen!“ Er fühlte die stechende Kälte der Steinplatten in seine Knie gebohrt, er hob sich wankend empor, er besann sich. „Narr, der ich bin“, schalt er. „Dem Leben wiedergegeben und töricht genug, es von neuem zu gefährden! Ich deklamiere mir den Tod heran, verweile ich noch länger in diesem Eispalast. – Kind“, sprach er, noch schmerzlich grüßend mit weiter Handbewegung, „auch du bleibst, wo du bist.“ Er fand eine Tür und trat zitternd hinaus. Ein Säulengang, ein Garten, Mondlicht darüber. Stille. Und kalter Atem der frühen Oktobernacht. Er folgte dem Gange; ganz dumpf und weich brach sich sein Sohlenlaufen an den Wänden, er tastete umher in Türnähe, hielt einen Klingelzug in Händen und riß daran. Schrill entflatterte der Glocke aufgeschrecktes Gewimmer, aber niemand kam. Weifeuer hob sich auf die Zehenspitzen, er trat von einem Fuß auf den anderen, um der Kälte zu ergehen. Er versuchte die Türklinke, sie gab nach; gleich hauchte ihm Wärme entgegen und tierischer Geruch aus menschlichen Stallungen. Er sog ihn mit Entzücken ein. „Hier fürchtet niemand Mörder und Einbrecher“, sagte er laut, um vorzubeugen und sich gleich anzumelden. „Hierher traut sich kein Spitzbub. – Guten Abend, wer immer mich empfangt!“ Und er lachte wohlwollend und tief und bat solchermaßen um Entschuldigung und deutete an, es werde sich alles zu aller Zufriedenheit aufklären. Und horchte dann. Aber keines Menschen Atem, Körperwälzen oder Stimme ließ sich hören. Er suchte nach Licht und drehte es an. Es schlug blendend in eine Stube, halb Küche, Wohnraum halb. Paradiesisch warm. Weifeuer legte die Hände an den freundlichen Herd, er machte ein paar Kniebeugen, das Papierhemd rauschte und knisterte dabei.
Aber es galt, weiterzukommen. Sittsam klopfte er an die Tür zum Nebenzimmer, pochte wieder, – es kam kein Gegenlaut. Er öffnete, rieb Licht an. Ein Schlafzimmer; niemand darin. „Also kein Mensch daheim“, sagte er laut, denn er fühlte sich weiter verlassen und wollte wenigstens die Gesellschaft der eigenen Stimme haben. „Wieviel Uhr mag es sein? Welcher Tag mag denn sein? Mein Gott, ich bin ganz aus der Bahn!“ Er sah ein tickendes Gehäuse an der Küchenwand. „Elf Uhr bald.“ Er fand auf dem Küchentisch eine Zeitung. Donnerstag, den 8. Oktober, stand darauf. Er sank in den Polstersessel am Herd, zog Pferdedecken um sich und über sich. Er begann zu brüten. „Hunger – “, sagte er vor sich hin, „ja, und Durst auch.“ – Aber er blieb vorerst kauern. – „Wann bin ich denn gestorben?“ murrte er gegen den Fußboden. „Ich muß nachrechnen. Dienstag früh war ich noch auf der Probe zu Borkmann; das ist das letzte, woran ich mich erinnere, – ja: und an den Krach mit der Holz in der vierten Szene. Schrecklich hab ich mich aufgeregt, ich hätte das Weibsstück ermorden können, aber ich zwang mich übermenschlich zur Ruhe, und alles schlug nach innen. Da ist etwas geplatzt in mir – und das hat mich wohl umgeworfen. Es sieht unserem Tölpel von Theaterarzt ähnlich, mich gleich für tot zu erklären. Keineswegs, mein Lieber, keineswegs; der Weifeuer lebt!“ Und er kicherte und rieb sich die Hände, die langsam geschmeidig und warm wurden. „Hunger“, knurrte er und warf den gelblichen Geierkopf mit der zähen Halssehne vor in die Stube. Schwankend stand er auf. Er fand warmen Kaffee auf der Herdplatte und im Schrank Brot, Käse und Schokolade. Gierig aß er und übergoß die Mundwinkel mit dem linden Getränk, so daß es über das Papierhemd lief und die Fasern aufweichte. „Kleider“, sprach er, ging ins Schlafzimmer und kramte in Kasten und Schrank. Er zog sich das Papier in großen Fetzen
vom Leib; er fand Unterwäsche und einen schwarzen Gehrockanzug. Aber halb angekleidet schrak er auf und fuhr herum: aus einem kleinen Gestell neben den Ehebetten drang quarrender Laut, ein dünnes Niesen, ein sabbriges Hüsteln, das in ein winziges, endloses Weinen überging. Er trat heran und beugte sich, tief erfreut über den Menschen, der lebte und es ihn wissen ließ. Er hob den Säugling aus den Kissen und wiegte ihn. „Ja, ja, ja“, sang er, „so, so, so! Wo ist die pflichtvergessene Mutter? Keine Milchflasche da, nein?“ Er ging umher in beiden Zimmern, zeigte dem Kind den Glanz des zinnernen Löffels. Es beruhigte sich; behutsam legte er’s zurück. „Ich werde jetzt warten auf dieses Elternpaar“, beschloß er. „Mitternacht werden sie doch nicht überschreiten. Das Licht, aus dem Zimmer durchs Fenster in die Nacht gesandt, wird mich ankündigen und vor Gewalttätigkeit bewahren. – Schauspieler, Leiche und Kinderfrau – was noch?“ fragte er sich. Er saß wieder am Herd. Ihn fröstelte ein wenig. „Besser vielleicht, ich leg mich ins Bett und warte den Tag ab. Bin ich nicht, trotzdem ich mich munter fühle, ernstlich krank? Zwei Tage Sargleben, Papierhemd und Fasten, – es setzt einem zu, der jünger ist als ich.“ Er stand auf, halb entschlossen, eins der Betten in Anspruch zu nehmen, blätterte noch in der Zeitung und las, daß anstelle des so plötzlich verstorbenen Herrn Weifeuer morgen Herr Adam den Borkmann spielen werde. Er reckte sich hoch, er warf die Zeitung mit einem Knall auf den Tisch. „ – Nicht spielen wird!“ schrie er so laut, daß dünnes Säuglingsgeplärr wieder zu plätschern begann. „Vielmehr, Verehrtester, ich werde diesen Borkmann spielen. Überraschend, aber schon sehr überraschend!“
Er ging in großen Schritten durch die Stube, die Hände auf dem Rücken, wie Borkmann rastlos durch seine. Fester wurde sein Tritt. Er nahm einen weißen Bogen vom Fensterbrett, hob ihn zur Brust in der großartig abwartenden Geste Borkmanns, warf, weiter die Rolle durchdenkend, einen Blick hinein, – und blieb an seinem eigenen Namen kleben. Dort stand geschrieben, daß der am 6. Oktober durch Schlagfluß verschiedene Schauspieler Wilhelm Weifeuer, geboren 1861, am Freitag, dem 9. Oktober, vormittags elf Uhr bestattet werde. Er ließ den Bogen zur Erde flattern. „Ich werde – “, sagte er langsam und schob die Finger hinter den Hemdkragen, sich Luft zu machen, „ich werde –!“ sagte er schneller und schlug sich auf die Schenkel. „Ich werde euch, meine Lieben, diesen Weifeuer begraben helfen! Wie, vier Kränze nur mit Schleifen? ,Als Künstler groß und liebenswert als Kamerad’, das ist alles, was sich die verehrten Kollegen abringen! Liebenswert als Kamerad, aber nicht als Künstler. Als Künstler in Gottes Namen groß, womit eigentlich gemeint ist: mäßig, – um nicht zu sagen: klein. – ,Dem göttlichen Freunde – die ewige Freundin’; hast du Gewissensbisse, Megäre? Du hast mich ja in die Grube ekeln wollen!“ – Er warf entschlossen Blicke in die Runde. „Ich will fort“, entschied er. „Ich will euch ein Theater mimen, wie ihr’s noch nicht erlebt habt.“ Er fand Handwerkszeug, Schraubenschlüssel in einer Kiste beim Herd. Er trug die Backsteine, die unterm Säulengang gestapelt waren, in die Leichenkammer, ließ sie dumpf polternd auf das Papierkissen seines leeren Sarges rollen. Er packte zu mit grimmiger Kraft und schleifte den Sargdeckel von der Wand weg, an der er lehnte. „Es ist Zeit, den Deckel aufzusetzen, wenn ich in wenigen Stunden schon begraben werden soll.“ Er setzte die Schrauben ein und zog sie an; das
Holz knirschte unter seinen wütenden Drehungen. „Fertig!“ frohlockte er und warf die Silbermähne zurück. Er streifte die Toten im Raum mit gleichgültigem Blick; sie waren so fern. Hatte er einstmals mit ihnen gesprochen? Weshalb nur? Er lebte ja. – Die Kränze auf den Sarg gelegt, den Ziegelstaub mit dem Taschentuch verwischt, die Türe auf, die Türe zu, hinüber und das Handwerkszeug zurück in die Kiste. Fertig und fort! – Er fand nur einen Zylinderhut als Kopfbedeckung, der zu klein war. Er nahm ihn in die Hand. Eine Kinderklapper lag daneben, er drehte sie in weiten Bögen und sang zu ihrem Kreischen: „Wohlan, das Spiel kann beginnen!“ – An der Tür noch einmal zurücksinnend: „Alles ist gut vorbereitet? Der verschlossene Sarg erregt keinen Verdacht? Der eine wird glauben, der andere hat ihn zugemacht, – und alle werden ganz hingenommen sein von diesem ,Einbruch’ und lamentieren über diesen ,Diebstahl’, bei dem ein Gehrock, Brot und Kaffee abhanden gekommen ist. Darüber vergessen sie Särge und sämtliche Leichen. Ich sollte die Menschen schlecht kennen, ich, wenn’s nicht so wäre! – Wie heißt denn dieser gute Mann, der mir dem schäbigen Gehrock leiht?“ – Er stand schon draußen, duckte sich nieder zum Schild an der Tür. „Böttner“, stellte er fest. „Ich werde mir den Namen dieses Hilfreichen merken. Er soll fürstlich entschädigt werden.“ Nun schritt er aus – im Mondlicht zwischen Gräbern. – „Hier ein breiter Weg, er führt zurück ins Leben. Ist ihn einer je schon so gegangen? – Aber diese engen seitlich fuhren hundertfach in Gruben… Vorerst entrinne ich ihnen, vorerst entrinne ich ihnen!“ Er eilte schneller, Kies knirschte unter geräumigen Stiefeln, in denen sein Fuß hin- und hergeschleudert ward. Es schlug zwölf. – „Mitternacht“, lachte er hämisch. „Das Gespenst verläßt Moder und Gruft, sich auf die Lebenden zu stürzen, die ahnungslosen Schläfer.“ –
Da war er angelangt am Portal und fand das Gitter verschlossen. Ein hohes Eisengitter. „Ich hätte mir’s denken können“, fauchte er. „Was nun?“ – Er stand, maß Mauer und Stangenhöhen, und horchte. Straßenher durch meilenweite Stille kamen Schritte näher, ein unregelmäßiges Gestapf, umspült von dem Geplärr einer kippenden Stimme, die eine festere und helle zu beherrschen suchte. „Aufgepaßt“, ermahnte sich Weifeuer und trat aus dem Mond in die Dunkelheit des Pfeilers. „Das Elternpaar, das edle Leichen-wärterpaar, meine Kleiderverleiher, meine Wohltäter.“ Ein Mann, gesteuert von seiner Frau, erschien jenseits des Gitters und fiel dagegen. Es entspann sich ein Kampf, wer den Schlüssel handhaben sollte. Während der Mann sich durchsetzte und mühselig aufschloß, hatte Weifeuer Zeit zu Vorbereitungen, und als das Paar durchs plötzlich aufklappende Gitter in den Garten prallte, sprang er vor, schwang in weiten grüßenden Zügen den spiegelnden Hut, ließ das Kinderspielzeug durch den Mondschein knattern wie ein knöchernes Gelächter, riß den Mund erst lautlos auf zu einem schwarzen Loch, um dann hohl aus ihm „Ei, guten Abend!“ zu gurgeln, flitzte knicksend vorbei an steingewordener Angst und flog hinaus auf die Gasse. Vorerst lief er, dann blieb er stehen. Es erfolgte nichts. Was er zurückgelassen hatte, war zu sehr mit sich beschäftigt und besorgt um Leib und Seele. Gemächlich ging er weiter, den Hut in der Hand. Er legte auf den Fenstersims eines großen Mietshauses die Klapper. „Euch, Kinder, schenke ich sie“, sprach er. „Ihr werdet zahlreich sein in diesem Hause.“ Und er ging weiter in dem Gefühl, eine gute Tat getan zu haben. „Erster Akt zu Ende; Vorhang“, sagte er fröhlich. „Shakespeare hat recht: keiner säuft so viel wie Totengräber
und derlei Volk. Wohl bekomm’s, Herr Böttner.“ – Er holte kräftiger aus. „Ich will noch ein paar Stunden schlafen, bevor ich zu dieser Beerdigung gehe.“ Als er vor seinem Hause stand, bedurfte es keiner schwierigen Schliche. Hinterrücks ging er durch die Gartenpforte, sie war nur angelehnt, – durch Glastür und Fenster. „Dacht ich’s doch“, zischte er belustigt und geärgert, vor allem geborgen. „Kaum ist man tot, steht die Wohnung nach allen Seiten offen. – Ursel, mein Hauskreuz, dir werd’ ich den Marsch blasen, kommst du heut morgen zum Kaffeekochen!“ Aber es fiel ihm sogleich ein, daß die Ursel wohl nicht mehr kam, denn niemand brauchte ein Frühstück in dieser Wohnung. Er ging durch die Zimmer; er machte Licht; die Läden fand er schon geschlossen, den Tisch ohne Decke, den Teppich zusammengerollt, Staub überall, – eine unordentliche Ordnung, geschaffen von Händen, die längst über ihn hinweggeglitten waren. Er entdeckte Spuren der Zugeherin auf seinem Schreibtisch; über sein Wallensteinbild, irgendwo herausgerissen, ringelten sich Apfelschalen. – Welche Pietätlosigkeit! brauste es in ihm. – Er machte sich warmes Getränk; den Kakao wenigstens hatte man an seinem Platz belassen. Er schlürfte, kräftiger und zorniger werdend. „Euch allen will ich’s besorgen! Ihr –! Bin ich der Niemand?“ Er ging ins Schlafzimmer. Ungastlich starrte das Bett ihn an, entkleidet des Weißen, lieblos braun und grau. „Dich hab ich nicht einmal zum Sterben in Anspruch genommen. So lohnst du’s mir? – Es muß auch ohne Leintuch gehen“, entschloß er sich dann, kroch in die immerhin wärmenden Kissen, schlief den Schlaf des Lebendigen bis in den Morgen. – – – „Tag für mich –, nach wieviel Nächten?“ fragte er sich glückselig und blinzelte in die neblige Herbstsonne. „Das wird eine prächtige Leichenfeier in dem prächtigen bunten Garten“,
freute er sich. Er kleidete sich an; als er über die pulsenden Weichen fuhr, hielt er inne und beroch sein eigenes Fleisch. „Fast hätt’ es angefangen zu faulen“, sprach er geschüttelt. – In ein Bündel wirr verschnürt fand er die Kleider, die er auf seiner letzten Probe getragen hatte, – in denen er damals gestorben war. „So geht man um mit meinen guten Sachen“, empörte er sich. „Bin ich der Niemand?“ – Aber dann verschnürte er selbst zu einem ähnlichen Bündel Wäsche, Gewand und Schuhzeug des Leichenwärters Böttner und schob, groß auf Papier gemalt, den Namen des Eigentümers zwischen die Stricke. „Besorgt“, sprach er und rieb sich die Hände. „Jetzt Geld!“ Aber er fand die Schlüssel zum Schreibtisch nicht, mußte bei sich selbst einbrechen und hieb unmutig das Küchenbeil zwischen Platte und Lade. „Wohl umsonst“, knurrte er, indes Holz splitterte. „Man wird es davongetragen haben.“ – Aber er fand alles vor auf Heller und Pfennig. „Die Menschen sind besser, als ich zu denken wagte“, gestand er beglückt und ein wenig beschämt. Er holte den eigenen Zylinderhut aus der Schachtel; der trug noch den Trauerflor vom Begräbnis des Opernsängers Ruhlich. „Du schon; ich nicht!“ meckerte Weifeuer. „O nein, ich nicht!“ Er wählte aus dem Handwerkszeug des Mimen: Brille mit grüngelben Gläsern und buschigem Schnauzbart, grau meliert. Ein Fläschchen Mastix, ein Pinselchen schob er mit diesen Dingen in die Manteltasche. Er verließ ungesehen die Wohnung, in ernstes Schwarz um und um gewandet. Bei einem kleinen Friseur ließ er sich die Silbermähne auf fünf Millimeter kürzen. Die Toilette eines Cafes, in dem er gefrühstückt hatte, verließ er bebrillt und schnauzbärtig. „Ich sehe gut aus“, hatte er vor dem Spiegel gefunden. „Feine Maske. Nicht unähnlich dem Herrn Reichswehrminister. Zum Glück ein wenig zu klein – alles in allem. Um Gott, – man wird mich doch nicht verwechseln?“
Er fand, daß er sich eilen müsse. Stürzte in einen Blumenladen, erstand einen Riesenkranz; warf sich in eine Droschke und rasselte dem Friedhof zu. „Daß doch alles klappert, was zu diesem Acker treibt: Gefährt und Klepperhufe; dortselbst: Geripp und Totenbein.“ Die Kinderklapper fiel ihm ein. „Fein hat sie gerasselt gestern, gute Schützerin in der Not“, entsann er sich froh bewegt. „Aber ich – o nein, ich klappere nicht – .“ Er ließ zwei Finger vom prallen Schenkel schnalzen. „Sehnen, Wärme und Schmalz!“ frohlockte er. – Als er schon nah war dem Portal des Friedhofes, lief häuserhin neben ihm ein Bub und drehte ein kreischendes Spielzeug. „Dir geschenkt, ja, von einem guten Geist über Nacht“, lächelte er huldvoll und nickte dem Knaben geheimnisreich zu. Die Trauerversammlung umlagerte schon die Grube. – „Als ob sie Sorge trügen, er möchte noch einmal entwischen aus der feuchten Erde. Unzweifelhaft: Sie würden ihn packen und zurückstopfen ins Loch“, murmelte Weifeuer, als er hinzutrat. Er fiel auf; er merkte, daß alle sich drehten und ihn anstarrten, aber er achtete nicht darauf, er suchte nach den Kränzen, – brachte nur zwei spärliche Blattgewinde in seine enttäuschten Blicke. „Wo sind denn die Kränze mit den Aufschriften?“ frug er leise den Nachbarn. Er blieb ohne Antwort, aber der Pfarrer wandelte milde auf ihn zu. Er hatte seine Sprüche fertig gezirkelt, er hatte aus kleiner Schaufel zierlich Erdklümpchen hinunter auf den Sargdeckel poltern lassen, – er sagte trostreich zu Weifeuer: „Sie sind ein Verwandter? Möge der Himmel Ihnen die Stärke geben, den schmerzlichen Verlust zu tragen.“ „Wenn Sie wollen, Herr Pfarrer“, gab Weifeuer lustig blitzend hinter grüngelber Brille zu, – „gut, wenn Sie wollen: auch verwandt mit dem, was dort unten im Sarge liegt, – da wir alle Staub sind vor dem Herrn.“
„Die teuere Verstorbene ist Ihnen nicht nahe gestanden?“ wies der Gottesdiener den hellen Ton tadelnd zurück. „Wer?“ schrie Weifeuer und sah wild umher; er spähte in die verdutzten Gesichter kleiner Bürger, feiertägig gekleideter Handwerker. Welch eine Kümmerlichkeit! Keine Blumen, keine Kranzschleifen, Menschen in Schlapphüten, die nicht einmal schwarz, die grün und grau sind. Genarrt erboste er sich. „Wer in drei Teufels Namen liegt denn hier?!“ schrie er weiter. Dem Geistlichen rötete heiliger Zorn das Komödiantengesicht. „Die in Gott verschlafene Veronika Rummel!“ rief er feierlich bewegt. „Ich muß Sie bitten, stören Sie nicht durch lautes Gebaren die Ruhe der Toten und dieses ernsten Gartens.“ Ins Beifallsgemurmel der versammelten stumpfen Schlapphüte warf Weifeuer weitarmig den Abschiedsgruß seines spiegelnden Zylinders, erklärte noch: „Ich war am falschen Ort, vergeben Sie dies Mißgeschick!“ und ging davon, hinter sich herschleifend den großen grünen Kranz. „Ich werde bei mir zu spät kommen“, fürchtete er, doch dann blähte Gelächter ihm die Backen, über den Pfaffen, der ein schlechter Schauspieler war in der Erregung. „Er beherrscht das Wort nicht: die in Gott verschlafene Veronika! Seine Zunge stolpert, wenn sie stolze Sprünge machen soll. – Mir könnte so etwas Klägliches nicht zustoßen.“ Er ging schmale Wege, hin an endlosen Hügeln und Kreuzen, sah weit über Gräber. „Wo find ich zu mir?“ fragte er sich. Plötzlich an einer Biegung um Trauergebüsch herumschwenkend, stand er wieder vor schwarzen Menschenklumpen, die ein Erdloch umstellt hielten. „Angelangt –!“ erkannte er gleich. „Dort stehen die Genossen vom Theater. Dort tritt der Vertreter der Stadt von einem Fuß auf den andern und hält den Kranz mit der Schleife wie einen Schild vor den Unterleib. – Sieh, Vetter
Max aus Baden schluchzt in sein blaues Taschentuch, – der einzige Verwandte. Daß er gekommen ist! Weshalb träuft seine Weinhändlernase? Spricht der Herr Pfarrer so schön?“ Der sagte gerade: „Des Verstorbenen Mutter, genannt Marie Luise, geborene Koch, stammte aus dem Mecklenburgischen – “ „Sofie Luise, nicht Marie“, tönte Weifeuer jäh dazwischen – und erschrak dann. Der Geistliche sah auf, seine gerunzelte Augenbraue glättete sich zu gütigem Verständnis für den fassungslosen Schmerz des Hinterbliebenen, und er verbesserte sich behutsam: „Sofie Luise, gewiß, – als Gattin des 1892 dahingegangenen Postsekretärs Anton Weifeuer…“ „1894, und Albert, nicht Anton! Sie haben Ihre Rolle schlecht gelernt, lieber Herr“, schrie Weifeuer wütend. Der Pfarrer rang um Fassung. „Ja, ja, ja“, sagte er übermenschlich milde. „Ganz recht haben Sie ja, verehrter Freund. Ich bitte um Entschuldigung dieser kleinen Versehen. Stören Sie doch nicht weiter die heilige Handlung. Gewiß, 1894, – Albert Weifeuer, gewiß. Lassen Sie mich nun fortfahren, still und ernst, wie es dem Orte geziemt und diesem Toten.“ „Ziegelsteine“, warf Weifeuer hin, „bitte übernehmen Sie sich ihretwegen nicht.“ Der Geistliche sah kopfschüttelnd mit einer bösartigen Mundfalte, die der Kummer um den Widerspenstigen nur schlecht verdeckte, über seine Gemeinde hin. „Der Schmerz muß ihn verwirret haben“, sagte er halblaut zum Weinhändler Max hinüber, und der bestätigte ihm diese Auffassung durch nickendes Geschneuz ins Taschentuch. Dann sprach er weiter, eindringlich dem Vetter Max aus Baden als dem einzigen ihm förmlich vermeldeten Anverwandten zugetan, aber der Weinhändler blieb unaufmerksam, denn ihn fesselte sehr die
Person des hereingeplatzten Störers. Der Pfarrer, kaltgestellt, endigte vor der Zeit, warf mit zierlicher Schaufel drei Klümpchen Erde hinunter, drückte dem Weinhändler die Hand und auch, in sich den bösen Feind besiegend, dem, den der Herr verwirret hatte. Dann entwandelte er eilig. Der Vetter Max warf Klümpchen hinunter und pirschte sich heran. Jemand neben Weifeuer lüftete die spiegelnde Röhre und erkundigte sich: „Sie sehen dem Verstorbenen ähnlich. Ein Bruder am Ende gar-?“ „Entfernt verwandt und kaum der Rede wert“, schnitt Weifeuer die Frage ab, einiges Unbehagen spürend über das, was jetzt herbeikroch. Er sah, daß alles wartend stand. „Wollen Sie nicht –?“ ermutigte ihn der Vetter Weinhändler und reichte die kleine Schaufel hin. Er nahm sie und warf Klümpchen hinunter. Wohlgebügelt in blendendem Schwarz stand er an der Grube, durch sein Verhalten schon herausgehoben aus den anderen, umwittert von Besonderheit, erkoren von der Schar, als erster und maßgebend an diesem Grabe zu sprechen. Alles wartete. Und er begann. Pflanzte den Riesenkranz neben sich, strich schwarz behandschuht über Silberstoppeln, funkelte mit dem Seidenfilz in Brusthöhe. Er sprach von dem großen Künstler, pries seine Leistungen, ahnte seine erlittenen Enttäuschungen, wußte von Widrigkeiten und Tücken, welche letzte große Erfolge vereitelt hatten, klärte die Trauerversammlung auf über je richtig erfühlte Höhe des Verlustes, – und verkündete stürmisch, daß, könne der Tote wiederkehren, ein letzter und steiler Aufstieg ihn zur Vollendung emportragen würde. Neben dunklen Anklagen gegen Theaterärzte sprach er von Wiederkehr als etwas Möglichem, ja fast – es schüttelten Zylinder sich mißbilligend – als etwas Sicherem, – frohlockend, grimmig-hell, ganz ohne Grabeston.
– „Ein unheimlich Besessener, mit einem Organ und einer schlechten Atemtechnik wie der selige Weifeuer“, blies der Kollege Walch der Kleinen ins Ohr und zog sie mit sich fort und hinaus aus dem Garten. Weifeuer beendete den Schwung rätselhafter Drohungen. Er versäumte, mit anzuhören, wie der Direktor geschäftsmäßig ihm nachtrauerte, und welche gedrückten Worte der Vertreter der Stadt fand. Der Vetter Max kam auf ihn zu, schüttelte seine Hand hin und her und sprach: „Irr’ ich mich, oder habe ich recht – “ „Gewißlich eins von beiden Dingen“, kräftigte Weifeuer ihn. „Hab ich recht, mein’ ich“, beharrte der Unterbrochene, „wenn ich behaupte, Sie sind der Vetter Viktor Stempf aus Philadelphia?“ „Ich bin’s“, enthüllte sich Weifeuer erleichtert. „ – Musikdirigent da drüben. Künstler gleich dem Verstorbenen. – Bin, wie du siehst, unterrichtet“, sagte stolz der Weinhändler. „Es muß in der Familie liegen: dieser Hang zur Kunst. Ich selbst zeichne nicht ohne Erfolg in freien Stunden; eine Ansichtskartenserie, betitelt ,in vino veritas’, ist im Kunstverlag Bankel in Konstanz erschienen. Du kennst den Verlag?“ „Gewiß, und die Karten und alles andere“, versicherte Weifeuer. „Erzähle mehr von dir!“ verlangte froh bewegt der Vetter. Weifeuer drückte vielen Menschen, die gegen ihn Düsteres murmelten, die schmerzlichen Hände; er war Vertreter der Familie, die ganz ausgerottet schien bis auf ihn und den Weinhändler. Diesen völlig überragend war er einsames Bild eines Hinterbliebenen. Indes immer noch Klümpchen kollerten, beschwichtigte er den stummen Gram letzter Finger, die sich ihm zustreckten. Dann schritt er aus, den Weinhändler neben sich. Er begann: „Unter den ersten bin
herübergekommen. Die liebe Heimat, seit einem Menschenalter nicht betreten, lockt doppelt stark in ihrer schweren Zeit. – Ich fahre hierher, des Blutes Bande treiben mich, – und muß nun stehen an einem Grabe.“ „Du hast ihn noch gesehen, den teuren Toten?“ „Am Abend vor dem Morgen, den er starb. Er war verstimmt, wir saßen kurz nur beieinander. Er schalt auf Gott und die Welt. Er schien Gewaltsames, das ihm bevorstand, zu ahnen. Er schalt – ich kann es nicht verhehlen – auch auf dich, lieber Max; irgendwie schien er dunkel erbost.“ „Ist ein Testament vorhanden?“ frug der Weinhändler bedrückt. „Gerade davon“, griff Weifeuer zu, „aber gerade davon sprach er ja! – Du wirst verstehen, erklärte er, daß du bei deiner sicheren Stellung drüben in Philadelphia mir kein Kopfzerbrechen machst; ich habe alles dem Tierschutzverein letztwillig zugedacht.“ „Viel?“ zitterte der Weinhändler. „Ein kleines Vermögen. Er liebte die Weiber nicht und haßte den Wein; ein kleines angenehmes Vermögen hat er sich herangezüchtet.“ „ – Dem Tierschutzverein“, mißbilligte der Vetter. „Du mußt bedenken, – er verwarf den Alkohol; er hat, ließ er’s dich auch nicht fühlen, Zuneigung nie zu dir gekannt.“ „Vielleicht kann man das Testament anfechten – wegen Geisteskrankheit“, sann finster der Weinhändler. „Der schnelle Tod bestätigt, daß in seinem Hirnkasten etwas nicht in Ordnung war.“ „Sein Hirnkasten ist vollkommen in Ordnung!“ schrie Weifeuer. „Was erlauben Sie sich!“ Der Vetter blieb betroffen. „Ich weiß nicht“, klagte er gekränkt, „weshalb du Sie sagst –, und weshalb du so gewalttätig für diesen doch wohl entarteten Menschen
eintreten willst. Wenn Schutz der Tiere wichtiger ist als Wohlergehen der Angehörigen, – wichtiger als Pflege letzter Glieder einer einst weiten und bedeutsamen Familie, – du weißt: Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits und also auch Bruder des Großvaters väterlicherseits des Verstorbenen war Geheimsekretär und rechte Hand des Großherzogs Leopold, – ich sage: wenn unter solchen Umständen der Tierschutzverein lauter spricht als des Herzens und der Ehre Stimme, dann ist bei dem armen Verstorbenen gehirnlich etwas verschraubt und verwirrt gewesen, – und ich möchte dir gegenüber heute gleich betonen, daß ich entschlossen bin, das Testament anzufechten.“ Und Vetter Max verstummte, erschüttert und ganz außer Atem. Weifeuer zog den Mantel aus und schwang ihn wie eine Fahne. Freundlich umstrahlte die Oktobersonne seine Schultern. „Bei den Erdschollen muß es recht langweilig sein“, rief er unverständlich lustig. Doch sah Vetter Max ihn gut gelaunt und nutzte dies. „Du wirst auch anfechten“, drängte er. „Überleg’ es dir! Wir dürfen das nicht hingehen lassen. Und zwei vermögen mehr als einer vor Gericht.“ „Bei Gott und allen Teufeln: ich will auch anfechten. Bruderherz, du hast recht!“ stöhnte Weifeuer, gestoßen von einem erwürgten Gelächter, das ihm die Oberlippe breitzog; der Klebstoff sprang und gefährdete die Sicherheit des Schnauzbartes; er mußte Taschentuch und schwarze Trauerhand darüberbreiten. Der Vetter befeuerte ihn. „Recht so! Gleich werden wir in dieser heiklen Sache uns beraten müssen. Ich wohne im ,Blauen Mohren’. Darf ich dich einladen, mitzukommen, Viktor?“
Aber Weifeuer lehnte prustend ab. Die Sache, zugestanden, sei zwar wichtig, aber er müsse zu einer Besprechung in die Konzertagentur; er habe vor, hier zu dirigieren. „Weißt du“, schrie er und schwang unsichtbare Taktstöcke durch die Luft, „ich will den Leuten einmal den Marsch blasen, amerikanisch, mein Lieber, – allen Leuten – sehr amerikanisch. Du bist auch eingeladen!“ Der Vetter fragte kleinlauter, wann er denn mit dem lieben Viktor über diese doch wirklich höchst wichtige Sache reden könne; vielleicht am Nachmittag? „Abgemacht: heut nachmittag um vier im ,Blauen Mohren’! Ich wohne im ,Weißen Elefanten’“, schrie Weifeuer, schüttelte dem Weinhändler an einer Straßenecke jäh die Hand und entlief. Aber er kehrte um, – er packte den Vetter Max am Rockärmel. „Besser noch“, änderte er den Plan, und seine Augen blitzten grüngelb durch die Brille, „besser noch, wir treffen uns heute abend im Theater: John Gabriel Borkmann von Ibsen ist zu sehen. Der teuere Verblichene, der zu früh Dahingegangene sollte den Borkmann spielen“, schrie er. „Wir wollen sehen, wie jämmerlich der Ersatz ist, den man für ihn beschafft hat.“ „Geht mich gar nichts an, dieser Ibsen und dieser Ersatz“, brummte der Weinhändler. „Mir ist das Venus-Singspielhaus empfohlen worden.“ „Letzte Gelegenheit, mich zu sprechen!“ drohte Weifeuer. „Ich reise morgen. Abgemacht: im Theater.“ „Wenn schon –, wie denn? – Und wo denn?“ frug ärgerlich der Vetter. „Im Theater, im Theater!“ schrie Weifeuer, „alles andre wird sich finden!“ – Lachte, winkte und entlief. Er wandte sich heimwärts. „Mittag“, sprach er, „Hunger und letzte Vorbereitungen für den Abend.“ – Er umschlich das
Haus, in dem er wohnte; der Schnauzbart saß wieder fest; er ging hinein. Auf den Treppen Stille. Vor seiner Wohnungstür stand ein Dienstmädchen mit einem Lorbeerkranz. Er hatte genug von Kränzen. „Wohin wollen Sie mit dem Gemüse?“ frug er. Es erboste ihn, daß man fortfuhr, ihn für tot zu nehmen. Von allen Seiten, auf Schritt und Tritt ward er verneint. Diese selbstverständliche Wiederkehr langweilte, reizte und beunruhigte ihn. „Was wollen Sie denn?“ wiederholte er, weil das Mädchen schwieg. „Den Totenkranz im Sterbehaus abgeben“, leierte sie eingelernt und drückte wieder auf den Knopf, so daß die Glocke langhin schrillte. „Wer soll denn nun kommen auf das blödsinnige Geklingel?“ frug Weifeuer ärgerlich. „Der Tote selber, wie? Geht er schon um in euren Idiotenschädeln?“ Das Mädchen ließ den Kranz fallen, schlug die Hände vor den entsetzten Mund. „Um aller Heiligen willen, – was sagt der Herr da?“ zitterte sie. „Nun, Sie müssen nicht gleich so erschrecken“, besänftigte Weifeuer und streichelte ihr Arm und Hüfte. „Sie sind die hübsche kleine Köchin von Bergmanns, nicht wahr? Den letzten Entenbraten haben Sie wacker bereitet. Aber nun lassen Sie den Kranz liegen, wo er liegt, und trollen Sie sich.“ „Ich kenne den Herrn gar nicht; ich hab den Herrn nie gesehen“, sagte das Mädchen weinerlich. „Ich soll den Kranz hier abgeben; es eilt. Ich geh’ nicht.“ „Es eilt? – Nein: es ist längst zu spät, meine Liebe“, sagte Weifeuer feierlich. „Wie kommt es denn, daß ihr so verspätet dran seid mit eurer Gabe? – So spät, daß der Tote bald wieder auferstehen wird?“ Das Mädchen heulte von neuem vor Schreck. „ – Auferstehen wird –? Der Herr spricht so seltsam – “
„Der Anlaß ist auch seltsam, bei Gott!“ verkündete Weifeuer dunkel. Das Mädchen fuhr fort, hilflos plappernd: „Erst gestern hat Frau Bergmann erfahren, daß der Herr Weifeuer Gift genommen hat – “ „ – Was genommen hat?“ schrie Weifeuer. „Gift genommen doch!“ wimmerte das Mädchen. „Und der Herr hat gesagt, wir schicken einen Kranz. Aber die Frau hat gesagt: Für einen Selbstmörder niemals. Der Herr hat doch recht behalten, und hier ist der Kranz. Ach, mein Herr, wollen Sie einmal läuten; vielleicht öffnet man Ihnen.“ „Weshalb denn – “, fragte Weifeuer mit fürchterlicher Ruhe, „hat dieser vermaledeite Weifeuer Gift genommen? He, mein Kindchen?“ „Um Gott, um Gott, fluchen Sie nicht!“ winselte das Mädchen. „Ach helfen Sie mir doch den Kranz abgeben! Der Herr wird schimpfen und die Frau wird sagen: Siehst du, man bringt ihn gar nicht an, den Kranz für einen Selbstmörder.“ „Jungfer Hasenfüßchen“, sagte Weifeuer drohend „wollen Sie mir nun endlich berichten, weshalb dieser Kerl Selbstmord beging. Was erzählt man?“ „Man erzählt“, sagte das Dienstmädchen willenlos „daß der Herr Weifeuer zu dem Fräulein Holz vom Theater eine heiße Liebe empfunden hat, so alt wie er schon war, und daß er dem Fräulein zu alt gewesen ist, und daß sie ihn abgewiesen hat. Und nach seiner letzten Anfrage morgens im Theater hat er gleich ganz verzweifelt ein furchtbares Gift aus der Westentasche gezogen und hat sich kaum gekrümmt und ist umgefallen und war tot. – Wollen Sie bitte doch anläuten, mein Herr.“ „Blödes Weib“, zürnte Weifeuer, „weshalb soll ich denn läuten? Klingt es anders, wenn ich’s tue? Hat mein Finger
mehr Macht über den Druckknopf? – Verschwinden Sie. Ich sage Ihnen, es ist niemand zu Hause.“ „Es muß jemand da sein“, beharrte das Mädchen. „Die Frau, die ihm die Wirtschaft geführt hat, war bei uns und hat gesagt, es ist immer jemand daheim.“ Weifeuer stand sinnend: „So wenig sollte man sich um meinen – um den Tod dieses verdienten Künstlers in der Stadt gekümmert haben, daß Ihre Herrschaft erst gestern davon erfahren hat. Ja, lest ihr denn keine Zeitung?“ „In der Zeitung war nur eine winzige Notiz –, ja, so klein, die hab’ selbst ich übersehen, und ich les’ doch alles vom Theater. Erst die Nachricht gestern, daß der berühmte Schauspieler Adam für den Verstorbenen eintritt, haben wir gelesen. – – Ich hab’ den Herrn Weifeuer einmal als Erbförster gesehen; ich wart’ schon lang auf einen Nachruf.“ „Nur eine kleine Notiz – “, sann Weifeuer, und dann, belebt: „Sagen Sie, mein liebes Fräulein, wie hat Ihnen damals der Weifeuer als Erbförster gefallen? – Berühmt nennen Sie diesen Adam? Wer sagt Ihnen denn, daß er Verdienste hat?“ – Schneller polterte er gegen die angstgeweiteten Augen des Mädchens: „Man hat mich keines Nachrufes für würdig gehalten, wie? Ich will’s euch zeigen! Wissen Sie bestimmt, daß die Zeitung nicht eine Spalte lang über mich zu schreiben für nötig hielt, wie? Haben Sie jede Nummer genauestens überprüft, was? – Euch will ich den Marsch blasen! Warum stehen Sie immer noch und zupfen an dem Salat herum – und versperren mir den Eingang zu meiner Wohnung! Erkennen Sie mich noch nicht, Fräulein Anna, Fräulein Dora, Jungfer Köchin?“ Er riß sich Bart und Brille ab – „Ich bin der Weifeuer, ich, der Weifeuer! Der Weifeuer lebt, hurra!“ Das Mädchen wurde zu Stein vor dieser Gestalt, die sich infernalisch bog, auf- und niederhupfte und sich umherschnellte auf halbdunklem Treppenabsatz. Sie ließ
abermals den Kranz los und stopfte die Hände in den Mund, sie fiel gegen die Wand, sie drehte sich, bekam die Finger wieder frei, stieß die Arme in die Luft. „Ein Geist. Hilfe doch, ein Gespenst!“ schrillte sie, fegte wie ein heller Pfiff die Treppe hinunter und hinweg. Weifeuer stand und horchte. „Das war wenig bedacht“, sprach er und zog die Schlüssel. Ärgerlich gab er dem Kranz einen Tritt; er fegte raschelnd bis zur Kellertreppe. Er sperrte auf, – im Hause klappten schon die Türen, Stimmen lebten hallend auf, dennoch kam er ungehört und ungesehen hinein. Er verhielt sich steif und lauschte: die Treppe schlief wieder ein, das Haus lag still. Er tappte durch die Zimmer, fand alles wie am Morgen, ärgerte sich neuerdings über die Apfelschalen und begann seine Arbeit. Er kleidete sich um, warf den Schnauzbart ins Ofenloch, verpackte in den Handkoffer das Nötige für die Abendvorstellung und steckte die umfangreiche Rolle in die Manteltasche. Er verzichtete auf jede weitere Vermummung, nur die grüngelbe Brille schob er wieder vor die Augen. Wollte gehen, – kehrte zurück, murmelte: „Besser heut als morgen“, und setzte sich vor den aufgebrochenen Schreibtisch, nahm einen großen Bogen und schrieb in feierlichen Buchstaben mit dem Lächeln des Genießers Letztwilliges, demzufolge er sein Hab und Gut – Gegenstände möge man zu Gelde machen – dem Tierschutzverein, ohne dessen Mitglied zu sein, vererbte; – schloß und siegelte den Brief und gab ihn in die Schublade. Verließ dann die Wohnung und sperrte sorgsam ab. Auf der Straße winkte er einen Wagen heran und fuhr in ein kleines Gasthaus nahe dem Theater. Dort nahm er ein Zimmer und trug sich als Wilhelm Weifeuer ein. „Erste Vorbereitungen, die Welt an mein Wiederauftauchen zu gewöhnen“, sprach er.
Aber er mußte erleben, daß man seinen Namen ohne Grauen und Erschütterung las. „Wünschen Herr Weifeuer noch etwas?“ fragte der Kellner harmlos, der ihn ins Zimmer geleitet hatte. „Zum ersten Mal, seit ich gestorben bin, redet mich wieder ein Menschenmund – ein Brudermund – an mit meinem ehrlichen Namen. Das tut wohl. – Ja, ich bin’s, – bin Faust, bin deinesgleichen!“ bekannte er strahlend gegen den Erstaunten. Befahl dann: „Soweit möglich, bitte, die sämtlichen Zeitungen der letzten drei Tage. Einen Imbiß hierher aufs Zimmer; eine Flasche Rotwein.“ Weifeuer beugte sich über seine Rolle. Der Kellner kam und ging auf Zehenspitzen. „Oben sitzt einer, der spinnt“, meldete er wispernd dem Gastwirt, „der ist gestorben, wie er sagt, und lernt aus einem Buch und fuchtelt wie ein Possenreißer. Wirklich ist einer gleichen Namens vom Theater als verschieden in der Zeitung gestanden. Was soll man machen?“ Der Wirt beschloß, die Polizei zunächst nicht zu benachrichtigen. „Lassen Sie den Narren zufrieden“, entschied er. „Uns genügt vorläufig, daß er einen wertvollen schweinsledernen Handkoffer mitgebracht hat.“ – Weifeuer speiste zwischen Wolken aufgebauschter Zeitungen. Die Blätter der großen Zentralen des Landes hatten gar nichts gebracht – bisher nichts. Weshalb nicht? Weil die Zeit dafür zu kurz bemessen war. Die Blätter der Stadt, in der er gewirkt hatte ( – hatte –? Ja, hier mußte er sich weiter als tot betrachten, um sich richtig einstellen zu können ) – diese Blätter – das blöde Dienstmädel soll der Teufel holen – waren mit Nachrufen hervorgetreten. Waren immerhin hervorgetreten. Mit kurzen – mit manchmal sehr kurzen Würdigungen, mit oberflächlichen Redensarten! Mit schülerhaft hingepatztem, unwissendem, erbärmlichem Geschwätz! Mit matten Dreipfennigphrasen! – Er knüllte die
Zeitungen zornig zu einer großen runzeligen Kugel zusammen und schmiß sie in die Ecke. Dort krümmte sie sich knisternd und knackend, schoß ruckweise aus sich heraus wie wachsendes Unkraut und Unheil, boshaft raschelnd und sich heimlich aufblähend – unverwüstlich –, so daß er mit wütenden Fußtritten dazwischenfuhr. Dann stürzte er wieder über die Rolle, wiederholte, schritt hin und her, die Hände auf dem Rücken, lachte zum Fenster, wenn er Menschen auf der Straße sah, trank roten Wein, durch den er nachmittägliche Sonne funkeln ließ, fühlte sich leben, – lebte, lebte, lebte! Sie saß, – die Rolle saß vorzüglich. Er machte sich zum Ausgehen fertig, das Wetter lockte so. Drunten in der Halle verlangte er zu bezahlen. „Es kann sein“, sprach er sachlich, „daß ich mit dem Nachtschnellzug Weiterreise. Für diesen Fall will ich alles geordnet wissen. Ich bitte, mir die kommende Nacht mit auf die Rechnung zu setzen.“ Er nahm tiefe Bücklinge entgegen, als er, über Gebühr eines Sechzigjährigen federnd, dem Hotel entschritt. Dieser Gast gebe weiß Gott keinen Anlaß, sich den Kopf zu zerbrechen, tadelte der Wirt den Kellner. Der Kellner zuckte die Achseln und ging hinauf in Weifeuers Zimmer, nach Anlässen zu suchen. – „Ein Hochstapler“, entschied er, als er wieder herunterkam. „Er führt Perücken und Bärte mit sich.“ „Ein Reisender in Haararbeiten, ein Friseur, – ebensogut“, verteidigte der Wirt den Verdächtigen. „Als was hat er sich eingeschrieben?“ „Als Schauspieler“, sagte der Kellner wegwerfend. „Das zu sein kann allerdings jeder behaupten“, pflichtete der Wirt nachdenklich bei. Trotzdem entschloß er sich, ferner zu warten. Weifeuer schritt durch die milde Herbstsonne. Er war froh bewegt. In Spannung köstlich fiebernd. „Welch ein Aufsehen, wenn ich wieder da bin. Für alle Bühnen der Welt einzigartig!
