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Das Buch Der Pathologe Mitsuo Ando soll die Autopsie an seinem früheren Klassenkameraden Ryuji Takayama vornehmen, der im ersten Teil von The Ring verstarb. Während der Autopsie findet Ando in dessen Magen eine Zeitungsnachricht, auf der sechs Zahlen stehen. Ando und sein Freund und Kollege Miyashita beginnen damit, den Code zu entschlüsseln, um herauszufinden, ob der Ring‐Bericht — eine komplette Akte über Asakawas Untersuchungen des Video‐Fluchs, dem bereits vier Teenager zum Opfer fielen — wahr sein könnte. Im Unterschied zu Asakawa versucht Ando das Rätsel um Sadakos Fluch auf wissenschaftliche Weise zu lösen, aber je mehr er recherchiert, desto mysteriöser wird der Fall.
Der Autor Kôji Suzuki wurde 1957 in Hamamatsu geboren und studierte an der Keio University. Er gewann 1990 mit dem Roman Rakuen den japanischen Fantasy Novel Award, bevor er 1991 mit Ring (01/13741) den Durchbruch schaffte. Zwei weitere Romane und eine Story‐ sammlung aus der Mystery‐Saga um das geheimnisvolle Videoband machten ihn in Japan zum Millionenseller und Erneuerer des »Psycho‐Horror«. Über acht Millionen verkaufter Bücher der Serie machten ihn zu einem Superstar, der mittlerweile in einem Atemzug mit Stephen King genannt wird. Basierend auf den Ring‐Romanen entstanden in Japan bislang vier sehr erfolgreiche Kinofilme. Steven Spielbergs Produktionsfirma DreamWorks sicherte sich die amerika‐ nischen Verfilmungsrechte und brachte den ersten Teil der Saga im Herbst 2002 weltweit sensationell in die Kinos. Weitere amerikani‐ sche Verfilmungen sind in Vorbereitung. Der dritte Band der Saga, Loop — The Ring III, wird ebenfalls im Heyne Verlag erscheinen.
Kôji Suzuki
Roman Aus dem Japanischen von Viktoria Heindorf und Tomonaga Horiguchi
Mitten im Traum, als er gerade im Meer zu versinken drohte, er‐ wachte Mitsuo Ando aus dem Schlaf — das Tosen der Wellen wurde vom Klingeln des Telefons durchbrochen. Er riss die Augen auf und griff nach dem Hörer. »Hallo?« Niemand antwortete. »Hallo, wer ist da?«, fragte Ando nachdrücklich. »Hast du sie bekommen?«, fragte eine Frauenstimme, deren düste‐ rer Klang ihn schaudern ließ. Ando hatte das Gefühl, als würde er in einen dunklen Abgrund hinabgezogen, und alle seine Kräfte würden aus seinem Körper entweichen. Die Erinnerung an die furchtbare Traumszene wurde wieder lebendig. Er saß an einem menschen‐ leeren, einsamen Strand. Gedankenverloren starrte er auf das beweg‐ te Meer. Ohne dass er es wahrnahm, türmte sich eine Riesenwelle vor ihm auf, und ehe er sichʹs versah, hatte sie ihn in die Tiefe gerissen. Verzweifelt versuchte er aufzutauchen, doch er wusste nicht mehr, wo oben und unten, rechts und links war — er hatte die Orientierung vollkommen verloren. Das Meer tobte, die Wellen rissen ihn hin und her, bis er schließlich für immer versank. Wie so oft in seinen Träumen vom Meer hatte Ando eine kleine, tastende Hand an seinem Schienbein gespürt. Fünf Finger, die einer Seeanemone glichen, glitten an seinem Bein hinunter. Sie versuchten, nach seinem Fußgelenk zu greifen, rutschten jedoch ab und ver‐ schwanden im Meer. Er machte sich bittere Vorwürfe. Wenn er die Hände ausstreckte, war er so nah dran, und doch konnte er den kleinen Körper nicht greifen. Ein paar feine, weiche Haare zurücklassend, glitt er in die Tiefe hinab. »Ja, ja, sie sind angekommen«, antwortete Ando entnervt. Vor ein
paar Tagen hatte er die Scheidungsunterlagen erhalten, bereits mit dem Namen und Stempel seiner Frau versehen. Unterschrieb er sie und setzte seinen Stempel darunter, wäre die Scheidung rechtskräftig. Bis jetzt hatte er sie aber noch nicht angerührt. »Und?«, drängte ihn seine Frau matt. Es schien ihr überhaupt nichts auszumachen, dass ihr siebenjähriges Eheleben kurz vor dem Ende stand. »Und was?« »Ich möchte, dass du die Dokumente unterschreibst und mir zurückschickst.« Ando schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen. Immer wieder hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er mit ihr gern noch einmal von vorne anfangen würde. Aber sie hatte stets abgeblockt und signalisiert, dass ihre Entscheidung feststehe. So langsam hatte er genug davon, sich immer wieder demütigen zu lassen und sie an‐ zuflehen, es sich noch einmal zu überlegen. »Verstehe. Gut, ich werde unterschreiben, so wie du es willst.« Seine Frau schwieg einen Moment lang, dann fragte sie: »Was sagst du dazu?« »Wozu? Was meinst du?«, antwortete Ando, als wüsste er von nichts. »Na, das, was du mir angetan hast.« Ando umklammerte den Hörer und kniff beide Augen fest zu‐ sammen. Ob ich mir ihre Vorwürfe auch dann noch jeden Morgen am Telefon anhören muss, wenn wir erst mal geschieden sind?, fragte er sich. Schon der Gedanke daran deprimierte ihn zutiefst. »Ich bedauere alles sehr«, entgegnete er. Das schien sie zu verstimmen. »Dir war es anscheinend nicht so wichtig.« »Was redest du da für einen Schwachsinn?«
»Aber ...« »Das weißt du doch ganz genau. Also frag mich nicht so etwas.« »Aber warum hast du es dann getan?« Ihre Stimme zitterte, das Zeichen dafür, dass sie gleich hysterisch wurde. Am liebsten hätte er gesagt, »Ruf mich nie wieder an!«, und den Hörer aufgeknallt. Aber er riss sich zusammen. Ihre Vorwürfe schweigend ertragen — das war das Einzige, das er im Moment tun konnte, um ihr zu helfen, ihre Trauer zu überwinden. »Wie wäre es, wenn du etwas dazu sagen würdest?«, stieß sie mit weinerlicher Stimme hervor. »Was soll ich denn noch sagen ... Seit einem Jahr und drei Monaten sprechen wir jeden Tag über nichts anderes. Es gibt nichts mehr zu sagen.« »Gib ihn mir zurück!«, schrie sie plötzlich. Ando musste nicht fragen, von wem sie sprach. Ihm ging es wie ihr. Obwohl er wusste, dass es nichts brachte, betete er jeden Tag zu Gott: Bitte gib ihn uns zurück. Bitte. »Das ist nicht möglich«, erwiderte er und versuchte dabei, so beruhigend wie möglich zu wirken. »Gib ihn mir zurück ...« Seine Frau war in den Schatten der Vergangenheit gefangen und nicht im Stande, ein neues Leben zu beginnen. Sie tat ihm Leid. Er versuchte zumindest, so gut es ging weiterzuleben. Immer wieder hatte er zu ihr gesagt: Was man verloren hat, bekommt man nicht zurück. Lass uns zusammenbleiben, und wenn wir noch einmal ein Kind kriegen, dann lass uns über ein neues Lehen nachdenken. Ando wollte nicht, dass seine Ehe daran zerbrach und er aus diesem Grund von seiner Frau geschieden wurde. Er hätte alles dafür gegeben, wenn sie wieder zueinander gefunden hätten. Aber seine Frau wälzte die ganze Verantwortung auf ihn ab und blickte nicht in die Zukunft.
»Gib ihn mir zurück.« »Wie soll ich das denn anstellen?« »Du hast nicht begriffen, was du mit angetan hast.« Ando seufzte so tief, dass es am anderen Ende der Leitung zu hören war. Er hielt seine Frau mittlerweile für psychisch krank. Das Beste wäre es gewesen, sie einem befreundeten Psychologen vorzustellen, aber da ihr Vater Krankenhausdirektor war, war das nicht so einfach. »Ich lege jetzt auf.« »Du läufst wie immer davon.« »Ich wünsche mir nur, dass du es möglichst schnell überwindest.« Ando wusste zwar, dass dies unmöglich war, aber was hätte er sonst sagen sollen? Gerade wollte er auflegen, als erneut ihr Geschrei aus dem Hörer drang. »Gib ihn mir zurück, meinen kleinen Takanori!« Obwohl Ando bereits aufgelegt hatte, drang noch immer das Wort ›Takanori‹ aus dem Hörer, bis schließlich der ganze Raum davon erfüllt war. Ohne es zu merken, murmelte er: »Takanori, Takanori, Takanori ...« Mit den Händen vor dem Gesicht lag er, wie ein Embryo zusammengerollt, auf dem Bett und war für einen Augenblick außer Stande, sich zu bewegen. Als er auf die Uhr sah, wurde ihm klar, dass es höchste Zeit war, sich fertig zu machen. Um einen weiteren ähn‐ lichen Anruf zu verhindern, zog er das Telefonkabel aus der Buchse. Dann ging er zum Fenster und öffnete es, um die schwere Luft hin‐ auszulassen. In diesem Moment hörte er das Krächzen einer Krähe, die aus dem Yoyogi‐Park hergeflogen war und sich auf einer nahen Leitung niedergelassen hatte. Nach dem unheimlichen Traum vom tiefen Meer und der kreischenden Stimme seiner Frau beruhigte ihn der weithin hallende Ruf des Vogels irgendwie. Es war der Beginn eines schönen, ruhigen Herbstsamstages. Andererseits berührte das schöne Wetter sein schmerzendes Herz. Tränen traten ihm in die Augen. Er schnäuzte sich die Nase und ließ
sich noch einmal auf das Bett fallen. Die Tränen, die er eben noch hatte unterdrücken können, strömten nun unaufhaltsam aus seinen Augen. Das lautlose Weinen ging in ein Schluchzen über. Er schloss das Kissen fest in die Arme und rief den Namen seines Sohnes, obwohl er sich dafür schämte, dass er sich so gehen ließ. Die Trauer kam nur bei bestimmten Gelegenheiten hoch. In den letzten zwei Wochen hatte Ando nicht um seinen verstorbenen Sohn geweint. Die Zeitabstände zwischen den Gefühlsausbrüchen wurden immer grö‐ ßer. Aber die Intensität seines Schmerzes war die gleiche geblieben. Wie viele Jahre würde diese tiefe Trauer wohl an ihm nagen? Der Gedanke löste unendliche Verzweiflung in ihm aus. Ando zog ein Büschel Haare aus einem Briefumschlag, der zwi‐ schen den Büchern im Regal steckte. Sie stammten von seinem Sohn. Es war das Einzige, das ihm von seinem Kind geblieben war. Als er die Hand nach dem Kleinen ausgestreckt und versucht hatte, ihn nach oben zu ziehen, hatten sich diese Haare zwischen Finger und Ehering verfangen. Dass sie dort haften blieben, obwohl er im Wasser herumgewirbelt wurde, grenzte an ein Wunder. Weil die Leiche des Kleinen nie gefunden worden war und somit auch nicht verbrannt werden konnte, bedeuteten diese Haare für Ando das Gleiche wie die Knochen eines Verstorbenen. Es war das letzte Andenken an seinen Sohn. Er hielt das Büschel an seine Wange. Dabei erinnerte er sich daran, wie sich sein Sohn angefühlt hatte. Als er die Augen schloss, sah er Takanori vor sich, als befände er sich ganz in seiner Nähe. Obwohl Ando die Zähne längst geputzt hatte, blieb er mit bloßem Oberkörper vor dem Spiegel stehen. Er fasste sich ans Kinn und schob es nach rechts, dann nach links, fuhr sich dann mit der Zunge über die Zähne, um Essensreste aufzuspüren. Unter dem Kinn, am Kehlkopf, standen vereinzelt Bartstoppeln ab. Er setzte das Rasier‐ messer an die Kehle und entfernte sie, während er sich im Spiegel beobachtete. Dann schob er das Kinn nach oben, so dass sein rasierter
weißer Kehlkopf deutlich zu sehen war. Langsam drehte er das Rasiermesser um und ließ es von der Kehle über Hals und Brust bis zum Bauch gleiten. Auf Höhe des Nabels hielt er inne. Zwischen den Brustwarzen bis zur Mitte des Bauches blieb ein weißer Streifen auf seiner Haut zurück. Er stellte sich vor, wie er mit dem Messer seinen eigenen Körper sezierte. Für ihn war es ein Leichtes, sich das Innere seiner Brust vorzustellen. Schließlich war er von Beruf Pathologe. Er spürte seinem Herzschlag nach. Diese tiefen Schmerzen in der Brust ... An welchem Organ in meinem Körper hat sich die unendliche Trauer festgesetzt? Wenn sie sich um das Herz geschlungen hat, werde ich es mit den Händen herausreißen. Das Rasiermesser drohte ihm aus den schweißnassen Händen zu entgleiten, und so legte er es auf die Ablage am Waschbecken. Als er das Gesicht zur Seite wandte, entdeckte er eine Blutspur rechts vom Kehlkopf. Er musste sich beim Rasieren geschnitten haben. Den scharfen Schmerz, der normalerweise zeitgleich mit der Verletzung der Haut einsetzte, hatte er erst gespürt, als er das Blut sah. In letzter Zeit hat meine Schmerzempfindlichkeit offensichtlich abgenommen, dachte er. Es war zuletzt häufiger vorgekommen, dass er Wunden erst dann bemerkt hatte, wenn er sie erblickte. Ando sah den Grund dafür in seiner verlorenen Leidenschaft für das Leben. Während er ein Handtuch gegen die kleine Wunde drückte, nahm er seine Armbanduhr und warf einen Blick darauf. 8.30 Uhr, er musste sich auf den Weg zur Arbeit machen. Ando war am Gerichts‐ medizinischen Seminar der Universität K als Dozent tätig, gleich‐ zeitig arbeitete er im Gerichtsmedizinischen Institut der Präfektur Tokio. Sein Job war momentan das Einzige, das ihm über seine Trauer hinweg half. Nur während der Leichensezierung konnte er den Tod seines Sohnes vergessen und den Erinnerungen entkommen. Als er aus seinem Apartment trat und durch die Lobby ging, schaute er, so wie er es immer tat, auf die Uhr. Heute war er fünf Minuten später dran als sonst. Das waren genau die fünf Minuten,
die er benötigt hatte, um das Scheidungsformular zu unterschreiben und mit seinem Stempel zu versehen. In diesen wenigen Minuten war auch die letzte Verbindung zu seiner Frau unwiderruflich ge‐ kappt worden. Auf dem Weg zur Universität befanden sich drei Briefkästen. Ando entschloss sich, die Papiere gleich in den ersten zu werfen, und eilte zur U‐Bahn‐Station.
Im Büro der Gerichtsmedizin sah Ando die Akte der zu sezierenden Leiche durch. Während er die Polaroidfotos vom Tatort betrachtete, überlief es ihn erst kalt, dann heiß. Seine Handflächen waren schweißnass. Mehrmals lief er zum Waschbecken hinüber, um sich die Hände zu waschen. Oktober war weiß Gott nicht die Jahreszeit, die einem den Schweiß aus den Poren trieb. Dennoch brauchte er von Zeit zu Zeit eine Abkühlung. Erneut breitete er die Polaroidfotos, die zusammen mit dem Unter‐ suchungsprotokoll gekommen waren, auf dem Tisch aus und sah sie sich genau an. Das erste zeigte einen Mann von kräftiger Statur. Er saß an die Bettkante gelehnt, sein Kopf war zurückgeworfen — er war tot. Äußere Verletzungen sah Ando nicht. Das nächste Foto war eine Nahaufnahme des Gesichtes. Auch hier gab es keine Anzeichen für eine äußere Verletzung, wie etwa Würgemerkmale am Hals oder blaue Flecken. Egal, welches Foto Ando sich auch anschaute, es gab keine Auffälligkeiten, die auf die Todesursache hätten schließen las‐ sen. Obwohl es auf den ersten Blick nicht aussah, als wäre der Mann einem Verbrechen zum Opfer gefallen, musste eine Autopsie veran‐ lasst werden. So war es gesetzlich vorgeschrieben. Doch eines stand fest: Selbst wenn dieser Mann eines natürlichen Todes gestorben sein sollte, handelte es sich um eine merkwürdige Angelegenheit. Ohne Feststellung der Todesursache durfte eine Leiche dem Gesetz zufolge nicht bestattet werden. Der Tote hatte beide Arme und Beine weit von sich gestreckt. Ando hatte ihn gut gekannt. Nie im Leben hätte er gedacht, eines Tages einmal einen Freund aus alten Studien‐ zeiten obduzieren zu müssen. Einen Freund, der vor zwölf Stunden noch gelebt hatte ... Ryuji Takayama und er hatten sechs Jahre lang zusammen Medizin studiert.
Die meisten Absolventen der medizinischen Fakultät beabsich‐ tigten, klinischer Arzt zu werden. Über Ando, der sich entschieden hatte, in die Gerichtsmedizin zu gehen, hatten sich damals viele seiner Kommilitonen lustig gemacht. Sie hatten ihn für einen komi‐ schen Typen gehalten — dabei war Ryuji Takayama erst recht aus der Reihe getanzt. Obwohl er das Medizinstudium mit einem Topexamen abgeschlossen hatte, schrieb er sich an der Fakultät des Philosophi‐ schen Instituts erneut ein. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er den Titel eines Dozenten, und sein Spezialfach war die Wissenschaft der Logik. Trotz des Fachwechsels hatte er inzwischen die gleiche Posi‐ tion erklommen wie Ando. Dafür, dass er noch einmal neu angefan‐ gen hatte, war er schnell aufgestiegen. Auch wenn man berücksich‐ tigte, dass er mit zweiunddreißig zwei Jahre jünger war als Ando. Als Todeszeit stand neben dem Datum von gestern ›9.45 Uhr‹. »Das ist aber eine ziemlich genaue Angabe«, sagte Ando leicht irritiert und schaute dabei zu dem als Zeugen anwesenden Polizisten hoch. Ryuji hatte allein in seinem Apartment in Higashi Nakano gelebt. »Reiner Zufall«, entgegnete der Polizist unbekümmert und setzte sich auf einen nahe stehenden Stuhl. »Zufall? Was für ein Zufall?«, bohrte Ando nach. Der Polizist drehte sich zu seinem jüngeren, ebenfalls als Zeuge dienenden Kollegen um. »Mai Takano ist doch hier, oder?« »Ja. Ich habe sie im Wartezimmer für die Hinterbliebenen gesehen.« »Können Sie Frau Takano bitte herholen?« Der Polizist verließ den Raum. »Die Frau, die den Toten gefunden hat. Sie war eine Studentin von Dr. Takayama und schätzte ihn wohl sehr. Kurzum, wir denken, sie war seine Freundin. Sollte Ihnen bei der Durchsicht des Polizeibe‐ richtes etwas unklar erscheinen, dann fragen Sie sie danach.« Da die Leiche nach einer Autopsie den Hinterbliebenen übergeben wurde, warteten Ryujis Mutter und sein älterer Bruder samt Ehefrau
im Wartezimmer der Gerichtsmedizin. Mai Takano saß neben ihnen, als der Polizist sie aufrief. Sie trat ein, blieb in der Mitte des Raumes stehen und verbeugte sich. Als Ando sie sah, richtete er sich auf. »Vielen Dank für Ihre Mühe«, begrüßte er sie und verbeugte sich ebenfalls. Dann bat er Mai, sich zu setzen. Sie trug ein schlichtes dun‐ kelblaues Kleid und umklammerte mit ihren wohlgeformten Händen ein weißes Taschentuch. Die Nähe des Todes scheint die Schönheit einer Frau hundertfach erstrahlen zu lassen, dachte Ando. Ihre Arme und Beine waren schmal, der Körper zart. Die dunkle Farbe ihres Kleides schien das Weiß ihrer Haut zu betonen. Sie hatte ein feines, ovales Gesicht. Ohne Zweifel, ihr Kopf war perfekt geformt. Das sah Ando auf den ersten Blick, auch ohne sie seziert zu haben. Er verspürte das drängende Verlangen, ihre Organe und den anmutigen Knochenbau unter ihrer Haut zu berühren. Der Polizist machte sie miteinander bekannt, und sie nannten ihre Namen. Als Mai sich gerade setzen wollte, geriet sie plötzlich ins Taumeln. Mit einer Hand stützte sie sich an dem Tisch ab. »Ist alles in Ordnung?« Ando drehte Mais Kopf vorsichtig hin und her und betrachtete aufmerksam ihre Gesichtsfarbe. Ein fahles Grau hatte das Weiß ihrer Haut verdrängt. Wie blass sie ist ... »Es ist nichts.« Mai hielt das Taschentuch gegen ihre Wange, senkte den Blick und fixierte einen Punkt auf dem Boden. Der Polizist brach‐ te ihr ein Glas Wasser. Hastig trank sie einen Schluck. Als sie sich wieder etwas gefangen hatte, hob sie das Gesicht und sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Es tut mir Leid. Es ist nur ...« Ando verstand sofort. Mai Takano hatte ihre Menstruation. Zudem mussten sie die Ereignisse vom Vortag natürlich sehr mitgenommen haben. »Übrigens, der Verstorbene war ein Studienfreund von mir«, sagte er. Mai, die noch immer ihre Augen nach unten gerichtet hielt, blickte
plötzlich auf. »Sagten Sie, Ihr Name ist Ando?« »Ja.« Mai blickte Ando intensiv an und kniff dabei beide Augen zu‐ sammen. Ihre Miene wirkte, als wäre sie einem vertrauten Menschen begegnet. Dann senkte sie den Kopf. »Auf gute Zusammenarbeit.« Als Freund wird er Ryujis Leiche wohl sorgfältig behandeln — so deutete Ando die Veränderung in Mais Miene. Für ihn spielte es jedoch keine Rolle, ob es sich um einen Freund gehandelt hatte oder nicht, er handhabte das Skalpell immer auf die gleiche Weise. »Entschuldigen Sie bitte, Frau Takano, können Sie noch einmal schildern, wie Sie die Leiche gefunden haben?«, unterbrach der Polizist ihre Unterhaltung. Er wollte vermeiden, dass sie zu lange über einen Tod, dem allem Anschein nach kein Verbrechen zugrunde lag, lamentierten. Wenn die ganzen Erinnerungen erst einmal hoch‐ kamen, wäre das zu viel für ihn gewesen. Mai senkte die Stimme und begann, noch einmal zu erzählen, was sie am Vorabend bereits der Polizei gesagt hatte. »Ich kam gerade aus dem Bad und föhnte mir die Haare, als das Telefon klingelte. Ich sah auf die Uhr. Sie müssen wissen, das ist so eine Angewohnheit von mir. Ein Blick auf die Zeit verrät viel darüber, wer der Anrufer sein könnte. Meistens war ich diejenige, die Dr. Takayama anrief, nur selten rief er bei mir an. Und wenn er anrief, dann nur in den seltensten Fällen nach 21 Uhr. Ich nahm den Hörer ab und sagte ›Ja, bitte?‹ Es verging eine ganze Weile, ohne dass ich etwas hörte. Dann erklang ein Schrei. Zuerst glaubte ich, es handelte sich um einen üblen Scherz, und hielt den Hörer etwas weiter vom Ohr weg. Dann jedoch verwandelte sich das Schreien in ein langes, klagendes Heu‐ len... Und plötzlich verstummte es. Stille breitete sich aus, eine tiefe, unheimliche Stille. Voller Angst presste ich den Hörer ans Ohr, um mitzubekommen, was da vor sich ging. Plötzlich sah ich Dr. Takayama vor mir. Diese Stimme, irgendwie war sie mir bekannt
vorgekommen ... Ich legte auf und wählte Dr. Takayamas Nummer, aber am anderen Ende ertönte das Besetztzeichen. In diesem Moment war ich mir sicher, dass der Anruf nur von ihm gekommen sein konnte, und ich wusste, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sein musste.« »Dann haben Sie also nicht mit Ryuji gesprochen?«, vergewisserte sich Ando. Mai schüttelte den Kopf. »Nein, kein einziges Wort. Ich habe nur unheimliche, gequälte Schreie gehört.« Ando machte sich einige Notizen und bat Mai fortzufahren. »Ich machte mich sofort auf den Weg und erreichte ungefähr eine Stunde später sein Apartment. Ich ging hinein, und im Zimmer, gleich hinter der Küche, am Bett ...« »Sie hatten einen Schlüssel für das Apartment?« »Dr. Takayama hatte mir seinen Zweitschlüssel anvertraut«, antwortete Mai sichtlich verlegen. »Das heißt, das Apartment war von innen abgeschlossen?« »Ja.« »Sie haben also aufgeschlossen und sind hineingegangen.« »So ist es. Und dann ... Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Der Professor saß an die Bettkante gelehnt, den Kopf nach hinten gelegt, den Blick nach oben gerichtet, beide Arme und Beine weit von sich gestreckt ...« Mai brach ab. Das schreckliche Szenario schien sich noch einmal vor ihren Augen abzuspielen. Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, die furchtbaren Bilder aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Ando brauchte keine weiteren Erklärungen. Er hatte die Fotos von der Leiche gesehen — er hielt sie sogar noch in der Hand und fächerte sich damit Luft zu. »Ist Ihnen im Zimmer irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nein, da war nichts ... Nur dass der Hörer nicht auf der Gabel lag und ein lautes Tuten von sich gab.« Ando versuchte, sich anhand des Polizeiprotokolls und der Aus‐ führungen von Mai die Situation vorzustellen. Ryuji wusste, dass mit ihm etwas Merkwürdiges passierte. Er rief Mai Takano — seine Freundin — an ... Vermutlich wollte er, dass sie ihm half. Aber warum wählte er nicht den Notruf? Wenn jemand Herzschmerzen hat und noch in der Lage ist zu telefonieren, dann ruft er doch normalerweise dort an. »Wer hat den Notarzt angerufen?« »Ich.« »Und von wo haben Sie angerufen?« »Aus dem Apartment von Dr. Takayama.« »Das heißt, Ryuji selbst hat den Notruf nicht gewählt.« Ando blickte fragend zu dem Polizisten hinüber. Dieser nickte. Die Polizei hatte bereits überprüft, ob der Notarzt schon vorher gerufen worden war. Für einen kurzen Moment schoss Ando ein anderes Szenario durch den Kopf. Könnte es Selbstmord gewesen sein? Vielleicht hat Mai Takano Ryuji verlassen, und das hat er nicht ertragen. Er hat beschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, und Gift genommen. Dann hat er die Person angerufen, die ihn in diese Verzweiflung gestürzt hat, um sie zu quälen und Schuldgefühle in ihr zu wecken. Aber er konnte nur noch einen Todesschrei von sich geben. Doch als Ando das Protokoll las, schien ihm die Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes relativ gering. Weder war am Ort des Geschehens ein Behältnis mit Giftspuren gefunden worden, noch gab es irgend‐ welche Hinweise dafür, dass Mai ein solches aus der Wohnung hatte mitgehen lassen. Und spätestens wenn man ihr ins Gesicht sah, verflogen jegliche Zweifel. Selbst jemand, der das besondere Geheim‐ nis zwischen Mann und Frau noch nicht vollends ergründet hatte, konnte an ihrem Verhalten auf einen Blick erkennen, dass sie für
Ryuji Takayama sehr viel empfunden hatte. In ihren feuchten Augen lag kein Ausdruck von Reue, weil sich ein geliebter Mensch wegen ihr umgebracht hatte. Die Tränen zeigten vielmehr ihre unendliche Trauer darüber, dass sie diesen Körper nie mehr würde berühren können. Außerdem war sie extra zum Gerichtsmedizinischen Institut gekommen, um die Leiche nach der Autopsie mit in Empfang zu nehmen. Ein weiterer Aspekt sprach gegen einen Liebesselbstmord: Ryuji Takayamas Charakter. So wie Ando ihn gekannt hatte, war Ryuji wirklich nicht der Typ gewesen, der sich das Leben nehmen würde, nur weil eine Frau ihn verlassen hatte. Nein, das war ausgeschlossen. Dann kann es nur das Herz oder das Gehirn gewesen sein. Ando tippte auf plötzliches Herzversagen oder einen Schlaganfall. Damit war natürlich nicht ausgeschlossen, dass er bei der Autopsie Zyankalispuren im Magen finden oder eine Lebensmittel‐ oder eine Kohlenmonoxidvergiftung feststellen würde. Es kam hin und wieder vor, dass die Todesursache eine ganz andere war als zunächst vermutet. Allerdings hatte er sich bisher noch nie getäuscht. In dem Moment, als Ryuji spürte, dass irgendetwas Merkwürdiges mit seinem Körper geschah, und er wusste, dass seine Zeit abgelaufen war, wollte er vielleicht noch ein letztes Mal die Stimme seiner Freundin hören, ihr sagen, wie sehr er sie liebte. Doch dann konnte er nur noch einen Schrei ausstoßen ... So ungefähr musste es gewesen sein. Das Knarren der Tür riss Ando aus seinen Gedanken. Der Assistent steckte den Kopf ins Zimmer und informierte Ando mit leiser Stimme: »Es ist alles vorbereitet.« Ando stand auf und murmelte zu sich selbst: »Nun, dann wollen wir mal.« Nach seinen bisherigen Erfahrungen gab es keinen Fall, bei dem die Todesursache ungeklärt blieb. Gleich würde sich heraus‐ stellen, wie Ryuji ums Leben gekommen war.
Die warme, herbstliche Mittagssonne durchflutete den Gang zum Obduktionssaal. Dennoch herrschte eine düstere und beklemmende Atmosphäre. Die Luft war feucht und kalt, und der süßliche Leichen‐ gestank schien sich bis in die kleinste Ecke geschlichen zu haben. Die Schritte Andos, seines Assistenten und der beiden Polizisten, die auf dem Weg zum Obduktionssaal waren, hallten von den Wänden wider. Der Protokollführer, ein Assistent und der Fotograf waren bereits vor Ort. Als Ando die Tür zum Obduktionssaal öffnete, vernahm er das vertraute Geräusch fließenden Wassers. Ein weiterer Assistent war dabei, das Sezierbesteck zu reinigen und zu desinfizieren. Ein weißer Strahl schoss aus dem wuchtigen Wasserhahn, der während der Autopsie vorwiegend aus Hygienegründen ununterbrochen lief. Auf dem Tisch lag splitternackt Ryuji Takayama. Seine Haut leuch‐ tete weiß unter den Halogenlampen. Ryuji war ungefähr einen Meter sechzig groß und kräftig gebaut. Er hatte zwar ein paar Fettpölster‐ chen am Bauch, dafür aber einen durchtrainierten, muskulösen Ober‐ körper. Ando hob Ryujis rechten Arm leicht an. Abgesehen von der Schwerkraft widersetzte sich ihm nichts. Mit dem Arm des Mannes, der früher so stolz auf seinen Bizeps gewesen war, konnte er jetzt spielen wie mit dem eines Babys. Zu Studienzeiten hatte Ryuji beim Armdrücken jeden besiegt. Keiner hatte auch nur den Hauch einer Chance gegen ihn gehabt. Doch nun war dieser Arm ohne jegliche Kraft. Ando ließ den Blick nach unten wandern und betrachtete Ryujis un‐ verdeckte Genitalien. In den tiefschwarzen Schamhaaren lag schlaff der Penis. Die Eichel war von der Vorhaut bedeckt. Im Vergleich zu Ryujis kräftigem Körper wirkte der Penis kümmerlich. Ryuji und Mai hatten sicher keine sexuelle Beziehung miteinander... Dieser merkwürdige,
kindliche Penis ... da kann nichts gewesen sein. Er nahm das Seziermesser in die Hand, setzte es unter dem Kinn an und schnitt die Leiche durch das feste Muskelgewebe von der Kehle über den Hals und die Brust bis zum Unterbauch auf. Zwölf Stunden nach Eintritt des Todes war jegliche Wärme aus dem Körper gewichen, die Leiche kalt und steif. Mit einer Sezierzange durchtrennte er die Rippen des Brustkorbes und entfernte eine nach der anderen. Danach löste er die rechte und die linke Lunge heraus und überreichte sie dem Assistenten. Ryuji, der während seiner Studienzeit strikter Nichtraucher gewesen war, schien seinen Prinzipien bis zum Schluss treu geblieben zu sein. Seine Lungen hatten eine schöne, gesunde Farbe. Der Assistent überprüfte Größe und Gewicht und teilte das Ergebnis dem Protokollführer mit, der die Daten niederschrieb. Währenddessen blitzte es mehrmals im Raum hell auf. Die Lungen wurden von allen Seiten fotografiert. Das Herz war von dünnem Fettgewebe umhüllt. Je nach Lichteinfall schimmerte es gelb oder weiß. Es war verhältnismäßig groß und wog dreihundertzwanzig Gramm. Ando betrachtete die Herzoberfläche eingehend und stellte weit reichende arteriosklerotische Ablagerun‐ gen an den Wänden der Arterien fest. Die Blutgefäße waren dadurch stark verengt. Im linken Teil des Herzens entdeckte er unter dem Fettgewebe zudem einen ungewöhnlichen dunkelroten Fleck. Er vermutete, dass es ein Blutthrombus war, der sich auf eine Gefäßver‐ engung gesetzt und die Herzader verstopft hatte. Der Herzmuskel hatte daraufhin nicht mehr ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgt werden können. Ein Herzinfarkt war die Folge gewesen. So sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Den Gefäßverschluss vermutete Ando in der linken Herz‐ kranzarterie, kurz bevor sich diese verzweigte. Wenn es an dieser Stelle zu einem Verschluss kam, war die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarktes relativ hoch. Momentan konnte Ando allerdings noch nicht mit Gewissheit sagen, was die genaue Ursache für den
Gefäßverschluss gewesen war, und ob der dunkelrote Fleck etwas damit zu tun hatte. Erst mussten die Ergebnisse der Gewebeun‐ tersuchung abgewartet werden. Doch die Todesursache stand für Ando zweifelsfrei fest: ›Herz‐ infarkt durch Verschluss eines Herzkranzgefäßes‹. Er nahm Leber, Nieren, Milz und Darm heraus und prüfte jedes einzelne Organ auf Besonderheiten. Danach untersuchte er den Mageninhalt, aber auch hier konnte er nichts Auffälliges, wie etwa Giftspuren, feststellen. Als er gerade den Kopf sezieren wollte, unterbrach ihn sein As‐ sistent plötzlich. »Doktor, da an der Kehle ...«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf die entsprechende Stelle. Als Ando genauer hinsah, konnte auch er das Geschwür erkennen. Es war so klein, dass er es fast nicht bemerkt hätte. Er sah diese Art von Geschwür zum ersten Mal. Obwohl es nicht unmittelbar mit Ryujis Tod in Verbindung zu stehen schien, schnitt er es vorsichtshalber heraus. Sobald die Er‐ gebnisse der Gewebeprobe vorlagen, würden sie Genaueres über den Tumor erfahren. Ando setzte das Skalpell erneut an und schnitt die Haut vom Hinterkopf bis zur Stirn auf. Dann zog er sie nach vorn; das Gesicht der Leiche wurde nun von den dicken schwarzen Haaren verdeckt. Das Weiß des Schädelknochens leuchtete hell im Lichtschein der Lampen. Geübt entfernte Ando den Schädelknochen und das Gehirn; das Gehirn war weiß, und die Großhirnrinde bestand aus vielen tiefen Falten. Die Tiefe der Falten deutete auf Ryujis Intelligenz hin. Medizinstudenten sagte man ja allgemein eine hohe Intelligenz nach, aber Ryuji war außergewöhnlich talentiert gewesen — ein Genie. Nicht selten hatte er die Dozenten an der Universität mit seinen Fragen und Kommentaren, die sich auf aktuelle Fachartikel bezogen, in Verlegenheit gebracht. Zudem war er äußerst gewandt in
Fremdsprachen gewesen; er hatte Deutsch, Englisch und Französisch beherrscht. Sein größtes Interesse neben der Medizin hatte jedoch der Mathematik gegolten. Ryujis mathematische Fähigkeiten hatten seine Kommilitonen bei ihren verschiedenen Intelligenzspielen oft in Erstaunen versetzt. Eines der beliebtesten Spiele war das so genannte ›Kode‐Raten‹ gewesen. Dabei musste sich eine Person eine Zahlen‐ kombination ausdenken, und die anderen Teilnehmer hatten diese dann zu entschlüsseln. Derjenige, der am schnellsten zum richtigen Ergebnis kam, gewann. Ryuji war bei diesem Wettbewerb unschlag‐ bar gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte er verloren. Selbst als Ando ihn mit einer extrem schwierigen Zahlenkombination konfrontiert hatte, war ihm die Entschlüsselung mit Leichtigkeit gelungen. Ando hatte es damals die Sprache verschlagen, jedoch nicht deshalb, weil ihn Ryujis mathematische Genialität in Erstaunen versetzt hatte. Ihm war unbehaglich, ja geradezu unheimlich zumute gewesen, da er das Gefühl nicht loswurde, dass Ryuji seine Gedanken lesen konnte. Wie sonst hätte er den Kode entschlüsseln können? Eine andere Erklärung gab es nicht. Für Ando hingegen war es nahezu unmöglich gewesen, Ryujis Kodes zu entschlüsseln. Nur einmal hatte er es geschafft, allerdings war das mehr ein Zufallstreffer gewesen als das Ergebnis logischen Kombinierens. Ein Werbeplakat mit der Telefonnummer eines Blu‐ menhändlers hatte ihn auf die Idee gebracht. Andos damalige Gefühle Ryuji gegenüber ließen sich mit einem Wort beschreiben: Neid. Ihn hatte es ungemein geärgert, dass er stets der Unterlegene gewesen war. Sein Selbstbewusstsein hatte darunter ziemlich gelitten. Jetzt lag dieses geniale Gehirn in Andos Händen. Es war zwar vergleichsweise groß, aber ansonsten sah es wie jedes andere Gehirn aus. Als Ryuji noch lebte, waren seine grauen Zellen äußerst aktiv gewesen. Erst hatte er Medizin studiert und mit einem Topexamen abgeschlossen, dann hatte er sich in die Mathematik vertieft, aber
auch das schien ihn irgendwie nicht voll zu befriedigen. Und so hatte er sich schließlich der Wissenschaft der Logik zugewandt. Ando war überzeugt davon, dass Ryuji es, wenn er noch zehn Jahre länger gelebt hätte, auf diesem Gebiet weit gebracht hätte. Ando untersuchte das Gehirn nach inneren Blutungen. Der Befund war negativ. Ein Schlaganfall konnte somit als Todesursache ausge‐ schlossen werden. Inzwischen waren fünfzig Minuten vergangen, seit Ando die Leiche mit dem Skalpell geöffnet hatte. In den meisten Fällen dauerte eine Autopsie ungefähr eine Stunde. Ando hatte bereits alle Organe untersucht, doch plötzlich fiel ihm etwas ein. Er schob seine Hand noch einmal in den Bauch der Leiche, tastete sich mit den Fingern langsam vorwärts und zog die graufarbenen Hoden heraus. Er fragte sich, welches Schicksal wohl schlimmer war — das von Ryuji oder sein eigenes. Ryuji war gestorben, ohne einen Nachkommen zu hinterlassen. Er hingegen hatte einen Sohn in die Welt gesetzt, doch war dieser im Alter von drei Jahren und vier Monaten qualvoll ertrunken. Ryuji war gestorben, ohne die bittere Erfahrung machen zu müssen, ein Kind zu verlieren. Das Gefühl der unendlichen, tiefen Trauer, das wie Folterqualen in der Brust schmerzte und einen auffraß, war ihm erspart geblieben. Ein Kind bedeutete das größte Glück auf Erden. Aber die Trauer um den Verlust hörte niemals auf, egal, wie viele Jahre vergingen. Ando legte die beiden Hoden, die keine Kinder gezeugt hatten, mitsamt den schwermütigen Erinnerun‐ gen auf den Seziertisch. Blieb noch, die Leiche wieder zu schließen. Er schob eine zu‐ sammengerollte Zeitung in den Brust‐ und Bauchhohlraum und nähte den Körper einschließlich des Kopfes wieder zu. Danach wurde die Leiche gewaschen und angezogen. Da Ryuji der Magen herausgenommen worden war, sah er jetzt viel schlanker aus als vor der Autopsie. Schlanker Ryuji. Ando sprach unbewusst immer wieder mit der
Leiche. Bisher hatte er das bei einer Autopsie noch nie getan. Warum war es dieses Mal anders? Vielleicht, weil Ryuji ein alter Studien‐ freund gewesen war. Natürlich war die Unterhaltung sehr einseitig — Ryuji antwortete nicht. Doch als die Assistenten die Leiche hoch‐ hoben, um sie in den Sarg zu legen, glaubte Ando, für einen Augen‐ blick tief aus dem Inneren Ryujis eine Stimme zu hören. Kurz darauf verspürte er einen starken Juckreiz in der Nähe des Bauchnabels. Er kratzte sich, aber das Jucken hörte nicht auf. Vielleicht war das ein Zeichen, dachte Ando. Er stellte sich neben den Sarg und strich mit der Hand über Ryujis Körper. In der Nähe des Bauchnabels hielt er inne. Da war etwas Spitzes. Er fühlte es ganz deutlich unter seinen Fingerkuppen. Ando öffnete das Hemd, und als er genau hinsah, entdeckte er ein Stück Zeitungspapier, das direkt über dem Bauchnabel aus der zusammengenähten Haut heraus‐ guckte. Die Zeitung im Bauchhohlraum schien sich hochgeschoben zu haben, als die Leiche in den Sarg gelegt worden war. Das mit Blut befleckte Stück Zeitung war von Fettgewebe umhüllt. Nachdem Ando das weiße Fettgewebe entfernt hatte, entdeckte er auf dem Fetzen Papier sechs Zahlen, die in zwei Reihen gedruckt waren. Sie waren so klein, dass er sie auf den ersten Blick nicht erkennen konnte. Aber sie zogen seine Augen magisch an. Er las: 1 7 8 1 3 6
Was für Zahlen waren das? Vielleicht war es ja die Seite mit den Aktienkursen oder der Anzeigenteil mit den vielen Telefonnummern. Oder das Fernsehprogramm mit den Programmierkodes für den Videorekorder. Doch wie man es auch drehte, die Tatsache, dass eine Zeitungsecke mit nichts anderem als sechs Zahlen darauf aus der genähten Haut herausstand, war mehr als ungewöhnlich. Ando
prägte sich die Zahlen ein.
1 7 8 1 3 6
Mit der Fingerspitze drückte er die herausstehende Zeitungsecke wieder in den Bauch. Dann klopfte er mit der Hand noch einmal leicht darauf und vergewisserte sich, dass sie nicht wieder durch irgendeine kleine Öffnung nach draußen gelangt war. Er schloss das Hemd und fuhr ein letztes Mal mit der Hand über Ryujis Körper. Dieses Mal spürte er nichts Spitzes. Doch dann entfernte er sich erschrocken ein paar Schritte von dem Sarg. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und sein Körper war mit einer Gänsehaut überzogen. Er blickte auf Ryujis Gesicht. Dessen Augen waren zwar fest geschlossen, aber die Wimpern flat‐ terten leicht, so als würde Ryuji jeden Moment die Augen aufschla‐ gen. Alle anderen im Obduktionssaal gingen routiniert ihren Aufga‐ ben nach, nur er schien die beklemmende Atmosphäre im Raum zu spüren. Ob der Kerl wirklich tot ist? Was für eine blöde Frage ... Andos Nerven lagen blank. Dann erschrak er erneut. Er hätte schwören können, dass sich Ryujis Bauchdecke leicht gehoben und wieder gesenkt hatte.
Nach der Autopsie machte Ando sich auf den Weg in Richtung Otsuka‐Station der JR‐Linie, um Mittag zu essen. Während er die Straße entlangging, ergriff ihn erneut ein unbehagliches Gefühl. Eine namenlose Angst begann, langsam seine Wirbelsäule hinabzu‐ kriechen. Er blieb mehrmals stehen und blickte sich ängstlich um. Er hatte den Eindruck, als würde ihn jemand verfolgen, auch wenn er in seinem tiefsten Inneren wusste, dass dies nicht so war. Woher kam diese Beklommenheit nur? An den Tod seines Sohnes hatte er gerade nicht gedacht. Vielleicht war es ja die Autopsie, die ihn noch immer beschäftigte. Aber auch das schien ihm als Erklärung nicht plausibel. Immerhin hatte er in seinem Leben schon mehr als tausend Leichen seziert. Was war heute anders als sonst gewesen? Warum war er innerlich so aufgewühlt? Plötzlich glaubte er es zu wissen. Gewöhnlich war er sehr gewis‐ senhaft bei allem, was er tat. Noch nie war ihm bei einer Leichen‐ obduktion auch nur der kleinste Fehler unterlaufen. Heute Morgen hatte sich das erste Mal in seiner Laufbahn als Pathologe die Zeitung, die in den Brust‐ und Bauchhohlraum der Leiche gelegt wird, hoch‐ geschoben und aus der zusammengenähten Haut herausgeschaut. Nur eine kleine Unachtsamkeit, ein winziger Fehler... Ando machte an seinem Stammlokal Halt, einem chinesischen Restaurant. Er trat ein, setzte sich und bestellte das Mittagsmenü. Es war 12.05 Uhr, doch erstaunlicherweise besuchten heute wesentlich weniger Gäste das Lokal als sonst um diese Uhrzeit. Außer Ando war nur ein älterer Herr anwesend. Er saß in der Nähe des Tresens, den Hut noch auf dem Kopf, und schlürfte Nudelsuppe. Ab und an warf er einen misstrauischen Blick zu Ando herüber. Warum in aller Welt setzt er seinen Hut nicht ab und glotzt ständig zu mir rüber?, dachte Ando. Vermutlich lag es an seiner momentanen psychischen
Verfassung und seinen schwachen Nerven, dass er darin eine tiefere Bedeutung suchte. Dann drehten sich seine Gedanken wieder um die Zeitungsecke mit den sechs Zahlen, die aus Ryujis zugenähtem Bauch herausgestanden hatte. Die Ziffern ließen ihm keine Ruhe. So sehr er sich auch bemühte, sie zu verdrängen, es gelang ihm nicht. Bei jedem Lidschlag blinkten sie vor seinem inneren Auge auf. Vielleicht ist es eine Telefonnummer, dachte er und fixierte das pinkfarbene Telefon auf dem Tresen. Für einen kurzen Moment über‐ legte er, ob er den Hörer nehmen und die Nummer wählen sollte. Was ihn davon abhielt, war die Tatsache, dass es in Tokio keine sechsstelligen Telefonnummern gab. Ando war sicher: Sobald er die Nummer gewählt hätte, würde eine freundliche Stimme sagen: Keine Verbindung. Aber wenn nun doch jemand abnehmen würde... Ando, du hast mich vorhin aber ganz schön zugerichtet. Sogar meine Hoden hast du herausgenommen ... Falls Ryuji sich melden und ihm derartige Vorhaltungen machen würde ... »Guten Appetit«, sagte die Kellnerin mit monotoner Stimme und stellte das Essen vor Ando. Es war Gemüse auf Reis, gekrönt von zwei Wachteleiern. Dazu gab es eine Suppe. Ando blickte auf die Schale mit dem Essen. Die zwei Wachteleier erinnerten ihn auf unangenehme Weise an Ryujis Hoden — sie hatten dieselbe Farbe und Größe. Er setzte das Glas Wasser an die Lippen und leerte es mit einem Zug. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Er glaubte nicht an über‐ natürliche Phänomene, sondern an die Gesetze der Wissenschaft. Umso mehr ärgerte es ihn, dass es ihm nicht gelang, die Zahlen aus seinen Gedanken zu bekommen. 1 7 8 1 3 6
Vielleicht haben sie doch eine Bedeutung? Ein Kode? Während Ando seine Suppe schlürfte, breitete er eine Serviette auf dem Tisch aus und schrieb die sechs Zahlen auf: 1 7 8 1 3 6 Angenommen, man setzte den Buchstaben A mit der Zahl 0 und B mit der Zahl 1 gleich, C entspräche dann der Zahl 2, D stünde für 3, E für 4, F für 5 ... und Z für 25; eine kinderleichte Kode‐ Entschlüsselungsmethode. Man ersetzte einfach die sechsund‐ zwanzig Buchstaben des Alphabets durch die Zahlen von 0 bis 25. Ando tauschte jede der sechs Zahlen — 1, 7, 8, 1, 3, 6 — durch den entsprechenden Buchstaben aus. B H I B D G Zusammen ergab dies: BHIBDG. Auf den ersten Blick war ihm klar, dass es so ein Wort nicht gab. Er versuchte es weiter und schrieb nun alle möglichen Zahlenkombinationen, die sich in alphabetischen Buchstaben ausdrücken ließen, auf die Serviette. Da das Alphabet ein Sechsundzwanziger‐System war, fielen die Kombinationen 78 und 81 von vornherein heraus. 17 8 1 3 6 R I B D G
1 7 8 13 6 B H I N G 17 8 13 6 R I N G Von allen Kombinationen ergab nur das letzte Wort eine Bedeu‐ tung: ›Ring‹. »Ring«, murmelte Ando vor sich hin. Das englische Wort ring hatte als Substantiv die Bedeutung ›Kreis‹ und bedeutete als Verb ›läuten, klingen, schallen‹. War das ein Zufall? Alle möglichen Gedanken schossen Ando durch den Kopf. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass es ver‐ mutlich wirklich nur ein Zufall war, dass sich ausgerechnet das Wort ›Ring‹ ergab, wenn man die Zahlen durch die Buchstaben des Alphabets ersetzte. Während er darüber nachsann, drang aus weiter Ferne Sirenen‐ geheul an seine Ohren. Erinnerungen an seine Kindheit stiegen plötz‐ lich in ihm auf. Er war noch ein kleines Kind gewesen und hatte auf dem Land gelebt, als er dieses lärmende Geräusch zum ersten Mal gehört hatte. In der Nachbarschaft war ein Feuer ausgebrochen. Er war damals mit seiner Großmutter allein zu Haus gewesen, da seine Eltern noch gearbeitet hatten. Als plötzlich das schreckliche Geheul der Sirenen die Stille der Nacht durchbrach, rannte er verschreckt in das Zimmer seiner Großmutter und klammerte sich an ihre Beine, am ganzen Leib zitternd. Er wusste nicht, dass das Geheul lediglich ein Feueralarm war, sondern glaubte, dass es irgendein unvorstellbares Unheil ankündigte. Ein Jahr später hatte seine Familie tatsächlich ein furchtbares Unglück heimgesucht: Sein Vater starb eines plötzlichen Todes. Ando war der Appetit vergangen. Er hatte das Gefühl, als müsste er
sich jeden Moment erbrechen. Blass schob er das Essen beiseite und ließ sich noch ein Glas Wasser bringen. Ryuji, was willst du mir mitteilen? Als Ando die Leiche nach der Autopsie der Familie übergeben hatte, hatte ein zufriedenes Lächeln Ryujis Mundwinkel umspielt. Mai war Ando dafür besonders dankbar gewesen. Das war gerade mal vor einer Stunde gewesen. Für diesen Abend war die Toten‐ wache angesetzt, und im Laufe des morgigen Tages sollte Ryujis Leiche verbrannt werden. Wo wohl gerade der Leichenwagen mit Ryujis Sarg ist? Schon auf dem Weg zu seinem Elternhaus in Sagamiono? Ließe es sich irgendwie einrichten, dann wollte Ando auf jeden Fall bei der Verbrennung dabei sein. Denn aus unerklärlichen Gründen wurde er das Gefühl nicht los, dass sein Freund noch sehr lebendig war.
Treffpunkt war die Bank vor der Bibliothek. Nach dem Symposium an der juristischen Fakultät ging Ando eiligen Schrittes zum verabredeten Ort. Gestern hatte Mai Takano ihn im Gerichtsmedizinischen Institut angerufen. Während Ando ihrer bezaubernden Stimme gelauscht hatte, tauchte ihr feines, ausgesprochen hübsches Gesicht in seiner Erinnerung auf. Nicht selten riefen Verwandte des oder der Verstor‐ benen an, um die Todesursache zu erfahren. Doch Mais Anruf hatte einen anderen Grund gehabt. Am Tag der Autopsie war sie abends nach der Totenwache noch einmal zu Ryujis Apartment gefahren, um die unveröffentlichten Aufsätze ihres Freundes zu sortieren. Dabei war sie anscheinend auf etwas gestoßen, wovon sie Ando unbedingt erzählen wollte. »Es könnte etwas mit Ryujis Tod zu tun haben«, hatte sie zögernd gesagt. Ando war zwar neugierig zu erfahren, was Mai entdeckt hatte, aber sein Verlangen, sie wiederzusehen, übertraf seine Wissbegierde bei weitem. So hatte er ihr ein gemeinsames Treffen am Nachmittag des folgenden Tages vorgeschlagen, im Anschluss an das Symposium. Daraufhin hatte Mai gesagt: »Gut, dann treffen wir uns an der Bank unter den Kirschbäumen vor der Bibliothek.« Obwohl Ando sein zweijähriges Grundstudium auf diesem Campus verbracht hatte, hatte er sich noch nie mit Freunden an der Bank vor der Bibliothek getroffen. Auch mit seiner Frau, die an derselben Universität Literaturwissenschaft studiert hatte, hatte er sich nie dort verabredet; ihr Treffpunkt war immer der Ginkobaum gewesen. Ando erkannte Mai, die auf der Bank saß, schon von weitem. Vielleicht lag es an der Farbe ihres Kleides, aber heute sah sie we‐
sentlich jünger und noch viel attraktiver aus als vor zehn Tagen bei ihrer ersten Begegnung im Gerichtsmedizinischen Institut. Mai war so in ihr Buch vertieft, dass sie ihn nicht bemerkte. Um sie auf sich aufmerksam zu machen, stampfte Ando mit einem Fuß auf. Rasch hob Mai den Kopf. »Hallo, Frau Takano ... Mai ...«, begrüßte Ando sie. »Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben.« Mai erhob sich und verbeugte sich leicht. Sie wirkte etwas unsicher, als wüsste sie nicht so recht, wie sie Ando, den Pathologen, der ihren Freund seziert hatte, begrüßen sollte. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, setzte sich Ando neben Mai auf die Bank, schlug die Beine übereinander und blickte sie an. »Liegen die Untersuchungsergebnisse schon vor?«, erkundigte sich Mai. Ando warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Haben Sie etwas Zeit? Wenn es Ihnen recht ist, könnten wir in ein Cafe gehen und uns in Ruhe unterhalten.« Mai stand wortlos auf, zupfte ihren Rock zurecht und lief los.
Ando folgte ihr in ein Cafe, das nur wenige Minuten vom Campus entfernt lag. Es war zwar ein Studentencafe, aber die ruhige Atmo‐ sphäre darin glich der in einer Hotellobby. Sie wählten einen Tisch am Fenster, von dem aus man einen schönen Blick nach draußen hatte. Die Bedienung brachte Wasser und feuchte Erfrischungstücher. »Ich möchte ein Früchteparfait«, sagte Mai, ohne einen Blick in die Karte zu werfen. Ando war überrascht von ihrer Entschlossenheit, und da er ihr nicht nachstehen wollte, bestellte er sich einen Kaffee, ohne die Karte zu verlangen. Er sah Mai jetzt in einem vollkommen anderen Licht als vor zehn Tagen. Ursprünglich hatte er sie nicht zu
den Menschen gezählt, die schnell und spontan Entscheidungen trafen. »Meine große Liebe ...«, hauchte Mai mit glühenden Augen, nachdem die Kellnerin den Tisch verlassen hatte. Ein wohliger Schauer durchzuckte Ando, der seinen Höhepunkt in einem ge‐ waltigen, elektrisierenden Blitz fand. Für einen Moment dachte er, Mais Worte würden sich auf ihn beziehen. Doch im nächsten Augen‐ blick kam er sich lächerlich vor. Natürlich hatte Mai das Parfait und nicht ihn gemeint. Wie töricht von mir zu glauben, dass Mai so etwas zu mir sagen würde. In meinem Alter! Auf was für absurde Gedanken komme ich eigentlich? Mais prachtvolles Parfait war mit roten Kirschen und Waffeln garniert. Sie schien dieses Dessert über alles zu lieben, das zeigte sich an der Art, wie sie es verspeiste. Ähnlich wie Andos kleiner Sohn früher schlang sie es gierig, und ohne aufzublicken, in sich hinein. Dabei wirkte sie rührend kindlich — und unwiderstehlich. Es war ein Genuss, ihr zuzusehen. Betört von ihrem Charme, vergaß Ando ganz, seinen Kaffee zu trinken. Er dachte an seine Frau. Sie hätte auf keinen Fall ein Früchte‐ parfait bestellt, wenn er mit ihr in dieses Cafe gegangen wäre, son‐ dern Zitronentee ohne Zucker. Sie achtete konsequent auf ihre Figur und aß deshalb nie etwas Süßes. Als sie sich getrennt hatten, war sie so abgemagert, dass sie alles andere als schön aussah. Dennoch existierte in Andos Erinnerung nur das rundliche Gesicht, das sie zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit gehabt hatte. Mai steckte sich genüsslich die Kirsche in den Mund, spuckte den Kern aus und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Dann knabberte sie die Waffel, ohne sich davon stören zu lassen, dass sie dabei auf den Tisch krümelte, und blickte auf den Rest Eis am Glasboden. Es sah aus, als überlegte sie, ob sie die Schale aus‐ schlecken sollte. Zum ersten Mal in seinem Leben durchströmte Ando ein tiefes Glücksgefühl, während er einer Frau beim Essen
zusah. Nachdem Mai das Parfait aufgegessen hatte, nahm sie das Gespräch wieder auf und fragte Ando nach den Ergebnissen der Autopsie. Er fühlte sich seltsam bei dem Gedanken, einer jungen Frau, die gerade ein Eis gegessen hatte, die Autopsieergebnisse zu erörtern. Aber er musste sie ihr mitteilen und überlegte, wie er am besten anfing. Am selben Vormittag hatte Ando Ryujis Familie über die Ergeb‐ nisse informiert, aber sie hatte überhaupt nicht begriffen, wovon er sprach. Als er dann auch noch von der Gewebeprobe angefangen hatte, war es mit dem Verständnis ganz vorbei gewesen. In ihrer Vor‐ stellung war eine Gewebeprobe ein Organ, das in einem mit Forma‐ linwasser gefüllten Gefäß in irgendeinem Labor gelagert wurde. So hatten sie die ganze Zeit aneinander vorbeigeredet und viel Zeit ver‐ geudet. Für Ando hingegen war eine Gewebeprobe dasselbe wie ein Kugelschreiber für einen Büroangestellten. Einem Nicht‐Mediziner zu erklären, wie sie entnommen und untersucht wurde, stellte sich als gar nicht so einfach heraus. Nach kurzer Überlegung entschied er sich, Mai alles von Anfang an zu berichten, also von der Gewinnung der Gewebeprobe bis zu deren Untersuchung. »... die Gewebeprobe wird in einem Speziallabor untersucht. Zunächst wird sie dem erkrankten Organ entnommen und in eine Formalinlösung gegeben. Danach wird sie zugeschnitten, in Paraffin eingebettet und fixiert. In einem nächsten Schritt schneidet man die Wachsblöcke in dünne Scheiben und streicht sie auf einen Objektträger — ein spezielles Glasplättchen zum Mikroskopieren. Nun wird das Paraffin durch ein Lösungsmittel entfernt und das Gewebe gefärbt. Abschließend muss man die Gewebeschnitte auf dem Objektträger versiegeln. Dazu wird eine durchsichtige, harzige Substanz auf den Gewebe‐ schnitt getropft und dann ein hauchdünnes Gläschen, das so genann‐ te Deckglas, darüber gelegt. Jetzt hat man eine Gewebeprobe, die ins Forschungslabor geschickt und dort untersucht werden kann.«
»Ist es richtig, wenn ich mir vorstelle, dass das entnommene Gewebe dünn geschnitten und auf ein Glasplättchen aufgezogen wird?« »So ist es.« »Lässt sich das Gewebe auf diese Weise besser untersuchen?« »Selbstverständlich.« »Und haben Sie es mit eigenen Augen gesehen?« Haben Sie es mit eigenen Augen gesehen ... Was? Natürlich meinte Mai das Zellgewebe von Ryuji, das war Ando schon klar. Aber er konnte mit dieser Frage nichts anfangen, in seinen Ohren klang sie irgendwie merkwürdig. »Bevor ich die Proben an das Labor schicke, sehe ich sie mir immer kurz an.« »Wie sah es aus, das Zellgewebe von Ryuji?«, fragte Mai gespannt und beugte sich vor. »Herzinfarkt durch Verschluss eines Herzkranzgefäßes — ich denke, so sagte ich es bei der Autopsie. Als ich das entnommene Gewebe dann aber unter dem Mikroskop näher untersuchte, erlitt ich ehrlich gesagt einen kleinen Schock. Wie Sie vielleicht wissen, wird ein Herzinfarkt gewöhnlich durch eine Verengung der Blutgefäße verursacht. Ein Grund für die Verengung können beispielsweise weit reichende arteriosklerotische Ablagerungen an den Gefäßwänden sein. Man spricht im Volksmund auch von Arterienverkalkung, aber der medizinische Ausdruck ist Arteriosklerose. Je nach Stadium kann dies zu mehr oder weniger starken Durchblutungsstörungen im betroffenen Bereich führen. Weiterhin besteht die Gefahr, dass sich ein Blutthrombus auf die Gefäßverengung setzt und die Arterien verstopft. Der Herzmuskel kann dann nicht mehr ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgt werden. Die Folge ist ein Herzinfarkt. Was wir bisher wissen, ist, dass es bei Ryuji zu einer solchen Ver‐ stopfung der Blutgefäße — und zwar konkret der linken Herzkranz‐ arterie — kam. Die wurde aber nicht, wie ich zuerst vermutet hatte,
durch eine Arterienverkalkung hervorgerufen. Der Gefäßverschluss hatte eine andere Ursache.« »Und welche?«, fragte Mai. »Ein Geschwür.« »Ein Geschwür?« »Ja, Sie haben richtig gehört. Ein Geschwür hatte sich in den stark verengten Gefäßen gebildet und schließlich zu einem Verschluss der Herzader geführt — so viel steht fest. Nur kann ich zum momen‐ tanen Zeitpunkt noch nicht sagen, ob dieser Tumor gut oder bösartig war. Eines weiß ich jedoch: Ich habe so eine Art von Geschwür zwischen der inneren und äußeren Gefäßwand noch nie gesehen.« »Meinen Sie, es handelt sich um Krebszellen?« »Das könnte sein. Allerdings kommt es, wenn überhaupt, nur sehr selten vor, dass sich ein Geschwür genau auf dem Rand der Gefäß‐ wand bildet.« »Aber wenn das Untersuchungsergebnis vorliegt, dann wissen wir doch warum sich dieses Geschwür dort gebildet hat, oder?« Ando schüttelte lachend den Kopf. »Wenn es nicht mehr solche Fälle gibt, werden wir den Grund wohl nie herausfinden. Sie wissen sicher, was ich meine, ohne dass ich es Ihnen am Beispiel Aids erklä‐ ren muss.« Trotz der wissenschaftlichen Fortschritte in den letzten Jahrzehnten gab es noch immer viele Krankheiten, deren Ursachen man bis heute nicht kannte. Ando fuhr fort: »Es besteht allerdings noch eine andere Möglichkeit. Natürlich könnte es auch eine Art Geburtsfehler sein; ganz abwegig ist das nicht.« Das leuchtete sogar einem Nicht‐Mediziner ein. Wenn ein Mensch allerdings von Geburt an ein Geschwür in einem der Herzkranzgefäße hatte, konnte er nur sehr eingeschränkt Sport treiben. »Aber Dr. Takayama ...«
»Ich weiß, bei den Sportfesten des Gymnasiums belegte er immer einen der ersten Plätze. Am besten war er im Kugelstoßen.« »Ja, stimmt.« »Daher können wir wohl auch mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, dass Ryuji dieses Geschwür nicht von Geburt an hatte. Dennoch möchte ich gern von Ihnen wissen, ob er mal angedeutet hat, dass er Schmerzen in der Brust spürte oder so etwas Ähnliches.« Die Beziehung zwischen Ando und Ryuji war nach dem Examen eingeschlafen. Nur ab und an waren sie sich auf dem Campus der Universität begegnet. Sie grüßten sich dann kurz, und jeder ging seiner Wege. Über Ryujis gesundheitlichen Zustand konnte Ando sich während dieser Zeit absolut kein Bild machen. »Ich hatte nur zwei Jahre engen Kontakt zu Dr. Takayama.« »Das reicht vollkommen aus.« »Er hatte einen ungewöhnlich kräftigen Körper. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er einmal erkältet oder sonst irgendwie krank gewesen wäre. Es kann natürlich sein, dass er es nur nicht zugab, wenn es ihm mal einen Tag lang nicht so gut ging. Vielleicht gehörte er zu den Menschen, die nicht jammern, selbst wenn sie starke Schmerzen haben.« »Wenn Ihnen auch nur die geringste Kleinigkeit einfällt...« »Da gibt es durchaus etwas, worüber ich gern mit Ihnen reden würde.« Jetzt erinnerte Ando sich. Sie hatten sich schließlich nicht getroffen, um über die Ergebnisse der Autopsie zu sprechen, sondern weil Mai ihm von ihrer merkwürdigen Erfahrung in Ryujis Apartment berichten wollte. »Ach ja ... Bitte erzählen Sie.« »Ich weiß allerdings nicht, ob es mit der Ursache von Dr. Takayamas Tod in Verbindung steht«, sagte Mai zaghaft. »Erzählen Sie, was passiert ist.«
»Vor zehn Tagen, als ich spät abends nach der Totenwache die unveröffentlichten Aufsätze in Ryujis Apartment sortierte, klingelte plötzlich das Telefon. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich drangehen sollte oder nicht. Schließlich nahm ich den Hörer ab. Es meldete sich ein Herr Asakawa, der den Doktor aus Schulzeiten zu kennen schien.« »Kennen Sie diesen Asakawa?« »Ja, ich bin ihm einmal begegnet, ganz unerwartet eigentlich. Ein paar Tage vor Ryujis Tod kam Asakawa zu Besuch, als ich gerade auch da war.« »Und weiter?« »Nun ja, Asakawa schien noch nicht zu wissen, dass der Doktor gestorben war, und ich berichtete ihm am Telefon davon. Er wirkte ziemlich geschockt und sagte, dass er sofort kommen werde.« »Wohin?« »Natürlich in das Apartment von Ryuji Takayama.« »Und ist er gekommen?« »Ja, er stand sogar viel früher vor der Tür, als ich es erwartet hatte. Es war wirklich sehr seltsam, sage ich Ihnen. Er trat ein und nahm je‐ den Zentimeter im Zimmer genaustens unter die Lupe. Seine Augen wanderten von rechts nach links, nicht die kleinste Ecke ließ er aus. Es machte den Eindruck, als würde er nach etwas Bestimmtem suchen. Immer und immer wieder fragte er mich, ob mir im Zimmer nicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Aber das war es gar nicht mal, was mich so verwunderte. Es waren seine Worte danach.« Mai verstummte und trank einen Schluck Wasser. »Was hat er denn gesagt?« »Ich erinnere mich noch genau an den Wortlaut. Er fragte: ›Hat Ryuji Ihnen etwas erzählt, bevor er starb? Hat er mit Ihnen über das Video gesprochen?‹«
»Das Video?«, fragte Ando überrascht. »Ja. Merkwürdig, oder?« Mai war dieses Verhalten absolut un‐ verständlich gewesen. Sie konnte nicht begreifen, wie Asakawa sie in dieser Situation nach so etwas Belanglosem fragen konnte. Hatte er denn nichts anderes im Kopf, als ein Video zu finden, das er offensichtlich bei Ryuji vergessen hatte? Das waren ihre ersten Gedanken gewesen. Aber dann beschlich sie plötzlich ein merk‐ würdiges Gefühl. »Hat Ryuji Ihnen denn etwas über dieses mysteriöse Video er‐ zählt?« »Nein, kein Wort.« »Ein Video, hm?« Ando lehnte sich zurück. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass ein Mann namens Asakawa vor zehn Tagen, also genau an dem Tag, als er Ryujis Leiche obduziert hatte, in dessen Apartment aufgekreuzt war ... »Es ist zwar nur so ein Gedanke, aber ist es nicht möglich, dass der Inhalt des Videos Ryuji so geschockt hat, dass er einen Herzanfall bekam?« »Denkbar ist das schon.« Ando konnte Mais Gedankengang gut nach vollziehen. Erst vor ein paar Tagen hatte er einen Thriller gese‐ hen, in dem eine ähnliche Szene vorkam. Der Film handelte von einer jungen Frau, die mit dem Abteilungsleiter ihres Mannes eine Affäre hatte und in eine Falle tappte. Ein Voyeur hatte das Liebespaar beim Sex im Hotel beobachtet, die Szene mit der Videokamera aufgezeich‐ net und das Band zusammen mit einem Erpressungsbrief an die Frau geschickt. Nervös schob sie das Video in den Rekorder und schaute es sich an. In den ersten Sekunden war nichts auf der Mattscheibe zu sehen, nur ein Flimmern, doch dann sah sie plötzlich einen nackten Frauenkörper, der sich rhythmisch auf dem eines jungen Mannes bewegte. Ein abgehacktes Stöhnen begleitete die Bewegungen. Als sie merkte, dass sie die Frau auf dem Videoband war, fiel sie in Ohn‐
macht. Ähnliches geschah auch in der Wirklichkeit immer wieder. Die emotionalen Reaktionen eines Menschen konnten dann so heftig sein, dass er einen Schock erlitt. Bei schlechter Verfassung trat manchmal sogar der Tod ein. Ausgeschlossen war es also nicht. Aber Ando hatte Ryujis Leiche vor sich liegen gehabt, das Herz eingehend untersucht und eine Gewebeprobe entnommen. »Aber Ryuji ist auf keinen Fall durch einen Schock gestorben. Er hatte nachweislich einen Verschluss in der Herzader. Davon einmal abgesehen — können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass der Anblick eines Videos Ryuji so schocken könnte, dass er daran stirbt?«, sagte Ando leicht ironisch. »Da haben Sie allerdings recht. Das ist undenkbar.« Auch um Mais Mundwinkel zeichnete sich ein leichtes Lächeln ab. Sie waren sich also über Ryujis Charakter einig. Er war ein Mann gewesen, der sich durch nichts so schnell aus der Ruhe hatte bringen lassen. »Übrigens ... wissen Sie, wie ich Asakawa erreichen kann?« »Nein, also so weit ...«, antwortete Mai. Doch plötzlich schien ihr etwas einzufallen. »›Das ist der Journalist Kazuyuki Asakawa von der Zeitung M.‹ — so hat ihn mir der Doktor vorgestellt, wenn ich mich recht erinnere.« »Kazuyuki Asakawa von der Zeitung M.« Ando schrieb das in sein Notizbuch. Ein Anruf bei der Zeitung würde sicher genügen, um ihn ausfindig zu machen. Es war nicht ausgeschlossen, dass Ando zu einem späteren Zeitpunkt einige Fragen an Asakawa haben würde. Mai blickte auf den hingekritzelten Namen, stützte das Kinn auf ihre Hand und sah Ando mit großen, erstaunten Augen an. »Was ist?«, fragte er und hob den Blick. »Es geht um die Schriftzeichen von ›Kazuyuki‹.«
Ando sah auf das Notizbuch hinab. ›Kazuyuki Asakawa‹. Er betrachtete die Schriftzeichen. Plötzlich wurde ihm klar, was Mai meinte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hatte er den Namen fehlerlos geschrieben. Dabei gab es viele Möglichkeiten, sowohl ›Asakawa‹ als auch ›Kazuyuki‹ in Schriftzeichen auszudrücken. Auf Anhieb hatte er sie richtig geschrieben, als hätte er diesen Mann gekannt. »Woher wissen Sie, wie man den Namen schreibt?«, fragte Mai verwundert. Ando konnte ihr darauf keine Antwort geben. Es war eine Art Intuition gewesen. Irgendetwas sagte ihm plötzlich, dass er in naher Zukunft zu diesem Mann Kontakt aufnehmen würde.
Zum ersten Mal seit anderthalb Jahren trank Ando wieder Reiswein zum Essen. Das schlechte Gewissen, für den Tod seines einzigen Kin‐ des verantwortlich zu sein, hatte so schwer auf ihm gelastet, dass er bis zum heutigen Tag kein Bedürfnis nach Alkohol verspürt hatte. Aber ganz konnte er sich dieses Laster dann doch nicht abgewöhnen. Dafür liebte er Alkohol viel zu sehr. Fatal aber war die Wirkung: Ge‐ fühle, die einen bewegten, verstärkten sich. War man glücklich, woll‐ te man die ganze Welt umarmen, trank man jedoch in sentimentaler Stimmung, dann riss der Alkohol einen in ein tiefes schwarzes Loch, und der Kummer wurde unerträglich. Der Schmerz über den Verlust seines Sohnes saß so tief, dass Ando, obwohl er früher kein Gläschen verschmäht hatte, freiwillig darauf verzichtet hatte. Zu groß war die Angst, dass er in einen Abgrund fallen, die Kontrolle über sich verlie‐ ren und von der Todessehnsucht zum Selbstmord getrieben werden würde. Deshalb hatte er lange Zeit nicht den Mut aufgebracht, auch nur einen Schluck zu trinken. Es war Ende Oktober, und ein feiner Nieselregen fiel. Zu dieser Jahreszeit war das sehr ungewöhnlich. Selbst als Ando den Schirm aufspannte, kroch die Feuchtigkeit seinen Nacken hinauf. Doch kalt war ihm nicht. Der Alkohol hatte ihn gewärmt. Er streckte mehrmals die Hand unter dem Schirm hervor und versuchte, einen Regentrop‐ fen aufzufangen. Doch der Regen fiel nicht von oben herab, sondern schien von unten wie dichter Nebel aufzusteigen. Ando beschloss, auf dem Weg nach Hause eine Flasche Whisky zu kaufen. An einem kleinen Laden machte er Halt, trat aber nicht sofort ein. Für eine Weile blieb er in der Dunkelheit stehen und blickte auf die Hochhäuser, die in der schwarzen Nacht vor ihm aufragten. Sie faszinierten ihn. Der Anblick der nächtlichen Megapolis übte einen besonderen Reiz auf ihn aus, mehr als irgendein Naturschauspiel.
Das von feuchtem Nebel umhüllte Rathaus erstrahlte in einer unheimlichen Schönheit. Die Markierungslichter auf dem Dach leuchteten wie Morsekodes auf und langsam und gleichmäßig blinkten sie rot in die schwarze Nacht. Der Anblick erinnerte an ein großes Monster, das eine Nachricht schickte. In einem alten vierstöckigen Wohnhaus in der Nähe des Yoyogi‐ Parks befand sich Andos Apartment. Er hatte es nach der Trennung von seiner Frau bezogen. Verglichen mit dem hübschen, exklusiven Apartmenthaus in Minami Aoyama war dieses hier um einiges schäbiger und wies auch sonst wesentliche Nachteile auf. Zum Beispiel gab es keine Parkplätze. Ando hatte sich deshalb sogar von seinem neuen BMW trennen müssen. Das Einzimmer‐Apartment war spartanisch eingerichtet und erinnerte an eine Studentenbude. Ledig‐ lich ein Bücherregal und ein Stahlbett standen im Zimmer, mehr Möbel besaß Ando nicht. Es war nicht ein Hauch von Lebensqualität zu entdecken, die bei einem Mann seines Alters zu erwarten gewesen wäre. Er betrat das Apartment und legte seine Sachen ab. Während er das Fenster öffnete, klingelte das Telefon. »Hallo?« »Ich binʹs.« Ando wusste sofort, wer am anderen Ende der Leitung war. Es konnte nur Miyashita sein, ein alter Studienfreund, der am Patho‐ logischen Institut der Universität arbeitete. Miyashita hatte die Ange‐ wohnheit, am Telefon nie seinen Namen zu nennen; nur ein kurzes ›Ich binʹs‹ ließ er verlauten. »Bitte entschuldige, dass ich mich noch nicht bei dir gemeldet habe«, sagte Ando mit schlechtem Gewissen. Er wusste, warum Miyashita anrief. »Ich war heute in deinem Büro in der Uni.« »Ich hatte Dienst in der Gerichtsmedizin. Deshalb konntest du mich
dort nicht antreffen.« »Ich beneide dich wirklich. Ein doppeltes Gehalt einstreichen ...« »Du musst dich gerade beschweren! Wer von uns gehört denn zur Elite und verdient das dicke Geld?« »Scherz beiseite ... Du hast mir noch nicht gesagt, ob du zu Funakoshis Abschiedsparty kommst.« Funakoshi war in der Abteilung für Innere Medizin tätig. Doch nun beabsichtigte er, seinen Job dort an den Nagel zu hängen, in seine Heimatstadt zurückzukehren und als Nachfolger seines Vaters die Leitung des Familienkrankenhauses zu übernehmen. Miyashita hatte sich bereit erklärt, die Abschiedsfeier für Funakoshi zu organisieren. Schon vor Tagen hatte er Ando den Termin mitgeteilt und um kurze Antwort gebeten. Wegen der Ereignisse und Aufregungen der letzten Tage hatte Ando die Abschiedsparty jedoch vollkommen vergessen. Wehmütig dachte er an sein eigenes Schicksal. Sicher wäre für ihn auch so eine Feier organisiert worden, hätte das Schicksal ihm nicht den Sohn entrissen. Ursprünglich wollte er nur kurze Zeit in der Gerichtsmedizin arbeiten, um praktische Erfahrungen zu sammeln. Zu gern hätte er dann in den klinischen Bereich übergewechselt, um später das Krankenhaus der Schwiegerfamilie zu übernehmen. Doch sein Versagen hatte alle Zukunftsträume wie Seifenblasen platzen lassen. »Wann ist die noch mal?«, stammelte Ando, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, den Terminkalender in der Hand. »Freitag in einer Woche.« »Freitag ...« Überflüssig, in den Terminkalender zu sehen — Ando wusste, dass er an diesem Freitag schon etwas vorhatte. Erst vor drei Stunden hatte er sich mit Mai für diesen Abend zum Essen verabredet, und zwar für sechs Uhr. Er steckte in der Klemme. Aber die Entscheidung fiel ihm leicht. Nach zehn Jahren hatte er die Chance, wieder einmal
mit einer jungen, sehr attraktiven Frau auszugehen. Keine Frage, er würde die bezaubernde Mai treffen. Er hatte nicht die geringste Lust, die Verabredung mit ihr für die öde Abschiedsparty von Funakoshi sausen zu lassen. Dieses Treffen mit Mai konnte immerhin einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben darstellen. Entweder erwachte er endlich aus seinem Albtraum, oder er blieb für immer in den Klauen seines trostlosen Daseins gefangen. »Wie sieht es aus? Kommst du?«, drängte Miyashita. »Es tut mir wirklich Leid, aber an diesem Tag habe ich schon etwas vor.« »Stimmt das auch wirklich, oder ist es nur wieder eine faule Ausrede, wie schon so oft?« Wie schon so oft... Ando wusste nicht, was Miyashita damit meinte. Er konnte sich nicht erinnern, Einladungen von Freunden aus irgend‐ einem fadenscheinigen Grund abgesagt zu haben. »Was heißt hier ›faule Ausrede‹?« »Na, weil du keinen Alkohol trinkst. Immer das Gleiche, dabei hast du doch früher kein Glas verschmäht.« »Nein, das ist nicht der Grund.« »Wenn du keinen Alkohol trinken möchtest, brauchst du das auch nicht. Keiner zwingt dich dazu. Du kannst dich ja mit Oloong‐Tee begnügen. Komm wenigstens für ein Stündchen vorbei.« »Ich sagte doch schon, das ist nicht der Grund.« »Heißt das etwa, du trinkst wieder Alkohol?« »Ja.« »Dann kann es nur eines sein: Du hast eine Frau kennen gelernt. Stimmtʹs? Bist du in sie verliebt?« Der dickleibige Miyashita hatte einen sechsten Sinn für solche Sachen. Ando hatte sich fest vorgenommen, seinem Freund gegen‐ über immer aufrichtig zu sein, aber dieses Mal wusste er nicht, was er
antworten sollte. Es war einfach noch zu früh, um sagen zu können, ob er Mai liebte oder nicht. Schließlich hatten sie sich erst zweimal gesehen. »Das muss ja eine ganz heiße Frau sein, wenn sie dich sogar von Funakoshis Abschiedsparty abhält ... Freut mich für dich. Du brauchst nicht verlegen zu sein. Bring sie doch mit. Komm, gib dir einen Ruck.« »Nein, so weit sind wir noch nicht.« »Ach, stell dich doch nicht so an.« »Nein, nein, wirklich.« »Ich kann dich natürlich nicht zwingen zu kommen ...« »Tut mir Leid.« »Hör auf, dich ständig zu entschuldigen. Ich habe schon verstan‐ den. Mach dir keine Sorgen, ich werde Funakoshi und den anderen Bescheid sagen. Aber mach dich auf einiges gefasst. Ich werde überall herumposaunen, dass sich unser Ando bis über beide Ohren verknallt hat«, prustete Miyashita. Ando konnte es ihm nicht übel nehmen. Miyashita war ein ausge‐ sprochen netter Kerl und nach dem Tod von Andos Sohn und der Trennung von seiner Frau immer für ihn da gewesen. Ando erinnerte sich noch genau. Eines Tages hatte Miyashita mit einem Roman in der Hand vor seiner Tür gestanden. Der Titel: Kopf hoch. »Lies das«, hatte er gutmütig gebrummt. Bis zu diesem Moment hatte Ando nichts von Miyashitas literarischer Ader gewusst. Deshalb war er umso erstaunter über das Geschenk gewesen. Es war eine Art Bil‐ dungsroman, der von einem jungen Mann mit schweren physischen und psychischen Störungen handelte. Er erzählte, wie der Junge seine Vergangenheit bewältigte und sich weiterentwickelte. Die Lektüre des Buches war so beeindruckend gewesen, dass Ando neuen Lebensmut gefasst hatte. Der Roman hatte sogar einen Ehrenplatz in seinem Bücherregal bekommen.