Jemand ist tot und begraben – und auf einmal verkündet er wieder lebendiges Wort von der Stätte der Kunst. Einer, der fast schon ,drüben’ war und durch dies beispiellose Erleben ganz groß und ganz reif geworden ist –, wird die Kritik mir zugeben müssen. Aufstieg, Aufstieg! Wie alt bin ich doch? Das Register sagt: sechzig Jahre; als Fünfziger gelte ich; wie ein Vierziger fühle ich mich! Aufstieg!“ – Er trat in ein Cafe; er nahm die Abendzeitung und fand unter den Stadtnachrichten eine Stelle, die von dunklen Gerüchten und Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Tode des Schauspielers Weifeuer erzählte. In der Wohnung des Verstorbenen sei eingebrochen worden; das stehe fest. Gleichzeitig habe ein Dienstmädchen angegeben, den heute früh Beerdigten leibhaftig gesehen und mit ihm gesprochen zu haben; dies bedürfe noch der Aufklärung. Merkwürdig sei, daß sich in der Wohnung ein Bündel vorgefunden habe, Kleider enthaltend, die in der letzten Nacht dem Leichenwärter Böttner, wohnhaft Friedhof, gestohlen worden seien. Der Dieb habe sie, rätselhafterweise versehen mit einem Zettel, auf dem der Name des bestohlenen Böttner stand, offenbar bei seinem Einbruch in die Weifeuersche Wohnung daselbst zurückgelassen. Die Köchin beteuere fortgesetzt, mit dem Schauspieler Weifeuer, den sie durch ihre Dienstgeber persönlich kenne, vor der Weifeuerschen Wohnung, in der sie einen Kranz hätte abgeben sollen, zusammengetroffen zu sein. Dieser durchaus rätselhafte Mann habe gesagt, er wolle in die Wohnung hinein. Es sei nicht ausgeschlossen, daß dies der Dieb gewesen sei. Allerdings bleibe das Mädchen fest bei der unsinnigen Behauptung, es sei der Verstorbene und niemand anderes gewesen. Von Angst gepeitscht sei sie davongelaufen, anstatt den Verbrecher verhaften zu lassen. – Aberglaube und Spiritismus nähmen in erschreckendem Maße zu, wie dieser Fall deutlich beweise. Die trotzdem für die Sache wohl
wichtigen Aussagen der Köchin bedürften noch der Ergänzung. Sobald die völlig Verwirrte sich wieder gesammelt habe, könne sie neuerdings vernommen werden. – Weifeuer schwang die Zeitung zur Seite; er bog und wälzte sich über den Tisch; er schmiß vor Vergnügen die Tasse um, ein brauner See überschwemmte die weiße Marmorplatte; er lachte und prustete, und er entschuldigte sich. „Haben Sie das gelesen?“ schrie er dem Nachbarn zu, der ängstlich und erstaunt vom Tisch abgerückt war. „Sind Ihre Hosen naß geworden? Ich bitte um Vergebung; die meinen werden’s fast vor Begeisterung! Haben Sie das gelesen von dem angeblichen Tod des Schauspielers Weifeuer?“ „Gewiß, mein Herr“, sagte der Gast langsam und prüfend, Vertrauen fassend aus Widerruf. „Ich habe die mysteriöse Geschichte gelesen. Aber weshalb sagen Sie: angeblicher Tod des Schauspielers Weifeuer? Dieser Tod ist wohl die einzige Tatsache, die unzweifelhaft feststeht in diesem Wust von Fragwürdigkeiten.“ – Weifeuer krümmte sich wieder unter den Stößen einer ungeheuren Heiterkeit. „Die einzige Tatsache: dieser maustote Weifeuer? Ach, mein lieber Herr, mein armer Herr –!“ gluckste er –, doch er brach ab, denn er sah in den Augen des andern zu Stein werdende Befremdung, fast schon Grauen. Er beeilte sich zu sagen: „Ich meine: gut, lassen wir einmal diesen Weifeuer tot und begraben sein. Aber wie denken Sie über folgendes – Sie müssen mich nicht so zehnmeilenfern anschauen, meine Lustigkeit, die Ihnen Sorge macht, rührt von unterschiedlichen Dingen her, die mir der Tag beschert hat –, ich wollte sagen: Wie denken Sie über folgendes: Jemand ist nicht maustot, sondern – scheintot.“ – „Also nicht tot“, sagte der andere. –
„Ganz richtig“, griff Weifeuer zu, „nicht tot, sondern springlebendig. Dann bekommt doch die Welt mit einem Schlag ein anderes Aussehen.“ – Der Gast entgegnete widerwillig und kalt: „Ich finde keine Zusammenhänge zwischen Ihren ersten Worten, Ihrem Gelächter und Ihren letzten Sätzen. Sie sprechen erst vom verstorbenen Schauspieler Weifeuer und dann vom Scheintod.“ – „Halt!“ rief Weifeuer, „einen Augenblick! Nicht von dem verstorbenen Schauspieler Weifeuer, – von dem angeblich verstorbenen – “ „Aber der Mann ist doch begraben!“ unterbrach ihn der andere ärgerlich. „Es steht für mich nicht fest, daß dieser Weifeuer tot ist“, lächelte Weifeuer geheimnisvoll. „Aber der Mann ist doch längst begraben!“ wiederholte der Gast sehr unwillig und in einem Ton, der das läppische Gespräch abschließen sollte. „Ich stehe nicht an“, fügte er noch bei, „zu erklären, daß ich Ihre Scherze schal und Ihr Benehmen einem Menschen gegenüber, der bereits unter der Erde liegt, unpassend finde.“ „Man kann ihn ja wieder ausgraben, diesen Menschen“, schlug Weifeuer listig vor, „wer weiß, was man findet.“ Der Gast blieb starr. „Eins muß ich Ihnen lassen“, gab er überwältigt zu, „Sie führen Ihren Unsinn folgerichtig durch.“ Aber er wurde wieder vom Ärger gepackt. „Was reden Sie überhaupt von Scheintoten! Die gehören ins Reich der Fabel, allenfalls ins Mittelalter. Den Ärzten unserer Zeit entgeht kein Leben, mag es noch so versteckt in einem schon erkalteten Körper hausen.“ Weifeuer kämpfte wieder mit Lachkrämpfen; das erbitterte den andern. „Und ausgraben wollen Sie den angeblich Scheintoten auch noch!“ rief er.
Weifeuer wurde ernst. „Ganz mein Fall“, sprach er. „Vielleicht liegen Ziegelsteine im Sarg, und der Scheintote ist nächtlicherweile auf und davon.“ Der andere legte ihm die Hand auf den Arm. „Ich gehe zwei Minuten noch auf diesen Ton ein“, sagte er eisig. „Deshalb hören Sie: Wenn heute zu den Behörden ein Mensch kommt, der einem Verstorbenen, der gestern begraben wurde, so ähnlich sieht wie ein Ei dem andern, und wenn dieser Mensch vor der Behörde erklärt: ich, der Verstorbene und gestern Begrabene, war scheintot und bin wieder lebendig; macht mein Grab auf, ihr findet mich nicht darin! – Was, glauben Sie, wird die Behörde diesem Menschen antworten; was, glauben Sie, wird die Behörde tun?“ – „Öffnen wird sie, das Grab wird sie öffnen!“ schrie Weifeuer in aufsteigender Angst. „Die Antwort hätt’ ich mir denken können“, nickte der andere höhnisch. „Sie bleibt im Rahmen Ihres Witzes.“ – „Sie muß das Grab öffnen! Was wetten wir, daß sie öffnet?“ – Weifeuer stieß ihm die flache Hand hin. – „Ich wette nicht, und, wenn ich zu entscheiden habe, ich öffne nicht. Ich bin Beamter. Auch meine Vorgesetzten öffnen nicht. Wer duldete oder begünstigte gar solchen Unfug!“ – Weifeuer wand sich, lachend halb, halb weinend in ohnmächtigem Grimm: „Weifeuer ist wieder da! Freunde bezeugen es! Gut, er hat keine Freunde. Aber Bekannte bezeugen es, daß er’s ist. Hunderte, die ihn auf der Bühne gesehen haben. Sein Zahnarzt erkennt ihn an den Plomben, seine Haushälterin an der Art, wie er sich wäscht. Alle, alle!“ – „Sie alle irren“, sagte der Beamte unerschütterlich. „Täuschungen. Mangelnde Schärfe der Beobachtungsgabe. Das Grab allein, das den Toten birgt, spricht seine unumstößliche Sprache. Das Grab allein spricht unanfechtbare Wahrheit.“
– „Und der andere? Der, den sie als Weifeuer nicht gelten lassen?“ – „Ein Schwindler aus irgendwelchen Gründen. Ein Verrückter aus irgendwelchen Gehirnkrankheiten.“ Weifeuer sah wild umher: „Ich werde die Behörde zwingen. Ich werde es ihr zeigen – und dem gewissenlosen Arzt! Ich werde der Behörde den Marsch blasen!“ Sein Gegner zuckte die Achseln, stand auf, sagte nüchtern: „Ich ersuche, Behörden in meiner Gegenwart nicht zu beleidigen. Ich bin Beamter.“ Er verbeugte sich unmerklich und ging. Weifeuer blies die Backen auf; er sah den andern bei der Kellnerin stehen und zahlen. Er sah die beiden über sich sprechen. Dem Beamten hüpften die eckigen Schultern auf und ab, die Kellnerin hackte mit gelber Schnabelnase und rotem Schopf gegen ihn: ein edles Paar, das – lautlos für Weifeuers Ohr – kämpfte um Entwirrung von Mysterien. Er lachte gellend, er wollte dazwischenfahren, die beiden Hohlschädel packen und klappernd gegeneinanderknallen –, er taumelte auf, warf Geld in den Teller und verließ den Ort. Er rechnete sich unterwegs aus, wann der zweite Akt begann; er strich umher, legte sich seinen Plan zurecht, unterbrochen manchmal von Erinnerungen an das Gespräch mit dem Beamten, – murmelte dann Schmähungen und Worte, die ihn festigten; traf rechtzeitig vor sein Gasthaus, ging – längst war es dunkel – finstere Stiegen empor, legte in seinem Zimmer den schwarzen Rock John Gabriel Borkmanns an, schminkte sich, nahm die Perücke. Unterdessen drang der Kellnerin den Wirt: man habe gelesen den langen Polizeibericht über den Tod eines Gewissen Weifeuer, den Einbruch, die Gespenstererscheinung? Es sei notwendig, der Polizei zu melden, daß hier einer abgestiegen sei, der sich Weifeuer nenne und behaupte, er sei gestorben.
Aber der Wirt hob abwehrend die Hände: man möge ihn zufriedenlassen. Dieser sein Herr Weifeuer habe bezahlt und sich ehrenhaft benommen; falls er einen Vogel habe, sei das seine Sache. – Er selbst habe den langweiligen Bericht nicht gelesen und verzichte darauf, der Polizei Liebesdienste zu leisten. Es käme selten Gutes dabei heraus; – man werde hineingezogen in den Handel. Und kurz und gut: er wisse von nichts und wolle nichts wissen. Und wenn der Herr Weifeuer jetzt die Treppe herunterkäme, so wolle er nie und nimmer im Wege stehen. – So geschah es, daß Weifeuer ungehindert dem Gasthof den Rücken kehren konnte und als John Gabriel Borkmann auf die nächtliche Straße trat, um den kurzen Weg bis zum Theater zu Fuß zurückzulegen. Er kam und stand in einer dunklen Ecke des Hofes nahe den Garderoben. Er kannte die Pause zwischen dem ersten und zweiten Akt und wartete. Er hörte die Glocken hinter erleuchteten Fenstern die Gänge hinschrillen; sie sagten den Beginn des zweiten Aktes an. Er ging hinein – unabwendbar, fieberig und herrischen Trittes, die Hände schon auf dem Rücken. Unangefochten kam er vorwärts, an bestürzten und verwirrten Gesichtern vorüber. Betrat durch die ihm geläufige Tür das Zimmer John Gabriel Borkmanns, als die Gardine zur Seite flog und Licht aufschlug. Zwei gleiche Männer in weißen Haaren und schwarzen Gehröcken standen sich gegenüber. – Weifeuer beachtete den anderen Borkmann gar nicht, er verneinte sein Dasein, sprach über ihn hinweg, durch ihn hindurch. Aber der Kollege Adam vertrat ihm den Weg, und die Partnerin spielte nicht, sondern begann zu zittern. Das Publikum rauschte, von Neugier hin- und hergebogen, und raunte, schwoll an und war unversehens unerträglich
gespannt, so daß sich die Gier nach Lösung schon in einzelnen Worten und kaum unterdrückten Rufen kundtat. Der Spielleiter betrat stolpernden Schrittes die Bühne. Da Weifeuer nirgends Widerhall fand, mußte er aussetzen. Alles stockte und hielt den Atem an. Im Zuschauerraum wurde nach Licht gerufen. Der Spielleiter bat mit verrutschter Stimme Weifeuer, die Bühne zu verlassen und die Vorstellung nicht länger zu stören; das Weitere werde sich finden. „Ich beharre hier an dem mir gebührenden Platz“, erklärte Weifeuer gehobenen Tones und wandte sich dabei gegen die Zuschauer. „Von meiner Seite steht dem Fortgang der Aufführung nichts im Wege. Ich habe vor Wochen die Rolle des Borkmann für den heutigen Abend übertragen bekommen, ich bin pflichtgemäß auf meinem Posten, ich werde spielen. Herrn Adams Bereitwilligkeit, mich zu ersetzen, braucht weiter nicht in Anspruch genommen zu werden. Ich, der Schauspieler Wilhelm Weifeuer, bin zur rechten Stunde am rechten Ort und verlange, gehört und gesehen zu werden.“ Diese kleine Rede, klar ins Publikum getragen, veranlaßte wellenschlagendes Erstaunen, drüberhingellend vereinzelt schon Geschrei und in Fluß gekommene Flucht, gehemmt von Neugier. Jedermann wußte, daß ein Begrabener dort oben umzugehen schien. Aber aus dem Publikum eine Stimme – zügelnd und ordnend, von Armbewegungen begleitet, hub an: „Einen Augenblick, meine Herrschaften! Bitte, nicht das Theater verlassen; bitte, dableiben! Für keines Menschen Leben besteht eine Gefahr. Gestatten Sie mir ein paar Worte zur Aufklärung.“ Weifeuer bückte sich von der Rampe ins Parkett hinab; er spähte aus nach der Erlaubnis, mit seiner Kunst anheben zu dürfen, – Erlaubnis, gewährt von seines Volkes Stimme dort unten.
Aber niemand wollte Ibsen und Gabriel Borkmann hören. Die Blicke der Menge fielen zum Teil mit Grausen auf Weifeuer oben, zum Teil voll Hoffnung auf den Sprecher aus ihren Reihen, der da fortfuhr: „Was ich nun feststelle, darf niemanden erschrecken, und die festgestellte Tatsache ist für niemanden verhängnisvoll: Sie haben hier einwandfrei und in höchster Vollendung die Materialisation eines Abgeschiedenen!“ „Ich lebe“, unterbrach Weifeuer ihn, „ich bin nicht tot, ich lebe und bitte, mich nun spielen zu lassen.“ „Es ist – “, fuhr der Redner im Parkett fort, und er war auf seinen Sitz gestiegen, „es ist außerordentlich bemerkenswert, meine Herrschaften, was Sie da heute abend zu sehen bekommen. Phänomene in solcher Verdichtung und ausgestattet mit solchen Energien sind mir in langen Jahren des Experimentierens nicht zuteil geworden.“ Das Publikum hörte, schon ganz gläubig werdend, zu; es faßte Mut und stierte frecher gegen die Erscheinung. „Esel!“ schrie Weifeuer erbost – verzweifelt – ringend gegen einen wachsenden Willen, der ihn glatt verneinte. „Sie blöder Hanswurst, ich lebe!“ Der Redner lächelte milde. „Diese Einwürfe des Phänomens dürfen Sie nicht verwirren“, sprach er zu seinen Hörern. „Ungezogene, ja grobe Antworten aus der Welt der Geister sind an der Tagesordnung. Eine so nachdrückliche Widersetzlichkeit wie diese dürfte allerdings wohl selten sein und ist sogar mir neu.“ „Entscheiden Sie, meine Damen und Herren“, schrie Weifeuer gellend und grimmig auflachend, „ob ich tot oder lebendig bin!“ – Und er stampfte mit den Füßen, daß die Bretter dröhnten, er klatschte in die Hände, schlug sich auf die Schenkel, blies aus mächtigem Brustkasten einen Sturmwind über die Köpfe.
„Er lebt“, seufzte ein Mädchen befreit und beglückt. „Freilich wohl!“ jubelte Weifeuer ihr zu. „Er lebt keineswegs“, sagte der Redner sanft und streng zugleich. „Wir alle wissen, daß der Schauspieler Wilhelm Weifeuer heute morgen zu Grabe getragen worden ist.“ „Ein falscher Weifeuer –?“ warf jemand zaghaft dazwischen. „Der echte, niemand als der echte!“ lehnte, von Grauen geschüttelt, der Spielleiter ab, der den Umkämpften mit äußerster Kraftanspannung musterte; und die ganze Bühne, bereits erfüllt von Theatermitgliedern, nickte entsetzt die Bestätigung, daß dort der echte Weifeuer stehe. „Ich war scheintot“, schnaubte der Gepeinigte hinaus. „Bekräftigung!“ triumphierte der Redner im Parkett. „Ein von mir wiederholt beobachteter Fall, daß Phänomene vom Scheintod erzählen.“ Beschwörend breitete er die Arme vor: „Ich denke, niemand mehr –, niemand wird zögern, die einfache Lösung eines Rätsels ruhig hinzunehmen, das für die meisten Anwesenden anfangs beängstigend erschien.“ „Wie lange wird die Erscheinung sichtbar bleiben?“ fragte vollkommen überzeugt und sachlich einer aus dem Publikum. Der Redner wandte sich eilfertig an ihn. „Ungefähr fünf Minuten; länger kaum“, belehrte er. Weifeuer stand und lauschte; er setzte an, er wolle sprechen, es arbeitete und gurgelte in ihm. „Ich lebe –!“ brachte er ein drittes Mal empor. Er wartete – und sein Publikum wartete auch. Aber sein Wort tat keine Wirkung. Eine Frauenstimme nur hob sich und sagte ungeduldig: „Wenn diese fünf Minuten doch schon vorbei wären und die Vorstellung weiterginge!“ Weifeuer schnellte hoch. Er jagte Blicke umher, warf die Arme steil empor, mit gespreizten Fingern, er formte den Mund zu einer fauchenden Höhle, aber es prallte kein Laut heraus. Gestellte Glieder sanken im fegenden Bogen mitsamt
dem Rumpf nach vorn, und der ganze Körper schlug mit dumpfen Gerassel in den Orchesterraum, polterte nachhallend – und blieb dann unsichtbar. Entsetzte Ruhe. Die Menschen machten lange Hälse. Der Redner zuckte die Achseln. „Dieser Abschluß einer Materialisation ist, wenn auch ungewöhnlich, so doch unzweifelhaft“, sprach er und stieg von seinem Sitz herab.
VERFOLGUNG
Wessen Verbrechen verberge ich? Immer treibt es mich zu diesem Sandhaufen. Waren es denn wirklich Finger einer Hand, die ich gestern in tödlichem Erschrecken mit Erde überspülte? Ich ließ mir wohl nicht Zeit, zu erkennen, ob es Menschenglieder waren – oder Wurzelwerk, Vogelkrallen oder Leder eines Handschuhs? Träume ich denn, ich, ein Schuldloser, sei ein Verbrecher, der hinter sich – unerkennbar jetzt – hinter sich liegen hat das Verbrechen, starrer und rätselhafter als die Leiche, die es schuf? – Oder träume ich, ich, der Verbrecher, ich sei schuldlos und werde dunkel ganz belastet von Dämonen mit Schandtaten, die nie mein waren? Wer tötet mit dem Gemordeten den Mord? Verhaucht Mord in die Welt wie die Seele des Opfers und mit der Seele des Opfers? Wer ist so stark, daß er den Mord auslöschen kann mit dem Gemordeten? Nun begehst du einen Mord an dem Mord. Wäre das vielleicht schlimmer als alles? Und nur der Mörder bleibt? Ohne sich selber zur Qual zu sein? Kann denn einer – ja, kann einer, der Mörder ist, so frei ausgehen; sind ihm der Gemordete tot und der Mord? Wen springt er an –, dieser Mord, der sich dann einsam fühlt? Spring er einen Schuldlosen an? Wessen Schuld hat mich Schuldlosen angesprungen? Ist es möglich? – Aber was heißt schuldlos? Da lebten zwei Menschen. Der eine war jung, und alt war der andere. Der alte zahnlos, und aß nur Brei, – und sprach aus breiigem Gehirn ein paar Worte – die gleichen stets, die er vor fünfzig Jahren zu sagen vergessen hatte, so wenig fügten sie sich jetzt in die Zeit, – oder wiederholte er nur immer, was er vor Menschenaltern schon geäußert hatte – und die Menschenalter überholten ihn dabei? Taub war er den vielen Rufen auf der Straße, dem Geigenstrich, der Weiberstimme.
Dem Brausen der Bahnen taub, die das Herz mitten ins Leben reißen, von Glanz zu Glanz – unergründet. – Glanzlosen Augen alles ohne Glanz; tauben Ohren alles ohne Musik. Und glanzloses Geld in staubigen Kästen. Warum und zu wessen Gewinn in staubigen Fächern erblindetes Gold – und Silber, geschwärzt vom Liegen in nutzloser Haft? Aber der Junge. Ganz ein Anfang; und für ihn die Welt hinterm Vorhang; hinter bauschigen Gardinen, die prachtvoll atmen unter den Stößen von Licht und Fanfare. Manchmal schmerzhaft in den Lidspalt ungewöhnter Augen dringt aus Vorhangspalten aufblitzend jäh Licht und Fanfare. – Daneben der Alte: schlapfend ißt er Brei; betastet Härchen, Stoppeln und Haut; kennt unter den Körpern als Körper aller Körper nur den eigenen Körper; schützt mit verdorrter Hand glanzloses Auge gegen Glanz. Hinweg mit ihm! Weg mit dem schlotternden Gemächte, das überall im Wege steht und winselt, mit fahrigen Fingern nur noch sich selbst betupft und bepinselt. Hinweg – und frei den Schritt gegen staubige Kästen, gefüllt mit Geld und Gut in nutzloser Hast! – So war es – vielleicht. Ein Verbrechen? Vielleicht. – Man muß aufzuhalten suchen, was da herannaht. Spielen nicht Kinder um jenen Sandhaufen? Wie, wenn eines unter ihnen in spielerischer Hast mit seiner Schaufel und dem Sandeimerchen tiefer dringt und anhand der Finger auf eine Hand und anhand der Hand auf einen Arm und weiter auf eine Achsel stößt? Was geschieht? Dieser Platz im Hof und im Sande war schlecht gewählt von jenem, der die Tat beging. Muß man Kinder nicht bewahren vor solchen Entdeckungen, die ihnen die ganze Welt gleich mit einem Donnerschlag auf den Kopf stellen? Wie der Großvater sieht er aus, dieser Mann im Sandhaufen, – denkt das kleine Mädchen Anna, das atemlos weitergräbt.
Großvater – und was treibst du denn hier? Friert dich denn nicht? Weshalb schläfst du so fest? Schläft es sich hier denn so gut? Seit acht Tagen fragt die Mutter nach dir. Warum bist du seit einer Woche nicht heimgekommen? Magst nicht? Und bist du es auch? Freilich, das ist – ganz verwaschen von Feuchtigkeit – deine blaue Krawatte, – o, und das Hemd hat ihre Farbe schon angenommen. Willst du den Sand von den Lippen und Augen und aus den Ohren tun? Steh doch auf, Großvater! Und dann wird das kleine Mädchen – nicht der Großvater – aufstehen und den stumm mahnenden Kreis der gelähmten Spielkameraden verlassen und zu den Großen trippeln und wird angstvollglücklich erzählen: Mutter, der Großvater ist wieder da! Das – muß vermieden werden –, um der Kinder willen. Ja. Nein: das muß vermieden werden um meinetwillen. Unaufhaltsam – irgendwie ganz unerbittlich wird man anhand des toten Mannes, – sozusagen anhand der ausgeschaufelten Achsel weitergraben durch Wirrsal und Rätsel und endlich auf mich stoßen und mich halten als Endglied aller Verhängnisse, – nein: rückgrabend als Ursprung aller Untat, – und auf ihn, den Ursprung, endlich wird man häufen Ekel, Rache und Gericht. Der Ort ist schlecht gewählt. Das Grab ist schlecht erdacht. – Grab? Versteck! Versteck von Resten, zu nichts nutze; darüber dennoch die Welt ein Geschrei macht. Geschrei derer, denen man zuvorgekommen ist. Wem liegt etwas an einem alten Mann? Aber weil er vielleicht Habseligkeiten besaß, die vor dem Mörder niederfielen, die zugleich mit den erschlafften Gliedern des Opfers dem Tüchtigen in den Arm sanken und sich ihm preisgaben, – deshalb Entrüstung, Rache und Gericht. Daß ich den Sandhaufen wählte! Schwer bezahle ich für diese Dummheit. Büßt man denn unter Menschen je für etwas
anderes als für Unüberlegtheiten? – Nie für etwas anderes. Wer allen überlegen ist, steht vor allen unantastbar da. Spürende Hunde schnuppern im Hof umher, ewig hungrige. Riechen sie nicht ihren Fraß? Spüren denn nicht – anhand ihrer Hunde – diese Menschen bald schon den Fraß? Ich will den Sandhaufen erstehen, – pachten dieses Stück Erde. Darüber läßt sich eine Hütte bauen. Ich will wohnen auf diesem Grund. Wer kann mich daran hindern, immerfort mit Erde bedeckt zu halten, was in meinem Grund und Boden liegt. Aber der, der darin liegt? Wer ist denn das noch? Niemand ist es. Schmutz ist es; Belanglosigkeit ist es. – Reckt er dennoch Finger aus dem Sand? Winkt er mit ihnen? – Ich begrub ihn doch sorgfältig. Es war keinerlei Hast und Eile nötig. Als ich ihn die Treppe hinunterschaffte, ließ ich’s doch, weiß Gott, darauf ankommen. Wie eines Hampelmannes lose Beine schlugen die seinen von Stufe zu Stufe; aber niemand im Haus erwachte. – Wenn die Tat nicht gewollt ist, wenn sie nicht verhängt ist, – jetzt kann man mich fassen! – So dachte ich doch, damals vor acht Tagen, in jener Nacht. – Hier bin ich, keuchend unter dem Gewicht leblosen Fleisches, das mir aufgebürdet wurde, hier schlepp’ ich’s Treppen abwärts; steht auf aus euren Betten, kommt heraus, packt mich an, spielt Häscher und Richter! Ich gehe nicht laut, nicht leise; zur Verfügung stehe ich euch. Hört ihr denn wirklich nicht willenlose Stiefel über Holz poltern? Vor dem letzten Treppenabsatz hab’ ich haltgemacht. Ich ließ euch Zeit und horchte. Zeit ließ ich euch, den Rock anzuziehen, die Hose, den Mantel, – und horchte. Nichts regte sich. Wurde keiner wach, – oder war, wer da wach wurde, zu zitterig, um nachzusehen, was es Schlimmes wohl gäbe mitten in der Nacht und auf hallender Treppe?
Ich selbst – jawohl, ich selbst hätte so hinabgeschleppt werden können, jung wie ich bin. – Keiner von euch feigen Verbrechern hätte sich darum gekümmert. Ich hätte schwer getroffen hinsinken, – verblutend auf dunkler Treppe hätt’ ich daliegen können, – mein Stöhnen wäre neugierigen Ohren hinter der festen Tür nur das Signal gewesen, zurückzufliehen in warme Kissen, taub und gesichert. Wär’ es nicht tausendmal gräßlicher in eurem Sinne, wenn der Alte mich, den Jungen, hinabgetragen hätte? Aber euch war es, in jener Nacht, ohne Wichtigkeit. Euch war – euch ist nur wichtig eigenes Leben und eigene Wohlfahrt. Bei Tage wohl – dann allerdings, im Tageslicht greift ihr zu, weil ihr in hellen Scharen und überlegen seid, – ihr vielen Verbrecher erbärmlich überlegen dem einen, den ihr in lügnerischer Übereinkunft Verbrecher heißt. Genug, ihr kamt nicht in jener Nacht. Keiner war mutigmenschlich – oder auserwählt. Keinen sandte mir das Schicksal über den Hals, – damals in der Nacht. So kann es nicht mein Schicksal sein, an dieser Tat zugrunde zu gehen. – Vorgestern lagen die Füße frei, aber die Vorsehung hatte dafür gesorgt, daß sie noch in ihren Stiefeln staken. Dieses geflickte und gefleckte Leder besaß nimmermehr das Aussehen eines Bekleidungsstückes. Keinen Menschen überfiel der Zwang, hier nach eingescharrten Beinen zu graben. Freilich, – wer näher zugesehen hätte, dem wären zwischen zerplatzten Nähten verwelkte Zehen entgegengekommen. Aber ihr seid nicht nur feig und zusammengerottet wider den einen, – ihr seid auch blind und dumm! – In der Nacht ein paar Schaufeln Erde aus dem Gemüsebeet nebenan, – und alles war wieder in Ordnung. – Obgleich es vielleicht besser gewesen wäre, sorgfältig, sehr sorgfältig Sand und nichts als Sand recht hoch darüberzubauen, wie?
Gestern lagen die Finger frei. Waren es Finger, – oder Wurzelwerk, zerknülltes Packpapier, – vielleicht ein vertracktes Stück Holz? Ich sah die Finger gegen Abend herausgreifen aus dem Sand, als alle Kinder ihre kleinen Spielschaufeln sinken ließen und den zärtlicheitlen Rufen ihrer Affenmütter folgten, heimzukommen zur Atzung und Nestruhe. Wieder einmal gerettet –! – So dachte ich doch, so empfand ich doch dieses Heimholen der jungen Brut. Ich blieb allein im Hof und fiel in gefährliches Besinnen, und als ich’s merkte, begann ich umherzuschlendern: von Mauer zu Mauer und am Sandhaufen vorbei zum hölzernen Zaun und wieder zu Mauern, – begann recht harmlos zu schlendern, um den Bestien an den hundert Fenstern dieser aufgebäumten Mauern, um den hundert hergezielten Augen recht die Posse abendlichen Friedens vorzuspielen. Erklärlich, daß ich unter der gewohnheitsmäßigen Neugier dieser trüb spiegelnden Scheiben nicht nach den Fingern sehen konnte. Aber in der Nacht, mitten in Finsternis und Ruhe, hätte mir’s glücken müssen, sie zu ertasten, – klarzustellen, ob sie’s sind oder nicht. Und es wäre mir gelungen, hätte nicht einer jener Säufer, wie sie beduselt aus allen Schenken der Stadt zur gleichen Stunde in ihre Häuser und Betten und auf ihre Weiber fallen, seinen Weg über den Hof genommen. Um dieses Tieres willen, tausendmal roher in gewohnter Schandtat als ein Mörder, – wegen dieses Tieres, das ich herantorkeln hörte, mußt’ ich die Stelle, fraglich wie sie war, ungestüm und obenhin mit Sand überdecken und mich in Winkel verkriechen – wie der Schakal bei Aasraub vor dem Löwen – ich, der Mensch, vor diesem dumpfen Geschöpf! Ist denn der Sandhaufen zu klein? Er war es doch nicht am Tage vor der Tat. Graben die Kinder spielerisch ihn ab; verstreuen sie Sand in Mengen im Hof? Ich will zu den Eltern
der Kleinen gehen; dieser kindische Unfug muß abgestellt werden. Man muß den Geiz der Alten aufstacheln gegen zwecklose Verschwendung, und wäre es nur die von billigem Sand. – Aber man wird Augen machen, weil ich mich des Sandes annehme. Wem gehört er denn? Von wem muß ich ihn kaufen, wenn ich die Hütte darüber bauen will? Die Hütte? Ist denn der Sandhaufen nicht viel zu klein, um eine Hütte daraufzustellen? Jeder wird sagen: Schaff es doch weg, das bißchen Sand, bevor du die Werkstatt aufschlägst, – Aber er war doch groß, er war doch ein zierlicher Berg. Wo blieb mein Augenmaß? Ich habe damals doch kühl abgeschätzt und mir klargemacht, er eignet sich vortrefflich zur Beseitigung dessen, was Mitmenschen nicht beschauen können, ohne tückisch zu werden. Und nun ist er zu dürftig – viel zu dürftig, ja; winzig ist er! Denn er reicht nicht einmal als Bett für den menschlichen Körper aus; unten stoßen Zehen heraus und oben greifen Finger in die Luft. – Und flach ist er. Als Berg erschien er mir, als eine Anhöhe? Kaum eine Bodenerhebung wölbt sich dort. So flach ist er, das Gesicht muß ganz nahe der Oberfläche liegen… Vorgestern die Füße, gestern die Hände, – und heute das Auge. Rückt er denn hin und her, der Kadaver, – oder rückt der Sand hin und her? Bedecke ich die Zehen nur, um die Finger freizulegen, und kann ich Finger nur dadurch verhüllen, daß ich Augen enthülle? Ist immer irgendwo – gleich einer schäbigen Decke – der Sand zu kurz? Es muß sich ein Trichter gebildet haben über dem einen Aug; es starrte herauf wie aus einem Schlunde. Dunkel spiegelnd wie Grundwasser aus einem Brunnen. Ich glaube nicht, daß Kinder diesen Trichter gegraben haben, er war zu kunstvoll und gleichmäßig; – wenn ich denke: zu kunstvoll, so mein’ ich: zu natürlich. Irgendwie muß der Sand selbsttätig
weggerieselt sein, so nasenabwärts in irgendwelche Höhlungen, – und es entstand ein Trichter. – Ich glaube nicht, daß die Kinder dieses Auge gesehen haben. Ich hoffe, nicht… – Ihr seid Schakale, – ihr! Aaswühler, die Erledigtes wieder hervorzerren, Träger des fürchterlichsten Gebisses, das die Erde kennt, um Knochen, die sich nicht mehr wehren können, gemächlich zu zerbrechen, – um im Ansturm Zerfleischtes gefahrlos nochmals zu zerfleischen. An Zähnen des freien Raubtieres gemessen, seid ihr die Reißendsten von allen, – die mit dem Gemordeten den Mord ausgraben und an dem Morde sich sättigen, das ist: am Mörder. Gehören wir nicht zusammen, ich und der Leichnam, den ich schuf? Wir stehen gegen euch; – wahrhaftig – ich liebe mehr diesen Toten, der unnütz war, – liebe ihn mehr, nun er tot ist, als euch. Werden wir beide nicht von euch verfolgt, – Hyänen, die ihr nach uns scharrt? – Mord wird ausgegraben, das ist es! Dieses Mittelglied, das den Zerstörer und Zerstörten zusammenbindet! Uns beiden läßt man keine Ruhe, – uns beide zerrt man ins falsche Licht des Mitleides, das Furcht ist – und der Gerechtigkeit, die Rache ist. – Aber wer verfolgt mich denn? Sind nicht alle – wie man zu sagen pflegt: freundlich zu mir? Hat nicht der und jener mir Broterwerb zugedacht? In Ratschlägen freilich nur – versteht sich –, die billig genug waren. Weil alle glauben – und solange sie’s glauben –, ich sei wie sie, halten sie billige Gemeinschaft aufrecht. Wie schnell und unbarmherzig werden sie mir die Zähne zeigen, entdecken sie, daß ich anders bin. Erkennen sie den sogenannten Mörder, ist alles aus, eh es noch angefangen hätte, menschlich zu werden. Immer nur an solchen Geschehnissen erkennen sie die Kluft. Und tritt dies Augenfällige nicht zutage – wie selten tritt es zutage! –, wähnen sie immer den kümmerlichen Bestand der satten Gemeinschaft gegeben.
- Ob ich ihn ausgrabe, den Erledigten? Aber wohin mit ihm? Bin ich es meinen Mitmenschen nicht am Ende schuldig, die Überreste sorgfältig zu beseitigen? – Weil ich nicht um sie herumkomme: nicht um Überreste, nicht um Mitmenschen? Sie stehen nun einmal unter dem Zwang, nachforschen zu müssen. Meine Pflicht ist es, sie nichts finden zu lassen von dem, was sie aufstört. Ich bin es, der hier überlegen zu sein hat, – und der Überlegene hat immer recht. - Und der Alte im Sandhaufen, einstmals Adam Lorch genannt-? Hat er auch noch mitzureden? Beinahe tut er so, weil er winkt mit Fingern und Zehen – und hervorglotzt mit einem Auge. Aber er ist doch erledigt, – er war schon erledigt, bevor ich sein spärliches Leben auslöschte. Darf man einen morschen Baum fällen, der nichts tut, als im Wege stehen, – und einen zerbröckelnden Menschen nicht? Wo bleibt die Ehrfurcht vor der Schöpfung, wenn man jeden Baum fällen darf, auch den jungen grünen, – und den absterbenden Menschen nicht? Weshalb ihn nicht? Ist Mensch mehr als Baum, ist er so ungeheuer viel mehr? – Nein. Aber Mensch hat Angst vor Mensch. Mensch hat nicht Angst vor Baum; deshalb springt er mit dem Baum um, wie’s ihm beliebt. Weil einer Angst vor dem andern hat, darum schützt einer den andern. – Wie fern ist mir schon diese Tat! Denkt denn der Fäller, der die Holzfaser zum Stürzen gebracht hat, später noch an den erledigten Baum? – Fleischfaser – Holzfaser: ein und dasselbe. Ist dies der erste Mensch, den ich umgebracht habe? Um was habe ich ihn denn gebracht? – Man sollte nicht sagen: Mensch; man sollte in solchen Fällen und bei solchen Untersuchungen nie Mensch und Tier und Pflanze voneinander abgrenzen. Man sollte vielleicht sagen: Geschöpf oder Gewächs. Ja: Gewächs, das ist der treffendste Ausdruck, weil er neu ist in diesem
Zusammenhang, in diesem Zusammenspiel von – mag sein: ein wenig neuen Gedanken. Im Ernst: um was habe ich diesen Alten gebracht, als ich ihn umgebracht habe? Ganz ohne Beschönigung gesprochen: wohl um nichts. – Aber vielleicht war dieses Nichts ihm noch lieb und ein Etwas? – Nein. Er war nur sich selbst lieb; das dünkt mich weniger als nichts. Wer fragt danach, worum man ein Tier bringt, eine Blume, den Grashalm, wenn man sie in den Tod schickt? Um ihr Leben, ganz ohne Zweifel. Soll schlechthin Leben und nur um des Lebens willen geschützt werden, – weshalb dann immer nur das Menschenleben? Welch eine Verblendung oder Lüge, welch eine Überhebung! – Anordnung dessen, der überlegen ist. Ja, da ist es wieder. – der überlegen ist. – Gut: mit der Kraft eurer Überlegenheit schützet das Leben! – Aber darum ist es euch nicht zu tun; ihr schützet nur euch. Ihr seid schlecht und falsch. Auch dumm. Wer von euch würde sich denn vor mich stellen, der ich den schweren Auftrag hatte – vielleicht war es Auftrag in eurem Sinn –, ein Gewächs um sein Leben zu bringen? Habe ich nicht gelitten darunter; leide ich nicht darunter? Um was alles bin denn ich gebracht worden, weil ich umgebracht habe? Leide ich darunter? Wie kann ein Holzfäller leiden unter dem gefallenen Baum? – Ihr macht mich leiden; nicht der Tote, sondern ihr, die Lebenden! Freilich kann ein Fäller unter dem gefallenen Baum leiden: – wenn der Baum auf ihn fällt. – Liegt der Tote auf mir, bedrückt er mich, drückt er mich zu Tode? – So war es meine Ungeschicklichkeit, ihn so stürzen zu lassen, daß er auf mich fiel. Welcher Holzfäller springt nicht beiseite, wenn er mordet, – in kluger Voraussicht. Überlegenheit – immer wieder sei es gesagt: – das ist alles. Ist dieser der erste Mensch, den ich umgebracht habe? Aber
man soll doch nicht sagen: Mensch, – man soll sagen: Gewächs. War ich nicht beteiligt an jedem Mord, – schon deshalb, weil ich ihn nicht verhindert habe? Schon deshalb, weil ich ihn denken konnte. Wie nah ist mir jeder Mord; wie fern ist mir dieser eine. Ich träume ihn vielleicht nur, – ich, der Schuldlose, in dem sich „Mord“ festgesetzt hat. Ein anderer hat ihn begangen. Ich hab ihn begangen. Dennoch ein anderer. Bin ich heute der, der ich gestern war? Nein, ich darf nicht sagen: ich, der Schuldlose; wer spricht von Schuld? – Es muß heißen: ich, der Unbeteiligte. – Aber auch das geht nicht an; bin ich doch beteiligt an jedem Mord. Reue –? Was ist denn das? Wie? – „Verstockt ist der Sünder, der nicht bereut.“ Reue, verstockt und Sünder: jedes dieser Worte blinzelt verstellt und entstellt. Reue ist Schwäche; ihr liebt diese Schwäche, weil ihr dann stark seid. Verstocktheit ist Stärke; ihr haßt die Stärke, weil sie euch schwächt. Und der Sünder –? – Ach, ich werde nicht fertig mit euch, – um so weniger, je mehr ich mich bemühe. Verstocktheit, Reue, Sünde – seht, wie eines das andere stützt in diesem Lügenbau, den sie bilden. Reißt man das eine heraus und die kümmerlichen Fetzen ihm vom Leib, – gleich stürzen auch die anderen und liegen nackt. – Die Seele. Hab ich nicht vorhin etwas erwogen von der Seele des Opfers? Und bei dieser Seele dachte ich ,Mensch’, – dachte noch nicht, Gewächs! Aber wer will mir beweisen, daß nicht auch Baum eine Seele verhaucht, wenn er fällt. Sind Wälder unbeseelt – und Städte beseelt? Ach, meine Verehrten, ist man nicht versucht, zu glauben, es sei umgekehrt? Überhaupt: ich kann nur den Leib töten, nicht wahr? Schlimm würde es erst, könnt’ ich mit Gift und Strick und Messer auch der sogenannten Seele an den Kragen. Demnach: ob Mensch, ob Baum ist einerlei.
– Ich will nicht mehr denken und vor mich hinmurmeln. Ich will handeln. Ich bin auf mich gestellt. Was ist zu tun? Der Sandhaufen ist zu klein, die Decken sind zu kurz. Das Grab ist kein Grab; die ganze Gestalt des Toten zeichnet sich unter dem Sand ab. Solche Überreste dürfen nicht Erhöhungen bilden, nicht Rufzeichen sein, – Denkmal nicht. Es verschwinde spurlos, was zu verschwinden hat. Dem Erdboden gleich sei die Stelle, unter der Abgelebtes liegt, – und das Leben marschiere darüber hinweg. Er muß fort. Daß ich Erde statt Sand auf seine vorwitzigen Füße geschüttet habe, war sehr ungeschickt. Schon lamentiert die Frau, der das Gemüsebeet gehört, um die drei Schaufeln Erde. Mich wundert, daß sie nicht heute schon ihr Eigentum zurückverlangt hat. Sie wird es morgen tun und wird dabei mit den Händen, die die Erde wegschöpfen, an die Zehen stoßen. „Was liegt denn hier?“ wird sie aufschreien. Er muß fort. Daß ich Erde statt Sand nahm –, aber dazu war ich gezwungen! Von welcher Stelle des Haufens hätt’ ich Sand wegnehmen können, ohne Gefahr zu laufen, dadurch andere Körperteile nah bis zum Durchbruch an die schützende Hülle zu rücken oder gar gleich zu entblößen? – Viel zu klein ist die Sandmenge. Fort muß er. Ich war vorhin verwirrt, aber jetzt bin ich klar und beruhigt. Ich bin auch nur ein Mensch. Und wie jeder Mensch, dem das Gebot eingeimpft ist: du sollst nicht töten – versteht sich: lächerlicher- und lügnerischerweise: du sollst nicht Menschen töten –, war ich bedroht von dem zermalmenden Sturz der Tat über mich. Wen sollte denn das nicht beunruhigen, daß der Sandhaufen täglich kleiner wird und der Tote darin täglich größer? Daß er sich rührt und sich nicht bedeckt halten läßt – wie ein Fieberkranker, der um sich schlägt und herauswill aus seinem Lager? So scheint es wohl.
Aber es scheint nur so für den, der dem Aberglauben anheimfällt. Wie sagen alle, die so eifrig den Mord verfolgen? ,Der Tote redet, der Tote rächt sich.’ Ihr alle seid abergläubisch, weil ihr feig und schwach seid. Und mit euch ist es unter den Tätern der, der das Spiel verliert gegen euch: der Sünder, der verstockt war, das ist: einstmals stark war, – und der nun bereut, das heißt: in Aberglauben und Schwäche fällt. Klar ist jede Fernsicht. Ich bin bedroht, gewiß. Aber der zermalmende Sturz über mich wird nicht kommen. Er muß fort. Wo ist die Grube, darin ich ihn unterbringe? Soll ich hier im Hof Steine aufreißen und ein Loch in den Boden hacken! Unter den Fensteraugen der aufgebäumten Häuser. – Man würde mich in Gewahrsam bringen, ehe man mir noch „Mörder“ zugeifern könnte. – Wenn ich ihn verbrenne –? Nicht im Ofen des Bäckers, nicht in der Waschküche, nein, auf einem Holzstoß! Das ist die würdigste Beseitigung fleischlicher Überreste – und wäre zugleich ein Freudenfeuer. Weil ich euch los und ledig bin, meine Lieben, – los von euren Spürnasen, ledig eurer Mordgelüste. – Der kleine Trichter besteht immer noch. Ich will mit einem Zündholz hinunterleuchten: – – Er trägt unentwegt seine Brille; merkwürdig, daß ihre Scheibe nicht sandverschmiert ist, sondern sauber abgerieben heraufschimmert. Unter dem Augenglas ein Glasauge; das bringt mich nicht aus der Fassung. Wohl aber bedenklich ist, daß die Kinder die kleine Scheibe so blank geputzt haben. – Auf einem Holzstoß mitten im Wald. Auf einer Lichtung. Wäre das ein Freudenfeuer! Die Scheite prasseln wie Salven, die alle mir zugedacht gewesen sind. – Die Asche des Verbrannten will ich einsammeln, – aber nicht beisetzen, wie ihr zu tun beliebt, nur um am toten Stoff noch die eigene Wichtigkeit zu betonen über jedes Erdenende hinaus. Ihr mögt
euch, auf daß sie scharf bleiben, die Zähne mit der Asche putzen; sei mir das ein Beweis eurer Ahnungslosigkeit und ein Unterpfand meines gesicherten Daseins. Am liebsten würde ich ihn ganz nah bei mir haben und behalten, – die Hütte bauen über ihm. Ich möchte die Auflösung eratmen können noch der letzten Faser in unsichtbarem Stoff. Ihn verbrennen. Das geht nicht im Wald und nicht auf einem Holzstoß, – aber vielleicht mitten in einem Haus. Mitten in einem dieser Häuser um mich her. Ihn darin verbrennen, und euch, die Verfolger, mit ihm! Welch ein Freudenfeuer, welch ein Freudenfeuer – – – Still! Die Kinder wissen längst alles. Die kleine Anna, die mit geschickten Händen den Trichter geformt und dann, als ihre Nägel an das Gläserne stießen, hinuntergesehen hat, – schlich betreten hinauf zur Mutter. Und wenn sie nicht heut abend schon der Mutter gestammelt hat, was der Sand ihr zeigte, dann wird sie nach einer beunruhigten Nacht morgen früh weinerlich erzählen, was sie da gestern ausgraben mußte. Von den Hunden wichen zwei schon heut nicht von der Stelle; begannen zu scharren dort, wo der Kopf gebettet ist. Nur die Kinder, die spielen wollten, verjagten sie. Sie werden morgen unbeirrbar dem Geruch nachgehen, der sie in die Tiefe lockt. Still. Zu spät. Morgen früh kommt die Frau mit Eimer und Schaufel, ihre Erde zu holen, – und legt Füße frei. – Noch einmal die Probe! Wenn nichts geschieht von dem, wo rauf ich warte – was auf mich wartet-, dann bin ich – jenseits der Tat. Darauf muß ich es ankommen lassen. Ich muß! Warum? – Rühre dich! So fliehe doch! – Ach, warum? Wer ist es, der mich hier festhält? – Noch einmal die Probe. Gut. Ich will hier sitzen, zu Füßen der Überreste. Hier will ich
warten – auf die Frühe. Sechs Stunden oder sieben. Die achte oder die neunte werden entscheiden. – – In silbrigen Tränen tropft alles Gestirn vom nachtblauen Himmel herab in den Hof, in die Qual – nachtschwarz – vergeblich – ohne sie zu hellen. Der Himmel hat sich umsonst geopfert – er ist nicht mehr – ohne Gestirn auch kein Gewölbe – nichts mehr… – Kommt nicht der Morgen bald?
VERWANDLUNG
Kaum war der Vorhang in den Himmel gefahren und jedes Zuschauerauge in den Bühnenraum gestürzt, da begann auch schon der Zauberer mit schamlosem Wort und frecher Bewegung Versicherungen seiner wahren Kunst abzugeben. Er log, seine Geräte hätten keinen doppelten Boden, keine heimlichen Gelenkbänder, keine zwiefachen Wandungen. Er verzichtete auf die Mitarbeit seines Frackes, warf auch die Manschetten von den Unterarmen zurück und schritt einem Tischchen zu, das mit schäbigem rotem Plüsch bemäntelt war. Von ihm hob er eine metallische Röhre den Zuschauern entgegen, ließ Blicke hindurchfallen, stellte sie zurück. Er sagte seinen ärmlichen Spruch, ruderte mit schwarzem Stabe durch die Luft, worauf zwei Tauben aus der Röhre flatterten und nach dem Schnürboden verschwanden. Der Zauberer sah diesen von ihm geschaffenen Tieren gesättigt nach, nannte sie Friedenstauben, womit er dürftigen Beifall auslöste, und machte sich daran, den weiteren üblichen Unfug zu begehen. Schon war ein Gast in vorderster Reihe deutlich gelangweilt. Setzte sich schräg zur Bühne, fuhr in die Brusttasche, zog einen Brief hervor und entfaltete ihn. Las hingegeben. Der Zauberer sah es – und stockte. Er stellte den Apparat, in dem er aus nichts Kaffee für die Damen zu erzeugen versprochen hatte, zurück und kam an die Rampe. Begann etwas Neues, hielt in beiden Händen wirbelnde Spielkarten, bog sie gegen den Handrücken, indes er die leere Innenfläche wies, machte sie wieder vorschnellen, griff sie in der Luft, zerrte sie aus den Kniekehlen, löste sie von der Schuhsohle. Jeder Effekt hingeschleudert dem dort unten, der mißachtend Briefe las. Alles nur für ihn, für den einen, der ihm entglitten war, den er zurückzugewinnen trachtete. Der, dem es galt, ließ sich nicht beirren. Ganz groß deckte der Brief ihn zu; er las und las.
Der Zauberer hielt inne, erschöpft und verwüstet. Er rang um die Aufmerksamkeit seines Gegners mit Worten. Er verdächtigte seine Gesinnung, sprach ihm den Anstand ab, empfahl ihm weinerlich erregt, zu gehen. Der Gast hörte ihn gar nicht, er hörte nur den Brief, entnahm seiner Brusttasche Fortsetzungen, las weiter. Der Zauberer sprang mit einem Ruck zurück. Er trat in die Kulisse und ließ das Licht abdrehen. Das große Haus lag ganz im Dunkel. Alles überstürmend beschloß er die letzte Nummer. Versprach dem Publikum geheimsten Tanz der Flammen auf schwarzer Bühne. Flüchtig sah der Briefleser in die Dunkelheit, brachte dann ein elektrisches Lämpchen zum Erglühen und las weiter. Als leuchtende Scheibe lag bestrahltes Papier mitten im Finstern. Schon glaubten die im Umkreis an die Zusammengehörigkeit des Lesenden und des Zauberers, erhofften von beiden gemeinsame Taten und warteten. Der Zauberer erkannte knirschend sein vergebliches Bemühen. Er überblickte auf dämmeriger Bühne seine magischen Ringe und unzerreißbaren Stricke, seine Kugeln, Schachteln und Kästchen; er nahm sie in kraftlose Hände und ließ sie stöhnend wieder entgleiten. Er verkrampfte die Finger zu eisenharten Fäusten. „Ich will“, sagte er zu sich. „Bin ich ein Zauberer oder bin ich keiner? Ich lasse tagtäglich Kaninchen in der leeren Höhlung eines Hutes entstehen, ich mache Kanarienvögel mitsamt dem ganzen Bauer hinter einem Schnupftuch verschwinden; ich sperre Menschen in Körbe und löse sie in nichts auf – und es soll mir nicht gegeben sein, einen armseligen Brief wegzuzaubern?“ Schweiß stand auf seiner Stirne, Schaum vor seinem Mund. Er begann zu beten. „Gib mir nur dies eine Mal die Kraft“, stöhnte er. „Kaninchen tagtäglich und Kanarienvögel – ohne
sonderliche Mühe –, und nun unüberwindlich dieser Brief! Sieh mich leiden. Ich bin geschändet für immer. Ich werde nun sagen: Lämpchen, erlisch! Und: verschwinde, Brief! Wahrhaftig, und du wirst mir helfen, Gott! Du mußt mir helfen, Gott!“ Und der Zauberer blies felsenfesten Glaubens durch die Zähne: „Lämpchen, erlisch, und verschwinde, Brief!“ Da hantierte der Gast unten in der ersten Stuhlreihe an seiner kleinen Taschenlampe, aber sie wollte nicht mehr brennen. Er stand auf und schrie zum Zauberer empor: „Diese Scherze gehen zu weit! Bitte, geben Sie mir sofort meinen Brief wieder!“ Das Publikum lachte und unterhielt sich gut. Es ward wieder hell im Saal. Der Zauberer zog seinen Frack an und wehte über die Köpfe der Musiker auf ein Treppchen und in die Zuschauer. Ein Lächeln milden Triumphes überblühte sein Gesicht, er mischte sich gnädig unter die Dürftigen, die nicht zaubern konnten. „Meinen Brief, bitte“, verlangte der Mann in der ersten Reihe. „Ich habe ihn nicht“, lächelte der Zauberer geschmeichelt und reinsten Gewissens. „Keine Umschweife –!“ brauste der Gast auf. Der Zauberer zuckte die magischen Schultern. „Vielleicht sehen der Herr in den eigenen Taschen nach“, meinte er lässig. Aha, sagte das Publikum verständnisinnig. Der Gast begann seinen Rock zu entleeren, drehte ihn um und um, schichtete Papier und Banknoten durcheinander –, das Gesuchte fand sich nicht. „Ich verbitte mir diese Irreführungen; ich verlange die Direktion zu sprechen“, schrie er. Längst war der Direktor, weil er wußte, daß diese Nummer nicht ins Programm gehörte, sprungbereit.
„Herr Bonbonell“, sagte er behutsam zu dem Zauberer, „zu weit dürfen diese Scherze nicht gehen. Haben Sie den Brief?“ „Nein“, entgegnete Bonbonell. „Natürlich hat er ihn!“ rief der Gast. „Wer soll ihn sonst haben?“ „Ich war auf der Bühne“, wies ihn der Zauberer zurück. „Der ganze Saal hat das gesehen. Wie mag es mir möglich sein, einen Brief aus dem Zuschauerraum zu entwenden?“ „Mit einem Saugapparat – oder was weiß ich, womit! Geben Sie mir keine Rätsel auf!“ schrie der Gast verzweifelt. „Ich verspürte einen Ruck. Man hat vielleicht von dort oben einen dünnen Faden mit einem Haken heruntergelassen, eine unsichtbare Angel, und die Bogen weggetaschenspielert. Was weiß ich! Mein Brief, mein Brief!“ Der Direktor rieb sich verlegen die Hände. „Ich schlage vor“, sagte er in Besorgnis um den Ruf seines Unternehmens, „die beiden Herren versöhnen sich wieder, Herr Bonbonell fährt auf der Bühne in seinen Vorführungen fort und“ – er lächelte zuversichtlich – „zaubert den Brief zurück in die Hand seines Besitzers.“ Der, dem der Brief fehlte, verlor aus seinen Augen den Zorn und spähte gläubig zu dem Zauberer empor. Der sah sich erschüttert von so viel Zutrauen in seine Fähigkeiten. Er sah, was sich begeben hatte, – und daß er weiterschreiten mußte. – Man vertraut auf meine Kunst, sagte er sich. Man beachtet mich, man achtet mich wieder – auch der Briefleser. Es ist also nur vonnöten, daß ich selbst vertraue auf mir verliehene Kraft. – Gott, hilf mir! Er machte leichthin eine Verbeugung, die den Zuschauern sagte: Also gut, ihr werdet Weiteres erleben. Es ist euer Wille. Auch euer Wille geschehe.
„Herr, dein Wille geschehe“, murmelte er, als er das Treppchen zurückwehte über die Köpfe der Musiker auf die Bühne. Er winkte dem Kapellmeister zu. Die Kapelle begann. Er ließ den Saal wieder verdunkeln, die Bühne ganz verfinstern. Er schritt auf und ab. Ungeheuer kroch Erwartung des ganzen Raumes ihn an. „Brief“, befahl er, „zurück in jene Hand dort unten!“ – Die Musik umschlang diese Worte, verschlang sie, unverständlich blieben sie für die Ohren des Saales. „Brief, zurück!“ wiederholte er. „Brieftaube, hilf“, bat er und schaute zur Höhe, dorthin, wo seine beiden Täubchen verschwunden waren. Nichts geschah. Er wagte Blicke in den Raum. Kein weißes Papier in der Hand des Beraubten. Der aber erhob sich, – aus ihm erhob sich Ungeduld. Der Zauberer sah über ihn hinweg, schritt wieder auf und ab mit erkrampfter Bestimmtheit. „Herr, hilf mir!“ schrie es aus ihm. „Was willst du von mir! Wozu dies alles? Wo ist der Brief? Soll er nicht zurück in die Hand des Beraubten? Entscheide dich. Gibt es hier kein Zurück? – Siehst du nicht, Gott, wie sehr du mich entblößtest? Und zu welchem Ende? Wer wird mir glauben, wenn ich sage, du habest den Brief verschluckt? Du brichst Brücken ab hinter mir, Du verbrennst mir die Schiffe, aber ich muß weiter. Kann ich denn fliegen? Wo sind die Flügel, die du mir müßtest wachsen lassen. Sind sie schon da, mir unbewußt? Kann ich fliegen? Kann ich zaubern? – Gut also: ich kann’s.“ Er fühlte seine Kraft wachsen, aber sie war noch nicht reif. Den Mann ohne Brief sah er entschlossen auf das Treppchen zur Bühne zustelzen. Er gab der Musik ein Zeichen, abzubrechen. Er stand gespannt, wie es weitergehen werde.
Der Mann trat vor ihn. „Wollen Sie endlich Ihre Unverschämtheit beenden!“ befahl er sprühend erbost. „Her mit dem Brief!“ „Gott hat mir geholfen“, sagte der Zauberer leise. „Gott hat den Brief versteckt.“ „Was zerren Sie Gott in Ihren schamlosen Handel“, schrie der Mann ohne Brief. „Weshalb lästern Sie Gott?“ – Er zeterte in den Saal hinunter: „Er beleidigt die Kirche, er beleidigt euch alle!“ „Sie sind es, der mich beleidigt hat“, sagte der Zauberer ernst, „ – wie sehr nur ein Mensch einen Menschen beleidigen kann: Sie haben nicht an mich geglaubt.“ Der Gast schlug eine Lache auf: „Glauben soll ich an Ihren Betrug, wie? Zusehen, wie zwei Tauben aus einer Schwindelröhre herauskommen, was? Mein Brief ist mir wichtiger.“ „Ist ein Papier wichtiger“, sagte der Zauberer langsam, „als zwei weiße Tauben, die aufflattern?“ „Mein Brief war mir sehr wichtig“, schrie der Mann, „wichtiger als alles!“ Der Zauberer starrte geradeaus. „Ich will es sagen“, entschloß er sich mühsam, „ich will verraten, wo der Brief ist. – Obzwar dies doch kein Verrat ist, wie?“ fügte er leiser hinzu. – „Der Brief ist ein Geviert, das Geviert ist in einem Gefäß, das Gefäß ist in einem Gewölb“, verkündete er. Der Saal brüllte vor Freude über die Narretei und den Genarrten. „Zum letzten Male frage ich“, drohte feierlich der Gast. „Wo ist er?“ „Sehen Sie, daß Sie nicht glauben. Keiner von euch glaubt“, sagte der Taschenspieler. – „Wenn Sie glauben, ist er dort, wo ich sage.“ „In welchem Gewölb?“ fragte der Gast zornig.
„Wölbt sich der Himmel nicht über ihm?“ fragte der Taschenspieler dagegen. „Genug – “, sagte der Beleidigte starr, „ich werde zu meinem Brief kommen.“ Und er ging zu seinem Sitz. „Sie werden zu Ihrem Brief kommen“, bekräftigte der Zauberer. „Am Ende kommt, was sich vor Zeiten geschieden hat, wieder zueinander: Wasser zu Feuer, Erde zu Himmel, – und Brief zu Mensch.“ Dem Saal wurde die Zeit lang. „Keine Predigt!“ schrie einer. – Bieruntersätze schwirrten auf die Bühne. Stiefel kratzten mißvergnügt über den Boden. Der Taschenspieler hob beide Handflächen weiß gegen den Saal, – und es ward stiller. Die Menge lauerte wieder. Er warf einen weiten dunklen Mantel über, – als umhüllte er sich mit Nacht, – die aus den Sternen kam, – da silberiges Gleiten irgend ins Gewand eingewebt war. „Herr, hilf mir“, betete er. „Dem dort ohne Brief ist nicht mehr zu helfen. Diesen allen ist nicht zu helfen.“ Er verbannte abermals das Licht. Ganz in Finsternis stand er an der Rampe, – ein mattes Gewoge zu seinen Füßen, eine dunkel bewegte Flut – – Glas und Geschirr der Tische und Geschmeide der Frauen träg und lose schimmernd. Feucht ein Gewisper. „ – Teich – “, sagte der Zauberer darüber hin, „ – Teich – Silberfischlein.“ Er reckte die Hand. „Herr, gib die Kraft“, verlangte er. Zur Höhe hob er den Blick. „Gemäuer, – du Dach“, sprach er, „seid Schäfte und Kronen“; – er senkte den Blick – „Bretter und Balken: seid Erde und Kies!“ Geräuschlos vollzog sich die Wandlung – die Schöpfung. Kaum daß noch Köpfe einzelner über dem Teichspiegel lagen, – da tauchten sie auch schon mit Fischmäulern zum Grunde.
Ein flehend ratsuchender Blick zur Bühne wurde rund und lidlos, eine schüchtern sich sträubende Armbewegung schon zur Flosse, die voll geschmeidiger Glut sich freudig durchs Wasser schwang. Die Mauern teilten sich und rollten. – Alles hielt der Zauberer groß in Schach und Gewalt. – Wie sich’s verschob und glitt und wuchs und heimlich gärte! Es barst das Dach mit den gemalten Sternen, und jedes Element der schiebenden Wände nahm sein Stück des zerteilten Daches – und baute sich und ihn aus zu Baumstamm und rhythmischem Gezweig. Schon hing der Nachthimmel seinen ewigen Kronleuchter in den neuen Saal, auf den kleinen Teich, auf Busch und Gras und Erde. Eckiges rundete sich. Aufhuschend lief lebendige Farbe durchs graue Gemäuer. Zerriebener Stein wurde kernig und Faser voll Saft. – Wie Blut ins tote Gerank aus Gips schoß, daß zitternd ein Ast schwankte! Wie Teich atmete, dem Mond entgegengewölbt! Schon kam der Nachtwind und rührte sie zärtlich an, die neuen Geschwister. Knabenhaft drängende Stöße den Baumkronen, so daß Blätter silberig schlugen! Eine huschende Hand über Wasser und Gras, – Geriesel von Wasser und Gras. Der Zauberer stand auf niedrigem Felsgezack, zu seinen Füßen klingende Quelle, – Musik der stürzenden Welle dort, wo ein Flötist und Geiger auf Menschenweise Tabak- und Bierlust zum Erklingen gebracht hatten. Er war sehr müd’ geworden. Als er den weißen Bart zu nicht gemalten Sternen hob, fielen sie tief in schwarze Höhlungen seines Gesichtes. Er trat ab von der Bühne mit kleinen uralten Schritten. Er sagte noch dies, am Strauchgemäuer hin und durch Baumsäulen des Gartens, nieder zu den Fischen im Wasser, – sprach es zurück, indes er den Garten durch ein eisernes Gitter
verließ und auf die Straße trat: „Wohl! Baum schwimmt als Wasser im Meere, und Meer rauscht grün in den Wäldern.“ – – Mitten in der Stadt lag dieser Park, umgrenzt von Straßen, die ehedem jenes Theater umschlossen hatten, in dem der Taschenspieler aufgetreten war. Niemand in der Stadt – im Lande niemand erschrak über die Wandlung; denn aller Sinn und Erinnern hatte sich mitverwandelt. Wer konnte Vater und Mutter, Geschwister und Freunde vermissen, die unter den Fischen schwammen, da jeder Faden gelöst und neu verknüpft war, – doch aber so und niemals anders über die Welt gespannt erschien. Was Urkunden, Bücher und Pläne! Ein Garten grünte dort – auch in den Plänen – und ein Wasser blaute. – Hatten Gärtner die Bäume gepflanzt, Erdarbeiter den Teich ausgehoben? – Scheintaten nur, hinter denen sich abgespielt hatte, was wirklich geschehen war. Der Zauberer verließ die Stadt in Morgendunst. Er zog weit umher, er zog einen Kreis. Sein langes Gewand schleiften die Straßen ab; es wurde zum üblichen Kleide. Die Sterne darin bleichte die Sonne aus; ein graugrün verfärbter Mantel – Erdenmantel des ärmlich Schweifenden, vom Lichte zermürbt und zerfressen, vom Regen durchweicht und zermürbt. Er kam in Dörfer, Marktflecken und kleine Städte. Er ließ zwei Tauben aus metallener Röhre aufflattern; – hinter dem Handrücken ungelenk verbarg er Karten, die er kühn lächelnd wieder zwischen die Finger treten ließ. Auf rotem Plüsch lagen Kästchen und Schachteln – nichts mit doppeltem Boden, nichts mit zwiefacher Wand –, man möge getrost nachsehen. Manchmal – inmitten der Aufführungen – hielt er inne, tat eine Bewegung, als umwerfe er sich mit einem Mantel, kehrte die Handflächen weiß gegen die Zuschauer und sagte etwas: – Teich – Silberfischlein. Und wartete.
Aber nichts geschah. Die Leute schüttelten die Köpfe, und manche gaben doppeltes Geld. Er wanderte lang, – und der Kreis vollendete sich. In Abendröte stand er vor dem Park. Er trat ein durch das Gitter. „Kommt meine Nummer schon?“ fragte er sich, zog eine Uhr, nickte und betrat niederes Felsgezack, für ihn einstmals die Bühne. Aber es war verboten, dort zu stehen; Alpenveilchen waren dort gepflanzt. Der Wächter des Gartens holte ihn herunter. Willig ließ er sich zurechtweisen, stand – und hastete davon. „Freilich, wohl, der Brief!“ sagte er, „den hätt’ ich fast vergessen.“ Und er lief durch die Straßen heimwärts und kramte in seinem Gepäck und zog einen schmutzigen Papierbogen mit verdorrter Schrift – irgendeinen – zwischen bunten Schnupftüchern hervor und saß, den Stuhl ans letzte Fensterlicht gerückt, und machte Miene nun, ihn zu entziffern, – doch sprach er schließlich nur: „Er ist ja nicht an mich“, – und ging den dunklen Weg zurück. Als er im nächtlichen Park auf ein Pärchen stieß, das erschreckt emporflog, da griff er behutsam nach ihren Händen und klärte sie auf: „Mir dankt ihr dies; dies alles ist von mir!“ – mit großer Geste und in Schöpferlaune freudig hell. Und zu dem jungen Manne heimlich: „Nun helfen Sie den Herrn mir suchen, dem dieser Brief gehört. Er sitzt ganz vorn und in der ersten Reihe.“ Der Junge raunte, während er dem alten Mann gehorchte und an den Rand des Wassers trat, dem Mädchen zu, sie möge Hilfe holen – handfeste Männer – ein Gefährt. Dann sank ein Brief aus welker Hand zum Teich, und ein weißer Bart in tiefem Sinnen auf eine Brust. Daneben stand der junge Mann, aufatmend, weil er sah, daß alles sich bequemer machte, als er zu hoffen gewagt hatte.
Das Mädchen kam zurück, kam in Begleitung. Der Alte wandte sich um nach den Tritten über den Kies. Jemand von den Kömmlingen sagte gleich sehr höflich zu ihm: „Das alles ist von Ihnen, ganz gewiß, die Bäume, nicht wahr, und der See –“ „Die Sterne, Herr!“ warf ihm der Alte ein. „Die Sterne freilich auch!“ fuhr jener eilig fort – und höflich scherzend dann: „Drum unterbreiten wir den Wunsch, uns Ehre anzutun, und jenen Wagen dort, der vor dem Parke hält, nun zu besteigen.“ Da neigte sich der Alte dankend, schritt der Bedeckung feierlich voraus, und trat sie heiter an, die letzte Fahrt.
VERGELTUNG
Guten Abend, Kollege Pinswang. Es ist sehr – sehr menschenfreundlich von Ihnen, meinem Rufe zu folgen. Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, und ich weiß auch, daß dem Arzt kein Krankenbesuch widerwärtiger ist als der bei einem anderen Arzt. Das kommt daher, weil beide wissen, daß sie nichts wissen, und weil die Komödie versagt. Doch – es ist so, Verehrter, wehren Sie nicht ab! – Sehen Sie: da haben wir schon die Handbewegung, die weit ausholende, die dem Opfer Vertrauen zum Betrug einflößen soll. Freilich halten Sie die beruhigende Geste für notwendig, denn Sie bemerken, daß ich fiebere. Eine kleine Sepsis, verursacht durch Verletzung des linken Handballens. Ja, der Arm ist geschwollen, die Achseldrüse schmerzt, – die üblichen Erscheinungen der Blutvergiftung. Geduld, ich werde später den Verband abnehmen. Erst lassen Sie mich von dem Theaterabend erzählen, der mir vor vier Tagen die Wunde beibrachte. Ich habe getan, was ärztliche Kunst vermag, wie man so köstlich sagt. Sie werden auch nichts Gescheiteres wissen; deshalb lassen Sie mich – beichten. Ja – das ist es: vielleicht habe ich Sie rufen lassen, nicht um einen Arzt, sondern um einen Beichtiger zu haben. Wäre ja möglich, daß der Arzt vergeblich bemüht wird. Ja, jetzt muß es heraus, – alles muß heraus, sonst erstickt es mich! Am 28. vorigen Monats besuchte ich die Uraufführung dieses neuen Stückes, betitelt „Der Kondor“, das ausgepfiffen wurde. Welcher Satan trieb mich in diesen Schmarren? – Abergläubische werden sagen, es war mir bestimmt, an diesen zwei Stunden eines läppischen Schauerdramas nicht vorbeizukommen. Ich gehe selten ins Theater, ich gehe nie zu diesen modernen Stücken. Ich bin zu alt, um Fühlung gewinnen zu können mit den zweifelhaften Bestrebungen einer
anmaßenden Jugend. In diesem „Kondor“ wird eine Greisin von ihrem Enkel gewaltsam beseitigt. Hätte ich geahnt – aber wie kam ich denn überhaupt zu der Eintrittskarte? Meine Frau kauft sie widerwillig ,aus gesellschaftlichen Rücksichten’ einer Freundin ab, die verreisen muß. Am Morgen des Theaterabends zeigen sich bei meiner Frau die ersten Spuren einer Halsentzündung; weil ich mich weigere, diesen Kondor auffliegen zu sehen, schenkt sie die Karte ihrem Vetter, der hochentzückt ist. Aber eine Stunde vor Beginn der Vorstellung erscheint er, legt die Karte auf den Tisch und erklärt, sie nicht benutzen zu können. Weiß der Henker, weshalb nicht. Er hat uns keinen Grund angegeben. Mir scheint, er sah so aus, als habe er gar keinen gehabt, keinen vernünftigen und stichhaltigen. Einen ihm selbst geheimen, möchte mancher sagen, denn mir fällt jetzt ein, er blickte mich flehend an und stieß plötzlich hervor: „Geh du!“ „Freilich, geh du!“ krächzte Gertrud aus dem feuchten Halswickel heraus, und ich – ja, das war sehr seltsam: ich sagte belästigt und übellaunig: „Nein, ich mag nicht“, – und knöpfte bereits die Weste auf, mich schleunigst für den Theaterbesuch umzukleiden. Das war dann im dritten Akt, – dieser verderbliche Zwischenfall. Doch wäre das Stück auch ohne ihn in Lächerlichkeit versunken. Übrigens wollte ich nach dem zweite Akte gehen; ich hatte übergenug. Aber ich konnte meine Garderobennummer nicht finden. – Du wirst noch bleiben, sagte ich mir, und während des letzten Aktes dir damit die Zeit vertreiben, in aller Ruhe deine sämtlichen Taschen zu durchsuchen nach der Nummer, die sich in irgendeine Ecke verkrochen haben muß. Da – während ich die Vorgänge auf der Bühne gar nicht beachte und mit den Fingerspitzen überall an mir herumtaste – höre ich vereinzeltes Lachen im Hause, halb unterdrückt und von einer Klangfarbe, die ganz und gar
nicht in den Rahmen des öffentlichen Gelächters paßt, – und ich schaue auf und sehe die Katze. Ich weiß nicht, weshalb Katzen so oft Theateraufführungen stören. Vielleicht, weil dies Gesindel sich gern in den weiten, gewinkelten Räumen hinter der Bühne umhertreibt, die zudem halb dunkel und vollgestopft mit Requisiten sind. Am Abend und zur ungünstigsten Zeit trödeln sie dann eigenwillig und frech mitten in die Vorstellung hinein. Bei meinen spärlichen Theaterbesuchen ist mir der Genuß des Abends wiederholt, – jawohl: wiederholt vergällt worden durch das unsinnige Erscheinen einer Katze. Sie halten mich für umständlich, Kollege. Haben Sie’s eilig? Ein Stündchen müssen Sie mir zubilligen. In dieser Zeit wird sich mein Zustand nicht entscheidend verschlimmern. Ich muß den Bericht ganz anders anpacken. Ich muß weiter ausholen, sonst bleibt alles unklar, – Ihnen und mir! – Geduld. – Erstaunen Sie nicht, –jetzt muß ich vom Tode der alten Konstanze Kaltwasser sprechen, von diesem Ende, darüber in der Stadt viel gemunkelt und gelogen worden ist. Gewiß, das ist bei der plumpen Neugier und Lüsternheit der Menschen begreiflich, denn dies Leben und sein Verlöschen waren außergewöhnlich genug. Ihnen und aller wispernden Welt ist bekannt, daß sie eine Verwandte von uns war, so eine Art Erbtante meiner Frau. – Nein, nein, Kollege, beneiden Sie mich nicht, es ist uns nichts zugefallen, kein Heller, kein Stück ihrer krallenzerkratzten Möbel, keiner der vielen einst sehr wertvollen Teppiche, jetzt halb verfault und kotdurchsetzt. Was an armseligen Resten eines Riesenvermögens sie überdauert hat, fällt letztwillig einem Männerkloster in Belgien zu. Ich vermute Zusammenhänge mit irgendeiner kindischen Liebschaft aus Jugendtagen; sie war nie verheiratet. Daß dies verblödete Altjungfernhirn überhaupt ein Testament ausgeheckt hatte, ahnte niemand.
Vor vier Wochen – eines Abends – läutet das Telephon, und ich traute meinen Ohren nicht, als ein zahnloser Mund in geschnörkelten und halb zertrümmerten Sätzen erklärt, Fräulein Kaltwasser sei unpäßlich und wünsche sofort ärztlichen Beistand. – Sie war es selbst, die mit einer des Sprechens gänzlich entwöhnten Zunge und in zittrig zusammengeklaubten Worten, die kein Satzbild mehr ergaben, um meinen Besuch bat. „Wo fehlt es denn?“ fragte ich. Es erfolgte ein unverständliches Lallen von zerkauten Silben und dann nichts mehr. „Tante Konstanze ist krank?“ rief meine Frau. „Siehst du, endlich hat sie Menschen und menschliche Hilfe nötig“, setzte sie triumphierend hinzu. „Ich bin geneigt“, entgegnete ich ihr, „nicht hinzugehen zu dieser hochmütigen Schraube, die uns seit Jahren fernhält von sich. Jetzt braucht sie mich. – Ich will einen Kollegen veranlassen, nach ihr zu sehen.“ Da sagte meine Frau geradeheraus: „Vielleicht stirbt sie.“ Ja, Kollege, ich muß gestehen, daß wir über den Tod der Alten sprachen. „Und wenn sie stirbt, beerbst du sie, auch wenn ich nicht der behandelnde Arzt gewesen bin“, sagte ich. Wir standen im Wohnzimmer, meine Frau und ich, es war dunkel, nur aus dem Eßzimmer fiel durch die offene Tür ein wenig Licht. Meine Frau mußte geräuschlos von mir weggetreten sein, denn auf einmal hörte ich vom Fenster her – ja, allerdings wie durch die Scheiben durch die Oktobernacht hereingehaucht – ihre Stimme; sie sagte: „Und wenn sie nicht stirbt –?“ Ich weiß, daß ein Arzt und Wissenschaftler komisch wirkt mit solchen Behauptungen. Ich will ja auch nicht mehr tun, als Empfindungen feststellen. Meine Frau bestreitet übrigens, dieses ,Und wenn sie nicht stirbt?’ gesagt zu haben. Ich sah sie
dann plötzlich im Eßzimmer bei der Lampe stehen; ich hatte gar nicht bemerkt, daß sie dorthin gelangt war. „Was wird ihr schon fehlen!“ meinte sie obenhin. „Eine kleine Indisposition. Die ist langlebig und zäh wie ihre Katzen.“ „Wie alt ist sie jetzt?“ fragte ich, und – ja, das war merkwürdig: genau wie an dem Theaterabend, an dem ich sagte „Ich gehe nicht“ und mich doch umzukleiden begann, zog ich schon meinen Mantel an, statt einen Kollegen telephonisch um Erledigung des Krankenbesuches zu bitten. „Wie alt?“ antwortete meine Frau. „Sechsundachtzig vorüber. – Was wirst du mitnehmen?“ „Baldrian“, lachte ich. „Das Allheilmittel für alte Jungfern. Auch ihre Katzen lieben es.“ – Sie wissen, Kollege, daß Baldriangeruch Katzen in lächerlichste Zustände versetzt? – „Sie schien ein wenig verwirrt und erregt am Telephon“, fuhr ich fort. „Ein harmloses Beruhigungsmittel wird genügen. Bromural vielleicht.“ Ich war schon an der Tür, da hielt meine Frau mich am Ärmel fest. „Ein Schlafmittel“, drängte sie. „Ein gutes Schlafmittel.“ Ich weiß nicht sicher, ob sie ,Schlafmittel’ gesagt hat, sie sah mich so bestimmend an, – jedenfalls könnte sie Schlafmittel gesagt haben. – Ich – steckte dann noch Morphium und Veronal zu mir und ging. – Nein, Kollege, Sie müssen mich ruhig anhören. Diese Aussprache ist mir innerstes Bedürfnis. Diese Aussprache ist eine Befreiung – eine Befreiung von – – Hören Sie weiter; nach dem Arm werden wir später sehen, er schmerzt ein wenig, – er schmerzt sehr – um die Wahrheit zu sagen. Nebensache. Ich ging und überlegte mir, indes ich durch die herbe Klarheit einer sternblitzenden Oktobernacht schritt, folgendes: Diese
alte Schraube, dieses total verdrehte Monstrum ist mir vor fünf Jahren zuletzt über den Weg gekrochen. Damals gab es einen Heidenkrach mit dem Besitzer des Hauses, in dem sie ein weitläufiges Stockwerk bewohnte. Man war ihr endlich dahintergekommen, daß sie die Wohnung schauerlich verwahrlosen ließ. Eine Katzenschar, die niemals ins Freie durfte, war die eigentliche Inhaberin von zehn Zimmern. Die Tapeten waren heruntergerissen, – Fensterscheiben zerbrochen, durch die der Regen hereinschlug, – die harndurchnäßten Fußböden verfaulten; – eine alte Dienerin beseitigte flüchtig den gröbsten Schmutz. Ab und zu entwischte eine dieser Katzen, und man bekam im Treppenhaus alterskranke, verkommene Bestien zu sehen, räudig und mit zerfallendem Fleisch, heiser zirpende Skelette, die ihre Borken am Geländer abschabten und mit dem Eiter ihrer Wunden den Treppenläufer beschmierten. – Der Hauswirt schickte ihr die Polizei auf den Hals. Man wollte sie bestimmen, unter den Kranken die Unheilbaren im Namen der Hygiene und der Menschlichkeit vernichten zu lassen. Sie weigerte sich, auch nur das kränkste Tier anzutasten, und kam dem Hausbesitzer mit der Kündigung zuvor. Obwohl sie niemals ausging, nie Zeitungen las, hatte sie – unerfindlich wie – erfahren, daß die gelbe Villa mit dem hübschen Vorgarten in der Tulpenstraße – Sie kennen sie – leerstehe und käuflich sei. Die erwarb sie telephonisch und im Handumdrehen. Bezahlte dem Hausbesitzer den ganzen Schaden anstandslos und zog aus im Eiltempo, – als könne sie zu spät ins neue Heim kommen. Dieser Umzug war komisch, widerwärtig, erschütternd. Meine Frau und ich als die einzigen Verwandten halfen ihr, soweit sie es, wie eine Ratte pfeifend und giftig abwehrend, zuließ. Zwei Möbelwagen füllten sich mit Gerät, kostbar, doch beklagenswert mitgenommen. Für den Transport ihrer Katzen hatte sie sich Käfige von der
Verwaltung des Tiergartens entliehen. – Mir sind Katzen von jeher peinlich gewesen; ich konnte diesem Umzugsschauspiel nicht beiwohnen. Ich erinnere mich nur eines fauchenden, krächzenden und miauenden Gewoges hinter Gitterstäben, um die die Alte mit miauenden Geplärr herumschlurchte, wobei sie golddurchwirkte Seidendecken darüberbreitete oder sinnlos aus einer Kristallkaraffe Milch im weißen Strahl durch die Stäbe mitten auf die wegprallenden Tiere plätschern ließ… Die Villa durften ich oder meine Frau niemals betreten. Auch die alte Dienerin erhielt den Laufpaß, weil sie verdächtig war, absichtlich die eine oder andere Katze aus der früheren Wohnung auf die Treppe gescheucht und so den Streit mit dem Haus entfacht zu haben. Wir selbst wurden vor dem neuen Heim, als die Möbelwagen schon entladebereit standen und die Katzenkäfige eben hinaufgeschafft wurden, mit einem Knicks, ich weiß nicht, ob er aus Bosheit oder aus Altersschwäche so vertrackt ausfiel, bedankt und heimgeschickt. Als der letzte Handwerker das Haus verlassen hatte, machte sie endgültig hinter sich zu. Das Telephon holte ihr herbei, was sie zum Leben brauchte. Durch die spaltweit geöffnete Tür mit der Sperrkette nahm sie dem Milchmädchen, der Brotfrau, dem Metzgerburschen ab, was sie herbeitrugen, und reichte das Geld hinaus. In fünf Jahren hat sie nicht einmal das Haus verlassen. Dies nehme ich an mit gutem Grand, denn es ist nicht sicher, daß jenes vermummte Wesen, das man ein paarmal nächtlicherweile im Englischen Garten mit vier weißen Katzen in Silbergeschirren angeblich hat wandeln sehen, sie gewesen ist. Wir haben in den ersten Jahren einige Male versucht, durch Fernruf mit ihr in Verbindung zu kommen; wir sind stets ohne jede Antwort geblieben. – Einmal muß sie, ohne sich zu regen, lange den Hörer ans Ohr gehalten haben, denn ich vernahm die schnurrenden und klagende Laute ihrer üblen Hausgenossinnen. Als eine ganz dicht bei ihr,
vielleicht auf ihrer Schulter, ungestüm durch die Nase schrie, hing sie wohl erschreckt den Hörer ein. – Niemand, wie gesagt, betrat diese der Schrulle, fast schon dem Irrsinn geweihten Räume, – bis zu jenem Abend, an dem sie mich rufen ließ. Ich bin weitschweifig –, Kollege, so denken Sie, – es ist notwendig, es ist sehr notwendig! Sie müssen nicht nur jenen Abend und seine Folgen, – Sie müssen auch die Vorgeschichte kennenlernen. Ich habe sie Ihnen so erzählt, wie sie mir damals durch den Kopf ging, als ich in der Oktobernacht auf die Villa und ihre, mir schien: ausschließlich tierischen Insassen zuwanderte, – nicht ohne Unbehagen, nicht ohne eine Spannung, verursacht durch Ekel und Ratlosigkeit. Ja, Ratlosigkeit, denn ich fragte mich immerfort: Was soll ich denn mit dem alten Luder anfangen? – Merkwürdig – wie? diese Frage. Denn es galt doch nichts anderes zu erfüllen als rein ärztliche Pflichten. – Ja, warum hatte denn eigentlich meine Frau gar nicht den Gedanken erwogen, mitzukommen? Sie war doch die Blutsverwandte. Man hätte anfragen sollen, ob es der kranken Tante genehm sei, wenn die Nichte zu ihr eile. Das – ja, – das fällt mir heute erst ein, meine Frau hätte doch – – Gewiß, gewiß, Kollege! Nur ein wenig Geduld. Ich komme zur Sache! Kurz: Ich stehe vor der Villa und läute. Ich muß zweimal an der Klingel reißen und horche durch die Dunkelheit – es war elf Uhr nachts – in das Hausinnere hinein, das totenstill bleibt. Ein schlafseufzendes Wehen im Garten, ein kurzes Rascheln von welken Blättern auf den Steinfliesen, – sonst nichts. Ich will schon fluchend wieder gehen, fluchend über die Bosheit der alten Ziege, die meckernd drinnen in irgendeinem Winkel lehnt und mit Behagen zuhört, wie ich hier draußen, zum Narren gehalten, von einem Bein auf das andere trete, – da
geht die Tür hauchend auf bis zu dem berühmten Spalt, den die Sperrkette zuläßt. Ich erkenne nichts, – ein Tuch, das irgendwie auf und nieder nickt, – aber sie muß in ihr hohes Alter hinein sich die Augen eines Raubvogels bewahrt haben, denn ohne zu fragen, wer eintreten will, läßt sie die Kette rasselnd fallen und macht die Türe weit auf. Ich tappe ins Dunkle. Sie scheint in der Finsternis untrüglich zu sehen wie ihre Katzen, – aber sie verlangt das nicht von mir, denn sie packt mich wortlos bei der Hand – mit Fingern, die sich anfühlen wie aus klebrigem Horn, – und zieht mich treppenaufwärts. Ein unerträglicher Raubtiergestank, der mich würgt, durchdunstet das ganze Haus, und ich widerstehe mit Mühe dem Brechreiz. Ich werde in ein Zimmer geschleift – ein großes Zimmer, das ganz matt erhellt ist von einer Petroleumlampe auf einem Mahagonitisch, der einen Wirrwarr trägt von halbgeleerten Schüsselchen mit eingetrockneter Speise, von windelartigen Leinenstreifen, Salbentöpfchen, Spitzenschals, Schmökern, alten Briefschaften, Holzspänen, Torfstücken. Im Kamin verglimmt eine Glut. Es ist entsetzlich heiß. – Sie schürte bereits ein in diesen milden Oktobertagen, als habe sie die Hölle zu heizen. – Gut, es war so etwas wie die Hölle. Kein Wort von ihrer Seite. – „Wo fehlt es denn, Tante Konstanze?“ sage ich recht laut, um dieses lauernde Schweigen, das mich ankriecht, zurückzuschleudern. Aber meine Worte werden verschluckt von einer Umgebung, die im Lauf der Jahre förmlich heißhungrig geworden ist nach Menschenlauten, – verschluckt von Teppichen, Decken, Portieren, die sich überall bauschen. Endlich meckerte ihre Stimme schleimig und schrill. – „Nicht ganz wohl, wie ich bin – “, so löste sich’s los aus ungelenker Kehle, „ – nicht ganz wohl, sehe ich mich in der Notwendigkeit – weil ich doch nicht ganz wohl bin – “. Sie