»Übrigens ...«, wechselte Ando das Thema. »Liegen die Unter‐ suchungsergebnisse der Gewebeprobe von Ryuji Takayama schon vor?« Die Probe wurde in Miyashitas Labor analysiert. »Ach, fang bloß nicht damit an«, seufzte Miyashita. »Wieso? Was ist los?« »Wie soll ich es sagen? Ich weiß wirklich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Sag mal, was hältst du eigentlich von Professor Seki?« Professor Seki arbeitete am selben Pathologischen Institut wie Miyashita. Er galt als Kapazität auf dem Gebiet der Erforschung von Krebszellen. »Warum? Du kennst ihn doch viel besser als ich.« »Der Professor redet manchmal wirres Zeug.« »Was hat er denn gesagt?« »Also, er sieht das Problem weniger in dem Verschluss der Herz‐ kranzarterie. Seine Vermutung ist vielmehr, dass das Geschwür in der Kehle zum Tod geführt hat... Er hat zwar nur einen kurzen Blick auf die Probe geworfen, aber er hat eine These. Rate mal, was er gesagt hat.« »Nun spann mich nicht so auf die Folter. Was hat er gesagt?« »Ist ja gut. Er sagte, es ähnelt den Geschwüren, die durch Pocken verursacht werden.« »Pocken?«, wiederholte Ando überrascht. Bereits vor vielen Jahren hatte man einen Impfstoff gegen diese Krankheit gefunden, und die Seuche galt als besiegt. Der letzte Pockenfall weltweit war 1977 in Somalia registriert worden. 1979 hatte die Weltgesundheitsorganisation die Pocken endgültig für aus‐ gerottet erklärt. Das Pockenvirus war hoch ansteckend, wenn es auch — solange kein Mensch damit infiziert war — keine Bedeutung hatte. Es wurde nur noch in zwei Forschungslaboratorien — in Moskau und im amerikanischen Atlanta — gelagert. Falls plötzlich irgendwo auf der Welt wieder ein Pockenfall auftauchte, konnte der Erreger nur
aus einem der beiden stammen. Aber in Anbetracht der verschärften Sicherheitskontrollen in den Instituten war diese Möglichkeit gleich null. »Schockiert dich das etwa?« »Es muss ein Irrtum sein.« »Womöglich. Ich gebe ja nur wieder, was Professor Seki gesagt hat. Wir sollten die Möglichkeit trotzdem in Betracht ziehen.« »Wann, meinst du, liegt das endgültige Untersuchungsergebnis vor?« »In einer Woche, denke ich. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir: ›Der schwarze Tod kehrt zurück — neue Pockenfälle!‹«, scherzte Miyashita munter. Ando glaubte nicht, dass es sich um einen neuen Pockenfall handelte. Er war felsenfest davon überzeugt, dass ein Irrtum vorlag. Noch nie hatte er einen mit dieser Krankheit Infizierten gesehen. Das Wissen über bestimmte Virenerkrankungen, die bereits als ausgerot‐ tet galten, eigneten sich Mediziner in seinem Alter in erster Linie aus Lehrbüchern und Forschungsarbeiten an. Einmal hatte er ein Foto von einem pockennarbigen Kind gesehen. Der Körper war mit braunen, erbsengroßen Flecken gesprenkelt und der Blick des Kindes ausdruckslos. Nach etwa sieben Tagen Inkubationszeit zeigten sich die ersten Anzeichen. Zunächst kam es bei den Infizierten zu grippe‐ ähnlichen Symptomen mit Fieber, zwei bis drei Tage später traten die charakteristischen Pusteln in Gesicht und auf dem gesamten Körper auf, die sich dann zu Knoten entwickelten. »He, komm mal wieder auf den Boden der Tatsachen. Das ist doch absurd. Ich habe Ryujis Leiche obduziert und konnte bei ihm keiner‐ lei Ausschlag feststellen, weder im Gesicht noch sonst irgendwo.« »Mir liegt zwar nicht viel daran, diesen Gedanken weiterzu‐ spinnen — aber wusstest du, dass es in der Tat ein Pockenvirus gibt, das zu Geschwüren in den Gefäßen und mit fast hundertprozentiger
Wahrscheinlichkeit zum Tod führt?« Ando schüttelte den Kopf. »Nein, davon habe ich noch nichts gehört.« »Es existiert aber.« »Du willst mir doch wohl nicht allen Ernstes weismachen, dass der Verschluss der Herzader durch eine Art Pockenvirus verursacht wurde?« »Das sage ich ja gar nicht. Aber Tatsache ist nun mal, dass sich an der Gefäßwand der Herzkranzarterie ein Geschwür gebildet hat. Was ist es denn dann? Du hast es doch unter dem Mikroskop gesehen. Wie entsteht so was?« »Ich weiß es nicht.« »Du hast hoffentlich eine Pockenschutzimpfung, oder?«, scherzte Miyashita fröhlich. »Ha, ha. Wenn ich mich tatsächlich mit dem Virus infiziert hätte, wäre es jetzt sowieso zu spät... Aber jetzt mal Spaß beiseite, mir fällt da was ein.« »Was?« »Vergessen wir die Frage, ob wir es mit einem Ableger des Pocken‐ virus zu tun haben. Nur mal angenommen, es gäbe, wie du sagst, tatsächlich ein Virus, das ein Geschwür in den Arterien und als Resultat davon einen Herzinfarkt hervorruft ... Dann wäre doch denkbar, dass es noch weitere, ähnliche Fälle gibt. Was meinst du?« Miyashita seufzte leise. Er schien nachzudenken. »Ausgeschlossen ist es sicher nicht.« »Könntest du nicht mal nachforschen, ob in letzter Zeit ähnliche Fälle aufgetaucht sind? Wenn du deine Beziehungen spielen lässt, dürfte das doch kein Problem sein.« »In Ordnung. Nicht auszudenken, wenn das Resultat positiv ist! Stell dir das mal vor, was für ein gewaltiger Schock.«
»Ich glaube, dass wir uns unnötig Sorgen machen.« Sie verabschiedeten sich und hängten ein. Durch das geöffnete Fenster drang die klamme Abendluft ins Zimmer. Ando trat auf den Balkon. Der Regen hatte aufgehört. Die Laternen warfen einen gleichmäßigen Schatten auf die nasse, dunkle Straße. Die Lichter der Stadt und das laute Brummen der Autos schienen tief in die neblige Feuchtigkeit einzutauchen, um sich dann wie ein Wirbelsturm zu erheben. Als Ando das Fenster schloss, trat Stille ein. Das tosende Geräusch der vorbeifahrenden Autos war vollkommen verstummt. Er nahm das Medizinlexikon aus dem Bücherregal und sah unter ›Pockenviren‹ nach. Weil die Pocken bereits vor Jahrzehnten ausge‐ storben waren, standen sie nicht mehr im Mittelpunkt des wissen‐ schaftlichen Interesses. Selbst im Rahmen eines Medizinstudiums wurde das Thema nur gestreift. Wer Einzelheiten erfahren wollte, musste sich das Wissen selbst aus Büchern aneignen. Ando las, dass das Pockenvirus zur Gruppe der Prox‐Viren und zur Gattung der Orthopox‐Viren gehörte. Es gab zwei verschiedene Arten: variola Major und Minor. Sie unterschieden sich vor allem durch Krankheits‐ verlauf und Todeswahrscheinlichkeit. Eine Infektion mit dem Major‐ Virus verlief zu dreißig bis vierzig Prozent tödlich, beim Minor‐Virus lag die Rate unter fünf Prozent. Neben den Prox‐Viren gab es Pockenviren, die speziell bei Tieren — wie Affen, Hasen, Rindern und Mäusen — vorkamen. Aber in Japan waren derartige Fälle kaum bekannt geworden, zudem galten sie als ungefährlich. Ando legte das Medizinlexikon beiseite. Was für ein absurder Gedanke ... Professor Seki hatte sich das Geschwür nur kurz an‐ gesehen, nicht mal unter dem Mikroskop, und sich ja auch noch nicht festgelegt. Er hatte lediglich gesagt, dass dieses Geschwür den durch Pocken verursachten Knoten ähnele. Was lasse ich mich eigentlich derart von diesem Quatsch beeinflussen! Logisch gedacht gibt es nur eine Antwort: Es kann sich auf keinen Fall um eine neue Art von Pockenvirus handeln.
Das ist ausgeschlossen. Aber warum musste er sich immer wieder dazu zwingen, so zu denken? Der Grund lag auf der Hand: Wenn Ryuji wirklich mit einem Pockenvirus infiziert gewesen wäre, könnte Mai sich angesteckt haben. Dieser Gedanke beunruhigte Ando zutiefst. Mai und Ryuji waren immerhin ein Paar gewesen. Hatte man sich mit dem Pockenvirus infiziert, bildete sich ein Geschwür in den Schleim‐ häuten der Mundhöhle oder Kehle; die Übertragung des Krank‐ heitserregers erfolgte per Tröpfcheninfektion, also mitunter über den Speichel. Plötzlich sah Ando zwei Liebende vor sich — Mai und Ryuji küssten sich innig. Er versuchte, die Bilder aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Er goss sich einen Whisky ein und trank ihn pur. Der Alkohol brannte in der Kehle; als er im Magen angekommen war, zeigte er schnell seine Wirkung. Alle Kraft wich aus Andos Körper, er hatte das Gefühl, als wären seine Gliedmaßen aus Gummi. Nur sein Gehirn arbeitete noch. Schlaff ließ er sich aufs Bett fallen und starrte gedankenverloren auf die Schimmelflecken an der Decke. Plötzlich sah er sein ganzes Leben klar vor sich. Der Traum vom Meer, genau einen Tag, bevor sein Sohn ertrunken war, war eine Vision gewesen. Obwohl er diese schreckliche Vorahnung gehabt hatte, hatte er sein Kind vor diesem traurigen Schicksal nicht bewah‐ ren können. Die bittere Reue der Vergangenheit hatte ihn zu einem Menschen gemacht, der auf sein inneres Gefühl hörte, egal wie absurd und abwegig es auch sein mochte. Jetzt hatte er wieder so ein merkwürdiges Gefühl. Ihm wurde immer klarer, dass hinter dem Zahlenkode auf dem Zeitungsfetzen, der entschlüsselt das Wort ›Ring‹ ergab, eine tiefere Bedeutung stecken musste. Es war kein Zufall, dass sich genau dieses Wort ergab. Ryuji hatte ihm irgendetwas mitteilen wollen. Aber was? Er zermarterte sich das Gehirn. Obwohl Ryujis Körper eingeäschert war und nur noch eine Gewebeprobe von ihm existierte, wurde Ando das
Gefühl nicht los, dass er noch unter ihnen weilte und versuchte, ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Jetzt drehe ich vollkommen durch. Was für ein irrer Gedanke ... Er lag auf dem Bett, beide Arme und Beine weit von sich gestreckt. Just in diesem Moment schien sein Geist seinem Körper zu entwie‐ chen und von oben auf seine ausgestreckte Gestalt zu blicken. Irgend‐ wo hatte er dieses Bild schon einmal gesehen. Es war noch nicht lange her. Obwohl Ando todmüde war, erinnerte er sich plötzlich. Richtig, auf ein paar Polaroidfotos hatte er die Gestalt gesehen — Ryujis Leiche hatte ähnlich dagelegen, als Mai sie gefunden hatte. Erschöpft schlüpfte Ando unter die Decke und schlief zitternd ein.
Zwei Leichen hatte Ando heute Vormittag bereits seziert. Die restlichen Arbeiten überließ er den Assistenten; er selbst kehrte zur Universität zurück. Miyashita hatte ihn angerufen und Andeutungen gemacht, dass es in der »Sache Ryuji« etwas Neues gebe. Ando konnte es kaum erwarten zu hören, was Miyashita zu sagen hatte. Hastig lief er die Treppen von der U‐Bahn‐Station hinauf ins Freie. Er rannte durch den Haupteingang des Universitätsklinikums und den Flur entlang, der zum älteren Gebäude führte. Der Neubau der Klinik, ein siebzehnstöckiges Hochhaus, war erst vor zwei Jahren errichtet worden. Alter und neuer Gebäudekomplex waren über Treppen und Flure auf komplizierte Weise miteinander verbunden. Ando kam sich jedes Mal wie in einem Labyrinth vor, sobald er das Krankenhaus betrat. Die Farben, die Ausmaße der Flure, ja sogar der Geruch auf den Gängen waren unterschiedlich. Blickte man durch die Stahltür des alten Gebäudekomplexes auf den weitläufigen Flur des neuen, so hatte man den Eindruck, als würde man in die dunkle, ferne Zukunft sehen. Durch die halboffene Tür des Pathologischen Instituts konnte Ando Miyashita erkennen. In ein Buch versunken saß er mit dem Rücken zur Tür. Ando tippte ihm von hinten auf die Schulter. Miyashita wandte sich um, nahm die Brille ab, klappte das Buch zu und legte es mit der Aufschrift nach oben auf den Tisch. Enttäuscht las Ando den Titel: Einführung in die Astrologie. Miyashita fragte ernst: »Wann bist du geboren?« Ohne zu antworten, griff Ando nach der Einführung in die Astrologie und blätterte darin. »Wahrsagerei... du bist doch kein Mädchen!« »Sei nicht so arrogant. Da ist schon was Wahres dran. Nun sag
schon, wie sind deine Geburtsdaten?« Ando zog entnervt einen Stuhl unter dem Tisch hervor und plumpste darauf. Das Buch fiel vom Tisch. »Nun beruhige dich. Was ist denn mit dir los?« Miyashita bückte sich seufzend und hob das Buch auf. Ando kümmerte sich nicht weiter darum. »Was ist, hast du etwas herausfinden können?«, fragte er ungeduldig. »Ich habe mich bei mehreren gerichtsmedizinischen Instituten erkundigt, ob sie einen ähnlichen Fall hatten, das heißt eine Leiche mit derselben Todesursache wie Ryuji. Ich sage dir, wir kommen der Sache allmählich näher.« »Spann mich nicht auf die Folter.« »Ryuji scheint kein Einzelfall zu sein. Tatsächlich sind in mehreren gerichtsmedizinischen Instituten Fälle aufgetaucht. Nach meinen Re‐ cherchen starben bisher mindestens sechs Menschen auf die gleiche Weise wie Ryuji.« »Sechs?« Ando wusste nicht so recht, was er von dieser Anzahl halten sollte — waren das nun viele oder wenige? »Ich sage dir, auch die Pathologen von den anderen Instituten haben nicht schlecht aus der Wäsche geguckt, als sie hörten, dass es mehrere Fälle dieser Art gab. Jeder dachte, er wäre der Einzige, bei dem eine so merkwürdige Leiche gelandet war.« »An welchen Universitäten wurden die Obduktionen durchge‐ führt?« Miyashita streckte die Hand nach einem Aktenordner auf dem Tisch aus. »An der Universität S wurden zwei Leichen obduziert, an der Universität T eine und an der Universität Y in Yokohama drei; macht insgesamt sechs.« »Zeig mal.« Miyashita reichte Ando den Ordner.
Erst am Vormittag hatte Miyashita die Unterlagen von den anderen Instituten per Fax erhalten. Es waren Kopien der Polizeiprotokolle und der Autopsieberichte. Ando zog eine Akte nach der anderen aus dem Ordner und überflog die wichtigsten Stellen. Zunächst sah er sich die Unterlagen an, die ihnen die Universität T zur Verfügung gestellt hatte. Dort war eine männliche Leiche obduziert worden, Alter neunzehn. Der Name war Shuichi Iwata. Im Protokoll stand als Todeszeitpunkt 5. September, 23 Uhr. Der junge Mann war auf mysteriöse Weise an einer Kreuzung vor dem Shinagawa‐Bahnhof gestorben. Ohne ersichtlichen Grund war er plötzlich von seinem Motorrad gestürzt, allerdings nicht während der Fahrt, sondern während er vor dem Bahnhof an der Ampel ge‐ wartet hatte. Diagnostizierte Todesursache: plötzliches Herzversagen. In einem der Herzkranzgefäße hatte sich ein Geschwür gebildet, das schließlich so groß geworden war, dass es die Herzader verstopfte. Die natürliche Folge war ein Herzinfarkt — so stand es im Autopsiebericht. Die Universität Y hatte nach eigenen Angaben drei Leichen obdu‐ ziert, bei denen die Todesursache ähnlich rätselhaft war wie im Falle Ryuji. Darunter waren ein junger Mann namens Takehiko Nomi, neunzehn Jahre alt, und eine junge Frau namens Haruko Tsuji, siebzehn — ein Liebespaar. Beide waren exakt am selben Tag, zur selben Uhrzeit und am selben Ort gestorben. Der tragische Todesfall hatte sich am 6. September in den frühen Morgenstunden ereignet. Das junge Paar wurde tot auf den Vordersitzen eines Wagens aufge‐ funden, der am Fuß des Berges Okusu in Yokosuka, Präfektur Kana‐ gawa, abgestellt war. Als die Polizei die Leichen fand, hatte Takehiko Nomi Jeans und Unterhose in den Kniekehlen hängen, dem Mädchen war der Slip bis zu den Fußgelenken heruntergerutscht. Das Pärchen hatte nachts in der Nähe eines Busches geparkt, um ungestört zu sein. Während des Vorspiels war bei beiden gleichzeitig das Herz stehengeblieben. Die Diagnose nach der Autopsie war erneut
Herzinfarkt durch Verschluss eines Herzkranzgefäßes. Auch hier wurde ein Geschwür entdeckt, das sich an der Gefäßwand gebildet hatte und letztlich für den Tod verantwortlich zu sein schien. Ando hob den Kopf und starrte an die Decke. Das ist unmöglich. »Ein junges Paar in einem Auto ... Was meinst du?«, fragte Miyashita mit zugekniffenen Augen. »Hm. Beide starben exakt zur gleichen Zeit am gleichen Ort an Herzversagen ... Zählen wir Shuichi Iwata dazu, haben wir drei junge Menschen, die ungefähr zur selben Zeit an derselben Ursache gestorben sind. Was steckt bloß hinter diesen Todesfällen?« »Das ist schon sensationell, dass Todeszeitpunkt und Todesursache bei drei Menschen faktisch identisch sind. Hast du schon die Akten der anderen Leichen durchgesehen?« Ando blickte Miyashita an. »Nein, noch nicht.« »Du solltest sie dir ansehen. Es gab da zwei Fälle, eine junge Frau und ein kleines Mädchen, bei denen ebenfalls ein Geschwür an den Schleimhäuten der Kehle entdeckt wurde.« Ando durchstöberte hastig die Unterlagen, die von der Universität S gefaxt worden waren. Dort hatte man die Leichen einer jungen Frau und eines kleinen Kindes obduziert, Mutter und Tochter. Der Name der dreißigjährigen Frau war Shizu Asakawaka, die Tochter hieß Yoko. Sie war gerade mal ein Jahr und vier Monate alt geworden. Ando hielt einen Augenblick inne. Moment mal ... Hatte er den Namen Asakawa nicht schon einmal gehört? Aber wo? Es wollte ihm nicht einfallen. »Was ist?«, fragte Miyashita. »Nichts.« Ando las weiter. Shizu Asakawaka und ihre Tochter Yoko waren bei einem Autounfall am 21. Oktober ums Leben gekommen. Das Unglück hatte sich auf der Autobahn in der Nähe der Ausfahrt Oi
gegen zwölf Uhr mittags ereignet. Kazuyuki Asakawa, der Ehemann und Vater, hatte am Steuer gesessen. Die Strecke zwischen Urayase und Oi war bekannt dafür, dass sie oft verstopft war. Insbesondere auf der Höhe des Tokio‐Bay‐Tunnels kam es häufig zu kilometer‐ langen Staus. In einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit war Asakawa mit voller Geschwindigkeit auf einen LKW aufgefahren, der das Schlusslicht der Autoschlange bildete. Frau und Kind waren auf der Stelle tot gewesen. Asakawa hatte Glück im Unglück gehabt und war mit dem Leben davongekommen. »Ich verstehe nur nicht, warum die Leichen in der Gerichtsmedizin gelandet sind«, sagte Ando gereizt. Gewöhnlich wurden Personen, die bei einem Verkehrsunfall starben, nicht intensiver untersucht. Eine Autopsie wurde in der Regel nur dann angeordnet, wenn ein Verdacht auf ein Verbrechen vorlag oder ein Mensch auf eine andere nicht natürliche Weise ums Leben gekommen war. »Nun sei nicht so ungeduldig. Lies dir lieber erst mal die Un‐ terlagen durch.« Ando wurde nur noch wütender. »Du hast gut reden. Du solltest dir mal ein neues Faxgerät zulegen. Das kann man ja kaum lesen! Wirklich eine Zumutung! Man kriegt ja Kopfschmerzen.« Aufge‐ bracht wedelte er mit den gefaxten Seiten, die sich jeden Moment zusammenzurollen drohten, vor Miyashitas Nase herum. Mühsam musste man sich durch jede einzelne Zeile quälen, um einen Sinn zu erfassen. Ando wollte aber auf der Stelle wissen, was sich ereignet hatte. Er war mit seiner Geduld am Ende. »Du bist wirklich ein ungeduldiger Mensch«, sagte Miyashita und berichtete dann: »Zunächst dachte man, dass die Frau und das Kind an den Verletzungen gestorben sind, die sie bei dem Unfall erlitten haben. Weitere Untersuchungen ergaben jedoch, dass sie nur leicht verletzt waren. Außer ein paar Schrammen und Kratzern konnte man nichts feststellen. Der Wagen hatte zwar Totalschaden, doch wirklich in Mitleidenschaft gezogen war lediglich der vordere Teil. Da Frau
und Tochter hinten saßen, schienen sie von dem Aufprall weitgehend verschont geblieben zu sein. So ließen sich die relativ geringfügigen inneren Verletzungen erklären. Der Polizei kam die ganze Sache merkwürdig vor — sie vermutete, dass ein Verbrechen vorlag. Folg‐ lich wurde eine Autopsie der Leichen veranlasst. Sämtliche Kratzer und Schrammen, die die beiden auf Gesicht und Kopf hatten, wurden mit einer speziellen Methode auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung hin überprüft. Es wurde also untersucht, ob die Frau und das kleine Mädchen noch lebten, als sie sich die Verletzungen zugezogen hatten. Was, meinst du, hat das Untersuchungsergebnis ergeben? Ich sage dir, jetzt wird es interessant. Man hat herausgefunden, dass beide bereits tot waren, als sie sich die Wunden zugezogen hatten ... So sieht es also aus. Das liegt doch in deinem Fachbereich.« Ando konnte auf einen Blick erkennen, ob die Verletzungen einer Leiche vor oder nach ihrem Tod entstanden waren, auch ohne die Analyse zur vitalen Reaktion durchzuführen. Shizu Asakawaka und ihre Tochter waren bereits tot, als sich der Autounfall ereignete ... »Lass mich mal nachdenken. Vielleicht wollte der Mann die Leichen seiner Frau und seiner Tochter irgendwohin bringen.« Miyashita warf die Hände in die Luft, als wollte er damit seiner Ratlosigkeit Ausdruck verleihen. »Könnte sein.« In einem solchen Fall würde mit Gewissheit eine Autopsie an‐ geordnet werden. Tatsächlich war der Ehemann zunächst des Mordes verdächtigt worden. Die Theorie lag nahe, dass er einen Doppelmord und anschließend Selbstmord geplant hatte. Zuerst erwürgte er Frau und Tochter, dann trug er die Leichen in sein Auto. Während er nach einem passenden Ort für den Selbstmord suchte, passierte der Unfall ... Dieser Verdacht hatte sich jedoch durch die Autopsie nicht bestätigt. Shizu Asakawaka und ihre kleine Tochter Yoko waren an einem Herzinfarkt gestorben und nicht ermordet worden. Jegliche Verdächtigungen gegen den Ehemann waren hinfällig. Daraus folgte, dass Mutter und Tochter während der Fahrt aus heiterem Himmel
einen Herzanfall erlitten hatten. Der Unfall hatte sich definitiv danach ereignet. Man brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um zu verstehen, dass Asakawa in dieser Situation die Fassung verloren und einen Unfall verursacht hatte. Zunächst hatte er vermutlich gar nicht bemerkt, dass seine Frau und seine Tochter tot waren. Er dachte sicherlich, sie würden nur ein kurzes Schläfchen machen. Aus irgendeinem Grund wollte er seine Frau dann wahrscheinlich wecken. Als sie nicht rea‐ gierte, streckte er die Hand nach hinten und berührte sie. Spätestens in diesem Moment spürte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Er geriet in Panik und merkte nicht, dass er sich viel zu schnell auf die Autoschlange zubewegte, die sich am Tokio‐Bay‐Tunnel gebildet hatte. Dann prallte der Wagen auch schon mit voller Wucht gegen den LKW. So ungefähr musste es sich abgespielt haben. Ando konnte sich gut in die Lage dieses Mannes hineinversetzen, ja nachempfinden, wie der Schock ihn lähmte, ihn erstarren ließ, als er die furchtbare Ent‐ deckung machte, dass seine Frau und seine Tochter tot waren. Schließlich hatte Ando seinen Sohn verloren. Wäre er damals nicht in Panik geraten und ruhig geblieben, hätte er Takanori, den er über alles geliebt hatte, vielleicht retten können. Im Fall Asakawa spielte es keine Rolle, ob er sich unter Kontrolle gehabt hatte oder nicht, denn seine Frau und sein Kind waren bereits tot. »Was ist nach dem Unfall mit Asakawa passiert?« Ando dachte voller Mitleid an die Zeit des Schmerzes und die von Einsamkeit überschattete Zukunft dieses Mannes. »Er wurde in ein Krankenhaus eingeliefert.« »Weißt du, wie schwer er bei dem Unfall verletzt worden ist?« »Physisch hatte wohl auch er kaum Verletzungen. Die Wunden sind eher psychischer Natur.« »Was meinst du damit?«
»Er befindet sich in einem Zustand vollkommener Geistesab‐ wesenheit. Liegt reglos im Bett und starrt an die Decke wie ein Koma‐ Patient.« Selbst wenn Asakawa für kurze Zeit zu Bewusstsein kam, war er nicht in der Lage, allein zu essen oder zu trinken geschweige denn zur Toilette zu gehen. »Das ist ja furchtbar. Der arme Mann ... Er kann einem wirklich Leid tun.« Andere Worte gab es dafür nicht. In Anbetracht von Asakawas bedauerlichem Zustand ließ sich erraten, wie groß der Schock ge‐ wesen sein musste. Sicherlich hatte er Frau und Tochter sehr geliebt. Von einer Stunde auf die andere hatte ihm das Schicksal alles genommen, was ihm im Leben etwas bedeutet hatte. Einen solchen Schlag konnte ein Mensch nicht so einfach überwinden. Das brauchte Zeit — viel Zeit. Ando nahm die Akte von Miyashita entgegen, leckte an Daumen und Zeigefinger und blätterte die Seiten durch. Er hoffte, Informa‐ tionen über das Krankenhaus zu finden, in das Asakawa nach dem Unfall eingeliefert worden war. Falls er in einer Klinik lag, in der ein mit Ando befreundeter Arzt arbeitete, könnte er diesen nach dem Zustand des Patienten fragen. Sein Blick fiel zunächst auf den Namen, Kazuyuki Asakawa ... »Ah!«, stieß er erstaunt hervor. Das war doch derselbe Name, den er vor zwei Tagen in sein Notizbuch geschrieben hatte. Der Mann, der einen Tag nach Ryujis Tod aufgeregt in dessen Apartment gestürzt war und Mai merkwürdige Fragen über ein Video gestellt hatte! »Kennst du ihn?«, fragte Miyashita verwundert. »Ja, von Ryuji.« »Von Ryuji?« »Kazuyuki Asakawa ist ein alter Freund von Ryuji.« »Und woher kennst du ihn? Hast du ihn schon mal gesehen?«
Ando erzählte Miyashita, wie Mai Asakawa begegnet war, und dass er nach einem Video gefragt hatte. »Das bedeutet nichts Gutes.« Ando brauchte nicht zu erklären, was er damit meinte. Mit Ryuji waren sieben Menschen an derselben rätselhaften Todesursache gestorben. Allein am 5. September waren vier ums Leben gekommen, am 19. Oktober ein weiterer und schließlich am 21. Oktober zwei. Damit aber nicht genug. Am Fuße des Okusu‐Berges waren zwei junge Menschen exakt am selben Tag und um dieselbe Uhrzeit gestorben. Ein weiterer tödlicher Vorfall hatte sich an der Autobahn‐ ausfahrt Minami‐Oi ereignet. Eine junge Frau und ihre kleine Tochter starben, allerdings nicht etwa an den Folgen des Unfalls, sondern an plötzlichem Herzversagen. Der Familienvater war mit Ryuji befreun‐ det gewesen. Alle Personen schienen auf irgendeine Weise miteinan‐ der in Verbindung zu stehen, und bei allen war die gleiche, unerklär‐ liche Todesursache ermittelt worden: Herzinfarkt durch Verschluss der Herzader. Rätsel gab dabei vor allem der Grund für die Ver‐ stopfung der Blutgefäße auf. Nicht wie üblich eine fortgeschrittene Arteriosklerose war verantwortlich, sondern ein Geschwür, das sich auf die Gefäßwand gesetzt und somit die Blut‐ und Sauerstoffzufuhr zum Herzen unterbrochen hatte. Folge: plötzliches Herzversagen. Aber wie konnte man diese mysteriösen Todesfälle erklären? Ando war geneigt, einer wissenschaftlichen Theorie Glauben zu schenken. Vielleicht steckte hinter all dem ein Virus, das zu derarti‐ gen Herzinfarkten führte. Selbst wenn man bisher noch kein solches entdeckt hatte, konnte es plötzlich aufgetaucht sein. Ja, zunächst würde er von einem Virus ausgehen. Wenn er diese Hypothese weiterverfolgte, konnte er annehmen, dass dieses neue Virus nicht über die Atemwege übertragen wurde, weil die Verstorbenen sich in unterschiedlichen Gegenden aufgehalten hatten. Denkbar war, dass es auf ähnliche Weise wie der HIV‐Virus übertragen wurde. Ando dachte an Mai, und Sorgen verdunkelten sein Gesicht. Mai und Ryuji waren ein Paar gewesen, folglich hatten sie auch
Intimitäten miteinander ausgetauscht. Bei diesem Gedanken wurde ihm ganz bang ums Herz. Wie sollte er ihr das alles nur erklären? Zu diesem Zeitpunkt konnte er ihr lediglich sagen, dass die Sache etwas komplizierter war als zunächst angenommen. Aber würde sie ver‐ stehen, wenn er so durch die Blume sprach? Ich sollte der Universität S einen Besuch abstatten, dachte er. Die Informationen über die Leichen, die er den Unterlagen hatte entneh‐ men können, befriedigten ihn nicht. Er hoffte, dass er mehr Details erfahren würde, wenn er persönlich mit dem Pathologen sprach, der die Autopsien von Shizu Asakawaka und ihrer Tochter Yoko durch‐ geführt hatte. Kurz entschlossen nahm er den Telefonhörer in die Hand und rief beim Gerichtsmedizinischen Institut der Universität S an, um einen Termin zu vereinbaren.
Ando machte sich auf den Weg zur medizinischen Fakultät der Universität S im Bezirk Ota. Am liebsten wäre er noch am selben Tag vorbeigekommen, an dem er angerufen hatte, einem Freitag. Aber die sanfte Stimme am Telefon hatte ihn auf Montag vertröstet. »Bitte gedulden Sie sich bis Anfang der nächsten Woche, dann nimmt sich jemand Zeit für Sie«, hatte der Mann gesagt. Da es nicht um Mord ging und der Grund für das gewünschte Gespräch Andos persönliche Wissbegierde war, musste er natürlich warten, bis es zeitlich passte. Er klopfte an die Tür des Gerichtsmedizinischen Instituts, wartete eine Weile, doch aus dem Raum waren weder Stimmen noch Schritte zu hören. Es war mucksmäuschenstill. Ando blickte auf seine Arm‐ banduhr; er war zehn Minuten zu früh. Sie hatten am Telefon Punkt 13 Uhr vereinbart. Im Vergleich zur Chirurgie oder der Inneren Abteilung war die Gerichtsmedizin mit nur wenig Personal bestückt. Die drei oder vier Angestellten waren vermutlich gerade beim Essen. Während Ando überlegte, wie er die verbleibenden zehn Minuten totschlagen könnte, sprach ihn von hinten ein Mann an. »Kann ich Ihnen helfen?« Ando drehte sich um. Ein junger, relativ klein gewachsener Mann stand vor ihm. Er trug eine randlose Brille. Für einen Dozenten vom Gerichtsmedizinischen Institut sah er zwar zu jung aus, aber Ando erinnerte sich an die hohe Stimme. Rasch zog er eine Visitenkarte aus der Tasche, stellte sich vor und nannte das Anliegen seines Besuches. Der junge Mann begrüßte ihn freundlich und überreichte ihm ebenfalls seine Visitenkarte. Es war in der Tat die gleiche Person, mit der er am Freitag telefoniert hatte. Auf der Visitenkarte stand: Kazu‐ yoshi Kurahashi, Dozent am Gerichtsmedizinischen Institut der Uni‐ versität S. Ando schloss aus seiner Position, dass Kurahashi ungefähr
in seinem Alter sein musste. Würde er allerdings behaupten, er sei Ende zwanzig, dann würde man ihm das auch abnehmen — Kura‐ hashi sah sehr jung aus. Um nicht wie ein Student zu wirken, sprach er mit vorgestreckter Brust. Das verlieh ihm einen Hauch von Autorität, und er wirkte dadurch erwachsener. »Bitte, treten Sie ein.« Kurahashi bat Ando mit einer höflichen Geste in sein Büro. Die Unterlagen, die das Institut an Miyashita gefaxt hatte, kannte Ando in‐ und auswendig. Von seinem Besuch erhoffte er sich, vor allem etwas über die Meinung des Pathologen zu erfahren, der die beiden Leichen seziert hatte. Vielleicht gelang es ihm sogar, einen Blick auf die Gewebeproben zu werfen. Nachdem Ando und Kurahashi die üblichen Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, kamen sie zu den mysteriösen Todesfällen. Sie besprachen die Ergebnisse der Autopsien und ihre persönlichen Eindrücke. Kurahashi schien der Schock noch in den Knochen zu sitzen. Noch nie in seiner beruflichen Laufbahn hatte er so merk‐ würdige Leichen zu Gesicht bekommen. Auch hatte er zum ersten Mal die Todesursache Herzinfarkt infolge eines Gefäßverschlusses der Herzkranzarterie, verursacht durch ein Geschwür, diagnostiziert. Seine anfängliche Ruhe und Gelassenheit waren wie weggeblasen, als sie näher auf das Thema eingingen. Er wurde nervös, und seine Stimme zitterte. »Möchten Sie sich die Gewebeprobe ansehen?« Kurahashi stand auf und holte die Probe. Ando nahm sie, betrachtete sie zunächst mit bloßem Auge und legte sie anschließend unter das Mikroskop. Was er sah, war un‐ glaublich. Die Zellen wiesen exakt die gleichen Veränderungen wie die von Ryuji Takayama auf. Das Gewebe war nach der gängigen Methode gefärbt worden, das Zytoplasma rötlich und der Zellkern bläulich. So waren die Veränderungen der Zellen leichter zu erken‐
nen. Verglichen mit gesunden Zellen unterschieden sich diese in ihrer Form, auch fiel der extrem vergrößerte Zellkern ins Auge. Gesunde Zellen wiesen zudem eine durchgehend rötliche, beschädigte hinge‐ gen eine bläuliche Färbung auf. Was in Gottes Namen hatte diese extreme Zellveränderung bewirkt? Ando war klar: Dieses Rätsel zu lösen würde bedeutend schwieriger werden, als einen Verbrecher zu stellen. Er blickte kurz auf und holte tief Luft. Je länger er die Gewebeprobe betrachtete, desto schwerer fiel ihm das Atmen. Es war, als hätte ihm jemand eine Schlinge um den Hals gelegt und würde sie nun langsam zuziehen. »Wessen Zellen sind das?« Nach den Unterlagen, die Miyashita ihm gezeigt hatte, waren zwei Leichen an diesem Institut obduziert worden: Asakawas Frau und Tochter. »Die von Shizu Asakawaka«, erwiderte Kurahashi, der vor einem Regal stand und sich an irgendwelchen Ordnern zu schaffen machte. Er schien etwas Bestimmtes zu suchen. Verwundert neigte er den Kopf. Ando sah wieder durch das Mikroskop. Das sind also die Zellen von Asakawas Frau. Er versuchte, sich vorzustellen, was mit dem Körper der Frau passiert war. Der Unfall hatte sich am Mittag des 21. Okto‐ ber, einem Sonntag, ereignet. Dem Autopsiebericht zufolge waren Frau und Kind bereits eine Stunde tot gewesen, als Asakawa mit seinem Wagen auf den LKW geprallt war. Das bedeutete, dass die Todeszeit zirka 11 Uhr vormittags gewesen sein musste. Mysteriös war nur, dass beide an exakt derselben Krankheit gestorben waren. Das Geschwür war zwar im Vergleich zur Größe des menschlichen Körpers winzig, aber es schien rasant zu wachsen, bis es schließlich so groß war, dass keine ausreichende Blut‐ und Sauerstoffzufuhr zum Herzen mehr stattfand. Dies hatte einen Herzstillstand zur Folge. Das war die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab.
Das Geschwür hatte zwei Menschenleben zur gleichen Zeit ausgelöscht. Deshalb konnte man ausschließen, dass es sich langsam entwickelte. Selbst wenn Shizu Asakawaka und Yoko sich zur selben Zeit mit dem Virus infiziert hatten, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie exakt im selben Moment starben, gleich null. Krankheiten verlie‐ fen je nach Person unterschiedlich. Zwischen Mutter und Tochter lag ein Altersunterschied von knapp dreißig Jahren. Allein das bedingte unterschiedliche Krankheitsverläufe. Vielleicht ist ja alles auch nur purer Zufall ... Doch Andos innere Stimme sagte: Nein, ausgeschlossen. Es gab ja auch noch das junge Paar, das an der Universität Y obduziert worden war. Beide waren ebenfalls am selben Tag, zur selben Uhrzeit und am selben Ort gestorben. Wenn das kein Zufall war, gab es nur eine Erklärung: Die Zeit zwischen Ansteckung und Tod musste kurz sein. Damit war die Theorie von einem tödlichen Virus aber noch lange nicht bestätigt. Es gab bisher keinerlei Hinweise, die die Schlussfolge‐ rung nahelegten, dass hinter diesen unerklärlichen, merkwürdigen Todesfällen wirklich ein Virus steckte. Ando warf seine These für einen Augenblick über Bord und überlegte, ob nicht eine Nahrungs‐ mittelvergiftung die Ursache gewesen sein könnte. Bei Nahrungsmit‐ telvergiftungen wiesen die betroffenen Personen erfahrungsgemäß dieselben Krankheitssymptome auf. Das würde zumindest erklären, warum alle Verstorbenen dieses Geschwür gehabt hatten. Doch es gab verschiedene Arten von Nahrungsmittelvergiftung. Man musste zwischen einer chemischen und einer Bakterienver‐ giftung differenzieren. Bisher war noch kein Fall bekannt geworden, bei dem sich aufgrund einer chemischen Vergiftung ein Geschwür in den Blutgefäßen gebildet hatte. Und was war mit entschlüpften Krankheitserregern, die für die Entwicklung biologischer Waffen unter strengster Geheimhaltung in irgendeinem Forschungslabor ge‐ züchtet worden waren und jetzt womöglich ihr Unwesen trieben? Ando löste den Blick von den Zellen und hob erschöpft den Kopf.
Welche Möglichkeit er auch in Betracht zog, im Augenblick entspran‐ gen alle nur seiner Fantasie. Es gab keine Beweise. Und so, wie es mo‐ mentan aussah, würde sich das auch nicht ändern. Kurahashi ging mit einer Akte in der Hand zu Ando, der sich inzwischen am Tisch niedergelassen hatte, und setzte sich neben ihn. Er zog ein paar Fotos hervor und legte sie vor Ando auf den Tisch. »Das sind Fotos vom Unfallort. Vielleicht möchten Sie ja einen Blick darauf werfen.« Ando sah desinteressiert auf die Fotos, die vor ihm lagen. Er glaubte nicht, dass sie ihn der Lösung näherbringen würden. Sie bewegten sich in der Welt der Zellen, was sollten da Fotos von einem Unfall zur Aufklärung der mysteriösen Todesfälle beitragen? Trotz‐ dem wollte er die Fotos nicht einfach beiseite schieben. Schließlich hatte Kurahashi sie extra herausgesucht. Also nahm Ando ein Foto nach dem anderen in die Hand und schaute sie sich gleichgültig an. Das erste zeigte das stark beschädigte Auto. Die Motorhaube bäumte sich wie ein Berg auf, Stoßstange und Scheinwerfer waren eingedrückt, die Frontscheibe vollkommen zertrümmert. Glassplitter funkelten im Licht der Mittagssonne. Das Armaturenbrett schien allerdings unversehrt zu sein. Daraus ließ sich folgern, dass die hintere Hälfte des Wagens von dem Aufprall weitgehend verschont geblieben war. Auf dem zweiten Foto war die Straße zu sehen. Nirgends erkannte man schwarze Bremsspuren auf der trockenen Fahrbahn. Asakawa musste mit voller Geschwindigkeit in das Stauende gerast sein. Offensichtlich hatte er nicht auf die Fahrbahn geschaut. Aber wo hat Asakawa hingesehen, wenn nicht auf die Straße? Vermutlich hatte er sich nach hinten gedreht, nachdem er den kalten und steifen Körper seiner Frau berührt hatte. Ando streckte die Hand nach den nächsten drei Fotos aus und legte sie nacheinander auf den Tisch. Kein Bild hatte bisher seine Aufmerk‐
samkeit erregt. Doch beim nächsten hielt er inne. Das Foto zeigte den Innenraum des Wagens. Es war durch das Fenster auf der Fahrerseite aufgenommen worden, und man sah den vorderen Bereich des Autos. Der Gurt über dem Fahrersitz hing verdreht nach unten, die Lehne des Beifahrersitzes war vorgeklappt. Dieses Bild machte Ando aus irgendeinem Grund neugierig. Er wusste nur nicht, warum. Plötzlich wurden seine Hände feucht, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Instinktiv fühlte er, dass ihm dieses Foto etwas mitteilen wollte. Er hielt es dichter ans Gesicht, so dass er es fast mit der Nase berührte. Jedes kleinste Detail nahm er in Augenschein. Da! Ein kleiner schwarzer Fleck. Dieser Fleck hatte ihn daran gehindert, das Foto aus der Hand zu legen. Er wusste, dass er etwas Wichtiges entdeckt hatte. Zwischen Sitz und vorgeklappter Lehne klemmte etwas Schwarzes. Und auf der Fußmatte unter dem Beifahrersitz lag ebenfalls ein flacher schwarzer Gegenstand. Ando wandte sich Kurahashi zu. »Schauen Sie sich das bitte mal an. Was könnte es Ihrer Meinung nach sein?« Er legte das Foto auf den Tisch und zeigte auf die entsprechende Stelle. Kurahashi setzte seine Brille ab und beugte sich über das Bild. Dabei schüttelte er leicht den Kopf, allerdings nicht, um Ratlosigkeit zu signalisieren. Ihn schien vielmehr zu verwundern, dass Ando diese zwei kleinen schwarzen Flecke so faszinierten. »Wieso, was ist damit?«, entgegnete er, ohne den Blick von dem Foto abzuwenden. »In meinen Augen sieht das nach einem Videorekorder aus. Was meinen Sie?« »Ja, könnte durchaus ein Videorekorder sein«, bestätigte Kurahashi und gab Ando das Foto zurück. Wäre es ein glatter rechteckiger Gegenstand gewesen, hätte man ihn für eine Pralinenschachtel halten können. Aber bei genauer Betrachtung ließ sich an der linken Vorderseite eine Taste ausmachen.
Damit hatte sich die Pralinenschachtel erledigt. Es konnte nur ein Videorekorder, Tuner, Verstärker oder etwas Derartiges sein. Doch Ando war sicher: Es war ein Videorekorder. Immerhin hatte Asakawa Mai nach einer Videokassette gefragt. Das schwarze Ding auf der Fußmatte unter dem Beifahrersitz war dem Design nach ein Laptop. Zog man Asakawas Beruf — Journalist — in Betracht, war es nicht sonderlich merkwürdig, dass er einen Laptop bei sich hatte. Mit dem Videorekorder sah es anders aus. »Warum hatte er wohl einen Videorekorder bei sich?« Wenn das Gerät defekt gewesen war, warum hatte er es dann auf die Autobahn mitgenommen? Asakawa hätte den Videorekorder ins Elektronik‐ geschäft nebenan zur Reparatur geben können. Das ergibt alles keinen Sinn. Ando ließ die Frage nicht los, wohin Asakawa mit dem Video‐ gerät wollte, und vor allem: zu welchem Zweck. Ohne besonderen Grund fuhr man wohl kaum mit einem Rekorder im Auto herum. Nun betrachtete er die restlichen Fotos. Auf einem Bild war das Nummernschild des Wagens zu erkennen. Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und schrieb das Kennzeichen auf: Shinagawa wa 5287. Das ›Wa‹ verriet, dass es sich um einen Mietwagen handelte. Asakawa hatte also eigens ein Auto gemietet, um den Videorekorder zu transportieren. Aber warum? Ando versuchte, sich in die Lage Asakawas zu versetzen, und überlegte: Wenn ich einen Videorekorder im Auto transportieren würde, warum würde ich das wohl tun? Ah, ich habʹs! Natürlich, um eine Kopie zu ziehen! Ein anderer Grund fiel Ando spontan nicht ein. Er reimte sich das Ganze so zusammen: Asakawa erhielt einen Anruf von einem Freund, der außerhalb der Stadt wohnte. Dieser erzählte ihm, dass er auf einen tollen Videostreifen gestoßen sei, der ihn zutiefst beein‐ druckt habe und den er Asakawa gern überspielen würde. Das Problem war nur, dass er keinen zweiten Rekorder besaß, um eine Kopie zu machen. Deshalb vereinbarten die beiden, dass Asakawa
seinen Videorekorder mitbrachte. Aber selbst wenn es sich in etwa so abgespielt hätte ... Ando kratzte sich ratlos am Kopf. Wenn ich nur wüsste, welcher Zusammenhang zwischen dem Video und den rätselhaften Todesfällen besteht. Mit Logik allein ließ sich dieser Fall nicht lösen, so viel stand fest. Wenn ich dieses Video oder den Rekorder irgendwie in die Fingerbekommen könnte ... Das würde mich vielleicht weiterbringen. Plötzlich hatte er eine Idee. Im Grunde müsste er nur das zustän‐ dige Polizeirevier ausfindig machen, das den Unfall auf der Auto‐ bahn in Höhe der Ausfahrt Oi bearbeitet hatte. Das demolierte Fahr‐ zeug war dort mit Sicherheit kurzfristig in Verwahrung genommen worden. Da sich der Videorekorder zum Zeitpunkt des Unfalls im Auto befunden hatte, würde er ihn dort auch finden — und mit ein bisschen Glück vielleicht sogar die mysteriöse Kassette. Zwei der Autoinsassen waren tot, Asakawa lag im Krankenhaus. Wenn kein anderer den Rekorder aus dem Wagen genommen hatte, müsste er noch dort sein. Glücklicherweise kannte Ando durch seine Tätigkeit in der Ge‐ richtsmedizin viele Polizisten. Wenn er seine Beziehungen spielen ließ, kam er vielleicht an den Videorekorder heran. Doch zuvor wollte er eine andere Person aufsuchen: Kazuyuki Asa‐ kawa. Es wäre natürlich der einfachste und effektivste Weg, von ihm selbst zu erfahren, worum es bei dem Ganzen ging — vorausgesetzt, er war in der Lage, Auskunft zu erteilen. Aus den Unterlagen ging hervor, dass sich Asakawa in einer relativ schlechten Verfassung befand. Ando hoffte inständig, dass sein Zustand inzwischen etwas stabiler und dass er bei Bewusstsein war. Immerhin hatte sich der Unfall bereits vor zehn Tagen ereignet. Ando wurde plötzlich von Ungeduld gepackt. Wenn es möglich war, würde er Asakawa noch heute im Krankenhaus besuchen. »Wissen Sie, in welches Krankenhaus Asakawa gebracht wurde?«,
erkundigte er sich bei Kurahashi. »Soviel ich weiß, ist er im Shinagawa‐Saisei‐Krankenhaus«, gab Kurahashi zurück, vergewisserte sich aber noch einmal in seinen Unterlagen. »Ja, ich hatte es richtig in Erinnerung. Aber Sie wissen, er ist geistig verwirrt.« »Ich werde es trotzdem versuchen. Vielleicht hat sich sein Zustand inzwischen ja gebessert«.
Ando hatte den Kopf an die Fensterscheibe des Taxis gelegt und döste. Plötzlich verlor er den Halt und stieß gegen den Fahrersitz. Gleichzeitig drang aus der Ferne das Aufheulen von Sirenen an sein Ohr. Reflexartig blickte er auf die Uhr: 14.10 Uhr. Seit etwa zehn Minuten saß er in dem Taxi. Folglich konnte er höchstens zwei bis drei Minuten geschlummert haben. Aber er hatte das Gefühl, als wäre sehr viel Zeit vergangen, ja als wäre es schon Tage her, seit er die Gerichtsmedizin der Universität aufgesucht und sich mit Kurahashi unterhalten hatte. Sein Tagtraum hatte ihn offensichtlich aus der Realität entfernt, bis ihn das Sirenengeheul wachrüttelte. Das Taxi hatte sich in der Zwischenzeit keinen Zentimeter wei‐ terbewegt. Sie standen nach wie vor auf der äußeren Fahrbahn. Gewöhnlich ging es auf dieser Spur recht zügig voran, heute jedoch nicht. Ando beugte sich ungeduldig nach vorne, um zu sehen, was los war. Ein Blick durch die Windschutzscheibe machte deutlich, was sie am Weiterfahren hinderte: Die Bahnschranken waren geschlossen, und die Warnblinkanlage leuchtete. Andos Ziel, das Shinagawa‐ Saisei‐Krankenhaus, lag auf der anderen Seite des Bahnüberganges. Der Zug nach Shinagawa war zwar bereits durchgefahren, doch die Schranken blieben geschlossen. Ein Pfeil in die entgegengesetzte Richtung signalisierte, dass sie auf einen weiteren Zug warten muss‐ ten. Ando verließ jede Hoffnung auf ein schnelles Weiterkommen. Der Taxifahrer schrieb mit einem deutlich vernehmbaren Kratzen etwas in ein Notizbuch. Auch er schien nicht davon auszugehen, dass sie den Bahnübergang bald passieren würden. Es besteht kein Grund zur Eile. Mir bleibt genügend Zeit bis zum Ende der Besuchszeit um 17 Uhr. Ando lehnte sich zurück und hing wieder seinen Tagträumen nach.
Doch nur kurz, dann schoss er wie vom Blitz getroffen erneut hoch. Er spürte bohrende Blicke im Rücken. Die Augen, die ihn fixierten, mussten ganz in seiner Nähe sein. Ando fühlte sich wie eine Gewebe‐ probe, die, zwischen zwei Glasplättchen eingebettet, durchs Mikro‐ skop angestarrt wurde, machtlos, sich den Blicken zu entziehen. Das Augenpaar durchbohrte ihn wie das eines Forschers. Nervös blickte er sich um. Vielleicht saß in einem Auto hinter ihnen ein Bekannter oder Freund? Doch außer ihnen war weit und breit kein anderes Fahrzeug auf der Straße zu entdecken, selbst auf dem Fußweg war kein Mensch. Sicher täusche ich mich, dachte Ando. Aber die Intensität des Blickes ließ nicht nach. Sie lösten körperliches Unbehagen in ihm aus. Irgendjemand beobachtete ihn. Doch wer? Andos Augen irrten nach rechts und links, dann nach vorne und hinten. Beim Blick durch die Heckscheibe fiel ihm ein kleiner Grashügel ins Auge. Da bewegte sich doch etwas im Gras! Sekundenlang regte sich nichts mehr. Dann rührte es sich wieder, erstarrte erneut... Vielleicht ein kleines Tier? Es fixierte Ando unentwegt, ohne auch nur für den Bruchteil einer Se‐ kunde den Blick von ihm zu lassen. Wieder eine langsame Bewegung in der gleißenden Herbstsonne ... Das Wesen blitzte ihn mit schmalen, funkelnden Augen an. Siehe da, eine Schlange, die ihn aus der Ferne anstarrte. Vor Andos geistigem Auge tauchten Bilder aus seiner Jugend auf. Es war an einem ruhigen, warmen Frühlingsnachmittag gewesen. Auf dem Nachhauseweg von der Schule entdeckte Ando eine kleine graue Schlange. Sie lag wie ein dünner, langer Faden auf der niedrigen Mauer, die den Fluss begrenzte. Zuerst dachte er, es wäre ein Mauerriss, aber dann sah er, dass es eine Schlange war. Sie rollte sich gerade zusammen. Ando hob einen Stein auf, ließ ihn ein paar Mal in die Luft fliegen, um Größe und Gewicht abzuschätzen, und schleuderte ihn dann über den Fluss. Bis zum Ruheplatz der Schlange waren es mehrere Meter. Ando hatte keinen Moment lang geglaubt, dass er die Schlange aus dieser Entfernung treffen könnte. Doch der
Stein flog direkt auf sie zu und zermalmte ihr den Kopf. Ando schrie laut auf. Er fühlte sich, als hätte er mit bloßen Händen brutal auf den Schlangenkopf eingeschlagen. Rasch rieb er sich die Hände an der Hose ab. Alle Kraft war aus dem Körper der Schlange gewichen, und sie fiel leblos in den Fluss. Ando rannte zum Ufer hinunter, blieb an einem Grashügel stehen und beobachtete, wie die kleine, tote Schlange von der Strömung weggerissen wurde. Irgendwer oder irgendetwas beobachtete ihn, durchfuhr es ihn plötzlich. Es waren intensive, bohrende Blicke. Die Augen der toten Schlange konnten es nicht sein. Es war viel schlim‐ mer. Eine wesentlich größere Schlange lauerte hinter ihm im Gras und fixierte ihn. Ein flaches Gesicht ohne jeglichen Ausdruck mit dunklen, böse funkelnden Augen blitzte ihn gefährlich an. Ihr Blick ließ nicht eine Sekunde von Ando ab. Panische Angst ergriff ihn. O Gott, vielleicht war es die Mutter der kleinen Schlange, die er auf dem Gewissen hatte! In diesem Fall würde ihm Unheil drohen, davon war Ando überzeugt. Vielleicht würde ihn die Schlange mit einem Fluch belegen, so intensiv war ihr Blick. Worte seiner Großmutter schossen ihm durch den Kopf: Wenn du eine Schlange tötest, wirst du dafür bestraft. Ando bereute seine Tat zutiefst und rechtfertigte sich mit der Entschuldigung, dass es keine Absicht gewesen sei. Kaum zu glauben, dass dieses Ereignis zwanzig Jahre her war, erschien es ihm doch wie ein Spuk von gestern. Dass Schlangen einen Menschen verfluchen konnten, war sicher nur Aberglaube. Doch irgendetwas warnte ihn: Ando, gib Acht! Er beschloss, nicht weiter darüber nachzusinnen, sondern an etwas Schönes zu denken. Doch vor seinem inneren Auge zogen wieder und wieder die Bilder von der jungen, toten Schlange vorüber, die mit dem weißen Bauch nach oben stromabwärts getrieben wurde. Die trauernde Mutter holte ihr Kind ein, umschlang es, und die beiden glitten wie zwei ineinander verwobene Fäden den Fluss hinunter. Der Fluch der Schlange ...er hat mich heimgesucht.
Wider alle Vernunft verstärkte sich in Ando das Gefühl, dass sein persönliches Unglück mit diesem Ereignis zusammenhing. Erneut sah er die Szene vor sich. Die beiden ineinander verschlungenen Rep‐ tilien glichen der DNA im Zellkern, die die Erbinformation über meh‐ rere Generationen weitergab ... Vor diesen zwei in sich verwobenen Schlangen konnte man nicht fliehen. Auch Ando hatte seine DNA auf seinen Sohn übertragen. Takanori... Die Stimme, die seinen Sohn rief, klang niedergeschlagen. Reiß dich zusammen, Ando, mahnte er sich. Er musste vermeiden, in ein noch tieferes Loch zu fallen. Mach endlich Schluss mit diesen Gedanken! Er blickte nach draußen. Ein roter Zug kroch langsam wie eine kriechende Schlange über die Gleise heran. Jetzt hatte er schon wieder an dieses Ereignis gedacht ... Es war nicht zu fassen; seine Gedanken kreisten unaufhörlich um diese Begebenheit. Er schloss die Augen und versuchte, an ein erfreulicheres Thema zu denken. Sie waren ans Meer gefahren. Während Ando gedankenverloren am Strand stand, überspülte ihn plötzlich eine große Welle und riss ihn in die Tiefe ... Eine kleine tastende Hand griff nach seinem Fußgelenk ... Wieder hatte ihn die Vergangenheit eingeholt. Sein Schicksal war ganz offensichtlich von dem Fluch der Schlange bestimmt worden. Genau wie sie hatte er sein Kind verloren. Tränen schossen ihm in die Augen, und er weinte lautlos. Nach zwanzig Jahren hatte sich die Schlange gerächt... Obwohl sein Sohn so nahe gewesen war, hatte er den kleinen Körper nicht ergreifen und aus dem Wasser ziehen können ... Das alles hatte sich im Juni ereignet, vor Beginn der Badesaison. Der Strand war wie leergefegt. Sein Sohn und er paddelten auf einer Luftmatratze aufs offene Meer hinaus. Von weitem vernahm Ando die besorgte Stimme seiner Frau: Taka‐chan, komm zurück.
Doch Takanori hörte nicht auf seine Mutter. Es machte ihm viel zu viel Spaß, auf der Luftmatratze über die Wellen zu reiten. Kommt auf der Stelle zurück!, schrie Andos Frau mit einem leichten Anflug von Hysterie. Da die Wellen sich inzwischen ziemlich hoch auftürmten, war auch Ando klar, dass sie schnellstens zurückpaddeln mussten. Während er versuchte, die Luftmatratze zu wenden, bäumte sich eine Riesenwelle vor ihnen auf, erfasste die Matratze und wirbelte sie herum. Vater und Sohn wurden ins Wasser gerissen. Erst jetzt begriff Ando, wie weit sie vom rettenden Ufer entfernt waren. Selbst ein Erwachsener konnte an dieser Stelle nicht mehr stehen. Ando packte die nackte Angst. Verzweifelt suchte er nach seinem Sohn, aber von Takanori war nichts zu sehen. Aus dem Augenwinkel sah Ando seine Frau in voller Bekleidung ins Wasser laufen. Gleichzeitig spürte er, wie eine kleine Hand nach seinem Fuß tastete. Bei dem Versuch, sein Kind aus dem Wasser zu ziehen, hatte Ando sich offenbar zu schnell bewegt. Die kleine Hand glitt von seinem Fuß ab und verschwand im dunklen Wasser. Ando machte sich furchtbare Vorwürfe. Hätte er sich doch bloß nicht so ruckartig bewegt! So konnte er nur noch das Haar seines Sohnes mit der linken Hand berühren. Die kreischende Stimme seiner Frau hallte über das weite Meer. Sein Kind war so nah ... doch Ando gelang es nicht, es mit der Hand zu ergreifen. Von Panik getrieben, tauchte er, versuchte, seinen Sohn zu retten, aber der kleine Körper sank immer tiefer. Er würde sein Kind nie wiedersehen. Takanori war für immer im Meer begraben. Nur ein paar Haare, die sich an Andos Ehering verfangen hatten, waren ihm von seinem kleinen Liebling geblieben. Die Schranken öffneten sich. Noch immer liefen Ando Tränen über die Wangen. Der Taxifahrer schien es bemerkt zu haben, denn er blickte ab und zu in den Rückspiegel und beobachtete ihn. Reiß dich zusammen, Ando!
Würde er allein in seinem Bett weinen, wäre es ja in Ordnung. Aber mitten am Tag in einem Taxi war es ihm peinlich. Ando versuchte erneut, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Dabei fiel ihm das hübsche und glückliche Gesicht Mai Takanos ein, während sie gierig das Fruchtparfait verschlang. Unter ihrem zauberhaften Kleid trug sie eine weiße Bluse, die linke Hand lag auf ihrem schön geformten Oberschenkel. Nachdem sie sich den Mund sorgfältig abgewischt hatte, erhob sie sich ... Erst die Erinnerung an Mai löschte die furchtbaren Szenen der Ver‐ gangenheit fürs Erste aus Andos Gehirn. Seit er seinen Sohn verloren und sich von seiner Frau getrennt hatte, waren keinerlei romantische oder sexuelle Gefühle mehr in ihm aufgekeimt. Sicherlich lag das daran, dass er mit seinem Leben irgendwie abgeschlossen hatte. Endlich überquerte das Taxi den Bahnübergang. Gleichzeitig sah Ando den unbekleideten, feuchten Körper Mais vor sich, der sich, von einem Keuchen begleitet, rhythmisch auf‐ und abbewegte.
Mit der Odakyu‐Linie fuhr Mai bis zur U‐Bahn‐Station Sagami‐ Ono. Hastig lief sie die Treppen hinauf ins Freie. Aber kaum war sie an der Oberfläche angekommen, blieb sie unvermittelt stehen. Ratlos schaute sie sich um. Erst vor vierzehn Tagen hatte sie Ryujis Eltern‐ haus zur Totenwache aufgesucht, doch jetzt konnte sie sich nicht mehr an den Weg erinnern. Ihr Orientierungssinn ließ sie, wie schon so oft in ihrem Leben, im Stich. Inzwischen hatte Mai sich daran ge‐ wöhnt, ihre Ziele nicht auf Anhieb zu finden. Mindestens einmal ver‐ lief sie sich immer. Trotzdem ärgerte sie sich über ihre Unfähigkeit, sich zu orientieren. Zwar konnte sie dieses Mal zu ihrer Verteidigung vorbringen, dass es ein gewaltiger Unterschied war, ob man mit dem Auto oder zu Fuß unterwegs war, aber was nützte ihr das? Damals hatte sie der Leichenwagen mitgenommen. Heute war sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen und musste noch ein Stück zu Fuß gehen. Die Perspektive war eben eine völlig andere. Mai beschloss, auf gut Glück loszulaufen. Der erhoffte Lichtblick kam nicht. Zwar hätte ein Anruf genügt, und Ryujis Mutter wäre gekommen, um sie abholen, aber Mai wollte ihr keine Umstände bereiten. Also entschied sie sich, noch ein Stück weiter nach Gefühl zu laufen. Sie gab die Hoffnung nicht auf, dass sie sich unterwegs vielleicht doch an etwas erinnern würde. Schließlich war es von der U‐Bahn‐Station bis zu Ryujis Elternhaus nur ein Katzensprung, zehn Gehminuten, mehr auf keinen Fall. Während sie die Straße entlanglief, dachte sie plötzlich an Ando. Sie waren für diesen Freitag zum Essen verabredet. Mittlerweile bereute sie es, sich auf dieses Treffen eingelassen zu haben. Von der Hoff‐ nung geleitet, dass die Freundschaft zu Ando ihr über den schmerz‐ lichen Verlust von Ryuji hinweghalf und ihr Zugang zu Ryujis kom‐ plizierter Gedankenwelt verschaffte, hatte sie eingewilligt. Schließlich
waren Ryuji und Ando in jungen Jahren befreundet gewesen. Wie gern würde sie Andos Worten lauschen, wenn er Episoden aus der gemeinsamen Studienzeit erzählte. Doch nun beschlichen sie Zweifel. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sich die Finger verbrannt zu haben. Sie hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, welche Gefühle Ando ihr gegenüber hegen könnte. Wie stand er zu ihr? Mai befürchtete, dass er vielleicht nur an ihr als Frau — also am Sex — ein tiefer gehendes Interesse hatte ... Eine glückliche Beziehung baute zweifellos auf Vertrauen, Liebe und gegenseitigem Verständnis auf. Aber das allein reichte Mai bei weitem nicht aus. Ein Mann musste sie intellektuell inspirieren: Das war der für sie alles entscheidende Knackpunkt in einer Beziehung. Nur dann flammte auch ihre Leidenschaft auf. Doch Männer ›tickten‹ anders. Ihr Interesse beschränkte sich in der Regel auf die untere Körperhälfte einer Frau, alles andere — wie Esprit und Intellekt — schien ihnen gleichgültig zu sein. Geriet die Beziehung ernsthaft in Gefahr, winselten sie kleinlaut. Mai hatte die Nase voll von all den Eintagsfliegen, die völlig aus der Fassung gerieten, wenn man ihnen den Laufpass gab. Die seitenlangen Briefe mit Entschuldigungen, das Es‐tut‐mir‐Leid‐Gefasel am Telefon — Mai hatte es satt. Die Männer begriffen nicht, dass sie das Problem dadurch nur vergrößerten. Ihre Entschuldigungen konnten sie sich sparen. Für Mai war dieses Verhalten ein Ausdruck von Schwäche. Sie hätte sich stattdessen gewünscht, dass ein Mann die Trennung von ihr als wertvolle Erfahrung begriff, sein pubertäres Verhalten ablegte und endlich erwachsen wurde. In einem solchen Fall wäre sie sogar zu einem Neuanfang bereit gewesen. Aber auf einen Mann, der mental nicht über das Niveau eines Kindes hinausreichte, konnte sie gut ver‐ zichten. Sie wünschte sich eine psychisch reife Person als Partner. Doch es war nicht einfach, einen solchen Menschen zu finden. Nur von einem Mann war Mai bislang wirklich fasziniert gewesen: Ryuji Takayama. Mit ihm hatte sie bis spät in die Nacht hinein diskutieren
können. Die vielen geistig anregenden Gespräche waren ihr noch gut in Erinnerung. Ryuji hatte sie inspiriert. Würde sich ihre Beziehung zu Ando ähnlich entwickeln, spräche aus ihrer Sicht nichts dagegen, wenn sie sich ab und zu träfen. Aber sie stand dem Ganzen skeptisch gegenüber. Die Wahrscheinlichkeit, einem selbstständigen, psychisch starken Mann zu begegnen, war ihrer Erfahrung nach fast null. Und Ando schien dem Klischee der nur auf Sexualität fixierten Schwäch‐ linge genau zu entsprechen. Abgeneigt war sie dennoch nicht. Das hatte auch einen triftigen Grund. Ando war immerhin ein guter Freund von Ryuji gewesen. So war ihr sein Name bereits vor ihrer ersten Begegnung in der Gerichtsmedizin ein Begriff gewesen. Ryuji hatte ihn in seinen Erzählungen oft erwähnt; das erste Mal war der Name gefallen, als sie sich über Genetik unterhalten hatten. Mai erinnerte sich noch ziemlich gut an diesen Tag. Ryuji hatte ihr den Unterschied zwischen einem Gen und der DNA erklärt. Bis dato war sie der Auffassung gewesen, dass es sich dabei um dasselbe handelte. Aber er hatte sie eines Besseren belehrt. Bei der DNA handelt es sich um eine komplexe chemische Struktur; sie ist Träger der gesamten genetischen Information. Gene dagegen bezeichnen Abschnitte auf der DNA, die jeweils nur einen Teil der Erbinformation enthalten, das heißt für eine bestimmte Eigenschaft oder ein Merkmal stehen — so hatte Ryuji ihr den Unterschied mit einfachen Worten klar gemacht. Damals hatte sie auch das erste Mal von der DNA‐Sequenzierung gehört, einer Methode, mit der die Erbinformationen in einzelne Stücke zerlegt wurden. Das erinnert mich an ein Puzzle, war es aus ihr herausgeplatzt. Ja, es ähnelt einem Puzzle, aber auch dem Entziffern eines Kodes, hatte Ryuji gesagt. Während meiner Uni‐Zeit war Kode‐Raten in. Zwischen den Vorlesungen haben wir damit immer die Zeit totgeschlagen ... Es war eine Clique von ungefähr zehn Leuten gewesen; die meisten kamen aus dem Fachbereich Molekularbiologie. Die Spielregeln waren einfach. Eine Person musste sich eine Zahlenkombination aus‐
denken, und die anderen Teilnehmer hatten sie zu entschlüsseln. Derjenige, der innerhalb der gesetzten Frist am schnellsten zu einem Ergebnis kam, gewann. Es war ein Spiel, bei dem vor allem mathe‐ matisches Wissen und logisches Denkvermögen auf den Prüfstand gestellt wurden. Intuition war ebenfalls wichtig. Viele der Medizin‐ studenten hatten an diesem Wettbewerb allerdings weniger aus Spaß an der Sache teilgenommen, sondern um mit ihrer Intelligenz zu protzen. Der Schwierigkeitsgrad eines Kodes hing vom Wissen der Person ab, die gerade an der Reihe war. Ryuji war phänomenal gut in diesem Spiel gewesen; nahezu unschlagbar. Selbst wenn ihn jemand mit einer extrem schwierigen Zahlenkombination konfrontiert hatte, war ihm die Entschlüsselung stets mit Leichtigkeit gelungen. Für die anderen Teilnehmer hingegen war es fast unmöglich gewesen, Ryujis Kodes erfolgreich zu entschlüsseln. Nur einer hatte es einmal geschafft: Ando. Als hätte Ando meine Gedanken gelesen, hatte Ryuji Mai erzählt. In diesem Zusammenhang hatte Mai das erste Mail den Namen Ando gehört. Ihre Überraschung war groß gewesen, als er plötzlich in der Gerichtsmedizin vor ihr gestanden hatte. Vom ersten Augen‐ blick hatte sie ihm vollkommen vertraut. Immerhin war er derjenige, der einen von Ryujis Kodes entschlüsselt hatte. Er wird auch Ryujis Tod aufklären ... Ernüchtert konstatierte Mai nun, dass sie sich zu sehr von den Worten eines Toten hatte leiten lassen. Sie bereute ihre Dummheit und Naivität. Hätte Ryuji den Namen ›Ando‹ doch nie in ihrer Gegenwart erwähnt, dann säße sie jetzt nicht in der Patsche ... Sie hätte ihn nicht angerufen, und erst recht wäre sie nicht mit ihm zum Essen verabredet. Mai bog in eine kleine, verschlungene Gasse ein. Erleichtert ent‐ deckte sie zwischen den Häusern ein bekanntes Ladenschild. Ab hier war es nicht mehr weit; da sie jetzt den Weg kannte, ging sie etwas
zügiger. Das architektonisch unspektakuläre Haus der Takayamas stand auf einem etwa dreihundert Quadratmeter großen Grundstück. Mai klingelte. Ryujis Mutter steckte den Kopf aus der Tür. Ihr Gesichts‐ ausdruck verriet, dass sie schon auf Mai gewartete hatte. Sie führte sie in Ryujis altes Zimmer, in dem er bis zum Ende seines Grund‐ studiums gewohnt hatte. Danach war er in ein kleines Apartment in Uni‐Nähe gezogen. Ryujis Mutter brachte Kaffee und Kuchen. Daraufhin verschwand sie. Mai spürte einen Stich im Herzen, als sie die gekrümmte Gestalt weggehen sah. Tiefes Mitgefühl erfasste sie. Nur zu gut konnte sie nachempfinden, welche Qualen Ryujis Mutter im Moment durch‐ lebte. Ihre eigenen Gefühle waren nicht viel anders. Auch sie ging durch das Tal der Tränen. Mai ließ den Blick durch das Zimmer mit den acht Tatami‐Matten streifen. Es war im japanischen Stil gehalten. Nur in einer Ecke lag ein kleiner Teppich, auf dem ein Schreibtisch stand. Die Wände waren mit Bücherregalen voll gestellt. Unzählige Kartons, Elektronikgeräte und sonstiger Kram stapelten sich davor. Mai grauste es bei dem Gedanken, all die Sachen durchwühlen zu müssen. Deprimiert zählte sie die Kartons. Es waren vierundzwanzig. In ihnen waren Ryujis Habseligkeiten aus seinem Apartment in Higashi Nakano verstaut, hauptsächlich Bücher und Aufsatzordner. Seufzend ließ sie sich auf den Boden sinken. Sie trank einen Schluck Kaffee. Ich sollte mir ernsthaft Gedanken darüber machen, was ist, wenn ich den Artikel nicht finde ... Der Anblick der vielen Kisten hatte ihr den Mut genommen. Wie sollte sie die paar Seiten unter all den Sachen aufstöbern? Das war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Und wer sagte, dass sich der Artikel überhaupt in einem der Kartons befand? Hoffentlich sind nicht alle Bemühungen umsonst. Am liebsten wäre sie gleich wieder heimgegangen, ohne mit der Suche zu begin‐ nen, aber nun war sie hier, und da blieb nur eines: Augen zu und
durch. Vielleicht wurde sie ja fündig. Mai krempelte sich die Ärmel hoch und öffnete einen Karton. Er war bis an den Rand mit Büchern gefüllt. Gedankenverloren nahm sie eines nach dem anderen heraus. Plötzlich hielt sie inne. Tränen schossen ihr in die Augen. Dieses Buch hatte sie Ryuji geschenkt. Erinnerungen an die gemeinsam erlebte Zeit stiegen in ihr auf. Das ist nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um sentimental zu werden! Mai unterdrückte die Tränen und kramte weiter in den Sachen herum. Hier war nichts. In welchem der verdammten Kartons könnte der Artikel stecken? Komm, denk nach. Entweder ist er in den Literaturunterlagen oder in einem der Aufsatzordner. Mai öffnete einen Karton nach dem anderen. Schweißperlen liefen ihr die Wirbelsäule hinunter. Verzweifelt suchte sie weiter, allerdings ohne Erfolg. Es war doch viel schwie‐ riger, den handgeschrieben Artikel unter all den Sachen aufzustö‐ bern, als sie zunächst geglaubt hatte. Erneut hielt sie für einen kurzen Augenblick inne und dachte nach. Vielleicht sollte ich den fehlenden Teil selbst schreiben. Das wäre wesentlich effizienter, als stundenlang in den Sachen zu wühlen und am Ende doch nichts zu finden. Das ist reine Zeitverschwendung. Ryuji hatte kurz vor seinem Tod an einem Aufsatz gearbeitet, der als letzter Teil seiner Artikelserie im Dezember ver‐ öffentlicht werden sollte. Es war eine Abhandlung über die Theorie der Logik. Zwar klang das wissenschaftlich anspruchsvoll, aber der Text war weniger an ein Fachpublikum, sondern in erster Linie an den nicht‐wissenschaftlichen Leser gerichtet. Es ging um die Beziehungen von Logik, Chemie und Gesellschaft. Mai war von Beginn an in die Sache involviert gewesen. Sie hatte Ryujis handgeschriebene Artikel abgetippt und den Gesprächen mit dem Chefredakteur der Zeitschrift beigewohnt. Daher hatte sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie man einen Aufsatz schrieb. Eine,
zwei Seiten zu ergänzen, das dürfte nun wirklich kein Riesenakt sein. Wenn ich nur wüsste, wie viel fehlt. Ryujis Abhandlungen variierten jeden Monat in der Länge. Manchmal hatten sie fünfunddreißig, manchmal vierzig oder noch mehr Seiten. Mai hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lang Ryujis Ergüsse dieses Mal waren. Als sie den Aufsatz für die Monatszeitschrift am Abend der Totenwache in Ryujis Apartment ge‐ funden hatte, war sie davon ausgegangen, dass er bereits fertig war. Alles hatte daraufhingedeutet: Die Seiten waren durchnummeriert, es gab eine Einleitung und einen abschließenden Ausblick ... Hätte ich ihn doch bloß nicht bis zum letzten Moment liegen gelassen. Dann säße ich jetzt nicht in der Tinte. Mai machte sich Vorwürfe, dass sie sich erst in letzter Minute, als der Abgabetermin unmittelbar bevorstand, an die Abschrift gesetzt hatte. Aber wie hätte sie das auch noch auf die Reihe bekommen sollen? Schließlich war sie mit sich selbst genug beschäftigt. Ryujis Tod hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen. Der Schock hätte kaum größer sein können, als sie beim Lesen plötzlich die Entdeckung gemacht hatte, dass zwischen der vorletzten und letzten Seite ein Teil fehlte. Die unteren zwei Zeilen auf Seite 37 waren durchgestrichen und mit einem Kreuzchen versehen. Der Satz hörte mittendrin mit ›aber‹ auf. Dann folgte das Schlusswort. Wenn die mit einem Kreuzchen versehenen neuen Sätze irgendwo gestanden hätten, wäre es kein Problem gewesen, nur konnte sie leider keinen Vermerk finden. Folglich war Mai davon ausgegangen, dass Ryuji die Korrekturen auf ein extra Blatt geschrieben hatte. Die zwölfteilige Artikelserie mit ihren insgesamt über fünfhundert Seiten sollte als Buch publiziert werden. Dies war der letzte und be‐ deutendste Aufsatz. Mai wurde ganz heiß bei dem Gedanken. Bekümmert starrte sie auf die Kartons und dachte: Wie konntest du einfach so sterben? Komm sofort her und zeig mir, wo du die fehlenden Seiten versteckt hast! Sie nippte an ihrem kalt gewordenen Kaffee. Sie steckte gehörig in der Klemme. Sollten die Seiten mit den Ergänzungen nicht auftau‐
chen, musste sie, ob sie nun wollte oder nicht, selbst ein paar Zeilen formulieren. Doch so einfach war das nun auch wieder nicht. Was, wenn sie etwas schrieb, das von Ryujis Gedankengängen gänzlich abwich? Mai fühlte sich unbehaglich. Gewissenbisse plagten sie. Wie kann ich nur daran denken, die Worte eines herausragenden Forschers zu fälschen ... Ich, eine kleine Studentin von gerade mal zwanzig Jahren ... Nein, das kann ich nicht machen. Ich sollte nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden. Sie öffnete den nächsten Karton. Inzwischen war es kurz nach vier. Im Zimmer war es bereits dämmerig. Mai knipste das Licht an und zog die Vorhänge zu. Irgendwie fühlte sie sich schon die ganze Zeit von draußen beobachtet. Obwohl sie bereits über die Hälfte der Kartons durchforstet hatte, hatte sie noch immer keine Spur von dem Manuskript gefunden. Aus heiterem Himmel begann plötzlich ihr Herz zu rasen. Mai beschloss, eine kleine Pause einzulegen, bis sich ihr Herzschlag wieder normalisiert hatte. Doch auch nach ein paar Minuten Ruhe blieb ihr Zustand unverändert. Noch nie in ihrem Leben hatte ihr Herz so stark gepocht. Mai legte die Hand auf die linke Brustseite und überlegte, woran das liegen könnte. Das ist bestimmt mein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht um Ryujis Artikel gekümmert habe ... Nein, Schwachsinn! Das kann es nicht sein. Sie spürte eine starke Beklemmung. Irgendetwas Geheimnisvolles verbarg sich in diesem Zimmer. Sie konnte es fühlen. Es lag ein Knistern, ja eine ungeheure Spannung in der Luft, als würde jeden Moment eine schwarze Katze mit funkelnden grünen Augen hinter einem Karton hervorspringen. Eine teuflische Kälte stieg um Mais Nacken herum auf. Sie spürte bohrende Blicke im Rücken. Irgendein Etwas lauerte hinter ihr. Sie wirbelte herum. Das Etwas war ein pinkfarbener Pullover, der ihr gehörte. Sie musste ihn auf den Karton gelegt haben, als sie gekom‐ men war. Dennoch ließ ihr der Anblick einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Zwei dunkle, böse funkelnde Augen schienen sie
durch die Maschen des Pullovers zu fixieren. Vorsichtig zog sie den Pullover weg. Nur ein schwarzer Videorekorder... Mai atmete erleichtert auf. Auf dem Rekorder lag ein zusammengerolltes Kabel. Zweifellos waren diese Sachen aus Ryujis Apartment in Higashi Nakano. Ängstlich streckte Mai die Hand aus und berührte den Rekorder. Er bewegte sich leicht. Irgendwie unheimlich! Ich kann mich gar nicht daran erinnern, meinen Pullover auf das Gerät gelegt zu haben. Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht. Wer sonst hätte den Pullover dorthin legen sollen? Mai beschlich ein seltsames Gefühl. Mit jeder Minute wurde ihr unbehaglicher zumute. Noch immer starrte sie auf den Videorekorder. Den Artikel hatte sie völlig vergessen. In Gedanken hörte sie Asakawas Worte: Hat Ryuji mit Ihnen über das Video gesprochen, bevor er starb? Mai nahm das Kabel und suchte eine Buchse. Unter dem Tisch fand sie schließlich eine Mehrfachsteckdose. Sie stöpselte den Stecker ein. Das rote Lämpchen leuchtete auf. Das Blinken erinnerte sie an den Herzschlag eines ins Leben zurückgekehrten Menschen. Soll ich, oder soll ich nicht? Ihre innere Stimme riet ihr: Lass die Finger davon! Doch da war es schon zu spät. Sie hatte bereits auf die Eject‐Taste gedrückt. Aus dem Rekorder sprang eine Kassette, auf deren Etikett stand: Liza Minelli, Frank Sinatra, Sammy Davis Jr., 1989. Der Anblick des Videorekorders erinnerte sie an ein großes, dunk‐ les Maul, aus dem eine Riesenzunge heraushing. Mai griff nach der schwarzen Zunge und riss sie heraus.
Kurz vor dem Shinagawa‐Saisei‐Krankenhaus überholte das Taxi einen Krankenwagen. Plötzlich heulten die Sirenen auf. Der Taxi‐
fahrer fuhr an die Seite und quetschte sich in eine enge Parknische, um den Rettungswagen passieren zu lassen. Zu Fuß bin ich bestimmt schneller, dachte Ando. Er zückte seine Brieftasche, zahlte und verließ das Taxi. Schon nach wenigen Minuten ragte das zehnstöckige Klinikum vor ihm auf. Ando bog von der Einkaufsstraße ab und lief auf den Haupt‐ eingang des Krankenhauses zu. Just in dem Moment bog auch der Krankenwagen ein und parkte zwischen altem und neuem Gebäude. Das Blaulicht reflektierte sich an den weißen Wänden des Kranken‐ hauses, die Sirene war bereits abgestellt. Vom hellen Himmel senkte sich eine undurchdringliche, spannungsgeladene Stille herab. Man hatte den Eindruck, als würde der Krankenwagen im Rampenlicht stehen. Das Blaulicht drehte sich allmählich langsamer. Jeden Moment würde die Tür aufspringen, und zwei Notärzte würden hektisch die Krankentrage herausrollen. Aber nichts passierte. Ando blieb stehen und beobachtete das Geschehen. Es vergingen zehn Sekunden, zwanzig, die Tür blieb geschlossen. Immer noch herrschte Stille, ja eine geradezu bedrohliche Ruhe. Dreißig Sekunden ... Die Luft um Ando herum schien zu gefrieren. Erstaunlicherweise lief auch niemand aus dem Krankenhaus herbei. Ando kam wieder zu sich und ging weiter. Plötzlich sprang die Tür des Krankenwagens auf, und ein Helfer stieg aus. Der andere blieb im Wagen. Vorsichtig rollten sie das mobile Bett nach draußen. Sicherlich gab es einen triftigen Grund, dass der Notfallpatient nicht gleich auf die Station gebracht worden war, dachte Ando. Dennoch, es war ungewöhnlich viel Zeit verstrichen. Das Bett senkte sich leicht zur Seite, und deshalb schaute der Kranke genau in Andos Richtung. Mund und Nase waren von einer Beatmungsmaske bedeckt. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Der Mann versuchte, sich auf die Seite zu rollen, doch plötzlich verharrte er. Regungslos blickte er zu Ando. In seinen Augen war kein Leben mehr. Der Mann war soeben gestorben. Im Beruf hatte
Ando es schon oft erlebt, dass ein Mensch vor seinen Augen starb, aber noch nie, wenn er privat unterwegs war. Das bedeutet nichts Gutes, dachte er. Sorgen befielen ihn. Aus Angst, dass dies ein Vorbote eines schrecklichen Unheils sein könnte, wandte er rasch den Blick von der Leiche ab. Im Grunde genommen unterschied er sich gar nicht so sehr von Miyashita, der abergläubisch war und an Wahr‐ sagerei glaubte. Auch er interpretierte neuerdings in jede Kleinigkeit eine tiefere Bedeutung hinein. Erst hatte ihn die Schlange auf dem Grashügel beunruhigt, jetzt flößte ihm der Tod eines Menschen Furcht ein. Früher hatte er sich immer über die Leute lustig gemacht, die an Unheil verheißende Omen oder Wahrsagerei glaubten und ihr Leben nach den Sternen richteten. Doch nun musste er die ernüch‐ ternde Entdeckung machen, dass er einer von ihnen war. Das Shinagawa‐Saisei‐Krankenhaus war ein Universitätsklinikum. Den Kontakt zu Asakawas behandelndem Arzt, Dr. Wada, hatte Ku‐ rahashi eingefädelt. Sie waren alte Studienkollegen. Dr. Wada führte Ando zu Asakawas Zimmer, das im Westgebäude im sechsten Stock lag. Ando erschrak beim Anblick Asakawas. Seine Augen hatten denselben leblosen Ausdruck wie die des vor wenigen Minuten verstorbenen Mannes — es waren die Augen eines Toten. Regungslos lag Asakawa im Bett und starrte geistesabwesend an die Decke. Da er nicht in der Lage war, sich selbst zu ernähren oder Medikamente einzunehmen, hing er an zwei Tropfen. Zwar hatte Ando keine Vorstellung, wie Asakawa früher einmal ausgesehen hatte, aber sein Anblick erschütterte ihn zutiefst. Asakawa war ein menschliches Wrack. Seine Wangen waren eingefallen und der Bart struppig, gleichsam grau durchwachsen. Ando stellte sich an das Krankenbett und sagte mit ruhiger Stimme: »Herr Asakawa...« Asakawa antwortete nicht. Fragend blickte Ando zu Dr. Wada, der
ihm zunickte. Sanft berührte Ando Asakawa an der Schulter. Unter seinen Fingern spürte er nur Haut und Knochen. Ando nahm Asakawas Hand und hob sie leicht an. Doch auch jetzt zeigte der Kranke keine Regung. »Ist Asakawa ununterbrochen in diesem Zustand, oder geht es ihm manchmal auch besser?« Ando trat ein paar Schritte vom Kranken‐ bett weg. »Nein, sein Zustand ist immer so«, entgegnete Wada. Seit Asakawa eingeliefert worden war, hatte er offenbar weder gesprochen, noch geweint oder gelacht. Er aß nicht und ging auch nicht allein zur Toilette. »Was, denken Sie, ist der Grund für dieses Verhalten?«, fragte Ando den Arzt höflich. »Zuerst gingen wir davon aus, dass es bei dem Unfall zu inneren Verletzungen des Gehirns gekommen war. Die Untersuchungen haben diese Vermutung allerdings nicht bestätigt. Wir haben keinerlei Gehirnblutungen feststellen können. Inzwischen denken wir, dass sein Zustand rein psychologisch bedingt ist.« »Sie meinen eine Art Schock ...« »Ja, wahrscheinlich.« Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, dass der plötzliche Tod seiner Frau und Tochter Asakawas psychischen Zusammenbruch ausgelöst hatte. Doch Ando zweifelte daran, dass sich Asakawas bedenklicher Zustand allein auf den Verlust seiner Familie zurück‐ führen ließ. Seine Vermutung beruhte auf den Fotos vom Unfallort und dem schwarzen Videorekorder. Warum hatte Asakawa ein Videogerät bei sich gehabt, und wo hatte er damit hingewollt? Wenn er Ando doch nur diese eine Frage beantworten würde! Ando zog einen Stuhl an das Krankenbett und setzte sich. Nachdenklich blickte er auf das knochige, fahle Gesicht Asakawas. Er schien in einer Fantasiewelt zu leben, schöner und bunter als die
reale. Vermutlich war er dort bei seiner Frau und Tochter, hielt sie glücklich in den Armen. »Herr Asakawa ...«, sagte Ando sanft. Aber auch dieses Mal blieb eine Antwort aus. Tiefes Mitgefühl erfasste Ando. Asakawa musste zwei Jahre jünger sein als er, denn er war mit Ryuji zusammen aufs Gymnasium gegangen. Doch Ando hatte den Eindruck, als läge ein alter Mann von über sechzig Jahren vor ihm. Was hatte ihn nur so verändert? Natürlich wusste er, dass Trauer und Kummer den Alterungsprozess erheblich beschleunigen konn‐ ten. Er selbst hatte im letzten Jahr ziemlich abgebaut. War er noch vor zwei Jahren stets jünger geschätzt worden, als er tatsächlich war, so verhielt es sich heute genau anders herum: Man hielt ihn für älter. »Herr Asakawa, können Sie mich hören?« »Ich denke, es hat keinen Sinn. Sie können ihn noch so oft an‐ sprechen, er wird nicht antworten«, sagte Dr. Wada. Ando sah ein, dass es vergeblich war. »Meinen Sie, sein Zustand könnte sich in nächster Zeit bessern?« Wada zuckte ratlos mit den Achseln. »Das weiß nur Gott.« Bei Patienten wie Asakawa konnte sich der Zustand von einer Stunde auf die andere schlagartig verändern, ohne jegliches Anzeichen im Vorfeld. Voraussagen ließen sich nicht machen. »Bitte informieren Sie mich, wenn sich irgendetwas tut.« »Ja, gern.« Da Ando einsah, dass es nichts brachte, in diesem Zimmer herum‐ zusitzen und der Dinge zu harren, verließ er gemeinsam mit Dr. Wada das Krankenzimmer. Bevor sie die Tür hinter sich schlossen, blickte er noch ein letztes Mal auf Asakawas ausgemergeltes, von Kummer gezeichnetes Gesicht, doch nichts hatte sich verändert. Noch immer lag er regungslos da und starrte mit den Augen eines Toten geistesabwesend an die Decke.