verstummte wieder und fuhr lautlos hin und her vor mir mit schaukelndem Schädel, wie es eingesperrte, wilde Tiere tun, die die Gefangenschaft blödsinnig gemacht hat. „Tante Konstanze, hier ist es zu dunkel für den Arzt, der seinen Patienten richtig sehen muß“, erkläre ich ihr. Ich entdecke beim Türrahmen den elektrischen Schalter und drehe an ihm. Eine Flut von Licht knallt hernieder von einem Kronleuchter, der wie eine heftig durchstrahlte Staubwolke aussieht; er wurde offensichtlich nie geputzt und niemals in Betrieb genommen. Die Alte krümmt sich weg vom Licht, als hätte ich ihr Pfeffer in die Augen geschmissen. Ihr cremefarbenes Kopftuch aus Brüsseler Spitzen, durch das eine knallgelbe pomadisierte Perücke sticht, sinkt tief in einen Gobelin. Jetzt im hellen Lichte sehe ich, daß der teppichbelegte Boden sich gleichsam bewegt. Überall ist ein Gleiten von braun gestreiften, schwarzweiß gefleckten, grauen, rötlich gerieselten, gelb getigerten Fellen, die sich um Kommoden und Etageren schlängeln, unter Stühle schlupfen und wieder auftauchen, – sich nun auch um meine Beine schmiegen. Ich lasse das vorerst angewidert geschehen. Eines der Tiere holt zum Sprung aus, landet mit lautlosem Prall auf dem Buckel der weggewendeten Alten und versucht dort seine Krallen, indem es die Tatzen in den glitzernden Schmelzbesatz der Taille haut und ihn hochzupft, so daß die schwarzen Perlchen losgerissen durch die Stube sprühen und ganz dünn gegen den Spiegel klirren. Da fährt die Alte auf – wie unter den Schlägen einer Peinigung, der sie sich dennoch hingibt. Der weiße Kater bleibt an den schwarzen Rücken geklammert, und sie wendet mir endlich ihr Angesicht zu… Kollege, – das war zu viel – das war ungeheuerlich! – Fräulein Konstanze Kaltwasser ist einstmals eine Schönheit
gewesen. Da sie auch reich war, lagen die Männer in Scharen an ihrem Lebensweg, abwartend oder auch kämpfend darum, an ihre Seite berufen zu werden. Sie berief keinen. Sie wartete, bis sie dreißig war, – bis sie vierzig wurde, – und als sie auf die fünfzig zuklapperte, war ihre Zeit versäumt. – Jetzt, da sie mir ihr Gesicht zudrehte, war sie sechsundachtzig – und hatte stellenweise die Farben der Sechzehnjährigen! Sie war geschminkt, Kollege, – aber wie geschminkt! Ihre zittrige Krallenhand wußte wohl noch die Farben zu mischen, aber die Verblödung spielte ihr den Streich, daß sie nicht mehr erkannte, an welchen Stellen sie sie aufzutragen hatte; so war die linke rosenblühende Backe gegen die Schläfe hinaufgerutscht und die rechte zur Kinnlade hinabgesunken. Irgendwie war das Gesicht immer noch gut gepolstert. Ja, die sanfte Wangenlinie und der vibrierende Schwung einer rassigen Nase hatten, – hatten etwas Berückendes. Lachen Sie nicht. Da waren noch – entsetzlich genug! – Reize des Geschlechtes. Bitte lachen Sie nicht, Kollege. – Aber die Augen und der Mund! Die eingefallene Lippenspalte, zerknittert und verdorrt, leuchtete blutrot. Sie hatte die Linien zackig und über die Mundwinkel viel zu weit hinausgezogen: eine frisch geborstene Wunde, tief gebettet zwischen Nase und Kinn. Ihre Augen, wimpernlos und nässend von der üblichen Bindehautentzündung, irrten aus den Höhlungen einer blauschwarzen Fettschminke unstet an mir herum. Darüber lasteten die kohlschwarz hingeschmierten Balken der Brauen. Ich nehme mich übermenschlich zusammen, um nicht zurückzuprallen, und frage gewürgt noch einmal: „Wo fehlt es nun eigentlich, liebe Tante?“ – Ich sehe durch weit offene Flügeltüren in ein zweites Zimmer von gleicher Ausdehnung, das in einem matten grünen Dunste schwimmt, und weiter in ein drittes Gemach, das sparsam rötlich erhellt ist. Und überall sind Katzen. Sie schleichen umher, sie strecken sich faul auf
Polster und Divankissen, sie tauchen mit gesträubtem Rückenfell aus Körben und Puppenwägelchen auf. Diese Räume sind nur für sie. Diese gedämpften rötlichen und grünen Erhellungen sind nur für sie. „Meine Püppchen können das böse Licht nicht vertragen“, wimmert die Alte und humpelt an den elektrischen Schalter. Ich werde energisch. „Aber ich als Arzt brauche klare Beleuchtung“, sage ich „sonst, wahrhaftig, kann ich dir nicht helfen.“ Sie duckt sich unter dem Hieb meines Tones, schlürft die Lippen mehr noch in den zahnlosen Mund, bläst sie wieder sabbernd hinaus und äußerst messerscharf: „Ich hätte vielleicht einen anderen Arzt rufen sollen.“ „Gut – “ stoß’ ich empört hervor, „ich gehe wieder!“ Und greife nach meinem Hut. „Nein, bitte bleib“, sagt sie kläglich und knickt ruckweise zusammen in Knie- und Hüftgelenk, – ein Bild völliger Hilflosigkeit. „Ich bin sehr unruhig, sehr unruhig; ich kann nicht schlafen“, klagt sie. „Ach, meine Töchterchen, meine Söhnchen. Sehr krank ist Lady, sehr krank.“ Sich selbst kindlich Lady zu nennen, wie ein Säugling, der kein Ichbewußtsein hat, sieht diesem verblödeten Wesen ähnlich, denke ich. – Also ein Beruhigungsmittel. Baldrian, meinetwegen in Form von Bromural; ich dachte’s mir gleich. Kollege, es muß gesagt werden: Daß nur Baldrian nötig erschien zur Behebung ihrer Beschwerden, war mir eine Enttäuschung. Das muß erkannt werden – – vielleicht angesichts des Todes. – Wie? Ja, vielleicht meines Todes. Wissen Sie, Kollege, bestimmt, daß eine Sepsis, die denn doch nicht ganz einfach zu sein scheint, immer gutartig verläuft? Für alle Fälle – – Den Verband? Ja, gleich nehmen wir ihn ab. Erst das Ende meines Berichtes. Erst sozusagen weg mit den letzten Türen eines Verbandes, der um mein Inneres liegt… Ich werde
hochtrabend, wie? Ja, ja, ja, das befeuerte Blut macht mich zum Redner. Keine Spur von Fieber hatte übrigens die Alte. Ihr Puls, den sie mir willenlos überließ, ging einen Schritt, um den sie ein Dreißigjähriger hätte beneiden können. „Du wirst dich jetzt hinlegen, Tante Konstanze“, sage ich. „Zeige mir, wo du zu schlafen pflegst. Ich werde dir ein Beruhigungsmittel geben und noch ein wenig bei dir bleiben.“ Ein Gedanke kam mir. „Dann wirst du mir den Schlüssel geben“, sagte ich, „und während du einschläfst, werde ich allein aus dem Hause finden, sorgsam hinter mir absperren, und morgen werde ich wieder nach dir sehen.“ „Nein, nein, nein“, wimmerte sie eigensinnig, „Lady ist sehr krank.“ „Sehr krank bist du nun gerade nicht, liebe Tante“, suchte ich zu besänftigen. „Ein wenig unpäßlich, zugegeben. Aber wir haben nicht den mindesten Grund zu Besorgnissen.“ „Sehr, sehr Grund zu Besorgnissen“, beharrte sie schrill. „Sehr, sehr krank ist Lady. Du sollst sie sehen, du sollst ihr gleich helfen.“ Sie faltete komödienhaft ihre verhornten und verschorften Finger, rissig und täglich aufs neue bearbeitet von Katzenkrallen. „Bitte, bitte, bitte, lieber Gustav“, säuselte sie und hatte ein gewinnendes Lächeln, das ihre infernalische Fratze zu einem höllischen Spuk verzerrte. Nur damit dieses Lächeln ende, das zuviel war für Menschenaugen, versprach ich Hals über Kopf, zu helfen – ich begriff immer noch nicht: wem. Aber dies wurde klar, als sie nun unter einer mit chinesischer Stickerei verhangenen Konsole einen kleinen Wagen hervorzerrte, der räderquietschend ins Licht des Kronleuchters rollte. Auf rosaseidenen Kissen lag eine Katze, – ein Tierkörper, der geradezu fürchterlich aussah. Ich weiß nicht,
ob es eine weiße oder schwarze Katze war; ich glaube auch, es wäre niemand zu finden gewesen, der dies noch hätte feststellen können. Sie war enthaart, fast möchte ich sagen, sie war enthäutet; sie war überdeckt mit Krusten und Schwären, der Kopf ein klebriger Schmutzklumpen, eitrigen Auges böse mich beblinzelnd, aber zum Glück zu schwach, als daß der Versuch gelungen wäre, mit einem Fauchen, das blutende Schleimhäute sehen ließ, gegen mich zu fahren. Mächtige Schnurrbarthaare gaben diesem lebenden Kadaver etwas Verfallen-martialisches, – Kollege, ich mußte an die Weltkriegsergebnisse in Deutschland denken. Das Tier atmete, zum Skelett verkommen, mit fliegenden Flanken, stellenweise mit einer grüngelben Salbe bestrichen, den Schwanz dick umwickelt mit schmutzig-grauen Binden. – Man hätte die Bestie kaum mit der Feuerzange anfassen können. Und das war Lady, ,die ich kurieren sollte. „Helfen, helfen, helfen!“ jammerte die Alte. Mich schüttelte das Entsetzen bei dem Gedanken, hier als Arzt walten zu müssen. „Laß einen Veterinär kommen“, stieß ich hervor. „Diese Behandlung übernehme ich nicht.“ „Einen Tierarzt?“ schrillte sie auf. „Nein, nein, nein. Für mein Töchterchen einen richtigen Arzt. – Ich dachte mir’s gleich“, sagte sie giftig, und ein tückisches Lächeln zerriß ihr Gesicht wieder in grausig zusammenhanglose Farbflecken. „Ich hätte mich gleich an den Geheimrat Patin wenden sollen!“ Kollege, stellen Sie sich vor: an Professor Patin! Ich lachte laut. „Der eilt dir nicht zu einer Katze, meine liebe Tante Konstanze“, sagte ich fröhlich. „Wenn ich ihm tausend Mark für die Visite bezahle –?“ trumpfte die Alte auf, „oder zweitausend, he –? Oder zehntausend?“
Kollege, soll man solche Konkurrenz untätig herbeikommen lassen? – Schnell reifte in mir ein Plan; ich hatte ja Morphium zur Hand. „Ich will deinem Tierchen helfen“, sagte ich. „Meinem Töchterchen – ja, ach ja“, schnaufte sie beglückt. „Und das Geld kann ich dann sparen.“ Das Geld sparen! Eine solche Bestie war sie! Ich konnte nicht mehr zurück, aber ich tröstete mich damit, daß die tödliche Morphiumeinspritzung ja rasch gemacht sei. Ich redete ihr ein, das Tier leide an einer eitrigen Allgemeinerkrankung, die jetzt in der Stadt grassiere. Sie war so verwachsen mit ihren Geschöpfen, daß sie kritiklos ein Krankheitsbild hinnahm, von dem ich behauptete, es sei bei Menschen und Tieren genau das nämliche. Ein Serum, bereits entdeckt und im Handel, führe heutzutage jeder Arzt, da er es stündlich brauche, bei sich, – ich zog das Morphium aus der Tasche – und hier sei es. Es gelang unter ihrer Assistenz unschwer, dem verendenden Tier die nötige Dosis zu versetzen. Als dies geschehen war, atmete ich auf. Kollege, jetzt hätte ich gehen können. Jetzt hätte ich, weiß Gott, gehen sollen. Aber ich sah mich um. Ich glaube, jetzt zu wissen, daß ich bereits fest entschlossen war, so – nicht zu gehen. Hätte ich dem Tiere sonst einfach den Garaus gemacht? Die Folgen im Gemüt dieses Fräulein Kaltwasser, die doch leicht zu berechnen waren, –diese für meine Frau üblen Folgen im Gemüt einer mutmaßlichen Erbtante hätten mich von der Tötung einer Lieblingskatze unter allen Umständen abhalten müssen. Weiter. – Ich schaute mich um. Ich zauderte. Sie bedeckte ihr ,Töchterchen’ sorgsam mit Deckchen und Tüchern und Teppichen – turmhoch. – Meinetwegen erstickt das Vieh, dachte ich, bevor das Morphium noch wirken kann. Ich sah umher. Die Politur der Möbel zerschabt und zerkratzt; das
Holz lag nackt und stand in kleinen Splittern ab. Die Teppiche angenagt, übersät mit Flecken, milchig und mißfarben gelb. Die Gardinen in streifigen Fetzen. Alte Ölbilder, sehr kostbar zweifelsohne, zeigten unheilbare Löcher und Risse, herrührend von Kletterübungen. Glas- und Porzellanscherben in allen staubigen Ecken. Zerknüllte Bücher, deren Goldschnitt trübe glänzte. Aufgeschlitzte Polstersessel und Sofas, denen Sprungfedern und Polsterung entquollen wie zerschmetterte Knochen und vortretendes Gedärm. Stutzuhren vernichtet am Boden, Alabaster und Kristall zerschlagen. Aus halb hervorgezogenen Schubladen – Nester für das Viehzeug – hingen Spitzen, Staatskleiderwirrwarr, Damast und feinstes Linnen. – Vollkommene Preisgabe einer luxuriösen Einrichtung, die Zehntausende wert gewesen war und jetzt dem letzten Trödler kaum mehr als ein mitleidiges Lächeln abgenötigt hätte. Vollkommene Preisgabe an – ich wußte damals noch nicht: wieviele Katzen. Die Alte schien Vertäuen zu meiner ärztlichen Kunst zu gewinnen, denn sie wurde fast heiter. „Und nun werde ich dir noch Baldrian geben, liebe Tante“, sage ich „damit auch du Ruhe findest.“ Während ich nach – nach dem Bromural in meiner Tasche suche, macht sich eine der Katzen an mich heran, richtet sich an mir empor und schlägt spielerisch die Vorderkrallen in meine Hosen. Ich spüre es durch das Beinkleid wie Nadeln in meiner Wade. Der scharfe Blick der Alten erfaßt sofort meine schmerzliche Miene. Sie kichert trocken und scheppert heraus: „Dagegen muß man sich schützen“, – und sie rafft ihren Rock nicht ohne die Geste haarsträubender Gefallsucht hoch und zeigt mir, daß sie alte Kavalleriestiefel trägt, die ihr bis zu den Knien reichen. Die Sohlen hat sie mit Filz gedämpft, der weit über die Fußränder hinausragt, so daß die Stiefel wie in flache längliche
Schüsseln eingeklebt stehen. Ich verspüre, daß unter all diesen Eindrücken mein Kopf immer wirrer wird. Sie macht sich wieder an dem Wägelchen zu schaffen, reißt Kissen und Decken, die sie eben aufgehäuft hat, von dem kranken Tier herunter, beäugt es und riecht an ihm herum. Ich sehe gleich, daß das Morphium ganze Arbeit gemacht hat. – „Wie steht es mit ihr?“ fragt sie unsicher. „Dein Töchterchen schläft“, beruhige ich sie. „Morgen wird es ganz gesund sein.“ „Schläft fest“, nickt sie befriedigt. – „Jetzt ich auch schlafen!“ sagt sie kläglich. „Ja, liebe Tante“, greife ich zu. „Jetzt wirst du ein Beruhigungsmittel nehmen. Du hast mit deinem kranken Liebling Aufregungen genug gehabt. Du wirst mir jetzt zeigen, wo du schläfst, legst dich nieder, bekommst ein vortreffliches kleines Mittelchen, – und ich finde allein aus dem Haus. Morgen spreche ich wieder vor.“ „Schlafe dort – bisweilen – bisweilen“, sagt sie und deutet auf einen wüsten Haufen von Papier und Kleidern in der Zimmerecke. Dann wacht sie auf aus einem dröselnden Gemurmel. – „Nein, nein“, ruft sie voll störrischer Angst. „Morgen nicht, – überhaupt nicht wiederkommen! Alles ist in Ordnung. Die Kleine wird gesund. Mir fehlt nichts. Alles in Ordnung. Ich lasse dich hinaus. Dank – “ Sie sabbert ärgerlich etwas von Dank. – Sind wir wieder vor die Tür gesetzt – Luder? – denke ich grimmig. Ist es nicht geboten, Kollege, die Welt von solchen Subjekten zu befreien? „ – Willst du nun das gute Mittelchen?“ rede ich ihr zu. „Ja, ja, ja“, sagt sie gierig. Aber den ausgestreckten Arm läßt sie plötzlich wieder sinken, zupft am fettigen Ärmel und streift ihn hinauf. „ – Ist es schlimm, ist es arg?“ flennt sie kindlich.
Sie hat ein Ekzem, schuppig und zerkratzt. „Das sind, liebe Tante“, sage ich streng, „Anzeichen derselben Krankheit, wie sie dein Töchterchen hat. Ich kann dir nicht verhehlen: sehr bedenklich.“ „Nicht sterben, nicht sterben!“ heult sie auf. „Meine Kinderchen bleiben allein! Auch das Serum, das Serum ich – “ „Gut – “ sage ich; – damit du zufrieden bist, und damit ich endlich weiterkomme, setze ich in Gedanken hinzu. „Morgen ganz gesund“, strahlt sie, während sie den nackten Arm hinstreckt und ich die Spritze in Ordnung bringe. – – – – Wieviel Veronaltabletten sie dann noch verschluckt hat, – Kollege, ich kann mich beim besten Willen nicht darauf besinnen. Ich hätte doch geschworen, beim Verlassen meiner Wohnung Bromural zu mir gesteckt zu haben, – und als ich nun danach suchte, fand ich nichts als Veronal, gleich drei Röhren… Ich machte mich zum Fortgehen fertig. „Morgen telephonierst du uns, wie es – “ dir geht, – wollte ich sagen; sie ließ mich gar nicht ausreden. „Nicht telephonieren“, schrie sie heftig. „Alles in Ordnung. Alles gesund. Brauche niemand, niemand, niemand!“ Auf der Treppe wankte sie, – schlaftrunken wohl. Die Haustüre konnte sie nicht öffnen, ich mußte das besorgen. Sie versuchte, noch etwas zu äußern; es wurde nicht mehr daraus als ein formloses Lallen. Ich trat ins Freie, die Tür fiel ins Schloß. – Nun ging ich nicht gleich, Kollege, – nein, ich ging nicht. Ich legte das Ohr an die Tür und lauschte. Es ist eine schwere vergitterte Tür mit einem Glaseinsatz, der zerbrochen ist. Vielmehr also, ich legte das Ohr an das Gitter und horchte mühelos hinein. Ich hörte sie drinnen verhalten rumoren. Dann begannen weiche Stapfer unendlich langsam den Treppenaufstieg – aber plötzlich war es, als fiele eine sulzige
Masse schlabbrig zusammen und wälzte sich zäh ein paar Stufen abwärts. Von oben eine Katzenstimme miaute fragend darüber hin. – Dann vollendete Stille – Ich ging – und empfand wohltuend, daß diese Oktobernacht frische Kälte mit sich führte. Der feuchte Rinnstein zeigte Eiskrusten, wie eine genaue Untersuchung ergab. Ich wanderte gemächlich heimwärts, – ließ mir die Luft um den Schädel streichen und die Nacht durch die Kleider wehen, sie zu befreien von dem unerträglichen Katzengestank. Kollege, war ich verpflichtet, weil das Thermometer vielleicht null Grad zeigte, – umzukehren in ein Haus, aus dem man mich sozusagen hinausgewiesen hatte, – aus dem man mich mehr als hinausgewiesen hatte? – – – „Wie geht es denn der Tante Konstanze?“ fragte meine Frau; sie war aufgeblieben. Ja, sie war noch auf; trotzdem fragte sie erst, nachdem ich schon eine halbe Stunde zu Hause war. Ich erwiderte: „Sie ist sechsundachtzig und längst mit einem Bein im Grab. Im übrigen geht es ihr gut. Kaum etwas von Belang.“ – Mehr wurde über diesen Abend nie zwischen uns gesprochen, und außer meiner Frau und jetzt Ihnen weiß kein Mensch etwas von meinem nächtlichen Besuch in der Tulpenstraße. – Was das alles mit meiner Sepsis zu tun hat, meinen Sie? Geduld, lieber Pinswang, – noch ein wenig Geduld. – Am nächsten Morgen erfolgte kein Anruf. „Sie scheint wieder wohlauf zu sein“, sagte meine Frau ganz unvermittelt, – und wir schraken beide ein wenig zusammen, weil es während des Mittagessens sozusagen aus ihr herausplatzte. „Sie scheint Hilfe der Mitmenschen wieder glänzend entbehren zu können, und wir sind für sie die nächsten zehn Jahre jedenfalls nicht vorhanden. Es ist schändlich!“
Meine Frau schien, – jawohl, sie schien eine Antwort, vielleicht einen Widerspruch von mir zu erwarten, denn sie hielt die Gabel in der Hand ausgestreckt und aß nicht weiter. Und als ich schwieg, forschte sie: „Kann sie denn schon wieder völlig hergestellt sein? – Ich frage nur, weil du gestern behauptet hast, sie stehe längst mit einem Bein im Grabe?“ „Ja – “, sagte ich. – Ich weiß noch, daß dieses Ja mir nicht leicht fiel und mir dabei wie eine Ausflucht oder ein Aufschub erschien. „Was –: Ja?“ rief meine Frau seltsam erregt, – in einem Zorn, den dieses kleine Wort gar nicht rechtfertigte. „Das ist doch kein Bescheid auf meine Frage! Weshalb machst du den Mund nicht auf? Weshalb tust du denn so geheimnisvoll –?“ – Aber dann verstummte sie, fing wieder an zu essen und erwartete keine Äußerung mehr von mir. Wir kauten schweigend; – wissen Sie, so…: wir kauten uns gegenseitig etwas vor. Sie kennen das? Es ist einer der verzweifeltsten Augenblicke in dem oft so fürchterlichen Zusammenleben zweier Menschen. Die Ketten, die von einem zum andern gehen, klirren fast hörbar bei den Armbewegungen, mit denen Essen in Mäuler geschaufelt wird… Aber wohin verliere ich mich? Verzeihen Sie, daß ich abschweife. Mir steht nur dieses Mittagessen so deutlich im heißen Hirn. – – Auch am nächsten Tag kein Anruf. Gegen Abend sagte dann meine Frau: „Man sollte doch vielleicht versuchen, Verbindung zu erhalten.“ Sie schien darauf zu warten, daß ich ans Telephon ging. Als ich es nicht tat und auch gar nichts äußerte, ging sie achselzuckend selber. Ich hörte sie die Verbindung herstellen, dann wurde es still, – und ich lauschte. Nach ein paar Augenblicken – sie hing den Hörer nicht ein – trat sie weg und kam auf mich zu. Sie schien mir ein wenig bleich, und sie sagte: „Es sind Stimmen zu
hören, ganz entfernt, und ich verstehe keine Worte. Willst du nicht einmal horchen?“ Ich entsinne mich genau, daß meine Frau ,horchen’ sagte, und daß mir das Wort lächerlich nach heimlicher Untat klang. Ich ging und nahm den Hörer. – Sofort erkannte ich, daß es die Katzen waren, die durch die Zimmer miauten. Wahrscheinlich hatten sie bei ihren Sprüngen und ihrem uneingeschränkten Umhertollen den Hörer heruntergerissen und so die Möglichkeit geschaffen, undeutlich wenigstens zu vernehmen, was dort in der Wohnung vorging. Ein ununterbrochenes Gewoge von jammernden Tierstimmen drang an mein Ohr. Das Miauen der Katze hat stets etwas betont Jämmerliches und aufdringlich Mitleidheischendes – von seiten einer Bestie, die sich verstellt und alberne Rührseligkeit der Menschen ausbeuten will. Dieses in allen Tonlagen ausgehauchte, wie Gummizucker lang hingezogene Gejammer war so widerlich, daß ich den Hörer alsbald einhing. „Es sind die Katzen“, sagte ich zu meiner Frau. „Diese verfluchten Geschöpfe – sie müssen den Telephonapparat in Unordnung gebracht haben.“ „Da sollte man doch vielleicht – “, wollte meine Frau beginnen. Aber ich schnitt ihr das Wort ab, entschlossen, ein Gespräch, das ich nicht wünschte, im Keim zu ersticken. „Was sollte man!“ rief ich. „Was gehen uns diese Katzen an! Sollen sie schreien, bis ihnen das Dach auf die Nase fällt.“ – Gegen zehn Uhr bekam ein Gedanke, der immer schon an mir gebohrt hatte, die Oberhand. Ich erklärte meiner Frau, ich müsse noch nach einem schwerkranken Patienten sehen, und verließ das Haus. Ich ging durch nachtdunkle Alleen in die Richtung der Tulpenstraße. Nebel rieselte nieder. Die klare Kälte jener Nacht, in der ich die Alte besucht hatte, war einer dumpfignassen Erwärmung gewichen.
Als ich in die Tulpenstraße einbog, sah ich ihr Haus von weitem – hell erleuchtet. Ich hatte erwartet, es stockfinster und tot im Garten liegend zu finden, und wollte mir daher einreden, mich in den Häusern getäuscht zu haben. Aber wie ich näher kam, sah ich schon, daß alles stimmte. Ich konnte mir klarmachen, daß die Fenster, aus denen durch herabgelassene Rollvorhänge breite Lichtmassen brachen, dem Zimmer angehörten, in welchem ich selbst den großen Kronleuchter entzündet hatte. Er brannte offenbar seit jenem Abend. Aus anderen Fenstern – auch wenn ich die Augen gegen den leuchtenden Schwall des einen Zimmers abblendete – fiel nicht der leiseste Schimmer: das Petroleum der kleinen Lampen mußte längst aufgezehrt sein. Ich ging näher heran und prüfte über das Vorgartengitter Fenster um Fenster. Es bewegte sich etwas hinter dem einen Vorhang; ich begriff gleich, daß es eine der Katzen war, die sich da auf dem Fensterbrett rekelte und streckte. Es war wie das ölige Gleiten eines Schattens in den fortwährenden Verrenkungen, die diesen Tieren eigen sind, ähnlich widerwärtig dehnbar wie ihre Stimme, – ganz so verlogen wie sie. Plötzlich mußte das Vieh sich aufgerichtet und die Tatzen in den Vorhang geschlagen haben, denn ein Schatten erschien riesengroß und wallend auf schaukelnd bewegtem Stoff. Durch das Aufrechthocken bekam der Schatten etwas Menschliches, und die ausgereckten Pranken flehten lächerlich ganz wie über den Kopf gehobene Arme… Mich wunderte nur, daß der Schatten so – so übermenschengroß auf dem Vorhang haftete; es war mir rätselhaft, wie eine Projektion in diesen Ausmaßen zustande kommen konnte. Ich war wohl ein wenig verwirrt und bewahrte nicht ganz die Fähigkeit kalter Beurteilung der Dinge um mich her. Es ging auf elf Uhr, und Straße und Häuser lagen still. Ich schritt durch den Vorgarten leise bis an die Haustür und
horchte durch die zerbrochene vergitterte Scheibe hinein. Wieder wie am Telephonhörer vernahm ich Katzenstimmen, – hier nur deutlicher, ununterbrochen: Wenn ein langgezogenes Geschrei endete, brachen zwei andere Rachen in dies kläglichschmeichelnde Gejammer aus, um von dem glasdünnen Gewimmer der Kleinsten durchkreuzt zu werden; ich sage Ihnen: widerwärtig, höchst widerwärtig. Eine Weile hörte ich mit der Neugier des Angeekelten diesem üblen Konzert zu, dann überlegte ich mir, daß über kurz oder lang der Nachbarschaft dieses nie abreißende Katzengeheul auffallen mußte. Wäre die Scheibe der Haustüre nicht zerschlagen – so sagte ich mir –, man würde kaum etwas von dem albernen Lärm vernehmen. Was ging es denn die Nachbarn an, daß diese Katzen des Fräulein Kaltwasser unaufhaltsam schrien? Ich als Verwandter hatte so das Gefühl, als werde ich selbst lächerlich gemacht durch das selbstherrliche Gebaren dieser Bestien, die jeder Erziehung entbehrten. Da sah ich vor der Haustür eine schwere Holztür, die wohl nie oder nur winters geschlossen wurde; sie war ganz zurückgeklappt gegen die Hauswand und mit einem Kettchen dort gehalten. Ich löste das Kettchen und versuchte diese ungefüge Brettertür zu schließen. Sie drehte sich holperig und ächzend, aber es gelang; sogar das Schloß schnappte. – Jetzt hörte man von dem weinenden Kleinkinderlärm nur mehr etwas, wenn man das Ohr fest an das Holz preßte, und wenn man wußte, daß es da drinnen etwas zu hören gab. Ich ging befriedigt und spähte – das Straßenpflaster mit realem Dröhnen schon unter den Füßen und nur über die Achseln blickend – noch einmal zu den erleuchteten Fenstern hinauf: Es wankte kein Vorhang, und kein Schatten wehte darüber hin. – Alles in Ordnung, dachte ich mir.
– Aber, wenn Sie wollen, Pinswang, so kann man sagen, es war doch nicht alles in Ordnung. Es war längst nicht mehr alles in Ordnung. Was mich hier in einem – ja: in einem recht zweifelhaften Zustand herumliegen macht, hatte damals bereits seine Vorbereitungen getroffen. Lassen wir das. – Ich ging in den nächsten Nächten noch einmal an der Villa vorbei, nachdem ich auf einem beruflichen Gang des Morgens vorübergekommen war und gesehen hatte, daß der große Kronleuchter auch bei Tag brannte. Ich muß gestehen, daß ich darüber erschrak, aber mein erster Gedanke, mit dem ich mich auch weiterhin beschäftigte, war: das kann eine gesalzene Beleuchtungsrechnung geben! – Und ich malte mir aus, wie sehr die geizige, nur einseitig bis zum Irrsinn verschwenderische Alte unter dieser präsentierten Rechnung zusammenknicken wird. – Als ich in der Nacht vorbeispazierte, krümmte sich wieder auf der blendend hellen Fläche der Vorhänge der Schatten des Getiers, – wie mir schien: eckiger und zerfahrener und mit einer krampfigen Gewalt, nicht mit dem spielerischen Gleiten, das den Katzenkörpern sonst eigen ist. – Bei dem allen wunderte ich mich nur, daß die Nachbarn keinen Anstoß nahmen an dem seltsamen Vorgang des dauernd brennenden Kronleuchters und an heftig geisternden Tiergestalten, – aber sie waren wohl so sehr daran gewöhnt, in der Nähe einer Halbverrückten zu weilen, daß sie diese Dinge als Ausfluß ihrer Schrullen hinnahmen. Ich weiß nicht, Kollege, ob mir die Schattenbewegungen wirklich damals schon verzweifelt und nicht mehr schmeichlerisch vorkamen, oder ob ich mir das heute einbilde. Denn heute weiß ich, daß diese Katzen Hunger und Durst litten, weil sie seit Tagen keine Nahrung erhalten hatten, und daß sie keine erhalten hatten, weil Konstanze Kaltwasser tot war.
Genau eine Woche nach dem Tag, an dem die Alte mich telephonisch zu sich gerufen hatte, schickte jemand aus der Nachbarschaft, der wußte, daß wir die einzigen Verwandten waren, einen Dienstboten zu mir: Man möge doch endlich einmal nach der alten Dame sehen; seit Tagen werde weder der Milchfrau noch sonst irgendwelchen Geschäftsleuten geöffnet. Vielleicht sei der alten Dame Schlimmes zugestoßen. Unmöglich sei es, ohne Gewalt in das Haus einzudringen; man habe das schon versucht. Sofort holte meine Frau mir Hut und Mantel. In ihrem Tun lag etwas, das besagte: Nun ist es soweit! Ich hatte das Bedürfnis, mich gegen ihre – ja, ich möchte sagen: feige Geschäftigkeit, die mich ins Feuer schickte, zur Wehr zu setzen, und ich fragte sie deshalb aufmunternd: „Du kommst doch mit mir?“ Ich sah deutlich, wie ein Schauder sie schüttelte. Oh, sie wußte längst alles! Sie sagte: „Nein, ich muß gleich zur Schneiderin – unaufschieblich. Aber vergiß nicht, dir Zeugen mit in das Haus zu nehmen. Ja – du wirst einen Schlosser brauchen, und – vielleicht begleitet dich dieses Dienstmädchen – Minna heißen Sie, liebes Kind, nicht wahr?“ Aber das Mädchen Minna, das mit Freundlichkeit geködert werden sollte, winkte aufheulend mit beiden Armen ab und schrillte hinaus, keine zehn Pferde brächten sie in das verhexte Haus der närrischen alten Tante. – Und dann verschwand sie fluchtartig. Ich zog noch – eingedenk der Lehre der Katzensklavin – meine alten Reitstiefel an; ja, ich muß gestehen, ich hatte sie schon Tage vorher vom Speicher herunterholen und die ganz zusammengeschnurrten einfetten lassen. Dann machte ich mich auf den Weg und holte mir in der Nähe der Tulpenstraße aus einer Werkstatt einen Schlosser. Bis zum Hause beschäftigten mich Überlegungen, wie man den
unerquicklichen Aufgaben, die dort warteten, am besten begegnen und wie man sie am zweckmäßigsten lösen könne. Merkwürdig und angenehm berührte es mich übrigens, daß keine aufdringlichen Gaffer in der Nähe der Villa herumlungerten. Die Vornehmheit des Viertels verbat sich wohl derartige Neugier. Ich sah nur ein paar Gesichter verstohlen hinter benachbarten Vorhängen. Dem Handwerker gelang es leicht, die Schlösser zu öffnen. Als wir die holprige Brettertür aufgezerrt hatten, rochen wir gleich durch das zerbrochene Fenster, was uns erwartete. Jammernde und röchelnde Stimmen quollen ebenfalls heraus. Ich trat deshalb noch einmal in den Vorgarten zurück und nahm einen verrosteten Spaten, der an der Wand lehnte, in beide Hände. – Keine von euch Bestien soll mir davonkommen! schwor ich. Der Schlosser ging voran; er war noch im Türspalt, da drängte sich zwischen seine Beine hindurch ein schmutziggrauer Katzenkopf, der mit einer verzerrten Wimmermiene zu mir empormiaute und in den Garten zu entwischen drohte. Ich holte deshalb mit dem Spaten aus und hatte das Glück, ohne viele Umstände mit einem Hieb der scharfen Kante das Tier zu erledigen. Andere, die nachdrängten, wurden vom statuierten Exempel abgeschreckt und flohen treppaufwärts in die Zimmer. Ich sage: ich hatte damals das Glück, – weil mir dies Glück bei der Katzenjagd später nicht treu blieb. Nein, später nicht! – Wir fanden die Leiche hart am Eingang; sie mußte durch die aufgedrückte Tür beiseite geschoben werden und lag dann etwas entfernter von der Treppe, als sie wohl ursprünglich geruht hatte. Ich schloß, damit ja keine der Katzen hinausschlüpfte, sofort die Tür, – und dann standen wir mit zugehaltenen Nasen, denn die Alte stank beträchtlich.
Es war dämmerig in dem kleinen Vorraum, und wenig war zu erkennen. Hier konnte man sie nicht liegen lassen. An einem Kleiderständer hingen ein paar Tücher; die nahm ich, machte Schlingen daraus und legte sie um Nacken und Beine. So schleiften wir sie die Treppe hinauf in das Zimmer, in dem noch der Kronleuchter brannte. Ich löschte das Licht und zog die Vorhänge auf. Obwohl keine der Katzen mich ansprang, war ich doch froh, meine Reitstiefel unter den Hosen zu haben, denn viele der ausgemergelten und räudigen Körper umwankten meine Schienbeine, sich an ihnen zu reiben. Ich erwehrte mich ihrer nach Kräften. Übrigens flohen manche in plötzlich ausbrechender Scheu, bevor sie Fußtritte bekommen hatten. Der Schlosser kämpfte inmitten dieses höllischen Gemisches von faulendem Fleisch und Katzenkot mit Ohnmachtsanfällen. Ich konnte ja der Tiere wegen kein Fenster öffnen. Ich brachte also den Mann hinunter und ließ ihn ins Freie. So war ich vorerst allein im Hause. Ich überlegte, was ich zu tun hatte. Benachrichtigte telephonisch die Polizei und meldete den Todesfall an der einschlägigen Stelle. – Dann zog ich das Tuch, das ich ihr drunten über das Gesicht gebreitet hatte, beiseite. Der Anblick war, – ja der Anblick war schon ungeheuerlich. Schminke lag noch grell auf schlaffen Wangen; ein leuchtendes Rot blühte ganz irrsinnig auf der Oberlippe, während die Unterlippe weggefressen war. Auch die Nase hatten die Bestien aufgeknabbert; da lag nun eine graubraune Wundfläche zwischen den blauschwarz gemalten Höhlungen der Augen. Die Ohren waren zerfranst, das Kinn angenagt. Am schlimmsten waren die Arme mitgenommen; sie waren buchstäblich entfleischt. Was sollte mit den Kreaturen geschehen, die sich von diesen Leichenteilen knapp über den Hungertod hinweg ernährt
hatten? Klar, daß sie vernichtet werden mußten. Und ich war entschlossen, dies sofort und peinlich genau selber zu erledigen. Ich telephonierte nach Hause, meine Frau möge mir Fechthandschuhe, Gesichtsmaske und Stangenschwefel, der in der Gerätekammer sozusagen bereit lag, herschicken. Sie war nicht zur Schneiderin gegangen, meine Frau – ich hatte es ja gewußt –, sondern stand schon am Apparat; sie mußte wohl auf meinen Anruf gelauert haben. Sie versprach, alles schnellstens zu schicken. Ob ihre Tante Konstanze lebendig oder tot sei, danach fragte sie gar nicht. Ich rief noch einmal an, denn mir fiel ein, daß ich nicht nur Tötungsmittel, sondern auch Lockspeise brauchte. Und ich bestellte Milch und rohes Fleisch. Bis alle diese Dinge kamen, durchwanderte ich die Räume. Ich will mich nicht damit aufhalten, alle Bilder der Verschmutzung und des Verfalls zurückzurufen, denn der Arm schmerzt mich sehr. – Nein, Kollege, zu Ende berichten will ich schon! Und was von dieser Wohnung grell, wenn auch wirr vor mir steht, sei aufgezählt. Da stieß ich auf ein Zimmer, in dem kleine Betten und Kinderwagen standen; Dutzende von Kissen und Kißchen lagen umher, in Spitzen und Atlas gearbeitet; seidene Gardinchen, samtene Schlummerröllchen, Daunendeckchen; Schüsselchen und Tellerchen aus bestem Porzellan, aber nicht eines heil, – und bis zur Unkenntlichkeit besudelt alles. Aus bestimmten Spuren wurde mir klar, daß hier das Gebärzimmer der trächtigen Kätzinnen gewesen war. In zwei Bettchen fanden sich Reste von Würfen, die von den Müttern in den letzten knappen Tagen selbst aufgefressen worden waren. In allen Schränken und Kommoden heilloser Wirrwarr. Nur ein Schrank zeigte leidliche Ordnung: Näpfchen und Tiegel und
Kästchen waren eingereiht, alle trugen Namensaufschriften. Ich fand eine Schachtel: ,Pulverisierte Perlen für Mimi’, darin opalisierende Staubspuren noch zu entdecken waren, und ich zweifle nicht, daß tatsächlich Perlen hier vergeudet worden sind. – Ich fand einen weißen Tiegel, der gar nicht klein war und die Aufschrift zeigte: ,Goldstaub für die Jünglinge Paul und Peter’; er war leer. Ein Schächtelchen, ebenfalls leer, besagte: ,Platinschützerchen für Elviras Krallen’. – Eine grüne Kristalldose, so sonderbar in ihrer Form, daß sie wohl auf Bestellung gefertigt war, trug eingeschliffen die Worte: ,Der heilkräftige Smaragd für meinen Liebling Moritz’; aber ein Smaragd lag nicht mehr darin. – Alles vergeudet und vertan – alles! Ich warf den Katzen, die mich wie der leibhaftige Hohn auf diese heillose Wirtschaft umdrängten, Töpfe und Tiegel auf den schäbigen Pelz und forschte weiter. Es fanden sich im Erdgeschoß Räume mit eingerosteten Eisenladen, stockfinster, denen ein geballter Dunst von Moder und Naphtalin träg entquoll. Diese Räume hatten ihr zu einer Art Mausoleum gedient. In langer Kette auf wackligen Tischen ruhten die vielen ausgestopften Überbleibsel ihrer Schrullen. Diese zu Lebzeiten schon abgeschabten Katzenfelle waren zernagt von Mäusen und Motten. Aus geplatzten Bäuchen rieselten Sägspäne; Glasaugen hatten sich aus morschen Fratzen gelöst und glotzten von der Tischplatte her sinnlos gegen die Köpfe, denen sie entfallen waren. Ich ging gleich wieder. In den oberen Gemächern fällt mir unter einem schweren Baldachin seiner Größe wegen ein Kissen aus lila Samt in die Augen, das in Perlenstickerei die Worte trägt: ,Schlafe süß, mein einziger Kater Ulfilas’. Ich nehme das Kissen, weil es zerschlissen ist und ihm Papierschnitzel entquellen, in die
Hand, denn ich wundere mich, daß es nicht mindestens mit Daunen gefüllt ist, – und ich muß entdecken, das diese Papierschnitzel aus Tausendmarkscheinen hergestellt sind. Diese Vernichtung von Vermögenswerten war, meine ich, ein Akt bewußter Bosheit gegen die, welche hoffen konnten, einst zu erben. Denn daß ein Kater besser auf Papierschnipseln als auf Federn schlafen sollte, diesen Unsinn wird nicht mal einmal ihr verschrobenes Hirn geglaubt haben. Sie war eben bis zur grenzenlosen Tücke beherrscht von ihrem angebeteten Katzenidol, von diesem abscheulichen Götzen, dessen lächerliches Opfer sie wurde – und wir mit ihr. Für das, was ich hier sage, sollte mir gleich ein weiterer Beweis zufallen. Man kennt die Vorliebe mißtrauischer Hexen, in ihrem Bett zu verstecken, was ihnen besonders wichtig erscheint. Ein Bett besaß die Alte nicht. Sie mußte sich vor ihren Tieren, die unter Baldachinen und auf kostbaren Pfählen ruhten, als dienende Schaffnerin so weit erniedrigen, daß sie nur ein dreckstrotzendes Lager aus Lumpen und Papier besaß. In dieses Gewirr – es war zu ekelerregend, als daß man die Hände hätte hineintauchen mögen – stocherte ich mit einem Stock und drehte die einzelnen Fetzen vorsichtig um. Und ich fand natürlich einen zerknitterten und von zweifelhaften Flüssigkeiten gefleckten Umschlag, auf dem geschrieben stand: Mein Testament. Da der Brief offen war, las ich ihn. Er betraf Anordnungen, wo und wie das Leben ihrer Katzen nach ihrem Tode luxuriös weitergeführt werden sollte. Es stellte sich später heraus, daß die Mittel dazu nicht annähernd mehr vorhanden gewesen wären; – – das war übrigens belanglos, denn die Tiere mußten ja sämtlich, weil sie höchst gesundheitsgefährlich waren, vernichtet werden.