Mai klappte die Sessellehne zurück und starrte an die Decke. Das war ein typisches Verhalten, wenn sie in eine Sackgasse geraten war. Langsam ließ sie den Kopf nach hinten sinken und schloss die Augen. Ihr nasses schwarzes Haar berührte den Boden. Mais Apartment war kaum größer als sechzehn Quadratmeter. An den Wänden ragten Bücherregale bis zur Decke hoch. Die Mitte des Raumes füllte ein kleiner, flacher Tisch. Das waren auch schon so ziemlich alle Einrichtungsgegenstände, die sie besaß. Da für ein Bett nicht ausreichend Platz gewesen war, schlief Mai auf einem Futon, den sie abends ausrollte und am Tag in einer Ecke verstaute. Mit den paar Yen, die sie von ihren Eltern monatlich bekam, und dem Geld, das sie als Nachhilfelehrerin verdiente, konnte sie sich kein größeres Apartment in Uni‐Nähe leisten. Allein die Miete vertilgte die Hälfte ihres monatlichen Einkommens. An den Stadtrand wollte sie aber auch nicht ziehen, nur um etwas großzügiger leben zu können. Sie war eigentlich sehr zufrieden mit ihrer momentanen Wohnsituation. In ihren Augen wies die Enge des Apartments den Riesenvorteil auf, dass man an alles bequem herankam, ohne aufstehen zu müssen, wie den Fernseher oder das Radio. Mit geschlossenen Augen bediente sie den CD‐Player. Ihr Lieblings‐ song drang aus der HiFi‐Anlage. Im Rhythmus der Musik trommelte sie mit den Händen auf ihre muskulösen Oberschenkel, die sie ihren sportlichen Aktivitäten während der Schulzeit zu verdanken hatte. Sie war Hundertmeterläuferin gewesen. Im Takt der Musik ein‐ und ausatmend, betete sie zu Gott, dass ihr ein Gedankenblitz kommen möge. Allmählich machte sie sich ernsthaft Sorgen. Der Abgabe‐ termin rückte immer näher. Was, wenn ihr nichts einfiel? Ihr Magen krampfte sich zusammen.
Morgen Nachmittag musste Ryujis Artikel bei Herrn Kimura, dem Chefredakteur des S‐Shogo Verlags, auf dem Tisch liegen. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Zu allem Übel fehlte ihr noch immer die zündende Idee. Dieses Mal steckte sie verdammt tief in der Klemme. Verzweifelt hatte sie am Nachmittag sämtliche Kartons in Ryujis Zimmer nach den verflixten Seiten durchwühlt, doch vergeblich. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass Ryuji den Artikel möglicher‐ weise gar nicht zu Ende geschrieben hatte. Vielleicht hatte er ja vor‐ gehabt, den Rest später zu schreiben, und bevor er dazu gekommen war, hatte ihn der Tod geholt. Grübelnd saß Mai vor dem leeren Blatt Papier. Nicht eine Zeile hatte sie in der letzten Stunde zustande gebracht. Wie sollte sie diese Aufgabe nur bewerkstelligen? Vielleicht half ja ein heißes Bad, um die grauen Zellen ein wenig auf Trab zu bringen. Doch der erhoffte Geistesblitz kam nicht. Ein leichter Anflug von Panik machte sich in ihr breit. Sie ärgerte sich über sich selbst. Warum stehe ich heute nur dermaßen auf der Leitung? Es kann doch nicht so schwierig sein, ein paar Worte aufs Papier zu bringen. Entschlossen nahm sie den Stift wieder in die Hand und schrieb eine Zeile auf das weiße Blatt. Was schreibe ich da eigentlich für einen Mist? Schon hatte sie den gerade formulierten Satz wieder durchgestrichen. Erneut klierte sie etwas aufs Papier, aber auch diese Worte fielen dem Radiergummi zum Opfer. Plötzlich hatte sie eine Eingebung. Warum so kompliziert, wenn es doch viel einfacher geht? Mir fällt nichts ein, weil ich darauf fixiert bin, Ryujis Ausdrucksweise zu benutzen. Mai war klar geworden, dass sie die ganze Sache falsch angepackt hatte. Natürlich konnte sie Ryujis Sätze nicht auf intelligente Weise vervollständigen, dafür fehlte ihr einfach das grundlegende Verständnis der Materie. Die Lösung war einfach. Sie musste den Aufsatz nur an Anfang und Ende so geschickt kürzen, dass er in sich ein logisches Ganzes ergab und die Brüche für den Leser nicht mehr spürbar waren.
Sie führte ein kleines Freudentänzchen auf. Das wäre auch in Ryujis Sinn, dachte sie. Immerhin war es besser, einen Text zu kürzen, als fremde Gedankengänge einzubauen. Jetzt fühlte Mai sich wesentlich besser. Plötzlich schoss ihr der Gedanke an das Video wieder durch den Kopf. Getrieben von einer zügellosen Neugierde, hatte sie es heimlich aus Ryujis Zimmer mitgehen lassen. Natürlich hätte es sich gehört zu fragen. Doch als sie vor den Eltern gestanden und sich verabschiedet hatte, fielen ihr die passenden Worte nicht ein. Sie wusste nicht, wie sie ihr Interesse an der Videokassette begründen sollte. Dürfte ich mir dieses Video ausleihen? Es interessiert mich brennend. Ein merkwürdiger Satz: Es interessiert mich brennend. Was hieß das schon? Wenn Ryujis Familie gefragt hätte, warum ihr so viel an dem Video lag, wäre sie in Erklärungsnot geraten. Also hatte sie das Band einfach in ihrer Handtasche verschwinden lassen. Eiza Minelli, Frank Sinatra, Sammy Davis Jr., 1989. Das klang nicht besonders spannend. Trotzdem ging Mai das Band nicht mehr aus dem Kopf. Wann hatte sie es eigentlich auf den Fernseher gelegt? Es übte eine magische Anziehungskraft auf sie aus. Schau mich an, schien es ihr zuzuflüstern. Auch ihr kombiniertes TV‐ und Videogerät schien sie zu einem Videoabend einladen zu wollen. Schon in Ryujis Zimmer hatte sie ein unersättliches Verlangen gespürt, sich das Band anzuschauen. Eines wusste sie: Die auf dem Etikett angekündigte Musikrichtung war keineswegs Ryujis Geschmack gewesen. Er hatte Klassik bevor‐ zugt, aber insgesamt hatte sich seine Musikbegeisterung in Grenzen gehalten. Das Video hatte ihm sicher nicht gehört. Für diese Vermu‐ tung sprach auch die Handschrift auf dem Etikett. Irgendwer musste die Kassette in Ryujis Zimmer gelegt haben. Aber was tat das jetzt noch zur Sache? Nun lag sie bei ihr. Aufgeregt schob Mai die Videokassette in den Rekorder. Der
Fernseher ging automatisch an. Sie drückte auf ›Play‹. Das Band begann zu laufen. Wirre Geräusche ertönten. Unvermittelt drückte sie die Pause‐Taste. Sollte sie sich das Video wirklich anschauen? Wenn sie es erst gesehen hatte, gab es kein Zurück mehr. Die Bilder wären für immer und ewig in ihr Gehirn eingebrannt. Vielleicht sollte ich lieber die Finger davon lassen, bevor ich es bereue, dachte Mai. Sie überlegte hin und her, doch schließlich siegte die Neugier über ihre Zweifel. Sie löste die Pause‐Taste. Wirre Geräuschfetzen ertönten, verzerrte Bilder flackerten über den Bildschirm. Plötzlich vollzog sich ein Wechsel von dem unregelmäßi‐ gen Weiß zu einem tiefen Schwarz; eine pechschwarze Flüssigkeit kroch wie ein schmieriger, dunkler Ölfilm über die Mattscheibe, bis sie vollkommen in Finsternis getaucht war. Seltsamerweise verspürte Mai keinerlei Verlangen, die Stopp‐Taste zu drücken. Sie war jetzt fest entschlossen, sich das Video bis zum Schluss anzusehen. In den nächsten Minuten offenbarten sich ihr Szenen, entsetzliche und bizarre Bilder, die sie nie erwartet hätte und deren Bedeutung sie nicht verstand. Kaum war der Film vorbei, übermannte sie eine heftige Übelkeit. Sie stürzte ins Bad. Inzwischen bereute sie es zutiefst, sich das Band bis zum Schluss angeschaut zu haben. Zu sehr hatte sie sich von den Bildern und Szenen mitreißen lassen. Halt, das war so nicht richtig! Während sie darüber nachdachte, verstärkte sich ihr Eindruck, dass ihr die Bilder aufgezwängt worden waren. Nicht sie hatte sich das Video bis zum Ende angesehen, sondern es war ihr gezeigt worden. Irgendeine namenlose Kraft hatte sie daran gehindert, die Stopp‐ Taste zu drücken. Ihr schweißüberströmter Körper zitterte, und aus ihrem Magen stieg bittere Galle auf. Mai konnte sich des Gefühls nicht erwehren, das irgendein mysteriöser, ungreifbarer Fremdkörper durch ihre Sinnesorgane in sie eingedrungen war und sich ihrer allmählich bemächtigte. Sie steckte den Finger in den Hals, weil sie hoffte, dieses
Etwas gleich mit loswerden zu können. Dann übergab sie sich in die Toilette. Viel kam jedoch nicht. Ihre Augen brannten, ein Husten‐ anfall überkam sie. Totenblass sank sie vor der Toilette in sich zusam‐ men. Sie hatte das Gefühl, als würde genau in diesem Moment ihr Ich sterben. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Sie war bereits fünfzehn Minuten zu spät. Ando begann allmählich unruhig zu werden. Wo bleibt sie nur? Hatte er sich womöglich im Datum getäuscht? Nervös zog er seinen Terminkalender aus der Tasche. Freitag, 9. November, Shibuya‐JR‐Station, Westausgang, vor dem Hachiko, 18 Uhr. Nein, alles stimmte. Ando drängte sich durch die Menschenmenge und hielt dabei nach Mai Ausschau. Jedes Mal, wenn er eine elegante, hübsche junge Frau entdeckte, lief er automatisch auf sie zu. Zu seiner Verärgerung war es jedoch stets eine unbekannte Schöne, nicht die sehnsüchtig Erwartete. Auch nach dreißig langen Minuten war noch immer nichts von Mai zu sehen. Enttäuschung flammte in Ando auf. Vielleicht hat sie die Verabredung vergessen? Er lief zu einem öffentlichen Fernsprecher und tippte ihre Nummer. Während er es mehrmals klingeln ließ, klopfte sein Herz bis zum Hals. Der Klingelton ertönte bereits das zehnte Mal... Mai war eindeutig nicht zu Hause. Betrübt senkte Ando den Hörer. Sicher ist sie nur auf‐ gehalten worden und auf dem Weg hierher. Mit dieser Hoffnung hängte er ein. Wieder blickte er ungeduldig auf die Uhr. Nun wartete er schon fast eine Stunde, aber von Mai war noch immer nichts zu sehen. Wenn die Stunde voll ist und sie dann immer noch nicht aufgetaucht ist, gehe ich. Sein letztes Rendezvous mit einer Frau war eine Ewigkeit her. An‐ do hatte völlig vergessen, wie lange man warten sollte. Er fand sich
ziemlich unmodern. Die bittere Erfahrung, versetzt zu werden, hatte er nie erleben müssen. Seine Frau war zu ihren ersten Treffen immer pünktlich erschienen. Und er selbst hatte auch noch nie jemanden warten lassen, von geringfügigen Verspätungen abgesehen. Während Ando in Erinnerungen an frühere Verabredungen schwelgte, verging die Stunde. Trotz seiner Entscheidung brachte er es nicht fertig zu gehen. Noch immer schlummerte in ihm ein kleiner Funken Hoffnung, dass Mai gleich schuldbewusst, aber mit einem hinreißenden Lächeln um die Ecke kommen würde. Nur noch fünf Minuten, dann gehe ich aber wirklich. Er hatte sich die ganze Woche so auf dieses Treffen gefreut; jeden Tag, jede Stunde, ja jede Sekunde hatte er gezählt. Nun war der Tag endlich gekommen, dem er so entgegengefiebert hatte. Da konnte er doch nach ein bisschen Warten nicht gleich das Handtuch werfen und wie eine beleidigte Leberwurst von dannen ziehen. Er beschloss, noch eine Weile dazubleiben. Schließlich waren eine Stunde und dreiunddreißig Minuten vergangen. Doch Mai war nicht gekommen.
Ando betrat die Hotellobby und erkundigte sich an der Rezeption nach Funakoshi. Zwar hatte er die Abschiedsfeier abgesagt, doch sprach nun nichts mehr gegen die Party, weil Mai ihn versetzt hatte. Während der schier endlosen Wartezeit waren Dutzende verliebte Pärchen an ihm vorbeiflaniert. Der kühle Herbstabend bot sich für einen kuscheligen, romantischen Abend zu zweit an. Ausgehungert nach Liebe und innerlich leer war Ando absolut nicht in der Stimmung gewesen, gleich nach Hause zu fahren. Unvorstellbar, den Abend einsam und verlassen in seiner trostlosen Bude zu hocken. So hatte er beschlossen, auf die Feier von Funakoshi zu gehen und mit ein paar alten Kumpels seinen Frust hinunterzuspülen. Jetzt wollte er sich erst recht amüsieren. Nur so konnte er der inneren Leere den
Kampf ansagen. Der offizielle Teil der Party im Kollegenkreis neigte sich bereits dem Ende zu. Nur die engsten Freunde, etwa drei bis fünf Leute, hatten beschlossen, weiterzuziehen und unbeschwert in die Nacht hineinzufeiern. Er kam gerade zum richtigen Zeitpunkt. Perfektes Timing, dachte er. Miyashita erspähte Ando sofort. Er kam auf ihn zugelaufen und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Was machst du denn hier? Hattest du heute nicht ein Rendezvous mit dieser heißen Braut?« »Sie hat mich versetzt«, entgegnete Ando mit scheinbarer Ge‐ lassenheit. »Das tut mir Leid. He, komm mal kurz mit.« Ohne auf die verpatzte Verabredung einzugehen, packte Miyashita Andos Arm und zog ihn hinter die Tür. »Was ist los?«, fragte Ando verwundert. Miyashita wollte gerade loslegen, als Professor Yasukawa von der Abteilung für Innere Medizin an ihnen vorbeiging. Hektisch flüsterte Miyashita Ando ins Ohr: »Wie siehtʹs aus? Ziehst du nachher noch mit uns um die Häuser?« »Ja, das hatte ich vor.« »Hervorragend. Ich muss dir nämlich unbedingt etwas erzählen. Du wirst Augen machen.« Dann ließ er Ando stehen und näherte sich Professor Yasukawa. Er bedankte sich höflich für dessen Kommen, und während sie über dieses und jenes schwatzten, trug er ein breites, einschmeichelndes Lächeln zur Schau. Das war typisch Miyashita. Mit dieser Art kam er überall gut an. Alle Professoren mochten ihn. Auch Ando war von ihm beeindruckt. Hätte irgendein anderer das Gleiche getan, dann hätte er das mit Sicherheit abstoßend gefunden.
Ando stand noch immer an der Tür und wartete ungeduldig auf das Ende des Gesprächs zwischen Miyashita und Yasukawa. Einige Bekannte liefen vorbei, doch nahm keiner so richtig Notiz von ihm. Nach einem flüchtigen Gruß waren sie schon wieder verschwunden. Offensichtlich hatten sie kein Interesse an ihm. Das war die Realität, mit der er sich abzufinden hatte. Ganz schuldlos war er daran nicht. Nach dem tragischen Tod seines Sohnes im letzten Sommer hatte sich ein Großteil seiner Freunde von ihm abgewandt. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Ando wusste selbst nur zu gut, dass er derje‐ nige gewesen war, der den Scherbenhaufen zu verantworten hatte. Als seine Freunde von dem schrecklichen Schicksalsschlag erfahren hatten, waren sie sofort zur Stelle gewesen, um Trost zu spenden. Doch jede Art von Fürsorge hatte Ando genervt. Sie alle waren ihm unheimlich lästig gewesen. Ohne Rücksicht auf Verluste hatte er ihnen das deutlich zu verstehen gegeben. So war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er alle vergrault hatte. Durch den schmerzli‐ chen Verlust seines Kindes in ein tiefes schwarzes Loch voller Schuld‐ gefühle und Selbstmitleid gerissen, hatte er jede Kontrolle über sich verloren. Monatelang vegetierte er in absoluter Lethargie dahin. Egal, wer ihn aufzumuntern versuchte, stets saß er mit betrübtem, leerem Gesichtsausdruck da, unfähig, auch nur ein Wort von sich zu geben. Wie oft kam der Spruch: Das wird schon wieder. Was für hohle Worte ... Gefangen in tiefer Trauer, war ihm hundeelend zumute, Besserung war nicht in Sicht. Während das immer so weiterging, verlor er einen Freund nach dem anderen, und plötzlich blieb ihm nur noch einer: Miyashita. Der hatte es verstanden, Andos bekümmerte Miene einfach zu ignorieren. Stets war er zu einem Scherz aufgelegt, und es gelang ihm blendend, sogar unglückselige Geschichten und Ereignisse in Witze zu verpacken. Nur in Miyashitas Gegenwart vergaß Ando für einige Augenblicke sein Leid. Heute war ihm der Unterschied zwischen Miyashita und den
anderen Freunden klar. Miyashita kam zu ihm, weil er mit ihm ein paar heitere Stunden verbringen wollte. Die Phrase ›Das wird schon wieder‹ war an Bedeutungslosigkeit kaum zu übertreffen, fand Ando. Statt ihm ein besseres Gefühl zu vermitteln, führte sie ihm das Geschehene nur erneut vor Augen, und die schrecklichen Erinnerungen konnten nicht verblassen. Der Zauberspruch für einen Trost war nicht ›Das wird schon wieder‹, sondern ›vergessen lassen‹. Die Kunst lag darin, den Betroffenen aus seiner Trübsal zu reißen, ihn abzulenken, selbst für kurze Zeit. Worte allein führten nicht aus der psychischen Tretmühle. Ando war in den letzten eineinhalb Jahren nur noch mit sorgen‐ voller Miene durch die Gegend gelaufen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal herzhaft gelacht, geschweige denn ein fröhliches Gesicht gemacht hatte. Wie sah Mai ihn wohl? Diese knochigen, von Sorgenfalten durchzogenen Gesichtszüge ... Sie hätte sich mit ihm sicherlich zu Tode gelangweilt. Bestimmt ist Mai deshalb nicht erschienen. Dieser Gedanke machte ihn traurig. Betrübt konstatierte er, dass er bis zu dem Schicksalsschlag ein vor Kraft strotzender Mann mit einer gehörigen Portion Selbstvertrauen gewesen war. Vor ihm hatte eine viel versprechende Zukunft gelegen. Er führte eine glückliche Ehe, die durch einen wunderbaren Sohn gekrönt worden war. Sie be‐ wohnten ein exklusives Apartment in Minami Aoyama. Dazu war er stolzer Besitzer eines BMW mit Lederausstattung. Schließlich winkte der Chefposten im Krankenhaus ... Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er sein wunderbares Leben im Grunde genommen hauptsächlich seiner Frau und deren Familie zu verdan‐ ken hatte. Vielleicht war es eine Ironie des Schicksals, dass ihm alles aus den Händen geglitten war. Miyashita und Professor Yasukawa unterhielten sich noch immer angeregt, während Ando herumstand. Also ging er in die Lobby. Drei
Telefonzellen sprangen ihm ins Auge. Rasch zog er seine Telefon‐ karte aus der Brieftasche, betrat eine Zelle und tippte Mais Nummer ein. Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, beobachte er Miyashita. Er wollte ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren, so groß war seine Angst, den Abend allein verbringen zu müssen. Nach dem achten Klingelton hängte er besorgt ein. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Wo zum Teufel steckte Mai? Er begann sich ernsthafte Sorgen zu machen. Miyashita und Professor Yasukawa schienen ihr Gespräch gerade zu beenden. Nach einer kurzen Verbeugung machte Miyashita sich auf den Weg. Ando hängte sich an seine Fersen. »Es tut mir Leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe«, entschuldigte Miyashita sich. »Das macht doch nichts.« Miyashita zog einen Zettel aus seiner Hosentasche und gab ihn Ando. »Hier feiern wir nachher weiter. Kennst du die Kneipe? Ich schlage vor, du gehst schon mal vor, da ich hier noch einiges zu er‐ ledigen habe.« Miyashita war gerade im Begriff, sich abzuwenden, da zog Ando ihn am Ellenbogen zurück. »Warte einen Augenblick.« »Was ist?« »Was wolltest du mir vorhin sagen?« Ando platzte schier vor Neugierde. Miyashita leckte sich genüsslich die Lippen. »Die ersten Unter‐ suchungsergebnisse der Gewebeproben liegen vor. Jetzt halt dich fest, was sie im Labor entdeckt haben.« »Was? Nun rück schon raus damit.« »Es ist ein Virus.« »Ein Virus?« »Heute Nachmittag erhielt ich einen Anruf von der Universität Y in
Yokohama. Erinnerst du dich noch an den jungen Mann, der dort obduziert wurde?« »War das diese mysteriöse Geschichte mit dem Liebespaar, das im Auto plötzlich einen Herzanfall erlitt?« »Genau. Bei beiden ist ein Virus im Blut entdeckt worden. Aber damit nicht genug: Es war dasselbe.« »Rück schon raus mit der Sprache — was für ein Virus?« Miyashita zog die Mundwinkel nach unten und seufzte. »Du wirst es nicht glauben. Mich hätte es fast umgehauen, als ich es erfuhr. Es ähnelt genetisch dem Pockenvirus.« Ando verschlug es die Sprache. »Professor Seki hat Recht behalten. Ich sage doch, er ist ein Genie. Ein Blick auf das Geschwür genügte, und schon kam das Wort ›Pocken‹ aus seinem Mund. Faszinierend.« »Das ist unglaublich«, murmelte Ando. »Ob du es nun glaubst oder nicht, ich bin jedenfalls felsenfest davon überzeugt, dass wir in Ryujis Blut das gleiche Virus finden werden. Selbst du wirst deine Zweifel dann über Bord werfen.« Miyashitas rundliches Gesicht leuchtete nach reichlichem Alkoholgenuss knall‐ rot. Offensichtlich freute er sich über das Untersuchungsergebnis. Das war nicht untypisch für einen Wissenschaftler. Tauchte irgendwo eine neue Krankheit auf, siegten Neugierde und Forscherdrang über die Ängste in Bezug auf die Folgen. Andos Begeisterung über diese Entdeckung hielt sich hingegen in Grenzen. Seine Gedanken kreisten um Mai. Warum geht sie nicht ans Telefon? Wo steckt sie nur? Eine seltsame Vorahnung ergriff ihn. Und wenn die Entdeckung des mysteriösen Virus und das rätselhafte Verschwin‐ den Mais in irgendeinem Zusammenhang miteinander stünden? Vielleicht wird Mai schon bald dem gleichen mysteriösen Schicksal zum Opfer fallen wie Ryuji. Vielleicht hat es ja längst zugeschlagen ...
Stimmengewirr und das Gelalle von Betrunkenen dröhnten durch die Hotellobby. Aus all diesem Lärm drang eine lachende Kinder‐ stimme an Andos Ohr. Erstaunlich, um diese Zeit noch ein Kind zu hören. Er drehte sich um. Sein Blick schweifte umher, doch nirgendwo konnte er ein kleines Kind entdecken.
Mittwoch, 14. November. Auf Andos Programm stand der Besuch der Fakultät des Philosophischen Instituts für Literatur. Dort fing er Mais Professoren und einige Dozenten ab, erkundigte sich besorgt, ob Mai in den letzten Tagen an den Lehrveranstaltungen teilgenommen hatte. Aber egal, wen er ansprach, es kam immer die gleiche Antwort: Seit ungefähr einer Woche hatte niemand Mai gesehen. Philosophie war weiß Gott kein Frauenfach. Mai war wie eine exotische Blume, und ihre Abwesenheit war aufgefallen. Ando hatte immer wieder versucht, sie zu erreichen. Seit der ge‐ platzten Verabredung letzten Freitag gab es kein Lebenszeichen von ihr. Zwei‐ bis dreimal pro Tag rief er bei ihr an, jedes Mal ohne Erfolg. Vielleicht war sie ja bei einer Freundin — oder schlimmer: Vielleicht war ein neuer Mann im Spiel. Auf alle Fälle stimmte irgendetwas nicht. Oder ist sie für ein paar Tage zu ihren Eltern gefahren? Das müsste sich relativ leicht klären lassen, dachte Ando. Er ging ins Studentensekre‐ tariat. Dort schilderte er dem Verantwortlichen die Situation und bat um Einsichtnahme in die Studentenkartei von Mai. Der Mann zeigte sich äußerst kooperativ. In null Komma nichts hatte Ando Mais Heimatadresse. Die Eltern wohnten in dem kleinen Städtchen Toyoda, Präfektur Shizuoka, etwa zwei bis drei Stunden von Tokio entfernt, wenn man die Schwebebahn benutzte. Nach Feierabend ging Ando ohne Umwege nach Hause. Sofort schnappte er sich den Telefonhörer und wählte nervös die Nummer von Mais Eltern. Es meldete sich eine freundliche Frauenstimme; vermutlich Mais Mutter. Er nannte seinen Namen. Schlagartig verstummte die Stimme am anderen Ende. Ando spürte ihre Anspannung durchs Telefon. Der unerwartete Anruf eines Dozenten der Medizinischen Fakultät der Universität, an der ihre Tochter
studierte, schien ihr einen Schrecken eingejagt zu haben. Hätte er sich als Dozent des Literaturwissenschaftlichen Instituts vorgestellt, wäre es sicherlich zu keinerlei Missverständnissen gekommen. Aber so konnte es aus ihrer Sicht nur einen Grund für den Anruf geben: eine schlechte Nachricht, etwa dass ihre Tochter todkrank war. Die Stu‐ denten konnten sich kostenlos im Universitätsklinikum untersuchen lassen. Vielleicht hatte sich Mai, ohne ihr ein Sterbenswörtchen zu sagen, einem Gesundheitscheck unterzogen. Nun waren die Ergeb‐ nisse so schlecht, dass Ando die undankbare Aufgabe zugefallen war, sie davon in Kenntnis zu setzen — so in etwa schien die Mutter sei‐ nen Anruf zu interpretieren. Er beschloss, sie nicht länger im Dunk‐ len tappen zu lassen, und erklärte ihr den Grund seines Anrufes. Mais Mutter begriff zunächst nicht, warum Ando sie wegen einer derartigen Lappalie kontaktierte. In ihren Augen war das viel Lärm um nichts. Höchstens zwei‐ bis dreimal im Monat telefonierte sie mit ihrer Tochter. Ein Versuch ihrerseits in der letzten Woche war ohne Erfolg gewesen. Sie hatte die Stimme ihrer Tochter seit drei Wochen nicht mehr gehört. Das war völlig normal; was sollte da merkwürdig sein? Ihr wollte nicht in den Kopf, dass ein Universitätsdozent so einen Wirbel veranstaltete und eigens bei ihr anrief, nur weil ihre Tochter ein paar Tage telefonisch nicht erreichbar war und die Vorle‐ sungen geschwänzt hatte. »Verstehe. Als Sie letzte Woche bei Ihrer Tochter anriefen, war sie also nicht zu Hause?« Ando runzelte die Stirn. Seine Hoffnung, Mai hatte spontan ihre Eltern besucht, war wie eine Seifenblase zerplatzt. Er hatte das Gefühl, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. »Ja. Aber das ist wirklich nichts Außergewöhnliches, wenn man sie mal nicht erreicht. Es kam sogar vor, dass wir uns Monate nicht gesprochen haben. Gerade erst vor einem halben Jahr war das der Fall. Ständig haben wir uns verpasst. Aber irgendwann klappt es schon mal.«
Ando drohte allmählich der Geduldsfaden zu reißen. Doch es war nicht die Zeit, Mais Mutter mit den Ereignissen zu konfrontieren und sie den wahren Grund seiner Sorgen wissen lassen. Erst gestern hat‐ ten die Untersuchungsergebnisse von Ryujis Gewebeprobe Licht ins Dunkel gebracht. Miyashitas Prophezeiung hatte sich bewahrheitet. Ryujis Blut wies das rätselhafte Virus ebenfalls auf. Hinsichtlich der Übertragungswege herrschte zwar noch Unklarheit, aber man kam der Sache schon näher. Die Angelegenheit durfte jedoch auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen; noch nicht ... Dafür wussten sie zu diesem Zeitpunkt einfach viel zu wenig über das neue Virus. Wenn die Medien erst mal Wind von der Sache bekämen ... Das wäre eine absolute Katastrophe. Ando blieb also gar nichts anderes übrig, als vorerst mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. »Entschuldigen Sie bitte die indiskrete Frage, aber übernachtet Mai öfter bei Freunden?« »Nein, ich glaube nicht.« »Sie sagten, Sie hätten Mai letzte Woche angerufen. Können Sie sich noch an den Tag erinnern?« Nach einer kurzen Pause entgegnete die Mutter: »Das muss am Dienstag gewesen sein.« »Dienstag ...« Heute war Mittwoch; das würde bedeuten, dass Mai schon über eine Woche wie vom Erdboden verschluckt war. Wo konnte sie nur sein? Wieso wusste kein Mensch, nicht mal ihre Eltern, wo sie sich aufhielt? »Könnte es sein, dass sie spontan verreist ist?« »Nein, auf keinen Fall.« Die Mutter sagte dies so bestimmt, dass Ando nachhakte. »Was spricht denn dagegen?« »Mai hat nicht die finanziellen Möglichkeiten dazu. Sie jobbt als Nachhilfelehrerin, und wir geben ihr monatlich einen kleinen Zu‐ schuss. Damit kommt sie gerade so über die Runden. Für luxuriöse Sperenzchen bleibt da nichts übrig.«
In diesem Moment war Ando plötzlich sicher: Mai war etwas zuge‐ stoßen. Man brauchte nur eins und eins zusammenzuzählen. Letzten Freitag war sie nicht zu der Verabredung erschienen. Falls alles in Ordnung wäre, hätte sie abgesagt, damit er nicht stundenlang wartete. Doch das war nicht geschehen. Dafür gab es nur eine Erklärung: Mai war bereits am Freitag nicht in der Lage gewesen zu telefonieren. Ando sah Ryujis Leiche vor sich. Plötzlich änderte sich die Szenerie, und er sah Mai, an ein Bett gelehnt, Arme und Beine erstarrt von sich gestreckt — tot. Nein, das durfte nicht sein! Er ver‐ suchte, die entsetzlichen Bilder zu verdrängen. »Es wäre schön, wenn Sie morgen nach Tokio kommen könnten.« Mit dem Hörer in der Hand verbeugte Ando sich leicht. »Das kommt etwas überraschend ...«, seufzte die Mutter und schwieg. Natürlich kannte sie die wahren Umstände nicht und ahnte folglich auch nichts Böses, aber Ando fand ihre Reaktion dennoch etwas zu unbekümmert. Am liebsten hätte er zu ihr gesagt: Man kann schneller, als man denkt, einen geliebten Menschen verlieren. Gerade hört man noch die vertraute Stimme, und im nächsten Moment ist alles still. Der Mensch, der einem alles im Leben bedeutet hat, ist für immer verschwunden. »Was soll ich denn in Tokio? Sie denken doch nicht allen Ernstes, dass ich eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgeben sollte ...«, stammelte die Mutter mit gedämpfter Stimme. »Ich möchte, dass Sie in der Wohnung Ihrer Tochter nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Ich begleite Sie. Eine Vermisstenmeldung wäre dann erst der zweite Schritt«, gab Ando zurück. Aber im Grunde glaubte er nicht, dass es überhaupt noch zu einer Vermiss‐ tenanzeige kommen würde. »Ich weiß nicht... Morgen passt mir eigentlich gar nicht.« Mais Mutter schien noch mit sich zu ringen. Natürlich sah sie kei‐ nen Sinn in Andos Bitte. Trotzdem konnte er ihre Sorglosigkeit nicht
nachvollziehen. Immerhin war nicht ausgeschlossen, dass sie die Lei‐ che ihrer Tochter vorfinden würden. Was könnte es da Wichtigeres geben? Aber er hatte keine Lust mehr, weiter Überzeugungsarbeit zu leisten. »Verstehe. Dann werde ich morgen allein zu Mai fahren. Im Haus wird es ja sicherlich einen Hausmeister geben.« »Ja, den gibt es. Ich habe ihn bei Mais Einzug kennen gelernt.« »Könnten Sie ihn bitte anrufen und informieren, dass ich morgen Nachmittag zwischen zwei und drei Uhr vorbeikommen werde? Ich gehe dann mit ihm in Mais Wohnung.« »Hm ... « »Ich bitte Sie inständig. Tun Sie mir den Gefallen. Wenn ich dort unangemeldet aufkreuze, wird der Hausmeister mir wohl kaum die Tür aufsperren.« »Das sehe ich ein. Gut, ich werde ihn anrufen.« »Ich verlasse mich auf Sie. Wenn noch etwas sein sollte, melde ich mich bei Ihnen.« Ando wollte gerade auflegen, da hörte er die Mutter sagen: »Ach, übrigens ... Grüßen Sie Mai von mir, wenn Sie sie sehen.« Sie ahnt nichts ... Deprimiert legte Ando auf.
Von der Universität gelangte man mit der U‐Bahn auf direktem Weg zu Mais Apartment. Ando passierte die Schranken und warf noch einmal einen Blick auf die Adresse im Notizbuch. Einen Stadtplan unter den Arm geklemmt, ging er los. Während er in Gedanken versunken die Straße entlangeilte, lief ihm ein kleines Mädchen mit ihren Eltern entgegen. Sie trug einen orange‐ farbenen Kimono, dessen leuchtende Schönheit in der herbstlichen Nachmittagssonne bezaubernd wirkte. Die Kleine schaute ihm ins Gesicht. Sie war etwa sieben und für ihr Alter ziemlich groß. Außer‐ dem hatte sie ein selten hübsches Gesicht. Stolz tappte sie in ihren ja‐ panischen Sandalen, die Hand ihrer Mutter umklammernd, an Ando vorüber. Sie war unbeschreiblich niedlich. Von ihrem Charme gefangen, drehte Ando sich um und blickte dem kleinen Mädchen so lange nach, bis sie schließlich in der Ferne verschwand. In zehn Jahren wird dieses Mädchen zu einer ebenso atemberaubend schönen Frau wie Mai herangewachsen sein ... Ando verglich die Hausnummer des vor ihm aufragenden, sechs‐ stöckigen Hauses mit der Nummer in seinem Notizbuch; sie waren identisch. Hier also wohnte Mai Takano. Die Fassade des Hauses wirkte sehr hübsch, obgleich zu erkennen war, dass die Apartments ziemlich klein waren. Ando klingelte beim Hausmeister. Ein älterer Mann steckte den Kopf aus einem Fenster. Ando stellte sich vor. »Ah, guten Tag. Frau Takanos Mutter hat mir schon gesagt, dass Sie heute vorbeikommen.« Der Hausmeister trat mit einem dicken Schlüsselbund in der Hand aus der Tür. »Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.«
»Nichts zu danken. Das mache ich doch gern. Sie trifft es ja noch schlimmer ... Ich meine, das mit Frau Takano.« Ando wusste zwar nicht, was Mais Mutter ihm erzählt hatte, aber er sagte »Ja« und folgte dem Mann. Bei einem kurzen Blick durch die Lobby fielen Ando die Briefkästen der Hausbewohner ins Auge. Speziell einer erregte seine Aufmerk‐ samkeit: Er war bis an den Rand mit Post und Zeitungen voll gestopft und drohte überzuquellen. Andos Intuition sagte ihm, dass er nur Mai gehören konnte. Bei näherer Betrachtung bewahrheitete sich seine Vermutung; auf dem Namensschild stand ›Mai Takano*. »Das ist der Briefkasten von Frau Takano. Normalerweise holt sie ihre Post regelmäßig.« Ando fischte eine Zeitung nach der anderen heraus und überprüfte das Datum. Die älteste war eine Morgenausgabe von Donnerstag, dem 8. November. Seitdem waren sieben Tage verstrichen. Das bedeutete, dass Mai ihren Briefkasten exakt eine Woche nicht mehr geleert hatte. Mai ist ganz sicher nicht bei Freunden untergetaucht. Sie ist in ihrem Apartment und vermutlich in so schlechter körperlicher Verfassung, dass sie die Post nicht hochholen kann ... Der übervolle Briefkasten ließ nur diese Schlussfolgerung zu. »Können wir gehen?«, fragte der Hausmeister mit einem Unterton, der verriet, dass er erraten hatte, woran Ando dachte. Die Furcht vor dem Anblick, der sich ihm in Kürze bieten könnte, war Ando ins Gesicht geschrieben. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magen‐ gegend aus. Was erwartete ihn in dem Apartment? In Gedanken malte er sich die schrecklichsten Szenarien aus. Er versuchte, sich innerlich zu wappnen. »Ja, lassen Sie uns hochfahren«, sagte er mit fester Stimme, als hätte er inzwischen Mut geschöpft. Mais Apartment lag in der dritten Etage. Nachdem sie den Fahrstuhl verlassen hatten, ging der Haus‐ meister auf eine Tür mit der Nummer 303 zu. Ando trottete hinterher.
Der Hausmeister fischte einen Schlüssel aus dem klirrenden Bund heraus und steckte ihn ins Schloss. Ando trat unbewusst einen Schritt zurück. Ich hätte Gummihandschuhe mitbringen sollen. Er ärgerte sich über seine Nachlässigkeit. Warum, verdammt noch mal, hatte er nicht an Handschuhe, gleichsam als Wunderwaffe gegen unbekannte Viren, gedacht? Wo hatte er nur seinen Kopf gehabt? Er versuchte, sich zu beruhigen. Ändern konnte er jetzt sowieso nichts mehr. Das Virus wird schon nicht durch die Luft übertragen, hoffte er insgeheim. Bis dato wussten sie ja nicht mal, ob wirklich ein Virus an den mysteriösen Todesfällen schuld war. Falls ja, ähnelte es sicherlich dem HIV‐Virus und war nicht so leicht übertragbar. Dennoch war es ein unge‐ schriebenes Gesetz, besonders vorsichtig zu sein, wenn man den Gegner nicht genau kannte. Todesangst hatte Ando zwar nicht, aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, diese merkwürdigen Todesfälle aufzuklären. Zumindest wollte er so lange leben, bis er das Geheimnis gelüftet hatte. Der Hausmeister schloss die Tür auf. Wieder dieses Unheil ver‐ heißende metallische Geräusch! Ando trat noch ein Stück zurück. Seine Anspannung wuchs. Alle Sinne waren alarmiert. Der Geruch toten Fleisches war nichts Neues für ihn. Läge hier also wirklich eine Leiche, würde ihm der süß‐säuerliche Gestank sofort in die Nase stechen. Plötzlich hatte Ando jedoch das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben. Als die Tür einen Spalt breit geöffnet war, spürte er einen leichten Windzug. Das Balkonfenster schien offen zu stehen. Vorsichtig atmete er ein. Nein, da war kein süß‐säuerlicher Geruch verwesenden Fleisches. Er sog die Luft erneut ein, atmete wieder aus ... Hier lag definitiv keine Leiche. Ando fiel ein Stein vom Herzen. Was hätte es Schlimmeres geben können, als die Frau, die er so begehrte, tot aufzufinden? In diesem Moment wich alle Kraft aus seinen Beinen, und er musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen.
»Bitte, treten Sie ein«, sagte der Hausmeister. Er selbst zog es vor, draußen zu warten. Durch die offene Wohnungstür konnte Ando das kleine Zimmer ganz überblicken. Fest stand eines: Mai Takano war nicht zu Hause; das war auf den ersten Blick zu erkennen. Erneut atmete er tief durch. Erst jetzt zog er seine Schuhe aus und betrat die Wohnung. Geduldig wartete der Hausmeister vor der Tür. »Wo könnte sie nur sein?«, hörte Ando ihn murmeln. In der Mitte des Zimmers angelangt, blieb Ando plötzlich die Luft im Halse stecken. Er fühlte sich, als würde eine Zentnerlast auf seiner Brust liegen. Sein Herz begann zu klopfen, das Blut pulsierte in seinen Adern. Dabei hatte seine Anspannung doch für einen Moment nachgelassen. Aber irgendwie herrschte in diesem Zimmer eine gespenstische Atmosphäre. Mais Aura fehlt seit einer Woche; das ist es! Herrgott noch mal, wo hat sie sich nur versteckt? Vielleicht würde er die Antwort ja hier finden. Als Nächstes inspizierte Ando das Badezimmer. Aber auch dort war keine Spur von Mai. Zurück im Wohnbereich, musterte er jeden Winkel. Die Einrichtung war funktional, das Bettzeug ordentlich in einer Ecke zusammengelegt, und die Kleider hingen fein säuberlich auf einer Stange. Für ein Bett oder einen Kleiderschrank wäre nicht genug Platz gewesen. Die Mitte des Raumes füllte ein flacher, auf allen Seiten von einer Steppdecke umgebener Tisch, der im Winter auch als Wärmespender für den fröstelnden Körper, insbesondere kalte Füße diente. Ein Fetzen Schmierpapier auf dem Tisch war die Unterlage für eine Kaffeetasse. Ein verdorbener Rest Milch klebte auf dem Boden der Tasse. Die Wände waren mit Bücherregalen voll gestellt. Das Regal für das kombinierte TV‐ und Videogerät schien wie maßgefertigt zu sein. Auch alle anderen elektronischen Geräte waren passend zur Größe des Zimmers ausgewählt worden.
Auf dem Stuhl lagen zusammengelegt ein Nachthemd, darauf BH und Slip. Wahrscheinlich klopft mein Herz deshalb so wild, weil ich hier die Ausstrahlung dieser elektrisierenden Frau fühle. Er kam sich wie ein Voyeur vor. »Wie lange brauchen Sie noch, Doktor?«, erkundigte sich der Hausmeister, immer noch im Hausflur stehend. Da Mai definitiv nicht zu Hause und allem Anschein nach alles in bester Ordnung war, drängte er Ando zum Gehen. Ohne zu antworten, trat Ando in die Kochnische. Das Apartment war zwar mit Parkett ausgelegt, aber irgendwie hatte er den Ein‐ druck, dass sich der Boden unter seinen Füßen absenkte. Außerdem fiel ihm jetzt auf, dass eine Hundert‐Watt‐Birne über ihm glühte. Draußen war es noch hell, und das Zimmer wurde von Licht durchflutet. In der Spüle standen zwei benutzte Gläser. Ando drehte den Wasserhahn auf, bis er heißes Wasser spürte, dann schloss er ihn. Anschließend knipste er die Neonröhre aus. Als er gerade von der Kochnische ins Wohnzimmer zurückgehen wollte, durchzog ihn ein eisiges Frösteln, ohne dass er wusste, weshalb. »Lassen Sie uns endlich gehen«, drängelte der Hausmeister. In‐ zwischen stand auch er in der Wohnung, aber nur, um Ando he‐ rauszuholen. Blitzartig schoss er ins Treppenhaus zurück, diesmal mit Ando im Gefolge. Dieser hörte, wie die Tür ins Schloss fiel und der Hausmeister den Schlüssel umdrehte. Während sie gemeinsam auf den Fahrstuhl warteten, schoss Ando aus heiterem Himmel der Anblick einer jungen Frau durch den Kopf. Sie war in ihrem Haus ermordet aufgefunden worden und auf sei‐ nem Seziertisch gelandet. Laut Polizeiprotokoll hatte sich der Mord zehn Stunden zuvor ereignet. Ando erinnerte sich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen. Die Leiche hatte ihm einen furchtbaren Schrecken eingejagt, da sie, obwohl so viel Zeit vergangen war, weder erkaltet noch steif war — im Gegenteil, sie hatte nahezu die Körpertemperatur eines Lebenden. Die Wärme der Organe war
während der Obduktion deutlich zu spüren. Verblüffend: In der Re‐ gel sank die Körpertemperatur nach Eintritt des Todes um ein Grad Celsius pro Stunde. Natürlich war dies nur ein Durchschnittswert, der je nach Klima und Ort variieren konnte. Aber es kam nur selten vor, das die Körpertemperatur eines seit über zehn Stunden toten Menschen kaum gesunken war. Endlich kam der Fahrstuhl. Als der Hausmeister gerade eintreten wollte, hielt Ando ihn zurück. »Bitte warten Sie.« Er hatte den Entschluss gefasst, sich nicht eher wegzubewegen, als bis er eine befriedigende Antwort auf seine Vermutung gefunden hatte. Ir‐ gendetwas war faul. Dieser starke Druck auf der Brust, das Herz‐ rasen, die merkwürdige Atmosphäre im Zimmer, das Gefühl, als würde sich der Boden unter seinen Füßen absenken ... All dies schrie nach einer Erklärung. Ando versuchte verzweifelt, sein Gefühl in Worte zu kleiden, aber es wollten ihm einfach keine passenden in den Sinn kommen. Vielleicht gab es ja auch keine Worte dafür. Es ist das gleiche seltsame Gefühl, das ich damals gespürt habe, als die noch warme Leiche der jungen Frau vor mir auf dem Seziertisch lag. Die Atmosphäre in Mais Apartment ist irgendwie ähnlich. Die Türen des Fahrstuhls standen noch offen, aber Ando machte keine Anstalten einzusteigen. Dem Hausmeister war es nicht mög‐ lich, da Ando ihm den Weg versperrte. »Wollen Sie nicht einsteigen?« Ohne zu antworten, fragte Ando: »Sie haben Mai Takano in der letzten Woche nicht gesehen, oder?« Die Türen des Fahrstuhls schlossen sich, und er fuhr wieder nach unten. »Wenn ich sie gesehen hätte, hätte ich das doch gesagt.« Ando überlegte. Der Hausmeister hatte Mai in den letzten Tagen nicht gesehen. Auch an der Universität hatte sie sich seit einer Woche nicht blicken lassen. Das war vollkommen untypisch für sie. Gewöhn‐
lich fehlt Mai nie länger als einen Tag; und wenn doch einmal, dann immer mit Entschuldigung, hatte ihr Professor erklärt. Zu Hause war sie offensichtlich nicht gewesen, denn seit sieben Tagen versuchte Ando vergeblich, sie telefonisch zu erreichen. Einen weiteren Beweis für ihre Abwesenheit lieferte der beinahe überquellende Briefkasten. All diese Indizien deuteten daraufhin, dass Mai seit Donnerstag, dem 8. November, nicht in ihr Apartment zurückgekehrt war. Aber diese Atmosphäre im Zimmer ... Es war eine gewisse menschliche Wärme zu spüren, als wäre bis vor kurzem noch jemand dort gewesen. »Ich würde mich gern noch einmal im Apartment von Frau Takano umsehen«, sagte Ando. Der alte Mann erschrak sichtlich. In seiner Miene spiegelte sich Furcht wider, dann Ratlosigkeit, schließlich verdüsterte sich sein Gesicht. Irgendetwas scheint dem Alten Angst einzujagen. »Wenn Sie mir den Schlüssel zurückbringen, bevor Sie gehen ...« Der Hausmeister überreichte Ando den Schlüssel mit einer Miene, die eindeutig verriet, was er dachte: Schau dich ruhig um, wenn du unbedingt willst, aber ohne mich. Ich verzichte auf derartige Abenteuer. Ando hätte den Hausmeister gern gefragt, welche Wirkung Mais Apartment auf ihn gehabt hatte. Aber wenn er ihn diesbezüglich angesprochen hätte, dann hätte auch der Hausmeister wahrscheinlich keine passenden Worte gefunden. Es war nicht einfach, diese selt‐ same, ja gespenstisch mysteriöse Atmosphäre zu beschreiben. »Haben Sie vielen Dank für den Schlüssel.« Ando nahm den Schlüssel entgegen und ging auf Mais Woh‐ nungstür zu. Hätte er auch nur eine Minute gezögert, dann hätte ihn wahrscheinlich der Mut verlassen. Woher nur kam dieser starke Impuls, den er im Zimmer gespürt hatte? Etwas stimmte nicht. Ehe er nicht eine befriedigende Antwort gefunden hatte, würde er nicht heimkehren.
Ando öffnete die Wohnungstür. Sein Versuch, sie einen Spalt offen zulassen, scheiterte. Kaum hatte er einen Fuß in die ʺWohnung ge‐ setzt, fiel die Tür auch schon hinter ihm ins Schloss. Er ging zum offenen Balkonfenster, machte es zu und riss die Vor‐ hänge mit einem Ruck auf. Der Stand der Nachmittagssonne verriet ihm, dass es etwa 15 Uhr war. Während er die warmen Strahlen der Herbstsonne auf seinem Rücken spürte, schaute er sich noch einmal genau um. Der Raum strahlte weder eine weibliche noch eine männ‐ liche Atmosphäre aus. Auf den ersten Blick hätte man nicht sagen können, ob das Apartment einer Frau oder einem Mann gehörte. Auf dem Stuhl lag das Nachthemd, darauf Mais Unterwäsche. Zitternd streckte Ando eine Hand nach dem Slip aus und hob ihn an seine Nase. Er sog Mais Geruch tief ein. Rasch legte er den Slip auf den Stuhl zurück. Doch seine sexuelle Fantasie war entflammt. Getrieben von einer bebenden Lust, griff Ando erneut nach dem erotischen Wäschestück und vergrub das Gesicht darin. Er nahm den Geruch von Milch wahr. Sein Sohn hatte so gerochen, als er noch ein Baby gewesen war. Vielleicht hatte sie doch noch nie Sex mit einem Mann? Der Geruch einer Jungfrau ähnelte dem eines Babys. Ando legte die Unterwäsche auf den Stuhl zurück. Dabei geriet der Fernseher in seinen Blickfang. Ein rotes Lämpchen glühte, er schien angeschaltet zu sein. Instinktiv drückte Ando auf ›Eject‹. Und siehe da, eine Videokassette sprang heraus. Liza Minelli, Frank Sinatra, Sammy Davis Jr., 1989, stand auf dem Etikett. Die Handschrift verriet, dass es sich nicht um die einer Frau handel‐ te. Mit einem dicken schwarzen Stift waren die Buchstaben auf das weiße Label geschmiert worden. Ando betrachtete die Kassette von allen Seiten. Das Band war an den Anfang zurückgespult, aber darü‐ ber hinaus konnte er nichts Besonderes feststellen. Gleichgültig schob er das Video in den Rekorder. Just in dem Moment durchzuckte ihn
ein Geistesblitz: das Video! Die verrückte Geschichte von Mai kam ihm wieder in den Sinn. Verwundert hatte sie ihm erzählt, dass Asakawa sich einen Tag nach Ryujis Tod bei ihr nach einem Video erkundigt habe. Zudem hatte ein schwarzer Videorekorder auf dem Beifahrer‐ sitz des Unfallwagens gelegen. Welcher Zusammenhang bestand zwischen diesen Ereignissen? Was hatte ein Video mit den rätsel‐ haften Todesfällen zu tun? Ando drückte auf ›Play‹. Das Band begann zu laufen. Wirre Geräusche waren zu hören. Doch plötzlich trat Stille ein, eine tiefe, undurchdringliche Stille. Eine pechschwarze Flüssigkeit kroch wie ein schmieriger, dunkler Ölfilm über die Mattscheibe, bis sie vollkommen in schwarze Finsternis getaucht war. Ein winziger Lichtpunkt flackerte mitten auf dem schwarzen Bildschirm auf; er sprang von einer Seite zur anderen und wurde immer größer. Obwohl der Film noch nicht lange lief, fühlte Ando sich mit jeder Sekunde unbehaglicher. In seiner Magengegend breitete sich ein flaues Gefühl aus. Der Lichtpunkt begann sich in verästelte Linien aufzuzweigen; die Szenerie wechselte. Auf dem Bildschirm erschien ein bekannter Werbespot. Der Wechsel war äußerst abrupt erfolgt, die schwarze Finsternis wich einem weißen Bildschirmhintergrund. Es schien, als wäre die dunkle Seite des Lebens durch die helle verdrängt wurden. Es folgte eine Werbung nach der anderen. Ando spulte das Band vor. Die Wettervorhersage erschien auf der Mattscheibe. Eine freundlich lächelnde Frau erklärte die Wetterkarte. Anschließend begann eine Morgenshow. Nervös lief der Moderator mit einem Mikrofon in der Hand vor der Kamera auf und ab und berichtete ausschweifend über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Promiwelt. Belangloses Zeug: Wer ließ sich von wem scheiden und Ähnliches. Doch von der angekündigten Musiksendung keine Spur.
Vermutlich war sie überspielt worden. Während Ando sich das Video ansah, löste sich seine Anspannung allmählich. Er hatte von Anfang an nicht wirklich geglaubt, Frank Sinatra oder Liza Minelli auf der Mattscheibe zu sehen, und sich auf schreckliche und bizarre Szenen gefasst gemacht. Doch abgesehen von den ersten Momenten war das Video wirklich harmlos — lediglich Sendungen aus dem alltäglichen Fernsehprogramm. Die Wettervorhersage, eine Morgenshow, gefolgt von einem historisches Drama. Plötzlich hatte Ando eine Idee. Nervös spulte er das Band zurück, bis die nett lächelnde Wetterfee wieder auf der Mattscheibe erschien. Mit freundlicher Stimme begann sie: »Und nun das Wetter von heute, Dienstag, den 13. November.« Er drückte die Pause‐Taste. 13. November. Heute war der 15. November. Die Sendung war also vorgestern Morgen aufgenommen worden. Aber von wem? Von Mai? War sie vielleicht vorgestern hier? Aber dann stellte sich die Frage, warum der Briefkasten so voll gestopft war. Eher unwahrscheinlich, dass sie vergessen hatte, ihn zu leeren. Plötzlich begriff er. Vermutlich hatte Mai den Videorekorder vor ihrer Abreise programmiert. Das Geräusch eines aufprallenden Wassertropfens unterbrach An‐ dos Gedanken. Automatisch fixierte er den Wasserhahn in der Koch‐ nische, doch dieser schien nicht zu tropfen. Er ging zum Badezimmer. Die Tür stand nach wie vor halb offen. Ando knipste das Licht an und stieß sie auf. Es gab einen lauten Knall, als sie gegen das Klosett prallte. Irritiert zwängte er sich in das enge Bad hinein und prüfte, ob die Dusche oder der Wasserhahn undicht waren. Alles schien in
Ordnung zu sein, da tropfte nichts. Just in dem Moment vernahm er wieder das Geräusch eines aufprallenden Wassertropfens. Er kam von der Decke. Ungläubig starrte Ando in die Badewanne; das Wasser stand etwa zehn Zentimeter hoch auf dem Wannenboden. Abermals platschte ein dicker Tropfen von der Decke herab und schlug kleine, ringförmige Kreise auf der Wasseroberfläche. Ein paar Haare tanzten im Kreis. Der Stöpsel war herausgezogen. Ando verstand nicht, was das bedeutete. Vermutlich eine Abflussverstopfung durch Haare, dachte er dann, während er beobachtete, wie das Wasser langsam absickerte. Plötzlich begriff er — doch damit kam eine neue Frage auf: Wer in Teufels Namen hat den Stöpsel aus der Badewanne gezogen? Der Haus‐ meister konnte es nicht gewesen sein, war er doch nur für den Bruch‐ teil einer Minute in der Wohnung gewesen. Aber wer sonst könnte das Wasser abgelassen haben? Vorsichtig tippte Ando mit dem Finger in das Wasser. Es war lauwarm. Um seinen Finger wickelten sich ein paar Haare. Das gleiche Gefühl ..., dachte er erschrocken. Als er damals seine Hand in die seit über zehn Stunden tote Leiche der jungen Frau geschoben hatte, hatte er dieselbe Wärme gespürt. Offensichtlich hat jemand vor ungefähr einer Stunde heißes Wasser in die Badewanne gelassen und vor wenigen Minuten den Stöpsel herausgezogen. Wie war das möglich? In der letzten Stunde war definitiv niemand außer ihm hier gewesen, ja alles deutete daraufhin, dass seit über einer Woche kein Mensch mehr seinen Fuß in das Apartment gesetzt hatte. Aber ... Ando fühlte sich unbehaglich. Rasch zog er die Hand aus dem Wasser und wischte sie an seiner Hose ab. Sein Blick fiel auf den Boden. Was war das? Auf den Fliesen unterhalb des Toilettenpapierbehälters klebte etwas Grünlich‐blaues. Kot schien es nicht zu sein. Es sah nach Erbrochenem aus. Die
Flecken schienen sich bereits in den Boden gefressen zu haben. Mai hat sich anscheinend erbrochen ... Ando bückte sich, um das Erbrochene aus nächster Nähe zu betrachten. Dabei verlor er das Gleichgewicht und prallte mit dem Kopf gegen die Kloschüssel. Sein Sturz wurde von einem höhnischen, unheimlich dröhnenden Lachen begleitet. Ando stellten sich die Haare auf. Er versuchte, sich zu beruhigen. Das war sicher nur Einbildung. Jetzt habe ich schon Hirngespinste! Regungslos lag er mit verzerrter Miene über dem Klosett. Da, schon wieder! Erneut hallte ein gespenstisches Lachen in seinen Ohren. Ando durchzuckte ein Schauer. Kalter Schweiß rann ihm übers Gesicht. Den Atem anhaltend, verharrte er mucksmäuschenstill und lauschte. Nein, es war keine Einbildung. Ich habe es eindeutig gehört. Das Lachen kam von unten ... wie eine Blume, die aus dem Boden wächst und ihre Blüten entfaltet... Schon wieder! Ando war sich nun ganz sicher: Das teuflische Lachen war keine Einbildung. Er spürte intensive, bohrende Blicke im Rücken. Irgendetwas schien hinter ihm zu lauern. Panische Angst ergriff ihn. Sein Herz begann wie wild zu pochen, das Blut pulsierte in seinen Adern. Vielleicht spielte ihm seine Fantasie nur einen Streich? Wie gern hätte Ando daran geglaubt ... Doch das Gefühl war zu intensiv. Nein, das konnte unmöglich Einbildung sein. Wenn er sich jetzt umdrehte, hätte er Gewissheit ... Doch er war unfähig, sich zu bewegen. In den Klauen der Angst gefangen, konnte er sich nicht einmal umdrehen. Um seine Schultern herum stieg ein teuflischer Kälteschauer auf, der seinen Rücken erfasste und schließlich seine Wirbelsäule hinab‐ zukriechen begann, tiefer und immer tiefer. Trotz seiner Bemühun‐ gen, zum rationalen Denken zurückzufinden, gelang es Ando nicht,
einen klaren Gedanken zu fassen. Erneut ergriff ihn die Panik. Am liebsten hätte er laut geschrien. Schließlich stieß er mit krächzender, zitternder Stimme hervor: »Sind Sie das, Hausmeister?« Ein leichter Windzug streifte seine Beine. Etwas berührte seine nackte Haut zwi‐ schen Hose und Socken. Eine Gänsehaut überzog seine Beine. Nein, er durfte sich nicht von seiner Angst überwältigen lassen. Er nahm allen Mut zusammen und richtete sich langsam auf. Immerhin wusste er, dass es Ängste gab, die durch die Einbildungskraft noch verstärkt wurden. Er versuchte, sich einzureden, dass vermutlich nur eine Kat‐ ze um seine Beine gestrichen war, die sich zuvor in irgendeiner Ecke des Zimmers versteckt hatte. Aber seine körperliche Reaktion war zu stark gewesen, als dass er das hätte glauben können. Sein sechster Sinn sagte ihm, dass es etwas anderes gewesen war — etwas Über‐ sinnliches. Erneut nahm er das Gluckern des Abflusses wahr. Gleichzeitig hör‐ te er Schritte auf dem Parkett, die sich langsam von ihm zu entfernen schienen. Nun konnte er seiner Angst nicht länger standhalten. Er stieß einen lauten Schrei aus, trat mit den Füßen gegen die Badezimmertür, veranstaltete einen Riesenlärm, drückte sogar die Toilettenspülung. Während seines inszenierten Kampfes gewann er allmählich an Mut. Er richtete sich auf und lauschte, ob das unheimliche Phänomen noch hinter ihm war. Verzweifelt überlegte er, wie er hier am besten her‐ auskam, ohne sich umdrehen zu müssen. Es könnte ja sein ... Allein der Gedanke ließ ihn erschaudern. Tausend kleine Spinnen schienen über seine Haut zu krabbeln. Langsam bewegte Ando sich rückwärts, mit der Ferse tastend, um nicht gegen etwas zu stoßen. Kaum im anderen Zimmer angekom‐ men, wirbelte er wie der Blitz herum und rannte in Panik ins Trep‐ penhaus. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie die Tür ins Schloss fiel. Nach Atem ringend lief er zum Fahrstuhl. In seiner Hosentasche
klirrte der Schlüssel. Dieses Geräusch beruhigte ihn. Zum Glück hatte er ihn nicht im Apartment liegen gelassen. Keine zehn Pferde kriegen mich da noch mal rein. Irgendein Etwas lauert dort... Ando konnte sich an jeden Zentimeter in der Wohnung erinnern. Nirgends hatte es einen Schlupfwinkel gegeben. Der zusammen‐ gelegte Futon, der Kleiderständer... Wenn es nicht etwas sehr Kleines war ... Ein lautes Summen drang an sein Ohr — ein Moskito. Ungewöhnlich für die kalte Jahreszeit, dachte er, mit den Händen über dem Kopf herumfuchtelnd. Aber der Moskito ließ sich nicht verjagen. Plötzlich hatte Ando einen Hustenanfall. Eine eisige Kälte umklammerte ihn. Fröstelnd steckte er die Hände in die Hosentaschen. Wo bleibt nur dieser verdammte Fahrstuhl? Wütend blickte er auf die digitale An‐ zeige. Der Lift stand im Erdgeschoss. Nichts bewegte sich. Vermutlich habe ich vergessen, auf den Knopf zu drücken. Er betätigte die Taste. Dann vergrub er die Hände wieder in den Hosentaschen.
»He, über was grübelst du nach?« Erst jetzt merkte Ando, dass Miyashita mit ihm sprach. Er war mit seinen Gedanken weit weg gewesen. Die Erinnerung an das Gefühl in Mais Apartment hatte ihn wie eine Flutwelle weggerissen. Er war noch in den Klauen der Angst gefangen, sein Pulsschlag hatte sich nicht beruhigt. Ohne seinen Zustand wahrzunehmen, plapperte Miyashita unbekümmert weiter. Zwar hallten seine Worte in Andos Ohren nach, doch ihre Bedeutung erreichte ihn nicht. »Hörst du mir überhaupt zu?« »Ja, ja. Ich höre dir zu. Und dann?«, entgegnete Ando desinte‐ ressiert. »Was ist nur mit dir los? Du weißt, ich bin immer für dich da. Also, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt...« Miyashita zog einen Hocker unter dem Tisch hervor und legte gemütlich seine Beine darauf. Außer den beiden war niemand mehr in der Gerichtsmedizin. Die Dunkelheit hatte sich bereits über die Stadt gesenkt, obwohl es erst 18 Uhr war. Ando war von Mais Apartment zu seinem Büro zurück‐ gefahren. Dort hatte Miyashita schon ungeduldig auf ihn gewartet. Wenn ich doch nur eine Minute für mich gehabt hätte, eine kleine Ver‐ schnaufpause... Ando war nicht einmal Zeit geblieben durchzuatmen, geschweige denn, sich von dem Schock zu erholen. Kaum hatte er das Büro betreten, quasselte Miyashi‐ta auch schon auf ihn ein. Aber Ando war mit seinen Gedanken woanders. Die Ereignisse von vor zwei Stunden spielten sich immer wieder vor seinem inneren Auge ab. Wie hätte er das Erlebte auch in so kurzer Zeit verarbeiten sollen? Der Schrecken saß zu tief, um ihn von einer Minute auf die andere abzuschütteln. Ängste verflogen nicht so schnell ... Nach Fassung rin‐
gend, versuchte er, sich auf das Jetzt zu konzentrieren, doch das war nicht einfach. »Nein, es ist nichts. Wirklich, mir geht es gut.« Ando verschwieg den Besuch in Mais Apartment, aber nicht, weil er seinem Freund etwas vorenthalten wollte. Der Grund war ein anderer. Er wusste nicht, wie er das Erlebte in Worten hätte ausdrücken sollen. Vielleicht so? Stell dir vor, du gehst um Mitternacht nichts ahnend aufs Klo, und während du gemütlich dein Geschäft verrichtest, spürst du plötzlich etwas hinter deinem Rücken. Du hast das Gefühl, ein unheimliches Phänomen starrt dich an, lässt nicht eine Sekunde den Blick von dir. Angst packt dich. Verzweifelt überlegst du, was du tun sollst, aber du kannst keinen klaren Gedanken fassen. Mit jeder Sekunde arbeitet deine Einbildungskraft intensiver. So reift das lauernde Etwas in deiner Fantasie zu einem bedrohlichen Monster heran, das nur darauf wartet, dich in seine Fänge zu bekommen. Es wird immer größer und gefährlicher, bis du dich umdrehst und dieser schrecklichen Vision ein Ende setzt. Die Sache hatte nur einen Haken. Was Ando gespürt hatte, ließ sich nicht so einfach beschreiben. Als er in Mais Bad gestürzt war, hatte irgendein mysteriöses, höhnisch lachendes Phantom hinter ihm ge‐ lauert. Das Gefühl war zu intensiv gewesen, als dass alles nur seiner Fantasie entsprungen sein konnte. Außerdem war er von Natur aus kein schreckhafter oder furchtsamer Mensch. Doch dieses namenlose Etwas hatte ihm eine derartige Angst eingejagt, dass er sich nicht einmal mehr umdrehen konnte, um die ›Vision‹ auszulöschen. »Du siehst ganz schön fertig aus. Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte Miyashita, während er seine Brille putzte. »Es liegt sicher nur daran, dass ich in den letzten Wochen wenig geschlafen habe.« Das war nicht mal eine Lüge. Ando schreckte in letzter Zeit oft mitten in der Nacht schweißgebadet hoch und konnte dann nicht wieder einschlafen. »Na gut. Aber tu mir einen Gefallen, ja? Frag mich nicht alles zweimal. Dir würde es doch auch auf den Senkel gehen, wenn dich
ständig jemand mitten im Satz unterbrechen und dasselbe noch mal fragen würde.« »Tut mir Leid«, gab Ando kleinlaut zurück. »Kann ich fortfahren?« »Ja, leg los.« »Stell dir vor, das Virus, das bei den beiden in Yokohama obdu‐ zierten Leichen entdeckt wurde...« »Du meinst das Virus, das dem Pockenerreger ähnlich sein soll?«, unterbrach Ando. »Richtig, dieses Virus.« »Was hat die Analyse denn ergeben? Weist es eine Überein‐ stimmung mit dem in Ryujis Blut entdeckten Virus auf?« Miyashita schlug schnaufend mit der Hand auf den Tisch. Er konnte seine Wut kaum verbergen. Fassungslos schaute er Ando ins Gesicht. »Du hast mir nicht zugehört! Davon rede ich doch die ganze Zeit. Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Es ist zum Verrückt‐ werden mit dir. Also noch mal: Wir haben das Virus mit dem DNA‐ Sequenzer analysiert, um den genetischen Kode zu entschlüsseln. Die Daten wurden dann mit dem Computer ausgewertet. Und was soll ich dir sagen, die bei den Leichen entdeckten Viren sind zu einem hohen prozentualen Anteil miteinander identisch, und — halt dich fest — es besteht in der Tat eine verdammt starke Ähnlichkeit mit dem Pockenvirus ...« »Du sagst also, es ähnelt dem Pockenvirus, ist aber nicht hun‐ dertprozentig mit ihm identisch. Habe ich das richtig verstanden?« Ungläubig schaute Ando Miyashita an. »Genau so ist es. Die DNA des Virus stimmt zu siebzig Prozent mit den Pocken überein.« »Und was ist mit den übrigen dreißig Prozent?« »Das ist das Verblüffende. Die übrigen dreißig Prozent stimmen mit
der Nukleotid‐Sequenz überein, die für ein Enzym kodiert.« »Wessen Enzym?« »Das eines Menschen.« »Du scherzt, oder?« »Ich kann verstehen, dass dies in deinen Ohren unglaubwürdig klingen mag. Aber das sind nun mal die Fakten. Die Gene des Virus, das bei einer anderen Leiche entdeckt wurde, enthielten wiederum den Kode für Eiweiß. Mit anderen Worten, wir haben es hier mit einer neuen Virengruppe zu tun; eine genetische Kombination aus Pocken und menschlichem DNA‐Virus.« Das Pockenvirus gehörte zur Gruppe der DNA‐Viren. Hätte es zu den Retroviren gezählt, wäre es weniger erstaunlich gewesen, wenn es menschliche Gene enthielt. Der Grund dafür war einfach. Das Retrovirus brachte von Haus aus ein Enzym mit, die Reverse Trans‐ kriptase, das die RNA des Virus in DNA ›um‐schrieb‹, mit anderen Worten eine DNA‐Kopie der Virus‐RNA herstellte, die dann in das Genom der Wirtszelle eingebaut werden konnte. Doch im Unter‐ schied dazu besaßen DNA‐Viren dieses Enzym nicht. Wie konnte es dann aber menschliche Gene in sich aufnehmen? Ando hatte keinen blassen Schimmer. Noch ein anderer Aspekt war ihm unerklärlich: Je nach Virus schienen dreißig Prozent der DNA zu variieren. Mal waren es Nukleotid‐Sequenzen, die für ein Enzym kodierten, dann wiederum Gene, die für ein Eiweiß kodierten. »Lässt sich das bei Ryuji entdeckte Virus dieser neuen Virusgruppe zuordnen? Kannst du dazu schon etwas sagen?« »Endlich sind wir an dem Punkt angelangt, über den ich mit dir schon die ganze Zeit sprechen wollte. Du hast es erraten: Das Virus, das in Ryujis Blut festgestellt wurde, gehört zu dieser neuen Virusgruppe.« »Wir haben es also mit einem Virus zu tun, das ein Gemisch aus Pockenvirus und menschlichem DNA‐Virus ist?«
»Ja, weitgehend.« »Weitgehend? Was heißt das nun wieder?« »Es stimmt nur in gewisser Weise, denn das ist noch nicht alles. Wir haben bei der DNA‐Sequenzierung eine weitere Besonderheit festgestellt; und zwar wiederholt sich die veränderte Nukleotid‐ Sequenz in jedem Gen‐Abschnitt. Mit anderen Worten: Welchen Abschnitt man auf der DNA auch herausgreift und analysiert, es ist immer die gleiche Vierziger‐Basenfolge vorzufinden.« Ando schwieg verblüfft. »Das Verrückte an der ganzen Sache ist aber, dass dies nur bei Ryuji so zu sein scheint. Das Virus der in Yokohama sezierten Leichen wies diese Besonderheit nicht auf.« »Nur um sicher zu sein, dass ich es richtig verstehe: Du sagst, das in Yokohama entdeckte Virus unterscheidet sich von dem in Ryujis Blut geringfügig?« »Du hast es erfasst. Einerseits ähneln sie sich zwar, aber sie un‐ terscheiden sich auch geringfügig voneinander. Ich kann erst mehr dazu sagen, wenn die Daten von den anderen Instituten vorliegen.« In diesem Moment klingelte das Telefon. Miyashita schnalzte mit der Zunge. »Jetzt auch noch das Telefon!« »Entschuldige mich bitte kurz.« Ando stand auf und griff nach dem Hörer. »Ja, bitte?« »Mein Name ist Yoshino. Ich bin ein Journalist bei der Zeitung M. Könnte ich bitte Herrn Ando sprechen?« »Am Apparat.« »Sie sind Dr. Ando von der Gerichtsmedizin?«, vergewisserte sich Yoshino. »So ist es.« »Ich habe gehört, dass Sie am 20. des vergangenen Monats die Leiche von Ryuji Takayama obduziert haben. Ist das richtig?«
»Ja. Ich habe die Autopsie durchgeführt.« »Verstehe. Ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen. Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.« »Nun ...« Während Ando überlegte, wie er reagieren sollte, flüsterte Miyashita neugierig: »Wer ist das?« Ando hielt die Muschel zu. »Ein Journalist von der Zeitung M.« Er nahm die Hand weg und fragte Yoshino: »Worum geht es denn?« »Ich würde gern Ihre Meinung zu der mysteriösen Todesserie erfahren ...« Ando schrak zusammen. Die Bezeichnung ›mysteriöse Todesserie‹ gefiel ihm überhaupt nicht — die Medien waren also an der Sache dran. Das war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür. So ein verdammter Mist. Wie konnte das nur passiert sein? Die Leichen waren doch gerade erst vor zwei Wochen obduziert worden! »Was meinen Sie mit ›mysteriöse Todesserie‹?« Ando versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen. Er wollte den Eindruck vermitteln, als hätte er nicht den leisesten Schimmer, wovon Yoshino sprach. Das war der einzige Weg, um aus diesem Journalisten herauszukitzeln, wie viel er wusste. »Ryuji Takayama, Tomoko Oishi, Haruko Tsuji, Shuichi Iwata, Takehiko Nomi sowie die Frau und Tochter von Asakawa — das meine ich damit.« Ando gefror das Blut in den Adern. Durch welches Nadelöhr konnten diese Informationen nur durchgesickert sein? Er schwieg. »Wie sieht es bei Ihnen aus? Können wir uns treffen?« Ando dachte verzweifelt nach. Sicherlich wäre es gut zu erfahren, was dieser Journalist bisher herausgefunden hatte. Möglicherweise verfügte er ja über interessante Informationen, auf die er selbst noch nicht gestoßen war. Er könnte Yoshino treffen und sich anhören, was
der zu sagen hatte. Sein Wissen brauchte er ja nicht preiszugeben. »Gut, einverstanden. Wir können uns gern unterhalten.« »Wann würde es Ihnen am besten passen?« Ando blickte in seinen Terminkalender. »Ich nehme an, Sie be‐ vorzugen ein baldiges Treffen? Wie wäre es mit morgen Mittag? Da hätte ich zwei Stunden Zeit.« Für einen Moment herrschte Schweigen. Yoshino schien ebenfalls seine Termine zu checken. »Das müsste gehen. Ich werde morgen Mittag zu Ihnen ins Büro kommen.« Sie verabschiedeten sich und hängten ein. »Was wollte der Typ von dir?«, fragte Miyashita neugierig. »Er möchte mich treffen.« »Dich treffen? Wozu? Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!« »Er möchte mir Fragen stellen.« »Ach so ...« Miyashita dachte nach. »Da haben wir den Salat. Ich befürchte, die Sache ist an die Presse durchgesickert... Aber wie haben sie davon Wind bekommen? Ob vielleicht ein Betroffener oder ein Pathologe von einem anderen Institut geredet hat?« »Ich weiß es nicht. Das werde ich morgen schon herausfinden.« »Pass bloß auf, was du sagst. Überleg dir jedes Wort genau. Diese Journalisten sind mit allen Wassern gewaschen.« »Das weiß ich. Mach dir keine Sorgen.« »Erwähn unter gar keinen Umständen das Virus. Hast du gehört?« »Natürlich nicht. Was denkst du denn von mir? Aber was, wenn er längst davon weiß?« In diesem Moment erkannte Ando die Zusammenhänge: Asakawa war für die gleiche Zeitung tätig. Vermutlich war Yoshino sogar ein Kollege von ihm. Nicht auszuschließen, dass sie gemeinsam in dem
Fall recherchierten. Sicherlich verfügte dieser Yoshino über eine Menge interessanter Informationen. Ando konnte das Treffen am folgenden Tag kaum erwarten.
Yoshino saß wie auf Kohlen. Mehrmals streckte er seine Hand nach dem Glas Wasser aus, um unauffällig einen Blick auf seine Armband‐ uhr zu werfen. Doch Ando war der nervöse Blick keineswegs entgan‐ gen. Er verstand: Yoshino würde sich in den nächsten paar Minuten höflich von ihm verabschieden. Dann wäre das Gespräch beendet. Vermutlich hatte er heute noch einen wichtigen Termin. Aber es kam anders. »Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment.« Yoshino sprang auf und verbeugte sich leicht. Hastig drängte er sich durch die Tisch‐ reihen und lief auf das Telefon neben der Kasse zu. Dort kramte er sein Notizbuch aus der Tasche, schlug es auf und tippte mit flinken Fingern eine Nummer ein. Ando lehnte sich zurück. Yoshino hatte ihn heute Mittag in seinem Büro aufgesucht. Seit ungefähr einer Stunde saßen sie in diesem Cafe. Noch immer lag die Visitenkarte vor Ando — Kenzo Yoshino, Zeitung M, Yokosuka‐Office. Yoshino hatte ihm eine unglaubliche Geschichte aufgetischt. Ando war noch immer wie benebelt von dem, was er eben gehört hatte. Tausend Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Unendlich viele Fragen hatten sich ihm aufgedrängt, während er gespannt Yoshinos Worten gelauscht hatte. Als er sie eben aussprechen wollte, war der Journalist aufgesprungen und zum Telefon gerannt. Schenkte man Yoshinos Ausführungen Glauben, hatte die rät‐ selhafte Todesserie am späten Abend des 29. August ihren Anfang genommen. Ort des Geschehens war das Pazifikland in Süd‐Hakone auf der Izu‐Halbinsel. Vier junge Leute, die einen vergnüglichen Abend im Blockhüttendorf dieses Ferienressorts verbracht hatten, waren auf ein mysteriöses Videoband gestoßen, das durch den Ein‐
satz der menschlichen Sinne zustande gekommen war. Wer dieses Video sah, war dazu verdammt, exakt eine Woche später zu sterben — so lautete der Wortlaut am Schluss des unheimlichen Videos. Ando fand diese Geschichte zwar äußerst amüsant und packend, aber vollkommen unglaubwürdig. Das Ganze war absurd ... Gedankenbilder! Es war unmöglich, ohne technische Hilfe, nur mit den eigenen Sinnen, ein Video zu bespielen. Obwohl, wenn er so nachdachte ... Er hielt für einen Moment inne. Was war mit seinen eigenen Erleb‐ nissen in dieser Richtung? Die Zeitungsecke mit den sechs magischen Zahlen, die aus Ryujis zusammengenähter Haut herausgestanden hatte ... Der starke Impuls in Mais Apartment... Würde er einem anderen Menschen davon berichten, dann hielte ihn dieser mit Sicherheit für mindestens genauso verrückt. Was redet der dafür wirres Zeug?, hieße es. Ando wusste, dass sich das Realitätsempfinden eines Menschen je nach Beteiligungsgrad unterschied. Hing jemand tief in einer Sache drin und machte die Erfahrungen am eigenen Leibe, dann war das etwas vollkommen anderes, als wenn ein indirekt Beteiligter nur die Resultate präsentiert bekam. Yoshino hatte in diesem Fall recherchiert, und was er Ando erzählt hatte, waren seine Erkenntnisse. Insofern hatten seine Worte eine gewisse Bedeutung. »Es tut mir Leid, dass ich Sie warten gelassen habe.« Yoshino setzte sich. Sein Stift kratzte über Papier. Ab und zu bohrte er sich damit nachdenklich in seine unrasierten Wangen. Vermutlich ließ er sich einen Bart stehen, um von seinem lichten Haar abzulenken, dachte Ando. »Wo waren wir stehen geblieben?« »Ryuji Takayama begann, Nachforschungen anzustellen ...« »Darf ich fragen, in welcher Beziehung Sie zu ihm standen?« »Wir haben zusammen Medizin studiert.« »Ja, das habe ich gehört.«
Yoshino hatte also Nachforschungen angestellt, bevor er sich mit Ando in Verbindung gesetzt hatte. Sieh an, so ein Schlitzohr. »Haben Sie sich das Video auch angeschaut?«, erkundigte sich Ando. Diese Frage hatte ihm schon die ganze Zeit auf der Seele gebrannt. »Um Himmels willen!« Yoshinos runde Augen weiteten sich. »Ich bin doch nicht lebensmüde. Hätte ich es gesehen, würde ich jetzt schon längst im Reich der Toten weilen. Ehrlich gesagt, mir fehlte der Mumm.« Er lachte. Ando hatte zwar so eine Ahnung gehabt, dass die mysteriösen To‐ desfälle in irgendeiner Weise mit dem Video in Verbindung standen. Aber er hätte in seinen wildesten Träumen nicht gedacht, das die‐ jenigen, die es sich ansahen, exakt sieben Tage später starben. Er war noch immer völlig fassungslos. Diese Story glaubte man wahrschein‐ lich erst, wenn man dem Tod nach Ablauf der Frist ins Auge sah. Yoshino nippte an seinem kalt gewordenen Kaffee. Er wirkte jetzt viel gelassener. Wahrscheinlich hatte er seinen nächsten Termin verschieben können. Auch Ando entspannte sich. Dieses ständige Geglotze auf die Uhr hatte ihn ganz unruhig gemacht. »Aber wie erklären Sie es sich, dass Asakawa noch lebt? Er hat sich das Video doch auch angeschaut.« Ando konnte sich einen ironischen Unterton nicht verkneifen. So ließ er durchblicken, dass er von Yoshinos Geschichte nicht hundertprozentig überzeugt war. »Das ist genau der Punkt, den ich auch nicht verstehe.« Yoshi‐no beugte sich vor und fuhr fort: »Deshalb beschloss ich, ihn zu fragen. Vor ein paar Tagen stattete ich Asakawa einen Besuch im Kranken‐ haus ab. Aber leider bin ich der Antwort nicht näher gekommen. Mit Asakawa war absolut nichts anzufangen, ein Gespräch war unmöglich.« Yoshino hatte also die gleiche Idee gehabt... »Aber vielleicht...« Yoshino schien etwas eingefallen zu sein.
Ando spitzte die Ohren. »Vielleicht was?« »Ich hätte da eine Idee, wie wir der Sache auf den Grund gehen könnten. Wenn ich sie nur in die Hände bekommen könnte ...« »Sie?« »Asakawa hat mir mal erzählt, dass er eine Reportage über die Todesfälle schreiben will. Meines Wissens hatte er damit auch schon angefangen. Sie wissen ja, ein Journalist ist nur erfolgreich, wenn er brandneue, aufregende Storys wie am Fließband produziert. Asaka‐ wa war eigentlich mehr oder weniger zufällig in die ganze Sache hin‐ eingestolpert. Eine heiße Spur, die er verfolgte, bis er sich schließlich das Video in der Blockhütte ansah. Dann kam Ryuji ins Spiel. Asaka‐ wa wollte einen guten Freund an seiner Seite wissen. Allein, dachte er, würde er das nicht durchstehen. Ryuji schien genau die richtige Person zu sein. Asakawa weihte ihn in alle Details ein, und sie began‐ nen mit den Nachforschungen. Schließlich wollten sie nach Atami auf die Izu‐Halbinsel fahren. Dort liegt vermutlich der Schlüssel für das Ge‐ heimnis des Fluchs begraben, hat Asakawa gesagt. Das ist die letzte Information, die ich von ihnen bekommen habe. Sicher haben sie in Atami etwas herausgefunden. Und Asakawa hat das, wie ich ihn kenne, bestimmt niedergeschrieben und auf einer Diskette abgespei‐ chert.« Yoshino überlegte. »Wo hat er die Diskette wohl versteckt? In seinem Zimmer ist sie jedenfalls nicht.« »In welchem Zimmer?« Asakawa lag bekannterweise im Krankenhaus, seine Frau und seine Tochter waren tot. Das Apartment der Asakawas konnte Yoshino demnach nicht meinen. Oder etwa doch? Vielleicht war er ja dort gewesen, um nach der Diskette zu suchen. So abwegig war der Gedanke nicht. »Ich habe mich mit dem Hausmeister in Verbindung gesetzt. Er hat mir freundlicherweise die Wohnung aufgeschlossen.« Ando hatte gestern aus Sorge um Mai das Gleiche getan. Deshalb
konnte er Yoshino keine Vorwürde machen. Die Motivation war zwar eine andere, aber sie waren beide ohne Befugnis in ein fremdes Apartment eingedrungen. Yoshino machte allerdings nicht im Geringsten den Eindruck, als hätte er deswegen ein schlechtes Gewissen. So waren Reporter nun mal. »Jeden Winkel habe ich unter die Lupe genommen, aber nichts ... Weder ein Computer noch eine Diskette.« Yoshino wackelte nervös mit dem Bein. Als er es merkte, legte er sofort eine Hand auf den Oberschenkel und lächelte verlegen. Ando kamen plötzlich die Fotos vom Unfallort in den Sinn. Eines zeigte den Videorekorder auf dem Beifahrersitz — und auf der Fußmatte ein Laptop. Seine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Vielleicht weiß ich, wo sich die Diskette befindet! Yoshino war also noch nicht auf den Trichter gekommen ... Bestens! Inzwischen war Ando recht zuversichtlich, dass er an die Diskette herankommen würde. Natürlich würde er Yoshino nichts sagen — der durfte nichts davon erfahren. Wenn Ando die Diskette erst ein‐ mal hatte, konnte er sich immer noch überlegen, ob er sie den Medien zuspielte oder nicht. Das kam ganz auf den Inhalt an. Zu diesem Zeitpunkt wusste er nur eines sicher: Sieben Menschen waren auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen — aufgrund derselben rätselhaften Ursache: plötzliches Herzversagen. Und alle Personen wiesen ein dem Pockenerreger sehr ähnliches Virus im Blut auf. Doch das war auch schon alles, was sie wussten. Damit konnte man nicht einmal einen Kurzvortrag auf einer Fachtagung zum Besten geben, geschweige denn Lorbeeren in der Wissenschaftsszene ernten. Die Zeit war noch nicht reif. Sie standen erst ganz am Anfang. Würden die Medien jetzt von einem rätselhaften Killervirus berichten, der sein Unwesen trieb, dann würde womöglich eine Panik ausbrechen. Ando musste äußerste Vorsicht walten lassen, um eine Massenhysterie zu vermeiden.
Jetzt prasselte eine Frage nach der anderen auf Ando ein. »Was hat die Autopsie eigentlich ergeben? Welche Todesursache ist festgestellt worden? Haben Sie etwas gefunden, das mit dem, was ich Ihnen erzählt habe, irgendwie zusammenpasst?« Stift und Notizzettel bereit haltend, versuchte Yoshino, Details über die Obduktion aus Ando herauszuquetschen. Zwar antwortete Ando auf jede Frage höflich, doch so schwammig wie möglich. Die wich‐ tigsten Informationen ließ er einfach weg. In Gedanken war er ohne‐ hin woanders: Er dachte an die Diskette mit Asakawas Bericht.
Obwohl Samstag war, standen zwei Obduktionen auf dem Pro‐ gramm. Ando packte die Gelegenheit beim Schopf und erkundigte sich bei dem als Zeugen anwesenden Polizisten, wie Verkehrsunfälle abgewickelt wurden. »Was passiert eigentlich, wenn sich zum Beispiel auf der Autobahn in der Nähe der Ausfahrt Oi ein Unfall ereignet?«, lautete seine erste Frage. »Hm, zunächst untersucht man den Unfallort eingehend, dann macht man Fotos, führt Zeugenbefragungen durch und versucht schließlich, auf Basis dieser Informationen den Unfallhergang zu rekonstruieren«, erwiderte der junge Polizist mit ernster Miene. Zwar kannte Ando den Beamten von mehreren Autopsien, doch heute unterhielt er sich das erste Mal mit ihm. »Und dann?« »Das Unfallauto wird abgeschleppt, sofern man es nicht mehr fahren kann, ansonsten fährt der Besitzer damit weiter.« »Angenommen, es handelt sich um einen Mietwagen ...« »Dann geht das Fahrzeug an die Verleihfirma zurück.« »Verstehe ... Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie mit so vielen Fragen löchere, aber in meinem persönlichen Umfeld hat sich ein tragischer Unfall ereignet. Zwei Menschen sind dabei ums Ueben gekommen: eine junge Frau und ihre Tochter. Der Ehemann kam glimpflich davon, zumindest was die körperlichen Verletzungen betrifft. Momentan liegt er im Krankenhaus. Mich interessiert, was in so einem Fall mit den persönlichen Sachen der Familie geschieht, die sich zum Zeitpunkt des Geschehens im Auto befanden.« »Dafür ist die Abteilung für Verkehrsunfälle des zuständigen Polizeireviers verantwortlich. In der Regel werden die Dinge dort für einen bestimmten Zeitraum aufbewahrt.«
»Wissen Sie zufällig, welches Revier bei einem Unfall in der Nähe der Ausfahrt Oi zuständig ist?« »Das kommt darauf an, ob sich der Unfall auf der Autobahn zu‐ getragen hat oder erst, nachdem man sie verlassen hat.« Die Fotos vom Unfallort waren Ando noch gut im Gedächtnis. Das Unglück hatte sich definitiv auf der Autobahn ereignet, kurz vor dem Tokio‐Bay‐Tunnel... Er konnte sich auch dunkel erinnern, das irgendwo gelesen zu haben. »Auf der Autobahn«, antwortete er. »Dann ist die Autobahnpolizei zuständig.« Da Ando keinen blassen Schimmer hatte, wo diese ihren Sitz hatte, fragte er: »Wo ist das zuständige Revier?« »Im Bezirk Shintomi.« »Verstehe. Sollten sich die persönlichen Sachen nun aber nicht mehr dort befinden — ich meine, die werden da sicherlich keine Ewigkeit aufbewahrt —, was wird dann daraus?« »Die Familie wird kontaktiert und gebeten, sie abzuholen.« »Und wenn alle bei dem Unfall tödlich verunglückt sind?« »Gibt es noch Verwandte des Verletzten?« Diese Frage konnte Ando nicht beantworten. Natürlich wusste er nichts über Asakawas Familienverhältnisse, ob er ein Einzelkind war oder Geschwister hatte, ob die Eltern noch lebten ... Schließlich kannte er ihn ja gar nicht. Da Asakawa jedoch ungefähr sein Jahrgang war, konnte er davon ausgehen, dass dessen Eltern mit großer Wahr‐ scheinlichkeit noch lebten. Vermutlich hatten sie die persönlichen Ge‐ genstände entgegengenommen. Noch einen weiteren Anhaltspunkt hatte er: Asakawa und Ryuji waren Freunde aus Gymnasiumszeiten. Ryuji war in Sagamiono aufgewachsen. Ohne Zweifel befand sich auch Asakawas Elternhaus in dieser Gegend. Ando beschloss, sich gleich dahinterzuklemmen. Zunächst galt es, die Adresse der Eltern herauszufinden...
»Herzlichen Dank für Ihre Geduld. Sie haben mir sehr geholfen.« Kaum hatte er sich von dem Polizisten verabschiedet, stürzte Ando sich in die Nachforschungen. Er hatte richtig getippt. Asakawas Eltern waren noch am Leben. Sie wohnten in Zama‐City, Kurihara. Ohne lange zu fackeln, hängte Ando sich ans Telefon. Mit heiserer Stimme erklärte ihm der über siebzigjährige Vater, dass ihr ältester Sohn die persönlichen Sachen vom Revier abgeholt habe. Er selbst sei zu schwach auf den Beinen, um den weiten Weg bewältigen zu kön‐ nen. Doch das sei nicht der einzige Grund gewesen. Es hätte ihn zu sehr mitgenommen, die Dinge nach dem furchtbaren Unfall entge‐ genzunehmen. Da sein ältester Sohn und dessen Frau in Kanda wohnten, also relativ nahe bei der Polizeibehörde im Bezirk Shintomi, hatte er dessen Telefonnummer weitergegeben. Asakawa hatte insge‐ samt drei Geschwister; er selbst war das Nesthäkchen der Familie. Sein ältester Bruder arbeitete beim S‐Shobo Verlag im Bereich Belle‐ tristik, der Zweitgeborene war als Japanischlehrer an einer Mittel‐ schule tätig. Kaum hatte er aufgelegt, da wählte Ando auch schon mit fliegen‐ den Fingern die Nummer von Asakawas älterem Bruder, Jun‐ichiro. Doch niemand schien zu Hause zu sein. Nach unzähligen fehlge‐ schlagenen Versuchen erreichte er ihn endlich zu fortgeschrittener Stunde. Ando sagte offen, worum es ging. Hätte er ihm irgendein Lü‐ genmärchen aufgetischt, und wäre das herausgekommen, dann wäre Jun‐ichiro vermutlich nicht mehr bereit gewesen, Diskette und Video herauszurücken. Dieses Risiko wollte Ando um keinen Preis ein‐ gehen. Andererseits konnte er Yoshinos Geschichte nicht eins zu eins wiedergeben, weil er selbst nicht so recht daran glaubte. Der Bruder hätte ihn für verrückt gehalten. Schließlich fand Ando einen Kompro‐ miss: Die Punkte, die nur schwer zu glauben waren, ließ er weg, dafür betonte er die Schlüsselrolle Asakawas bei der Aufklärung der mysteriösen Todesserie und erwähnte dessen Bericht. Nach aus‐
schweifenden Lobeshymnen bat er Jun‐ichiro um eine Kopie dieses wichtigen Dokuments. »Hm. Ich weiß wirklich nicht, ob das, was Sie suchen, bei den Sachen ist«, antworte Jun‐ichiro. Es schien, als hätte er noch keinen Blick in den Karton mit den persönlichen Dingen seines Bruders geworfen. »Können Sie mir sagen, ob vielleicht ein Laptop dabei war?«, erkundigte Ando sich. »Ja, ein Laptop war dabei. Aber ich glaube, das Gerät ist bei dem Unfall ziemlich demoliert worden.« »Steckte eine Diskette darin?« »Da bin ich überfragt. Ins Laufwerk habe ich nicht geschaut ... Ehrlich gesagt habe ich die Kiste, so wie sie war, in eine Ecke gestellt, ohne darin herumzuwühlen. Das hätte die Wunden nur wieder auf‐ gerissen. Für uns alle war der Unfall ein gewaltiger Schock.« »Das verstehe ich natürlich. Ist Ihnen vielleicht ein Videorekorder aufgefallen?« »Ja, der war auf jeden Fall dabei. Ich habe ihn entsorgt... Ich hoffe, dass ist kein Problem?« »Sie haben ihn weggeschmissen?« Ando stockte der Atem. »Mir war nicht klar, warum Kazuyuki den alten Rekorder bei sich hatte. Ein Laptop, das ist verständlich, aber ein Videogerät ...« »Und Sie haben den Rekorder auf den Müll geworfen?« »Ja. Damit war wirklich nichts mehr anzufangen. Gerade gestern habe ich ihn zusammen mit unserem alten Fernseher entsorgt. Auch eine Reparatur hätte nichts mehr gebracht, der Rekorder war vollkommen eingedrückt. Kazuyuki wird es mir schon nicht übel nehmen.« Wie ärgerlich! Fast hätte Ando zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. So ein Mist! Der Schlüssel zur Lösung der rätselhaften
Todesserie — das Video — steckte in einem Rekorder, der vermutlich gerade in einer Müllverarbeitungsanlage zermalmt wurde. Dabei hat‐ te Ando Diskette und Videoband schon in seinen Händen gewähnt... Doch manchmal liefen die Dinge nicht so glatt, wie man es sich vor‐ stellte. Warum war er nicht schon viel früher auf die Idee gekommen, sich mit Asakawas Eltern oder Bruder in Verbindung zu setzten? »Eine einzelne Videokassette haben Sie nicht zufällig gefunden?« Ando betete zu Gott, das die Antwort positiv ausfiel ... »Ich weiß lediglich von einem Videorekorder, einem Laptop und zwei Taschen, die vermutlich Shizuka und Yoko gehörten; da habe ich noch nicht hineingeschaut.« Auf die Distanz brachten diese Auskünfte nicht viel. Ando wollte die Sachen selbst sehen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als er fragte: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich bei Ihnen vorbeikomme?« »Nein, das ist kein Problem. Sie können gern kommen«, antwortete Jun‐ichiro zu Andos Überraschung. »Passt es Ihnen morgen?« »Ich bin morgen mit einem Kollegen zum Golf verabredet. Aber ich denke, bis 19 Uhr müsste ich wieder zu Hause sein.« »Gut. Dann komme ich morgen so gegen 19 Uhr.« Ando notierte sich den Termin mit einem dicken Ausrufezeichen. Unruhig begab er sich am folgenden Tag zur verabredeten Zeit nach Kanda in den Bezirk Sarugaku. Nicht viele Familien schienen in dem Hochhaus zwischen den zwei Bürokomplexen zu wohnen. Die meisten Räume wurden vermutlich an Unternehmen vermietet. Da heute Sonntag und das Viertel wie ausgestorben war, umgab eine ruhige, fast unheimliche Atmosphäre das Haus. Nachdem Ando geklingelt hatte, dröhnte eine tiefe Männerstimme durch die Fernsprechanlage. »Wer ist da?«
»Mitsuo Ando. Wir haben gestern telefoniert.« Mit einem Summen öffnete sich die Tür. Hastig lief Ando die Trep‐ pen hinauf. In legerer Freizeitkleidung trat Jun‐ichiro ihm entgegen. Erstaunt blickte Ando in ein rundliches, kindlich‐niedliches Gesicht. Die Stimme am Telefon hatte eher auf einen schlanken, etwas naiven Menschen schließen lassen. Jun‐ichiro spielte im Leben seiner Brüder sicher eine Vorbildrolle. Immerhin war er bei einem bekannten Verlag tätig. Alle drei Geschwister hatten Berufe ergriffen, in denen Worte von zentraler Bedeutung waren. Es war durchaus denkbar, dass Jun‐ichiro auf die berufliche Entwicklung seiner Brüder einen nicht unwesentlichen Einfluss genommen hatte. Auch Ando hatte sich an seinem älteren Bruder orientiert, der Biologielehrer an einem Gymnasium war. Jun‐ichiro holte die Kiste mit Asakawas persönlichen Habselig‐ keiten aus einem Kabuff. »Nur zu. Werfen Sie einen Blick rein.« Er schob den Karton zu Ando. »Ja, gern.« Zunächst nahm Ando den Laptop und notierte Herstellername und Typenbezeichnung. So ein verdammter Mist, dachte er. Das Gehäuse des Computers war durch den Unfall stark beschädigt worden, allein das Aufklappen schien eine fast unüberwindbare Hürde, die er dann aber doch nehmen konnte. Er versuchte, den Computer zu starten, aber es rührte sich nichts. Als Nächstes untersuchte er das Diskettenlaufwerk. Siehe da, eine blaue Diskette klemmte darin. Nervös drückte Ando auf ›Eject‹. Der Computer spuckte die Floppy aus. Ando führte innerlich ein Freudentänzchen auf. Zwar war die Datenscheibe ohne Etikett und damit auch ohne Inhaltsbeschreibung, doch Ando war sich ziemlich sicher, dass er genau das gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. »Ich würde gern wissen, was auf der Diskette abgespeichert ist. Haben Sie einen Computer?«
»Da muss ich leider passen. Mein Gerät ist nicht kompatibel.« »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich die Diskette für ein paar Tage mitnehme?« »Kein Problem.« »Ich schicke sie Ihnen, sobald ich eine Kopie angefertigt habe.« »Was ist denn so Spannendes auf der Diskette?« Jun‐ichiro schien Andos Aufregung bemerkt zu haben. Nun war auch seine Neugierde entflammt. »Das weiß ich nicht«, antwortete Ando kopfschüttelnd. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Diskette bald zurückgeben würden.« Vielleicht lag es ja am Beruf, aber Jun‐ichiro hatte plötzlich Feuer gefangen. Vielleicht bereute er es inzwischen sogar schon, dass er Ando die Diskette für ein paar Tage mitgab. Freudestrahlend ließ Ando den Datenträger in seine Jacketttasche gleiten. Beflügelt durch das erste Erfolgserlebnis, durchwühlte er nun auch noch die anderen Sachen im Karton. Eine schwarze Boston‐ Tasche ... Zwar war die Wahrscheinlichkeit, das Videoband in der Tasche zu finden, relativ gering, aber trotzdem wollte er sie sich genauer ansehen. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich einen Blick in die Reisetasche werfe?«, fragte er höflich. Schließlich gehörte es sich nicht, in der Tasche einer Fremden herumzuwühlen. »Ich glaube nicht, dass sie dort etwas Besonderes finden werden.« Lächelnd reichte Jun‐ichiro ihm die Tasche. Ando betete zu Gott, dass er darin das mysteriöse Video fand, doch mehr als ein paar Kleider und Windeln traten nicht zu Tage. Vermutlich steckte das Band tatsächlich noch in dem Videorekorder. Aber immerhin hatte er die Diskette. Das war zumindest ein An‐ fang. Kaum hatte Ando Jun‐ichiros Wohnung verlassen, ließ er seinen Glücksgefühlen freien Lauf und stieß einen lauten Schrei aus. Gleich
morgen früh würde er sich bei seinen Kollegen erkundigen, ob einer von ihnen einen kompatiblen Rechner besaß.
Ando machte einen Abstecher in die Pathologie. Als er Miyashita sah und ihn gerade auf sich aufmerksam machen wollte, entdeckte dieser ihn. »Du kommst wie gerufen. Ich würde gern deine Meinung hören.« Mit einem Blatt Papier in der Hand winkte Miyashita Ando zu sich herüber. Neben ihm stand Ueda, ein Kollege aus dem Biochemischen Institut. Ando konnte sich das Lachen kaum verkneifen, als er die beiden untersetzten Gestalten nebeneinander sah. Sie gaben ein Bild für die Götter ab. Die Ähnlichkeit war verblüffend — beide waren kaum größer als einen Meter sechzig, brachten jedoch sicher achtzig Kilo auf die Waage. Die Länge der Beine, der Rumpf, das Gesicht, die Stimme, ja sogar ihr Geschmack in Bezug auf Kleidung schienen identisch zu sein. »Ihr würdet als Zwillingsbrüder durchgehen ...« Grinsend ging Ando auf die beiden zu. »Was fällt Ihnen ein ... Werfen Sie uns nicht in einen Topf.« Die Stirn runzelnd, versuchte Ueda, ein grimmiges Gesicht zu ziehen. Tatsächlich aber machte es ihm nicht das Geringste aus, mit seinem zwei Jahre älteren Kollegen Miyashita verglichen zu werden. Das hatte einen ganz simplen Grund: Miyashita war ein ausgesprochen liebenswürdiger, witziger Kerl, der von allen gemocht wurde. Zudem waren seine wissenschaftlichen Leistungen hoch angesehen. Vor ihm lag eine glänzende Zukunft — er hatte gute Aussichten auf einen der heiß begehrten Professorenposten. »Immer das gleiche Gesülze, wie ähnlich wir uns doch sähen ... Das habe ich jetzt bestimmt schon zum hundertsten Mal gehört. Wie lästig! Ich habe eine glänzende Idee: Wie wäre es, wenn du mal etwas abspecken würdest?«, witzelte Miyashita, während er auf Uedas
dicken Bauch klopfte. »Wenn ich eine Diät machen soll, musst du mitmachen. Ich quäle mich doch nicht allein ab.« »So ein Blödsinn. Wenn wir beide schlank und rank wie eine Tanne werden, hat das Ganze doch keinen Sinn.« Miyashita reichte Ando das Blatt Papier, mit dem er die ganze Zeit in der Luft herumgewedelt hatte. Auf einen Schlag machte auch Ando eine ernste Miene. Es waren die Ergebnisse der DNA‐Sequen‐ zierung, bei der die Erbinformation des Virus durch die Ermittlung der Basenfolge entschlüsselt worden war. Die DNA war die Erbsubstanz aller Lebewesen — von einigen Vi‐ ren abgesehen, bei denen die Erbinformation in der RNA gespeichert war — und befand sich im Zellkern jeder Zelle. Sie war aus zwei schraubenförmig umeinander gewundenen Strängen aufgebaut, zwi‐ schen denen, ähnlich den Sprossen einer Strickleiter, etwa hundert‐ tausend parallele Verbindungen angeordnet waren. Man konnte sich dieses Gebilde folglich am besten als doppelte, in sich gewundene Leiter vorstellen. Die beiden Längsstränge bestanden abwechselnd aus dem Zuckermolekül Desoxyribose und einer Phosphatgruppe. Die Quersprossen der Strickleiter setzten sich aus vier verschiedenen Basen zusammen: Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G) und Cytosin (C). Betrachtete man die genetische Information als Text, so entspra‐ chen die Basen den Buchstaben des Alphabets. Die Reihenfolge der einzelnen Basen am DNA‐Strang bildete die Wortfolge des ›geneti‐ schen Textes‹. Jeweils drei aufeinander folgende Basen in der DNA kodierten für eine Aminosäure (Triplett); zum Beispiel war dem Triplett AAC nach den Regeln des genetischen Kodes die Aminosäure Asparagin zuge‐ ordnet, bei GCA war es die Aminosäure Alanin. Diese wiederum dienten als Bausteine für die lebenswichtigen Proteine. Es gab insge‐ samt zwanzig verschiedene Aminosäuren, die an den Ribosomen
einer Zelle gemäß dem Bauplan der DNA in einer festgeschriebenen Abfolge wie zu einer Kette aneinandergehängt wurden, um Proteine zu bilden. TCTCTATACCAGTTGGAAAATTAT ... So in etwa konnte man sich die Abfolge der Nukleotide innerhalb der DNA vorstellen. Übersetzte man diese Buchstabenabfolge auf der Grundlage des genetischen Kodes, bei dem ein Condom, ein Basistriplett, für eine der zwanzig protinogenen Aminosäure stand, ergab sich folgende Aminosäurensequenz: TCT = Serin (Ser), CTA = Leucin (Leu), TAC = Tyrosin (Tyr), CAG = Glutamin (Gin), TTG = Leucin (Leu), GAA = Glutamin (Glu), AAT = Asparagin (Asn), TAT = Tyrosin (Tyr). Ando schaute sich die ausgedruckten Ergebnisse noch einmal an:
... ... ... ... ... ... ... ... ... GTTTAAAGCA TTTGAGGGGGATTCAATGAATATTTATGACGATTCCGCAGTA TTGGACGC TATCATGGAAGAAGAATATCGTTATATTCCTCCTCCTCAACAA CAATTTG CAAAAGCCTCTCGCTATTTTGGTTTTTATCGTCGTCTGGTAAA CGAGGGT TTATGATAGTTTGCTCTTACTATGCCTCGTAATTCCTTTTGGC GTTATGT ATCTGCATTAGTTGAATGTGGTATTCCTAAATCTCAACTGAT GAATCTTT CTACCTGTAATAATGTTGTTCCGTTAGTTCGTTTTATTACGTA GATTTT TCTTCCCAACGTCCTGACTGGGATTTCGACACAAATGGAA GAA GAATATC GTTATATTCCTCCTCCTCAACAACAACGCTTGGTATAATCGCT GGGGGTC
AAAGATGAGTGTTTTTAGTATATT ... ... ... ... ... ... Ando wandte sich Miyashita zu. Nur bestimmte Sequenzabfolgen waren gekennzeichnet. Welche Bedeutung steckte dahinter? »Was hat es mit den beiden markierten Basenfolgen auf sich?«, erkundigte er sich. Miyashita forderte Ueda mit einem Blick auf zu antworten. »Das ist ein Stück von Ryujis DNA.« »Und?« »Diese merkwürdige Basenfolge konnte nur bei Ryuji festgestellt werden. Die anderen Leichen wiesen diese Besonderheit nicht auf.« »Sie sprechen von dem fett markierten Teil, oder?« »So ist es.« Ando starte auf die markierte Buchstabenabfolge: ATGGAAGAAGAATATCGTTATATTCCTCCTCCTCAACAACAA Nachdenklich verglich er sie mit der anderen fett gedruckten Se‐ quenzabfolge; sie waren identisch. Unter den weniger als tausend Basen schien es zwei Abschnitte mit derselben Buchstabenfolge zu geben. Ando blickte Ueda fragend an. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. »Welchen Teil der Virus‐DNA man auch herausgreift und ana‐ lysiert, es ist immer diese eine merkwürdige Abfolge enthalten.« »Wieviel sind es?« »Basen?« »Ja.« »Zweiundvierzig.« »Zweiundvierzig ... Das heißt, vierzehn Tripletts; nicht gerade viel.« »Ich habe allerdings keinen Schimmer, ob das irgendeine Be‐
deutung hat«, sagte Ueda, den Kopf leicht zur Seite neigend. »Merkwürdig, oder?«, mischte sich Miyashita ins Gespräch ein. »Diese auf den ersten Blick völlig unscheinbare Basenfolge wurde nur in Ryujis Blut nachgewiesen. Das macht mich stutzig. Es muss irgendeinen Grund haben.« Ratlos zuckte Miyashita die Achseln. »Was meinst du?« Neugierig beobachtete er Andos Reaktion. Ein Wissenschaftler freute sich normalerweise, wenn er auf ein unlösbar scheinendes Problem stieß. »Ich bin wirklich überfragt...« Schweigend blickten sich die drei Männer an. Ando hielt das Blatt mit den Ergebnissen der DNA‐Analyse noch immer in der Hand. Eine unsichtbare Kraft lenkte seine Augen wieder auf die Basen‐ folge. Er nahm einen starken Impuls wahr. Hier verbarg sich irgend‐ etwas ... Tausende Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Viel‐ leicht hatte das Virus die Basenfolge ja kopiert? Oder war das nur Zu‐ fall? Denkbar wäre auch, dass sich das Virus, nachdem es sich in der Wirtszelle eingenistet hatte, veränderte. Resultat war die Vierzehn‐ Triplett‐Basenfolge in jedem DNA‐Abschnitt. Aber war das in der Re‐ alität überhaupt möglich? Wenn ja, was würde es de facto bedeuten? Noch immer herrschte Stille im Raum. In Gedanken verloren, schien jeder der drei Mediziner nach Antworten zu suchen. Schließlich brach Miyashita das Schweigen. »Ando, du bist doch si‐ cher nicht ohne Grund vorbeigekommen. Was hat dich hergeführt?« Die Untersuchungsergebnisse zu der Virus‐DNA hatten Ando so in ihren Bann geschlagen, dass er sein eigentliches Anliegen fast ver‐ gessen hätte. »Stimmt. In der Tat bin ich aus einem anderen Grund gekommen ...« Er zog einen Zettel aus der Brieftasche. »Ich wollte euch fragen, ob ihr zufällig das gleiche Laptop‐Modell habt.« Lang‐ sam las Ando Herstellernamen und Gerätebezeichnung vor. Da das gesuchte Gerät als sehr leistungsfähig galt und zudem ein Topseller war, war nicht ausgeschlossen, dass die wissenschaftlichen Einrich‐
tungen damit ausgestattet waren. »Muss es unbedingt genau dieses Modell sein?« »Ich denke, ein Gerät vom gleichen Hersteller tut es auch. Es muss nur kompatibel sein.« Mit der linken Hand hielt Ando die Diskette hoch. »Ich möchte die auf dieser Diskette gespeicherten Daten ausdrucken und eine Kopie ziehen.« »Es sind also keine MS‐DOS‐Daten?« »Ich glaube nicht.« Ueda schlug sich mit der Hand auf einen Schenkel. Er schien eine Idee zu haben. »Ich glaube, ein Mitarbeiter unseres Instituts ... Wie war doch sein Name? Ah, Taneda. Ich glaube, er hat so einen Laptop.« »Ob er mir den wohl mal für ein paar Tage leihen könnte?«, fragte Ando. »Ich denke, das geht klar. Er ist Doktorand bei uns und hat gerade sein Examen hinter sich gebracht.« Taneda war also ganz frisch am Institut. Sicher würde er Ueda eine Bitte nicht ausschlagen. »Entschuldigen Sie die Umstände.« »Kein Problem. Wie sieht es aus, wollen Sie gleich mit mir kommen? Taneda müsste jetzt im Büro sein.« Ohne zu zögern, nahm Ando dieses Angebot an. Er konnte es kaum noch erwarten, einen ersten Blick auf den Bericht von Asakawa zu werfen. »Dann lassen Sie uns gehen.« Ando steckte die Diskette wieder in seine Jacketttasche, winkte Miyashita kurz zu und machte sich mit Ueda auf den Weg zum Biochemischen Institut.
Schweigend gingen Ando und Ueda den dunklen Flur der Medi‐ zinischen Fakultät entlang. Die rechte Hand in der Tasche seines Jacketts vergraben, umklammerte Ando die Diskette. All seine Hoff‐ nungen lagen darauf. Vielleicht würde sie etwas Licht in die Sache bringen. Zu seiner Verwunderung hatte weder Miyashita noch Ueda gefragt, was es mit der Diskette auf sich habe. Das passte eigentlich so gar nicht zu den beiden. Dabei hätte er nicht einmal ein Geheimnis daraus gemacht. Aber auf die Nase binden wollte er ihnen diese verrückte Geschichte nun auch wieder nicht. Ihr Pech, dachte er. Miyashita hätte sich sicherlich sofort an seine Fersen geheftet, wenn er auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, dass die Diskette einen Bericht über die mysteriösen Todesfälle beinhaltete. Mann, wäre der vor Neugierde geplatzt. Selbst schuld ... Natürlich war nicht auszuschließen, dass etwas ganz anderes auf der Diskette abgespeichert war. Noch hatte er den Inhalt ja nicht gesehen. Aber Ando war sich ziemlich sicher, dass er die richtige Dis‐ kette gefunden hatte. Er spürte es instinktiv. Aus der Datenscheibe in seine Hand schien Energie zu strömen. Ueda stieß die Tür des Biochemischen Instituts auf. Ando blieb im Türrahmen stehen. »Taneda, hast du mal eine Minute Zeit?«, rief Ueda einem jungen, hageren Mann zu. »Ja, was gibtʹs?« Taneda wirbelte in seinem Drehstuhl herum. Mit aufgerissenen Augen blickte er zu Ueda, machte aber keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Lächelnd ging Ueda auf ihn zu. »Sag mal, benutzt du gerade deinen Computer?« Ueda legte einen Arm um Tanedas Schulter. »Nein. Wieso?«
»Hervorragend! Das passt gut. Der Kollege würde ihn gern für einen Moment benutzen.« Ueda zeigte auf Ando. »Ich hoffe, ich mache Ihnen keine Umstände. Ich würde mir nur gern kurz die Daten auf der Diskette anschauen. Leider ist mein Gerät nicht kompatibel.« Ando wedelte mit der Diskette in der Luft herum, während er zu Ueda und Taneda trat. »Kein Problem. Nur zu, Sie können meinen Computer gern benutzen.« »Was dagegen, wenn ich mir die Datei gleich anschaue?« »Bitte, gern.« Ando fuhr den Computer hoch. Das Startmenü öffnete sich. Gespannt schob er die Diskette ins Laufwerk und öffnete den Explorer. Dann klickte er auf ›Diskette‹, um die gespeicherten Daten herunterzuladen. Auf dem Monitor erschien:
File: Ring 1
199X.
2. Oktober
File: Ring 2
199X
4. Oktober
File: Ring 3
199X
7. Oktober
File: Ring 4
199X
12. Oktober
File: Ring 5
199X
15. Oktober
File: Ring 6
199X
17. Oktober
File: Ring 7
199X
19. Oktober
File: Ring 8
199X
20. Oktober
File: Ring 9
199X
21. Oktober
»Ring, Ring, Ring ...« Ando starrte fassungslos auf die File‐Namen. Wie in Trance murmelte er: »Ring ...« Was hatte das zu bedeuteten? ›Ring‹ — das war doch ... Er selbst hatte die Zahlenkombination auf der Zeitungsecke geknackt. Dass dieses Wort ausgerechnet auf der Diskette als Dateiname auftauchte,
versetzte ihm einen gewaltigen Schock. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen so blass aus.« Ueda blickte besorgt in das kreideweiße Gesicht Andos. Dieser konnte nur den Kopf schütteln. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte es ihm die Sprache verschlagen. Das war kein Zufall. Asakawa dokumentierte die Ergebnisse seiner Nachforschungen über die mysteriöse Serie von Todesfällen, gab dem Vorgang den Namen ›Ring‹ und speicherte den Bericht in neun Dateien ab ... Welche Erklärung steckte dahinter? Das alles träume ich wahrscheinlich nur. Gleich wache ich auf, und der Albtraum ist vorbei. Ando konnte und wollte nicht glauben, dass ein Zusammenhang zwischen dem von ihm entschlüsselten Kode‐Wort und dem Asakawa‐Bericht bestand. Der tote Ryuji hatte ihm eine Nachricht geschickt ... Das ging nun wirklich über Andos Vorstel‐ lungskraft hinaus. Ryuji hatte ihm mitteilen wollen, dass dieser Ring‐ Bericht existierte? Ando hatte das Gefühl, dass ihm die Geschichte langsam über den Kopf wuchs. Ryujis Gesichtsausdruck nach der Autopsie erschien vor Andos gei‐ stigem Auge. Ein leichtes Lächeln hatte seine Mundwinkel umspielt. Die Züge seines kantigen Gesichts hatten verraten, dass es ein ironi‐ sches Lächeln war. Selbst in seinem Zustand hatte er sich noch über Ando lustig gemacht. Plötzlich erschien ihm Yoshinos Geschichte gar nicht mehr so un‐ glaubwürdig. Vielleicht hatte der Journalist ja tatsächlich die Wahr‐ heit gesagt, und es existierte ein Video, das über eine so immense Kraft verfügte, dass es töten konnte ...
Der Drucker spukte gemächlich ein paar Blatt Papier aus. Ando nahm sie voller Erwartung aus der Halterung, machte es sich bequem und begann zu lesen. Die ersten Seiten hatte er im Nu durch. Er wartete ungeduldig auf die nächsten Ausdrucke. Dieses verdammte Ding. Warum dauerte das nur so lange? Er wurde allmählich wütend. Mittlerweile hatte er eine so große Faszination an dem Fall entwickelt, dass er endlich Antwor‐ ten wollte. Was hatte Asakawa herausgefunden? Er verfluchte den lahmen Drucker; zwei bis drei Minuten pro Seite, das ging Ando ent‐ schieden zu langsam. Andererseits war ihm viel daran gelegen, den Bericht zur Sicherheit auch in ausgedruckter Form vorliegen zu ha‐ ben. Also blieb ihm nichts weiter übrig, als sich in Geduld zu üben. Zu gern hätte Ando den Report in Uedas Büro an der Universität ausgedruckt. Doch dies hatte sich schnell als irrwitzige Idee ent‐ puppt. Nachdem das geheimnisvolle Dokument auf dem Bildschirm erschienen war, hatte Ando zu seinem Erstaunen festgestellt, dass Asakawa über hundert Seiten geschrieben hatte. Es wäre eine Zumutung gewesen, die Kollegen damit zu belästigen und ihnen ihre wertvolle Zeit zu stehlen. Also war Ando mit dem Laptop unter dem Arm aus Uedas Büro marschiert. Unterwegs hatte er sich einen Snack zur Stärkung gekauft. Wäh‐ rend er aß, hatte er sich die ersten einundzwanzig Seiten der Repor‐ tage zu Gemüte geführt. Zu seiner Enttäuschung brachte ihn die Lek‐ türe allerdings kein Stück weiter. Die Fakten hatte er bereits letzten Freitag von Yoshino erfahren, ihnen da jedoch noch keine große Bedeutung beigemessen. Ein billiger Dreigroschenroman — nach mehr hatte die Geschichte in seinen Ohren nicht geklungen. Anderer‐ seits wusste er aber auch, dass es eine große Rolle spielte, wie und wo man an Informationen gelangte. Vielleicht hatte es an der Atmosphä‐
re in dem Cafe gelegen, dass er Yoshinos Worte wenig glaubwürdig fand. Als er jetzt den Asakawa‐Bericht mit genauen Orts‐ und Zeit‐ angaben las, wirkte die Geschichte wesentlich realistischer. Asakawa schrieb in einem nüchtern‐objektiven Stil, ohne den für viele Journali‐ sten typischen Sensationalismus. Andos Zweifel ließen allmählich nach. Es schien sich nicht um irgendein Lügenmärchen zu handeln. Vier junge Menschen waren am 5. September unter mysteriösen Umständen in Tokio ums Leben gekommen. Todesursache: plötzli‐ ches Herzversagen. Asakawa witterte eine heiße Story und begann zu recherchieren. Was steckte hinter dieser rätselhaften Todesserie? Er war geneigt, einer wissenschaftlichen Theorie Glauben zu schenken. Seine Vermutung war, dass sich ein Virus dahinter verbarg. Er hatte den richtigen Riecher gehabt. Die Leichenobduktionen erhärteten diesen Verdacht; bei allen Verstorbenen war ein dem Pockenerreger ähnliches Virus im Blut nachgewiesen worden. Das bedeutete, dass die vier jungen Leute irgendwo und irgendwann zu‐ sammen gewesen sein mussten. Asakawa hatte es sich zur Aufgabe gemacht herauszufinden, wo sie sich angesteckt haben konnten, und aufweiche Weise das Virus übertragen wurde. Nach einigen Recherchen hatte er endlich den Ort ausfindig ge‐ macht. Eine Woche, bevor die vier Jugendlichen starben, am 29. Au‐ gust, hatten sie gemeinsam im Pazifikland in Süd‐Hakone eine Nacht in einem kleinen Ferienhäuschen, der Blockhütte B‐4, verbracht. Auf Seite zweiundzwanzig beschrieb Asakawa seine Fahrt nach Süd‐Hakone, also zu dem Ort, wo das Übel seinen Anfang ge‐ nommen hatte. Zunächst fuhr er mit dem Hochgeschwindigkeitszug bis Atami. Am Bahnhof mietete er einen Leihwagen und machte sich auf den Weg zum Pazifikland. Heftiger Regen prasselte vom schwar‐ zen Himmel, und dicke Tropfen hämmerten gegen die Windschutz‐ scheibe. Da es bereits dunkel war und Asakawa die Gegend nicht kannte, musste er sich beim Fahren umso mehr konzentrieren. Er‐ schwerend kam hinzu, dass die Straßen auf dem letzten Wegstück
eng und steil waren und die Kurven finster. Endlich erreichte er das Pazifikland. Es war acht Uhr abends. Eigentlich hatte er die Block‐ hütte B‐4 schon ab Mittag gemietet, aber egal, Hauptsache er war da. Hier also haben die vier jungen Leute die Nacht verbracht ... Bei diesem Gedanken wurde Asakawa unbehaglich zumute. Was würde ihn erwarten? Die Jugendlichen, die in B‐4 übernachtet hatten, waren exakt eine Woche nach ihrem Aufenthalt im Blockhüttendorf eines merkwürdigen Todes gestorben. Damit nicht genug: Todesuhrzeit und ‐ursache waren bei allen Leichen mit geringfügigen Abweichun‐ gen identisch. Asakawa versuchte, sich bewusst zu machen, welchen Gefahren er sich aussetzte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm das glei‐ che Schicksal widerfuhr, war nicht gerade gering. Da brauchte er sich nichts vorzumachen. Doch sein Reporterinstinkt und seine Wissens‐ gier waren größer als seine Ängste. Fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, holte er sich beim Verwalter den Schlüssel für die geheimnisvolle Hütte. Dort nahm er jeden Winkel genaustens unter die Lupe, doch er konnte nichts Auffälliges feststellen. Es war eine stinknormale Block‐ hütte aus Holz. Da gab es nur eines: Er musste herausfinden, was die vier Jugendlichen hier gemacht hatten. Das Gästebuch ... vielleicht lieferte es irgendwelche Hinweise. Während er die Einträge der vier jungen Menschen las und noch über den Sinn der Worte nachgrü‐ belte, hatte er plötzlich eine Eingebung: Sie hatten sich vermutlich ein Video angesehen. Asakawa verließ die Blockhütte und stieß kurz darauf die Tür des Verwalterbüros auf. Dort ließ er seinen Blick über ein Regal mit Videokassetten schweifen. Ein Video weckte sein Interesse. Es steckte im Gegensatz zu allen anderen in keiner Schutzhülle. Nicht einmal ein Etikett klebte darauf. Asakawa wusste zwar nicht, ob es das war, wonach er suchte, aber er lieh sich den Streifen für den Abend aus. Insgeheim setzte er große Hoffnungen darauf, dass auf der Video‐ kassette der Schlüssel verborgen war, mit dem er das Rätsel der vier
Todesfälle lösen konnte. Ahnungslos schob er wenig später die Kassette in den Rekorder. Das Band begann zu laufen. Es offenbarte sich ihm eine Welt der absoluten Finsternis. Asakawa beschrieb die erste Szene mit folgenden Worten:
Auf dem pechschwarzen Bildschirm flackerte ein kleiner, stecknadel‐ kopfgroßer Lichtpunkt auf. Dann wurde der Punkt nach und nach größer, sprang von rechts nach links, um schließlich in der linken Ecke zu verhar‐ ren. Der Lichtpunkt löste sich in verästelte Linien auf, zu einem zerfetzten Knäuel, dessen Fäden wie Würmer über die Mattscheibe krochen ...
Ando hob nachdenklich den Kopf. Irgendwo hatte er diese Bilder schon einmal gesehen. Das Glühwürmchen auf der schwarzen Mattscheibe ... der sich wie ein Pinsel in verästelte Linien auflösende Lichtpunkt... Es war noch nicht lange her. Plötzlich erinnerte er sich. Er hatte die beschriebene Szene auf einem Videoband in Mais Apartment gesehen! Die Kassette hatte im Rekorder gesteckt. Auf dem Etikett hatte so etwas wie Frank Sinatra, Liza Minelli gestanden, aber wie sich dann herausstellte, stimmten Inhalt und Titel nicht überein. Die Sequenzen in den ersten Sekunden des Videos passten haargenau auf Asakawas Beschreibung. Ver‐ blüffend! Schon damals hatte Ando der abrupte Szenenwechsel nach einigen Sekunden gewundert, von der anfangs schwarzen Mattscheibe zu einem hellen Bildhintergrund. Jetzt konnte er es sich erklären. Um den ursprünglich aufgenommenen Film zu löschen, hatte sich jemand die Mühe gemacht, das Band mit Sendungen aus dem Fernsehpro‐ gramm zu überspielen. Ando reimte sich das Ganze wie folgt zusammen: Mai war in Ryujis Zimmer vermutlich zufällig auf das mysteriöse Video gestoßen. Ge‐ mütlich setzte sie sich zu Hause vor die Mattscheibe und schaute sich
den Film an. Irgendetwas veranlasste sie, das Video zu überspielen. Nur die ersten Sekunden blieben auf dem Band. Sicherlich gab einen triftigen Grund für ihr Verhalten. Das rätselhafte Videoband aus der Hütte B‐4 schien durch mehrere Hände gegangen zu sein, bis es zum Schluss bei Mai gelandet war. Ando versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Halt, das kann nicht sein. Die in B‐4 und in Mais Apartment gefundenen Videos waren nicht identisch. Laut Asakawas Bericht hatte die von ihm im Ferien‐ dorf entdeckte Kassette weder eine Schutzhülle, noch war sie mit einem Etikett versehen. Doch auf dem Videoband in Mais Wohnung klebte eines. Was bedeutete das? Endlich dämmerte es Ando: Mais Kassette musste eine Kopie des in der Blockhütte B‐4 gefundenen Originalfilms enthalten. Das Video wurde überspielt, gelöscht ... ging durch mehrere Hände ... wie ein Virus, das sich verbreitete und vermehrte, gleichzeitig aber auch veränderte. Einerseits war das Video ein Gegenstand, anderer‐ seits hatte es aber auch so etwas wie eine Seele. Abstruse Gedanken schossen Ando durch den Kopf. Vielleicht steht das rätselhafte Verschwinden Mais ja mit dem mysteriösen Video in irgend‐ einem Zusammenhang ... Nicht auszumalen ... Der Gedanke ließ Ando nicht los. Mai war seit Tagen wie vom Erdboden verschluckt. Keiner hatte sie gesehen, keiner wusste, wo sie stecken könnte. Sie war weder in ihrem Apartment, noch bei ihren Eltern. Die Vorlesungen hatte sie seit gut einer Woche sausen lassen. Andererseits war in der Presse aber auch nicht über den Fund einer Leiche berichtet worden. Was war nur mit ihr passiert? Vielleicht war ihre Leiche nur deshalb noch nicht entdeckt worden, weil sie verwesend im Dickicht eines fernen Waldes lag? Andos Herz verkrampfte sich. Sie ist doch noch so jung! Aber der wahre Grund waren seine Gefühle für Mai... Das Geräusch des Druckers riss Ando in die Realität zurück. Er
beschloss, sich nicht verrückt zu machen, sondern ruhig Blut zu bewahren, bis er den Bericht zu Ende gelesen hatte. Dann blieb immer noch Zeit, um sich die schlimmsten Szenarien auszumalen.
Ando las die nächsten Seiten. Sie enthielten eine detaillierte Beschreibung der Szenen auf dem mysteriösen Video, das — so unglaublich es auch klingen mochte — Menschenleben auf dem Gewissen haben sollte. Asakawas Schreibstil war so unmittelbar, dass Ando sich des Gefühls nicht erwehren konnte, das Gelesene selbst zu erleben. Er sah einen Fernseher vor sich. Verzerrte Bilder flackerten auf. Offensichtlich begann jetzt der Videofilm.
Auf dem monochromen Bildschirm platzte etwas Scharlachrotes. Ein bedrohliches Grollen war zu vernehmen. Das Rot explodierte und kroch wie eine zähflüssige Masse über die Mattscheibe. Im Hinter‐ grund war schwach die Silhouette eines Berges zu erkennen. Das war offensichtlich ein Vulkanausbruch. Die aus dem Schlund des Vulkans ausgespiene Lava schlängelte sich durch enge Schluchten ins Tal hinunter. Ein schwarzer Schleier umhüllte den abendlichen Himmel. Das Grollen der Erde wurde immer lauter, bis der ganze Bildschirm von Lava ausgefüllt zu sein schien. Auf einen Schlag wechselte die Szenerie. Jetzt tauchte vor einem weißen Hintergrund das japanische Schriftzeichen für ›Berg‹ auf. Kurz darauf verschwand es wieder. Es folgte ein weiterer unvermittelter Szenenwechsel. Zwei rollende Würfel auf dem gewölbten Boden einer Bleischüssel waren zu sehen. In der nächsten Szene erschien zum ersten Mal ein Mensch. Eine alte Frau mit einem faltigen Gesicht saß auf Tatami‐Matten. Sie starr‐ te mit leerem Blick geradeaus und brabbelte in einem fremdartigen Dialekt vor sich hin. Ihre Worte waren kaum zu verstehen. Doch es schien, als sagte sie etwas über die Zukunft eines Menschen — es klang nach Wahrsagerei. Sie schien zur Vorsicht zu raten und warnte
vor etwas. Ein neugeborenes Baby schrie. Es gab keinerlei Kontinuität zwi‐ schen den Szenen, nur unvermittelte Wechsel, dennoch wirkte alles beabsichtigt. Das Neugeborene verschwand. Auf der Mattscheibe waren hunder‐ te nicht zu unterscheidende menschliche Gesichter zu sehen, die sich wie bei einer Zellteilung immer weiter vermehrten. Sie wichen nach und nach in die Tiefe des Raumes zurück, und je kleiner die Köpfe wurden, desto mehr Gesichter waren zu sehen. Sie drückten Hass und Feindseligkeit aus, und aus dem Stimmengewirr erhoben sich die Wörter ›Lügner‹ und ›Betrüger‹. Mittlerweile schienen es mehr als tausend Gesichter zu sein. Sie glichen nur noch schwarzen Partikeln, die nach und nach den ganzen Bildschirm füllten. In der nächsten Sequenz tauchte ein Fernseher auf. Er stand auf einem Holztischchen — ein Fernseher in einem Fernseher. Es war ein altmodisches Modell. Der Bildschirm begann zu flackern. Auf der Mattscheibe erschien das Schriftzeichen für ›sada‹. Erneuter Szenenwechsel. Schlagartig tauchte das markante Gesicht eines Mannes auf. Er keuchte, während sein Körper sich rhythmisch bewegte. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Hinter dem Mann war der schwarze Schatten von Bäumen zu erkennen; ein Wald schien in der Nähe zu sein. Speichel lief dem Mann aus dem Mund, seine Augen waren blutunterlaufen. In seinem Blick lag etwas Gefährliches. Es waren die Augen eines Mörders. Ein schriller Schrei begann aufzusteigen. Zur gleichen Zeit tauchte die nackte Schulter des Mannes auf; aus einer klaffenden Wunde spritzte Blut. Von irgendwoher war nun das Schreien eines Kindes zu vernehmen. Plötzlich wurden die Ränder des Bildschirms schwarz, bis sich für Sekunden absolute Finsternis ausbreitete. Inmitten der Dunkelheit tauchte ein Vollmond auf. Faust‐ große Klumpen einer unbestimmbaren Substanz lösten sich von ihm und prallen hier und dort mit einem dumpfen Geräusch auf.
Auf der Mattscheibe erschienen die Worte:
Wer diese Bildersieht, ist dazu verdammt, exakt eine Woche nach diesem Augenblick zu sterben. Wenn du nicht sterben willst, musst du den Anweisungen genau folgen ...
Ein radikaler Szenenwechsel vollzog sich. Auf dem Bildschirm er‐ schien ein bekannter Werbespot. Die Unterbrechung kam im wichtig‐ sten Moment. Nach ungefähr dreißig Sekunden war der Film zu Ende. Es breitete sich wieder diese unheimliche Finsternis, die einem den Atem raubende mysteriöse Atmosphäre aus. Letzte Spuren sich auflösender Worte waren zu erkennen. Mit ein paar Störgeräuschen endete das Band. Asakawa spulte das Band zurück und spielte die Szenenfolge noch einmal ab. Eine unverständliche Szene nach der anderen zog vor seinen Augen vorüber. Begriffen hatte er nur zwei Dinge: Jeder Betrachter dieses Videos starb in exakt einer Woche. Und aus‐ gerechnet die Stelle, wo erklärt wurde, wie man diesem Schicksal entrinnen konnte, war mit einem Werbespot überspielt worden. Vermutlich hatten die vier jungen Leute den alles entscheidenden Part des Videos aus Jux und Tolerei gelöscht. Wie hätten sie auch ahnen können ... Hektisch holte Asakawa seine Tasche aus dem Schrank, stopfte das Video hinein und verließ fluchtartig die Holzblockhütte B4.
Ando schluckte. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf die Seiten. Asakawas Bericht hatte ihn für zwanzig Minuten in die Welt des mysteriösen Videos entführt. Es war, als hätte er das Band mit ei‐ genen Augen gesehen. Zwar hatte Asakawa sich nur des Mediums Wort bedient, aber er besaß die außergewöhnliche Fähigkeit, die Sinne des Lesers anzusprechen. Die Gesichter der Menschen, die
Landschaft — alles war Ando absolut real vorgekommen. Er fühlte sich erschöpft. Die Panik Asakawas hatte sich auf ihn übertragen. Er war so ausgelaugt, dass er eine kurze Unterbrechung brauchte. Doch die Pause verstärkte seinen Wissensdurst nur noch mehr. Was passierte dann? Ando platzte fast vor Neugierde. Er trank einen Schluck Tee, nahm den Bericht wieder in die Hand und verschlang eine Seite nach der anderen. Nachdem Asakawa wieder in Tokio war, kontaktierte er zuerst sei‐ nen alten Freund Ryuji und berichtete ihm von dem Video. Er hatte nicht den Mut, das Ganze allein durchzuziehen. Ethisch gesehen war es zwar falsch, jemanden in diese Sache zu verwickeln, doch Asaka‐ was Selbsterhaltungstrieb war größer als seine Gewissensbisse und Zweifel. Wollte er seine Haut retten, war er auf die Hilfe eines ver‐ lässlichen Freundes angewiesen. Ryuji schien da genau die richtige Person zu sein. Wahrscheinlich gab es außer ihm niemanden, der sich das Video ansehen würde, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er war einer jener Menschen, die sogar beim Weltuntergang in der ersten Reihe säßen. Asakawa hatte außerdem seinen Kollegen Yoshino um Hilfe gebe‐ ten, aber der war nicht lebensmüde genug, um sich das Video anzu‐ sehen. Zwar sagte man Journalisten eine immense Neugierde nach, aber allein die Möglichkeit, nach dem Anschauen des Videos auf elende Weise das Zeitliche zu segnen, hatte Yoshino abgeschreckt. Verständlicherweise wollte er sein Leben nicht riskieren, nur um seine Wissbegier zu befriedigen. Ryuji war anders. Nachdem Asakawa ihm von dem ominösen Band erzählt hatte, waren seine ersten Worte gewesen: »Lass uns zuerst das Video ansehen.« Zu Hause bei Asakawa hatte Ryuji sich das Video dann ganz entspannt angeschaut, als wäre es ein gewöhnlicher Spiel‐ film gewesen. Bevor er ging, bat er Asakawa um eine Kopie.
Das Wort ›Kopie‹ ließ Ando schlagartig aufblicken. In seinem Ge‐ hirn ratterte es. Das Originalvideo hatte Asakawa aus der Blockhütte mitgebracht; es war die ganze Zeit über in seinem Besitz gewesen und hatte garantiert im Unfallwagen in dem Videorekorder gesteckt. Danach war es in die Hände von Asakawas Bruder, Jun‐ichiro, gefallen. Dieser Idiot hatte es mitsamt Videorekorder auf den Müll geschmissen. Dann gab es noch die Kassette in Mais Apartment. Die ersten Sekunden auf dem Band stimmten haargenau mit den von Asa‐kawa geschilderten Szenen überein. Ob das vielleicht die Kopie war, die Asakawa für Ryuji gezogen hatte? Das wäre zumindest plausibel. Die breiten schwarzen Buchstaben auf dem Etikett ließen auf die Hand‐ schrift eines Mannes schließen, vermutlich die von Asakawa. Für Ryujis Kopie hatte er aller Wahrscheinlichkeit nach eine alte Kassette überspielt, auf der die auf dem Etikett angekündigte Musiksendung gewesen war. Irgendwie musste das Band dann in Mais Hände gelangt sein. So ergab alles einen Sinn. Aber wann war Mai mit diesem gefährlichen Video in Berührung gekommen? Woher hatte sie es? Ihm gegenüber hatte sie nichts erwähnt. Sie musste mehr oder weniger zufällig daraufgestoßen sein. Nichts ahnend hatte sie es sich vermutlich angesehen. Es blieb also festzuhalten, dass dieses mysteriöse Videoband mindestens in zweifacher Ausführung existierte. Ando las weiter.
Ryuji nahm die Kopie des Originalvideos mit nach Hause. Sie mussten so schnell wie möglich die Zauberformel herausfinden, nur so bestand Hoffnung, dem lauernden Tod irgendwie zu entgehen. Deshalb hatten sie beschlossen, zunächst der Frage nachzugehen, wie diese unheimliche Kassette in die Blockhütte B‐4 gelangt sein könnte.
Daran schloss sich auch schon die nächste Frage an: Wer hatte die Bil‐ der aufgenommen? Eine erste Vermutung war, dass jemand eine Videokamera benutzt und das Band dann in der Hütte vergessen hatte. Asakawas Nachforschungen bestätigten diese Annahme aller‐ dings nicht. Vor den Jugendlichen hatte eine aus Yokohama stammende Familie die Hütte gemietet. Sie hatten eine Videokassette mit dabei, weil ihr Sprössling eine Kindersendung aufnehmen wollte, während die Eltern sich einen Dokumentarfilm zu Gemüte führten. Mit anderen Worten, sie hatten eine leere Kassette mitgebracht, diese dann aber vergessen. Ihr Aufenthalt endete nur drei Tage vor der Ankunft der späteren Todesopfer. Die entscheidende Frage war: Wo kamen diese Bilder her, wenn der Junge eine ganz normale Fernsehsendung aufgezeichnet hatte? Die ursprüngliche These war ja gewesen, dass irgendjemand die Aufnahmen mit einer Videokamera gemacht und in die Blockhütte mitgenommen hatte. Aber da der Videorekorder mit der eingelegten Kassette auf Aufnahme eingestellt war, mussten die unglaublichen Bilder ausgestrahlt worden sein wie sonst die Fernsehsendungen. Jemand schien die Sendefrequenz manipuliert zu haben. Dass dies möglich war, hätte Asakawa sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt. Aber es ging offenbar. Den vier jungen Leuten war wahrscheinlich langweilig gewesen, und da hatten sie gesagt: He, warum schauen wir nicht ein bisschen fern? Als sie das Gerät einschalteten, wurden sie auf das Video aufmerk‐ sam und sahen es sich an. Die letzten Worte auf dem Band hatten sie vermutlich als Schwachsinn abgetan, denn es war nach ihrer Rück‐ kehr nicht zu erkennen gewesen, dass sie sich irgendwie bedroht gefühlt oder versucht hätten, die Zauberformel zu finden. Sie dachten sicherlich, irgendjemand hätte sich einen üblen Scherz erlaubt. Schließlich landete das Video im Büro des Verwalters, und dort entdeckte Asakawa es.
Aber wer konnte eine Sendefrequenz illegal benutzt haben? Irgend‐ ein Freak? Nur — woher kam die Ausstrahlung? Das waren die Frau‐ gen, die wieder aufdrängten. Asakawa fiel die Aufgabe zu, weiter zu recherchieren. Allerdings ereignete sich in der Zwischenzeit etwas Tragisches. Seine Frau und seine Tochter sahen sich das Video wäh‐ rend seiner Abwesenheit an. Nun ging es nicht mehr nur um sein Le‐ ben, sondern um das seiner Familie. Ein Grund mehr, sich hinter die Sache zu klemmen, dachte Asakawa. Mittlerweile hatte Ryuji eine faszinierende Entdeckung gemacht. Immer und immer wieder hatte er sich das Band angesehen und versucht, es auf irgendeine Weise zu analysieren, bis er auf die geniale Idee gekommen war, das Video in einzelne Sequenzen zu unterteilen. Diese stellte er dann in einer Tabelle dar. Und siehe da, es war tatsächlich eine Struktur zu erkennen. Insgesamt waren es zwölf Szenen, die sich grob in zwei Kategorien aufteilen ließen, und zwar in abstrakte und realistische. Erstere glichen mentalen Szenen, die man als abstrakte Gedankenlandschaften hätte bezeichnen können. In den realistischen Szenen hingegen tauchten real existierende Dinge auf: der Vulkanausbruch oder das markante Gesicht des Mannes. Der stecknadelgroße Lichtpunkt auf der pechschwarzen Mattscheibe war der ersten Kategorie zuzuordnen. Aber da war noch etwas. Für winzige Augenblicke wurde die Matt‐ scheibe gelegentlich dunkel. Ließ man das Band mit normaler Ge‐ schwindigkeit laufen, war der Bruch kaum wahrnehmbar, doch wenn man die Sequenz Bild für Bild analysierte, war es möglich, extrem kurze Intervalle totaler Finsternis zu entdecken. Allerdings fiel dieser ›schwarze Vorhang‹ nur bei den realistischen Szenen. Bei den ande‐ ren, abstrakten Bildern gab es diese Momente absoluter Dunkelheit nicht. Was hatte das für eine Bedeutung? Warum geschah dies nur in den realistischen Szenen und nicht in den imaginären? Ryuji wusste nicht, was das bedeuten könnte, aber seine Intuition brachte ihn auf einen Gedanken: Wir haben es hier mit der Trägheit des
Auges zu tun, sagte er. Wenn man sich die Bilder ansah, hatte man das Gefühl einer unglaublichen Unmittelbarkeit, als wäre man selbst Bestandteil dieser Szenen. Der schwarze Vorhang, der den Bildschirm kurzfristig in Finsternis tauchte, war der Moment, in dem sich das Auge schloss — ein Lidschlag. Von geringfügigen individuellen Un‐ terschieden abgesehen, gab es bei Frauen fünfzehn Lidschläge pro Minute. Dank Ryuji waren sie der Lösung einen wesentlichen Schritt näher gekommen. Das Resultat seiner Analyse war erschreckend, aber auch faszinierend. Das Videoband war nicht mit einer Kamera aufgenommen worden, sondern durch den Einsatz der menschlichen Sinne.
Dieser Teil des Asakawa‐Berichtes war für Ando völlig unglaub‐ würdig. Was für ein Schwachsinn — ein Video, das durch die Sinnesorgane einer Frau aufgenommen wurde! Das ist doch lächerlich. Er fand diese Theorie derart absurd, dass er absolut nicht verstand, wie man auch nur einen Gedanken daran verschwenden konnte. Hätte es sich um Filmmaterial gehandelt, okay, dann hätte man eine solche Möglich‐ keit vielleicht noch in Betracht ziehen können. Aber hier ging es um ein Video. Allein technisch war das undenkbar. Zwar war Ando von Ryujis These zutiefst beeindruckt, doch hatte er große Zweifel an ihrer Richtigkeit. Dennoch beschloss er, kein vorzeitiges Urteil zu fällen, und las weiter.
Falls die Bilder auf dem Video tatsächlich vom Sinnesapparat einer bestimmten Frau zusammengetragen worden waren, dann war der nächste Schritt herauszufinden, wer diese Person war und wonach sie sich gesehnt haben könnte. Das war der Schlüssel zu der Zauberformel. Ryuji und Asakawa machten sich nach Kamakura auf. Ziel war die Tetsuzo‐Miura‐Gedenkhalle. Professor Miura hatte Parapsychologie studiert. Die bescheidene
Gedenkhalle war seinen wissenschaftlichen Untersuchungen auf dem Gebiet übersinnlicher Phänomene gewidmet. Akribisch hatte er alle Personen mit übernatürlichen Kräften in ganz Japan ausfindig gemacht und ihre Fähigkeiten dokumentiert. Ryuji hatte Asakawa hergebracht, weil er eine realistische Chance sah, dass sie hier fündig würden. Es gab nur sehr wenige Menschen mit übersinnlichen Fähig‐ keiten, die ohne jede technische Hilfe Bilder auf einen Fernsehschirm hätten projizieren können. Ryujis Theorie zufolge hatten sie es an‐ scheinend mit so einer Person zu tun. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein solcher Fall dem Professor durch die Lappen gegangen war. Tetsuaki Miura, der Sohn des verstorbenen Professors, gewährte ihnen einen Blick in das Archiv in der Annahme, dass ihnen die Lust schnell vergehen würde, wenn sie erst einmal die vollgestopften Re‐ gale gesehen hatten. Das war an seinem Blick zu erkennen. In der Tat konnte Asakawa seinen Augen kaum trauen. Ein gewaltiger Akten‐ berg ragte vor ihnen auf. Eine unfassbare Flut von Dokumenten war‐ tete — es schienen Tausende zu sein. Doch Ryuji ließ sich nicht ab‐ schrecken. Ihn brachte bekanntermaßen nichts so schnell aus der Ruhe. Asakawa hingegen war nahe dran, den Verstand zu verlieren. Aber was blieb ihnen übrig? Eine bessere Idee hatte er auch nicht. Schließlich musste er einräumen, dass sie eine realistische Chance hatten. Zumindest war es das Einzige, das sie im Moment tun konn‐ ten. Von der ablaufenden Zeit getrieben, begannen sie, sich durch den riesigen Aktenberg zu wühlen und ein Dokument nach dem anderen durchzusehen. Stunde um Stunde verging, doch dann durchbrach Ryuji die Stille im Archiv mit einem schrillen Schrei: »Treffer!« Er war fündig geworden. Der Name der verdächtigen Frau lautete Sadako Yamamura. Sie kam aus Sashikiji auf der Insel Oshima. Auf dem Umschlag stand eine Notiz. Sie hatte im Alter von zehn Jahren Fragmente ihres Namens ›Yama‹ — ›Berg‹ — und ›Sada‹ auf einen Film projiziert. Angeheftet war eine Fotografie, auf der auf
schwarzem Hintergrund in Weiß das japanische Schriftzeichen für ›Yama‹ leuchtete. Es war das gleiche Zeichen, das sie auf dem Video gesehen hatten. Auch ›Sada‹ kam darin vor. Sie waren sich nun ganz sicher. Sadako Yamamura war die Richtige. Am nächsten Morgen nahmen Asakawa und Ryuji das Schnellboot nach Oshima, um ihrem Verdacht nachzugehen. Natürlich war nicht sicher, dass Sadako Yamamura tatsächlich hinter der ganzen Sache steckte, aber es war möglich. Sie hofften, die Szenen auf dem Video besser deuten zu können, wenn sie etwas über Sadakos Kindheit oder Charakter erfahren würden. Ein Versuch war es wert. Sie wollte dem Betrachter des Videos Angst, ja Todesangst einjagen. Dahinter steckte sicher eine Absicht. Vielleicht wollte sie, dass man etwas Bestimmtes für sie tat. Ryuji hatte da so eine Vorahnung. Er hatte sich schon gedacht, dass sie womöglich nicht mehr unter den Lebenden weilte. Dann müssen wir eruieren, wonach sich diese Person gesehnt hat, als sie noch lebte, sagte er. Sie gingen mittlerweile davon aus, dass die Zauberformel, die ihnen das Leben retten würde, eine Aufforderung enthielt, etwas Bestimmtes zu tun. Auf Oshima erhielten sie von der regionalen Zweigstelle von Asa‐ kawas Zeitung Unterstützung. Eine richtige Redaktion gab es auf der Insel zwar nicht, stattdessen wurden Insulaner als Lokalreporter beschäftigt. Während sie Kontakt zu Yoshino in der Hauptredaktion in Tokio hielten, fanden Ryuji und Asakawa allmählich heraus, was Sadako Yamamura für ein Mensch gewesen war. Sadako Yamamura war 1947 auf Oshima geboren worden und das Kind von Shizuko Yamamura und Ino Heihachiro, einem Psycholo‐ gieprofessor gewesen. Heihachiro hatte in Shizuko einen Menschen mit verblüffenden übersinnlichen Visionen entdeckt. Sie wurde sein Studienobjekt, und er war so fasziniert, dass er seine ganze Aufmerk‐
samkeit der Erforschung übersinnlicher Kräfte zu widmen begann. Die beiden sorgten für kräftigen Wirbel in der Boulevardpresse, da sie wissenschaftliche Erklärungen für übernatürliche Fähigkeiten zu liefern schienen. Die Massenmedien lobten Shizuko und Heihachiro in den Himmel, und ihr Leben verlief anfangs unter einem glück‐ lichen Stern. Doch es gab auch Gegner. Eine Gruppe renommierter Wissen‐ schaftler ließ Zweifel laut werden und bezeichnete das Ganze hart‐ näckig als Schwindel und Scharlatanerie. Allmählich schlug die öffentliche Meinung um und wandte sich gegen Shizuko und Heiha‐ chiro. Daraufhin bot Heihachiro den Medien eine öffentliche Demon‐ stration von Shizukos außergewöhnlichen übernatürlichen Kräften an — ein parapsychologisches Experiment, das die Öffentlichkeit über‐ zeugen sollte. Doch Shizuko versagte. Heftig zitternd brach sie zusammen. Die fehlgeschlagene Demonstration hatte folgenreiche Konsequenzen. Heihachiro flog von der Universität, und Shizukos Verfolgungswahn nahm zu. Alles schien den Bach hinunterzugehen. Heihachiro er‐ krankte schließlich an Tuberkulose. Unterdessen verschlechterte sich Shizukos psychische und emotionale Verfassung weiter, bis sie sich eines Tages verzweifelt in den Krater des Vulkans Miharayama stürzte — Selbstmord. Nachdem ihre Mutter sich umgebracht hatte, wurde Sadako von Verwandten aufgenommen. Im folgenden Jahr, als sie in die vierte Klasse ging, prophezeite sie, dass der Miharayama ausbrechen werde. Dadurch wurde sie in der Schule regelrecht berühmt. Denn pünktlich an dem Tag, den Sadako vorausgesagt hatte, brach der Vul‐ kan aus. Oft baten Insulaner sie, ihnen die Zukunft vorauszusagen, aber sie lehnte immer ab. Nach der erfolgreichen Prophezeiung des Vulkanausbruchs setzte Sadako ihre übernatürlichen Fähigkeiten, die sie von ihrer Mutter geerbt zu haben schien, nie wieder ein. Nach ihrem Abschluss an der Oberschule ging sie nach Tokio. Sie trat einer
Theatergruppe bei und wollte Filmschauspielerin werden. Niemand auf der Insel wusste, was aus Sadako geworden war. Asa‐ kawa rief Yoshino an und bat ihn herauszufinden, wohin sie gegan‐ gen war und was sie gemacht hatte, nachdem sie sich der Theater‐ gruppe Spielfreude angeschlossen hatte. Denn das war momentan ihr einziger Anhaltspunkt auf der Suche nach ihr. Yoshino machte sich sogleich auf den Weg nach Yotsuya, um der Theatergruppe einen Besuch abzustatten. Die Fährte war uralt, es war keine leichte Aufgabe. Fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, seit Sadako an diesem Theater gespielt hatte. Die Frage war, ob sich von den Mitgliedern der Truppe überhaupt noch jemand an sie erinnern würde; falls nicht, würde dieser Teil der Nachforschungen im Sande verlaufen, und die zweite Hälfte des Lebens dieser Frau mit den erstaunlichen Fähigkeiten würde sich in geheimnisvollem Dunkel verlieren. Aber es kam anders. Tatsächlich erinnerte sich eines der Grün‐ dungsmitglieder der Truppe, Shin Arima, an Sadako Yamamura. Sie schien tiefen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Arima nannte sie ›unheimlich‹, als Yoshino ihn nach Sadakos Charakter fragte. Es gab einen guten Grund, warum er sich nach so langer Zeit noch an sie erinnerte: Arima hatte beobachtet, wie Sadako Bilder auf die Bildröh‐ re eines Fernsehers projizierte. Sie schien unheimliche, übernatürliche Kräfte zu besitzen. Ihre Fähigkeiten gingen weit über die ihrer Mutter hinaus. Erst hatte Arima nicht verstanden — er dachte, sie schaute lediglich fern. Aber dann bemerkte er, dass der Fernseher nicht eingestöpselt war. Ihn überkam ein kalter Schauer. Die Begebenheit hatte ihn offenbar so beeindruckt, dass er nach all den Jahren noch detailliert darüber berichten konnte. Er hatte noch die Bewerbungsunterlagen von Sada‐ ko und zeigte sie Yoshino. Dem Lebenslauf waren zwei Schwarz‐ weißfotografien angeheftet, ein Porträt und eine Ganzkörperauf‐ nahme. Yoshino war einigermaßen verblüfft, denn Sadako sah ganz
anders aus, als er sie sich nach Arimas Schilderung vorgestellt hatte. Sie hatte ein bezaubernd hübsches Gesicht, war von makelloser Schönheit, die sich mit Worten nicht beschreiben ließ. Schließlich konnte Yoshino aber leider nicht in Erfahrung bringen, wohin Sadako verschwunden war, nachdem sie die Theatergruppe verlassen hatte. Es war keine Spur von ihr zu entdecken. Er schickte ein Fax mit Foto zu dem Kontaktmann auf Oshima, um Asakawa und Ryuji vor Ort über seine Recherchen auf dem Laufenden zu halten. Der Schock hätte nicht größer sein können, als Asakawa das Fax von Yoshino erhielt und daraus entnehmen musste, dass sie nicht weiterkamen. Sie steckten in einer Sackgasse. Doch wenn sie nicht herausfanden, was aus Sadako geworden war, würden sie den myste‐ riösen Fluch nie entschlüsseln. Seine Hoffnung schlug in Verzweif‐ lung um. Die ganze Welt schien sich zu verdüstern. Da hatte Ryuji einen Geistesblitz: Im Grunde genommen war es egal, ob sie Sadakos Spur in der richtigen Chronologie verfolgten. Wer sagt denn, dass wir das Mittel gegen den Fluch finden, wenn wir ihren Lebensweg rekonstruieren? Asakawa erinnerte sich noch genau an diese Worte. Sie hatten ihn ein wenig getröstet. Die entscheidende Frage war: Warum war das Ganze in der Blockhütte Nummer B‐4 passiert? Warum ausgerechnet im Ferienklub Pazifik in Süd‐Hakone? Sie beschlossen, sich auf den Ort zu konzentrieren, wo das Übel seinen Anfang genommen hatte. Vielleicht würde es ihnen auf diese Weise gelingen, die Hintergründe aufzudecken. Das Pazifikland in Süd‐Hakone war erst vor ein paar Jahren er‐ richtet worden. Man konnte nicht ausschließen, dass sich dort früher andere Einrichtungen befunden hatten. Asakawa kontaktierte Yoshi‐ no erneut und bat ihn, Nachforschungen anzustellen, was sich auf dem Grundstück in Süd‐Hakone befunden hatte, bevor der Ferien‐ klub gebaut worden war. Am frühen Morgen des folgenden Tages ratterte das Faxgerät er‐
neut. Es spuckte die Informationen aus, die Yoshino in der Zwischen‐ zeit herausgefunden hatte. Dem Bericht zufolge hatte früher ein Sana‐ torium für Tuberkulosekranke auf dem Grundstück gestanden. Yoshino hatte sogar einen Grundriss auftreiben können. Darüber hinaus hatte er den Lebenslauf eines gewissen Shirotaro Nagao geschickt, Arzt für Innere Medizin und Kinderheilkunde mit einer eigenen Klinik in Atami. Dr. Nagao war jetzt siebenundfünfzig Jahre alt. Fünf Jahre lang, von 1962 bis 1967, hatte er in der Einrich‐ tung in Süd‐Hakone gearbeitet. Sie wussten zwar nicht, warum Yo‐ shino den Lebenslauf gefaxt hatte, aber wahrscheinlich dachte er, das sie damit zumindest einen Ansprechpartner hätten, an den sie sich mit Fragen über die Anstalt wenden konnten. Asakawa und Ryuji entschlossen sich kurzfristig, Dr. Nagao einen Besuch abzustatten. Sie nahmen ein Schnellboot nach Atami. An diesem Tag war genau eine Woche vergangen, seit Asakawa sich das Video in der Blockhütte des Ferienklubs angeschaut hatte. Ihm blieben nur noch ein paar Stunden bis zum Ablauf der Frist. Am selben Abend um zweiundzwanzig Uhr würde ihn der Tod ereilen — es sei denn, sie fanden bis dahin den Schlüssel für das Rätsel. Ryujis Zeit würde am darauffolgenden Tag ablaufen, ebenfalls um zweiund‐ zwanzig Uhr. Asakawas Frau und kleine Tochter würden übermor‐ gen gegen elf Uhr morgens sterben. Viel Hoffnung hatte Asakawa nicht, dass alles gut ausgehen würde. Aber zum Glück behielt zumin‐ dest einer von ihnen einen kühlen Kopf. Auf Ryuji war in dieser Hinsicht Verlass. In Atami angekommen, nahmen sie sich einen Mietwagen. Der Panik nahe, rasten sie zu Dr. Nagaos Klinik. Asakawa ging immer wieder derselbe Gedanke durch den Kopf: Wenn sie von dem Arzt nichts in Erfahrung bringen konnten, waren sie erledigt. Jetzt war es zu spät, um bei ihren Nachforschungen einen anderen Weg einzu‐ schlagen. Sie hofften, dass Nagao ihnen irgendetwas Hilfreiches mit‐ teilen würde, sei es auch nur eine noch so winzige Information. Aber
es kam anders: Sie erhielten eine ganze Flut von Informationen. Nie hätten Asakawa und Ryuji sich träumen lassen, dass dieses Gespräch so fruchtbar sein würde. Sie betraten das Krankenhaus. Beim ersten Blick auf das Gesicht von Dr. Nagao entfuhr beiden ein überraschter Ausruf. Ryuji und Asakawa war sofort klar, dass Nagao ihnen etwas über Sadako wür‐ de sagen können. Er war der Mann, dessen Gesicht man in der letzten Szene des Videos sah — schweißüberströmt, keuchend und mit blutunterlaufenen Augen hatte Sadako es dargestellt. An der bloßen Schulter hatte er eine Verletzung, aus der Blut spritzte. Der Mann vor ihnen war zwar um einiges älter und beinahe kahlköpfig, aber es stand außer Zweifel, dass in dem Video sein Gesicht zu sehen war. Sadako hatte es aus unmittelbarer Nähe betrachtet. In ihren Augen war es das Gesicht eines Mannes mit grausamen, mörderischen Absichten gewesen. Ryuji bearbeitete Nagao intensiv und quetschte die dunkle Vergan‐ genheit aus ihm heraus. Wie betäubt vor Entsetzen erfuhren sie, was sich damals, vor fünfundzwanzig Jahren, zugetragen hatte. Am fraglichen Tag war es sehr heiß gewesen. Nagao hatte für eine kurze Zeit in einer geschlossen Isolierstation tief in den Bergen gear‐ beitet und sich dort in einem unachtsamen Moment mit Pocken infi‐ ziert. An jenem Tag zeigten sich die ersten Symptome der Erkran‐ kung. Er hatte Fieber und Kopfschmerzen, doch ihm kam nicht in den Sinn, dass er sich mit den Pocken angesteckt haben könnte. Er hatte es als gewöhnliche Grippe abgetan und machte wie immer seine tägliche Visite bei den Patienten. Während einer kurzen Verschnauf‐ pause im schattigen Park vor dem Sanatorium traf er auf Sadako Nakamura. Sie kam oft hierher, um ihren kranken Vater zu besuchen. Da sie das Theaterspielen aufgegeben hatte, schien sie viel Zeit zu haben. Nagao war von Sadakos strahlender, verführerischer Schönheit überwältigt. Er setzte sich neben sie und sprach sie an. Während sie
über dieses und jenes plauderten, hatte er plötzlich das sonderbare Gefühl, als würde irgendein Etwas von ihm Besitz ergreifen und die Kontrolle über seinen Körper übernehmen. Er legte einen Arm um Sadako und überredete sie, ein schattigeres Plätzchen aufzusuchen, um die Unterhaltung fortzusetzen. Er führte sie durch das Unterholz des Waldes zu einer kleinen Lichtung. Dort stand ein verwaistes Bauernhaus. Hinter dem Gemäuer gab es einen alten Brunnen. Von einer zügellosen Begierde getrieben, warf Nagao Sadako zu Boden und verging sich an ihr... Sie wehrte sich heftig und biss ihn in die rechte Schulter. Blut spritzte aus der Wunde. Irgendwann bemerkte er, dass sich sein Körper dem Rhythmus ihrer Bewegungen angepasst hatte. Als es vorbei war und er einen letzten Blick auf ihren wohlgeformten Körper warf, entdeckte er unter den Haaren ihrer Scham zwei voll entwickelte Hoden. Wenn er kein Arzt gewesen wäre, hätte er seinen Augen nicht getraut, aber ihm waren solche Fälle bekannt. Es gab eine kleine Gruppe von Menschen, die diese Besonderheit aufwiesen. Äußerlich wirkten sie wie Frauen. Sie hatten Brüste und eine Vagina, allerdings oft keine Eileiter. Außerdem verfügten sie über den norma‐ len männlichen XY‐Chromosomensatz und konnten keine Kinder gebären. Aus irgendeinem Grund waren solche Menschen häufig außergewöhnlich attraktiv. Erneut überkam Nagao ein starker Impuls. Er warf sich abermals auf den schönen, abnormen Körper Sadakos, legte beide Hände um ihren schmalen Hals und drückte mit ganzer Kraft zu. Dann hob er sie hoch und schleppte sie zu dem Brunnen. Die Leiche fiel in den dunklen Abgrund hinunter und wurde von der feuchten Erde verschluckt. Um sicherzugehen, warf Nagao Steine und Erde in den Brunnen, damit sie für immer verschwunden bliebe. Nachdem Nagao sein Geständnis beendet hatte, legte Asakawa ihm eine Skizze von dem früheren Gelände in Süd‐Hakone vor und bat ihn, ihnen zu zeigen, wo in etwa der Brunnen war. Der Arzt zögerte
eine Weile, zeigte dann jedoch mit dem Finger auf die betreffende Stelle. Der Brunnen muss ungefähr hier gewesen sein, sagte er. Es be‐ stand kein Zweifel: Das war genau die Stelle, an der inzwischen die Blockhütte B‐4 stand. Ryuji und Asakawa machten sich sofort nach Süd‐Hakone auf. Dort angekommen, begannen sie, den alten Brunnen zu suchen. Asakawa war mittlerweile hochgradig nervös. Sobald sie ihn entdeckt hätten, wollten sie die sterblichen Überreste von Sadako Yamamura herausholen — so war ihr Plan. Er versuchte, nicht daran zu denken, was für ein grausiger Akt ihnen bevorstand. Mit dem Nerven völlig am Ende, stieß er ziellos die Schaufel in irgendwelche Erdhügel, bis Ryuji, der emotional wesentlich stärker war, ihn zu‐ rückhielt. Der Brunnen musste nahe bei den Hütten gewesen sein. Und tatsächlich, als sie unter die Terrasse von B‐4 krochen und mit der Taschenlampe herumleuchteten, konnten sie einen schwarzen Hügel erkennen. Bei genauerer Betrachtung sahen sie, dass es ein Haufen Steine war, die offenbar einmal eine Mauer gebildet hatten. Darauf lag ein Deckel aus Zement. Aber das Erstaunliche daran war, das sich genau über diesem Haufen das Wohnzimmer befand. So, wie es aussah, standen genau über der Brunnenöffnung der Fernse‐ her und der Videorekorder. Asakawa begriff, dass Sadako Yamamura direkt unter ihm gelegen hatte, als er sich das Video vor einer Woche angeschaut hatte. Damit war auch die Frage geklärt, warum es ausge‐ rechnet hier entstanden war. Ryuji und Asakawa versuchten zunächst, den Zementdeckel herun‐ terzuziehen. Unter größter Kraftaufwendung rutschte der Deckel mit einem ohrenbetäubenden Kreischen Zentimeter für Zentimeter zur Seite. Schließlich gelang es ihnen, den Brunnen zu öffnen. Aus der Tiefe schien eine kühle, übel riechende, giftige Ausdünstung empor‐ zusteigen und umklammerte sie mit eisigem Griff. Die Dunkelheit im Brunnen war so undurchdringlich, dass sie das Gefühl hatten, sie würden hinuntergezogen, wenn sie sich nicht fest hielten.