Sie wollte also über ihren Tod hinaus jeden Pfennig für ihre Bestien vergeudet wissen. Nun aber – und hier zeigt sich wieder die besondere Bosheit der entarteten alten Jungfer – hatte sie auch für den Fall vorgesorgt, das ihr der Plan, das Dasein der Katzen weiterzuführen, mißlingen sollte, – insofern vorgesorgt, als sie bestimmte, daß insgesamt jenem Kloster zufallen mußte, was von ihrem Hab und Gut die Katzen nicht verschlingen konnten. Kurz gesagt: wir waren enterbt. Es hatte übrigens keinen Wert – ja, ich will heute reden, wie mir die Worte in den Mund kommen –: Dies Aufstöbern des Testamentes brachte nicht etwa den Gewinn mit sich, es heimlich verschwinden lassen zu können. Denn es enthielt den Satz, daß der Sicherheit halber eine zweite Ausfertigung beim Notar Klinkicht niedergelegt sei. – Erledigt also, ganz außer Gefecht gesetzt und betrogen. Mein Dienstmädchen kam und brachte Fechthandschuhe, Schwefel, Fleisch und Milch. Ich nahm ihr alles am Eingang ab und ließ meiner Frau sagen, in spätestens einer Stunde sei ich zu Hause. Ich war gerade in der richtigen Verfassung, um mit den Bestien abzurechnen. Mein Plan war fertig. Auf meinen Wanderungen durchs ganze Haus hatte ich ein kleines Badezimmer entdeckt, ein dunkles Loch, irgendwo eingebaut, das sein spärliches Licht durch ein hoch angebrachtes, nicht ins Freie, sondern in den Hausflur mündendes Fenster bekam. Es war natürlich nie benutzt worden, deshalb auch nicht angefüllt mit dem stinkenden Trödel der anderen Räume und sozusagen aufgeräumt, – eine geeignete Totenkammer. Dort hinein stellte ich Milchschüsseln und Näpfe mit Fleischbrocken und ließ den Eingang offen. Dann riß ich alle Türen auf im Haus und brauchte gar nicht lang zu locken: – sie kamen, sie wankten, reduziert wie sie waren, dem Geruch der Speise nach. Freilich bekam ich so nicht alle restlos auf einen Haufen, aber die
meisten fanden sich doch ein. Ich konnte auch nicht darauf rechnen, die letzte auf diese Weise in die Kammer zu dirigieren, denn, die schon darin waren, bekamen, sinnlos vor Gier, Händel miteinander, und es bestand die Gefahr, daß die Schwächeren, abgedrängt und weggebissen von den Kräftigeren, die Kammer wieder verließen. So zählte ich schnell die ums Futter keuchend Gehäuften, – es waren sechsundzwanzig, die Kleinsten eingerechnet –, stieß den Riegel des hohen Fensters auf, drehte das elektrische Licht an und schloß die Kammertür von außen ab. Schon nahten neue Zuzügler. Ich hatte die festen Lederhandschuhe und das Gitter der Gesichtsmaske bereits übergezogen. Ich packte sie und warf die erschreckt Hinausfauchenden durchs Fenster in das Innere des Baderaums, wo sie niederplatschten, auf die Rücken der Genossinnen, in die Schüsseln und dumpf dröhnend in die blecherne Badewanne. Ein fürchterliches Gezisch und Gespuck derer, die sich in Wut und Angst gegenseitig anfielen, begann. Einige, die miauend im Fleisch- und Milchgeruch vor der Türe warteten, aber sahen, welche Lustreise die Freundinnen antreten mußten, empfahlen sich wieder. Ich ging nun systematisch vor: Zimmer für Zimmer und Ecke für Ecke. Mir grauste nicht wenig, aber es war Notwendigkeit. Hatte ich einen Raum erledigt, so schloß ich ab; weiter: der nächste! Ich fuhr mit einem Stecken unter alle Betten und Kommoden und wischte manchmal halbe Kadaver hervor, die wohl schon zu schwach geworden waren, um selber noch in die Kammer zu Milch und Fleisch zu kriechen. Ich forschte in allen Portieren und auf allen Schränken, – und jedes Exemplar wurde dem Haufen in der Badekammer zugetragen und zugezählt. Manche hatten, unglaublich zäh wie diese Geschöpfe sind, noch beträchtliche Kräfte, mit denen sie sich zur Wehr setzten, aber was tat das meinen gepolsterten
Handschuhen! Diesen kräftigen Tieren zuliebe mußte ich eine Leiter ans hohe Fenster rücken und jedesmal hinaufsteigen, denn sie klebten wie Kletten – sie verkrallten und verbissen sich und konnten nicht einfach als Bündel durch die Öffnung geworfen werden; man mußte sie behutsamer hineinexpedieren. Endlich war reiner Tisch gemacht, – so schien es mir. Ich hatte vom Speicher zum Keller jeden Winkel durchstochert und durchstöbert. Ich konnte an den letzten Akt herantreten. Einundvierzig Luder – das war die Endsumme – krochen in steigender Erregung durcheinander, denn sie spürten wohl Außergewöhnliches herannahen; sie ohrfeigten sich mit matten Tatzenhieben, bissen sich in die räudigen Rücken, röchelten und prallten voreinander zurück. Ich sah alles von der Leiter aus durch das Fenster. Längst waren Teller und Schüsseln leer. Die Milch, vom Futterneid umgestoßen, triefte über den Boden, und in der angeborenen Scheu vor Feuchtigkeit stand das Viehzeug mit krummem Buckel und schlenkernden Pfoten in der weißlichen Brühe. Ich zündete den Stangenschwefel an und warf ihn brennend hinunter in die Badewanne, – hinunter zu der Schwefelbande. Schloß dann das Fenster, verstopfte jede Ritze und beobachtete die Wirkung, soweit der Qualm das zuließ. Ich muß gestehen, ich habe selbst dem Katzenkörper, der ja wie knochenlos erscheint, die Fähigkeit solcher Verrenkungen nicht zugetraut. Als die ersten Schwefeldämpfe ihnen in die Nasen zogen, war es, als kehre die alte Kraft zurück, – als hätten sie nicht acht Tage gehungert. Einige sprangen gegen die Tür, – ein paar sogar – mein Gesicht störte sie keineswegs – versuchten, gefedert vom Entsetzen, im Sprung die Höhe des Fensters zu gewinnen, und sie reichten erstaunlich hoch hinauf, fielen dann aber zurück – eine recht unnötigerweise in den brennenden Schwefel. Ich fürchtete schon fluchend, meine
ganze Mühe sei umsonst, weil die Gefahr eines Brandes durch das angesengte Tier entstand. Aber es blieb auf einmal schachmatt in der Wanne liegen, und das Feuer war damit sozusagen lokalisiert. Als sie endgültig erkannten, daß nirgends ein Ausweg war, fielen sie in einer besinnungslosen Wut übereinander her. Ich glaubte es zu erleben, daß eine die andere verschlingen und nichts mehr übrigbleiben werde. Ich erinnerte mich, während ich so auf der Leiter stand, daß diese ganze Rotte von einer einzigen trächtigen Kätzin, die vor vielen Jahren der Tante Konstanze zugelaufen war, abstammte. Hier waren also nur allerengste Blutsverwandte beieinander, und es schien mir der infernalische Haß dieser einundvierzigköpfigen Sippe, die aus Ureltern, Eltern und Kindern bestand, wobei des öfteren die Mutter Gattin des Sohnes, der Großvater Bespringer der Enkelin gewesen war und so fort, – dieser infernalische Haß schien mir eben Ergebnis der allernächsten Verwandtschaft des Blutes zu sein, das ein Blut war, – immer sich hatte mit sich selbst befassen müssen und nie sich hatte austoben zu können. Jetzt wütete es bis zur Vernichtung gegen sich. Der Qualm wurde so dicht, daß man keine Körper mehr unterscheiden konnte, sondern nur noch die Verkrümmungen und Zuckungen als irgendwelche Bewegungserscheinungen des Kammerbodens wahrnahm. Ich stieg von der Leiter herunter. – Merkwürdigerweise hatte die Bande kaum geschrien. Ein anfangs aufsteigendes Geplärr verkrächzte bald: Schwefeldämpfe scheinen Katzenstimmbänder geschwind lahmzulegen, – eine recht angenehme Wirkung für den, der sonst wohl genötigt gewesen wäre, sich die Ohren zu verstopfen. Als ich mir in der Küche die Hände wusch, ans Fortgehen dachte und mich schon wunderte, daß niemand sich einfand, da
schellte es, und es kam die Behörde und auch die Leichenfrau und dann Kollege König, der Arzt des Bezirkes. Ich erzählte ihm kurz, was – was zu erzählen war, und äußerte, nach meiner Meinung habe ein Gehirnschlag das Ende gebracht. König betrachtete diesen greulich bemalten und angefressenen Schädel und nickte zustimmend. „Daß kein Mord, Raubmord oder Lustmord, vorliegt, ist nicht anzuzweifeln“, fügte ich hinzu. „Trotzdem muß die Leiche nach Lage der Dinge ins pathologische Institut“, bestimmte König – wie mir schien, mit lächerlicher Wichtigtuerei – und schickte die Leichenfrau, die ganz erlöst aufatmete, wieder fort. Mir wurde froh zu Mut. Wohl weil ich endlich einen Abschluß all dieser Unerquicklichkeiten sah. Auch in der Katzenkammer rührte sich nichts mehr. Ich sagte lachend zu König: „Die Herren im pathologischen Institut werden sich freuen über den bemalten Zauberschädel.“ König sah mich befremdet an. Es war mir gleich. Er verlangte wohl, ich solle ihm den üblichen Hokuspokus von der Trauer um die Anverwandte vormachen. Hier war ich fertig. – Ich ziehe also den Mantel an und will meinen Schirm, der in einer röhrenartigen großen Vase steht, an mich nehmen, da springt aus ihr ein ockergelber Satan, der mich fast umwirft, gegen meinen Magen, hängt dort einen Augenblick festgekrallt, schleudert sich weg und entrennt ins nächste Zimmer. Ich lege also den Mantel wieder ab, Handschuhe und Gesichtsmaske wieder an, sehe auf Königs Gesicht ein spöttisches und Abstand nehmendes Lächeln, über dessen Borniertheit ich mich maßlos ärgere, und beginne die Jagd, – allein, denn keiner der Anwesenden zeigte Verständnis dafür (König als Arzt hätte es haben müssen!), wie dringend es war,
auch diesen letzten Schädling, der sich geschickt verborgen gehalten hatte, zu vernichten. Das Tier enthüllte eine unbegreifliche Kraft und eine ganz unberechenbare Gewandtheit. Es schien nicht ausgehungert, es hatte vielleicht am meisten von allen dem Fleisch der Tante zugesprochen. Es flitzte mir zwischen den Beinen durch, während ich mit dem Prügel zuschlug; es warf sich in Sprüngen, die fast schon Flüge waren, vom Schrank auf den Ofen, vom Ofen auf die Vorhangstange, von der stürzenden Stange hinter den Spiegel. Nur einmal – einmal hätte ich es niederschlagen können, da ging es nicht, da saß das Luder mitten im Zimmer auf dem Hals der Alten und beroch seelenruhig, als sei nirgends Gefahr, die zerfressene Nasengegend. Ich sehe heute noch die widerlichen Schnupperbewegungen der Schnauze. Wahrhaftig und trotz allem: ich holte aus –, aber König fiel mir in den Arm. Das war falsch von ihm, das war verbrecherisch! Ich dank’ es ihm nicht – eher alles andere! Weiß Gott, ich danke es ihm nicht! Dann hub die Jagd wieder an, aber sie war bald zu Ende – zu meinen Ungunsten –, und dies nicht ohne meine Schuld. Ich schlug bei einem vergeblichen Hieb ein Kästchen von der Kommode; es prallte gegen das Fenster und durchbrach die Scheibe. Das Tier erfaßte sofort Luftzug und Ausweg und sauste dem Kästchen nach. Ich sah es noch als gelben Strich durch den Garten gleiten und sah es in den wogenden Sprüngen des Raubtiers die Straße überqueren. Ich ging. Zu Hause sagte ich zu meiner Frau: „Deine liebe Tante Konstanze ist am Gehirnschlag gestorben; die Katzen habe ich weniger mild ins Jenseits befördert. Und erben wirst du gar nichts, denn ein Testament ist vorhanden, das von dir mit keiner Silbe spricht.“
Meine Frau schwieg – was eine Seltenheit bei ihr ist; sie sah mich nur in stummer Verzweiflung an. Das Begräbnis kam und ging vorbei. Die Ordnung der Unordnung und des Nachlasses – damit hatten wir nun wenigstens nichts zu tun. Ich wurde nur einmal noch in Sachen Konstanze Kaltwasser belästigt: irgendein übereifriger Hanswurst hatte an der Katzenvernichtung Anstoß genommen, und man tat so, als solle ich mich Wegen Tierquälerei verantworten; – aber die Gründe für meine Maßnahmen, die, wie ich ausführte, Dank und nicht Bekrittelung von Seiten der Allgemeinheit verdienten, wurden als stichhaltig hingenommen. Darüber waren zwei Wochen vergangen. Ich komme zum Schluß. – „Brauchen wir viel zu trauern um eine Verrückte, die längst in eine Anstalt gehört hätte? – Um eine Verschrobene, die nichts als Bosheit ihren Verwandten hinterlassen hat?“ sagte meine Frau, als ich zu bedenken gab, die Welt möchte vielleicht Anstoß daran nehmen, daß man gleich nach dem Begräbnis einer Tante ins Theater geht. Aber dann ging sie ja gar nicht, sondern ich ging, – und damit, Pinswang, bin ich bei dem Theaterabend angelangt, der mir so übel bekommen ist. Ich gehe also, wie Sie wissen, in diesen ,Kondor’. Der Platz ist in der ersten Reihe. Mir war es stets unangenehm, so nahe an der Bühne zu sitzen; man sieht die Schminke der Gesichter und den Ansatz der Perücken – und von geschminkten Gesichtern hatte ich eigentlich genug – – Ich werde mich ein wenig beeilen – ich springe – Sie werden begreifen, Kollege, – es geht mir nicht zum besten – ja, gleich: zwei Worte noch. Die Katze steht auf der Bühne. Das heißt, sie prallte plötzlich unter einem Schrank vor. Gehört natürlich nicht zum Stück. – Ich erkenne es gleich wieder, dieses ockerfarbene Biest; es ist ganz wirr, es schießt ruckweis umher, seine verhuschte
Wildheit wird nur für Augenblicke gebannt durch die rätselvolle Umgebung, das Lachen der Zuschauer – – Wie? Nein, nein, nein: keine Theaterkatze. Gewiß habe ich mich erkundigt: kein Arbeiter, kein Schauspieler kannte das Tier. Ein fremdes, von draußen hereingelaufen, über Treppen, durch Gänge, zwischen Menschen und Kulissen hindurch – um neun Uhr dreißig stand es auf der Bühne und spielte mit. Das blöde Stück verlangt, daß ein Mensch mit einem Stock auf Tisch und Tür schlägt. Die Bestie, den Lärm im Rücken, fliegt wie aus der Pistole geschossen über die Rampe in den Raum und mir an die Schulter. Ich, oh ja, – ich sah sie kommen, ich hob schon die Hände, bevor sie sprang, um sie aufzufangen wie einen Ball, der nur mir zustürzen konnte. Ich versuche gleich, ihren Hals zwischen die Finger zu klemmen, da beißt sie mich in den linken Handballen – hier – und entwischt unter die Klappsessel. Verschwunden für immer! Die schwache Wunde hat wenig geblutet. Es gab weiter keine Störung; der Schauspieler droben hat kaum ein paar Sekunden gestockt. Der ,Kondor’ nahm seinen Lauf und ging unter in Lächerlichkeit. Und ich liege jetzt hier und bin fertig mit meinem Geschwätz. Und jetzt, Pinswang, sehen Sie nach mir; sehen Sie nach dem Arm! Geben Sie sich Mühe, lieber Kollege, ich – flehe darum! Geben Sie sich Mühe mit mir! Oh, verflucht –
VERZWEIFLUNG
Jemand hat leise gerufen. Hat nicht eben jemand meinen Namen gesagt und den Dienstgrad dazu, den ich im Felde gehabt habe? Weshalb bin ich aufgewacht? Es ist mitten in der Nacht und drei Minuten nach drei. Oder hat die Klingel angeschlagen, ganz dünn und zirpend nur? Ich will aufstehen und nachschauen. Der Gang in meiner Wohnung ist matt erleuchtet, also brennt das Licht im Treppenhause, von dem aus ein Schein hereinfällt. Soll ich den Drücker für die Haustür in Bewegung setzen? Es ist nicht nötig, denn schon höre ich jemand die Steintreppen aufwärtstappen. Ich spähe durchs Guckloch und sehe vorerst nichts als einen Teil des breiten, runden Treppenhauses, das sich als ungeheure Wendeltreppe emporschraubt in diesem turmartigen Gebäude von sieben Stockwerken. Mit den stapfenden Tritten im gleichen Takt geht keuchender Atem, widerhallend – auch der Atem – in dieser steinernen Riesenröhre. Ein Mensch kommt an meinem Spähloch vorüber – ein Mann; er geht gebückt und trägt eine schwere Last über Schulter und Rücken… Vorbei. Ich habe seine Augen nicht sehen können, aber er mag von meiner Statur sein, und er hat blondes Haar wie ich. Da kommt er noch einmal in meinen Gesichtskreis – entfernter und höher – aufwärts in der Schraubung der Wendeltreppe. Ich erfasse das Bild ganz und ich sehe, daß er einen menschlichen Körper über Schulter und Rücken geworfen trägt. Vorbei. Was ist das? Wird hier ein Lebloser ins Haus geschafft? Was bedeutet das? Wird ein Toter verschleppt? Wenn irgendwo ein Verbrechen begangen wurde – seit wann trägt man das Opfer in menschliche Wohnungen? Man schafft es doch fort – fort aus dem Hause der Untat – fort aus jedem Umkreis von Häusern, hinein in ein saugendes Wasser, in einen modrigen
Kanalschacht, in eine Dunggrube, allenfalls in einen Keller, – – aber treppenaufwärts? Haben wir im Felde Leichen treppaufwärts getragen? Lächerlicher Gedanke. Wir waren soviel mit Toten beisammen, aber das ist nie vorgekommen. Loch an Loch haben wir mit ihnen gehaust; die Ratten waren die Dritten im Bunde, und sie haben – wie oft – den Toten die Augen ausgefressen. Weshalb muß ich daran denken? Einmal haben wir eine große Truhe zur Hand gehabt und die tägliche Beute des Krieges darin verwahrt, bis wir sie begraben konnten. Aber auch in die Truhen haben die Ratten hineingefunden. Hob man leise und unversehens den Deckel – ganze Knäuel entwirrten sich, und immer sind zwei am Fraß der Augen gewesen. Ihr Mütter und Geliebten gefallener Männer – euch blieb Schlimmstes erspart! Habt ihr eure Toten blaugrün und zum Bersten gedunsen gesehen, schauerliche Spukgestalten nach dem Ende durch Gas? Habt ihr sie ohne Kinn und Lippen und Nase und Augen gesehen und dennoch lebend – lallend für kurze Zeit noch und lebend –, anstelle des ganzen Gesichtes eine blutige Fleischfläche, weil ein einziger Granatsplitter alles weggerissen hatte? Habt ihr sie nach den nächtlichen Besuchen der massenhaften Ratten gesehen? – Geht, ihr alle habt nie erfahren, welch schamlose Bestie der Krieg ist. Aber Leichen treppaufwärts tragen –, das ist selbst mir neu. Fast möcht ich sagen, das ist unheimlicher als alles, was ich in vier Jahren über mich habe ergehen lassen müssen. Ruhig, mein Herz! Wer sagt denn, daß da eine Leiche Steinstufen hinaufgeschleppt wird? Über mir, der ich allein in dieser kleinen Wohnung des Zwischenstockes hause, wohnen viele Menschen. Herr Anwalt Baumann im zweiten Stock oder besser noch der dicke Doktor Macholz im vierten hat sich heute nacht betrunken und läßt sich durch einen Dienstmann
nach Hause tragen. Das ist alles. Ruhig, mein Herz. Ich will wieder zu Bette gehen. Das Scharren von Pferdehufen auf der Straße unter meinem Fenster… Ein altertümlicher Wagen hält vor der Haustüre. Wo habe ich ihn oder einen ähnlichen schon gesehen? Einen ähnlichen? Ganz den gleichen! Diese alte Kalesche ist mir doch in einem kleinen französischen Dorf aufgefallen – in Mericourt war es, von dem später kaum ein Stein auf dem anderen blieb – und ich habe mich damals gefragt, welchen Zwecken diese prunkvoll-komische und umständliche Reisekutsche noch dienen sollte. Mitten in einem zusammengeschossenen Bauerngehöft stand sie – ehrwürdig und rätselhaft unversehrt. Wenn sie die Reise von Frankreich bis tief hinein in deutsches Land gemacht hat, muß sie viele Wochen unterwegs gewesen sein. Wer kommt angereist in ihr – und in mein Haus? Unsinn – Hirngespinste! Ich will mich zur Ruhe legen. Hat unsereiner nicht Ruhe verdient sein ganzes ferneres Leben lang? Nach ihr allein sehne ich mich. Tappen nicht wieder Tritte – die gleichen Tritte – die Treppe herauf? Weshalb zittere ich? – Ach, ich bin dünn bekleidet, und dieses steinerne Treppenhaus, mit seinen endlosen Rundwänden durch eine dünne Tür nur von mir getrennt, haucht eisigen Atem herein. Durchs Guckloch sehe ich den nämlichen Mann mit der nämlichen Last. Angst? Nein. Ich mache die Türe auf, und ich trete hinaus auf die Wendeltreppe. Er ist vorbei und wendet sich um nach mir, langsam, wie seine Last es verlangt – gar nicht erschrocken, nicht im mindesten ertappt, gar nicht befremdet. Er bleibt nicht stehen, er versäumt keine drei Sekunden, keuchend stapft er weiter treppaufwärts. Ich aber glaube, in mein eigenes Gesicht gesehen zu haben!
Ich will nichts mehr wissen. Ich erwürge Ahnungen. Es ist so mörderisch kalt – eine Kälte, die aus mir selbst bricht. Aber meine Stirn steht in Flammen. Ich liege wieder im Bett und vergrabe mich in die Kissen. Eine eiserne Tür dröhnt – fern und aus der Höhe, hallend durch den ganzen Bau. Gibt es eiserne Türen hier im Haus? Freilich; ich entsinne mich; fast jeder Speichereingang hat jetzt eine Eisentüre. Das ist Vorsorge der Baupolizei. Welch eine freundliche Behörde! Sie meint es gut mit den Menschen. Aber ich fürchte mich. Es ist sehr lächerlich – ich fürchte mich. Wovor? Alle Türen sind gut verriegelt. Verriegle dich selbst und schlafe!
Es ist heller Tag. Ich stehe auf und kleide mich an. Ich will gleich hinaus in die Sonne. Welch gutmütiger Tag! Nichts Schlimmes ist geschehen, alles ist in der Reihe. Die elektrischen Bahnen brausen befreiend durch mich hindurch. Könnte je dieses Roß dort angezweifelt werden, in seinem glänzenden braunen Fell, das den lustigen gelben Postwagen durch die klarste Wintersonne zieht? Postwagen – Reisewagen. Es gibt lächerliche alte Reisekaleschen, die weit fort irgendwo langsam vermodern und in sich selbst zusammenfallen. Mögen sie! – Ein Hund kommt auf mich zu. Du gutes Mitgeschöpf, dein Schwanzstummel wedelt mir nichts als Liebe! Wie sehr kann ich sie brauchen – aber dort drüben geht ein Mann, der trägt einen häßlichen Sack über Schulter und Rücken. Ganz verkrümmt ist er unter der Last, und sein blondes Haar beunruhigt mich. Ich muß plötzlich umkehren. Ach, ist es schon wieder vorbei mit dem fröhlichen Tag? Ich muß sehr schnell nach Hause gehen. Glaubte ich denn wirklich, darum herumzukommen? Mir kann kein Postgaul helfen und kein freundlicher Hund.
Glaubte ich einfach daran vorbeizukommen? Ich muß unweigerlich nachsehen, ob es eiserne Türen gibt in meinem Haus, und wenn sich eine findet, muß nachgesehen werden, was hinter ihr ist – was jetzt hinter ihr verborgen liegt. Ich hole den Speicherschlüssel aus meiner Wohnung und schraube mich diese endlosen Stufen empor, die steinern schweigen in einem fahlen Tageslicht, das wie Mehl herniederstäubt aus der trüben Glaskuppel des Treppenhauses. Ich bin nie bis hier hinaufgelangt. Meine Wirtschafterin, die vor vierzehn Tagen davongegangen ist, hat mir gesagt, es finde sich oben nur spärlicher Speicherkram: ein paar alte große Koffer, ein Papageienkäfig, ein paar leere Kisten. Und wir hätten den größten Speicher, weil wir die kleinste Wohnung im Hause haben. Diese Begründung sah ich nicht ein, aber sie blieb darauf bestehen. Eine eiserne Tür ist da, und der Schlüssel paßt. Es ist hier sehr dämmerig: hätte ich nur meine kleine Feldlaterne mitgenommen. Wo ist in dieser Flucht von Lattenverschlägen der größte Raum, der mir gehört? – Die Augen gewöhnen sich an das Helldunkel, und nun sehe ich, daß jede dieser hölzernen Gittertüren Zettel und Namen trägt, von sorgsamer Hand geschrieben und hingepappt. Ein prächtiger Hausverwalter! Ich wohne also nicht nur unten im Zwischenstock, – auch hier oben. Wenn jemand mich hier oben besuchen will, wenn er etwas für mich abzugeben hat, kann er nicht fehlgehen. Wie – etwas abzugeben hat? Wahrhaftig, es sieht aus, als seien diese albernen Zettel mit ihren pedantischen Namenaufschriften, wie sie kein vernünftiger Speicher sonst besitzt – als seien diese Zettel herausfordenderweise da. Ich weiß nicht –: irgendwie herausfordenderweise. Das ist des dicken Doktor Macholz Speicher. Ihn erkennt man auch ohne aufgeklebten Namen. Leere Flaschen sind reihenweise aufmarschiert und stehen sich als zwei
Schlachtfronten gegenüber. Die eine Armee kommandiert eine Sektflasche, trotz Staub und Düsternis blitzend im Stanniol ihres Halsschmuckes. Aber die andere Armee ist ohne Führer und zeigt Verwirrung; das vornehme, bauchige Gefäß, das an ihrer Spitze stand – Behälter einst eines feinen Alkohols – liegt getötet am Boden – ich meine: zertrümmert durch einen Kalkbrocken, der wie eine Fliegerbombe von der Decke herabgefallen ist. Weiter! Das sind müßige Narrheiten. Ist denn immer noch Krieg in mir, und werden selbst aus Flaschen Soldaten? Krieg ist vorbei und Flaschen sind Flaschen. Hier ist mein Speicherabteil. Nun – es sieht aus darin, wie ich es mir vorgestellt habe. Der Raum ist wirklich unverhältnismäßig groß. Hier könnte man – mehr als ein Dutzend Menschen könnte man hier unterbringen. – Zwecklose Überlegung, – man bringt nicht Menschen in Speicherräumen unter. Was heißt überhaupt: man bringt sie unter? Es kann sich doch nur um lebende Menschen handeln. Nebeneinander hinschichten könnte man hier mehr als ein Dutzend. – Wem wäre damit gedient? Der Papageienkäfig nimmt sich gut aus. Wohnlich und reich macht er den ganzen Raum. – Ob ich in die Koffer hineinschaue? Da ich mir’s überlege und ein wenig davor zurückweiche, muß ich es natürlich tun. Welch ein Wirrwarr aus Mottenfraß und Kleideraas zerfällt in diesen bauchigen Ungetümen! Hier muß einmal Ordnung geschaffen werden, wie in mir selbst. Diese unnützen Überbleibsel einer abgelaufenen Zeit, die die Seele verpesten, müssen vernichtet werden. Sie haben ihre Rolle ausgespielt. Nun ist der letzte Koffer flüchtig durchstöbert. Er schnappt zu und schnappt wie ein gefräßiges Tier nach meinem Kopf. Sachte, mein Lieber! Den brauche ich noch, nachdem ich ihn durch vier unsagbare Jahre gerettet habe.
Ich kann gehen, ich kann diesen Ort verlassen. Ich habe meine Pflicht getan. Mein Speicher ist rein und ohne Schande und ohne Verbrechen. Ich werde die heutige Nacht sehr gut verschlafen. Ich habe die vergangene viel geträumt – oder auch nicht geträumt; ich bin wachgelegen und habe nachgedacht. Bin ich auch aufgestanden? Ja, ich bin aufgewesen, war an der Tür – am Fenster – wieder an der Tür. War ich wirklich –? Sicher ist eines: Ich werde heute abend sehr müde sein und ich werde sehr ausgezeichnet schlafen.
Es ist drei Uhr drei Minuten nachts. Das Treppenhaus – ich höre es fraglos durch zwei Türen – widerhallt von schlürfendem Tapsen. Ein rhythmisches Atmen durchkeucht die Riesenröhre. Der Mann geht vorbei – genau wie gestern. Heute schleppt er ein weibliches Wesen aufwärts – aus einem rosa Unterrock schlottern Frauenstiefel. Ich hole meine Feldlaterne und folge nach. Was bliebe mir anderes zu tun übrig? Man zwingt mich zu dieser Maßregel. Ich mische mich nie in fremde Angelegenheiten; diese scheint mir eine eigene werden zu wollen. Genau wie gestern dreht sich der Leichenträger für einen Augenblick herum; ich sehe in ein Gesicht, das meinem gleicht; es ist fahl und schweißbeperlt von einer Arbeit, die sich in dieser Nacht schon des öfteren wiederholt hat. Er steigt weiter, unverzagt, und ich steige dicht hinter ihm. Wie langsam wir vorwärtskommen! Nehmen diese Stufen und Absätze vor schlafenden Wohnungen und wieder Stufen kein Ende? Immer vor mir in Brusthöhe wippen die Frauenstiefel. Ich erkenne sie. Sie gehören der Madame Marguerite Goddert,
deren Haus in Avion durch einen einzigen Schuß umgelegt wurde und sie begrub. Eiserne Tür und hölzerner Verschlag stehen schon offen – – ja, und mein Speicherabteil ist bereits gut versorgt. Mehr als ein Dutzend liegen nebeneinandergeschichtet, und Frau Marguerite Goddert füllt den letzten Winkel aus. Der Mann steht mitten im Raum und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er bemüht sich, nicht auf die vielen Füße zu treten, die alle nach der Mitte zusammenströmen. Zieht eine kraus eingeteilte, bedruckte Karte aus der Tasche – – und ich sage zu mir mit meiner eigenen Stimme: Hier ist deine Leichenkarte. Du ersiehst aus ihr deinen Anspruch. Kontrolliere durch sie die Richtigkeit der Lieferung. Obwohl sie eine Abart der Fleischkarte ist, rechnet sie nicht nach Grammen, sondern großzügig nach Köpfen – bildlich gesprochen: bei manchem fehlt ja der Kopf. – Eine gerechte Verteilung wird der Welt gewährleistet. Da die Deutschen weitaus die meisten Gegner erlegt haben und während des Krieges stets maßlos stolz darauf waren, beginnt „die große internationale Gesellschaft zur Verteilung der Kriegsernte“, die ihren Sitz im Haag hat, mit Deutschland. England, Frankreich und die anderen Länder werden später versorgt werden. Niemand wird übergangen… Bitte, nimm! Und ich halte die Karte in der Hand, und der Mann vor mir macht Anstalten, militärisch zu grüßen, aber er besinnt sich anders und geht ohne Abschied zur eisernen Tür. Seine Tritte verhallen in der Tiefe. Oh, könnt’ ich gehen mit diesem Teil meiner selbst! Oder ist er schlechter daran, als was hier oben in der Kammer von mir bleibt? Vielleicht muß er weiter tote Körper in zahllose Häuser schaffen. Ich aber stehe hier. Eine reiche Ausbeute. Eine namenlos schreckliche Beute, achtsam sortiert. Neben den weißen Franzosen liegen die Marokkaner und neben den Marokkanern die Engländer. Aber am
schlimmsten ist jener Winkel dort. Da ruhen zwei Frauen und ein Kind. Und die eine Frau sagt – sie bewegt kein Glied ihres zerquetschten Körpers, nicht einmal die grünen Lippen, aber ich weiß, daß sie spricht – sie sagt: Pourquoi m‘avez-vous tueeeeee? Dieses tue ist endlos lang, es ist wie ein allerletztes Ausseufzen der platten Brust, und der dünne Laut verkriecht sich zwischen den Kisten. Dort wird er bleiben, um als würgende Frage immer bereit zu sein – klagend – anklagend. Aber ich empöre mich gegen diese Qual. Wie komme ich dazu, mich hinrichten zu lassen? Und ich sage: Ich habe Sie doch gar nicht getötet, Frau Marguerite Goddert. Die Engländer waren es, die Ihr Haus zusammengeschossen haben. Will da nicht einer der Engländer den Arm heben? Es sieht so aus. Der mit dem faustgroßen Loch an der Schläfe und dem vorgequollenen Augapfel, über den dunkelblau das geschlossene Lid sich spannt. Tastend zupft er mit gelben Runzelfingern am eingetrockneten Schmutz seiner Wundränder. So lebst du, Kamerad –! sage ich grenzenlos beglückt und beuge mich zu ihm. Aber er ist tot. Ein süßlicher Geruch steigt kalt von ihm auf: den kenne ich zu gut. Er ist längst schon tot. Sein Körper ist nur ein wenig von der Kiste herabgerutscht, und der Arm, irgendwie gehemmt, hat die Bewegung nicht mitgemacht; so kam der Griff nach dem Kopfe zustande. – Jedoch er redet, der Engländer. Ich bin William Dunbar, preßt er durch die entblößten Zähne, – du erinnerst dich –: mit dem du zusammen in Heidelberg warst. Wie magst du sagen, daß ich die Französin getötet habe? Wir schossen auf die Deutschen, und die Deutschen schossen auf uns. Hast du übrigens nicht damals in Heidelberg, als wir über den kommenden Krieg sprachen, erklärt, nie würdest du dich dazu mißbrauchen lassen, auf
Menschen zu schießen? Und hast es trotzdem vier Jahre hindurch getan. – Und erinnern Sie sich, murmelt ein Franzose, an die Jahre in Zürich, wo Sie dem Antivivisektionsverein beitraten? Ich war auch Mitglied. Wir bekämpften das Experiment am lebenden Tier. Und nun haben wir beide Jahre hindurch – hahahahaha! Er lacht traurig und so schallend, daß ein Gewoge von Tönen den Treppenturm auf- und niederbrandet. Ich beginne mich zu verteidigen – und fühle gleich, es ist umsonst. Ich bin grenzenlos verzweifelt. Ich erkläre: Konnte ich denn anders? Ich habe damals wohl geprahlt, ich werde nie auf Menschen schießen, aber man zwang mich schließlich dazu. Man zwang mich. Und ich habe jahrelang dorthin Mordwaffen abgedrückt, wo ich Menschen sah – wo ich nur Lebendiges vermutete. War ich nicht berechtigt – war ich nicht verpflichtet, solches zu tun? Alle schweigen. Weil ich hilflos umherblicke, fällt mir der Papageienkäfig in die Augen. Ein schwärzliches Geschiebe wogt hin und her in ihm, und ich erkenne, daß er angefüllt ist mit einem Knäuel von Ratten. Sie leben – und die Menschen sind tot. Euch will ich den Garaus machen, beschließe ich. Viel schöne Tiere! flüstert zärtlich eines der toten Kinder, das sich nicht ängstigen gelernt hat vor irgendwelchem Getier. Recht! Sind sie nicht auch Geschöpfe des Ewigen? frage ich mich. Wer hat sie zu dem verhaßten Geschmeiß gemacht, als das sie verschrien sind? Ich will sie freilassen, sie werden Hunger haben. Und ich öffne die Käfigtüre; sie huschen hinaus und hinweg in die Dunkelheiten des großen Speichers. Sie werden später zurückkehren und an dem sich sättigen, was hier am Boden liegt und schweigt.
Dieses atemlose Schweigen drosselt mich, und, erneut auf innere Rettung bedacht, schreie ich: War ich nicht berechtigt, solches zu tun? Man hat doch auch auf mich geschossen! Ich habe auf niemanden geschossen, haucht die Französin. – Oh, mein Gott, ich weiß, sie will sagen: und liege doch hier. Und ich falle auf die Knie. Reue schlägt über mir zusammen, und ich schluchze: Du hast recht, Frau, und auch ihr, Kameraden, habt recht mit euren Zweifeln. Ich hätte nicht töten dürfen. Ich nicht! Mir selbst habe ich ruchlos das Wort gebrochen, ich habe mich vergewaltigt, ich bin ein Verbrecher. Der ich begnadet war zu erkennen, was gut und menschlich ist – ich habe die Gnade verraten an die Gewalt. Die Gewalt hätte mich ausgelöscht – vielleicht. Als Feigling wäre mir unrühmlicher Tod widerfahren. Aber ich Feigling hätte denen Mut gemacht, die auf meinem Wege gewesen sind. Und wenn hundert sich geweigert hätten zu töten, gleich mir, hätten sich auch tausend geweigert. Und wenn tausend widerstanden wären, wären zehntausend ihnen gefolgt. Und die Welt wäre weniger durchtränkt mit Blut, und der gute Same wäre gesät in aller Welt – und was hier um meine verruchten Knie verwest, hätte nicht unerbittlich die letzte Fahrt zu mir gemacht. – Die Worte versagen mir. Ich weiß nichts mehr – nichts mehr unter dem groß aufgeschlagenen Auge des Todes, das mit keiner Wimper zuckt, während es mich immerfort ansieht – so lange, bis mein eigener Blick blind wird und grenzenlose Nacht mich überspült und hinwegrafft.
VERWIRRUNG
Als der Straßenbahnwagen in sanfter Rundling das Denkmal umfuhr, das im Wege stand, entglitt dem Theologiekandidaten auf der hinteren Plattform die Krücke. Sie holperte über das Trittbrett und blieb neben den Schienen liegen. Der Wagen fuhr weiter, und der Verstümmelte schwankte sehr erschrocken auf einem Bein und sah der verlorenen Stütze nach. Aber der junge Austräger, der hinter dem Wagen mit leeren Händen daherkam, begriff sogleich, was zu tun war. Er hob die Krücke auf und begann quer über den großen Platz zu laufen; er wollte die Sehne des Bogens nehmen, den kürzeren Weg, um sich dort drüben mit dem Einbeinigen zusammenzufinden. Doch kam er nicht weit. Der Verstümmelte, als er den Mann mit der aufgerafften Krücke nicht ihm nach, sondern in anderer Richtung von ihm wegeilen sah, schrie hilflos in Zorn und Angst; der Schaffner stoppte, pfiff und schrie; die Fahrgäste warfen zeigende Finger nach dem Entlaufenden, schrien, stiegen aus. Schon erfaßte ein Vorübergehender mit scharfem Blick den ganzen ruchlosen Vorgang; er stemmte sich dem Krückenraub entgegen, er stellte den Dieb. „Das ist die Höhe der Schamlosigkeit!“ schnaubte er, bebend vor Stolz auf sein Mitgefühl. „Einem armen Krüppel das Notwendigste frech zu stehlen! – Geben Sie das Ding her, auf der Stelle, Sie Lump!“ „Mein Gott!“ stammelte der Austräger, und er sah empor, ob der Himmel nicht einstürzen wollte, „was denken Sie! Ich habe doch nicht stehlen wollen! Ich habe doch – “ Und er hörte hinter sich schlimme Laute und bemerkte eine vom Straßenbahnwagen über Blumenbeete näherstampfende Horde mit geschwungenen Stöcken und Schirmen. „Was soll ich sagen!“ rief er voll Schmerz. „Keiner hört mir zu!“ Und er schickte sich an, weiterzulaufen.
„Steh, Lump!“ brüllte der, der ihn gestellt hatte, und vertrat ihm den Weg. Der Austräger hieb ihn mit der Krücke nieder und enteilte in Sätzen, die gefedert waren von Empörung und von Sorge um das nackte Leben. Und die Menschenjagd begann. Inzwischen hatte ein Herr mit grauen stechenden Bartspitzen sich des Theologiekandidaten, den man aus dem Wagen gezerrt hatte, befehlshaberisch angenommen. „Vorwärts, in diese Droschke!“ verordnete er, und er half selbst mit kurzen, auserlesenen Griffen dem Verstümmelten beim Einsteigen. „Wir preschen dem Kerl nach! Verdammt, daß kein Auto da ist. Vorwärts, Kutscher. Ihr Schaden soll’s nicht sein! Ich bürge dafür. Ich bin Major von Grimming. Hauen Sie auf die Schindmähre ein, daß sie Blut schwitzt!“ „Lieber Himmel“, sagte leise und mit geschlossenen Augen der Kandidat, dem von den kurzen Griffen, mit denen man ihn unsanft in den Wagen gewälzt hatte, ein wenig schlecht war, „Ich glaube, wir dürfen dem Pferd nicht allzuviel zumuten.“ Aber da sein Begleiter drohend aus den Kissen der Droschke emporwuchs, beeilte er sich, säuerlich zu lächeln und begütigend zu sagen: „Herr Major sind sehr freundlich zu mir. Es schien mir nur so – “, und er lächelte wieder –, „als habe das Pferd Krücken fast ebenso nötig wie ich.“ „Alter Kriegsgaul! Nichts mehr wert“, knurrte der Major, und dann schrie er doppelt aufgebracht: „Vorwärts, Kutscher!“ Und die vier unbeherrschten Beine des abgetriebenen Tieres tobten in einer wilden Gangart, die kein Trab und kein Galopp war, in einem schlotternden und unregelmäßigen Geschleuder über den heißen Asphalt. Bei der alten Siegessäule, neben den springenden Wassern, holten sie den Dieb ein. Er lag am Boden, und eine Menschenmenge stand um ihn.
„So hätten wir ihn denn!“ – frohlockte der Major und stieg breit und elastisch aus. Weißgrau wie der Sand, auf dem er lag, war das Gesicht des Austrägers, halb geschlossen das Auge, aus Ohr und Nase zogen sich dünne Blutfaden. Neben ihm ruhte, aus drei Teilen wieder zusammengefügt und wackelig in der Linie, die zerbrochene Krücke. Der Einbeinige, den man in der Droschke beließ, richtete sich entgeistert auf. „Allmächtiger, was ist mit ihm?“ stotterte er. „Ist er ohnmächtig?“ Stumm stand die Menge. Der Major zwirbelte an seinen Bartenden. Ein Mädchen entriß sich dem dumpfen Kreis und sagte mit gewürgter Stimme: „Er hat so sehr laufen müssen. Vielleicht, daß er Wasser braucht.“ Und sie sah nach dem Springbrunnen hinüber. „Der trinkt nicht mehr!“ sagte eine Stimme. „Der stiehlt auch keine Krücken mehr!“ befreite sich ein anderer und stieß mit dem Arm, den er in die Luft schüttelte, Zweifel und Schuldbewußtsein von sich. Und trat neben die Krücke – furchtlos – und hob die Teile auf und brachte sie, nach Möglichkeit zusammengefügt und die Tatsache der völligen Unbrauchbarkeit einfach übergehend, mit zufriedener Gewissenhaftigkeit dem Krüppel im Wagen wie eine Opfergabe dar. Da tat das Pferd ein paar tiefe Seufzer, suchte das Zentnergewicht der Beine vergebens in einen sicheren Stand zu verschieben, und schlug der Länge nach hin. „Allmächtiger! – “ sagte der Theologiekandidat wieder und legte die dargebrachten Holzteile achtlos neben sich. „So wichtig war die Krücke eigentlich doch nicht… Ist denn der Mann immer noch bewußtlos?“
Der Major mußte sich des aufgeregten Kutschers erwehren. „Hirnverbrannter Einfall, Krücken zu stehlen! Wozu denn eigentlich, wie?“ grollte er. „Helfen Sie ihn ausspannen und aufrichten!“ tobte der Kutscher gegen ihn. „Wer ist denn schuld, daß er umgefallen ist?!“ „Vielleicht, daß er Wasser braucht…“ hoffte wieder das Mädchen und glaubte, diesmal mehr Glück zu haben. „Der braucht kein Wasser mehr“, sagte jemand, nachdem er sich flüchtig niedergebeugt hatte, fachmännisch sicher. „Wozu einer Krücken stehlen muß, fragen Sie?“ brach eine aufbegehrende Stimme los. „Vielleicht, weil er Hunger gehabt hat; ein paar Mark bringt so eine Krücke doch ein. Vielleicht, weil er nichts zu fressen gehabt hat.“ Aber der Kutscher, der nicht im Bilde war, lehnte ab: „Freilich hat er zu fressen gehabt. So viel wie jeder andere Gaul.“ „Unsinn, Mann, Unsinn!“ befahl der Major, und diese Erklärung genügte auch dem Aufbegehrenden. Und wieder war es ganz stumm im Kreise. Nur die Wasser sprangen. Und der Kutscher arbeitete an den Pferdegurten. Da stand der Kandidat im Wagen auf. Er hielt sich am Bock fest und ließ die Last seines schmächtigen Körpers ganz auf dem einen Bein ruhen. Er sprach wie von der Kanzel über die Köpfe der Gemeinde hinweg, aber es war mehr eine Rede an einem Grabe – an zwei Gräbern. Er sagte nicht: „Liebe Trauerversammlung“, aber es lag in der Luft. Er sagte: „Die Krücke wäre nicht allzu schwer und nicht mit zu großen Kosten zu ersetzen gewesen – zumal sie jetzt doch ersetzt werden muß. Daß der wenig kräftige Droschkengaul diesen gesteigerten Anforderungen nicht würde entsprechen können, gab ich gleich zu bedenken; ich wurde damit leider nicht gehört. Das Schlimmste freilich bleibt jener
arme Mensch, der dort liegt – – ich weiß nicht, in welcher körperlichen Verfassung. Ist denn kein Arzt hier? Bitte, will sich niemand von den Anwesenden nach einem Arzt umsehen?“ Einige gingen; aber sie gingen die Anlagen abwärts, wo keine Häuser stehen und keine Ärzte wohnen. Andere gingen, denen die Sache langweilig wurde, den Straßen zu, aber sie wußten, daß sich kein Arzt mehr zu bemühen brauchte. Der Major zog sich zurück, tändelte an einem Rosenstrauch, sah den Kutscher gut beschäftigt, zog sich weiter zurück; schon war er durch Gebüsch verdeckt und in Sicherheit. Der Kandidat fuhr fort in seiner Rede: „Es wäre möglich“, sagte er, „es wäre sehr wohl möglich, daß jener Arme, der dort liegt, gar nicht die Absicht hatte, die Krücke zu stehlen. Er war vielleicht verwirrt, vielleicht ein Geisteskranker. Er glaubte vielleicht, sie gehöre einem Menschen, den er irgendwo auf der Straße sah, vor sich in der Richtung, die er mit der Krücke einschlug.“ Dem Kandidaten schauderte, er mußte sich fester anklammern. „Am Ende“, führte er weiter aus, „glaubte der Ärmste, sie sei von einem Wagen herabgefallen. Ich erinnere mich, es fuhr ein Wagen mit der Aufschrift ,Gebrüder Globerger, Fortepianolager’ gerade vorbei. Von ihm kann sie für den Unglücklichen heruntergeglitten sein; gewiß kann sie – – Ist denn immer noch kein Arzt –?“ Niemand hörte mehr zu. Die letzten waren gegangen. Auf dem Gesicht des Austrägers in der heißen Sonne saßen schon die Fliegen.