Es war klar, was als Nächstes zu tun war. Asakawa wusste, dass er in den dunklen, feuchten Brunnen hinunterkriechen musste. Er hatte keine andere Wahl, als hinabzusteigen und die sterblichen Überreste von Sadako Yamamura herauszuziehen ... Was Sadako mit dem Gedankenvideo bezweckt hatte, schien ein‐ deutig zu sein: Sicherlich hatte sie sich verzweifelt danach gesehnt, aus dieser schrecklichen Dunkelheit befreit zu werden ... Das war die Lösung. Der Fluch würde gebannt sein, sobald sie Sa‐ dakos Leiche aus dem engen Brunnen herausgeholt, einen Gedenk‐ gottesdienst abgehalten und sie in ihre Heimatstadt zurückgebracht hatten, damit sie ein ordentliches Begräbnis erhielt. Dann wäre ihre herumwandernde Seele endlich frei und könnte zur Ruhe kommen. Natürlich hatten sie keine Gewissheit, aber zumindest standen die Chancen nicht schlecht, dass der Fluch, der durch das Video verbrei‐ tet worden war, dadurch aufgehoben wurde. Das musste die Zauber‐ formel auf dem Video gewesen sein. Zu Asakawas Erleichterung machte Ryuji den Anfang und stieg in die Tiefe des Brunnens hinab. Doch auch Asakawa kam nicht darum herum. Den Tod im Nacken und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, kletterte auch er in die unheimliche Finsternis hinunter. Wer würde im Angesicht des Todes nicht alles versuchen, um sich zu retten? Abwechselnd kro‐ chen sie in den Brunnenschacht, schaufelten den kalten Schlamm vom Grund des Bodens in Eimer, wühlten im lehmigen Wasser nach Sadakos Knochen. Aber sie fanden nichts ... Offenbar waren viel Erdreich und Sand in den Brunnen gefallen, bevor er geschlossen worden war. Doch plötzlich ertastete Asakawa etwas Großes, Rundes — den Schädel von Sadako. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Seine Frist war vor wenigen Minuten abgelaufen. Doch er lebte noch. Es war vorbei! Während Ryuji bereits vor Freude jubelte, war Asakawa noch immer wie in Trance. Er konnte es einfach nicht glauben. Am folgenden Tag machte Asakawa sich mit den sterblichen Über‐
resten von Sadakos Leiche nach Oshima auf, um sie ihren Verwand‐ ten zu übergeben. Ryuji kehrte nach Tokio in seine Wohnung in Higashi Nakano zurück. Er musste einen Artikel zu Ende schreiben. Wir haben das Geheimnis gelüftet. Der Fluch ist auf gehoben!, dachten sie stolz.
Ando machte eine kurze Pause. Mit dem Bericht in der Hand eilte er zum Fenster. Er öffnete es, um die schwere, stickige Luft herauszu‐ lassen. Die Szene, wie Ryuji und Asakawa an einem Seil in den dunk‐ len, nach Fäulnis stinkenden Brunnen hinabgekrochen waren, hatte er mit angehaltenem Atem gelesen. Er fühlte sich, als wäre er selbst in diesen grausigen, kaum einen Meter breiten Schacht hinunterge‐ stiegen. Platzangst hatte ihn übermannt. Diese furchtbare Enge ... die Finsternis ... Er brauchte frische Luft. Unter seinem Fenster wiegten sich die dunklen Bäume des Meiji‐Parks im Wind. Das Papier raschelte. Nur noch eine Seite, dann endeten Asakawas Notizen. Just in diesem Moment spukte der Drucker geräuschvoll die letzte Seite aus. Das Blatt war zur Hälfte weiß. Ando las: 21. Oktober, Sonntag Die Verbreitung des Virus Die Lösung des Rätsels lautet: Ziehe eine Kopie und zeige das Video jemand anderem.
Damit endete Asakawas Bericht. Dies waren seine letzten stich‐ punktartigen Aufzeichnungen. Am 21. Oktober hatte Asakawa den Unfall auf der Autobahn
gehabt. Einen Tag zuvor war Ryujis Leiche obduziert worden, und Ando war Mai Takano in der Gerichtsmedizin begegnet. Obwohl Asakawas Geschichte hier endete, konnte Ando sie fort‐ setzen. Asakawa hatte die Überreste Sadakos am 19. Oktober ihren Verwandten auf der Insel Oshima übergeben, in dem festen Glauben, der Fluch wäre damit endgültig aufgehoben. Aber es war noch lange nicht vorbei. Diese bittere Erkenntnis blieb ihm nicht erspart, als er nach Tokio zurückkam. Sein bester Freund Ryuji war tot. Während er auf Oshima im Hotel an seinem Bericht über den Vorfall schrieb, war Ryuji in seinem Apartment eines grausamen Todes gestorben. Asakawa erhielt die Schreckensnachricht von Mai. Entsetzt begriff er, dass ihre Theorie falsch gewesen war. Der Fluch war nicht besiegt. Er trieb weiterhin sein Unwesen und würde womöglich noch viele weitere Menschenleben kosten. Sadakos Wunsch war es offensicht‐ lich nicht gewesen, dass jemand ihre sterblichen Überreste barg und sie ein Begräbnis erhielt. Doch was in Gottes Namen hatte sie ge‐ wollt? Und warum lebte Asakawa noch und Ryuji nicht? Asakawa zermarterte sich den Kopf, um Antworten auf diese Frau‐ gen zu finden. Die Frist seiner Frau und seiner Tochter lief am näch‐ sten Morgen um elf Uhr ab. Ihm blieben nur noch wenige Stunden, um den Schlüssel zur Lösung finden. Wenn er nichts unternahm, würde er seine Familie verlieren. Die entscheidende Frage war: War‐ um war er noch am Leben? Daraufgab es nur eine plausible Antwort. Irgendwann im Laufe der vergangenen Woche hatte er den Fluch aufgehoben, ohne es zu merken. Es musste irgendetwas gewesen sein, das Ryuji nicht getan hatte. Asakawa zerbrach sich vermutlich die ganze Nacht lang den Kopf darüber — und begriff plötzlich. Er hatte eine Kopie von dem Video angefertigt und es Ryuji gezeigt! Rein zufällig war er dem Geheimnis des Fluchs auf die Spur gekom‐ men. Es ging um die Verbreitung des Videos. Offenbar war es Sada‐ kos Wunsch gewesen, dass sich das Video wie ein Virus immer weiter verbreitete.
Endlich, so dachte Asakawa, hatte er das Rätsel gelöst. Schenkte man seiner Theorie Glauben, kam im Grunde nur das Pockenvirus in Frage. Shirotaro Nagao, der Mann, der Sada‐ko Yama‐ mura kurz vor ihrem Tod vergewaltigt hatte, war der letzte Japaner gewesen, von dem bekannt war, dass er sich mit Pocken infiziert hatte. Es bestand kein Zweifel daran, dass Sadako den Pockenerreger in sich getragen hatte, als sie starb. In Sadako Yamamura vereinten sich der Hass einer Frau auf die Gesellschaft, die ihre Eltern in den Tod getrieben hatte, und der Hass des Pockenvirus auf die menschliche Intelligenz, die es ausgerottet hatte. Diese beiden Formen des Hasses kehrten nun in unerwarteter Gestalt in die Welt zurück. Das Virus versuchte, sich durch die besonderen Kräfte Sadakos zu vermehren. Allerdings konnte es sich in Form des Videos nicht von allein verbreiten. Es brauchte die helfende Hand eines Menschen, der es vervielfältige. Die Formel, die einen vor dem Tod bewahrte, lautete vermutlich:
Fertige eine Kopie des Videos an und zeige sie jemand anderem.
Aus Asakawas Perspektive ergab das alles einen Sinn. Er hatte das Video aus der Blockhütte mitgebracht, eine Kopie gezogen und den Film Ryuji gezeigt. Ohne es zu merken, hatte er damit das Video verbreitet. Ryuji hatte nichts Dergleichen getan. Das musste die Lösung des Rätsels sein — davon war Asakawa überzeugt. Erleichtert nahm er einen Videorekorder und fuhr los. Er brauchte das Video nur zweimal zu kopieren — einmal für seine Frau, einmal für seine Tochter — und die Kopien zwei anderen Menschen vorzu‐ spielen. Dazu benötigte er den zweiten Rekorder. Die Menschen, die das Video gezeigt bekämen, würden die Beute eines Löwen, aus dessen Klauen es kein Entrinnen gab. Es war ein Teufelskreis: Man musste das Video kopieren und einer anderen Person zeigen. Das Vi‐
rus würde sich wie eine Epidemie rasant ausbreiten; innerhalb kürze‐ ster Zeit gäbe es in Japan nur noch Träger des Virus, und es würde die Landesgrenzen überschreiten. Asakawa mochten Zweifel an seinem Vorhaben geplagt haben — immerhin war er im Begriff, eine Seuche in die Welt zu setzen, die den Untergang der Menschheit bedeuten konnte. Aber das Pflicht‐ bewusstsein und die Liebe gegenüber seiner Frau und Tochter waren stärker als alle Warnungen seines Verstandes. Für ihn war in diesem Moment wahrscheinlich nur eines wichtig gewesen: Er wollte seine Familie retten, egal um welchen Preis. Doch diese Hoffnung erwies sich als Illusion — während der Fahrt starben seine Frau und seine Tochter. Ando konnte gut verstehen, dass Asakawa zusammengebrochen war. Der Verlust seiner geliebten Frau und Tochter musste für ihn unendlich schmerzhaft gewesen sein. Aber es gab wohl noch einen Grund für seine momentane geistige Verwirrtheit: die Frage nach dem Warum. Was war geschehen? War er denn dem Geheimnis um Sadakos Fluch nicht auf die Schliche gekommen? Er war sich absolut sicher gewesen, dass er die Lösung gefunden hatte! Aber er hatte sich getäuscht, und das hatte seiner Familie das Leben gekostet. In seine Trauer mischte sich Wut. Immer wieder fragte er sich: warum? Warum lebe ich noch? Ando legte den Bericht beiseite und lauschte auf die Stimmen in seinem Inneren. Glaubst du diese verrückte Geschichte? Er neigte den Kopf zur Seite. Ich weiß nicht recht. Einerseits klang die Geschichte wie ein Märchen, andererseits hatte er Ryujis Leiche obduziert und das seltsame Geschwür auf der Herz‐
kranzgefäßwand gesehen. Sieben Menschen waren einem myste‐ riösen Tod zum Opfer gefallen, und die Todesursache war bei allen identisch gewesen. Zudem war bei allen Leichen ein dem Pockenerre‐ ger ähnliches Virus im Blut nachgewiesen worden. Plötzlich sah Ando Mais entzückend hübsches Gesicht vor sich. Wo war sie nur? Dieser starke Impuls, den er in ihrem Apartment gespürt hatte ... Er hatte das Gefühl gehabt, dass dort eine unergründliche, übermenschliche Macht am Werk war, die einem die Haare zu Berge stehen ließ, sobald man einen Fuß in die Wohnung setzte. Ein furch‐ tbarer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Vermutlich hatte sich das Virus weiterverbreitet... Ob es noch mehr Opfer gab? Je länger er über die Angelegenheit nachdachte, desto mehr Fragen drängten sich ihm auf. Er fuhr den Computer herunter und schenkte sich ein großes Glas Whisky ein. Ohne die Wirkung des Alkohols würde er heute nicht einschlafen können.
Auf dem Weg zur Pathologie ging Ando beim Biochemischen Insti‐ tut vorbei, um Taneda den Laptop zurückzugeben. Die Ausdrucke von Asakawas Bericht unter dem Arm, betrat er Miyashitas Büro. Miyashita saß konzentriert an seinem Schreibtisch und schien über etwas nachzugrübeln. Als Ando den Bericht vor ihn auf den Tisch knallte, fuhr er erschrocken hoch. »Kannst du das bitte lesen?« Mit aufgerissenen Augen blickte Miyashita Ando an. »Jetzt sofort?« »Es liegt mir viel daran, deine Meinung zu hören.« Miyashita griff nach dem Ausdruck. »Nicht gerade wenig.« »Ja, aber dafür ist es spannender als ein Krimi. Wenn du erst einmal angefangen hast zu lesen, kannst du nicht mehr aufhören, das garantiere ich dir.« »Das ist aber nicht irgendein Roman von dir, oder? Für so was habe ich nämlich wirklich keine Zeit.« »Nein, es ist Asakawas Bericht über die mysteriöse Todesserie.« »Asakawa? Der Asakawa?« »Ja.« Neugierig blätterte Miyashita in den Seiten. »Hm.« »Sag mir Bescheid, wenn du es gelesen hast.« Als Ando gerade aufstehen wollte, hielt Miyashita ihn am Arm zurück. »Warte einen Augenblick.« »Was gibtʹs?« »Du bist doch fit im Kode‐Raten.« Das Kinn auf die Hand gestützt, klopfte Miyashita mit dem Stift auf das vor ihm liegende Blatt Papier. »Na ja, so kann man es nicht sagen ... Während meines Studium
war das ein netter Zeitvertreib zwischen den Vorlesungen, mehr nicht.« »Hm.« Miyashita klopfte weiter mit dem Stift auf das Papier. »Wieso fragst du?« »Schau dir das hier mal an. Ich brüte schon die ganze Zeit darüber, aber irgendwie komme ich nicht weiter.« Miyashita schob Ando ein Blatt hin, auf dem viele kleine blaue Pünktchen zu sehen waren. Ando begriff sofort, worum es ging. Dies waren die ausgedruckten Ergebnisse der DNA‐Sequenzierung des Virus, das in Ryujis Blut gefunden worden war. Erst gestern hatte Miyashita sie ihm gezeigt. »Ich komme einfach nicht davon los. Die merkwürdige Buch‐ stabenabfolge lässt mir keine Ruhe.« Ando nahm das Blatt und hielt es sich dicht vors Gesicht. In die Ad‐ Random‐Basenfolge hatte sich eine Wiederholung eingeschlichen — eine Art Random im Ad‐Random.
ATGGAAGAAGAATATCGTTATATTCCTCCTCCTCAACAACAA
Diese Zweiundvierziger‐Basenfolge kam unerklärlicherweise in je‐ dem DNA‐Abschnitt vor. Das war in der Tat sehr ungewöhnlich. »Bist du sicher, dass nur Ryujis Virus diese Besonderheit aufweist?« »Ja, ganz sicher. Nur in Ryujis Blut haben wir neben der Virus‐ DNA auch diese seltsamen zweiundvierzig Basen entdeckt.« Miya‐ shita starrte Ando noch immer mit großen Augen an. »Findest Du das nicht merkwürdig?« »Das ist schon seltsam ...« Das Klopfen von Miyashitas Stift brach ab. Ando schluckte. Er konnte sich nicht daran erinnern, Miyashita von der Zeitungsecke mit dem sechsstelligen Kodewort, die aus Ryujis Bauch herausgeschaut hatte, erzählt zu haben. Doch erstaunlicherweise schien Miyashita
ebenfalls von einem Kode auszugehen. »Angenommen, wir haben es tatsächlich mit einem Kode zu tun — von wem sollte er sein?« »Natürlich von Ryuji.« Ando kniff beide Augen fest zusammen. Das, was er selbst nicht hatte glauben wollen, sprach Miyashita wie selbstverständlich aus. »Aber Ryuji ist tot. Ich selbst habe ihn obduziert.« »Das tut jetzt nichts zur Sache. Versuch lieber, den Kode zu ent‐ schlüsseln«, entgegnete Miyashita ruhig. Wenn sie von einem Kode ausgingen, würde das bedeuten, dass sich die Zweiundvierziger‐Basenfolge in Worte fassen ließ. Die sechs Zahlen auf der Zeitungsecke — 1, 7, 8, 1, 3, 6 — ergaben das Wort ›Ring‹. Ob sich auch hinter den zweiundvierzig Basen eine wichtige Botschaft verbarg? Aber es war schier unvorstellbar, dass Ryuji, der schon längst im Reich der Toten weilte, eine Mitteilung in seine Gewebeprobe eingeschleust hatte! Ando zitterte am ganzen Leib. Er hatte das Gefühl, dass er sich wie Asakawa in einen endlosen, dunklen Tunnel hineinbegeben hatte, aus dem es kein Entkommen gab. Als er die Zweiundvierziger‐Basen‐ folge gestern gesehen hatte, war sein erster Gedanke gewesen: ein Kode. Aber er hatte den Gedanken sofort verdrängt, weil sonst sein Glaube an die Wissenschaft zerstört gewesen wäre und er nicht mehr gewusst hätte, woran er glauben sollte. Davor hatte er Angst. »Ich lasse dir die Ausdrucke hier. Schau dir den Bericht in Ruhe an.« Miyashita war ein Vollblutwissenschaftler. Wie würde er auf eine Geschichte reagieren, die sich jeglicher wissenschaftlicher Logik entzog? »Okay, und du musst den Kode entschlüsseln«, sagte Miyashita.
Die Kellnerin wies Miyashita und Ando einen Fensterplatz zu. Ein fantastischer Blick auf den Schreinpark bot sich ihnen. Aber auch das schmackhafte und preiswerte Essen verlieh dem Restaurant im obersten Stock des Klinikums einen besonderen Reiz. Ohne lange zu fackeln, bestellten beide das Mittagsmenü und einen Kaffee. »Ich habe ihn gelesen«, sagte Miyashita nach einer kleinen Kunstpause. »Und was hältst du davon?« Ando beugte sich gespannt vor. »Das ist nichts für zarte Seelen. Wenn ich ehrlich sein soll, ich bin geschockt.« »Glaubst du diese abgefahrene Geschichte denn?« »Das spielt keine Rolle. Tatsache ist, dass Namen, Todeszeitpunkte und so weiter nicht aus dem Reich der Fantasie stammen. Die Fakten stimmen mit denen im Polizeiprotokoll und Autopsiebericht überein. Du hast die Aufzeichnungen selbst gesehen. Ich konnte absolut keinen Widerspruch feststellen.« Was Miyashita sagte, war richtig. Sie hatten sämtliche Unterlagen über die vier Jugendlichen, die eine Woche nach ihrem Aufenthalt in Süd‐Hakone gestorben waren, durchgeackert. Die Daten in Asakawas Bericht entsprachen ausnahmslos der Realität. Daran gab es nichts zu rütteln. Und dennoch ... Das Ganze entzog sich jeglicher Logik. ›Hass‹ und ›übersinnliche Kräfte‹ ... Miyashita war mit Leib und Seele Pathologe. Warum waren ihm nicht die Haare zu Berge gestanden? Ando hatte mit einer anderen Reaktion gerech‐ net. »Du glaubst das also einfach so.« »So simpel ist es nun auch wieder nicht. Aber die Wissenschaft hat
auf viele fundamentale Fragen noch immer keine Antwort gefunden: Wie ist das Leben entstanden? Wie vollzieht sich die Evolution? Zufällig, oder läuft sie nach bestimmten Mustern in einer festge‐ schriebenen Richtung ab? All diese Fragen sind offen. Zwar gibt es verschiedene Thesen, aber keine konnte bisher nachgewiesen werden. Nimmt man die Struktur eines Atoms ist sie nicht nur bild‐ lich gesprochen ein miniaturisiertes Sonnensystem. Leben, das auf einer höheren Bewusstseinsebene liegt, zu deuten und zu begreifen, heißt immer, dass Glaube und Vorstellungen des Forschers mit im Spiel sind. Descartes postulierte eine strikte Trennung von Körper und Seele als Voraussetzung aller Lösungsversuche. Doch Denkwei‐ sen, Emotionen und Glaube schleichen sich unweigerlich bei jeder In‐ terpretation nicht rational erklärbarer Dinge ein. Menschen, die glau‐ ben, die Wissenschaft hätte für alles eine Erklärung parat, sind naiv.« Sicherlich war die Wissenschaft nicht allwissend, das sah Ando genauso. Doch ganz so kritisch wie Miyashita war er nicht. Wenn ein Wissenschaftler die Wissenschaft zu stark anzweifelte, was blieb ihm dann noch? »Du bist aber extrem kritisch.« »Ich habe es vielleicht nie erwähnt, aber ich bin Spiritualist. Shikisokuzeku, kusokuzeshiki — wenn du glaubst, da ist etwas, ist da nichts.« Ando hatte keinen blassen Schimmer, worauf Miyashita hinaus wollte. Aber egal, für Endlosdiskussionen über Philosophie war nun wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt. »Haben sich dir keine Fragen aufgedrängt, als du Asakawas Bericht gelesen hast?« »Fragen? Mir sind tausende Fragen durch den Kopf geschossen ...« Miyashita gab Milch und Zucker in seinen Kaffee und rührte ener‐ gisch um. Mit geröteten Wangen musterte er Ando. »Die erste Frage war: Warum lebt Asakawa noch? Er hat das Video doch auch gese‐ hen.« Er nippte an seinem Kaffee. »Daraufgibt es nur eine plausible Antwort. Irgendwann in diesen
Tagen hat er die Zauberformel entdeckt.« »Die Zauberformel?« »Na, die alles entscheidenden Wörter am Ende des Videos, die die Rettung versprechen. Irgendwer hat sie gelöscht.« »Du meinst den Teil des Videos, wo der Betrachter aufgefordert wird, etwas Bestimmtes zu tun?« »Asakawa muss das Rätsel des Fluchs gelöst haben, ohne es zu merken...« »Aber was könnte er getan haben?« »Am Ende von seinem Bericht steht: ›Die Verbreitung des Virus — Die Lösung des Rätsels lautet: Ziehe eine Kopie und zeige das Video jemand anderem.« Nun legte Ando die Karten auf den Tisch und erzählte Miyashita von dem mysteriösen Videorekorder im Unfallwagen und der Kas‐ sette, die er in Mais Apartment gefunden hatte. Miyashita hörte gespannt zu. »Also doch! Da haben wir den Beweis! Asakawa war davon überzeugt, dass der Fluch aufgehoben wird, wenn man eine Kopie zieht und das Video einer anderen Per‐ son vorspielt.« »Daran besteht nicht der geringste Zweifel.« »Also trägt Asakawa am Morgen des Unfalltages einen Videore‐ korder ins Auto und fährt los. Aber wohin? Hast Du eine Idee?« »Irgendwohin, wo es zwei Menschen gibt, denen er das Video zeigen wollte. Selbst wenn er für eine Minute Gewissensbisse hatte, waren alle ethischen Grundsätze schnell über den Haufen geworfen. Er wollte das Leben seiner Frau und seiner Tochter um jeden Preis retten.« »Das mag ja sein. Aber trotzdem zeigt man so ein gefährliches Video doch nicht mal eben so irgendeiner fremden Person.« »Ich glaube, er dachte an seine Schwiegereltern. Seine eigenen El‐
tern können wir ausschließen. Mit Asakawas Vater habe ich vor kur‐ zem gesprochen. Der ist noch quietschfidel.« »Vielleicht liegst du mit deiner Vermutung sogar richtig. Du hast schon recht, was würde man nicht alles tun, um das Leben seiner Tochter und Enkelin zu retten?« »Wir müssen herausfinden, wo Asakawas Schwiegereltern wohnen, dann können wir die Polizei vor Ort fragen, ob sie noch am Leben sind.« Asakawa hatte zwei Kopien des tödlichen Videos gezogen und es dann womöglich seinen Schwiegereltern gezeigt. Falls sie es ebenfalls weitergegeben hatten, hatte es in der näheren Umgebung vermutlich weitere Todesfälle gegeben. Die Zeit drängte! »Um es so auszudrücken«, sagte Miyashita, »auf deinem Seziertisch werden sich noch mehr von diesen merkwürdigen Leichen ein‐ finden.« Ein eisiger Schrecken durchzuckte Ando. Er dachte an Mai. Alles sprach dafür, dass auch sie sich das Video angeschaut hatte. Sie war nun schon seit über zwei Wochen wie vom Erdboden verschluckt. Schauder durchliefen ihn, als er daran dachte, dass er womöglich bald Mais Leiche obduzieren musste. Dieser schöne Körper auf sei‐ nem Seziertisch, das wäre furchtbar ... »Aber Asakawa lebt«, sagte Ando leise. In seiner Stimme lag ein Funken Hoffnung, an den er sich klammerte. »Das mag ja sein. Aber ... Er hat genau das getan, was das Video verlangt. Warum in Gottes Namen sind also seine Frau und seine Tochter gestorben? Das ist die entscheidende Frage.« »Anders ausdrückt: Warum hat es Asakawa nicht erwischt?« »Ich habe keinen blassen Schimmer. Aber überleg mal. Selbst wenn ein Pockenvirus hinter all dem steckt, wovon wir ja momentan ausgehen, ist das kein Widerspruch zu dem Spruch auf dem Video. Das Ziel ist dasselbe: Vermehrung und Verbreitung.«
»Bis zu Ryujis Tod passt alles. Das Problem ist der Tod von Asaka‐ was Frau und Kind. Damit lösen sich alle unsere Theorien in Luft auf.« »Hm. Ob Asakawa vielleicht doch daneben liegt und die Ver‐ vielfältigung und Verbreitung des Videos den Fluch nicht aufheben?« »Ich bin mit meiner Weisheit wirklich am Ende.« Ando wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Immerhin waren durchaus meh‐ rere Möglichkeiten denkbar. Die plausibelste war, dass der Zauber‐ spruch anders lautete. Aber es war auch nicht ausgeschlossen, dass beim Kopieren des Videos Probleme auftraten. Vielleicht spielte es ja gar keine Rolle, ob man das Geheimnis lüftete oder nicht — das Video tötete alle Menschen, die es sahen. Aber wenn das so wäre, warum lebte Asakawa dann noch? Sie steckten in einer Sackgasse. Eine Weile herrschte Schweigen, weil Ando und Miyashita sich auf das Essen konzentrierten. Dann nahm Miyashita das Gespräch wieder auf. »Das ist vielleicht ein Dilemma«, seufzte er, während er mit der Gabel in seinem Essen herumstocherte. »Was?« »Wenn es dieses Video tatsächlich gibt, würde ich es mir nur zu gern ansehen. Aber es gibt keine Überlebensgarantie. Das meine ich mit ›Dilemma‹ ... Eine Woche ist nun wirklich etwas zu kurz.« »Zu kurz? Wofür?« »Um die Antwort herauszufinden. Aus wissenschaftlicher Perspek‐ tive wäre Folgendes denkbar: Die auf dem Video reproduzierten Bil‐ der üben einen gewissen Stimulus auf das Gehirn aus, versetzen den Betrachter in einen bestimmten seelischen Zustand. Dadurch wird das Virus geboren.« »›Geboren‹ ist wohl nicht das richtige Wort. Die durch die Bilder freigesetzte Energie bewirkt unter gewissen Bedingungen eine genetische Veränderung der Zellen, und dadurch entsteht das Virus.« »Ich denke dabei an das Aids‐Virus. Die meistverbreitete Form,
HIV‐I, wurde von afrikanischen Schimpansen auf den Menschen übertragen. Woher das Schimpansenvirus SIV kam, ist bisher nicht restlos geklärt. Genetische Studien belegen, dass es aus zwei verschie‐ denen Viren entstanden ist, die von unterschiedlichen Affenarten auf die Schimpansen übertragen wurden. Im Laufe der Zeit entstand in den Schimpansen eine Hybridform der beiden SIV‐Viren, die später auf den Menschen übertragen wurde und zu HIV‐I mutierte.« »Ich würde zu gern wissen, was der Auslöser war.« »Ich denke, es hat was mit der Psyche zu tun.« Miyashita beugte sich so weit vor, dass er fast Andos Gesicht berührte. Stress verursachte Löcher in der Magenwand ... Seit jeher war bekannt, dass der psychische Zustand eines Menschen einen ent‐ scheidenden Einfluss auf seinen Körper hatte. Miyashita und Ando waren in dieser Hinsicht derselben Meinung. Vermutlich wurde bei dem Anblick des Videos ein bestimmter psy‐ chischer Zustand ausgelöst. Aufgrund dieses Einflusses veränderte sich die DNA im Körper, das Virus wurde geboren. Es führte zu einem Tumor an den Gefäßwänden der Herzarterie, der innerhalb von einer Woche in rasantem Tempo wuchs, bis er schließlich so groß war, dass er die Blut‐ und Sauerstoffzufuhr zum Herzen blockierte. Ähnlich wie bei Krebs veränderte das Virus nur die Zellen in der DNA, schien aber nicht übertragbar zu sein. »Bist du nicht auch scharf darauf, das Video zu sehen?« Miyashita schien sich vor Neugierde kaum noch zurückhalten zu können. »Schon, aber...« »Wir müssen das Video finden.« »Vergiss das lieber gleich wieder. Wenn man die Finger davon lässt, kann man sich auch nicht verbrennen. Willst du krepieren wie Ryuji?« »Wo du gerade von Ryuji sprichst ... Konntest du den Kode ent‐ schlüsseln?«
»Noch nicht. Ich weiß nicht recht ... Selbst wenn wir es mit einem Geheimsprachenkode zu tun haben sollten, zweiundvierzig Basen sind zu wenig. Wie man es auch dreht und wendet, ich kann mir nicht vorstellen, dass die wenigen Buchstaben einen sinnvollen Satz ergeben.« Das war eine Ausrede, denn Ando befürchtete, dass er sich die Zähne an den Zahlen ausbeißen würde. Jeder Versuch musste schon im Ansatz scheitern. »Du kannst ja den Feiertag dafür nutzen.« Erst jetzt erinnerte sich Ando daran, dass morgen der ›Tag der Arbeit‹ war. Am Samstag hatte er ebenfalls frei. Das bedeutete: drei freie Tage hintereinander. Was für ein schrecklicher Gedanke! Seit Takanoris Tod hatte er nie mehr das Bedürfnis nach Freizeit verspürt. Im Gegenteil, er hatte immer alles getan, um sie zu vermeiden. Es gab nichts Schlimmeres für ihn, als einsam und verlassen zu Hause zu hocken. Ein Albtraum! Allein der Gedanke daran deprimierte ihn zutiefst. »Okay, ich werd mich noch mal dransetzen«, antwortete er mit gespielter Lässigkeit. Zwar ließen sich mit der Entschlüsselung des Kodes die schier endlosen freien Tage totschlagen, doch seine Stim‐ mung würde das nicht bessern. Immerhin hatte ihm ein Toter den Geheimkode zukommen lassen ... Aber vielleicht würde es ihn ein bisschen befriedigen, wenn er das Rätsel löste. »Ich gebe dir am Montag Bescheid, was ich herausbekommen habe.« Damit war es versprochen. Innerhalb von drei Tagen musste er den Kode knacken. »Ich verlasse mich voll und ganz auf dich.« Zufrieden klopfte Miyashita Ando auf die Schulter.
Gleich nach dem Mittagessen rief Ando bei der Juristischen Fakul‐ tät der Medizinhochschule J in Utsunomia an. Er hatte herausge‐ funden, dass Asakawas Schwiegereltern in derselben Präfektur — Tochigi — in Ashikaga lebten. Sollten sie auch unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sein, wären ihre Leichen mit hundertprozentiger Sicherheit an der Universität J obduziert worden. Ein Assistenzprofessor nahm ab. Höflich erkundigte Ando sich, ob gegen Ende des vergangenen Monats Leichname mit der Diagnose ›Herzinfarkt durch Verschluss eines Herzkranzgefäßes‹ seziert worden waren. Die Frage schien den Professor zu irritieren. Ohne zu antworten, fragte er: »Entschuldigen Sie, aber ich verstehe Ihr Anliegen nicht ganz ...« Mittlerweile wiesen sieben Leichen in der Kanto‐Region die besagte Todesursache auf, wobei nicht auszuschließen war, dass es weitere dieser mysteriösen Fälle gab, erklärte Ando dem Professor. Natürlich vermied er bei seinen Ausführungen, die parapsychologischen Aspekte des Asakawa‐Berichts zu erwähnen. Er beschränkte sich auf die medizinischen Fakten. »Beziehen Sie alle Institute in Kanto in Ihre Nachforschungen ein?« Der Professor schien nach Andos Erklärung noch stärker befremdet zu sein. Ando antwortete: »Nein, das beabsichtige ich nicht.« »Ich verstehe nur nicht ... Warum wenden Sie sich ausgerechnet an uns?« »Weil die Wahrscheinlichkeit hier am größten ist.« »Sie meinen die Wahrscheinlichkeit, dass in der Gegend um Utsu‐ nomiya eine Leiche mit dieser Diagnose gefunden wird?«
»Nein, in Ashikaga.« »In Ashikaga?« Der Professor verstummte abrupt. Ando konnte seine Anspannung förmlich spüren. »Ich bin sprachlos. Woher wissen Sie ...? Tatsächlich wurde in Ashikaga am 28. Oktober ein älteres Ehepaar tot aufgefunden. Einen Tag später habe ich die Autopsie durchgeführt.« »Können Sie sich an den Namen des Ehepaares erinnern?« »Ich glaube, der Nachname war Oda. Den Vornamen des Mannes habe ich nicht mehr im Kopf, aber die Frau hieß Setsuko.« Das konnte nicht sein ... Andos Vorahnung war bittere Realität geworden. Die beiden Menschen, deren Leichen in Ashikaga gefun‐ den worden waren, waren Asakawas Schwiegereltern. Er hatte also mit seiner These richtig gelegen. Asakawa war am 21. Oktober vormittags mit dem Mietwagen nach Ashikaga, in den Heimatort seiner Frau, gefahren. Dort hatte er das Video zweimal kopiert — ein‐ mal für seine Frau und einmal für seine Tochter — und es seinen Schwiegereltern gezeigt. Zur Beruhigung hatte er ihnen erzählt, dass nichts passieren könne, solange sie das Band innerhalb einer Woche kopierten und einer anderen Person vorspielten. Egal, ob sie ihm die Geschichte abkauften oder nicht, sie folgten seinem Wunsch. Immer‐ hin standen das Leben ihrer Tochter und ihrer Enkelin auf dem Spiel. Asakawa musste geglaubt haben, dass er die rettende Lösung gefunden hatte. Doch es kam anders. Auf dem Heimweg verlor er Frau und Tochter, eine Woche später auch noch die Schwiegereltern. »Sicher waren sie angesichts der Leichen ziemlich erstaunt, nicht wahr?« Ando stellte sich die verwirrten Blicke des Personals vor, als gleich zwei dieser merkwürdigen Leichen auf ihrem Seziertisch landeten. »Das kann man wohl sagen ... Die Todeszeit war nahezu identisch. Sogar einen Abschiedsbrief haben sie hinterlassen. Deshalb sind wir zunächst davon ausgegangen, dass sie gemeinsam Selbstmord
begangen haben. Das gibtʹs ja ab und zu. Doch als wir die Leichen öffneten, konnten wir weder Giftspuren noch andere Hinweise entdecken, die diese These bestätigt hätten. Stattdessen diagnostizier‐ ten wir bei beiden einen Tumor in den Herzkranzgefäßen. Was für eine Überraschung ...« »Einen Augenblick ...«, unterbrach Ando den Professor. »Ja?« »Haben Sie eben einen Abschiedsbrief erwähnt?« »So ist es. Es sind allerdings nur ein paar Zeilen ... Er wurde neben den Toten gefunden.« Irritiert fragte Ando sich, weshalb Asakawas Schwiegereltern einen Abschiedsbrief verfasst haben mochten. »Können Sie mir sagen, was darinstand?« »Einen Moment bitte.« Der Professor legte den Hörer beiseite. Nach wenigen Sekunden meldete er sich wieder. »Leider kann ich den Brief auf die Schnelle nicht finden. Ist es Ihnen recht, wenn ich ihn Ihnen per Fax schicke?« »Das wäre sehr freundlich.« Nachdem Ando ihm seine Faxnummer genannt hatte, beendeten sie das Gespräch. Nervös saß Ando am Schreibtisch und starrte auf das Faxgerät. Währenddessen versuchte er, die neuen Informationen in sein Hypothesengebäude einzuflechten, doch das war aussichtslos. Er war innerlich viel zu aufgewühlt und konnte keinen klaren Gedan‐ ken fassen. Seine ganze Konzentration richtete sich ausschließlich auf das Faxgerät. Plötzlich vernahm er ein leises Rattern. Das Fax begann, ein Blatt auszuwerfen. Ando sprang auf und rannte zu dem Gerät. Wieder am Schreibtisch, las er:
Universität K, z. Hd. Herrn Ando
Wie versprochen, schicke ich Ihnen hiermit die Zeilen, die das Ehepaar Oda hinterlassen hat. Wenn Sie etwas herausgefunden haben, lassen Sie es mich bitte wissen. Universität J, Yokotta
Den Sätzen des Professors folgten die handgeschriebenen Zeilen von Asakawas Schwiegereltern, die mit ihrer Unterschrift versehen waren.
Wir haben uns der Verantwortung gestellt. Es ist vernichtet. Die Gefahr ist jetzt gebannt. Also kein Grund zur Sorge. Wir sind müde, sehr, sehr müde. Bitte kümmere dich um Yoshimi und Noriko. Am Morgen des 28. Oktober Toru und Setsuko Oda
Zweifellos waren diese Zeilen kurz vor dem Tod der Odas nieder‐ geschrieben worden. Yoshimi und Noriko waren vermutlich ihre anderen Töchter. Doch an wen war dieser Abschiedsbrief gerichtet? Wir haben uns der Verantwortung gestellt. Es ist vernichtet. ›Vernichtet‹ — das bedeutete sicherlich, dass sie das gefährliche Video ein für alle Mal aus der Welt geschafft hatten. Ando versuchte, sich vorzustellen, was in den Köpfen der beiden vorgegangen sein mochte, als Asaka‐ wa sie mit einer derart absonderlichen, unfassbaren Geschichte kon‐ frontierte. Selbst wenn sie sie anfangs nicht geglaubt hatten: Späte‐ stens mit dem Tod ihrer Tochter und ihrer Enkelin musste ihnen auf‐ gegangen sein, dass er Recht hatte. Nur in einem hatte er nicht Recht: Der grausame Fluch wurde offensichtlich nicht automatisch gebannt, indem man eine Kopie des Videos zog und diese einer anderen Per‐ son zeigte. Ihr Lebenswille musste angesichts ihres Verlustes erlo‐
schen sein. Nach der schmerzhaften Beerdigung warteten sie, ohne das Video vervielfältigt zu haben, gemeinsam auf den Tod ... Doch zuvor hatten sie den todbringenden Film zerstört, sofern man ihren Worten in dem Abschiedsbrief Glauben schenken konnte. Aber auf welche Weise haben die Odas das Videoband vernichtet? Haben sie es gelöscht und anschließend als Gefahrengut entsorgt? Vielleicht hatten sie es auch einfach im Garten vergraben ... Ando beschloss, erst einmal davon auszugehen, dass die beiden Ko‐ pien nicht mehr existierten. Sorgfältig rekonstruierte er dann ein wei‐ teres Mal den Weg des mysteriösen Videos auf einem Blatt Papier: ›Geboren‹ wurde das teuflische Video in Süd‐Hakone in der Block‐ hütte. Asakawa, der das Band an sich genommen hatte, zog eine Ko‐ pie für Ryuji Takayama. Irgendwie gelangte dessen Exemplar in Mais Hände. Doch abgesehen von den ersten Sekunden war es komplett überspielt worden. Asakawas Exemplar — das Original, das sich in dem Videorekorder im Unfallwagen befand — kam zu seinem Bru‐ der Jun‐ichiro, der von der Polizei alle persönlichen Gegenstände aus dem Auto erhalten hatte. Schließlich landete es mitsamt dem defek‐ ten Videorekorder auf dem Müll. Die beiden Kopien des Originals, mit deren Hilfe Asakawa Frau und Tochter retten wollte, wurden von seinen Schwiegereltern, den Odas, vernichtet. Und das bedeutete: Das aus Hass auf die Gesellschaft entstandene Video Sadako Yamamuras war endgültig von dieser Welt ver‐ schwunden. Ando starrte auf seine Notizen. Seit seinem Erscheinen Ende August hatte das Video neun Menschenleben gefordert. Zwei Monate später war es wieder von der Bildfläche verschwunden. Das bestä‐ tigte die Tatsache, dass im letzten Monat keine weiteren Todesopfer zu beklagen gewesen waren. Ando überlegte. Offenbar spielte es keine Rolle, ob man das Video vervielfältigte oder nicht. Unterstellte man, dass es alle, die es sahen, in den Tod riss, unabhängig davon, ob
es innerhalb einer Woche kopiert wurde oder nicht, war sein Untergang vorprogrammiert. Damit dürfte die schreckliche Todesserie beendet sein. Solange es keine Kopie gab, bestand auch keine Gefahr, dass weitere Menschen elend Zu Grunde gingen. Doch eine Frage blieb: Warum lebte Asakawa noch? Und wo zum Teufel steckte Mai? Theoretisch schien der Fluch besiegt zu sein. Das Video existierte nicht mehr, konnte niemanden mehr töten. Doch Ando spürte, dass es noch nicht vorbei war. So einfach würde sich der Fluch nicht austilgen lassen.
Ando hatte sich am Morgen vom Bibliothekspersonal einen Spindschlüssel geben lassen. Auf dem Weg zu den Schließfächern befreite er sich von seinem Jackett. Diese Hitze ... Verwunderte Blicke folgten ihm. Es war Winter, doch Ando sah aus, als befände er sich im Sommerurlaub. Er entnahm seiner Aktentasche Block und Stift, die restlichen Sachen verschwanden im Spind. Zwischen den Seiten des Schreibblocks steckte das Blatt mit der Basenfolge des in Ryujis Blut nachgewiesenen Virus. Seitdem grübelte er im Lesesaal der Bibliothek an einem Fenster‐ tisch über den Kode nach, mit dem festen Vorsatz, ihn zu entziffern. Doch jeder Blick auf die chaotische Sequenz ließ seine Zuversicht schwinden. Falls er das Geheimnis nicht lüftete, wären alle ihre Bemühungen umsonst gewesen. Aber was war die Alternative? Drei unendlich lange Tage, einsam und verlassen zu Hause ... Nein! Da war es besser, sich an dem Kode die Zähne auszubeißen. Während seines Studiums hatte Ando eine Menge Bücher über die Kunst des Kode‐Entzifferns verschlungen. Wo waren sie bei den vie‐ len Umzügen nach Studium, Hochzeit und Scheidung abgeblieben? Er hatte sie bis heute nicht vermisst, weil sein Interesse an diesem ›Spiel‹ im Laufe der Jahre erlahmt war. Doch jetzt hätte er sie dringend gebraucht. Um einen Geheimkode zu entziffern, benötigte man Bücher — und aus diesem Grund hatte er sich in der Bibliothek verschanzt. Mittlerweile war es über zehn Jahre, seit er sich mit den Methoden von Kodierung und Dekodierung auseinandergesetzt hatte, und er hatte vieles vergessen. Um sich die Grundlagen wieder vor Augen zu führen, nahm er eine Einführung ins Thema zur Hand. Während er sich Seite für Seite durcharbeitete, überlegte er, in welche Kategorie
die Basenfolge passen könnte. Insgesamt gab es — grob gesprochen — drei Geheimschlüsselarten: 1. Sätze oder Wörter wurden in mathe‐ matische Formeln oder Zahlen kodiert; 2. Die Reihenfolge der Buch‐ staben wurde verändert; 3. In einen Satz wurden zusammenhanglose Phrasen zwischen einzelne Wörter gesetzt. Die Zahlenkombination auf dem Zeitungsfetzen, der aus Ryujis Körper hervorgelugt hatte, war ein Beispiel für einen Kode der ersten Kategorie. Folgte man der These, dass die Nukleotidsequenz des pocken‐ ähnlichen Virus tatsächlich ein Kode war, dann ließ er sich ebenfalls der ersten Kategorie zuordnen. Die vier Basen A, T, G, C konnten für einen Buchstaben oder ein Wort stehen. Ruckartig hob Ando den Kopf. Der ursprüngliche Sinn eines Kodes war es, Informationen an eine bestimmte Person zu übermitteln, ohne dass eine andere Person diese Informationen ebenfalls erhielt ... Unter diesem Aspekt hatte er es noch gar nicht betrachtet. Während des Studiums war das Kode‐Raten für ihn nur ein vergnügliches Spiel gewesen, mehr nicht. Doch jetzt war es wichtig, sich den ursprüng‐ lichen Zweck der Verschlüsselung bewusst zu machen. Er beschloss, mit so viel Logik wie möglich an die Sache heran‐ zugehen. Wenn der Sinn eines Kodes also darin bestand, einer dritten Person bestimmte Botschaften vorzuenthalten, dann musste er so geschickt aufgebaut sein, dass nur der Adressat seine Existenz wahr‐ nahm. Ando hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass die sich in jedem DNA‐Abschnitt wiederholende Zweiundvierziger‐Basenfolge eine Art Geheimsprachenschlüssel war. Doch warum? Woraus resultierte dieses Gefühl? Er überlegte. Eine Wiederholung bestimmter Nukleotidsequenzen kam zwar recht selten vor, war aber auch nicht völlig ausgeschlossen. Das konnte es also nicht gewesen sein. Es musste an etwas anderem gelegen haben. Vermutlich hing es mit dem Erlebnis mit der Zeitungsecke in Ryujis Bauch zusammen. Wenn er es sich recht überlegte ... Vielleicht steckte hinter dem Ring‐Kode tatsächlich eine
doppelte Bedeutung. Fest stand, dass Ryuji ihn auf den Ring‐Bericht hatte hinweisen wollen. Doch Ando wurde das Gefühl nicht los, dass eine weitere Botschaft Ryujis im Spiel war. Vielleicht wollte er ihm auf diese Weise auch mitteilen, dass er von nun an wichtige Informa‐ tionen in kodierter Form schicken würde, damit Ando sie nicht über‐ sah. Dabei bediente Ryuji sich der einfachsten Methode, nämlich Wörter durch Zahlen zu ersetzen. Ando konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ryuji im Verborgenen immer noch die Fäden spann. Wie auch immer: Nur in seinem Blut war die seltsame, sich wieder‐ holende Zweiundvierziger‐Basensequenz nachgewiesen worden. Das alles sprach eindeutig für die These, dass es sich tatsächlich um einen Geheimkode handelte. Zwar war Ryuji tot, sein Körper eingeäschert, doch die Gewebeprobe war der diesseitigen Welt erhalten geblieben. Zahlreiche Zellen mit Ryujis DNA, die sein genetisches Profil enthiel‐ ten, existierten noch. Die DNA übermittelt Ryujis Willen; sie spricht an seiner Stelle ... Was für ein absurder Gedanke! Ich drehe ja völlig durch. Aber wenn sich die Nukleotidsequenz nun doch dekodieren ließ und eine Nachricht übermittelte ... Theoretisch konnte aus der Gewe‐ beprobe die DNA extrahiert und damit ein Klon Ryujis produziert werden. Warum hatte er seine Botschaft ausgerechnet in die Virus‐DNA hineingeschleust? Bei genauerem Nachdenken lag der Grund auf der Hand. Als Mediziner hatte Ryuji gewusst, dass man den Kode nie entdecken würde, wenn er in der DNA gesunder Zellen enthalten ge‐ wesen wäre. Es war viel klüger, ihn in die DNA des Virus zu schleu‐ sen, das von außen in den Organismus eingedrungen war. Immerhin hatte der unbekannte Erreger zu einer mysteriösen Todesserie ge‐ führt. Es stand außer Frage, dass die Virus‐DNA mit dem Sequenzer analysiert und die Basenfolge ermittelt werden würde.
Ando war wieder einmal verblüfft über Ryujis Weitsicht. Damit seine Nachricht auch wirklich ankam, hatte er nur die Virus‐DNA so verändert, dass man förmlich darüber stolpern musste. Plötzlich waren Andos Zweifel verflogen. Hinter der Zweiundvier‐ ziger‐Abfolge steckte eine verschlüsselte Information. Die ursprüng‐ liche Bedeutung von Kodes spielte keine Rolle. Es gab schlicht nur diese Möglichkeit, um mit der Welt zu kommunizieren. Das Buchsta‐ benalphabet der DNA bestand lediglich aus vier verschiedenen Zei‐ chen — A, T, G, C. Da blieb nur eines: die Abfolge der Basen so ge‐ schickt zu verändern, dass sie nach der Dekodierung die Nachricht offenbarte. Noch vor wenigen Minuten war Ando nahe dran gewesen, alles in die Ecke zu werfen. Doch jetzt sah er Licht am Ende des Tunnels. Ja, er würde den Geheimkode entschlüsseln! Seine Zuversicht war zurückgekehrt. Ich werde das Geheimnis lüften!, schwor er sich. Wenn Ryuji Ando mit dieser Basenfolge tatsächlich etwas hatte mit‐ teilen wollen, musste die Entschlüsselung leicht sein. Es bestand kein Grund dafür, den Kode unnötig schwierig zu gestalten. Andos erste Aufgabe war es, die verschiedenen Lösungsmethoden zu eruieren. War der Einstieg von Erfolg gekrönt, dann war auch die verschlüs‐ selte Information bald ermittelt. Umgekehrt galt das Gleiche: Ging er es von der falschen Seite an, würde das Geheimnis womöglich nie enthüllt werden. Ando sah sich die Basenfolge noch einmal an.
ATGGAAGAAGAATATCGTTATATTCCTCCTCCTCAACAACAA
Das erste Problem lag darin, die Trennlinien zu ziehen. Wie viele Zeichen könnten ein Wort oder einen alphabetischen Buchstaben ko‐ dieren? Fieberhaft überlegte Ando, ob er den Schnitt nach zwei oder drei Basen machen sollte. Schließlich entschied er sich für die erste
Variante.
AT GG AA GA AG AA TA TC GT TA TA TT CC TC CT CC TC AA CA AC AA Legte man die These zugrunde, dass innerhalb dieses Vierer‐›Al‐ phabets‹ jeweils zwei Buchstaben eine Einheit bildeten, ergaben sich vier mal vier verschiedene Paare, also sechzehn. Ando ging davon aus, dass die sechzehn Basenpaare jeweils für einen alphabetischen Buchstaben standen. Allerdings tauchte damit ein neues Problem auf: In welcher Sprache war der Kode geschrieben? Das japanische Silbenalphabet Hiragana bestand aus fast fünfzig Zeichen. Sechzehn Paare erschienen hier zu wenig. Im Vergleich dazu umfassten das französische und englische Alphabet sechsundzwan‐ zig, das italienische zwanzig Buchstaben. Die alles entscheidende Frage war: Welche Sprache lag dem Kode zugrunde? Ando glaubte die Antwort zu wissen. Die Zahlenkombination 1, 7, 8, 1, 3, 6 auf dem Zeitungsfetzen hatte dekodiert das englische Wort ring ergeben. Seine Intuition sagte ihm, dass vermutlich auch dieses Mal Englisch die Basis war. Zerlegte man die Zweiundvierziger‐Basenfolge in Zweier‐Einhei‐ ten, ergaben sich einundzwanzig Paare. Darunter waren vier AA‐ Gruppen, jeweils drei TA‐ und TC‐Gruppen sowie zwei CC‐ Gruppen. Insgesamt zählte Ando dreizehn verschiedene Paare. Diese Zahl notierte er sich. Nervös schlug er die Seite mit der Tabelle auf, die Auskunft über die Verwendungshäufigkeit jedes Buchstabens in einem englischen Satz gab. Die sechsundzwanzig Buchstaben des englischen Alphabets wur‐ den naturgemäß in unterschiedlicher Häufigkeit verwendet. A, E oder T tauchten häufig auf, während Q oder Z selten vorkamen, im Durchschnitt ein‐ bis zwei Mal pro Satz. Eine Statistik zeigte exakte
Zahlen. Demnach setzte sich ein Satz mit einundzwanzig Buchstaben durchschnittlich aus zwölf verschiedenen Lettern zusammen. Ando hätte fast erleichtert gejubelt. Dieser Wert, zwölf Buchstaben pro Satz, lag dicht an der von ihm ermittelten Zahl Dreizehn! Es be‐ stand also eine realistische Chance, dass sich bei der korrekten Posi‐ tion der Buchstaben ein sinnvoller englischer Satz ergab. Trotzdem zog er auch eine weitere Variante in Betracht, indem er die Zweiundvierziger‐Sequenz in Dreier‐Gruppen unterteilte:
ATG GAA GAA GAA TAT CGT TAT ATT CCT CCT CCT CAA CAA CAA Jetzt zählte er vierzehn Gruppen. Allerdings ließen sich nur sieben verschiedene Kombinationen definieren: ATG, GAA, TAT, CGT, ATT, CCT, CAA. Der Statistik im Kode‐Buch zufolge kamen in einem Satz mit vierzehn Buchstaben ungefähr neun verschiedene Lettern vor. Damit bestand auch hier keine allzu große Differenz. Während Ando die Buchstaben betrachtete, fiel ihm auf, dass sich einzelne Gruppen ziemlich häufig wiederholten: GAA, CCT, CAA kamen jeweils dreimal und TAT zweimal vor. Aber das war noch nicht alles. Die sich wiederholenden Gruppen waren nicht sporadisch verteilt, sondern reihten sich jeweils aneinander, zumindest im Fall von GAA, CCT und CAA. Steckte dahinter eine besondere Bedeutung, oder war das Zufall? Ando wusste es nicht. Doch wenn er wie bisher davon ausging, dass eine Gruppe einen alphabetischen Buchstaben kodierte, bedeutete dies, dass eine Letter in einem Wort dreimal aufeinander folgte. Zwar hätte Ando spontan viele Vokabeln nennen können, in denen zwei gleiche Buchstaben nacheinander kamen, aber drei? Denkbar war natürlich, dass lediglich die letzten zwei Buchstaben eines Wortes mit dem Anfangsbuchstaben des nächsten identisch waren, wie beispielsweise too old, will link etc.
Ando zog ein englisches Buch aus dem Regal und begann zu zäh‐ len, wie viele derartige Phrasen vorkamen. Es waren gerade einmal ein oder zwei Fälle auf fünf bis sechs Seiten zu entdecken. Das brach‐ te ihn einen Schritt weiter. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Satz mit vierzehn Buchstaben drei gleiche Buchstaben aufeinander folg‐ ten, war gleich null. Dies legte den Schluss nahe, dass der Schnitt nach jeweils zwei Basen zu erfolgen hatte.
AT GG AA GA AG AA TA TC GT TA TA TT CC TC CT CC TC AA CA AC AA AA‐Paare gab es insgesamt vier. Dahinter musste also ein häufig verwendeter Buchstabe stecken. Ando warf erneut einen Blick auf die Liste. Welcher Buchstabe kam in einem englischen Satz statistisch gesehen am häufigsten vor? Das E. Also ging er zunächst davon aus, dass AA für E stand. Mehr als einmal tauchten auch die Paare TA und TC auf. Zudem folgte nach AA einmal TA und nach TC einmal AA. Das war eine wichtige Erkenntnis. Denn nicht nur die Verwen‐ dungshäufigkeit von Buchstaben, sondern auch ihre Kombinationen spielten eine Rolle. Hier gab es ebenfalls Muster. Ando machte sich abermals in der Statistik schlau. Da auf ein E recht oft ein A folgte, beschloss er, TA mit A gleichzusetzen. Der gleichen Logik folgend, wäre TC dann ein T. CC könnte demnach für N stehen. Somit ergab sich:
. . E . . E A T . A A . N T . N T E . . E
Jetzt glaubte Ando, Ansätze eines englischen Satzes zu erkennen. Unter Berücksichtigung der Beziehung von Vokalen und Konso‐ nanten füllte er die Lücken. Das Ergebnis war:
S H E R D E A T Y A A L N T I N T E C M E
Zwar ließen sich die ersten drei Buchstaben als she für ›sie‹ lesen, aber wie man es auch betrachtete, es ergab keinen sinnvollen Satz. Ando tauschte E, A, T und N miteinander aus und testete, seiner Intuition folgend, verschiedene Möglichkeiten. Doch irgendwie hatte alles keinen Sinn. Da kam ihm eine Idee. Er notierte jeden Buchstaben auf ein Kärtchen und fügte sie wie bei einem Puzzle aneinander.
T H E Y W E R B O R R L N B I N B E C M E
They were born ..., kam Ando als Erstes in den Kopf. Zwar traf das den Nagel nicht exakt auf den Kopf, aber so ungefähr passte es. ›Sie wurden geboren‹ ... Keine Frage, das ergab einen Sinn. Trotzdem kamen ihm Zweifel. Sollte das etwa der Anfang von Ryujis Botschaft sein? Fieberhaft probierte er weiter. Dann hielt er inne. Wenn ich jetzt einen Computer hätte, wäre das Rätsel im Handumdrehen gelöst. Der dritte, sechste, achtzehnte und einund‐ zwanzigste Buchstabe waren identisch. Der siebte, zehnte und elfte ebenfalls, genau wie der achte, vierzehnte und siebzehnte sowie der dreizehnte und sechzehnte. Insgesamt bestand der Satz aus einund‐ zwanzig Buchstaben. Gäbe man diese Werte in einen Computer ein, würde er die verschiedenen Möglichkeiten errechnen — und im Nu hätte man die Lösung. Doch da tauchte ein weiteres Problem auf. Vermutlich würde der Rechner nicht nur eine, sondern mehrere Antworten ausspucken. Zweifellos gab es viele sinnvolle Sätze mit einundzwanzig Buchstaben. Das machte die Sache wiederum schwie‐
rig. Woher sollte er wissen, welche von den vielen Möglichkeiten Ryujis Nachricht war? Eine Sackgasse. Mit der flachen Hand klopfte er sich gegen die Stirn. Während seiner Studiumszeit hatte er vor Ideen nur so gesprüht und hätte den Kode sicherlich in zwei bis drei Minuten entschlüsselt. Es galt also, die grauen Zellen wieder zu aktivieren. Während Ando über den Zahlen gebrütet hatte, war die Zeit verflo‐ gen. Ein Blick auf die Uhr ließ ihn mit Erstaunen feststellen, dass es bereits kurz vor eins war. Da sein Magen knurrte, beschloss er, eine kleine Pause einzulegen und sich in der Cafeteria im vierten Stock zu stärken. Das war jetzt genau das Richtige. Vielleicht kam ihm ja beim Essen die zündende Idee, wie es schon öfter geschehen war. Es darf nur eine Antwort geben ... Wie in Trance murmelte er diese Worte immer wieder vor sich hin, während er zur Cafeteria ging.
Beim Essen sah Ando immer wieder aus dem Fenster. Kinder spiel‐ ten im Park, schaukelten und wippten fröhlich. Weil es mittlerweile nach 13 Uhr war, leerte sich die Cafeteria, die bis vor ein paar Minu‐ ten noch voller Menschen gewesen war, allmählich. Ando hatte das Blatt mit der Basenfolge des Virus neben sein Tablett gelegt, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Immer wieder wanderte sein Blick nach draußen. Jedes Mal, wenn ein kleiner Junge von ungefähr fünf Jahren vorbeirannte, folgte Ando ihm wie hypnotisiert mit dem Blick. Minutenlang fixierte er den Jungen geistesabwesend. Vor zwei Jahren hatte auch er mit seinem Sohn hier gespielt. Es war ein Sonntagnachmittag gewesen, und Ando war plötzlich eingefallen, dass er dringend Material für eine Fachtagung benötigte. Da sie in unmittelbarer Nähe der Bibliothek waren, beschloss er hineinzuge‐ hen. Doch am Eingang stand: Zutritt unter 13 Jahren nicht gestattet. Dann eben nicht! Schließlich konnte er seinen Sohn nicht allein drau‐ ßen lassen, während er selbst in der Bibliothek herumlief. Stattdessen ging er mit Takanori in den kleinen Park. Sein Sohn stürmte auf die Schaukel zu und kreischte dann vor Freude, als Ando ihn von hinten anschob. Die Schaukel bewegte sich heute genau wie damals über dem gelb leuchtenden Laub. Da die Fenster geschlossen waren, hörte er keine Stimmen, und auch das Gesicht des schaukelnden Kindes blieb Ando verborgen. Doch in seinen Ohren hallten die Freuden‐ schreie seines dreijährigen Sohnes. Jedes Mal, wenn Ando an dem Park vorbeikam, stiegen Erinnerun‐ gen an diese kurzen, glücklichen Momente in ihm auf. Zwar wusste er, dass es an der Zeit war, die Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen, aber das war weiß Gott nicht einfach. Doch was brachte es, im Selbstmitleid zu baden?
Er nahm den Stift zur Hand und wandte sich wieder der Basenfolge zu. Es half nichts, er musste wohl noch einmal von vorn anfangen. Erneut rief er sich die verschiedenen Entschlüsselungsmethoden ins Gedächtnis. Eine nach der anderen prüfte er in Gedanken auf ihre Brauchbarkeit. Beim geringsten Zweifel verwarf er sie. Das war die einzige Möglichkeit, sich der Lösung zu nähern. Doch plötzlich wurde ihm klar, dass er eine Technik voreilig über Bord geworfen hatte. Die Anagram‐Methode könnte vielleicht doch ein Weg sein, schoss es ihm durch den Kopf. Mit neuer Energie kehr‐ te er in den Lesesaal der Bibliothek zurück und zog den Zettel mit der Aufteilung in Dreier‐Gruppen hervor:
ATG GAA GAA GAA TAT CGT TAT ATT CCT CCT CCT CAA CAA CAA Vielleicht, dachte er, war er von der falschen Prämisse ausgegan‐ gen. Seiner ursprünglichen Hypothese zufolge standen jeweils drei Basen für einen Buchstaben des Alphabets. Das Problem dabei war, dass dann aufgrund der Positionen von GAA, CCT, CAA derselbe Buchstabe in einem Wort oder einer Phrase dreimal hintereinander kommen musste. Deshalb hatte Ando diese Methode verworfen. Nun versuchte er etwas anderes: Vielleicht lag des Rätsels Lösung darin, nicht einen Satz zu bilden, sondern bestimmte Buchstaben herauszufinden, die es dann wie bei einem Kreuzworträtsel zu ordnen galt.
OOOOEEEBBDDTPNHR
Ando konzentrierte sich. Nach einigen Versuchen entnahm er die‐ sem Gebilde folgenden englischen Satz: Bob opened the door.
Ja, das ist tatsächlich eine Möglichkeit, die Buchstaben zu lesen! Er war im Begriff weiterzumachen, hielt aber plötzlich inne. Nein, das konnte es nicht sein. Diese Methode wäre viel zu zeitaufwändig ... erst den verschiedenen Gruppen den richtigen alphabetischen Buch‐ staben zuzuordnen, dann die Reihenfolge festzulegen ... Problema‐ tisch war zudem, dass eine eindeutige Kodierung ausgeschlossen war. Es würden sich einfach zu viele Wörter bilden lassen, die alle für sich einen Sinn ergaben. Wie sollte er da das einzig richtige Lösungs‐ wort herausfischen? Ohne einen Anhaltspunkt, eine Art Schlüssel, würde das Ganze ins Uferlose gehen. Da kam ihm eine Idee: Vielleicht lieferten ja die Zahlen 1, 7,8, 1, 3, 6, die das englische Wort ring ergaben, einen Hinweis, nach welcher Methode die Buchstaben zu ordnen waren. Es war zum Verzweifeln! Denn selbst wenn er herausfände, nach welcher Vorgehensweise die Reihenfolge festzulegen wäre, würde das bei Weitem nicht ausrei‐ chen. Das A und O der ganzen Unternehmung war, zunächst die richtigen Buchstaben zu ermitteln. Erneut war er in einer Sackgasse gelandet. Es muss einen anderen Weg geben! Ich muss meine Vorgehensweise noch mal ändern. Die ganze Zeit hatte er sich darauf konzentriert, dass zwei oder drei Basen jeweils für einen Buchstaben standen. Vielleicht stimmte das gar nicht? Die Antwort muss eindeutig sein. Und der Lösungsweg darf nicht zu kompliziert sein. Ratlos starrte er auf die Basenfolge. In diesem Moment nahm er die Silhouette einer Frau wahr, die vor ihm saß und in einem Buch las. Langes pechschwarzes Haar bedeckte ihren schmalen Rücken. Ihr Gesicht ähnelte dem Mais. Wo mag Mai jetzt sein? Sorgen verdunkelten Andos Miene. Ob mit ihr alles in Ordnung ist? Will Ryuji mir mit diesem Kode vielleicht mittei‐ len, wo Mai ist? Kaum war der Gedanke aufgetaucht, als Ando ihn
auch schon idiotisch fand. Er grinste sarkastisch. Ich, der Held, rette Mai vor einem schrecklichen Schicksal — was für eine infantile Vorstellung! Irgendwie kam ihm plötzlich alles albern vor. Was machte er hier eigentlich? Vielleicht war die Zweiundvierziger‐Basensequenz, die sich aus irgendeinem Grund in die Virus‐DNA eingeschlichen hatte, gar kein Kode. Andos Ehrgeiz war mit einem Schlag erloschen. Im Grunde genommen hatte er sich doch nur in diese Sache verbissen, um die freien Tage totzuschlagen. Eine sinnlose Beschäftigung, die ihn darüber hinaus auch noch ermüdet hatte. Die Sonne stand wieder ein Stück tiefer. Die Härchen auf Andos Armen schimmerten golden im Lichtschein. Er spürte, dass er sich nicht mehr konzentrieren konnte, und beschloss, sich ein Plätzchen im Schatten zu suchen. Vielleicht würde das ein wenig helfen. Doch er wurde nicht fündig. Viele der Studenten, die scheinbar in ihre Bücher vertieft waren, hingen erschöpft auf ihren Stühlen. Alle wirkten müde. Resignierend kehrte Ando zu seinem Tisch zurück. Noch einmal bemühte er sich, seine Gedanken zu sammeln. Eine Theorie, eine Theorie ..., murmelte er vor sich hin. Es muss eine mathematische Funktion sein. Nachdenklich richtete er sich auf. Die aus drei Basen zusammen‐ gesetzten Gruppen standen jeweils für einen Buchstaben ... Das ergab aber keine Funktion im Sinne von y=f(x). Es musste eine eindeutige Dekodierung möglich sein! Plötzlich kam Ando eine Idee. Das ist es! Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Die Aussicht, der Lösung näher gekommen zu sein, gab ihm neue Energie. Er sprang auf und lief zu dem Regal mit der naturwissenschaftlichen Literatur. Dort griff er nach einem Fachbuch über Molekularbiologie. Hastig blätterte er die Seiten durch. Aus seinen Poren trat Schweiß, seine Handflächen waren feucht, und sein Herz raste. Was er jetzt brauchte, war ein Überblick darüber, welche Dreiergruppen von Basen für die verschiedenen Aminosäuren
kodierten. Endlich fand er ihn. Er legte das Blatt mit der Basensequenz neben das Buch. Jeweils drei definiert aufeinander folgende Basen in der DNA standen für eine Aminosäure (Triplett). Insgesamt gab es zwanzig verschiedene Aminosäuren. Weil vier verschiedene Basen in der DNA vorkamen, ergaben sich vierundsechzig (43) Tripletts. Diese vierundsechzig verschiedenen Basentripletts ließen sich den einzel‐ nen Aminosäuren zuordnen. Auf der Grundlage des genetischen Ko‐ des übersetzte Ando die ihm vorliegende Buchstabenabfolge in Aminosäuren.
ATG (Met) GAA (Glu) GAA (Glu) GAA (Glu) TAT (Tyr) CGT (Arg) TAT (Tyr) ATT (Ile) CCT (Pro) CCT (Pro) CCT (Pro) CAA (Gln) CAA (Gln) CAA (Gln)
Einer Intuition folgend, nahm er jeweils den ersten Buchstaben der Aminosäuren und schrieb alle auf ein Blatt Papier.
MGGGTATIPPPGGG
Das ergab absolut keinen Sinn, dachte er frustriert. Aber irgendei‐ nen Sinn musste die Wiederholung bestimmter Tripletts doch haben! Oder war das vielleicht nicht der springende Punkt? Ando überlegte erneut. Dann strich er von den sich dreimal wiederholenden Buchstaben jeweils zwei weg.
MG..TATIP..G..
Nein, auch das war es nicht! Trotzdem nahm seine Erregung weiter
zu. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er der Lösung schon sehr nahe war. Die folgenden Aminosäuren — Glu, Pro, Gin — kamen jeweils dreimal vor. Ando änderte die Reihenfolge:
Met Glu (drei) Tyr Arg Tyr He Pro (drei) Gin (drei)
Über eine Minute lang starrte er auf diese Reihe. Dann begriff er plötzlich. Endlich! Er stieß einen Freudenschrei aus. Das war die Lösung! Mit den Wiederholungen bestimmter Basenpaare hatte Ryuji ihm sagen wollen, dass der dritte Buchstabe der Abkürzungen genommen werden musste. Met Glu (drei) Tyr Arg Tyr Ile Pro (drei) Gln (drei)
Die Antwort lautete ›Mutation‹! Ando triumphierte. Doch nun ergab sich ein neues Problem. ›Mutation‹ war ein biologischer Begriff. Welche Bedeutung steckte dahinter? Wie war er zu interpretieren? Er hatte nicht die geringste Idee. Ryuji, was willst du mir damit sagen?
Ando stand in der Bibliothekshalle vor einem Telefon. Aufgeregt wählte er Miyashitas Nummer. Es bestand zwar nur wenig Hoff‐ nung, ihn zu erreichen, aber einen Versuch war es wert. Heute war der Erste der drei Feiertage, vielleicht traf er ihn doch noch zu Hause an. Und tatsächlich, Miyashita nahm den Hörer ab. Aufgewühlt berichtete Ando, dass er das Geheimnis gelüftet hatte. Miyashita schien sich gerade in der Essecke aufzuhalten. Im Hinter‐ grund war das Geklapper von Geschirr zu hören. Vermutlich war seine Frau beim Kochen. Auch die Tochter tollte irgendwo herum. Miyashita hielt zwar ganz offensichtlich die Muschel aus Rücksicht auf Ando zu, aber die warme, heimische Atmosphäre klang dennoch durch den Hörer. »He, das ist ja großartig! Du bist ein Genie! Wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann. Und, was hast du rausbekommen?« Miyashitas Worte dröhnten laut und unangenehm in Andos Ohr, da er die Telefonmuschel zu nah an den Mund hielt. »Es ist kein Satz, sondern ein Wort.« »Nun halt mich nicht so hin, sag schon: welches Wort?« »›Mutation‹.« »›Mutation‹ ...« Miyashita murmelte das Wort immer wieder vor sich hin. »Hast du eine Ahnung, was das bedeuten könnte?«, fragte Ando gespannt. »Hm, ich weiß nicht. Hast du eine Idee?« »Nein. Ich habe mir auch schon den Kopf darüber zerbrochen, bin aber noch zu keinem Ergebnis gelangt. Um ehrlich zu sein, ich bin total ratlos.«
»Möchtest du nicht vorbeikommen, dann können wir uns in Ruhe darüber unterhalten?« Miyashita wohnte in Kitaterao im Bezirk Tsurumi in einem sehr hübschen, exklusiven Apartmenthaus. Mit der U‐Bahn brauchte Ando ungefähr eine Stunde. »Ja, wenn es dir recht ist.« »Sobald du am Bahnhof angekommen bist, melde dich. Ich kenne eine gemütliche Kneipe, da können wir uns bei einem Gläschen Bier unterhalten.« Miyashitas kleine Tochter schien diese Worte aufgeschnappt zu haben. Laut protestierend schrie sie: »Papa, du darfst nicht weggehen.« Es klang so, als würde sie an Miyashita hochspringen. Er bedeckte den Hörer kurz mit der Hand. Vermutlich ermahnte er sie, leise zu sein. Doch seine Worte schienen nichts zu fruchten. Ando konnte hören, wie er von einem Raum in den nächsten lief, offensichtlich um in Ruhe zu Ende telefonieren zu können. Obwohl die Initiative zu dem Treffen von Miyashita ausgegangen war, hatte Ando ein schlechtes Gewissen. Er fühlte sich, als hätte er etwas ver‐ brochen, ja jemandem Schaden zugefügt. Zugleich stiegen Neidge‐ fühle in ihm auf, weil er den Verlust seiner Familie noch nicht ver‐ wunden hatte. »Treffen wir uns doch an einem anderen Tag«, schlug er vor. Aber Miyashita lehnte das entschieden ab. »Nein! Du willst mich doch wohl nicht allen Ernstes so lange schmoren lassen. Ich brenne vor Neugierde und will noch heute erfahren, wie du den Kode entschlüsselt hast. Also, ruf bitte kurz an, sobald du ausgestiegen bist. Ich hole dich dann ab.« Bevor Ando etwas entgegnen konnte, hatte Miyashita schon einge‐ hängt. Er dachte an die familiäre Atmosphäre, die im Hintergrund zu hören gewesen war. Sie hatte ihn zutiefst berührt. Seufzend verließ er die Bibliothek und machte sich auf den Weg zur JR‐Station.
Erst vor acht Tagen hatte Ando dieselbe Bahn genommen. Damals war sein Ziel jedoch ein anderes gewesen: Mais Apartment. Nach der Kitashinagara‐Station verließ der Zug den Tunnel und wurde zur Hochbahn. Auf beiden Seiten erstreckte sich ein endloses Meer von hell erleuchteten Häusern und Straßen. Es war Ende November, 18 Uhr. Ando blickte zur Bucht von Tokio hinüber. Jenseits des Kanals konnte er die Lichter der Betonhäuser von Yashio schimmern sehen. Wegen des Feiertages waren allerdings nur ein paar Lichtpunkte zu erkennen. Er war immer noch nicht im Hier und Jetzt angelangt. Sei‐ ne Augen irrten nervös in alle Richtungen. Verzweifelt versuchte er, eine Art Zeichen zu erkennen. Seine Gedanken drehten sich fortwäh‐ rend um Kodes. Schließlich stach ihm ein Hochhaus ins Auge, dessen funkelnde Lichter dem Schriftzeichen »Yu« ähnelten. Natürlich hatte das keine tiefere Bedeutung. Mutation ... In die Abenddunkelheit blickend, murmelte Ando das Wart unab‐ lässig vor sich hin. Er hoffte auf eine Eingebung. Was hatte Ryuji ihm nur mitteilen wollen? Weit in der Ferne vernahm er das dumpfe Dröhnen eines Schiffes. Im selben Moment fuhr der Zug in den nächsten Bahnhof ein. Minu‐ ten vergingen, ohne dass sich die Türen wieder schlossen. Vermutlich wartete man auf den Schnellzug. Erst wenn der abgefahren war, wür‐ de es auch bei ihnen weitergehen. Ando blickte aus dem Fenster, um den Namen der Station zu entziffern. Er war ihm noch gut in Erinne‐ rung. Erst acht Tage waren verstrichen, seit er sich in dieser Gegend in Mais Apartment aufgehalten hatte. Ando suchte das Haus mit den Augen. Es lag irgendwo in der Geschäftsstraße, nicht weit entfernt von der U‐Bahn‐Station. Als er vor einer Woche aus Mais Fenster gesehen hatte, hatte er den Keihinkyuko‐Bahnhof sehen können, sogar die Menschen auf den Bahnsteigen waren deutlich zu erkennen gewesen. Er müsste das Haus also von hier aus sehen können. Aber er entdeckte es nicht. Kurz entschlossen sprang er aus dem
Zug, lief bis an das äußere Ende des Bahnsteigs und lehnte sich über die Brüstung. Jetzt sah er die Geschäftsstraße, die sich Richtung Osten erstreckte. Ah, da war es. Endlich hatte Ando das sechsstöckige Haus erspäht, in dem Mai wohnte. Der Schnellzug aus Shinagawa fuhr ein. Wenn er die Station verlassen hatte, würde seine Bahn weiterfahren. Ando blieb nicht mehr viel Zeit. Einen letzten Blick auf das Fenster in der dritten Etage werfend, drehte er sich um. Just in diesem Moment ertönte das Abfahrtssignal seines Zuges. Rasch warf Ando einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach sechs. Vermutlich saß Miyashita mit seiner Familie gemütlich beim Abendessen. Er würde nur die Fami‐ lienharmonie zerstören, wenn er zu früh kam, dachte er. Also ent‐ schied er sich, einen Zug später zu nehmen. Die U‐Bahn fuhr ohne ihn ab. Vom Bahnsteig aus blickte Ando abermals auf die Fenster im dritten Stockwerk des Wohnhauses. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, hatte Mais Apartment die Nummer 303. Demnach musste es die dritte Wohnung von rechts sein. Doch in keinem Fenster der Etage brannte Licht. Mai scheint immer noch nicht zurück zu sein. Was ist nur mit ihr passiert? Der letzte Funken Hoffnung war wie eine Seifenblase zerplatzt ... Ando wollte gerade zur Mitte des Bahnsteiges zurückgehen, als er ein schwachblaues Flimmern bemerkte, das aus dem dritten Zimmer von rechts kam. Jetzt sehe ich schon Dinge, die gar nicht existieren. Oder war es vielleicht doch keine Sinnestäuschung? Er schaute genauer hin. Nein, da war in der Tat etwas. Er hatte sich nicht geirrt. In der Dun‐ kelheit wirkte es wie ein hellblaues Band, das ähnlich einer Fahne aus dem Fenster wehte. Mal flackerte der schwache Schein auf, dann verschwand er wieder. Ando lehnte sich noch weiter über die Sicher‐ heitsbrüstung. Was war das für ein Licht? Aus der Entfernung war es unmöglich, diese Frage zu beantworten.
Plötzlich verspürte er das brennende Verlangen, noch einmal in Mais Wohnung zu gehen. Zwanzig Minuten, länger würde es nicht dauern. Dann träfe er vermutlich gerade zur rechten Zeit bei Miya‐ shita ein. Damit war es beschlossene Sache. Ando verließ den Bahn‐ hof und lief raschen Schrittes die Geschäftsstraße hinunter. Vor ihm ragte das Apartmenthaus auf. Ein Blick zum Fenster in der dritten Etage genügte ihm, um zu begreifen, was er von der Station aus gesehen hatte. Das schwachblau flackernde Band entpuppte sich als Gardine, die aus dem Balkonfenster wehte. In ihrem Weiß reflek‐ tierte das blaue Neonlicht der Mietwagenfirma gegenüber. Verwun‐ dert starrte Ando nach oben. Wie konnte das sein? Er hatte das Fenster doch geschlossen, als er in Mais Wohnung gewesen war. In diesem Punkt war er sich hundertprozentig sicher. Auch die Gardine hatte er zur Seite geschoben. Noch etwas anderes irritierte Ando. Es war irgendwie unheimlich. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus, wäh‐ rend er darüber nachdachte. Heute Abend wehte kein Lüftchen — wieso flatterte dann aber der weiße Vorhang? Woher kam die Brise? Es war kein Wind zu spüren oder zu hören, und die Blätter in den Bäumen, die die Straße säumten, raschelten nicht. Und doch bewegte sich der Vorhang. Gespenstisch! Warum bemerkte das keiner der Passanten auf der Straße? Niemand schien sich daran zu stören. Dabei war der Anblick fast surreal. Doch offensichtlich nahm nur Ando diese seltsame Atmosphäre wahr. Vielleicht wird der Luftzug künstlich erzeugt, durch einen Ventilator ... Aber ... Ando platzte fast vor Neugier. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, betrat er die Lobby. Vom Hausmeister keine Spur, und aus seiner Wohnung war nichts zu hören. Vermutlich war er mit seiner Familie über die Feier‐ tage verreist. Mit dem Fahrstuhl fuhr Ando in die dritte Etage hoch. Langsam
ging er auf die Wohnungstür mit der Nummer 303 zu. Je näher er ihr kam, desto kleiner wurden seine Schritte. Seine innere Stimme riet ihm, sein Vorhaben nicht in die Tat umzusetzen. Du solltest lieber sofort umkehren, flüsterte sie ihm zu. Aber Andos Neugier besiegte seine Ängste. Trotzdem sah er sich gründlich um. Die Tür am Ende des Flurs war einen Spalt breit geöffnet, eine Feuertreppe gab es auch. Über die Treppe konnte er im Notfall also fliehen ... Zwar wusste er eigentlich nicht, was ihm eine solche Furcht einjagte, aber seine Gedanken drehten sich nur um eine Frage: Wie komme ich hier wieder raus, wenn ... Es konnte nicht schaden, in Bezug auf die Flucht‐ wege Bescheid zu wissen. Ando blickte auf das rote Klingelschild neben der Tür Nummer 303 mit Mais Namen. Den Zeigefinger schon in Richtung Klingel bewe‐ gend, hielt er plötzlich inne. Vorsichtig blickte er sich um. Als er die Gewissheit hatte, dass er im Treppenhaus allein war, legte er das rechte Ohr an die Tür. Konzentriert horchte er, ob sich im Apartment etwas bewegte. Doch es war mucksmäuschenstill. Er konnte weder das Geräusch eines Ventilators noch sonst einen Laut hören. »Mai?« Ohne die Klingel zu betätigen, klopfte Ando an die Tür und rief verhalten ihren Namen. Keine Antwort ... Mai hat sich das mysteriöse Video bestimmt angeschaut ... Inzwischen war Ando davon überzeugt. Doch zwei Fragen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Warum war die ursprüngliche Aufzeichnung gelöscht worden, und vor allem: Wer hatte sie überspielt? Er vermutete, dass die Bilder zwei Tage vor seinem Besuch gelöscht worden waren, also etwa fünf Tage nach Mais Verschwinden. Aber wer steckte dahinter? Und welche Absicht hatte diese Person damit verfolgt? Plötzlich stiegen die Erinnerungen an die grauenvollen Minuten in Mais Apartment in ihm auf. Diese Atmosphäre ... das Gefühl, als berührte er etwas ... die Hand auf seiner Haut ... das Geräusch auf‐ prallender Wassertropfen ... der Eindruck, als würde ihn etwas an der Wade streifen ...
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und er entfernte sich rasch ein paar Schritte von der Tür. Verzweifelt suchte er nach Ant‐ worten. Die vier Exemplare des Videos waren zerstört. Theoretisch müsste die mysteriöse Todesserie also beendet sein. Vermutlich würde man auch Mais Leiche bald finden. Dieser Gedanke versetzte ihm einen Stich ins Herz. Vor diesem Tag hatte er furchtbar Angst. Egal, was er jetzt auch unternahm — was geschehen war, war gesche‐ hen. Ando beschloss zu gehen. Er wollte nur weg von hier. Warum überfiel ihn stets diese panische Angst, sobald er in die Nähe von Mais Apartment kam? Nervös hämmerte er auf die Aufzugtaste, um den Fahrstuhl zu holen. Mutation, Mutation ... Gebetsmühlenartig murmelte er dieses Wort vor sich hin, in der Hoffnung, sich dadurch ablenken zu kön‐ nen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wo bleibt der verdammte Fahrstuhl? In diesem Moment hörte er das Knarren einer Tür. Er erstarrte vor Angst. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sich die Tür von 303 einen Spalt geöffnet hatte. Das rote Namensschild unter der Klingel gab ihm Gewissheit. Kein Zweifel, das war die Wohnungstür von Mais Apartment! Halb verrückt vor Angst betätigte Ando die Fahrstuhl‐ taste erneut. Plötzlich trat ein Mensch aus Mais Wohnung. Ando stellte sich schon auf einen Kampf ein, als er sah, dass es eine Frau war ... Eine Frau in einem olivefarbenen Sommerkleid. Ohne von ihm Notiz zu nehmen, schloss sie die Tür ab. Ando riskierte einen knappen Blick auf ihr Profil. Sie trug zwar eine Sonnenbrille, doch so viel war sicher: Das war nicht Mai Takano. Warum in Gottes Namen ließ seine Anspannung nicht nach? Wovor fürchtete er sich so? Es gab eigentlich gar keinen Grund durchzu‐ drehen. Und trotzdem hätte er am liebsten die Flucht ergriffen. Endlich! Die Fahrstuhltüren öffneten sich. In Panik stürzte Ando in
den Aufzug und drückte auf eine Taste. Doch vor lauter Aufregung hatte er die ›Tür öffnen‹‐Taste erwischt. So ein Mist! Rasch betätigte er den richtigen Knopf. Dabei betete er zu Gott, dass sich die Türen schnell schlossen. Er atmete schon auf, als plötzlich eine weiße Hand zwischen die sich schließenden Türen griff. Sie öffneten sich wieder. Vor Ando stand die Frau. Die Sonnenbrille verdeckte einen Teil ihres Gesichts, doch er schätzte sie auf etwa fünfundzwanzig Jahre. Ohne ein Wort zu sagen, betrat sie den Fahrstuhl und stellte sich neben Ando. Dann drückte sie auf ›E‹. Ando bewegte sich Zentimeter für Zentimeter nach hinten, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Wer bist du?, dachte er ein ums andere Mal. Ein merkwürdiger, äußerst unangenehmer Geruch stach ihm in die Nase. Er stammte nicht von einem Parfüm. Stirnrunzelnd hielt er den Atem an. Der Geruch ähnelte dem frischen Blutes. Prüfend betrach‐ tete er die mysteriöse Unbekannte. Sie hatte halblanges schwarzes Haar. Ihre Hand, mit der sie sich an der Wand abstützte, war kreide‐ weiß, der Nagel des Zeigefingers abgebrochen. Obwohl Winter war, trug sie nur ein leichtes Kleid und keine Strümpfe. Und noch etwas fiel Ando auf. An den Beinen hatte sie große schwarze Flecken. Ihm wurde immer unbehaglicher zumute, und er begann, am ganzen Leib zu zittern. In dem engen Fahrstuhl allein mit dieser Frau ... Die Sekunden zogen sich quälend in die Länge. Erst als der Lift endlich im Erdgeschoss hielt, wagte Ando wieder zu atmen. Die Türen öffneten sich, und schon war die Frau verschwunden. Ando schätzte sie auf etwa einen Meter sechzig. Sie hatte eine sehr weibliche Figur. Das Kleid, das ungefähr zehn Zentimeter über ihren Knien endete, lag eng an ihrem Körper und betonte ihren knackigen Po. Außerdem ließ es ihre schönen, schlanken Beine zur Geltung kommen.
Ando stand wie angewurzelt in der Lobby und starrte ihr hinterher. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, machte er sich auf den Weg zur U‐Bahn‐Station.
Ando wartete vor einer Bank auf Miyashita. Eine himmlische Ruhe umgab ihn, weil die Menschentrauben fehlten, die sich sonst durch die engen Straßen schoben. Das war der Unterschied zwischen einem Feiertag und einem Werktag. Ungeduldig blickte er auf auf eine dunkle Gasse. Sicher würde Miyashita aus dieser Richtung kommen. Vor seinem geistigen Auge sah Ando immer wieder die seltsame junge Unbekannte, die plötzlich aus Mais Apartment getreten war, als wäre ihr Anblick in sein Gehirn eingebrannt und ließe sich nicht löschen. Wie ein Schlafwandler war Ando von Mais Wohnhaus zum Bahn‐ hof gelaufen. Während der Fahrt hierher hatte er nur allmählich die Fassung wiedererlangt. Wer ist diese Frau nur?, fragte er sich ein ums andere Mal. Eigentlich gab es nur eine plausible Antwort: Sie war die Schwester von Mai. Vermutlich hatte sie, von Sorgen geplagt, nach Mai gesucht. In der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf deren Verbleib zu finden, war sie zu ihrem Apartment gefahren. Immerhin hatte Ando mit ihrer Mutter über das plötzliche Verschwinden Mais gesprochen. Vielleicht hatte sie sich doch Sorgen gemacht und mit ihrer zweiten Tochter darüber gesprochen. Dann wäre das Auftauchen der Frau nicht weiter spekta‐ kulär oder verdächtig. Aber ihre Aura ... Eine düstere, ja gespenstische Atmosphäre hatte sie umgeben, und das ließ Ando an seiner Hypothese zweifeln. Er hatte Höllenängste ausgestanden, während er mit ihr im Fahrstuhl war, und doch nicht ohne Grund so heftig reagiert. Sie ist kein Wesen von dieser Welt. Ein übersinnliches ... Phantom vielleicht? Nein, das war ausgeschlossen. Sie hatte schließlich einen menschlichen Körper. Wenngleich ihre Aura auf etwas anderes schließen ließ.
Ein kleines Licht bewegte sich zwischen den dunklen Häusern auf Ando zu. »Hallo, Ando.« Erst jetzt erkannte Ando Miyashita. Mit einem Affenzahn kam er auf ihn zugeradelt. Er brachte das Rad mit einer Vollbremsung kurz vor Ando zum Stehen. Heftig schnaufend stützte er sich auf den Len‐ ker. Es dauerte eine Weile, bis er ein Wort herausbrachte. Mivashita war beleibt und deshalb schnell außer Atem. Aus diesem Grund bewegte er sich gewöhnlich nur langsam. Doch heute hatte er sich wahrlich selbst übertroffen. Getrieben von einer unsäglichen Neu‐ gierde, hatte er sich auf das Fahrrad seiner Frau geschwungen und war so schnell wie möglich hergeradelt. »Wie der Blitz«, sagte Ando spontan. Er war davon ausgegangen, mindestens zehn Minuten warten zu müssen. Mit der Pünktlichkeit nahm Miyashita es nicht so genau. Miyashita stellte das Fahrrad am Bahnhof ab. Gemeinsam gingen sie in ein belebtes Kneipenviertel. Allmählich hatte sich Miyashitas Atmung wieder normalisiert. »Mutation ... Ich habe da so eine Ahnung«, sagte er. »Was steckt deiner Meinung nach dahinter?« »Lass uns erst ein Bierchen trinken.« Kurz darauf betraten sie eine Kneipe namens ›Ochsenzunge‹. Noch im Stehen bestellte Miyashita zwei Bier und gebratene Ochsen‐ zungen. Er schien den Besitzer des Lokals gut zu kennen. Nach einem kurzen Smalltalk suchten sie sich ein ruhiges Plätzchen in der Ecke. Dann quetschte Miyashita Ando über den Kode aus, den sie in der Virus‐DNA von Ryuji entdeckt hatten. Im Schnellverfahren erklärte Ando, wie er vorgegangen war, doch Miyashita unterbrach ihn. Genug der Worte, meinte er, es bestehe kein Zweifel, der gewählte Lösungsansatz sei der einzig richtige. »Mutation, ohne Frage, das ist es. Eine andere Lösung lässt deine
Methode nicht zu«, sprudelte es aus ihm heraus. Freundschaftlich klopfte er Ando auf die Schulter. »Es gibt eine Analogie. Fällt dir da nichts ein?« »Eine Analogie?« Miyashita zog einen Zettel aus der Tasche, auf dem eine einfache Skizze zu sehen war. »Na, dämmert es jetzt?«, sagte er, während er Ando das Blatt reichte. Auf der Zeichnung war der Replikationsprozess der DNA ab‐ gebildet. Zunächst wurde die DNA‐Doppelhelix entspiralisiert und mit Hilfe eines Enzyms, Helicase genannt, gespalten. Es lagen nun zwei Einzelstränge vor. Einer diente als Matrize für den zu syntheti‐ sierenden komplementären Gegenstrang — das hieß, die replizierte DNA bestand jeweils aus einem alten und einem neu synthetisierten komplementären Einzelstrang. Nach Abschluss der Replikation wur‐ den also zwei DNA‐Einzelstränge in etwas unterschiedlicher Weise wieder zu einem Doppelstrang ergänzt. Aus einem DNA‐Molekül waren zwei entstanden. »Ja und? Was willst du mir damit sagen?«, fragte Ando. »Denk doch mal an die Vorgänge bei der Evolution. Die Ent‐ wicklung neuer Arten und Rassen.« Viele Fragen zum Prozess der Evolution waren noch immer un‐ beantwortet. Nur wenige andere naturwissenschaftliche Theorien hatten eine derart heftige Diskussion in Gang gebracht wie die Evolu‐ tionstheorie. Vor allem hinsichtlich des Schöpfungsglaubens vieler Religionen gab es nach wie vor scheinbar unüberbrückbare Kontro‐ versen. Die heutige Evolutionstheorie war von Charles Darwin be‐ gründet und von einer Vielzahl von Biologen und anderen Wissen‐ schaftlern weiterentwickelt worden. Sie war mittlerweile weitgehend als grundlegendes naturwissenschaftliches Forschungsergebnis aner‐ kannt, auch wenn einige Details noch nicht vollständig erklärt waren. In jüngster Zeit hatte vor allem die Molekularbiologie neue
Einsichten gebracht. Nach ihrem aktuellen Erkenntnisstand lag die Ursache einer Evolution in der spontanen oder künstlich erzeugten Veränderung im Erbgefüge — mit anderen Worten: in der Mutation. »Die Mutation ist eine treibende Kraft der Evolution«, antwortete Ando. »Genau. Mutationen sind der Auslöser der Evolution. Aber wie kommt es zu einer Mutation? Das ist der entscheidende Punkt.« Nachdem Miyashita einen Schluck Bier getrunken hatte, zog er seinen Kugelschreiber aus der Hemdtasche und schrieb: Entstehung einer Mutation. Ando wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da fügte Miyashita noch etwas hinzu. Neugierig blickte Ando auf die Skizze. »Der Kopierprozess, der zur Reproduktion der genetischen Struk‐ tur der DNA notwendig ist, ist zwar allgemein sehr genau, aber den‐ noch passieren gelegentlich Kopierfehler, welche die genetischen In‐ formationen ändern — und voila: wir haben eine Mutation. Denkbar sind Änderungen in der Anzahl, Anordnung oder in der molekularen Sequenz von Genen. Die Folgen der genetischen Veränderungen betreffen dabei allerdings nicht nur die Zelle, in der die Mutation stattfindet, sondern auch deren Nachkommen : Die Mutation wird in allen künftigen Generationen kopiert werden, weil die ›falschen‹ Basenpaare ebenso repliziert werden wie die ›richtigen‹. Diesen Mechanismus verstehst du doch? Das ist mir spontan durch den Kopf geschossen.« Mit dem Stift auf die Skizze tippend, hatte Miyashita seine Erklä‐ rungen wie ein Lehrer hervorgebracht. Für Ando war diese Materie weiß Gott nicht fremd. Es gab zudem künstliche Mutationen, bei‐ spielsweise durch elektromagnetische Strahlung wie Radioaktivität oder UV‐Strahlung. Doch im Allgemeinen gingen die Biologen inzwischen davon aus, dass alle Mutationen auf zufällige, spontane Veränderungen der DNA zurückzuführen waren. Zwar bestätigten
alle, dass der DNA‐Replikationsprozess bemerkenswert genau war, doch man wusste auch, dass Kopierfehler nicht ausgeschlossen wa‐ ren. Und je nach dem, wie konstant und häufig die Veränderungen waren, konnten sie zu neuen Arten und Rassen führen. »Da gibt es eine Analogie ...«, flüsterte Miyashita Ando ins Ohr. Und endlich fiel auch bei Ando der Groschen. In der Tat, Miyashita hatte recht. »Die Kopie des Videos!«, platzte es aus Ando heraus. »Endlich hast duʹs begriffen. Mann, du stehst heute ja auf der Leitung! Aber egal... Findest du nicht auch, dass da Parallelen bestehen?« Gierig stopfte Miyashita sich gleich zwei gebratene Ochsenzungen in den Mund. Dann spülte er mit Bier nach. Währenddessen versuchte Ando, seine Gedanken zu ordnen. Er ließ sich von Miyashita den Stift geben, drehte das Blatt um und fertigte eine Mindmap an. Das war immer eine gute Methode, um die Gedanken zu sortieren. Dann begann er, den Fall zu rekonstruieren. Am 26. August war das Video urplötzlich aufgetaucht, und zwar in Süd‐Hakone, genauer in der Blockhütte B‐4 des Ferienressorts Pazifikland. Dort übernachteten am Abend des 29. August vier junge Leute, die zufällig auf das Band stießen. Aus Jux und Tollerei über‐ spielten sie die entscheidende Botschaft am Ende des Videos, die die Rettung versprach, mit einer Werbesendung. So wurde die Informa‐ tion ›Ziehe eine Kopie und zeige das Video jemand anderem‹ gelöscht. Dies war ein zufälliges, spontanes Ereignis, das einen Fehler auslöste, der die Informationen, die in den Bildern — der DNA des Videos — verschlüsselt waren, änderte. Diese Mutation wurde bei der Vervielfältigung des Bandes von Kazuyuki Asakawa mitkopiert. In dieser Hinsicht bestand eine eindeutige Analogie zwischen dem DNA‐Replikationsprozess und dem Kopieren des Videos. Hinzu kam, dass gerade die gelöschte Botschaft auf dem Band eine Schlüs‐ selfunktion für den Kopierprozess hatte. Das war auch in der Genetik so. Wenn es zu Störungen des Transkriptionsfaktors in der DNA
kam, führte dies leicht zu Mutationen. Ando legte den Stift beiseite. »Alles schön und gut — aber ein Video ist kein lebender Organismus.« Als hätte Miyashita auf diese Frage gewartet, antwortete er wie aus der Pistole geschossen: »Wenn dich jemand fragen würde, wie du ›Leben‹ definierst, was würdest du antworten?« Genau definierbar war Leben nicht, aber es ließ sich anhand bestimmter Merkmale umschreiben. Zwei entscheidende Kriterien waren die ›Fähigkeit zur Selbstreproduktion‹ und ›Isola‐tionsbar‐ rieren‹, was bedeutete, dass alle lebenden Organismen auf einen bestimmten Raum konzentriert und von einer Hülle umgeben waren, die sie gegenüber der Außenwelt abschlossen. Am Beispiel einer Zelle ließ sich das deutlich machen. Die Reproduktion erfolgte durch die DNA, für die Abgrenzung von der Außenwelt sorgte die Eiweiß‐ hülle. Ando versuchte, diese Definition von Leben auf das Video anzuwenden. Das zweite Wesensmerkmal war auch hier vorhanden: Es hatte eindeutig eine Hülle. Aber wie war es mit der Fähigkeit zur Selbstreplikation? Nein, darüber verfügte es ganz eindeutig nicht. »Ein Video besitzt nicht die Fähigkeit zur Reproduktion.« »Und?«, zischte Miyashita ungeduldig. »Es ähnelt einem Virus.« Fast hätte Ando einen Schrei ausgestoßen. Viren waren bei strenger Auslegung der Definition von Leben keine lebenden Organismen. Sie besaßen die Fähigkeit zur Selbstreplikation nicht, bestanden aber aus einer Proteinhülle und einem Genom. Aus dieser Perspektive betrachtet, ließen sich Viren als Grenzfälle bezeich‐ nen — sie standen zwischen Leben und Nicht‐Leben. Um sich ver‐ mehren zu können, waren sie vollständig auf die Stoffwechselleistun‐ gen lebender Zellen, so genannten Wirtsorganismen, angewiesen. Auch das verhängnisvolle Video bedurfte einer helfenden Hand, um sich zu vermehren. Dabei machte es sich die Ängste der Men‐ schen zunutze, in dem es drohte, all diejenigen zu töten, die das Band
nicht innerhalb einer Woche vervielfältigten. »Aber ...« Nein, diese Hypothese war sicher falsch. Ando wollte und konnte sie nicht akzeptieren. Die Folgen wären zu furchtbar. Nicht auszumalen! Und wenn sie doch stimmte? Dann würde eine verheerende Katastrophe über die Menschheit hereinbrechen. »Aber das Video existiert nicht mehr.« Erneut versuchte Ando sich einzureden, dass kein Anlass zur Sorge bestand. Selbst wenn das Video Eigenschaften eines Virus aufgewiesen hätte — es war vernich‐ tet. Keines der vier Exemplare existierte noch, und somit konnten sie auch kein Unheil mehr anrichten. Die Gefahr war gebannt. »Ja, da hast du recht. Das Video ist zweifellos ein für alle Mal von dieser Welt verschwunden. Aber es gehörte der alten Spezies an«, sagte Miyashita, an seiner Bierflasche nippend. Schweißperlen standen auf seiner Stirn — der Alkohol. »Der alten Spezies?« »Überleg doch mal. Das Video mutierte. Während es immer wieder kopiert wurde, kam es zur Evolution. Eine neue Art entstand. Nur wissen wir noch nicht, wo sie sich versteckt hat. Ich habe da so eine böse Vorahnung.« Ohne ein Wort herauszubringen, saß Ando sekundenlang mit halb‐ offenem Mund vor Miyashita. Jetzt brauchte er etwas Hochprozen‐ tiges. Doch er war außer Stande, etwas zu sagen. Der Schock hatte ihn vollkommen gelähmt. Miyashita las ihm den Wunsch von den Augen ab. Mit zwei erhobenen Fingern rief er »Whisky, bitte«. Kaum hatte die Bedienung den Whisky gebracht, griff Ando mit zitternden Händen nach dem Glas und leerte es mit einem Zug. Miyashita, dem Andos Erregung nicht entgangen war, sagte: »Das Videoband ist durch ein zufälliges Ereignis verändert worden. Die Mutation, die immer wieder mitkopiert wurde, führte zur Evolution, zur Entstehung einer neuen Art. Ryuji hat die Basenfolge seiner DNA
benutzt, um uns dieses Wort aus dem Totenreich zu übermitteln. Ich glaube wirklich nicht, dass es eine andere Interpretationsmöglichkeit gibt. Oder hast du eine andere Auffassung davon, wie man Mutation wissenschaftlich erklärt?« Natürlich nicht. So viel Whisky Ando auch in sich hineinschüttete, heute konnte er ihm nichts anhaben. Statt betrunkener zu werden, wurde er immer klarer im Kopf. Vielleicht liegt Miyashita richtig ... Allmählich begann Ando, Miyashi‐ tas These zu akzeptieren. Immerhin hatte Ryuji ihnen mit dem Wort ›Mutation‹ etwas sagen wollen. Es war eine Warnung gewesen. Ja, so musste es sein. »Wir dürfen uns jetzt nicht beruhigt auf die faule Haut legen. Es ist noch lange nicht vorbei, nur weil die Videos endlich zerstört wurden. Wir müssen handeln. Die durch Mutation neu entstandene Rasse ist ganz in der Nähe. Das spüre ich«, sagte Miyashita. Ando dachte an das Aids‐Virus. Vor einigen hundert Jahren hatte es keine Bedrohung für den Menschen dargestellt. Es war zunächst nicht übertragbar gewesen und hatte deshalb keine negativen Aus‐ wirkungen auf den Homo sapiens gehabt. HIV war ursächlich eine genetische Variante des so genannten Simian Immunodeficiency Virus, kurz SIV, gewesen, das afrikanische Affen und Menschenaffen in sich trugen. Im Laufe der Zeit entstand in den Schimpansen eine Hybridform der beiden SIV‐Viren, die später auf den Menschen über‐ tragen werden konnte und zu HIV‐I mutierte. Plötzlich stellte es eine immense Bedrohung für den Menschen dar. Wenn das im Fall des Videos ... Ando scheute sich davor, den Satz weiterzudenken. Noch immer versuchte er, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Es gab in der Geschichte der Menschheit durchaus Viren, die Millionen Todesopfer gefordert hatten, dann aber in einen harmlosen Erreger mutiert waren. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigten, dass sich neunzig Prozent der Mutationen auf den Phänotyp
des Lebewesens in keiner Weise auswirkten; sie waren harmlos. Aber wie Ando es auch drehte und wendete, die Realität sah anders aus. Die erste Mutation des Virus hatte sich definitiv schädlich ausge‐ wirkt. Alle Menschen, die das Video gesehen hatten, waren tot. Die einzige Ausnahme stellte Asakawa dar — ihm hatte das Virus nichts anhaben können. Wie das Verschwinden von Mai in das Ganze passte, konnte Ando zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. »Warum lebt Asakawa noch?«, fragte er Miyashita erneut. »Das ist der entscheidende Punkt. Wir müssen herausfinden, in was sich das Videoband verwandelt hat. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.« »Es gibt noch eine Person, die eine Ausnahme ist.« Ando berichtete von Mai, und wie Ryujis Kopie des Originalvideos in ihre Hände gelangt war. Kurz nachdem sie es sich angesehen hatte, war sie verschwunden — vor nun schon drei Wochen. »Mit anderen Worten, wir haben immerhin zwei Personen, die, obwohl sie sich das Video angesehen haben, nicht gestorben sind.« »Asakawa liegt zwar im Koma, aber er lebt. Doch ob Mai noch lebt, das weiß nur Gott.« »Wir können nur beten, dass es so ist.« »Warum ist dir das so wichtig?«, fragte Ando. »Mann, du bist heute aber schwer von Begriff. Das liegt doch auf der Hand: Zwei Fälle sind besser als einer.« Das leuchtete Ando ein. Falls Mai noch lebte und Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Fall und dem Asakawas bestanden, würde die Ant‐ wort vermutlich ans Tageslicht kommen. Doch Ando wünschte sich nicht nur aus diesem Grund, dass Mai noch am Leben war.
26. November, Montagnachmittag. Ando hatte gerade ein kleines Kind obduziert, das tot in einem Fluss gefunden worden war. Zurück in seinem Büro, fiel ihm ein, dass der Autopsiebericht noch geschrie‐ ben werden musste. Ihm gegenüber saß, wie ein Häufchen Elend, der Vater des Jungen. Am liebsten hätte Ando ihn sofort nach der Sektion weggeschickt, aber es waren noch einige Fragen zu klären — Name und Geburtsdatum des Kindes, wie war es zu dem Unfall gekom‐ men?, etc. Doch der Vater war außer Stande, auch nur einen einzigen, zusammenhängenden Satz zu formulieren. Immer wieder starrte er gedankenverloren aus dem Fenster. Am Boden zerstört und in sich zusammengefallen, kauerte er kraftlos auf dem Stuhl, unfähig, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Ando erfasste tiefes Mitgefühl. Draußen auf dem Gang entstand plötzlich Unruhe. Stimmengewirr durchdrang den Flur der Gerichtsmedizin. Offensichtlich schienen die Assistenten Vorbereitungen für eine weitere Autopsie zu treffen. Da Ando noch beschäftigt war, würde sie sein Kollege Dr. Naka‐ yama, der im selben Büro saß, durchführen. Ohne es zu wollen, be‐ kam Ando einige Informationen mit: Nach Angaben der Polizei hatte man eine Leiche im Entlüftungsschacht eines alten Gebäudes gefunden. Die hektischen Schritte von Polizei und Personal hallten im Flur wider. »Die Leiche der Frau ist jetzt da.« Als Ando die Stimme des Assistenten wahrnahm, durchzuckte ihn ein eisiger Schauer. Ruckartig fuhr er hoch. Ikeda, der Assistent, stand im Türrahmen, den Blick auf Dr. Nakayama gerichtet. Doch aus unerklärlichen Gründen fühlte Ando sich angesprochen. »Danke. Machen Sie mit den Vorbereitungen weiter. Ich komme gleich«, entgegnete Nakayama.
Nakayama, Andos älterer Kollege, war zwei Jahre länger am Institut als er. Um seine Existenz zu sichern, hatte er außerdem eine Anstellung am Gerichtsmedizinischen Seminar der Medizin‐ hochschule J. Ikeda hatte das Büro eben verlassen, als ein Polizist eintrat. Nach höflichen Begrüßungsfloskeln nahm er neben Nakayama Platz. Scheinbar unbeirrt wandte sich Ando wieder dem Vater des von ihm obduzierten Jungen zu. Aber er konnte sich nicht auf ihn kon‐ zentrieren — immer wieder drangen Gesprächsfetzen an sein Ohr, die ihn beunruhigten. Der Polizist schien Dr. Nakayama gerade zu berichten, aufweiche Weise die Leiche gefunden worden war. Schließlich legte Ando seinen Stift beiseite und spitzte konzentriert die Ohren. Immer wieder vernahm er: die unbekannte junge Frau ... »Warum ist sie auf das Dach des Gebäudes gestiegen?«, erkundigte sich Nakayama. »Gute Frage ... Vielleicht wollte sie Selbstmord begehen«, vermutete der Polizist. »Hat man einen Abschiedsbrief oder irgendetwas in der Art ge‐ funden?« »Nein, bis jetzt nicht.« »Hm, im Entlüftungsschacht... Da hätte sie natürlich niemand gehört, selbst wenn sie aus vollem Hals um Hilfe gerufen hätte.« »Da haben Sie Recht. Wenn es ein Wohngebiet gewesen wäre, aber so ...« »In welcher Gegend hat sich die Tragödie zugetragen?« »In einem alten dreizehnstöckigen Haus in der Wanganstraße in Higashioi, Bezirk Shinagawa.« Ando hob ruckartig den Kopf. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Das war ganz in der Nähe von Mais Apartment an der Kei‐ hinkyuko‐Linie. Hinter dem Wohngebiet befand sich die Wangan‐
straße mit Lagerhäusern und Bürokomplexen. Die unbekannte junge Frau ... auf dem Dach eines alten Gebäudes in der Wanganstraße ... Immer wieder gingen Ando diese Worte durch den Kopf. Eine schreckliche Vorahnung bemächtigte sich seiner. Abrupt beendete er das Gespräch mit dem Vater des Jungen. »Vielen Dank für Ihre Geduld. Falls ich noch Fragen habe, setze ich mich mit Ihnen in Verbindung.« Rasch machte er sich ein paar abschließende Notizen. Das Gespräch zwischen seinem Kollegen und dem Polizisten hatte ihn so aufge‐ wühlt, dass er den Vater nach Hause geschickt hatte, ohne alle erfor‐ derlichen Details erfragt zu haben. Zur Not gab es ja ein Telefon. Er legte den Autopsiebericht beiseite. In diesem Moment verließen Dr. Nakayama und der Polizist das Büro. Ando folgte ihnen und klopfte Nakayama auf die Schulter, während er den Polizisten begrüßte. »Ist die Identität der Frau bekannt?«, fragte er, während sie gemeinsam den Flur zum Seziersaal entlanggingen. »Nein. Sie hatte weder einen Ausweis noch sonst irgendwelche Papiere bei sich«, antwortete der Polizist. »Auf wie alt schätzen Sie sie?« »Oh, sie ist noch ziemlich jung, vielleicht um die Zwanzig. Als sie noch lebte, war sie sicher ausgesprochen hübsch.« Vielleicht um die zwanzig ... So alt wie Mai. Ando hatte das Gefühl, als drückte ihm jemand den Hals zu. »Ist Ihnen etwas Besonderes an ihr aufgefallen?« Ein einziger Blick auf die Leiche hätte Ando Klarheit verschafft. Doch bevor er sich diesem schrecklichen Moment stellen konnte, musste er sich Gewissheit verschaffen, um vorbereitet zu sein. Noch immer flackerte in ihm ein Fünkchen Hoffnung, dass sich seine Vermutung nicht bewahrheiten würde. »Warum interessiert Sie der Fall so?«, fragte Nakayama mit einem anzüglichen Grinsen. »Eine schöne junge Frau ... hat das etwa Ihr Interesse geweckt?«
»Aber nein. Wofür halten Sie mich? Es gibt einen anderen Grund«, erwiderte Ando mit ernster Miene. Nun verdüsterten sich auch Nakayamas Gesichtszüge. »Ah, da fällt mir ein ... In der Tat war da etwas Merkwürdiges. Darüber wollte ich sowieso mit Ihnen sprechen, Dr. Nakayama.« »Was denn?« »Die Frau trug keine Unterwäsche.« »Keine Unterwäsche? Sie meinen, weder einen BH noch einen Slip?« »Sie hatte keinen Slip an.« »War ihre Kleidung zerrissen, als man sie fand?« Nakayama hatte anscheinend den gleichen Gedanken gehabt wie Ando. Auch ihm war als Erstes durch den Kopf geschossen, dass die Frau Opfer eines Sexualverbrechens geworden sein könnte. »Ihre Sachen war vollkommen in Ordnung. Es gab kein Anzeichen für eine Vergewaltigung.« »Können Sie beschreiben, was sie anhatte?« »Einen Jeansrock mit Kniestrümpfen ... Sie trug ein T‐Shirt, darüber eine Sportjacke. Insgesamt war sie schlicht gekleidet, so möchte ich es mal ausdrücken.« Mitten im November? Ob die Frau das Haus immer ohne Slip verließ? »Also, in meinen Ohren klingt die ganze Geschichte höchst merk‐ würdig. In einem Entlüftungsschacht eines alten Gebäudes ...«, sagte Ando, den jedoch eine andere Frage quälte. »Ja, seltsam. Der Schacht war drei Meter tief, bei einer Breite von etwa einem Meter. Gewöhnlich sind derartige Schächte mit einem Gitterrost abgedeckt. Aber ein Teil des Rostes war durchgebrochen.« »Mit anderen Worten: Sie ist in das Loch gefallen?«
»So sieht es jedenfalls aus.« »Wie wahrscheinlich ist es Ihrer Meinung nach, dass man ver‐ sehentlich in diesen Schacht fällt?« »Ich schätze die Gefahr als sehr gering ein. Hinzu kommt, dass die Tür zum Dach verriegelt war.« »Aber wie ist sie dann auf das Dach gekommen?« »Ich nehme an, sie hat die Nottreppe an der Hauswand benutzt. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.« Ale möglichen Gedanken schwirrten Ando durch den Kopf. Was wollte diese Frau nur an so einem Ort ... »Um noch mal auf die Unterwä‐ sche zurückzukommen: Könnte es sein, dass sie den Slip im Entlüf‐ tungsschacht ausgezogen hat?« Der Schacht war drei Meter tief. Stürzte man hinein, verletzte man sich unweigerlich. Vielleicht hatte die Frau den Slip verwendet, um eine blutende Wunde abzubinden. »Wir haben die ganze Gegend danach durchforscht. Aber weder im Schacht noch auf dem Dach oder in der Umgebung haben wir den Slip gefunden.« »In der Umgebung?«, hakte Nakayama nach. »Nun, wir wollten auf Nummer Sicher gehen. Eine unserer Thesen war, dass sie den Slip mit einem Gegenstand beschwerte und ins Freie schleuderte. Hilfeschreie waren ja vergebens, niemand auf der Straße hätte sie gehört. Da blieb ihr vielleicht nur diese Möglichkeit, um Aufmerksamkeit zu erregen. Aber wir haben den Gedanken bald verworfen.« »Warum?« »Selbst wenn ihr gelungen wäre, den Slip nach draußen zu werfen, wäre er am Dachgitter abgeprallt.« Für Ando war von Anfang an klar gewesen, warum das nicht funk‐ tionieren konnte. Es war eine Frage des Winkels. »Das bedeutet, sie muss das Haus ohne Unterwäsche verlassen haben ... Das ist die nahe
liegendste, wenn auch am wenigsten nachvollziehbare Erklärung.« »Wir werden erst einmal von dieser These ausgehen.« Vor dem Obduktionssaal blieben alle drei stehen. »Dr. Ando, kommen Sie mit uns?«, fragte Nakayama. »Nur kurz.« Eine bessere Antwort war Ando spontan nicht eingefallen. Er wollte sich Gewissheit verschaffen. Falls die mysteriöse Leiche nicht Mai Takano war, könnte er beruhigt gehen. Doch falls sie es war ... Nicht auszudenken ... Jedenfalls würde er die Autopsie dann Nakayama überlassen und sich irgendwo verkriechen. Er vernahm das vertraute Geräusch fließenden Wassers. Am lieb‐ sten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und die Flucht ergriffen. Das flaue Gefühl in der Magengegend wurde immer stärker. Er zit‐ terte am ganzen Leib, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. In Gedanken flehte er immer wieder: Bitte lass es nicht Mai sein! Nakayama betrat den Seziersaal, gefolgt von dem Polizisten. Ando blieb stehen. Alle Ängste beiseite schiebend, ließ er seinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde über die nackte Leiche auf dem Seziertisch wandern.
Ando hatte eine Vorahnung gehabt, doch als er die Leiche nun sah, erstarrte er entsetzt. Zögernd näherte er sich der Toten. Der Ohn‐ macht nahe, betrachtete er das fahle Gesicht. Er wollte es nicht wahr‐ haben ... In Mais einst so schönem Haar klebte getrockneter Schlamm. Ein Fuß war merkwürdig verbogen, ihre Haut schimmerte aschgrau. Vermutlich hatte sie sich den Knöchel gebrochen. Anzeichen von Gewalt, wie Würgemale am Hals oder äußere Verletzungen, waren nicht zu erkennen. Der Tod musste vor ungefähr neunzig Stunden eingetreten sein, denn die Leichenstarre hatte sich inzwischen vollkommen gelöst. Ando sah die duftende, bezaubernde Mai vor sich, wie er sie vor drei Wochen erlebt hatte. Wie gern hätte er ihren wohlgeformten Körper, ihre sanfte Haut berührt. Doch seine Wunschträume würden nie in Erfüllung gehen. Diese blaugraue Haut, der abgemagerte Körper ... Schockiert nahm Ando den raschen physischen Verfall dieser einst so attraktiven Frau wahr, für die er so viel empfunden hatte. Er ertrug den Anblick nicht länger. Bittere Wut stieg in ihm auf. »Verdammt, warum nur?«, platzte es aus ihm heraus. Der Polizist und Nakayama blickten ihn an. »Kennen Sie die Tote etwa?«, fragte der Polizist erschrocken. Ando nickte. »Das ist ja ...« Da Nakayama nicht wusste, in welcher Beziehung Ando zu der Verstorbenen gestanden hatte, sprach er ihm sein Bei‐ leid nicht aus. »Kennen Sie ihren Namen und ihre Adresse?«, erkundigte sich der Polizist vorsichtig. Bei allem Taktgefühl war doch seine Erleichterung zu spüren. Immerhin blieb ihm nun viel Arbeit erspart. Ohne zu antworten, zog Ando sein Adressbuch aus der Tasche. Dort hatte er vor noch gar nicht so langer Zeit die Adresse und
Telefonnummer von Mais Eltern notiert. Er schrieb die Daten auf einen Zettel und reichte ihn dem Polizisten wortlos. »Ein Irrtum ist ausgeschlossen?«, fragte der Polizist mit fast übertriebener Höflichkeit. »Es besteht kein Zweifel. Diese Frau ist Mai Takano.« Kaum hatte Ando diese Worte ausgesprochen, verschwand der Polizist aus dem Obduktionssaal, vermutlich um die Familie zu ver‐ ständigen. Ando stellte sich vor, wie das Telefon bei Mais Eltern klin‐ gelte. Die Mutter nahm ab und erfuhr vom Tod ihrer Tochter. Andos Herz verkrampfte sich, Mais Mutter tat ihm unendlich Leid. Wie groß musste ihr Schmerz sein! Ando hielt es nicht eine Sekunde länger im Seziersaal aus. Gleich würde sich ein entsetzlicher, unbeschreiblicher Gestank breitmachen, wenn Nakayama das Skalpell angesetzt hatte, Organ für Organ herausnahm ... Egal wie schön der Körper eines Menschen zu Leb‐ zeiten gewesen war, in diesem Zustand blieben nur noch ekelhafte Ausdünstungen ... Das war nun einmal das Schicksal aller Lebe‐ wesen. Doch Ando wollte Mai so in Erinnerung behalten, wie er sie kennen gelernt hatte. »Ich gehe jetzt«, stieß Ando erstickt hervor. »Möchten Sie der Autopsie nicht beiwohnen?«, fragte Nakayama, während sich ein merkwürdiger Ausdruck auf seinem Gesicht abzeichnete. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Bitte unterrichten Sie mich nach der Autopsie über Ihre Diagnose.« »In Ordnung.« Ando legte eine Hand auf Nakayamas Schulter und sagte mit leiser Stimme: »Bitte achten Sie auf die Herzkranzgefäße. Vergessen Sie auf keinen Fall, davon eine Gewebeprobe zu entnehmen.« Verwundert blickte Nakayama Ando an. »Hatte die Frau denn
Herzprobleme?« Ando blieb ihm die Antwort schuldig und sagte nur: »Ich bitte Sie inständig ...« Andos Blick verriet Nakayama, dass er ihn in arge Nöte bringen würde, wenn er weitere Fragen stellte. Er nickte zweimal.
Ando wartete im Büro vor Nakayamas Schreibtisch auf das Ende der Autopsie. Schließlich erschien sein Kollege. Bevor er sich Ando zuwandte, schrieb er den Obduktionsbericht. »Dieser Fall scheint Sie ja über alle Maßen zu interessieren ...«, sagte er, während er die letzten Wörter zu Papier brachte. »Ja, das stimmt.« »Möchten Sie einen Blick in den Autopsiebericht werfen?« Nakayama schob ein paar Blätter zu Ando hinüber. »Es genügt, wenn Sie mir die wichtigsten Ergebnisse kurz schildern.« »Gern. Also zunächst einmal... Sie haben sich mit Ihrer Vermutung im Hinblick auf die Todesursache getäuscht. Mai Takano ist nicht an einem Herzinfarkt infolge Verstopfung eines Herzgefäßes gestorben.« Verblüfft dachte Ando: Was bedeutet das nun wieder? Mai hat sich das Video offensichtlich doch nicht angesehen. Denkbar ist aber auch, dass der Tumor in ihren Herzgefäßen einfach noch nicht groß genug war. »Haben Sie kein Geschwür in einem der Herzkranzgefäße fest‐ gestellt?«, hakte Ando nach. »Ich konnte nichts Dergleichen entdecken.« »Nicht einmal einen Hinweis darauf?« »Natürlich ist es noch zu früh, um endgültige Aussagen zu treffen. Ich fürchte, Sie müssen sich noch ein wenig gedulden, bis die Ergebnisse der Gewebeprobeanalyse vorliegen.« »Wie lautet Ihre Diagnose?« »Ich glaube, sie ist erfroren. Ihr Körper war stark geschwächt.« »Und wie sieht es mit Verletzungen aus? Irgendetwas Auffälliges?«
»Der linke Knöchel ist gebrochen. Außerdem hat sie ein paar Schrammen an den Ellenbogen. Diese Verletzungen muss sie sich beim Sturz in den Schacht zugezogen haben.« Mit eigener Kraft hatte Mai sich nicht aus dem Schacht heraus‐ ziehen können. Vermutlich hatte sie Regenwasser getrunken, wäh‐ rend sie verzweifelt auf Rettung hoffte. »Wie lange wird sie wohl in dem Schacht noch gelebt haben?« Ando richtete die Frage mehr an sich selbst. Voller Mitgefühl stellte er sich vor, wie Mai allein, hilflos, verängstigt und dem Tod geweiht in diesem dunklen, muffigen Schacht kauerte. Wie verzweifelt musste sie gewesen sein. Arme Mai! »Ungefähr zehn Tage.« Ihr Magen und Darm waren vollkommen leer, sie hatte kaum noch Körperfett. »Zehn Tage ...« Ando öffnete seinen Kalender. Falls Mai tatsächlich noch zehn Tage nach dem Sturz gelebt hatte und nun seit fünf Tagen tot war, dann musste sie ab dem 10. November verschwunden gewesen sein. Allerdings war Ando mit ihr für den 9. November verabredet gewesen. An diesem Tag war sie aber schon nicht mehr ans Telefon gegangen. Im Briefkasten steckte noch die Zeitung vom 8. November. Alles deutete daraufhin, dass sich das tragische Ereignis zwischen dem 8. und 9. November abgespielt hatte. Ando kreuzte beide Tage im Kalender an. Was ist wohl an den fraglichen Tagen passiert? Am 15. November war er in Mais Apartment gewesen. Der Au‐ topsie zufolge hatte sie zu dieser Zeit bereits hilflos in dem Schacht gekauert. Sie hatte eine Jacke und einen Rock an, aber seltsamerweise keinen Slip. Ando konnte sich absolut nicht vorstellen, warum Mai in dieser Kleidung auf das Dach des Gebäudes gestiegen war. Tatsache war, dass sie seit einigen Tagen nicht in ihrem Apartment gewesen war, davon hatte er sich ja selbst überzeugt. Trotzdem war eine ge‐ wisse menschliche Wärme in der Wohnung zu spüren gewesen. Diese
Atmosphäre ... Wer war das nur? »Und ...« Nakayama schien sich an etwas Wichtiges zu erinnern. »Ja?« »Sie standen ihr doch ... nahe.« »Das wäre zu viel gesagt. Ich habe sie nur zweimal getroffen.« »Hm. Wann haben Sie sie denn das letzte Mal gesehen?« »Ende letzten Monats.« »Also ungefähr zwanzig Tage vor ihrem Tod.« Ando spürte, dass Nakayama ihm etwas mitteilen wollte. Doch aus irgendeinem Grund redete er um den heißen Brei herum. Er signali‐ sierte ihm mit ernster Miene, dass er ruhig mit der Sprache raus‐ rücken konnte. »Sie war schwanger ... Wussten Sie das?« »Wen meinen Sie mit ›sie‹?« »Mai Takano natürlich.« Nakayama war erstaunt über Andos Fassungslosigkeit. »Wussten Sie es etwa nicht? Aber sie war doch schon im neunten Monat!« »Im neunten Monat?« Ando verschlug es die Sprache. An die Decke starrend, versuchte er, sich an Mais Körper zu erinnern. Sowohl bei ihrem Treffen in der Gerichtsmedizin als auch ein paar Tage später im Cafe hatte sie figurbetonte Kleider getragen. Sie war sehr schlank gewesen. Gerade ihre schmale Taille hatte ihm so gefallen. Aus einem unerklärlichen Grund hatte er sogar das Gefühl gehabt, dass Mai noch Jungfrau war. Hatte sie einen Bauch gehabt? Im neunten Monat... Selbstverständlich hatte er sie nicht so genau gemustert. Je mehr er darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er. Aber nein, es war unmöglich, dass Mai kurz vor der Niederkunft gestanden hatte! Außerdem hatte er doch gerade erst ihre Leiche gesehen, und die hatte einen flachen Bauch.
»Das ist unmöglich. Mai kann auf keinen Fall kurz vor der Niederkunft gewesen sein«, stieß Ando hervor. »Es gibt Frauen, denen man nicht anmerkt, dass sie hochschwanger sind.« »Das ist es nicht. Ich habe doch gerade ihre Leiche gesehen.« »Was? Oh.« Allmählich dämmerte es Nakayama, dass sie aneinan‐ der vorbeigeredet hatten. »Der Gebärmuttermund war weit geöffnet. Sie war leicht verletzt, vermutlich passierte das, als der Mutterkuchen herauskam. In der Vagina waren noch Sekretspuren. Nun, und zu guter Letzt entdeckte ich einen kleinen Knoten in der Vagina. Ver‐ mutlich war das die Nabelschnur.« Das kann doch nicht wahr sein!, dachte Ando. Andererseits war es ausgeschlossen, dass sich ein hervorragender Pathologe wie Nakaya‐ ma in diesem Punkt irrte. Was er gesagt hatte, legte den Schluss nahe, dass Mai ein Kind zur Welt gebracht hatte, bevor sie in dem Schacht starb. Ando dachte folgendes Szenario durch: 7. November, Mai bekam plötzlich Wehen. Rasch fuhr sie ins Krankenhaus. Dort gebar sie ein Kind. Vermutlich blieb sie für fünf, sechs Tage in der Klinik. Am 12. oder 13. November wurde sie entlassen. Eine These wäre, dass Mai eine Totgeburt gehabt hatte. Verzweifelt wegen dieses Schicksals‐ schlags begab sie sich auf das Dach des alten Gebäudes, was den Absturz in den Schacht zur Folge hatte ... Vom zeitlichen Ablauf her war dieses Szenario nicht unmöglich. Falls sie eine Totgeburt gehabt hatte, würde das auch erklären, wa‐ rum sie so plötzlich verschwunden war. Es wäre auch nicht beson‐ ders unnatürlich gewesen, dass sie das vor ihrer Mutter geheim hielt. Aber aus irgendeinem Grund glaubte Ando nicht an diese Theorie. Mais Bauch war nicht im Geringsten gewölbt gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Er erinnerte sich noch genau an die erste Begegnung mit ihr in der Gerichtsmedizin. Sie hatte Ryujis aufgefun‐
den und war dann zu Ando gebeten worden, um zu schildern, was sich ereignet hatte. Er erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern geschehen ... Sie betrat das Zimmer ... Als sie sich eben setzen wollte, taumelte sie leicht und stützte sich mit einer Hand auf dem nahen Tisch ab. Ein fahles Grau hatte das Weiß ihrer Haut verdrängt. »Es tut mir Leid. Es ist nur ...«, murmelte Mai verlegen. Ando verstand sofort — sie hatte ihre Periode. Doch dann konnte sie zu diesem Zeitpunkt unmöglich schwanger gewesen sein. Ausgeschlossen, dass sie in diesem Monat ein Kind geboren hatte. Denn bei einer Schwangerschaft blieb die Regel gewöhnlich aus. Ob ich sie vielleicht missverstanden habe? Dabei war Ando sich so sicher gewesen. Nicht einen Moment lang hatte er an seiner ›Diagnose‹ gezweifelt. Doch je länger er darüber nachdachte ... Er stand auf. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mir den Autopsiebericht kopiere?« Er wollte sich den Bericht zu Hause in Ruhe durchlesen. »Nein, natürlich nicht.« »Ich habe noch eine Bitte«, sagte Ando. »Sie haben doch sicher eine Blutprobe entnommen?« »Selbstverständlich.« »Könnte ich davon etwas bekommen?« »Wenn Sie nicht viel brauchen, dürfte es kein Problem sein.« Ando wollte Mais Blut unbedingt auf das pockenähnliche Virus testen. Sollte es sich darin nachweisen lassen, wäre bewiesen, dass auch Mai sich das Video angeschaut hatte. Dann wäre wenigstens ge‐ klärt, ob Mais furchtbares Ende mit dem Video zusammenhing oder mit etwas anderem, beispielsweise einer Schwangerschaft. Im Mo‐ ment blieb ihm nur eines übrig: möglichst viele Fakten zu sammeln.
Falls irgendeine Verbindung zwischen Mais Tod und dem Video bestand, würden die Ergebnisse der Analysen vielleicht helfen, die Bedeutung der Mutation zu verstehen ...
Kurz darauf erreichte Ando eine weitere Hiobsbotschaft. Nicht nur, dass man Mais Leiche entdeckt hatte — nun war auch Kazuyuki Asa‐ kawa tot. Offensichtlich hatte sich sein Zustand so verschlechtert, dass er vom Shinagawa‐Saisei‐Kran‐kenhaus in die Universitätsklinik S verlegt werden musste. Kurz darauf wurde er von seinem schreckli‐ chen Schicksal erlöst. Ando war erschüttert. Aus irgendeinem Grund hatte er nicht damit gerechnet, dass Asakawa so schnell sterben wür‐ de. Nach Auskunft des verantwortlichen Arztes hatte er eine Infek‐ tion bekommen und war dann wie ein sehr, sehr alter Mensch sanft entschlafen. An seinem geistigen Zustand hatte sich bis zum Schluss nichts geändert. Ando fuhr sofort zur Uni‐Klinik S, um mit dem Pathologen zu spre‐ chen. »Es geht um die Obduktion von Kazuyuki Asakawa ... Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die Herzkranzgefäße auf ein Geschwür untersuchen würden. Ich habe die Vermutung, dass die tatsächliche Todesursache darin begründet liegt. Bitte untersuchen Sie auch das Blut auf einen Virus, einen pockenähnlichen Erreger«, bat Ando den Arzt höflich. Bevor er sich verabschiedete, wiederholte er die wichtig‐ sten Punkte eindringlich. Die Verbreitung des Virus musste gestoppt, das Böse aufgehalten werden. Auf dem Weg zur U‐Bahn überkam Ando plötzlich Wut. Hätte Asa‐ kawa sich doch erholt! Verzweifelung und Frustration brachen aus ihm heraus. Asakawa hatte wichtige Informationen mit ins Grab ge‐ nommen. Er war die Schlüsselfigur in diesem Fall gewesen. Nur ein paar Minuten ... Was hätte Ando dafür gegeben, wenn er nur ein paar Minuten mit ihm hätte sprechen können. Dann hätte er jetzt vielleicht gewusst, was er unternehmen musste, um dem Schrecken ein Ende zu setzen. Doch nun war jegliche Hoffnung verloren. Ob Asakawas Tod natürlich war oder vielleicht doch vorprogram‐
miert? Dieselbe Frage stellte Ando sich in Bezug auf Mai. Beide wa‐ ren körperlich extrem geschwächt gewesen, als sie dem Todesengel in die Augen geblickt hatten. Asakawa war nur noch ein menschli‐ ches Wrack, Mai wegen des Sturzes in den Entlüftungsschacht völlig entkräftet. Wenn er es sich recht überlegte, gab es durchaus Paralle‐ len zwischen beiden Fällen. Ando fasste einen Entschluss. Ganz in der Nähe war Mais Leiche gefunden worden. Bis heute konnte er nicht verstehen, was sie in die‐ se Gegend verschlagen hatte. Was in aller Welt hatte sie nur auf das Dach des alten Gebäudes getrieben? Vielleicht fand er es heraus, wenn er selbst hinaufstieg und sich etwas umsah — je eher, desto besser. Noch waren die Spuren frisch. Mit schnellen Schritten kehrte er zur Nakahara‐Straße zurück. Dort winkte er ein Taxi heran. Von hier aus waren es höchstens zehn Minuten zu besagtem Gebäude. Unterwegs hielten sie kurz an einer Straßenecke, damit Ando einen kleinen Blumenstrauß kaufen konnte. Vor dem Lagerhaus des Spedi‐ tionsunternehmens T verließ er das Taxi. Hier irgendwo musste es sein. In der Gerichtsmedizin hatte Ando lediglich den Namen dieser Firma aufgeschnappt, nicht aber die Nummer des Hauses, in dem Mai gestorben war. Sein einziger Anhaltspunkt war, dass es südlich des Lagerhauses der Spedition lag. Ando blickte nach oben. Kein Zweifel, dort war es. Der Feuertreppe nach zu urteilen, hatte das Gebäude dreizehn Stockwerke. Rasch eilte er auf den Haupteingang zu, doch dann hielt er plötzlich inne. Nachdenklich ging er ein paar Schritte zurück. Welchen Weg mag Mai wohl genommen haben, um auf das Dach zu kommen? Es lag nahe, dass sie mit dem Fahrstuhl hochgefahren ist. Aber was war mit der Feuertreppe? Die entscheidende Frage war, zu welchem Zeitpunkt Mai her‐ gekommen war. Spät am Abend war der Eingang abgeschlossen. In
diesem Fall gab es nur eine Möglichkeit: die Außentreppe. Eingehend musterte Ando die sich in dem schmalen Spalt zwischen diesem und dem nächsten Gebäude nach oben windende Treppe. Gleich auf der ersten Etage hinderte eine Stahltür am weiteren Auf‐ stieg. Ob sie abgeschlossen war? Rasch erklomm Ando die ersten Stu‐ fen. Wie vermutet war die Tür verschlossen — eine normale Sicher‐ heitsvorkehrung, um Eindringliche abzuwehren. Eine wirkliche Hürde stellte die Tür jedoch nicht dar. Sie war gerade mal einen Me‐ ter achtzig hoch und für einen sportlichen Menschen kein Problem. Ando erinnerte sich, dass Mai während ihrer Schulzeit Hundert‐ meterlauf betrieben hatte. Für sie dürfte es ein Klacks gewesen sein, über das Hindernis zu klettern. Die Tür zum Gebäude war ebenfalls abgeriegelt. Ando stieg wieder hinunter. Kurz darauf betrat er die Lobby des Komplexes. Das Me‐ tallschild neben den Fahrstühlen gab Aufschluss, welche Firmen im Haus residierten. Erstaunlicherweise schienen die Büroräume nur zur Hälfte vermietet zu sein. Das Gebäude wirkte verwaist. Keine Men‐ schenseele war auf den Gängen zu sehen. Eine gespenstische Atmosphäre herrschte in dem Haus. Mit dem Lift fuhr Ando in die dreizehnte Etage. Die Gänge waren nur schwach beleuchtet. Den Aufgang zum Dach suchend, wanderte er in dem düsteren, verlassenen Flur herum. Doch er konnte ihn nicht finden. Also musste er wohl oder übel die Feuertreppe nehmen. Kaum hatte er die Tür einen Spalt breit geöffnet, blies ihm ein eisiger, rauer Meereswind ins Gesicht. Das Pfeifen des Windes klang wie auf schauerliche Weise geisterhaft. Fröstelnd schlug Ando den Kragen seiner Jacke hoch. Erst jetzt bemerkte er, dass sich die Bucht von Tokio ganz in der Nähe befand. Das Gebäude hatte eine merkwürdige Form, die erst ersichtlich wurde, wenn man im dreizehnten Stock nach draußen ging. Hier schien der Komplex etwas schmaler zu sein, so dass den Flur eine Art Terrasse umgab. Auf dieser Fläche war die Feuertreppe befestigt.
Wenn man sie ungefähr drei Meter hinaufkletterte, kam man auf das Dach. Ando versuchte, sich in Mais Lage hineinzuversetzen. Die Blumen zwischen die Zähne geklemmt, erklomm er zaghaft Sprosse für Sprosse. Warum musste sie unbedingt diese Leiter hinaufsteigen? Was wollte sie nur auf dem Dach? Eines stand jedenfalls fest: Sie war nicht hergekom‐ men, um sich hinunterzustürzen. Dazu war dieses Gebäude denkbar ungeeignet — der Körper würde zwei, drei Meter tiefer auf der ›Terrasse‹ aufschlagen. Wenn man sich unbedingt den Hals brechen wollte, wäre es klüger, es von der dreizehnten Etage aus zu ver‐ suchen. Außer Atem erreichte Ando das Dach. Was mochte sich hier abgespielt haben? Beklommenheit stieg in ihm auf. Ein merkwürdiges Dach. Es war mit Aluminiumblechen bedeckt, ver‐ mutlich um zu verhindern, dass sich Regenwasser ansammelte. Hier und da blätterte bereits die Farbe ab, die aufgetragen worden war, damit sich der Rost nicht durchfraß. In der Mitte befanden sich zwei kleine Aufsätze. Metallene Geräusche durchbrachen die Stille, als Ando über das Dach ging. Der Boden unter seinen Füßen gab leicht nach. Er fühlte sich nicht besonders sicher. Zu nah an den Rand würde er nicht gehen, das war zu gefährlich. Er entdeckte zwei kleine Vorsprünge, stellte sich darauf und sah in die Ferne. Majestätisch lag die Stadt vor ihm. Seine Blicke verloren sich in einem Meer von Lichtern. Es war zwar erst kurz vor 17 Uhr, doch in dieser Jahreszeit waren die Tage kurz, die Sonne ging früh unter. Hinter dem Kanal sah er die Station der Keihinkyuko‐Linie. Ein roter Zug glitt über die Gleise, ein Schnellzug raste vorbei. Erst vor kurzem war er an diesem Bahnhof gewesen — ganz in der Nähe befand sich Mais Apartment. Jetzt war die Station in schwaches weißes Licht getaucht. Erstaunlich wenige Menschen warteten auf
den Bahnsteigen. Ando ließ den Blick zu Mais Apartmentblock wandern. Er lag nur wenige hundert Meter entfernt. Die Geschäftsstraße, in der er lag, kreuzte die Wanganstraße, die nach rechts abzweigte. Nach etwa hundert Metern stieß man dann auf das Gebäude, auf dessen Dach Ando gerade stand. Warum war Mai ausgerechnet auf dieses Dach gestiegen? Es gab genug andere Dächer in der Nähe, ganz zu schweigen von dem ihres Apartmenthauses. Worin bestand der Unterschied zu diesem? Noch immer ruhte sein Blick auf dem Haus, in dem sie gewohnt hatte. Auf‐ fällig war, dass es nicht einmal halb so hoch war wie dieses, obwohl es immerhin sechs Stockwerke hatte. Vermutlich waren die Decken niedriger. In der Nähe befanden sich fast nur Hochhäuser, deshalb konnte man von den umliegenden Dächern auf das ihre herabblicken. Hier dagegen befanden sich vorwiegend Lagerhäuser; niemand konnte beobachten, was oben auf dem Dach vor sich ging. Das war der einzige sichtbare Unterschied. Ando verließ den Vorsprung. Vorsichtig ging er zu den zwei Auf‐ sätzen hinüber. Im einen befand sich vermutlich der Maschinenraum des Fahrstuhls, im anderen der Entlüftungsventilator. Zudem thronte auf dem südlichen Teil des Gebäudes ein Wassertank. In dem engen, dunklen Spalt zwischen den beiden Kammern ent‐ deckte Ando den Entlüftungsschacht — Mais Grab. Langsam setzte er einen Schritt vor den anderen und blieb kurz vor dem düsteren Loch stehen. Der Gitterrost war durchgebrochen. Wenn man nicht aufpasste, konnte man leicht in den tiefen, düsteren Abgrund fallen. Ando hielt einen gewissen Sicherheitsabstand. Der Schacht war ihm sowieso nicht geheuer — immerhin hatte man hier die Leiche von Mai gefunden. Ängstlich beugte er sich vor und warf den Blumen‐ strauß hinein. Dann sprach er ein Gebet für Mai. Wäre gestern nicht zufällig ein Techniker gekommen, um den Fahr‐
stuhl zu überprüfen, hätte man Mais Leiche vermutlich nie gefunden. Plötzlich war es dunkel, das Dach in Finsternis getaucht. Der Wind peitschte bedrohlich, fast Unheil verkündend durch den Spalt zwi‐ schen den beiden Kammern. Ando zitterte am ganzen Leib. Jetzt be‐ reute er es, dass er nicht schon früher gekommen war, als die Sonne noch am Horizont stand. Doch selbst dann hätte er nicht den Mut aufgebracht, in den Schacht hineinzusehen. Allein die Vorstellung, dass hier bis vor wenigen Stunden Mais Leiche gelegen hatte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Bei lebendigem Leib in diesem engen, miefigen schwarzen Loch begraben ... Das Entsetzen, als sie hinun‐ terstürzt... Den Knöchel gebrochen und nicht mehr in der Lage zu stehen ... Hilflos dem Schicksal ausgeliefert, hoch übersieh den schmalen Streifen Himmel ... Ihre Hoffnung auf Rettung nimmt jede Minute, jede Sekunde ein wenig mehr ab ... Andos Hals war wie zugeschnürt. Aus einer der Kammern dröhnte das laute Geräusch des Fahrstuhl‐ getriebes. Langsam ging Ando zurück, weil er es in dieser Enge nicht länger aushielt. Er blickte sich um. Auf den rauen Wänden der Kam‐ mern reflektierte das matte Abendlicht. An einigen Stellen war der Putz abgeblättert. Hier lauerte die finstere Welt des Todes. Er lief etwas schneller, stieg hastig die Leiter hinunter. Da sich die letzte Sprosse etwa einen Meter über dem Boden befand, sprang er. Dabei stellte er sich nicht sonderlich geschickt an und knickte mit dem Fuß um. Fast wäre er gestürtzt. Rasch begab er sich zum Aufzug. Von den zwei Fahrstühlen war gerade einer auf dem Weg nach oben. Ando drückte auf die Taste. Während er wartete, fragte er sich wieder und wieder: Warum war Mai auf das Dach dieses Hauses gestiegen? Ando ging verschiedene Szenarien durch. Vielleicht war sie vor jemandem weggelaufen? Nachts waren in dieser Gegend nicht viele Menschen unterwegs. Mai schlenderte die Straße entlang, irgendein Kerl sprach sie an. Aus Angst, einem Triebtäter begegnet zu sein, flüchtete sie die Außen‐
treppe hinauf. Da sie sehr sportlich war, kletterte sie problemlos über die abgeriegelte Tür, in der Hoffnung, dass ihr Verfolger diese Hürde nicht nehmen konnte. Doch sie täuschte sich: Er folgte ihr weiter. Ver‐ zweifelt rannte sie nach oben. Eine andere Möglichkeit zu entkom‐ men, hatte sie nicht. Auf der dreizehnten Etage nahm sie die Notleiter und kletterte auf das Dach ... Seine Gedanken wurden durch das Klingeln des Fahrstuhls unter‐ brochen. Die Türen öffneten sich — und Ando stand vor einer jun‐ gen, hübschen Frau — der Frau, die aus Mais Apartment gekommen war! Er starrte sie an, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, als hätte er die Befehlsgewalt über seinen Körper verloren. Was macht sie hier? Verzweifelt suchte Ando nach einer Antwort. Er wusste, dass seine Angst vor ihr nachlassen würde, wenn er einen plausiblen Grund fände, weshalb sie hier war. Gerade wollten sich die Türen schließen, als die Frau eine Hand ausstreckte — keine abrupte, sondern eine ruhige, gelassene Bewe‐ gung. Sie trug einen blaugepunkteten Rock und hatte auch heute kei‐ ne Strümpfe an. In ihrer linken Hand hielt sie einen kleinen Blumen‐ strauß. Einen Blumenstrauß ... »Wir sind uns doch schon einmal begegnet«, sagte sie. Sie hatte eine bezaubernde Stimme, deren Reiz darin lag, dass sie recht tief war, obwohl die Frau sehr zierlich aussah. Ando stand mit halboffenem Mund da. Es dauerte eine Weile, bis er ein paar Worte herausbrachte. »Ah ... Sie sind bestimmt die Schwe‐ ster von Mai Takano.« Er hoffte, dass sie das bestätigte, denn dann wären alle Unklarheiten beseitigt — warum sie in Mais Wohnung gewesen war ... auf das Dach dieses Hauses wollte ... einen Blumen‐ strauß in der Hand hielt... Doch sie gab keine Antwort, nickte nicht, schüttelte aber auch nicht
den Kopf. Man konnte das als ja oder Nein interpretieren. Ando entschied sich, es als Ja aufzufassen. Inzwischen kam er sich lächerlich vor, weil er Angst vor ihr gehabt hatte. Aber bei ihrer ersten Begegnung hatte sie wie ein übersinn‐ liches Phänomen auf ihn gewirkt, eine dunkle Macht, die nicht von dieser Welt stammte. Doch jetzt, nachdem das Geheimnis um ihre Identität gelüftet war, war auch ihre düstere Aura verschwunden. Ando fühlte sich sogar auf eine gewisse Weise von ihr angezogen. Die lange, schmale Nase, die weichen Gesichtszüge, die halbmond‐ förmigen Augen strahlten eine unerhörte Sinnlichkeit aus. Die Augen ... Damals waren ihm ihre elektrisierenden, bezaubernden Augen ver‐ borgen geblieben, da sie eine Sonnenbrille getragen hatte. Doch heute sah er sie, und er hatte das Gefühl, als zögen sie ihn magisch an. Sein Herz begann wie wild zu klopfen. »Entschuldigen Sie ...«, sagte sie mit erhobener, strenger Stimme. Vermutlich wollte sie wissen, in welcher Beziehung Ando zu Mai gestanden hatte. »Mein Name ist Ando. Ich arbeite an der Medizini‐ schen Fakultät der Universität K.« Damit hatte er allerdings noch nichts über seine Verbindung zu Mai gesagt. Die Frau verließ den Fahrstuhl, hielt die Tür mit einer Hand auf und gab Ando mit den Augen ein Zeichen, dass er einsteigen möge. Dabei strahlte sie ein Selbstbewusstsein aus, dass Widerstand un‐ möglich machte. Ihre Aufforderung folgend, betrat er den Aufzug. Abermals standen sie sich gegenüber. »Ich werde zu gegebener Zeit auf Sie zurückkommen.« Das waren ihre letzten Worte, bevor sich die Fahrstuhltüren schlossen. Hatte sie das tatsächlich gesagt? Ja, er hatte sich nicht verhört. Während Ando mit dem Aufzug nach unten fuhr, überfiel ihn plötzlich ein heftiges sexuelles Verlangen. Nachdem seine Familie zerbrochen war, war Mai die erste Frau gewesen, die wieder ero‐
tische Gefühle in ihm geweckt hatte. Aber die Begierde, die er jetzt empfand, übertraf alles. Obwohl er diese Frau nur ein paar Minuten gesehen hatte, war ihm von ihren Füßen bis zu den Augen jedes Detail in Erinnerung geblieben. Nur mit Mühe konnte Ando seine sexuellen Gelüste unter Kontrolle bringen. Unten auf der Straße winkte er ein Taxi heran und ließ sich nach Hause bringen. Ihre letzten Worte hallten in seinen Ohren nach: Ich werde zu ge‐ gebener Zeit auf Sie zurückkommen. Was meint sie damit? Wo wird sie mich aufsuchen? Vermutlich hat sie das nur so dahingesagt ... Ando bereute es, sie nicht nach ihrer Telefonnummer gefragt zu ha‐ ben. Er hätte nur warten müssen, bis sie wieder unten gewesen wäre. Warum er es nicht getan hatte, verstand er selbst nicht. Es lag nicht daran, dass er nicht gewollt hätte ... Vielmehr war es ihm nicht möglich gewesen. Er hatte das Gefühl, dass die Frau die Kontrolle über sein Ich übernommen hatte.
Seit Mais Autopsie war eine Woche vergangen. Der Dezember brachte einen plötzlichen Wetterumschwung. Über Nacht wurde es bitterkalt. Ando mochte diese Jahreszeit überhaupt nicht, umso mehr liebte er den Frühling und den Sommer. Doch nach dem Tod seines Sohnes war ihm selbst das gleichgültig geworden. Erst die beißende Kälte am Morgen ließ ihn realisieren, dass bereits Winter war. Auf dem Weg zur Universität blieb er mehrfach stehen und überlegte, ob es nicht besser wäre, umzukehren und einen warmen Pullover zu ho‐ len. Am Ende siegte seine Faulheit. Außerdem war ihm während des Gehens allmählich warm geworden. Von seiner Wohnung in Sangu‐ bashi konnte man bequem bis zur Universitätsklinik laufen, es war nicht allzu weit. Da die Verkehrsverbindung miserabel war, kam es nicht selten vor, dass Ando zu Fuß ging. Zudem tat etwas Bewegung gut. Eigentlich hatte er auch heute laufen wollen, doch unterwegs entschied er sich spontan für die Bahn und nahm ab Yoyogi die JR‐ Linie. Er wollte möglichst schnell in seinem Büro sein. Am Vormittag würde er sich mit Miyashita und Nemoto, einem Experten auf dem Gebiet der Elektronenmikroskopie, die Zellen von Ryuji und Mai anschauen. Er konnte es kaum erwarten, das Virus endlich mit eigenen Augen zu sehen. Interessanterweise war bisher kein Fall bekannt geworden, der nicht in irgendeiner Weise mit dem Video in Verbindung stand. Auch in Mais Apartment hatte Ando eine Kassette gefunden. Zwar war die Aufnahme größtenteils überspielt worden, aber sie war zweifellos ein Ableger des Killervideos, das Asakawa in B‐4 in Süd‐Hakone ent‐ deckt hatte. Bestimmt waren auch Mais Zellen von dem pocken‐ ähnlichen Virus befallen. Fast wäre Ando zu weit gefahren. Im letzten Moment sprang er aus
dem Zug. Mit der Menschenmenge drängte er sich durch den Bahnhof. Gleich davor ragte der imposante Bau des Universitäts‐ klinikums auf. Ando steckte den Kopf durch die Tür. Mit knallrotem Gesicht sah Miyashita ihn an. »Ich habe schon auf dich gewartet.« Die ganze letzte Woche über hatten Miyashita und Nemoto bis zum Hals in den Vorbereitungen gesteckt. Mehrere Schritte waren not‐ wendig, bevor die Zellen unter dem Mikroskop betrachtet werden konnten. Vor allem die Probenvorbereitung war aufwändig: die Fixierung, um die Probe realistischer darzustellen, die Dehydrierung, die Einbettung, um das Gewebe sektionieren zu können, die Auftei‐ lung der Probe in dünne Scheiben und so weiter. Tagelang hatten sie sich damit herumgeschlagen. Ando hatte ihnen dabei nicht unter die Arme greifen können — das alles lag außerhalb seines Kompetenzbereichs. Er hätte nur im Weg gestanden. Miyashitas glänzende Augen zeigten seine Vorfreude. Sehnsüchtig hatte er auf diesen Moment gewartet. Heute Morgen waren die letzten Vorarbeiten verrichtet worden. »Könnten Sie bitte das Licht ausschalten?«, sagte Nemoto zu Miyashita. »Natürlich«, entgegnete Miyashita und machte die Halogenlampen aus. Die Erregung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Zwar war die Basenfolge des Virus entschlüsselt, doch in wenigen Momenten würden sie das Killervirus zum ersten Mal sehen. Nemoto begab sich in die Dunkelkammer. Mit geschickten Hand‐ griffen steckte er die Probe in die Halterung des Elektronenmikro‐ skops. Zwischen Miyashita und Ando fiel kein Wort. Erwartungsvoll starrten beide auf den Computerbildschirm, der mit dem Mikroskop verbunden war. Doch noch war auf dem Monitor nichts zu sehen. Die Spannung stieg ins Unermessliche. In Gedanken zogen die Bilder
des Virus bereits an ihren leuchtenden Augen vorbei. Nach einer Weile gesellte sich Nemoto wieder zu ihnen. Die letzte Lichtquelle wurde ausgeschaltet. Endlich war es so weit. Voller Erwartung richteten sich drei Augenpaare auf den Bild‐ schirm, auf dem sich die spannende Mikroweit auftat. »Wessen Zellen sind das?«, fragte Miyashita erregt. »Die von Ryuji Takayama.« Als Nemoto die entsprechende Taste betätigte, fixierte der Laser die Zelle. Wo hatte sich das Virus nur versteckt? »Können Sie das Bild bitte etwas vergrößern?«, fragte Miyashita. Nemoto vergrößerte das Bild um das Neuntausendfache. Die ab‐ sterbenden Zellen reflektieren in seinen Augen. Das Zytoplas‐ma wies eine blassrötliche Färbung auf. Die anderen Bestandteile waren schwarz — sie waren eindeutig beschädigt. »Bitte fokussieren Sie das Zytoplasma oben rechts. Können Sie es vergrößern?« Diesmal spiegelten sich die schwarzen Flecken der sterbenden Zellen auf Miyashitas Gesicht wider. Es leuchtete wie eine harte Bronzemaske. Nemoto vergrößerte das Bild um das Sechzehn‐ tausendfache. »Das reicht noch nicht.« Einundzwanzigtausendfach. »Stopp!«, sagte Miyashita laut. Er blickte kurz zu Ando hinüber, der das Gesicht so dicht an den Bildschirm brachte, dass er ihn fast mit der Nase berührt hätte. Es wimmelte nur so von Viren. Mit der einundzwanzigtausendfachen Vergrößerung erschienen die Erreger wie tausende sich bewegende Schlangen. Ando lief ein kalter Schauer über den Rücken. Diese Art von Virus hatte er noch nie zuvor gesehen. Ekel ergriff ihn. Zwar hatte er auch noch nie ein Pockenvirus unter dem Mikroskop beobachtet, doch immerhin kannte er es von Abbildungen in Fachbüchern. Aber was
er hier zu Gesicht bekam, war etwas ganz anderes. Die Form dieses Virus unterschied sich grundlegend von der des Pockenvirus. »Ich kann es nicht fassen.« Miyashita atmete tief durch. Ando stellte sich Folgendes vor: Zunächst drang das Virus in den Organismus ein, bahnte sich dann einen Weg über den Blutkreislauf zu den Herzkranzgefäßen und verursachte dort ein Geschwür ... Dieser Vorgang war ihm zwar nicht fremd, doch konnte er beim besten Willen nicht nachvollziehen, dass er durch die übernatürlichen Kräfte einer Frau ausgelöst worden sein sollte. Allein die Vorstellung, dass dieses Virus durch das Betrachten eines Videos in den Körper eindrang, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Im Körper angekom‐ men, trieb das Virus eine Woche lang sein Unwesen, bis es den Orga‐ nismus schließlich zugrunde richtete. Ob bei der Entstehung der Erde auch eine Art Bewusstseinseinwirkung mit im Spiel war? Andos Gedanken begannen eben abzuschweifen, als Miyashita sagte: »Was hältst du von dem Namen ›Ring‹?« Ando blickte auf den Bildschirm. Sofort war ihm klar, worauf Miyashita abzielte. Das Virus ähnelte ... Manche Viren hatten zwar eine birnenförmige Gestalt, aber die Mehrheit erinnerte an einen Ring. Ja, einen passenderen Namen gab es nicht. Da Miyashita und Ando das Virus entdeckt hatten, konnten sie ihm auch einen Namen geben — das Ring‐Virus. »Sag schon, wie findest du das?«, hakte Miyashita nach. Einen zutreffenderen Namen gab es zwar nicht, aber er jagte Ando auf eine gewisse Weise Angst ein. Er dachte daran, wie alles angefan‐ gen hatte — mit den mysteriösen Zahlen 1, 7, 8, 1, 3,6, die auf einem Stück Zeitung standen, das in Ryujis Bauch gesteckt hatte. Ein Kode, und das Lösungswort ›Ring‹. In der Mikroweit gab es durchaus schöne Dinge, doch was sie hier sahen, war genau das Gegenteil: widerlich, hässlich. Eine abgrundtief
finstere Welt offenbarte sich ihnen. Andos Ekel resultierte jedoch nicht vorwiegend aus der Tatsache, dass das Virus den Menschen auf grauenvolle Weise angriff, sondern weil er Schlangen verabscheute — und an Schlangen erinnerte das Virus. Aber auch unvoreingenom‐ mene Menschen hätten diesen Anblick widerwärtig gefunden. Bestes Beispiel dafür war Nemoto. Obwohl er Derartiges gewohnt war, zitterten seine Hände, während er das Virus abfotografierte. Nachdem er sieben Bilder geschossen hatte, brachte er sie in die Dun‐ kelkammer zur Entwicklung. Anschließend steckte er einen anderen Objektträger in die Halterung des Elektronenmikroskops. »Das sind Mai Takanos Zellen.« Schnell hatten sie das Virus nach einigen Vergrößerungen auch hier entdeckt. Ohne Zweifel, es war derselbe Erreger. Wie bei Ryuji wimmelte es nur so davon. »Es ist dasselbe Virus«, riefen Ando und Miyashita gleichzeitig. In ihren Augen war es mit dem in Ryujis Blut nachgewiesenen Virustyp identisch. Doch Nemoto entdeckte einen geringfügigen Unterschied zwischen beiden. »Merkwürdig ...« Nachdenklich fasste er sich ans Kinn und legte den Kopf zur Seite. Miyashita hakte nach: »Was ist merwürdig?« »Das kann ich nicht genau sagen, ohne mir vorher die Fotos in Ruhe angesehen zu haben.« Nemoto war nicht der Typ, der aufgrund seines ersten Eindrucks Spekulationen aufstellte. Erst mussten Bewei‐ se vorliegen, dann bildete man eine Theorie. Der Unterschied, den er bemerkt zu haben glaubte, lag offenbar in der Anzahl der verschiede‐ nen Typen des Virus. Verglichen mit Ryujis Viren wies ein Großteil der in Mais Zellen nachgewiesenen eine andere Form auf. Die Zahl derer, die keinen Ring darstellten, war wesentlich höher. Ihre Form erinnerte an einen zerbrochenen Ring — es war fadenförmig. Um seinen Eindruck zu überprüfen, fokussierte Nemoto einen
fadenförmigen Erreger. Der ›Stein‹ des Rings war der kleine Kopf, zudem hatte es einen Schwanzanhang. Als sie das Virus auf dem Monitor sahen, dachten alle drei an das Gleiche. Aber keiner von ihnen brachte es über die Lippen.
Nemotos erster Eindruck war durch den Vergleich der Fotos bestätigt worden. Das in Mais Blut nachgewiesene Virus hatte über‐ wiegend eine andere Form: Der Ring war in der Mitte ›zerbrochen‹. Die Statistik besagte, dass die Viren in Ryujis Blut lediglich zu zehn Prozent diesem Typ angehörten. Bei ihm überwog der ringförmige Virustyp — er machte neunzig Prozent aus. Bei Mai war das Verhält‐ nis fünfzig zu fünfzig. Warum? Das musste eine besondere Bedeu‐ tung haben, da war Ando sicher. Deshalb ließ er die Zellen aller Per‐ sonen, die durch das Betrachten des Videos ums Leben gekommen waren, mit dem Elektromikroskop untersuchen. Die Ergebnisse lagen Anfang des neuen Jahres vor, genauer am Freitag der ersten Januarwoche. Kaum hatte man Ando dies mitge‐ teilt, machte er sich auch schon auf den Weg zum Labor. Schnee be‐ deckte den Schreinpark wie ein weißer Schleier. Die zahlreichen Fotos miteinander zu vergleichen war ziemlich an‐ strengend. Doch Miyashita gönnte Ando keine ruhige Minute. Gna‐ denlos legte er ein Bild nach dem anderen auf den Tisch. Ando zog in Gedanken ein Zwischenresümee: Das Video hatte ein‐ schließlich Asakawas und Ryujis elf Menschen getötet. Bei allen war das Ring‐Virus im Blut entdeckt worden. Damit stand eindeutig fest: Dieser neue, noch nicht erforschte Erreger hatte ihren Tod bewirkt. Außerdem hatten sie herausgefunden, dass es zwei verschiedene Ty‐ pen gab: ein fadenförmiges und ein ringförmiges Virus. Ersteres kam erstaunlicherweise nur bei Asakawa und Mai zu einem hohen pro‐ zentualen Anteil vor, nämlich zu mehr als fünfzig Prozent. Bei allen anderen Toten machte dieser Typus höchstens zehn Prozent aus. Ihre Zellen waren hauptsächlich von dem ringförmigen Virus befallen. Was bedeutete das? Für Ando gab es nur eine Erklärung. Die Frage zwischen Leben und Tod schien vom Charakter des Virus abzuhän‐
gen. Trat der fadenförmige Virus zu einem bestimmten Prozentsatz auf, entstand kein Geschwür an den Gefäßwänden, und es kam in der Folge nicht zu einem Herzinfarkt. Nur, wo lag die Grenze zwischen Leben und Sterben? Darauf wusste Ando keine Antwort. Das stand noch in den Sternen. Sowohl Mai als auch Asakawa hatten sich das mörderische Video angeschaut. Durch ihre Sinnesorgane war das Virus in ihren Körper eingedrungen. Bis zu diesem Punkt unterschieden sie sich nicht von den anderen neun Personen. Aber aus irgendeinem Grund vermehrte sich nur das fadenförmige Virus explosionsartig, bis es schließlich die Zahl der ringförmigen Viren überstieg. Das musste der Grund gewe‐ sen sein, weshalb Mai und Asakawa nicht an einem Herzinfarkt ge‐ storben waren. Doch warum war es nur in ihren Organismen zu dieser rasanten Vermehrung des fadenförmigen Erregers gekommen? Worin hatten sie sich von den anderen unterschieden? »Ob es vielleicht am Immunsystem liegt?«, fragte Ando. Miyashita neigte den Kopf leicht zur Seite. »Am Immunsystem? Hm.« »Oder ...« Ando brachte es nicht über die Lippen. »Oder was?« »Oder am Virus selbst.« »Ich denke, das trifft schon eher zu«, sagte Miyashita seufzend. Er legte die Füße auf einen Stuhl. »Wenn ich mir die ganze Sache jetzt noch mal durch den Kopf gehen lasse ... Die vier Jugendlichen, die das Video als Erste sahen, löschten den Zauberspruch aus Jux und Tollerei. Damit war das Video dem Untergang geweiht. Es musste ei‐ nen neuen Weg finden, um zu überleben. Die Lösung: eine genetische Mutation als Grundlage für die Evolution. Bis hierher hat uns Ryuji mit seiner Nachricht auf die Sprünge geholfen. Doch die entscheiden‐ de Frage ist: Welche Mutation entstand? Der Schlüssel zur Antwort muss in dem Ring‐Virus von Asakawa und Mai liegen ... Die Form
des Virus hat sicher eine Bedeutung.« »Viren dringen von außen in den Organismus eines Menschen ein, überfallen dort das Zellgewebe. Sie zwingen es, neue Erreger zu erzeugen. Aus eigener Kraft können Viren das nicht.« »Das ist richtig.« »Manchmal kommt es sogar zu einer explosionsartigen Vermeh‐ rung.« »Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: die Pest im Mittelalter in Euro‐ pa. Oder die Spanische Grippe. Wie ein Flächenbrand haben sich die Erreger da verbreitet und Millionen Menschen in den Tod gerissen.« »Und?«, fragte Miyashita. »Denk doch mal nach. Wer innerhalb einer Woche, nachdem er sich das Video angesehen hat, keine Kopie zieht und sie einer anderen Person zeigt, stirbt — so hatte Asakawa gefolgert. Aber selbst wenn diese Anweisung befolgt wurde ... Der Vermehrungsprozess würde nur sehr langsam vonstatten gehen.« »Du hast Recht. Das ist ein wichtiger Gedanke.« »Damit wäre doch die eigentliche Intention vollkommen verfehlt.« »Willst du damit sagen, das dies nicht dem Ziel eines Virus ent‐ spricht?« »Du hast es erfasst. Man muss sich immer wieder den wesentlichen Charakter eines Virus vor Augen halten: Sein ›Erfolg‹ hängt von seinem Verbreitungsmechanismus ab.« »Drück dich mal etwas genauer aus. Worauf spielst du an?« Miya‐ shita blickte Ando fest in die Augen, ohne den Blick auch nur eine Sekunde abzuwenden. »Es ist nur so eine ...« Ando wusste selbst nicht so recht, was er eigentlich sagen wollte. Vielleicht sah er die Dinge in einem zu nega‐ tiven Licht. Doch immerhin gab es in der Geschichte der Menschheit mehrere Fälle, bei denen die Rasanz, mit der sich ein Erreger ausbrei‐
tete, katastrophale Folgen hatte. Allgemein waren Viren von einer teuflischen Überlebensstrategie getrieben. Ging man von dieser Hypothese aus, war der Kopierprozess des Ring‐Virus absolut ineffizient, und das entbehrte jeglicher Logik. Die Gefahr, sofort wieder ausgerottet zu werden, war viel zu groß. Tat‐ sächlich war das Virus ja auch nach nur drei Monaten von der Bild‐ fläche verschwunden. Irgendetwas stimmte nicht. Andos innere Stimme sagte ihm, dass es durch Mutation mit verheerender Gewalt zurückkommen würde ... Eine schreckliche Vorahnung ergriff ihn. Erneut blickte er auf das Foto mit dem Ring‐Virus. Tausende Ekel erregende Viren türmten sich übereinander. Sadako Yamamura hatte ihre genetischen Informationen durch Einsatz ihrer übersinnlichen Kräfte in dieser Welt zurückgelassen — verschlüsselt in dem Video. Ando hatte das Gefühl, dass sich irgendwo ein schlimmes Unheil zusammenbraute. Eine Katastrophe raste auf sie zu ... Eine groteske Welt. Andere Worte gibt es dafür nicht. Seit Ando Ryujis Leiche obduziert hatte, war er in einer bizarren Welt gefangen. Angst ergriff ihn, wenn er daran dachte, was Mai wohl geboren hatte. Sie war bereits seit eineinhalb Monaten tot, und noch immer wussten sie nicht, was sie zur Welt gebracht hatte. Sicherlich kein süßes, kleines Baby. »Nun mach nicht so ein Gesicht«, sagte Miyashita. »Du siehst das alles viel zu negativ. Wir wissen doch gar nicht, ob tatsächlich eine neue, gefährliche Form entstanden ist. Vielleicht hat die Mutation ja auch zu einer harmlosen Variante geführt. Oder das mutierte Virus passte nicht in die Umwelt.« »Willst du damit andeuten, dass die neue Art schon wieder aus‐ gerottet sein könnte?« »Man kann es zumindest nicht ausschließen.« »Du bist wirklich ein Optimist.« »Denk an die Spanische Grippe 1918. Sie wütete in vielen Teilen der
Erde, und ein Jahr später war sie auf einen Schlag verschwunden. Zwanzig bis fünfzig Millionen Menschen hatte sie getötet. 1977 entdeckte man denselben Erreger in Amerika, doch dieses Mal forderte er kein einziges Todesopfer. Das Virus war mittlerweile völlig harmlos. Es hatte keine negativen Auswirkungen mehr auf den Menschen.« »Du meinst, so wie Mutationen Viren zu Killern machen können, können sie andererseits auch dazu führen, dass ein gefährlicher Erreger sein bedrohliches Potenzial verliert.« Tatsächlich waren nach dem Fund von Mais Leiche keine weiteren mysteriösen Todesfälle entdeckt worden. Zumindest hatten die Medien nichts gebracht. Ando hatte seine Beziehungen zur Polizei spielen lassen, war aber bis jetzt bei seiner Recherche auf keine neuen Informationen gestoßen. Vielleicht hatte Miyashita Recht, und das neue Virus hatte in dieser Umwelt nicht überleben können. »Hast du eine Idee, was uns jetzt noch weiterbringen könnte?« Miyashita wirbelte in seinem Drehstuhl herum. »Es gibt da in der Tat etwas ... Um eines haben wir uns bisher noch nicht weiter gekümmert.« »Und zwar?« »Wir wissen nicht, wann und wo Mai Takano mit dem Video in Berührung kam.« »Ist das denn so wichtig?« »Mich interessiert es schon. Ich denke, es wäre durchaus hilfreich, wenn wir zumindest das Datum wüssten.« Diese Spur hätte Ando schon viel früher verfolgen sollen, aber die Analyse des Virus hatte ihm den letzten Nerv geraubt. Doch im Moment mussten sie sich an jedem Strohhalm festklammern. Mai war irgendwie über Ryuji an das Video gelangt. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Die entscheidende Frage war: Wann und
wo hatte sie es in ihre Finger bekommen? Wenn sie in diesem Punkt Klarheit bekamen, würden sie der Lösung der rätselhaften Todesserie vielleicht ein Stück näher kommen.