VERWESUNG
Ich will mir einmal aufschreiben, was mir so jeden Tag einfällt. Ich kann dann wenigstens nachlesen, ob es wirklich so ist, daß ich täglich anders über die Sache denke. Es ist ja ausgeschlossen, daß ich mit irgendeinem Menschen darüber rede. Also will ich es ein wenig mit mir selbst. Das Wirtschaftsbuch der Mutter ist gerade recht für diese Aufzeichnungen; zum Abrechnen wird es doch nie mehr gebraucht. Jetzt liegt sie schon seit vier Tagen da drinnen, und ich sitze hier in der Küche und schreibe. Der Bleistift ist klein und fettig und zerbissen; sie hat immer daran gekaut. Sie liegt doch auf dem Bett; heute weiß ich es ganz bestimmt. Sie ist über dem Bett zusammengebrochen und wollte herunterrutschen, aber ich habe sie gehalten und wieder hinaufgezogen. Sie liegt nicht am Fußboden; dort liegt der Vater allein. Es ist nötig, daß ich das endlich einmal aufschreibe, denn es kommt mir immer wieder anders in den Sinn, und ich weiß nie recht, wie die beiden Leichen gelagert sind. Wenn ich den Donnerstagabend, an sich die ganze Geschichte ereignet hat, überdenke, dann, scheint mir, ist es so gewesen: Ich bin um sieben Uhr abends heimgekommen. Ich habe ganz bescheiden, gar nicht frech, gesagt, daß ich Hunger habe und etwas essen möchte. – Sie hat nichts für mich, hat die Mutter entgegnet. – Schon den dritten Tag bekomme ich diese Antwort, hab’ ich gesagt. – Arbeite! hat die Mutter geschrien. Verdien’ Geld! – Ich hab’ ihr geantwortet, ich hätte keine Arbeit gefunden. – Du wirst nie eine finden, hat sie gesagt, weil du keine finden willst. – Warum habt ihr mich nicht unterrichten lassen, hab’ ich geantwortet, ich habe gut gerechnet in der Schule und einen guten Aufsatz geschrieben. Jetzt soll ich ein gewöhnlicher Arbeiter werden. Das paßt mir nicht. – Der Vater ist auch nur ein Tagelöhner, hat die Mutter erbost entgegnet, der Beruf wird gut genug sein für dich. Wir
haben kein Geld, dich etwas anderes lernen zu lassen. Du bist jetzt schon lang genug aus der Schule, du könntest seit Jahren mitten im Verdienst stehen. Aber du bist verlumpt und verludert. – Mir ist das Weinen nahe gewesen. Warum bin ich denn verlumpt?! hab’ ich geschrien. Weil niemand sich meiner annimmt! – Du hast Schlafstelle und Kleider, schreit die Mutter. Aber nicht mehr lang! Du bist ein undankbarer Lausbub. – Weißt du, warum der Vater mich nichts hat lernen lassen? frage ich. Weil er das Geld versoffen hat! – Und wenn er’s nicht versoffen hätt’, sagt die Mutter, hätt’ er’s mir geben sollen. Ich hab’ mich immer erbärmlich abrackern müssen und hab’ verdienen müssen, um euch alle sattzukriegen. Für deine Schule wäre nichts übriggeblieben. Wenigstens sind die zwei Mädchen jetzt aus dem Haus. Aber du, du bist beständig da. – Ich habe damals schon immer nach dem Revolver in der Rocktasche gefühlt, es war ein Unglück, daß ich ihn gerade am Nachmittag vom Wengler eingetauscht habe gegen meinen Ledergürtel. Ich habe gar nicht mehr geweint, eine ganz kalte Wut ist in mir aufgekrochen. Wo sind denn die zwei Mädeln jetzt, deine zwei feinen Töchter? hab’ ich höhnisch gefragt, was treiben die denn jetzt? – Da ist die Mutter auf mich zu und hat mir eine ins Gesicht gehauen. Nimm dir ein Beispiel an deinen Schwestern, hat sie geschrien. Die verdienen wenigstens! Die fallen ihren alten Eltern nicht mehr zur Last. – Meine Backe hat gebrannt, und meine Hand in der Rocktasche hat gezuckt. Aber ich bin ruhig geblieben und hab’ etwas besprechen wollen und hab’ gleich so gefühlt: Es ist ein allerletzter Versuch; wie wird er ausgehen? Er muß gut ausgehen für mich, sonst – Mutter, hab’ ich gesagt, ich könnte in einem Filmbetrieb angestellt werden, aber ich brauch’ ein wenig Geld dazu. Ich kann auch nicht so abgerissen eintreten. – Keinen Pfennig bekommst du von mir, sagt die Mutter kalt, ich bin oft genug auf deine Lügen hereingefallen. – Es sind
diesmal keine Lügen, Mutter, sag ich. Es ist das letzte Mal, daß ich Geld verlange. – Keinen Pfennig, wiederholt sie. – Ich weiß, du hast Erspartes, rede ich ihr zu, ich geb’ es dir später zurück. – Später, lacht sie und sieht mich giftig an, wie alt muß ich da werden? Tausend Jahre? Geh, bitte den Vater, er soll auf deine Schwindeleien eingehen. – Der Vater hat nichts übrig, sag ich, und meine Finger sind um den Revolvergriff, und ich fürchte mich davor, daß ich das Spiel wirklich verliere, und ich zwinge mich dazu, noch um mein Leben zu kämpfen. Vielleicht habe ich um ihres gekämpft. – Der Vater hat freilich nichts übrig, sagt sie kalt, das weiß ich, darum schick ich dich ja zu ihm. – Du hast also nur Schimpf und Hohn für mich, sag’ ich, und das Weinen ist mir wieder nah. – Früher hab’ ich mehr für dich gehabt, aber wie hast du’s gelohnt, sagt sie leise. – Wovon soll ich denn leben, versuch’ ich es noch einmal, wenn keiner mir hilft?! – Lump, verreck’ im Rinnstein! schreit sie. – Da ist meine Hand herausgefahren aus der Rocktasche und: Verreck’ du zuerst! hab’ ich geschrien. Ich hab’ noch gesehen, wie sie die Arme vorwirft, dann hat es geknallt, und dann ist sie über das Bett gefallen. So ist es geschehen, so war es. Im Oktober wäre sie siebenundvierzig Jahre geworden. Ich werde im nächsten Monat siebzehn. Weshalb hat sie das sagen müssen, daß ich im Rinnstein verrecken soll? Jetzt muß ich mir heute noch aufschreiben, wie das mit dem Vater gewesen ist. Die Mutter wird einen Brustschuß gehabt haben. Man kann das durch die Kleider schwer feststellen. Wie sie keinen Schnaufer mehr getan hat, bin ich hinaus, hab’ die Kammertür zugemacht und hab’ mich in die Küche gesetzt. Ich hab’ gewußt, in einer Stunde wird der Vater heimkommen. Was soll ich anfangen in der einen Stunde? Ich bin gesessen und habe gewartet; ich war todmüde. Ich hab’ immer nur denken können: Wenn der Vater kommt, was wird er sagen,
wenn der Vater kommt, was wird geschehen? – Warum bin ich denn nicht fortgegangen, fortgelaufen; warum hab’ ich denn nicht nach dem Geld der Mutter gesucht? Ich hab’ nicht mehr in die Schlafkammer hineinmögen; ich hab’ nicht gewußt, wohin ich laufen soll. Dann hab’ ich den Vater die Stiege heraufkommen hören und bin auf dem Kanapee gesessen. Er hat gleich gefragt, wo die Mutter ist, und ich hab’ gelogen, sie ist zur Frau Bergmann hinübergegangen und kommt vielleicht erst in zwei Stunden zurück. Der Vater hat den Kopf geschüttelt, denn das ist sonst nie vorgekommen, und hat mich so angeschaut – und ich habe gemeint, er weiß schon etwas. Da hab’ ich die Hand gleich wieder in der Tasche am Revolver gehabt. Der Vater hat noch ein Brot gegessen und hat mich gefragt, ob ich nicht weiß, ob Bier da ist. Ich habe gesagt, ich weiß es nicht. Er hat in der Küche und auf dem Küchenbalkon gesucht, und dann hat er gesagt: Am Ende steht in der Kammer noch eine Flasche, – und will hinein. Bleib’ nur, ich werde nachschauen, hab’ ich gesagt und bin ihm so zuvorgekommen und in die Schlafkammer hineingegangen. Ich habe gar nicht weiter umhergeschaut, sondern mich gegen die Tür gelehnt, damit sie nicht aufgeht, falls er mir nachkommen will, und hab’ überlegt, was jetzt geschehen soll. Wenn der Vater die tote Mutter findet, bin ich verloren. Dann ist es aus mit mir. Weshalb bin ich nicht rechtzeitig fortgelaufen? Das mit der Mutter war so schnell und leicht getan. Und wenn’s um die Mutter nicht schad’ war, – um den Vater ist es viel weniger schad’. Er hat die Mutter immer geprügelt und ist am meisten schuld, daß nichts aus mir geworden ist. Dann bin ich aus der Kammer wieder in die Küche gegangen und hab’ gesagt, es sei kein Bier da. Der Vater hat geschimpft – auch weil die Mutter nicht heimkommt. Ich habe nur die Achseln gezuckt und immer denken müssen: gleich wird er’s merken – gleich wird er in die
Kammer gehen und sie da liegen sehen. Er hat mich noch gefragt, ob ich jetzt endlich Arbeit gefunden hab’. Ich hab’ mich wegwenden müssen und nichts antworten können. – Wenn du zu faul bist, das Maul aufzumachen, schreit er, wird’ ich dir’s vielleicht beibringen! – Du wirst mir nichts mehr beibringen, hab’ ich gedacht, und ich habe gefühlt, wie ich zittere. Er hat sich aber nicht mehr um mich gekümmert, sondern den Leuchter genommen und die Kerze angezündet. Es ist noch gar nicht ganz dunkel gewesen, es war vielleicht neun Uhr und ein heller Juliabend. Jetzt geht er hinein – Aufgepaßt! Hab’ ich zu mir gesagt. Er ist voraus, ich bin, wohl ohne daß er’s bemerkt hat, dicht hinter ihm. – Da liegt sie ja, sagt er erstaunt. Dann hat er nichts mehr gesagt. Er ist zusammengestürzt, und der Leuchter hat geklappert und das Licht ist erloschen. Er war nicht tot, er hat fürchterlich geröchelt – und der Revolver ist nicht mehr losgegangen. Ich habe das Messer aus der Küche holen müssen, ich bin ganz sinnlos gewesen, alles ist sehr schnell gegangen. Mich wundert, daß ich so wenig Blut abbekommen habe: nur an den Händen und am linken Ärmel. Ich habe mich in der Küche gleich sorgsam gewaschen. Er liegt vor dem Bett auf Gesicht und Brust. Jetzt hab’ ich mir aufgeschrieben, wie sich’s zugetragen hat. So und nicht anders ist es gewesen. Ich bin müde, will jetzt schlafen. Gut, daß es heiß ist, man braucht kein Bettzeug. Ich schlafe in Hemd und Hose auf dem Küchenkanapee. Mein Bettzeug liegt in der Kammer, die Mutter liegt darauf; ich mag’s nicht holen.
Ich will mir aufschreiben, daß ich heute den Leuten im Haus erzählt habe, die Eltern sind nach Kohldorf gegangen, den Bruder der Mutter besuchen; sie werden vielleicht eine Woche
fortbleiben. Die Leute im Haus haben mich immer schon fragend angeschaut, und endlich hat die Frau Lohr wissen wollen, warum man nichts von den Eltern hört und sieht. – Heute bin ich noch einmal in die Kammer hineingegangen und habe das Geld, das die Mutter sich zusammengespart hat, herausgeholt. Es ist mehr, als ich geglaubt habe. Sie liegt auf dem Bett; der Vater liegt auf dem Fußboden; ich hab es richtig im Kopf gehabt. Es riecht arg in der Kammer, mir ist ganz übel geworden, ich bin schnell wieder hinaus. Es war heiß und dumpfig drinnen. Auf den Gesichtern sitzen viele Fliegen. – Ich bin wenig zu Haus. Ich erzähl’ den Leuten, ich hätt’ Arbeit beim Flußbauamt.
Montag, den 9. Juli. Heut ist Montagabend. Eine Woche vorbei, seit die dumme Geschichte geschehen ist, und immer noch liegen die zwei in der Kammer. Da muß jetzt endlich was geschehen. Die zwei müssen fort. Daß mir das nicht damals gleich eingefallen ist! Eigentlich ist es mir schon eingefallen, aber ich habe gemeint, es hat Zeit, und ich habe nicht gewußt, was anfangen. Es hat auch noch Zeit, kein Mensch hat bisher etwas gemerkt, und niemand ahnt etwas. Nur daß man mit keinem davon sprechen kann, – ich meine, daß man mit niemandem beraten kann, wie man sie fortschaffen könnte, das ist lästig. Ob ich den Wengler ins Vertrauen ziehe? Ich glaube, es ist gescheiter, ich habe zu niemand Vertrauen als zu diesem Buch, in das ich schreibe. Die Mutter ist klein, die könnt man bei Nacht in einem Sack fortschaffen; man hätte eine knappe halbe Stunde zu tragen bis zum Fluß; das wird sich schon machen lassen. Aber Vater ist groß und breit und schwer; den müßte man vorher zerlegen.
Ich will ein ordentlicher Mensch werden. Morgen such’ ich nach Arbeit. Mein Geld geht sehr auf die Neige. Mit keinem Menschen reden können, das ist grausam. Ich habe mir schon gedacht, es ist klüger, ich zerreiße das Geschriebene wieder, es kann mich verraten, wenn es jemand findet. Aber erstens schließ’ ich die Wohnung immer sorgsam ab und verstecke das Buch im Ofenrohr, und zweitens hätt’ ich dann gar niemanden mehr; so hab ich wenigstens das Buch. Es hat mir auch wirklich schon genützt. Erst gestern! Als die Frau Lohr sich gewundert hat, warum die Eltern noch nicht zurück sind, da hab’ ich ihr erklärt, sie hätten geschrieben, daß sie noch länger in Kohldorf bleiben. – In Kohldorf? fragt die Frau Lohr, ich hab’ gemeint, sie sind bei Verwandten in Sinsheim. – Nein, in Kohldorf, hab ich behauptet, aber es war mir selbst nicht geheuer dabei, denn ich hab’ nicht mehr recht gewußt, hab’ ich das erstemal Kohldorf oder Sinsheim gesagt. Jetzt bin ich wieder beruhigt, denn ich sehe aus den Aufzeichnungen, daß ich nur von Kohldorf gesprochen habe. Der alten Lohrin werd’ ich’s noch besorgen wegen ihrer blöden Fragerei; die schnüffelt mir überhaupt zu viel herum!
Donnerstag, den 12. Juli. Ich bin froh, daß ich Arbeit habe. Um sieben Uhr früh gehe ich aus dem Haus, um acht Uhr abends komm ich wieder heim. – Wenn’s nur nicht so schlecht riechen wollte in der Wohnung. Es ist in der Küche kaum mehr zum Aushalten. Tag und Nacht brennt jetzt die Julihitze. Ich wird’ auf dem Küchenbalkon schlafen; da bin ich wenigstens aus dem Gestank heraus. Es kann so nicht weitergehen; ich will die kleinere Leiche heute nacht fortschaffen. Ich hätt’ es längst tun sollen! Jetzt muß es sein. Es muß sein! Ich schreib es hier in das Buch, daß es sein
muß, damit ich vor Augen habe, wie dringend notwendig es ist. Ich habe den Sack heute aus der Fabrik mitgebracht.
Es geht nicht. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich will mir aufschreiben, was ich heut’ nacht gehört zu haben glaube. Als ich gegen zwölf Uhr mit dem Sack in die Kammer gehen will, und alles im Hause still ist, da höre ich, wie ich vor der Kammertüre stehe und lausche, ob niemand mehr im Hause auf ist, – höre ich ein Klopfen aus der Kammer, ein leises regelmäßiges Pochen gegen den Fußboden oder die Bettlade – ich weiß nicht. Ich hab’ den Schlüssel nicht ins Schloß stecken und hab’ nicht aufschließen können. Ich habe heute morgen gleich gehorcht, ob ich das Pochen wieder höre, aber es war Lärm auf der Stiege, Kinder sind die Treppe herauf- und heruntergelaufen, und ich habe nicht beobachten können. Aber jedenfalls will ich mir aufschreiben, daß ich heut’ nacht ganz deutlich und zweifellos ein regelmäßiges Klopfen gehört habe. Ich muß jetzt in die Fabrik.
Wieder eine Woche vorbei. Es wird höchste Zeit. Aber heute möchte ich nicht hineingehen, nachdem gerade vierzehn Tage vergangen sind, seit sich die Geschichte ereignet hat. Außerdem klopft es wieder. Es ist, als ob der Vater, der auf dem Boden liegt – die Mutter liegt auf dem Bett –, als ob der Vater mit dem Knöchel schwach gegen den Fußboden klopft. Ist er am Ende nicht ganz tot und will von unten Hilfe herbeirufen! Aber es sind doch zwei Wochen vergangen, er muß längst tot sein. Ich weiß nicht, was ich beginnen soll! Mit wem könnt’ ich mich denn beraten? Wenn man die Tür vernagelt, Schlüsselloch und Ritzen verstopft, daß der Geruch nicht mehr hindurch kann?
Jetzt weiß ich, was klopft. Es klopft gar nicht, es tropft. Die Mutter tropft durch das Bett hindurch auf den Fußboden. Die Witwe Zipperer, die unter uns wohnt, die hat mich heut’ zu sich hereingerufen und mir einen Fleck an ihrer Zimmerdecke gezeigt, einen großen dunklen Fleck. Mir ist gleich eingefallen, womit der zusammenhängt, aber laut habe ich gesagt, ich hätte mir neulich die Füße gewaschen, und da wäre mir der Eimer umgefallen und ich hätte später vergessen, das Wasser aufzuwischen. Die Zipperer hat furchtbar geschimpft, und sie wird’s dem Vater sagen und sie wird es dem Hausherrn sagen, und ich müßte den Schaden bezahlen. Ich hab’ ihr entgegnen wollen, weil sie sich so wichtiggemacht hat, aber ich hab’ nichts herausgebracht. Es war mir auch gleich, ich bin jetzt immer so müde und muß oft denken, es ist bald aus mit mir. – Auf der Treppe ist mir dann die Frau Lohr begegnet und hat sich aufgeblasen und hat mich gemustert von oben bis unten und gesagt, die Leute im Hause halten sich auf darüber, daß die Eltern so lange wegbleiben, man muß die Polizei benachrichtigen und sie als vermißt melden. – Sie haben mir doch geschrieben, daß sie vorerst noch in Sinsheim bleiben, habe ich blöderweise gesagt. – In Sinsheim? Ich mein, in Kohldorf, sagt die Frau Lohr und schaut mich an, – Karl, an den Brief glaub’ ich nicht, bevor ich ihn nicht gelesen habe. – Glauben Sie, was Sie wollen, hab’ ich möglichst ruhig gesagt und bin gegangen. Aber mir scheint, ich werde sehr vorsichtig sein müssen, sehr vorsichtig den Miteinwohnern gegenüber. – Das Fortschaffen mit dem Sack geht nicht mehr, nachdem die beiden schon ganz mürb sind. Ich werde eine Kiste zimmern.
Den 18. Juli Warum es so stark aus unserer Wohnung herausriecht, fragt mich heute der Friseur Sonntag, dem ich gerade vor unserer Wohnungstür in die Hände laufen muß. – Ich rieche gar nichts, erwidere ich ihm, aber es kann sein, daß eine große Wurst, die die Mutter vor ihrer Abreise gekauft hat, verfault ist; sie hängt in der Küche. – Warum essen Sie denn die Wurst nicht? Seit wann läßt man Würste verfaulen? fragt er höhnisch. Ich hätt’ ihm gern in die Fresse gehauen. – Das geht Sie nichts an, schrei ich, weshalb ich die Wurst nicht gegessen habe. Vielleicht mag ich kein Wurstfleisch. – Er hat den Kopf geschüttelt und ist abgeschoben. Ich muß sehr aufpassen. Hier ins Buch will ich es schreiben, daß ich sehr aufpassen muß. Damit ich es jeden Tag lese und niemals vergesse, will ich es aufschreiben. Mir hilft niemand, wenn ich mir nicht selbst helfe. Was soll nun also geschehen? Ich hab angefangen, im Hofe unten eine feste Kiste zusammenzunageln. Dem Schneider Solch, der zuschaut, hab’ ich erzählt, die Eltern bleiben noch lang beim Onkel auf dem Lande, sie helfen ihm bei den Erntearbeiten, sie wollen Sachen nachgeschickt haben, und ich fertige diese Kiste, damit ich ihnen darin das Gewünschte nachsenden kann. – Ich muß mich gutstellen mit dem Schneider; vielleicht hilft er mir später die Kiste fortschaffen. Er hat mich gefragt, weshalb ich nicht auch beim Onkel bin und bei der Ernte mithelfe. Ich hab’ ihm gesagt, ich hab’ hier eine gute Stellung. Wenn’s doch wahr wäre! Statt dessen bin ich schon wieder fort aus der Fabrik. Ich habe auch keine Zeit für die Fabrik. Ich muß jetzt die Kiste fertigmachen und die zwei endlich aus dem Hause schaffen.
Der Plan mit der Kiste taugt nichts; wie soll ich sie fortbringen? Sie wird viel zu schwer, und trotzdem werden
beide nicht ganz hineingehen. Und jeder, der mir beim Transport hilft, wird gleich riechen, was darin verpackt ist. Ich habe gehört, daß man Leichen einbalsamieren kann. Ich werde mich erkundigen. Mir fällt ein, daß Chlorkalk in der Nähe zu haben ist. Nicht vergessen! Gleich morgen einen Sack Chlorkalk aus der Abdeckerei holen! Wo sind die Eltern? In Kohldorf, nicht in Sinsheim. In Kohldorf! Nicht Kohldorf mit Sinsheim verwechseln! Aufpassen!
Was war das heute nacht? Lieber Gott! Kann man sich das erklären? Vielleicht, wenn man es ruhig niederschreibt. Ich habe, wie immer, auf dem Küchenbalkon geschlafen. Ich habe die Balkontür zugemacht, damit ich ganz in der freien reinen Luft bin. Da kam das Gewitter. Geschlafen? Hab’ ich wohl nicht, als plötzlich der Sturzregen niederging. Ich schlafe jetzt immer schlecht und sehr wenig. Der Regen hat mich in die Wohnung zurückgetrieben. Hätt’ ich denn draußen bleiben sollen? Ich bin doch geblieben, so lange es ging, und erst gegangen, als ich schon naß war bis auf die Haut. Das Kanapee ist ganz durchweicht. Ich werde es nicht mehr benutzen können. Verflucht, wo soll ich mich in der Nacht jetzt hinlegen? – Ich hab wieder horchen müssen an der Kammertür, während das Gewitter getobt hat. Daß ich mich davon nicht abbringen kann, jeden Tag zu horchen! Was hab’ ich nun davon, daß ich deutlich ein Flüstern und Rascheln gehört habe? Ich fürchte mich. Wird es was helfen, daß ich die Kammertür vernagelt habe, die fast fertige Kiste wieder zerlegt und die Bretter vor die Tür geschlagen habe? Wird das etwas helfen? – Und auch das muß niedergeschrieben werden, das Schlimmste: nämlich, daß ich durchs Schlüsselloch gespäht habe und beim zuckenden Schein der Blitze Gestalten drinnen hab hin- und hertaumeln sehen. Mein
Gott, ist es denn möglich, daß sie noch leben?? Ich bin verrückt, laß mich nachdenken, laß mich nachdenken! Laß mich alles aufschreiben, was ich weiß! Vielleicht wird es dann besser. Jedenfalls können sie nicht mehr heraus. Sie sind zugenagelt. Und jede Ritze ist verstopft. Es riecht auch nicht mehr so stark, es riecht kaum mehr. Alles wird noch gut werden. Man hat mich gefragt im Hause, was ich da nagle den ganzen Tag. Ich hab geantwortet, die Kiste ist jetzt fertig, in der ich den Eltern die gewünschten Sachen nachschicken werde. – Man sieht mich scheel an, man flüstert hinter mir her. Was soll ich beginnen? Wenn ich jetzt gehe, wenn ich mich jetzt aus dem Staube mache, hat man mich gleich, weil mich alle beobachten. Ich kann vorerst nur bleiben, wo ich bin. Der Geruch läßt nach; die Leute werden ihr Mißtrauen verlieren. Ich habe kein Geld mehr und nichts zu essen. Wo soll ich bleiben heute nacht? Ich werde den Küchenstuhl auf den Balkon stellen und versuchen, sitzend auf dem Stuhl zu schlafen. Das Kanapee ist tropfnaß. – Verdammtes Leben, verpfuschtes! Der Nagel dort über dem Herd hat so was Einladendes.
War das eine Nacht! Ich bin herein vom Balkon, weil ich gar nicht hab’ schlafen können, und ich habe gehorcht. Es war eine Dummheit von mir, die Türe so zu verrammeln und so dichtzumachen; ich habe nichts hören können. Ich hätte die Kistenbretter wieder losreißen müssen. – Aber wenn ich es recht bedenke, so scheint mir, daß ich ganz, ganz leise doch ein Seufzen und Hin- und Hergehen gehört habe. Ja – und einmal hat, glaube ich, der Vater etwas zur Mutter gesagt. Wenn ich nur blödsinnigerweise die Türritzen nicht so verstopft hätte, daß man nichts Rechtes unterscheiden kann, dann wüßte ich
wenigstens, woran ich bin. Gibt es denn das, daß Geister umgehen? Ich weiß nicht. Im Kino hab ich oft Geister gesehen, aber ich habe nie daran geglaubt. Oder war der Vater am Ende nicht tot, nur die Mutter, und der Vater lebt noch da drinnen? Wer hilft mir denn?! Ich mag nicht zu Hause bleiben heute abend, ich vertrink’ meinen letzten Pfennig.
Es ist wer in dieser verfluchten Kammer! Gut, daß sie vernagelt ist. Aber es ist bestimmt jemand drinnen! Auch am Fenster ist jemand gestanden! Ich hab es deutlich gesehen, als ich gestern nacht so spät heimgekommen bin. Durchs Fenster hat jemand gewinkt, vielleicht mir, und ist an den Scheiben hin- und hergeglitten. Warum hat er denn das Fenster nicht aufgemacht und gerufen? Ich verstehe das nicht. Aber so viel Schneid hab’ ich doch noch, heute eine Leiter zu nehmen, außen am Haus hinaufzusteigen, die Fensterläden zuzuschlagen und zuzunageln.
Die Leute im Haus haben natürlich wissen wollen, weshalb ich die Fensterläden von außen vernagele. Ich habe gesagt: weil es mir so paßt, weil eine Scheibe zerbrochen ist und weil es hereinregnet. Wenn eine Scheibe zerbrochen ist, sagt der Friseur Sonntag, läßt man eine neue einsetzen. – Wenn man das Geld dafür hat, sage ich, dann schon, aber ich hab’ kein Geld für solche Sachen; ich muß warten, bis der Vater wieder zurück ist. Oder wollen Sie die Scheibe bezahlen? – Das war ungeschickt von mir, daß ich das gefragt habe, denn der Friseur hat geantwortet: Ja, ist mir recht. Lassen Sie mich einmal in die Wohnung und an die zerbrochene Scheibe; die möchte ich gerne sehen. – Sie haben in meiner Wohnung nichts zu suchen, hab’ ich
behauptet. – Er hat geschwiegen und mich falsch angeschaut. Und dann hat er langsam gesagt: Das werden wir noch sehen, ob man nicht bald etwas in der Wohnung zu suchen haben wird. – Das war dumm von mir, das war dumm von mir!
Wer hilft? In der Kammer ist jemand an der Tür! Ganz leise bohrt und scharrt er. Unter dem Bett steht eine Kiste mit Handwerkszeug. Er arbeitet mit dem Handwerkszeug ganz vorsichtig an der Tür. Der Vater. Er macht sich an ihr zu schaffen, er will heraus! Mein Gott, lieber Gott! Was soll ich tun? Wie lange dauert denn diese Nacht noch? Soll ich um Hilfe rufen – Wie kann einer Vater und Mutter umbringen und einfach weiterleben wollen? Alle wissen schon, was geschehen ist. Unten am Haustor steht sicher der Friseur und lauert mir auf, wenn ich jetzt fort will. Es bohrt und scharrt – Wie kann einer denn – Der Nagel dort an der Wand wird fest genug sein. Da ist der Strick für den Sack; in dem Sack wollt’ ich die Mutter – Es bohrt stärker – es bohrt stärker – Der Strick ist für mich, der Strick –
VERSTRICKUNG
„Gottlob, ist bereits warm bei Ihnen! Oder noch von gestern abend her?“ meinte der dicke Mann behaglich beim Eintreten und rieb sich die Hände. „Bereits und noch, mein Herr“, lächelte der Friseurgehilfe zuvorkommend und half dem Gast aus dem Mantel. „Morgenblatt?“ fragte der, sank in den Stuhl und entfaltete die Zeitung. „Bereits“, erklärte der Friseur und entfaltete seinerseits die Serviette. Der verehrliche Kunde überflog die Druckerschwärze, setzte sich breiter in den Sessel und führte eine Stelle des Zeitungsblattes näher vor seine Augen, indes der Gehilfe Schaum schlug. – „Haben Sie das schon gelesen, Sie –?“ stieß er überrumpelt hervor. „Was, bitte?“ fragte der Friseurgehilfe und ließ den Pinsel im Seifennapf tanzen. Der verehrliche Kunde bog sich hin und her und stierte angestrengter und las denn laut und mit zitternder Empörung in den leeren Salon hinein: „Schreckenstat eines Wahnsinnigen. Gestern abend ereignete sich in einem an der Pillerstraße gelegenen Friseurgeschäft eine entsetzliche Bluttat. Als die Geschäftsinhaberin, die für kurze Zeit den Laden verlassen hatte, zurückkehrte, fand sie den einzigen Kunden, dem sie noch vor wenigen Minuten guten Abend gewünscht hatte, blutüberströmt im Rasiersessel, mit einer klaffenden Halswunde. Der Täter, ein junger Friseur von dreiundzwanzig Jahren, stand dumpf brütend daneben; das Mordwerkzeug, ein blutiges Rasiermesser, hielt er zwischen den Fingern. Das unglückliche Opfer gab noch röchelnde Lebenszeichen von sich. Die aufs äußerste erschreckte Frau fragte zitternd den Täter, was denn vorgefallen sei. Der Mann gab wie erwachend und dann heftig erregt zur Antwort: ,Er hat mich so
niederträchtig angestiert, so macht er’s immer, das kann sich kein Mensch sein Leben lang bieten lassen!’ Die Frau lief auf die Straße und nach einem Arzt, der, als er endlich erschien, nurmehr den inzwischen eingetretenen Tod des Opfers feststellen konnte. Als man sich nach dem Täter umsah, zeigte sich leider, daß er verschwunden war. Er hatte die Zeit, in der die Geschäftsinhaberin ärztliche Hilfe holte, dazu benutzt, sich zu entfernen. Vorher wusch er sich noch die Hände und wechselte den Rock, wie ein Herr, der in den Laden getreten war und außerhalb des Vorschlages wartete, um Bartwichse zu kaufen, hörte und sah. Dieser Herr trat, als der Friseur, ohne ihn zu bedienen, zur Tür hinausging, in den Rasiersalon, sah das Blutbad und erlebte die letzten Sekunden des Sterbenden. Der dem Tod Verfallene soll noch den Versuch gemacht haben, zu sprechen, was ihm aber mißlang. Er habe dann mit zwei Fingern in den großen Spiegel vor sich gedeutet, als wolle er damit für die Tat eine Erklärung geben. Diese dürfte sich jedoch hieraus nicht finden lassen. Es erscheint vielmehr naheliegend, daß der Sterbende, schon in tiefer Verwirrung, sein eigenes Spiegelbild für eine Erscheinung nahm, die seine Fingerbewegung veranlaßte. – Dem fürchterlichen Kehlschnitt muß ein kurzer Kampf vorausgegangen sein, wie zwei zerbrochen Flacons auf dem Marmortisch und der zerstampfte Fußschemel beweisen. Stichhaltige Gründe für den grauenhaften Vorgang lassen sich nicht finden. Fest steht durch bestimmte Aussage der Ladeninhaberin, daß der Getötete nicht zu ihrem Kundenkreis gehörte; sie hatte ihn nie vorher gesehen. Dies im Zusammenhang mit den sinnlosen Worten des Mörders legt die Gewißheit nahe, daß man es mit der Tat eines Geisteskranken zu tun hat. Die Polizei konnte seiner bisher nicht habhaft werden.“ – – – – Stille. – Der Mann im Sessel ließ die Zeitung sinken und rückte hin und her, als wolle er aufstehen, aber der
Rasierpinsel, beladen mit einer weißen Schaumwolke, war bereit und schwebte über ihm. So frag er nur mit gepreßter Stimme: „Wo ist denn die Pillerstraße? – Ein Kunststück, als Inhaber jenes Mörderladens heute noch fünfzig Pfennige zu verdienen! Die gute Frau wird gezwungen sein, das Geschäft zu verkaufen. Man wird zweckmäßig eine Buchhandlung mit vorwiegend sensationellen Schriften dort einrichten; der Nervenkitzel findet so einen vortrefflichen Hintergrund.“ – Und er schwieg, weil er nichts mehr zu reden wußte und weil er nur geredet hatte, um Erregung von sich zu geben. „Die Pillerstraße, Herr?“ beeilte sich der Gehilfe. „Aber die ist weit von hier; ganz im Osten der Stadt.“ Und er hieb klatschendes Weiß um Kinn und Backen seines Opfers. „Und wir sind im Norden“, begütigte der Kunde; er suchte Unruhe damit zu glätten. Aber wieder hob er die Zeitung und stellte sie über sich und las aus ihr wie von der Zimmerdecke, leise von innen gestoßen und murmelnd: „Schreckenstat – klaffende Wunde – Mordwerkzeug – geisteskrank.“ „Bitte, den Kopf nach links“, befahl der Gehilfe, und ehe er weiterseifte: „Der Herr haben sich am Ohr verletzt; es blutet.“ „Immer noch?!“ rief da der Kunde mit einem hellen, ganz veränderten Ton, und eine breite Welle von Grinsen zerrte den Seifenschaum auf seinem Gesicht auseinander. „Also pfeifen wir auf diese verrückte Zeitungsnachricht“, entschied er abschließend und ließ das Blatt über die Knie zu Boden gleiten. „Es blutet immer noch?“ wiederholte er freundlich fragend und ganz bei dieser Sache. „Wie von einem kleinen Riß oder Biß ins Ohrläppchen“, bestätigte der Friseurgehilfe, legte hilfsbereit den Pinsel weg und zupfte Watte hervor. Der Kunde sah ihm wohlwollend zu. „Riß oder Biß vermuten Sie, mein Lieber?“ sagte er geschmeichelt. „Ich will Ihnen verraten, daß die Sache von einem kleinen Biß herrührt.“
„Wie meinen –?“ fragte der Gehilfe und trommelte mit einem Wattebäuschchen auf das Ohr. „Einfach dies: das Frauenzimmer war ein bißchen toll“, erklärte der Kunde mit innigem Augenstrahlen. „Toll aus Verliebtheit, obwohl sie sich zuerst lang und breit gesträubt hat. Wahrhaftig, nachher war sie wohl verliebt, den Zwanzigmarkschein hätt’ ich mir sparen können.“ Der Gehilfe ließ mit kaltem Klatschen das Messer über den Streichriemen laufen. „Da hat’s wohl sehr geblutet?“ fing er traumhaft. „Geblutet?“ kicherte der Kunde. „Aber nein, sie war doch keine Jungfrau mehr. Alles, nur das nicht! Verheiratet war sie.“ „Dann freilich“, gab des Friseurs erstickte Stimme zu. Er führte das Messer mit klingendem Schleifen über den Stein, ihm die letzte Schärfe zu geben. „Ich wollte nämlich sagen: Da hat das Ohr wohl sehr geblutet gestern abend.“ „Warten Sie“, bat der Kunde, der Ungemütliches herannahen sah. „Warten Sie, ich will Ihnen die Geschichte kurz erzählen.“ Er gedachte peinvolle Empfindungen mit Reden zuzudecken. Die Zeitungsnotiz, die wieder durchzubrechen drohte, sollte von der Liebesnacht überschwemmt und hinweggeschwemmt werden. „Der Schaum trocknet ein“, knurrte der Gehilfe. „Ein paar Worte nur!“ bat der Kunde. „Mit ein paar Worten ist alles erzählt. Der Bart wird unterdessen weicher; Sie tun sich leichter. Sie werden dann vielleicht noch einmal nachseifen, wie?“ „Ich bin auch verheiratet!“ begehrte der Friseur plötzlich und seltsam auf. „Meinen Sie, ich nicht“, grölte der Kunde. „Seh’ ich unverheiratet aus mit meinen hundertachtzig Pfund? Kunststück übrigens, heutzutage hundertachtzig Pfund zu wiegen, was! Sie Windbeutel werden kaum hundert
aufbringen.“ Er lachte, und er stieß den Friseur in die Seite. „Legen Sie doch das Messer weg“, feixte er. „Wir sind im besten Zuge, uns gut zu unterhalten.“ „Ich meine“, sagte der Friseur und rührte sich nicht, „ich bin auch verheiratet, wie die Frau, von der Sie erzählen – wie der Mann von der Frau, von der Sie erzählen…“ „Was erzähle ich!“ prustete der Kunde in fröhlicher Hast. Die Seife geriet ihm über die Lippen an die Zunge. Der fette Hals, im Plappern breiterwerdend und zusammensackend, übertrug den Schaum auf die Serviette. „Was erzähle ich denn? Sie lassen mich ja nicht erzählen. Wollen Sie die Geschichte jetzt hören: ja oder nein?“ „Ja“, sagte der Friseur. „Läge meine Frau nicht seit zwei Wochen im Krankenhaus, so wäre die ganze Geschichte nicht passiert“, begann der Dicke. „Ich schließe also gestern schon um fünf Uhr den Betrieb und bringe meiner Frau was zu essen in die Klinik. Ich habe nur die Schwester sprechen dürfen, und ich frage sie: Sagen Sie mir bitte, wie lange muß meine Frau denn eigentlich noch dableiben. – Oh, sagt die Schwester, da müssen Sie sich schon auf längere Zeit gefaßt machen; drei bis vier Wochen bleibt sie wenigstens noch. – Ich bin wenig erbaut gegangen und habe dann beim nächsten Konfektionsladen das Frauenzimmer getroffen.“ „Warum erzählen Sie mir das alles? Die Seife ist schon ganz eingetrocknet“, sagte der Friseur mürrisch. „Die Hälfte davon haben Sie auf die Serviette geschmiert.“ Und er belud mit neuentfachtem Schaum Hals und Kinn des willig Hingegebenen. „Warum ich erzähle“, fragte der Kunde, Vorwurf im Ton. „Aber Sie wollten die Geschichte doch hören. – Ist es hier denn hell genug? Sehen Sie genügend? Das Gas brennt, find ich, heute so trüb. Bitte, mein Lieber, kein Schnittchen, nicht
das geringste“, verlangte er ängstlich. „Mir genügt vorläufig der Biß ins Ohr.“ „ – Das war so abends um sechs Uhr“, sagte unvermittelt der Friseurgehilfe. „Es wird der letzte Kunde gewesen sein. – Sie sind heut früh der erste.“ „Sind Sie denn ganz allein im Geschäft“, fragte der Kunde kläglich verlassen. „Ja“, gestand der Gehilfe. „Der Herr kommt erst gegen neun. Vor neun Uhr erscheint kaum jemand; wir haben feine Kundschaft, die spät aufsteht.“ „Also, das Frauenzimmer“, gab der Kunde sich einen Ruck in rettende Gedanken hinein, „ – das Frauenzimmer steht vor dem Schaufenster und betrachtet sehnsüchtig einen Samtmuff. Ihr Haar hat im Bogenlampenlicht geflimmert wie Christbaumgold. Es hat auch ein wenig daraufgeschneit. Da hab ich sie kurzerhand angesprochen.“ „Wissen Sie, wenn ein Mensch sich so leicht ablenken läßt wie ich“, stürzte sich der Friseur in plötzliche Erklärungen, „besonders beim Schreiben: Durch die Aufschrift auf dem Bleistift, durch das Eselsohr im Briefpapier, durch das gackernde Huhn im Hof unter mir, durch die klappende Tür im Zimmer über mir, durch den Tintenklecks auf der Zeitung, der bald so aussieht und bald so – “ „Aber wovon reden Sie denn, Mensch!“ sagte der Gast beleidigt. „Können Sie sich denn nicht konzentrieren auf das, was ich Ihnen da erzähle?“ „Nein“, sagte der Gehilfe gequält, „nein, ich kann nicht.“ Der Kunde schnellte vor im Sessel, so daß wieder der Seifenschaum am Brustlatz hing. „Geht denn das so leicht?“ fragte er geschüttelt, „ – so ganz bequem geht das, einem den Hals abzuschneiden –?“ „Bei einigen anatomischen Kenntnissen, die der Kollege jedenfalls gehabt hat“, entgegnete der Friseur fachmännisch,
„wird die Operation nicht schwer auszuführen zu sein. – Ich habe voriges Jahr bei meinem Schwiegervater auf dem Lande zwei Ferkel geschlachtet. – Nun und –, als Sie nun die verheiratete Frau angesprochen haben, was hat sie da gesagt?“ „Nichts hat sie gesagt“, berichtete der Kunde. „Ich habe geredet. Ich habe sie gefragt, ob der Muff ihr sehr gut gefällt. Sie hat ärgerlich aufgeschaut zu mir, und dann hat sie aber doch gelächelt und dann hat sie gesagt, der wäre schon recht, der Muff. Da habe ich scherzend zu ihr gesagt: Kaufen Sie ihn doch! – Sie hat aber geschwiegen. – Soll ich den Muff Ihnen kaufen? hab’ ich gefragt. Und da hat sie wieder geschwiegen. Aha, so eine bist du, hab’ ich mir gedacht, und laut hab’ ich gesagt: Fräulein, über die Sache wird sich vielleicht reden lassen. Zu einer Anschlagszahlung wäre ich am Ende bereit – unter gewissen Bedingungen. – Und wir sind miteinander die Straße hinuntergegangen.“ „Was ist denn das: eine Anschlagszahlung?“ stieß der Friseur erregt hervor. „So etwas gibt es doch gar nicht. Was erzählen Sie mir denn für Sachen?!“ „Sie sind wirklich ein närrischer Mensch! Woran bleiben Sie denn jetzt wieder hängen?“ erboste sich der Kunde. „Hab’ ich gesagt: Anschlagszahlung? Dann hab’ ich’s eben gesagt! Sie unterbrechen einen so oft, daß man wahrhaftig nicht mehr weiß, was man redet. Immer verliert man den Faden. – Wollen Sie die feine Sache nun weiter hören?“ „Gewiß“, unterwarf sich der Gehilfe. Er trödelte stumpf mit Schwamm und Spritzflasche. Aber der Kunde schwieg auch – bis Zufriedenheit sein Auge festigte. „Fangen Sie an!“ befahl er dann plötzlich und draufgängerisch. „Während ich erzähle, können Sie mich schaben.“ Der Friseur reckte sich empor mit einem Ruck. „Sehen Sie: schaben“, sagte er mit leiser und weinerlicher Wut, „das ist
auch so ein Ausdruck, der die ganze Mißachtung der Kunden für unseren Beruf enthält. Schaben: das ist – das ist eine infame Beschimpfung. Ich habe verschiedene Herren, die es im Scherz sagen – es breitet sich weiter aus, es frißt um sich. Man schabt Rüben, man schabt sich den Dreck von den Sohlen, man schabt Grind von Kinderköpfen…“ „Sie sind ein komischer Kauz“, grölte der Kunde. – „Also los!“ Und er wälzte die linke Backe nach oben. „Ich muß den Herrn darauf aufmerksam machen“, sagte der Friseur höflich und sachlich und hob das Messer mit zierlichen Fingern, „wenn der Herr redet, während ich arbeite, kann ich keine Garantie für glatte Erledigung übernehmen.“ „Gute Friseure können das schon, mein Lieber“, belehrte ihn der Kunde. „Jedenfalls werde ich reden dürfen, solange Sie die Backen rasieren?“ „Sagen Sie nur, wie’s Ihnen ums Herz ist. Sagen Sie: schaben“, knurrte der Friseur. „Ich bin wohl sehr schäbig, wie? – Weil ich so schabe?“ „Witze machen Sie – da könnten einem die Haare zu Berge stehen“, gluckste der Kunde, schwieg dann und blies die linke Backe auf. Der Gehilfe strich geköpfte Stoppeln auf Seidenpapier. „Ich denke, Sie wollen von der verheirateten Frau erzählen. Hat sie den Muff schon? In welcher Form haben Sie Ihr schmutziges Ansinnen vorgebracht?“ „Ich möchte doch sehr bitten – was schlagen Sie für einen Ton an!“ empörte sich der Kunde vornehm und wollte hochrücken, aber er besann sich, daß er unter dem Messer lag, und daß es stillzuhalten galt. „Bitte, ich wollte den Herrn nicht beleidigen“, fuhr der Friseur fort, „aber ich muß doch sagen – –, Sie haben doch selbst betont, daß es eine verheiratete Frau war. Ja, haben Sie
denn gar nicht gedacht, daß da auch ein Mann ist? Da ist doch ein Mann, dem Sie etwas Schändliches angetan haben.“ „Ich habe ihm gar nichts angetan“, blies der Kunde durch die Zähne, denn der Friseur war in der Nähe des linken Mundwinkels. „Höchstens die Frau hat ihm was angetan. – Übrigens war sie Witwe“, befreite er sich. Der Friseur ließ das Messer sinken. „Das soll ich Ihnen nun glauben“, sagte er verächtlich, „daß die eine Witwe war. Für wie dumm halten Sie mich eigentlich? – Sieh mal an“, pfiff er erbittert, „plötzlich ist sie Witwe geworden.“ „Witwe oder nicht, ist ja Nebensache“, schalt der Kunde. „Immer bleiben Sie an Kleinigkeiten kleben. – Jedenfalls hat sie mich gebissen“, sagte er stolz, „mit und ohne Mann.“ Und er rollte den Kopf in dem kleinen Nackenkissen und baute die rechte Backe nach oben. Der Gehilfe ließ das Messer mit schlapfendem Klirren über den Stein tanzen. „Wir sind also die Straße mitsammen hinuntergegangen“, erzählte der Kunde weiter. „Wir haben uns über den Muff unterhalten, und daß der Winter kalt ist. – Dafür ist der Sommer heiß, sag’ ich, und sie lacht. – Haben Sie keine Muffe, frag’ ich; wo wohnen Sie denn? – Sie nennt mir die Straße. – Wenn mich nur nicht so frieren würde, schimpfe ich; Ihretwegen laufe ich in einer Gegend herum, die mich gar nichts angeht. – Sie können sich bei mir wärmen, sagt sie, aber vor neun Uhr müssen Sie fortgehen; um neun Uhr kommt mein Mann.“ „Sehen Sie!“ stieß der Friseur hervor, „Sehen Sie, daß ein Mann da ist. Warum haben Sie mir den verheimlichen wollen?“ „Es kann sein, daß sie einen Zimmerherrn gemeint hat. Sie sprach von irgendeinem Mann, zum Donnerwetter! Was
wollen Sie denn schon wieder? – Später, als ich von ihr fortging, hat sie behauptet, sie ist Witwe.“ „Weil sie sich geschämt hat“, sagte der Friseur heftig. „Aber Sie – Sie haben ganz genau gewußt, daß ein Mann da ist. Sie reden jetzt von einem Zimmerherrn – und dann von einer Witwe – und glauben selber an beides nicht im geringsten. Sie wollen den Mann verheimlichen, – ganz einfach. Das ist es.“ „Sie sind meschugge“, ärgerte sich der Kunde. „Ihr Haarschneider und Bartscherer seid alle lititi. Daran muß man sich schon gewöhnen.“ „ – Der Herr von gestern abend, den mein Kollege in Behandlung gehabt hat, der wird sich schwerlich daran gewöhnen – “, grinste der Friseur. „Lassen Sie die dummen Witze!“ kreischte unter einem Schauder der Kunde. „Bitte, ja? – Wozu erzähle ich Ihnen unausgesetzt, wenn Sie wieder auf diese üble Geschichte zurückkommen?“ „Um neun Uhr“, sagte der Gehilfe dumpf, „komm’ ich auch oft erst nach Hause. Ich mach’ oft Überstunden, wir haben viel künstliche Haararbeiten. Die Grippe hat so vielen die Zöpfe aus dem Kopf gezogen. – Meine Frau, die gehört noch zu den wenigen –, die hat noch ihr schönes Haar. Es ist wahr: im Gaslicht schimmert es wie rötliches Flittergold.“ „Also wir kommen – “, spann der Kunde den Faden weiter, „wir kommen in eine ganz vertrackte Gegend, die ich kaum je betrete. – Wenigstens war die Bude warm und der Divan gut.“ „Wo wohnt sie denn?“ fragte der Friseur. „Das werd’ ich Ihnen schleunigst verraten“, spottete der Dicke. „Glauben Sie, ich bin weniger Kavalier und in galanten Abenteuern weniger verschwiegen als diese Herren Barone, die Sie sonst rasieren?“
„Wer hat überhaupt angefangen?“ rief der Gehilfe gequält. „Hab’ ich die ganze Schweinerei hören wollen? – Wie war denn ihr Name?“ „An Ihren Ton muß man sich gewöhnen“, sagte der Kunde verletzt. – „Wie sie geheißen hat? Den Vornamen kann ich Ihnen ja sagen, damit Sie sehen, ich komm’ Ihnen entgegen. Else hat sie geheißen.“ „Else“, wiederholte der Friseur, „ganz hübsch.“ – Dann sagte er stockend: „ – Wenn man so einen tiefen Schnitt legt, muß man wohl achtgeben, daß man nicht von dem Strahl getroffen wird. Das Blut spritzt oft heraus wie aus der Wasserleitung.“ Der Kunde wollte aufstehen. „Geduld, mein Herr“, bat der Friseur, „wir sind erst mit den Backen fertig.“ Und er begann das Kinn zu rasieren. Dies hinderte den Kunden am Bau langer Sätze. Doch schwieg er nicht. Er sprach in die Stille, in das Knistern und Scharren des Messers, das die Stoppeln mähte; er warf die kargen und hervorgemurmelten Worte schwächlich gegen die fahl erglühende Kuppel des Gaslichtes. „Sie hat freilich – gleich gewußt – worauf’s hinausging. Erst zutraulich – der Teufel kennt die Weiber – dann verschanzt hinterm Tisch. Geplärr: Nein, gehen Sie wieder, ich will nicht. – Weiß schon, was Sie wollen, sag’ ich. Die Muffe wollen Sie – fünfzig Mark – ich leg’ sie auf den Tisch. – Nein, sagt sie, mein Mann kauft mir schon, was ich brauch’.“ „Sehen Sie: Mein Mann!“ frohlockt der Friseur. „Meinetwegen, fader Mensch!“ kreischt der Kunde und zieht sich einen kleinen Schnitt zu, mitten im Kinngrübchen. „Verzeihung“, sagt der Friseur bestürzt und feierlich, „aber es war nicht meine Schuld. Der Herr muß besser stillhalten.“ Und er fährt mit dem Alaunstein über den Ritzer. „Brennt es?“ erkundigt er sich höflich.