Schließlich fand Ando heraus, wo Mai das mysteriöse Video herhat‐ te. Ein paar Tage nach Ryujis Tod waren seine persönlichen Sachen aus seinem Apartment in Higashi Nakano zu seinen Eltern gebracht worden. Für Ando war damit klar: Mai konnte das Band nur hier in die Finger bekommen haben. Und tatsächlich: Ein Anruf bei Ryujis Eltern brachte Gewissheit. Ryujis Mutter hatte gleich Vertrauen gefasst, als sie hörte, dass Ando ein ehemaliger Kommilitone ihres Sohnes war. Das machte die Sache einfacher. Unverblümt fragte er, ob Mai Takano vor einiger Zeit bei ihnen gewesen sei. »Ja, sie war hier«, antwortete die Mutter. Anhand ihres Haushaltsbuches, in dem der Kassenzettel für einen Kuchen steckte, konnte sie Ando sogar das genaue Datum nennen: der 1. November. Er markierte sich den Tag in seinem Kalender. »Was war der Grund für ihren Besuch?«, bohrte Ando höflich weiter. Mai hatte stets Ryujis handgeschriebene Artikel abgetippt und war auf der Suche nach fehlenden Seiten des letzten Aufsatzes gewesen, erklärte die Mutter. Ando ließ sich Verlag und Titel der Zeitschrift geben, in der Ryujis wissenschaftliche Abhandlungen veröffentlicht wurden. Nach einer kurzen Verabschiedung legte Ando rasch auf. Er wollte um alles in der Welt vermeiden, dass Ryujis Mutter sich nach Mais Befinden erkundigte ... Obwohl Ando längst aufgelegt hatte, ruhte seine Hand noch auf dem Telefon. Am 1. November... An diesem Tag hat Mai also das Haus der Takayamas aufgesucht. Sie durchstöberte Ryujis Sachen in der Hoffnung, die Seiten zu finden. Da muss ihr das Video in die Hände gefallen sein. Aus
irgendeinem Grund übte es eine derartige Anziehungskraft auf sie aus, dass sie es mit nach Hause nahm. Wahrscheinlich hat sie es sich noch am selben Tag angesehen. Ando ging zunächst von der Hypothese aus, dass alles am 1. November begonnen hatte. An diesem Tag war das Virus in sie ein‐ gedrungen. Das bedeutete, am 8. November musste mit ihrem Körper etwas Merkwürdiges passiert sein. Ando war für den 9. November mit ihr verabredet gewesen, doch Mai war nicht erschienen und auch nicht ans Telefon gegangen. Dafür gab es nur zwei Erklärungen: Sie war zwar zu Hause, aber in einem derart schlechten Zustand gewe‐ sen, dass sie sich nicht zum Telefon schleppen konnte. Oder sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits in dem Entlüftungsschacht gelegen. Die Autopsie bestätigte diese zweite These. Laut den Untersu‐ chungsergebnissen war Mai um den 20. November herum gestorben. Der Pathologe vermutete, dass sie ungefähr zehn Tage vor ihrem Tod in den Schacht gefallen war, also am 8. oder 9. November. Alles passte zusammen. Ando machte sich auf den Weg zur Bibliothek. In der Zeitschriften‐ ecke suchte er nach der Monatsausgabe, in der Ryujis Artikel veröf‐ fentlicht worden war. Ohne lange suchen zu müssen, fand er sie. Die Zeitschrift ist am 20. November erschienen ... Die letzte Folge von ›Struktur des Wissens‹. Damit war Ando einen großen Schritt weiter. Mai hat Ryujis Artikel also noch überarbeitet und dem Redakteur der Zeitschrift zukommen lassen. Zwischen dem Betrachten des Videofilms und ihrem Tod hatte sie demnach mindestens mit einer Person Kontakt gehabt. Ando rief bei dem Verlag an und vereinbarte mit dem verant‐ wortlichen Redakteur einen Gesprächstermin.
An der Suidobashi‐Station der JR‐Linie stieg Ando aus. Mit schnel‐ len Schritten näherte er sich seinem Ziel. Nach ungefähr fünf Geh‐ minuten ragte das zehnstöckige Gebäude des S‐Shogo Verlags vor
seinen Augen auf. Am Empfang bat Ando eine Dame, den Redakteur der Monatszeitschrift Choryu, Herrn Kimura, über seine Ankunft in Kenntnis zu setzen. Auf und ab gehend, wartete er nervös auf seinen Gesprächspartner. Zu seiner Erleichterung hatte es sich als nicht pro‐ blematisch herausgestellt, einen Termin zu bekommen. Der Stimme am Telefon nach zu urteilen, musste Kimura um die zwanzig Jahre alt sein. Andererseits hatte er sich jedoch sehr gewählt ausgedrückt. Dies ließ auf einen soliden, charakterstarken Menschen schließen. Aus diesem Grund stellte Ando sich vor, dass ihm gleich ein junger, attraktiver Mann mit moderner Brille entgegenkommen würde. Doch der Mann, der dann erschien, entsprach in keinster Weise dieser Vorstellung. Kimura hatte eine kräftige, untersetzte Figur mit Bauchansatz. Die karierte Hose mit Hosenträgern untermalte seine Fettleibigkeit noch. Trotz der winterlichen Kälte glitzerten Schweiß‐ perlen auf seinem schütteren Haupt. Wenn man nach dem Aussehen ging, konnte man sich nur schwer vorstellen, dass dieser Mann Redakteur einer intellektuellen Monatszeitschrift eines so bekannten Verlags war. »Es tut mir Leid, dass ich Sie warten ließ.« Mit einem breiten Grinsen zog er eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche. Über dem Namen ›Satoshi Kimura‹ stand ›Stellvertretender Chefredakteur‹. Kimura war wesentlich älter, als Ando ihn am Telefon geschätzt hatte. Er ging wohl auf die Vierzig zu. Auch Ando überreichte seine Visitenkarte. »Haben Sie herzlichen Dank, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben. Ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sein müssen. Wollen wir nicht in ein Cafe gehen? Dort können wir uns in Ruhe unterhalten«, schlug Ando vor. »Hier in der Nähe gibt es leider kein gutes Cafe. Wenn es Ihnen recht ist, können wir uns in unsere Launch setzen.« »Sehr gern.« Die Launch befand sich im obersten Stockwerk des Gebäudes und
war sehr stilvoll, ja elegant eingerichtet. Hier und da saßen bekannte Persönlichkeiten auf den weichen Sofas. So manches Gesicht hatte Ando schon in Magazinen und Zeitungen gesehen. An diesem Ort trafen Schriftsteller und Redakteure zu Gesprächen zusammen. Einige liefen mit einem Manuskript unter dem Arm durch den Raum. »Es ist ein Jammer, dass dieser Mensch von uns gegangen ist.« Ando war von den berühmten Persönlichkeiten so fasziniert gewe‐ sen, dass er sich hatte ablenken lassen. Doch nun konzentrierte er sich wieder auf seinen Gesprächspartner. Ruhig blickte er Kimura an. »Ryuji Takayama war ein alter Studienkollege von mir. Gemeinsam haben wir uns durch das Medizinstudium gequält.« Ando verfolgte mit diesem Satz eine bestimmte Intention. Bisher war er immer gut damit gefahren, den Leuten, die mit Ryuji in Kon‐ takt standen, von seiner persönliche Beziehung zu ihm zu erzählen. Häufig öffneten sie sich ihm daraufhin. »Verstehe. Sie waren also mit Dr. Takayama ...« Kimura warf einen Blick auf Andos Visitenkarte. Der Name der Universität, an der Ando als Dozent tätig war, schien ihm noch von Ryuji in Erinnerung zu sein. Dies verriet sein Nicken. »Ich habe Ryujis Leiche obduziert.« Kimura machte große Augen. Das Kinn nach vorne streckend, seufzte er: »Das ist ja ...« Er riskierte einen raschen Blick auf Andos Finger, die gerade die Kaffeetasse hielten. »Doch ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über Ryuji zu spre‐ chen.« Ando stellte die Tasse ab und legte die Hände auf den Tisch. »Worüber dann? Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ich würde Ihnen gern einige Fragen über Ryuji Takayamas Studentin Mai Takano stellen.« Als der Name Mai fiel, erschien ein sanftes Lächeln auf Kimuras
Gesicht. Gespannt beugte er sich vor. »Mai? Was ist mit ihr?« Offensichtlich weiß er noch gar nicht, dass sie tot ist. Aber früher oder spä‐ ter wird er es ohnehin erfahren. »Sie wissen also nicht, dass Mai ... gestorben ist?« Kimura war sichtlich geschockt. Ein tiefer, merkwürdiger Seufzer entrang sich ihm, und seine Miene veränderte sich schlagartig. Seine Reaktion war so heftig, dass es fast grotesk wirkte. »Was? Mai tot? Nein, dass wusste ich nicht. Wie furchtbar!« »Sie ist im November in einen Entlüftungsschacht gefallen, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnte. Dort ist sie gestorben.« »Jetzt verstehe ich auch, warum ich sie die ganze Zeit nicht er‐ reichen konnte.« Ando empfand Kimura gegenüber plötzlich große Sympathie. Of‐ fensichtlich schien er genauso zu empfinden wie er. Zwar wusste Ando nicht, ob Kimura verheiratet war, aber eines stand fest: Er hatte Mai gemocht. »Können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie Mai das letzte Mal gesehen haben?«, fragte Ando, bevor Kimura sich seiner Bestürzung ganz hingeben konnte. »Das muss Anfang November gewesen sein. Ich saß gerade an den Vorbereitungen für die Januar‐Ausgabe.« »Haben Sie vielleicht das genaue Datum im Kopf?« Kimura zog einen Terminkalender aus der Tasche. Nachdem er eine Weile darin geblättert hatte, antwortete er: »Es war der 2. Novem‐ ber.« Der 2. November, also einen Tag, nachdem Mai das Elternhaus Ryujis aufgesucht hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie den Videofilm zu diesem Zeitpunkt bereits gesehen. »Entschuldigen Sie diese indiskrete Frage, aber wo haben Sie sich getroffen?« »Mai hat mir telefonisch mitgeteilt, dass sie den Artikel fertig habe.
Daraufhin bin ich zu ihr gefahren.« »Zu ihr nach Hause?« »Nein, wir haben uns in einem Cafe nahe der U‐Bahn‐Station, bei der sie wohnt, getroffen. Das war immer unser Treffpunkt«, betonte Kimura. Damit wollte er zu verstehen geben, dass er nie das Apart‐ ment einer allein stehenden Frau aufsuchen würde. »Ist Ihnen an Mai irgendetwas aufgefallen? War sie anders also sonst?« Kimura blickte Ando verwundert an. Er schien die Frage nicht zu verstehen. »Was meinen Sie damit?« »Es geht um ihre Todesursache ... In einigen Punkten herrscht noch Unklarheit.« »Unklarheit?« Kimura verschränkte nachdenklich die Arme. Andos Satz schien ihn verunsichert zu haben. »Was auch immer ... Eine Kleinigkeit würde schon weiterhelfen. Wenn Ihnen auch nur das Geringste aufgefallen ist...«, sagte Ando freundlich lächelnd, um die Atmosphäre etwas aufzulockern. »In der Tat war Mai an diesem Tag etwas anders als sonst...« »Das heißt?« »Sie war schrecklich blass. Ich weiß nicht, ob ihr übel war, aber sie hielt sich die ganze Zeit ein Taschentuch vor den Mund.« Ob ihr übel war... Als Ando in Mais Apartment war, hatte er auf dem Fliesenboden im Bad Spuren von Erbrochenem entdeckt. »Haben Sie Mai gefragt, ob ihr schlecht ist?« »Das musste ich nicht. Sie hat mir gleich, nachdem wir uns ge‐ troffen hatten, erzählt, dass sie eine furchtbare Übelkeit quälte. Offen‐ sichtlich hatte sie die ganze Nacht an Ryujis Artikel gearbeitet.« »Hm, verstehe. Dann war also Schlafmangel der Grund.« »So ist es.«
»Haben Sie sonst über irgendetwas gesprochen? Ich meine, außer über den Artikel.« »Nein. Ich hatte nicht viel Zeit. Wir sprachen nur kurz über das Buch, und dann bin ich wieder gefahren.« »Das Buch? Ryujis Buch?« »Ja. Als wir damals über die Artikelserie sprachen, haben wir ver‐ einbart, sie nach Erscheinen aller Ausgaben als Buch herauszugeben.« »Wann soll es denn erscheinen?« »Ab nächsten Monat wird es in den Buchläden erhältlich sein.« »Wäre schön, wenn es sich gut verkauft.« »Da gebe ich mich keinen Illusionen hin. Der Inhalt ist weiß Gott keine leichte Kost, obwohl ich es sehr interessant finde. Aber einen ›Run‹ auf das Buch können wir wohl ausschließen.« Das Gespräch hatte sich in eine andere Richtung entwickelt, als Ando geplant hatte, und die Zeit war wie im Flug vergangen — die verabredete Stunde war vorbei. Ando hatte zwar keine wirklich wichtigen Informationen von Kimura bekommen, aber es bestand sicherlich die Möglichkeit, ihn noch einmal zu treffen. Dafür war es wichtig, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Also entschied Ando, ihn für heute in Ruhe zu lassen und nicht weiterzubohren. Er be‐ dankte sich höflich, dann standen sie auf. In diesem Moment betraten drei Personen die Launch, zwei Männer und zwischen ihnen eine Frau. Alle drei hatten markante Gesichter, und Ando erinnerte sich sofort: Die Frau war eine bekannte Roman‐ schriftstellerin. Die Verfilmung eines ihrer Werke hatte sie in ganz Ja‐ pan berühmt gemacht. Ando hatte ihr Gesicht schon oft im Fernsehen und auf Titelblättern gesehen. Neben ihr stand der Regisseur, der den autobiografischen Roman verfilmt hatte. Andos Interesse galt jedoch vor allem dem etwa vierzigjährigen zweiten Mann. Sein Name lag ihm auf der Zunge. Ando ging davon aus, dass er ebenfalls Schrift‐ steller war, denn auch sein Gesicht kam ihm bekannt vor.
Als die drei an ihnen vorbeigingen, sprach Kimura den Mann an. »Schön, dass es mit dem Projekt geklappt hat, Asakawa.« Asakawa ... Jetzt erinnerte Ando sich. Natürlich, das war der Bruder von Kazuyuki Asakawa, Jun‐ichiro. Mitte November hatte er ihn in seiner Wohnung in Kanda aufgesucht, um sich die Diskette mit dem Ring‐ Bericht auszuleihen, die er dann einige Tage später zurückgebracht hatte. Ando fiel nun auch wieder ein, dass er auf Jun‐ichiros Visiten‐ karte ›S‐Shobo Verlag‹ gelesen hatte. Ob Kazuyuki Asakawa es wohl ermöglicht hatte, dass Ryujis Buch bei diesem Verlag erschien? Jun‐ichiro schien sich ebenfalls an Ando zu erinnern. Mit er‐ schrockener Miene wich er ein paar Schritte zurück. »Noch einmal vielen Dank für alles.« Ando verbeugte sich vor ihm. Doch Jun‐ichiro beachtete ihn kaum. »Wir müssen gehen«, sagte er kurz angebunden und manövrierte die Autorin und den Regisseur an einen Tisch. Aus irgendeinem Grund schien er Ando aus dem Weg gehen zu wollen. Ando blickte noch einmal zu ihm hinüber, doch Jun‐ichiro würdigte ihn keines Blickes. Angeregt unterhielt er sich mit dem Filmregisseur. Es war eindeutig: Er mied Ando. Verwirrt suchte Ando nach einer Erklärung für Jun‐ichiros merk‐ würdiges Verhalten. Wie sehr Ando auch darüber nachdachte, er war sich keiner Schuld bewusst. Als er die Diskette zurückgebracht hatte, hatte er auch einen höflichen Brief übergeben, in dem er seinen Dank zum Ausdruck brachte. Nein, er konnte sich nicht daran erinnern, Jun‐ichiro gegenüber unhöflich gewesen zu sein. Dessen Verhalten war ihm unerklärlich. Grübelnd verließ Ando mit Kimura die Launch.
Zu Hause ließ Ando sich zunächst ein heißes Bad ein. Als sein Sohn noch gelebt hatte, hatte er jeden Tag gebadet. Doch jetzt war er oft zu faul, für sich allein extra Wasser einzulassen, und duschte lieber. Nachdem Ando aus dem Bad gekommen war, pinnte er die mit dem Elektronenmikroskop aufgenommen Fotos des Ring‐Virus an die Wand, um sie aus der Distanz betrachten zu können. Da die mei‐ sten Wände seiner Wohnung mit Bücherregalen vollgestellt waren, blieb nur die freie Fläche über dem Bett. Sie erinnerte an eine große Leinwand. Als wären es Röntgenbilder, befestigte Ando Foto für Foto an der weißen Wand, erst die siebzehntausendfache Vergrößerung, dann die einundzwanzigtausendfache, schließlich die hunderttau‐ sendfache. Ohne den Blick abzuwenden, trat er ein paar Meter zurück. Die aufeinander hockenden Ring‐Viren erinnerten an eine Wendeltreppe. Konzentriert betrachtete Ando jedes Detail. Vielleicht entdeckte er ja etwas, das sie bisher übersehen hatten. Er knipste das Licht aus und ließ den Strahl der Taschenlampe über die Fotos gleiten. Es sah aus, als würde ein großes Virus über die wei‐ ße Wand kriechen. Bei der zweiundvierzigtausendfachen Vergröße‐ rung des fadenähnlichen Virus hielt er inne. Das war der Virustyp, der nur in Mais und Asakawas Blut in großer Anzahl vorkam. Die Autopsieergebnisse hatten gezeigt, dass Mais Herz einwandfrei funk‐ tioniert hatte — eine Verstopfung oder Verengung der Blutgefäße hatte nicht vorgelegen. Bei Asakawa hingegen hatte sich ein kleiner Knoten in einem der Herzkranzgefäße gebildet, der jedoch nicht für seinen Tod ausschlaggebend gewesen war. Dieser kleine Unterschied gab Ando Rätsel auf. Warum waren Mais Blutgefäße vollkommen in Ordnung?
Das fadenförmige Virus schien Mais Herzgefäße nicht attackiert zu haben. Bei allen anderen Personen, die das Video gesehen hatten, hatte es diesen Bereich befallen. Warum nicht auch bei Mai? War das von Bedeutung oder schlicht Zufall? Ando zermarterte sich den Kopf über diese Frage. Sie ließ ihn nicht los. Also noch mal von vorn ... Anhand seines Kalenders versuchte Ando noch einmal, Mais Aktivitäten von Ende November bis Anfang Dezember zu rekonstruieren. Erstmals war er ihr am 20. Oktober be‐ gegnet. Kurz vor Ryujis Autopsie hatte man sie ins Büro der Gerichts‐ medizin gerufen. Da sie sehr blass gewesen war, hatte er angenom‐ men, sie hätte gerade ihre Menstruation. Erneut betrachte er die Fotos an der Wand, fokussierte dann die hunderttausendfache Vergrößerung des fadenförmigen Virus. Was ging mir durch den Kopf, als ich es zum ersten Mal gesehen habe? Habe ich nicht gedacht, dass sich die Viren in Mais und Ryujis Blut sehr ähnlich sind? Der ovale Kopf, der fadenförmige, gewundene Schwanzanhang... Doch die Viren hatten Mais Herzkranzgefäße nicht attackiert, so viel stand fest. Was dann? Welchen Teil in ihrem Körper hat das Virus angegriffen? Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke. Aufgeregt schaute er noch einmal in seinen Kalender. Der 1. November ... An diesem Tag hatte Mai sich das Video angesehen — zwölf bis dreizehn Tage nach ihrer Menstruation. Ando trat näher an die Wand heran und betrachte das Ring‐Virus mit dem Schwanzanhang eingehend. Es sieht genauso aus wie ... Samenfäden! »Spermien!«, rief Ando entsetzt. Der Tag des Eisprungs! Zwar gab es geringfügige, individuelle Unterschiede, aber im All‐ gemeinen erfolgte der Eisprung um den vierzehnten Tag des Men‐ struationszyklus herum. Das Eibläschen platzte, und die reife Eizelle
trat aus den Eierstöcken, um vom Eileiter aufgenommen zu werden. Dort blieb sie höchstens vierundzwanzig Stunden. Wenn an dem Abend, als Mai sich das Video angeschaut hat, noch ein Ei im Eileiter war... Der Ring‐Virus hat seine Angriffsstrategie geändert — vom Herzkranzgefäß zum Eileiter! Andos Herz raste. Nach Atem ringend setzte er sich aufs Bett. Was er da herausgefunden zu haben glaubte, hatte ihn bis ins Mark erschüttert. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, dachte er noch einmal über seine Hypothese und die zeitlichen Zusammenhänge nach. Während Mai das Video gesehen hatte, ereignete sich vermutlich gerade der Eisprung. Ausgerechnet in den wenigen Stunden der Empfängnis‐ bereitschaft im Monat hatte sie vor dem Videorekorder gesessen. Ver‐ dammt noch mal, warum musstest du dir das Band unbedingt anschauen? Jetzt war Ando auch klar, warum Mai eine Ausnahme darstellte: Alle anderen weiblichen Frauen waren zu dem Zeitpunkt, als sie sich das Video angeschaut hatten, nicht fruchtbar gewesen. Und dann ... Der Gedanke ließ Ando die Haare zu Berge stehen. Ein eisiger Kälteschauer kroch seine Wirbelsäule hinunter. Und dann hatten sich mehrere hundert Millionen Ring‐Viren auf den Weg zur Eizelle gemacht. Eine Samenzelle drang in Mais Eizelle ein, die Zellkerne wanderten aufeinander zu, und schließlich ver‐ schmolz das Erbgut des Virus mit dem von Mai. Die Befruchtung fand statt. Trotz Evolution hatte das Virus seine Wesensmerkmale offensicht‐ lich beibehalten. Die Eizelle, in die es eingedrungen war, hatte sich innerhalb einer Woche zu einem kompletten Organismus entwickelt. Dann kam ein ... Etwas aus ihrem Körper. Deshalb waren bei der Autopsie von Mais Leiche auch Restspuren eines Geburtsvorgangs zu erkennen gewesen.
Aber was hatte Mai zur Welt gebracht? Andos zitterte am ganzen Leib. Plötzlich erinnerte er sich an die Berührung, die er in Mais Wohnung am Bein gespürt hatte. Irgendein mysteriöses Es ist dort gewesen! Ich habe es eindeutig am Bein gespürt. Irgendetwas sehr Kleines, das sich versteckt hatte. Ein winziges Lebewesen ... Vielleicht befand es sich noch im Wachstumsprozess. Ando hatte keine Ahnung. Nur eines stand fest: Es existierte. Ando bekam das Zittern nicht unter Kontrolle. Er zog sich wieder aus. Das Wasser in der Badewanne war noch nicht abgelaufen. Hektisch drehte er den Hahn auf und stellte achtzig Grad Celsius ein. Dann tauchte er tief in das heiße Wasser ein. Besorgt streckte er anschließend das Bein in die Luft und betrachtete es prüfend. Er berührte seine Haut vorsichtig. Äußerlich hatte sich nichts verändert. Doch das beruhigte ihn nicht. Rasch zog er das Bein an sich, setzte sich auf und umschloss die Knie mit den Armen. Die Fragen nahmen kein Ende. Er wusste zwar nun, was mit Mai geschehen war, aber Asakawa gab ihm noch immer Rätsel auf. Asakawa ist doch ein Mann! Hat er vielleicht trotzdem auch etwas geboren? Andos Kehle war wie ausgetrocknet.
Am Vormittag rief Miyashita an und fragte, ob sie nicht eine Spritz‐ tour mit dem Auto unternehmen wollten. Heute begannen die Feier‐ tage, und da Ando an solchen Tagen die Decke auf den Kopf fiel, nahm er das Angebot von Miyashita gern an. Aber er spürte, dass etwas faul war — Miyashitas Stimme klang seltsam, und er verhielt sich auch anders als sonst. Ando wurde das Gefühl nicht los, dass er ihm etwas verheimlichte. »Wo willst du denn hinfahren?«, fragte er. »Ich möchte, das du dich von etwas überzeugst«, antwortete Miya‐ shita nur. Sicherlich gab es einen triftigen Grund für diese Geheim‐ nistuerei, dachte Ando und bohrte nicht weiter nach. Spätestens im Auto würde er es schon erfahren. Kurze Zeit später stand Miyashita schon vor Andos Haustür. Nachdem sie losgefahren waren, startete Ando einen erneuten Versuch. »Nun sag endlich, wohin entführst du mich?« »Das wirst du schon sehen. Sei nicht so ungeduldig.« Miyashita hatte die Daisankeihin‐Schnellstraße verlassen und fuhr nun auf die Yokohama Shindo in Richtung Fuji‐san. Von einer Über‐ nachtung war nicht die Rede gewesen, also würde ihr Ziel nicht allzu weit entfernt liegen. Ando tippte auf Odawara oder Hakone. Falls Miyashita die Izu‐Halbinsel im Auge hatte, käme höchstens Atami oder Ito in Frage. Inzwischen hatte Ando Gefallen an der mysteriösen Fahrt gefunden. Kurz bevor die Straße einspurig wurde, ging es nicht mehr weiter. Unzählige Autos reihten sich aneinander, wie so oft an dieser Stelle. Heute war das Verkehrsaufkommen wegen der Feiertage besonders hoch. Ando packte die Gelegenheit beim Schopf und präsentierte Miyashita seine neueste Hypothese — dass Mai sich das Video in einem Moment angesehen hatte, in dem sie empfängnisbereit
gewesen war. Vermutlich habe das Ring‐Virus ursprünglich das Herz im Visier gehabt, dann aber aufgrund dieser Tatsache seine Strategie geändert und sich zu Mais Eileitern auf den Weg gemacht. Bevor sie in den Entlüftungsschacht gefallen sei, habe sie das Etwas zur Welt gebracht, dass innerhalb einer Woche in ihrem Körper zu einem kompletten Organismus herangewachsen sei. So lasse sich auch erklären, warum Mai keinen Slip anhatte, als man ihre Leiche fand. Miyashita hörte sich Andos Theorie geduldig an, während er kon‐ zentriert und geduldig auf die Fahrbahn schaute. Doch sein Gesichts‐ ausdruck und seine Fahrweise standen in einem gewaltigen Kontrast — abrupt scherte er aus und überholte den vorderen Wagen mit einem Affentempo. »Ich habe mir auch schon so was in der Richtung gedacht, als ich das in Mais Blut nachgewiesene Ring‐Virus unter dem Elektronenmikroskop sah.« Der Wagen hinter ihnen hupte, doch Miyashita ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Mir ging die Form des Virus nicht aus dem Kopf ... Die ganze Zeit habe ich überlegt, woran sie mich erinnert. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen — Samenfäden.« »So gingʹs mir auch.« »Nemoto hat das Gleiche gesagt.« »Dann hatten wir alle drei denselben Gedanken, nur keiner hat ihn ausgesprochen.« »Ich bin sowieso der Auffassung, dass man immer auf seine In‐ tuition vertrauen sollte.« Miyashita grinste verschmitzt. »He, pass doch auf. Du fährst wie ein Verrückter!« Während die Stoßstange des Wagens vor ihnen immer näher rückte, trat Ando fast ein Loch in den Boden. »Nun krieg dich mal wieder ein, du Angsthase. Ich passe schon auf, dass uns nicht das gleiche Schicksal widerfährt wie Asakawa«, ver‐ suchte Miyashita, die Geschwindigkeit drosselnd, Ando zu beruhi‐ gen. Doch diesem schlug das Herz bis zum Halse. Es hätte nicht viel
gefehlt, und Miyashita wäre dem Vordermann reingefahren. Angst‐ schweiß strömte Ando über das Gesicht. Irgendwie schien Miyashita kein Gefühl für den richtigen Abstand zu haben. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis er einen Unfall baute. »Da wir gerade bei Asakawa sind ... Mir ist immer noch ein Rätsel, warum er nicht an einem Herzanfall gestorben ist. Hast du eine Idee?« »Also, eines steht fest: Er ist definitiv ein Mann. An der Frucht‐ barkeit kann es also kaum gelegen haben.« »Aber ich wette mit dir, dass auch mit seinem Körper irgendetwas Merkwürdiges passiert ist.« »Vielleicht hat das Virus ja einen Ausgang gefunden.« »Einen Ausgang?« »Na ja, ich meine, einen anderen Weg, um besser zu gedeihen.« Nachdem sie die Hodogaya‐Umgehungsstraße hinter sich gelassen hatten, löste sich der Stau endlich auf. Miyashita fuhr fort: »Wir müssen Antworten finden.« Sein Gesichtsausdruck hatte sich mit einem Mal verdüstert. »Das versteht sich von selbst.« »Was hast du eigentlich über die Neujahrsfeiertage gemacht?«, wechselte Miyashita abrupt das Thema. »Nichts Besonderes ... vor dem Fernseher gehockt und mich zu Tode gelangweilt. Das Übliche ...« »Klingt nicht gerade aufregend. Wir sind zu einem kleinen, ab‐ gelegenen Fischerdorf in Süd‐Izu gefahren. Dort haben wir uns in einem gemütlichen Gasthaus einquartiert; ein Geheimtipp, findest du in keinem Reiseführer. Du fragst dich bestimmt, was uns in diese Einöde verschlagen hat. Ehrlich gesagt, habe ich mir einen kleinen Traum erfüllen wollen. Das Dorf war der Schauplatz in meinem Lieblingsroman. Es hieß, dass man dort Fata Morganen am Horizont
sehen könne.« Ando hatte keine Ahnung, wie die Geschichte ausgehen würde, und lauschte gespannt. »Mir ist bei diesem Ausflug erst richtig bewusst geworden, wie wichtig eine Familie ist. Tut mir Leid, wenn ich dir zu nahe trete ... Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich vom Tosen des Meeres aus dem Schlaf gerissen. Erschrocken schoss ich hoch. Mein erster Blick galt meiner Frau und Tochter, die aber friedlich geschlafen haben. In diesem Moment wurde mir klar, wie wertvoll eine Familie ist.« Ando wusste nur zu gut, was Miyashita meinte. An Neujahr mit der Familie in einem Fischerdorf in Süd‐Izu, wo man Fata Morganen sehen konnte ... Allein würde einen sicherlich die Einsamkeit auffres‐ sen, aber mit Frau und Kind hatte es sicherlich etwas Romantisches. Ando dachte an sein zerstörtes Leben. Doch Miyashita ließ ihm nicht viel Zeit zum Grübeln. »Findest du nicht auch, dass meine Frau ausgesprochen hübsch ist?« »Da muss ich dir zustimmen.« Bei diesen Worten dachte Ando allerdings nicht an Miyashitas Frau, sondern an das bezaubernde Gesicht seiner Exfrau, als er ihr zum ersten Mal begegnet war. »Ich bin zwar zugegebenermaßen ein Fettwanst und nicht der Hüb‐ scheste, aber sie akzeptiert mich, wie ich bin, es scheint sie nicht ein‐ mal zu stören. Ein wirklich besonderer Mensch! Hübsch, gutmütig, feinfühlig, gleichzeitig intelligent... An ihr gibt es nichts auszusetzen. Ich habe verdammtes Glück im Leben gehabt.« Miyashitas Frau war einige Zentimeter größer als er. Ihre feinen Gesichtszüge ähnelten denen einer berühmten, sehr beliebten Schau‐ spielerin. In der Tat — wenn man Miyashita neben ihr sah, verwun‐ derte es einen auf den ersten Blick schon, dass sie ihn geheiratet hatte. Andererseits war er keine schlechte Partie. Er hatte sehr gute Aussichten auf eine Professorenstelle an der Medizinischen Fakultät. »Deshalb will ich auch nicht sterben«, sagte Miyashita. »Manchmal
denke ich, dass ich diese Sache mit dem Virus viel zu leicht genom‐ men habe. Als würde ich mir einen spannenden Krimi ansehen.« Im Gegensatz zu Miyashita hatte Ando den Fall sehr ernst genom‐ men. Allerdings fühlte auch er sich wie ein unbeteiligter Beobachter des Geschehens. Er hatte sich stets mit dem Gedanken beruhigt, dass es ihn nicht erwischen konnte, egal, ob er den Fall nun löste oder nicht. Aber allmählich schwante ihm, dass dies vielleicht ein Riesen‐ irrtum war. »Geht mir genauso. Seit wann denkst du so?« »Seit Neujahr.« »Wegen eurem Urlaub in dem Fischerdorf?« »Ich konnte die Fata Morgana nicht sehen.« Ando runzelte die Stirn. Er verstand den Zusammenhang nicht. »Was hat die Fata Morgana damit zu tun?« »Bist du schon einmal zum Schauplatz eines Romans gefahren?« »Ja, nicht nur einmal.« »Und was hast du dabei empfunden?« »Nichts Besonderes. Worauf willst du hinaus?« »War die Realität anders, als du sie dir vorgestellt hattest?« »Wenn ich ehrlich sein soll, es war in den meisten Fällen eher ent‐ täuschend.« »Das heißt, die Szenerie im Roman war weit entfernt von der Realität?« »Ja, aber das ist doch nichts Besonderes. Die Welt sieht in einem Roman doch immer anders aus als in Wirklichkeit.« »Da magst du Recht haben. Mir ging es ähnlich. Meine Vorstellung von dem idyllischen Fischerdorf in Süd‐Izu und die Realität klafften weit auseinander! Ich konnte kaum Parallelen feststellen. Nicht mal die Fata Morgana war zu sehen.« Ando war sprachlos. War Miyashita so naiv? Wie kam er nur auf
die Idee zu glauben, dass zwischen Roman und tatsächlicher Welt keine Unterschiede bestanden? Eine Romanwelt, die Atmosphäre einer Szenerie wurde mit bestimmten stilistischen Mitteln zum Aus‐ druck gebracht. Doch Wörtern waren Grenzen gesetzt. Selbst wenn der Autor eine realitätsgetreue Abbildung beabsichtigte, würde nie ein exaktes Spiegelbild entstehen. Das gelang nur, wenn man Medien wie Fotografien oder Videofilme benutzte. »Andererseits, wenn ...« Miyashita drehte den Kopf zu Ando, so dass er dessen Gesicht fast berührt hätte. »He, schau auf die Straße! Dabei kannst du auch erzählen.« Ernst zeigte Ando auf die Straße. Das schien zu wirken. Miyashita wechselte auf die langsamere rechte Spur. »Weißt du noch, wann du den Ring‐Bericht gelesen hast?« Und ob ... Ando konnte sich sehr genau daran erinnern. Es war einen Tag, nachdem er sich die Diskette von Asakawas Bruder, Jun‐ ichiro, ausgeliehen hatte. »Klar weiß ich das noch. Es war am 19. November.« »Ich habe den Bericht nur einmal gelesen. Und du?« Auch auf Ando traf das zu. »Warum?« »Ich habe da so eine Ahnung ... Seltsamerweise kann ich mich auch heute noch an das kleinste Detail erinnern. Manchmal kommt mir aus heiterem Himmel eine bestimmte Szene oder ein Gesicht in den Sinn. Wie ein Foto, dass man ab und zu mal in die Hand nimmt.« Miyashita hatte Recht, die ›Ring‐Welt‹ war sehr visuell dargestellt, in Bildern geschrieben. Jede einzelne Szene blieb einem im Gedächt‐ nis hängen, als hätte sie sich an die Zellen des Lesers geheftet. Wenn jemand Ando gebeten hätte, diese oder jene Situation zu beschreiben, dann hätte es keine Sekunde gedauert, bis er sie aus dem Gedächtnis hervorgeholt hätte.
Aber was bedeutete das? Ando verstand nicht recht, worauf Miyashita hinauswollte, und schwieg. »Mir geht schon eine ganze Weile ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn die im Ring‐Bericht beschriebenen Landschaften und Gesichter keine Fiktion sind, sondern tatsächlich existieren?« Obwohl das, was Miyashita sagte, von größter Bedeutung sein konnte, strahlte er die gewohnte Ruhe aus. Ando dachte über diesen Punkt nach. Wenn nun tatsächlich die Ring‐Welt ein originalgetreues Abbild der Realität war, was bedeute‐ te das dann? War es überhaupt möglich? »Und wenn es so wäre ...«, stieß Ando heiser hervor. »Mir lässt das seit Tagen keine Ruhe. Ich muss der Sache auf den Grund gehen.« »Ah, jetzt verstehe ich ...« Endlich wusste Ando, wohin die Fahrt ging: zum ›Ring‐Schauplatz‹, also der Gegend von Süd‐Hakone bis Atami. Miyashita wollte sich die Landschaften ansehen und einen Eindruck davon machen, inwieweit die Ring‐Szenerie der Realität entsprach. Jetzt verstand Ando auch, warum Miyashita ihn dabei haben wollte. Vier Augen sahen bekanntermaßen mehr als zwei. »Warum konnte ich meine Klappe bloß nicht halten! Eigentlich wollte ich dir nichts sagen, bis wir da sind. Ich fürchte, dass du jetzt voreingenommen an die Sache herangehst.« »Mach dir da mal keine Sorgen.« »Warst du eigentlich schon mal in diesem Pazifikland in Süd‐ Hakone?«, erkundigte Miyashita sich. »Nein, und du?« »Ich habe den Namen im Ring‐Bericht zum ersten Mal gesehen.« Obwohl Ando noch nie dort gewesen war, sah er, wenn er die Au‐ gen schloss, das auf einem sanften Abhang liegende Blockhüttendorf deutlich vor sich. In der Hütte B‐4 hatte das Horrorszenario seinen
schrecklichen Anfang genommen, und in dem alten Brunnen darun‐ ter hatten sich der Hass der jungen Sadako Nakamura, die vor fünf‐ undzwanzig Jahren vergewaltigt und hier vergraben worden war, und der Hass des Pockenvirus auf die menschliche Intelligenz, die es ausgerottet hatte, vereint, um Jahre später mit furchtbarer Grausam‐ keit zurückzuschlagen. Und an diesen Ort des Schreckens fuhren sie jetzt ... Miyashita ließ den von Wolken verhangenen Hakano‐Berg rechts liegen und nahm die Manazuru‐Straße Richtung Atami. Laut Ring‐ Bericht erschien auf der Autobahn in Atami das erste Hinweisschild zum Pazifikland. Sie beschlossen, die darin beschriebene Route zu nehmen. Obwohl weder Ando noch Miyashita je in dieser Gegend gewesen geschweige denn diese Straße schon einmal gefahren waren, hatten sie das Gefühl, alles zu kennen. Kazuyuki Asakawa war vergangenes Jahr am Abend des 11. Oktobers hier gewesen. Jetzt war es kurz vor zwölf Uhr, die Sonne schien. Damals hingegen war das Wetter durch‐ wachsen gewesen. Während der Fahrt zum Pass hinauf war aus den dunklen Wolken plötzlich ein heftiger Regen gebrochen, und dicke Tropfen hatten gegen die Windschutzscheibe gehämmert. Asakawa hatte die Scheibenwischer auf die höchste Stufe gestellt — Ando erinnerte sich noch genau an diese Szene im Bericht. Obwohl Uhrzeit und Wetter nicht übereinstimmten, sah Ando die in Finsternis gehüllte, verregnete Landschaft von damals vor sich. Am Berghang tauchte plötzlich das Pazifikland‐Schild auf. Ando glaubte, es schon einmal gesehen zu haben: eine schlichte weiße Tafel mit schwarzen Buchstaben ... Ohne zu zögern, bog Miyashita nach links ab und fuhr zwischen terrassenförmig angelegten Feldern den Berg hoch. Angesichts der Tatsache, dass der Weg ziemlich schmal und holprig war, hätte man hier eher ein Niemandsland erwartet als ein
Ferienressort. Büsche säumten den Weg, und ausladende Zweige streiften den Wagen. Das unangenehme, kratzende Geräusch verur‐ sachte eine Gänsehaut bei Ando. Nach einer Weile sah er hier und da Sommerhäuser am Straßenrand. Straßenlaternen tauchten auf. Auch die Asphaltdecke wurde plötzlich besser. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto vertrauter schien Ando die Szenerie zu sein. »Hast du auch das Gefühl, ein Déjà‐vu zu haben?«, fragte er leise. »Das wollte ich dich auch gerade fragen.« Miyashita hatte also dasselbe empfunden ... Schon oft hatte Ando ein Déjà‐vu‐Erlebnis gehabt, doch nicht von einer derartigen Intensi‐ tät und Dauer. Das starke Gefühl des Vertrautseins, des Wiederer‐ kennens hatte fast etwas Unheimliches an sich. Obwohl sie das Pla‐ teau noch nicht erreicht hatten, konnte Ando schon das Informations‐ zentrum vor seinen Augen sehen: ein modernes zweistöckiges Ge‐ bäude mit schwarzer Glasfassade. Mit halboffenen Mund starrte Ando ungläubig auf den Komplex, als sie den großzügigen Parkplatz erreichten. Er entsprach exakt dem Bild in seiner Fantasie. Selbst das im Informationszentrum beherberg‐ te Restaurant — alles kam ihm vollkommen vertraut vor. Wenn es nach ihm ginge, könnten sie gleich wieder heimfahren: Die im Bericht beschriebene Landschaft war ein wahrheitsgetreues Abbild der Realität.
Sie verließen das Pazifikland und fuhren die Manzuru‐Straße am Meer entlang in Richtung Odawara. Der Anblick des Ferienressorts spukte noch in ihren Köpfen herum. Ab und zu wechselten sie ein paar Worte, doch nach wenigen Minuten versiegte das Gespräch wie‐ der. Ein beklemmendes Schweigen legte sich über sie. Beide hingen ihren Gedanken nach. Die Schönheit des weiten, klaren Meeres nahmen sie nicht wahr. Vor Andos Augen erschien immer wieder das Bild des alten Brunnens unter B‐4, und er glaubte sogar den feuchten, nach Fäulnis stinkenden Geruch wahrzunehmen. Gleichzeitig sah er das markante Gesicht eines Mannes.
Abgesehen von Informationszentrum und Restaurant lagen die ver‐ schiedenen Einrichtungen des Pazifiklandes auf einem sanft abfallen‐ den Hang: Tennisplatz, Schwimmbad, Sportklub, private Ferien‐ häuser ... Auch die Blockhütten fügten sich idyllisch in dieses Bild. Blickte man über das Tal, sah man die Dächer der Gewächshäuser golden in der Nachmittagssonne schimmern. Ando und Miyashita hatten das Gefühl gehabt, als würden sie sehr oft hierherkommen. Aufgeregt hatten sie die Hütte B‐4 gesucht. Da war sie! Der Ort des Grauens ... Zaghaft berührte Miyashita den Türknopf, doch wie er‐ wartet war abgesperrt. Auf allen Vieren kniend warfen sie einen Blick unter die Terrasse. Zwischen den Pfeilern, die die Hütte abstützten, war ein Sockelbrett herausgerissen. Das war sicher das Werk Ryujis. Um unter die Terrasse kriechen zu können, hatte er das Brett entfernt. Dann hatten Asakawa und Ryuji mit ganzer Kraft den Zementdeckel weggeschoben und waren an einem Seil abwechselnd in den übel riechenden, finsteren Brunnen hinuntergeklettert, um die Knochen Sadako Yamamuras aus dem Schlamm zu ziehen. Allein die Vor‐
stellung ließ Ando die Haare zu Berge stehen. Miyashita holte eine Taschenlampe aus dem Wagen. Keuchend schob er sie durch die Öffnung und leuchtete damit unter der Hütte herum. Mit zusammengekniffenen Augen folgten beide dem Licht‐ strahl. Da war etwas! In Richtung der westlich gelegenen Wand des Unterbaus erkannten sie einen schwarzen Hügel. Ein Haufen Steine ... Offenbar hatten sie einmal die Mauer des Brunnens gebildet. Daneben lag ein Deckel aus Zement. Exakt wie in Asakawas Ring‐ Bericht! Ando zwängte sich durch die schmale Öffnung und kroch bis zum Brunnen vor. Doch er brachte es nicht fertig hineinzuschauen, genau wie er in den Entlüftungsschacht, Mais Grab, nicht hatte hinein‐ blicken können. Die Lage aus sicherer Distanz zu überprüfen war das Höchste der Gefühle, mehr ging nicht. Dazu fehlte ihm der Mut. Hier, in diesem finsteren Loch, auf den kleinen runden Ausschnitt des Himmels starrend, hatte Sadako die letzten qualvollen Tage ihres jun‐ gen Lebens verbracht. Auch Mai war elend in einem dunklen Loch gestorben, voller Hoffnung auf den Himmel blickend ... Der Brunnen hatte hinter einem verwaisten Bauernhaus gelegen, etwas abseits des Sanatoriums. Das alte Gebäude, auf dessen Dach Mai gestiegen war, befand sich nahe des Hafens. Erst jetzt wurde Ando die Analogie zwischen den Orten, an denen Sadako und Mai gestorben waren, be‐ wusst — hier ein tiefer, dunkler Brunnen im Wald, moosbeschichtete Wände, dort ein tiefer, dunkler Schacht, der Algengeruch des Meeres ... Andos Herz raste. Die kalte, lehmige Erde klebte an seinen Knien und Ellenbogen, und ein kühler, faul riechender Geruch schien ihn mit eisigem Griff zu umklammern. Unbewusst hielt er den Atem an. Alles, was er wollte, war, so schnell wie möglich wieder ans Tages‐ licht zu kommen. Doch nun zwängte sich auch Miyashita mit seinem dicken Bauch durch die Öffnung. Ando konnte es nicht fassen. Miyashita hatte
doch wohl nicht allen Ernstes vor, bis zum Brunnen zu kriechen? Wütend versuchte er ihn von seinem Vorhaben abzubringen. »Das reicht!« Abrupt hielt Miyashita in einer grotesken Stellung inne und überlegte. »Hast wohl Recht«, sagte er schließlich und kroch rück‐ wärts. Nachdem sie unter der Terrasse hervorgekrochen waren, fühlten sich beide befreit und erlöst. Sie holten tief Luft, Worte waren nicht nötig. Die im Bericht beschriebene Szenerie stimmte erschreckend genau mit der Realität überein. Dennoch war Miyashita nicht zufrieden. Sie hatten zwar jetzt den Beweis, dass die Landschaft nicht fiktiv war, aber was war mit den Gesichtern der beschriebenen Personen? »Da wir schon mal in der Gegend sind, sollten wir auch Dr. Nagao einen Besuch abstatten«, schlug er vor. Dr. Nagao. Zwar war Ando der Namen entfallen, aber er konnte sich noch genau an das Gesicht des Mannes erinnern — beziehungsweise er hatte eine konkrete Vorstellung davon, denn er hatte es ja noch nie gesehen. Das Bild in seinem Kopf war durch die Lektüre des Asaka‐ wa‐Berichts entstanden: kahlköpfig, siebenundfünfzig Jahre alt, ein sehr ebenmäßiges, frisches Gesicht... Alles in allem ein kluger Kopf, was sich auch in seiner Redensart widerspiegelte. Bis das Pazifikland vor zwanzig Jahren erbaut worden war, hatte es auf dem Grundstück ein Sanatorium für Tuberkulosekranke gegeben. Nagao, Arzt für Innere Medizin und Kinderheilkunde mit einer eige‐ nen Klinik in Atami, hatte in dieser Einrichtung ein paar Jahre lang gearbeitet. Sadako Yamamura war oft ins Sanatorium gekommen, um ihren kranken Vater zu besuchen. Von einer zügellosen Begierde getrieben, hatte Nagao Sadako vergewaltigt und ihren Körper in den Brunnen geworfen. Er war der letzte Japaner, der sich mit Pocken infiziert hatte.
Im Ring‐Bericht stand: Das kleine, einstöckige Haus lag nicht weit vom Kinomiya‐Bahnhof entfernt. Auf einem Schild an der Tür stand: ›Klinik Nagao, Innere Medizin und Kinderheilkunde‹. Ryuji hatte Nagao intensiv in die Mangel genommen und aus ihm die dunkle Vergangenheit herausgequetscht. Nun wollte sich Miya‐ shita unbedingt einen Eindruck von diesem Mann verschaffen, vor al‐ lem aber sein Gesicht sehen. Deshalb befanden sie sich jetzt auf dem Weg nach Atami. Miyashita parkte unmittelbar vor dem Krankenhaus. So ein Mist! Die Klinik war offenbar geschlossen. Die Vorhänge waren zugezo‐ gen, die Tür verriegelt. Nach einer vorübergehenden Schließung we‐ gen Hausbesuchen sah es allerdings nicht aus. Alles deutete darauf hin, dass hier schon länger niemand mehr gewesen war. Das Gebäu‐ de wirkte verwaist, an der Dachrinne hingen Spinnweben, vor dem Eingang hatte sich Sand angehäuft, den der Wind hergetragen hatte. Entweder waren Betriebsferien, oder Nagao hatte die Praxis inzwi‐ schen aufgegeben. Hier würden sie ihn wohl nicht finden. Als sie enttäuscht zum Auto zurückgingen, bemerkte Miyashita eine junge Frau, etwa dreißig Jahre alt die den schmalen Pfad vom Atami‐Krankenhaus herunterkam. Sie schob einen Rollstuhl, in dem ein kahlköpfiger alter Mann kauerte. Die ausdruckslosen Augen starrten ins Leere. Es war unschwer zu erkennen, dass er psychisch gestört war. Miyashita und Ando entfuhren überraschte Rufe. Sie sahen sich an. Dies war ohne Zweifel das im Ring‐Bericht beschriebene Gesicht. Der Mann vor ihnen hatte zwar stark abgebaut, aber beiden war sofort klar, dass es nur Nagao sein konnte. Innerhalb von drei Monaten schien er um zwanzig Jahre gealtert zu sein. Miyashita ging auf die Frau und den Mann im Rollstuhl zu. »Dr. Nagao?« Der Alte zeigte keine Reaktion. Die Frau, vermutlich seine Tochter,
hob den Kopf, als sie Miyashitas Worte vernahm. Beide verbeugten sich leicht. »Wie ist sein Befinden? Hat er sich wieder etwas erholt?« Miyashita tat so, als würde er Nagao von früher kennen. »Ja, er ist allmählich auf dem Weg der Besserung«, antwortete sie knapp und ging weiter. Letztes Jahr im Oktober hatten Asakawa und Ryuji Nagao einen Besuch abgestattet und ein Geständnis aus ihm herausgepresst. Vermutlich hatte er dabei einen Schock erlitten, von dem er sich wohl nie wieder ganz erholen würde. Die Frau ging mit dem Rollstuhl an der Klinik vorbei und bog einige Meter danach auf einen kleinen Weg ab. Ando und Miyashita schoss derselbe Gedanke durch den Kopf, während sie der be‐ dauernswerten, im Rollstuhl sitzenden Gestalt nachsahen. Unfassbar! Nicht der körperliche und psychische Verfall versetzte sie in Erstau‐ nen, sondern die Tatsache, dass sie auf den ersten Blick gewusst hatten: Das ist Nagao. Damit hatten sie den Beweis: Im Ring‐Bericht waren nicht nur die geografischen Begebenheiten, sondern auch die Gesichter exakt festgehalten. Zufrieden machten sie sich auf den Heimweg. Ando musterte Miyashita von der Seite. Er wirkte erschöpft. Sie waren früh aufge‐ brochen, und er war die ganze Zeit gefahren. »Setz mich in Odawara ab«, sagte Ando. Stirnrunzelnd blickte Miyashita ihn an. »Warum das? Ich fahre dich selbstverständlich nach Hause.« »Das wäre aber ein riesiger Umweg für dich. Von Odawara kann ich bequem mit dem Schnellzug nach Hause fahren. Das ist über‐ haupt kein Problem, wirklich.« Miyashita wohnte in Tsunami, Ando in Yoyogi; das hätte einen Umweg von einigen Kilometern bedeutet. »Also gut, wenn du darauf besteht, dann lasse ich dich eben in Odawara raus.« Erleichterung zeichnete sich auf Miyashitas Gesicht ab. Zwar wollte
er seine Erschöpfung vor Ando nicht eingestehen, aber die ganze Fahrerei hatte ihn sehr müde gemacht. Ihm fiel es nur schwer, ›danke‹ zu sagen — ein typischer Charakterzug von Miyashita. Er zeigte ungern Gefühle. Kurz bevor sie den Bahnhof erreichten, sagte Miyashita mit ge‐ dämpfter Stimme: »Wenn die Feiertage vorbei sind, sollten wir uns einer Blutuntersuchung unterziehen.« Ando war sofort klar, worauf Miyashita anspielte. Ihm war derselbe Gedanke gekommen — dass der Beobachter zu einer Figur im tödli‐ chen Spiel geworden war. Beide hatten das Gefühl, dass ihnen diese Rolle zukam. Zwar war das teuflische Video ausgerottet worden, und sie hatten es sich nicht angesehen, aber ihre innere Stimme sagte ihnen, dass sie sich deshalb noch lange nicht in Sicherheit wähnen konnten. Beweise hatten sie nicht, dafür eine Vermutung: Im Ring‐ Bericht waren, ähnlich wie in einem Videofilm, bestimmte Bilder originalgetreu wiedergegeben, und das hieß vielleicht, dass allen, die ihn lasen, ein ähnliches Schicksal drohte wie denen, die das Video gesehen hatten. Ando ging der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, dass ein Fremd‐ körper in seinen Organismus eingedrungen sein könnte. Allein die Vorstellung, dass dieses Ekel erregende, abscheuliche Virus, das er noch vor ein paar Tagen unter dem Mikroskop gesehen hatte, durch seine Blutbahnen schoss ... Miyashita schien es ähnlich zu gehen. Ando war, abgesehen vom Verfasser, Kazuyuki Asakawa, der erste Mensch gewesen, der den Ring‐Bericht gelesen hatte, und zwar am 19. November. Das war vor zwei Monaten gewesen. Bis jetzt konnte er keine körperlichen Veränderungen feststellen. Aber wer weiß, viel‐ leicht ist die Frist nur länger. Die Mutation des Virus konnte durchaus zu einer anderen Inkubationszeit geführt haben. Womöglich war er auch ein Träger des Erregers, der so lange in ihm schlummerte, bis jemand oder etwas ihn aktivierte.
Wie Miyashita gesagt hatte, sie mussten ihr Blut unbedingt auf das Virus testen lassen. »Was machen wir bloß, wenn wir infiziert sind?«, stieß Ando verzweifelt hervor. »Na, bestimmt nicht herumsitzen und Däumchen drehen, bis unse‐ re letzte Stunde geschlagen hat ... Dann müssen wir eben einen Weg aus der Katastrophe finden. Was bleibt uns sonst?« Sie erreichten den Bahnhofsvorplatz. Ando stieg aus, winkte Miya‐ shita kurz zu und ging dann in die Bahnhofshalle. Verflucht, wie konn‐ te das nur passieren! Ich wurde doch in die Sache hineingezogen, ohne es zu wollen! Zum ersten Mal verstand Ando, wie Asakawa sich gefühlt haben musste. Darüber hinaus ähnelten sich die Konstellationen Asaka‐ wa/Ryuji und Ando/Miyashita. Er nahm wohl den Part Asakawas und Miyashita den Ryujis ein. Andos Gesichtsmuskeln zuckten. Beide waren gestorben. Ryujis Leiche hatte er selbst seziert. Erschöpft ließ er sich auf die Bank am Bahnsteig fallen. In diesem Moment spürte er eine eisige Kälte im Rücken. So fühlt es sich bestimmt an, wenn man als Leiche splitternackt auf dem Seziertisch liegt ... Wenn er doch nur wüsste, ob auch er mit dem Virus infiziert war! Ungewissheit war oft qualvoller als die Wahrheit, selbst wenn diese noch so grausam war. Die Unwissenheit nagte an einem und führte zu absoluter Verzweiflung. Ando tappte im Dunkeln, er wusste nicht, ob er sich infiziert hatte. Doch für ihn gab es immer einen Fluchtweg, eine Möglichkeit, sich der Last zu entledigen: das Bewusstsein, dass sein Leben sowieso nichts wert war. Er musste sich nur den Tod seines Kindes vor Augen führen. Diese Reue ... Wenn er sich ausrei‐ chend hineinsteigerte, konnte er das Leben sofort loslassen, ohne ihm auch nur eine Träne nachzuweinen.
Gedankenverloren blickte Ando aus dem Zugfenster. Normaler‐ weise las er in einem Buch, doch heute hatte er keines dabei. Plötzlich überfiel ihn eine lähmende Müdigkeit. Ohne dagegen anzukämpfen, schloss er die Augen. Kurz darauf fuhr er wie vom Blitz getroffen hoch. Kreideweiß blickte er sich um. Sein Herz raste. Wo bin ich? Als er die Füße aus‐ streckte und damit gegen den Sitz vor ihm stieß, zuckte er er‐ schrocken zusammen. Im selben Moment drang das Klingeln der Bahnschranken an sein Ohr. Beruhigt atmete er auf. Ich bin im Zug. Langsam kam er zu sich. Er erinnerte sich, dass er vor zwei Stunden in Odawara in den Schnellzug gestiegen war. Die Fahrt nach Süd‐Ha‐ kone schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Nur der Anblick des Ferien‐ ressorts und das Gesicht Nagaos standen ihm noch deutlich vor Augen. Mit beiden Händen fuhr Ando sich über das Gesicht. Dann blickte er wieder nach draußen. Die abendliche Stadt zog langsam an ihm vorbei. Da sie bereits im Zentrum von Shinjuku waren, fuhr der Zug nur noch mit halber Geschwindigkeit. Erneut ertönte das Klingen der Bahnschranken. Ando warf einen kurzen Blick auf den Stations‐ namen. Yoyogi Hashiman. Das war eine Station vor Sangubashi, wo er wohnte. Leider hielt der Schnellzug dort nicht. Er musste bis Shinjuku fahren, dort umsteigen und die zwei Stationen wieder zurückfahren. Ab Yoyogi Hashiman verlief die Odakyu‐Linie parallel zum dunkelgrünen Yoyogi‐Park. Langsam fuhren sie durch Sangubashi. Gelangweilt beobachtete Ando das Treiben auf dem Bahnsteig. Plötzlich fuhr er wie von der Tarantel gestochen hoch. Er presste das Gesicht an die Fensterscheibe. Nein, er hatte sich nicht verguckt.
Da stand sie, in einem dünnen Blazer, die Augen auf den vorbeifah‐ renden Schnellzug gerichtet. Für den Bruchteil einer Sekunde kreuz‐ ten sich ihre Blicke. Aller guten Dinge sind drei ... Das erste Mal war Ando der schönen Unbekannten in Mais Apartmenthaus am Fahrstuhl begegnet. Auch das nächste Treffen war eine Fahrstuhl‐Begegnung — im obersten Stockwerk des Gebäudes, in dem Mais Leiche gefunden worden war. In Shinjuku stieg Ando in den Regionalzug um und fuhr die zwei Stationen nach Sangubashi zurück. Inzwischen waren zehn Minuten vergangen, seit er die mysteriöse junge Frau gesehen hatte. Ob sie wohl noch da war? Ungeduldig wartete er auf dem Bahnsteig. Die Sicht war ihm durch die beiden Züge auf seiner und auf der gegen‐ überliegenden Seite versperrt. Menschenmassen schoben sich an ihm vorbei. Irgendwie hatte Ando das Gefühl, dass die hübsche Frau sich in den letzten Minuten nicht vom Fleck gerührt hatte ... Endlich ertönte das Abfahrtssignal. Die Züge fuhren aus dem Bahnhof, der ›Vorhang‹ öffnete sich. Unfassbar! Sie stand tatsächlich noch da. Erneut ruhten ihre Augen auf Ando, als wollte sie ihm ein Zeichen geben. Ando nickte ihr zu. Langsam ging er in Richtung Ausgang. Sie passte sich seinem Schritt an und ging ebenfalls die Treppe hinunter. Vor den Gates tra‐ fen sie schließlich aufeinander. »Jetzt sind wir uns wieder begegnet«, sagte sie in einem Ton, als wäre es reiner Zufall. Doch als Zufall konnte Ando das weiß Gott nicht deuten. Vielleicht wusste sie, dass ich den Schnellzug nehmen und an der Sangubashi‐Station vorbeifahren würde ... Aber woher hätte sie das wissen sollen? Dennoch wurde Ando das Gefühl nicht los, dass sie auf ihn gewartet hatte. Wie dem auch sei, er konnte sich ihrer Attraktivität nicht wider‐ setzen, war ihr auf eine merkwürdige Weise verfallen. Gemeinsam passierten sie die Schranken und schlenderten die Geschäftsstraße
entlang.
Kaum hatte Ando die Augen aufgeschlagen, als ihn die Frau neben ihm im Bett auch schon fragte, ob sie heute nicht gemeinsam in einen Film gehen wollten, der letzte Woche im Kino angelaufen war. Natür‐ lich erfüllte er ihr diesen Wunsch. Entgegen aller Erwartungen war das Kino trotz des Feiertages nicht voll. Vielleicht lag es daran, dass es noch recht früh am Tag war — sie waren in die erste Vorstellung gegangen. Manchmal wunderte Ando sich über das merkwürdige Verhalten seiner neuen Flamme. Jetzt war wieder so ein Fall. Auf dem Weg zum Kino hatte sie sich noch an ihn geschmiegt; wie ein glückliches Pär‐ chen waren sie durch die Straßen gelaufen. Doch sobald sie das Kino betreten hatten, riss sie sich los und benahm sich plötzlich distanziert. Seltsam war vor allem, dass sie sich nicht direkt neben ihn setzen wollte, sondern einen Platz zwischen ihnen frei ließ. Das Kino war mit großen, bequemen Sesseln ausgestattet, die Gefahr, unangenehm dicht aufeinander zu hocken, bestand also nicht. Ando war ihr Ver‐ halten absolut unerklärlich. Wenn er es sich recht überlegte, war die Liste mit Merkwürdigkeiten schier endlos. Eigentlich kannte er diese Frau so gut wie gar nicht. Er wusste nur, dass sie Mais ältere Schwe‐ ster war und Masako hieß. Obwohl Ando auf die Leinwand starrte, bekam er von dem Spiel‐ film so gut wie nichts mit. Seine Gedanken waren woanders. Er über‐ legte, wie gestern alles angefangen hatte. An alle Details konnte er sich nicht mehr erinnern. Begegnet war er Masako abends an der San‐ gubashi‐Station. Aber wie sie zu ihm nach Hause gekommen war, wusste er nicht mehr. Im Gedächtnis war ihm noch, dass sie zuerst in eine kleine Kneipe gegangen waren. Beim Bier hatte er sie nach ihrem Namen gefragt.
»Masako Takano. Ich bin Mais Schwester«, hatte sie geantwortet. Masako war zwei Jahre älter als Mai, hatte ihr Studium an einer Frauenuniversität in Tokio absolviert und arbeitete momentan für ein Wertpapierhaus. Das war aber auch schon so ziemlich alles, was Ando von ihrem Gespräch noch wusste. Normalerweise hatte er so einen Filmriss nur, wenn er zu tief ins Glas geguckt hatte, aber das war gestern nicht der Fall gewesen. Doch warum waren seine Erinne‐ rungen dann nur noch fragmentartig vorhanden? Zum Beispiel wuss‐ te er auch nicht mehr, von wem die Initiative ausgegangen war, gemeinsam zu ihm zu gehen. Was bei ihm zu Hause geschehen war, konnte er sich hingegen noch deutlich in Erinnerung rufen. Zunächst hatte Masako eine Du‐ sche genommen, während er auf dem Bett saß und auf sie wartete. Duftend wie ein Blume kam sie aus dem Bad. Sie knipste das Licht aus und legte sich in der absoluten Finsternis sanft mit ihrem wie‐ chen, nackten Körper auf ihn. Mit einer Hand das nasse Haar fest hal‐ tend, legte sie ihren rechten Arm um Andos Hals und begann keu‐ chend, sich rhythmisch auf‐ und abzubewegen. Er spürte ihre zarte Haut auf seinem Gesicht, so dass ihm das Atmen schwer fiel. Leidenschaftlich umschloss er ihren schmalen Körper mit beiden Armen. Seit eineinhalb Jahren war er das erste Mal wieder mit einer Frau intim gewesen. Sie hatte ihn unglaublich elektrisiert — drei Orgas‐ men hatte er gestern Abend gehabt. Das war schon eine beachtliche Leistung für einen Mann von fünfunddreißig Jahren. Sie strahlte ei‐ nen besonderen, erotischen Reiz aus. Aber sie hatten sich in absoluter Dunkelheit geliebt. Auch wenn Masako ausgesprochen attraktiv war, konnte er ihren Körper nicht mit den Augen bewundern. Es war schon verrückt. So etwas hatte er bisher noch nie erlebt. Masako hatte nicht nur das Licht ausgemacht, sondern alles, was irgendwie leuch‐ tete — wie das Ziffernblatt des Weckers —, mit einem Handtuch abdeckt.
Ando beobachte Masako aus dem Augenwinkel. Ihre Schönheit wurde durch die Dunkelheit im Kinosaal noch untermalt. Ab und zu schloss sie die Augen. Aber nicht, weil sie müde war. Sie bewegte den Mund — offensichtlich sprach sie zu sich selbst. Ando versuchte, ein Wort aufzuschnappen, doch er konnte nicht verstehen, was sie murmelte. Als er wieder auf die Leinwand blickte, verstand er: Masako wiederholte die Worte der Hauptdarstellerin. In dem Film ging es um die junge, drogenabhängige, wegen Polizistenmordes zu lebenslanger Haft verurteilte Nikita, die das Angebot erhielt, für die Regierung als Spezialagentin zu arbeiten. Sie willigte ein und verließ nach einer gnadenlosen Ausbildung das Gefängnis. Gerade führte sie ihren ersten Mordauftrag in einem vollbesetzten Nobelrestaurant aus. Sie trug einen schwarzen Overall, in ihrer Handtasche eine große Pistole und sprach kurze Dialoge. Erneut blickte Ando zu Masako. In diesem Moment vermischten sich die Stimmen von Nikita und Masako. Zwar lief der Film auf Französisch, doch fast zeitgleich kamen die japanischen Wörter aus ihrem Mund gesprudelt. Manchmal war sie sogar schneller als die Untertitel. Offensichtlich hatte sie den Film schon mehrmals gesehen. Auf einen Schlag hörte Masako auf zu sprechen und schlüpfte aus der Rolle Nikitas. Offenbar hatte sie Andos Blicke gespürt. Den Rest des Films verfolgte sie schweigend. Als sie aus dem Kino traten, kniff Masako, ein Gähnen unter‐ drückend, beide Augen zusammen und hängte sich bei Ando ein. Es war ein schöner, sonniger Wintertag. Ando verspürte das Verlangen, ihre Haut zu berühren. Er löste sich aus der Umarmung und nahm ihre Hand. Sie war eiskalt, aber schon nach kurzer Zeit passte sich ihre Temperatur an die seiner Hand an. Da heute der ›Tag der Mündigkeitserklärung‹ war, kamen ihnen unterwegs viele Mädchen mit hübschen Kimonos entgegen. Ando
und Masako machten einen ausgedehnten Spaziergang vom Yura‐ kusho bis zur Ginza. Neugierig bestaunte Masako die Geschäfte und Kaufhäuser auf der Prachteinkaufsstraße. Manchmal stieß sie sogar einen Seufzer aus. Zwar sprachen sie nicht viel, aber sie verstanden sich gut. Glücklich genoss Ando den Bummel mit ihr über die Ginza. Vor einem Hamburgerrestaurant an einer Ecke blieb Masako stehen. Konzentriert blickte sie auf das Plakat mit den Menüs. Dabei wirkte sie wie ein Teenager. »Möchtest du hier essen?«, fragte Ando. »Ja, sehr gern.« Ando betrat das Lokal, Masako folgte ihm. Sie hatte einen ausgezeichneten Appetit. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie zwei Hamburger mit Pommes verdrückt. Wieder blickte sie auf die Plakate. Nachdem Ando sie eine Weile beobachtet hatte, frag‐ te er, ob sie noch etwas wolle. Eis! Sie schien es in vollen Zügen zu genießen, aß aber langsam. Dabei kleckerte sie auf ihre Nylon‐ strümpfe — ein weißer Fleck mit Erdbeerstückchen krönte ihr Knie. Masako streckte den Zeigfinger aus, wischt das Eis weg und steckte den Finger genüsslich in den Mund. Dann zog sie das Bein dicht an ihren Körper heran und leckte den Rest mit der Zunge ab, wobei sie verführerisch zu Ando aufschaute. Ihre Augen funkelten herausfor‐ dernd. Ando hielt ihrem Blick stand. Nachdem sie alles säuberlich ab‐ geschleckt hatte, richtete sie sich wieder auf. In dem Strumpf prangte ein kleines Loch — vermutlich hatte sie es mit den Zähnen verursacht. Erst heute Morgen hatte Ando ihr die Nylons geschenkt. Er hatte es nicht länger mit ansehen können, dass sie bei dieser Kälte mit nackten Beinen herumlief. Bevor sie losgefahren waren, hatte er sie in einem kleinen Laden nahe der U‐Bahn‐Station erstanden. Masako hatte sie in einer Toilette angezogen. Das kleine Loch in der Strumpfhose ließ Masako keine Ruhe. Immer
wieder strich sie mit ihren schmalen Fingern darüber. Ando konnte sich an diesem Anblick nicht satt sehen. Diese rätse‐ lhafte Frau macht mich ganz verrückt. Sie zieht mich voll und ganz in ihren Bann. Aber vielleicht war er ja nicht ihrem Charme erlegen, sondern ein‐ fach nur zutiefst verzweifelt. Vermutlich trug er das gefährliche Virus in sich, und es begann, allmählich seine Zellen zu attackieren. Warum musste er seine Nase auch nur in alles hineinstecken? Hätte ihn doch seine Wissbegier nicht so weit getrieben ... vielleicht hätte er dann den Ring‐Bericht nie gelesen. Wenn man in Todesangst war, klam‐ merte man sich an einen anderen Menschen. Wahrscheinlich konnte er deshalb von Masako nicht genug bekommen. Er wollte seine letz‐ ten Stunden wenigstens in vollen Zügen genießen. Während seiner Studienzeit hatte er einen sehr interessanten Roman gelesen. Die Handlung spielte in einem kleinen Bergdorf. Die Protagonistin ähnelte in gewisser Weise Masako. Sie war eine Frau von atemberaubender Schönheit, hatte aber eine merkwürdige Art zu sprechen und verhielt sich ungewöhnlich. Deshalb hatten sie die Menschen im Dorf als verrückt bezeichnet und vertrieben. Ohne Dach über dem Kopf zog sie durch die Wälder, wurde schließlich das Spielzeug von lüsternen, liebestollen Männern, die keine Frau hatten. Durch das Leben im Wald entwickelte sie eine besonders erotische, fast animalische Ausstrahlung. Ando hatte immer gedacht, dass eine solche Frau in einer Stadt nie zu finden wäre. Und nun saß mitten in Tokio eine vor ihm ... Masako umgab etwas Mysteriöses, Undurchdringliches, und zugleich war sie atemberaubend schön und sinnlich — wenn auch natürlich keine Wilde. Ando ging die Schlussszene des Romans durch den Kopf. Die schö‐ ne Wilde brachte mitten in den Bergen allein ein Kind zur Welt. Der erste Schrei des Neugeborenen hallte lange in ihm nach ...
Das darf auf gar keinen Fall passieren. Er dachte an den vergangenen Abend. Seine sexuelle Erregung war so groß gewesen, dass er vollkommen den Verstand verloren zu haben schien. Sich der Ekstase hingebend, war er überhaupt nicht auf die Idee gekommen, ein Verhütungsmittel zu benutzen. Noch immer bohrte Masako mit ihrem Finger in dem Loch in der Strumpfhose und vergrößerte es dadurch. Ihre strahlend weiße Haut schimmerte durch. Das Loch wuchs und wuchs. Sanft legte Ando eine Hand auf ihr Knie. »Ich habe vorhin im Kino gesehen, dass du die Sätze der Hauptdarstellerin nachgesprochen hast. Warum hast du das getan?« Statt zu antworten, sagte sie: »Bitte lass uns in eine Buchhandlung gehen.« So war es immer. Bewusst wich sie Andos Fragen aus, indem sie das Gespräch auf ein anderes Thema lenkte. Lediglich ihr Begehren brachte sie offen zum Ausdruck. Gefangen von Masakos Charme konnte Ando ihr jedoch keinen Wunsch ausschlagen. Sie gingen in die größte Buchhandlung auf der Ginza. Über eine Stunde las Masako hier und dort im Stehen. Ando schlenderte zwi‐ schen den Regalen herum, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. Zufäl‐ lig entdeckte er neben der Kasse den Katalog des S‐Shogo Verlags, in dem die Neuerscheinungen des Monats angeboten wurden. Er nahm eines der kostenlosen Exemplare. Vielleicht ist ja auch Ryujis Buch in der Liste aufgeführt, dachte er. Aufmerksam blätterte er Seite für Seite durch. Doch bevor er den Namen Ryujis finden konnte, zerrte Masako ihn aus der Buch‐ handlung. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mir gern noch einen Kino‐ film ansehen.« Ihre Worte klangen zwar wie eine höfliche Bitte, aber es war klar, dass sie keine Widerrede duldete. Sie hatte Ando am Ärmel gepackt und zog ihn hinter sich her.
Während Ando den Katalog in seine Jacketttasche steckte, fragte er: »Welchen denn?« Ohne zu antworten, ging sie weiter. »Du tust mir weh«, jammerte er, während sie ihn hinter sich her‐ zog. Erst jetzt bemerkte er die Zeitschrift in ihrer Hand. Seit gestern hatte sie nicht einen Yen ausgegeben. Wie selbstverständlich hatte sie ihn stets und überall zahlen lassen, ohne auch nur die geringsten An‐ stalten zu machen, ihren Teil zu übernehmen. Trotzdem hielt sie nun eine Zeitschrift in der Hand ... Vermutlich hatte sie sie einfach mit‐ gehen lassen. Ja, ohne Zweifel, denn sonst wäre sie eingepackt. Masako hat gestohlen! Besorgt blickte Ando sich um. Doch niemand kam ihnen nachgelau‐ fen. Offensichtlich hatte sie die Zeitschrift geschickt aus dem Geschäft geschmuggelt. Ob sie es wert war? Wegen dreihundert Yen... Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Ando das Gefühl, waghalsig und mutig zu sein.
Ando hatte gerade den Haustürschlüssel ins Schloss gesteckt, als das Telefon klingelte, aber er versuchte nicht, rechtzeitig an den Apparat zu gelangen. Das brachte sowieso nichts. Sobald man die Hand auf den Hörer gelegt hatte, verstummte das Telefon. Flüchtig warf er einen Blick auf die Uhr — kurz nach acht. Vermutlich war es Miyashita. Ando betrat den Flur, schaltete Licht und Klimaanlage an. Es sah noch genauso chaotisch aus wie heute Vormittag, als sie das Apart‐ ment verlassen hatten. Überall auf dem Boden lagen Kleidungs‐ stücke. Offensichtlich beabsichtigte Masako, auch heute Nacht bei ihm zu bleiben. Sie hatten fast den ganzen Tag im Kino verbracht. Ando fühlte sich verspannt. Ein heißes Bad würde jetzt gut tun. Im Vorbeigehen warf er sein Jackett über den Garderobenständer. Den Katalog des S‐Shobo Verlags legte er auf das Nachttischchen. Dann begab er sich ins Bad. Er krempelte die Ärmel hoch, spülte die Badewanne aus und ließ wohl temperiertes Wasser hinein. Bald war der Raum von Wasser‐ dampf erfüllt. Vermutlich wollte Masako zuerst baden. Ando ging zurück ins Zimmer. Auf dem Bett sitzend, streifte Masako gerade ihre Nylons ab. »Möchtest du zuerst ein Bad nehmen?« Schweigend stand sie auf. In diesem Moment klingelte das Telefon erneut. Während Ando den Hörer aufnahm, verschwand Masako im Bad. Er hatte richtig getippt: Miyashita. Vorwurfsvoll zischte sein Freund durch den Hörer: »Sag mal, wo steckst du denn den ganzen Tag?« »Ich war im Kino.«
Miyashita stieß einen überraschten Ruf aus. »Im Kino?« »Ja, ich habe mir zwei Filme angeschaut.« »Mann, du hast Nerven ... setzt dich unbekümmert in ein Kino und guckst stundenlang Spielfilme. Dein dickes Fell möchte ich haben«, stieß Miyashita empört hervor. »Weißt du, wie oft ich es heute bei dir versucht habe?« »Ich kann doch nicht die ganze Zeit zu Hause hocken, nur weil jemand anrufen könnte.« »Egal, nun habe ich dich ja endlich erwischt. Rate mal, wo ich gerade bin.« Von wo könnte Miyashita wohl anrufen? Zu Hause war er auf keinen Fall. Im Hintergrund waren die Geräusche vorbeifahrender Autos zu vernehmen. Also rief er vermutlich von einer Telefonzelle auf der Straße an. »Du bist doch wohl nicht in der Nähe und willst vorbei‐ kommen?« Das hätte Ando im Moment nun gar nicht gepasst, angesichts einer nackten Frau in seinem Badezimmer. »Falsch geraten! Keine Bange, ich rücke dir schon nicht auf die Pelle. Du errätst es ja doch nicht — ich bin im Theater.« »Im Theater? Was machst du denn da?«, fragte Ando verblüfft. Ihm erst Vorhaltungen zu machen und dann selber sorglos im Theater zu sitzen — der hatte wirklich Nerven. »Ich bin bei den Leuten von Spielfreude.« Spielfreude ... Das war doch die Theatergruppe, der Sadako Yamam‐ ura einmal angehört hatte! »Wie bist du denn an die geraten?« »Du erinnerst dich doch an gestern, wie erstaunt wir waren, dass die Schauplätze des Ring‐Berichts ein naturgetreues Abbild der Realität sind.« »Und?« Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, ging Ando zum Tisch, nahm einen Stift in die Hand und machte sich auf dem freien Platz des Verlagskataloges ein paar Notizen. Das half ihm
immer, seine Gedanken zu ordnen. Seit Jahren hatte er die Ange‐ wohnheit, sich während des Telefonierens Stichpunkte zu machen. »Heute Morgen durchzuckte mich ein Geistesblitz. Mir wurde klar, dass wir etwas sehr Wichtiges noch nicht überprüft haben ... Das Ge‐ sicht einer bestimmten Person. Die Sache ließ mir keine Ruhe. Da wir ja in Tokio sind, habe ich mich gleich dahintergeklemmt und bin meinem Spürsinn gefolgt.« Allmählich wurde Ando ungeduldig. Was wollte ihm Miyashita damit sagen? Konnte er nicht einfach mit der Sprache herausrücken? Immer dieses Vorgeplänkel, das brachte einen ja um den Verstand! »Spann mich nicht so auf die Folter. Du hast mich jetzt lange genug hingehalten, findest du nicht?« »Es geht um Sadako Yamamura«, sagte Miyashita. »Aber Sadako Yamamura ist 1966 gestorben ...« Ando schwieg. Was wollte Miyashita bei der Theatergruppe? Plötzlich begriff er. »Ach so, du wolltest ein Foto von ihr sehen.« Im Ring‐Bericht stand, dass der Reporter Yoshino von der Zeitung M die Gruppe aufgesucht hatte. Einem der Gründungsmitglieder war Sadako Yamamura sogar noch im Gedächtnis gewesen. Freundlicher‐ weise hatte er Yoshino eine Kopie ihres Lebenslaufs mitgegeben. Daran waren zwei Schwarzweiß‐Fotografien geheftet gewesen, ein Porträt und eine Ganzkörperaufnahme. »Endlich! Mann, hast du eine lange Leitung. Das war die einzige Möglichkeit, um an ein Foto von ihr heranzukommen.« Ando hatte aufgrund des Ring‐Berichts eine ziemlich genaue Vorstellung, wie Sadako Yamamura aussah: Sie war eine zierliche, groß gewachsene Frau. Obwohl sie einen kleinen Busen hatte, war ihr Körper von makelloser Schönheit. Sie hatte ein bezaubernd hübsches Gesicht, und Augen und Nase waren perfekt geformt. Eine Traum‐ frau, der man sich nicht zu nähern wagen würde, selbst wenn sie vor einem stünde.
»Also, erzähl schon. Hast du ein Foto von ihr bekommen?«, fragte Ando. Tatsächlich war es Miyashita gelungen, sich eine Fotografie von ihr anzusehen. Ando vernahm ein tiefes Seufzen am anderen Ende der Leitung. »Aber es ist anders«, sagte Miyashita. »Was ist anders?« »Ihr Gesicht.« Ando wusste nicht, was er darauf antworten sollte. »Wie soll ich es sagen ... Es war ein himmelweiter Unterschied. Die Frau auf dem Foto passte absolut nicht zu meiner Vorstellung von Sadako. Attraktiv war sie schon, aber ... ach, ich weiß auch nicht. Wie soll ich es dir nur erklären? Ich bin schon ganz durcheinander ... Ein Freund von mir ist Künstler, er malt exzellente Porträts. Vor Jahren einmal habe ihn gefragt, welches Gesicht für ihn eine besondere Herausforderung darstellen würde, weil es sich nur schwer nach‐ zeichnen ließ. Daraufhin erklärte er, dass es so ein Gesicht nicht gebe. Jedes habe eine Besonderheit, deshalb sei es nicht schwierig, die Rea‐ lität aufs Papier zu bringen. Mit einer Ausnahme: das eigene Gesicht. Es sei unmöglich, ein originalgetreues Porträt von sich selbst anzufer‐ tigen, weil die Vorstellung, die man von sich selbst habe, immer durchkomme. Man sehe sich mit anderen Augen, als die Umwelt einen wahrnehme. Am Ende wirke ein Selbstporträt wie das Bildnis eines Fremden.« »Ja und?« Was hat das mit diesem Fall zu tun? »Das ging mir nur gerade durch den Kopf. Kann man es nicht auch auf das Video anwenden? Wie wir wissen, wurde es nicht mit Hilfe einer Kamera aufgezeichnet. Die Bilder entstanden durch die Bewe‐ gungen von Sadakos Augen. Es sind die Bilder, die sie im Kopf hatte. Aber ...« »Aber was?« »... sowohl die Landschaften als auch die Gesichter der anderen Personen waren realitätsgetreu.«
»Ja, aber wir haben das Video doch gar nicht gesehen.« »Das ist schon richtig, aber der Ring‐Bericht ist sehr visuell ge‐ schrieben. Beim Lesen hat man das Gefühl, vor einem Fernseher zu sitzen — so ging es mir zumindest. Die verschiedenen Szenen zogen wie in einem Film vor meinem geistigen Auge vorüber.« Erneut spürte Ando Wut in sich aufsteigen. Dieses Gerede um den heißen Brei hatte er allmählich satt. »Nun komm endlich zum Punkt.« Miyashita holte tief Luft. »Manchmal überlege ich, ob wirklich Kazuyuki Asakawa den Bericht geschrieben hat.« Ja, aber wer sollte denn sonst ... Für eine Sekunde unterbrach ein Signalton das Gespräch. »Hör zu, meine Telefonkarte ist gleich leer. Ich faxe dir das Foto von Sadako nach Hause, ist das okay?«, fragte Miyashita dann rasch. »Ja, kein Problem. Mein Fax hat eine gute Druckqualität.« »In ein paar Minuten hast du es. Ich möchte, dass du dir das Foto gleich anschaust. Es interessiert mich brennend, ob du auch eine andere Vorstellung von ihr hattest, oder ob nur ich danebenlag.«
Abrupt wurde die Verbindung unterbrochen. Den Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt, starrte Ando auf das Telefon. Plötzlich verstummte auch das Geräusch fließenden Wassers. Eine tiefe, undurchdringliche Stille breitete sich aus. Nur ein leichter Windzug ging. Verwundert blickte Ando zum Fenster. Es war leicht geöffnet. Durch den schmalen Spalt drang die winterliche, trockene Abendluft. Aus der Ferne vernahm er das wilde Hupen von Autos, ein barbarischer Ton. Im Zimmer breitete sich feuchte, warme Luft aus — der Wasserdampfaus dem Badezimmer. Was macht sie nur so lange im Bad? Leicht irritiert dachte Ando noch einmal über Miyashitas Worte nach. Er verstand gut, dass sein Freund nicht den ganzen Tag taten‐
los zu Hause herumsitzen wollte. Ando warf einen Blick auf das Fax‐ gerät. Vermutlich würde es noch ein paar Minuten dauern, bis Miya‐ shita das Foto schickte. Um die Zeit totzuschlagen, schaute er sich den Katalog des S‐Shobo Verlags an. Eine Liste aller Neuerscheinungen war auf der letzten Seite aufgeführt. Sein Interesse galt vor allem dem Monat Februar. Nur einige wenige Titel waren genannt. Ando ging die Reihe von oben durch. Tatsächlich wurde er fündig. Ungefähr in der Mitte der Aufzählung stand unter Ryujis Namen: ›Struktur des Wissens‹. In dem Kommentar wurde das Buch als herausragendes Werk der modernen Philosophie angeboten. Ryujis Buch befand sich zwischen einem Liebesroman und einem Essay mit dem Titel ›Ein Blick hinter die Kulissen des Fernsehens‹. Dadurch wirkte es noch trockener und anspruchsvoller. Das letzte Werk seines Freundes ... Wie schwierig der Stoff auch sein mochte, Ando würde es auf jeden Fall lesen. Als er gerade ein Kreuzchen neben die Ankündigung setzen wollte, geriet ein anderes Wort in seinen Blickfang. Tausende Gedanken schössen ihm durch den Kopf. Das darf doch nicht wahr sein! Entsetzen machte sich in ihm breit. Wie kam das dort hin? Den Stift fest umklammernd, ließ Ando den Blick nach unten wandern, zur Liste mit den Titeln der Neuerscheinungen im Monat März. Zwar war sie etwas kleiner gedruckt, aber er schien sich nicht geirrt zu haben. Es war das dritte Buch von unten ... Spätestens der Name des Autors beseitigte die letzten Zweifel. Im Katalog stand: Neuerscheinungen im März ... ... The Ring, Jun‐ichiro Asakawa. Der Auftakt einer atemberaubenden Psycho‐Horror‐Saga. Ando glitt der Katalog aus den Händen. Jun‐ichiro hat offenbar allen
Ernstes vor, den Ring‐Bericht zu veröffentlichen. Jetzt erinnerte Ando sich an die Begegnung in der Launch des S‐ Shobo Verlags. Damals hatte er sich keinen Reim darauf machen kön‐ nen, warum Jun‐ichiro ihm aus dem Weg gegangen war. Jetzt war ihm klar, warum. Jun‐ichiro hatte zu diesem Zeitpunkt natürlich schon gewusst, dass er den von seinem Bruder verfassten Ring‐ Bericht in vermutlich leicht überarbeiteter Fassung als seinen Roman herausbringen würde. Es gab nur eine Person, die den wahren Autor des Buches kannte: Ando. Aus Angst, der Schwindel könnte aufflie‐ gen und seine Karriere als Schriftsteller zerstören, hatte er Ando ein‐ fach nicht beachtet, um ihm erst gar nicht die Möglichkeit zu geben, es vor allen Leuten ahnungslos herauszuposaunen. Ich muss verhindern, dass er das Buch an die Öffentlichkeit bringt, dachte Ando entschlossen. Bisher war noch nicht klar, welche Folgen es hat‐ te, den Ring‐Text zu lesen. Trotzdem durfte das Buch auf keinen Fall im März auf den Markt kommen. Ando würde alles tun, um es zu verhindern. Es war seine Pflicht als Arzt. Morgen früh wollten Miyashita und er sich einer Blutuntersuchung unterziehen. Wenn die Ergebnisse vorlagen, hatten sie Gewissheit. Doch das konnte ein paar Tage dauern. Was, wenn ihre Befürchtun‐ gen sich bewahrheiteten und die Ergebnisse positiv waren? Wenn sie Träger des Ring‐Virus waren? Dann würde das Erscheinen des Buches eine verheerende Katastrophe über die Menschheit bringen. Mit teuflischer Geschwindigkeit würde sich das Virus wie eine Epi‐ demie in der Gesellschaft ausbreiten. Innerhalb kürzester Zeit gäbe es in Japan nur noch Träger des Virus, und es würde sich über die Lan‐ desgrenzen ausbreiten. Vermutlich würden mindestens zehntausend Buchexemplare über den Ladentisch gehen, vielleicht sogar einige hunderttausend — das würde bedeuten, zehntausend oder hundert‐ tausend neue Träger des Killervirus. Ando zitterte. Er sprang auf und schloss das Fenster zu. Im Flur entdeckte er Masako. Ein Handtuch um ihren Körper gewickelt,
kramte sie mit einer Hand in ihrer Tasche. Sie schien etwas Bestimm‐ tes zu suchen, vielleicht frische Unterwäsche. Erneut klingelte das Telefon. Das musste Miyashitas Fax sein. Ando drückte auf ›Start‹. Sekunden später begann das Faxgerät zu rattern. Gedankenverloren beobachtete er, wie sich das weiße Blatt Zentime‐ ter für Zentimeter aus dem schwarzen Gehäuse schob. In diesem Mo‐ ment spürte er, dass Masako hinter ihm stand. Er wandte sich um. Sie trug nur einen Slip und hatte das Handtuch über die Schultern ge‐ worfen. Ihr Gesicht war gerötet. Das Funkeln ihrer dunklen, feuchten Augen wirkte besonders reizvoll. Ando spürte das brennende Verlan‐ gen, seine Arme um ihren weichen, halbnackten Körper zu legen und ihre Augen zu küssen. Auf der einen Seite sanft wie ein Engel, auf der anderen mit einem starken, unbrechbaren Willen ... Das Rattern des Faxgerätes verstummte. Vorsichtig riss Ando das Blatt ab, setzte sich aufs Bett und betrachtete das Papier. Es waren zwei Fotos abgebildet, ein Porträt und eine Ganzkörperaufnähme von Sadako. Er stieß einen lauten Schrei des Entsetzens aus. Es bestand nicht nur ein himmelweiter Unterschied zwischen der Vorstellung, die er sich aufgrund des Ring‐Berichts von Sadako gemacht hatte, und dem, was er auf dem Foto sah, sondern es war noch viel schlimmer: Die Frau auf den Fotos, die Miyashita ihm gefaxt hatte, war dieselbe, die in diesem Augenblick vor ihm stand. Masako war Andos Entsetzen nicht entgangen. Sie riss ihm das Fax aus der Hand und warf einen Blick auf die Fotos. All seine Kräfte ent‐ schwanden aus seinem Körper; wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter gescholten wurde, saß er vor ihr. Alles war eine einzige große Lüge gewesen — der Name Masako Takano, dass sie die ältere Schwester von Mai war ... »Du bist Sadako Yamamura ... Du warst ...« Sie grinste, als amüsierte Andos Fassungslosigkeit sie. Plötzlich fiel ein schwarzer Vorhang vor Andos Augen. Zum ersten
Mal in seinem Leben fiel er in Ohnmacht.
Ando hatte das Bewusstsein für ungefähr eine Minute verloren. Der Schock war einfach zu groß gewesen. Eine Frau, die seit fünfund‐ zwanzig Jahren tot war — und er hatte zwei volle Tage mit ihr ver‐ bracht und vergangene Nacht mehrfach mit ihr geschlafen. Er war nahe dran, den Verstand zu verlieren. Als er jetzt wieder zu Bewusstsein kam, hatte er das Gefühl, ver‐ brannte Haut zu riechen. Zu seiner eigenen Verwunderung lag er auf dem Rücken, obwohl er eigentlich nach vorn gekippt war. Seine Beine hingen über das Bett hinaus. Noch immer war er wie gelähmt von dem Schock und unfähig, sich zu bewegen. Ohne die Augen zu öffnen, versuchte er, die Lage einzuschätzen. Er vernahm das Ge‐ räusch fließenden Wassers. Ob es aus seinem Bad kam? Es klang eher wie ein plätschernder Bergfluss, der alle anderen Geräusche der abendlichen Stadt übertönte. Weder die Autobahn, noch Stimmen‐ gewirr auf den Straßen waren zu hören. Vorsichtig öffnete er die Augen einen Spalt breit. Sein Apartment war hell erleuchtet. Vorsichtig ließ er die Augen durch den Raum wandern. Die Luft schien rein zu sein. Langsam richtete er sich auf. Niemand war zu sehen. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Er war schon gewillt, das Ganze als eine Vision, einen schrecklichen Albtraum abzutun, als das Geräusch fließenden Wassers plötzlich abbrach. Erschrocken hielt er den Atem an. Im Flur... Da war sie wieder. Mit einem feuchten Handtuch in der Hand kam sie, noch immer splitterfasernackt — abgesehen von dem kleinen Slip — auf Ando zu. Ando wollte laut schreien, aber er brachte keinen Laut heraus. Lächelnd reichte Sadako ihm das nasse Tuch. Er stieß ihren Arm beiseite und sprang auf. Da er noch immer wacklig auf den Beinen
war, lehnte er sich gegen die Wand. Sadako Yamamura ... Was wusste er über diese Frau eigentlich? Sie war jene Frau, die vor fünfundzwanzig Jahren in einen dunklen, alten Brunnen geworfen worden und dort elend zugrunde gegangen war ... die Gedankenbilder auf ein Video projiziert hatte ... die über außer‐ gewöhnliche, paranormale Fähigkeiten verfügte ... die ein mensch‐ licher Zwitter war. Ando ließ den Blick nach unten wandern. In dem knappen weißen Slip konnte er keine Ausbeulung erkennen. Selbst wenn sie Hoden haben sollte, von außen waren sie nicht zu sehen. Auch war ihm gestern Abend nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Ando hatte sie mehrfach berührt. Andererseits hatte er ihre Genita‐ lien nicht gesehen. Es hatte absolute Dunkelheit geherrscht. Jetzt be‐ griff er auch, warum sie so viel Wert darauf gelegt hatte, das Zimmer zu verdunkeln ... Woher kam sie? Was wollte sie? So viele Fragen ... Er wollte ihr Antworten abverlangen, doch seine Energie reichte gerade mal zum Atmen. Wenn er sich nicht konzentrierte, würde er vermutlich gleich wieder umfallen. Nur das nicht! Dann wäre er ihr vollends ausge‐ liefert. Jetzt war er wenigstens in Bezug auf die Körpergröße im Vor‐ teil — er konnte auf sie herabblicken. Das vermittelte ihm das Gefühl, zumindest einen letzten Funken Würde zu wahren. Fassungslos starrte Ando ihr ins Gesicht. Ihre Haut schimmerte weiß unter der Neonröhre. Sie bestand definitiv aus Fleisch und Blut. Wie ein übersinnliches Phantom wirkte sie nicht gerade. Dennoch ... Was konnte er tun, um sich ihr zu entziehen? Darauf gab es nur eine Antwort: die Flucht ergreifen. Vor seinen Augen stand ein Gespenst... eine Frau, die nach fünfundzwanzig Jahren vom Tod auferstanden war. An der Wand entlang rutschte er Zentimeter für Zentimeter nach rechts. Sein Ziel war der Flur. Sadako folgte seinen Bewegungen mit den Augen, stellte sich ihm aber nicht in den Weg. Jetzt kam die Haustür in sein Blickfeld. Verzweifelt überlegte Ando, ob er sie abge‐
schlossen hatte. Nein, daran hätte er sich erinnert. Vorsichtig entfern‐ te er sich Stück für Stück von Sadako. Als etwa zwei Meter zwischen ihnen lagen, rannte er wie der Blitz los. Ohne sich umzudrehen, stürzte er hastig die Treppen hinunter. Erst als er auf der Straße angekommen war, blieb er für einen Moment stehen und überprüfte, ob ihm das Monster gefolgt war. Nein. Seine Fenster waren nach wie vor hell erleuchtet. Er rannte in Richtung Bahnhof weiter. Ein eisiger Wind schlug Ando entgegen. Inzwischen war er bis auf die Knochen durchgefroren. Ein bestimmtes Ziel hatte er nicht. Es musste nur hell und von Menschen besucht sein. Die Hochhäuser von Shinjukus waren um diese Uhrzeit nur noch schwarze Schatten; selbst an der Sangubashi‐Station schienen kaum noch Menschen un‐ terwegs zu sein. Dennoch hatte Ando das Gefühl, dort sicher zu sein. Er verließ die schmale Gasse und betrat die Geschäftsstraße, wo hier und dort noch ein Laden geöffnet hatte, trotz des Feiertages. Nach wenigen Minuten erreichte er die U‐Bahn Station. Doch als er am Automaten einen Fahrschein lösen wollte, stellte er mit Entsetzen fest, dass er seine Brieftasche nicht bei sich hatte. Ich werde auf keinen Fall umkehren und sie holen. Nein, lebensmüde hin ich nun wirklich nicht. Verzweifelt suchte Ando seine Taschen nach Geld ab. Dabei fiel ihm sein Führerschein in die Hände. Erst gestern hatte er ihn für die Tour mit Miyashita eingesteckt. Glück gehabt! Denn er hatte immer einen Notgroschen darin. Fünftausend Yen ... Das war alles. Nicht gerade viel. Wo sollte er heute Abend unterkommen? Damit konnte er sich nicht mal ein Zim‐ mer in einer billigen Absteige nehmen. Es gab nur einen Menschen, den er um Hilfe bitten konnte: Miyashita.
Ando kaufte sich ein Ticket, dann suchte er eine Telefonzelle. Ob‐ wohl er nicht davon ausging, dass Miyashita schon wieder zu Hause war, wählte er dessen Nummer. Wie vermutet war er noch nicht zu‐ rück. Klar, er hatte ihn ja erst vor kurzem aus Yotsuya angerufen und befand sich womöglich gerade auf dem Heimweg. Ando beschloss, zu Miyashitas Wohnung in Tsurumi zu fahren. Es war kurz nach einundzwanzig Uhr. Ando drückte sich tief in den Sitz der U‐Bahn. Kaum hatte er die Lider geschlossen, tauchte Sadakos Gesicht vor seinem geistigen Auge auf. Noch nie in seinem Leben hatten sich seine Gefühle einer Frau gegenüber in so kurzer Zeit derart drastisch verändert. Als er ihr das erste Mal begegnet war, hatte ihn ein eisiger Kälteschauer erfasst. Ein übernatürliches Phäno‐ men ... Merkwürdigerweise waren diese Ängste bei ihrem nächsten Treffen vollkommen verflogen gewesen, vielmehr hatte ihn ihre un‐ heimliche Sinnlichkeit angezogen. Und schließlich waren seine Hoff‐ nungen in Erfüllung gegangen ... Er war gerade auf dem besten Weg gewesen, sich in sie zu verlieben, als ihm klar geworden war, mit wem er da geschlafen hatte: mit einer Frau, die vor fünfundzwanzig Jahren gestorben war. Er kam sich beinahe wie ein Leichenschänder vor. Wo kam Sadako nur her? War sie damals vielleicht doch nicht gestorben? Oder war von den Toten auferstanden? War das überhaupt möglich? Der Zug war wegen des Feiertages relativ leer, nur wenige Fahr‐ gäste mussten stehen. Ando saß einem Arbeiter gegenüber, der für sich allein gleich drei Sitzplätze beanspruchte. Obwohl er die Augen weitgehend geschlossen hielt, schlief er nicht. Aus den schmalen Schlitzen beobachtete er die Mitreisenden. Er hatte trübe Augen, man
konnte nur schwer sagen, ob sie lebten oder tot waren. Ando wandte unangenehm berührt den Blick ab. Doch wohin er auch schaute, alle Fahrgäste hatten die bleichen Gesichter von Leichen. Er umfasste mit den Händen seine Schultern, um das heftige Zittern zu unterbinden. Dankend nahm Ando den Brandy von Miyashita entgegen, ließ den ersten Schluck die Kehle hinunterlaufen und trank dann den Rest. Allmählich begann er sich von dem Schock zu erholen, wenngleich er noch immer zitterte. »Wie geht es dir? Ist es jetzt besser?«, fragte Miyashita besorgt. »Zumindest lebe ich noch.« »Du musst ja völlig durchgefroren sein.« Miyashita war noch nicht im Bilde — er führte das Zittern auf die Eiseskälte und Andos unpassende Bekleidung zurück. »Die Kälte ist nicht das Problem.« Miyashita hatte Ando ins Arbeitszimmer geführt. Zusammenge‐ kauert saß dieser auf dem Liegesofa in der Ecke. Hier würde er heute Nacht vermutlich schlafen. Nachdem er das zweite Glas Brandy hinuntergekippt hatte, kam er allmählich zur Ruhe. »Was ist passiert?«, fragte Miyashita. Nun erzählte Ando in allen Einzelheiten, was sich in den letzten zwei Tagen ereignet hatte. Kaum hatte er das letzte Wort ausge‐ sprochen, legte er den Kopf auf das Kissen. Dann sagte er matt: »Egal, wie sehr ich alles bereue, jetzt ist es zu spät. Die Uhr lässt sich nicht mehr zurückdrehen.« Andos Geschichte hatte Miyashita vollkommen erschüttert. Zit‐ ternd schütterte Miyashita Brandy in seinen heißen Kaffee und nippte daran. Nachdenklich sagte er: »Die Frage ist: Woher kommt diese Sadako Yamamura so plötzlich?« Er machte den Eindruck, als wüsste er die Antwort bereits. »Du hast eine Ahnung, oder? Sag schon, was vermutest du?«
»Denk doch mal nach. Du weißt die Antwort, da bin ich mir ganz sicher.« »Woher denn?«, entgegnete Ando und schüttelte den Kopf. Er war den Tränen nahe. »Hast du wirklich keine Idee?« »Ich sage doch, ich habe nicht den leisesten Schimmer.« »Was ist mit Mai Takano? Ich bin davon überzeugt, dass sie Sadako in die Welt gesetzt hat.« Ando verschlug es den Atem. Das konnte doch nicht sein ...! Fieberhaft suchte er nach anderen Erklärungen, doch in seinem Kopf war nur ein großes schwarzes Loch, und er konnte keinen klaren Ge‐ danken fassen. »Mai Takano hat sie in die Welt gesetzt?«, wiederholte er nur. »Das Video ist durch die Willenskraft von Sadako Yamamura entstanden. Als Mai sich das Band angesehen hat, war sie gerade empfängnisbereit. Das Ring‐Virus ist in ihren Körper eingedrungen, hat die reife Eizelle befruchtet und dafür gesorgt, dass Sadakos Zellkern den von Mai in der Eizelle verdrängt.« »Kannst du dich vielleicht etwas deutlicher ausdrücken?« »Du erinnerst dich doch an die Ergebnisse der DNA‐Untersuchung des mysteriösen Erregers. Demnach stellt unser Killervirus eine gene‐ tische Kombination aus Pocken und einem menschlichen Gen dar.« Ando richtete sich auf und griff nach dem Brandyglas. Doch es war leer. »Das menschliche Gen ...« »Sadakos Erbinformationen waren in einige hunderttausend Teile zersplittert.« »Das heißt, einige hunderttausend Ring‐Viren transportierten die verschiedenen Gene von Sadako ... Habe ich dich da richtig verstanden? Das Ring‐Virus hat Sadakos Gene in die einzelnen Zellen hineingepackt.«
Ein Virus allein konnte die komplette DNA‐Information eines Menschen nicht transportieren. Die ›Datei‹ war viel zu groß. Aber die menschliche DNA ließ sich in einige hunderttausend Teile zerlegen. Wenn nun ein Virus jeweils nur einen Teil der DNA transportierte ... Unter dem Elektonenmikroskop hatte es nur so von Ring‐Viren gewimmelt. Offenbar waren sie mit Sadakos Genen in Mais Eizelle eingedrungen. »Aber Sadako Yamamura ist vor fünfundzwanzig Jahren ge‐ storben!«, sagte Ando. »Es ist unmöglich, dass ihre Erbinformationen plötzlich wieder auftauchen!« »Das ist der springende Punkt. Warum, glaubst du, hat sie ihre Gedankenbilder auf das Video projiziert?« Die alles entscheidende Frage war: Was hatte Sadako Yamamura sich in dem Brunnen kurz vor ihrem Tod gewünscht? Ein gewaltiger Hass auf die Gesellschaft hatte sich in ihr angestaut, den sie auf die Bilder des Videos übertrug. Damit wollte sie jedem Menschen, der sich den Film ansah, eine Höllenangst einjagen. Aber warum? Was hatte sie davon? Offenbar kam den Bildern noch eine zweite wichtige Funktion zu — doch Ando hatte keine Ahnung, was Miyashita da anzudeuten versuchte. »Sie war erst neunzehn ...«, half Miyashita nach. »Ja, und?« »Es liegt doch auf der Hand. Sie wollte noch nicht sterben.« »Sie war noch zu jung ...« »... und deshalb hat sie ihre gesamte genetische Information und Energie zurückgelassen.« Ando seufzte, ohne etwas zu sagen. Sie hat die eigenen Gen‐Informa‐ tionen in die Bilder hineinschleust? So verrückt sich das anhören mochte — auch Ryuji Takayama hatte seine Basenfolge verändert, um mit der Nachwelt zu kommunizieren und ihr das Wort ›Mutation‹ zu über‐ mitteln. Dennoch zweifelte Ando daran. Ein Mensch verfügte über so
viele Gen‐Informationen, dass sie sich doch unmöglich auf einem ein‐ zigen Videoband unterbringen ließen. »Das funktioniert nicht«, sagte er. »Denk doch mal dran, über wie viele Erbinformationen ein Mensch verfügt.« Miyashita hob die Arme seitwärts und streckte die Zeigefinger in beide Richtungen des Zimmers. »Wenn du alle Gegenstände in diesem Raum fest halten müsstest, wie würdest du das anstellen?« Miyashitas Arbeitszimmer war nicht sehr groß. Neben dem Sofa be‐ fand sich ein wuchtiger Schreibtisch. Darauf standen ein Computer, Lexika und viele Bücher. Die größte Herausforderung wäre das Bücherregal. Von literaturwissenschaftlichen Romanen bis hin zu medizinischen Fachbüchern füllten sicher tausend Werke das Regal. Würde man nur Titel und Autor notieren, brauchte man dafür einen Tag. »Es gibt eine Fülle von Informationen in diesem Raum«, sagte Ando nachdenklich. Miyashita nahm die Haltung eines Fotografen ein. »Und Klick. Auf einem einzigen Foto kann man die Atmosphäre in diesem Arbeitszimmer einfangen. Nun stell dir eine Abfolge von Bildern vor ... Da lassen sich eine Menge Informationen verschlüsseln. Sadako Yamamura hat ihre Gene als Kode auf das Video übertragen — das ist meine Hypothese.« Ando begriff zwar, was Miyashita sagte, wollte es aber noch nicht glauben. »Gib mir eine Minute, um darüber nachzudenken.« »In Ordnung. Ich vertrete mir inzwischen die Beine.« Miyashita verließ das Zimmer. Mal abgesehen davon, dachte Ando, ob Miyashitas Hypothese nun zutraf oder nicht, eines stand fest: Mai Takano war von dem Virus‐ Samen befruchtet worden, und eine Woche später war Sadako Yama‐ mura wiedergeboren worden. Das waren Tatsachen. Doch was ihn stutzig machte, war die kurze Zeit — nur sieben Tage — zwischen
Befruchtung und Geburt. Das hieß, die Zellteilung musste sich in einem rasanten Tempo vollzogen haben. Der Zellkern enthielt Nu‐ kleinsäure; nur wenn diese sich über einen bestimmten Wert hinaus vermehrte, kam es zu einer Zellteilung. Mit anderen Worten, um die Zellteilung schnell voranzutreiben, musste der Zellkern mit ausrei‐ chend Nukleinsäure versorgt werden. Das Ring‐Virus hatte offenbar für diesen Prozess gesorgt. In der Folge war es zu einem unvorstell‐ bar schnellen Wachstumsprozess der Eizelle zu einem ausgewachse‐ nen Embryo gekommen. Ando erinnerte sich wieder an das Erlebnis in Mais Apartment. Alles hatte daraufhingedeutet, das niemand zu Hause war. Trotzdem hatte er einen starken Impuls gespürt. Also hatte ihn sein Gefühl nicht getäuscht. Sadako Yamamura hatte sich vielleicht irgendwo versteckt — sie war ja gerade erst geboren worden, also noch sehr klein. Es gab viele Verstecke: hinter der Kleiderstange, im Badschrank ... Ando hatte natürlich nicht überall nachgeschaut. Sein Sturz im Bad ... Sadako war ja noch ein kleines Mädchen, vermutlich hatte sie über ihn gelacht. Das, was ihn am Bein berührt hatte, könnte ihre Hand gewesen sein. Sie hatte sich in Mais Apartment eingenistet und war in nur einer Woche unbeobachtet zur Frau herangewachsen ... Als Ando zum zweiten Mal vor der Wohnung gestanden hatte, war er der voll entwickelten Sadako Yamamura begegnet. So ungefähr musste es sich abgespielt haben. Allmählich ließen Andos Zweifel an Miyashitas Hypothese nach. Alles schien sich ineinander zu fügen. Aber wie ging es weiter? Wenn Sadako ähnlich schnell alterte, wie sie herangewachsen war, würde ihre Lebenserwartung bei wenigen Wochen liegen. Sie war im November wiedergeboren worden, also vor etwa zehn Wochen. Doch ihre Haut war die eines neunzehnjäh‐ rigen Mädchens. Bedeutete das vielleicht, dass sie nur bis zu dem Alter, in dem man sie umgebracht hatte, so schnell herangewachsen
war, der Alterungsprozess von nun aber wie bei anderen Menschen verlief? Miyashita betrat das Zimmer wieder. »Wir dürfen einen Aspekt nicht aus den Augen verlieren: Das Pockenvirus spielt eine Schlüssel‐ rolle.« »Das Pockenvirus und Sadako Yamamura haben einen teuflischen Pakt geschlossen.« Kurz bevor Sadako Yamamura gestorben war, war sie durch Dr. Nagao mit dem Pockenvirus infiziert worden. In dem alten Brunnen unter der Blockhütte B‐4 hatten sich der Hass einer Frau auf die Gesellschaft, die ihre Eltern und sie selbst in den Tod getrieben hatte, und der Hass des Pockenvirus auf die menschliche Intelligenz, die es ausgerottet hatte, zu einer gewaltigen, übermenschlichen Macht vereint. Beide waren vernichtet worden. Vermutlich war es ihr sehnlichster Wunsch gewesen, irgendwann wiedergeboren zu werden. »Das ist ein wichtiger Punkt«, meinte Miyashita. »Sag mal ... glaubst du wirklich, das Jun‐ichiro Asakawa den Ring‐Bericht veröf‐ fentlichen will?« »Daran besteht kein Zweifel. In dem Verlagskatalog wurde er als Neuerscheinung angekündigt.« »Hm. Sadako Yamamura und das Pockenvirus ... Wenn wir die These weiterverfolgen, dass sich die DNA‐Stränge von Sadako und dem Pockenvirus in dem Video vereint haben, ist es denkbar, dass sich die Doppelhelix irgendwann wieder entspiralisiert und evolutio‐ niert ...« Miyashita hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Viren waren Grenzfälle zwischen Leben und Nicht‐Leben. Noch immer stritt die Wissenschaft, ob sie zu den lebenden Organismen zu zählen waren oder nicht. Ein Virus bestand im Wesentlichen aus einer Proteinhülle und einem Genom und veränderte sich den Umweltverhältnissen
entsprechend. Vor diesem Hintergrund schien der Gedanke, dass es zu einer Buchform mutiert sein könnte, gar nicht mal so abwegig. »Das ist der Grund, weshalb Kazuyuki Asakawa nicht wegen des Videos gestorben ist.« Damit waren sie der Lösung des mysteriösen Rätsels einen gewalti‐ gen Schritt vorangekommen. Es gab also zwei ›Wiedergeburten‹: Sa‐ dako Yamamura und den Ring‐Bericht. Kazuyuki Asakawa und Mai Takano waren nicht an einem plötzlichen Herzanfall gestorben, weil sie sie hervorgebracht hatten. Das Virus, das in Mais Körper einge‐ drungen war, hatte sich in ihrer Gebärmutter eingenistet, und das Virus, das Asakawas Organismus befallen hatte, war in sein Gehirn gewandert. Den Ring‐Bericht hatte nicht Kazuyuki Asakawa ge‐ schrieben — er war nur das Werkzeug gewesen. Der Befehl war von Sadakos DNA gekommen. Deshalb waren Szenerie und Gesichter mit einer derartigen Präzision geschildert, wie sie sonst nur mit Hilfe ei‐ ner Videokamera zu erreichen gewesen wäre. Lediglich die Beschrei‐ bungen der Protagonistin, Sadako Yamamura, stimmten nicht mit der Realität überein. So ähnlich, wie der Kameramann bei einer Video‐ aufnahme nicht mit auf den Film kam, hatte sie sich selbst nicht originalgetreu wiedergeben können. Ando und Miyashita schwiegen. Beide hingen ihren Gedanken nach. Was folgte wohl als Nächstes? Und was bedeutete das alles für die Zukunft der Menschheit? Das Schlüsselwort lautete: handeln! Zunächst mussten sie die Veröffentlichung des Ring‐Berichts verhindern. Vermutlich hatte Jun‐ ichiro Asakawa keine Ahnung, was er der Menschheit mit seinem Egoismus anzutun im Begriff war. Ihn mussten sie als Erstes in die Mangel nehmen. Die Frage war nur, ob er ihnen zuhören und, falls ja, sich nach ihnen richten würde. Man konnte kaum erwarten, dass irgendjemand ihnen diese verrückte Geschichte abkaufte. »Lass uns gehen.« Miyashita schlug sich auf die Schenkel und stand
auf. »Gehen? Wohin?« »Na, zu dir natürlich.« »Aber dieses Monster lauert doch in meinem Apartment!« »Deshalb gehen wir hin. Wir werden uns Sadako stellen.« Bei diesem Gedanken wurde Ando ganz mulmig zumute. »Warte, warte ...« Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, so bald in die Höhle des Löwen zurückzukehren. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Siehst du das denn nicht ein? Wir stecken viel zu tief drin. Wir sind schon lange keine Beobachter mehr, sondern Teilnehmer an einem teuflischen Spiel.« Miyashita hatte Recht. Sie standen mittendrin. Und was hatte er im Gegensatz zu Miyashita schon zu verlieren? Miyashita packte Ando am Arm und zog ihn hoch. »Los, mach schon. Vermutlich ist das die letzte Chance, unser Leben zu retten.« »Die letzte Chance?« »Es muss einen Grund dafür geben, dass Sadako Yamamura dir gefolgt ist.« »Das glaube ich allerdings auch.« »Irgendetwas will sie von dir.« »Aber was?« »Weiß ich auch nicht. Aber wir werden es schon herausfinden.« Plötzlich fiel Ando ein, was sie gesagt hatte, als sie sich zum zweiten Mal begegnet waren: »Ich werde zu gegebener Zeit auf Sie zurück‐ kommen.« Er hatte keinen blassen Schimmer, was dieses Monster von ihm wollte. Andererseits hatte er auch nicht das Bedürfnis, es in Erfahrung zu bringen ...
Miyashita stellte den Wagen in der Nähe des Yoyogi‐Parks ab. Kaum waren sie ausgestiegen, wanderten ihre Blicke gespannt nach oben. Doch in keinem der Fenster von Andos Apartment brannte Licht. Seit er seine Wohnung fluchtartig verlassen hatte, waren über vier Stunden vergangen. Jetzt war es kurz vor ein Uhr nachts und stockfinster. »Ob sie noch da ist?«, fragte Miyashita mit gedämpfter Stimme. »Vielleicht schläft sie.« Sie mussten in die Wohnung, um sich Gewissheit zu verschaffen. »Offensichtlich braucht selbst ein Monster, das durch seine eigene Kraft wiedergeboren wurde, ein paar Stunden Schlaf«, bemerkte Miyashita trocken. Noch immer standen sie auf der menschenleeren Straße und blickten auf die Fenster in der dritten Etage. »Lass uns gehen.« Zielsicher bewegte sich Miyashita auf den Eingang des Hauses zu. Ando folgte ihm schweigend. Wäre die eisige Kälte inzwischen nicht unerträglich geworden, hätte er die Rückkehr in seine Wohnung so lange wie möglich hinausgezögert. Miyashita schob Ando vor. Vorsichtig drehte dieser den Türgriff. Es war nicht abgeschlossen. Voller Angst setzte Ando einen Fuß in den Flur. In der Wohnung schien sich niemand zu befinden. Sowohl Sadakos Pumps als auch ihre Tasche waren verschwunden. Ando betrat das Wohnzimmer und knipste das Licht an. Im Bett lag sie auch nicht. Erleichtert ließ er sich darauffallen. Miyashita dagegen lief wie ein Detektiv umher und inspizierte jeden Winkel, schaute auf dem Balkon nach. »Sie scheint nicht mehr hier zu sein«, sagte er schließlich.
»Wahrscheinlich hat sie sich ein anderes Plätzchen gesucht«, murmelte Ando gleichgültig. Ihm war es völlig egal, wo sich Sadako Yamamura gerade aufhielt — Hauptsache weit weg von ihm. Er wollte nie wieder etwas mit ihr zu tun haben. »Hast du eine Idee, wo sie hingegangen sein könnte?« »Nein.« Ando schüttelte den Kopf. Dabei fiel sein Blick auf den Tisch vor dem Fenster. War das nicht sein Notizbuch? Das hatte doch vorhin nicht dort gelegen. Und warum war es aufgeschlagen? Ando konnte sich nicht erinnern, es in letzter Zeit benutzt zu haben. Er sprang auf und nahm das Notizbuch in die Hand. Dort stand eine Nachricht für ihn — eine Nachricht von Sadako Yamamura. Stumm las er die erste Zeile. Dann reichte er das Notizbuch Miyashita. »Was ist das?« »Eine Nachricht von Sadako Yamamura.« »Oh!« Miyashita begann vorzulesen: Ando, ich muss dir einen höllischen Schrecken eingejagt haben. Um deine Nerven nicht weiterzustrapazieren, habe ich mich entschieden, dir nach alter Tradi‐ tion einen Brief zu schreiben. Bitte lies ihn mit kühlem Kopf. Inzwischen wirst du das Geheimnis gelüftet haben. Ich habe mich des Kör‐ pers einer anderen Frau bemächtigt und bin wiedergeboren worden. Wie das letztendlich funktioniert hat, weiß ich selbst nicht so richtig. Oft habe ich mich mit meinem kranken Vater, der Assistenzarzt war, wäh‐ rend meiner Besuche im Sanatorium über Genetik unterhalten. Deshalb bin ich auf diesem Gebiet auch nicht ganz unbedarft. Für dich mag es nach einem wissenschaftlichen Märchen klingen, aber bevor ich starb, habe ich durch den Einsatz meiner fünf Sinne Bilder auf ein Video projiziert, die verschlüsselt meine genetischen Informationen enthielten. Sicherlich waren
übersinnliche Kräfte mit im Spiel. Wenn ich heute darüber nachdenke, war es gar nicht mal so sehr mein Wunsch, wiedergeboren zu werden. Ich wollte lediglich meine genetischen Informationen auf dieser Welt hinterlassen. Der Gedanke, dass die Erbanlagen von Sadako Yamamura an diesem dunklen, nach Fäulnis stinkenden, erbärmlichen Ort zerstört wurden, ohne dass je‐ mand irgendetwas davon erfahren würde, war mir unerträglich. Das Resul‐ tat meines starken Willens ... Du bist Spezialist auf diesem Gebiet, vermutlich kannst du das viel besser erklären als ich. Mein Körper ist zwar damals in dem schrecklichen, finsteren Brunnen gestorben, aber meine Seele nicht. Sie ist in den Körper einer anderen Frau eingedrungen. Nach einigen Tagen wurde mir mein Ich bewusst, doch das Gesicht, das ich im Spiegel sah, gehörte nicht mir. Zunächst begriff ich nicht, was passiert war. Was bedeutete das? Ich steckte plötzlich in einem völlig fremden Körper. Zudem fühlte ich mich wie in einer verkehrten Welt. Alles war vollkommen neu: die unbekannte Stadt, moderne Autos, kleine Be‐ tonhäuser, Elektrogeräte ... Als ich einen Blick auf den Kalender warf, stellte ich fest, dass fünfundzwanzig Jahre vergangen waren. Ich war vollkommen überrascht. Meine Seele war tatsächlich aus meinen Körper getreten, lange Zeit umhergewandert, um dann in einen anderen einzudringen. Der Körper, den sie sich ausgesucht hatte, gehörte der armen Mai Takano. Sie brachte mich auf die Welt. Im Gleichschritt mit der Entwicklung der befruchteten Eizelle wuchs auch mein Bewusstsein. Allmählich bemächtigte ich mich ihrer immer mehr. Kurz vor meiner Wiedergeburt habe ich Mai von ihrer Gebärmutter aus vollkommen kontrolliert. Mit meinen kleinen Händen klopfte ich gegen ihre Bauchdecke. Auch der Körper der Mutter gehorchte mir inzwischen. Der Tag der Geburt rückte näher. Alles musste gut durchdacht sein. Zuerst fragte ich mich, was mit dem Körper von Mai Takano, den ich mir für eine gewisse Zeit geliehen hatte, passieren würde. Ob sie ihr eigenes Ich zurückerlangen würde ... Aber das konnte ich mir nicht vorstellen. Ihr Körper war im Grunde genommen wie eine Puppe. Nach der Geburt des Schmetterlings lebt diese ja auch nicht weiter. Es mag egoistisch klingen,
aber ich habe beschlossen, den Körper sterben zu lassen. Damit kam eine neue Frage auf: Wo sollte ich wiedergeboren werden? Mais Apartment war als Geburtsstätte ungeeignet. Das Problem war näm‐ lich: was tun mit dem toten Körper? Irgendwie musste ich mich der Leiche entledigen. Selbst wenn ich schnell heranwachsen würde, hätte die Leiche mindestens eine Woche in der Wohnung herumgelegen ... Der Gestank des toten, verwesenden Fleisches wäre in jede Ecke des Zimmers gekrochen, hätte sich einen Weg unter den Türschlitzen nach draußen gebahnt ... Doch ich brauchte ein Dach über dem Kopf. Deshalb war Mais Wohnung für mich ideal. Meine Wiedergeburt musste also an einem anderen Ort stattfinden, wo ich den vorübergehend benutzten Körper lassen konnte, ohne dass man ihn gleich fand. Doch dieser Ort durfte nicht zu weit von Mais Apartment entfernt sein, damit ich allein zurückkam. Das Dach des alten Gebäudes schien wie geschaffen für mein Vorhaben. Im Entlüftungsschacht würde man die tote Hülle Mai Takanos nicht so schnell finden. Ich konnte mich in Ruhe in ihrem Apartment entwickeln. Kurz vor der Niederkunft traf ich die letzten Vorbereitungen. In einer kalten, dunklen Nacht stieg ich auf das Dach des Gebäudes und ließ ein Seil in den Schacht. Langsam begab ich mich in die finstere Tiefe. Dabei rutschte ich unglücklicherweise ab. Mein Knöchel war zwar gebrochen, aber mit meinem Bauch war zum Glück alles okay. Wenn jetzt noch etwas schief gegangen wäre ... Jedenfalls bin ich nach Plan auf die Welt gekommen. Müh‐ sam kroch ich aus der Gebärmutter durch den Gebärmutterkanal hinaus ins Freie. Mit Mund und Händen durchtrennte ich die Nabelschnur. Danach rieb ich mir den Schleim mit einem feuchten Tuch ab, das ich mitgebracht hatte. Ich bin in den frühen Morgenstunden geboren worden, die Stadt war noch vollkommen in Dunkelheit getaucht. Als ich aus dem Schacht nach oben blickte, erschrak ich — dieselbe Perspektive wie in dem Brunnen. Es war eine Art Zeremonie. Ich dachte, wenn ich mich mit eigener Kraft aus dem Loch herausziehen kann, dann bin ich auch in der Lage, mich an die Umwelt anzupassen und zu überleben. Wenn ich es dagegen nicht schaffe,
würde mein Leben in der neuen Umgebung ohnehin ziemlich schnell wieder erlöschen. Doch ich bestand die Probe. Langsam kletterte ich an dem Seil aus dem Schacht. Der Himmel hellte sich auf, die Menschen erwachten allmählich. In diesem Moment spürte ich, dass ich wiedergeboren war. Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Innerhalb einer Woche reifte ich zu dem Menschen heran, der ich kurz vor meinem Tod gewesen war. Erstaunlicherweise konnte ich mich noch an jedes Detail meines früheren Lebens erinnern. Ich war in Sashikiji, Oshima, auf der Izu‐Halbinsel geboren worden. Meine Mutter hatte verblüffende über‐ sinnliche Visionen und Fähigkeiten gehabt. Von ihr habe ich diese besondere Gabe vermutlich geerbt. Als ich ein Kind war, sind wir viel durch die Lande gezogen, haben mal hier, mal dort gelebt. Ich erinnerte mich auch an das furchtbare Erlebnis, als ich meinen Vater eines Tages wieder einmal im Sanatorium besuchte ... Inzwischen glaube ich, dass Erinnerungen nicht im Gedächtnis abgespeichert werden, sondern in den Genen. Und noch etwas. Mein Körper hat sich leicht verändert. Äußerlich habe ich zwar auch früher wie eine Frau gewirkt, hatte Brüste und eine Vagina. Was mir aber fehlte, waren Eierstöcke. Zudem verfüge ich nach wie vor über männliche Geschlechtsorgane. Jetzt hin ich der perfekte Zwitter. Ich habe Eierstöcke, gleichzeitig produziere ich Spermien. In diesem Punkt habe ich dank dir Gewissheit.
Miyashita blickte Ando grinsend an. Als wenn das nicht schon alles schlimm genug wäre, muss mich der Kerl jetzt auch noch damit aufziehen!» Lies schon weiter«, drängte Ando. Doch Miyashita beschäftigte anscheinend Sadakos körperliche Be‐ sonderheit. »Ein perfekter Zwitter ... Wenn diese Frau — aber ›Frau‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort? Das muss man sich mal vor Augen halten! Sie ist fähig, ohne Sex Kinder zu zeugen!« Normalerweise kamen Zwitter vor allem bei niederen Lebewesen
vor. Typisches Beispiel war der Regenwurm, der zwei männliche Geschlechtsorgane und ein weibliches besaß. Einzellige Lebewesen vermehrten sich durch Zellteilung. Wenn eine Selbstbefruchtung möglich war, würde über Generationen immer wieder die gleiche DNA an die Kinder weitergeben werden. Mit anderen Worten, Sadako Yamamura würde Sadako Yamamura gebären. War so etwas in der Realität wirklich möglich? »Stell dir nur vor, wenn es dazu kommen würde«, sagte Ando besorgt. »Sadako Yamamura ist kein Homo sapiens ... Sie ist eine neue Spezies, die durch Mutation entstanden ist. Wir erleben hier die Evolution mit eigenen Augen.« Die größte Herausforderung bestand für Sadako darin, die neue Spezies ›Sadako Yamamura‹ zu stabilisieren. Ando versuchte, sich das am Beispiel von Schafen zu vergegenwärtigen. Angenommen, inmitten von einigen tausend weißen Schafen wurde ein schwarzes geboren. Wollte es sich vermehren, hatte es zunächst nur die Möglichkeit, dies mit einem weißen Schaf zu tun. Setzte sich dieser Prozess über Jahre hinweg fort, wurde die Besonderheit ›schwarz‹ immer seltener, bis sie schließlich irgendwann ausstarb. Wenn andererseits laufend weibliche und männliche schwarze Schafe zur Welt kamen, wurde die Besonderheit ›schwarz‹ immer wieder an die jeweils nächste Generation weitergegeben. Sadako Yamamura schien dieses Problem für sich bereits gelöst zu haben. Sie brauchte die Spezies Mensch nicht, um sich zu vermehren. Das konnte sie aus eigener Kraft tun. Die spezifischen Merkmale ›Sadako‹ würden von Generation zu Generation weitergeben werden. Nur waren ihr auch Grenzen gesetzt. Sie besaß zwar die Fähigkeit, sich selbst zu vermehren, doch der Prozess ging nur sehr langsam vonstatten, ähnlich wie bei dem Videoband. Damit bestand die Gefahr, dass der Mensch der neuen Rasse ›Sadako Yamamura‹ auf
die Pelle rückte und sie schnell ausgerottet war. Das Video war bereits wieder verschwunden. Damit eine neue Spezies überleben konnte, bedurfte es einer explosionsartigen Verbreitung. Die Frage war also: Hatte Sadako Yamamura diese Möglichkeit? Miyashita unterbrach Andos Gedanken, in dem er weiterlas. Das alles ist kein Lügenmärchen. Ich wollte dir mitteilen, was wirklich mit mir passiert ist. Warum ich das tun muss ... Ich möchte, dass du mich verstehst. Und wenn du an diesem Punkt angelangt bist, werde ich dich um etwas bitten. Du wirst dich sicherlich fragen, warum ausgerechnet du? Weil ich fest davon überzeugt bin, dass du ein Experte bist. Ah, jetzt kommt‘s! Ando bereitete sich innerlich auf die nächsten Zei‐ len vor. Was, wenn es unmöglich war, ihre Bitte zu erfüllen? Sorgen umschatteten seine Mundwinkel. Zunächst möchte ich dir ans Herz legen, dich der Erscheinung des Buches nicht in den Weg zu stellen. Das ließe sich einrichten, dachte Ando. Das Einzige, das er zu tun hätte, wäre, nichts zu tun. Aber es geht nicht nur darum, dass du dich mir nicht entgegenstellst. Ich will, dass du mich unterstützt. Ob du dir meine Bitte anhörst? Ohne dir Angst einjagen zu wollen: Wenn du meinen Befehlen nicht Folge leistest, wird dir etwas Grausames zustoßen. Du hast den Ring‐Bericht gelesen. Denk daran, du hast keine Chance. Es ist zu spät. Als mutiger Mann könntest du natürlich sagen, es ist dir egal, ob du stirbst, und versuchen, mich zu vernichten. Deshalb sollst du auch eine Belohnung erhalten, wenn du mir hilfst. Ich lasse dich nicht umsonst für mich arbeiten. Nun, wie sieht es aus? Was könnte ich dir für ein Geschenk machen? Es wird etwas sein, das du dir am meistens wünschst. Und das ist ... Miyashita hörte auf zu lesen. Mit erschrockenem Blick reichte er Ando das Notizbuch. Offenbar wollte er, dass Ando die folgenden Sätze selbst las.
Ando glitt das Büchlein aus der Hand, als er auf Sadakos letzte Worte blickte. Fassungslos starrte er vor sich hin. Nie im Leben hätte er mit einem solchen ›Vertrag‹ gerechnet. Miyashita verstand Andos Gefühle nur zu gut und schwieg. Ando schloss die Augen. Sadako Yamamura flüsterte ihm mit sanften Worten zu, dass er auf ihre Seite überwechseln solle. Sie hatte begriffen, dass die neue Spezies ohne Verbündete auf der Seite der Menschen dem Untergang geweiht war. Jun‐ichiro Asakawa, der be‐ absichtigte, den Ring‐Bericht zu veröffentlichen, arbeitete bereits für sie. Zwar war er sich dessen vermutlich nicht bewusst, aber ohne Zweifel wurde er von ihr kontrolliert. Ginge Ando den Pakt mit dem Teufel ein, würde ihm als Gegen‐ leistung sein größter Wunsch erfüllt werden. Etwas, um das er Gott schon so oft gebeten hatte und das ihm versagt geblieben war. Er öffnete die Augen. In einem Briefumschlag, der zwischen den Büchern im Regal steckte, befand sich der Schlüssel, der ihm die Tür zur Erfüllung seines Wunsches öffnen konnte. Medizinisch gesehen war es möglich. Würde er sich der besonderen Fähigkeiten Sadako Yamamuras bedienen ... Ja, dann konnte er ihn vielleicht wirklich zurückbekommen. Aber ... Er war im Begriff, seine Seele an den Teufel zu verkaufen, um seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt zu bekommen. Ein solcher Verrat wäre nicht zu entschuldigen, protestierte seine innere Stimme. Sada‐ ko Yamamura musste gestoppt werden. Als Mitglied der menschli‐ chen Gesellschaft durfte er nicht zulassen, dass sie eine neue Seuche in die Welt setzte, die sogar den Untergang des Homo sapiens bedeuten konnte. Aber wie sollte er sie aufhalten? Es gab vermutlich nur einen Weg: Er musste sie umbringen. Doch wenn Sadako starb, blieb sein Wunsch für immer unerfüllt. Unendliche Verzweiflung stieg in Ando auf. Was sollte er nur tun?
Schluchzend ließ er sich auf das Bett fallen und umschloss das Kissen. Sein Köper bebte. Vor seinem geistigen Auge tauchte immer wieder dasselbe Bild auf. So sehr er sich auch bemühte, es zu verdrängen, es schien aussichtslos zu sein. »Miyashita, was soll ich nur tun?« »Das musst du selbst entscheiden«, erwiderte Miyashita ruhig. »Ich weiß es nicht. Sag du es mir.« »Die Entscheidung ist eigentlich gar nicht so schwer. Denk doch mal nach. Egal, was wir tun, wir sind ihr ausgeliefert. Es ist ein Spiel, das wir nur verlieren können. Wenn du dich Sadako Yamamura in den Weg stellst, wird sie uns beide töten und sich einen neuen Ver‐ bündeten suchen. So einfach ist das.« Miyashita hatte vermutlich Recht. Seine Begegnung mit Sadako war sicher kein Zufall gewesen. Sie hatte ihn die ganze Zeit über beobach‐ tet. Alles war geplant gewesen ... Die Begegnungen in Mais Apart‐ menthaus, auf dem Dach des alten Gebäudes, an der Sangubashi‐ Station ... Irgendwie hatte sie seinen Schwachpunkt herausgefunden. Es war unmöglich, sie zu besiegen. Würde er sich ihr entgegenstellen, dann würde das in ihm lauernde Virus sofort zu wüten anfangen. Für Miyashita schien die Antwort auf der Hand zu liegen. Ando dagegen hatte noch keine Entscheidung getroffen. »Willst du damit etwa sagen, dass wir unsere Seele dem Teufel verkaufen sollen?« »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« »Aber was ist mit der Zukunft der Menschheit? Überleg doch mal! Wenn wir Sadako unterstützen, setzen wir eine Seuche in die Welt, die den Untergang der Spezies Mensch bedeuten könnte.« »Nun tu nicht so, als wärst du der Sprecher der Menschheit. Im Grunde deines Herzens hast du dich doch schon entschieden. Schon wegen der Belohnung, die auf dich wartet. Du willst doch nicht etwa behaupten, das du dir diese Chance durch die Lappen gehen lässt?« »Aber es ist ungerecht. Du bekommst nichts.«
»Sag das nicht. Es ist meine Lebensversicherung.« Ando steckte in der Zwickmühle. Wie bin ich nur in diese Situation geraten? Er dachte daran, wie alles begonnen hatte: die Autopsie von Ryuji Takayamas Leiche, der Zahlenkode auf der Zeitungsecke, der ent‐ schlüsselt ›Ring‹ bedeutete, schließlich der Asakawa‐Bericht mit dem Titel ›Ring‹ ... Er bereute es zutiefst, seine Nase so tief in diese Sache hineingesteckt zu haben. Hätte er den Bericht doch nie gelesen! Er hielt inne. »Ryuji...«, murmelte er. Miyashita blickte ihn stirnrunzelnd an. Ohne darauf einzugehen, spann er seinen Gedanken fort. Ryuji steckte hinter allem, er hatte es eingefädelt. Das, was nach einem großen Zufall aussah, geschah in Wirklichkeit nach einem teuflischen Plan. Die Nachrichten ›Ring‹ und ›Mutation‹ hatte Ryuji ihm geschickt, um seine Sinne zu schär‐ fen. Jedes Mal, wenn Ando sich etwas von der Lösung zu entfernen schien, tauchte plötzlich ein Kode auf, vermutlich, um ihn wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Aber welche Absicht steckte dahinter? Und da war noch etwas. Warum wohl hatte Mai sich das Video angesehen? Dazu kam ein zweiter ›Zufall‹: Sie war in dieser Zeit fruchtbar gewesen. Wäre sie das nicht gewesen, dann wäre Sadako Yamamura nicht wiedergeboren worden. Wo ist Mai noch mal auf das Band gestoßen? Bei Ryuji. Und warum ist sie dort gewesen? Weil Ryujis letzter Artikel unvollständig war. Ob die Seiten tatsäch‐ lich fehlten? Das weiß nur Ryuji. Doch eines war offensichtlich: Alle Fäden liefen bei Ryuji Takayama zusammen. Mai und Ryuji hatten in einer engen Beziehung zueinander gestan‐
den. Deshalb hatte Ryuji auch gewusst, wann in etwa Mai ihre Men‐ struation haben würde. So konnte er errechnen, wann in etwa sie fruchtbar war. Exakt an diesem Tag rief er sie zu sich. Doch was bedeutet das? Ando blickte Miyashita an und murmelte: »Es ist Ryuji.« Miyashita schien nicht zu verstehen. Schweigend kniff er die Augen zusammen. »Verstehst du nicht? Es ist Ryuji! Er ist derjenige, der im Verborge‐ nen die Fäden gesponnen hat.« Ando war mittlerweile davon überzeugt, dass er richtig lag. Alle Personen in diesem mörderischen Spiel wurden von Ryuji wie Mario‐ netten geführt. Er war der Autor des Drehbuchs. Draußen vor dem Fenster erhob sich der abendliche Stadtlärm zu einem lauten Wirbelsturm. Ando glaubte, das höhnische Gelächter eines Mannes zu hören — eine unheimliche, gespenstische Stimme, die aus der Ferne an sein Ohr drang. Die Stimme Ryujis. Ando starrte zum Himmel. Ob Ryuji wohl da oben ist? Natürlich würde er hierauf keine Antwort erhalten. Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass Sadako und Ryuji unter einer Decke steckten. Sie spielten ›Menschenjagd‹. Ando überlegte. Was war wohl Ryujis Wunsch? Ohne seine, Andos, Hilfe konnte er ihn sich nicht erfüllen ... Auch wenn Ando das Spiel nun verstanden hatte: Er konnte nichts dagegen tun. Es war zu spät. Ihm blieb nichts weiter, als sich dem in der Finsternis lachenden Ryuji zu unterwerfen.
Es war ein ungewöhnlich sonniger und warmer Tag inmitten der Regenzeit. Ando war an die Küste gefahren. Dort hatte ihm vor zwei Jahren das tobende Meer auf grausame Weise seinen Sohn entrissen. Seitdem war er nicht mehr hier gewesen. Heute gab es einen beson‐ deren Grund, weshalb er an diesen Ort des Schreckens zurückkehrte. Es herrschte eine ruhige und friedliche Atmosphäre. Am weißen Sandstrand saßen vereinzelte Fischer. Hier und da machten Familien ein Picknick. Ando hatte die Ereignisse von damals noch genau vor Augen. Obwohl die Wellen sich bei weitem nicht so hoch auftürmten und ein neu erbauter Damm den Strand verändert hatte, kam ihm alles un‐ verändert vor. Auf der Mole sitzend, ließ er seine Gedanken schweifen. Seine Au‐ gen ruhten auf einem kleinen Schatten, der fröhlich im feuchten Sand spielte, energisch Löcher buddelte und Sandburgen baute. Dabei passte er auf, nicht zu nahe ans Wasser zu kommen. Ein Ruf lenkte ihn ab. Er glaubte, seinen Namen gehört zu haben. Bestimmt ein Missverständnis! Doch als er sich umdrehte, sah er einen Mann von kräftiger Statur auf sich zukommen. Er trug ein langärmliges, gestreiftes Hemd, das bis oben zugeknöpft war. Sein Oberkörper war muskulös. Über das markante Gesicht liefen Schweißperlen. In einer Hand hielt er eine Plastiktüte. Ando kannte den Mann gut. Erst im Oktober letzten Jahres hatte er ihn in der Gerichtsmedizin gesehen. Der Mann setzte sich neben Ando. »Lange nicht gesehen.«
Ohne den Mann anzusehen, blickte Ando erneut auf den kleinen Schatten am Strand. »Sich einfach so aus dem Staub zu machen ... das ist nicht gerade die feine Art.« Der Mann nahm eine Dose Eistee aus der Tüte. Ohne auch nur einmal abzusetzen, trank er sie leer. Dann holte er eine weitere heraus und hielt sie Ando hin. »Möchtest du was trinken?« Schweigend nahm Ando die Dose. Wieder vermied er es, dem Mann ins Gesicht zu blicken. »Woher wusstest du, dass ich heute hier sein werde?«, fragte er mit ruhiger, gelassener Stimme. »Miyashita hat es mir erzählt. Naja, natürlich nicht direkt, ihm hast du ja auch nichts erzählt. Aber er sagte mir, dass heute der Todestag deines Sohnes ist. Da musste ich nur eins und eins zusammen‐ zählen.« Der Mann lachte. »Gibt es einen bestimmten Grund dafür, dass du mich hier auf‐ suchst?«, fragte Ando mit düsterer Stimme. »He, ich habe ganz schöne Strapazen auf mich genommen, um hier zu sein. Erst der Zug, dann der Bus ... Du könntest ruhig etwas freundlicher sein.« »Da verlangst du zu viel von mir«, entgegnete Ando. »Du bist wirklich ein undankbarer Kerl.« Ando spitzte die Lippen. »Undankbar? Das musst gerade du sagen.« »Wenigstens bin ich dir dankbar, weil du so gut mitgespielt hast ... Das ist der Unterschied zwischen uns.« Erneut dachte Ando verbittert daran, dass dieser Mann von Anfang an mit ihm gespielt hatte. Während ihrer Zeit an der Uni hatte er trotz leichter Anflüge von Neid die Intelligenz und Genialität dieses Mannes bewundert. Jeden nur erdenklichen Kode hatte er mit Leich‐ tigkeit entschlüsselt, während die anderen sich daran die Zähne aus‐ bissen. Heute sah Ando ihn in einem anderen Licht. Der Mann hatte
ihn nur benutzt. Wozu also Lobeshymnen? Der Mann, den wir mit eigenen Händen produziert haben ... Jetzt wagte Ando doch einen kurzen Blick auf Ryuji Takayama. Was ging wohl in diesem Moment in seinem Kopf vor? Ando erinnerte sich daran, wie er letztes Jahr Ryujis Gehirn in seinen Händen gehalten hatte. Mit den Fingern war er über die Oberfläche geglitten, doch er hatte die Denkprozesse dieses Mannes nicht im Geringsten begriffen. Er hatte keine Ahnung gehabt. Ohne Ryujis Spiel zu durch‐ schauen, hatte er sich wie eine Marionette von ihm führen lassen. Er war gleich auf den Kode angesprungen und, ohne es zu merken, in den Fall hineingezogen worden. Wäre ihm doch nur nicht die Autopsie von Ryuji Takayamas Leiche zugefallen! Dann wäre er auch nicht zum Komplizen gemacht worden. »Na komm, du hast schließlich davon profitiert«, bemerkte Ryuji schnippisch. »Da bin ich mir nicht so sicher.« Jetzt kam der kleine Schatten auf ihn zugerannt. »Papa, ich habe Durst.« Ando reichte seinem Sohn Ryujis Dose. Gierig griff der Kleine da‐ nach und trank ein paar Schlucke. Sein heller Kehlkopf reflektierte in Andos Augen. Wie kleine Kristalle glitzerten Takanoris Schweißper‐ len am Hals in der Sonne. »Na, Kollege, möchtest du noch etwas trinken?«, fragte Ryuji das Kind, während er mit einer Hand in seiner Tasche wühlte. Das Wort ›Kollege‹ gefiel Ando überhaupt nicht. Andererseits waren beide aus der gleichen Gebärmutter gekommen. Allein bei diesem Gedanken stellten sich ihm alle Haare auf. Der Junge schüttelte energisch den Kopf. »Darf ich sie mitnehmen?« »Nur zu, kleiner Mann.« Freudestrahlend lief Takanori wieder zum Strand hinunter. Die
Dose war nun sein neues Spielzeug. »Takanori!«, rief Ando laut. Abrupt blieb der Junge stehen und drehte sich um. »Ja was ist?« »Geh nicht zu dicht ans Wasser, hörst du?« Takanori nickte und lief weiter. Eigentlich war diese Ermahnung überflüssig. Takanori hielt freiwil‐ lig Abstand zum Meer. Vielleicht war die Erinnerung an den Mo‐ ment, als er ertrunken war, noch in ihm lebendig. Jedenfalls hatte er jetzt eine ausgeprägte Wasserscheu. Ando wusste das, war aber noch zu sehr im Albtraum der Vergangenheit gefangen. »Ist er nicht ein niedliches Kerlchen?« Das brauchte Ryuji nicht eigens zu betonen. Ja, Takanori war ein Schatz. Um ihn zurückzubekommen, hatte Ando seine Seele an den Teufel verkauft, die Menschheit verraten. Sadako hatte ihm einen Deal vorgeschlagen, und er war darauf ein‐ gegangen: Als Gegenleistung für seine Unterstützung bei der Reali‐ sierung ihres teuflischen Plans hatte sie ihm versprochen, seinen vor zwei Jahren verstorbenen Sohn zurückzubringen. Ando hatte ihren Worten keinen Glauben geschenkt, als er ihren Brief mit Miyashita gelesen hatte. Doch seine Zweifel hielten nicht lange. Immerhin gab es einen lebenden Beweis: Sadako Yamamura. Aber noch viel wichtiger war gewesen, dass er das Haarbüschel mit der DNA seines Sohnes in dem Briefumschlag zwischen den Büchern aufbewahrt hatte. Ohne die Haare wäre das Vorhaben nicht realisier‐ bar gewesen. Sie enthielten die genetischen Informationen seines Sohnes. Aus medizinischer Sicht war es nicht schwierig gewesen, Takanori zu klonen. Sie hatten nur Sadakos Körper mit seinen besonderen Fä‐ higkeiten gebraucht. Alles andere war mit moderner, medizinischer Technik möglich gewesen. Da Sadako Yamamura weibliche und
männliche Geschlechtsorgane besaß, hatten sie zunächst Eizelle und Samenzelle miteinander verschmelzen lassen. Dann war ihrem Orga‐ nismus die befruchtete Eizelle entnommen worden. Mit einem Mani‐ pulator entnahm man nun aus den Zellen der Haare Takanoris den Kern und tauschte ihn gegen den Kern von Sadakos Eizelle aus. Die Eizelle, die jetzt die komplette Erbinformation von Takanori trug, wurde Sadakos Organismus wieder in die Gebärmutter eingesetzt. Das war eine sehr knifflige Angelegenheit, aber wenn man sie einem Spezialisten überließ, kein Problem. Theoretisch hätte man sogar Dinosaurier wieder auferstehen lassen können, wenn die gene‐ tischen Informationen noch existiert hätten. Eine Woche später war Takanoris Klon zur Welt gekommen. In den nächsten sieben Tagen nach seiner Geburt wuchs Takanori zu dem Jungen heran, der er vor seinem Tod gewesen war. Erstaun‐ licherweise schien er sich noch an alle Einzelheiten seines frühren Lebens zu erinnern. Es bestand kein Zweifel daran: Das Kind, das da am Strand spielte, war sein Sohn. Von der Sprechweise über bestimmte Verhaltensweisen, alles war gleich geblieben. Auch die Erinnerungen des Kleinen an seine Eltern schienen fest in seinem Herzen verankert zu sein. Nichts war anders als früher oder irgend‐ wie merkwürdig. Nachdem Sadako ihm seinen Sohn wiedergegeben hatte, äußerte sie einen neuen Wunsch — wie er es sich gedacht hatte. Der Handel war nicht damit beendet, dass er Sadako nicht in die Quere kam und als Belohnung dafür seinen Sohn zurückerhielt. Es musste noch etwas folgen. Erst war Ando überrascht: Sadako wollte, dass er auf dieselbe Wie‐ se wie Takanori auch Ryuji klonte. Dann ging ihm ein Licht auf. Von wegen ›Belohnung‹. Takanori war nur ein Experiment gewesen, mehr nicht. Sadako Yamamura hatte sich davon überzeugen wollen, dass es funktionierte. Von Anfang an hatte sie nur ein Ziel verfolgt: Ryujis
Wiedergeburt. Das ganze Spiel war von Ryuji eingefädelt worden, um sich den Wunsch nach einer Wiedergeburt erfüllen zu können. Und er war erfüllt worden. Ando sah Ryuji nach dessen Wiedergeburt heute zum ersten Mal. Er hatte Ryujis Zellen den Kern entnommen und diesen gegen den Kern in Sadakos befruchteter Eizelle ausgetauscht. Nachdem er sich Gewissheit verschafft hatte, dass alles gut verlaufen war, hatte er die restlichen Arbeiten Miyashita und dessen Kollegen überlassen. Ohne jemandem ein Wort zu sagen, war er mit seinem Sohn fortgefahren. Aus Andos Sicht war seine Aufgabe erfüllt, indem er Ryujis DNA in Sadakos Eizelle eingeschleust hatte. Nach Ryujis Wiedergeburt brauchte Sadako Ando nicht mehr. Doch wann hatten sich Sadako Yamamura und Ryuji Takayama zusammengetan? Vermutlich hatten sie auf DNA‐Ebene miteinander kommuniziert, ihren Wert füreinander erkannt und sich dann zu‐ sammengetan, um ihre Interessen durchzusetzen. Wie auch immer, Ryuji war Ando gleichgültig. Ihn beschäftigte nur, wie er seinen kleinen Sohn großziehen sollte. In den letzten Monaten hatten sich die Ereignisse überschlagen, alles war komplizierter ge‐ worden. Um Abstand zu gewinnen, hatte er seinen Job als Dozent an der Universität vor zwei Monaten an den Nagel gehängt. Ohne lange am selben Ort zu bleiben, waren sie durchs Land gezogen. Ein Ziel hatte Ando nicht vor Augen gehabt. Er wollte nur weit weg von Ryuji und Sadako. Ryuji kramte in seiner Hosentasche. Eine kleine Ampulle kam zum Vorschein. »Hier, für dich.« Ryuji hob die Ampulle hoch. »Was ist das?« »Vakzin, ein Impfstoff, gewonnen aus dem Ring‐Virus.« »Vakzin?« Vorsichtig nahm Ando die kleine Glasampulle. Inzwi‐
schen hatten er und Miyashita die Ergebnisse ihrer Blutuntersuchun‐ gen erhalten. Beide waren positiv. Tatsächlich waren sie durch die Lektüre des Ring‐Berichts zum Träger des Virus geworden. Ando hatte in ständiger Angst gelebt, weil er nicht wusste, ob und wann es seinen Körper attackieren würde. »Du musst es dir nur spritzen und bist das Virus sofort los. Dann musst du dir keine Sorgen mehr machen.« »Bist du extra hierher gekommen, um mir den Impfstoff zu geben?« »Na ja, ich dachte, es wäre auch gut, mal wieder ans Meer zu fahren«, sagte Ryuji und lachte verlegen. Mit einem Schlag fühlte Ando eine Riesenlast von seinen Schultern fallen. Egal, wohin er mit seinem Sohn auch gezogen wäre, er hätte sich nie in Sicherheit gefühlt, weil er das Virus in sich trug. »Sag mir eines: Wie geht die Geschichte aus?« Ando ließ die Ampulle in seiner Hemdtasche verschwinden. »Ich weiß es nicht«, antwortete Ryuji. »Du kannst mir nicht erzählen, dass du keine Ahnung hast. Sadako Yamamura und du, ihr steckt unter einer Decke. Ist es nicht euer Ziel, die biologische Welt neu zu gestalten?« »Wie die nahe Zukunft aussieht, kann ich dir sagen. Aber was danach ist, weiß ich selbst nicht.« »Das reicht mir schon. Erzähl.« »Von The Ring wurden bereits über hundert Millionen Exemplare verkauft. « »Hundert Millionen!« Ando hatte in verschiedenen Zeitungs‐ artikeln gelesen, dass weitere Auflagen von dem Roman erschienen waren. Dabei hatte er immer sofort an zwei Wörter gedacht: ›Ver‐ mehrung‹ und ›Verbreitung‹. The Ring verbreitete sich mit einer unvorstellbaren Rasanz — die Zahl der Virusträger hatte bereits über hundert Millionen erreicht.
»Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast, aber der Roman wird verfilmt.« »Verfilmt? The Ring?« »So ist es. Die Hauptrolle — Sadako Yamamura — wurde öffentlich ausgeschrieben. Inzwischen ist die Entscheidung gefallen.« »Eine öffentliche Ausschreibung«, wiederholte Ando verblüfft. Ryuji lachte auf. »Ja ... Weißt du, wer die Rolle von Sadako Yamamura bekommen hat?« Ando kannte sich in der Filmwelt nicht sonderlich gut aus, und Informationen aus der Gerüchteküche waren ihm nicht zu Gehör gekommen. »Wer?« Ryuji krümmte sich vor Lachen. »Mann, du stehst wirklich auf der Leitung. Kannst du es dir nicht denken? Es ist eine Frau, die du gut kennst.« »Etwa Sadako Yamamura?« Just in dem Moment, als Ando diesen Namen ausgesprochen hatte, wurde ihm die Bedeutung erst richtig bewusst. In der Tat war es Sa‐ dako Yamamuras größter Wunsch gewesen, ein berühmter Filmstar zu werden. Deshalb war sie nach dem Gymnasium einer Theater‐ gruppe beigetreten. Insofern hatte sie auch schon Erfahrungen auf diesem Gebiet, war kein Laie mehr. Außerdem hatte sie die Jury mit Hilfe ihrer besonderen Fähigkeiten sicher leicht beeinflussen können ... Sadako Yamamura spielte sich also selbst... Was steckte dahinter? Ando begriff rasch. Sie wollte ihre Gedanken in den Film hineinproji‐ zieren. Mit anderen Worten: Sie wollte in die Szene, in der das teufli‐ sche Video gezeigt wurde, ihre genetischen Informationen hinein‐ packen. Das ursprünglich vernichtete Video würde wieder zum Le‐ ben erweckt werden und sich rasch verbreiten. Natürlich war nicht vorauszusehen, ob der Kinofilm ein Kassen‐
schlager wurde oder nicht; trotzdem würde ihn sich eine genügend große Zahl von Menschen ansehen. Alle Frauen, die in diesem Moment gerade fruchtbar waren, würde das gleiche schreckliche Schicksal erwarten wie Mai Takano. Eine Woche später würden un‐ endlich viele Sadako Yamamuras geboren und die Körper der Frauen ›entsorgt‹ werden. Bedachte man zudem, dass der Film später auch als Video oder DVD erscheinen oder im Fernsehen ausgestrahlt werden würde, war klar, dass sich das gefährliche Video mit einer Geschwindigkeit verbreiten würde, die durch das Kopieren allein nie denkbar gewesen wäre. Außerdem würde es sich großflächig verbreiten, also nicht nur auf wenige Orte beschränkt. Natürlich konnte Sadako Yamamura auch selbst Kinder zur Welt bringen. Sie hatte einen Weg gefunden, wie sie sich schnell vermehren und ausbreiten konnte. »Eine Kreuzung von Massenmedium und Sadako Yamamura ...« Abrupt hörte Ryuji auf zu lachen und hob den Kopf. »Die Menschen sind nicht so dumm, wie du vielleicht annimmst. Sie werden dahinterkommen, und der Film wird sofort vernichtet werden.« Aber das reichte nicht. Alle Bücher, Videos, DVDs müssten eingesammelt und vernichtet werden ... »Das wird nicht gelingen. Über hundert Millionen Menschen sind schon mit dem Virus infiziert und stehen unter unserer Kontrolle. Sie werden neue Medien schaffen, wenn der Roman The Ring vernichtet werden würde. Schließlich ist das Originalvideo auch in ein Buch mutiert. Musik, Computerspiele, PC‐Netzwerke ... Das Ring‐Virus kann sich überall einschleichen. Die Kreuzung von Massenmedium und Sadako Yamamura hat zur Folge, dass immer wieder neue Me‐ dien entstehen und alle fruchtbaren Frauen, die damit in Berührung kamen, eine ›Sadako‹ zur Welt bringen.« Zutiefst beunruhigt überprüfte Ando, ob sich das Gegenmittel noch
in seiner Hemdtasche befand. Allerdings war das Vakzin ausschließ‐ lich ein Impfstoff gegen das momentane Ring‐Virus — wenn es mutierte, wurde es wirkungslos. Das Problem war: In welches Medium mutierte es als Nächstes? Ohne diese Information war es nicht möglich, ein neues Antiserum zu entwickeln. Die Menschen konnten nur darauf reagieren. Die neue Spezies ›Sadako Yamamura‹ würde sich allmählich immer weiter ausbreiten, den Platz der Menschen einnehmen, bis sie die Mensch‐ heit vernichtet hatte. »Ist dir das denn alles völlig egal? Wie kannst du damit leben?« »Du betrachtest die Dinge aus der Perspektive eines Menschen. Für mich stellt sich das etwas anders dar. Wenn ein Mensch stirbt und eine Sadako Yamamura geboren wird, ist das ein Nullsummenspiel.« »Tut mir Leid, aber ich kann deine Haltung absolut nicht nachvoll‐ ziehen.« Ryuji beugte sich mit schweißüberströmtem Gesicht dicht zu Ando. »Ob du es nun verstehst oder nicht, du bist auf unserer Seite.« »Aber wozu soll das alles gut sein? Was hat es für einen Sinn?« »Man kann die Evolution steuern. Das allein schon macht es lohnenswert.« »Evolution ... Das ist in deinen Augen Evolution?« Die extreme Variabilität von DNA‐Informationen würde sich dann nur noch in einer Person, nämlich Sadako Yamamura, konzentrieren ... Konnte man das wirklich Evolution nennen? Hierin lag aber auch ein Schwachpunkt. Dachte man zum Beispiel an das Wüten der Pest, waren zwar sehr viele Menschenleben zu be‐ klagen gewesen, doch einigen hatte sie nichts anhaben können. Wenn die Welt ein einziger Gletscher würde, die Inuit könnten überleben. Menschen verfügten über unterschiedliche Widerstandskräfte. Doch wenn es keine Vielfalt mehr gab, bestand die Gefahr, dass
bereits eine kleine Begebenheit eine ganze Spezies auf einen Schlag ausrottete. Sollte Sadako Yamamura zum Beispiel schwache Abwehr‐ kräfte haben, würden alle Sadako Yamamuras dieses Manko aufwei‐ sen. Eine normale Grippe könnte dann verheerende Folgen haben. Dies war die einzige Hoffnung, die den Menschen blieb: zu warten, bis die Spezies Sadako Yamamura allmählich ausstarb, und unauffäl‐ lig weiterleben. »Weißt du, warum Lebewesen dem Prozess der Evolution unter‐ worfen sind?«, fragte Ryuji. Ando schüttelte wortlos den Kopf. Auf diese Frage war bislang noch keine abschließende Antwort gefunden worden. »Nehmen wir zum Beispiel die Augen ... Dir als Pathologen brauche ich das ja nicht zu erklären, aber die Augen eines Menschen funktionieren nach einem sehr komplizierten Mechanismus. Im Lauf der Zeit veränderte sich zufällig ein Teil der Haut in die Hornhaut, die Nervenenden der Pupillen und des Augapfels wurden mit dem Gehirn verbunden, und man konnte sehen. Ich glaube nicht, dass man allein aufgrund der Entstehung des Mechanismus Auge auch gleich automatisch sehen konnte. Dahinter steckte vielmehr der aus dem Inneren geborene Wille, sehen zu wollen. Lebewesen im Meer kamen auf das Land, Reptilien konnten fliegen ... Das waren keine Zufälle. Nur weil ein starker Wille existierte, kam es dazu. Auch wenn viele Wissenschaftler über diese Theorie vermutlich lachen werden ... Kannst du dir eine Welt voller Lebewesen ohne Augen vorstellen? Dem Regenwurm unter der Erde offenbart sich nur die Welt, die er fühlen kann. Seeanemonen und Seesterne können nur ihre unmittel‐ bare Umgebung wahrnehmen und fühlen. Glaubst du, dass sich bei diesen Lebewesen der Wille zu sehen so einfach einstellen könnte? Für diese lebenden Organismen wäre das eine völlig fremde Welt. Die Lebewesen auf der Erde hingegen können den Prozess der Evolu‐
tion definieren. Schließlich haben sie sogar eine Kultur entwickelt. Ich weiß zwar nicht, warum, aber aus irgendeinem Grund entsteht der Wille, etwas zu haben, von dem man nicht weiß, dass es überhaupt existiert.« »Sieh an, es gibt also auch Dinge, auf die du keine Erklärung hast ...«, bemerkte Ando. »Ich will damit sagen, dass es letztendlich der Wille des Menschen ist, dass die Menschheit untergeht und die neue Spezies ›Yamamura‹ entsteht.« »Nun mach mal einen Punkt. Es gibt keine Spezies, die sich den eigenen Untergang wünscht!« »Die Frage ist, ob im Unterbewusstsein nicht doch ein bestimmtes Verlangen danach existiert. Da sich die Vielfalt der DNA in Sadako Yamamura konzentrieren würde, wären die Unterschiede aufgeho‐ ben: Alle Menschen hätten das gleiche Talent, denselben Körper, es gäbe keine Differenzierung in hübsche und hässliche Menschen, keine Kriege, auch keine Streitigkeiten. Eine absolut friedvolle, gleichberechtigte Welt. Der Begriff ›Todesangst‹ würde aus dem Lexi‐ kon gestrichen, denn es wäre eine Welt jenseits von Leben und Tod. Ist es nicht das, was ihr euch im Grunde eures Herzen wünscht?«, flüsterte Ryuji Ando ins Ohr. Takanori spielte nach wie vor mit der Dose im Sand. Ando blickte Ryuji kurz an. »Ich bin anders.« In Andos Augen war sein Sohn ein ganz besonderer Mensch. Nein, er ließ sich weiß Gott nicht mit einer anderen Person vergleichen. Das konnte er jetzt mit Gewissheit sagen. »Wie dem auch sei ...« Ryuji stand auf. »Willst du schon los?« »Ja, ich muss. Was wirst du jetzt machen?« »Ich werde mich auf eine kleine, einsame Insel verkriechen, wo es
keine Medien gibt, und meinen Sohn großziehen.« »Typisch! Ich werde mir den Untergang der Menschheit anschauen. Wer nicht bis zum Schluss dabei ist, kann den Willen, von dem man bis jetzt noch nichts ahnt, nicht vom Himmel fallen sehen. Diesen Moment darf ich nicht verpassen.« Ryuji drehte sich um und ging. »Lass es dir gut gehen. Grüß Miyashita von mir.« Plötzlich blieb Ryuji stehen. »Noch etwas. Warum haben die Menschen eine Kultur entwickelt? Die Antwort ist ganz einfach: Menschen können keine Langeweile ertragen — mit anderen Worten: um vor der Eintönigkeit zu fliehen. Da gibt es natürlich ein Problem, wenn alles Leben nur noch aus einer DNA besteht. Das dürfte sehr langweilig sein. In Wirklichkeit wäre es aus dieser Perspektive besser, Unterschiede zu haben. Aber da kann man wohl nichts machen. Ihr Menschen wünscht es euch nun mal, dass es bald nur noch eine DNA gibt. Auf einer Insel wird es sehr langweilig sein.« Ryuji verschwand. Eigentlich hatte Ando noch nicht entschieden, wo er leben wollte, so wie er überhaupt keine Ideen in Bezug auf seine Zukunft hatte. Wer wusste schon, wer Gelegenheit haben würde, sie zu verwirk‐ lichen? Er zog Hose und Hemd aus und rannte zum Strand hinunter. Die kleine Hand seines Sohnes greifend, sagte er: »Lass uns gehen.« Dann erklärte er Takanori genau, worauf es ankam. Wie vor zwei Jahren stürzten sie sich ins Wasser. Damit Takanori nicht untergehen konnte, umklammerte Ando seine Hand ganz fest. Etwas Ähnliches hatte Sadako Yamamura getan, als sie auf dem Dach im Entlüftungsschacht wiedergeboren worden war. Sie hatte das Gefühl gehabt, in ihrer neuen Umwelt ohnehin nur dann über‐ lebensfähig zu sein, wenn sie mit eigener Kraft aus dem Schacht herausklettern konnte. Ando dachte, dass sein Sohn etwas Ähnliches brauchte. Takanori hatte eine panische Angst vor dem Wasser. Wenn er sie
nicht überwand, würde er im Alltagsleben Schwierigkeiten haben. Hand in Hand standen sie bis zu den Knöcheln im Wasser. »Du versprichst es mir, Papa ...«, vergewisserte sich Takanori mit zitternden Lippen. »Du kannst dich auf mich verlassen. Ehrenwort.« Wenn Takanori die Angst vor dem Wasser überwand, wartete eine kleine Belohnung auf ihn. Er würde seine Mutter wiedersehen. »Deine Mama wird große Augen machen.« Andos Exfrau wusste nichts von der Wiedergeburt ihres Kindes. Sie würden sich nach langer Zeit zum ersten Mal wiedersehen. Ando bekam allein bei dem Gedanken Herzrasen. Er musste eine logische Erklärung für Takanoris plötzliches Auftauchen finden. Vielleicht diese: Takanori war von einem Fischer gefunden worden und hatte die letzten zwei Jahre im Koma an einem anderen Ort verbracht. Welches Lügenmärchen Ando seiner Frau auch auftischte — wenn sie ihr Kind erst einmal berührte, würde sie alles glauben. Ob sie als Ehepaar wieder zueinander fanden, war eine andere Sache. Ando würde alles dafür geben. Es hing einzig und allein von ihr ab. Er schätzte die Chancen dafür auf fünfzig zu fünfzig ein. Eine Welle türmte sich vor ihnen auf. Takanori entrang sich ein Schrei. Seinen Sohn fest im Arm haltend, lief Ando ins Meer hinein, während er das Pochen des kleinen Herzens auf seiner Haut spürte. Wie die Zukunft der Menschheit aussah, wusste er nicht. Nur eines war sicher: Sein Sohn lebte.