Der Kunde kichert mühsam. „Die fünfzig Mark haben ihr doch gefallen“, gluckst er. „Dein Mann ist wohl ausgepumpt, sag’ ich, wie sie lebhaft zu werden anfangt. Dein Mann, der kann wohl nicht mehr so, wie er möcht’, und so, wie du’s magst.“ „Ich denke, Sie haben ihr zwanzig Mark geschenkt“, sagt der Friseur und rasiert den Hals gegen den Strich. Der Kunde liegt so weit hintenüber, daß die Stimme gequetscht aus dem Rachen quillt: „Hab’ ich auch, Bester“, keucht er. „Die fünfzig Mark – waren bloß Beruhigung – und Lockmittel.“ „Und dem Mann“, meint der Friseur traumhaft, „dem haben Sie nicht nur die Frau verschweint, den haben Sie auch noch beschimpft. Brav so!“ „Fünfzig Mark werd’ ich ihr schenken!“ keucht der Dicke. „Da hätt’ ich ja Prügel verdient.“ „Ich kann schon begreifen“, sagt der Friseur langsam zu sich, „was der damit gemeint hat. Gut kann ich’s verstehen, was gemeint ist mit dem Angestiertwerden, – und daß kein Mensch das ein Leben lang vertragen kann.“ „Fünfzig Mark!“ entrüstet sich der Kunde. „Sie hat doch auch ihr Vergnügen gehabt. Wie die aber geil geworden ist – das kann ich Ihnen nicht beschreiben – das müssen Sie mir einfach glauben! Das beweist Ihnen der Biß ins Ohr.“ „Stein gefällig?“ fragt der Friseur und schließt das Messer. Der Kunde betupft sich prüfenden Fingern im Gesicht. „Nachrasieren“, befiehlt er und lehnt sich nochmals zurück. Wieder klatscht der Pinsel über die Backen. „Fünfzig Mark werd’ ich opfern“, fangt der Dicke nochmals an, „wo die ganze Muffe siebzig kosten soll. Muß schon der verehrliche Gatte das Fehlende drauflegen – oder ein anderer Freund, dem sie einheizt.“
„Ein anderer – ein Zweiter – freilich, und ein Dritter und Vierter. Auf dem Wege wär’ sie jetzt“, sagt der Friseur und klappt das Messer wieder auf. „Nach einigem Zögern und Getu’“, ergänzt der Kunde. „Da wollt sie noch bitten und flehen, als ich schon im besten Zuge war. Ein bißchen hab’ ich sie schon vergewaltigen müssen. – Schrei’ nicht, hab’ ich ihr gesagt, sonst merken die Nachbarn, was du für Späße treibst.“ „Und Ihre Frau –?“ sagt der Friseur und läßt in breiten Strichen das Messer über die Wange laufen. „Wenn Ihre Frau Ihnen so etwas antun würde?“ „Meine Frau ist krank“, sagt der Kunde befriedigt. „Die macht keine Seitensprünge.“ „ – Für zwanzig Mark – “, träumt der Friseur. „ – Else ist ein ganz hübscher Name. – Aber Sie haben doch einen Fünfzigmarkschein auf den Tisch gelegt?“ „Den hat sie mir wechseln müssen“, erklärt der Kunde. „Erst wollte sie nicht. – Wenn du nicht wechseln willst, bekommst du gar nichts, hab ich gesagt. Du hast dein Späßchen gehabt, genauso gut wie ich.“ „Hat sie denn wechseln können?“ fragt der Friseur und seift am Halse. „Dann hat sie doch Geld und braucht keins von Ihnen.“ „Das war’s ja gerade: sie hat nicht wechseln können“, kichert der Kunde. „Sie hat sich erst noch auf die Strümpfe machen müssen. Die Nachbarin hat auch nicht wechseln können. Sie kommt zurück und berichtet es mir. Geh’ nur, sag ich, und schau’, wie du’s zuweg bringst; ich warte schon. – Mir sind sie schon verhaßt, deine zwanzig Mark, zischt sie, aber ich will es nicht umsonst getan haben. – Und sie geht wieder hinaus und in den ersten Stock und dann in den zweiten. Im dritten Stock hat sie dann endlich gewechselt bekommen.“
„ – Im dritten Stock – “, träumt der Friseur und läßt das Messer pendeln. „Da wohnt der Installateur Buchleitner. Da wohnen übrigens natürlich mehrere Parteien.“ „Wie –?“ sagt der Kunde unaufmerksam. „ – Ich schäm’ mich so, hat sie immer geklagt, ich schäm’ mich vor den Leuten! Die dumme Gans –! Als ob die wüßten, weshalb sie wechseln geht.“ „Da hat sie viel Arbeit mit Ihnen gehabt, mein Herr. Ganz erschöpft muß sie gewesen sein, als um neun Uhr ihr Mann nach Haus gekommen ist“, meint der Friseur. „Ach was“, lehnt der Kunde unwirsch ab. „Sind Sie fertig?“ „Sofort“, sagt der Gehilfe bereitwillig. „Nur noch den Hals – “ Und er setzt kräftig an und legt einen traumhaft sicheren Schnitt durch Schlagader und Kehle, und er gibt acht, daß ihm das Blut nicht über den Ärmel rauscht.
Er vergißt nicht, sich die Hände zu waschen und den weißen Friseurkittel mit dem Rock zu vertauschen. So steht es in der Zeitung. Dann nimmt er den Mantel über den Arm, setzt die Sportmütze auf und verläßt den Laden. Vor der Tür trifft er den allmorgendlichen ersten Kunden. „Einen Augenblick, bitte sehr, Herr Berger“, sagt er, „ich muß in die Apotheke.“ Und er schließt die Ladentür ab. „Lassen Sie mich doch wenigstens hinein“, sagt Herr Berger. „Die Ladenkasse steht offen“, erwidert der Gehilfe. „Aber erlauben Sie mir“, beklagt sich Herr Berger, „für wen halten Sie mich!“ „Schon gut“, besänftigt der Friseur, läßt ihn stehen, winkt ihm zu und geht. Er geht unter einem schneeverhangenen Himmel, es ist halb neun Uhr. Überall brennt noch Licht. Es fällt durch Gardinen
und nackte Schaufenster auf die Straße, die zu schwach und zu mürrisch ist, sich in den Morgen zu erheben. „Der Meister wird nicht schlecht erschrecken“, sagt der Gehilfe vor sich hin. „Es ist wohl weniger schlimm, ein Mistvieh umzubringen, als nachher ahnungslos den Kadaver aufzufinden.“ Er hat eine halbe Stunde bis zu seiner Wohnung zu wandern. Er könnte fahren, aber er geht. „Ich komm’ früh genug heim“, sagt er, als die Straßenbahn ihm vorbeiläuft. – – Seine Frau liegt noch im Bett. Sie wundert sich mit runden schlaftrunkenen Augen. „Ich hab’ Zank mit dem Meister gehabt“, erklärt er. „Vielleicht fang’ ich was Neues an. Ein neues Leben.“ Und er lächelt, weil er so viel hinter sich gelassen hat… Er setzt sich an den Tisch und trinkt die halbe Tasse erkalteten Kaffees, die er vor zwei Stunden hat stehenlassen. „Was wirst du denn jetzt machen?“ fragt die Frau und stützt schläfrig einen Arm auf und den Kopf mit den wirren Haaren in die Hand. „Anna“, sagt er, „hat deine Mutter nicht Else geheißen? Du hast bei der Geburt auch den Namen Else bekommen. Bist du nie so gerufen worden? Du hast mir, mein’ ich, einmal gesagt, es wär’ dir lieber, wenn man dich Else statt Anna nennen würde. – Geh’, zeig mir deinen Geburtsschein.“ „Was drückt dich denn heute? Du weißt doch, der Schein liegt auf dem Standesamt“, sagt die Frau. „Das Standesamt – “, sagt er für sich, „daß ich mich da hab’ hinschleppen lassen. War ich denn da bei klarem Kopf?“ „Wach’ ich, oder träum’ ich?“ sagt die Frau, legt sich ins Bett zurück und schließt die Augen. „Anna“, fangt er wieder an, „wann bin ich gestern heimgekommen? Abends um wieviel Uhr, Else?“
„Fragst du noch viel heut’?“ sagt sie. „Laß die Witze, ich heiße nicht Else, ich heiß Anna. – Um neun Uhr bist du heimgekommen.“ „Stimmt“, sagt er, „und da hab’ ich gar nichts gemerkt, wie? Es ist dir wohl nicht angenehm, wenn man dich Else ruft? Wie?“ „Der Schnapsausschank war gewiß schon auf, wie du vom Meister fort bist“, spottet sie. „Wenn du nichts Besseres zu reden hast, schlaf ich noch weiter.“ – Und sie dreht sich zur Wand. „Hast du einen Zwanzigmarkschein in der Tasche?“ fragt er. „Ich denk’ schon“, sagt sie und gähnt. Er tritt nahe an ihr Bett. „Ich könnt’ einfach zu dem Installateur hinaufgehen und fragen wegen den fünfzig Mark.“ „Eben hast du mich doch nach einem Zwanzigmarkschein gefragt“, sagt die Frau ärgerlich. „Du redest ein wirres Zeug durcheinander. Leg’ dich auch nieder und schlaf. Was willst du denn von dem Installateur; um den hast du dich doch sonst nie gekümmert?“ „Wär’s dir unangenehm, wenn ich mich jetzt um ihn kümmern wollt’? – Gesteh’s“, drängt er, „gesteh’ alles ein!“ „Du sagst selbst immer“, verteidigt sie sich, und er weiß nicht, wogegen, „man kommt mit den Hausgenossen am besten aus, wenn man sich nicht um sie kümmert.“ „ – Erst nebenan – “, überlegt er gegen die Zimmerdecke, „dann im ersten Stock, dann im zweiten Stock, dann im dritten Stock.“ „Laß mich in Ruh“, sagt sie wütend und schlägt sich die Bettdecke ins Kreuz. „Anna“, beginnt er versöhnlich, „hab’ ich recht, wenn ich sage, du willst einen Muff geschenkt haben? Du hast doch neulich, mein’ ich, den Wunsch geäußert. Einen Samtmuff.
War da nicht neulich einer ausgestellt, der dir gefallen hat, Preis siebzig Mark, – wo denn gleich?“ „Jetzt, wo du außer Stellung bist, müssen wir unser Geld zusammenhalten“, belehrt sie entsagend. „Aber du hast doch schon einen Muff!“ schreit er aufgebracht. – „Also wozu noch den samtenen! Ist der alte vielleicht zu schäbig für die feine Dame?“ „Du bist heut’ ganz aus der Bahn“, stellt sie kalt fest. „Die Entlassung hat dich wohl ganz verdreht.“ Aber dann tröstet sie ihn. „Es wird nicht schwer sein“, sagt sie, „eine neue Stelle zu finden – heutzutag’, wo’s wenig Tüchtige gibt in deinem Beruf.“ „Heutzutag’ – heutzutag’“, wiederholt er und schaut fremd auf die Zimmerwände, auf den Öldruck, durch die Fenstergardine hinaus in den grauen Schnee, in den Hof. „Soll ich dir den Kaffee wärmen?“ fragt sie im plötzlichen Mitleid und ist schon halb aus dem Bett. „Laß gehen, ich brauch’ keinen Kaffee“, wehrt er ab. „Ich hab’ Geschäfte, ich geh’ gleich wieder.“ Und sie schlüpft zurück unter die Decke. „Wenn jetzt Sommer wär’“, sagt er und schaut auf den grauen Schnee im Hof, „könnte man Ausflüge machen. Jetzt hätt’ ich Zeit dafür. – Aber freilich – “, setzt er giftig hinzu, „ – wenn man eine Frau hat, die bis neun Uhr im Bett liegt, wird es niemals was mit Ausflügen.“ „Was versäum’ ich denn“, sagt sie schläfrig. „Gekocht ist gleich. Ich bin gestern abend spät heimgekommen.“ „Wo warst du denn?“ erkundigt er sich obenhin. „Geht das Frag- und Antwortspiel wieder los!“ sagt sie gereizt. „Du weißt doch ganz gut, daß ich um neun Uhr zur Bertha gegangen bin. Und daß ich um zwölf heimgekommen bin, weißt du auch, denn du bist wachgeworden und hast mich gefragt, wieviel Uhr es ist.“
„Wer ist denn die Bertha?“ fragt er nachdenklich. „Jetzt laß mich aber in Frieden!“ lacht sie halb belustigt. „Du willst mich zum Narren halten. Frag meine Schwester Bertha selber, wer die Bertha ist. Und frag sie, wo ich gewesen bin, und ob ich bei ihr gewesen bin und wie lange ich bei ihr gewesen bin und ob ich auf dem Kanapee gesessen bin oder auf dem Sessel und ob ich mit dem linken Fuß oder mit dem rechten zuerst zur Tür hinausgegangen bin.“ „Alles in Ordnung“, sagt er und macht eine abschließende Handbewegung durch die Luft. „Aber vor neun Uhr…? – Wer war denn der Herr, der dich angesprochen hat – da auf der Straße – vor dem Laden –? Was hat denn der gewollt?“ Sie setzt sich hoch mit einem Ruck. „Mich soll ein Herr angeredet haben?“ ruft sie aus. „Gib’s doch zu“, sagt er gutmütig. „Was ist denn schon dabei?“ „Verrückt – “, sagt sie nur. „Vielleicht – “, meint er und fährt sich mit der Hand über die Stirn. Aber er wischt die Zweifel nicht weg. „Was kann eine saubere junge Frau dafür“, entschuldigt er selbst sie. „Kann sie etwas dafür, wenn sie angesprochen wird?“ „Hast du mich denn mit einem Herrn gesehen?“ fragt sie lauernd. „Vielleicht“, sagt er abwartend. „Wo denn?“ fragt sie, schon wieder ganz sicher. Er nennt irgendeine Straße. Sie zögert. Sie schaut die Bettdecke entlang und den Tapetenstreifen hinauf. Sie überlegt. „Aber das war doch nicht gestern“, stellt sie genauestens fest. „Das war doch vorgestern abend.“ „Und dann hat er dir den Muff kaufen wollen, nicht wahr?“ hilft er nach.
„Dummes Zeug“, sagt sie ärgerlich. „Von einem Muff war gar nicht die Rede. Er hat mich nach dem Goetheplatz gefragt. Aber das war natürlich nur so ein Vorwand. Und dann ist er neben mir hergetrottelt, und wir haben über ein Kinostück gesprochen. Und dann hat er mich gefragt, ob er mich zum Nachtessen einladen darf. Da hab ich erwidert: Danke, mein Mann wartet zu Hause. Und dann ist er doch noch ein Stück mitgegangen und hat mich gebeten, ob er mich wiedersehen kann.“ „Und wirst du ihn wiedersehen?“ forscht er. „Natürlich!“ höhnt sie. „Heut’ abend! Überhaupt seh’ ich jeden Abend Männer und treff’ mich mit ihnen. Jeden Abend einen anderen.“ Er steht und schaut in die Luft. – „Wie das durchgleitet – “, sagt er vor sich hin, „wie ein feiner Draht durch Butter.“ – Plötzlich tastet er mit beiden Händen in der Brustgegend. „Ich habe meine sämtlichen Sachen im Geschäft vergessen“, ruft er erschrocken, „-und den weißen Kittel auch. Verflucht, jetzt muß ich noch einmal in den Laden und mit dem Meister reden. Ist das unangenehm!“ „Du bist heute zerstreut wie der Herr Professor“, lächelt sie. „ – Aber ich hab’ hier in der Wohnung doch auch noch Messer“, besinnt er sich. Und er geht zur Kommode und beginnt in ihr zu kramen. Sie wird wieder müder und schließt die Augen. Er unterbricht sein gebücktes Suchen und richtet sich auf. „Daß gar nichts geschehen ist, das war doch gelogen“, überlegt er und redet zu dem Bett hinüber. „Schließlich hast du’s doch zugeben müssen, wenn du auch ‘vorgestern’ sagst. Jedenfalls ist da etwas nicht in Ordnung. Da ist dauernd etwas nicht in Ordnung.“ „Was?“ sagt die Frau schlaftrunken. „Ich denk’, du willst fortgehen.“
„Gleich“, entgegnet er und prüft den Inhalt eines Lederetuis. „Wenn du zu Haus bleiben willst, Karl“, sagt sie leise und blinzelt ihn durch mühsam gehobene Lider an, „so schlupf herein zu mir. Bei mir ist’s schön warm.“ „Warm… so…“ sagt er. „Friert dich nicht an den Händen? Die feine Dame hat feine Finger. Am Ende brauchst du ihn doch notwendig, den Muff. Aber wer legt die fehlenden fünfzig Mark darauf. Du hättest gestern besser den ganzen Schein behalten.“ „Wirst du immer so weiterquasseln?“ fragt sie und schläft schon halb. „Dein Geschwätz macht mich todmüd’.“ Er öffnet eines der Messer und versucht die Schneide auf dem Handballen. „Du gehst jetzt oft zu deiner Schwester Bertha“, sagt er. „Weiß der Himmel, was euch so intim macht. Früher, da habt ihr euch nicht vertragen, da seid ihr wie Katz und Hund gewesen. Ich weiß das noch ganz gut; das ist noch kein Jahr her. – Damals sind wir freilich noch nicht verheiratet gewesen; – wieviel Abende warst du die letzte Woche bei Bertha?“ „Ja – “, sagt die Frau aus dem Schlaf. „Willst du nicht antworten, du…“, sagt er in leiser, steigender Erregung. „Ja – “, murmelt die Frau willenlos. „Nie bekommt man geantwortet“, stößt er hilflos und lächerlich vereinsamt hervor. „Keine Antwort, keine Antwort, keine Antwort… Wenn du einem antwortest, dann hört man etwas und hört etwas und hört doch gar nichts.“ „Ja“, sag die Frau gewohnheitsmäßig und dreht sich auf den Rücken; sie schläft mit offenem Munde. „Ja“, wiederholt er, „ja… ja… ja… ich komm’ gleich, ich bin schon da… wenn man immer so angestiert wird, freilich… und ins Ohr beißen muß man seine Liebhaber… wart’ nur, ins Ohr
beißen, das blutet ja… überhaupt: Blut… Blut ist recht… Blut ist recht und gut.“ Und er hockt sich auf den Bettrand, seitlich ganz von dem liegenden Kopf. Er überbreitet die ruhende Stirn mit der einen Hand und drückt sie kurz in die Kissen. Die andere setzt kräftig an und legt einen sicheren Schnitt durch Schlagader und Kehle. Kein Tröpfchen erreicht seine Faust, seinen Ärmel. Es läutet draußen. Er steht vom Bettrand auf. „Sie kommen schon“, sagt er. „Aus.“
VERSAMMLUNG
Als Konrad den Saal betrat, tauchte der Redner, mit seiner Sache zu Ende, im Klatschregen des Beifalls auf und nieder – auf und nieder, wie der Hampelmann an der Schnur. Da durch solchen Dank die’ welche zischten, sich befeuert fühlten, zischten sie stärker. Ein Strahl mißgünstigen Atems fegte durch gefletschte Zähne über Stuhlreihen. Konrad sah mit Entsetzen die zierliche Perücke eines harmlosen Herrn im Stoßwind auf- und gegen die Brust des Redners flattern, wo sie haften blieb. Ganz nackt saß die Glatze auf dem ersten Platz, und es war, als sei geheimster Körperteil peinlichst entblößt. Aller Augen tasteten lüstern vor und rutschten schamhaft aus auf diesem spiegelnden Rund. Man vergaß den Redner über dem bedauernswerten alten Herrn, der aufzustehen, zu gehen oder das Verlorene zurückzufordern außerstande war – nur mit zittrigen Händchen aus graugrünem Schnupftuch ein Häubchen zu formen wußte, ein beschwichtigendes Mützchen, das er mit irrsinniger Bewegung emporfingerte, und das schließlich droben klebte wie Hühnerdreck auf einem Kürbis. Der vergessene Redner aber – vom Klatschen wie vom Zischen gleicherweise im Stich gelassen – barg die Perücke, ein verflogenes Vögelchen, in beiden Hohlhänden und entzog sich weiteren Pflichten, indem er wandwärts ging und sich zum Ausschuß setzte. Konrad hatte gleich beim Eintritt und durch alle Pein des Glatzköpfigen hindurch bemerkt, daß an anderer Stelle des Saales etwas weitaus Bedenklicheres irgendwie reifte. Diese Atmosphäre des Drohenden umgab einen ungeheuren Herrn, der – als hätt’ er’s abgezirkelt – genau in der Mitte des zum Bersten gefüllten Saales auf drei Stühlen saß. Konrad sah mit Bekümmernis, die zum Grauen wuchs, daß zur Linken dieses schwarz angezogenen Kolosses ein Stuhl unbesetzt geblieben war, der einzige im ganzen Raum. Hätte der Berg auf seinen
drei Stühlen auch nicht den Flußpferdschädel gegen Konrad entsetzlich langsam und ruckweise gedreht, um ihn durch hornumränderte Brille wiederkäuerhaft schwermütig herbeizuwinken – Konrad wäre dennoch gegangen und hätte dies Kreuz auf sich genommen – wie hingeweht, wie angesogen vom Abgrund der linken Rocktasche des Ungeheuren. Als er sich, um hinzukommen, wo er hinbefohlen war, durch die Stuhlreihe quirlte, Zehen, auf die er trat, wie harte Kiesel schmerzhaft durch die Schuhsohle spürte, an Kniescheiben sich wundstieß, sah er, wie um diese schwarze Masse wohlgeordnet Häuflein für Häuflein die Menschen auf ihren Stühlen hockten, und er mußte sich sagen, daß dieser Riese einem Lurch, einer sammetdunklen Kröte glich, die ihren Laich rund um sich her Häuflein bei Häuflein abgesetzt hat. Angelangt machte Konrad eine kleine Verbeugung und ließ sich nieder. Der Riese ruckte den Kopf nach links und ließ ihn zur Begrüßung gegen Konrad sinken, der befürchtete, gleich werde ein Felsblock auf ihn herabstürzen. Er sah dies massige Haupt kantig, dumpf erstaunt, verhalten beunruhigt – Lauern in der Hornbrille, nicht tückisch, aber bereit zu plumpem Sprung. Wie sich das Haupt langsam schwingend gleich einem Kran von Konrad wieder abdrehte, wimmerten die drei Stühle auf, die, bei jeder kleinsten Bewegung des Riesen zum Äußersten gebracht, Laute des Schmerzes, Signale einer drohenden Katastrophe von sich gaben. Wenn sie nicht durchhalten –, überlegte Konrad, es ist nicht auszudenken, was dann geschieht. Solchen Erschütterungen wäre dieser Saal im zweiten Stock – wäre kein Saal und kein Haus der Welt gewachsen! Wir sind verloren. – Und er sann auf Rettung und beschielte die Stuhlbeine, die schon wie Faßreifen gebogen waren. Aber der Ungeheure legte den Blick falsch aus. Er dirigierte das Haupt wieder nach links und blies zu Konrad
hinunter: „Die drei Stühle sind bezahlt.“ Er begann mit Keulenfingern in der Westentasche nach den Eintrittskarten zu suchen und fand sie nicht, weil sie sich, wie Konrad entdeckte, unter den Daumennagel geschoben hatten, ohne daß dieser menschliche Berg es bemerkte. „Selbstverständlich haben Sie bezahlt“, sagte Konrad sehr ängstlich, „aber bitte, bleiben Sie ruhig sitzen, sehen Sie geradeaus, verschieben Sie kein Gewicht, Ihre Stühle knarren so entsetzlich.“ Mittlerweile hatte die Aussprache begonnen. – Worum handelt es sich eigentlich? fragte sich Konrad. Ich gehe in eine Versammlung, versäume den Redner des Abends und kann mich auch des Themas nicht mehr entsinnen, das mich doch gereizt hat, überhaupt hier zu erscheinen. Ich möchte mich besinnen, aber der Berg neben mir deckt alles zu. – Immer hörte er (wie im Röhrensystem eines Badeofens, der mehr und mehr erhitzt wird) neben sich ein feuchtes Glucksen und Glupschen, ein auf- und absteigendes Kollern, ein leichtes Platzen von Dampfblasen, die zischend durch die Nasenlöcher entwichen. – Wenn er niesen muß, ist alles aus, und sollten die Stühle auch Überirdisches leisten! erkannte Konrad. Um seine steigenden Besorgnisse zu zügeln, zwang er sich endlich zur Aufmerksamkeit. Eine außerordentlich dürftige Dame stand auf dem Podium und sprach. Sie lispelte und sandte haardünn ein Stimmchen aus. Konrad verstand kein Wort. Weil ich das Thema dieses ganzen Abends nicht weiß! schalt er sich. Weshalb bin ich Rindvieh denn hier? – Neben einem kochenden Berg? – Gegenüber einer lispelnden Frau, die mich zum Narren hält mit ihrem zerspellten Glashaarstimmchen? Was sagt sie jetzt? Was erkühnt sie sich? Sie will uns ein Gedicht versetzen? Ich hör’s am Rhythmus, der Rhythmus genügt! Konrad sprang auf. „Gehört nicht zum Thema!“ schrie er. „Bei der Sache bleiben!“
schrie er. Aber das Gedicht auf dem Podium rieselte weiter, und ein Eisengewicht, auf seine Schulter geschoben, zwang ihn zum Sitzen. „Lassen Sie doch das Fräulein dichten“, schnaufte der Berg. „Sie ist sehr nett – so zierlich…“ Und seine zärtliche Pranke versuchte federleichte Ware in die Luft zu malen. Konrad schwindelte es bei dem Zwangsgedanken, diesen Bullen neben ihm und jene Lilie dort oben könnte je die böse Lust ankommen, einer durch den andern ihre Art fortzupflanzen. – Indessen schien die Saalmenge genug zu haben. „Aufhören! Vorhang! Eiserner Vorhang!“ ward rüpelhaft geschrien. In einem gellenden Zirpen schwang das Fräulein weiter ihr Gedicht, und sie rastete nicht eher, als bis hohnvoller Beifall tosend sie überschwemmte – eine Kaskade, aus der sie cyanotischen Gesichtes jappend nach ungeklatschter Luft mit Spindelarmen und -beinen auf ihren Platz zurückruderte. Ein neuer Diskussionsredner hing schon über dem Volke. „Nur ein paar Worte zum Thema des Abends!“ sagte er mit einer Zunge, die rosenweich in die vollendete Stille des Saales glitt. Wüßte ich nur das Thema, dachte Konrad verbissen. – „Die heutige Zeit, diese Zeit folgenschwerster Umwälzungen“, begann der auf dem Podium tausend Ohren einzuölen – Umwälzungen?! – und Konrad erschrak heftig, er blinzelte nach dem Berg. Aber der beharrte: nichts wälzte sich. Gerade wollte Konrads Herzmuskel ruhigeren Galopp anschlagen und die Hürden des Lebens, das ihn heute mehr denn je ein Jagdrennen dünkte bis zum letzten Sprung, weniger hastig nehmen – als der mittlere der drei Stühle, auf denen der Koloß montiert war, zusammenbrach. Aus! schluchzte Konrad und schloß die Augen. Aber er mußte sie wieder öffnen; denn nichts geschah. Er wagte nach rechts zu schauen: der Berg ragte noch; er war um einiges tiefer gesackt, aber er blieb. Gott sei gelobt in der Höhe, daß der schwächste Sitz gerade der
mittlere war, jubilierte Konrad innerlich. Vorläufig noch gerettet! Aber – und schon wieder war er angstgepeitscht – die beiden anderen Stühle? Sie, die der treue Kamerad in der Mitte hatte verlassen müssen! Sie können’s allein nicht schaffen, sie ächzen und stöhnen herzzerreißend, sie können den gewölbten Druck überquellender Fronten für Minuten noch in Schach halten, vielleicht nur noch für Sekunden – nicht länger! – Erschütternd war es für Konrad, entdecken zu müssen, daß der Koloß über seine aufs äußerste gefährdete Lage wie über die des ganzen Saales völlig im unklaren war. Er lebte ahnungslos dahin. Den mit Wirbel- und Beinbrüchen am Boden liegenden Stuhl schien er gar nicht zu vermissen. Freilich fesselte ihn der Redner auf dem Podium außerordentlich. Auch Konrad horchte hinauf. Der Redner mochte der Ansicht sein, genügend geölt zu haben. Er schoß seine Kugeln in die hinreichend schlüpfrigen Gehörgänge. „Die Bundesstaaten sind ihres krönenden Firlefanzes beraubt! Das große Reinemachen hat begonnen! Ich spreche zum Thema!“ schrie er drohend. Thema? Wüßte ich nur –! gärte es verzweifelt in Konrad. „Mein Fräulein Vorrednerin hat den Herrn Vorvorredner mißverstanden!“ schrie das Podium. „Nicht das Jahrhundert des Unrates ist kurzerhand hinwegzufegen, wir bedürfen seiner, denn wir leben in ihm; aber der Dreck der Jahrhunderte ist zu beseitigen. Dazu mein bescheidenes Teil beizutragen, erlauben Sie mir, verehrte Anwesende. Ich bin der Vertreter des Vakuumreinigers Sisifax! Sisifax wird durch nichts übertroffen. Dieser Reiniger ist – “ – Ein ungeheurer Lärm brodelte auf. Der Saal geriet in Zuckungen. „Mißbrauch der Redefreiheit! Fehrzepeller ist besser als Sisifax! Wort entziehen! Geschäftstrick! Lebendes Inserat!“ gellte es durcheinander. „Geschobener Beträger! Betrügerischer Schieber! Podium verlassen! Zum Thema!“
Thema –? dachte Konrad tückisch. Er fühlte, wie sein Hirn fiebernd zu klaffen begann. Und da gebar sich aus ihm ein ganz großes gelbes Plakat. Auf dem hatte nachmittäglich zu lesen gestanden – an jeder behaglich runden Litfaßsäule (wie fern lag diese unsagbar schöne Stunde einer Nachmittagsstadt mit Litfaß und gelbem Plakat, da man noch Mensch und eingeordnet jeder gutmütigen Straße war) – hatte zu lesen gestanden: etwa Menschenliebe? – Oder Bruderruf! – Oder etwa Weltgewissen? Und jetzt – jetzt war das Thema Vakuumreiniger?! Konrad mußte – er mußte es sinnlos hinausbrüllen! Er überheulte alle. „Thema!“ schrie er. „Aufsatzthema! Schulaufsatz! Steißtrommler!“ Der Steißtrommlerschrei brachte eine unerwartete Wirkung. Der Podiumredner, der mit beschwörenden Armen die Menge umfing, um eine Lage herbeizuführen, in der er wieder frisch ölen konnte, horchte auf. Er betastete sich rückenabwärts. Er schien plötzlich irgendwelchen Schulerinnerungen ausgeliefert zu sein, schien zu befürchten, es könne sich wiederholen, was sich damals an ihm auf Lehrerpodien vollzog – und er lief knabenhaft mit hohlem Kreuz davon. Die Menge verschlang ihn. Da aber geschah etwas Entsetzliches – neben Konrad. O nein, die Stühle brachen nicht. Wären sie doch! Sie brachen nicht, sondern der Berg erhob sich. Er wuchs gegen die Decke. Seine Arme taten Kolbenstöße durch den Raum, zischend entfuhr den Gelenken der Dampf. „Ich will auch reden!“ dröhnte es aus feurigen Kinnbacken. Und er stapfte vorwärts quer durch die Stuhlreihen. Die Menschen flohen. Er trieb die Stühle mit Fußtritten vor sich her wie Spielbälle. Eine ausbiegende Matrone fiel neben ihm glatt auf den Bauch. Er gab ihrem Gesäß mit zwei Fingern einen Stüber, wodurch der elastische Leib, kurz komprimiert, vom Boden sich wegschnellte – hinein
in die Fanghand, die die Grünbekleidete auf ein weißes Fensterbrett setzte, wo sie verblieb. Sie vergaß den hysterischen Schrei. Konrad stellte fest, mit einem Grauen, das nicht mehr wachsen konnte und in das kalte Fieber ingrimmigster Beobachtung umschlug, wie der Berg noch wuchs – irgendwie anschwoll. Was sich ihm durch die Adern pumpte – Blut oder was es war – kreiste als Schaumgekräusel in zu engen Behältnissen – unheilvoll erhitzt durch die Vorgänge dieses Abends. Wo waren Ventile, die genug dieses kochenden Feuers hätten entweichen lassen? Konrad sah, wie die Oberarme aufgetrieben ragten, wie der Nacken zum Hügel wurde, wie die Schenkel ihre Hose auf die letzte Probe stellten. Zuerst zerknallte der Kragen, gesprengt von der Halsschlagader, die, dick wie ein Schiffstau, hervortrat und deutlich hämmerte. Dann zerfiel der schwarze Anzug; er platzte sorgsam in den Nähten. – Welch schlechter Zwirn, dachte Konrad, schlimm sind die Zeiten. Teil um Teil löste sich von dem Berg, rollte ab und glitt seltsam anmutig zu Boden. Nur die Weste riß rückenlang mitten entzwei und prallte nach vorn hinweg in den Saal. Vorhang im Tempel riß mitten entzwei… mußte Konrad denken, auch hier Katastrophen… Zweierlei Zwirn, keine einheitliche Arbeit des Schneiders. – Die Hose hatte sich abwärts nur bis zu den Knien in ihre Bahnen zerlegt – der Berg stieg aus den Schläuchen und stapfte im schweißnassen Unterzeug gegen das Podium. Der Saal erzitterte, die Decke bebte, die Kronleuchter läuteten das Ave. Das Podium bewuchtete er, stapfte Löcher krachend in dies unselige Gerüst, stak bis zu den Waden im Holz. „Ich will auch reden!“ dröhnte er. „Zum Thema!“ posaunte er. Fortwährend zischten Dampfwölkchen aus Hemd und Unterhose – ein Maschinenhaus, dem Überhitztes rhythmisch und weißlich
entpuffte. Der Podiumtisch samt Tintenfaß und Schreibpapier schlug um und hinab. Drei Berichterstatter in vorderster Stuhlreihe, kaum sahen sie Tinte über den Parkettboden fließen, konnten nicht widerstehen. Dies edle Naß, heiliger als Blut, nötigte sie zu knien und sofort federhalterkauend ihre Berichte über den Verlauf des Abends zu beginnen. „Hier ist vom großen Reinemachen gesprochen worden“, begann der Berg, „vom Hinwegfegen alles Lügenhaften! Ich will Ihnen grundlegend eine Berichtigung geben, verehrte Anwesende! Ich rede zum Thema, wenn ich Lügen aufdecke. Was ist die Urlüge? Das Märchen von der Entstehung des Weibes ist die Urlüge. Meine Herren – “, er stockte, irgendetwas schien ihm in den Gang geraten, doch es gelang ihm, schleppend weiterzuschwingen: „ – und auch, wenn es sein muß: meine Damen! Hier gebe ich Ihnen die Wahrheit über die Erschaffung der Eva. Hier! Der Teufel war betrunken, war betrunken, Sie wissen: im Weinberg des Herrn…“ Konrad sah den Koloß torkeln; der Koloß schnaufte – er blies sich auf und stand wieder fester. „Da sah der Teufel Adam, den Einsamen. Und weil er betrunken war, sah der Teufel den Adam doppelt.“ Auf ihren Stühlen klebte die Versammlung, atemlos, fluchtgewillt, unfähig zur Flucht. Noch läuteten die Kronleuchter leise, in ihr Ausklingen posaunte der Berg: „Da griff der Teufel den einen Adam im Zorn seines Rausches und entriß ihm gewaltigen Ruckes, was männlich war an ihm. Er knetete hinten und formte vorn, er zerrte die Hüften auseinander, er biß mit giftigem Zahn in die Jünglingsbrust, so daß zwei Hügel aufschwollen. Er fuhr mit Spinnenfingern in Adams Haare, zerrte sie länger und schuf Evahaare. Er schillerte Falschheit in Adams Auge, er spie Glätte in Adams Schlund. Sodann, verehrte Anwesende, warf er diesen Adam,
der keiner mehr war, dem anderen Adam in den hilflosen Arm!“ Und der Berg packte schnaubend einen Berichterstatter, der zu nahe herbeigekrochen war, und warf ihn das Fräulein, das sein Gedicht nicht hatte vollenden können, in den hilflosen Arm. Der Berg orgelte Schlußsätze: „So entstand Eva! Ein Hirngespinst des betrunkenen Teufels, der rauflustig war. Nicht einmal Blendwerk der Hölle, nur Bieridee ist das Weib. Und wir schleppen sie durch Jahrtausende. Wir! Fort mit der Erblüge, fort mit dem Popanz! Beraubt seines krönenden Firlefanzes stehe frei der Mensch!“ Der Berg sank zusammen. Konrad bemerkte, daß die Ventile matter pufften. Der Fleischberg sank in sich; schlapp werdende Schläuche machten ihn hinschwinden. Das Fräulein, das sein Gedicht nicht hatte zu Ende bringen können, trippelte herbei, beugte sich wie über einen Sterbenden und sagte unter Tränen, die nicht weniger rätselhaft waren als ihr Trieb, Verse jählings rieseln zu lassen – sagte schluchzend: „Ihn hätte ich lieben können“, – worüber Konrad, als er’s hörte, heftig erschrak, denn er hatte vorhin an diese Ungeheuerlichkeit zaghaft schon gerührt. Auch der Vakummreiniger trat hinzu und bemängelte: „Zu wenig Geschäftssinn! Wahrheit ist gut, aber Klugheit ist besser. Was ist uns heute Ulk und Urlüge? Stimmzettel und Staubsauger sind wichtiger.“ – Jener alte Herr aber, der so rührend immer noch den Hühnerdreck auf dem Kürbis trug, wankte zitternd aus seiner Stuhlreihe heran und betete, vor zersplittertem Podium die Hände faltend: „So ist denn meine Perücke gleichwohl wahrlich nicht umsonst in die Freiheit gezogen. Lieber Herr Vorredner, für alles, was du mir vorgeredet hast, danke ich dir mit Bruderdruck.“ Konrad sagte sich, der Alte meine wahrscheinlich Bruderkuß oder Händedruck; aber es
blieb sich gleich; was er gesagt hatte, barg noch mehr Dunkelheiten. Es war das Bild geordneter Verwirrung, wie er da zu seinem Stuhl zurückwallfahrte, mit zittrigem Griff nach dem Schädel graugrünes Tüchlein als Mütze vortäuschend unterstrich, Gehrockaufschläge unfruchtbar streichelte und gläubig auf seinen Sitz niederrasselte, vorgebeugt in schlottriger Erwartung vieler Klänge, gemischt aus Worten, Ausrufen und Patschhänden, ahnungslos – oh, Konrad erkannte: herzbeklemmend ahnungslos, was alles dieser helle Saal schon hinter sich gebracht, was alles diese düstere Nacht schon überschritten hatte, wie weit diese trübe Nacht schon vorgeschritten war. Denn der Koloß gab Grund zu schwersten Bedenken. Konrad sah sich im Saal um. Wie ist er eigentlich hereingekommen? fragte er sich. Obwohl er zusehends verfällt, wäre er doch zu keiner der Saaltüren hinauszuschaffen. Einzig durch die großen Bogenfenster! Übrigens redeten Redner. Ein leiernder Schwall, der Konrad längst ins Ohr geflossen war, kam ihm jetzt erst zu Bewußtsein. Und nun sah er auch, daß man die Front gewechselt hatte. Das zerbrochene Podium samt dem mild Entgasenden war vergessen. Horcher und Gehörte nahmen das andere Saalende mit einem umgestürzten Bücherschrank als Rednerbühne. Nur der alte Herr im graugrünen Mützchenersatz blieb bei der alten Richtung. Willfährig hielt er Schallhände an gelbe Ohren und hörte taub auf die gurgelnden Versunkenheiten des Podiums. Konrad berührte mit der Hand, was da hinschrumpfte – und bei leisestem Finger lief welliges Zittern über den ganzen Berg. – Als Kind habe ich auf Handwagen Säcke gesehen, klang es in Konrad, die mir Rätsel blieben: Sie glänzten triefend, sie waren gespannt und dennoch schlaff, sie unaufhörlich vor sich selbst, sie bargen QualligSchlappriges.
Näher zusehend entdeckte Konrad, daß die Masse schon sehr breiig wurde. Eine Hand, über Podiumsreste in den Saal hängend, zerfloß bereits; ihr Daumen – schmelzendes Himbeereis – vermischte sich mit der Tintenlache, vor der die Berichterstatter bäuchlings immer noch heftig schrieben. Aber der Grundstock des schwabbelnden Massivs revolutionierte sich noch einmal. – Von Urstößen gepackt wogte der Berg und wollte auf die Beine; doch trugen sie nicht, sie waren wie matter Gummi und schnellten weg unter jeder Belastungsprobe. Immer wilder und aussichtsloser wurden diese Versuche, diese Umlagerungen gallertartiger Körperteile. Herzzerreißend für Konrad war dieser Kampf wachsenden Dranges mit schwindender Fähigkeit. Der einst kantige Schädel mit schon verwischten Konturen war ganz nach hinten gedreht und hing aufs Gesäß hinab. Wegtropfende Augen liefen staunend den eigenen Rücken hinunter und begriffen nicht, wieso Knöpfe und Knopflöcher verschwunden waren. Da hatte Konrad genug. Er schlich zur Türe – wobei ihm wieder bewußt wurde, daß Redner redeten. Er vernahm zwei Stimmen, die gleichzeitig nebeneinander hersprachen. Aber es war kinderleicht, beide zu erfassen. Wenn der eine „Wille“ rief, sagte der andere „zur Tat“. Wenn der eine „sich durchsetzen“ rief, beschloß der andere „bis zum vollen Erfolg“. Und wenn einer mal nur „Es möge mir vergönnt sein“ sagte, und der andere stockend an einer wohltuenden Pause schuld war, wußte Konrad, daß gemeint war: „Ihnen noch ein paar Worte zu sagen.“ Deshalb versäumte er sich nicht länger und entfloh. Auf mitternächtiger Straße raste ein wildgewordener Wagen der Ringlinie vorbei, der zuviel Elektrizität gefressen hatte und seit Stunden nicht in den Stall zu bringen war. Konrad, harmlos und freudig, besprang ihn. Kein Schaffner da – das Wageninnere leer – , er ging hindurch zum Wagenführer. Der
ließ die Arme hängen und sah mit Spannung, mehr noch mit Kummer, mehr noch mit irrem Verzicht geradeaus. „Ich muß bezahlen“, sagte Konrad wohlerzogen, „wo ist der Schaffner?“ Nach einer Weile – die Lage war kritisch: zwei Hunde überquerten knapp die Schienen – sprach der Führer: „Mein Schaffner? In der Versammlung.“ Konrad fühlte kalte Wut heraufkriechen. „Nächste Haltestelle aussteigen!“ schrie er, weil man in die Nähe seiner Wohnung kam. Der Führer zuckte die Achseln. „Die Bremse –?“ fragte Konrad. – „Wirkt nicht.“ – „Der Hebel da?“ – „Wirkt nicht.“ „Wie lang denn, Unmensch, wollen Sie mich durch die Stadt hetzen?“ „Bis die Kontaktstange ausspringt; sonst tut sie’s alle fünf Minuten.“ Längst war man an Konrads Wohnung vorbei; hier fror ihn. Ach, ein verglimmender Ofen, ein milder Divan, ein lächelndes Glas Tee hatten sich freundlich genähert und winkten ihm nun traurig nach. – Konrad bemerkte, daß man wieder an die Stelle kam, wo er aufgesprungen war. Er spähte nach den Häusern – nach dem einen Haus. Nur spärliches Licht sickerte aus den Fenstern des Saales. Eines war geöffnet. Flüchtig sah Konrad viel amtierende Menschenhände einen Strick herablassen, an dem Faltig-Verquollenes in trägem Schwung riesengroß pendelte und langsam über bleiche Häuserwand abwärtsrutschte… Vorbei und weiter. „Liebe Kontaktstange, spring heraus!“ betete Konrad. Sie tat es nicht, aber der Wagen sprang aus, an einer Kurve, und fuhr mitten durch ein Haustor. Da ins krachende Splittern erschrockene Nachthäubchen aus allen Fenstern der Nachbarschaft fuhren, musterte Konrad sie und stellte wehmütig fest, es sei kein einziges graugrünes Mützchen darunter.
Der Wagen stand ächzend im Hofraum der Staatsbank, und seine Kontaktstange tastete immer noch wie ein nervöser Fühler durch die Nacht. Konrad verbrachte den Rest der dunklen Stunden in einem Raum der Bank, immerhin schlafend, auf mäßig weichem Lager aus Papiergeld.
VERMUMMUNG
Der Gymnasiast Paul Pulver sah in dunkler Schlafstube von fünf zu fünf Minuten auf die Taschenuhr mit dem selbstleuchtenden Zifferblatt, die er unter der Bettdecke in der Hand hielt. Schlief die alte Monika tief genug? War es schon an der Zeit aufzustehen? Zwischen zwölf und drei mußte die Kiste gebaut werden. Ab drei Uhr war mit der Heimkehr der Eltern zu rechnen, aber früher kamen sie nicht von diesem Maskenball, der – er kannte das – bis in den Morgen hinein tollte. Die ganze Stadt war aus den Fugen; alles tanzte, tanzte, tanzte, – am längsten ganz gewiß auf diesem letzten Fest des ersten Friedenskarnevals. Liegen die Pläne bereit? Zündet auch die kleine Lampe? Steckt schon in der Hosentasche der schwere Bibliotheksschlüssel? Der Schloßverwalter würde kaum bemerken, daß er abhanden gekommen ist. Der Herr Bibliothekar hat seinen eigenen – und er allein sperrt auf und zu. Trotzdem kann man nächstens den Schlüssel des Verwalters wieder heimlich an das große Schlüsselbrett hängen, von wo man ihn weggenommen hat. Man ist ja kein Dieb, sondern ein Kavalier, der eine Wette gewinnt. Wenn er sie nun gewinnt, – welchen Beweis kann er dem Lindmann erbringen, daß er die Tat ausgeführt hat? – Sein Ehrenwort, ganz einfach. Oder besser: Findet sich etwas von dem Kerl, dann ein Stück von ihm; einen Knochen, einen Gewandfetzen, – den Schädel gar. Elf Uhr dreißig. Paul Pulver steht auf, läßt das Zimmer dunkel und beginnt sich anzukleiden. Im Mondlicht auf dem Tisch liegt noch aufgeschlagen das alte Buch: Geschichte der Stadt und seines großen Schlosses, des größten im Land. Aber von den schlimmen Taten des Kurfürsten steht nicht viel darin, – andeutungsweise nur von seiner Liebhaberei, Kaminkehrer
von den Dächern zu schießen. Von dem einem historischen Kamin des Schlosses, von dem die ganze Stadt weiß, – davon berichtet das feige Buch nichts. Und doch ist es sicher wahr, daß der Kurfürst eines Tages, von der Jagd heimkommend, wettete, einen Schlotfeger, der gerade aus einem der Kamine seines Schlosses auftauchte, auf unerhört weite Entfernung abzuschießen. Er schoß – und das Wild kugelte nicht übers Dach herunter, sondern sank lautlos in den Kamin zurück, – und die Herren Jagdgenossen wagten, an einem Blattschuß zu zweifeln. Man suchte, – gewiß nur oberflächlich, – man fand nichts mehr von diesem Schlotfeger. Ein grausames Spiel, – dennoch schneidig. Aber noch grausamer war, was der Kurfürst mit jener armen Frau von Hirschhorn getrieben hatte, – einer sogenannten Maitresse. Die ließ er enthaupten – rätselhaft weshalb –, und mit dem spritzenden Blut ihres Halses eine Weinflasche füllen. Diese Enthauptung geschah hier im Schlosse, nicht etwa in einem der vielen Höfe, nein: im grünen Saal, der angeblich deshalb leersteht und nur als Lagerraum für Kisten dient, – wenn das mit dem grünen Saal nicht Irreführung ist! Denn die Schloßdiener wissen es anders – die Parkettbodenwichser, die auf Bürsten wie mit Rollschuhen zischend durch die spiegelglatten Säle laufen. Die erzählen nämlich, daß der Richtblock im vierten kleinen Kabinett der Gemäldesammlung gestanden habe. Aber man darf das nicht laut sagen, sonst geht kein Besucher mehr in dir Galerie; geht so kaum einer hinein. Der Kurfürst befahl: Man fange das Blut dieser Buhlerin auf und gebe es mir zu trinken. Was sie an Überschuß hat, also daß sie nicht treu sein konnte, das komme mir zugute. Denn ich werde alt. – Leider weiß von den Bodenwichsern niemand, wie ihm der Trunk bekommen ist. Aber das weiß man, daß der, welcher ihr Blut auffangen mußte, in letzten Augenblicken ihres Lebens in sogenannte sträfliche Beziehungen zu ihr trat,
– also daß auch ihm das Haupt vor die eigenen Stiefel gelegt wurde. Und immer, wenn sie spukt, diese arme Enthauptete, geht ein Geist mit einer Weinflasche hinter ihr, – und von Zeit zu Zeit, wenn ihr brausendes Blut sie zu sehr bedrückt, nimmt sie das Haupt in beide zarte Hände, hebt es ab und läßt das Blut in einem zierlichen Springbrunnenstrahl in den engen Flaschenhals hüpfen. – Muß der Mann mit der Flasche geschickt im Auffangen sein! Wenn man bedenkt, wie schwer es schon ist, Brotkugeln im Bogen in Mamas Tasse zu werfen! Paul Pulver überlegte, ob er Kragen und Krawatte umknüpfen sollte. Er entschloß sich, nur den Schoner umzuknoten; das sah mehr nach Wildwest und Bewegungsfreiheit aus. Die seltene Mama! Heute hat sie’s so wichtig und eilig gehabt, daß sie nicht einmal mehr in sein Zimmer gekommen war. Aber der Vater, der nachsah, ob er über den Schulaufgaben saß, der hatte fabelhaft fein ausgesehen mit dem Turban, dem Dolch im seidenen Gürtel und den Ohrringen, groß wie Wagenräder. Gut, daß beide fort waren bis drei Uhr. Vorwärts! – Daß die enthauptete Gräfin spuke, das war ja jedenfalls nicht wahr; das war doch sicher nicht wahr! Aber man müßte eines Tages trotzdem einmal nachsehen, ob es ganz sicher gelogen war. – In bestimmten Zwischenräumen soll sie umgehen. Alle drei Jahre zwischen Weihnachten und Silvester. Also in zwei Jahren wieder. Dann bin ich sechzehn und werde das Abenteuer auf mich nehmen. – Aber heute will ich nach dem Kaminkehrer schauen. Paul Pulver war fertig. Es galt, sich aus dem Abschluß zu schleichen. Bequem, daß der Papa Amtsgerichtsrat eine Dienstwohnung im Schloß hatte, das nicht mehr von Fürstlichkeiten benutzt wurde, sondern vom Gericht, von der Steuerbehörde, der Naturaliensammlung, der Bildergalerie, der Bibliothek. – Der Stadtbibliothek, die jetzt sein Ziel war,
unschwer zu erreichen: zwei hallende Steintreppen hinunter (aber die Turnschuhe verhindern jeden Laut), dann im ersten Stock das Schwerste: Einen dreihundert Meter langen Gang, der durchlaufen werden muß, ohne der Ronde machenden Schloßwache in die Hände zu fallen, die, schläft sie auch halb, einem doch mit der scheppernden Stallaterne ins Gesicht leuchten könnte. Nach dem endlosen Gang eine Treppe noch hinab und um zwei Ecken herum – und schon steht man vor der mächtigen Eingangstür in den Bibliothekssaal und zieht, als sei das selbstverständlich, den großen Schlüssel aus der Tasche. Los! Die Ronde wankt um eins, um drei, um fünf ihren Weg. Jetzt ist es gleich zwölf. Günstigste Zeit. Die Pläne, die Taschenlampe, der Schlüssel? Demnach los! Die Treppe ist stockfinster, aber er kennt sie auswendig, und er tastet sich an den eiskalten Steinwänden abwärts. An der Tür, die den langen Gang eröffnet, muß er den Zug des hangenden Eisengewichtes durch vorsichtigen Druck überwinden. Dennoch quarrt das Rädchen ein holpriges Lied durch die Nacht. Er horcht – und fliegt weiter. Der Gang liegt in endlosen hellen Fensterquadraten vor ihm, die der Mond auf die Steinfliesen malt. Links Fenster, rechts Türen; links Mond, rechts Menschen. Keine der Türen darf aufgehen, keine der Türen darf aufgehen – versichert er bei jeder und bannt sie dadurch. Keine springt auf. Der Mond ist blank gebadet im Schnee der Dächer und funkelt durch die eisige Februarnacht. Er läßt ihn hinter sich, um wieder in die Finsternis einer Treppe zu stürzen. Er weiß, daß die schwere Tür zur Bibliothek wunderbar leicht läuft, denn er hat ihren Rosettengriff schon oft gedreht, – und so fühlt er sich vorerst gerettet, als der Schlüssel im Schloß steckt und mühelos spielt.
In dem teppichbelegten Saal, der durchwärmt und leise noch erfüllt ist von Menschengeruch, ist es mitternächtig still. Der Vollmond beherrscht restlos die zur gemalten Decke greifenden Fenster; die schläfrige Glut des großen Dauerbrandofens kommt gar nicht gegen ihn auf. Paul Pulver schleicht um die bequemen Lederstühle und Polstersessel und Bücherregale und Zeitschriftenfacher und sinkt schließlich in den Thron am Schreibtisch des Bibliothekars. – Wenn der Herr Doktor wüßte, daß ich hier sitze! Ich bin zwar nicht abergläubisch, – trotzdem kann es nicht schaden, wenn ich mit meinen Forschungen bis zwölf Uhr warte. ,Mit meinen Forschungen’ sagt der Herr Bibliothekar auch immer, und er trägt ein großes Buch zu uns hinauf, das er aus dem Italienischen übersetzt hat, und liest daraus vor, – und die Mama gähnt dann. Aber wenn der Papa nicht dabei ist, läßt er das Buch zugeklappt. Weshalb er der Mama nur immer umständlich das Handgelenk küßt? – Wenn jeder vorlesen wollte, was er mal übersetzt hat! Ich kann ja meine lateinischen Übertragungen auch drucken lassen und dann herunterleiern, damit jeder Mensch gähnen muß. Paul Pulver lacht gegen die mondspiegelnde Tischplatte –, schrickt ein wenig zusammen und zieht die Pläne aus der Tasche, sie noch einmal auszubreiten, – diese selbstgefertigten Kopien alter Schloßbaupläne, die ihm in Grundriß, Aufriß, Längsschnitt, Querschnitt jede Wand, jedes Treppchen, jedes Örtchen und jeden Kamin aufzeigen. Hier auch den sogenannten historischen Kamin, – den Geisterschlot, wie er im Volksmund heißt, weil nächtlicherweile – selten, o höchst selten und nur von bevorzugten Augen gesehen – der gemordete Essenkehrer aus dem Kamin auftaucht, armeschleudernd – er scheint stets erbost – über Dach geistert und in einem Hechtsprung, silberig an den blankgewetzten Stellen seines Gewandes aufleuchtend, wieder hinunterfährt. –
Hier ist die östliche Wand des Bibliotheksraumes; in sie muß der Kamin eingebaut sein, und zwar acht Meter achtzig von der rechten Raumecke, achtundzwanzig Meter achtzig von der linken Raumecke entfernt. Alle Welt hat längst vergessen, daß hier der Schlot in eine offene Kaminstelle mündete. Dies zeigen nur die ältesten Pläne. Jetzt verbergen in der langen Flucht der Folianten Gestelle mit Büchern dieses lauschige Plätzchen, darin er hausen muß, – kein Geist natürlich, sondern die Überreste eines, der vor zweihundert Jahren da oben auf dem Dache über den Haufen geschossen wurde. – Er hatte alles genau im Kopf; er legte die Pläne wieder zusammen und zog das Maßband der Mutter aus dem Hosensack. Die große Wanduhr, umtändelt von Amoretten, traf Vorbereitungen. Es knackte in ihr, ein Gewicht schnurrte zur Tiefe, kropfig entrang sich ein Seufzen dem Werk und brach nachzitternd weg. Aber indes es hier bei Vorbereitungen blieb, holten die vielen funkelnden Türme über der Stadt zu dem mitternächtigen Donner aus, der durch die gläserne Nacht schwirrte und rollte, sich verschlang und verdoppelte, so daß Paul Pulver nicht wußte, schlägt es zwölf oder zwanzig. Er trat an ein Fenster und blickte über den Schloßplatz in das Gewirr von Dächern und Türmen, dem ein Gewirr von Glocken entstieg. – Dort unten auf dem Platz steht der alte Sünder und Schlotfegerschütze ehern auf seinem Sandsteinsockel; die Perücke lastet schneebestäubt, und der breite Buckel, den er herwendet, ist flüssiges Metall im Mondfeuer. – Also vorwärts, angepackt, – abgemessen und angepackt! Paul Pulver spannte das Maßband, er murmelte und schrieb, er machte Bleistiftstriche auf Bücherrücken. Dann, als er den Platz errechnet hatte, fing er an, einen Teil der Bücher abzubauen, rollte die Leiter herbei und ließ Folianten die
Sprossen hinuntertanzen. Das leere Gestell zerrte er keuchend aus Reih und Glied. Gott, wie alt es war! Es krachte in allen Fugen; freilich: es stand ja seit endlosen Jahren und verbarg das Geheimnis; – er mußte achtgeben, daß es nicht zusammenbrechend aus Turmhöhe auf ihn niederschlug! Und nun lag die Wand frei, – und hier war etwas, wie eine kleine Doppeltür oder große Doppelklappe mit einem Riegel –, alles überspannt von blaßblumiger Tapete. Paul Pulver schlitzte sie mit dem herbeigeholten Brieföffner des Herrn Bibliothekars auf, stieß den Riegel zurück und öffnete zwei schläfrig kreischende Eisenflügel – Ein schwarzes Loch –, die Taschenlampe blinkte hinein: Ein Kamin – habeas! Gitter und Vorbau weggenommen, aber im Innern Reste noch des letzten Holzfeuers. Ein sanfter Zug, der gleich zu saugen anfing, ließ Ruß und Aschenteilchen leise vibrieren. – Der historische Kamin, zweifelsohne! Und der Schlotfeger? – Paul Pulver kroch in den kleinen Raum –: Ruß und Aschenteilchen, und nur ein sanfter Zug, wie? Zieht denn ein solcher Riesenkamin nicht ganz anders, – wenn er richtig zieht! Paul Pulver leuchtete die geschwärzten Wände aufwärts – und fand den enger werdenden Durchgang verstopft von einem finsteren Klumpen, gewellt und gezackt. Er holte die mächtige Stange, womit der Diener die Vorhänge vor die höchsten Regale schob und zurückdressierte, zerlegte sie in ihre drei Teile, schlüpfte mit ihr in den Kamin, setzte sie dort wieder zusammen und stocherte in die Höhe. Scharrend rutschte der Klumpen tiefer und blieb ächzend abermals stecken. Aber dann löste er sich flott ohne weitere Hilfe – Pulver konnte gerade noch herausspringen – und plumpste auf den Kaminboden, daß die Asche in den Saal stäubte. Gleich setzte auch ein kräftiger Zugwind ein, der Zeitungsblätter in
den Kamin und zur Höhe riß. Deshalb zerrte Paul, was ihm zugefallen war, aus dem Loch und schloß die Flügel. Ein Mensch – offenbar –, oder wenigstens das Abbild eines Menschen, was da mumienhaft gedörrt vor ihm lag. Ein herber – ein beizender Geruch stieg auf. Weil das Wesen – schwarzbraun in den grünen Mondflecken – in einer hockenden Verkrümmung sich gefiel, – Arme um Schienbeine geschlagen, Kinn auf den Knien und unbeweglich in allen Gelenken –, so beförderte man es am besten ins helle Licht, indem man es zärtlich dahinrollte: Kopf über Knie, Rücken über Kopf, wie ein holperndes Wagenrad. Nun lag der Schlotfeger – ganz gewiß war er es – nahe beim Fenster, schaukelte noch ein wenig auf dem Rücken und hielt die Knie mit den Armen fest. Die ganze Stellung wies darauf hin, daß der Mann befähigt war, zu sitzen. Also packte Paul Pulver ihn unter den Achseln, stemmte ihn auf und ließ ihn in den großen Armsessel zurückgleiten, so daß er mit hochgezogenen Füßen in die Kissen gelehnt kauerte. Die Zehen, deren Nägel der Mondschein polierte, waren das hellste an ihm; im übrigen war er schwarz von Gewand, braun an Hals und Armen, geschlossenen Auges, berußter Wange, geschorenen Schädels, – eben ein Schlotfeger. Was fange ich an, überlegte Paul Pulver. Ich kann doch den ganzen Kerl nicht dem Lindmann mitbringen. – Er untersuchte den Fang: der Kopf saß fest, keines der Scharniere wackelte, wie aus Gußeisen war alles. Er entschloß sich, mit der Kohlenschaufel einen dieser spröden harten Finger loszuschlagen oder wegzubrechen –, da blieb er am Ofen, geduckt nach der Schaufel, stehen, denn der Rosettengriff knirschte, und die große Tür gab Raum dem Eintritt zweier Wesen. Pulver deckte sich und sah: voraus eine Frau, hinter ihr einen Mann. Die Frau trug einen schillernden bauschigen
Seidenrock, der unter einer Pelzjacke hervor nach allen Seiten quoll, – in der hochgetürmten weißen Frisur schwere Perlenschnüre und zwei schwarze Pflästerchen im betörend weißen Antlitz. Sie schlug den Pelz zurück und entblößte mehr Fleisch, als Pulver an einer Frau je gesehen hatte. Der Mann hinter – jetzt neben ihr in offenem Radmantel, Dreimaster, Spitzenbrust und Kniehosen, ließ im Vorwärtsschreiten Schnallenschuhe im Mondstrahl funkeln und – und trug in Händen eine Flasche! – Diese schöne bleiche Dame, die der Mutter irgendwie ähnelt, ist – unumstößlich ist es die geköpfte Frau von Hirschhorn! Weh mir, ein Abenteuer durchkreuzt das andere! Das wird zu viel. In zwei Jahren, wenn ich sechzehn bin, vielleicht… Sie hat einen korallenroten Blutstrich um den Hals – und sie legt schon die blitzenden Leichenhände an die Schläfen, um ihr Haupt abzusetzen und gräßlich das Blut sprudeln zu lassen. Und der Mann erhebt schon die Flasche, den Strahl aufzufangen. Das ist zu viel, das will ich nicht er leben, – weshalb sieht sie denn aus wie die Mama? – Das mag ich nicht mit ansehen! O wär’ ich fort! O wär’ ich draußen! Liebes Bett und brave Taschenuhr – neun bis zehn Uhr Religion, bestimmt passe ich diesmal auf – Schellfisch Freitag mittag, ich will ihn sittsam essen – – lieber Gott, hilf mir aus der Tür! Und Paul Pulver pirscht und kriecht hinter Regalen, Sesseln, Tischen und Kleiderständern gegen den Ausgang; er findet die Tür nur angelehnt von Geisterhand – und er entwischt auf allen vieren und entrennt lautlos ins Finstere auf Turnschuhen. – – –
„Endlich“, sagt der Mann, der die Flasche auf den Tisch gestellt hat, sehr zärtlich und zupft der Frau den Pelz vom
Körper. „Im Wandschrank habe ich Gläser.“ Und er geht, sie zu holen. „Noch mehr trinken?“ lacht die Frau leise und legte beide Hände wieder an die Schläfen. „Mein Kopf summt, als sei der ganze Balltrubel darin eingeschlossen. – Hier riecht es köstlich nach geräuchertem Schinken; ich möchte lieber etwas essen als etwas trinken.“ „Du dichtest schon, Liebste“, girrt der Mann auf sie zu. „Herr Doktor“, fleht die Frau und tritt keusch einen Schritt zurück. „Frau Amtsgerichtsrat“, stöhnt er und tritt fordernd einen Schritt vor. Und sie breitet ihr Fleisch in den Mond, – bereit, nach übermenschlichen Kämpfen alles dem Geliebten hinzugeben. „Nimm mich – “ schauert sie durch die Zähne, – da sieht sie den Schlotfeger im Lehnsessel. Und sie springt zur Seite, und schauert weiter: „ – Nimm mich – in Schutz vor diesem da!“ Die beringte Hand weist den Augen des Bibliothekars den Weg. Der enträuspert Verlegenheit, putzt seinen Kneifer und setzt ihn auf. „Doktor, schauen Sie doch“, zittert die Dame. „Er starrt her zu uns!“ „Starrt her –?“ sagt drohend der Doktor und wölbt unter Spitzen die Brust, in der es hörbar klopft. „So starr ich hin!“ Lauernde Stille: – Starr her, starr hin – starr her – starr hin – tickt nur die große Wanduhr – – bis der Doktor schneidig lacht und sich selbst überredend erklärt: „Aber das ist ja der kleine Zahnarzt Rausch, – weißt du: der in der lustigen Maske des Affenmenschen! Ist er unbemerkt hinter uns hereingekommen? Wo hat er denn seinen Zylinder? Daß er sogar die Lackschuhe fortgetan hat und in
bloßen Füßen sitzt, ist – ist nicht ganz – ich meine: geht ein wenig weit.“ Und er wankt auf ihn zu duseligen Mutes, zupft ihn am Ohr. „Was ist, Rausch – nun, Räuschlein!“ ermuntert er. Aber der zweihundert Jahre gebeizte Schlotfeger, von der schier unbiegsamen Härte einer Salamiwurst, rührt sich nicht, – und der Doktor läßt entsetzt das hölzerne Ohrläppchen fahren und sieht die Frau Gerichtsrat an. Die fährt schon wieder in ihren Pelz. „Kommen Sie, kommen Sie – “, geht ihr Gestammel. Der Doktor ist schneller an der Tür als die Frau; doch nimmt er sich dort Zeit, noch eine vernichtende Gebärde gegen die Mumie zu schleudern. „Morgen“, – droht er schwer und kurz. „Ich werde sorgsam absperren. Er kann mir nicht entkommen. Ein mondsüchtiger Einbrecher, verfallen in hypnotischen Starrschlaf.“ Und während er den Schlüssel dreht, bedenkt er zufrieden, daß als erster der gute Diener Gottfried – nicht er selbst – in der Frühe weitere Auseinandersetzungen mit dem Phänomen zu bestehen haben wird. Der Mann ist fort und die Frau ist fort, und der Schlüssel hat das Loch verlassen. Aber der Schlotfeger ist noch da, – die Flasche, der Mond und drunten der schneebestäubte Kurfürst. Lautlos singende Stille. Der Mondschein tanzt. Verhaltenes Pochen in jedem Ding. Das große, endlose Kreisen des kleinen endlichen Stoffes. Nichts ist tot, alles lebt – alles ist tot, gar nichts lebt. – Es gelingt. Dies ist die Stunde, zu der es gelingen muß. Der linke Daumen der Mumie wandert rührend zaghaft um den kleinen Kreis der rechten Kniescheibe. Luft zieht durch die verstaubten Nasenlöcher ins Innere, – weitet den knatternden Brustkorb. Luft strömt aus und wirft ein Wölkchen von Ruß und Spinnweben in den Saal. Es knirscht und knackt, es bröckelt und bröselt in allen Gelenken – – , und der
Zweihundertjährige schiebt die knallenden Kniekehlen sesselabwärts und steht auf. Er geht an ein Fenster – mit dem Katzengang der Kaminkehrer, die bloßfüßig zu steigen gewohnt sind. Er schaut hinaus – und er findet auch seine Stimme wieder: Dort unten steht er, der Schuld trägt an meinem ganzen Ärger, – knarrt er wie ein Nußknacker, der sprechen gelernt hat, und schickt die holpernden Worte hinunter zu dem Kurfürsten. Fauchend entriegelt er die Fensterflügel und reißt die himmelhohen angelweit auf. Er packt die Flasche, die der Doktor zu listigeren Zwecken mitgebracht hat, und entläßt sie mit der Sicherheit, die nur zweihundertjährigen Schornsteinfegern eigen ist. Er wirft sie dem Kurfürsten an den schneeweißen Hinterkopf, daß sie melodisch klirrend zerbricht und mondfunkelnde Tropfen weit umherspritzen. Der Kurfürst bewahrt den linken Fuß vorgestellt, hält auf seinem Sockel das Gleichgewicht und wendet sich nicht um nach dem Flegel. Der, weil er die echte Essen- und Schlotfegerwärme nicht beherbergt, schließt wieder die Scheiben. Aber er ist entspannt und befriedigt. Er murmelt für sich: Bin gerächt und werde von keinem kurfürstlichen Übermut mehr gewurmt. Kann nun seelenruhig darnach streben, in Staub zu zerfallen, – obwohl mich das, vortrefflich geräuchert wie ich bin, hart ankommen mag. Aber im Laufe des nächsten Jahrtausends wird es wohl gelingen… Er kümmert sich um nichts mehr. Was sollte ihn hier noch reizen und halten? Er ist ja nur zu einem übermenschlichen Leben erwacht, um wieder tot sein zu können. Er schiebt sich mit auslaufenden Kolbenstößen gegen den Kamin, macht einen Spalt der Klappe gerade so weit auf, daß er hindurchschlurchen kann, und läßt das zwanzigste Jahrhundert hinter sich zufallen. Kräfte genug – er hatte so wenig verbraucht – waren noch ungebunden im Saal, – genug, um das wankende Büchergestell
wandwärts schweben zu machen. Kräfte genug, um die Bücher in die Regale zu heben. Nur die schwersten Folianten benutzten hüpfend die Sprossen der Leiter… Vor dem Büchergerüst, voll beladen wieder bis an die Decke, blieb nur ein wenig Asche und morsches Gespinst liegen. Das kehrte im Morgengrauen der uralte Diener Gottfried, erschütternd seit sechzig Jahren in blecherner Pflichttreue, sorgsam auf sein Schäufelchen, – ehe noch der Herr Doktor, die Hand an der zweifelnden Stirn, seine Bibliothek betrat, und ehe der Schüler und Lausbub Paul Pulver, ungenügend vorbereitet wie immer, zerfahren und heute mit doppelt üblem Gewissen beladen, seinen Lehrern entgegentrottete.
Spuk des Alltags: ein Nachwort von Marco Frenschkowski
Alexander Moritz Frey gehört zu den interessantesten Gestalten der deutschen Phantastik, obwohl er nie jene Aufmerksamkeit gefunden hat, die sich um Ewers und Meyrink rankte und rankt. Einen „weitgehend unterschätzten Erzähler skurriler phantastischer Nachtstücke, Spukgeschichten und Traumgesichter in der Nachfolge E. T. A. Hoffmanns“ nennt ihn Gero von Wilpert in der einzigen bisher geschriebenen umfassenden Übersicht über die Geschichte der deutschen Gespenstergeschichte (Die deutsche Gespenstergeschichte. Motiv – Form – Entwicklung. Stuttgart: Kröner 1994, 396f.). Von Wilpert legt den Ton seiner knappen Vorstellung des Autors auf das Schwanken Freys zwischen dem Phantastischen und dem Gespenstischen, ohne eine tiefere Interpretation zu versuchen. Eine solche liegt aber vor in der umfänglichen Monographie von Katrin Hoffmann-Walbeck, Alexander M. Frey, Frankfurt, Bern u. a.: Peter Lang 1984 (Europäische Hochschulschriften R. 1, Bd. 801), sowie in dem wertvollen Übersichtsartikel von Robert N. Bloch, A. M. Frey, in: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur, 5. Erg.-Lieferung Meitingen: Corian März 1986. Beiden Darstellungen bin ich im folgenden vielfach verpflichtet. „Spuk des Alltags“ erschien zuerst München 1920 im Delphin-Verlag, der auch einige der Romane Freys herausgebracht hatte, u. a. „Solneman der Unsichtbare“ (München 1914, nach einem Teilabdruck in der Neuen Zürcher
Zeitung August 1914). Der Umfang des damaligen Bandes ist mit dem hier vorliegenden Nachdruck identisch. Wer also war Alexander Moritz Frey? Geboren am 29. März 1881 in München, entstammte er einer bürgerlichen Familie von mäßigem Wohlstand. Der Vater Wilhelm Frey (18261911) hatte sich als Maler und Opernsänger versucht und wurde schließlich 1895 Galeriedirektor der Großherzoglichen Gemäldegalerie in Mannheim. Die Mutter (Wilhelm Freys zweite Frau) Sophie Block (1842-1918), die der Vater 1879 geheiratet hatte, war eine ständig kränkelnde Frau von fanatischer und bigotter Religiosität, zu der Frey niemals ein positives Verhältnis zu gewinnen vermochte. Der Vater war dagegen offenbar – so Frey selbst – ein Optimist, leichtlebig, aber auch jähzornig. Interessant ist eine Bemerkung über seine extreme Geräuschempfindlichkeit. In jedem Fall hat Frey seine Eltern als distanziert erlebt und offenbar eine eher einsame Jugend verbracht (er war ein Einzelkind). Die Schule war ihm wegen ihrer Zwänge verhaßt. Auf Anweisung der Eltern studierte er Jura (sein Wunschfach wäre Medizin gewesen). Als er (vielleicht absichtlich) durchs Staatsexamen fiel, kam es zum Bruch zwischen Frey und seinem Vater. In den folgenden Jahren etablierte sich Frey als Schriftsteller, zuerst mit Lyrik, später mit Erzählungen, Romanen und gelegentlichen Essays. So war er an dem 1910 begründeten Literaturblatt „Licht und Schatten“ beteiligt. Schon seine erste Sammlung von phantastischen und skurrilen Geschichten „Dunkle Gänge. Zwölf Geschichten aus Nacht und Schatten“ (München: Delphin Verlag 1913) erregte einige Aufmerksamkeit und wurde durchgehend positiv rezensiert. Dieser Band enthält auch seine bekannteste Kurzgeschichte „Das unbewohnte Haus“, die bis heute mehrfach nachgedruckt wurde. 1914 folgte dann – ebenfalls im Münchener DelphinVerlag – „Solneman der Unsichtbare“, Freys ohne Frage
berühmtestes Buch. Der Titel ist ein Anagramm auf „Namenlos“. Das Buch – mit Holzschnitten des Malers Otto Nückel versehen, der mit Frey befreundet war – wurde überwiegend positiv besprochen und z. B. von Thomas Mann als Ausdruck des „Allerbesten, was die phantastische Literatur hervorgebracht hat“ gelobt. Die Geschichte eines Millionärs, der sich in einem abgeschlossenen Park vor aller Welt zurückziehen will und doch nicht in Ruhe gelassen wird, schlägt bittere, aber auch skurril-humoristische Töne an, und betreibt auch ausgiebig eine sarkastische, zuweilen etwas versponnene Sozial- und Bürgertumskritik am wilheminischen Deutschland. Dieses Element der Freyschen Romane hat dann vor allem seine kritische Auseinandersetzung mit dem 1. Weltkrieg geprägt. Frey hatte ihn ab 1915 als Sanitätsunteroffizier in vorderster Front miterlebt. Das Sterben zur Rechten und Linken war ihm tief unter die Haut gegangen: eine massiv antimilitaristische Linie durchzieht sein ganzes späteres Werk. Adolf Hitler diente als Gefreiter im selben Regiment; beide haben sich persönlich gekannt. Aber Frey hatte keinerlei Sympathien für die entstehenden Ideologien der Rechtsradikalen. Nach dem Krieg schrieb der Autor – der über keine größeren Sicherheiten verfügte und sich damit alle Nationalisten nachhaltig zu Feinden machte – kritische Romane über die Jahre vor 1918. „Kastan und die Dirnen“ war zwar schon zum Kriegsanfang entstanden, konnte aber erst 1918 im Delphin-Verlag erscheinen. „Die Pflasterkästen“ kam dann Berlin 1929 bei Kiepenheuer heraus; es wurde Freys wichtigster Antikriegsroman, der auch in England, den USA, Polen und Holland publiziert werden konnte und seine Leser fand. Für die „Deutschnationalen“ war Frey damit freilich untragbar geworden. Die Ereignisse der folgenden Jahre waren auch für den Autor eine Katastrophe. Zudem waren seine
privaten Verhältnisse von Schicksalsschlägen gekennzeichnet. 1919 hatte er Johanna Patin geheiratet, eine Frau rumänischer Abstammung. Sie starb nach nur eineinhalb Jahren Ehe. 1933 floh Frey nach Österreich und schließlich 1938 in die Schweiz, wo er aber auf amtliche Anweisung nicht schreiben durfte (Rücksicht auf die Deutschen) und in bitterer Armut lebte. In den Jahren vor 1933 hatte er als regelmäßiger Autor für Zeitschriften wie „Simplicissimus“ und „Jugend“ gearbeitet und sein Auskommen gefunden, auch wenn er keine Familie mehr gründete. In der Schweiz gelang es ihm aber nicht mehr, auf die Beine zu kommen. Am 24. Jan. 1957 verstarb er in Zürich, 75 Jahre alt. Obwohl er nach dem Krieg noch ein paar unbeachtete Bücher geschrieben hat (mindestens ein allegorischphantastischer Roman blieb Manuskript und wurde nie veröffentlicht), war er bei seinen Zeitgenossen weithin vergessen. Erst in den letzten Jahrzehnten ist es allmählich immer deutlicher geworden, daß Frey viele der besten Seiten und Stärken der „deutschen Phantastik“ der 1920er Jahre besitzt, ohne ihre unheilvolle (bei Strobl und Ewers so unangenehm spürbare und leider auch bei Willy Seidel nicht ganz fehlende) Anbiederung gegenüber den Nazis mitgemacht zu haben. Seine etwa 15 Romane bzw. längeren Erzählungen und 10 Sammelbände mit Kurzgeschichten (daneben zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften) haben daher in manchem eine kritische Grundhaltung, die anderen Phantasten abgeht. Das Lächerliche, Absurde, Groteske und eben darin Phantastische und nicht selten Makabre sind durchgehende Kennzeichen seines Oeuvres. Seit etwa 1980 ist es daher zu mehreren Nachdrucken gekommen – aber bisher nicht der bemerkenswerten Sammlung „Spuk des Alltags“.
Blicken wir – wenn wir uns nun dem vorliegenden Band zuwenden – zuerst einen Augenblick auf den Stil unseres Autors. Im Gegensatz zum üppigen Manierismus eines Ewers oder der okkultistischen Didaktik eines Meyrink liebt Frey schlichtere, präzise Formen. Innerer Monolog und überhaupt die Rede in 1. Ps. Sg. hat er offenbar als besonders kongenial erlebt. In der Erzählung „Verhexung“ entfaltet sich dieser als fiktiver Dialog mit einem Gegenüber, das wir nie hören, dessen Rolle wir aber sozusagen als Lesende einnehmen (also in gewisser Hinsicht doch als ein Monolog). Trotz dieser erzählerischen Schlichtheit erfordern seine Erzählungen erhebliche Konzentration des Lesers. Damit kommen sie modernen Lesegewohnheiten nicht eben entgegen. Im Gegensatz zum heute üblichen, an Action und Dialog orientierten Stil legt Frey Wert auf präzise – manchmal vignettenhafte – Beschreibungen von Äußerem und Innerem, Szene und Innenleben seiner Figuren. Verglichen mit der sprachlichen Schlichtheit der meisten heutigen Erzählerinnen und Erzähler wirkt seine Sprache immer noch „voll“, üppig und wortreich, wenn auch weit weniger als etwa die eines Hanns Heinz Ewers. Rein A. Zondergeld und Holger E. Wiedenstried sprechen in ihrem „Lexikon der Phantastischen Literatur“ (Stuttgart u. a.: Weitbrecht 1998) von der „eleganten Präzision“ und den „expressionistischen Anklängen“ des Autors, den sie zu den „wichtigen, zeitweilig in Vergessenheit geratenen Vertretern der großen Blüteperiode der deutschen Phantastik zwischen 1900 und 1930“ rechnen. Freys Beschreibungen seltsamer Seelenzustände zwingen ihn indes auch zu manchen heute eher selten gewordenen rhetorischen Figuren, vor allem Synästhesien. So lesen wir von einer „gierig-stillen Kälte“ (in: „Verneinung“) oder von einem „lauernden Schweigen, das mich ankriecht“ (in: „Vergeltung“). Kennzeichen Freyscher Rhetorik sind daneben Paradoxien
(„unordentliche Ordnung“, in: „Verneinung“) und kurze, beschwörende Nominalsätze („Ein Säulengang, ein Garten, Mondlicht darüber.“ in: „Verneinung“). Wortschöpferische Kreativität entfaltet sich in Hinsicht auf Sinneseindrücke, besonders Geräusche: „Straßenher durch meilenweite Stille kamen Schritte näher, ein unregelmäßiges Gestapf, umspült von dem Geplärr einer kippenden Stimme, die eine festere und helle zu beherrschen suchte“ (in: „Verneinung“). Freys Titel bestehen im vorliegenden Band im allgemeinen nur aus einem einzigen evokativen Wort („Verhexung“, „Verwandlung“, „Verwirrung“, „Verstrickung“ etc.). Zusammengesehen, beschreiben diese knappen Titel das Programm des Autors und verleihen dem Buch eine verbindende Einheitlichkeit. Manierismen beschwören vor allem psychische Grenzzustände, wenn etwa ein Charakter „gehirnlich etwas verschraubt und verwirrt“ gewesen sei (in: „Verneinung“). „Es ist sehr lächerlich – ich fürchte mich. Wovor? Alle Türen sind gut verriegelt. Verriegle dich selbst und schlafe!“ (in: „Verzweiflung“). Im Mittelpunkt des Handlungsgefüges stehen oft einsame Charaktere, Rand- und Grenzbereiche des Lebens, Tod, Mord und Selbstmord. Insofern täuscht der Buchtitel „Spuk des Alltags“ etwas (von „gar nicht alltäglichen Erzählungen“ spricht Gero von Wilpert). Dieser Titel bezieht sich wohl vor allem auf die soziale Situation, die Alltäglichkeit der Menschen, denen das Gespenstische begegnet. In den 1920er Jahren versuchte die Gespenstergeschichte auch sonst durchaus, „Alltägliches“ in phantastisch-gespenstischer Beleuchtung erscheinen zu lassen. Dieser Trend setzte sich später fort und prägt im angelsächsischen Bereich Autoren wie Robert Aickman und Ramsey Campbell. Einen exemplarischen Versuch, eine erste wirklich „moderne“ Gespenstergeschichte in einem industriellen Ambiente zu schreiben, stellte in den
USA Fritz Leibers „Smoke Ghost“ dar (zuerst in: Unknown Worlds, Oktober 1941). In Deutschland war der Übergang zu modernen Situationen leichter, weil das Genre des „Gespenstischen“ wenig festgeschrieben war. „Im Kino hab ich oft Geister gesehen, aber ich habe nie daran geglaubt“, sagt der Tagebuchschreiber in „Verweiflung“. Die Geister, denen er begegnet, werden auch nie wirklich epiphan, sie bleiben im Vorraum der Geräusch- und Bewegungshalluzination. „Spuk des Alltags“ steht daher im Gegensatz zur Welt der Schlösser und des Adels, der langen Familienstammbäume und ihrer düsteren Geheimnisse, der Verliese und Bibliotheken. Es sind „kleine Leute“, bei denen das Gespenstische Einzug hält. Sexuelles wird ähnlich wie bei Ewers öfters angedeutet, etwa die merkwürdig ödipalen Züge in mehreren Geschichten, z. B. in „Vermummung“. Die eigentlichen psychosexuellen Wurzeln des „Gespenstischen“ werden aber noch nicht thematisiert. Am eigenartigsten ist in dieser Hinsicht „Verzweiflung“, wo ein arbeitsloser Taugenichts seine Frustration dadurch entlädt, daß er seine Eltern umbringt, es ihm dann aber nicht gelingt, ihre Leichen loszuwerden, und er viele Wochen mit den Körpern in der gemeinsamen Wohnung leben muß. Häufig sind überhaupt kurze, präzise, „sinnlich“ gezeichnete makabre Szenen: „Die letzten Zuckungen eines Selbstmörders, der vor dem Sprung einen Ausweg noch erhaschen will, aber er findet keinen. Sehen Sie: da braust er schon herab!“ (in: „Verhexung“). „Die Trauerversammlung umlagerte schon die Grube. – ,Als ob sie Sorge trügen, er möchte noch einmal entwischen aus der feuchten Erde. Unzweifelhaft: Sie würden ihn packen und zurückstopfen ins Loch’“ (In: „Verneinung“). Noch massiver ist diese Tendenz zum Makabren, wenn in „Verfolgung“ die Denkmöglichkeit beschrieben wird (es kommt dann anders), daß die kleine Enkelin beim Spielen im Sandkasten den Leichnam des ermordeten Großvaters ausgräbt.
Religiöses ist selten und wird dann immer skeptisch beleuchtet („Gott läßt die Narren stürzen“, in: „Verhexung“). Auch traditionelle Motive werden oft nur angerissen, so die böse Hexe in „Verhexung“, oder mehrfach Gespenstisches im älteren Sinn. Mythologisches wird nur in „Versammlung“ thematisiert, wo ein frauenfeindlicher Alternativmythos zur Entstehung Evas erzählt wird, der in die Tradition gnostischdualistischer Antimythen gehört und offenbar von Frey ad hoc erfunden wurde. Insgesamt ist Frey eher phantastisch als unheimlich, wenn auch öfters in hohem Maße makaber. Mit der britischen Tradition der Ghost Story eines Sheridan Le Fanu, Montague Rh. James oder E. F. Benson verbindet ihn rein gar nichts. Er gehört vielmehr ganz in die deutsche Tradition der „seltsamen Geschichten“, wie sie in den 1890er Jahren neu aufflammt und nach dem 1. Weltkrieg ihren Höhepunkt findet. Am stärksten ausgeprägt sind die Affinitäten zu Karl Hans Strobl, der aber – ganz im Gegensatz zu Frey – in den 1930ern ein Nazi wurde. „Seltsam“ ist es ja, wenn der Verführte in „Verhexung“ wählen darf, ob er zum Kakadu oder zum Seidenhäschen gemacht wird. Eine solche groteske Szene könnte auch von Strobl stammen. Grotesk sind auch viele Figuren: die alte Dame, die nur noch für ihre Katzen lebt, der Zauberer, dessen Zauber unversehens mehr bewirkt, als erwartet, der abgehalfterte, erfolglose Schauspieler, der in der Leichenhalle erwacht. Verwandlungen, Metamorphosen sind häufig, ebenso Schicksalsschläge und tragische Irrtümer (etwa in „Verwirrung“). Das uralte Motiv der Katze als eines magischen „Seelentieres“ (vertraut aus E. A. Poes „The Black Cat“) wird geschickt und behutsam in „Vergeltung“ inszeniert. Neben Katzen sind vor allem Ratten die bevorzugten animalischen Bewohner der Geschichten Freys. Die Erfahrungen des 1. Weltkrieges sind einige Male spürbar: „ihr alle habt nie erfahren, welch schamlose Bestie der Krieg ist“
(in: „Verzweiflung“). In dieser Erzählung meldet sich auch behutsam eine Kritik am deutschen Militarismus zu Wort, wie er die wilhemische Ära geprägt hat. Soziales Elend, Armut und Ausweglosigkeit bilden den glaubhaft geschilderten Hintergrund von „Verzweiflung“, der wohl intensivsten, zugleich makabersten und gespenstischsten Erzählung der Sammlung. Die innere Ausweglosigkeit des jugendlichen arbeitslosen Tagebuchschreibers spiegelt sich – grotesk vergrößert und verzerrt – in seiner äußeren Situation, daß er die Leichen seiner Eltern nicht loswerden kann. Dies dürfte überhaupt die bemerkenswerteste Geschichte des Bandes sein. Ihre leise Eindringlichkeit führt glaubhaft in einen Seelenzustand hinein, der sich von äußerer Verzweiflung zu innerer Obsession steigert, und schließlich ins Wahnhafte abgleitet. Da wir nicht wissen, ob seine Eltern tatsächlich „umgehen“, bleibt die Erzählung in der Vieldeutigkeit des Phantastischen. Phantastische Ambiguität entfaltet weiter vor allem „Verneinung“, die Geschichte eines Scheintoten (?), der seine Wiederauferstehung inszenieren will, dabei aber scheitert. Was soll man von einem Satz halten wie: „Die Kinder wissen längst alles“ (in: „Verfolgung“)? In „Vermummung“ bekommen die Lebenden von dem wirklichen Phantastischen gar nichts mit und sehen nur am nächsten Tag ein paar scheinbar harmlose Spuren. Gängige Sammelbezeichnung des Typs von Erzählungen, die Frey verkörpert, war in den 1920er Jahren wie gesagt vor allem „seltsame Geschichten“. Seltsam – d. h. man kann über ihnen nicht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen. Phantastisch im Sinne der herrschenden Definition Tzetan Todorovs sind sie nur zum kleineren Teil. Aber als verstörende, seltsame, wunderliche Geschichten verdienen sie
eine Wiederentdeckung. Und das gilt auch für andere Bände des Autors. Hofheim a. Ts. Mai 2004 Marco Frenschkowski